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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
59. Jahrgang
Zweites Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. N)ils. Grunow
(Zuista, »on wovsis
Ruhendes soll man nicht bewegen;
Aber man soll auch die leisen Gewalten,
Die sich unter der Decke regen,
Nicht zu lange sür „Stille" halten,
mer meiner Freunde führt in unsrer Stadt und sogar darüber
hinaus den seltsamen Beinamen Tanti. Er teilt alle Menschen,
die in den Bereich seiner Beurteilung kommen, in zwei Klassen
ein, in solche, die tanti sind, und in solche, die es nicht sind.
Alle Welt weiß, was er damit meint. Für tanti hält er die,
die in dem Wirkungsbereich, in den sie gestellt sind, ihre Sache verstehn und
ihrer Aufgabe gewachsen sind. Alle andern sind nicht tanti, besonders nicht
die Schwätzer, die Windhunde und die eiteln Großsprecher und konventionellen
Scheinmenschen. Daß mein Freund selbst in seinem Berufe tanti ist, darüber
giebt es nur eine Stimme bei Freund und Feind.
Mein Freund Tauti ist ein Greuzbotenleser, und ich kann ihn auch wohl
als Grenzbotenfreund bezeichnen. Freilich ist ihm nicht jeder Aufsatz und jedes
Wort recht, und zuweilen räsonniert er darüber, daß dieser oder jener Ver¬
fasser eines Aufsatzes uicht tanti sei. Wieweit er damit im Rechte ist, mag
dahingestellt bleiben, denn tanti sein bleibt immer ein relativer Begriff, und
mein Freund Tanti ist der letzte, der sich in aller und jeder Frage für tanti
halten wollte. Aus Anlaß der jüngst in den Grenzboten gestreiften Frauen-
frage*) kamen wir kürzlich in ein eingehendes Gespräch über diese. Seltsamer¬
weise machten wir beide den Vorbehalt, daß wir uns auf diesem Gebiete nicht
recht tanti fühlten. Und damit mögen wir wohl beide Recht gehabt haben.
Aber darin waren wir doch einig, daß die Sache selbst von größter Wichtigkeit
für unser soziales und das gesamte öffentliche Leben sei, und daß sich jeder
gebildete Deutsche in der Frage ein Urteil verschaffen und Stellung nehmen
müsse. Gewiß ist die Frage noch im Flusse, und sie ist in ihrem ganzen Uni¬
fange schwer zu übersehen. Wenn wir in diesem Sinne uns auch nicht zu¬
trauten, das gesamte Gebiet der Frauenfrage zu beherrschen oder sie zu lösen,
so kamen wir doch darin überein, daß es sich um eine Reihe wichtiger Einzel¬
fragen dabei handle, denen man scharf ins Gesicht sehen, und die man mit
nüchternem, gesundem Menschenverstande prüfen könne und müsse.
Das gab ein ernstes und für uns beide interessantes Gespräch, dessen
Niederschlag ich notiert habe. Und da die von uns durchgesprochnen Einzel¬
fragen ohne Zweifel heutzutage viele Männer und Frauen bewegen, so mögen
die Ergebnisse unsrer Unterhaltung in aller Bescheidenheit hier folgen.
Im Laufe des letzten Jahres ist auf dein Gebiete der Frauenfrage an¬
scheinend eine gewisse Beruhigung eingetreten. Die Forderungen der Frauen¬
rechtler und Frauenanwälte sind zwar nicht verstummt, sie mögen indessen
immerhin weniger stürmisch und weniger laut aufgetreten sein. Es wäre aber
eine Täuschung, anzunehmen, daß damit die Frage selbst von der Tagesord¬
nung der öffentlichen Erörterung zu verschwinden begonnen hätte. Die Frage
besteht und ist im wesentlichen ungelöst. Sie ist eine der großen Kulturfragen
der Zeit, die wohl zeitweise einmal mehr oder weniger in den Hintergrund
treten können, die aber immer wieder mit naturnotwendiger Gewalt hervor¬
brechen werden, bis eine dem innersten Wesen unsers Volkstums entsprechende
Lösung wenigstens angebahnt und in den Gemütern mächtig geworden sein
wird. Die augenblickliche größere Ruhe ist nur Schein.
Zwei große Strömungen muß man in der heutigen Frauenbewegung be¬
grifflich und praktisch scharf auseinanderhnlten, und das um so mehr, als sie
absichtlich und unabsichtlich, bewußt und unbewußt vielfach miteinander ver¬
mengt werden und dann ineinanderzufließen scheinen. Das ist einmal die
Forderung der Frauenemanzipntion, der sozialen, politischen, rechtlichen Gleich¬
stellung der Frau mit dem Manne, und sodann das Verlangen nach Erweite¬
rung der anständigen Erwerbsthätigkeit für Frauen.
Die ganze Emanzipationslehre ist, wie Treitschke sagt, verrückt.*) Was von
der Natur so grundverschieden angelegt und entwickelt ist, wie die beiden Ge¬
schlechter, läßt sich schlechterdings nicht als gleichartig behandeln. Wenn die
Sozialdemokraten einstweilen die Frnuenemanzipation unter ihre Flügel nehmen,
so geschieht das, um sich das höchst wertvolle Agitationsmaterial der unzu¬
friednen, begehrlichen und durch Logik nicht genierten Weiber nicht entgehn
zu lassen. Überdies hat die ganze sozialdemokratische Treiberei in der gleißenden
Betonung der angeblichen absoluten Gleichheit der Menschen denselben unver¬
nünftigen und unnatürlichen Zug wie das Geschrei nach rechtlicher und poli-
tischer Gleichstellung der Frau mit dem Manne, Es ist nur zum verwundern,
daß dieser Gleichheitsschwindel überhaupt noch so viel Zugkraft zeigt, nachdem
er seit der französischen Revolution geschichtlich gerichtet und abgethan ist.
Von den drei großen Revolutionslosnngen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
haben die erste und die letzte, mir Arg.no salis verstanden, einen guten Sinn,
und es läßt sich verstehn, daß Meuschen, ja Völker dafür in den Tod gehn.
Aber die Lehre von der absoluten Gleichheit ist von vornherein unsinnig, weil
widernatürlich. Nicht zwei Menschen sind einander gleich, und die völlig be¬
rechtigten Ansprüche der Menschen auf Wahrung und Achtung ihrer Indivi¬
dualität, der instinktive Widerwille gegen alle schablonenhafte Gleichmacherei,
alles das ist nichts andres, als ein natürlicher Protest gegen die widernatür¬
liche Lüge der absoluten Gleichheitstheorie. Am allerverkehrtesten ist die immer
wieder auftauchende Behauptung der Gleichheit von Mann und Weib. Man
braucht dabei gar nicht von der landläufigen Annahme der Jnferioritcit des
Weibes auszugehn. Im Gegenteil. Die Frau ist in gewissen Potenzen dem
Manne zweifellos überlegen, und sie ist ihm sittlich gleichwertig. Ebenso
zweifellos ist aber das weibliche Geschlecht nach bestimmten andern Richtungen
hin das schwächere. Grundverschieden ist die weibliche Natur jedenfalls von
der männlichen physiologisch, psychologisch, leiblich, seelisch und geistig. Diese
Verschiedenheit läßt sich nicht ausgleichen, und weil sie naturgesetzlich besteht,
so sind alle Versuche, das Weib dem Manne im Sinne des Rechts gleich¬
zustellen, grundverkehrt und nicht nur aussichtslos, sondern sie schlagen der
Kultur ins Angesicht und rächen sich bitter an dem Volkstum, das sich dieser
unnatürlichen Bestrebungen nicht mit sittlicher Kraft zu erwehren weiß. Immer
sind es Zeiten der sinkenden Kultur gewesen, Zeiten der Lockerung aller Bande
der Sitte und Zucht, in denen die verlognen Emanzipationstheorien vorüber¬
gehend Boden zu gewinnen schienen. Mit Recht sagt Treitschke: „Das natür¬
liche Gefühl der Menschen hat zu allen Zeiten beide Geschlechter auseinander
gehalten, und die verschiedne Tracht der Männer und der Weiber ist ein immer
wiederkehrender Protest der menschlichen Kultur gegen die verrückte Emanzi¬
pationslehre." Seltsam genug, daß sich gerade in unsrer Zeit diese thörichte
Unnatur mit verstärkten Ansprüchen wieder ans Licht wagt. Freilich bei uns
in Deutschland immer noch weniger zahlreich und unverfroren, als in England
und Amerika. Noch ist glücklicherweise unsre deutsche Kultur zu stark und zu
gesund, als daß von diesem rüden und radikalen Flügel der Frauenbewegung
eine unmittelbare Gefahr zu besorgen wäre. Noch sind doch die deutschen
Frauen, die dafür eintreten, ziemlich vereinzelt geblieben, und diese emanzi¬
pationslüsternen Vorkämpferinnen wirken ans die Menge der deutscheu Frauen
durchweg mehr abschreckend als verführerisch. Noch kann man mit gutem
Grunde behaupten, daß die deutsche Frau hohen, mittlern und niedern Standes
der Emanzipationsbewegung fast verständnislos, sicher aber abweisend, ja mit
Verachtung und Entrüstung gegenübersteht. Ein gutes und hoffnungsreiches
Zeichen der Zeit beim Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Freilich sind die Grenzen auch auf diesem Gebiete flüssig geworden. Un¬
klare Gedanken, die in ihren tiefern Ausgangspunkten und mit ihren Kon¬
sequenzen weit in die Unnatur der Emanzipativnstendenzen hineinreichen,
spielen mit größerer oder geringerer Klarheit much in die relativ berechtigten
Strömungen der Frauenbewegung hinein. Und diese Verquickung gesunder
Bestrebungen mit falschen Gedanken ist es vornehmlich, wodurch die Ge¬
winnung eines nüchternen Urteils über die heutige Frauenbewegung er¬
schwert wird.
Relativ berechtigt ist das Verlangen nach einer Erweiterung der an¬
ständigen Erwerbsthätigkeit für weibliche Personen. In allen Kulturvölkern
überwiegt die Zahl der Frauen notorisch die der Männer, in Preußen um
rund eine Million. Und noch immer wachst dieser Überschuß des weiblichen
Geschlechts in steigender Progression. Eine der wirksamsten Ursachen dieses
Mißverhältnisses ist die erschwerte Gründung eines Hausstands in den sozial
und wirtschaftlich besser gestellten Klassen. Wir sind, volkswirtschaftlich an¬
gesehen, reicher geworden. Aber mit der Güterproduktiou und ihrer ertrag¬
reichen Verwertung, mit dem kaum je dagewesenen Aufschwünge des Volks¬
wohlstands ist auch die Kluft zwischen Begüterten und Minderbegüterten größer
geworden, und neben der steigenden Wohlhabenheit der Industrie und des
Handels, sowie gewisser Zweige der geistigen Produktion lassen sich die viel¬
fachen Klagen über die Not der Landwirtschaft, der Gutsbesitzer und Bauern
nicht überhören und für große Bezirke nicht als unbegründet, zuweilen nicht
einmal als übertrieben bezeichnen. Wohl aber hat sich der Kaufwert des
Geldes verringert, und die auf eine zwar sichere, aber fest beschränkte Geld¬
einnahme angewiesenen Berufe, namentlich der Beamten- und Gelehrtenstand
leiden darunter um so empfindlicher, als durch die größere Menge des zirku¬
lierenden Geldes die Ansprüche an den einzelnen Haushalt, an seine Lebens¬
haltung allmählich in früher ungeahnter Weise gesteigert worden sind. Diese
Steigerung aber folgt festen wirtschaftlichen Gesetzen. Der einzelne kann sich
ihr, wenn sie ihm bewußt wird, meist nnr schwer, oft — auch beim besten
Willen — überhaupt nicht entziehn. Daraus erwachsen dann die Mißstände
depravierender Geldheiraten, und soweit es dazu nicht kommt oder kommen
kann, die sittlichen und sozialen Gefahren eines in erschreckendem Umfange zu¬
nehmenden freiwilligen oder unfreiwilligen Cölibats der Männer. Daraus aber
ergiebt sich auf der andern Seite eine unverhältnismäßig und unnatürlich
große Zahl unverheiratet bleibender Frauen. Diese müssen wohl oder übel
nach Lebensberufen suchen, um sich ein anstündiges Durchkommen zu verschaffen.
Der Ausdruck dieses Suchens und des stürmischen Anspruchs auf staatliche
und gesellschaftliche Hilfe dabei ist die moderne Frauenbewegung. Es ergiebt
sich hieraus von selbst der verwickelte Komplex sittlicher, psychischer, physischer,
politischer, sozialer, wirtschaftlicher und Erziehungsfragen, der sich unter dieser
allgemeinen Bezeichnung verbirgt.
Also Erweiterung der weiblichen Berufe. „Der eigentliche Beruf des
Weibes, sagt Heinrich von Treitschke mit Recht, wird zu allen Zeiten das
Haus und die Ehe sein. Das Weib soll Kinder gebären und erziehn. Ihrer
Familie soll die Frau den lautern Quell ihrer fühlenden, liebevollen Seele
spenden, Zucht und Sitte, Gottesfurcht und heitre Lebensfreude nähren und
Pflegen. Nur so wird das Weib segensreich wirken. Freilich kann sie das
nicht in der Ehe des sozialdemokratischen Normalstaats der Zukunft, der Mann
und Weib dieselbe Thätigkeit geben will, wie sie in heutigen Fabriken manch¬
mal dieselbe Beschäftigung haben. Dadurch hat das Weib eine scheinbare
Gleichberechtigung mit dem Manne. Es ergiebt sich aber damit auch von selbst
die Auflösung aller häuslichen Liebe und Zucht, und die Ehe verwandelt sich
in ein Konkubinen. Es entstünde auf diese Weise nur eine gewaltsame und
künstliche Gleichberechtigung; denn darauf, daß der Mann die Ernährung, die
Frau die Erziehung und Ordnung im Hause leitet und bei der Produktion
nur nebenbei hilft, darauf beruht die Festigkeit des häuslichen Bandes bei den
meisten Menschen. Wer wirklich ein Herz hat für die untern Stände, der
wird umgekehrt zu dem Schluß kommen, daß es Aufgabe der Sozialpolitik ist,
soviel wie möglich dafür zu sorgen, daß gar keine Frauen mehr in den Fa¬
briken thätig sind. Es muß dahin kommen, daß der Fabrikarbeiter durch seine
Arbeit allein genug erwirbt, um seine Familie ernähren zu könne::. Daß aber
die Frau in die Fabrik geht, und daß damit die Mahlzeit und alle Bequem¬
lichkeiten des häuslichen Lebens fortfallen, führt zur völligen Zerstörung
der Ehe."
Welcher nüchterne, gesittete Freund des Volkes möchte dieser gesunden
Auffassung nicht beipflichten? Wenn aber Millionen Mädchen unter den heu¬
tigen Verhältnissen überhaupt nicht heiraten können, so bleibt nichts andres
übrig, als nach einem annähernd befriedigenden Ersatz ihres natürlichen Berufs
und nach einem aufkündigen und schicklichen Erwerbe für sie zu suchen, der
ihnen den nötigen Lebensunterhalt zu gewähren vermag.
Die Verhältnisse, aus denen sich dieses Drängen nach Erweiterung der
anständigen Erwerbsthätigkeit für Frauen ergiebt, datieren nicht von gestern
und heute. Sie haben sich — anfänglich kaum bemerkt und schwer erkenn¬
bar — parallel mit dem Umschwunge unsers ganzen wirtschaftlichen und so¬
zialen Lebens innerhalb der letzten zwei Drittel des neunzehnten Jahrhunderts
ganz allmählich entwickelt. Damit ist denn auch ganz natürlich ebenso all¬
mählich schon eine Erweiterung der Frauenarbeit eingetreten. Frauen leisten
heutzutage eine ungeheure Menge produktiver Arbeit, auch solcher, woran die
Frau des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht gedacht hat und zum Teil auch
nicht denken konnte. Freilich thun — und das ist die Rückseite der Medaille —
Frauen heutzutage viele Arbeit nicht mehr, die sie nach ihrer natürlichen Anlage
und Bestimmung in früherer Zeit in weit größeren Umfange gethan haben.
Ein großer Teil der heute unter der Flagge der Frauenfrnge geführten Kämpfe
bewegt sich um die Entscheidung, wie der Kreis der den Frauen zugänglichen,
für sie schicklichen und von ihnen gesuchten Arbeit abzugrenzen sei. Im Zu¬
sammenhange damit stehn dann die Fragen der Frauen erziehung, der Frauen¬
bildung und der Berufsvorbildung der Frauen, um die der Kampf am wil¬
desten getobt hat und noch tobt.
Hier muß man, um ein Urteil zu gewinnen, auf Einzelheiten eingehn.
Man muß die verschiednen Arten und Zweige der Frauenarbeit auf ihre
Schicklichkeit, ihren Umfang, ihre geschichtliche Entwicklung, ihren Kultur¬
zusammenhang und Kulturwert näher ansehen. Selbstverständlich kann das
hier nicht erschöpfend geschehn. Wir müssen uns auf einzelne typische und im
Vordergrunde des allgemeinen staatlichen und gesellschaftlichen Interesses stehende
Gruppen beschränken.
Zwar nicht nach ihrer Bedeutung für die Frauenfrage im Sinne der über
diese zur Zeit schwebenden öffentlichen Erörterungen, wohl aber nach ihrer Zahl
stehn hier im Vordergrunde die Mädchen und Frauen des sogenannten vierten
Standes, oder wie man sich — nicht ganz zutreffend — auch wohl auszu¬
drücken pflegt, der arbeitenden Klassen. In Bezug auf sie ist für das platte
Laud, für die Frauen und Töchter der landwirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung
von einer Frauenfrage glücklicherweise kaum die Rede. Auf dem Laude bestehn
vielfach noch naturalwirtschaftliche Verhältnisse. Wenn auch nicht mehr in dem
frühern Umfange spielt hier die unmittelbare Selbstversorgung der Familie noch
immer eine große Rolle. Dabei haben sich die Frauen von jeher sowohl an
der Rohproduktion wie an der Stoffverarbeitung in sehr erheblichem Maße be¬
teiligt. Und diese Beteiligung läuft in: großen und ganzen auch heute uoch
in altgewohnten Bahnen. Frauen und Mädchen helfen hier in allerhand
körperlicher, auch schwerer Arbeit nach wie vor. Sie freien und werden ge¬
freit in wesentlich gleicher Zahl wie früher, und man wird hier von einem
merklich größern Prozentsätze ehelos bleibender Mädchen im Vergleich zu der
Zeit vor fünfzig Jahren kaum reden können. Für die landwirtschaftlichen
Arbeiterinnen giebt es eine Frauenfrage im modernen Sinne nicht, weder für
die weiblichen Dienstboten, noch auch für die Lohnarbeiterinnen auf dem Lande.
Allerdings machen sich auch hier moderne Züge einer allmählich hereinflutenden
Dissolution bemerklich. Mehr als früher gehn auch Mädchen und Frauen mit
den Männern auf die Wanderschaft, um lohnendere Arbeit zu suchen. Unter
den sogenannten Sachsengüngern finden sich neben den Männern viele Tausende
von Frauen und Mädchen. Die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, liegen
nahe genug. Aber zum großen Teil kehren sie gleich den Männern nach der
Ernte-, Rüben- und Kartoffelkampagne in die Heimat zurück. Für sie kommt
es wesentlich darauf an, daß sie durch eine gute Volksschule kruse der allge¬
meinen Schulpflicht geistig und leiblich, religiös und sittlich in verständiger
Weise erzogen werden. Wenn sie heranwachsen, so übernimmt neben der
Schule die Mutter und der elterliche Haushalt die Ausbildung in den weib¬
lichen Tugenden und Fertigkeiten, deren sie als künftige Frauen und Mütter
bedürfen. Es bedarf nicht der Bevorwortung, daß auch in diesen Verhält-
rissen noch genug und übergenug zu wünschen übrig bleibt, und daß hier große
und für die gesunde Entwicklung des Volkslebens entscheidende Aufgaben,
namentlich auf dem Gebiete der Schule und der Erziehung noch ungelöst oder
doch ungenügend gelöst vor uns liegen, Aufgaben, deren Verkennung und Ver¬
nachlässigung sich bitter rächen müßte. Aber von dem, was man heutzutage
die Frauenfrage nennt, liegen diese Verhältnisse zur Zeit immerhin noch ziem¬
lich weit ab, womit nicht gesagt sein soll, daß nicht auch diese Schichten der
weiblichen Bevölkerung beim Fortschreiten des Staats und der Gesellschaft auf
verkehrten Wegen noch einmal sehr merklich in den Bereich der Frauenfrage
hineingeraten können und werden. Darauf näher einzugehn bietet aber die
Erörterung der heutigen Frauenfrage zunächst keinen genügenden Anlaß.
Ganz anders liegt die Sache bei der weiblichen Bevölkerung der soge¬
nannten arbeitenden Klassen in den Städten und Industriebezirken, oder um
die Gruppen, die hier in Betracht kommen, gleich bei dem rechten Namen zu
nennen, bei den städtischen weiblichen Dienstboten, den Fabrikarbeiterinnen und
dem weiblichen Arbeitspersonal der Hausindustrie. Von diesen Gruppen läßt
sich heute leider nicht mehr mit Grund behaupten, daß sie höchstens an der
Peripherie der Frauenfrage stünden.
statistisch unterliegt es keinem Zweifel, daß die Zahl der weiblichen
Dienstboten, und nicht etwa bloß der guten, im Abnehmen begriffen ist, eine
Erscheinung, deren Gründe nahe genug liegen. Der Begriff des Dienens ist
allmählich in Mißkredit gekommen. Das Verständnis für die Würde des
Dienens verschwindet mehr und mehr. Es versteht sich von selbst, daß daran
nicht die Volksschichten, aus denen das weibliche Gesinde hervorgeht, die
alleinige Schuld tragen; ja es ist sehr wahrscheinlich, daß der größere Anteil
an dieser Schuld und an der Dienstbotennot überhaupt auf der Seite der
Dienstherrschaften liegt. Die Dienstbotenfrage läßt in einen wahren Abgrund
moderner sozialer Not, Schuld und Verkümmerung sittlicher Begriffe schauen.
Darüber ließe sich ein Buch schreiben, und es sind auch schon Bücher darüber
geschrieben worden. Hier kommt es uns nur darauf an, die Thatsache hervor-
zuHeben, daß aus der Verachtung des Dienens in den Klassen, aus denen sich
die weiblichen Dienstboten ergänzen, ein sich immer schneller vollziehendes
Hinabgleiten des weiblichen Gesindes in die Zahl der Fabrikarbeiterinnen und
hausindustriellen Arbeiterinnen erwächst. Diese Mißachtung des Dienstboten¬
verhältnisses beruht nicht bloß auf verkehrten sittlichen Begriffen, sondern zu¬
gleich auf weitverbreiteten wirtschaftlichen Irrtümern. Die Mädchen, die nicht
dienen wollen und lieber in die Fabrik gehn oder gewerbliche Hausarbeiterinnen
werden, täuschen sich in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen über die
wirtschaftliche Lage, der sie entgegen gehn. Das Dienstbotenverhältnis gewährt
ihnen nicht nur einen unvergleichlich größern persönlichen Schutz und sittlichen
Halt, sondern auch, ganz abgesehen davon, daß der Gesindedienst eine unver¬
gleichlich gute Schule der Erziehung und Vorbereitung für den künftigen eignen
Hausstand bietet, durchschnittlich einen weit gesichertem Lohn, bessere Ernäh¬
rung, Wohnung, ja selbst Kleidung, kurz, eine bessere wirtschaftliche Lage, als
sie sich solche durch freie gewerbliche Arbeit zu verschaffen vermögen. Dies
alles kann hier nicht eingehender ausgeführt werden, aber diese Andeutungen
genügen, die Einbeziehung der weiblichen Dienstboten in die moderne Frauen¬
frage als begründet erscheinen zu lassen. Und hier ist ein Punkt, wo der
namentlich von sozialdemokratischer Seite, leider aber auch von nicht wenigen
Frauenvereinen nichtsozialistischen Gepräges propagierte Unsinn der Emanzipa¬
tionsphrasen einsetzt, um die Mädchen und Frauen der dienenden Klasse mit
wahrhaft dämonischen Verführungskünsten zu bethören. Die freien Fabrik¬
arbeiterinnen sind mit verschwindenden Ausnahmen von ihrer eignen Familie
völlig und in der weitaus größern Mehrzahl von jedem Familienverbande und
Familienanschluß losgelöst, und wo sie sich etwa noch in Bezug auf Wohnung
und Kost an eine andre Familie anlehnen, sind sie auch für diese in der Mehr¬
zahl der Fälle nur ein Objekt schonungsloser wirtschaftlicher Ausbeutung,
Morgens gehn sie in die Fabrik, mittags ins Speisehaus, in die Volksküche
oder Butike, und nach Feierabend ist ihr Ziel der Tanzboden, das Tingel¬
tangel oder die Musikkneipe. Dorthin und an die Verkaufsstellen des elen¬
desten Kleidungs- und Pntzflitters tragen sie den sauer verdienten Lohn,
lechzend nach den Emotionen der Vergnügungen, die weder Freude noch Be¬
friedigung gewähren und mit ihrem schalen Gifte Leib und Seele auszehren
und verderben. Auf diesem Boden und in den von fanatischen Hetzern und
Hetzerinnen geleiteten Weiberversammlungen erwächst dann der glühende Haß
und Neid gegen die besitzenden Klassen und gegen die noch bestehende soziale
und bürgerliche Ordnung. Hier liegt die Hochburg des unglücklichen weib¬
lichen Proletariats, gar nicht zu gedenken der Gefahren des immer weiter ab¬
wärts sinkenden sittlichen Bewußtseins und des Verlustes der Scham und aller
natürlichen, edlern, weiblichen Instinkte. Verhältnismäßig treten nur wenige
der freien Fabrikarbeiterinnen in die Ehe. Aber auch wo dieses geschieht,
wirkt die Summe der unnatürlichen Verhältnisse hindernd und zerstörend in
der Ehe weiter. Ein geordnetes Familienleben kommt selten zu stände, und
der Nachwuchs aus diesen Ehen verfällt dem Fluche der unnatürlichen und
unreinen Verhältnisse, unter denen sie geschlossen und geführt werden, noch
schneller und sichrer als die Eltern. Konkubinat und Prostitution sind die
Sumpfpflanzen, die hier ihren Nährboden finden.
Fast in noch schrecklicherm Umfange als die eigentlichen Fabrikarbeiterinnen
leiden unter diesen entsetzlichen Zuständen die Frauen und Mädchen in der
Hausindustrie, wenigstens in gewissen Zweigen des Hausgewerbes, wie die
Hausarbeiterinnen für die Konfektionsgeschäfte, die Mäntel- und Hemdennühe-
rinnen, die Strickerinnen und Stickerinnen und ähnliche. Hier ist die Kon¬
kurrenz schon um deswillen größer, weil sich hier Frauen und Töchter besser
gestellter Familien, ohne daß es öffentlich bemerkt wird, einen Nebenverdienst
zu verschaffen suchen, und weil diese, da sie auf diesen Erwerb ihrer Hände
nicht ausschließlich angewiesen sind, mächtig auf die Höhe des Lohns drücken.
Die Zustände auf diesem Gebiete sind zum Teil geradezu unbeschreiblich; es
kann sie sich auch jeder selbst wenigstens annähernd ausmalen. Andrerseits
darf nicht unerwähnt bleiben, daß sich auf dem Gebiete der häuslichen gewerb¬
lichen Frauenarbeit auch Lichtblicke zeigen, die bei den eigentlichen Fabrik¬
arbeiterinnen fast ganz fehlen. Es giebt hier zahlreiche Fälle, wo ein geord¬
netes Familienleben durch gewerbliche Hausarbeit von Frauen aufrecht erhalten
wird. Verarmte Familien ermöglichen nicht selten durch diese verborgne Arbeit
ihre Existenz. Mütter mit erwachsenen oder heranwachsenden Töchtern fristen
dadurch nicht bloß ihr gemeinsames Familienleben, sondern nicht selten gelingt
es der sich rastlos abmühenden Wirtschaftlichkeit solcher Frauen, sich zu einer
einigermaßen gesichertem Lage emporzuarbeiten, ja sogar eine gewisse Selb¬
ständigkeit zu erreichen, wie dies namentlich bei Schneiderinnen, Näherinnen,
Flickerinnen und namentlich Wäscherinnen und Aufwärterinnen öfter der Fall
ist, als man gewöhnlich annimmt. Diese günstigern Fälle in der gewerblichen
Hausarbeit der Frauen sind namentlich darauf zurückzuführen, daß das Haus¬
gewerbe im Gegensatz zu der Stellung der Fabrikarbeiterin Raum für die ge¬
meinsame Wohnung der Familie läßt, ja daß es einen privaten Wohnraum
in ganz andrer Weise zur Voraussetzung hat, als die Arbeit in der Fabrik.
Die eigne Wohnung aber weckt von selbst eine ganze Reihe natürlicher guter
Eigenschaften des Weibes zu unmittelbarer Bethätigung. Die gemeinsame
Wohnung der in der Hausindustrie und auch in dem kleinern häuslichen Ge¬
werbe thätigen Frauen kommt dem natürlichen Zuge der Frau nach Ordnung,
Sauberkeit, Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und nach einem wenn auch noch so
dürftigen häuslichen Behagen entgegen, und darauf sind die Spuren natür¬
lichen Segens und die Keime sozialer Gesundung, die jeder sehen muß, wenn
er die Verhältnisse auf diesem Gebiete eingehender beobachtet, Wohl hauptsächlich
zurückzuführen.
Immerhin wird nach alledem ersichtlich sein, ein wie bedeutsames Stück
der Frauenfrage in den Verhältnissen der städtischen Dienstboten, der Fabrik¬
arbeiterinnen und der in der Hausindustrie thätigen Frauen beschlossen liegt.
Natürlich hat dieses Elend längst die Augen der Volkswirte und Sozinl-
politiker auf sich gezogen, und mit ihnen hat die thatkräftige Liebe zum
Nächsten, mag sie auf religiösen oder humanitären Beweggründen beruhn,
nach Mitteln gesucht, um diesem ungeheuern Elende abzuhelfen.
Was die weiblichen Dienstboten anbetrifft, so liegt ein wichtiger Teil der
Aufgabe auf dem Gebiete der Schule, der andre Teil aber im wesentlichen
bei den Dienstherrschaften. Bei der Schule ist nicht ausschließlich an die Volks¬
schule zu denken, sondern mit Rücksicht auf die Dienstherrschaften auch an die
höhere Schule, insbesondre die höhere Mädchenschule. Die Art und Weise
hier abzuhandeln, wie die Schule diese besondre Aufgabe zu lösen habe, ist,
selbstverständlich ausgeschlossen. Wenn nur die Leiter der Volksschule und die
Lehrer in ihrem Amte überhaupt ihre volle Pflicht und Schuldigkeit thun,
dann wird auch ein beträchtlicher Teil der Verirrung und Verwirrung schwinden,
womit das Dienstbotenverhältnis heutzutage vergiftet ist. Wenn es nur ge¬
länge, die ernste Aufmerksamkeit der Schulkreise auf dieses Sondergebiet zu
richten, so wäre schon viel erreicht. Das wäre wirklich einmal ein praktisches
und fruchtbares Thema für Lehrerkonferenzen, Lehrervereine und Lehrertage,
viel praktischer, als die Erörterungen über die unglückselige Illusion einer
allgemeinen akademischen Bildung für die Volksschullehrer, worüber seit einigen
Jahren — zum Schaden für die den Lehrern so sehr zu wünschende all¬
gemeine, öffentliche Achtung und Anerkennung — viel leeres Stroh gedroschen
worden ist.*)
Aber die Schule allein thut es nicht und kann es nicht thun, weder bei
der dienenden Jugend, noch bei denen, die sich dienen lassen. Und da es sich
hier um sittliche Einwirkungen handelt, da es darauf ankommt, auf beiden
Seiten die Würde des Dienens als Beruf wieder zu Ehren zu bringen und
Liebe zu säen, um Liebe zu ernten, so darf man hier anch an der Kirche nicht
vorbeigehn. Zwar ist die Kirche auf dem Gebiete der Heilung sozialer Schäden
heute — es ist das bedauerlich genug — einigermaßen in Mißkredit geraten,
und zwar mehr noch in den evangelischen als in den katholischen Teilen unsers
Vaterlands, und der Einfluß der evangelischen Predigt und selbst der Seel¬
sorge auf unser Volksleben wird in der großen Menge unsrer Bevölkerung,
auch in nichts weniger als kirchenfeindlichen Kreisen, verzweifelt gering ein¬
geschützt. Wie man aber auch hierüber denken mag, die organisierten Kirchen
bestehn doch noch, sie sind thatsächlich noch eine Macht, sie üben noch immer
merklichen Einfluß, und was mehr bedeutet, dieser Einfluß ist in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht bloß breiter, sondern auf bestimmten
Gebieten auch wieder tiefer geworden. Es mag sein, daß die Kirche nicht
immer an den rechten Punkten und in der rechten Weise eingesetzt hat, aber
eingesetzt hat sie, und ihrer großen erzieherischen Aufgabe ist sie sich immerhin
je länger je mehr bewußt geworden. Man muß, um hier klar zu sehen und
gerecht zu urteilen, nur vermeiden, Kirche und Geistlichkeit zu identifizieren.
Dies alles läßt sich auch für die katholische Kirche uicht mit Grund bestreiten,
so wenig uns Evangelischen ihre fortschreitende Petrifizierung, d. h. ihr wach¬
sendes ültramontanes Gepräge gefallen mag. Recht eigentlich aber trifft es
zu bei den evangelischen Kirchen. Soviel an der Bildung, Vorbildung. Er¬
ziehung und Wirksamkeit vieler evangelischen Geistlichen auszusetzen sein mag,
und so dringend hier eine gründliche Wandlung erstrebt werden muß, durch
die evangelischen Kirchen geht zweifellos heute ein frischerer und thatkräftigerer
Zug. Das glückliche und zu rechter Zeit gesprochne Wort des Fürsten Bis-
marck vom praktischen Christentum ist nicht leerer Schall und Rauch geblieben.
In vielen Herzen hat es Wiederhall gefunden, und es hat begonnen Frucht zu
tragen. Die innere Mission der evangelischen Kirche ist eine große Macht
geworden, und ihre Segensspuren lassen sich auch in unserm Volksleben deutlich
genug erkennen. Gegen diese Thatsache kann auch der nüchterne und kühle
Beobachter die Augen nicht verschließen. Und von da aus läßt sich auch für
das Elend der Dienstbotenwelt auf Besserung, Hilfe und Heilung hoffen.
Man vergegenwärtige sich nur einmal die weitreichenden, segensreichen Ein¬
wirkungen der Diakonissenarbeit, die recht eigentlich eine Apotheose des Dienens
als Lebensberuf ist. Auf die innere Mission, mag sie in engerm oder mehr
lockerm Verbände mit der organisierten Kirche stehn, sind eine ganze Reihe
von Erscheinungen im Volksleben zurückzuführen, die auch für die Dienstboten¬
frage als das Morgenrot einer bessern Zeit erscheinen. Man kann schon heute
mit gutem Grunde sagen, daß durchschnittlich die Haltung der Dienstherrschaften
ihrem Gesinde gegenüber humaner, rücksichtsvoller, nachsichtiger, ja sogar lieb¬
reicher und meinetwegen christlicher oder mehr dem Evangelium entsprechend
zu werden begonnen hat. Freilich mögen sich viele Dienstherrschaften zu diesem
menschlichem Verhalten gegen ihre Dienstboten mehr der Not gehorchend als
dem eignen Triebe bequemen. Das mag schon sein. Aber die Anfänge der
Besserung machen sich bemerkbar, und wo es zu sprossen anfängt, da darf
man den nicht schelten, der auf Blüten und Früchte hoffen zu dürfen glaubt.
Pessimistisch der Dienstbotenfrage gegenüberzustehn, haben wir also weder Anlaß
noch Recht. Daß Schäden dieser Art nicht über Nacht und nicht von heute
zu morgen heilen, versteht sich von selbst, und mit einiger, vielleicht mit vieler
Geduld wird man auch diesem wie jedem Heilungsprozeß gegenüberstehn müssen.
Aber hoffnungslos ist dieser Schaden nicht.
Viel komplizierter liegt der Schaden wie seine Ausheilung bei den Fabrik-
und gewerblichen Arbeiterinnen. Zwar gilt das von den Dienstboten Gesagte
auch hier. Schule, Kirche und Erziehung werden das Übel auch hier an der
Wurzel zu bekämpfen bestrebt sein müssen, und die innere Mission mit ihren
trefflichen Mädchenheimen in den großen Städten, auch die Haushaltungs¬
und Kochschulen haben hier ein weites und dankbares Feld rettender, be¬
währender und erziehender Wirksamkeit. Aber die Fabrik- und hausgewerbliche
Arbeit der Frauen steht in weit größerm Maße als das Dienstbotenverhültnis
in unmittelbarem Zusammenhange mit den großen wirtschaftlichen Entwicklungen
der Produktion, der Lohnbewegungen, der Konjunkturen und der Konkurrenz.
Daraus ergiebt sich, daß hier wirksame Hilfe zur Abstellung vorhandner Miß-
ftünde wesentlich abhängt von dem Handeln der Arbeitgeber, sei es, daß diese
in ihrem eignen Interesse freiwillig humane Veranstaltungen treffen, um die
Arbeiterinnen zu schützen, zu beUmhren, zu sichern und zu heben (Wohnungen,
Schutzmaßnahmen, Konsumvereinsbestrebungen mit Unterstützung von den Be-
triebsnnternehmern u. a.), oder daß der Staat sie nötigt, sich im Interesse
nicht bloß der männlichen, sondern auch der weiblichen Arbeiter an den großen
Organisationen des Staats zum Schutze und zur Hebung der Arbeiter zu be¬
teiligen. Hierher gehören nicht nur die Vorschriften zum Schutze der arbeitenden
Frauen gegen Betriebsgefahren, die Vorschriften im Sinne der Gewerbehygiene,
die gesetzlichen Normen über die Arbeitszeit und ähnliches, sondern hierher
gehört namentlich die gesetzlich geordnete und geförderte Teilnahme der Arbeite¬
rinnen an der reichsgesetzlich organisierten Kranken-, Unfall-, Alters- und
Jnvaliditätsversicherung. Hierdurch ist diesem weiblichen Arbeitspersonal eine
— wenn auch zum Teil niedrig bemessene — soziale Fürsorge gesichert, die
auch von den Arbeiterinnen allmählich mehr und mehr wohlthätig empfunden
und gewürdigt zu werden scheint, während diese anfänglich ihrer Einbeziehung
in diese staatlichen Organisationen fast durchweg gleichgiltig, ja mißtrauisch,
hoffnungslos und ablehnend gegenüberstanden. Der Staat und die Gemeinden
haben ein auf der Hand liegendes Interesse daran, daß auch diese Arbeiterinnen
der Großindustrie und des Hausgewerbes in wirtschaftlich wenigstens erträgliche
und sozial befriedigendere Zustände gelangen und dadurch den Einflüssen der
wilden, revolutionären Gleichheitsprvpaganda entzogen und einem möglichst
befriedigenden, wirtschaftlich und sittlich gesicherten Dasein entgegengeführt
werden. Diese Andeutungen werden an dieser Stelle ausreichen, um den
tiefen Zusammenhang der Zustände der Fabrikarbeiterinnen mit der Frauen¬
frage hervorzuheben. Treitschke mag Recht haben, wenn er es als Aufgabe
der Sozialpolitik bezeichnet, soviel wie möglich dafür zu sorgen, daß keine
Frauen mehr in den Fabriken thätig sind. Es müßte bei normaler Entwick-
lung dahin kommen, daß der Fabrikarbeiter durch seine Arbeit allein genug
erwirbt, daß er seine Familie erhalten kann. Allein einstweilen bleibt diese
Perspektive noch ein ziemlich optimistisches Ideal, dem wir uns wohl nähern
können, das wir aber in absehbarer Zeit schwerlich verwirklicht sehen werden.
Dienstboten, Fabrikarbeiterinnen und hausgewerblich thätige Frauen sind
hiernach sicherlich weit enger mit der Frauenfrage verflochten, als man in der
Regel zu wissen und anzunehmen pflegt. Aber der Kern, der eigentliche
Mittelpunkt der modernen Frauenfrage sind sie nicht. Dieser liegt vielmehr
in den mittlern und höhern Schichten der Gesellschaft, und die Frauen dieser
Gesellschaftsschichten pflegt man vorzugsweise im Auge zu haben, wenn man
von der Frauenfrage spricht.
(Fortsetzung folgt)
ohne besondre Bewegung kann ich diesen Jahrgang der
entlassen, den,, es ist der erste, den ich aufgenommen
UL^M habe, und der nnr unter meinem Nektarate die Schule durch
gemacht hat, was keinen, meiner beiden lebten Vorgänger von
sagen verrinnt U'ar^ Aber U'cum ich liente die kleine
Schar betrachte, so erscheint sie mir wie eine Truppe, die von einem langen
mühseligen Marsche und aus scharfen Gefechten in die Quartiere einrückt. Denn
von den zweiundsechzig Sextanern, die mir zu Ostern 1891 den Handschlag
leisteten, sehe ich hier nur noch sechzehn, wenig mehr als den vierten Teil; die
übrigen sind unterwegs abgekommen, zurückgeblieben, abgegangen, einer ist auch
früher ans Ziel gelangt, und der Ersatz durch spätern Zuwachs unterwegs hat
bei weitem nicht genügt, die Lücken zu füllen. Noch sehe ich manche von Ihnen
vor mir als Knaben in kurzen Höschen, wie sie sich bei der Anmeldung halb
scheu, halb neugierig im Rektorzimmer umschauten und dann mit einer mehr
oder weniger gelungner Verbeugung empfahlen, und ich habe auch den tapfern
Jungen nicht vergessen, der dann als Quintaner, aus einer tiefen Kopfwunde
blutend, die er sich beim Umhertollen auf dem Spielplatze geholt hatte, am
Waffertrog stand und auf meine Anweisung: „Geh jetzt nach Hause und laß
dich verbinden," sofort entgegnete: „Aber ich darf doch morgen wieder in die
Schule kommen?" Die Wunde ist längst vernarbt, auch die Höschen sind ge¬
wachsen, und als Jünglinge in würdigem Schwarz sitzen die heute vor mir,
die vor neun Jahren hier an dieser Stelle als Knaben in die Schule auf¬
genommen wurden. Und sie sind auch innerlich gewachsen und reif geworden,
selbständig ihren Lebensberuf zu wählen und sich für ihn nach ihrer Weise vor¬
zubereiten.
Auch die Zeiten haben sich geändert. Damals standen wir noch unter
dem Drucke der Entlassung Fürst Bismarcks und sahen trübe zweifelnd in eine
ungewisse Zukunft, die uns weder frohe Hoffnungen noch ein großes Ideal
zu bieten schien. Heute haben wir wieder ein solches Ideal und die Zu¬
versicht, daß wir es unter der weitschauenden und energischen Führung unsers
Kaisers erreichen werden, wenn anders die Nation sich ihm nicht versagt. Daß
sie das nicht thut, daß sie sich dem großen Augenblicke gegenüber nicht als
ein kleines Geschlecht zeigt, wie sie es leider schon mehrfach gethan hat, wofür
sie dann schwer zu büßen hatte, dafür haben auch wir in unserm engen
Kreise, soweit wir es mit unsern Mitteln und Kräften vermochten, zu sorgen
versucht. Nicht nur durch die unmittelbare Belebung des vaterländischen und
monarchischen Sinnes im historischen und litteraturgeschichtlichen Unterricht und
in unsern patriotischen Festen, sondern auch dadurch, daß wir uns bemüht
haben, unsern Schülern den Zusammenhang mit unsrer alten tiefen klassisch¬
humanistischen Bildung zu vermitteln, auf der unsre Stärke beruht, die jetzt
die Welt mit Erstaunen, Bewundrung und Neid erfüllt. Denn dieses unser
Bildungswesen können uns die Fremden nun einmal nicht nachmachen. Wenn
man einst gesagt hat, der preußische Schulmeister habe bei Königgrätz gesiegt,
so kann man jetzt mit demselben oder mit besserm Rechte sagen: Unsre neue
Weltstellung beruht zu einem guten Teile auf der deutschen Schule aller
Stufen und Arten. Ein Hindernis für diesen Aufschwung ist sie jedenfalls
nicht gewesen, ist selbst das vielverschriene humanistische Gymnasium nicht ge¬
wesen. Es liegt also offenbar kein Grund vor, etwas Wesentliches daran zu
ändern, nach unerprobten fremden Vorbildern mit neuen Experimenten daran
herumzubessern, indem man etwa abermals die Ziele in den klassischen Sprachen
formell bestehn läßt, aber die ihnen gewidmete Stundenzahl und Arbeitszeit
verkürzt, um für angeblich Notwendigeres Raum zu schaffen, und dann, wenn
die „Reform" an diesem innern Widerspruche scheitert, pathetisch erklärt,
daß das Gymnasium ja doch nichts mehr leiste, also wert sei, daß es zu
Grunde gehe. Die Sache steht doch ganz einfach so. Entweder haben die
klassischen Studien wirklich noch den hohen Wert, der ihnen zugeschrieben
wird — dann verdienen sie die ihnen gewidmete Arbeit und Zeit; oder sie
haben ihn nicht mehr — dann lasse sie die Gegenwart im stolzen Selbst¬
genügen ganz fallen. Aber ihren Wert bestreiten und sie doch festhalten wollen,
das ist unklare Halbheit. Auch kein nationaler Grund spricht für eine weitere
Einschränkung. Kein modernes Volk kann seine Bildungsmittel allein aus
seinem geistigen Eigentum nehmen, denn sie stehn alle beständig gebend und
empfangend nebeneinander, und ihre Kultur beruht auf der gemeinsamen an¬
tiken Grundlage. Auch wir Deutschen können uns nicht in unsre teutonischen
Urwälder zurückziehn, und die nordische Mythologie ist uns trotz Richard
Wagner nicht lebendig — schon weil wir die eigentümliche Naturgrundlage, auf
der sie beruht, in Deutschland gar nicht haben —, denn eine hohe Kultur
kann ihr Bildungsideal ganz unmöglich aus einer barbarischen Urzeit, über¬
haupt nicht aus einer viel weniger entwickelten Vorzeit schöpfen, sondern nur
aus einer ihren: eignen Stande gemäßen oder überlegnen Geisteskultur. Darum
muß Goethes Ideal das unsre bleiben: die Verschmelzung des nationalen und
des klassischen Elements zu einer höhern Einheit. Lassen wir das fallen, dann
werden wir nicht einmal unsre eignen Klassiker mehr verstehn und den innern
Zusammenhang mit unsrer eignen Geisteskultur verlieren.
Allerdings: das Ziel des humanistischen Gymnasialunterrichts hat sich
wesentlich verschoben. Früher war es die Beherrschung der lateinischen Welt¬
sprache, jetzt ist es die Orientierung in der Kultur der klassischen Völker, vor
allem durch die gründliche Einführung in eine Anzahl ihrer Originalschrift¬
werke; die Sprachen sind uns nur noch Mittel zum Zweck. Was Sie mit
dem, was Sie bei uns gelernt haben, später einmal machen, ob Sie später
die antiken Klassiker auch gar nicht mehr ansehen und die Formen der grie¬
chischen Bedingungssätze oder die Vorschriften der lateinischen Moduslehre
Ihnen etwas verblassen sollten, darauf kommt es nicht an, nnr darauf, daß
Sie den Überblick über diese Kultur und ihre Sprachen einmal gewonnen
haben, den Ihnen die Universität, weil sie mehr und mehr in Fachhochschulen
zerfallen ist, nicht bietet, daß Sie gelernt haben, wissenschaftliche Dinge wissen¬
schaftlich, d. h. gründlich und quellenmüßig anzusehen und anzufassen, daß Ihnen
das Altertum zu Ihrer eignen geistigen Jugendzeit geworden ist, in die Sie
auch als Männer gern zurückschauen werden.
Aber weil heute die Wirksamkeit des Gymnasiums darauf beruht, daß wir
Ihnen lebendig machen, was wir Ihnen bieten, daß wir in Ihnen die Über¬
zeugung von dem hohen Werte dieser Kultur erwecken, ohne die alle unsre
Arbeit vergeblich wäre, so muß auch in uns leben, was wir lehren. Das ist
heute leichter als ehemals, weil sich die Kenntnis des antiken Lebens außer¬
ordentlich vertieft und erweitert hat, es ist aber auch wieder schwerer, weil
auch andre Interessen übermächtig auf uns eindringen und eine Beschränkung
wie früher ganz unmöglich geworden ist. Eins der allerwichtigsten Mittel dazu
ist die eigne Anschauung der klassischen Länder. Nicht daß sie unbedingt er¬
forderlich wäre; es giebt Gott sei Dank genug treffliche Lehrer, die niemals
in Italien oder Griechenland gewesen sind und doch Herz und Phantasie genug
haben, lebendig zu machen, was sie lehren; aber daß sie sehr wünschenswert
ist, das haben auch die deutschen Regierungen anerkannt, indem sie seit 1891
alljährlich eine Anzahl Schulmänner nach Italien schicken, und ich freue mich,
daß unter den zweiundzwanzig Altphilologen und Theologen — denn auch
diese kommen hier in Frage —, die unser Kollegium jetzt zählt, nicht weniger
als zehn, also fast die Hälfte, Italien oder Griechenland oder beides gesehen
haben. Daher soll man solche Reisen, auch wenn sie nicht unter der Leitung
des Kaiserlichen Archäologischen Instituts unternommen werden, von oben her
fördern, nicht erschweren, denn was etwa während dieser Wochen zu Hause
versäumt wird, das kommt reichlich wieder ein durch die Anregung und Er¬
frischung, die eine solche Reise bieten kann, wenn der Mann danach ist. Und
darum will ich heute sprechen über die Anschauung der klassischen Länder in
ihrem Werte für den klassischen Unterricht.
Vielleicht werden Sie fragen: Was geht das uns an, wie unsre Lehrer
sich für ihre Aufgabe vorbereiten? Ich denke, es geht Sie doch recht viel an,
sich einmal zu vergegenwärtigen, was auf Ihre Lehrer wirkt, und wie es wirkt,
und mancher von Ihnen, unter denen sich diesesmal drei für das Studium
der Philologie, sechs für Theologie entschieden haben, mag selbst in die Lage
kommen, nach dem Süden zu ziehn, und er mag es thun, sobald er kann,
aber nicht als Tourist, der die „Sehenswürdigkeiten" „abläuft," sondern als
ein wissenschaftlich gebildeter Mann, der ein inneres Verhältnis hat zu dem,
was er sieht und erlebt.
Der Wert dieser Anschauung besteht, kurz gesagt, darin, daß sie uns das
Altertum lebendig macht, einmal durch die unmittelbare Kenntnis der Länder
und Völker, die die Träger dieser Kultur gewesen sind, sodann durch die Er¬
kenntnis, daß das klassische Altertum in diesen Ländern heute noch fortlebt,
für sie selbst nichts Todes, sondern etwas Lebendes ist.
Ein guter Teil dessen, wovon wir im Gymnasium reden, ist ein Erzeugnis
fremder Völker auf fremdem Boden. Der Religionsunterricht führt die Schüler
nach Palästina, Ägypten, Mesopotamien, Kleinasien, die altphilologische Lektüre
nach Griechenland und Italien. Da ist es doch höchst wünschenswert, daß
der Lehrer wenigstens überhaupt einmal über die Grenzen des eignen Volks-
tums, des ganzen nordisch-germanischen .Kulturkreises hinausgekommen ist. Sonst
liegt die Gefahr nahe, entweder alles Fremde an dem Maßstabe des eignen
Volkstums zu messen, oder anch das Fremde in kritikloser Bewundrung zu
überschätzen. Wie lebendig wird dagegen alles, was aus einer auch fernen
Vergangenheit stammt, in dem Lande, wo sie sich abgespielt hat, unter dein
Volke, das auf demselben Boden, unter denselben natürlichen Bedingungen
lebt! Den Schauplatz können ja Karten und Bilder vergegenwärtigen, aber
die scharfe, farbenreiche Beleuchtung, den Gegensatz zwischen der brennenden
Sonne und dem kühlen Schatten, zwischen ödem kahlem Felsgestein und
üppigem Fruchtland, die Felsküsten mit ihren Vorgebirgen und Buchten und
Inseln am blauen Meer, das alles in seiner Gesamtwirkung kann kein Bild
wiedergeben. Und erst dann gewinnen die Dinge der alten Welt die volle
Farbe. Gerade so wie heute haben die Berge des Peloponnes und der saro-
nische Golf, die Schneeketten des Taygetos, der riesige Ätna und die Fels¬
boden von Syrakus, das Albaner- und Sabinergebirge ausgesehen, gerade so
strahlend brannte die Sonne und leuchteten Himmel und Meer, als Perikles
donnerte, und die Dramen des Sophokles über die Bühne gingen, als sich
die jungen Spartiaten auf den Ringplützen übten, als die Athener vor Syrakus
standen und Horaz die Via Appia zog. Und wie sinnlich anschaulich werden
hier die weißmühnigen Rosse Poseidons, die silberfüßige Thetis, die purpurne
Salzflut, die Grotten der Nymphen, die rosenfingrige Eos! Was uns als
ein schmückendes Beiwort, als ein poetisches Bild erschien, hier sehen wir es
in Wirklichkeit vor uns. Darum wurde für Goethe erst an der Küste Siziliens
Homer lebendig. Und wenn auch die Vaureste des Altertums uns aus
Bildern schon längst bekannt sind, es ist doch noch etwas andres, nun wirklich
vor den goldbraunem Säulen des Parthenons zu stehn,, durch die Trümmer¬
welt des Forums und der Kaiserpcilüste auf dem Palatin zu wandern, durch
die füllen und doch so lebensvollen Gassen von Pompeji und die engen Räume
seiner Häuser zu schreiten, von den Epipolä auf die Achradina und den großen
Hafen von Syrakus zu schauen. Was wir bisher uur als Bruchstücke gesehen
haben, das schließt sich jetzt zu einem Ganzen zusammen, hundert Jugend¬
erinnerungen aus der Schul- und Studienzeit werden uns lebendig, und
wenn wir dann daheim im Unterricht darauf zu reden kommen, dann wird
es uns wie ein warmer Strom glücklicher Erinnerungen überfluten, farbige,
sonnige Bilder steigen vor unserm innern Auge auf, und von dem Glänze und
der Wärme in uns wird vielleicht auch etwas in Phantasie und Herz unsrer
Schüler übergehn.
Selbst plastische Werke, die wir doch daheim in Gipsabgüssen und vor¬
trefflichen Nachbildungen betrachten können, nehmen sich ganz anders aus in
den Originalen, in dem gelblichen Marmor und der grüngoldnen Bronze, in
den Prachtsälen des Vatikans, der Florentiner Uffizien, des Museums von
Neapel. Welcher Eindruck, das majestätische Reiterstandbild Marc Aurels auf
dem Kapitolsplatz inmitten der stolzen Renaissancepaläste Michelangelos, oder
die Bronzesäle in Neapel, die Sala rotonda im Vatikan! Was der antike
Bronzeguß in Kunstwerken und Hausgeräten zu leisten vermochte, und wie die
Kunst das ganze Leben dieser Völker dnrchdmng und verklärte, das lernen wir
erst dort. Was sind dann alle Nachbildungen der Alexanderschlacht, des größten
antiken Historiengemäldes, gegen das Originalmosaik in Neapel! Und mögen
die Wandgemälde in Pompeji vielfach verblaßt und beschädigt sein, es ist doch
ein ander Ding, sie an den Wänden dieser Zimmer, in ihrer alten Umgebung
selbst zu sehen, als in noch so gelungner und aufgefrischten Nachbildungen.
Ich werde niemals den Eindruck vergessen, als vor fünf Jahren in einem so¬
eben ciusgegrnbnen Zimmer der Casa Vetti zu Pompeji unter der sorglich
reinigenden Hand eines Arbeiters in frischen Farben Zug für Zug ein großes
Wandgemälde hervortrat, das seit 1816 Jahren, seitdem an dem grauenvollen
24. August des Jahres 79 der Besitzer dieses reichen schönen Hauses unter
dem rauschenden Aschenregen und den dunkelroten Blitzen des tobenden Vulkans
aus seinem Eigentum hinaus in die schwarze Nacht geflüchtet war, keines
Menschen Auge mehr geschaut hatte.
Und nun die Menschen! Trotz aller Zeitenstürme und aller fremden Zu-
wandruugen hat sich die innerste Natur des Volks weder in Griechenland noch
in Italien derart verändert, daß man sagen könnte, es lebe dort jetzt wirklich
ein ganz andres Volk. Die nordamerikanischen Indianer sind bis auf geringe
Reste ausgestorben, die alten Jtaliker und Hellenen' sind es nicht. Sie mögen
unter dem Drucke der Fremdherrschaft und des Unglücks manche guten Eigen¬
schaften verloren, manche schlechten gesteigert oder neu erworben haben, aber
im Kerne sind sie dieselben geblieben, und sie haben alle fremden Elemente
aufgesogen. Nur freilich dürfen wir auf den Straßen von Rom und Neapel,
von Athen und Syrakus nicht Gestalten aus den Dramen des Sophokles oder
lauter Männer wie die Scipionen und Catonen zu sehen erwarten, sondern
Menschen, wie sie Plautus und Terenz in ihren Komödien, Horaz in seinen
Satiren, Aristophanes in seinen Lustspielen. Xenophon in seinem Symposion,
Theophrast in seinen „Charakteren" schildert. Die geistige Lebendigkeit, der
Sinn für die schöne Form, die liebenswürdige Höflichkeit, die hohe Intelligenz,
die sich allerdings auch in der Neigung zeigt, den Fremden, der die Leute nicht
zu nehmen weiß, zu übervorteilen, der scharfe, klare Realismus, das Bedürfnis,
die eigne Persönlichkeit unbefangen in den Vordergrund zu stellen, die Genüg¬
samkeit im materiellen Lebensgenuß, die Gewohnheit, halb auf der Straße zu
arbeiten und zu leben, der Trieb zu geräuschvollem Verkehr, sie sind die alten
geblieben, und wer davon etwas zu sehen versteht, dem treten die Figuren der
antiken Komiker und Satiriker noch heute überall entgegen. Und auch wer das
nicht versteht, der wird wenigstens in Gefäßen und Geräten vielfach dieselben
Formen gewahren, die er soeben in einem Museum betrachtet hat, und er kann
die Gestalt der athenischen Kanephoren bei jeder schlanken Bäuerin des Sabiner-
gebirgs wiederfinden, die hoch aufgerichtet den kupfernen Wasserkrug von ganz
antiker Form auf dem Kopfe nach Hanse trägt. Vollends in den Straßen
Pompejis kann es nicht viel anders ausgesehen haben als jetzt in den ältern
Teilen des heutigen Neapels: es sind dieselben engen, mit großen Lavablöcken
gepflasterten Gassen, die zahllosen offnen Läden und Schenken, die rauschenden
Brunnen wie dort, und wir glauben jeden Augenblick dort Menschen zu be¬
gegnen wie den heutigen. Endlich die Sprachen der klassischen Völker sind gar
nicht ausgestorben, sondern sie haben sich nur umgewandelt in das Neu¬
griechische und das Italienische; ja diese stehn den antiken Sprachen näher,
als unser Neuhochdeutsch dem Althochdeutschen, ohne daß wir modernen
Deutschen doch deshalb zugeben würden, daß wir nicht die Nachkommen der
Stämme seien, die Otto der Große vor tausend Jahren zum deutschen Reiche
zusammenschweißte, und die vor neunzehnhundert Jahren Arminins gegen die
Römer führte.
Solche Erfahrungen werden in uns nicht nur die Wahrnehmung hervor¬
rufen, daß in uns selbst dadurch die antike Welt lebendig wird, weil wir sie
noch vor uns sehen, sondern auch die nicht minder wertvolle Erkenntnis,
daß sie noch heute im Bewußtsein dieser Völker lebt, daß sie nichts Todes,
sondern etwas durch alle Zeiten bis zur Gegenwart Fortwirkendes ist und ge¬
wesen ist.
Für uns Nordländer ist diese Beobachtung zunächst etwas Neues, Be¬
fremdliches. Was wir bei uns in den Rheinlanden von antiken Bauresten, in
unsern Museen von Werken der antiken Kunst sehen, das hängt weder mit unserm
Volkstum, noch mit unsrer Kultur innerlich zusammen, das ist in der That
etwas Fremdes, von Fremden für Fremde geschaffen, und die römische oder
romanisierte Bevölkerung unsrer Rhein- und Donauländer ist spurlos ver¬
schwunden. Auch im größten Teile des jetzt mohammedanischen Orients hat sich
zwischen die antike Vergangenheit und die Gegenwart ein fremdes Volkstum
und eine fremde Kultur geschoben, die mit dem Altertum keinen Zusammenhang
haben, seine Denkmäler niemals nachgeahmt, seine Überlieferungen nur ganz
vereinzelt und vorübergehend als Bildungselement in sich aufgenommen haben.
Dem heutigen Bewohner Ägyptens sind die Tempel und Pyramiden der Pha¬
raonen lediglich Gegenstände der Neugierde für Fremde, also Gelegenheit zu
eignem Verdienst, innere Beziehungen zu ihnen hat er nicht, er weiß kaum,
daß er vielleicht selbst von dem Volke abstammt, das sie einst geschaffen hat,
und die syrischen Araber sehen in den erhabnen Trümmern von Palmyra und
Heliopolis nur Schlupfwinkel für schweifende Beduinen. Auch auf altgriechischen
Boden ist die Erkenntnis, daß die antike Vergangenheit die des eignen Volks
ist, mehr das Erzeugnis der neugriechischen Renaissance, so gut wie die heutige
Sprache der Gebildeten, der Zeitungen und der Litteratur, als einer unmittel¬
baren, fortwirkenden Tradition, denn allzu tief und breit ist der Strom der
Barbarei und der Verwüstungsgreuel gewesen, der über dieses arme Land
hinweggegangen ist. Über das Mittelalter zum Altertum führt hier kaum eine
Brücke.
Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn unsre Philologen der
alten Schule die antiken Autoren, mit denen sie sich Zeit ihres Lebens be¬
schäftigten, als Erzeugnisse einer nntergegnngnen Kultur betrachteten, die ihnen
zwar schlechthin als klassisch erschien, aber von der Gegenwart durch eine un¬
überbrückbare Kluft getrennt und von der Erdoberfläche spurlos verschwunden
war. Selbst in ihren Kommentaren tritt diese Auffassung unwillkürlich hervor.
Da kann man lesen: Die Ortygia war eine Insel, die Arethusa war eine
Quelle in Syrakus, die Via Appia war mit großen Lavasteinen gepflastert.
Nein, die Ortygia liegt heute noch so unbeweglich fest, wie vor Jahrtausenden,
als die ersten griechischen Ansiedler an ihrem Felsengestade landeten, und trägt
noch heute die Altstadt von Syrakus, die Arethusa sprudelt noch heute, und
die antiken Lavasteine liegen noch heute auf der Via Appia. Denn Italien
hat allerdings einen Vorzug vor Griechenland: hier ist die Kette der Zeiten
niemals abgerissen, das Altertum hat hier niemals aufgehört lebendig zu sein,
die Barbarei hat hier niemals so vollständig gesiegt wie im Osten. Könige
aus gotischem, langobardischem, normännischen, deutschen und spanischem
Stamme haben hier geboten, aber als einheimische Herrscher kraft des Landes¬
recht^ der heutige italienische Adel ist größtenteils germanischen, im Süden
wohl auch spanischen Bluts, auf Sizilien haben Griechen, Punier und Araber
gesessen, aber alle diese fremden Beimischungen sind aufgesogen worden, und
Italien ist auch im Mittelalter ein Land alter und hoher Kultur und dem
ganzen übrigen christlichen Westen überlegen geblieben.
Dieser ununterbrochne Zusammenhang der Zeiten tritt überall hervor.
Die Stadtanlagen sind die antiken, oft hoch oben auf steilem Felsplateau, wie
es im grauen Altertum die alles beherrschende Rücksicht auf die Sicherheit er¬
forderte, möglichst uubeauem für den modernen Verkehr; und diese Städte be¬
herrschen noch heute politisch, administrativ und wirtschaftlich das platte Land,
wie im Altertum; es giebt noch im heutigen Italien ebenso wenig selbständige
Dorfgemeinden wie damals, und der Adel ist städtisch, nicht feudal. Söhne
der vornehmsten Geschlechter halten es deshalb für eine Ehre, städtische Ämter
zu bekleiden. Unbefangen haben die Italiener sofort antike Bauwerke, die
zwecklos geworden waren, für ihre Zwecke benutzt, bald als bloße Steinbrüche,
wie etwa in Rom die Gebäude des Forums, die Kaiserpaläste und das
Kolosseum, aus denen sie die prächtigen Quadern und Säulen, den Mnrmor-
schmuck der Wände und der Fußböden wegschleppten, um sie für ihre Neu¬
bauten, für Kirchen und Paläste und Privathäuser zu verwenden, bald indem
sie Tempel und andre Bauwerke zu Kirchen umgestalteten: den Tempel der
Minerva in Assisi, das Pantheon in Rom, den Athenetempel in Syrcckus;
oder über den Wohnhäusern christlicher Märtyrer Kirchen errichteten, die ihnen
geweiht wurden, wie in Rom Santa Cecilia im Trastevere und San Gio¬
vanni e Paolo auf dem Cälius; ja die alte Form der abendländischen Kirchen
fand ihr Vorbild in dem altrömischen Hause. Aber auch die Formen der
mittelalterlichen romanischen Baukunst schlössen sich eng an die römische an
— die Gotik blieb, trotz großartiger Denkmäler, die auch in diesem Stile er¬
richtet wurden, den Italienern innerlich immer etwas Fremdes —, und seit dem
vierzehnten Jahrhundert begann dort jene Renaissnncebewegung, die auf alleu
Gebieten, in Kunst und Litteratur, in Wissenschaft und Staatswesen ganz un¬
mittelbar an das römische Altertum anknüpfte und mit vollem Bewußtsein gar
nichts andres wollte, als die Rückkehr zur antiken Grundlage des nationalen
Lebens. Einer der größten Baumeister der Hochrenaissance, Pallndio, wollte
nur das architektonische Ideal des Vitruvius verwirklichen; Bramante formte
die Peters kirche, indem er die erhabne Kuppel des Pantheons auf die unge¬
heuern Tonnengewölbe der Konstantins-Basilika setzte, und Michelangelo ge¬
staltete unmittelbar aus dem Hauptsaale der Diokletiansthcrmen die großartige
Kirche Santa Maria degli Angeli. Ihre neuen Paläste und Villen aber
schmückten die römischen Großen mit den Säulen und den Statuen der rö¬
mischen Kaiserzeit, und die Plastik Michelangelos wie die Malerei Rafaels
ging bei den Meisterwerken der antiken Skulptur in die Schule. Wie hätte
also jemals diesen Italienern der Gedanke kommen können, daß das Altertum
etwas Todes und Abgethanes sei! Es lebte vor ihren Augen, es beherrschte
ihre Bildung und ihre Kunst, es war und ist ein Stück ihres Wesens, so gut
wie für uns etwa die Zeit Goethes und Schillers. In hundert kleinen Zügen
macht sich das noch heute geltend. Dem modernen Italiener liegt das Alter¬
tum ungleich näher als das Mittelalter. Vor allen Resten des antiken Lebens
hegt er ehrfurchtsvolle Scheu; „mittelalterliches Mauerwerk," msaisvali innre>,Wi,
wenn es nur historisches, nicht künstlerisches Interesse erregt, wird wenig ge¬
schont. Der antike Lokalpatriotismus lebt in voller Stärke fort. Keine größere
Stadt Italiens, die nicht ihren bedeutenden Männern, mag auch ihr Ruhm
kaum jemals über die Grenzen der Gemeinde hinaus gereicht haben, etwa eine
Kirche als Ruhmeshalle eingerichtet, ihre Schulen nach ihnen genannt Hütte.
Auch die Sitte, bemerkenswerte Ereignisse der Ortsgeschichte durch schwungvolle
Inschriften aus prächtigen Marmortafeln zu verewigen, hat sich erhalten, und
wenn eine Stadt etwa an ein antikes Sinnbild anknüpfen kann, so hält sie
es sicher mit stolzem Bewußtsein fest. Der Gemeinderat von Rom nennt sich
noch heute Senat, setzt das alte 8. ?. H. R- auf jeden Straßenkarren und er¬
nährt am Kapitol ein Wolfspaar; Siena führt als römische Kolonie noch heute
die Wölfin im Wappen.
Diese Erkenntnis von dem Fortleben der antiken Kultur läßt sich nirgends
so wie in Italien gewinnen, und sie wird für uns Deutsche besonders frucht¬
bar sein, weil unsre eigne Entwicklung mehrmals jäh unterbrochen worden ist,
und wir unsrer eignen Vergangenheit lange völlig entfremdet gewesen find.
In Italien sehen wir trotz aller Stürme der Zeiten eine merkwürdig stetige
Entwicklung, sodaß wir hier das Altertum als etwas unmittelbar Fortwirkendes
empfinden,'nicht als eine bloße Masse gelehrter Überlieferungen, die nur zur
Übung Philologischen Scharfsinns gut sind. Wir werden weder den Unsinn
von den „toten Sprachen," noch von dem „Verblassen des Altertums" nach¬
reden — die altklassische Philologie ist heute wieder eine höchst lebendige Wissen¬
schaft —, sondern wir werden uns vielmehr bemühen, beides in uns und für
unsre Schüler recht lebendig und recht farbenreich zu machen. Andrerseits
werden wir jede unhistorische Idealisierung, die vor der scharfen Kritik unsrer
Zeit nun einmal nicht mehr stand hält, vermeiden, ohne doch die einzige Durch¬
bildung und Größe dieser Kultur zu verkennen, denn jede eindringende Kritik
lehrt uns erst recht verstehn, daß es nirgends und niemals wieder ein Kultur¬
zentrum gegeben hat, wie das hellenische Athen, und niemals wieder ein solches
Herrenvolk, wie der römische xoxnws iinpsiÄtor. Wir erfüllen damit zugleich
eine hohe Pflicht gegen die Zukunft des Vaterlands. Ob die Antike ein
lebendiger Bestandteil unsrer modernen Kultur bleiben soll, das hängt nicht
von den Universitäten ab, sondern von den Gymnasien. Ohne sie würden nicht
nur die Universitätslehrer der Philologie vor leeren Bänken leim, sondern
ihre Wissenschaft würde zu unsrer Bildung in dasselbe entfernte gleichgiltige
Verhältnis treten, wie die Ägyptologie und die Assyriologie. Das zu ver¬
kennen ist Selbsttäuschung oder Hochmut.
Liebe Abiturienten! Ich hoffe, Sie werden Ihrer Nieolaitana das Zeugnis
geben, daß sie Ihnen nicht toten Formelkram vorgeführt hat. sondern leben¬
diges Leben; Sie haben selbst in Ihrer Reifeprüfung vielfach bewiesen, daß
mich Ihnen etwas von diesem Leben des Altertums lebendig und anschaulich
geworden ist. Für weitaus die meisten von Ihnen wird das alles von nun
um zurücktreten; möge es aber immer ein wirksamer Teil Ihrer Bildung bleiben.
Manchem von Ihnen wird es früher oder später vergönnt sein, von der Akro-
Polis aus nach Salamis und den Bergen des Peloponnes hinüberzuschauen
oder von der Trümmerwelt des Palatin auf das ewige Rom, von dem noch
heute das Wort des Horaz gilt, wie zur Zeit des Augustus, ja vielleicht noch
mehr: ^Ins Fol, x»s°8is uiliil urbs Komm Vise-rs rrmws! — „Größeres sahest
du nicht und wirst nichts Größeres schauen. Hohe Sonne, als Rom!" Mögen
Sie dabei auch dieses Hauses gedenken, in dessen schlichten Räumen Ihnen
zuerst eine Ahnung von der antiken Welt aufgestiegen ist. Dann werden
Sie auch nicht in den Ruf der Nützlichkeitsapvstel einstimmen: „Fort mit den
toten Sprachen, fort mit der klassischen Bildung!" sondern Sie werden helfen,
unserm Volke diese Güter zu bewahren und es zu schützen vor dem Falle in
materialistische Barbarei!
ur die Menschen Homers fing zehn Meilen vom Wohnort und
in Großvaters Zeit das Märchenland an. Wir Heutigen über-
schauen die Erdkugel und drittehalb Jahrtausende, und auch was
darüber hinaus und dahinter zurückliegt — es ist nicht wenig —,
gehört nicht einer führerlosen Phantasie, sondern der wissenschaft¬
lichen Forschung. Bausteine für ein Weltsystem und Stoff für eine Geschichts¬
philosophie sind also reichlich vorhanden, und sie werden von unserm zahl¬
reichen Geschlecht gelehrter Grübler fleißig benutzt. Unter den geschichtsphilv-
sophischen Versuchen der letzten Zeit macht sich der von Houston Stewart
Chamberlcnn: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts
(München, F. Bruckmann, 1899) schon durch seinen Umfang: mit Register
1031 Seiten Großoktav, bemerklich. Wir haben ihn gleich nach dem Erscheinen
der ersten Lieferung (im 30. vorjährigen Heft) kurz angezeigt, und seitdem
haben kompetente Beurteiler das Werk als eine bedeutende Leistung anerkannt,
sodaß wir uns einigermaßen verpflichtet fühlen, den Lesern etwas ausführ¬
licheres darüber mitzuteilen. Die Grundidee dieser Grundlegung läßt sich in
dein Satze aussprechen: Die Seele der Völker ist ihre Religion, die Kultur
des neunzehnten Jahrhunderts ist die Schöpfung der Germanen, und den
wesentlichen Inhalt der Geschichte nach Christus bildet der Kampf der Ger¬
manen um ihre Religion, die eben die christliche ist, gegen die unarischen und
antichristlichen Mächte. Den Stoff verteilt der Verfasser in der Weise, daß er
zuerst das Erbe beschreibt, das wir Germanen aus dem Altertum herüber be¬
kommen haben: hellenische Kunst und Philosophie, römisches Recht und das
Christentum; dann die nächsten Erben: die Menschen des „Völkerchaos" des
römischen Reichs, dann den Eintritt der Juden, dann den der Germanen in
die Weltgeschichte behandelt, dann den Kampf der Germanen gegen das Un¬
germanische erzählt, und wie sie endlich in der Zeit von 1200 bis 1800
eine neue Welt geschaffen haben. Für heute beschränken wir uns auf die Ur¬
teile des Verfassers über das Judentum und über die ältere Kirche.
Chamberlcnn ist ein Mann von scharfer Beobachtungsgabe, lebhafter
Phantasie, seinem Instinkt für das Wesen der Dinge und verfügt über eine
staunenswerte Belesenheit. Aber selbstverständlich kann auch er nach allem,
was über diese Dinge schon gesagt worden ist, nichts völlig neues offenbaren,
wenn er auch genug neue Ansichten und Aussichten eröffnet, bisher übersehene
Feinheiten aufdeckt und packende Charakteristiken liefert. Der Angelpunkt seiner
Religions- und Rassenphilosophie ist sein Antisemitismus, den er freilich nicht
so plump begründet wie die Antisemiten gewöhnlichen Schlags. Aus der mit
einem großen Aufgebot von ethnologischer Gelehrsamkeit aufgebauten Ent¬
stehungsgeschichte der Juden weist er nach, daß sie notwendig schlecht sein
müssen. Er behauptet nämlich, Mischungen verwandter Nassen bildeten neue
gute Rassen, dagegen taugten die Bastarde nichts, die entstünden, wenn
sich Menschen grundverschiedner Rassen paaren. Die Juden seien solche Ba¬
starde, er^o . . .
Den Obersatz halten wir für richtig. Der Charakter von Kindern, die
weiße Männer mit Negerinnen oder Mongolinnen zeugen, kann schon darum
nichts taugen, weil der Vater nichts taugt, denn hätte er die guten Charakter¬
eigenschaften seiner Rasse, so würde es ihm physisch unmöglich sein, einem
Wesen beizuwohnen, das ihm ästhetischen und moralischen Widerwillen ein¬
flößen müßte. Was dagegen den Untersatz anlangt, so müssen wir uns für
ganz unfähig erklären, seine Richtigkeit zu prüfen. Seite 408 schreibt Cham-
berlain: „Paninis Grammatik der Sanskritsprache, vor 2500 Jahren ge¬
schrieben . . ., ist bekanntlich die größte philologische Leistung der Menschheit."
Ohne auch nur eine Spur von Scham zu empfinden, bekennen wir, daß wir,
ehe wir diesen Satz gelesen hatten, nicht einmal den Namen dieser Grammatik
gewußt haben. Aber selbst wenn wir Benfey gelesen Hütten, auf dessen Urteil
dieses „bekanntlich" beruht, so würden wir immer noch nicht wissen, ob Paninis
Grammatik wirklich die größte philologische Leistung der Menschheit ist, sondern
nur, daß sie Benfey dafür hält, denn so wenig wir von den asiatischen Sprachen
und der Sprachwissenschaft im allgemeinen verstehn mögen, soviel wenigstens
wissen wir, daß in allen Wissenschaften, die sich der Kontrolle durch das Pu¬
blikum entziehn, der Fachmann von morgen umstößt, was der Fachmann von
heute als unbezweifelbares Ergebnis der Forschung verkündigt.
Auf einer Menge von solchen „bekanntlich" beruht nun die Ansicht
Chamberlains, daß die Juden Bastarde von echten Semiten, d. h. Wüsten-'
arabern, arischen Amoritern und syrischen Hethitern seien; die Syrer find
nämlich nach ihm keine Semiten. Selbst wenn diese Entstehungsweise zweifel¬
los erwiesen wäre, müßte man immer noch fragen, ob denn die verschiednen
Zweige der kaukasischen Rasse so weit voneinander abstehn, daß ihre Ver-
nnschung ein so schlechtes Produkt liefert wie die von Weißen und Schwarzen
und als Bastardierung gebrandmarkt zu werden verdient. Chamberlain aber
sieht in dieser Bastardierung die weltgeschichtliche Schuld der Juden und die
Wurzel des bei ihnen so stark und lebendig gewordnen Sündenbewußtseins:
das Dasein dieser Rasse „ist Sünde, ihr Dasein ist Verbrechen gegen die
heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens wird sie hoc Vorstellung von der
Sundes vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal hart an seine
Pforte klopft, empfunden" (S. 374). Der neuern, alles umkehrenden Bibel¬
kritik folgend glaubt er, daß das Verbot der Vermischung mit andern Völkern
erst gegeben worden sei, nachdem das Unheil schon geschehen war, von Esra
und seinen Nachfolgern. Von da ab erst sei der eigentliche Jude, der unduld¬
same, entstanden; erst in der letzten Zeit vor dem Exil und nach der Rückkehr
sei das Volk von der Wahnvorstellung besessen worden, daß es allein im Besitz
der Wahrheit und des einen wahren Gottes und berufen sei, alle andern
Völker teils zu beherrschen, teils auszurotten. Die bekannte Rechtfertigung
des Ausrottnngsgebots, das nach der Bibel schon Moses erlassen hat, macht
Chamberlain zu nichte, indem er den Völkern Kanaans einen unschuldigen,
freundlichen und friedlichen Naturdienst zuschreibt; von Moloch und Astarte,
die doch auch von nichtbiblischen Autoren einigermaßen bezeugt sind, weiß er
nichts. Über den Charakter des nach dem Exil entstehenden Pharisüismus
und Talmudismus sind ja alle Christen mit Chamberlain einverstanden; aber
dieser bringt nicht bloß die eben genannten beiden Formen des spätjüdischen
Geisteslebens, sondern das ganze Prophetentum in Gegensatz zum Christentum
und versichert, er begreife nicht, wie irgend ein Mensch, sich einbilden könne,
daß dieses aus jenem, als seine Blüte, hervorgegangen sei. Mit den jüdischen
Propheten habe der „arische" Jesus rein gar nichts zu schaffen. Er sei die
verkörperte Religion, die Juden aber hätten gar keine Religion und hätten nie
eine gehabt, sondern nur Moral, Gesetz, blinden Glauben, Fetischismus; nicht
einmal der große Jesajas und der noch größere Deuterojesajas seien religiöse
Genies. Religion sei das dnrch innere Erfahrung gewonnene Bewußtsein der
Einheit mit Gott, also Mystik. Aus dieser innern Erfahrung würden Über¬
zeugungen von dem Wesen Gottes, der Welt und des Menschen geschöpft, die
die Volksphantasie in Mythen kleide; im Mittelpunkt dieser Mythologie
stünden die Ideen der Sünde und Erlösung, wobei die Sünde als ein kosmisch-
metaphysischer Vorgang, als Erbsünde, die Erlösung als innere Wiedergeburt
verstanden werde. All das finde sich bei den indischen Denkern, in der arischen
Mythologie und in der Lehre Jesu, von alle dem aber hätten die Juden nie
etwas gewußt. Die tiefsinnigen Mythen hätten sie zu vermeintlichen geschicht¬
lichen Thatsachen vergröbert und aus der Mythologie eine Chronik gemacht;
sie und überhaupt die Semiten hätten keine Mythologie, keine Mystik, keine
Metaphysik; ihre sogenannte Religion sei nichts als ein Herrendienst um Lohn;
sie hätten mit dem Gott, der sich in ihrer Geschichte bezeugt habe, einen Ver¬
trag geschlossen, nach dem sie für vertragstreues Handeln belohnt, für Vertrags¬
bruch bestraft würden, und dergleichen sei eben nicht Religion.
Chamberlains Charakteristik der Juden weicht von der gewöhnlichen, wie
zu erwarten war, nur darin ab, daß sie in der Form geistreicher ist und mit
seiner philosophischen Grundansicht in Verbindung gesetzt wird; das Haupt¬
gewicht legt er darauf, daß im Semiten der Wille ungemein stark und auf
Kosten der übrigen Geistesfähigkeiten einseitig ausgebildet, und daß der semit
ganz und gar dem Diesseits, dem weltlichen Interesse zugewandt sei. Ein
Stück seiner Charakteristik entnimmt er einem maurischen Geschichtschreiber des
vierzehnten Jahrhunderts, Mohammed Ihr Khaldun, der u. a. auch urteilt:
„Schaut euch um, betrachtet alle Länder, die seit den ältesten Zeiten von den
Einwohnern Arabiens besiegt wurden! Die Zivilisation und die Bevölkerung
schwanden aus ihnen, ja der Boden selber schien sich bei ihrer Berührung zu
verwandeln und unfruchtbar zu werden/' Dieser Ihr Khaldun nun, heißt es
Seite 387, „der behauptet, der semit habe nicht die geringste Fähigkeit, etwas
dauerhaftes zu gründen, lobt als unvergleichlich die Einfachheit seiner Bedürf¬
nisse Mangel an Phantasie), den Instinkt, der ihn eng an die Seinen bindet,
von andern ihn scheidend (verkümmertes Gemüt), die Leichtigkeit, mit der er
sich von einem Propheten in das Delirium der Begeisterung hinreißen läßt,
in tiefster Demut dem göttlichen Gebote gehorchend (schlechte Urteilsfähigkeit
infolge der Unentwickeltheit der Vernunft). Ich habe MM Chamberlain forts
in diesem Satze zu jeder Behauptung Ihr Khalduns meinen Kommentar ge¬
macht, doch nur um zu zeigen, daß eine jede der genannten Eigenschaften
— Bedürfnislosigkeit, Familiensinn, Gottesglaube — in diesem Falle einen
Triumph des Willens bedeutet, nicht etwa, um den Wert der Genügsamkeit,
der Treue gegen die Seinen und des Gehorsams gegen Gott herabzusetzen.
Es kommt aber darauf an, zu unterscheiden, und um recht zu verstehn, was
ein echter semit ist, muß man einsehen lernen: daß die Bedürfnislosigkeit eines
Omar, für den nichts in der Welt Interesse bietet, nicht dieselbe ist, wie die
eines Immanuel Kant, der nur darum keine äußerlichen Gaben begehrt, weil
sein allumfassender Geist die ganze Welt besitzt; daß die Treue gegen das
eigne Blut etwas durchaus andres ist, als z. B. die Treue ^des Germanenj
gegen den selbstgewühlten Herrn; das eine ist lediglich eine instinktmäßige Er¬
weiterung des egoistischen Willenskreises, das andre ist eine freie Selbstbestim¬
mung des Individuums, eine Art gelebte Dichtung ^ausführlicher und sehr
schön wird an einer spätern Stelle gezeigt, daß die germanische Treue von der
Sklaven- und Hundetreue durchaus verschieden sei, da sie nur dem frei ge¬
wählten Herrn, Gatten und Genossen geleistet werde, daher eigentlich Treue
der Person gegen sich selbst und höchste Bethätigung der Freiheit sei^j. Vor
allen muß man oder vielmehr müßte man (denn ich darf nicht hoffen, es zu
erleben) zwischen einem rasenden Gottesglauben und wahrer Religion unter¬
scheiden lernen. Das hindert durchaus nicht die spezifisch semitische Größe an¬
zuerkennen usw."
Es ist wunderbar, daß ein scharfsinniger und weitschauender Mann, der
als geborner Engländer England doch sozusagen vor der Nase liegen hat
— oder erklärt dieses vielleicht gerade das Wunder? —, die Juden so aus¬
führlich behandeln kann, ohne zu bemerken, daß es seine Landsleute sind, die
er charakterisiert. Daß die Engländer und die Yankees im Pharisäismus und
im Geschäftssinn reine Juden sind, darin stimmt alle Welt überein, und das
wird vieltausendmal allerorten gesagt; niemand wundert sich darüber, daß der
Jude in England und in Nordamerika keine Rolle spielt; die Einheimischen
sind ihm eben über; hat doch ein gelehrter Sonderling in allem Ernste nach¬
zuweisen gesucht, daß die Engländer die Nachkommen der verschwundnen zehn
Stämme Israels seien. Aber die Ähnlichkeit beschränkt sich nicht auf die
Angelsachsen und die Schotten und auch nicht auf den sich vielfach in reli¬
giöse Formen kleidenden Erwerbsinn und auf Äußerlichkeiten, sie erstreckt sich
weiter und geht tiefer. Wir haben bei einer andern Gelegenheit an die Ähn¬
lichkeit des Calvinismus mit dem Judentum und dem Islam erinnert und an
die Sympathie der drei zu einander, die sich im sechzehnten Jahrhundert in
einigen Übertritten kalvinischer Geistlichen zum Islam offenbarte. Wir finden
hier wie dort strengen Monotheismus; Calvin hatte zwar die Dreieinigkeits¬
lehre, von der Chamberlain meint, daß sie urarisch sei und die Christen vor
der äußersten Verjudung bewahrt habe, noch festgehalten, aber einzelne Calvi-
nisten bezeichneten sie als Abgötterei; jedenfalls wissen die Reformierten mit
der zweiten und dritten Person der Gottheit nicht viel anzufangen; hier wie
dort Geringschätzung der bildenden Künste, Bilderstürmerei, eine dem Vor¬
herrschen des Verstandes und Willens über Phantasie und Gemüt zu ver¬
dankende Freiheit von Mythologie und Aberglauben; nüchternen Rationalismus,
Unfähigkeit zu künstlerischen Schöpfungen, einen Fatalismus, der bei den Cal-
vinisten Prädestination heißt, unbedingtes Vertrauen auf das Fatum oder auf
den Gott, von dem man sich erwählt glaubt, heroische Tapferkeit in diesem
Glauben, aber auch fanatische Unduldsamkeit gegen die Nichterwählten und
einen Nationalhochmut, der sich auf den Glauben an die Erwählung des
ganzen Volkes stützt. Und wir sehen, daß sich die holländischen Calvinisten
wie die schottisch-englischen Puritaner zur Erbauung weit mehr des Alten als
des Neuen Testaments bedienen, und daß die Jankees ihren Kindern noch heute
mit Vorliebe alttestamentliche Namen geben.
Natürlich hat Calvin nicht etwa den Holländern, den Engländern und
den Schotten ihren heutigen Nationalcharakter geschaffen, sondern er ist nur
der Prophet des Geistes gewesen, der einen großen Teil der Westgcrmanen
beseelte, und der sich allerdings von da ab an der neuen ihm ganz angemessenen
Religionsform nicht wenig gestärkt hat. Selbstverständlich geht die Ähnlichkeit
zwischen Reformierten — auch die Schweizer tragen einige Züge des gezeich¬
neten Bildes — und den Semiten nicht bis zur völligen Übereinstimmung;
gerade einer der wichtigsten Charakterzüge der Semiten fehlt glücklicherweise:
die Schweizer, Hugenotten und Puritaner haben nicht bloß gleich den Semiten
die Kraft, organische Gebilde zu zersetzen und zu zerstören, sondern sie erfreuen
sich gleich allen übrigen Germanen der großartigsten Schöpferkraft, namentlich
auf dem politischen und auf dem gewerblichen Gebiete. Aber eine so gewaltige
und sozusagen dicke Thatsache darf doch in einer Geschichtsphilosophie*) nicht
übersehen werden. Hätte ihr Chamberlain Beachtung geschenkt, so würde ihm
seine Rassentheorie einigermaßen zweifelhaft geworden sein. Nicht etwa, daß
die Rasse von entscheidender Wichtigkeit für alle Kulturerscheinungen, und daß
die germanische Rasse die höchste ist und die, der die Zukunft gehört; diese
zwei Punkte stehn auch für uns fest. Wohl aber würde er es unterlassen
haben, alle Charaktereigenschaften der Juden aus einer von ihm als ruchlos
geschilderten Bastardierung abzuleiten; gehören doch die Holländer, die Eng¬
länder und die Schotten zu den rassenreinsten Germanen, die es giebt (die
Kelten sind nach Chamberlain ebenfalls Germanen oder wenigstens diesen ganz
nahe verwandt). Es muß also noch andre Ursachen geben, die auf den Volks¬
charakter einwirken, als das Blut, und die geographischen, die sozialen und die
wirtschaftlichen Verhältnisse verdienen nicht die Geringschätzung, mit der sie
Chamberlain behandelt. Wie mächtig die zuletzt erwähnten sind, haben erst
die letzten zwei Jahrhunderte und besonders das neunzehnte gezeigt; vielleicht
darf man den englischen Fabrik- und Grubenarbeiter als eine ganz neue Rasse
bezeichnen, und seit dem Beginn der Gründerüra haben rassenechte germanische
Aristokraten in ihren Herzen eine Seelenverwandtschaft mit Semiten entdeckt,
die nicht selten durch Ehebündnisse besiegelt wird.
Die Anerkennung dieser Thatsache Hütte dem Verfasser um so näher ge¬
legen, da er sehr gemein weiß, daß die Nassen uicht vom Himmel gefallen,
sondern entstanden sind, und daß noch vor unsern Augen neue entstehn, wie
die Jankeerasse, da er auch den Einfluß der Ideen auf die Rassenbildung an¬
erkennt und Germanen verjudet, Juden germanisiert werden läßt; der huma¬
nisierte Jude sei kein Jude mehr, meint er; und Seite 457 lesen wir: „Man
unterschütze die rein geistige Dolichozephalie und Bmchyzephalie nicht, sie wirkt
im weitesten Umfang auch als Ursache. Daher hat jede kräftige Nation eine
so große Assimilationskrnft. Der Eintritt in den neuen Verband ändert zu¬
nächst kein Jota soir würden lieber sagen, kein Fäserchenj an der physischen
Struktur und nur sehr langsam, in: Laufe der Generationen, das Blut; doch
viel schneller wirken die Ideen, indem sie fast sofort die ganze Persönlichkeit
in andre Bahnen lenken." Wenn er nun an andrer Stelle ganz allgemein
und unbedingt behauptet, wer nicht körperlich Germane sei, der könne überhaupt
kein Germane sein, so steht das mit jenen andern Aussprüchen in Widerspruch;
das Blut wird im allgemeinen für den Grundcharnkter bestimmend sein, aber
daß Familien andrer Abstammung, die in germanische Umgebung verpflanzt
sind und in innigem Gedankenaustausch und enger Gemeinschaft mit uns leben,
wenn auch vielleicht erst in der dritten oder vierten Generation im Fühlen und
Denken und in der Gesinnung Germanen werden können, darf nicht für un¬
möglich erklärt werden. Dann aber würde Chamberlain, wenn er an seine
Landsleute und an die Holländer gedacht Hütte, die Charaktereigenschaften der
Juden und ihre Religion in etwas mildern Lichte gesehen haben. Gewiß:
höchste und tiefste, wenn man will, wahre Religion ist Mystik. Aber können
alle Menschen, auch wenn sie Germanen sind, Mystiker sein, und ist die Treue
gegen einen Gott, der sich in der Geschichte des eignen Volks bezeugt hat,
wirklich etwas so verächtliches, daß man behaupten darf: So etwas verdient
nicht den Namen Religion? Wenn die Rasse eine Sache von so ungeheurer
Wichtigkeit ist, muß sich da Gott nicht ganz besonders in ihrer Erhaltung und
Leitung offenbaren, und sind der Glaube an diese Leitung und das Vertrauen
darauf etwas Verächtliches und niedriges? Hat nicht ein solcher Glaube, eine
solche Zuversicht den Hauptinhalt der Religion der Holländer ausgemacht in
ihrem Befreiungskampfe gegen die Spanier, sowie der Religion der Puritaner
in ihren Kriegen gegen die papistischen Stuarts, bei der Gründung der Ncu-
englcmdstaaten und in deren Kriege um die Unabhängigkeit, wie eben dieses
auch heute wiederum die Religion der um ihr Dasein kämpfenden Buren ist?
Haben nicht alle diese Vorkämpfer des Protestantismus viel mehr den jüdischen
Herrn der Heerscharen und die Sprüche des Judenkönigs David als die Sprüche
der Bergpredigt und das Kreuz im Munde geführt und ihrer Feder entfließen
lassen? Und fassen die Kirchengänger unter den preußischen Protestanten samt
ihren Pastoren die Sache nicht ganz ebenso auf, da deren Predigten voll sind
der militärischen Großthaten Preußens, der Verdienste seiner Könige und des
göttlichen Wohlgefallens, das die Hohenzollern zu immer größerer Macht und
Herrlichkeit führe? Innere Erfahrung, Einheit mit Gott, Gefühl der Erlösungs-
bedürftigkeit, eine Seele, die der Welt und der die Welt gekreuzigt ist, als
Religion eines ganzen Volks — das haben wir ja vor Augen an dem Zu¬
stand der von Chamberlain so hoch gerühmten Inder! Möchte die Religion
ihrer gelehrten Brahmcinen und ihrer buddhistischen Mönche ganz so viel wert
sein wie Chamberlain schätzt — unsre eigne geringere Schätzung haben wir
wiederholt begründet —, was hat sie dem indischen Volke genützt, das in
wüstem Aberglauben dahin lebt, das seit mehr als tausend Jahren die Beute
ausländischer Erobrer und Plündrer, seit dem Beginn der England erHerrschaft
auch noch die von periodischen Hungersnöten ist, und das sich weder durch
Teilnahme an der englischen Verwaltung, noch durch einen Unabhängigkeits-
knmpf zu helfen Mut, Verstand und Kraft hat? Mystik ist die höchste, feinste
und echteste Blüte der Religion, das sagen wir auch, und daß bei den arischen
Völkern die Anlage zur Mystik gefunden wird, lehrt die Geschichte — ob nicht
Chamberlain zu weit geht, wenn er den Semiten diese Anlage ganz abspricht,
mögen die Orientalisten entscheiden —; aber wenn sich ein ganzes Volk auf
die Mystik verlegt, so ist es verloren. Als Volksreligion taugt gar keine
andre als eine solche, die sich wie die jüdische und die altrömische auf äußere
Erfahrungen stützt und auf den Beistand Gottes oder der Götter in allen
Nöten und Gefahren vertrauen lehrt; und wenn sie nach alttestamentlichen
Beispiel als ein gegenseitiges Treuverhältnis aufgefaßt wird, so entspricht das doch
gerade dem germanischen Nntionalcharakter; warum sollte der Satz Chanwerlains,
daß, wer einem selbstgewühlten Herrn treu bleibt, sich selbst treu und darum
frei bleibt, auf den keine Anwendung finden, der sich Gott, und ihn allein,
zum Herrn wählt?
Und so können wir denn auch Chamberlain nicht beistimmen, wenn er
die christliche Kirche als eine Mißgeburt schildert, da sie ein Bastard zweier
ganz unvereinbarer, in allem einander widersprechender Religionen, der jüdischen
und der arischen sei. Niemand widerspricht sich ärger als er selbst, wenn er
einmal den Umstand, daß die katholische Kirche gar keine Trägerin der Religion,
sondern nur eine Fortsetzung des römischen Imperiums sei, das Maß des Un¬
natürlichen und Verderblichen im Christentum voll machen läßt, dann aber
wieder meint, Staat und Religion fielen in eins zusammen, der Soldat, der
in der Schlacht falle, übe damit Religion, und die römische Staatsreligion als
stärksten Beweis für dieses Verhältnis anführt. Es kann niemand weniger als
uns einfallen, zu leugnen, daß die Religion der Kirchen niemals die reine
Religion Jesu gewesen ist, daß sich kein Mensch rühmen kann, das Wesen Jesu
und seine eigentliche Meinung ergründet zu haben, und daß uns die Geschichte
der Kirchen neben vielem Schönen und Tröstenden eine fast ununterbrochne
Reihe der abscheulichsten Greuel zeigt. Allein diese traurigen Thatsachen er¬
klären sich gleich allen andern irdischen Übeln aus den Bedingungen des
irdischen Daseins der Menschen, und wir brauchen deshalb nicht mit Chamber-
lain anzunehmen, daß sie die Wirkung einer unnatürlichen Verkopplung des
an sich schlechten Judentums mit verdorbnen Griechentum und erstarrtem
Römertum seien. Chamberlain hat uns in der Überzeugung nicht wankend
gemacht, die ja wohl heute bei den historisch gebildeten Männern die herrschende
ist, daß die durch den geheimnisvollen Gottmenschen vollendete Verschmelzung
der drei großen Kulturelemente der alten Welt ein ganz gesunder, natürlicher
und weltgeschichtlich notwendiger Vorgang gewesen ist.
Und Chamberlain selbst gesteht das zu — so unter der Hand in dunkeln
Winkelchen seiner figurenreichen Schaubühne, während er die glänzenden Anti¬
thesen und die bestechenden Charakteristiken in den hell erleuchteten Vorder¬
grund schiebt. Jedoch, schreibt er Seite 551, „wie sehr auch das notwendig
Schwankende, Unzulängliche eines solchen Zwitterwesens einleuchten muß, man
kann sich kaum vorstellen, wie in jenem Völkerchaos eine Weltreligion ohne
das Zusammenwirken dieser beiden Elemente ^des Judentunis und des Heiden¬
tums! hätte entstehn können." Dieses Zugeständnis beeilt er sich allerdings
sofort wieder abzuschwächen: „Freilich, Hütte Christus zu Indern oder Ger¬
manen gepredigt, so hätten wir seinem Worte eine andre Wirkung zu danken
gehabt." Da ist denn doch trotz Wulfila der Zweifel berechtigt, ob die Berg¬
predigt und das Wort vom Kreuze bei den Recken, die zum Hildebrandslied
und zum Nibelungenlied den Stoff geliefert haben, Verständnis gefunden hätte,
und ob das Christentum nicht erst Gesetz eines Imperators, eines königlichen
Priesters und priesterlichen Königs werden mußte, ehe sie überhaupt in ein
Verhältnis zu ihm treten konnten. Für das Gesindel des „Völkerchaos,"
meint Chamberlain, sei dieses Gemisch von jüdischem Gesetz und römischem
Recht gerade gut gewesen, was wieder ein entscheidendes Zugeständnis an die
hergebrachte Meinung ist, aber er wird noch ein Stück weiter gehn und
gestehn müssen, daß sich die Massen aller Zeiten, die germanischen nicht aus¬
genommen, in diesem Punkte nicht wesentlich von seinem „Völkerchaos" unter¬
scheiden. Schreibt er doch selbst mit Beziehung auf das Urchristentum, das er
als den echten Protestantismus charakterisiert hat: „Wir nordischen Männer
waren viel zu praktisch-weltlich angelegt, zu viel mit staatlichen Organisationen
und Handelsinteressen und Wissenschaften beschäftigt jund sind es heute erst
rechts, um jemals auf diesen echtesten Protestantismus der vorrömischen Zeit
zurückzugreifen," Damit ist geradezu die Behauptung zurückgenommen, die
Germanen seien — im ganzen, als Volk oder Völkergruppe — von Natur
das allein und echt religiöse Volk im Sinne Christi oder Buddhas, und wären
sie es je einmal gewesen, sie hätten diese ihre Natur beim Eintritt in die Welt¬
geschichte ablegen müssen, um sich nicht allein behaupten, sondern Weltbeherrscher
werden zu können. Als sie noch ungestört von den Römern und von den
Noten der Übervölkerung auf der Bärenhaut lagen, da hätten sie allenfalls
der Mystik und Metaphysik obliegen können — wenn auch in der Winterkälte
und vom Hunger auf die Jagd getrieben nicht so ruhig und behaglich wie der
Inder in seinem Palmenhain; aber seit dem ersten Zusammenstoße mit den
Galliern und mit den Römern war es damit vorbei. Schreibt doch Chamber-
lain selbst Seite 725 von dem gewaltigen Kulturwerk der Germanen: „Es
wurde nicht durch Humanitätswahn, sondern durch gesunde, selbstsüchtige Kraft,
nicht durch Genügsamkeit, sondern durch unersättlichen Heißhunger geschaffen____
Daß die Germanen mit ihren Tugenden allein und ohne ihre Laster — wie
da sind Gier, Grausamkeit, Verrat, Mißachtung aller Rechte außer ihres eignen
Rechts zu herrschen usw. — den Sieg errungen hätten, wird keiner die Stirn
haben zu behaupten." Was heißt das anders, als daß den Germanen in der
Erfüllung ihrer weltgeschichtlichen Aufgabe nichts hinderlicher gewesen sein
würde, als wenn sie die reine Religion Jesu erkannt, mit ihrem ganzen Innern
erfaßt und im Leben verwirklicht Hütten? Zum Überfluß gesteht dann auch
Chamberlain Seite 568 bis 569 dem Judentum noch das Verdienst zu, daß
es der griechischen Spekulation und Mythologie gegenüber das männliche
Prinzip vertreten und, als unbedingter Wille zum Leben, auch den weltver¬
achtenden Edeln des Völkerchaos den Mut zum Leben wiedergegeben habe,
den die Germanen dann glücklicherweise selbst schon in hinlänglichem Maße
mitbrachten. Um Wälder ciuszureuten, Sümpfe auszutrocknen, feindliche oder
lohnende Ausbeute verheißende Völker zu unterjochen, neue Staaten zu gründen
und ihre Herrschaft über die ganze Erdkugel auszubreiten, haben die Germanen
etwas andres gebraucht als die von Chamberlain übermäßig gepriesene indische
und schopenhauerische Philosophie, gerade die jüdische Lebensbejahung, Hab-
und Herrschsucht hat ihnen darin die größten Dienste geleistet, wobei freilich
der Unterschied bestehn bleibt, daß den Germanen auch die Kraft innewohnt,
das selbst zu schaffen, was sie zu besitzen wünschen, während die emsige Thätig¬
keit der Juden mehr darauf gerichtet ist, sich die von andern geschaffnen Güter
anzueignen; hier steckt in der That ein Rassenunterschied, und wohl der ent-
scheidende, in der Schöpferkraft des Germanen, die dem Juden abgeht; aber
das andre, der Wille zum Leben, ist beiden gemeinsam und unterscheidet sie
nicht allein von den Indern, sondern auch von den Urchristen, die ja nur lebten,
um den sehnlichst erwünschten Tod zu erwarten; sodaß also das Alte Testament
dem Germanen bis auf den heutigen Tag verständlicher und lieber ist als das
Neue, das nur den vereinzelten heiligen Seelen inneres Leben und Seligkeit
gewährt. Und den Päpsten stellt Chamberlain in Übereinstimmung mit der
Mehrzahl der Historiker das Zeugnis aus, daß sie im frühern Mittelalter diese
praktische Richtung des Germanentums begünstigt, alle praktischen Bestrebungen
gefördert und, tolerant gegen Meinungen — nur nicht gegen Leugner ihrer
Herrschaftsansprüche —, das Dogmengezänk der Griechen nach Möglichkeit von
der abendländischen Kirche abgewehrt haben, wenn er auch andrerseits einsieht,
daß es ganz ohne Dogmen und ohne Intoleranz gegen Andersgläubige zur
Ausbildung einer christlichen Kirche kaum hätte kommen können.
Nach allen diesen Zugeständnissen müssen wir es als leere Redensart be¬
zeichnen, wenn er es bedauert, daß die Germanen mit dem Völkerchaos nicht
aufgeräumt, das Gesindel nicht ausgerottet haben, und daß sie das Erbe des
Altertums durch dieses Gesindel vermittelt und verunreinigt anstatt unmittelbar
und rein empfangen haben. Von wem anders Hütten sie denn dieses Erbe
empfangen sollen als von seinen damaligen interimistischen Besitzern? Mit
deren Ausrottung wäre ja das Erbe selbst zu Grunde gegangen. Und der
Gedanke einer unmittelbaren Aufnahme dessen, was die Frucht jahrtausende¬
langer Kulturarbeit war, ist ganz ungereimt. Ein dummer Junge — es kann
ein sehr braver und tüchtiger Junge sein — bleibt ein dummer Junge, auch
wenn ich ihn den kantischen Satz von den Grenzen unsrer Erkenntnis aus¬
wendig lernen lasse. Die Germanen haben sich die alte Kultur nur aneignen
können, indem sie sie in jahrhundertelanger Arbeit noch einmal neu schufen,
wobei dann allerdings, darin sind wir mit Chamberlain einverstanden, etwas
andres als die antike Kultur herauskam, etwas neues, das ihr rechtmüßiges
Eigentum ist, sodaß das sogenannte rilig.8oiweo.w in Wirklichkeit keine Wieder¬
geburt, sondern eine Neugeburt gewesen ist. Die Übermittler des Erbes
konnten diese Arbeit nur erleichtern, durch Lieferung von Hilfsmitteln, und
das haben die römischen Beamten und die Geistlichen des Völkerchaos, die den
Germanen durch Unwissenheit und Roheit nahe standen, besser besorgt, als es
Plato, Cicero und Christus vermocht hätten, die von den Germanen so wenig
verstanden worden sein würden, wie Kant heute von einem vierzehnjährigen
Germanenknaben verstanden wird. Chamberlain weist sehr gut die alberne
Vorstellung zurück, als ob die hellenische Kunst ein internationales Entwick¬
lungsprodukt*) und die ägyptische oder babylonische Kunst ein Vorstadium davon
sei. Aber jedermann weiß auch, daß die griechischen Bildhauer in der That
bei den Ägyptern in die Schule gegangen sind, und daß ihre ältesten Bild¬
säulen die Werkstatt verraten, wo sie ihre Lehrzeit durchgemacht haben. Jede
Kunst hat eben ihre Technik, und die will gelernt sein; die Technik haben die
Griechen bei Ägyptern und Asiaten erlernt, die Kunst selbst dann ist ihre
Schöpfung und ihr freies Eigentum. So ist es mit aller Kultur; sie hat ihre
Technik, und von der entarteten Bevölkerung des römischen Reichs haben die
Germanen die Technik aller Kulturzweige, auch der Religion, erlernt; was sie
dann später mit dieser Technik geleistet haben, das ist ihre Schöpfung und ihr
Eigentum, aber die Lehrzeit im Handwerksmäßigen konnte ihnen nicht erspart
werden, wie sich auch heute noch selbst das größte wissenschaftliche Genie nicht
entfalten kann, bevor es bei einem vielleicht recht beschränkten Schulmeister
das Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hat. Deshalb hat es keinen Sinn,
zu beklagen, daß die Schulmeister der alten Germanen keine religiösen Genies
gewesen sind; Genies taugen überhaupt nicht zur Schulmeisteret. Weiß sich
ein Genie ungebildeten Schülern anzubequemen, um so größer dann sein Ver¬
dienst. Darum gehört es auch zu den Dingen, die Chamberlain unverstän¬
digerweise beklagt, daß Augustinus, der tiefe Mystiker, ein Kirchenmann ge¬
worden ist und im Kampfe gegen die Ketzer die Kirche über das Evangelium,
über die Religion gestellt hat. Ganz dasselbe hat Luther gethan, denn vom
Standpunkte der Religion und der neutestamentlichen Wahrheit aus haben die
Schwarmgeister, namentlich Karlstadt, Schwcnkfeld und die Wiedertäufer,
zweifellos Recht gegen ihn gehabt. Aber er erkannte mit dem sichern Instinkt
des zu großen Neuschöpfungen berufnen Genies, daß das Bedürfnis der ein¬
zelnen religiösen Seele den Maßstab für die Befriedigung der Volksbedürfnisse
selbst dann nicht abgeben kann, wenn diese Seele mit der höchsten und reinsten
philosophischen oder christlichen Wahrheit in Einklang ist, und darum haben
die Völker solchen Männern zu danken, denen es große Selbstüberwindung ge¬
kostet hat, Einrichtungen zu treffen, die dem Verständnis und der mäßigen '
sittlichen Kraft des rohen .Haufens angepaßt sind und seine idealen Bedürfnisse,
soweit solche vorhanden sind, einigermaßen befriedigen, indem sie zugleich dem
Ganzen zu einer leidlichen bürgerlichen Ordnung verhelfen. Das Lob, den
Völkern diesen Dienst geleistet zu haben, spendet Chamberlain selbst wiederum
den Päpsten, u. a. mit den Worten auf Seite 634: „Niemals hat eine Insti¬
tution eine so bewundernswerte, zielbewußte Kenntnis des mittlern Menschen¬
wesens gezeigt wie jene Kirche, die sich schon sehr zeitig um den römischen
xontitEX MMMU8 als Mittelpunkt zu organisieren begann." Der Schwarm¬
geister gedenkt er Seite 882. Er meint, ihr Fehler sei gewesen, daß sie Hütten
reformieren wollen und sich in die Politik gemischt hätten; der Wirkungskreis
des echten Mystikers sei im Innern, nicht im Äußern. Ganz recht! Aber
daraus folgt doch eben, daß die Mystik nicht die allgemeine Religion des
deutschen Volks sein kann, und daß dieses eine mehr äußerliche Religion
braucht, da es, wie gerade Chamberlain kräftig betont, ohne Religion nicht be¬
stelln kann. Wie kann er so auf starke Persönlichkeit und auf geistige Unabhängig¬
keit dringen und zugleich als den Kern germanischer Religion Meister Eckharts
Wort anführen: „So lange ich dies und das bin oder dies und das habe, so
bin ich nicht alle Ding." Soll der Germane die Welt beherrschen, so muß er
dies oder das sein und dies oder das haben und darf nicht im All zerfließen.
Auch wir loben den Meister Eckhart und bekunden durch unser Verständnis
für germanisches Empfinden, daß wir selbst Germanen sind; aber der Kampf
ums Dasein, in dem wir uns ja nach Chamberlains Wunsche behaupten sollen,
zwingt uns, in diesem Punkte Juden und Römer zu sein, wie es ja auch die
Germanen gewesen sind, die das römische Reich zerstört haben. Wenn wir
demnach den Kampf der Germanen gegen das Ungermanische zwar nicht mit
Chamberlain als den ausschließlichen Inhalt der Geschichte seit Christus, aber
doch als einen bedeutenden Teil dieses Inhalts anerkennen, so geschieht das
in der Voraussetzung, daß die Existenz der Nichtarier nicht als ein Übel,
sondern als eine Lebensbedingung für die Germanen und ihre Kultur ange¬
sehen wird.
M^WWWer ungarische Feldzug des Jahres 1849 wird immer einen wich¬
tigen Platz in der Kriegsgeschichte der Neuzeit einnehmen, sowohl
wegen der Absicht, in der er unternommen wurde, als auch wegen
seines Einflusses auf ganz Europa. Es steht mir nicht zu, zu
I entscheiden, worin der Keim des ungarischen Aufstands lag, wie
dieser Aufstand wuchs, und wie er organisiert wurde; aber es giebt in der Ge¬
schichte kein andres Beispiel, daß eine Revolutiouspartei so heimlich und in so
kurzer Zeit eine derartig zahlreiche wohlorganisierte und gut bewaffnete Armee
auf die Beine gebracht hätte. Sie war ganz unbemerkt in Trupps zusammen¬
gekommen und erhielt täglich Verstürkuugen in großer Anzahl. Die Möglich¬
keit und zugleich die Ursachen einer so schnellen Entwicklung des Unternehmens
beruhten einerseits auf der Begeisterung der Ungarn für eine Sache, die ihnen
gerecht erschien, andrerseits auf der ungewöhnlichen Begabung junger und
energischer Anführer, wie Görgei, Klapka und andrer. Nach Verlauf von
einigen Monaten war die Armee der Aufständischen so gewachsen, daß ihr
Österreich mit 20000 Mann regulärer Truppen keinen Widerstand leisten
konnte und außer den Verlusten, die es durch massenhaftes Überlaufen seiner
Soldaten zu den Ungarn erlitt, noch fortwährende Niederlagen zu tragen
hatte. Mit einem Wort: im April 1849 war Österreich, das seine Kriegsmacht
zwischen zwei aufrührerischen Erhebungen — in Italien und in Österreich —
und einer dritten, die täglich in Böhmen auszubrechen drohte, zersplitterte, am
Rande des Verderbens.
In dieser Lage war es gezwungen, sein Augenmerk auf den Beistand des
ganzen Europas, besonders auf Rußland, zu richten, das ihm uicht nur seit
langem verbündet war, sondern zugleich in seinem ganzen Wesen die ruhige
Sicherheit und den festen Bestand des monarchischen Prinzips verkörperte.
Dieser Verbündete hatte außerdem mehr als andre das Recht, an der Be¬
kämpfung des Aufstands mitzuwirken, weil auch die Polen in der Absicht, ihr
Land zu befreien, an der ungarischen Erhebung teil genommen hatten. Im
Vorgefühl seiner wichtige» Bestimmung stand Rußland kampfbereit da und
folgte dein Gange der Ereignisse mit gespannter Aufmerksamkeit. Als unsre
(die russischen) Truppen die Grenze überschritten, erschrak Kossuth in Debreczin,
und Görgei sagte, daß für sein Vaterland alles verloren sei. Die Demokraten
in Europa schauten mit schlecht verhohlner Bestürzung auf die Reihen unsrer
Truppen, die die Karpathen überstiegen; denn beim ersten Wort des russischen
Zaren nahmen alle Dinge eine andre Wendung. Ich war während des unga¬
rischen Feldzugs Adjutant bei dem Kommandanten der dritten Division, Grafen
Theodor Rüdiger, und weilte dank seiner Freundlichkeit immer im Haupt¬
quartier, dem Mittel- und Ausgangspunkt aller kriegerischen Ereignisse.
Nach dem Ausmarsch unsrer Truppen aus dem .Königreich Polen wurde
der Stab der dritten Infanteriedivision unter dem Generaladjutanten Grafen
Rüdiger mit der Eisenbahn direkt nach Krakau befördert, wo wir am 8. Mai
um sieben Uhr abends anlangten. Krcckan war der Herd der polnischen Revo¬
lution, und da wir das Jahr 1846, wo die Erhebung und Diktatur Tissowskis
die Empörung ganz Polens bezweckten, noch in frischer Erinnerung hatten, so
hielt es der vorsichtige Kommandant für nötig, bei der Wahl eines Hauses
für seinen Aufenthalt besonders behutsam zu verfahren. Graf Adam Potocki
und Gräfin Plater boten ihm ihre prächtigen Paläste an, aber Graf Rüdiger
nahm, nachdem er seinen Dank für diese Gastfreundschaft ausgesprochen hatte,
im Hause des Bankiers Hetzel Quartier, den er für einen Ehrenmann hielt.
Für den Empfang des russischen Kommandanten waren in Krakau großartige
Vorkehrungen getroffen worden. Die Musikkapelle des österreichischen Regi¬
ments „Fürst Liechtenstein" in weißer Uniform mit hellgrünen Aufschlügen
stand auf dein rechten Flügel; die österreichischen Befehlshaber waren in der
Stadt und erwarteten die Ankunft des Grafen. Die Musik spielte unsre
Nationalhymne „Gott erhalte den Zaren." Das in Reih und Glied stehende
Bataillon präsentierte unter Hurrarufen. Das Haus des Bankiers Hetzel, in
dem wir abfliegen, lag auf einem großen freien Platze, der von dichten Volks¬
massen bedeckt war; und diese Massen harrten bis spät abends aus, wo dann
ein langer Fackelzug stattfand. Ein junges Mädchen überreichte dem Grafen
einen Blumenstrauß, und ein Beamter in kaukasischen Nationalkostüm hielt eine
Dankrede. Graf Rüdiger antwortete freundlich und energisch. Die Begeisterung
war allgemein; überall sprach man die Hoffnung aus auf baldige Beilegung
der Feindseligkeiten.
Der Stab des dritten Korps lag ungefähr vierzehn Tage lang in Krakau
in Quartier, und während dieser Zeit bis zur Ankunft des Kaisers und des
Generalfeldmarschalls Fürsten Warschawsti standen die Truppen unter dem
direkten Oberbefehl des Grafen Rüdiger. Der Verkehr zwischen den öster¬
reichischen Soldaten und den unsrigen war anfangs sehr angenehm und freund¬
lich. Man konnte in den ersten Tagen sehen, wie russische Soldaten Arm in
Arm mit österreichischen gingen, wie sie einander traktierten und zusammen auf
das Wohl beider Kaiser und auf den gewünschten Erfolg des Kriegs tranken.
Im ersten Krakauer Gnsthofe, der „Weißen Rose," wo die ganze Stadt,
namentlich Militärs zusammenkamen, erschienen mich unsre Offiziere und
wurden mit den österreichischen bekannt. Der Empfang war überaus freund¬
lich und herzlich; überall hingen die Bilder beider Kaiser, und unter Hurra¬
rufe»? wurden beide Majestäten immer gemeinsam genannt. Einige Tage nach
unsrer Ankunft fand im Saale des Adelsklubs ein Mittagessen unter allge¬
meiner Beteiligung und auf gemeinsame Kosten statt. Das Essen, die Be¬
dienung, die Ausschmückung des Saales waren prächtig. Unsre Uniformen er¬
schienen überall zwischen österreichischen; Fahnen, Flinten, Säbel schmückten
durcheinander die Wände des Saales. An einem Saalende spielte eine öster¬
reichische, am andern eine russische Kapelle. Besonders zeichneten sich vom
Jeleeki-Regiment unsre Sänger aus, eine für Fremde ganz neue Erscheinung,
die so treffend die Gefühle des russischen Soldaten auszudrücken versteh»; dafür
wurden unsre Burschen auch freigebig von den österreichischen Gästen belohnt.
Als das Mahl zu Ende war, wurden auf einige Tische Stühle gestellt, und
auf die Stühle stieg bald dieser bald jener von den Gästen, und mit Cham¬
pagnerpokalen in der Hand ließ man von diesen improvisierten Nednerbühnen
heiße begeisterte Worte strömen. Nach einigen Stunden fröhlichen Zechens
ging alles nach freundschaftlicher Umarmung im Gefühl der Einigkeit aus¬
einander. Leider dauerte diese Freundschaft nicht lange, und die nähere Be¬
kanntschaft ließ den Unterschied zwischen österreichischen und russischen Charak¬
teren scharf hervortreten.
Unser Aufenthalt in Krakau wurde zur Einziehung von Nachrichten über
Aufenthaltsort und Stärke des Feindes sowie andre dahin gehörige Dinge
benutzt. Es war schwierig, gute Spione zu bekommen, besonders in der ersten
Zeit, wo das Erscheinen der Russen alle Bewohner in Schrecken setzte. Wohin
wir kamen, überall waren die Dörfer leer, die Bewohner fortgelaufen und
hatten sich im Walde versteckt. Andrerseits war es trotz aller Vorbeugungs¬
maßregeln sehr schwer, Plünderungen gänzlich zu vermeiden. Die Kosaken
namentlich waren Meister in diesem Handwerk und verbreiteten einen derartig
panischen Schrecken, daß zwei von diesen Burschen die Bewohner eines ganzen
Dorfs in die Flucht jagten und dann nach Herzenslust stahlen. Allein der
Generalfeldmarschall machte dem Treiben bald ein Ende und befahl dein
Obersten, alles zu bezahlen. Die meisten und besten Spione waren Juden;
aber es kam vor, daß sie von beiden Seiten Geld nahmen. General Saß, der
vom Kankasus her gewohnt war, Spione zu verwenden, wußte ein gutes Mittel,
sich der Juden zu bedienen: er erkundigte sich nach ihrer Familie, nahm dann,
wenn er Juden zum Feinde schickte, ihr Weib fort und gab es mitsamt
der Belohnung nicht eher heraus, als bis er zuverlässige Nachrichten er¬
halten hatte.
In Krakau lebte ein Onkel Görgeis, und Graf Rüdiger, der zufällig mit
ihm bekannt geworden war, erfuhr zu seinem Erstaunen, daß der Neffe Görgei
und die ganze ungarische Armee von monarchischen Geiste beseelt seien; daß
niemand um eine Republik dächte; daß man das Absetzungsdekret des Hauses
Habsburg vom 14. April streng verurteile und nur eine Bestätigung der Prag¬
matischen Sanktion und der in ihr enthaltnen Privilegien wünsche. Der Onkel
Görgeis erklärte, daß das Dekret vom 14. April Ursache der Trennung seines
Neffen von Kossuth sei; daß jener jetzt gänzlich von diesem geschieden, und
daß in diesem Zwist die ganze Zukunft Ungarns enthalten wäre.
Wir brachten in Krakau ungefähr vierzehn Tage zu; dann kam aus
Warschau die Nachricht, Kaiser Nikolaus I. würde das Heer mit seinem Be¬
suche beehren. Die Kunde von der Herkunft des Kaisers verbreitete sich überall,
und jedermann trug den Kopf höher. Seine Majestät traf in Begleitung des
Generalfeldmarschalls in Krakau am 2. Juni nachmittags bei schönem Wetter
ein und begab sich nach dem Essen nach Galizien in die Stadt Zmigrod, wo
die Haupttruppenmacht lag. Unser drittes Korps erhielt den Befehl, über die
Karpathen nach Knschau vorzurücken. Der Durchmarsch durch Galizien, wo
wir auf den verborgensten Wegen marschieren mußten, war sehr beschwerlich.
Die Infanterie und selbst die Kavallerie kamen überall durch; aber der Train,
die Munitionswagen und die Artillerie hatten bequeme Wege nötig, während
es hier nur unebene steinige Pfade gab. Indessen die Feldschmiede half überall
aus; wir kamen an schrecklichen Abgründen vorbei und überstiegen die Berge
erstaunlich schnell, ohne bedeutenden Verlust. Wäre ich Maler oder Dichter
gewesen, ich Hütte den prächtigen Anblick beschrieben, den wir unterwegs
zwischen den Bergen genossen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl für uns
Nordländer, als sich nach all den Ebnen und Steppen plötzlich vor uns diese
hohen Bergsänlen unter einem wunderbar hellen Himmel anstürmten. Hier
lag vor uns eine Ebne gleichsam eingelassen in den Rahmen hoher Berge,
die von dunkelblauen Gletschern gekrönt in diamantweißem Schnee erglänzten;
dort unermeßlich tiefe Schluchten, auf deren Grunde Ströme flössen, oder
lärmend und rauschend ein Wasserfall tausend Regenbogen von sich aussprühtc.
Das Herz wurde einem weit beim Anblick dieser wunderbaren Natur; aber zu¬
gleich that einem der Gedanke weh, daß diesem schönen Lande vom Schicksal
bestimmt sei, zum Kriegsschauplatz oder mindestens zum Vorhof eines Kriegs
und all seiner Not und Schrecken, die er im Gefolge hat, zu werden.
Unterwegs trafen wir überall aufrührerische Manifeste Kossuths, in denen
die Russen als der schwarze Tod, als leibhaftige Pest mit Sicheln und Feuer
in der Hand geschildert wurden; da ist es denn kein Wunder, daß in einem
Lande, wo die Vorstellung von uns nur auf solchen Manifesten beruhte, alles
bei unserm Erscheinen davonlief. Erst später, als sich die Bewohner von der
Unwahrheit dieser Schilderungen überzeugt hatten, und als wir alles zu be¬
zahlen anfingen, begegnete uns das Volk freundlich und voll Zuversicht und
teilte sogar seine letzte Habe mit uns.
Wir waren in Galizien bis Lipnik gekommen, als am 5, Juni der Flügel¬
adjutant Oberst Adlerberg den Befehl des Generalfeldmarschalls zum Vorrücken
in der Richtung auf Eperies überbrachte und zugleich mitteilte, Nur sollten uns
an die rechte Flanke der Hauptarmee anschließen. Dieser für die schnelle Ver¬
einigung des Heeres wichtige Marsch, von dem alles abhing, wurde mit er¬
staunlicher Umsicht und Präzision ausgeführt. Der Marsch ging nach Lupkow,
einem Ort an der Grenze Galiziens, den nur ein kleiner Fluß von Ungarn
trennt. Unser Stab nahm am 6, Juni in Lupkow in einem alten Schlosse
auf dem Berge Quartier. So mit einem Fuße schon in Feindesland mußten
wir vor allen Dingen genaue Erkundigungen einziehn, besonders da der Feind,
wie es hieß, in der Umgegend verborgen lag.
In Ungarn waren die Haupträdelsführer — sozusagen Autoritäten in
ihrem Fach — die Geistlichen, namentlich die lutherischen, zu deren Konfession
auch Kossuth gehörte. Er war die Seele aller Unternehmungen, das Haupt¬
werkzeug des Aufstauds. Bei ihrem Bildungsgrade, der höher war als der
aller andern Klassen, konnte die Geistlichkeit leicht die Herzen aller Bewohner
in Beschlag nehmen, und Kossuth, der die Wichtigkeit dieses Einflusses kannte,
benutzte ihn. Die katholische Geistlichkeit predigte den Aufstand, und in den
Kirchen wurden im Namen der Religion und Kossuths aufrührerische Manifeste
verlesen, die der Hohe Rat von Debreczin gesandt hatte. Kurz, die ganze
örtliche Verwaltung lag in den Händen der Geistlichkeit. Ich weiß nicht, wie
wir erfuhren, daß der Geistliche in Lupkow einer der eifrigsten Anhänger der
Revolution sei. Der Korpskommandant ließ ihn festnehmen und zu sich führen.
Der Geistliche wurde ins Quartier gebracht, und obgleich er lange Zeit jede
Kenntnis vom Zustande der feindlichen Truppen ableugnete, dienten doch seine
eignen Worte eher zu seiner Überführung, als zu seiner Rechtfertigung. Graf
Rüdiger erteilte dem Kapitän im Generalstabe, Wittkowski, den Auftrag, den
Geistlichen auszufragen und unverzüglich die Wahrheit herauszubringen. Ich
wohnte zufällig diesem Verhöre bei. Der Geistliche leugnete wie früher; wir
versprachen ihm alle Schätze der Welt, aber er versicherte bestündig, nichts zu
wissen. Ein bewaffneter Kosak bewachte ihn; da kam mir ein verwegner Ge¬
danke. Der Stab lag in einem Schuppen, in dessen Ecke ein großes Wasser¬
faß stand.
Kennst du die Inquisition? fragte ich den Geistlichen.
Jawohl.
Nun, so steig in das Faß, und wenn du nicht sofort über alles Auskunft
giebst, ertränke ich dich!
Wir kleideten ihn umständlich aus, aber unser Gefangner wollte nicht in
das Faß hinein, und der Kosak mußte ihn mit Gewalt hineinbefördern. Dann
befahl ich dem Soldaten, eine geladne Pistole auf den Geistlichen anzulegen
und auf mein Kommando abzudrücken. Alles das war natürlich nur Scherz
und geschah zur Einschüchterung des Geistlichen; aber diesem schien die Sache
nur allzu ernst. Sobald er wieder zu leugnen begann, winkte ich dem Kosaken,
der den Hahn spannte, und der Geistliche tauchte voll Schreck im Wasser unter,
in der Hoffnung, sich zu retten, steckte aber schnaufend den Kopf bald wieder
hervor. Das wiederholte sich einige male unter dem Gelächter der Anwesenden,
bis endlich mein Geistlicher, matt und erschöpft, in der Überzeugung, daß es
keine Rettung für ihn gäbe, alles beichtete und uns höchst wichtige Nachrichten
mitteilte. Sie bestanden darin, daß der Feind in Stärke von dreitausend Mann
bei Szeben hinter Hethars lüge. Als unsre Hauptmacht nach Plavniza kam,
erwies sich diese Angabe nach eingezognen Erkundigungen als ganz richtig.
Inzwischen hatte der Graf das Kosakenregiment Ur. 15 nach Polocz dirigiert,
wo, wie es hieß, ein Trupp Aufständischer im Walde lag; und in der That
ertönten bald einige Schüsse, und gegen Abend brachten die Kosaken zwanzig
Gefangne herein, aber fast alles Knaben im Alter von vierzehn bis fünfzehn
Jahren. Wir trauten unsern Augen nicht, als wir diese Kinder sahen, erfuhren
dann aber, daß man sie zum Vorpostendienst verwandte, in die Dörfer schickte,
ihnen Wachtdienst zu üben und nötigenfalls auch zu schießen befohlen hätte. Der
Fanatismus im Lande war so groß, daß die Söhne der angesehensten Familien
diesen Dienst versahen. Sie trugen graue Uniformen mit breiten Kragen, auf
denen der Rang eines Unteroffiziers und Feldwebels durch kleine Sterne,
ganz wie bei den Österreichern, bezeichnet wurde. Es war ein Jammer, diese
Kinder anzusehen; sie aber, begeistert von dem Wagemut ihrer jungen Jahre,
kamen durchaus nicht aus der Fassung. Der Korpskommandant befahl ihre
Auslieferung an die österreichische Wache; vorher aber mußte ich sie versammeln
und den Soldaten zeigen. Ich führte die Knaben vor die Front und in das
Biwak in der Nähe. Unsre Soldaten verkehrten mit ihnen wie mit Kindern,
gaben ihnen Zwieback und streichelten ihnen die Backen.
Ich habe schon die Aussage des Geistlichen erwähnt, wonach in der Nähe ein
feindliches Heer liegen sollte. Unsre Avantgarde unter dem Befehl des General¬
leutnants Lisecki war hinter Lupkow herummarschicrt und setzte sich auf den
Anhöhen in Plavniza in der Richtung auf Hethärs fest. Plötzlich ertönten
Schüsse in Lupkow; in einem Augenblick war alles auf den Beinen und zur
Stelle. Der Graf bestieg sofort sein Pferd und ritt mit seiner Suite zur
Avantgarde. Was war geschehn? Eine feindliche Abteilung, die einige Kosaken
bei Hethars gesehen hatte, war im Glauben, daß außer diesen keine Truppen
zugegen wären, mit dreitausend Mann und zwei Geschützen zum Angriff
vorgegangen; aber sie stießen auf unsre Infanterie und Artillerie, die gerade
zur rechten Zeit unter dem Kommando des tapfern Obersten Lisecki eingetroffen
und vom Grafen Rüdiger selbst aufgestellt worden waren. Als sich die Auf¬
ständischen unerwartet von der Artillerie begrüßt und von zwei Bataillonen
des Regiments Potocki mit dem Bajonett empfangen sahen, wurden sie voll¬
ständig zurückgeschlagen und verloren etwa dreihundert Mann an Toten und
Verwundeten. Dann verfolgten die Kavallerie und die Kosaken sie noch weit,
und so war die erste glänzende Waffenthat des Feldzugs zu Ende.
Nach dein langen Marsche in starker Hitze durch Orte, die von den Be¬
wohnern verlassen waren, brannten unsre Soldaten darauf, sich zu schlagen,
wodurch leicht die Grausamkeit erklärt wird, mit der sie bei diesem ersten Strauß
verfuhren. Von Offizieren wurde hier der Leutnant Gujus vom Ulanenregiment
Sr. Kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Konstantin in die Brust getroffen.
Die Truppen des Feindes standen unter dem Befehl Vysvckis, eines Polen,
der es wahrscheinlich für einen Glücksfall hielt, zuerst den Russen eine Schlacht
zu liefern, sich dann aber in seinen Erwartungen getäuscht sah. Das Gerücht
von diesem Zusammenstoß verbreitete sich schnell, übte eine starke moralische
Wirkung aus und bahnte den Weg zu weitern Erfolgen.
Der Generalfeldmarschall hatte die Vereinigung aller Truppen am 18. Juni
in Eperies befohlen. Unser Marsch dahin war sehr beschwerlich, denn während
die Hauptmacht auf der Chaussee marschierte, mußten wir uns auf schmälen
Seitenpfaden und zwischen Bergen durchschlängeln, wo wir bei jedem Schritt
auf Bäche und Quellen stießen. Zur Ausbesserung der Wege und Brücken,
die vom Feinde zerstört waren, wurde ein Pionierbataillon vornnfgeschickt, und
nur so wurde es uns möglich, zur rechten Zeit in Eperies einzutreffen. Es
war ein wunderbarer Anblick, wie plötzlich auf zwei verschiednen Wegen, die
auf einen großen Platz mündeten, genau zu derselben Zeit, als Hütten sie sich
verabredet, die Hauptarmee unter dem Generalfeldmarschall aus Dukla und die
Truppen des dritten Korps unter dem Grafen Rüdiger aus Plavniza eintrafen;
so genau waren die Marschrouten vorher bestimmt. Der Graf Hütte, von
Neumarkt direkt auf Kaschau marschierend, noch einen Tag eher eintreffen
können, aber es war ihm vorgeschrieben, Lnpkow zu berühren und einen Tag
im Gebirge zu verweilen, eben in der Absicht, daß alle zugleich in Eperies
eintrafen. Als der Generalfeldmarschall an der Spitze seiner Truppen in
weißer Mütze zu Pferde den Grafen Rüdiger erblickte, sprengte er im Galopp
auf ihn zu, und beide umarmten sich herzlich. Der Einmarsch der Truppen
in Eperies war wirklich ein prächtiges Schauspiel. Die Kunde von dem
Scharmützel bei Hethars war schon hierher gedrungen und hatte auf die Ge¬
müter offenbar günstig gewirkt. Es war ein herrlicher Tag, alle Fenster
standen auf, Damen in prächtigen Kleidern winkten aus den Fenstern, warfen
Blumen von oben herab auf den Feldmarschall, und andre streuten Blumen
auf der Straße. Die Häuser waren mit Teppichen geschmückt, und die Straßen
wimmelten von Volk. Eperies zeichnete sich besonders durch seine festlichen
Empfänge ans, wie denn uns unserm Rückwege die Festlichkeiten noch gro߬
artiger waren, als diesesmal. Man sagte uns übrigens, daß die Stadt
genau so auch die Österreicher und die Ungarn empfangen hätte und nnr da¬
durch unbeschädigt geblieben sei. Meistens hingen in den Städten und Orten,
durch die die Truppen kamen, Flaggen aus: für uns weiße, für die Öster¬
reicher gelb und schwarze und für die Ungarn grün und rote; und jedes Haus
hatte so drei Flaggen in Bereitschaft, die je nach Bedarf aufgezogen wurden.
In Eperies kam es dadurch zu einem ergötzlichen Zwischenfall. Die Ungarn
zogen zum einen Ende der Stadt heraus, während wir am andern ein¬
marschierten, und auf dem Nathausturm hatte man die rot und grüne Flagge
nbzuuehmen vergessen oder nicht die Zeit dazu gehabt. Ich bemerkte das und
teilte es dem Stadtkommandanten mit. Der erschrak nicht schlecht, lief wie
der Wind zum Rathaus, zog eigenhändig eine weiße Flagge auf und bat mich
um Entschuldigung.
In Eperies blieben wir, bis sich die übrigen Truppen versammelt hatten.
Sie marschierten einen ganzen Tag und eine ganze Nacht vorüber, und die
Einwohner wunderten sich über die Stärke unsrer Armee, die gegen 100000 Mann
betragen mochte.
Aus Eperies zogen wir am 14. Juni nach Kaschau, wo eine Wiederholung
des Eperieser Empfangs stattfand. Der Feind hatte alles im Stich gelassen,
und oft übernachteten wir in Häusern, an deren Thüren die von ungarischen
Wachtmeistern mit Rotstift geschriclmen Inschriften der Regimenter: Visocki,
Bethlen usw. noch nicht ausgelöscht waren. Am 18. Juni erreichten wir Forro,
und am 23. Juni rückten wir ans Mistolez vor, wo schon das Hauptquartier der
Armee lag; die Truppen, die uicht bis an die Stadt gelangten, gingen bei dein
Dorfe Solcz in Biwak. Hier erhielten wir die Nachricht, daß unter den Ungarn
schon große Verwirrung herrsche, und daß das Erscheinen der Russen im Herzen
Ungarns schon starken Zweifel an Kossuths gelungner Thaten hervorgerufen
Hütte, Es hieß, Ofen und Pest seien von den Ungarn verlassen, eine starke
Abteilung lüge an der Theiß in Szolnok und Miklos, und Kossuth sei mit
seinem Anhang nach Szegedin geeilt. Die Bewohner waren durch unser
freundliches Verhalten ermutigt worden; sie kehrten in ihre Häuser zurück und
nahmen unsre Truppen gern auf. Das war besonders auffallend in Miskolcz,
einer Stadt mit zahlreichen Einwohnern, in der sich ein großer Teil des Adels
aufhielt. Das Volk, durch den Krieg erschöpft, ohne Geld und ohne Obrigkeit,
war sehr erfreut über die bevorstehende Umänderung und sprach mit Vergnügen
von der Einnahme Debreczins durch unsre Truppen. Alle, oder wenigstens
die Mehrzahl der Bewohner, begriffen endlich ihre Lage und sehnten nnr ein
baldiges Ende herbei. In Miskolcz wurde dem Generalfeldmarschall eine
Deputation vorgestellt, die die russischen Waffen rühmte und möglichst strenge
Maßregeln zur Beruhigung des Landes zu treffen bat. Zutrauen bestand nur
zu den Russen; denn wenn auch durch das ganze Land Kossuths Proklamationen
gingen, die das Volk Mann für Mann zum Aufstande gegen uns aufforderten,
so war hiermit auch die ganze Thätigkeit der ungarischen Negierung erschöpft.
In den erwähnten Proklamationen wurde dem ganzen Volke mitgeteilt, daß
Ungarn auf irgend welche Unterstützung von keiner Seite zu rechnen habe;
man müsse allein kämpfen und das Vaterland durch eigne Kraft retten. Zur
Erhöhung der Begeisterung des Volkes wurden besondre Gebete verfaßt; außer¬
dem schrieben die Zeitungen von Grausamkeiten der Russen gegen die Be¬
wohner des Landes und die Gefangnen; aber all diese Aufrufe und Nachrichten
brachten keinen Eindruck hervor, weil sich das Volk selbst durch Anschauung
vom Gegenteil überzeugte. Allgemeine Niedergeschlagenheit folgte auf die
voraufgegangnen glänzenden Träume der Patrioten; Kossuth war vou seinem
Ruhmesaltar herabgestürzt. Insgeheim bestand noch Hoffnung auf die Armee
Görgeis und die Südarmee; aber die letzten Mißerfolge, die auch diese Ab¬
teilung betroffen hatten, trugen noch mehr zur allgemeinen Enttäuschung bei,
(Fortsetzung folgt)
odn Morgn, sagte jemand, der bei dem Verlehntsmann (Altenteiler)
Jasper Thun in die Stube trat. Das war mein Hans Ohm, der
Dorsschneider von Fallingborstel und Umgegend, Früher hatte er
sich mit Detlev Reese in die Ehre und in den Verdienst teilen müssen;
seitdeni man aber den Meister Detlev nach dem Kirchhof gebracht
hatte (und das war vor vier Wochen geschehen), war er der alleinige,
der einzige Kleidertuustler. Zu Jasper Thun kam er zum erstenmal.
Godn Morgn, sagte er und legte einen Packen Handwerkszeug auf die Lade.
Jasper Thun war allein in der Stube, aber Jnsper Thun antwortete nicht.
Er saß in seinem mit braunem Leder überzognen Lehnstuhl, das Gesicht an der
Ohrenklappe des Stuhls, an der rechten Seite des Beilegerofens, gegen den er die
Füße stemmte. Er hatte eine dicke Backe, aber das war nichts Schlimmes, sondern
nur eine Prise Kautabak. Auf seinem Kopf trug er eine i» Zebrastreifen gehäkelte
blauweiße Zipfelmütze. Seine Margret häkelte und strickte ihm hiervon zwei Sorten,
eine in Wolle für den Winter, eine in Baumwolle für den Sommer. Als mein
Hansohm in die Stube trat und guten Morgen bot, trug Jasper eine baum-
wollne.
Wir verweilen nicht ohne Grund bei der Mühe, denn als Jasper den fremden
Schneider sah, zog er das Netz über sein Gesicht und beobachtete ihn durch die
Maschen.
Wie? Zu Jasper Thun kommt ein Schneider, der zum Nahen bestellt ist,
der Schneider sagt höflich „Guten Morgen," der Hausherr sitzt hinterm Ofen und
kaut Tabak, beantwortet aber nicht den Gruß, sondern verkriecht sich in seine Zipfel¬
mütze? Betragen sich so die Leute in Fallingbvrstel?
Nein, in Fallingborstel ist das sonst nicht der Brauch, Man ist auch dort
höflich, und Jaspers Benehmen war mich in Fallingborstel ungewöhnlich. Zur Er¬
klärung haben wir indessen zu bemerken, daß Jasper ein außergewöhnlicher Mensch
war und mit dem landläufigen Ellenmaß nicht gemessen werden durfte. Er war
— und diesmal ist es buchstäblich zu nehmen — jederzeit seine eignen Wege ge¬
gangen. Schon als Knabe hatte er die breiten von ihm förmlich gehaßten Straßen,
wenn irgend möglich, vermieden und Schleichwege gewählt, auch wenn sie beschwer¬
licher und langer waren als der allgemeine Weg. Ein unwiderstehlicher Hang zur
Einsamkeit hatte ihn abseits geführt. Er liebte die Freiheit, die Selbständigkeit,
und vor allen Dingen liebte er die Bilder seiner wachen Träume. Er galt für
klug und wurde, als er groß geworden war, ein guter Erzähler, kam aber bald in
den Ruf der Wunderlichkeit. Schließlich war es denn geradezu bei ihm Grundsatz
geworden, nicht das zu thun, was alle thaten. So hatte er sich nach und nach von
allem Herkömmlichen, von Brauch und Sitte losgesagt. Mehr und mehr zergrübelte
er sich darüber, was es wohl eigentlich mit der Welt auf sich habe, weshalb wohl
alle Menschen so unvernünftig seien, und Jasper Thun allein so vernünftig. Im
Mannesalter hatte er noch Freunde gehabt, die ihn wenigstens halbwegs verstanden;
aber er hatte sie mehr und mehr allein gelassen und war von ihnen allein gelassen
worden. Nun war er des Verkehrs mit Menschen ganz entwöhnt. Traf er jetzt
mit einem zusammen, so verlor er auf eine Viertelstunde sein Selbstvertrauen und
schlüpfte in die. immer bereite Zipfelmütze, wie ein Krustentier in sein Gehäuse.
Ju seiner Zipfelmütze fühlte er sich geborgen wie in einer Tarnkappe, dort fand
er Zeit, sich zu besinnen, wie der Mensch vor ihm, den er durch die Maschen beob¬
achtete, zu behandeln sei. Peinlich hielt er darauf, daß sie nicht von seinem Haupte
kam, die Zuflucht wenigstens sollte ihm auch in den verzweifeltsten Fällen bleiben,
diese Zuversicht wollte er nicht entbehren.
Meinem Hans Ohm gegenüber brauchte er die übliche Viertelstunde nicht ganz.
Wenn die alte Uhr, die ohne Gehäuse an der Wand hing, Recht hat, so müssen
es nicht mehr als zehn Minuten gewesen sein, sah doch der durch die Maschen
beobachtete Schneider durchaus nicht abschreckend aus. Er ordnete vielmehr in aller
Gemächlichkeit seine Sachen: Nadel und Zwirn, Schere und Reißbrett, und kümmerte
sich um Jasper Thun und seine Zipfelmütze keinen Deut. Er that, als sei er allein
im Zimmer, schob den für das Zuschneiden bestimmten Tisch, der in der Ecke stand,
zurecht und legte Wachsknäuel, sowie ein großes Stück Kreide auf die Fensterbank.
Frau Thun, die alte Margret, kam herein und wollte ihm das Blauleinen nud
den eigen gemachten Beiderwand vorlegen. Sie war etwas lendenlahm, Hans
Ohm stieg deshalb ans seinen Stuhl und holte alles aus dem Schrank, der über
dem Wandbett eiugetäfelt war.
So Hans — „kragte" und bat Margret —, so Hans, nu drink erst mol Kaffe.
Hans Ohm hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, kastanienbraune Augen
und launig gefaltete Lippen. Ja, mit diesen Lippen hatte es eine besondre Be¬
wandtnis. Sie hüteten, wie alle wußten, Geschichte» und „Döntjes" und „Verteiln,"
die sich hören lassen konnten. Und wenn man genau hinsah, so schienen die Lippen
auch dann in Bewegung zu sein, wenn er schwieg. Das waren die Geschichten,
die immer heraus wollten, sich von innen gegen die Oberlippe stemmten und sich
in ihrem Übermut getrauten, den Verschluß zu heben und lachend hiunusznbrcchen.
Aber Hans Ohm hielt die Bande in guter Zucht; er wußte ganz genau, daß seine
Geschichten da draußen gar nicht leben konnten, wenn das Wetter nicht danach war,
er wußte, daß zum Geschichtenerzähler vor allen Dingen gutes Wetter bei den
Hörern nötig ist, und war der Manu dazu, das gute Wetter abzuwarten.
Jasper Thun saß noch immer in der Zipfelmütze. Die gute Uhr schwang
ihren Pendel und zählte und zählte. Vielleicht dreihundertmal hatte sie links gedielt,
dreihuudcrtmal rechts gedankt, da schob Jasper Thu» seine Zipfelmütze auf die
Stiru zurück und sah mit einem eisgrauen, verkümmerten Gesichtchen, mit grauen,
rotuuterlaufnen Augen aus schlaffen Thränensäcken auf seinen Kaffee trinkenden
Schneider.
Hans Ohm wiederholte seinen Gruß: Gvdu Morgn, Jasper! — Aber darauf
war Jasper nicht gefaßt gewesen, das war gewissermaßen gegen die in Gedanken
mit dem fremden Besuch getroffne geheime Abrede, das war nach seiner Meinung
ein ganz infamer Überfall, das erschreckte ihn so. daß er noch einmal, wenn auch
auf eine kürzere Zeit, in die Mütze hinein verschwand. Einhundertundfünfzigmal
tickte die Uhr nach links, einhundertundfünfzigmal tackle sie nach rechts, so lange
dauerte es, bis Jasper Thuns Gesicht wieder am Frühstückstisch erschien.
Aber wortkarg und für sich blieb Jasper den ganzen Tag. Die Kosten der
Unterhaltung bestritten Margret, die an der linken Seite des Ofens ihre Kalkpfeife
rauchte, und mein Haus Ohm. Und auch Hans Ohm fand das Wetter noch nicht
ganz nach Wunsch. Die Aussichten besserten sich aber, als Jasper anfing, ub und
zu etwas zu murmeln, was etwa klang, wie: Das mein ich mich — oder: Das
ist recht — und beifällig mit dem Daumen vom Langfinger auf den Zeigefinger
knipfte, womit er sagen wollte: Dill is wat, Duuner ja, dat is'n Baas von Kerl. —
Margret sprach von der neuen Zeit, von der Schlechtigkeit der neuen Welt im all¬
gemeinen und von dem Frevel der neuen Erfindungen, womit man klüger sein wolle,
als der liebe Gott, besonders. — Hans Ohm widersprach nicht, stimmte hier und
da bei, und Jasper knipfte. Dann ließ Hans Ohm als Versuchsballon ein kleines
Geschichtchen steigen. Die Gesellschaft da drinnen war gar zu ungeduldig geworden,
und Hans Ohm dachte: Versuchen können wirs ja mal. Und Wenns nicht geht,
es ist ja nicht das erstemal, daß ich eine Historie wegwerfe. Und Veranlassung,
etwas zu erzählen, war durch Hinrich Graff Gänse gegeben.
Hinrich Graff Gänse waren nämlich in Hans Sodts Weizeukoppel eingebrochen.
Darüber hatte sich ein Prozeß entsponnen, der jetzt das Tagesgespräch in Falling-
borstel war. Hinrich Graf war von Hans Sode vor die klösterliche Obrigkeit zu
Itzehoe geladen, Hinrich Graf hatte eingewandt, daß er der Pntrimonialgerichts-
barkeit der Grafen Drage unterstehe, und Hans Sode. war vom Kloster mit seiner
Klage „wegen Inkompetenz" abgewiesen worden. Mit den verschiednen Obrigkeiten
war es damals überhaupt eine merkwürdige Sache, um so mehr, als die Juris-
diktiousbezirke keine geschlossenen Flächen bildeten, sondern im Gemenge lagen. So
war es zu der Zeit unsrer Erzählung auch noch in Fallingborstel und Umgegend.
Die königlichen, die gräflichen, die klösterlichen Grundstücke liefen bunt durcheinander.
Als nun die Gänseangelegenheit besprochen wurde, meldete sich bei Haus Ohm ein
Geschichtchen und bat: Lat mi rut, lar mi rut! Und Hans Ohm gab nach und
ließ daS arme kleine Geschichtchen heraus. Ich will es ihm nacherzählen:
In unserm Kirchdorf Hohenfeld haben einmal ein alter Mann und eine alte
Frau gewohnt, und die sind Sonntag für Sonntag zur Kirche gegangen und haben
sich das Evangelium vom Pastor auslegen lassen. Und am Sonntag Nachmittag
haben sie davon gesprochen, wie der Pastor das Evangelium ausgelegt habe. Das
heißt: meistens hat die Frau gesprochen, und der Maun hat zugehört, denn die
Frau ist kluger gewesen, als der etwas lappige, alte Mann.
Aber eines Sonntags hat es sich begeben, daß die Fran nicht angehn konnte,
da sie sich den Fuß vertreten hatte. Der Mann mußte also allein geh», aber die
Frau hat ihm noch nachgerufen: Hör got to, wat de Prester seggt, dat du mi dat
Evangeln vörnamiddag utleggn kans.
Nun hat der Pastor seiner Predigt das Evangelium zu Grunde gelegt: als
des „Königischen" Sohn krank lag zu Kapernaum, und der Königische in seiner Not
den Heiland bat, daß er käme und hälfe seinem Sohne. Und hat ausgeführt: so, wie
des Königischen Sohn krank gelegen habe zu Kapernaum, so sei es die ganze Christen¬
heit ans Erden und könne nur an den Heilswahrheiten unsers Heilands gesunden.
Und der alte Mann hat genau zugehört und sich alles gemerkt, damit er
seiner Frau nachher erzählen könne, wie der Priester das Evangelium auslege.
Nu, wat hett de Prester seggt, fragte die Frau, als er nach Hause ge¬
kommen war.'
A, ick weet ni, antwortete er. Dat weern ol wunnerlt Predig.
Wasöken weer se denn?
A, de Prester sa, dem Koni sin Sön weer krank to Kopenhagn, un de ganze
Kristenheit mvß to Peer.
To Peer?
Ja, Fru, „auf Pferden" hett he fegt. Awer dat geit uns jo rieth an. Se
hört jo könili, wi fort jo gräfli.
Das Wetter, das die kleine Anekdote bei Margret antraf, war „betises"
zweifelhaft. Sie stellte ein paar dumme oder gleichgiltige Fragen: Wat de Fru
do seggt har, un ob de ol Mann un Fru in Ott Wulf hin Hus, wat immer grttfli
Wesen weer, wohnt Harn, und bemerkte: „Wenn de ol Lüd denn würkli gräfli West
weern, Harns dor jo ok rils mit do dohn hatt." Dann besann sie sich auf ihre
Höflichkeitspflicht und ließ den Deckel auf ihrem alten Kehlkopf zweimal gezwungen
ans- und niederklappen, was Lachen bedeuten sollte, räumte dabei aber verlegen den
Tisch ab. Bei Jasper aber war gut Wetter, er lachte tief und herzlich von innen
heraus und schüttelte sich in seinem braunen Lederstuhl.
Wenn wir den alten Jasper Thun nicht schon ein wenig kennen gelernt
hätten, so hätte es ausfallen müssen, daß er sich so herzlich über ein so einfach
vorgetragnes und so anspruchslos verpuffendes Geschichtchen freuen konnte. Aber
es ist schon augedeutet worden, daß es einstmals eine Zeit gegeben hatte, wo dem
alten Jasper selbst ein feiner kaustischer Humor eigen gewesen war, und daß er
einstmals Freunde gehabt hatte, mit denen er sich verstand.
Aber das war lange her. Wo waren die Gesellen seiner Jugend, die Freunde
seines Mannesalters geblieben, die auch bei ihm die Kunst des Erzählens zur Blüte
gebracht hatten? Das Leben, der Tod, die Geschicke hatten sie getrennt; vielleicht
wandelte niemand mehr im Lichte der Sonnen. Wie lange war es jetzt, seitdem
Jasper eine Geschichte erzählt hatte! Er hatte verlernt, zu erzählen. Er fühlte,
er hätte es nicht mehr gekonnt, auch wenn er die Hörer gehabt hätte. Eine Ge¬
schichte, zwei, vielleicht drei konnte er noch znsammendenke», zum Beispiel die Ge¬
schichte von dem Erzlügner Peter Schumann, der vom Turm der Marienkirche in
Lübeck nach Rendsburg hinübersah, just als der alte Denker aus Wiemersdorf in
die Thorwölbung hineinfuhr. Denker habe eine geflickte Jacke und den blauen Achsen¬
wagen gehabt. Er, Peter Schumann, habe guten Tag gesagt. Ob Denker gedankt habe,
wisse er nicht, der Wind habe es verweht. — So ungefähr hatte ers früher er¬
zählt. -— Oder die Geschichte von dem frommen Hein Wendt mit der schönen Seele,
auf die der Leibhaftige, der Böse so „happig" gewesen war. Um die schöne Seele
zu ergattern, habe er einmal den ganzen Hein mit Leib und Seele, just wie er
von den Wiesen bei Knewershorst heraufgekommen wäre, in die Höhe genommen und
in die Lüfte entführt. Die Sache wäre für Hein und Heims Seele übel abgelaufen,
wenn er nicht die Bibelsprüche so gut in der Schule gelernt gehabt hätte. Aber
er habe dem Teufel mit so kräftigen biblischen Verwünschungen entgegentreten
können, daß dieser ihn beim Kattbecker Moor als für seine Zwecke ungeeignet
wieder abgesetzt habe.
Ja, wenn er darüber nachdachte, so wußte er doch noch mehr Geschichten, als
er selbst angenommen hatte, und für sein Leben gern hätte er selbst wieder — und
wenn auch nur ein einziges mal — eine Geschichte zum besten gegeben, über die
der Kreis der Hörer lache. Aber das konnte er nicht mehr fertig bringen, dazu
hatte ihm zu lange ein Publikum gefehlt, dazu war sein Kopf überhaupt zu alt
und zu schwach.
Das ist für immer dahin, dachte Jasper bei sich. Aber einem andern Er¬
zähler zuhören, auch das ist ein hoher Genuß. Dem alten Jasper war mich das
lange nicht vergönnt gewesen. Denn ihn besuchte kein Mensch, und der verflossene
Detlev-Schneider war schmerhörig gewesen und hatte keine Geschichten erzählt.
Margret sprach wohl allerlei, aber das war doch nicht eigentlich das, wonach seine
Seele verlangte. Das waren Franengeschichten „von em un vou ehr" und Klatsch¬
geschichten, die den Willen oder die Leidenschaften aufstachelten, aber nicht Geschichten,
die einen rin ihren feinen Widersprüchen und lustigen Verknüpfungen noch erfreuen
konnten, wenn man sonst nichts mehr vom Leben erwartete. Was weiß Margret
von der Kunst des Erzählens? Aber Hans Ohm, das war ein echter, das hatte
er gleich bei dem Döntjer von dem Evangelium des Königischen herausgehört.
Gegen Abend gab der Schneider noch zwei zum besten. Jasper lachte und
lachte.
Und als er abends mit Margret zu Bett ging, sagte er:
Du, Gretjen, de Snieder, de gefallt mi. Dor kann man doch 'n vernünfti
Wort mit Schranken.
Ach, der arme, alte Mann. Er hatte noch kein Wort gesagt, aber in seinen
Gedanken, da hatte er mit dem Schneider schon viel, viel — „geschnackt."
Am folgenden Tag „schmackte" der alte Jasper aber wirklich und sprach schon
am Knffcetisch.
Es war die Rede von „Wünschen" und was man möchte.
Hans Schneider lobte zwar sein Handwerk, schränkte aber das Lob doch ein.
Würde ihn, ein Wunsch frei gegeben, so möchte er wohl „Hofnarr" sein.
Was das sei, „Hofnarr"?
Er habe mal ein Buch gelesen, und alte Theaterstücke seien drin gewesen.
Darin seien Könige ans alten Zeiten aufgetreten, bei denen Leute eigens dazu an¬
gestellt gewesen seien, Spaß zu machen und Geschichten zu erzählen. Die habe
man „Hofnarren" genannt. Ein Hofnarr hätte er wohl sein mögen, und wenn ers
sich etwas eingeübt hätte, würde ers auch wohl gekonnt haben.
Dem alten Jcisper gefiel die Sache, aber nicht der Name. „Narr," warum
„Narr"?
Je länger Jasper sich mit seinem Schneider unterhielt, je mehr Gefallen fand
er an ihm. So jung war Jnsper Thun lange nicht gewesen. Bei meinem Hans
Ohm fühlte er sich so sicher, hatte er so viel Selbstvertrauen, daß er seinen Lehn-
stuhl verließ und am Stock mit seinen achtzigjähriger Beinen herumhumpelte. Seine
Zipfelmütze hakte über dem Ofenknopf und nicht auf seinem Kopf, er hatte seine
Tarnkappe und seine Gefahr ganz vergessen. Seine Phantasie war bei dem langen
Jnsichhineingrübeln vertrocknet, verdorrt und lahm geworden, nun aber war ihm,
als ob sie fliegen wolle und wieder fliegen könne.
Es wird sich zeigen, alter Jasper, ob sie noch fliegen oder nur noch flattern
kann. Vorläufig wurde sie noch getragen von den starken Schwingen des Meisters,
meines guten Hans Odins.
Margret, Gretjen! rief Jasper.
Seine Stimme war hoch und klanglos und schrill. Er hatte immer in hoher
Lage gesprochen; das Alter, die Vereinsamung, die Menschenscheu hatten sie noch
höher geschraubt und ihr jede Wärme genommen.
Margret, wandte er sich an seine Frau. De Snieder seegt ok, mit de Jsen-
bohn, mit de isern Wagns un de isern Weg, de se nu bum woll, kann ni angahn.
Der Leser nimmt davon Kenntnis, daß wir uns in einer Zeit befinden, wo
die Eisenbahn noch mehr ein ungeheuerliches Gerücht als wirkliche Thatsache war
und noch nicht ernsthaft genommen wurde.
Margret rauchte und lachte.
Jasper Thun wandte sich an seinen Schneider.
Hans, sagte er, Hans! Kan jo ni un nommer angahn.
Mit dem Stock schlug er an seinen eisernen Ofen.
De Kerl, wi he dor steil, kost mi fiew Doler; woveel Scholle denn ihm Wagns
und ihm Weg, Milen lang, woveel Scholle de denn losen? Women schall't Geld
herkam?
De Sporkaß het dat ni, bemerkte Hans Ohm, einen Faden einwachsend.
Recht, recht, stimmte Jasper in den höchsten Tönen bei. Un, wenn de Spor¬
kaß dat ni mal hett — — —
Gretjen, unterbrach er sich, best hört, wat uns Snieder seggt. De Sporkaß
hett dat ni.
Auf der linken Ofenseite wurde eine Kalkpfeife auf dem Gesims ausgeklopft.
Die Eignerin dieser Pfeife lachte, aber nicht über ihren Mann, sondern über die
Eisenbahn und murmelte etwas von „Dummtüg" und „Höhnerglowen."
Am Nachmittag hatte Jasper Thun wieder Grund, sich über seinen Schneider
zu freuen.
Heft hört, sagte er wieder. De Snieder seggt ok. De Eer is ni rund as'n
Tweernsklun or'n Kugel, un breit sik ni un stellt sik nachts ni op'n Kopp. Is
ok je to marrsch, so wat to denken. Kitt ut. Dor unrer de Pappeln is min
Erdenlust. Bleev je ken Droppn in, wenn se nachts op'n Kopp stumm.
Auf der linken Ofenseite wiederum Beifallsgelächter.
Und all die Tonnen und die Waschbaljn, führte Margret aus, die an der
Diele stünden. Und die Töpfe und Schüsseln in Küche und Kammer. Sie müßten
ja jede Nacht an die Badendecke fliegen, wenn die Erde sich nach unten drehte. —
Dor kann je keen Stück heel von bliven, schloß Frau Thun ganz energisch. Wer
schall dat betalen. Wi konnt dat ni, un sonst deit dat keen Een. Un all dat Kram
Abend vor Abend intopacken, dor hev'k keen Tid un keen Kisten to.
Die Vorstellung, daß Frau Margret jeden Abend ihre Tonnen und ihre
Töpfe einpacken wolle, damit sie nicht in die Luft flögen, das Einpacken ihrer eignen
Person und der Kisten selbst offenbar für überflüssig hielt, belustigte den Schneider.
Er lachte.
Gretje meinte, er lache über das Weltbild des ihnen dem Namen nach ganz
unbekannten seligen Kopernikus, während er sich gestattete, ein wenig über die Jn¬
konsequenzen der Frau Thun lustig zu sein. Wir sind überhaupt nicht ganz sicher,
wie weit es meinem Ohm mit seiner Zustimmung zu dem alte» Weltbild ernst war,
und ob er sie überhaupt so unzweideutig geäußert hat, wie der Verlehntsmann
Jaspcr Thun annahm.
Dann unterhielt Jasper sich mit ihm über den Zweck der Welt.
Dor dew'k veel swer nadacht, sagte Jasper, un kann un kann dat ni rut-
kriegn.
Is ok en eegen Ding, meinte Hans Ohm.
Da war das Welträtsel in der Altenteilsstube des Jasper Thun in Falling¬
borstel; da war es mit seinen großen Fragercmgeu, mit seinem dummen Sphinx¬
gesicht.
Is mi gaus klar, bemerkte die rauchende Margret.
Hätte ich eine Posaunenstimme, die da reichte von Mittag bis Mitternacht
und vom Morgen bis zum Abend! Der ganzen Menschheit gälte meine frohe
Botschaft: Es ist gelöst, warum du dich Jahrtausende gemüht hast! Gelehrte
Männer ihr, die ihr mit faustischem Forschungsdrang die Nächte durchwachtet, das
unergründliche Geheimnis zu ergründen — legt euch ruhig schlafen. Grete Thun,
geborne Riepen in Fallingborstel wird es euch sagen, was der Zweck, was die Idee
der Weltschöpfung ist.
Nu, denn Segg dat! — forderte Jasper auf.
Und Margret sagte es — sagte ganz kühl, ganz einfach — die lapidaren
Sätze: De lewe Gott hett ullus erschaffen, ok uns, un will sehn, ob wi dat Böse
todt, or dat Gode.
Einen Augenblick atmete das Weltall, und einen Augenblick atmete auch Jasper
Thun in Fallingborstel, es zu überdenken, was eigentlich diese Sätze besagten. Aber
dann befriedigten sie ihn und auch das Weltall nicht mehr. Das von Grete an-
geschnittne Gebiet war Jaspers Feld, darüber hatte er fünfzig Jahre der Einsam¬
keit nachgedacht, während Gretjen Thun in Küche und Keller schaffte. Die Übung
hatte ihn in diesem Punkte wenigstens überlegen gemacht. Den Widerspruch zwischen
unsrer Freiheit und der Allmacht Gottes hatte er erkannt. Jasper war ja von
Haus aus Philosoph. Nein, mit der Lösung des Welträlsels war es nichts. Wacht
wieder auf und nehmt die Folianten und die Mikroskope aufs neue zur Hand
und die Röhren und die Töpfe und die Tiegel und führt die Stoffe zu neuen
Verbindungen!
Ne Gretchen, belehrte Jasper seine Frau, dat is rils. Held Gott uns er¬
schaffen, denn sünd wi bet vorhin ni Wesen. Held he uns bös erschaffen — he
kann dat, he is cillmächti —, denn hev wi dat ni to verantworten. He is ni blöd
allmcichti, he is ok allweise un allwissend. He hett also weder, dat wi bös warn
dehn. Held de dat ciwer weder, denn wer dat beler Wesen, he harr uus ni er¬
schaffen.
„ Jasper, Jasper, schrie Margret — versündige ti ni, nimm din Wör in acht.
Aber Jasper setzte seine Zipfelmütze auf und blieb bei seiner Ansicht. Und
die Eheleute Thun gerieten in ein Wortgefecht. Der mit der Zipfelmütze und der
hohen knarrenden Stimme im Besitze der größern Folgerichtigkeit, die mit der Kalk¬
pfeife im Besitze einer weichern Folgsamkeit gegenüber alten, geheiligten Ansichten.
Daß neben der Allmacht Gottes eine menschliche Freiheit, daher auch ein vor Gott
strafwürdiges Verhalten ganz undenkbar sei, wollte sie nicht anerkennen. Sie
stellte in einem Atem eine menschliche Freiheit gegen den Willen Gottes fest und
wollte doch seine Allmacht nicht preisgeben, ohne sich des Widerspruchs bewußt zu
werden.
Und mein Hans Ohm lächelte und nähte und stutzte die Säume.
Hans, Segg du doch mal wat, rief die in die Enge getriebne Margret.
Il weet ni, wer recht hett, entgegnete der Schneider. Dat sitt dor to deep
rin. Il weet ni, wer recht hett, awer et willn Geschieht verteiln.
Das wirkte wie ein Zauberwort.
Geschieht verteiln, dat's recht — sagte Jasper.
Margret stopfte sich eine neue Kalkpfeife, Jasper setzte sich in seinem Gro߬
vaterstuhl zurecht und schob an seiner Mütze.
Ji kennt Uhrmoker stopp — begann Hans Ohm.
Top, rief Jasper, en Ogenblik, ik willn Pründjer nehm.
Einen Viertelzoll rollte er ab und genehmigte ihn sich ganz.
Nun konnte es losgehn.
Jasper und Margret waren sehr gespannt.
Hoffentlich sind die Leser nicht so gespannt, wie die Eheleute Thun es waren,
denn das würde mir peinlich sein. Hans Ohm erzählte für alte Leute, denen
als unerhörte Begebenheit erscheinen konnte, was für meine Leser „olle Ka-
melln" sind.
Ji kennt den Uhrmoker stopp, begann Hans Ohm.
In, wer scholl den ni kenn, antwortete Margret, he geit ja mien Kasten von
Hus to Hus. Verlän Wek hatt he uns Klock reinmnkt un sincere.
Den meen ik, fuhr Hans Ohm fort. He is wie bekannt un weet vel Ge¬
schichten.
Verteilt ömmers wat rief, bestätigte Margret.
Awer sin Geschichten hebt ömmers wat an sik, wat eurer Geschichten ut hebt.
So wat Stndertes. Se milkt een dor erst denken, wo dat Denken bi armer Ge¬
schichten opholt. He schall op'n Prester studeert sehr, awer von'n rechten Glowen
afkam Wesen. Ol is he wol wat int Swutschen un Swieren kom, um do wer
dat mit dat Prester warn vörbi. Nu geiht he rum un moll Uhren rein.
Awer is heel toverlässi, bemerkte Margret.
Ja, sagte Hans Ohm, wenn he nüchtern is. Jedenfalls is he heel klok. Von
em stammt min Geschicht.
Und Hans Ohm erzählte; er erzählte plattdeutsch, aber ich will es wortgetreu
übertragen.
Es ist einmal ein Bnuernknecht Namens Michel gewesen, und einen gesunden
Magen hat er gehabt, und Pellkartoffel mit Senftunke und Heringen als Abend¬
essen ist sein Leibgericht gewesen. Aber er hat es nicht gekriegt, sondern Abend
für Abend dicke Grütze mit Milch, wie überall auf den Bauerstellen Gebrauch und
Mode war und wohl noch ist. Da hat er seinen Dienst aufgesagt und hat sich bei
einer Witfrau vermietet und hat sich ausbedungen: dreimal abends in der Woche
Pellkartoffel mit Seuftunke und Heringen, an vier Abenden könne man dafür ans-
setzen, was der Hausstand bringe. Und jeden Abend hat er zu dem lieben Gott
gebetet: Große Schätze verlange ich nicht von dir, lieber Gott. Aber das bitte ich
mir aus, daß ich drei Abende in der Woche Pellkartoffel mit Senftunke und He¬
ringe bekomme und dereinst oben bei dir die ewige Seligkeit, die mir zukommt.
Amen!
Ein ganzes Jahr ist es so hingegangen, und die Witfrau, bei der er gedient
hat, hat ihm den Kontrakt getreulich gehalten. Nun hat es sich aber begeben, daß
dem Höker des Dorfes die Heringe ausgegangen sind, worüber die Witfrau in
große Angst geraten ist, da Michel noch für zwei Tage zu verlangen gehabt hat.
Schnell ist der kleine Dienstjunge Heim zur Stadt geschickt worden, Heringe zu
holen, aber er ist nicht zurückgekommen, sondern in der wilden Heide, worüber der
Weg zur Stadt führte, samt den Heringen von den hungrigen Wölfen gefressen
worden und elendiglich umgekommen. So war es nicht zu ändern. Michel kriegte
in der Woche an zwei Abenden, wo er Pellkartoffel mit Senftunke und Heringen
verlangen konnte, Pellkartoffel mit Judentunke und Rauchschinken, was ihm die
Witfrau mit schwerem Herzen und mit dem Bewußtsein, wortbrüchig geworden zu
sein, vorsetzte.
Den ersten Abend ging es noch, aber am zweiten war Michel sehr bös. Aber
er aß doch, denn er war hungrig. Und als er in sein Bett gekrochen war, betete
er nicht wie sonst: „Große Schätze verlange ich nicht von dir" und so weiter,
sondern er machte dem Herrgott Vorwürfe: Nichts weiter habe ich gewünscht, als
Pellkartoffel mit Heringen und Senftunke und nur dreimal die Woche und die
ewige Seligkeit, die ich verlangen kann, wenn ich gestorben bin. Und ich meine,
das ist bescheiden genug. Ich will nicht kleinlich sein und aufzählen, was andre
alles kriegen. Aber das kann ich doch sage», daß Johann Stieper, der bei Jochim
Rvhwer dient, manchmal sogar Bratkartoffel mit Speck bekommt. Und da habe ich
gedacht, eine bescheidne Bitte finde auch wohl Erhörung. Aber du bist im Besitze
deiner Allmacht und bekümmerst dich nicht um einen armen Bauernknecht, der gern
seinen Hering ißt. Du bist schuld, daß der Höker keine Heringe hatte, und du
bist anch schuld, daß der kleine Hein von Wölfen gefressen worden ist und mir
nicht die Heringe bringen konnte. Und wenn du deu Wölfen etwas gönnen wolltest,
so hätte es auch wohl ein andermal gepaßt, daß sie den kleinen Hein aßen.
Und nachdem er auf diese Weise seinem gerechten Unmut Luft gemacht hatte,
schlief er ein.
(Schluß folgt)
Der Hamburger Großhändler R. E. May, Inhaber
der Firma Alexander Jahr n. Comp. in Hamburg, veröffentlicht seit einer Reihe
von Jahren Rückblicke auf die wirtschaftliche Entwicklung des Vorjahres, an die er
nationalökonomische und sozialpolitische Betrachtungen knüpft. In der 1899 (bei
Puttkammer und Mtthlbrecht in Berlin) erschienenen ..Wirtschafts- und Handels¬
politischen Rundschau für das Jahr 1898" beschäftigt er sich ausschließlich mit
Politik. Sehr richtig bemerkt er, die allgemeine Verwirrung und Verwicklung
spiegle sich auch in dem bekannten Buche des Professor Reinhold: „Die bewegenden
Kräfte der Volkswirtschaft"; nur wenige Behauptungen fänden sich darin, die der
Verfasser nicht selbst wieder umstürze; zu diesen wenigen gehöre der Satz: „Der
Politik entgeht kein Gebiet des praktischen Lebens"; woraus, nebenbei bemerkt, folgt,
daß es ungemein schwierig für uichtpolitische Vereine, Versammlungen und öffentliche
Vorträge ist, der Polizei und dem Strafrichter zu entgehn, Da man annehmen
darf, daß May die politischen Ansichten eines bedeutenden Teils der Hamburger
Kaufmannschaft vertritt, so verdient seine Schrift einige Beachtung; nur deshalb
wollen wir ihre Hauptgedanken hier wiedergeben, ohne uns dafür zu engagiere»
und ohne sie zu kritisieren; das zweite ist nicht nötig, da jedermann die politische»
Grundnnschnuuugen der Grenzboten kennt. May beginnt mit englischen Kund¬
gebungen, die den Verdruß darüber ausdrücken, daß England in Gefahr steht, im
Ausfuhrhandel von Deutschland und den Vereinigten Staaten überflügelt zu werden,
und daß ihm Deutschland in der Levante den Wind aus den Segeln genommen
hat. Übrigens hätten die Engländer zwar, was sie jetzt einsehen, mit der Unter¬
stützung der kretensischen und armenischen Aufwiegler eine große Dummheit begangen,
aber auch ohne diese Dummheit würden sie nicht in der Lage gewesen sein, an
Deutschlands Stelle die wirtschaftliche Erschließung Auatolieus zu unternehmen; dazu
fehle ihnen die Kraft, weil sie nach dem Geständnis ihrer Auslandskonsulu in der
kaufmännischen wie in der technischen Tüchtigkeit hinter Deutschland zurückgeblieben
seien, und weil sie eine »usinuige Menge unsinnig großer Interessensphären mit
Beschlag belegt hätten. Solche Interessensphären, wie z. B. die in China, nützten
gar nichts, und auch die Kriegsflotte nütze ihnen nichts, weil damit kein dem rus¬
sischen Heere ebenbürtiges Landheer hingeschafft werden könne, schon aus dem ein¬
fachen Grunde nicht, weil die Engländer keins haben. Die gänzliche Ohnmacht
Englands in dieser Hinsicht, die sich ja seitdem im Bureukriege vor aller Welt
bloßgestellt hat, und die gegenwärtig den Hauptinhalt des Tagesgesprächs liefert,
weist May statistisch nach. Daraus erkläre es sich, daß England die Freundschaft
Deutschlands suche, und aus einem offiziösen Artikel des Hamburgischen Korrespon-
denten folgert er, daß thatsächlich ein geheimes Bündnis mit England bestehe. Das
sei auch das einzig vernünftige, denn wir könnten Englands Flotte ebensogut
brauchen wie die Engländer unser Landheer. Zwar sei Rußland ein weit zuver¬
lässigerer Bundesgenosse als England, und es sei zu bedauern, daß uns Caprivi
dessen beraubt habe durch die Kündigung des genialen RückVersicherungsvertrags,
den Bismarck geschlossen hatte, aber in einer andern, sehr wesentlichen Beziehung
sei doch die englische Freundschaft der russischen vorzuziehn. England befolge daheim
und in seinen Kolonien die Politik der offnen Thür; jedes Gebiet, das England
besetze, sei für die ganze Welt, also auch für uns gewonnen; Rußland dagegen
sperre die Thür zu, und was es an Gebiet erwerbe, das sei für unsern Handel,
für unsre Exportindustrie verloren. Zwischen England und uns, die wir uns eben¬
falls auf den Export angewiesen sähen, bestehe demnach trotz allen Konkurrenzneids
die vollkommenste Interessenharmonie. Freilich dürfe sich Deutschland uicht länger
der Wahrheit verschließen, daß, wer anderwärts offne Thüren verlangt, seine eigne
Thür offen halten müsse; rin der Schutzzülluerei müsse gebrochen werden; in den
Junkern, den Hauptstützen der Schutzzvlluerei und des Militarismus, sieht May
den Feind, der den wirtschaftlichen, sozialen und Kulturfortschritt hemme. Mit Hilfe
einer statistischen Tabelle sucht er nachzuweisen, daß unsre Militärausgabcn wirklich
schon drückend seien, und er ist überzeugt, daß, wenn dem Wettrüsten nicht Einhalt
gethan wird, die übrigen Staaten ebenso von ihrer Rüstung erdrückt werdeu würden,
wie es Italien schon ist. Er glaubt deshalb, daß der Zar seinen Vorschlag voll¬
kommen ernsthaft gemeint habe. Durch die Bezeichnung „Abrüstungsvorschlag"
hätten die Gegner die russische Kundgebung von vornherein lächerlich gemacht; von
Abrüstung sei aber darin bekanntlich gar nicht die Rede, sondern nur davon, daß
der Steigerung Einhalt gethan werden solle. Rußlands Absichten seien nun aller¬
dings, England gegenüber, uicht ganz friedlich, da es durch seine eignen wirtschaft¬
lichen Verhältnisse gezwungen sei, den Zugang zu südlichen Meeren zu suchen, die
ihm England versperre; indes vor Ablauf von zwei Jahren könne es an Krieg
nicht denken, weil es noch nicht hinlänglich mit Schncllfeuergeschützeu ausgerüstet
sei. Auch dann werde der Frieden vielleicht erhalten bleiben, denn „der kolossale
Aufschwung der Industrien aller Länder, namentlich der Industrien der Elektrizität
und des Lichts, absorbiert dermaßen alle disponibeln Kapitalien, daß den Mächten
der Finsternis zur Zeit faktisch nicht genng Mittel verbleiben, ihr trauriges Hand-
werk zu beginnen." Zuletzt werde Rußland selbst gezwungen sein, sich der eignen
Ausfuhr wegen zu der Politik der offnen Thür zu bekehren. Im Fall eiues Zu¬
sammenstoßes sei ein Vierbuud: Deutschland, England, Amerika, Japan — gegen
Rußland und Frankreich möglich; die Vereinigten Staaten hätten natürlich nur
ihres Exports wegen eine Station im asiatischen Meere erstrebt, sonst würde die
Eroberung der Philippinen gar keinen Sinn haben.
In einem Loup ä'oeil sur
Iss M-ä!us läßt Fürst de Ligue, der „Geistreiche" des Wiener Kongresses, von dem
das Wort 1s ecmAi'of ciimss, wais us marons pas herrührt, die Mahnung ergehn:
„Familienväter, flößt euern Kindern Lust und Freude am Garten ein, das macht sie
zu guten Menschen!" Nehmen wir das von dem Herrn gebrauchte Wort Miäino-
m-teils in mildester Bedeutung, so ist damit eine höchst beachtenswerte Anregung
gegeben. Das Ziel wäre sehr erwünscht: lauter gute, also liebenswürdige, uneigen¬
nützige, verträgliche, fleißige Söhne und Töchter. Und das Mittel dazu wäre gar
nicht beschwerlich, sogar der Gesundheit dienlich. Wir haben ausführlichere Hin-
deutungen und feinere Winke von dem hohen Herrn erwartet, der nicht nur als
Weltmann am Hofe der Königin Marie Antoinette von Frankreich viel galt, sondern
auch zu den kenntnisreichsten und anziehendsten französischen Schriftstellern der seligen
Nokokozeit gehört.*) Wir lernen auch viel aus der kleinen Schrift. Freilich hat
der Fürst nur die Gärten der, wie wir zu sagen pflegen, obern Zehntausend, nein,
der obersten kann. Fünfhundert im Auge, wie sie vor den Ereignissen von 1789
und 1793 im Vollgenuß ihrer ökonomischen und sozialen Bevorzugung standen.
Alleen, Felspartien, Grotten, Teiche, Wasserfälle beschäftigen ihn. Er kennt Twicken-
ham, Windsor, Blenheim. Er führt uns nach Ermenonville mit Erinnerungen an
die schöne Gabriele d'Estre^es und an I. I. Rousseau, doch ohne dessen „Bekennt¬
nisse" zu ernähren. Mit Katharina II. stand der Fürst in brieflichem und persön-
lichen Verkehr, und so rühmt er Zarskoselo, den Sommeraufenthalt der Gesetz¬
geberin von Rußland, der Besiegerin der Türken und der Gärtnerin von Zarskoselo,
aus eigner Anschauung. Am längsten verweilt er bei Wörlitz, das er auf die Ein¬
ladung des Herzogs Franz von Anhalt besuchte, um dort Schloß, Park, den aus
einem Elbarme gebildeten See, Floratempel und — Pantheon zu bewundern.
Ernsthaft sind die Vorschläge gemeint, wie sich die Herren Großgrundbesitzer „fern
von Madrid" auf ihren Sommersitzen mit der Jagd, mit Anordnung zweckmäßiger
Holzschläge und Neupflcmzuugeu von dem Garnison- und Frauendienst, vou Hof-
geschichten und Glückspiel erholen sollen. Und wie menschenfreundlich mahnt Fürst
Karl Joseph als Anhänger der Encyklopädisten seine Standesgennssen, auf ihren
Spciziergängen an nachbarlichen Hütten vorüber nicht zu versäumen, in diesen
mitunter kleine Geschenke zur freudigen Überraschung der armen Bewohner zu
verstecken.
Den Satz, den wir hervorgehoben haben, hat Fürst von Ligne nur vornehm
flüchtig hingeworfen. Er glaubt ihn mit der Bemerkung erwiesen zu haben, daß man,
wenn man daran denke, ein Blumenbeet, ein Boskett einzurichten, einer Schlucht
Schatten zu verschaffen, oder einem Bache Richtung zu geben, keine Zeit habe, Hof¬
geschichten einzufädeln, ein gefährlicher Staatsbürger zu werden oder unter Frauen
Unfug zu treiben. Auf diese Art ist der erwähnte Ausspruch für uns aber nicht ab¬
gethan. Sollte er nicht auch ohne Seine Durchlaucht, zumal auf bescheidnere Ver¬
hältnisse bezogen und schlicht und recht verstanden, Ausführung verdienen und gefunden
haben? Zuuttchst drängt sich uns dann in dieser grausam statistischen Zeit die Frage
auf: Wie viele Familienväter besitzen denn im gruudgütigen Deutschland oder, um
rascher eine Übersicht zu gewinnen, in Schwarzburg-Rudolstadt oder in Schaumburg-
Lippe einen Garten oder ein Gärtchen, worin sie pädagogische Übungen anstellen
konnten? Gewiß, wir haben neben einer Menge von Luxusgärten auch „Arbeiter¬
gärten." In den musterhaften Arbeitergärten Krupps in Altenhof und Alfredshof,
in den Arbeitcrgärten von Mülhausen i. E., in den Gärten der Werftenarbeiter von
Wilhelmshaven betrachten wir es als gutes Zeichen, daß dort nicht nur Kohlrabi
und Gurke üppig gedeihen, sondern auch Rosen und Nelken, sogar ein Lobelien¬
ring und eine Weigelia sichtbar werden. Gern rechnen wir hinzu, daß Behörden
und Menschenfreunde vielfach gesorgt haben, der ärmern städtischen Bevölkerung
gegen mäßige Pacht „Gartenland" zur Verfügung zu stellen. Und da sei nament¬
lich Leipzig mit seinen ausgedehnten, nach dem Stifter genannten „Schrebergärten"
und Kiel rin ebenfalls mehr als dritthalbtnusend Gartenlandgebieten, jedes zwei¬
undvierzig Geviertmeter groß, rühmend hervorgehoben. An solchen Plätzen zeigen
sich oft, namentlich nach Feierabend, ganze Familien mit Lust und Verstäuduis
thätig. Bald sind sie darauf bedacht, eine Rasenbank durch übergcbogne Feuerbohnen¬
ranken zur Laube zu gestalten, bald ein Beet für Goldlack, Reseda und Wicken her¬
zustellen usw. Gewiß regen bedächtige Familienväter durch ihr eignes Zufrieden- und
Vergnügtsein auf ihrem kleinen Fleck des Grünens und Blühens ihre Kinder durch
Anleitung zu gesundheitfördernder Arbeit erzieherisch an.
Die eigentliche Pädagogik hat sich die Beschäftigung im Garten als Er¬
ziehungsmittel nicht entgehn lassen. Das Pestalozzi-Fröbelhaus in Berlin leistet
darin Anerkennenswertes. In der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal vor dem
Thüringer Walde — sie feierte 1884 das Jahrhundert ihres Bestehens und hat
gegenwärtig etwa siebzig Zöglinge — bekommen die ihr anvertraute« sieben- bis
vierzehnjährigen Knaben jeder sein Beet im Anstaltsgarten zugewiesen. Die schon
erfahrnen Schüler weisen die jüngern an, Schnittlauch, Radieschen, Kresse (für das
Butterbrot), Nasturzieu, Phlox, Levkoyen, eine Nhabarberstaude, einen Adlerfarn zu
Pflanzen und zu Pflegen. Je umsichtiger, freundlicher, fröhlicher es geschieht, desto
besser. In den Bosketts wird Bekanntschaft mit Sträuchern und Bäumen gemacht.
Sobald wie möglich wird ein Strauß gepflückt, um der einen oder der andern
Lehrersfrau, die es gut mit den Zöglingen meint, überreicht zu werden. Von dem
an die kleine Arbeiterschaft herantretenden Lehrer werden weitere botanische Hin¬
weisungen erteilt, und bei guter Laune deutet er darauf hin, wie manches der An¬
staltsgarten enthalten könnte, ohne es zu enthalten: eine nicht üble c!sinon8liÄi,lo in
a.dö?ut,la, von unabsehbarer Ausdehnung. In den neuerdings vielfach eingerichteten
Knabenhorten fehlt nie die Garteubeschäftigung. Schon vor vierzig Jahren traf,
wie wir einer biographischen Skizze in der vorjährigen Deutschen Rundschau ent¬
nehmen, der um die Landwirtschaft, Bienenzucht und Fischerei sehr verdiente Guts-
Herr Felix von Behr-Schmoldow Veranstaltung, den Schulkindern des benachbarten
Städtchens Topfgewächse cmzuvertrcmn, damit sie sich in der Obhut und Pflege
übten, ihr Wachstum beobachteten, ihre Blüte aufzulesen. Ähnliches geschah vor
einiger Zeit in größerm Umfange von Erfurt, der Binnenstadt. Da das Ergebnis
günstig ausfiel, folgten Magdeburg, Stettin, Weimar, Gotha. Berlin blieb nicht
zurück. Auch hundertundzwanzig Schulen Londons werden zu ähnlichem Zweck
aus Hydepark, Jamespark und Kensington Gartens mit Topfgewächsen versehen.
In Weimar wurde im vorigen Herbst bei der Prämiierung der besten Leistungen
der Kinder die Schrift „Blnmenpflege als Erziehungsmittel" von Ad. Bergmann
(Verlag von Köhler in Gera) verteilt. Gymnasien und Realschulen gewähren der
Botanik einen Platz im Unterricht, und lauten Frohsinn entwickeln Lehrer und
Schüler beim Suchen, Finden und Bestimmen des Schönen und Beachtenswerten, das
sich in Wiesen, Feldern und Wäldern zeigt.
Immerhin ist darauf zurückzukommen, daß wir Nichteigentümer und Nichtnntz-
nießer von Gärten, Gärtchen und Gartenland den Besitzern und Pächtern gegenüber
die weit überwiegende, leer ausgehende Mehrheit sind. Was können wir thun,
um die dort zu gewinnende Freudigkeit und Tugend zu erlangen, oder falls die
Erziehung darauf gerichtet war, nicht wieder verloren gehn zu lassen? „Wie ist es
mir möglich, daß Leute, die prächtige Gärten haben, sie nie betreten?" ruft in der
Kameliendame von Dumas die sich von ihren hochhinanswollenden Freundinnen vor¬
teilhaft unterscheidende artige Ncihterin Nichette aus, wie sie von ihrem hochgelegnen
Fenster aus sehnsüchtig in die wohlgepflegten, aber immer menschenleeren Gärten
der Nachbarschaft schaut. Wir werden einen Blick in fremde Gärten, einen Gang
durch sie, wenn er erlaubt ist, nicht verschmähen. Für die zahlreich vorhandnen
öffentlichen Gärten sind wir dankbar. Jedenfalls behalten wir die Blumen überall,
wo wir sie finden, im Auge, sei es inner- und außerhalb der Zäune und stachel¬
drahtumschnürten Gitter, in Läden, auf den Märkten, ans Blumentisch, Balkon und
kleinsten, Fensterbrett. Unentbehrlich sind sie uns geworden, die kleinen nicht nur
blauen, sondern in allen Farben schimmernden Wunder, die in ihrer nuspruchlosen
Schönheit nächst — wir denken an den „Reinstes Glück" überschriebnen Reim in
Paul Heyses Spruchbüchlein — nächst Kindernugen und Kinderhändchen am meisten
imstande sind, uns milde, menschenfreundlich und, ja geschähe es auch erst unter
Totcnkränzen, fromm zu stimmen.
Vergessen wir nicht, welche Aufmerksamkeit die Dichter aller Zeiten den Blumen
erwiesen haben, welche Frende sie an ihnen fanden, welchen Genuß, welche Lebens¬
veredlung sie uns durch den Ausdruck dieser Freude gewährten. Wie herzinnig
lassen Goethe, Uhland, Heine, Geibel Rose und Veilchen, Nelke und Vergißmein¬
nicht zu uns sprechen! Wie hat Rückert uns durch „Die sterbende Blume" gerührt.
Viel Liebenswürdiges wissen Arndt und Rückert den, Himmelsschlüssel und Augen¬
trost, dem Ehrenpreis, dem Wohlgemut (Doraut, Orixonum vulgarv), dem Wnnder-
hold lAii-Ävilis ^al^pM) nachzurühmen. Und doch beweist der deutsche Volksmund
mehr Zartsinn als sie alle dem unscheinbaren Gänseblümchen (Lotus vczrenm«) gegen¬
über. nannten es doch unsre mit Feld und Wiese vertrauten schlichtesten Lnnds-
leute offenbar in Anerkennung seiner Zurückhaltung, sich nie hoch vom Erdboden
zu erheben und keinen Anspruch auf Größe zu machen, Maßlieb, in seiner Einfach¬
heit Tausendschönchen; ja seiner Bescheidenheit wegen wurde es als Marienblümchen
der Mutter Gottes, der Jungfrau Maria geweiht. (Ganz unbeachtet haben auch
Engländer und Franzosen das Gänseblümchen nicht gelassen. Robert Burns, der
köstliche schottische Dichter, hat sein curis? besungen, und our eos? ist an Themse
und Tweed oft Kosewort für junge Mädchen. Die Franzosen nennen la. Mausrstto
wenigstens auch min-Fnorits.)
Leute, die den Blumen Aufmerksamkeit schenken, sich viel mit ihnen beschäftigen
— die Gärtner von Beruf voran —, zeigen meist ein sinniges Wesen, Stillver¬
gnügtsein, Gutmütigkeit. Blumenfreunde sind keine Störenfriede. Böse Menschen
haben keine Lieder und, setzen wir hinzu, stecken keine Blume auf den Hut oder
ins Knopfloch. Es ist verschmitzte Heuchelei, wenn Franz Moor Amalien beteuert,
er liebe wie sein Bruder Karl die Rosen. Bürgermeister Thebens ist unmöglich
Garten- und Blumenfreund gewesen. Zwei junge Taugenichtse, die wir bei Ge¬
legenheit um ihre Blumenliebhaberei fragten, lachten uns aus, nur der eine, der
artigere nannte dann schelmisch genug die Putenie (Päonie) als seine Wahl. Als
gute Vorbedeutung ist es gewiß anzusehen, daß eine namhafte zahlreiche Genossen¬
schaft, obgleich ihre Häupter und Wortführer leicht grimmige Gesichter machen,
immer Aufregung, nie Beschwichtigung suchen, dennoch die Nelke zu ihrem Abzeichen
ausersah. Sie werden nicht völlig in Neid und Haß aufgehn, die Genossen, ob¬
gleich es die rote Nelke ist, die sie führen. Denn man beachte doch: der Storch¬
schnabel Ooranium WNAuillouin, die rote Anemone (L.. tulssens), die schöne Heuchera
(nach dem Botaniker Heucher benannt, eine Saxifrage), ja schon die Klatschrose ist
in ihrem stechenden Scharlach röter als die rote Nelke. Diese beweist also im
Farbenaufwande Zurückhaltung und Bescheidenheit, kann daher auf solche hindeuten,
muß zu ihr einladen und auffordern. Und wer wird die entsprechende Wirkung
verkennen? Wir wissen, daß die genannten unvergleichlichen Wortführer gegen ge¬
krönte Häupter unbändig gern das Gegenteil von Huldigung verüben, aber daß
„Genossen" „ans Prinzip" in einem Garten Königskerzen oder Kaiserkronen aus¬
gerissen hätten, haben wir nie gehört. Nicht unbemerkt ist es im Gegenteil ge¬
blieben, daß Anhänger der Partei ganz wie andre nicht verbissene Leute eine im
Aufblühen begriffne Königin der Nacht mit Vergnügen abends an ihr erleuchtetes
Fenster stellten, um Vorübergehenden den Anblick ihres Pfleglings zu gönnen.
Geehrte Redaktion! Schon öfters bin ich auf Ihren wunder¬
lichen Freund hinten in den Heften gestoßen, wenn Robert sie für den Lesezirkel
zurecht machte; aber ich bin nicht dazu gekommen, das zu lesen, was Sie über ihn
berichten. Bis mir mein Bräutigam neulich die Nummer 9 der grünen Hefte
zeigte, worin er sich so hübsch über den Dr. ub. ausspricht. Ich bin nämlich die
Braut eines Buchhändlers, und obgleich ich natürlich keinen Wert auf Titel lege,
so ist es doch für die Stellung eines gebildeten Mannes immer angenehmer, wenn
er sich Doktor nennen kann.
Allerdings ist es mir nicht ganz klar geworden, ob da im Ernst gesprochen
wird; aber da die Grenzboten doch einen ernsthaften Eindruck machen, so denke ich,
daß Sie sich die Sache mit dem Doktor haben durch den Kopf gehn lassen. Auch
Herr Grunow hat den Titel gutgeheißen, und er als Buchhändler weiß am besten,
was dem Stande not thut.
Robert — so heißt mein Verlobter — wäre wirklich sehr geeignet, den Doktor¬
titel zu führen. Er hat eine schöne, schlanke Figur und einen blonden Schnurr¬
bart, um den ihn mancher Leutnant beneidet. Und er ist so gebildet, daß er die
Lehrlingsprüfungsvorlage mit Begeisterung begrüßt.
Auch er klagt sehr darüber, daß manche Buchhändler nicht genügend Wert auf
ihre Bildung legen und alles verkaufen, was ihnen gerade in die Hand kommt.
Robert geht ganz andre Wege. Er denkt daran, einen kleinen Verlag zu gründen,
und hat sich deswegen schon mit einigen skandinavischen Schriftstellern in Ver¬
bindung gesetzt, die ihm ihre neusten Werke schicken wollen; und eine Schulfreundin
von mir ist gerade jetzt nach Christiania gegangen, um die skandinavischen Sprachen
so gründlich zu lernen, daß sie sie ausgezeichnet ins Deutsche übersetzen kann.
Robert denkt dann im Jahr etwa acht bis zehn Dänen, Norweger oder Schweden
in Deutschland einzuführen, und auch sonst wird er sich bemühn, das neuste in den
Erzeugnissen des Auslands auf dem Lager zu halten.
Natürlich ist er ein sehr guter Deutscher, und nichts würde ihm lieber sein,
als mit Herrn Grunow in nähere Verbindung zu treten. Aber es ist bekanntlich
nicht leicht, mit deutschen Büchern ein Geschäft zu machen. Robert sagt, die meisten
seien zu schwerfällig geschrieben, und es fehle ihnen das Pikante, das andre Na¬
tionen so auszeichnet. Auch die Skandinavier haben ein besondres Talent, die
Bücher so zu schreiben, daß sie ein hübsches und dem Inhalt entsprechendes Titel¬
blatt bekommen können.
Aber, geehrte Redaktion, Robert wird es sich angelegen sein lassen, Herrn
Grunows Bücher zu verkaufen. Daß er bei dem letzten Weihnachtsfest nicht dazu
kommen konnte, war wirklich nicht seine Schuld.
Sie erinnern sich vielleicht, daß Zolas l^ecmäitg gerade herauskam, und daß
jede deutsche Zeitung einen langen Artikel darüber brachte. Da war die Nachfrage
nach dem Buche natürlich groß; und da auch Tolstois „Auferstehung" viel be¬
sprochen wurde, so mußte Robert auch dieses Werk kommen lassen. Endlich fragen
manche Leute nach Kiplings Werken. Das ist ein englischer Dichter, der vor einiger
Zeit krank gewesen ist, und von dem immer in unsrer Zeitung stand, wie er ge¬
schlafen hätte. Da müßte man doch lesen, was er geschrieben hat.
Unsre deutscheu Schriftsteller scheinen niemals krank zu sein: wenigstens hört
man nichts davon, und da sie öfters siebzig Jahre alt werden, so sind sie wohl
immer gesund. Allerdings sollen kürzlich zwei Schriftstellerinnen aus dem Fenster
gesprungen sein; aber Robert ist doch nicht dazu gekommen, ihre Bücher zu ver¬
kaufen. Denn niemand hat nach ihnen gefragt.
Von meinem ersten Gedankengang bin ich abgekommen, ich weiß nicht wie;
aber ich wollte noch Herrn Grunow bitten, nicht böse auf die deutschen Rezensenten
zu sein. Es kommt mir vor, als beurteilte er sie zu scharf. In unsrer kleinen
Stadt (20000 Einwohner) haben wir zwei recht nette Herren, die sich mit Bücher¬
besprechung beschäftigen. Der eine ist noch in Prima; aber er geht schon nächste
Ostern auf die Universität. Er hat unendlich viel gelesen; Robert bringt ihm
immer alles neue aus München und Berlin, und Herr Braun schreibt reizende
Artikel darüber. Letzte Weihnachten wollte er auch deutsche Bücher besprechen; doch
als er das „Dritte Geschlecht" gelesen hatte, meinte er, nun müßte er sich erst
wieder bei den Skandinaviern erholen. Aber im nächsten Jahre soll er ganz gewiß
ein Buch aus dem Grunowschen Verlage vornehmen.
Unser andrer Rezensent, ein ältrer Gymnasiallehrer, schrieb früher sehr hübsch,
ist aber jetzt leicht gereizt. Als Robert ihm Helene Böhlaus „Halbtier" schickte,
das aus Versehen zwischen die Dänen geraten war, sandte er es gleich zurück und
verlangte ein Buch über Kunstgeschichte. Auch kann er keine bunten Umschläge
leiden. Robert aber ist jetzt schon einem Nachfolger für ihn auf der Spur. Einem
sehr begabten Menschen, der jetzt noch in Sekunda ist, der aber für Ibsen schwärmt,
und „wenn die Toten erwachen" viel besser verstanden hat, als Robert. Folglich
wird er einmal sehr gut werden.
Nun aber, geehrter Herr, will ich Sie nicht mehr mit meinem Schreiben
quälen. Sie merken wohl, daß ich keine Übung habe; aber ich muß Ihnen doch
noch einmal sagen, wie sehr ich mich für Robert freuen würde, wenn er den Dr. ub.
machen könnte. Alles würden wir für Herrn Grunow thun, wenn er die soziale
Stellung der Buchhändler besser gestaltete. Bitten Sie ihn recht schön von mir
und sagen Sie ihm, daß er getrost einige Bücher an meinen Robert schicken soll.
Sie glauben doch auch nicht, geehrte Redaktion, daß Zola und Tolstoi gleich
nächstes Jahr mit etwas neuem kommen werden? Könnten Sie mir darüber ein
Wort schreiben, würden Sie zu Dank verpflichten Ihre
Abermals munkelt man von einer „Reform" des höhern Schulwesens, namentlich der
Gymnasien, in Preußen. Nötig wäre sie allerdings, aber als eine wirkliche „Reform," d, h, als
eine Rückbildung zur alten klassischen Grundlage, denn daß die „Reform" von 1891 gründlich
mißlungen ist, das pfeifen die Spatzen von allen Dächern. Statt dessen scheint es im Werke zu
sein, das Frankfurter System (Beginn des Französischen in VI, des Lateinischen in IIIL, des
Griechischen in IIZ) auf alle Gymnasien zu übertragen. Das wäre 1. eine leichtsinnige Ver¬
allgemeinerung der in Frankfurt nur unter ganz besonders günstigen Umständen (Großstadt,
ausgesuchtes Lehrerkollegium, besonders geeignete Schüler) erzielten, aber in ihren weitern
Wirkungen noch nicht erprobten Ergebnisse, die in der ungeheuern Mehrzahl der Gymnasien,
wo keine dieser Bedingungen zutrifft, nur schweres Unheil anrichten würde; 2. entweder eine
unerhörte Vergewaltigung der übrigen deutschen Staaten, da diese sich einer solchen „Reform"
nur höchst widerwillig fügen würden, oder, wenn sie es nicht thäten, ein tieser Riß in das ganze
höhere Unterrichtswesen Deutschlands. Es giebt nur eine vernünftige Lösung der verfahrnen
Schulfragc, allerdings eine ganz radikale, nämlich die Rückkehr der humanistischen Gym¬
nasien zu der alten klassischen Grundlage vor 1891 auf der einen, die Beseitigung
des sogenannten Gymnasialmonopols auf der andern Seite, eines Monopols, an dem
den Gymnasien selbst nicht das allermindeste liegt. Man gebe also den Nealgymnasiasten
den vollen Zutritt zu allen Universitätsstädten, nicht nur zu dem der Medizin.
Dann wird das Geschrei, jetzt seien die Eltern genötigt, viel zu früh die Entscheidung über die
Laufbahn ihrer Söhne zu treffen, also das stärkste Argument sür die sogenannte Einheitsschule,
sofort verstummen. Wie die Universitäten ihrerseits mit Studenten von so verschiedner Vor¬
bildung zurecht kommen werden, das ist dann ihre Sache. Sie haben die Gymnasien in ihrem
schweren Kampfe sür die humanistische Bildung so vollständig im Stich gelassen, ja durch be¬
ständige Klagen über ihre mangelhaften Leistungen bald in dem, bald in jenem Fache so schwer
geschädigt, daß sie mit etwaigen Unbequemlichkeiten nur ernten würden, was sie gesät haben.
Die sechste Versammlung deutscher Historiker ist nach Halle für die Tage vom
4. bis zum 7. April d. I. einberufen. Die Herren Universitätshistoriker wollen wohl hübsch
unter sich bleiben, damit die Reinheit der Wissenschaft nicht durch unzünftiges Volk gefährdet
werde? Denn in diesen Tagen des Semesterschlusscs kann kaum ein Schulhistoriker abkommen.
Das mußten die Herren, die an der Spitze stehn, wissen, und darum verdient dieses Beispiel
einer wahrhaft monumentalen Rücksichtslosigkeit tiefer gehängt zu werden.
! le auswärtige Politik der modernen Staaten hat im letzten Drittel
des neunzehnten Jahrhunderts in Zielen und Mitteln eine augen¬
fällige Veränderung erfahren, die nun für die Folgezeit zum poli¬
tischen Gesetz zu werden scheint.
Die Hausmachtspolitik, die jahrhundertelang die auswärtige
Politik der Höfe beherrschte, hat nach unzähligen dynastischen Kriegen schließlich
doch Fiasko gemacht: der letzte große Versuch zur Schaffung einer Hausmacht
führte wieder auf die natürliche Staatsform, den Volksstaat zurück, und diese
Form scheint nun gesichert, seitdem fast überall der dynastische Wille durch den
Volksnutzen verdrängt worden ist. Die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert brachte den Zerfall der Hausmacht Habsburg durch die
Hausmacht der Bonaparte. Durch seine Hauspolitik — indem er nämlich die
Mitglieder seines Hauses an die Spitze von nationalen Staaten setzte — und
durch seine Polenpolitik förderte Napoleon jedoch unbewußt den nationalen
Gedanken. Nach dem Zerfall des ersten Kaiserreichs wiederholte sich darum
das, was nach dem Tode Alexanders des Großen geschehn war: es regte sich
in den Völkern das Naturgesetz der Staatenbildung und schritt über die dyna¬
stischen Wünsche hinweg. Diese Entwicklung, die Bildung der nationalen
Staaten, ist für Europa erst mit dem 18. Januar 1871 abgeschlossen worden —
wenigstens für absehbare Zeiten, denn es ist noch ein Rest übrig geblieben:
wir sehen, wie hartnäckig die Polen ihrem Nationalstaat nachhängen, und wie
schwer heute noch das Völkergemisch Österreichs an den Überresten der Habs¬
burgischen Hauspolitik verdaut. Das Slawentum scheint wirtschaftlich zu er¬
starken, und dieser Aufschwung ist geeignet, auch politisch zu denken zu geben.
Man kann aber im allgemeinen die Ära der Bildung von Volksstaaten für
abgeschlossen halten, wenn auch in allen Staaten noch pnrtikularistische Be¬
strebungen gegen'den Einheitsstaat ankämpfen, und sich einige bei den Grenz¬
regulierungen von ihrem Volle abgesprengte Teile gegen die geographische
Notwendigkeit sträuben. Der staatlichen Bethätigung der Volkskraft folgte die
wirtschaftliche. Nachdem die Völker das Haus gebaut hatten, das unter natio¬
nalem Banner die Glieder der Volksfamilie einte, gingen sie mit erhöhtem
Eifer daran, das Feld zu bestellen, das die Speisekammer des Hauses füllen
sollte. Überall in den erstarkten Staaten regte sich gewaltig das wirtschaft¬
liche Leben, und wie einst die Völker bestrebt waren, ihre Hausgrenzen
gegeneinander abzustecken, so erstrebten sie nun dasselbe mit den Arbeitsfeldern:
dem Grundsatz des Nationalstaats trat der der Nationalwirtschaft zur Seite,
dem Errichten das Erhalten, So sehen wir nun die Völker die Mutter Erde
in Arbeitsfelder teilen und sich nach Kräften ihr Teil von der Weltwirtschaft
sichern. Mit dieser nationalen Volks- und Weltwirtschaftspvlitik geht Hand
in Hand das Streben, das über die Welt verstreute Volkstum um die Heimat¬
flagge zu sammeln und dein staatlichen das „größere" Volkstum zuzugefellen,
Bestrebungen, denen zunächst rein wirtschaftliche Tendenzen zu Grunde liegen,
die aber in Zukunft auch politischen Machtzuwachs zu schaffen geeignet sind.
Entsprechend der Entwicklung der Völker hat auch die Diplomatie ihre
Ziele und Mittel ändern müssen. Die absolutistischen Dynastien, die sich mit
dem Staat verwechselten, suchten die nationalen Bestrebungen zurückzubannen,
und da sie ein gemeinsames Interesse hatten, nämlich das dynastische, so mischte
sich die auswärtige Politik der Mächte in die innere Politik der andern Staaten.
Von der heiligen Allianz bis auf Napoleons 111. Tage stand die Diplomatie
unter der Herrschaft der Metternichschen Lehre von der Einmischung und Be¬
vormundung,
Was ursprünglich nur gewollt war, um den „Geist der Empörung" von
den Thronen fernzuhalten, das wurde später ein Mittel zu dem Zweck, den
Nachbarstaat politisch und wirtschaftlich niederzuhalten. Die Metternichsche
Politik fand eifrige Anhänger an Nikolaus I, und Napoleon 111., die die her¬
kömmliche diplomatische Einmischungsthevrie zu einer terroristischen Prestige¬
politik erweiterten. Aber wie die innerpolitischen Grundsätze der heiligen
Allianz in den Revolutionen zu schänden wurden, so stürzten ihre Lehren hin¬
sichtlich der auswärtigen Politik bei Sebastopol, Königgrätz und Sedan zu¬
sammen: Metternichs diplomatische Schule erlag der neuen Lehre, die Bismarck
siegreich in die Welt einführte, dem Grundsatz der unbedingten Neutralität
und der Enthaltung von der Einmischung in die internen Angelegenheiten
fremder Staaten; das sind diplomatische Regeln, wie sie schon das tägliche
Leben als Lebensklugheit empfiehlt. Auf diesem Grundsatz der Objektivität
baute sich allein die Möglichkeit auf, ohne eigne Gefahr die Rolle des ehr¬
lichen Makkers zu übernehmen und als erhellter, nicht sich aufdrängender
Schiedsrichter in internationalen Angelegenheiten den Lohn für die Bemühung
von den beteiligten Parteien einzuheimsen. Die Vismarckische Politik der
Mäßigung und Zurückhaltung, die die bis dahin gebräuchliche Prestige- und
Eifersuchtspolitik ablöste, und damit eine gewisse Ruhe und Stetigkeit in die
bis dahin von Nervosität und Sprunghaftigkeit erfüllten internationalen Be¬
ziehungen brachte, war schon in der Praxis durch die Lage des Deutschen Reichs
geboten. Es galt den mißtrauischen Nachbarn die Beruhigung zu schaffen, daß
die neue Macht einen friedlichen Charakter trage, und es scheint, daß diese
Absicht gelungen ist. Es zweifelt wohl, niemand mehr daran, daß der Deutsche
sein Schwert scharf erhält, weil er möglichst lange mit bösen Nachbarn in
Frieden leben möchte. Die neue Methode der Diplomatie hat ihren Erfinder
überlebt; sie bestand ihre Feuertaufe dank der diplomatischen Kunst Bismnrcks,
als sich bei der deutsch-französischen Auseinandersetzung Österreich, Nußland
und England geneigt zeigten, die Metternichschen Grundsätze weiterzuführen.
Und in allen Kriegen, die seit jenen Nuhmestagen deutscher Waffen und
deutscher Diplomatie gefochten sind, hat sich der Bismarckische Grundsatz be¬
hauptet: wenigstens in diplomatischen Kreisen, denn die Einmischungsbestrebungen
sind sonderbarerweise von den Diplomaten auf die Völker, die meist unter jener
litten, übergegangen. Während die Verantwortliche Diplomatie aller Staaten
mit kalter Ruhe die Ereignisse des spanisch-amerikanischen und jetzt des süd¬
afrikanischen Kriegs beobachtete und es nicht für gerechtfertigt hielt, den Grundsatz
der Neutralität zu verletzen, Hetzen unverantwortliche Gefühlspolitiker in fast
allen Ländern ihre Diplomatie auf. Wir sehen so eine vollkommne Wandlung
in den Erscheinungsformen der auswärtigen Politik: ein nervöses Volk und
eine kalte Diplomatie, eine Volkspolitik als Stachel der Kabiuettspvlitik; die
Eifersucht der Höfe abgelöst von der naiven Prestigesucht der Völker: Alar-
misten, Jiugos, Chauvinisten, Panslawisten, Nationalisten rasseln mit dem Säbel,
der Diplomat winkt ab; die ehrgeizigen lärmenden Fürsten und Staatsmänner
sind durch ehrgeizige lärmende Volkspolitiker ersetzt. Und wie die erste Volks¬
diplomatie, die der französischen Revolutionszeit, sofort eine Ära der Kriege
brachte, so möchte man fast fürchten, daß die modernen Völker — wenigstens
ihrem äußern Gebaren nach zu urteilen — die Kriegsfackel in Permanenz
erklären würden, wenn die ernste Entscheidung ihnen zustünde und nicht den
Kabinetten — was jetzt als Glück erscheint --; aber es wird ja nichts so heiß
gegessen, wie gekocht, und so hat denn auch ein Menschenalter des Friedens
gelehrt, daß die hohe Politik jetzt nicht von vorübergehenden Volksstimmnngen
und Gefühlen beeinflußt wird.
Beides, die aufgeregte Teilnahme des Volks an der auswärtigen Politik
und die besonnene Haltung der Diplomatie stammt aus derselben Quelle,
nämlich dem Vorherrschen der wirtschaftlichen Rücksichten. Vor einigen Jahren
bezeichnete der österreichische Minister des Äußern, Graf Agenor Goluchowski,
die Handelspolitik als die Politik der Zukunft. Dieses Wort ist schnell wahr
geworden, die Handelspolitik ist schon die Politik der Gegenwart. Wir sehen,
wie der Weltmarkt die innere und die änßere Politik der Völker verquickt. In
England und Nordamerika regt sich der Imperialismus, dessen wirtschaftliche
Motive unverkennbar sind, die kleinen Staaten Holland und die Schweiz fürchten
mit ihrer wirtschaftlichen die politische Selbständigkeit zu verlieren und suchen
Anschluß an eine Großmacht, in Deutschland hat der Weltmarkt die agrarischen
und die industriellen Bevölkerungsklassen in scharfen Gegensatz gebracht, der sich
auf die Auffassung der nußern Politik überträgt, und von den Völkern wägt
jedes ab, welchen Wert es der Arbeit des andern beimessen darf, und prüft,
ob die eigne Arbeit auch bei dem andern die entsprechende Wertschätzung finde.
Es giebt kein Kulturvolk mehr, das sich selbst genug ist, die Welt ist von
einem zusammenhängenden Netz wirtschaftlicher Adern umspannt, und wenn
eine der Adern durchschnitten wird, dann leidet unter der Blutung der ganze
Mechanismus. Das macht es auch leicht erklärlich, daß jetzt die weitesten
Volkskreise den Gang der hohen Politik zu belauschen suchen, einige wohl aus
hochgespanntem nationalem Ehrgeiz, die meisten aber aus eigensten wirtschaft¬
lichem Interesse. Die „Altdeutschen" behaupten allerdings, wie das im Reichstag
mehrfach geschehn ist: „Früher kümmerte sich das deutsche Volk nicht um die aus¬
wärtige Politik, weil es wußte, sie sei bei Bismarck in guten Händen; jetzt
müssen die Staatsmänner beaufsichtigt werden." Diese Argumentation ist schon
vom alldeutschen Standpunkt aus verfehlt, denn wenn es zu Bismarcks Zeiten
schon einen Altdeutschen Verband gegeben hätte, so hätte er gerade zu Bismarcks
Vernnnftpolitik in der schärfsten Opposition stehn müssen (wie im ersten Teil
dieses Artikels ausgeführt worden ist). Der wirkliche Grund, daß das deutsche
Volk nun auch Einfluß auf die Führung der auswärtigen Politik zu nehmen
sucht, liegt unzweifelhaft auf wirtschaftlichem Gebiete. Bismarck konnte die
wirtschaftlichen und die politischen Interessen im Inlande wie in: Auslande
noch trennen, in der letzten Zeit seiner Amtswaltung aber auch nur unter
Schädigung der wirtschaftlichen Zukunft. Jetzt ist das gänzlich unmöglich:
man ziehe nur einmal das Verhältnis Deutschlands zu England und Amerika
in Betracht. Als bei der Beratung des Fleischschangesetzes gefragt wurde,
warum der Minister des Auswärtigen nicht zugegen sei, da drückte sich in
diesem Verlangen nach dem Grafen Bülow die sehr richtige Auffassung aus,
daß eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen zweier Länder auch
die politischen Verhältnisse berühre, und es war zwar eine ganz hübsche Taktik
der Regierung, den Minister des Innern beim Fleischschaugesetz in den Vorder¬
grund zu schieben — es fragt sich aber, ob diese Taktik Erfolg haben wird.
Die politische Stellung der deutschen Parteien, die ja längst Jnteressenparteien
geworden sind, zum Auslande ist lediglich aus wirtschaftlichen Motiven, aus
dem Einfluß, den die Weltwirtschaft auf die Volkswirtschaft ausübt, zu er¬
klären, obgleich keine von ihnen es eingesteht, und jede ihre Stellung mit dem
viel mißbrauchten Wort „national" decket: möchte.
Nehmen wir ein Beispiel aus dein Leben. Ein deutscher Tuchfabrikant
hat eine große Warenlieferung nach China übernommen und hat seinen Betrieb
darauf eingerichtet. Da bricht zwischen Japan und China Krieg ans, dem
Kunden des Fabrikanten in China wird dadurch das Absatzgebiet verschlossen,
er kann die bestellte Ware nicht bezahlen, und der deutsche Fabrikant ist ruiniert.
Er schließt seiue Fabrik, Hunderte von Arbeitern werden brotlos, die darum
dem Bueler, Fleischer, Schuhmacher, Gastwirt usw. des Städtchens nichts ab¬
laufen können. So schlägt ein politisches Ereignis auf Kreise zurück, die an
sich gar nichts mit ihm zu thun haben. Der wirtschaftliche Schaden, der
deutscher Arbeit jetzt aus dem südafrikanischen Kriege erwächst, läßt sich zahlen¬
mäßig nachweisen, und welche Preisänderungen und Hemmungen haben der
spanisch-amerikanische oder der japanisch-chinesische Krieg auch deutschen Firmen
mit ihrem Arbeiterpersonal gebracht. Derartige Erfahrungen machen auch Privat¬
leute zu auswärtigen Politikern, wie es die Bvrsenlente ja schon immer gewesen
sind. Wir sehen ja auch, welchen Anteil z. B. die englischen oder amerikanischen
Arbeiter an der auswärtigen Politik nehmen, wie sie ihre gesonderten Klasseninter¬
essen zurückstellen, sobald die auswärtige Politik dem ganzen Volk, also auch
ihnen, Vorteile verheißt. Die Politik ist jetzt überall darauf aus, dem eignen Volke
möglichst weite Grenzen für seine Arbeitskraft zu sichern, und darum empfindet
der Träger der Arbeit zu allererst die Wirkung dieses Grenzabsteckens; darum
hängt auch das Auge des Erwerbsmannes jetzt mehr als früher an dem Leiter
der auswärtigen Politik, und je nach seinen wirtschaftlichen Interessen beurteilt
er auch den Gang der auswärtigen Politik: die Agrarier schelten, wenn sie
sehen, daß sich freundschaftliche Beziehungen zu den Agrarstaaten anbahnen, und
die Industriellen fürchten die Verschlechterung zu solchen Staaten, auf deren
Güteraustausch sie angewiesen sind. Das ist die Übertragung der wirtschaftlichen
Selbstsucht auf Fragen der auswärtigen Politik, ein Bestreben, das jeder
Regierung ihre Aufgabe sehr erschweren muß. Das ist in allen Ländern so. Es
würde auch jetzt der Kampfpreis nicht mehr in Grenzverschiebungen zu zahlen
sein, sondern in wirtschaftlichen Werten, in barem Gelde, Handclsvcrgünstigungen
oder in Kolonialland, das ja auch nur ein wirtschaftliches, nicht ein politisches
Werkstück ist. Wenn Frankreich noch eine neue Niederlage erlitte, so würde
es einen Teil seiner Kolonien opfern müssen, z. V. Madagaskar oder Hinter-
indien, das ja auch schon 1871 an Stelle der Milliarden in Aussicht ge¬
nommen war. Die modernen Kriege sind kaufmännische Unternehmungen. Da
nun solche Unternehmungen nicht plötzlich entstehn, sondern sich aus langsam
steigenden volkswirtschaftlichen Bedürfnissen heraus zur Krisis entwickeln, so
schaut auch das Volk die kommende Sorge und nimmt an ihr mit der Span¬
nung teil, mit der jeder seine eigne wirtschaftliche Zukunft betrachtet. Es ist
kein Wunder, daß. in England die auswärtige Politik im Volke eine kräftige
Stütze findet, weil sich die englische „Hofpolitik" von jeher in wirtschaftlichen
Bahnen bewegen konnte. Einem sehr großen Teile des deutschen Volks macht
man mit Recht den Vorwurf, es fehle ihm noch die rechte staatsmännische Ein¬
sicht, die verständnisvolle realpolitische Auffassung internationaler Dinge und
der Weltpolitik und die Fähigkeit, den Gang der Diplomatie in rechter Weise
zu unterstützen. Die Ursache dieser unerfreulichen Erscheinung liegt wohl mit
darin, daß das deutsche Volk erst seit wenig Jahren in der Lage ist, Weltwirt-
schaftliche Verhältnisse am eignen Leibe zu spüren. Staatspolitische Probleme
sind zu abstrakt und darum zu schwierig für den Durchschnittsmenschen; sie
spielen sich zudem in einem so kleinen Kreise ab, daß sie für die Massen nur
vorhanden sind, wenn das Schwert den Knoten losen muß. Die Jahre 1866
und 1870 brachten darum der Menge Überraschungen. Die Gewitterwolken,
die die dynastische und die nationale Staatspolitik am politischen Himmel auf¬
häuft, sieht die Masse nicht, und sie empfindet auch nicht ihre diplomatischen
Niederschlüge: Olnüitz regte die breite Masse nicht auf. Ganz anders ist es
mit wirtschaftlichen Dingen: die Beschlagnahme von deutschen Dampfern, der
Kampf um das deutsche Arbeitsfeld in Samoa waren von hohem erzieherischen
Werte, weil diese politischen Lehren einfach und darum auch für den gemeinen
Mann faßbar waren. Man sieht die Folgen: was die abstrakte Lehre von
der Notwendigkeit einer starken Flotte, die umfangreichste Flottenagitation nicht
erreicht hat, das haben die Thatsachen zuwege gebracht. Aus diesen Ereig¬
nissen sprach so deutlich, welche Vorteile für den materiellen Erwerb eine starke
Wehr bietet, daß sich nun auch in solchen Kreisen Stimmung für die Flotte
bemerkbar macht, die die Welt mit Aktien, nicht mit dem Schwert in Schach
halten möchte: die Flotte ist eben der Arnheim des Nationalvermögens.
Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt man: die Macht der Erfahrung
allein kann das deutsche Volk davon abbringen, mit dem Feuer der internatio¬
nalen Brüderei zu spielen. Man möge darum nicht verzweifeln, wenn das
deutsche Volk zum großen Teile noch nicht weltpolitisch denkt, im Gegenteil, man
kann sich freuen, wie schnell es in seiner Auffassung auswärtiger Dinge fort¬
schreitet. Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Ängstlichkeit von amt¬
licher Stelle das Wort „Weltpolitik" noch vor drei Jahren gemieden werden
mußte; heute spricht man SÄns darüber, und man wird sich auch den
ernsten Anforderungen einer Weltpolitik nicht verschließen, sobald man erst
einmal durch Schaden klug geworden ist. Der deutsche Außenhandel steigt
ruhig und gleichmäßig an, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden, und das
Schicksal möge verhüten, daß es anders komme. Aber es kann anders kommen.
Das deutsche Volk kann in die Lage kommen, um die wirtschaftliche Blüte, die
ihm jetzt kampflos zufällt, ringen zu müssen. Dann werden die, die sich jetzt
am meisten der Weltpolitik verschließen, weil sie jetzt in den fetten Jahren
keine sinnfällige Veranlassung für eine staatliche Ausbreitungspolitik zu erkennen
vermögen, die ersten sein, die über die Negierung herfallen.
Man möge in den leitenden Kreisen auch nicht verzweifeln, wenn gerade
die scharf nationalen Kreise bei uns einen geringen Instinkt für diplomatische
Verhandlungen zeigen und darum nicht fähig sind, unsrer Diplomatie als Stütze
zu dienen. Es geht den deutschen Chauvinisten so, wie einem stallmutigen
Pferde, das hinten und vorn ausschlägt, weil es in der Stallpflege vergessen
hat, daß es Zügel und Sporen giebt. Unsre Chauvinisten haben sich einen
Phantasiediplomaten zurecht gemacht, einen diplomatischen Herkules — und
thun dem Altreichskanzler die Schmach an, für diesen Popanz seinen Namen
Bismarck zu mißbrauchen. Während Vismarck doch seine Erfolge durch seine
realpolitische Auffassung der Dinge, durch seine Kunst, sich politisch nach der
Decke zu strecken, errang, haben diese Schwärmer ihrem Idol die Gabe bei¬
gegeben, mit dem Kopf durch die Wand andrer Interessen zu können, und
glauben nicht, daß es für ihr Wünschen ein Hindernis im Vollbringen geben
könne. Es gab schon einmal in Preußen derartige Phantasten, die in der
Begeisterung für das Vergangne die Fortschritte der Gegenwart verachteten
und ihrem Vaterlande ein Jena bereiteten. Man kann Politiker, die mit
Wahnvorstellungen behaftet sind, nicht als staatsmännisch nutzbringend an¬
erkennen, man darf einer Gruppe, die dem alten deutschen Fehler verfallen ist,
für gute Ziele falsche Mittel zu verwenden — ein Fehler, der die Begründung
des Reichs um ein Menschenalter hinausgeschoben hat —, keinen ernsten Ein¬
fluß auf die dornenvolle Leitung der auswärtigen Politik einräumen. Wenn
in Armeekreisen gern mit dem Säbel gerasselt wird, wenn Offiziere die Diplo¬
matie überhasten wollen, dann ist das erklärlich, denn der kriegerische Ehrgeiz
gehört zu den Berufspflichten des Soldaten. Aber tadelnswert ist es, wenn sich
akademische Kreise, denen ja doch auch die Tagesschriftsteller zumeist angehören,
aus ihrer Kenntnis der Geschichte heraus uicht zu diplomatischem Instinkt
erzogen haben. In Deutschland ist der akademische Stand von jeher der Führer
in nationalen Dingen gewesen: wie er allen voran die Idee der deutschen Ein¬
heit hegte und um ihretwillen litt, so ist von ihm auch die Idee des „größern
Deutschlands" zuerst und mit besonderm Eifer verfochten worden. Das hat
bei der idealen Begeisternngsfühigkeit und Gründlichkeit des gebildeten Deutschen
das Gute gehabt, daß sich die theoretische Erkenntnis von der Notwendigkeit
der deutschen Expansionspolitik überaus schnell verbreitet hat, es hat aber auch
den Nachteil gehabt, daß viel Theorie und falsche Theorie mit unterlief, und
das studieren über das Probieren gesetzt wurde. Es ist erstaunlich, wie viel
Sonderbarkeiten gerade in den national führenden Kreisen über die auswärtige
Politik ausgekramt werden und worden sind. Der Akademiker steht dem prak¬
tischen Leben fern und hat darum nicht den rechten Begriff, wie hart sich im
Raume die Gedanken stoßen, wie schwer in der Welt Wünschen und Vollbringen
zu vereinigen ist. In einem Berliner Blatt fand sich aus diesen Kreisen bei
der Beschlagnahme deutscher Schiffe eine Zuschrift, in der die Regierung fast
des Landesverrats bezichtigt wurde, weil sie nicht sofort alle englischen Schiffe
mit Beschlag belegt hatte. Und was ist in der Samvafrage gesündigt worden!
Man verlangte alles Ernstes einen Seekrieg, ohne zu bedenken, daß er jetzt,
solange unsre Waffen noch nicht genügend in stand gesetzt sind, wohl das Ende
unsers Seehandels gewesen wäre, ganz zu schweigen von der nutzlosen Preis¬
gabe unsrer Seemannschaften. Diese Unbesonnenheit findet sich vor allem in
den Kreisen des Altdeutschen Verbands. Man kann privaten Kreisen ein ge¬
wisses Temperament in der Beurteilung auswärtiger Dinge nicht nehmen, es
schadet auch nichts, wenn der scharfe Ton der Flöte einsichtiger Überredung
der Diplomatie nachhilft; aber dann muß sich die scharfe Sprache gegen die
Sache richten und nicht gegen die Person des Diplomaten, dessen Schritte ja
niemand kennt. Es ist aber leider noch immer ein Kennzeichen der deutschen
Volkspolitik, daß sie dein Staatsmann in den Rücken fällt, statt ihn zu stärken,
daß sie ihn vor dem Auslande erniedrigt, statt ihm Vertrauen auszusprechen
und ihn auf diese Weise anzuspornen. Allerdings beschränkt sich diese persönlich
gehässige Kritik auf Kreise, deren Absichten durchsichtig sind. Eine scharf
nationale Partei ist bei uns eine besondre Notwendigkeit nach außen und nach
innen, aber diese Partei muß, soll sie in Wahrheit fördernd für das nationale
Wohl sein, die Sprache dem Verstände anpassen, sie muß die Grenze des Er¬
reichbaren kennen, nur dadurch kann sie sich Ansehen und Gehör verschaffen.
Für den Staatsmann ist eine solche Partei von ungeheuerm Werte, weil er
sich bei Verhandlungen dieser Partei bedienen kann, um höhere Forderungen
durchzudrücken. Aber dann darf eine solche Partei weder einseitig sein, noch
sich durch ganz verschwommne Anschauungen und überschwängliche Phrasen
lächerlich machen, wie das die Führer des Altdeutschen Verbands leider erreicht
haben. Der Deutsche ist im allgemeinen ein ruhiger und langsamer Denker,
er wird nicht, wie der Romane, durch Phrasen hingerissen. Darum konnten
auch unsre Staatsmänner Realpolitik treiben, während die französischen Staats¬
männer unter dem Druck ihres prestigelüsternen Volks einer Politik der Nadel¬
stiche anheimfallen, die nur Faschodas bringt. Es ist dringend notwendig, daß
sich die chauvinistische Partei Deutschlands, der Altdeutsche Verband, mausert:
er würde eine durchaus zeitgemäße und beachtete Gruppe im deutschen Partei¬
leben werden. Man muß diese doch wenigstens ehrliche nationale Gruppe
streng von den Politikern sondern, die im Bunde der Landwirte ihr Unwesen
treiben, dessen Chauvinismus nicht im weltpolitischen Feuer erglüht ist, sondern
auf wirtschaftlicher Selbstsucht beruht. Die Verstimmung, die die auswärtige
Politik des Grafen Caprivi in weiten Kreisen erregt hat, benutzten damals die
Agrarier, um unter der Maske von kouragierten Kolonialpolitikern ihre Sonder¬
interessen zu verfolgen, und dasselbe Ziel verfolgen sie jetzt, indem sie der
Leitung der auswärtigen Politik Schwäche gegen das Ausland vorwerfen, ob¬
gleich doch die Thatsachen diese Kritik glänzend widerlegt haben. Die agra¬
rische „öffentliche Meinung" über die deutsche auswärtige Politik kann also
nicht als nationale Kritik angesehen werden, weil sie aus egoistischen und
pnrteitaktischen Gründen gefärbt ist. Es ist aber unzweifelhaft, daß durch der¬
artige falsche Lehren dem deutschen Volke kein wahrhaft nationaler Sinn an¬
erzogen werden kann.
Für Deutschland kann nur eine Politik national genannt werden, nämlich
die der Mäßigung und Berücksichtigung der gegebnen Verhältnisse und der vor-
handnen Machtmittel, und unsre Staatsmänner dürfen sich von diesem Wege,
den Bismarck realpolitisch nannte, auch nicht abdrängen lassen durch allerhand
Geschelte, das unter dem Deckmantel nationaler Gesinnung schmählichen Eigen¬
nutz befriedigen möchte. Die geographische Lage Deutschlands, die ungeklärten
innerpolitischen Verhältnisse, seine dualistische Wirtschaftsform zwingen ge-
radezu zu einer Politik der Mäßigung und Zurückhaltung unter Verzicht auf
den Flitter der Prestigesucht, umso mehr, als zu den Mächten, mit denen der
erste Staatsmann des Reichs zu rechnen hatte, noch neue hinzugekommen sind,
die die einstige politische Konstellation gewaltig verschoben haben und auch das
deutsche Volk vor die Notwendigkeit gestellt haben, der kontinentalen Politik
die überseeische zuzugefellen und nun mit zwei verschiednen Gewichten zu han¬
tieren. Es bleibt für den deutschen Diplomaten, dessen Sorgen immer ernster
werden, nichts weiter übrig, als eine sorgfältige Abwägung des av ut ctss.
Die ruhige und unbefangne Lebensklugheit, die in diesem Grundsatz liegt, ist
das ganze Geheimnis eines zufriedner Zusammenlebens auch der Völker. Aber
wir sehen, daß auch im privaten Leben dieser Grundsatz von vielen zu ihrem
eignen Schaden nicht befolgt wird: immer noch glauben viele einzelne, wie
ganze soziale Klassen, daß sie am besten fahren, wenn sie ihr eignes Interesse
ohne Beachtung andrer rücksichtslos betreiben, während sie doch wissen sollten,
daß der Stoß Gegenstoß erzeugt und schließlich der Satz Recht behält: „Der
Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht." Auch im politischen Leben und
im internationalen Verkehr bekennen sich manche noch zu dem Grundsatz
schrankenloser Rücksichtslosigkeit und des brutalen Egoismus. Im allgemeinen
aber, das ist unverkennbar, geht die Tendenz der Zeit dahin, aus dein Kampf
der Interessen, der privaten wie der internationalen, einen Weg des Ausgleichs
zu finden, auf dem alle vorwärts können. Die noch auf der alten holprigen
Straße der politischen und wirtschaftlichen Brutalität wandeln, mögen wohl
zuweilen Glück haben, aber niemals einen dauernden Erfolg.
Wenn nun einige Kreise bei uns versuchen, die jetzige Leitung unsrer
auswärtigen Politik, die die Bismarckischen Grundsätze mit der durch die Zeit-
verhältnisse gebotnen Erweiterung fortführt, in die Bahnen der Prestige- und
Gefühlspolitik zu drängen, so handeln sie weder im Bismarckischen noch im
deutschen Sinne. Es möge hier für die, die ihrem Verstände nur trauen,
wenn er von einer Autorität ermutigt wird, eine Mitteilung Platz finden, die
Fürst Bismarck einem Vertreter der „Hamburger Nachrichten" zu Anfang des
Jahres 1896 über seine Anschauungen von den Aufgaben der deutschen Politik
gemacht hat. Er hat dem genannten Blatte zufolge wörtlich gesagt: „Die
Thätigkeit einer französischen Regierung, auch mancher andern, setzt sich aus
einer Reihe von Unternehmungen zusammen, die geeignet sind, entweder das
Selbstgefühl der Nation oder die Herrschsucht der Regierung zu befriedigen.
Frankreich ist aus solchen Gründen nach Algier und Tunis, nach Mexiko und
Madagaskar gegangen, und andre Staaten haben andre Unternehmungen ge¬
macht, von deren Gelingen sie irgend etwas für ihre eigne Sicherheit erwarteten.
In germanischen Staaten und namentlich im Deutschen Reiche wird die Re¬
gierung, wenn richtig, in einem andern Sinne aufgefaßt. Sie kann unter
Umständen eine zu positiven Thaten zwingende sein, wie die Herstellung der
deutschen Nationalität es war, wo die preußische Negierung aus eigner Ini¬
tiative die Führung der Nation übernehmen mußte. Nachdem die Lösung dieser
Aufgabe gelungen ist, kehrt eine deutsche, von Prestigebedürfnis und Herrsch¬
sucht freie Politik, wenn sie gewissenhaft ist, zu der Aufgabe zurück, die innere
Entwicklung des Landes vor Störungen zu behüten, einer Aufgabe, bei der
wenig positive und spezielle Unternehmungen vorkommen werden, sondern nur
solche, bei denen es sich in der Hauptsache um die Fortführung der nationalen
Entwicklung handelt."
Der letzte Satz möge die Leute belehren, die es unsrer jetzigen Regierung
zum Vorwurf machen, daß sie nicht auf so glänzende Thaten hinweisen könne,
wie sie die Neugründung des Reiches war. Daß unsre Negierung aber die
nationale Entwicklung nach der einzig möglichen Seite — der Seeseite — fort¬
geführt hat, lehrt die Geschichte. Wenn Fürst Bismarck dann in jener Mit¬
teilung fortfährt: „Eine deutsche Regierung wird in ihren Entschließungen
uicht die Aufgabe haben, auswärtige Unternehmungen zu fördern,
sondern den innern und äußern Frieden vor Störungen zu bewahren," so ver¬
bietet er in diesen Worten etwas, was er selbst — wenn auch unbewußt, wie
der erste dieser Artikel darzulegen versucht hat — ins Rollen gebracht hat,
und das nun unter dem Druck der Weltwirtschaft, der neuen Zeit, immer
weitere Kreise zieht, die Weltpolitik. Der Fürst schloß mit den Worten:
„Wenn es einer Regierung unter bewegten Verhältnissen gelingt, ohne Schaden
für ihr Land zu regieren, so kann man nach menschlicher UnVollkommenheit
und nach germanischer Eigentümlichkeit schon zufrieden sein. Das Regieren ist
immer ein Gang auf gespanntem Seile in großer Höhe, und dabei nicht zu
fallen schon eine Leistung, die nicht in jedermanns Fähigkeit liegt."
Diese ruhige Betrachtung über die Aufgaben einer spezifisch deutschen Real¬
politik mögen sich unsre Chauvinisten, die sich ja als die Erben Vismarckischer
Staatskunst betrachten, zu Herzen nehmen, aber ihnen gegenüber gilt das Wort
von Thiers: 1^6 x^s est sags, Iss xartis us Is sont xg,s.
s ist charakteristisch für das neunzehnte Jahrhundert, daß seine
gewaltige Kulturarbeit nicht sowohl mit fertigen, sichern Ergeb¬
nissen als mit Fragen abschließt. Das neue Jahrhundert wird
diese ungelösten Fragen und mit ihnen auch die Frauenfrage
einer praktischen Lösung entgegenzuführen haben. In erster
Reihe aber steht dabei die Lage der Frauen und Mädchen der höhern und
mittlern Gesellschaftsklassen, die angesichts des großen, sozialen und wirtschaft¬
lichen Umbildungsprozesscs, in dem wir zur Zeit stehn, nach erweiterten Wegen
zu einem anständigen und der Natur des Weibes entsprechenden Erwerbe aus¬
schauen.
Vor allen Dingen ist hier die Thatsache festzustellen, daß in der zweiten
Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Erweiterung der Berufsthätigkeiten für
Frauen der hier in Betracht kommenden Klaffen schon in ganz erheblichem
Umfange eingetreten ist. Es ist überhaupt nützlich, auf diesem Gebiete nicht
deduktiv zu operieren, sondern induktiv von den erforschten Thatsachen aus die
allgemeinen Folgerungen zu ziehn. Lassen wir es zunächst einmal dahingestellt
sein, ob und inwieweit die mehr oder weniger der Familie entrückte Berufs¬
arbeit der Frauen richtig oder unrichtig, weiblich oder unweiblich ist, die Not
hat thatsächlich dahin geführt, ganze Scharen von Frauen und Mädchen in
Berufe hineinzudrängen, an die früher keine Frau als für sie geeignet nur
von ferne gedacht hatte. Wir haben Frauen in der kaufmännischen Buch¬
führung, Frauen als Verkäuferinnen, als Rechnungs- und Kassenführerinnen,
Frauen an der Schreibmaschine, Frauen als Kontoristinnen und Korrespon-
deutinncu, Frauen im Eisenbahn-, Post- und Telegraphendienst, kurz in einer ge¬
waltigen Zahl von allerlei Stellungen, die in früherer Zeit ausschließlich oder fast
ausschließlich zum Patrimonium der Männer gehörten. Man mag es beklagen,
daß diese Frauen der Familie und ihrem natürlichen Berufe entzogen werden,
aber die Thatsache selbst ist da und läßt sich nicht künstlich und durch staat¬
lichen Zwang rückgängig machen. Und überall, wo dieser Berufsdienst der
Frauen nicht allzu aufreibend ist, wo er das edlere weibliche Empfinden nicht
direkt verletzt, da wird man ihn als Zuflucht der unversorgten, einzeln stehenden
Frauen und Mädchen — wenigstens als notwendiges Übel — gelten lassen
müssen. Es ist deshalb nichts dagegen zu sagen, daß auch für die fach¬
mäßige Vorbildung von Frauen für solchen Dienst entsprechende Veranstaltungen
getroffen werden. Denn es handelt sich hier um eine Zuflucht für diese Frauen
vor der ihnen sonst drohenden Verarmung und Not. Behält man das im
Auge, so wird man den Humanitären Veranstaltungen für die planmäßige Aus¬
bildung solcher weiblichen Berussarbeiterinnen nicht Berechtigung und Aner¬
kennung versagen dürfen. Es sei nur an die großartige und der weiblichen
Not gegenüber unendlich segensreiche Wirksamkeit der in dieser Richtung thä¬
tigen Vereine, wie beispielsweise des Lettevereins in Berlin, erinnert.
Nicht minder groß und alles in frühern Zeiten in dieser Richtung da¬
gewesene weit überflügelnd ist der auf gleiche Ursachen zurückzuführende Zu-
drang weiblicher Kräfte zu den künstlerischen Berufen. Hier üben die in ein¬
zelnen Fällen ganz unverhältnismäßig gesteigerten Honorare eine verstärkte
Anziehungskraft. Freilich birgt schon dieses Jagen nach verhältnismäßig mühe¬
los zu erwerbenden Reichtum schwere sittliche Gefahren in sich. Die soziale
und wirtschaftliche Gefahr aber erscheint um so größer, als in den weitaus
meisten Fällen die bitterste Enttäuschung eintritt. Das gilt von allen Zweigen
der Kunst, der dramatischen und der bildenden nicht minder als von der
Musik und der Poesie. Überall Überfüllung, überall ein Überfluß von Mittel-
Mäßigkeit, überall viel Enttäuschung, Entgleisung und Schiffbruch, und ein
gegen früher in bedauerlicher Zunahme begriffnes Hinabsinken von Frauen in
das Proletariat und in das tiefste Elend. Freilich ist diese Erscheinung nicht
neu. Von jeher ist die berufsmäßige Ausübung der Kunst durch Frauen, so¬
wenig an und für sich deren Berechtigung grundsätzlich bestritten werden kann,
für die Bewahrung der Weiblichkeit eine Klippe gewesen. W. H. Riehl hat
in seinen „Kulturgeschichtlichen Briefen" und in der „Familie" die Gefahren
und Auswüchse des Künstlerinnentums mit feinem Verständnis geschildert und
an treffenden geschichtlichen Beispielen zur Anschauung gebracht. Es genügt
hier auf diese nahezu klassische Darstellung zu verweisen. Gegen die Gefahren
der UnWeiblichkeit und Überweiblichkeit künstlerisch thätiger Frauen giebt es
hier noch weniger spezifische Heilmittel als auf den verwandten Gebieten. Nur
in dem Maße, in dem die gute Sitte und die höchste Ehre echter Weiblichkeit
im Hause, in der Schule, in der Erziehung und in der Gesellschaft zur Gel¬
tung und Würdigung gelangt, wird das Weib auch in der Kunst wieder an
die rechte Stelle treten, die ihm zukommt. Auch auf diesem Gebiete aber
zeigen sich Anfänge einer gesunden Reaktion, einer wachsenden Wertung des
Familienlebens und die dämmernde Erkenntnis, daß auch die Künstlerin vor
allem Weib sein und bleiben muß.
In früher ungeahntem Umfange ist in unsrer Zeit den Frauen ein Beruf
erschlossen und wird ihnen ohne Widerspruch zugestanden, der Beruf der
Lehrerin. Kindererziehung und insbesondre Müdchenerziehnng liegt von
vornherein im natürlichen Berufskreise des Weibes. normal freilich ist auch
hier zunächst die Erziehung durch die Frau innerhalb der Familie. Sicherlich
haben auch wir Männer das beste Teil unsrer Erziehung den Frauen und
namentlich unsern Müttern zu verdanken. Aber es ist ein gewaltiger Unter¬
schied, ob diese Erziehung im Rahmen des Hauses und im Kreise der Familie
erfolgt, oder ob die Frau kraft eines besondern Erwerbsbernfs als Lehrerin
in die Öffentlichkeit, in den eigentlichen Schuldienst tritt. Jedoch die Zeit,
wo die Frau im wesentlichen nur innerhalb der Familie erziehend wirkte, ist
leider vorbei. In großen Massen strömen die Frauen in das Lehramt. Man
kann in der That sagen, daß heutzutage „alle häßlichen und nicht allzu reichen
Mädchen," wie Riehl sagt, ja auch zahlreiche hübsche, aber arme Tochter aus
guter Familie Lehrerinnen werden. Der Staat und die Gemeinden stellen in
höhern und niedern Mädchenschulen mit Vorliebe Lehrerinnen ein, vielfach
schon wegen der niedrigern Besoldung, mit der die Lehrerin sich begnügt und
begnügen muß, sich auch begnügen kann, weil sie für eine Familie nicht in
der Weise zu sorgen hat, wie ein verheirateter Lehrer. Ein ungeheurer Strom
von geprüften Lehrerinnen mündet in den Privatschüldienst ein, der zahllosen
Gouvernanten und Erzieherinnen, die in fremden Familien, also wenigstens im
Anschluß, unter Aufsicht und Autorität des Hauses unterrichten, gar nicht zu
gedenken. neuerdings sind diese Privntlehrerinnen auch in die reichsgesetzliche
Alters- und Jnväliditätsversicherung einbezogen. Das Lehrerinnenbildungs-
Wesen ist vom Staate förmlich organisiert worden, und die Mädchen, die sich
auf den Lehrerinberuf privatim vorbereitet haben, finden Gelegenheit, die
Fähigkeit und die Tüchtigkeit für diesen Beruf in staatlichen Prüfungen zu er¬
weisen und sich amtlich bescheinigen zu lassen. Nach vielen Tausenden zählen
die Mitglieder der Lehreriunenvereine zur Pflege und Vertretung der geistigen
und materiellen Interessen dieses weiblichen Berufszweigs, und auch hier zeigen
sich schon breite Bestrebungen mit dem Ansprüche, die „Erziehung der Frau
ausschließlich durch Frauen" durchzusetzen.
Wer dieses ganze, berufsmäßig organisierte Lehrerinnentreiben mit Auf¬
merksamkeit beobachtet, wird sich bei aller Anerkennung der Berechtigung weib¬
licher Erziehungs- und selbst Lehrthätigkeit der Wahrnehmung nicht entziehn
können, daß sich in diesem massenhaften Zuströme zum Lehrerinncnberuf ein
krankhafter Zug bemerklich macht, der das in vieler Hinsicht freundliche und
erfreuliche Bild der tüchtigen, treuen, hingebenden, gewissenhaften deutschen
Lehrerin nicht selten recht häßlich entstellt.
Schon die Vorbereitung der Mädchen zur Lehrerinprüfung zeigt vielfach
ein krankhaftes Gepräge. So sorgfältig die staatlichen Lehrerinnenseminare
ihrer Aufgabe gerecht zu werden suchen, so vorsichtig sie die Vermeidung von
Überbürdung und Überanspannung der Zöglinge erstreben und überwachen,
immerhin vermögen doch auch sie die Gefahren der Anstaltserziehung, den ehr¬
geizigen Wetteifer der Zöglinge und die der weiblichen Natur eigne Neigung
zu übertriebnen: Lerneifer nicht immer mit Erfolg zu vermeiden, und auch ihnen
gelingt es nicht immer völlig, die physiologischen und psychologischen Rück¬
sichten, die von der weiblichen Natur gebieterisch gefordert werden, in aus¬
reichendem Maße zur Geltung zu bringen. Daraus entstehn hygienische Un¬
zuträglichkeiten, die sich, wenn nicht schon im Seminar, so doch im Berufsleben
der Lehrerin physisch und psychisch rächen. Viel schlimmer aber und wahrhaft
besorgniserregend treten diese Fehler und ihre unausbleiblichen Folgen bei der
überhastete», übereifriger, unkontrollierten, privaten Vorbereitung junger Mädchen
zur Lehrerinprüfung in die Erscheinung. nervöse und hysterische Krankheits¬
zustände sind die Folge, und nur zu viele junge Mädchen, die abgequält, über¬
arbeitet, deprimiert aus der Lehrerinprüfung kommen, sehen zum Erbarmen aus.
Und doch soll nun die eigentliche Mühe des Berufslebens erst für sie beginnen,
die Pflichtstunden mit ihrer Vorbereitung und dem mannigfachen Verdruß, das
Disziplinhalten und der Ärger mit unartigen, verzognen und unbegabten Kindern,
der Kampf gegen die Thorheiten verblendeter Eltern, oft auch gegen den Neid
und das Übelwollen männlicher und weiblicher Kollegen, gegen herrschsüchtige oder
ungerechte Hauptlchrer, Rektoren, Schulvorsteher und Schnlvorsteherinnen, gegen
Schulinspektoren, Schulräte und Gemeindeorgane, kurz alle die großen und
kleinen, innern und äußern Quälereien, die nun einmal dem amtlichen Berufs¬
leben anhaften, und die von der Frau weit tiefer und schwerer empfunden und
noch schwerer überwunden werden, als vom Manne. In der Jugend, solange
die ideale Begeisterung vorhält, und die Kräfte ausreichen, mag das noch er-
träglich sein. Es ist ja auch nicht zu leugnen, daß einer treuen und geschickten
Lehrerin aus dem Verkehr mit den ihr anvertrauten Kindern tiefe und reine
Freuden erwachsen, daß ihr von den Kindern auch wieder Frische und Er-
quickung zuströmt, und daß das Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung bei
der Frau vielleicht noch mehr Freudigkeit und Stärkung wirkt, als bei dem
Manne. Aber es kommt doch auch bei ihr — und bei ihr noch früher als
bei dem Manne — die Zeit des Müdewerdens, der Kräfteabnahme, des Nach-
lassens der thatkräftigen Leistung und der Lehrerfolge. Kein Wunder, daß so
viele Lehrerinnen, wenn sie erst in die vierzig oder gar fünfzig kommen, den
Eindruck der Müdigkeit und des vorzeitigen Verbrauchtseins machen. Und
wenn die Lehrerin nicht das Glück hat oder es nicht versteht, innigen Familien¬
anschluß zu finden, so ist für sie nach jahrelangen Berufsmühen die Gefahr,
dem Rost einer wenig anmutigen Altjüngferlichkeit mit einem Stich ins Komische
und Lächerliche zu verfallen, weit größer, als für die in einer Familie nützlich
wirkende, unverheiratet gebliebne alte Tante.
Schon aus diesen Gründen kann man der von den Lehrerinnenvereinen
vielfach vertretnen Losung „Erziehung der Frau nur durch die Frau" nicht
beipflichten. Die ausschließliche Erziehung der weiblichen Jugend durch Berufs¬
lehrerinnen hat ihre Schattenseiten und führt leicht zu einer Einseitigkeit, aus
der für die Erziehung der künftigen Mütter unsers Volks recht bedenkliche
Folgen erwachsen können. Es ist bei aller Anerkennung, die das Lehrgeschick,
die Ausdauer, Tüchtigkeit, Berufstreue, Opferfähigkeit und Opferwilligkeit zahl¬
reicher Lehrerinnen verdient, dringend zu wünschen, daß die weibliche Lehr- und
Erziehungsthätigkeit auch in Zukunft von Männern, d. h. von tüchtigen Lehrern
ergänzt werde. Die Unterrichts- und die Gemeindeverwaltungen fühlen das
auch ganz richtig heraus und haben vielfach schon jetzt die Augen offen, um
hier das richtige Verhältnis aufrecht zu halten oder wiederherzustellen. Ge¬
schieht das, so mag befähigten Mädchen das Lehrfach immerhin offen bleiben.
Damit sind wir schon in den Mittelpunkt der modernen Frauenfrage, in
das Gebiet der Mädchenerziehung überhaupt und der Erziehung von Töchtern
der gebildeten Volksklassen insbesondre hinübergetreten. Auf diesem Gebiete
ist der Kampf am heftigsten entbrannt. Es handelt sich dabei in erster Reihe
um die höhern Mädchenschulen und im Anschluß daran um die vielumstrittnen
Müdchengymnasien und um die Zulassung der Frauen zur Universität und zu
den Berufsarten, die akademische Studien zur Voraussetzung haben.
Leopold Schefer hat einmal gesagt:
Eh alle Kraft nicht an das Weib gesetzt wird,
Sind aller Völker Schätze weggeworfen.
Das ist zwar nach Dichterart einigermaßen superlativisch ausgedrückt. Wahr
aber ist der Gedanke, daß das Weib und seine Erziehung für die Wohlfahrt
und die Kultur eines Volks mindestens ebenso, ja in gewisser Hinsicht noch
entschiedncr ins Gewicht fällt, wie die Erziehung und die Bildung des Mannes.
Gute Mütter gute Söhne, schlechte Mütter schlechte Söhne. Das ist durch-
schnittlich ohne Zweifel richtig. Für die Charakterbildung der heranwachsenden
Männer sind die Mütter eine gewaltig mitwirkende Macht. Bon diesen,
Standpunkt aus haben Staat und Gesellschaft von Rechts und Natur wegen
mindestens ein ebenso starkes Interesse an der Mädchen- wie an der Knabeu-
erziehung, und der Vorwurf, daß dies nicht rechtzeitig bei uns erkannt, und
daß infolge dessen die Pflege des Mädchenunterrichts, namentlich soweit er
über die Volksschule hinausgeht, ungebührlich vernachlässigt worden sei, er¬
scheint nur zu begründet. Dabei soll gar nicht einmal das Hauptgewicht auf
den Umstand gelegt werden, daß wir im Verhältnis zu der Zahl staatlicher
höherer Knabenschulen ganz außerordentlich wenig staatliche Mädchenschulen
haben. Man kann sich damit einverstanden erklären, daß es eine schöne und
große Aufgabe der Gemeinden sei, mit aller Kraft für die höhere Bildung der
Jugend einzutreten und so die Gemeindeverwaltung mit einer idealen und
wertvollen Thätigkeit zu befruchten, und es ist nicht wohlgethan, in solchen
Dingen aus materiellen Gründen immer lauter nach dein Geldbeutel des Staats
zu schreien. Ja selbst die Privatschulen haben ihr gutes Recht, sofern die
Privatthätigkeit nur ausreicht, dem vorhandnen Bildungsbedürfnisse zu genügen.
Die Versäumnis auf diesem Gebiete liegt vielmehr darin, daß der Staat,
während er die Schulen für die männliche Jugend mit einer fast erdrückenden
Fürsorge gepflegt, geordnet, überwacht und unterstützt hat — oft bis zu einer
die freie und freudige Selbstverwaltung der Gemeinden lähmenden, ja ertötenden
Kleinigkeitskrämerei —, das höhere Mädchenschulwesen lange Zeit ganz sich
selbst überlassen hat, ohne Direktiven, ohne die nötige Aufsicht, ohne die durch
Gerechtigkeit und Billigkeit gebotne gesetzliche Fürsorge für das männliche und
das weibliche Lehrpersonal. Neuerdings hat man ja angefangen, sich zu be¬
sinnen, und namentlich die gesetzliche Fürsorge für die Lehrpersonen, anch für
ihre Fähigkeit und Tüchtigkeit ist heute ohne Zweifel nur noch eine Frage der
Zeit. Immerhin ist auch das schlimm genug. Denn es sind auf diesem Ge¬
biete, namentlich in Bezug auf die akademisch gebildeten Lehrer der höhern
Mädchenschulen, die hinter ihre gleichwertig aus- und vorgebildeten Kollegen
an den Gymnasien und Realschulanstalten in eine ganz unhaltbare Minder¬
stellung herabgedrückt sind, schreiende Ungerechtigkeiten zu beseitigen und, soweit
irgend möglich, wieder gut zu machen. Je länger man damit zögert, desto
größer wird der Schaden. Der Hinweis auf die dann unvermeidliche größere
Belastung der ohnehin schon bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belasteten
Gemeinden ist ganz hinfällig. Viele Gemeinden sind vollkommen leistungs¬
fähig, weit mehr, als sie zugeben. Wo sie es aber in Wirklichkeit nicht sind
— und das läßt sich ja sehr klar feststellen —, da muß eben der Staat ein¬
treten. Seine Pflicht ist hier mindestens ebenso klar und zwingend, wie bei
den höhern Knabenschulen.
Gewiß sind das zunächst Äußerlichkeiten. Sie wirken aber auf die Gesamt¬
gestalt unsrer Mädchenbildung bis auf die zartesten und wichtigsten innern Ver¬
hältnisse zurück.
Hier aber liegt der Kernpunkt unsrer Frage. Wie sind unsre Mädchen,
insbesondre die der mittlern und der höhern Bevölkerungsklassen zu erziehn?
Und hier ist dem falschen Geschrei der emanzipierten oder nicht emanzipierten
thörichten Weiber gegenüber mit unnachgiebiger Festigkeit an der grundlegenden
Wahrheit festzuhalten: Der natürliche Beruf des Weibes ist, Frau und Mutter
zu sein. In diesem Beruf liegt die höchste Würde und das höchste Glück der
Frau. Das Weib ist zu edler, bewußter Weiblichkeit, zu allen weiblichen
Tugenden, für den Beruf als Mutter und Hausfrau zu erziehn. Hier liegt
das durch Natur und Vernunft gewiesene Ziel der Mndchenerziehnng, gleich¬
viel, ob das zu erziehende Mädchen später heiratet oder nicht.
Allerdings werden nicht alle Frauen Mütter und Hausfrauen. Die der¬
zeitige Ungunst unsrer sozialen Verhältnisse drängt zahlreiche Mädchen und
Frauen in andre Berufsthätigkeiten hinein. Aber immer bleibt das doch nur
Ausnahme und Notbehelf. Mögen diese Ausnahmen noch so zahlreich sein,
das Weib bleibt Weib, und die Frau soll Frau bleiben auch in jedem andern
Berufe, den sie aus äußerer oder innerlicher Notwendigkeit ergreift. Thut
sie das nicht, so versündigt sie sich gegen die Natur und damit gegen die
Schöpfungsordnung. Darum darf die Schule, deren Aufgabe es ist, das
Mädchen zur Frau, das Weib zum Weibe zu erziehn, nicht von vornherein
darauf angelegt sein, einzelne Mädchen für besondre Berufe vorzubilden, sondern
alle Mädchen müssen zunächst durch die allgemeine, der weiblichen Erziehung
dienende und auf diese zugeschnittne Schule gehn. Diese Schule aber kann für
die Bevölkerungsklassen, die hier in Betracht kommen, nur die mittlere oder
die höhere Mädchenschule sein, gleichviel ob man ihr einen neun- oder zehn¬
jährigen Kursus zuweist. Der Volksschule gegenüber wird man sie als höhere
Mädchenschule bezeichnen dürfen und müssen, schon um der Würde willen, auf
die sie, ihre Lehrpersonen und Schülerinnen, in der Parallele mit der höhern
Knabenschule Anspruch haben.
Es würde hier zu weit führen, einen Normallehrplan für die höhere
Mädchenschule zu entwickeln. Ein hervorragender Pädagoge*) hat als ihr
Ziel bezeichnet die Ausbildung ihrer Schülerinnen „zu echt weiblichen, gründlich
gebildeten, in Religion, Zucht, Sitte und Vaterlandsliebe fest gewurzelten
Frauen." Dem wird man zustimmen müssen, wenn auch im einzelnen die
Meinungen über das, was „echt weiblich" und „gründlich gebildet" ist, noch
mannigfach auseinandergehn mögen. Im allgemeinen besteht theoretisch über
den Lehrplan der höhern Mädchenschule eine ziemlich weitgehende Überein¬
stimmung. Praktisch freilich wird auch gegen die theoretisch anerkannten Normen
viel gesündigt, namentlich in den Privatschulen unter der oft recht mangel¬
haften Leitung älterer, pädagogisch nicht genügend geschulter Schulvorsteherinnen.
Immerhin besteht darüber kaum eine Meinungsverschiedenheit, daß uns die
Bildung des Herzens hier ein ungleich größeres Gewicht zu legen ist als in
den Knabenschulen, und daß auch in den einzelnen Fächern wesentliche Ver¬
schiedenheiten von dem Unterrichte der männlichen Jugend sowohl in der
Methode wie in der Auswahl des Stoffes durch den natürlichen Unterschied
zwischen Mädchen und Knaben und die verschiednen Ziele der Erziehung und
des Unterrichts hervorgerufen werden.
Die sehr naheliegende Frage, ob mit dem Kursus der höhern Mädchen¬
schule die allgemeine weibliche Ausbildung abgeschlossen sein soll, läßt sich in
dieser allgemeinen Fassung nicht mit einem einfachen ja oder nein beantworten.
Das hängt durchaus von den persönlichen, häuslichen und sozialen Verhält¬
nissen der einzelnen Schülerin ab. Wie das fünfzehn- oder sechzehnjährige
Mädchen noch im Wachsen ist, so wird auch die auf der höhern Mädchenschule
erworbne Bildung nicht wie ein fertiges Ausstattungsstück angesehen werden
dürfen. Wenn die höhere Mädchenschule ihren Zweck bei dem einzelnen Mädchen
nur einigermaßen erreicht hat, so wird dieses — auch unter einfachen Ver¬
hältnissen — ein starkes Bedürfnis haben, seine Bildung zu erweitern und zu
vertiefen. Wir sehen ja auch, wie die meisten Familien ihre zu Jungfrauen
heranreifenden Töchter nach der Schulzeit noch einmal in ein fremdes Haus
geben, sei es, daß sie die Führung des Haushalts lernen, sei es, daß sie einer
fremden Sprache völlig mächtig werden sollen, sei es auch, daß sie im Verkehr
mit fremden Leuten „sich benehmen" und an den Verhältnissen eines fremden
Haushalts die Vorzüge des elterlichen Hauses empfinden und würdigen lernen
sollen. Dieses Weggeben der Backfische in Pension kann ja für die Ausreifung
der jungen Mädchen, wenn die richtige Pension gefunden wird, von großem
Werte sein. Leider wird aber damit viel Hokuspokus getrieben. Es ist Mode¬
sache geworden, daß ein Mädchen aus gebildeter Familie in einer vornehmen,
womöglich ausländischen Pension gewesen sein muß, und nun suchen die Mütter
vielfach Pensionen für ihre Töchter aus, in denen diese gerade das nicht lernen,
was ihnen am nötigsten wäre, und was sie zu Hause bei der Mutter und von
dieser am besten lernen könnten. Dagegen bringen sie aus der Pension oft
eine Menge unnützer und thörichter Dinge mit, die sie nicht zu lernen brauchen
und viel besser nicht gelernt hätten. Indessen derartigen Verirrungen gegen¬
über hilft bekanntlich kein Predigen. Glücklich das junge Mädchen, das noch
zu rechter Zeit in die reine und natürliche Atmosphäre eines soliden Eltern¬
hauses zurückkehrt. JU jeder größern Stadt wird sich Gelegenheit bieten, für
die weitere Vertiefung der Bildung durch Teilnahme an freien Kursen für
junge Mädchen zu sorgen. Schwindel giebt es natürlich auch bei derartigen
Kursen, und Mütter wie Töchter können bei deren Auswahl — auch bei gutem
Willen — recht schwere Mißgriffe machen. Die Sache, sollte man meinen,
wäre für das Leben der Tochter so wichtig, daß sie nur unter Einholung
zuverlässigen pädagogischen Rats erwogen werden dürfte. Aber wie selten ge¬
schieht das! Kein Wunder, wenn dann aus der oberflächlichen Behandlung
der Töchtererziehuug schief gewickelte und auf Schein dressierte Töchter her¬
vorgehn.
Solchen Erfahrungen gegenüber setzen die Befürworter des Mädchen-
gymnasiums ein. Tagtäglich, sagen sie, sehen wir, daß die höhere Mädchen¬
schule, wie sie jetzt ist, den Töchtern der gebildeten Familien keine abgeschlossene,
der durchschnittlichen Bildung der Männer gleichwertige Bildung giebt und zu
geben imstande ist. Gilt das schon für die Mehrheit der jungen Mädchen, die
später heiraten oder wenigstens auf Verheiratung rechnen, so ist die Unzu¬
länglichkeit der höhern Mädchenschule nicht nur eine Kalamität, sondern ge¬
radezu eine Grausamkeit gegen die täglich wachsende, große Schar junger
Mädchen, die, weil sie kein Geld haben, nicht auf Verheiratung rechnen können,
die daher von vornherein auf die Ehe verzichten, sich einem lohnenden Er¬
werbsberufe zuwenden, diesen nun aber auch — sei es aus inneren Drange,
sei es um der Konkurrenz der Männer willen — ebenso gründlich und wissen¬
schaftlich verstehn und treiben wollen wie die Männer, ganz zu geschweige»
der Frauen, deren natürliche Anlage sie mit besondrer Neigung und Fähigkeit
zu wissenschaftlicher Forschung ausgerüstet hat.
Das klingt ja ziemlich harmlos und plausibel. Es steckt auch eine ge¬
wisse Wahrheit und „leise Gewalt" dahinter, die sich unter der Decke regt.
Wahres und Falsches aber wird dabei so durcheinander gewirbelt, und der
Mangel an durchsichtiger Klarheit hat so viel bestechendes, daß es dringend
not thut, mit nüchternem, gesundem Menschenverstande die von der Macht der
Mode mit schimmerndem Glänze verklärte Forderung nach Mädchenghmnasien
näher zu untersuchen.
Die Freunde des Mädchengymnasiums hüten sich meistens davor, unsre
Forderung, daß das Weib zum Weibe zu erziehn ist, zu bestreiten. Sie be¬
haupten aber, das könne auch dann geschehn, wenn man den Bildungsgang
der Mädchen dem für die gebildeten Männer üblichen annähere oder gleich
gestalte. Jetzt bleibe nicht bloß die sachliche, sondern auch die allgemeine
Bildung der Frauen hinter der der Männer zurück. Schon das widerspreche
der sittlichen Gleichwertigkeit der Frau, die doch allgemein, auch von den Ver¬
tretern der besondern Weiblichkeitserziehung anerkannt werde. Es hindre auch
die Frau der gebildeten Stände, in der Ehe dem Manne das zu sein, was sie
ihm sein solle, die vollwertige Partnerin und Gehilfin in seinem Berufsleben
und in seinen höchsten Lebensinteressen. Geradezu verhängnisvoll aber werde
diese grundsätzlich verschiedenartige weibliche Bildung für die Mädchen, die nicht
in die Ehe treten oder von vornherein nicht ehelich werden wollen, die das
sittliche und ideale und darum vollberechtigte Streben haben, sich der höchsten
menschlichen Bildung zu bemächtigen und in der wissenschaftlichen Arbeit und
Forschung ihre Befriedigung und ihren Lebensinhalt zu suchen, oder die sich
des notwendigen Erwerbs halber einem Berufe widmen wollen, für dessen
Ausübung der Nachweis einer bestimmten akademischen Bildung staatlich ge¬
fordert werde. Und da die Frau nach ihrer intellektuellen Befähigung sehr
wohl imstande sei, alle oder doch einen großen Teil der jetzt ausschließlich von
Männern ausgeübten Berufe mit gleichem oder selbst besseren Erfolge aufzu-
füllen als der Mann, so sei es eine unabweisliche Forderung der Gerechtigkeit,
ihr die Pforten zu diesen Berufsarten zu öffnen und ihr die Beschreidung eines
Bildungswegs zu ermöglichen, der sie zu denselben Bildungszielen führe, wie
sie den Männern vorgesteckt und erreichbar seien.
Dies sind — ohne jede Übertreibung und Karikatur — die Ziele, die die
moderne Frauenbewegung, auch die gemäßigte, zunächst auf ihr Programm
gesetzt hat. Sie involvieren augenscheinlich die Forderung der Zugänglichkeit
aller oder doch gewisser Münnerberufe für die Frau. Sie fordern für diese
nicht bloß den freien Zugang zur Universität, sondern nach Abschluß der aka¬
demischen Studien zu den für die Männer der öffentlichen Berufe und Ämter
vorgeschriebnen Prüfungen. Sie reklamieren für die Frau die Öffentlichkeit,
und ihre logische Konsequenz führt schließlich mit unausweichlicher Notwendig¬
keit zu den, aktiven und dem passiven Wahlrecht der Frauen in den politischen,
kirchlichen und kommunalen Organisationen, d. h. sie münden aus in die un¬
natürliche und widernatürliche Utopie der vollen Emanzipation der Frauen.
In diesen logischen Konsequenzen des Programms der modernen Frauen¬
bewegung liegt schon dessen Kritik. Aber die Stärke der Frauen liegt nicht
im Ziehen der logischen Konsequenz. Mirza Schafft) mag wohl ein wenig zu
weit gehn, wenn er singt:
Frauensinn ist wohl zu beugen,
Aber nicht zu überzeugen:
Logik giebts für keine Frau.
Soweit wird er aber wohl Recht haben, daß die Frauen ihre Forderungen
weit mehr mit dem Gefühl und mit dem Herzen als mit dem Verstände be¬
gründen, und daß sie logische Konsequenzen sehr häufig, auch wo sie auf der
Hand liegen, nicht sehen wollen. Dadurch werden wir Männer aber nicht der
Pflicht überhoben, die Forderungen der Frauen unter die Lupe des Verstandes
zu nehmen.
Die sittliche Gleichwertigkeit der Frau in allen Ehren! Ihre sittliche
Würde steht eher höher als niedriger im Vergleich mit der des Mannes. Aber
ihre ganze geistige Anlage, ihr Intellekt, ihr Denken und ihr Wollen ist der
Naturanlage des Mannes nicht gleichartig. Und darum hat sie im allgemeinen
eine andre physische, psychische und geistige Entwicklung als der Mann. Von
Natur sind ihr andre Funktionen, andre Aufgaben, andre Ziele zugewiesen.
Und mit dieser natürlichen Grundverschiedenheit muß man rechnen. Ignoriert
man sie bei der Gestaltung des weiblichen Bildungsgangs, so muß die Sache
schief gehn. MwrÄin kurea Mpsllas, onem usans rsourrst.
Das Mädchengymnasium ist eine Versündigung wider die weibliche Natur.
Das Mädchengymnasium hat uur Sinn — und es wird jn auch nur zu diesem
Zwecke gefordert —, wenn es die Schülerinnen genau unter denselben Voraus¬
setzungen ausbildet und ihnen genau dasselbe Maß von geistiger und intellek¬
tueller Reife verleiht, wie das Gymnasium für die männliche Jugend den
Gymnasiasten. Das kann es einfach nicht. Schon aus natürlichen Gründen
nicht. Es kann vielleicht mehr erreichen, die weibliche Abiturientin kann als
Weib gereifter die Maturitätsprüfung bestehn, als der Mulus in seiner Art.
Immer aber wird dieser andre Voraussetzungen und andre Eigenschaften zur
Universität mitbringen als jene. Und nun bedenke man einmal die grausame
Härte, die darin liegt, daß ein Mädchen vom neunten oder mindestens doch
vom zwölften Jahre an in einen Bildungsgang hineingezwungen wird, der
physisch und seelisch ganz andre Anforderungen an das Kind stellt, als die
seiner weiblichen Natur entsprechenden. Schon in unsern Gymnasien ist nicht
alles so, wie es sein sollte und könnte — von der unglücklichen Halbheit
während der Experimente des zur Zeit noch immer schwebenden Umbildungs¬
prozesses gar nicht zu reden —, und da sollen Anstalten geschaffen werden, die
Lehrplan, Lehrmethode und Lehrziele der Gymnasien in der Hauptsache kopieren,
um Mädchen für die Reifeprüfung zu drillen. Denn darauf allein kommt es
schließlich doch hinaus. Ein von Haus aus verfehlter und ungesunder Ge¬
danke. Eine Menge von Mädchen würde das schon Physisch nicht aushalten.
Und wenn sie sich mit ihrem weiblichen Ehrgeiz wirklich energisch durch¬
kämpften, so würden die traurigen Folgen nachkommen und sich sowohl während
der Universitätszeit wie im spätern Leben geltend machen. Hätte man es mit
Mädchen zu thun, die sich schon mit einiger Klarheit ein Bild ihres spätern
Lebens zu machen vermöchten, so ließe sich über die Sache allenfalls noch
reden. Aber das ist ja bei dem Mädchengymnasium ausgeschlossen und läßt
sich mit der Form des Gymnasiums absolut nicht vereinigen. Im aller-
günstigsten Falle muß das Mädchengymnasium alle Kraft daran setzen, seine
Schülerinnen mit dem gleichen Maße von Kenntnissen, von Wissensstoff aus¬
zurüsten, wie das Gymnasium seine Schüler. Dabei aber kommt unter allen
Umständen das Beste zu kurz, was ein Mädchen, mag es heiraten oder
studieren, für sein späteres Leben braucht. Wir haben ja ein oder zwei
Mädchengymnasicn in Deutschland (Karlsruhe und Weimar), die mit Ernst
und bestem Willen die Aufgabe zu lösen versuchen. Schon jetzt leiden sie,
namentlich in den obern Klassen, unter Unzuträglichkeiten, die der Natur der
Sache nach gar nicht ausbleiben können. Man möge sie nur gewähren lassen.
Es wird sich in der Praxis sehr bald mit erschreckender Deutlichkeit heraus¬
stellen, daß sich die Quadratur des Kreises nicht konstruieren läßt. Es wird
immer ein irrationales Verhältnis bleiben.
(Schluß folgt)
Whuc auf die Einzelheiten der kriegerischen Ereignisse näher ein-
zugehn, will ich mich sofort an die Beschreibung der Zeitbegebcn-
heit machen, an der ich persönlich Anteil nahm, die tragisch für
den einen und glänzend für den andern Teil verlief. Ich muß
gestehn, ich empfinde hier etwas Befangenheit. In meinem an
Erfahrungen nicht sehr reichen Leben hat diese Zeit eine Menge lebhafter, starker
Eindrücke in? Kopf und im Herzen zurückgelassen, wie ich solche spater nie wieder
erfahren habe. Das Schicksal eines großen blühenden Landes, daneben auch
das persönliche Los eines Mannes, der in so kurzer Zeit zu hohem Ruhm
gelangt war, mußten meinen Blicken auffallen.
Da schon bekannt war, daß sich die feindliche Armee um Großwardein
konzentriert hatte, wurden unsre Truppen am 27. Juli dorthin aus Debreczin
mit möglichster Eile dirigiert, und dem Grafen Rüdiger die zweite Kavallerie¬
division nebst einigen Batterien Feldartillerie zum Angriff auf Görgci gegeben.
Es war eine Lust, diese prächtigen Kavallerieregimenter unter der Leitung eines
Generals wie Rüdiger zu sehen. Als Adjutant verblieb ich natürlich in Rü¬
digers Nähe. Im Dorfe Mezö-Kerche erblickten wir beim Durchmarsch durch
einen dichten Wald einige ungarische Offiziere in Begleitung einer Schwadron
Husaren. Das waren die ersten Parlamentäre von Görgei.*) Die zur öster¬
reichischen Armee entsandten Parlamentäre waren trotz der Unverletzbarkeit ihrer
Eigenschaft sofort zu Kriegsgefangnen gemacht worden.**) Die Parlamentäre,
die zu uns kamen, kannten uns noch nicht und fürchteten, daß wir mit ihnen
ebenso Verfahren würden. Aber der Graf nahm sie freundlich auf und blieb
mit ihnen im ersten Dorf, wo Nachtquartier hergerichtet war. Die Parla¬
mentäre waren: General Pöltenberg, Korpskommandant der Armee Gvrgeis;
Oberst Benetzki und Rittmeister Gras Bethlen-Gabor, ein Nachkomme der könig¬
lichen Familie der Hunyciden, Sie überbrachten dem Grafen Rüdiger ein
Schreiben folgenden Inhalts:
Sie kennen gewiß die traurige Geschichte meines Vaterlands. Ich verschone
Sie demnach mit einer ermüdenden Wiederholung aller jener auf eine unheimliche
Weise zusammenhängenden Begebenheiten, die uns immer tiefer in den Verzweif¬
lungskampf erst um unsre legitimen Freiheiten, dann um unsre Existenz ver¬
wickelten.
Der bessere, und ich darf es behaupten, auch der größere Teil der Nation
hatte diesen Kampf nicht leichtsinnig gesucht, wohl aber mit Hilfe vieler Ehren¬
männer, die zwar nicht der Nation angehören, durch ihre Verhältnisse jedoch in den
Kampf mit hineingezogen wurden, ehrlich, tapfer und siegreich bestanden.
Da gebot die europäische Politik, daß sich Seine Majestät der Kaiser von
Rußland mit Österreich verbinde, um uns zu besiegen und den fernern Kampf für
Ungarns Verfassung unmöglich zu machen.
Es geschah. Viele der echten wahren Patrioten hatten dies vorausgesehen und
auch warnend vorausgesagt.
Die Geschichte unsrer Tage wird einst enthüllen, was die Majorität der provi¬
sorischen Regierung Ungarns dazu bewog, den warnenden Stimmen ihr Ohr zu
verschließen.
Diese provisorische Regierung ist nicht mehr. Die höchste Gefahr hat sie am
schwächsten gefunden.
Ich, der Mann der That, aber nicht der nutzlosen, erkannte ein ferneres Blut¬
vergießen als zwecklos, als unheilbringend für Ungarn, wie ich es bereits bei Be¬
ginn der russischen Intervention ausgesprochen. Ich habe heute die provisorische
Regierung aufgefordert, unbedingt abzudanken, weil ihr Fortbestehn die Zukunft des
Landes nur von Tag zu Tag trüber und bedauernswerter machen könnte.
Die provisorische Regierung erkannte dies und dankte freiwillig ab, die höchste
Gewalt in meine Hände niederlegend.
Ich benutze diesen Umstand nach meiner besten Überzeugung, um Menschen¬
blut zu schonen, um meine friedlichen Mitbürger, die ich nicht mehr verteidigen
kann, wenigstens von dem Elende des Kriegs zu befreien, indem ich unbedingt die
Waffen strecke und dadurch vielleicht den Impuls gebe, daß die Führer aller von
mir getrennten Abteilungen der ungarischen Streitmacht gleich mir erkennen, daß
dies gegenwärtig für Ungarn das Beste sei, und in kurzem meinem Beispiele
folgen.
Ich vertraue hierbei auf die vielgerühmte Großmut des Kaisers, hoffend, daß
er so viele meiner braven Kameraden, die durch die Macht der Verhältnisse als
frühere österreichische Offiziere in diesen unglücklichen Kampf gegen Österreich ver¬
wickelt wurden, nicht einem traurigen ungewissen Schicksale, und die tief gebeugten
Völker Ungarns, die auf seine Gerechtigkeitsliebe bauen, nicht wehrlos der blutigen
Rache ihrer Feinde preisgegeben werde. Es dürfte vielleicht genügen, wenn ich
allein als Opfer falle.
Diesen Brief adressiere ich an Sie, Herr General, weil Sie es gewesen sind,
der mir zuerst Beweise der Achtung gegeben, die mein Vertrauen gewonnen hat.
Beeilen Sie sich, wenn Sie fernerm Blutvergießen Einhalt thun wollen, den
traurigen Akt der Waffenstreckung in kürzester Zeit, jedoch in der Art möglich zu
machen, dnß er nur vor den Truppen Seiner Majestät des Kaisers von Rußland
stattfinde. Denn ich erkläre feierlich, lieber mein ganzes Korps in einer verzweifelten
Schlacht, gleichviel gegen welche Übermacht, vernichten zu lassen, als die Waffen vor
österreichischen Truppen bedingungslos zu strecken.
Ich marschiere morgen, den 12. August nach Vilagos, übermorgen, den
13. August nach Baros-Jens, den 14. nach Bel, was ich Ihnen aus dem Grunde
mitteile, damit Sie sich mit Ihrer Macht zwischen die österreichischen und meine
eignen Truppen stellen, um mich einzuschließen und von jenen zu trennen.
Sollte dieses Manöver nicht gelingen und die österreichischen Truppen mir auf
dem Fuße folgen, so werde ich ihre Angriffe entschieden zurückweisen und nach Groß-
wardein marschieren, um auf diesem Wege die kaiserlich russische Armee zu er¬
reichen, vor der allein sich meine Truppen bereit erklärt haben, die Waffen frei¬
willig niederzulegen. Ich erwarte Ihre geehrte Antwort in kürzester Zeit und bitte
die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung entgegenzunehmen.
Graf Rüdiger hatte keine Vollmacht, mit dem Feinde zu unterhandeln,
konnte also nicht sofort antworten und bat deswegen die Parlamentäre, zu
bleiben. Er selbst sandte sofort eine von seinen Ordonnanzen mit Rapport an
den Generalfeldmarschall. Man machte Görgei den Vorschlag, sich bedingungs¬
los im Vertrauen auf die hohe Fürsprache des russischen Zaren und auf die
Gnade des österreichischen Kaisers zu ergebe». Diese Antwort kam nachts.
Der Graf befahl nur, ein Detachement Husaren vom Radetzky-Regiment zu
nehmen, unter ihrer Bedeckung die Parlamentäre zurückzubringen und mit diesen
soweit vorzudringen, daß ich mindestens die feindlichen Vorposten erreichte.
Dann sollte ich im Gespräche herausbringen, wo Görgci sei. Man hieß mich
auf Arad marschieren, wo Görgei aller Wahrscheinlichkeit nach sein mußte, und
gab mir eine Landkarte mit. Wir machten uns auf den Weg; unser Marsch
ging in folgender Weise vor sich: zuerst kamen, umringt von den unsrigen, die
ungarischen Husaren, damit wir diese nicht aus dem Gesichte verlören; auf sie
sollte streng acht gegeben werden; niemand sollte sich in eine Unterhaltung
mit ihnen einlassen, aber im übrigen sollte man sie höflich behandeln. Dann
folgte in einem Wagen Pöltenberg, zu dem ich mich, der bequemern Unter¬
haltung wegen, gesetzt hatte; nach uns kamen die übrigen. Ich bat Pölten¬
berg, uns unterwegs für seine Gefangnen auszugeben, um die Bewohner nicht
zu erschrecken. Niemals werde ich diesen Zug vergessen, auf dem Pöltenberg
und ich die ganze Zeit über in diplomatischen Künsten miteinander wetteiferten.
Ich bemühte mich, zu erfahren, wo Gvrgei sei, und er wich einer Unterhaltung
über diesen Punkt beständig aus. Der Vorteil war auf seiner Seite, da es
leichter ist, zu schweigen, als jemand auszufragen. Meine Marschroute wies
uns die Hauptstraße entlang; als Pöltenberg indessen bemerkte, daß ich Görgei
in Arad vermutete, wollte er mich irre führen und brachte einen andern Land¬
weg in Vorschlag. Ich willigte lange nicht ein, nicht etwa, weil ich Furcht
hatte, denn ich wußte, daß ich unverletzlich sei, und daß mein Gegner einem
hochherzigen Volke angehörte — sondern weil ich an der Hand meiner Karte
vermutete, daß er mich irre führen wollte. Wir kamen an ein Dorf; Pölten-
barg nannte es, wie auf der Karte angegeben; dasselbe wiederholte sich bei
einem zweiten und dritten; aber dann mußte ich im nächsten Dorfe Aufenthalt
nehmen, und als ich unterwegs einen Bauern nach dem Namen dieses Dorfes
fragte, bezeichnete er es ganz anders als Pöltenberg. Ich warf einen Blick
auf die Karte und fand wirklich das Dorf unter seinein richtigen, mir vom
Bauer angegebnen Namen, wenn auch nicht auf meiner Marschroute, sondern
auf einem andern Wege, der ebenfalls nach Arad, aber auf Umwegen führte.
Ich triumphierte innerlich, denn jetzt war kein Zweifel mehr, daß sich Görgei
in Arad aufhielte; mein Gefährte wollte mich nur vom Wege ableiten. In¬
zwischen waren wir von vier Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags unter¬
wegs, die Pferde waren müde, die Leute hungrig. Ich schlug vor, Halt zu
machen; Benetzki sagte, das thäte man besser in Großwardein, dort könnte man
alles haben. Allein ich trug Bedenken, in einer großen Stadt Station zu
machen, und verlangte, daß wir bis ins erste Dorf hinter die Stadt marschierten,
ein Vorschlag, der auch angenommen wurde. Bei unserm Durchmarsch durch
Großwardein lief das Volk zusammen, um die russischen Gefangnen zu sehen.
Plötzlich bemerkte ich, daß Benetzki zurückgeblieben war und mit einer Dame
in schwarzem Schleier sprach; ich stellte mich, als hätte ich nichts gesehen; als
aber bei der Ankunft in dem Dorfe, wo wir Station machen wollten, wieder
dieselbe Dame erschien und mit Benetzki zu flüstern begann, trat ich an ihn
heran, führte seiue Gefährtin mit den Worten: „Das kann ich nicht gestatten!"
höflich fort und befahl einem Husaren, sie sofort zur Stadt zurückzubringen.
Benetzki geriet in Zorn; er griff nach seinem Säbel, ich nach dem meinigen,
doch Pöltenberg, der alles gesehen hatte, trat hinzu und hielt ihn zurück; wir
beide steckten die Säbel ein, und ich dankte Pöltenberg, sprach aber von der
Zeit an kein Wort mehr mit Benetzki und suchte ihn zu meiden; er hatte die
Befugnisse eines Parlamentärs überschritten. Das war übrigens der einzige
Fall, wo ich Grund zur Unzufriedenheit hatte, im übrigen waren meine Ge¬
führten höflich und verstanden unsre Lage. Mit Pöltenberg und Bethlen kam
ich besser aus. Als die Unterhaltung offenherziger wurde, zeigte mir ersterer
einen Brief von seiner Frau, worin die Lage Wiens und der allgemeine Wunsch
nach Beendigung des Kriegs ausführlich beschrieben war: „Wann kehrst dn
zurück?" fragte sein Weib. Thränen rollten Pöltenberg aus den Augen, als
er mir diesen Brief vorlas; er hatte wenig Hoffnung, sie bald wiederzusehen,
dachte aber natürlich nicht daran, daß dieses Wiedersehen niemals stattfinden
würde, und daß ihm die schimpfliche Hinrichtung in Arad bevorstünde. Ich
meinerseits bemühte mich, ihn so viel wie möglich zu trösten und zu überreden,
mit allen Mitteln für die Unterwerfung Görgeis und der Armee zu einer fried¬
lichen Beilegung des Kriegs zu sorgen, da dieses die einzige Möglichkeit zur
Rettung des Landes und zum Segen der Bevölkerung sei. Er gab offen zu,
daß alle denselben Wunsch hegten. Ich hielt ihm weiter vor, daß Görgei von
Kossuth verlassen sei, daß wir 100000 Mann guter Truppen hätten, sie da¬
gegen nur 30000 ermüdeter und mutloser; daß folglich auf ihrer Seite keine
Aussicht auf Erfolg wäre, und daß ein weiterer Widerstand nur die berechtigten
Forderungen ihrer gesetzlichen Obrigkeit vermehren werde. Er antwortete nicht
direkt, aber man konnte deutlich merken, was in ihm vorging. Ich wage mir
natürlich nicht den allergeringsten Einfluß auf die dann zustande gekommne
Lösung der Frage zuzuschreiben, besonders da diese in Görgeis und seiner Ge¬
nossen Jnnerni schon längst bestimmt war; aber ich habe zu dem wie bei jedem
Ungarn warmen und offnen Herzen dieser Männer gesprochen!
Inzwischen war es dunkel geworden, und als wir an den Ort Tenke
kamen, war es elf Uhr. „Hier müssen wir unbedingt Station machen, sagte
ich. Die Pferde können nicht weiter, wir wollen sie nur füttern, dann kann es
wieder vorwärts gehn." Dieser Vorschlag gefiel Pöltenberg nicht; er wünschte,
daß ich hierbliebe und umkehrte, aber ich versicherte ihm, er würde auf dem
weitern Marsche mit unsern Truppen zusammentreffen, die ihn nicht durchlassen
würden.
Wir blieben beim Geistlichen des Orts, aßen reichlich zu Abend, ruhten
aus und schlummerten ein wenig. Plötzlich ging die Thür auf, und mit den
Worten: Herr General, wir können nicht vorwärts; die Brücke ist abgebrannt!
trat Pöltenbergs Wachtmeister ein. Ich wußte, daß wir uns in der Nacht
etwas verirrt hatten und jetzt nicht weiter könnten, die abgebrannte Brücke
aber nur ein Vorwand sei. Ich lächelte, Pöltenberg ebenfalls, und in diesem
Lächeln lag das Zugeständnis, daß er mich hatte vom Wege abführen wollen,
und daß Görgei ihn in der That in Arad erwartete.
Erfreut über das Gelingen meines ersten diplomatischen Auftrags er¬
widerte ich, sein Geheimnis sei von mir längst erraten. Dann lachten wir
herzlich, verabschiedeten uns und drückten uns gegenseitig unwillkürlich fest ans
Herz. Ich befahl meinem Detachement, sich fertig zu machen, und als ich auf
die Treppe trat, um mich weiter zu verabschieden, sah ich meine Husaren eben¬
falls die Ungarn umarmen. Da erschrak ich denn doch, rief den Wachtmeister,
dem streng verboten war, Bekanntschaften zu schließen, und sagte:
Was habt ihr da gemacht?
Entschuldigen . . .
Worüber habt ihr miteinander gesprochen?
Entschuldigen ... sie haben uns vorgeschlagen, zu ihnen überzugehn.
Und was habt ihr ihnen erwidert?
Wir verstehn leider ihre Sprache nicht.
Und das Vaterland, der Eid, der Zar! schrie ich in Hellem Zorn.
Er geriet in Verwirrung und sagte: Sie haben gemeint, wir schlügen uns
so tapfer, daß, wenn sich unsre Truppen mit den ihrigen vereinigten, uns die
ganze Welt gehörte!
Umarmt euch noch einmal, sagte ich, dann aber fort und alles vergessen!
Zu Befehl! —
Wir kamen noch eben in der Dunkelheit nach Großwardein, wo Graf
Rüdiger schon eingetroffen war. Ich berichtete über alle Ereignisse; der Vor-
gesetzte schalt und lobte — der gutherzige Mann erinnerte sich, auch einmal
jung gewesen zu sein.
Um zu erklären, was eigentlich Görgei veranlaßte, die Rettung seines
Vaterlands nicht mehr in einer Fortsetzung des Kriegs, sondern in friedlichen
Mitteln zu suchen und in dieser Absicht Parlamentäre zu senden, will ich einige
Worte über sein Verhältnis zu Kossuth und zum Ministerium der Aufständischen
sagen, durch deren unentschlossene und verkehrte Schritte er in eine wahrhaft
verzweifelte Lage geraten war. Charaktere wie der Kossuths, eines Revolu¬
tionärs und Republikaners, und der Görgeis, eines monarchisch gesinnten
Mannes mit Gedanken an die Selbständigkeit nur Ungarns, konnten nicht
zusammengehn. Der erste war ein politischer Schwärmer, mit Ansprüchen auf
die Eigenschaften eines Staatsmanns; dabei ein Poet. Der andre dagegen
der geschickteste und praktischste Mann von der Welt. Kossuth war machtliebend,
eigennützig und verschlagen und benutzte alle Mittel zur Erreichung seiner ehr¬
geizigen Pläne. Görgei handelte immer und überall ritterlich, offen, mit wahr¬
hafter Vornehmheit und iiumerwährender Begeisterung für das, was er als
nützlich und rühmlich für sein Vaterland erkannt hatte. Kossuth opferte alles
seiner grenzenlosen Eigenliebe und seinem Ehrgeiz; er wußte selbst in der Ver¬
bannung nicht, als er, sein Leben lang zu leiden und sich zu quälen verdammt,
vom Fluche seines Volks verfolgt wurde — selbst da verstand er nicht, seine
Gedanken zu bändigen. Görgei brachte seine Eigenliebe dem Wohlergehn des
Vaterlands zum Opfer, und wenn er früher danach gestrebt hatte, die höchste
Macht zu erreichen, so war er doch sofort bereit, sie mit voller Überzeugung
wieder aus der Hand zu geben, als kein andres Mittel zum Heil und Wohl
Ungarns mehr möglich war, eines Landes, das die Kurzsichtigkeit Kossuths
und seiner Anhänger an den Rand des Verderbens gebracht hatte. Görgeis
Triebfeder war wirklich Selbstaufopferung; denn obgleich er wußte, daß man
ihn beschimpfen und einen Verräter nennen würde, vertraute er dennoch auf
die Gerechtigkeit seiner Sache und die Gottes und der Menschen, die ihn später
erkannt und richtig beurteilt haben. Görgei wäre ein Verräter gewesen, wenn
er sich, wie es hieß, verkauft hätte; er wäre es ebenso gewesen, wenn er sich,
unter Aufopferung der Armee, um die Erhaltung seines Lebens bemüht hätte;
aber in dem Briefe an den Grafen Rüdiger gab er sich als Ersten preis, unter
der Bedingung, daß seine Waffenbrüder gerettet würden. Er wäre schließlich
ein Verräter gewesen, wenn er irgend welche Garantien für seine persönliche
Sicherheit gefordert hätte; aber er verzichtete auf alle Vorschläge, die man ihm
gemacht hatte, und kehrte mit reinem, ruhigem Gewissen in seine frühere bescheidne
Stellung zurück, in der er sich ausschließlich der Wissenschaft widmete, bis fort¬
währende Satiren, Lügen und Verleumdungen ihn, der vom Schauplatz öffent¬
licher Thätigkeit abgetreten war, nachdem endlich seine Geduld erschöpft war,
zwangen, in schönen Memoiren sein wunderbares, prächtiges, vornehmes Innere
zu offenbaren. Zu dem oben erwähnten moralischen Impuls kamen bei Görgei
noch materielle Beweggründe hinzu.
Oberflächliche, leichtsinnige Leute, die den Ereignissen, über die sie
urteilen, gänzlich fernstehn, haben behauptet und behaupten vielleicht noch,
Görgei hätte bis zum äußersten kämpfen müssen; aber wenn auch jeder auf
den Tod gefaßt sein mußte, durste doch der Befehlshaber nicht leichtsinnig
mit dem Leben seiner Untergebnen spielen. Mögen doch diese strengen Richter
bedenken, daß nicht ein Mann vom Heere Görgeis in eine solche Fort¬
setzung des Kriegs eingewilligt hätte, und daß die Überbleibsel seiner Armee
noch schneller als sonst auseinandergelaufen wären, dn allgemeine Nieder¬
geschlagenheit und Verzweiflung herrschten. Mit der Armee in die Türkei zu
flüchten, wäre eine Thorheit gewesen, an deren Folgen man gar nicht denken
mag! Bem, der nur an seine Rettung dachte und sich um die andern gar
nicht kümmerte, that diesen Schritt. Und was waren die Folgen? Görgei
hatte Befehl erhalten, sich mit der Südarmee zu vereinigen; wir haben gesehen,
wie umsichtig und überlegen er diesen Befehl auszuführen sich bemühte; bei
Waitzen verlegte man ihm den Weg, aber er verzweifelte nicht und unternahm
seinen wunderbaren Seitenmarsch über Lossoncz und Miskolcz nach Tokaj vor
den Augen unsrer ganzen Armee. Ihm wurde gesagt, daß in Großwardein
Kossuth, das Ministerium, Geld und Munition auf ihn warteten. Ungeachtet
aller Schwierigkeiten und Hindernisse erreichte er diesen Punkt. Da war aber
nichts von alledem zu finden! Nur Graf Batthyany und Szemere, beide in
Unruhe und Verzweiflung, riefen ihn im Namen Kossuths zum Höchstkomman¬
dierenden aus. Doch Görgei wußte, daß Kossuth insgeheim Bein für diesen
Posten bestimmt hatte; er lehnte die Ernennung durch Batthyany und Szemere
ab, forderte, daß Kossuth und das Ministerium ihre Macht als Feinde des
Vaterlands sofort niederlegen sollten, und ernannte sich selbst zum Diktator mit
unbeschränkter Macht, die er nicht als Verräter, sondern als Werkzeug der
Vorsehung und kraft der äußern Umstände wunderbar benutzte. Als Kossuth
von der Diktatur Görgeis erfuhr, begriff er sofort alles; Vorwürfe und Neid
zernagten sein Inneres; er erließ ein Manifest über seine Abdankung, worin
es hieß, daß er trotz der Einsetzung all seines Patriotismus das Vaterland
nicht habe retten können und deshalb alle Macht Görgei überließe, den er vor
Gott und seinem Gewissen für die Zukunft Ungarns verantwortlich mache.
Allein diese tönenden Worte verwandelten sich in Kossnths Munde in Phari¬
säerreden und in einen Fluch. Mit dem Gelde des Volks — wie es hieß, auch
mit der Krone Ungarns — eilte er in die Türkei, insgeheim ganz Europa Rache
schwörend und den haltlosen, wenn auch für ihn vielleicht tröstenden Gedanken
an eine Revolution aller gegen alle monarchischen Staaten, besonders gegen
Nußland nährend — ein Gedanke, den er später auch in Amerika verkündete,
wo man ihn inmitten lauter Demokraten einfach als Hanswurst ansah.
Görgei schrieb aus diesem Anlaß an den General Klapkcu
Seit wir uns nicht gesehen haben, sind, wenn auch nicht unerwartete, aber
doch entscheidende Dinge geschehn.
Die ewige Eifersucht der Negierung, die gemeinen Anstiftungen einiger ihrer
Mitglieder haben den Ausgang herbeigeführt, den ich schon im April voraus¬
gesagt habe.
Als ich nach manchen wackern den Russen gelieferten Gefechten bei Tokaj die
Theiß überschritten hatte, erklärte der Landtag, daß er mich zum Oberkommandanten
wünsche. Kossuth ernannte heimlich Bem dazu. Der Landtag aber glaubte, daß
ich es sei, denn Kossuth hatte auf den Antrag des Landtags eine jesuitische Ant¬
wort gegeben.
Diese Schlechtigkeit war die Quelle aller spätern Übel.
Dembinski wurde bei Szöreg geschlagen, Bem bei Maros-Vasarhely zer¬
sprengt. Bem eilte nach Temesvar, unter dessen Mauern Dembinski retiriert war.
Er kam während der Schlacht bei Temesvar auf den Kampfplatz und brachte das
Gefecht für einige Stunden zum Stehn, dann aber wurde er dermaßen geworfen,
daß von seinen 50000 Mann, nach Kossuths Berechnung, nur 6000 beisammen
blieben. Alle übrigen wurden, wie Vecsey mir mitgeteilt, zerstreut.
Mittlerweile rückten die Österreicher zwischen Arad und Temesvar vor.
Das Kriegsministerium hatte Dembinski die Weisung erteilt, sich, wie selbst¬
verständlich, auf das befreundete Arad, aber nicht auf das feindliche Temesvar
zurückzuziehn. Dembinski that das Gegenteil. Warum? weiß ich nicht bestimmt.
Aber aus vielen Umständen kann ich vermuten, daß es bloß aus Eifersucht gegen
mich geschehn ist.
Die Folge von alledem war, daß ich mit der Armee, mit der ich vor kurzem
aus Komorn ausgezogen, nach Abrechnung der bedeutenden Verluste bei Waitzen,
Mtsägh, Görömbely, Zsolcza, Gesztely und Debreczin, nunmehr allein dastand, im
Süden durch die Österreicher, im Norden durch die russische Hauptmacht bedroht.
Mir blieb zwar noch der Rückzug von Arad über Radna nach Siebenbürgen,
allein die Rücksicht auf mein Vaterland, dem ich um jeden Preis den Frieden geben
wollte, bewog mich, die Waffen zu strecken.
Zuvor hatte ich die provisorische Regierung aufgefordert, einzusehen, daß sie
vom Vaterlande nichts mehr hoffen, sondern es nur noch tiefer ins Elend stürzen
könne und deshalb abdanken möge.
Sie that es und legte alle Zivil- und Militärgewalt in meine Hände nieder.
Die Dringlichkeit der Umstände beachtend, faßte ich den raschen, aber Wohl über¬
legten Entschluß, vor der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Nußland die
Waffen unbedingt zu strecken.
Die Tapfersten und Bravsten meiner Armee stimmten mir bei. Alle Truppen¬
abteilungen aus der nächsten Umgebung von Arad schlossen sich mir freiwillig an.
Die Festung Arad unter Damjanics hat erklärt, ein Gleiches zu thun.
Bis jetzt werden wir so behandelt, wie ein tapfrer Soldat es von andern
verlangen kann.
Erwäge, was du thun kannst und mußt!
Auf den vorhergehenden Seiten habe ich in dem Wunsche, die Ursachen
der Dinge, so wie ich sie verstehe, zu erklären, dem Gange der Ereignisse vor¬
gegriffen. Jetzt kehre ich zum Ausgangspunkte zurück und beschreibe ein Er¬
eignis, wie es in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. General Mack hatte
einst mit 7000 Mann*) die Waffen gestreckt. Görgei ergab sich den Russen
mit 30000 Mann und 142 Geschützen. Diese Kapitulation wand ein neues
Reis in den Nuhmeskranz des herrlichen Alten, Grafen Rüdiger, der in funfzig¬
jährigen Dienste so viele kriegerische Erfolge davongetragen hatte.
Trotz wiederholter Befehle an den Grafen Rüdiger, nicht allzuweit vor¬
zurücken und sich vor Görgei, dem Empörer, der vielleicht Betrug im Schilde
führe, zu hüten, marschierte das dritte Korps in Eilmärschen von Großwardein
nach Kis-Jens und Zarand. Die vornehm gesinnten Männer verstanden ein¬
ander und marschierten ruhig auf dem Felde von Vilagos aufeinander zu.
Görgei sandte wiederum Parlamentäre nach Zarand. Es waren das drei
junge Leute aus den besten ungarischen Familien, voll Anhänglichkeit an ihren
rechtmüßigen Kaiser, aber dabei von leidenschaftlicher Vaterlandsliebe erfüllt:
Oberst Bethlen, ein Bruder des frühern Parlamentärs, Husarenleutnant Graf
Paul Esterhazy, den Graf Rüdiger von früher kannte, und Leutnant Graf
Schmiedeck. Sie waren von Görgei als Vertreter der höchsten ungarischen
Aristokratie und der monarchischen Richtung ausgewählt. Mit Thränen in
den Augen überbrachten sie dem Grafen Rüdiger den letzten Brief Görgeis
vom 13. August 1849:
Ich strecke freiwillig mit den unter meinem Befehl stehenden ungarischen
Truppen die Waffen vor den Russen, und indem ich mich bedingungslos mit
meinen tapfern Waffengefährten ergebe, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen, Herr
General, ihre bescheidnen Wünsche vorzutragen und Sie ergebenst zu bitten, uns
Ihre Fürsprache für Erfüllung dieser Bitten bei Seiner Durchlaucht, dem Herrn
Generalfeldmarschall und bei Seiner Majestät nicht zu versagen.
Sie bestehn in folgendem:
1. Die Kapitulanten sollen den Österreichern nicht als Verbrecher überliefert
werden; denn die Leute, die ursprünglich in österreichischen Diensten gestanden,
fürchten in den Händen jener ihr Leben und vielleicht auch ihre Ehre zu verlieren.
2. Allen Offizieren, die den Wunsch äußern, in russische Dienste zu treten,
soll diese Bitte nicht abgeschlagen werden.
3. Allen Offizieren soll auch während ihrer Gefangenschaft erlaubt sein, den
Degen oder Säbel zu tragen; sie sind sämtlich beredt, ihr Ehrenwort zu geben, daß
diese Vergünstigung nicht mißbraucht wird.
4. Alle bewegliche Habe derer, die freiwillig die Waffen strecken, als Wagen,
Pferde usw., soll im Besitz jedes Einzelnen verbleiben.
5. Falls durch eigenmächtigen Beschluß der österreichischen Regierung das
Papiergeld in Ungarn seinen Wert verliert, soll uns die Möglichkeit gegeben werden,
es gegen kurante Münze einzutauschen.
6. Da uns die Zukunft Ungarns unbekannt ist, und da, wenn Seine Kaiser¬
liche Majestät, der Kaiser von Rußland, sie in seiner bekannten Großmut und durch
seine allmächtige Vermittlung nicht sichert, unser aller das Schafott oder die Ver¬
bannung warten kann, so nehmen wir uns sämtlich die Freiheit, weniger für uns
selbst, als für unsre Mitbürger um großmütige Fürsprache zu bitten, damit das
unglückliche Land, das schon so viel erlitten hat, nicht noch neuen Qualen aus¬
gesetzt wird.
Als die Abgesandten dem Grafen Rüdiger diesen verhängnisvollen Brief
übergaben, waren sie nicht imstande, auch nur ein Wort zu sprechen. Der
Graf verstand als alter Krieger ihre Gefühle und half ihnen durch freund¬
liches Zureden.
Die Welt wird über Ihr Verfahren das Urteil sprechen, sagte er. Dieses
ist der schönste Tag im Leben Ihres Generals. Seien Sie ruhig: unser Kaiser
lehrt uns Großmut, weil er selbst großmütig ist. Es giebt keine Fehler, die
man nicht wieder gut machen kann; wenn man sie nur bereut!
Dann lud er die Unterhändler zum Mittagessen ein und trug mir auf,
beständig bei unsern Gästen zu bleiben und ihnen bequemes Quartier zu ver¬
schaffen. Ich werde diese Bekanntschaft nicht vergessen; wir hörten ans, uns als
Feinde zu betrachten; es waren lauter vornehme junge Leute, und ich hörte
später, daß Graf Rüdiger, der sich für Görgeis Adjutanten verwandt, auch ihnen
seine Fürsprache hatte angedeihen lassen. Trotzdem erfuhren wir später aus den
Zeitungen, daß Paul Esterhcizy in der österreichischen Armee, die damals in
Holstein weilte, als Fuhrknecht auf einem Tramwagen gesehen worden sei.
Der Graf nahm mit den Unterhändlern über den Verlauf der Kapitulation
Rücksprache und befahl mir, sie wieder zu Görgei zu führen. Sodann sollte
ich ihm mitteilen, daß die nähern Einzelheiten der Kapitulation vom Stabs¬
kommandanten bestimmt werden würden, und hierauf mit der Antwort zurück¬
kehren. Da wir spät abgeschickt wurden und bis Vilagos, wo Görgei stand,
etwa 15 Werst (— 16 Kilometer) waren, kamen wir dort gegen zwei Uhr nachts
an. Unterrichtet über die nächste Zukunft konnte man nicht ohne Herzbeklem¬
mung auf das Biwak der Ungarn sehen. Das Schloß Vilagos ist Eigentum
einer Gräfin Amalfi, und hier stand einst die Wiege der ersten ungarischen
Könige, der Hunyaden. An seinem Fuße aber sollte sich das traurige Geschick
desselben Landes vollziehn, über das diese einst geherrscht hatten.
Die Armee war um den Berg herum mit regelrecht zusammengesetzten Ge¬
wehren und Posten an allen Punkten aufgestellt, ein Zeichen, daß der Dienst
auch in der Armee, die auf Waffenthaten verzichtet hatte, noch geübt wurde.
Ich kam ins Schloß und trat auf den Flur; der Adjutant neu ^jour
empfing mich und führte mich in einen Saal; links war die Thür zu Görgeis
Zimmer; davor lagen auf dem Fußboden, in ihre Weißen Mäntel eingewickelt,
drei seiner Korpskommandanten, zugleich seine nächsten Anhänger und Freunde,
die ihren Abgott bewachten. Als man sie aufweckte, sahen sie mich, den ersten
russischen Offizier, in diesem Augenblick wie ihren Henker an. Görgei, sagte
man mir, schliefe. Er schläft! dachte ich. Morgen entscheidet sich sein Los;
dann ist alles zu Ende; und er — schläft! Sicher das beste Zeugnis für sein
reines Gewissen. Kossuth hat wahrscheinlich nicht geschlafen, als er sich an¬
schickte, in die Türkei zu entweichen! — Ich will offen sagen, daß mir die Hände
am Leibe herabsanken, als man mich zu Görgei führte. Vor mir stand ein
junger Riese, fast doppelt so groß wie ich, mit hoher Stirn, regelmäßigen
Zügen, verstündigem und angenehmem Lächeln, wobei er eine Reihe weißer
Zähne zeigte, wie ich sie noch nie gesehen habe; sein Kopf war mit einem
seidnen Tuch umwickelt, infolge einer Wunde, die ihm eine russische Kugel*)
bei Komorn beigebracht hatte; er trug einen zimmetfarbigm Ungarrock mit
goldnen Schnüren und hohe Jagdstiefel; mir war, als sähe ich einen Ritter
aus dem Mittelalter vor mir. Als er einen seiner durchdringenden Blicke
durch die Brille auf mich warf, errötete ich wie ein junges Mädchen. Görgei
lud mich freundlich ein, Platz zu nehmen, holte eine Karte hervor und be¬
zeichnete mir Ort, Stunde und andre Umstände der Kapitulation. Die Unter¬
haltung wurde deutsch geführt.
Sagen Sie mir, redete Görgei mich an, wie wird mich Ihr Graf
empfangen? Meine ganze Armee, die stets bereit ist, mit mir zu sterben,
wohnt dem Ereignis bei.
Ich beruhigte ihn und sagte, daß der Graf seit fünfzig Jahren Kriegs¬
dienste thue, daß er seine Lage verstünde, ihn als einen Mann ansahe, der
Achtung verdiene und ihm das durch die That beweisen würde. Jedermann
weiß, wie Graf Rüdiger Görgei empfangen hat. Dann fragte er mich nach
Waitzen, Debreczin und nach unserm Heer; ich nannte ihm Gott weiß welche
Ziffer, und er schaute nur seiue Korpskommandanten an. Endlich begann eine
allgemeine Unterhaltung; man brachte Essen, und wir setzten uns alle um den
Wirt herum zu Tisch. Görgei sprach ein gutes Deutsch, etwas mit Wiener
Accent, aber fließend und deutlich. Im Gespräch that er unter anderen einen
höchst naiven Ausspruch, der sehr bezeichnend für seine Gesinnung ist: Bitten
Sie den Grafen, daß er mir noch zwölf Stunden Zeit läßt, damit ich noch
einmal über die Österreicher herfallen und noch einige von ihnen niedermachen
kann; dann will ich sofort nach Vilagos zurückkehren und die Waffen strecken.
Er Hütte das allerdings auch ausgeführt, da die Österreicher ihn wie das
Feuer scheuten.
Inzwischen war es schon vier Uhr morgens geworden, und um elf sollte
ich zur Stelle sein; ich begann mich zu verabschieden. Görgei nahm seinen
Säbel und wollte ihn mir überreichen, da er sich schon für kriegsgefangen hielt.
Diese Ehre gebührt dem Grafen Rüdiger, sagte ich.
Ich weiß wohl, aber nehmen Sie den Säbel für sich, als Andenken an
den heutigen Tag.
Ich bewahre ihn noch heute auf.
Görgei drückte mir die Hand, sagte „Auf Wiedersehen," begleitete mich
auf die Treppe und wählte mir selbst ein Geleit aus. Die Sonne stieg schon
am Horizont auf.
Für mich nicht die Sonne von Austerlitz! sagte er.
Von seinem Gesicht konnte man die übrigen Gedanken ablesen. Herrgott,
dachte ich, da bist du Zeuge und Teilnehmer so vieler folgenschwerer Ereignisse
geworden; vielleicht ist dir unbedeutendem Menschen bestimmt, auch einen be¬
scheidnen Platz in der Geschichte einzunehmen.
(Schluß folgt)
fLMLMMier Jahre früher hatte ich so manchen Abend in Neapel den
Dampfer nach Palermo abfahren sehen und mir mit einer ge¬
wissen Sehnsucht vorgestellt, daß ich, wenn ich nur wollte, zwölf
Stunden später auf sizilianischen Boden stehn könne. Diesesmal
hatte ich von vornherein den Plan, dahin zu gehn, denn ich
dachte an Goethes Wort: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der
Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem," und an V. Hehns zustimmende Be¬
merkung: „Wer in Neapel und Capri umkehrt, der läßt das Werk seiner Reise
unvollendet." Gleichwohl empfand ich eine gewisse Scheu vor der Ausführung.
Zunächst mußte ich allein dahin gehn, sodann ist die Entfernung selbst von
Neapel noch recht groß, bis Palermo etwa drei Breitengrade, gegen 330 Kilo¬
meter, bis Syrakus, meinem südlichsten Ziele, vier Breitengrade, 440 Kilometer,
die kleine Hälfte der Entfernung zwischen Neapel und der Heimat, denn Sizilien
liegt unter derselben Breite wie Mittelgriechenland und der Peloponnes, Palermo
entspricht in seiner Lage ungefähr Athen, Syrakus etwa Sparta. Von Syrakus
dampft man in fünf Stunden nach Malta hinüber, und von Marsala sind
es bis zum Kap Bon, der äußersten Spitze Nordafrikas, nur 150 Kilometer.
Diese geographische Stellung Siziliens zwischen Europa und Afrika, zwischen
dem östlichen und dem westlichen Becken des Mittelmeers hat auch die ganze Ge¬
schichte der großen Insel bestimmt; sie ist ganz oder teilweise zweimal von
Griechenland, zweimal von Afrika, zweimal von Spanien aus in Besitz ge¬
nommen worden und hat mit Italien jahrhundertelang politisch gar nicht zu¬
sammengehangen, bis sie endlich vor vierzig Jahren ein einfaches Glied des
Königreichs Italien wurde. Innerlich ist sie ihm aber immer halbfremd ge¬
blieben. Ich hatte deshalb das Gefühl, in ein fremdes Land zu gehn, das
von dem, was mir in Italien bekannt und vertraut geworden war, sehr ver¬
schieden sei.
Endlich aber waren die Zweifel überwunden, das Billet für die ganze
Hin- und Rückfahrt in der Allerweltsagentur voll Cook gelöst, der Tag der
Abreise bestimmt, und am 6. November gegen sieben Uhr abends, also schon
bei völliger Dunkelheit, fuhr ich zum Quai der Jmmacolatella. Dort lag der
„Marco Polo" dicht am Bollwerk, ein großer, schöner, schneller Dampfer der
Gesellschaft Florio-Nubattino, von 1662 Tonnen und 3900 Pserdetrüften; sein
schlanker, weißer Rumpf, von elektrischem Licht erhellt, hob sich scharf von dem
dunkeln Hintergrunde des Hafenbeckens ab, in dessen schwarzer Wasserfläche
sich die Laternen des Ufers und der vor Anker liegenden Schiffe spiegelten.
Als eines der neusten Schiffe der Gesellschaft hatte der „Marco Polo" das
Vorderteil und das hohe Vorderdeck vom Schornstein ab der ersten Kajüte zu¬
gewiesen, dn hier das Zittern der Schraubenwelle bei schneller Fahrt weniger
bemerkbar wird, und die Eleganz der Raume, des Rauchsalons, des Speisesaals
(Filla 6a xrem?o), des Damenzimmers und der hohen, luftigen Kabinen ieamörim)
eine Etage tiefer ließ nichts zu wünschen übrig. Da die erste Kajüte nicht
sehr stark besetzt war, so bestand die begründete Hoffnung, eine Kabine allein
zu behaupten, und ich konnte mich mit Behagen der Betrachtung des inter¬
essanten Schauspiels widmen, das die Einschiffung und die Abfahrt eines an¬
sehnlichen Schiffes zu gewähren pflegen. Noch verbanden zwei Brücken den
Dampfer mit dem Lande, Droschken und Lastwagen rasselten heran, Kisten und
Fässer wurden herübergcrollt, immer dichter wurde die Reihe der Passagiere,
die sich nach der zweiten Kajüte hinter dem Schornstein an Bord drängten
und sich dort zum Teil auf Deck für die Nacht so gut es ging häuslich ein¬
richteten, viele Soldaten darunter. Freilich fanden dort auch etliche Korbe mit
aufgeregt gäckernden Hühnern Platz, und ganz in der Nähe hinter einen: Ver¬
schlage ein Rudel Schweine, eine etwas bedenklichere Nachbarschaft als das
Federvieh und zunächst noch recht unruhig; besonders ein großer, starker Ge¬
selle darunter bezeigte seine lebhafte Unzufriedenheit mit der engen Behausung
durch unwilliges Grunzen und Stoßen, was nun wieder die ganze übrige Ge¬
sellschaft mit Quieken und Strampeln vergalt. Dazu schwirrten lebhaftes Ge¬
spräch der Passagiere (fast nur Italiener) und kurze Befehle an die Mannschaft
durcheinander. Endlich heulte die Sirene zum erstenmale, über das ganze Deck
hin scholl der Ruf: Loknäsis! (absteigen!); was nicht mitfahren wollte, verließ
eilig das Schiff und blieb auf dein Bollwerk stehn, mit Tüchern lebhaft winkend.
Die Landungsbrücken wurden eingezogen, die letzten Taue aufgenommen, die
Maschine begann schnaubend zu arbeiten, und als die Sirene zum letztenmal
erscholl, Punkt acht Uhr, glitt das Schiff fast unmerklich vom Hafendamme
fort. Unter dem glcichnmßigen Rauschen der Schraube und der anschlagenden
Wellen, zitternde helle Streifen aus seinem im Lichtglanz strahlenden Innern
ans das dunkle Wasser werfend, ging der „Marco Polo" zwischen den Hafen¬
dämmen in den Golf hinaus.
Wohl war es zu bedauern, daß uns das herrliche Schauspiel, das Neapel
bei Tage dem Aussegelnden oder Ankommenden gewährt, durch die Nacht ver¬
hüllt wurde; dafür entfalteten sich, je weiter sich das Schiff entfernte, um so
mehr die endlosen Lichterzeilen des Strandes; darüber zogen sich wie funkelnde
Guirlanden die Lichter der am dunkeln Abhang aufsteigenden Hvhcnstraßen und
der Villen des Posilippo dahin. Daun blitzten links in weiter Entfernung
helle Punkte von Sorrento ans, und um Capri westlich herum, das als
dunkle Masse kaum erkennbar dastand, dampften wir ins offne Tyrrhenische
Meer hinaus. Der Himmel war mit Wolken bedeckt, doch die See ruhig, und
da sich im Rauchsalon so gut wie niemand aushielt, so konnte ich mit einem
mir bekannten deutschen Offizier, den ich zufällig an Bord angetroffen hatte,
bei einer Flasche Chicmti ungestört die Aussichten des südafrikanischen Kriegs
erörtern, die er schon damals als nicht sonderlich günstig für die Engländer
ansah. Gegen Mitternacht wurde das Meer etwas bewegt, der Dampfer be¬
gann leicht zu stampfen, was bekanntlich in der Koje (onoosttg.) das Gefühl
giebt, in einer großen Wiege zu liegen, aber er rollte nicht, beruhigte sich auch
wieder, als er sich der sizilianischen Küste näherte, ohne daß wir natürlich von
Ustica oder den Liparischen Inseln, die sonst die Nähe Siziliens verkünden,
etwas zu sehen bekommen hätten, denn es wurde erst gegen sechs Uhr hell.
Als ich um diese Zeit um Deck kam, vom fröhlichen Krähen der erwachenden
Hähne begrüßt, blies eine sehr frische Brise von Westen her über die grau¬
blaue See, der Himmel war frei geworden, und im Osten stand das purpurne
Morgenrot, gerade vor uns aber lag eine mattblaue, langgestreckte, hier und
da zu zackigen Gipfeln aufstrebende Gebirgskette, die Nordküste Siziliens.
Golden stieg die Sonne aus der klaren Flut, unter ihren Strahlen belebten
sich die vor uns liegenden Formen des Landes durch Licht und Schatten; an
Stelle des einförmigen Blau trat, je mehr sich der mit fünfzehn bis sechzehn
Knoten laufende Dampfer der Fusel näherte, ein Helles Grau, und die Bergmassen
begannen sich voneinander zu sondern. Rechts schoben sich das Kap Gallo und
der wundervoll geformte Monte Pellegrino, „das schönste Borgebirge der
Welt," links der Monte Grifone und der Catalfano hervor, alle kahl und
nackt, dazwischen öffnete sich eine weite Bucht, und an ihr begann sich eine
weiße Häusermasse auf dem Hintergrunde eines malerischen blauen Gebirgs-
kranzcs abzuzeichnen, es war Palermo. Dann tauchten der Mastenwald des
Hafens, die Gebäudereihen dahinter auf, und durch die breite Offnung zwischen
den beiden langen Molen hindurchlaufend legte sich der „Marco Polo" um
s/48 Uhr, uach kaum zwölfstündiger Fahrt mitten in dem halbrunden Becken
vor Anker. Boote umdrängten ihn, aber es ging verhältnismäßig ruhig dabei
zu, rasch waren die Zollsörmlichkeiten an der Dogana erledigt, und ein Omnibus
führte uns erst eine lange staubige und verstaubte Allee am Hafen hin, dann
durch enge Gassen nach der Piazza marina zum tresslichen Hotel de France,
vor dem sich, den größten Teil des Platzes bedeckend, die tropisch üppigen
Laubmassen des herrlichen Giardino Garibaldi ausbreiten, überragt von schlanken
Palmen und hohen Koniferen. Wir waren wirklich in Palermo!
Auf den ersten Blick hat Palermo wenig Altertümliches. Denn seinen
baulichen Charakter haben unter spanischer Herrschaft überwiegend das sechzehnte
und siebzehnte Jahrhundert, Renaissance und Barock, bestimmt. Ans dieser
Zeit stammt auch das große, rechtwinklige Straßenkreuz, das mit zwei langen,
schnurgeraden Straßen von Palästen, der Via Macqueda von Norden nach
Süden und dem Cassaro (Corso Vittorio Emmiuele) von Osten nach Westen,
von der Porta Felice am Hafen bis zur Poren nuova, der ehemaligen Haupt¬
straße der arabischen Altstadt M Hahr, d. i. Schloß), das alte Gassengewinkel
durchschneidet. Nicht Paläste eines stolzen, reichen, bürgerlichen Pntriziats
aber erheben sich an diesen Platzen und Straßen, sondern Bauten der Könige,
der Kirche, des feudalen Adels, der Chiaramonti, der Sclafani, der Serradifalco,
und aus dein Mittelalter stammen nur wenige davon, wie der ehemalige Palazzo
Chiaramonti an der Piazza Marina, der später erst den spanischen Vizekönigen,
dann der Inquisition diente und jetzt Sitz des obersten Gerichtshofs (?Uig,?20
nisi, lÄbuimli) ist, und der Palazzo Selafani an der Piazza Vittoria, jetzt
Kaserne, beide gotische Bauten aus dem vierzehnten Jahrhundert, Ganz barock
sind manche Plätze: die Quattro Carli an der Kreuzung der beiden Haupt¬
straßen in? Mittelpunkte der Stadt, mit fast überreichen Säulen- und Statuen¬
schmuck an den Palästen der vier Ecken, und die anstoßende Piazza Pretoria
vor dein Rathause Muuieipio) mit einem kolossalen Brunnen von 1575, um
dessen riesiges kreisrundes Marmorbecken die Köpfe der verschiedensten Tiere,
eine wahre Menagerie, und zahlreiche höchst lebendige Götter- und Nymphen¬
gestalten im Kreise gruppiert sind, endlich die kleine Piazza Bologni mit einem
Standbilde Karls V., das den Deutschen plötzlich daran erinnert, daß der
Herrscher, der dem deutschen Nationalgeiste so feindselig gegenüber getreten ist,
als König von Spanien auch über Sizilien geboten hat. Demselben sieb¬
zehnten Jahrhundert gehört die größte Kirche Palermos an, San Domenico,
ein mächtiger Bnrockbau, der 12V00 Menschen fassen kann, das Pantheon der
Palermitaner mit zahlreichen Grabdenkmälern bedeutender Männer, ebenso die
in der Nähe gelegne Kirche dell' Olivella, ein prachtvoller Marmorbau des
ausgehöhlten Klosters der Philippiner.
Doch aus dieser modernen Umgebung ragen hie und da seltsame Gebäude
auf, die einer andern Welt zu entstammen scheinen und auf italienischem Boden
nirgends ihresgleichen haben, bald so orientalisch, daß man in Kairo oder
Damaskus zu/ sein glaubt, bald ein merkwürdiges Gemisch morgenländischer
und nordeuropüischer Bestandteile. Denn auf diesem Boden, den einst die
Römer den semitischen Karthagern in heißem Kampfe abgewannen, haben sich
im Mittelalter die mannigfachsten Kulturen gekreuzt und verbunden. Über
zweihundert Jahre lang, von 831 bis 1072, herrschten hier arabische Emire
wie in Sevilla und Cordova, Tunis und Kairo, und arabische Dichter feierten
in entzückten Versen die Reize Palermos, wie sie für Granada schwärmten.
Dann fiel Palermo mit der ganzen Insel in die Hände blonder nordischer Er¬
obrer, der französierten Normannen, die sie mit Süditalien zu einem absoluten
Königreiche verbanden, den Zusammenhang mit Afrika aufs neue zerreißend,
den mit der Apenninenhalbinsel abermals herstellend. Als ihre Erben zogen
1194 die Hohenstaufen in Palermo ein, bis nach dem tragischen Untergange
des hochbegabten Stammes und der kurzen Herrschaft der französischen Anjous
(1266 bis 1282) die Aragonesen wieder das Erbe der Hohenstaufen antraten
und Sizilien mit Spanien in Verbindung setzten. Diese vier Jahrhunderte
voll Glücks- und Herrschaftswechsel sind doch nächst der altgriechischen Zeit die
glänzendste Periode der sizilianischen Kultur gewesen. Fremde waren es beide¬
mal«, die diese Blüte herausführten, auswärtige Erobrer, aber es ist so gewesen,
wie es Schiller in der „Braut von Messina" mit wenig Worten den einen
Chorführer sagen läßt:
Die fremden Eroberer kommen und gehen;
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen,
Sie sind alle dahin gegangen; Sizilien ist auf die Dauer weder griechisch noch
arabisch noch normannisch noch deutsch noch spanisch geworden, sondern sizilisch
geblieben; der einheimische, den Jtalikeru von jeher verwandte Grundstock der
Bevölkerung hat allen Wechsel überdauert und die fremden Elemente aus¬
gestoßen oder ausgesogen. Alle die fremden Sprachen, die einst in und um
Palermo gesprochen wurden, sind spurlos verhallt bis auf einige Namen; nur
in einer kleinen Anzahl vielfach ungestalteter und verstümmelter Gebäude tritt
uns diese mittelalterliche Völker- und Kulturmischung noch entgegen.
Da ist zunächst ganz im Südwesten der Stadt die kleine Kirche San
Giovanni degli Eremiti, schon von außen ein fremdartiger Bau mit völlig un¬
gegliederten, kahlen, nnr von kleinen schmalen Fenstern unterbrochner Mauern,
darüber vier größere und kleinere halbkugelförmige glatte rote Kuppeln und
ein niedriger viereckiger Glockenturm, der ebenfalls in eine Kuppel ausläuft;
im Innern tragen flache arabische Spitzbogen aus schlanken Säulen das Gebälk
des Daches, über dem sich fast unvermittelt die Kuppeln erheben. Die riesigen
Opuntien, die ringsum wachsen, machen den Eindruck noch fremdartiger, und
es ist wohl eine begründete Vermutung, daß König Roger II. 1132 die Kirche
nur erneuert hat, daß sie aber der Hauptsache uach eine altarabische Moschee
ist. Ganz aus seiner Zeit rührt dagegen jedenfalls der anschließende, malerische
Kreuzgang her. Auch als die Normannen selbständig zu bauen begannen,
schlössen sie sich vielfach noch an arabische und byzantinische Vorbilder an, wie
sich das aus der unvermeidlichen Verwendung arabischer und griechischer Bau¬
meister und der Überlegenheit einer alten Kultur von selbst ergab. Sie stellten
die arabischen Spitzbogen auf antike oder romanische Säulen, bedeckten die
Wände mit byzantinischen Glasmosaiken und arabischen Steinmustern, hielten
aber für ihre Kirchen meist am nordischen Langschiff fest, setzten schwere vier¬
eckige Türme dran und verzierten die breiten Außenflächen mit den nor¬
mannischen verschlungnen Bogen und Schachbrettfriesen.
Nein byzantinisch ist die Martvrann, die 1143 Rogers II. Großadmiral,
Georgios von Antiochia, für den griechischen Kultus errichtete, eine Kuppel
auf hohen Spitzbogen und schlanken Säulen, daneben ein zierlicher, unten vier¬
eckiger, oben ins Achteck übergehender Glockenturm. Alle Kunstelemente der
verschiedensten Epochen vereinigen sich dagegen in dem mächtigen Palazzo
reale. Da stand er vor uns in der brennenden Sonne unter einem azur¬
blauen Himmel an der Ostseite der weiten, mit schattigen Baumreihen be-
pflanzten Piazza Viktoria dicht an der alten Stadtgrenze, eine lange, hohe,
nüchterne Front,- die sich ununterbrochen bis zu dem majestätischen Barockbau
der Porta nuova ausdehnt, Rechts, an der Südhälfte, erhebt sich ein starker
viereckiger Turm, die Santa Ninfa, mit arabischen Spitzbogenfenstern und
breiter Plattform oben, die eine kleine Sternwarte (Osservatorio) trägt. In
der Nordhülfte des weitläufigen Baus öffnen sich nach einem herrlichen Säulen¬
hofe aus der Renaissancezeit vier lange Fronten, und von ihm aus gelangt
man im Oberstock in die berühmte Cappella palatina, die Schloßkapelle, die
König Roger II. 1129 bis 1156 erbaut hat. Es ist kein großer Raum (im
ganzen nur 33 Meter lang), eine kleine Basilika mit dreifachem Langschiff und
kürzerem Querschiff vor der halbrunden Apsis des Chors, die schlanke Kuppel
über der Vierung; auch die Gliederung ist einfach, aber das Ganze prangt in
orientalischer Farben- und Formcnpracht. Abwechselnd kannelierte und glatte
antike Säulen aus Marmor und Granit tragen auf reichen, im einzelnen
sehr mannigfaltigen Kapitälen arabische Spitzbogen, auf die sich die Balken¬
decke und die Kuppel stützen. Alle Flächen, selbst die schmalen, innern Flächen
der Spitzbogen, schimmern von bunter arabischer Marmor- und byzantinischer
Glasmosaik; von den Wänden über den Bogen und zwischen den schmalen
Fenstern unter der Kuppel grüßen die Gestalten der heiligen Geschichte, in der
Apsis schwebt der segnende Christus mit den weit offnen, starren Augen des
byzantinischen Ideals, und alles wird umrahmt von phantastischen, reichen
Arabesken. Die Schmalseite gegenüber der Apsis ist unten ganz mit buntem
Steinwerk in geometrischen Figuren bedeckt, und in der Mitte prangen jetzt über
dem alten Königsthrone, zwischen den aragonesischen Löwen das Kreuz von
Savoyen und das Bildnis des Königs Humbert. Von der Decke des Mittel¬
schiffs hängt das buntbemalte arabische Stalaktitenornament herab; altertümliche
Bronzeleuchter, ein kolossaler Marmorkandelaber für die Osterkerze, die hohe
Kanzel und griechische, lateinische und arabische Inschriften, die oben an den
Wänden friesartig herumlaufen, vollenden die Ausstattung; farbiges, reiches
Steinmosaik bedeckt den Fußboden. Die Gesänge, die soeben eine Messe im
Chor begleiteten, und die reichen Gewänder der Priester in ihren Chorstühlen
und am Hochaltar fügten zu dem Eindrucke des Gebäudes noch den des Gottes¬
dienstes, wie er dieser farbenfreudigen Umgebung entsprach.
Durch die lange prächtige Flucht der königlichen Gemächer, von denen
nunmehr seit vierzig Jahren die Casa Scwoja mit Bildern und Kunstwerken
Besitz ergriffen hat, führte uns der Kustode in die Stanza Ruggero im Turme
Santa Ninfa. Dieser kleine Saal stammt noch aus arabischer Zeit, ein schmales
hohes spitzbogiges Kuppelgewölbe, die Wände reich mit stilisierten Tier- und
Pflanzen gestalten in Mosaik geschmückt. Doch zeigt der deutsche Reichsadler um
der Decke, daß auch die Hohenstaufen hier noch gebaut haben. Dann ging es
die schmalen Treppen hinauf bis auf die Plattform des Observatoriums. Die
Sonne brannte heiß auf den Steinfliesen und lag blendend auf Plätzen und
Straßen, Dächern und Türmen, auf der weiten, im üppigsten Dunkelgrün
prangenden Fruchtebne ringsum, der Corea d'Oro, auf den Flanken der grauen,
kahlen, aber wundervoll geformten Felsberge, die sie im Halbkreise umschließen,
den rötliche» Zacken und Flächen und Abstürzen des Monte Pellegrino, zu
dem die Spanier im Zickzack die bequeme Fahrstraße hinaufgeführt haben, und
auf den: glitzernden blaue Meere in: Osten. Der ganze Zauber Palermos ent¬
faltet sich hier oben, doch wenn Goethe hier von den „abgeschiednen Ge¬
spenstern," den geschichtlichen Erinnerungen nichts hören wollte, uns modernen
Deutschen drängen sie sich unabweislich auf. Hier in diesen Mauern haben die
arabischen Aghlabiden, die Normannen, die Hohenstaufen von Heinrich VI. bis
auf Manfred gewohnt und gebaut, dann die spanischen Vizekönige und die
Bourbonen; hier leisteten zu Ende Mai 1860 ihre Truppen den letzten Wider¬
stand gegen die empörte Stadt und die Rothemden Garibaldis. Und dort im
Osten, wenige hundert Schritt entfernt, erheben sich an einem weiten Platze
an der Nordseite des Cassaro seltsame, langgestreckte, gelbbraune Zinnenmauern
und starke Türme um eine schlanke Kuppel. Das ist der Dom von Palermo,
die Grabstätte seiner nordischen Beherrscher von dem Normannen Roger II. bis
aus den Hohenstaufen Friedrich II. Hier ist für jeden gebildeten Deutschen
heiliger Boden, mag er auch durchaus kein romantischer Schwärmer sein.
Vor der Südseite des gewaltigen Doms liegt ein prächtiger Platz, von
Marmorbalustraden und Heiligenstatuen umgeben, mit Fächerpalmen und
Blumenparterren geschmückt. Dahinter streckt sich über den niedrigern Mauern
der Seitenrüume, die nur von kleinen, schießschartenähnlichen Fenstern durch¬
brochen sind, ein trotziger Bau, eine lange ungegliederte Wand mit einer ziem¬
lich dichten Reihe schmaler Fenster in arabischem Spitzbogen, über einem Zahn¬
gesims gekrönt von arabischen Zinnen. Am Anfange des östlichen Drittels
springt nach dem Platze hin unter der Kuppel turmartig das Querschiff hervor.
Auch das Ostende selbst läuft in breiten, viereckigen, turmförmigen Erhöhungen
aus, und neben ihnen erheben sich über der runden Apsis des Chors, deren
Außenseite charakteristisch normannische Ornamente in schwarzer Farbe zeigt,
zwei viereckige Glockentürme mit spitzbogigen Fensteröffnungen. Zwei ähnliche
Türme liegen an der Westfront, und vor dieser, mit der Kirche selbst nur ganz
äußerlich durch Bogen verbunden, erhebt sich der große Glockenturm, aus seiner
massigen Basis aufsteigend und an deren Ecken von vier runden Türmchen
flankiert. So enthält der Bau wohl manches arabische Element, aber in seiner
burgartigen Geschlossenheit erinnert er viel mehr an die normännischen Kathe¬
dralen Englands, als an irgend welche italienische, und in der That war sein
Erbauer (1169 bis 1185) ein nvrmännischer Engländer, der Erzbischof Walther
of the Mill (Ormllörws 0Mg,miIiu8), der frühere Hofkaplan König Heinrichs II.
von England. Die folgenden Jahrhunderte haben noch mancherlei verändert,
restauriert und zugesetzt, vor allem die ganz stilwidrige Kuppel, die Fernando
Fug« gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts den: Widerspruche der Paler-
mitaner zum Trotze auf die Vierung setzte. Aber denkt man sich diese weg, so
hat wenigstens das Äußere des Domes sein ursprüngliches Gepräge bewahrt.
Anders freilich im Innern, zu dein von dieser Seite her eine breite go¬
tische Vorhalle führt. Hier ist nur noch die allgemeine Gliederung in drei
Längsschiffe und ein Querschiff erhalten, sonst ist es, namentlich von Fuga,
ganz modernisiert. Modern ist auch die Kapelle der heiligen Rosalia, der
neuen Schntzpntronin Palermos, im Chor, mit dem vielgenannten, übrigens
gewöhnlich unsichtbaren Silbersarkophagc. Uns war das alles weniger wichtig;
wir suchten in einer Kapelle des rechten Seitenschiffs die „Königsgräber," 1s
Wirth 1-og.ki. Hier giebt es nichts von phantastischem Schmuck; in schlichter,
strenger Einfachheit stehn sie hinter dem kunstvollen Eisengitter neben einander,
die beiden kleinen offnen Mnrmortempel, deren Dach auf vier schlanken, korin¬
thischen Säulen ruht, und darunter dnnkelrote, ganz antik gehaltne Porphyr¬
sarkophage. In dem zur rechten Hand ruht Kaiser Heinrich VI. (1- 1197), in
dem zur linken sein Sohn Friedrich II. 1250), der erste der gewaltigste und
kühnste unter den Hohenstaufen, aber auch der härteste, unliebenswürdigste, uu-
ritterlichste dieses ritterlichen Geschlechts, der zweite der geistvollste Herrscher
des ganzen Mittelalters, ein völlig moderner Mensch, in antiker und arabischer
Bildung geschult, sprachenkundig und sprachgewaltig, selbst ein Künstler und
Dichter, ein freier weltlicher Geist, den die Bannflüche der Päpste innerlich
kaum berührten, ein stolzer Verfechter der staatlichen Souveränität gegen¬
über der kirchlichen Idee des Gottesstcints, d. h. der päpstlichen Weltherr¬
schaft, kein .Krieger, obwohl er die Furcht nicht kannte, aber ein Staatsmann
und Diplomat ersten Ranges, ein harter Absolutist, dem sein süditalienisches
Königreich gehorchte, wie dem Reiter sein gutgeschnltes Roß, den Arabern
sympathischer als den Deutschen, weil er ihnen innerlich näher stand und
ihnen gründlich imponierte. Arabische Gelehrte, Künstler, Dichter, Leibwachen
bildeten in diesem noch halb arabischen Sizilien seine vertraute Umgebung, und
in arabische Gewänder gehüllt hat er sich bestatten lassen. In derselben Ka¬
pelle ruhn hinter den beiden großen Sarkophagen seine Mutter Constanze und
deren Vater König Roger II. ^ 1154) mit einigen andern Mitgliedern des
Herrscherhauses; ein ganzes nordisches Königsgeschlecht hat hier seine letzte
Ruhestätte gefunden.
Ist es ein phantastischer Traum gewesen, der die Hohenstaufen nach
Sizilien geführt hat? Vor vierzig oder fünfzig Jahren, als der Groll über
das politische Elend des dentschen Volks, seine Zersplitterung und Machtlosig¬
keit an dein Herzen unsrer patriotischen Historiker nagte, hat man so gedacht
und die gewnltigeu Kaiser des Mittelalters hart angeklagt, daß sie über dem
Schattenbilde der römischen Kaiserkrone ihre nächsten Pflichten daheim versäumt
und Deutschland dem Verfall überlassen, also den ganzen Jammer der nach¬
folgenden Jahrhunderte verschuldet hätten. Seitdem unsrer Nationalstaat be¬
gründet ist und im Begriffe steht, sich zum Weltstaat zu erweitern, lernen wir
anders und gerechter denken, aus der Gegenwart die Vergangenheit verstehn.
Unsre mittelalterlichen Kaiser haben sich gar nicht in dem immerhin engen Be¬
griffe eines deutschen Nationalstaats bewegt, der überhaupt diesen Jahrhunderten
ganz fremd war; sie erstrebten ein mitteleuropäisches Zentralreich unter der
Hegemonie der Deutschen; sie stellten also der Nation eine großartige Aufgabe,
und es war nicht ihre Schuld, daß die Deutschen, hitzköpfig und eigensinnig,
in kleinliche Interessen und Händel daheim verstrickt, wie gewöhnlich, ihnen
nicht genügend zu folgen vermochten. Sizilien aber war der Schlußstein des
großartigen dreigliedrigen Baues, der aus Deutschland, dem Königreich Italien
und dein Königreich Sizilien bestand. Erst Sizilien und Unteritalien boten ihnen
die Basis für die Beherrschung des Mittelmeers; von hier aus haben
Heinrich VI. und Friedrich II. begonnen, den Deutschen die ihnen gebührende
Stellung neben den Franzosen auch im Orient, gegenüber dem byzantinischen
Reiche und in Syrien zu verschaffen, also in den Ländern, nach denen die
Herrschnfts- und Kolonisationsbestrebungen der Abendländer damals ebenso
gerichtet waren, wie später nach Amerika und Indien, weil davon ihre Welt¬
stellung abhing.
Bon Messina aus sandte Heinrich VI. im Jahre 1197 die deutsch-italie¬
nische Flotte unter dem Bischof Konrad von Hildesheim, die Beirut eroberte
und 1198 die deutsche .Hospitalbrüderschaft von Se. Marie« zum Deutschen
Ritterorden erhob; von Brindisi segelte Friedrich II. 1228 aus, um seine Lehus-
hoheit über das Königreich Cypern festzustellen und sich die Königskrone von
Jerusalem aufs Haupt zu setzen, d. h. die Vorherrschaft der Deutschen in
Syrien zu begründen, in deren Interesse er auch den Deutschen Ritterorden
mit dem großen Hochmeister Hermann von Salza, seinem Vertrauten an der
Spitze, mit allen Mitteln förderte, auch u. a. in Palermo mit einer großen Laud-
schenkung ausstattete. Dieser Politik verdankte es Deutschland zum. guten Teil,
daß es seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts plötzlich in den Mittel¬
punkt des Welthandels trat und seine städtische Kultur mit reißender Schnellig¬
keit entwickelte. Seitdem die deutsche Arbeit und das deutsche Kapital in der
Türkei eine wirtschaftliche Herrschaft auszuüben und sich vor allem in Klein¬
asien, festzusetzen begonnen haben, seitdem unser .Kaiser in Jerusalem eingeritten
ist und dort die evangelische Erlöserkirche eingeweiht hat, und seitdem deutsche
Ingenieure die Bagdadbahn vermessen, erscheinen uns auch die Ziele dieser
Hohenstaufen verständlicher; aber allerdings, nicht von Deutschland, sondern erst
von Sizilien aus können sie ganz begriffen werden.
Doch das heutige Palermo kümmert sich vermutlich wenig um diese Er¬
innerungen; es ist eine moderne, rührige, sehr belebte, dabei elegante und
saubere Stadt vou beinahe 300000 Einwohnern, die Hauptstadt der Insel,
die seit der Begründung des Königreichs Italien mächtig emporblüht. Ein
ganz neues Viertel ist im Norden jenseits der modernen breiten Via Cavour
entstanden, mit dem kolossalen Theater Vittorio Emcmuele und dem Garibäldi-
denkmal, das hier besser am Platze ist als irgendwo anders. Denn der Be¬
freier Palermos und Siziliens ist der merkwürdige Volksheld allerdings ge¬
wesen. Mit Recht heißen deshalb die Straßen im Süden der Stadt, durch
die er am 27. Mai 1860 einzog, Corso dei Mille und Via Garibaldi, und
das Thor zwischen beiden die Porta Garibaldi. An ihn erinnert auch noch
eine Marmortafel am Municipio, und unmittelbar gegenüber dein Fort Castel-
lammare am Hafen, das in jenen Maitagen zum letztenmale seine Geschütze
gegen die aufständische Stadt richtete, jetzt aber in Trümmern liegt, erhebt sich
auf der Piazza delle Vittime ein kleiner Obelisk zum Andenken an die drei¬
zehn „Opfer" der vorhergehenden verunglückten Erhebung, die hier am
14. April 1860 standrechtlich erschossen wurden.
(Fortsetzung folgt)
r hatte schon eine Weile geschlafen, da hörte er eine Stimme: Steh
auf, Michel, und folge mir! Und als er die Augen öffnete, sah er
einen Engel vor sich stehn.
Wer bist du, fragte Michel.
Ein Engel.
Das seh ich an den Flügeln, aber deine Flügel sind groß und
schwarz.
Ich bin der Engel des Todes. Gott fordert deine Seele von dir.
Aha, sagte Michel, das kann mir Passen. Wenn auf das Heringsgericht kein
Verlaß mehr ist, dann gehe ich lieber gleich zur ewigen Seligkeit. Der liebe Gott
hat natürlich eingesehen, daß ich in den letzten Tagen schlecht weggekommen bin.
Der Engel schwieg.
Ist es nicht so?
Darüber zu urteilen ist nicht meines Amtes, der heilige Petrus wird es sagen.
Und als sie beim heiligen Petrus im Himmelsvorhof ankamen, fanden sie ihn
ganz allein.
Ist das der Heriugsauerulant? fragte er.
Das ist er, erwiderte der Todesengel.
Der heilige Petrus in seinem Faltengewand mit langem Bart, die Schlüssel
zu den Himmelskammern an der Hüfte, die Brille auf die Stirn zurückgeschoben,
sah prächtig und hoheitsvoll und doch milde aus. Aber trotz aller Milde lag in
diesem Augenblick doch ein verdrießlicher Zug auf seinem Gesicht. Den Michel
durchdringend ansehend, ließ er seine großen, grauen Augen an der armen Knechts¬
gestalt auf- und niedergehn.
Wir haben deine Klage gehört, sagte er.
Und für gerecht befunden. Nicht wahr? fragte der immer getroste Michel.
Petrus antwortete nicht darauf.
Du hast mit Gott gehadert, sagte er strenge.
Daß ich nicht wüßte, erwiderte Michel. Ich bin nur unzufrieden gewesen,
daß die Wölfe den kleinen Hein gefressen haben.
Weil du dadurch um dein Heringsgericht gekommen bist.
Nun ja! Ich meine, Pellkcirtoffel mit Heringen und Senftunke ist ein be¬
scheidner Wunsch. Und was ein bescheidner Wunsch ist, den mag man sich nicht gern
nehmen lassen.
Du hast dem lieben Gott aus seiner Allmacht einen Strick gedreht.
Ich versteh nicht, antwortete Michel, wie du das meinst. Er verstand es
wirklich nicht.
Petrus antwortete nicht. Er zog seine Uhr und setzte sich auf eiuen Stuhl. —
Der Barbier kommt, sagte er, das muß erst abgemacht werden. Und er murmelte
noch etwas, was Michel nicht verstand. In dem Augenblick kam mich schon ein
kleiner netter Engel, eine Tasche um die Schulter, angeflogen, ließ sich vor dem
Hinimelswächter auf die Füße fallen, hängte dem Apostel einen Weißen Mantel um,
nahm Schere und Kamm aus der Tasche und fing an, Bart und Haar des Apostels
zu stützen.
Und während der kleine Engel mit der Schere klimperte, fuhr Petrus fort,
in sich hinein zu murmeln: Ist es den Menschenkindern zu verdenken, daß sie
damit nicht zurecht kommen? Wenn man nicht weiß, wies gekommen ist, muß sich
jeder, der ein bischen geradeaus denkt, daran den Kopf einrennen. Er hat zwar
mit dem Allmächtigen gehadert, aber er wird in sich gehn, wenn ich es ihm sage.
Ich will es ihm sagen.
Der Geflügelte nahm ihm den weißen Mantel ab, packte alles zusammen,
steckte es in seine Tasche, verbeugte sich und flog leicht und zierlich davon. Das
heißt, er stieg erst auf eiuen Stuhl, um Luft unter die Flügel zu bekommen. Es
geht so leichter, sagte er. Michel verlor ihn im Säuleuwald der Halle aus deu
Augen.
Petrus sah jetzt viel jünger und auch milder aus als vorher.
Du hast mit Gott gehadert, ihm eiuen Strick aus seiner Allmacht gedreht,
ihm vorgeworfen, davon nicht den richtigen Gebrauch gemacht zu haben. Du wirst
einsehen, wie sehr du im Unrecht bist, wenn ich dir sage, daß du und all die
Heringe, die du verzehrt hast, all die Pellkartoffeln nicht existieren und niemals
existiert haben, ja daß wir beide auch nicht sind und niemals gewesen sind.
Das versteh ich nun wieder nicht, sagte Michel. Wieso nicht „existieren"?
Was ist das „existieren"?
Wie sind beide nicht, lieber Michel, und sind niemals gewesen.
Michel lachte. Aber dann brauste er auf.
Spaß mit andern, Petrus. Bei mir paßt es sich nicht. Ich nicht existieren?
Ich, Michel Brandt aus Schirnhude am Schirnhudersee?
Michel sagte es in heftigem Tone und schlug sich vor die Brust, daß es
dröhnte.
Und auch keine Heringe, fuhr er fort, das wäre noch schöner. Zum Narren
will ich mich doch uicht machen lassen.
Immer ruhig, beschwichtigte der Apostel, hör mich an: Du wirst wohl in der
Schule gelernt haben, daß unser lieber Gott im Anbeginn der Ewigkeit mit dem
Teufel und mit den bösen Engeln zu thun gehabt, sie aber doch gebändigt und in
den Abgrund der Hölle geworfen hat. Das war Kampf, das war Leben. Und es
hat dem lieben Gott gut gefallen. Aber als das vorbei war, ist es ein bischen
langweilig im Himmel geworden. Auf dem Wolkenstuhl sitzen und Posaunenkonzert
und Hallelujagescmg — das ist ja ganz schön, aber jeden Tag — zuletzt wird
es öde.
Eines Tages tritt der Erzengel Michel — dein Namensvetter — vor
ihn hin.
Was stellst du für ein Gesicht auf? sagt der liebe Gott.
Ich habe gar kein Zeitvertreib, ich langweile mich, erwidert Michel.
Lieber Michel, das thu ich auch. Aber was ist da zu machen. Das muß
mit Geduld ertragen werden.
Aber, Herr Gott, nimm mirs nicht übel. Bist du nicht allmächtig?
Das schon.
Nun, dann erschaff doch eine Welt mit guten Menschen drin und mit bösen
Menschen drin. Die guten Menschen nehmen wir nach ihrem Erdenwallen zu uns
in den Himmel — das giebt Leben —, die bösen kommen in die Hölle. Da haben
die armen Schlucker von Teufel auch was zu thun.
Nun muß ich sagen, der Engel, der hier als Erzengel Michel auftrat, war
dieser gar nicht, sondern der verkleidete Teufel in Michels Gestalt. Und so ist es
gekommen, daß diese Welt ebenso gut des Teufels Werk ist, wie sein Werk, jeden¬
falls auf Veranlassung des Teufels gemacht. Und der liebe Gott hat sichs auch
nicht recht überlegt, daß er durch seine Weltschöpfung das Böse und die bösen
Menschen erst hervorbringe. Und hat er zu dem falschen Michel gesagt: Dein Vor¬
schlag leuchtet mir ein. Gut — wollen wir machen. Nachher hat er aber ein¬
gesehen, daß er in die Falle gegangen war, und hat bei sich gesprochen: Ich habe
mein Wort gegeben — ich will es halten. Ich will die Welt schaffen, aber nur
im Traum.
Und die Posaunenengel haben Befehl erhalten, im Himmel nach allen Rich¬
tungen auszuposaunen: Der Herr Gott bittet sich für eine Stunde Ruhe aus. Er
will ein Schläfchen halten und ein bischen Weltschöpfung träumen.
Siehst, lieber Michel Brandt, schloß Petrus seinen Bericht. Es schläft Gott
der Herr noch immer und träumt und schafft im Traum. Und die ganze Welt,
nicht nur deine Pellkartoffeln und Heringe, nein der Himmel selbst mit all seinen
Sternen, mit allen Sonnen, deine Erde mit all ihrem Jammer und mit all ihrer
Herrlichkeit — all die Dinge sind nur Gebilde und Schöpfungen seines Traums,
die in Wirklichkeit nicht sind und nicht sein werden, sobald der Herr Gott sich
nach Ablauf der Stunde den Schlaf ans den Gottesaugeu reibt. Und du und ich,
wir beide gehören auch dazu.
Aber Michel hatte für diesen Gottestraum kein Verständnis.
Nun hör mal, Petrus, erwiderte er, da muß ich gegen einkommen, das kann
mir nicht passen. Ich hab mich bei Abel Boltenhagen in Schirnhude verdungen
und erhalte meinen Lohn und meine Pellkartoffeln und meine Heringe —
Das hilft nun alles nichts, lieber Michel, das alles ist nun einmal nur ein
Traum.
Nein, so was!
Michel war ganz vom Stück.
Hör mal, Petrus! sagte er wieder. Wenn es da unten keine Heringe mehr
giebt, dann verlange ich das, was mir nach meinem Tode zukommt (im Grunde
bin ich doch wohl tot, sonst wäre ich ja nicht hier), verlange ich meine ewige
Seligkeit.
Michel, auch die ewige Seligkeit ist ja nur ein Traum, alles Traum. Übrigens,
Michel, muß ich dir sagen, für dich ist es ein Glück, daß es nur Traum ist. Für
einen Bauernknecht, der so auf seine Seligkeit pocht, als sei sie ihm gewiß, als sei
es eine Schuldigkeit des Himmels, sie ihm zu geben, für einen Knecht, der auf
seine Heringe besteht, daß der kleine Hein drob von Wölfen gefressen wird, dem
das auch nur deshalb leid thut, weil er infolge dieses Unfalls Pellkartoffeln und
Schinken mit Judentunke, anstatt mit Hering und Senftnuke essen mußte, ja dem
lieben Gott vorschlägt, den Jungen bei andrer Gelegenheit den Wölfen hinzu¬
geben — der würde nicht in den Himmel kommen, sondern in die Hölle.
Jawohl, hör nur, das ist die Hölle!
Aus der Unterwelt drang in der That so was wie Geheul und Gepfeife, vom
Abgrund her kam ein roter Flammenschein, Qualm und Schwefelgestank drangen
vor der Himmelshalle herauf. Ein schwarzer Dämon, dem ein Feuerstreif da, wo
er eigentlich den Schwanz haben sollte, heraus ging, flog, mit einer Feuergabel
bewaffnet, an den Bogen der Himmelshalle vorüber — zwar rasch, fand aber doch
noch Zeit, den Michel anzugrinsen und gegen ihn mit der Feuergnbel die Gebärde
des Spießens zu macheu, just als wollte er sagen: Bin in diesem Augenblick leider
pressiert, aber nachher solls mich diebisch freuen, dich in den Ofen zu gabeln.
Michel zitterte wie Espenlaub. Er warf sich dem Apostel zu Füßen.
Gnade, teurer Petrus! Ich werde es nie und niemals wieder thun.
Haha, lachte der Alte. Michel, erschreckt dich so ein Traumgesicht? Denn
auch die Hölle und seine Teufel hat Gott vom Anbeginn nur im Traum er¬
schaffen. Und — du — du bist sogar eine Traumgestalt in zweiter — eigent¬
lich dritter Potenz.
Potenz? fragte Michel.
Jawohl, Potenz.
Was ist das, Potenz?
Ein Ausdruck, den man auf hohen Schulen lehrt.
Ich besuchte keine hohen Schulen.
Nun, es will also sagen: Wie die ganze Welt ein Traum ist, so träumst du
in diesem Traum, daß Gott träumt. Denn du mußt wissen: du bist gar nicht
hier, sondern liegst in der Knechtekammer von Schirnhude und träumst! Und träumst
so wunderlich, weil du zu viel Grütze gegessen hast.
Grütze? fragte Michel. Du meinst Pellkartoffeln mit Rauchschinken und
Judentunke.
Nein, ich meine Grütze.
Ich habe ja meinen Kontrakt mit Pellkartoffeln.
Du hast gar keinen Kontrakt, du hast Grütze gegessen und hast all deine Tage
abends nichts weiter gegessen als das.
Grütze? wiederholte Michel ungläubig. Da war er schon wach.
Am andern Morgen erschrak Michel ordentlich, als er in die Bauernstube
trat. Denn der kleine Hein, der von Wölfen gefressen sein sollte, trat gerade zur
Thür herein. Nun erst wurde Michel ordentlich wach. Plötzlich war es ihm klar,
daß anch die Heringe und die Senftunke und die Pellkartoffel geträumt waren, und
glücklicherweise auch seine Gebete, und daß man Wölfe in seiner Gegend seit einem
Jahrhundert nicht mehr kannte. —
Dat's 'n wunderliche Geschieht, erklärte Margret. Dor geit een jo de Piep
bi ut.
Jasper sagte nichts. Er hatte die Zipfelmütze weit zurückgeschoben und sich
weit vorgebeugt. In den alten Augen, die noch immer an dem Erzähler hingen,
lag ein Heller Glanz.
Er verstand meinen Hans Ohm, und Hans Ohm verstand ihn.
In der Altenteilsstube des Jasper Thun in Fallingborstel war es ganz still.
Mit dem Humor ist es wie mit der Telegrcwhie ohne Draht. An allen Gegen¬
ständen geht sie jpurlvs vorüber, nur nicht an dem Apparat, der auf die Feinheit
ihrer Schwingungen eingerichtet ist.
Jasper war den ganzen Abend einsilbig und blieb es, bis er zu Bett ging.
Er lag schon unter der Decke im Wandschrank, und Margret hatte ihre Nachtjacke
schon ein, da nahm diese zu ihrem namenlosen Erstaunen wahr, daß die Zipfelmütze
noch auf dem Ofenknopf hakte.
Vatter, Vatter! rief sie. Segg mol, Vatter, wat is ti, du best de Pick-
mütz jo gor ni op.
Top man, will ti bringen. Dat is doch wiß in dem Johr ni passert, Vatter.
Wat is mit ti?
„Vatter" hatte aber keine Neigung, Bekenntnisse abzulegen. Er zog sich das
Ding über den Kopf und kroch tiefer in Decke und Kissen. Die Mütze war ein
geknickter Kegel und sah wie ein betrübtes Zebra aus. Plötzlich fragte es daraus
heraus:
Wa lang schuiedert Hans na bi uns?
Ja, Vatter, de Jack is jo farig, du best se jo anpaßt. Morgn reit he na'n
West un'n Bökh.
Heft na Linn, Gretjen?
Linn, 'n ganzen Koffer voll.
Denn schall he na dre Börsen malen.
Awer Vatter!
Na dre Börsen! kam es mit eheherrlicher Entschiedenheit aus dem Kegel.
Veer nie Böksen? Wat in aller Welt wult du met so vel Böksen.
Margret hatte ihre Röcke abgezogen und hängte sie beim Ofen auf.
Du brukst jo all Johr man en, nu int tachendigst gaist ok doch all.
Jngrowen wüll'k se.
Gott to bewahre, wat vern Schnack.
Und wenn'k se ni ingrow, denn walt's verschenkn, or arm Lud könnt se
kriegn, wenn'k dot bon.
Schalk ti scggn, wat du wullt?
Jasper gab ein Geräusch, das ein Grunzen vorstellen konnte.
Du wullt den Geschichtenverteller na'n Dag or dre lenger besoin.
Jasper antwortete nicht, aber es war so, wie seine Frau sagte. Die Geschichte
von dem Heringsmichel hatte ihn so erregt. Er fühlte, daß hier mehr sei als
Döntjes, wie er sie früher erzählt hatte, er fühlte, daß er stumpf und alt geworden
sei. Ach, wenn er doch auch solche Geschichten wüßte und sie erzählen könnte!
Er wäre dazu imstande gewesen, wenn er nur in die rechte Bahn gekommen
wäre. Das stand fest. Aber Jasper Thun war in Fallingborstel nur der Sonder¬
ling, der so viel Geld hatte und immer in der Zipfelmütze steckte. Von dem
schmerzvollen Verzicht, auch einmal den innern Reichtum, der ihm einstmals be¬
schicken gewesen war, zu offenbaren, wußte niemand, nicht einmal seine Margret,
die in dem Genuß ihrer Kalkpfeife und in ihren Hansstandssorgen aufging und
ihm eine liebe Frau war, aber über Jasper Thuns Sonderbarkeiten nicht grübelte.
Der Verlehntsmann Jasper Thun hätte gern den Schlaf erwartet, aber er
mußte immer auf die Stubenuhr höre», die so ganz unnatürlich laut ihr Wesen
trieb. Der Geist der Nacht und der Ruhe und des Schlafs saß auf den Stühlen
an den Fenstern und wollte gern zu ihm kommen, konnte aber an der lärmenden
Uhr nicht vorbei. Und das weiße, von dem Binsennachtlicht matt beleuchtete Ziffer¬
blatt erhielt ein Gesicht und einen graue» Spitzbart und wurde ein Schulmeister
und hatte sich vorgenommen, dem alten Jasper Thun eine Nechenstunde zu geben.
Sieh. Jasper, sagte der Schulmeister, laß uns mal sehen, wie viele Zeitteilchen
so eine Nacht hat, in der du weiter nichts zu thun hast, als auf das Sausen in
den alten Ohren zu hören. Du hast doch Lust? Ja? Nun, so hör mal zu:"
Wenn ich meinen Perpendikel so von links nach rechts schwinge — „Tick:
das ist eine halbe Sekunde — und dann zurück von rechts nach links — „Tack" —
wieder eine halbe — zusammen Ticktack eine ganze. So überaus genau wollen wirs
nicht nehmen, aber so in meinem gewöhnlichen Gang: einmal nach rechts „Tick,"
und einmal nach links „Tack" eine Sekunde — das kann nicht weit fehlen. So gehe
ich denn rechts und gehe links, immer Ticktack, immer Ticktack, und wenn ichs
sechzigmal gethan habe, dann ist die Minute voll. Nun machen sechzig Minuten
eine Stunde aus, also sechzig mal sechzig Sekunden. Wie viel macht das? Kannst
du noch rechnen, alter Jcisper? Wie viel mal in einer Stunde muß ich also Ticktack
machen? Darüber magst du dir den Kopf nicht zerbrechen? Nun, wir wollens
gut sein lassen, obgleich bei dem Nichtmögen ein bischen Unehrlichkeit mit dabei
ist. Denn du kannst es einfach nicht mehr, alter Kerl. Dein Kopf ist alt und
schwach geworden und kann so große Zahlen nicht mehr zusammenhalten. Nun,
gleichviel — wir wollens dabei bewenden lassen: es ist eine große Zahl.
Ticktack, ticktack, sagte die Uhr.
Eine ganze Zeit lang sagte sie nichts weiter als Ticktack. Die Gestalt an den
Fenstern bewegte sich unruhig hin und her. Aber sie wagte es nicht. Der Pendel
war zu laut und zu lebhaft.
Daun rasselte es, und das Schulmeistergesicht räusperte sich.
Eigentlich hätte ich mit dir noch ein andres Exempel durchnehmen wollen.
Wie viel Sekunden du wohl in einer Nacht verschläfst, wenn du um acht Uhr zu
Bett gehst und um acht Uhr aufstehst. Das sind zwölf Stunden, also zwölf mal
sechzig mal sechzig. Nur keine Angst, wir wollens nicht ausrechnen, es giebt aber
viele Ticktack. Nun aber bedeut mal, wie übel ich daran bin. Wenn du auf¬
gestanden bist, wenn dn Kaffee trinkst, in deinem Lehnstuhl sitzest, wenn du Tabak
kauft — und wenn du rauchst: den ganzen Tag sage ich Ticktack. Und abends,
bevor meine Hängegewichte ganz hinunter sind, kommt Margret und zieht sie wieder
auf, damit ich nur ja die ganze Nacht Ticktack sage. Einmal, zweimal habe ich
wirklich gehofft, Margret sollte es vergessen — sie hatte ja schon die Nachtjacke
an —, aber es war gefehlt. Weißt du noch, vergangne Woche? Da war sie
schon im Bett. Aber steht sie nicht richtig wieder auf und zieht meine Lote?
So mußte ich denn die gewohnte Reise machen, und rechts jagen und links jagen,
und meine Lektion aussagen, Tick sagen, wenn ich rechts schwang, und Tack sagen,
wenn ich nach links ging.
Ticktack, ticktack, ticktack!
Ich werde gleich zehn Uhr schlagen. Nun merk mal auf, wie voll und feierlich
und posaunenweltgerichtlich mein Stundenschlag klingt!
Es war ein Rasseln, als wenn ein Schiffsanker fällt, ein langes Sausen, und
dann ganz laute Schläge.
Jaspers Leben war ein langer, immerwährender, schließlich verstummter, aber
niemals überwundner Zweifel. Aber an der Melodie des evangelischen Trntzliedes
„Ein feste Burg" konnte er sich gewissermaßen erbauen, weil sie etwas hatte, was
seinem eignen Seelentrotz verwandt war. Von ihren Brausetönen hatte er seine
Seele gern in den Äther tragen lassen.
Aber das war lange her, damals, als er sich noch unter Menschen ge¬
wagt hatte.
Welcher Zusammenhang zwischen dem Choral und dem Stundenschlag bestand?
Ich weiß es nicht, genau kann ich nicht einmal angeben, weshalb ich Waffelkucheu
rieche, wenn man in meiner Gegenwart von der Heimat spricht. Aber der alte
Jasper hörte den Siegesgesang seiner Seele, als der Metallhammer den Glocken¬
mantel in Schwingung brachte. Und das nicht allein, er hatte auch eine Erschei¬
nung. Durch die Decke des Wandbetts und des Zimmers und durch das Dach sah
er eine Lichtgestalt aufsteigen. In schimmernder Rüstung und reicher Lockeu-
prcicht himmelan. Und die Locken quollen unter einer blcmweißgestreiften Woll-
nütze, die Jasper an dem gelben Klunker als die seinige erkannte, hervor. Und
dann war ihm, als sei er selbst der ins Unendliche wachsende Held. Nicht das
verkümmerte Zerrbild selner Seele, nicht der hilflose Greis, der in dem Wandbett
der Fallingborsteler Verlehntskate in derselben Zipfelmütze lag, die gen Himmel
getragen wurde, sondern die Idee, das Ideal seines Wesens, das er hätte verwirk¬
lichen können, wenn er nicht — — — um — — wenn er eben nicht der
Altenteiler Jasper Thun in Fallingborstel und ein so ganz verknöcherter Mensch ge¬
worden wäre.
Ticktack, sagte die Uhr.
Ein Sternchen fiel vom Himmel und verlosch im All.
Das bin ich, seufzte Jasper Thun.
Da entspann sich unter den Fenstern ein Gespräch. Die Bretterdecke legte
sich wieder über das Wandbett.
Dat Wetter hupe got, sagte eine Stimme, die Jasper als seinem Nachbar
Hans Sode gehörig erkannte. — Dat glöv ik ok, erwiderte eine andre, unver¬
kennbar Hufner Eggert Biß. — De Roggn ward betises witt, bemerkte Hans
Sode. — Ik fang nom an to mein, antwortete Eggert Biß. — Op de hogn
Koppeln kann't ok got angahn, Eggert. — Dat meen ik ok, Hans — guil Nacht —
guil Nacht ok!
Eggerts Schritte verschluckte der weiche Wegsand, Hans Sode ging ans dem
Steindamm nach Hanse.
Ticktack, sagte die Uhr.
Da ging die Thür im Nachbarhaus, mit dumpfem Stoß wurde sie angezogen,
dann hörte man den schweren Eisenriegel vorschieben.
Ticktack, ticktack, begann wieder die Uhr.
Was ich noch sagen wollte, alter Jasper. Du warst richtig eingeschlafen, oder
wenn du es lieber willst, eine» Augenblick eingenickt. Denn lang hats nicht ge¬
dauert. — Das sei nicht richtig, meinst du? Du hattest nicht geschlafen? Aber ich
sage dir: ganz gehörig hast du geschlafen, erst nach Noten geschnarcht, und dann —
sag mal, was träumtest du eigentlich? — Es war just so, als wenn du schluchztest. —
Ich kann mich aber geirrt haben.
Nun bist du jedenfalls wach, und wenn es dir recht ist, so plaudern wir noch
ein wenig.
Wie früh es im Dorf doch Nacht wird! Nachdem Hans Sode und Eggert
Biß in die Klappe gekrochen sind, wird niemand mehr in Fallingborstel wach sein.
Um acht Uhr erscheinen die Fledermäuse, und die Alten gehn zu Bett, und um
neun verschwinden auch die Jungen. Zehn Uhr! — das ist schon eine Ausnahme.
Was Eggert und Hans heute vorgehabt haben mögen, ist mir unerklärlich.
Wenn ich so hoch von der Wand aus dem Fenster spähe, sehe ich, wie das
weiße Mondlicht auf den Dächern und in den Gärten liegt. Die Pappeln im
schwarzen Entenpfuhl sind weiße aufgetürmte Gespenster, und was von der Wald¬
wiese her so unzufrieden brüllt, ist deine blaubunte Kuh, die lieber auf der trocknen
Koppel wäre, als in der feuchten Wiese.
Ticktack, ticktack!
Wir Stubeuuhren auf dem flache» Lande gehn immer eine halbe Stunde vor.
Auch Margret stellt mich früh, der Tag sei auf die Weise länger, meint sie. Ich
zeige jetzt halb elf, aber eigentlich ist es erst zehn — Buen, bum! Wenn dn
genau hinhorchtest und jüngere Ohren hättest, als du hast, so würdest du hören,
daß die Turmuhr in Hoheufeld in diesem Augenblick zehn schlägt.
Kirchenuhren sind groß und hoch und hochmütig und haben eine starke Stimme.
Aber es giebt unter ihnen viele — auch die in Hohenfeld gehört drzu —, womit
sonst nicht viel los ist, mit einem Wort solche, die liederlich gemacht sind. Die in
Hohenfeld geht alle Augenblicke nicht, dann muß Meister Schmidt hinauf und das
Ding in Ordnung bringen. Viel Kunst ist nicht dabei, die Mder sind ja groß,
wie die vom Gestell eines Pflugs.
Du hörst ja gern Geschichten. Wenn du erlaubst, erzähl ich dir auch eine. Hast
du sie vielleicht schon mal gehört, sicherlich hast du sie längst vergessen. Du kannst
sie also wieder vernehmen.
Einmal hat Klaus Stöcker, was der Kirchendiener ist und von Haus aus ein
Hans Quast war, den alten Schmidt anführen wollen und seinen Holzpantoffel
ins Gehwerk fallen lassen. Nun thut Meister Schmidt ein bischen wichtig mit feiner
Kunst und hat so ne Art und so 'n Anstand, die Brille zu schieben, wenn er ins
Maschinenwerk sieht. Aber es hat auch Grund, denn er ist kein Dummer, und den
Schabernack, den Klaus Stöcker ihm gespielt hat, hat er sofort erkannt. Aber er hat sich
nichts merken lassen und so gethan, als ob er seine liebe Not habe, den Fehler zu
finden, wobei er seine Brille bald auf die Stirn und bald auf die Nase gerückt
hat. — Klaus Stöcker steht nun mit dummpfiffiger Miene dabei und fragt: Meister,
dat 's wol ne swere Sal. — Und der alte Schmidt nimmt die Brille ab und sieht
den Klaus Stöcker von unten bis oben und von oben bis unten an und sagt:
Schwer gerad nicht, aber gewissermaßen merkwürdig. Wenn ich die Brille aussetze,
dann siehts aus wie dein Holzpantoffel, und wenn ich die Brille abnehme, wie 'n
Dummerjungenstreich.
Ha, ha!
Die alte Stubenuhr lachte selbstgefällig. — Ja ja, bekräftigte sie, so sagte der
alte Schmidt. Die Brille abgenommen, oder auf die Stirn geschoben, den dumm¬
klugen Klaus Stöcker so recht „luri" von unten angesehen und dann so ganz trocken:
Mit Brille wie 'n Holzpantoffel, ohne Brille ein Dummerjungenstreich.
Ha, Hai
Mit Brille Holzpantoffel, ohne Brille Dummerjungenstreich.
Ticktack, ticktack. — Was ich noch fragen wollte. Nicht wahr, die Geschichte
ist gut?
Das geht so, murrte Jasper Thun.
Geht so? Jasper Thun, du hast im Grunde doch wenig Auffassung für Ge¬
schichten.
O, doch!
Ticktack, ich weiß noch eine Uhrengeschichte. Soll ich sie dir erzählen?
Ein andermal, ich werde müde und möchte lieber schlafen.
Es dauert ja nicht lang. Es kommt eine Turmuhr darin vor, auch eine von
den großen. Die schlägt am hellen Mittag zweihundertsechsunddreißig.
Bischen viel, sagte Jasper und legte sich auf die andre Seite. Reine Feuer¬
glocke.
Wurde auch dafür gehalten.
Schön, ich möchte aber lieber schlafen.
Es dauert ja nur einen Augenblick. — Doch halt! Erst muß ich elf schlagen.
Horch mal, wies klingt! Ich thus stark und mit Gefühl.
Die Uhr schlug stark und mit Gefühl und setzte dann mit eifrigem Ticktack ein.
Nun Jasper, willst du die Uhrengeschichte hören? Nein? Nicht die Geschichte,
wie der Uhrmacher beim Reparieren anstatt der zum Werk gehörigen Schraube die
geleerte Schraube einer Radnabe hineingearbeitet hatte, worüber die Turmuhr so
außer sich kam, daß sie zweihundertundsechsunddreißig schlug?
Ich will schlafen.
Aber Jasper, du mußt sie hören! Sie ist einfach köstlich. Die Leute meinen,
es ist Feuer, die Feuerwehr kommt mit großem Lärm und Tatarata, und da Reines
aus dem Schornstein des Pfarrhauses steigt, spritzen sie dem Pastor die ganze
Bude voll.
Ist das nicht fein?
Sehr fein, wiederholte Jasper ärgerlich. Die Feuerwehr spritzt das Pfarrhaus
voll, weil die Turmuhr zweihundertuuddreiuudsechzig —
Sechsunddreißig, berichtigte die Uhr.
Dreiundsechzig oder sechsunddreißig fallt bei solchen Lügengeschichten wohl nicht
sehr ins Gewicht, fuhr Jasper auf. Und wenn du nun nicht gleich still bist, schlag
ich dich morgen in Stücke, dich und dein Windbeutelzifferblnttgesicht.
Nur nicht so grob, beschwichtigte die Uhr. Ich bin ja schon still. — Du scheinst
keinen Spaß zu verstehn. Meinem Geschäft nachzugehn, wirst du mir doch nicht
verbieten wollen, und mein Geschäft ist! Stuudeuschlng und Peudelgaug,
Sie war ärgerlich und schwieg. Nur ihr Geschäft versah sie „unentwegt,"
anfangs noch recht vernehmlich, dann aber leise und immer leiser. Nun kam auch
der Schatten, der auf der Stuhllehne an den Fenstern gelagert hatte, hängte einen
Schleier über die laute Uhr und drückte dem Alten die müden Augen zu.
Ob Jasper ganz wach gewesen war, lassen wir dahingestellt; nun träumte er
jedenfalls wirklich. Der Schulmeister seiner Stubenuhr versank, ein andrer Schul¬
meister trat an seine Stelle. Das war der alte Lehrer, der ihn die vier Spezies
und die Religion und den Katechismus gelehrt hatte, als Jasper noch klein war.
Dieser Schulmeister war zugleich Schneider gewesen, was insofern ganz gut zusammen¬
gepaßt hatte, als er mit seinem Ellenmaß seinen Schülern auch deu Rücken ver¬
messen konnte und den Stock sparte.
Und Jasper war wieder klein und mußte in der Ecke stehn, weil die sonst
so ehrliche alte Uhr in der Schulstube an der Wand zweihundcrtsechsunddreißig ge¬
schlagen hatte. Jasper fühlte selbst, daß er schuld daran war, daß die Uhr zwei-
hundertundscchsnnddreißig geschlagen habe, fragte sich aber in der Ecke vergebens,
ans welche Weise er diese unselige Thatsache wohl versündigt haben mochte.
Er wachte auf, besann sich, hörte ans die Uhr und ihren Pendclschlag, schimpfte
ein weniges über den wunderlichen Traum und zog die Zipfelmütze tiefer über die
Ohren. Und wieder tauchte er unter die Schwelle seines Tagesbewußtseins hinab,
und wieder bin ich nicht sicher, ob ich es Traum nennen darf, was den Schleier
von längst vergessenen Bildern hinwegzog.
Ganz jung war er gerade nicht mehr, er war aber auch nicht alt. Und es
war Abend, und er saß in seiner Stube und rauchte, und neben ihm saß sein Freund
Jochim aus Wiemcrsdorf und rauchte auch. Und beide erzählten sich was. Und
als die Uhr neun geschlagen hatte, wollte Jochim nach Hause gehn. Aber Jasper
hatte noch eine Geschichte, die ihm das Herz abdrückte, und er begleitete seinen
Freund und erzählte. — Es war eine laue Sommernacht, und der Fuchs braute
in deu Gründen, und der Mond schien hell. Sie gingen den Fußsteig, der bei
Wilhelm Koopmnnn über die Koppeln und dann durch die Ueber Wiesen und über
das Lämmermoor führt. Und wenn eine Geschichte zu Ende war, so fingen sie eine
neue an, und als sie bei Jochims Haus in Wiemcrsdorf angekommen waren, wußte
Jochim noch eine Geschichte, die seine Seele los sein mußte, sie würde sonst nicht
selig geworden sein. Und das Wetter war so schön, und die Nacht so lau, und
der Mond stand noch immer am Himmel, und Jochim begleitete seinen Jasper
nach Falliugborstel zurück. Und in Fcillingborstel war nun dem Jasper wieder
etwas eingefallen, was erzählt werden mußte, und um das zu thun, und weil
es so ein wunderbar schöner Abend war, so ging er wieder mit Jochim nach
Wiemersdorf. So gingen sie noch mehrmals hin und her, immer eifrig in Unter¬
haltung und Geschichten erzählend und wanderten noch, als der Mond schon längst
untergegangen war, und die Sterne zu erbleichen anfingen, und die roten Fenerrosse
des Tages im Morgenrot heraufdampften. Und wie Marx Eckmanu nach seiner
Holzwiese im frischen Tau zum Mähen gegangen war und just seine Sense von
der Schulter genommen hatte, kamen Jochim und Jasper als dunkle Nebelgestalten
durch den Bruch. Jasper und Jochim bemerkten ihn aber nicht, und Jasper sagte:
Jochen, vcrget din Wort ni. Mi fallt just 'n Beschicht in, de mot ik ti möst
verteilen, wenn du fari böse.
Da trat Marx Eckmann aus dem Dunkel des Eichenknicks heraus und lachte:
Goder Morgn, Lägenpeter im Mmdriewer, ji!
Als Jasper das alles noch einmal überdachte, und als er sich die Geschichte
wieder zurückrief, die mein Hans Ohm von dem Knecht Michel und seinem Herings¬
gebet erzählt hatte, da erwachte in ihm ganz plötzlich der Hunger nach kunstvoll
geschürzten Histörchen mit elementarer Gewalt. Bei jener Erzählung war er wieder
glücklich gewesen, nun war er entschlossen, die Paar Jahre oder Monate oder Tage,
die er noch zu leben habe, immer glücklich zu sein. Und aus den Tiefen seines
Gedächtnisses schoß es überall hervor und herauf, was längst vergessen gewesen
war; er überflog zugleich eine Menge Geschichten, alle so klar und lebendig, daß
er sie sofort hätte wieder erzählen können. Hauptsächlich war es aber eine, die
von dem Wächter in Hohenfeld, der sich selbst in Arrest brachte, weil er bei sich
auf den Bürgermeister geschimpft hatte. Die trat so scharf und klar unirissen vor
ihn hin und wollte durchaus sofort erzählt werden, daß Jasper Mitleid mit ihr
und mit sich hatte, seine Decke zurückschlug, in den Kleidern, die vor seinem Bette
auf dem Stuhl lagen, zu nesteln anfing, die steifen Beine herausarbeitete — mit
einem Wort — aufstand, mitten in der Nacht, just als die Stubenuhr zwölf
schlug.
Die alte Margret hatte einen guten Schlaf. Sie verschlief die drei letzten
Kapitel dieser wahrhaftigen Historie und all die Mathematik und all die Uhren¬
geschichten, die der im Zifferblatt steckende Schulmeister zum besten gegeben hatte.
Nur einmal war sie wach gewesen, da hatte sie gehört, daß Jasper sich auf die
andre Seite gelegt und dabei im Schlaf gemurmelt hatte. Sie hatte aber nicht
darauf geachtet und war gleich wieder eingeschlafen. Und im Traum kam sie auf
das Kindsbier, wo die Frau Hedemann die junge Mutter war, was ihr komisch
vorkam. Sie sagte daher auch immer: Awer Segg mol, Annemarie, sünd wi ni
tosom konfirmiert, un ik ga dach in't söbemmsöbentigs Jahr? Dar harrst ok früher
afmaken kunnt. — Und als der Pastor seine Taufrede hielt und alle andächtig
umherstanden, hörte sie immer Jaspers Stimme: Gretjen, Margret, sea op! — was
ihr wiederum sonderbar vorkam, da sie doch stand. Endlich aber merkte sie, daß die
Stimme aus einer andern Welt komme, als aus ihrer Traumwelt. Sie wachte
auf und sah eine Gestalt vor ihrem Bett, die immerfort sagte: Margret, sea op!_
machte Licht und fand ihren Eheherrn mit der Zipfelmütze, aber sonst mangelhaft
bekleidet vor ihrem Bett. — Sta op, Margret, wiederholte Jasper. — Ik wall
ti'n Geschieht verteiln, ik kann werr Geschichten verteiln. Un Hans Schmieder schall
de Schniederie opgewen un to uns kom un dat warm, wat he warm wull — en
Hofnarr, as he seggt, en Hofherr, as ik Segg, un schall Spoß maken un Geschichten
verteiln.
Margret war eine kluge Frau. Wenn sie ihren Mann und seine wunder¬
lichen Wünsche auch nicht verstand, so sah sie doch, daß man es hier mit einer
Gemütskrisis zu thun habe, die möglicherweise nach oben führen könne. Mit Kindern
war ihre Ehe nicht gesegnet worden, und Zeit und Geld hatten sie mehr, als sie
brauchten. Sie sagte nur, morgen sei auch noch ein Tag. Der Plan müsse uoch
mal auf'n paar Stunden beschlafen werden.
Uns Kellerstuv, fiel Jasper ein, dor kann Hans schniedern, so vel, as he wall.
Awer utgahn schall he ni mehr. Un denn sorg wie vor em, ok vör de Tid, wenn
wi dod hört. Dat schall de Vage gut ovsettn.
Morgn, Jasper, woll wi dat all bcschnncken. Awer din Geschicht, de kanns
mi forts verteiln. Il wall man en Taß Kaffe taken. Denn geit dat sovel beler.
Es war schon allerlei passiert in Fallingborstel. Aber daß jemand um Mitter¬
nacht seine Frau weckt, um ihr eine Geschichte zu erzählen, daß sie sich vor und
hinter den Ofen setzen, gemütlich Kaffee trinken und nun wirklich die Geschichte
vornehmen, daß ein Mann, der viele Jahre geschwiegen hat und schmerzlich hat
schweigen müssen, die Gabe der Rede wieder erlangt, die Geschichte erzählt — die
Geschichte von dem Nachtwächter, der sich selbst in Arrest bringt —, mit solchem
Behagen und so gut erzählt, daß die beiden alten Leute, Znhörcrin und Erzähler,
nicht aus dem Lachen herauskommen! das war in Fallingborstel doch noch nicht da¬
gewesen. Aber, die Geschichte von dem Nachtwächter war auch zu gut, eine Geschichte
zum Kranklachen! Ich will sie nicht mitteilen, denn nicht jeder meiner Leser hat
eine so derbe Gesundheit, wie Margret Thun in Fallingborstel hatte. Sie lachte
bei ihrem Kaffee und bei der Kalkpfeife bis zum Weinen. Und Jasper war über
seine eigue Geschichte so glücklich, daß er Lust hatte, gegen seine Frau das wieder
zu werden, was er seit dreißig Jahren nicht mehr war, nämlich — zärtlich! Aber
er besann sich noch rechtzeitig, daß sich das doch wohl kaum schicken werde.
Du, Gretjen, sagte Jasper. Wo heel na de hoogen Lud, de de Koris
sik höhlt.
Il weet ni, erwiderte Margret, Hans Schmieder fegt jo „Hofnarr."
Hier is wat to Hafnarr. Ne, ik meen, de ersten, de gut na'n Köni komt un
ullus unrer sik hebt.
Weck wcirkli ni, min Jasper.
Dat ik dor ni op kom kann. Mi. . . Mi. . . Mister. . . Ministers. Nu
dew'k't, rief Jasper. Uns Minister schall Hans Schmieder warm.
Margret lachte.
sont wi ni grob Lud? Bör ik ni'n rieten Kraft? Worinn schall ik mi
keen Minister sollt?
Ja, Jasper, sagte Margret. Wenn Hans Schmieder son Jnngmaker is, denn
lat em man Meister, or Mister, or, wie't ol Tüg sonst heel, warn, so bald as mägli.
Und denn, Modder, weets wat?
Wat denn?
Il low, ik bruk gar keen Pickmütz mehr.
Herr Gott, schrie Margret und schlug sich auf die Kniee. Din Allmach
is grot!
Mein Hans Ohm hatte als Junggeselle seinen Unterschlupf bei seiner Schwester,
meiner Tante auf Nienrade, einer Abbaustelle von Fallingborstel. In aller Frühe
schon ging das Gerücht im Dorfe um, der alte Jasper Wunderlich sei den Weg
nach Nienrade gegangen.
Du best ti wohl versehn, sagte Hans Sode zu seinem Dienstjungen Klas.
Dats ol Reimer Siepen West, Jcisper geit jo in dem Jahr ni mehr öwern Drüssel
(Hausschwelle).
Il kenn Reimer Siepen un kenn ok Jcisper Wunnerli. He hett mi ja vertan
Sommer Sockerappeln ut sin Garn gewen. Dat weer Jasper sölwst mit'n Staat
un Rundhot.
Keen Pickmütz?
Ne, in Rundhot.
Denn is't Jasper wiß ni Wesen. Jasper hett ömmers'n Pickmütz op.
Ne, uns Wert, mischte sich jetzt Slina, die bei Hans Sode diente, ins Ge¬
spräch. — Il dew ein ok sehn. De Klock komm fiw wen dem, do kein Jasper
mit Nundhot un Staat. O, he harr dat so bild un Snack sauer vor sik sölwst.
Snack vor sik sölwst. Dat stimmt bi Jasper.
Un denn bog he af den olu verlorn Stig swer de Wischer henlang.
Nu is't gens klor. Tat kann blöd Jasper infalln. Also Jasper.
So war es in der That. Jasper war bei Tagesgrauen längs der Dorf¬
straße gehumpelt in der Richtung nach Nienrade. Es hatte ihn nicht ruhen lassen,
er war entschlossen, sich sein Glück zu sichern und mit Hans Ohm und seiner
Schwester gleich zu sprechen, ob Hans nicht als „Hofnarr" — nein — als Minister
zu ihm ziehn wolle. Und Hans Ohm hatte gewollt.
Die trübselige Verlehntskcite wurde ein lustiges Haus, die kleine Stube war
von Besuchern selten leer. Ganz Fallingborstel, Jung und Alt, ja die ganze Um¬
gegend wunderte sich, wie klug und frisch der so lange Zeit lieblos verlassen ge¬
wesene, für vertrocknet gehaltn« Jasper, der nnn auch jedem Menschen mit un¬
bedecktem Haupt frei ins Antlitz sehen konnte, wie jung der wunderliche Monarch
eigentlich war — und wie er erzählen konnte und erzählen mochte.
Einen großen Teil des Tags brachte Jasper in der Schneiderstube bei seinem
Minister zu, des Abends kam Exzellenz zu den Majestäten hinüber. Bald erzählte
Hans, bald Jasper, ja selbst Ihre Majestät die Königin Margret hat Versuche in
epischer Darstellung gemacht.
Der eigentliche Vorrat an Geschichten war schließlich aufgezehrt, aber man
verstand es, alte Ideen in neue Form zu bringen; die in die Verlehntskcite hinein¬
getragnen platten Tagesereignisse erhielten im Qualm der Tabakspfeifen und durch
das Temperament der beiden Erzähler ein neues, heimisch und poetisch anmutendes
Kolorit.
Diesem Tabakskollegium wurde Frau Margret zuerst untreu. Nach ganz
kurzer Krankheit ging sie voran und bestellte für ihren Jasper bei Petrus Quartier.
Sie wurde betrauert, wie sichs gehört.
Als der Monarch mit seinem wohlbestallten Schneiderminister von der Be¬
stattungsfeierlichkeit zurückgekehrt war und in seinem braunen Lederstnhl saß, fühlte
er sich zwar etwas angegriffen, wünschte aber doch die Geschichte von dem Bauern¬
knecht Michel Brandt noch einmal zu höre». Und als mein Hans Ohm zu Ende
war, und Michel sich darüber klar geworden war, daß er ein ganzes geträumtcs
Jahr lang nur geträumte Pellkartoffel und geträumte Heringe und geträumte Senf¬
tunke gegessen hatte, da hatten Majestät den Kopf an die Ohrenklappen ihres Lehn¬
stuhls gelegt und die Augen geschloffen.'
Jasper Ohm, sagte Hans, dat wer alln Drom, un wer weet, ob wi ni
sauer trout, ok wenn wi meent, wi walt.
Jasper antwortete nicht. Er mußte wohl eingeschlafen sein.
Jasper Ohm, rief Hans ihm ins Ohr, de ganze Welt is'n Drom!
Jcisper schwieg wiederum und blieb auch dann noch stumm, als Hans Schneider
ihn ahnungsvoll wach zu rütteln versuchte.
Die Seele war nicht mehr in dem alten Gehäuse. Sie unterhielt sich schon
mit Petrus über das Rätsel unsrer Schuld und über den großen Gottestrcmm.
haben, wenn man weiteres von ihnen nicht weiß,
vielleicht für einen großen Teil der Grenzbotenleser wenig Anziehungskraft. Man
ist bei uns in Deutschland geneigt, hinter dem Titel und dem Ursprungslande
gewisse scharf zugespitzte und nicht immer ganz gesunde, unserm deutschen Wesen
wenig genehme religiöse Tendenzen zu wittern und dann lieber Bücher solcher Art
ungelesen zu lassen. Umso mehr drängt es mich, auf zwei Bände schottischer Er¬
zählungen hinzuweisen, die so vortrefflich, gesund und interessant sind, daß man
ihnen nur recht viele deutsche Leser wünschen kann. Ihre Titel lauten:
1. Beim wilden Rosenbusch. Lang, lang ists her. Schottische Er¬
zählungen von Jan Maclaren. Autorisierte Übersetzung von Luise Osler. Stutt¬
gart, I. F. Steintopf, 1898. 428 Seiten, gebunden 5 Mark.
2. Altes und Neues aus Drumtochty. Aus der Großstadt. Schot¬
tische Erzählungen von Jau Maclaren. Aus dem Englischen von Luise Osler.
Stuttgart, I. F. Steintopf. 1899. 440 Seiten.
Das zweite Buch ist zum Teil eine Art Fortsetzung des ersten oder doch eine
Anknüpfung daran. Warum die Übersetzung dieses zweiten Bandes nicht „autori¬
siert" ist, läßt sich nicht ersehen. Die Übersetzung ist durchgehends vorzüglich und
angesichts der Schwierigkeiten des Originals eine respektable Leistung. Die größte
Klippe für die Übersetzung ist das Dialektische. Den schottischen oder gallischen
Dialekt durch einen nieder- oder oberdeutschen Dialekt wiederzugeben, würde ein
äußerst gewagter Versuch sein. Die Übersetzerin hat aber im ganzen die Klippe
geschickt umschifft. Sie hat das Dialektische weder plattdeutsch noch schwäbisch oder
alemannisch wiederzugeben versucht, sondern giebt es hochdeutsch, aber mit sehr vor¬
sichtig angewandten Änderungen oder Kürzungen gewisser Endungen. Sie erreicht
damit den Vorteil, daß sie bei einem für jeden Deutschen verständlichen Hochdeutsch
bleibt, dem sie da, wo das Original im Dialekt spricht, einen leisen Anflug von
einem Volkston zu geben weiß, ohne daß sich ein bestimmter deutscher Dialekt
herauslesen läßt. Jedenfalls ist die Übersetzerin dabei sehr vorsichtig und mit
delikater Zurückhaltung vorgegangen, sodaß der von ihr gewählte Ausdruck — einzelne
kleine Anzeichen deuten doch wohl mehr auf süddeutsche Formen hin — das Sprach¬
gefühl, auch das des Norddeutschen wenigstens nie unangenehm berührt, wenn auch
nicht immer jedes Wort auf jeden Leser mit voller Natürlichkeit wirken mag.
Jedenfalls liest sich die Übersetzung sehr augenehm und geläufig, und die sich beim
Lesen von Blatt zu Blatt steigernde Freude an dem Inhalt der Erzählungen wird
durch die Übersetzung nirgends gestört, sondern durchweg gehoben. Man liest
überall nur wirkliches, gutes Deutsch.
Der Schonplatz der meisten Erzählungen in beiden Bänden ist das etwas
abgelegne, aber und dem vollen Zauber der schottischen Gebirgslandschaft aus¬
gestattete Pächterdorf Drumtochty mit seinen Umgebungen und seinen auch in die
große Welt hineinreichenden persönlichen Beziehungen. Der Hintergrund der eigen¬
tümlichen Entwicklung der Gemeinde Drumtochty aber liegt in der schottischen
Kirchentrennung. Drumtochty umfaßt, wie seine Nachbarorte, zwei Kirchengemeinden,
die alte, d, h. landesgesetzliche, und die freikirchliche, jede mit eigner Kirche und
eignem Geistlichen, und dieser Gegensatz in der äußern Organisation scheint für
das praktische Christentum der Drnmtochtyer ein besonders günstig wirkender Umstand
geworden zu sein. Gemeindlich getrennt, innerlich völlig einig haben die Drum-
tochtyer ein Christentum der That und der Wahrheit unter sich bewährt, einen
Wetteifer der Humanität und der Nächstenliebe bethätigt, der wahrhaft rührend
und herzbewegend ist. Diese höchst eigentümlichen Bauern rin ihrem Kleinleben,
diese Geistlichen der beiden Kirchen, die einander respektieren, raten, helfen, lieben
und einer dem andern thun, was man ihm an den Angen absehen kann, dieser Arzt
Maclure, der sich mit seiner alten Stute Jeß in uneigennütziger Übung von Barm¬
herzigkeit gegen die Armen und Elenden der Gemeinde verzehrt, diese Originale
von Geistlichen, Lehrern und Gemeindegliedern ans beiden Seiten mit ihren kleinen
und großen Schwächen, aber anch ihrem Heldentum, ihrer Wahrhaftigkeit und ihrer
vornehmen Gesinnung, diese Frauen edelster und vornehmster Art unter dem Dache
der kleinsten Hütte, das alles sind Menschen von Fleisch und Blut, Menschen wie
wir und Menschen wie die Leute draußen in der großen Welt, wirkliche Typen,
die uns unser eignes Elend, unsre Mängel, Fehler und Gebrechen vorleben, und
vor denen wir uns doch auch wieder tief beschränkt in den Staub bücken. Kurz,
die Geschichten sind lebenswahr, die Bauerngeschichten nicht minder als die ans der
Großstadt und ans dem feinern Gesellschaftsleben, und darum packen sie so. Ge¬
bildete und einfache Leute, Männer und Frauen, Geistliche und Weltkinder, wenn
sie das Herz auf dem rechten Fleck haben, werden diese wundervollen Erzählungen
mit gleichem Gewinn und gleicher Dankbarkeit lesen oder vorlesen hören Es ist
D. R. B.
Mit Recht wundert sich der Verfasser dieses Buchs darüber, daß das vier¬
hundertjährige Jubiläum der Geburt Katharinas von Bora (22. Januar 1899)
vorübergegangen ist, ohne daß eine wissenschaftliche Biographie der tüchtigen und
energischen Hausfrau Dr. Martin Luthers veröffentlicht wurde. Denn im Jahre
1899 haben sich zwar zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften mit der Person und dem
Wesen Katharinas von Bora beschäftigt,*) aber es fehlte an einer ausführlichen
Darstellung, die die neuern Forschungen von Seidemann, Hausrath, Buchwald,
Wezel u. a. und die aus den neu veröffentlichten Briefen Luthers und seiner
Freunde zufließenden Materialien zusammenfaßte. Diese Lücke sucht nun Thonr
auszufüllen: sein Buch erscheint gerade noch rechtzeitig, daß es als eine nachträg¬
liche Jubiläumsschrift gelten kann.
Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Lebensbild der Katharina von
Bora nicht mit den großen Biographien Luthers von Kostim und Kolbe in Kon¬
kurrenz treten kann. Aber so gewiß uns der Mond auch neben der Sonne Licht
und Frende bringt, so gewiß verdient auch ein Buch, worin das Leben der „äo-
minus Käthe" nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Hauptsache behandelt ist,
einen bescheidnen Platz neben den großen Werken über ihren gewaltigern Eheherrn.
Deswegen kommt Thomas Buch, zumal da die Biographien Kalbes von Beste (1843)
und von Hofmann (1845) vergriffen und veraltet sind, einem nicht allein von den
Theologen empfundnen Bedürfnisse entgegen.
Thoma hat seine Aufgabe im großen und ganzen vortrefflich gelöst; man er¬
fährt aus seinem Buche auf Grund sorgfältiger Studien alles, was man über
Katharma von Bora zu wissen vermag und zu wissen begehrt. Bezüglich der Her¬
kunft Kalbes stellt sich Thoma — wenn auch nicht mit voller Bestimmtheit—° auf
die Seite derer, die sie auf dem noch vorhandnen Freigute Lippendorf bei Borna
geboren sein lassen, und die in dem nahen — jetzt verschwnndnen — Zulsdors,
das Käthe später durch Kauf erwarb, einen Teil des alten Boraschen Familien¬
besitzes sehen. Die folgenden Kapitel: Im Kloster — Die Flucht aus dem Kloster —
Eingewöhnung ins weltliche Leben — Katharinas Heirat erfreuen den Leser durch
interessante Einzelheiten, durch besonnenes Urteil über die großen religiösen Fragen,
und daneben auch durch ein offnes Auge für das Weltliche und Menschliche. Die
anziehendste Partie des Buchs ist natürlich das Mittelstück mit den Kapiteln: Das
erste Jahr von Katharinas Ehestand — Katharina als Mutter ihrer Kinder und
Hausgenossen — Katharinas Haushalt und Wirtschaft — Wunderliche Rechnung
zwischen Dr. Martin und Käthe — Tischrede» und Tischgenossen — Hausfreunde —
Käthe und Luther. Bei der Lektüre dieser Abschnitte ziehn eine ganze Reihe der
erquickendsten Bilder deutschen Familienlebens und deutscher Hausfrauenart an uns
vorüber, Bilder, die bis zum heutigen Tage noch nichts an ihrem erzieherischen
Werte eingebüßt haben. In den letzten Teilen des Buchs thun wir einen Blick
in die Nachtseiten des Jahrhunderts der Reformation: in das immer mehr auf¬
kommende theologische Gezänk und den büreankrntisch-höfischen Klatsch der kurfürst¬
lichen Beamtenschaft. Die Schicksale der wackern Käthe während ihrer Witwenzeit
und ihr tragisches Ende erfüllen uns mit Wehmut. Deshalb lenken wir am liebsten
den Blick zu der schönen Zeit zurück, wo sie dem großen Manne in Freud und
Leid eine echte und rechte Gefährtin war, an der er das Wesen und den Wert
des Weibes und der Ehe für seine Person erst entdeckte, von der er begeistert
schrieb: „Ich habe meine Käthe lieb, ja ich hab sie lieber denn mich selber, das
ist gewißlich wahr; ich wollt lieber sterben, denn daß sie und die Kindlin sterben
sollten." Thomas Darstellung ist gewandt und warmherzig, er läßt die beteiligten
Personen meist selbst sprechen, sodnß Kalbes Bild vielfach die frischen Farben des
Lebens wiederstrahlt. Soll ich eine Ausstellung machen, so würde ich wünschen,
daß auch der allgemeingeschichtliche und der soziale Hintergrund des Bildes noch
etwas schärfer und wirkungsvoller umrissen wäre. Auch ist dem Verfasser, wie
seine Darstellung auf Seite 60 zeigt, die' richtige Deutung des bekannten, von
Melanchthon an Camerarius über Luthers Eheschließung gerichteten Briefs, die ich
in dieser Zeitschrift 1899, 3. Quartal, Seite 168 Anmerkung gegen Hausrnth ge¬
geben habe, entgangen. Erfreulicherweise hat Thoma einen Lichtdruck des Crauachscheu
Bilds Katharinas aus dem Museum zu Sabinerin seinem Buche beigegeben, ebenso
einen Grundriß des Lutherhauses in Wittenberg is. 289). Ich hätte aber ge¬
wünscht, daß auch das in der Kieritzscher Kirche hängende Gipsrelief Kalbes
reproduziert worden wäre; denn, obwohl „kraß realistisch" (S. 291), hat doch
gerade dieses Bild einen außerordentlichen Wert. Es stammt nnmlich aus Zuls¬
dors, trägt die Unterschrift „Catarina Lutterin, gebohrne von Voran 1540" und
zeigt Luthers Hausfrau, „wie sie leibte und lebte in ihrem Znlsdorfer Reiche, keine
Jdealqestnlt, sondern das unermüdlich schaffende und sorgende treue deutsche Weib"
(vgl. Grenzboten a. a. O.. S. 173).
Doch diese kleinen Ausstellungen sollen dem trefflichen Ganzen keinen Eintrag
thun. Wünschen wir dem Buche vielmehr die weiteste Verbreitung, damit der Geist
Katharinas von Bora unter den Frauen und Töchtern Deutschlands recht lebendig
Zur rechten Zeit erscheint das kleine Buch, um daran zu erinnern, daß im
Deutschen Reiche wahrhaftig noch wichtigere Dinge zu fördern find, als lärmend
um Gesetzesfreiheit für alle modernen Schamlosigkeiten und für oder wider das
ungeschickte Fleischbeschaugesetz einzutreten. In sechzehn gediegnen Aufsätzen wird
die Bedeutung der Flvttenfrage beleuchtet; mit der ersten der bisher erschienenen
Nauticusschriften teilt diese neuste den Vorzug, daß die Statistik eine bescheidnere
Rolle spielt, also minder aufdringlich und ermüdend wirkt, als in dem letzten Jahr¬
buche. Sicherlich sind Zahlen da, wo es sich um die Kosteudeckung für die starke
Vermehrung der Wehrkraft zur See handelt, nicht zu vermeiden; aber wichtiger
als alle Zahlen über die Zunahme der Aus- und Einfuhr, des Seeverkehrs usw.
sind unsers Erachtens die „Imponderabilien," das nationalpolitische Bedürfnis nach
wirklicher Seegeltung. Warum gehöre« denn neben vielen kaufmännisch geschulten
und geschäftlich findigen Köpfen in Deutschland alle ideal und zugleich stark national
empfindenden Charaktere zu den Vorkämpfern für die starke deutsche Flotte? Doch
nur darum, weil ihnen, wie schon dem unvergeßlichen Friedrich List, die Macht des
Vaterlands wichtiger erscheint als der Reichtum. Viel nötiger als die Mehrung
kaufmännischer Findigkeit ist deshalb für unser gesamtes Volk die Ausbildung und
Vertiefung des allgemeinen politischen Verständnisses, ganz in dem Sinne, wie unser
Kaiser es in seiner herrlichen Rede am 18. Oktober vorigen Jahres betonte.
Der neuste Nauticus vertritt die reale und die ideale Seite der Flottenfrage
mit gleichem Eifer. Im ersten Aufsatz über die Blockadegefahr wird nachgewiesen,
daß die deutschen Küsten leichter von einem seemächtigen Gegner voni Seeverkehr
abgesperrt werden können, als die Küsten irgend eines andern größern Landes; die
Eigentümlichkeit des Blockadekriegs erlaubt außerdem eine sehr lange Durchführung
der Sperre, die Kräfte des Blockierenden werden und der Dauer der Sperre nur
wachsen, weil viel von dem abgelenkten Seeverkehr währenddessen in feine eignen
Hände fließt. Außerordentlich lesenswert, namentlich auch für Kolonialgegner, sind
die Aufsätze über Deutschlands wirtschaftliche Interessen in Hongkong, in Mittel¬
amerika und in der Südsee. Von den übrigen Aufsätzen seien hervorgehoben!
„Politische Machtstellung und Kriegsmarine," „Stärkevergleich der wichtigsten
Kriegsmarinen" und „Deutschlands geographische Lage zur See"; für Kaufleute
und Politiker werden auch die Aufsätze „Flotte und Valuta," „Volkseinkommen und
Konsum," sowie „die Kontinentalsperre" wertvoll und wichtig sein.
Hoffentlich findet das wirklich lesenswerte Buch ebenso viele aufmerksame Leser,
wie die Kundgebungen derer um Sudermann, Hauptmann, Hahn und Genossen.
Mit diesem dritten Bande, der wie die beiden früher erschienenen in seiner
schlichten Bescheidenheit das schönste Denkmal für einen allzufrüh heimgegangnen
echt deutschen Seeoffizier ist, ist wieder ein Werk für Jung und Alt geschaffen,
das herzerfrischend wirkt, wo auch immer es gelesen werden mag. Die frischen,
unbefangnen Schilderungen des seefahrenden Briefschreibers sind um so wertvoller,
als sie einen klaren Einblick in das kameradschaftliche Leben und Treiben auf unsern
Kriegsschiffen bieten und zugleich auch die gründliche Lehrzeit unsers Prinzadmirals
Heinrich auf seiner Erdumseglung getreu und ungeschminkt darstellen. Das Buch
wird, wie die beiden frühern, sehr vielen Freude bereiten, denn es ist für Väter
und Mütter ebenso anregend, wie für Söhne und Töchter, die in irgend einer
Weise mit der Marine verknüpft sind oder sein möchten. Solche gesunde geistige
Nah
er Reichstag ist Ende März in die Ferien gegangen und wird
erst Ende April die Arbeit wieder aufnehmen. Mit der Flotten-
Vorlage hat er es wenig eilig gehabt, über die ersten Vorbera-
tuugen ist er nicht hinausgekommen. Trotzdem darf man wohl
die Aussichten im ganzen als günstig betrachten. Wie glaubhaft
versichert wird, haben die von den Staatssekretären des Auswärtigen und
der Marine über die politische und die strategische Notwendigkeit der Flotten¬
vermehrung in der Kommission abgegebnen Erklärungen auf allen Seiten einen
ausMord endlichen Eindruck gemacht und an der Beachtung und Dringlichkeit der
Regierungsforderungen bei der großen Mehrheit der Kommissiousmitglieder in
der Hauptsache keinen Zweifel besteh» lassen. Auch die finanzielle Fähigkeit des
Reichs, die Kosten aufzubringen, scheint im Prinzip allseitig anerkannt zu sein.
Andrerseits haben aber die Kommissionsverhandluugen und die sie er¬
gänzenden Äußerungen tonangebender Politiker und Blätter gezeigt, daß uoch
recht unerquickliche Kämpfe auszufechten sein werden, bevor die Vorlage Gesetz
geworden sein wird. Wenn der Kaiser in der bekannten Hamburger Rede vom
18. Oktober vorigen Jahres die Mahnung um das deutsche Volk richtete, es
solle aufhören, die Partei über das Wohl des Ganzen zu stellen, so lehrt der
bisherige Verlauf der Sache, daß unsre Volksvertreter noch recht weit davon
entfernt sind, dieser Mahnung Gehör zu geben. Gerade daß die Mehrheit
trotz der grundsätzlichen Zustimmung die Annahme der Vorlage bis jetzt noch
von sachlich ebenso unberechtigten wie unnötigen und zum Teil unmöglichen
Bedingungen abhängig zu machen sucht, liefert den Beweis, daß wir in Deutsch¬
land noch immer nicht die Stufe politischer Reife und praktischer Vaterlands¬
liebe erreicht haben, die in England und Frankreich in ähnlichen Fällen die
schnelle und fast widerspruchslose Annahme solcher Regierungsvorlagen zur
Regel macht. Wir denken dabei gar nicht einmal an die sozialdemokratische
und die demokratische offen flottenfeindliche Minorität. Sie ist ein Verhängnis,
das man Vorläufig hinnehmen und sich austoben lassen muß. Nur daß der
hinter ihr stehenden großen Masse durch das Verhalten der Mehrheitsparteieu
die Erkenntnis des Spiels ihrer Führerschaft auch hier wieder erschwert wird,
ist überaus traurig. Die Mehrheitsparteien Hütten durch ein gutes Beispiel
in der Flottenfrage gerade in dieser Beziehung sehr segensreich wirken können.
Vor allem lind wohl auch mit dem meisten Schein des Rechts wird die
sogenannte Decknngsfrage zu allen möglichen Ein- und Vorwünden benutzt,
obwohl sie formell durch den Gesetzentwurf an sich gar nicht zur Diskussion
gestellt, sondern nur in der Begründung informatorisch besprochen worden ist
und sachlich als vnrg. xosterior anerkannt werden muß. Selbstverständlich
wird man sich mit ihr beschäftigen, wenn es sich um die Bewilligung so großer
neuer Ausgaben handelt, und deshalb war es auch in der Ordnung, daß die
Frage in der Begründung eingehend erörtert worden ist. Trotzdem ist es in
diesem Falle völlig verkehrt, die Bewilligung der im Novellenentwurf formu¬
lierten Forderung der verbündeten Regierungen von der vorherigen gesetzliche»
Festlegung der Deckungsmittel abhängig zu machen, und man wird den Parteien,
die das thun, nicht den Vorwurf ursachlicher Behnndluug einer so ernsten und
dringlichen Sache ersparen können.
Hat man grundsätzlich die politische und strategische Notwendigkeit der
Flottenvermehrung, wie der Entwurf sie vorschlägt, anerkannt, so muß einem
doch auch klar geworden sein, daß einerseits das zu erstrebende Ziel so schnell
als irgend möglich erreicht werden muß, daß es aber andrerseits nur in einem
verhältnismäßig langen Zeitraum erreicht werden kann. Daraus ergiebt sich
für die Deckungsfrage in diesem Falle die Notwendigkeit einer besondern Be¬
handlung, Ihre endgiltige gesetzliche Lösung, noch ehe man den Weg zu dem
beschlossenen Ziel betritt, wird dadurch bis zur Unmöglichkeit erschwert, und
wenn man hierauf besteht, wird die Gefahr heraufbeschworen, daß sich die Ver¬
handlungen, ganz abgesehen von dem Ziel selbst — worum es sich doch in
der Vorlage allein handelt, und worüber in der Hauptsache Einigkeit herrscht —,
in die unfruchtbarsten und geradezu endlose Disputationen über alle möglichen
und unmöglichen Voraussetzungen, Vermutungen, Schätzungen, Prinzipien- und
Doktorfragen verlieren. Schon die Thatsache, daß die ordentlichen Neichsein-
nahmen in der Hauptsache auf den finanziellen Erträgen von Zöllen, und zwar
von Schutzzöllen beruhn, und wir unmittelbar vor einer Neuregelung der Zoll-
und Handelsvertragspolitik stehn, erschwert eine erschöpfende Lösung der
Deckungsfrage vor dem Beginn der Flottenvermehrnng bis zur Unmöglichkeit,
Mag man auf einem mehr freihändlerischen oder auf einem mehr schntzzöllne-
rischen Standpunkt stehn, mag man durch Herabsetzung der Zollsätze die Ein¬
fuhr fremder Waren erleichtern, oder durch Zollerhöhungen sie unterbinden
wollen, immer wird man mit Änderungen in den finanziellen Erträgnissen
rechnen müssen und gut thun, sich nicht durch Fundierung großer neuer Neichs-
ausgabeu auf die Zolleinnahmen die Hände allzu sehr zu binden. Dazu kommt
doch auch die Möglichkeit eiuer unerwarteten Steigerung unerläßlicher ander-
weniger Reichsausgaben im Laufe einer so langen Zeit, wie die, um die es
sich hier auch im günstigsten Falle handelt. Jedenfalls ist man vorläufig voll¬
ständig im unklaren darüber, wie viel mau etwa dnrch neue Steuern und der¬
gleichen wird aufbringen müssen, und wieviel man aus den laufenden Ein¬
nahmen wird decken können.
In gerechter Würdigung dieser Sachlage haben die verbündeten Regie¬
rungen darauf verzichtet, die Festsetzung einer bestimmten Frist, in der das Ziel
erreicht werden müßte, im Gesetz zu verlangen oder auch nur eine jährliche
Minimalbausumme zu fordern. Sie haben nur das Ziel selbst so klar und
bestimmt, als das heute möglich ist, bezeichnet und seine gesetzliche Anerkennung
erbeten, dabei die heute immer nur annähernd schätzbaren Gesamtkosten infor¬
matorisch angegeben, aber dem Reichstag die Bereitstellung der Geldmittel zur
alljährlichen etatsmäßigen Bewilligung überlassen. Es ist ja, wenn die Bor¬
lage unverändert Gesetz wird, nicht ausgeschlossen, daß ein oder mehrere Jahre
lang gar keine Gelder für die Flottenvermehruug aufgewandt werden, und daß
statt einer zwanzigjährigen Frist eine dreißigjährige herauskommt, ehe das Ziel
erreicht ist. Freilich ist andrerseits auch die Möglichkeit offen gehalten, daß
je nach der Dringlichkeit der Flottenvermehrung und je nach dem Staude der
Reichsfinanzen sowie nach Lage der technischen Einrichtungen weit schneller,
als in der Begründung der Novelle vorläufig und schätzungsweise angenommen
ist, dem Ziele zugestrebt wird. Diese so überaus weitgehende Währung des
Rechts für den Reichstag, die Ausgaben für die Flottenvermehrung Jahr für
Jahr mit den ordentlichen Einnahmen und sonstigen Ausgaben des Reichs im
Einklang zu erhalten und jedem Draufloswirtschafteu aus Anleihen vorzubeugen,
muß doch in Betracht gezogen werden, wenn man die behauptete Dringlichkeit
der Deckungsfrage richtig beurteilen will. Das ganze bisherige Herumreiten
auf dieser Frage erscheint bei rechter Beleuchtung als eine parlamentarische
Pose ohne jede praktische Berechtigung und Wahrhaftigkeit, und die klaren
Köpfe in der Reichstagsmehrheit, die diese Pose einnehmen, sollen sich nicht
beklagen, wenn man ihnen dieses Verhalten im besten Falle als Eigensinn,
vielleicht aber auch als Absicht auslegt, die vorn für notwendig und dring¬
lich anerkannte Flottenvermehrung hinten herum zu Fall zu bringen oder doch
im Parteiinteresse die Bewilligung zu verschleppe» und zu erschweren.
Ganz besonders unverständlich ist es, wenn sich ernsthafte Politiker, die
die Berechtigung der Rcgiernngsfordernng in der Hauptsache anerkennen, in der
Erklärung gefallen: Für Anleihen sind wir unter keinen Umstünden zu haben!
Was soll denn das heißen? Auch wenn man der Ansicht ist, daß die Kosten
der Flottenvermehrung nicht einmal zum Teil auf die spätern Generationen,
in deren Interesse wir die Weltmacht Deutschlands jetzt fest begründen müssen,
abgewälzt werden darf, und auch wenn man die Schuldenlast des Reichs jetzt
schon für bedenklich hält, hat diese Erklärung gar keinen Sinn. Den Wähler¬
massen draußen mag sie ja imponieren, aber die Auguren im Reichstag können
doch nur darüber lachen. Ohne vorläufige Verwendung von Anleiheugeldern,
das wissen sie genau, geht es überhaupt nicht, und jeder vernünftige Mensch
im Reich müßte, wenn er die Sache nur ernsthaft überlegt, den schließlich für
toll halten, der das verbieten, der einer solchen Schrulle wegen die Flotten-
Vermehrung, die er für dringlich hält, ablehnen oder verschleppen wollte.
Fürchtet man, daß die jetzt laufenden Einnahmequellen des Reichs in Zukunft
so wenig ergiebig sein werden, daß die Reichsschulden in bedenklichem Maße
durch die Ausführung der Novelle anwachsen konnten, so hat es der Reichstag
doch jederzeit in der Hand, die Bewilligung der weitern Bauraten von einer
gesteigerten Schuldentilgung abhängig zu machen und dazu, wenn nötig, neue
Einnahmequellen zu erschließen oder auf ihre Erschließung zu dringen.
Und was kann denn mit dem überhasteten Suchen nach neuen Steuern
für jetzt erreicht werden? Die eine Steuer ist dem, die andre jenem nicht recht;
jedenfalls ist zu erwarten, daß Einigkeit innerhalb der Neichstagsmehrheit und mit
den verbündeten Regierungen im Laufe des Jahres höchstens über einige wenige
neue, unbedeutende Steuern zu erzielen sein wird, deren Ertrag im Vergleich
mit den Jahresausgaben für eine Flvttenvermehrnng, die dem dringenden Zweck
entspräche, viel zu klein wäre. Wir neigen unsrerseits zu der Ansicht hin, daß
es in der That bei der Annahme und der Durchführung der Flottcnnovelle
erwünscht sein wird, rechtzeitig auf die Eröffnung neuer Einnahmequellen für
das Reich bedacht zu sein. Die vorläufige Schützung der Gesetzesmotive, daß
sich der größte Teil der außerordentlichen und alle erhöhten ordentlichen Aus¬
gaben durch die wachsenden ordentlichen Einnahmen würden decken lassen, ist
sicher zu optimistisch, und die Regierung hat vielleicht durch diese optimistische
Berechnung zum Teil den unnötigen Lärm über die Deckungsfrnge verschuldet.
Aber die rechte Zeit zu der Neichssteuerreform, die wir dringend zur Ver¬
meidung einer ungesunden Anleihewirtschaft wünschen, ist sicher nicht die
Gegenwart, diese durch die Dringlichkeit der Flottenvermehrung sehr engbe¬
grenzte Gegenwart, auch nicht einmal die Zeit bis zur Neuregelung unsrer
Zollpolitik nach Ablauf der Handelsverträge, Reichssteuerrcformen sind durch¬
weg viel schwieriger und komplizierter als Staatssteucrreformen. Wie will
man in wenig Wochen oder Monaten die Vorarbeiten für wirklich größere
Erträge versprechende Reichssteuern erledigen? Werden der Reichstag und der
Bundesrat blind auf irgendwelche neue, bedeutsamere Vorlagen eingehn? Die
Erfahrungen sprechen für das Gegenteil. Theoretisch scheint uns vielleicht eine
Reichserbschaftssteuer besonders schön, aber ihre schnelle praktische Durchführ¬
barkeit ist doch sehr zweifelhaft. Ebenso stehts mit der uns im Prinzip sym¬
pathischen, jüngst von Mayr genannten Erhöhung der Steuern auf Vier und
Cigarren. So aus dem Handgelenk solche Abgaben zu verfügen ist aber ganz
unmöglich. Will die erleuchtete Reichstagsmehrheit durchaus, daß ihr nach den
Osterferien die verbündeten Regierungen mit etwas plundrigem Stück- und
Flickwerk von Steuerprojekten aufwarte, nun dann mache man ihr das kind¬
liche Vergnügen! Aber die Deckungsfrage wird damit nicht gelöst werden.
Die ganze Vorlage kann nicht zu stände kommen, wenn man nicht vorläufig,
vielleicht auf vier und fünf Jahre, recht kräftig Anleihen zu Hilfe nimmt, Ist
das etwa ein Unglück? Ist dagegen auch nur das Geringste einzuwenden,
wenn man die Flottenvermehrung selbst für notwendig und dringlich erklärt?
Es gab früher im Reichstag, vielleicht auch in den Regierungen Finanz- und
Steuerpolitiker, die ihr wissenschaftliches Urteil oder Vorurteil über die Sinn-z
pudliczg. setzten, wenn es sich um die Gewinnung von Deckungsmitteln für die
dringendsten Staatsausgaben handelte. Die Sorte ist jetzt ausgestorben. Die
eigensinnigen Decknngspolitiker der heutigen Reichstagsmchrheit sind über solche
Prinzipienreiterei weit erhaben, für sie kommt nur noch das Parteiinteresse in
Betracht und der Eindruck auf deu großen Haufen der Wähler, die sie an sich
zu ketten und zu vermehren als die höchste Aufgabe ansehen.
Mau thut sich auch viel aus die Phrase zu gute: Die schwachen Schultern
dürfen nicht belastet werden! Das will sicher niemand. Aber wer sich nur
etwas um Finanz- und Stellerpolitik gekümmert hat, weiß auch, daß bei Steuern,
die etwas ordentliches abwerfen sollen, die Schonung der schwachen Schultern
sehr leicht beim besten Willen nicht erreicht werden kann, zumal wo es sich um
Zölle und indirekte Steuern handelt, auf die das Reich zuerst angewiesen ist.
Gerade die Rücksicht auf die schwachen Schultern warnt vor der voreiligen,
leichtfertigen Schaffung neuer ergiebiger Einnahmequellen für das Reich und
verlangt eine in allen Konsequenzen durchgeprüfte Reichssteuerreform, wobei
natürlich immer wieder die zukünftige Gestaltung der Schutzzollpolitik in Betracht
zu ziehen ist. Und wenn es dazu kommt, werden die von dem großen Haufen
abhängigen Politiker wahrscheinlich über das, was unter den schwachen Schultern
gemeint ist, recht verschiedner Meinung sein. Sind es die gutgelohnten In¬
dustriearbeiter oder die notleidenden Grundbesitzer? Was die Erbschaftssteuer
anlangt, sind ja schon die Landwirte für die Schwachen erklärt worden.
Fast noch beliebter und sicher noch weit verwirrender ist das Schlagwort:
Wer den Vorteil hat, soll auch die Kosten tragen! Man will bei der Flotten¬
vermehrung das deutsche Volk in Seeinteresseuteu und Nichtseeinteressenten ein¬
teilen, nach dem Beruf, dem Erwerbszweig, mich nach dem Wohnort und nach
Gott weiß was für andern Merkmalen. Wir könne» nicht leugnen, daß die
bisherige Agitation für die Flottenvorlage viel zum Überhandnehmen dieser
ganz und gar unrichtigen Anschauung beigetragen hat. Wir wollen darauf
hier nicht weiter eingehn, auch über deu Begriff und das Wesen der Weltpolitik,
zu der das Reich überzugehn gezwungen ist, wollen wir jedem seine mehr oder
weniger klaren Vorstellungen unangetastet lassen. Worum es sich jetzt handelt,
ist einfach der Bau einer Flotte, die stark genug ist, das Deutsche Reich zu
schützen und es vor dem Rückfall in die jämmerliche Schwäche zu bewahren,
die der Welt jahrhundertelang erlaubt hat, aus der deutscheu Haut Riemen
zu schneiden, wie es ihr paßte. Der Wandel der Zeiten, der sich jetzt un¬
heimlich schnell vollzieht, hat es zu Wege gebracht, daß ohne eine starke
Flotte ein starkes Landheer das Reich nicht vor einem solchen Rückfall be¬
wahren kann, und die Zeichen der Zeit haben in den letzten Jahren jedem ehr-
lichen Vaterlandsfreunde die Augen dafür geöffnet. Auch der Mehrheit des
Reichstags, oder doch vorläufig seiner Budgetkommission, wie man versichert,
und wie wir nur zu gern glauben möchten. Die Wehrkraft des Reichs gilt
es aufrecht zu erhalten zum Schutz des ganzen Vaterlands in allen seinen
Gauen und des ganzen Volks in allen seinen Ständen und Schichten. Da
darf von keiner Einteilung und Sonderung nach der Örtlichkeit und nach
dem Beruf die Rede sein, da ist keine Unterscheidung von Landinteresfenten
und Seeintcresseuten berechtigt, wie sie die frühem Jahrhunderte dem deutschen
Namen zur Schmach und der deutschen Nation in allen Gliedern zum furcht¬
baren Schaden erlebt haben. Wer heute die starke Flotte nicht will, der will
ein schwaches, ohnmächtiges Reich, ganz ebenso wie der, der kein starkes Heer
will. Deshalb mache man sich endlich bei der Behandlung der Deckungsfrage
von dem Unsinn der Seeinteresfen und der Landinteressen frei. Am rechten
Ort mag man den Unterschied geltend machen, aber nicht wo es sich um die
eine, unteilbare große Aufgabe handelt, Deutschlands Wehrkraft auf der Höhe
zu erhalten, die zur Wahrung unsrer unteilbaren nationalen Interessen nicht
entbehrt werden kann. Die Verteidigung des Ganzen gilt es, nicht Eroberungen
und Profite zu Gunsten einzelner.
Damit haben wir uns schon einer weitern Frage, die nächst der leidigen
Deckungsfrage die glatte Bewilligung der Flottenvermehrnng dnrch die Reichs¬
tagsmehrheit stören will, genähert, der Kvmpensationsfrage, wie wir sie höf¬
licherweise nennen wollen.
Wer die ganze Entartung, zu der unsre Parteiwirtschaft gediehen ist, nicht
kannte, der konnte eigentlich seinen Augen uicht trauen, wenn er schwarz auf
weiß gedruckt las, daß unter den durch die Mehrheitsparteien formulierten, in
der Budgetkommission an die Regierungsvertreter zu richtenden Fragen die
folgenden waren:
„13. In welcher Weise gedenken die verbündeten Regierungen den Nach¬
teilen zu begegnen, welche aus der Verstärkung der Flotte für die Landwirt¬
schaft zu besuchten sind?"
„14. Sind die verbündeten Regierungen geneigt, im Interesse der Land¬
wirtschaft: s,) eine Maxiinalprüsenzziffer, für Heer und Flotte zusammen
berechnet, zu gewährleisten, welche die Zahl der zu beiden Zwecken auf-
zuhebenden Mannschaften auf ein erträgliches Maß beschränkt? b) Für eine
Erhöhung der Schutzzölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bei den bevor¬
stehenden Handelsverträgen energisch einzutreten?"
schamlos, nackt und öffentlich wird hier der sogenannte „Kuhhandel"
eingeleitet. Unhöfliche Leute könnten in Anbetracht der Notlage des Reichs von
Erpressung reden. Aber so etwas ist nichts überraschendes, nichts neues mehr.
Wir wollen hier uur darauf als auf ein Symptom dafür hinweise«, wie weit wir
in der Art, solche Fragen wie die Flottenfrage zu behandeln, schon gekommen
sind. Auch auf die Forderung erhöhter Agrarzölle wollen wir nicht weiter
eingehn. Diese Frage ist wiederholt in den Grenzboten besprochen worden,
und es genügt, darauf zu verweisen. Dagegen ist die Behauptung, daß aus
der Verstärkung der Flotte sogar Nachteile für die Landwirtschaft zu befürchte»
seien, denn doch, wenigstens an solcher Stelle, überraschend neu. Es erscheint
uus geradezu unerhört, wenn in dieser Weise in die Masse der deutschen
Landwirte etwas so absolut Unerwiesenes, Unerweisbares, objektiv Unwahres
hinausgerufen wird. Nicht nur damit also will man sich begnügen, daß man
unsern Bauern sagt, die für des Vaterlands Wohl und Bestand so unerläßlich
und so dringend nötige Flottenvermehruug geschähe nur zum Vorteile der so¬
genannten „Seeinteressenten," sondern es soll ihnen auch uoch die Ansicht bei¬
gebracht werden, sie gereiche ihnen selbst zum Nachteil. Wie könnte man sich
bei einer so ausgesprochnen agitatorischen Behandlung der Sache noch wundern,
wenn den verbündeten Regierungen endlich ernstliche Zweifel an dem guten
Willen der Reichstagsmehrheit in der Flottenfrage und an der Möglichkeit
aufstießen, mit ihr überhaupt weiter zu des Reiches Besten arbeiten zu können.
Diese Behandlung einer so ernsten großen Sache kommt schon der Stufe der
demokratischen und sozialdemokratischen Vaterlandsliebe unheimlich nahe, und
die Forderung der Maximalpräsenzzahl für Heer und Flotte vervollständigt
diesen Eindruck. Man muß entschieden verlangen, daß die ausschlaggebende
Mehrheit im Reichstag mit dieser verhängnisvollen Politik, in die sich die
Parteien schon zu tief verrannt haben, energisch bricht. Losgelöst von dem
Banne der Partei würden die einzelnen diese Mehrheit bildenden Männer
wohl fast ohne Ausnahme die Unerträglichkeit und Verwerflichkeit einer solchen
Politik anerkennen. Aber die Partei beherrscht die Einzelnen ganz und gar,
der Partei bringt der Einzelne alles zum Opfer, sogar Vernunft, Vaterlands¬
le Expansionspolitik, die alle modernen Völker treiben, hat die
Reibungsflächen zwischen ihnen so vermehrt, daß die Gefahr von
ernsten Konflikten dauernd geworden ist: wenn sie noch nicht
zum Ausbruch gekommen sind, so liegt das weniger an der Ge¬
legenheit, als an der Erkenntnis, daß bei der gegenwärtigen
Weltlage ein solches Unternehmen, wie es der Krieg mit einer modernen Welt¬
macht ist, kaum die Spesen tragen dürfte. Zumal jetzt, wo die Kvntinentalpolitik
auf der ganzen Linie zur Weltpolitik überzugehn im Begriff ist, und neu
auftauchende Staatengebilde die alten Freundschaften zu neuen Erklärungen
nötigen, ist jedes Kabinett vor die Lösung eines so schwierigen Problems ge¬
stellt, beiß es sich hüten wird, durch irgend welche übereilten Schritte das
Schicksal des eignen Volkes und vielleicht der Welt herauszufordern. Bei einer
solchen Lage wird die Politik mehr als je zu einer „Kunst des Möglichen,"
wie Bismarck sagte, und die sich privatim, ohne staatsmännische Verant¬
wortlichkeit, mit ihr beschäftige», sollten sich mehr als je hüten, in irgend
einem Gefühlsausbrüche „Fenster einzuwerfen, die die Diplomatie schwer be¬
zahlen muß."
Betrachten wir hier zunächst die Ziele, die die Politik der einzelnen
Staaten im Auge hat, um uns so über die Stellung klar zu werden, die
Deutschland einnehmen muß.
Rußland steht sonderbarerweise in dem Rufe, in seiner Diplomatie un¬
widerstehlich zu sein, und doch hat es bisher keines seiner Ziele erreichen
können, sondern fast immer Niederlagen und Znrückdümmungen erlebt. Peter
der Große hat seinen Nachfolgern die Aufgabe hinterlassen, Rußland die Bahn
zum Meere frei zu machen. Die nicht eisfreien Häfen der baltischen Provinzen
genügten für das gewaltige Hinterland nicht. Die weitern Schritte auf dieser
Bahn brachte Rußland mit Preußen in Berührung. Es mag sein, daß der
Haltung Rußlands im siebenjährigen Kriege und dem Treubruch Alexanders I.
bei Tilsit geheime Wünsche auf die ostpreußischen Häfen zu Grunde lagen.
Die russische Expansionspolitik wandte sich dann dem Südwesten und Süden
zu lind rollte so die Orientfrage auf. Es hat indessen nur Gebietserwerbungen
in Polen und Bessarabien machen können, sein Ziel, der Ausgang nach dem
Mittelmeer, blieb ihm versagt, trotz mehrerer Kriege. Die Periode der Prestige¬
politik Nikolaus des Ersten endete überraschend plötzlich im Krimkrieg und offen¬
barte den Staaten die innere Schwäche dieses ausgedehnten, aber in sich nicht
gefestigten Reichs. Der Versuch, als Hort des Panslawismus einen Druck auf
Osterreich auszuüben und die kleinen Balkanstaaten in ihren nationalen Be¬
strebungen zu unterstützen, hat ebenfalls mit einem Fiasko geendet. Die Türkei
erwies sich als unerwartet widerstandsfähig und ist nur gekräftigt aus diesem
Kampf hervorgegangen. Unter Bismarcks Vermittlung wurde der russische
Übermut auf dem Orientkongreß in Berlin gezügelt und dagegen Österreichs
Stellung auf dem Balkan gestärkt. Über die Dardanellen durfte Rußland uicht
hinaus. Es scheint nun, daß es sich, die derzeitige Aussichtslosigkeit seiner
panslawistischen Bestrebungen einsehend, vorläufig mit Österreich (1897) auf einen
inoäv.8 vivsncll geeinigt hat und die Orient- und Dardanellenfrage hat zurück¬
stellen müssen. In seinen Expansionsbestrebungen ist dann Nußland an der
Grenze des Möglichen entlang weiter nach Osten geglitten und strebt nun
durch Persien dem Meere zu. Neuerdings kommen Meldungen aus Peters¬
burg, die den Schluß zulassen, daß es wieder ein stärkeres Interesse für die
Balkan- und Dardanellenfrage bekunde, und zwar deshalb, weil England um
dieser Stelle jetzt weniger feindliche Neigungen zeigen solle. Sollte sich diese
Nachricht bestätigen, dann hat sich die russische Diplomatie auf den Leim locken
lassen, Deal am Goldner Horn stoßen sich die Wünsche fast aller andern
Staaten gegen Rußland, und dieses würde sich ernsten Schwierigkeiten be¬
sonders bei Osterreich gegen übersehen. In Persien dagegen war Rußland mit
England allein, und so würde denn, falls jene Nachricht richtig wäre, Eng¬
land nun wieder einmal den russischen Bären von Mittelnsien abgelenkt haben.
Aber auch in der Lösung der persischen Frage hat die russische Politik wohl
denselben Fehler machen wollen, wie seiner Zeit in der Orientpolitik; sie greift
zu weit und überschätzt ihre Machtmittel, Wie in der Dardanellenfrage, so
kann auch hier der endgiltige Erfolg höchstens sein bis zum Meere, aber nicht
auf das Meer, denn die Thürklinke ist in der Hand der Seemacht England,
und ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung ist nicht daran zu denken, daß
dieses seine Hund von der Klinke abziehn wird. Ob aber die Osfensivkraft
Rußlands hinreicht, einen erfolgreichen Vorstoß nach Indien zu machen, wird
selbst von russischen Militärs bezweifelt. Nur besondre Umstände können den
für ein so schwerfälliges und finanziell unentwickeltes Volk übergroßen Unter¬
nehmungen Glück bringen — und diese besondern Umstünde scheint es sich von
Deutschland schaffen lassen zu wollen. Für seine ostsibirischen Besitzungen hat
Rußland seinen Meerausgang und damit sein natürliches Ziel erreicht. Aber
es scheint, daß es auch hier darüber hinauszugehn gedenkt und seine Hand
nach China ausstrecken will. Es zeigt sich immer mehr, daß es geneigt ist,
einem ländergierigen Imperialismus zu huldigen und so alle die Nationen zu
schädige», die auf neutrale Haudelsgebiete augewiesen sind. Wenn das Streben
Rußlands, sich der Eisenbahnen von Kleinasien und Persien zu bemächtigen und
auch in China die Vormachtstellung zu erringen, aufrecht erhalten werden sollte
nach den Ausführungen der Nvwoje Wremja vom 10. Februar dieses Jahres:
„Es ist die uralte elementar-mächtige Strömung Rußlands, die Stellung
zwischen Europa und Asien einzunehmen als geistiger und geographischer Ver¬
mittler, ein historischer Anspruch, für den es sich stark genug fühlt, und den
es als historische Pflicht auffaßt" — wenn das hier niedergelegte Programm
Praktisch durchgeführt werden sollte, dann müssen alle Völker dagegen Stellung
nehmen, die nicht auf die handelspolitische Gnade Rußlands angewiesen sein
wollen, und auch Deutschland, das eine Zukunft sucht in Kleinasien und China,
wird sich nicht ausschließen dürfen, sondern in einem neuen Berliner Kongreß
wie Bismnrck damals in der europäischen Orientfrage, so in dieser asiatischen
Rußland seine Grenzen abstecken müssen. Solange Deutschland reine Konti-
uentnlmacht war, konnte es ruhig mit ansehen, was die andern Völker in
Asien trieben, vorausgesetzt, daß nicht der österreichische Bundesgenosse in seiner
Existenz gefährdet wurde. Aber seitdem Deutschland eine nationale Außen¬
politik zum Schutze seiner wirtschaftlichen Zukunft treibt, hat es genau darauf
zu achten, daß ihm sein Anteil an deu bisher neutralen Märkte,: nicht ge¬
schmälert wird, nud darum darf es jetzt der russischen Expansion nicht mehr
so interesselos gegenüber stehn, wie das noch zu Bismarcks Zeiten möglich
war. Das sollten die bedenken, die dauernd predigen, Deutschland solle sich
an Rußland anschließen, und ein freundschaftliche Gefühle Rußlands für das
Deutsche Reich glauben machen wollen, I» Wahrheit hat Rußland die
„Freundschaft" Deutschlands zu suchen, denn nur wenn diese besteht, könnte
Rußland seine asiatische „Pflicht" erfüllen, Rußland ist ein zusammen¬
gewürfeltes Reich, es hat seine finnlündischc, polnische, kosakische Frage, es ist
noch lange kein Einheitsstaat, sondern steckt voll partikularistischer Be-
strebungen. Das entgeht nur den meisten, weil diese Gegensätze nicht öffent¬
lich zum Ausdruck kommen dürfen. Dieser Mangel um Konzentration ver¬
bunden mit wirtschaftlicher Schwäche würde das russische Reich bald — wie
im Krimkrieg — kampfunfähig machen, wenn etwa die westslawische Frage
gerade dann auftauchte, wenn Rußland an irgend einer Stelle seiner ausge¬
dehnten kolonialen Grenzen beschäftigt würde. Darum die unangenehme Laune
in Rußland, sobald in Preußen eine milde Handhabung der Polenpolitik be¬
merkbar wurde, die die Geister auch im russischen Polen weckte. Als Preußen
bei Beginn seiner neuen Laufbahn Rußlands Neutralität bedürfte, genügte es,
daß Bismarck in der Konvention von 1863 — entgegen der polenschwärme¬
rischen Stimmung in Deutschland — eine entschiedne Stellung gegen die pol¬
nischen Insurgenten einnahm. Allerdings ließ sich Rußland 1870 für seine
„Freundschaft," wie man die russische Neutralität vielfach zu nennen beliebt,
noch ein besondres Geschenk verabfolgen, indem es unter Bismarcks Vermitt¬
lung von England die freie Kriegsschiffahrt ans dem Schwarzen Meere, die
ihm seit dein Krimkriege verboten war, zugestanden erhielt. Von dieser preu¬
ßischen Freundschaft erhofft Rußland, daß sie die Aufrollung der westslawischen
Frage durch Österreich im Augenblick der russischen Festlegung in Asien nicht
zulassen werde. Der PanslawismuS bedeutet eine Gefahr für den Bestand der
österreichischen Monarchie, und sie wird für Österreich nur dann beseitigt sein,
wenn es — nach dein Grundsatz „Der Hieb ist die beste Deckung" — diesen
Panslawismus zu teilen sucht und den Westslawismus unter seinen Doppel¬
adler lockt. Gelingt Österreich dieses, so würde Rußland gänzlich nach Osten
abgedrängt und auf eine dann kaum noch aussichtsreiche Konkurrenz mit Eng¬
land in Asien verwiesen werden. Rußland hat darum alle Ursache, den Drei¬
bund nicht zu reizen, und so erklärt sich erstens seine „Freundschaft" zu
Deutschland, zweitens seine jetzige Reserve in der Bnlkanfrage Österreichs wegen
und drittens seine kalte Freundschaft für Frankreich.
Das sogenannte russisch-französische Bündnis fordert jn von Rußland nur
eine Aktion, wenn Frankreich von Deutschland angegriffen wird. Da diese
Möglichkeit bei dem deutschen Friedensinteresse ausgeschlossen ist, so hat der
Vertrag keine reale Bedeutung, sondern er enthält nur die Andeutung, daß
Rußland Frankreich in Kampfesstellung bringen könnte, wenn die slawische
Lawine ins Rollen käme und Deutschland für seinen Bundesgenossen Öster¬
reich mit den Waffen Partei nehmen müßte. Es ist also Rußland, nicht
Deutschland, das freundschaftlicher Beziehungen zwischen Berlin und Peters¬
burg bedarf. Indessen genügt der zarte Wink mit dem revanchelustigen Frank-
reich nicht, um Deutschland freundschaftlichen Respekt einzuflößen. Mit dem
finanziell schwachen und unkonzentrierten Nußland und dem in sich zerfnlluen
Frankreich allein kann es Deutschlands Stoßkraft, die durch die an Deutsch¬
lands Krnststelluug interessierten Staaten von Österreich, Rumänien und der
Türkei von Südosten her, von Südwesten her durch Italien unterstützt wird,
leicht aufnehmen, wenn nicht eine andre Macht in die Wagschale geworfen
wird, England, Im Interesse Rußlands liegt deshalb die Verfeiudung Deutsch¬
lands und seiner Verbündeten mit England, und russische Prcßagenten ver¬
folgen diese Aufgabe denn auch mit großem Eifer. Bei einem Kampfe zwischen
Zweibund und Dreibund würde bei einem Eingreifen Englands zu Gunsten
des Zweibunds zunächst Italien sehr bald mattgesetzt werden können, sodaß
dann Deutschland und Österreich den Kampf allein führen müßten. In dieser
Lage würde Deutschland der weitaus schwierigsten Prüfung ausgesetzt sein, weil
es nach drei Seiten zu kämpfen Hütte. Daß bei der andern Möglichkeit, dem
Zweikampf zwischen Deutschland und England, unser Nachbar jenseits der Vo-
gesen nicht zögern würde, gegen uns die Waffen zu ergreifen, haben die Ent¬
hüllungen über die französischen Anerbietungen nach der Jamesonschen Depesche
zur Genüge bewiesen. Rußland würde, selbst wenn es seine Neutralität bei¬
behielte, jedenfalls das mir für guten Lohn thun, wie 1871, indem es im
europäischen und asiatischen Orient sein Schäfchen ins Trockne brächte, und es
könnte zudem später noch, worauf es ihm um meisten ankäme, das jedenfalls
für diese Neutralität dankbare Deutschland gegen den dann einzigen russischen
Widersacher, England, nach Belieben ausspielen: kurz, es wäre die alleinige
Macht in Europa, und Deutschland sein politisches Anhängsel.
Diese Bestrebungen, Feindschaft zwischen England und Deutschland zu
säen, scheine» der jetzigen russischen Diplomatie bei der verworrenen Haltung
der deutschen Privntpvlitiker das geeignetste Mittel zu sein, um Deutschland
an Rußland zu fesseln. Ein andres Lockmittel schwebt dem russischen Staats¬
mann Sherebzow vor, er hat es vor vier Jahren in einer Denkschrift über
Rußlands auswärtige Politik preisgegeben. Sherebzow hält es für nötig,
Osterreich zu vernichten und aus den übrig bleibenden Teilen Österreichs und
der Türkei deutsche und slawische Mittelstädten zu bilden, die einen unter
deutschem, die andern unter russischem Schutz. Da in Deutschland kein ver¬
nünftiger Mensch diesen Vorschlag des Treubruchs, ans moralischen Rücksichten
nicht minder wie aus politischen, acceptieren wird — der zudem nur Rußland
stärken und ihm die Dringlichkeit zur maßvollen Haltung abnehmen würde —,
so hat es Rußland vorgezogen, Österreich einstweilen möglichst zu beruhigen,
einerseits wegen der Balkanpolitik, und dann wegen der national slawischen
Kleinstaatsbestrebungen in der österreichischen Monarchie, die ja nur unter
russischem Nachdruck verwirklicht werden könnten. Das letzte geschah noch an¬
fangs März in dein russischen Regierungsblatt Se. Petersburger Herold. Da hieß
es gegenüber einer Anzapfung des jnugtschechisch-panslawistischeil Jguat Horica,
der den Zaren anrempelte, weil er, anstatt an der Spitze von Tschechen und
Franzosen über das Deutschtum an der Spree und Donau herzufallen, eine
Friedenskonferenz berufen habe: „Die hohe Achtung vor fremden Rechten, die
sittliche Überzeugung von der gleichmäßigen Giltigkeit der legalen Daseins¬
ansprüche der Staaten veranlaßte Rußland zur Initiative der Konferenz. . . .
Die Herren mögen sichs merken: Wir haben nach der innersten Struktur unsers
Vaterlands ein eignes, ein rein russisches Interesse an der Erstnrkung der
Autorität überall, an der Festigkeit eines nah benachbarten, konservativ ver-
walteten großen Staats, dessen Individualität nur respektieren, wie er die
unsrige respektiert. Für die Schöpfung kleiner, aufgeregter westslawischer Demo¬
kratien an unsrer Grenze hat kein Mensch in Rußland Interesse" — weil die
Trauben zu hoch hangen. Man versucht nun eben ein geeigneteres Mittel,
die Verhetzung Deutschlands mit England. So hofft man den Rücken frei zu
haben, wenn es zur Auseinandersetzung in Asien kommt. Zugleich erstrebt
Rußland eine freundschaftliche Stellung zu den Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika, die über kurz oder lang zweifellos sowohl mit England wie mit
Deutschland aus weltwirtschaftlichen wie kolonialpolitischeu Gründen in Wider¬
streit geraten werden.
Bevor ein englisch-deutscher Gegensatz akut geworden ist, wird Rußland
die ultiins, rstio in Asien nicht wagen, und es vermeidet daher alles, was ein
frühzeitiges Losschlagen herbeiführen könnte: es weist die französischen Gelüste
auf Ägypten ub und erlaubt seinem Bundesgenossen, ein Faschoda einzustecken;
es vermeidet, aus der südafrikanischen Frage Kapital zu schlagen.
Als Gegenzug gegen diese russischen Künste, Deutschland als Stnrmbvck
zu benutzen, könnte in Frage kommen, ob man Rußland nicht seine Schach¬
figur, Frankreich, abspenstig machen und es so matt setzen konnte, damit Deutsch¬
land nach London und Petersburg in gleicher Weise freie Hand hätte. In
der That ist aus der persönlichen Initiative Kaiser Wilhelms II. heraus
manches geschehn, um die Franzosen von ihrem Nevancheeifer zu bekehren.
Aber diese Versuche können lediglich den persönlichen Haß des Franzosen gegen
den Deutschen dämpfen, die gesellschaftlichen Beziehungen auf das notwendige
Maß der Gesittung führen, der Feindschaft Frankreichs wieder einen ritterlichen
Anstrich geben. Die politische Gefahr aber läßt sich nicht beseitigen. Der
französische Volkscharakter birgt so viel Leidenschaft in sich, daß er aus sich
heraus eine Gefahr ist und bleiben wird, solange nicht eine andre Blutmischung
ein andres Temperament erzeugt. Dazu kommt die politische Unberechenbarkeit,
die jedem rein parlamentarischen Lande, besonders Republiken, anhaftet. Auch
wenn Frankreich Elsaß-Lothringen zurückerhielte, oder gerade dann, würde es
ein Herd der Beunruhigung für Europa bleiben. Wie Frankreichs innere Ge¬
schichte nur Zerfahrenheit kennt und kennen wird, so wird es auch immer der
Sitz der Prestigepolitik sein, gemäß dem Charakter seiner Bewohner, wie dem
deutschen Charakter die ruhige Realpolitik, die Kunst des Möglichen, die Friedens¬
politik angemessen ist. Auch wenn in einzelnen Fällen, z. B. in der Regelung
kolonialer Fragen, ein Einvernehme» erzielt wird, es bleibt der Spruch anch
für die Franzosen immerdar bestehin '1'inröo 1)ii.rin<>L se clong. ksrvn^s. Die
Franzosen sind nicht allein der Erbfeind Deutschlands, sondern sie sind der
Erbfeind des Vvlkerfriedens.
lind selbst Menn eine Versöhnung zustande käme, dann bliebe noch immer
ein Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschlands Verbündeten, Italien und
Osterreich, die nicht dulden können, daß Frankreich sein Verlangen, die un¬
beschränkte Herrschaft im Mittelmeer, erfüllt sehe, und die darum enge Be¬
ziehungen zu dem seegewaltigen England unterhalten müssen. Insonderheit ist
Italien wegen seiner langgestreckten Küsten und wegen seines Kohlcnbedarfs
ans England angewiesen und kann niemals in Feindschaft zu ihm treten, ohne
seine Existenz zu gefährden. Wie das Bündnis zu Deutschland seine Land¬
grenzen sichert, so sichert England seine Küste, und aus diesem Grunde ist
Italien das Bindemittel des Dreibunds zu England.
Sehen wir zu, welche Interessen Englands Weltpolitik zu wahre» hat.
Englands Großmachtstellung beruht einzig und allein ans dem „größern
Britannien." Seine wirtschaftlichen und politischen Existenzmittel sind einseitig:
es ist Industriestaat und Seemacht. Englands Feind ist, wer ihm die Arbeits¬
gelegenheit zu nehmen droht. Es sind so im Grunde alle kolonialpolitischen
Völker seine Gegner, sodaß England die andern Volker nicht in Freunde oder
Feinde, sondern in Feinde erster, zweiter, dritter usw. Klasse einteilen und
seine Politik danach einrichten muß. In erster Linie stehn die, die gegen die
seiner Flagge unterstehenden Absatzgebiete drängen. Das ist Rußland, das
nicht wirtschaftlich, sondern politisch Englands Arbeitssphäre bedrängt, und
zwar ans der ganzen Linie von Konstantinopel bis Peking; dann Frankreich,
das das nordwestliche Afrika der britischen Flagge entzieh» will, und drittens
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, deren panamerikanische Doktrin
Kanada bedroht. Deutschland schien nach englischer Anschanung gleichfalls
unter diese Feinde erster Klasse zu gehören, weil England von dem plötzlich
nach einem Kolonialbesitz strebenden Deutschland eine aggressive Mchrnngspolitik
fürchtete. Der Lärm, den England deshalb erhob, wurde wohl noch vermehrt
infolge der Erkenntnis der eignen Nachlässigkeit. England hat bis in die
achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts nichts gethan, von Staats wegen
seine Kolonien zu vergrößern; es fühlte sich sicher und überließ alles dem Zufall.
Erst als die Deutschen auf der Bildfläche erschienen, änderte es seine nachlässige
Haltung in der Kolonialpolitik in eine verstärkte Expansionspolitik in dem am
meisten vernachlässigten Kontinent, in Afrika, und es hat sich jetzt dort den Löwen¬
anteil zu sichern gewußt. Da diese Politik von gleichartigen Bestrebungen
der ander» Völker begleitet wurde, so war es natürlich, daß dem Eifer das
Kampfgeschrei entsprach, und vo» Afrika el» dauerndes Wetterleuchten nach
Europa hinüberzuckte. Diese Zeit ist nun vorbei; die Grenzen und Interessen
sind überall geregelt. Nur eine Frage ist noch geblieben, die ägyptische, aber
sie geht Deutschland nur insofern an, als ihr Bestehn England für eine freund-
liche Stellung zu Deutschland geneigt machen muß. Von der ägyptischen Frage
gilt noch heute das, was Bismarck in der Neichstngssitzung vom 2. März 1885
erklärte: „Die Freundschaft Englands wäre für uus wichtiger, als das zu¬
künftige Schicksal von Ägypten," eine Anschauung, die er noch in der Mitte
der neunziger Jahre bestätigte durch seine Worte: „Ich sehe für uns keinen
Grund, Steine in den englischen Garten zu werfen." Diese letzte Äußerung
richtete sich gegen das Bestreben deutscher Anglophoben, Deutschland zu einer
Parteinahme für die französischen Ambitionen in Ägypten zu engagieren.
England hatte sich, als Deutschland als Kolonialmacht auftauchte, noch nicht
in die Erkenntnis von der Weisheit der Bismarckischen Tendenz eingelebt, das;
die Volker neben, nicht gegen einander gedeihen. Aus der Kolonialpolitik
Bismarcks, die alles andre nur nicht feindselig gegen England war, hätte dieses
ersehen müssen, daß Deutschland nicht die Absicht hatte und auch jetzt nicht hat,
England in seinem Besitzstand zu schädigen. Das hat Bismarck mehrfach, am
deutlichsten in der Neichstagssitzung vom 26. Januar 1889 ausgesprochen.*)
England wird daher bei ruhiger Überlegung nicht umhin können, Deutschland
zu den entferntem Feinden zu zählen.
England hat nun die Arrondierung seines kolonialen Besitzes ab¬
geschlossen — oder wird sie vielmehr nach Erledigung der südafrikanischen
Frage abgeschlossen haben. Es ist ein Kolonialbesitz übersättigt, nach einem
jüngst erfolgten Ausspruch eines seiner Staatsmänner, und hat nnn lediglich
die Aufgabe des ErHaltens, indem es das „größere Britannien" zu einem in
sich gefestigten Reiche durchbildet und zugleich dessen Grenzen schützt gegen
expansive Nachbarn, vor allem gegen Rußland und Frankreich. Deutschland
steht dem britischen Imperialismus nicht im Wege, es betreibt seine koloniale
Ausdehnung nicht über englische Grenzen, seine Ziele liegen nach andrer
Richtung. Die Periode der Flnggenhissuugen, die beide Völker in nationaler
Nervosität hielt, ist vorüber. Die „freien" Länder sind aufgeteilt, und neue
Gebietserwerbungen können nur noch durch Kauf oder als Kriegsentschädigung
gemacht werden. In dieser Hinsicht aber ist ein ernster Streitpunkt nicht
sichtbar.
Auch in handelspolitischer Hinsicht ist Deutschland nicht gegen, sondern
neben England hochgekommen. Die Annahme der englischen Alarmifteu, die
in dem Wort irmäs in (?ornam^ Ausdruck erhalten hat, läßt sich vor der
Statistik nicht mehr halten. Die Handelsbeziehungen Deutschlands zu dem
Inselreiche lehren, daß eine immer weiter schreitende Arbeitsteilung zwischen
den beiden Völkern stattfindet, ein Vorgang, der die beiderseitige Arbeit immer
mehr auf einander anweist, und die Stellung beider Völker auf dem neutralen
Markt ist nicht feindseliger, als die vieler englischer Kolonien zu ihrem
Mutterland e.
Aber es ist klar, daß die Angst vor der deutschen Geschä'ftsgewandtheit
einen großen Teil des britischen Volks verblendet und zu dem von dem Stand¬
punkt der englischen Politik so überaus thörichten Verlangen, 6oren!maur esso
ÄölenäiUll, geführt hat. Auch an politischen Versuchen, die Entwicklung Deutsch¬
lands niederzuhalten, hat es englischerseits nicht gefehlt. Das war aber da¬
mals erklärlich, weil das Erblühn eines neuen Staatswesens alle andern vor
Zukunftsfragen stellt. In dieser Hinsicht hat England, wie es ja auch die andern
Staaten nicht anders gemacht haben, lediglich in seinem Interesse gehandelt,
wie ja auch wir nur in unserm Interesse handeln sollen. Es giebt viele, die
auch im Leben nicht an Freundschaften, sondern nur an Jnteresseugeiueiuschaft
glauben, im politischen Leben aber ist der gegenteilige Glaube einfach Selbstmord.
Die britische Diplomatie steht vor allen andern Kabinetten vor dem
schwierigsten Problem: sie hat die ganze Welt zum Feinde und möchte deren
Zahl natürlich verringern. Nach einer weitverbreiteten Anschauung ist Deutsch¬
land Englands größter Konkurrent ans handelspolitischem Gebiet, Rußland
bedroht England von der Landseite, und im Einverständnis mit Nußland schielt
Frankreich uach Äghpteu und erstrebt die Vorherrschaft des jetzt englischen
Mittelmeers. In der Ferne taucht die Union als gefährlicher (in der Kohlen-
und Eisenproduktion schon überlegner) Handelskonkurrent auf, der zudem einen
Teil des englischen Bedarfs an Rohmaterial in der Hand hat und jetzt schon
i» der mittelamerikanischen Kanalfrage Anzeichen giebt, daß er England die
härteste Konkurrenz in ganz Amerika und in der Südsee machen wird. Was
da thun? Wir sehen, wie die britische Politik überall antippt, daß sie hin-
und hcrschwankt. Man befreundet sich mit der Union, um diese der russischen
Neigung zu entziehn: aber vitale Interessen erzengen schon jetzt bei den Yankees
ablehnende Stimmnnge». Man fragt bei Frankreich an und glaubt, daß sich
dieses als Sturmbvck gegen Deutschland gebrauchen lassen werde; aber die
französischen Staatsmänner würden jedenfalls Ägypten beanspruchen und fürchten
zugleich einen großen Kampf wegen der französischen Kolonien, Dann erscheint
Deutschlands gefestigte Stellung in Mitteleuropa wieder der englischen Politik
notwendig, um die russische Politik von Asien abzulenken, und man sucht die
deutsche Freundschaft, um Rußland mehr um seine Westgrenze zu fesseln. Und
schließlich müssen auch noch Familienbeziehungen zwischen Petersburg und
London herhalten, um die russische Politik von der Wahrung der eignen
Interessen hinwegzulocken. Man sieht, es ist ein vrndari-us as riolrösss von
Problemen, die der britischen Staatskunst zur Lösung stehn.
Bei der jetzigen Schwäche Deutschlands zur See widersteht England wohl
nur schwer der Lockung, der deutschen Handelskonkurrenz ein schnelles Ende
zu bereiten, und zweifellos ist es dazu jetzt auch in der Lage, Die England¬
hetze, die von denen in Deutschland betrieben wird, die aus dem Niederbruch
der deutschen Industrie Bordelle ziehn oder ihn doch in Gemütsruhe mit¬
ansehen könnten, mehrt in England die Partei derer, die das Llermaniain
6886 (t«z1önclg.in vertreten. Aber diese Stimmungen werden ans beiden Seiten
vorübergehn. Es ist das Charakteristikum der Volkspvlitik, daß sie immer wie
hypnotisiert auf einen Punkt starrt, der gerade im Vordergrunde steht, und
darum den Blick für das Ganze verliert, wie ihn der Staatsmann haben muß.
Die Erkenntnis der wahren Sachlage in der vermeintlichen Gefahr der deutsche»
Expansion für England wird aber auch in englischen Volkskreisen allmählich
durchdringen und damit zugleich das Bewußtsein, daß bei dein Mangel an ernsten
Gegensätzen und der gesamten Lage gegenüber alles vermieden werden muß,
solche künstlich zu schaffen, lind zwar ans beiden Seiten, Denn auch ans
deutscher Seite ist — nicht von der Diplomatie, sondern von Phantasie¬
politikern — zur Entstellung der wahren Lage viel beigetragen worden.
Die Englandhetze ist jetzt bei uus modern, und wer ans Kommersen oder
sonstwo populär bei uns werden möchte, der kann es sehr schnell dnrch ein
Bonmot gegen England erreichen, und zahllose „Patrioten" suchen diesen billigen
Ruhm, Die Abneigung der Deutschen gegen die Engländer läßt sich ja wohl
erklären: daß die Engländer kein Verständnis für ein Volk von „Denkern" und
„Dichtern" haben, ist ans dem Gegensatz zwischen materiellem und idealem
Sinn zu verstehn; auch bei uns sehen die „praktischen" Kreise zuweilen ans
die geistigen Elemente mit einer gewissen Geringschätzung, weil diese noch andre
Ideale haben als den Thaler. Vielleicht stammt ein Teil der Abneigung
des Deutschen gegen den Engländer ans dein umgekehrten Gefühl, nämlich aus
dem idealen und ästhetischen Sinn des Deutschen, Es ist dasselbe wie mit dem
Antisemitismus: der ästhetische Deutsche sträubt sich gegen den jüdischen Rassen¬
typus, der ideale Deutsche gegen den krassen jüdischen Materialismus, und der
gesellschaftlich vornehur gebildete Deutsche gegen die unangenehmen Formen
des jüdischen Umgangs, Genau dasselbe könnte man mu.eg.dis nmtiwclis als
Deutscher gegen das Engländertum sagen, das nur bei uns zu sehen gewohnt
sind. Der Deutsche urteilt gern »ach Äußerlichkeiten und läßt sein Empfinden
gern von äußern Eindrücken bestimmen. Da erscheint uns ja die Kinnbacken-
Partie des englischen Typus und ihre Kraftmeierei unästhetisch, und wir bringen
sie zusammen mit der Brutalität, die wir als englischen Charakterzug bezeichnen
hören; wir sehen die rilclsichtslose Hnltnng des Engländers und sein auffälliges
Äußere und empfinden diese Rücksichtslosigkeit gegen deutsche Sitten als kränkend;
wir bringen diese Empfindungen zusammen mit den Mitteilungen über Un
maniereu bei politischen Vorgängen, Das ganze Bild verdichtet sich immer mehr
in der Volksseele zu einer Abneigung gegen das Britentnm, Es mag sein, daß
diese Abneigung noch verstärkt worden ist dnrch den Umstand, daß Nur gerade
dort, wo wir uns eine neue Welt zu schaffen gedachten, in Afrika, einen
Cecil Rhodes fanden, der viele deutsche Pläne durchkreuzte, zum Teil allerdings
unterstützt durch die Abneigung Bismarcks gegen eine foreierte Erpansivpolitik,
Nun denken viele Deutsche!?, die Engländer wären lauter Rhodes, während in
Wirklichkeit derartige Personen drüben nicht öfter vertreten sind als bei uns.
Ob diese persönliche Abneigung bei uus weiter besteht oder nicht, ist ziemlich
gleichgültig: wenn sie uns dazu anspornen sollte, den Engländern moralisch
und politisch überlegen zu werden, so möge fie lieber besteh», aber dieses
Gefühl darf uus nicht verleiten, blind gegen unsern eignen Vorteil zu sein,
wo es sich um dauernde Interessen des Staates handelt. Wir dürfen als ein
Volk, das Selbstzucht ehrt, nicht den? Beispiel Frankreichs folgen, das fast eine
komische Figur geworden ist und seine Gefühle ständig von fremden Wasser¬
strahlen gedämpft sieht. Es ist möglich, daß bei der Beurteilung der aus¬
wärtigen Politik in manchen deutschen Kreisen auch noch veraltete Anschauungen
ihr Recht zu behaupten suchen: den Liberalen erschien England und Amerika
als Land der Freiheit, den Konservativen Rußland als Vertreterin ihres
Prinzips, und umgekehrt. Aber diese Anschanungen sind zweifellos dnrch die
Thatsachen gegenstandlvs geworden, seitdem die Einmischung in die innern
Angelegenheiten andrer Staaten verpönt worden ist. Bei dem jünger» Geschlecht
bricht immer mehr die Erkenntnis Bahn, daß die Staaten nur nach ihrem macht-
Politischeu Interesse für uns zu beurteilen sind. Wir sehen die Staaten nicht
mehr vom liberalen oder vom konservativen Standpunkt, sondern vom natio¬
nalen, vom deutschen. Nach einer Mitteilung Theodor Mommsens sagte
Vismarck in einem Privatbrief: „Auf die Frage, ob ich russisch oder west¬
europäisch gesinnt sei, habe ich immer geantwortet, daß ich ein Preuße bin.
Was fremde Länder betrifft, so habe ich einzig Sympathie für England und
seine Bewohner gefühlt; und selbst jetzt bin ich zu Zeiten nicht frei davon;
aber sie wollen es uns nicht erlauben, fie zu lieben."
Und wir sollen sie anch gar nicht lieben; dabei würden wir zu kurz
kommen; und ihre Liebe hat auch gar keinen Wert für uns, besser ist es, wenn
ihr Eigennutz sie veranlaßt, sich mit uns zu verständigen. Mit Sympathien
ist in der hohen Politik nichts anzufangen. Es kann für die deutsche wie für
die englische Politik nur einen Grund geben, nämlich die größten Vorteile für
das Volk zu erzielen, nicht einen vorübergehenden — wie es für Deutschland
die Samoa- und Bnreneifcrer verlangten —, sondern einen dauernden, und
dieser kann nur gewonnen werden, wenn Deutschland in seinen verant¬
wortlichen Stellen sich von Liebe und Haß gleichmäßig fernhält und so
— gänzlich unbefangen — ermöglicht, daß der latente Gegensatz zwischen andern
Staaten nicht zum Ausbruch kommt, sondern möglichst lange fortbesteht, bis
nur unser Schäfchen ins Trockne gebracht haben.
Das kann nicht erreicht werden, wenn deutsche Volksstimmungeu die Leitung
unsrer auswärtigen Politik in einen Haß gegen einen der andern Staaten hinein¬
zutreiben suchen. Die Kaltblütigkeit, die unsre Regierung gegenüber der jetzt
modernen nntienglischen Stimmung bewahrt hat, wird ihr die Geschichte als
Ruhmestitel ihrer Staatskunst zuweisen. Es liegt in der Natur menschlichen
Charakters, daß sich auch Regierungen, um populär zu werden, gegen Volks¬
stimmungen zugänglich zeigen, zumal in einem parlamentarischen Lande. Größer
und verdienstvoller aber ist der Widerstand des Pflichtbewußtseins gegen mensch¬
liche Schwäche. Daß England unser Erbfeind sei, oder umgekehrt Deutschland
der Englands, ist eine Lüge; wahr ist nur, daß England ans handelspolitischen
Gründen das Aufkommen des kraftvollen Konkurrenten zu hindern gesucht hat,
genau so, wie Österreich und Frankreich, Rußland usw. dem aufstrebenden
Preußen seit jeher Steine in den Weg geworfen haben. Sie handelten in
ihrem Interesse und sehr richtig von ihrem Standpunkt. Erst als Österreich
eingesehen hatte, daß Preußen nicht niederzuhalten war, wurde es nicht aus
Freundschaft, sondern ans eignem Interesse unser Bundesgenosse, und
genau dieselbe Wandlung muß England in seinem eignen Interesse machen.
Es wird sich notwendigerweise zu einer Mitarbeit mit dem deutschen Volke
entschließen und der Nersuchuug, Deutschland niederzuzwingen, widerstehn in
seinem Interesse: daß das nicht geschehn wird, weil es uns liebt oder mit
uns sympathisiert, ist selbstverständlich, ebenso wenig wie die Stellung Deutsch¬
lands hoffentlich jemals von solchen Gefühlen beeinflußt werden wird. In dieser
Hinsicht kann die Englandhetze bei uns lediglich den Erfolg haben, die Nachbarn
zu einem Versuch zu ermuntern, Deutschland als Stnrmbock ihrer Interessen
zu benutzen. Deutschland aber hat ein Interesse all dem friedlichen Neben¬
einander mit England, weil es nur so in Ruhe seine Ziele zur Schaffung
eines großem Dentschlands durchführen kann. Obgleich sich manche Kreise bei
uns bemühen, unsern leitenden Kreisen eine Neigung für England unterzu¬
schieben, so läßt sich doch nichts Thatsächliches für diese Behauptung erbringen,
und ihre Absurdität müßte denn auch durch die Veröffentlichung der diplo-
matischen Aktenstücke über die Beschlagnahme deutscher Dampfer auch für die
erwiesen sein, die den Wert des Diplomaten nach seiner in Verhandlungen zu
Tage tretenden Grobheit schützen.
Seitdem Deutschland nicht mehr Kontinentalmacht ist, sondern die Hälfte
seiner Interessen das Meer passieren muß, die mit Kanonen zu schützen eS
jetzt noch nicht in der Lage ist, muß die deutsche Diplomatie noch emsiger
auf die Wahrung der Grundsätze ausgehn, die Fürst Bismarck über das zwischen
beiden Ländern innezuhaltende Verhältnis zu wiederholten malen -- und be-
sonders in dem Jahre, das den Beginn deutscher Kolonialpolitik anzeigt, die
doch einen äußern Grund für Konflikte bieten konnte— ausgesprochen hat.*)
Die gemeinsamen Interessen der beiden arbeitsamen Völker aber liegen
in der Richtung, nicht zu dulden, daß andre Staaten ihnen in unlautern Wett¬
bewerb das Arbeitsfeld beschränke«. Als die deutsche Flagge in Südwestafrikn
gehißt wurde, da stellte die Se. James Gazette den englischen Staatsgruudsatz
auf, daß alles Land, das nicht unter der Jurisdiktion einer „zivilisierten"
Macht steht, durch einen Federstrich zu englischem Gebiet gemacht werden könne.
Auf der Kongokonferenz wurde diese Anmaßung gehörig gedämpft und dem
internationalen Wettbewerb die Gleichberechtigung geschaffen. Nun, diese An¬
maßung nehmen jetzt andre Völker auf. Die Union stellt eine Doktrin auf,
nach der Europa von Amerika nilsgeschlossen wird — nicht dnrch ernste Arbeit,
sondern einfach dnrch eine Phrase, lind zugleich verfügt sie über den mittel-
amerikanischen Kanal, als ob alles amerikanische Land von einem Polnrmeer
bis zum andern ihr gehöre. Daß dadurch der Handel und die Interessen aller
Handelsvölker, insonderheit aber Dentschlnnds und Englands, schwer geschädigt
werden, liegt ans der Hand, und beide haben das gemeinsame Interesse, daß
die Monroephrase nicht einfach zur That werde. In Asien macht Rußland
Miene, den bisher neutralen Markt einfach in seine Sphäre hineinzuziehn, es
schließt Verträge über Eisenbahnbau und Handel, die die fremde Arbeit kurzer
Hand von diesem Markt abdrängt und sie der Gnade Rußlands preisgiebt.
Hier liegen wiederum gemeinsame Interessen Englands und Dentschlnnds vor,
und es ist nötig, daß die Grundsätze der Kongokonferenz und die der Berliner
Konferenz von neuem festgesetzt werden, wenn anders die deutsche Weltpolitik
einen Zweck haben soll. Die den Friede» fördernde Gepflogenheit, die jetzt
immer üblicher wird, die Interessensphären abzugrenzen und vor neuen Gebiets-
erwerbungeu die Zustimmung der Mächte einzuholen, darf nicht von einer
Macht einfach ignoriert werden. Deutschland darf darum nicht dulden, daß
sich andre Mächte darüber hinwegsetzen.
Die Juteressengemeiuschnft hört auf, wenn unmittelbar Zwistigkeiten ent-
stehn, z. B, wenn Nordamerika mit Deutschland wegen der Zollverhültnisse
oder mit England Kanadas wegen in Schwierigkeiten gerät; oder wenn Ru߬
land mit Deutschland wegen der Arbeiterfrage und mit England wegen des
persischen Golfs Auseinandersetzungen hat. Deutsche Interessen werden in dem
letzten Falle nicht berührt. Rußland bedarf dieses Ausgangs zum Meere,
Wenn sich England dadurch in Indien bedroht glaubt und dieser Ansicht in
einem Kriege gegen Nußland Ausdruck giebt, so ist das Englands Sache. Für
Deutschland kann dieser Kampf erst dann Interesse gewinnen, wenn eine der
beiden Parteien im Falle des Siegs das Maßhalten verliert und Miene macht,
internationale Interessen, die mit dem Kampfobjekt nichts zu thun haben, zu
schädigen, oder wenn die eine Macht so geschwächt wird, daß das Gleichgewicht
bedroht ist. Nur durch Maßhalte« ist 1866 und 1871 die Intervention fremder
Mächte, die immer beschämend ist, ferngehalten worden.
Es berührt eigentümlich, daß dieselben Politiker, die nicht müde werden,
gegen England zu Hetze», Nußland gegenüber besorgt siud, daß es ein Wort
oder einen Blick übel nehmen könnte. Eine solche Haltung ist nicht deutsch,
sie ist russisch, sie besorgt lediglich Rußlands Geschäfte. Für den deutschen
Diplomaten kann es allein darauf ankommen, deutsche Ziele zu verfolgen, und
wenn diese Ziele dem Nachbar zur Rechte» oder dem zur Linken oder auch
dem angelsächsischen Vetter nicht gefallen, so mag er thun, was er nicht lasse»
kann. Die Weltlage ist derart, daß der Engländer wie der Russe Anlaß hat,
sich des deutschen Wohlwollens sicher zu halte», und daß er sich in das Un¬
vermeidliche fügen wird, um der größer» Sache willen. Wer im Gedränge
nach allen Seiten Bücklinge machen will, stoßt überall an, und am besten
kommt der vorwärts, der ohne viel rechts und links zu sehn hindurchstrebt
uach seinem Ziele. Der Wille imponiert, nicht das Rücksichtnehmen. Seinen
Willen durchzusetzen, dazu gehört allerdings Kraft. Nun ist unsre Landseite
zwar stark, aber die Seeseite harrt noch des Waffenschutzcs, der starken Flotte.
Wer weder eine russische, noch eine englische, sondern eine deutsche Politik will,
der decke Siegfrieds Schwäche mit Stnhlpanzern. Nur so wird es dem deutschen
Volke gelingen, seinen Weg zu gehn.
Wo ein Wille ist, ist anch ein Weg. Der Weg der dentschen Weltpolitik
führt auf schmalem Steige a» Klippe» und Abgründen vorbei, er erheischt von
denen, die ihn betreten, kaltblütige Sicherheit; aber er ist da, und er führt
auf die Höhe deutscher Wohlfahrt. Da soll man nicht zagen und ängstlich
um sich scheinen, wenn hie und da ein Stein in deu Abgrund poltert; nnr
vorwärts muß der Blick gerichtet sein, nicht rückwärts oder in die Tiefen, nnr
vorwärts ans die deutsche Zukunft.
n Preußen ist im Frühjahr 1898 der auf Errichtung eines
städtischen öffentlichen Mädchengymnasinms nach dein Lehrplane
eines sogenannten Refvrmgymnasiums gerichtete Antrag des
Magistrats zu Breslau von der Unterrichtsverwaltung » liminv
abgelehnt worden, und zwar, wie der damalige Kultusminister
im Al'gevrduetenhause am 20. April 1898 ausführte, wegen des engen Zu¬
sammenhangs der Sache mit den Verhältnissen der Universitäten und mit den
Lehrerinnenprüfungen. Man wird dein Minister darin nur beipflichten können,
daß ein Zugeständnis auf diesem Gebiete einen nicht wieder rückgängig zu
machenden Schritt im Sinne der modernen Frauenbewegung bedeutet habe»
würde, die über die bloße Erweiterung unständiger Erwerbsthätigkeiten für
Frauen, wie wir gesehen habe», mehr oder weniger „zielbewußt" hinausgeht
und in das gefährliche Fahrwasser der unnatürlichen Franenemanzipntion mit
vollen Segeln hineinsteuert.
Von den wissenschaftlichen Berufen, die neuerdings von Frauen ergriffen
und erstrebt werden, erweist sich bei nähern Zusehen nur ein verhältnismäßig
Keiner Teil als geeignet, weiblichen Personen eine» dauernden Erwerb und
eine Stellung im öffentlichen Dienst zu gewähren. Die Theologie scheidet
selbstverständlich aus. Wenigstens bei uns in Deutschland wird die Gemeinde
aller menschlichen Voraussicht nach weibliche Prediger, Superintendenten und
Konsistorialräte sich noch auf lange Zeit hinaus, ja hoffentlich für immer ver¬
bitten. Es fehlte gerade noch, daß zu den zahlreichen, nicht genügend erzognen
und vorgebildeten Geistlichen nun auch in der evangelischen Kirche noch Frauen
auf die Kanzeln und an die Altäre kämen. Das Nulisr tÄ«zskr> in soolsZis. ent¬
spricht durchaus unserm Volksbewußtsein, Daß sich Frauen für obrigkeitliche und
richterliche Ämter nicht eignen, ist fast allgemein wenigstens bei uns in Deutsch¬
land anerkannt. Die Frau ist ihrer ganzen Naturanlage nach auf ihr Gefühl
angewiesen; ihr Urteil wird fast immer durch Sympathie oder Antipathie
prüotknpiert sein, und deshalb ist sie für richterliche oder obrigkeitliche Ämter
durchgehend?' ungeeignet. Weniger ins Auge fallend ist der Einfluß der
spezifisch weiblichen Naturanlage auf die Thätigkeit der Frau als Anwalt,
Notar und Rechtstonsulent; allein die Advokatur ist bei nus in Deutschland,
seitdem wir die Neichsjustizgesetze und durch sie die sogenannte freie Advokatur
haben, zum Nachteil der Anwälte und des Publikums so überfüllt, daß in ab¬
sehbarer Zeit an die Zulassung von Frauen zur Advokatur sicher nicht zu
denken ist. Hiernach bleiben nur noch zwei Fakultäten für die Frauen übrig,
die philosophische und die medizinische. Beide kommen in der That für
das Studium der Frauen in Betracht, beide können unter gewissen Ein¬
schränkungen den Frauen geöffnet werden, und beide umschließen Wege, auf
denen eine Frau unter Währung ihrer natürlichen Weiblichkeit zu einer wissen¬
schaftlichen Thätigkeit und zu einem ausreichenden, hochanständigen Erwerbe
gelangen kann. In diesen beiden Fakultäten werden denn auch thatsächlich
auf zahlreichen Universitäten schon jetzt Frauen zum Kollegienbesuch wie zu
den Seminarübungen zugelassen.
Die philosophischen Fakultäten unsrer Universitäten sind Sammelsurien
sehr verschiedner Wissenschaften, die sich in den andern Fakultäten nicht
unterbringen lassen. In ihnen finden sich die Historiker, Geographen und
Ethnographen, die Astronomen und Mathematiker, die Nationalökonomen
und Statistiker, die klassischen Philologen, die Neusprachler und die ver¬
gleichenden Sprachforscher, die Orientalisten und Litterarhistoriter, die Ver¬
treter der Naturwissenschaften, also Chemiker, Physiker, Botaniker, Zoologen,
die Geologen nud Mineralogen mit den Vertretern der spekulativen Philosophie,
mit den Logikern, Metaphysiken,, Neligionsphilvsophei? und Psychophysikem
einträchtig oder auch feindselig zusammen. Es war früher ein schöner Zug der
deutschen Universitäten, daß jeder Student, der sich als Theolog, Jurist oder
Mediziner immatrikulieren ließ, zugleich bei der philosophischen Fakultät ein¬
geschrieben wurde. Das war der Ausdruck der Würdigung der allgemeinen
Bildung als unerläßlicher Grundlage lind Ergänzung jedes spezialwissenschaft¬
lichen Studiums, In der That wird man zugeben müssen, daß es Frauen
geben kann und giebt, die in einem oder mehreren Fächern der philosophischen
Fakultät eine wissenschaftliche Ausbildung erstreben und auch die Fähigkeit
haben können, sie zu erlangen. Ich will nur an Sonja Kowalewska erinnern,
die gelehrteste Frau auf dem Gebiete der Mathematik, die es je gegeben hat.
Sie hat mit phänomenaler Genialität wissenschaftliche Probleme gelöst, an
denen die gelehrtesten Männer ihres Faches gescheitert waren. Das sind ver¬
einzelte Ausnahmen; gewiß. Aber solche Ausnahmen kommen vor, und es
wäre eine unerhörte Philistrositüt, vor den Frauen solcher Art die Hörsäle der
akademischen Wissenschaft ein für allemal zuzuschließen. Nur daß man um
dieser verhältnismäßig seltnen Ausnahmen willen uicht die höhere Mädchen¬
schule mit ihren grundsätzlich richtigen weiblichen Bilduugswegeu und Bildungs¬
zielen desorganisiere und sie in eine gymnasiale Schablone hineinzwänge, die
für die große Mehrzahl gebildeter und bilduugsbedürftiger Mädchen nicht paßt,
sie vielmehr leiblich, seelisch und geistig ruinieren würde. Geniale, willens¬
starke Frauen, die für solche wissenschaftliche Arbeit befähigt sind, werden sich
auch ohne Mädchengymnasium die Vorbildung zu verschaffen wissen, deren sie
für das Universitätsstudium bedürfen. Um diese Vorbildung darthun zu können,
hat man ihnen in Preußen erlaubt, als Extrnueermnen an einem Gymnasium
die Reifeprüfung abzulegen. Davon wird auch mit gutem Erfolge Gebrauch
gemacht, und diese Konzession genügt vollkommen, daS Bedürfnis zu befriedigen.
Die Vorbereitung zur Reifeprüfung aber verschaffen sich die wissenschafts-
dnrstigen Mädchen privatim, wie das ja auch unter dem Zwange besondrer
Lebensverhältnisse eine Reihe junger Männer thut. Die besondern Kurse, die
man in Berlin unter der Leitung des bekannten Fräulein Helene Lange ein¬
gerichtet hat, siud eine Privatveranstaltuug, die vollkommen ausreicht, und die
mau wohl hie und da als Mädchengymnasinm bezeichnet hat, auf die aber
diese Bezeichnung nicht zutrifft. Denn die jungen Mädchen, die diese Kurse
besuchen, haben sämtlich die höhere Mädchenschule durchlaufen und sind jeden¬
falls nicht als Kinder vor der Zeit ihrer Entwicklung auf Lateinisch, Griechisch,
Mathematik usw. dressiert worden. Sie haben den Entschluß, die wissenschaft¬
liche Arbeit auf sich zu nehmen, erst zu einer Zeit gefaßt, in der sie und ihre
Eltern oder deren Stellvertreter die Voraussetzungen und die Tragweite dieses
Entschlusses wenigstens einigermaßen zu übersehen in der Lage waren. Nicht
wenige von ihnen fallen gleichwohl nachträglich wieder ab, und wohl ihnen,
wenn sie zur rechte» Zeit erkennen, was zu ihrem Frieden dient. Die starken
und tüchtigen aber, die es aushalten und durchsetzen, werden dann auch den
Lohn ihrer »»gewöhnlichen und entsagnngsreichen Arbeit finden. Er sei ihnen
von Herzen gegönnt.
Sieht man von diese» wissenschaftliche» Spezialisli»»e» ab, so bleibt in,
Bereiche der philosophische» Fakultät nur noch eine Kategorie übrig, die um»
als legitimiert für das akademische Studium anerkenne» kann, das sind die
Lehrerinnen, die ihre Ausbildung wissenschaftlich vertiefe» »»d erweitern wolle».
Der Notwendigkeit, ihnen den Weg dazu zu öffne», kaun sich der Staat ans
die Dauer nicht entzieh,,. Sicherlich ist für unsre höher» Mädchenschule» die
Kraft tüchtiger, akademisch gebildeter, männlicher Lehrer nicht ganz zu entbehre».
Aber ebenso sicher ist es dringend wünschenswert, daß wir wissenschaftlich tüchtige
Lehrerinnen haben, die befähigt sind, bis in die erste Klasse der höher» Mädchen¬
schule mit Erfolg zu unterrichte». Und so gewiß der Staat alle» A»laß hat,
die höhern Mädchenschule» »och weit mehr als bisher unter seine besondre
Obhut zu nehme», um sie für die möglichst vollkommne Lösung ihrer große»
Aufgabe auszurüsten, so gewiß in»ß er sich mich auf die höhere Vorbildung
wissenschaftlich tüchtiger Lehrerinnen einlasse», und hier wird es nicht einmal
durchweg des gymnasialen Abiturientenexamens für solche Lehrerinnen bedürfen,
die Willens und fähig sind, sich akademisch-Unsseiischaftliche Bildung anzueignen.
Eine Lehrerin, die sich als solche schon bewährt hat, wird auch ohne Ausweis
über das Maß humanistischer und altsprachlicher Kenntnisse, wie es in dem
gymnasiale» Abiturientenexamen gefordert wird, eine sittliche und intellektuelle
Reife zeigen, die jene Lücke ausfüllt. Es handelt sich hier um einen ganz be¬
stimmten Berufskreis, und für diesen ersetzt die echte Weiblichkeit in gewissem
Umfange den Mangel an sonst normalem Wissen. I» Preuße» hat nun, in dieser
Beziehung Wege eingeschlagen, die sich vortrefflich zu bewähre» scheinen. I»
Göttingen und am Viktoria-Lyceum in Berlin hat man privatim akademische
Fortbildungskurse für Lehrerinnen eingerichtet, die sich für den Unterricht auf der
Oberstufe der höhern Mädchenschulen wissenschaftlich ausbilden wollen. Diese
.Kurse werde» von Universitätsprofessoren abgehalten, und alle Beteiligten sind
einig in der Freude an den günstigen Erfolgen dieser Veranstaltung. Es ist weise
und erfreulich, daß der Staat diese Kurse durch die Abhaltung von Abgangs-
prüfnngen und die Ausstellung amtlicher Zeugnisse über deren Erfolg anerkennt
und fördert. Wo sie noch nicht besteh,,, da mag den tüchtigen Lehrerinne»
immerhin auch der freie Besuch von Universitätsvorlesnngc» geöffnet werden.
Auf diesem Gebiete treten die Gefahren, an die man dabei denken könnte, weit
zurück gegen den unzweifelhaften Gewinn, den Staat und Schule einheimsen,
wenn eine Anzahl tüchtiger Lehrerinnen zur Selbständigkeit des wissenschaft¬
lichen Urteils und der eindringenden ivissenschaftlichen Arbeit herangebildet wird.
Es erübrigt noch ein Wort über das medizinische Studium der Frau.
Die Frauenrechtlerinnen reklamieren dieses Gebiet mit besondern: Eifer für ihr
Geschlecht, und die Art und Weise, wie sie dies thun, trägt »»zweifelhaft eine»
Teil der Schuld an den Vorurteilen, denen man hierbei sowohl im Publikum
wie namentlich in ärztliche,, Kreisen vielfach begegnet.
Die Frau ist die geborne Krankenpflegerin. Wunden schlagen und die
verletzte Rechtsordnung mit unerbittlicher Strenge aufrecht halten, ist nicht der
natürliche Frauenberuf. Wohl aber Wunden heilen helfen, die Kranken mit
milder Freundlichkeit und freudiger Selbstaufopferung pflegen, sie trösten und
erquicken, das entspricht ganz und gar der weiblichen Natur. Freilich sind der
Beruf der Krankenpflegerin und der des Arztes zwei verschiedne Dinge. Die
Krankenpflege ist das Feld, das berufslosen Frauen in erster Linie gewiesen
ist, und der Segen, mit dein die evangelischen Diakonissen und die krnnken-
pflegenden katholischen Frauenordeu gewirkt haben und noch wirken, ist un¬
beschreiblich groß und wird auch in den weitesten, selbst nichtkirchlichen Kreisen
widerspruchslos anerkannt. Wir wissen wohl, daß auch auf diesem Gebiete
manches noch anders und besser sein könnte. Aber das soll uns die freudige
Genugthuung über den gesegneten Umfang und Erfolg dieser lebendigen Liebes¬
thätigkeit edler Frauen nicht trüben. Hier ist noch Raum für viele Töchter
unsers Volks, denen der natürliche Beruf als Frau und Mutter versagt bleibt.
Der Schritt vou dem Berufe der Krankenpflegerin zu dem des weiblichen
Arztes erscheint auf den ersten Blick klein. In Wirklichkeit aber ist er sehr
groß. Zwar erfordert auch die Samariterthätigkeit der Krankenpflegerin eine
gewisse Unterweisung, ein technisches Geschick und bestimmte Fertigkeiten; aber
die Verantwortung der Krankenpflegerin ist weit geringer als die des Arztes,
ja sie wird im wesentlichen von der Verantwortung des Arztes gedeckt und
absorbiert.
Über die Wurde, die Verantwortung und die Schwere des ärztliche» Be¬
rufs herrschen im Publikum, auch im gebildeten Publikum, vielfach ganz un-
zutreffende, teilweise geradezu gedankenlose Anschauungen. Daß ein Teil der
Ärzte durch ihr Verhalten daran mitschuldig ist, läßt sich uicht bestreiten.
Wenn man aber erwägt, in welchem Umfange Leben und Glück von Menschen
in die Hand des Arztes gelegt sind, so wird mau über die Notwendigkeit, die
staatliche Approbation des Arztes von der Erfüllung sehr strenger und um¬
fangreicher wissenschaftlicher Voraussetzungen, von einer sehr ernsthaften Schulung
zu allgemeinem technischem Wissen und Geschick abhängig zu mache», nicht im
Zweifel bleiben können. Von allen staatliche» Prüfungen ist die ärztliche
Approbationsprnfung die strengste und schwerste. Und davon läßt sich nichts
abHandel», anch nicht für die ärztlichen Spezialistin. Denn der menschliche
Organismus, die wunderbare Krönung der gesamten Schöpfung, ist ein über¬
aus kompliziertes, einheitliches Ganze, das sich nicht willkürlich teilen und zer¬
reißen läßt, ohne es zu gefährden. Wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit, und nur das volle Verständnis des ganzen Organismus und der
Funktionen aller seiner Teile bietet die Gewähr dafür, daß der ärztliche Ein¬
griff in Bezug auf einen der erkrankten Teile nicht für das Ganze, für das
lebe materielle Schützung in seinem Werte übersteigende Menschenleben ver¬
hängnisvoll werde. Die Summe der Mindestanforderungen, von deren Er¬
füllung der Staat auf Grund sachverständigsten Ermessens die Erlaubnis zur
Ausübung der Heilkunde unter staatlicher Autorität abhängig macht, muß des¬
halb von jedem ohne Ausnahme geleistet werden, der die staatliche Approbation
als Arzt begehrt.
. Unter den Ärzten herrscht zur Zeit die Meinung vor, daß Frauen über¬
haupt nicht sähig seien, diesen Anforderungen zu entsprechen, Nieder nach ihrer
körperlichen Kraft noch nach ihrer psychischen und geistigen Naturanlage. Aus
denselben Gründen wird den Frauen vielfach auch die Fähigkeit zur normalen
Ausübung des ärztlichen Berufs abgesprochen. In dieser Allgemeinheit ist
aber das abfällige Urteil, wie sich aus dein über die Fähigkeit von Frauen
zu wissenschaftlicher Arbeit überhaupt Gesagten ergiebt, nicht zu begründen und
nicht der Wirklichkeit entsprechend. Es giebt Frauen, die körperlich und geistig
alles leisten können, was zur Erlangung der vollen ärztlichen Approbation
und zur Ausübung der Heilkunde erforderlich ist. Richtig ist nur, daß der¬
artige weibliche Kraftnaturen selten sind, und daß es verhältnismäßig nur einer
kleinen Anzahl körperlich und geistig besonders begabter Frauen gelingen wird,
dieses Ziel zu erreichen.
Da aber die Ausübung der Heilkunde ihrem Wesen nach ein Dienst an
der leidenden Menschheit ist, lind da dieser Dienst an sich nicht unweiblich ist,
vielmehr als Samariterdienst der Menschenliebe recht eigentlich auf der Linie
der dem Weibe wohl anstehenden und ihrer Natur entsprechenden sittlichen Be¬
thätigung liegt, so kann es sich nur uoch fragen, ob für die Berufsthätigkeit
vollwertig ausgebildeter weiblicher Ärzte ein Bedürfnis vorliegt.
Diese Frage muß bejaht werden. Das Bedürfnis nach weiblichen Ärzten
ist namentlich für das Gebiet der Frauen- und Kinderkrankheiten unbedingt
vorhanden. Es hat von jeher thatsächlich Frauen gegeben, die es nicht über
sich zu gewinnen vermochten, sich von einem Manne körperlich untersuchen und
insbesondre bei spezifischen Frauenkrankheiten ärztlich behandeln zu lassen.
Bekannt ist das Beispiel der Erbtochter Karls des Kühnen, Marias von
Burgund, die infolge eines Sturzes auf der Falkenjagd um einer Verwundung
des Oberschenkels starb, weil sie lieber sterben, als sich von einem Arzte an
diskreter Stelle untersuchen und behandeln lassen wollte. Dieser unüberwind¬
liche Widerwille von Frauen und Mädchen ist auch heutzutage notorisch viel
verbreiteter, als viele Ärzte zugestehn wollen. Man kann zugeben, daß dieser
Widerwille krankhaft, daß das ihm zu Grunde liegende Schamgefühl über¬
trieben und unverständig ist. Das schafft aber die Thatsache, daß es vielfach
vorhanden ist, daß infolge dessen in leider nur zu zahlreichen Fällen die recht¬
zeitige Untersuchung bei Frauenkrankheiten unterbleibt, und daß dieser Unter¬
lassung recht viele Menschenleben, die noch hätten gerettet werden können,
zum Opfer fallen, nicht ans der Welt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
eine große Zahl von Frauen und Mädchen nicht das leiseste Bedenken haben
würden, in den Anfangsstadien ihrer Erkrankung sich einem tüchtigen weib¬
lichen Arzte anzuvertrauen, während sie jetzt aus falscher Scham die Untersuchung
durch den Arzt verzögern, bis es zu spät ist. Und wenn nur auch nur in
größern Städten einzelne weibliche Ärzte von Ruf hätten, so würden zahlreiche
Frauen erleichtert aufatmen, wenn sie mit deren Konsnltierung auch nur der
ihnen so peinlichen ersten Untersuchung durch den männlichen Arzt entgeh»
könnten. Daß hier ein Bedürfnis vorhanden ist, und daß tüchtige, approbierte
Ärztinnen überaus segensreich wirken könnten, wird niemand bestreiten können,
der auf diesem Gebiete mir einigen Einblick in die Verhältnisse des wirklichen
Lebens gewonnen hat.
Was die Kinderkrankheiten betrifft, so liegen hier die Verhältnisse anders.
Kinder könne» von Männern selbstverständlich ebenso gut untersucht und be¬
handelt werden wie von Frauen, Hier kommt aber etwas andres in Betracht,
Die Frau hat von Natur einen Zug zu .Kindern, Sie weiß mit der Kinder¬
stube und mit den Bedürfnisse», Anschauungen, Neigungen und Besonderheiten
der Kindesnatnr in der Regel instinktiv weit besser Bescheid als der Mann,
Leichter als dieser kommt sie dem Kinde innerlich nahe und gewinnt sein Ver¬
trauen und seine Zuneigung, Wenn nur also einmal Ärztinnen haben werden,
so wird diesen ganz von selbst mich ein Teil der Kinderpraxis zufallen, und
unter der Voraussetzung, daß die Ärztin gleichwertig mit dem Arzte vor¬
gebildet ist, läßt sich in der That mindestens nicht absehen, was das schaden
könnte.
Mehr und mehr hat die hier vertretne Anschanung im Laufe der letzten
Jahre Boden gewonnen. Der Bundesrat, der für die Ordnung der ärztlichen
Approbationsprüfnng im Deutschen Reiche verfassungsmäßig zuständig ist, hat
denn auch beschlossen, Frauen zu dieser Prüfung zuzulassen, und dies auch
dann, wenn sie nicht immatrikuliert waren, sonder» die medizinischen Vor¬
lesungen und Übuuge» a» der Universität nur als Hospitantinnen besucht
haben. Er rechnet ihnen diese Hospitantensemester als vollwertig an, verlangt
aber vo» ihne» geuau denselben Nachweis wissenschaftlicher Kenntnisse und
praktischer Fertigkeiten, wie von den müuulicheu Prüfungen.
Mit vollem Rechte. Denn der Gedanke, für die Approbation weiblicher
Ärzte ein geringeres Maß von Anforderungen zu stellen als für die der
Männer, ist unpraktisch und würde schließlich — auch wenn es uicht zur Kur-
Pfuscherei führte — logisch mit der der staatlichen Approbation zu Grunde
liegenden Verantwortlichkeit der öffentlichen Autorität nicht zu vereinigen sein.
Merkwürdigerweise hat in den Verhandlungen des preußischen Abgeordneten¬
hauses im April 1898 der Hofprediger a. D. Stöcker, der sich im übrigen
unter allgemeiner Zustimmung maßvoll, sachkundig und verständig über die
Frauenfrage ausgesprochen hat, in diesem Punkte die Forderung aufgestellt,
den Frauen, die Medizin studieren wollen, eine „einfachere" medizinische Aus¬
bildung zu geben, als sie für die Ärzte vorgeschrieben ist. Er hat dabei auf
die frühern Chirurgen erster Klasse exemplifiziert, die auch keine volle Vor¬
bildung gehabt und doch innerlich und äußerlich praktiziert hätten. Eine ganz
unglückliche Berufung. Diese Chirurgen erster Klasse waren Studenten der
Medizin, die vor Ablegung der Approbatiousprüfung in den Freiheitskriegen
in die Armee eingetreten waren und in den Lazaretten Dienste geleistet hatten.
Ihnen erließ man die Promotion zum Doktor der Medizin und erleichterte
ihnen in Anerkennung der von ihnen dem Vaterlande geleisteten Dienste auch
wohl einigermaßen die ärztliche Approbationsprüfnng. Das waren Ausnahme¬
zustände, die auf ganz besondern Billigkeits- und patriotischen Rücksichten be¬
ruhten. Unter den Chirurgen erster Klasse waren eine Reihe sehr tüchtiger
Ärzte, die mit großer Selbstaufopferung in der Praxis nachgeholt hatten, was
ihnen um theoretischer Vorbildung abging. Es waren aber auch recht untaug¬
liche Ärzte unter ihnen. Jetzt sind sie ausgestorben, und die Medizinalver¬
waltung hat nicht den mindesten Anlaß, ein derartiges durch die Not des
Kriegs veranlaßtes Ausnahmeexperünent zu wiederholen. Damit würde auch
weder den weiblichen Ärzten noch dem Publikum gedient sein.
Was aber die Vorbildung solcher Frauen, die Medizin studieren wollen,
anbetrifft, so wird sie allerdings vou denen der männlichen Studenten der
Medizin verschieden zu gestalten sein. Ein Mädchen, das die höhere Mädchen¬
schule mit ihrer auf die spezifisch weibliche Erziehung zugeschnittnen allgemeinen
Bildung vollständig und mit Erfolg durchlaufen hat, wird — hoffentlich nach
einer mindestens einjährigen Ruhe- und Erholungszeit — allenfalls mit Hilfe
zuverlässigen und erfahrnen Rats zu erwägen imstande sein, ob seine geistige
und physische Kraft ausreicht, die ungewöhnlichen Anstrengungen, die das
Studium der Medizin und der ärztliche Beruf erfordern, auf sich zu nehmen
und auszuhalten, und ob der innere Drang dazu tief und stark genug ist, daß er
die Schwierigkeiten, die bei der Ausführung des folgenschweren Entschlusses zu
überwinden sind, mit nachhaltiger Freudigkeit überwinden kann. Treffen diese
Voraussetzungen zu, dann wird sich das Mädchen, das diesen Entschluß gefaßt
hat, in einem privaten Kurse die Vorkenntnisse anzueignen haben, die zur Ab¬
legung der Reifeprüfung als Extraneerin erforderlich sind. Besteht sie diese
Prüfung, dann wird sie ihre Zulassung bei einer Universität ohne Schwierig¬
keit erwirken können. Aber auch hier treten neue Hindernisse und Abweichungen
ein. Weitaus bei der größten Mehrzahl der medizinische» Vorlesungen und
Übungen ist für die studierenden Frauen die Teilnahme neben den männlichen
Studenten völlig unbedenklich. Die studierende Frau ist, wenn sie selbst eine
dem natürlichen Takte ihres Geschlechts entsprechende Haltung bewahrt, einer
achtungsvollen und rücksichtsvollen Begegnung bei den Professoren und Stu¬
denten sicher, jn ihre Anwesenheit und der sittliche Ernst ihrer Haltung wird
sogar eine gute Einwirkung auf Sitte und Anstand der mit ihr studierenden
Männer ausüben. Aber es giebt einzelne Vorlesungen und Übungen, in denen
Sitte und Anstand die gemeinsame Anwesenheit von Frauen und Männern
ausschließen. Die meisten unsrer jetzt Medizin studierenden Frauen wollen das
zwar nicht Wort haben. Sie erklären den Ernst ihres rein wissenschaftlichen
Strebens für stark genug, auch die sich hier erhebenden Bedenken zu über¬
winden. Allein sie sind Menschen, und die männlichen Studenten sind es auch.
Man braucht wahrhaftig nicht kleinlicher Philistrositüt und altjüngferlicher
Prüderie das Wort zu reden, um dnrznthun, daß Sitte und Anstand für ge¬
wisse Vorlesungen und Übungen eine Trennung der beiden Geschlechter ge¬
bieterisch fordern. Das nähere braucht hier wahrlich nicht einzeln ausgemalt
zu werden. Darum muß der Staat dafür sorgen, daß wenigstens an einzelnen
Universitäten Vorlesungen und Übungen der angedeuteten delikaten Art in be¬
sondern Abteilungen mit Ausschluß der Männer gehalten werden. Die Frau
wird selbst dann noch manche schwere Probe ihrer sittlichen Willenskraft dabei
zu besteh» haben. Es giebt auch schon jetzt eine Reihe medizinischer Pro¬
fessoren, die dies anerkennen und zur Abhaltung besondrer Kurse für Frauen
bereit sind. Hier kann sich der Staat, wo er einmal Frauen zum Studium
der Medizin zuläßt, der Pflicht nicht entzieh», ihnen organisierend den allein
richtigen Weg zu bahnen. Da hilft kein Strande» u»d Hinausschieben. Nach¬
dem einmal A gesagt worden ist, muß der Staat hier auch B sagen.
Immer aber wird es eine verhältnismäßig kleine Zahl ungewöhnlich starker
und besouders angelegter Frauen sein, die das Ziel erreicht. Sei es darum.
Diese wenigen können von großem Nutzen für die leidende Menschheit sein.
Es möge dabei schließlich noch auf ein Gebiet hingewiesen werden, das für
die sittliche und die soziale Gesundung unsers Volkslebens von kaum hoch
genug anzuschlagender Bedeutung ist. Nicht nur bei schon vorha»d»er oder
entstehender Krankheit hat für viele Frauen die Untersuchung durch einen Arzt
etwas überaus peinliches, sondern auch in den Fällen, wo^eine gesunde Frau
eines ärztlichen Gesundheitsattestes bedarf. Eine Frau, die Lehrerin werden
oder eine Lebensversicherung eingehn oder in ein besondre körperliche Wider¬
standskraft erforderndes ErwerbSvcrhältnis eintreten will, bedarf eines ärztlichen
Gesundheitsattestes. Es kann ungemein peinlich für sie werden, sich in solchem
Falle der Diskretion des untersuchenden Arztes völlig preiszugeben. Wäre es
nicht mit Freude zu begrüße», wen» dnrch die Möglichkeit der Untersuchung
durch einen staatlich approbierten weiblichen Arzt hier der natürlichen Schcun-
haftigkeit der Frau Rechnung getragen werden könnte? Noch viel wichtiger
aber ist die ärztliche Untersuchung der Prostituierten. Will man die Scham
bei diesen in den tiefsten Abgrund des Elends gefallnen, beklagenswerten Frauen
wiederherstellen, so muß man ihnen die Brutalität ersparen, von einem Manne
untersucht zu werden. Zu retten sind diese ärmsten aller Frauen mir, wen»
man sie vou dem Augenblicke an, wo die rettende Einwirkung auf sie beginnt,
mir mit weibliche» Persönlichkeiten in Berührung bringt. Die Untersuchung
dnrch deu Arzt bedeutet jedesmal ein tieferes Versinken in Schamlosigkeit
und Elend.
Völlig verschieden hiervon ist das Bedürfnis, gebildete Frauen zu tüchtigen
und besonders geschulten Hebammen und für den Apothekerbernf auszubilden.
Beide Verufsarteu entsprechen der natürlichen weiblichen Anlage, und der Staat
hat auch schon fast an allen Universitäten Veranstaltungen zu treffen begonnen,
um hier Frauen aus den gebildeten Ständen die Wege zu diesen Erwerbsthätig¬
keiten zu bahnen. Es wäre nnr zu wünschen, daß die dazu erforderlichen
Organisationen amtlich und öffentlich mehr als bisher abgeschlossen und bekannt
gemacht würden. Hier könnte noch eine weit größere Zahl von Frauen ein
geeignetes, lohnendes und nützliches Bernfsfeld finden. Die von Männern
hiergegen erhobnen Konknrrenzbedenken sind hinfällig. Denn die Mäuner
machen in gewissen Berufszweigen, die von Natur der Frau gehören — man
denke mir um die Kochkunst und Anfertigung von Frauentleidung —, auch der
Frau eine sehr starke Konkurrenz.
Wir sind am Ende. So skizzenhaft die vorstehenden Notizen auch sind,
und so wenig sie die Frauenfrage erschöpfen, sind sie doch umfangreicher ge¬
worden, als sich voraussehen ließ. Wir sehen deshalb heute davon ab, die
viel nmstrittne Frage nach der Stellung der Frau im bürgerlichen Rechtsleben
in den Kreis der Erörterung zu ziehn, so wichtige Fragen auch auf diesem
Gebiete noch zu beantworten wären. Man soll der Frau nur die Berufe zu¬
weisen, die der weiblichen Natur entsprechen. Zu diesen aber soll man ihr
den Weg frei machen. Dann, aber auch nnr dann, wird sie sich zu ihrem
Heil und zum Segen der Menschheit — um zu der Ausdrucksweise, von der wir
in 14. Heft haben wir einen flüchtigen Umriß von Chamberlmus
Religions- und Rassentheorie gezeichnet. Er bringt, wie sich der
Leser erinnert, die Glaubenslehre der christlichen Kirche als ein
von der Religion Christi grundverschicdues „Kunstprodukt des
Völkerchaos" in den schärfste» Gegensatz zum Germanentum.
Dieses läßt er nun, einer ziemlich verbreiteten Anschauung entsprechend, von
Rom unterjocht werden, und sein Emmizipatiouskampf soll deu Inhalt der
Weltgeschichte der christlichen Zeit bis zum Jahre 1800, also die Grundlegung
des neunzehnten Jahrhunderts bilden. Nicht bloß einer verbreiteten An¬
schauung, sondern einer statistisch-geographischen Thatsache entspricht es, wenn
er den doppelten Gegensatz Roms zum Osten und zum Norden hervorhebt.
Nur können wir nicht zugeben, daß der Sieg Roms über die hellenistische
Theologie des Ostens ein großes Unglück gewesen wäre. Origenes mag ein
sehr viel tieferer Denker gewesen sein als die Abendländer und dabei ein echt
religiöses Gemüt gehabt haben — anch Hieronymus hat seinen Gegnern, die
ihn origenistischer Ketzereien beschuldigten, zugerufen: Lieber mit Origenes
irren, als mit euch Eseln die Wahrheit wissen! —, den Völkern, wie sie nun
einmal warm, nicht blos; dem „jämmerlichen Völkerchaos," sondern auch den
naturfrischen und kindlichen Barbarei? hätte seine tiefe Wissenschaft nichts ge¬
nutzt; die brauchten hansbackne Anweisungen für ein hartes Alltagsleben, und
solche hat ihnen Rom durch seine Mönche geliefert. Schließlich hat ja Rom
den Osten auch gar uicht besiegt; dieser hat sich unabhängig gemacht, ist aber
dadurch weder in der Türkei noch in Rußland arisch-metaphysischer geworden.
Dagegen hat es seine Richtigkeit mit dem Gegensatz zwischen dein romanischen
Süden und dem germanischen Norden, sowie daß dieser eigentlich von Anfang
an ein großer .Ketzer gewesen ist und zuletzt die römische Vormundschaft ab¬
geschüttelt hat. Jedoch halten wir mit vielen protestantischen Geschichtschreibern
die vorübergehende Vormundschaft weder für so überflüssig noch für so ver¬
derblich wie Chamberlain und finden, daß dieser trotz seiner ungeheuern Be¬
lesenheit eine vielfach falsche Vorstellung davon hat. So z. V. von dem Ein¬
flüsse des römisch-kanonischen Rechts ans die deutschen Verhältnisse. Schon
oft ist unsern modernen Germanisten entgegengehalten worden, daß vieles von
dem, was sie den? römischen Recht in die Schuhe schiebe», eine ganz natür¬
liche Wirkuug der modernen Wirtschaftsverfassung sei. Während aber die Juristen
autirömischer Richtung den verderblichen Einfluß erst mit der sogenannten
Rezeption des römischen Rechts, etwa vom Jahre 1200 ub, beginnen und
dann vom sechzehnten Jahrhundert ab stärker werden lasse», sieht Chamberlain
die altgermanische Freiheit schon gleich anfangs durch dieses Recht vernichtet
werden. Seite 516 bis 517 schreibt er: „Montesquieu sagt uus, der Germane
sei durch den Verlust seiner Freiheit später Barbar geworden: doch wer raubte
sie ihm? Das Völkcrchcios im Bunde mit ihm selber. Dietrich von Bern
hatte den Titel und die Krone des Imperators von sich gewiesen; er war zu
stolz, mehr sein zu wollen als König der Ostgoten; spätern Germanen dagegen
schillerte der kaiserliche Purpur vor den Augen wie ein zaubergewaltiger Talis¬
man, so ganz waren sie von urgermanischen Vorstellungen geblendet. Denn
inzwischen waren die ^urisoonsnlti des poströmischen Afterrechts gekommen und
hatten den germanischen Fürsten Wunderdinge über königliche Gerechtsame ins
Ohr geflüstert; und die römische Kirche, die die mächtigste Verbreiterin des
justinianischen Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegebnes;
nun trat der Papst hinzu und erklärte sich für den einzigen Herrn aller Kronen,
allein, als Vertreter Christi ans Erden, könne sie verleihen und abnehmen,
und dein servus ssrvorum sei der Kaiser als bloßer rsx ressura untergeordnet.
Wenn aber der Papst die Kronen schenkte oder bestätigte, so war jeder König
fortan König von Gottesguaden, und wenn der Rechtsgelehrte dnrthat, dem
Trüger der Krone sei von Rechts wegen das ganze Land zu eigen, sowie un¬
beschränkte Allmacht über seine Unterthanen, so war die Verwandlung fertig,
und an Stelle des Volks von freien Männern stand nun ein Volk von Knechten.
Das nennt Montesquieu, und nicht mit Unrecht, Barbarei. Die germanischen
Fürsten, die nicht allein aus Herrsch- und Habsucht, sondern auch infolge der
Verwirrung aller Begriffe auf diesen Pakt eingegangen waren, hatten sich un
bewußt den feindliche» Mächten verdungen; nunmehr waren sie Stützen der
antigermanischen Bestrebungen, Wieder war ein Sieg über den germanischen
Geist errungen," Diese Darstellung ist ein reines Phantasiegebilde, Der
Fürstenabsolutismus ist erst nach der Reformation ausgebildet worden; im
Mittelalter beruhte die Fürstengewalt auf einem Vertrage des Fürsten mit den
Ständen. Von den beiden Vorgängen aber, die in Deutschland die Bauernfreiheit
vernichtet haben, fällt der eine vor die Zeit der päpstlichen Machtherrlichkeit
und der auf den Jmperatorenpurpur stolzen Hohenstaufen, der andre ins sech¬
zehnte und siebzehnte Jahrhundert und in Gegenden, in denen der Papst nichts
zu sagen hatte. Diese spätere Unterdrückung, die dnrch Knapps und seiner
Schüler Darstellungen bekannt geworden ist, wurde nicht von Königen verübt,
sondern von den Adlichen an der Ostseeküste, die erste dagegen war, wie schon
seit hundert Jahren in den Schulen gelehrt wird, nicht sowohl eine planmäßige
Unterjochung als die Wirkung der germanischen Heerbannverfassung, deren Druck
sich die Bauern dadurch entzogen, daß sie sich freiwillig in Hörigkeit begaben,
ein Vorgang, mit dem Rom nicht das geringste zu schassen hatte; das Christentum
aber nur insofern, als Kirchen und Kloster die Gutsherrschaften waren, in deren
Schutz sich die Bauer»: am liebsten stellten. Römisches aber steckt so wenig
darin, daß vielmehr dieses Feudalismus genannte System verwickelter Besitz¬
rechts- und Freiheitsbeschränkungen allezeit für etwas spezifisch deutsches ge¬
halten worden ist. Die großen Grundherrschaften stammten allerdings gewisser¬
maßen aus Rom, aber sie waren den Deutschen Nieder von den alten Römern
noch von den Päpsten aufgezwungen worden, sondern die deutschen Eroberer
übernahmen diese Wirtschaftsform in Italien und Gallien, und nachdem die
fränkischen Könige das eigentliche Germanien unterjocht hatten, führten sie sie
auch hier ein. Und wie notwendig und welche Wohlthat das war, hätte
Chamberlain, der in Wien lebt, mir zuverlässigsten, und ausführlichsten von
Juana-Sternegg erfahren können. Er selbst pflichtet an einer ander:: Stelle
der Ansicht bei, daß die Vernichtung des englische,: Bauernstands von: sech¬
zehnten Jahrhundert ab, so unsägliches Elend sie über das englische Volk ge¬
bracht habe, doch eine Wohlthat, ja eine Notwendigkeit für die ganze zivili¬
sierte Menschheit gewesen sei, weil erst die gebildeten und kapitalkräftigen
Landwirte, die an die Stelle der Bauern traten, die rationelle Landwirtschaft
erzeugt hätten, die der Aufgabe, unsre heutigen Volksmassen zu ernähren, ge¬
wachsen ist. Nun, in den: Deutschland und wohl anch in dem England des
frühern Mittelalters handelte es sich um noch Größeres und Schwierigeres
als um die Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik, nämlich um die
Rodung des Urwalds, der den bei weitem größten Teil des Landes bedeckte.
Juana-Sternegg zeigt nun, daß der Einzelne dem Urwald gegenüber ziemlich
ohnmächtig war — anstatt zu roder, sind die alten Germanen ausgeschwärmt,
wenn ihr Acker- und Weidefleck nicht mehr zureichte —, die alte Markgenossen¬
schaft aber ein zu lockrer Verband war, als daß sie sich an Rodungen großen
Stils hätte wagen können, und daß es mit der Urbarmachung erst vom Flecke
ging, als die großen Grundherren sie angriffen mit den Scharen von Hörigen,
die sie kommandierten. Dabei wollen wir weiter kein Gewicht darauf legen,
daß die Gelehrten über die ursprüngliche Verfassung und namentlich die Agrar-
verfassung der Germanen noch lange nicht einig sind, daß Fühlet de Coulanges
die ursprünglich freie Markgenossenschaft für ein „teutonisches Hirngespinst"
erklärt, und daß englische und deutsche Forscher unabhängig von ihm gefunden
haben, der freie Germane sei von Anfang an, in England und in Nieder¬
deutschland wenigstens, ein über Hörige gebietender Grundherr, also ein Adlicher
gewesen; die Wahrheit dürfte zwischen Fühlet de Coulanges und Ludwig
von Maurer in der Mitte liegen.
Den Befreiungskampf beschreibt Chamberlain nun der Hauptsache nach
in der hergebrachten Weise, wenn auch seine geistreichen Gedankenblitze Ge¬
stalten und Ereignisse vielfach in neuen Lichtern und Farben zeigen. Alle
unabhängigen Geister empörten sich gegen Rom, und — alle diese unabhängigen
Geister, auch die im Süden lebenden, waren Germanen. Das erste ist nicht
ganz richtig, wie Chamberlain selbst zugesteht, indem er meint, viele Germanen
Hütten sich nicht allein im militärischen Kriege, sondern auch im geistigen
Kampfe von den Feinden ihres Volkes gegen dieses gebrauchen lassen. Das
zweite ist möglich, aber beweisen wird man wohl niemals können, daß die
großen Dichter und Denker, Maler, Bildhauer, Architekten und Ingenieure
Italiens sämtlich Goten-, Lombarden-, Franken- und Schwabensprößlinge ge¬
wesen sind. Als Typus des schärfsten Gegensatzes zum Germanischen schildert
er, in Übereinstimmung mit der in protestantischen Kreisen verbreiteten Ansicht,
den Jesuitenorden und führt dessen Wesen darauf zurück, daß Ignatius Loyola
als Baste einem Volke entsprossen sei, das nicht allein außerhalb des Germanen¬
tums, sondern auch außerhalb der arischen Völkerfamilie stehe. Wir lassen die
ethnologische Klassifizierung der Basken dahingestellt sein und sagen auch
nichts gegen Chamberlains Auffassung, bemerken aber doch, daß er damit die
Größe dieses Ignatius, die er ausdrücklich hervorhebt, ins Übermenschliche
steigert. Christus soll, ihm nach, nicht imstande gewesen sein, der christlichen
Kirche etwas von seinem Wesen mitzuteilen, Loyola dagegen soll ganz allein
durch seine mit dem Massencharakter gegebne Persönlichkeit den Charakter einer
zahlreichen Gesellschaft, die sich aus allen Völkern des christlichen Kulturkreises
^'ganze, auf Jahrhunderte hinaus bestimmt haben. In Wechselwirkung mit
dem geistigen Kampfe verläuft der politische. Daß und wie er geführt worden
ist, weiß alle Welt. Nur scheint uns die gewöhnliche Ansicht, die Chamberlain
tuit, daß Rom keine Nationalitäten habe dulden wollen, ein wenig oberflächlich.
Die heutigen Nationen konnte Rom weder wollen noch nicht wollen; sie sind in
der ersten Hälfte des Mittelalters — wir bitten Chamberlain um Entschuldigung,
daß wir uns der Einfachheit wegen dieses von ihm verworfnen Ausdrucks be¬
dienen — geworden, ohne daß es irgend jemand wußte. Erst als sie fertig
waren, bemerkten sie es selbst, sah es alle Welt und natürlich auch der Papst.
Daß es die Völker früher bemerkten als die Fürsten, zeigt Chamberlain sehr
hübsch ein einem Beispiel. „Als im Jahre 1232 der mächtigste aller Päpste*)
den Feind des römischen Einflusses in England, den Oberrichter Hubert de Burgh,
durch Vermittlung des Königs hatte gefangen nehmen lassen, fand sich im
ganzen Lande kein Schmied, der ihm Handschellen hätte anschmieden »vollen;
trotzig antwortete der Geselle, dem man mit der Folter drohte: Lieber jeden
Tod sterben, als daß ich je Eisen anlegen sollte dem Manne, der England vor
dem Fremden verteidigt hat." Ehe die Nationen vorhanden waren, konnten
sie sich Rom gegenüber nicht selbständig machen; es gab daher nur Kämpfe
von Fürsten, Städten und Korporationen mit Rom um die Grenzen der welt¬
lichen Macht. Sobald jedoch die Nationen fertig waren, war ihre politische
Selbständigkeit, die unter Umstünden die kirchliche einschloß, nur eine Frage
der Zeit, und ihre Emanzipation verstand sich ebenso von selbst, wie die
natürlich erfolglos bleibenden Bemühungen der Päpste, diese Emanzipation zu
hindern, Bemühungen, die sich nicht gegen die Nationalität, sondern gegen die
Insubordination richteten, deren Träger gewechselt hatten. Es handelt sich
also nicht eigentlich um einen Kampf zwischen Rom und dem Germanentum,
denn die katholischen Nationen haben ihre politische Selbständigkeit Rom gegen¬
über nicht weniger eifersüchtig gewahrt als die später protestantisch gewordnen
Germanen. Die Franzosen sind unter Philipp dem Schönen vorangegangen,
Philipp II. von Spanien, der katholische Fanatiker, sah sich gezwungen, seine
Regierung mit einer Kriegserklärung gegen den Papst zu beginnen, und dessen
Ohnmacht ging im vorigen Jahrhundert so weit, daß er in Portugal, in Frank¬
reich, in Österreich, ja sogar in dem kleinen italienischen Staate Toskana nicht
einmal in kirchlichen, geschweige denn in politischen Dingen etwas zu sagen
hatte. Die Thatsache, daß Roms Feinde im allgemeinen weniger ausgerichtet
haben als ihre Zahl, Macht und die Heftigkeit ihrer Angriffe erwarten ließ,
führt Chcunberlain richtig auf ihre Uneinigkeit und Inkonsequenz und die Ver¬
schiedenheit ihrer Beweggründe und Ziele zurück. So z. B. griffen die einen
die religiösen Grundlagen der .Kirche an, ohne sich um Politik zu kümmern,
während andre die weltliche Macht des Papsttums bekämpften, ohne von seiner
Glaubenslehre abzuweichen, und noch andre wollten diese Glaubenslehre refor¬
mieren, ohne sie grundsätzlich anzutasten. Die Stärke des Papsttums lag in
seiner Folgerichtigkeit, die sich auch darin bewährte, daß es die höchste poli¬
tische Macht in Anspruch »ahn; denn da — immer nach Chamberlain — die
Kirche weiter nichts war als das römische Imperium in religiöser Verkleidung,
so konnte dieses Reich nicht zweiköpfig sein, und wenn ein zweites Haupt ge¬
duldet wurde, diesem nur eine delegierte Gewalt zugestanden werden.
Einen unvollständigen Sieg erfocht das Germanentum endlich in der
Reformation, deren Bedeutung auf dem politischen Gebiet liegt und das reli¬
giöse nur insofern berührt, als die politische Befreiung den Germanen zugleich
ihre Freiheit verbürgte, sich eine ihnen angemessene Religion zu schaffen.
Luthers Kirchen gründnng schätzt Chamberlain sehr gering ein, ohne die tiefe,
echt germanische Religiosität Luthers zu verkennen, die freilich in den kirch¬
lichen Fesseln verkrüppelt sei. Mit der Entscheidung für oder gegen die
Reformation sei die Zukunft der Volker entschieden gewesen, und die franzö¬
sische Revolution sei nicht etwa als eine zweite Entscheidung anzusehen, sondern
nur als der blutige Abschluß einer Tragödie: der Ausrottung des germanischen
Elements in Frankreich. „Lediglich dadurch, daß die Reformation in Frank¬
reich nicht zum Durchbruch hatte kommen können, wurde die Revolution un¬
umgänglich. Frankreich war noch zu reich an unverfälscht germanischem Blute,
als daß es wie Spanien schweigend hätte verrotten können, zu arm daran,
daß es sich ans der verhängnisvollen Umarmung der theokratischen Weltmacht
vollends hätte losringen können"; wozu außer manchem andern zu bemerken
wäre, daß in der Zeit der Jesuitennnstreibung, die der Revolution vorherging,
Rom kaum noch als eine Macht bezeichnet werden konnte.
Wenn Chamberlain die Entscheidung für oder gegen die Reformation zu¬
gleich über das Völkerschicksal entscheiden läßt, so meint er damit natürlich
nicht, daß den? neuen Kirchenwesen eine rettende und machtverleihende Kraft
inne gewohnt hätte, sondern daß in dieser Entscheidung offenbar geworden sei,
welche Völker Lebenskraft hatten und welche nicht, oder, was bei ihm dasselbe
ist, welche Volker die gehörige Menge germanischen Bluts, und welche zuviel
Chaosstoff enthielten. Die Schwäche und der Niedergang rührt nach ihm ganz
allein vom Schwinden, von der Verdünnung oder Ausrottung des germanischen
Bluts her; eine heute sehr beliebte Erklüruugsweise, der auch Bismarck ge¬
legentlich beigepflichtet hat. Alle historischen Erscheinungen aus einer einzigen
Ursache ableiten, das ist wissenschaftlich bedenklich, aber es verleiht der Dar-
stellung Geschlossenheit, Durchsichtigkeit und Kraft, und daß das größere oder
geringere Quantum germanischen Bluts, das jedes der modernen Völker ent¬
hält, für sein Schicksal von der größten Bedeutung ist, daran kann ja niemand
zweifeln. Chamberlain hat sich, nebenbei bemerkt, auch die Vismarckische An¬
sicht angeeignet, daß das unverfälschte Germanenblut für die Staatenbildung
ungeeignet mache und daher eines Zusatzes von Slawenblut bedurft habe; er
sieht aber nicht etwa brünette Färbung für einen Beweis der Mischung an,
glaubt vielmehr, daß reine Germanen durch den Einfluß von Klima nud Boden
brünett werden können, daß die Slawen ursprünglich blond gewesen und über¬
haupt jüngere Brüder der Germanen, aber zu ihrem Unglück durch Beimischung
tatarischen und sonst fremden Bluts verschlechtert worden seien. Wir lassen
^ ^utschwundtheorie gelten, legen aber gegen den Versuch, ihre eins-
??s???l Geltung zum Dogma zu erheben, Verwahrung ein, weil sich diese
ÄUSMreßlnlMt nicht beweisen läßt, und weil ihr allerlei positive Bedenken
entgegenstehn, wie sich schon bei einem ganz flüchtigen Überblick über die Völker
zeigt. Daß die Hugenotten und die Jausenisten sämtlich Germanen gewesen
seien, >art sich ebenso wenig feststellen lassen wie die Abkunft ihrer Bedränger
aus demi Völkcrchaos. Die Schädigung, die der bigotte Fanatismus Frank¬
reich durch die Vertreibung der Hugenotten zugefügt hat, kann niemand leugnen,
aber es darf doch anch nicht unbeachtet bleiben, daß erst nachher, in den Revo¬
lutionskriegen, die größte Kraftentfaltung eingetreten ist, die die Geschichte des
Volks aufzuweisen hat. Freilich war die militärischer Art. Die ökonomischen
Anlagen der Franzosen hat Friedrich List für gering erklärt, und er hat die
Vermutung ausgesprochen, sie begehrten instinktiv die Rheingrenze, um sich
durch Einverleibung von einigen Millionen Germanen die Bedingungen dauer¬
hafter nationaler Größe zu sichern. Über Spanien urteilt Victor Amadeus
Huber, der Land und Leute genau kannte, daß der Kern des Volkes, worin
doch wohl das Gotenblut am reichlichsten vertreten sein wird, sozusagen von
Natur streng katholisch sei, und seine großen Dichter, Maler und Konquista¬
doren bezeugen das ja auch. Die Inquisition, die in Spanien bekanntlich
Landesprodukt und nicht aus Rom importiert war, sei dem Volksgeist ent¬
sprossen und ganz populär, ihre Thätigkeit aber eine heroische Kur gewesen,
der sich das Volk freiwillig unterworfen habe, um sich vor der ihm drohenden
Verderbnis durch Juden-, Mauren- und Negerblut und die in diesem Blut
steckenden Laster zu erretten. Die Inquisition sei zunächst nur „ein Kcmterium
gegen dieses entsetzliche Geschwür" gewesen. Mit dem Mißbrauch, meint er,
„zumal bei der weitern und spätern Anwendung auf alle Fälle ähnlicher und
auf manche ganz andrer Art, haben wir es hier nicht zu thun; ob aber dieses
Rettungsmittel in äußerster Not ein zu kräftiges Mittel war, und um wie viel
Grad es die richtige Mitte überschritt, das mögen die entscheiden, die selbst
thatenlos und ohne großes Mitleid bei der Not des Vaterlands, das allein-
giltige Maß für alle Not und alle Thaten der Rettung auf der Spitze ihrer
Zunge oder Feder zu tragen vermeinen." Und in einer Anmerkung fügt er
hinzu: „Jedenfalls aber dürfte der protestantischen Polemik gegen die Inqui¬
sition, wie weit sie auch sonst berechtigt sein mag, größere Vorsicht in der Be¬
urteilung der religiösen Physiognomie ihrer Opfer zu empfehlen sein. Es
waren darunter nur sehr wenige, die die evangelische Kirche als die ihrigen in
Anspruch zu nehmen Ursache haben dürfte."
Jedenfalls wird man für die Schattenseiten des spanischen National¬
charakters die Jahrhunderte währende maurische Okkupation als Entschuldi¬
gung gelten lassen müssen, und wenn man diese selbst wiederum mit Chamber-
lain durch die bei den Westgoten ans Rom eingeschleppte Kirchenpest ver¬
schuldet sein läßt, so liegt das Verderben so weit zurück, daß im sech¬
zehnten Jahrhundert von einer Entscheidung keine Rede mehr sein konnte;
gerade in diesen: Jahrhundert übrigens entwickelte Spanien aus seinem un¬
duldsamen katholischen Geiste heraus seine höchste Kraft und schwang sich zur
Weltmacht empor. Bekanntlich sind die Spanier die eigentlich katholische und
streng genommen die einzige katholische Nation, bei der Nationalität und
Katholizismus zur untrennbaren Einheit verschmolzen erscheinen, sodaß man
kaum genötigt ist, das Wesen des Jesuitenordens aus der unarischen Rasse
des Stifters zu erklären. Man braucht nach alledem auch keinen Schwund
des Germanenbluts in Spanien anzunehmen; vielmehr dürfte die Sache so
liegen, daß das Germanenblut dort die glutvolle iberisch-afrikanische Färbung
angenommen hat, daß aber gerade von ihn: die Kraft, Innigkeit und Beständig¬
keit stammt, die wir im Glaubensleben der Spanier wie in ihrer Malerei be¬
wundern. Wie grundverschieden ist davon der heitere, bloß ästhetische Katho¬
lizismus der Italiener, an deren nicht selten bis auf den Stuhl Petri reichenden
Leichtfertigkeit und Liederlichkeit die Spanier so oft Anstoß genommen haben!
Und auch hier wird es nun schwer sein zu beweisen, daß sich das germanische
Element gerade um die Zeit verloren habe, wo der Niedergang beginnt, der
geistige Niedergang, versteht sich, denn politisch sind sie ja zu allen Zeiten
ohnmächtig gewesen. Chamberlain scheint anzunehmen, daß die Blüte Italiens
so lange gewährt habe, als die Longobarden noch geschieden von den Chaos¬
menschen nach ihrem eignen Rechte lebten. Nun haben ja in der Lombardei
zweifellos Longobarden an der Spitze der Stadtverwaltungen gestanden, aber ist
das auch in dem mächtigen Venedig der Fall gewesen, das bekanntlich zu der
Zeit des Hunneneinfalls von italischen Flüchtlingen gegründet worden ist?
Was hätten die Longobarden, die gleich allen Germanen Grundbesitzer zu
werden strebten und wurden, in den Lagunen zu suchen gehabt? Und die
Städte Tusciens, des geistigen Herzens der Halbinsel, waren zweifellos von
gewerbfleißigen Jtalikern bewohnt, die sich im Kampfe mit deu germanischen
Feudalherren als die stärkern erwiesen. Haben diese Jtaliker nun wahrscheinlich
durch die Aufnahme der besiegten „Magnaten" in ihre Städte eine Blutauf¬
frischung und Blutverbesserung erfahren, war also diese Mischung notwendig,
um die Blütenpracht des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts
zu erzeugen, so ist doch wahrlich nicht zu versteh», wie der Verlust an unge¬
mischtem Germanenblute einen Niedergang verursacht haben soll; noch unver¬
ständlicher wird die Sache, wenn man mit Chamberlain an das Blutvergießen
in den städtischen Parteikämpfen denkt, denn die waren ja vorüber, als Italien
seine höchste Blüte entfaltete. Seite 697 schreibt Chamberlain: „Ein einziger
Gang durch die Galerie der Portrütbüsten im Berliner Museum wird davon
überzeugen, daß der Typus der große» Italiener in der That heute völlig
ausgetilgt ist. Hin und wieder blitzt die Erinnerung daran auf, wenn wir
einen Trupp der prächtigen, gigantischen Tagelöhner durchmustern, die »unsre
Straßen und Eisenbahnen bauen: die physische Kraft, die edle Stirn, die kühne
^ase, das glutvolle Auge; doch es siud nur arme Überlebende aus dem Schiff¬
bruch des italienischen Germanentums! Physisch ist dieses Verschwinden durch
angegebnen Gründe hinreichend erklärt öder wahrscheinlichste Grund ist, daß
is v?. ^ eingewanderten Germanen kleiner war als die der Jtaliker, daß
a w diese den Mischtypus mehr bestimmen mußten als jenej, dazu kommt aber
a -> em sehr wichtiges die moralische Zertretung bestimmter Geistesrichtungen
l /"^ ^ ^siensecle. so zu sagen; der Edle wurde zum Erdarbeiter
Mabgedruckt, der Unedle wurde Herr und schaltete nach seinem Sinn." Wenn
es wahr sein sollte, was sich freilich nicht leicht wird beweisen lassen, daß es
vorzugsweise Nachkommen longobardischer und andrer deutscher Grundbesitzer
seien, die im Auslande als Tagelöhner ihr Brot suchen müssen, während die
eouti, lUÄrvdksi und xrineixi Sprößlinge der chaosgebornen Krämer wären, so
würde das der Ansicht, wonach die Herrschaft allemal den Menschen der bessern
Nasse zufällt, sehr abträglich sein. Vorläufig beanstanden wir nur die Be¬
zeichnung „germanisch" für schöne Jtcilienerköpfe, wie für die großen italie¬
nischen Dichter und Maler; italienisch ist eben italienisch und nicht germanisch,
wenn auch, was kein Mensch leugnet, das Italienische eben eine Mischung aus
Altitalischcm und Germanischen ist. Und ist denn überhaupt der Nieder¬
gang eine unzweifelhafte Thatsache? In moralischer und politischer Beziehung
hat das italienische Leben niemals schöner ausgesehen, als es heute aussieht,
und ob es mit der italienischen Kunst und Wissenschaft für immer vorbei sei,
das muß doch erst abgewartet werden. An die Griechen, die nicht in diesen
Zusammenhang gehören, und die Chamberlain auch gar uicht erwähnt, erinnern
wir aus dein Grunde, weil nicht wenig Reisende unsrer Tage versichern, sie
fänden die Charakterzüge der alten Hellenen an diesem angeblich slawischen
Volke. Es könnte wohl sein, daß das Chaos nicht so arg gewesen wäre, wie
es uns Chamberlain nulle, und daß sich außerhalb der allerdings von einem
chaotischen Pöbel bevölkerten Großstädte in Griechenland wie in Italien viel
rassenreines Volk durch die Kaiserzeit und durch die Völkerwandrung erhalten
hätte; aus der Mischung rassenreiner Jtaliker mit rassenreinen Germanen würden
sich dann die schönen Gesichter und die hohe» Geistesanlagen der Italiener
erklären, während ihre moralischen Mängel vielleicht ihrer durch historische und
geographische Verhältnisse verschuldete« politischen Ohnmacht auf Rechnung
gesetzt werden könnten.
Sehen wir nun auf die andre Gruppe, so bleiben wir zunächst allerdings
dabei, daß die Germanen die meisten und die besten Znkunftsanssichten haben,
dürfen uns aber weder eine ganz rosige, noch eine unbedingt gewisse Zukunft
vortäuschen. Die Skandinavier sind wahrscheinlich die rassenreinsten, besten
und tüchtigsten Germanen, können aber ihrer geringen Zahl wegen keine
Führerrolle übernehmen. Die Jankees erfreuen sich geographisch der günstigsten
Lage, die man sich denken kann, aber ihr Nationalcharakter weist so unerfreu¬
liche Eigentümlichkeiten auf, daß man von ihrer Drittelweltherrschaft nicht viel
Gutes erwarten darf. Die Engländer sind, wenn man nur ihre höhern Stände
berücksichtigt, körperlich ein herrliches Volk von echt germanischem Typus;
aber der Burenkrieg enthüllt, nicht bloß durch die militärischen Niederlagen,
sondern auch durch die Politik, die zu ihm geführt hat, und durch das ganze
Benehmen der Engländer.darin, einen hohen Grad sittlicher Verdorbenheit
und eröffnet die Aussicht auf den Zerfall der englischen Weltherrschaft. Wer
heute von London nach Rom reist, schreibt Chamberlain Seite 693, „tritt aus
Nebel in Sonnenschein, doch zugleich aus raffiniertester Zivilisation und hoher
Kultur in halbe Barbarei —- in Schmutz, Roheit, Ignoranz, Lüge, Armut."
Ja, giebt es denn in London weder Schmutz, noch Roheit, noch Ignoranz,
noch Lüge, noch Armut?") In unserm Vaterlande endlich hat es nach der
Reformation Zeiten gegeben, wo von dem Hauptmerkmal des Germanentums,
der Freiheit — man mag das Wort nehmen, in welchem Sinne man will —
blutwenig zu sehen war, und heute, wo eine ungeheure Expansionskrnft und
Lust zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, erzeugt das wie? und wo? nicht
wenig bange Sorgen. Geographisch ist die Herrschaft der Deutschen auf einen
engern Raum zusammengedrängt als je seit tausend Jahren. Zum Trost
können wir uns zwar mit Chcunberlain sagen, daß nur in enger äußerer Um¬
grenzung die Geisteskraft ins Grenzenlose wächst, und daß die Römer, indem
sie sich über ihre Stadtmauern ausdehnten und den Erdkreis unterjochten, sich
selbst verloren haben, worüber unser Autor sehr schöne Betrachtungen anstellt;
aber man darf auch nicht vergessen, daß die Römer keine Wahl hatten, und
daß sie, wenn sie sich behaupten wollten, Weltbeherrscher werden mußten.
Also, um unser Urteil zusammen zu fassen: germanisch und urgermanisch ist
ein sehr bequemes Schema, und ein Schema, das gewiß nicht eines bedeutenden
Wahrheitsgehalts entbehrt, aber die ganze Mannigfaltigkeit der historischen Er¬
scheinungen läßt sich doch nicht darin unterbringen, und sehr vieles an ihnen
bleibt teils unerklärt, teils unerklärlich.
Die Leser sind ja wohl verständig genug, ein Werk uicht nach einer solchen
Kritik der Grundanschauungen des Verfassers zu beurteilen. Nicht in diesen
Grundnnschauungcu liegt der Wert von Chamberlains Buche, sondern in dem
Reichtum an originellen Auffassungen und Verbindungen historischer Thatsachen
und in der Gemütsfülle, mit denen er seine Dogmen entwickelt, und in der
Kraft und Schönheit seiner Darstellung. Um wenigstens von der letzten einen
Begriff zu geben, legen wir die Seite 646 als Probe vor: „Findet nicht bald
unter uns eine mächtige, gestaltnngskräftigc Wiedergeburt idealer Gesinnung
statt, und zwar eine spezifisch religiöse Wiedergeburt, gelingt es uns nicht bald,
die fremden Fetzen, die an unserm Christentum wie Paniere obligatorischer
Heuchelei und UnWahrscheinlichkeit noch hängen, herunterzureißen, haben wir
nicht mehr die schöpferische Kraft, um aus den Worten und dem Anblick des
gekreuzigten Menschensohns eine vollkommne, vollkommen lebendige, der Wahr¬
heit unsers Wesens und unsrer Anlagen, dem gegenwärtigen Zustand unsrer
Kultur entsprechende Religion zu schaffe», eine Religion, so unmittelbar über¬
zeugend, so hinreißend schön, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig
wahr und doch so neu, daß wir uns ihr hingeben müssen wie das Weib ihrem
Geliebten, fraglos, sicher, begeistert, eine Religion, so genau unsern: germa¬
nischen Leben angepaßt — diesem hochbeanlagten, doch besonders zarten und
ehe ^fallenden Wesen —, daß sie die Fähigkeit hat, uns im Innersten zu
erfassen und zu veredeln und zu kräftigen: gelingt das nicht, so wird aus
den Schatten der Zukunft ein zweiter Innocenz III. hervortreten und eine
vierte Lateransynode, und noch einmal werden die Flammen des Jnquisitions-
gerichts prasselnd gell Himmel züngeln, denn die Welt — und auch die Ger¬
manen — wird sich noch immer lieber syro-ägyptischen Mysterien in die Arme
werfen, als sich an den faden Salbadereien ethischer Gesellschaften erbauen.
Und die Welt wird recht daran thun. Andrerseits ist ein abstrakter, kasuistisch¬
dogmatischer, mit römischem Aberglauben infizierter Protestantismus, wie ihn
uns die Reformation in verschiednen Abarten Übermacht hat, keine lebendige
Kraft. Er birgt eine Kraft, gewiß! eine große: die germanische Seele; doch
bedeutet dieses Kaleidoskop vielfältiger und innerlich inkonsequenter Intoleranzen
ein Hemmnis für diese Seele, nicht eine Fördrung; daher die tiefe Indifferenz
der Mehrheit seiner Bekenner und ein bejammernswertes Brachliegen der größten
Herzensgewalt: der religiösen. Rom mag dagegen als dogmatische Religion
schwach sein seine Dogmatik ist wenigstens konsequent; außerdem ist gerade
diese Kirche — sobald ihr nur gewisse Zugeständnisse gemacht werden —
eigentümlich tolerant und weitherzig, sie ist allumfassend wie sonst einzig der
Buddhismus und versteht es, allen Charakteren, allen Geistes- und Herzens¬
anlagen eine Heimat, eine vivitss ohl zu bereiten, worin der Skeptiker, der
(gleich manchem Papste) kaum Christ zu nennen ist, Hand in Hand geht mit
dem in heidnischen Superstitionen befangnen Durchschnittsgeist und mit dem
innigsten Schwärmer, z. B. einem Bernard von Clairvaux, dessen Seele sich
berauscht in der Fülle des Hauses Gottes und neuen Wein mit Christo im
Reiche seines Vaters trinkt." Diese Worte drücken die Überzeugung und die
Empfindungen von vielen tausend wackern Protestanten aus, trotzdem können
wir auch sie nicht ohne einige kritische Bemerkungen wiedergeben. Was eine
ideale Wiedergeburt hindert, das siud nicht alte jüdisch-römische Glaubensfetzen,
sondern ganz moderne Dividenden. Für das Bedürfnis des Einzelnen ist auch
gar keine neue Religion nötig; zu allen Zeiten hat jeder so viel ideale Religion
gehabt, als er zu haben fähig war, und keine Kirche hat ihn daran gehindert.
Die Konflikte entstanden teils aus der Kritik des äußern Kirchenwesens, teils
aus der Propaganda für die eigne Auffassung der Religion. Diese eigne Auf¬
fassung mit dem große Menschenmengen umfassenden äußern Kirchenwesen in
Übereinstimmung zu bringen ist zu allen Zeiten schwierig gewesen, heute
schwieriger als je, weil es mehr selbständige Denker oder wenigstens Grübler
giebt. Aber von einer religiösen Wiedergeburt des Volkes kann die Hebung
oder die Milderung des Übelstandes nicht erwartet werden — die Weltgeschichte
kennt keinen Fall einer solchen Wiedergeburt —, sondern nur von einem
religiösen Genie und einer für dessen Wirken günstigen Konstellation, zwei
Dingen, die wir nicht machen können, sondern in Ruhe von Gott erwarten
müssen. Daß zu lange Verzögerung eines solchen Heils die Protestanten ins
Papsttum zurückwerfen werde, ist bei der Schwäche des religiösen Bedürfnisses
unsers heutigen Geschlechts sehr unwahrscheinlich; da sich vielmehr, wie auch
Chamberlain hervorhebt, das Zahlenverhältnis der Konfessionen mit reißender
Schnelligkeit zu Ungunsten des Katholizismus verschiebt, so steht eher zu
befürchten, es werde much fünfzig Jahren dieser Quell versiegt sein, aus den,
der Protestantismus bisher teils durch Entlehnungen, teils durch Polemik da¬
gegen noch einige Lebenskraft geschöpft hat. Kann eine bessere Gestaltung
des protestantischen Kirchenwesens, dessen Zustand allerdings für religiöse Ge¬
müter ein Ärgernis und eine Pein ist, weder auf einem Konzil noch durch
obrigkeitliche Anordnung gemacht werden, so können sie doch verständige Männer
vorbereiten. Aber wenn dieses, wie es scheint, die Hnuptabsicht des Werkes
von Chamberlain ist, so hat es seinen Zweck vollständig verfehlt. In Kant
sieht er den Apostel der neuen Religion, und mit staunenswertem Scharf¬
sinn und tiefdringcndem Blick deckt er den Prozeß auf, worin die kautische
Philosophie aus der Arbeit der Naturforscher und Philosophen der letzten
sechshundert Jahre hervorgewachsen ist. Wenn er nun die Leistung Kants bloß
darin fände, daß uns dieser auf den Gott in unserm Busen verwiesen habe,
so würde» wir nur wiederholen, daß dieser Hinweis zwar nützlich und ver¬
dienstlich, aber nichts neues und für eine Neugestaltung der Volksreligion be¬
deutungslos sei. Aber er geht weiter; er schreibt Seite 931: „Was soll nur
eine historische Religion, wenn die Zeit lediglich eine Auschauungsform meines
sinnlichen Mechanismus ist? Was soll mir ein Schöpfer als Welterklärung,
als erste Ursache, wenn die Wissenschaft >d. h. Knntj mir gezeigt hat: das Wort
Kausalität hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs als
nur in der Sinnenwelt?" Und er rechnet eS .Kant zum höchsten Verdienst an,
daß er diesen jüdischen Götzen, den Weltschöpfer und Regierer, mausetot ge¬
schlagen habe. DaS heißt also, wir sollen das Stückchen von Gott, das ein
Mensch mit seiner innern Erfahrung ergreift, für den ganzen Gott ansehen,
den Gott aber, der recht eigentlich der Gott der von Chamberlain verherr¬
lichten Puritaner, der zu allen Zeiten der Trost und die Hoffnung aller Be¬
drängten und Mühebcladnen gewesen ist, den sollen wir als Götzen verabscheuen.
Friedrich der Große ist kein schlechter Manu und keine Mittelmäßigkeit und
much Chamberlain trotz seiner Deutschmverachtung sogar ein echter Germane
gewesen, aber die Zumutung, sich selber für Gott zu halten, würde er mit
Hohngelächter aufgenommen haben. Dagegen hat der große Skeptiker und
Spötter für unsern altmodischen Juden- und Christengott jederzeit volles Ver¬
ständnis bewiesen; als ihm in seinen letzten schweren Tagen der fromme
Kammerdiener ans der Bibel das Psalmenwort vorlas: Ich aber bin elend und
arm, eile zu mir, Gott, mein Helfer und Erretter, und verweile nicht — da
sagte er: Lese Er mir das noch einmal, ich fühle mich sehr elend. Wie thöricht,
in indischer Studierstubeuweisheit den Keim einer Religion für thatkräftig mit
den Nöten des Lebens ringende Germanen zu sehen! Noch dazu verwirft
Chamberlain den Atheismus und Pantheismus. Da wird es ihm wohl noch
schlimmer ergehn als Kant. Unter zehntausend Lesern, meint er, verstehe den
höchstens einer, wobei noch zu bedenken ist, daß auf tausend Deutsche höchstens
ein Kantleser kommt; auf zehn Männer, die Kant versteh«, dürfte aber
höchstens einer kommen, der Chamberlains Religion versteht; und die soll
Volksreligion werden! — In einem dritten Aufsätze wollen wir aus dem Werke
einen Gedankenkomplex hervorheben, worin nur mit dem geistreichen Manne
fast vollständig übereinstimmen.
Zu dem gegenwärtig
lebhaft diskutierten Thema: Humanistische Bildung und Nealbildnng hat neulich
Herr Professor Slaby von der technischen Hochschule zu Berlin im Herrenhause
das Wort ergriffen. Daß die Herren von der technischen Hochschule, nachdem ihnen
die Macht gegeben ist, Doktoren zu schaffen, mit einigem Selbstgefühl auftreten
würden, konnte man vermuten. Professor Slaby übertrifft aber unsre Erwartungen.
Er möchte, scheint es, das Studium der Humaniora zum Fachstudium eines engern
Kreises solcher Leute herabsetzen, die berufsmäßig auf Sprachen angewiesen find,
und möchte das technische Fach zum allgemeinen Bildnugsstudinm erheben. Er
verlangt, daß die Realschule in den Vordergrund trete und empfiehlt, daß die Land¬
wirte statt Jura Technik studieren — die technische Hochschule werde sie mit Freuden
aufnehmen —, desgleichen, daß die Juristen des Verwaltuugsfachs eine technische
Ausbildung erhalten möchten. Das ist ein extremer Standpunkt vou erfreulicher
Deutlichkeit, der uns zeigt, daß man ein großer Mnschinengelehrter sein kann, ohne
doch über die Dinge des praktischen Lebens besser unterrichtet zu sein als ein Bücher¬
gelehrter, dem mau seine humanistische Einseitigkeit zum Vorwurfe macht.
studiert mau denn zur Einführung in die Landwirtschaft Jura? Es hat
eine Zeit gegeben, wo reiche Kaufmannssöhne in Hamburg den juristischen Doktor
machten; aber dieses Studium und diese Würde hatten nur eine ornamentale Be¬
deutung. Niemand dachte daran, daß das juristische Studium die kaufmännische
Bildung ersetze oder in sie einführe. Und ebenso haben sich reiche Grundbesitzer, die
gar nicht einmal die Absicht hatten, ihre Güter selbst zu bewirtschaften, und denen
es weniger darauf ankam, sich auf ihren Beruf vorzubereiten, als die Studienjahre
möglichst angenehm und feudal zu verbringen, bei der juristischen Fakultät ein-
schreiben lasse». Daß aber Jura ein Vorbereitungsstudium zur Landwirtschaft
sein könne, ist wohl noch niemand eingefallen. Professor Slaby übersieht, daß es
landwirtschaftliche Fachschulen von der Winterschule bis zur Akademie in Menge
giebt, und daß die Vorbereitung in der technischen Hochschule dem Landwirte wenig
mehr hilft als die Juristerei. Der Landwirt baut seine Maschinen nicht selbst, er
repariert sie nicht einmal selber. Was hilft es ihm, wenn er die Krümmungsfläche seiner
Pflugschar zu berechnen versteht? Nicht einmal Physik und Chemie, wie sie die
technischen Hochschulen lehren, kann er brauchen, sondern nnr bestimmte, aber sehr
ins einzelne gehende Ausschnitte dieser Wissenschaften. Wo aber bleiben Tier- und
Pflanzenkunde und alle die Unlerrichtszweige, die zur Praktischen Landwirtschaft ge¬
hören? Es würde auf eine Verschwendung von Zeit und Kraft hinauslaufen, ganze
Wissenschaften zu studieren, von denen man schließlich nnr kleine Teile brauchen
kaun. Oder sollte die Meinung dahin gehn, daß dieses Plus um Wissenschaften
dem allgemeinen Bildnngszweck dienen solle, daß also künftig statt Homer Kor-
struktionslehre, und statt griechischer und römischer Geschichte die Geschichte der Er¬
findungen traktiert werden soll?
Noch erfreulicher ist der Gedanke, daß der Jurist, oder wenigstens der Ver-
waltuugsjurist, durch die technische Hochschule gehn und zum „Verwaltungsingenieur"
ausgebildet werden solle, Herr Professor Slaby muß wohl zu juristischen Kreisen
wenig Beziehung haben, sonst würde er es wohl nicht gewagt haben, einen solchen
Vorschlag zu macheu. Verlangt er doch nichts weniger, als daß der Jurist, dieses
edelste Gebilde der Kulturwelt, auf seine bevorzugte Stellung verzichten und auf
den Standpunkt des gewöhnlichen Arbeitsmenschen (homo insivious I^doriosns), der
selbst erforscht, worüber er urteilt, herabsteigen solle. Der Jurist hat die Aufgabe,
über alles, was es unter dem Himmel giebt, zu reden, er ist aber auch in der be¬
vorzugten Lage, für alles, was da fleugt und kreucht, seineu Sachverständigen zu
haben. Und da dieser Sachverständige vereidigt ist, so grenzt seine Aussage an
Unfehlbarkeit, und weiteres Kopfzerbrechen ist überflüssig. Die Angabe des Sach¬
verständigen wird in die juristische Formel eingesetzt, und die Rechnung ist fertig
und muß stimmen. Und darauf, was doch seine besondre Stärke ist, soll der Jurist
verzichten? Er soll sich auf die Feststellung von Realitäten einlassen? Das Wird
er niemals thun!
Wenn er es aber thäte, Würde dann die technische Hochschule für thu die ge¬
eignete Schule sein? Es mag zugegeben werden, daß der Verwaltungsbeamte ein
Mann der Praxis sein soll, daß nicht nach festen Formen, sondern nach dem vor¬
liegenden Bedarfe entschieden werden muß, daß in den Regierungen nur gar zu
gern nach Schema 1' verfahren wird, und daß es eine ziemlich fruchtlose Liebhaberei
für Statistik» giebt. Aber wird der Landrat, der seinen Kreis bereist, ich meine,
ein solcher Landrat, der seine Ausbildung als „Zivilingenieur" erfahren hat, davon
Vorteil haben, wenn er sich, an einer Windmühle vorüberkommend, sagen kann, die
Konstruktion dieser Mühle kenne ich, oder wenn er bei Bachverunreinigungen fest¬
stellen kann, aus welchen Stoffen die Verunreinigung besteht? Über die Konstruktion
eines Bauernschädels, deren Kenntnis doch überaus nötig ist, giebt aber weder die
niedere noch mich die höhere Technik Auskunft. Was der Verwaltungsjurist braucht,
wird weder auf der technischen Hochschule, noch auf der Universität, sondern nur
durch das Leben selbst gelehrt. Ein ruhig-sachliches Urteil, ein offnes Auge und
ein richtiges Maß von Mutterwitz sind doch die Hauptsache.
Wie sich Herr Professor Slaby den von ihm empfohlnen „Verwaltungs¬
ingenieur" denkt, ob als ein Mittelding von Jurist und Techniker, ob als Sach¬
verständigen „für alles," oder wie sonst, wären wir begierig zu erfahren.
Wenn sich Professor Slaby beklagt, daß die Gymnasialbildung für die tech¬
nische Hochschule nicht zureiche, und daß zwei Semester mit Vorbereituugsstudien
verloren gingen, wenn er ferner der Oberrealschnle oder der Realschule den Vorzug
giebt, so ist er in seinem Rechte, da reden wir nicht hinein. Auch das ist richtig,
daß das militärische Berechtiguugsexamen von ungünstigem Einflüsse ist und viele
Elemente in die Gymnasien führt, die dem Gymnasium eine Last sind, und die mit
der Gymnasialbildung, die sie empfangen, meist aber nicht beendet haben, nicht so
gut gestellt sind, als wenn sie von vornherein in eine Realschule gegangen wären.
Man wird, nachdem man den Ingenieur-Doktor eingeführt, und nachdem man den
Seminarien, deren Bildungsresultate gegenüber denen der höhern Schulen nicht
einwandfrei sind, die Berechtigung verliehen hat, auch den Realschulen, soweit sie
es noch nicht haben, die Befähiguugserteiluug zum einjährigen Dienste nicht vor¬
enthalten können. Aber eins möchten wir gern vermieden sehen, daß nämlich den
Gymnasien mit Rücksicht auf die Anforderungen der Gegenwart neue Lasten auf¬
gelegt werden. Der Herr Kultusminister äußerte sich in der Erwiderung auf die
Rede von Professor Slaby dahin, daß man seit mehreren Monaten erwäge, wie
die Erfahrungen der Schulreform von 1892 praktisch angewandt werden können,
und wie die Reformschulen und die Schulen nach Altonaer System zu verwerten
seien. Das humanistische Gymnasium solle aber nicht herabgedrückt
werden, — Unser Unterrichtswesen kann sich nach folgender Richtung entwickeln:
Das Gymnasium bleibt, was es war — wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist,
daß es alte Zopfe ablegt und neue Methoden in den Dienst nimmt und sich ein
offnes Auge für das praktische Leben erwirbt —, und die Realschulen der ver-
schiednen Art trete« gleichberechtigt neben das Gymnasium. Hiermit würde aller¬
dings die Einheit der höhern Bildung verloren gehn. Wir würden zweierlei ge¬
bildete Menschen nebeneinander haben, altsprachlich-humanistisch gebildete und neu¬
sprachlich-realistisch gebildete. Wir würden sie in manchem Berufe, z. B. dem der
Ärzte, zugleich vertreten finden. Dies ist offenbar ein Übelstand. Aber ist dieser
Zustand nicht schon jetzt vorhanden? Nur in engherzigen Beamten- und Gymnasial-
professorenkreisen scheidet der aus dem Kreise der Gebildeten aus, der keine Kenntnis
der Verba auf hat. Thatsächlich sind doch die Anforderungen so hoch gestiegen,
daß ein Universalismus, der früher möglich war, ausgeschlossen ist. Eine nnivörsiws
litteriu'um im alten Sinne giebt es nicht mehr. Ohne Teilung der Arbeit bis in
die Vorstufe des Gymnasiums und der Realschule hinein ist nicht mehr aus¬
zukommen. Man lasse die Dinge also so gehn, wie sie nicht anders gehn können.
Dem gegenüber wird nun der Versuch gemacht, die Einheit der Bildung zu
bewahren, indem man Anstalten einrichtet, in denen bis in die Sekunda ein ein¬
heitlicher Lehrgang festgehalten wird, und in denen sich erst danach Gymnasium
und Realschule trennen, Reformgymuasien, in denen die alte Bilduugsform durch
eine modernisierte ersetzt werden soll. Ob damit etwas besseres, als wir gegen¬
wärtig haben, erreicht wird, ist zweifelhaft. Hieraus könnten böse Halbheiten ent¬
steh». Die Engländer und die Amerikaner beneiden uns um unsre Gymnasien;
thun wir da recht, diese Gymnasien gegen das minderwertige englische oder ameri¬
kanische System auszutauschen? Auch die Einrichtung von technischen Ab¬
teilungen an den Universitäten, wie es in Göttingen der Fall ist, und wie es in
Leipzig und in Jena geplant wird, ist ein Mittelding, von dem nicht zu erwarten
ist, daß es den hochgespannter Anforderungen der Gegenwart genügt. Daß man
aber alte und neue Sprachen, Naturwissenschaften und Humaniora auf dem Gym¬
nasium nicht zugleich treiben, und daß das Gymnasium durch die Verbindung mit
den Realfächern die alten Ziele nicht mehr erreichen kann, liegt am Tage. Darum
ist die Erklärung des Herrn Kultusministers, daß die Gymnasien nicht herabgedrückt
werden sollen, mit Freuden zu begrüßen. Ich habe nur die Furcht, daß man, um
den Anforderungen der Gegenwart einigermaßen zu genügen, doch zu viel moderne
Dinge herüber nimmt. Der Schüler soll natürlich in entsprechender Weise er¬
leichtert werden; aber man hat es nur zu oft erfahren, die Erleichterung bleibt
auf dem Papier, und was den Schülern blüht, ist neue Belastung.
Wenn unser Volk zu keiner allgemein aner¬
kannten neuen Lebensanschauung gelangt — um Fleiß und Eifer unsrer Gelehrten
liegt es nicht; mit bewundrungswürdiger Geduld und Ausdauer und mit der Waffe
ihres zum Haarspalten spitzgeschliffnen Scharfsinns suchen, grübeln und kombinieren
die unermüdlich weiter, or. Julius Schultz versöhnt in seiner Psychologie
der Axiome (Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1899) die alte Metaphysik
und Logik mit der neuen Biologie. Er zeigt, daß die Grundsätze eigentlich For¬
derungen sind: „Halte gegebne Positionen fest! soll L., nicht non ^ sein! Er¬
warte bei Wiederkehr gleicher Bedingungen gleiche Ereignisse! Verstehe alle Phä-
nomme der Welt so, als wirkten beharrende Substanzen aufeinander, und suche
demgemäß zu jedem Geschehn seine Ursachen und seine Folgen!" Und er zeigt weiter,
wie diese Forderungen ans Bedürfnissen hervorgegangen sind, und wie sich die Trieb¬
form, in der diese Bedürfnisse anfangs empfunden wurden, im Verlauf einer
„äonenlangen" Entwicklung allmählich zu logischer Form verfeinert hat. — Von
H. G. Opitzens Grundriß einer Seiuswissenschast haben wir im 40. Heft
des Jahrgangs 1898 gesagt, daß es ein vortreffliches populäres Handbuch der
Philosophie zu werden verspreche, und haben besonders lobend hervorgehoben, daß
der Verfasser die Fremdwörter verschmähe, diese philosophische Terminologie, mit der
so viele Philosophen bald ihre Unwissenheit und Verlegenheit, bald ihre eigentliche
Meinung verbergen. Die sin Leipzig bei Hermann Haacke 1899 erschienene) zweite
Abteilung des ersten, die Erscheinungslehre behandelnden Bandes verdient das¬
selbe Lob. Sie enthält die Willenslehre, legt den Grund zur Ethik und be¬
weist auf dem streng innegehaltnen Wege der Erfahrung, daß eine Ethik nur
denkbar ist. wenn Gott als Urgrund und Endziel der Welt anerkannt wird. Ganz
rücksichtslos geht er mit Kant und seinen Anbetern ins Gericht. Kant hat seinen
rationalistisch gestimmten Zeitgenossen den großen Dienst erwiesen, daß er die gel¬
tenden Beweise für das Dasein Gottes widerlegte, zugleich aber durch die Lehre
vom kategorischen Imperativ den gefährlichen Wirkungen vorbeugte, die Skeptizis¬
mus und Atheismus auf die Volksmoral ausüben konnten. Das ist nach Opitz der
Grund, weshalb man ihn als den größten Philosophen aller Zeiten feierte. Nach¬
dem man thu so aufs höchste Postament gestellt hatte, blieb natürlich nichts übrig,
als alles, was er geschrieben hat, groß zu finden, und da man dieses übrige, wie alle
seine Verehrer im Vertrauen bekennen, nicht verstand, so mußte man seine Werke
für unergründlich tief erklären. Die UnVerständlichkeit rührt aber nach Opitz bloß
daher, daß Kant selber nicht aus noch ein gewußt und seine Verlegenheit durch eine
verworrene und scholastisch dunkle Darstellung zu verbergen gesucht hat. — Mit
dieser Abmurksung, wie es der größte aller modernen Lyriker nennen würde, wird
unter andern auch der Hallensische Theologe I^lo. Karl Stange, der außer an
Gott auch an Kant glaubt, nicht zufrieden sein. Übertriebne Erwartungen uns die
Leistungen seiner Wissenschaft erweckt er nicht in seiner Einleitung in die Ethik
(Leipzig, Dietcrichsche Verlagsbuchhandlung, 1900; I. System und Kritik der ethischen
Systeme). Er zeigt sehr hübsch, daß uns keine Ethik zu sagen vermag, was wir
in jedem Augenblick thun oder lassen sollen, und daß Moralpredigten noch niemand
besser gemacht haben. Bescheidentlich beschränkt er die Aufgabe der wissenschaftliche!!
Ethik darauf, daß sie im Anschluß an Kant und Herbart „eine wissenschaftliche
Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Sittlichen zu geben" suchen soll. —
Unbedingte Wahrhaftigkeit sollte man einem Vertreter der Wissenschaft nicht als
besondres Verdienst anrechnen müssen, leider aber muß man es, und deshalb em¬
pfehlen wir allen, die die Wahrheit über die berühmteste aller Ethiker wissen
wollen, die Kurze Erklärung der Ethik von Spinoza und Darstellung
der definitiven Philosophie von Dr. Richard Wähle, o. ö. Professor an
der Universität Czernowitz (Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1899), Die
Erklärung ist nicht allein im einzelnen vortrefflich, sondern auch durch die strenge
Wahrhaftigkeit und die harte Logik ausgezeichnet, womit sie den verklärenden Licht¬
nebel einer angeblichen Mystik zerstört, in den man diese Philosophie eiskalter Ver¬
ständigkeit und nihilistischer Resignation gehüllt hat. Insbesondre hebt er nach¬
drücklich hervor, daß Spinoza nicht Pcmtheist, sondern Atheist gewesen ist. Folgende
Anführungen aus Wähle werden allein schon genügen, den Kern der spinozistischen
Philosophie bloßzulegen. „Was Spinoza lehren wollte, war. die Welt ohne die
bisherige Theologie und Psychologie rein positiv aufzufassen. Er vermag keinen
Gott zu erblicken, vielmehr nur das All; er vermag nicht separate Seelensubstanzen
zu erblicken, vielmehr nur das Psychische im All. Er sieht nirgends Freiheit,
sondern die Allnotwendigkeit. Er glaubt nicht an Hoffnungen, sondern will
nur das eine einsehen, daß sich unser Glück ausschließlich auf Lebensfreude und
wissensfrohe Ergebung in das Unabänderliche gründen laßt." (S. 9.) „Kurz, alle
Anthropologismen, alles, was Theologie oder was eine von Gemütswerten trunkne
pantheistische Mystik dem Gott beilegen möchte, hält er von seinem Absoluten fern.
Nichts bleibt als Konstellationswechsel der Elemente des All, ohne jeden Wert,
außer dem der einfachen Realität." is. 39.) „Das einzige und letzte Ziel des
menschlichen Handelns ist der aufrechte Bestand unsrer Natur in ungebrochner Kraft.
Dieses Ideal ist in zwei Formen, in zwei Graden der Güte zu erreichen." (S. 125.)
„Das Leben in vernünftig geregelten Affekten wird sich so gestalten, daß jeder den¬
jenigen seiner Neigungen, die ihm Freude zu bringen geeignet sind, nachgehn wird,
weil sie ihm Freude bereiten. Wenn seine Neigung also z. B. darauf gerichtet ist,
fremde Leiden zu lindern, oder Talente zu wecken und auszubilden, oder in der
Welt herumzuwandern, oder Wissenschaft, Kunst oder Handwerk zu betreiben, so
wird er darin nichts Schädliches erleben. Aber wenn die Dinge nun schief gehn
und er sein Ziel nicht erreicht, wird er noch in Trauer gestürzt werden, falls er
nicht die höhere ethische Stufe erklimmt, auf der erwünschte und unerwünschte Er¬
eignisse gleich ruhig hingenommen werden." (S. 135.) Spinoza hat also den
Epikuräismus mit dem Stoizismus kombiniert und die Gottheit beseitigt, die diese
beiden alten Lehren noch hatten stehn lassen. — I)r. M. Kronenberg bietet
uns unter dem Titel: Moderne Philosophen München, C. H. Beck, 1899) fünf
schöne „Porträts und Charakteristiken" dar. Er hat die Männer ausgewählt, von
denen er meint, daß sie die Zeit zwischen Hegel und dem Positivismus (1825 bis
1865) charakterisieren, nämlich Lotze, Fr. Alb. Lange, Cousin, Feuerbach, Stirner.
Diese Auffassung setzt voraus, daß der Pessimismus für eine nicht sehr bedeutende
Episode angesehen wird, was sich ja rechtfertigen läßt. Lotze und Lange sind hin¬
länglich bekannt, weniger Cousin und Feuerbach, und der Verfasser hat sich ein
Verdienst damit erworben, daß er sie dem gebildeten Publikum näher rückt. Cousin
verdient wegen seiner innigen Beziehung zu Deutschland Beachtung. Er hat unsre
Philosophen in ihrem Vaterlande aufgesucht, die Franzosen über den Mißerfolg
ihrer Revolution und den Zusnmmenbrnch ihrer kurzlebigen Weltherrschaft mit der
idealistischen Philosophie Schellings und Hegels getröstet und ihnen mit dem Satze,
daß das Wirkliche vernünftig sei, und alles, was geschehe, notwendig geschehe, den
zahmen Konstitutionalismus schmackhaft zu machen gesucht. Feuerbnchs Atheismus
aber ist aus der liebenswürdigsten Humanität entsprungen und nur als Notwehr
gegen zelotische Orthodoxie und kalte idealistische Abstraktionen anzusehen, und wenn
die Erinnerung an den Mann aus keinem andern Grunde dem heutigen Geschlecht
nützlich wäre, so ist sie es doch schon darum, weil er, der Sohn des berühmten
Juristen und der Gatte einer Fabrikbesitzerin, seine Mannesjahre in der Einsamkeit
eines Dorfes zugebracht hat, wo er beinahe verhungert wäre. Den Stiruerschen
Unsinn mit aufzunehmen wäre wohl nicht nötig gewesen. — Dr. Heinrich Rv-
mund, erschreckt durch den „Wirklichkeitsfanatismus" und den Haß des Schönen in
unsrer Kunst und durch die Einschleppung skandinavischer Scheußlichkeiten, erörtert
die Grundgesetze der Ästhetik und geht dabei auf Goethe, Kant und Plato zurück.
Er hofft, daß der Dogmenzwang, der das Volk der Kirche entfremdet, der Zwang
zur Unwahrhaftigkeit, bald aufhören und die Kunst zur wiedergebornen Religion
in ein inniges Verhältnis treten werde. Er hat seine Betrachtungen in den
Rahmen eines Briefwechsels eingefügt, der über die Verhandlungen eines ästhetischen
Kränzchens berichtet, daher der Titel: Eine Gesellschaft auf dem Lande.
Unterhaltungen über Schönheit und Kunst mit besondrer Beziehung auf Kant
(Leipzig, C. 6). Naumann, 1897). — Ein Buch, von dem wir wünschten, es
hätte es ein Deutscher versüßt, sind die Philosophischen Forschungen von
B, Tschitscherin. (Aus dem Russischen übersetzt. Heidelberg. Otto Petters, 1899.)
Dcis Jnselvolk, das durch Jndustricilismus und Schacher in den letzten dreihundert
Jahren für alles Hohe und Edle, für alles wahrhaft Menschliche unempfänglich
und daher dumm geworden ist, hat bei uns außer mannigfachem Warenschund eine
PseudoPhilosophie eingeschleppt, deren große Verbreitung für das Volk Leibnizens,
Kants, Fichtes, Hegels und Herbarts eine Schmach ist. Lotze hat sie zwar schon
grundsätzlich zurückgewiesen, aber als er seine Hauptwerke schrieb, hatte sie bei uns
noch nicht die Herrschaft erlangt. Wenn sie nun auch jetzt von vielen Seiten
energisch bekämpft wird, sind es doch meist nur Monographien über einzelne
Gegenstände oder Gebiete, in denen das geschieht. Der Russe Tschitscherin aber,
der die echte deutsche Wissenschaft in sich aufgenommen hat, liefert eine umfassende
und grundsätzliche Widerlegung des ganzen modernen Empirismus und stellt diesem
den Abriß einer gesunden Philosophie gegenüber. Er verbindet mit universeller
Bildung gründliche Fachkenntnisse in der Philosophie, in der Mathematik und in
den Naturwissenschaften, erfreut sich der Gaben eines vorurteilsloser klaren Blicks
und durchdringender Verstandesschärfe und stellt die Ergebnisse seiner Forschung in
einer Sprache dar, deren schlichte Deutlichkeit und überzeugende Kraft in der vor¬
trefflichen Übersetzung voll zur Geltung kommt. Für den negativen Teil seiner
Arbeit hat er sich nicht einen der neuern Darwinianer, sondern den altern Comte
als Sektionsobjekt auserkoren, wahrscheinlich weil dieser die falsche Methode auf alle
Gebiete der Wirklichkeit auszudehnen unternommen hat. Tschitscherin zeigt, daß
Comtes sogenannter Positivismus nichts weniger als positiv und nur ein Sammel¬
surium von teils oberflächlich beobachteten, teils ganz falsch gesehenen Thatsachen,
von willkürlichen Annahmen und von Phantasien ist. Die Darwinianer aber kommen
daneben auch nicht zu kurz, und jedem, der über die zum Studium eiuer Wissen¬
schaft erforderliche Verstandeskraft verfügt, muß es bei der Lektüre dieses Buchs
klar werden, daß die Aunahme der Artenbildnng durch mechanische äußere Ein¬
wirkungen und die Ableitung der Vernunft und Moral aus dem biologische»
Prozeß nur möglich gewesen sind, weil die Urheber dieser Lehren aus Denkschwttche
unfähig waren, scharf zu beobachten, einen klaren Begriff festzuhalten und einen
richtigen Schluß zu ziehn. Der positive Teil des Buchs besteht aus einer (die
wichtigsten Teile der Psychologie mit einschließenden) Logik und einer kurz gefaßten
Metaphysik. Tschitscherin fußt auf Kant, überwindet aber dessen Skeptizismus, indem
er überzeugend nachweist, „daß die Gesetze der Vernunft und die Gesetze der äußern
Welt übereinstimmen," und indem er vom Dasein des selbstbewußten Gottes einen
Beweis liefert, der, wenn auch nicht allgemein und für das Gemüt, so doch für
den wissenschaftlich gebildeten logischen Kopf zwingende Gewalt hat. Aus den
vielen Stellen, die wir gern als Proben geben möchten, haben wir folgende zwei
ausgewählt. „Kant, der klarer als alle andern die metaphysischen Grundlagen der
Sittlichkeit entwickelt hat, stellt die Unsterblichkeit der Seele als ein notwendiges
Postulat des sittlichen Gesetzes hin. Dieses Postulat bekommt neue Kraft durch
die Auffassung des Subjekts als einer realen Substanz, die schon Plato lehrte.
Von diesem Standpunkt aus ist die Unsterblichkeit nicht mehr eine vage Vermutung,
sondern eine Forderung, die dem Naturgesetze gemäß ist und dieses Gesetz erklärt.
Als Substanz kann die einzelne Vernunft nicht vernichtet werden; dieser Satz
bildet*) eine unbedingte Wahrheit. Bleibt sie aber in ihrer Individualität erhalten,
oder vereinigt sie sich wieder mit der höchsten Vernunft, aus der sie hervorgegangen
ist? Diese Frage wird nicht durch den Begriff der Substanz gelöst, der das eine
wie das andre als dein Naturgesetz entsprechend zuläßt. In dem physischen Pro¬
zesse bilden die materiellen Atome unwandelbare einzelne Substanzen, die, indem
sie verschiedne Verbindungen eingehn und daraus wieder ausscheiden, in ihrem in¬
dividuellen Dasein verbleiben. Es fragt sich, ob dasselbe für die denkenden Sub¬
stanzen Geltung hat. Statt der äußern Erfahrung liefert uns hier die innere Er¬
fahrung eine Bestätigung, indem sie uns das sittliche Gesetz, als eine unveräußer¬
liche Eigenschaft des Subjekts, aufdeckt. Für das sittliche Gesetz bildet (!) die
Fortdauer der individuellen Existenz ein notwendiges Postulat. Das absolute Gesetz
fordert eine unbedingte Erfüllung; aber dabei wird in dem Kampfe der besondern
Kräfte, der das Gebiet des Relativen bildet i.!), und in dem die individuelle Vernunft
befangen ist, das sittliche Gesetz oft verletzt oder bleibt unerfüllt. Darum kaun die
gegenwärtige Wirklichkeit dem vernünftigen Subjekte keine sittliche Befriedigung ge¬
währen. Diese Befriedigung ist nur unter der Voraussetzung der individuelle»
Fortdauer möglich, die darum als eine Forderung des sittlichen Gesetzes erscheint.
Es ist interessant, daß die Utilitarier, die den persönlichen Genuß für die einzige
Triebfeder zur Thätigkeit ansehen, mit Entrüstung den Gedanken an zukünftige Be¬
lohnungen und Strafen, als der Sittlichkeit unwürdig, verwerfen; auf Stelzen
steigend, um aus dem Sumpfe, in den sie versunken sind, herauszukommen, fordern
sie im Namen des reinen Ideals uneigennützige Aufopferung. Wenn die Be¬
lohnungen in materiellen Gütern bestünden, so wäre allerdings eine solche Forde¬
rung dein Wesen der Sittlichkeit nicht gemäß. Die sittliche Befriedigung aber
bildet^!) den notwendigen Zweck der sittlichen Handlung; durch das ohumcichtige Be¬
wußtsein der erfüllten Pflicht allein wird sie nicht gegeben. Das sittliche Gefühl wird
dnrch den Triumph der Ungerechtigkeit beleidigt, der auf Erden eine alltägliche Er¬
scheinung ist. Es wird auch durch die Möglichkeit der Verwirklichung des sittlichen Ideals
in der Zukunft nicht versöhnt, denn wofür haben dann alle vergangnen Geschlechter
gelitten, und wofür sind sie untergegangen? Das vernünftig-sittliche Subjekt ist
nicht nur Werkzeug; als Träger des sittlichen Gesetzes ist es sich selbst Zweck, und
als solcher muß es Befriedigung finden. Wahrhaft komisch ist es, wenn die Em¬
piriker die Möglichkeit, das sittliche Ideal zu verwirklichen, bezweifeln und dennoch
fordern, daß sich der Mensch für dieses zweifelhafte Ideal aufopfere" (S. 496).
„Die Verwirklichung der Rechtsordnung, die die Freiheit der Person schützt, bildet^)
ein unwandelbares Ideal, das dem Subjekt als einem vernünftigen, sittlichen Wesen
eigen ist. Hieraus ist ersichtlich, daß das Recht, ebenso wie die Sittlichkeit, in der
Metaphysik wurzelt. Die äußere Freiheit als Thatsache ist etwas Empirisches, aber
als Forderung ist sie etwas Metaphysisches, denn sie entspringt aus der innern
Freiheit, die eine metaphysische Eigenschaft des vernünftigen Wesens ist. Indessen
ist gegenwärtig die Verwirrung der Begriffe, die aus dem bloßen Empirismus
hervorgeht, so groß, daß uicht selten die Verteidiger der reinen Erfahrung als An¬
hänger der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auftreten, ohne zu ahnen,
daß diese Erklärung lediglich ein Produkt einseitiger Metaphysik ist" (S. 499).
eit der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. kommt unser öffent¬
liches Leben aus dem Wogendrang immer neuer, weittragender
Aufgaben nicht mehr heraus. Kaum ist eine Wolke an dem
Himmel des Ruhe pflegenden Staatsbürgers vorübergezogen, so
ballt sich am Horizont etwas neues zusammen, das ihn nötigt,
munter zu werden und sich eine Meinung zu bilden, sei es über die Sozial¬
demokratie im allgemeinen oder über die rechtlichen Grenzen des Streiks
insbesondre, sei es über Getreidezölle oder über Flottenbau, Und im ganzen
mag die Wirkung dieser etwas stürmischen Thätigkeit unsrer Reichsregierung
auf unser ethisch-nationales Volksleben die sein, daß wir verhindert werden,
uns zu behaglich in der frühern Weise den persönlichen oder lokalen Interessen
zu überlassen, und daß sich die Arbeitskraft und das nationale Gemein¬
gefühl stärken an den großen nationalen Aufgaben, die uns zugewiesen
werden. Wenn nur der blinde Subjektivismus der Parteien nicht wäre.
Wem aber die Fülle der an uns herantretenden tief einschneidenden Fragen
des praktischen Staatslebens gar zu groß erscheint, der soll nur das Tempo
beobachten, worin sich das Volk selbst auf dem Wege seiner materiellen wie
immateriellen Entwicklung vorwärts bewegt. Er wird bald einsehen, daß wenn
ein Junge so erstaunlich hurtig in die Höhe schießt, wie wir heute, nur ein
schlechter oder armer Vater versäumen darf, die Hose recht oft ändern zu lassen,
auch wenn die Schneiderrechnung gelegentlich etwas lang wird.
Daß der deutsche Junge wächst, überraschend schnell wächst, bemerken wir
und bemerken die andern auch. Er ist in die Jahre gekommen, wo man fragt,
welchen Beruf er ergreifen werde, oder er ist richtiger schon so weit gefestigt,
daß mau an seinem Beruf nicht mehr zweifeln kann. Noch vor zwanzig,
dreißig Jahren war es der landwirtschaftliche, den ihm die meisten zuwiesen;
heute giebt es wohl noch viele, die mit Bedauern sehen, daß er diesen Beruf
aufgegeben hat, aber wohl nur wenige, die ernstlich hoffen, ihn einmal wieder
auf den alten Weg zurück zu bringen. Die vom Ackerbau lebende Menge ist längst
ein Zahl von der städtischen Bevölkerung überholt worden; wohin man sieht,
schwillt die Industrie an und verschattet die Interessen des Landmanns; trotz der
schnell sich mehrenden Volkszahl gebricht es an Händen. Von Nußland allein
sollen nach russischen Angaben im Jahre 1399 nach Deutschland 80000 Menschen
auf Arbeit gekommen sein, und die Auswandrung nach den Vereinigten Staaten
ist von 200000 auf 20000 im Jahre gesunken, und trotz alledem könnten wir
noch mehr Hände brauchen. Der Wohlstand wächst schnell, die Finanzen sind
blühend, die größere Masse des Volkes ist mit der materiellen Lage zufrieden.
Diese Umstände bieten eine Gewähr dafür, daß wir in der Politik und in der
Volkswirtschaft im ganzen auf dem rechten Wege sind, und daß es unmöglich
ist, diesen Weg zu verlassen ohne große Erschütterungen im gesamten Volks-
orgnnismus. Wir sind zum Jndnstrievolk geworden.
Es ist eine sehr verbreitete Meinung, daß wir nun auf dem zu Größe
und Glanz, auch zu Glück und Zufriedenheit führenden Wege sind. Wir haben
aus England die Lehren einer liberalen Staatskunst geholt und sind eifrig
dabei, von ihnen auch die Kunst zu lernen, wie man reich wird. Mit Staunen
und Neid haben wir seit lange die Anhäufung von Reichtum beobachtet, die
seit den napoleonischen Kriegen der englische Handel und die englische Industrie
zu Wege brachten. Liberalismus, moderner Geist, Thatkraft und Intelligenz
schienen dem Volke vorbehalten zu sein, das sich mit allen den neusten Werk¬
zeugen der Technik ausgerüstet, in den die Welt umspannenden Wettbewerb
der Produktion stürzen und darin feste Stellung erringen würde. Der Fort¬
schritt des Menschengeschlechts, das war in der innersten Meinung der meisten
der englische Fortschritt, der Gelderwerb; und an der Spitze der Kulturvölker
schritt und schreitet das englische Volk. Seit wir merken, daß wir auf dem
Felde des Erwerbs nicht verdammt sind, ewig nur billig und schlecht zu ar¬
beiten, daß wir vielmehr trotz Franzosen und Engländern auch etwas leisten
und uns draußen sehen lassen können, haben wir viele Mitbewerber hinter
uns gelassen und sehen erfreut, wie der Vorsprung Englands immer kleiner
und kleiner wird. Aber lassen wir uns nicht zu sehr durch diese Erfolge
blenden. So berechtigt die Befriedigung ist, mit der wir rund umher den
Wohlstand wachsen, die Städte sich dehnen und verschönen sehen, mit so viel
Stolz wir die Rechnungen von Gelehrten und Regierungen über die Früchte
unsrer Arbeit lesen, so sollten wir nicht vergessen, daß der materielle Erwerb
nur einen Teil der Volksbedttrfnisse befriedigen kann. Wie beim Individuum
so beim Volk können überwiegend materielle Neigungen, überwiegend dem
materiellen Erwerb gewidmete Arbeit den Volkscharakter ungünstig beeinflussen.
Und wenn es richtig ist, daß der heutige englische Volkscharakter wesentlich
durch den kommerziellen Geist, der sich dieses Volks bemächtigt hat, geformt
worden ist, so ist es für uns vielleicht von Nutzen, diesen Charakter zu be¬
obachten, um aus ihm Schlüsse auf unsre eigne Entwicklung zu ziehn.
Überall und immer hat der Erfolg das erste Wort in den Beziehungen
der Menschen zu einander. Der Wilde betet ihn an, und der Kulturmensch
beugt sich vor ihm leichter als vor irgend einer andern, einer sittlichen Macht.
Ganz besonders der Engländer, wenn wir die Völker miteinander vergleichen.
Beobachten wir aber die einzelnen Gruppen innerhalb der Völker, die Arten
des Berufs, und fragen, in welchem Beruf der Erfolg am reinsten verehrt
wird, so werden wir in erster Reihe an den Kaufmann denken, ob er nun mit
Geld an der Börse oder mit Waren handelt. Man sieht es dem einzelnen
Engländer an, daß er in einer Handelsgesellschaft aufgewachsen ist, und man
spürt den kommerziellen Geist ebenso in dem öffentlichen Leben, wie in der
Politik Englands.
Alles beim Engländer zeigt überlegte Zweckmäßigkeit, geschlossene, einseitige
Kraft, nüchternen Willen. Das sind Eigenschaften, die einen tüchtigen Geschäfts¬
mann machen. Es sind vielleicht auch die Eigenschaften, die in der angel¬
sächsischen Rasse selbst liegen, und die von der Natur des Landes besonders
begünstigt werden. Steffen") zeigt in seiner unübertrefflichen Zeichnung des
englischen Charakters, daß dieser wesentlich von dem Klima des Landes geformt
worden ist, das zu angestrengter Arbeit treibt. Aber der Angelsachse hat in
Amerika einen andern Himmel gefunden, seit Generationen lebt er unter ganz
kontinentalem Klima und ist in seinem Grundcharakter doch derselbe geblieben
wie in England. Wenn es erlaubt wäre, einem Meisterwerke wie dem von
Steffen einen geringen Pinselstrich hinzuzufügen, so würde ich darauf hinweisen,
einmal daß die Masse der Nordamerikaner schon mit dem englischen Charakter
und zu dem hauptsächlich industriell-kommerziellen Beruf hinüberkam, dem sie
schon in England oblag, und ferner, daß die geographische Lage beider Länder
eine parallele Entwicklung im Charakter beider Völker beförderte. Der in¬
sularen Lage Großbritanniens und der in nationalem Verstände ebenso abge¬
schlossenen, von keinem gleichwertigen fremden Stamm als Nachbarn beein¬
flußten Lage Nordamerikas dürfte ein Anteil an der Charakterbildung der
Angelsachsen beider Länder beizumessen sein, die sich unter ähnlichen Ver¬
hältnissen in Australien ohne Zweifel ähnlich erweisen wird. Nicht nur die
Vereinigten Staaten und England, sondern ebenso Australien duldet, soweit
irgend thunlich, keine fremde Nachbarschaft: die insulare Lage Englands wieder¬
holt sich in Amerika wie in Australien; sie äußert sich in dem gewaltsamen
Streben, Herr der Küste nach allen Seiten hin, oder doch wenigstens, wie jetzt
in Afrika, die xarÄinouiit xover zu sein. Das „athletische Temperament" der
Engländer, wie Steffen es bezeichnet, hätte sich schwerlich entwickelt, wenn
diese Angelsachsen in ihrer alten deutschen Heimat zwischen andern Völkern
geblieben wären, die auf den englischen Eigenwillen ebenso sänftigend gewirkt
hätten, wie die Püffe von zwanzig Jungen in einer öffentlichen Schule auf
den Eigenwillen des Einzelnen wirken. Dazu kam das wunderbare Wachstum
der Kraft und der äußern Bedeutung Englands von der Zeit her, wo es nach
der Besiegung der spanischen Seemacht und dann Hollands zur ersten See¬
macht der Welt aufstieg. Die herrische Art des Engländers wurzelt zum
großen Teil in dem Bewußtsein, der Herr des Meeres zu sein, zu dem ihm
eine durch drei Jahrhunderte planvoll fortgesetzte Politik das volle Recht
verschafft hat. Voll ausgebildet hat sich dieses herrische Wesen besonders in
dem eben abgelaufnen Jahrhundert, seit England seinen heutigen Kolonial¬
besitz in der Hauptsache eingeheimst und alle andern Seemächte allmählich und
nacheinander um ihre Flotten gebracht hatte. Seitdem ist für England das
Ruth, Lritg-nriig., ebenso zur Staatsmaxime geworden wie die Idee Monroes
für die Vereinigten Staaten: dort die Oberherrschaft zur See, hier die Ober¬
herrschaft auf dem amerikanischen Kontinent. Und diese Maxime der Herren¬
stellung ist beiden Völkern so sehr ins Blut übergegangen, daß sie sich in dem
Typus des Individuums kenntlich macht.
In derselben Zeit, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts, hat England
die wirtschaftliche Umwälzung durchgemacht, aus der das Land als die größte
industrielle Werkstätte und der Engländer als der größte Händler der Welt
hervorgingen. Jeder Beruf übt auf den Charakter des Menschen einen um¬
gestaltenden Einfluß in dem Maße aus, womit er dessen geistiges und leibliches
Handeln bestimmt. Bei zivilisierten Völkern ist Geldgewinn mit jeglichem Beruf
verbunden, jedoch in sehr verschiednen Maße ist Geldgewinn sein Zweck. Es giebt
Berufe, die den Geldgewinn als nebensächlich, andre, die ihn als vorwiegenden
Zweck der Arbeit zeigen. Von allen Revolutionen, die ein Volk durchmachen
kann, ist keine gewaltiger als der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geld-
Wirtschaft. Und mit so tiefer Verachtung unsre heutige Nationalökonomie auch
auf die Naturalwirtschaft als eine rohe und unzivilisierte Form des wirtschaft¬
lichen Lebens herabsieht, so wird man, wenn man sich nicht vom äußern Schein
blenden läßt, anerkennen müssen, daß keine Revolution für das Glück des Ein¬
zelnen, das in Zufriedenheit besteht, unheilvoller ist, als diese wirtschaftliche.
Es kommt nur darauf an, welchen Nutzen man von der fortschreitenden Kultur
erwartet, ob den, die Zufriedenheit der Einzelnen und der Menge zu fördern,
zu sichern, oder den, zu immer feinern, kompliziertem, über die Natur sich
höher erhebenden Formen des Lebens zu gelangen. Die Rousseau, Tolstoi
und ähnliche Denker haben im Grunde nichts andres gethan, als gegen diese
Revolution zu protestieren, als die Rückkehr von der Geldwirtschaft zur Natural¬
wirtschaft zu fordern, und alle Poeten, die die auri sg-ora tainös beklagten,
bis herab auf Wilhelm Jordan haben weniger die Habsucht verdammt, als
das Gold für das Verderben bringende Element erklärt, das alle bösen Be¬
gierden weckt und alle Zufriedenheit zerstört. Und ist es nicht ein Dogma
unsrer heutigen Volkswirtschaftslehre, daß die fehlende Mutter Erde, der Mangel
um nährenden Boden, die „Landenge" die segensreich treibende Kraft sei, die
den Menschen zu industriellem Fortschritt, städtischem Wesen, zur Lohnarbeit
führe? Was aber heißt das anders, als daß die sogenannte höhere Kultur,
in der das Geld regiert, da anfängt, wo die Zufriedenheit aufhört, und da
endigen würde, wo die Unzufriedenheit endigte? Ist dieses Dogma nicht von
demselben Geiste, der den Neger zwingt, Kleider zu tragen, deren er nicht
bedarf, nur damit er arbeiten müsse, um sie bezahlen zu können, und unglücklich
werde, um die weißen Träger der Kultur zu bereichern? Die Naturalwirtschaft
ist die einzig gesunde Form des Erwerbs, die Form, die den Menschen mit
der Natur in Verbindung erhält, ihn harmonisch entwickelt, die den Kapitalismus
in Schranken hält, den Menschen nicht einseitig spezialisiert, ihn nicht dem
seelenlosen, herzlosen Mammon unterjocht. Aber die Kultur hat leider nicht
das Glück des Einzelnen zum Richtung weihenden Polarstern, sondern einen
geheimnisvollen Lenker, dem wir folgen müssen, ob wir wollen oder nicht.
Und dieser Lenker hat noch alle Völker in ihrer Entwicklung zu Kulturvölkern
einmal von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft hinübergedrüngt. Wir
konnten dein nicht entgehn, und einmal beim Gelde angelangt, kommen wir
bald auch zum Papiergelde und zum Kapitalismus und müssen uns nun damit
zurechtfinden, so gut wir können. Je unmittelbarer auf der Stufenleiter des
Erwerbslebens der Mensch mit dem Gelde als Lohn der Arbeit in Verbindung
gesetzt wird, je weniger er in seinem Beruf mit etwas andern: als nur dem
Gelde zu thun hat, um so geringer wird der sittliche Inhalt seiner Arbeit sein.
Das Geld ist gewissermaßen nur eine Abstraktion, ein idealer Wert, und je
ausschließlicher man sich mit ihm beschäftigt, um so weiter entfernt man sich
von den realen Dingen und Vorgängen, die ihren Zweck in sich selbst haben
und hiervon ihre sittliche Berechtigung und ihren Wert herleiten. Die An¬
fertigung eines Stiefels ist moralisch wertvoller als die geistvollste Spekulation
an der Börse, denn der Stiefel kann gut oder schlecht, schön oder häßlich ge¬
macht, das Gefühl der Pflicht, der Ehre, der Schönheit kann in dem Schuster
geweckt, genährt werden durch seine Arbeit: der Börsenmann rechnet mit finan¬
ziellen oder politischen Abstraktionen, oder mit menschlichen Schwächen, was
vielleicht seinem Scharfsinn, aber keiner edlern sittlichen Kraft in ihm zu gute
kommen mag. Im allgemeinen wird der sittliche Wert des vorwiegend auf
Erwerb gerichteten Berufs um so mehr sinken, je näher dieser den Menschen
dem reinen Geldgeschäft bringt, und um so mehr steigen, je näher der Mensch
durch seine Arbeit dem Menschen und der Natur tritt. Es bedarf für den
Laudanum oder den Dorfhandwerker eines geringern Maßes ungeborner sitt¬
licher Kraft als für den städtischen Fabrikarbeiter oder den Börsenmann, daß
er in dem Daseinskampf keine moralische Einbuße erleidet, nicht weil jene
weniger der Versuchung ausgesetzt sind, sondern weil ihre Arbeit sie andauernd
" -^cnnmenhang mit bestimmten, nahestehenden Personen, Tieren,
Pflanzen, ja unorganischen Dingen hält, in Beziehungen, die den andern meist
abgehn. Denn der Fabrikarbeiter kann in keinen sittlichen Beziehungen zu
einem Herrn stehn, den er kaum jemals zu Gesicht bekommt, und ebenso wenig
zu der Maschine oder dem Nagel, den herzustellen ihm die Maschine, ja man
könnte sagen, er der Maschine hilft.
Am höchsten ans der Stufenleiter der Abstraktion von der realen
schaffenden Arbeitswelt und am niedrigsten auf der Stufenleiter der sittlich
erziehenden Berufe steht das reine Geldgeschäft, die Börse. Hier ist Natur,
Mensch, selbst die materielle Arbeit beseitigt, kurz das, was die Welt des
Menschlich-Sittlichen im Erwerbsleben in sich schließt, und man hat die
Abstraktion der Zahl und des Geldes neben den Abstraktionen der Finanz
und der Politik und Industrie vor sich — Gebiete der praktischen Intelligenz,
die an sich keinen sittlichen Boden darstellen. Dem Börsenmann erwächst
aus seiner Arbeit keine schöpferische Befriedigung, wie sie die Arbeit dem
geringsten Handwerker gewährt. Die Arbeit des Geldwechslers, des Börsen¬
mannes schafft nicht, sondern verschafft; sie sucht nach einem Anteil an dem
Gewinn der Arbeit andrer, und sie leistet nur dies, denn sie bringt unmittelbar
keine neuen Werte hervor. So notwendig die Börse, die Großindustrie im
heutigen Wirtschaftsleben sind, so beweist ihre Nützlichkeit noch keineswegs ihren
sittlichen Nutzen. Solange die Welt steht, hat man die Gvldesbegierde immer
als eine unheimliche, dämonische Macht angesehen, die dem sittlichen Charakter
des Menschen gefährlich sei, hat man von den: Fluch des Goldes geredet. Der
Fluch wird gesühnt durch die Arbeit, die ihres Lohnes wert ist. Je geringer
diese schaffende Arbeit ist, je unmittelbarer das Geld sowohl Zweck als auch
Werkzeug der Arbeit ist, um so mehr verliert sie ihre sühnende Kraft. Das
Menschliche, Persönliche tritt zurück, die tote Zahl verdeckt alles. Dem Egoismus,
der Habsucht, der Grausamkeit stellt sich nichts in den Weg, denn man kennt
ihre Opfer nicht. Der Gewinn, der Erfolg heiligt alles. Daher verwaltet keine
Regierung so hart als Kompagnien oder Aktiengesellschaften. Der Aktionär einer
Ong-rtsreck OomvM^ erscheint in der Generalversammlung mit dem einzigen
Ziel, seine Dividende zu steigern, und ist sehr gleichgiltig gegen Tausende, die
verhungern um dieses Ziels willen. Der Aktionär übt die Gewalt eines Be¬
amten aus ohne dessen Verantwortung oder mit sehr geringer Verantwortung.
Es giebt unter den Herren der Börse vielleicht ebenso viele sittlich hochstehende
Leute als in andern Berufen, wenn man die zählt, die durch eigne Arbeit
oder als Erben eines angesehenen Börsenyauses in gesicherter Höhe stehn.
Aber ich glaube nicht, daß irgend ein andrer Beruf gleich große Anforderungen
an die sittlichen Kräfte dessen stellt, der sich ihm widmet; nur Männer von
besonders festem Charakter werden sich sittlich ungeschüdigt an der Börse ein
Vermögen erwerben oder lange das Börsenspiel zu ihrer Beschäftigung machen
können. Es ist verhängnisvoll, daß Börse und Tagespresse, diese beiden
stärksten öffentlichen Kräfte unsrer Zeit, von den zweifelhaftesten Existenzen
beherrscht werden. Diese beiden Gewalten, die sich gegenseitig unterstützen,
sind fließend und wechselnd; sie gleiten beide leicht in die Hand des beweg¬
lichen Volks, das von jeher das Handelsgeschäft sowohl mit den materiellen
als mit den immateriellen Gütern andrer Völker am besten verstanden hat.
Die Arbeit des Börsianers ist, besonders solange er die gesicherte Höhe
noch nicht erreicht hat, zum guten Teil ein Spiel mit fremdem Gut, mit dem
Lohn fremder Arbeit. Ihr am nächsten steht hierin die Thätigkeit des Gro߬
händlers und »veiter die des Großindustriellen. Dieser letzte ist ein Erzeugnis
der Neuzeit, der Maschinenarbeit mit ihrer Massenproduktion, die Nieder für
den Handarbeiter, noch für den Fabrikherrn den sittlichen Wert des Handwerks
hat. Der Großindustrielle steht der schaffenden Arbeit, dem Menschen und der
Ware zu fern, er hat zu dem Arbeiter kaum sittlich lebendigere Beziehungen
als zu der Maschine, er arbeitet vorwiegend mit Zahlen und Preislisten, er
handelt mit Werten, an deren Entstehn er einen nur sehr entfernten Anteil
hat. Die Großindustrie entwickelt das Talent für Organisation, für Beherrschung
komplizierter und großer Verhältnisse und Einrichtungen; aber indem sie nicht
einzelne Menschen, sondern Massen zu Kunden, nicht Lehrlinge, sondern Ar¬
beitseinheiten in ihrem Dienst hat, wird sie leicht gewaltthätig in der Organi¬
sation, hart gegenüber dem Arbeiter und herrisch gegenüber dem Kunden.
Ein Jahrhundert gewaltigen industriellen Aufschwungs hat natürlich seine
Spuren in dem englischen Volkscharakter hinterlassen. Die anschwellende Waren¬
erzeugung speiste den steigenden kommerziellen Strom, und dieser machte die
Londoner Börse zum Geldhändler für die ganze Welt. England ist heute im
Besitz ungeheurer Reichtümer; aber wer die Engländer darum beneidet, sollte
nicht vergessen, daß nach den Zeugnissen sehr glaubwürdiger Männer diese von
dem Jahrhundert eines umwälzenden wirtschaftlichen Eifers hinterlassenen
Spuren nicht nur in Reichtümern, sondern auch in einer Schädigung des eng¬
lischen Volkscharakters bestehn.
Es giebt vielleicht Eigenschaften im englische« Charakter, die, weil sie von
der Natur des Landes wo nicht herrühren, so doch verstärkt werden, bei
dem Engländer besonders stark vortreten. Steffen sagt in dieser Beziehung:
»Man kann der bleiernen Witterung nicht anders als mit Arbeit und mit
Alkohol entgegen wirken, und man wird dabei zur einförmigen Arbeitsbiene oder
zum einförmigen Trinker, oder gar zu beidem zugleich. Das Klima belebt nicht
durch irgend welche starken Gegensätze oder durch fast unveränderliche Pracht
oder Schönheit, wie in gewissen Mittelmeerländern, sondern es macht das Da¬
sein einförmig halbdüster und das Gemüt phlegmatisch-hypochondrisch. Der
Volkscharakter wird ruhig, ausdauernd, strebsam und im höchsten Grade prak¬
tisch, aber phantasielos; er wird körperlich thätig, doch seelisch träge; er wird
materiell anspruchsvoll und fortschrittlich, jedoch geistig leicht zu befriedigen
und konservativ." Gedenken wir der großen Namen in der englischen schönen
und wissenschaftlichen Litteratur, so werden wir anerkennen, daß auf diesem
Gebiete oder auf Teilen davon die höchsten Ansprüche befriedigt worden sind,
auch wenn wir einen großen Teil dieser Namen als schottischer oder irischer
ausscheiden. Im übrigen wird die Skizzierung von Steffens auch dein ein¬
leuchten, der den Engländer nnr in der Fremde beobachten konnte. Man ver¬
gleiche ihn mit dem Südländer, den er als arm und faul verachtet, in seiner
Lebensweise, die er ja überall hin mit zäher Andacht mit sich nimmt. Steife,
hölzerne Formen der obern Klassen, die von den untern sorgsam nachgeahmt
und mit der Genauigkeit und Selbstzufriedenheit des Pedanten auch dort ge¬
wahrt werden, wo Natur und Verhältnisse gegen sie siud. Selbst im Tanz,
im Spiel herrschen Überlegung, Zweckmäßigkeit, Ausdauer, Kraft, Besonnenheit,
Selbstzufriedenheit — und fehlen Leidenschaft, Anmut, Freiheit, zwangloses
Selbstvergessen, Genußfähigkeit, kurz, gerade das, was den wahren Frohsinn
macht; der Italiener spielt wirklich und ganz, der Engländer arbeitet auch im
Spiel, Dieser Gegensatz entspricht dem Gegensatz in der Natur der Länder,
Er wird verstärkt durch die Verschiedenheit des wirtschaftlichen Volkslebens.
Steffen ist der Meinung, daß sich der Typus des englischen Bürgers seit einem
halben Jahrhundert durchaus geändert habe: der feiste John Bull von ehemals
sei nur noch bildlich etwa in Witzblättern vorhanden, und an seine Stelle sei
der trockne, „durch die Hetzjagd des Welthandels zu rastloser Rührigkeit geübte,
aller freimütiger Schwelgerei und naiven Munterkeit entwöhnte Großkapitalist"
getreten. Er hat sich damit dem Typus seines Vetters über dem Wasser ge¬
nähert, er ist etwas Jankee geworden, mit dem er ja in dieser Hetzjagd
wetteifert.
Wir andern Kontinentalen werden in der Mehrzahl wohl bekennen
müssen, daß uns der entschwuudne John Bull mit all seiner Derbheit und
seinem Portwein lieber war, als der heutige englische Typus. Wo das Geld
die durchweg beherrschende Macht einer Gesellschaft oder eines Volks geworden
ist, leidet auch der private Charakter unter dem ruhelosen Jagen nach Gewinn.
Der jüdische Typus, der nordamerikanische Uankeetypus, der chinesische Typus
haben sich unter diesem Einfluß gebildet und sind unserm Empfinden und
Denken besonders gegensätzlich. Je weiter sich der uns in vielen vortrefflichen
privaten und sozialen Eigenschaften sympathische und nahe stehende Typus der
Engländer nach dieser kommerziellen Richtung hin entwickelt, um so stärker
wird die schon jetzt weit verbreitete Abneigung der übrigen europäischen Völker
hervortreten, eine Abneigung, die der englische Dünkel wahrscheinlich nicht auf
den englischen Charakter, sondern ans den Neid der Nichtenglünder zurückführen
wird. Deutsches Gemüt, französischer Geist, südländischer Frohsinn werden
sich nie mit der gemütlosen, geistlosen und freudlosen Rechenmaschine befreunden,
zu der der Sklave des Erfolgs und des Geldes mit der Zeit hinabsinkt. Was
der Grieche Kalokagathie nannte, ist in dem Sittenkodex des heutigen England
ein fehlender Begriff. Aber wenn die Beobachtung von Steffen auch richtig
ist, daß die Gesellschaftsmoral der Engländer durch ihren großen industriell¬
kommerziellen Erfolg zur Kaufmannsmoral geworden ist, so liegt, wie ich
glaube, in dem stetigen, konservativen, auf das Wirkliche gerichteten Charakter
des Engländers die Gewähr dafür, daß sich die alten sittlichen Kräfte immer
wieder werden zur Geltung bringen können, sobald der geschichtliche oder, zeit¬
gemäß zu reden, der psychologische Moment dafür kommen wird. Und er wird
kommen, wenn äußere Umwälzungen den maßlosen Dünkel werden gebrochen
haben, der den heutigen Engländer aller Selbstkritik beraubt.
In dem Leben des englischen Volks spielen die Kolonien eine sehr große
Rolle. Die Jnsellage und die Gewerbthätigkeit von Großbritannien haben
früh den Anstoß zur kolonialen Ausdehnung gegeben. Aber bis in das neunzehnte
Jahrhundert hinein wurden die zu ungeheuerm Umfang angehäuften Kolonien
durch ein systematisches Aussaugen verhindert, reich und für englische Waren
in großem Maße aufnahmefähig zu werden. Der Freihandel trat dann um
die Stelle, und die Kolonien begannen bald die englischen Fabrikate an sich
zu ziehn, zu derselben Zeit, als der Handel und das Gewerbe Englands in
allen fremden Staateil der Welt zur Herrschaft aufstiegen. Heute bedarf Eng¬
land großer Kolonien allein schon um Blutstockungen im eignen Volkskörper
zu vermeiden. England ist eine große Fabrikstadt, deren Bewohner außerhalb
der Stadtmauer ländlicher Dörfer bedürfen, wo nervöse Leiden, moralische
Schwachen, zu dünnes oder zu dickes Blut in scharfer Arbeit und guter Luft
Heilung finden tonnen. England findet in seineu Kolonien nicht allein Ge¬
winn an Geld, sondern einen unerschöpflichen Quell sittlicher Kraft, der durch
die Arbeit englischer Volksgenossen in Fluß erhalten wird. Es findet dorthin
der Abfluß des überschüssigen Kapitals in vielen Milliarden statt. Aber ob¬
wohl die frühere Art der Behandlung der Kolonien, die der Behandlung des
Ackers durch den Bauern im Effekt glich, grundsätzlich aufgegeben worden ist,
kann man doch sehr deutlich die gewaltige Verschiedenheit wahrnehmen, die in
der Stellung der Kolonien zum Mutterlande begründet ist. Nach den vor
hundert Jahren mit Nordamerika gemachten Erfahrungen versucht man nicht
mehr, Kolonien mit weißer Bevölkerung, wie Australien, Kanada, Kapland, mit
Steuern und Zöllen zu schröpfen. Vom Standpunkte der Kultur und Huma¬
nität aus besteht ein sehr großer Unterschied zwischen diesen englischen Kolonien
mit weißer, vorwiegend englischer Bevölkerung und den Kolonien mit einer
unterworfnen farbigen Bevölkerung. Alle Vorwürfe, die gegen die Engländer
als Kolonisatoren erhoben werden, sind nur insoweit berechtigt, als sie aus den
Erfahrungen in den Kolonien mit farbiger oder doch fremder weißer Bevölte-
^Mg geschöpft worden sind. In Amerika, in Australien haben die Engländer,
soweit und wo sie unbewohnte Gebiete besiedelt haben, oder nach Verdrängung
"der Ausrottung farbiger Eingeborner neue Staaten gegründet haben, mit un¬
vergleichlichen praktischem Sinn und nachhaltigem Festhalten an ihrer natio¬
nalen die lebenskräftigsten Kolonien geschaffen; vielleicht hie und da zu
u erstürzt, zu sehr kaufmännisch nur den augenblicklichen Nutzen verfolgend,
herrliche Waldungen vernichtend, reiche Wildstünde aufrollend, fruchtbaren
^ n ungeheuern Latifundien abschließend und durch Raubbau entwertend —
aber im c,in,M gewaltige Werte schaffend, weite Gebiete der Kulturarbeit er¬
suchend, Se^te gründend, Staaten bildend, die bald die Kraft zu selb-
MMgem politischem Leben fanden. Anders da, wo der Engländer als Herr
einer frugen wehrlosen Bevölkerung gegenüber steht, wie in Indien und
^ Ägypten. Da wird das' englische Element zu einer Art von
äste, die sich die einqeborne Bevölkerung legt und alle Vermischung,
auch alle Annäherung mit ihr sorgsam vermeidet. Der Nutzen Englands, be¬
sonders der vielen in Indien ihr Glück suchenden Engländer, ist das Grund¬
motiv der indischen Verwaltung, und bei der Verfolgung dieses Nutzens sind
die Engländer nirgend wühlerisch in den Mitteln. Sie haben dort eine alte und
hochentwickelte Industrie durch Zölle zu Gunsten englischer Fabriken zerstört;
der Boden des Landes ist meist zu Staatseigentum erklärt, der Inder zu einem
abhängigen und armen Pächter herabgedrückt worden. Der Inder wird von der
Verwaltung, zu der er alle Befähigung hat, ausgeschlossen, die fetten Ämter
werden den herbeiströmenden jungem Söhnen Englands vorbehalten.*)
In Ägypten wird das Land in englischem Sinne und auch Interesse trefflich
organisiert, aber die eingebornen Fellachen sind das Arbeitsvieh geblieben, das
sie unter den Türken waren. In einem Bericht der österreichisch-ungarischen
Handelskammer in Alexandrien heißt es: „Die Negiernngskassen füllen sich
immer mehr mit Geld an, aber die Bevölkerung leidet und verzweifelt." Der
englische Resident Sir Evelyn Baring selbst berichtete im Jahre 1890: „Die
materielle Lage der steuerzahlenden ägyptischen Landbevölkerung hat sich nicht
gebessert."*) In Australien ist man oder war man doch vor wenig Jahren
noch auf dem Standpunkt, den schwarzen Eingebornen nicht als Menschen
gelten zu lassen, denn man schoß ihn nieder, ohne daß der Thäter dafür
bestraft oder auch nur verfolgt wurde. Durchweg zeigt es sich, daß der
Engländer unfähig ist, die ihm in der Kultur fern stehenden oder in der Kultur
tief stehenden fremden Völker zu verstehn, und daß er gnr nicht die Absicht
dazu hat. Der heillose Dünkel ist daran noch mehr schuld als der intellektuelle
Mangel. Er will die Kluft, die den Engländer von dem Farbigen trennt,
gar nicht ausfüllen; er will Herr sein und nur Herr, und der Hindu wie der
Fellcch sollen gehorchen; was sie übrigens sind oder thun, ist ihm trotz aller
Missionsgesellschaften recht gleichgiltig. Man darf aber auch hinzufügen, daß
sich ohne diese große Kluft der Rasse die 290 Millionen Inder schwerlich so
leicht von 200000 Herren leiten ließen, so viel diese zur Ruhe und Entwick¬
lung des Landes auch beigetragen haben. Steffen sagt in dem genannten
Buche: „Wenn die Engländer davon reden, das schon mit einer hohen uralten
Zivilisation versehene Indien zu »zivilisieren«, so findet man, daß sie damit
sagen wollen: es zu büreaulratisieren und zu kommerzialisieren." Eine inner¬
liche, humane Annäherung an so tief stehende Nassen wie afrikanische oder
australische Neger mag jedem von alter und hoher Kultur durchtränkten
Europäer schwer werden; aber der Hindu steht auf einer andern Stufe als der
Neger. Er steht auf dem Boden uralter geistiger Kultur, er ist dem Engländer
an Tiefe und Feinheit der Phantasie und des Geistes überlegen, und er ragt
unter allen Rassen durch sein elementar sittliches Gemüt hervor, dessen Aus¬
druck der Buddhismus ist mit seinem Dogma des Mitleids, auf dem im letzten
Grunde alle, auch die christliche Moral ruht. Man kann sich, von dem moral¬
losen Chinesen abgesehen, kaum einen größern nationalen Gegensatz denken, als
den zwischen den Charaktertypen des Hindu und des Engländers. Und weil
dem Inder die Kraft des Angelsachsen, diesem wiederum das Mitfühlen jenes
fehlt, deshalb können ein paarmal hunderttausend Engländer 290 Millionen
Inder Wohl beherrschen, deshalb wird es beiden auch sehr schwer, einander zu
verstehn. Der buddhistische Altruismus erwuchs in einem Volke der Denker
und Träumer, in einem Lande des sorglosen Empfängnis reicher Naturgaben:
der englische Egoismus erwuchs auf dem harten Boden rastloser Arbeit in
einem Volke, das niemals träumt und keine Anlage zu spekulativem Denken
hat. Welches Verständnis könnte wohl ein Engländer für ein Volk haben,
das Heilige verehrt wie Ramcckrischna, der in philosophische Betrachtung ver¬
sunken Goldstücke und Kehricht durch seine Hände gleiten läßt und zu dem Er¬
gebnis gelangt: „Geld ist Kehricht!" Auch hat kein Engländer diesen 1886
gestorbnen Philosophen Indiens der Beachtung wert gefunden, sondern ein
Deutscher.*)
(Schluß folgt)
as Feld, auf dem sich der tragische und erhabne Vorgang ab¬
spielen sollte, hält ungefähr 5 Werst im Quadrat und ist am
Horizont von riesigen Bergen umringt, an deren Fuß der Weg
von Vilagos entlang führt. Die Truppen Görgeis zogen sich
weit hin; sie kamen erst um ein Uhr nachmittags an, und um
dieselbe Zeit erschien auch Graf Rüdiger. Anfänglich war von unsrer Seite
nur Kavallerie kommandiert; die Infanterie sollte 20 Werst zurückbleiben; um
aber Görgeis Armee zu zeigen, daß sie sich nicht dem Willen ihres Führers
allein, sondern einer zahlreichen Armee unterwürfen und dem Zwang der Um¬
stände nachgäben, befahl der Graf, auch die Infanterie in Eilmärschen heran¬
zuführen, sodaß zwei Divisionen Kavallerie und zwei Divisionen Infanterie in
Schlachtordnung mit Artillerie im Vordertreffen ausgestellt wurden.
Dann kam der entscheidende Augenblick, Graf Rüdiger mit seiner Suite
rückte ein wenig vor, machte Halt und veranlaßte dadurch Görgei mit seinem
bunten Gefolge an ihn heranzureiten, was anscheinend mit großer Bereitwillig¬
keit geschah. Er salutierte, überreichte seinen Säbel und konnte kein Wort
sprechen. Graf Rüdiger seinerseits gab ihm die Hand; da kam Görgei zu sich
und begann zu reden. Der Graf ließ ihm und allen übrigen Offizieren den
Säbel. Dann erhob sich ein Ruf: Graf Rüdiger, Hurra! Mützen flogen in
die Luft, und alles mischte sich durcheinander, als wäre man nie verfeindet
gewesen; da riefen auch Leute mit, die nicht miteinander befreundet waren
und sehr wohl an die jüngste Vergangenheit dachten, aber dabei die Bedeutuug
des gegenwärtigen Augenblicks erkannten. Das Schauspiel im ganzen dagegen
hatte einen Anstrich nicht von Fröhlichkeit lind Lustigkeit, sondern von erhabner
Trauer, die jeder einzelne Soldat empfand. Man wird auch ohne meine
schwache Schilderung begreifen, was im Innern der Soldatenherzen vorging.
Ganz besonders gefiel mir der Gesichtsausdruck meines verehrten Vorgesetzten.
Er hatte nicht die drohende Miene eines Siegers, sondern erschien in richtiger
Erkenntnis der Bedeutung des Augenblicks ruhig und erhaben und ganz von
dem Gedanken durchdrungen, daß ihn die göttliche Vorsehung zum Werkzeug
neuen Ruhms für Rußland ausersehen habe.
Nach kurzer Unterhaltung wandte Görgei sein Pferd zu den Seinen,
sprengte hin, ließ die Teten der Kolonnen mit den 142 Geschützen in Reih
und Glied vorrücken und befahl, die Waffen niederzulegen. Als die Linien
aufgestellt waren, ritt Graf Rüdiger, hier wie auf dem Schlachtfelde ohne
jede Furcht, ganz allein mit Görgei an sie heran und begrüßte die Mannschaften;
ich wiederhole: allein, weil in der Masse nicht alle gleich waren, und man
Gesinnung und Gedanken jedes Einzelnen unmöglich kennen konnte. Er wurde
mit Hurrarufen empfangen. Die Anordnung war derart getroffen, daß sich
jede unsrer Schwadronen rechts und links zwei Glieder tief aufstellte und so
zwei Reihen formierte mit einem Zwischenraum in der Mitte. Die ungarischen
Bataillone legten die Waffen rechts und links zusammen, traten in diesen
Zwischenraum, und dann schlössen sich die Reihen. Man konnte unmöglich
gleichgiltig bleiben beim Anblick dieser Krieger, die mit tödlicher Verzweiflung
im Gesicht ihre mehr als einmal siegreichen Waffen zusammenlegten, ihre
Fahnen küßten und sich auf immer von ihnen trennten. Die Husaren saßen
ab, hängten Säbel und Pistolen an die Sättel, umarmten dann ihre Pferde
als treue Gefährten, nahmen schluchzend von ihnen Abschied und übergaben
sie unsern Soldaten. Ein Infanterist zögerte lange, seine Flinte abzuliefern,
und als er Görgei stumm mit Thränen in den Augen erblickte, da fragte er
ihn: Muß ich mich wirklich von meiner Flinte trennen?
Görgei antwortete leise, daß er das müsse.
Da spannte der Soldat den Hahn, setzte das Gewehr mit dem Kolben
auf die Erde und schoß sich mitten durch die Brust. Ich selbst war Zeuge
dieses Vorfalls. — Als alle Waffen abgeliefert waren, bat Görgei den Grafen
Rüdiger um die Erlaubnis, wieder zu seinem frühern Heere reiten zu dürfen,
und bemühte sich, ihnen ein paar Abschiedswvrte zu sagen; allein die Stimme
blieb ihm im Halse stecken. Überwältigt von seinem Schmerz konnte er einen
Augenblick keinen Ton hervorbringen; dann nahm er sich zusammen und sprach
unter Thränen einige Worte, Ringsum schluchzte alles. Ein Husarenoffizier,
der bei der Verteidigung Görgeis bei Komorn eine Hand verloren hatte,
sprengte vor, offenbar in der Absicht, seinem General im Namen der Truppen
ein letztes Lebewohl zu sagen; allein seine Worte gingen im allgemeinen Ge¬
stöhn verloren. Man hörte nur: Leb wohl, Görgei, Freund und Bruder!
und dann ging ein trauriges: Verzeih uus, Görgei! durch die Reihen.
Hierauf wurde es bald dunkel, und die ungarische Infanterie nebst der
abgesessenen Kavallerie zog den Weg nach Kis-Jens entlang. Dieser lange
Zug von Kriegsgefangnen zur Nachtzeit konnte nicht ohne große Unordnung
vor sich gehn, weil die Kavallerie auf die Infanterie acht geben mußte; und
unterwegs entlief trotz aller Vorsichtsmaßregeln mindestens der dritte Teil.
Sie boten einen traurigen Anblick, diese Kriegsgefangnen, die ihre Zukunft
nicht kannten; sie sowohl wie wir hegten Hoffnung auf die Gnade des Zaren;
und wirklich wurden viele begnadigt, aber alle konnten nicht straflos ausgehn.
Seine Kaiserliche Hoheit der Thronfolger verwandte sich während seines Auf¬
enthalts in Wien für Görgei, dessen Bruder und viele andre. Aber man
wollte ein Exempel statuieren, das giftige Unkraut sollte ausgejätet und gute
Saat an seiue Stelle gesät werden, Österreich konnte den Ungarn nicht alles
vergeben, und das ist Wohl begreiflich; aber es Hütte als mächtiger Staat
handeln müssen; es durfte sich nicht in diesem Falle, wo ganz allein Staats¬
und politische Interessen in Frage kamen, von persönlichen Motiven und klein¬
lichen Leidenschaften leiten lassen.
Nach Überlieferung der Waffen auf dem Felde von Bilagos bat Görgei
um die Erlaubnis, sich für einige Zeit entfernen zu dürfen, um seine persön¬
lichen Angelegenheiten endgiltig in Ordnung zu bringen; er wurde vom Grafen
Rüdiger auf Ehrenwort entlassen. Gegen Abend kam er zum alten Korps-
kommcmdanten, Generalleutnant Kauffmann, der über sein Erscheinen nicht
wenig verwundert war, weil er Görgei noch beim Grafen vermutete. Diese
Nacht verbrachte er im Zelt beim General Kauffmnnn; am nächsten Tage, als
man von Görgeis Ankunft Meldung gemacht hatte, entbot der Korpskommandant
ihn zu sich nach Kis-Jens, wo er zwei Tage verweilte, bis der Befehl des
Generalfeldmarschalls eintraf, ihn ins Hauptquartier zu bringen. In Zarand,
einem kleinen Örtchen, wo der Stab des Korps lag, und wo auch alle Kriegs¬
gefangnen weilten, hielt es schwer, sich zu verpflegen; deshalb lud Graf
Rüdiger für diese beiden Tage Görgei mit seinen Brüdern und drei früheren
Korpskommnndanten ein, bei ihm zu speisen. Ich muß hier eines ärgerlichen
Vorfalls gedenken, der seiner Zeit viel besprochen wurde, besonders von Haynau,
der seiner Regierung die liebenswürdige Gastfreundschaft unsers Vorgesetzten
als durchaus unangebracht hinstellte. Der Zwischenfall bestand darin, daß
Graf Rüdiger immer den ganzen Stab und anch den österreichischen Kommissar
Grafen Zichy zur Tafel einlud, und daß Zichy einst neben Görgei zu sitzen
kam, der während des Kriegs seinen Vetter hatte erschießen lassend) Gewiß
ein unangenehmes Zusammentreffen, an den: aber niemand anders Schuld war
als Zichy selbst, der sich die Sache nicht vorher überlegt hatte und der Mittags¬
tafel nicht ferngeblieben war,
Görgei ins Hauptquartier zu bringen trug Graf Rüdiger, als der Befehl
eingetroffen war, seinem Adjutanten, Oberstleutnant Trompowski auf, dem
Görgei zum Andenken seinen Kriegsorden einhändigte: einen Lorbeerkranz, der
ein Kreuz aus dem ungarischen Wappen umschloß. Der Generalfeldmarschall
empfing den Kriegsgefangnen sehr höflich. Guten Tag, General Görgei!
waren seine ersten Worte, Arthur Görgei, antwortete dieser mit ehrfurchts¬
voller Verbeugung. Er hielt sich schon für eine Privatperson.
Seine Durchlaucht unterhielt sich mehrere Abende hintereinander mit ihm
und äußerte sich sehr anerkennend über ihn, und als der Generalfeldmarschall
hörte, daß Görgei aus Mangel an Mitteln sein ausgezeichnetes Pferd, einen
englischen Hunter, für 28 Rubel verkauft hätte, streckte er ihm 400 Halb-
imperialen vor, die, wie ich erfuhr, Görgei dann mit Dank zurückerstattete,**)
Bald erschien der Adjutant des Generals Haynau und führte mit einem
russischen Gendarmerieoffizier Görgei nach der Stadt Klagenfurt, die der
Kaiser von Österreich ihm zum ständigen Aufenthalt angewiesen hatte.
Inzwischen war die Armee nach der Kapitulation nach Sarlat, auf dem
Wege nach Pest, gebracht, wo sie unter Befehl des Generaladjutanten Anrep
kam, der die zweite Kavalleriedivision kommandierte. Da Anrep aber weder
einen Adjutanten noch einen Stab hatte und dabei viele Schriftsachen zu er¬
ledigen waren, erwies Graf Rüdiger mir die Ehre, mich ihm unter Zustimmung
des Generals für die Dauer seines Aufenthalts bei den Kriegsgefangnen zu
attachieren. Wir waren übrigens vollkommen im unklaren über das Los
der Gefangnen, und wenn wir uns bemühten, sie nach besten Kräften bei der
Hoffnung zu erhalten, daß ihnen mindestens das Leben geschenkt würde, so
vertrauten wir dabei auf die Reise des Thronfolgers nach Wien, wo sich Seine
Hoheit schon mit Erfolg für Görgei und seine Brüder samt den Adjutanten
verwandt hatte. Der österreichische General Grien kam wirklich nach Arad mit
einer Votschaft an den General Haynau, nach der dieser nicht über das Leben
der Kriegsgefangnen verfügen durfte; aber der glückliche Sieger, wie er sich
rühmte, benutzte die Gelegenheit, sich an denen zu rächen, die so oft über ihn
triumphiert hatten. Es ist für mich traurig, an die zwei Wochen zu denken,
während derer die Unglücklichen bei uns gefangen gehalten wurden; aber ich
nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß man diesen Auftrag keinem vor¬
nehmer gesinnten, wohlwollendem und im Verkehr freundlichern Manne Hütte
anvertrauen können, als dein General Anrep, der das schwere Los der Ge¬
fangnen mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln erleichterte. Die gefangnen
Generale und Offiziere wurden auf Ehrenwort interniert, und nicht einer von
ihnen brach sein Wort. Die Gemeinen wurden in Biwaks gelegt, die ein
Korton von unsern Truppen umschloß. Die Generale und Offiziere, im ganzen
gegen zweitausend, bestürmten unsern Vorgesetzten ungemein oft mit Bitten,
und da konnte man sehen, mit welcher Teilnahme und Freundlichkeit er sie
anhörte und zu beruhigen suchte und sie ihrem Geschick vertrauen hieß; sie
müßten, sagte er, geduldig die Entscheidung abwarten und dürften vor allen
Dingen nicht auf Flucht sinnen, weil jede Widersetzlichkeit strengste Ahndung
nach sich ziehn würde. General Anrep, sage ich, sprach jedem Einzelnen Trost
ein, soviel sein mitfühlendes Herz nur konnte, und beobachtete dabei ein durch¬
aus korrektes Verhalten und die nötige Vorsicht, wobei sein freundliches Be¬
nehmen ohne jede Beeinträchtigung der Ehre und des Schwures viel zur Auf¬
rechterhaltung der Ordnung und Subordination in diesem bunten Menschenhaufen
beitrug, in dessen Reihen jedermann hatte eintreten können, und dessen Ansehen
und Recht nur auf persönlicher Tapferkeit beruhte. Ich hatte beim General¬
adjutanten Anrep nur auf die Verpflegung der Kriegsgefangnen zu achten.
Das Herbeischaffen von Vorräten für eine so ungeheure Menschenmenge war
mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Sarlat, ein kleiner Ort von tausend
Einwohnern, konnte unmöglich alle Kriegsgefangnen samt unsern Truppen
verpflegen; man mußte also zu den Nachbardörfern seine Zuflucht nehmen.
General Aurep gebrauchte hierbei folgendes sehr bequeme Verfahren: er be¬
stimmte zwölf Offiziere von unsrer Division, denen er ein Detachement Husaren
und zur Unterstützung zwölf ungarische Offiziere nach Auswahl des frühern
Stabskommandanten Görgeis, Obersten Baier, als Ortskundige mitgab, zum
Aufsuchen von Ortschaften, die zur Verpflegung besser geeignet wären. Sie
wurden sämtlich dem Grafen Forgach unterstellt, der von der österreichischen
Regierung als Verpflegungskommissar zu unsrer Division entsandt war, und
diesen Offizieren wurden zwölf verschiedene Distrikte in der Umgegend von
Sarlat angewiesen, in die sie sich dann mit einer genügenden Anzahl Fourage-
wagen und mit der Verpflichtung begaben, überall das nötige Quantum Eß-
vorräte und Pferdefutter aufzubringen und darüber Anweisungen zur spätern
Bezahlung aus der österreichischen Staatskasse auszustellen. Diese Art und
Weise der Verproviantierung erwies sich dann wirklich als gut, weil alles
Notwendige ohne große Belästigung der Bewohner in kurzer Zeit herbei¬
geschafft werden konnte.
>v5N Sarlat verbrachten wir vier Tage, und hier wurde ich mit allen Be¬
fehlshabern und vielen Offizieren vom Korps Görgeis bekannt. Der älteste
von ihnen war Graf Leiningen, ein Bruder des österreichischen Generals, gegen
den er bei Komorn gefochten hatte. Görgei zeichnete ihn besonders wegen
seiner Tapferkeit bei der Einnahme Ofens aus. Der zweite war Pöltenberg,
der frühere österreichische Rittmeister, von den, ich schon gesprochen habe; er
galt in der Armee als Vorsichtigster und Umsichtigster von allen. Endlich
Nagy sartor (Alexander der Große), ein unruhiger Geist und zügelloser
Mensch, ein richtiger Rebellenführer, der immer die Avantgarde kommandierte;*)
er trug gewöhnlich eine weiße Bluse, einen Schleppsäbel und einen großen
Federhut. Ohne Vertrauen auf Görgei und seine Handlungsweise, agitierte
er insgeheim gegen seinen Vorgesetzten. Von Zivilisten waren besonders be¬
merkbar Csanhi, ein großer Verehrer KossuthS, und der Minister des Äußern
Szemere. Da war auch der alte Kis, der reichste Gutsbesitzer Ungarns, der
sein eignes Regiment kommandierte; er verhielt sich am unruhigsten von allen,
gleichsam in der Vorahnung seiner bevorstehenden Hinrichtung in Arad.
I» Sarlat erhielten wir die Nachricht von der Übergabe Arads an den
Generalmajor Buturlin infolge Görgeis Brief an den Festungskommandanten
Damjanies.
Lieber Freund Damjanies, schrieb Görgei ihm am 14. August 1849, wozu
ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, das ist um gestrigen Tage ge¬
schehn. Alle Mannschaften, die unter meinem Kommando standen, und viele andre,
die spater hinzugekommen sind, haben bedingungslos die Waffen gestreckt. Man
behandelt uus derart, daß wir uns darüber wundern und fast schämen müssen; denn
stünde die Sache umgekehrt, so würde ich kaum für eben solch freundliche und gro߬
mütige Behandlung aufkommen können. Ich teile dir das mit, weil es gegenwärtig
auch dich angeht. Als Antwort auf deinen Brief, der mir von deinen Parlamen¬
tären übergeben ist, und von dem ich dem General Rüdiger Mitteilung gemacht
habe, sage ich, daß auch ich gerade so wie du Bedingungen stellen wollte, daß die
höfliche Antwort aber lautete, die kaiserlich russische Armee sei nicht zu Unterhand¬
lungen, sondern zum Kampfe nach Ungarn gekommen.
Diese Antwort hat zum Teil auch auf dich Bezug. Nach ihr bleibt es jedem
einzelnen Befehlshaber überlassen, zu entscheiden, welche Pflicht er für die heiligere
halten will: die Wahrung seiner persönlichen Ehre unter Aufopferung des Lebens
und der Gesundheit vieler, oder die Rettung des Vaterlands und friedlicher Bürger
vor weiterer Kriegsnot? Ich und die tapfersten meiner Untergebnen waren der
Meinung, daß uns nichts andres übrig bliebe, als unser unglückliches Vaterland,
das schon so viel erduldet, vor neuer Not zu bewahren, für welche wir ihm keine
Genugthuung mehr zu schaffen vermögen. Erwäg das und glaub mir, der ich
bittere Erfahrungen hinter mir habe, daß gerade die, welche im Moment der Ge¬
fahr am allerkleinmütigsten find, nach ihrem Verschwinden am lautesten Furchtlosig¬
keit zu predigen Pflegen. Die Entscheidung des Feldmarschalls Fürsten Warschawski
besteht darin, daß er keine bindenden Bedingungen annehmen kann; er hält aber
dafür, daß durch seinen Verkehr mit uns gegenseitiges Vertrauen sich eingestellt hat.
Seine Durchlaucht könnte sich aber auf Unterhandlungen nicht einlassen, weil es
ihm dann nicht möglich wäre, die österreichische Abteilung, welche die Festung um¬
gäbe, durch russische Truppen zu ersetzen, während dieser Ersatz leicht vor sich gehn
könnte und müßte, wenn sich die Festung bedingungslos den Truppen Seiner
Majestät ergäbe. Ich meinerseits wage dir, dem Festungskommandanten, weder
Befehle noch einen Rat zu erteilen, sondern will dich nur bitten, dein Herz mehr
der Menschenliebe als dem Ehrgeiz zu erschließen.
Damjanics, einer der ausgezeichnetsten und tapfersten Generale der unga¬
rischen Armee, übergab die Festung und wollte ebenfalls nach Sarlat, wohin
seine Garnison gebracht wurde, um sich mit den Truppen Görgeis zu vereinen;
er erkrankte aber unterwegs an einer Wunde und mußte in Gulai bleiben.
Generaladjutant Anrep entsandte mich dorthin und befahl, ihm aus Vorsicht
einen russischen Offizier zu attachicren. Dcimjcmics, ein großer, stattlicher Mann
mit langem schwarzem Barte, war ein sehr angenehmer gebildeter Herr und
galt für den ritterlichsten Mann Ungarns. Er machte mir Mitteilungen, als
wenn der Garnison von Arad Versprechungen gegeben seien, sie namentlich
nicht den Österreichern auszuliefern. Ich erkannte sofort, daß das nicht möglich
sei, beeilte mich aber, dem Generaladjutanten Anrep Meldung davon zu macheu.
Die Sache klärte sich dann von selbst auf. Damjanics Angabe war durch
keine schriftlichen Abmachungen bestätigt, sondern dem General Vuturlin war
befohlen, die Garnison von Arad unter denselben Bedingungen gefangen zu
nehmen, unter denen sich Görgeis Truppen ergeben hatten. Folglich war
General Anrep gar nicht imstande, auf Damjanics Forderungen einzugehn,
namentlich da die Garnison schon in Sarlat war.*) Als ich diese Antwort
überbrachte, geriet Damjanics, der den tiefen Haß der Österreicher gegen seine
Person kannte, in Verzweiflung, und ich mußte vou seiner schönen jungen
Frau, die ihn überall hin begleitete und gerade in diesem Augenblick sein
krankes Bein verband, die lebhaftesten Vorwürfe hören. Der Unglückliche
wurde nicht einmal für würdig befunden, erschossen zu werden; Haynau ließ
ihn aufhängen.
Um wieder zu unsern Kriegsgefangnen zurückzukehren, so kann ich nicht
umhin, mitzuteilen, daß sich der Ort, wo sie untergebracht waren, allmählich
in einen Kirchhof verwandelte. Der Unrat wurde uicht fortgeschafft; zwei
Tage lang regnete es ununterbrochen in Strömen; endlich gaben die heißen
Tage abwechselnd mit kalten Nächten, sowie die schlechte Kost Anlaß zum Aus¬
druck) einer heftigen Cholera, an der in einer Nacht dreißig Mann starben.
In dieser Zeit zeichneten sich besonders Frauen durch ihre Aufopferung aus;
außer vielen andern Beispielen von zärtlicher Liebe und von Mitleid habe ich
mehr als einmal gesehen, wie schluchzende und verzweifelte Frauen den ge¬
storbnen Gatten die Augen zudrückten. Wegen der drohenden Gefahr und um
den Ausbruch einer Empörung in dieser verzweifelten Lage zu unterdrücken,
üeß der Generalfeldmarschall auf den Bericht des Generaladjutanten Anrep
hu, die Kriegsgefangnen sofort nach Gulai, eiuer großen Besitzung des Grafen
Wenckheim, der mit einer Tochter Radetzkys verheiratet war, ganz in der Nähe
bringen. Der Ort war sauber und frei gelegen, und die Cholera trat hier nicht
mehr auf. Unter der Zahl der Kriegsgefangnen waren Oberst Bethlen und
sein Vetter Matheinh, beides sehr gebildete und angenehme Leute, die mich
besonders verehrten, während ich meinerseits, soweit es mir die Pflicht und
mein Eid erlaubten, ihre Lage zu erleichtern bemüht war. Die Besitzerin von
Gulai, die Gräfin Wenckheim, war ihre Verwandte, und die beiden hatten schon
in Sarlat General Anrep um die Erlaubnis gebeten, sie auf ihrem Gute be¬
suchen zu dürfen. Der General, wohlunterrichtet von der vornehmen Gesinnung
ungarischer Magnaten, gab seine Einwilligung, ließ mich aber aus formellen
Gründen, gleichsam um sein Gewissen zu beruhigen, anreiten. Ich muß hin¬
zufügen, daß ein leiblicher Bruder Matheinys, österreichischer Kommissar in
Arad, im Auftrage seiner Regierung Henker war. Als man nun der Gräfin
meldete, daß Matheiny mit einem russischen Offizier gekommen sei, erschrak sie
nicht schlecht, im Glauben, daß dieses der Matheiny aus Arad und ich eben¬
falls ein Henker sei. Bei unsern: Eintritt klärte sich dann alles auf, und die
Gräfin beruhigte sich. Meine persönliche Lage war übrigens trotz der Ver¬
sicherungen Bethlens hier nicht sehr angenehm.
Entschuldigen Sie mein Herkommen wenigstens damit, sagte ich zur Gräfin,
daß es Ihnen das Vergnügen verschafft, einmal wieder Ihresgleichen zu Ge¬
sichte zu bekommen.
Ihre Liebenswürdigkeit, erwiderte sie, läßt mich den Wunsch aussprechen,
Sie häufiger zu sehen, aber nur nicht in Begleitung Ihrer Armee.
Die wird nicht herkommen, sagte ich.
Und dann nach kaum zwei Tagen erscheine ich plötzlich aus schon er¬
wähnten Gründen wiederum ganz unerwartet in Gulai, und zwar trotz meiner
Versicherung mit der ganzen Armee! Das Schloß des Grafen Wenckheim ist
ein herrliches Gebäude im Stile des Schlosses zu Versailles. Weite Parks
mit Teichen, Wasserfallen usw. verschönern die Besitzung. Ein ausgezeichnetes
Gestüt nimmt die Hauptthätigkeit des Eigentümers in Anspruch, der nur oft
vorschlug, ein Pferd bei ihm zu kaufen; aber meine Tasche war immer leer.
Der Graf war übrigens ein verständiger Mann, und obgleich er als Schwieger¬
sohn des Grafen Nadetzkh in mißlicher Lage war, sowohl den ungarischen Offi¬
zieren wie uns gegenüber, wußte er sich doch recht gut zurecht zu finden. In
der ungarischen Armee standen viele von seinen Bekannten, wie Graf Leiningen,
Esterhazy, die Grafen Schmicdeck, Graf Szechenyi und andre, die er in den
ersten Kreisen Wiens getroffen hatte. Er mußte sie empfangen und durfte
nicht einmal Mißvergnügen über ihre Stellung, namentlich im Vergleich mit
der unsrer Offiziere, die als Bundesgenossen und Freunde galten, zu erkennen
geben. Er begann damit, daß er soviel Leute, wie nur in seinen weiten Sälen
Platz finden konnten, d. h. gegen zweihundert Menschen, zu sich einlud; wir
verbrachten fast vierzehn Tage in seinem Schlosse. Dem Generaladjutanten
Anrep als Ältesten räumte der Graf sein Zimmer ein; ich bekam das Zimmer
der Gräfin. Unser General ließ zum Entgelt für die Gastfreundschaft überall
Posten ausstellen, um Haus und Garten vor jeder Belästigung zu schütze».
So lebten wir, immer marschbereit, zwei Wochen lang eine Art englischer Lord¬
existenz. Die Vergangenheit wurde vergessen, und wenn auch noch Besorgnis
über die Zukunft herrschte, so bemühte man sich doch, guter Hoffnung zu
bleiben. Der Abend vereinte alle in angenehmer Unterhaltung: die Gräfin
liebte Musik, Talente tauchten auf, und Konzerte kamen zu stände. Zuweilen
wurde sogar getanzt, und hier lernte ich den schönen ungarischen Tanz
„Csardas" kennen, den die Ungarinnen so graziös auszuführen verstehn.
Gulai wurde zu unsern Onamxs Mz^Sö; alle Welt amüsierte sich, schwärmte
und belustigte sich. Oft wurde einem freilich schwer ums Herz bei dem Ge¬
danken, wie lange das noch dauern würde. Die Stunde des Verhängnisses
brach denn auch bald herein. Eines Abends, als sich alles zu irgend einer
Feier im Saal versammelt hatte, ertönte plötzlich der Ruf: Die Österreicher
kommen! und der ganze Schwarm lief furchtsam und verzweifelt auseinander.
Die Kriegsgefangnen stürzten zum General Anrep, dem nichts andres übrig
blieb, als sie zu ernähren, sich in ihr Los zu fügen. Die Ursache des Grams
und Kummers, der so plötzlich der allgemeinen Fröhlichkeit ein Ende machte,
war die Ankunft des österreichischen Generals Montenuovv, eines Sohnes von
Maria Luise, der mit einem Regiment gesandt war, um die Ungarn gefangen
zu nehmen. Wir hatten das erwartet, aber nicht so bald und nicht ohne jede
vorherige Benachrichtigung. Man kann sich die schwierige Lage General Anreps
ausmalen, der so freundlich und teilnahmvoll unsre Kriegsgefangnen getröstet
und beruhigt hatte. Es gab vielleicht Augenblicke, wo diese uns anklagten;
aber die vornehm Denkenden unter ihnen verstanden uns sehr bald, und nicht
ein Wort des Vorwurfs oder der Unzufriedenheit kam über ihre Lippen; im
Gegenteil: sie dankten unserm General aufrichtig und herzlich für sein freund¬
liches Verhalten und sagten, sie würden dessen immer eingedenk bleiben. Tags
darauf befahl Montenuovo die Generale und Offiziere — denen, wie ich er¬
wähnt, Graf Rüdiger den Degen gelassen hatte — zu entwaffnen und bat den
General Anrep, zur Entgegennahme der Degen und zur Aufstellung eines Ver¬
zeichnisses der Kriegsgefangnen seinen Adjutanten zu entsenden. Ich war so
frei, Seine Exzellenz um Befreiung von dieser Aufgabe zu bitten und einen
österreichischen Offizier dazu vorzuschlagen. Das geschah. Für diese traurige,
letzte Zeremonie war ein Zimmer im untern Stock bestimmt; dort saß der
Offizier; die Gefangnen aber traten nicht ein, sondern warfen ihre Säbel durchs
Fenster und trafen ihn dergestalt, daß er schließlich von Wunden und Blut
bedeckt zusammenbrach.
Die Gefangnen, die am nächsten mit mir bekannt geworden waren, kamen
noch in der Nacht zu mir, um sich zu verabschieden, und ich, der das Los
der Ärmsten ahnte, drückte sie fest ans Herz.
Ohne Zweifel wurde jeder brave Russe von gerechtem Ärger erfüllt, als
bald nach der Beendigung des Feldzugs das Urteil der Österreicher über unsre
Vermittlung in der ungarischen Affaire bekannt wurde. In der That war es
sehr schmerzlich, hören zu müssen, wie sie versicherten, wir seien ihre Söldner —
wo der in diesem Feldzuge von uns erworbne Ruhm so viel teures Blut und
so ungezählte Millionen gekostet hatte —, oder das neunte Bulletin des öster¬
reichischen Feldzeugmeisters Baron Haynau lesen zu müssen, der sich und dem
österreichischen Heere die ganze Ehre der Unterwerfung Ungarns zuschrieb, ohne
die Hilfe der Russen und des russischen Korps bei Hayncm zu erwähnen, ohne
das er sicher von Görgci geschlagen worden wäre.
Der Sieg bei Temesvar — hieß es im neunten Bulletin — und die Be¬
lagerung dieser Stadt haben der Armee der Aufständischen einen solchen Schlag
versetzt, daß sie keinen Widerstand mehr leisten kann. Der Feind ist auf der Fläche,
eine große Anzahl Waffen, Geschütze und gegen tausend Nachzügler zurückgelassen.
Die Zahl der Kriegsgefangnen beläuft sich nach der Schlacht bei Uralt auf 18000
Mann. Der Rest hat die Waffen gestreckt und kehrt nach Hause zurück; feindliche
Infanterie existiert überhaupt nicht mehr (aber nachher hat sich doch Görgei den
Russen mit 30000 Mann ergeben!!). Görgei hielt sich für gerettet und seine Ver¬
einigung für gesichert, aber da zwang ihn die österreichische Donauarmee, die Be¬
lagerung Temesvars aufzuheben, und bedrohte Arad. Schlick traf ihn bei Arad
und nötigte ihn, mit bedeutenden Verlusten dorthin zurückzukehren. Dann wandte
sich Görgei nach Lugos, wo unsre Kolonnen ihn vollends zurückwarfen. Dieser
Schlag war entscheidend; jetzt blieb ihm kein Ausweg mehr. Bei Großwardein
stand das Korps des Grafen Rüdiger — von Siebenbürgen her rückte die Avant¬
garde des Generals Lüders heran, endlich, auf dem linken Ufer der Maros, die
österreichische Donauarmee. So auf allen Seiten eingeschlossen streckte Görgei mit
der ganzen auf 20000 Mann zusammengeschmolznen Armee, die aber noch über
140 Geschütze verfügte, die Waffen. Die österreichische Armee triumphiert, denn
sie ist es gewesen, die in sechs Monaten den Feind so gut wie vernichtet, Görgeis
Unterwerfung zu stände gebracht und die Kapitulation der Festung Arad er¬
zwungen hat.
Rußland verachtete diese Fälschung der Thatsachen, aber dafür legte ganz
Europa für Rußlands glänzende Waffenthaten und für seine uneigennützigen
Absichten Zeugnis ab. Ich erlaube mir — aber nur an dieser Stelle und für
mich — ein paar Worte zum Beweise dafür vorzubringen, daß die Ehre des
Feldzugs nicht Österreich gebührt, das ohne unsre Hilfe zu Grunde gegangen
wäre, sondern vielmehr uns, und beginne einfach mit Aufzählung dessen, was
wir ihm beim Überschreiten der Grenzen Österreichs übergaben oder zurückließen.
Das waren nur: 400 Geschütze, 150 Fahnen; 80000 Kriegsgefangne, die sich
nicht den Österreichern, sondern ebenfalls uns ergeben hatten; die Festungen
Arad und Munkacs mit großen Mengen Artilleriemunition; und bedeutende
Summen in barem Gelde, die bei der Übergabe Görgeis in unsre Hände ge¬
fallen waren. Daraus geht deutlich hervor, welchen Anteil Rußland an der
Unterwerfung Ungarns hat, wenn sich auch Österreich alles Verdienst allein
zuschreibt; gerade unsre Gleichgiltigkeit gegen diese Verdrehung der Wahrheit
von der andern Seite hat das Ansehen und die Macht Rußlands nur noch
mehr gestärkt. Im Anfang des Jahres 1849, als die österreichischen Truppen
aus Ungarn verdrängt waren und Wien selbst Gefahr drohte, beschloß der
Höchstkommandierende der russischen Armee, auf dringendes Bitten Österreichs,
da er keine Zeit zum Briefwechsel mehr hatte, auf eigne Verantwortung zwei
Detachements unter den Generalleutnants Saß und Panjutin zur österreichischen
Armee zu entsenden. Das plötzliche Erscheinen dieser zwei Abteilungen ver¬
anlaßte die Insurgenten, von ihrem ursprünglichen Plane, auf Wien vorzurücken,
abzulassen, was von der einen Seite General Welten, von der andern Görgei
in seinen Unterhandlungen mit unserm Genernlfeldmarschall bestätigt haben.
Sodann nahm das fünfte Korps, das in Siebenbürgen einrückte, die Aufmerk¬
samkeit und die Streitmacht der Ungarn in Anspruch und beraubte Bein der
Möglichkeit, dem übrigen Teile ihrer Armee, gegen den das zweite, dritte und
vierte Korps entsandt worden waren, zu Hilfe zu kommen. Durch das Ein¬
dringen dieser 100000 Mann starken Armee in das Herz Ungarns säuberte
unser.Höchstkommandierender augenblicklich den gauzen nördlichen und mittlern
Teil des Landes von Empörern und schnitt zugleich die Armee Görgeis von
der Südarmee Perczels, Vysockis und Dembinstis vollständig ab. Während
unsre Truppen siegreich in Siebenbürgen kämpften, schlugen sich die österreichischen
unter Baron Haynan erfolglos mit den 30000 Mann Görgeis am Ufer der
Donau herum, und wer weiß, wie die Sache ohne die russische Abteilung des
Generalleutnants Panjutin abgelaufen wäre, die, wie aus Görgeis Bericht und
den Schlachtschilderungen selbst zu sehen ist, jene immer rettete. Allen ist be¬
kannt, daß Graf Schlick, der allein einsah, welches Verdienst Rußland gebühre,
mit seinem ganzen Stäbe an den Generalleutnant Panjutin heranritt, den Hut
abnahm und ihm, sodaß alle es hören konnten, sagte, er Hütte die ganze Armee
bei Pered gerettet. Wäre Görgei nicht bei Wanzen Lossvncz, Retsag geschlagen
worden, so hätte sich Hnynau niemals entschlossen, über die Donau zu gehn
und so schnell vorzurücken. Und das Gefecht bei Szegedin wäre ohne Hilfe
der Russen, wie alle Welt aussprach, ganz anders verlaufen. Nach der Affaire
bei Debreczin wurde Graf Rüdiger über Großwcirdein nach Arad dirigiert, um
die österreichische Armee vor Görgei zu schützen. Endlich, als der Diktator sich
eingeschlossen und außer stände sah, mit den Russen zu kämpfen, kam er zu
dem Entschluß, seiner Menschenliebe vor seinem Ehrgeiz den Vorrang zu lassen
und streckte die Waffen — wieder nicht vor den Österreichern, sondern vor
den Truppen Seiner Majestät des Kaisers von Rußland.
Aber hier sind Thatsachen, die noch deutlicher sprechen. Am 1. (12.) August
schrieb General Haynan dem Grafen Rüdiger: „Görgei hat die Maros' bei
Lippa überschritten, um sich mit der Südarmee zu vereinigen; auf diese Weise
wird der Feind bei Lugos über etwa 80000 Mann und 200 Geschütze ver¬
fügen. Meine Armee mit der Abteilung Panjutins besteht nur aus 38000
Mann, und an Kavallerie bin ich ebenfalls schwächer als die Ungarn. Indem
ich es für meine Pflicht halte, Ew. Exzellenz hiervon zu unterrichten, bitte ich,
Ihr Korps nach Lippa zu dirigieren und den Marsch der Kavallerie möglichst
zu beschleunigen, sodaß diese bei Lugos eingreifen kann. Vereint können wir
den Feind getrost angreifen, weil Ihre Kavallerie die Unzulänglichkeit der
meinigen ausgleicht."
In einer Nachschrift war dann bemerkt: „Görgei beabsichtigte die Maros
bei Radna zu überschreiten, aber als er uns begegnete, steckte er die Brücke
in Brand und zog nach Lugos ab. Ich bitte Ew> Exzellenz nun ganz er¬
gebenste Görgei so schnell als möglich zu verfolgen."
Nach den Gefechten bei Pered, Hethars, Waitzen, Debreczin, Retsag usw.,
wo die russischen Truppen siegreich waren, brachte der österreichische Heerführer
es fertig, folgenden Armeebefehl zu erlassen:
„Armeebefehl vom 18, August 1849. Die siegreiche Armee Seiner Kaiser¬
lich-Königlichen Majestät hat die tausendköpsige Hydra der ungarischen Em¬
pörung vernichtet. Das Hauptkorps der Aufständischen unter Oberbefehl ihres
besten Heerführers Görgei hat sich bedingungslos ergeben; die Festung Arad
ist von den k. k. Truppen wieder eingenommen. Die übrigen Empörer sind
vor unsern siegreichen Truppen davongelaufen! So kann der Krieg denn als
beendet gelten, nachdem Ungarn von unsern Truppen wiedererobert worden ist."
u den merkwürdigsten Ereignissen der Geschichte unsrer modernen
Industrie gehört die Baumwollenhuugersnot von Lancashire, die,
eine direkte Folge der mit dem Sezessivnskrieg der nordameri¬
kanischen Südstaaten verbundnen Blockade, ein am Kriege durch¬
aus unbeteiligtes Land in eigentümlicher Weise in Mitleiden¬
schaft gezogen hat, gerade als ob es selbst direkt um dem Kampfe beteiligt ge¬
wesen würe.
In: Laufe des neunzehnten Jahrhunderts war England und insbesondre
Lancashire zum Sitze der typischen modernen Stapelindustrie, der Baumwoll¬
spinnerei und -Weberei, geworden, und dieser Landesteil hatte sie mehr und
mehr zu seinem Hauptgewerbe gemacht. Ständig stieg die Zahl der hierin be¬
schäftigten Arbeiter, während die Beschäftigung mit den andern Textilgewerben
teils verhältnismäßig, teils absolut zurückging. Von 1851 bis 1861 stieg die
Zahl der Arbeiter in der Baumwollenindustrie von Lancashire von 287000
auf 356000, während die der Seidenarbeiter in derselben Zeit dort von 30000
auf 25000 zurückging, die der Wollarbeiter von 11000 nur auf 12000 stieg.
In Lancashire gab es 1860 nach dem Bericht der Fabrikinspektoren 1979 Baum¬
wollfabriken mit 21530523 Spindeln und 306423 mechanischen Webstühlen;
Kraftmaschinen mit einem Leistungsvermögen von 205827 Pferdekräften wurden
verwandt.
Nach der Volkszählung von 1861 beschäftigten die Baumwoll- und Flachs¬
fabriken Lcmcashires 173008 Männer, 210666 Frauen, im ganzen 383674 Per¬
sonen, die als Repräsentanten von mindestens je 2^/z Einwohnern mehr als
1065000 vom Baumwollgewerbe direkt abhängige Menschen darstellen. — Nach
den spätern Berichten des Zentralhilfskomitees wurden im ganzen 535750 Baum¬
wollindustriearbeiter gezählt, doch schließen diese Zahlen Fabriken in Cheshire,
Derbyshire und Dorkshire, sowie die Hilfsgewerbe der Färber, Kattundrucker usw.
ein, deren der Zensus von Lancashire z. B, 7640 als „sonstige Hilfsarbeiter"
aufführt; außerdem gab es dort noch einige Handweber irischen Ursprungs.
Die ganze Baumwollenindustrie von England war ungefähr sechsmal so stark
wie die amerikanische entwickelt, man schätzte, daß etwa ein Siebentel der eng¬
lischen Bevölkerung direkt oder indirekt von ihr abhänge.*)
Das Rohmaterial für die Baumwollindustrie war in früherer Zeit aus
verschiednen Ländern gekommen; Brasilien, Westindien, Mexiko und das übrige
Südamerika, Indien und das übrige Asien haben im achtzehnten und im An¬
fang des neunzehnten Jahrhunderts große Mengen geliefert, als die Vereinigten
Staaten in ihrer Produktion noch weit zurückstanden. Im Jahre 1821 aber
hatten diese die Spitze erreicht, und 1860 lieferten sie von der gesamten Baum-
wollenprodnktion der Erde in der Höhe von 2500 Millionen Pfund allein
1650 Millionen Pfund, während von dem Nest Indien und Asien einen großen
Teil zu Hause konsumierten.
„Die amerikanische Baumwolle war auf dem Weltmarkt bei Ausbruch des
Sezessionskriegs völlig dominierend, schreibt Ernst von Halle,**) 1786/90 be¬
trug die Einfuhr aus den Vereinigten Staaten nur ^z,. der Gesamtbaum¬
wolleneinfuhr Großbritanniens; 1846/50 machte sie 81,13 Prozent der Ge¬
samteinfuhr aus und betrug 1856/60 77 Prozent." — 1860 wurden in Eng¬
land wöchentlich 41094 Sack amerikanischer Baumwolle oder 85 Prozent der
Gesamtkonsumtion verbraucht, gegenüber 3968 Sack ägyptischer und brasilia¬
nischer und 3461 Sack, etwa je 7 Prozent, oft- und westindischer Baumwolle.
Der Wert dieser Baumwolle war 33^ Millionen Pfund Sterling, davon ent¬
fielen rund 30 Millionen auf die amerikanischen Zufuhren. „Bereits früh
hatte man in England das Gefühl, die Baumwollenproduktion würde in ab¬
sehbarer Zeit der Nachfrage nicht mehr gewachsen sein. Namentlich die Ab¬
hängigkeit von den Vereinigten Staaten, einem fremden Lande, für einen so
großen Teil des Bedarfs erfüllte die Fabrikanten mit Bangen."
Die Zufuhren aus den meisten Staaten waren relativ an Bedeutung
zurückgegangen, „nur Ostindien gewann beträchtlich, und im Vergleich mit
1796/1800 hat sich sein Beitrag zur englischen Einfuhr mehr als verfünfzig-
facht. ... Die ostindische Kompagnie hat unausgesetzt mit großem Nach¬
druck auf eine Ausdehnung der Banmwollenproduktion hingearbeitet, doch war
der Erfolg nur ein mäßiger."
In Manchester wurde 1858 die Cotton Supply Association mit Agenten
über die ganze Welt begründet, „da die Baumwvllfabriken des Vereinigten
Königreichs es als ihre Pflicht empfanden, zu untersuchen, ob nicht eine ver¬
mehrte Zufuhr von Baumwolle aus andern Ländern herangezogen werden könnte,
um die Abhängigkeit Großbritanniens von den Vereinigten Staaten zu ver¬
mindern usw." Die Zunahme der Baumwolleninduftrie in andern Ländern
und die geringe Aussicht auf ein schnelleres Wachsen der Produktion in den
Südstaaten gab Grund genug für eine gewisse Beklemmung wegen der Weiter¬
entwicklung. — Alls demselben Grunde wurde 1860 die Manchester Cotton
Company gegründet. Die Ahnungen und Befürchtungen erwiesen sich nur zu
bald als gerechtfertigt, wenn auch aus andern Gründen, als man vorhergesehen
hatte. Der vierjährige Sezessionskrieg brachte eine jähe Vermindrung in der
Baumwollproduktion und damit eine schwere Erschütterung der von diesem
Rohmaterial abhängigen Industrie in der ganzen Welt. Großbritannien em¬
pfing von Nordamerika Millionen Ballen:
In dem letzten Jahre kamen die während des Krieges aufgehäuften Vorräte
wieder zum Vorschein.
Die Gesamteinfuhr ging seit dem Jahre 1861 mit 1261 Millionen Pfund
1862 auf 533, 1863 auf 692, 1864 auf 896 und 1865 auf 966 zurück.
1866 wurden wieder 1353 Millionen Pfund erreicht.
Im Jahre 1862 waren die Zufuhren wieder auf den Stand zurückgegangen,
den sie zuletzt 1847 eingenommen hatten. Aus Nordamerika kam die kleinste
Zufuhr, die man seit 1804 zu verzeichnen gehabt hatte.*) Die allmähliche
Steigerung während des Krieges aber wurde durch die Vermehrung der Baum¬
wollenproduktion in audern Ländern, Ostindien, Ägypten, den Ländern um das
amerikanische Mittelmeer herum, Brasilien, ja Italien erzielt, wie denn schon
1861, als man seinen Bedarf noch großenteils aus ältern Vorräten decken
konnte, von dem wöchentlichen Durchschnittsverbrauch von 45465 Sack nur
noch 34792 oder 77 Prozent nordamerikanischer Herkunft war. Die Produktion
in andern Ländern zu fordern, hatte man in Manchester seit 1861 eine Anzahl
von Gesellschaften begründet, Ausstellungen wurden in Alexandrien, Smyrna usw.
geplant, die fernsten Länder auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft, und eine Weile
hoffte man, dauernd Nordamerika zurückdrängen zu können.**)
Für 1860/61 giebt Bazley nach den Aufstellungen des Handelsamts
folgende Tabelle für Großbritannien:
Als die ersten Nachrichten vom Kriege eintrafen, glaubte man noch, wie
Watts und Arnold*) berichten, nicht anderen Ernst, sondern daß ein kurzer
Streit schnell wieder zum Frieden führen würde, und schlimmstenfalls hatte
man Weihnachten 1860 Vorräte für vier Monate gehabt, in den folgenden
drei Monaten — und das war die Hauptsaison — waren weitere große Vor¬
räte importiert; die übrigen Länder würden während des ganzen Jahres liefern,
die fertigen Waren in den Magazinen der Händler umfaßten Vorrat für fünf
Monate; so fühlte man sich gewiß, daß der Krieg vorüber sein würde, ehe
ernsthafte Schwierigkeiten für die Industrie von Lancashire entstehn könnten. —
Die Material- und Warenpreise blieben bis gegen Ende 1861 niedrig. Dann
trat ein Umschwung auf dem Markt für Rohbaumwolle ein. Die Blockade
hatte man zwar noch längere Zeit als auf dein Papier stehend angesehen, aber
die Südstaatenregierung verstärkte ihre Wirkung absichtlich durch Verbot der
Ausfuhr von Rohbaumwolle, außer in beschränktem Umfange für ihre eigne
Rechnung. Sie glaubte auf diese Weise am sichersten die Hilfe Englands ge¬
winnen zu können, da dieses der Baumwolle unter keinen Umständen entraten
könne und daher die Blockade nicht anerkennen, vielmehr den Südstaaten durch
ein Drängen auf baldigen Friedensschluß beistehn werde. Allmählich wurde
die Blockade dichter, die Zufuhren nahmen nicht wieder zu, ja die Nordstaaten
begannen Baumwolle von Liverpool nach Amerika kommen zu lassen.
Ende Oktober begann man die Arbeitszeit in den Fabriken von Lancashire
zu verkürzen. Langsam hob sich die Zahl der Unterstützungsgesuche bei den
Armenpflegern, und drei Monate früher als sonst erreichte sie das bisher be¬
kannte Jahresmaximum. Im Oktober war die Steigerung 3000 in den.
28 Kreisen von Lancashire. Im November und Dezember stieg sie um je
7000. Weitere 10000 Hilfsbedürftige kamen im Januar hinzu, während viele
Tausende schon begannen, von ihren Ersparnissen in den Sparkassen und Ge¬
nossenschaften zu leben, andre von ihren Gewerkvereinen unterstützt wurden.
Statt, wie sonst üblich, einen Rückgang, brachte der Februar im Jahre 1862
abermals 9000 neue Hilfsbedürftige. Die Armensteuer begann sich im Lande
fühlbarer zu machen. Im März, April und Mai bildeten sich dann in Ashton,
Stockport, Preston, Blackburn Hilfskomitees, ebenso zu Oldham und Prestwich.
Im ganzen aber verhielten sich die Unternehmer und das größere Publikum
noch kühl. Dann stieg die Zahl der Hilfsbedürftigen von Monat zu Monat
um Tausende weiter im Gegensatz zu andern Jahren, wo im Sommer jeder¬
mann seine Beschäftigung fand. „In: August wurde der Strom zur Sintflut,
vor der das stärkste Herz zagend stillstand" (Watts a. a. O.), und immer
größer wurde die Aufgabe, die dem im Mai zu Manchester gegründeten Zentral-
hilssbüreau zufiel.
„Früher hatten sich die Arbeiter der Verwendung von indischer Baum¬
wolle häufig widersetzt, weil die Arbeit schwieriger und der Akkordertrag un¬
gleich geringer war. Wie gern bereit würden die Zehntausende unfreiwillig
Müßiger jetzt gewesen sein, Surat-Baumwolle zu verarbeiten, obgleich sie
wußten, daß sie viel schwerere Arbeit, bei einem Drittel weniger Ertrag als
die Normallohnsätze erforderte." Mit Angst und Sorge sah man dem Winter
entgegen. Ende November 1862 betrug die Zahl der von den Armenpflegern
Unterstützten 258357, von Hilfskomitees erhielten 200084 Beistand, im
ganzen mehr als vier und ein halbes Hunderttausend. In einzelnen
Gemeinden wie- Ashton under Lyme und Preston stieg die Zahl der Unter¬
stützungsbedürftigen, die sonst 1^/z bis 4 Prozent betragen hatte, auf 42 und
48 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Im November 1862 begann man nunmehr die Situation auch in ihren
tiefern Wirkungen auf die Arbeiter ernsthafter zu prüfen,*) und Cobden er¬
klärte, daß der Verlust an Lohn binnen kurzer Zeit eine Höhe von 10 Mil¬
lionen Pfund Sterling erreichen werde, der gegenüber man mit andern Ma߬
regeln vorgehn müsse als bisher. So wurden ohne weiteres Rufe laut, mau
müsse mindestens eine Million Pfund Sterling aufbringen, um den Arbeitern
wenigstens über die schlimmste Not hinweg zu helfen. Das ganze Land geriet
nach und nach in Bewegung, und Hilfsaktionen in großem Stile wurden ins
Werk gesetzt. Es dauerte aber lange, auch als man genügendes Geld zu¬
sammengebracht hatte, bis diese in einer einigermaßen angemessenen Weise
durchgeführt werden konnten. „Die Baumwollindustriearbeiter waren eine hoch¬
stehende Klasse, die an ein angemessenes Leben gewöhnt, mit der allgemeinen
Armenunterstützung unter keinen Umständen auskommen konnten, bei der sie
entweder ihre Wohnung oder ihre Gesundheit verlieren mußten" (Watts a. a. O-).
Erst im Oktober 1863 kam man zu einem allgemeinen Unterstützungssatz, der
von 3 bis 4 Shilling für den Einzelnen, auf 17 Shilling für Mann, Frau
und fünf bis sechs Kinder für die Woche stieg, ans alle Fülle ein ungemein
niedriger Satz, der nur eine schwache Möglichkeit der Daseinsfristung gewährte
und Hunderttausende von Arbeitern nötigte, alle ihre Ersparnisse nach und
nach aufzuzehren. 916 000 Pfund Sterling wurden in der Zeit der
Baumwollenhungersnot aus den Sparkassen und Sparbanken
herausgezogen, die Konsumvereine und Unterstützungsgenossen¬
schaften, die genossenschaftlichen Jndustrieunternehmungen der
Arbeiter gingen großenteils zu Grunde, auch andre Gewerbe wurden
stark in Mitleidenschaft gezogen; so zahlte der Gewerkverein der Amal-
gamated Engineers im Jahre 1360 insgesamt 7800 Pfund Sterling Unter-
stützungsgelder an alle Mitglieder in ganz England, 1861 schon 9400 allein
an die 33 Prozent Mitglieder, die in den Baumwolldistrikten lebten, und
während deren Zahl in diesen Gebieten in den folgenden beiden Jahren zurück¬
ging, stieg die Unterstützungssumme 1862 auf 20000 Pfund Sterling allem
in dieser Gegend und 39000 im ganzen Lande.
Durch öffentliche Küchen, Einrichtung von Arbeitsschulen für die Be¬
schäftigungslosen suchte man weiter zu helfen, und Hunderttausende machten
von den gebotnen Bildungsgelegenheiten letzterer Art Gebrauch.*)'
Im April 1863 gingman endlich daran, durch Auswandrungsgesell-
schaften den Abzug der Arbeiter zu fördern. Mehr als 25000 nachweislich
bisher in der Baumwollindustric beschäftigte Männer und Frauen haben zwischen
1861 und 1864 England als Auswandrer verlassen, während im ganzen die
Zahl der Baumwollindustriearbeiter, die Januar 1863 noch 563000 betragen
hatte, im Dezember 1864 auf 441000, d. i. um 123000 oder 20 Prozent
zurückgegangen war.
Im Dezember 1862 war die höchste Zahl der Unterstützten zu
verzeichnen, die nahezu 500 000 betrug. Alsbald ging entsprechend
dem Übergang der Arbeiter in andre Erwerbszweige ein langsamer Rückgang
vor sich, derart, daß im Juni 1863 nur noch 266000 Hilfsbedürftige versorgt
werden mußten, während die Unterstützungsgelder von 289000 auf 102000 Pfund
Sterling im Monat sanken. Durch energische Maßregeln veranlaßte man die
Arbeiter, sich andre Beschäftigungen zu suchen, die Gegend oder das Land zu
verlassen. Aber nur laugsam konnte im Jahre 1864 die Zahl der Unterstützten
vermindert werden, und noch mehrfach schnellte sie wieder stark in die Höhe.
Die Zahl der vollkommen unbeschäftigten Arbeiter war am höchsten
im Dezember 1862 mit 247 000, sie hielt sich bis zum März 1864 nahe
um oder über 150000 und betrug noch im April 1865 über 100000, was
immer auf die 2^/z- bis 3fache Zahl der unterstützungsbedürftigen Personen
schließen läßt und zeigt, daß die Unterstützungen immer hinter dem Bedürfnis
zurückgeblieben sein dürften, das heißt daß die Arbeiter ihre eignen kleinen
Ersparnisse mit aufzehren mußten.
Im Jahre 1865 wurde der letzte Generalbericht des Sekretärs des Zentral¬
hilfskomitees, Herrn Maclure, herausgegeben, der nunmehr nach vier Jahren
schwerer Sorgen berichten konnte: „Der Aufschwung, den der Baumwollhandel
neuerdings genommen hat, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach ständig sein.
Von den 170 Lokalkomitees haben nunmehr alle mit Ausnahme von neun
ihre Hilfsthätigkeit schon eingestellt oder stehn im Begriff, dieses zu thun."
Bemerkenswert in der Entwicklung war es gewesen, daß sich die Regierung
nur sehr langsam zu Hilfsmaßregeln bereit finden ließ. Erst als im Mai 1862
dem Ministerium bekannt wurde, daß man es im Parlament wegen seiner
Saumseligkeit angreifen wollte, sah man sich veranlaßt, einen Kommissar zu
Erkundigungen in die notleidenden Distrikte zu senden, und auch dann hat
man monatelang nichts weiter gethan, als in schönen Reden auf die Leistungen
der Armenverwaltung hinzuweisen. Dabei aber hatte sich das bisherige Armen¬
gesetz mit seinen Bestimmungen, die Aufwendungen für das Armenwesen immer
durch direkte Umlagen in den einzelnen kleinen Bezirken wieder aufzubringen,
und mit seinen teilweise vom Arbeiter als höchst unehrenvoll angesehenen
Formalitäten als vollkommen unzulänglich herausgestellt. Ferner waren in
Lancashire alle Besitzer notleidend, und es war einfach unmöglich, fortgesetzt
eine entsprechend gesteigerte Armensteuer zu erheben. Da wurde die Aufnahme
von Anleihen erlaubt, wovon in einer Höhe von 87000 Pfund Sterling
Gebrauch gemacht wurde. Erst 1865 gelangte man aber zu einer einigermaßen
brauchbaren Gesetzgebung. — Ein andres Gesetz wurde am 8. Juni 1863 ein¬
gebracht, „um die Übernahme staatlicher Arbeiten in einigen Fabrikdistrikten zu
erleichtern, für diesen Zweck in gewissem Umfange Vorschüsse öffentlicher Mittel
auf die spätern Kreisabgaben hin zu erlauben usw." Auf Grund dieser Akte
wurden im ganzen 185000 Pfund Sterling bewilligt. Doch wurden nur
wenig Tausende von Arbeitern thatsächlich bei Straßenbauten und Kanali¬
sationen beschäftigt, und die Ausführungsmaßregeln erwiesen sich dauernd als
ungenügend.
Die Bevölkerung hielt sich im großen und ganzen vorzüglich. Immerhin
hat es um gelegentlichen Zwistigkeiten und einigen ernstern Unruhen und Auf¬
ständen nicht gefehlt, die namentlich in Holleybridge 1863 zu offnem Ausbruch
führten, wie sich denn die tiefe soziale Erschütterung auch an den Zahlen der
Eheschließungen zeigt, die
betrugen.
Sonst aber ließ man sich trotz aller Not nicht veranlassen, für eine Inter¬
vention zu Gunsten der Südstaaten einzutreten, da der englische Arbeiter nicht
das Odium auf sich nehmen wollte, für die Sklaverei zu wirken. Lieber trug
man die Not und gewährte man die Hilfe.*)
Der gesamte Umfang der Hilfsaktionen läßt sich nicht absolut genau fest¬
stellen. Die Armenunterstützungen des Jahres 1861 hatten 313000 Pfund
Sterling betragen; in den drei Jahren 1862 bis 1864 wurden durch die
Armenpfleger 1938000 Pfund Sterling, durch die örtlichen Hilfskomitees
1372000 Pfund Sterling verteilt; auf 220000 Pfund Sterling schätzte man
die Leistungen der Privatwohlthätigkeit. Wie groß die Mieterlasse waren, ist
nicht zu übersehen. Weitere 580000 Pfund Sterling wurden im Jahre 1865
aufgewandt, im ganzen also an Unterstützungssummen wohl 100 Millionen Mark
und darüber.
Die gesamten Verluste und Einbußen der Unternehmer und der Arbeiter
lassen sich auch nur annähernd berechnen. In Manchester allein verzeichnete man
Bankerotte.
Bazley berechnet die Verluste der Unternehmer in den drei Jahren 1862
bis 1864 auf 28500000 Pfund Sterling, die der Arbeiter auf 33000000 Pfund
Sterling, die der Ladenbesitzer auf 4625000 Pfund Sterling, im ganzen
66225000 Pfund Sterling oder mehr als 1300 Millionen Mark in drei
Jahren. Auf den Kopf der Bevölkerung von Lancashire berechnet, ergab dies
einen Verlust von 600 Mark, oder 200 Mark für das Jahr, einen Verlust, der
in den folgenden Jahren noch weiter zunahm.
Angesichts der Thatsache, daß die übrigen Industrien von England
blühten und zum Teil gerade durch den amerikanischen Krieg Beschäftigung
fanden, auch die Zufuhren aller übrigen Rohmaterialien ununterbrochen fort¬
dauerten, die Ein- und Ausfuhrwege des Landes offen standen und die eng¬
lische Gesamtwirtschaft im übrigen in einem blühenden Zustande war, hat man
der Bevölkerung von Lancashire über die schwere Zeit hinweghelfen können,
und hat sich die Industrie wieder einigermaßen zu erholen vermocht.
Immerhin aber haben die Erfahrungen der Baumwollenhungersnot ganz
besonders dazu beigetragen, in der ganzen englischen Bevölkerung und vor allem
in dem Arbeiterstande das Verständnis für die Bedeutung einer ungehinderten
Ein- und Ausfuhr, einer Offenhaltung der Seewege und des Seehandels mehr
als je zu verstärken und zu vertiefen.
Wenn die englische Arbeiterschaft heute mit großer Energie für die Auf¬
rechterhaltung der britischen Suprematie auf dem Meere und für die Schaffung
einer starken Flotte eintritt, so denkt sie hierbei all die Leiden der Väter im
Lancashiredistrikt, auf die man immer wieder erinnernd zurückverweist.
Darum finden auch Bewilligungen für militärische und maritime Auf¬
wendungen keinen nennenswerten Widerspruch, denn der englische Arbeiter ist
verständig genug, einzusehen, daß Erhöhungen der Abgaben von wenigen
Shillingen zur Verstärkung der Rüstungen des Landes nicht in Betracht
kommen gegenüber den Gefahren, die ans den Kopf des Einwohners von
Lancashire in drei Jahren 600 Mark oder für eine Familie von drei bis fünf
Köpfen jährlich 600 bis 1000 Mark, in den drei amerikanischen Kriegsjahren
1800 bis 3000 Mark betragen haben.
Ein ähnlicher Schlag gegen eine Bevölkerung mit starkem Ge¬
werbebetrieb während eines Kriegs, in den das eigne Land ver¬
wickelt ist, würde für diese verhängnisvoll sein und im Fall eines
unglücklichen Ausgangs ganz unübersehbare Folgen haben.
me Art Längsschnitt durch die ganze Entwicklung der palermi-
tanisch-sizilianischen Kultur gewährt das Museum im Kloster
dell' Olivella. Wie schön sind doch diese italienischen Kloster,
abgeschlossen nach außen, daher still inmitten des Lärmes der
Stadt, im Innern durch Säulenhöfe gegliedert, die, indem
sie Schutz vor Sonnenbrand und Unwetter gewähren, den Aufenthalt im
Freien jeder Zeit gestatten, und durch freundliche Gartenanlagen auch von
den langen Gängen und Zellen ringsum dem Auge ein anmutiges Bild
darbieten. So legt sich auch dieses in ein Museum verwandelte Kloster um
zwei Höfe, eiuen kleinen vordem und einen darauf folgenden größern, den
eigentlichen Kreuzgang, einen üppigen Garten mit Palmen und einem Wasser¬
becken in der Mitte, in dem Gruppen hoher Papyrusstnuden aufragen, auch
sie ein Geschenk des fernen Orients. In diesen Höfen, in den Gängen und
Sälen des weitläufigen Gebäudes sind Denkmäler einer Geschichte von zwei-
undeinhalb bis drei Jahrtausenden gesammelt, von den prähistorischen Gräber¬
funden bei Selinus bis zu den Bildern der modernen sizilianischen Malerschule,
Inschriften, Geräte, Gefäße, Statuen, Architekturteile, Münzen, Medaillen, Ge¬
mälde der verschiedensten Zeitalter. Wer sich jemals mit Archäologie beschäftigt
hat, dem ist es wie eine heitere Jugenderinnerung, wenn ihm im Saale von
Selinus von der einen der drei Metopen, die zu den ältesten Werken der
griechischen Plastik gehören (um 600 v. Chr.), die Medusa, der soeben Perseus
den Hals abschneidet, vergnügt entgegen lächelt, die Zunge lang heraussteckend,
und den aus ihrem Blute entsprungnen Pegasus zärtlich an sich drückend, und
man erstaunt über den raschen Fortschritt der Kunst, wenn man damit die nur
noch wenig befangne Zeichnung der Gestalten auf den Metopen aus dem
fünften Jahrhundert an der andern Wand vergleicht. Der Eindruck wird bei
beiden Gruppen dadurch erhöht, daß diese Reliefplatten zwischen den Triglyphen
und den Gesimsen aus gelbem Tuff so eingesetzt sind, wie sie es in Wirklich¬
keit an den Tempeln waren. Etruskische Totenkisten (die mit Sizilien historisch
natürlich nichts zu thun haben), altgriechische, namentlich schwarzfigurige Vasen,
herrliche Bronzen, darunter ein kolossaler Widder von fabelhafter Lebenswahr¬
heit aus Syrcckus, sizilinnische Terrakotten und eine reiche Sammlung der
schönen sizilianischen Münzen sind die Hauptteile der antiken Denkmäler.
Aus dem Mittelalter ziehn natürlich die Reste arabischer Kunst: Stücke be¬
malter Holzdecken, Bronzen und Gefäße (darunter eine prachtvolle, in Weiß
und Gold gehaltne Thonvase von l'/s Meter Höhe), aus der neuern Zeit
u. a. die herrlichen, mit Korallen besetzten Kirchengefäße und Kirchengewünder,
echt sizilicmische Arbeiten aus Trapcmi, die Aufmerksamkeit besonders aus sich.
In einem der Zimmer aber erinnert eine Inschrift an den patriotischen Mönch
Ugo Brösi, der 1849 als Feldkaplcm Garibaldis seine Vaterlandsliebe „vor
den Gewehren der Fremden besiegeln mußte, indem er seine Seele Gott gab,
sein Blut den Tyrannen" (xatrio g.mors olls avanti g.i inosollstti äöZli
strg.nisri äovsvs, oonssoraro, <Zg.nao 1's,rinn g, vio, it sanAnins Al dir-ani).
Doch so wertvoll derartige Museen sind, wer aus Italien kommt, der ist
von Museen schon einigermaßen übersättigt und überhaupt nicht gerade ihret¬
wegen nach Sizilien gegangen. Unwiderstehlich zieht es ihn immer wieder
hinaus. Immer wieder erfreut man sich an den rauschenden Springbrunnen,
denen eine neue Leitung seit 1897 aus den Nebroden das köstlichste Gebirgs-
wasser zuführt, denn erst im Süden und namentlich auf Sizilien begreift man
recht die belebende Kraft des quellenden Wassers, das Pindar mit einer für
uns Nordländer nicht recht verständlichen Inbrunst als „das Beste" auf der
Welt gepriesen hat («^torov L6c-i^>); immer wieder staunt man über die
Üppigkeit des Pflanzenwuchses da, wo das Wasser vorhanden ist, so vor allem
in der herrlichen Villa Giulia am Südende der Stadt, über die schlanken
Palmen, die hier etwas ganz gewöhnliches sind, eine Erbschaft der Araber,
über die mächtigen Agaven und die grotesken, riesigen, mannshohen Opuntien,
die beide auch auf dem dürrsten Felsgrnnde fortkommen, beide Gaben der
neuen Welt an die alte, aber jetzt so sehr zur landschaftlichen Staffage der
Mittelmeerküsten gehörig, daß sie Friedrich Preller anachronistisch auch in
seinen Odysseelandschaften verwandt hat, und immer neu bleibt der herrliche
Blick von der Marina aus nach dem blauen Meere, den schönen Linien des
Monte Pellegrino im Norden, den Bergketten der Corea d'oro und dem Monte
Catalfano mit dem weißschimmernden Bagheria im Südosten.
Zu Palermo gehört die Corea d'oro wie die Muschel zur Perle. Be¬
sonders lebhaft haben die Araber ihre Schönheit empfunden, denn sie fanden
hier wieder, was sie in: Orient, in Afrika und in Spanien überall hatten, ein
überschwenglich reiches Fruchtland, eine „Vega," umgeben von starrem, ödem
Felsgestein, den Gegensatz, der die Bezeichnung „goldne Muschel" erst recht
verständlich macht, denn wie in harter Kalkschale die weiche Muschel, so liegt
diese Ebne zwischen kahlen Felsbergen, bewässert vom Oreto und einem ganzen
Netze von Quellen und Brunnen aus arabischer Zeit. So haben die Araber
denn auch hier hinein ihre Lustschlösser gestellt, zwischen üppige Gärten und
rauschende Wässer, im Südosten der Stadt die Favara (Castello ti Mara Dolce)
am Fuße des Monte Grifone, im Westen die Cuba vor der Porta nuova,
und die Zisa bei Olivuzza, Bauten der normannischen und der hohenstaufischen
Fürsten, aber sie alle sind jetzt mehr oder weniger verändert und entstellt, und
von der alten Pracht ist um so weniger mehr übrig, als sie im wesentlichen
ans der Dekoration, nicht auf der Bauanlage beruhte und aus leicht ver¬
gänglichen Material hergestellt war. Nur die Zisa ist wenigstens in ihren
Grundformen noch erhalten, ein hohes längliches Viereck mit Spitzbogenblenden
an den sonst glatten gelbbraunen Mauern.
Was Boden, Wasser und Gartenbaukunst unter dieser Sonne vermögen,
das lehren moderne Villen, wie die aussichtberühmte Villa Belmonte am Ab¬
Hange des Monte Pellegrino und die Villa Tasca in der Ebne an der Straße
nach Monreale. Diese herrliche Schöpfung des Grafen Lucio Tasca 1892)
ist in der Anlage modern, doch mit einzelnen charakteristisch italienischen Eigen¬
tümlichkeiten ausgestattet, mit kleinen Teichen, Springbrunnen, Wasserfällen,
marmornen Ruhesitzen, Statuen, zierlichen Tempelchen aus gelbem Kalktuff.
Dazwischen entfaltet sich eine üppige, halbtropische Vegetation, Dattel- und
Fächerpalmen, Edelkastanien, Mispeln und Feigen, riesige Yuccas, prachtvolle,
fremdartige Koniferen, hohe, dunkle Cypressen, kolossale Agaven, von denen
manche einen Blütenstengel von fünf bis sechs Meter Höhe getrieben hatten
und nun im Absterben waren, groteske, stachlige Opuntien, Lorbeerhecken und
Rebengänge, und hundert andre Pflanzen, von denen der Laie nicht einmal den
Namen kennt. In dem einen der beiden kleinen Tempel, der auf diese ganze
Gartenpracht herabschaut, hat der Sohn des Verstorbnen dem Vater ein Denkmal
gesetzt, das ihn preist, weil er „die Künste liebte und beschützte, den Landbau
zu entwickeln suchte, indem er ihm seine Intelligenz widmete." Denn Graf
L. Tasca war einer der thätigsten und einsichtigsten Landwirte von Sizilien.
Seinen Park hat er in weiter Ausdehnung rings umgeben mit Gemüsegärten,
Weinpflanzungen (auch von amerikanischen Reben) und Hainen von Orangen
und Citronen; von dem erhöhten Rundtempel aus fällt deshalb der Blick auf
ein dunkelgrünes Wipfelmeer, aus dem die sich schon goldig färbenden Früchte
dicht gedrängt hervorschimmerten.
Es ist also ein echt sizilianisches, obwohl kein wirklich antikes Bild, wenn
Goethe in einem der köstlichen Fragmente seiner Nausikaa, zu der ihm der
Gedanke auf Sizilien kam, den Garten des Phäakenkönigs Alkinoos also
schildert:
Dort dringen neben Früchten wieder Binden,
Und Frucht auf Früchte wechseln durch das Jahr.
Die Pomeranze, die Citrone steht
Im dunkeln Laube, und die Feige folgt
Der Feige. Reich beschützt ist rings umher der Garten
Mit Aloe und Stachelfeigen.
Über diese grüngoldne Gartenpracht herüber schimmerte die weiße Häuser¬
gruppe von Monreale an der südwestlichen Bergwand. Hier hat der letzte
legitime König normannischen Stammes Wilhelm II. 1174 bis 1189 das
Benediktinerkloster mit dem prachtvollen Dom erbaut, um den sich erst später
eine kleine Stadt gebildet hat, etwa sieben Kilometer von Palermo entfernt.
Bis Rocca am Fuße der Anhöhe führt jetzt durch die fast ununterbrochne
Häuserreihe der Vorstädte und Vororte die elektrische Straßenbahn. Von
Rocca windet sich dann die Straße langsam hinauf, staubig und schattenlos.
Bei der brennenden Sonne des 7. November zogen wir — mein militärischer
Reisegefährte und ich — statt der hier sehr unpraktisch von Bädeker empfohlnen
„angenehmen Fußwanderung" es vor, einen Wagen zu nehmen, ein allerdings
höchst fragwürdiges Gefährt mit einem noch fragwürdigern greisen Schimmel, das
einer photographischen Aufnahme wert schien. Schöne Barockbrunnen (von 1760),
die einst Goethe bewunderte, begleiten die Straße, doch sie waren versiegt; dafür
waren die Kalkfelsgehänge mit dichten Massen riesiger Opuntien und Agaven
bedeckt. Oben angelangt sahen wir den Dom vor uns, einen lang gestreckten
Bau mit drei runden Apsiden, die den drei Schiffen entsprechen und an den
Außenwänden mit den eigentümlich normünnischen verschlungen Bogenornamenten
verziert sind, mit hohen Spitzbogenfenstern und zwei starken, viereckigen, aber
unvollendet gebliebner Glockentürmen an der Westseite. Ist diese Anlage
nordisch, so ist die Ausschmückung arabisch-byzantinisch, denn die Granitsäulen
tragen arabische Spitzbogen, und alle Flüchen sind mit farbenprächtigen Mosaiken
bedeckt; darüber schwebt die offne Balkendecke. Der Chor und die Seitenkapelle
del Crocefisso aber glänzen in der Pracht bunten sizilianischen Marmors. An
die Kirche schließt sich der großartige Kreuzgang des Klosters, der schönste des
italienisch-romanischen Stils und nur mit dem von San Paolo fuori le aura
bei Rom zu vergleichen, ein mächtiges Viereck, von arabischen Spitzbogen um¬
schlossen, die sich auf gekuppelten Doppelsäulen der mannigfaltigsten Gestalt
erheben, und wie jedes Paar in Kapital und Schaftverzierung verschieden ist, so
waren sie ehemals mit buntem Mosaik in den verschiedensten Mustern ausgelegt,
und eine schimmernde Farben- und Formenpracht umkleidete einst diesen Hof
mit orientalisch-märchenhaften Reiz. Nur an einigen Säulen ist der alte, von
spanischer Soldateska roh zerstörte Schmuck wieder erneuert; sie geben wenigstens
eine Ahnung von dem ursprünglichen Glänze. Das ehemalige Kloster enthält
jetzt ein Collegio und eine Schule unter der Leitung von Benediktinern.
Von Monreale herab öffnet sich der volle Blick auf die Corea d'oro,
ein Meer von Wipfeln dunkler Orangen- und Citronenhaine und staubgrüner
Olivenwälder zwischen den grauen, nackten Abhängen der Gebirge, nur hier
und da von den lichten Punkten kleiner Häusergruppen unterbrochen. Jen¬
seits der weißen Stadt schimmert stahlblau das weite Meer, und wie Wächter
liegen zu beiden Seiten der Monte Grifone und der Monte Pellegrino.
Wie sozusagen eine arabisch-orientalische Grundstimmung durch diese
Landschaft und diese Bauten geht, so glaubt man sie auch uoch in der Volks¬
art und im Volksleben wahrzunehmen. Das Volk ist im allgemeinen weniger
lebhaft als in Neapel, ernster, ruhiger, gesetzter; sogar die Droschkenkutscher
sind nicht im entferntesten so aufdringlich wie dort, und so lebendig der Verkehr
auch ist, der Lärm der ausrufenden Verkäufer, unter denen die Schwamm- und
die Kaktusfeigenhündler für Palermo besonders bezeichnend sind, ist hier viel
geringer. Zuweilen sieht man auch fremdartige Köpfe mit gelbbrauner Haut,
starkem schwarzem Haar und stechenden schwärzen Augen. Auch eine besonders
charakteristische Staffage des Straszenlebens, die buntbemalten Karren loarri
sioilmni) mit ihrer eigentümlichen Anschirrung, wie man sie überhaupt auf
Sizilien, am schönsten aber in Palermo trifft, sind ein merkwürdiges Produkt
sehr verschiedner Kultureinflüsse. Es sind hohe zweirädrige Wagen, das Unter¬
gestell, die Gabel, in der das Zugtier geht, die großen Räder, vor allem aber
der niedrige Wagenkasten in den buntesten Farben, gelb, rot, grün, blau bemalt.
Die Flächen des Wagenkastens zumal weisen ganze Bilderreihen auf, eine oder
zwei Darstellungen auf jeder Seite, seltner Blumenstücke, häusig Bilder aus
der heiligen Geschichte (Reinigung des Tempels, Abendmahl) oder aus dem
Volksleben (z. B. den Namenstag des Pfarrers beim Gutsherrn), noch öfter
Szenen aus der Heldensage, dem antiken wie dem romantischen Epos (z. B. des
Äneas Flucht aus Troja oder Kämpfe zwischen Kreuzfahrern und Türken, ver¬
mutlich nach Tassos Befreiten Jerusalem, sogar Teils Flucht aus dem Schiffe)
und aus der italienischen Geschichte (Ettore Fieramosca), ja sogar aus der
neusten Zeit (Hochzeit Napoleons III.). Den Gegenstand verraten zum Glück
beigefügte Inschriften. Die Bilder sind offenbar nach feststehenden Schablonen
gemalt, ganz kunstlos und naiv in möglichst grellen Farben ohne Licht und
Schatten, aber stolz pflegt der ciixintor al oarri Namen und Wohnung zuzusetzen.
Das reiche Geschirr des Pferdes, Esels oder Maulesels aber verrät geradezu
arabischen Geschmack: mit rotem, von Goldflittern schimmernden Sammet oder
Wollenstoff ist das Riemenzeug belegt, und auf dem Kopfe, wie vor allem auf
dem Sattelknopf trägt das Tier einen hohen Aufsatz mit roten oder blauen oder
grünen quastenartigen Behängen und bunten Federn, wie man sie im Orient
etwa an Kamelen sieht.
Ob nun die sizilianischc Neigung zu Geheimbünden gegen die bestehende
Staatsordnung mit dieser ethnographischen Grundlage zusammenhängt oder sich
mehr aus der Geschichte des Landes erklärt, das zweitausend Jahre lang immer
unter der Herrschaft von Fremden gestanden, also auch den Staat als solchen
immer als etwas Fremdes, Drückendes, ja Räuberisches und Willkürliches em¬
pfunden hat, steht dahin; wahrscheinlich wirkt beides zusammen. Jedenfalls
ist bei allen Semiten der Zusammenhang durch Geschlecht, Vlutbrüderschaft
und Religion immer viel stärker gewesen als das Staatsbewußtsein, und auf
Mimischem Boden, wo die ganze politische Ordnung niemals von innen
heraus erwachsen ist, konnte sich ein solches überhaupt kaum bilden. Schwere
soziale Übelstände mußten und müssen diese Gesinnung verstärken. Ist doch
Sizilien im Altertum das klassische Land der Sklavenkriege, also sozialer Re¬
volutionen gewesen, und noch heute entbehrt es eines grundbesitzenden Bauern¬
standes. Jedenfalls hat in Palermo die Maffia ihren Hauptsitz, zur Hälfte eine
Gesellschaft von Leuten aller Stände zur gemeinsamen Ausbeutung andrer und
zu gegenseitiger, auch ungesetzlicher Unterstützung, zur andern Hälfte eine Art
von Feine gegen alle Feinde der Maffiosi. Der Fremde merkt davon natürlich
nichts. Aber in diesen Wochen, wo der Prozeß Notarbartolo vor dem Schwur¬
gericht von Mailand spielte und der Sohn des Ermordeten in offner Sitzung
Palizzolo, den Abgeordneten von Palermo, als den Anstifter des Mordes und
als Mafsiosen anklagte, brachten die italienischen Zeitungen, nicht zum wenigsten
die Palermitanischen Blätter, täglich spaltenlange Berichte über die Verhand¬
lungen und Geschichten von der unheimlichen Macht der Muffla bis in die
höchsten Kreise hinauf. Später wurde mir, wenn ich nicht irre, in Syrakus,
erzählt, daß Florio, der größte Grundbesitzer der Insel, jährlich 12000 Lire
an die Maffia zahle, um unbelästigt zu bleiben. Jedenfalls ist auf Sizilien
die Maffia mächtiger als die Regierung, und es ist schwer zu sagen, wie dieser
in einer jahrtausendelangen Entwicklung Wurzelude Krebsschaden jemals geheilt
werden soll. Ein parlamentarisches Regiment wie das heutige wird es jeden¬
falls nicht vermögen. So tritt auch hierin das Fremdartige, halb Orientalische
des Landes charakteristisch hervor.
Dieses Element beschränkt sich allerdings im wesentlichen auf das westliche
Drittel der Insel. Der Osten hat zwar zweieinhalb Jahrhunderte lang unter
arabischer Herrschaft gestanden, aber niemals eine stärkere semitische Bevölkerung
gehabt, ist vielmehr namentlich an seinen Küsten der Schauplatz einer tief
eindringenden griechischen Kolonisation und Staatenbildung gewesen. Nach der
ehemals ganz hellenischen Ostküste führt heute bis Messina eine Eisenbahn¬
fahrt von fünf, bis Shrakus, der südlichsten und größte» alten Griechenstadt
Siziliens, eine solche von achtundeinhalb Stunden. Jene geht an der überaus
malerischen Nordküste hin, diese führt auf ihrer längsten Strecke durch das
Innere der Insel. Die erste Route mußte mein militärischer Gefährte leider
schon am zweiten Tage einschlagen, um in Messina den Dampfer „Re Um¬
berto" zu erreichen, der ihn nach Alexnndria bringen sollte; die zweite hatte
ich gewählt, weil ich auf die altgrichische Ostküste die meiste Zeit verwenden
und vom Innern wenigstens ungefähr ein Bild gewinnen wollte.
Die Eisenbahn führt zunächst etwa vierzig Kilometer lang an der Nord¬
küste hin durch üppig strotzende Fruchtgürten und bis über Bagheria hinaus
durch eine kaum unterbrochne Reihe von Ortschaften. Kunstlose Keltern wiesen
überall darauf hin, daß hier jeder Bauer seinen Rebensaft selbst bereitet,
darunter vor allem den dunkelroten feurigen Misilmeri. Rückwärts blieb der
Monte Pellegrinv noch lange sichtbar, voraus zeigte sich das schöne Küsten¬
gebirge von Cefalu, links dehnte sich das stahlblaue Meer, auf dem zahlreiche
Fischerbarken schaukelten, nur am nördlichen Horizont lag eine dunkle Wolken¬
bank. Eine Strecke hinter Termini (Thermä), unweit des alten Himera, wo im
Jahre 480 v. Chr. die vereinigten Mischen Griechen die Karthager bis zur
Vernichtung schlugen, biegt die Eisenbahnlinie scharf rechtwinklig nach Süden
ab in das Thal des Fiume torto hinein, und mit einem Schlage ändert sich
das Ansehen der Landschaft. Mühsam klomm der Zug, dem Flußthale folgend,
die Wasserscheide nach dem afrikanischen Meere hinauf nach Roccapalumba, wo
die Linie nach Girgenti abzweigt; dann wand er sich ostwärts durch Tunnel
und Kurven der Wasserscheide nach dem Ionischen Meere zu. Ringsum dehnte
sich ein stcirkwelligcs Berg- und Hügelland. Bald erschien es als starrer,
grauer, öder Felsboden, bald als braune Ackerflächen, auf denen oft einmal lange
Reihen von Pfluggespanuen um der Feldbestellung waren, und in vielen Teilen
ist es gewiß sehr fruchtbar — das Land der Demeter, die Kornkammer
Roms! —-, jetzt aber war es überall erschreckend dürr, denn es hatte von
Ende Januar bis Allerheiligen, neun Monate lang, auf Sizilien keinen Tropfen
geregnet, und immer ist es baumlos und menschenleer, denn die kleinen Ort¬
schaften liegen meist von der Bahnlinie entfernt auf steilen Felsboden.
Bei der Station Jmera sah man die ersten Schwefelblöcke verladen, große
viereckige gelbe Tafeln, die so schwer sind, daß ein kräftiger Esel nur zwei zu
tragen vermag; sie kamen von den Schwefel gruben in der Gegend von Girgenti
und gingen nach Catania, dem Hauptausfuhrhafen dafür. Immer höher klomm
der Zug nach Castrogiovanni, dem uralten Enna, hinauf, der festen Burg der
Sikuler im Altertum, und der Araber, die es Kasr Jenni nannten, im Mittel¬
alter, einer unersteiglichen Bergfeste auf dem breiten Plateau eines steilab¬
stürzenden Felsenklotzes von fast 1000 Meter Meereshöhe; etwas entfernter
lag weit links das ganz ähnliche Leonforte. Die Stationen waren dünn gesät
und wenig belebt, und mit einem Restaurant versehen auf der ganzen
langen Strecke nur eine, Santa Caterina-Nrbi, wo eine Zweiglinie nach
Girgenti abgeht. Aber trotz des starken Hungers, der sich gegen Mittag
meldete, sah mir das dortige Büffett so wenig vertrauenerweckend aus, daß ich
mich mit trocknem Kühe, hartem Brot und einer Flasche Rotwein begnügte.
Ein Sizilianer, wie es schien ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, ein
stattlicher Mann, der dort eingestiegen war und mir gegenüber saß, konnte das
in seinem gastfreundlichen Herzen nicht mit ansehen; selbst mit einem wohl¬
ausgestatteten Frühstückskorbe ausgerüstet lud er mich ein, mit zuzulangen, und
ich Hütte den wackern Mann beleidigt, wenn ich dieses echt sizilianische Aner¬
bieten abgelehnt Hütte. Das brachte uns ins Gespräch, er machte mich auf
das und jenes in der Landschaft aufmerksam, und wir schieden, als er ausstieg,
mit freundlichem Händeschütteln und guten Wünschen.
Inzwischen erreichte die Bahn hinter Enna die Wasserscheide, und der
Zug begann rascher in das Thal des Dittaino, des alten Chrysas, hinabzu¬
rollen. Hier und da erschien in der einförmigen, graubraunen Landschaft eine
grüne Baumoase von Orangen, Citronen und Feigen, die Stationen und
Bahnwärterhäuschen waren mit hochstämmigen Eukalypten umgeben, und indem
sich allmählich das Land verflachte, stieg im Nordosten als breiter blauer Kegel
der gewaltige Ätna (bei den Sizilicmern Elena mit langgezogner, betonter
erster Silbe) auf, von Wolken gekrönt. Immer beherrschender trat er hervor,
als der Zug die breite Fruchtebene von Catania, die größte der Insel, erreichte,
eine wohlbewässerte, auch jetzt noch grüne, reichbebaute Fläche, landeinwärts
von hellblauen, feingezcichneten Berglinien begrenzt; im Osten erschien als
dunkelblauer Streifen das Ionische Meer. Bei Bicocca, kurz vor Catania, wo
mau nach Syrakus umsteigt, wendet sich die dorthin, also südwärts führende
Linie zunächst wieder vom Meere weg und mehr ins Land hinein und erreicht
an einem kleinen, sumpfigen See, dem größten Siziliens, vorüber Lentini,
das antike Leontinoi, das terrassenförmig an einem Berghange liegt; dann
tritt sie wieder dicht an die hier flache Küste heran.
In tiefem Blau leuchtete das Ionische Meer unter der hellen Nachmittags¬
sonne, ans langgestreckter Halbinsel drüben am herrlich geschwuugueu Meer¬
busen von Megara lag in blendenden, Sonnenschein weißglänzend Augusta,
eine Gründung Kaiser Friedrichs II. und jetzt noch befestigt; längs des
Strandes dehnten sich die Salinen ans, flache, durch schmale Dämme ge¬
trennte Meeresbecken, in denen das Salz durch Verdunstung gewonnen wird;
die unter hellen Ziegeldächern regelmüßig aufgeschütteten Haufen schimmerten
wie frischgefalluer Schnee. Bald kamen langgestreckte Höhenzüge in Sicht;
an einem einförmigen, mauerartigen, felsgraueu, kahlen AbHange hin, dann
durch einen tiefen Einschnitt mit senkrechten Wänden flog der Zug und hielt
endlich gegen Uhr nachmittags in einem kleinen Bahnhofe. Der Ruf der
Schaffner: Siraeusa! kündigte mir an, daß ich das südlichste Ziel meiner Reise
erreicht hatte. In dem Menschengedränge auf dem Bahnsteig rief mir ein
Knabe: Villa Politi! entgegen, und da ich diesen Gasthof gewühlt hatte, ver¬
traute ich mich ihm an. Wenige Minuten später führte mich eine elegante
Droschke inmitten aufwirbelnden Stands eine rasch ansteigende Straße auf¬
wärts; ich sah links kahle Felsboden, rechts blaue Wasserflüchen, ragende
Masten und eine terrassenförmig aufsteigende Häusermasse und war in einer
Viertelstunde an der Villa Politi hoch oben auf dem Felsplateau der Achra¬
dina, eine halbe Stunde von der Jnselstadt entfernt. Wieder ging mir ein
Jugendtraum in Erfüllung; von meinem Fenster aus sah ich wirklich jetzt
„schimmern in Abendroth Strahlen von ferne die Zinnen von Syrakus."
Ein weites Panorama eröffnete sich dort oben am nächsten Morgen, am
schönsten vom Altan des Hauses aus. Links nach Osten hin liegt tief unter
dem alten Kapuzinerkloster, das jetzt städtisches Armenhaus ist, die Latomia
de'Cappucini mit senkrecht abstürzenden graugelben Felswänden, zwischen denen,
begünstigt von der dort sich sammelnden Feuchtigkeit und der glühenden Sonne,
eine reiche Vegetation emporsteigt, Orangen, Citronen, Feigen, Cypressen, Kakteen
und dichte Massen von Epheu; weiterhin dehnt sich endlos der flimmernde
Spiegel des Ionischen Meeres, die Straße nach Griechenland und dem Osten,
grad vor nach Süden hin füllt in mauerartigen Schichten die verwitterte gelbe
Felsküste steil zur See hin ab, davor ragen zernagte Klippen, an denen die blaue
Flut in weißschäumenden Spritzwellen emporsprang. Dann erscheint über einer
tief nach Westen einschneidenden Bucht, dem „kleinen Hafen" der Alten, die
uralte Jnselstadt Ortygia, das jetzige Syrnkns, mit weißen Ufermauern und
Hüuserlinien terrassenförmig aufgebaut, jenseits das weite Becken des „großen
Hafens," von niedrigen langgestreckten Höhen eingefaßt, am Westende von einer
Ebene begrenzt. Dort mündet der Anapos, und gerade über dieser Stelle
erhebt sich in größerer Entfernung mit vorgebirgartig geformter Bergnase aus
der Flüche plötzlich der ansehnliche Höhenzug, der als einförmig verlaufende
Linie das weite, grüne Thal des Flusses im Süden begrenzt, bis ganz rechts,
von Nordwesten her, mit scharfem Abfall ein andrer langgestreckter Höhenzug
beginnt, wandartig und grau, die hmngberühmten Hyblnischen Berge, Im
Mittelgrunde aber erstreckt sich eine öde, steinige Hochfläche gerade von Oft
nach West, sich vor diese fernern Höhenlinien und vor das Anaposthal ein¬
schiebend, das sind die Epipolü, und an ihrem äußersten und höchsten west¬
lichen Eude schimmert ein weißer turmartiger Bau, der Telegrafo, der weithin
sichtbar ist. Nach Norden dehnt sich das Plateau der Achradina, die weitere
Fernsicht versperrend, doch hoch darüber ragt der blaue Kegel des Ätna.
(Fortsetzung folgt)
eit einigen Jahren hat nicht nur bei den Franzosen und Engländern,
sondern auch bei uns Deutschen das Äußere der illustrierten Zeitungen
ein ganz neues, von dem bisherigen abweichendes Gepräge an¬
genommen. Während bis dahin der Holzschnitt, und zwar der
moderne malerische Tonschnitt den Bilderschmuck beherrschte, ist jetzt
die Autotypie, das heißt natürlich die Autotypie nach der Natur¬
aufnahme die vorwiegende Jllustrationsgattung geworden. Das bequeme und vor
allen Dingen billige Mittel der mechanischen Reproduktion von Momentphoto¬
graphien hat den künstlerischen Holzschnitt ersetzt oder doch wenigstens so sehr zurück¬
gedrängt, daß sein völliges Verschwinden von der Bildfläche in naher Aussicht zu
stehn scheint. Neuerdings haben sogar Verleger illustrierter Zeitschriften die Xylo¬
graphen, die bis dahin bei ihnen beschäftigt waren, entlassen und ihre Absicht
kundgethan, in Zukunft nur noch Autotypien nach Momentaufnahmen aktueller
Ereignisse, außerdem aber Zinkätzungen nach modernen „dekorativ" komponierten
Linienzeichnungen zu bringen. Damit bliebe für den Holzschnitt überhaupt kein
Feld der Thätigkeit mehr übrig. Und es fehlt darum auch nicht an Stimmen,
die dieser Technik ein sanftes und seliges Ende prophezeien und ihr dabei noch
nicht einmal ein Begräbnis erster Klasse versprechen. Es wird sich deshalb lohnen,
die Antotypie einmal etwas genauer auf ihre künstlerische Bedeutung und ihr Ver¬
hältnis zum Holzschnitt hin anzusehen.
Natürlich müssen wir bei dieser Frage die Kunst und das Geschäft streng aus¬
einander halten. Wenn ein Verleger seine auf den malerischen Holzschnitt ein¬
gearbeiteten Xylographen entläßt, so hat er dazu nicht nur das Recht, sondern auch
seine zwingenden, das heißt klingenden Gründe, die wir ihm ganz gut nachrechnen
Wurm, Es ist offenbar viel billiger, einen Photographen nach Südafrika oder
Ägypten zu schicken, als einen künstlerisch gebildeten Spezialzeichncr. Nicht etwa
weil der Photograph weniger Honorar bezöge als der Zeichner — ich weiß gar
nicht, ob das immer der Fall ist —. sondern weil er im Laufe eines Tages
vielleicht hundertmal so oft knipsen oder auf den ominösen Gummiball drücken kann,
wie ein Zeichner das Leben mit dem Stift festzuhalten imstande ist. Außerdem ist
die Übertragung einer Photographie in Zinkätzung bedeutend billiger als die einer
Zeichnung auf den Holzstock, Sie beläuft sich etwa auf den dritten Teil. Schon
dadurch müssen sich die Kosten einer Illustration in der neuen Technik in ganz über¬
raschender Weise vermindern.
Dazu kommt dann aber als das eigentlich Ausschlaggebende der feine Geschmack
des großen Publikums, das mit der ihm eignen ästhetischen Sicherheit die Auto¬
typie vorzieht, weil es bei ihrer Betrachtung das befriedigte Gefühl haben kaun,
daß sich die Dinge wirklich und wahrhaftig ganz genau so begeben haben, wie sie
es da schwarz und weiß auf dem Blatte stehn sieht.
Das Resultat ist deun auch überwältigend. In kurzer Zeit ist die Abonnenten-
zahl einer solchen Wochenschrift in die Hunderttausende gestiegen. Der Erfolg macht
den Verleger trunken. Er überschüttet sein Publikum geradezu mit Autotypie».
Eine wahre Seuche der Autotypie hat um sich gegriffen.
Soweit wäre nnn alles gut. Ein solcher Verleger ist ohne Zweifel ein vor¬
trefflicher Geschäftsmann, vor dem man nur den Hut abziehn kann, und der einem
auch, wenn man ihm Vorwürfe machen würde, daß er so viele tüchtige Arbeiter
mit einem Schlage brotlos macht, lächelnd das role Gold Hinhalten und dazu die Worte
Vespasians sprechen würde: Nein viol. Er könnte auch sagen: Nunäns vull äseipi.
Das Publikum will es ja nicht anders. Es bekommt ans diese Weise zwar lauter
Schund zu sehen, sein künstlerischer Geschmack wird gründlich und für alle Zeiten
verdorben, aber es will die Dinge nun einmal billig und schlecht. Warum soll
man ihm den Gefallen nicht thun und ihm dafür das Geld ans der Tasche ziehn?
Die frühern Verleger dachten freilich anders. Auch sie waren gute Geschäfts¬
leute. Aber sie wollten daneben auch Mäceue, Verbreiter des wahren Kunst¬
verständnisses fein. Und glücklicherweise giebt es deren auch jetzt noch genng. Sie
haben mit ihren Zeitungen, soweit es sich um die künstlerische Ausstattung handelt,
von jeher die Absicht verfolgt, zwischen der lebendigen Kunst und dem Publikum zu
vermitteln. Sie haben ihren Ehrgeiz darein gesetzt, gute künstlerische Reproduktionen
uach berühmten Gemälden, Statuen usw. unter das Volk zu bringen. Durch gut aus¬
geführte Holzschnitte wollten sie den Leser ästhetisch anregen. Gewiß haben sie
dabei manchen Mißgriff begangen, indem sie dem verdorbnen süßlichen Geschmack des
Publikums in der Auswahl der Illustrationen zu sehr entgegenkamen oder ihren
eignen Geschmack zu sehr von Moderichtungen beeinflussen ließen. Aber es sind
doch in diesen illustrierten Zeitungen neben vielem Geringen in den achtziger und
neunziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts in Leipzig sowohl wie in Stuttgart
und Berlin eine Menge wirklicher „Meisterwerke der Holzschneidekunst" entstanden,
die sich getrost mit den besten Holzschnitten aller Zeiten messen können.
Diese gute Tradition droht jetzt vollständig abzureißen. Es ist deshalb Zeit,
einmal darauf hinzuweisen, daß die mit ungeheurer Reklame und ungeheuerm
Erfolge in die Welt gesetzte moderne Jllustrationsweise alles andre eher ist als
Kunst. Denn die Autotypie, das heißt die Netz- oder Kornätzung, die durch
mechanische Übertragung einer Photographie auf die lichtempfindlich gemachte Zmk-
Platte hergestellt wird, ist gar kein Kunstwerk, sondern lediglich ein Abklatsch der
Natur. Sie dient auch thatsächlich gar nicht einer Befriedigung des ästhetischen
Bedürfnisses, sondern der Neugier.
Es innig ja für ein sensativnslüsternes Publikum sehr interessant sein, wenig
Tage nach einem Attentat schon die Physiognomie des Attentäters leibhaftig nach
der Natur abkonterfeit vor Augen gestellt zu bekommen. Manchem mag es dabei
kalt über den Rücken laufen, etwa wie wenn er die Verbrecherkammer eines
Panoptikums beträte. Ebenso mag es für viele gar rührend sein, den berühmten
Staatsmann oder Gelehrten oder die beliebte Schriftstellerin, die sie bisher nur
aus ihren Schriften kannten, an ihrem Schreibtisch oder im Kreise ihrer Familie
als ganz gewöhnliche Menschen zu betrachten, auch wenn die Aufnahme so schlecht
ist, daß man nicht das geringste darauf erkennt. Auch will ich nicht leugnen, daß
es für loyale Menschen eine eigne Befriedigung gewähren kann, den Kaiser treu
von hinten photographiert zu sehen, zu Pferde sitzend und sich mit einer weiß-
gewaschnen Jungfrau oder einem — ich hätte beinah gesagt schwarzgewaschnen —
Oberbürgermeister unterhaltend.
Nur ist alles das leider keine Kunst. Denn Neugier ist kein ästhetisches Be¬
dürfnis, befriedigte Neugier kein ästhetischer Genuß. Und die Verleger, die sich
eingebildet haben, mit der Einführung dieser Jllustrationsweise wunder was zu
thun, haben in Wirklichkeit nichts andres gethan, als die Kunst aus ihrem Blatte
verbannt und dem Handwerk den Zutritt gewährt. Man wird von jetzt an zu
scheiden haben zwischen illustrierten Zeitschriften, die der Neugier, und solchen, die
der Kunst dienen. Diese werden für die obern Zehntausend, jene für die große
Masse sein. Die Verleger dieser werden vielleicht weniger verdienen als die jener.
Aber sie werden sich dafür sagen können, daß sie durch Unterstützung des guten
Holzschnitts an der gesunden Entwicklung der deutschen Kunst mitarbeiten und das
Publikum, indem sie ihm gute Kunstwerke bieten, künstlerisch mit erziehn. Das
ist immerhin etwas, da der Mensch ja nicht zum Geldverdienen allein auf der
Welt ist.
Warum ist nun aber eine Autotypie kein Kunstwerk? Sie stellt doch die
Natur so treu dar, wie es überhaupt denkbar ist, und auch die Malerei strebt doch
nach möglichst treuer Darstellung der Natur. Gewiß, nur besteht dabei der kleine,
aber sehr wesentliche Unterschied, daß die Malerei ein Werk von Menschenhand, die
Autotypie dagegen nur das Resultat eines vom Menschen technisch geleiteten Natur¬
prozesses ist. Zum ästhetischen Genuß gehört aber in allen darstellenden Künsten,
daß der Beschauer in dem Werke zwar einerseits die Natur, andrerseits aber auch
die Persönlichkeit des Künstlers sieht. Nur dann kommt nämlich das eigentümliche
spezifisch ästhetische Gefühl zustande, das man gewöhnlich als „künstlerische Illusion"
bezeichnet, und das ich genauer als „bewußte Selbsttäuschung" beschrieben habe.
Diese bewußte Selbsttäuschung ist nichts andres, als ein paralleles Nebeneincmder-
bestehn zweier Vorstellungsreihen, von denen sich die eine auf den Künstler und das
Werk als technisches Produkt, die andre dagegen auf das. was das Werk darstellt,
nämlich die Natur, das Leben bezieht.
Bei der Momentphotographie und der nach ihr ausgeführten Netzätzung fällt
nun die Persönlichkeit des Künstlers einfach weg. Denn der Beschauer weiß ja
ganz genau, daß das, was er da vor sich sieht, eigentlich nichts als Natur ist, nur
Natur, die zufällig, zum Zweck der Vervielfältigung auf Papier abgeklatscht ist.
Er weiß, daß die Reproduktion rein mechanisch ist, daß zu ihr nur eine gewisse
praktische Erfahrung und ein paar technische Handgriffe nötig waren. Er kann sich
also schlechterdings nicht in eine künstlerische Illusion versetzen, weil er das Bild
als Natur ansieht, weil ein schaffender Künstler für sein Bewußtsein überhaupt nicht
vorhanden ist.
Das gilt ja von jeder Photographie. Zwar giebt es Photographien, die sich der
Kunst nähern, da sie von ästhetisch gebildeten Amateurs angefertigt sind, die die
Natur nach ganz bestimmten Gesichtspunkten auswählen und zurechtrücken. Aber
die SpezialPhotographen, die die Aufnahmen für diese illustrierten Blätter machen,
scheinen nicht zu ihnen zu gehören. Ein solcher Handwerker ist zum Beispiel
imstande, eine Anzahl Buren, meistens einen Großvater mit zwanzig Söhnen und
vierzig Enkeln, in eine Reihe nebeneinander zu stellen, sie geradeaus gucken zu
lassen und so aufzunehmen. Oder er stellt seinen Apparat an eine Stelle, wo ein
Nußübergang oder ein Gefangnentransport oder eine Truppenrevue stattfinden soll,
und drückt dann, wenn der entscheidende Moment gekommen ist, auf seinen Gummi-
ball. Das Resultat dieses Drucks wird doch kein verständiger Mensch als Kunst
bezeichnen wollen.
In den meisten Fällen sind denn auch diese Aufnahme» von einer Langweilig¬
keit und Ausdruckslosigkeit, die zu der Aktualität des Inhalts der dargestellten
Szenen in seltsamem Gegensatz steht; nebenbei gesagt, ein recht hübscher Beweis
dafür, wie gering die Bedeutung ist, die der Inhalt als solcher für den ästhetischen
Genuß hat, wie sehr vielmehr alles auf die künstlerische Auffassung, das heißt auf
das Verhältnis der Form zum Inhalt ankommt. Diese Langweiligkeit und Aus¬
druckslosigkeit stammt eben von der zufälligen Entstehungsweise dieser Aufnahmen
her, die dem Leben und der Wirklichkeit niemals gerecht werden kann.
Denn es ist eine vollkommen falsche Auffassung, daß die Momentphotographie
deshalb, weil sie das Leben und die Bewegung in einem bestimmten Augenblick
mit absoluter Genauigkeit festhält, bei der Betrachtung auch die Illusion des Lebens
in besondrer Stärke erzeugen müßte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Je größer
die Zahl der auf dem Bilde dargestellten Personen ist, und je lebhafter sie sich be¬
wegen, um so unmöglicher ist es für den Photographen, die Szene in einem durch¬
aus passenden Moment aufzunehmen.
Wenn ich z. B- auf der Straße einer Großstadt einen Volksauflauf mit er¬
lebe, so ist alles, was ich während dieser Zeit vor mir sehe, in fortwährender Be¬
wegung. Was mir in dem einen Augenblick entgeht, bemerke ich vielleicht im
andern. Denn nicht nur die Figuren, die ich sehe, bewegen sich wirklich, sondern
ich selbst bewege mich unter ihnen. Ich sehe mit meinen beiden Augen, die ich
außerdem mit jeder Bewegung meines Körpers oder Kopfes mit bewege, gewisser¬
maßen um sie herum sehe, wie sie im Raume zu einander stehn, wie sie sich bei
der Fortbewegung gegeneinander verschieben, wie sich eine Bewegung aus der andern
entwickelt.
Alles das fällt bei der Momentphotographie, die ja nicht nur unbewegt,
sondern außerdem auch flächenhaft ist, einfach weg. Es fällt freilich auch weg bei
der Malerei und der Zeichnung. Aber der Maler und Zeichner, der keine Maschine
ist, sondern der Natur frei gegenüber steht, hat eine Menge Mittel, diesen Ausfall
zu ersetzen, durch die besondre Art der Komposition, die Wahl des fruchtbarsten
Moments, durch besondre Markierung, Vermindruug, Acceutuieruug der Formen
und Bewegungen die Illusion des Lebens zu steigern. Er kann das Unwesent¬
liche der Natur ausscheiden, das Störende und Verwirrende, was die Wirklichkeit
bietet, beseitigen, das Wesentliche, für den Charakter der dargestellten Szenen und
Personen Charakteristische stärker hervorheben, ins richtige Licht setzen: mit einem
Wort, er ist Künstler, nicht Handwerker. Und der Holzschnitt, wenn er auch nicht
von selbständigen Künstlern ausgeführt wird, nimmt an diesen Vorzügen teil, weil
er genaa nach einer künstlerischen, frei entworfnen Zeichnung ausgeführt ist. Er
ist ein Kunstwerk, weil die Zeichnung, die ihm zu Grunde liegt, einen künstlerischen
Charakter hat. Der moderne Tonschnitt steht in dieser Beziehung nicht anders da,
als der alte Linienschnitt des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Dieser
verhielt sich zu seinen Vorzeichnungen ebenso, wie sich der Tonschnitt zu den seinigen
verhält. Ihr Kunstwert beruht auf dem Kunstwert der Vorzeichnung. Aufgabe des
Holzschneiders ist es nur, diesen bei der Ausführung nicht verloren gehn zu lassen.
Und wenn diese Momentphotographien nur wenigstens genan und scharf wären,
wenn die nach ihnen hergestellten Autotypien nur die Tonwerke im richtigen Ver¬
hältnis zu einander wiedergäben! Aber davon ist nicht entfernt die Rede. Natürlich
ist die Schärfe der Aufnahme bei Naturausschnitten, die eine große Tiefendimension
haben, im Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund ganz verschiede», und bei
der Schnelligkeit der Arbeit ist es ganz unmöglich, den Apparat immer genau so
einzustellen, daß die verschiedne Schärfe, wie man das wohl bei wirklichen Künstler¬
photographien beobachten kann, der malerischen Wirkung einigermaßen entspricht.
Und daß bei der Zinkätzung ein, Teil der Mitteltöne und damit die eigentliche
malerische Feinheit meistens verloren geht, ist eine bekannte Sache. Die Autotypie
hat für wissenschaftliche Zwecke, für billige Reproduktion von Statuen und Ge¬
mälden ihren hohen Wert. Dies ist für sie das eigentliche Feld der Thätigkeit.
Für eine wirklich künstlerische, ästhetisch anregende Darstellung der Zeitereignisse ist
sie dagegen vollkommen unbrauchbar.
Deshalb wird sich auch bei diesen aktuellen Illustrationen das Interesse des
Beschauers immer einseitig dem Inhalt zuwenden. Das rein Materielle des In¬
halts wird das Ästhetische notwendig zurückdrängen. Das Sensationsbedürfnis, die
Neugier, vielleicht auch die Wißbegier der großen Menge wird dadurch befriedigt
werde», die ästhetischen Bedürfnisse feiner empfindender Menschen dagegen nicht.
Ja auch als historische Dokumente haben diese Autotypien nur einen geringen
Wert, da sie Szenen, deren wesentliches Interesse ans den Bewegungen beruht, in
plötzlicher Erstarrung, gewissermaßen galvanisiert wiedergeben. In diesem Sinne
kann man mit Recht sage», daß diese scheinbar ganz exakte Wiedergabe der Natur
in Wirklichkeit die unrealistischste Darstellung ist, die es überhaupt giebt. Eine
wirklich künstlerisch ausgeführte Zeichnung, deren Urheber das Wesentliche des Vor¬
gangs zu erfassen wußte, wobei er meinetwegen, abgesehen von seinem guten Formen¬
gedächtnis und einer flüchtigen von der Natur gemachten Skizze, auch Moment¬
photographien benutzen konnte, ist nicht nur ein größeres Kunstwerk, sondern auch
eine treuere Illustration des betreffenden Vorgangs als eine solche Momentphoto¬
graphie. Und niag es auch sicher sein, daß die Personen, die der Künstler dar¬
gestellt hat, in ihren Formen und Bewegungen und in ihren räumlichen Verhältnissen
zu einander niemals, in keinem Augenblick des dargestellten Ereignisses wirklich so
zusammen gewesen sind, das Ganze ist als Kunstwerk, das heißt im Sinne der
Illusion doch treuer, wahrer und natürlicher als eine beliebige, jedem Zufall unter-
worfne photographische Aufnahme. Es kommt eben in der Kunst nicht auf die
äußere Übereinstimmung mit der Natur, sondern auf die Anregung im Sinne der
Illusion an. Nicht das ist die Aufgabe, die Formen und Farben genau so, wie
sie wirklich in der Natur sind, darzustellen, sondern den optischen Eindruck der Natur
wiederzugeben, den Beschauer zur Vorstellung der Natur anzuregen. In der An¬
regungskraft, nicht in der Exaktheit der Nachahmung beruht das Geheimnis der
künstlerischen Wirkung. Diese Anregungskraft hat die Autotypie aber nicht. Der
Unterschied einer Momentphotographie von einem frei entworfnen Holzschnitt ist
deshalb ungefähr ebenso groß, wie zwischen einer Zeitungsnachricht und einer dichte¬
rischen Schilderung, zwischen einem Steckbrief und einem Porträt Lenbachs. Kunst
ist eben Kunst und keine Registrierung dessen was ist, keine polizeiliche Statistik
des thatsächlich Vorhandnen.
Dazu kommt nun aber endlich, daß uns in jeder Nummer einer solchen Zeit¬
schrift nicht mir einige wenige Autotypien geboten werden — die könnte man sich
ja schließlich als bildliche Reporterberichte Wohl gefallen lassen —, nein, auf jeder
Seite kehren sie wieder, und nicht ein- oder zwei-, nein fünf-, sechs-, zehnmal und
öfter, je nach der Größe. Ganze Seiten, ganze Bogen, ja ganze Hefte sind mit
diesen langweiligen, öden und ausdruckslosen Köpfen gefüllt, die einem nicht das
Geringste sagen, mit diesen Paradebildern. Denkmaleinweihungen. Truppentrans¬
porten. Kriegsschiffen usw., durch die man sich stöhnend und ächzend hmdurchwurgen
muß. Müde und gelangweilt schweift der Blick von einem Bild zum andern,
schließlich sieht man gar nicht mehr genau hin, Weil einem die Sache längst zum
Halse heraushängt yuousane tAnäom aduwrs Misntia nosti-Ä'. Wann
wird die bildliche Reporterstatistik endlich aufhören, und die Kunst Wieder ihren
Einzug in die illustrierten Journale halten?
Die Hoffnungen auf eine Besserung sind gering. Deun die Menschen, die
bloß neugierig siud. übertreffen die. die künstlerische Interessen haben, bei weitem
an Zahl, und die Zahl, die Abonnentenzahl entscheidet bei einer Zeitung. Aber es
könnte doch der Fall eintreten, daß das Publikum sich einmal besänne und den Ver¬
legern in fühlbarer Weise zeigte, daß man die Kunst nicht ungestraft mit Fußen
treten darf. Bis dahin können allerdings viele von den tüchtigen Holzschneidern,
die jetzt mit einem Schlage durch den plötzlichen Umschwung brotlos geworden sind,
verhungert sein, wenn sie nicht inzwischen durch einsichtige Verleger. Wie es la
deren noch immer giebt, in Thätigkeit gesetzt werden. Es muß mit großer Freude
begrüßt werden, daß z. B. ein Mann wie I. I. Weber in Leipzig, der den Be¬
trieb der Xylographie nicht nach der ersten besten vom Ausland zu uns gekommnen
Modeströmung, sondern aus eigner intimer Kenntnis der Technik und des kauf¬
männischen Betriebs heraus kennt, dem Holzschnitt feine Sympathien weiter zu¬
wendet. Und seine Bemühungen werden von Erfolg begleitet fein, da er für den
Tonschnitt eintritt, wie ich es früher in den Grenzboten (1899. III, S. 221 ff.)
gethan habe, die moderne archaisierende Richtung des Holzschnitts dagegen verwirft
(Archiv für Buchgewerbe XXXVI. Heft 8 ff.).
Daß der Archaismus der van der Velde, Vallotton, Sattler, Eckmann,
Behrens usw., wenn er jemals allgemein durchdränge, den Tod der Holzschnitt¬
technik überhaupt bedeuten würde, habe ich in dem erwähnten Grenzbotenaufsatz
nachgewiesen, und ich freue mich, daß diese Auffassung, wie ich aus den Abdrucken
und Besprechungen dieses Artikels sehe, die allgemeine Zustimmung aller Techniker
gefunden hat, die in der Praxis drtnstehn und wissen, worum es sich handelt. Es
gehört in der That nur wenig Sachkenntnis dazu, einzusehen, daß ein Holzschnitt,
der mit dicken, klotzigen Konturen und schroff nebeneinanderstehenden weißen und
schwarzen Flächen, der vielleicht noch mit ein paar einfachen rein dekorativen Farben¬
tönen versehen ist, genau ebensogut durch die Zinkhochätzung und den Dreifarben¬
druck wie durch den schwarzen oder farbigen Holzschnitt hergestellt werden kann.
Und da das erstere Verfahren unbedingt billiger ist als das zweite, so ergiebt sich
daraus mit absoluter Sicherheit, daß, wenn sich der allgemeine Geschmack des
Publikums im Sinne dieses archaisierenden „Künstlerholzschnitts" umbilden würde
— was unsre kurzsichtige Kritik mit allen Kräften anstrebt —, der Holzschnitt in
kurzer Zeit aufgehört hätte zu existieren.
Unsre Künstler und Kunstkritiker, die ganze Schar der „Modernen" sollten
also wenigstens konsequent sein. Entweder der Holzschnitt bleibt bestehn, dann kann
er sich nur in moderner Weife, das heißt in der Richtung des Tonschnitts ent¬
wickeln, oder er beschränkt sich auf die Linientechnik, dann muß er unfehlbar in der
Zinkätzung aufgehn, Isi-einen non Äawr. Wir halten das erstere für wahrschein¬
licher. Denn ein bewußter Archaismus, das heißt ein Verzicht auf die einmal er¬
reichten und dem Künstler zur Verfügung stehenden technischen Mittel zu Gunsten
einer kindlichen und unvollkommnen Schrittweise ist wie jeder Archaismus etwas
Ungesundes, das als solches keine Aussicht auf Bestand hat. Man kann sich wohl
vorübergehend einmal darüber amüsieren, vorausgesetzt, daß diese rudimentäre Technik
von vortrefflichen Zeichnern gehandhabt wird, die Wert darauf legen, mit den
denkbar einfachsten Mitteln die denkbar stärksten Wirkungen zu erzeugen. Aber eine
dauernde Bedeutung kann sie nicht haben, da ja die Mittel zu einer reichern und
wirksamern Technik längst im Tonschnitt vorliegen. Ehe dieser erfunden war, konnte
man natürlich nur im Linienschnitt arbeiten und mußte suchen, in ihm die denkbar
höchste Illusion zu erreichen. Aber nach der Erfindung des Hirnholzes und Grab¬
stichels wieder zum Langholz und Schneidemesser zurückzukehren ist eine archaistische
Schrulle einiger hypermoderner Künstler, nichts weiter. Daß ihnen bei diesen Be¬
mühungen auch einige jüngere Kunsthistoriker gehorsam sekundieren, ist bedauerlich,
ändert aber an der Sache nichts.
I. I. Weber hat an einigen Beispielen das Unzulängliche dieser modernen
„Künstlerholzschnitte" nachgewiesen. Wir können uns ihm nur anschließen. Unsers
Erachtens ist der ganze Begriff des Künstlerholzschnitts ein Unding. Der Holz¬
schnitt ist eine viel zu schwierige und mühsame Technik, als daß ein gewöhnlicher
Maler oder Zeichner sie sich neben allem andern, was er zu leisten hat, und neben
seinem Interesse an der Erhaltung einer leichten Hand vollkommen zu eigen machen
könnte. Deshalb haben ja auch die alten Meister, wie wir jetzt längst wissen, in
der Regel nicht selbst in Holz geschnitten. Dürer und Holbein hatten ihre bevor¬
zugten Formschneider, die die von ihnen auf den Holzstock gezeichneten Kom¬
positionen ausführten. Menzel hat nicht entfernt daran gedacht, feine feinen Feder¬
zeichnungen selbst mit dem Stichel zu faksimilieren. Und die Technik des modernen
Tonschnitts ist dem, der ihr nicht seine ganze Kraft widmen kann, vollends un¬
erreichbar.
Was hat es nun für einen Zweck, wenn sich Maler oder Zeichner, die vielleicht
mit dem Pinsel oder mit der Feder ganz gut umzugehn wissen, plötzlich darauf
kaprizieren, selbst zum Messer zu greifen? Natürlich kann daraus nur Stümperei
entsteh». Der Archaismus ergiebt sich hier nicht nur aus der zeichnerischen Alter¬
tümelei, die gerade jetzt Mode ist, sondern mich aus der technischen Unfähigkeit
dieser „Originalholzschneider." Der Holzschnitt muß Linienholzschnitt sein und
grellen Gegensatz von schwarz und weiß bieten, weil der Holzschneider den feinern
Aufgaben nicht gewachsen ist. Da macht man denn aus der Not eine Tugend und
behauptet, daß diese unvollkommne, hie und da geradezu Stammelnde Formensprache
die spezifische Technik des Holzschnitts sei, die den Tonschnitt verdrängen müsse.
Man lasse dem Holzschnitt also seinen Charakter als unselbständige reprodu¬
zierende Technik, die er von jeher gehabt hat, und auf dem seine Stärke beruht.
Man lasse ihm seine Bedeutung als billiges Reprodnktionsmittel von Zeichnungen
und Gemälden, worin seine Popularität besteht, und worin er vor der Autotypie
ganz bestimmte Vorzüge voraus hat. Künstlertechniken, die dem Künstler ein Mittel
bieten, seine Gedanken eigenhändig auf die Platte zu bringen, giebt es ja genug,
als schönste von allen die Radierung und die Lithographie. Wozu nun auch dem
Holzschnitt diese Aufgabe oktroyieren, wozu dieser tüchtigen, soliden, aber nun einmal
unselbständigen Technik die Jkarusflügel eines höhern Künstlertums anbinden, die
doch beim ersten Flug zur Sonne schmelzen müssen?
Jedenfalls ist es höchst bezeichnend für die gegenwärtig herrschende Konfusion
der ästhetischen Begriffe, daß man sich gleichzeitig in weiten Kreisen die ledern¬
naturalistischen Autotypien ruhig gefallen läßt und in engern Kreisen das Heil des
Holzschnitts in dem Zurückgehn auf den primitiven Stil des fünfzehnten und sech¬
zehnten Jahrhunderts sieht. Auf der einen Seite also eine Technik, bei der das
„Kunstwerk" gewissermaßen ganz mit der Natur zusammenfällt, auf der andern
eine solche, bei der es sich möglichst weit von ihr entfernt. Natürlich sind solche
Widersprüche nur dadurch möglich, daß man das Wesen der Kunst in weiten Kreisen
nicht erkennt. Die von der Autotypitis Befallnen bilden sich ein, die Naturnach-
ahmung müsse darauf ausgehn, das Kunstwerk für das Bewußtsein des Beschauers
mit der Natur zusammenfallen zu lassen. Die vom Primitivismus Befallnen meinen,
das Wesen der Kunst liege in der möglichst großen Abweichung von der Natur.
Beides ist gleich falsch. Das Richtige liegt vielmehr in der Mitte. Jede künstle¬
rische Darstellung der Natur ist Übersetzung in eine andre Sprache, nicht nur im
Holzschnitt, sondern in allen Künsten. Diese andre Sprache bringt Veränderungen
der Natur mit sich, die nicht vertuscht zu werden brauchen, im Gegenteil offen ein¬
gestanden werden müssen. Aber innerhalb dieser Grenzen strebt sie nach Natur¬
wahrheit. Der Grad der Veränderungen hängt zuerst ab von der jeweiligen Ent¬
wicklungsstufe der Technik. Und jede Kunst strebt nach Verbesserung der Technik,
weil sie nach Steigerung der Illusion strebt. Deshalb ist in jeder Zeit die Technik
die modernste, also auch die zum Ausdruck des modernen Empfindens geeignetste,
die auf der höchsten bisher erreichten Stufe der Entwicklung steht. Das ist eben
in unserm Falle der Tonschnitt. Deshalb gehört ihm die Zukunft.
Die Verhandlungen über den „Ent¬
wurf eines Gesetzes, betreffend die Schlachtvieh- und Fleischbeschau," über den der
Reichstag schon vorm Jahre vom 17. bis 19. April in erster, dann dieses Jahr
vom 8. bis 10. März in zweiter Lesung beraten hat, und dessen dritte Lesung
Wohl unmittelbar bevorsteht, haben dank der ungesunden Parteiverhältnisse, unter
denen wir leiden, eine politische Bedeutung erlangt, die ihr Gegenstand gar nicht
verdient. Der Vorwurf, den der Kaiser voriges Jahr in seiner Hamburger Rede
am 18. Oktober den Parteien gemacht hat, hat sich wieder glänzend bestätigt, und
leider haben sich gerade die Parteien, die sich die staatserhaltenden zu nennen
pflegen, den Vorwurf besonders verdient.
Folgendes ist der wesentliche und hauptsächlich umstrittne Inhalt des Gesetz¬
entwurfs.
Zunächst heißt es in den ZZ 1 bis 4:
Rindvieh, Schweine, Schafe, Ziegen und Pferde jeden Alters, deren Fleisch zum Genusse
für Menschen verwendet werden soll, unterliegen vor und nach der Schlachtung einer amtlichen
Untersuchung.. . , Die Untersuchung von Schafen und Ziegen, sowie von noch nicht drei Monate
alten Kälbern und Schweinen darf vor und nach der Schlachtung unterbleiben, wenn die Tiere
keine Merkmale einer Krankheit zeigen und der Besitzer des Tieres das Fleisch ausschließlich im
eignen Haushalte verwenden will. . . . Fleisch im Sinne dieses Gesetzes sind Teile von warm¬
blütigen Tieren, frisch oder zubereitet, sofern sie sich zum Genusse von Menschen eignen. Als
Teile gelten auch die aus solchen hergestellten Fette und Würste.
Diese Bestimmungen, die zunächst das inländische Schlachtvieh und Fleisch
betreffen, bedeuten im Vergleich mit den zur Zeit in den meisten Bundesstaaten
bestehenden Vorschriften einen großen Fortschritt, und sie sind auch hauptsächlich
nur insoweit bekämpft und von der Kommission und in der zweiten Lesung vom
Plenum des Reichstags abgeändert worden, als die sogenannten „Hausschlachtungen"
überhaupt, d. h. bei den Tieren jedes Alters, vom Uutersuchungszwange entbunden
werden sollen. Vorausgesetzt bleibt dabei, daß keine Merkmale einer Erkrankung
Vorliegen, und keine „gewerbsmäßige" Verwendung des Hausgeschlachteteil Fleisches
geschieht. So wichtig an sich die Frage sein mag, ob nicht auch für die Haus-
schlnchtungen allgemein eine amtliche Untersuchung vorgeschrieben werden sollte, so
ist, wie es scheint, nicht zu befürchten, daß der Gesetzentwurf an der Ablehnung
dieses Punktes der Regierungsfassung scheitern könnte. Der eigentliche easus bslli
liegt in den Bestimmungen über die Behandlung des aus dem Auslande ein¬
geführten Fleisches.
Der Gesetzentwurf bestimmt darüber in den ßH 14 bis 16 in der Hauptsache
folgendes:
Fleisch, das in das Zollinland eingeführt wird, unterliegt bei der Einfuhr einer amtlichen
Untersuchung unter Mitwirkung der Zollbehörden. Der Bundesrat ordnet an, inwieweit das
Fleisch nur in zusammenhängenden Tierkörpern, Tierteilen oder in Stücken von bestimmter
Größe und in natürlichem Zusammenhangs mit innern Organen eingeführt werden darf. . . .
Die Untersuchung hat sich bei Schweinefleisch auch auf Trichinen zu erstrecken.... Der Bundesrat
ist ermächtigt: 1. die Einfuhr von Fleisch, dessen Unschädlichkeit sür die menschliche Gesundheit
in zuverlässiger Weise bei der Einfuhr nicht mehr festgestellt werden kann, zu verbieten; 2. zu
bestimmen, daß bei der Einfuhr von Fleisch, das nach der Art seiner Gewinnung und Zu¬
bereitung erhebliche Gefahren für die menschliche Gesundheit erfahrungsgemäß nicht bietet, die
Untersuchung unterbleiben oder eingeschränkt werden darf.
Wie der Reichskanzler schon vor längerer Zeit in der bestimmtesten Form er¬
klärt hatte, ist es selbstverständlich der Regierung nicht in den Sinn gekommen,
das ausländische Fleisch irgendwie milder behandeln zu wollen als das inländische.
Aber ebenso selbstverständlich mußte es ihr fern liegen, den hier allein in Betracht
kommenden hygienischen und Veterinär-polizeilichen Zweck des Gesetzes durch die
völlige Aussperrung des im Ausland geschlachteten Fleisches erreichen zu wollen.
Die deutsche Viehzucht ist nun einmal nicht, oder noch nicht imstande, dem Bedürfnis
des deutschen Volks nach Fleischnahrung zu genügen, und zwar zu angemessenen,
für die weniger Bemittelten erschwinglichen Preisen. Einer Erleichterung der Ein¬
fuhr von lebendem Vieh aus dem Auslande, wodurch vielleicht einer Fleischnot
vorgebeugt werden könnte, steht die Verseuchungsgefahr, wie die Agrarier selbst
behaupten, immer noch im Wege. Das Verbot der Einfuhr von fremdem Fleisch,
wie es die Reichstagsmehrheit herbeiführen möchte, wäre eine Kur nach Doktor
Eisenbart und im Prinzip fast ebenso sinnreich, als wenn die Regierung, um das
deutsche Volk vor dem Genuß schädlichen Fleisches zu bewahren, das Schlachten von
Vieh auch im Inlands, d. h. die Fleischnahrung überhaupt, verbieten wollte.
Außerdem verstand es sich von selbst, daß die deutsche Reichsgesetzgebung nicht
Vorschriften über die amtliche Untersuchung des für den Export nach Deutschland
im Auslande zu schlachtenden Viehs vor der Schlachtung erlassen, sondern immer
nur die Untersuchung nach der Schlachtung, d. h. des importierten Fleisches an¬
ordnen und regeln konnte. In der Würdigung dieser Grenze der deutschen Gesetz¬
gebung will der Regierungsentwurf dem Bundesrat das Recht vorbehalten, je nach
der Zuverlässigkeit der Fleischbeschau im Herkunftslande und nach andern Umständen
besondre Anordnungen zu treffen, um die dem Zweck des Gesetzes entsprechende
Wirkung der Nachuntersuchung zu sichern, in gewissen Fällen auch die Fleischeinfuhr
ganz verbieten zu können. Andrerseits sollte der Bundesrat aber auch die Befugnis
haben, importierte Fleischwaren, deren Zubereitungsart — z, B. durch Abkochen
bei hohen Hitzegraden — die Gesundheitsschädlichkeit unwahrscheinlich macht, milder
zu behandeln. Es soll ja nach dem Entwurf (§ 11) auch im Inlande geschlachtetes
an sich untaugliches — sogenanntes „bedingt taugliches" — Fleisch nach An¬
wendung derartiger Zubereitungsmethoden zur Verwendung als Nahrungsmittel
zugelassen werden. So mancherlei Kritik auch sonst an dem Entwurf und seiner
Begründung zu üben sein mag, von einer Bevorzugung des ausländischen Fleisches
durch ihn zum Nachteil der inländischen Viehzucht kann auf keinen Fall die Rede
sein. Soweit die Ausschließung gesundheitsschädlichen ausländischen Fleisches vom
Verbrauch im Inlande möglich ist, ohne alles ausländische Fleisch überhaupt aus¬
zuschließen, sorgt der Entwurf dafür, und gerade um dies zu können, war es un¬
erläßlich, dem Bundesrat die Vollmacht zum Eingreifen von Fall zu Fall zu geben,
wie sie der Entwurf vorsieht. Wer ein bischen Erfahrung in der Ausführung
solcher Gesetze gesammelt hat, der wird keinen Augenblick darüber im Zweifel sein,
daß man in der Praxis gerade beim inländischen Fleisch mit einer ungeheuern
Menge von Umgehungen wird rechnen müssen. Auch wenn die sogenannten Haus-
schlachtnngen untersuchungspflichtig bleiben sollten, würde doch das Fleisch von er¬
kennbar krankem inländischen Vieh immer noch in solchen Massen zur menschlichen
Nahrung verwandt werden, daß thatsächlich das gesundheitsschädliche ausländische
Fleisch, das trotz der im Entwurf vorgesehenen Kontrolle durch die Zollämter hin¬
durch in den Handel und zum Verbrauch gelangen sollte, dagegen verschwinden
würde. Und vollends wird bei völliger Freigabe der Hausschlachtungen und des
Verkaufs — nur der „gewerbsmäßige" soll verboten werden — des haus¬
geschlachteten Fleisches, wie die Reichstagsmehrheit will, der Verwendung kranken
Fleisches Thür und Thor geöffnet.
Gegen diesen wesentlichen Inhalt des Entwurfs über die Kontrolle des aus¬
ländischen Fleisches haben nun die Mehrheitsparteicn in der Kommission und in
der zweiten Lesung im Plenum beschlossen, daß — abgesehen von Schweineschinken,
Schweineschmalz, Speck, von reiner Oleomargarine und von Därmen — die Ein¬
fuhr vou eingepökeltem und ähnlich zubereitetem Fleisch, von Fleisch in Büchsen
oder ähnlichen Gefäßen, von Würsten und sonstigen Gemengen aus zerkleinertem
Fleisch sofort gänzlich verboten, die Einfuhr von andern: Fleisch zwar unter gewissen
Voraussetzungen vorläufig uoch zugelassen, vom 1. Januar 1904 aber gleichfalls
gänzlich untersagt sein soll. Für dieses radikale Einfuhrverbot haben trotz der
wiederholten nachdrücklichsten Erklärung der Regierung, daß es für sie unannehmbar
sei, in der zweiten Lesung die konservativen Parteien, das Zentrum und die Mehr¬
heit der Nationalliberalen gestimmt.
Das ist die äußere Sachlage, vor der man jetzt steht. Beharren beide Teile
starr auf ihrer Meinung, dann fällt der Entwurf unter den Tisch, und der
bisherige in hygienischer und Veterinär-polizeilicher Beziehung in der That und an-
erkanntermaßen unhaltbare Zustand wird weiter fortgeschleppt. Über eine im
Interesse der Sache dringend wünschenswerte Verständigung mit Zugeständnissen
ans beiden Seiten wird verhandelt. Man muß abwarten, was dabei herauskommen
und was die dritte Lesung bringen wird.
Ganz unabhängig von dem, was aus dem Gesetzentwurf selbst und seinem
guten Zweck wird, fordert die politische Bedeutung des Streits um die Fleisch¬
beschau eine rückhaltlos offne unparteiische Beurteilung. Wir vermögen eine solche
in den zahlreichen Protestkundgebungen der jüngsten Zeit gegen die Beschlüsse zweiter
Lesung im allgemeinen nicht zu finden, weil sie viel zu sehr einen einseitigen Jnter-
essenstandpunkt herauskehren und in Bezug auf die Sache selbst, d. h. die Flcisch-
M"hr, nach dem bekannten abgebrauchter Agitationsrezept Übertreibungen gegen
Übertretungen ausspielen. Sie werden deshalb wohl niemand das Rechte gelehrt
und niemand vom Unrechten bekehrt haben. am wenigsten die Parteien und die
^egieruug. Uns bedeuten sie so gut wie nichts, Was das deutsche Volk und die
verbündeten Regierungen aus dieser nun schon ein ganzes Jahr dauernden Cam¬
pagne lernen sollten, ist kurz folgendes:
«er agrarische Terrorismus hat in seinen Zielen, in seiner Kampfesart und in
keinem Einfluß einen Höhepunkt erreicht, der endlich als unmittelbare, schwere Gefahr
i ^ r""^ ^ die äußere Politik des Deutschen Reichs anerkannt werden muß.
Gleich bei seinem Erscheinen wurde der Gesetzentwurf als ein wissentlich von den
maßgebenden Räten der Krone geführter Schlag ins Gesicht der dentschen Landwirt¬
schaft, als ein unverantwortliches Preisgeben der nationalen Interessen zu Gunsten
des Auslands hingestellt. In Schrift und Wort wurde mit einer bisher von keiner
Partei aufgewandten Rührigkeit und Geschicklichkeit, unterstützt durch ganz außer¬
ordentliche Geldmittel, dem Landvolk eingeredet, der Reichskanzler Fürst von Hohen-
lohe habe den Landwirten sein feierlich gegebnes Wort gebrochen, und der Staats¬
sekretär des Auswärtigen, Graf Bülow, habe im Gegensatz zu den landwirtschafts-
sreundlicheu Mitgliedern des Bundesrath die Interessen der amerikanischen Viehzüchter
vertreten und unter dem unmittelbaren Einfluß amerikanischer Fleischexportfirmen
die die deutsche Landwirtschaft schädigende Fassung des Gesetzentwurfs durchzusetzen
gewußt. Klar und unverhüllt wurde erklärt, daß der Negierung, so lange diese
Männer an der Spitze stünden, kein Vertrauen geschenkt werden dürfe, daß ihr vor
allem auch keine starke Flotte anvertraut werden könne.
Es wird vielleicht die Zeit kommen, wo es nötig erscheint, die geradezu un¬
geheuerlichen Übertreibungen, Unwahrheiten, Verdächtigungen und Schmähungen,
die die agrarische Opposition im Laufe des letzten Jahres unter Ausbeutung gerade
dieses an sich so harmlosen Gesetzentwurfs über die Fleischbeschau gegen die Regie¬
rung in die kritiklosen Massen auf dem Lande hinausgeschleudert hat, dem deutscheu
Volk gesammelt vor Augen zu führen. Im Augenblick braucht man nur auf die
unzähligen in der Presse fast Tag für Tag erscheinenden Belege hinzuweisen, um
klar zu zeigen, daß die agrarische Hetzerei keinen Zoll mehr hinter der sozial-
demokratischen an Verlogenheit und Gehässigkeit zurücksteht, daß sie sie vielmehr an
Gemeingefährlichkeit schon weit übertrifft.
Und diesem Verhalten der parteiagrnrischeu Agitation haben die sogenannten
staatserhnltenden Parteien nicht nur mit keiner Silbe widersprochen, sondern sie
haben ihr gerade im Laufe des letzten Jahres und gerade in der Fleischbeschau¬
frage die vollständigste Zustimmung und Unterstützung zu teil werden lassen.
In den Berichten über die Verhandlungen des Reichstags wie des preußischen
Landtags liegen dafür die urkundlichen Beweise vor, von den Reden der Herren
Gerstenberger, Graf Klinckowström und Vielhaben vom 17. April 1899 an bis
zu dem Votum der Nationalliberalen für die extremen Beschlüsse der agra¬
rischen Opposition in der Neichstagssitzung vom 9. März dieses Jahres. Die ge¬
nannten Parteien haben dadurch der Agrardemagogie das gute Recht gegeben, sie
als Genossen, wenn nicht als ihre Führer in der Hauptschlacht zu betrachten, und
den ernsthaften Versuch, jetzt die fleißigen Agitatoren dauernd von den Rockschößen
abzuschütteln, als Verrat vor den verblendeten Wählermassen auf dem Lande zu brand¬
marken. In wirklicher Übereinstimmung der Ansichten oder im Parteiinteresse haben
sich die Mehrheitsparteien dem extremen Agrariertum ergeben und es dadurch zum
Herrn der Situation gemacht. So haben sie die Hauptschuld an der unhaltbaren
Lage von heute auf sich geladen, und kein Kompromiß in Sachen der Fleischbeschan
wird sie von dieser schweren politischen Sünde reinzuwaschen vermögen.
Die Bedeutung des Kompromisses, an dem man jetzt arbeitet, und dem wir der
Fleischbeschan wegen allen Erfolg wünschen, ist Politisch vorläufig gleich Null. Die
junkerlichen Strategen, die heute zum Einlenken bereit sind, denken gar nicht daran,
wenn ihnen auch im Augenblick die Halsstarrigkeit und die Plumpheit der bündle-
rischen Hauptleute sehr unbequem ist, den Zielen, die sie mit diesen zusammen seit
Jahr und Tag einträchtig verfolgt haben, oder auch nur den Wegen, die sie mit
ihnen drzu eingeschlagen haben, wirklich zu entsagen. Sie denken vor allem nicht
daran, die bedingungslose Unterwerfung der Verbündeten Regierungen als das
schleunigst zu erstrebende Ziel und als wichtigste Etappe dazu die Entfernung der
leitenden Staatsbeamten, die ihnen hinderlich erscheinen, aufzugeben. Das Kom¬
promiß über die Fleischbeschau hat für sie nur Sinn als Mittel zu diesem Zweck.
Sie wissen, daß die Nachgiebigkeit in dieser Bagatelle ihren Sieg in der Haupt¬
sache nur befördern kann, und daß man in solchen Plänklergefechten wohl die Zu¬
verlässigkeit der eignen Truppe und die Stärke des Gegners erproben, aber sich
niemals in sie verbeißen darf. Der Hauptschlag ist, wenigstens auf wirtschafts¬
politischen Gebiet, der Bruch mit der Handelsvertragspolitik oder doch ihre, wie
man hofft, dauernde Lähmung durch einen Hochschutzzöllnerischen Minimaltarif. Die
Herren befolgen mit dieser Taktik nur den Rat, den ihnen Graf Posadowsky in
der Reichstagssitzung vom 9. März und Herr von Miquel oft genug gegeben hat.
Daß dazu der „süddeutsche Liberale" Fürst Hohenlohe und die Weltpolitiker Bülow
und Thielmann aus dem Rat der Krone weichen müssen, halten die Junker mit
Recht oder mit Unrecht für selbstverständlich und auch für erreichbar, wenn nur der
Bund der Landwirte ihnen in der Hauptsache treu und wenn er in seiner Hetzarbeit
erfolgreich bleibt. Sie werden sich hüten, es dauernd mit ihm zu verderben oder
ihn lahmen zu lassen. Der jüngst entbrannte Zank um das Kompromiß über die
Fleischbeschau wird nur die Freundschaft auffrischen.
Die eigne Einsicht, das eigne Pflichtbewußtsein und den eignen Willen des
Monarchen in Rechnung zu stellen, daran können sich die preußischen Junker freilich
immer noch nicht gewöhnen. Und doch wird sich die reaktionäre Hochflut wohl
auch diesesmal wieder an diesem Felsen brechen. Aber daß die große Masse der
gut konservativen und doch auch gut liberal denkenden, gebildeten, unabhängigen
Männer in Deutschland zu dem agrarischen Unfug immer noch schweigt, ja ihm die
Stange hält, weil das am bequemsten und vornehmsten und so hergebracht scheint,
wird trotzdem von Augenblick zu Augenblick immer mehr eine Sünde und Schande.
Übelstände altüber-
kommner Gewohnheiten schleppt unser sonst sehr neuerungssüchtiges Zeitalter doch
noch wie eine rostige, eiserne Kette am Fuße nach. Am schwersten ist diese Kette
abzuschütteln, wenn sie von der kirchlichen Autorität geschmiedet ist oder geschmiedet
zu sein scheint. Als im Jahre 1583 Papst Gregor XIII. den Kalender verbesserte,
wurde seine Neuerung, angeblich ans religiösen Gründen, von den Protestanten
schroff zurückgewiesen. Nicht weniger als 117 Jahre lang hielten die protestan¬
tischen Reichsstände Deutschlands an ihrem falschen Kalender fest und brachten
dadurch, wie jedem Geschichtsforscher bekannt ist, in die Zeitbestimmungen des sieb¬
zehnten Jahrhunderts eine ärgerliche Verwirrung. Erst am 2. Oktober 1699
wurde zu Regensburg von den Evangelischen einstimmig beschlossen, den „ver¬
besserten Kalender" anzunehmen. Die Tage vom 19. bis zum 28. Februar alten
Stils ließ man im Jahre 1700 weg und stellte, indem man nach dem 18. Februar
gleich den 1. März folgen ließ, die Einheit des Kalenders im deutschen Reiche
wieder her. Rußland hat sich bekanntlich dieser Kalenderverbesserung bis heute
noch nicht angeschlossen. Im Jahre 1880 waren dort, angeregt von dentschen und
italienischen Astronomen, Verhandlungen über die Herstellung der Einheit des
Kalenders. Die großen Vorteile für die Wissenschaft und für das Verkehrsleben
wurden überzeugend nachgewiesen, auch der Widerstand der Geistlichkeit, die einige
Heilige durch Ausschaltung von zwölf Tagen zu benachteiligen fürchtete, wurde
besiegt, der Minister, Graf D. Tolstoi, stellte die Regelung der Angelegenheit in
sichere Aussicht: da kam der unglückliche 1./13. März 1881, Alexander II. erlag
den nihilistischen Mordgesellen, Tolstoi wurde entlassen, und die wertvolle Neuerung
unterblieb.
Ein höchst lästiges Erbstück der grauen Vorzeit schleppen wir in allen christ¬
lichen Staaten in der Beweglichkeit unsers Osterfestes mit uns herum. Weil vor
3500 Jahren die Juden bei ihren geringen astronomischen Kenntnissen einen
richtigen Kalender aufzustellen außer stände waren und sich gezwungen sahen, ihr
Passahfest nach dem Vollmond anzusetzen, haben wir Christen heute noch unser
schwankendes Osterfest. Jeder wird zugeben, daß dieses Schwanken mit religiösem
Glauben und Empfinden der heute lebenden Menschen nicht das mindeste zu thun
hat. Der erste Ostertag, als Jahrestag der Auferstehung Christi betrachtet, kann
nur ein feststehender Tag sein, unmöglich ein verschiebbarer. Dennoch ist wohl sehr
geringe Aussicht, daß sich die christlichen Völker über die Festlegung von Ostern
auf einen bestimmten Kalendertag einigen, zumal da vorher eine Übereinstimmung
unter den verschiednen Konfessionen erzielt werden müßte. Wir wollen deshalb von
Vorschlägen für die Festlegung des Osterfestes absehen, möchten aber die Aufmerksamkeit
der maßgebenden Kreise ans die Beseitigung der Übelstände richten, die aus der Ver¬
knüpfung des Schuljahrs mit dem hin- und herschwaukenden Osterfeste erwachsen.
Solche Übelstände sind zweifellos vorhanden. Erstens tritt der Schluß des
Schuljahrs nicht zu einer bestimmten Frist, sondern bald früher, bald später ein,
sodaß ein Schuljahr in seiner Länge um zehn Prozent von einem andern abweichen
kann. Und doch sind die Lehrausgaben sür jede Klasse genau vorgeschrieben und
darauf berechnet, daß immer dieselbe Zeit zu Gebote steht, was jetzt nicht der Fall
ist. Ist das letzte Vierteljahr — wie in diesem Jahr, wo es dreizehn Arbeits¬
wochen umfaßt — ungewöhnlich lang, so tritt eine starke Ermüdung bei Lehrenden
und Lernenden ein, besonders da der Winter die nötige Erfrischung durch Be¬
wegung im Freien einschränkt. Endlich werden die Schüler, die nach Beendigung
des Kursus der Sekunda oder der Prima am 1. April in eine praktische Laufbahn
eintreten sollen, oft zu ihrem Schaden daran gehindert, da es bei dem jetzigen
Zustande unmöglich ist, ihnen eine Woche vorher das Reifezeugnis einzuhändigen.
Alle diese Übelstände ließen sich leicht, wenigstens für die höhern Lehranstalten,
ohne Änderung der kirchlichen Einrichtungen beseitigen, wenn von den deutschen
Regierungen bestimmt würde, daß jedes Schuljahr etwa am 23. März schließt.
Die Ferien würden demnach die letzte Woche des März und die erste Woche des
April umfassen. In diesen Zeitraum würde das Osterfest häufig hineinfallen.
Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, so wären Karfreitag und Ostermontag als
schulfreie Tage zu bezeichnen. Die Einhaltung dieser zwei Feiertage würde den
Unterrichtsbetrieb nicht stören. Den Katholiken und den Juden unter den Schülern
wird jetzt vom Staate die vierfache Zahl von schulfreien religiösen Feiertagen ohne
wesentlichen Nachteil zugestanden.
Es ist merkwürdig, sagte ich, als wir unsre
Schirme zumachten, weil der Regen, der Plötzlich vom Himmel herabgefegt war,
ebenso plötzlich wieder aufhörte, und Heller Sonnenschein über unsre Rosenthalland-
schaft huschte, warum wir gerade dieses Jahr dem April sein Wetter so übel
nehmen. Es ist doch richtiges Aprilwetter, und man darf von niemand mehr ver¬
langen, als er kann.
Wir gingen gerade an Knaurs Gellertdenkmal vorüber, und er blieb stehn und
sah es nachdenklich an. Freilich, sagte er; wir sind ungeduldig und möchten gleich
vollen Frühling haben, wenn der April sich erst mühsam aus den Winterfesseln los
ringt. Und dabei ist manchen Menschen ewiger April beschieden. Wie mag es
denen zu Mute sein! Vielleicht, fuhr er fort, indem er sich zum Weitergehn wandte,
war es auch nur ein Sehnen nach dem Frühling einer so herrlichen Kunst, wie sie
jetzt ihr Licht an allen Ecken Leipzigs leuchten läßt und Klingers unsterbliche Werke
im Museum und an den Wänden öffentlicher Gebäude versammelt, was den alten
Bock zu seinem ungerechten Urteil über den armen Knaur veranlaßte.
Bock? Der gesunde und kranke Mensch?
. Ja. Als Knaur alt geworden war und mit den in elender Alltagsarbeit
vote gewordnen Augen große Verhältnisse nicht mehr richtig zu schätzen vermochte,
und als er dann die unglücklichen, längst wieder verschwundnen Figuren vor dem
neuen Theater — viel zu spät für eine solche Aufgabe — hatte machen dürfen,
>agte Bock mit der ihm eignen Urbanität, als er davorstand und sie sich ansah:
..Knaur ist eben ein Topper und bleibt ein Topper!" Du lieber Gott! Der halb-
vllnde Mann. Und nun sehen Sie sich den Gellert an; hat den kein wirklicher
Künstler gemacht? — Er blieb wieder stehn und sah auf das Denkmal zurück, das
My fein und zierlich von seinem dunkeln Waldhintergrunde abhob. — Es ist doch
em echtes Kunstwerk, und ich habe nicht den Eindruck, daß unser gutes Leipzig so
oald wieder etwas ähnliches hervorbringen wird, trotz seiner Inbrunst für die
..Moderne." Haben Sie Knaur nicht mehr gekannt?
Nein, sagte ich.
Ich war einmal bei ihm, fuhr er fort, während wir weitergingen. Als Junge.
Sommer nahm mich einmal mit zu ihm bei einem Spaziergang. Da zeigte er uns
allerhand, was er gemacht hatte. Kleinkram, und als er merkte, daß ich Freude daran
sagte er: Da will ich Sie mal was zeigen! Und in einer Ecke seiner kleinen
Werkstatt zog er von einem Gegenstand, den ich im Zwielicht nicht bemerkt hatte,
le Hülle weg: da stand, märchenhaft in der bescheidnen Umgebung, ein schönes
Mädchen, aus weißem Marmor ausgehauen, das Tauben fütterte. Es ist ja lange
her ich könnte nicht mehr beschreiben, wie die Figur im einzelnen war, aber ich
weiß noch die Überraschung, die ich empfand. Gott weiß, was aus der Figur
geworden ist, aber die Empfindung ist mir geblieben: das war der kurze Sonnen¬
dem, der in den April seines Handwerkerlebens geleuchtet hatte; er hatte die
in ? I ^ gemacht, als junger Mensch, und dann hatte er ein ganzes Leben
"feinem Leipzig gelebt, der Stadt Engemanns. Seinen Freund Sprosse haben
^te wohl auch nicht gekannt?
Nein, aber es hängen ja ein paar Aquarelle von ihm im Museum,
^a, sie sind wohl noch nicht in den Keller geräumt, merkwürdigerweise. Er
f4^!> denen, deren ganzes Leben unter dem Zeichen des Stiers
stand — wie hätte es eines anders sein sollen in unsrer „Musenstadt»? Fragte
man ihn: Wie gehts, Herr Sprosse? so antwortete er: Wie solls gehn; egal
Ichnorpsen und wärgen! — Saures Handwerkerbrot, und doch war er ein Künstler.
Einmal hatte ihm die Munifizenz einer reichen Gönnerin eine Reise nach Griechen-
^'mögliche; sie nahm ihn mit, aber er war ihr bald weggelaufen, weil sie
^ Pfeife nicht ertragen, nud er nicht von ihr lassen konnte. Ich hörte die Ge-
> Mste, als ich damals durch München kam, wo ein Schulkamerad von mir studierte,
in^k dir, erzählte mir der, Sprosse war hier auf seiner Rückreise von Griechen-
nd und hat einen ganzen Haufen prachtvolle Aquarelle ausgestellt. Die ganze
Runstlerschnft war in Aufregung. Unser Sprosse! — Von diesen Aquarellen habe
"y nie wieder etwas gehört noch gesehen. Ich glaube, der Alte hat sie lieber ver¬
rannt als den Leipzigern gezeigt. Denn die hatten ja von diesen beiden Männern
gedacht: „Man darf nicht mehr von ihnen verlangen, als sie können." Was wäre
dMeicht aus ihnen geworden, wenn das Schicksal sie anderswohin verschlagen
valle, als in ein Tomi, wo die Musen froren. Es ist das grausamste Geschick,
wenn jemand, der das heilige Feuer der Kunst in sich trägt, im Philistertum ver¬
kümmern muß, ohne die Möglichkeit, die Schwingen zu rühren,
wi ^ ^ anders geworden, sagte ich; es wird nicht leicht mehr ein
d' >in Talent unbemerkt bleiben und verkümmern. Jeder energische Mensch hat
°le Möglichkeit, sich aus den Fesseln engherziger Philisterei zu befreien und sich
"Uszuichwingen.
Freilich, erwiderte er. Aber wenn man überschaut, welche Entwicklung die
Künste in der kurzen Spanne Zeit seit unsrer Jugend genommen haben, möchte man
sich doch fragen, ob auf den dürftigen April, der so manche Blüte zum Welken
gebracht und getötet hat, der Sommer nicht zu rasch gefolgt ist. Es schießt alles
zu geil ins Kraut. Wirklich schöne Blüten trägt doch nur das, was gelernt hat,
den Frühlingsstürmen zu trotzen. Das Philistertum ist freilich ein böser Mellau,
der die besten Pflanzen ersticken kann, aber es ist auch der dumpfe Boden, auf
dem das Unkraut gedeiht. Verkümmerten früher lebensvolle Keime unter dem Druck
kleinlicher Verhältnisse, so findet jetzt andres seinen Nährboden in der Urteilslosig¬
keit eines neuen Philistertums. Wie wollen Sie sich anders den Sieg dessen auf
allen Kunstgebieten erklären, was man die Moderne nennt? Der große Haufe
ist gemein, in seiner Gesinnung und in seinem Geschmack. Oder er glaubt in seiner
Geschmacklosigkeit an das, was ihm am eindringlichsten vorgeredet wird. Und auf
welchen Schwingen segelt denn die moderne Kunst? Auf denen der Reklame und
der Koterie. Das sind die großen Blasebälge, mit denen die modernen Geistes¬
helden, die doch nur Heuschreckenflügel zum Fliegen haben, emporgetragen werden
in unserm Zeitalter des Dampff, der die Druckerpressen in Bewegung setzt und die
Menschen in Verkehr bringt. Die Kleinen, und leider auch die Gemeinen, finden
sich zu Haufen zusammen und betäuben die Ohren mit ihrem Flügelschwirren. Die
Stille, in der sich ein Talent bilden konnte, findet sich nicht mehr im Zeitalter der
Öffentlichkeit, und die Charaktere, die sich in dem Geräusch unsrer Welt bilden, werden
schlechte Charaktere. Wo sind heute die bedeutenden Individualitäten? Das Massen¬
geschrei übertäubt sie, und die Masse kann sie nicht vertragen. Was sehen wir in der
Kunst und im Kunsthandwerk? Nur das, was auch der Stümper kann. Plakatstil!
Die dürftigste und elendeste Form der Kunst. Plakatstil an den Litfaßsäulen und
in den Schaufenstern, Plakatstil an Gerät und an Häusern, Plakatstil in den
Bildern, an den Büchern und in den Büchern. Alles gleich! Nichts individuell!
Die Inferiorität hat das Wort, und mit ihr die Gemeinheit. Sie kennen beide
nur die Uniformität, denn nur die Uniformität erlaubt dem Lump, sich neben das
Genie zu stellen, und Steigerung ist nur nach unten erlaubt, in der Gemeinheit.
Wie erklären Sie sich sonst, daß die Unzucht immer frecher ihr Haupt erheben darf,
auf Plataeer so gut wie auf den Bühnen, in Zeitschriften, Büchern und Bildern?
Herrgott, wenn ich der Gesellschaft an den Leib könnte, die jede Cigarettensorte in
den Schaufenstern mit nackten Weibern ankündigen und in Prosa und in Versen mit
und ohne Sentimentalität ihren Cynismus oder ihre Lüsternheit offen als Litteratur
zu Markte tragen darf, bloß weil kein Staatsanwalt eine Handhabe findet oder
vielleicht auch nicht einzuschreiten wagt aus Respekt vor — einer kleinen Koterie,
die die Presse mit ihrem Geschrei erfüllen würde. Aber das Volksgewissen beginnt
ja, sich zu regen. Diese Lex Heinze, wenn man sie nur so wenden könnte, daß
— ich wäre ganz für eine Lex Heinze!
Ich bin starr, sagte ich. Sie wollen der Lex Heinze das Wort rede», Sie?
Wo alle vernünftigen Leute, alles, was in Kunst und Wissenschaft einen Namen
hat, aufsteht wie ein Mann und entrüstet Protest erhebt gegen diesen Wahnsinn,
gegen dieses Attentat auf deutsche Geistes- und Gewissensfreiheit? Ist es denn nicht
eine Schändlichkeit, künstlerische Leistungen und meinethalben künstlerische Freiheiten
in die Nachbarschaft von ganz gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen- und Zuhälter-
tum zu bringen? Den Leuten, die ohnehin armselige Philister sind — Sie sagen
es ja selbst —, zu erzählen, daß Correggio und Rubens schamlose Gesellen ge¬
wesen seien? Ist es denn nicht geradezu absurd, wenn sich die Herren vom
Zentrum erdreisten, über Kunstwerke zu Gericht zu sitzen, nur weil es keine Marien¬
bilder und sonstigen Gegenstände sind, die die Kapläne für Kunst halten? Von
Ihnen hätte ich am wenigsten gedacht, daß Sie das Wohl und das Wehe der
Kunst Polizeikommissaren und strebsamen jungen Staatsanwälten überliefern möchten.
Allerorten schließen sich deutsche Männer zu Goethebünden zusammen, die den Kampf
gegen die Dunkelmännerei aufnehmen wollen, und Sie —
Na na. rief er lachend, ich sehe ja, daß Sie mit Ihrem guten Herzen hingelaufen
sind und unterzeichnet haben. Aber ich will Ihnen was sagen: ich glaube wirMcy
nicht, daß unsre Herren vom Zentrum in diesem Falle die Rolle von schleichenden
Dunkelmännern spielen, sondern daß sie als vernünftige Haus- und Familienvater
einem Skandal entgegentreten wollen, der nachgerade zum Himmel schreit.
Es ist doch Pietisterei dabei, sagte ich.
Ach was. rief er; und wenn es auch Ware. Halten Sie es denn für nötig
im Interesse der deutschen Geistes- und Gewissensfreiheit, daß gerade „tue Bilder,
die die Brüste im Wasser haben," in die Schaufenster gehängt werden, oder daß
die sämtlichen Körperteile, die man in guter oder bürgerlicher Gesellschaft und über¬
haupt in unserm Klima bekleidet zu tragen pflegt, dem Publiko unverhull aufs
Trottoir hinausgereckt werden? Und das ist doch noch das Allerharmloseste!
Dagegen braucht man auch gar keine Lex Heinze. Dagegen genügte völlig der
Grobeunsugparagraph. Worauf er gemünzt war, hat man ja ganz vergessen und
man wendet ihn zur Erziehung des Volks der Denker und Dichter und zum Ruhm
der Jurisprudenz in geistvoller Weise auf alles an, worauf er nicht paßt. Aper
hier, wo dekolletierter Straßenunfug getrieben wird., wäre er la ganz am Platze,
und man brauchte sich seiner nur zu erinnern. Überhaupt Bilder, ich meine
Gemälde und Skulpturen - sie sind wenig gefährlich, wenn sie in Galerien und
Museen hängen und stehn oder in Verkaufsausstellungen. Die Kühnheit der
Schaffenden findet wohl auch bald ihre Grenzen im Leinwandabkratzen und ModeU-
zusammenschlagen — Marmor ist ja teuer —; denn das Pubmum kauft nicht,
was es nicht mag. wie der ..Pan" beweist. Viel schlimmer ist das schleichende
Gist der Litteratur. Goethebüude! Mit meinem Goethe stimme ich noch immer
überein. daß es den Künsten besser wäre, man hängte ihnen gleich einen Mühl¬
stein an den Hals und ersäufte sie. als daß man sie nach »ut nach in das
Nützlich-Platte absterben ließe. Aber ich und viele mit mir. die ein Rech
haben, in dieser Frage mitzureden, sind dieser Protestbewegung gegenub n
der Lage des ^immermeisters in Goethes Egmont. wenn wir es schmerzlich
empfinden, daß andre Leu!e das zum Vorwand brauchen, worauf wir uns auch
berufen müssen Der Brüsseler Zimmermeister meint die Tagediebe die Soffer.
die Faulenzer die aus Langerweile stärkern und aus Hunger nach Privilegien
schien. ?Kur t !ars natürlich weder unter die ^Willkür, noch unter e n-
bare und leicht in ßzudeutende Gesetzesparagraphen gestellt werden, sie folgt ihren
eignen Gesetzt Im Zweifel ist immer Michel Angelo n.it den nackten Figuren
des jüngsten Gerichts im bessern Recht, als Daniel von Volterra. der Braghettone,
der Sena5 ? !en Sen Aalten ^ Florentiners an^stücke überqemal hat. Die Freiheit des Künstlers und des Dichters, die Welt in
all ihren Er?inungen d rzustell n. kann im tiefsten nur von der Anschauung d
Schaffenden selbst und allenfalls von der allgemeinen geistigen Anschauung einer
Zeit begrenzt w rden. Aber von alledem ist ^r doch gar n^ist j° möglich, daß ein Teil der Ultramontanen und etliche Reichsb ten. in deren
Lebensbedürfnissen weder die Kunst noch die Litteratur eme Rolle spielt mit Ver¬
gnügen die Venusbilder der Venezianer aus den G?""^" t ^Faust nachträglich konfisziert und verboten sehen wurde Die engl sehen Pur kalter
-wen. als si? die Macht hatten und die Theater schlössen, meh seinen ^
Mied zwischen Shakespeare und John Fort, vou andern zu schweigen gemach
Doch dagegen würde es heutzutage Mittel geben und der allgemeine Protes laut
und kräftig genug ausfallen. Aber von den Verwahrungen Ihrer Leute bauen sich
drei Viertel auf einer Unwahrheit auf. die ihnen die beste Wirkung nehmen Muß.
Wollen Sie wirklich die Leute, die dem Entwicklungsgang unsrer Kunst und Litte¬
ratur in den letzten Jahrzehnten aufmerksam gefolgt sind, überreden, daß da alles
in Ordnung sei? Wollen Sie mich glauben machen, daß es neben dem Wahrheits¬
und Wirklichkeitsdrange der Berufnen keine wüste, schamlose Spekulation auf die
schlechtesten Instinkte des Publikums gäbe? Daß es lediglich künstlerische Antriebe
wären, die uns mit Tovotes Dirnenromanen, mit Hermann Bcchrs tastenden Ge¬
lüsten nach einer neuen unerhörten Art des sinnlichen Genusses, mit pikanten
Büchern wie Frank Wedekinds „Fürstin Russalka" beglücken? Daß die wirkliche
Kunst, die keusche göttliche Nacktheit der Plastik und die pikant lüsterne Berechnung,
die Stück für Stück auszieht, Zoll für Zoll entblößt, ein und dasselbe wären? Sie
haben vorhin von der Schändlichkeit geredet, Kunst und Künstler in die Nachbar¬
schaft von gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen und Zuhältern zu bringen. Ja,
wer hat sich denn selbst dahingestellt, wer hat uns jahrelang, immerwährend auf
die Hintertreppen gedrängt, in Dirnen- und Zuhältertum, im moralischen oder viel¬
mehr unmoralischen Elend der Winkel und Dachkammern und Wenns hoch kam in
einem gewissen parfümierten Aussatz des Börsenspekulanten- und Protzentums die
Blüte alles Lebens angepriesen? Wer hat jeden Menschen, der ein Bedürfnis nach
reinerer Luft und edlern Gesinnungen verriet, bald einen kläglichen Philister und
bald einen dünkelvollen Pharisäer gescholten? Die Art Künstler, Poeten, Erzähler,
Sensationsdramatiker, die von echter Kunst und echtem künstlerischen Drang unge¬
fähr so weit entfernt sind, wie ein Eskimo, der nackt in seiner stinkiger Hütte sitzt,
vom Apoll von Belvedere. Und die stecken sich nun mit ungeheuerm Hallo hinter
die Standbilder großer Geister und großer Naturen, die sie alle die Jahre daher
nicht genug haben lästern und lächerlich machen können! Sehen Sie sich doch die
Zeitungen an, ob nicht gerade die den größten Lärm schlagen, die jeder sogenannten
geistreichen Gemeinheit das Wort geredet, jeder Verkommenheit, wenn sie nur den
Anstrich des Üppigen hatte, Vorschub geleistet haben. Ist es nicht so? Soll man
der fortgesetzten Verrohung und der noch schlimmern fortgesetzten Verwildrung mit
untergeschlagnen Armen zusehen?
Er schwieg eine Weile, und ich konnte hiergegen ja nichts sagen, sondern nur
mit den Schultern zucken. Es ist ja klar, fuhr er dann fort, die Voraussetzung, von
der die Protestierenden ausgehn, läuft auf einen Irrtum hinaus. Was berechtigt
denn die erregten Künstler und Schriftsteller, die sich zu Goethebünden zusammen¬
schließen, ohne weiteres anzunehmen, daß außerhalb ihrer Kreise im ganzen deutschen
Volke weder Bildung noch Kunstsinn vorhanden sei, und daß man mit plumper
Brutalität gegen jede Lebensdarstellung, die andre als lehrhafte und moralisierende
Zwecke verfolgt, einschreiten wird? Sind irgend welche Anzeichen dafür vorhanden,
daß man von obenher einer vandalischen Feindseligkeit gegen die Kunst front?
Und darf ohne weiteres der, der ein paar geile Auswüchse und widerwärtige
Schwämme am Stamm eines Baums beseitigen will, beschuldigt werden, er wolle
die Zweige im fröhlichsten Wuchs schinden oder gar den Stamm umhauen?
Hier kommen wir auf den Punkt, um den es sich handelt! rief ich. Was man
von oben her will oder nicht will, kommt gar nicht mehr in Betracht, sobald das
Gesetz gemacht ist. Ich war auch der Meinung, die Absicht des Gesetzgebers sei das
Maßgebende, und meinetwegen mag ja bei dieser Vorlage weder eine Heimtücke
noch eine Dummheit im Spiel gewesen sein, sondern man mag nur beabsichtigt
haben, solche Dinge zu treffen wie die, gegen die Sie predigen, und wegen deren
Verwerflichkeit wir ganz einig sind. Aber alle meine juristischen Freunde sind
darüber einig, die Anwälte wie die Richter, die vom Reichsgericht wie die vom
Landgericht, daß es bei Gesetzen gar nicht darauf ankommt, was sie wollen, sondern
wie sie lauten. Sie haben ja selbst davon geredet, welcher Unfug mit dem Groben-
nnfugparagraphen getrieben wird. Er wird behandelt wie ein Stück Kautschuk, das
man nach allen Seiten zerren kann. Der Appell an die höhern Instanzen ist gar
kein Trost, denn die haben sich nur mit dem Formaten des Urteils zu besagen, es
hängt alles von den untern Instanzen ab. Der eine Polizeikommissar oder Amts¬
richter wird zwar zu dem Schutzmann, dessen Schamhaftigkeit von einem Litoe,
das die Brüste im Wasser hat, verletzt worden ist. sagen: Machen Sie oap sie
hinauskommen! Der andre wird es ernsthaft behandeln, wenn ein Altjungfern-
kranzchen seine Gefühle von irgend etwas beleidigt fühlt, und er wird die Gerechttgielr
walten lassen, auch wenn keine Unzucht mit der Verletzung der schamhaft-gien ver
alten Jungfern oder des Gesellenvereins, für dessen Tugendhaftigkeit em würdiger
Kaplan besorgt ist, verbunden war. Ja, wenn der Gymnasialmaturus und das
Staatsexamen nnr wirklich einsichtige und klar denkende Menschen aussiebten Aber
wir müssen die Juristen nehmen, wie sie sind, und diesen kann man allem AnMln
nach den Geist der Gesetze nicht beibringen, sondern nur Exaktheit dem Wortlaut
gegenüber. Was ein Gesetz gewollt hat. geht sie nichts an, nur das was es ,age
und Interpretieren ist das. was ein Jurist am allerwenigsten darf. Das ist 1° ganzrichtig; es könnte zu netten Dingen führen. ..Es steht gegeben! das ^Ausschlag. Also Vorsicht mit Gesetzen! Die Protestierenden - wemB^Einsichtigen unter ihnen - haben wahrscheinlich viel weniger A"gst vor versteckw
Absichten als vor - na. wir wollen sagen vor ..offenkundiger" Handwer su aßigw
Dann aber ...^ ^-^ - " "
?ann aber auch das „von obenher.'" ° Ich will Ihnen eine kleine G ^die ich aus Rom mitgebracht habe. Da war ich mit einem historischen ^zusammen, und der kam ein?s Tags ganz blaß und erschüttert aus dem V^et »
mir. Im Gespräch hatte ihm einer der Hochwürdigen " der B.elwe^daß sie in den vatikanischen Archiven ein Schreiben verwahrten w° lge chW
Waffe, mit der sie zu gut r Stunde der Geschichtsgläubigke p/°te
einen tödlichen Stoß versetzen könnten. Einen Brief Kurfürst Friedrichs des W ^v"» Sachsen ans den ersten Jahren der Reformation der von d » ^und Möglichkeiten handle unter denen der Kurfürst Lud er zur Abu ettung nach
R°in auszuliefern bereit el. Mein historischer Freund Witte e ^r d ^Wd die Sache um deswillen unwahrscheinlich, weil d°Z w ^längst veröffentlicht worden wäre. Aber ich mußte d°es über die UmMwe^ 1
denken, unter denen auch der weise Friedrich die P^ge ^ ^notwendig erachtet haben könnte. Und ich machte Mir me ancholitthe B^über das ieweiliae VerlMnis der Staatsgewalten zu allen andern "^^^Verhältnisses Ich könnte mir wohl eilte.^w° es auch eine preußische Regierung für ge^Kurie gegen alles nicht kirchlich approbierte Ge stehen ^ s ^Und deshalb möchte ich in der Lex Heinze nich ^ Seht aut ^Messer geschärft werde! mit denen in°n »n
Mein Lieber, antwortete er. wenn ,o s^Mme UMMN s .
unter denen die ganze deutsche Kultur dem Bel eben ^ R°^werden könnte, so würde« sie mit oder ohne die paar K^am^
y:.°!7»- N.
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daß ich die Gretchenempfindung hatte: Es thut mir weh d°ß'es dich in ^Aase seh! als ich lesen mußte, daß der greise Meiste M zel
Mommsen mit lärmsüchtigen Reportern, mit Z^ern Pik^ Platte' "ut E^S"hiern, die in der ?utwna err-into des Aretino ihr Vorbild sehen, an einem Protest-
Stränge gezogen haben. Es handelt sich darum, ob der Mißstand, gegen den die
Lex Heinze vielleicht auf verkehrten Wege Abhilfe sucht, heuchlerisch und parteifanatisch
geleugnet oder ehrlich eingeräumt werden soll. Es handelt sich darum, ob mau
nicht gegen die Kuustparagraphen der Lex Heinze Verwahrung einlegen und doch
Vorsorge treffen soll, daß den ärgsten Übelständen, der äußersten Schamlosigkeit
und der geschäftlichen Ausnutzung dieser Schamlosigkeit ein Damm entgegen ge¬
worfen wird. Der beste Damm wäre freilich die freiere Empfindung und das reife
Urteil geistig gebildeter Menschen, die der wirklichen Kunst jede ihr notwendige
Freiheit und Kühnheit einräumten und sich doch mit Verachtung von den widrigen
Fratzen und den Schmutzprodukten gewissenloser Burschen und frecher Frauenzimmer
abwendeten. Aber diese Empfindung und dieses Urteil ruft man nur an, solange
Gefahr vorhanden ist. Jetzt sind sie gut, den Sturmböcken Wider die Lex Heinze
das Metall zu liefern. Hinterher wirft man sie ins alte Eisen und ergötzt sich
wieder an dem Leuchten des faulen Holzes! Sie werden es ja erleben.
Ja, diese freiere Empfindung und die geistig gebildeten Menschen müssen doch
erst erzogen werden, sagte ich. Wo wird denn aber heutzutage den Menschen z. B.
den bildenden Künsten gegenüber ein freies und natürliches Empfinden anerzogen?
Auf den Gymnasien etwa? Bei uns in Leipzig mit der Flinzerschen Methode im
Zeichnen? Diese Kläglichkeit! Ich habe darüber nachgedacht, was Sie neulich über
den humanistischen Unterricht gesagt haben. Einen Begriff von der Kunst bekommt
ja kein Junge mit auf den Weg. Statt sie semesterlang Quadratchen malen zu
lassen, sollte man sie die Antike kennen lehren. Zeichnen und malen lernt schließlich
jeder von selbst, der das Zeug und den Drang dazu hat. Aber das Nötigste ist
doch, den Jungen durch Anschauung — wie leicht ist sie heute gemacht! — ein
Verhältnis zur Antike, zur Kunst zu schaffen, und wie anregend und wie spielend
wäre ein solcher Unterricht für die überbürdeten Jungen und Lehrer! Auch wer
nicht selbst zeichnen lernen kann, ist doch imstande, Sicherheit im Kunstempfinden
zu erwerben, wenn er richtig geleitet wird. Und kann nicht der Geist so gut ge¬
stählt werden wie der Körper? Es ist wohl keine Frage, daß Jungen, die an den
Anblick der Antike gewöhnt worden sind und gelernt haben, sie als etwas Hehres
und Heiliges zu betrachten, zu dem sie mit Scheu und Ehrfurcht empor zu sehen
haben, die die Schönheit der Gestalt, die uns Gott gegeben hat, zu begreifen gelernt
haben, daß sie gegen die Lüsternheit der Nuditäten gefeit sein werden. Sie haben
das Göttliche im Nackten erkannt und werden imstande sein, daran vvrüberzugehn,
ohne die Augen niederzuschlagen, weil sie von der Schönheit geweiht die Gemeinheit
zu verachten gelernt haben. Warum läßt sich das humanistische Gymnasium diese
schöne Aufgabe entgehn? Soll es nicht gerade seine Aufgabe sein, Menschen von
freierer Empfindung zu bilden? Es soll sich hüten, daß es nicht andre an seine
Stelle treten sieht. In den Realgymnasien wird kein Griechisch gelernt, aber dort
soll man künftig die griechische Litteratur in deutschen Übersetzungen lesen und kennen
lernen — man wird auch weitergehn, denn an Ehrgeiz fehlt es den Realisten nicht.
Und inzwischen? fragte er, indem er stehn blieb und mir die Hand zum Ab¬
schied reichte.
Inzwischen?
Ja, bis man die Menschheit zu freierer Empfindung erzogen hat, sodciß sie die
Gemeinheit besiegen kann? Wie wollen Sie mit der fertig werden? Ich glaube
eben doch, wir sollten den Juristen etwas mehr Vertrauen schenken, als sie selbst
zu einander zu haben scheinen. Ich weiß nicht, wie man die Lumpen anders fassen
soll, als indem man den Juristen eine etwas festere Handhabe giebt.
»s wäre ungerecht, wenn man die Verarmung mancher Völker,
auf die die Engländer Einfluß gewonnen haben, einfach nur
dem bösen Willen der Engländer, einem systematisch vor¬
bedachten Raub- und Plttnderuugssystcm zur Last legen wollte.
Freilich trug diesen Charakter die berüchtigte Englisch-ostindische
Kompagnie, die von 1600 bis 1858 Zeit genug hatte, das reiche Indien
zu plündern. Und wenn anch das heutige England immer stärker die Züge
dieser Kompnguie annimmt, so sind doch nicht alle Härten des Systems
dem Willen der Regierung zur Last zu legen. Ist einmal Geldgewinn be¬
herrschendes Prinzip, so folgen die Härten von selbst. Der Knufmmm ist
der härtere Teil im Staatsmmm, und die Dampfmaschine kennt wenig
Mitleid. Als im Jahre 1703 der englische Gesandte Methuen in Lissabon
den nach ihm benannten Handelsvertrag abschloß, meinte man auf beiden
Seiten, Vorteile aus ihm zu ziehn. Denn die portugiesischen Weine gingen
fortan mit um ein Drittel geringrer Steuer als die französischen nach Eng¬
land, wogegen die englischen Wollwaren in Portugal einen Zoll von 23 Pro¬
zent vom Wert entrichten mußten. Dennoch hat dieser Vertrag, der erst
1836 aufgehoben wurde, Portugal großen Schaden zugefügt, indem er be¬
wirkte, daß die portugiesische Industrie allmählich von der englischen erstickt
wurde, und das Land in volle wirtschaftliche Abhängigkeit von England geriet.
Es verarmte wie nach ihm Spanien und auch die türkischen Länder, abgesehen
von innerer Mißwirtschaft, unter diesem englischen Druck, aber daran war weder
offne Gewalt, noch hinterlistige Bethörung schuld, sondern die Fabrik, dann
die Dampfmaschine, die Kohle,' kurz die in England erblühende Industrie, der
diese Volker nicht gleichwertige Kräfte entgegenstellen konnten. Die hoch ent¬
wickelte Manufaktur in diesen Ländern siechte hin nnter dem Andrang der
Warm der Großindustrie, und die Länder verarmten, weil sie viel kaufen
mußten und wenig verknusen konnten. Es ist nicht der politische, der direkt
gewaltsame Druck, sondern die wirtschaftliche Übermacht Englands, die diesen
Ländern verderblich geworden ist, und die heute z. B. in Ägypten wieder die
eingeborne, von ihren frühern Herrschern doch wahrlich nicht verwöhnte Be¬
völkerung gegen die Engländer aufbringt. „Denn, sagt Hron in dem an¬
geführte» Buche, das englische Gouvernement schont die Sitten und Gebräuche
der Ägypter mit vieler Sorgfalt, und auch die meisten Europäer genießen unter
der englischen Herrschaft ein weit höheres Maß an persönlicher Freiheit, als
in ihren respektiven Vaterländern." Und dennoch klagen alle Eingebornen
über den Druck der englischen Verwaltung und „bitten Gott, er möge sie von
diesem Übel erlösen." Der Engländer fordert von andern immer dasselbe Maß
von Arbeit, das er selbst leistet. Aber so hoch wir den sittlichen Wert der
Arbeit schätzen, so haben wir kein Recht, sie von andern in gleichem Maße zu
fordern. Faulheit und Bedürfnislosigkeit haben auch ihr Recht, trotz aller
fortschreitenden Nationalökonomen und aller englischen Antisklavereigesellschaften.
Mir ist der Serenaden anstimmende Spanier mit malerischer Mantille und einer
Peseta in der Tasche eigentlich lieber, als der taub und blind zur Börse
stürmende Mann der Londoner City. Jener ist, wenn man so sagen darf, der
weit menschlichere Mensch als dieser Sklave der Arbeit und des Geldes. Auch
verachten sie sich gegenseitig sehr gründlich.
Ähnlich wie in Ägypten geht es seit dem Aufhören der Ostindischen
Kompagnie in Indien, wo sich inzwischen eine eigne indische Industrie ent¬
faltet hat. Für den Landbau hat der Engländer weder daheim noch in Indien
viel Interesse übrig; er ist eben zuerst Kaufmann oder Fabrikant, und der
indische Landbauer ist an den Hunger gewöhnt. Das Aussaugen geht auch
ohne äußern Zwang weiter, indem die Produkte des Landbauers dem Gro߬
handel dienend ins Ausland gehn, und indem das Geld aus ländlichen wie
städtischen Gewerben zuletzt in die Hände von Engländern kommt, die es
mit sich nach England nehmen oder dorthin um englische Kapitalisten als
Zinsen oder Dividende schicken. Es ist eben der Krämergeist, der hier wie in
Ägypten regiert. Und dieser Geist ist hart und kalt wie das Metall, das ihn
symbolisiert.
Der weiche Charakter des Inders bleibt nicht ohne Einfluß auf den
Charakter des herrschenden Briten, so wenig als die Roheit des Wilden auf
den englischen Eroberer in Afrika ohne Wirkung bleibt. Das Herrenbewußt¬
sein wird übermüßig gesteigert, der Egoismus verhärtet; der „athletische Cha¬
rakter" entwickelt sich. „Als Eroberer, sagt Steffen, sind die Engländer ty¬
rannisch, eher deshalb, weil sie die Unterjochten zwingen wollen, nach angel¬
sächsischer Weise sich einzurichten und zu leben, als dadurch, daß sie um des
Quülens willen quälten." Indessen haben sie nur zu oft, in Indien, in Neu¬
seeland, in Afrika eine Härte des Eroberers gezeigt, die in Grausamkeit über¬
ging. Auch findet Steffen ganz allgemein in dem Engländer die „Anlage zu
körperlicher und seelischer Grausamkeit gegen Mitmenschen, und nicht bloß gegen
solche von niedrer Rasse" (S. 392). Und es ist nur natürlich, daß der harte
englische Geschäftsmann als Herr unterwürfiger Hindus oder rachsüchtiger,
heimtückischer, kräftiger Neger jegliche Gefühlsregung bei der Verfolgung seines
Vorteils hinter die Geldgier oder die eigne Sicherheit zurückstellt. Wenn der
Engländer in Indien durch die bloße Zugehörigkeit zu dem Herrenvolke in der
Lage ist, seine Überlegenheit auch dem gebildeten und reichen Inder gegenüber zu
fühlen und zu zeigen, so kann das nicht verfehlen, seinem Hochmut, seinen An¬
sprüchen an Andre Nahrung zu geben; wer lange Zeit die Rhinozerospeitsche
geführt hat, wird nicht an feinem Gefühl für Leiden und Freuden, an Ver¬
ständnis für seine Mitmenschen gewonnen haben. Und Peitsche und Kugel
haben die Engländer in Afrika und überall, wo sie Wilden entgegengetreten
sind, reichlich angewandt. Die Härte ist rohen Völkern gegenüber oft not¬
wendig; aber indem man gezwungen ist, sie oft anzuwenden, wird man selbst
leicht härter und roher. Und das ist dann wohl auch der Preis, den die
Engländer in moralischer Münze für das Gold ihrer Kolonien in großem
Maße gezahlt haben. Wenn es dafür noch eines Beweises bedürfte, so könnte
dieser Zusammenstoß von Engländern und holländischen Bauern ihn erbringen,
dafür nämlich, daß Reichtum weder zu dem Glück eines Volkes, dessen Aus¬
druck persönliche Zufriedenheit ist, noch zur Veredlung des Volkscharakters
beiträgt. Die Bauern haben sich den Engländern moralisch weit überlegen
gezeigt. Wir haben Proben davon erlebt, wie viel Roheit und Rücksichts¬
losigkeit, Geldgier und Egoismus in dem Engländer von heute steckt. Als der
Krieg gegen die Buren ausbrach, betrugen sich die englischen Truppen nicht,
wie es heute in zivilisierten Staaten von Soldaten und Offizieren erwartet
wird, und wemi die Buren, ans die der Engländer als auf eine niedre Rasse
herabsah, die englischen Roheiten mit gleicher Münze vergolten hätten, so
hätten wir wahrscheinlich sich Greuel erneuern gesehen, wie sie zu Zeiten der
Landsknechte üblich waren. Die Buren waren klug genug, die englische Roheit
nicht durch Vergeltung noch stärker herauszufordern. Was die Engländer in
Südafrika, und was alle europäischen Kulturvölker in tropischen und sub¬
tropischen Kolonien, die sich zur Besiedlung nicht eignen, erstreben, ist Geld
»ut wieder Geld; die einen das Gold des Bodens, die andern, die Politiker,
den künftigen größern Gewinn, der sich aus der englischen Suprematie er¬
geben soll.' Sie nennens Kultur, sie haben auch den Buren gegenüber die
Whne der Kulturmission entfaltet, aber ihre Kultur in den Kolonien hat sehr
wenig mit 5)nmanismus. sehr viel mit Geldgewinn zu thun. Dieses Streben
hat sie in materieller Einsicht zu den tüchtigsten Kolonisatoren der Welt ge¬
macht, denn auf materieller Grundlage baut sich jede Kultur zuerst auf. ^n
früherer Zeit war ihre Art zu kolonisieren die rein kaufmännische, der Händler
ging voran, der Missionar folgte, zuletzt kam der Staat. Jetzt ist das anders
geworden, die Bedeutung von Kompagnien wie die Nigergesellschaft oder die
südafrikanische Gesellschaft tritt bald hinter dem Staat zurück. Aber die eng-
lischen Staatsmänner sind alle mehr oder weniger von kaufmännischen Geist
durchdrungen, das kommerzielle Interesse steht längst an der Spitze der eng¬
lischen Regiernngsinteressen, und für die Leiter im Kabinett wie im Parlament
sind die Kolonien kommerzielle und gewerbliche Unternehmungen, die fast aus¬
schließlich in diesem Sinne und sehr wenig in dem Geiste zivilisierender Er¬
ziehung niedrer Völker geleitet werden. Noch jüngst, nach der Befreiung von
Kimberley, hat Cecil Rhodes die englische Flagge als „das größte kommerzielle
Palladium" bezeichnet.
So wurde und wird der kaufmännisch harte Volkscharakter des Eng¬
länders durch die Kolonien in einer Richtung ausgebildet, die ihn vou deu
Prinzipien eiuer humanen Zivilisation entfernen. Und es liegt viel Ironie
darin, wenn Fürst Bismarck gerade die Engländer beschuldigt, „die Redens¬
arten vou Humanität und Zivilisation" bei uns zu importieren.*) Es sind
das bei uns zum Glück nicht bloße Redensarten, aber in England freilich ge¬
hören diese Begriffe zu dem etwas verünßerlichtcn Moralkultns, mit dem die
Engländer vor andern und auch vor sich selbst gern die Wirklichkeit verhüllen.
Und wo es nicht Heuchelei bei ihnen ist, da liegt es an der englischen Auf¬
fassung von Zivilisation, die weit materieller ist, als bei den Völkern des
Kontinents. Selbst ein Mann wie Charles Dille, der an der Spitze des
föderierten größern Britanniens schreitend Deutschland und Frankreich im zwan¬
zigsten Jahrhundert zur Bedeutungslosigkeit hinabsinken sieht,**) gesteht, „daß
die öffentliche Meinung (d. h. in England) schlaffer geworden ist, und zwar
ebenso bezüglich der eigentlichen Einrichtung der Sklaverei, wie bezüglich der
unorganisierten Form von Brutalität, die im Grunde schlimmer ist als die
planmäßige Sklaverei." ***) Und noch weit schärfer und allgemeiner drückte sich
schon vor 1853 ein berühmter englischer Kanzelredner, Robertson, in seinen
„Religiösen Reden" aus: „Bei andern Nationen ist der Erwerbstrieb unmäßig,
ja krankhaft zu nennen, so bei uns Engländern. Dieses Trachten nach Besitz
ist die Quelle unsrer Größe und unsrer Erniedrigung, unsers Ruhms und
unsrer großen Schmach; es ist die Ursache unsers Handels, unsrer Seemacht,
unsers ungeheuern Reichtums, unsrer Erfindungen, zugleich auch die Quelle
unsrer Streitigkeiten und Parteiungen, unsers schmachvollen Pauperismus, und
der schlimmer als heidnischen Verwilderung und Entartung der großen Massen
unsrer Bevölkerung. Was aber noch besonders merkwürdig ist, ist die That¬
sache, daß es uuter allen Völkern der Erde keins giebt, das so wenig imstande
ist, sich zu freuen, wie wir. Die feinere Organisation, die andre Völker aus¬
zeichnet, ist uns versagt; unser Sinn für Musik ist wenig entwickelt, unser
Schönheitssinn nicht lebendig und scharf; unsre Feste sind laut und lärmend
und enden mit Langweile und Verstimmung. Wir verstehn uns nicht zu
freuen, zu genießen; wir bedürfen vor allem der Arbeit, dieser Grundbedingung
der menschlichen Nntur. Und so fahren wir immer weiter fort im Sammeln
und Anhäufen, als wenn wir dadurch genußfähiger werden könnten, wenn wir
noch mehr besitzen. Sich aus der Gesellschaftsklasse, in der man geboren und
erzogen ist, hinaus und sich in eine höhere hinein zu schwingen, ist die jähr¬
liche, tägliche, ja stündliche Beschäftigung von Millionen unter uns. Dieses
Bestreben »hinauf« könnte von Wert sein, wenn es in Wahrheit ein »hinauf«
bedeutete, wenn mau ein geistiges, moralisches, ja nur ein physisches Steigen
darunter verstünde, und nicht nur ein eingebildetes. Unsre Mittelklassen haben
schon vollen Anteil an den Genüssen der Reichen, und das einzige, was ihnen
fehlt, ist derselbe Prunk bei der Befriedigung. Das »Mehr«, nach dem sie
streben, bedeutet aber uur ein Mehr an Equipagen, Häusern, Geld und Luxus,
ohne doch dadurch die Fähigkeit des Genießens steigern zu können. Und so
ist denn die Wurzel all unsers Strebens Geiz und Begehrlichkeit, acht der
Wunsch, mehr zu genießen, sondern immer mehr zu haben. Darum sollen auch
wir uns das Wort Christi gesagt sein lassen: »Hütet euch vor dem Geiz«, und
füzt er hinzu: »niemand lebet davon, daß er viele Güter hat.«"
Wir Deutschen sind andre geschichtliche Wege gegangen als die Engländer,
wir haben nicht ihre Jnsellage, wir haben auch eine etwas andre Nntnr des
Landes, etwas andres Klima. In der langen Periode des Niedergangs, die
dem Dreißigjährigen Kriege folgte, find wir arm an materiellen Gütern, be¬
scheiden, kleinlich, arm an Selbstvertrauen geworden. Ein leerer Schein ver¬
schüttete das staatliche Leben und verdeckte die Volkskraft, wir verloren den
Sinn für das Wirkliche, wurden Träumer. Grübler, Philosophen, Poeten,
Politische Doktrinäre. Das Wiedererscheinen materieller und seelischer Kraft in
innern und äußern Kriegen begann den Glauben an uns selbst wieder in uns
anzufachen. Der Maun vou Eisen fand uns lange kleingläubig; zögernd nur
erwachte das Verständnis für die Realität der Macht, für die schöpferische
Kraft des praktischen Willens. Die großen Kriege fegten eine Menge phan¬
tastischer Hausgötzen hinweg, an die wir glaubten ans Selbsttäuschung und
aus Verengerung des Gesichtskreises. Wir begannen zu arbeiten und zu schaffen,
zu wollen und zu fordern, vor allem Gut und Geld. In zwanzig Jahren
kamen wir so weit, daß wir einander erstaunt fragten, wie wir uus denn so
schnell verändert hätten, wo denn das Volk der Denker und Dichter geblieben
sei? Wir verstanden plötzlich Handel zu treiben wie die Holländer, Industrien
herzurichten wie die Engländer, wir wurden immer reicher und fanden uns
endlich wohlhabend genug, Kolonien zu gründen. Wir staunten über unsern
Reiß, unsre Erfolge, über-die aufblühenden Städte, den sich mächtig erweiternden
Handel, die Tüchtigkeit unsrer Industrie. Wir blieben in gewohnter Ärmlichkeit
M Anfang bei billiger und schlechter Ware, und mit steigendem Selbstvertrauen
stiegen Güte und Preis der Waren. Heute sind wir soweit, daß die Reichs-
gewalt trotz aller seit 1870 entfalteten gesetzgeberischen und administrativen
Rührigkeit dem stürmischen Vorwärtseilen der Volksarbeit kaum mehr nach¬
zukommen vermag.
Es kann nicht ausbleiben, daß der neue Beruf, den der größere Teil
unsers Volks ergriffen hat, auf den Volkscharakter verändernd Einfluß gewinnt.
Und es bedarf keines tiefen Studiums, um zu bemerken, daß schon eine starke
Wirkung eingetreten ist.
Mit welchem Triumph ist der „Übergang zur reinen Geldwirtschaft"
von der herrschenden Theorie überall begrüßt worden! Jetzt sind wir soweit:
Aktie und Kurszettel regieren die Arbeit und den Besitz des Volks. Je reicher
wir werden, um so weitere Schichten des Volks drängen sich heran, an dem
Reichtum ihr Teil zu haben. Wer es nicht hat, sucht den Schein zu erwecken,
als Hütte er es. Man setzt nicht mehr seinen Stolz darein, seinem Stande
anzugehören, sondern darein, Geld zu haben; man sagt nicht mehr: „Ich bin
das," sondern „ich habe das," ein Wertmesser, der bei den Juden längst in
Gebrauch ist; nicht die Person hat den Wert in sich, sondern der Besitz, und
zwar ist der Besitz, der der fungibeln Natur des Geldes am nächsten kommt,
der papierne, der verbreitetste Wertmesser für die Beurteilung von Menschen.
Welcher ethische Niedergang! Der Grundbesitz machte ehedem den Adel; aber
welcher gewaltige Unterschied an sittlicher Kraft und Berechtigung liegt in der
Stellung eines Edelmanns, dessen Gut eine Million wert ist, verglichen mit
der Stellung eines Mannes mit einer Million in Papieren! Und nach Papier,
nicht nach Erde, nach dem Coupon, nicht nach mühseliger aber gesunder Landarbeit
drängt alles. Jeder sucht in Arbeit und Besitz die Entfernung bis zum Gelde
möglichst abzukürzen, dem Gewinn möglichst nahe zu sein, der schaffenden Arbeit
möglichst fern zu bleiben. Wir werden kommerziell und industriell, nicht bloß
im wohlthätigen Sinne der Entfaltung, Stärkung und Verfeinerung unsrer Ar¬
beitskräfte, sondern auch in dem Übeln Sinne der um sich greifenden Geldgier.
Auf diesen Gebieten sind die Engländer unsre Vorbilder, und wir haben
viel von ihnen gelernt; vielleicht weniger, als man in: allgemeinen meint, aber
doch vieles, was sie sich im Laufe einer langen Zeit der Erfahrung an Me¬
thode, an Anpassungssinn, an Zweckmäßigkeit angeeignet haben. Was wir von
ihnen nicht zu lernen brauchen, liegt mehr im Gebiet der Erfindung, der in¬
tellektuellen Schöpfung, der Phantasie, der Idee; denn hierin thun sie sich
vor andern Völkern nicht hervor, sondern stehen hinter einigen zurück. Und
was wir weder von ihnen noch von andern lernen können, sind die Eigen¬
schaften des Charakters, die die Art und den Erfolg der Arbeit eines Volkes
wesentlich bestimmen. „Das englische Volk, sagt Steffen, hat einen National¬
charakter, dessen gute Seiten schwer nachzuahmen sind, während man sich
dessen schlechtere Züge in unsrer Zeit weit leichter aneignen kann." Und es
scheint, als ob wir vieles von diesen schlechtem Zügen für ebenso nachahmens¬
wert halten wie die guten, wenn man überhaupt Charakterseiten nennen will,
was eigentlich nur mehr äußere Besonderheiten sind. Ja, „wie er sich rnnspert
und wie er spuckt," das gucken wir zunächst heute dem Engländer ab und
machen uns damit vor uns selbst und andern längst lächerlich. Vom
Stallknecht auf dem Rennplatz bis zum Hofmarschall putzt sich heute alles
englisch auf, wie vor zweihundert Jahren alles französisch wurde. Wenn die
Engländer, die uns nachsagen, wir haßten sie, nach Berlin oder Köln kämen,
könnten sie sich überzeugen, mit welcher Selbstzufriedenheit man in Sprache,
Kleidung, schlechten Manieren, in dem plötzlich erwachten Trieb nach körperlichen
Übungen, in der Vorliebe für englische Litteratur seine Verehrung des Englischen
und seine Mißachtung des Eignen zur Schau trägt. Bengel. die noch nie eine
Zeile englisch gelesen haben, verstehn auf dem ..Lawn Tennis"-Platz schon alles
englisch vorzutragen, was zu dem Spiel gehört, sogar die Zahlen kennen sie.
Und in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ist die englische Sprache, die in
Klang und Bau an Stelle ästhetischer und systematischer Ordnung die Tendenz
hat. ihren praktischen Zweck mit möglichst geringem Aufwande von Zungen-
und Lippenarbeit zu erreichen, bald ebenso gebräuchlich, wie es vordem die
eleganteste, die französische war. Lange schon kann man den Niedergang der
feinen gesellschaftlichen Formen beobachten, der die romanischen Volker und
besonders die Franzosen der alten gesellschaftlichen Schule auszeichnete! Aber
doch ist bei den Romanen noch wirkliche Höflichkeit zu finden, und ^konnten
in Frankreich etwas davon lernen, wenn uns Frankreich nicht leider die Gast¬
freundschaft gekündigt hätte. Aber was sollen wir hierin von dem Engländer
lernen? Der Engländer hält im allgemeinen von der Höflichkeit wenig, denn
sie hat ja eigentlich keinen praktischen Zweck, sie bringt nichts Münzbares ein:
wie in der Sprache, so berechnet er instinktiv auch im Verkehr lebe Äußerung
und findet, daß es eine Verschwendung wäre, sich zu erheben, oder eme Ver¬
beugung zu machen, oder sonst von seiner MuskelMtanz etwas zu veraus¬
gaben ohne bessern Zweck, als um einem andern Menschen ge alKg zu se n.
Er zahlt lieber Geld und hält das für die einzig vernnnf Kge Ar wu H -
Achten. Natwr cet kack ist alles. Und diese vergröberte, schwere klotzige Art
wponiert uns. diese kalte, passive Höflichkeit scheint uns vornehmer zu sem
als die Zuvorkommenheit des Franzosen. Ja. bequemer! D«v :se sie. de n
man braucht dazu weit weniger Selbstzucht und besonder weit ^eng^Gu .
als es die Art des Romanen verlangt. Aber zur tour en Vo^sind»
Höflichkeit, Feinheit des Umgangs eher von ^em ?a ^einem arabischen Schneider, von einem spanischen Eseltreiber l rnen als vo
einem englischen Gek sack. Das Geld, das versöhnt uns. da zwingt uns en
Besitzer zu bewundern Und doch hätten wir allen Grund, uus ^ erinnern, da
wir bisher noch keinen passenden deutschen Namen für den englischen Typu.
haben, der am meisten Anspruch auf unsre MMg verdient ich in^vornehmen englischen Gentleman. Bei uus. »ud esouders in Norddeuts^langte der Main in der obern Gesellschaft Ansehen mehr durch auße e
militärische oder zivilistische Attnbute. als durch innere Werte. ^ dem es
bin das" lag versteckt a t immer ein Geheimrat. em Mazor. em P ofessor^ohne den man sich einen Gentleman schwer denken konnte. Nun haben sich
daneben der Millionär, der Großhändler, der Großindustrielle gestellt, »>as die
Hofsmlng verringert, daß dieses englische Muster bei uns einen Typus aus¬
bilden werde. Deu englischen Gentleman zu kapieren, danach strebt man
wenig, und im Grunde kann man ihn auch nicht kopieren; man muß es seim
Was man erstrebt, sind eben meist nur die wertlosen äußern, die „schlechter»
Züge," die uns Deutschen schlecht zu Gesicht stehn und mit dem Gentleman
nichts zu schaffen haben. Und mit all dieser Lust, zu verengländern, sollten
wir dein britischen Volk oder dem einzelnen Briten feindlich sein? Wir wolle»
ja selbst englisch werden, spielen schon den Engländer nicht übel, und sollten
ihn hassen? O nein, es ist nur die alte Gewohnheit, irgend jemand draußen
zu bewundern, unsre Verbeugung zu machen nach rechts oder nach links —
und daneben fühlen wir in unserm Innerste» denn doch, daß der englische
Nationalcharakter uns nicht gefällt, besonders wie er sich allgemein gezeigt
hat, seit man in England anfängt, ernstlich die Möglichkeit einer kommerziell¬
industriellen Konkurrenz zu erwägen.
Wir fühlen es: noch ist der Charakter des Deutschen uicht so weit ver¬
ändert durch die Goldgier, wir sind noch nicht so berauscht von dem Ruhm
der Schlachten, daß wir von dein Mammonismus und dem Hochmut unsrer
Vettern zur See nicht abgestoßen würden. Aber Vettern bleiben wir ihnen
dem Blute nach doch und haben eben begonnen, in der Schule praktischen
Lebens zu lernen, aus der die heutigen Engländer als Meister hervorgegangen
sind. Wird die gleiche Schule, die gleiche industriell-kommerzielle Arbeit nicht
die gleiche Wirkung auf deu Volkscharakter haben?
Wir haben seit 1860 eine stolze Periode politisch-nationaler Erhebung
durchgemacht. Man hat ihren Anfang mit dein Wort von Blut und Eisen
gekennzeichnet, und soweit diese Kennzeichnung berechtigt war, meinte man
damit, daß wir die nationale Erhebung nur mit den Mitteln brutaler Kraft
durchsetzen konnten. Das Resultat hat für diese Mittel gesprochen; aber indem
wir das Resultat bewunderten, haben wir uns nnbewußterweise auch daran
gewöhnt, die Mittel zu bewundern, und sind allmählich dazu übergegangen,
sie, nämlich die brutale Kraft, in der in humanen Sinne höchsten Ausbildung
unsers Heers an sich und unbedingt zu verehren. Man ist sich nicht immer
mehr ganz klar darüber, wo die brutale Kraft in der Schätzung aufhört, Mittel
zu sein und zum Selbstzweck wird. Die große Bewegung, die nach 1870 in
alle Verhältnisse des Volkslebens kam, der Schrecken vor roher Volkskraft
trugen dazu bei, den Wert der rohen Staats kraft für die ruhige Entwicklung
der innern Verhältnisse oft zu überschätzen. In Friedenszeiten soll die Staats¬
gewalt in ihrer büreaukratischen Organisation die materiell schaffenden und die
sittlich erhaltenden Kräfte des Volks unterstützen, und wo es nötig wird, leiten.
Es liegt aber erfahrungsmäßig in der Tendenz aller Büreaukratie, das Leiten
dem Unterstützen vorzuziehn, eine Tendenz, die sich besonders stark entwickelt
angesichts einer sozialen Gärung, wie wir sie heute durchmachen. Unsre
Büreaukratie ist zum größern Teil von militärischem Geist erfüllt, und während
sie dadurch an disziplinierter Kraft gewinnt und sich vor andern Bureau¬
kratie,: auszeichnet, wird sie leicht hinderlich der Ausbildung der persönlichen
und sozialen Kräfte, die der unerschöpfliche Quell der Thatkraft im englischen
Volkscharccktcr sind. Zum Glück werden wir durch die Reichsverfassung vor
der unheilvollen Zentralisation geschützt, unter der Rußland, Frankreich. Italien
leiden. Aber die stolze Erinnerung an die Erfolge der brutalen Kraft läßt
uns heute oft zu schnell und zu leicht an dieses bequemere Mittel auch da
appellieren, wo nur die zähe Arbeit mit den Werkzeugen humaner, selbstthätiger
Volkskraft am Platze wäre.
Vor solcher Überschätzung staatlicher Macht sollten wir uns z. B. hüten
in dem Kampf der Nationalitäten und in dem Kampf der sozialen Interessen.
In beider Hinsicht sind wir zu nervös und könnten von den Engländern lernen,
mich die wildesten Parteiprogramme ruhig gelten zu lassen, solange sie Pro¬
gramme bleiben.
Auf den Kultus der Gewalt folgt bei uns, so scheint es, der Kultus des
Geldes. Wir waren arm und bedürfen des Geldes, um unsre nationale
Stellung zu erhalten, noch mehr um Weltmacht zu werden. Daß wir gelernt
haben, Geld zu erwerben, mag man schon daraus entnehmen, daß man heute
etwa zwei Milliarden Mark vom deutschen Volke für eine Flottenvergrößerung
fordern kann; vor dreißig Jahren wäre ein solcher Gedanke lächerlich gewesen.
Indem nur weiter auf diesem kommerziell-industriellen Wege vorschreiten, werden
wir ohne Zweifel in unsern Volkscharakter etwas von dem harten Egoismus
und dem gefühlsarmen Realismus aufnehmen, den wir bei den Engländern
als Krämergeist schmähen. Und hier sind wir zum Glück in der Lage, der
egoistischen Macht des Geldes die starke Staatsmacht entgegenzustellen. Die
elenden Verhältnisse der untersten Volksklasse in den industriellen Zentren
Englands wären nicht möglich, wenn das englische Volk nicht einen Wider¬
willen dagegen hätte, sich in seine Arbeit und sein soziales Leben vom Staat
viel drein'reden zu lassen. Eine lange freiheitliche Erziehung hat dem Eng¬
länder große persönliche Selbständigkeit verliehen, die wir Deutschen noch in
geringem Grade haben und uns nur durch lange Schulung aneignen werden.
Die sozialen Kämpfe sind deshalb bei den Engländern zwar ebenso heftig wie
bei uns. nehmen aber nicht die staatsfeindliche Richtung wie bei uns und
werden ebenso wenig vom Staat in der teils repressiven, teils vorbeugenden,
mildernden Weise wie in Deutschland beeinflußt. Unsre soziale Gesetzgebung
haben wir vor England voraus, und sie wird dem Egoismus des Geldes gegen¬
über eine Bedeutung haben, die den sittlichen Verlust, womit der Vo kscharakter
bedroht ist. mäßigen wird. Das Kapital wird hoffentlich nicht imstande sem,
seine Macht so rücksichtslos auszunutzen, wie es in England unter der Herr¬
schaft des Manchestertnms möglich war. Wir brauchen eine starke Regierung,
die einen starken Volkscharakter zu erziehn, zu ertragen weiß.
Zu expansiver Politik ist heute jedes große Volk gezwungen, das seine
äußere staatliche wie seine Kultnrstellnng in der Welt erhalten Null. Die
Juselgermaneu haben uns nicht gar viel an kolonialen Landerwerb übrig ge¬
lassen, vielleicht nur gerade genug, unsre Kräfte für kolonisierende Arbeit zu
üben für spätere Zeiten und größere Unternehmungen. Fürst Bismarck hat
seiner kolonialen Politik anfangs einen vorwiegend kommerziellen Charakter
nach englischem Muster z» verleihen gesucht. Aber er hatte die Kraft unsrer
Handelswelt überschätzt und mußte sehr bald staatlich nachhelfe». Der eng¬
lische Kaufmann ist in langer Schulung gewissermaßen kommerzieller Staats¬
mann oder politischer Kaufmann geworden; er hat gelernt staatlich zu orga¬
nisieren, indem er kaufmännisch seine Faktoreien in allen Weltteilen errichtete.
Solcher geschulten Kaufleute gab es bei uns nur wenige, als die Notwendigkeit
für uns eintrat, überseeische Länder zu erwerben, und wir leiden noch heute
in unsern Kolonien unter dem Mangel an solchen Leuten. Aber wenn wir
auch eine Menge solcher kommerzielle» Konquistadore hätte» und gehabt hätten,
glaube ich »icht, daß es im Sinne weiser Kolonialpolitik gelegen hätte, dem
kommerziellen Geist ungezügelte Macht über unsre Kolonien zu geben. Man
ist bei uns noch nicht grobnervig und egoistisch genug, dein humane» Pflicht¬
bewußtsein abzusagen; man ist sogar oft zu empfindlich in diesem Punkt, indem
mein sich von allgemeinen Prinzipien verleiten läßt, die Wirklichkeit i» afrika¬
nischen Dingen nicht klar zu sehen. In England hat man Stanley Sklaven
kaufen, peitschen, töten lassen in Meuge, ohne ein Wort darüber zu verliere»,
und heute noch wird der Wilde des Kongogebiets bis dicht an die Meeres¬
küste hin nicht bloß von den Engländern nicht als Objekt einer Veredlnngs-
arbeit, sondern als Arbeitsvieh behandelt.") Und das ist bis zu einem ge¬
wissen Grade unvermeidlich, wenn auch für deu feinnervigen Europäer unsrer
Zeit und für den Prinzipienreiter unsers Volks anstößig. Wir entrüsten uns
noch über Leute wie Dr. Peters, auf deren Weste man in England kaum
irgend einen Fleck entdeckt hätte, und wir werden den rechten Mittelweg erst
finden müssen zwischen Humanismus und kommerziellen Egoismus, der uus
das Ziel gewinnreicher kolonialer Arbeit ohne eine Erniedrigung unsers sitt¬
lichen Fühlens erreiche» ließe. Es mangelt bei uns noch an dem Mut, uus
große Ziele zu setzen und sie da»» in großem Zuge, mit festem Blick auf das
Ganze zu verfolgen. So unwürdig der gegenwärtige englische Nnübzug in
Südafrika in den angewandten Mitteln ist, so groß ist die Aufgabe, die sich
die englischen Staatsmänner dort gestellt haben. Während England die Hand
nach Weltteilen ausstreckt, wage» wir kaum, den u»vermeidliche» Kampf mit
den: Slawentum an unsern Grenzen ernstlich ins Auge zu fassen, und es giebt
Leute bei uus, die bereit wären, Posen aufzugeben, um uur Ruhe im Hanse
zu haben. Es giebt Leute, die der Meinung sind, es sei für uns besser, keine
Kolonie» zu haben, als um den Preis schwerer Kränkung unsers moralischen
Volksbewußtseins welche zu besitzen. Wenn wir alles nur vom moralische»
Standpunkte schätzen wollten, dann hätten wir auch den Krieg von 1870 nicht
führe,: und überhaupt alle Kriege aufgeben sollen, die ja die ans Mitleid
ruhende Humanität verletzen, und nur sollten aus demselben Grunde den hierin
gefährlichen Weg des kommerziellen Egoismus aufgeben. Krieg, Großhandel,
Kolonien haben aber moralisch den gemeinsamen Wert, daß sie die Thatkraft,
die Festigkeit, das Selbstbewußtsein steigern, die zum Charakter eines zur Größe
aufstrebenden Volks gehören. Auch in den Kolonien werden wir am besten
fahren mit einer Regierung, die, selbst stark, doch deu kommerziell-kolonialen
Unternehmungen die möglichste Freiheit in der Entwicklung der für diese Ver¬
hältnisse passenden Kräfte läßt. Mau braucht sich nicht zimperlich von der
nötigen und notwendig rauhen, harten Arbeit zurückzuziehn um der Gefahr
willen, die in dieser Arbeit liegt; aber es ist nur zu wünschen, daß sich das sitt¬
liche Empfinden unsers Volks dieser Gefahr einer Verhärtung des Charakters
w kolonialen Verkehr dauernd widersetzen möge. Herrenmornl braucht nicht
zur Moral des grausamen Sklavenhalters. Erwerbstrieb nicht zur stumpfen
Geldgier zu werden. Wir werden dem Räuberwesen der Spanier in Amerika
wie der Vampirart der Engländer in Hindostan und Ägypten fern bleibend
dem Geldgewinn in den Kolonien nachgehn können, ohne die sittlichen Grund¬
lagen unsrer Kultur zu verlieren.
Den Charakter unsrer Zeit nennt Steffen „nnlitärisch-kommerziell expansiv,
doch kulturell gleichartig." Das paßt allerdings, aber doch nur für einen
Teil unsrer Kulturwelt' und für gewisse Gebiete des Kulturlebens. Diesen
Charakter trägt die Hauptmasse des germanischen Stammes; diese Gleichgiltig-
keit weist das geistige Volksleben in den Wissenszweigen auf, die nicht un¬
mittelbar dem praktischen Leben dienen, und in der Kunst spürt mau sie auch.
Seit man den Kampf ums Dasein in eine wissenschaftliche Doktrin gebracht
hat. ist-man mehr und gründlicher als früher darauf aus, sich für diesen
Kampf mit den besten Waffen zu versehen und findet sie vorzugsweise in den
Rüstkammern der Naturwissenschaft und der Technik. Von der Schule fordert
man immer stärker, daß unsre Jugend im Gebrauch dieser Waffen geübt werde.
Die materielle Kultur steht im Vordergrunde, die realistische Bildung verdrängt
immer mehr die humanistische, und je weiter wir uns industriell-tominerzrell
entwickeln, um so notwendiger wird die Masse der realistisch geschulten Köpfe
gegenüber den Humanisten wachsen. Kein Volk hat bessere technische und
"aturN'issenschaftliche Schulen als das deutsche, aber bis vor kurzem verstanden
wir wohl zu erfinde.,, aber nicht oder ungenügend die Erfindung auszubeuten.
Wenn der Zudrang zur realistischen Schule wächst, so ist das die natürliche
Folge des gesamten Volkslebens, wo der Erwerb hente die bffen Keder Inter¬
essen beherrscht. An sich ist die realistische Schule ja nicht kulturell g cich-
Mltig." und neben ihr bleibt uns immer noch die alte hiimanistische Erziehung
lebendig, die wiederum nirgend festere Wurzeln hat als un deutschen Volt.
Solauqe nur an ihr festhalten, wird uns das „unlitärisch-ton.u^all-expans.v
Zeitalter nicht völlig für eine ideale Kultur abstumpfe» Eltern mcP nur,
soudern auch Regierungen werden hente freilich oft von der quälenden Sorge,
daß die Kinder lernen mögen, ihr Brot zu erwerben dazu verlebt, den
materiellen Nutzen zu sehr in deu Vordergrund der Phantasie und des Denkens
der Kinder zu rücken. Man bemüht sich so überwiegend, in ihnen den Sinn
für das praktisch Nützliche auszubilden, daß man oft seelenlose Arbeitsmaschinen
und „kulturell Gleichgiltigc" macht. Aber unser alter Quell des Idealismus
wird nicht von einem Goldregen verschüttet werden. Auch in England ist die
humanistische Bildung keineswegs tot, sondern nur auf einen engen Kreis be¬
schränkt worden. Gerade dem materiellen Zuge der Zeit gegenüber müssen
wir umso fester an dem Idealismus halten, der in der humanistischen Bildung
wurzelt. Es giebt auch heute noch nichts, was für Vertiefung, Veredelung,
Verfeinerung des menschlichen Geistes wirksamer wäre, als das Versenken in
das Geistesleben des klassischen Altertums. Keine Geschichte von Völkern
oder Staaten, von Männern oder von volkswirtschaftlichen Vorgängen vermag
dem Geist zu bieten, was er in Grammatik und Litteratur von Rom und
Griechenland findet. Indem wir Cäsar oder Plutarch oder Ovid und Sophokles
lesen, lernen wir mehr und tiefer und wahrer das kennen, was man Geschichte
nennt, als aus irgend welchen Lehrbüchern, zwar nicht Geschichte der äußern
Vorgänge, aber Geschichte des geistigen Lebens, wie sie größer nie gewesen ist.
Und hier ist das Ideale. Wer sich lange mit Geschichte befaßt hat — hat
Voltaire geäußert —, der kann nie mehr seines Lebens recht froh sein. So
spricht die Geschichte aus den Werken des Gelehrten, der sie von außen, von
oben her betrachtet. Aber die Geschichte spricht anders aus den Worten
Homers oder Ciceros oder Horazens oder auch aus dem Kodex Justinians,
diesem Riesenwerk des Menschengeistes, das man nun auch bei uns zu den
Altertümern gelegt hat. Und wenn man heute oft sagen hört, es sei jn doch
zwecklos, die Kinder mit diesen alten Sprachen zu plagen, die sie nachher
doch nicht mehr brauchen könnten, so hat vielleicht diese sogenannte Zweck-
losigkeit selbst ihren besondern Wert, indem in das Gemüt des Knaben ein
Schatz von solchen Vorstellungen niedergelegt wird, die keine Verbindung haben
mit dem unmittelbar und materiell Nützlichen, keinen unmittelbar praktischen
Zweck, Vorstellungen, die den Jüngling, den Mann in das rohere Treiben des
Gelderwerbes hinein begleiten als ein durch Zeit, Denkart und Größe weit vom
Tageslärm abliegendes, ungestört lebendiges Heiligtum. Denn der Mensch
lebt eben nicht von Brot allein, noch weniger von Geld allein, oder sollte
wenigstens nicht davon allein und dafür allein leben. Unsre demokratisierende
und materiell gesinnte Zeit ist der Kunst nicht günstig, die nur in vornehmer
Umgebung gedeiht. Soziale Probleme zu lösen, mit galligen Pessimismus in
dem Elend dieser Welt zu wühlen, nach dem Beifall der Masse zu gieren —
das veredelt die Kunst nicht, und ist doch sehr weit verbreitet. Aber freilich
ist die Kunst leider meist nur zu einer Hälfte das Werk des Künstlers, zur
andern das des Publikums. Isris g, wrre menues der Franzose, wie es sich
für eine Zeit paßt, wo man Apoll von Merkur kaum mehr zu unterscheiden
vermag.
Indem wir uns weiter industriell-kommerziell auswachsen, ist vor der
Hand auf diesem Kulturgebiet nicht viel zu erwarten außer der Möglichkeit,
gleich den Engländern und Amerikanern viel Geld für mäßige Leistungen zu
verwenden. Nun, wir werden eben an die Lösung von vorläufig näher
liegenden Kulturanfgaben gehn, hinter die die höhere geistige Arbeit zurück¬
treten muß. Wir werden suchen, die Versäumnis von Jahrhunderten einzu¬
holen, indem wir das deutsche Volk wieder an die ihm zukommende Stelle
unter den Kulturvölkern setzen. Das größere Deutschland, die deutsche Welt¬
macht sind Ziele, die nur dem eitel erscheinen können, der noch die über die
Grenzen des alten Europas längst hinaus gewachsenen Interessen Deutschlands
uicht begriffen oder sich nicht mit ihnen ausgesöhnt hat. Hier ist aber kein
Zurück mehr möglich, und wollten wir nicht über das Meer, so wären wir
gezwungen, uns zu Lande Raum zu schaffen. Buche Deutschland so, wie es
1870 war. so wäre es in wenigen Jahrzehnten ein Kleinstaat unter Welt¬
mächten. Wir müssen vorwärts! Es wird sich uur fragen, inwiefern unsre
Zukunft auf dem Wasser und inwiefern auf dem Lande liegt.
ur den 5. Mai haben der Verein deutscher Ingenieure, der deutsche
Realschulmännerverein, der Verein für lateinloses Schulwesen
und der Verein für Schulreform eine Versammlung nach Berlin
berufen, um eine Kundgebung auf Grund zweier gemeinsamer
Forderungen zu veranstalten. Sie verlangen 1. die gleichen
Berechtigungen für alle neunklassigen hohem Schulen (Gymnasien, Real¬
gymnasien und Oberrealschulen) zu wissenschaftlichen Studien und höhern
Laufbahnen; 2. den gemeinsamen lateinlosen Unterban für die drei untern
Klassen aller höhern Schulen (also auch der Realschulen). Die Herren ver¬
suchen sich insofern mit dem Nnnicu des Kaisers zu decken, als sie von einer
„nuf Wunsch des Kaisers in Aussicht genommenen Schulreform" reden. Sie
müssen ganz besondre Verbindungen haben, denn im preußischen Kultus¬
ministerium weiß man bis jetzt von keinem Reformplan, abgesehen von einer
etwaigen Erweiterung der Berechtigungen der Realgymnasien, über die das
Preußische Staatsministerium jüngst Beschluß gefaßt hat. Jedenfalls wird man
nicht nur das preußische Kultusministerium zunächst hören müssen, sondern
auch die Kultusministerien andrer deutscher Staaten, denn es ist doch gar
nicht daran zu denken, daß Preußen in diesen hochwichtigen Fragen allein
vorgehn und damit eine Spaltung des gesamten höhern Schulwesens in
Deutschland riskieren sollte. Darauf nämlich, daß sich die deutschen Mittel¬
staaten Sachsen, Bayern. Württemberg, Baden und Hessen sich ohne weiteres
von Preußen ins Schlepptau nehmen lassen und die preußische „Schulreform"
unbesehen mich bei sich einführen würden, dürfte nach den bisherigen Ersah--
rnngen und bei der jetzt dort herrschenden Stimmung um so weniger zu rechnen
sein, als Preußen dnrch den notorischen Mißerfolg seiner „Reform" von 1892
und durch das ewige unsichere Dilettiercn auf diesem Gebiete bei den übrigen
deutschen Uiiterrichtsverwaltungen sein früheres Ansehen völlig eingebüßt hat.
Daß man nur wenigsten in Bayern gewillt ist, sich einer „Schulreform" auf
den erwähnten Grundlagen anzuschließen, haben die jüngsten Verhandlungen
der dortigen zweiten Kammer bewiesen. Und König Albert von Sachsen hat
sicherm Vernehmen nach schon anläßlich der neuen Lehr- und Prüfungsordnung
von 1892 erklärt, weiter werde er in der Beschränkung der klassischen Studien
nicht gehn. So würde man durch den preußischen Partikularismus nur den
mittelstaatlichen Partikularismus herausfordern, und zwar so, daß er als
berechtigt erschiene. Auch wird es wohl nicht ganz zu umgehn sein, die Ver¬
treter der humanistischen Anstalten und der humanistischen Bildung zu Worte
kommen zu lassen; wenigstens sind Reformen z. B. im Heerwesen oder im Justiz¬
wesen bisher niemals ohne Zuziehung von Offizieren oder von Juristen vor¬
genommen worden, und wer verlangt Hütte, daß etwa Juristen über eine
Heeresreform oder Offiziere über eine Justizreform entscheiden sollten, würde
von den direkt Beteiligten als nicht recht zurechnungsfähig behandelt worden
sein. Über eine Schulreform aber glaubt jeder nicht nur mitreden, sondern
anch entscheiden zu können, der einmal selbst die Schulbank gedrückt hat, oder
seine Jungen auf eine höhere Schule schickt, wo etwaige Mißerfolge ge¬
wöhnlich nicht den Herren Söhnen oder den Eltern zur Last fallen, sondern
selbstverständlich den Lehrern oder dein „System." Sollte demnächst etwa
einmal eine neue Heeresreform in Sicht kommen, dann wird man also den
Reservisten und den Unteroffizieren des Veurlaubtcnstcmdes einen wesentlichen
Anteil um der Entscheidung lassen müssen, denn vom Dienst verstehn diese
mindestens ebenso viel wie Gymnasiastenväter vom Gymnasium, das sie, wie
jene die Armee, doch immer mir von der einen Seite sehen.
Doch sehen wir uns die beiden Forderungen etwas näher an! Gegen
ausgedehntere Berechtigungen der Realgymnasien haben wir gar nichts ein¬
zuwenden, denn anch sie sind humanistische Anstalten, wenn ihnen auch die
höchste Stufe der humanistischen Ausbildung, nämlich das Griechische fehlt
und die Lektüre griechischer Klassiker in Übersetzungen nur einen ungenügenden
Ersatz bieten kann. Wir würden sogar die Zulassung der Realgymnasiasten
zum juristischen Studium befürworte», denn es ist nicht abzusehen, warum die
künftigen Juristen das Griechische mehr „brauchen" sollten, als die künftigen
Mediziner, die es mit einer ganz und gar griechischen, international fest¬
stehenden Terminologie zu thun haben, wohlgemerkt, wenn man nun einmal
die Frage nach dem unmittelbar praktischen Werte der gymnasialen Vorbereitung
für ein bestimmtes Fachstudium stellen will. Aber wie stellen sich die Herren
das Verhältnis der Oberrealschulabitnrieuteu zu deu akademischen Studien vor,
die jenseits der modernen Philologie, der Mathematik und der Naturwissen¬
schaften liegen? Was soll ein Dozent der Rechtswisseiischaft, der Medizin, ja
auch der modernen Philologie, von der klassischen Philologie und der Theologie
ganz zu schweigen, mit jungen Leuten anfange», denen sogar das Lateinische
fehlt? Entweder muß er sich auf den ganz elementaren Standpunkt stellen,
daß er ihnen jedes lateinische oder griechische Wort erklärt, was nun wieder
die andern besser unterrichteten Zuhörer langweilt und aufhält, oder er muß
sie beiseite liege» lassen, und sie werden fortwährend die Empfindung haben,
daß sie mangelhaft vorbereitet, Studenten zweiter Klasse seien. Kurz, der
ganze Vorschlag ist so unsinnig, daß er sich selbst richtet. Mag man den
Oberrealschulabiturientcn alle möglichen mathematisch - naturwissenschaftlichen
Fächer freigeben, auf die Universität gehören sie nicht, und die äußerlich
gleiche Berechtigung zum Studium der Geisteswissenschaften gebührt ihnen
nicht, weil ihnen die innerliche fehlt.
Doch lassen wir diese Frage, die entschieden ist, sobald man sie aufwirft,
beiseite und fassen die zweite Forderung ins Auge, den gemeinsamen lateiu-
lvsen Unterbau für alle höhern Schulen, also offenbar auch für die Real¬
schulen. In der Verbindung beider Forderungen steckt an sich ein Widerspruch;
denn wenn alle neuutlassigeu höhern Schulen dieselben Berechtigungen gewähren,
dann wird ja die Erleichterung der Eltern, die mau durch den gemeinsame,,
Unterbau erreichen will, nämlich sich erst in spätern Jahren über den künftigen
Beruf ihrer Söhne entscheiden zu müssen, schon auf diesem Wege wenigstens
für die neunklassigen Schulgattuugeu erreicht, für die lateinlosen Realschulen
allerdings nicht, aber bei diesen läßt sich dnrch Progymnasialklasse» mit Latein
der Übergang auf lateintreibende Anstalten ermöglichen. Was spricht denn
»un für den' gemeinsame» lateinlosen dreiklassigeu Unterban? schlechterdings
gar nichts als der Wunsch der Eltern, die Entscheidung über den Lebensweg
ihrer Söhne um einige Jahre, d. h. um ganze drei Jahre, hinauszuschiebe»,
"tho ein ganz äußerlicher Grund, der nicht einmal besonders stichhaltig ist.
Denn ein'Übergang zwischen Gymnasium und Realgymnasium, und von beiden
auf die Realschule oder umgekehrt, ist in den untern Klassen bei einiger Nach¬
hilfe auch heute schou recht wohl möglich, wie eine vielfältige Erfahrung be¬
weist, und ob ein Knabe sich besser für die sprachlich-historischen oder für die
mathematisch-naturwissenschnftlichen Fächer eignet, das kann mau schon i» den
ersten Jahren erkennen. Mag sein, daß in kleinern Städten, die nur eure sehn -
gattuny haben, der dann etwa wünschenswerte Übergang zu eurer andern Schul-
gattuug erschwert wird, weil er die Eltern nötigt, ihre Söhne in eme andre
Stadt zu schicken, sie aus dem Hause zu geben; aber mit demselben Rechte
könnte sich darüber auch der Landpfarrer, der Gutsbesitzer. der Forster^urz
jeder, der auf dem platten Lande wohnt, beschweren, und doch wrrd kein Mensch
verlangen, daß jedem dieser Väter höhere Schulen der verschieden Gattungen
in erreichbare Nähe gesetzt werden; dazu würden denn doch Geld- und Lehr¬
kräfte fehlen. Eine Gleichheit der Bequemlichkeiten läßt sich eben denn besten
Willen nicht durchsetzen. . >
^,.<c
Innere Grüude, pädagogische Gründe für diesen gemeinsamen lateinlosen
Unterbau giebt es nicht; was man davon etwa vorzubringen versucht, ist fade»-
scheinig. Das Französische soll als moderne Sprache dem Verständnis des
Schülers näher liegen als das Lateinische. Abgesehen davon, daß man von
diesem Gesichtspunkte aus das Englische als die dem Deutschen noch wesentlich
näher liegende erste fremde Sprache vorziehn müßte, ist der Satz an sich nur
insofern richtig, als das Französische eben modern ist, und seine Sätze oft fast
Wort für Wort ins Deutsche übertragen werden können, während jede lateinische
Form und Satzverbindung strenge Denkarbeit erfordert; aber die Formenlehre
und die Syntax des Französischen sind mindestens ebenso schwierig als im
Lateinischen und fallen heutzutage dem Gymnasialquartaner, der doch schon
zwei Jahre lang Latein getrieben hat, erfahrungsgemäß keineswegs leichter,
sondern eher schwerer als dein Sextaner das Lateinische. Eine besondre
Schwierigkeit bietet außerdem die Abweichung der Aussprache von der Schrift,
die von dem unbefangnen Sinn des Anfängers obendrein als etwas Unnatür¬
liches, Willkürliches empfunden wird. Man kann geradezu sagen: das Fran¬
zösische, das seit 1892 in der Quarta der humanistischen Gymnasien wegen
der Annäherung an die Realgymnasien Hauptfach und also unter Umständen ein
Versetzungshindernis geworden ist, hat die Arbeit des Schülers ganz wesentlich
erschwert und ist für Unbegabtere und nicht leicht Lernende ein Gegenstand
größerer Plage als das Lateinische. Dabei läßt sich kaum sagen, daß sich
die Schlußleistungen in der Oberprima wesentlich gesteigert haben, denn eine
wirkliche praktische Beherrschung der Sprache läßt sich auf der Schule über¬
haupt nicht erreichen; das ist Sache der Übung in französisch sprechender Um¬
gebung, am besten eines Aufenthalts im Lande selbst. Man beruft sich wohl
auf das vielbesprochue Frankfurter Neformgymnasium, das Goethegymnasium,
das diesen lateinlosen Unterbau hat. Ob Goethe selbst eine besondre Freude
darüber empfunden haben würde, daß man gerade diese Schule mit seinem
Namen geschmückt hat, lassen wir dahingestellt; aber nicht entschieden genug
kann betont werden, weil es vergessen oder verkannt wird, daß hier besonders
günstige Umstünde obwalten, die niemals zur Regel werden können: ein aus¬
gesuchtes Lehrerkollegium, das sich in dieser besonders günstigen Zusammen¬
setzung erfahrungsmüßig nicht lange halten kann, weil gerade die tüchtigsten
Leute in höhere Stellungen anderwärts überzugehn pflegen; schwache Klassen
und begabte Schüler vielfach aus solchen Familien, in denen Französisch (oder
Englisch) gesprochen wird. Man denke sich dieses „System" in Schneeberg oder
Kostin, und man wird sehr bald erfahren, daß es damit einfach nicht geht.
Von dem nationalen Bedenken, die sich einer solchen Bevorzugung des Fran¬
zösischen als grundlegender Fremdsprache in unserm mit so geringem National¬
stolze begabten, noch immer so sehr jeder noch so thörichten lind geschmacklosen
Ausländerei zugänglichen Volke entgegenstellen, wollen wir gar nicht erst reden,
sie liegen für jeden Unbefangnen auf der flachen Hand. Ebenso lassen wir
hier die Frage nach dem pädagogischen Werte der französischen Litteratur un-
erörtert, denn sie kommt für den Anfangsunterricht nicht in Betracht.
Nun aber zur Hauptsache! Um gewisser äußerer Vorteile willen, um
der Schüler willen, die sich für den vollen neunjährigen Kursus nicht eignen,
also die höchsten Ziele dieses Unterrichts nicht erreichen rönnen oder auch
nicht erreichen wollen, um der Masse derer willen, die vom Standpunkte des
gymnasialen Zieles aus betrachtet nur als „minderwertig," also als minder
wichtig bezeichnet werden können, sollen die Schüler, die nach diesem Ziele
streben, also der vorzugsweise zu pflegende, zu berücksichtigende Kern der
Schülerschaft sind, in dem, was bisher der Nerv des gymnasialen Unter¬
richts gewesen ist, in den klassischen Sprachen, verkürzt und aufs schwerste ge¬
schädigt werden. Denn darauf lauft die befürwortete Schulreform in der That
hinaus. Das Latein muß dann in Untertertia, also im vierten Schuljahre
statt im ersten, beginnen, das Griechische logischerweise nach der berühmten
.Abschlußprüfung" in Untersekunda, damit die Masse derer, die nur das Em-
jährigenzeugnis 'ersessen haben, nicht erst mit dieser toten, unnützen Sprache
behelligt zu werden braucht, also in Obersekunda, im siebenten statt un vierten
Schuljahre. Das Frankfurter Goethegymnasium hat allerdings den Beginn des
Griechischen nach Untersekunda verlegt, aber das ist, wie schon gesagt, ganz
unlogisch und würde sich auf die Dauer bei einer großem Ausdehnung des
.Systems" nicht halten lassen. Selbst in diesem Falle wird das Griechische
auf vier statt sechs, das Lateinische in jedem Falle auf sechs statt neun^ahre
beschränkt. Trotz dieser so sehr verkürzten Zeit soll, namentlich in der Lektüre,
dasselbe erreicht werden, was das alte humanistische Gymnasium erreicht hat. Dav
mag unter besonders günstigen Bedingungen, wie sie in Frankfurt bestehn. oder
mit einzelnen begabten jungen Leuten allenfalls möglich sein; für starke Klagen,
in denen natürlich die mittlere Begabung überwiegt, also unter den Verhält¬
nissen, wie sie an der großen Masse der deutschen Gymnasien bestehn ist es
ganz gewiß nicht möglich, oder nur zum Scheine möglich. Denn der ^orzug
des klassischen Sprachunterrichts bestand bisher gerade dann, daß der Schuler
ganz allmählich in diese reiche Formenwelt und in diese angewandte Logik der
Syntax eindrang und bis zu einem gewissen Grade darin sicher genug wurde, daß
er auf der obern Stufe auch in die größten und schwierigsten Schriftsteller ein¬
geführt werden konnte, in die also, die die bedeutendsten Erzeugnisse und Spiegel¬
bilder der antiken Kultur sind. Bringt man die Gymnasiasten nicht mehr so weit,
daß sie Tacitus und Horaz, Plautus und Terenz. Demosthenes. Thukydides.
Plato und Sophokles im Original lesen können, dann entzieht man ihnen den
eigentlichen Lohn ihrer langen und schwierigen Arbeit, dann ist diese ganze Arbeit
so ziemlich umsonst gewesen, dann lohnt sie sich uicht. daun erspare man sie also
den Schülern und setze ..gute" Übersetzungen an die Stelle wie es !° schon oft
vorgeschlagen worden ist. Nur vergesse man dabei nicht, daß jede Übersetzung
aus einer antiken Sprache mangelhaft ausfällt, weil der Geist die er Sprachen
den modernen zu fern liegt, daß dann die geistige und sittliche Stahluug. ti für
den Schüler in dem mühsame:, eignen Erarbeiten einer Übersetzung liegt, weg¬
füllt, und daß die Vorbereitung zu wissenschaftlicher, d. h quellenmäßiger E -
sassung en.es Wissensgegenstandes, die das Gymnasium auf der obersten Stufe
doch geben will, dann aufgegeben wird.
Dieses Ziel will und soll das humanistische Gymnasium erreichen; daß
es nicht erreicht werde, wird ihm von seinen Feinden immer wieder zum Vor-
wurf gemacht, und daß es nicht überall und nicht immer ganz erreicht wird, das
ist gewiß zuzugeben. Denn nicht alle Gymnasialphilologen sind Lehrer ersten
Ranges, aber das sind auch nicht alle Lehrer an den realistischen Anstalten,
und es ist sogar zu fürchten, daß selbst die Neformschnle der Zukunft, die doch
alle pädagogischen Bedürfnisse befriedigen soll, zuweilen mit etwas „minder¬
wertigem" Lehrermaterial wird arbeiten müssen. Jedenfalls wird die Aufgabe
des gegenwärtigen humanistischen Gymnasiums dadurch nicht eben erleichtert,
wenn aller zehn Jahre ein neues Regulativ erscheint, und wenn Presse,
Vereine und Eltern wetteifernd über das viele Latein und Griechisch schimpfen,
mit denen sich die armen Jungen unnützerweise plagen müssen. Jede Schule
braucht vor allem Ruhe und Stetigkeit; nimmt man ihr diese durch fort¬
währendes Hineinregieren und Hineinreden, dann untergräbt man die Grund¬
lagen ihrer Wirksamkeit und soll sich nicht darüber wundern, wenn sie nicht
mehr leistet, was sie leisten könnte, falls man sie nur in Ruhe ließe.
Warum halten wir denn aber so eigensinnig an der Beschäftigung mit
dem klassischen Altertum und seinen Sprachen fest, da doch diese Sprachen
längst „tot" sind, und das Altertum ,,verblaßt" ist, nachdem die modernen
Nationen ihre eigne selbständige Kultur und Litteratur entwickelt haben? Nicht
nur, weil unsre ganze Kultur derart auf der antiken beruht, daß sie ohne sie
gar nicht verständlich ist (man denke nur z. V. an unsre Klassiker!), sondern
auch, weil sie uns Dinge bietet, die wir selbst nicht besitzen, die also unsre
eigne Kultur ergänzen und ihre Schwächen mildern. Das Altertum bietet uns
zunächst eine völlig in sich abgeschlossene, also übersehbare Entwicklung, deren
einzelne Teile wir in ihrer Folgerichtigkeit zu erkennen und zu beurteilen ver¬
mögen, ohne daß sich die Interessen und Tendenzen der Zeit aufdringlich ein¬
mischen, eine Entwicklung zugleich, die alle typischen Erscheinungsformen von
Staat, Gesellschaft, Litteratur und Kunst vorführt, eine sozusagen noch jugend-
frische Kultur, die auf verhältnismäßig einfachen, leicht verstündlichen Grundlagen
beruht, eine Litteratur vor allem, die alle Typen in vollendeten Beispielen und
ihrer gewissermaßen gesetzmäßigen Durchbildung vorführt, kurz etwas, was es
auf der ganzen Welt nicht wieder gegeben hat und gar uicht wieder geben kann.
Wie notwendig ist doch die Vertiefung in ein solches Leben für eine auf so
überaus künstlichen und verwickelten Verhältnissen beruhende Zeit wie die unsre,
und für ein Volk wie das unsre, das, wie kein zweites von kirchlichen Gegen¬
sätzen zerklüftet, noch nicht einmal über seine eigne Entwicklung ein allgemein
anerkanntes Urteil hat und eine genügende gemeinsame Grundlage seiner höhern
Bildung in seiner eignen Kultur auch deshalb nicht besitzt, weil von katholischer
Seite nicht einmal unsre Klassiker als solche unbedingt anerkannt werden!
Zweitens steht die antike Kultur in der sozusagen ästhetischen Durchbildung der
geschlossenen Persönlichkeit und in der Achtung, in der Begeisterung für das
Schöne ganz einzig da und giebt somit ein wohlthätiges und unentbehrliches
Gegengewicht ab gegen die moderne Überschätzung des Stofflichen und des nur
technisch, aber nicht ästhetisch Großen, d. h. gegen die Barbarei, denn Menschen,
für die etwa die Hängebrücke zwischen New-Dort und Brooklyn oder eineSchnell-
zngslokomotive etwas Höheres ist als der Parthenon oder der Hermes von
Olympia, die sind trotz aller technischen Fortschritte und aller äußerlichen
Zivilisation Barbaren. Drittens zeigt uns das Altertum bei aller Freiheit
und Vielseitigkeit der individuellen Entwicklung doch eine Unterordnung des
Einzelnen unter das große Ganze des Staats, eine solche Hingebung gerade
der größten und besten Menschen an die idealen Güter, daß dieser Anblick
für eine zu Schranken- und sinnlosem Individualismus und zum brutalen
Geldverdienen so sehr hinneigende Zeit wie die unsre ein nur allzunotwen¬
diges Korrektiv ist. Beseitigt das alles nur aus unsrer höhern Jugend¬
bildung aus Rücksicht auf den „praktischen Nutzen," und ihr werdet Menschen,
die noch für Vaterland und Monarchie eintreten und Opfer bringen, künftig
mit der Laterne suchen können! Denn Geld kann man auch in einer Republik
verdienen und auch im Auslande. Uol osns, loi Mria. Wenn wir Deutschen
in unsrer Bildung veramerikanern, d. h. veroberflächlichen, wenn an unsre
Spitze einmal Ehrenmänner treten wie die, die den ruchlosen südafrikanischen
Krieg ans Gier nach Gold und Diamanten angezettelt haben, dann sind wir
verloren, denn um rücksichtsloser Brutalität und gewissenloser Schlauheit werden
wir es den Angelsachsen diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans niemals
gleichthun, dazu haben wir doch noch zu viel Gemüt.
Das mag alles sein, werden die „Reformer" entgegnen, aber wir haben
eben keine Zeit mehr, unsre Jugend so tief in das klassische Altertum einzu¬
führen, daß es diese Bedeutung für sie gewinnen könnte; wir brauchen die
Zeit zur Schulung fürs Leben, und wir müssen Deutsche, nicht Griechen und
Römer, erziehn. Dafür geben uns die vaterländische Geschichte und Litteratur
eine genügende idealistische Grundlage. Ihr habt keine Zeit für das Not¬
wendigste, keine Zeit für das Maß von sittlicher und ästhetischer Bildung, das
uns vor der zivilisierten Barbarei, der schlimmsten von allen, bewahrt? Ist denn
Bildung bloß die Ausrüstung mit Kenntnissen und Fertigkeiten für das soge¬
nannte praktische Leben, oder ist nicht vielmehr gerade ein gewisses Maß von
sittlicher und ästhetischer Kultur die beste Mitgift für das praktische Leben?
Falls ihr nämlich überhaupt noch eine höhere Bestimmung des Menschen über
den materiellen Erwerb und Genuß hinaus anerkennt, und das thut ihr doch
Wohl. Der Litteratur und der Geschichte unsers Volkes aber fehlt — bei aller
Liebe für sie muß das gesagt werden — gerade das, was das klassische Altertum
auszeichnet, sie kann dieses also nicht ersetzen. Und hat denn das Gym¬
nasium seine Pflichten gegen die Nation bisher nicht redlich erfüllt? Ist
nicht aus ihm ein guter Teil der Generation hervorgegangen, die 1870/71
gemacht hat? Ist denn unser Welthandel und unsre Weltpolitik nicht auf
der Grundlage des Schulwesens erwachsen, wie es bis jetzt besteht? Es ist ja
geradezu Unsinn, dem Gymnasium vorzuwerfen, daß es über Griechenland und
Rom das Vaterland vergessen habe. Der vaterländische und der für uns
damit unzertrennbar verbundne monarchische Gedanke haben keine bessere Pfleg-
statte als unsre Gymnasien, und nicht Griechen und Römer und Republikaner
erziehen wir schon jetzt, sondern monarchisch gesinnte Deutsche, Daß die Re¬
formschule besseres oder auch nur dasselbe leisten könne, das soll sie uns erst
noch durch die That beweisen. Man hat den Gymnasien gelegentlich auch
vorgeworfen, sie hätten der Regierung keine Hilfe geleistet gegen die Sozial¬
demokratie. Direkt haben sie das allerdings nicht gethan, denn es liegt jen¬
seits der Aufgabe der Schule, in den politischen Tagesstreit einzugreifen; thut
sie das, so ruiniert sie sich. Aber indirekt haben sie es gethan, wenn sie ihre
Jugend zu Kvnigstreue und Vaterlandsliebe erzogen, und das erstreben sie
wenigstens und haben es erstrebt.
Wenn man den klassischen Unterricht fallen laßt oder soweit beschränkt, daß
er wertlos wird, dann muß man Ersatz suchen in Gegenständen, die vielleicht
für das „praktische Leben", für den „Kampf ums Dasein" besser Schulen. Fran¬
zösische und englische Litteratur und Sprache werden die Stelle des Lateinischen
und Griechischen einnehmen, als fertige Franzosen und Engländer werden unsre
Abiturienten das Gymnasium verlassen, vermutlich auch als höchst moderne
Leute, für die Shakespeare und die französischen Klassiker des siebzehnten Jahr¬
hunderts gerade so gut überwundue Standpunkte sein werden, wie Sophokles
und Horaz, und sie werden draußen in der Welt vortrefflich fortkommen, viel
Geld verdienen und ihren Ruhm darin suchen, schleunigst Franzosen, Engländer
oder Amerikaner zu werden. Sie werden auch in der Mathematik und in den
Naturwissenschaften mehr wissen, sich also rascher in diesen Fächern zurecht
finden. Nun bieten gerade diese Wissenschaften als allgemeine Bildungsmittel
keinen Ersatz für die Geisteswissenschaften, so wenig sie fehlen dürfen, denn
während diese alle Kräfte der menschlichen Seele, Verstand, Phantasie und
Gemüt gleichmäßig in Anspruch nehmen und entwickeln, richten sich die exakten
Wissenschaften ganz und gar auf den Verstand, nur wenig auf die Phantasie
und gar nicht auf das Gemüt; sie wirken also höchst einseitig, führen leicht zu
einer allzu großen Überschätzung des verstandesmäßig Erfaßbaren, zur Unter¬
schätzung dessen, was nur mit dem Gemüt ergriffen werden kann, der „Im¬
ponderabilien" des Völker- und des Einzellebens, sind demnach nicht geeignet,
die vorwiegende Grundlage der allgemeinen höhern Bildung zu sein. Von einer
Schulreform, die sich in dieser Richtung entwickeln soll, sehen wir daher eine
geistige Verarmung und Verobcrflächlichung unsers deutschen Lebens voraus.
Soll nun etwa alles beim alten bleiben? Bis zu einem gewissen Grade
allerdings, nämlich insofern, als wir zwar noch eine Verstärkung des klassischen
Elements nach der Seite der bildenden Kunst hin wünschen, aber jede weitere
„Konzession" an die modernen Fächer innerhalb der Gymnasien schlechterdings
verwerfen, also auch die sogenannte Einheitsschule, die kein Ideal ist, sondern
ein Hirngespinst, und insofern als wir das Gymnasium als ein organisches Ganze
mit einheitlichen Lehrzielen erhalten und nicht in ein Ober- und Untergym¬
nasium zerschneiden wollen zu Gunsten eines „Abschlusses" in der Mitte, der doch
keiner ist. Aber gerade deshalb sind wir dafür, den Realgymnasien und Ober¬
realschulen jede mögliche Erweiterung ihrer Rechte zu gewähren. Daß sich
daraus eine weitere Überfüllung der gelehrten Berufe ergeben werde, glauben
wir nicht; eher wird die Frequenz der humanistischen Gymnasien zunächst etwas
zurückgehn, aber das ist kein Unglück. Das sogenannte Monopol hat den
humanistischen Gymnasien niemals etwas genutzt, sondern ihnen nur geschadet,
denn es hat sie gezwungen, ein Zugeständnis nach dem andern auf Kosten seiner
alten Hauptfächer zu machen, ohne doch seine Gegner zu befriedigen, und die
Verschiedenheit der Bildungswege ergiebt sich mit solcher Notwendigkeit aus
dein ganzen Entwicklungsgange der modernen Welt, daß wir uns alle mit ihr
abfinden müssen. Zurückschrauben läßt sich hier nichts mehr. Der einzig mögliche
gemeinsame Unterbau ist die Volksschule, und diesen haben wir längst. Man
möge deshalb auch ruhig kleine Gymnasien in kleinen Städten, wo die über¬
wiegende Mehrzahl der Schüler weder zu Hause sozusagen in gymnasialer Luft
lebt noch ein wirkliches Bedürfnis nach humanistischer Bildung hat, in lateiulose
Realschulen mit Progymnasialklassen verwandeln, und man gründe Realgym¬
nasien und Oberrealschulen soviel man will und kann, denn unsre gewaltige
wirtschaftliche Entwicklung fordert die Vermehrung der Gelegenheiten zu solcher
Vorbildung; aber man mache um Gottes willen nicht den Versuch, das „Frank¬
furter System" zu verallgemeinern, und man schneide denen, die eine huma¬
nistische Bildung nach der bisherigen Art erstreben, diesen Bildungsweg nicht
willkürlich ab; das wäre eine unerträgliche Intoleranz und eine weit schlimmere
Tyrannei, als das alte Gymnasialmonopol je gewesen ist. Die humanistische
Bildung kann nicht mehr allein herrschen, aber sie darf auch nicht aus unserm
Leben verschwinden.
Man sagt, der Kaiser sei der geplanten „Schulreform" günstig gestimmt,
»ut zwar, weil er auf dem Gymnasium in Kassel keine besonders guten Er¬
fahrungen mit der humanistischen Bildung gemacht habe. Das mag sein; darf
es doch auch mindestens bezweifelt werden, ob eine öffentliche Schule die ge¬
eignete Bildungsstätte für Prinzen, namentlich für Thronfolger ist. Aber er
wird eine vereinzelte Erfahrung nicht zum Anlaß nehmen wollen, das huma¬
nistische Gymnasium zu zerstören. Er hat doch auch hundertmal bewiesen, daß
er ernsten, offnen, begründeten Vorstellungen zugänglich ist. Und deshalb liegt
jetzt alles daran, daß nicht mir die Feinde, sondern auch die Freunde der
humanistischen Bildung zu Worte und zu Gehör kommen. Deshalb mögen
sich jetzt vor allem die Universitäten rühren. Oder wollen sie etwa auch hierin
dem Zentrum die Führung überlassen, das jetzt in der bayrischen Kammer für
das humanistische Gymnasium eingetreten ist, wie schon auf der Schulkonferenz
von 1890 der Fürstbischof Kopp von Breslau? Ein erbauliches Schauspiel:
si'r die humanistische Bildung kämpft das Zentrum und gegen die polizeiliche
Bevormundung der Kunst die Sozialdemokratie! Wo bleiben die „nationalen"
Parteien? Ist der Schutz des Nackten in der Kunst wichtiger als die Er¬
haltung des humanistischen Gymnasiums? Also „Burschen heraus!"
er sich an unsre kurze Anzeige der „Ethnischen Gedanken über
Entwicklung" von Otto Werner im 10. Heft erinnert, wird
zwischen dieser und Chamberlains Rassen- und Religionsphilo¬
sophie eine auffällige aber nicht vollständige Übereinstimmung
finden. Wir haben dieser Gedankengruppe nur mit Einschrän¬
kungen, Vorbehalten und Korrekturen beizupflichten vermocht. Dagegen ent¬
spricht die Auffassung der in unsrer heutigen Überschrift angedeuteten Probleme
in den „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" ziemlich genau der unsern.
Die Soziologen, nicht bloß die sozialdemokratischen, ja sogar idealistische Philo¬
sophen wie Hegel sprechen von einem Fortschritt oder von einer Erziehung
des Menschengeschlechts, bei der alle Völker dieselben Kulturstufen zu ersteigen
hätten, die frühern Kulturstufen Vorstufen der spätern wären, und wenn ver-
schiedne Völker zugleich auf verschiednen Stufen gefunden werden, dies nur
daher käme, daß die einen langsamer fortschreiten als die andern oder sich
nach einer Zeit raschen Fortschritts ein Weilchen, etwa zwei- oder dreitausend
Jahre lang, ausrüsten. Chamberlain stellt nun zunächst den Satz auf, daß
es eine Menschheit gar nicht giebt. Es giebt eine Menge Menschenarten, die
ja genug gemeinsames haben, daß sie als eine von den Tieren verschiedne
Gattung von Wesen erkannt werden können, aber nicht genug gemeinsames,
daß sie als ein Ganzes bezeichnet werden könnten, von dem man sagen dürfte,
daß es sich entwickelte, fortschritte, dieselben Schicksale hätte. Wolle man einen
gemeinschaftlichen Ursprung aller Menschen annehmen, so sei dagegen nichts
einzuwenden, nur dürfe man nicht vergessen, daß dergleichen Annahmen ins
Gebiet der Spekulation und der Hypothesen gehörten, und auch die Annahme
des „Urariers" sei davon nicht ausgenommen. Thatsache sei nur, daß es seit
dem Beginn der historischen Zeit Völker gebe, die man ihrer ähnlichen Eigen¬
schaften wegen mit Recht in Gruppen zusammenfassen und mit einen: gemein¬
samen Namen bezeichnen dürfe. Aber diese Gruppen seien so grundverschieden,
daß von einer gemeinsamen Kultur oder einem gemeinsamen Fortschritt bei
ihnen keine Rede sein könne. Elisee Reclus, schreibt er Seite 710, habe ihm
versichert: kein einziger Europäer, auch solche nicht, die wie Richthofen und
Harte viele Jahre in China gelebt hätten, auch kein Missionar, der sein ganzes
Leben im Innersten des Landes zugebracht habe, könne von sich melden: ^'al
oovim un VKirwis. „Die Persönlichkeit des Chinesen ist eben für uns un¬
durchdringlich, wie die unsre ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der
Seele seines Hundes und der Hund von der seines Herrn mehr als dieser selbe
Herr von der Seele des Chinesen, mit dem er auf die Jagd geht. (Sogar
dieses Bild hinkt, denn der Chinese geht gar nicht auf die Jagd). Alles Faseln
über »Menschheit« hilft über derlei nüchterne sichere Thatsachen nicht hinweg."
Die hellenische, die germanische Kultur seien jede etwas ganz für sich be¬
stehendes, nicht allgemein menschliches, die zweite etwas neues, vordem nie
dagewesenes, denn mich die griechische Kunst, das römische Recht hätten die
Germanen nur als Anregungen auf sich wirken lassen, und so angeregt hätten
sie völlig neues geschaffen. Diese Auffassung können wir uun allerdings
wieder nicht ohne drei Einschränkungen gelten lassen. Wir nehmen ein all¬
gemein Menschliches an, wie könnten sonst jüdische Psalmen und griechische
Trauerspiele des Deutschen Herz ergreifen? Nur nehmen wir zugleich an, daß
die Idee der Menschheit in den verschiednen Rassen und Völkern nur grad¬
weise und teilweise verwirklicht ist, sodaß es Viertelsmenschen, Halbmenschen
und Vollmenscheu und unter diesen wiederum verschiedne Spielarten giebt.
Die Mongolen stehn uns in der That so fern, wie Chamberlain beschreibt;
die Neger und die Malayen schon nicht mehr so fern; die Neger werden von
denen, die sie genau kennen, als große Kinder beschrieben; die nicht arischen
Zweige der Knukasierfamilie aber werden wir als Menschen anerkennen müssen,
die des Menschlichen im eigentlichen und höchsten Sinne des Wortes teilhaftig
sind, und mit denen eine Verständigung über die höchsten Fragen und die
heiligsten Interessen möglich ist, sodaß wir mit ihnen gemeinsame Kulturgüter
haben können. Daß sich keins dieser Völker, auch der germanischen und halb¬
germanischen, einer solchen Fülle von edeln Anlagen erfreut wie das deutsche,
bleibt dabei bestehn. Eine andre Einschränkung liegt in dem, was wir früher
über deu Kampf der Germanen gegen das Judentum und das Römertum ge¬
sagt haben. Wir halten es für kein Unglück, daß es nicht bei bloßen An¬
regungen durch die alten Kulturen geblieben ist, sondern daß die Germanen
jüdische, griechische, römische Ideen, Empfindungsweisen, Gesetze und Einrich¬
tungen in ihr Leben aufgenommen haben. Es ist zwar wahr, was Chamber¬
lain sagt, daß alle Entwicklung nur eine Entfaltung von schon vorhandnen sei,
aber die Natur eines Volkes, eines Individuums wird dadurch uicht gefälscht
und verdorben, daß es fremde Knlturerrungenschaften in sich aufnimmt, sondern
vielmehr bereichert. Und so ist es zwar auch richtig, daß natürlich jedes Volk
und jedes Individuum sein eignes, nicht ein allgemein menschliches Leben lebt,
aber so wenig wie die Personen leben die Völker vereinzelt, und ein göttlicher
Erziehungsplan, der allerdings nicht die ganze Menschheit, sondern nur die
Völker unsers Kulturkreises umfaßt, ist nicht zu verkennen. Zu diesem Er¬
ziehungsplan gehört — das ist eine dritte Einschränkung —, daß die frühern
Völker dieses Kreises den spätern vorarbeiten, und daß ihm sogar Völker, die
außerhalb standen, die des vorderasiatischen Kulturkreises, die erste Zivilisation
haben liefern müssen. Nicht allein würden die Germanen Jahrtausende ge¬
braucht haben, wenn sie die ihnen durch Rom überlieferten technischen Fertig¬
keiten des Altertums ganz allein aus sich selbst noch einmal hätten erfinden
und ausbilden sollen, sondern es würde ihnen auch so manches Element höherer
Kultur, z, B. die griechische Plastik, Poesie und Philosophie gänzlich fehlen,
weil das Dinge sind, die nur unter bestimmten, nie wiederkehrenden Um¬
ständen, daher nur einmal geschaffen, später nur benutzt und nachgeahmt werden
konnten.
Unsre Ansicht über den Fortschritt kennen die Leser. Was fortschreitet,
das sind die Wissenschaft und die Technik, die immer großer» Menschenmengen
das Leben ermöglichen und die Menschenseele durch den Arbeitsstoff, den sie
ihnen fortwährend liefern, vor Fäulnis bewahren, und mit Beziehung auf diese
beiden Lebensfunktionen kann man in neuerer Zeit sogar von einem Fortschritt
der gesamten Menschheit sprechen, weil heute jede technische Verbesserung sofort
Gemeingut aller Menschen wird. Dagegen vervollkommnet sich weder der ana¬
tomische Bau des Menschenleibes, noch irgend eine seiner Geistesanlagen, noch
seine Moral, noch kommt er der Lösung der höchsten Fragen näher, noch wächst
seine Glückseligkeit. Daß der einzelne Mensch glücklicher oder besser, das ein¬
zelne Volk zivilisierter oder mächtiger oder reicher werden kann, ändert nichts
am Gesnmtznstande. Chamberlain kommt, von andern Gesichtspunkten aus¬
gehend, zu ähnlichen Ergebnissen. Seite 714 schreibt er: „Unschwer hat so¬
eben jeder einsehen können, inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allge¬
meinen, Physiognomie- und charakterlosen, beliebig zu tretenden Menschheit ist,
die zur Überschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in
den Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weitern, höchst verderb¬
lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharfsinn er¬
fordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die beiden sich
gegenseitig ergänzenden Begriffe eines Fortschritts der Menschheit und einer
Entartung der Menschheit, die alle beide auf dem gesunden Boden der konkreten
historischen Thatsachen nicht zu rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiß die
Vorstellung des Fortschritts unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der
Göttergabe der Hoffnung aufs allgemeine; andrerseits kann die Metaphysik
der Religion das Symbol der Entartung nicht entbehren: doch handelt es sich
in beiden Fällen um innere Gemütszustande (im letzten Grunde um transzen¬
dente Ahnungen), die das Individuum auf seine Umgebung hinausprojiziert;
ans die thatsächliche Geschichte, als handle es sich um objektive Wirklichkeiten,
angewendet, führen sie zu falschen Urteilen und zur Verkennung der evidentesten
Thatsachen." Wie immer habe Kant den Nagel auf den Kopf getroffen, indem
er die angeblich fortschreitende Menschheit dem Kranken vergleiche, der trium¬
phierend ausrief: Ich sterbe vor lauter Besserung! Besonders zutreffend aber
sei folgende Äußerung Kants: „Daß die Welt im ganzen immer zum Bessern
fortschreitet, dies anzunehmen berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl
die rein praktische Vernunft, die nach einer solchen Hypothese zu handeln dog¬
matisch gebietet." Chamberlain schreibt weiter: „Fortschreitende Entwicklung
und fortschreitender Verfall sind Phänomene, die an das individuelle Leben ge¬
knüpft sind und nur allegorisch, uicht ssusu proxrio, auf die allgemeinen Er¬
scheinungen der Natur angewendet werden können. Jedes Individuum zeigt
uns Fortschritt und Verfall, jedes Individuelle, welcher Art es auch sei, eben¬
falls — also auch die individuelle Rasse, die individuelle Nation, die indivi¬
duelle Kultur; das ist eben der Preis, der bezahlt werden muß, um Indivi¬
dualität zu besitzen; wogegen bei allgemeinen, nicht individuellen Phänomenen
die Begriffe Fortschritt und Entartung gänzlich bedeutungslcer sind und ledig¬
lich eine mißbräuchliche Umschreibung für Änderung und Bewegung darstellen."
Er betont u. a. auch, gleich vielen Vorgängern seiner Auffassung, daß es für
die eigentümlichen Kulturerscheinnngen der verschiednen Völker keinen Maßstab
giebt, dessen man sich zur Wertvergleichung bedienen könnte, und daß es also
keinen Sinn hätte, zu fragen, ob z. V. Michelangelo größer sei als Phidias,
also gegen diesen einen Fortschritt bedeute. Daß Chamberlain ganz so wie
wir den Darwinianern das Recht abspricht, von Fortschritt zu reden, ist schou
erwähnt wordeu. Von Fortschritt kann doch nur gesprochen werden, wenn ein
Ziel oder ein Ideal vorhanden ist, dem sich die Bewegung nähert. Ein solches
ist aber nach darwinianischem Glauben nicht vorhanden. Die Arten ändern
sich nicht, weil sie etwas ästhetisch, moralisch oder intellektuell Vollkommneres
zu werden strebten, sondern weil die Individuen einer jeden durch ihre Um¬
gebung und durch ihre Lebensverhältnisse gezwungen sind, sich zu ändern, wenn
sie nicht untergehn wollen. Wenn sonach der darwinische Sprachgebrauch das
Wort „vollkommen" überhaupt zuließe, könnte es höchstens die Bedeutung
„widerstandsfähig" haben. Die widerstandsfähigsten Wesen sind aber die
Protisten, die Bakterien, dann alle Arten von Ungeziefer; den Löwen, Ele¬
fanten, Singvögeln droht der Untergang, und die Existenz der Huftiere und
der Wiederkäuer hängt ganz und gar von der Willkür des Menschen ab, der
von Natur das verletzlichste und hilfloseste aller Geschöpfe ist und sich erst in
neuerer Zeit durch seine geistigen Hilfsmittel eine Widerstandskraft erworben
hat, die eben den Bestand in einer sehr großen Anzahl von Exemplaren sichert.
Wie weit das Wort Fortschritt auf die einzelnen Lebensgebiete angewandt
werden könne, untersucht Chamberlain nicht. Gelegentlich erfährt man, daß auch
nach ihm das Wissen nicht im Sinne der Aufklürungsoptimisten fortschreitet,
da die Wissenschaft mit all ihrem Fortschritt immer nur das Thatsachcnmaterial
vermehrt, aber nichts erklärt. Auch vom sozialen Fortschritt urteilt er nicht
optimistisch; er glaubt Rogers und andern Erforschern ältrer Kulturzustände,
daß die mittelalterlichen Bauern und Handwerker glücklicher gelebt haben als
die heutigen Lohnarbeiter, und er beruft sich auf Herbert Spencer, der in seiner
Schrift ins irmn vsrsus lenz stais ausführlich beweise, daß sich noch in der
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in England wenigstens, an der un¬
würdigen Stellung, in die der Landarbeiter erst nach dem Mittelalter hinab¬
gedrückt worden sei, nichts geändert habe. Er spricht von den Anfängen dessen,
was man heute Kapitalismus nennt, besonders vom Hause Fugger, und be¬
merkt: „Doch wie war es möglich, da die Jnnungsgesetze dem einen Gesellen
verboten, mehr als die andern zu arbeiten, daß Fugger zu so viel Geld kam,
daß er in diesem Maße Handel treiben konnte? Ich weiß es nicht; niemand
weiß es!" O doch; die nationalökonomisch gebildeten Historiker haben das längst
gewußt. Die Textilindustrie drängt ihrer Natur nach zum Großbetrieb und
zur Spaltung ihrer Angehörigen in Unternehmer und Arbeiter, weil es dabei
-Massen ganz gleichmäßiger Arbeit zu verrichten giebt, und weil Massen eines
ganz gleichmäßigen Produkts hergestellt werden, oder mit andern Worten, weil,
'abgesehen von der Damast-, Brokat- und Gobelinwebcrei, nichts künstlerisches
'daran ist, kein Produkt von individuellem Gepräge dabei Herauskonnut und
nicht erfordert wird, daß das Material vom ersten Entstehn des Werkes bis
zu seiner Vollendung in derselben Hand bleibe; das Spinnen, Weben und
.Färben hat schon sehr früh ganz verschiedne und oft auch örtlich getrennt
lebende Handwerker beschäftigt. Bei dieser Natur des Gewerbes haben sich in
ihm die Jnnungsbeschränkungen nicht aufrecht erhalten lassen; schon lange vor
Hans Fugger, schon im dreizehnten Jahrhundert, haben sich wohlhabende
Leinen-, Seiden- und Wollenwebermeister zu Fabrikanten emporgeschwungen,
und zu der Zeit, da Hans Fugger erst den Grund legte zum Reichtum seines
Hanfes, in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, durchtobten Arbeiterauf¬
stände, natürlich vergebens, Italien, Deutschland und die Niederlande. Wie
das Elend der Arbeiter vielfach die Bedingung für den technischen Fortschritt,
die Niedertracht der Politik aber als Notwehrmittel oft auch edeln Völkern
unentbehrlich sei, legt Chamberlain in Übereinstimmung mit den meisten neuern
Geschichtschreibern dar. Auch hebt er hervor, daß die Herrschaft der Weiße«
den farbigen Völkern nie und nirgends Glück, sondern immer nur Untergang
oder harte Knechtschaft bringt. Doch möchten wir das letzte nicht für unbedingt
notwendig erklären; warum sollte dasselbe Gesetz, das in der rationellen Land¬
wirtschaft gilt, daß nämlich die am besten behandelten und gepflegten Haus¬
tiere den größten Nutzen abwerfen, nicht auch für die Benutzung der Farbigen
gelten? Der edle Mann wenigstens, den seine Empörung über die grausame
Niedertracht der holländischen Kolonialwirtschaft ans Java seine Existenz ge¬
kostet und der sie dann unter dem bezeichnenden Namen Multatuli beschrieben
hat, ist dieser Ansicht gewesen; ein wenig Menschlichkeit und Gewissen würde
die Herren Plantagenbesitzer nicht gleich arm machen, und es wäre nicht un-
denkbar, daß sie dadurch sogar reicher würden.
Für sehr verdienstlich müssen wir es erklären, daß Chamberlain den Unter¬
schied zwischen Zivilisation und Kultur scharf hervorhebt, und doppelt freut es
uns, daß er auch in dem bekanntlich schwankenden Sprachgebrauch mit uns
übereinstimmt; wie wir nennt er das Niedere, das Technische Zivilisation, das
Höhere Kultur. Weniger berechtigt finden wir es, daß er sich mit diesen zwei
Rubriken nicht begnügt, sondern die Lebensäußerungen der Völker dreifach
gliedert: „Wissen (Entdeckung und Wissenschaft), Zivilisation (Industrie, Wirt¬
schaft, Politik und Kirche), Kultur (Weltanschauung einschließlich der Religion
und der Sittenlehre und Kunst)." Wissen bildet die gemeinsame Grundlage
für alle Zivilisation und Kultur; es ist also nicht als ein besondres Gebiet
anzusehen, sondern gehört beiden Gebieten an. Die Darlegung des Wesens
der Entdeckung und der Wissenschaft gehört zu den Partien des Buchs, in
denen sich der Scharfsinn und das Konstruktionsgenic des Verfassers von der
glänzendsten Seite zeigt; ob die Scheidung gerechtfertigt ist, mögen andre unter¬
suchen. Über die Macht der Industrie schreibt er: „Keine Gewalt der Welt
vermag es, eine industrielle Errungenschaft zurückzuhalten. Die Industrie
gleicht fast einer blinden Naturkraft: widerstehn kann man ihr nicht, und tritt
sie auch einem gezähmten Tiere gleich gebändigt und dienend in die Erschei¬
nung, es weiß doch keiner, wohin sie führt. Die Entwicklung der Sprengstoff¬
technik, der Schießgewehre, der Dampfmaschinen sind Beispiele und Beweise;
wie Emerson treffend sagt: das Maschinenwesen unsrer Zeit gleicht einem Luft¬
ballon, der mit dem Aeronauten davongeflogen ist." Diese Macht der modernen
Industrie, die äußerlich alle Länder einander gleich macht und nicht allein eine
internationale Arbeiterbewegung, sondern auch Unternehmungen und Kapital-
Vereinigungen hervorruft, die die Staaten- und Völkergrenzen noch weit gründ¬
licher durchbrechen, erklärt zur Genüge die Marx-Engelssche Geschichtskonstruktion
und die Vorstellung der meisten Soziologen und vieler Historiker, als ob alle
Kultur nichts andres wäre als die Frucht einer bestimmten technischen oder
wirtschaftlichen Entwicklungsstufe. In Wirklichkeit kommt verhältnismäßig hohe
Zivilisation ohne jede Spur von Kultur vor — in China — und höchste
Kultur bei mäßiger Zivilisation: im alten Hellas und in so manchem mittel¬
alterlichen und nettem christlichen Gemeinwesen. Natürlich hängen beide viel¬
fach zusammen. Ohne olle Zivilisation kann keine Kultur entstehn, wie auch
das Sprüchlein : xriwuin vivsrs, afin pllilosoxllm'i andeutet; damit der Philo¬
soph leben könne, müssen andre für seine leiblichen Bedürfnisse sorgen, muß
also die Arbeitsteilung schon eingetreten sein; und damit er Stoff zum Philo¬
sophieren habe, muß er mannigfaltiges geschehn sehen, was ohne einige Zivi¬
lisation nicht möglich ist. Anderseits fragt es sich auch, ob sich Zivilisation
ohne alle Kultur'entwickeln könne. Denn die Technik setzt die Naturwissen¬
schaften voraus, die, wie auch Chamberlmn sehr schön und in ganz eigentüm¬
licher Weise zeigt, ohne ideale Antriebe nicht in Gang kommen. Er glaubt
daher auch nicht, daß die Chinesen irgend etwas erfunden Hütten; sie haben,
meint er, ihre Technik wahrscheinlich von benachbarten arischen Stämmen
empfangen; daß ein Volk einmal Schöpferkraft gehabt, diese aber verloren habe
"ut aus diesem Grunde jahrtausendelang auf derselben Stufe stehn geblieben
sei, klinge ganz unglaublich. Ein Volk, das Schöpferkraft habe, verliere sie
niemals und bleibe niemals stehn. Die Inder dagegen seien an Hypertrophie
der Kultur zu Grunde gegangen; es fehle ihnen das Schwergewicht an welt¬
lichen Bestrebungen, das dazu befähige, fest auf der Erde zu stehn; ohne Wirt¬
schaft und Politik sei auch die Kultur nicht gesichert. Man wird dabei nament¬
lich noch den Punkt im Auge behalten müssen, den der Verfasser in anderm
Zusammenhange erörtert, daß der ans der Natur zu schöpfende Wissensstoff
unbegrenzt ist; deshalb fehlt es den Völkern, die sich auf die Naturwissen¬
schaften verlegen, nie an Arbeitsstoff. Arbeit aber ist, wie schon bemerkt wurde,
zur Bewahrung der Seele vor Fäulnis nötig. Im idealen Gebiet wird nichts
Neues mehr entdeckt; die Ideale sind zwar als Antriebe und Regulative des
Handelns notwendig und verleihen allein der Seele Wert; aber wer sich aus¬
schließlich mit ihnen beschäftigt, der arbeitet nicht, sondern laut bloß wieder
oder träumt. Die verschiedne Verteilung von Zivilisation und Kultur und das
gänzliche Fehlen der einen oder der andern gehören demnach zur Art der Rassen.
Was uns Deutsche anlangt, so findet Chamberlain, daß wir uns bei hoher
Kultur einer sehr soliden Zivilisation erfreuten; diese bilde bei nus den Mittel¬
punkt; „ein guter Charakterzug, infofern er Bestand verspricht, ein nicht ganz
unbedenklicher, insofern er die Gefahr birgt, Chinese zu werden, eine Gefahr,
die eine sehr reelle werden würde, wenn die nicht oder kaum germanischen
Elemente unter uns die Oberhand bekämen"; wozu doch bemerkt werden muß,
daß die stockkatholischen Oberbayern und die Polacken gerade am wenigsten
Anlage zum Chinesentum haben, dessen Haupttrügerin unsre übrigens sehr ehren¬
werte Bureaukratie ist. Eine Anmerkung zu der Stelle lautet: „Speziell der
Deutsche neigt in gar manchen Dingen, z. B. in seiner Sammelwut, in seinem
Anhäufen von Material über Material, in seiner Neigung, den Geist über dem
Buchstaben zu vernachlässigen usw., bedenklich zum Chinesentum. Das war
schon früh aufgefallen, und Goethe erzählte Soret lachend von einem Globus
aus der Zeit Karls V., auf dem China zur Erläuterung die Inschrift trägt:
Die Chinesen sind ein Volk, das sehr viele Ähnlichkeit mit den Deutschen hat."
Und damals trug man noch nicht einmal den Zopf! Die Politik und der
Staat werden von Chamberlain, allerdings im Widerspruch mit der Bedeutung,
die er beiden im Kampfe gegen Rom beilegt, ziemlich niedrig bewertet und
nicht zur Kultur, sondern zur Zivilisation gerechnet, was ja auch der Umstand
gebietet, daß sogar die Chinesen einen Staat haben, und daß bei ihnen der
Staat sogar alle Verhältnisse weit vollkommner beherrscht und weit durch¬
greifender regelt als irgendwo anders. Chamberlain definiert das Recht nicht
übel als Willkür an der Stelle von Instinkt in den Beziehungen zwischen den
Menschen und schreibt dann: „Der Staat ist nun der Inbegriff der gesamten
zugleich unentbehrlichen und doch willkürlichen Abmachungen, und die Politik
ist der Staat am Werke. Der Staat ist gewissermaßen der Wagen, die Politik
der Kutscher; ein Kutscher aber, der selbst Wagner ist und an seinem Gefährt
unaufhörlich herumbesfert; manchmal wirft er auch um und muß sich einen
neuen Wagen bauen, doch besitzt er dazu kein Material außer dem alten, und
so gleicht denn das neue Fuhrwerk gewöhnlich bis auf kleine Äußerlichkeiten
dem frühern — es wäre denn, das wirtschaftliche Leben hätte wirklich in¬
zwischen noch nicht Dagewesenes herbeigeschafft." Die Kirche neben die Politik
zu stellen, giebt ihm das Politische an allem Kirchentum ein Recht; aber sie
gehört doch auch zur Kultur, weil sie eins der wichtigsten Kulturelemente, die
Religion, zu pflegen hat; freilich werden die Vertreter der idealen Auffassung
des Staats, die ihm die Aufgabe zuweisen, alle Kulturelemente zu pflegen,
für ihn erst recht diesen Anspruch erheben. Weltanschauung für Philosophie
läßt sich rechtfertigen, denn was man gewöhnlich einen Philosophen nennt, ist
ja doch nicht jeder Volksgenosse, und zudem hat die Bezeichnung Philosophie
ihren ursprünglichen Sinn verloren, denn die Liebe zur Weisheit spielt bei den
dieser Wissenschaft beflissenen keine große Rolle, Dagegen ist jedem Volke
eine besondre Art eigen, die Welt anzuschaun, und mit dieser Art hangen aller¬
dings seine Religion und seine Sittlichkeit zusammen. In der zweiten steckt
jedoch noch etwas andres, das Chamberlain hervorzuheben vergessen hat: eine
besondre Art des Empfindens; ohne die Empfindung bleibt die Anschauung
kraftlos. Zur arischen Empfindungsweise gehört, daß der unverdorbne Arier
an Grausamkeiten kein Wohlgefallen hat, daß ihm jede Art von Unwahrhaftig-
keit zuwider ist, daß er der sentimentalen Liebe fähig ist und sich in der Ein¬
ehe wohl fühlt. Auch die Treue wurzelt doch mehr in einer Empfindung als
in einer Anschauung. Ob das lebhafte Pflichtgefühl eine urarische, namentlich
urgermanische Empfindung oder erst durch Preußen und durch Kant ins deutsche
Blut gekommen ist, das wäre noch besonders zu untersuchen, Chamberlain
erwähnt, mit den Worten eines andern, den Gedanken der Pflicht, wobei
wieder zu sagen ist, daß der Gedanke ohne die Empfindung nichts nützt. Er
schreibt nämlich Seite 722: „Warum besitzt die Erscheinung des großen Byron
für jeden echten Germanen, trotz aller Bewundrung, die sein Genie einflößt,
etwas Abstoßendes? Treitschke hat diese Frage in seinem prächtigen Essay
über Byron beantwortet: »Weil wir in diesem reichen Leben nirgends dem
Gedanken der Pflicht begegnen.« Das ist ein widerwärtig uugermanischcr Zug.
Dagegen nehmen wir an seinen Liebesabenteuern nicht den geringsten Anstoß;
in ihnen bewährt sich vielmehr die echte Rasse; und mit Genugthuung sehen
wir. daß Byron — im Gegensatz zu Virgil, Juvenal, Lucian und ihren mo¬
dernen Nachahmern — zwar ausschweifend war, doch nicht frivol. Den
Weibern gegenüber empfindet er ritterlich."
An dieser Stelle interessiert uns das. was zwischen den beiden Gedanken¬
strichen steht, aus einem besondern Grunde. Juvenal kann man zwar im Ver¬
dacht haben, daß seine zur Schau getragne Entrüstung ein geheimes Wohl¬
gefallen an den Unznchtszenen verberge, die er schildert, man kann ihm also
wohl nußer dem Cynismus Lüsternheit vorwerfen, aber nicht Frivolität. Und
nun gar der keusche, ernste und würdevolle Virgil! Sollte er den am Ende
gar mit Ovid verwechselt haben? Eine solche Ungennuigkeit ist bedenklich bei
einem Buche, dessen Lehren auf einer ungeheuern Menge von gelehrten Werten
beruhen, dn der Leser nicht bei allen nachprüfen kann, mit welchem Grade von
Gewissenhaftigkeit und Verständnis sie benutzt worden sind. Chamberlain selbst
legt mit Recht den größten Nachdruck darauf, daß die genaue und gewissen¬
hafte Beobachtung weniger Thatsachen weit mehr zu richtigen Verallgemeine¬
rungen befähigt und berechtigt, als die oberflächliche Wahrnehmung weler.
Und wir vermissen bei ihm die Sorgfalt der Beobachtung an gar manchen
Stellen. Nur zwei wollen wir zur Probe anführen. Seite 517 schreibt er:
"Die römische Kirche, welche die mächtigste Verbreiterin des justiniamschen
Rechts war, lehrte, dieses Recht sei ein heiliges, gottgegcbnes." Und eme
Anmerkung dazu lautet: „Das Mittelalter stellte das römische Recht als ge¬
offenbarte Vernunft in Dingen des Rechts (ratio MriM dem Christentum
"is geoffenbarte sgeoffenbarterlj Religion zur Seite." Den Sperrdruck
hat das Original, Der Ausdruck „geoffenbarte Vernunft" ist nun reiner Un¬
sinn; er soll ohne Zweifel sagen, daß das vorxus ^uris ebenso für eine ge¬
offenbarte Schrift erklärt werde wie die Bibel. Und doch ist der Ausdruck:
rstio 8oriM, ganz klar und unverfänglich. Die alte Kirche lehrt, daß Gott
dem Menschen die Vernunft verliehen habe zur Erkenntnis der Wahrheit, und
daß sie dieser Aufgabe bis zu einem gewissen Grade gewachsen sei; was ihr
unerreichbar und dennoch zum Wohle der Menschen notwendig sei, habe Gott
durch Moses, die Propheten, Christus und die Apostel geoffenbart, wobei aus¬
drücklich bemerkt wird, zwar vermöge die Vernunft das meiste von dem, was
in der Schrift steht, auch ohne die übernatürliche Offenbarung zu erkennen,
aber weil Leidenschaft und andre Umstände den vollen und richtigen Gebrauch
der Vernunft vielfach hinderten, komme ihr Gott durch jene Veranstaltung
auch bei dem zu Hilfe, was sie eigentlich aus sich selbst zu leisten vermöge.
Der Ausdruck rsUo soriM sagt also nicht, daß das eorxus ^uri8 eine geoffen¬
barte Schrift sei, sondern daß die Vernunft in ihm ihre Sache gut gemacht
habe, und daß es demnach nützlich zu gebrauchen sei. Als Offenbarung Gottes,
und zwar als die erste und vorzüglichste, wird freilich auch die Vernunft an¬
erkannt, sie ist eben, als Bestandteil der Schöpfung, eine Offenbarung des
Schöpferwillens; aber der kirchliche Sprachgebrauch beschränkt den Begriff Offen¬
barung auf die Kundgebung des Erlöserwillens durch die obengenannten Per¬
sonen und unterscheidet streng zwischen der Natur, zu der die Vernunft mit
allen ihren Leistungen gehört, und ihrer Ergänzung, der Offenbarung.
Weit schlimmer ist ein zweites Mißverständnis, das von außerordentlich
flüchtigem Lesen zeugt. Seite 553 schreibt Chamberlain: „Wie der orthodox
römisch-katholische Wolfgang Menzel sagt," und Seite 653: „nach dem streng¬
katholischen Wolfgang Menzel." Jeder litterarisch Gebildete weiß, daß Wolf¬
gang Menzel zwar den: Katholizismus und den Katholiken gerecht zu werden
bemüht, aber ein ehrlicher Protestant gewesen ist. Chamberlain hat zwar nur
Menzels Christliche Symbolik gelesen, die wir leider nicht kennen, aber wir
kennen seine Hauptwerke, und ohne die Symbolik gelesen zu haben, erklären
wir es für unmöglich, daß er in dieser Schrift die Leser über die Konfession
des Verfassers im unklaren gelassen haben sollte. Wir wollen aus seinen
Lebenserinnerungen, die sein Sohn, der protestantische Theologe Konrad
Menzel, nach des Vaters Tode 1877 unter dem Titel „Wolfgang Menzels
Denkwürdigkeiten" herausgegeben hat, ein paar Stellen anführen, aus denen
die Leser zugleich sehen werden, daß die Grundgedanken Chnmberlains nicht
so neu sind, wie sie in dem glänzenden neuen Gewände scheinen, das aller¬
dings des Anglogermanen eigenstes Produkt ist. In dem Abschnitt „Mein
Verkehr mit Katholiken" (von S. 449 ab) schreibt Menzel: „Die romantische
Schule war sich selber nicht klar. Sie entlehnte ihren Namen von Rom, da
sie doch eigentlich nur eine Reaktion des germanischen Geistes und Geschmacks
gegen den romanischen war. Sie schwärmte für die Gotik, nicht für die Re¬
naissance. Die ihr verwandten Maler, die sogenannten Nazarener, gingen über
Rafael bis auf Perugino und Fiesole zurück. Die ihnen verwandten deutschen
Gelehrten aber vertieften sich nicht in romanische Altertümer, sondern in die
ältere deutsche Dichtkunst, in die alten deutschen Lieder, Märchen und Sagen.
Das nationale, germanische Element war es also hauptsächlich, Mas die roman¬
tische Schule kennzeichnete, nicht etwas spezifisch Katholisches und am wenigsten
etwas Neukatholisches. Insofern konnte auch die romantische Schule der rö¬
mischen Kurie und den Jesuiten nicht zusagen und fanden sich mehrere deutsche
Romantiker, die konvertierten, in der katholischen Welt nicht wenig getäuscht,
deun Rom haßte und verspottete alles Gotische und pflegte nur den Jesniten-
zvpf gleichsam als abendländischer Chinese. Als Jüngling in die patriotische
Begeisterung des Jahres 1813 fortgerissen, hing ich natürlicherweise auch mit
Vorliebe der romantischen Schule an, aber nur so weit sie das gotische Element
Pflegte und in Verbindung mit den altdeutschen Studien. Der neurömische
Kultus imponierte mir nicht. . . . Meine geschichtlichen Studien führten mich
dahin, bald einzusehen, daß die arme deutsche Nation heillos von Rom aus
mißhandelt worden sei. ... Die große deutsche Nation hat ein nie verjährendes
Recht, den Prozeß der Reformation zu revidieren, und wenn sie erst zur Ein-
sicht der Ursachen öder Glaubensspaltungj gekommen ist, auch die Wirkuug ver¬
schwinden zu machen. Kommt es einmal dazu, so wird sie auch wohl zu der
Einsicht gelange,:, daß es ihr auf eine allgemeine Reform der Kirche auf dem
ganzen Erdenrunde nicht ankommen darf, daß sie in konfessioneller Beziehung
weder einer andern Nation einen Zwang anthun, noch sich selbst von einer
andern einen Zwang gefallen lassen soll. Uniformitüt des Glaubens ist noch
niemals erreicht worden/weil die großen Rassen der Menschen und innerhalb
derselben auch wieder die Hauptnationen jede eine andre angeborne und zum
Teil auch durch das Klima bedingte konstante Volksart behalten, die sich zum
Licht der christlichen Offenbarung wie gefärbte Gläser verhalten----Je weiter
ich über die religiösen Dinge geforscht habe, umso mehr ist mir klar geworden,
daß die kirchlichen Parteien in unserm geliebten Vaterlande allesamt Unrecht
gethan haben, den geschichtlichen Faden christlich germanischer Entwicklung ab¬
zureißen. . . . Die Deutschen siud vou Anfang an dem wahren evangelischen
Christentum treuer geblieben als Griechen und Römer. . . . Christus hat den
Menschen nicht als ein passives Wesen genommen, das die Priester nach alt-
üghptischer Art mit unzähligen Geboten und Verboten einschnüren und ein¬
schachteln sollten usw." Zu den Katholiken, mit denen Menzel verkehrte, ge¬
hörte auch Montalambert; an diesem bewunderte er „das tiefe Verständnis des
Mittelalters und die innige Durchdringung des christlichen und germanischen
Geistes." Aber er nahm es ihm sehr übel, als er einmal „am deutschen Volke
den Vorzug der Geistigkeit und Wissenschaftlichkeit rühmte, der ihm den Mangel
ein Praktische., Tugenden und Fähigkeiten reichlich ersetze. Das habe ich nie¬
mals gelten lassen. Das große Volk Odins war das praktischste in der Welt
und wurde auch durch das Christentum keineswegs abgeschwächt oder dem prak¬
tischen Leben entfremdet, sondern entfaltete gerade erst im christlichen Mittel-
alter seine ganze nationale Kraft als das herrschende Volk in Europa. Erst
in neuerer Zeit hat uns die Büreaukratie und die Schule abgestumpft. Wenn
wir wieder einmal einig wären, würden wir auch bald so praktisch, gebieterisch
und unbarmherzig gegen andre Völker sein, wie wir es früher waren, und am
meisten sollen sich die Franzosen in acht nehmen, wenn sie sich einbilden, wir
seien nur noch ein Schreibervolk," Der Abschnitt schließt mit dem Satze:
„Im Jahre 1854 gab ich meine christliche Symbolik heraus, freilich nur eine
fleißige Kompilation, aber doch geeignet, auf die Gemütstiefe aufmerksam zu
machen, die sich in der poetischen Auffassung des Christentums hauptsächlich
im germanischen Mittelalter kund gab." Daß Chamberlain diese Schrift so
gründlich mißverstehn und den Verfasser für einen Katholiken, noch dazu für
einen streng orthodoxen halten konnte, muß gegen die Grundlagen seiner
„Grundlagen" ein starkes Mißtrauen einflößen.
em immer mehr verbreiteten Kunstinteresse unsrer Zeit, das
zwischen einer verwirrenden Menge von Anregungen ratlos um¬
herflattert, müssen gute lehrbuchartige Hilfsmittel besonders er¬
wünscht sein. Der erste Platz gebührt hier Dehios „Kunst¬
geschichte in Bildern" (Leipzig, Seemann). Der früher erschienene
dritte Band enthält die italienische Renaissance, der neuste vierte das fünfzehnte
und sechzehnte Jahrhundert außerhalb Italiens, also die van Esel und ihre
Nachfolger, dann Dürer, Cranach, Holbein usw., ferner die ältere niederländische
und französische Plastik, sowie Adam Krafft, Peter Bischer, Veit Stoß und
Riemenschneider, endlich in der Architektur die sogenannte deutsche Renaissance.
Das Gesamtbild kann hier nicht so glänzend sein wie in dem frühern Bande,
aber was auf diesen vierundachtzig Tafeln geboten wird, imponiert womöglich
noch mehr durch die sichere Auswahl und eine originelle, praktisch einleuchtende
Anordnung. Eine Zeit der nationalen Stile und eine des italienischen Ein¬
flusses umfassen als Hauptgruppen die einzelnen Künste, und zwar so, daß in
jene beinahe die gesamte Plastik und Malerei gestellt worden ist, z. B. auch
Peter Bischer, Holbein, Burckmair, Altdorfer, und für die zweite Abteilung
nur wenige ganz ausgesprochene Romanisten übrig bleiben, Giovanni da Bologna,
die beiden Floris (als Porträtmaler steht Frans Floris in der ersten), Adriaen
de Vries, in Deutschland Elsheimer mit einem Figurenbilde. In der Ab¬
teilung des italienischen Einflusses steht die ganze Architektur; die Gotik dieses
Zeitraums wird also im zweiten Bande des Werkes mitberücksichtigt werden,
und nur gotische Grabmäler, Altäre und andre Werke der dekorativen Kunst
finden sich in der ersten Gruppe unsers Bandes. Wer mit Nachdenken in
diesem Atlas hin und her blättert, kann viel dabei lernen. Er enthält auch
eine Menge wenig bekannter Sachen in neuen Aufnahmen überall hie und da.
Großartig wirkt die altniederlündische („burgundische") und die nltfranzösische
Plastik, mich die Malerei der Niederlande und Deutschlands mit dem in sie
eingeordneten Holzschnitt und Kupferstich macht einen vorzüglichen Eindruck, —
Warme Empfehlung verdient ein ähnlicher Bilderatlas in kleinerm Format:
„Meisterwerke der Baukunst und des Kunstgewerbes aller Länder und Zeiten"
von Hubert Jvly (Leipzig, Köhler), jedes Heft mit dreiundzwanzig Tafeln
kostet zwei Mark. Das uns zugegangne erste der ersten Abteilung (Italien)
enthält ganz vortreffliche Netzdrucke uach Aufnahmen Alinaris und Sommers:
Michelangelos Medieeerkapelle, Einzelheiten aus der Peterskirche, einiges aus
Venedig, das Hospital in Mailand, auch einen ganz modernen Palast (Fenzi)
in Florenz. Lobenswert ist die auf die Unterschriften gewandte Sorgfalt (der
geschnitzte Chorstuhl in Gubbio, Ur. 3, kann unmöglich von 1340 sein). Ein
soeben bei Hiersemann in Leipzig erschienenes fein kartoniertes Buch in dem¬
selben Format: „Architektonische Stilproben" von Max Bischof, Architekt,
giebt uns für fünf Mark auf fünfzig Tafeln je zwei Architekturansichten, vor¬
trefflich ausgewühlt und hergestellt, gleichfalls in Netzdruck, und in historischer
Folge geordnet von Cheops bis Nordamerika. Der Text ist gut, aber rein
historisch und sehr kurz, er besteht hauptsächlich aus Namen (Seite 27 könnte
er dahin mißverstanden werden, als wären die Caucelleria und der Palast
Giraud auch von Bramante, wie der Rundtempel bei S. Pietro in Montvrio).
Auf Erläuterungen der Bauformen, die man gerade von dem Architekten gern
gehabt hätte, läßt sich Bischof nicht weiter ein, als mit einigen Bemerkungen
über die Gotik. — Nur auf das neunzehnte Jahrhundert bezieht sich „Eine
Auswahl besondrer Bauwerke" von Adolf Maule (Basel, Schwabe), achtzehn
Tafeln in Hochquart mit schematichen Zeichnungen (wie er sie schon in seinem
größern Werke „Die Baukunst als Steinbau" angewandt hat), die den Haupt¬
eindruck geben und deswegen die Vergleichung der Bauwerke untereinander
zweckmäßig erleichtern. Die Zusammenstellung der wichtigsten großen Profan-
gebüude der neusten Zeit, in der Art, daß die ans demselben Blatte abge¬
bildeten immer denselben Maßstab haben, wird vielen angenehm und nützlich
sein. — „Einführung in die Geschichte der Baukunst" von Adolf Bieber ist
ein Textbuch zu einem Bilderatlas der Baukunst betitelt, das sich jemand für
sechzig Pfennige verschaffen kann (der Atlas kostet drei Mark; Leipzig, See¬
mann). Hinter dem angenommnen Namen verbirgt sich ein sehr kundiger
Mann, der aber auch zu schreiben weiß. Es giebt kein zweites Buch, worin
auf so wenig Seiten einem, der nichts davon zu versteh» braucht, die architek¬
tonischen Formen so klar gemacht werden; Muster dieser Kürze sind die zwei
Seiten (62, 76) über Barock und Rokoko. Gute Einzelbemerkungen, z. B.
über die Behandlung der Fenster in der italienischen Hochrenaissance, Seite 59,
lassen ahnen, daß der Verfasser noch viel mehr zu sagen wüßte, als was man
in seinem Büchlein liest. — Ein ähnliches Buch, „Stil und Stilvergleichung"
von Karl Kinn ich (Ravensburg, Maier) umfaßt einen weitern Kreis, alle
drei Künste und das Kunstgewerbe, es steht nicht auf der Höhe des Bieberschen,
aber es ist ebenfalls gut, Kar geschrieben und als das, was es sei» will, eine
„kurzgefaßte Stillehrc für Laien, Kunst- und Gewerbebeflissene," höchst brauch¬
bar. In einer zweiten Auflage, die gewiß schnell nötig werden wird, sollte
der Verfasser alles über die Malerei, soweit sie nicht dekorierend ist, gesagte
weglasse». Es ist ungenügend, in der Auswahl willkürlich oder zufällig, und
es gehört auch gar nicht in eine Stillehre. — Da sichs hier um kunstgewerb¬
liche Dinge handelt, sei noch auf einen hübschen Katalog des Kühtmannscheu
Verlags in Dresden aufmerksam gemacht, der mehr ist, als sein Titel sagt.
Er gewährt mit seinen elf Tafeln sehr deutlicher Autotypien nach den bekannten
plastischen Pflanzenformen von Meurer eine vollständige Einsicht in diese
Methode und ihre Absichten und giebt außerdem noch dem bloßen Liebhaber
eine Menge der reizendsten Anblicke. Es sind dieselben Elemente, aus denen
unsre verschiednen Vorfahren einst die Zierformen ihrer einzelnen Stile ge¬
wannen, sie sind ewig brauchbar und sagen jedem etwas, und wäre es auch
nur soviel, daß eine der hier abgebildeten Blüten- oder Blattfigureu ohne
alle weitere Veränderung in Gold oder Silber mit ein paar Steinchen drin
die gefälligste Brosche abgeben würde.
„Über die Seele und das Kunstwerk" belehrt uns Alfred Lichtwark in
drei kleinen Aufsätzen, deren letzter und gedankenreichster zuerst im Pan ge¬
standen hat, im Anschluß an Böcklin und seine späte Allerkennung (Berlin,
Cassirer). Das Kunstwerk wird mit der Seele gemacht, kann also auch nur
von ihr empfunden werden und verkommt, wenn die Seelen nicht mehr oder
noch nicht da sind. Der Unterricht hat Seelen zu bilden, damit sie für die
Kunstwerke der Zukunft da sind. Das Publikum urteilt über werdende Kunst¬
werke immer nur historisch, nicht „politisch," d. h. mit dem Gefühl; dein Böcklin,
den es 1870 nicht begriff, hat es 1890 zugejubelt, nachdem die Auffassung
kleiner Kreise seinen Wert erkannt und festgestellt hatte; ein originelles Urteil
ist ebenso selten wie originelle Produktion. — Diese Gedanken kommen ja in
der Hauptsache ans das hinaus, was man jetzt oft von schreibenden oder öffent¬
lich redenden Künstlern hört, daß die heutige Menschheit der werdende» Kunst
uicht ruhig mit dem Herzen folge, nicht wohlwollend teilnehmend abwarte, was
da werden möge, sondern gleich mit dem Besserwissen und Tadeln und Be¬
lehren bei der Hemd sei, wodurch dem Künstler die Unbefangenheit verloren
gehe. Die den Friede» stört, ist natürlich die Kunstkritik. Ganz gewiß könnte
die Kunst ohne sie fertig werden, aber das Publikum nicht; es würde sie,
wenn sie fehlte, hervorrufen und schaffen. Ob es andrerseits zum Heil der
Sache wäre, wenn sich das Publikum ohne das Urteilen, das Lichtwark ver¬
urteilt, ganz in die Absichten der werdenden Künstler gefangen gäbe? Man
darf doch nicht verkennen, daß, wo das Kunstinteresse so in die Weite geht
wie heute, nicht bloß Aberwitz und Krittelei daraus folgt, soudern auch viel
guter Wille, zu lernen und zu fühlen, was Kunst ist. Manches Talent bleibt
freilich unerkannt und geht erfolglos zu Grnnde, das ist auf andern Lebens¬
gebieten ebenso, aber alles Große hat noch immer seinen Weg gesunde», wenn
auch oftmals spät. Auch in andern Zeiten ist das nicht viel anders gewesen.
Die Holländer mißachteten Rembrandt und Ruysdael, die Belgier Adricien
Brouwer, dessen kleine Bilder heute kaum mit Gelde zu bezahlen sind. Die
Italiener haben Michelangelo sein Schaffen nach Kräften erschwert, sie hätten
auch Raffael das Leben zerstört, wenn er nicht rechtzeitig gestorben wäre; auf
dem besten Wege dazu waren sie. Also Lichtwarks Seelenunterricht ist gut
gemeint, aber ganz so verwahrlost sind die Seelen, denen er zugedacht ist,
wahrscheinlich doch nicht.
Ein Werk, das, wie man höflich sagt, dem Geschmack allerweitester Kreise
Rechnung trägt, hat den Titel „Durch ganz Italien" und besteht aus Licfc-
rungsheften (Berlin, Werner Verlag) in großem Querformat zu je sieben doppel¬
seitig mit Autotypien bedruckten Tafeln im Preise von einer Mark. Man be¬
kommt also recht viel für sein Geld und darf darum nicht unbescheiden sein. Uns
sind acht Lieferungen zugegangen. Die ersten (Venedig) sind recht gut und
enthalten in ausreichend großem Maßstabe auch manches weniger bekannte
Bauwerk oder Gemälde; auffallend ist die geringe Berücksichtigung der Skulptur.
Vicenza ist auch uoch gut, Padua in Bezug auf seine Gebäude und den In¬
halt von S. Antonio ebenfalls, aber von Fresken bekommen wir nichts zu
sehen. Dann gelangen wir über das Gebiet der Seen, in unzähligen kleinen
Postkartenansichten, nach Mailand. Die Certvsa bei Pavin bekommen wir in
reichlichen guten Abbildungen. Mailand ist aber ganz ungenügend, die Aus¬
wahl der Bilder aus den Sammlungen geradezu stümperhaft. Der Reisende,
der inzwischen bis Turin gelangt ist, wo unsre achte Lieferung abschließt, hat
von der großen lombardischen Malerei so gut wie gnr keinen Begriff bekommen,
dafür ist ihm einigemal van Dyck, ferner Sassoferrato und Guercino und auch
ein Kikerikihahn von Hondecoeter gezeigt worden, deretwegen er doch wohl
nicht gerade nach Italien gekommen sein wird. Wenn das Unternehmen sein
Publikum nicht gnr zu tief unten sucht, so muß es wieder zu der Höhe der
ersten Lieferungen zurückkehren. Es würde ferner auch gewiß niemand etwas
vermissen, wenn die prahlerischer und geschmacklosen modernen Denkmäler
Italiens wegblieben, und wenn die sogenannten Volkstypen, die den Beschauer
entweder selbstgefällig oder blödsinnig angrinsen, den Photographen gelassen
würden, die sie sich angekleidet und aufgebaut haben.
Ein großartiges Werk, kostspielig und weit angelegt, sind die bis jetzt in
drei Bänden (Der Soldat, Der Kaufmann, Der Arzt) bei Eugen Diederichs
in Leipzig erschienenen „Monographien zur deutschen Kulturgeschichte"; sie
sollen das, was in unsrer Vergangenheit gut, natürlich und kräftig war, für
jedermann wieder lebendig machen, unsre Kultur auffrischen und eine neue
Romantik herbeiführen helfen. Tüchtige Kräfte sind für die einzelnen Dar¬
stellungen gewonnen worden, und diese sind gehaltvoll und lesen sich angenehm.
Die altertümelnde Druckausstattuug mit dem grauen Papier kann freilich Nieder
für geschmackvoll gelten, noch erhöht oder erleichtert sie den Genuß oder die
Arbeit der Aufnahme. Weil unsre Vorfahre» noch nicht unser billiges weißes
Kupfcrdruckpapicr hatten, ans dem man die Abdrücke jedenfalls deutlicher sieht,
brauchen wir unsern Fortschritt doch nicht zu verleugnen und ihnen durch Nach-
ahmung einer UnVollkommenheit äußerlich ähnlich zu werden. Den Haupt¬
eindruck macht nämlich eine höchst interessante Illustration durch gute Zink¬
ätzungen nach alten Holzschnitten und Kupferstichen, deren Bestimmung und
Anordnung, wie vor jedem Baude bemerkt wird, durch die Verlagshandlung
geschah. Infolge dessen gehn die Bilder selbständig neben dem Texte her, sie
erläutern ihn manchmal ganz im allgemeinen oder auch mit einem einzelnen
Teile des auf ihnen Dargestellten, aber er nimmt auf sie gar keine Rücksicht.
Das ist schade. Wer z. B. wissen möchte, was auf einem Kupferstich von
Hopser zwei neben dem „reichen Kaufmann" abgebildete Figuren bedeuten sollen,
wird danach vergebens suchen, und wer in dem Soldatcuband neben einander
drei von den Franzosen im Jahre 1689 in Brand gesteckte Städte, Heidelberg,
Speier und Worms, in gleichzeitigen Kupferstichen nicht ohne Bewegung be¬
trachtet hat und nun auch etwas darüber lesen will, findet nichts. Nun macht
sich aber die Illustration dem Text gegenüber nicht bloß durch ihre erdrückende
Menge geltend (sechs oder sieben Darstellungen von Geldwechslern und ebenso
viele von Ärzten, die ihr ominöses Glas in die Luft halten, wo eine genügt
hätte), sie ist auch das an sich Wertvollere und vor allem das Anziehende.
Jeder wird wahrscheinlich bei den Bildern anfangen, und nur wenige werde»
den Text überhaupt zu Ende lesen, nicht einmal die betreffenden Fachgenossen.
Das Arztbuch wird von Medizinern gelesen werden, weil unter diesen viel
Interesse für die Geschichte ihres Fachs zu finden ist; die Kaufleute, die den
Kaufmannsband durchlesen, werden zu zählen sein, obwohl er besonders an¬
ziehend geschrieben ist. Der Verleger wird am Schluß das ganze Abbildungs¬
material in einem kunstwissenschaftlicher Handbuch behandeln lassen. Vielleicht
hätte er es besser von vornherein, wie Hirth in seinen Bilderbüchern, für sich
wirken oder doch als Hauptsache hervortreten lassen, begleitet von einem haupt¬
sächlich erklärenden Texte. Vielleicht sind dies aber auch ganz unnötige Be¬
sorgnisse, denn die Verbindung von Bild und gedruckten Worte, die einander
nichts eingehn, ist ja heute hochmodern, und hoffentlich werden diese für das,
was sie enthalten, sehr wohlfeilen Bände (vier Mark) den verdienten äußern
Erfolg haben.
Von den Zeitschriften, über die die Grenzboten ihren Lesern Mitteilungen
zu machen pflegten, ist ihnen die bei Bruckmann in München herausgekommne
„Dekorative Kunst" nicht mehr zugegangen, vielleicht besteht sie nicht mehr.
Das „Ver Sacrum," das Organ der Vereinigung bildender Künstler Öster¬
reichs, hat in den zwölf Heften seines zweiten Jahrgangs (des ersten, der in
Leipzig bei Seemann erschienen ist) sehr viel Hübsches gebracht, allerdings auch
manches, was nur für den Kenner verständlich ist, wie die von Linien um¬
kreisten Figurenzeichnnngen und Gedichte Ernst Stöhrs im Schlußheft. Der
Inhalt dieses Bandes ist reich (Architektur, Dekoration, reproduktive Kunst und
Skizzen) und die Ausstattung sehr besonders, er enthält auch vieles, was Lieb¬
haberkünstler verwerten können, und verdient als Ganzes etwas mehr als die
sogenannte Beachtung, nämlich einen Platz im Büchergestell wenigstens für
einige Jahre (fünfzehn Mark). Er ist ein Unikum, denn die Vereinigung wird,
nachdem sie ihren Zweck, dus Publikum für ihre Arbeiten zu interessieren, durch
diesen Band erreicht hat, fortan umfangreichere Publikationen, die nicht im
Handel zu haben sein werden, nur für ihre Mitglieder herausgebein Von den
„Graphischen Künsten" (Wien, Gesellschaft für vervielfältigende Kunst) liegen
uns Jahrgang 22, Heft 3, 4 und 23, Heft 1 vor. Diese ausgezeichnet ge¬
leitete Zeitschrift berücksichtigt seit ihrem 21. Jahrgang nicht mehr wie früher
das gesamte Gebiet der Kunst, sondern nur die graphischen Künste und das
Illustrationswesen der Gegenwart, sie ist also einzig in ihrer Art. Ob die
von ihr gepflegte Art auch so einzig und kräftig genug sein wird, ein Publi¬
kationswerk von diesem Range zu speisen und zu erhalten, muß sich zeigen.
Den zeichnenden Künstler,: kommt die Umgestaltung zu statten. Die Skizze
und alles Unfertige ist heute hochmodern, und für den Durchschnittskunstfreund
gehört es mit dazu, daraus „Stimmungen" zu fangen; erfolgt auch ein wenig
den reproduzierenden Techniken in ihren Fortschritten. Aber das größere
Publikum Null doch von Zeit zu Zeit auch einmal ein wirkliches Bild sehen,
das nach etwas aussieht und schon Ruf und Rang hat, und nicht bloß Proben,
die zu diesem und jenem Zuknnftstranm Anlaß geben. Die zwei ersten Hefte
enthalten einige sehr originelle und anziehende Sachen, Holzschnitte und Zeich¬
nungen des Prager Malerzeichners Orlik, darunter eine große Studie zu einer
Radierung, ganz fertig, von voller Bildwirknng (Wäscherinnen an einem Teiche
mit Schwänen), ferner Kohlenzeichnungen und eine Radierung von Sion Weltbau,
einem in Armut und Sorgen 1897 in München gestorbnen Amerikaner, endlich
allerlei Bilderwerk eines Illustrators ersten Ranges, des Freiherrn von Myrbach,
von demi jedes Stück anzusehen Vergnügen erweckt. Nehmen wir dazu etwa
noch die Lithographien von Kallmorgen aus Karlsruhe zu seinem Werk „Ins
Land der Mitternachtssonne" (Leipzig, Seemann), so kann alles Übrige mit
dem Wohlwollen, der Hoffnung oder der persönlichen Achtung angesehen
werden, zu denen die Verfasser der einzelnen Texte die Anleitung geben. Das
letzte Heft ist den Zeichnern und Radierern des heutigen Belgiens (mit einem
Text von Pol de Mont) gewidmet und enthält ganz hübsche, aber keineswegs
gegenüber dem, was anderwärts geleistet wird, hervorragende Sachen. Das
Illustrationswesen ist dort jung und hat mit großen Mühen zu kämpfen gehabt.
Fetialen Nops war einst aus Paris nach Brüssel zurückgekehrt, um diese Stadt
zu einem Mittelpunkt der graphischen Künste zu machen. Das mißlang, aber
es giebt eine Anzahl tüchtiger Radierer, deren Eigentümlichkeit uns der Ant¬
werpener Kenner gut zu schildern weiß. Ein Meisterstück schriftstellerischer Kunst
ist sein Artikel über den sehr angesehenen, etwas komplizierte» und nicht gerade
sympathischen Fernand Khnopff. Dieser hat sechs Monate in Paris studiert,
arbeitet mit einem einzigen, scheinbar der englischen Aristokratie entlehnten
Frauentypus, erinnert als Illustrator nach der Meinung einiger Kritiker an
Burne Jones oder Gustave Moreau, und trotz alledem lauter Superlative, das
Manierierte aber und Zusammengesuchte, was in den mitgeteilten Frauenbild¬
nissen liegt, scheint den Verfasser nicht gestört zu haben. — Ich kann mir nicht
helfen, mir kommt dabei die Erinnerung an einen komischen kleinen Reiseein-
druck. Ich kam von Brüssel, vollgesogen von libr«z sstlietiHUö und art vouvsau,
und fuhr nach Holland hinein. Kurz vor Dordrecht, nahe an der Bahn, lag
ein riesiges Gebäude mit einer weithin leuchtende» Inschrift. Es war eine
Fabrik von künstlichem Guano, und die Aufschrift sagte: Internationale Kunst-
mest. Ich mußte herzlich lachen, und der Leser verdenke es mir hoffentlich
>cMH.
-L^H^WWer sonderbare Titel des kürzlich erschienenen Werkes Georg von
Bunsen, ein Charakterbild aus dem Lager der Besiegten,
gezeichnet von seiner Tochter Marie von Bunsen (Berlin,
Wilhelm Hertz), erweckt insofern eine schiefe Vorstellung von seinen,
Inhalt, als der Held weder je den Anspruch erhoben hat, ein eben-
! hurtiger Gegner Bismcircks zu sein, noch auch überhaupt ein leiden¬
schaftlicher Feind des Kanzlers war. Bunsen war ein ehrenhafter, tüchtiger und
liebenswürdiger Mann von ausgebreiteter Welt- wie Lebenserfahrung und viel¬
seitigem Wissen, dem es seine unabhängige Lebensstellung erlaubte, sich ganz seiner
politischen Bürgerpflicht, wie er sie auffaßte, zu widmen, und der sein warmes
Herz bei zahlreichen energisch und zum Teile auf Kosten der eignen Gesundheit
betriebnen Wohlthätigkeits- und Wohlfahrtsbestrebungen glänzend bethätigte. Für
seine Laufbahn und für alle seine politischen Bestrebungen sind die Ansichten seines
von ihm leidenschaftlich geliebten und hoch verehrten Vaters, des Gesandten, be¬
stimmend gewesen, der die schlimmste Zeit der mit dem Muckertume verquickten
politischen Reaktion in Preußen mit den Worten bezeichnet hat: „Von Hengsten¬
bergs Studierzimmer aus, durch Gerlach, geht alles auf Verdammung und Ver¬
finsterung los; man wird diese trübe Zeit des geistreichsten Königs des Jahr¬
hunderts noch viel ärger beklagen und verurteilen als die Wöllners; alles hat
zugleich den reaktionären und politischen Charakter der Junkerpartei; nur Heuchelei
und wahrer Unglaube wird durch dieses unselige System gepflanzt, und die leiden¬
schaftlichste Reaktion vorbereitet; mit Garden und Polizei kann man ja politisch
thun, was man will — so lange es dauert; allein die Knechtung des Geistes hat
der Deutsche nie ertragen, und sein Fluch folgt durch alle Jahrhunderte denen, die
sie gesucht haben."
Diesen Standpunkt bewahrte er während der Konfliktszeit und der darauf
folgenden Epoche, die im wesentlichen die Signatur Bismcircks trägt, und gab ihr
als Parlamentarier besonders in den Phasen der innern Politik mehr oder weniger
lebhaften Ausdruck, während deren sich der Kanzler von der liberalen Partei ab¬
zuwenden schien. Dabei war aber Bunsen viel zu vorurteilsfrei und gescheut, als
daß er sich je auf blinden Fraktionsfanatismus eingelassen hätte. Am bezeichnendsten
dafür ist, was er am 19. August 1885 einem seiner Brüder schreibt (S. 293):
„Ich verlasse die Politik aus Gesundheitsrücksichten, habe aber erklärt, daß ich mich
nötigenfalls wieder auf einer Bahre hereintragen lassen würde, wenn
sie Engen Richter herausgeworfen hätten." Und einige Monate später
schreibt er einem befreundeten Engländer: „Mehr und mehr empfand ich, daß die
Freisinnigen mich nur noch aus persönlicher Achtung duldeten. Mit Ausnahme
des Freihandels waren wir fast immer andrer Meinung: vielleicht taktische Fragen,
aber wenn sie peroresieren I^das englische xsioiaw, deutsch perorierenj wollten,
ohne die Initiative zu ergreifen, wollte ich drängen, vorschlagen, trotz Nieder¬
lagen zum Volke sprechen, das anfing zu glauben, daß wir kein Programm mehr
besäßen."
Daß er im Jahre 1862 von Bismarck (S. 194) schreibt, er sei verwegen
und ohne Grundsätze, sein Thun werde sehr sorgfältig verfolgt werden müssen,
man könne sich einen solchen Abenteurer, einen solchen Hazardspieler gar nicht vor¬
stellen, war eben damals die allgemeine Meinung des großen Publikums. Am
2. Februar 1873 schreibt er dagegen (S. 255): „Ich ließ meinen Umschlag früher
durfte man Couvert sagenZ offen, um dir noch über deu Abend bei Bismarck zu
berichten. Das Mittagessen und alles war durchaus anständig herrschaftlich, nach
Tische zogen sich die Damen zurück, und wir Herren gruppierten uns um deu
Kanzler. Dort saß er in strahlender Liebenswürdigkeit, seinen Generalsrock offen,
den leuchtenden Schwarzen Adlerorden mit Brillanten vom Rauche seiner langen
Pfeife umqualmt. Da saß er und sprach und sprach, gewiß über anderthalb
Stunden, stets interessant, oft indiskret, ohne jemals sein Ziel aus den Augen zu
verlieren, nämlich uns zu zeigen, daß er wieder zufrieden in die Zukunft schaue,
daß er alle Parteien mit sich selbst und seiner Führung auszusöhnen hoffe; vor
allem aber lag ihm daran, darzulegen, wie gänzlich er seinem königlichen Herrn
ergeben sei. Sein Gespräch ist sprühender hin Originale wohl mors ZpriMI?,
also lebhafter^ als das irgend eines Deutschen, der mir jemals vorgekommen ist,
mit alleiniger Ausnahme meines Vaters, der mehr Einbildungskraft und einen
höhern sittlichen Gesichtspunkt besaß." Wer will es dem Sohne verargen, wenn
er deu Vater sogar über Bismarck stellt?
Sechs Jahre später ist seine Stimmung umgeschlagen, und er vergleicht Bis-
marcks innere Politik zu ihrem Schaden mit der — GladstonesI Da (S. 284)
heißt es: „Die Auflösung war gut erdacht. Ich meine: die Analogie mit den
englischen Wahlen von 1874 wird Bismarck vorgeschwebt haben. Auch er hat sich
aus allen Verstimmungen, die eine Zeit rüstiger Reformen hervorruft, einen Strick
zu drehen begönne», um daran die Nationalliberalen aufzuhängen. Der Unterschied
wäre nur etwa der, daß es sich in England um Gladstonische Reformen, hier um
Bismarckische handelte!"
Leider hat sich die Verfasserin in der Auswahl des von ihr Mitgeteilten eine
große Beschränkung aufgelegt: obgleich, wie sie (S. 181) sagt, die Politik seit dein
Jahre 1862 den Mittelpunkt des Daseins ihres Vaters bildete, meint sie, das
Jnteressanteste dürfe heute noch nicht veröffentlicht werden; aber es bleibt doch noch
genug Lesenswertes übrig, wie z. B. die unvergleichliche Szene am 19. Mai 1862
(S. 185). deren Komik übrigens Bunsen selbst — wie manchmal auch sonst dem
zunächst Beteiligten — kaum zum rechten Bewußtsein gekommen zu sein scheint.
Zu seinen, Erstaunen erhielt nämlich Bunsen eine Einladung zur königlichen
Tafel und fand sich im Vorsaale mit Standesherren, kommandierender Generale»
und drei Ministern zusammen. Daß ein oppositioneller Abgeordneter in dieser
Versammlung nicht mit großem Entgegenkommen behandelt wurde, läßt sich denken.
Um 4-V4 Uhr trat König Wilhelm in den Vorsaal. Als er Bunsen erblickte,
sagte er lächelnd:
Ah, Sie sind ja Deputierter. Wissen Sie, was ich aus Ihnen machen will?
Meinen Kriegsminister. Sie reden ja über militärische Fragen, Dauer der Dienst-
Zeit usw. gerade, als wenn Sie nie etwas andres getrieben hätten.
Bunsen: Es ist nicht meine Art, über Dinge zu sprechen, die ich nicht ver¬
stehe: deshalb habe ich mir die technische Frage vom Leibe gehalten. Als aber die
Leute j seine Wähler in Bonnj durchaus wissen wollten, was ich für das beste
Mittel zum Sparen hielte, gab ich die Majestät bekannte Antwort, daß mit zwei¬
jähriger Dienstzeit am meisten gespart werden könne.
Der König: Nun, wovon man nichts versteht, darüber schweigt man.
Nach Tisch mußte der König wieder an ihm vorbei gehn und fragte ihn nach
dem Befinden seiner Mutter. Dann redete er andre Gäste an, und die einzelnen
Gespräche dauerten so lange, daß sich Bunsen gründlich langweilte. Als sich der
König zuletzt ihm wieder näherte, wollte er es ihm möglichst leicht machen, ihn zu
übergehn, und stellte sich, ganz versunken in den Anblick des Schildes und des
Helmes, die ihm zum funfzigjährigen Dienstjubiläum geschenkt worden waren, hinter
zwei Herzöge. Aber der König, offenbar um ihn in seiner unerschöpflichen Gut¬
mütigkeit für die vorherige unfreundliche Behandlung durch die andern Gäste zu
entschädige» ^dieses Gefühl hatte Bunsen selbst^, schritt auf ihn zu, zeigte ihm die
Kunstwerke und erzählte, daß sie der König selbst gezeichnet habe — alles auf das
Liebenswürdigste. Während des Sprechens drehte sich der König halb um und
rief laut:
Gruben, Sie kennen ja Bunsen, kommen Sie mal her.
Gruben: El gewiß, Teurer, gewiß, Majestät, ein so lieber und vortrefflicher
und gescheuter Mensch!
Der König: Nun nehmen Sie ihn mir einmal tüchtig in die Mache, Sie und
General von Brandt. Bunsen, Sie kennen doch Brandes Buch? Lesen Sie es
ja, und kommen Sie mir nicht wieder mit der zweijährigen Dienstzeit. Groben,
lassen Sie ihn nicht los!
So interessant als Beitrag zur Zeitgeschichte das Buch auch ist, so wird man
doch sachlich wie formell manche Ausstellungen zu machen geneigt sein. Wie soll
man verstehn, was Seite 126 von der Kaiserin Augusta gesagt wird: „Es leben
noch manche, die sie gut gelaunt haben, und zwar nicht nur die Kaiserin, nicht mir
die Königin, sondern vor allem die geistig weit höher stehende Prinzessin
von Preußen." Nicht weniger dunkel ist die Behauptung (S. 181): „In der
Kunstgeschichte widerfährt heute den Meistern der Vollendung sehr häufig ein Un¬
recht. Wir wissen, wie schädlich ihr Einfluß wirkte, wie schlimm der unmittelbar
ans sie folgende Verfall jwar oder wirkte?!, wir wissen, wie lange es dauerte, ehe
die Rafaelische und Michel Angelesaue Schule überwunden werden
konnte." — Seite 271 wird behauptet, Bunsen habe der sogenannten Griechheit in
Berlin seit „dem Beginn des Vereins" angehört, während die Ursprünge der Ge¬
sellschaft in das Ende des achtzehnten Jahrhunderts zurückreichen.
Wenig erfreulich ist die überall hervortretende Vorliebe für alles Englische.
Die Verfasserin macht sich ganz die Worte ihrer (englischen) Großmutter zu eigen,
die sie (S. 27) so übersetzt: „Der Maugel feinerer Bildung ist der geringste Vor¬
wurf, den ich der deutschen Frcmeuerziehung mache. Weit verhängnisvoller ist die
fehlende Selbstbeherrschung, Offenheit und Aufrichtigkeit: jungeu sso!j Mädchen
lehrt man Verstellung, um nicht anzustoßen, lehrt man Einschmeichelung, um zu ge¬
fallen. Wie viel besser die Schulung guter Formen, die auf dem christlichen joie
alles in Englands Grundsätze beruht, niemanden zu kränken, womöglich andern die
günstigsten Beweggründe zuzuschreiben und alles wirklich Schlechte mit Geduld und
Sanftmut zu ertragen. Wie viel besser, keine Herrschaft zu erstreben, aber sich
gern einer berechtigten Autorität zu fügen, ein Grundsatz ehelichen Gehorsams, den
ich niemals bei deutscheu Frauen, oft aber bei den Frauen andrer
Nationen gefunden jso!j." Trinmphierend wird denn auch (S. 104) der Aus-
Spruch Motleys angeführt, daß die Londoner Gesellschaft die glänzendste und ge¬
bildetste der Welt sei, und der schon im Jahre 1852 unvermeidliche und seitdem
immer unentrinnbarer gewordne Max Müller bescheinigt dem damaligen preußischen
Kronprinzen (S. 128): „Rasch erfaßte er die Vorteile des englischen Universitäts¬
wesens, besonders was das Collegesystem und die direkte Unterweisung des Lehrers
betrifft." Wie schade, daß Goldstücker nicht mehr lebt: er allein könnte uns viel¬
leicht dieses dunkle Wort deuten.
So sieht uns denn im Stil besonders der aus der Sprache der Mutter und
der Großmutter der Verfasserin übersetzten Stücke imnier Altengland ins Gesicht.
Seite 189 heißt es: „Alle, die viel in England ausgegangen jwsut on^" statt
in Gesellschaft gegangen sind, Seite 191 „in das Herz meiner Söhne den
Wunsch zu erwecken," Seite 195 ist Bismarck der Durchsetzer der deutschen Ein¬
heit. Seite 208 „dieser Plan gefiel uicht der Regierung." Seite 213 „im Ge¬
spräch war er sehr lebhaft und nicht ohne französische Genauigkeit si»6ol8lo^,"
Seite 216 „sie übersiedelten nach der Hauptstadt," Seite 242 „es läge ein
Vorwurf in der Behauptung, daß England ihr germanisches Erbrecht vergäße und
lateinischer in ihren Anschauungen würde," Seite 246 „jeder beleidigte ihn als
Spionen," Seite 254 schreibt Bunsen seiner Frau: „Mein geliebter Ratgeber
seounsslml," Seite 272 rühmt Kaiserin Augusta, daß ihr Privatsekretttr I. Brandes
„sie ganz auf dem Laufenden der Lage setzte," Seite 274 „Professor Thanler
von dieser jok tuis^ Universität," nämlich der von Kiel, wo sich Bunsen gerade
aufhielt, Seite 321 „mein Vater überhörte jovernsarä) einen Deckoffizier,"
Seite 323 „in Mentone ward ihm anregender Verkehr mit dem Comte Foucher
de Careil, dem frühern französischen Botschafter, und dem feinen Kenner und
Übersetzer von Schopenhauer und Hegel zu teil" Wd das drei Personen oder
eine und dieselbe^, Seite 330 „die eisern dünkende Persönlichkeit Stanleys."
Seite 343 „als eine Schwägerin in England auf den Tod lag," und ebenda „er
ließ es sich nicht nehmen, einem neben uns sitzenden Ehepaar auf alles Interessante
aufmerksam zu machen."
Die politischen Ansichten der Verfasserin brauchen uns schließlich nicht weiter
zu interessieren, wenn sie nicht einmal symptomatisch für den Standpunkt wären,
den die ihrem Vater mehr oder weniger nahe stehenden Kreise zu seiner Lebenszeit
einnahmen und noch heute einnehmen, und wenn man nicht fürchten müßte, daß
ihre thatsächliche» Mitteilungen tendenziös gefärbt sind. Gern wird man freilich
glauben, daß der Prinz von Preuße» im Jahre 1843 (S. 55) bemerkt hat, daß
den sso!^ Prinzen zu seiner Zeit kein Latein gelehrt worden sei, wenigstens hätten
sie es nie gekonnt, wobei selbstverständlich der grobe Sprachfehler nicht auf sein
Konto kommt — aber was soll man dazu sagen, wenn (S. 284) erzählt wird:
..Als ein Telegramm dem Fürsten Bismarck die Nachricht des Hödelschen Attentats
auf den Kaiser brachte, schlug er energisch auf den Tisch und rief aus: Jetzt haben
wir sie! — Die Sozialdemokraten? fragte einer der Umgebung. — Nein, die Liberalen."
Diese Klatschgeschichte ist in den verschiedensten Formen, aber niemals mit An¬
führung eines greifbaren Gewährsmannes erzählt und vielfach geglaubt worden.
Als sie anch Unruh (S. 362 seiner in Buchform herausgegebnen Erinnerungen)
erwähnte, ist sie auf Veranlassung Bismarcks als vollständig erfunden bezeichnet,
und dieses Dementi mehrfach energisch wiederholt worden. Vorläufig wird kein
ernsthafter Mann dem Geschwätz unbekannter und nicht verantwortlicher Leute mehr
Glauben schenken dürfe», als dem Worte des Fürsten Bismarck.
Aber der Haß gegen Bismarck treibt noch ganz andre Blüten: Bismarck ist
"ur die Inkarnation des ..neudeutschen Geistes" (S, 195). Den Inhabern oder
Vertretern dieses Geistes ist (S. 197) „fremd das Edle, Wahre. Schöne, soweit es
sich nicht auf ihr Selbst bezieht; Menschenwürde, Menschenliebe, Gerechtig¬
keit, Wohlwollen, Mitleid, der Glaube an eine allmähliche höhere
Entwicklung — es sind ihnen verderbliche, wenn nicht lächerliche
Phrasen/' Um diese Behauptungen noch schmackhafter zu machen, folgt is. 198)
eine weitere Erläuterung, deren Schönheit wir durch keinen Widerspruch oder
Kommentar abschwächen wollen: „Ich möchte diesen herrschenden Geist den mär¬
kischen im Gegensatz zum deutschen nennen. Er birgt keine fremden Zuthaten,
aber ihm fehlen nur allzuviele der tiefsten, schönsten und auch wichtigsten Elemente
des deutschen Wesens, Die Mark ist gewiß ein achtungswerter Gau des Reichs,
aber dem Land fehlt viel, das zwar Ketzer nicht verbrannte, aber keine Märtyrer
gebar ^so!Z, an dessen Thore >so!j als häufige Zuschrift jener brutal praktische
Spruch öden die Verfasserin überhaupt nicht verstanden hatj zu lesen ist: Wer
seinen Kindern giebt das Brot und leidet sso, mit Auslassung von: im Alterj selber
Not, deu schlag man sso!j mit dieser Keule tot. Kernige, schlichte Eigenschaften
sind auch keineswegs mit diesem Geist zu verwechseln. Unser alter Kaiser, Moltke,
Blücher waren das Gegenteil von phantastischen Idealisten, sie waren aber ent¬
schieden deutsch, nicht märkisch."
Wir von unserm Standpunkt aus finden diese schlimme märkische Gesinnung
in zwei Vorkommnissen bethätigt, die Georg von Bunsen selbst begegnet sind. Nach
dem österreichischen Kriege ging er <S. 224) mit einem hohen Beamten zusammen
ins Abgeordnetenhaus, der ihm von einem in dem Hinterhause seines Hanfes
wohnenden jungen Handwerker erzählte. Er machte von den Entbehrungen im
Feldzuge kein Aufhebens, gab aber zu, daß er und seine Kameraden am Tage
von Königgrätz nicht zum Essen gekommen waren. „Aber ich bitte Sie, man gab
Ihnen doch wohl Gelegenheit zum Abkochen?" „Ja, aber gerade als wir soweit
waren, kam ein Adjutant an; unsre Brigade war zweimal zurückgeschlagen worden,
und so mußten wir, ohne gegessen zu haben, wieder drauf los." „Wie in aller
Welt konntet ihr denu das leisten, das war doch nicht menschenmöglich!" „Das
thut die Liebe," erwiderte der Handwerker. — Im Jahre 187V fuhr Blase»
<S. 233) als Vorsitzender des Asylvereins für Obdachlose auf der Suche nach einem
Bauplatze vier bis fünf Stunden herum und fragte zuletzt den Droschkenkutscher,
was er ihm schuldig sei. Der Kutscher hatte gemerkt, daß es sich um einen wohl¬
thätigen Zweck handelte, und erwiderte mürrisch: „Jeben Se mir en Thaler," also
etwa den vierten Teil des ihm Zukommeuden. Und dabei hielt er vor dem Hause,
das sich Bunsen in einer der teuersten Gegenden von Berlin gebaut hatte!
Diese beiden Züge zeichnen die Berliner und die Märker, wie sie in Wahr¬
heit sind.
Wenn Bismarck so behandelt wird, wie wir vorher mitgeteilt haben, so braucht
man sich nicht darüber zu wundern, daß es von dem leidenschaftlichen Patrioten,
dem warmherzigen und wahrheitsliebenden Treitschke heißt is. 84): „Wie machtlos
stehn wohlwollend und gerecht angelegte Naturen der versengenden Leiden¬
schaft des Renegaten, der Bitterkeit des von der Natur hart behandelten
Mannes gegenüber," eine Äußerung, die an Pointe noch erheblich dadurch gewinnt,
daß kurz vorher gesagt war: „Niemand wird von mir erwarten, daß ich mich gegen
einen Heinrich von Treitschke, besonders gegen einen Toten, auflehne." Will man
wissen, wie man in manchen Kreisen Deutschlands das Ausland dem Vaterlande
gegenüber bevorzugt, so mag man mit dem über den großen Historiker gesagten die
enthusiastische Bewundrung (S. 106) Carlyles vergleichen, des unerträglichsten und
ungerechtesten Geschichtschreibers, den es wohl je gegeben hat, „des greisen Sehers,"
von dessen Ehe es heißt, ihre Tragik stemple die Bände von Froudes Biographie
zu den ergreifendsten menschlichen Urkunden: ein gewöhnlicher Sterblicher wird in
dieser Ehe nichts weiter sehen, als die Vereinigung zweier von jeder Liebe und
jeder Liebenswürdigkeit entfernten Menschen, die sich ein hypochondrischer Selbst¬
quälerei gegenseitig überboten, und deren gemeinsames Lebe» gleich damit anfing,
d
Am Schluß des Artikels über die Flotteuvorlcige in Heft 16 der Grenzboten vom
19, April wurde schon ans die beklagenswerte Erscheinung hingewiesen, daß sich die
sogenannten stnatserhaltenden Parteien durch die agrarische Strömung haben verleiten
lassen, unter der ganz unhaltbaren Voraussetzung, die Flottenvermehrnng schädige
die Landwirtschaft, von den verbündeten Regierungen die Gewähr eiuer Mnximal-
präsenzzahl für Heer und Flotte und die Zusicherung einer Erhöhung der Schutz¬
zölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, gleichsam als Entgelt für die Bewilligung
der Flottenvorlage zu verlangen. Die erste Sitzung der Kommission nach den Oster-
ferien am 25. April hat sich nun besonders mit dieser Frage befaßt und einen
überaus traurigen weitern Beweis dafür geliefert, wie sehr der übermächtig ge-
wordne Einstich des einseitigen Agrariertums die Unbefangenheit und die Gründ¬
lichkeit des Urteils, die Sachlichkeit der Entschlüsse und schließlich doch auch das
Patriotische Verantwortlichkeitsgefühl in den Reihen der Konservativen, des Zentrums
und der Nationalliberalen zu beeinträchtigen droht.
Zunächst waren die Versuche in der Sitzung vom 25. April beachtenswert,
wenigstens den Schein eines Beweises für die grundlegende und in gewissem Sinne
unerläßliche Voraussetzung des sogenannten „Kuhhandels," d. h. für die Benach¬
teiligung der Landwirtschaft durch die Flottenvermehrnng, zu bringen. Sie sind
so vollständig gescheitert, daß man eigentlich von jetzt ab die Wiederholung der
Behauptung rundweg als Lüge bezeichnen müßte, daß jedenfalls aber für den ehrlich
konservativen Patrioten die Pflicht erwächst, wo und wie immer er es vermag, ihre
weitere Verbreitung im Volk zu bekämpfen und, wo sie schon Wurzel gefaßt hat, für
ihre Ausrottung zu sorgen. Der Einwand, die bei der Flottenvermehrnng nötige
stärkere Aushebung von Mannschaften für die Marine werde die Arbeiternot in
der Landwirtschaft verschärfen, wurde vom Staatssekretär Tirpitz leicht durch den
Nachweis a<i g.b-zmcium geführt, daß der Mehrbedarf an Marincmannschaften etwa
fünfhundert im Jahre betragen werde, was bei der Jahrcszunahme der Bevölkerung
um wett mehr als das Tausendfache so viel wie nichts bedeute. Ebenso wurde
die Behauptung, der vermehrte Schiffsbau werde noch mehr Arbeitskräfte von der
Landwirtschaft weg zur Industrie führen, als völlig unbegründet nachgewiesen, und
die Vertreter der Mehrheitspnrteien ließen ihn schließlich selbst fallen. Es legt in
mich auf der Hand, daß man in der nächsten Zukunft viel eher ein langsameres
Tempo im sogenannten industriellen Ausschwung als eine Beschleunigung zu erwarten
but. Die Agrarier selbst wissen nicht genug von dem „Krach" in der Industrie zu
reden, der bald beginnen müsse. Das Mehr an Schiffbauarbeit, das die Flotten¬
verstärkung erfordern würde, könnte im Fall des Krachs nur erwünscht sem, wenn
es überhaupt der so gewaltig anschwellenden Masse der Arbeitskräfte im Reich
gegenüber in Betracht käme. Thatsächlich fiel die Fabel von der Verschärfung der
Leutenot ganz und gar unter den Tisch, und der gut agrarische Gras Arnim hat
sie in aller Form und hoffentlich endgiltig begraben, indem er bemerkte, Deutsch¬
land habe noch immer überzählige Arbeiter genug.
An diese Bemerkung knüpfte aber Graf Arnim noch die weitere, „man habe
im Volke das Gefühl, daß die Landwirtschaft zurückgesetzt werde, und die Regierungen
müßten diese Sorgen in ihrem eignen Interesse zerstreuen."
Das wirft ein eigentümliches Licht auf den Standpunkt der Herren Partei¬
agrarier, aber ein Beweis für die Benachteiligung der Landwirtschaft durch die
Flottenvermehruug ist es in keinem Falle. Sollte Graf Arnim nicht einsehen, daß
er gerade durch das Austrumpfen eines so ganz unklaren und undefinierbarer „Ge¬
fühls" im Volk die Verbreiter der Fabel der Flunkerei verdächtigt? Sollte er
nicht wissen, daß eben dieses „Gefühl" das mit gutem Vorbedacht erstrebte Er¬
gebnis einer jahrelangen Agitation ist, wie sie von unsrer Agrardemagogie uuter
der bereitwilligen Förderung der Mehrheitsparteien und leider Gottes auch eines
Teils der hohen und höchsten Beamtenhierarchie und Geburtsaristokratie mit außer¬
gewöhnlicher Kapitalkraft, Energie und Skrupellosigkeit unter dem deutschen Land¬
volk getrieben worden ist und noch getrieben wird? Durchschaut Graf Arnim
wirklich nicht das agrarische Spiel, dnrch das in den Wählermassen aus dem Lande
zuerst das Vertrauen zu der Negierung gründlich zerstört werden mußte, sodaß man
dann angesichts der Flottenvermehrung die Daumschraubeu zum Zweck einer weitern
Erhöhung der Agrarschutzzölle, der Grundrente und des Verkanfswerts der Land¬
güter bis zum vollen Erfolg anziehn könnte? Und was soll der Rat, die Ver¬
bündeten Regierungen möchten „in ihrem eignen Interesse" diese von den Agrariern
im Volk künstlich erregten Gefühle berücksichtigen? Wir haben nie gehört, daß im
neuen Deutschen Reich die Regierungen, d. h. der Kaiser und die Fürsten, „eigne"
Interessen, die sich von denen des ganzen Volks unterschieden, berücksichtigt hätten
oder berücksichtigt haben wollten. Wohl aber lesen, hören und sehen wir seit
Jahren täglich, daß die Agrarier ganz und gar von „eignen" Interessen beherrscht
werden, und daß sie gerade deshalb die Regierung in einer unerhörten, ganz un¬
konservativen Weise im Lande verlästern und verlästern lassen, weil sie außer den
agrarischen Interessen auch die der Gesamtheit und außer den Interessen der Land¬
wirte von heute auch die der zukünftigen berücksichtigen möchten.
Ergänzt werden die Bemerkungen des Grafen Arnim in interessanter Weise
durch die des Grafen Klinckowström, der sagte, die Stimmung der Landwirt¬
schaft für die Flotte sei vielleicht gerade infolge der Flottenagitation sehr wenig
begeistert. Die Landwirtschaft werde „durch die gesteigerte Industrie naturgemäß
zurückgedrängt, und die Regierungen würden dadurch von dem Interesse der Land¬
wirtschaft noch mehr abgewendet." Und Prinz Arenberg bemerkte, die Förderung
unsrer Seeinteressen bedeute für einen Teil der Bevölkerung ein Zurückdrängen der
Landwirtschaft, und aus diesem Grunde befürchte man ein Aufgeben der Schutz¬
zollpolitik. Das läßt doch recht tief in die Verwirrung und die Unklarheit der
agrarischen Vorstellungen und Tendenzen blicken! Also schon den Umstand, daß
die Regierung der deutschen Industrie wegen ihrer wachsenden Bedeutung größeres
Interesse als früher erweisen muß, betrachten die Agrarier als Beeinträchtigung
ihrer eignen Interessen, wollen es als solche anerkannt wissen und möchten schon
dafür entschädigt sein. In der That spukt solcher Unsinn in den Köpfen unsrer
durch die Agitation aus dem Gleis gebrachten Landwirte, aber daß die Herren
Grafen Arnim und Klinckowström und der Prinz Arenberg diesen Unsinn — sie
hüten sich wohlweislich, sich selbst dazu offen zu bekennen - von der Regierung
als Norm für ihre zukünftige Politik anerkannt wissen wollen, wie es doch scheint,
ist eigentlich noch viel toller. Wo bleibt denn da die von ihnen so laut betonte
Interessenharmonie von Landwirtschaft und Industrie? Die deutschen Industriellen
müßten wirklich noch gedankenloser sein, als sie es sind, wenn sie nicht zum äußersten
Mißtrauen gegen die ganze agrarische Gesellschaft veranlaßt würden. Und was
sollen danach die Verbündeten Regierungen noch für die deutsche Weltpolitik, die
sie für unabweisbar halten, für die Politik des größern Deutschlands von den in
solche Vorstellungen verstrickten Landwirten erwarten? Was kann der Kaiser für
seine Politik überhaupt und insbesondre für seine Flottenpolitik noch von Parteien hoffen,
die sich in solcher Weise — denn darauf läuft es doch hinaus — als ihre hart-
gesottnen Gegner bekennen? Wie sollte er glauben, daß das bischen Zollerhöhung,
das nach zehn Jahren doch wieder durch höhere Güterpreise und höhere Verschul¬
dung vollkommen wett gemacht sein wird, die Herren Junker und Bauern zu Freunden
und Bundesgenossen der Politik des größern Deutschlands machen könnte?
Es lohnt wahrlich nicht mehr, über die logischen Konsequenzen dieses agrarischen
Standpunkts viel Worte zu verlieren. Die Herren wissen ja auch selbst ganz gut,
daß ihre Position auf die Dauer unhaltbar ist, und daß der Kaiser und die ver¬
bündeten Regierungen absolut uicht in der Lage sein werden, das, was sie als ihre
Pflicht für des Deutschen Reichs und des deutschen Volks Zukunft erkennen, mit
diesem Standpunkt länger in Einklang zu bringen. Deshalb anch die Dringlichkeit
und der Hochdruck, mit dem jetzt das vielleicht letzte große agrarische Geschäft, der
sogenannte „Kuhhandel," betrieben wird. Den Herren Agrariern brennt der Boden
unter den Füßen; jeder Augenblick kaun zum Abbruch führe». Nur wenn die Agrar-
zollfrage übers Knie gebrochen wird, mir wenn die Verbündeten Regierungen unter
dem Druck der Flottennot zu einer vorzeitigen, voreiligen, unüberlegten Entscheidung
für die Getreidezollerhöhung verleitet werden können, glauben die Agrarier auf deu
gewünschten Erfolg rechnen zu dürfen.
In der Kommissionssitzung vom 25. April tadelte es Graf Klinckowström. daß
der Reichskanzler „nicht schon in den Osterferien" eine bündige Erklärung über die
Getreidezollerhöhung abgegeben habe. Der nationnlliberale Professor Paasche unter¬
stützte ihn dabei kräftig, und Graf Arnim formulierte die Forderung dahin, daß sich
nunmehr der Bundesrat über die Frage schlüssig zu machen und seinen Beschluß
in aller Fvrni zu verkünden habe. Vergebens wandte der Staatssekretär des Reichs¬
schatzamts, Thielmann, ein. daß die Frage des neuen Zolltarifs noch nicht spruch¬
reif sei, auch das Ergebnis der Arbeiten des wirtschaftlichen Ausschusses noch gar
nicht übersehen werden könnte. Selbstverständlich würden die Interessen der Land¬
wirtschaft dabei im Auge behalten. Kein höherer Kornzoll, keine Kähne! Das ist
die Parole, die am 25. April in der Kommission ausgegeben wurde, und die
agrarische Presse erkennt das auch schon mit großer Befriedigung als feststehende
Thatsache an.
Wird der Bundesrat, werden der Kaiser und die verbündeten Regierungen
diesem ungestümen Drängen nachgeben? Sie werden es, wenn sie die Annahme
der Flottenvorlage in der Hauptsache schleunig erledigt sehen wollen, thun müssen.
Eine Auflösung des Reichstags hätte im Augenblick keinen Sinn. Der Regierung
ist das Vertrauen der Wählerinassen auf dem Lande durch die agrarische Agltatwu
geraubt, die sozialdemokratischen und die demokratischen Wühler in den Städten und
in der Industrie lehnen die Flottenvermehrung rundweg ab. Neuwahlen würden unter
den heutigen Verhältnissen die Opposition rechts und links verstärken. Das ist die
Zwangslage der Regierung, in die sie nicht ohne eigne Schuld geraten ist. sett
Jahren hat man müßig zugesehen, wie die bis auf die Knochen konservativen ^anv-
leute von der Agrardemagogie verhetzt wurden, seit Jahren hat man es aber aucy,
wenigstens in Preußen, geschehn lassen, daß die politischen Beamten in den Provinzen
or allem die Landräte, bis auf die Knochen agrarisch wurden. Jetzt erntet man. was
"'"n gesät hat. Was ist nun gefährlicher: der Verzicht auf die Flottenvermehrung,
oder die Bewilligung des Kaufpreises an die agrarischen Kuhhnndler/ Wenn die
Frage so gestellt wird, sagen wir unbedenklich: Schließt den Handel ab, so er¬
bärmlich er ist! Ohne Flotte keine Weltpolitik, kein größeres Deutschland. Die
Agrarzollerhöhnng an sich macht die Weltpolitik und das größere Deutschland nicht
unmöglich, aber freilich nur dann, wenn nach perfekten Geschäft die Verbündeten
Regierungen gründlich und endgiltig dem agrarischen Einfluß das Handwerk legen.
Sehr zur rechten Zeit hat Professor Conrad in Halle aufs neue die Getreide¬
zollfrage einer eingehenden Untersuchung unterzogen. In schlagender Beweisführung
widerlegt er den ganzen Apparat von Scheingründen, den die Agrarier für den
dauernden Schutzzoll für landwirtschaftliche Erzeugnisse seit Jahren in Bewegung
gesetzt haben. Es wird sich Gelegenheit finden, auf diese vortreffliche Arbeit eines
der besten Kenner gerade der vstelbischen Landwirtschaft, eines bewährten Freundes
der deutschen Landwirte und eines von jedem Parteieinfluß unabhängigen gewissen¬
haften gelehrten Forschers und maßvollen Politikers zurückzukommen. Die große
Mehrzahl der deutschen Nntionalokonomen steht in dieser Frage hinter Conrad.
Die deutsche Wissenschaft hat sich ihr Urteil gebildet, und der Sieg ist ihr sicher,
mag der Erpressungsversuch von heute Erfolg haben oder nicht.
Die weitern Ergebnisse der Kvmmissionsverhandlungen berühren unser Thema
unmittelbar so gut wie nicht. Wenn über den Umfang der jetzt zu beschließenden
Schiffsbauten und ebenso über die sogenannte Deckungsfrage die neuerdings an¬
geregten Kompromisse auch im Reichstag angenommen werden, so ist das kein
Unglück. Die Hauptsache ist, daß sofort mit allem Hochdruck die weitere Flotten¬
vermehrung in Angriff genommen werden kann. Und dabei steht der Bau vou
Schlachtschiffen voran. Stellt sich nach drei, vier, fünf Jahren heraus, daß das
Kompromiß eine politisch schädliche Bindung ist, so wird die Regierung trotz aller
ihr jetzt abgepreßten Gesetze einfach die Pflicht haben, mit neuen Gesetzentwürfen
an den Reichstag heran zu treten. Möge sie nur bis dahin Sorge tragen, daß
unsre ungesunden Parteiverhältnisse gesundem Platz machen. Sie hat darin viel
Vor kurzem ist ein Vortrag im Druck er¬
schienen, den A. Wernicke auf der Versammlung deutscher Philologen und Schul¬
männer im September 1899 in Bremen gehalten hat. Er handelt unter dein viel¬
versprechenden Titel: „Weltwirtschaft und Nationalerziehuug" av omnibus rsbus et
quibusäizm aliis, über den großen Krach, über Goethe, Nietzsche und Wagner,
Handelshochschulen, Dürer, Worpswede usw.; zu irgend welchen praktischen Vor¬
schlägen gelangt er nicht, und man könnte ihn als eine geistreiche eausorio ruhig
hinnehmen, wenn so ernsthafte Fragen wie die Gestaltung unsers höhern Schul¬
wesens das Geistreichelu und die eausoiis vertrügen. Der Vortrag ist typisch für
die Richtung, die in der Schule am liebsten von allem etwas getrieben sähe, indem
sie vollständig verkennt, daß vor allem eine Vereinfachung des Stundenplans, eine
gründliche Durchbildung in einem Fache, gleichviel welchem, not thut. Natürlich
können Leuten, die in allem dilettieren möchten, was etwa in einer Dinernnterhaltung
zur Sprache kommen kann, unsre Universitäten mit ihrem ernsten wissenschaftlichen
Sinn nur ein Dorn im Auge sein, und ohne daß sie aussprechen, was sie eigent¬
lich wollen, vielleicht weil sie es nicht recht wissen, reden sie von oben herunter
von jener „Überschätzung des Verstandes und der reinen Wissenschaft, dnrch die die
führende Stellung, die der deutsche Professor als solcher ehemals hatte, vollständig
verloren gegangen ist, wenn sie sich anch selbstverständlich der Einzelne, wie Böhmert,
Paulsen, Rein und andre, sehr wohl zurückerobern kann." Auf deutsch: die Be¬
deutung des Professors hängt davon ab, wie weit er sich um die Pädagogik
kümmert; ob mau seine Bücher im Inlande wie im Auslande mit Bewundrung
liest, das ist ganz gleichgiltig. Also merkt es euch, ihr Herren von der Universität:
fleißig Pädagogik treiben, womöglich ein Lehrerseminar besuchen! Sonst sinkt ihr
zur Bedeutungslosigkeit herab. Nun wird es keinem Verständigen einfalle» zu
leugnen, daß auch der Professor eine gewisse pädagogische Anlage braucht, und daß
es Dozenten giebt, die durch den Mangel einer solchen Anlage ihre Stelle nicht
genügend ausfüllen; aber das ist in der Schule gerade so und schlimmer, denn für
Jungen von zehn Jahren braucht mau mehr pädagogisches Geschick als für Stu¬
denten von zwanzig, und wer nicht das Zeug dazu hat, einer Klasse Disziplin und
Interesse beizubringen, der wird es niemals ganz lernen. Also eine pädagogische
Vorbildung wird man vom Dozenten nicht verlangen können, sondern die Persön¬
lichkeit muß als solche wirken, und sie wird schließlich auch in der Schule den Alls¬
schlag geben. Aber auch in der Auswahl des Stoffes, den der Dozent seinen
Hörern bietet, darf er auf die Praxis keine zu weit gehende Rücksicht nehmen. Er
wird natürlich immer daran denken, daß er sie für den praktischen Beruf vorbilden
soll und ihnen also eine Übersicht über ihre Wissenschaft zu verschaffen suchen, statt
sie womöglich schon in jungen Semestern auf spezielle Gebiete zu weisen, die ihnen
den Ausblick nehmen; aber kein Universitätslehrer, der seinen Beruf und seine
Wissenschaft hoch hält, wird sich dazu hergeben, sie seinen Studenten einznpaukeu
oder so bequem zu Häcksel zu zerschneiden, daß sie sie direkt in die Schule mit¬
nehmen können. Er wird es vielmehr als seine Hauptaufgabe betrachten, ihnen
eine für das Leben ausreichende Anregung mitzugeben, die sie nachher in selbstän¬
diger Arbeit verwerten können. Er wird ferner auch nicht vergessen, daß er zuerst
für seine Studenten da ist, und daß er sich um andre Dinge erst kümmern darf,
wenn er seine Pflichten gegen sie erfüllt hat. Ferienkurse und Volkshochschulen
sind gewiß löbliche Einrichtungen, und es ist sehr erfreulich, wenn der Dozent Zeit
behält, für die Popularisierung der Wissenschaft etwas zu thun; aber man soll ihm
und unsern Universitäten keinen Vorwurf daraus machen, wenn er sie nicht behält
"ut sich auf seine eigentliche Aufgabe beschränkt.
Daß diese, wie mir scheint, sehr einfachen Thatsachen von pädagogischen
Wnnderrednern in dem guten Glauben an ihre Sache verkannt werden, ist schlie߬
lich nicht so sehr zu verwundern; schlimmer ist, daß das auch bei manchen Univer¬
sitätslehrern geschieht. Aus einer solchen Verkennung ist eine Einrichtung hervor¬
gingen, auf die sich pädagogische Kreise vielfach als etwas Vorbildliches berufen,
und die auch Wernicke anzuführen nicht unterläßt, die Vereinigung aller Lehrenden
in Greifswald. „Diese Vereinigung, die in Greifswald die Lehrer aller Grade
und Gattungen zu gemeinsamer Arbeit zusammenschließt, wird auch die gemeinsame
Aufgabe der gesamten Lehrerwelt wieder zu deutlicher Anschauung bringen, Er¬
zieherin zu sein, und zwar Erzieherin des heranwachsenden Geschlechts zu der Lust
ein selbstloser Arbeit im Dienste einer Idee, d. h. zum Idealismus." Man wird
vor der idealen Gesinnung der Männer, die diese Einrichtung ins Leben gerufen
haben, die höchste Achtung haben können, ohne sich doch wirklichen Nutzen von ihr
zu versprechen. Zwischen den Lehrern mit wissenschaftlicher und denen mit semina¬
ristischer Bildung ist eine zu tiefe Kluft, als daß bei ihrem Zusammensein etwas
herauskommen könnte; und so läuft die Sache schließlich darauf hinaus, daß sich
zwar die Volksschullehrer stark an dieser Vereinigung beteiligen, weil ste sich durch
die Gesellschaft der höhern und der Universitätslehrer geschmeichelt fühlen, daß diese
aber nur in geringer Anzahl bei den Sitzungen erscheinen und viel lieber unter
sich wären. Es werden natürlich oft Gegenstände von allgemeinem Interesse ver¬
handelt, aber ein praktischer Nutzen wird nicht erzielt, und eine persönliche Fühlung
zwischen den verschiednen Gattungen von Lehrern nicht gewonnen. Die Herren
von der Universität möchten sich gewiß gern mit denen vom Gymnaftnm aussprechen:
"ber da sitzen die Elementarlehrer, denen zuliebe man über viele der beide Teile
gemeinsam interessierenden Gegenstände (z. B. die gesamte Reform des höhern
Schulwesens) nicht verhandeln kann, weil man das Verständnis dafür bei ihnen
nicht ohne weiteres voraussetzen darf. Vollends muß verurteilt werden, wenn ein
Professor vor den Volksschullehrern, unter denen ein gewisser Dünkel mindestens
ebenso häufig ist wie unter den Universitätslehrern, auseinandersetzt, daß ihm und
seinen Kollegen eigentlich das abgeht, was sie mit Stolz ihr eigen nennen dürfen,
nämlich die allein selig machende pädagogische Methode, und daß er da nur von
ihnen lernen kann. Die Stellung unsrer Universitäten ist gefährdet, sagt man, wenn
diese nicht in die Tiefe steigen und aus dem Urquell der Pädagogik Weisheit
schöpfen, die sie dann, womöglich noch etwas verwässert, an die weitesten Schichten
des Volks ausschenken; nein, sie ist vielmehr gefährdet, wenn man sie vor Leuten
diskutiert, denen die vornehmste Aufgabe der Universitäten, die Wissenschaft, im
Grunde ein höhnisches Dorf ist. Und darum ist diese Vereinigung kein lebens¬
fähiges Kind, und man kann ihr nur einen baldigen Heimgang wünschen.
Wustmann darf stolz sein! Im Archiv für Post und Telegraphie hat der Geheim¬
sekretär Noether das Bürgerliche Gesetzbuch auf seine Sprache hin untersucht und die haupt¬
sächlichsten Verbesserungen zusammengestellt, die sie vor dem gewöhnlichen heutigen Schrift¬
deutsch auszeichnen, und siehe da — es sind lauter Wustmannsche! Die Wiener Arbeiterzeitung,
die sich selbst nicht einer österreichischen, sondern einer wirklich deutschen Sprache befleißigt, druckt
dieses Verzeichnis ab und empfiehlt es zur Nachahmung. Aber was nutzt der schönste Wust¬
mann den Leuten, denen es an Verstand und Takt fehlt? Wustmann konnte unmöglich alle
Dummheiten voraussehen, die zahllose Narren in Zukunft noch begehn würden, und konnte
sie also auch nicht verhüten, so wenig wie die Gelegenheitsgesetzmacherei neuen Arten von Ver¬
gehungen vorbeugen kann; er konnte nur eine mit Beispielen belegte Anleitung zum Denken
geben. Seit einiger Zeit kann man kaum eine Zeitung in die Hand nehmen, ohne auf den
Unsinn zu stoßen: diese Wünsche werden wohl fromme bleiben, statt: diese frommen Wünsche
werden wohl Wünsche, oder werden wohl unerfüllt bleiben. Des seligen Spener pi», clssiäsria
sind freilich gleich unzähligen andern frommen Wünschen unerfüllt geblieben, aber daraus folgt
glücklicherweise noch nicht, daß jeder fromme Wunsch mit einem gottlosen vertauscht werden müsse,
wenn der Wünschende Erfüllung hoffen dürfen soll. Liest man so etwas im Käseblättchen, so
zuckt man die Achseln, aber neulich fanden wirs in einer Monatsschrift, und da wirkt es wie
eine Ohrfeige. — Wer über gelehrte Sachen schreibt, der kann die Fremdwörter nicht ganz ent¬
behren, aber da einer, der über gelehrte Sachen schreibt, Sprachen versteht, so gebraucht er die
Fremdwörter natürlich nicht wie eine Köchin oder wie der als Zeitungsredakteur waltende
Setzerjunge. Nun fanden wir aber neulich, ebenfalls in einer Monatsschrift, zweimal das Wort:
Jmponderabilium (jenes Jmponderabilium, kein Jmponderabilium), und das in einem Aufsatz
eines Deutschnationalen, der nachweisen will, daß für die Raffen- und Nationalitätenbildung die
Sprache wichtiger sei als das Blut! Also ein Mann behandelt ein Stück Sprachphilosophie,
der im Lateinischen über die zweite Deklination nicht hinausgekommen ist und deshalb den
Singular des von Bismarck in die Mode gebrachten Plurals Imponderabilien nicht bilden
kann! Solche Deuischnationalen sollten sich doch sagen, daß sie nicht nur ihre Bildung kom¬
promittieren, sondern auch die deutsche Sprache verhunzen, was einer, der ein Fremdwort an
der richtigen Stelle richtig gebraucht, nicht thut.
as moderne wirtschaftliche Leben konzentriert sich mehr und mehr
in der reinen Geldwirtschaft, Der maßlos anschwellende Papier-
kcivitalismus drückt alles Persönliche unter die Herrschaft der
Zahl und des materiellen Erfolges hinab, er will von den
Imponderabilien in der Volkswirtschaft nichts wissen, und die
Wissenschaft, die man Nationalökonomie nennt, weiß von ihnen oft nur wenig.
Die moderne Nationalökonomie hat zum wesentlichen Objekt ihrer Forschung
das materielle Volksleben, nicht das gesamte Kulturleben, nimmt aber in der
öffentlichen Meinung die Autorität einer wissenschaftlichen Leiterin des Volks¬
lebens in weiteren Umfange in Anspruch, als ihr gebührt. Da auf der mate¬
riellen Grundlage auch die ideellen Bedürfnisse des Volks ihre Befriedigung
suchen, da materielle und ideelle Interessen überall aneinander grenzen und
ineinander übergreifen, liegt der Nationalökonomie die Versuchung nahe, ihr
materielles Gebiet auf Kosten des ideellen Gebiets vorzuschieben und dadurch
sehr wertvolle und sehr empfindliche Seiten des Volkslebens einem unpassenden
Maßstabe zu unterwerfen. Diese jüngste aller Wissenschaften, der man noch
vor ein paar Jahrzehnten den Eintritt in den Musentempel überhaupt ver¬
wehren, den Namen einer Wissenschaft nicht gewähren wollte, hat sich eine
Menge von Schablonen und Schlagworten geschaffen, die oft auf Dinge an¬
gewandt werden, auf die sie gar nicht oder doch nur höchst einseitig passen.
Zu diesen Dingen gehört der Erdboden, oder wie der gebräuchliche, aber sehr
unhandliche Ausdruck lautet: der Grund und Boden.
Der Erdboden ist ein Kapital einmal der staatlichen Gemeinschaft, die
darauf gegründet ist, und weiter des Einzelnen, insofern, als er an Teilen des
Erdbodens das Eigentumsrecht erworben hat. In dem Ausgleich dieser beiden
Ansprüche untereinander liegt wesentlich die Aufgabe der staatlichen Agrarpolitik.
Die Beziehungen sowohl eines Volks als des Einzelnen zum Erdboden sind
verschieden je nach der Seßhaftigkeit, der Kultur des Volks. Der Nomade
hängt nur lose an ihm, der seßhafte Ackerbauer verwächst mit ihm um so fester,
je länger und mehr Arbeit er auf ihn verwandt hat. Der Kommunalbesitz der
alten Zeit, wie er noch heute z, B. in Rußland geläufig ist, oder wie er etwa
in dem Zukunftsstaat der Sozialdemokraten gedacht ist, bindet den Ackerbauer
sittlich weit weniger an die Scholle als der Personalbesitz; der bloße Besitz
im rechtlichen Sinne weniger als das volle Eigentum. Je intensiver der Boden
bebaut worden ist, je mehr Arbeit und Sorge der Bebauer in ihn hineingelegt
hat, um so fester wird das Band. Dieses Band ist zu einem Teil ein mate¬
rielles, nämlich die Erlangung der Früchte, der Zinsen von dem Kapital, des
materiellen Nutzens. Es ist zum andern Teil ein sittliches, nämlich die tief
im menschlichen Gemüt liegende Liebe zum Erdboden. Diese Liebe ist in ihrem
letzten Grunde ebenso mystisch, unerklärlich, als das übrige Gemütsleben des
Menschen, aber sie ist vorhanden, so gut wie die ihr verwandte Liebe zur
Heimat. Sie wird verstärkt durch Gewohnheit und Tradition der Geschlechter,
sie wird verstärkt durch Arbeit und Mühe, sie geht über in die Liebe des
Schöpfers zum Geschöpf. Der Mann, der ein ödes Stück Land erwarb, seine
Hütte baute, deu Wald rötete, den Boden brach, die Gruben zog, der Jahr
um Jahr seinen Acker verbesserte, seine Anpflanzungen wachsen, seine Frucht
schwerer werden sah, er hängt an seinem Werk, und er liebt seinen Erdboden,
und was drauf wächst und steht, von ganzer Seele, oft stärker als irgend etwas
andres, ja mehr als das eigne Leben, und wird ihm seine Scholle genommen,
muß er fort, so geht er nicht selten hin und erhenkt sich, wie uns unlängst
Herr von Potenz in einem seiner Romane geschildert hat.*) Und wie der
einfache Bauer, so der Großbesitzer, so der Majorntsherr, der durch Familien¬
bande von Jahrhunderten an die Scholle gefesselt ist. Dieses geheimnisvolle
Band des Gemüts ist eine der stärksten sittlichen Kräfte im menschlichen Leben
und eine der natürlichsten und gesundesten Kräfte. Neben ihr verliert das
andre Band, der materielle Nutzen, gar sehr an Bedeutung. Und doch rechnet
die Wissenschaft, die dem Volkswohl dienen will, hauptsächlich mit diesem
Bande, sehr wenig mit der sittlichen Kraft, die aus dem Erdboden steigt. Der
Nationalökonomie ist es hauptsächlich um den materiellen Nutzen zu thun, den
der Einzelne oder den Staat und Volk aus dem Kapital des Erdbodens ziehn.
Verzinsung! darauf kommt es an.
Wenn ich ein nationalökonomisches Buch zur Hand nehme, und wenn mir
dann daraus immer deutlicher dieser Hauch der Entseelung des Erdbodens ent¬
gegenweht, dann lege ich es gern fort, es ist für mich abgethan, weil ihm das
Verständnis für die Volksseele selbst abgeht. Ohne dieses Verständnis aber
ist jede volkswirtschaftliche Theorie einseitig und gefährlich. Und dennoch wird
der Verfasser eines solchen Buchs schwerlich die sittliche Bedeutung des Erd¬
bodens leugnen, sobald man ihm die Frage stellt: Ist es für den Charakter
des Menschen einerlei, ob er sein Vermögen im Erdboden oder in Aktien hat?
Haben hunderttausend Mark im Kasten denselben sittlichen Wert wie em Land¬
gut? Unsre nach Erwerb gierige Zeit vergißt im Eifer nur zu tende dre Be¬
deutung der Imponderabilien im Volksleben. Die Ertrüge steigern, alle Kräfte
des Menschen wie des Landes aufs äußerste ausbilden und ausnutzen, das
ist das Ziel des nationnlökononnschen Ehrgeizes. Aber es ist nicht der ganze
Zweck des Volkslebens, und deshalb geht ein Volk einen Irrweg, wenn es
sich auf die Bahnen des ausschließlichen oder zu sehr vorherrschenden Erwerbs
leiten läßt.
Auch der Geizhals liebt seinen Besitz; aber niemals hat man den einen
Geizhals genannt, der seinen Landbesitz liebte. Der Geizhals liebt sem Geld,
sein Papier oder sein Gold, er sitzt über seinem Kasten, er zittert sür ihn, er
dient ihm, er hungert, er stirbt im Hunger für ihn. Und noch hat nun. steh
immer mit Verachtung. mit Ekel von dem Manne gewandt, der doch sem volles
Empfinden, seine ganze Leidenschaft diesem Besitz zuwandte. Darf man neben
ihm den Bauern nennen, der seinen Acker bestellte, während in seinem Hause
der Hammer des Auktionators diesen selben Acker dem Wucherer zuschlug, und
der sich dann lieber erhenken. als daß er seinen Erdboden verließ? Oder den
Edelmann, der zusammenbricht, weil er von der Scholle muß. worauf er durch
mele Jahre von früh bis spät gesorgt und geordnet hat, worauf Eltern und
Voreltern gesessen haben? Und wenn auch dieser lieber das Leben laßt als
den BesiK - entblößt man nicht trotz allem im stillen wenigstens das Haupt
vor diesem Bauer und diesem Edelmann? Warum wohl? Eben weil s,e durch
ewe tief sittliche Leidenschaft zu einem Geschick von höchster Tragik geführt
wurden. Darf man neben ihnen den andern Mann nennen, der doch auch
nur von der Leidenschaft für seinen Besitz erfüllt war und Mi ehr /u Grund
Mg? Und wenn nicht, was macht denn den gewaltigen Unterschied wenn
nicht die Natur des Besitzes? Der Geldkasten ist eben nicht der Erdboden,
die Liebe zu ihm verengt, erniedrigt, die Liebe zu diesem kräftigt erhöht. la
veredelt den Menschen. Beide hängen mit allen Fasern der Seele an ihrem
Besitz, aber den Mann, der nie jemand um einen Heller betrog und zuletzt
über seinem Golde verhungerte, nennt man mit Abscheu; und dem Manne, der
dem Nachbar heimlich einige Quadratruten Laud abpflügte und zuletzt steh er-
henkte, weil er vom Besitz weg mußte, widmet man tiefe Teilnahme. Das ^wuner und überall so gewesen bei seßhaften Völkern; wer aber davon meh s
versteht, der will uus klar machen, es sei das ein eitles Vorurteil, denn im
Grunde sei es ja doch nnr die heftige und berechtigte Liebe zu Vermögen und
Besitz, was beide in den Tod trieb, und dabei komme es auf Art und Natur
des Besitzes gar nicht an. Das ist die Weisheit des Jobbers oder des
Wucherers, der den Bauern aus seinem Besitz getrieben hat. oder - eines
falschen Propheten. .
„^Man hört oft sagen, wir brauchten einen kräftigen Bauernstand. Daß
em kräftiger Landedelmann ein ebenso nützlicher Staatsbürger sei vergiß man
hinzuzufügen oder leugnet man. und doch ist es so. Kräftig und nützlich s
freilich beide nur dann, wenn sie fest auf der Scholle sitzen und mit etwas von
der hingebenden Liebe, von der oben die Rede war, die Scholle pflegen und
bearbeiten. Der Landedelmann, der seinen Beruf nicht in dieser Arbeit sucht,
der sein Gut verpachtet oder verwalten läßt, weil er kein Interesse an der
Landwirtschaft hat und lieber in einem städtischen oder einem andern Berufe
seine Kraft bethätigt, der gehört nicht aufs Land und soll den Erdboden einem
audern abgeben, der besser hingehört. Er gehört ebenso wenig dahin als der
Geldmann, der einen Teil seiner Schätze darauf verwendet, ein Landgut zu
erwerben, auf dem er des Sommers den Landedelmann spielen kann, oder der
es kauft, um sichre Rente daraus zu ziehn. Für diese hat der Erdboden keine
sittliche Bedeutung, er ist ihnen nicht viel mehr als der Geldkasten, oder das
Landgut sinkt zur Villa herab. Ein Landadel, der nicht selbst ans seiner
Scholle arbeitet, hat kein Recht, sich darüber zu beklagen, daß er von dem
industriellen, dem Börsenkapitalisten aus dem Besitz gedrängt wird. Sie taugen
beide nicht für den Beruf des Landbesitzers, und versöhnend spricht nur zu
Gunsten des Landedelmanns die Anhänglichkeit an einen Boden, der ihm durch
Arbeit und Besitz der Vorfahren geheiligt worden ist; denn auch dieses ist eine
sittlich gute Macht. Wo auch sie fehlt, da ist der Landedelmann, der Gro߬
grundbesitzer selber zum Geldmann und sein Landgut zur Ware geworden.
Der Bauer ist stetiger, fester auf der Scholle, weil er weniger imstande
ist, einen andern Beruf zu ergreifen, und weil er in persönlicher Arbeit sichrer
als der Großbesitzer mit dem Erdboden verwächst. Und ohne Zweifel bleibt
das Volk am ehesten auf die Dauer kräftig und gesund, das einen kräftigen
Bauernstand zum Grundstein hat. Das ist nur möglich, wenn der Erdboden
dem Bauern in dauerndem und stetigem Besitz erhalten bleibt. Das erkennt
die Wissenschaft ja auch längst an. Hat sie aber nach Kräften dafür gesorgt,
daß der Staat diese Stetigkeit schaffe, erhalte?
Nichts trägt so den Charakter des Jmmobils an sich als der Erdboden.
Aber wenn dieser Charakter im natürlichen Sinne auch nicht erschüttert werden
kann, so doch im ökonomischen Sinne. Je stärker die Geldwirtschaft um sich
greift, um so mehr wird der Erdboden, wird der Landbesitz in seinem immo¬
bilem Charakter bedroht. Gesetz und Recht stellen sich auf die Seite des mo¬
bilen Kapitals und verwischen den ethischen Unterschied, der für das ganze
Volk wie für den Einzelnen zwischen mobilem Kapital und Erdboden besteht.
Mobilisierung des Erdbodens, das ist die unheilvolle Tendenz unsrer Zeit.
Und wer den Erdboden nur als Geschäftsmann ansieht, muß so reden und
handeln; wer aber auch den immateriellen Gütern ihr Recht giebt, dürfte seine
Hand nicht der Mobilisierung des Erdbodens leihn.
Überall, wo sich der Bauer frei ausleben, sich sein Recht selbst schaffen
kann, da sucht er halb instinktiv den Erdboden fest an die Familie zu binden.
Nicht bloß, wie der Mann des mobilen Kapitals vielleicht meint, aus be¬
rechnendem Eigennutz für die Erhaltung der Familie, sondern auch aus An¬
hänglichkeit an den Erdboden. Und um den Hof dem Geschlecht zu erhalten,
Vererbt er ihn an den Sohn nicht nach der Forderung gleicher Teilung unter
den Kindern, sondern so. daß ein Sohn in der Lage ist, den Hof möglichst
unverkleinert dem Geschlecht zu erhalten. Aber das aus der Denkweise des
städtisch-kommerziellen Lebens erwachsene Recht fordert Gleichheit in der Erb¬
teilung der Brüder oder der Geschwister, und so wird denn das Anerbenrecht
übel angesehen, und der Bauer in Schranken gewiesen. Wollte man aber den
Bauernhof nicht bloß auf so und so viel tausend Mark einschätzen, sondern
seinen ethischen Wert für den Bauernstand und das gesamte Volk mit in
Rechnung ziehn. dann müßte man das Anerbenrecht fördern, soweit das Ge¬
wissen des Volks, des Bauern selbst es nur zuläßt.
Andre Feinde des Bauern sind der Großbesitz und das Geldkapital, die
den Bauernhof, nachdem er vom Juden ausgewuchert worden ist, vom Bauern
oder vom Wucherer aufkaufen und in den Großbetrieb aufsaugen. Das Gesetz
hat im Namen des Liberalismus das Bauernland wie den Bauern unter das
gemeine Zivilrecht gestellt. Und wie das gemeine Erbrecht nicht für den Hof¬
bauer paßt, so auch das gemeine Sachenrecht nicht für das Bauernland. Wie
hat man gegen die Latifundien gewettert! Hat man sich aber entschlossen,
zwischen Großbesitz und Bauernland einen festen Strich zu ziehn, der die Auf¬
saugung des Bauernlands durch den Großbesitz gesetzlich verhindern würde?
Nein, man hat es nicht gethan, weil Großbesitz und mobiles Kapital ein ge¬
meinsames Interesse haben, die Mobilität des Erdbodens zu erhalten, und
dann auch der leeren Theorie zuliebe, die keinen Unterschied zwischen Bauern
und Nichtbauern rechtlich festlegen will. Und die größere Schuld mag hierbei
den Großbesitz treffen, von dem man eher den weitern Blick erwarten kann
in diesen Dingen. Er Hütte im eignen Interesse an der gesetzlichen Sicherung
des Bauern im ostelbischen Lande arbeiten sollen. Er wäre dann besser ge¬
rüstet gegen den heutigen Ansturm der Theoretiker des Geldsacks, die von der
Vernichtung alles Großbesitzes so viel, ja bis zur Rettung Deutschlands und
zur Lösung der sozialen Frage erwarten.
Sonderbare Schwärmer! Sie wollen genaue Rechner, Realpolitiker sein
und gleichen doch eher denen, die vor hundert Jahren meinten, mit Hilfe der
Guillotine alle Menschen zu Gleichheit und Freiheit und Brüderlichkeit zu
führen. Wenn nun das letzte Rittergut zerschlagen, oder deutlicher gesprochen,
der letzte Edelmann nationalökonomisch guillotiniert sein wird, was dann?
Wird dann der Bauer zum Zweikindersystem greifen, um seinen Besitz nicht
zersplittern zu lassen? Und wenn nicht, wo werden diese gelehrten Herren
dann wieder Rittergüter hernehmen zum Verteilen an die jüngern Bauernsöhne?
Und wenn der letzte Hektar in Deutschland auf den höchsten Ertrag gesteigert
sein wird, wird dann die Gefahr der agrarischen Krisen nicht auch auf das
höchste Maß gesteigert sein? Diese Leute wissen eben nicht, was Erdboden
ist. Sie haben keine Wurzel in ihm und kennen den Landbauer nicht, noch
die ethische Seite des Volkslebens. Ihr Humanismus ist Mammonismus,
in ihnen wird man zum Menschen erst, wenn man Geld erworben hat. Noch
neulich riet eine große Zeitung (die Frankfurter vom 31. März 1900) dein
Landarbeiter, dem es schlecht geht, „dorthin abzuwandern, wo er erst ein
Mensch würde — in die Stadt, ins Industriezentrum."
Diese abstrakten Sozialpolitiker und besonders die Philosophen der Finanz
und der Goldwährung sind unheimlich wie Hegel; man versteht sie nicht oder
mißversteht sie, und wenn man ihren wolkenhohen Abstraktionen andächtig zu¬
hören will, muß oft der Glaube die Vernunft ersetzen. Aber man staunt sie
um, wie man Hegel anstaunte — eben wegen ihrer UnVerständlichkeit, und so
finden sie Anhänger und werden praktisch wirksam. Denn die große Menge
läßt sich gern durch Zahlen leiten. Es wird zum wirtschaftlichen Ideal, den
Erdboden bis zum höchsten Maß und bis in die letzte Scholle hin auszunutzen.
Ein solcher Zustand aber kann wohl das Ergebnis harter Notwendigkeit, aber
gewiß nicht ein an sich wünschenswertes Ziel sein. Den Ertrag des Erdbodens
aufs höchste zu steigern darf und soll der Einzelne, der Lnndmcmn anstreben.
Aber vom Gesichtspunkte des Volkswohls aus sind Zustände wie in Belgien
oder in England nicht wünschenswert, trotz allen Reichtums. Die von den
Geldphilosophen so gepriesene „Landenge," die den Landarbeiter zum Fabrik¬
arbeiter machen soll, bedeutet für ein Volk den Mangel an dem nötigsten, an
der Notdurft. Übervölkerung heißt auch bei dem größten Reichtum jedesmal
Massenelend und wird trotz sozialer Reformen und sozialistischer Revolutionen
jedesmal Massenelend bedeuten, wenn nicht heute, so morgen. Eine Handels¬
stockung, ein Krieg, und der industriell-kommerzielle Bau kracht in allen Fugen,
Tausende von Menschenleben geraten in Gefahr. Landenge ist Übervölkerung.
Das natürlich-gesunde Streben des Landvolks geht nicht in die Stadt. Die
Söhne verlassen den väterlichen Hof am liebsten, um einen eignen Hof zu
gründen, der Ackerknecht spart, um ein Stück Land zu kaufen. Wo das fehlt,
da ist das Wachstum des Volks in der Wurzel gehemmt. Die heutige Ent¬
völkerung des platten Landes zu Gunsten der Städte ist eine Erscheinung, die
vorübergehn wird. Sobald die Aufnahmefähigkeit der fremden Märkte nach¬
läßt, oder sobald unser Handel durch einen Krieg bedroht werden wird, muß
der industrielle Verdienst stocken und ein Teil der Arbeitermenge zum Landbau
zurückkehren. Aber diese Beweglichkeit des Sandmanns dient so wenig wie
die heutige Wanderarbeit zur Erhaltung eines gesunden Volkscharakters. Auf
der Stufe unsrer gegenwärtigen Kultur bedürfen wir zum gefunden Fortschreiten
nicht der Landenge, sondern der Erweiterung unsrer Landesgrenzen. Aber wie
man den Erdboden mobilisiert, so auch den Landmann, den Ackerbauer. Und
wo, wie in Ostelbien, die Landwirtschaft durch diese Mobilisierung des Acker¬
knechts in eine schwierige Lage gerät, da denkt man zu helfen, indem man
auch dort die Industrie vermehrt. Das ist homöopathische Heilmethode in der
Volkswirtschaft, ein fragwürdiges Unternehmen. Niemals wird die Industrie
oder das Geld den sittlichen Wert des Erdbodens für den Volkscharakter er¬
setzen. Und dieser Wert schwindet, je weiter sich das industriell-kommerzielle
Nomadcntum ausbreitet. Nicht darauf kommt es an, dein Arbeiter die vor-
teilhafteste Arbeitsgelegenheit zu verschaffen, sondern darauf, daß er zufrieden
und glücklich lebe. Das deckt sich durchaus nicht, außer für den heimatlosen Juden.
Und weil der Jude meist den sittlichen Wert der Heimat und der Scholle nicht
versteht, deshalb taugt er nicht als Sozialpolitiker und volkswirtschaftlicher
Führer für unser Volk.
Und endlich der Wucher. Je weiter der Bauer von der Naturalwirtschaft
fort zur gepriesenen reinen Geldwirtschaft übergeht, um so komplizierter, ihm
schwerer verständlich und härtlich werden die wirtschaftlichen Manipulationen.
Der tüchtigste Bauer ist oft dem simpelsten Juden lange nicht gewachsen, wo
es um Geld, Handel, um Schein und Hypothek und Wechsel geht. Gäbe
die Statistik uus über die Fälle Auskunft, wo der Bauer vom Juden von der
Scholle getrieben wurde, so vermute ich, daß sich die Sozialdemokraten bei
diesen jüdischen Dorfwucherern für Tausende von neuen Jüngern ihrer Lehren
zu bedanken Hütten. Die Geldgier wird dem Bauern und seiner Liebe zum
Boden solange überlegen sein, solange das Gesetz nur zwei Menschen von
gleichem Recht sich hier einander gegenüber stehn sieht, solange der sittliche
Gehalt des Erdbodens nicht zu Gunsten des Bauern in die Wagschale ge¬
worfen wird. Immobilisiert muß der Erdboden werden, von Schulden und
Privaten Hypothekcnwesen so fern gehalten wie möglich, und dem jüdischen
Wucherer müßte ein: „Hände weg!" zugerufen werden. Aber Freiheit nennt
mens, und Knechtung durch das Geld ist es.
Wer unfähig ist, den sittlichen Gehalt der Mutter Erde zu spüren, zu ver¬
steh«, der wird auch schwerlich'wisse», was die Heimat ist. Denn was dem
Landmann die Scholle, das ist dem Volk die Heimat. Beiden ist der Erd¬
boden mehr, als bloß die Quelle des Geldes, des materiellen Nutzens. Je
mehr ein Volk industriell, kommerziell wird, um so mehr löst es sich vom
Boden ab und verliert am Gefühl des Heimatbodens, das unvollkommen nur
ersetzt wird durch soziale Wurzeln, durch Nationalität, Sitte, Arbeit. Vielleicht
scheidet uns nichts so sehr von dem Juden, als daß er die sittliche Kraft des
Erdbodens nicht kennt, und daß er heimatlos ist. Das ist der Fluch, der auf
Ahasver lastet. Er ist der Vertreter des Geldes, des mobilen Besitzes, der
nomadisierende Geschäftsmann, den schon vor Jahrtausenden seine Propheten
vor dem Landbau warnten, weil er sich schlecht verrente. Es ist das Volk,
von dem nach Jeremias (XIV, 16) der Herr spricht: „Sie laufen gern hin
und wieder, und bleiben nicht gerne daheim." Und weil umgekehrt dieses
Volk heimatlos ist, deshalb geht 'es fast völlig im Geldgeschäft auf. Ich glaube
sogar erfahren zu haben, daß der Jude, der sich längere Zeit auf seinen:
gepachteten Acker plagte, etwas von dem Charakter verlor, den wir seinem
Volke zum Vorwurf machen. Oder plagte er sich vielleicht eben nur deshalb
auf seinem Acker, weil ihm persönlich dieser Charakter weniger zu eigen war?
Wer magh genau ergründen!
Wir sind industriell und kommerziell geworden, und es wäre vergeblich,
sich dagegen zu sträuben, daß der Staat dieser Wandlung vor allem Rechnung
trägt. Aber wir wollen nicht eine Werkstatt wie England werden, wir wollen
den Erdboden nicht vom Kapital in Latifundien zusammenziehn lassen, und
ebenso wenig ihn mobilisieren lassen für Wucherer und Theoretiker des Geldes.
Gerade dem stürmisch hereinbrechenden Triebe nach industriell-kommerziellen!
Wachstum müssen wir ein gesteigertes Interesse für die Erhaltung gesunder
Volkskraft im Landvolke, sowohl Großbesitzer wie Bauern, entgegensetzen.
Gerade dem alles auf den materiellen Maßstab herabsetzenden Geiste unsrer
Zeit gegenüber dürfen wir nicht die idealen Güter mit in den Strudel reißen
lassen. Und eine ideale Kraft ginge verloren, wenn unser Volk in dem Fluß
des heutigen Verkehrs- und Wanderlebens an der Liebe zum Erdboden ein¬
büßte. Es ist nicht wahr, daß der Erdboden ein Kapital wie ein andres sei,
es ist nicht wahr, daß der Ackerbau ein Erwerb wie jeder andre sei. Gegen
den mobilisierenden, entseelenden, verständnislosen Ansturm der Geldmacht hat
der Landmann den Anspruch auf staatlichen Schutz, soweit er sich nicht selbst
schützen kann. Freilich nur der Landmann, dem der Erdboden mehr ist als
bloßes Geschäftskapital. Wer vom Erdboden nur Coupons schneiden will, gehört
le nachstehend wiedergegebnen Ausführungen über den Hof Kaiser
Pauls I. von Rußland sind einer vom März des Jahres 1800
datierten Denkschrift entnommen, die die damalige Lage Rußlands
und Europas zum Gegenstände hatte. I»»erhält' der Kreise, die
von ihr Kenntnis erhielten, erregte diese Darlegung ein so nach¬
haltiges Aufsehen, daß Teile davon noch vor einigen Jahren in einer russischen
historischen Zeitschrift abgedruckt worden sind, wobei begreiflicherweise die die
Person des russischen Herrschers betreffenden Mitteilungen außer Betracht
blieben. Diese letzten aber sind von besondern: Interesse, weil sie unbekannt
gebliebne Thatsachen berühren, die auf den Gang der politischen Ereignisse
großen Einfluß gewinnen sollten.
Dmi Abdruck dieses hundert Jahre lang verborgen gebliebner Dokuments
müssen einige Bemerkungen über die damalige Weltlage vorausgeschickt werden.
In der Absicht, der von Frankreich heranstürmenden revolutionären Flut
einen Damm entgegenzusetzen und die bestehenden Rechts- und Besitzverhältnisse
gegen die Vergewaltigungen des Pariser Direktoriums und seiner Generale zu
schützen, hatte sich Kaiser Paul I. im Jahre 1798 mit Österreich und England
über ein gemeinsames Vorgehn gegen die französische Republik verständigt und
zugleich die Großmeisterschaft über die Überbleibsel des von Napoleon nus
seinem alten Sitze Vertriebnen Malteserordens übernommen; Preußen in diese
Koalition zu ziehn war dem russischen Herrscher nicht gelungen. Die an
diese Unternehmung geknüpften Hoffnungen blieben jedoch unerfüllt. Obgleich
Suworows berühmter Feldzug nach Italien von glänzendem Erfolge gekrönt
war, vermochte Paul das durch die sogenannte zweite Koalition begründete
Verhältnis zu den Kabinetten von Wien und London nicht aufrecht zu erhalten.
Während dem trotz aller Wunderlichkeiten ritterlich denkenden Zaren ausschlie߬
lich an der Erreichung eines idealen Zwecks, der Wiederherstellung der alten
europäischen Ordnung und der Niederhaltung des revolutionären Frankreichs
gelegen war, hatten Kaiser Franz I. und dessen Minister Thugut den Krieg
gegen die Revolution wesentlich in der Absicht unternommen, die österreichische
Herrschaft über Oberitalien wieder herzustellen. Thugut wußte dem russischen
Minister plausibel zu machen, daß der angestrebte Zweck am besten durch Ver¬
legung des Kriegsschallplatzes in die Schweiz und durch einen von dort aus
unteruommnen Einfall in das östliche Frankreich erreicht werden würde. Zu
seinem Mißvergnügen mußte Suworow den Schauplatz seiner großen Erfolge
verlassen und über die Alpen gehn, das Gros der österreichischen Armee aber
wurde nach Schwaben zurückgezogen, und der nur unzureichend unterstützte
russische Feldherr eiuer überlegnen französischen Armee entgegengestellt, gegen
die sein Heer dauernd nichts auszurichten vermochte. Erbittert über dieses
'"ehr als" zweideutige Verhalten seines ausschließlich mit italienischen Er¬
werbungen beschäftigten Verbündeten beschloß Paul sich vou Österreich los¬
zusagen und im Bunde mit England, Preußen, Dänemark und Schweden den
Krieg gegen Frankreich fortzusetzen, zugleich aber „Österreichs ehrgeizige« Ab¬
sichten" Schranken zu ziehn. Da Preußen nicht zum Verzicht auf seine
Neutralität zu bestimmen war, der Versuch einer russisch-englischen Landung
in Holland mißglückte (August 1799), und England den reizbaren russischen
Herrscher durch den Rat, sich mit Österreich zu verständigen, lebhaft verstimmte,
tum auch dieser neue Plan nicht zur Ausführung. Zu weiterer und leiden¬
schaftlicherer Erbitterung gegen seine bisherigen Verbündeten aber wurde der
Kaiser aufgestachelt, als Thugut in einer Anfang Dezember 1799 dem russischem
Kabinett überreichten Note die italienischen Gebiete aufzählte, die der Kaiscr-
stant „als Entschädigungen" in Anspruch nehme, und als zugleich bekannt
wurde, daß der k. k. General Frölich die gemeinsam mit dem russischen Befehls¬
haber Woynowitsch eingeuommne Festung Ancona ausschließlich mit seine»
Truppen besetzt und die im Hafen der Stadt neben der österreichisch eil auf¬
gehißte russische Flagge entfernt habe.
Auf die durch diese Vorgänge geschaffne Lage bezieht sich die vorliegende
Denkschrift. Ihre rein politischen Ausführungen stellen wir einstweilen zurück,
um auf den von unserm Verfasser nachgewiesenen Zusammenhang eliizugehn,
Worin des Kaisers Abneigung gegen seine frühern Bundesgenossen, und ins¬
besondre gegen Österreich, mit gewissen Vorgängen innerhalb der Se. Peters-
burger Hofsphüre stand. Eine Partei, die Rußland von jeder Beteiligung
an europäischen Händeln zurückzuhalte» wünschte, wußte ein zwischen dem
Monarchen und seiner Gemahlin obwaltendes Zerwürfnis im Interesse ihrer
koalitionsfeindlichen Politik auszunutzen. Über die Art, in der das geschah,
wird auf den nachstehenden Blättern ausführlich berichtet. Erwähnt muß nur
noch werden, daß sich des Kaisers Unwille über das Verhalten Österreichs
vornehmlich gegen den diplomatischen Vertreter dieser Macht, den kurz zuvor
in Se. Petersburg allmächtig gewesenen Grafen Cobenzl richtete, daß diesem der
Hof verboten wurde, und daß jede Anknüpfung mit dem in eine förmliche
Acht gethanen Repräsentanten des Wiener Hoff von dem Kaiser als persön¬
liche Beleidigung angesehen wurde. Unter anderm hatte der bis dahin wohl-
gelittne englische Botschafter Witworth den Versuch, Cobenzl zu rehabilitieren,
mit dem Verlust der kaiserlichen Gunst bezahlen und die russische Residenz ver¬
lassen müssen. Von Österreich wurde die verletzende Haltung des russischen
Herrschers ignoriert, Cobenzl auf seinein Posten gelassen und soweit möglich
gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Neben der Hoffnung auf eine Sinnes-
ändrung des russischen Herrschers war dafür der Umstand maßgebend, daß man
die Verlobung von Pauls Tochter Alexandra mit dem Erzherzog Palatinus
Joseph nicht rückgängig gemacht sehen wollte. In der That fand die Heirat
dieses — schon im Jahre 1801 durch den Tod der Prinzessin getrennten —
Paares während der Periode heftigsten Zerwürfnisses der beiden Regie¬
rungen statt.
Von der Natur ist dieser Monarch (Paul I.) mit gesundem Verstände, einem
guten Herzen und mit der Fähigkeit zu edelmütigen Empfindungen ausgestattet;
dreißig Jahre der Unterdrückung und der leidigen Notwendigkeit, seine Ge¬
danken und Empfindungen in sich zu verbergen, haben jedoch dazu geführt,
daß alle die Lebensäußerungen, die Paul hatte niederhalten müssen, alsbald,
nachdem er zum Zaren geworden war, mit geradezu erschreckender Heftigkeit nach
außen getreten sind. Der Tod seines Vaters hatte auf ihn einen unauslösch¬
lichen Eindruck geübt und ihn mit Angst vor seiner Mutter, der verstorbnen
Kaiserin, erfüllt. Er fürchtete, niemals auf den Thron zu gelangen und sein
Leben lang eine problematische Existenz führen zu müssen. Gegen seine nähern
Freunde hatte er sich wiederholt in diesem Sinne ausgesprochen und unter anderm
der Gräfin Rosenberg, die er auf seiner Reise hatte kennen und schützen lernen,
einmal das Folgende gesagt: „Man wird mich nicht auf den Thron gelangen
lassen, und ich rechne anch nicht darauf. Sollte das Geschick aber dennoch wollen,
daß ich Kaiser werde, so werden Sie sich über das, was Sie alsdann sehen
werden, nicht verwundern dürfen. Sie kennen mein Herz, aber Sie kennen
diese Leute (die Russen) nicht, während ich weiß, wie man mit ihnen zu ver¬
fahren hat." (Dieser Ausspruch ist mir von Herrn von Haugwitz mitgeteilt
worden, der ihn aus dem eignen Munde der Gräfin hat.)
Kaum war er auf den Thron gelangt, so bewies Kaiser Paul seinen Ab¬
scheu vor dem Ereignis von 1762 und beschloß, den unheilvollen Folgen zuvor¬
zukommen, die Peter der Große heraufbeschworen hatte, als er die Thronfolge
von der Entschließung und Wahl des jedesmaligen Herrschers abhängig machte.
Paul, der von den'Ereignissen von 1762 für sich selbst zu fürchten gehabt
hatte, hat ein dem salischen nachgebildetes Gesetz erlassen, das die Frauen von
der Thronfolge fern hält und sie ein für alle mal dem ältesten männlichen
Sprossen seines Hauses zuspricht.
Gegen die Personen, die ihm während seiner Großfürstenzeit zugethan
gewesen waren, hat der Kaiser große Dankbarkeit gezeigt. Die Kurakins haben
die ersten Stellungen erhalten, und Nostoptschin, der sogleich befördert wurde,
ist im Begriff, eine sehr große Rolle zu spielen. Weiter ist die letzte Thron¬
besteigung von verschiednen Akten der Gerechtigkeit begleitet gewesen. Der
König von Polen wurde eingeladen, nach Se. Petersburg zu kommen, im
Marmorpalast untergebracht und mit besondrer Rücksicht behandelt. Bei seinem
Leichenbegängnis hat der Kaiser die dreizehntausend Mann, die das Trauer¬
gefolge bildeten, in Person befehligt. Kosziusko wurde aus dem Gefängnis
befreit und mit Wohlthaten überhäuft, die er hätte dankbarer, als geschehn ist,
anerkennen können. Der Kaiser hat ein so starkes Rechtsgefühl, daß, wenn
es auf ihn allein angekommen wäre, Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangt
hätte. Dem Fürsten Besborodko*) hat er die Leitung der auswärtigen An¬
gelegenheiten übertragen und ihn mit Ehren und Gütern überschüttet.
Wenig später trat die außerordentliche Heftigkeit, die dem Kaiser immerdar
eigentümlich gewesen war, die er aber bis dahin mehr oder minder hatte ein¬
dämmen müssen, in so erschreckender Weise hervor, daß die Kurakins für sich
zu fürchten begannen. Sie versuchten eine Partei zu bilden, an deren Spitze sie
die Kaiserin zu bringen versuchten, indem sie sich dabei des Fräulein NeKdow
bedienten. Dieser Plan scheiterte an dem Grafen Kutaissow, einem bei Oszakow
gefangen genommnen Türkensklaven, der in den Dienst des Monarchen gesteckt
worden war, und den dieser hatte erziehn lassen, um ihn zu seinem Kammer¬
diener und sodann zu seinem Vertrauten zu machen.
Kutcnssows Geschichte ist bekannt — sie gehört nnter die Beispiele uner¬
hörter Glückscrfolge, wie sie allein unter einem despotischen Regiment vor¬
kamen. Kutaissow hat die Geschmeidigkeit und Geschicklichkeit seiner Landsleute
und eine genaue Kenntnis der Eigenschaften seines Herrn. Er ist weder bös¬
artig noch verfolgungssüchtig, entbehrt dafür aber aller sittlichen Begriffe, die
ihn hätten befähigen können, sich so zu betragen, wie es seine Stellung und
die Würde seines Herrschers verlangten. Kutaissow ist entschiedncr Gegner
der gegen Frankreich gerichteten Koalitionspolitik und trifft in diesem Punkte
mit dem Grafen Nostoptschin zusammen, dessen Einfluß sich auf den seungen
(Kutaissows) stützt. Danach wird man sich von der Stärke dieser Partei und
von dem Umfange der Mittel eine Vorstellung machen können, womit sie ans den
Kaiser einwirken kann. Es ist über die Grunde vielfach gestritten worden, ans
denen der plötzliche Umschlag in den politischen Entschließungen dieses Mon¬
archen eingetreten ist. Kein Zweifel, daß die piemontesische Angelegenheit, die
Meinungsverschiedenheiten wegen der Räumung der Schweiz, und die Hart¬
näckigkeit, mit der Preußen aus seiner Neutralität beharrte, den Kaiser all¬
mählich verstimmt haben, und daß er schon bei der Veröffentlichung des
berufnen, an seine Unterthanen gerichteten Manifests vom 12. September
daran gedacht hatte, sich von der Koalition zurückzuziehn. Jedoch liegt die An¬
nahme nahe, daß noch andre Gründe auf die Entfremdung zwischen dem Kaiser
und dessen Verbündeten hingewirkt haben, und daß gewisse einflußreiche Per¬
sonen in diesem Sinne auf ihn eingewirkt und den eingetretenen Gegensatz zu
der Schärfe getrieben haben, die er jetzt erreicht hat. Personen, die Land und
Leute kennen, behaupten aus guten Gründen zu wissen, daß Kutaissow in
diesem Sinne thätig gewesen sei, und zwar auf die Äeranlassuug einer fran¬
zösischen Schauspielerin, der Madame Chevalier, Diese Dame ist in Se. Peters¬
burg zu einer sehr wichtigen Person geworden. Als Geliebte Kutaissows ist
sie von einem ganzen Schwarm von Ränkeschmieden und Ehrgeizigen umgeben,
darunter von Personen der höchsten Gesellschaft, die sich nicht schämen, um ihre
Unterstützung zu betteln und ihr Gesuche der schmählichsten Art zu unterbreiten.
So bezahlt z. B. der Oberkanunerherr Graf Scheremetjew für die Loge, die
er an ihren Benefizabenden nimmt, regelmäßig die Summe von dreitausend
Rubeln. Gold und Geschenke regnen auf diese Person herab, der anch der
Kaiser zu verschiednen malen reiche Gaben hat zugehn lassen, obgleich er
kein Entgelt dafür verlangt hat und alle bezüglichen Behauptungen durchaus
unbegründet sind.
Anfänglich war die Kaiserin bemüht, Frau Chevalier beiseite zu schieben;
dank Kntaissow, der sie sich beigelegt hat, ist diese Frau aber heute gegen alle
Feindseligkeiten gesichert. Der Kaiser hat ihr sogar eine Loge in der Eremitage
zum alleinigen Gebrauch bewilligt und sie von der Verpflichtung zu öffent¬
lichem Auftreten vor dem Publikum entbunden. Sie ist hübsch und liebens¬
würdig, hat früher in Lyon und in Hamburg gelebt und einen entsetzlichen
Taugenichts zum Manne genommen — einen Kerl, der früher Vertrauter von
Collot d'Herbois und dessen Helfershelfer bei den berüchtigten Lyoner Füsilladen
war. Dieser abscheuliche, allein auf Schändlichkeiten bedachte Geselle übt großen
Einfluß auf seine Frau, die in seinen Händen zu einem gefährlichen Werkzeug
geworden ist. Herr von Haugwitz, der die Dame genau kennt, hat mir darüber
mancherlei wohlverbürgte Einzelheiten mitgeteilt, unter anderm, daß Chevalier
während der letzten Reise des verstorbnen Königs von Preußen nach Pyrmont
gekommen war und alles denkbare versucht hatte, um seine Frau bei dem König
oder Herrn von Haugwitz anzubringen. Da dieser letzte von Beziehungen der
Pariser Demokraten zu dem Ehepaare Kenntnis erhalten hatte, hat er es fort-
geschafft. Und diese selbe» Leute sind es, die gegenwärtig in Se. Petersburg
Gnaden verteilen und um alle Staatsgeheimnisse wissen ! Chevalier, der früher
Tänzer der erbärmlichsten Art war, ist hier Ballettmeister geworden, hat vom
Kaiser den Rang eines Kollegiennssessors*) erhalten und die Frechheit soweit ge¬
trieben, daß er die Hoffnung aussprach, das Kreuz des Malteserordens zu er¬
halten. Wer weiß/ob ers nicht dazu bringt — hat Kutaissow doch diesen
Orden erlangt.
Aus den vorstehend berichteten Thatsachen und mit Rücksicht darauf, daß
Chevalier seine Frau beherrscht, diese auf Kutaissow und Kutaissow auf den
Kaiser uneingeschränkten Einfluß übt, liegt es nahe, gewisse Schlußfolgerungen
zu ziehn. Kutaissow besucht allabendlich Frau Chevalier und begiebt sich
von dort in das Palais, wo er die früher von den Günstlingen der Kaiserin
(so. Katharina) bewohnten Gemächer inne hat. Eins dieser Zimmer ist unter
dem des Kaisers und ist durch eine geheime Treppe damit verbunden. Herr
und Diener können einander sehen, so oft sie wollen.
Über die Kurakins und über deren frühere Pläne ist das Folgende zu
berichten. Einer dieser Herren war Minister des Auswärtigen, der andre
Generalprolnrenr — beide sind ihrer Stellungen enthoben worden, Fräulein
Nelidow aber wurde verbannt, und die Kaiserin büßte ihren Einfluß auf den
Kaiser und dessen Vertrauen ein. Die Gunst, worin Kutaissow steht, hat
dadurch ihren Höhepunkt erlangt; er ist der intimste Vertraute des Kaisers
geworden, weicht nicht mehr von seiner Seite und hat den Posten eines Ober¬
stallmeisters, das Malteserkreuz, den Alexander-Newski- und den Anncnorden
erhalten. Die Kaiserin spielt seitdem eine höchst untergeordnete Rolle. Sie ist
uicht ohne Verstand, aber charakterlos und mit einem ausgesprochnen Hange
Zu kleinen Intriguen behaftet und für Dienstbotenklatschereien zugänglich. Tue
Vorliebe für ihren Bruder, den Prinzen Ferdinand«) hat sie zur Partei-
gäugerin Österreichs gemacht, und das bedeutet die schlechteste Empfehlung,
die man bei dem Kaiser überhaupt haben kann. Früher war der Monarch em
musterhafter Ehemann und Vater, der die Bethätigung seiner Zärtlichkeit gegen
Fran und Kinder bis zur Affektation trieb. Nachdem er sich aber hat ein¬
reden lassen, daß ein Komplott bestanden habe, ist es um sein Vertrauen ge¬
schehn, und kann es nicht wiedergewonnen werden. Die Personen, die ihn
der Kaiserin entfremdet haben, haben überdies verstanden, ihn in anderwerte
Bande zu verstricken.
Des Kaisers Ergebenheit gegen Fräulein Nelidow war rein platonischer
Natur und auf eine gewisse Übereinstimmung der Seelen gegründet. Diese
Dame ist sehr häßlich, hat aber Verstand und Bildung.
Kutaissow sagte sich, daß der Kaiser in ein Verhältnis handgreiflicherer
Natur gebracht werden müsse, wenn er dem gefürchteten Einfluß der Kaiserin
vollständig entrückt werden sollte. Er warf sein Auge auf die Fürstin La¬
puchin, die Tochter des Lapuchin, der an die Stelle des Fürsten Kurakin
getreten war. Diese junge Dame war Ehrenfrnulein der Kaiserin und von
ziemlich hübschem Äußern; sie hat schöne schwarze Augen und die volle Frische
ihres Alters, dabei nicht allzuviel Verstand, aber — wie man meint — sehr
viel Temperament. Lüngre Zeit widerstand sie deu Nachstellungen des Kaisers,
dessen Huldigungen ihrer Eitelkeit schmeichelten, dessen Liebesversicherungen ihr
Selbstgefühl jedoch uicht zu überwinden vermochte. Ju der Gunst des Kaisers
machte sie täglich Fortschritte, und als Kutaissow einmal von dem Verlust der
kaiserlichen Gnade bedroht war, wußte sie die Sache wieder ins Geleise zu
bringen und die drohenden Wolken zu verscheuchen. Seitdem war der Günst¬
ling unablässig bemüht, sie dem Kaiser vollständig in die Hände zu spielen.
Er wußte den Vater zu gewinnen, der als niedriger Hofmann — wie es fast
alle Russen sind — seinen vollen Einfluß dazu aufwandte, die eigne Tochter
an den Kaiser zu verkuppeln. Die Fürstin widerstand indessen noch einige
Zeit — dann bequemte sie sich zu kleinen Zugeständnissen, und schließlich ge¬
stand sie dem Kaiser die letzte Gunst während des vorjährigen Sommerauf¬
enthalts in Pawlowsk zu. Sie wurde die anerkannte Geliebte des Monarchen,
der ihr das große Malteserkreuz und den ersten Rang nach deu Prinzen von
Geblüt verlieh. Obgleich sie mit Gnaden überhäuft wurde, vermochte sie ihren
Vater aber nicht vor der kaiserlichen Ungnade zu schützen. Lapuchin, der an
der Stelle Kurnkins Generälprokureur geworden war, verlor dieses Amt, das
an Bekleschow überging, der es aber im Februar (1800) an Herrn Obeljcininow
abgeben mußte. Dieser ist der vierte Generälprokureur Minister des Innern)
seit dem Regierungsantritt Pauls I.
Maßlos in seiner Liebe wie in seinem Haß hat der Kaiser die Fürstin
Lapuchin alsbald ermüdet. Sie behauptet Zweifel ein der Treue und an der
Beständigkeit des Kaisers zu hegen, bricht häufig in Thränen aus, behauptet
vor Gram sterben zu müssen, wenn sie verlassen werde, und beschwört ihren
hohen Freund, mindestens für ihre Zukunft zu sorgen und sie angemessen zu
verheiraten. Der Kaiser hat zu diesem Zweck sein Augenmerk auf einen Fürsten
Gagarin, den Sohn des Handelsministers, gerichtet, ihn zu seinem General-
ndjutanten ernannt und ihn, erlaubt, die Fürstin Lapuchin in seiner (des
Kaisers) Abwesenheit zu sehen. Die Dame hat nicht ermangelt, den Adjutanten
ebenso liebenswürdig zu finden wie seinen Herrn und diesem eine gewisse Ab¬
kühlung gezeigt. Zwischen gekränktein Stolz und Besorgnis vor Verletzung
seiner Geliebten hin und her schwankend geriet der Monarch in eine Erregung,
die jede Berührung mit ihm erschwert, und die nicht ohne Rückwirkung auf die
Behandlung der auswärtigen Angelegenheiten geblieben ist. Dieser Zustand
dauert seit dem Dezember unverändert fort. Einmal kam es sogar zu einem
Zwist mit der Lapuchin, die der Kaiser nicht mehr sehen zu wollen erklärte.
Die Kaiserin suchte diesen Augenblick zur Wiederherstellung ihres eignen Ein¬
flusses auszubeuten, indem sie die Zurückberufung des Fräulein Nelidow vor¬
schlug und unter Beteuerungen ihrer.Hingebung und Uneigennützigst erklärte,
sie wisse sehr wohl, daß sie ihren Gemahl nicht mehr zu fesseln vermöge. Mit
dieser Erklärung verband sie die dringende Bitte, Seine Majestät wolle seine
Wahl mindestens ans eine seiner würdige Person richten. Zu diesem Zweck
schlug sie die alte Freundin Nelidow vor, die denn auch zurückkehrte, alsbald
aber erklärte, daß sie nicht mehr bei Hofe erscheinen wollte, und damit Wort
hielt. Nichtsdestoweniger ist das alte Verhältnis des Kaisers zur Lapuchin wieder¬
hergestellt und ihr die Erlaubnis zu der — am 8. Februar erfolgten —
Heirat mit Gagarin erteilt worden. — So lagen die Dinge wenigstens bei
meiner Abreise von Se. Petersberg, wo die Chevalier, Kutaissows Geliebte,
mir die bezüglichen Mitteilungen gemacht hat.
(Schluß folgt)
>le frühere Überschrift ließ sich nicht aufrecht erhalten. An den
.ersten" Teil des Burenkrieges haben sich ein zweiter und dritter
I gefügt, wobei die Grenzlinien nicht überall scharf hervortreten.
Sollte jeder dieser Teile gleich sorgfältig unter die Lupe ge-
— nommer werden, so ergäbe das ein dickleibiges Buch. Von einem
^nahe darf man eine gewisse Vollständigkeit fordern: hier soll nicht viel mehr
" ^ lose aneinander gereihte Aphorismen geboten werden. Zunächst aber
möchten wir einen kurzen Rückblick auf die Kriegsereignisse werfen, die in den
frühern „Randglossen" noch nicht berührt worden sind. Unter dem Eindruck
n Waffenstreckung Cronjes, der Freigabe von Ladysmith und der Besetzung
wu Bloemfontein waren die frühern groben Fehler der englischen Heeres-
^ung, soivie die kriegerischen Großthaten der Buren schon in Gefahr, in Ver¬
gessenheit zu geraten, sodaß es nicht unangebracht erscheint, die Erinnerung
aran etwas aufzufrischen. Da um eine knappe Aufzählung der einzelnen
»rgänge allzu trocken ausfallen dürfte, so werden nur sie dadurch zu würzen
reden, daß wir die jedesmalige englische Auffassung und Beurteilung der Lage,
me sie sich ^ Äußerungen der Presse ergiebt, einflechten. Es liegt ein
^gentünllicher Humor in dem verblendeten Fehlgreifen der englischen Blätter,
ließe , ""^ ^ der schwerwiegendsten Thatsachen nicht belehren
So entlasten wir zugleich einen später folgenden Abschnitt, der sich mit
englischen Lügennachrichten, englischer Thorheit und englischer Prahlerei be¬
schäftigen wird: ein üppig wucherndes Feld von Ungeheuerlichkeiten und ge¬
legentlich auch — Unverschämtheiten!
Den zweiten Teil des Burenkriegs können wir als die „Ära Butter"
bezeichnen, den dritten als die „Ära Roberts-Kitchener."
Sir Nedvers Butter, der wegen seiner kaustischer Kritiken gefürchtete
Kommandant des Lagers von Aldershot, wurde als der zukünftige Nieder¬
zwinger der Buren in den englischen Blättern weidlich gepriesen. Und in
der That gehört er zu den einsichtigern englischen Generalen; sein hie und
da zur Schau getragnes Selbstbewußtseil? machte ihn für die Rolle eines
Oberbefehlshabers der sämtlichen britischen Streitkräfte in Südafrika um so
geeigneter. Natürlich hat er das ihn: bei der Abfahrt zugeschriebne Prahl¬
wort, er werde in vier Wochen in Pretoria sein — nie gesprochen; wer
etwas von ihm wußte, war davon ohne weiteres überzeugt, und es hätte
einer förmlichen Ableugnung, wie sie in einem Briefe an einen Freund von
liegt, gar nicht bedurft. Im Gegenteil antwortete Butter vor dem Antritt
der Seereise auf die Frage: Wie lauge er wohl wegbleiben werde? —
„Etwa sechs Monate!" Und auf die Bemerkung: Sechs Monate seien eine
lange Zeit, sagte er: „Der Weg bis zum Ziele ist auch lang." Daß mich
die sechs Monate nicht ausreichen würden, haben damals nur wenige geahnt.
Die angeblichen „vier Wochen" fanden aber unter den eignen Landsleuten des
Generals willigen Glauben, und eine in Stuttgart lebende englische Dame
sandte im November vorigen Jahres — Quelle: eine große, durchaus nicht
burenfreundliche deutsche Zeitung — eine Ansichtspostkarte „an den General
Butter, ankommend Pretoria" ab. Diese Karte soll nun — ein wenig Scherz
beim Ernste kann nicht schaden — anfang Februar mit dein PostVermerk zurück¬
gelangt sein: „Butter in Pretoria gänzlich unbekannt; auch mit Hilfe der
Polizei nicht zu ermitteln."
Zur Beurteilung der Maßnahmen Butters wäre es nun von Bedeutung
zu wissen, ob die Verzetteluug des ersten Armeekorps, das die Buren zu
Paaren treiben sollte, auf den verschiednen Kriegsschauplätzen (einschließlich der
Entsendung Methnens zum Entsatz von Kimberley) wirklich Butters Werk ist.
Wir vermögen es nicht zu glauben, obgleich I. A. Balfour um 30. Januar im
Unterhause mit dem Eutrüstungstone gekränkter Unschuld die denkwürdigen
Worte sprach: „Die Regierung hat sich weder direkt noch indirekt in das freie
Verfügungsrecht der Generale im Felde gemischt." Das bezieht sich doch auch
auf das Verhalten des Generals White beim Ausbruch der Feindseligkeiten im
nördlichen Natal. Wir haben früher schon die Ansicht vertreten, daß nur
politische Gründe und Beeinflussungen zu der militärisch nicht zu rechtfertigenden
Behauptung von Dundee-Ladhsmith geführt haben könnten. Inzwischen sind
nun die ersten Berichte Whites bekannt geworden, und aus ihnen geht klar
hervor, daß er gegen seine ursprüngliche Absicht nur durch das dringende Er¬
suchen des Gouverneurs von Natal veranlaßt worden ist, in der bezeichneten
Stellung den Kampf aufzunehmen. Ist der Gouverneur von Natal nicht „die
Regierung"? Hat er nicht ganz unzweideutige Weisungen von London gehabt,
mit dem er in direkter telegraphischer Verbindung stand? Wir meinen, daß
dieses eine Beispiel allein die Fadenscheinigkeit der Regierungserklärung dar¬
thut. Und ferner: Butter schwamm selbst noch auf dem Meere, als den
Transportschiffen unterwegs — doch wohl aus London? — der Befehl zuging,
die Fahrt nach Möglichkeit zu beschleunigen. Die schnellsten kamen selbstver¬
ständlich zuerst am Kap an und wurden mit Rücksicht auf Ladysmith alsbald
nach Durbau weitergehetzt. Das Ergebnis war eine völlige Zerreißung der
Verbände und — mit Rücksicht auf die Stärke der nach Natal gesandten Heeres¬
teile — die Unmöglichkeit, mit dem verbleibenden Nest der Truppen die schon
vorbereiteten Operationen vom Norden der Kapkolonie aus in der Richtung
auf Bloemfontein zu beginnen. Was blieb da dem Oberstkommandierenden
übrig, als sich auch für seine Person nach Natal zu begeben, das zum Grabe
seines militärischen Ansehens werden sollte?
Vom 15. November bis etwa 5. Dezember landeten bei Durham an die
25000 Mann englischer Truppen. Den Oberbefehl führte hier, bis ihn Butter
selbst übernahm, der Generalleutnant Clery. Schon am 21. November, das
ist zu einer Zeit, wo die ersten Bataillone von Durham mit der Eisenbahn
nordwärts gesandt wurden, wußten englische Blätter ihren Lesern in fetten
Lettern die Mär zu verkünden: „Ladysmith ist frei; die Buren haben die Be¬
lagerung aufgehoben." Und zwei Tage später meinte ein „Weltblatt" wie die
^lass: „Da wir (in Natal) über eine solche Truppenmacht verfügen, kann
die gegenwärtige Lage kaum länger als ein oder zwei Tage dauern. General¬
major Clery. der im Süden von Ladysmith befehligt und jetzt in Estcourt
sein dürfte, wird wahrscheinlich die Buren angreifen, wo immer er sie in einiger¬
maßen beträchtlicher Zahl findet. Die allgemeine Lage berechtigt zu der An¬
nahme, daß wichtige Ereignisse unmittelbar bevorstehn, und daß deren Verlauf
kaum anders als für uns vorteilhaft sein kann." Ähnlich äußerten sich andre
Blätter, und zugleich führten die Zeitungsstrategen ein großes Wort über den
jeder gesunden Kriegführung hohnsprechenden Vorstoß der Buren von Lady¬
smith bis hart an Pietcrmaritzburg heran, der den englischen Aufmarsch auf
das ernstlichstc zu stören drohte. Hatten die bösen Buren doch die beiden
vordersten englischen Heeresgruppen - bei Estcourt und am Momfluß -
förmlich eingekreist und auf Tage von jeder Verbindung untereinander und
Mr Küste abgeschnitten. Aber es werde ihnen schlecht ergehn: entweder würden
ste wegen Mangels an Lebensmitteln verhungern oder von den englischen
Truppen aufgerieben werden; so meinten die englischen Sachverständigen, denn
sie waren der festen Überzeugung, daß der Bure abseits von der Eisenbahn
ebenso hilflos sei wie der verwöhnte Engländer. Und dann glaubten sie trotz
aller Lehren der Vergangenheit, daß die burischen Streitkrüfte bei ihren
Operationen an das Schrittmaß ihrer Ochsenwagen gebunden seien. Deshalb
wurde, als nach einigen für die englischen Waffen nicht ungefährlichen Tagen
die Einschließung der Heerhaufen bei Esteourt und um Mooifluß aufgehoben
wurde, und die Buren aus Gründen, die noch nicht klar sind, mit all ihren
Leuten bis hinter den Tugela zurückgingen, in England der Mund wieder
recht voll genommen. Aha, sie fliehen! Das Erscheinen der ersten englischen
Bataillone und Batterien genügt, daß sich der Gegner in wilder Hast in
Sicherheit bringt! Aber ohne Zweifel wird General Clery vor ihm am Tugela
sein und ihn unter Verlegung des Übergangs vernichten. Das war so die
Tonart. Du lieber Himmel: schwerfällige englische Soldaten sollten behenden
Buren, denen der Rückzug nach allen Richtungen (mit Ausnahme nach Süden)
offen stand, und die eines Hindernisses wie des furtreichen Tugela spotten,
an diesem Flusse zuvorkommen! — Eine gewisse Besonnenheit zeigte noch der
militärische Beurteiler der l'lines, der unterm 25. November meinte: „Die
Lage in Natal ist so merkwürdig kompliziert, daß es unmöglich ist, sie zu ver-
stehn. Die Verwegenheit der Buren, die drei britische feste Plätze zu isolieren
versuchen, während sie obendrein noch gegen Pietermaritzburg vorrücken, ist
beinahe unglaublich, aber die britischen Generale scheinen ihrer Aufgabe nicht
recht gewachsen zu sein." Der letzte Satz war etwas dreist, angesichts der
Thatsache, daß der Chefredakteur des og,lip Onroviolo gerade in jenen Tagen
zum Rücktritt gezwungen wurde, weil er den Buren und ihrer Sache Gerechtig¬
keit widerfahren ließ. Geradezu naiv nimmt sich aber eine Äußerung der
H. 8. 6.*) vom 18. November aus: Der soeben erfolgte Befehl zur Mobil¬
machung des Belagerungsparks sei das Vorspiel zur Belagerung von Pretoria!
Nebenbei bemerkt kamen die ersten Teile dieses Parks erst am 3. Januar in
Kapstadt an.
Auch der Lr. ^. vom 2. Dezember meint: „Die Lage bessert sich täglich....
Voraussichtlich wird bald ein Ende gemacht. Vor Weihnachten noch stehn
100000 Mann in Südafrika; ein größeres und besser ausgestattetes Heer hat
England noch niemals ins Feld gestellt. . . . Die Besetzung Pretorias ist
höchstens die Sache eines Monats, vielleicht anch kürzerer Zeit. . . . Jeden
Tag muß die Nachricht eintreffen, daß Ladysmith entsetzt ist. . . . Nach dem
Siege über den Kalifen können wir jetzt im Norden wie im Süden Afrikas
unser Haupt hochtragen. ... Die Einnahme von Bloemfontein und Pretoria
wird den Buren die verdiente Lektion erteilen."
Erinnern solche Auslassungen nicht an den unerfüllt gebliebner Ruf von
1870: Ä Lsrlm?
Allem aber setzt in demselben Lr. H.. der englische Generalmajor Bengough
die Krone auf mit seinen kritischen Betrachtungen über die Lage. Er ist zu
beneiden um seinen geradezu unverwüstlichen Optimismus, der hie und da in
den reinen strategischen Wahnsinn übergeht. Hier ein paar Proben zur Er¬
heiterung unsrer Leser:
25. November: Betrachtet man die englische Einheit im Oberbefehl, die
Vollendetheit unsrer Organisation und die Mittel zu den schnellsten und nach¬
haltigsten Operationen, und sieht man dann auf der andern Seite einen viel¬
köpfigen Kriegsrat mit geteilten Meinungen, halbe Maßregeln in Bezug auf
die Operationen und die Nichtausnutzung günstiger Gelegenheiten, so kann das
endliche Ergebnis nicht zweifelhaft sein. — Die Teilung der englischen Streit-
kräfte in zwei oder drei Kolonnen bietet nur Vorteile ohne Nachteile. Sie
wird die eingeborne Bevölkerung und die Afrikcmder niederhalten, die Haupt¬
stadt des Freistaats direkt bedrohen (!), die Stellung der Drcckensberge(!) in
der Flanke umgehn und den jetzt bei Ladysmith stehenden Buren den Rückzug
abschneiden. Die Buren werden sich auf Unternehmungen gegen eine der drei
Kolonnen, deren jede für sich allein eine ausreichende Gefechtskraft hat, nicht
einlassen. Den Buren blieben nur drei Möglichkeiten: der Versuch, Pretoria
noch rasch zu erreichen und zu verteidigen; die Auflösung aller Streitkräfte
und der Guerillakrieg, oder endlich bedingungslose Wafsenstreckuug. In Bezug
auf die erste Möglichkeit erscheint es nach der zu erwartenden entscheidenden
Niederlage Jouberts wenig wahrscheinlich, daß ein solcher Versuch gelingen
werde. Volksanfgebote streben im Gegensatz zu den regulären Truppen nach
einer Niederlage auseinander. Voraussichtlich wird seitens der Buren nach
einer solchen gar kein Versuch mehr zur Verteidigung Pretorias gemacht
werden. Wenn sie ihre Farmer in des Feindes Hand sehen, wird ihnen der
Mut sinken. Aso.
2. Dezember: Die Woge der burischen Invasion hat zu ebben begonnen,
und der britische Erfolg hat eingesetzt, um vorwärts zu finden, bis der Union
Jack über Bloemfontein und Pretoria weht. — In ein paar Tagen wird
General Gatacrc voraussichtlich imstande sein, die Offensive in der ernstesten
Weise zu ergreifen und womöglich Methuen die Hand zu reichen (be: den
Entfernungen!). Methuen hat einen wichtigen, „wenn nicht entscheidenden"
Erfolg davongetragen. Aber die eigentliche Entscheidung wird erst fallen, wenn
die drei Kolonnen (Gataere, Methuen, Butter) in Kooperation getreten send.
Eine Versammlung der vier Divisionen Butters in der Linie Harysnnth-
Ladysmith (dieses östlich, jenes westlich von den Drakensbergen!) wird die
Buren in Natal vom Freistaat abschneiden und ihren Rückzug nach Pretoria
bedrohen. (!) Bis zum Ende des Kriegs wird sicherlich, wenn auch nur aus
strategischen Gründen, eine Eisenbahn Richmond (unweit Pietermaritzburg)-
Oueenstown hergestellt sein.(!)
9, Dezember: Gatacre und French sind zurückgehalten worden, damit sie
später Methuen beim Vormarsch auf Bloemfontein gerade zur rechten Zeit
die Hand reichen; es hat nicht den Anschein, als ob im Norden der Kapkolonie
nennenswerte Streitkräfte der Buren stünden. Wir erwarten in kürzester Frist
von der Vereinigung der mittlern Kolonnen bei Springfontein, auf dem Boden
des Freistaats, zu hören. — Bisher haben der Heroismus und der Schwung
unsrer Soldaten im Verein mit der tüchtigen Führung (ZaUlmt log-äinss) durch
unsre Offiziere den Feind aus einer Stellung nach der andern gejagt, wenn
auch unter verhältnismäßig starken Verlusten. Die Schlacht am Modderfluß
zeigt wieder einmal die Tapferkeit unsrer Truppen und beweist, daß die Buren
ebenso wenig Neigung haben, unserm Artillerie- und Gewehrfeuer, wie unserm
Bajonett stand zu halten. Es ist wahr, daß sie beweglich sind, aber sie haben
ihre Beweglichkeit bisher nur zu Retiraden ausgenutzt. — Der Druck unsrer
westlichen Kolonnen macht sich schon fühlbar, und es heißt, daß der um Pre¬
toria besorgte Präsident Krüger den Rückzug seiner Leute von Ladysmith
wünscht. Ein solcher Rückzug ist jetzt, im Angesicht der Streitmittel Butters,
ohne schwere Verluste nicht mehr ausführbar, obgleich es ja dem General
Joubert durch einen zeitigen Abzug noch gelingen mag, der Katastrophe zu
entgehn, die schwer über ihn hereinbricht, wenn er die Einschließung so lange
aufrecht erhalt, bis unsre vereinigten Kolonnen gegen ihn operieren.
Doch genug von den Stilblüten dieses seltsamen Kriegslehrers. Es läßt
keinen günstigen Schluß auf die militärische Bildungsstufe des englischen Offi¬
zierkorps zu, daß er sich in einer angesehenen Zeitschrift breit machen darf.
Hand in Hand mit einer solchen kindlich eiteln und selbstgefälligen Ver-
kennung der Lage geht natürlich eine andauernde Unterschätzung und Ver¬
unglimpfung des Gegners. Wie die ^. a. <A. unter dem 25. November
triumphierend urbi se orbi verkündet, ist „der Mythus, daß die Buren gute
Schützen seien, jetzt endgiltig zerstört." Und die Ausländer ans feiten der
Buren? Nach demselben Blatt hat das deutsche Korps beim Auszuge aus
Pretoria einen so erbärmlichen Eindruck gemacht, daß ein Augenzeuge — sicher
doch ein Engländer! — zu seinem Nachbar — ebenso sicher ein Engländer! —
äußerte: „Wenn Tommy euch sähe, würde er sich schämen, mit solchen Kerlen
zu kämpfen."")
Ganz besonders amüsant erscheint uns, was die drei genannten englischen
Militärzeitschriften am 9. Dezember schrieben, denn gleich hinterher erfolgte
der völlige Zusammenbruch der englischen Hoffnungen bei Stormberg, Magers-
fontein und Colenso. Es war also am Vorabend dieser schweren englischen
Niederlagen zu lesen:
II. L. 6.: Mr. Powell Williams, N. ?., Finanzsekretär im Kriegs¬
ministerium (also ein hoher Beamter) hielt eine Rede über den Ernst des
Krieges, die er mit den Worten beschloß: „Aber nicht ein einziger hegt den
leisesten Zweifel darüber, wie der Ausgang des Krieges sein wird/' Ferner ist
das Blatt von Stolz darüber erfüllt, daß' die englischen Kolonnen jetzt an drei
Stellen vorrücken.
L.. 6/. „Wahrscheinlich wird es nicht lange mehr dauern, bis wir
von einer entscheidenden Vorbewegung (im Norden der Kapkolonie) hören."
Dem Lr. ^. erscheinen die Gebietseinverleibungen, die die Buren nach
Überschreitung der Südgrenze des Oranje-Freistaats aus wohlerwognen poli¬
tischen Gründen vornahmen, einfach „komisch," und er spricht verächtlich von
den „bis jetzt existierenden Grenzen" der Burenstaaten. Das soll heißen: Für
England giebt es solche Grenzen nicht mehr; die Frechheit der Buren, gegen
das britische Weltreich Krieg führen zu wollen, hat die auf den Landkarten
verzeichneten politischen Grenzen weggewischt, und ihr ganzes Land ist jetzt dem
Union Jack anheimgefallen!
Bitter beklagten sich die Blätter, daß die Buren dem Bajonett nicht stand
hielten: eine Großsprecherei, die mit der weitern Behauptung, daß die Buren
bei Belmont, Graspan usw. mit den: Bajonett aus ihrer Stellung geworfen
worden seien, einigermaßen in Widerspruch steht. Die Gelegenheit, ihr un-
bezwingliches Bajonett zu versuchen, sollte den Engländern bald geboten
werden.
In den ersten Dezembertagen standen den über den Oranjeflnß in die
Kapkolonie eingebrochnen Buren nördlich von Sterkstrom der englische General
Gatacre mit 5000 bis 6000 Mann und nördlich von Nacmwport der General
French mit etwas geringerer Streitmacht gegenüber. Die Aufgabe der englischen
Generale war die Deckung der von Port Elisabeth, Port Alfred und East
London zum Ormijefluß führenden Eisenbahnen. Dank der völligen Verzettelung
der englischen Truppen auf - wie wir gleich sehen werden - drei so wett
auseinander liegenden Krieqsthcatern, daß nicht nur jede gegenseitige taktische
Unterstützung, sondern sogar jede Einheitlichkeit in den strategischen Maßnahmen
ausgeschlossen erschien, und dank dem gewaltigen Aufwand an Etappentruppen,
die um nicht weniger als drei Operationslimen zwar nach der politischen Karte
Südafrikas auf eignem Boden, in Wahrheit indes wie in Feindesland, für
die erforderliche Sicherung zu sorgen hatten, war keine der vordersten englischen
Abteilungen zu einem kräftigen Auftreten befähigt. Daheim aber Keß man sie
auf dem geduldigen Zeitungspapier vorrücken. Der cittzuschlagende Weg war
ja gegeben: Gatacre und French vereinigen sich, den Schienensträngen folgend,
auf dem Boden des Freistaats bei Springfontein; dann marschieren sie weiter
nach Norden und treffen in Bloemfontein mit Methuen zusammen, der. nachdem
er Kimberley entsetzt hat. nach Osten abgeschwenkt ist; alsbald reichen die drei
^reinigten Divisionen durch die Drakensberge (sie!) dem General Butter. der
selbstverständlich inzwischen Ladysmith befreit hat, die Hand. Endlich em ge¬
meinsamer Vorstoß auf Pretoria, das nach siegreicher Niederkämpfung der
wemgen Bnrenhaufen. die es - von den Engländern an allen Ecken und
Enden abgeschnitten — glücklich erreicht haben, im raschen Ansturm genommen
wird! Ja, wenn die bösen Buren, die gewaltigen Geländeschwierigkeiten und
die unbesieglichen Entfernungen nicht wären: Dinge, die sich aus den üblichen
Übersichtskarten Südafrikas nicht recht ersehen lassen.
Was nun den General Gataere bewogen hat, trotz unzulänglicher Kampf¬
mittel am 9. Dezember teilweise unter Benutzung der Eisenbahn einen Hand¬
streich auf das 53 Kilometer entfernte Stormberg — den Einmündungspunkt
der Verbindungsbahn Rosmead Junction - Stormberg Junction in die Linie
Queenstown-Springfontein — zu unternehmen, ist noch nicht klar. Hat nur ehr¬
geiziger Thatendrang ihn vorwärts getrieben? Ist er dnrch mangelhafte
Karten — darüber später ein besondres Kapitel — oder durch falsche Mel¬
dungen irre geführt worden? Genug, er zog aus, mutete den Truppen (er
gilt für so etwas wie Leuteschinder) außerordentliche Anstrengungen zu und
geriet dicht vor dem Bahnhofe Stormberg am 10. Dezember früh mit seinen
paar tausend Mann in eine regelrechte Falle. Alsbald fanden die erschöpften
Truppen in regelloser Flucht ihre Kräfte wieder; unaufhaltsam rasten sie davon:
kein englischer Beschönigungsversuch kann diese Thatsache aus der Welt schaffen.
Was nutzte es, daß General Gataere bei dieser Gelegenheit vielleicht einen
feigen Mord beging? In der II. 8. 6. vom 13. Januar ist zu lesen: „Ich
habe einen Brief eingesehen, der vollauf das Gerücht bestätigt, wonach sich
General Gataere, als er die Falle erkannte, umdrehte, den Führer Schuft
nannte und ihn niederschoß." Ohne Verhör, ohne Gewißheit, einen vielleicht
unschuldigen Mann! Die II. 3. 6. bemerkt dazu: „Jener hatte es gewiß ver¬
dient, aber das war eine recht summarische Abstrafung, General Gataere!"
Wir aber fragen: Stehn englische Generale außerhalb der Strafgesetze? Der
Verlust der Engländer vor Stormberg betrug nach ihrer eignen Angabe:
22 Mann tot, 4 Offiziere, 56 Mann verwundet, 596 Mann vermißt, das
heißt gefangen. Die Buren geben die Zahl der englischen Gefangnen auf
9 Offiziere, 672 Mann an, und den eignen Verlust auf 4 Tote, 9 Verwundete.
Diese geringen Opfer brachten ihnen außer Gatacres schmählicher Niederlage
noch einen andern Gewinn: die Verstärkung durch 5000 bis 8000 Afrikcmder,
die jetzt den Mut zur offnen Schilderhebung für die Stammesgenossen fanden.
General Gataere mußte fortan seine Vortruppen dort aufstellen, wo vordem
seine Hauptmacht gestanden hatte, und so ist es — seit dem 10. Dezember
1899! — geblieben, bis in der ersten Hälfte des März 1900 der Vormarsch
des Lord Roberts auf Bloemfoutein die südlich vom Oranjeflusse kämpfenden
Buren nach Norden rief.
Um einen Tag später — am 11. Dezember — erhielt ein andrer General,
Lord Methuen, einen noch schwerern Schlag aufs Haupt, der ihn für zwei
Monate an dieselbe Stelle bannte. Am 22. November trat er vom Orcmje-
fluß-Bcchnhof aus seinen „Siegeszug" zur Entsetzung von Kimberley an. Wie
sehr diese Unternehmung den Grundsätzen einer vernünftigen Kriegführung Hohn
spricht, wird an einer andern Stelle erörtert werden.
Am 23. November errang Methuen den glorreichen „Sieg" bei Belmont;
am 25. einen nicht minder glorreichen bei Graspan (auch Enslin genannt).
An beiden Stellen will Methuen, der 10000 bis 12000 Mann befehligte, sich
etwa 2500 Buren mit einigen Geschützen gegenüber gehabt haben; wie von
Burenseite gemeldet ist, betrug die Zahl ihrer Streiter nicht viel mehr als ein
Fünftel dieser Zahl, das sich vor der Übermacht zurückzog, sobald es dem
Gegner einen empfindlichen Verlust zugefügt hatte (bei Belmont nach amtlichen
englischen Angaben 26 Offiziere, 272 Mann, bei Graspan noch etwas mehr).
In solchen Rückzügen sind die Buren Meister; ohne daß der Feind es gewahrt,
ziehn sie eine Abteilung nach der andern aus dem Feuer, sodaß zuletzt nur
noch vereinzelte Schützen die Täuschung einer besetzten Stellung aufrecht er¬
halten. So ist es offenbar bei Belmont und Graspan gewesen. Als das
tödliche Feuer aus den Schützengräben der Buren schwächer und schwacher
wurde, setzten die englischen Bataillone zum schneidigen Angriff an und brachen
mit dem Bajonett in die feindliche Stellung ein. wo sie - niemand fanden.
Einmal nahmen sie ein Häuflein von 40 Buren gefangen; im übrigen fanden
sie weder Tote noch Verwundete und nicht ein einziges Geschütz- Die Buren
hatten nach Methuens Telegrammen bei ihrem eiligen Rückzüge das alles mit¬
genommen! Eine solche Naivität der eignen Auffassung wie auch der Zu¬
mutung, daß alle Welt so etwas glauben solle, steht ohne Beispiel da. Em
festländischer Offizier, vom deutschen bis zum kaiserlich ottomamscheu. weiß,
auch wenn er nie selber im Felde gestanden hat. ganz genau, daß eme wirklich
mit dem Bajonett aus ihrer Stellung geworfne Truppe ganz unmöglich an
die Mitnahme von Toten und Verwundeten denken kann. Daß wir mit dieser
Auslegung des Sieges" der Engländer, die sich nicht eingestehn mochten, daß
ihr mehrstündiges Geschütz- und Gewehrfeuer so erfolglos gewesen war auf
dem rechten Wege sind, wird noch durch zweierlei bewiesen: dnrch die Depesche
Methuens. daß in beiden Fällen die alsbald zur Verfolgung aufgcbrochnen
9- Ulanen den flüchtigen Feind - der Tote und Verwundete mit sich schleppte! -
"icht mehr einholen konnten; und dann, daß sich dieser angeblich zweimal aufs
Haupt geschlagne Feind nach wenigen Kilometern wieder zum ernstesten Kampfe
setzt. Denn das geschah bekanntlich schon am Modder, und vom ersten Gefechts¬
felde (Belmont) bis zu diesem dritten beträgt die Entfernung nur 60 Kilometer
Zu einer derartigen Kraftleistung sind wirklich geschlagne Soldaten, und auch
die zähen Buren machen keine'Ausnahme, nicht imstande. Die Engländer
hatten auch qar nicht geglaubt, daß es schou am Modder wieder zum Kampfe
kommen werde. Wir brauchen den dramatischen Verlauf dieses ernsten Ge¬
fechts hier nicht vorzuführen; Methuens sinnloses Vorstürmen, das ihn an
tausend Mann kostete, und die zähe Verteidigung der Buren sind noch unver-
gessen. Methuens Berichte über diesen Tag (28. November) sind inzwischen
bekannt geworden. Er entschuldigt sich damit, daß er in jeder Beziehung falschberichtet gewesen sei: man habe ihm versichert, die Buren seien infolge der bis¬
herigen Niederlagen gänzlich entmutigt, ihre Stärke betrage höchstens 4000 Mann.
und der Modder sei ein allen Stellen durchwatbar. Eine jämmerliche Führung,
die sich in solcher Weise eine Nase drehn läßt! In der Nacht zum 29. No¬
vember räumten die Buren die Stellung, um in eine neue, kaum mehr als
eine deutsche Meile nordwärts liegende (Spytfontein-Magersfontein), die vor¬
her schon befestigt war, zurückzugehn. Natürlich schrieen die Engländer sogleich:
Viktoria! und waren stolz darüber, daß sie gesiegt hätten, denn „noch niemals
seien englische Truppen einem gleich mörderischen Feuer ausgesetzt gewesen."
(Vg.i1^ <ub.remi<z1s.) Methuen wurde nicht wegen der unglaublich thörichten
Angriffsart getadelt, sondern hauptsächlich wegen der „hysterischen Fassung"
seines Telegramms (Lr. ^.). Er hatte von den schweren Verlusten gesprochen.
Dasselbe Blatt bezeichnet unterm 9. Dezember das Ergebnis des Kampfes am
Modder als diAlü? sAtistaetor/, und die I"uns8 schrieb am 39. November unter
dem Eindrucke der Siegesbotschaft: Der Entsatz von Kimberley sei jetzt nur
noch die Frage weniger Stunden! Auch gebührt dem englischen Weltblatt der
Ruhm, in Bezug auf die Schlächterei am Modder einen neuen Begriff erfunden
zu haben: „Die Nacht senkte sich über einen unentschiednen Sieg." Eine
Schlacht kann wohl „unentschieden" sein, aber ein Sieg? Man kann nur
lächeln zu solchen Versuchen, die Wahrheit zu verschleiern. Es war noch eine
blutige Lektion nötig, um den Söhnen Albions klar zu machen, daß in Süd¬
afrika ihre Stärke, Führung und Fechtart unzulänglich waren. Und sie ließ
nicht auf sich warten.
Wenn Methuens Depesche nach dem Kampfe am 28., daß „die Moral
der Buren gebrochen sei," der Wahrheit entsprochen Hütte: wozu dann die
zwölstägigc Pause am Modder? Sie war nötig, damit sich die englischen
Truppen von der Niederlage erholten, und damit frische Bataillone heran¬
gezogen werden konnten. Die ^. a. U. 6. (vom 9. Dezember) weiß es aber
besser; sie führte als Hauptgrund für den verzögerten Vormarsch den Umstand
an, daß Methuen erst die Heilung seiner Verwundung abwarten mußte, bevor
er das Kommando wieder übernehmen konnte! Unglaublich. Die Kriegs¬
geschichte lehrt uns, daß sich eine ganze Reihe hervorragender Heerführer unter
erschwerendern körperlichen Verhältnissen, als sie eine in vierzehn Tagen heilende
Fleischwunde mit sich zu bringen pflegt, der Heerführung nicht eine Stunde
entzogen haben. Und dann: wie ist es um den Wert eines Heeres bestellt,
worin beim Ausfallen des Oberbefehlshabers der Nächstältefte nicht ohne
weiteres das Kommando ergreift und auf eigne Verantwortung die Operationen
weiterführt?
(Fortsetzung folgt)
!w dankbares, glücklich gewähltes Thema! — In Rom am Hof
des Papstes hätte es Frauen von Rechts wegen überhaupt nich
geben sollen; das weibliche Bildnis, das der Auffassung des
! Cinquecento zusagte, brachte erst Sebastians del Piombo aus
! Venedig mit, als Raffael längst auf seiner Höhe stand. Michel¬
angelo kümmerte sich nicht um die Frauenwelt, die ihn umgab; seine Sibyllen
sind Wesen höherer Ordnung, die keinem von uns leibhaftig begegnen könnten.
Die Florentiner des Quattrocento matten die zarte, mädchenhaft zurückhaltende
Madonna oder auch die steifen Patrizierfrauen in ihren schweren, bis oben
zugeknöpften Festkleidern. Nur Sandro Botticelli machte es anders. Der
malte nicht bloß Köpfe und Kleider, sondern auch unbekleidete weibliche Körper¬
formen, aber soviel Reiz und Zauber er auch damit in die Welt hinausgestreut
hat bis auf den heutigen Tag: physisch lebende Menschen sind seine Venus,
seine Nymphen oder Hören dennoch nicht. Erst durch die Venezianer kommen
die Frauen der Wirklichkeit in die Kunst, und in hellen Haufen dringen sie
ein in ihr neues Reich. Wenn mau zusammenrechnen wollte, was Movanm
Bellini. Giorgione. Tizian und alle die andern dargestellt haben bis zu Paolo
Veronese und dem Spätling Tiepolo. so würde das Weibliche nicht nur der
Menge nach, sondern namentlich anch in seiner Bedeutung und in dem Ein¬
druck, den es auf uus macht, ohne Frage voranstehn. Um das Neue zu er¬
messen, erinnere man sich an einige Haupttypen, wie Tizians Bella und Flora,
die schwergeschmückten Frauen Palmas. die ruhende Unbekleidete bei Giorgwne
und Tizian. Wo wäre bei den Florentinern oder Römern etwas ähnliches?
Diese andre Stoffwahl und Auffassung der Venezianer hängt und ihrem Leben
und ihrer Stadt zusammen. Die verheiratete Frau der höhern Staude nahm
in Venedig weniger als anderswo an dem Leben der Männer teil, sie lebte
für sich in der Enge ihres Hauses und langweilte sich; die Venezianerinneu
galten für wenig gebildet, selten tritt eine von ihnen litterarisch hervor. Mit
diesen Frauen allein hätte sich keine venezianische Malerei machen lassen, so
wie wir sie heute vor uns haben. In die Lücke treten nun die weithin be¬
rufnen Courtisanen ein. die einst scharenweise das Konzil von Konstanz be¬
suchten und viel später von Montaigne und andern Reisenden als eme Merk¬
würdigkeit von Venedig beschrieben worden sind; in der Zwischenz erfinden
wir sie als Modelle bei den Künstlern, denen sie Freiheiten gewährten, die
anderwärts nicht so leicht zu haben gewesen wären. Ein eignes Milieu, mag
mancher denken. Als ob es heute damit viel anders stünde! Wie oft fühlt
man vor modernen Bildern Modelle durch, bei denen einem schlecht werden
kann. Diese venezianischen Modelle waren aber nicht nur hübsch, was sich
von selbst versteht, sondern auch unterhaltend und oft sogar sehr gebildet, im
ganzen also besser als ihr Name, und vielleicht teilte sich von ihrer freiern
Art, das Leben zu nehmen, auch etwas den Frauen des Volkes mit, sodaß auch
diese den Malern dadurch näher kamen und wir nicht hinter jeder Mngdalena
oder Barbara eine Courtisane zu visieren brauchen.
Wer diese venezianische Herrlichkeit mitsamt ihrem Untergrund bequem
übersehen möchte, dem giebt dazu Emil Schaeffer, Die Frau in der venezia¬
nischen Malerei München, Bruckmann) die angenehmste Gelegenheit. In drei
Abschnitten (Quattrocento, Cinquecento, Rokoko) werden die Maler von den
Bellini bis Tiepolo mit charakteristischen weiblichen Darstellungen vorgeführt
und innerhalb der Kultur ihrer Zeit gewürdigt; allerlei Auszüge aus der
gleichzeitigen Litteratur führen den Leser etwas tiefer in diese Zusammenhänge
ein. Es giebt eine Kunstbetrachtung, die ruhig die Werke auf sich wirken läßt
und ihren tiefern Inhalt zu begreifen sucht; sie geht nicht in schwerem wissen¬
schaftlichem Rüstzeug einher, aber sie läßt doch durchfühlen, daß ihr darum zu
thun ist, zu einem Wissen zu gelangen, etwas sachlichen, Objektiven, was
sich in einfachen Worten durch Beweis oder Demonstration auch andern zum
Bewußtsein bringen läßt; man kann sie vorzugsweise, bis jetzt wenigstens, die
deutsche nennen. Viele Menschen verlangen stärkere Anreizungen, ihnen dient
eine ganz andre Betrachtungsweise. Sie zeigt viel mehr Temperament und
wirkt zündend auf unsre Teilnahme durch allerlei Impressionen und Analogien,
die oft ganz vom Gegenstande abspringen; sie möchte im Wetteifer mit der
Kunst, der sie dient, wohl selbst eine Art Kunst sein, lieber wenigstens als
eine lehrlmre Wissenschaft, denn statt des Lehrtons giebt sie Unterhaltung.
Diese Weise hat sich der Verfasser erkoren, woraus ihm niemand einen Vor¬
wurf machen wird, denn beide haben ihr Recht, und die zweite ist vielleicht
die der Zukunft. Er handhabt sie mit vielem Geschick, teilt eine Menge Ein¬
drücke aus und hat gewiß für die meisten den richtigen Ton getroffen. Die
— im ganzen hundert — Abbildungen sind mit Einsicht und Geschmack be¬
stimmt und vorzüglich ausgeführt; ihre Einstellung und die typographische An¬
ordnung geben dem Ganzen einen Reiz, daß wohl jeder Autor wünschen möchte,
sich einmal so gedruckt und ausgestattet zu sehen. Ein schönes Buch, das
jedem Freude und Genuß bringen wird! Ist es aber auch ein gutes Buch?
Die französischen Dekadenten haben eine Art über italienische Kunstwerke
zu sprechen in ihre Litteratur eingeführt, mit der sie viel Eindruck machen und
vor allem auf junge Gemüter berückend wirken. Die Zeichen des Verfalls,
mit den: sie ihre Gedanken beschäftigen, suchen sie überall in der Kunst, am
liebsten auf deu Stufen der noch nicht vollentwickelten Formgebung; ihre eigne
Weltmüdigkeit sehen sie in die Bilder hinein, und vor allem jagen sie dem
schlüpfrigen nach, und wo es keiner sieht, da machen sie uns glauben, es
Hütte sich in irgend einem Winkel versteckt, und nur ihren raffinierter Sinnen
sei es gegeben,' so etwas zu entdecken. Diese Litteratur hat unserm Verfasser
ausnehmend zugesagt. Er gedenkt der Radierungen Tiepolos als „jener kost¬
baren Blätter, die auch Baudelaire geliebt," als ob es jemand interessieren
könnte, was dieser ausgemergelte junge Krebs in seinem kurzen Leben alles
geliebt hat. Andremale fühlt er sich an Verlaine erinnert oder an Mäterlinck,
wo jeder andre Einfall ebenso passend gewesen wäre, zur Abwechslung auch
um Schopenhauer und Heine. Inzwischen marschieren die bekannten Kategorien
auf: das männermordende Weib, die mondaine Dame, die lockenden Kinder
der Sünde, die lilienhafte Frauenseele, und wie sie alle lauten. Auch ganze
Sätze bekommen wir aus dieser Fabrik. „Es ist ein weiter Pfad, aber wenn
ihn jemand wandern und an seinen Hauptstationen die Entwicklung des sexuellen
Problems (da hätten wirs!) in der christlichen Kunst zeigen wollte, möchte
dies kaum die undankbarste Studie sein, die einer schreiben könnte." Das
Hütte Pierre d'Aubecq sagen können. Und nun kommt der unverfälschte
Müterlinck: „Hat man die ganze feierliche Mystik dieses Gemäldes empfunden,
dann wird man jene tiefen Sätze Schopenhauers besser als vordem verstehn
und wird auch begreifen, daß John Ruskin die Frist von 1480 bis 1510 das
Zeitalter des Carpaccio nennen konnte." Der Respekt vor dem englischen
Orakelmann wird jetzt jedem Kunsthistoriker mit in die Wiege gelegt. Alles
Exotische ist ja Trumpf. Aber von Goethe, der zu allererst das, was wir
heute das Milieu nennen, in der venezianischen Malerei festgestellt hat, ist,
wenn ich recht gesehen habe, in diesem Buche nur einmal die Rede in einer
ganz indifferenten Bemerkung über den Gesichtsausdruck der Tizianischen
Frauen.
Ja. wenn kunstvoll gesetzte Worte nichts weiter wären als überflüssig!
Sie können aber auch dem, der sich mit ihnen einläßt, gefährlich werden nun
das münnermordende Weib, das sich nicht umsonst rufen läßt, oder wie die
grünlichen Nixen mit schillernden Augen, wenn sie ihn umstricken und ihm
seinen Gegenstand entwenden, um ihn im krausen Wirbel mit sich zu führen
und ihr Spiel mit ihm zu treiben. So umschlingen diese Wortnixen hier den
selbstzufriednem, seelenvergnügten Reliefmaler und Vergolder Crivelll, und aus
dem harmlosen Mann, der sich in seiner zurückgebliebnen Kunst gewiß so wohl
und gesund fühlte wie nur einer, wird ein müder um as sive-is Mensch und
perversen Neigungen, ein „5oherpriester jener schauerlichen und verruchten
Schönheit, vor der man an heiliges und unheiliges zugleich denken muß (wees
!e teils oogg imxnrch." Der Pfadfinder zu dieser Auffassung ist naturlich
wieder ein Fremdling gewesen, Gustave Moreau, „der große Meister von
Paris," diesmal kein Mann des Worts, sondern ein eigentlicher Künstler.
Ich möchte behaupten, daß die Charakteristik aller einzelnen venezramschen
Maler vermittels dieser fremdartigen Wortkunst überschraubt ist. Es werden
Gegensütze aufgebaut, die der einfachsten Beobachtung nicht stand halten. So
soll Cima da Conegliano zuerst den Thron der Madonna ins Freie unter
Blumen und Gräser gestellt haben, und doch thut es schon Giovanni Bellini.
Tiepolo soll etwas in die venezianische Malerei gebracht haben, was diese
bisher nicht kannte, die Geste. Aber man findet sie schon bei Tizian, wenn
man ihn nur mit Giovanni Bellini vergleicht, und noch viel mehr bei Paolo
Veronese, an dem sie der Verfasser vermißt; Tiepolo hat sie nur verstärkt.
Und was ist endlich aus den beiden größten geworden, aus Giorgione und
Tizian? Der Abschnitt über Giorgione beginnt mit einer feurig gedichteten
Knnstlernovelle, die dann aber als unhistorisch zurückgenommen wird, behandelt
dann die Madonna von Castelfranco und die Landschaft in Venedig und schließt
mit der Dresdner Venus. Über sie lesen wir folgendes: „Kein zweites Bild
ist mit solch trunkner Sinnen, mit solch bebender Leidenschaft mehr gemalt
worden. Man fühlt, daß der Atem dieser Frau, der Duft ihres Haares den
Künstler zittern gemacht; das baut die Scheidewand zwischen der Frauenauf-
fassnng Giorgiones und der Tizians. Beide empfinden hellenisch vor dem
Weibe, aber Tizian wie ein ätherischer Zeitgenosse des Phidias, und Giorgione
wie Kleinasiens späte Meister. Der Künstler Tizian berauschte sich am hellen
Glänze des Frauenlvrpers, der Mensch blieb kalt; sein Modell war ihm eben
nur Modell, und Giorgione — hat es glühend umarmt." Ob die ersten zwei
Sätze einen natürlichen Sinn geben, und was sie etwa, allegorisch genommen,
bedeuten könnten, mag der Leser mit sich ausmachen. Das Verhältnis der
beiden Künstler zu der „Frauenfrage" müßte jedenfalls umgekehrt werden,
ebenso ihre Vergleichung mit den Griechen, wenn man Tizians Venusgestalten
und dazu noch eine Danae oder Antiope mit unbefangnen Augen ansieht.
Am besten aber läßt man diese irreführender Parallelen beiseite und sagt
einfach: Giorgiones Venus vertritt die frühere Stufe, auf der Tizian in seiner
„himmlischen und irdischen Liebe" steht, dann schreitet dieser fort und zeigt
naturgemäß auch in seinen Frauenbildern alle Zeichen einer reifern Ent¬
wicklung. Angebetet aber oder umarmt hat sein Modell, soviel man sehen
kann, keiner.
Noch eine Kleinigkeit von allgemeineren Interesse, da gerade von Giorgione
die Rede ist. Dessen Jugendgeschichte liegt ganz im Dunkel, und sein ferneres
äußeres Leben überhaupt, soweit sich nicht irgend etwas aus seinen Bildern
ergiebt. Seine diskrete Geburt wird in neuerer Zeit als Märchen preisgegeben,
auch der Verfasser folgt dieser Meinung, weil sie erst hundertundfunfzig Jahre
nach des Malers Tode von Ridolsi berichtet wird. Diese kritische Regel ist
alt und ihre Anwendung elementar. Mindestens dasselbe Recht hat aber der
entgegengesetzte Grundsatz: nur weil wir zufällig keinen ältern Gewährsmann
kennen, braucht eine in sich nicht unwahrscheinliche Nachricht noch nicht für
erfunden zu gelten. Mir ist es lieb, daß mein kritisches Gewissen mir erlaubt,
an dem Märchen festzuhalten, denn es gehört mit zu dem bischen Stimmung
oder Milieu, das man sich mit Mühe für Giorgione zurecht gemacht hat. Für
kritische Feinschmecker sei noch bemerkt, daß die neuerlich gefundne Nachricht,
derzufolge um 1460 ein ^oannöt, äiows Aoriionus aus Vedellago als Bürger
^n Castelfranco lebte, für unsre Frage gar nichts bedeutet. Giorgione, vene¬
zianisch Zorzone, ist eine Erweiterung von Georg, wie für unsern Maler sein
Zeitgenosse Castiglione ausdrücklich bezeugt, der ihn Georgio aus Castelfranco
nennt. Ist dem so, so konnte es noch manchen andern großen Georg selbst
in einem einzigen Dorf wie Vedellago geben, und jener Zorzonus braucht nicht
unsers Künstlers Vater zu sein.
Wenig ergiebig sind dem Verfasser Prima Vecchio und Paolo Veronese
gewesen; zuviel Umstände macht er mit Tiepolo und seinen Vorgängern. Es
ist übrigens nicht richtig, daß erst „wir von heute" Tiepolo wieder entdeckt
hätten. Als Makart seine ersten Triumphe feierte und die Reklame ihn einen
zweiten Paolo Veronese nannte, konnte man die verständigem sagen hören:
Der reicht noch nicht um Tiepolo. Das sind nun fünfunddreißig Jahre her!
Aber nun genug des Einzelnen. Schaeffer hat seinen empfänglichen Sinn
und sein schönes Formtalent aus Quellen gespeist, die ungesund sind, und
weil es sich da um ein Prinzip handelt, so habe ich aussprechen wollen, daß,
was Vurkhardt und Springer, Janitschek und Lücke und noch manche andre
über die venezianische Malerei gesagt haben, besser ist als diese ganze fremd¬
ländische Weisheit. Sein Buch hat er Mulder gewidmet, seinem großen lieben
Meister, wie er sagt. Man kann keinem vorschreiben, was er sich nnter dem
Worte groß denken soll, und jeder, der eine Wahnvorstellung hat, wird sich
danach seinen Sprachgebrauch einrichten. Ich würde deswegen darüber kein
Wort verlieren, wäre mir nicht zufällig in den Tagen, als ich Schaeffers
Buch las, eine Nummer der Wiener „Zeit" in die Hand gekommen, worin
sich sein Meister unter der Überschrift „Gurlitt und ich" (warum nicht gleich:
Ich und Gurlitt?) gegen einen Dritten, Adolf Rosenberg, in Ausdrücken ergeht,
wie sie most noch nicht gehört worden sind, wo sich Fachgenossen vor dem
großen Publikum begegneten. Gerade in kunstwissenschaftlicher Kreisen hält
steh die Polemik, soweit ich darauf geachtet habe, immer in anständigen Formen.
-Kosenbergs Verdienste sind so anerkannt, daß keine Schmähung an sie heran-
rercht. Wer aber auf seinem Arbeitsgebiete Vorwürfe hat hinnehmen müssen,
Une der Verfasser des Artikels: Gurlitt und ich, der hat schwerlich Grund,
Reh ein besondres Nenommierpferd zu satteln, um damit andre über den Haufen
Zu
s ist keine großartige, am allerwenigsten eine malerische Land¬
schaft, diese Gegend von Syrakus; sie verläuft in langen, ein¬
förmigen, strengen Linien und wird auf drei Seiten wieder von
dem noch einförmiger« Meereshorizont begrenzt. Nur der Ätna
unterbricht diese Gleichförmigkeit. Wer hier nicht historische
Hintergründe zu sehen vermag, der sieht nur graue, kahle, steinige, trümmer-
besäte Flächen und Höhenzüge, dazwischen Gärten und Felder und Ölbüume,
weiße Häusergruppen und staubige, schattenlose Straßen, in den Häfen eine
Anzahl kleiner Schiffe und buntangemalter Boote; er wird vielleicht nur
an der üppigen Vegetation der Lakonien und einzelner Gärten oder an dem
weiten Ausblick auf die See einiges Genüge finden und schleunigst wieder
abreisen. Wer aber in die Vergangenheit sehen kann, dem beleben sich diese
einförmigen Züge. Er sieht auf den jetzt öden Hochflächen der Achradina und
der Epipolä eine große Stadt hinter festen Mauern, in den Häfen einen Wald
von Masten, er sieht Kriegsflotten und Heere miteinander ringen, Volks¬
freiheit und Tyrannis miteinander kämpfen, Dichter, Künstler und Gelehrte
miteinander wetteifern. Nur trägt die Vergangenheit von Syrakus einen ganz
andern Charakter als die Geschichte von Palermo. Dieses hatte seine größte Be¬
deutung im Mittelalter als Vereinigungspunkt verschiedner Kulturströmungen,
die Größe von Syrakus liegt durchaus im griechischen Altertum.
Dabei treten drei Seiten bestimmend hervor. Zunächst geht durch die
ganze politische Entwicklung von Syrakus ein starker monarchischer Zug, wie
sonst bei keiner andern altgriechischen Stadtgemeinde. Die Tyrannis, die
militärisch-demokratische Gewaltherrschaft, sonst eine vorübergehende Erscheinung,
hat in Syrakus viermal und jedesmal jahrzehntelang geherrscht (485 bis 465,
405 bis 344, 317 bis 279, 269 bis 214), also von einem Zeitraum von
270 Jahren, dem bedeutendsten und reichsten in dem Leben der Stadt, fast
zwei Drittel, im ganzen 174 Jahre lang. Denn hier, an den Grenzen der
griechischen Welt, dicht vor dem Erbfeinde, der karthagischen Großmacht, war
die Monarchie oder, wenn diese fehlte, die militärische Diktatur die natürliche
Staatsform, aus der dann viermal, unter Getön, Dionysios I., Agathokles und
Hieron II., die thatsächlich erbliche, gesetzlich allerdings niemals befestigte
Tyrannis hervorging; die gesetzliche Demokratie war eben auf die Dauer zu einer
so angespannten auswärtigen Politik ganz unfähig und suchte immer wieder, auch
in Zeiten eines scheinbar gesicherten Bestandes, die Leitung eines bedeutenden
Mannes, also eines Alleinherrschers, wie Timoleon und Dion. Diese fort¬
gesetzte auswärtige Bedrohung, die Stellung der Stadt als der festen Burg der
sikeliotischen UnnblMgigkeit, ist der zweite Charakterzug. Karthager und Athener
sind vor diesen Mauern gescheitert; erst den Römern erlag 212 Syrakus, und
mit seiner Unabhängigkeit sank seine Größe dahin. Damit hängt der dritte Zug
zusammen: der Wechsel in der Bebauung des Stadtbodens. Die korinthischen
Ansiedler, die 734 v. Chr., nur zwanzig Jahre nach der Gründung Roms,
Archias von Griechenland herüberführte, bauten sich zunächst nur auf dem
felsigen Boden der Insel Ortygia an, der „Nasos" (Insel) schlechtweg, die in
Verbindung mit dem an der Südseite vorspringenden Vorgebirge Plemmyrwn
den Eingang zu dem großen Hafen im Osten bis auf eine Linie von einem
Kilometer sperrt. Den Übergang über den Anapos an der Westseite des weiten
Beckens deckte bald als Brückenkopf eine Vorstadt (Polichne) auf der flachen
Anhöhe bei den Resten des Olympieions.
Erst später ergriff die Besiedlung auch den östlichen Teil der stellenweise
sumpfigen Ebne zwischen der Anaposmündung und den steilen Abfällen der
Hochflüche, die sich etwa in der Form eines langgezognen gleichschenkligen Drei¬
ecks von der Steilküste der Achradina als Basis im Osten bis zur Höhe des
Euryalos unterhalb des Telegrafo als Spitze im Westen erstreckt, sowie die
Achradina selbst; in dieser Niederung lag auf der Landenge zwischen dem
großen und dem kleinen Hafen der Markt (Agora), dessen Stelle heute nur
noch eine einsame Säule südöstlich vom Bahnhofe auf öder Weidefläche be¬
zeichnet. Getön deckte diese offne Strecke nach Westen hin durch eme zum
südlichen Abhänge der Achradina laufende Mauer und setzte diese längs der
Westseite des neuen Stadtteils bis zum Nordabhänge fort; wohl noch unter
ihm oder bald nach ihm entstanden als Vorstädte vor dieser Mauer im Norden
die Tyche (nach einem Tempel der Glücksgöttin so benannt) und im Süden die
Neapolis, die Neustadt. Beide wurden erst zur Zeit der athenischen Belage¬
rung in die Befestigungen einbezogen. Auch die Lakonien, die großen Stein¬
brüche an der Südseite der Achradina, müssen wenigstens zum Teil aus dem
fünften Jahrhundert stammen, denn die gefangnen Athener wurden nach der
Katastrophe von 413 dort untergebracht. Aber da eben jene Belagerung gezeigt
hatte, daß die militärisch schwache Seite von Syrakus die Epipolä seien, in
deren leicht zu gewinnendem Besitz jeder Feind die ganze tiefer gelegne Um¬
gebung beherrschte und die Verbindung mit dem Lande abschneiden konnte, so
ließ Dionysios I. im Jahre 402 die gewaltigen Mauerlinien am Sud- und
am Nordrande dieser Hochfläche ziehn und schloß sie an der Westspitze mit dem
starken Fort Euryalos. . .
Schwerlich ist dieser Raum jemals ganz mit Häusern besetzt worden, aber
Syrakus war seitdem seinem Umfange nach die größte Stadt der Mittelmeer-
länder, die nächste nach Karthago und mit 23,32 Kilometern Maucrumfangv°er 18 Quadratkilometern Flächenraum wesentlich größer als das spätere
kaiserliche Rom, dessen Aurelicmische Mauer nur 19 Kilometer lang ist. Hinter
diesen Festungswerken hat es zweimal, 396 und 311 bis 309 v. Chr., kar¬
thagischen Belagerungen mit Glück widerstanden; erst den Römern gelang
es nach langer Einschließung 212 durch Überrumplung und Verrat zunächst
die Epipolü, dann die Ortygia zu nehmen; der Euryalos und die Achradina
fielen dann durch Übergabe. Seitdem ging es mit Syrakus rasch bergab. Zwar
machten es die Römer zur Hauptstadt ihrer Provinz Sizilien, als die es noch
zu Ciceros Zeit seinen alten Umfang mit Ausnahme der Epipolä bewahrte,
und Augustus verpflanzte auf dieses zur römischen Domäne laZör xublious) ge¬
schlagne Gebiet im Jahre 21 v. Chr. eine römische Kolonie. Später wurde die
Stadt Sitz eines Bischofs, und selbst Kaiser Constans II. hat noch 663 bis 668
n. Chr. hier residiert, aber die Bevölkerung schwand zusammen und begann
sich von den Hochflüchen, überhaupt vom Festlande auf die Insel zurückzuziehn.
Darauf deutet schon die Entstehung ausgedehnter Katakomben in den ersten
christlichen Jahrhunderten auf dem Südabfalle der Achradina, die man doch nicht
innerhalb der bewohnten Stadt angelegt haben kann, und die Stellung des
arabischen Belagcrungsheers 827 auf demselben Südabhange bei den Lakonien,
877 bis 878 bei der alten Kathedrale auf dem Festlande, vermutlich der jetzigen
Unterkirche von San Giovanni ganz in der Nähe.
Mit der Erstürmung der Ortygia durch die Araber am 21. Mai 878
verfiel auch dieser älteste Stadtteil einer gründlichen Zerstörung und Verödung,
und die Erhebung Palermos zur Hauptstadt Siziliens brachte Syrakus auch
um seinen alten Rang. Durch die natürliche Gunst der Lage kam es immer
wieder empor, es wurde 1039 sogar noch einmal vorübergehend von Georg
Mcmicckes für das byzantinische Reich erobert und fiel endlich 1085 den Nor¬
mannen zu, aber die Besiedlung blieb auf die Ortygia und ihre nächste Um¬
gebung beschränkt, die früher bewohnten Hochflächen wurden in ländliche Grund¬
stücke umgewandelt oder blieben wüst. „Die alte Hoheit von Syrakus stirbt
in Armut und Einsamkeit dahin," sagt der normännische Historiker Hugo
Falcandus in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts. Erst in der
neusten Zeit beginnt im Anschluß an den Bahnhof sich eine neue festländische
Vorstadt zu bilden.
Aus alledem ergiebt sich mit Notwendigkeit der jetzige Zustand. Da die
Ortygia seit 2600 Jahren immer bewohnt geblieben, also nach den wechselnden
Bedürfnissen immer wieder umgestaltet worden ist, so konnten sich dort nur
geringe bauliche Neste des Altertums erhalten. Da die Hochflüchen früh ver¬
ödeten, so wurden die dort stehenden Gebunde vermutlich als bequeme Stein¬
brüche benützt und verschwanden fast gänzlich. Am zahlreichsten sind die antiken
Denkmäler in dem Raume zwischen den Hochflächen und der Insel, da diese
Bauten weit länger im Gebrauch blieben, und das Bedürfnis nach handlichem
Baumaterial bei dem Sinken der Stadt im Mittelalter wohl gering war.
Dieses selbst hat in Syrakus nur wenig Spur hinterlassen; was heute Syrakus
heißt, stammt im wesentlichen aus den letzten Jahrhunderten oder ist antik.
Zu einer einigermaßen genügenden Besichtigung dieser weit auseinander
liegenden Trümmer sind mehrere Tage erforderlich und gelegentliche Wagen-
fnhrten kaum zu umgehn; längere Fußwandrnngen kosten unnütz Zeit und siud
auf den schattenlosen, im Sonnenlicht blendend weißen Straßen sehr anstrengend.
Auch ein Führer ist schwer entbehrlich, denn es ist nicht ganz leicht, sich zwischen
den hohen Gartenmauern und den vielverschlungnen Wegen auf den Hoch¬
flächen nur nach dem übrigens recht guten Plane bei Baedeker zurechtzufinden.
Im Vereine mit einem Landsmann aus Dresden, einem Ingenieur, der mit
nur zugleich in der Villa Politi eingetroffen war. wurde der erste Tag für
die Besichtigung der alten Stadt und der modernen Jnselstadt bestimmt. Als
Führer stellte uns Signora Politi, eine geborne Königsbergerin, die seit acht¬
zehn Jahren in Syrakus angesiedelt ist, denselben zwölfjährigen Knaben, der
mich nuf dem Bahnhöfe in Empfang genommen hatte. Der Junge verdient
einige Worte, denn er hat uns vortreffliche Dienste geleistet; er war zugleich
ein guter Typus dieser sehr begabten und tüchtigen Bevölkerung und kein
übles Zeugnis für die italienische' Volksschule. Der Sohn eines kinderreichen
Fuhrwerksbesitzers, klein, zierlich, geschmeidig, blond, mit einem Stich ins
Elegante, soweit es sein Vermögen erlaubte, freundlich, überaus gefüllig, dabei
schou ein umsichtiger Geschäftsmann, zeigte er eine für seine Alter ganz er¬
staunliche Kenntnis der Altertümer und der Gegend, die er teils aus Büchern,
teils als Begleiter von Führern erworben hatte, und ein hohes Maß von
Intelligenz.
Als ich am ersten Morgen vor die Thür trat, fragte er mich sofort: „Wie
geht es Ihnen heute?" „Warum fragst du so?" entgegnete ich. „Ja, Sie
waren gestern nicht recht wohl, denn Sie kamen am Abend nicht mehr heilender."
nämlich um noch irgend einen Gang zu machen. Er hatte und dieser klugen
Beobachtung beiläufig recht. ..Da ist noch das Grab des Archimedes. bemerkte
er später, aber dahin brauchen Sie nicht zu gehn, denn ich glaube nicht, das;
es echt ist." „Warum glaubst du das?" „Auf dem echten Grabe, bemerkte
der Junge weise, war eine Kugel, die in einem Cylinder eingeschrieben ist,
angebracht, die fehlt dort, also ist es nicht das echte Grab." ,.Du hast ganz
recht, bestätigte ich, euer großer Redner Cicero, der das Grab wieder auf¬
fand, hat es so beschrieben, wie du sagst." Darüber war er sehr glücklich.
Als ich eine Schlipsnadel mit einem männlichen Porträt an ihm bemerkte
und ihm sagte: „Das ist wohl euer Deputierter?" kam sofort die Antwort:
"O mein, unsre beiden Deputierten heißen so und so." Ob wohl em Leip¬
ziger Junge seines Alters und Standes das wissen würde? Er hatte von
einem Nordamerikaner etwas Englisch gelernt und fragte gelegentlich nach der
deutschen Bezeichnung für den oder jenen Gegenstand, wobei er dann sofort
die Verwandtschaft mit dem entsprechenden englischen Worte herausfand. ^in
Wrigen sprach er nnr Italienisch, aber ein gutes, deutliches Italienisch; glaubte
er. nicht ganz verstanden worden zu sein, so wiederholte er nicht nur den Satz.
Widern umschrieb auch wohl erklärend einen Ausdruck, und selten verfehlte er,
den Grund für eine Erscheinung anzugeben. Dabei entwickelte er eine gewisse
Energie, wenn wir etwa einmal keine rechte Lust verrieten, das oder jenes an¬
zusehen. Na ö molto lok-örsssÄutö, LlAnori! hieß es in solchem Falle, mit
vorwurfsvollem Ton, und wir fügten uns lachend. Mit seinen Landsleuten
sprach er das uns ganz unverständliche Sizilinnisch, und auch bei ihnen schien
er einen gewissen Respekt zu genießen, wenigstens durfte er sich einiges heraus¬
nehmen. Einen Franziskaner bei San Giovanni, der auf sein Klingeln und
Pochen nicht gleich öffnete, schalt er förmlich aus, daß er so lange schlafe, und
wurde dafür von dein gutmütigen Mönch zärtlich gestreichelt; einem Fuhrknecht,
der anf ansteigendem Wege seinem mühsam anziehenden Pferde nicht half, warf
er keck die Bemerkung an den Kopf, das wäre allerdings bequem, zu essen
ohne zu arbeiten, und der große kräftige Bursche steckte diese Zurechtweisung
ruhig ein. Er war nicht ohne ein gewisses harmloses Selbstgefühl und
schilderte die Verhältnisse seiner Familie wohl günstiger, als sie waren, allein
er blieb bescheiden und war schließlich doch noch ein Kind, das fröhlich lachte
und einmal auch bitterlich weinte; auf meine Frage: ?«zre.1uz xmnA'i? ver¬
weigerte er allerdings im Männerstolz die Auskunft: 0 »ientö! Für uns be¬
sorgte er alles, Wagen und Boote, pünktlich zur Minute. Kurz und gut,
Salvatore machte seine Sache ausgezeichnet und hat uns zugleich in diesen
drei Tagen viel Vergnügen bereitet.
Der Himmel war wolkenlos, ein frischer Ostwind blies, und das blaue
Meer schäumte in weißen Spritzwellen gegen die Klippen und die Uferfelsen,
als wir um acht Uhr früh in einem eleganten flotten Einspänner die Villa
Politi verließen, um zunächst nach dem Eurhalos zu fahren. Der Weg führte
erst durch eine neue Vorstadtstraße hinunter, deren unfertig gebliebne Häuser
man kaltblütig mit provisorischen Dächern über dem ersten Stockwerke versehen
hatte, um wenigstens das Vollendete bewohnbar zu macheu, dann längs einem
rasch fließenden Kanal hin, an dem zahlreiche Wäscherinnen beschäftigt waren,
endlich am Bahnhof und nu einer großen Makkaronifabrik vorbei auf die Land¬
straße hinaus, die das Auaposthal durchzieht. Zweirädrige, buntbemalte Karren
mit Citronenkisten und Säcken voll Johannisbrot l<zg,rubii) beladen, Landleute
zu Fuß und zu Esel zogen an uus vorüber. Zur Linken senkte sich eine breite
Flüche nach dem Anapos hin, die Grundstücke durch niedrige Steinmauern ge¬
trennt, vielfach von uralten knorrigen Ölbäumen bestanden, dazwischen Weide¬
gründe und Ackerflüchen, auf denen große braune Ochsen den Pflug zogen oder
ruhig grasten. Rechts erschien der Abfall der Epipolä, nicht hoch, aber mauer¬
artiges, grauweißes Kalksteingefels. Langsam wand sich die Straße an einzelnen
Gehöften mit üppigen Gärten vorbei nach der Höhe hinauf, gerade vor uns
erschien die steile Kuppe des Telegrafo hinter dem. kleinen Dorfe Belvedere,
und wir erreichten »ach einer starken Stunde die allsgedehnten Trümmer
des Eurhalos, die größte und besterhaltne Festungsanlage, die ans nlt-
griechischer Zeit uoch übrig ist. Teils in den harten gelblichen Kalkfelsen ge¬
hauen, teils aus mächtigen Quader» ohne Mörtel und Klammern aufgebaut,
bildet der Eurhalos ein langgestrecktes Werk von etwa 300 Metern westöst-
licher und 50 bis 70 Metern nordsüdlicher Allsdehnung; die schmale stumpf¬
winklige Front ist much Westen gekehrt, die einzige, die überhaupt augegriffen
werden konnte, denn an den beiden Langseiten fällt das Terrain rasch ab.
Im vordersten westlichen Teile folgen zwei breite und tiefe Gräben, zwischen
senkrechten 5 bis 6 Meter hohen Felswänden aufeinander, untereinander und
mit den rückwärts liegenden Teilen der Festung durch unterirdische Gänge ver¬
bunden, die es den Verteidigern erlaubten, ungesehen und gedeckt Verstärkungen
heranzubringen. Über den nördlichen Teil des zweiten (östlichen) Grabens
führte eine Zugbrücke, deren hohe Pfeiler uoch erhalten sind.
Hatte der stürmende Feind schon alle diese Hindernisse bewältigt, so sah
er erst die westliche Hauptmauer mit fünf starken Türmen vor sich, und hinter
ihr folgten noch zwei große, stark ummauerte Höfe, an der Südseite des west¬
lichen aber ein kleiner und tiefer liegender, also von dessen Mauer aus völlig
zu beherrschender, worin jede etwa eindringende feindliche Kolonne rettungslos
verloren war. Der einzige regelmäßige Zugang war im Osten von der Stadt her.
Durch dieses ganze Gewirr von Gräben, Tunneln, Höfen und Mauern führte
uns Salvatore mit einer Sachkenntnis und Umsicht, als ob er der Stabschef
oder Intendant des altgriechischen Festungskommandanten gewesen wäre.
Von der Höhe der Hauvtmaner aus bot sich uns eine unvergleichliche
Rundsicht: ostwärts über die sich leicht senkende kahle, steinbesäte Hochfläche
der Epipolä und die langen Linien der grauweißen Mauertrümmer längs
ihres Süd- und Nordrandes, bis zur Achradina hin, nach Norden den Abfall
hinunter über dürre Rasenflächen und Reihen von Ölbäumen hinweg nach der
weiten Ebne bis an den schönen Halbkreis der Bucht von Megam, auf die
Halbinsel Thapsos (Maguisi) und das weißschimmerude Augusta, auf den fernen
und doch so .nächtigen, alles beherrschenden Ätna darüber und auf die blaue
See. Nach Süden und Südosten zu erschien das breite, fruchtbare Anaposthal
und das herrliche Rund des Großen Hafens, das Vorgebirge Plemmyrwn und
die langgedehnte Jnselstadt gegenüber, dahinter abermals die große einfache
Linie des offnen Meeres.
Und nun stiegen sie doch auch hier auf. die „abgeschieden Gespenster
der Vergangenheit/ von denen Goethe nichts wissen wollte. Nicht im Schmuck
des Turbans und des Kettenpanzers, unter der Halbmondfahne und dem
Kreuze wie in Palermo, soudern helmbuschumflattert im Bronzeharmsch und
Schild, mit langem Stoßspeer und kurzem Schwert zogen sie einher und kamen
auf vielrudrigeu Schiffen über das blaue Meer.
Dort unten auf Thapsos waren im Frühjahr 414 die Athener gelandet,
diesen nördlichen Abfall waren sie heraufgestürmt auf d:e Epipola. da hatten
sie geschanzt und ihre Einschlicßungsmaueru gegen die Achradina und nach
dem großen Hafen hinunter gebaut, Mauern, nicht Schanzen, denn Erde
fanden sie hier oben nicht, wohl aber Steine im Überfluß. Hinuntergeworfen
hatten sie sich dann an der südlichen Seite des Anapos gelagert, später auf den
gelben Felsen des Plemmyrwn, und endlich ans der weiten Fläche des Großen
Hafens die Seeschlachten geschlagen, die ihre schöne Flotte vernichteten, ihnen
den Seeweg nach der Heimat abschnitten und die erschöpften, entmutigten Haufen
zu dem verzweifelten Entschlüsse nötigten, das Anciposthal hinauf einen Ausweg
zu Lande zu suchen, auf dem sie zu Grunde gingen (Herbst 413), Zweitausend¬
dreihundert Jahre sind seit dieser Katastrophe verflossen, aber die schlichte,
jedes Pathos entbehrende und doch so eindringliche Darstellung des Thukydides
führt uns das ganze furchtbare Drama, das hier vor Syrakus die Macht
Athens und damit die stärkste Säule der griechischen Freiheit für immer zer¬
brach, also das Schicksal der Hellenen überhaupt entschied, mit so erschütternder
Klarheit vor Augen, als Hütten wir es selbst erlebt.
Die schon heiß brennende Sonne und ein unleugbares Hungergefühl
nötigten uns in die Gegenwart zurück und empfahlen uns die nähere Unter¬
suchung eines umfänglichen Frühstückskorbes, den uns Signora Politi fürsorglich
mitgegeben hatte. Im Schatten einer Gartenmauer verschwand sein Inhalt,
einschließlich einer Flasche feurigen roten Syrakusaners, nicht ohne Salvatvres
Hilfe ziemlich schnell, und wir traten auf derselben Straße die Rückfahrt an,
um noch die Inselstaat zu besuchen. Dabei kamen wir ganz in der Nähe des
Bahnhofs auch an dem sogenannten Gymnasium vorüber, wahrscheinlich einer
umfänglichen Thermenanlage mit einem Theater und Turnplätzen aus römischer
Zeit. Der Zugang zur Insel führt heute nicht mehr über eine einzige enge
Brücke, wie im Altertum, sondern über die Reste der starken Festungswerke
aus der Zeit Karls V., deren Linien an den Umrissen der drei hintereinander-
folgcnden breiten Gräben und Kanäle noch kenntlich sind. In der Nähe haben
sich ansehnliche Reste der alten Schiffshäuser gefunden, und auf der Stelle der
modernen Festung erhob sich im Altertum, den Zugang zur Ortygin sperrend
und die Verbindung zwischen beiden Häfen beherrschend, die Burg des Dionysios,
in so engem Zusammenhange mit Arsenal und Kriegshafen, wie jetzt etwa das
königliche Schloß in Neapel.
Die ovalgeformte Felsplatte der Ortygia erhebt sich höchstens 17 bis
19 Meter über der Meeresflüche, füllt aber mit steilen Rändern ab, die noch
größtenteils die alte Umfassungsmauer tragen. Da sie kaum 1,5 Kilometer
in der Lunge und in der größten Breite nur etwa 600 Meter mißt, so haben
sich auf diesem kleinen Raume die Gebunde an engen, winkligen Gassen und
wenigen größern Plützen zusammengedrängt, stattliche Paläste aus der spanischen
Zeit darunter, auffallend durch die besonders schönen Marmorkonsolen der
zahlreichen Balkons und durch prachtvolles barockes Schmiedewerk. Unter dieser
modernen Schicht ist das griechische Altertum fast verschwunden, und vollends
von den zahllosen Kunstwerken dieser Zeit ist nichts mehr an Ort und Stelle.
Was zufällig hier und da zu Tage gekommen ist, hat das kleine, von Paolo
Orsi trefflich geleitete Museum am Domplatze aufgenommen: eine herrliche
Aphrodite, Reliefs, Thouskulpturen, Terrakotten, Münzen u. s. f. Kaum viel
mehr hat sich von Bauresten erhalten. Von dem großen Artemistempel an
der flachen Nordseite sind nur ein paar Stufen und einige kannelierte Säulen¬
stümpfe inmitten eines Hofes übrig. Ein besseres Schicksal hat der Athenetempel
auf der höchsten Stelle der Insel gehabt, denn er ist frühzeitig in die Kirche
Santa Maria delle Colonne verwandelt wurden und jetzt der Don, der Stadt,
ein höchst seltsames Gemisch der verschiedensten Kulturelemente, das in dieser Be¬
ziehung die Palermitaner Bauten noch übertrifft! Denn die -nächtigen Monolith-
sttulen des dorischen Tempels aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. ragen noch
zur Hälfte ihres Umfangs aus der Hauptmauer der Kirche hervor, samt Architrav
und Triglyphen, darüber steht ein arabisch-normännischer Zinnenkranz aus dem
elften oder zwölften Jahrhundert, und die Westfront prangt mit korinthischen
Säulen und gekröpftem Gebälk in, reichsten Bnrockschmuck des siebzehnten Jahr¬
hunderts. Wenig hundert Schritte führen vom Domplatz nach der berühmten
Arethusciquelle an der Westseite. Dort umgiebt die hohe Ufermauer ein nahezu
halbkreisförmiges Becken ursprünglich süßen Wassers, das freilich seit dem Ein-
. bruns des Meeres beim Erdbeben von 1170 brackig und nntrinkbar geworden
ist; aus vier Mündungen strömt das Wasser hinein, und in dichten Büschen
wuchert üppig das hohe Papyrusschilf. Von diesem ältesten Denkmal griechischer
Siedlung, das in der Sage von der Nymphe Arethusa und dem begehrliche»
Flußgott Acheloos die ferne Heimat sinnig mit der Kolonie verknüpfte, füllt
der Blick auf das merkwürdigste Denkmal des syraknsanischen Mittelalters, die
gelbbraunen Mauern des Castello Mariane auf der Südspitze, ein Viereck mit
runden Ecktürmen, so genannt nach dem byzantinischen Feldherrn Georg
Maniakes, der kurz vor 1040 Sizilien zum letztenmale für die Griechen er¬
oberte. Angesichts des offnen Meeres auf der einen, des Großen Hafens auf
der andern Seite angelegt beherrschte es die Einfahrt völlig. Auf der breite»
Wasserflüche flimmerte der Glanz der Mittagssonne, als wir nach der Villa
Politi zurückführen.
(Fortsetzung folgt)
Das chinesische Reich ist in der letzten Zeit oft der
kranke Mann Ostasiens genannt worden. Diese Bezeichnniig hat weniger ob e ve
Berechtigung, als man auf den ersten Blick glauben stille. S e ist vielmehr hau^-
sachlich eine subjektive Auslassung vom Standpunkte der Westlander aus. Lage es
in der Macht der Pekinger Negierung. die Fremden alle miteinander zu ver¬
treiben, sie würde dies lieber heute als morgen thun, daran ist gar nicht zu
Zweifeln. Dann aber könnte das alte Reich der Mitte noch ganz gut eunge Jahr¬
hunderte weiter bestehn. Mit den Augen der Europäer auge ehen wurde d,Z
allerdings mehr ein Vegetieren als ein Leben sein, aber die Möglichkeit selbst ist
schwerlich zu bestreiten. . ^ , „
^ Bet der Beurteilung dieser Verhältnisse dürfen wir niemals außer acht lassen.
d"ß die Anwesenheit der westlichen Barbaren im himmlischen Reiche der clMesischeu
Regierung immer gleichmäßig verhaßt gewesen ist. Hieran hat sich selt sechzig
Jahren nichts geändert. Unter der gutsitzenden Maske äußerlicher Freundlichkeit
gegen die abendländischen Gesandten haben die hohen Mandarinen fort und fort
den sehnlicher Wunsch gehegt, die ihnen seit einigen Jahrzehnten so unbequem
gewordnen Fremden schließlich doch noch wieder loszuwerden. Kaum glaubliche
und unbelehrbare Kurzsichtigkeit! wird da vielleicht mancher ausrufen. Aber wir
müssen auch hier wieder die eigentümlichen Verhältnisse berücksichtigen. Versuchen
wir es, uns auf den chinesischen Standpunkt zu stellen, so wird uns die Sache
nicht mehr so unbegreiflich erscheinen. Jahrtausende hat das Reich bestanden, ohne
während dieser ganzen Zeit viel mit den Europäern in Berührung zu kommen.
Da nun die hohen chinesischen Beamten fast ausnnhmlvs den Blick weit mehr nach
rückwärts als auf die Bedürfnisse der Gegenwart richten, so ist es kein Wunder,
wenn ihnen bei ihrer Verehrung der alten Zeiten die Macht, die die Fremden in
China errungen haben, wie ein wüster Spuk vorkommt, auf dessen baldiges Ver¬
schwinden sie immer wieder hoffen.
Wird uns nach solchen Erwägungen das Verhalten der Mandarinen begreif¬
licher, so ändert sich damit doch die Sachlage selbst in keiner Weise. Diese nimmt
für die chinesische Regierung einen immer ernster werdenden Charakter an. Gerade
die mehr und mehr zu Tage tretende Unfähigkeit der höchsten Würdenträger, die Lage
fest und unbefangen zu prüfen, muß für sie über kurz oder lang der Anlaß zu einer
Katastrophe werden. Nach dem Kriege gegen Japan, der einen für das riesige
Reich so jämmerlichen Verlauf nahm, glaubten optimistische Freunde Chinas bestimmt
ans die baldige Einführung von Reformen rechnen zu dürfen. Aber es hat sich
gezeigt, daß auch die derbe Lektion, die mau von den Japanern erhalten hat, nichts
genutzt hat. Auch der Epilog zum Kriege, die kaltblütige Besetzung von Kiautschou,
Port Arthur und Weihaiwei durch Deutschland, Rußland und England, hatte keine
aufrüttelnde Wirkung. Man hat zwar gesagt, die drei genannten Häfen seien mir
winzige Stückchen von dem Körper des gewaltigen Reiches. Aber man übersieht
dabei, wie wichtig diese Punkte sind. Denn in ganz Nordchina giebt es jetzt keinen
Ort an der Küste mehr, wo ein Ersatz für die verloren gegangnen Kriegshnfen
geschaffen werden könnte.
Hat man nun in Peking einen allzu großen Widerwillen gegen Reformen,
so sollte man wenigstens in der gewohnten passiven Ruhe verharren, da dies doch
das einzige Mittel wäre, das Reich noch einige Zeit in seinem jetzigen Bestände
zu erhalten. Die einfachste Klugheit sollte das gebieten. Statt dessen sehen wir,
daß die chinesische Negierung in der letzten Zeit ein sehr gefährliches Spiel treibt,
das leicht verhängnisvoll für sie werden kann. Mit Waffengewalt ist nichts gegen
das Abendland auszurichten; das hat man in Peking eingesehen, denn die Beweise
dafür mußten auch demi verbohrtesten Altchinesen einleuchten. Desto mehr nahm
man zur List und zu heimlichen Aufreizungen seine Zuflucht, Waffen, die ohnehin
den Orientalen und besonders den Chinesen weit mehr zusagen als offner und ehr¬
licher Kampf. In der Provinz Schenkung ist zur Zeit wieder einmal eine um¬
fangreiche Bewegung gegen die Christen im Gange, der außer einer Anzahl
bekehrter Chinesen auch ein englischer Missionar zum Opfer gefallen ist. Als die
Kunde von dessen Ermordung, die in besonders brutaler Weise geschah, in die
Hauptstadt gelangte, sollen mehrere Mandarinen ausgerufen haben: Was für ein
Glück, daß das kein Deutscher ist! Sie wisse» sehr gut, daß sie dann nicht so
leichten Kaufs davon komme» würden wie jetzt. Die Engländer haben zwar auch
eine gründliche Untersuchung verlangt; daß aber dabei hierzulande niemals etwas
Herauskonnut, was bei den Chinesen dauernden Eindruck macht, scheinen sie noch
immer nicht einsehen zu wollen. Als infolge der Ermordung der beiden deutschen
Missionare Kiautschou besetzt wurde, meinte man im deutscheu Publikum, unsre Re¬
gierung hätte dies wohl nur als willkommnen Anlaß zur Erwerbung eines guten
Stützpunkts für unsre Flotte in Ostasien benutzt. Das mag sein, aber es wird
Wohl auch das Bestreben mit im Spiel gewesen sein, den Chinesen endlich einmal
für derartige Unthaten eine längst verdiente empfindlichere Züchtigung zu teil werden
zu lassen, als sie bisher erhalten hatten.
Die Bewegung in Schankung hat schon nach der Provinz Tschihli, worin
Peking liegt, übergegriffen. Die treibenden Kräfte dieser Bewegung erklären immer
wieder, sie hätten in keiner Weise die Absicht, der Negierung entgegenzutreten, sondern
sie wollten nur die verhaßten Fremden vertreiben. Deu hohen Mandarinen scheint
dies glaubhaft zu sein, denn die hier in Schanghai erscheinenden Zeitungen be¬
haupten bestimmt, in Peking sympathisiere man ziemlich offen mit der Bewegung.
Sicher ist, daß bisher erst ganz unzureichende Schritte gethan worden sind, die
christlichen Chinesen in Nordchina zu schützen. Diese sind vielmehr noch immer
ihren erbarmungslosen Verfolgern ausgesetzt. Eine große Menge von ihnen hat in
der bittern Winterknlte ihr ganzes Hab und Gut verlöre«. Das Elend ist infolge¬
dessen vielfach groß. Die Mandarinen überlassen die Unglücklichen einfach ihrem
Schicksal, weil sie sich nach ihrer Auffassung durch den Anschluß an die Missionare
außerhalb des für Chinese» geltenden Rechts gestellt haben.
Ganz anders verfuhren aber die Mandarinen nach der Niederbrennung des
Dorfes bei Tsingtao, wo im vorigen Frühling drei Deutsche angegriffen und in
Lebensgefahr gebracht worden waren. Wie nämlich die ^ortd Odins, vailx Usus
jetzt mitteilt, hat die chinesische Regierung kürzlich eine größere Summe Geldes an
alle von der deutschen Strafexpedition betroffnen Personen verteilen lassen. Auch
sonst sorgt man in Peking dafür, den Forderungen, die ein Gesandter nach einer
Fremdenhetze mit großer Mühe durchsetzt, möglichst bald ihre Stachel zu nehmen.
Die chinesische Verschlagenheit behält da am letzten Ende doch immer die Oberhand.
Bei der im Reiche der Mitte geltenden Verantwortlichkeit der Mandarinen für
alles, was in ihrem Bezirke vorgeht, mußten die Gesandten bald auf den Gedanken
kommen, die Absetzung eines Beamten zu verlangen, in dessen Machtbereich Fremde
ernstlich belästigt worden waren. Obgleich dies nun durchaus der chinesischen Sitte
entspricht, so sträubte sich die Pekinger Regierung zuerst doch mit Händen und
Füßen dagegen. Schon hieraus ist zu erkennen, daß sie von vornherein gar nicht
die Absicht hatte, Gerechtigkeit gegen die Fremden zu üben. Im Gegenteil, sie
wollte, sobald Ausländer ins Spiel kamen, mit zweierlei Maß messen. Als endlich
bei der häufigen Wiederholung der Unruhen der von den Gesandten ausgeübte
Druck für die hohen Mandarinen zu stark wurde, mußten sie sich zur Nachgiebigkeit
bequemen. Aber die Gesandten sollten bald erfahren, daß mit der Erklärung, ein
Beamter sei abgesetzt worden, nicht viel erreicht war. Denn in China unterscheidet
mau scharf zwischen zwei Arten von Absetzuugen. Die leichtere Art ist nicht viel
mehr als eine Scheinstrafe, weshalb ihre Verhängung auch nur geringen Eindruck
macht. Jeder Chinese weiß in diesem Falle, daß der abgesetzte Beamte in kurzer
Zeit einen andern, ebenso hohen Posten wiedererhalten wird.
Sehr viel ernster ist die zweite Art der Absetzung. Stehn nämlich in der
amtlichen Pekinger Zeitung hinter der Verfügung, die die Entlassung eines Be¬
amten ankündigt, die bösen Worte: „er soll niemals wieder ein öffentliches Amt
bekleiden," so ist das nnter gewöhnlichen Umständen eine schlimme Geschichte für
den, den es angeht. Er muß schon sehr viel Einfluß haben und eine Menge Geld
für Bestechungen opfern können, soll es ihm gelingen, eine solche gegen ihn er¬
lassene Verfügung rückgängig zu machen. Weitaus in den meisten Fällen mißlingen
alle dahin zielenden Anstrengungen. Dann aber ist der Betreffende einfach Privat¬
mann, und mag er vorher Vizekönig gewesen sein, während die Mandarinen bei
der leichtern Art der Entlassung Mandarinen bleiben, wenn man sie auch auf kurze
Zeit einige Stufen im Range herabsetzt.
Dieser äußerlich ziemlich feine Unterschied war den Ausländern anfänglich gar
nicht aufgefallen, wodurch sich dem Pekinger Auswärtigen Amte die schönste Ge¬
legenheit bot, den Gesandten ein Schnippchen nach dem andern zu schlagen. Als
diese dann dahintergekommen waren, haben sie mehrmals eine Absetzung der
schwerer» Form erreicht. Jetzt wird aber einer nach demi andern der so ent¬
lassenen Mandarinen von der Kaiserin-Witwe wieder an wichtige Posten gesetzt.
Das ist gegen alles Herkommen, das doch sonst im himmlischen Reich eine so große
Rolle spielt. Deshalb ist die Vermutung wahrscheinlich richtig, daß allen diesen
Mandarinen bei ihrer Entlassung heimlich mitgeteilt worden ist: Wir können jetzt
nicht gut anders handeln, aber wir werden euch bald wieder anstellen.
Die Kaiserin-Witwe, die eine Zeit lang keine grundsätzliche Abneigung gegen
die Fremden zu haben schien, hat sich jetzt leider ziemlich auf die unbelehrbare
altchinesische Partei zu stützen begonnen. Das ist im Interesse Chinas zu beklagen,
und es stimmt außerdem gar nicht recht zu der politischen Klugheit, die man der
Kaiserin bisher im allgemeinen nachgerühmt hat. Ihr Ärger über den Versuch
des Kaisers Kuangsü, sich auf eigne Füße zu stellen, scheint ihren Blick getrübt zu
haben, sodaß sie es kürzlich sogar wagen zu dürfen glaubte, den Kaiser abzu¬
setzen. Nußerlich hat sie dann zwar den Wünschen gebildeter Chinesen aus allen
Teilen des großen Reiches, die sich telegraphisch für deu Kaiser verwandten, nach¬
gegeben. Da sie aber nach wie vor die eigentlich regierende Person ist, so liegt
im Grunde wenig daran, wer der nominelle Kaiser ist.
Bei dem fremdenfeindlichen Winde, der jetzt wieder in Peking weht, kann
schon die nächste Zeit Verwicklungen von der größten Tragweite bringen, weshalb
es für die deutsche Politik notwendig ist, die hiesigen Verhältnisse fest im Auge
zu behalten. Man sollte sich nicht damit begnügen, daß wir die Provinz Schankung
als Interessensphäre erhalten haben. Die Engländer verlangen mit bekannter Be¬
scheidenheit gleich das ganze Thal des Aangtsekiaug mit einem halben Dutzend der
besten Provinzen. Da sie jetzt in Südafrika auf längere Zeit gebunden sind, so
können wir vielleicht in China die günstige Gelegenheit benutzen und entweder im
Einvernehmen mit Nußland oder Frankreich etwas gegen England erreichen oder
im Verein mit England gegen die andern, je nach den Umständen. Eine kluge
und weitschauende Politik kann hier möglicherweise in der nächsten Zeit bedeutende
V orteile für Deutschland einheimsen.
Folgendes erzählte mir unser gemeinschaft¬
licher Freund, der Doktor, und ich berichte es mit seinen eignen Worten: Am
1. März erhielt ich durch die Post in verschlossenem Briefumschlag eine auf Karton¬
papier elegant lithographierte, zum Teil mit Tinte schriftlich ausgefüllte Karte von
der Größe eiues Oktavbriefbogens, ans der zu lesen stand: „Reichsgerichtsrat Müller
und Frau Müller geben sich die Ehre, Herrn Dr. N. N. auf Freitag den 16. März
um 7 Uhr zum Mittagessen ergebenst einzuladen. U. A. w. g." Ich gab die Karte
meiner Frau, die sie aufmerksam las und dann sagte: Sieh, sieh! Müllers schießen
sich mit einem großen Herrenessen los. Die große Karte und die frühe Einladung
— über vierzehn Tage vorher — bedeuten einen großen Zauber mit Frack und
weißer Binde. Natürlich gehst du hin. Du wirst eine Menge Bekannte treffen
und darfst mir nicht am Schreibtische gänzlich versäuern. — Ja, sagte ich, abschlagen
kann ich das dem guten Müller schwer. Wir wollen doch einmal sehen, was am
16. und an den Nachbartagen los ist. Ich nahm meinen Schreibkalender und fand,
daß ich am 15. zu einer kleinen Jagd auf dem Lande versagt war, und daß sich
am 17. unser litterarisches Kränzchen bei uns versammeln sollte. Der 16. war
frei. Na, denn helpt dat »ich, sagte ich; mit dem Versauern hat es zwar keine
Not, ich sehe ja Meuscheu genng, manchmal mehr, als mir lieb ist, und bei diesen
großen Gesellschaften kommt doch nur selten etwas Gescheites heraus, aber aulügeu
kann ich doch meinen guten alten Freund Müller unmöglich, also los! — Ich schrieb
auf einen Briefbogen ganz korrekt: „Dr. N. N. beehrt sich für die liebenswürdige
Einladung des Herrn Reichsgerichtsrats Müller und seiner Frau Gemahlin zum
Mittagessen auf Freitag, 16. März, 7 Uhr verbindlichst zu danken und wird der
Einladung Folge leisten." Das wurde in einen Umschlag gesteckt und zur Post
gegeben. Für den 16. um 7 Uhr ivnrde das Mittagessen bei Müllers im Schreib-
ralender notiert.
Mit der Jagd am 15. war es nichts. Es war ein Wetter, bei dem draußen
"Ach schief ging. Ich kam ziemlich mißmutig über den Verlornen Tag zurück. Wir
chien regelmäßig um Vs2 Uhr zu Mittag. Als ich am Freitag pünktlich zu Tisch
wen, sagte meine Frau in heiterm Ton: Lieber Mann, heute wirst du bei uns nur
frühstücken, zu Mittag wirst dn ja um 7 Uhr bei Müllers essen. — Richtig, seufzte
'es, es ist freilich eine Härte, zweimal zu Mittag essen zu müssen; darauf kommt
es doch schließlich hinaus. Und zu dem zweiten Essen, das ein Extravergnügen
kein soll, muß man sich noch mit dem verrückten Frack und der weißen Binde be¬
waffnen. Ich wollte, ich hätte abgesagt. Es ist bei uns so traulich und nett, wie
bei Müllers gar nicht sein kann. Und deine Kartoffelsuppe hat mir so gut ge¬
schmeckt, und da kommen die grünen Schnitzelbohnen mit Hammelrippchen, mein
Leibgericht. Da soll man nun bloß frühstückend daran riechen und sich nicht ein¬
mal satt essen. Der ganze Gesellschaftsschwindel Paßt für unsre Verhältnisse nicht. —
meinte meine Fran, so schlimm ist das doch nicht. Du hast ja glücklicherweise
lente keine Gesellschaft zu geben, sondern sollst bei deinem Freunde in guter Gesell¬
schaft am gastlichen Tische sitzen. Ist denn das ein Unglück? Das bischen An-
^du ist ja doch nicht der Rede wert. Frühstücke nur mit gutem Appetit und laß
die Laune nicht verderben. Du hast noch über fünf Stunden Zeit zur Ver-
auung, und wenn du hente abend wieder kommst, wirst du sicher ganz zufrieden
Mu. Wer in guter Gesellschaft leben will, muß auch in der nun einmal üblichen
6oren mit ihr Verkehren. Nun laß es dir hier nur schmecken, das übrige wird sich
heute abend schon finden. — Sie hatte ja nicht so unrecht. Um V-3 Uhr saß ich
"ehaglich wieder am Schreibtisch und rauchte meine Nachmittagscigarre, die ich mir
an'stweilen noch zum Abgewöhnen gönne. Um Vs? Uhr erschien ich pünktlich in
^ichs, um mich von meiner Frau noch einmal auf mein anständiges Äußere revi-
vleren zu lassen. Meine bessere Hälfte war zufrieden, behauptete aber, zum Frack
M>! ich auch noch die glanzledernen Stiefel anziehn und den Klapphut nehmen,
^alt einem weichen Filzhut könne man doch schicklicherweise nicht ins Zimmer treten.
s>"b seufzend nach, nahm Mantel und Regenschirm, gab meiner Fran einen
^vMedskuß und ging die Treppe hinunter. Draußen rieselte der schönste kalte
j^lZM vom Himmel. Ans dem Bürgersteige standen die Pfützen, und die Straßen-
de^n ^ starrten von Schmutz. Mein Vorsatz, zu Fuß zu gehn, war schon wegen
r ^ackstiefel unausführbar. Ich hielt also eine Droschke an und gondelte, in
und i Lodenmantel gehüllt, ziemlich trübselig zu Freund Müller. Als ich hinaufkam
N ° " den hellen, durchwärmten Korridor trat, traute ich meinen Augen nicht,
aus K Spiegel stand unser Wunderlicher und studierte das dort liegende Tableau,
star^ ^ Geladnen nach der Ordnung, wie sie bei Tisch sitzen sollten, verzeichnet
Er hatte mich nicht kommen sehen, und ich legte ihm von hinten die
u> die Schulter und sagte: Guten Abend, se tu, ZZi-no? Er drehte sich
l,i ' Schelte und meinte: Ja, warum denn nicht? Das ist ja hübsch, daß wir uns
sei,, "eben. Ich hatte schon gefürchtet, ich würde unter der Gesellschaft einsam
cieimss"'^ L"^in die einzig fühlende Brust. Ich freue mich Ihrer als eines Mit¬
recht? '"^"^ Freude. Leider sitzen wir nicht zusammen. Sehen Sie, ich sitze
^ von der Fran des Hanfes, Sie sitzen mir schräg gegenüber, links vom Haus-
Herrn. Also vorwärts! Ich ließ mir von einem befrackten Lohndiener den Mantel
abnehmen, die Thür zum Empfangszimmer wurde geöffnet, wir begrüßten Frnn
Müller und ihren Mann und befanden uns in einer Gesellschaft von etwa dreißig
sich lebhaft unterhaltenden Herren, denen wir, soweit wir sie nicht schon kannten,
vom Hausherrn vorgestellt wurden. Nach einer Viertelstunde öffnete sich das E߬
zimmer, und wir gingen an unsre Plätze.
Ich war noch immer nicht recht frohgemut. Ich hatte mir alle die Männer
im Frack und mit der weißen Binde angesehen, und alle waren mir mehr oder
weniger bekniffen, eingezwängt, posierend vorgekommen. Indessen das war ja ihre
Sache, nicht meine. Nun läßt es sich nicht leugnen, ein gut gedeckter, gastlicher
Tisch ist ein erfreulicher Anblick. Das schöne schneeweiße Linnen, die frischen
natürlichen Blumen, hübsch arrangiert und über den Tisch verteilt, die helle, fest¬
liche Beleuchtung, das glänzende Geschirr, alles macht einen freundlichen und wohl¬
thuenden Eindruck. Ich sah zur Hausfrau hinüber und nickte ihr zu; sie verstand
auch den stummen Zoll, den ich ihrem Hansfranengeschick damit darbrachte, und sah
glücklich aus. Unser Freund schien mir auch befriedigt; er war mit seinem Nachbar
in ein eifriges Gespräch vertieft, und so setzte ich mich, kühl der Dinge wartend,
die da kommen sollten, nieder. Zur Linken hatte ich einen behäbigen Geschäfts¬
mann. Ich kannte ihn wohl, er war sehr erpicht auf das Essen nud Trinken, und
seine Unterhaltung war, wenn das Gespräch nicht uns spezifisch geschäftliche Fragen
kam, nicht übermäßig anregend. Dagegen fand ich in meinem Nachbar zur rechten
einen vortrefflichen Plandrer. Er war Rechtsanwalt beim Reichsgericht mit dem
Titel Justizrat, sah ungemein gescheit aus und war, wie mau das bei klugen An¬
wälten oft findet, über die verschiedensten Gebiete des praktischen Lebens mit über¬
raschender Genauigkeit bis in die entlegensten Einzelheiten orientiert. Wir kamen
auf meine Heimat zu sprechen, die er in der That „wie seine linke Hosentasche"
kannte, und von da aus bauten sich von selbst die Brücken zum Übergange ans
einzelne politische und soziale Fragen, über die wir uns unbefangen und meistens
uns stark einander nähernd aussprachen, nicht nach Art der Zeitungsleitartikel,
souderu Mann gegen Mann, mit warmen Accenten des Herzens. So kam ich all¬
mählich in eine gute, ja gehobne Stimmung. Vom Essen habe ich nicht viel ge¬
nossen, obwohl es gut war. Es gab Fleischbrühsuppe, Bachforellen, Hammelrücken
und Hamburger Rauchfleisch, warme Hummer, gebratne junge Gans, Eisspeise, Käsc-
stangen und Nachtisch. Jedenfalls aber bekamen wir dazu nicht nur „trockne"
Schaumweine, sondern einige wirklich vortreffliche Weine, namentlich einen 1893 er
Bordeaux und einen Forster Freundstück, bei dem mau die Engel im Himmel singen
hören konnte. Genug, ich stand vergnügt und befriedigt auf, trank noch im Arbeits¬
und Rauchzimmer des Hausherr» mit unserm Jrennde, der recht schweigsam war, eine
Tasse Kaffee und einen Kognak und rauchte eine wundervolle Pedro Murias ersten
Ranges, wie man sie kaum in der ersten Gesellschaft Bremens bekommt. Das er¬
klärte sich daraus, daß unser Wirt Müller zwar kein geborner Bremer war, aber
durch die engsten verwandtschaftlichen Fäden mit einigen ersten Bremer Häusern
zusammenhing. Unser Freund war stiller als sonst und überließ mir und deu bei
uns sitzenden Herren die Kosten des Gesprächs zu tragen. Dieses Gespräch ging
nicht gerade in die Tiefe, aber es war heiter und hie und da mit einer scharfen
Pointe oder einem guten Witz gewürzt. Um ^11 Uhr brachen wir auf, ver¬
abschiedeten uns von Müller und seiner muntern Frau, verabreichten draußen der
Dienstmagd des Hauses unsre Mark Trinkgeld und gingen, da der Regen längst
aufgehört hatte, in verschiednen Richtungen nach Haufe. Zur großen Genug¬
thuung meiner Frau war ich wirklich vergnügt und aufgeräumt. Ich schlief viel¬
leicht ein wenig unruhiger als sonst, aber im ganzen ist mir dieses Mittagessen gar
nicht übel bekommen.
Am andern Morgen traf ich meinen Freund bei meinem Spaziergange. Wir
hatten draußen seit langer Zeit zum erstenmal wieder Sonnenschein, aber ich sah es
ihm schon von weitem ein, daß die milde Stimmung von gestern abend verflogen war.
Sein Gesicht sah aus, wie wenn das Barometer ans Sturm stünde. Ich reichte
ihm die Hand und begann: Hoffentlich ist Ihnen der Spaß gestern abend gut be¬
kommen. Sie haben doch gut geschlafen?
Nein, knurrte er, mir ist scheußlich zu Mute. Geschlafen habe ich so gut
wie gar nicht, und eine so verrückte Gesellschaft als Spaß zu bezeichnen grenzt
nahezu um Sprachdummheit. Es war ja ein Elend von Anfang bis zu Ende.
Na, erwiderte ich, Sie scheinen heute in netter Stimmung zu sein. scheußlich,
verrückt, Sprachdummheit, Elend — das sind lauter starke Superlative. Der Wind
ist ja bei Ihnen gänzlich umgeschlagen. Ich fand Sie gestern abend heiter, sanft,
beinahe milde, eigentlich contra, naturam tui xcm<zris. Wenn Sie schlecht geschlafen
haben, so brauchen Sie das doch nicht dem guten Müller und seiner Gesellschaft
aufzuhalsen. Das kaun ja doch auch andre Gründe haben. Wir scheinen die Rollen
getauscht zu haben. Gestern ging ich verdrießlich in die Gesellschaft und war er¬
staunt, daß Sie sich entschlösse» hatte» hinzugehn. Ich bin heute zufrieden, daß ich
dort war, Sie aber scheinen einen physischen und einen moralischen Kater zugleich
zu haben. Was ist Ihnen denn passiert? Sie waren doch noch demi Weggehn still,
über wie mir schien, nichts weniger als verstimmt.
Nein, Kater habe ich nicht, sagte er, aber während der schlaflosen Nacht sind
mir die Dummheiten unsrer konventionellen Geselligkeit durch den Kopf gegangen.
Gestern abend haben wir leichtsinnig mitgemacht, ich wenigstens ganz prinziplos,
und dessen schäme ich mich hente. Warum waren Sie denn gestern verdrießlich,
"ks Sie zu Müller gingen?
Ach, das war nicht weit her. Wir essen zu Hanse um V-2 Uhr, es hatte
mir bei uns um unserm einfachen Tische trefflich geschmeckt, ich fühlte mich zu Haufe
Wohl geborgen und behaglich, und ich empfand es als wenig angenehmen Zwang.
de>ß ich zu ungewöhnlicher Zeit noch einmal zu Mittag essen und mich dazu vou
Kopf bis zu Fuß frisch anziehn, mich putzen und nach dem Befehle meiner Frau
s»ge>r in die Lackstiefel fahren mußte. Mein alter Adam ist von Haus aus einiger-
»aßen schwerfällig und beqnem. Meine Frau zieht mich deswegen gern auf und
l"ge von nur, wie Bismarck von dem Grafen Paul Hchfeldt: Paulchen ist ein
wenig fnulchcu. So war es gestern, und ich hatte mir nach unsrer deutschen Art
für meine liebe Bequemlichkeit eine kleine Theorie zurecht gemacht, hatte auf die
Unnatur unsers gesellschaftlichen Lebens geschimpft und war schließlich ein wenig
vergällt zu Müller gefahren. Das scheußliche Wetter und der Zwang, mir oder
"'einen Lackstiefeln auch noch eine Droschke spendieren zu müssen, hatte die Stim¬
mung auch nicht gerade verbessert. Erst als ich Sie bei Müller so gefaßt und
heiter fand, fing ich um, mich meiner Stimmung zu schäme», und da ich -meh schkeß-
uch gu»z behnglich fühlte, die gastliche Sorglichkeit der kleinen Fra» Mutter als
^wils Gutes empfnnd und mich mit meinem Nachbar, den. Justizrat. recht gut
unterhielt, so wurde ich innerlich frei und heiter. Auf dein Nachhausewege habe
"h zuletzt immer Hölderlins Epigramm vor mich hingesummt:
In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh,
Des Abends meint ich! jetzt, da ich alter on,
Beginn ich zweifelnd meinen Tag, doch
Heilig und heiter ist mir sein Ende.
Ich habe gestern einen guten Abend verlebt, hube von dieser konventionellen Ge-
emgkeit einen innerlichen Gewinn gebildt und bin schließlich Müller und seiner
kleinen Frau für ihre vielleicht ein wenig zu großspurige über freundlich gewährte
Gastlichkeit von Herzen dankbar. Wie soll es denn ein höherer Beamter, der geradezu
genötigt ist, mit einem größern Kreise gebildeter Menschen gesellschaftlich zu Ver¬
kehren, anders anfangen?
Er hatte mich ruhig angehört und war stehn geblieben. Dann sagte er mit
einem Seufzer: Harmlos und kindlich sind Sie, das muß ich sagen. Sie habe» ja
Ihre kleine Theorie von gestern förmlich ausgewechselt.
Jawohl, erwiderte ich, ich habe sie an der Hand der Erfahrung berichtigt.
Finden Sie das denn nicht ganz richtig und vernünftig?
Nein, zürnte er ini Weitergehn, nein und abermals nein. Wie kaun man ans
Grund einer flüchtigen Stimmung verständige Grundsätze aufgeben und sie in ihr
Gegenteil Verkehren? Das ist ja eine ganz — verkehrte Oberflächlichkeit. Ihre
gestrigen Monologe gegen die Unnatur unsrer konventionellen Gesellschaften waren
vollkommen begründet. Ich bin von meinem Optimismus gründlich kuriert und
mache nicht wieder mit. Diese ganze konventionelle Geselligkeit ist Unsinn, und an¬
ständige, freie Leute, wie Sie und ich, sollten sich davon los machen.
Das kann nicht Ihr Ernst sein, sagte ich. Ich erkenne Sie ja kaum wieder.
Sie sind ja heute ein persönlich voreingenommner, ungerechter Richter. Sie haben
gestern bei Müller Ihre Rechnung nicht gefunden, sind dnrch das Zusammentreffen
zufälliger, gerade für Sie ungünstiger Umstände einigermaßen enttäuscht gewesen,
haben vielleicht von dem sehr gut besetzten Tisch ein wenig zu viel gegessen oder
auch von dem feurigen dreiundneunziger Forster Freundstück, der gut schmeckt aber
ins Blut geht, ein Glas mehr getrunken, als Ihnen gut war. Sie haben von
Ihren Nachbarn, mit denen Sie sich anscheinend sehr angelegentlich unterhielten,
wohl nicht gerade das gehört, worauf Sie rechnen zu dürfen meinten, haben schlecht
geschlafen, sind mit Unbehagen aufgestanden, und nun machen Sie sich aus diesem
einmaligen, ganz persönlichen Erlebnis — echt theoretisch und doktrinär — ein all¬
gemeines, abfälliges Urteil über diese ganze Art von Geselligkeit zurecht, das viel
zu weit geht. Sie sind damit — nehmen Sie es mir nicht übel — auch gegen
Müller und seine Frau, die uns auf ihre Art doch sehr aufmerksam, freundlich und
nicht ohne Opfer bewirtet haben, ungerecht und undankbar. Das ist nicht hübsch
und nicht recht. Das müßten Sie bei ruhiger Nachprüfung selbst zugeben.
Ich will Ihnen etwas sagen, entgegnete er; in zwei Punkten haben Sie recht.
Erstens müssen wir Müllers aus dem Spiel lassen. Die haben es er ihrer Art
gut gemeint, und es wäre ordinär, sich erst von ihnen abfüttern zu lassen und
hinterher über sie zu räsonnieren. Die meisten Gäste bei solchen Festen thun das
zwar ungeniert, aber das fällt mir nicht ein. Zweitens ist es richtig, daß meine
Wut auf unsre falsche Geselligkeit, die ich längst in mir herumtrage, und gegen die
ich mich gestern mit einer forcierten Dosis guten Willens und guter Laune ge¬
wappnet zu haben vermeinte, durch allerhand persönliches Mißgeschick ausgelöst
worden ist. Aber dieses Mißgeschick ist nicht vereinzelt, sondern ist die Regel, und
diese ganze Form der Geselligkeit, die wir bei Müller gestern — sogar unter ver¬
hältnismäßig günstigen äußern Umständen — ausgekostet haben, paßt nicht für Leute
unsers Schlags und unsrer Verhältnisse, weder aktiv noch passiv. Wir müßten uns
entschließen, damit zu brechen, und müßten uns zusammenthun, um diesen Gesell¬
schaftsdummheiten den Krieg zu erklären.
Ja, was ist denn so dumm und falsch daran? fragte ich. Ich wenigstens habe
viel mehr von dieser Gesellschaft gehabt, als ich erwartet hatte, und die andern
Herren sahen doch auch befriedigt und vergnügt genug aus. Sie, Verehrtester,
sind wahrscheinlich der einzige Gast gewesen, der innerlich unwirsch war. Und
da liegt doch die Annahme nahe genug, daß das Ihre und nicht die Schuld der
Geselligkeit war.
Nein, sagte er, diese Berufung auf die andern zieht nicht. Können Sie ihnen
ins Herz sehen? Und so unanständig, sich in dem gastlichen Hause selbst die Ent-
täuschung merken zu lassen, ist natürlich kein einigermaßen gebildeter Mensch, Aber
gerade daß man sich nichts merken laßt und merken lassen darf, selbst wenn die
ganze Bewirtung scheußlich wäre und schief ginge, ist eine unsrer gesellschaftlichen
Unwahrheiten, gegen die man ohnmächtig ist, wenn man an solchen Gesellschaften
teil nimmt. Man ist dann unter die Wölfe geraten und muß mit ihnen heulen.
Ich will Ihnen zunächst ein paar Fragen vorlegen. Die beantworten Sie nur
einmal ganz ehrlich. Ist es Ihre Absicht, die gestrige Einladung mit einer eben¬
solchen zu einer ähnlichen Bewirtung oder Abfütterung zu erwidern? Wollen Sie
sich auch dreißig oder vierzig Leute zusammcnbitten, die untereinander entweder
keine oder so gut wie keine Beziehungen haben? Werden Sie dazu auch in einem
Hotel oder bei einem beliebigen Koch ein ähnliches Mahl bestellen, wenn Sie es
doch sonst während des ganzen Jahres in Ihrem Hause nicht auf den Tisch bringen
lassen, das Gedeck für zehn, zwölf oder fünfzehn Mark ohne Wein? Werden Sie
sich dazu auch zwei oder drei Lohndiener mit den scheußlichen weißbanmwollnen
Handschuhen mieten? Und wenn Sie wirklich die Absicht haben, das zu thun,
nennen Sie das eine herzliche, einfache, dem deutschen Hanse und deutscher Sitte
entsprechende Gastlichkeit? Haben Sie nicht die Empfindung, daß in diesem Treiben
— wenigstens für unsre Verhältnisse — ein ganzer Rattenkönig von abscheulichen
Unwahrheiten und konventionellen Lügen steckt, an die wir uns zu unsrer Schande
dergestalt gewöhnt haben, daß wir uns ihrer nicht einmal mehr ehrlich zu schämen
vermögen? Darauf antworten Sie mir. Dann will ich Ihnen meine Meinung
weiter sagen.
Damit hatte er freilich den kitzligsten Punkt getroffen. Ich selbst hatte
mir, seitdem ich die Müllersche Einladung angenommen hatte, wiederholt die
Frage vorgelegt, wie ich sie erwidern sollte. Ich hatte auch mit meiner Frau
darüber gesprochen, und diese war gar nicht abgeneigt gewesen, sich einmal
mit einem ähnlichen Mittagessen loszuschießen. Ich hatte aber wenig Lust dazu.
Mich störte der Gedanke, daß wir in unserm Hause Gäste mit einer Fülle von Ge¬
richten unter Formen bewirten sollten, die so stark von der alltäglichen Gestaltung
unsers häuslichen Lebens abwichen. Und ich hatte mich auch mit meiner Frau
schon vorläufig geeinigt. Ich hatte sie gefragt, ob sie sich denn getraue, eine größere,
formelle Gesellschaft von ihrem Wirtschaftsgelde anständig zu bewirten, den Wein
wolle ich natürlich tragen, aber Extrasummen zur Bestreitung der Kosten solcher
teuern Gesellschaften seien in meinem Haushaltspläne nicht ausgeworfen, stünden
mir auch nicht zur Verfügung. Daraufhin waren wir übereingekommen, daß wir
unsern Freund Müller mit seiner Frau an meinem Geburtstage auf Uhr zu
Tisch einladen und dazu, wie wir es schon oft gethan, noch zwei befreundete Fa¬
milien bitten wollten. Meine Frau nimmt dann ihre ehemalige, jetzt verheiratete
Köchin zur Hilfe, es wird ein Gericht mehr aufgetragen als sonst, ich spendiere ein
paar Flaschen sehr guten Rheinweins — Schaumwein habe ich überhaupt nicht im
Keller —. und die Herren werden durch einen persönlichen kurzen Brief um Über¬
rock" eingeladen. So sind wir schon oft recht fröhlich miteinander gewesen, ohne
unsern Wirtschaftsetat zu gefährden. Insofern war ich also den Fragen unsers
Freundes gegenüber persönlich in einer günstigen Position, freilich mit dem un¬
heimlichen Gefühle, daß ich ihm sachlich damit ziemlich weitgehende Konzessionen
machte. Ich erwiderte ihm: .
^
, Ihre erste Frage verneine ich. Es ist nicht unsre Absicht, die gestrige Ein-
l"dung mit einer ähnlichen zu einem Zauberfeste gleicher Art zu erwidern. Das
können wir nicht, schon weil es über unsre Mittel gehn würde, dreißig oder vierzig
Leute zugleich so reichlich bei uns zu bewirten. Dazu besteht auch bei uns kein
Bedürfnis. Wir stehn gar nicht mit einer so großen Anzahl von Familien auf
den, Einladungsfußc. Ich bin kein Beamter, der mit so und so viel Kollegen,
mögen sie ihm Passen oder nicht, in bestimmten konventionellen Formen Verkehren
muß. Aber das alles liegt ganz anders bei Müller. Er muß mit seinen Kollegen,
wenigstens mit denen aus seinem Senat und rin den Anwälten, die bei ihm
Familienbesnch machen, gesellschaftliche Fühlung behalten. Sonst isoliert er sich nicht
bloß gesellschaftlich, sondern auch amtlich. Und wenn er nun einmal in den seinem
Amt und Stande angemessenen Formen Gaste bei sich sieht, so kommt es auf einen
oder einige mehr oder weniger auch nicht an. Müller sowohl wie seine Frau
kommen sehr gern zu uns, um mit uns einmal nach unsrer Art zu essen, und er
wird so gut wie Sie und ich verständig genug sein, das als eine vollwertige
Erwiderung seiner Einladung anzusehen. Ja, ich behaupte: wenn es einigermaßen
klappt, so bieten wir ihm nicht weniger, sondern mehr, als er uns geboten hat.
Wenn seine Verhältnisse ihn aber nötigen, seine Geselligkeit anders einzurichten, so
brauchen wir darüber nicht die Nase zu rümpfen. Es braucht nicht überall nach
Schema 1? zu gehn. Lassen Sie doch jedem die Freiheit, sich nach seinen Verhält¬
nissen und nach seiner Art einzurichten. Ich habe mich gestern bei Müllers sehr
gut unterhalten, habe sogar manches gelernt und gute Anregungen empfangen.
Folglich lasse ich auch dieser Art von Geselligkeit ihr Recht. Ihre ganze Auffassung
ist mir zu engherzig, und im Grunde sind Sie diesmal der Philister.
Er blieb wieder einen Augenblick stehn und sagte: Warum denu so grob?
Ich finde es sehr vernünftig von Ihnen und Ihrer Frau, daß Sie den Schwindel
nicht mitmachen. Aber was Sie zur Verteidigung dieser weltförmigen Geselligkeit
sagen, hält nicht Stich. Es mag Verhältnisse geben, in denen sie sich nicht ganz
umgehn läßt. Doch das sind Ausnahmen und müßten Ausnahmen bleibe». Heut¬
zutage aber ist diese unnatürliche Gesellschaftstreiberei zur Regel geworden. Und
das ist falsch. Falsch auch für den großen Durchschnitt der höhern Beamten. Ich
will es allenfalls gelten lassen für die Beamten, denen der Staat ausdrücklich
Mittel zur Bestreitung der sogenannten Repräsentation giebt, wiewohl ich auch da
noch gewisse Einschränkungen machen würde. Aber Richter, Negierungsräte, höhere
Lehrer und dergleichen Handel» nicht verständig, sondern meistens kindisch, eitel und
im Grunde feige oder charakterlos, wenn sie sich der allgemeinen Sitte fügen.
Nehmen Sie bloß einmal die wirtschaftliche Seite der Sache heraus. Ich will
vou Müller nicht sprechen. Er hat keine Kinder, und die Frau bekommt ja auch
wohl noch einen Zuschuß von zu Hanse. Aber stellen Sie sich einen Beamten mit
vier Kindern vor, der den hohen Gehalt von 12000 Mark und 1500 Mark
Wohnungsgeldzuschuß hat. Zwei Söhne studieren. Die koste» allein jährlich mit
Kleidung, und allem was sonst drum und dran hängt, 4000 bis 5000 Mark. Die
Erziehung der Töchter ist doch auch nicht umsonst zu haben. Nun rechnen Sie
die Miete für eine nur etuigermaßen der Stellung entsprechende Wohnung, die
Steuern und Standesansgaben, die Kleidung für Frau und Töchter, die Prämie
für eine mäßige Lebensversicherung, die heutzutage leider ganz unvermeidlichen Kosten
einer auch nur bescheidne» Sommerfrische, die Dienstbvtenlöhne, denken Sie an Arzt
und Apotheker, Bücher und Zeitungen, Straßenbahnen und Droschken usw., und
dann sehen Sie zu, was für den eigentliche» Haushalt übrig bleibt. Ein Mittag¬
essen wie das gestrige ist uuter 400 bis 500 Mark auch von der geschicktesten
Hausfrau nicht zu beschaffen; also machen Sie sich den Vers darauf, wo bei einem
Beamten, der kein Vermögen hat, das Geld dazu abgeknappst werden muß.
Zweifellos wird das an solchen Posten der Wirtschaftsrechnung geschehn, die für die
Gesundheit, Behaglichkeit und Auskömmlichkeit des Familienlebens wenn nicht un¬
bedingt nötig, so doch sehr nützlich sind. Ich halte schon diese wirtschaftliche Rücksicht
für entscheidend, gebe aber gern zu, daß sie sich in jeder Familie anders gestaltet.
Jedenfalls handelt es sich um eine nicht geringe Extraausgabe, deren Ersparnis
dem innern Familienleben zu gute kommen würde. Wer hat aber etwas von diesem
Luxus, der schließlich weder die Gastgeber noch die GAste befriedigt? Bei Licht
besehen niemand, außer etwa der Koch, die Lohndiener und das Dienstmädchen mit
ihrem Trinkgeld. Und welche Umstände macht ein Gastmahl dieser Art im Hause!
Es ist eigentlich gar keine rechte Gastlichkeit, es ist ein bezahlter Luxus. Wer es
dazu hat, der mag ja leicht ein freundliches Gesicht dazu machen. Wo aber das
Geld ohnehin knapp ist, da wird die Sache doch zu einer empfindlich drückenden
Last. Zur rechten Gastlichkeit gehört, daß die Gäste etwas von der Art des Hauses,
in das sie geladen werden, zu spüren bekommen. Das ist bei dieser Art Geselligkeit
kaum möglich. Denn ein Mittag- oder Abendessen dieser Art weicht ja von allen
Gewohnheiten des Hauses völlig ab. Es ist eine künstlich gemachte Nachahmung
der Gewohnheiten ganz reicher Leute. Schott darin liegt eine gewisse Unwahrheit,
ein Stück Renonnuage mit Gütern, die man zeigt, im Grnnde aber gar nicht be¬
sitzt. Wie sich die Menschen dazu die Dienerschaft mieten, so leihen sie sich auch
vielleicht noch das Geschirr zusammen, von dem und mit dem sie ihre Gaste essen
lassen. Ist das eines freien und charaktervoller Mannes, einer ordentlichen, ge¬
diegnen Hansfrau, eines soliden, nicht auf Sand und Schein gebauten Haushalts
würdig? Diese formellen Gesellschaften kommen eigentlich nnr darauf hinnus. daß
man sich so und so viel Leute einlädt, um von ihnen wieder eingeladen zu werden.
Unsre Eltern und Großeltern hätten das nicht einmal für anständig gehalten, auch
wenn die Mittel reichlich dazu vorhanden gewesen wären. Sie feierten ihre Familien¬
feste, den Geburtstag des Hausvaters und der Hausmutter, ihren Hochzeitstag und
Verlobuugstag, auch wohl die Geburtstage der Kinder, und dazu luden sie die
Freunde des Hauses ein, die im weitern Sinne zur Familie gehörten. Das hatte
Sinn und Verstand. Unser heutiger formeller Verkehr, dieses Besuchemachen,
Knrtenabgeben, Kartenerwidern, nach der Liste Einladen und Sicheinladenlassen ist
im Grnnde eine ihres Inhalts entleerte bloße Form, eine Art Kulisse, hinter der
sich das eigentliche Wesen und der Kern der Menschen und ihres Hauses möglichst
bersteckt. Ich gebe zu, daß es nicht bei allen Leuten, die sich an diesem Schem¬
wesen beteiligen, gleich schlimm damit steht. Manche haben ein Bewußtsein der
Verkehrtheit, die sie mitmachen, manche — die meisten — denken überhaupt acht
darüber nach. Sie fügen sich der Unsitte, weil sie Mode ist. Für manche Leute
M"g sie auch bequem sein, und die Fügsamkeit gegen Modethorheiten ist immer
bequem. Aber ein Stück leeren und falschen Scheins sitzt überall dahinter. Gerade
die Gedankenlosigkeit, mit der man sich der falschen Mode fügt, zeigt, wie tief das
sittliche Niveau bei uns gesunken ist. Hier liegt ein Schaden, der tief blicken läßt,
eine ganz ernste Gefahr unsers heutigen sozialen Lebens, ein Symptom des Nieder¬
gangs, gegen den man Front machen muß. Unsre Minister und ähnliche Spitzen
der Gesellschaft mögen sich nicht anders zu helfen wissen. Sie müssen um ihres
Amts Wille» gesellschaftliche Beziehungen zu einer großen Zahl von Menschen nnter-
hnlten, die ihnen persönlich fern stehn. Da sind solche Gastmahle oder mich große
Routs oder Bälle allenfalls ein Auskunftsmittel. um den Parlamentariern und
""dern im öffentlichen Leben stehenden Leuten einen neutralen Boden zu schaffen,
""f dem sie sich auch einmal als Menschen und mit einer Art ungezwungner Harm¬
losigkeit begegnen können. Aber wenn die mittlern Klassen das durchaus nach-
""chen wollen, so giebt das künstliche, geschraubte und ungesunde Zustände, die für
unsereiner uicht Passen, und die geradezu demoralisierend wirken. Das können <s:e
Ernsthaft gar nicht bestreiten. Philiströsität ist es sicher nicht, wenn man die Götzen,
denen die große Menge unsrer lieben Nächsten nachläuft, beim rechten Namen
nennt. J„ meinen Angen sind die Engherzigen und Kurzsichtigen die, die acht
den Mut oder die Einsicht haben, die herrschenden Modethorheiten auf ihre» wahren
Gehalt zu prüfen und dem Ergebnisse der Prüfung anch ehrlich gerecht zu werden.
Und dann, Sie haben sich gestern gut unterhalten, sagen Sie. Zugegeben. Aber wie
oft haben Sie denn bei solchen Gelegenheiten das Glück, neben Leuten zu sitzen,
aus deren Unterhaltung Sie wirklich einen Gewinn haben? In der Regel, das
werden Sie doch nicht leugnen wollen, muß man froh sein, wenn das Gespräch
nicht in ganz gewöhnlichem Klatsch oder noch schlimmer verläuft. Oberflächlichkeit
ist das durchschnittliche Gepräge dieser ganzen Geselligkeit. Und darin liegt immer
eine Gefahr. Treitschke sagt einmal: Nicht in der Lüge liegt die nächste sittliche
Gefahr für den Diplomnteu, sondern in der geistigen Verflachung des eleganten
Salonlebens. Damit hat er vollkommen Recht. Die geistige Verflachung des
eleganten Salonlebens ist aber recht eigentlich das Niveau unsrer konventionellen
Geselligkeit, und wer sich gewohnheitsmäßig aktiv und passiv auf diese Art von
Gesellschaften einläßt, kommt in dieselbe Gefahr wie die Diplomaten.
Erlauben Sie, sagte ich, Sie haben ja in manchen Punkten Recht, vielleicht
in den meiste». Und praktisch bin ich, was die Geselligkeit meines Hauses betrifft,
mit Ihnen einig. Aber Sie generalisieren nach meiner Empfindung Mißstände und
Fehler, die einzelnen zur Last fallen, und thun andern damit Unrecht. Ich gebe
Ihnen darin Recht, daß die ganze Frage in ihrem tiefern Grunde eine Frage der
sittlichen Auffassung und Entscheidung ist. Sogar nach der wirtschaftlichen Seite
hin. Dann muß man aber nicht generalisieren, sondern individualisiere». Glauben
Sie, daß ein Mann wie Bismarck bei seinen Diners und Bierabenden auch der
geistigen Verflachung verfiel? Oder ein Mann wie Treitschke? Sicherlich nicht.
Eines schickt sich nicht für alle. Sehe jeder, wo er bleibe.
Jawohl, erwiderte er, und wer steht, daß er nicht falle. Am ausgleiten siud
Sie schon. Wie können Sie auf Bismarck exemplifizieren? Der war Minister und
ein Jahrhuudertmeusch, wie es zur Zeit sicher keinen zweiten giebt. Und Treitschke?
Der war taub, und mit ihm mußte man sich, wenn man neben ihm saß, schriftlich
unterhalten. Das ist mir selbst ein paarmal passiert. Er gab einem dann einen
Block und einen Bleistift, und was man ihm zu sagen hatte, mußte man aufschreiben.
Das war ein sehr gutes Gegengift gegen oberflächliches Geschwätz. Schriftlich sieht
ein Gemeinplatz, wie Sie ihn im Gespräch mit ganz gescheiten Leuten hören können,
gar zu dumm aus. Vou Treitschke hatte man immer etwas. Er war überdies,
eine Persönlichkeit, ein Charakter. Aber das sind doch nicht die Durchschnitts¬
menschen unsrer konventionellen Gesellschaften, nicht einmal die unsrer ersten, vor¬
nehmsten, gebildetsten Kreise. Von den dreißig Herren, mit denen wir gestern ge¬
gessen haben, werden neunundzwanzig, glaube ich, jederzeit eiuen sogenannten soliden
Skat jedem Versuche vorziehn, sie zu einem ernsthaften Gespräche zu engagieren,
wie wir es heute geführt haben.
Ja, das beweist aber nichts, sagte ich. Skat ist doch wirklich ein sehr amü¬
santes Spiel, und es gehört auch Verstand dazu.
Amüsant, ja, aber doch bloß ein Spiel, unterbrach er mich. Ich spiele nur
noch Skat mit meinen Nichten um Nüsse. Und wissen Sie denn nicht, daß ein
sonst ganz dummer Kerl ein ausgezeichneter Skatspieler sein, und umgekehrt ein
geistreicher Gelehrter seineu Grand mit Vieren mit Glanz verlieren kann? Skat
ist amüsant und zieht die Gedanken von andern ernsthaften Sorgen ab, das ist
wahr. Aber Kartenspiel ist der Tod der Geselligkeit. Gehn Sie mir mit
Ihrem Skat!
Erlauben Sie — wollte ich sagen. Da rief er: Ich bitte um Entschuldigung,
da kommt meine Elektrische. Adieu! und weg war er über die Straße. Ein
wunderlicher Heiliger, und ein eloi'ivuZ iri'sg'nun-is, wie er in keinem Buche steht.
elches auch die Motive des russischen Manifestes, das die Haager
Abrüstungskonferenz von 1899 einleitete, gewesen sein mögen,
der eine Mangel stand ihm auf der Stirn geschrieben, daß es
den wirklichen Triebkräften der heutigen europäischen Politik zu
wenig Rechnung trug. Daß alle Regierungen Europas offiziell
von Friedensliebe beseelt sind, wissen wir längst aus den mit schematischer
Einförmigkeit wiederkehrenden Erklärungen, die einen Teil aller Thronreden und
weler andern Reden der Staatshänpter ausmachen. In dieser Hinsicht konnte
die Erklärung des Zaren als Ersatz für die im Zarenreich mangelnde Gelegenheit,
Thronreden 'zu halten, gelten. Aber ebenso bekannt war es, daß der Vorschlag
einer allgemeinen Abrüstung oder auch nur Beschränkung weiterer Rüstungen auf
Grund eines Konferenzbeschlusses heute aussichtslos war. Das Manifest hatte
etwas jugendlich Sanguiuischcs, wie die Verkündigung eines neuen Evange¬
liums. Aber ihm fehlte auch nach andrer Seite hin die Klarheit und scharfe
Begrenzung, indem es sich nicht nur jenes zu weite Ziel steckte, sondern anch
zu weite Beteiligung in Anspruch nahm, also falsche Mittel anwandte. Wenn
und soweit es sich wirklich um Entlastung Europas vou den übermäßigen
Rüstungen handelte, konnten doch wohl nur die Staaten in Betracht kommen,
die eben schwer belastet waren, und die durch die Rüstungen andrer zur Ver-
'mehrung der eignen Kriegsstärke genötigt wurde». Solche Staaten waren und
sind die heutigen Großmächte; was aber hatten Bulgarien. Portugal, Belgien,
die Niederlande und viele andre mit Abrüstung zu thun, deren Rüstungen
ganz freiwillig sind, weil niemand sie bedroht, oder ganz unbedeutend, well
"und die schwerste Rüstung zwecklos wäre gegenüber den Streitkräften einer
Großmacht? Was sollten die Schweiz oder Belgien. Holland. Dänemark ab¬
rüsten, da sie für heutige Verhältnisse im Effekt eigentlich gar nicht gerüstet
sind oder jederzeit ruhig abrüsten können ohne unmittelbare Gefahr für steh
oder für den Frieden Europas? Diese Abrüstungsfrage geht eben nur die
großen Kriegsmächte an, die allein die großen Rüstungen veranlassen, und von
denen allein deren Verringerung oder eine Begrenzung für die Zukunft abhängt.
Die kleinern Staaten, Spanien, Schweden, Rumänien nicht ausgenommen,
werden sich gewiß nicht mit Kriegsheeren überlasten, wenn die großen Nachbarn
abrüsten. Diese Frage gehörte nicht vor ein Forum, das etwas von einer
Volksversammlung hatte, sondern vor eine Konferenz von Vertretern der Gro߬
mächte, und eine solche Konferenz Hütte vorher diplomatisch sorgfältig eingeleitet
sein müssen, dann hätte sie vielleicht zu einem praktischen Ziele gelangen können.
Oder Rußland hätte einfach mit gutem Beispiel vorangehn und abrüsten sollen,
wozu es, falls es keine aggressive, sondern bloß friedlich defensive Politik treiben
will, sehr wohl in der Lage ist. Ein friedlich-freudiges „Uff!" Hütte ihm ge¬
antwortet, und seine getreuen Unterthanen Hütten ihm gedankt. Oder endlich,
die kontinentalen Mächte, um deren Abrüstung es sich doch allein handelte,
hätten sich vor allem zu einer eventuellen bewaffneten Neutralität zur See
nach dem Muster von 1780 zusammenthun und endlich einem geordneten
Seerecht zum Leben verhelfen können, woraus sich dann vielleicht eine Erleich¬
terung der Rüstungen zu Lande als Korrelat ergeben hätte. Die andern Dinge,
die im Haag vorlagen, haben auch nicht eben dadurch gewonnen, daß sie mehr
in parlamentarischer als in staatsmünnischer Weise behandelt wurden. Und
wollte man sich der schönen Hoffnung hingeben, daß im Haag der Grund gelegt
wurde für ein künftiges europäisches Staatenpalaver, so ist man doch zu der
Einschränkung genötigt, daß auch hierfür der Kreis zu weit gezogen war.
Wenn es sich um die Einstellung der Weltrüstungen handelt, so sind bisher
immer die Landheere gemeint gewesen mit ihren Millionenziffern. Überlastet
können erscheinen Nußland, Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich. Es
war von Hause aus nicht verständlich, was England mit dieser Frage zu schaffen
hat, das von seinem Landheer doch sicher nicht überlastet wird, und dem es
ohne Zweifel weit lieber ist, wenn sich die Kontinentalmächte in Landheeren
erschöpfen, als wenn sie statt dessen Mittel gewinnen, ihre Flotten zu ver¬
mehren. In dieser Frage der Abrüstung oder Einstellung weiterer Rüstungen
waren die Mittel- und Kleinstaaten Europas — vou nichteuropüischen Staaten
ganz abgesehen — auf einer Konferenz unnütz und hinderlich, England aber
trotz aller schönen Worte prinzipiell feindlich. Es kann in dieser Sache nicht
mit dem Kontinent gehn und kann noch weniger mit ihm gehn, wenn es sich
etwa um internationale Regelung zur See, um Zügelung der maritimen Kriegs¬
rüstungen handelte. Und was hat denn England auch von den übrigen Gegen¬
stünden der Haager Abrüstungskonferenz, die sich in eine Friedenskonferenz
umwandelte, da niemand abrüsten wollte, angenommen? Nachdem die Unter¬
schriften der beteiligten Staaten im Haag eingelaufen waren, stellte sich nach
den Berichten der Tagespresse folgendes heraus: Den Vertrag über die
Schlichtung internationaler Verwicklungen auf friedlichem Wege hat unter den
sechsundzwanzig beteiligten Staaten auch England ohne Vorbehalt angenommen.
Was aber damit gemeint war, hat mit unübertrefflicher Klarheit der inzwischen
vorbereitete und ausgeführte Überfall in Südafrika gezeigt, denn hier erklärte
England jeglichen friedlichen Weg, der nicht zu der gewünschten Unterwerfung
der beiden Republiken führte, für ungangbar. Dieser Punkt 1 also war für
England von Haus aus inhaltslos. Den Punkt 2, der die Revision der
Gebräuche im Landkriege betrifft, nahm England an und änderte zugleich
seine alten, wenig humanen Gebräuche im Kriege gegen die Buren durchaus
nicht; dieser Punkt bleibt also auch nur auf dem Papier. Von den vier
übrigen, auf Milderung der Gebräuche im Land- und Seekrieg zielenden Punkten
nahm England einen, aber nicht bedingungslos wie die beiden ersten, sondern
nur unter Vorbehalt und drei gar nicht an. Hiernach ist doch wohl als
Summe zu ziehn, daß England von irgend welcher Normierung im Gebrauch
von Kriegsmitteln, von internationaler Vereinbarung auf den? Gebiete des
Krieges nichts wissen will. .Am wenigsten wird es sich je ohne Zwang herbei¬
lassen, dem von deutscher Seite geäußerten Wunsche nach völkerrechtlicher
Regelung im Seekriege entgegenzukommen. Englands Interessen stimmen längst
nicht mehr genng mit den Interessen der kontinentalen Staaten Europas
überein. daß Europa es für seine innre Ordnung zu Rate ziehen könnte. Es
steht längst außerhalb Europas, und man wird immer einer Täuschung aus¬
gesetzt sein, wenn man fortfährt, England als europäische Großmacht zu be¬
handeln. Es giebt fünf Großmächte in Europa, wenn man die asiatische
Weltmacht Rußland einrechnet, und es giebt zwei außereuropäische Weltmächte:
Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihre eignen,
von Europa wenig abhängigen Wege gehn.
England hat lange mit großer Thatkraft und Klugheit an seiner Unab¬
hängigkeit von Europa gearbeitet. In drei Jahrhunderten hat es sich zur
Weltmacht erhoben, planvoll, zähe, kühn, hart seine Ziele verfolgend. Wenn
^ sich heute mit unverständigen und vielleicht gefährlichem Hochmut seiner
großen Stellung bewußt ist, so hat es immerhin mehr Grund zum Stolz als
die meisten andern Völker. Und wenn es eben jetzt an der Arbeit ist, mit
Mißachtung der Meinung und Empfindung der übrigen Kulturwelt, aber mit
Anstrengung aller Kraft und mit rücksichtsloser Energie den Schlußstein für sein
Weltreich zurecht zu meißeln, so weiß es, daß es sich von Europa losgelöst
hat und zwischen der alten und der neuen Welt seine eigne Welt bildet.
Sein Hauptwachstum füllt in die Zeit seit der zweiten Revolution. Und
es ist beachtenswert, daß seit eben derselben Zeit an die Stelle der alten
monarchischen, gerade in der äußern Politik besonders dominierenden Regierung
des Königs die noch heute geltende Regierung eines nicht mehr bloß vom
Könige, sondern vorwiegend von dem Parlament abhängigen Kabinetts ge¬
treten ist. Indem die beiden großen, aus den bürgerlichen Kämpfen des sieb¬
zehnten Jahrhunderts hervorgetretnen Parteien Wilhelm III. auf den Thron
setzten und sich durch Gesetz (die bill ok rignts) den Einfluß auf die Staats¬
geschäfte sicherten, stärkten sie eine aristokratische Herrschaft, die unter Georg III.
ihre volle Stärke und unter der Königin Viktoria ihre förmliche Ausbildung
erreichte. Nach außen ebenso kriegerisch und unternehmend wie irgend eine
Monarchie oder Demokratie, aber zäher, kühner, klarer, methodischer als die
meisten, findet sie eine Parallele in der neuern Geschichte Europas nur in
der Handelsaristokratie voll Venedig, Die seit dem Emporkommen der Gro߬
industrie mehr merkantile als feudale Aristokratie Englands hat die britische
Weltmacht geschaffen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Weltmacht das
aristokratische Regiment Englands nicht überleben wird; denn wie sich unter
diesem Regiment, nicht unter dem Absolutismus sei es des Fürsten oder der
rohen Masse, die sozialen und staatlichen Kräfte frei entfaltet haben, denen
England seine Größe verdankt, so werden sie untergraben durch jede Über¬
spannung in der Richtung auf eine andre, ob nun demokratische oder pluto-
kratische Jnteressenherrschaft hin.
So bekannt mich die Geschichte Englands im ganzen sein mag, so gewinnt
sie eben jetzt in ihrem äußern Teil wieder ein besondres Interesse insoweit,
als sie die Grundlage der heute so grell hervortretenden Sonderstellung Eng¬
lands gegenüber dem kontinentalen Europa ist, Vou der Entdeckung Amerikas
her datieren alle umfassenden Versuche europäischer Völker, sich in über¬
seeischen Ländern festzusetzen. Aber England war damals weder für Handel
noch für Kolonisation vorbereitet, vielmehr gerade so kontinental abgeschlossen
wie die eigentlichen Kontinentalländer; seine äußern Interessen waren gänzlich
auf das europäische Festland beschränkt. Diese enge Verbindung stammte von
der Zeit her, wo mit dem Tode der Enkelin Wilhelms des Eroberers England
an deren Sohn Heinrich von Anjou kam, der dann seinerseits seinen Besitz in
Frankreich durch Heirat so erweiterte, daß er über mehr als das halbe Frank¬
reich gebot. Aus dynastischen Erbansprüchen flössen dann später die endlosen
Kriege der beiden französischen Dynastien Anjou und Valois, die England bis
in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach außen hin beschäftigten,
während zugleich im Lande selbst ebenso endlose Kämpfe um die Krone zwischen
den Häusern von Aork und Lancaster tobten. Erst unter Elisabeth traten die
maritimen Interessen des Jnsellandes in den Vordergrund durch den Krieg
mit Philipp II. von Spanien und durch die kolonialen Unternehmungen in
Nordamerika und Ostindien.
Es ist fast programmatisch für die fernere politische Handlungsweise Eng¬
lands, wie die ersten großen maritimen und kolonialen Erfolge herbeigeführt
wurden. Den Kampf gegen Spanien führte England Seite an Seite mit
Holland, und aus diesem Kampf gingen beide als die stärksten Seemächte
Europas hervor. Unter den Stuarts wurde die Flotte vernachlässigt, sodaß
die Generalstaaten an die Spitze der Seemächte traten, zugleich mächtig er¬
blühend durch ihre Kolonien und ihren Zwischenhandel. Besonders in Indien
hatten sie große Besitzungen erworben, nachdem sie sich, durch Vertrag im
Jahre 1619 mit England verbunden, gegen die dort herrschenden Portugiesen
gewandt hatten. Cromwell suchte diese Macht durch ein Bündnis an England
zu fesseln, wozu auch der Nntspensionär Jan de Witt bereit war. Aber man
traute in Holland den Engländern nicht und lehnte den Bund ab. Darauf
erfolgte auf englischer Seite der Beschluß, die Macht, die nicht friedlich zu ge¬
winnen war, zu zerstören. Es kam die Navigationsakte von 1651, die den
holländischen Handel so traf, daß die Staaten zum Kriege griffen, der nach
anfänglichen Siegen der Holländer zuletzt zu ihrer Niederlage führte. Nun
war Englands Übergewicht zur See hergestellt, das denn auch von da ab
immer weiter wuchs und sorgsam zur Zerstörung der holländischen Kolonial¬
macht ausgenutzt wurde. Ju dem zweiten Seekriege mit England verloren
die Holländer ihre amerikanische Kolonie Neu-Amsterdam, woraus dann New-
York" entstand, indem sie mitten im Frieden von dort im Jahre 1664 ver¬
trieben wurden und nach beendeten Kriege im Frieden von Breda 1667 nur
eine geringe Entschädigung in Surinam erhielten. Nachdem in dem spanischen
Erbfolgekriege die Flotten von Holland und England nochmals, diesmal gegen
Frankreich, vereinigt gekämpft hatten, wurden die Generalstaaten trotz der von
ihnen gebrachten großen Kriegsopfer im Utrechter Frieden von England im
Stich gelassen. Sie erhielten nichts, England ungeheure Kolonialgebiete und
kommerzielle Vorteile. Holland war politisch bedeutungslos geworden, aber das
Mißtrauen Englands blieb rege, und die noch immer bedeutende holländische
Handelsflotte war unbequem. Als fünf Jahre nach dem Utrechter Frieden
ein Krieg mit Spanien drohte, fürchtete England, daß, wenn Holland neutral
bliebe, es den spanischen Handel während des Krieges an sich reißen könnte.
Es wurde also zum Beitritt in die Quadrupelallinnz von 1718 gezwungen,
und der englische Gesandte in Holland, Cadogcm, wurde instruiert, dafür zu
sorgen, daß Rolland an der englischen Flottcnsendung ins Mittelmeer, wenn
auch nur mit° einem einzigen Kriegsschiffe, teilnehme. Diese Expedition hatte
die Aufgabe, die langen Bemühungen Englands, die spanische Seemacht zu
zerstören, endlich zu Ende zu führen. Unter dem Vorwande, Italien gegen
die Spanier zu schützen, erschien Admiral Byng an der Küste Siziliens und
zerstörte 1718 die spanische Flotte bei Syrakus. In: folgenden Jahre wurde
dann an der spanischen Küste alles vernichtet, was zu einer Erneuerung der
spanischen Seemacht dienlich sein konnte. Spanien war zur See abgethan,
und Holland hatte dazu helfen müssen. Die Folge war für Spanien, daß
von nun an seine gewaltigen Kolonien in Amerika von England in Angrrff
genommen wurden. Es wurde jetzt die Frage, wie M. Carthy sagt, „ob Eng¬
land oder Spanien das Übergewicht in der neuen Welt jenseits des Atlantikum
haben solle."*) Aber noch hatte Holland seine Handelsflotte und seine wert¬
vollen Kolonien in allen Weltteilen. Da wagte Holland im Jahre 1780 der
von Rußland gegen die unerträglich gewordne englische Gewaltherrschaft auf¬
gestellten Neutralitätsakte beizutreten, worauf England ähnlich wie damals,
als Holland die Navigationsakte Cromwells nicht anerkennen wollte, zum
Kriege griff, zweihundert niederländische Kauffahrer und auf Se. Eustatius
holländische Waren für mehr als drei Millionen Pfund wegnahm, noch ehe
dort der Kriegszustand bekannt geworden war. Es folgten die Kriege mit der
französischen Republik, die England Gelegenheit boten, dem von Frankreich zu
einem Bündnis gezwungnen Holland zwischen 1793 und 1797 das Kapland,
Ceylon, die Molukken zu nehmen, 1797 die holländische Flotte bei Camper-
down aufs Haupt zu schlagen und zwei Jahre später den Rest holländischer
Seemacht zu zwingen, sich bei Texel zu ergeben. Auch die Niederlande waren
zur See abgethan.
Unterdessen war Frankreich seit Ludwig XIV. allmählich zur Seemacht
erwachsen, ja es war einige Zeit lang, vor dem spanischen Erbfolgekriege,
nächst Spanien die größte Kolonialmacht. Im Verlauf der Koalitionskriege
aber hatte es mit seinen kontinentalen Gegnern so schwere Arbeit, daß es zur
See den Engländern nicht gewachsen war. England trat schon 1709 so sicher
auf, daß es in dem Haager Präliminarfrieden von 1709 von Frankreich ver¬
langte, es solle auf allen Handel mit Indien verzichten. Ludwig verwarf diese
Präliminarien, aber der Friede von 1713 zwang ihn, England einen Teil
von Kanada, Mädler und Neufundland zu überlasten, und sein spanischer
Enkel Philipp verlor Gibraltar, Menorca und mußte schwere kommerzielle Ver¬
pflichtungen übernehmen, deren eine war, daß England jederzeit in dem spa¬
nischen Westindien einen Kauffahrer haben durfte, der zollfrei handelte; das
war sehr wertvoll, weil dadurch der englische Schmuggelhandel erleichtert
wurde. Seitdem hört das Ringen zwischen Frankreich-Spanien auf der einen,
England auf der andern Seite hundert Jahre lang kaum mehr auf, und das
Hauptziel Englands bleibt immer, die feindliche Seemacht und die feindliche
Kolonialmacht zu zerstören. Dafür sind alle Mittel gut. Im vollen Frieden
wurden im Jahre 1735 dreihundert französische Handelsschiffe mit sechstausend
Mann Besatzung und außerdem zwei Kriegsschiffe weggenommen. Dann brach
1747 der Krieg von neuem los, und Frankreich verlor beim Kap Finisterre
seine Kriegsflotte und infolge davon anch seine Handelsflotte. Kaum hatte es
sich von dem Schlage erholt, so schloß England 1755 einen Subsidienv ertrag
mit Rußland, dann 1756 mit Preußen, um Frankreichs Weltstellung weiter
zu bekämpfen. Denn der siebenjährige Krieg war von feiten Englands im
Vertrag von Westminster als ein Verwüstungskrieg gegen die französische See¬
macht gemeint, den es auf Seite von Preußen so lange führte, bis dieser
Zweck erreicht war, worauf es Friedrich den Großen im Stiche ließ. Die
beiden französischen Flotten von Brest und im Mittelmeer wurden 1759 ver¬
nichtet und die letzten Schiffe in den Häfen versteigert. Der unbeugsame Pitt
hatte sich, als er 1757 zur Leitung gelangte, durch alle Niederlagen in Europa
und Kanada nicht irre machen lassen, und die preußischen Siege waren es,
die England halfen, gegen Frankreich seinen Willen durchzusetzen, wie vorher
Holland ihm zur Entwaffnung Spaniens geholfen hatte. Als Pitt 1761 ge¬
stürzt war, sprang sein Nachfolger Lord Bude sofort auf die gegnerische Seite
über, was Friedrich für alle englische Allianz fernerhin den Geschmack verdarb.
Der Frieden aber kam trotz Butes Bemühen vorläufig noch nicht, vielmehr
erklärte Spanien 1762 wiederum Krieg, und erst das folgende Jahr beendete
diesen für Frankreich unheilvollsten aller bisherigen Kämpfe. Denn es hatte
gegen Preußen seinen militärischen Ruf, gegen England Flotte und Kolonien
verloren.
Der Übermut Englands war durch die großen Erfolge des siebenjährigen
Krieges so gestiegen, daß die Rücksichtslosigkeit seiner Kriegsschiffe gegen den
Handel fremder Völker unerträglich wurde, sodaß Nußland die bewaffnete
Neutralität der Seemächte gegen England ins Leben rief, was wiederum den
Zorn dieser Macht gegen alle reizte, die sich der Neutralität anschlössen oder
dazu Miene machten. So mußte Preußen im Jahre 1781 Rußland um Schutz
bitten für seine Handelsschiffe gegen englische und spanische Kriegsschiffe oder
Kaper, die unter dem Vorwande, nach Kriegskontrebande zu suchen, dem
Preußischen Handel Gewalt anthaten.*) Nußland gab das Versprechen, worauf
erst Preußen wagte, der Neutralitütsakte beizutreten. Dieser Vertrag wurde
dann am 18. Dezember 1800 unter Beitritt von Schweden und Dänemark
erneuert, nachdem die Engländer ass xrojsts rövoltants cis äösxotisinö gefaßt
hatten (a. a. O., S. 295). Und nicht lange vorher hatte Preußen wieder die
Erfahrung gemacht, wie wenig man sich in kontinentalen politischen Ange¬
legenheiten auf England verlassen konnte, eben weil diese Macht schon damals
die kontinentalen Beziehungen nur von seinen maritimen Interessen aus be¬
handelte. Als im Jahre 1791 Preußen im Begriff war, Rußland mit über¬
legner Macht und unter versprochner Beihilfe Englands anzugreifen, wurde
Pitt gestürzt, und statt einer Flotte kam eine englische außerordentliche Ge¬
sandtschaft nach Rußland, die sich mit dieser Macht auseinandersetzte und
Preußen wiederum im Stich ließ. Preußen hat die Folgen in den polnischen
Händeln dann jahrelang gespürt. England geht eben immer die Wege des
augenblicklichen Vorteils, auf denen ein Kontinentalstaat nicht immer gehn
darf, weil er sich nie so vollkommen isolieren kann wie das meernmgürtete
und flottensichre England. Wäre England nicht durch Wasser und Flotte seit
Wilhelm dem Eroberer vor aller fremden Invasion geschützt, so sähe es sich
alsbald gezwungen, seinem politischen Gewebe einen festern, dauerhaftem Auf-
Zug unterzulegen. Aber umgekehrt würde sich auch jede Kontinentalmacht, die
gegen Angriffe auf ihr Land so geschützt wäre wie England, dieselbe Taktik
freien Hand aneignen.
Der Pariser Frieden von 1763 machte England zur größten Kolonial¬
macht der Welt. Durch die Eroberung von ganz Kanada und von Florida
^>n es in den Besitz des ganzen nicht spanischen Kontinents von Nordamerika,
^u Ostindien, wo längre Zeit Holländer mit Engländern, dann beide mit
Franzosen um die Vorherrschaft stritten, verzichtete Frankreich schon 1754 in
dem Vertrage Godehen auf die in langen Kämpfen errungne Stellung zu
Gunsten Englands, worauf dann Clive und Hastings das heutige Niesenreich
von Ostindien zusammenhüinmerten. Frankreich war von der beträchtlichen
Höhe kontinentaler Macht, zu der es sich aufgeschwungen hatte, herabgestürzt
worden. Aber bald darauf bot ihm die Erhebung der nordamerikanischen
Kolonien gegen englische Ausbeutung die Gelegenheit, im Verein mit Spanien
nochmals gegen die britische Gewalt anzustürmen, was den Erfolg hatte, daß
im Versailler Frieden von 1783 nicht weitre koloniale Verluste eintraten; viel¬
mehr kamen Florida und Menorea an Spanien zurück, Tobago an Frankreich.
Freilich kostete der Krieg Frankreich wieder einen Teil seiner Flotte und an
Geld anderthalb Milliarden Franken; aber hatte es auch weder Jamaika noch
Gibraltar den Engländern entreißen können, so war England doch durch den
Verlust der Vereinigten Staaten um ein gutes Stück auf seinen Eroberungs¬
zügen zurückgeworfen worden. Nur zu bald fand es Gelegenheit, nicht nur
den Verlust einzuholen, sondern noch viel Größeres zu erreichen.
(Schluß folgt)
nzwischeu sind mir neuere Nachrichten zugegangen, nach denen
der Kaiser sich für diesen Sommer nach Pawlowsk zurückzieht,
wo er vom Hofe und von den fremden Gesandten vollständig
getrennt ist. Die Gagarin und ihr Mann sind gleichfalls in
Pawlowsk, und die inzwischen vollzogne Verheiratung der
Dame hat an dem Verhältnis, worin sie zum Kaiser steht, nichts geändert.
Es läßt sich absehen, daß dieser nach Temperament und Phantasie liebes¬
bedürftige Monarch von der Kaiserin angewidert ist und immerdar Maitressen
und Günstlinge wird haben müssen. Allein zu diesen Gattungen gehörige
Menschen können über einen Mann Einfluß und Herrschaft gewinnen, der der
Tyrann aller Welt sein will, während er thatsächlich nur der Sklave seiner
Launen ist.
Der Kaiser ist von der Vorstellung seiner Autorität so durchtränkt, daß
er alles aus dem Wege räumt, was als deren Einschränkung angesehen werden
könnte. Demgemäß vermehrt er die Zahl der Zeremonien und Feierlichkeiten,
die ihm Gelegenheit bieten, umgeben von dem Glanz der Majestät öffentlich
zu erscheinen, die Krone aufzusetzen und sich an der Spitze einer glänzenden
und dabei knechtisch ergebner Gefolgschaft zu zeigen. Unaufhörlich werden die
Vorschriften darüber verändert, wie das Publikum Se. Petersburgs sich bei dem
Erscheinen des Kaisers und der Glieder seiner Familie zu verhalten habe. Zeigt er
sich in den Straßen seiner Haupt- und Residenzstadt, so bleibt alles unbeweglich
stehn — natürlich die ausgenommen, die (ohne jede Rücksicht auf Wind und
Wetter) aus ihren Gefährten steigen müssen, um ihm die Reverenz zu machen.
Allenthalben und zu jeder Zeit wird er von Polizeioffizieren begleitet, die die
verhaften, die die vorgeschriebnen Huldigungsbeweise nicht mit der gehörigen
Raschheit und Pünktlichkeit ausgeführt haben. Rang, Alter und Geschlecht machen
in dieser Beziehung nicht den geringsten Unterschied. Der kleinste Verstoß wird
von ihm als Verletzung der kaiserlichen Würde, wenn nicht als Zeichen einer
Verschwörung angesehen. So ist es vor einiger Zeit vorgekommen, daß die von
einer Schildwache verschuldete Unterlassung des Rufs „Wache heraus" dem
Kaiser für das Anzeichen eines Komplotts galt, und daß der Großfürst, zu dessen
Regiment diese Wache gehörte, sich die entsetzlichsten Vorwürfe hat machen
lassen müssen. Seitdem werden auf den Straßen, die der Kaiser besonders
häufig passiert, Leute mit kräftigen Stimmen als Wachen aufgestellt, die, wenn
das Signal gegeben wird, in wahrhaft entsetzliches Gebrüll ausbrechen. In
einem andern Falle sollte ein Garderegiment aus Se. Petersburg verwiesen
werden, weil zwei Offiziere krankheithalber nicht im Dienst erschienen waren,
und weil der Kaiser dahinter einen geheimen Plan witterte. Es gab darüber
so erregte Auseinandersetzungen zwischen dem Monarchen und dem Großfürsten
Alexander, daß dieser infolge der damit verbundnen Aufregung drei Tage lang
am Fieber daniederlag. Während ich mich noch in Se. Petersburg aufhielt,
hat der Kaiser den Fürsten Galyzin kassiert und das gesamte Regiment „Garde
M Pferde" weggejagt, weil das Beinkleid eines Soldaten gelblicher und der
Säbel gekrümmter war als bei den übrigen. Es kommt vor, daß der Kaiser
w einfachen Schlitten, und ohne daß irgend etwas sein Erscheinen ankündigt,
wie der Blitz angefahren kommt, und daß die Gardeoffiziere, die ihn nicht er¬
kannt und den Ruf „Wache heraus" unterlassen haben, kassiert oder bestraft
werden. Diese Unglücklichen halten zuweilen den ganzen Tag gespannten
Blicks Ausschau, um nicht überrascht zu werden. Auf dem Paradeplatz zeigt
der Kaiser die äußerste Strenge. Bevor er in Gatschina erkrankte, hielt er bei
jedem Wetter und zuweilen bei strengster Kälte Parade ab. Nicht selten sieht
man ihn mit seinem Stock auf Offiziere losschlagen und sie degradieren. Dem
Großfürsten Konstantin hat er in Gatschina einmal den Befehl erteilt, zwei
Grenadieren, die seine Unzufriedenheit erregt hatten, je fünfundzwanzig Streiche
M verabfolgen. Er beschäftigt sich mit allen Einzelheiten des Militär- und
Polizeidienstes. Morgens erhebt er sich vor sechs Uhr, um den General¬
gouvemeur von Pahlen zu empfangen und sich über alle Ab- und Zureisenden,
alle ihm für verdächtig geltenden oder mißliebigen Personen sowie über alle
gesellschaftlichen Vorgänge berichten zu lassen. Um sieben Uhr erscheint Graf
Rostoptschin, der über die auswärtigen Angelegenheiten Bericht erstattet, die
M unterzeichnenden Papiere vorlegt und Befehle wegen der übrigen zu er¬
ledigenden Geschäfte entgegennimmt. Um neun Uhr begiebt sich der Kaiser
zur Parade und zur Erledigung der militärischen Angelegenheiten. Dann
folgen ein Spaziergang (gewöhnlich in Begleitung Kutnissows) und ein Besuch
bei der Maitresse. Unmittelbar nach der Tafel folgen ein abermaliger Spazier¬
gang und ein zweiter Besuch bei der Maitresse, um sechs Uhr ein Besuch bei
der Kaiserin, um sieben Uhr begiebt sich der Kaiser ins Theater, und um
zehn Uhr zieht er sich zurück. Unaufhörlich ist er mit den Einzelheiten des
Militärdienstes beschäftigt, und alltäglich sind die Zeitungen Se. Petersburgs
mit langen Listen abgesetzter und angestellter Offiziere angefüllt. In der ge¬
samten Armee sollen sechzehntausend derartige Veränderungen vorgenommen
worden sein. Die beständige Erregung, in der er aus den angegebnen Gründen
ist, hat ihn dazu gebracht, überall Verdächtige zu wittern, die unschuldigsten und
natürlichsten gesellschaftlichen Vereinigungen für verdächtig anzusehen und die
Teilnehmer sehr hänfig durch die Entziehung seiner Gnade zu bestrafen. Als
er eines Tags eine ungewöhnlich große Anzahl Wagen vor einem englischen
Laden halten sah, erteilte er Herrn von Pcihlen den Befehl, diese „Ansamm¬
lungen," die für die Sicherheit des Staats gefährlich werden konnten, zu über¬
wachen. Die Folge davon ist, daß das früher so glänzende und bewegte Se. Pe¬
tersburg den Eindruck einer in Schrecken erstarrten Stadt macht. Alltäglich erfahrt
man, daß der eine abgesetzt, der andre festgenommen, ein dritter verbannt
worden ist, und zwar aus unbel'anne gebliebner Ursachen. Was irgend zu
Personen in Beziehung steht, die dein Kaiser mißfällig sind, wird aus dem
Wege geräumt. So ist es z. B. der Fürstin T gegangen, die zu dem Grafen
Cobenzl in Beziehung stand: wer sich dem Botschafter nähert, kann sicher sein,
in Ungnade zu fallen. Zur Schümng dieses Haders trügt der Großfürst Kon¬
stantin durch seine Angebereien und beständigen Trat'asserieu noch sehr stark bei.
Für die kaiserliche Familie ist dieser Böses redende und Böses denkende Prinz
eine wahrhafte Plage. Der Kaiser, der zeitweilig von ihm eingenommen war,
weiß gegenwärtig, was von ihm zu halten ist, und hat ihm alles Vertrauen
entzogen.
Nach der vorstehenden, nur allzu getreuen Schilderung wird man sich eine
Vorstellung davon machen können , wie peinlich die Existenz im Innern des
Palmis ist. Brüder und Schwestern wagen kaum einander aufzusuchen und zu
sprechen — noch weniger aber wagt irgend jemand zu schreiben. Wird in ganz
Petersburg doch kein Brief mehr geschrieben, der nicht gelesen und — nur
allzu häufig — falsch ausgelegt würde! Selbst die Prinzessinnen sind In¬
quisitionen solcher Art ausgesetzt. Den Brief, den die Frau Erbprinzessin von
Baden mir für ihre Tochter, die Großfürstin Elisabeth (die Gemahlin des
Großfürsten, spätern Kaisers Alexander I.), übergeben hatte, habe ich nur
mit äußerster Vorsicht an seine Adressatin gelangen lassen können, und niemals
hat sie dieses Schreibens Erwähnung zu thun gewagt.
Merkwürdigerweise und trotz aller angeführten Thatsachen hat der Kaiser
eine Art von guter Laune. Er wirft zuweilen mit Witzworten um sich und
überläßt sich unter Umständen einer Heiterkeit, wie sie sonst nur bei Leuten
Vorkommt, die kein Arg haben. Man möchte glauben, er sei früher sehr glück¬
lich gewesen. Wußte er doch, daß seine Kinder, und namentlich seine Töchter,
eine Erziehung erhielten, deren Sorgfältigkeit der Kaiserin alle Ehre machte.
Heute besteht diese Intimität nicht mehr, und zu deu Gründen, aus denen die
Großfürstin Konstantin sich nach Znrst'oje Scio hat begeben müssen, gehörte
n. a. der, daß man sie von ihrer Schwägerin, der Großfürstin Elisabeth,
trennen wollte. So oft immer der Kaiser sich öffentlich zeigt, hat er in seinem
Auftreten und seinen Manieren etwas eigentümlich Aufgeblasenes. Seiner
Meinung nach darf sich ein Kaiser niemals und in nichts wie ein andrer
Mensch betragen. Wo er öffentlich redet, zeigt er in seiner Unterhaltung eine
gewisse Würde (avxröy; er ist dann sehr höflich gegen Personell, die er zum
erstenmale sieht, und zuweilen von einer gewagt erscheinenden Vertraulichkeit.
Fremden, die nicht den geringsten Anspruch auf politische Unterhaltungen mit
ihm hatten, hat er mitunter die wichtigsten Erschließungen mitgeteilt und da¬
durch peinliche Unannehmlichkeiten angerichtet.
Bei Hofe wird eine sehr strenge Etikette beobachtet: es geht — wie der
Kaiser das durchaus will — majestätisch zu. Auf Bällen und Gesellschaften
mich man sorgfältig auf der Hut sein lind vor allem darauf acht geben, ihm
nicht den Rücken zu zeigen. Zwei Kammerherren des Herzogs von Württem¬
berg hat er fortgejagt, weil Prinz Ferdinand, der ihn nicht hatte eintreten
sehen und eben eine Dame zum Tanz aufforderte, ihm (dem Kaiser) den Rücken
zugewandt hatte.
Wo dergleichen Gewaltthätigkeiten, Wunderlichkeiten und mißbräuchliche
Anwendungen einer unbeschränkten Gewalt vorkommen, liegt der Gedanke an
eine Revolution in unvermeidlicher Nähe. Zu einer solchen wäre es denn auch
längst gekommen, wenn der Großfürst Alexander einen minder sanftmütigen
und gefügigen Charakter hätte. Dieser allgemein beliebte Prinz brauchte nur
ein Wort zu feigen, nnr eine Bewegung zu machen, und sein Vater wäre ver¬
loren. In seiner gesamten Umgebung ist übrigens kein einziger Mann von
geistiger Bedeutung. Sein Obcrhofmeister, Graf Tolstoi, ist ein Dummkopf,
unter den Personen aber, die ihr Glück an die Person des Kaisers geheftet
und sich als Feinde des Großfürsten gezeigt haben, sind Männer, die so mu-
ni'hängig auftreten wie Kutaissow und Rostoptschin. In einer Angelegenheit,
die seinen Freund, den Grafen Golowin, betraf, hat Rostoptschin den Großfürsten
geradezu beleidigt.
Über den letztgenannten Minister brauche ich mich nicht weiter auszulassen,
da Herr von Sulzer ihn in seiner Denkschrift über Rußland genau und zu¬
treffend charakterisiert hat. Hinzuzufügen habe ich nur, daß Graf Rostoptschin
zusamt seinen Freunden Golowin und Gurjcw entschiedne Gegner der Konlitton
»ut eines Zusammenwirkens mit Österreich ist. Politische Kenntnisse hat er
'"ehe, er behandelt die Geschäfte aber mit einer gewissen boshaften Laune und
mit einer Entschiedenheit, die dem Kaiser gefallen. Er geht davon aus, daß
Rußland sich um die europäischen Händel schlechterdings nicht zu kümmern
brauche und sich damit zu begnügen habe, seinen Nachbarn Respekt einzu¬
flößen. Die Verträge, die er selbst unterzeichnet hat, und die Verbindlichkeiten,
die er auf sich genommen hat, stören ihn dabei so wenig, daß er sie für keines
Gedanken wert hält. Die einzigen Dinge, die für ihn in Betracht kommen,
sind die Aufrechterhaltung seines persönlichen Einflusses und die Vergrößerung
seines Vermögens.
Je länger es dauert, desto schwieriger wird es, neben einem Vulkan, wie
der Kaiser es ist, eine Stellung zu behaupten. Ich glaube darum, daß
Rostoptschin nur der Gelegenheit zu einem ehrenvollen Rückzüge harrt, um da¬
durch dem Sturm zu entgehn, der früher oder später ausbrechen müßte.*)
Im Gegensatz zu Rostoptschin ist Graf Parm ein systematischer Kopf und
dabei ein Mann von Ehr- und Zartgefühl, der hinter kühlen Formen einen
sehr liebenswürdigen Charakter verbirgt. Zu seinem Leidweisen sieht dieser
Staatsmann, daß Rußland im Begriff ist, sein Ansehen und seinen politischen
Kredit dadurch einzubüßen, daß es seine Verpflichtungen nicht einhält, seine
getreusten Verbündeten preisgiebt und inmitten von Ereignissen, die System
und Konsequenz erfordern, springend und stoßweise vorgeht. Graf Parm ist
ein Anhänger der Koalition und eines engen Verhältnisses zu Preußen. Da
er ein großer Arbeiter ist und tüchtige Kenntnisse hat, da seine Redlichkeit un¬
anfechtbar dasteht, und da er außerdem hohen persönlichen Ansehens genießt,
übt er einen sozusagen passiven Einfluß aus, der sich in den kleinen Ange¬
legenheiten seines Departements geltend macht. Mit dem Kaiser kommt er
nicht in Berührung, und alle Geschäfte gehn durch die Hände Rostoptschins.
Der neue, an die Stelle Bekleschows getretne Generalprokureur Obelja-
ninow'^) ist mir nicht bekannt. Er ist ein Emporkömmling, von dem man be¬
hauptet, daß er nicht ohne Verdienst sei. . . . Fürst Gagarin, der Schwieger¬
vater der kaiserlichen Geliebten, ist Handelsminister, hat Urteilsfähigkeit und
tüchtige Kenntnisse und hat einen neuen Zolltarif erlassen, der an die Stelle
des unzweckmäßigen und ohne jede Rücksicht auf die Interessen Rußlands er¬
lassenen alten Tarifs getreten ist. . . .
In den innern Angelegenheiten des Hoff ist der Oberhofmarschnll Narijschkin
nicht ohne Einfluß. Der Kaiser ist an ihn gewöhnt, und er kann ihn jeder¬
zeit sehen; als Mann von niedrigem Charakter ist er dabei von einer Schmieg¬
samkeit, die Anstöße bei dem Monarchen und dem Günstling ausschließt.
Neuerdings hat der Kaiser den Grafen Strogonow mehrfach ausgezeichnet,
einen Mann, der niemals mehr als Hofmann sein wird. Eines gewissen An¬
sehens erfreuen sich auch die Koschelew und die Kutusow — zu denen noch
einige andre Familien kommen, die sich wegen der großen Zahl ihrer Mit¬
glieder und der Vielfältigkeit ihrer Beziehungen geltend machen.
Von den hiesigen Vertretern der Höfe des Auslands übt keiner einen in
Betracht kommenden Einfluß. Mit hierorts geführten Verhandlungen hat der
neapolitanische Gesandte, Herzog von Serra Capriola, das meiste Glück gehabt.
Er ist ein gewandter und gefälliger Herr, der das Terrain kennt und durch
seiue Heirat mit einer Fürstin Wjäsemski in Verbindungen getreten ist, die er
auszunutzen weiß. Dabei macht er ein angenehmes Haus — beiläufig bemerkt
das einzige, das gegenwärtig ein Sammelplatz für die Fremden ist. — Den
großen Kredit, den Whitworth — der Nachfolger Fitzherberts und Lord Males-
burys — bei dem Kaiser hatte, hat er seit der Expedition nach Holland und
durch den allgemeinen Gang der politischen Angelegenheiten wieder eingebüßt.
Hat man ihm Vertrauen einzuflößen vermocht, so ist er der liebenswürdigste
und entgegenkommendste Mann, mit dem man zu thun haben kann. Nachdem
er in eine Ungnade gefallen war, die nahezu mit der Cobenzls verglichen
werden kann, hat er Rußland verlassen, und zwar ohne daß er und Kapitän
Pophnm sich verabschiedet hätten. Seitdem hat England keinerlei diplomatische
Vertretung in Se. Petersburg. — Der schwedische Gesandte Baron Stedingk
ist ein liebenswürdiger Mann, der trotz seiner schwierigen finanziellen Lage vor¬
trefflich Haus zu halten weiß und sich des besten Rufs aber schlechterdings
keines Einflusses erfreut. — Der dünische Gesandte Baron Blome hat es
neuerdings verstanden, sich mit dem Kaiser ziemlich gut zu stellen; aus Ekel
an dem, was in Se. Petersburg vor sich geht, hat er aber seine Abberufung
beantragt, die nächstens erfolgen soll. Sein Neffe Otto von Blome wird ihn
als Geschäftsträger vertreten, der Gesandte selbst aber die diplomatische Lauf¬
bahn verlassen. Er ist ein vorsichtiger Herr, von wahrhaft liebenswürdigem
und gutem Charakter und als vieljähriger Gesandter in Paris von der dieser
Stadt eigentümlichen Urbanität. Sein Nachfolger wird der Gesandte in Berlin,
Baron Rosenkranz sein, der die Stellung in Se. Petersburg aber nur für
einige Zeit und auf besonders vorteilhafte Bedingungen angenommen hat,
übrigens liebenswürdig, thätig und im Besitz aller für seine Stellung erforder¬
lichen Eigenschaften sein soll.
Über den Grafen Cobenzl brauche ich nichts weiter zu sagen, und ebenso
wenig über den portugiesischen Minister Ritter Herta, mit dem der Kaiser seit
seiner Thronbesteigung noch nicht gesprochen hat. Im allgemeinen ist das diplo¬
matische Korps gut zusammengesetzt; auf die Dauer wird seinen Mitgliedern der
Aufenthalt in Se. Petersburg aber unerträglich gemacht und vielleicht gar eine
gemeinsame Entschließung aufgedrängt werden, um dadurch dem gegenwärtigen
Zustande eine Änderung oder das Ende zu bereiten. Die Art, wie die Mit¬
glieder des diplomatischen Korps behandelt werden, und die bestündige Ver¬
letzung der ersten Grundsätze des Völkerrechts gehn so weit, daß man seinen
Kurieren Pässe verweigert, den Diplomaten den Verkehr mit mißliebigen
Kollegen untersagt, oder daß man sie wie Verschwörer über die Grenze be¬
fördert. Dazu kommen die geringe Berücksichtigung, die man diesem Korps
bei Hofe zu teil werden küßt, wo man es den ganzen Winter über empfangen
hat, ohne daß sich der Kaiser — wie das herkömmlich ist — im Cercle gezeigt
hätte, und die Unmöglichkeit, mit den Russen zu verkehren, deren Thüren
sämtlich geschlossen sind.
Da sich der Kaiser nach Pawlowsk zurückgezogen hat, wird dem diplo¬
matischen Korps während dieses Sommers der Zwang erspart bleiben, der ihm
während des vorigen Jahres auferlegt worden war. Damals waren die aus¬
wärtigen Vertreter genötigt, aller Augenblicke in großer Gala weite Fahrten
zu unternehmen und Zeremonien beizuwohnen, die sich unaufhörlich wieder¬
holten. Die Vereinsamung, zu der der Kaiser sich gegenwärtig verurteilt hat,
erspart dem diplomatischen Korps diese Belästigungen. Wie lange das alles
dauern wird, vermag jedoch niemand vorauszuberechnen.
in vorjährigen 40. Heft schreibt Herr Th. Stachle in Detmold:
„Die Frau muß der Familie zurückgegeben werden — unter
dieser Losung veranstaltet der Herr Minister für Handel und
Gewerbe eine Statistik über die Beschäftigung verheirateter
Arbeiterinnen in Fabriken. Man will damit Material sammeln,
um festzustellen, ob es angängig sei, die Beschäftigung verheirateter Arbeite¬
rinnen in Fabriken überhaupt zu untersagen." Er berichtet über die Verhält¬
nisse der Frauen, die in seiner lithographischen Anstalt arbeiten, und zeigt,
einmal, daß in vielen Fällen die Arbeit der Frau außer dem Hause kein
sonderliches Übel ist, sodann, daß vielen Frauen, wenn sie leben »vollen, nichts
andres übrig bleibt, als in der Fabrik zu arbeiten, und sagt zum Schluß:
„Hoffentlich werden es die Herren am grünen Tisch verstehn, die Statistik zu
lesen, und werden begreifen, daß, ehe sie der Frau die Erwerbsmöglichkeit
nehmen, sie ihr die Ernührungsmöglichkeit geben müssen"; das nächste, was
der Staat in der Sache thun könne und solle, sei, daß er gewissenlose lieder¬
liche Männer zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Familie anhalte. Man
könnte nun freilich einwenden, daß die Liederlichkeit bei den Männern des
Arbeiterstandes nicht so um sich greifen würde, wenn sie nicht wüßten, daß
die Frauen Gelegenheit zum Erwerb finden; ist doch manche Frau ein so gutes
dummes Arbeitstier, daß sie sich zu Tode rackert, um auch noch den lieder¬
lichen Mann durchzufüttern. Im Altertum und im Mittelalter ist den Männern
gar uicht einmal der Gedanke gekommen, der Frau den Broterwerb aufzubürden,
und im Orient denkt auch heute noch kein Mann daran. Aber freilich, der
Staat kann die wirtschaftliche Entwicklung, auf der bei uns die Möglichkeit
des Frauenerwerbs beruht, nicht rückgängig machen, und verböte er die Arbeit
in der Fabrik, so würden die Frauen ebeu andre Erwerbsarten, die nicht
schöner sind, suchen und finden. Es ist auch nicht die moderne Jndustrie
allein, was die Erwerbsarbeit der Frauen allgemein macht; nicht wenig trägt
die Freiheit der europäischen Frau und die Idee der Gleichberechtigung dazu
bei. Wenn es die Frauen als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen, über den
Büchern verkümmern oder tagelöhnernd Münnerarbcit verrichten zu dürfen und
statt sich vom Mann ernähren zu lassen, selbst einen Mann zu ernähren, so
wird der Staat nicht viel dagegen thun köunen.
Die Betrachtungen des Herrn Stachle haben nnn eine süddeutsche Fabri¬
kantenfrau angeregt, ihr volles Herz auszuschütten und uns ihre eignen reichen
Erfahrungen mitzuteilen; sie hat ihren langen Brief nicht für den Druck ge¬
schrieben, ' aber da er als Ergebnis unmittelbarster und reifster Lebenserfahrung
mehr wert ist als eine gelehrte Prvfessorenarbcit, so drucken wir ihn mit un¬
wesentlichen Auslassungen und Änderungen vollständig ab.
Die Dame erklärt, daß auch sie es für ein Unglück halten würde, wenn
den Frauen die Fabrikarbeit verboten würde, und fährt dann fort: Ich habe
viel Gelegenheit gehabt und gesucht mit den Arbeiterfraueu in nähere Be¬
rührung zu kommen; wir selbst besitzen eine Nühseidenfabrik, anch sind hier
am Ort große Spinnereien und Webereien, deren Maschinen ebenfalls fast
ausschließlich von weiblichen Händen bedient werden. Ich suchte zu erforschen,
wo die Ursache des oft großen Elends liege. Am schlechten Lohne und an der
Teuerung der Nahrungsmittel und der Wohnungen kann es hier eigentlich
nicht liegen. Es ist nur mehrmals möglich gewesen, einen gründlichen Ein¬
blick in Ärbeiterehen zu bekommen, und ich bin öfters in der Lage gewesen,
so gut es ging für den Augenblick zu raten und zu helfen. Meine Meinung
ist: Wenn'alle Männer gleichmäßig arbeitsam, haushälterisch, nüchtern und
gewissenhaft wären, von großer Selbstbeherrschung, erfüllt von dem Bewußt¬
sein ihrer ernsten Pflichten der Familie gegenüber, dann wäre es Barbarei,
die Frau dieser edeln Gemeinschaft und ihrem Pflichtenkreis im Hause zu ent¬
zieh». Dann würde der Mann stramm schaffen, die Fran zu Hause sitzen,
mit Nähen und der sorgfältigen Erziehung ihrer Jugend beschäftigt, darauf
bedacht, zusammen zu halten, was der Mann erwirbt, in Liebe ihrem Mann
Unterthan, geborgen unter seinem Schutz. Ich frage Sie, wo lebt dieses
Ideal, und wann wird es sich erfüllen? Ein Minister, der ein so unpraktisches
Gesetz erlassen wollte, müßte dafür bürgen, daß jeder Familienvater die Er¬
füllung des Ideals eines solchen wäre.
Mein Gott, wie traurig ist dagegen die Wirklichkeit! Was treibt dre
Frauen vou deu Kindern? Die Not, die furchtbare Notwendigkeit. Kommt
die Not nur von den schlechten Löhnen der Männer oder von dem Mangel
an Arbeitgelegenheit für sie? Nein, in neun Fällen von zehn vom Gegen¬
teil! Hiev verdient ein Tagelöhner und Maurer beim Uferbau oft 4 Mark
den Tag, genug, gut zu leben mit einer großen Familie, und die Frau geht
in die Fabrik; trotzdem hat die Familie Schulden, wird vom Hauswirt an die
Luft gesetzt, gepfändet bis zum äußersten, und warum? Weil der Mann ein
Lump ist, der von dein ganzen Betrag des großen (für ihn zu reichlichen)
Wochenlohns nicht den vierten Teil der Frau giebt. Glauben Sie, es giebt
hier manche Familie, wo der Mann kaum den Hauszins zahlt, alles übrige
Geld verbraucht er für sich. Ich habe nun dreimal den Fall erlebt, daß mir
die Frau selbst oder der Hauswirt sagte: „Es ist da nichts zu machen; seitdem
der Flaschenbierhandel im Kleinverkauf so überHand genommen hat — in
jedem zweiten Hause ist jetzt hier eine solche Verkaufsstelle zu finden —, gehn die
Leute gar nicht mehr erst ins Wirtshaus, sie betrinken sich zu Hause." In dem
einen Fall betrug die Vierrechnung mehr als den ganzen Ertrag des Zahltags
des Mannes. Seit der Lohn des männlichen Arbeiters gewachsen ist, sind
seine persönlichen Bedürfnisse, besonders in Bezug auf Biergenuß ins unge¬
messene gestiegen. Die vorhin genannte Familie bestand, als ich ihr näher
trat, aus der Mutter des Mannes, der Frau, dem Manne und drei Kindern
im Alter von fünf bis nenn Jahren. Der Mann war dreimal durchgebrannt.
Immer im Frühjahr geht er lumpen, das heißt, er läßt seine Familie im Stich,
sucht auswärts Arbeit und verdient oft 4 Mark am Tag. Geld schickt er nicht
heim, soudern ehe er durchbrennt, macht er Schulden Die Frau ist der
bittersten Not und der Grobheit des Hauswirth preisgegeben. Diese Frau
geht regelmäßig in die Fabrik und schafft im Akkord, sie Schindel sich ab; so
lange der Mann fort ist, geht das Leben glatt, die alte Frau hält Haus und
hütet die Kinder, neue Schulden werden nicht gemacht, aber Abzahlung der
alten, die freilich kaum möglich ist, wird verlangt. Nun kommt „Er" zurück,
und jedesmal sinkt die Familie eine Stufe tiefer; noch hält die Frau die Fa¬
milie, aber wo bleibt bei dem Beispiel die Erziehungsmöglichkeit der Kinder?
Ich habe der Frau natürlich zur Scheidung geraten, habe mit dem Ober¬
amtmann und dem Brodgeber der Fran gesprochen. Man muß aber diese
Frauen kennen, sie hängen treu an ihren Männern, auch wenn diese Lumpen
sind; sie können und wollen sie nicht entbehren und ziehn oft die Not mit
ihnen der Sicherheit ohne Mann vor; sie lassen sich sofort von dem Heim¬
gekehrten beschwatzen, auch wenn sie vorher noch so sehr geschädigt und durch
ihn in Not geraten sind; sobald er ihnen ein bischen schön thut — und das
wird den Lumpen ja meist gar nicht schwer —, ist alles vergessen. Herr
Stachle hat völlig recht, solche Männer gehören ins Arbeitshaus, von Gesetzes
wegen, aber ohne Antrag der Frau, denn diese Frauen fürchten und lieben
ihre Männer, trotz allem. Man glaubt ja nicht, was solche armen Weiber
alles aushalten, es ist himmelschreiend, und jedes Jahr bringen sie wieder ein
Kind zur Welt, auch wenn sie sich längst die Schwindsucht angeelendet haben.
Vor dem Erlaß des Gesetzes wäre noch die Frage zu beantworten: Wann
ist eine Frau von der Arbeit auszuschließen? Sobald sie Mutter ist, oder so¬
bald sie standesamtlich getraut ist? Im ersten Fall dürfte man bald die Fa¬
briken schließen müssen, die auf Frauenarbeit angewiesen sind; ich habe keine
Statistik zur Hand, aber das weiß ich: Die Zahl der Mädchen mit Kindern
ist sehr groß. Sie geben die Kinder den alten Eltern daheim oder in Kost,
geben ihre Stellung als Dienstmädchen usw. auf und gehn zur Fabrik, weil
sie allein gezwungen sind, das Kind zu ernähren. Denn wieviel von den
Verlassenen haben den Mut und das Geld, den Verführer oder frühern Schatz
auf Alimentation zu verklagen? Das paßt mehr in höhere Kreise, Arbeite¬
rinnen thun das selten; allenfalls dann, wenn „Er" ein .Herr ist. Nun also,
was sollen solche Verlassenen mit ihren Kindern anfangen ohne Ernährungs¬
möglichkeit? Gehn sie in die Fabrik, so können sie doch morgens, mittags
und abends daheim sein; ist ihnen die Fabrik verschlossen, so müssen sie in Dienst
gehn, verdienen wenig und sind ganz von dem Kinde getrennt. Ich gehöre
nicht zu denen, die über Unmoralitüt schreien, wenn Mädchen uneheliche Kinder
haben, weil ich weiß, wie schwer es für vermögenslose Menschen ist, zu hei¬
raten. Heiraten kostet Geld, daraufhin wird von Bursch und Mädchen gespart,
bis es wenigstens zu Bett, Tisch und Stuhl langt, und derweil „gehn sie zu¬
sammen." Sie siud dann nicht wie unsre höhern Töchtern von sorglichen
Müttern behütet, und die Burschen wollen keine platonische Liebe, da lassen
sich die Mädchen in ihrer Dummheit leicht bethören.
Oftmals hält dann das Verlöbnis nicht so lange, bis das Geld zum
Heiraten reicht. Der Bursch verduftet, weil die Sache keinen Reiz mehr für
ihn hat, und das dumme Mädchen hat allein den Schaden davon. Darin liegt
ja mich eine große Ungerechtigkeit gegen die Frau, die die Minister veranlassen
könnte, Statistiker zu sammeln und Gesetze zu überdenken. Wieviel Mädchen,
die heiraten, bringen schon ein Kind mit? O, das geschieht oft bei den Bravsten
und Tüchtigsten, ich habe da Aussprüche von Arbeitermüttern gehört und An¬
sichten in dieser Richtung, daß mir der Verstand still stand. Man darf eben
da nicht unsre Moralbegriffe als Maßstab nehmen, sondern man muß suchen,
in die Begriffswelt dieser Kreise einzudringen. Oder aber man will also das
Mädchen mit Kind nicht von der Arbeit ausschließen, nur die verheiratete
Frau! So begeht man eine furchtbare Ungerechtigkeit, und die wird sich
rächen, denn dann werden die wilden Ehen mehr und mehr um sich greifen;
ohne Heirat verdienen beide, Mann und Frau, die alte Mutter hütet die
Kinder, oder man giebt sie in Kost; mit der Heirat verliert die Frau die Er¬
werbsmöglichkeit. Und dann kann ja auch der Fall eintreten, daß der Mann
seine Pflicht an der Familie nicht erfüllt, oder daß er Invalid wird im Beruf
(die kleine Rentensumme reicht dann nicht aus), oder daß er die Schwindsucht
hat, was auch häufig vorkommt; auch kommt es vor, daß er ein Hausgewerbe
betreibt, das ihm erlaubt, die Aufsicht über die Kinder zu führen. Wenn die
Fran nicht mit verdient, so reicht der Lohn eines braven, fleißigen Arbeiters
gerade knapp zur Ernährung einer vielköpfigen Familie, und zwar nur dann,
wenn beide fleißig und sparsam sind, aber wie selten treffen alle diese Be¬
dingungen zusammen! Und dann, die Spannkraft hat ihre Grenzen; wer darf
sich wundern, wenn Frauen, die sieben, acht, oft zehn Kinder zu tragen gehabt
und die Not mit jedem haben wachse» sehen, zuletzt nachlässig werden und
mutlos den Kampf gegen das Elend aufgeben, besonders wenn der Mann ein
Lump ist oder doch für sich selbst mehr braucht, als er der ganzen Familie
abgiebt? Wie manche Frau hat sich und ihre Kinderschar vor Verelendung
gerettet, indem sie in die Fabrik ging oder eine Maschine ins Haus bekam.
Hier bewerben sich viele Frauen oft lange und inbrünstig um solche Maschinen
im Haus. Das bedeutet dann aber noch lange nicht, daß solche Frauen ihren
Familien dann mehr sein können; im Gegenteil, die Fabrik zwingt sie und
garantiert, bei uns wenigstens, den verheirateten Frauen mittags eine Rast
von elf bis ein Uhr, die sie zum Kochen und Arbeiten daheim verwenden
können, die Maschine daheim kennt keine Ruh, da muß das älteste Mädchen,
meist ein „mitgebrachtes," vom siebenten Jahre an putzen, waschen, kochen,
Kinder versorgen, und die Mutter schafft an der Maschine im Akkord, vom
frühen Morgen bis zur sinkenden Nacht. Haben Sie schon einmal vom „Knopf¬
aufnähen" gehört, für Knopffabriken? Da sitzen oft Mütter mit Kindern
jeden Alters bis in die sinkende Nacht hinein, und der Lohn ist gerade recht
zum verhungern.
Ich frage, was haben solche Kinder davon, daß ihre Mütter daheim sind?
Also soll man solchen Müttern lieber die Fabrik lassen und Sorge tragen, daß
die Kinder unter nützliche Aufsicht kommen. O da ließen sich Bücher schreiben
über das Elend in Arbeiterkreisen! Das ist kein Elend, das einzelne Personen
oder Kreise verschuldet hätten; es ist auch kein eingebildetes Elend, das sich
wegleugnen oder wegdisputieren ließe; es ist eben das Elend der gesamten
Menschheit, das aus der UnVollkommenheit der Menschennatur entspringt, und
Mann und Weib sind ziemlich in gleichem Grade schuld, nur daß die Arbeiter¬
frau im Durchschnitt etwas mehr wert zu sein scheint als der Mann. Erziehung
des Volks erscheint mir das einzige Mittel zur Hilfe und Abstellung der
größten Schäden. Der Staat will die Frau heimschicken; die geht von selbst,
wenn sie kann, thäte er es lieber mit dem Mann, der im Wirtshaus sitzt!
Ich kann keine Logik und keine Gerechtigkeit darin finden, wenn Sonntags
vom Gesetz geboten wird: Alle Läden haben während der Kirchenzeit zu schließen,
und jeder hat schwere Strafe zu gewärtigen, der während dieser Zeit Geld
einnimmt, und nebenan im Wirtshaus tönt von morgens sieben Uhr an das
Orchestrion und lockt die Arbeiter hinein. Wie oft habe ich mich auf dem
Wege nach der Kirche geärgert, wenn ich an so einem Lokal vorbei mußte,
und morgens um neun Uhr die bctrunlnen Arbeiter heraustorkeln sah und die
Schcmdmusik hörte! Warum darf denn der Wirt Geld nehmen, wenn es andern
Geschäftsleuten verboten ist? Ist denn Gastwirtschaft kein Geschäft? Verkauft
denn der Mann nicht? Aber freilich, die Herren Großbrauer könnten nicht so
viel Einkommensteuer zahlen und so schnell Millionäre werden, wenn sie nicht
diesen Massenkonsum jährlich noch steigern dürften durch Flnschenbierhandel
über die Straße und Musik und Tanz am frühen Sonntagmorgen! Glauben
Sie nur, an diesen zwei Dingen hängt der Ruin mancher Familie. Der Herr
Minister sollte eine Statistik erheben darüber, wieviel Familienväter am Sonntag
Abend den Ertrag einer vierzehntägiger Arbeit im Wirtshaus verthan haben!
Man muß den Jammer kennen in Arbeiterfamilien, den das Bier verschuldet,
wenn man die Wichtigkeit einer Staatshilfe in dieser Richtung schätzen will.
Nun noch einen Punkt! Sind die Mütter in Arbeiterfamilien wirklich
für die Erziehung ihrer Kinder so wichtig und unersetzlich? Sehen Sie, da
scheint mir wieder so ein Stück Idealismus dahinter zu stecken, wie hinter der
Statistikensnmmlung über die verheiratete Fran. (Sonst bin ich sehr für
Idealismus, nur nicht bei Gesetzgebern, da wirkt er bedenklich.) Wie erziehn
Arbeiterfrauen ihre Kinder, gut oder schlecht? Ich meine, das ist ganz indi¬
viduell. So »venig ein jeder Mann dem Ideal eines Familienvaters nahe
kommt, so wenig jede Arbeiterfrau dem einer guten Mutter. Wie viel Frauen,
die nicht in die Fabrik gehn, haben eine unordentliche Haushaltung, schmutzige
und unerzogne Kinder! Wie viel Frauen, die fleißig in die Fabrik gehn und
tüchtig schaffen, haben fleißige, strebsame, wohlgeratne Kinder! Die Fabrik
thut es nicht, wohl aber der seelische Gehalt des einzelnen Menschen. — Darf
ich Ihnen zum Schluß noch meine Wünsche über die „Arbeitermüttcrhilfe"
vortragen? Für alle Mütter, die beim Erwerb helfen müssen, ist es eine
Wohlthat, wenn sie ihre Kinder gut beaufsichtigt wissen, den Tag über; das
gilt nicht nur von der Arbeiterfrau. Es müssen viel Frauen den ganzen Tag
hinterm Ladentisch stehn und verkaufen, und gar manche Frau ist die Seele
des Erwerbs für die Familie, auch wenn sie „nur im Geschäft hilft." Diese
Wohl sehr große Anzahl würde von dem neuen Gesetz nicht berührt, und
dennoch sind anch sie der Familie zum Teil entzogen; die wenigsten von ihnen
sind in der Lage, sich als Vertreterin ein Kinderfräulein zu halten. Könnte
da der Staat nicht etwas sehr wesentliches zur Verbesserung der Volkserziehung
beitragen, indem er Kinderkrippen und Kindergärten errichtete? In unsrer
Nähe ist eine große Aktienfabrik; sie hat aus eignen Mitteln ihren Arbeitern
eine Krippe und Kinderschule errichtet und pflegt und erzieht die Kinder ihrer
Arbeiter gut und billig; ich hatte Gelegenheit, die Einrichtung kennen zu lernen,
und bekam den besten Eindruck vou der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit. Gewiß
ist solche Erziehung nicht das Ideal; eine Mutter sollte wenigstens besser für
die Kleinen sein, aber seien wir ehrlich, in jenen Kreisen ist sie es nicht.
(Auch in unsern nur zu oft nicht!) Die Kinder werden in den Anstalten von
den Pflegeschwestern besser erzogen, mehr an Gehorsam und Reinlichkeit ge¬
wöhnt, als zu Hause. Man denke nur an die Affenliebe der Mutter aus
niederm Stande zu den Kleinen, die es nicht über das Herz bringt, zu strafen
oder zu verbieten, wo es höchst nötig ist;*) ich habe mancher von diesen Müttern
den dringenden Rat gegeben, beizeiten dem Jungen die Höschen zu spannen,
wenn ich sah, wie der Knirps nach seiner'Mutter schlug.
Vielleicht gedeihen dort sogar noch eher die Gefühle der Liebe und des
Respekts für die Eltern in ihren Herzen, als wenn sie von diesen selbst „er¬
zogen" werde,?. Könnte der Staat nicht in jeder Stadt Krippen und Klein-
kindergärten obligatorisch machen und unter seine Kontrolle stellen, mit der
Verpflichtung, die Aufsichtzeit genau mit der Fabrik zu beginne» und zu schließen,
sodaß die Frauen vor der Arbeit die Kinder selbst abliefern und in den jetzt
recht reichlich gemessenen Heimstnnden sie wieder zu sich holen konnten? Jede
Fabrik müßte dann verpflichtet sein, zur Unterhaltung der Krippen und Gärten
in dem Maße beizutragen, wie es der Zahl ihrer weiblichen Arbeiter entspräche,
ähnlich den heutigen Krankenkassen. Nicht jede Fabrik ist groß genug und ge¬
währt so viel Nutzen, daß sie aus eignen Mitteln solche Gründungen machen
kann, und mancher Fabrikant, der es könnte, fühlt die Verpflichtung dazu nicht
in sich, aber bitter notwendig wäre die Organisation des Pflcgewcsens durch
den Staat.
Man muß nur einmal Gelegenheit gehabt haben, Frauen aus dem
Arbeiterstand zu beobachten, die Kostkinder in Pflege bekommen, von Mädchen,
die in die Fabrik gehn, oder Müttern, die vom Heim fort müssen, trotzdem daß
ihre Kinder noch ganz klein sind. Das Herz blutet einem, wenn man diese
ttttfreiwillige Engelmacherei beobachtet. Die Frauen, die Kinder nehmen, thun
es mir, wenn eine zu große Zahl eigner Kinder ihnen das Aufarbeitgehn ver¬
bietet; die Vezahluug ist verhältnismäßig hoch, die Kost dagegen die denkbar
ärmlichste, ich hörte von halbjährigen Kindern, die fast nur Zichorienkaffee mit
einem Tröpfchen Milch bekommen hatten; natürlich starben die meisten; nur
die robustesten werden groß; das geschieht nicht aus Bosheit, sondern aus
Armut. Und es geschieht den Kostkindern nicht, weil sie von der Mutter weg
sind, sondern nur, weil die meisten Arbeitermütter sehr arm sind, und weil sie
von richtiger Kinderpflege keinen Begriff haben; die eignen Kinder sterben in
gleicher Zahl wie die fremden.
Wir haben hier am Ort eine Kleinkinderschule, die von katholischen
Schwestern geleitet wird. An sich ist die Anstalt gut und brauchbar, ich habe
immer vier bis fünf kleine Pensionäre drin, doch ist ihr Mangel der, daß sie
konfessionell ist, lind wenn protestantische Kinderchen hinkommen, die sonst
freundlich geduldet sind, so müssen sie eben einfach die katholischen Andachten
mitmachen, und deshalb meiden viele protestantische Arbeiterinnen die Anstalt.
Dann hat sie den Fehler, daß sie später beginnt als die Fabriken, die Mütter
also die Kleinen nicht selbst abgeben können, sondern auf nachbarliche Hilfe
angewiesen sind. Die Kinder werden viel ins Freie geführt und haben einen
großen Garten zum Spielen, werden auch von den Schwestern gut gezogen,
die Mütter ein bischen mit, denn sie sind gezwungen, ein wenig mehr Zeit
auf Reinlichkeit und Ordnung der Kleider und der Kleinen zu verwenden.
Mein stiller Wunsch für Arbeiter- und Geschäftsfrauen geht also dahin, daß
der Staat Musterkrippen errichtete und leitete, in denen Zöglinge von sechs
Wochen an Aufnahme finden bis zum dritte» Jahre, entweder für einige
Stunden täglich oder in Ganzpension, dann für die drei- bis sechsjährigen
Kinder Kindergärten, und für die sechs- bis vierzehnjährigen Aufsichtsanstalten
für die schulfreien Stunden. Hier könnten die Kinder gärtnern lernen und
mit leichter Haus- und Handarbeit beschäftigt werden, die großen Mädchen
könnten in den Krippen Vorstudien machen, vielleicht obligatorisch ein Jahr
lang, in Behandlung und Pflege kleiner Kinder, die sie dann nur zu gut im
eignen Hause später verwenden könnten. Auf die Weise würde die seelische
Ausbildung der Arbeiterjugend gebessert und praktisches Können vermehrt. Die
Kinder bekämen festern Boden unter die Füße und lernten den Wert und die
Wohlthat eines geregelten Lebens mehr schätzen und lieben, als es ihnen heute
ni Arbeiterfamilien, wie sie gewöhnlich sind, möglich ist. — Das sind so meine
Träume und Wünsche; werden sie von den Gesetzgebern für unerfüllbar erklärt
werden?
le uns die Zeitungen gemeldet haben, bedeutet das Stück „Wenn
wir Toten erwachen" des grimmen Statten Abschied von seinem
Publikum. Darin liegt eine Aufforderung, sein Lebenswerk zu
überblicken. Wäre Ibsen nur ein Theaterdichter wie Blumen-
thnl oder Halbe, so ginge er mich nichts an, denn ich kenne das
Theater nicht und verstehe nichts davon. Aber Ibsen ist ein philosophischer
Dichter. Tausende haben ihre Lebensanschauung ans ihm geschöpft — wenig¬
stens die Lebensanschauung, die sie im Gespräch zum besten geben, wenn auch
glücklicherweise nicht die, nach der sie handeln —, und durch die Pforte, die
er geöffnet hat, ist ein ganzes Heer nordischer Dichter in Deutschland einge¬
brochen und hat die sogenannte Lebensanschauung, die meistens nur eine heil¬
lose Gednnkenverwirrung ist, durch noch mehr Verwirrung vervollständigt und
weiter verbreitet. Unter diesen Umständen fühle ich mich nicht bloß berufen,
sondern einigermaßen verpflichtet, mich auch mit Ibsen, als dem Urheber und
Hanpte einer bei uns herrschenden geistigen Strömung, an dieser Stelle aus¬
einander zu setzen. Ich habe deshalb die Dramen des Mannes, soweit sie
übersetzt sind, und einige seiner Gedichte durchgelesen. Schon ehe ich mit der
Hälfte fertig war, stand mein Urteil fest: Ibsen ist ein wirklicher Dichter, ein
großer Dichter, aber zu den allergrößten gehört er nicht. Fast aller der
Gaben, die den Dichter ausmachen, erfreut er sich in vollem Maße. Er hat
Ideen, hat den Blick für die äußere Gestalt der Dinge und den Blick in die
Tiefen der Menschenseele, er hat Gestaltungskraft und Kombinntionsgabe, von
seiner Virtuosität in der dramatischen Technik gar nicht zu reden, die in jedem
seiner Stücke so auffällig hervortritt, daß sie sogar einem, der vom Theater
rein gar nichts versteht, nicht unbemerkt bleiben kann; mau sieht und fühlt
beim Lesen: das muß auf der Bühne wirken. Eines, was noch zum Wesen
des Dichters gehört, die schone Sprache, kann man ja in der Übersetzung nicht
unmittelbar sehen, aber diese berechtigt wenigstens zu dein Schlüsse, daß es
auch daran nicht fehlt.
Warum nun Ibsen kein Größter geworden ist, will ich zunächst einen
andern sagen lassen. Als mein Urteil schon fest stand, fand ich in der
Lg-durck^ Ksvisv zufällig — dnrch einen Blick in den Index, den ich dem
vorigen Jahrgange beilegen wollte — einen „Max" gezeichneten Aufsatz über
Ibsen, dem ich folgende Stelle entnehme. „Ibsen ist nur ein Titane, nicht
ein Gott. Götter können die Fassung nicht verlieren, Titanen können sie nicht
behalten. Ibsen ist kein ganz Großer, weil er nicht gefaßt bleiben kann. Sein
ganzes Leben lang hat er sich über die Welt geärgert. Das erklärt allerdings
noch nicht, warum wir ihn nicht lieben können. Tolstoi und Nnskin haben
sich ebenfalls immer geärgert, und doch lieben wir sie. Aber diese beiden
lieben die Menschen trotz der Fehler, über die sie sich ärgern, Ibsen haßt sie
wegen ihrer Fehler. Der Mensch, schreibt Dr. Brandes Taine nach, »ist weder
eine Mißgeburt noch ein Ungeheuer, und Aufgabe des Dichters ist es uicht,
die Menschen aufzuwiegeln oder zu beschimpfen. Unsre angeborne menschliche
UnVollkommenheit gehört ebenso zur Weltordnung wie die Abweichung vieler
Blumenblätter von der gewöhnlichen Blattform; was wir für eine Mißgestalt
ansehen, ist eine besondre Form; was uns als Umsturz eines Gesetzes erscheint,
ist die Erfüllung eines andern Gesetzes.« Kurz gesagt: keine oonixrMärg, v'sse
tont xarclonnsr. Wenn Tolstoi, Nuskin und Ibsen wahrhaft große Menschen
gewesen wären, würden sie sich niemals geärgert haben; sie würden inne ge¬
worden sein, daß nur zum Mitleid, nicht zum Ärger Ursachen vorhanden sind.
Aber Tolstoi und Ruskin waren nicht allein ärgerlich, sondern auch mitleidig
und sind deshalb der höchsten Weisheit, die alles versteht und alles verzeiht,
näher gekommen, als Ibsen in seiner wilden Wut. Sympathie, das ist es,
was diesem fehlt. Ans seiner ungeheuern Kraft quillt nie ein Tröpflein süßer
Mildigkeit. Die Niedertracht der Menschen ist sein Thema. Edle Charaktere
hat er wohl geschaffen, aber nur als Folie für die Niedertracht der Menschen
im allgemeinen. Wie Diogenes den einen rechtschaffnen Mann suchte, nicht
um sich an seiner Rechtschaffenheit zu erfreuen, sondern um darau die Schuftig¬
keit aller übrigen Bürger desto beleidigender zu demonstrieren, so hat Ibsen
seine Rosmer und Stockmann dargestellt. Und auch die edeln Frauen in seinen
Stücken verdanken ihr Dasein nicht dem Glauben an ihr Geschlecht, sondern
dem Haß gegen sein eignes; er gebraucht sie nur als Keulen, um damit den
Männern die Schädel einzuschlagen. Ibsen, ist von Anfang bis zu Ende ein
Hasser; wenigstens machen seine Stücke diesen Eindruck; das Urteil mag gerecht
oder ungerecht sein, aber der Eindruck ist unwiderstehlich, und deshalb können
wir Ibsen so wenig lieben wie Diogenes oder Swift. Auch scheint mir
Dr, Brandes zu irren, wenn er glaubt, Ibsens Feindschaft gegen die jetzt
lebenden Menschen entspringe dem Glauben an eine mögliche Erneuerung der
Welt."
Der Ibsen, den unsre Jbseniten feiern, ist hier richtig charakterisiert, und
eine Ursache seines Zurückbleibens unter dem Gipfel — oder seines Abfalls
beim Kummer — zur Genüge aufgedeckt. Aber wir werden sehen, daß Ibsen
nicht von Haus aus Menschenhasser gewesen ist, und es könnte wohl sein, daß
ihn die von anderswoher entspringende Unmöglichkeit, ein Größter zu werden,
erst zum Hasser gemacht hätte, daß er wirklich die Anlage zum Allergrößten
in sich getragen, aber verhindert worden wäre, sie zu entfalten, und daß da¬
durch seine ursprüngliche Liebe in Haß verwandelt worden wäre. Liebe ist
eine unerläßliche Bedingung, aber nicht das Wesen der Dichtergröße. Liebe
für sich allein macht noch nicht zum Dichter. Es giebt glücklicherweise
milliardenmal mehr Liebende und viel tausendmal mehr vou großer und reiner
Liebe erfüllte Menschen als große Dichter. Und es gehören außer den oben
angeführten Gaben auch noch äußere Bedingungen dazu, wenn sich diese Gaben
entfalten sollen. Der Satz, den Lessing dem Maler Conti in den Mund legt,
daß Naffael auch denn „das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er
unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden," bedeutet doch uicht, daß
Naffael auch in diesem Falle der größte Maler sein.Würde, wie gedankenlose
Zitierer den scharfsinnigen Ästhetiker sagen lassen. Sondern er drückt die traurige
Wahrheit aus, daß eine geniale Anlage, auch die allergrößte, infolge äußer¬
licher Hindernisse unentfaltet bleiben kann. Bei Ibsen dürfte die Nationalität
das Hindernis gewesen sein. Größte Dichter können nur großen Nationen
entsprießen, Nationen, deren Kulturen Wclttulturen, und deren Sprachen Welt¬
sprachen sind. Das gilt von den alten Griechen, von den Deutschen, von den
Franzosen, den Italienern, von den Engländern. Camoens und Jost van den
Vorbei möchten immerhin die größten Dichtergenies der Welt gewesen sein,
ihre kleinen Heimatstaaten wären nicht der geeignete Boden zur Entfaltung,
und ihre Heimntsprachen nicht das geeignete Medium gewesen, sich der Welt
W offenbaren. Die Norweger sind ein echtes Germanenvolk, ein Volk von
außerordentlicher Tüchtigkeit und heute bis in ihre untersten Schichten gebildet,
ein Volk ohne eigentliches Proletariat. Aber es sind ihrer noch nicht so viel,
als die Stadt Paris Einwohner hat; sie leben über ein 240 Meilen langes
Land zerstreut, dessen Küste dem Eismeer zugekehrt ist. Sie haben nie anders
als durch Wikiugerfahrten, d. h. Raub- und Plünderungsfahrten, in die Welt¬
geschichte eingegriffen; sie mußten der Natur ihres Landes gemäß auf der
wirtschaftlichen Stufe der Urprodnktion und eines nicht im Dienste der Fabri¬
kation stehenden Seehandels verharre,?, sie konnten nur wenig Industrie, nur
wenig städtisches Leben entwickeln, sie blieben an eine Lebensweise gebunden,
die zwar die Leiber und die Seelen gesund erhält, den Zugang zu den höchsten
Höhen der Kultur und der Zivilisation aber verwehrt, und so wenig wie am
politischen, haben sie sich vor Ibsen am Kulturleben Europas beteiligt. Zur
politischen Selbständigkeit haben sie es nur vorübergehend in ältern Zeiten
gebracht; im spätern Mittelalter waren sie Unterthanen Dänemarks, jetzt ge¬
hören sie zu Schweden, Ja sie haben nicht einmal ihre eigne Sprache zur
Schriftsprache ausgebildet, sie bedienen sich der dänischen, die ihrerseits keine
Weltsprache ist, wenn sie auch seit einigen Jahrzehnten von verdienten Dichtern
und Novellisten gepflegt wird, die jedoch mehr für uns Deutsche, als für den
kleinen Kreis ihrer Landsleute schreiben, und die vielleicht gar nicht den Mut
zum Schreiben haben würden, wenn sie nicht wüßten, daß sie übersetzt werden.
Sind ein solches Land, ein solches Volk und eine solche Sprache der Boden,
auf dem sich ein großes Dichtergenie entfalten könnte? Die Schweizer sind
zwar anch ein kleines Volk*) — immerhin ein wenig zahlreicher als die Nor¬
weger —, aber sie erfreuen sich einer viel günstigern Lage. Sie wohnen im
Herzen Europas, umschlossen von dreien der vier bedeutendsten Kulturvölker der
alten Welt, jahrhundertelang bald, in freundlicher, bald feindlicher Wechsel¬
wirkung mit ihnen und heute im Mittelpunkt eines Weltverkehrs, wie es keinen
zweiten giebt. Sie haben Industrie und liefern seit Jahrhunderten der Kunst
und Wissenschaft Europas wichtige Beitrüge. So haben sie denn auch zahl¬
lose Gelehrte und Künstler hervorgebracht — trotzdem aber keinen Größten;
ihrer größten und teuersten nationalen Erinnerung hat ein Deutscher zur Un¬
sterblichkeit verholfen. Wenn nun in einem solchen Lande, wie Norwegen eines
ist, ein Dichtergenie geboren wird, und wenn es sich der Schranken bewußt
wird, die seine Heimat und Nationalität der Entfaltung ziehn, muß es dn nicht
von Bitterkeit erfüllt werden und der Verzweiflung oder wenigstens einer vor¬
herrschend pessimistischen Stimmung verfallen? Und erzeugt nicht überdies auch
noch die lange Winternncht des Nordens Melancholie? Wie oft tritt in Ibsens
Gedichten die Angst vor der Nacht hervor, das Gespenstische, das die an sich
schon schreckliche Natur der Eiswüsten, des stürmenden Meeres und der finstern
Wolkengebilde in der Dunkelheit annimmt! Die alten Wikinger, ja die haben
sich die Melancholie noch einigermaßen fernzuhalten gewußt! Im Sommer
besuchten sie die freundlichen Gestade südlicher Länder, und die Winternacht
erheiterten sie sich mit dem Wein und den Weibern, die sie dort geraubt
hatten, und mit dem Gesang, den Gott ihren Statten in den Busen legte.
Aber womit soll sie sich ein armer Jüngling erheitern, der Pillen drehen muß,
während ihm eine geistige Welt im Busen gürt, und der dann unter den
härtesten Entbehrungen Medizin studiert, um sich die materielle Grundlage für
die Ausübung seines eigentlichen Berufs zu schaffen? Wie gut versteht man
es. daß er als ersten Stoss für ein Drama Catilina wählte! Es war damit
noch nichts verloren; die Revolution ist der Jugend sympathisch, und einer unter
solchen Umstünden lebenden Jugend drängen sich revolutionäre Gedanken von
selbst auf; auch Schiller hat mit den Räubern und mit Kabale und Liebe, und
sogar Goethe hat mit Werther und Götz begonnen. Die Stücke, die Ibsen
dann als Dramaturg des Theaters in Bergen geschrieben hat, sind, mit Aus¬
nahme von zweien, bei uns nicht bekannt. Diese zwei aber, wie die andern
beiden der norwegischen Sage und Geschichte entnommnen Stücke, beweisen,
daß er in jeuer Zeit noch keineswegs Pessimist und Nihilist, sondern seelisch
gesund gewesen ist, wie die Inhaltsangabe darthun wird.
Das Fest eins Solhaug, 1856 geschrieben, atmet sogar eine entschieden
optimistische Stimmung. Margit und ihre Schwester Eigne sind mit ihrem
Vetter Gudmuud aufgewachsen, der ein herrlicher Held und Sänger ward. Sie
hat ihn, ihn allein geliebt, aber er zog fort in die Fremde, die Freier drängten,
und sie entschied sich für Berge Gauteson, einen etwas einfältigen Mann von
unbedeutendem Charakter, der sie aber zur reichen und mächtigen Frau machte.
Sie hatte gehofft, auf Solhaug ihres Lebens froh zu werdeu, denn die Bilder,
mit denen Gudmunds Lieder ihre Phantasie erfüllt hatten, „von Spielen, von
fröhlichen Festen, von Rittern und Frauen im schimmernden Saal," sie wurden
nun Wirklichkeit. Doch glaub mir, berichtet sie dem wiedergefundnen Jugend-
geliebten, „es währte uicht lang, so weint ich vor bitterem Leide. An dich zu
deuten und deinen Gesang, das blieb mir die einzige Freude. Wie dünkten mich
Solhaugs Hallen so leer, und die Säle so öd und verlassen. Wohl saßen hier
Ritter und Frauen im Kreis, manch Lied ertönte zu meinem Preis — doch keiner
von allen ringsumher vermochte mein Elend zu fassen." Drei Jahre nach
ihrer Vermählung ist ihre Schwester signe zur Jungfrau herangereift; der
ebenso wilde als mächtige Knut Gäsling — hier setzt das Stück ein — wirbt
um ihre Hand und erklärt gleich, daß er vor seinen Zechgenossen gelobt habe,
das Mädchen müsse binnen Jahresfrist sein sein — im guten oder im bösen.
Beugt ist bereit, die Einwilligung zu erteilen, Frau Margit aber, die den
Schwachkopf natürlich beherrscht, antwortet: „Das Graun muß entweichen,
das rings entsteht, sobald Knut Gäsling zur Freite geht. Beim Gelage sollt
Ihr Euch höfisch gebärden. Die Axt laßt daheim an der Wand, wo sie hängt;
Ihr wißt, leicht konnte sie jemand gefährden, locum der Med Euch das Blut
nach dem Kopfe drängt. Ehrbare Fraun laßt in Frieden fahren. Ihr sollt
Euch nicht rühmen mit keckem Gebaren: Wer klug sei, bringe sein Leichenhemd
mit, wenn Euch in den Weg vermessen er tritt. Wofern Ihr ein Jahr laug
-meidet solch Leben, so will ich die Schwester zur Gattin Euch geben." Sie
ladet ihn dann zu dem Feste, das am Abend desselben Tages auf Solhaug
gefeiert werden soll. Knut geht — nicht in der besten Laune — und ver¬
spricht am Abend zu kommen. Vorher teilt er noch mit, daß er ihren Vetter
Gudmund zu treffen gedenke, worüber Margit sehr verwundert ist, denn sie
weiß, daß Gudmund zum Gefolge des Kanzlers gehört, der aus Fraukreich
dem Könige die Braut geholt hat, und daß jetzt eben in Bergen die Hochzeit
gefeiert wird; aber sie weiß nicht, daß Gudmuud auf dem Schiffe den Kanzler
bei einem Schäferstündchen mit der Königsbraut ertappt hat, der Rache des
Kanzlers entflohen und geächtet worden ist. Der Geächtete kommt auf Solhaug,
Margit, die glaubt, er wolle in seinem Glanz ihres Unglücks spotten, empfängt
ihn kalt und unfreundlich. Als er ihr aber sein eignes Unglück offenbart,
bricht ihre Liebe zu ihm hervor, und sie klagt ihm ihr Elend. Beim Feste
dann gewinnen Gndmund und Gigue einander lieb und verloben sich. Gudmund
sagt Margit, sie könne ihn glücklich machen. Diese versteht ihn falsch und erklärt
sich sofort bereit, ihm anzugehören: „Die Kirche vermag nicht, zwei zu trennen,
die einander lieben mit treuen Sinn." Ehe Gudmund sie anfklüren kann, werden
sie gestört, aber sie gelangt in den Besitz des Flüschcheus mit dem Gift, das die
Königsbrant ihrem Gemahl zugedacht hatte; Gudmund hat es dieser entwendet,
um es in höchster Not selbst zu nehmen; jetzt, wo er dein höchsten Glück ent¬
gegen sieht, will er es ius Meer werfen. Knut hat, obwohl als königlicher
Bogt beauftragt, den Geächteten zu fangen, seinem Freunde Erich vertraut,
heute solle niemand erfahren, daß Gudmund, den er schätze und liebe, geächtet
sei; dieser solle des Festes froh werden; am andern Tage dann möge er sehen,
wie er sich weiterhelfe. Nun aber teilt ihm Gudmund seine Verlobung mit
Eigne mit, und da hat natürlich seine Freundschaft ein Ende; er eilt fort,
seine Bewaffneten zu holen und gegen die Verlobten Gewalt zu gebrauchen.
Gudmnnd und signe beschließen, zu fliehen, und ziehn Margit ius Vertrauen,
die dadurch über ihren Irrtum aufgeklärt wird. Beim Bankett muß Gudmund
singen, und auch Margit wird um ein Lied gebeten. Sie erzählt darin mit
leidenschaftlicher Glut ihre eigne Geschichte, was der einfältige Berge nicht merkt.
Sie schildert sich als Gefangne des Bergkönigs und schließt: „Ich muß fort,
hinaus ins blühende Thal, ich sterbe hier innen im Felsensaal. Er bietet mir
Hohn, er umarmt seine Maid und segelt mit ihr in die Ferne weit! Der
Berg ist verschlossen, kein Ausweg rings umher! Die Sterne sind erloschen,
die Sonne scheint nicht mehr!" Mit lautem Aufschrei füllt sie in Ohnmacht.
Das Fest ist zu Ende, die Gäste ziehn ab. Berge bittet seine Frau, die sich
von ihrem Unwohlsein erholt hat, ihm noch einen Trunk einzuschenken. Sie
thut es und schüttet das Gift hinein. Ehe er trinkt, wird er abgerufen durch
die Nachricht, daß Knut mit Gewappneten auf den Hof zusprengt. Gudmund
und signe, zur Flucht bereit, treten ein; sie sehen den gefüllten Becher, wollen
ihn leeren auf Margits Heil; es ist Margits Becher, bemerkt signe. Gud¬
mnnd aber, ihn genauer betrachtend, ruft: „Beim. Himmel, ich weiß! Einst,
als ich fortzog ins ferne Land, da glänzte der Most in dem Becher so blank,
als Margit auf fröhliche Heimkehr trank. Ihr brachte mein Kommen mir
Herzeleid. Trink nimmer Hinsort, meine traute Maid, aus diesem Becher!"
Er gießt deu Inhalt zum Fenster hinaus. Margit tritt ein, sieht den Becher
leer, schreit um Hilfe, weil sie meint, die beiden hätten sich vergiftet, und zu¬
gleich mit der Aufklärung empfängt sie die Meldung, daß ihr Gemahl gefallen
ist. Sie steht nun frei da, entsagt aber zu Gunsten der Schwester. „Glück
sei mit euch beiden!" spricht sie zum Abschied. .Knut tritt ein, nicht als Feind,
sondern als Reuiger, bereit, für den Erschlagnen Buße zu zahlen. Ich fordre
nichts, bescheidet ihn Margit. „Gott möge uns allen ein gnädiger Richter
sein! Doch ja — eins fordre ich: gebt Euer» bösen Anschlag wider meine
Schwester auf." Knut antwortet: „Nimmermehr will ich versuchen, mein un¬
seliges Gelübde wahr zu macheu. Glaubt mir, ich werde mich bessern. Möchte
nur keine entehrende Strafe mich treffen! (Zu Gudmund:) Kommst du wieder
zu Gnaden und Würden, so sprich beim König für mich," „Ich? ruft Gud-
mund zur großen Verwundrung der meisten Anwesenden, eh der Tag anbricht,
muß ich aus dem Lande," Da tritt schon der Königsbote mit seinem Gefolge
herein, der Gudmnnd sucht — um ihm zu melden, daß ihm der König seine
Freundschaft und reiches Lehen schenkt, und daß der Kanzler enthauptet ist.
Margit aber spricht: „So folgt die Strafe denn allzeit der Schuld! Schirmende
Engel, die Gott mir in Huld in dieser Nacht herniedergesandt, bewahrten vor
sündhafter That meine Hand. Nun weiß ich, das Leben hat mehr zu be¬
deuten, als irdische Freuden und Herrlichkeiten. Ich fühlte die Neue, das
wilde Entsetzen, die Qunl, wenn aufs Spiel wir die Seele setzen. In
Synnöves Kloster dree ich hinfort. Fest ists beschlossen - stille, kein Wort!
(Gudmunds und Signes Hände ineinander legend.) Gudmund! Führe sie heim
als die deine! Gott segne das Bündnis, das schuldlose, reine." So wurzelt
also dieses Drama in dem Glauben, den das Christentum mit der antiken
Welt gemeinsam hat. Nicht ein böser, nicht ein kranker Charakter kommt
darin vor, nur ein hochgesinntes Weib, das, von Leidenschaft hingerissen, ein
Paar Stunden lang im Begriff steht, die vom göttlichen Gesetz gezognen
Schranken zu durchbrechen. Und es schließt mit Glück und Versöhnung, Un¬
wahrscheinlich ist nur die plötzliche Bekehrung Knuts, eine Abweichung von
der altnordischen Wirklichkeit zu Gunsten — könnte man beinahe sagen —
der Tendenz frommer Jugendschriften.
Die Nordische Heerfahrt, vom Jahre 1857, hat düstern Charakter,
was ja aber der Art nordischer Dichtung durchaus entspricht. Auch hier ist
ein Weib der Mittelpunkt, das den hehren Geliebten verloren hat und dem
schlechtem Manne angetraut worden ist, damit aber verbindet sich das Brun-
hild- und Krimhildmotiv des Nibelungenliedes, nur daß sich nicht, wie hier,
das anfänglich schwächere Weib zuletzt zur schrecklich siegreichen Rachegöttin
auswüchst. Der Seekönig Sigurd und der Gutsherr Gunnar kehren beim
Häuptling Omnis auf Island ein. Beim Festgelag der Männer bleibt Örnulfs
Pflegetochter Hjördis zurück, nachdem sich seine Tochter Dagny zur Ruhe be¬
gebe» hat, Sigurd schwört beim Kreisen des Methorns, eine liebliche Jung¬
frau aus Island mitzunehmen, Gunnar schwört dasselbe und reicht Hjördis
das Horn. Diese schwört, daß sie nur dem gehören wolle, der den ihre Thür
bewachenden Eisbären erschlüge und sie auf seinen Armen trüge. Der Eisbär
hatte die Stärke von zwanzig Männern. Beide Helden lieben Hjördis. Aber
Sigurd läßt nichts merken, Gunnar dagegen gesteht dem Waffenbruder seine
Liebe und bittet diesen, ihm Hjördis zu holen, denn, sagt er: „Ein liebesiecher
Mann schätzt das Leben hoch; ungewiß wäre der Ausgang, wenn ich mit dein
Bären kämpfte, und ich fürchte mich, das Leben jetzt zu lassen, denn mit dem
Leben verlöre ich auch Hjördis." Sigurd übermüdet den Bären, legt sich
neben Hjördis, aber seim Schwert dazwischen — die Sache verläuft also
nicht so roh wie im Nibelungenliede, wo nicht ein Bär, sondern Brunhilde
in wildem Ringen überwältigt wird — und trägt sie vor Tagesanbruch, ohne
erkannt zu werden, ins Schiff. Dann holt er sich, um seinen Eid zu halten,
die Dagny, und sie segeln ab. Nach einigen Jahren kommt Omnis an die
norwegische Küste, um von Gunnar für den Raub der Hjördis Sühne zu
fordern, und trifft dort zufällig — damit beginnt das Drama — mit seiner
Tochter und ihrem Gemahl Sigurd zusammen, der ihm ebenfalls noch die
Sühne schuldig ist für Dagnys Raub. Nach kurzem Streit werden die drei
im guten handelseins, und Sigurd versöhnt auch noch in hochherziger Frei¬
gebigkeit den Bauer Kore mit Gunnar, da beide Schuld und Gegenschuld mit¬
einander zu begleichen haben. Nun aber erscheint, in schwarzen Gewändern,
die stolze und wilde Hjördis, die von Vergleichen nichts wissen will, im Gegen¬
teil ihren Gatten für verpflichtet erklärt, ihres Vaters Jökul Tod an seinem
Mörder Arnulf zu rächen. Dieser behauptet, Jökul sei im ehrlichen Kampfe
gefallen, da gebe es nichts zu sühnen, und von Hjördis aufs äußerste gereizt,
schilt er sie die Kebse Gunnars, weil ein geraubtes Weib keinen Gatten habe.
Nachdem sich die Wütende entfernt hat, äußert Omnis trübe Ahnungen. Jökul
habe seinen Kindern ein Wolfsherz zu essen gegeben, um sie wild zu machen,
und habe, nachdem er den Todesstreich empfangen, den Spruch gesungen:
„Jökuls Stamm soll Jökuls Mörder überall nur Weh bereiten, und wer
Jökuls Schatz besitzet, soll ihn stets aufs neu erstreiten." Darauf habe er
gelacht und den Geist aufgegeben. Gunnar, der friedfertige Mann, kehrt zurück
und bittet die Helden, in seinem Hause als Gäste zu verweilen. Zaudernd
sagen beide zu. Omnis ist von sechs Söhnen begleitet; den jüngsten, Thorvlf,
seinen Liebling, hat er im Schiff zurückgelassen. Dieser kommt nun gelaufen
und meldet, der Bauer Kore fahre mit einer Schar Geächteter gen Süden,
wohin Gunnar sein Söhnchen Egil in Sicherheit gebracht habe, um dieses um¬
zubringen; so werde Omnis gerächt. Dieser ruft: Ihm nach! und eilt mit
seinen Mannen zum Schiff, nachdem er Thorolf geboten hat, ihn beim Mahl
in Gunnars Hans zu vertreten, sich fein sittsam zu benehmen, im Reden wie
im Trinken Maß zu halten. Sigurd offenbart seiner Gattin, daß er mit
schwerem Herzen zu Gunnar gehe, weil ihnen beiden von der leidenschaftlichen
Hjördis Gefahr drohe; er entdeckt das Geheimnis ihrer Entführung, weil er
anders Dagny nicht bewegen kann, ihren goldnen Reif zu verbergen, denn es
ist derselbe, den er in jener Nacht ihrer Pflegeschwester vom Arme gezogen
hat; und Dagny verspricht ihm, strenges Schweigen über die That zu be¬
obachten. Vor dem Gelag ängstigt Hjördis die sanfte Dagny mit unheim¬
lichen Reden. „Wunderst du dich nicht, mich hier lebend zu finden? Fürchtest
du dich nicht, allein mit mir zu sein, jetzt, wo die Dunkelheit hereinbricht?
Kommt dir nicht der Gedanke, daß ich schon lange, lange tot sein muß, und
daß es nur ein Gespenst ist, das vor dir steht? . . . Kannst du Zauberlieder
singen?" Dagny (mit Abscheu): „Ich?" Hjördis: „Ich glaubte es; womit
hättest du Sigurd sonst zu locken vermocht?" Dagny: „Schändlich sprichst du
zu mir; laß mich gehn!" Hjördis: „Weil ich scherze? Nein, hör nur weiter!
Denk dir, Dagny, an Abend hier bei der Luke zu sitzen und zu lauschen, wie
das Gespenst da unten im Bootschuppen jammert und klagt, dazusitzen und die
Heimfahrt der Toten mit anzuschauen; denn hier im Norden müssen sie vor¬
über. Das sind die kühnen Streiter, die im Kampf fielen, die starken Weiber,
die nicht wie du und ich ihr Leben zahm und thatenlos verbrachten; in Sturm
und Unwetter sausen sie auf schwarzen Pferden mit klingenden Schellen durch
die Lüfte! (Dagny wild umarmend.) Ha! Denke dir! Die letzte Fahrt auf
einem so prächtigen Renner zu machen!" Dagny (sich losreißend): „Hjördis!
Hjördis! Laß mich! Ich will dich uicht hören!" Hjördis flachend): „Weichen
Sinnes bist du und leicht zu erschrecken!"
Beim Bankett reizt Hjördis den Thorolf so lange mit höhnischen Reden,
bis dieser fortläuft und beim Scheiden ruft, ihr Teuerstes sei in seines Vaters
Gewalt, worauf Gunnar, in der Meinung, Omnis habe Egil umgebracht, ihm
nacheilt und ihn erschlägt. Bald darauf erscheint Omnis, mit dem kleinen Egil
auf dem Arm; er ist Kore nachgeeilt, um das Kind zu retten; das soll seine
Rache dafür sein, daß man ungerechterweise Bußgeld für Jökul von ihm fordert;
auch habe er sich verpflichtet gefühlt, die von Kore geplante Schandthat zu
verhindern. Im Kampfe mit Kores Leuten sind seine Söhne gefallen, alle
sechs. Er vernimmt das Furchtbare, was sich unterdessen hier ereignet hat,
weint gefaßt, Hjördis habe dafür gesorgt, daß sich Jökuls Fluch erfülle, er¬
fährt zu sciun Beruhigung, daß Thorolf den Todesstreich über die Stirn
empfangen habe, lädt sich dann die Leiche auf und zieht von dannen. Jedes
Trauergeleit verbittet er sich; „ohne Sohn ziehe ich von dannen, aber niemand
soll sagen, daß er mich gebeugt sah." Hjördis triumphiert über das Unglück
des Alten mit höhnischen Worten und rühmt sich jetzt des Gatten, den sie
vorher verachtet hat, erhebt ihn über Omnis Md Sigurd, sodaß die sanfte
Dagny alle Selbstbeherrschung verliert und das Geheimnis jeuer isländischen
Nacht verrät. Jetzt bleibt mir nur noch eins zu thun, murmelt die zerschmetterte
Hjördis, „Sigurd muß sterben' oder ich." Gunnar lehnt anfangs ihre Zu¬
mutung ab, Sigurd zu töten; sie dringt weiter in ihn: „Sigurd und Dagny
»llissen sterben!' Ich kann nicht frei atmen, bevor die beiden nicht aus der
Welt geschafft sind. Könntest du mir dazu verhelfen, Gunnar, dann würde
ich in Liebe mit dir leben; ich würde dich so wild und so heiß in meine Arme
Pressen, wie du es nie geträumt! Ans Werk, Gunnar, dann sollen die schweren
Tage ein Ende haben; ich werde nicht mehr aus dem Gemach gehn, wenn du
eintrittst; keine lieblosen Worte mehr sprechen und dein Lächeln dämpfen, wenn
du fröhlich bist; ich will Pelze und köstliche seidne Gewänder anlegen; ich Null
dn folgen , ziehst du hinaus in den Krieg; reitest du fort zu friedlichem Be¬
ginnen, ich reite dir zur Seite; beim Festmahl sitze ich neben dir und fülle
dein Trinkhorn und trinke dir zu, singe dir liebliche Weisen, die dein Herz er-'
"nicken." Halb ist Gunnar gewonnen, da meldet Dagny, daß Kore heranzieht,
und Sigurd dessen Bande von Gnnnars Hofe abwehrt, Gunnar eilt hinaus,
Hjördis aber benutzt dieses Zusammentreffen mit Dagny, dieser die Überzeugung
beizubringen, daß sie Signrds unwürdig sei und ihn unglücklich gemacht habe,
weil ein Held wie er eine Heldin zur Gattin haben müsse, Dngny vermag
deshalb des Gatten Anblick nicht zu ertragen, als er naht; sie flieht vor ihm,
und in der Unterredung mit Sigurd erfährt nun Hjördis, daß Sigurd fie und
keine andre geliebt, sich für den Freund geopfert und Dagny nur als treue
und ergebne Gattin geehrt habe, und Hjördis hinwiederum bekennt, daß sie
ihn beim ersten Erblicken geliebt und ihn dann nur gehaßt habe, weil sie sich
verschmäht glaubte. Nun wohlan, Sigurd, ruft sie, „ein unseliges Mißver¬
ständnis hat uns lange Jahre getrennt; jetzt ist der Knoten gelöst; die Zukunft
soll uns Ersatz geben." Sigurd: „Das kann nicht sein, wir müssen uns von
neuem trennen." Hjördis: „Das müssen wir nicht. Ich liebe dich, jetzt darf
ichs sagen, ohne zu erröten; denn meine Liebe ist nicht verlangend wie die
weichlicher Weiber; wär ich ein Mann — bei den gewaltigen Mächten! —,
ich könnte dich gerade so lieben, wie ich es jetzt thue. . . . Was ist dir Daguy,
was kann sie dir sein? Nicht mehr als Gunnar mir in meinen geheimsten
Gedanken. Was liegt denn dran, wenn zwei elende Leben vernichtet werden!...
Nicht als dein Weib will ich dir folgen; denn ich habe einem andern angehört,
und auch die Gattin lebt, die einst an deiner Seite ruhte. Nein, Sigurd,
nicht als dein Weib, als Schildmaid, einer jener starken Frauen gleich, will
ich dir folgen, dich zum Kampf und männlichen Thaten anfeilern. . . . Erik
lenkt Norwegens Reich, erheb dich gegen ihn; mit unbezwinglicher Macht wollen
wir kämpfen und nimmer ruhn, bis du auf Haralds Throne sitzest." Sigurd
bleibt fest in der Weigerung. Hjördis droht, Gunnar und Dagny Signrds
Liebe zu offenbaren. Sigurd: „Dann hätte ich dich verkannt, für hochherzig
hab ich dich gehalten." Hjördis: „Böse Tage gebären böse Gedanken." Sigurd
fragt, was Hjördis thun würde, wenn er ihren Gatten umbrächte. Dann
müßte sie ihn töten. Das werde geschehn, sagt Sigurd und fordert Gunnar
zum Zweikampf, weil dieser Thorolf, seiner Gattin Bruder, erschlagen habe.
Ehe es zum Zweikampf kommt, eilt Hjördis zu Sigurd: „Wahr ist, was du
sagtest, daß Gunnar und Dagny zwischen uns stünden; fort von ihnen und
aus dein Leben müssen wir, dann können wir zusammenbleiben." Das irdische
Leben vermöge sie nicht länger zu ertragen. Sigurd: „Meinst du, es sei ein
freudvoll Leben, das meiner wartet? Jeden Tag in Dagnys Nähe zu sein
und Liebe zu heucheln? Und doch, es muß so sein." Hjördis: „Es muß
nicht sein! Wir beide wollen aus dem Leben fliehn! Siehst dn diesen Vogen-
strang? Mit ihm treffe ich sicher, dem: prächtige Zauberlieder habe ich über
ihn gesungen. Horch, wie er durch die Luft saust! Das ist die Heimfahrt
der Toten nach Walhall! Ich beschwor sie her, in ihrem Geleit wollen wir
ziehn." Sie sehen Gnnnars Hof brennen, den Kores Leute angezündet haben,
und ein furchtbares Unwetter bricht los. Hjördis: „Horch, horch, dort kommt
unser Gefolge! Siehst du die schwarzen, jagenden Rosse, eins für mich, eins
für dich. So geh auf die letzte Fahrt!" Sie erschießt ihn und ruft: „Sigurd,
mein Bruder, nun gehören wir einander!" Der sterbende Sigurd: „Jetzt
weniger denn je, hier trennen sich unsre Wege, denn ich bin ein Christ. Ich
bete zu dem weißen Gott. König Ädelsthan hat mich ihn kennen gelehrt, zu
ihm gehe ich jetzt hinauf." Hjvrdis stürzt sich ins Meer. Die andern Per¬
sonen des Stücks sammeln sich um Signrds Leichnam. Gunnar: „Sie hat
ihn getötet, in der Nacht vor dein Zweikampf; sie hat mich also doch geliebt!"
Egil zeigt auf die durch die Luft sausende wilde Jagd: „Vater, sieh dort! All
die schwarzen Pferde!" Gunnar: „Es sind Wolken." Omnis: „Nein, die
Toten reiten nach Walhall." Egil: „Die Mutter ist dabei, dort — vorauf —
auf dem schwarzen Pferde!"
Auch hier haben wir ein Drama, das durchaus den Anforderungen der
alten idealistischen Grundsätze entspricht. Es endet traurig, aber eine Tragödie
ist eben kein Lustspiel. Dunkler Schrecken waltet von Anfang bis zu Ende,
wie es die nordische Winternacht mit sich bringt, in der es verläuft. Aber
die Personen sind edel; nnr ein schlechter Charakter tritt auf, der Mann von
schlechter Geburt, der Bauer Kore. Hjördis ist ein dämonisches Weib, wie es
ihrer zu allen Zeiten nicht wenige gegeben hat; die Bruuhilden und Kriem-
hilden der Sage wie die der Geschichte haben ärgeres als sie verübt, und die
Heiligkeit und Unlösbarkeit der Ehe tastet sie selbst in der Raserei ihrer Liebes-
leidenschnft nicht um. Von dein Unheil, das geschieht, trügt sie einen Teil der
Schuld, einen andern Teil trägt der tückische Bauer, aber im Grnnde ge¬
nommen ist es „der Rome unselig Gespinst," das sie alle verstrickt und ver¬
dirbt. Und am Schluß wird auf den bevorstehenden Sieg des Christentums
über den heidnischen Aberglauben hingewiesen.
(Fortsetzung folgt)
ans Thoma, jetzt ein Sechziger, ist ein Sohn des badischen
Schwarzwaldes; aus engen Verhältnissen heraus fand er seinen
Weg in die Kunst schwer. Er hatte zunächst Uhrenschilder be¬
malt und auch eine Zeit lang in Basel das Lithographieren ge¬
lernt. Da fanden sich freundliche Gönner ein, und der Groß-
^'zog, der schon so vielen Kindern seines Landes ein gütiger Schutzherr ge¬
wesen ist, ermöglichte ihm den Besuch der Karlsruher Akademie. Er war jetzt
^'anzig Jah^ ^ und studierte sieben Winter in Karlsruhe; während der
Sommer malte er in seinem Heimatsort nach der Natur. Die Freiheiten, die
^ sich hier draußen altgewohnte, vertrugen sich schlecht mit der zahmen Manier
seiner akademischen Lehrer, und so ging er 1868 auf eigne Hand zunächst nach
Düsseldorf und von da nach Paris, wo Courbets breiter Realismus sein Ver¬
langen stillte. Nach Bernau zurückgekehrt, malte er in der freien Natur eine
Anzahl Bilder in der neuen Mache und schickte sie zur Ausstellring nach Karls¬
ruhe, wo sie eine solche Entrüstung hervorriefen, das; er dort fortan unmöglich
war. Das war 1870. Volle zwanzig Jahre ließ er nun seiue Ideale reifen,
gab auf seinen Genius acht, wie der Lateiner sagt, kümmerte sich nicht um die
Außenwelt und wartete seine Zeit ab. Und sie kam. Er zog 1871 uach
München, zu einem Publikum, das durch keine Ungewöhnlichkeit aus der
Fassung zu bringen war, und blieb dort — mit einer Unterbrechung durch
einen Auftrag, der ihn nach Frankfurt rief, und eine halbjährige italienische
Reise — bis 1877, wo er endgiltig nach Frankfurt übersiedelte. Er hatte
Freunde gewonnen, die ihn verehrten, und allmählich wurde der zunächst nur
von wenigen Gekannte bekannt, berühmt gemacht kann man sagen, im Gefolge
Vöcklins, denn nachdem das deutsche Publikum für Böcklins Würdigung hin¬
reichend erzogen war, lernte es auch Thoma schützen, und zwar sehr. Eine
Allsstellung von dreißig Bildern in München 1890 hatte einen für alles
weitere entscheidenden Erfolg, und jetzt steht Thoma bei Franz Hermann
Meißner in einer „kleinen ausgewühlten Reihe" hinter Böcklin, Klinger und
Stuck als Vierter. (Das Künstlerbuch, Band IV, Berlin und Leipzig, Schuster
und Loeffler). Dieser Band hat alle Vorzüge der frühern, einen bessern
Jntrodukteur beim Publikum als Meißner kann sich die zeitgenössische Kunst
nicht wünschen, und wem von den Lesern der Ton zu hoch liegt, der darf ja
transponieren.
Thoma ist ein Mann von vielen Gedanken, der beinahe immer, auch bei
dem einfachsten Motiv, mit irgend etwas unsre Aufmerksamkeit gewinnt, und
ein Poet, der zu stimmen weiß, das ist keine Frage. Aber den Rang eines
Malers bestimmen nicht die Fülle der Gesichte und die Skizze, sondern das
fertiggemachte Bild, und wenn er nicht bloß Landschafter sein will, vor allem
die Figur. Es giebt Maler, die behaupten, Thoma zeichne keinen einzigen
Körper richtig, und wenn jemand zu solchem Urteil das Wissen fehlt, so wird
er sich doch wenigstens manchmal zweifelnd gefragt haben: Sind denn diese
Menschen wirklich lebendig? Eine feine Erfindung ist „der Hüter des Thales"
in der Dresdner Galerie, Sankt Georg geharnischt mit der roten Fahne, in
einen Thalgrund niedersehend, über den sich schon die Nacht gebreitet hat —
aber der Geharnischte steht da wie eine ausgestopfte Rüstung in einer fürst¬
lichen Waffenkammer. Noch mehr ergreift uns, beinahe faszinierend, der nachts
beim Mondenschein in seinem Hausgärtchen sitzende und ganz in sein Spiel
versunkue Geiger. Man kann da gern alles in Meißners begeisterter Schil¬
derung gelten lassen, aber der Haupttrick besteht doch in dem hellen Umriß,
den das Mondlicht um die Figur, die Geige und den Bogen zieht, und der
Mensch selbst ist krank, mindestens mondsüchtig. Der Künstler hat dieses früh
erfundne Motiv öfter verwandt, sowohl als Gemälde wie als Steindruck; in
der zweiten Form wirkt es günstiger, weil wir ihr gegenüber mit unsern
Wirklichkeitsansprüchen bescheidner sind. Auf einer Lithographie aus späterer
Zeit schreitet ein Säemann über ein Ackerfeld auf uns zu, feierlich, priesterlich,
von erschütternder Größe, findet unser Erklärer, was man verstehn kann —
aber „Natur von packender Unmittelbarkeit" ist es dennoch nicht; zu diesem
Eindruck verleitet nur der ungeheure Maßstab der ganz in den Vorder¬
grund gerückten Gestalt, die an und für sich vielmehr etwas wachsfiguren¬
müßiges hat.
Was nun die ausgeführten Gemälde anlangt, so spricht sich Thoma in
der religiösen Gattung am wenigsten günstig aus. Auch in der Mythologie
ist er nicht recht zu Hause; sie sei zu spät an ihn herangetreten, bemerkt
Meißner, vermutlich also durch Anregung Böcklins, mit dem Thoma in
München näher verkehrt hatte, und die einzelnen Figuren bedeuten nicht viel.
Dafür sind sie immer anstündig, keusch (ich gebrauche das Wort nicht ohne
Not, hier trifft es zu), und weil ich keine der Adressen gegen die Lex Heinze
unterzeichnet habe, so darf ich mir erlauben, das als einen Vorzug zu rühmen.
Das beste Bild scheint mir „Dämmerung im Buchenwald" von 1899 zu sein,
mit einem aufrecht stehenden jungen Panisken, der unbekümmert um alles
andre auf seiner Schalmei in das Dickicht hineinbläst, während ganz hinten
in einer Lichtung ein geharnischter Reiter sichtbar wird. Mittelalter und
Antike sind hier höchst glücklich zusammengebracht, aber sie sind nicht viel mehr
als Staffage, wenigstens hat die Hauptrolle die Landschaft. Die selbständigen
Mythologien mit größern Figuren, deren einige Meißner laut bejubelt, werden
andre Betrachter kühler aufnehmen, z. B. das „Tritonenpaar" im Meer bei
untergehender Sonne; und die Allegorie „Frühlingseinkehr," in der er den
reifsten Abschluß von Thomas Kunst sieht, möchte ich mir erlauben, für scheu߬
lich zu erklären, denn für mein Auge hat der nackte Athlet, der auf den: Rücken
eines schwimmenden Fisches steht und den Himmel angrinst, etwas blödsinniges,
und ich sehe hier nichts von dem, womit die Kunst Überwirkliches glaublich
machen kann, sondern nur einen natürlichen Vorgang, für den ich mir den
Zweck auf dem Bilde vergebens suche. Meißner preist uns ferner den Porträt¬
maler in den höchsten Tönen, aber die Abbildungen entsprechen dieser Schätzung
nicht ganz. Das beste Bildnis dürfte das seiner Schwester sein, sehr früh
(1868) und durchaus natürlich. Demnächst käme Frau Doktor Spier, eine
Frankfurter Dame, ganz modern, ohne jede Stilisierung; farbentief und und
einem fragenden Seelenrätsel im Auge, wie der Kritiker sagt — das mag alles
sein, nur möge er verzeihen, „vornehm" kann ein solcher Ruschelkopf niemals
sein. Mit dem reichsten Lobe bedenkt er die Selbstbildnisse. Eins stellt den
Maler dar im Brustausschnitt mit einem Buch in der Hand, über das hinweg
er uns ganz von vorn ansieht, dahinter Baumstämme und Wasser und Schwänen
(1880, in der Dresdner Galerie), ein andres aus etwas späterer Zeit (1887)
ihn neben seiner Frau, Brustbilder ohne Hände, gleichfalls vor einer Land¬
schaft. Beide Gemälde haben Rahmen mit Blumen und Engelköpfen, die aller-
liebst wirken, und sie selbst mögen noch so ähnlich sein: ihre Auffassung und
Anordnung ist nicht naiv, sondern von irgend einem historischen Spiegel auf¬
gefangen und wieder zurückgeworfen, etwa dein der italienischen Frührenaissance.
Wenn man das Porträt von 1880 mit Dürers Oswald Kreil in der Münchner
Pinakothek vergleicht, so hat man ungefähr das Modell, das aber selbst schon
nicht mehr natürlich ist; Dürer hatte sich damals in Mantegna verfangen und
auch allerlei lombardisches Bildwerk im Kopfe. Ich verstehe nicht, daß eine
Erklärung, die doch mit Worten nicht karge, an so wichtigen Merkmalen
vorübergeht; sie kam: doch eine solche Bildnisknnst dem zwanzigsten Jahr¬
hundert nicht als etwas naives und selbstverständliches vorstellen wollen, da
jedermann ja schon zwischen diesen Porträts und dem der Frau Doktor Spier
einen Unterschied sehen muß. — Thoma hat auch einzelne Sittenbilder aus
der Gegenwart gemalt, z. B. einen Gemüsestand auf der Straße, mit Ver¬
käufern und einer laufenden Magd (1889); das Stillleben, Früchte, Gemüse,
tote Vögel, ist ausgezeichnet, die Figuren sind leblos. Und doch verstand der
Künstler Bewegung darzustellen, wie einst in den „raufenden Buben" von
1872, wo alles lebt und bebt und dabei noch aus fünf Köpfen und Leibern
eine ganz hübsche raumfüllende Figur gewonnen ist. Aber das Ruhige, Ge-
bundne, beinahe Leblose ist seiner Begabung offenbar das Natürliche, in dieser
Form stimmen die Figuren am besten zu der Landschaft, die seine Haupt¬
gattung bleibt; sie sitzen da müde oder gehn verträumt einher, tanzen auch
wohl einmal, Naturwesen, die die grüne Welt beleben, aber sich nicht zu selb¬
ständig vorwagen sollen. Den Charakter dieser Landschaft schildert Meißner
zutreffend. Thoma will nicht einzelne Wirklichkeitseindrücke geben, sondern
ein großes, ruhiggestimmtes Naturbild, kein Freilicht und keine vertieften
Räume, sondern Flächen mit deutlichen Grenzen und einfachen Farbentönen;
das Liniengerippe tritt manchmal wie auf einer Umrißzeichnung hervor, aber
die Töne geben doch eine Vorstellung von dem Duft und dem Hauch, der auf
einer Gegend liegt.
Daß Thomas Kunst mit allen ihren Vorzügen manche Wünsche unerfüllt
läßt, konnte Meißner nicht entgehn. Er betont dem gegenüber immer ihren
poetischen Gehalt und das Musikähnliche ihrer Wirkungen und läßt es an den
einzelnen bedenklichen Stellen klingen, singen und summen oder durch die Seele
läuten; reichlich oft für den Eindruck, aber er hat einen erstaunlichen Vorrat
von Wendungen; einmal bekommen wir sogar einen dröhnenden Meerakkord.
Man kann solchen Eindrücken durchaus zugänglich sein und doch bei einiger
Erinnerung finden, daß sie sich mit dem skizzenhaften der Behandlung be¬
sonders gut vertragen. Andrerseits würde an einem vollendeten Bilde wohl
keiner gerade das Musikalische als erstes hervorheben. Ich meine darum in
diesen Tönen eine gewisse Bestätigung dessen zu vernehmen, was ich oben
über den Rang eines Malers und das fertiggemachte Bild bemerkte.
Einzig ist Thomas Verdienst um den Künstlersteindruck, den er erst ge¬
schaffen hat, und der einfarbig in drei bis vier Tönen oder mit einer nicht
zu großen Anzahl bunter, ohne Überdruck nebeneinander gesetzter Farben sehr
viel ausdrücken kann. Diese Blätter sind schnell beliebt geworden. Sie wollen
keine täuschenden Bilder sein, unsre Gedanken kommen der Andeutung ergänzend
entgegen, und das Unfertige hat hier sein gutes, künstlerisches Recht. Jeder
muß sagen, daß mit wenigem viel erreicht ist, und wahrscheinlich neigt sich schon
heute die Meinung der Mehrheit dahin, daß Thoma als „Graphiker" einzu¬
ordnen ist. Dürfen wir, um einen Standpunkt zu gewinnen, ihn einmal mit
einem andern Graphiker vergleichen, so steht dieser ihm gegenüber so klein da,
daß der Vergleich kaum passend scheint. Ludwig Richter, der der Thomaschen
Farbe nichts entgegensetzen kann, hat wie dieser den Steindruck, so den seit
dem siebzehnten Jahrhundert abgestorbnen Holzschnitt wieder ins Leben ge¬
rufen. Dem Charakter nach Buchillustration, was er von Haus aus war,
könnte sich dieser einfache Holzschnitt ja in seiner Erscheinung mit dem an¬
spruchsvollern halbfarbigen Bildwerk der Thomaschen Lithographie gar nicht
messen. Aber vollends nicht in seiner Wirkung! So ein Thomascher Geiger
oder Liebesgarten oder ein Paradies oder irgend eine klingende Landschaft
greift ganz anders an die Nerven als ein Kindertanz im Grünen oder ein
Feierabend auf der Dorfgasse bei Ludwig Richter. Sie kennen beide ihre Vor¬
gänger unter den Graphikern. Wie stark Thoma von Dürer ergriffen worden
ist, müßten seine Blätter lehren, auch wenn es seine Biographen nicht erzählten.
Lutung Richter könnten wir uns ohne Dürers Marienleben gar nicht denken,
oder ohne die schönen Holzschnitte aus Cranachs Frühzeit, ohne Holbein und
so manches andre; er hat wohl noch viel mehr von diesem alten Gut in sich
aufgenommen als Thoma. Aber er altertümelt nicht, und er stilisiert kaun:
merkbar, wenn er etwa das Kostüm seiner Bauersleute ein wenig vereinfacht
und sie selbst etwas manierlicher macht, als sie vielleicht in Wirklichkeit sind;
seine eigne Zeit und eine ganz bestimmte Örtlichkeit sprechen deutlich aus seinen
Leuten, und jeder Umriß lebt, denn er war ein vortrefflicher Figurenzeichner.
Hiernach vergegenwärtige man sich so manche von Thomas Gestalten, gebunden
in ihren Bewegungen, schwermütig wie Dürers Melancholie, ihre Welt umlagern
Schatten der Vergangenheit; unsre heutigen Kunstrichter nennen das Neu¬
romantik. Den meisten Menschen, die von dieser Vergangenheit nichts wissen,
ist es einerlei, woher die Eindrücke genommen sind, wenn sie nur wirken und
ihnen nur irgendwie dabei zu Mute wird. Andre aber empfinden das Archai¬
sieren instinktiv als etwas künstliches, das sie stört; bei einer lebhaften Thoma-
diskussion fiel kürzlich ein recht unhöfliches Wort: ein in der Pfanne sitzen
gebliebner Gugelhopf — es ist ja nicht zu verwundern, wenn allzu lautes
Tamtam auch den Ton auf der Gegenseite verstärkt. Andre endlich, und das
wird das richtigste sein, nehmen den Archaismus hin als einen feinen, ge¬
wühlten Genuß und freuen sich ihrer Bildung, ohne die sie ihn nicht haben
könnten; sie sagen sich aber dabei, daß er als tägliche Speise nicht zuträglich
sein würde, denn in sich gesund ist die Richtung nicht, und ihre Fortsetzung
~~ man stelle sich eine ganze Thomaschule vor — müßte zum Verfall führen.
Aber das ist nur ein Gedankenbild. Es soll keinen hindern sich zu freuen,
daß die Güte seines Landesherrn den verdienten Mann mit Ehren in die
Heimatstadt zurückgeführt und das Wort erfüllt hat, das er in den stillen
Jahren des Wartens zu sprechen pflegte: Meine Zeit kommt auch noch.
Im preußischen Abgeordneten¬
hause wird demnächst ein im Februar von der Regierung eingebrachter Gesetzentwurf
in zweiter und dritter Lesung beraten und in der Hauptsache wohl auch angenommen
werden, der den Zweck hat, den Großbetrieb im Detailhandel, wie ihn die so¬
genannten Warenhäuser oder Großbazare betreiben, auf dem Wege der Besteuerung
des Vorteils zu berauben, den er der Natur der Sache nach unter Umständen vor
dem Kleinbetrieb voraus hat. Der Gegenstand ist an sich von keiner großen prak¬
tischen Bedeutung, und auch der Lärm der Interessenten für und wider macht für
uns die Sache nicht interessant. Aber grundsätzlich und nationalökonomisch ist die
Frage doch viel ernster zu nehmen, als unsre Herren Gesetzgeber das thun. Der
Gesetzentwurf und die Verhandlungen darüber zeigen wieder einmal recht deutlich, daß
wenn ein moderner, konstitutioneller Staat ganz in Protektionistische Bahnen gerät,
die gesetzgebenden Gewalten es zunächst für das bequemste und deshalb richtige zu
halten versucht sind, sich den Teufel um Logik und Konsequenz, um Wissenschaft
und Prinzipien — das heißt schließlich: um das Große und Ganze — zu scheren
und nur mit möglichster Grazie dem gerade am lauteste» und am unbequemsten
schreienden Jnteressentenhaufen von heute zu morgen wieder einmal durch irgend
ein Gesetzlein den ungebärdigen Mund zu stopfen. Das werte gebildete Publikum,
das nur die Schlagworte hört, der Sache auf den Grund zu gehn aber weder
Lust noch Zeit hat, ist mit diesem grundsatzfrei fortwurstelnden Protektionismus
vorläufig noch ganz zufrieden. Es schwärmt sogar für Weltpolitik und ein größeres
Deutschland, aber um die Krämerpolitik, die Politik der Rückständigkeit und des
Rückschritts, die sich im Innern der Klinke der Gesetzgebung immer mehr zu be¬
mächtigen weiß, kümmert es sich gar nicht. Wir wollen hier nicht im einzelnen
auf den Inhalt des preußischen Gesetzentwurfs eingehn. Die Begründung gesteht
selbst mit anerkennenswerter Offenheit ein, daß die Regierung das Verlangen der
Mittelstandspolitiker, den Warenhausbetrieb durch Steuern'zu unterbinden, als
ungerechtfertigt erkennt, und daß sie voraussieht, der Gesetzentwurf werde dem Mittel¬
stande so gut wie nichts nützen. Dank wird sie natürlich von keiner Seite ernten.
Aber warum bringt sie solche Entwürfe ein, die nackt und bloß sich zu dem Motto
bekennen: He s-Iiquiä ttsri vicieatur?
Die deutsche Nationalökonomie — ausgenommen natürlich die Berliner „histo¬
rische" — ist darüber so ziemlich einig, daß gerade im Warendetailhandel der
Großbetrieb einen volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Fortschritt bedeutet. Auch
die Begründung des Gesetzentwurfs giebt das ausdrücklich zu, und schließlich siud
sich auch die Herren Mittelstandspolitiker, die die Warenhänser bis aufs Messer be¬
kämpfen, dieser Thatsache vollkommen bewußt. Gerade deshalb eben verlangen sie
ja das hemmende und womöglich vernichtende Eingreifen der Gesetzgebung. Wenn
sie dabei dem Warenhausbetricb alle möglichen moralischen Vergehungen, Betrug,
unlautern Wettbewerb usw. vorwerfen oder ihn ohne weiteres mit den Ramsch-
bazaren u. dergl. über eiuen Kamm scheren, so sind das Agitationskniffe, mit denen
eine sachliche Erörterung der Frage nichts zu thun hat, und die übrigens auch der
preußische Gesetzentwurf ganz außer Betracht zu lassen verständig genug ist. Wer
heute noch mit solchen Waffen kämpft, mit dem lohnt es nicht zu reden.
Die Warenhäuser, um die es sich handelt, suchen Gegenstände des Massen¬
verbrauchs im Haushalt der Massen mit möglichster Verminderung aller unnötigen
Handelsspesen und unter Ausdehnung des Betriebs auf möglichst viele Waren¬
gattungen in den Konsum zu bringen. Sie handeln deshalb hauptsächlich mit
billigen Sachen, wie sie eben die weniger bemittelten Massen nur in Massen ver¬
brauchen. Billige Waren sind aber nicht immer Schund- und Ramschwaren, und
auch in teuern Geschäften kaun man mit Schund und Rausch betrogen werden.
Durch die vorwiegende Billigkeit der feilgehaltuen Gegenstände unterscheiden sich
die Warenhäuser in der Regel von den großen Spezialgeschäften, die Waren der
einen besondern Gattung in allen Preislagen feil halten, übrigens ohne dadurch
an sich solider oder gemeinnütziger zu werden und die kleinern Konkurrenten der¬
selben Branche weniger zu bedrücken. Der ohne jedes Bedenken volkswirtschaftlich
als berechtigt anzuerkennende kaufmännische Grundsatz: Großer Umsatz, kleiner
Nutzen! — gilt in beiden Arten des Großbetriebs des Detailhandels, aber er
muß natürlich ganz besonders gelten in den Warmhäusern, die vorwiegend billige
Massenartikel führen. Sie können am allerwenigsten dem privatwirtschaftlich so
ideal bequemen Prinzip: Kleiner Umsatz, großer Nutzen! huldigen.
Um das schnelle Emporkommen der Warenhäuser für billige Gegenstände des
Massenverbrauchs mit ihrem Riesenumsatz zu verstehn, muß man sich die eigen¬
tümliche Entwicklung der industriellen Produktion in Deutschland in den letzten
beiden Jahrzehnten vergegenwärtigen. Die Leistungsfähigkeit unsrer Industrie ist
in geradezu beispiellosem Maße gesteigert worden. Die Berufs- und Gewerbe-
zähluug vou 1895 hat uns darüber die Augen geöffnet, und doch war 1895 das
erste, bescheidne Anfangsjahr des sogenannten industriellen Aufschwungs. Das
Gewerbe bringt jetzt Warcnmassen auf den Markt, wie man sie vor zwanzig Jahren
für unmöglich gehalten hätte, und es kann sie trotz steigenden Arbeitslohns und
hohen Unternehmergewinns sehr viel billiger abgeben als vor zwanzig Jahren.
Dabei ist, wie die Statistik unwiderleglich lehrt, der Absatz in der Hauptsache doch
"uf dem innern Markt gesucht und gefunden worden. Der Verbrauch von Fabrikaten
'se im deutsche» Volke ganz erstaunlich gewachsen. Der Übergang von der alten
gemächlichen hauswirtschnftlichen Produktion zur technisch viel leistungsfähigern
volkswirtschaftlichen oder gewerbsmäßigen, der sich neuerdings in rapiden Tempo
vollzogen hat, erklärt das. Zwar reicht er mit seinen Anfängen weit zurück, aber
früher machte sich die Veränderung nnr im Haushalt der obersten Hunderttausend
geltend, in neuer Zeit hat sie auch in den Millionen der weniger Bemittelten um
s'es gegriffen und ist dadurch thatsächlich zu einem besonders charakteristischen Merk-
Mal für die Entwicklung unsers Wirtschaftslebens in der jüngsten Vergangenheit
old Gegenwart geworden.'
Es ist klar, daß diese Umwälzung in der Produktion auch im Handel eine
große Veränderung bewirken mußte. Der Grundsatz „großer Umsatz, kleiner Nutzen"
wurde dadurch erst recht zum Trumpf. Je mehr billige Gebrauchsgegenstände das
Gewerbe erzeugte, und je mehr die weniger bemittelten Klassen sie kauften, um so
dringender wurde bei diesen, den Konsumenten, das Verlangen, die Quote, um die
der Handel den Preis erhöhte, hinabzndrücken, und um so mehr kam der Zwischen-
Händler in die Lcige, diesem Verlangen zu entsprechen. Natürlich nur bei größerm
Umsatz. Wer den Gang der Dinge in Stadt und Land, in der Kleinstadt und in
der Großstadt mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, daß
sich der Kleinhandel vielfach längere Zeit mit Erfolg dagegen gesträubt hat, mit
kleinerm Nutzen vorlieb zu nehmen. Er hat dabei ein schönes Stück Geld verdient.
Er konnte die gegen früher zu Spottpreisen vom Gewerbe gelieferten, ihm oft mit
unglaublicher Kreditgewährung geradezu aufgedrängten Waren zu verhältnismäßig
sehr hohen Preisen an die Verbraucher absetzen. Gerade die Massenerzengnisse der
Industrie, die geringen Verbrauchswaren für die kleinen Leute, Fingerhüte, Nadeln,
gewöhnliche Messer, Glas- und Porzellanstoffe, einfache Kleidungsstücke, Zwirn usw.
ließen hohen Aufschlag zu. Dann kamen die Konserven und andre Nahrungs- und
Genußmittel dazu, die in Massen und billig fabriziert vom Kleinhändler immer
noch als Rarität an den Mann gebracht werden konnten. Es wird Wohl richtig
sein, was alle Volkswirte sagen, daß das Volk alle diese Sachen viel zu lange viel
zu teuer bezahlt, und daß es sich auch jetzt noch lange nicht den erwünschten Anteil
an der Verbillignng der Produktion dieser Verbranchsgüter erobert habe, wenn auch
die Konsumvereine, wo sie gut verwaltet wurden, den übermäßigen Gewinn des
Zwischenhandels gehörig beschnitten haben mögen. Es ist auch ganz richtig, wenn
die Detaillisten, die an der altväterischen bequemen Weise festhalten möchten, darüber
klagen, daß die Warenhäuser ihnen gerade die Waren wegnehmen, an denen sie am
meisten verdient hätten. Aber volkswirtschaftlich berechtigt ist die Klage nicht, und
ein Grund, gesetzgeberisch einzugreifen, ist sie erst recht nicht.
Aber es kommt etwas dazu, was die Lage verschärft hat, und was mehr in
die Augen springt. Die Zunahme der industriellen Produktion und des Umsatzes
in Jndustrieprodukten auf dem Jnlandsmarkt hat eine ganz ungeheure Zunahme
der Handelsbetriebe veranlaßt, entschieden eine ungesunde, viel zu starke Zunahme,
und zwar mich der kleinen und der mittlern Betriebe. Wir müssen da mit einigen
Zahlen aufwarten.
Im Handelsgewerbe — ohne das Versicherungs-, Verkehrsgewerbe und die
Gast- und Schankwirtschaft — sind gezählt worden:
Die praktische Wirkung, die die in diesen Zahlen ausgedrückten Veränderungen
in der Zusammensetzung des Handelsgewerbes nach Betriebsgrößenklassen hervor¬
gebracht haben, wird aus folgender Zahlenzusammenstellung ersichtlich:
In dem Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe zurückgeblieben sind also nur
die Alleinbetriebe. Sie haben aber immer noch um die erstaunliche Zahl von
57173 zugenommen und sind Wohl sehr viel zahlreicher geworden, als wirtschaftlich
und sozial zu wünschen ist. Aber nun gar die Gehilfenbetriebe. Die Zunahme
der Betriebe mit 51 und mehr Personen um 121,7 Prozent kann wenig Eindruck
machen; die absoluten Zahlen sind dazu zu niedrig. Die Zunahme ihres Anteils
an der Gesamtzahl ist so minimal, daß sie in unsrer Berechnung ganz verschwindet.
Dagegen haben die Gehilfenbetriebe bis zu 5 Personen um ganze 111151 oder
78,7 Prozent der Anzahl nach zugenommen und dadurch ihren Anteil an der
Gesamtzahl von 31,2 auf 39,7 Prozent, d. h. um 8,5 erhöht. Von der Gesamt-
zunahme der Betriebe kommen auf alle Betriebe bis zu 5 Personen ganze 92,3 Pro¬
zent und auf die Gehilfeubetriebe bis zu 5 Personen 61,0 Prozent.
Auch bei der größten Vorsicht in den Schlußfolgerungen aus solchen Zahlen
wird man zu der Annahme kommen müssen, daß wenn überhaupt ein Übermaß
von Konkurrenz im Handelsgewerbe besteht, dieses Übermaß in den Klein- und
Mittelbetrieben mindestens ebenso sehr, vielleicht noch mehr zu suchen ist als in
den Großbetrieben. Und das stimmt doch auch vollkommen mit dem überein. was
man seit Jahren, namentlich tu den Mittel- und Großstädten -- wo die Waren-
hausplage doch hauptsächlich beklagt wird — bei dem kleinen und mittlern Laden¬
geschäfte wahrnehmen kann. Werden doch von Jahr zu Jahr immer mehr Woh¬
nungen in den untern Stockwerken in Verkaufsräume und immer mehr Straßen,
die früher nur Wohnzwecken dienten, in Geschäftsstraßen mit Laden an Laden ver¬
wandelt.
Auch folgende Zahlen. die das Handelsgewerbe mit andern die größte Betriebs¬
zahl aufweisenden Gewerbegruppen in Vergleich stellen, sind recht lehrreich. Es
sind gezählt worden:
Also nnr im Handelsgewerbe hat die Zahl der Betriebe sich stärker vermehrt
als die der Einwohner.
Und endlich seien noch die Durchschnittsgrößeu der Gehilfenbetriebe in denselben
Gewerbegruppen mitgeteilt. Es kamen auf einen Gehilfenbetrieb:
Hier hat das Handelsgewerbe die kleinste Verschiebung „zum Großbetrieb hin"
aufzuweisen.
Bet diesem statistischen Thatbestande mußte jedenfalls, wenn trotzdem die Gesetz¬
gebung zum Zweck der Eindämmung oder gar der Erdrosselung des Großbetriebs
im Detailhandel in Bewegung gesetzt werden sollte, der stritte Beweis der Not¬
wendigkeit geführt werden. Davon aber ist weder in der Begründung des Ent¬
wurfs noch in den sonstigen Auslassungen der Regierung zur Sache die Rede.
Wohlverstanden handelt es sich in dem Entwurf nicht etwa um die Eindämmung
einzelner hie und da durch die Warenhäuser hervorgerufneu örtlichen Mißstände.
Dazu reicht, wie die Regierung selbst wiederholt betont hat, das bestehende Recht
in Preußen ans. Es giebt den Gemeinden die Vollmacht, die Großbetriebe durch
eine besondre Gewerbesteuer zu belasten, wenn sie durch die allgemeine Gewerbe¬
steuer nicht hinreichend im Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit und zu dem
Nutzen, den ihnen die Gemeindeeinrichtungen gewähren, getroffen werden. Nun
haben aber die preußischen Gemeinden, die doch die nächsten dazu sind, diese
Notwendigkeit bisher nirgends empfunden, und ebenso haben sich die preußischen
Handelskammern, die die Regierung in solchen Dingen zu „hören" verpflichtet ist,
mit verschwindenden Ausnahmen gegen eine allgemein anzuordnende Warenhaus¬
steuer, wie der Entwurf sie will, erklärt. Nirgends eine Spur von Beweis der
Notwendigkeit ini öffentlichen Interesse! Einzig und allein die Klagen sogenannter
„freier Vereinigungen von kleinen Gewerbetreibenden," denen die bestehende Gesetz¬
gebung eine öffentlich rechtliche Autorität — und das doch nicht ohne Grund —
versagt hat, hat die Regierung zur Einbringung des Entwurfs veranlaßt. Das
sind die „Schreier," denen zuliebe auch hier zu einem Opus opöi-aom geschritten
wird, das niemand befriedigt, und dessen Halbheit und Unhnltbnrkeit der haupt¬
sächlich beteiligte Minister, Herr von Miguel, seinen eignen Äußerungen nach selbst
vollkommen einsieht.
Ob das Abgeordnetenhaus aus dem Halben ein Ganzes machen wird, indem es
die Warenhaussteuer zu einer wirklichen Erdrosselungssteuer umgestaltet, kann man
nicht wissen. Die Kommission hat es ihm vorgeschlagen. Und wenn sich dann die
Regierung zu einem bestimmten Nein aufraffen sollte, was wird die Folge sein?
Eine weitere, beklagenswerte Einbuße des Vertrauens bei der kritiklosen Masse,
ein weiterer Machtzuwachs für die Herren vom Bund der Landwirte, die, findig
wie sie sind, auch diese Sache zu der ihren gemacht, auf ihr Konto schon rührig
agitiert und sich im Kleinbürgertum tausende blind gläubiger Genossen ge¬
worben haben.
Professor Gustav Cohn in Göttingen sagt in seiner Nationalökonomie des
Handels und Verkehrswesens: „Es kann keinem Gebiete der Produktion oder, mit
andern Worten, den Konsumenten dessen, was diese Produktion leistet, zugemutet
werdeu, sie sollen jede beliebige Anzahl von Existenzen ernähren, die sich hinzu¬
drängen. Nun giebt es gewisse Zweige des Kleinhandels, in denen die Überfüllung
so augenscheinlich ist, daß eine Forderung, die darauf hinausläuft, der Absatz und
die Verkaufspreise sollen genügen, um alle vorhandnen Kleinhändler auskömmlich
zu ernähren, nichts andres bedeutet, als eine Forderung an die Konsumenten, sie
sollen ihren Bedarf auf dem teuersten und schlechtesten Markte kaufen statt auf
dem billigsten und besten Markte." Die ernsthafte Abhilfe sei nur in einer ver¬
ständigem Berufswahl zu suchen, in dem Verzicht auf scheinbar lohnende, bequeme
Erwerbsarten, in dem Übergang zu mühsamem aber zuverlässigem Berufen.
Andernfalls gelange man oder stehe schon auf dem Boden des sozialdemokratischen
„Rechts auf Arbeit," und man mache die Sache nicht besser, sondern schlechter,
Die Nationalsozialen hat mancher im Ver¬
dacht, daß ihre Begeisterung für den Kaiser und für die Flotte nur den Zweck
habe, den Regiernngswind für ihr soziales Segel einzufangen. Bei ihrem Hanpte
Naumann ist das sicherlich nicht der Fall. Er hat seine politischen Ansichten in
einer dieser Tage erschienenen 231 Seiten starken Schrift: Demokratie und
Kaisertum, ein Handbuch für innere Politik (Buchverlag der „Hilfe" in Berliu-
Schöneberg) im Zusammenhange entwickelt, und man sieht daraus, daß die Ent¬
schiedenheit, mit der er für die persönliche Regierung des Kaisers und für die
Flottenvermehrung eintritt, eine unabweisbare Folge seiner Voraussetzungen ist, und
daß seine Ansichten einen wohlgeordneten, durchsichtigen und folgerichtigen Ge-
dankenbau bilden, der noch dazu den Vorzug hat, der stärksten Strömung unsrer
deutschen Gegenwart zu entsprechen, sodaß sein Zukunftstraum eher als jeder andre
Aussicht hat, verwirklicht zu werden. Er behandelt in drei Abschnitten und ein¬
undzwanzig Kapiteln die Demokratie (1. Demokratie als Voraussetzung des Sozia¬
lismus, 2. Die Unmöglichkeit der demokratischen Revolution, 3. Die Träger der
Demokratie, 4. Demokratie als Gesinnung, 5. Demokratie als politische Idee,
6. Das allgemeine Wahlrecht, 7. Demokratische Dezentralisation, 8. Demokratische
Organisation des Wirtschaftslebens), die drei Aristokratien (1. Die Notwendigkeit
aristokratischer Elemente, 2. Die agrarische Aristokratie, 3. Die industrielle Aristokratie,
4. Die klerikale Aristokratie, 5. Das politische Spiel der Kräfte), und das Kaisertum
(1. Das Deutsche Reich als Wirtschaftskörper, 2. Militärische Monarchie und
Nationalstaat, 3. Das Wesen des deutscheu Kaisertums, 4. Die Politik Kaiser Wil¬
helms II., 5. Demokratie und Heer, 6. Die deutsche Kriegsflotte, 7. Das soziale
Kaisertum, 8. nationaler Sozialismus). In der durch diese Überschriften vorge¬
zeichneten Reihenfolge werden die Elemente unsers heutigen Staats-, Volks¬
und Wirtschaftslebens klar, scharf und mit rücksichtsloser Wahrheitsliebe gezeichnet,
wird ihr Wesen aufgedeckt, ihre Entstehung erzählt und die Ansicht des Verfassers
darüber, wo es nötig scheint, statistisch begründet. Seine Hauptgedanken sind
folgende:
Nachdem die Sozialdemokratie — nicht in Worten aber thatsächlich — auf
ihre Utopie und auf die offenbar unmögliche Revolution, sei es auch nur zur Her¬
stellung einer bloßen Demokratie, verzichtet hat, sitzt sie auf einem toten Strange
fest. Sie kann nichts als mit den schwächlichen Resten der bürgerlichen Demokratie
zusammen negieren und hemmen, was ja manchmal nützlich ist, wenn es zur Ab¬
wendung reaktionärer Attentate geschieht, und der Beistand des Zentrums der Demo¬
kratie zu einem Erfolg verhilft, was aber nicht die Hauptaufgabe der Politik und
vor allem kein Fortschritt ist. Diese Lähmung des größten und tüchtigsten Teils
der Lohuarbeiterschaft muß um so mehr beklagt werden, als sich unser Wirtschafts¬
leben im Sturme vorwärts bewegt, und die industriellen Arbeiter die gebornen
Träger dieses Fortschritts sind. Immer näher rückt ihren Kreisen der Schwerpunkt
unsrer Wirtschaft, damit auch der des Staates, bald wird er ganz hineinfallen.
Schon jetzt ist der Konsum der industriellen Lohnarbeiter weit beträchtlicher als der
der Bauern, sodaß das Sprüchlein nicht mehr lautet: Hat der Bauer Geld, hats
die ganze Welt, sondern: Nur wenn der Industriearbeiter Geld hat, hat auch der
Bauer welches. Der Geburtenüberschuß beträgt jetzt schon 800000 bis 900000
jährlich, wird binnen wenigen Jahren die Million übersteigen, und dieser ganze un¬
geheure Zuwachs kann, unbeträchtliche Abzweigungen abgerechnet, nirgend anderswo
als in der Industrie, und zwar in deren Lohnarbeiterschaft, untergebracht werden.
Somit wird in kurzer Frist das deutsche Volk seiner Mehrzahl nach aus In¬
dustriearbeitern bestehn, und demnach auch im Reichstage dieser Hauptbestandteil du:
Mehrheit haben müssen. Eine so ungeheure Masse kaun aber nicht ungegliedert
politisch thätig sein. sie bedarf einer führenden Aristokratie, und zu dieser sind die
Ansätze in der Elite der gelernten Arbeiter schon vorhanden. Auch diese neue
Aristokratie, soll sie politisch wirksam werden, muß organisiert sein, und schon aus
diesem Grunde müssen die gesetzlichen und polizeilichen Erschwerungen der Arbeiter-
organisation endlich einmal aufhören. Die Zeit, wo die bürgerliche Demokratie
Führerin der Arbeiterbewegung hätte werden können, ist vorüber; heut bleibt dieser
Demokratie, die nur noch ans Krücken in den Reichstag hinkt, nichts übrig, als mit
der Arbeiterdemokratie zu verschmelzen. Nun bestehn ja noch drei ältere Aristokratien,
die alle drei die Arbeiter führen wollen. Aber abgesehen von der kirchlichen
Aristokratie, d. h. von der katholischen Geistlichkeit, die sich der Führung der
ganzen katholischen Bevölkerung bemächtigt und dadurch eine vorübergehende poli¬
tische Ausnahmeerscheinung geschaffen hat, ist von den andern beiden Aristokratien
die eine gar nicht, die andre vorläufig nicht geeignet, die industrielle Arbeiterschaft
zu führen. Die ostelbische Grundaristokratie, die sich in der konservativen Partei
organisiert hat, steht ihr als geborne Feindin der Demokratie und der Industrie
mit doppelter Feindschaft gegenüber. Die industrielle Aristokratie der Unternehmer
aber ist durch den Interessengegensatz mit ihren eignen Arbeitern verfeindet. Für
sich allein würden beide Aristokratien in einem Staatswesen mit allgemeinem Stimm¬
recht zur Ohnmacht verurteilt sein, weil sie mir eine dünne Schicht bilden. Aber
den ostelbischen Großgrundbesitzern ist es gelungen, die Bauern für sich zu ge¬
winnen, deren Feinde sie nicht mehr sind, seitdem ihnen die schlechten Getreidepreise
die Lust benommen haben, ihren Grundbesitz auf Kosten des Banernlandes auszu¬
dehnen, und außerdem spielen sie sich noch als Beschützer des städtischen Mittel¬
standes auf. Die Großindustriellen aber und die ihnen durch Interesse verwandten
Großhändler haben es noch gar nicht zu einer politischen Organisation gebracht
und verteilen sich in drei Fraktionen, die freikonservative, die nationnlliberale und
die freisinnige, die ihren Ursprung jetzt nicht mehr vorhandnen politischen Verhält¬
nissen und Bedürfnissen verdanken. Am schwersten hat die nationalliberale Partei
darunter gelitten, daß sie sich gegen die Anerkennung des Wesens aller politischen
Parteien sträubte, die nichts als zu politischen Zwecken organisierte Volksschichten
sind; sie hat keine solche Schicht zur Grundlage und lebt jetzt in weiten Gebieten
nur noch von der Gnade des Bundes der Landwirte als dessen Helferin. Bis
jetzt hat sich die Industrie mit den Agrariern vertragen, teils weil sie selbst schutz-
zöllnerisch war und mit den Agrarier» zu gegenseitiger Unterstützung in Zollsachen
einen Vertrag geschlossen hatte, teils weil ihr die Agrarier halfen, die Arbeiter¬
bewegung niederzuhalten. Je deutlicher es sich jedoch täglich zeigt, daß unser Jn-
landsmarkt der Industrie nicht genügt, daß die heimische Landwirtschaft ihren, der
Industrie, Bedarf an Nahrungsmitteln und Rohstoffen nicht zu decken vermag, daß
wir, um die gewaltige Menge dieser Einfuhrwaren kaufen zu können, Jndustrie-
erzeugnisse ausführen müssen, und daß wir dieses nur bei niedrigem Preise der
Nahrungsmittel können, desto mehr müssen die Industriellen Freihändler werden,
und desto näher rückt der Tag, wo sie einsehen werden, daß ihnen das Bündnis
mit den Agrariern teurer zu stehn kommt als das mit ihren Arbeitern, das sie
dann mit der Bewilligung der Arbeiterforderungen erkaufen werden. (Sollte es
dahin kommen, so würde, glaube ich, nicht eine Arbeiteraristokratie, sondern die
Unternehmerschaft die politische Führung der Arbeiter antreten und anfänglich aller¬
dings im Einvernehmen mit den intelligenten Arbeitern handhaben.) Um die Macht
der Ostelbier rascher zu brechen, soll man, rät Naumann, die Landarbeiter ans der
Vormundschaft der Gutsbesitzer zu befreien suchen. „Der beste Ansatzpunkt ist der
Landhunger. Man fasse die Parole »das Land der Masse« in greifbare Vorschläge
von Parzellierung oder auch genossenschaftlicher Verwaltung! Daneben protestiere
man gegen die Einfuhr der Ausländer! Die Einfuhrerschwerung bezüglich der
Polen, Russen, Galizier ist eine scharfe nationale Waffe gegen das Großgütershstem
als solches." Auf diese Weise muß eine demokratisch-industriell-freihändlerische
Mehrheit entsteh», der eine konservative Minderheit gegenübersteht. Diese kann
zwar, so lange das Zentrum lebt, mit ihm zusammen vielleicht noch die Mehrheit
erlangen, was nach Naumann, wenn es ein bleibender Zustand würde und die
Regierung das konservativ-klerikale Kartell segnete, ein großes Unglück sein würde,
aber er meint, das Zentrum müsse doch endlich einmal durch Beseitigung aller kon¬
fessionellen Streitpunkte (die aber nicht leicht sein wird, wenn, wie Naumann will,
der Staat die Schule nicht klerikalisieren läßt) gesprengt werden und in einen
konservativen und einen demokratischen Flügel zerfallen. Die herrschende Demokratie
der Zukunft (wenn man eine Jndustriebevölkerung, in der die Unternehmer herrschen,
Demokratie nennen darf) bedeutet min natürlich nicht etwa die Republik. Die Not¬
wendigkeit der monarchischen Verfassung des neuen Reichs nicht bloß, sondern des
persönlichen Regiments, das zuerst Bismarck im Namen des Kaisers geführt hat,
wird sehr schön, wenn auch meiner Ansicht nach nicht erschöpfend dargethan. Der
Kaiser ist von den beiden Mächten, die im Reiche walten (die „verbündeten Re¬
gierungen" zählen nicht mehr), die stärkere und muß es bleiben; aber er kann nichts
ändern an der Natur des Reichs, die darin besteht, daß es politisch auf einer aus
dem allgemeinen gleichen Wahlrecht hervorgehenden Volksvertretung beruht, und
daß es vorzugsweise aus wirtschaftlichen Bedürfnissen hervorgegangen ist, wie Nau¬
mann an der Entstehungsgeschichte des Reichs aus dem Zollbunde und an der
Reichsverfassung nachweist. Und Kaiser Wilhelm II. will daran auch gar nichts
ändern, namentlich nicht am zweiten, er ist nach Naumann, wie Bismarck in seiner
besten Zeit, ganz und gar modern, Freund des Kapitalismus und der Industrie.
Gegenwärtig befindet er sich in der unnatürlichen Lage, sich in Fragen der Landes¬
verteidigung auf die Konservativen, die, um ihre politische Stellung zu retten, sogar
die verhaßte Flotte bewilligen, in Fragen unsrer wirtschaftlichen Entwicklung, von
der unsre ganze Zukunft abhängt, auf die vereinigte Linke stützen zu müssen. Diese
Lage hat die Demokratie, die bürgerliche wie die sozialistische, durch ihren unver¬
ständigen Widerstand gegen Militär- und Flvttenvorlagen verschuldet. Sehr ein¬
dringlich beweist Naumann den sozialistischen Arbeitern, einmal, daß sie bei Fort¬
setzung dieses Widerstands niemals die Mehrheit erringen können, weil die Parole:
Macht und Sicherheit des Vaterlands, stets die Mehrheit gewinnt, dann, daß auch
ihr Heil vom wachsenden Reichtum der Nation abhängt, und daß dieses Wachstum
anders als militärisch nicht gesichert werden kann. „Es giebt keine Morgenröte
neuer Zeiten ohne Pulver und Blei. Das ist moralisch und ästhetisch angesehen
jammervoll, aber es ist die Wirklichkeit." Niemand könne dem Kaiser zumuten,
daß er die Demokratie lieben, noch den Arbeitern, daß sie alle ihre demokratischen
Grundsätze aufgeben sollen, aber die Notwendigkeit werde beide zusammenführen.
Kein Teil könne den andern entbehren; die Arbeiter brauchten den Kaiser als
Bahnbrecher der wirtschaftlichen Entwicklung, der Kaiser sei Heerkönig, die Masse
des Heeres werde bald aus Industriearbeitern bestehn, seine Macht beruhe also
darauf, daß er körperlich kräftige, intelligente und patriotische Industriearbeiter
habe. „Viel unklarer als eine Demokratie, die ihr Prinzip wahrt, aber praktisch
mit dem Kaiser geht, ist ein Konservatismus, der theoretisch die absolute Macht
anerkennt und praktisch gegen sie agitiert." Das Verdienst oder Mißverdienst, steh
vorzugsweise und am erfolgreichsten um die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen
unnatürlichen Zustands bemüht zu haben, gebühre dem als Finanzminister unstreitig
hochverdienten Miauet. Aber lange werde es ihm nicht mehr gelingen. „Wenn
ihm einmal der Arzt, und sei es auch ein politischer Doktor, die Fortsetzung seiner
aufreibenden Thätigkeit untersagen sollte, würde niemand da sein, der das alte
Kartell immer wieder von neuem leimen könnte."
Wenn man sämtliche Prämissen Naumanns zugiebt, wird man seinen Folge¬
rungen kaum ausweichen können. Ich bestreite einige dieser Voraussetzungen, ver¬
zichte aber darauf, meine abweichende Meinung hier noch einmal zu begründen.
Das kleine Buch wird in weiten Kreisen einschlagen, denn es bewegt sich, wie
gesagt, in der herrschenden Strömung, und es ist frisch, fesselnd, packend, in schöner
Sprache geschrieben und vom warmen Hauch aufrichtiger Begeisterung durchweht.
Naumann schließt mit einem Ausblick in die Zukunft: „Worauf es ankommt, ist der
Thatbeweis, daß Deutschland ohne die Ostelbier regiert werden kann. . . . Noch
immer heißt die Znkunftslosung für unser Vaterland: soziales Kaisertum! Ist dieses
gefunden, dann fällt die Erinnerung an alles Mißtrauen und alle Enttäuschung der
Vergangenheit in sich zusammen, dann redet niemand mehr vom innern Feind, dann
aber klingt es aus Millionen deutscher Seelen . . . vom Schacht, vom Steinbruch,
aus der Arbeiterversammlung: Es lebe der Kaiser! Mag dann der Osten knurren
und brüllen, der Westen und Süden hat dann erst ganz seineu Kaiser gefunden.
Der Schwerpunkt Deutschlands wird von rechts der Elbe nach links der Elbe ver¬
legt. Wie aber bisher der Osten dem Westen seine Gesindeordnung aufzuprägen
suchte, so wird dann Westen und Süden die schöne Aufgabe übernehmen, ein Land¬
programm für den Osten auszuführen: Bauergut an Bauergut bis an die russische
Grenze! Der Kaiser hat von der Sozialdemokratie gesagt, sie sei eine vorüber¬
gehende Erscheinung. . . . Vorübergehende Erscheinungen sind Zuchthausvorlagen
und ähnliches einerseits und undeutsche Politik andrerseits, aber bleibende Erschei¬
nungen sind die Armee und die Masse, der Kaiser und die Demokratie. Im Bunde
werden sie das beste leisten können, was in Deutschland überhaupt möglich ist."
Seit dem Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts entstanden im sächsischen Erzgebirge und an seinen
Abhängen nördlich ins Land hinein in neucmgelegteu oder unter dem Segen des
Bergbaus aufblühenden Städten (Annaberg, Zwickau, Freiberg usw., im ganzen neun)
spätgotische Kirchen, die eine innerlich zusammenhängende Baugruppe bilden. Von
der Gotik der Blütezeit mit ihrer ausgesprochnen Vertikalrichtung, die nicht bis in
diese Gegenden vorgedrungen war (die einzige gotische Kirche von Bedeutung ist
der Meißener Dom), weichen sie ab; sie zeigen eine mehr horizontale Gliederung,
und in ihrem Grundriß macht sich im Gegensatz zu der gotischen Längenrichtung
auch die Breite geltend. Sie nähern sich also wieder der romanischen Weise, die
sich in hervorragenden Denkmälern hier erhalten hat, und sie sind auch zum Teil
in romanische Architekturreste eingebaut. Wichtiger ist nun, daß sich in dieser
Baugruppe etwas der italienischen Renaissance verwandtes ausspricht, was dann
von Franken und Schwaben seinen Weg hierher gefunden haben müßte; Dohme,
der zuerst mit Nachdruck von dieser örtlichen Erscheinung gesprochen hat, dachte an
Nürnberg als Ausgangspunkt. Es äußert sich einmal in der freien Behandlung
des Zierwerks und dann in einem geänderten Raumgefühl: man giebt gegenüber
der Höhe und der Länge nun der Breite ihr Recht, man drängt den Chor zurück
und verringert die Pfeilerzahl, man will einen das Ganze beherrschenden, einheit¬
lichen Hauptraum.
Seit Dohme in seiner Geschichte der deutschen Baukunst den Stoff gesichtet
hatte, lag hier ein schönes Thema in der Luft, an dem sich Fleiß und Beob¬
achtungsgabe bewähren konnten. Ein tüchtiger Bearbeiter ist ihm durch eine Preis¬
aufgabe der Leipziger Universität zugeführt worden: Erich Hähnel, Spätgotik und
Renaissance, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Architektur, vornehmlich im
fünfzehnten Jahrhundert (Stuttgart, Paul Reff). Das Buch befriedigt zuerst durch die
zweckmäßige Anordnung des Stoffs: den sächsischen Kirchen werden die fränkisch¬
schwäbischen, demnächst die westfälischen vorangestellt; von beiden Seiten her sind
Einflüsse vorauszusetzen. Sodann sind die Abbildungen reichlich und auch gut ge¬
wählt; der Leser kann urteilen, und er wird, wenn er zwanzig Jahre zurückdenkt,
auch nicht so anspruchsvoll sein wie der Verfasser, der seine Illustration entschuldigt.
Den Abbildungen gehn gemeine Stilzergliedernngen zur Seite, die in ihren manch¬
mal langen, mit technischen Ausdrücken überfüllten Sätzen nicht immer leicht zu
lesen sind. Aber der Verfasser wollte ja nicht für jedermann schreiben, sondern für
wissenschaftliche Leute. Er ist eifrig bemüht, die Schlingen der Untersuchung überall
enger zu ziehn, und richtet im ganzen sein Augenmerk hauptsächlich auf das Raum¬
bild. Anerkennenswert ist das Bestreben, die Baugestaltung bis ins einzelne aus
der Geschichte und den Bedürfnissen der Zeit abzuleiten. Äußerlich sind die Kirchen
verhältnismäßig einfach; im Innern spricht sich mehr oder weniger deutlich die Rück¬
sicht auf den evangelischen Kultus mit seiner Predigt aus. Die Predigtkirche, die
sich hier vorbereitet, möchte der Verfasser „Saalkirche" nennen zum Unterschiede
von der Hallenkirche der klassischen Gotik. Ganz saalartige Gotteshäuser finden sich
in einigen Orten (Oberen, Ruppertsgrüu, Niederplanitz), und die zwei Kirchen
in Rochlitz, Hauptvertreter einer besondern Baugruppe neben jener erzgebirgischen,
haben ein Schiff von beinahe quadratischem Grundriß. Der Verfasser legt großen
Wert darauf, daß die spätgotische Architektur eine „Raumkunst" gewesen sei, aber
der Nachweis fehlt; es liege mehr im Gefühl. Daran wird auch der Schluß, daß
diese spätgotische Architektur nicht etwa bloß der Renaissance nahe kommt, sondern
Renaissance „ist," vorläufig nur für ihn selbst Geltung haben können.
Lesern von Justis Velazquez wird eine sogar für einen Kunsthistoriker unge¬
wöhnliche Kenntnis von Kostümfragcn aufgefallen sein. Jetzt tritt auch sein Bruder,
der Sprachforscher, als Kenner an die Öffentlichkeit, und zwar als Sammler von
Volkstrachten, mit selbstgemachten Aufnahmen nach der Natur: Hessisches Trachten¬
buch von Ferdinand Insel (Marburg, Elwert). erste Lieferung mit acht Tafeln in
Großfolio. Zwei Bauern im Zimmer sitzend, Kniestücke; zwei junge und zwei alte
Frauen, bis zu den Füßen, im Zimmer, in einer Landschaft oder vor einer Kirche
sitzend oder stehend, endlich zwei Brnstschmucke. Buntstickerei ans Seide. Die litho¬
graphisch wiedergegebnen Aquarellbilder sind durchaus Porträts ohne künstlerische
Phantasiezugaben, wie der Verfasser bemerkt, der sich davon einen ungeheuern Schatz
angelegt haben muß; sie machen den Eindruck großer Treue, die Figuren haben in
ihrer Natürlichkeit sogar etwas treuherziges und nichts von der Koketterie der meisten
Trachtenbilder ans unsern Postkarten.
Der Text ist reich an guten Beobachtungen. Unsre Volkstrachten sind stehn-
gebliebne städtische Moden früherer Zeiten; wann und wie sie sich aber allmählich
festgelegt haben, und warum sich auffallende Arten auf einzelnen engern Gebieten
(Hessische Schwalm und Herzogtum Altenburg) erhalten haben, wissen wir nicht.
Die Bauerntracht verschwindet allmählich, schon aus dem Grunde, weil sie kostbarer
ist als die heutige Stadtkleidung. Einzelnes, unter andern, die Kniehosen, erhält
sich im Sport und in der Hoftracht, wenn es auch leider auf dem Umwege über
England wieder zu uns kommt. Wo sich die Volkstracht noch ganz gehalten hat,
kann sie den Knlturhistoriker und Kunstforscher interessieren nicht nur wegen der
Stoffe und Schnitte, sondern namentlich auch wegen der Art, wie sich die Menschen
darin ausnehmen. Die Kleidung bestimmt die Haltung und die Bewegung; enge
Kleidungsstücke haben einen andern Gang zur Folge als weite, und schleppende Kleider
müssen anders getragen werden als kurze; die Bäuerinnen der Marburger Gegend
Ziehn bei jedem Wetter tief ausgeschnittne Schuhe an und gehn deshalb zierlich,
die des Hinterlandes mit hohem Schuhwerk treten auf wie Männer. Eine in voller
Tracht „aufgesetzte" Bauersfrau kann sich kaum anders bewegen als gemessen, und
wenn sie sich ganz feierlich fühlt, in der Kirche bei der Erteilung des Segens oder
vor dem Abendmahl, so „trinkst" sie. wie es vor Zeiten unsre vornehmen Urgro߬
mutter thaten. Das Volk bewahrt also mit seiner Tracht zugleich noch etwas von dem
Leben früherer Geschlechter. Der nivellierte Stadtmensch, der keinen persönlichen
Geschmack mehr hat, findet das alles komisch. Fassen wir aber einmal die Be-
Völkerungsteile, die in ein Trachtendorf zuerst städtische Kleider hereinbringen,
schärfer ins Auge, so wird uns das Alte ungleich würdiger erscheinen; ein Bauer
in seinem Kirchenrock und gelegentlich auch noch mit dem Dreispitz auf dem Kopfe
ist nichts weniger als eine lächerliche Figur.
Kennt übrigens der Leser die Vorgeschichte seines Cylinderhnts, über dessen
Verhältnis zu der Mode des Tages er sich jedenfalls schon manchmal Gedanken
gemacht haben wird? Zuerst finden wir ihn, sehr hoch, auf den Häuptern der
griechischen Teilnehmer am Konzil in Konstanz, dann bei den Spaniern, die alles
Ernste lieben. In Deutschland gehört er schon im sechzehnten Jahrhundert zur
Ausstattung der Leidtragenden, weswegen wir ihn auf Darstellungen der Grab¬
legung autreffen; und in einer Dürerschen Zeichnung der Anbetung der Könige
hält sich der zum Empfang ausgestandne Joseph größerer Feierlichkeit halber ein
Ri
Nachdem in Jules Verres Romanen das Mittel
gefunden worden ist, den jüngern Jahrgängen auf angenehme Weise geographische
und naturwissenschaftliche Kenntnisse beizubringen, hat man in Amerika zur Unter¬
haltung der ältern diese Darstellungsart auf das unbekannte Land ausgedehnt, das
jenseits unsrer Erfahrung liegt. Ob es dabei mehr auf spiritistische Genüsse abgesehen
ist oder auf eine Belehrung durch die Negative, insofern in der jenseitigen Welt
ohne Zeit, Raum, Schwergewicht usw. alles umgekehrt sein muß wie in unsrer
jetzigen, läßt sich kaum sagen, und diese Ungewißheit scheint sogar mit zu den Reizen
der Darstellung zu gehören. Der Leser reibt sich die Stirn und fragt: Verstehe
ich das nur nicht, oder ist es überhaupt nicht zu versteh»? und um das festzustellen,
liest er immer mal erst wieder weiter. Soviel Gedanken macht man sich lange
nicht bet jedem Buch!
Eine solche Reise in das unentdeckte Land beschreibt ein ins Deutsche übersetztes
zweibändiges Werk von John Uri Llohd, Etidorhpa oder das Ende der Welt
(Leipzig, W. Friedrich). Um einen wirkungsvollen Abstand zwischen dem Leser und
dem Schauplatz herzustellen, sind einige Kulissen eingeschoben. Wenn Mr. Lloyd
behaupten wollte, er hätte die Reise selbst gemacht, so wäre das eine etwas plumpe
Zumutung. Vor mehr als dreißig Jahren sitzt Mr. Drury — er heißt eigentlich
auch noch anders, und seine Person ist mit vielerlei Geheimnis umgeben — in
einer Stadt des amerikanischen Westens spät abends auf seinem Studierzimmer, da
tritt zu ihm ein hochgewachsener, langbärtiger Greis herein, der uns fortan unter
der Bezeichnung „Ich bin der Mann" nahe bleiben wird. Ist es ein leibhaftiger
Mensch oder ein Gespenst — Mr. Drury weiß es nicht und wird sich mich für
die Folge darüber nicht klar, da ihn der geheimnisvolle Gast Abend für Abend be¬
sucht und ihm aus einem Manuskript vorliest. Von diesem hat der Vorleser, der
es immer wieder mit sich wegnimmt, die Meinung: „Sehr viele werden darin nur
einen mittelmäßigen Roman sehen, für andre wird es ein unverständliches Rätsel
sein, für noch andre aber ein anregendes Studium bilden." Mr. Drury, dem sein
Gast das Heft bei seinem letzten Besuche zurückläßt, damit er es nach dreißig Jahren
veröffentliche, bemerkt dazu in einem Nachtrag: „Ob ich nnter magnetischer Be¬
einflussung oder im Trancezustande geschrieben habe, ob ich ein Opfer geistiger
Störung war oder der Welt eine glaubwürdige Geschichte erzählt habe, ob dies
Buch nur ein einfacher Roman ist oder einen prophetischen Sinn in sich birgt usw.,
dies zu entscheiden, muß ich den Lesern überlassen." Vorsichtigerweise sind diese
Worte ans Ende gestellt, sie können also Mr. Lloyd höchstens um solche Leser
bringen, die die Gewohnheit haben, ihre Bücher von hinten anzufangen.
„Ich bin der Mann," der Verfasser jenes Manuskripts, hat, wie der Leser
sich inzwischen selbst gesagt haben wird, die Reise in die andre Welt gemacht, aber
nicht als körperlicher Mensch. Er hat nach und nach seine Stimme, sein Gewicht,
seinen Atem, seinen Herzschlag und, soviel er weiß, anch seine Seele verloren. Ge¬
führt wurde er von einer Gestalt, die ihm ähnlich, aber nicht gleich war, und die
ihn zwang, ihr in immer neue und immer unheimlichere Gegenden zu folgen, was
nun im einzelnen beschrieben, durch viele Abbildungen veranschaulicht und, soweit
es sich um Mathematik, Physik und dergleichen handelt, durch in den Text gezeichnete
Formeln und Figuren erläutert wird. Im ganzen wird diese, wie ich schon bemerkt
habe, negative Naturschilderung dem Durchschnittsleser weniger Freude als Mühe
bereiten, und dem Naturkundigen, der sie mühelos liest, kommt sie dann vielleicht
erst recht zwecklos vor. Spaßhaft und witzig ist eigentlich nur eine erstaunliche
Zoologie über Affen, Kröten, Fledermäuse, Maulwürfe usw. II, 170; aber so etwas
allein lohnt doch die Kosten einer solchen Reise nicht. Ihr Zweck ist, wie der
Führer dem „Ich bin der Mann" mitteilt, den Glauben an das grobmaterielle,
von den Menschen auf der Erdoberfläche erworbne Wissen und an die materia¬
listische irdische Philosophie zu erschüttern und die Vorstellung zu erwecken, daß das
Erdenleben nur die Vorstufe zu einem herrlichen Dasein ist, wozu der Mensch, wenn
er der Selbstsucht entsagt, in künftigen Zeiten leibhaftig und körperlich gelangen
kann (II, 267). Einem zweiten Wesen aus dem Jenseits, das ihn noch weiter
führen soll, giebt der Reisende auf die Frage, ob er einsehen gelernt habe, daß
alles, was zu sein scheint, uicht ist, und das, was nicht zu sein scheint, ist — alles,
alles zu: „Ich weiß nicht gewiß, ob ich hier bin, oder ob Sie dort sind; ich weiß
nicht, ob ich jemals gelebt habe usw." Und nun darf er zunächst ans die Erde
zurück, in einem Scheinleibe, in dem er Mr. Drury besucht, um alsdann in die
endgiltige Vollkommenheit einzugehn, das Reich Etidorhpas. Ein weibliches Wesen,
wie man ans der Endung sieht, mit einem dunkeln Namen. Ich habe manchmal
darüber nachgedacht, was er bedeuten konnte, bis ein Freund fand, daß er eine
Umkehrung von Aphrodite sei. Da hinter dieser Attrappe nichts weiter steckt, was
herausspringen könnte, so ist sie nicht geschmackvoll. Gesehen hat er Etidorhpa noch
nicht, aber er spricht zu ihr wie im Gebete, und dann verschwindet er und hinter¬
läßt das Manuskript, das allein Mr. Drury die Gewißheit giebt, „Ich bin der
Mann" sei keine Halluzinntion gewesen, sondern eine objektive Thatsache."
Das Buch ist also unvollendet, worüber Mr. Drury und „Ich bin der Mann
ihre Formulierungen austauschen. Der Leser wird von diesem Abschluß nicht gerade
erbaut, aber doch mehr befriedigt sein, als wenn er nun noch zwei weitere Bände
über das Reich Etidorhpas vor sich hätte. Die Übersetzung ist, wie es scheint, recht
gut, das Papier, der Druck und die ganze Ausstattung vorzüglich. Hoffentlich findet
sich nun anch die dem Aufwand entsprechende Zahl von Leuten, die sich den Luxus
di
Über deutsche Volksetymologie von Karl Gustaf Umdrehen. Sechste verbesserte und
vermehrte Auslage, besorgt von ol'. Hugo Umdrehen. Leipzig, Reisland
Wie ernsthaft die Teilnahme ist, die weitere Kreise der Gebildeten der Ge¬
schichte unsrer Muttersprache entgegenbringen, dafür spricht wohl die Thatlache daß
ein durchaus wissenschaftliches Werk wie F. Kluges Etymologisches Wörterbuch der
deutschen Sprache es in vierzehn Jahren auf sechs Auflagen gebracht hat. Auf
eine einzelne, besonders anziehende Erscheinung im Sprachleben wurde das Inter¬
esse durch das 1876 zum erstenmal erschienene Buch des im Jahre 1891 ver-
storbnen K. G. Umdrehen hingelenkt, der sich das Verdienst erwarb, die unter dem
Namen „Volksetymologie" bekannten Veränderungen fremder und Umbildungen ver¬
dunkelter deutscher Worte im Zusammenhange darzustellen. Er unternahm es, den
an hundert Orten in Zeitschriften, Wörterbüchern, Grammatiker, Programmen und
Aufsätzen zerstreuten Stoff zusammenzutragen, und schuf durch seiue umsichtige und
übersichtliche Darstellung, sowie die besonnene Deutung all der rätselhaften Wörter
und dunkeln Ausdrücke nicht bloß für Freunde der Muttersprache ein genußreiches
Buch, sondern förderte dnrch manchen eignen Fund und treffende Erklärung auch
die Wissenschaft. Wie viele Wörter von grunddeutschen Aussehen entpuppten sich
hier als fremde Einwandrer, die so völlig ihre Herkunft zu verleugnen wußten,
daß manche sich bis auf den gegenwärtigen Augenblick dem prüfenden Blick des
Sprachforschers entzogen haben. Ist es doch selbst einem so gediegnen Gelehrten
wie Kluge entgangen, daß der Pflanzenname „Drachenwurz" mit Drache gar nichts
zu thun hat, sondern auf ein arabisches Wort, den-Inn, zurückgeht. Und erst eben
belehrt uns der bekannte Herder- und Goetheforscher Bernhard Suphan in seiner
Festschrift zu Paul Heyses siebzigsten Geburtstage, daß unser „freundlich-geselliges"
Vielliebchen (was sich Umdrehen ebenso wenig wie wir uns träumen ließen) aus
dem Littauischeu stamme: hier ist üliws das Wort für die „Pärchen," die zwei
Haselnußkcrue in einem Gehäuse; aus Ostpreußen kam das fremde Wort und wurde
in seiner sinnigen Umdeutung unserm Sprachschatz zugeeignet, sodaß in dieser
deutschen Hülle kein Mensch den Fremdling erkennen konnte. So empfindet denn
der Volksgeist z. B. auch nichts Fremdes in den alten slawischen Ortsnamen Fissa,
Lausa und Wanzleben, die eine hierzulande verbreitete Anekdote scherzhaft mit¬
einander zu verknüpfen gewußt hat.
Ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch von Gustav Hey (Über die sla¬
wischen Ansiedlungen im Königreich Sachsen) giebt interessante Aufschlüsse über die
unbefangne Art, wie der frische Sprachgeist der deutschen Einwandrer seinerzeit die
slawischen Ortsnamen verdeutscht hat. Es giebt sich darin eine urwüchsige Kraft
und eine berechtigte Selbstherrlichkeit kund, die der Deutsche heutzutage leider so
oft im Zusammenstoß mit Fremdem vermissen läßt. Wie wohlthuend berührt da
die Wahrnehmung, daß sich unsre Vorfahren — und die Gelehrten verfuhren hierbei
oft nicht anders als der schlichte Mann mit seinem Mutterwitz — ohne den heiligen
Respekt vor fremden Wörtern, die fremdartigen, unverständlichen Worte nach An¬
klang und Anschein mundgerecht und vertraut machten und nicht bloß Sprachfremd¬
linge naturalisierten, sondern auch heimische Wörter, deren Farbe verblaßte oder
deren Saft vertrocknete, auf volksetymologischem Wege sozusagen neu belebten. Von
der uns Deutschen eignen, durch einen falschen Bildungstrieb geförderten Schwäche,
den Fremdlingen, die in unsrer Muttersprache Heimatsrecht erwerbe» wollen, recht
höflich zu begegnen und ihnen ja ihr fremdes Gewand zu lassen, kann ein auf¬
merksames Lesen dieses kurzweiligen und lehrreichen Buchs, dem wir darum von
Herzen rechte Verbreitung wünschen, freimachen helfen. Steht auch der neue Umdrehen,
ebenso wenig wie Büchmnuns Geflügelte Worte, mit denen man seine „deutsche
Volksetymologie" verglichen hat, nicht auf jede Frage Red und Antwort — zur
Nachlese wird sich manchem Gelegenheit bieten —, so wird der Benutzer in dem
mehr als neuntausend Wörter behandelnden Buche, die das sechzig Seiten um¬
fassende Register verzeichnet, doch manches Sprachrätsel gelöst finden und das
wunderbare Schaffen des Volksgeistes auch auf dem Gebiete der Sprache mit
freudigem Staunen aufs neue gewahren.
s muß dem Freiherr« von Stumm mis ein großes Verdienst
angerechnet werden, daß er seit mehr als dreißig Jahren immer
wieder mit ungeschwächter Energie mit dem Verlangen um den
Staat herantritt, die Fürsorge für hilfsbedürftige Hiuterbliebue
wenigstens der Arbeiterklasse in der Form einer Witwen- und
Waisenversicherung gesetzlich anzubahnen. Wir wünschen ihm von ganzem
Herzen, daß er den Erfolg seines menschenfreundlichen Strebens noch, und
zwar recht bald und vollständig, erleben möge.
Am 12. Januar dieses Jahres hat sich der Reichstag wieder einmal auf
Stumms Antrag mit der Sache beschäftigt und mit großer Majorität die von
dem streitbaren Freiherrn vorgeschlague Resolution angenommen, „die Ver¬
bündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstage einen Gesetzentwurf vor¬
zulegen, durch welchen im Anschluß an die Invalidenversicherung die Witweu-
uud Waisenversicherung für die versicherten Personen eingeführt wird."
Ehe wir auf die Verhandlungen darüber und den heutigen Stand der
Frage, soweit sie die Witwen- und Waisenversicherung der Arbeiterschaft be¬
trifft, eingehn, scheint es uns angebracht, die Fürsorge für mittellose Hinter-
bliebue eiuer großen und sehr wichtigen Klasse von Staatsbürgern zur Sprache
zu bringen, die nicht zur Arbeiterklasse gehört und nicht von, Antrage Stumm
berührt wird, die dein Staat aber ganz besonders nahe steht und ganz besonders
ein Recht auf seine Fürsorge hat: die Fürsorge für die mittellosen Hinter-
bliebnen seiner eignen Beamten. Es bestehn in dieser Beziehung trotz mancher
Versuche zur Abhilfe gerade in Preußen noch immer Härten, Miß- und Not¬
stände, die zum Himmel schreien, und deren Abstellung umsomehr not thut,
als die davon Betroffnen am wenigsten in der Lage und dazu augelegt sind,
so zu „schreien," wie das heutzutage in der Politik mit gutem Erfolg Mode
geworden ist.
Der preußische Staat hat seine Beamten, die obern wie die untern, in
der jüngsten Zeit ganz bedeutend in den Gehalts- und Pensiousbezügen auf¬
gebessert, und man kann den Verwaltnngschefs nur Recht geben, wenn sie,
wie kürzlich wieder im Abgeordnetenhause der Eisenbahnminister, von den
Parteien endlich ein größeres Maßhalten in dem Drängen auf Gehalts¬
erhöhungen für die verschiedensten Beamtenkategorien verlangen. Diesem
Drängen haftet leider nur zu oft ein agitatorischer Beigeschmack an, und es
ist nur zu sehr geeignet, die Disziplin im Bcamtenkörper zu untergraben.
Durch diese Aufbesserung der Gehaltsbezüge siud aber die preußischen Beamten
keiner Rangstufe, auch der höchsten nicht, in die Lage gekommen, von dem
Gehalt Ersparnisse zu machen, durch die einmal ihre Hintcrbliebnen vor Not
gesichert sein werden, sofern ihnen nicht eine hinreichende Rente ans sonstigem
Privatvermögen zusteht. Wenn die Witwe eines Reichsstaatssekretärs nach dem
Tode des Ehemanns mit ihren erwachsenen Töchtern auf eine Jahrespension
von 1500 Mark angewiesen ist, so kann sie damit in einer kleinen Stadt bei
bescheidnen Ansprüchen und wenn sie die Lebenshaltung ausgiebt, zu der die
Familie durch die Tüchtigkeit des FamilienhanptS aufgestiegen war, Wohl ihr
Leben fristen. Aber die öffentliche Meinung empfindet einen solchen eklatanten
Fall als etwas unerträgliches. Wie wenige auch von den „höhern" Beamten
werden aber Staatssekretäre oder nnr Geheimräte? Wie viele sterben oder
werden dienstunfähig, ohne auch nur über die Mitte der Gehaltsstufcnleiter
hinauszukommen? Wie viele lassen beim Tode unversorgte Angehörige zurück,
die trotz der dauernden oder vorübergehenden Witwen- und Waisenpension,
die das Familienhaupt für sie ersessen hat, thatsächlich im Sinne der herrschenden
Anschauungen und nach Lage der heutigen Erwerbsverhaltnisse einer aus-
gesprochnen e^xitis äimmntio, d. h. der härtesten Proletarisiernng verfallen,
die man sich denken kann?
Der Staat kann seinen Beamten nicht Gehälter geben, die den Einnahmen
der Bankiers oder auch nur denen der großstädtischen Schaukwirte mit halbwegs
flottem Geschäft entsprechen. Die Beamten, die das verlangen, die in diesen
Einnahmen das Lebensziel sehen, sollen Kaufleute und Schankwirte werden, auf
die Beamteustellung und die Beamteuwürde verzichtet?. Sie verdienen sie nicht,
und sie passen nicht dafür. Aber der Staat hat die Pflicht, durch eine weise,
vorsichtige, rücksichtsvolle Fürsorge die Stellung und die Würde seiner Beamten
vor der Gefahr zu bewahren, die ihr aus dem Aufschwung und aus der Über¬
schätzung der materiellen Interessen, des Gelderwerbs, des Reichtums, des
Wohllebens in der von Gewerben lebenden Bevölkerung erwachsen. Diese
Gefahr ist in dem Abstand zwischen dein Gehalt des Amtsrichters und der
Einnahme des Schänkwirth viel weniger begründet, als in der Thatsache, daß
der Beamte für sein Hans und seine Familie zwar, solange er lebt und dient,
die ungemessene Stellung wahren kann, daß er sie aber nicht vor dem schroffsten
Berfall zu schützen vermag, wenn er die Allgell schließt.
Freilich kann man sagen — und mau sagt es auch wirklich seit Jahr¬
zehnte», und mau handelt danach Tag für Tag —: der Beamte soll reich
heiraten oder gar nicht! Ich habe selbst im Laufe der letzten dreißig Jahre
manchem jungen strebsame» Herrn im Staatsdienst oder in des Königs Rock,
der im Begriff stand, in blinder Verliebtheit einen dummen Streich zu machen,
ernstlich geraten, doch much nach der Mitgift zu fragen; aber darüber haben
nur die dreißig Jahre mich nicht den leisesten Zweifel gelassen, daß die über¬
handnehmende Jagd nach der Mitgift, nach der reichen Freir, die alles mit¬
bringt, worauf es ihm »ut ihr ankommt, weder dem Beamtentum noch dem
Offizierkorps zum Segen gereichen kann. Ich habe jedenfalls nicht gesehen,
daß diese zunehmende Ausschließlichkeit der Geldheiraten, mich wenn die Geld
bringende Frmi und die Quelle, aus der das Geld stammt, ganz einwandfrei
waren, und das bekannte non sist nicht im entferntesten dabei mitspielte, in dem
preußischen Bemntentmne die Manneswürde, die ideale Pflicht- und llber-
zeugungstreue, die aufopfernde Hingebung an Dienst und Beruf gegen früher
gehoben hätte, und ebenso wenig, daß durch die auf diesem Wege dem Be¬
amtentum in ganz gewaltigem Umfange zugewachsenen Privat- oder Neben¬
einnahmen — in Wirklichkeit sind sie oft die Haupteiuncchme — seine Stellung
nud Würde den reichen Gewerbtreibenden gegenüber mich nur um das geringste
gebessert worden wäre. So segensreich in sehr zahlreichen mir bekannten
Fällen der Übergang reicher Vermögen durch Heirat in den Besitz tüchtiger,
auf der Höhe ihres Berufs stehender, namentlich wissenschaftlich gebildeter,
ideal dentender Beamter zweifellos wirkt, im allgemeinen ist der Grundsatz:
„der Beamte kann ja reich heiraten," grundverkehrt.
Oder — sagt mau — er kann ja ledig bleiben! Ja es sind nicht die
schlechtesten Menschen, die dazu kommen. Unter Umständen und für gewisse
Zwecke geben sie auch vielleicht besonders brauchbare Beamte ab; in der Regel
aber ist das ganz gewiß nicht der Fall. Nur bei ungewöhnlich frischem Tem¬
perament nud gefunden Blut werden die alten Junggesellen als Beamte dem
Publikum, mit dem sie zu thun haben, den Kollegen, den Untergebnen gegen¬
über nicht mehr oder weniger zu einem Kreuz. .Sie stellen verhältnismäßig das
größte Kontingent zu den pedantischen, gallsüchtigem, mißtrauischen und eigen¬
sinnigen Staatshämorrhoidariern, von denen die mittlern und obern Schichten
der preußischen Beamten gerade genng haben. Sie sind aber auch gerade für
»nsre Frage eine wertvolle Ansknnftsqnelle. Sie leiden schwer unter dem
Mangel des eignen Herdes, der eignen Familie, auch wenn sie sich in ihrer
Verbitterung oft als Mische Verächter davon ausgeben und ihre eigne Lage
Preisen im Vergleich mit den verheirateten Kollege», die Kinder in die Welt
setzen, deren Zukunft ihnen das Leben erschwert und den Tod zur Qual macht.
In der That, die Sorge um die Existenz der Hintcrbliebnen lastet wie
ein schwerer Alp ans unsern Beamten, trotz ihres auskömmliche« Gehalts,
wenn sie nicht Geld erheiratet haben oder genug eignes Vermögen besitzen.
Und die große Masse des Beamtentums ist doch immer ans den Gehalt an¬
gewiesen; nur in einigen wenigen Zweigen ist das anders geworden. Und soll
der Staat etwa nur wohlhabende junge Leute als Beamte anstellen, oder doch
nur solche zu einer höhern, auSsichtsreicheru, die tüchtigsten Kräfte erfordernden
Laufbahn zulassen? Man kann, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, einen
gewissen Opportunismus in dieser Beziehung uuter Umständen verzeihen, aber
grundsätzlich muß verlangt werden, daß der Staat diese Frage mit einem runden
Nein beantwortet. Der ganze soziale Zug, der unsre Zeit durchweht, und auf
den wir so stolz sind, wird zur Lüge, wenn der Staat die Aspiranten für
seinen Dienst nach bekannter Manier in solventes und virrweres einteilt und
deu letzten den Weg versperrt, um die unbequeme Sorge für die Witwen, die
unerzognen Kinder und die erwachsenen Töchter der Stnatsdiener ohne väter¬
liches Vermögen und ohne wohlhabende Frauen los zu sein. Ist etwa das auf¬
fällig zunehmende Streben der Beamten nach Nebenerwerb und Nebengeschäften,
das fast misuahmelos der Sorge um die Zukunft der Angehörigen entspringt,
ein gesundes Zeichen der Zeit? Man tümmre sich nur einmal etwas ein¬
gehender und weniger bureaukratisch um diese Nebengeschäfte, und man wird
darüber staunen, was alles dazu herhalten muß. Tüchtiger wird das Beamten¬
tum dadurch gewiß nicht. Wer kann es den Leuten aber verargen, daß sie
einen Notgroscheu zu erwerben suchen und bis in die Nacht hinein, oft für
jammervolle Bezahlung arbeiten, obgleich der amtliche Dienst ihre Kräfte und
ihre Nerven schon völlig und vielfach im Übermaß in Anspruch nimmt. Da
ist vieles faul im Staatsdienst und steht in unangenehmem Gegensatz zu der
Strenge, mit der man, Gott sei Dank, hente den Arbeiter im Gewerbe vor
Überanstrengung zu bewahren anfängt.
Diese Dinge müssen einmal öffentlich zur Sprache gebracht werden, und
es darf vom Staate Hilfe verlangt werden, wenigstens für die allerdringendsten
Notstände.
Etwas besser ist ja in neuer Zeit die Lage der hinterlassenen Töchter
unvermögender Beamten dadurch geworden, daß der weiblichen Erwerbsthätig¬
keit doch mehr Gebiete erschlossen worden sind, und darunter auch solche, die
sich für Beamtentöchter mit besserer Bildung und erhöhten Lebensansprüchen
eignen. Überaus traurig wird aber die Lage dieser Damen sofort, wenn sie
erwerlmnfähig und erwerblos werden, trotzdem daß sie deu modernen Hilfs¬
mitteln und Grundsätzen gemäß frühzeitig zu einem Erwerb erzogen worden sind.
In einer solchen traurigen Lage sind die vermögenslosen Töchter der schon vor
längerer Zeit, vor etwa, zwanzig, dreißig Jahren verstorbnen Beamten in der
großen Mehrzahl. Die Väter haben damals die erhöhten Gehalte noch nicht
gehabt, sie haben ihre Töchter im Hause vielleicht zu tüchtigen und spar¬
samen Hausfrauen erzogen, aber an eine Schulung zum selbständigen Erlverb
wurde damals doch immer mir ausnahmsweise gedacht. Die Bemutentochtcr,
die tüchtig haushalten konnte, rechnete darauf, Beamtenfrau zu werden. Wir
sind ja alle von dem gewaltigen Umschwung in den wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen und Anschauungen mehr oder weniger überrascht worden. Können
wir es diesen ältern Beamtentöchtern verdenken, wenn sie mich davou über¬
rascht worden sind und jetzt mehr als alle andern der neuen Zeit rat- und
wehrlos gegenüber stehn? Ist es zu verwundern, wenn sie zum Teil in die
bitterste Not geraten sind?
Es giebt in Preußen eine Anzahl von Stiftungen, die armen Beamten-
töchtern einen Unterschlupf und einige Unterstützung für deu Lebensunterhalt
gewähren. Aber ihre Zahl ist sehr gering, und ebenso sind es ihre Mittel.
Vor allem sind sie in ausfallender Weise hinter dem Bedürfnis zurückgeblieben.
In der Hauptsache stammen sie ans einer frühern, zum Teil aus der Groß-
vnterzeit. Die neuern Einrichtungen dienen vielmehr dem Zweck, jüngere
Personen zu selbständigem Erwerb zu erziehen, für erwerblose, erwerbunfähige
Damen haben sie meist nichts übrig. Alles dreht sich jetzt um die Arbeit und
die arbeitende Klasse. Das muß ja wohl auch die Hauptsache bleiben, aber
man sollte darüber, so wie es geschieht, nicht die armen weiblichen Hinter-
bliebnen solcher Beamten im Stiche lassen, die vor 1870 den preußischen
Staat auf seiue Hohe gebracht und das preußische Volk zu der Tüchtigkeit er¬
zogen haben, die ihm zu erhalten unser und unsrer Nachkommen größter Stolz
sein muß. Es besteh»! ja auch bei verschiednen Zentralbehörden Fonds, ans
denen gelegentlich Unterstützungen gewährt werden können, und der König selbst
spendet in zahlreichen Fällen Geldbeträge zur Linderung dringender Not. Aber
das reicht bei weitem nicht aus. Die wenigen Damen, die glücklich auf die
Auwärterlisteu der »venigen Stiftstellen, die besteh»» aber nach ihren Statuten
nicht einmal allen zugänglich sind, gelangt sind, müssen oft viele Jahre warten,
ehe sie daran kommen, und die disponibel»» Fonds können nur einen kleinen
Bruchteil der Gesuche und auch diese nur unzureichend von Fall zu Fall be¬
rücksichtige». Die große Mehrzahl der armen Beamtentöchter ans älterer Zeit
verfällt in der Hauptsache der privaten Wohlthätigkeit mit ihrer marternden
Unsicherheit oder gar der Armenpflege. Und was das für sie heißt, muß mich
das blödeste Auge einsehen.
Die Ansicht, die in »euerer Zeit sehr überhand genommen hat, daß
Privates Wohlthun und Freuudcshilfe gar keine soziale Bedeutung mehr habe
und haben dürfe, ist gewiß falsch. Durch Versicherung und Rechtsansprüche,
die man gesetzlich einräumt, läßt sich die Not um einmal nicht bannen. Aber
der Zeitgeist ist den» rechten, zarten, nicht erniedrigenden privaten Wohlthun
und der freundschaftlichen Hilfe um einmal nicht günstig. Und wo dieses
Private Wohlthu»» durch die in gewisser Beziehung ganz zweckmäßige Vereins-
vrganisativn mehr und »»ehr den Charakter der öffentlichen Wohlthätigkeit be¬
kommt, da nähert es sich der Armenpflege bedenklich. Den» soll und darf der
Staat seine hilfsbedürftigen Beamtentümer nicht aussetzen. Es giebt nichts
traurigeres für uns, als wenn wir wahrnehmen, wie oft die bittre Not solche
Damen zwingt, mit der Vornehmheit der Gesinnung, die vielleicht ihr einziges
Erbteil war, zu brechen, um die Kunst zu lernen, wie man Wohlthaten heraus¬
schlägt. Es ist nicht schwer, solche Wahrnehmungen zu machen, ebenso wenig,
wie es schwer ist, wenn um» nur darauf achtet, die Roheit im Wohlthu»»
kennen zu lernen, die jetzt vielfach herrscht. Und um vollends die organisierte,
öffentliche Armenpflege! Es ist einfach Narrheit oder Lüge, ihr gegenüber die
arme gebildete Beamtentochter und die arme Arbeiterwitwe gleichstellen zu
»vollen. In Wahrheit ist der Unterschied wie der zwischen Tag und Nacht.
Hier muß also zuerst und gründlich geholfen werden, und hier kann auch
am leichtesten geholfen werden. Zunächst handelt es sich doch nur um die
Verstärkung der Dispositivuöfonds um vielleicht zwei- bis dreihunderttausend
Mark. Damit ist der dringende, für den preußischen Staat geradezu be¬
schämende- Notstand aus der Welt zu schaffen. Die Ausftthruug muß dem
Ermessen der Behörden völlig freigegeben werden; neue Gesetze und Rechts¬
normen sind unnötig, wären uur schädlich. Preußen ist in glänzender finan¬
zieller Lage, und es mare unerhört, wenn der Finanzminister nicht bereitwillig
die Mittel hergeben wollte, die die Ministerien dazu verlangten. Aber sie
müssen sie eben verlangen. Wie gesagt, die Notleidenden, mit die es sich hier
handelt, „schreien" nicht, sie wissen kaum den Weg, ans dem sie um Hilfe
bitten sollen. Sollten unsre Minister wirklich nur noch für die „Schreier"
Ohren haben? Es ist klar, daß ein einziger kurzer Bortrag beim König ge¬
nügen würde, sofort Wandel zu schaffen.
Dann würde vor allein für die Gründung vou Anstalten und Stiftungen
Sorge zu tragen sein, um den hilfsbedürftigen Beamtenwitwen und Beamten¬
töchtern ein bescheidnes aber doch anständiges Unterkommen zu gewähren.
Auch dazu muß der Staat Preußen das Geld haben. Aber es wird auch,
wenn man nnr will, ein leichtes sein, Privatmittel diesem Zweck reichlich zu¬
fließen zu machen. Es werden viele Millionen jährlich zu Zwecke» der kom¬
munalen Armenpflege gestiftet, für den hier besprochnen Zweck geschieht fast
nichts. Wenn es dem Kaiser ohne weiteres gelingt, die reichen Geschäftsleute
Berlins dazu zu bringen, in wenig Tagen Hunderttausende für die Notleidenden
in Indien zu spenden, wozu er ja wohl seine Gründe haben wird, so wird es
der Regierung sicher nicht schwer sein, erfolgreich zu Stiftungen anzuregen,
wie das Berliner Notherstift, dessen Begründer freilich schon fast vor hundert
Jahren preußischer Minister war. Millionäre sind jetzt unter den verheirateten
Beamten und Offizieren keine Seltenheit mehr. Sie müßten es vor allen andern
für ein mobile oküoiuin halten, reichlich beizusteuern für solche Zwecke.
Schließlich wird man dann mit der Zeit mich vor größern staatlichen
Neuorganisationen nicht zurückschrecken müssen, durch die es dem vermögens¬
losen Beamten oder Offizier wieder ermöglicht wird, eine wirtschaftlich erzogne
junge Dame aus dem Beamten- oder Offizierstande als Hausfrau heimzuführen,
d. h. keine Geldheirat zu machen, ohne deshalb fürchten zu müssen, seine
Familie dereinst der Proletarisierung in ihrer schmerzlichsten Form verfallen zu
lassen. Vielleicht wird bei diesen größern, weniger dringlichen Maßnahmen
an eine Art von Versicherung gedacht werden können; bei den unmittelbaren
Schritten zur Abstellung der vorhandnen schweren Not der Beamtenwitwen
und Tochter kann natürlich von irgend welchem versicherungsartigen Vorgehn
gar nicht die Rede sein. Dazu sind keinerlei Projekte nötig.
Auch die sogenannte Arbeirerwitwen- und Waisenversicherung, über die
wir nur noch einige kurze Bemerkungen machen wollen, wird vielleicht nur
unter Vorbehalt wirklich den Namen einer Versicherung verdienen. Freilich
»ach den voll der Mehrheit des Reichstags gebilligte!! aber leider von dem
Vertreter der Regierung, Grafen Posadowsky, aufs schärfste als zur Zeit un-
durchführbar abgekehrte!! Borschlag des Freiherrn von Stunun ist die Ein¬
richtung als eine Versicherung im Sinne der bestehenden Arbeiterversichernngs-
gesetze gedacht. Aber ohne großen Reichszuschnß würde wohl auch dieses
Projekt nicht zu verwirklichen sein.
Der Staatssekretär des Innern machte am 12. Januar zunächst gegen
den Antrag Stumm geltend, daß man erst den völligen Ausbau der drei schon
eingerichteten Zweige der Arbeiterversicherung, der Unfall-, Kranken- und Alters¬
und Jnvaliditätsversicherung, abwarten müsse, ehe man an die Witwen- und
Waiseuversicherung herangehn könne. Das ist ganz gewiß nicht stichhaltig.
Den Anfang mit der Witwen- und Waisenversichcrung zu machen ist jedenfalls
viel dringender, als der letzte Ausputz der bisherigen Einrichtung. Und wer
kann überhaupt Nüssen, wann man damit einmal fertig sein wird? Dann
meinte Graf Posadowsky weiter, der Industrie gehe es zwar jetzt sehr gut,
aber das könne sich ändern, und dann würde es ihr wahrscheinlich zu schwer
fallen, die Kosten für die neue Leistung auf sich zu nehmen. An eine Mehr¬
belastung der Landwirtschaft sei gar nicht zu denken. Die Vertreter der In¬
dustrie, voran Herr von Stumm selbst, erklärte» zwar einmütig, daß sie unter
allen Umstünden die Kosten tragen könnten, aber der Sprecher der Landwirt¬
schaft protestierte um so energischer nicht nur gegen die Neubelastung seines
Standes, sondern auch dagegen, daß etwa für die Industrie allein die Witwen¬
uno Waisenversicherung eingeführt werde, da dann die Landflucht nur noch
größer werden würde. Auf diesen Standpunkt stellte sich auch der Staats¬
sekretär, der die Jahreskosten der Maßregel übrigens auf nahezu hundert
Millionen einschätzte.
Von nichtamtlicher und nichtparlamentarischer Seite sind mehrfach Vor¬
schläge laut geworden, die die Deckung ganz aus Reichs-, Staats- und Kom-
mnnnlmitteln geleistet sehe» wollen. Von eiuer Versicherung sollte man dann
besser nicht mehr reden, es wird ja auch meist zur Begründung direkt auf die
Erleichterung der Armenlast verwiesen. Es würde sich dabei in der That
wesentlich um eine Verbesserung der Armenpflege handeln, wogegen wir grund¬
sätzlich auch gar nichts einzuwenden hätten. Vorläufig muß man abwarten,
was die Zukunft in dieser Beziehung bringt.
In recht eigentümlicher Weise ist in den Verhandlungen der Budgetkom¬
mission über die Flvttenvorlage, in der - mich abgesehen von dem Handel
um den Getreidezoll — die fernliegendsten, schwierigsten Fragen so nebenher
mit abgethan werden zu sollen scheinen, die Witwen- und Waisenversorgung
muss Tapet gebracht worden. Die Majorität will bekanntlich die Flotte nur
bewilligen, wenn von der Deckung durch Anleihen ganz Abstand genommen
wird. Mau schlägt deshalb alle möglichen neuen Steuern vor, obgleich man
noch keine Ahnung hat, ob nicht die Zolleinnahmen des Reichs nach der Neu¬
ordnung des Zolltarifs und der Handelsverträge solche Mehreinnahmen bringen
werden, daß die Regierung die neuen Steuern für den Schiffbau gar nicht
braucht. Deshalb ist man nun auf den Ausweg gekommen, zu erklären — be¬
schließen konnte die Kommission so etwas natürlich nicht —, daß Mehr¬
einnahmen, die sich aus der verlangten Erhöhung der Getreidezölle ergeben
würden, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwen- und Waisenversicherung ver¬
wandt werden sollten. Der Reichsschatzsekretür hat von der Idee dankend
Kenntnis genommen und nun gegen die Bewilligung neuer Steuern gar nichts
mehr einzuwenden.
Was praktisch daraus werden soll, darüber zerbrechen sich die Herren
Schnelllegislatoren der Budgetkommission keinen Augenblick die Köpfe. Wir
wollen es auch uicht thun. Aber daran müssen wir doch erinnern, daß Graf
Posadowsky seinem Hinweis auf die vielleicht bevorstehende Depression der
industriellen Leistungsfähigkeit die unbestreitbar richtige Bemerkung hinzufügte,
es sei wiederholt vom Regierungstisch und vom Reichstage betont worden,
„man solle nicht dauernde Ausgaben auf schwankenden und unsichern Ein¬
nahmen aufbauen." Der Mehrertrag aus der Getreidezollerhöhung ist nun
aber nicht nur sehr schwankend und sehr unsicher, sondern er wird von den
Agrariern selbst, die das Verlangen nach höherm Zoll durch die angeblich da¬
durch zu erreichende Deckung des gauzeu Inlandsbedarfs durch heimisches Ge¬
treide begründen, sogar von vornherein als künftig wegfallend bezeichnet.
Nichtsdestoweniger wird vielleicht nächstens die agrarische Agitationsparole
ausgegeben werden: Keine Zollerhöhnng, keine Witwen- und Waisenversiche-
rung! Auch in dieser Beziehung muß man abwarten, wie weit man die Kon¬
fusion treiben wird.
Leider hat ihr Professor Conrad in Halle in seiner jüngsten, sehr scharfen
Zurückweisung der agrarischen Zollpolitik Nahrung gegeben, indem er sagte,
durch die sehr große Verteuerung der Nahrungsmittel für den Arbeiter, der
bekanntlich verhältnismäßig mehr Getreide verbrauche als der wohlhabende
Mann, gewinne die Zolleinnnhme des Reichs einen sehr häßlichen Beigeschmack,
der nur gemildert werden könnte durch die Verwendung der Beträge zum
Besten der untern Klassen. Sie sollten nicht in die allgemeine Staatskasse
fließen, sondern zu besondern Fonds für wohlthätige Zwecke, z. B. zur Durch¬
führung einer allgemeinen Witwen- und Waisenversicherung oder zur Ver¬
sicherung der Arbeitslosen. Herr Professor Conrad würde gut daran thun,
sich näher darüber zu erklären, wie er sich diese Versicherungen auf so ganz
unsichre Einnahmen aufgebaut denkt. Jedenfalls hat er mit seiner beiläufigen
Bemerkung eine nette Getreidezollerhöhung nicht schmackhaft machen und am
wenigsten eine bessere Fürsorge für die Hiuterbliebnen der Arbeiter von der
le Kämpfe, die England zwanzig Jahre lang gegen das republi¬
kanische, dann das imperialistische Frankreich bestand, trugen
ohne Zweifel zur Rettung der alten Ordnung des kontinentalen
Europas sehr viel bei. Aber wenn das die Wirkung nach
dieser Seite hin war, so war das eigentliche Motiv Englands
doch nicht darauf, sondern auf das endliche Niederzwingen Frankreichs in
seiner außerkontineutalen Stellung gerichtet, und da mehr als halb Europa
zu Zeiten in französischer Hand lag, so konnte England seine Seeherrschaft
gegen mehr als halb Europa zu einer dominierenden Hohe erheben. Was es
in Spanien, was es bei Waterloo gethan hat, verliert sehr an Bedeutung im
Vergleich mit dem, was ihm zu Wasser gelang. Während ganz Europa um
seine Freiheit rang, während England in alter Weise dem Kontinent Geld
gab, damit man sich untereinander schwache, betrieb es seine kommerziellen
Geschäfte durch die Zerstörung aller unbequemen fremden Flotten und die
Wegnahme fremder Kolonien. In dreizehn Jahren gelang ihm folgendes:
1794 zerstört es bei Brest eine französische Flotte, 1797 zerstört Sir Jerris
bei Kap Se. Vincent die spanische Seemacht, 1797 zerstört England bei Camper-
down die holländische Flotte, 1798 nimmt Nelson bei Abukir die französische
Flotte weg, 1799 wird bei Texel der Nest der holländischen Flotte weg¬
genommen, 1801 wird die dänische Flotte ans der Reede von Kopenhagen
überfallen, ohne Erfolg, 1805 zerstört Nelson bei Trafalgar die vereinigten
Flotten von Spanien und Frankreich, 1806 wird bei Se. Domingo eine
französische Flotte zerstört, 1807 Wegnahme der dänischen Flotte im Hafen
von Kopenhagen, ohne Kriegserklärung.
Damit waren alle fremden Flotten bis auf einige schwedische und portu¬
giesische Kriegsschiffe aus der Welt geschafft. Als es zum ersten Pariser Frieden
kam, war England die einzige europäische Seemacht und im Besitz aller fran¬
zösischen und holländischen, fast aller dänischen und vieler spanischen Kolonien.
Diese letzten gab England nun freilich, soweit sie in den letzten Kriegen erobert
wurden, bis auf Ceylon und Helgoland wieder heraus, aber es sorgte wenig
Jahre später dafür, basi die grofien romanischen Kolonien in Südamerika und
Mittelamerika nicht in der Hand europäischer Mächte blieben, indem es ihnen
zu der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit verhalf.
Nun ging England in aller Ruhe an den Ausbau seines Kolonialreiches
und die Sicherung der gewonnenen Seeherrschaft, vorerst auf dem Mittelmeer,
Den Eingang hatte es seit 1713 in der Hand, seit 1800 auch Malta, Der
Wiener Frieden ließ die Dardanellen frei, obgleich noch 1807 eine englische
Flotte im Marmarameer erschienen war; denn damals war nicht Nußland,
sondern England für Konstantinopel gefährlich. Als Nußland eine Flotte im
Schwarzen Meer geschaffen hatte, kehrte sich das Interesse um, und 1841 schloß
der Meerengenvertrag den Ausgang zum Mittelmeer für alle, besonders aber
für Rußland, Die türkisch-ägyptische Seemacht wurde 1827 bei Navarin ver¬
nichtet von England im Bunde mit Frankreich und Rußland, was Wellington
im englischen Interesse freilich für ein „beklagenswertes Ereignis" erklärte.
Der Krimkrieg gab England Gelegenheit, die russische Flotte des Schwarzen
Meeres zu vernichten, und der Pariser Frieden von 1850 verbot sie wieder
herzustellen, ein Verbot, von dem sich Nußland erst 1871 wieder befreite. Unter
den gegenwärtigen Verhältnissen ist es Rußland wahrscheinlich nur recht, wenn
die Meerengen geschlossen bleiben. Es wird den Meerengenvertrag und die
Bestimmungen des Pariser Friedens erst zerreißen, wenn es selbst am Bosporus
festsitzt und den Durchgang sperren kaun. Im Jahre 1882 erschien dann Eng¬
land in Ägypten, bombardierte mit seiner Flotte mitten in: Frieden Alexandria,
und General Wolseley begann das Land zu besetzen und damit den Kanal,
der sich zu einer der wichtigsten Straßen des Seeverkehrs entwickelte, in die
Hand Englands zu spielen, ein Spiel, das allmählich in einen sehr ernstlichen
Besitz sowohl des Kanals als ganz Ägyptens überging, aus dem sich England
heute sicher nicht ohne den heftigsten und blutigsten Widerstand wird vertreiben
lassen. Als Rußland 1877 wieder einmal vor Konstantinopel stand, da
hinderte der Meerengenvertrag England nicht, vor dem Goldner Horn mit
einer Flotte zu erscheinen und sich dann zu größerer Sicherheit gegen russische
Vorstöße im Berliner Frieden Cypern abtreten zu lassen.
Damit war das Werk einer weitschauenden und kühnen Stantskuust in
seinen Grundlagen gesichert: rund um Europa hatte England sozusagen ein
Schanzwerk zu Wasser errichtet, das, vou einer großen Flotte verteidigt, nicht
leicht durchbrochen werden konnte. Von England aus werden Ostsee und
Nordsee bewacht, an der atlantischen Küste ist nach dem Verschwinden der
spanischen Flotte nur Frankreich ein möglicher Gegner, im Mittelmeer hat
England die weitaus stärkste maritime Stellung, da es die beideu wichtigsten
Zugänge in der Hand hält und Italien von der Seeseite her sehr verwundbar
ist. Es ist die Umkehr der bewaffneten Neutralität: Europa ist dauernd im
Zustand der Blockade durch die englische Seemacht. So lange die Kontinental¬
mächte nicht, ob vereinzelt oder durch Koalition, eine Flotte aufbringen, die
der englischen einigermaßen gewachsen ist, braucht sich England um Europa
nicht zu kümmern bei der Verfolgung seiner außereuropäischen Interessen, Und
das hat es denn auch seitdem nicht gethan, bis auf den einen Punkt, wo
seine Seemacht aufhört, nämlich Rußland, den asiatischen Nachbar und Neben¬
buhler,
Aber wenn sich England um Europa wenig mehr kümmert, so ist es für
Europa keineswegs gleichgiltig, welche Überraschungen das uuabhüugige Welt¬
reich ihm bereitet. Besonders da Europa uicht bloß materielle Interessen gegen
England zu verteidige» hat, sondern bisher noch an dem Anspruch festhält,
der Quell europäischer, nicht bloß englischer Kultur zu sein, keineswegs
aber, wie Herr Dilke meint, sich durch England von der Teilnahme an den
Welthändeln ausschließen zu lassen. Die kontinentalen Staaten können nicht
gleichgiltig der völligen Mißachtung ihrer materiellen wie immateriellen Inter¬
essen dnrch England zuschaun. Und England sorgt in der letzten Zeit sehr
eifrig dafür, diese Mißachtung dem kontinentalen Enropa immer wieder ins
Gedächtnis zu rufen.
„Es scheint, sagt Steffen in dem oben zitierten Werke (S. 411), als
ob die klarblickender englischen Staatsangehörigen im letzten halben Jahr¬
hundert die merkwürdige Entdeckung gemacht hätten, daß es im Wesen und in
den Handlungen des Staates etwas im tiefern Sinne Ideelles eigentlich nicht
gebe. Aus einer solchen Denkweise erklärt es sich ungezwungen, daß auf¬
geklärte und kulturell interessierte Engländer jetzt die zunehmende Neigung
zeigen, unbedacht die Leitung des Staates bürgerlichen und militärischen Be¬
amten und, soweit die Volksvertretung selbst wirklich die Initiative ergreift,
den Gesellschaftsklassen zu überantworten, die von wenig anderm als der Trieb¬
feder wirtschaftlichen Interesses beeinflußt werden, wenn sie die politische Macht
sich anmaßen und ausüben." — „Staatsnihilismns" menues Steffen, Ohne
Zweifel die Kehrseite oder die Wirkung dieser einseitig wirtschaftlichen Richtung,
die alle Politik auf Gelderwerb, alle Berechnungen der Staatskunst ans den
einzigen Nenner der Gabel- und Messerfrage zurückführt, eine Richtung, der
England zwar schon seit Jahrhunderten folgt, aber die doch erst zur übermäch¬
tigen, fast allein gebietenden geworden ist, seit die Plutokratie von der obersten
in die mittlere Volksschicht vorgeschritten ist. Heute herrschen nicht mehr die
alten reichen Aristokraten des Adels, sondern die mindestens ebenso reichen
Industriellen, .Kaufleute und Börscnlente, wodurch die Politik nicht eigentlich
in demokratischere Hände, aber in solche geraten ist, die weder von Tradition
»och von ideellen Kulturbedürfnissen oder Kulturpflichten beeinflußt werden,
sondern mit kommerzieller Einseitigkeit Geld lind Gewinn suchen. Das haben
"ur jn ganz neuerlich wieder bemerken können.
Die großen kaufmännischen Kompagnien haben in der englischen Politik
von jeher eine bedeutende Stimme gehabt. Die Ostindische Kompagnie war
bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so mächtig als irgend ein
Minister; in neuster Zeit haben die Niger-Kompagnie und dann die Süd¬
afrikanische Kompagnie dem Kabinett gegenüber ihren Willen so herrisch zur
Geltung gebracht, daß die Nigergesellschaft England fast in einen Krieg mit
Frankreich hineintrieb, und was die Südafrikanische Kompagnie in Se> James
vermag, sehen wir ja eben an dem Kriege um Gold und Suprematie in Süd¬
afrika. Wenn auch noch nicht alle Einzelheiten, deren Verbindung diesen
Krieg zu Wege gebracht hat, aufgedeckt sind, so sind doch die treibenden Kräfte
im großen schon genügend erkennbar geworden. Es sind ihrer drei. Erst die
Geldspckulanten, die die Goldfelder ganz in ihre Hände zu bekommen wünschten,
eine Gruppe meist jüdischen Blutes, aber in ihrem Einfluß gesichert durch hoch¬
aristokratische Genossenschaft. Die afrikanische» Goldminenanteile dominieren
seit Jahren an der Londoner Börse, und die Londoner Börse dominiert seit
Jahrhunderten sehr stark in der englischen Negierung. Als die ersten Flücht¬
linge aus Johannesburg in Southampton landeten, war man erstaunt, in
dieser Schar von Uitlanderu, für die England zu den Waffen gegriffen hatte,
meist Juden, und nicht einmal meist englische Juden zu finden. Daß dieses
Volk die Hilfe von England nicht verschmäht, um Geschäfte zu machen, wird
niemand wundern; eher schon werden sich manche darüber wandern, daß sich
England herbeiläßt, Gut und Blut für jüdische und andre Spekulanten ein¬
zusetzen.
Eine zweite Gruppe von Kriegsleuten haben die naiv jingoistischcn
„Athleten" tun Sinne von Steffen) ausgemacht, die meinten, nach Transvaal
und uach ganz Afrika die Zivilisation bringen zu müssen. Der Historiker
MeCarthy sagt in einem Romanes von einem Manne, den er als den
Typus des englischen realistisch kühlen Geschäftsmannes darstellt, folgendes:
„Nach seiner Meinung war für England der beste Weg, um irgend ein un-
zivilisiertes Land zu heben, der, es zu annektieren." Dieses war und ist in
der That die Meinung eines sehr großen Teiles der im übrigen ganz wohl¬
wollenden und verständigen Leute, die nach Annexion der beiden Republiken
in Südafrika schreien. Es sind Doktoren der Zivilisation, die in der Methode
etwas Verwandtschaft haben mit dem alten Doktor Eisenbart, aber die wirklich
meinen, was sie sagen.
Die dritte Gruppe, zu der man auch Rhodes rechnen darf, sind die
wirklichen Politiker. Sie ließen es zum Krieg kommen, weil sie hinter Lüge,
Geldgier, Rechtsbruch, Blut lind Elend ein wirklich großes Ziel sahen: die
englische Suprematie in Afrika vom Kap bis Kairo. Der eben zitierte Geschäfts¬
mann in dem Roman wird von MeCarthy um einer andern Stelle so ge¬
zeichnet: „Seine allgemeine Vorstellung von dem Wege, auf dem England
irgend welche schwierige Frage in auswärtigen Angelegenheiten lösen müsse,
war, irgend einen Ort zu okkupieren." 1c> ooouM soins Mo«z, das haben
die Engländer von jeher gern und ohne viel Besinnen gethan, und nnn schien
der Augenblick gekommen, um gegenüber den in Europa immer deutlicher
werdenden Drohungen, sich dein englischen Übermut zur See zu widersetzen,
zuvorzukommen durch Okkupation eines sehr wichtigen Platzes, nämlich ganz
Südafrikas. Dazu bedürfte es vorerst der Besetzung von Transvaal, um da-
durch einmal die Afrikauderbelvegnng in der Hand zu behalten und zugleich
die portugiesischen Kolonien, besonders den wichtigen Hafen von Delagoa in
die Hand zu bekommen. Auf die Bedeutung dieses Hafens habe ich schon
früher (Grenzboten I, 1900) hingewiesen. Die Befestigung, Erweiterung, Ver¬
wertung der englischen Suprematie in Afrika ist ein staatsmännisches Pro¬
gramm, wie es nirgends in der Welt außer in London ernstlich in Angriff
genommen werden kann. Wir Deutschen bewundern- ja beim Engländer auch
in den Verhältnissen des privaten Lebens den ihm eignen Zug ins Große,
den wir nicht haben, weil unsre Vergangenheit ihn nicht ausbilden konnte.
Wir fühlen uns dem Engländer gegenüber, bisher wenigstens, eng und kleinlich,
und das mit Grund, denn wir sind nicht an Macht und Reichtum gewohnt,
wie er. Diesen Zug ins Große zeigt die englische Politik seit lange, und
neben ihm, mit ihm verbunden eine Mißachtung der Humaner, der moralischen
Grenzen der Aktion, die uns verletzt und empört. Nicht bloß uns Deutsche,
Franzosen, Holländer, sondern sehr viele Angehörige des vereinigten König¬
reichs auch. Wir haben es ja allenthalben erlebt und sehen es noch heute,
wie in englischen Kirchen gegen die Unmoralität dieses Kriegs in Ausdrücken
von der Kanzel herab gedonnert wird, die an Kraft dem nicht nachstehn, was
die anständige kontinentale Presse leistet; und wenn die englische Presse ihrem
Zorn über deutsche scharfe Urteile den Zügel schießen läßt, so sollte sie sich
zuvor an die vielen englischen Kanzelredner tuenden, deren Verdammung des
Krieges nicht minder scharf ist.
Das staatsmännische Ziel der englischen Regierung ist, ich wiederhole es,
nach meiner Meinung ein hohes, einer kühnen und weitschauenden Politik
würdiges. Wären wir Deutschen, oder die Franzosen, in gleicher äußerer Lage
wie die Engländer, so läge uns ein solches Ziel ebenso vor Augen wie ihnen,
und wir müßten suchen es zu erreichen. Freilich mit andern Mitteln. Und
der Vorwurf, den mau England machen kann, liegt eben hier: ihre Mittel und
Wege waren und sind verwerflich. Wenn dies entschuldigt werden könnte, so
wäre es dadurch, daß sich die englische Regierung von jenen beiden ersten
Gruppen in den Krieg hat hineintreiben lassen durch Lüge, Täuschung über
alles und jedes in Südafrika, Mur hat zu Se, James weder über die Buren
noch ihr Land, noch ihre Kriegskraft, noch ihre moralische Kraft eine richtige
Vorstellung gehabt, als man sich von den Leuten zweiter Ordnung wie Rhodes,
Milner usw. 'in den Kampf ziehn ließ. Aber Steffen hat es nicht als erster
bemerkt, daß in dem heutigen England die Leute zweiter Ordnung mehr zu
sagen haben als die Minister.
Nicht die berufnen Staatsmänner regieren heute England, sondern Be¬
amte zweiter Ordnung und Kaufleute oder Aktienbesitzer, kurz das mobile
Großkapital und die Industrie, daraus das Kapital sich bildet. Da gehn die
Prinzen des königlichen Hauses Hand in Hand mit den Rothschild und Rhodes,
da widersteht auch ein roter Sozialist wie Chamberlain nicht der Bekehrungs-
krnft des roten Goldes. Und der Thatendrang und die Rauflust in der
Mittelmenge sind stark genug, das Jingo zu entfachen, wie wir es heute in
ganz England und auch in den Kolonien mit einigem Staunen sehe,?. Vom
leitenden Staatsmann bis hinab in die Gasse sind von den Tugenden, die
wir an dem englischen Privatmann achten, einige sehr wesentliche kaum irgendwo
in dieser nach Eroberung, Gewinn, Krieg rufenden Menge zu bemerken. Die
Wahrhaftigkeit war in den Salons der Diplomatie niemals hoch geschätzt;
aber wir hatten nicht erwartet, daß Aufrichtigkeit aus dem Charakter und dem
Sittenkodex der großen Mehrheit eines kaltblütigen, ehrlichen und stolzen
Volkes verschwinden könnte. Und doch wird in England die alte Fabel vom
Wolf, der das Lamm beschuldigte, mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Das
alte aristokratische England vom Beginn des vorigen Jahrhunderts ist ver¬
schwunden im Drange der Geldgeschäfte, und man darf fragen, ob die kom¬
merziell-industrielle Mittelklasse imstande sein werde, den Spekulationseifer
genügend zu zügeln, um den Staat vor einer durch Überspannung bewirkten
Krisis zu bewahren. Der Staat muß denn doch mehr sein, als eine bloße
Versicherungsanstalt für wirtschaftliche Unternehmungen.
Wir Deutschen haben allen Grund, die Entfremdung zu bedauern, die
dieser Krieg in Südafrika zwischen uns und einer für unsre materiellen wie
geistigen Interessen so unentbehrlichen Macht, wie es England ist, hervor¬
bringen kann, und wir sollten uns hüten, diese Entfremdung, der wir keinen
staatlichen Ausdruck und Nachdruck geben können, über das Maß des natür¬
lichen Ausdrucks des öffentlichen Gewissens hinaus zu steigern. Aber es wäre
ein schlimmes Zeugnis für die Gesundheit unsers öffentlichen Gewissens, wenn
wir an der durch die gesamte zivilisierte Welt gehenden Entrüstung über diesen
Krieg und die in ihm hervortretenden Schäden in der politischen Gesinnung
der leitenden Kreise Englands nicht Anteil nähmen. Der Haß gegen England,
der heute überall hervorbricht, ist leider nicht grundlos, und bliebe er aus, so
machte sich Europa desselben tiefen Standes des öffentlichen Gewissens, der
öffentlichen Wahrheitsliebe und der politischen Gerechtigkeit schuldig, dessen es
jetzt England anklagt. Wollte mau England alle die Treulosigkeiten in seiner
äußern Politik vorhalten, die es begangen hat, so könnte die Rechnung sehr
lang werden. Die Treulosigkeit liegt sogar in der heutigen englischen Ver¬
fassung und mehr noch in der politischen Tradition begründet, die es jeder
Regierung möglich macht, die vorhergehende zu verleugnen. Die Anschauung,
daß staatliche Vertrüge nur solange verpflichten, als sie nützlich sind, ist auch
eine der Weisheiten, die uns in dem Kursus praktischer englischer Politik erst
recht klar geworden sind. Worin sich alle Regierungen Englands gleich bleiben,
das ist die koinmerziell-kriegerische Expansionspolitik, die es unter einer fried¬
liebenden Königin doch fertig gebracht hat, über vierzig Kriege im Laufe von
sechzig Jahren zu führen. Aber schwerlich dürfte man in der Geschichte Eng¬
lands noch ein so Schmachvolles Kapitel finden, wie das, das sein Verhalten
zu den Holländern des Kaplandes seit dem Jahr 1803 umfaßt,^) und schwerlich
ein Kabinett, das wie das gegenwärtige mit vollendetem Cynismus alle
öffentliche Moral verleugnet, Lord Palmerston war ein Mann von wenig
moralischen Skrupeln, aber er war ein puritanischer „Harre-aus-in-der-Wahr-
heit" gegenüber einem Chamberlain. Kann man wohl noch von Tones und
Whigs reden, seit ein Salisburh es uicht verschmäht, einem Manne wie
Chamberlain die Hand zu reichen? Kann man sich der Entrüstung erwehren,
wenn man in dem Lande, das sich über die bulgarischen atroczitiss und die
un8xög.Iig.bi6 1'urlc8 entrüstete, aber ruhig die Armenier bewaffnete und dann
von den Türken massakrieren ließ — wenn man in diesem Lande, sage ich,
Regierung und Volksvertretung gemeinsam auf eine Stufe sittlicher Stumpfheit
hinabsinken sieht, die für den Anspruch auf Gesittung, zu dein sich England
bekennt, in höherm Grade unspö^abls ist, als die sittliche Stumpfheit, mit
der die Türken ihren Rajahvölkern gegenüberstelln? Dieser Krieg kann bei
den angewandten Mitteln nicht anders als abstumpfend, verrohend auf die
öffentliche Volksmoral Englands wirken, es sei denn, daß zuletzt doch das
Gewissen erwacht und sich gegen ein Regiment auflehnt, das, Staat und
Volk entwürdigend, der Politik die Moral wilder Negerstämme unterlegt.
Es wäre elend, wenn wir andern es aus Politik unterließen, gegen solche
Politik laut zu protestieren.
Freilich, Proteste find eben nur Worte, und wenn sie der richtige Aus¬
druck unsrer sittlichen Anschauungen sind, so thun wir uns damit wohl auf
moralischem, nicht aber auf politischem Gebiete genug, ES wäre die höchste
Zeit für die europäischen Kontinentalstaaten, von Protesten und Entrüstung
zu Thaten und zu der Erkenntnis überzugehn, daß sie alle ein gemeinsames
Interesse gegenüber England verbindet, nämlich das Interesse, ein erträgliches
Gleichgewicht zur See herzustellen. Das ist auf einer Konferenz, wie die im
Haag war, nicht möglich. Andrerseits wird England sicher jede Gelegenheit
ergreifen, um nach alter Art die Kontinentalmächte gegeneinander zu werfen,
um kein maritimes Gleichgewicht aufkommen zu lassen, weshalb es von größten:
Nutzen wäre, wenn man die politische Methode Englands, wie sie sich aus
vielfacher Erfahrung ergiebt, jederzeit klar vor Augen hielte. Ich will deshalb
hier noch an eine solche Erfahrung erinnern.
Als Preußen im Jahre 1793 zwei unglückliche Feldzüge gegen das revo¬
lutionäre Frankreich im Bunde erst mit Österreich und dann auch mit Eng¬
land geführt hatte, neigte es zum Frieden. Aber Nußland wollte in Polen,
Österreich im Elsaß, England in der ganzen Welt Eroberungen machen, wozu
sie der Fortsetzung des Kampfes bedurften, Preußen sträubte sich, aber war
nicht standhaft genng gegenüber dein Köder von Eroberungen in West¬
deutschland und jenseits des Rheins und biß endlich 1794 an; es schloß mit
England einen Subsidienvertrag im Haag ab. „Von der einen Seite, heißt
es in einer preußischen Denkschrift aus dem Jahr 1795, wollte England den
Sturz des Handels seiner Nebenbuhlerin herbeiführen, sowie die Eroberung
des Königreichs Korsika und der französischen Inseln in beiden Indien, und
von der andern Seite überließ sich der Wiener Hof der kühnen Hoffnung, von
Frankreich Entschädigungen zu erobern, die denen gleich seien, die der König
von Preußen in Polen gefunden hatte. Diese beiden Mächte verwarfen daher
jeden Gedanken an die Eröffnung einer Friedensnuterhandlung mit Frankreich."*)
England bezahlte Preußen und später Österreich dafür, daß sie Frankreich ver¬
hinderten, sich gegen die Zerstörung seiner Flotte, seines Handels, gegen die
Eroberung seiner Kolonien durch England zu wahren. Ohne die englischen
Subsidien hätten Preußen und Österreich wahrscheinlich schon 1794 Frieden
geschlossen, Hütte es keinen Krieg in Italien gegeben, der einem Bonaparte
Gelegenheit schaffte emporzusteigen, hätte Europa wahrscheinlich nicht die
furchtbaren Verwüstungen der napoleonischen Zeit erlebt. Die Interessen Eng¬
lands waren schon damals nicht die europäischen Interessen und ließen sich
keineswegs den Interessen gleichstellen, die die beiden deutschen Vormächte
gegen Frankreich ins Feld führten. Österreich wie Preußen kämpften für
europäische und kontinentale Interessen, England für seine Suprematie zur
See und über der See. Und so divergieren die Interessen Europas von denen
Englands heute in noch stärkeren Maße, weil die englische Weltmacht seit 1793
gewaltig herangewachsen ist, und zwar herangewachsen als Seemacht, während
Europa sich in Landrüstungen erschöpfte. Wie war es dn denkbar, daß Eng¬
land auf die Frage, wie Europa wohl solcher Erschöpfung entgehn möchte,
eine andre Antwort hätte geben sollen, als die wir deutlich aus allen schönen
Phrasen im Haag heraushörten, die Antwort: Europa soll zu Lande, Eng¬
land zur See rüsten — das ist englisches Interesse. Aber das ist der Ruin
Europas in unsrer Zeit der immer höher anschwellenden überseeischen Interessen.
örtlich vom Modder zeigte das Gelände geringere Schwierig¬
keiten als z. B. bei Stormberg und in Natal. Namentlich im
Norden der von den Buren bei Spytfontein-Magersfontein ein-
geuommnen Stellung geht es, wenn die Karten richtig sind,
von der Gebirgsform mehr zu einem wellenförmigen Hügellande
über. Da triumphierte die (Z. (vorn 9. Dezember): Jetzt haben wir
sie! In diesem Gelände können sich die geschlagner Buren unsrer Verfolgung
nicht erziehn, und ihnen ist eine Niederlage sicher, wie sie eine solche noch
niemals erlebt haben! Ganz ähnlich äußerte sich der Lr. ^. von demselben
Tage. Der denkwürdige Zeitpunkt, wo die Buren diese grausame Niederlage
erleiden sollten, kam heran. Sofern nicht Sorge um das Schicksal Kimberleys
ihn trieb, hatte Methuen die Wahl des Tags ganz in der Hand; zu er¬
giebigen Erkundigungen der feindlichen Stellung, die mir zehn Kilometer
gegenüber lag, fehlte es weder an Zeit noch an Mannschaft, denn Methuens
Division war inzwischen auf 14000 Manu gebracht. Aber wozu sollte sich
der sieggewohnte Engländer, der den sichern Erfolg an der Spitze seiner
Bajonette trägt, mit solchen Nebensächlichkeiten befassen, zumal da kein un-
durchschreitbarer Fluß des Feindes Gefechtslinie unnahbar machte? Und so
kam es, wie es nicht anders kommen konnte. Den ganzen 10. über — es
war ein Sonntag, und fromme Leute daheim haben daraus die Niederlage
Methuens wie auch Gatacres als ein Gottesgericht erklärt — wurde der Teil
der weitgestreckten burischen Stellung, der angegriffen werden sollte, aus allen
vorhandnen Geschützen unter gewaltiger Mnnitionsvergeudung beschossen; da
auch Feldhaubitzen mit ihren vielgepriesenen Lhdditgrcmaten dabei beteiligt
waren, und von der Seite der Buren kein Schuß fiel, so konnte von den feind¬
lichen Schanzen nur noch Schutt und Trümmer übrig geblieben sein. Grau¬
same Verblendung! In der Morgenfrühe des 11. rückt die Hochländerbrigade
in geschlossener Zugkolonne vor, bis sie auf ein paar hundert Meter aus nicht
geahnten Schützengräben zusammengeschossen wird. Um das Gefecht wieder¬
herzustellen, greifen andre englische Truppen ein; wieder unheimliche Stille bei
den Buren, bis das Mausergewehr gegen die nah herangekommnen englischen
Abteilungen seine Schuldigkeit thut. Und nun erst greifen die Geschütze der
Buren ein und vollenden die Niederlage der Briten. Der Generalkonuncmdant
Cronjc hatte seinem Gegner mit überlegner Taktik bös heimgeleuchtet. Hütten
nicht Überlegung und kriegerische Anlage — was auf dieser Welt ist voll¬
kommen? — die Buren in ihren Laufgräben festgehalten, so wären nur wenig
Engländer, da sie den Fluß im Rücken hatten, davongekommen. So blieb
ihnen die Katastrophe erspart, aber sie lagen auf ungefähr acht Wochen am
Modder fest! Nicht weniger als 68 Offiziere und 904 Mann hatten sie nach
amtlichen Angaben eingebüßt; die Buren behaupten an Toten und Verwundeten
zusammen gegen hundert Mann verloren zu haben, was durchaus glaubhaft
erscheint, da sie nur aus Deckungen schössen.
Daheim in England suchte man sich nach der Überwindung des ersten
Schrecks durch allerlei Lügennachrichten zu trösten: die Buren hätten „mindestens"
800 Mann verloren. Die Freistaatburen seien des Kriegs so müde, daß sie
.beinahe" vor Verdruß auf die Trausvaaler geschossen Hütten, beide seien völlig
entmutigt; und damit eine neue Parallele zum Verhalten unsrer Gegner 1870
nicht fehle, hieß es: nur durch „Verrat" sei den Buren der Sieg geblieben;
infolge der heimtückischen Einflüsterungen burischer Verräter habe Methuen die
Hochländer gerade gegen den stärksten Teil der feindlichen Befestigungen vor¬
gesandt. Ein Jnsichgehn, wie es die Lage der Engländer erheischte, haben
wir nur in der II. 8. vom 23. Dezember gefunden: dort wird das An¬
rennen gegen Verschanzungen, die ein Offizier mit einem guten Feldstecher
hätte erkennen müssen, als eine ganz unverantwortliche Handlungsweise be¬
zeichnet; ans englischer Seite sei zu Tage getreten: „eine völlige und obendrein
hoffnungslose Unkenntnis über Zahl, Stellung und Maßnahmen des Feindes.
Wo waren der Generalstab, wo die Patrouillen, wo das aufklärende Luft¬
schiff?" — Der Lr. L.. (vom 16. Dezember) ist von härteren Holze geschnitzt.
Einen Tag nach der Niederlage Butters bei Colenso, aber bevor die Nachricht
darüber in London bekannt geworden war, schreibt er stolz: „Wir haben nicht
nötig, nach irgendwo hin um Hilfe auszuschnnn." Und in derselben Nummer
läßt sich der allezeit zufriedne und hoffnungsreiche Generalmajor Beugough,
der unfreiwillige Humorist unter den Kriegskritikern, in der folgenden naiven
Weise vernehmen: General Butter null die Buren nicht bloß zurückwerfen,
sondern ihnen eine grausame Niederlage beibringen. Butter hält Jonbert fest,
bis die beiden westlichen Kolonnen in die Linie einrücken! — Dabei war
einen Tag, bevor das Blatt erschien, also wohl gerade, als diese Ergüsse ge¬
druckt wurden, der arme Butter auf das „grausamste" am Tngela geschlagen
worden. Wochenlang hatte er, sehr zum Unmut der heißblütigen Burenver-
tilger daheim, im Lager bei Frere gezögert, dann sich nach Chievcleh vor-
bewegt und Sichernngstruppen bis ans etwa sechs .Kilometer an Colenso hinan
geschoben.
Am 15. Dezember geschah das gänzlich Unerwartete: der als Taktiker im
Lager von Aldershot gepriesene General packt in voller Kenntnis der ihm
gegenüberliegenden Stellung den Stier bei den Hörnern; seine Truppen zeigen
sich den taktischen Erfordernissen der Lage nicht gewachsen und entgleiten, nach
vorwärts durchgehend (Artillerie!), seiner Zügelführung. Die alte Tapferkeit,
die alten, grundsätzlichen Fehler, denen gegenüber das Mausergewehr in den
Händen der weise zurückhaltender Buren seine volle Schuldigkeit thut! Nicht
weniger als 1097 Mann, darunter 66 Offiziere, kostete der Tag den Engländern;
die Buren gaben — völlig glaubwürdig — ihren Verlust ans annähernd
130 Köpfe an. Ob Butter Befehl zum Angriff gehabt hat, um Stormberg
und Magersfontein auszulöschen? Ein bittrer Humor liegt darin, daß gerade
am 16. Dezember die ^. a. ^. d eine soeben in Buchform erschienene Lebens¬
beschreibung des Geschlagnen von Colenso besprach, worin dieser als gerade
der rechte Mann für den Oberbefehl in Südafrika hingestellt wurde! Indes
nötigt die Pflicht der Gerechtigkeit uns, hervorzuheben, daß unter den eng¬
lischen Generalen Sir Nedvers Butter immer noch einer der fähigste» ist.
Aber auch er ist anscheinend nicht frei von den in England eingewurzelten
falschen Anschauungen über neuzeitliche Kriegführung, und das Instrument in
seiner Hand ist ungeeignet für die zu bewältigenden Aufgaben. Die Engländer
hielten ihre Soldaten auf Grund leicht errnngner Siege über halbnackte, mangel¬
haft bewaffnete Wilde für Wesen höherer Ordnung, die es ohne weiteres mit
je zehn Deutschen, Franzosen oder Italienern spielend aufnehmen könnten.
Auch die schlüge, die sie am 10,, 11. und 15. Dezember 1899 erlitten,
reichten noch nicht zu ihrer Belehrung nus. Im Lr. ^. vom 23. Dezember
ist zu lesen: „Unsre Hilfsquellen an Geld, Leuten, Patriotismus »ud Grips
lZi-ip sind thatsächlich unbeschränkt." Ist das nicht eine einfache Übertragung
des bekannten Jingolieds in eine ebenso geschmacklose Prosa, die wuchtig wirken
will? — Und weiter: „Was die bisherige Führung dieses Kriegs betrifft, so
haben wir nichts zu bedauern und noch weniger uns über irgend etwas zu
schämen." Der erbliche Mut der britische,? Soldaten habe nur die Führer
dazu verleitet, die Wissenschaft beiseite zu setzen.
Auch die ^. ii. S. vom 30. Dezember ist der Ansicht, daß England
in Bezug auf deu Burenkrieg nichts zu bereue» habe. Das Blatt ist stolz
darauf, daß England überall das weitere Vordringen der Buren gelähmt habe.
Welche Bescheidenheit nach den großmäuliger Worten der Wochen vorher!
Auch in diesem Punkte begegnet es dem Lr. ^. von demselben Tage, daß er
mit einer gewissen Verachtung des Gegners darauf hinweist, „daß dieser nur
wenig englisches Gebiet in Besitz habe." Im übrigen hält er an der alten
Forderung fest, „daß die Buren nach Eroberung ihres Landes eine gehörige
Buße zahle» müssen. Denn daß der Krieg anders als mit unserm völligen
Triumph ende» kaun, steht außer jedem Zweifel." Auch meint der Lr. L..,
daß ein langer Krieg nicht nach dem Sinne der Buren sei; uach der Einnahme
Bloemfonteius würden sich die Freistaatler ohne weiteres vorn Kriege zurück-
ziehn. Heute wissen wir, daß das nicht der Fall ist, wenn auch ein Teil von
>buen durch die englische«? Erfolge vorübergehend entmutigt gewesen zu sein
scheint. — Alle englischen Blätter sind aber nach wie vor über die unbedingte
Überlegenheit des englischen Soldaten über den hinterwäldlerischen Buren einig;
die Mißerfolge bei Stormberg, MagcrSfontein und Colenso erklärten sich einfach
daraus, daß die Burenstellungen dort g1in»8t imprö^tubis, so gut wie unein¬
nehmbar, gewesen seien. Aber warum packten denn die englischen Generale
dort so unverständig an?
Das war so ungefähr die Stimmung, in der die Ära Roberts-Kitchener
einsetzte. Vielleicht aber doch etwas weniger hochmütig und vertrauensvoll.
Den» nnr ein moralisch niedergebeugtes Volk jubelt den Männern, von denen
es einen Umschwung der Lage erwartet, so zu, wie dies in den letzten De¬
zember- und den ersten Januartagen in England geschah. Es wurde völlig
verkannt, daß die bis dahin erfahrnen Mißerfolge in dem ganzen System
Organisation, Ausbildung, Taktik — wurzelten und nicht in den leitenden
Persönlichkeiten allein. Was diese angeht, so kaun man der englischen Re¬
gierung el»e gewisse Hochachtung dafür nicht vorenthalten, daß sie die nugliick-
licheu Generale a» der Spitze ihrer Truppen ließ. In südlichen Staaten
wären sie sicherlich dem Volksunwillen geopfert worden. In Bezug auf Methuen,
dessen unvernünftige Bnlldoggtaktik am Modder besondre Erbitterung hervor-
gerufen hatte, wurde zwar ein paar mal behauptet, daß er „aus Gesundheits¬
rücksichten" sein Kommando abzugeben habe, doch bewahrheitete sich diese Mel¬
dung nicht. Und auch Butter blieb an der Spitze seiner geschlagner Truppen.
Als die Regierung am 20. Dezember bekannt gab, daß der Oberbefehl über
alle Streitkräfte in Südafrika dem bisherigen Oberstkommandierenden in Irland,
Feldmarschall Lord Roberts, mit dem Generalmajor Lord Kitchener of Khartoum
als Generalstabschef, übertragen worden sei, verlautete offiziös, daß dieser
Wechsel nur mit Rücksicht auf die bevorstehende Verstärkung der in Südafrika
verwandten Truppen erfolge. Darüber kann der Kundige nur lächeln, denn
wenn z. B. der Oberst French mit dem zeitweiligen und auf Südafrika be¬
schränkten Range als Generalleutnant an die Spitze einer Kavalleriedivision
gestellt wurde, so konnte wohl ein alter General der Infanterie, wie Butter,
den Befehl auch über ein paar hunderttausend Mann behalten. Dem Sirdar
Kitchener blieb 1898 auch die Oberleitung beim Zuge nach Khartum, obgleich
er ein junger Generalmajor war, und ein Generalleutnant (Sir Grenfell) dienst¬
lich auf ägyptischem Boden stand. Am 23. Dezember verließ „Bobs" (Bob ist
die Abkürzung für „Robert") die Küste Englands, und am 10. Januar traf
er mit „K. of K." — d. i. ein im englischen Heere beliebter Spitzname für
Kitchener of Khartum — in Kapstadt ein. Nach allem, was wir von den
beiden wissen, dürfte der eigenwillige Kitchener bald zum eigentlichen sxirituL
isotor im Oberkommando geworden sein. Er ist nicht der Mann dazu, gegen¬
über dem achtundsechzigjährigen Roberts bescheiden in den Hintergrund zu
treten. Pröbchen von seiner Auffasfuugsart hat er auf der Reise zum Kap
in der rückhaltlosesteu Weise seinen Schiffsgenossen gegeben: „Ich" werde dies
thun, „ich" halte das für nötig, „ich" werde versuchen, „die Karre aus dem
Sumpfe zu ziehn." Als Generalstabschef ist er seiner ganzen Anlage nach so
ungeeignet wie nur möglich; es sei denn, daß man ihn bewußt an die Seite
von Roberts gesetzt hat, damit dieser das deckende Vollzugsorgan für den
Kitchenerischen Willen sei. Ob die Kriegskunst Kitchcners für die gegenwärtige
Stellung ausreicht, entzieht sich unsrer Beurteilung: der gelungne Zug nach
Bloemfontein ist allein noch kein Beweis für seine Führerfähigkeiten, und es
muß geradezu befremden, daß wir den Generalstabschef sämtlicher englischen
Truppen in Südafrika fern von seinem Kommandeur, an dessen Seite doch
unweigerlich sein Platz ist, umher bataillieren sehen. Bei Kudusrand leitet
er den Angriff, während Lord Roberts im Hauptquartier bei Paardeberg
bleibt; Kitchener — nicht Roberts — ist auf Cronjes Gesuch um freien Abzug
der Frauen und Kinder gleich mit einem harten „Nein" bei der Hand gewesen;
Kitchener sah in de Aar, als die Verpflegungsnachfuhr stockte, nach dem Rechten;
Kitchener warf in Prieska angeblich den Aufstand der Afrikander nieder;
Kitchener zog mit 3000 Mann über Norvals Pont dem General Elements zu
Hilfe: mit einem Worte, Kitchener und kein Ende.
Als Organisator leistet der rücksichtslose und von den Offizieren, mit
denen er zu thun hat, gefürchtete Mann ohne Frage Außerordentliches, und
der Organisation der Streitkräfte, der Aufstellung von Freikorps, der Sicherung
der Eisenbahnen und der Aufstapelung von Lebensmitteln war der erste Monat
der Anwesenheit des Oberkommandos in Kapstadt gewidmet. Die 6. und
7. Division wurden verständigerweise nicht mehr dem gleich einem Moloch
Bataillone, Schwadronen und Batterien verschlingenden Natal in den Rachen
geworfen, sondern auf der Seite gehalten, auf der unbedingt die Entscheidung
fallen mußte. Daß die ganze 5. Division noch nach Natal ging, vermochte
Roberts nicht mehr zu hindern; zum Teil war sie schon dort gelandet, als
er in See stach.
Generalmajor Bengough verkündete im Lr. vom 6. Januar ex oatueära:
„Die Buren können uns nicht zwingen zu fechten, bevor wir bereit sind." In
diesem Satze ist wieder das Wort „können" grundfalsch; es hätte heißen
müssen: sie werden uns wahrscheinlich nicht zwingen, denn ihre Vorliebe für
eine abwartende Kriegführung ist bekannt. Derselbe Herr äußert sich höchlichst
entrüstet: „Es ist in der That unverantwortlich, daß dieser Schritt (die Be¬
freiung von Ladysmith) noch nicht gethan ist. Im übrigen wird der Ort ans
jeden Fall entsetzt, und die Buren werden zwischen Sir Redvers Butter und
Sir George White jämmerlich zermalmt werden. Die Gefahr solcher Opera¬
tionen (Einschließung eines stark besetzten festen Platzes und zugleich die Ab¬
wehr eines Entsatzheeres nicht mehr als einen Tagemarsch von der Ein¬
schließungslinie) ist sehr groß, und die Buren werden eine so gewagte Unter¬
nehmung teuer zu bezahlen haben." Es war auch heillos, daß sich die Buren
in einer Kriegführung ergingen, die in den längst veralteten taktischen Lehr¬
büchern des englischen Heeres nicht vorgesehen war, und für die nun das
maschinenmäßig anzuwendende Rezept fehlte!
Butter hatte allen Grund, trotz der ernsten Verwarnungen Bengvughs
mit einem neuen Entsatzversuch zu zögern. Kürzlich hat der Nadir eine sehr
abfällige Beurteilung des französischen Militärattaches auf englischer Seite über
die Mannszucht in Butters Lager gebracht. Wenn die darüber aufgeregten
Engländer dem Franzosen (Hauptmann d'Amade) Indiskretion vorwerfen, so
sind sie dazu bis zu einem gewissen Grade berechtigt: nur braucht die Indis¬
kretion durchaus nicht von der Person des Attaches ausgegangen zu sein.
Obendrein begeben sich die englischen Blätter auf ein gefährliches Gebiet, wenn
sie die Mängel an Mannszucht einfach in Abrede stellen. Die Militärattaches
der fremden Mächte hatte man englischerseits auf den östlichen Kriegsschauplatz
gnädigst zugelassen, als die Schlacht bei Colenso geschlagen war, und man
schob sie klugerweise unmittelbar vor dem zweiten Entsatzversuch Butters wieder
ab, sodaß sie in Kapstadt einen Monat auf die persönliche Vorbewegung von
Lord Roberts warten konnten. Eine hübsche Nasführung! Aus derselben
Zeit nun. wo die fremden Attaches im nördlichen Natal waren, rührt die
Meldung eines englischen Berichterstatters her (leider haben wir die Quelle zu
notieren vergessen), wonach das Heer Butters durch die Niederlage am 15, De¬
zember völlig demoralisiert worden wäre. Die frühere Zuversicht auf das
gerade gegenüber den Buren vielgepriesene Bajonett sei gänzlich dahin, und
an ihre Stelle sei eine tiefe Entmutigung getreten. Man wisse im englischen
Lager ganz genau, daß die Angaben über die gewaltigen Verluste der Buren
der reine Schwindel seien, und da die Mannschaften erkannt hätten, daß sowohl
Gewehr als Geschütz auf Seite der Buren besser seien als im englischen Heere,
wollten sie sich nicht mehr zu „Manserfntter" hergeben. Das Vertrauen in
die Führung sei dahin, und die Mannschaften nahmen sich die unglaublichsten
Dinge heraus. Die Offiziere aber, machtlos in jeder Beziehung, ließen die
Leute gewähren usw. Der Berichterstatter mag etwas schwarz gesehen haben,
aber im ganzen werden die Zustände nicht erquicklich gewesen sein. Gebranntes
Kind scheut das Feuer. Augenscheinlich hat erst das Eintreffen der Division
Warren (5.) den General Butter zu einem neuen Versuch zur Sprengung des
Burenrings befähigt. Er verfügte jetzt über etwa 20 Bataillone, eine unes
Tausenden zählende berittne Infanterie, 3 Kavallerieregimenter, 7 Feldbatterien
und eine Gebirgsbatterie, dann noch über eine Anzahl Schiffsgeschntze. Als
Butter nach Südafrika abging, sagte er einem Freunde, er freue sich, in einem
Kriege deu Oberbefehl zu führen, worin die Kriegsflotte nichts zu thun habe.
Jetzt waren ihre Kanonen geradezu die Rettung der Engländer in wie vor
Ladysmith, dn die englischen Feldgeschütze nicht denen der Buren und noch
weniger deren Positionsgeschützcn gewachsen waren. Alle spätern Ableugnungen
dieser Unterlegenheit können nichts nützen. Darüber im Kapitel über die
„Kriegführung der Engländer" mehr.
Am 10. Januar begann Butter von Frere aus seine „überraschende"
Flankenbewegung in westlicher Richtung. Damit die Buren, die zahlreich im
Osten wie Westen von Colenso auf den, südlichen Tugelanfcr schwärmten, seine
Absicht uicht erraten sollten, ließ der englische General vorher schon eine —
Feldbahn von Frere »ach Springfield bauen! Die dummen Buren »ahme»
doch sicherlich an, daß das nur zum Spaß geschehe. Um sie weiter in Un¬
klarheit zu erhalten, zog er, kaum einen Tagemarsch vor ihrer Stellung auf
dem nördlichen Tngelaufer, mit einem Troß von 1000 Ochsenwagen dorthin
und gebrauchte 6 Tage bis sein rechter, 7 bis 8 Tage bis sein linker Flügel
(Warren) den Tugela um deu bezeichneten Stellen — Potgieters Furt und
Trichards Furt — überschritten, trotzdem daß der Feind hierbei keinen
nennenswerten Widerstand leistete und die genannten Furten nur 35 und
40 Kilometer von Frere entfernt liegen!
In der endlos langen Fuhrwerkkoloilue waren auch 270 Wagen mit
Lebensmitteln für die Eingeschlossenen. Wie ans Ladysmith schon am 9. Januar
heliographiert wurde, bereiteten die Stadtväter eine kunstvolle Adresse vor, die
Butter beim Einzuge überreicht werden sollte. Damit war es nun freilich noch
viel zu früh, gerade wie sich am 11. Dezember die Jungfrauen Kimberleys
vorzeitig mit weißen Kleidern geschmückt hatten.
Butters link«! Fliigel sollte den feindliche» rechten Flügel umfassen und
dann die Stellung der Buren nach Ladysmith zu aufrollen. Aber diese hatten
hinlänglich Zeit gehabt, sich neu einzurichten, und so traf Warrens Angriff
wieder die Front des Gegners. All das Triumphgeschrei daheim, daß endlich
ein englischer General mit genialer, von dem geistlosen bei den Hörnern fassen
abweichender Angriffsdisposition vorgehe, war vergeblich gewesen. Die Kämpfe
um die Abstufungen und Kuppen des Spioukops, der an einer ganz andern
Stelle liegt, als der auf der vom lutölligsnes OöM'tMöirt des englischen
Kriegsministeriums herausgegclmen Karte verzeichneten, kosteten viel, ungeheuer
viel englisches Blut — 301 Tote, 1584 Verwundete und 130 Vermißte —
und zeigten die Gefechtskraft und Tapferkeit der Buren im hellsten Lichte.
Obgleich sie über keinerlei blanke Waffen verfügten, brachen sie ein paarmal
stürmend in die Schützengräben der englischen Infanterie ein: man ermesse,
welch hoher Mut dazu gehört. Dabei gaben die Buren ihren Verlust auf
nur etwa 200 Mann an. Das Eude vom Liede war bekanntlich der Rückzug
der Engländer auf das südliche Tugelaufer in den Nächten vom 25. zum 26.
und vom 26. zum 27. Januar. Vullers stolzer Tagesbefehl vom 17. beim
Überschreiten des Flusses war jämmerlich zu Schanden geworden. Er schloß:
„Ein »Zurück« giebt es nicht, britische Offiziere kennen nur den Befehl: Avan¬
cieren!" Wir sind ans diese wohlbekannten Vorgänge aus besondrer Absicht
ein wenig genauer eingegangen. In unsrer den Erfolg blind anbetenden Zeit
scheint man über Cronjes Wafsenstrecknng und Ladysmiths endlicher Befreiung
M manchen Stellen die Heldenthaten der Buren am Tngela schon vergesse»
M haben! Deshalb die nachdrückliche Erinnerung an diese glänzende Abwehr
des zweiten Bullerschen Entsatzversuchs, der bald eine nicht minder ruhmreiche
dritte folgen sollte.
Butter hat mit seinen Armeebefehlen und Truppenansprachen entschiednes
Unglück. Als er seine Truppen wieder auf dem rechten Tugelaufer hatte
ein Jammer, daß die siegreichen Buren die englische Niederlage nicht durch
ein rücksichtsloses Nachstoßen zur völligen Vernichtung machten! —, sagte er
ihnen, daß sie in acht Tagen in Ladysmith sein würden. Selbstverständlich
löste er sein bei uns und den übrigen Völkern des Festlands viel belächeltes
Wort nicht ein, aber es zeugt doch von einer anerkennenswerten Willens¬
energie des Führers und Festigkeit seiner Truppen, daß an dem Tage, wo
Ladysmith entsetzt sein sollte (5. Februar), zu einem dritten Befreiungsversuch
""gesetzt wurde/ Er führte etwas weiter östlich über den Tngela und wählte
den kürzesten Weg uach Ladysmith. Insoweit, wie anch dadurch, daß ein
Delikateßwagen für die Eingeschlossene» der Vorhut zugeteilt wurde, war der
Versuch besser angelegt als sein Vorgänger. Großes Hallo in England; und noch
bevor die Nachricht von dem unglücklichen Ausgang bekannt geworden war,
druckte der Lr. ^. (vom 10. Februar): „Die Sonne des Erfolgs beginnt zu
scheinen . . . glücklicherweise ist England uun imstande, den südafrikanischen
Krieg rasch zu Ende zu führen, wie auch jedem andern Gegner entgegen-
zutreten." Nebenbei bemerkt, teilte dieses militärische Fachblatt seinen gläubigen
Lesern mit, daß die Schiel Furt, wo die Hauptkolonne Butters (diesmal die
rechte) zunächst über den Tugela gelangte, auf den Karten nicht verzeichnet
sei. Das Gegenteil ist der Fall. Oder sollte der Lr. ^. noch schlechtere
— englische — Kriegskarten haben als der Schreiber dieser Zeilen?
(Fortsetzung folgt)
IW
^^W?
MAWrei Bücher über den Wert des Lesens für weitere Zwecke der
Bildung liegen vor mir, ein deutsches, ein französisches und ein
englisches; sie sind aus einer größern Sammlung nach öfter
wiederholter Sichtung als letzter Rest zurückgeblieben. Aus deu
übrigen ließ sich nichts lernen, und die meisten enthielten sogar
viel Verkehrtes. Davon zu reden, würde also keinem nützlich sein.
Von dem Druckwerk nicht als Unterhaltuugsgegenstand, sondern als Quelle
der Bildung handelt der Grazer Germanist Schönbach und zwar mit Be¬
schränkung auf unsre neuste Litteratur, in einem zuerst vor zwölf Jahren er¬
schienenen Buche, das inzwischen in seiner sechsten Auflage beim zehnten bis
zwölften Tausend angelangt ist (Über Lesen und Bildung, Graz, Leuschner
und Lubensky). Ein schmaler Erfolg für die Qualität des Werkes und kein
günstiges Zeugnis für das Bildungsbedürfnis der Leserwelt! Was Bücher
wirken können, lehrt Emersons Beispiel. Er verbrachte sein Leben in einer
kleinen Stadt in der Nähe von Boston, umgeben von der freien Natur und
von seiner Bibliothek, und wenn er von da aus die große Welt betrat, z. B.
auf einer zweimaligen Reise nach Europa, so zeigte sie ihm nichts neues, denn
er kannte schon alles ans seinen Büchern. Schönbachs sechste Auflage ist stark
erweitert. Ein Kapitel über die jüngsten Richtungen ist hinzugekommen; noch
nie in seinem Leben, gesteht uns der Verfasser, habe er sich in einer so be¬
denklichen Gesellschaft von Büchern befunden wie damals, als er es ausarbeitete.
Aber die Selbstiiberwindung hat sich gelohnt. Man muß sagen, daß er jetzt
den besten Überblick über die zeitgenössische deutsche Litteratur giebt, nicht so
einseitig wie Nordau, eingehender und kritischer als Bartels. Gut sind dabei
immer die ältern Zusammenhänge berührt, z. B. in dem neu hinzugetommnen
Kapitel die als Vorfahren angernfnen Romantiker; die Gegenwart ist so ernst¬
haft und so wissenschaftlich behandelt, wie sie es nur verlangen konnte. Schön¬
bach findet, daß das Gefühl für die Form in Dichtung und Prosa verloren
gegangen ist, sodaß sich der Leser jede Nachlässigkeit lind sogar wirkliche
Fehler des Stils gefallen läßt. Dichter, die keine ordentlichen Verse machen
können, ergießen sich in freien Rhythmen, und die Technik unsrer Erzähler ist
so unvollkommen, daß der deutsche Roman in der Weltlitteratur die allerletzte
Stelle einnimmt, Gut zu schreiben, ja nur korrekt, ist viel schwerer, als die
meisten jungen Erzähler glauben; ihnen verdirbt den Stil ihre Eilfertigkeit und
der Hochmut, der ohne Sprachgefühl jede dumme Phrase für Inspiration aus¬
giebt. Darum stellt Schönbach Gottfried Keller so hoch — „den größten
deutschen Dichter in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts" —, der auch
das Geringste in der Kunst nicht verschmäht, auf Unebenheiten der Sprache,
hart zusammenstoßende Konsonanten, eintönige Vokale und ungelenken Satzbau
Jagd macht.
Des Verfassers Kritik ruht auf einer so schweren Menge von Kenntnissen,
daß es den Betroffnen nicht möglich sein wird, wider den Stachel zu locken.
Er hat auch ein Auge für die bildende Kunst, und aus ihrer Begleichung mit
der redenden zieht er mancherlei artige Anwendungen. Der Dichter soll nicht
lmtürlicher sein wollen als die Natur, die in unsre Sinne eingeht, wie es
thöricht ist, wenn die Maler mit Hilfe der Augenblicksphotographie dem
Beschauer Bewegungen aufzwingen, die kein natürliches Ange wahrnimmt;
unsre Sinne siud für uus die Grundlage der Künste und nicht die ozmeig.
odsourg.. Von hier aus wendet er sich gegen das wissenschaftlich genaue Auf¬
zählen der Einzelheiten in dem naturalistischen Roman, was ihn aber nicht
hindert, an einer andern Stelle Hauptmanns Fuhrmann Henschel zu dem Besten
zu rechnen, was unsre Zeit hervorgebracht hat. Man kann ihn überhaupt
nicht engherzig nennen; so sticht er z. B. bei Sudermann alles nach Möglich¬
keit zum besten zu kehren, und immer wieder hebt er hervor, daß er zu
schreiben versteht, was die Jüngern, die ihn anzugreifen pflegen, meistens nicht
können. Viel Eigentümliches enthält ein Kapitel über Ibsen, der hoch gestellt
und als das Genüssen unsrer Gesellschaft aufgefaßt wird; mir sind die Be¬
merkungen über seine mit der isländischen Saga zusammenhängende Sprach-
uud Stilkunst einleuchtender gewesen. Gut sind Schönbachs Gedanken über
den Künstlergrundsatz 1'art xour 1'g.re. Man kann, meint er, namentlich einem
Großstadtpublikttm durch Suggestion und Zeitungskritik alles Mögliche bei¬
bringen, sodaß es schließlich Flecke für Figuren und eine Farbensammlung für
ein Bild hätt. Aber zu einem Kunstwerk gehört doch, daß es von Menschen
mit normalen Sinnen und einem gewissen Bildungsgrade verstanden und ge¬
nossen werden könne, „eine gewisse Fähigkeit allgemeiner Geltung," die die
Kunst für die Künstler nicht zu habe» braucht. „Man könnte sich denken,
dnß für die Köche Speisen zubereitet würden, deren Reize den durch beständiges
Kosten stumpf gewordnen Gaumen noch zu kitzeln vermöchten; diese würde
dann kaum jemand anders genießen wollen." So denkt er auch über die
„Poesie für Dichter"; das gebe kleine Intimitäten, aber keine wirksame Kunst,
»icht Gedichte, sondern nach August Wilhelm Schlegel bloße Einbildungen von
Gedichten.
Mit dem Grundsatz l'^re pour 1'g.re hängt ein zvieites Zeitgebilde eng zu¬
sammen: die Kunst soll das ganze Leben durchdringen, geivissermaßen stilisieren,
was zunächst für die schaffenden Künstler und ihre Stellung sehr wertvoll sein
würde. Auch manche Kunstschriftsteller predigen ja so, als hätten wir leine
nähern Bedürfnisse, und rechnen alles Kunstinteresse ihrer Zeitgenosse» noch
für gar nichts. So lange aber Brot und Fleisch für Geld gekauft werden
müssen, meint mit Recht der Verfasser, wird es außer den vielfachen Millio-
nüren niemand möglich sein, das Leben anders als in einzelnen hohen Augen-
blicken zur Kunst umzubilden. Eine solche Kunstwirtschaft würde aber auch zum
völligen Bankrott führen; fortschreitende Verfeinerung und Genußsucht würden
bald alle Kräfte geschwächt haben, die zur Verteidigung jeder menschlichen
.Kultur nötig sind.
Die echte Dichtung ist das Dauerhafteste, beständiger als die vornehmsten
Wissenschaften, die sich immer verändern. Diese Dichtung kauu, wie Schvu-
bach anderwärts im Anschluß an eine Definition Jakob Grimms („das Leben
selbst, gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache") bemerkt, nie
etwas andres darstellen als „ein Ideal des Lebens, eine höhere Stufe, von
der ans gesehen die Dinge der Welt in einer großen Ordnung zusammen¬
hängen." Nu» meint er an einer dritten Stelle, die Menschen seien hente
durch die Leserei der unbedeutendsten Belletristik so träge geworden, daß sie
den Vers als unangenehmes Hindernis empfänden; darum müßten Lyrik und
Epos verkümmern, und alles schlüge in den Roman um. Hiergegen ist zu
erinnern, daß doch zunächst die Dichter mit Versen, die nicht als Hindernis
empfunden werden, den Anfang machen müßten. Scheffel hat seiner Zeit jeder
gern gelesen, und das war noch nicht die höchste Gattung der Poesie. Rvsegger
dagegen wäre gewiß nicht der glückliche Verfasser von einundvierzig Bänden
und der fruchtbarste Schriftsteller der Gegenwart <S. 190) geworden, wenn er,
anstatt Erzählungen zu schreiben, bei den Poesien, von denen er ausging, ge¬
blieben wäre. Ich habe schon oft ausgesprochen, daß es doch nicht zu ver¬
wundern sein würde, wenn eine Zeit, die so Ungeheures ans ganz andern Ge¬
bieten leistet, plötzlich einmal keine Dichter mehr hervorbringen wollte. Das
ist dann aber noch lange kein zureichender Grund für den Verfall der schönen
Litteratur überhaupt. Gute Prosa wird keinem im Traume beschert, sie fordert
viel Arbeit, und daran fehlt es in den meisten Fällen, wo das Talent lange
ausreicht.
Wie viel man lesen soll, was und wie, z. B. nicht ohne Merkbuch, wie
auch Hills rät, und noch vieles andre findet man verständig erörtert. Als
Haupteindruck wird auf den Leser die Sicherheit und die Tiefe des Wissens
wirken. Eine solche Belesenheit ist staunenswert. Der Versasser hat zugleich
seine frühern kleinern Schriften erscheinen lassen (Gesammelte Aufsätze zur
neuern Litteratur); etwa die Hälfte davou handelt über amerikanische Prosa
litteratur, in deren Kenntnis es nicht viele Deutsche mit ihm werden ans
nehmen können. Seine Schätzung von Emerson und Hawthorne geht mir
Viel zu weit — Schöubach ist eben überhaupt eine Natur, die anerkennt,
solange es nur irgend möglich ist —, aber seine Behandlung ist immer be¬
lehrend und dabei' höchst unterhaltend. Die Kapitel über Cooper und den
amerikanischen Roman der Gegenivart würde außer ihm kaum jemand so ge¬
schrieben haben; die wegen mancher Einzelheiten lesenswerten Aufsätze zur
Litteratur Deutschlands und Österreichs hatten andre mich schreiben können.
Dein ersten Buch, das in jedem Falle das bedeutendere ist, hat der Verfasser
Listen empfehlenswerter Bücher ans 25 Seiten angeschlossen, zu denen er sagt:
„Darum verzichte ich gern auf die mir an sich ganz unmögliche Vollständigkeit,
bekenne, daß mir gewiß vieles Gute und Lesenswerte entgangen ist, und
bin zufrieden, wofern nur das Aufgenommne sich als brauchbar bewährt."
Das erste und zweite wird kein Verständiger bemängeln. Was das dritte
betrifft, so begreife ich nicht, wie el» Mann von seinem Urteil und Geschmack
in diesen wiederholt geprüften Verzeichnissen so viel geringes Zeug (der Aus¬
druck ist kaum stark genug) hat steh» lassen, wo er auf jeder Seite hätte
streichen können.
Guter, korrekter und dabei treffender Prosaausdruck, deu unsre Schrift¬
steller so oft vermissen lassen, ist für einen Franzosen, der für etwas gelten
will, uoch keine Tugend, sondern ein unerläßliches Erfordernis. Er hat vor
den unser» voraus, daß er auf eine lauge Reihe von Mustern zurücksieht, nach
denen er sich bilden kaun, während unsre moderne Prosa höchstens huudert-
st'nfzig Jahre alt ist. Aber die Menge thut es nicht; das Entscheidende ist,
daß der deutsche Geist der Regel widerstrebt, und daß der unreife Schriftsteller
jeden Einfall für eine Eingebung nimmt. Wo sind heute die Grenzen zwischen
Poesie und Prosa, die Lessing mit Mühe gesteckt hat? Die freien Rhythmen
""srer Modernen sind meistens keine Dichtung, sondern ein wohlfeiles Surrogat
dafür, und ihre impressionistische Prosa taumelt so absichtlich in das Reich der
Poesie hinüber, daß sie es sich manchmal sogar noch dnrch die Art des Druckes
bescheinigen läßt, in der daS Satzrndiment für sich erscheint, wie eine Vcrs-
zcile. Eine neuerlich erschienene „Poetik" eines Umvcrsitätsprofessors (dessen
Name nichts zur Sache thut) erteilt uns am Schluß die erbauliche Belehrung,
daß die Antithesen und Wiederholungen in Lessings Prosadialog ans der
Poetischen Harmonie, die sich in Versmaß und Nenn ausspreche, hervorgegangen
seien. Wenn also in Minna von Barnhelm Just dem Wirt eine Standrede
hält, ihm darin dreimal sagt: „Herr Wirt, er ist doch ein Grobian." und
dann schließt mit den Worten: ..Pfui, Herr Wirt, so guten Danziger zu haben
«"d so schlechte Mores!" so lehrt darüber unser Professor, das sei nichts
a»tres, als wenn ans mehrere Stollen der Abgesang folgte. — Was hätte
Wohl Lessing selbst zu solcher Verklotznng seiner Stilmittel gesagt!
In Frankreich erscheinen bisweilen kleine Bücher über den Prosastil, aus
denen auch wir manches lernen können, denn die Grundregeln des Ausdrucks
gelten für alle Knltursprachen. sonst könnten wir ja z. B. das Lateinische ge¬
trost den Philologen überlassen — Lehrbücher, die aber nicht pedantisch ge-
schrieben sind, sondern fein und unterhaltend, sodaß schon die bloße Lektüre ein
Vergnügen ist. Ein solches ist I,'g,re ä'evriro önsoigiw ein viiig't le^ins von
Antoine Albalat (Paris, Armand Colin et Cie). Es will ein rein prak¬
tisches Buch sein (wie es noch keins gebe, sagt der Verfasser in der Vorrede),
das mit Umgehung der veralteten Rhetorik und ihrer unfruchtbaren Klassifizie¬
rungen den ehemaligen xrisonnisrs as rbstoriciuo als eoIIvM zeigt, wie
jemand bei mäßiger Anlage zu einem eignen Stil kommen könne. Sein Gegen¬
stand ist der einfache, natürliche, frische Ausdruck, der mühelos entstanden
scheint und doch tiefes Studium voraussetzt; er läßt sich nach des Verfassers
Überzeugung lehren, und das geschieht nun mit Anwendung auf die zwei Arten,
die für das heutige Leben um wichtigsten sind, die Erzählung und die in ihrer
Vollendung dem Porträt nahekommende Beschreibung,
Der Schriftsteller soll den Eindruck einer Sache so geben, wie die Natur
selbst, er muß also nach der Natur arbeiten und darf zunächst, um nnr das
Relief herauszubekommen, sich auch nicht scheuen, es roh und derb auszudrücken.
Dann erst kommt die Rücksicht auf die Schönheit, die Harmonie, die für sich
allein den Stil, der keinen kräftigen Inhalt hätte, nur noch faber machen
würde. Das wird ungefähr Albalats Leitsatz sein. Er ist aber keineswegs
ein Naturalist, sein höchstes Muster ist Homer, und ihm, dessen Beschreibung
beinahe die Sache selbst sei, widmet er ein ganzes Kapitel; ebensowenig ist er
ein Anhänger des modernen Realismus, aber man soll seiner Ansicht nach von
ihm nehmen, was taugt. Die beiden Goncourt, Zola und andre haben die
Satzbindung aufgegeben und reihen in Partizipien und Zwischensätzen lauter
Einzelheiten aneinander; was sollte daraus werden, wenn jemand das nach¬
ahmte? Diese Schnlrichtung mit ihrem beschreibenden Impressionismus zer¬
stört Rede und Stil. Eine gute Periode nach klassischer Art ist schwerer, aber
auch verdienstlicher, denn sie kann alles ausdrücken, was die moderne Be¬
schreibung erstrebt, und sie hat außerdem noch einen ästhetischen Formwert.
Der Verfasser will nicht ans ein bestimmtes Muster verpflichten, jeder mag
womöglich alle kennen lernen und wählen, aber eine Form, sagt er, ist un¬
erläßlich für jeden, der gut schreiben lernen will, sie ist allgemein und zeigt
überall ihren Einfluß, es ist die logische, akademische Fügung, deren sich die
Klassiker bedient haben. Diese großen Stilisten hätten alle abgebrauchter
Phrasen gemieden und ihre Gegenstände mit frischen Augen angesehen, und
wer so originell schreiben wolle, wie es ihm nach seiner Anlage möglich sei,
der könne diese Kunst von ihnen bis zu einem hohen Grade lernen, ohne in
Nachahmung zu verfallen. Manche Autoren würden in dieser Hinsicht wenig
Nutzen bringen, der unerreichbare Lafontaine, der vornehm steife Boileau,
Moliere mit seinem tausendfältigen Inhalt und der unnahbare Corneille. Er
selbst schlägt vor Montaigne, Bossuet, Rousseau, Chateaubriand, den Vater der
Beschreibung, und von den Neuern Flaubert, einen der letzten, der der Archi¬
tektonik der Rede ihr Recht gegeben Hütte, und der, wie man weiß, ungeheure
Mühe auf sein Schreiben verwandte; gelegentlich weist er auf Daudet hin,
die lsttros av mon moulin verdienten, ein Schullesebuch zu werde». Auch
Fenelon gehört noch zu seineu Klassikern, er schreibt rein, aber er hat schon
z. B, in seinem Telemach zu viel Trivialitäten. Das wahre Relief hat Bossuet,
der ungesucht das Material darbietet zu einer Sammlung vou Redewendungen,
die das Gegenteil von banal sind. Voller Banalitäten, ganz sylo
schreibt dagegen trotz ihres lebhaften Geistes George Sand. Schon frühere
haben ihr die Vorliebe für verbrauchte Bilder vorgeworfen; der Verfasser
korrigiert zur Belehrung seiner Leser Proben von ihr und einigen andern
Schriftstellern, ihrem Freunde Jules Sandeau, Thiers nud Merimee, mit dem
Bemerken, daß man das nicht mit allen z. B. nicht mit Pascal oder la Brnycre
so machen könne.
Albalnt ist im Grunde seiner Seele Klassiker, wie es jeder gut schreibende
Franzose sein muß; die Sprünge der Modernen werden drüben bei weitem
nicht so bewundert wie bei uns. Wie einsichtig er über sie urteilt, mag eine
kleine Probe aus dem Kapitel «zlcxzutioir veranschaulichen; es ist vom ersten
und vom zweiten Wurf und vom Korrigieren die Rede, dann folgt ein Kapitel
über Änderungen und den dritten Wurf. „Es giebt sicher Schriftsteller, die
wenig oder gar nicht korrigieren. Zola könnte nicht alle Jahre einen Vaud
vou fünfhundert Seiten schreiben, wenn er seine Wendungen aufs neue vor¬
nähme. Der Romanschreiber Balzac korrigierte seinen Stil nur auf deu Druck¬
fahnen, und Stendhal bemühte sich immer seine tiefste Verachtung gegen alle
litterarische Formarbeit kund zu geben. Man kauu sich darüber seine Gedanken
»rächen. Sicher ist, daß, wenn Balzac uus zwei oder drei formvollendete Bücher
wie Flnuberts Madame Bovary geschrieben Hütte, er heute ebenso berühmt
wäre wie mit deu fünfzig, die er uns hinterlassen hat. La Bruyöre hat uns
einen Vaud geschrieben, der länger leben wird als alle Zolas. Übrigens darf
^ in einen/Buche über die Kunst zu schreiben wohl ausgesprochen werden,
daß mau keineswegs zu schreiben braucht wie Balzac, und daß mau auch uoch
besser schreiben kann als Zoln oder Stendhal. Den Stil soll man bei den
großen Meistern der Form lernen, die im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet
und immer aufs neue an sich verbessert haben. Gegen diesen Satz läßt sich
gewiß nichts einwenden." In lebendiger Methode mit einer Menge vou Bei¬
spielen zeigt Albalat den Unterschied der frischen, eigentümlichen und der ver¬
brauchten Ausdrucksweise, des Omuibusstils. Diesen keunzeichnen nicht etwa
einfache, gewöhnliche, oft gebrauchte Ausdrücke, sondern solche, die man durch
einfachere ersetzen kann, ja ersetzen muß, weil diese noch einfachern die emzrg
wahren sind, die mau immer wieder anwenden muß, und hätte man sie tausend¬
mal gebraucht; für „es regnet" wird man niemals etwas andres sagen als
»es regnet." Lamartines 'beredte Schilderung seiner verstorbne» Mutter ist
farblos, ganz Klischee, warum? weil sie nur aussagt, was dieser Frau mit vielen
andern gemeinsam, nichts was ihr ausschließlich eigen ist; dies hätte anders
ausgedrückt, vielleicht auch schon unters wahrgenommen werden müsse».
Zu eiuer guten Erzählung oder Beschreibung ist nicht erforderlich, daß
der Inhalt erlebt oder der Gegenstand gesehen sei. Albalat giebt zwei schalter¬
lich schöne Schilderungen von einem Manne, der im afrikanischen Wüstensande
schrittweise versinkt, und von einem Häuptling ans Sumatra, der von den
Feinden seines Stammes gefangen genommen und in einen Schlammteich ge¬
steckt wird, um langsam darin zu ersticken; sie geben dem Eindruck nach die
volle Wirklichkeit mit allein täuschenden Detail, und doch haben die beiden
Schriftsteller nichts ähnliches selbst wahrgenommen. Was erleben andrerseits
oft Menschen, die nicht imstande sind, den einfachsten Bericht darüber zu er¬
statten! Die Kunst des Schriftstellers besteht also darin, daß er sich eine Sache
so lebendig vorstellt, als Hütte er sie vor sich, und daß er dann den dieser
Vorstellung möglichst nahekommenden Ausdruck findet. Das wahre Gedächtnis
besteht ja auch nicht darin, daß man sich an alles erinnert, sondern daß man
weiß, wo die Dinge zu finden sind; wäre es zuverlässig, so brauchte man keine
Gelehrten mehr.
Außer seine» Grundbedingungen »lacht der gute Stil »och äußerliche
Forderungen («zonvlsion, liA-morio). Aus den betreffenden Kapiteln interessiert
uns vielleicht folgendes. Jede Häufung, jedes Zuviel ist schlimmer als ein
scheinbares Zuwenig, eine Kunst, die einen Augenblick des Nachdenkens fordert.
Dieser Satz hat für uns ebensolche Geltung, denn jede Schreibweise läßt sich eher
ertragen als die breite Geschwätzigkeit, Mau soll ferner nicht dieselben Ausdrücke
innerhalb kurzer Zwischenräume wiederholen, abgesehen von den ma»cherlei un¬
vermeidlichen kleinen Worten, die keine Synonymen haben; Chateaubriand und
Flaubert in seiner letzten Periode waren darin so streng, daß sie nicht zweimal
dasselbe Wort ans einer Seite duldeten. Der Verfasser entscheidet nach meinem
Gefühl richtig, man solle die Wiederholung z» vermeiden suchen, wen» sie a»f-
falleild und lästig ist, weil sie dann als Nachlässigkeit empfunden wird, man
solle sie sich erlauben, wenn durch ein andres etwa schwächeres Wort der Sinn
verändert werden würde (dies ist schon Pascals Meinung); in der Antithese
hat die absichtliche Wiederholung selbstverständlich ihr besondres Recht, In
Deutschland halten manche Stilisten diese Beschränkung der Wortwahl für
pedantisch. Aber wie leicht kann man sich einen kleinen Zwang auflegen, und
wohin käme man, wenn jeder, um sich das Besinnen zu ersparen, seinen Wort¬
schatz immer „lehr einengte? In Frankreich giebt es Schriftsteller, die sich ans
die Wiederholung sogar etwas zu gute thu». Über den Lanteffekt aufeinander¬
stoßender hartklingender Koiisonante», gleichlautender Vokale, gleicher oder
ähnlich lautender Silben urteilt der Verfasser so, wie sich mich ein sorgfältiger
deutscher Schriftsteller, wen» er einmal etwas recht gutes schreiben wollte, ver¬
halten würde. Es giebt jn Verbindungen, die so scheußlich klingen, daß es
auch ein rohes Ohr empfindet. Wird aber das zugegeben, so muß der an¬
spruchsvollere Geschmack als der feinere »»d nicht als pedantisch angesehen
werden. Eine andre Bemerkung betrifft das Französische allein. Die guten
Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts gebrauche» im Überfluß trotz ihres
harte» Kiangs Mi und <iuv; natürlich, den» sie habe» noch lateinische Kor-
strnttione» im Kopfe. Seit Rousseau tritt hiev Ersatz ein durch Partizipia
und andres, lind bei Chateaubriand und Flanbert sind dann diese Worte so
gut wie verschwunden. Die Sprache hat sich überhaupt von dein g'amis latin
entfernt. Es giebt aber, bemerkt dazu der Verfasser, Worte, die in ihrer
altertümlichen, griechischen, lateinische» oder exotischen Färbung einen besondern
Klang haben, und die, wenn sie in eine», schönen Stil zur Geltung kommen,
eine wunderbare Wirkung machen — und dazu zitiert er als Beispiel aus
ChateaubriandS Memoiren ein Stück von Uno und, ü uvae mit zahlreichen
Fremdwörtern und Eigennamen. Die Wirkung einer solchen Prosa beruhe
auf dem Zauber der Worte, die zum Teil so verführerisch klänge», daß sie zu¬
sammen mit ihre» auffallende» Beiwörtern einen ganz eigne» musikalischen
Reiz ausübte». Diese Wirkung des fremden Worts leimt und übt mau mit
Absicht ja auch schon längst bei uns. Dem ganz unreifen Geschmack tönt da
beinahe jedes feierlich. Dem feinern dentschen Schriftsteller ist es nicht so weht
gemacht, hier das zulässige Mas; zu treffen wie dem Franzosen, der als Ro¬
mane i» der Anwendung dieser Ausdrucksmittel viel weiter geh» kann. ^
Das dritte unsrer Bücher, ein von einem amerikanischen lliiiversitätS-
professor verfaßtes Lehrbuch der Redekunst, ist praktisch von Anfang bis zu
Ende, höchst unterrichtend in Bezug ans amerikanische Verhältnisse und anch
si'r unsre Bedürfnisse in einigen Punkten beachtenswert: ?rineixl6s ot' xublie-
spsMuA I>7 vu? varlöton I^se lMvv ?orta Anet I.c>unten, eutmuns sons.
leis inen^g^oelcer prsss). Die sieben ersten Kapitel beschäftigen sich mit der
Stimmbildung, der allgemeinen Schulung eines Redners »ut alle» erdenkliche»
Äußerlichkeiten: der Haltung, den Gesten, wie er sitzen oder stehn, wie er die
V'ße setzen soll, wenn er auf der Plattform auf- und abwandelt, wie er we
Zuhörerschaft begrüßt und ihre Beifallsbezeugungen entgegennimmt, wie er sein
Konzept zu halten hat. Alles das würde man bei uns dem Zufall und dem
einzelne» Ermesse» überlassen. Hier sind die Borschriften durch Beispiele und
sogar durch Abbildungen erläutert. Die letzten fünf Kapitel behandeln die
öffentliche Debatte, ganz nach amerikanischem Zuschnitt, und am Schluß be¬
komme» wir noch eine für praktische Zwecke gemachte Allswahl vo» Stücke»
berühmter amerikanischer Reden. Die »ern zwischen diesen Partien liegende»
Kapitel enthalten das, was wir in einer derartigen Rhetorik erwarten und be¬
handeln würden. Das Geschichtliche wird kurz abgemacht; erst wo die Redner
Amerikas in Betracht kommen, dehnt sich die Erzählung etwas. Als die letzte»
großen Ko»greßred»er werden drei abgeführt, die dem Zeitalter vor dem
Sezessionskriege angehören: Webster a»S Massachusetts als Thpus Ne»e»g-
lands, Caldon» als Vertreter des Südens und Clah aus Keutuckh als charak¬
teristischer Sproß einer der mittlern Landschaften. Dann folge», aus der »öchste»
Zeit. Everett, ein Mann des feinsten Studiums, und der Volksredner Phillrps,
endlich noch ein ganz hervorragender aus dein Norte», Simmer, und el» eben¬
solcher aus dem Süden, Stevens. Als größte» Kircheiiredner der jüngstver-
ga»g»e» Zeit nennt er Beecher. Wie sich z» dieser Vergangenheit nach deS
Verfassers Meinung die Gegenwart mit ihren Talenten und Leistungen ver¬
hält, wird aus seinen Warten nicht deutlich. Einmal sagt er, kein andres Zeit¬
alter und mindestens kein andres Land hätte so viel Staatsmänner, die alle
sprechen könnten und mir von wenigen ans frühern Zeiten darin übertroffen
würden. Dann wieder heißt es, trotz allen Talenten gäbe es doch nur wenig
bedeutende Redner und keinen, der nach allgemeiner Meinung den Rang ein¬
nähme, den man zu ihrer Zeit Webster, Clah und Cnlhouu zugesprochen hätte.
Bon den drei historischen Gattungen wird die Prozeßrede mit Recht kurz
behandelt, weil sie heute mehr technisch als künstlerisch ist. Daß die Parlaments¬
rede bei der geschäftsmäßigen Art, wie jetzt die Politik geführt werden muß,
ihre frühere Bedeutung nicht behaupten konnte, ist in Amerika so klar wie bei
uns. Dagegen ist die Prnnkrede der Alten in allerlei neuen Anwendungen
wieder ausgelebt, die an Wichtigkeit gewinnen, je mehr jene zurückgeht; der
Redner kann hier mit seinen Gaben viel mehr ausrichten und zu einem persön¬
lichen Einfluß gelangen, den ihm keine der andern Gattungen verschafft.
DömonstrMvö orator^ ist also für einen Amerikaner, der im politischen Leben
eine Stelle einnehmen will, die Hauptsache. Gelegenheiten zu solchen Rede»
bieten die Gedächtnisfeier für einen Verstorbnen und der Jahrestag eines
großen Ereignisses, ferner wird jeder Schulanfang durch eine Rede bezeichnet,
die oft politisch und selten rein didaktisch ist, und an der weite Kreise teil¬
nehmen können setis eowmöuoöMLnt omtion). Ohne einen dieser Anlässe wirkt
und belehrt die sxvositor^ acläress, und im Anschluß an ein materielles Ber-
gnügen, das aber wahrscheinlich von dem Redner weniger genossen wird als
von seinen spätern Zuhörern, geht der in England lind Amerika immer be¬
liebter gewordne aller-ämnar spvoob vor sich. Dies ist eine scheinbar ganz
zwanglose Äußerung über dieses und jenes; man hat gewissermaßen den,
dessen Meinung über etwas mau zu hören wünscht, zu Tische geladen, und
er bleibt natürlich nicht der einzige Sprecher. Aber wehe dem, der hier
unvorbereitet kommen wollte. Ein vvllgegessenes Publikum ist ohne Nach¬
sicht und das undankbarste Auditorium, es sieht die Rede als eine Störung
an oder als eine Zumutung an die Aufmerksamkeit, die in solchem Zustande
nicht die beste sein kann. Es giebt dem Redner auch keine Anregung zu Im¬
provisationen, zeigt ihm keinen Nagel, an dem er einen Einfall aufhängen
könnte — also rät der Verfasser, hier nichts dem Augenblick zu überlassen,
alles sorgfältig vorzubereiten bis auf die Wendung und das einzelne Wort,
bis ans die Anekdoten, die bei einem solchen icktoi'-clinnsr in gewähltester
Sprache vorzutragen sind. Ein vorzüglich gewähltes Beispiel, die Rede eines
Südstaatlers über die Beränderuugen in seiner Heimat seit der Aufhebung der
Sklaverei, gehalten vor einem Publikum von Neuengland, eindrucksvoll und
vollendet in jedem Worte, macht es uns vollends klar, daß der late-si'-elinnvr
nur vor der Kvuvenieuz als Augenblickseingebung gilt. In Wirklichkeit
entfaltet sich hier eine auf das feinste gepflegte Blüte und das Beste der mo¬
dernen amerikanischen Beredsamkeit.
Überhaupt aber lernen wir den Verfasser als einen ausgesprochen Gegner
alles Naturalisierens kennen, und hierin wird er mit seinen einsichtigern Lands¬
leuten in Übereinstimmung sein. Seine Ansichten über die allgemeine Schulung
sind wohlüberlegt, und seine Ansprüche an die Vorbereitung für den einzelnen
Fall gehn sehr weit. Die beste Vorschule für den Redner würe die Unter¬
haltung, aber wo ist die zu finden? Eine verschwundne Kunst. Mann und
Frau greifen zu ihrer Morgen- und Abendzeitung, schweigen einander an,
denken und bilden sich ihre Meinung; dabei braucht mau nicht zu sprechen.
Echt amerikanisch. Laut lesen ist eine vorzügliche Übung, man sollte diese
Kunst in allen Volksschulen pflegen; in andern Kreisen aber läßt sie sich auf
die allerverschiedensten Arten verwenden. Wer ausdrucksvoll liest, redet beinahe.
Darum ist der Verfasser dem sxsson-röaäsr geneigt; er giebt ihm Anweisungen,
, wie er sein Manuskript schreiben und wie er es halten soll, und er findet die
Fiktion des Extemporierens, die der freigehaltuen Rede zu Grunde liegt, nicht
zum Genuß der Zuhörerschaft erforderlich. Für die Predigten empfiehlt er sogar
das Lesen, nur im Tone des Sprechens und bei einiger Vertrautheit mit dem
Wortlaut des Manuskripts; aber dann soll man das Lesen auch nicht verbergen
wollen, denn eine ganze Gemeinde würde sich doch nicht täuschen lassen.
Die Vorbereitung der einzelnen Rede kann hinsichtlich der Erfindung oder
Stoffsammlung kaum zu gründlich sein; je besser jemand seinen Gegenstand
kennt, einen desto natürlichern Eindruck muß seine Äußerung darüber hervor¬
rufen. Die nächsten Stufen der Ausarbeitung mit ihren einzelnen Forderungen
übergehn wir und hören dann den Verfasser sagen: Wie jemand seine Rede
halten will, ob ganz frei und scheinbar extemporiert, ob nach einem kurzen
Konzept, ob vom vollen Manuskript gelesen, das mag der Einzelne bestimmen;
jede Methode hat ihre Vorteile. Hier würde man bei uns die Grenzen
enger ziehn. Aber der Verfasser erhebt noch eine Nachforderung, die seine
Nachgiebigkeit einschränkt. Der Redner soll, während er spricht, denken. Er
mag seinen Gegenstand noch so gut kennen und in Worten ausgearbeitet haben,
but tbkrs reinams eh.6 ocmtrol ok aotive ana elsar tnouZbt vdile spsakin^.
Was der Gedanke eigentlich kontrollieren soll, die Worte in nochmaliger Prüfung
oder ihre Wirkung auf die Zuhörer, ist nicht klar. Der Verfasser scheint sagen
zu wollen, oder er hätte wenigstens besser gesagt: Jeder gute Redner muß so
sicher und selbständig über dem Wortlaut seiner Rede stehn und so viel Macht
Wer das Wort haben, daß er während des Sprechens ändern kann, was ihm
der Augenblick rät. Denn er giebt uus nun noch zwei sehr gehaltvolle Kapitel
über unvorbereitetes Sprechen, und wie man es lernen könne. Gutes Ge¬
dächtnis, Wortvorrat und die Fähigkeit, mit diesen Worten syntaktisch umzu-
gehn, sind die Haupterfordernisse. Allerlei Vorschläge zur Stärkung des Ge¬
dächtnisses und ausgearbeitete Wortlisten zur Einübung seien der Aufmerksamkeit
derer empfohlen, die sich bei uns mit der Verbesserung dieser Methoden be¬
schäftigen. Nur eine einfache, treffende Bemerkung möchte ich mitteilen. Das
sogenannte schlechte Gedächtnis ist meistens eine Folge schlechter Wahrnehmung;
wer es verbessern will, muß sich planmäßig zu scharfer Beobachtung zwingen;
je genauer man eine Sache weiß, desto fester behält man sie. Zu der äußern
Herrschaft über den Gegenstand und die Sprache, die ihn ausdrücken soll, muß
die geistige kommen, d, h. die Fähigkeit, sich von einer Sache einen vollen
Eindruck, ein Bild zu schaffen, und von diesem dann andern durch die geeig¬
neten Worte eine Vorstellung zu geben. Mancher, der spricht, setzt seine Worte
wie Mauersteine, und nicht jeder, der hört, nimmt auch schon mit einem oder
mit zwei Worten ein lebendiges Bild in sich auf. Die Methode des Verfassers
setzt zwar auf einer etwas höhern Stufe ein, aber sie ist elementar und ver¬
langt keine Vorkenntnisse, much dem einfachsten Manne werden ihre strilun^
itknis einleuchten. Das aber unterscheidet dieses amerikanische Buch von den
andern beiden, durch die man sich ganz von selbst in einen bestimmten Leser¬
kreis versetzt fühlt.
Es sei erlaubt, bei diesem Anlaß auf eine kleine, durch wissenschaftliche
Gründlichkeit und Klarheit der Fassung gleich ausgezeichnete Schrift aufmerksam
zu machen, die uns lehrt, wie auf den deutschen Theatern gesprochen wird,
und wie zwischen örtlich verschiednen Aussprachen zu wählen ist. Die Aus¬
sprache der einzelnen Schauspieler ist während der Vorstellungen phonetisch
aufgezeichnet und danach die „Aussprache der deutschen Laute" dargestellt
worden, mit Bemerkungen „über Tempo, Betonung und Tonfall." Dem Ganzen
ist ein Wörterverzeichnis angeschlossen. Das von Theodor sichs heraus¬
gegebne Buch: Deutsche Bühnenaussprache (Berlin, Köln, Leipzig, Albert Ahn)
ist die gemeinsame Arbeit dreier Theaterintendanten und dreier Universitäts¬
professoren. Es ist für jeden, der sich mit unsrer Sprache beschäftigt, eigentlich
unentbehrlich und kann auch über seinen nächsten Zweck hinaus allgemein nütz¬
lich werden. Man streitet oft über die Aussprache eines deutschen Wortes und
über das Recht der Dialekte dem Hochdeutschen gegenüber. Nun hat man eine
I
ur den Nachmittag hatten wir eine Wandrung über die Achradina
und durch die Neapolis in Aussicht genommen. Nebeneinander
liegen da dürre, mit dürftigem Grase bedeckte steinige Hoch¬
flächen und üppige Gärten in den Villen und Lakonien, mittel¬
alterliche, frühchristliche, römische und griechische Neste, doch alle
diese antiken Bauten sind jetzt verstümmelt, ihres Schmuckes beraubt, zwischen
Strauchwerk, Ölbüumeu, Gärten und Ackerflächen verstreut, in einer ganz laut-
lich gewordnen Umgebung dort, wo einst großstädtisches Leben pulsierte. Zuerst
besuchten wir die Villa Lcmdvlina, in der neben andern Protestanten, Deutschen,
Engländern und Amerikanern, auch der früh verstorbne Dichter August von
Platen sein Grab gefunden hat, als ihn die Sehnsucht nach dem klassischen
Süden aus der Heimat, die ihn nicht verstand, hierher geführt hatte. Seit
1869 ziert sein Grab ein Denkstein mit seiner Marmorbüste, der lorbeer- und
palmenbetrünztcn Lyra, der tragischen und komischen Maske und der Hirten¬
flöte, dazu die Inschrift: „Dem Dichter August Grafen von Platen, geboren in
Ansbach 24. Oktober 1796, gestorben in Syrakus 5. Dezember 1835, errichtet
von Freunden und Verehrern 1869." Rosen dufteten auf dem Grabe, dessen
Mariuoreinfafsung Palmen und Lorbeeren umgeben und ein hoher Eukalyptus
beschattet, ringsum glänzte das dunkelgrüne, glatte Laub der Orangen- und
Citronenbäume, blühten Blumen von seltsamen Formen und leuchtenden Farben.
Wir mußten uns fast hüten, unsre Freude an dem einen oder dem andern zu
zeigen, denn der gefüllige Gärtner (Mianisch msss-rjo), der uns begleitete, brach
sofort die Frucht oder die Blume, die wir bewunderte», reife Orangen, duftende
Rosen, tiefrote Blüten der „Feuerblumc" (tuoeo, ?oiiiZ?6tkiii). Wo die Natur
so verschwenderisch spendet, thut es auch der Mensch. Die Villa, in der Ver¬
tiefung einer Lntomie angelegt, gehört jetzt dem Baron Camus. Nicht weit
davon liegt die Kirche San Giovanni, ein romanisches Werk von 1182, schon
von weitem kenntlich durch das zierliche Nundfenstcr der Westfassade. Doch
interessanter als dieser vielfach umgestaltete und einigermaßen verwahrloste Bau
waren uns die darunter liegenden Katakomben aus den ersten christlichen Jahr¬
hunderten. Sie sind ganz verschieden von den römischen, Gänge durchschnitt¬
lich von 2,50 Meter Breite und entsprechender Höhe, dazwischen große Rund¬
säle. Nichts andres ist im Grunde auch die unterirdische Kirche des Heiligen
Mnrcicmus, des legendarischen Stifters einer christlichen Gemeinde von Syrakus
(angeblich um 39 n. Chr.). Jedenfalls ist die ihm geweihte Kirche die älteste
der Stadt und vermutlich ihre älteste Kathedrale, erbaut in der Form eines
griechischen Kreuzes, als Zentralbau mit drei Apsiden, deren eine die Tauf¬
kapelle war; um Stelle der vierten liegt die Treppe. Sarkophage und In¬
schriften aus diesen Katakomben hat das Museum aufgenommen, Neste von
Malereien sind noch an den Wänden erhalten.
Auf einer guten, sich am AbHange hinuntersenkenden Straße erreicht man
dann das römische Amphitheater, das links davon in einer natürlichen Ver¬
tiefung des Bodens liegt und verhältnismäßig wohl erhalten ist, ein Oval
von 70 zu 40 Metern Ausdehnung. Wenige hundert Schritt davon erstreckt
sich ein langgedehntes, in Stufen aufgemauertes Oblong von 198 Metern
Länge und 23 Metern Breite, der Riesenaltar Hierons II., auf dem die Syra-
kusaner ihre Hekatombe» darbrachten, ein jedenfalls in seiner Art einziges
Denkmal hellenischer Götterverehrung. Gegenüber aber auf der nördlichen
Seite der Straße öffnet sich einer der größten Steinbrüche von Syrakus, die
Latomia del Paradiso zwischen 30 bis 40 Meter hohen senkrechten Kalkfels¬
wänden, die teilweise dichter Epheu bekleidet, in dem feuchten Grunde ein üppiger
Orangenhain. Auf der linken Seite zieht sich in der Gestalt eines L das
echoberühmte „Ohr des Dionysios" hinter dem anstoßenden Theater in die
Felswand hinein, und obwohl der Name erst aus dem siebzehnten Jahr¬
hundert stammt, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, daß es mit einem Palaste
des Tyrannen über dem Theater in Verbindung stand und als Gefängnis
diente. Jedenfalls ist das Echo erstaunlich. Als unser kleiner Führer mit
seiner Knabenstimme deutlich, aber in gewöhnlicher Stärke unten auf dem
Boden die Worte sagte: ^.actio Oionisio! so klang jede Silbe mit mächtigem
Schalle an der Wölbung wieder, und ein Pistolenschuß hallt wie rollender
Donner.
Die Sonne war schon untergegangen, aber bei dem klaren Himmel war
es noch völlig hell, als wir das griechische Theater betraten, eines der best-
erhaltnen, die es giebt, obwohl das Bühnengebäude fast völlig verschwunden
ist. Von den 60 bis 62 Sitzreihen, die es gehabt haben mag, sind noch 46
vorhanden, denn sie sind in den harten Kalkstein des Bergabhangs gearbeitet,
nur die untersten waren mit Marmor bekleidet; noch sieht man auch die Namen
der fürstlichen Persönlichkeiten, nach denen die einzelnen der neun „Keile" (Ab¬
teilungen des Zuschauerraums) benannt wurden. Vor diesen Sitzreihen oder
wenigstens an dieser Stelle sind 472 v. Chr. die Perser von Äschylos über die
Bühne gegangen, denn das Theater mag schon im fünften Jahrhundert vor¬
handen gewesen sein, obgleich es seine Vollendung erst unter Hieron II. erhalten
hat. Jetzt wuchert Gras und Gestrüpp auf dem Boden der Orchestra, und auf
der Stelle des ehemaligen Bühnengebäudes, droben über dem obersten Umgange
liegt ein weißes Bauernhaus, unten eine Mühle. Von oben klang das Rauschen
der uralten Wasserleitung des Anapos, die an der Ostseite des Theaters
vorüberführt und in einem Aquädukt aus der Zeit Karls V. auf hohen Bogen
die Straße überschreitet, um nach der Achradina weiter zu ziehn. Sonst war
es ganz still. Im Westen stand das purpurne Abendrot, im Osten stieg die
goldne Mondsichel empor, und aus der Jnselstadt jenseits der bnnmbesetzten
Niederung blitzten aus dem dunkeln Hintergrunde des weiten Meeres die elek¬
trischen Lichter aus. Schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, wan¬
derten wir im Mondlicht zwischen Gartenmauern und über öde Weideflächen
zu der stillen Villa Politi zurück. An den Felsen der Küste tief unten rollte die
weiße Brandung, und halb im hellen silbernen Lichte, halb im tiefen Schatten
lagen der Garten und die Latomia der Kapuziner.
Zur Kenntnis von Syrakus gehört auch eine Fahrt über den Großen
Hafen und den Anapos hinauf. Die Syrakuscmer betonen, den lateinischen
und italienischen Accentgesetzen zuwider, nach griechischer Weise den Namen
Arayo auf der ersten Silbe, und altgriechische Tradition mag auch noch un¬
bewußt in dem hohen Vordersteven und der bunten Bemalung der schlanken
Boote fortleben, besonders in dem niemals fehlenden Auge zu beiden Seiten
des Buges, das offenbar den immer als Augen gestalteten Ankerklüsen der alt¬
griechischen Kriegsschiffe nachgebildet ist, obwohl es an den heutigen Booten
keinen praktischen Zweck mehr hat. Ein solches Boot mit zwei bronzefarbigen
Ruderern nahm uns an dein kleinen Hafen auf und führte uns dnrch einen breiten
Kanal zwischen größern und kleinern Küstenfahrern hindurch in das weite Rund
des Großen Hafens hinaus. Erst wenn man auf ihm schwimmt, sieht man
recht, wie ausgedehnt er ist; ganze Flotten hat er gefaßt und könnte er heute
noch fassen, aber wie unser Salvatore resigniert sagte: „Unsre ganze Ausfuhr
besteht aus Citronen und Johannisbrot." Auch die syrakusanischeu Galeeren
sind verschwunden, und nur drei englische Kriegsschiffe, die am Morgen oder
am Abend vorher hier eingelaufen waren — das eine hatte ich im Morgen¬
grauen vor dem Hafen gesehen — brachten die alte Bedeutung des herrlichen
Beckens noch zur Geltung.
Eine frische Brise von Osten kräuselte die blaue Wasserfläche zu tausend
glitzernden Wellen, und am flachen Sandstrande der Anaposmündung stand eine
so starke Brandung, daß sich das Boot, auf und ub gehoben von den langen
heranrollenden Wogen, nur mühsam durcharbeiten konnte, um in den Auapos
oder vielmehr in den Anaposkcmal einzulaufen. Denn der unterste Teil des
Flusses ist jetzt kanalisiert, das alte gewundne Bett bleibt weiter nördlich.
Der schmale Kanal verläuft ziemlich gradlinig zwischen hohen Dämmen unter
einer großen Straßenbrücke durch bis zu einem gemauerten Steindämme an
der Eisenbahnbrücke, der nur zwei niedrige Durchlässe für das Wasser hat,
denn hier zweigt der Kanal vom Flusse ab, und hier mündet in diesen von
Süden her die alte Kyane (Cicmi). Rechts von uns (nördlich) breitete sich eine
weite Ebne, links erhoben sich ans flacher Anhöhe die beiden einsamen Säulen,
die von dem großen Tempel des olympischen Zeus aus dem siebenten Jahr¬
hundert v. Chr. einzig noch übrig sind, dazwischen eine mächtige Platane.
Hier mußten wir ein andres Boot besteigen, und nun ging es in die
Khane hinein. Eine wundersame, in ihrer Art einzige Fahrt auf dem schmalen,
aber tiefen und klaren Wasserarm in zahllosen Windungen aufwärts zwischen
niedrigem Schilf und den hohen dunkelgrünen Wänden der schlanken Papyrus¬
stauden, deren zierliche palmwipfelartige Wedel bald tief auf das stille Wasser
herniederhängen, bald auf dreikantigen glatten Stengeln, die unten die Stärke
eines Kinderarms erreichen, bis sechs Meter Höhe aufsteigen und leise rauschend
uns über dem Kopfe nickten. Erst durch die Ptolemäer sind sie aus Ägypten
hergekommen, und die Kyane ist die einzige Stelle in Europa, wo der Papyrus
wild wächst. Mit komischer Würde belehrte uns inzwischen Salvatore, einen
Stengel abschneidend und in dünne Schichten zerspaltend, wie die Alten aus
diesem weichen schneeweißen Mark ihr Schreibmaterial angefertigt hätten. Wo
sich zwischen den Papyruswäuden dann und wann eine Lücke öffnete, bot
sich ein weiter Blick ins Land hinaus, über die Ebne weg nach den Epipolä,
die wie eine lange, graue Felsmauer im Norden den Horizont begrenzten, in
der Mitte kahl und öde, links deu Euryalos, rechts weiße Gehöfte zwischen
grünen Bnumpflauzungen. Darüber standen die Hybläischen Berge und der
lichtblaue Kegel des Ätna. So gelangten nur in einer guten Stunde von der
Anaposmündung bis zu der sogenannten Quelle der Kyane, dein Pisma. Es ist
ein fast kreisrundes Wasserbecken, rings von Papyrus und Schilf umgeben, klar
und bis elf Meter tief; aber bis an die stille Oberfläche wuchern die Wasser¬
pflanzen vom Grunde herauf. Das war so recht ein Ort für die griechische
Mythe, nach der sich hier fern von den Menschen Pluto mit der geraubten
Proserpina den Zugang zur Unterwelt öffnete, und sich die Nymphe Kyane, da
sie ihn uicht hindern konnte, still in Thränen auflöste. Ringsum breitete» sich
ehemals Sümpfe aus, sie sind längst in Ackerland verwandelt; Herden brauner
langwolliger Schafe weideten auf den abgeernteten Feldern, und dichter, grau¬
gelber Qualm stieg an vielen Stellen zum klaren Himmel empor, denn eifrig
waren ringsum Leute beschäftigt, unnützes Wurzelwerk und Stroh in meiler¬
artig geschichteten Haufen zu verbrennen, um nach sizilianischen Branche mit
der Asche die Felder zu düngen. Aber man hörte kaum einen Laut, es war
traumhaft still.
Auf dem Rückwege begegneten wir mehreren Booten, an denen wir nur
eben vorbeikamen, und wieder im Großen Hafen angelangt ließen wir uns
noch zu den englischen Kriegsschiffen hinüberrudern, die etwa in der Mitte des
Beckens vor Anker lagen, die ersten britischen, die ich überhaupt sah. Das
waren sie also, die gefürchteten ivvn ot v«r, die Herren des Weltmeeres! Und
stattlich genng nahmen sie sich aus. Zwei mächtige Schlachtschiffe lagen neben¬
einander, die „Ramillies" mit der Admiralsflagge, in einiger Entfernung davon
nach dem Lande zu ein großer Kreuzer, alle schwarz, mit hellgestrichnen Schorn¬
steinen und Gefechtsmaften, verhältnismäßig niedrig, aber mit Panzertürmen
und langen Schnellfeuergeschützen armiert; die weißgekleideten Leute waren
eifrig mit Putzen und Scheuern beschäftigt. Auch zwei höhere Offiziere des
Geschwaders, die am Nachmittag nach der Villa Politi kamen und sich dort
beiläufig sehr zuversichtlich über den schließlichen Erfolg des südafrikanischen
Krieges aussprachen — Engländer empfanden dieses Bedürfnis damals gerade
besonders lebhaft —-, machten einen sehr günstigen Eindruck.
Am späten Nachmittage trieb es mich nochmals nach der Jnselstadt, nach
der schönen Passeggiata Aretusa um Großen Hafen hoch über dem Wasser¬
spiegel und den schattigen Baumgüngen des Foro Vittorio Emanuele am
Strande. Behaglich plaudernd ergingen sich hier die Syratuscmer angesichts
der sinkenden Sonne und des englischen Geschwaders, Boote fuhren zwischen
den Kriegsschiffen und dem Gestade hin und her, Offiziere kamen an Land.
Und nun die wunderbare Beleuchtung! Lichteffekte dieser Art muß Lord
Byron im Auge gehabt haben, wenn er im Manfred den herbeieilenden Geist
sagen läßt:
In dunkelm Violettblau standen die fernen Höhenzüge unter dem rot-
goldnen Abendhimmel, und über den schon in Schatten gesunknen grauen Ufer¬
linien, darüber hellblau, von einer leichten weißen Rauchwolke gekrönt, der
Ätna; dazwischen lag wie ein matter Silberspiegel die Fläche des Großen
Hafens mit den schwarzen Rümpfen der englischen Kriegsschiffe, die soeben in
elektrischem Licht zu strahlen begannen.
Wenn wir sie wirklich einmal als Feinde uns gegenüber haben sollten,
es würde doch keine leichte Arbeit sein. Andrerseits hat der Gedanke eines
deutsch-angelsächsischen Bündnisses etwas Verlockendes, denn es würde die Welt
beherrschen, nur daß sich leider die Angelsachsen den Löwenanteil nehmen und
uns Deutschen den Anteil des Fuchses mitsamt der Hauptarbeit gegen Rußland
und Frankreich lassen würden. Und darum geht es nicht!
Was haben solche Betrachtungen mit Syrakus zu thun? Nichts und doch
viel. Diese Kriegsschiffe gehörten zum Maltagcschwader, von Malta aus be¬
herrschen die Engländer das Mittelmeer und damit die kürzeste Hochstraße zur
See nach Süd- und Ostasien. Sie fühlen sich zu Hause hier wie in allen
Erdteilen. Syrakus betrachten die auf Malta angesiedelten Familien gern als
Frühlingsstation, und die Häuser der Familie Politi, die Villa Politi und die
ältere Casa Politi auf der Insel, sind nicht zum wenigsten durch sie empor¬
gekommen. Augenblicklich dominierten freilich in der Villa die Deutschen, dem,
wir waren an diesem Abend die einzigen Gäste und fühlten uns wie zu Hause
am Tische der Landsmännin in diesen schönen luftigen Räumen unter den?
Silberlichte des Mondes und dem dunkeln Himmel über der leise wogenden
Flut der »Venen See.
Auf den Rat der Signora Politi unternahmen wir am nächsten Morgen
noch eine Fahrt an der Küste der Achradina hin. Von Osten langsam heran¬
rollend hoben und senkten die Wogen des blauen 'Ionischen Meeres unser Boot,
sie sprangen gegen die Klippen und die graugelben Felswände und rauschten
in zahllosen weißen Stnrzbächen wieder herab. schroff steigen die Felsen un¬
mittelbar aus der See empor, von Luft, Wind und Wasser zerklüftet und zer¬
nagt, sodaß sie aussehen bald wie ungeheure Schwämme, bald wie bedeckt mit
dichtem, dickem, verschlungnen Wurzelwerk. Kein Baum, kein Strauch, nicht
einmal Gestrüpp haftet daran; nur hoch oben zeigt sich hier eine Telegraphen¬
stange der Eisenbahn, dort ein einsames Haus oder ein Rest der antiken Um¬
fassungsmauer, die diese unersteigliche Küste vollends unersteiglich machte. Hier
und da führt eine Grotte tief hinein, von oben hängt es in Bogen und Zacken
wie Tropfsteine herab, unten leuchtet grün die krystallne Flut, durchsichtig bis
Ma Grunde, und schäumt empor an den Wänden, die sich zackig hintereinander
schieben wie die Kulissen einer Bühne. Solche Grotten dachte sich Homer als
Wohnungen der Nymphen, so malt Böcklin die See im „Spiel der Wellen."
Ein Spiel der Wellen schaukelten wir selbst vorüber an den „Zwei Brüdern"
(<of I^le-Ili), zwei zerklüfteten zackigen Felseninselchen dicht an der Küste, bis
in die Nähe des Kaps Pmiagia, bis sich vor uns die Bucht von Megara auf-
that, das weißleuchtende Augusta und der ragende Ätna, Heißer brannte die
Sonne, und ihre Lichter blitzten wie Sterne auf der bewegten Flut, als wir
mit dem Winde zurückführen,
Wenig Stunden später reisten wir, von Salvatore dienstfertig bis in den
Wagen des Eilzugs begleitet, nach Taormina ab, benutzten also bis Bicoeca
vor Catania dieselbe Linie, die uns hergeführt hatte. Dort traten wir in den
Bereich des Ätna, und mit einen: Schlage änderte sich das Landschaftsbild,
Die weite Ebne von Catania und die kahlen langgedehnten Felsboden von
Shrnkns waren verschwunden, und statt des Kalkgebirges umgab uus eine vul¬
kanische Landschaft. Bei Catania, einer schönen, ganz modernen Stadt, haben
sich die kolossalen Lavaströme des Ausbruchs von 1669, des furchtbarsten vou
allen, bis an und in das Meer gewälzt. Jetzt liegen sie in Kilometerbreite
da als schwarze oder schwarzgraue Massen, in den wunderlichsten und bizarrsten
Formen, bald wie große Hausen kugliger Körper, bald wie nnsgegossener, ge-
wundner Teig, als wenn hier ein Riesenbücker für Riesen Riesentorten hätte
formen wollen, bald wie zackige zerrissene Felskämme. Zwischen hohen schwarzen
Lavawänden rollt der Zug lange Strecken hin, schwarz sind die Wege, schwarz
die Gartenmauern, schwarz die Häuser, denn in dieser Gegend ist alles aus Lava
gebaut. Aber über diesen unheimlichen Spuren einer unbezähmbare« Naturgewalt
sproßt eine üppige Vegetation; mitten zwischen Lavablöcken prangen dunkel¬
grüne Orangengärten und reiche Weinberge, und als die Bahn höher stieg nach
Ani reale hinauf, da dehnten sich rechts und links wahre Wälder von Orangen
und Citronen bis hoch an die Flanken des Vulkans, weiße Landhäuser da¬
zwischen Tief unten wogte endlos das blaue Meer hinter einem breiten reich
angebauten Vorlande, gelegentlich kleine Felsinselchen unispülend, wie die Jsole
dei Cielopi, die einst der geblendete Polyphem dem listigen Odysseus nachwarf,
und als wir vor Mangano abermals durch einen breiten Lavastrom hindurch¬
gefahren waren, zeigte sich der Ätna zur Linken in veränderter Gestalt als
ein breiter, dreigipfliger Kegel, der Hauptkrater in der Mitte, zwei kleinere auf
beiden Seiten, vor uns aber stiegen die zackigen Formen der Kalkberge bei
Taormina auf.
Es war schon dunkel, als wir an der Station Giardini unten am schmalen
Strande ausstiegen und die vielgewundne schöne Straße nach dem Hotel
Castello a Mare hinaufführen.
Castello n Mare, Schloß am Meer! Niemals ist ein Name zutreffender
gewesen. Hoch oben gerade auf dem Kap Taormina liegt das einfache Haus,
über und inmitten von Vignen und Baumgärten, etwa 100 Meter fast senk¬
recht über der See, weithinschaucnd über die malerische Felsküste, den Ätna
und das stahlblaue Meer, Ein tiefes Orange auf lichtem Blau kündigte am
nächsten Morgen im Osten über dem Seehorizont den Sonnenaufgang an, und
über den halben Himmel hinweg streckten sich, rotgolden angehaucht, leichte
schmale Wolkenstreifen; das war sie, Homers Foöoöttxr^os ^'s, die rosen-
fingrige Eos! Noch lag die Küstenlandschaft in eigentümlich stumpfer Be¬
leuchtung, ohne Abstufung von Licht und Schatten, dann aber begann das
Haupt des Ätna rosig zu glühn, und endlich trat er vor in goldner, blendender
Herrlichkeit, Phöbos Apollon, und seine Strahlen Übergossen alles mit hellen
Farben, «e)>./o^ xtt^et^ P«os — Strahl des Helios, schönstes
Licht! Und welches Bild von der Aussichtsterrasse im Mittagsglanze! Bei
einem solchen Anblick hat Goethe an dieser Küste die Verse für seine Nausikaa
gedichtet:
Fast senkrecht unter uns lag das kahle, weit vorspringende grauweiße Kap
Sant' Andrea und das gleichnamige Felseninselchen, oben etwas bewachsen und' mit den Trümmern eines Wartturms gekrönt, mit dem Lande nur durch einen
schmalen Sandstreifen verbunden, über den von beiden Seiten die Wellen
brandeten, sich einander gegenseitig brechend; nach Norden zu der steile Abfall
des zackigen Küstengebirges bis Sant' Alessio hin, hier nackt und grau, dort
mit grünen Baum- und Weingärten bedeckt und mit weißen Gehöften übersät,
unten der helle, flache Sandstrand, und weit im Nordosten als langer Gebirgs-
zug die hohe Küste Kalabriens; nach Südwesten über der kleinen Stadt zu¬
nächst der Theaterhügel mit der Sigualstation (Telegrafo) auf dem Gipfel,
weiter landeinwärts steile Wände, Mola, das Kastell von Taormina und die
Einsiedelei von Santa Maria della Rocca hoch oben, tief unten die Häuser
von Giardini, und nun Küstenvorsprung hinter Küstenvorsprung, Halbinsel
hinter Halbinsel bis gegen Catania hin. Rechts, den ganzen Süd- und Sud-
»sthorizont erfüllend, dehnte sich grenzenlos die blaue See, und über Meer
und Land stieg alles beherrschend, in einer Majestät und Massigkeit, die kein
Bild wiedergiebt, bis 3300 Meter Höhe der breite Kegel des Ätna empor.
Er bot in diesen Tagen ein immer wechselndes Schauspiel. Gegen Mittag
hüllte er sich einmal in einen dunkelblaugrauer Wolkeumantel, allmählich über¬
zog von Westen her dichtes Gewölk den ganzen Himmel, im Südhorizont be¬
gannen die grauen Regenschleier auf das Meer herniederzuhängen, indem sie
sich immer weiter nach Osten schoben, flammende Blitze zuckten, der Donner
rollte hoch in der Luft, und das Meer begann dumpf zu rauschen. Dann
goß „unendlicher Regen herab," „von den Bergen stürzten die Quellen," in
wenig Minuten war die Straße in einen Gießbach verwandelt, doch das
dürstende Erdreich sog begierig das erquickende Himmelsnaß ein, und fast
sichtbar belebten sich Sträucher und Bäume. Schnell rauschte die Flut
vorüber, das Gewitter zog unter fernem Grollen nach Osten ab, am Abend
kämpfte der Mond schon mit den Wolken, und gegen neun Uhr funkelten
einzelne Sterne. Am nächsten Morgen aber war der Himmel wieder völlig
klar, die Luft durchsichtig rein, der Ätna trug bis tief herab einen weißen
Schneemantel, den die aufsteigende Sonne mit einem rosigen Hauche über-
goß, und unten säumte die wogende See vor dem wieder nach Osten herum-
gegcmgnen Winde den Strnnd mit einem breiten Silberstreifen, Das pracht¬
vollste Schauspiel entfaltete sich, als wir am Nachmittag oben im antiken
Theater waren. Die Sonne sank gerade hinter dem Ätna. Sobald sie ver¬
schwunden war, hüllte sich der riesige Berg in ein dunkles Blau. Die niedrige
weiße Rauchwolke, die wie ein Kranz um den breiten Krater lag, verwandelte
sich zuerst in eine Silberkrone, dann in eine wallende, rotgoldne Feuerkrone,
und an den Seiten, da, wo Fumarolen aufstiegen, glühte es wie dunkelrote
Riesenfackeln. Die kalnbrische Küste aber stand noch im rosigen Abendlicht,
bis sich der Schatten des Ätnakegels über das Meer zu verbreiten begann
und an den kalabrischen Bergen dunkel emporsteigend alles umhüllte. Doch
wie vermag die Feder zu schildern, wo kaum der Pinsel des Malers nach¬
kommen könnte!
(Fortsetzung folgt)
Vom Gelde hört und liest man ja immer gern,
besonders wenn man keins hat. Die Verfasser von Schriften über diesen beliebten
Gegenstand haben es also gar nicht nötig, gelobt zu werden, sie brauchen bloß zu
inserieren. Wohl aber hätte das Publikum einen Ratgeber nötig, wenn nicht gute
Ratschläge bloß zu dem Zweck gegeben würden, daß sie nicht befolgt werden. Zu¬
fällig sind auf unserm Büchertische zwei kleine Schriften nebeneinander geraten, von
denen die eine ein Muster schädlicher und unsinniger Agitation, die andre ein Muster
solider Forschungsarbeit ist. Josef Beckmann denunziert in seiner Broschüre
Was ist uns Geld, eine Studie über die kapitalistische Wirtschaft der Gegen¬
wart (I. Beckmann, Wien, 1899) das Geld und seine angebliche Tochter, das
Kapital, als die Urheber aller sozialen Übel. Von der Unklarheit und Verwirrung,
mit der die Begriffe Geld, Kapital, internationales Kapital gehandhabt werden,
kann einem, der weiß, Was diese Worte in jedem Fall zu bedeuten haben, geradezu
übel werden. Leider sind aber die Leute, die das keineswegs wissen, immer noch
in der Mehrzahl, und da die Broschüre hübsch und anziehend, scheinbar sogar klar
und überzeugend geschrieben ist, so wird sie viel dazu beitragen, die ohnehin vor-
hcmdne Verwirrung zu steigern, und den Haß gegen den „schmarotzenden" Kauf¬
mannsstand, gegen alle Rentner und gegen jeden, der als Vertreter des „inter¬
nationalen" Kapitals denunziert werden kann, zu schüren. Es wird zwar nichts
nützen, aber wir wollen doch noch einmal die gar nicht so schwer zu erkennende
Thatsache hervorheben, daß nicht bloß Arbeit im allgemeinen, sondern eine ganze
Kette von geistigen und körperlichen Arbeiten dazu nötig ist, Kaffee und Kakao bis
in die Läden unsrer deutschen Krämer zu schaffen und den Verzehrern pfund- oder
lvtweise einzuhändigen, daß daher die Groß- und die Kleinhändler keineswegs
Schmarotzer, sondern nützliche und — sofern wir ihre Waren nicht entbehren wollen
oder können — unentbehrliche Arbeiter, ja sogar Produzenten sind, weil Kaffee und
Kcikcw, so lange sie an ihrem Ursprungsorte liegen, wie Beckmann selbst zugesteht,
für uns gar nicht vorhanden sind. Alten Unsinn aufwärmend, will er, daß der
Staat den Auslandshandel betreibe und so den Händlergewinn ausschalte. Der
Staat würde sich aber für das Kaffeemonopol noch lebhafter bedanken, als er sich
für das Getreidemonopol bedankt hat — zum Glück für die Konsumenten. Aller¬
dings würde sich der Reichskaffeehauspräsident nicht so hoch stehn wie ein Ham¬
burger Senator, aber diese kleine Ersparnis würde reichlich aufgewogen werden
durch andre Ausgaben und Verluste, denn die allzu ehrlichen Reichsbeamten, die
auf Java und Ceylon den Kaffee einzukaufen hätten, würden sich dort übers Ohr
hauen lassen, und jedes Pfund würde von unsrer gewissenhaften Bureaukratie so
oft gebucht, beschrieben, revidiert und superrevidiert werden, daß dazu ein ganzes
Heer von Schreibstubenbeamteu erfordert würde. Geld soll die einzige Art von
Besitz sein, die der Notwendigkeit der Arbeit überhebe. Als wenn ein Fürst
Schwarzenberg nötig hätte, seine Äcker selbst zu pflügen und seine Kühe selbst zu
melken; nicht einmal die Rechnungsbücher seiner zahlreichen Renteieu zu prüfen hat
er nötig. Nur der Geldbesitzer soll der Mann sein, für den ein andrer arbeiten
muß; als ob nicht alle Großgrundbesitzer Sklaven oder Hörige oder Knechte oder
Pächter für sich arbeiten ließen! Es giebt englische Lords, die nie in ihrem Leben
ihre Güter in Irland gesehen haben, von denen sie die Pacht beziehn; es giebt
rumänische Bojaren, die ihre ganze Zeit in Paris und Monaco totschlagen. Daß
ein Leben ohne Arbeit unsittlich ist, leugnen wir natürlich uicht, aber wie diese Art
Leben nicht auf die Kapitalrentner beschränkt ist, so haben diese auch keineswegs
nötig, ein solches zu führen; sie brauchen nur, ebenso wie die Gutsrentner, un-
besoldete Ehrenämter zu übernehmen oder ihre Zeit gemeinnützigen Unternehmungen
zu widmen, so verdienen sie ihr Einkommen. Beckmnnn findet die Nichtswürdigkeit
des Geldkapitals besonders darin, daß es sich von selbst vermehre, wahrend jedes
Renlkapital dnrch den Gebrauch abgenützt, also vermindert werde. Welcher haar¬
sträubende Unsinn! Die Rinderherde vermehrt sich von selbst, und die geschlachteten
Exemplare werden durch den neuen Zuwachs weit überwogen, der Thaler hingegen
heckt Junge nicht für sich allein, sondern nur, wenn er produktiv angelegt wird
in Rindern, Ackern oder Bergwerken; das Leihkapital, das Beckmann verabscheut,
und das Produktivknpital, das er liebt, sind ein und dasselbe Ding; er stellt sich
das Geldkapital inimer als Wucherkapital vor, aber dieses spielt heute neben dem
Produktivkapital gnr keine Rolle mehr, außer etwa in Halbnsien jenseits der Kar¬
pathen und bei uns in den Kreisen der liederlichen Kavaliere, die glücklicherweise
keinen wesentlichen Bestandteil unsers Volks ausmachen. Zwischen dem Wucherzins
und dem Zins des Prodnktivkapitals, die Beckmann miteinander verwechselt, be¬
steht ein himmelweiter Unterschied. Daß ein Gutsbesitzer einem mittellosen Knechte
sein Gut abtreten soll, ohne eine jährliche Pacht zu beanspruchen, und sich bloß das
Recht vorbehalten soll, das Gut nach zwanzig Jahren im alten Zustande zurück¬
zufordern, wird auch Beckmnnn nicht verlangen, da er das Privateigentum nicht
aufheben will. Sieht er wirklich nicht ein, daß es ganz dasselbe wäre, wenn er
Verlangte, ein Geldbesitzer solle dem Knechte 30000 Mark zum Ankauf des Gutes
ohne Zins leihen? Denn diese Forderung liegt doch in der grundsätzlichen Ver¬
werfung des Kapitalzinses. Wenn man alle Trugschlüsse aufdecken wollte, die dieses
Verfitzte Gewebe von Proudhonismus, Marxismus und Nationalismus — Beckmann
will das Kapital rationalisieren und jeden Staat vom Auslande vollkommen un¬
abhängig machen — enthält, gehörig aufdecken wollte, müßte man über die 80 Seiten
800 schreiben. Die Übel des heutigen Gesellschaftszustandes können und sollen ja
nicht geleugnet, nicht einmal verkleinert werden, aber die Elemente der Kultur selbst
angreifen ist die denkbar schlechteste Heilmethode. — Eine nützliche Schrift ist da-
gegen: Grundriß einer Entstehungsgeschichte des Geldes von H, Schurz
(Fünfter Band der Beiträge zur Volks- und Völkerkunde, Weimar, Emil Felder,
1898), Der Titel würde richtiger lauten: Das Geld der Naturvölker; aber die
Annahme des Verfassers dürfte zutreffen, daß uns die Geldverhältnisse der Natur¬
völker die Entstehungsweise des Geldes lehren und dadurch dazu beitragen, uns
das Wesen dieser geheimnisvollen Macht klar zu machen. Die Entstehung des
Geldes ist auf das innigste mit der des Eigentums verflochten, und weil beide
soziale Einrichtungen den Reichtum möglich machen, hierdurch das Streben nach
solchem erzeugen und alle zu größeren Kraftaufwand zwingen, deshalb das Leben
unbequemer machen, regt sich schon bei den Naturvölkern der Widerstand gegen den
Übergang aus dem Naturparadies in die Kulturwerkstatt, der bis heute immer
wieder in Tiraden gegen das Eigentum und das Geld ausklingt. Der Verfasser
zeigt, daß sich die Idee des Eigentums anfänglich nur an solche Gegenstände haftet,
die der Eigentümer durch Formgebung geschaffen, und denen er das Gepräge seines
Geistes aufgedrückt hat. Das sind zunächst die Schmuckstücke und die Waffen (die
Anfänge der Kleidung tragen durchweg den Charakter des Schmucks), während die
notwendigen Güter, namentlich die Nahrungsmittel, Gemeingut sind. Und auch der
Tausch und Kauf fängt beim Luxus an, weil er bei den Gebrauchsgütern, die ent¬
weder Gemeingut sind, oder die jeder einzelne in genügender Menge selbst pro¬
duziert, uicht nötig ist. Beide Umstände wirken zusammen, daß es zuerst Schmuck¬
stücke sind, die den Charakter des Geldes annehmen; und zwar fungieren sie meist
nur als Mittel der Vermögensanhäufung, als Schatz, während sich das Bedürfnis
von Tauschmitteln erst bemerkbar macht, wenn verschiedne Stämme und Völker mit¬
einander in Verkehr treten. Und da erst werden auch Gebrauchsgegenstände, die
auch für die Auswärtigen Wert haben, als Geld verwandt, weil die Schätzung des
Schmucks, des Biunengeldes, von der einheimischen Sitte und Mode abhängt.
Schinuckgeld und Nutzgeld gehn ebenso unmerklich ineinander über (Edelmetalle
z. B. werden überall zuerst als Schmuckmaterial geschätzt, und bet den Völkern,
denen das Silber besser gefällt, hat Gold keinen Wert) wie Geld und Ware.
Zwischen den verschiednen Warengattungeu bilden sich konventionelle feste Wertver¬
hältnisse, die jede von ihnen zu Wertmessern und Tcmschmittteln stempeln, allerdings
zunächst nur für den Eintausch bestimmter Waren; so bekommt man an der Niger¬
küste für einen grauen Papagei ein rotes Hemd. Für einen Marmorring erhält
man bei den Kopfjägern gewisser Inseln in Polynesien entweder einen Kops oder
ein Schwein oder einen mittelgroßen jungen Mann usw. Es giebt keine Klasse
beweglicher Zier- und Nutzgegenstände, die nicht irgend einmal irgendwo als Geld
verwandt worden wäre. Der Verfasser berichtet über sämtliche bei den Naturvölkern
heute noch üblichen Geldsysteme und Währungen, von denen das Kaurisystem die
größte Verbreitung und die mannigfaltigsten Verzweigungen hat. — Auch den
Maria-Theresienthaler erwähnt er, dem der Konsul Carl Peez und der
Fiuanzbeamte Dr. Josef Raudnitz eine Monographie (Wien, Carl Graeser, 1898)
gewidmet haben. Diese in Afrika heute noch gebräuchliche und hochgeschätzte Münze
— eine Karte veranschaulicht ihre ehemalige und ihre jetzige Verbreitung — wird
bekanntlich immer noch für den Export dahin geprägt, und zwar scheint die Nach¬
frage in den letzten Jahren einen starken Aufschwung erfahren zu haben. Während
das Wiener Münzamt in der Zeit von 1877 bis 1891 durchschnittlich kaum eine
Million im Jahre lieferte, hat es in den folgenden Jahren je zwei bis drei
Millionen, 1896 sogar 6455600 und 1897 5440700 geprägt. — Mit ihrer
neuen Kroneuwährung ist die österreichische Regierung immer noch nicht aus allen
Verlegenheiten heraus. Nachdem es ihr im Jahre 1892 gelungen war, in kurzer
Zeit für vierzig Millionen Gulden Gold zu erwerben, hoffte sie bald zur Bar-
zahlung übergehn zu können. Da erlitt im Jahre 1893 die österreichische Valuta
plötzlich eine so bedeutende Entwertung, daß die Ausgabe des Goldes dieses aus
dem Lande getrieben haben würde, und obwohl seit 1896 der Paristand wieder
hergestellt ist. wagt man immer noch nicht, den gelben Schatz aus seinem sichern
Gewahrsam zu entlassen, weil man, über die Ursachen der Valntnschwankungen um
unklaren, eine plötzliche Wiederkehr des Unheils fürchtet. Dr. PH- Kalkmann
sucht nun in der Schrift: Die Entwertung der österreichischen Valuta im
Jahre 1893 und ihre Ursachen (Wiener staatswissenschaftliche Studien. heraus¬
gegeben von Bernatzik und Philippovich, drittes Heft des ersten Bandes, Frei¬
burg i. B.. Leipzig und Tübingen, I. C. B. Mohr, 1899) die Regierung zu be¬
ruhigen. Die Sache sei ganz einfach. England habe 1893 in Australien und
Amerika bedeutende Kapitalien verloren. Das habe die Engländer gezwungen, ihre
im Auslande angelegten Kapitalien zurückzuziehn und deu Diskont zu erhöhen. Das
Gold Ströme immer dahin, wo um meisten damit zu verdienen sei, aber wahrend die
Goldländer diese Gelegenheit durch Goldsendungen zu benutzen in der Lage seien,
müßten sich die Silber- und Papierländer in solchen Zeiten eine Verschlechterung
ihrer Valuta gefallen lassen, denn da bei ihnen weniger zu verdienen sei. hätten
ihr Geld und ihre Wechsel einen niedrigen Kurs. Das sei allerdings nur eme
schematische Darstellung des Hergangs, der in jedem einzelnen Falle viele Be¬
sonderheiten aufweise. Wenn Österreich jetzt die Barzahlung aufnehme, stunde es
einer wiederkehrenden solchen Konjunktur gegenüber ganz in der günstigen Lage
der Goldländer, habe also davon nichts zu befürchten, und einem übermäßigen
Goldabfluß zu wehren, brauche es nnr zu dem Mittel, das anderwärts gebräuchlich,
in Österreich aber bisher gescheut worden sei, zur Diskonterhöhung seine Zuflucht
zu nehmen.
, Wenn eine Schrift Modernes Hexenwesen,
spiritistische und antispiritistische Plaudereien (Leipzig. C. G. Naumann, 190v> be¬
titelt ist und Rudolf Kleinpanl zum Verfasser hat, so versprechen wir uns ein
"»genehmes Lcsestündchen davou. Und wir finden uns nicht getan ehe. Mit der
allerliebst erzählten Geschichte der Verlobung des russischen Nikolaus und der
preußischen Charlotte, wobei ein Niugzauber spielt, fäugt er an der urgelehrte
Mann, der seine Gelehrsamkeit in der Gestalt erheiternder Spielsachen verschlecht,
kommt aus dem hundertsten ins tausendste, wie es sich für einen gewandten Plau¬
derer schickt, führt uus so durch alle Gebiete der, schwarzen und weißen Magie und
des Volksaberglaubens, macht die Spiritisten lächerlich und schließt mit den Worten -
»Der Spiritismus ist für deu Gebildeten ein Überlebsel; er ist eine vcrsnnkne
Glocke, die noch läutet, obwohl sie gesprungen ist, und schrill "ut mißtönend ,n
die Gegenwart hinein schallt; er ist das moderne Hexenwesen." Aber vielleicht
nimmt uns Kleinpanl diese Charakteristik seines Buches Übel; im Vorwort nämlich
steckt er eine furchtbar ernste Miene auf, so ernsthaft, wie sie em Kleinpanl nnr
irgend zustande bringt. „Kein Zweifel, mit einem neueii Gespensterbuche mit einem
Haufen frischer, seusatioueller Wunder, mit weitern merkwürdigen Thatsachen ^als
wenn er nicht gerade das alles lieferte!! würde ich mehr Gluck machen als mit
einer einschneidenden Kritik. . . . Warum kann ich es denn nicht las en einmal in
das mystische Wespennest zu stechen und mir, ich weiß es, nur Feinde damit zu
machen, womöglich alte Freunde vor den Kopf zu stoßen?" Das klingt ,a beinahe
heldenhaft und tragisch! Kleiupaul macht sich eben unter andern spaßen anch den,
ein wenig zu heucheln. Die spiritistischen und okkultistischen Narren mögen un
deutschen Vaterland- so zahlreich sein, wie sie wollen, die Million erreicht ihre Zahl
sicherlich nicht; und wären ihrer so viel, so machten sie immer noch nicht den
zehnten Teil des lesenden Deutschlands aus, könnten also den Absatz amüsanter
Bücher nicht gefährden, geschweige denn das Leben ihrer Verfasser. Allerdings
wird das Buch außer den Spiritisten auch solche Christen ärgern, die es mit ihrem
Glauben sehr ernst nehmen, aber gerade Kleinpauls Spott über alles, was Mystik
heißt, erregt Zweifel am Ernst seiner Absicht und macht sein Buch zu einem bloßen
Unterhaltungsbuche, das dem Spiritismus so wenig Schaden zufügen wird wie dem
Christentums, Von den Antispiritisten sagt er: „Sie thun dem modernen Hexen¬
wesen keinen Eintrag; sie machen es eher noch populär, tragen es in weitere Kreise
hinaus," Ganz dasselbe gilt von seinem Buche. Wäre es ihm mit der Vernich¬
tung des Spiritistenunfugs Ernst gewesen, so würde er sich zunächst des Sprüch¬
leins erinnert haben, daß, wer zu viel beweist, nichts beweist. Daß der Spiri¬
tismus reiner Schwindel ist, läßt sich beweisen. Die Medien beweisen ihre Un-
glaubwürdigkeit selbst durch die Vorsichtsmaßregeln, mit denen sie sich gegen
Entlarvung schützen, wie Verdunklung des Zimmers, Ausschluß kritisch gesinnter
Teilnehmer von der Versammlung; die gläubigen Teilnehmer aber sind unglaub¬
würdige Zeugen, weil sie alberne Tröpfe sind, denn nur solche können das läppische
Zeug, das thuen die Medien vormachen, als Offenbarungen des Jenseits andachts¬
voll anhören und anschauen. Aber so beweist Kleinpaul nicht; er stellt es vielmehr
als selbstverständlich hin, daß es außer dem Körperlichen nichts in der Welt gebe,
und daß demnach alles, was außerhalb der Menschenleiber geistige Wesen voraus¬
setzt, Einbildung, Halluzination oder Betrug sein müsse; die Wunder der Bibel
und die Prophetenträume kommen dabei mit den Spukgeistern von Resan in eine
Reihe zu stehn. Nun ist aber schon die hypnotische Suggestion, die Kleinpaul nicht
leugnet, eine Einwirkung eines Geistes auf einen andern, die aus keinem der uns
bekannten physikalischen und physiologischen Vorgänge erklärt werden kann. Ferner
sind die Fälle von Telepathie so außerordentlich häufig, und die Zahl der durchaus
glaubwürdigen Personen, die welche erleben, ist so groß, daß man sie verständiger¬
weise nicht alle in das Reich der Einbildung verweisen kann. Das führt von der
physikalisch unerklärbarer oder wenigstens vorläufig unerklärten Wirkungsweise
mancher Seelen lebender Menschen zu der der Seelen Sterbender und Verstorbner;
jene zeige» bekanntlich manchmal denen, die sie lieben, etwa im Traume, ihr Ver¬
scheide» an, diese wirken nicht selten als Schutzgeister. Kleinpaul erzählt solche
Fälle und sucht sie zu erklären, aber seine Erklärungsversuche werden niemand be¬
friedigen. Wenn z. B. dem preußischen Offizier im französischen Kriege die Mutter
in dem Augenblicke erschienen wäre, wo er den Abgrund entdeckte, in den er mit
dem Pferde zu stürzen im Begriff stand, so wäre der natürliche Zusammenhang klar,
aber die Erscheinung der Mutter und die dadurch bewirkte plötzliche Wendung waren
die Ursache, daß dann erst der Abgrund und die hineinlockende französische Kriegslist
entdeckt wurden. Das Wunder des Fliegens oder wenigstens sich vom Boden Er¬
Hebens, das von einigen Heiligen berichtet wird, erklären moderne Mystiker daraus,
daß die Gravitation nur eine besondre Art des Magnetismus sei und demnach
unter Umständen in Abstoßung übergehn könne. Möglicherweise ist diese Erklärung
irrig; möglicherweise hat es auch niemals einen Fall von Fliegen oder „Levitation"
gegeben, und sind alle Erzählungen von solchen Vorkommnissen Fabeln. Aber es
geht nicht an, jene Erklärungsweise mit bloßem Spott abzufertigen, wie es Klein¬
paul thut. Die Gravitation ist uns so gut Geheimnis wie jede andre sogenannte
Naturkraft. Wir wissen nicht, wie es ein Planet anstellt, die über ihm schwebenden
oder beweglich auf ihm liegenden Körper festzuhalten, und wenn ers nicht thäte,
wenn er alles, was ihm nicht angewachsen ist, in den Weltraum fallen ließe, so
hätte unsre Logik, die dann allerdings so wenig wie wir selbst vorhanden sein
würde, nicht das mindeste dagegen einzuwenden. Und da nun gerade die moderne
Physik, und nicht ohne Erfolg, dahin strebt, alle physikalischen Kräfte als Modifi¬
kationen einer einzigen Kraft nachzuweisen, und da unsre Erde thatsächlich ein
Magnet ist. so liegt in jener Erklärung nichts ungereimtes, womit natürlich ihre
Richtigkeit noch nicht erwiesen ist. Und es geht auch uicht an, mit Kleiupaul
einfach zu dekretieren: „Es ist eine Fabel, daß Menschen jemals geflogen Md.
Wahrscheinlich ist es eine Fabel; aber wenn ein Fall erzählt wird, so mich die
Glaubwürdigkeit der Zeugen geprüft werden, denn es ist nicht erlaubt, von vorn¬
herein zu sagen: Dies oder das ist unmöglich, da wir nicht wissen können, was
möglich und was unmöglich ist; macht doch die moderne Technik viele Dinge möglich,
die vordem für unmöglich gehalten wurden. Wenn etwas berichtet wird, was nach
Kleinpauls naturwissenschaftlicher Einsicht unmöglich ist. so erklärt er: Zeugnisse
gelten in diesem Falle nichts. So darf man nicht sprechen, denn es giebt keine
unfehlbare naturwissenschaftliche Einsicht. „Wenn es in der Welt eine gut bezeugte
Thatsache giebt, so ist es die Existenz der Hexen." Freilich, die Bekenntnisse der
Hexen sind sogar protokolliert worden, aber — sie sind sämtlich durch dle Folter
erpreßt und darum wertlos. Es bleibt also dabei, Kleinpaul hat ein unterhaltendes
Gespensterbüchlein geliefert, aber er hat nichts beigetragen zur Klärung der schwie¬
rigen Frage, ob alle mystischen Erscheinungen auf Betrug und Täuschung beruhn,
oder ob einige wirklich vorkommen, und ob sie in diesem Falle physikalisch oder
durch die Annahme jenseitiger Einwirkungen zu erklären sind.
Die Freimaurer machen große Anstrengungen, der Welt die
Daseinsberechtigung ihres Bundes durch Vernunftgründe zu beweisen und sich selbst
durch Reformen diese Berechtigung aufs neue zu erwerben. Der „Stern von
Bethlehem," den wir im vorjährigen 23. Heft besprochen haben, verfolgt mehr den
Seiten, eine Schrift, die uns heute vorliegt, den ersten Zweck: Maurertum und
Menschheitsbau. Freimaurerische Gedanken zur sozialen Frage von Diedrich
Bischoff, (Leipzig, Max Hesse. 1900.) Humanität, das ist der höchste mögliche
Grad menschlicher Vollkommenheit, und Glückseligkeit aller in einer alle Menschen
umfassenden Gemeinschaft zu erstreben, ist nach ihn. die irdische Aufgabe jedes
einzelnen Menschen. Die rechte Verfassung dieses Gemeinwesens ist nicht der sozia¬
listische Zukunftsstaat. der ans Zwang beruht. Marx ist im Irrtum, wenn er die
Gesinnung aus wirtschaftlichen Verhältnissen und Zuständen hervorgehn laßt; der
Geist ists. der sich den Leib baut, uicht umgekehrt; je nach dem herrschenden Geiste
kann jede Wirtschaftsform segensreich oder verderblich wirken, weil eben nicht sie
°s ist, die da wirkt und schafft, sondern der sie gebrauchende freie Menschengeist.
Diesen zu bilden, darauf kommt es also an: Selbsterziehung. Erziehung der andern
Jndividualgeister, des Volksgeistes, des Menschheitsgeistes ist unsre große Aufgabe.
Die verschiednen Erziehungsmethoden werden nun dargelegt, insbesondre die zur
Selbständigkeit führende A.ifkläruugsmethode und die Dressur, sowie die Lohn- und
Strafsysteme, die Worte Lohn und Strafe im weitesten Sinne genommen, sodaß sie
den Arbeitsverdienst und die soziale Not einschließen, und der Verfasser erkennt an.
daß jeder der verschiednen Methoden nnr ein relativer Wert zukommt, daß aber
auch jede an ihrem Ort nützlich und notwendig sein kann. Über das aufgestellt
Ziel: die allgemeine Menschheitsbeglückung, gehn die Ansichten betaun lich sehr we t
auseinander, und wenn sie maurerisches Dogma ist, so sind unsre schneidigen Alt¬
deutschen vom Logenstandpunkt aus arge Ketzer, aber die sehr verständigen Be¬
trachtungen über Erziehung, die den größten Teil des Buches einnehmen, werden
allgemeinen Beifall finden und höchstens bei streng Orthodoxen an W^erspruch
stoßen. Weniger allgemein wird es gebilligt werden, daß das Gesellschastsideal
Menschheitsbnn. die Erziehungsthätigkeit, das ist in dem angedeuteten umfassenden
Sinne die ganze gemeinnützige und Berufsthätigkeit des Menschen ein Bauen ge¬
nannt, und die ganze Darstellung in dieses maurerische Symbol hineingezwängt
Wird. Symbole sind ja schön und nützlich; die Macht der katholische» Kirche be¬
ruht zu einem guten Teil auf ihrer weisen Verwertung, und die Zukunft der christ¬
lichen Kirche hängt davon ab, ob die Überzeugung philosophisch gebildeter Christen
durchdringen wird, daß die Dogmen nicht wörtlich zu verstehen, sondern nur Symbole
sind. Aber ein einzelnes Symbol zu Tode zu Hetzen, in einem einzelnen Symbol
die ganze Welt und alles Menschenleben unterbringen zu wollen, das ist geschmacklos.
Das Bauen kommt ja in der christlichen Symbolik häufig genug vor; die Christen
bauen am Tempel Gottes, am Reiche Gottes und erbauen im Gottesdienst ihre
eignen Seelen. Der Kirchweihhymnus beginnt mit den Worten: voslestis urbs
^vrus-ufm, Le>g.ta pg-cis visio, Huas eslsa. as viventidus Laxis g,ni Ästra. tolleris. Und
auch die Zubereitung dieser lebendigen Bausteine wird beschrieben: Loiüvi'i Mlubris
ietibus Le trmsiolls pluriin» 1?g,dri xolitu, roallgo Haue saxg, nöthen oonstruunt,
^ptisaM ^junotÄ mzxious I^oca-lltur in kÄstixio. Aber die Kirche hat sich auf dieses
eine schöne Gleichnis nicht festgenagelt, sondern stellt nach dem Vorgange der Bibel
die erlöste und in Gott geeinte Menschheit abwechselnd und je nach Umständen
unter verschiednen Bildern dar: als Reich, als Gottesstaat, als Kriegsheer, als
Schiff, als Baum, als Weinberg, als mystischen Leib Christi. Vor allem aber:
der Verfasser behauptet, daß nur ein Gesellschaftsideal das richtige sei, daß die Er¬
ziehung dieses Ideal nur dann verwirklichen könne, wenn die Erzieher es kennen
und bei ihrer Arbeit vor Augen haben, und daß eben die Freimaurer diese wahren
Erzieher der Menschheit seien. Diese Behauptungen zu beweisen, dürfte ihm nicht
leicht fallen. Schon mit dem Gesellschaftsideal würde es hapern. Der Verfasser
eifert z. B. gegen den heutigen Mammonismus; nun, er mag einmal sämtliche Mit¬
glieder der Loge auffordern, öffentlich und feierlich dem Mammon zu entsagen; da
werden wir ja sehen, ob das antimammonistische Gesellschaftsideal in ihnen eine
geschlossene Armee begeisterter Vertreter hat. Und dann: die katholische Kirche und
die Sozialdemokratie sind doch nach Zahl, Organisation und der Menge anerkannt
bedeutender geistiger Kräfte, über die sie verfügen, ganz andre Mächte als die Loge,
aber wie unendlich weit sind beide von der geistigen Weltherrschaft, auf die sie
Anspruch erheben, entfernt; beide werden ausgelacht, wo immer sie mit dieser An¬
maßung hervortreten. Auf diesem Wege, mit dem weltumspannenden Menschheitsbau,
wirds nicht gehn. Wollen die Logen in Zukunft noch etwas bedeuten, so müssen
sie sich beschränkte Aufgaben stellen, die im richtigen Verhältnis zu ihren bescheidnen
Kräften stehn. Humanität predigen ist in unsrer Zeit wütender Rassen-, Klassen-
und Nationalitätenkämpfe wahrhaftig nicht überflüssig; soll es aber etwas nützen,
so muß es nicht in allgemeinen Redensarten, sondern in Anwendung auf die vater¬
ländischen Verhältnisse und auf bestimmte einzelne Fälle und darf es nicht hinter
verschlossenen Thüren geschehn. Bischoff ist ein kenntnisreicher Mann, aber der
Loge beizutreten, wird er auch mit zehn solchen Büchern nicht einen bedeutenden
Kopf überreden; schade um die geistigen Kräfte, die so in den Logen nutzlos ver¬
schwendet werden. — In demselben Verlag wie die besprochne Schrift erscheint
ein Allgemeines Handbuch der Freimaurerei, dessen erste Lieferung uns
vorliegt. Es soll in zwanzig Lieferungen ä 1 Mark erscheinen und ist die „dritte,
völlig umgearbeitete und mit den neuen wissenschaftlichen Forschungen in Einklang
gebrachte Auflage von Lennings Encyklopädie der Freimaurerei."
eini eul zukünftiger Geschichtschreiber darauf ausgehn wird, den
hervorstechendsten Zug in der Völkerpsychologie um die Wende
dieses Jahrhunderts zu bezeichnen, so wird er ans das allgemeine
Vordringen des nationalen Gedankens hinweisen müssen. In
ungeahnt kräftiger Weise ist er auch bei uns, dem Volke der
Kosmopoliten, erwacht. Aber in die stolze Freude über diese Entwicklung
mischt sich ein bittrer Tropfen. Während in den Vereinigten Staaten wie in
Sun» der Deutsche hoch geschätzt und unbehelligt seiner Art leben darf, und
"n Chinas Ostküste wie auf den Inseln der Südsee die deutsche Reichsflagge
deutschen Handel schützend weht, müssen wir sehen und zusehen, wie in unsrer
nächsten Nachbarschaft alteiugewnrzeltes Deutschtum, mit dem wir die ganze
Abfolge unsrer Geschichte teilen, und dein mit Europa Deutschland unvergäng¬
lichen Dank für den Schutz seiner Güter schuldet, wie dieses Deutschtum in
dem Dvnaustaate, Österreich-Ungarn, um seine Existenz ringt oder doch
um seineu führenden Einfluß gebracht ist. Das ist die Tragik, das Unaus-
NeMchne in unsrer neuern Entwicklung, Erst durch die Trennung von Öster¬
reich und durch die Preisgebung des großdeutschen Gedankens sind wir das
geworden, haben wir das werden können, was wir sind. Aber eben dieses
Auffinden der nationalen Empfindung, das uns an das lang getrüumte Ziel
unsrer Wünsche führte, erfaßte auch die nichtdeutschen Völker des Donaureichs
und riß unsre zwischen Slaven und Magyaren wohnenden, von uns nun
politisch getrennten Stammesbriider in ein Meer der härtesten Kämpfe, einer
ungewissen Zukunft.
Auch Ungarn, in dessen Verhältnis ich im vergangnen Herbst einen
Persönlichen Einblick thun durfte, hat seine deutsche Frage, wenn wir uns auch
schon fast daran gewöhnt haben, Ungarn lind Magyarenreich für identisch zu
halten. Allerdings das Zentrum des Landes, die Theißebeuc, haben die
Magyaren inne, aber nach allen Grenzen hin sitzen kompakte deutsche Massen,
im Westen in Oberungarn bis Preßburg, im Norden ist die Zips an der hohen
Tatra altes deutsches Kolonialgebiet, im Süden sitzen im Vanat bei Temesvar
jetzt 800000 bayrische Schwaben, im Osten endlich die siebenbürgischen Sachsen,
in Summa, Kroatien eingerechnet, gegen 2^ Millionen.
Aber wie sich überhaupt auf Schritt und Tritt dein Reisenden die Er¬
kenntnis aufdrängt, daß Österreich und Ungarn getrennte Wege gehn, daß dort
und hier die Verhältnisse verschieden zu beurteilen sind, so ist auch der Stand
der deutschen Frage anders. Während sich in Österreich seit Jahren ein immer
stärkeres Anschwellen einer deutschuationalen Bewegung zeigt, und ein ausdrück¬
liches kaiserliches Zeugnis bestätigt hat, daß Österreich nicht gegen die Deutschen
regiert werden kaun, scheint in Ungarn das Deutschtum widerstandslos dem
Untergang zuzueilen. Nur die am nusgesctztesten Punkte wohnenden Sachsen
in der siebenbürgischen Ostmark Ungarns sind bekannt als die zähesten Ver¬
treter des deutschen Wesens. Und als ein Zeichen dieser altbewährtem Treue
wurde es mit Freuden von den deutscheu Universitäten begrüßt, daß sie mit
herzlichen Worten aufgefordert wurden, sich bei der Enthüllung des Denkmals
vertreten zu lassen, das man in Hermannstadt dein 1893 verstorbnen Bischof
Teutsch gesetzt hat.
Wenn ich nicht fürchtete, der Übertreibung gezichn zu werden, würde ich
bekennen, daß ich unter dem Eindruck stand, seit den Tagen des großen Krieges
nicht mehr so kräftig und unmittelbar in meinem Nationalgefühl angefaßt
worden zu sein. Da war zuerst der Vegrüßungsabend mit dein beispiellosen
Jubel, der den Worten der deutschen Delegierten folgte und uns sofort das
traute Gefühl gab, die liebsten Gäste eines ganzen Volkes zu sein; da war
am nächsten Tage die eigentliche Feier mit ihrem bunten Festzuge aus dem
Hause des Bischofs in die große gotische Stadtkirche, mit dem in seiner schlichten
Wahrhaftigkeit ungemein ergreifenden evangelischen Festgvttesdienst, dann der
Enthüllung selbst. Unabsehbar drängte sich das Volk in den Straßen und
Plätzen in der Nähe des Festplatzes, sogar die Dachpfannen hatte man stellen¬
weise abgedeckt, um noch einigen Zuschauern einen Ausblick zu verschaffen.
Als die Hülle von dem Erzstandbilde fiel, einem Meisterwerke Donndorfs, das
die hohe Gestalt des Bischofs in ausdrucksvoller und charakteristischer Haltung
zeigt, die rechte Hand auf ein Bündel Urkunden gestützt, mit der Linken die
Bibel an die Brust drückend, frei und stolz emporgerichtet — da neigte sich
die Menge tief ergriffen in lautlosem Schweigen geraume Zeit vor dieser Ver¬
körperung des Volksgeistes, dann erst brauste der Heilruf — die Deutschen
Österreich-Ungarns rufen bekanntlich jetzt nur noch Heil, nicht Hoch — durch
die Luft. „Ein Bild deutschen Mittelalters," meinte der neben mir stehende
Hammel, als nun Gruppe auf Gruppe in langem Zuge, Bauern und Bäuerinnen,
Bürger und Bürgersfrauen und -mädcheu aus dem ganzen Sachsenlande in
ihren alten überaus reichen Trachten an das Denkmal geführt wurden, um
hier ihre Kränze niederzulegen, auch Baden-Durlacher und Salzburger, die
im vorigen Jahrhundert eingewandert sind und sich den Sachsen angeschlossen,
aber ihre besondre Sprache und Kleidung behalten haben. Es war kein Gebot
misgegnugeu, aber dennoch, kein Bezirk hatte es sich nehmen lassen, Vertreter
zu senden. Bis auf die benachbarten Straßen und Plätze setzte sich das „Nun
danket alle Gott" fort, mit dem anch hier die deutsch-evangelische Volksfcier
schloß. Freier, mit dem Schwung und Feuer glühender Begeisterung äußerte
sich das deutsche Bewußtsein beim Festmahl und Festkommers. Den tiefsten
Beweis aber für das grunddeutsche Wesen, das unter tausend Gefahren hier
an der Grenze des Orients durch Jahrhunderte gepflegt worden ist und sich
bis zur Gegenwart erhalten hat, lieferte die Festvorstellung in dem kleinen
Theater, die die Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Volksdichtung darstellte,
auch gedacht als eine Huldigung an Teutsch. Ein Bürgermädchen sprach den
Prolog, in dem es hieß:
Von dem flandrischen Einwandrerlied und den Märchenerzühlungen der
Muhme unter der Dorflinde wurden wir zu der Poesie des Zunftlebens mit
den: Spiel von König und Tod und dem jüngern Hildcbmndslied geleitet und
schließlich zu dem Jahrmarktstreiben einer sächsischen Stadt in der neuern Zeit,
das Gelegenheit gab, den alten bis vor kurzem noch geübten Schwertertanz
der Kürschnerzunft darzustellen.
Dann folgten stillere Tage, die mich in andre Teile des Landes führten,
nach Schüßburg, Kronstäbe, auf die Dörfer, in die Pfarrhäuser und Schulen
des Landes. Wo man hinkam, erfuhr man dieselbe rührende Gastfreund¬
schaft. Die Herzen waren uns aufgeschlossen, und uns lag wieder daran, die
Verhältnisse zu sehen, wie sie thatsächlich sind. Wenn ich das Zutrauen habe,
bei einem doch nur kurzen Aufenthalt von einigen Wochen nicht nur Potem-
kinsche Dörfer gesehen, sondern einen wirklichen Einblick erhalten zu haben,
so gründet es sich darauf, daß ich viele maßgebende Männer des Landes in
solchen stillen Stunden gesprochen habe. Schwer lastete trotz alles Festjnbels
und Kraftgefühls ans ihren Gemütern die Frage aller Fragen für sie und
verfolgte anch uns auf Schritt und Tritt: die deutsche Frage, die Frage ihrer
nationalen Existenz.
Wodurch hat sich dort das Deutschtum so rein erhalten können?*) Dn
ist zunächst zu sagen: Die siebenbürgischen Sachsen sind von Haus aus nord¬
deutsche Bauern, nicht eigentlich Sachsen, sondern, wie durch die Sprachforschung
jetzt völlig erwiesen ist, ursprünglich nördlich sitzende Mittelfranken, ausgewandert
im zwölften und dreizehnten Jahrhundert aus der Gegend von Köln bis nach
Flandern hin, sodaß ihr Platt noch heute dem Kölner und Luxemburger un¬
mittelbar verständlich ist. Als bäurische Kolonisten wurden sie einst von
ungarischen Königen und dem Deutschen Ritterorden, der eine vorübergehende
Rolle dort unten gespielt hat, ins Land gerufen und in ganzen großen Gruppen
angesiedelt, schon im dreizehnten Jahrhundert etwa 50000 Höfe stark, und als
solches Bauernvolk erscheinen sie noch jetzt. Auch die Städte sind hier ans
den Bauernschaften herausgewachsen und rekrutieren sich immer wieder aus
dem Lande. Damit aber hat man das konservativste und zuhefte Menschen-
material von der Welt. Man hat hänfig den Eindrnck, in ein thüringisches
Dorf zu kommen, dieselbe fränkische Hof- und Hausanlage noch bellte. Selbst
ans einem Dorf ins andre heiraten die sächsischen Bäuerinnen selten, und wie bei
uns haben die einzelnen Dörfer wieder ihre Abarten im gemeinsamen Dialekt.
Diese Bauern wurden nun in ihrer Eigentümlichkeit geschützt dnrch ihre
isolierte Lage. In dem waldigsten und gebirgigsten Teile des „Waldlandes"
Siebenbürgen, Transsilvaniens, röteten sie sich ihren „Sachsenboden" selbst,
namentlich in den Thalniederungen des Alt, unmittelbar am Fuße des Hoch¬
gebirges. Also auch ein niederdeutsches Burenvolk, in die Berge versetzt, ans
denen die Freiheit wohnt.
Hier hatten sie die Aufgabe, die Grenze zu schützen, und eben diese große
geschichtliche Aufgabe, die ihnen zufiel, ist das dritte, was ihrem Fortbestehn doch
auch trotz aller unzähligen Kriegsnöte wieder günstig war. Das siebenbiirgische
Ostungarn springt wie ein Keil in das heutige Rumänien »ut in die Donanebene
ein wie eine große natürliche Bastion zur Verteidigung der westeuropäische!!
Kultur, besonders der Theißebene. Wer diese besaß, mußte danach streben, anch
das Waldgebiet zu haben. Darum fingen, sobald sich Ungarn seit Stephan dem
Heiligen zu einem wirklichen Staate aufbaute, seine Könige an, dieses Grenz¬
land in Besitz zu nehmen, und nnter deutschem Einfluß stehend und sich der
großen deutschen Kolomsationsbeweguug des zwölftel, und dreizehnten Jahr¬
hunderts anschließend, riefen sie die Mafien der deutschen Bauer« wie in die
Zips gegen die Polen, so gegen die Völker der Donanebene nach Sieben¬
bürgen. Denn die große Malter der Südkarpaten hat einige Löcher, Einfalls-
thore, durch die Kumanen und Mongolen, slavische Petschenegen, Walachei,
und Türken immer U'ieber eingebrochen sind, und eben diese Thore zu be¬
wachen wurde die historische Aufgabe der sächsischen Kolonisten. Wie sollten die
ungarischen Herrscher diese ihre wertvollsten Grenzwächter nicht schätzen, die
immer von neuem den ersten Anprall der Feinde aushielten und unzählige
Proben ihrer Tapferkeit und ihrer Treue gegeben haben, retinemlanr
vorormm, „zur Bewahrung der Krone," wie es auf dem alten Sachsenwnppen
heißt! Zumal da diese ungarischen Herrscher im Mittelalter, auf Deutschland
augewiesen, deutschfreundlich und seit der Reformation sogar ans dem deutscheu
Hause Habsburg waren, vollends seit nach dem Frieden von Karlowitz 1699
die Türken nicht mehr magyarische Sondergelüste patronisiercu konnten und
die Herrschaft der Habsburger sich sichrer und kräftiger äußerte! So galt das
kleine Volk, das mit dem selbsterworbnen Boden immer fester verwuchs, bis
uns unsre Tage als eine besondere Stütze des Thrones. Es war wirklich eine
staatsrechtliche Macht, mit der noch Franz Joseph 1848/49 ernsthaft rechnete.
Denn diese Gunst der politischen Verhältnisse brachte den kleinen deutscheu
Stamm sogar zu einer festen politischen Organisation. Die sächsische Nation
oder Nntionsuniversität, d. h. Gesamtheit, entstand. Schon die grundlegende
Urkunde von 1224, der Grundbrief ihrer Freiheit vom König Andreas, das
^ncirsMum,, faßt ihre verschiednen Gruppen als ein urriversuL xoxulus, ein
Gesamtvolk, zusammen und setzt ihnen einen Königsrichter, den Sachsengrafen.
Die Türkenzeit wies die siebenbürger auf eigne Hilfe; es wird ein eignes
Fürstentum daraus, dann sogar ein Großfürstentnm und selbständiges Kron¬
land Österreichs mit eignem Landtag, gebildet ans den Vertretern der drei
politischen Nationen des Landes, Magyaren und Szetlern — das sind auch
Magyaren, aber von einer besondern Abzweigung — und Sachsen, die sich mich
ihren Grafen jetzt selbst wähle» durften. Überhaupt hat sich diese sächsische
"Nation," von agrarischer Grundlage, der alten aus der Heimat mitgebrachten
Geineinfreiheit, ausgehend eine vollendete Demokratie geschaffen. In dieser
isolierten Bauerndemokratie haben sich zum. Entzücken unsrer Geschichtschreiber
des Mittelalters bis in unser Jahrhundert Zustände und Einrichtungen erhalten,
die im Mutterlande mit dem frühern Mittelalter verschwände«. Die gewerb-
treibenden Städte, die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert eine hohe
Blüte erreichten, waren nur die Vororte der Landbezirkc des Sachsenbodens,
d- h. des Teiles von Siebenbürgen, auf dem nur der Sachse Vollbürger war.
Mit dieser politischen Organisation aber hatte sich gleichfalls von Ursprung an
und ebenso demokratisch aufgebaut eine kirchliche verbunden, die geistliche Uni¬
versität, deren Bedeutung ungeheuer wachsen mußte, seit die Sachsen, der Be¬
wegung des Mutterlandes folgend, im sechzehnten Jahrhundert lutherisch
wurden, sich von der Eingliederung in die katholische Organisation loslösten,
und den zumeist katholischen oder ' kalvinistischen Magyaren gegenüber auch
kirchlich selbständig wurden. Das ist in unsrer Zeit geradezu die Rettung
geworden. Als die politische Organisation 1876 vollends zerschlagen wurde,
wurde die kirchliche von selbst um so mehr zur Trägerin des deutschen
Volkstums.
Diese demokratische Organisation wurde das Mittel, die notwendig
entstehende besondre deutsche Bildung so geschlossen zu erhalten, wie es
noch jetzt unser Erstaunen erregte; einheitlich nach innen, abgeschlossen nach
außen. Das Leben trügt darum einen traulichen, familiären Charakter. Bei
den festlichen Veranstaltungen, an denen ich teilnahm, war kein Unterschied
der Stände bemerkbar; Adel giebt es nicht, zwischen den Bürgern saßen die
Bauern und Bäuerinnen — die erste Bekanntschaft, die ich machte, war eine junge
Lehrersfrau im kleidsamen Bauernkostüm. Eben schreibt mir ein Landpfarrer
aus der Gegend von Schäßburg, daß er meinen obengenannten historischen
Aufsatz mit seinen Bauern in den Wvchenlescabenden durchnimmt. Und wie
eine deutsche Bildung einheitlich den Volks körper durchströmt, so ist sie auch
in sich einheitlich. Und zwar ist die Kirche das Zusammenhaltende, der
Mittelpunkt, nicht erst seit die politische Organisation ihnen genommen ist,
sondern jedenfalls von der Reformation um. Der Bischof ist jetzt der Vertreter
des Volkes, das Landeskonsistormm lud die deutschen Universitäten ein. Die
Kirche, vielfach bnrgartig befestigt, Zufluchtsort in den Zeiten der Not, rings¬
herum die Vorratskammern des Dorfes, in der Mitte des Dorfes stehend —
das Bild hat auch innere Wahrheit. Deutsch und evangelisch, deutsch und
kirchlich ist dort faktisch dasselbe. Natürlich ist dies nur möglich, wenn die
Schule in der engsten Verbindung mit der Kirche steht. Neben der Autonomie
der Kirche ist der konfessionelle Charakter der Schule, nicht nur der Volksschule,
sondern auch der höhern Schulen, der sächsischen Gymnasien, ihre unlösliche
Verbindung mit der Kirche jetzt das Palladium der Sachsen. Seit 1862 gilt
es, daß jeder künftige Gymnasiallehrer neben Theologie auch ein Lehrfach
studiert haben muß, und damit ist wieder die Möglichkeit eines fortwährenden
Austausches zwischen Pfarr- und Schuldienst gegeben. Die Männer, die in
den letzten Jahrzehnten die Kirche geleitet haben, waren zuvor Gymnasial¬
direktoren, Teutsch dreizehn Jahre lang Rektor in Schäßburg. Und noch heute
muß jeder Gymnasiallehrer einmal im Jahre predigen. Es ist sicher, daß die
Gründlichkeit namentlich des theologischen Fachstudiums darunter leiden muß,
aber ich habe doch in Siebenbürgen den ungemein hohen Wert dieser Ein¬
richtung unter den bestehenden Verhältnissen schätzen lernen. Dadurch allein
ist eine so einheitliche, geschlossene deutsch-evangelische Bildung erreicht und
gewahrt worden, wie wir sie fanden.
Freilich wäre es doch kaum gelungen, diese deutsche Bildung so rein
zu bewahren, wenn nicht die sie umgebende Bildung so viel tiefer stünde.
Die Versuchung, sich auf magyarischen oder rumänischen Schule» ein höheres
Maß vou Bildung und damit eine bessere Zurüstung für den Kampf des
Lebens zu erwerben, ist sehr gering. Vielmehr suchen fortwährend einzelne
magyarische und rumänische Knaben auch da, wo es Schulen ihrer Nationalität
giebt, auf den sächsischen Gymnasien, von denen sie grundsätzlich nicht aus-
geschlossen sind, sich ein Solideres Wissen zu verschaffen. Man begreift dann
die stolze Inschrift, die ich auf einer Dorfschule bei Kronstäbe las: „Wissen ist
Macht."
Endlich aber haben sich die siebenbürgischen Sachsen dadurch ihre
deutsche Art erhalten, daß sie sich den Quell immer offen erhielten, aus dem
sie gespeist wurde und wird, die Verbindung mit dem deutschen Mutter-
lande. Seit der Reformationszeit sind die sächsischen Studenten eine stehende
Erscheinung auf den deutscheu Universitäten: sie müssen wenigstens zwei
Jahre hier studiert haben, sonst stellt das Konsistorium sie weder im Schul¬
dienst noch im Pfarrdienst an. Verdammt sei vor Gott im zukünftigen Leben
und in dieser Welt aller Ehren bar, wer um solchem Besuche hindert, sagt ein
altes siebenbürgisches Gesetz. Aus diesen deutschen Studienjahren aber bringt
der Sachse eine tiefe, nun persönlich gewordne Liebe zum deutschen Wesen mit
nach Haus und pflegt sie als ein Heiligtum seines innern Lebens. Malt kann
sagen, daß infolgedessen dieses kleine Volk in seinen besten Männern mit dem
großen deutschen Volke wirklich innerlich mit- und weitergelebt hat, seiner
Entwicklung aus der Ferne in Treue gefolgt ist. Es ist gewiß interessant,
daß, als 1849 in Osterreich eine Neuorganisation der höhern Schulen nach
preußischem Muster eingeführt wurde, diese Neuordnung mit ihrem Fachlehrer¬
system, der stärkern Betonung der Realien, dem Griechischen, der philosophischen
Propädeutik und anderen, ans den sächsischen Gymnasien im äußersten Osten
Ungarns längst eingeführte Dinge anordnete und diese also weit mehr vor¬
bereitet traf als die österreichischen Schulen. Wenn wir deutschen Professoren,
wo wir uns nur sehen ließen, in Siebenbürgen mit einem Strom der Liebe
und Vegeisteruug überschüttet wurden, so grüßte das treue Volk in uns aller¬
dings das Mutterland und die Quelle ihrer Kraft, die deutschen Universitäten.
Immer waren sie zu uus gekommen, min kamen wir, sechs deutsche Pro¬
fessoren auf einmal, zu ihnen, nach dem fernen Transsilvanien! In dieser
Treue, dieser Sehnsucht nach der alten Heimat liegt schließlich der entscheidende
Grund, warum dieses kleine Völkchen so deutsch geblieben ist.
Dennoch bedrückte uus fortwährend die andre Frage: Wird es so bleiben?
Denn die Lage ist heute in der That schwerer als irgend je in der stnrmvollen
Vergangenheit. Man muß die Gefahren und Angriffe unterscheiden, die von
den Magyaren ausgehn, lind die von den Rumänen.
Die ganze geschichtliche Lage, die das Deutschtum überhaupt und die
selbständige Geltung des siebenbürgisch-sächsischen Deutschtums im besondern bis
dahin trug, hat sich seit der Mitte unsers Jahrhunderts verändert. Im Grunde
ist die Revolution vou 1848/49 auch hier die Umgestalterin gewesen mit den
drei Gedanken: mit dem alten Privilegienwesen muß aufgeräumt werden,
gleiches politisches Recht für alle, also auch auf dem alten Sachsenboden, so¬
dann Siebenbürgen, das Großfürstentum und selbständige Krvuland, muß mit
Ungarn vereinigt werden, dem Hort des Liberalismus, drittens aber, dieser
Liberalismus ist identisch mit der Pflege des iiational-magynrischeu Geistes.
Das heißt: Los von Österreich, und Ungarn, einschließlich Siebenbürgen, für die
Magyaren. Das war der Standpunkt Kossuths. Wenn auch die Wiener Negierung
mit russischer Hilfe die Empörung niederwarf und erst ein absolutistisch, dann
wenigstens ein zeutralistisch regierter Gesamtstnat Österreich noch einige Zeit
bestand, 1867 willigte Kaiser Franz Joseph unter dem Druck der äußern poli¬
tischen Verhältnisse nach den unglücklichen Feldzügen von 1859 und 1866 in den
sogenannten Ausgleich mit Ungarn, der sür das Auswärtige, für Heer und
Finanzen gemeinsame Minister ließ und für die gemeinsamen Angelegenheiten
eine gemeinsame Vertretung des Volkes schuf, im übrigen aber Ungarn die
Ordnung seiner eignen innern Angelegenheiten völlig selbständig und nach den
liberalen Grundsätzen von 1848 überließ. Der Mann, der unter dem Schlag¬
worte der Nechtskontinuität, das heißt der Wiederanknüpfung an das 1848 pro¬
klamierte Verfassungsrecht, diese Periode der ungarischen Geschichte vertrat, war
Franz Deal, ein Manu von untadliger Ehrenhaftigkeit und staatsmännischer
Gesinnung; an die Stelle der Gleichung Liberalismus und Magyarismus setzte
er das Ideal des freien Staats Ungarn, zu dessen Glück die Nationalitäten
durch die Entfaltung ihrer eigentümlichen Kräfte gleichmäßig beitragen sollten.
Unter diesen Umstanden schien die 1867 nun faktisch durchgeführte Union
Siebenbürgens mit Ungar» noch nicht das Ende der "/^ Jahrtausend alten
Sachsenfreiheit zu bedeuten.
Dennoch datiert von da an, seit dem Schwinden des deutschen Einflusses,
die steigende Vedrängung der Sachsen durch die Magyaren. Denn darin
liegt der große Unterschied von Österreich, der durch den Ausgleich von 1867
vollends ans Licht trat: wenn mich Cisleithanie» nur deutsch regiert werden
kann, Transleithanieu kann auch, wenigstens einstweilen noch, magyarisch
regiert werden, trotz seiner 2^ Millionen Deutschen. Der große magyarische
Stamm, der mit seinen sechs bis acht Millionen das Zentrum des Landes, die
Theißebene, erfüllt und doch auch in den andern Teilen des Landes, namentlich
in Siebenbürgen vertreten ist, kann das Ganze beherrschen. Und thatsächlich ist
die Gleichung Liberalisinus nud Magyarisieruug wieder eingetreten; der Unter¬
schied der Regierungspartei vo» der Kossuthpartei besteht dieser Frage gegenüber
nur in den Mitteln und im Tempo. Das giebt nun diesem Bilde das fatale
Gepräge, sodaß mau nicht ohne Bitterkeit und Zorn davon reden kann. Im
Namen der Freiheit und Kultur wird Freiheit und Kultur tausendfach verletzt.
In diesen, Sinne ist es zu versteh,?, wenn man vom magyarischen „Kultur-
buttel" redet.
Warum schützte nicht gerade der Liberalismus vor der Magyarisieruug?
So viel ich sehe, ist der Grundschade der folgende. Die Magyaren sind gewiß
ein begabter Stamm, aber von einer eigentümlich magyarischen Kultur kann
man erst seit kurzem, seit diesem Jahrhundert reden, und vieles davon ist Treib¬
hausblüte oder nur mit magyarischer Etikette versehen, im Grunde aber deutsch.
Auch die magyarische Schriftsprache ist erst ein Jahrhundert alt. Wirtschaft¬
lich stand das Volk auf sehr niedriger Stufe: deu üblichen Großgrundherreu
gegenüber die Masse Bauern. Der Bürgerstand fehlte, denn die Städte, Pest
an der Spitze, waren deutsch und deutsch-jüdisch. Noch vor einem Menschen¬
alter gingen 30 Prozent magyarische Kinder in die Pester Schulen, jetzt 80
bis 90. Sieht man zu, so sind es lauter deutsche oder deutsch-jüdische Namen.
Thatsächlich regierte der Feudaladel in Ungarn, der die Verwaltung der Gespan¬
schaften oder Komitate in den Händen hatte. Nun aber besteht die Bevölke¬
rung Ungarns ja längst nicht nur aus diesen Bestandteilen, sondern im Süden
und Südwesten wohnen gegen 3 Millionen Kroaten, im Nordwesten 2 Mil¬
lionen Slowaken, im Osten 2'/^ Millionen Rumänen, im Norden eine halbe
Million Ruderer, ungerechnet die Tausende von Zigeunern, Armeniern usw.,
Volker, die zum großen Teil auf «och weit niedrigerer Kulturstufe, der Stufe
der Hörigkeit stehn. Und dieses halb barbarische Völkergemisch wurde nun
mit dein modernen Parlamentarismus beglückt, wie später Rumänien, Serbien
und Bulgarien. Das hatte zur natürlichen Folge, daß der Liberalismus und
die Selbstverwaltung immer mehr zu einem Scheinwesen wurden, wirklich aber
die Herrschaft des chauvinistisch-magyarischen Adels in der Form der ministe¬
riellen Allmacht und der Majoritätsdiktatur wiederkehrte und sich festsetzte. Das
aber bedeutet ein fortwährendes verstecktes Durchlöchern oder Umgehn der ein¬
mal bestehenden Gesetze auf dem Wege der Verwaltung, ein System der Kor¬
ruption und der polizeilichen Chikane. Das eigentliche ministerielle Organ
dasür ist der vom Minister eingesetzte und ihm allein verantwortliche, meist
dem ungarischen Adel entnommne Obergespan, der durch die Munizipalgesetze
von 1872, 1876 und 1886 mit einer Machtfülle ausgestattet ist, wie sie nach
dem Urteile eines juristischen Kenners der Verhältnisse vielleicht nur noch in
der Türkei oder in Rußland einem Beamten zusteht.*) Die geringsten Angelegen¬
heiten der Komitate sind seiner Kontrolle unterworfen, eine Reihe der wichtigsten
Verwaltnngsümter wie Polizeidirektoren, Ärzte, Archivare und Buchhalter seiner
Ernennung vorbehalten, sein Einfluß aber schon auf die Wahl aller andern
zum schlechterdings herrschenden gemacht. In allen Verwaltungsausschüssen
wird die eine Hälfte von der Komitatsverwaltung gewählt, die andre besteht
eins Beamten; bei dein Kandidationsausschuß aber für Wahlen von Beamten
besteht die zweite Hälfte aus Mitgliedern, die der Obergespan ernennt, sodaß
der Obergespan mit diesen schon zusammen die absolute Majorität hat. Diese
Majorität aber kann ohne Angabe von Gründen den Kandidaten einfach aus-
schließen.
Die 21/2 Millionen Deutsch-Ungarn, die zum größten Teil die Intelligenz
des Landes darstellen, spielen bei diesem Prozeß die traurigste Rolle. Sie
allein würden wohl für einen westeuropäischen Konstitutionalismus reif gewesen
sein, aber in das Schema dieses im Dienste der Magyarisiernng arbeitenden
Scheinliberalismus passen sie nicht hinein. Die früher fast ganz deutsche Häupt¬
stadt hat man durch eine munizipale Ausnahmestellung und die glänzendsten
Förderungen der kommunalen Interessen gewonnen, aber die Deutschen in den
Komitaten werden durch das Shstem des liberalen Nationalstaats einfach zer¬
malmt. Die sechzehn freien Bergstädte der Zips sind ihrer Selbständigkeit be¬
raubt und gehn, wie es scheint, unaufhaltsam der Magyarisierung entgegen,
die Deutschen in den Montcingegeuden von Kremnitz und Schemnitz sind dem
Deutschtum schon zum großen Teil verloren.
Am schwersten aber tragen daran die siebenbürgischen Sachsen, denn, um
eine uralte, wirkliche Gemciudefreiheit und Selbstverwaltung gewöhnt, durchaus
politisch und kommunal reif, wirklich liberal und diszipliniert, höchst verdient
um den Bestand des Staats eben durch diese Tugenden, werden sie nun der¬
selben Unfreiheit und Polizeiwillkür unterworfen, die unter dem Scheine des
Liberalismus einhergeht. Erst wenn man diesen Gegensatz nimmt, begreift man
den Grad, zu dem die Erbitterung unter ihnen allmählich gedeiht. Wie vor
einigen Wochen Koloman Szell selbst eingestand, man ist in der That dort
nervös geworden.*) Statt ihnen eine ähnliche munizipale Bedeutung zu lassen,
wie man sie Pest und auch Fiume gewährte, hat man 1876 ihre alte Orga¬
nisation, die Nationsuniversität, aufgelöst, den Sachsenboden gleichfalls in
Komitate aufgeteilt und ihnen anstelle ihres alten Sachsengrafen und ihrer
eignen Richter Obergespane geschenkt, obgleich sie einst in die Union mit Ungarn
nur unter der bestimmten Zusicherung gewilligt hatten, daß ihre alten Rechte
geschont würden. Der alten „Universität," d. h. Gesamtheit, wurde nur das
Recht gelassen, das Universitätsvermögen aus Bären und Liegenden, wie Ge-
birgswäldern, namentlich den Siebenrichterwaldungen, selbst zu verwalten, aber
nur zu Kulturzwecken ans dem alten Sachsenboden und nur unter Genehmigung
der Beschlüsse durch den Minister. Auf diesem frühern Königs- oder Sachsen¬
boden wohnen nun auch Maghareu und Rumänen und sind magyarische und
rumänische Stiftungen entstanden. In die Universitätsvcrtretung, die von
allen zum Reichstag wahlberechtigten Bewohnern des Sachseubodens gewählt
wird, also nicht nur von den Sachsen, ist infolgedessen jetzt auch je ein Rumäne
und ein Magyare gekommen, und bis 1890 hat der Minister im Sinne dieser
einen rumänischen oder magyarischen Stimme gegen die ganze übrige sächsische
Vertretung über das alte Sachsenvermögen verfügen können und verfügt. Seit
1890 darf der Minister mir das Majoritätsvotum genehmigen oder verwerfen.
Das war der erste größere politische Erfolg der Sachsen seit 1868, und that¬
sächlich hat auch die Universität dem evangelischen Landeskonsistorium den
größern Teil ber Dotationen für Schulzwecke zugewiesen.
(Schluß folgt)
user letzter Schulartikel hat Zuschriften von verschieden Seiten ver¬
anlaßt/ Unter andern drückt ein bedeutender, in ganz Deutschland
rühmlich bekannter Ingenieur seine warme Zustimmung aus, indem
er hinzufügt, er habe seinerzeit dem Rektor der technischen Hoch¬
schule in Charlottenburg geschrieben: „Wenn wir beabsichtigen,
aus unsern Söhnen nur Ingenieure zu erziehn, so mögen Sie Recht haben;
sollen aber auch Menschen aus ihnen werden, dann wird das humanistische Gym¬
nasium uoch recht lange-nötig sein." Sehr schmerzlich klingt eine andre Äuße¬
rung aus preußischen Gymnasialkreisen. „Wer gezwungen gewesen ist, heißt es
darin unter anderm, nach den preußischen Lehrpläuen von 1892 zu unterrichten,
kann sich über den Sturm der öffentlichen Meinung und die Mutlosigkeit der
Philologen nicht wundern. Die Einschränkung des altsprachlichen Unterrichts
hat vor allem die Folge gehabt, daß nur noch wenige auserwählte Schüler
dahin kommen, Freude an ihrem Wissen zu empfinden; etwas Neues ist nicht
an die Stelle des Zerstörten getreten. Vor der krüppelhaften Schule, die
man heute in Preußen Gymnasium nennt, verdient allerdings jede gesunde und
einheitliche Schule, auch die latcinlose Realschule, den Vorzug." Auch an
einem Berliner Doppelgymnasium, wo nach strengen Versetzungen in die obern
Klassen nur tüchtige Leute aufstiegen, „gelangte man ans Ziel nur durch eine
an Überbürdung grenzende Anspannung aller Kräfte bei Lehrern und Schülern;
jede Stunde wurde so planmäßig ausgenutzt, - daß nie Zeit blieb, einmal warm
zu werden oder statt der geraden Straße einmal einen aussichtsreichen Umweg
zu gehn." An kleinen Gymnasien aber, die ihrer Natur nach viele gering¬
wertige Schüler haben, wird der Unterricht durchweg auf ein niedrigeres
Niveau hinabgedrückt. „Aber mag man dabei noch so gewissenhaft jede zuweit¬
gehende Hilfe für die Schwachen vermeiden, in gewisser Weise verleitet man
die Schüler mit solcher Art Unterricht doch selbst zur UnWahrhaftigkeit, denn
sie nennt Reife und Bildung, was geradezu das Gegenteil echter Bildung ist."
So also nimmt sich die preußische Schulreform von 1892 in sachkundiger Be¬
leuchtung nach acht Jahren aus! Zur Vervollständigung des unerfreulichen Bildes
diene, daß selten ein Schüler, der von einem preußischen Gymnasium an ein
sächsisches übergeht, unsern Anforderungen wirklich genügt, daß er, auch wenn er,
was in den meisten Fällen, wenn es irgend geht, natürlich geschieht, in die ent¬
sprechende Klasse aufgenommen wird, bei der nächsten Versetzung selten ankommt.
weil es ihm in den klassischen Sprachen an jeder festen Grundlage fehlt. Und
dabei hat man immer das peinliche Gefühl: dem armen Jungen geschieht eigentlich
bitter Unrecht, denn nicht er trägt an seinen mangelhaften Leistungen die Schuld,
sondern die „krüppelhafte Schule," von der er kommt. Soviel also ist sonnen¬
klar: die preußische Schulreform ist gründlich mißlungen; sie hat die Leistungen
der preußischen Gymnasien teils tief hinabgedrückt, teils zu leerem Schein ent¬
würdigt und doch weder die sogenannte Überbürdung beseitigt, noch irgend
etwas Neues an die Stelle gesetzt; sie schädigt den ganzen Ruf des höhern
preußischen Unterrichtswesens außerhalb Preußens aufs schwerste, nimmt den
Lehrern alle Freudigkeit und ruft überall die Überzeugung hervor: So kann
es unmöglich weitergehn!
Nur freilich, daß daraus der einzig richtige Schluß gezogen würde: Um¬
kehr und Rückkehr zur verlassenen Grundlage, dazu ist in Preußen, scheint es,
herzlich wenig Aussicht, und „die Stimmung unter den berufnen Verteidigern
der hnmnnistischen Bildung bis zu den angesehensten Schulmännern hinauf ist
so gedrückt und verzagt, daß wir unsre Augen hilfeflehend über die Landes¬
grenze richten müssen." Nun, die Preußen haben für den Aufbau unsers
nationalen Staats das Größte geleistet; helfen wir ihnen dafür ihr höheres
Schulwesen vor Verkümmerung retten! „Wenn es denn sein muß," sagt
Schillers Herzog Alba, wo er gegen Don Carlos den Degen zieht.
In den letzten Wochen sind mehrere Kundgebungen in der Schulreform
hervorgetreten. Zunächst hat die Versammlung vom 5. Mai den selbstverständ¬
lichen glänzenden Verlauf genommen. „Zweihundert oder mehr Philologen"
sind dabei gewesen, eine Petition mit 12000 Unterschriften ist an den Kultus¬
minister abgeschickt worden. Beide Zahlen imponieren uns nur müßig. Wenn
die 200 oder 300 Philologen, wie vorauszusetzen ist, meist Neusprachler waren,
so bedeutet das für die innere Begründung der aufgestellten Forderungen herz¬
lich wenig, denn diese Herren reden sozusagen xro äomo, und wie Unterschriften
zu Petitionen, wenn weite Kreise mit dem Bestehenden unzufrieden sind,
zusammengebracht werden, das weiß ja jeder; uns wundert, daß es nicht
120000 sind, sondern nur 12000, wohlgemerkt aus ganz Deutschland, wo es
doch sehr viel mehr unzufriedne Gymnasiastenvüter geben muß. Sodann haben
sich die zwölf preußischen Ärztekammern durch ihren Ausschuß am 28. April
für die so heiß erstrebte Zulassung der Nealgymnasialabiturienten zum medi¬
zinischen Studium nur unter der Bedingung ausgesprochen, daß eine Ände¬
rung in den bisherigen Bestimmungen so lange verschoben werde, bis die Frage
über die Organisation der Vorbereitungsanstalten endgiltig geregelt sei, und
daß sich dann die Zulassung nicht nur auf die Medizin, sondern auf alle Fa¬
kultäten unsrer Hochschulen erstrecke, d. h. er hat sie für jetzt, ja überhaupt
für absehbare Zeit abgelehnt und jedenfalls die berechtigte Forderung gestellt,
daß die ganze Frage der Zulassung vor der Entscheidung den Ärztekammern
zur Beratung vorgelegt werde. Gleichzeitig hat sich die braunschweigische
Ärztekammer grundsätzlich gegen die Zulassung ausgesprochen. Man mag über
diese sachlich denken, wie man will, jedenfalls haben solche Kundgebungen von
organisierten Sachverständigen einen ganz andern Wert als Resolutionen und
Petitionen irgend welcher Vereine mit bekannter Tendenz, und sie beweisen
zugleich, daß es auch in Preußen noch Kreise giebt, die gegen die g-rira xoxu-
laris den Nacken steif halten. Endlich verlautet von einer Konferenz „Sach¬
verständiger," die zu Anfang Juli d. I, im preußischen Kultusministerium zu¬
sammentreten soll, um die „Schulreform" zu beraten, und es sind auch schon
verschiedne Vorschläge nach dieser Richtung bekannt geworden, doch weichen
diese vielfach im einzelnen voneinander ab. Soviel scheint indes zunächst fcst-
zustehn, daß der gemeinsame lateinlose Unterban für die höhern Schulgattnngcn
aufgegeben ist, daß also die Realschulen aus der Zahl der Schulen, die zu einer
Art von Einheitsschule verschmolzen werden sollen, ausscheiden, und daß nur
für 'die beiden Arten von Gymnasien ein gemeinsamer Unterbau in einem
weitern Umfnuge als bis jetzt beabsichtigt ist. Über dessen Art weichen die
Angaben noch voneinander ab. Nach den einen soll die „Gabelung" erst in
Obersekunda beginnen, derart, daß das Lateinische (vor allem wohl in den
Realgymnasien) verstärkt, das Griechische auf der einen, das Englische ans der
andern Seite erst in Obersekundn begonnen werden soll. Nach den andern
würden beide Sprachen in Anlehnung an das Frankfurter „System" ein Jahr
früher, in Untersekunda, anfangen.
Es wäre immerhin schon etwas wert, wenn mau auf den unglückseligen
„latcinloscn Unterbau," der seit zwanzig Jahren die „Reformer" bethört, ver¬
zichtete, denn damit wäre wenigstens das Lateinische als Grundlage des Sprach¬
unterrichts gerettet und der unnatürliche Zusammenhang mit den lateinlosen
Realschulen, die gar keine Vorbildung für das wissenschaftliche Studium geben
wollen, also ganz andre Zwecke verfolgen als die Gymnasien beider Richtungen,
nufgegebeu. Dafür soll das Griechische die Zeche bezahlen. Und doch hat die
griechische Litteratur nicht nur an sich eine ungleich größere Bedeutuug als die
lateinische, sondern auch für die Schule, seitdem diese die lateinische Imitation
als zwecklos aufgegeben und die Schriftstellerlektüre in den Bordcrgrnnd ge¬
schoben hat. Deshalb ist für uns eine stärkere Verkürzung des Griechischen
unannehmbar. Bei einer Verschiebung des Anfangs nach Untersekunda verliert
es zwei Jahre, beginnt man erst in Obersekunda, sogar drei Jahre, oder, in
Stundenzahlen ausgedrückt: es wird uach sächsischem Maßstabe von 42 Jahres-
stnnden auf 28 oder gar auf 21, nach preußischen? vou 36 auf 24 oder auf
18 Stunden zurückgedrängt. Das giebt in Einzclstunden übersetzt, das Schul¬
jahr zu 40 Wochen gerechnet, eine Reduktion in den, einen Falle von 1680
auf 1120 oder 840 Stunden, im andern von 1440 auf 960 oder 720 Stunden.
Selbst wenn man zum Ersatz in den griechischen Klassen eine etwas verstärkte
Stundenzahl zugestehn wollte, was ja wohl geschehn würde, schon um den
Schein zu retten, so würde das Mehr nicht ausreichen, um wirklich Ersatz zu
schaffen. Denn die Summen der Jahresstundcn würden dann für Preußen auf
höchstens 24 (3 mal 8 oder 4 mal 6) steige», für Sachsen, da hier schwerlich
mehr als 1 Stunde über 7 zu erreichen wäre, auf 24 bis 32. Auch ist es
ein Aberglaube, zu meinen, in einer größern Zahl von Stunden lasse sich
in kürzerer Zeit ohne weiteres dasselbe erreichen wie in weniger Stunden, die
auf längere Zeit verteilt sind, und die Summe des Gelernten steige in dem¬
selben Verhältnis wie die Stundenzahl. Der vorgebrachte Stoff soll doch ein¬
geprägt, verdaut, zum festen Besitz des Schülers werden, und dazu gehört
Übung, also Zeit und Ruhe, vor allem bei einer antiken Sprache. Das ewige
Hetzen und Dritten nach einem bestimmten Examenziele hin ist der Tod alles
gesunden Unterrichts.
Man vergesse ferner nicht, daß die Gedächtniskraft in mancher Beziehung
mit den Jahren rasch abnimmt, und daß schon zwischen einem Sextaner und
einem sekundärer ein großer Unterschied ist; das Mechanische jeder Sprache,
Wörter und Formen, das der Sextaner spielend und naiv lernt, das behält
der sekundärer schon viel schwerer und nnlustiger. Und von der Verbesserung
der „Methode" erwarte man nicht zu viel; sie ist jetzt schon so gut wie eben
möglich; jedenfalls möchten wir die neuen verbesserten Lehrbücher erst sehen,
ehe wir an sie glauben. Schließlich machts überhaupt nicht die Methode,
sondern der Lehrer. Die jetzigen Lehrer aber, die doch den griechischen Unter¬
richt nach der neuen Einteilung und Methode geben müßten, würden sich nicht
ändern und würden, was sie jetzt in sechs Jahren leisten, in drei bis vier
Jahren ganz bestimmt nicht leisten. Es ist doch schon jetzt bei der vermin¬
derten Stundenzahl trotz der unverkürzten Jahresdauer in Preußen einge¬
standnermaßen unmöglich, die vorgeschrieben Ziele mit dem Durchschnitt der
Schüler wirklich zu erreichen. Man male sich nun einen griechischen Unter¬
richt, der in Obersekunda beginnt und auf drei Jahre beschränkt ist, etwas im
einzelnen aus und vergesse dabei nicht, daß das Griechische schon dadurch mehr
Arbeit macht als das Lateinische, weil zwei wesentlich verschiedne Gestalten
der Formenlehre bewältigt werden müssen, die attische und die homerische, denn
auf Homer wird man doch wohl nicht verzichten wollen. Dann beginnt also
der Obersekundaner mit ^«^« und ^'c-), er plagt sich in einen: Alter, wo er
in andern fremden Sprachen schon bis zu umfassender Lektüre, also zum Kern
vorgedrungen ist, noch mit der harten Schale ab und wird sehr froh sein
müssen, wenn er in einem Jahre mit der Formenlehre fertig wird. Dann
kommt der Unterprimaner etwa zu Aenophon und Homer, der Oberprimaner
wird es über Ilias und Lysias nicht hinausbringen, er wird in den Vorhöfen
stecken bleiben und aufhören, wenn sich ihm die Pforten zu Pluto, Thukydides,
Demosthenes und Sophokles öffnen könnten, oder er wird davon höchstens
einzelne Bissen zu essen bekommen, die ihm der Lehrer sorglich vorschneiden
und zurichten muß, damit sie der Schüler nur überhaupt beißen und verdauen
kann. Wenn dieser dann fragt: Wozu habe ich mich denn eigentlich mit dem
Griechischen geplagt? so ist die Antwort Schweigen. Mit dem Beginn des
Griechischen in Untersekunda würde das Ergebnis etwas besser sein, aber anch
nicht viel, nämlich für den Durchschnitt unter den gewöhnlichen Verhältnissen.
Denn bei noch so vermehrter Stundenzahl — und über neun hinaus würde
man doch auf keinen Fall gehn können, vermutlich auch nur auf Kosten des
Lateinischen — würden die Schwierigkeiten des verspäteten Anfangs bestehn
bleiben und dazu das neue Bedenken entstehn, daß dann entweder die Gabelung
schon in II L beginnen müßte, also vor der sogenannten Abschlußprüfung,
oder daß, wenn sie erst in II ^ eintritt, auch die Schüler, die gar keine
humanistische Reifeprüfung erstreben, gezwungen würden, ein Jahr lang ganz
zwecklos das Griechische anzutreiben. Einer so unlogischen Einrichtung ver¬
mögen wir keine lange Lebensdauer zu versprechen, sie würde wahrscheinlich
nur der Anfang für die Verschiebung des Griechischen nach II ^, d. h. der
Anfang vom Ende sein. Die Frage steht also sehr einfach so, und darüber
hilft keine Selbsttäuschung weg: entweder hat das Griechische und die von ihm
eröffnete „Kulturperspektive" für unsre höhere Bildung noch den hohen Wert,
den wir ihm zuschreiben, dann ist es die einfache Pflicht der Unterrichtsver¬
waltungen, ihm den unentbehrlichen Raum zu gewähren, oder es hat seinen
Wert verloren, und wir können ohne Griechisch bleiben, was wir waren, das
Volk mit der tiefsten und umfassendsten Bildung, das Volk Goethes und
Schillers, Kants und Humboldts, dann werfe man es entschlossen ganz über
Bord und begnüge sich mit „guten" Übersetzungen aus griechischen Schrift¬
stellern, rsrtium non clawr. Der Versuch, es zu halten, aber ihm Luft und
Sonne zu nehmen, bis es verkümmert, ist eine zugleich schwächliche und un¬
ehrliche Halbheit, ein jämmerliches Angstprodukt aus dem Bestreben, dem Un¬
verstande des lieben Publikums entgegenzukommen, und der Furcht, es möchte
doch schließlich schade drum sein, es ganz aufzugeben.
Allerdings schon deshalb, weil man nicht recht weiß, woraus die freiwerdenden
Stunden verwandt werden sollen. Soll ein Teil dem allein selig machenden
Turnen zugelegt werden? Wir sind für jede vernünftige Leibesübung, aber
auch gegen jeden sportmüßigen Betrieb nach dem beliebten englischen Muster,
denn unsre Gymnasien sind keine vornehmen Internatsschulen wie Eton, und
das Militärjahr ersetzt bei unsern Abiturienten zehnmal, was ihre englischen
Altersgenossen auf ihren Spielplätzen haben.' Mit der modischen Engländern
bleibe man also wenigstens unsern Schülern vom Leibe. Will man das Fran¬
zösische verstärken? Das ist schon seit 1892 genug verstärkt, und ein besondres
Bedürfnis, die Jngend noch tiefer in die französische Litteratur einzuführen,
liegt schwerlich vor. Oder das Deutsche? Um Gottes willen nicht, im Interesse
des Deutschen nämlich, denn die der deutschen Lektüre gewidmeten Stunden
sollen Erholungs- und Erbauungsstuuden sein, dürfen also uicht zu zahlreich
werden; verwandelt man sie in philologische Jnterpretationsstnnden, so ver¬
ekelt man den Schülern unsre klassische Litteratur. Oder Mathematik und
Naturwissenschaften? Aber für die allgemeine Bildung sind sie schon stark
genug; für den „praktischen" Bedarf braucht den mathematischen Schulunterricht
nur der künftige Mathematiker, Ingenieur u. ni. in., für die Zukunft der übrigen,
also der großen Mehrzahl, hat die Schulmathematik so wenig „praktischen"
Wert wie das viclgeschmähte Griechisch; sie vergessen sie rascher als dieses und
vermissen sie nicht einmal. Denn das steht nun ebeu fest: man kann ein ge-
bildete Mann sein, ohne daß man noch imstande ist, Gleichungen aufzulösen,
aber ohne Kenntnis der antiken Kultur ist mau es nicht. Also eine päda¬
gogische Notwendigkeit für die Verstümmelung oder Beseitigung des griechischen
Unterrichts liegt schlechterdings nicht vor, und die Rücksicht auf die Bequem¬
lichkeit des Übergangs vom humanistischen Gymnasium zu einer realistischen
Anstalt ist wieder ein rein äußerlicher Grund, der doch auch unter allen Um¬
ständen nur im Interesse einer kleinen Minderheit geltend gemacht werden kann.
Alles dies sind thatsächlich auch nur Scheingründe, der wirkliche Anstoß
zu dein Reformplan ist von einer ganz audern Seite gekommen, von
der Oberleitung des preußischen Militärbildungswesens aus. Wenn nämlich
den Abiturienten der Zentrnltadettenanstalt Groß-Lichterfelde mit ihrer Real-
gymnasialbildnng die Erlaubnis zum medizinische» Studium gegeben wird, so
kann sie den Nealgymnasiaste» füglich nicht vorenthalten werden. Das Latein
soll also dort verstärkt werden, lind da man sich in Preußen um einmal darauf
versteift, die neunklassigen höher» Schulen aller historischen Entwicklung zum
Trotz über einen Kamm zu scheren, so glaubt mau damit die Realgymnasien
den humanistischen Gymnasien so weit anzunähern, daß sie miteinander zum
Teil verschmolzen werden können, was min wieder die Berschiebnng des
Griechische» mindestens nach IIL zur Voraussetzung hat. Also, damit die
dreißig bis vierzig Selektaner von Groß-Lichterfelde Medizin und womöglich
auch Jura studieren können, soll das humanistische Gymnasium vollends ruiniert
werden! vlllioilö sse satiram von soridsro!
Das Gefährlichste aber ist nicht diese unbegreifliche Einmischung einer
Militärbehörde in die wichtigsten Frage» des höhern Unterrichtswesens, für
die sie so wenig kompetent ist, wie ein Unterrichtsministerium für deu Lehr¬
plan der Kadettenhäuser, sondern die dem Altertum, und namentlich dem grie¬
chischen Altertum abgewandte oder vielmehr geradezu feindselige Geistesströmung
der Gegenwart. In der Wissenschaft herrschen die Naturwissenschaften; be¬
rauscht von ungeheuern Erfolgen, die vielfach dnrch Einwirkung auf die Technik
die materielle Welt umgestaltet haben und weiter umgestalten, sehen viele ihrer
Vertreter mit Geringschätzung auf die Geisteswissenschaften herab, wenden auf
das Verhältnis beider mit Vorliebe den nicht ganz neuen Vergleich von dem
zwischen Sonne und Mond mi, »vollen ihre Methode auch den historisch-sprach¬
lichen Wissenschaften aufdränge», stellen keck auf ungenügender, weil einseitiger
Grundlage eine neue Weltanschauung auf, die allerdings das Schicksal aller
ältern Philosopheme teilt, ans — Hypothesen zu beruhen (denn „ins Innere
der Natur dringt kein erschaffner Geist"), und wollen ihre Wissensgegenstände
nun auch womöglich zum bevorzugte» Träger der allgemeine» Bildung machen.
Für diese Herren ist natürlich das Altertum, das nicht einmal das Pulver er¬
funden hat, obwohl alle Wissenschaften von den Griechen ausgegangen sind,
ein traurig zurückgebliebnes Zeitalter, die Beschäftigung mit Latein und Griechisch
eine frevelhafte Zeitvergeudung, ein unbegreiflicher Zopf.
Diese Auffassung findet nnn mich in immer weitern Kreisen um so bereit-
»villigere Aufnahme, als die deutsche Gegenwart, einem unwiderstehlichen Drucke
folgend, mit der Erweiterung der wirtschaftlichen Grundlage aufs eifrigste be¬
schäftigt ist und beschäftigt sei» muß, und als infolge dessen die materiellen
Interessen ungeheuer überwiegen. Sich um Fernerliegendes zu kümmern, sich
in geistige oder gar in litterarische und künstlerische Interessen zu vertiefen,
dazu hat die weit überwiegende Mehrzahl unsrer abgehetzten Kaufleute, Fabri¬
kanten und Beamten weder Zeit noch Lust mehr, kaum liest man überhaupt
noch ein ernstes Buch, für die meisten genügen Zeitungen und Journale. Von
der ganz unpolitischen, aber sonst höchst vielseitigen, tiefen und feinen Geistes¬
bildung der Zeit Goethes und Schillers sind wir heute unendlich weit entfernt,
wir sind ein abgearbeitetes, von tausend Einwirkungen hin und her geworfues,
nervöses Barbarengeschlecht geworden.
Selbst die Kunst hat sich vom Altertum völlig abgewandt. Die „Moderne"
will schlechtweg etwas ganz Neues, uoch nie Dagewesenes; sie hat mit Be¬
geisterung die in ihrer Formgebung doch schließlich primitive Kunst des ab¬
sterbenden Japanismus aufgenommen und die Griechen in die Rumpelkammer
geworfen; sie sucht nicht mehr das Schöne, sondern das Charakteristische,
sogar das Häßliche, Widerwärtige, denn sie will die Natur genau so wieder¬
geben, wie sie sie sieht; sie hat eine wahre Armeleutemalerei und Armeleute-
Plastik entwickelt, die uns das hoffnungsloseste Elend nackt und aufdringlich
vor die Augen rückt, als ob es nichts Erfreuliches mehr auf der Welt gebe,
genau so wie gefeierte Erzeugnisse der modernsten Dramatik, sie beginnt selbst
unsre Möbel und Zimmereinrichtungen umzugestalten, natürlich nach dem Vor¬
gange der Engländer, dieses phantasielosesten und »«künstlerischesten der Völker,
»ut sieht auf die schönen, wohlthuenden Formen der Renmssanee und der
Antike mit Verachtung herab. Es ist im Grunde eine ganz revolutionäre
Richtung, die bewußte Ablösung von aller Überlieferung. Keine ncnanf-
tretende Richtung in der Kunst ist jemals so Verfahren; jede hat bisher nur
die Tradition neuen Bedürfnissen gemäß umgebildet, aber sich nicht gewaltsam
von ihr losgerissen.
Kein Wunder nun, wenn diese Geistesströmung auch die leitenden Kreise
ergreift, und wenn sich, was ebenso wichtig ist, selbst auf humanistischer Seite
die Neigung regt, ihr Rechnung zu tragen. Friedrich Paulsen, der beste Kenner
der Geschichte des gelehrten Unterrichtswesens, hat in seinem übrigens vortreff¬
lichen Werke den historischen Nachweis zu erbringen versucht, daß die Ein¬
führung des Griechischen in dem modernen Umfange erst ein Werk des Neu¬
humanismus sei, der sein Bildungsideal damit den alten Lateinschulen aufgedrängt
habe, und daß dieser Unterricht, da man den modernen Fächern notgedrungen
habe Raum geben müssen, niemals sein wirkliches Ziel erreicht habe, also un¬
fruchtbar geblieben sei, demnach keinen Anspruch auf weitere Dauer erheben,
wu so eher wegfallen könne, als das Altertum immer mehr an Geltung für
unsre Kultur verloren habe. Die Vermutung, daß diese Ausführungen in einem
gewissen Zusammenhange mit der Schulreform steh» und diese durch einen
objektive» historischen Beweis vorbereiten sollen, liegt recht nahe. Dazu hat
ganz neuerdings einer unsrer geistvollste» Universitätsphilologen einen sehr
interessanten Plan aufgestellt, wie man in vier Jahren griechischen Unterrichts
das Ziel, in die griechische Litteratur und Kultur allseitig einzuführen, er¬
reichen könne. Uns beschränkten Schulmeistern imponiert das alles nicht; Nur
sind der schlichten Meinung, daß Universitätsprofessoren, die der Schule praktisch
ganz fern stehn, über das, was sie leistet und leisten kann, was ihr taugt und
was ihr uicht taugt, kein maßgebendes Urteil haben. Aber auf Sachunkundige
wirken solche scheinbar ganz besonders „autoritativen" Kundgebunge» sehr stark,
und deshalb sind sie wichtig, wenngleich bedauerlich. Einer der einflußreichste»
Staatsmänner Pre»ße»s »»d Deutschlands, der Finanzminister Miguel, der
frühere Oberbürgermeister vou Frankfurt a, M,, gilt als ein besonders eifriger
Verfechter einer solchen moderuisiereuden Schulreform, und man traut ihm zu,
daß er am liebsten das Griechische ganz hinausweisen und selbst das Lateinische
zum wahlfreien Fache »lachen »kochte, und vom Kaiser nimmt man in Preuße»
allgemein an, daß er eine weitgehende Modernisierung der höhern Schulen
für wünschenswert und notwendig halte.
Er ist, wie bekannt, kein Gönner der „Modernen" in der Kunst, was
ihm vou i»a»cher Seite zum Vorwurf gemacht wird, er ist anch himmelweit
entfernt von jeder materiellen Lebensauffassung und voll vou vielseitigsten
geistigen Interesse», aber er ist ein moderner Mensch, er verfolgt die Ent¬
wicklung unsrer Volkswirtschaft mit regsten Anteil und ist durchdrungen von
der Notwendigkeit, Deutschland zur Weltmacht zu erhebe». Er hegt deshalb
für die Technik das lebhafteste Interesse, hat die technische» Hochschulen im
Range den Universitäten gleichgestellt und ihnen die Erlaubnis zur Doktor-
promotio» gegeben, wogegen sachlich gar nichts zu sagen ist. Leider hat er
ihnen nicht zugleich auch die Form des »me» Titels vorgeschrieben, sonst
wären die technischen Hochschulen davor bewahrt gebliebe», de» Ma»gel a»
humanistischer Bildung gleich beim Beginn der neuen Ära durch das allem
Sprachgefühl hvhusprecheude Wortscheusnl „Doktor-Ingenieur" augenfällig zu
erweisen, bei dem man nicht recht weiß, ob das ein Ingenieur für Doktoren
oder ein Doktor für Ingenieure sein soll, und mir dunkel ahnt, daß es un¬
gefähr so z» versteh» ist wie das russische „Zar-Befreier."
Bei dieser Gesinnung des Kaisers liegt die Gefahr nahe, daß er auch in der
Schulfrage von den der noter»isierende» Richtung widersprechenden Stimme»
z» wenig hört, oder daß sie ihm als Äußerungen einer zurückgebliebne» Minder¬
heit nicht beachtenswert erscheinen, und daß er einem großen Fortschritt Bahn
zu brechen glaubt, wenn er seinen starke» und mächtigen Willen für die Schul¬
reform einsetzt. Aber auch der reinste, stärkste und edelste Wille eines Einzelne»
kann hier nur Unheil anrichten, wenn er von einer einseitigen Auffassung ge¬
leitet wird, und deshalb hat er in Sache» des geistigen Lebens überhailpt
nicht das Recht der alleinigen Entscheidung, den» hier kann jede Auffassung
mir einseitig sein.
Kommt schon jeder wahre Fortschritt nur durch einen Kompromiß zwischen
dem Alten und dem Remer und znüschen den verschiednen Richtungen dieses
Neuen zustande, »in wie viel mehr auf dem Gebiete des Schulwesens! Die
Schule ist eben an sich etwas ganz andres als jede andre öffentliche Institution.
Ein Richter oder ein Beamter hat es immer nur mit einzelnen, nnter sich gar
nicht oder nur lose zusammenhängende» Geschäften zu thun und tritt zu denen, die
dabei beteiligt sind, in gar leine innern Beziehungen, legt anch von dem Wesen
seiner Persönlichkeit in seine Arbeit wenig hinein, ja er soll eS gar nicht thun,
seine Entscheidung soll vielmehr streng objektiv sein. Die Schule arbeitet viele
Jahre lang auf ein Ziel hin, ans die intellektuelle und sittliche Ausbildung
jedes ihrer Schüler, bei jedem arbeitet eine größere Anzahl von Lehrern zu¬
sammen, und was sie erreichen, das soll die geistige Grundlage für das Leben
der Schüler sein. Das ist nicht möglich, ohne daß der Lehrer mit seiner ganzen
Persönlichkeit eintritt; mit ihr wirkt er fördernd und hemmend ans jeden einzelnen
Schüler, nicht Wochen- und monatelang, sondern jahrelang. Also ist der innere
Anteil nu der Schularbeit für jeden einzelnen ungleich größer, als an irgend
welchem Geschäft, und der innere Zusammenhang der Persönlichkeit des Lehrers
einerseits mit den Schüler», andrerseits mit seiner Arbeit ist ganz unvergleichlich
feiner und enger als etwa der eines Verwaltungsbeamten mit dem Verwaltnngs-
gegenstande. Jede tiefergreifende Berändernng in der Organisation der Schule
wirkt demnach sofort umgestaltend ans ganze Generationen, und vollzieht sich
eine solche Berändernng im Widerspruche mit der Grundanschauung derer, die
sie vertreten und durchführen solle», der Lehrer, so wird sie zum Unsegen für
beide Teile, den» sie wird da»» selbstverständlich widerwillig, also schlecht
durchgeführt. Jahrzehntelang haben wir Gymnasiallehrer, vor allem die Philo¬
logen, die Empfindung gehabt, die Prügeljungen für andre zu sein. Die Realisten
haben, um ihren Ansprüchen Raum zu schaffen, die unschöne Taktik verfolgt,
nicht mir unsre Leistungen, sondern anch die pädagogische Bedeutung der huma¬
nistischen Fächer herabzusetzen, während es ans humanistischer Seite niemand
eingefallen ist, die Stellung der exakte» Wissenschaften im Lehrplane anzutasten.
Die Universitäten haben uns mangelhafter Vorbereitung bald für das eine,
bald für das andre Fachstudium angeklagt, als wenn die Gymnasien direkt für
alles mögliche vorbereiten sollten und die 'Aufgabe hätten, den angehenden
Mediziner oder Juristen gerade so zuzurichten, daß er in das Kolleg deS Herrn
Professors genau hineinpaßt. Die Zeitungen endlich haben uns hartnäckige,
unvernünftige Pedanten gescholten, die mir deshalb an dem alten Kram fest¬
halte,,, weil sie nichts andres gelernt haben und es einmal ihr Handwerk ist,
Latein und Griechisch zu pauken. Welche Wirkung die preußische „Schulreform"
von 1892 auf die Stimmung der dortigen Gymnasialphilologeu ausgeübt hat,
wie sehr sie ihnen alle Berufsfreudigkeit genommen hat, das hat die von uns
in der Einleitung zitierte Stimme — eine von taufenden! — deutlich erwiesen.
Wie sehr sich die Wirkung bei einer abermaligen Verkürzung der humanistischen
Fächer steigern würde, das ist leicht zu ermessen. Und mit diesen Tausenden
von verstimmten, nnlustigeu, widerwilligen Leuten, die überzeugt sind, daß es
so nicht gehn kann, wie es ihnen vorgeschrieben ist, will man eine „Reform"
durchführen? Würde man etwa eine grundstürzende Reform des Exerzier¬
reglements wagen, wenn man wüßte, daß die große Mehrheit des Offizier¬
korps sie für unzweckmäßig hielte? Und doch handelte es sich dabei nur um
Dinge, die den innern Menschen gar nicht berühren. Von diesen selbigen
Gymnasiallehrern aber wird auch erwartet und gefordert, daß sie aus voller
Überzeugung und mit patriotischer Wärme für Kaiser und Reich, für König
und Vaterland eintreten und die Jugend dafür begeistern. Wie können sie
das, wenn man in ihnen geradezu planmäßig eine oppositionelle Stimmung
erweckt? Dergleichen läßt sich eben nicht kommandieren. Die deutsche Monarchie
hat schon einmal zu spüren gehabt, was es für sie bedeutete, daß die wissen¬
schaftlich Gebildeten ihr gleichgiltig oder abgeneigt gegenüberstanden, in der
Zeit, wo der junge Vismarck „als normales Produkt unsers staatlichen Unter¬
richts als Pautheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Über¬
zeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei," sein Gymnasium
verließ. Ist es in unsrer Zeit rütlich, ähnliche Stimmungen hervorzurufen,
einen Stand, dessen Königs- und Vaterlandstreue über allen Zweifel erhaben
ist, geradezu mutwillig mit Mißstimmung und Gleichgiltigkeit zu erfüllen?
Uns außerpreußische Deutsche geht dabei aber noch etwas ganz andres
nahe. Wir Ältern, die wir die Zeit der Reichsgründung mit Bewußtsein er¬
lebt haben, die wir uns für die Einigung Deutschlands unter preußischer
Führung zu einer Zeit begeistert huben, wo das nicht ganz leicht war, wir
sehen mit peinlicher Empfindung, wie das Ausehen Preußens im Reiche, und
wie sogar die Sympathien für den Kaiser, den wir so gern überall und in
allen Standen mit Hellem Jubel als den Führer der Nation auf neuen Bahnen
begrüßt sehen möchten, gerade in den Kreisen wissenschaftlich Gebildeter, durch
unglückliche Experimente auf einem Gebiete, wo man überhaupt nicht experi¬
mentieren soll, erschüttert werden, und wir fragen besorgt: Wo soll das hinaus?
Entspricht es etwa der Tradition der Hohenzollern, materiellen Interessen und
der wechselnden öffentlichen Meinung zuliebe ideale Güter der Nation preis¬
zugeben? In der allcrtrübsten Zeit, der allergrößten Not hat Friedrich Wil¬
helm III. die Universität Berlin als eine Pflanzstätte reiner Wissenschaft be¬
gründet; wird sein Urenkel in einer Zeit der Machtfülle und des Glanzes das
humanistische Gymnasium, eine Erbschaft jeuer Zeit des Neuhumanismus und
unsrer klassischen Dichtung zerstören wollen? Der oivium -rräor prava iubentium
hat ihn doch niemals bekümmert.
Zum Schlüsse mag unser eignes Reformprogramm noch in zwei kurzen
Sätzen folgen: 1. Jede Verschmelzung des humanistischen Gymnasiums mit
dem Realgymnasium und jede Verkürzung des Griechischen ist abzulehnen.
2. Den Abiturienten der Realgymnasien ist der Zutritt zum medizinischen und
juristischen Studium zu eröffnen. Für eine solche „Schulreform" dürften die
Unterrichtsverwaltnngen der Mittelstaaten zu haben sein, für die jetzt in Preußen
geplante sind sie ganz bestimmt nicht zu haben, und sie glauben mit dieser
ablehnenden Haltung der deutsche» Geisteskultur einen wichtigen Dienst zu er¬
weisen, den ihnen dereinst das Vaterland danken wird,
le beiden besprochnen Stücke waren dramatisierte nordische Sagen,
Frau Jnger auf Östrot mutet etwas moderner an, denn es
hat einen historischen Hintergrund, der dem sechzehnten Jahr¬
hundert entnommen ist, und verläuft als Jntrignenstück; deshalb
nehme ich dieses Drama nach den andern beiden vor, obgleich
es vor ihnen, 1855, entstanden ist. Die Kalmarer Union ist aufgelöst, Schweden
hat sich, zuerst unter den beiden Seen Stures, dann unter Gustav Wasa selb¬
ständig gemacht. In Norwegen gard es; auch hier möchten die Bauern das
drückende Dänenjoch abschütteln, aber ihre Führer, die Adlichen, sind teils von
den Dünen ermordet worden, teils irren sie als Flüchtlinge in den Wäldern,
teils haben sie sich von dem Dänenkönig gewinnen lassen. Zu den wenigen,
auf die das Volk hofft, gehört die kluge und reiche Fran Jnger, An der
Bahre ihres von den Dänen erschlagnen Vaters hat sie als siebzehnjährige
Jungfrau den Dänen Rache geschworen. Sieben Jahre lang hielt sie ihren
Schwur, organisierte den heimlichen Widerstand, schützte die Bedrängten und
Verfolgten, wies jeden Freier ab, Dn kam Seen Stnre (jedenfalls ist der
zweite dieses Namens gemeint), ein Urbild schöner und edler Männlichkeit, als
geringer Kriegsknecht verkleidet, um zwischen den schwedischen und den nor¬
wegischen Freiheitskämpfern eine Verbindung herzustellen. Einen Winter lang
lebte er unter ihrem Dache mit ihr. „Einen so schönen Mann hatte ich nie
zuvor gesehen, und ich war fast fünfundzwanzig Jahre alt geworden! Im
nächsten Herbst kehrte Seen Sture wieder, und als er dann fortzog, nahm er
heimlich ein zartes Kindlein mit sich," Kein Mensch, außer dem schwedischen
Kanzler Peter, dem Sture das Kind anvertraute, erfuhr etwas davon. „Nicht
die bösen Zungen der Menschen fürchtete ich, aber es hätte unsrer Sache ge¬
schadet, wenn es ruchbar geworden Ware, daß Seen Stnre mir so nahe stand."
Diese Sache war aber, soweit es auf sie ankam, sowieso verloren, Sie über¬
trug die leidenschaftliche Liebe, die sie zu dem Vater empfunden hatte, auf deu
in der Ferne weilenden Sohn, und die Sorge um dessen Leben lähmte sie.
Sie fürchtete, wenn das Geheimnis herauskäme, würde sich jede der beiden
Parteien des Kindes zu bemächtigen suchen, um sich der Treue der Mutter zu
versichern, und da sie in ihrer schwierigen Lage zwischen den norwegischen
Patrioten und den dänischen Herren nicht anders konnte, als beiden Grund
zum Verdacht zu geben, so wäre das Leben des Kindes gefährdet gewesen, in
wessen Hände es auch fallen mochte. So schwankte sie seitdem ratlos und
von Gewissensbissen gepeinigt hin und her und blieb unthätig in jedem Auf¬
ruhr, ließ es geschehn, daß die Besiegten aufs Rad geflochten wurden. Dennoch
tränken ihr die Dänen nicht und ängstigten sie mit Drohungen. „Zuweilen
war mirs, als ob Gott selbst mich riefe; aber dann kam jene tödliche Angst
wieder über mich und lähmte allen Willen." In solcher Stimmung reichte sie,
um sich zu sichern, dem dänischen Reichshofmeister Gyldenlvve die Hand, um
die er warb. Nun folgten stille Jahre, in denen niemand mehr einen Auf¬
stand wagte. „Es gab Stunden, wo ich Ekel vor mir selbst empfand. Denn
was war mein Thun? Nichts, als mich von Angst martern, mich verhöhnen
lassen und Tochter zur Welt bringen. Meine Töchter! Gott wolle nur ver¬
zeihen, wenn ich für sie kein Herz habe! Die Pflicht der Gattin war für
mich Frondienst. Wie konnte ich dn meine Töchter lieben? O, mit meinem
Sohne war das anders! Er war das Kind meiner Seele. Er war das
einzige, das mich an jene Zeit gemahnte, dn ich Weib war und nichts als
Weib. Er wuchs auf unter Fremden, die vielleicht die Smal der Verderbnis
in seine Seele streuten! Olaf Skaktavl jef ist dies ein Verbannter, vor dem
sie sich durch die Erzählung ihrer Geschichte rechtfertigt^ hätte ich, gleich Euch,
gehetzt und einsam in Wind und Wetter über Berg und Thal wandern müssen,
und hätte dabei mein Kind im Arm gehabt, glaubt mir, ich hätte nicht so
bitter geweint und geklagt, als ich um ihn von der Stunde seiner Geburt um
bis auf den heutigen Tag geweint und geklagt habe." Eine ihrer Töchter
hat sie nach dem Tode des Mannes an einen Dünen verheiratet, ein andrer
Däne, der Diplomat und Don Juan Reichsrat Nils Lykke, hat das Herz der
zweiten Tochter gebrochen, sodaß sie gestorben ist, von der dritten Tochter,
Eure, die den Geist der Mutter geerbt hat und deren Haltung nicht versteht,
wird sie verachtet und gehaßt als eine Abtrünnige, und als sich dieser Lykke,
im Anfang des Stücks, zum Besuch anmeldet, erwägt Jnger, ob sie nicht
zwischen ihm und Eure eine Heirat stiften soll.
Lykke kommt gerade zurecht, Frau Jnger an einer That zu hindern, die
sie doch noch zuguderletzt vor den Dänen ernstlich kompromittiert haben würde.
Seen Sture hat nach dem Abenteuer auf ihrem Schloß geheiratet und bei
seinem Tode einen rechtmäßigen Sohn desselben Namens hinterlassen. Dieser
tritt als Prätendent gegen Gustav Wasa auf, der mit den Dänen Frieden und
Bündnis geschlossen hat. Die Dalekarlier erheben sich für ihn, und Frau Jngers
Leute wollen sich dem Aufruhr anschließen. Schon hat sie, ihrem Drängen
nachgebend, die Erlaubnis erteilt und den Bauern die Rüstkammern geöffnet,
aus der sie sich Waffen holen, als der Brief kommt, der Lykke anmeldet und
sie bestimmt, die Erlaubnis zurückzunehmen. Die Wirrnisse und Intriguen
ausführlich darzulegen, die aus der gleichzeitigen Ankunft Lykkes, eines schwe-
dischen Obersten und des geächteten norwegischen Edelmanns Stattavl entstehn,
ist für unsern Zweck nicht notwendig; es genügt, kurz anzugeben, wodurch die
Katastrophe herbeigeführt wird. Der schwedische Oberst hat den Auftrag, Seen
Stnre auf Östrvt, wo man ihn vermutet, zu fangen. Seen Sture aber ist
seit ein paar Wochen tot, was niemand weiß, als der Kanzler Peter, der den
jungen Bauern Nils Steusson den Grafen Stnre weiter spielen läßt, Stensson
ist nämlich dem jungen Sture sehr ähnlich, aus dem einfachen Grunde, weil
er, was er uicht ahnt, ebenfalls ein Sohn des alten Sture ist, derselbe, den
diesem Frau Jnger geschenkt hat. Dieser Bastard ist ein harmloser, fröhlicher
Bursch, der, wie die Bauern ihn durchaus zum Grafen macheu »volle», es sich
gefallen und sich den Braten und den Wein, den ihm seine Rolle einbringt, gut
schmecken läßt. Der Kanzler Peter schickt nun diesen Stensson nach Östrot
mit einem Briefe, der das Geheimnis seiner Geburt enthüllt, und bestellt eben
dahin den Norweger Skaktavl, der den Brief in Empfang nehmen, der Fran
Jnger ihren Sohn übergeben und sie durch Dankbarkeit fest an die Sache der
Ausländischen ketten soll. Den Mann und seinen Brief aber fängt Lhlke ab,
enthüllt ihm auch das Geheimnis, sagt ihm, daß er nun im Ernste Kron¬
prätendent sei, läßt ihn aber schworen, nichts davon zu verrate«, bis er ihn
von seinem Eide entbinden werde. Der Frau Jnger wird Stensson als der
gesuchte Sture vorgestellt, und sie läßt ihn ermorden, weil sie, durch Lykkes
Darstellung irre geführt, nur ans diese Weise ihrem Sohne das Leben sichern
zu können glaubt. An Stures Ringe, der an der Hand des Erstochnen be¬
merkt wird, erkennt sie ihren Sohn. Sie wirft sich über die Bahre. Helft,
helft, Herrin, was fehlt Euch? ruft ihr treuer Diener Björn. „Was mir fehlt?
Noch ein Sarg. Ein Grab bei meinem Kinde." Das Stück ist reich an schönen
Stellen und feinen Charakterzügen. Stensson ist aus dem Kampfe mit den
Vor dem Schlosse liegeudeu Schweden entflvhn. Jetzt, wo er eine solche
Mutter, die Erinnerung um einen herrlichen Vater und die Aussicht auf einen
Thron hat, ist sei» leichter Sinn dahin, ist ihm das Leben wert; wie sehnt
er sich, die schöne und hohe Frau Jnger als Mutter zu begrüßen, aber der
Eid zwingt ihn, die Rolle des verstorbnen Grafen bis zu Eude zu spielen.
Die Schweden stürmen das Thor. O Jesus, ruft Steusson, „aber nein nein,
ich kann nicht, ich will nicht sterben!" Jnger: „Und wenn sie das Schloß
durchsuchen?" Stensson: „Ja ja, so werden sie mich finden! In Gefangen¬
schaft geschleppt werden — an den Galgen — o nein, Jnger Ghldenlöve, ich
weiß cMnß, das werdet Ihr nicht dulden!" Das Schloß des Thores wird
gesprengt. Steusson: „Und jetzt mein Leben lassen, jetzt, dn es erst beginnen
soll! Nein, nein, nein! Glaube nicht, daß ich feig bin, Jnger Ghldenlöve!
Wenn mir nur noch so viel Lebenstage vergönnt wären, daß ich —". Auch
i» diesem Drama finden wir nicht eine Spur von Ungesunden. Die Personen
sind, mit alleiniger Ausnahme eines von den Dänen erkauften Dieners der
Schloßherrin, sympathisch und edel, auch Lykte ist kein Bösewicht, sondern nur
eben der Repräsentant, und zwar ein ungewöhnlich liebenswürdiger, des Hof-
lingsvvlkes jener Zeit, dessen Durchschnitt in jeder Beziehung noch einige
Stufen tiefer stand als Ibsens Lyk'ke, Der tragische Ausgang wird, zwar
nicht ohne Schuld der Personen, der Hauptsache nach doch durch verhängnis¬
volle Mißverständnisse herbeigeführt. Höchstens wäre zu rügen, daß Stensson,
der gar nichts verschuldet hat, in dem Augenblicke sterben muß, wo ihm der
Tod am furchtbarsten ist, und er sich nicht einmal der nahen Mutter zu er¬
kennen geben kann, wodurch die poetische Gerechtigkeit verletzt wird, die ja er¬
gänzen soll, was in der Wirklichkeit fehlt.
Viel bedeutender ist der im Jahre 1864 herausgegebne Kronprätendent,
ein wirkliches historisches Drama, das sich Shakespeares Königsdramen an die
Seite stellen dürfte, wenn — Norwegen England wäre. Wie weit sich Ibsen
an die Geschichte gehalten hat, kommt hier nicht in Betracht; es genügt, zu
bemerken, daß die Hauptereignisse des Dramas und der Charakter des Königs
treu geschichtlich siud, daß jedoch Züge aus frühern Abschnitten der norwegischen
Geschichte mit aufgenommen, weit auseinander liegende Ereignisse einander
nahe gerückt siud, und daß der Bösewicht des Stücks, der Bischof Nikolas,
ein Geschöpf der Phantasie Ibsens ist. Hakon V. — das ist kurz der Inhalt
des Stücks — hat die Rechtmäßigkeit seiner Geburt dadurch bewiesen, daß sich
seine Mutter Inga der Probe des glühenden Eisens unterwirft. (In Wirklich¬
keit hat sie sich mir angeboten, das Volk aber hat ihr ohne die Probe ge¬
glaubt; der Streit um die eheliche Geburt der Prätendenten und die Ent¬
scheidung durch ein Gottesgericht kommt in der wilden und wirren Geschichte
des Landes häufig vor.) Hakon wird auf dem Reichstage zu Bergen ein¬
stimmig zum Könige gewählt. (Es ist das im Jahre 1223 geschehen.) Er
entläßt seine Geliebte und schickt seine Mutter ins Kloster, weil ein König,
der seine hohe Aufgabe erfüllen wolle, nichts in seiner Nähe dulden dürfe,
was seinem Herzen teurer werden könnte als das Staatswohl, und heiratet
Margrete, die Tochter des nächstberechtigten Kronprätendenten, des Jarl Stute,
der während seiner Minderjährigkeit als Vormund und Reichsverweser gewaltet
hat. Diesem Stute tritt er den dritten Teil des Reichs mit der Residenz
Drontheim ab und verleiht ihm den Herzogtitel. Nachdem Hakon in seinem
Anteil mit Kraft und Umsicht Ruhe und Ordnung hergestellt hat, fordert Stute
die Hälfte des Reichs, und da das Hakon verweigert, greift er zu den Waffen
und will Alleinherrscher werden. Er siegt einmal, wird aber dann von den
Birkebeinern geschlagen und von den Bürgern von Nidaros (Drontheim) er¬
mordet. (Der Parteiname „Birkebeiner" war entstanden, als die Anhänger
des Prätendenten Egstein Meylas um 1170 nackt und bloß, die Beine mit
Birkenrinde umwickelt, von Beeren und Birkensaft lebend, in den Wäldern
hausten.)
Das Große in diesem Stück sind die Charaktere der drei Hauptpersonen.
Hakon ist ein gottbegnadigter Mann voll Kraft und Milde, von klarer Ein¬
sicht in die Lage des Landes und in das, was sie fordert, erfüllt, und was
die Hauptsache ist: von dein unerschütterlichen Glauben beseelt, daß ihn Gott
berufe» habe, den Wirrnisse« und der Selbstzerfleischung des Volkes ein Ende
zu machen, das Werk des heiligen Olaf und Harald Haarfagers zu vollenden
und alle Norweger zu einigen. Als Stute die Teilung fordert, antwortet er:
„Jede baumlose Insel ist ein Stein in dem Gebäude, das Harald Haarfager
und der heilige König Olaf zusammengefügt haben; und Ihr wollt, daß ich
auseinander reiße, was jene aufgebaut haben? Nimmermehr. . . . Verblendeter
Mann! Ich kann nicht anders, als Euch bedauern. Ihr meint, der Ruf des
Herrn treibe Euch empor zum Königsthron, und seht nicht, daß es nur Eure
Hoffart ist. Was ists denn, das Euch lockt? Der Königsreif, der Purpur-
mantel, das Recht, drei Stufen über alle andern erhöht zu sitzen — wie elend,
elend! — Wär König sein nur das, ich würfe Euch das Königtum in deu
Hut, wie ich dem Bettler ein Scherflein zuwerfe. . . . Ihr habt die herr¬
lichsten Geistesgaben, Scharfsinn und Mut, Ihr seid dazu geboren, dein König
am nächsten zu stehn, doch nicht selber König zu sein." Er, Hakon, habe seine
göttliche Berufung durch die schon vollbrachten Thaten bewiesen. Das Reich
gleiche einer noch nicht geweihten Kirche. „Die Mauern streben auf starken
Pfeilern empor, das Gewölbe spannt sich hoch darüber, der Turm weist gen
Himmel; aber das Leben, das pochende Herz, der frische Blutstrom durchzieht
nicht das Werk; der lebende Odem Gottes ist ihm nicht eingehaucht; es hat
nicht die Weihe empfangen. Ich werde ihm die Weihe bringen! Norwegen
war ein Reich, jetzt soll es ein Volk werden! Der Drvntheimer stand auf
Wider den Vikvaeringer, die Leute von Agde gegen die Hördaländer; der Be¬
wohner von Halvgaland gegen den Sogndöller; fortan sollen alle eins sein,
und alle sollen fühlen und wissen, daß sie es sind! Das ist die Arbeit, die
Gott auf meine Schultern gelegt hat." Und in einem darauf folgenden
Monolog: „Mir trotzen heißt dem Himmel trotzen; es ist meine Pflicht, jeden
zu strafen, der sich dem Willen des Himmels widersetzt — der Himmel hat
so viel für mich gethan." Stules Empörung macht ihn im Glauben an seinen
Beruf nicht irre, aber er fragt sich, durch welche Sünde er diese Züchtigung
verdient habe. Da bittet seine Mutter um Einlaß, während die Gattin erklärt,
sie wolle ihm folgen, obgleich es ihr geliebter Vater ist, gegen den sich der
König wenden müsse. Da ruft er: „Meine Mutter! Wie ein Hund auf der
Schwelle ihres Sohnes! Und ich frage, weshalb Gott mich straft! . . . .
Margrete, meine Mutter! Ich habe schwer gesündigt, ich hatte euch beiden
mein Herz verschlossen, die ihr so reich an Liebe seid!"
Stute, von Ehrgeiz verzehrt, kann zeitlebens nicht ins klare kommen
über seinen Beruf. Immer ist er dem Gipfel nahe und kann nicht hinauf.
Er verlangt die Hälfte des Reichs — um seiner Seele willen, weil er weiß,
daß er sich empören und dadurch sündigen wird, wenn ihm die Forderung ab¬
geschlagen wird. Er hat vielleicht ein Recht auf das Ganze, die Feuerprobe,
die Inga bestanden hat, überzeugt ihn nicht; er hat Grund, zu zweifeln. Sein
Recht wird ihm wahrscheinlich, aber nicht gewiß; um es sich moralisch zu
sichern, nimmt er den Königsgedauten Hakons, den er anfangs für Wnhn-
Sinn und für eine» Tenfelsgednulen gehalten hat — denn der Bürgerkrieg sei
für Norwegen der natürliche Zustand, nie habe man es anders gewußt —, in
seine Seele auf. Nun ist er der von Gott Berufne, aber er wird das Be¬
wußtsein nicht los, daß er diesen Gedanke» gestohlen und kein Recht darauf
hat. An Hakon glauben die Menschen; er, Stute, hat wohl beutegierige
Krieger und Zechgenossen, aber nicht einen Manu, der an ihn glaubte. Den
Statten Jatgejr will er als Gläubigen gewinnen. Er fragt ihn: ob es wohl
vorkomme, daß ein Weib ein fremdes Kind liebe? Ja; das thun Frauen, die
keine eignen haben, besonders unfruchtbare. Ob es nicht auch vorkomme, daß
die Unfruchtbare das Kind einer andern töte — aus Neid. „Wohl, doch
daran thut sie nicht klug." Nicht klug? „Nein; denn sie verleiht der andern
die Gabe des Schmerzes." Stute: „Glaubst du, daß die Gabe des Schmerzes
etwas gutes sei?" Jatgejr: „Ja, Herr." Stute: „Wenn ich dich toten ließe,
würde dann jeder ungeborne Dichtergednnke, den du in deiner Brust trägst,
mit dir sterben?" Jatgejr: „Herr, es ist eine gewaltige Sünde, einen schönen
Gedanken zu töten." Stute: „Hast du nie einen Freund besessen, der auch
Stätte war, und hat er dir nie ein großes, herrliches Lied geschildert, das er
dichten wollte?" Jatgejr: „Doch, Herr." Stute: „Und hast du nie gewünscht,
daß du ihn töten könntest, um seinen Gedanke» für dich zu nehmen und selbst
das Lied zu singen?" Jatgejr: „Herr, ich bin uicht unfruchtbar; ich habe
eigne Kinder; ich brauche die der andern nicht zu lieben." Stute verlangt
nach einem Wesen, das ihm, und ihm allein, »»bedingt ergeben wäre. Jatgejr:
„Kauft Euch eine» Hund, Herr." Stute will aber einen Menschen; der Stätte
soll dieser Mensch sein; er soll seine Lieder opfern, und Stute will ihn adop¬
tieren; denn er hat keinen Sohn, und die Norweger haben einen König nicht
gern, der die ordnungsgemäße Nachfolge nicht verbürgen kann. Der Stätte
mag seine Lieder nicht opfern, auch die ungebornen nicht, denn die seien die
schönsten; das wäre ein zu hoher Preis für den Thron. Stute: „Aber ich
muß, muß einen Menschen haben, der an mich glauben kann! Nur einen ein¬
zigen! Ich fühle es — wenn ich den habe, bin ich gerettet." Jatgejr:
„Glaubt an Euch selbst, dann seid Ihr gerettet." Stute findet den einen, den
er braucht. Es ist sein unehelicher Sohn Peter, von dessen Dasein er keine
Ahnung gehabt hat. Die Mutter vertraut ihn: den Jüngling an, unter der
Bedingung, daß er dessen Seele nicht Schaden leiden lasse, denn er ist ein
Kleriker und rein wie ein Lamm. Peter ist in der Verehrung Skules auf¬
gewachsen, er fühlt sich beglückt durch die Mitteilung, daß der verehrte Mann
sein Vater sei, er sieht fortan seine Lebensaufgabe darin, ihm als Werkzeug
zu dienen, und der große Königsgedanke Stilles steigert seine Begeisterung aufs
höchste. Da Stute von Gott berufen ist, muß alles Gott wohlgefällig sein,
was Stute befiehlt, oder was seineu Zwecken dient, und so beginnt Peter seine
Wirksamkeit im Dienste des Vaters mit einem Sakrileg, indem er, nicht achtend
den Bannfluch des Bischofs, deu Schrein des heiligen Olaf vom Altar hinweg-
reißt und auf die Huldiguugswiese schleppt, um dem Treueid, den sein Vater
entgegennehmen sott, Kraft und Giltigkeit zu verleihen, und er endet mit einem
Anschlag ans das Leben des Söhnchens des rechtmäßigen Königs, Stille,
von seiner frommen Schwester zur Buße gemahnt, halt ihn von dem Verbrechen
ab dnrch die Enthüllung, daß er den Königgedanken dem Hakon gestohlen habe,
und daß dieser der von Gott Berufne sei, und beide liefern sich, um größere
Übel abzuwenden, denen ans, die ihren Tod fordern. Hakon spricht an des
Prätendenten Leiche: „Er wurde von allen falsch beurteilt; er war ein Rätsel."
Sein Begleiter: „Ein Rätsel?" Hakon: „Stille Bordson war ein Stiefkind
Gottes auf Erden; das war das Rätsel an ihm."
Wollte das Feuer unheiligen und unverständigen Ehrgeizes einmal in
Stute erlöschen, so schürte es der Bischof Nikolas: einer der großartigsten
Bösewichter, die in Dichtergehirncn ausgebrütet worden sind, interessanter und
origineller als Shakespeares Richard III. Er verhetzt die Mannen Hakous
und Stilles; er giebt beiden Ratschläge, die neue Verwicklungen herbeiführen.
Er wird nicht müde, Stille seine Halbheit und Unentschlossenheit vorzuwerfen.
Dieser gesteht, daß er es nicht gewagt habe, Hakon umzubringen, als er noch
ein Kind war und unter seiner Vormundschaft stand. Das ist der Fluch, sagt
ihm Nikolas, „der ans Euerm Leben liegt. Ihr wollt für den Notfall jeden
Weg offen wissen, Ihr wagt nicht, alle Brücken bis auf eine abzubrechen, diese
allein zu verteidigen und dort zu fallen oder zu siegen. Ihr streut Euerm
Feinde Gift in alle Schüsseln und spannt hundert Netze, will er aber in eins
hineinfliegen, so wagt Ihr nicht, die Schnur anzuziehen; greift er nach dem
Gift, so dünkt es Euch sichrer, daß er durchs Schwert falle." Er redet ihm
die Gewissensbedenken aus. Vater, Mutter, Weib, Kind darf man in die
Unter stoßen, um sich selbst zu rette». Wer Kraft und Lust zum Leben hat
und seine Kraft gebraucht, der hat Recht. „Es giebt weder Gutes noch Böses,
weder Oben noch Unten, weder Hoch noch Niedrig. Diese Worte müßt Ihr
vergessen, sonst werdet Ihr niemals den letzten Schritt thun, niemals die Kluft
überspringen. . . . Erhebt Euch, Mann! Richtet Euch empor! Wozu ward
Euch sonst Eure unbändige Seele? Vergeht nicht, daß die erste Großthat in
dieser Welt von einem vollbracht wurde, der sich gegen ein gewaltiges Reich
empörte." Stute: „Wer war das?" Bischof: „Der Engel, der sich wider
das Licht erhob, der in den Abgrund gestürzt' wurde und dort ein Reich auf¬
baute, ein König ward, »nichtiger als irgend einer der zehntausend — Jarle
dort oben." Und da Stute nicht über den Umstand hinwegkann, daß Hakons
echte Geburt durch die Eisenprobe seiner Mutter festgestellt sei, erregt ihm der
Versucher Zweifel an der Beweiskraft dieser Probe. Der echte Hakon könne
als kleines Kind vertauscht worden sein. Nur der Priester wisse es, dem das
Kind im ersten Lebensjahr anvertraut worden sei, von ihm werde man vielleicht
noch Gewißheit erlangen. Den Brief dieses Priesters verspricht der Bischof
unmittelbar vor seinem Tode dem Prätendenten zu geben. In der Sterbe¬
szene zeigt sich Ibsens Kunst auf ihrer höchsten Höhe. Nikolas ist ein Teufel,
aber noch kein vollendeter; er fürchtet sich noch vor der Hölle. Er läßt sich
vor die Kirche setzen, mit den Jnsignien seines Amtes schmücke», um wider die
Hölle gerüstet zu sein. Er läßt sich die Absolution erteilen und läßt dann
Mönche beten um Verzeihung für die Sünden, die er noch nach der Absolution
zu begehn gedenkt. Er schilt die faulen Burschen, die nicht laut, nicht eifrig
genug beten. Dabei spinnt er unermüdlich seine Ränke weiter. Er erzählt
Stute, wie er der Ränkeschmied geworden sei. Er hat König werden wollen,
aber er war feig und lief aus der Schlacht davon. Nun blieb ihm nur noch
eins übrig: Priester zu werden und als Zerstörer Macht zu üben. Sein Leib¬
arzt brütet über einem xsrxstuuin mobile; ein solches xerpswum inobils will
er selbst werden, will bis in die fernsten Zeiten dadurch fortwirken, daß er
einen unausrottbaren Zwietrachtsamen streut. Stute beschwört ihn, den Brief des
Priesters herauszugeben. Nachdem Nikolas Stute durch Zögern und Aus¬
weichen genug gepeinigt hat, giebt er ihm den Brief, sagt aber, es sei das
Verzeichnis seiner Feinde, an denen ihn Stille räche,? soll. Dann, in einer
geheuchelter Anwandlung von Versöhnlichkeit, heißt er ihn, das Papier ins
Feuer werfe», und nachdem es verbrannt ist, sagt er, daß es die Beichte des
Priesters gewesen sei, deren Inhalt er selbst nicht kennt. Nun bleibt Stute
zeitlebens im Ungewissen über sein Recht, und auch in Hnkons Seele kann der
Giftsame des Zweifels gestreut werden. Wie Nikolas das Ende unmittelbar
nahe fühlt, weicht alle Furcht vou ihm. Was die da oben von einem fordern,
der die volle Kraft für sein Lebenswerk empfangen hat, haben sie von ihm zu
erwarten kein Recht. Solange es ihm vorkam, als habe er Pflichten, sei er
von Gewissensbissen gepeinigt worden. „Jetzt ist das vorüber, ich fühle wieder
Mark im Knochengerüste der Seele. Ich habe nichts verbrochen! An mir
wurde gesündigt, ich bin der Ankläger!" Wie er verscheidet, ertönt höllisches
Gelächter aus allen Winkeln der Kirche. In der Gestalt eines Klosterbruders
erscheint er mit Grüßen aus der Hölle dem Prätendenten auf der Flucht und
sucht ihn zur Ermordung von Hakons Söhnchen zu bestimmen. Um der Seele
seines Sohnes Peter willen widersteht Stute der Versuchung. Da spricht der
unreine Geist:
Ibsen hatte nämlich, als er den Kronprätendenten vollendete, schon wegen
der „Komödie der Liebe," auf die wir später zu sprechen kommen, heftige An¬
feindungen erlitten und sich entschlossen, sein Vaterland zu verlassen. Bei der
Arbeit am Kronprätendenten wird ihm das in unsrer Einleitung beschriebne
äußere Hindernis, das der Entfaltung seines Genies im Wege stand, vollends
zum Bewußtsein gekommen sein. Die nordische Sage ist kein Stoff für Dichter
unsrer Tage. Wie viel Mühe haben sich in Deutschland seit hundert Jahren
die Germanisten mit ihr gegeben, und wie viel Mühe geben sich seit ein paar
Jahrzehnten die Dentschnationalen und die Altdeutschen mit Odin und Baldur,
aber es ist ihnen bis jetzt nicht gelungen, ans den Göttern Walhallas volks¬
tümliche Gestalten zu machen. Wäre nicht Wagner mit seiner Musik zu Hilfe
gekommen, so würden auch Siegfried und Brunhilde der großen Menge un¬
bekannt sein, und ohne Bismarcks berühmtes Wort würde kein Mensch, außer
den Gelehrten, den blinden Hödur auch nur dem Namen nach kennen. Und
mit der norwegischen Geschichte steht es nicht viel besser. Hätte Ibsen nicht
im Kronprätendenten den Vers auf einzelne Stellen beschränkt, hätte er das
Ganze in Jamben geschrieben und damit die beiden Hauptpersonen auf den
Shakespeare-Schillerschen Kothurn gestellt — diese Hauptpersonen mit ihrem
Königsgcdanken würden, so ernst und würdig, jn groß und erhaben sie sind,
einen Stich ins Komische bekommen haben, weil die politische Einigung Nor¬
wegens das gleichgiltigste Ereignis der Welt ist. Der Gedanke, daß die kleinen
Gemeinden der norwegischen Thäler, die nnr auf dem Seewege miteinander
in Verbindung stehn, vereinzelte selbständige Gemeinwesen hätten bleiben
können, hat schlechterdings nichts aufregendes, vielleicht sogar nicht einmal für
einen Norweger, denn die übrige Weltgeschichte würde in diesem Falle um kein
Haar anders verlaufen sein; der Prütendentenunfug und das gegenseitige Tod¬
schlagen würde in Norwegen wie im übrigen Europa später von selbst auf¬
gehört haben. Mit dem patriotischen Drama wars also auch nichts; trotz der
Großartigkeit der norwegischen Natur und der Tüchtigkeit des norwegischen
Volkes haben der norwegische Staatsgedanke und die norwegische Nationalität
etwas Krähwinkelhaftes, und Krählvinkel ist nicht der Ort für das Walten der
tragischen Muse. Ibsen mußte sich also nach andern Stoffen nmseyen, aber
auch wenn er das moderne Leben und die moderne Gesellschaft wühlte, konnte
er gerade in Norwegen nicht ins Volle greifen. So trieben ihn innerer
Unmut und äußere Angriffe fort nach Rom (1864). Hier entstanden zunächst
Brand (1866) und Peer (Peter) Gynt (1867). Wir fassen das zweite zuerst
ins Auge, weil es ganz romantisch ist und den aus den beschriebnen Ver-
Haltnissen entspruuguen Groll und Ingrimm, des Dichterherzens zum Aus¬
druck bringt.
Peer Gynt hat einen reichen Vnnern zum Vater gehabt, der durch Trunk
und Gastfreiheit verlumpt und als armseliger Hausierer gestorben ist. Die
Mutter, eine leidenschaftliche und phantasievolle Frau ohne Selbstbeherrschung,
tröstet sich und ihr Kind über das häusliche Elend mit Märchen und Märchen¬
spielen. So wächst Peter als Wnldbummler, Träumer und Phantast ans und
wird ein Lügenpeter. Die Abenteuer, die ihm ans seinen Streifzügen seine
Phantasie vorgaukelt, glaubt er leibhaftig erlebt zu haben und erzählt sie
— z. B. einen Sturz ans dein Rücken eines Renntierbocks von schwindelnder
Höhe ins Meer hinab — mit der Kunst und Kraft Jbseuschcr Poesie. Er
hört um sich herum unheimliche Stimmen, trifft im Walde Ritter und Prin¬
zessinnen, wird im Traume von den Bergkobolden zu Tode gepeinigt, und
wenn er mit einem Mädchen zu schaffen gehabt hat, so bringt ihm kurz darauf
schon die „Prinzessin" als häßliches Weib den verkörperten Gewissensbiß in
Gestalt eines häßlichen großen Jungen und läßt ihn der reinen Liebe Solveigs,
des unschuldigen Kindes, unwürdig erscheinen. Durch solches Treiben werden
die Berinögensumstände des Hauses Ghnt natürlich nicht gebessert; die Mutter
schilt und leise, freut sich aber dann wieder über Peters Abenteuer und läßt
sich noch auf dem Sterbebette mit Pferdchenspiel und ähnlichen kindischen Possen
von ihm unterhalten. Die allgemeine Verachtung, der er anheimgefallen ist,
treibt ihn ans dein Lande. Wie schon im ersten Teil die wirklichen Ereignisse
mit den Träumen und Phantasien Peers unmlterscheidbar durcheinander ge¬
flossen sind, so läßt sich auch in dem zweite», in Marokko und Ägypten
spielenden Teile nicht deutlich unterscheiden, was nach der Absicht des Dichters
als Geschehnis, und was als Einbildung, Spuk oder Aufschneiderei angesehen
werden soll. Gynt ist durch den Handel mit Negern und Götzenbildern und
als Plantagenbesitzer Millionär geworden, will dem dnrch den griechischen Auf¬
stand bedrängten Sultan Geld leihen und dadurch uoch reicher werden und end¬
lich seinen Jugendtraum wahr machen, indem er Kaiser wird und die Dynastie
Gynt begründet. Untreue Freunde fahren mit seinen Reichtümer» davon, er
aber verzagt nicht, da er des besondern Schutzes Gottes gewiß ist, den er sich
verdient hat, da er über dem Neger- und Götzeuhandel mich die Bibelverbreitung
und die Förderung der Missionen nicht vernachlässigt hat. Wirklich wird auch
gleich sein erster Wunsch erfüllt: die Räuber seiner Schätze fliegen mit seinem
Schiff in die Luft. Daun plant er die Verwandlung der Sahara in einen
See, die Reich- und Stndtegrttndung an den fruchtbaren Ufern dieses Sees,
erlebt ekelhafte Abenteuer mit Affen, wird von einem Mädchen betrogen, mit
dem er als islaimtischer Prophet getändelt hat, will sich als Historiker und
Altertumsforscher berühmt machen, bildet sich ein, daß er der Wissenschaft
seine Schütze geopfert habe — Thränen der Rührung kommen ihm dabei in
die Augen —, wird aber der Ägyptologie sehr bald durch die verdiente Er¬
füllung seines höchsten Wunsches entrissen: die Insassen eines Irrenhauses
huldigen ihm als Kaiser. Mit einem mäßige» Reste seines Geldes lehrt er
als verbitterter alter Mann in die Heimat zurück. In der Nahe der nor¬
wegischen Küste verspricht er dein Kapitän, den Matrosen, diesen armen Teufeln,
etwas zu schenken, damit sie den Ihrigen daheim eine kleine Freude machen
können. Den Kapitän, der das lobt, schreit er plötzlich an: „Seid Ihr toll?"
Er denkt gar uicht dran:
Das Schifflein scheitert. Den Schiffskoch, einen arme» Barsche», der sehr an
Weib und Kindern hängt, und den der Kapitän besonders seiner Freigebigkeit
empfohlen hat, stößt er von der Planke, auf der er sich selber rettet. Zu
Hanse kommt Peer gerade zurecht zu eiuer Auktion, in der Überreste des ärm¬
lichen Ghntschen Hausrath versteigert werden, und er selbst versteigert bei dieser
Gelegenheit zur Belustigung des Publikums, das ihn übrigens nicht erkennt,
sein Kaisertum und seine sonstigen „Windeier." Der Teufel, der sich ihm
schon im Schiff und auf der Planke als blasser Passagier vorgestellt hat, naht
ihm unter verschiednen Gestalten und erklärt, er müsse ihn erst umgießen, weil
er so, wie er ist, als ein Halber, für die Hölle ebenso wenig tauge wie für
den Himmel. Bei Solveig angelangt, die all die langen Jahre hindurch ge¬
duldig auf ihn gewartet hat, ruft er verzweifelt:
Er stürzt fort. Bom Teufel gepeinigt und geängstigt, kehrt er wieder zu
Solveigs Hütte zurück, bekennt seine Sünden, und sie singt den in ihrem
Schoß ruhenden „geliebten Knaben" in den ewigen Schlaf.
Paffarge giebt in der ersten Auflage seiner Übersetzung als Zweck dieser
dramatisierten allegorische-, Mürchenerzähluug an, der Dichter habe darstellen
wollen, wie ein mit überwiegender Phantasie und geringer Schaffenskraft aus¬
gestatteter Mensch an der Wirklichkeit scheitert. Im Vorwort zur zweiten Aus¬
gabe teilt er mit, Ibsen habe »ach seinem eignen Bekenntnis in Peer Gynt
das norwegische Volk darstellen wollen. Die beiden Absichten schließen ein¬
ander nicht aus, und sie sind sicherlich nicht die einzigen gewesen. Wie Goethe
in den zweiten Teil des Faust, so hat Ibsen in den Gynt alles mögliche
hineingepackt, er verspottet die englische Religion und Politik, den Antiquitäten¬
kram, die deutsche Begriffsphilosophie, die Bemühungen einiger Norweger, das
Dänische durch ihre eigne alte Sprache zu verdrängen (was er als Rückkehr
zum Gebrüll der Orang-Utange lächerlich macht), und vieles andre. Aber
Rache an seinem Volk dafür, daß es ihm die Entfaltung seines Dichtergenies
unmöglich macht, wird die Hauptabsicht gewesen sein. Er thut damit natürlich
diesem Volke Unrecht, auch abgesehen davon, daß es nichts dafür kann, daß
es ist, wie es ist. Die Norweger haben als Normannen, auf günstigern Boden
verpflanzt, anch politisch Großes geleistet; daß ihre Heimat kein günstiger Boden
ist, können sie nicht ändern. Aber sollte Ibsen nur an den Norweger im all¬
gemeinen und nicht ganz besonders an sich selbst, den genialsten aller Norweger,
gedacht haben? Das Gedicht ist viel zu tief empfunden, ist viel zu sehr aus
eigenster innerer Erfahrung geströmt, als daß man daran zweifeln könnte.
Ist er doch selbst der Mann, der an einem Übermaß von Phantasie leidet,
und wenn er nicht ein verachteter Träumer und Schwindler geworden ist, wie
sein Peer, sondern Großes geleistet hat, so hat er doch eben das Größte, wo¬
nach er strebte, nicht leisten können, nicht infolge innern Unvermögens wie
Peer, sondern eingeschränkt durch sein Volkstum, dein er deswegen grollt. Aber
das Bewußtsein, das Größte nicht erreichen zu können, peinigt ihn doch wie
eine eigne Schuld. Peer zerpflückt eine Zwiebel: „Kommt nicht zuletzt ein
fester Kern? Wahrhaftig, nein! Bis ins Innere bloß lauter Häutchen, nur
dünnre und dünnre." Knäuel rollen vor seinen Füßen, sie sprechen: „Wir
sind Gedanken, du mußtest uns denken. Wir strebten nach vollen rauschenden
Chören, und müssen hier rollen — wer will uns hören?" Trockne Blätter
flüstern: „Wir sind ein Wort! Du solltest es künden; haltlos verdorrt, mußten
wir schwinden." Lüfte säuseln: „Wir sind die Lieder, du solltest sie singen;
du zwangst uns nieder, o durften wir klingen! Ju deines Herzens tiefer Stille
wir warteten; dir swarsj gleich, ob wir schliefen, ob frech entarteten." Und
die Tautropfen: „Wir sind die Thränen, du mußtest sie weinen; Hassen und
Sehnen konnten wir einen. Nun sitzet dir heiser im Halse die Schuld; du
wardst nicht weiser, du, ohne Geduld." Und wenn er nun bei Solveig ruft:
„Hier war mein Kaisertum!" spricht er dn nicht sein hart angeklagtes Volk los,
mit sich selbst zu verurteilen? Jedem Einzelnen und jedem Volk ist seine
eigentümliche Gabe und Aufgabe zu teil geworden, auf die es sich beschränken
muß, wenn es glücklich werden will. Der Norweger kann, seitdem die Wikinger¬
zeit vorüber ist, keine weltgeschichtlichen Dramen, sondern nur noch Idyllen
erleben, und an diese müssen seine Dichter sich halten, wenn sie nicht wurzellos
verkommen wollen. Wie viel tausend Menschen hätte Ibsen erfreuen, erquicken,
in ihrem Beruf stärken und bessern können, wenn er, anstatt im spätern Alter
aus Ungeduld und Nachsucht ein Dekadent zu werden, seine Heimat lieb ge-
Wonnen und ihr abgerungen hätte, was sie ihm zu geben imstande war, wenn
er Dichtungen geschaffen hätte, ähnlich denen der Dänen Sophus Bauditz und
K. G, Bröndsted, nur größer!
(Schluß folgt)
MP
>^Z->>lere.eim man die Flut der Nekrologe durchmustert, die dem scheidenden
Jahrhundert in allen Zeitungen und Familienblättern gewidmet
wurden, so findet man wohl überall in erster Reihe das laute
Loblied, das den Fortschritten der Naturwissenschaften gesungen
wird. Alle Welt begeistert sich für die großen Erfolge der Chemie
und Physik, der Technik im allgemeinen und der Elektrotechnik im besondern.
Ich bin der letzte, der die Berechtigung dieser der Naturwissenschaft gespendeten
Bewunderung bestreiten oder nnr bekritteln möchte; aber dennoch ist es viel¬
leicht nicht unangebracht, wieder einmal auf das erstaunliche Mißverhältnis
hinzuweisen, das in der Wertschätzung der Realwissenschaften gegenüber den
idealen Disziplinen in den Kreisen unsrer Gebildeten vielfach besteht, und das
ganz besonders ungerechtfertigt ist bei einer Wissenschaft, die in den letzten
Dezennien dieses Jahrhunderts ganz außerordentliches geleistet hat. Als
Winckelmann, der geistvolle Begründer und Bahnbrecher der modernen Archäo¬
logie, vor etwa hundertfünfzig Jahren mit noch ganz unzureichenden Material
versuchte, die Entwicklung der antiken Kunst zu skizzieren, war kaum voraus¬
zusehen, daß der Altertumswissenschaft noch ein so großartiger Ausbau be-
schieden sein würde, wie er thatsächlich erfolgt ist; und wenn mau auch zugeben
muß, daß die Überraschungen, zu denen uns die Elektrizitütslehrc geführt hat,
alles Dagewesene in Schatten stellen, so gehört doch die ganz nüchterne Utili-
tätsrichtung unsrer Zeit und ihre banausische Geringschätzung rein idealer Er¬
folge dazu, gleichgiltig an den überraschenden Leistungen der jungen Archäo¬
logie vorbeizugehn.
Noch vor dreißig Jahren erschien die antike Kunst als ein Gebiet, dessen
Dasein als ein schönes Wunder bestaunt wurde, dessen Entstehung und Ent¬
wicklung aber vielfach rätselhaft waren; nur spärliche Kunde reichte über das
fünfte Jahrhundert vor Christo hinaus, und selbst für die helle historische Zeit
floß uns gar vieles in einen großen homogenen Strom zusammen, was bellte
in el» wohlgegliedertes Netz getrennter Strömungen aufgelöst ist. Mit hin¬
reichender Klarheit übersehen wir nun den Entwicklungsgang der antiken Kunst
in ihren mannigfachen Richtungen und Schulen; wir trennen scharf griechische
und römische Kunst, wir wissen, daß die römische schon von Urzeiten an in
der Hauptsache ein bloßer Abglanz der griechischen ist, wir verfolgen seit
750 v> Chr., seit die Griechen zum erstenmal italischen Boden betraten, ihren
übermächtigen Einfluß und beobachten die interessante, meist roh-provinziale
Umformung, die die schon in der ältesten Zeit feinsinnigen und in ihrer Art
vollendeten Kunstformen der Hellenen bei den grobem Jtalikern erfuhren.
Ebenso klar überschauen wir, besonders seit wir Pergamon kennen, den Wirkungs¬
kreis der griechischen Kunst in Kleinasien und ihre wundervolle Nachblüte im
Zeitalter des Hellenismus, und wir erhoffen noch eine umfassende Bereicherung
unsrer Kenntnis sowohl von den neusten Ausgrabungen Professor Schreibers
in Alexandria, zu denen der hochherzige süddeutsche Fabrikant Sieglin die
Mittel giebt, wie auch von Ausgrabungen in der Selenkidenresidenz Antiochia,
die dann das wichtigste Desiderat sind.
Weit mehr noch hat die Archäologie geleistet für die Zeit, die der großen
Blüteperiode des fünften Jahrhunderts vorausging, für die Zeit des Archaismus
bis in das achte Jahrhundert hinauf. Durch die deutsche Erforschung Olympias,
Ende der siebziger Jahre, durch die Entdeckung der berühmten Fmuenstatuen,
der sogenannten Tanten, im Perserschutt der Akropolis, und endlich durch die
allerneusten Ausgrabungen der Franzosen in Delphi haben wir eine so große
Reihe echter archaischer Kunstwerke gewonnen, daß der rasche Aufstieg der alt¬
griechischen Kllnst zu den erhabnen Höhepunkten eines Phidias und Polyklet
uns nicht mehr als ein Rätsel erscheint, sondern in den Hauptzügen deutlich
verfolgt werdeu kann.
Die erstaunlichste Leistung der modernen Archäologie ist aber die, daß sie
uns Kunde gegeben hat von Zeiten, in die bisher nur die nnkontrollierbcire Sage
hinaufstieg. Seit Schliemann und Dörpfeld in Troja, Tiryns und Mykenä
die Königsburgen und Kuppelgräber der griechischen Helden aufgedeckt haben,
die vor der dorischen Wanderung, also zwischen 1000 und 1600, dort hauste»,
und deren schon hohe Kultur in den homerischen Epen, von einzelnen später
hineingefügten Zügen abgesehen, im wesentlichen getreu geschildert wird, ist diese
homerische Zeit kein schattenhaftes Sagengebilde mehr für uns; und wenn anch
das große Knppelgrab bei Mykenä, das nach Atreus oder Agamemnon benannt
wird, vielleicht keinen von beiden beherbergt hat, und wem: anch die ehrwürdige»
Knochen und Aschenreste, die mit dem großartigem Goldschatz zugleich aus den
Tiefen der myt'mischen Schachtgräber emporstiegen, schwerlich einem bestimmten
Helden der Ilias zugeschrieben werden können, so bleibt doch das bestehn, daß
die Zeit des trojanischen Kriegs nun ein kulturhistorisch aufgeklärter und durch
zahlreiche Kunstwerke aller Art bezeugter Abschnitt für uns geworden ist.
Nicht ganz so klar, aber doch noch deutlich liegt vor uus die nächst vor¬
hergehende Zeit, die der sogenannte» Jnseltunst, die etwa bis 2000 zurück-
reicht, und bis tief ins dritte Jahrtausend werden wir geführt durch Funde
von Thonwaren und einfachen Geräten, die aus der zweiten Schicht von Troja
und von Cypcm stammen und vorläufig die Grenze dessen sind, was uns von
der Kultur der griechisch-kleinasiatischen Urzeit bekannt ist. Äußerst interessant
und lehrreich sind aber die zahlreichen Fäden, die in allen diesen Perioden
nach den Nachbarländern hinüberführen, z. B. nach Nordsyrien und Ägypten.
In Ägypten haben übrigens die letzten sechs Jahre Funde gebracht, die einen
Ausblick in geradezu märchenhafte Ferne gewähren. Die von Ameliucau,
Mnders Peerie und de Morgan gemachten Gräberfunde führen bis weit in
das vierte Jahrtausend hinauf, und seit de Morgan im Jahre 1897 das Grab
des ersten Königs Mer, des griechischen Menes gefunden und die Zuverlässig¬
keit der alten ägyptischen Königslisten damit ganz überraschend bestätigt hat,
können wir eine kulturgeschichtliche Entwicklung von fast sechs Jahrtausenden
überschauen — ein Ergebnis, das wahrlich großartig und fesselnd genug ist,
die eingangs gemachte Parallele mit den Naturwissenschaften zu rechtfertigen.
Noch ist dieser Ausbnn keineswegs abgeschlossen; denn erst jetzt, seit sich die
Aufmerksamkeit der Forscher diesen Gebieten zugewandt hat, seit man gelernt
hat, dieser Art von Funden nachzuspüren, darf man erwarten, noch mehr zu
finden; und was für neue Überraschungen uns endlich noch in Babylon vor¬
behalten sind, wo eine deutsche Expedition unter Koldewey seit Jahresfrist an
einer umfassenden Ausgrabung arbeitet, ist überhaupt noch nicht abzusehen.
Die deutscheu Gymnasiallehrer haben von jeher der Archäologie das leb¬
hafteste und begeistertste Interesse zugewandt, und teils mit, teils ohne staat¬
liche Unterstützung wandert in jedem Jahre eine bemerkenswerte Anzahl nach
dem Süden, an den Geist des Altertums um der Quelle auf sich wirken zu
lassen. Aber während es viele sind, die Italien durchstreifen und an den
Kursen des römischen Instituts teilnehmen, ist es doch nur ein verhältnismäßig
geringer Prozentsatz, der Griechenland und Kleinasien aufsucht. Diese Bevor¬
zugung Italiens mochte früher selbstverständlich sein, einerseits aus Rücksicht
auf die weit bessern Verkehrs- und Vcrpflegnugsverhältnisse, andrerseits wegen
der schier unabsehbaren Fülle von antiken Kunstwerken, die hier in den großen
Museen zusammengehäuft und ans diese Weise bequem zu übersehen sind.
Aber seit man erkannt hat, wie wenige von diesen Schätzen Originale und
wie viele nur mittelmäßige, ja schlechte Kopien sind — und zwar vou grie¬
chischen Meisterwerken, während die eigentlich römischen Meisterwerke sehr dünn
gesät sind —, seit man dagegen in Griechenland neben so überwältigend schönen
Originalen aus der Blütezeit, wie dein Praxitelischen Hermes, die Unmenge
der hochwichtige,: archaischen Werke entdeckt hat, gar nicht zu reden von den
großartigen Denkmälern der mykenischcn Zeit — ist es für den Altertums¬
freund kaum uoch möglich, ans Hellas ganz zu verzichten. Dazu kommt, daß
Italien mit all seiner Schönheit doch den Zauber der griechischen Landschaft
nur eben ahnen läßt, wobei es sich übrigens nicht nur um die äußerliche
Schönheit handelt, sondern anch darum, daß Italien, wie es mit seiner Küsten¬
gliederung hauptsächlich nach Westen gerichtet ist, so auch in kulturhistorischer
Hinsicht nach dein Abendlande neigt, während Griechenland, dessen stärkste
Gliederung nach Osten geht, dementsprechend immer nach dem Orient gravitiert
hat; und trotz tausendfältiger Wechselbeziehungen ist diese Nichtuugsverschiedcn-
heit im Charakter der beiden antiken Völker niemals nnfgehoben worden. Um
also den Geist der Antike, der seine reinste und vollendetste Entwicklung doch
ohne Zweifel in Hellas gefunden hat, völlig nachzufühlen, ist es in hohem
Maße wünschenswert, daß man nicht nur die Wellen des Tyrrhenischen, sondern
anch die des Ngäischcn Meeres hat rauschen hören, daß man das bunte Völker-
gcwimmel des Orients mit seinen so ganz andern Grundanschauungen und
Lebensgewohnheiten wenigstens in Smyrna und Vyzcmz gesehen hat, daß man
ferner das lebenslustige, kecke, verschlagne und verlogne, redegewandte und
arbeithassende Völkchen, das sich heute mit dem Namen der Hellenen schmückt,
mit eignen Augen beobachtet hat. Nur dadurch wird man seine zwar weit
edlern, vielfach aber nicht unähnlich angelegten Vorfahren besser versteh»
lernen; und ganz besonders lehrreich ist es auch, wenn man angesichts der
unsagbar anspruchslosen Hirtenhütten Arkadiens eine deutliche Anschauung von
primitiven Kulturverhältnissen gewinnt, wie sie den rauhen Lakedämoniern einst
wohl behaglich erscheinen mochten. Ein letzter und wesentlicher Grund für
den Besuch Griechenlands ist endlich der, daß wir zur Zeit dort eine Führung
haben, die in ihrer Art ganz unvergleichlich ist, ich meine natürlich die Führung
durch Dörpfeld, der in jedem Frühjahr eine Tour nach den Hauptpunkten
antiker Herrlichkeit unternimmt und umsomehr in der Lage ist, eine vorzügliche
Erläuterung der antiken Bauwerke zu geben, als er selber an ihrer Freilegung
wie an ihrer wissenschaftlichen Würdigung einen hervorragenden Anteil hat.
Von diesen Anschauungen aus möchte ich nun die Frage beantworten:
Was kann man unter den augenblicklichen Verhältnissen in Griechenland und
Kleinasien sehen, wenn man über einen acht- bis neuiNvöchigen Frühjahrs¬
urlaub und den bei uns Gymnasiallehrern üblichen Geldbeutel verfügt, mit
andern Worten, die folgende Übersicht rechnet mit beschränkter Zeit, bescheidnen
Mitteln und normaler, d. h. nicht allzu großer Neisegewaudtheit und Spracheu-
behcrrschung. Aus diesen Voraussetzungen ergiebt sich, daß ich für Kleinasien,
wo keine besondern wissenschaftlichen Führungen bestehn, mich nicht allzuweit
von der Eisenbahn entferne, also auf Lykien und die ganze Südküste verzichte,
und daß ich in Griechenland den Anschluß um die Dörpfeldsche Führung zu
Grunde lege. Dann rechne ich für Kleinasien, von Smyrna ausgehend, nicht
mehr als zehn bis zwölf Tage. In dieser Zeit kann man zwei Touren unter¬
nehmen, die eine, nördlich, nach Pergamvn, die andre, nach Süden und Süd-
osten, nach Ephesus, Priene, Hierapolis und Laodieaen ut Lyeum. Man hat
zunächst in Smyrna im deutschen Hotel Huck ein sichres Standquartier, und anch
in Ephesus, das man mit der Bahn in anderthalb Stünden erreicht, ist man
beim dicken Karpouza, einem Prachtexemplar eines verschmitzten Griechen, ganz
gut aufgehoben. Von dem Ephesus der griechischen Zeit ist freilich äußerst wenig
erhalten, und es giebt kaum ein berühmtes antikes Bauwerk, das in jammer¬
vollerm Zustande wäre als das Artemision, der einst so prunkvolle Tempel
der „Diana der Epheser," aber die von den Österreichern aufgedeckten Über¬
reste aus römischer Zeit, der reichgeschmückte Marktplatz, das schöne große
Theater, das Odeion, das Stadion usw, sind sehr sehenswert und kaum an
einem Tage zu erledigen.
An derselben Bahnlinie, die südlich von Ephesus nach Osten umbiegt, liegt
weiterhin Albin, das alte Tralles. Ich rate Eiligen, auf diese interessante echte
Türkenstadt trotz ihrer großen landschaftlichen Schönheit doch zu verzichten, da von
den noch gänzlich verschütteten antiken Trümmern nicht viel zu sehen ist. Ein
Glanzpunkt aber, der in hohem Maße einen Besuch verdient, ist die östlichste Stelle
meiner Tour, Hierapolis, all derselben Bahnlinie und in sieben bis acht Stunden
von Smyrnn erreichbar. Die stark kalkftthrende heiße Quelle, die schon im
Altertum zu Heilzwecken lebhaft benutzt wurde und der Mittelpunkt gewaltiger
Thermenbauten ist, hat hier im Laufe der Zeiten eine weißschimmernde Niesen¬
terrasse aufgetürmt, deren steil abfallende Wand mit Tausenden vou muschel-
förmigen Becken bedeckt ist; die heute regellos dahinströmcnde Flut hat sich
diese märchenhaft erscheinenden Gebilde durch die Kalkablagerung selbst ge¬
schaffen und springt über sie in rauschenden Kaskaden in die Tiefe. Die
großen Hallen der Thermennnlcige, die Hallenreihen an den Hauptstraßen, ein
mächtiges Theater sowie endlich zahllose Sarkophage und Grabdenkmäler machen
mich hier eine systematische Freilegung höchst wünschenswert. Gerade gegen¬
über von Hierapolis, auf der andern Seite des sehr breiten Lytosthales, liegt
Lnodieaea,"wo ebenfalls bedeutende Ruinen der Untersuchung harren. Einsehr
günstiger Umstand ist es, daß es gerade hier in dieser Einöde, wo nur elende
Hirten Hansen, ein kleines Gasthaus giebt, dicht neben der Bahnstation, das
"» Behaglichkeit und Sauberkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Ruinen ans der spätern römischen
Zeit hat man in Priene das außerordentliche Glück gehabt, eine rein griechische
Kleinstadt zu entdecken, deren Hauptbestandteil dem vierten bis zweiten Jahr¬
hundert v. Chr. angehört, und diese im Auftrage des Berliner Museums völlig
freigelegte Stadt ist ein so unvergleichliches Schmuckkästchen, ein so lehrreiches
Dokument für die noch nicht dekadente, in ihrer schlichten und doch so fein¬
sinnigen Natürlichkeit herz erfreu ende hellenische Kunst und Kultur, daß mau
den Besuch Primas gar nicht lebhaft genug empfehlen kann. Man gelangt
zunächst mit der hinter Ephesus abgehenden Zweigbahn bis Sokia und er¬
reicht dann in reichlich zweistündigem Ritt das Ziel; hier giebt es in dem, be¬
nachbartem ärmlichen Türkendorf Kelebesch zwar keine menschenwürdige Unter¬
kunft, aber das behagliche Häuschen, das einst noch Karl Hnmann für sich und
die andern deutschen Gelehrten dicht bei Priene erbaute, wird, wie mir gesagt
wurde, auch fernerhin allen Besuchern zur Verfügung stehn. Als ich jetzt vor
Jahresfrist in Priene eintraf, hatte ich das Glück, die Berliner Herren Wiegand
»ut Schrader dort noch anzutreffen; sie hatten eben ihre große vierjährige
Arbeit vollendet und rüsteten sich zur Abreise. Ich brauche wohl nicht erst zu
versichern, daß es ein großer Genuß war, hier von Schrader geführt zu werden,
der mit wohlberechtigten Stolze das in so langer und mühsamer Arbeit Er-
rliugne zeigte und erläuterte. Die spätern Besucher müssen ebenso ans diese
interessante Führung wie auf die liebenswürdige Gastfreundschaft verzichten,
aber auch so werden sie reiche» Genuß und wesentliche Belehrung finden.
Ich muß es nur leider versagen, hier genauer auf die Schilderung der Stadt
einzugehn, da dies einen umfänglichen Vortrag ausmachen würde; ich verweise
daher auf meine Aufsätze in der Wissenschaftlicher Beilage der Leipziger Zeitung
(vom 11. November 1899), sowie in der Zukunft (Ein neues Pompeji, vom
30. September 1899) und möchte nur kurz hervorheben, daß es außer Pom¬
peji keine antike Stadt giebt, die auch nur annähernd so vollständig freigelegt
worden ist und so wenig von spätern Um- und Einbänden gelitten hat wie Priene.
Allerdings hat es nicht so plötzlich zu existieren aufgehört wie einst Pompeji,
sodaß man natürlich nicht dieselbe Menge von Gebrauchsgegenständen lind
Kunstwerken finden konnte wie dort, nud auch die Höhe der erhaltnen Häuser¬
mauern ist im allgemeinen geringer; sie reicht aber überall aus, nicht nur den
Bauplan, die Zimmerverteilung, die Art des Mauerbaus und Stuckbewurfs usw.
deutlich zu zeigen, sondern auch um vielen Stellen den lebendigen Eindruck
einer unlängst noch mit Menschen erfüllten Stadt hervorzurufen. Viele Häuser
sind bis zu der Höhe von zwei Metern tadellos erhalten, und noch besser steht
es »in die wichtigsten öffentlichen Gebäude, so z. B. um das in seiner Art
einzige Bürgerversammlnngshaus mit seinen wohlerhaltnen aufsteigenden Sitz¬
reihen, das merkwürdige, einseitig angelegte Stadion, die Agora mit ihren
zahlreichen Bildnisbasen und Ruhebänken und endlich das wundervolle Theater.
Manches von den zwanzig antiken Theatern, die ich im vorigen Frühjahr ge¬
sehen habe, war großartiger, keines aber feiner, zierlicher und anheimelnder,
zugleich auch lehrreicher, denn nirgends stehn die wichtigsten und umstrittensten
Teile des Skenengebäudes noch so »»zerstört aufrecht wie hier. Die wissen¬
schaftliche Bedeutung Primas wird, gegenüber dem römischem Pompeji, wesent¬
lich dadurch erhöht, daß es rein griechisch und außerdem um etwa dreihundert
Jahre älter ist, also weit sichrere Rückschlüsse auf Haushalt und Straßenanlage
der griechischen Blütezeit ermöglicht.
Wenn ich sieben Tage für die bisher genannten Orte ansetze, so bleiben
noch drei bis fünf Tage für Pergamon. Wer dieses besuchen will, den, em¬
pfehle ich, mit dem kleinen griechischen Küstendampfer erst nach Mithlene
(Lesbos) zu fahren, das landschaftlich ganz wundervoll ist und vielfach an
Korfu erinnert; von da gelangt man mit einem Segelboot wieder nach dem
Festlande, nach Dikeli, von wo aus die Tour bekannt ist, sodaß ich mich
hierbei ebensowenig aufhalten möchte wie bei Pergamon selbst, dessen Herr¬
lichkeit keines weitern Kommentars bedarf.
Ich wende mich nun zu Griechenland. Professor Dörpfeld, der Leiter des
deutschen Archäologischen Instituts in Athen, pflegt alljährlich im April und
Mai innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen drei Gesellschaftsansflüge
zu veranstalten; der erste führt in siebzehn Tagen durch den Peloponnes und
am Schluß nach Jthcika und Delphi; der zweite geht in neun Tagen ans
einem gemieteten Dampfer nach den schönsten und interessantesten Kykladen
bis hinunter in die Nähe von Kreta") und der dritte innerhalb vier bis fünf
Tagen nach Troja. Ich würde Stunden brauchen, wollte ich Ihnen auch nur
flüchtig schildern, was wir da alles gesehen haben; ich beschränke mich deshalb
darauf, die Hauptpunkte nnr eben zu nennen, möchte aber die Art der Dörp-
feldschen Führung sowohl uach der wissenschaftlichen wie nach der äußerliche,:
Seite etwas eingehender charakterisieren.
Was also zunächst die Ruinenstätten anlangt, deren wir im vorigen Jahre
mehr als dreißig besuchten, so sind darunter drei, die als altbertthmte hellenische
Festorte besonders hervorragen, ich meine Olympia, Delphi und Delos. Olympia
wurde von 1875 bis 1881 ans Kosten des Deutschen Reichs freigelegt, wobei
sich Dvrpfeld, anfänglich nur als Hilfsbauführer, daun aber als leitender
Architekt die Sporen verdiente und seinen Ruf begründete. Die planmäßige
Ausgrabung von Delphi ist erst 1895 von der französischen Schule begonnen
worden, deren Haupt, der verdienstvolle Homolle, sich besonders mit Perdrizet
in die Ehren des Erfolgs teilt; und auf Delos hat seit 1873 eine ganze
Reihe von Franzosen gegraben, aber ziemlich unsystematisch, um kein härteres
Wort zu gebrauchen, denn vielfach hat der eine wieder verschüttet, was der Vor¬
gänger aufgedeckt hatte. Auch Homolle hat hier wiederholt gearbeitet; hoffentlich
verwirklicht er bald seine Absicht, durch systematisches Vorgehn die frühern Ver¬
säumnisse wieder gut zu machen. Trotz wichtiger Einzelheiten bietet somit
Delos vorläufig noch nicht das, was man hier erwarten könnte; und Delphi,
dessen Freilegung in der Hauptsache vollendet ist, wird von den Franzosen
noch eifersüchtig gehütet, bis die wissenschaftliche Bearbeitung und Verwertung
der Funde vollendet und die Publikation erfolgt ist — was wohl noch längere
Zeit i» Anspruch nehmen wird —; Olympia dagegen bietet dem Beschauer ein
fertiges und klares Bild und hat zudem den Vorzug, sich infolge der absolut
ebnen Vodenbeschaffenheit des Festplatzes so übersichtlich wie eine Landkarte zu
präsentieren. Dieser Eindruck eines klar gegliederten Grundrisses wird dadurch
noch unterstützt, daß von den meisten Gebänden nur die Fundamente erhalten
sind. Jedoch zwei Tempel, und zwar gerade die allerwichtigsten, bieten mehr:
das Heraion, der älteste Tempel auf griechischem Boden, weist noch die Säulen
bis zu halber Höhe auf und ermöglicht auch'sonst die wichtigsten Schlüsse
"uf seinen Oberbau; und beim großen Zeustempel stehn zwar keine Säulen
wehr, aber die mächtigen Trommeln, von 2,24 Metern Durchmesser, liegen
zum Teil noch so in Reih und Glied, wie sie das große Erdbeben im sechsten
Jahrhundert hingeworfen hat; es ist sehr zu beklagen, daß sich noch kein
Mäcen gefunden hat, der die verhältnismäßig geringen Kosten der Wiederauf¬
richtung' wenigstens einiger dieser Säulcnkolosse trüge; bei einer Höhe von
10,43 Metern müßten diese grandios wirken und das Gesamtbild der Attis
außerordentlich heben.
Was die Skulpturen betrifft, auf deren Auffindung Winckelmann einst so
überschwengliche Hoffnungen setzte, so ist bekanntlich der Erfolg beträchtlich
hinter den Erwartungen zurückgeblieben; zwar fand man Tausende kleiner ur¬
alter Idole, meist aus Bronze, die in der Nähe des Heraions vergraben
waren, aber von all den herrlichen großen Werken, die einst die Attis schmückten,
blieb uns eigentlich in der Hauptsache nur dreierlei erhalten: die großen Giebel-
gruppen des Zeustempels, die zerstückelt in byzantinischen Häusermauern
des siebente» und achten Jahrhunderts steckten, der unvergleichlich schöne
Hermes des Praxiteles, der tief im Lehm des Heraions vergraben war, und
die leider stark verstümmelte Nike des Paionios, Die Erklärung gab uns ein
mittelalterlicher Kalkofen, worin Dörpfeld noch Hunderte von Torfen lind
Gliedmaßen, schon halb verbrannt und wertlos, entdeckt hat. In dieser Beziehung
haben die Franzosen in Delphi ungleich mehr Glück gehabt, und als uns
Perdrizet durch das provisorische Museum führte, kostete es uns keine geringe
Überwindung, alle chauvinistischen Regungen hinterznschlncken und neidlos die
herrlichen Marmor- und Vronzewerke aus allen Perioden, vom siebenten Jahr¬
hundert v. Chr. bis in römische Zeiten, anzustaunen. Die bis jetzt erschienene»
vorläufige» Veröffentlichungen im Lütke-tin Ah <Z0rresp<)uäg.nov luzllonicins und
in der 6irWt,to ävs l»zg,ux g,rks können kaum die rechte Vorstellung vou diesen
Werken vermitteln; und wenn die Abbildungen zur Not genügen, den prächtigen
archaischen Wageiüenker aus Bronze zu charakterisieren, der den Polhzalos von
Syrakus darstellt, so reichen sie doch nicht aus gegenüber den acht großen
Knlksteiustatuen, die die Familie des Thessalerfiirsten Daochos verherrliche»
und Originalwerke der Lhsippischen Schule, wenn nicht gar Lysipps selber
sind; auch der liebenswürdige Zauber der Antinousstatue, die die Franzosen
nicht mit Unrecht dem praxitelischen Hermes der Deutschen als ihre» vivu
gegenüberstelle», kommt in der Abbildung nur teilweise zur Geltung.
(Schluß folgt)
In
einzelnen Exemplaren der „Zusätze zu den neuen Beifügen zur Gothaischen Landes¬
ordnung, enthaltend die vom 18. Mai 1781 bis zum März 1827 für das Herzog¬
tum Gotha erlassenen Gesetze und Verordnungen" findet sich am Schlüsse des sehr
stattlichen Bandes — ohne daß das Datum ihrer Publikation genauer angegeben
ist — eine „Klassifikation, welche dem wegen der Einmietlingssteuer erlassenen
Patente vom 23. November 1795 beigefügt worden ist."
Dieses „Patent" ist weder in den oben erwähnten „Zusätzen" noch sonstwo
in den gedruckt vorhandnen Kodifikationen der Gothaischen Gesetze und Verordnungen
zu finde», und es ist dem Verfasser dieser Zeile» eines auf andre Weise nicht ge¬
lungen, eines Exemplars habhaft zu werden. Aus dem Inhalt andrer, das Steuer-
Wesen jener Zeit betreffenden „Patente" läßt sich jedoch mit ziemlicher Sicherheit
der Schluß ziehn, daß es die Veranlagung einer Kopfsteuer für solche enthalten
hat, die nicht auf eignem Grund und Boden wohnten, und hat jedenfalls eine
Beseitigung der Unbilligkeit herbeiführen sollen, die darin gefunden wurde, daß
mit Grundbesitz angesessene Personen ans diesem Grunde irgend eine Steuer zu
zahlen hatten, andre Leute aber nicht. Mag dem indessen sein, wie ihm wolle,
jedenfalls stellt die Beilage des Patents, die erwähnte „Klassifikation," eine Rang¬
liste der darin aufgeführten Personen dar.
Man ist offenbar von dem Gedanken ausgegangen: die ganze Lebensführung
des einzelnen, der Aufwand, den er für sich und seine Familie zu machen hat, und
damit also auch die Größe und Beschaffenheit der von ihm in Ermanglung eignen
Grundbesitzes zu nickenden Wohnung richten sich nach der Stellung und dem Rang,
die oder den er in der menschlichen Gesellschaft einnimmt, und eine möglichst genaue
Einregistriernng des einzelnen in bestimmte Rangklassen wird deshalb auch den
gerechtesten Maßstab für die Beurteilung des Aufwands abgeben, den er zu seiner
Lebensführung im allgemeinen, insbesondre also auch für Wohnung nötig hat. Je
höher einer gestellt ist, desto nobler wird und muß er wohnen, desto mehr wendet
er gerade in dieser Beziehung ans, und desto mehr hat er also eventuell „Ein-
mietlingssteuer" zu zahlen — so hat man ganz offenbar geschlossen und danach
um die famose „Klassifikation" aufgestellt, der wir im folgenden ein paar Worte
widmen wollen.
Aufgeführt sind, und zwar in neun Klassen, alle Menschen, die in irgend einem
nnr denkbaren Hof- oder Staatsamt gestanden haben, vom „Kanzler" bis zum
„Kaleschenknecht," aber daneben auch eine nicht geringe Zahl von Privatleuten.
In der letzten Klasse figurieren z. B. „Fabrikant." „Jude"(!), „Bediente aller Art
bei Privatpersonen" usw.
Die Abstufung dieser Klassen ist nun in doppelter Hinsicht interessant.
Einmal weist sie schwarz auf weiß und zweifellos offiziell nach, was für eine
geradezu unheimliche Menge von Hofbeamten höherer, niederer und niedrigster Art
an einem Duodezhofe, wie der Gothaische um die Wende des achtzehnten zum neun¬
zehnten Jahrhundert einer war. vegetierte und sich mit durchschmarotzte, und
zweitens giebt sie einen deutlichen Begriff davon, wie himmelhoch jeder, der bei
Hofe bedienstet war, über allen stehend angesehen wurde, die lediglich Staats¬
beamte oder gar Privatleute waren und als solche mit dem Hofe keine unmittel¬
bare Berührung hatten.
Das Herzogtum Gotha umfaßte im Jahre 1795 den Gothaischen Landesteil
des jetzigen°Herzogtums Sachsen-Koburg-Gotha, so ziemlich das ganze jetzige Herzog¬
tum Sachsen-Altenburg und einige kleine Fetzen des jetzigen Herzogtums Sachsen-
Meiningen, war also zwar ein klein wenig größer als das jetzige Herzogtum
Sachsen-Koburg-Gotha, immer aber, wie dieses anch jetzt noch, nur ein Duodez¬
staat, und sein Fürstenhaus entbehrte noch dazu jedes bemerkbaren politischen Ein¬
flusses nach außen, wie er den „Koburgern" der Gegenwart durchaus nicht ab¬
gesprochen werden kann. Und doch: mit welchem ungeheuerlichen Apparat, mit
welcher Masse von Offizianten aller Art. die doch im Grunde alle auf Kosten des
Landes lebten, war die Hofhaltung ausgestattet! Für die geringfügigsten und
niedrigsten Dienstleistungen waren besondre „Beamte" angestellt, und jeder nahm
in der Stufenleiter der höfischen Rangskala seine besondre Stelle ein. Da gab es
— von höhern Chargen zu schweigen — z. B. den Stallschreiber, den Kuchen¬
schreiber, den Kellerschreiber? den Stallknecht, den Küchenknecht, den Kellerknecht;
den Hühuerstvpfer, deu Küchenfcchrknecht; den Leibkutscher, deu Kutscher, den Ka¬
leschenknecht; die Waschfrau, die Silberscheurerin. die Bettmagd; den Hoftrompeter,
den Hofpanker; den Hofkehrer, den Hofeinheizer, den Hvflnternenwärter, und
Dutzende untre derartige Existenzen —- alles nicht etwa unbeachtete Diener und
Handlanger schlechthin, sondern sorgfältig klassifizierte „Beamte," die sich ihrer Würde
bewußt waren und auf jeden nicht bei Hof Beschäftigten gönnerhaft herabsahen.
Ich habe einzelne überständig gebliebne Exemplare solcher Leute noch Wohl gekannt
und weiß, wie sie sich benahmen.
Unsre „Klassifikation" weist nicht weniger als 475 Berufe auf, von deren
Inhabern ihrer Bezeichnung nach mindestens ein Drittel ausschließlich im Hofdienst
gestanden haben muß, sodaß also höchstens zwei Drittel ans den Staatsdienst und
auf Privatbeschäftigungen kamen. Und wie sah es nun mit den Rangverhültnissen
dieser Leute, beide Kategorien gegen einander gehalten, aus?
In der ersten Klasse figurieren unter siebzehn Mann überhaupt nur fünf
Staatsbeamte: Kanzler, Geheimer Rat, Generalleutnant, Generalmajor <AL. bei
einem Truppenkontingent von etwa zwei Bataillonen nach jetzigen Begriffen!),
Präsident; dagegen zwölf hohe Hofchargcn: Hausmarschall, Hofmarschall, Ober¬
kammerherr, Oberhofmarschall, Oberhofmeister, Oberjägermeister, Oberlammercr,
Oberlnndjägermeister, Oberlandshauptmann, Oberschenk, Oberstallmeister, Schlo߬
hauptmann. Wie nur die Ressorts aller dieser Würdenträger gegen einander ab¬
geteilt gewesen sein mögen?
Die zweite Klasse enthält einundzwanzig Auserwählte, darunter allerdings vor¬
wiegend hohe Staatsbeamte, fast lauter „Geheime," die sich aber gefallen lassen
mußten, mit jeder sogenannten „Hofdame" zu rangieren. Das ist gewiß nach
jetzigen Begriffen schon eigentümlich; von der dritten Klasse an wird die Sache
aber geradezu spaßhaft.
In dieser rangiert z. B. der Generalsuperintendent und der Oberhofprediger
auf einer Stufe mit dem „Adlichen ohne Charakter," also mit jedem beliebigen
Jungen, der in der Wahl seiner Eltern so vorsichtig gewesen war, daß er ein
„von" vor seinen Namen zu setzen berechtigt erschien, mit dem Jagdjunker und
mit dem Stalljunker.
In der vierten Klasse finden wir den Direktor des hiesigen (Gothaischen)
V^miiÄÄi mit dem geheimen Botenmeister und demi Küchenmeister, in der fünften
die Bürgermeister zu Gotha, Ohrdruf und Waltershausen mit dem Hoftnnzmcister
und dem Lousäireetizur as» Misii-si?), in der sechsten den Amtsadvokaten mit dem
Keller- und Küchenschreiber und dem Futterkommissarius, in der siebenten den
Korrektor des gMwÄLii zu Ohrdrnf mit dem Kohlenverwalter und der Waschfrau
im Resideuzschlosse, in der achten den Notarius mit dem Küchenschreibersgehilfen
und dem Tafeldecker, in der neunten aber sogar den geistlichen Substituten, den
Fabrikanten und andre mit dein Juden, dem Leibknecht und der Herzoglichen Bett¬
magd gnädigst zusammengestellt! Rothschild, Krupp und die Bettmagd!
Solche komischen Zusammenstellungen könnten wir leicht noch zu Dutzenden
bringen, die angeführten dürften aber genügen.
'
I/6t>at, ok8t, moi! Das schwebte eben den Fürsten zur Zeit der vorletzten Jahr¬
hundertwende trotz der französischen Revolution immer noch vor, obschon es nicht
mehr in der schroffen Weise des roi solvit empfunden oder gar ausgesprochen
wurde. Gerade in Gotha regierten zu jener Zeit sehr gebildete, Kunst und Wissen¬
schaft energisch fördernde Fürsten (Ernst II. von 1772'bis 1804 und August von
1804 bis 1822), aber Hof, Hofbeamte und Hofdienerschaft standen für sie immer
noch unermeßlich hoch über Staat. Staatsbeamten und Staatsdienerschaft, eine tiefe
Kluft trennte beide noch von einander. Freilich gab es jn damals auch noch keine
Staatsbürger, sondern nur getreue Unterthanen, die das als ganz selbstverständlich
hinnahmen.
Wenn Herzog August mit seinen Schranzen zur Tafel ging, verkündete dies
der Hofpauker von einem nach der Stadt zu gehende» geöffneten Fenster des Frieden¬
steins aus uibi vt, in'bi durch einen im.ghalleudeu kunstvollen Pcmkeuwirbel, das
Publikum aber strömte nach dem Schloß, um im Speisesnal hinter einem in respekt¬
voller Entfernung um die Tafel herum gespannten Seil den Landesherrn mit seinen
Hofstaaten von silbernen Tellern essen zu sehen und die Schloßgardekompnguie in
ihren prunkvollen Uniformen (etwa wie die der jetzigen Karäo« ein oorxs in Berlin)
zu bewundern, die nnter dem Befehl ihres Kommandeurs die Platten mit deu
Speisen auf die Tafel zu tragen hatten. Ich habe noch Leute genug gekannt, die
das als Kinder und junge Männer mit angesehen haben. Niemand wird mir
hoffentlich die Absicht unterstellen, zwei um ihr Ländchen verdiente Fürsten der
Publikation und der Handhabung des besprochnen „Erlasses" halber lauge nach
ihrem Tode verkleinern oder lächerlich machen zu wollen; eine Wiederaufgrabung
solcher längst vergessenen Aktenstücke trägt aber zur Erinnerung an frühere Kultur¬
zustände und Lebensanschauungen vielleicht mehr bei als eine langatmige Abhand¬
lung, die den notwendigen Beweis für ihre historische Nichtigkeit gewöhnlich doch
nur durch den Hinweis auf ein dem Leser meist unzugängliches Quellenmaterial
in kurzen Noten unter den: Strich des Textes führen kann.
Als vor neunzehn Jahren die Zeitungen meldeten, daß ein
Kanonikus von Se. Peter feierlich dem Papst abgesagt habe, erregte das natürlich
großes Aufsehen. Jetzt ist der Mann längst vergessen, gleich allen Kirchenrefvr-
matorcn der Periode, als deren wichtigster Vorgang die Konkurrenz des Dampfes
mit der Elektrizität gilt. Aber der Graf Eurieo Campello ist eine so edle Er¬
scheinung, daß er in die Sammlung von weltgeschichtlichen Porträts aufgenommen
zu werden verdient, zu deren Betrachtung gute Erzieher ihre Zöglinge einladen,
""d das ist geschehen durch das kleine Buch: Graf Campello und die katholische
Reform in Italien von Nao. Alexander Robertson, Prediger der schottischen
Presbyterialkirche in Venedig. Deutsche genehmigte Übersetzung mit einem Ein¬
führungsworte von Professor Dr. W. Beyschlag (Halle a. S. I. Frickes Verlag.
2.50 Mark, geb. 3,50 Mary. Die Campello haben ihren Stammsitz beiSpoleto;
Enrico aber, der seinen Vornamen seinem Paten, dem Prinzen Heinrich, Oheim
des Kaisers Wilhelm I., verdankt, wurde am 15, November 1831 in Rom ge¬
boren. Sein Vater war Päpstlicher Beamter, beteiligte sich 1848 an der Revo¬
lution und erhielt unter der Bedingung Verzeihung, daß er einen seiner drei Söhne
der Kirche widme. Er wählte den jüngsten, Enrieo, dessen Gewissensbedenken nicht
beachtet wurden. Von 1861 bis 1867 entfaltete der junge Priester als Kanonikus
von Santa Maria Maggiore eine segensreiche Wirksamkeit, indem er eine Abend¬
schule für Handwerker leitete, deren Schüler ihm ihr Leben lang Dankbarkeit be¬
wahrt haben. Aber seineu Amtsgenossen gereichte diese gemeinnützige Thätigkeit
zum Ärgernis, und sie zwangen ihn durch ihre Ranke, die Schulleitung niederzu¬
legen. Pws dagegen, der ihm persönlich wohlwollte und seine Thätigkeit schätzte,
erunuute ihn zum'Kanonikus vou Se. Peter. In dieser hohen Stellung faud er
"ur allzuviel Gelegenheit, die Gedanken weiterzuspinnen, die ihm seine ersten ^r-
fnhrungeu eingegeben hatten, und manchmal machte sich sein Unwille in Wor en
Luft, so z. B. als er einst nnter ander., lächerliche,. Reliquien deu in Diamanten
gefaßten Finger des Apostels Thomas den Gläubigen zum Kuß reichen mußte.
Angesichts des Lebenswandels der italienischen Klerisei fing er an, sich des Priester¬
kleides zu schämen; er erschien darin nicht mehr auf der Straße und trug auch die
Tonsur nicht mehr. Reformversuche, an denen er sich beteiligte, mißglückter, und
er erkannte je länger je deutlicher, daß auch ein reformfreundlicher Papst — und
für einen solchen hielt er Lev XIII. — nicht reformieren könne, weil es ihm seine
historisch gegebne Stellung »ut seine Umgebung unmöglich machten. So legte er
denn ein? 13. September 1881 sein Amt nieder und begründete diesen Entschluß
in einem längern Schreiben ein den Kardinal Bvrrvmeo, das er am Abend des¬
selben Tages in der Kirche der amerikanischen Methodisten verlas. Seinen Versuch
einer Kirchenreform, der er sein übriges Leben zu widmen beschloß, begann er mit
der Gründung einer Zeitschrift, die er in Erinnerung an das Ja,den'u.in, die mit dem
Wahlspruch In Koe si^no v-roe-s geschmückte Standarte Konstantins, II I^b-rro nannte.
Ein Komitee von englischen Geistlichen mietete einen Saal in der Via Fnriui,
worin er Gottesdienste von evangelischem Charakter abhielt, ohne jedoch die katho¬
lischen Formen aufzugeben, und erwarb später in der Via Genvva ein Gebäude,
das zu eiuer „Sankt Paulskapelle" und Abendschule umgebaut wurde. In einer
Schmiede fand er einen kranken alten Mann, Pnnzcmi, der sich seinen Lebensunter¬
halt mit dem Gerndehnmmern krummer Nagel verdiente. Der Mann war ein
1820 geborner Korse, der als Mönch eine eifrige Neformthätigkeit entfaltet, drei
Jahre in den Kerkern der Inquisition zugebracht, dann in Tunis als Gärtner ge¬
arbeitet hatte, nach dem Sturz des Papstkönigtums in die italienische Heimat zurück¬
gekehrt war, und der in allen Lebenslagen Flugschriften verfaßt hatte, die er, so¬
weit seine kleinen Lvhnersparnisse und die empfangner Unterstützungen reichten,
drucken ließ, um durch sie wahres Christentum unter demi Volke zu verbreiten.
Dieser Pcmzcmi wurde nun sein Gehilfe. Es fanden sich noch mehrere, n. a. ein
Hauskaplan des Papstes, Scivarese, der für die italienischen Christkatholiken eine
Agende ausarbeitete, dann aber, weil ihm Campello nur ein dürftiges Einkommen
bieten konnte, zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückkehrte. Das geschah im Jahre
1886, und da er noch einen Genossen nachzog, ein dritter zwar nicht abfiel, aber
zur Sicherung seines Lebensunterhalts ein Negierungsamt annahm, wurde Campellos
Stellung in Rom so schwierig, daß er seine Thätigkeit in das umbrische Valnerina-
thal zu verlegen beschloß, wo er von seinem Vater ein kleines Landgut geerbt
hatte. Den verlassenen kleinen und armen Gemeinden dieses Thales — einer der
dortigen Pfarrer ist gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt mit Kesselflicker zu ver¬
dienen — erschien er mit seinen Predigten und seinen Abendschulen als ein Engel
des Trostes, und so gelang es ihm bald, mehrere dieser Gemeinden für sein
Christentum zu gewinnen; er besucht sie abwechselnd, um Gottesdienst und Schule
bei ihnen abzuhalten; in Arrone, wo er seinen Wohnsitz hat, ist eine Kirche samt
Schulhaus gebaut worden. Auch in San Nemo hat ihn der Anklang, den seine
dort gehnltnen Vorträge fanden, in den Stand gesetzt, eine Pfarrei zu gründen,
und in Bordighera hat sich wenigstens ein Reformverein gebildet. — Campello
hat eine einträgliche Stellung und eine glänzende Zukunft geopfert, denn es winkte
ihm die Aussicht auf den Kardinalshut; nnter beständigen Entbehrungen, Kämpfen
und Sorgen arbeitet er hauptsächlich im Kreise armer Leute für deren leibliches
und Seelenheil; nach dem Bruch mit dem Vatikan waren seine ersten Schützlinge
und eifrigsten Zuhörer in der Paulskapelle junge Künstlermodelle. Daß auf eiuer
solchen Thätigkeit Segen ruht, daß sie im kleinen einzelnen Gutes stiftet und
nicht ohne Einfluß auf das große Ganze bleibt, wenn der auch nicht statistisch nach¬
gewiesen werden kann, ist selbstverständlich. Ob sie aber zu der reformiert-katho-
lischen italienischen Nationalkirche führen wird, für die sich Robertson und Bey¬
schlag begeistern, das kann vorläufig noch niemand wissen. Der Umstand, daß
englisches und amerikanisches Geld immer wieder über Krisen und Verlegenheiten
hinweghelfen muß, spricht nicht für die innere Lebenskraft der Bewegung. Soviel
haben ja die nordischen „Evangelisatoren" der Romanen endlich gelernt, daß sich
diese niemals in Masse zu einem lutherischen oder zwinglischen Christentnme be-
kehren werde»; Robertson und Beyschlag sprechen das offen ans, aber in Beziehung
auf die italienische Volksseele und den Verfall des Katholizismus scheinen sich doch
die Reverends manchen Tnnschnngen hinzugeben. Robertson schätzt die Zahl der
Italiener, die außerhalb der Kirche stehn, auf 22 Millionen, entwertet aber selbst
diese Berechnung dnrch die Erwähnung der bekannten Thatsache, daß sogar hoch¬
gebildete Atheisten auf dein Sterbebette den Geistlichen holen lassen. Er triumphiert
darüber, daß es in der Deputiertenkammer keine päpstliche Partei giebt, vergißt aber
ganz das päpstliche Verbot: no vlvtwri >w elvtti, dessen Zurücknahme eine päpst¬
liche Partei schaffen würde, wie die Siege der Klerikalen bei Kommunalwahlen in
vielen Städten beweisen. Er erteilt der italienischen Negierung das Lob, daß sie
das Volk sogar besser als die englische vor Päpstlicher Tyrannei schütze, denkt aber
nicht daran, daß es nicht die päpstliche Tyrannei ist, sondern die des Erretters
und Schutzengels, gegen die sich seit mehr als zehn Jahren die Opposition der
Volksvertreter richtet. Gewiß hängt der moralische und wirtschaftliche Zustand der
Italiener, der ja viel zu wünschen übrig läßt, mit ihrem Kirchenwesen zusammen,
aber wie weit dieses Ursache, und wie weit es bloß Wirkung ist, das wird sich
schwer ermitteln lassen. Gewiß wäre ihnen ein besserer Klerus und ein gereinigtes
Christentum zu wünschen, aber wer weiß, ob sie beides nicht gerade so haben wollen,
wie es ist, trotz alles Geschimpfs darüber und alles Spotts; in Seelen. zumal in
Volksseelen richtig zu lesen, das ist eine schwierige Kunst.
Unter diesem Titel, mit dem
Untertitel: Drei Aufsätze zur Naturgeschichte des Pessimismus (Berlin. Wilhelm Hertz,
1900) hat uus Friedrich Paulsen ein erfreuliches und erbauliches kleines Buch
geschenkt. Wer Schopenhauers Leben kennt, dem ist sofort klar, wie seine unselige
Welt nnr ein Spiegel seiner eignen selbstsüchtigen und darum unseligen Seele ist.
Der unvernünftige Weltwille ist eben sein eigner liebloser Wille. Aber seine
Intelligenz ist genial und hat bleibend wertvolles geschaffen. Und diese Intelligenz
hat hingereicht, ihn seine eigne Unvernunft erkennen zu lassen und eine Morallehre
der Liebe und Entsagung zu schaffen, von der er das Gegenteil geübt hat. Er ist
"tho nur aus Unvermögen zum Guten boshaft und verurteilt feine eigne Bosheit.
Dagegen erscheint in Mephistopheles das positiv Böse. Er ist gemein, er sieht in
jede Erscheinung der Welt seine Gemeinheit hinein, und er macht gemein; andre
unglücklich machen ist seine Lust. Das alles ist bekannt, aber Paulsen stellt es so
schön dar, daß es keinem schaden wird, es sich von ihm uoch einmal sagen zu lassen.
Und schön und kräftig zeichnet er den Charakter Fausts oder vielmehr Goethes im
Gegensatz zu Mephistopheles. Freilich hat der Dichter diese» schlimmen Gesellen in
sich getragen, sonst hätte er ihn nicht als poetische Figur aus sich heraushetzen können
und er hat ja auch sonst gezeigt, daß er zu richten und zu spotten, daß er kritisch
zu vernichten versteht, z. B. in den Xenien, aber deren hat er sich em wenig ge¬
schämt; an Schiller schrieb er: „Nach diesem tollen Wagestück müssen wir uns bloß
großer und würdiger Kunstwerke befleißigen und unsre proteische Natur zur Be¬
schämung aller Gegner in die Gestalten des Guten und Edeln wandeln." Der
Grundzug von Goethes Natur ist die Liebe, mit der er das Weltall umfaßt el»
jedes, auch das Kleine und Unbedeutende, auch das Gemeine, das Bose. das Zer¬
störende als im Weltplan begründet, an seinem Ort notwendig zu versteh» und zu
würdigen bemüht ist. Sich el» hübsch Lebe» zu zimmern, dazu geHort nach ihm:
-Bor allem keinen Menschen hassen! Und das übrige Gott überlassen"; und
Schopenhauer.,, den er durchschaut habe» muß. hat er ins Stammbuch geschnebeu:
-.Wonach soll man am Ende trachten? Die Welt zu kennen und nicht zu ver¬
achten." Wie kommt aber Hamlet, der edle Schwärmer, in diese GesellschaftDas
ist er nach Paulsen eben nicht; er ist kein edler und guter Mensch, sonder» ein
junger Mann von außerordentlichen Geistesgaben, zu denen eine ins Innere der
Dinge dringende Verstandesschiirfe geHort, der aber das Gegengewicht der Liebe
fehlt. Darum ist er eitel auf seine Gaben und beinahe Situationen, die zum Handeln
drängen, nur zu Monologen, in denen er seinen Geistreichtum glänzen läßt. Daran
durchschaut er allerdings ganz Dänemark und seinen Hof, worin nicht bloß etwas
sondern alles faul ist, die schone Ophelia, die die Naive nur spielt, uicht aus-
genommen, aber er benutzt seine Kenntnis nicht dazu, die Aufgabe zu erfüllen, die
ihm durch die Lage, durch die Erkenntnis der Lage und durch seine Stellung auf¬
erlegt ist: die Aufgabe, die Geschwüre herauszuschreiben und den Volkskörper zu
Heilen, sondern er beinahe sie nnr dazu, sich als geschickten Theaterregisseur zu zeigen,
alle Personen seiner Umgebung mit Sarkasmen, mit boshaften Anspielungen und
mit Strafreden zu ängstigen und zu peinige»; er haßt das Böse nicht; es auf¬
zudecken und triumphierend den Schuldigen vorzuhalten, die es zu verbergen bemüht
sind, das bereitet ihm die höchste Genugthuung; freilich, eigentlich böse ist er nicht,
dazu hat er nicht Kraft genug; die Welt und seine eigne Person ekeln ihn an;
aber weiter als bis zu diesem unwirksame» Ekel bringt ers nicht. Diese Auffassung
Hamlets ist bei der ersten Veröffentlichung in der Deutschen Rundschau auf starken
Widerspruch gestoßen, aber sie hat etwas für sich. — Der größte unter allen
positiven Geistern, die das Böse aufdecken uicht aus Freude am Bösen, auch nicht
um ihre eigne Verzweiflung am Guten zu rechtfertigen, sondern um es durch das
Gute zu überwinden, ist Jesus. Ein Anonymus, dessen Aufsätze über Shakespeare
wir vor längerer Zeit in einer englischen Wochenschrift gelesen haben, stellt Shakespeare
über Jesus, weil dieser keinen Falstaff in sich enthalte, es ihm demnach an der
göttlichen Fülle und Vollständigkeit gebreche. Nun ist es ja schon ein Frevel,
Jesum nicht nach seinem Werke, sondern nach seinen sozusagen litterarischen Leistungen
zu beurteilen, die gar nicht seine sind, sondern die von Aposteln und Apostelschüleru.
Aber auch so ist die Vergleichung unpassend. Gewiß enthält Gott auch das Böse
in sich, denn die Teufel wie die Dummköpfe sind ja seine Geschöpfe, und was für
einen guten Humor Gott hat, sieht man an den grotesken und drolligen Tieren,
die er geschaffen hat, und in der Weltgeschichte. Aber zur Lebensaufgabe Jesu ge¬
hörte es nicht, dnrch Wort und Beispiel die Kräfte zu ermutigen, die teils nur
niedere Dienste im Welthaushalt verrichten, teils als Geister der Verneimmg die
Pläne Gottes durch Widerstreben fördern, sondern er hatte gerade gegenüber dem
Gemeinen und der Verneinung, woran es in der Welt nie und nirgends fehlt, das
Höhere und die Bejahung geltend zu machen. Aber war auch damit vorwiegender
Ernst in seinen, Charakter gegeben, so schloß dieser doch die heitere Lebensnnffassnng
und den Spott über Unvollkommenheiten und Thorheiten nicht ans. Daß diese
Seite in den Reden und Handlungen Christi wenig beachtet und von den Schrift-
erklärern vielleicht gar nicht bemerkt wird, darüber braucht man sich nicht zu ver¬
wundern; gehören diese Herren doch einem Stande an, ans dessen obligater Amts¬
miene die Richtung der Mundwinkel auf die Ohren zu ausgeschlossen ist. Wir
haben einmal von dem hochernsten und Hochpolitischeu Unsinn gesprochen, der mit
dem Evangelium vom Zinsgroschen getrieben wird, und unsre Meinung dahin aus¬
gesprochen, daß Christus mit seiner Antwort auf die verfängliche Frage die Herren
Konservativen und Nationalliberalen, die ans Haß gegen ihn ein Kartell geschlossen
hatten, bloß habe verspotten wollen. Pnulsen hat nun den drei antipessimistischen
Aufsätzen noch eine kleine Zugabe beigefügt: „Das Ironische in Jesu Stellung und
Rede," worin er ein paar Dutzend Aussprüche des Heilands erläutert, bei deren
Anhörung der eine Teil seiner Zuhörer herzlich gelacht haben wird, der andre desto
weniger. Und er schließt mit der prächtigen Bemerkung, daß die ganze Geschichte
der Kirche paradox und als leibhaftige Ironie verlaufe: „An allen Orten sehe»
wir jetzt die Herren und Großmögende» sich zu dem Glauben an Christus bekennen.
Dagegen haben die kleinen Leute,' das Volk, die Zöllner und Sünder, die ihm einst
nachgingen, sich jetzt vielfach von ihm abgewendet. Eine seltsame Umkehrung des
ursprünglichen Verhältnisses! Und seltsam würde wohl auch Jesum, wem, er wieder¬
kehrte und das Christentum. wie es nun in der Welt ist, betrachtete, manches darm
nannten. Wenn er einmal den Beratungen im Kabinett dessen, von dem geglaubt
wird, daß er sein Stellvertreter auf Erden sei, oder auch den Verhandlungen in
unsern Kultusministerien und Synoden beiwohnte, oder wenn er eine Tageszeitung,
die sein Zeichen, das Kreuz, an der Stirn trägt, in die Hand nähme und durch¬
läse, vom Leitartikel über die Notwendigkeit des christlichen Glaubens für die Er¬
haltung der irdischen Königreiche bis zu den Anzeigen auf der letzten Seite, die
zum Genuß aller Freuden der Reichshauptstadt einladen: ob nicht manchmal wieder
jenes ironische Lächeln um seine Lippen spielen würde, als wollte er sagen: Also
Wirklich, so hoch bin ich zu Ehren gekommen auf Erden? Das hätte ich wahrlich
nicht gedacht."
Der großartige Fortschritt der Natur¬
wissenschaften im vorigen Jahrhundert ist aus zwei Ursachen mit Begeisterung be¬
grüßt und gefeiert worden: um der Technik willen — und die in dieser Beziehung
auf ihn gesetzten Erwartungen hat er nicht allein erfüllt, sondern übertroffen —,
"ut weil man von ihm erwartete, daß er das Welträtsel lösen und den religiösen
Glauben ausrotten werde; in dieser Beziehung aber hat er grausam enttäuscht; er
h"t gerade die entgegengesetzte Wirkung hervorgebracht. Insbesondre sind bei den
Naturforschern selbst zwei merkwürdige Wendungen eingetreten, auf die wir die
Leser schon wiederholt aufmerksam gemacht haben. Nachdem man den göttlichen
Geist »ut den Menschengeist geleugnet und diesen zu einer Gehirnansschwitzung
degradiert hatte, hat mau sich genötigt gesehen, zuerst den Insekten, dann den
Protisten, den hellen, den Atomen Geist zuzuschreiben. deun der Wille und die
Intelligenz, die man im Kleinsten wirksam findet, sind doch eben nichts andres als
Geist. Und nachdem man die Zweckmäßigkeit des Weltalls für Einbildung. Pfaf en¬
geschwätz und Fabel, alle Erscheinungen aber für das zufällige Ergebms blind
Wirkender mechanischer Kräfte erklärt hatte, ist man allmählich ans dem Wege über
die „dnrch Anpassung gewordne Zweckmäßigkeit" und die „Zielstrebigkeit" zur
Teleologie zurückgeführt worden. Die Einzelforschung hat in den Organismen eme
so ungeheure Fülle der wunderbarsten, vordem nie geahnte» Zweckmäßigkeiten, der
Beweise einer alle menschliche Intelligenz übersteigenden Weisheit aufgedeckt, daß
sich keiner mehr dem Bekenntnisse zu entzieh» vermiig: hier waltet planvoll schaffende
göttliche Weisheit, und die Zahl der ursprünglich zweifelnde» oder unglänlugen
Denker ist nicht gering, die auf dem Grunde der durchwühlten und dnrchleuch eden
Welt nichts andres gefunden habe» als den alten Gott des Katechismus. Zu ihnen
gehört der Pfarrer F. Gerstung, der seine Erfahrungen in einem vortreffliche»
Büchlei» niedergelegt hat: Glaubensbekenntnis eines Bieneuvaters (Frei-
burg i. B. und Leipzig, Paul Waetzel. 1900). Er giebt eine Jmkerzeitschrift
heraus und hat eine ganze Reihe von Schriften über Bienenleben und Imkerei
veröffentlicht. In der vorliegenden Schrift zeigt er zunächst, welcher haarsträubende
Unsinn es ist, mit Ludwig Büchner den Bienenstock als einen sozialdemokratischen
Staat und die wunderbare» biologische» Erscheimmge» des Bienenlebens als Wir¬
kungen einer dewȧe und planvoll handelnden Bieneinntelligenz aufzufassen, die,
wem. sie vorhanden wäre, alle menschliche Weisheit und alles menschliche Vermögen
weit übersteigen würde. Freilich ist sie vorhanden, aber nicht als Privateigentum
des Würmchens, das ein kalter Lufthauch tötet oder ein Vögelchen schnappt, sondern
im Schöpfer, der jedem den Bienenorganismns verständig Betrachtenden notwendig
als transzendent und immanent zugleich erscheint; jenes, indem sein Walten eben
nicht bewußte und freiwillig ans eigner Kraft vollzogne That des Geschöpfes ist,
dieses, indem die wunderbaren Vorgänge im Bienenorganismus zu der Annahme
zwingen, daß Gott in jedeni Augenblicke in jedem kleinsten Teile dieses Organismus
wirkend gegenwärtig sei. Die bedeutende fnchwisseuschaftltche Leistung Gerstuugs
besteht in dem Nachweis, daß jedes Bienenvolk ein einheitlicher Organismus ist,
und daß sich Brut, Arbeiterinnen, Drohnen, Königin, Wachs und Honig zu ein¬
ander Verhalten wie Glieder und Organe eines Leibes, nicht etwa bloß bildlich;
er seit deshalb zur Bezeichnung des ganzen und vollständigen Bieneuwesens das
Wort „der Bien" eingeführt. Jeder äußere Einfluß, z. B. Futterüberfluß oder
Futtermangel oder eine besondre Art von Futter, wirkt durch die ganze Kette aller
Glieder des Biers hindurch und wird zum Nutzen des ganzen Organismus oder
zur möglichsten Abivendung von Schaden verwandt. Ani von diesen merkwürdigen
Vorgängen wenigstens eine Ahnung zu geben, führen wir nur einen Satz an:
„Wenn die Arbeitsbienenkette und im Anschluß an dieselbe die Brutlette nicht allen
Futtersaft absorbiert, so wird sich der Überschuß zunächst in Drvhnenfuttersaft ver¬
wandeln, und wenn die Drohnen diesen nicht absorbieren, so wird er schließlich den
Charakter des Königinnenfuttersaftes annehmen. Besonders interessant ist hierbei,
daß, wenn die Brutbienen Drohnenfuttersaft produzieren, auch der Zustand der
Königin jd. h. die chemische. Beschaffenheit ihrer Saftes stets ein derartiger ist, daß
sie Drohneneier legen kann und muß." Am Bienenorganismus macht Gerstung
das Wesen jedes Organismus und des ganzen Weltalls klar.
Der an sich treffliche
und sehr wohlgemeinte Artikel mit derselben Überschrift in Ur. 17 der Grenzboten
darf dessen ungeachtet nicht ohne Widerspruch bleiben. In der Tendenz, nämlich
darin, daß das Schwanken des Ostertermins überhaupt und insbesondre für das
Schulwesen sehr zu beklagen ist, stimme ich mit dem Herrn Verfasser völlig
überein, nicht aber in der Annahme der Möglichkeit einer Abhilfe. Die römisch¬
katholische Kirche ist dafür schlechterdings nicht zu habe«. Soviel mir bekannt ist,
hat die sächsische Regierung auf eine Anfrage nicht einmal eine Antwort erhalten
(Schweigen ist freilich auch eine Antwort). Nun ließe sich zwar der Fall denken,
daß die evangelischen Kirchen lutherischer, reformierter, unierter Observanz für sich
gemeinsam einen feststehenden Termin für das Osterfest festsetzten. Aber dies wider¬
spricht doch dem Gefühl, daß eine gewisse Gemeinsamkeit unter den verschiednen
christlichen Konfessionen soweit irgend möglich aufrecht erhalten bleiben muß.
Bisher sind alle Hauptfeste (Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt) in der
römischen und in der evangelischen Kirche zu derselben Zeit gefeiert worden, und
daran sollten wir, sowohl aus kirchlichen als auch aus politischen Gründen, nicht
rütteln lassen. Aber auch den andern angedeuteten Weg halte ich nicht für gangbar.
Ostern muß meines Erachtens auch künftig in die Osterferien, oder vielmehr die
Frühjahrsferien müssen in die Osterzeit fallen, weil die deutschen Familien gewohnt
sind, die Osterzeit — also mindestens die Zeit vom Grünen Donnerstage bis zum
zweiten Osterfeiertage — gemeinsam, also mich mit den auswärts untergebrachten
schulpflichtigen Kindern zu verlebe«:. Dies wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern,
in südafrikanischen Kriege geschieht das Unerwartete, Über¬
raschende; es treten Wendungen ein, die die ganze bisherige
Lage in ihr Gegenteil verkehren. Werden die Erdwölfe den
Elefanten bewältigen, oder wird dieser selbst beim Sturze in
ihre Minengänge „mit seines Leibes Riesenballe" sie und ihren
ganzen Van erdrücken? Auch jetzt läßt es sich noch uicht sagen. Erliegen aber
die Kleinen, dann wird der heute so laute Entrnstungschorus der zuschauenden
Völker sehr bald abschwellen und schließlich bloß durch „Brummstiminen" mar¬
tert werden. Das immer dumpfer werdende Röcheln des niedergeworfnen
Heldenvolks wird sich allmählich mit den gewohnten Tagesgeräuschen unsers
gwßen Kulturstampfwerks vermengen, gleich den schweren, mühsamen Atem¬
zügen, die sich den zusammengeschnürten Kehlen der verzweifelt nach Luft
ringenden Ballen und Finnlünder entringen.
Es wäre schlimm, wenn ein finnläudischer Politiker recht behielte, der voll
Bitterkeit sagte, sein Baterland werde in dein Kampf um Recht und Selbst¬
bestimmung wohl ans die Teilnahme Europas verzichten müssen, da es nicht
w der Lage sei, dnrch das Geknatter von Mausersalven und den Donner aus
Creusotgeschützen seine nationale Tragödie mit den erforderlichen zugkräftigen
Knalleffekten" auszustatten. Wie wurde es wohl um die Gesundheit unsers
politischen Empfindens bestellt sein, wenn wir den Untergang eines Gesittungs-
Kvlks nur dann betrauern wollten, sobald er sich auf blutgetränktem Schlacht¬
felde vollzieht? Wir würden dann den abgestumpfte,? Römern wenig mach¬
ten, denen erst der nervenerschütternde Märtyrertod standhafter Glaubeus-
kämpfer, rührend schöner Dulderinnen ein flüchtiges Mitgefühl für die Leiden
der schuldlos verfolgten Christengemeinde abzunötigeil vermochte.
In siegreichem, aber auf die Dauer aussichtslosen Heldenkampf gegen
.^hnfache Übermacht haben einst auch die Bewohner der russischen Küstenländer
gestände». A>n Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, also hundert Jahre,
nachdem der preußische Zweig des Deutsche» Ordens der vereinten Macht Polens
und Litauens erlegen war, fegte der livländische Ordensmeister Wolter von
Plettenberg an der Spitze seiner Geharnischten die unabsehbaren russische»
Massenheere noch wie Spreu auseinander, U»d als sich etwas über el» halbes
Jahrhundert spater die Verteidiger Wendens, um nicht deu stürmenden Nüsse»
in die Hände zu falle», mit ihrer Burg in die Luft sprengte», dn erhellte ihre
Verzweiflu»gsthat de» trübe» Nachthinunel des Untergangs nltlivländischer
Selbständigkeit als das letzte Flammenzeichen eines unvergänglichen Waffen-
ruhuis. Die sagenhaft wunderbaren, an die Wikiugerzeiteu geniahueudcu Kriegs-
thaten. des kleinen schwedisch-finnischen Heeres im Jahre 1809 haben in Nune-
berg ihren Statten gefunden und lebe» in seine» ,,Stal"-Erzähl»»ge» für alle
Zeiten fort. Nicht in den Nahme» dieser vergleicheiideu Darstellung gehört
hiugege» der fiebernde polnische Abenteurergcist, der »och ii» Jahre 1863 uuter
dem milde» Szepter Alexanders II. das eben wieder langsam emporblühende
Weichsellaiid d»res eine Politik im Stil des Ritters aus der Mancha uuter
die Hufe der Kosakenpferde brachte.
Wenn Cha>»berlai»s Politik siege» »»d die Vlire» das Wagnis ihrer
.Kriegserklärung a» das übermächtige England mit dem Verluste ihrer Un¬
abhängigkeit bezahle» sollten, so brauchen sie die Hoffnung auf Wieder¬
befreiung durchaus nicht aufzugeben. Sowohl der Oranjefreistaat wie die
Südafrikanische Republik sind ja schon England unterworfen gewesen und
haben doch die Fremdherrschaft wieder abzuschütteln vermocht. Ihr Volks-
tum erstreckt seine »nichtigen, tief den Grund durchdringenden Wurzeln durch
ganz Südafrika. Das sie bedrückende Stacitsweseu liegt jenseits des Salz¬
wassers, hat allerorten Feinde wie Sand am Meer und kaun jeden Augen-
blick an einigen seiner ausgespreizten Polypeuarme festgehalten werde». Aber
wenn auch der Freiheitskampf des wacker» Bureuvvlks mit der dauernden Be¬
festigung der englischen Oberherrschaft ende» sollte, so können ihm zwei hohe
Güter doch nie entrisse» werdem sein Glaube und seiue Sprache. England
beutet bloß aus, es entrechtet die Unterworfue» nicht gänzlich. Außerhalb
des europäischen Kontinents ist überhaupt noch nie der Versuch unternommen
worden, eine lebenstrotzende, kraftvoll entwickelte Sprache systematisch zu knebeln,
gewaltsam zu ersticke». Rußland blieb es gar vorbehalten, die herrischen,
willkürlichen Gelüste des asiatische» Despotismus mit all de», kleinliche»
lwiformierungszwang des europäische» Absolutismus und de» schonungsloser
Ausrottuugsbestrebuugeu eines fanatischen, ganz und gar modernen Natio¬
nalismus zu einer Kette zusnnnueuznschmieden, wie sie bisher noch nie vo»
einem verschiedenartig zusammengesetzten Volke getragen worden ist. Glied¬
maße», die über die zahllose» Windungen ihres eherne» Schlaugeiileibes »och
hi»a»frage», werden unbedenklich abgehackt. Wenn die russische Negierung
nicht in der Lage ist, deu radikalen Elemente» das zu gewähre», wonach ihr
Herz begehrt, so vermag sie ihnen doch das zu opfern, was ihnen mißfällt —
die fremden Volker! Diese sind die Prügelknaben der ungebärdigen Rangen
des russischen „Vorderhauses,"
Wer auf einen erfolgreichen Vormarsch der russischen Kantschukoffs gegen
die englischen Plumpuddings in Indien hofft, weiß nicht, das; er um die Aus¬
treibung des Teufels durch Beelzebub betet. Im Vergleich zu den Schreckeus-
thntcn eiues Murawjew in Wilna erscheint das verhältnismäßig milde Ver¬
fahren Englands gegen die aufständischen Afrikander nahezu als die Erfüllung
der frömmsten Quäkerideale.
Wenn auch die Buren Grund genug habe», die Engländer zu hassen und
Zu verabscheuen, so können sich die Afrikander eigentlich nicht allzusehr über
das britische Regiment beklagen. Die Sache liegt uur so, daß sie auf der
von ihnen erreichten Entwicklungsstufe nicht einmal dieses bescheidne Maß von
Bevormundung mehr zu ertragen vermögen und daher im Falle des Sieges
ihrer Stammesbrüder sicher auch den letzten Rest der britischen Hoheitszeichen
M beseitigen wissen würden. Der Gegendruck, den ein starker politischer Druck
hervorruft, wird weniger durch die dabei angewandte Gewalt, als durch die
Widerstandskraft und Rückstoßfähigkeit des angegriffnen Teils, mit andern
Worten durch den Grad der Zusammenpressung und Erhitzung seiner poli¬
tischen und wirtschaftlichen Moleküle hervorgerufen. Der abgehärtete, völlig
auf eigne Füße gestellte Kolonist wirft schon ein politisches Deckbett weit von
sich, das dem in der Heimat zurückgebliebnen Muttersöhnchen zur Gewohnheit,
ja zum Bedürfnis geworden ist. Ranke sagt, die kleinasiatischen Griechen
hätten sich ja vielleicht mit der Zeit in die persische Herrschaft schicken können,
wenn ihre ungeborne „Spontaneität" es ihnen nicht unmöglich gemacht hätte.
Diese Spontaneität hat auch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entzündet
und hat heute Buren wie Griqualand-Afritauder getrieben, den letzten Bluts¬
tropfen, den leMeu Hauch voll Mann und Roß an ihre Freiheit zu setzen.
Auch in Finnland ist dieser Selbstbestimmnngstrieb stark entwickelt.
Das, was Alexander I. den Finnländern auf dem Landtage von Borgo im
Jahre 1809 in seiner „Versicherung an die sämtlichen Einwohner Fiiiulands"
gewährleistete, glich nicht bloß einer Verfassung, sondern schloß das Wort
"Konstitution" ausdrücklich mit ein. Das, was sich heute wie der bewegliche
Betthimmel der Räuberherberge auf sie herabsenkt, ist nichts andres als der
erstickende, erdrückende Absolutismus. Wer deu Abstand zwischen Recht und
Gewalt, zwischen freiem, leichtem Akme» u»d krampfhaftem Schnmise» unter
schwere», Alpdruck zu ermessen vermag, wird wissen, was sie empfinden. Ihre
Gouverneure haben hinfort n»r »och den russischen Diensteid zu leiste» und
sind des Schwurs auf die fumläudische Verfassung durch einen Mas enthoben,
zu dem der Großfürst von Finnland nicht das Recht, der Zar von Rußland
aber die Macht hatte. Die bekümmerten Worte, in denen sich die Vertreter
der vier Stände des Landtags über die bedrohte Zukunft des Landes äußern,
werden im Petersburger „Moniteur" als „unpassend" bezeichnet. Die auf
dem Landtag gehaltnen Rede», die »ach herrschendem Recht und Brauch bisher
der Kenntnis aller Volksschichten in vollem Umfange zugänglich gemacht werden
maßten, werden hinfort mir nach dem Ermessen biirennkratischer Verdnnklnngs
männer veröffentlicht — eine Unterdrücknngsmaßregel, die nach finnländischen
Begriffen unerhört ist, Ihr kleines, gut organisiertes Heer übt in russischen
Lagern, ihre ausschließlich zur Verteidigung des Heimatbodcus bestimmte Land¬
wehr wird allmählich mit der russischen Reichswehr verschmolzen. Ihre bisher
von belästigenden Eingriffen nahezu freie Kunst und Litteratur wird unter das
russische Zeusurreglcmeut gebeugt. Zensoren, die sich nicht in kürzester Frist
mit den Danmschrnuben und Mundbirnen dieser Geistes- und Gcwisseusfolter
vertraut zu machen vermögen, werden ihres Amts entsetzt.
Dies ist die augenblickliche politische Lage in Finnland. Ganz anders
stellte sie sich zu Beginn der Nussifizierung in den Ostseeprovinzen dar. Während
der russische Zar in Finnland nichts andres als verfassungsmäßig beschränkter
Großfürst ist, war er in den Ostseeprovinzen schon damals absoluter Herrscher,
also Quell und Ursprung aller gesetzgebenden Gewalt. Es bestanden baltische
Sonderrechte, und es war nnfraglich ein offner Rechtsbruch, daß sie einfach
als nicht vorhanden angesehen wurden, weil Alexander III. sie bei seiner Thron¬
besteigung nicht ausdrücklich gewährleistet hatte. Es hätte aber auch die Mög¬
lichkeit vorgelegen, sie durch zarische Willensakte, unterstützt durch bestellte
Gutachten und Mehrheitsbeschlüsse deS Reichsrath, förmlich aus der Welt zu
schaffen. Peter der Große hatte den Livländern und Esthländern ihre Vor¬
rechte nicht deshalb erteilt, weil er nicht anders ihres Landes Meister werden
konnte, sondern weil ihm daran lag, den Anschein einer freiwilligen Unter¬
werfung hervorzurufen, die ihn der vertragsmäßigen Verpflichtung überhob,
diese Länder als vormals polnischen Besitz dem Bundesgenossen Polen aus¬
zuliefern. Da er sich und seine Nachfolger aber nicht für alle Zukunft binden
wollte, so hängte er neben die den feierlichen Pergamenten angefügten Kaiser-
sicgel kleine zierliche Messerchen, mit denen sie später erforderlichen Falls ab¬
getrennt werden konnten, in Gestalt scheinbar unverfänglicher, in der Hand
auslegungseifriger Kronjuristen aber sehr gefährlicher Klauseln. Als die Nussi¬
fizierung begann, wurde in den patriotischen Kreisen die Lösung allsgegeben:
?rinoixii8 odstg., da jedes Zugeständnis, jede Lösung der Schnüre und Siegel
unfehlbar dazu führen mußte, daß die ganze Rolle auseinanderfiel. Diese Politik
war logisch, aber gleichwohl unglücklich. Die ersten Neuerungen der russischen
Regierung erschienen im allgemeinen Ncichsinteresse als berechtigt, so z. B. die
Forderung, daß in den städtischen Wehrpflichtkvinmissioneil ans Rücksicht auf
die des Deutschen oft ganz unkundigen russischen Offiziere in der Staatssprache
zu verhandeln sei. Als die Stadthäupter (Bürgermeister) von Riga und Neval,
Büngner und Greiffenhageu, deu Standpunkt festzuhalten suchten, daß sie in
ihrer autonomen Stellung nicht zur Kenntnis des Russischen verpflichtet wären,
wurden sie ihrer Ämter enthoben. Zugleich spielte sich in Esthland eine kleine
Privatfehde zwischen dem damaligen Nitterschaftshauptmann, dem Grafen
Tiesenhansen-Malta, einem hochmütigen Feudalen vom reinsten Wasser, und
dein Gouverneur Fürsten Schachowskoi ab, die alle „Tschinowuili" iMireau-
krateu) aus dem Häuschen brachte und vielleicht auch dazu beigetragen haben
mag, den phlegmatischen, mehr zu einem langsamen Vorgehn geneigten
Alexander 111. in die Keulenpolitik hineinzutreiben, die mit wenigen schweren
Schlägen der ganzen geschichtlichen Sonderstellung der Provinzen ein Ende
machte. Dieses Ergebnis hätte freilich doch nur um ein Jahrfünft oder viel¬
leicht ein Jahrzehnt verzögert werden können. Auch die kluge, abwägende,
ebenso sehr im baltischen wie im allgemein-staatliche» Sinne patriotische Politik,
die fast alle übrigen Vertreter der ständischen Körperschaften verfolgten, wurde
am Zarenhvfe bald mit Erfolg verdächtigt.
Die Ballen sind staatstren, und sie müssen staatstren bleiben. Der Bann
ihrer nider Überlieferungen wie der Zwang aller ausschlaggebenden Verhält¬
nisse nötigen ihnen in gleichem Maße die Niederkämpfung ihres Schmerzes,
ihrer berechtigten Erbitterung auf. Können sie die Unterlassungssünden ihrer
Väter wieder gut machen? Nicht blos; das Böse, sondern anch das Dumme
hat fortzeugende Kraft. Die deutsche Ostseekolonie war ein Kind, das der
kerngesunde' Mutterleib des mittelalterlichen Deutschtums dem Romanismus
gebar, diesem auf unserm Boden zum Kretin entarteten Schmarvtzergast.
Sie sind Aristokraten, und seit dem Eintritt des Pulverzeitalters haben
»»n einmal alle aristokratischen Fronten, auch die rechtlich und sittlich be¬
gründetsten, mit der schließlichen Unterwerfung enden müssen. Sie müßten sich
sogar fügen, wenn ihnen ihre letzte» nationalen Güter, die deutsche Presse und
das deutsche Theater, entrissen würden. Aber soweit wird wohl nicht einmal
die siegestrnnkne russische „Büreaukrateska" ihr wildes Prokrnstcsspiel mit
diesem widerstandslosen und doch einst so blühenden, lebenskräftigen Gcsell-
schaftskörper treiben. Sie empfindet doch noch einen kleinen Überrest von Scham
und Scheu vor der öffentlichen Meinung Europas, wenn diese ihr gegenüber
auch meist recht matte und zaghafte Töne anzuschlagen pflegt.
Sehen wir für einen Augenblick von den Unterdrückten ab und wenden
wir uns den Unterdrückern zu, so werden wir finden, daß England durch
nahezu zwingende Impulse des Kapitalistenstants, Rußland durch solche der
absolutistisch-büreaukratischen Staatsordnung ans einem überlegten Vormarsch
zum Angriff gegen Zwischenkörper, gegen Hindernisse gedrängt wurde. Die
Macht mußte den Ausschlag geben, und diese hat in den Ostseeprovinzen für
Nußland, in Südafrika dngegeu noch lange nicht für England entschieden.
Was aber Finnland betrifft, so kann auch die größte reale Machtfülle diese»
himmelschreienden Verfassnngsbruch. dieses Niederstampfen alter, klarer »ud
verbürgter Rechte nicht rechtfertigen. In den Ostseeprovinzen würde sich wohl
jeder Staat die Verzwicktheit der dortigen Verhältnisse zu nutze gemacht haben.
Gegen Finnland konnte dagegen nur Rußland eine so brutale, jedes vernünf¬
tigen Zwecks entbehrende Verwüstnngspolitik treiben, lind die Finnländer
werden sicher einmal ihren Quälgeister» uahezufnhren wissen, daß auch ein
Hundertmillionenvolk el» kräftiges, einiges Zwcimillionenvolk nicht mit Füßen
treten darf. Was beispielsweise das Deutsche Reich betrifft, so würde es solche
ihm aufgepfropften, aber doch völlig mit dein Hauptstamm verwachsenen Neben¬
zweige, die von einer reichen Fülle eigentümlicher Bildungsfrüchte strotzen,
sicher zu schonen wissen. Wein, Hamburg und Bremen englisch wären, so
würden wir uns vielleicht bemühen, ihre Sonderstellung zu beseitigen und sie
mit allen Machtmitteln zu, verdeutschen, denn sie könnten sonst in einem Kriege
mit England eine zweideutige Rolle spielen und würden auch ohne einen solchen
als fremdartige Pfähle mitten in unserm besten Fleisch sitzen. Ähnlich, wenn
mich ohne begründeten Anlaß zu Besorgnissen für die Zukunft, haben zahl¬
reiche Russen die Vesonderheitcu Rigas, Libnus und Nepals angesehen. Würde
aber etwa Holland durch überseeische Verwicklungen gezwungen, in das Deutsche
Reich einzutreten, so blieben ihm seine innere Unabhängigkeit, seine Sprache, seine
Landeskirche, sein Recht für alle Zeiten verbürgt, und kein Deutscher würde
unternehmen, daran zu rütteln. Ein solches Verhältnis würde der bisherigen
Stellung Finnlands zum Zarenreiche entsprechen. Mit vollstem Recht können
wir hier mit einem viel mißbrauchtem Wort Tallehrauds sagen, daß Rußlands
siuuländische Politik uicht bloß ein Verbreche», souderu ein schwerer Fehler ist.
Der sonst so human gesinnte junge Zur ist über die Lage in Finnland schlecht
unterrichtet und wird von gewissenlosen Vertrauensmännern ans das übelste
beraten.
Im rein volkstümliche!! Sinne sind unzweifelhaft die Buren am stärkste»,
da sie eine einheitliche, in gleichem Tiegel gegossene, schlackenfreie Masse
bilden. Aber auch Finnland ist durch den häuslichen Zwist zwischen Sveko-
maueil und Fenvmcmen keineswegs in seiner Widerstandskraft geschwächt, denn
dort wiederholt sich das seltne Schauspiel der Schweiz, daß sich grundverschiedne
Nasse», die in gleichem Maße teil an den Rechten und Gutem des Vaterlands
haben, auch in gleichem Maße zu seiner Verteidigung berufen fühlen. Be¬
deutend schlimmer steht es um die Ostseeprovinzen. Trotz aller Anstrengungen
eifriger Landespatrioten, die dortigen nationalen Gegensätze auszugleichen, lebt
kein einheitliches politisches Bewußtsein in der Brust der hochgerichteteu Halb-
göttergestalteu des Giebels und der zu Boden starrende» Karhatidenvölker.
Die baltischen Ritterschaften, die schon in der Schaffung eiues bäurischen
Kleingrundbesitzes einen weitschauenden politischen Blick bekundet haben, hätten
gewiß im Interesse der eignen Zukunft auch Bürgertum und Bauernschaften
gern zur provinziellen Selbstverwaltung herangezogen, wen» die Regierung
ihnen nicht jede Möglichkeit abgeschnitten hätte, die Landesverfassung ans ge¬
schichtlicher Grundlage weiter zu entwickeln. Die Regierung hat es immer
verstanden, sie ins Unrecht zu setze», sie als Vertreter einer starren Ver¬
gangenheit hinzustellen, sich selbst mit allen Ehrenzeichen des Fortschritts, der
zeitgemäßen Verbesserung zu schmücken. Die Letten und Esthen haben mit
ihren gesunden Bauerninstinktcn schließlich wohl erkannt, wie grausam man sie
um der Nase herumgeführt hat. Den untersten Schichten der Deutschen und
der gemischtsprachigen Bevölkerung aber, die nie zur Ausübung öffentlicher
Rechte und Pflichte» erzogen worden sind, fehlt jede Empfindung der furcht¬
baren Verstümmlung, die man lange vor dem Eintritt der politischen Mann¬
barkeit an ihnen vollzogen hat. Da die Versuche der liberalen baltische«
Treppenweisheit, die Risse in den Grundmauern ihrer Gesellschaftsordnung
nachträglich durch einen Oberbau zu überwölben, gescheitert sind, angesichts
der schon durch die Nussifizierungsversuche Nikolaus des Ersten geschaffnen Lage
scheitern mußten, so ist dort alles zersplittert, gesondert, zerteilt geblieben.
Wirtschaftlich sind nufraglich die Finnländer die stärksten, denn bei ihnen
sind alle Gebiete menschlicher Arbeit und Erzeugung auf das reichste angebaut
und entwickelt. Auch hier greifen die Volksunterschiede uicht hemmend und
aufreibend ineinander über, denn es giebt — wenigstens im Bereiche der
Landeshauptstadt Helsingfors, des Scheitel- und Schneidepunkts aller auf¬
strebenden, aller vorwärtsdrängenden Kräfte — sowohl schwedische Bauern
und Arbeiter wie finnische Kapitalisten und Gelehrte. Die Ballen dagegen
sind nach jeder, also auch nach dieser Richtung hin ein Herrenvolk, Offiziere
ohne Soldaten, und hierin sogar gegen die Buren im Nachteil, die umgekehrt
ans dem einförmigen Volksgewimmcl allmählich ihre geistigen und gewerblichen
Führer herauszuheben beginnen. Auch das hohe Bildungsstreben der Ballen
wird ihnen unter deu heutigen Verhältnissen zum Fluch, da es sogar altein-
sessene kaufmännische und gewerbliche Kreise vielfach zu idealen Beschäftigungen
zieht und den gelehrten jede Fähigkeit raubt, die entrinnenden Lebensgüter mit
hart zupackender Faust wieder einzubringen. I» den guten alten Zeiten, wo
fast jedem Studierten reichliche Einnahmen zuflössen, ist wenig für den schwarzen
Tag zurückgelegt worden, mau verlebte, was mau erwarb — bisweilen mehr
als das —', und verstrickte sich in unlösbare Schulden. Berücksichtigt man nun
noch, daß das diesen aristokratischen Stamm beherrschende Gemeingefühl jedem
einzelnen außerordentliche Opfer für verarmende Verwandte und Freunde, viel¬
leicht noch größere für die Aufrechterhaltung der wenigen noch übrigen Trümmer
deutschen Kultur- und Geisteslebens zumutet, so wird man sich nicht wundern,
daß er in der großen Jagd nach dem Glück zurückzubleiben beginnt. Statt
sich dnrch rechtzeitigen, möglichst zahlreichen Übergang zu der aufblühenden In¬
dustrie wenigstens wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern, versäumte mau den
Anschluß, ließ untre vvrübereilen und sah sich schließlich genötigt, zur Fristung
des nackten Daseins doch wieder die eine Zeit lang so versenken Staats¬
stellungen anzustreben, die deu gebornen Deutschen heute meist weit in das
Innere des Reichs verschlagen, seiner Heimat auf immer entführen. So traf
denn die Zeit der politischen Not auch ein wirtschaftlich niedergehendes Ge¬
schlecht. Wenn der Deutschbalte auch dem Russen an Erwerbssinn uoch immer
turmhoch überlegen bleibt, von ihm uicht verdrängt werden kann, so sind ihm
doch im Juden, im Emporkömmling ans dem anderssprachigen Landvolk, im
eingewanderten Ausländer überaus rührige Mitbewerber erwachse». Gleich¬
wohl erhält sich aber wenigstens der Grundstock des baltischen Deutschtums in
altem, gefestigten Besitz.
Der Freiheitstrotz der Finnländer veranlaßt sie, noch bevor ihre alten
Berfassungsmauern gänzlich niedergelegt sind, schon in Scharen auszuwandern,
und eine ähnliche Bewegung wird wohl das Bnrenvolk ergreifen, wenn die
Engländer die Oberhand erlangen sollten. Auch den Deutschbalteu wird
vielfach die Auswanderung als das vielleicht einzige Rettungsmittel empfohlen.
Man übersieht dabei, daß wohl Finnen und Buren rüstig und derb genug
angelegt sind, auch in der Fremde mit schwieliger Faust ihre tägliche Leibes-
uvtdurft in ein nengezinunertes Haus zu schaffen, nicht aber die meist in wirt¬
schaftlichen Monopolstellungen großgewordnen Deutschbalten. Sogar die ihnen
vormals uuterworfnen Letten und Esthen, die uuter milden, wenn mich engen
und gebundnen Arbeitsverhültnissen die furchtbaren Anstrengungen eines Ver¬
zweiflungskampfs ums Dasein nicht kennen gelernt haben, sind dazu kaum
imstande. An den Grenzen ihrer Provinzen, in den Gouvernements Kowno,
Witebsk und Pskow, rücken sie erfolgreich vor, bei der Auswandrung in ent¬
legnere Gouvernements des Kaukasus und Sibiriens fällt es ihnen dagegen
schon schwer, sich in die gänzlich veränderten Arbeitsverhältnisse zu schicken,
und die Versuche, eine Lettenauswandrung nach Brasilien zu leite», sind
vollends ganz fehlgeschlagen.
Von den Deutschbalteu sind fast alle, die sich durch wirtschaftliches oder
geistiges Vermögen auch in der Fremde einen Unterschlupf zu erringen ver¬
mocht haben, schon hinausgewandert, meist uach Deutschland, wo vielleicht drei-
bis vierhundert von ihnen als Universitätsprofessoren, Lehrer, Beamte, Jour¬
nalisten und Techniker thätig sind. Aber Deutschland hat in seinen höhern
Gesellschaftsschichten keine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit für Zuzügler. Die
bemittelten Deutschen der Ostseeprovinzen, die den Versuch gemacht haben,
sich hier als Rittergutsbesitzer, Verleger oder Großkaufleute niederzulassen, mit
den gebornen Deutschen in Wettbewerb zu treten, haben fast durchweg Schiff-
bruch gelitte», da ihre neuen Landsleute auf diesen Gebieten vvrgeschrittner,
ihnen auf dem eignen Boden natürlich noch weit überlegner sind, als auf dem
des Baltenlandes, wo sie schon in den Zeiten der ungehinderten Einwandrnng
die Einheimischen mit Erfolg zurückzudrängen begannen.
Den Ballen bleibt in ihrer überwiegenden Mehrzahl somit nichts andres
übrig, als auf der Erdscholle, wohin das Geschick ihre Väter verschlagen hatte,
auszuharren und — stumm zu dulden. Wer hilflos an den Marterpfahl ge-
bunden ist, vermag nicht mehr zu kämpfen, und die siegestruntnen Feinde durch
höhnende Worte zu noch größerer Wild anzustacheln ist doch nur thörichte
Judianersitte. Nicht immer sind aktive Naturen, wie es die Nachkommen der
alten Litauer- und Nussenbcsiegcr unzweifelhaft sind, auch so glücklich, zur
Aktion zu kommen. Es kommen Zeiten, die mit der Gewalt von Natur¬
ereignissei,, hier von vulkanischen Ausbrüchen ans der Tiefe, dort von Ver¬
gletscherungen infolge veränderter Wärmeverhältnisse, die besten Kräfte lähmen.
Und gerade in solchen Zeiten bewährt sich der wahre Mut, die echte Mannes-
treue. Führen sie zu», Untergang, so hilft es nichts, sich das drohende Ende
beständig vor Augen zu halten.
Das x in dieser politischen Gleichung ist noch nicht gefunden. Ich glnnbe
aber nicht, daß es die baldige und völlige Vernichtung der drei kernigen ger¬
manischen oder doch zum mindesten von germanisch-protestantischer Kultur durch¬
drungnen Stämme bedeutet. Zunächst wird den Ballen und den Finnländern
allerdings eine bloß notdürftige Fristung ihres Volksdascins auf bedeutend
verringerter Grundlage aufgezwungen. Die Mittel der Selbsterhaltung sind
ihnen verkürzt, aber uoch nicht gänzlich entzogen. Auch die völlig entrechtete»
Ballen, zum mindesten die wohlhabender» unter ihnen, finden noch immer be¬
scheidne Stützpunkte. Sie können ihre Kinder in die deutschen Schulen Peters¬
burgs und Moskaus, zur wettern Ausbildung nach Deutschland schicken. Auch
ihr noch immer nicht gänzlich unterbnndnes Preß- und Vereinswesen darf nicht
unterschätzt werden. Ihre Sprache gehört zu den großen Weltsprachen, ihre
Kultur zu deu Weltknlturen, die unsichtbare Strahlen auch über die politischen
Grenzen hinanssendet. Hierin sind sie wieder vor den bedrängten Kleinvölkern
unendlich, bevorzugt. Mau glaubt heute auch in Deutschland zu sehr an die
Allmacht des Staats, und die Folge dieser einseitigen Richtung ist die Nicht¬
achtung und Vernachlässigung der freien Seelentrüfte. Warum sollen die spon¬
tanen Regungen, die im polnisch-katholischen Posen gegen uns wirken, nicht
außerhalb unsrer Grenzen auch einmal für unser Volkstum thätig sei»? Oder
traut mau bloß dem Deutschen keinen so starken innern Selbstbestimmungs-
tneb zu? Vielleicht macht die heutige Schwäche der Deutschbalten gerade ihre
Stärke ans. Sie sind von der Last einer politischen Arbeit und Verantwor¬
tung, die für ihre Schultern zu schwer war, schon nahezu entbunden und
können sich nunmehr ganz der Verwaltung ihres geistigen Erbteils widmen,
ohne dabei den gleichen Bestrebungen andrer freundliche Teilnahme zu ver¬
sagen. Da sie auf die in jedem Kampf liegende Steigerung der Selbstsucht,
des Eigenwillens verzichten müssen, so können sie den umwohnenden Völkern
^ deren Einflüsse sich teilweise gegenseitig aufheben, was ebenfalls wohl zu
beachten ist — nützlicher sein, ihnen sympathischer erscheinen, als wenn sie
mit dem ihnen angebornen turor t>6nomina8 nach rechts und links hin noch
wuchtige Hiebe auszuteilen vermöchten. Durch eine merkwürdige Legierung
von innerer Härte und äußerer Geschmeidigkeit, von Hochmut und Takt
haben sie sich'durch die Jahrhunderte behauptet und werden sich wohl auch
uoch mindestens für ein weiteres Jahrhundert zu behaupten wissen. Die
Schichten des baltischen Deutschtums, die überhaupt nationales Bewußtsein
haben, habe» auch einen ausgeprägten nationalen Stolz, der anderwärts
leider nur selten bei Deutschen anzutreffen ist, und der gewiß dazu beitrage»
wird, eine größere Vermisch»»g mit den umwohnende» Völkern für längere
Zeit hintanzuhalten.
Unter gewöhnlichen Verhältnissen stehn und fallen ja die geistige» Guter
mit der politische» Freiheit. Schon Theodor Körner sang:
Für die Knechte giebt es keine Sonnen,
Und die Kunst verlangt ein Vaterland,
Und Rußlands größter Kritiker, Wissarion Bjelinski, bezeichnete den hohen
Aufschwung des russischen Geisteslebens seiner Zeit, der Tausende begeisterte
und zu großen Hoffnungen entflammte, mit hellseherischer Schärfe als eine
trügerische, vergängliche Erscheinung, solange dieser Blüte nicht der Dauer-
boden eines Verfassungslebens gesichert sei. Da das Deutsche Reich aber eine
in sich selbst ruhende Zentrnlsonne unsers Volkstums auch in geistigem Sinne
ist, so müsse» wir hoffe», daß das Licht, die Wärme, mit denen es den Äther
des Kulturlebens durchglüht, dazu ausreichen werden, wenigstens die größern
und zusammenhängendem der abgesprengten Splitter vor dem völligen Ab¬
sterben zu bewahren.
achten so den Sachsen die alte politische Organisation genommen
war, hat man bis heute andauernd versucht, das geistige Leben
einzuschnüren, das so ausgeprägt deutsch ist, wie ich gezeigt
habe. Zwar an die stnatsgrundgesetzlich gesicherte kirchliche
Autonomie hat sich der magyarische Chauvinismus noch nicht
herangewagt, aber seit zwanzig Jahren danert ein heißer Kampf um die Schule.
1879 wurde das Magyarische auch in deu Volksschulen obligatorisch gemacht,
1.883 erfolgte das unglückliche Mittelschulgesetz, das die humanistische Bil¬
dung der sächsischen Gymnasien aufs schwerste schädigte dadurch, daß das Ma¬
gyarische in großem Umfang eingeführt wurde auf Kosten des Griechischen,
das auf die vier Oberklassen beschränkt wurde. Da auch die Fachlehrerprüfnug
durch ein Examen in magyarischer Sprache und Litteratur bereichert wurde,
so folgte die Notwendigkeit, das Studium wenigstens zum Teil auf einer unga¬
rischen Universität zu absolvieren. Die sächsischen Studenten studieren denu
auch meist an der magyarischen Universität ihres Landes, Klansenbnrg, wo sie
auch die Prüfungen ablegen. Während den Konfessionsschule», also auch den
sächsischen, die staatliche Subvention fehlt, müssen die Konfessionsverwandten
doch zu deu allgemeine» staatliche» Steuer» beitrage», sodaß sie eigentlich
zwei Schule» bezahle». Dazu werden ihnen überall Staatsschuld» als Kon¬
kurrenzanstalten hingesetzt. Sie grüßen den Besucher beim Eintritt in Kron¬
stäbe. Im Milleniumsjahr 1896 hat die Negierung allein vierhundert neue
Staatsschulen mit magyarischer Unterrichtssprache, vornehmlich in Gegenden
andrer Nationalität, angelegt. Wenn aber eine konfessionelle Bolksschnle für
einen einzelnen Lehrer eine Staatssnbvention annimmt in Höhe von 60 Gulden.
so hat der Minister die Genehmigung liber die Anstellung des Lehrers. Über
alle Schulen aber haben die Schulinspektoren die Aufsicht, die offen die
Kollegien zur Magyarisierung der Namen auffordern, vor allem aber nach der
stantstrenen Gesinnung zu forschen haben, sodaß sogar die magyarische Oppo¬
sition im Parlament fand, das sei eine Aufgabe nicht des Unterrichtswesens,
sondern der Polizei,") Der Höhepunkt aber ist doch wohl das Gesetz über die
Kleinkinderbewahranstalten. die alle Kinder von drei bis sechs Jahren aufzu¬
nehmen bestimmt sind, deren Eltern die gehörige Beaufsichtigung „nicht nach¬
weisen" können. Diese Anstalten haben die Aufgabe, alle uichtmagyarischen
Kinder in der magyarischen Sprache zu unterrichten, und werden von magya¬
risch geprüften Pflegerinnen geleitet; wenn aber der Schulinspektor zu der Über¬
zeugung komme, daß, natürlich unter den leitenden Schwestern oder den drei-
bis sechsjährigen Kindern, eine staatsfeindliche Richtung vorwalte, so kann der
Minister sie sperren. Dasselbe gilt von den Schulen und ihren Lehrern. Als
staatsfeindliche Richtung aber wird bezeichnet jede Handlung in Wort, Schrift
"der Bild, die gegen den nationalen Charakter des Staates oder gegen die
gesetzliche Geltung der magyarische» Sprache gerichtet ist.
Zum Schluß dieser traurige» Übersicht das, was augenblicklich die
Gemüter erregt und unmittelbar »ach unsrer Anwesenheit dort in Kronstäbe
M den schärfsten Auftritten geführt hat. Dem Ortsnmucuerlaß ist ein Fahnen-
erlnß gefolgt. Damit solle» mich de» Sachse» ihre alten Fahnen und Farben
genommen werden, das Symbol, uuter dem sie gegen Türken nud Neichs-
Wude unzählige male zu Felde zogen, Ungarn zu schütze». I» Kronstäbe
hatte die Polizei bei einem Jugeudfeste deu kleinen Mädchen die blau-rote»
Haarschleife», diese sichtbaren Dokumente einer staatsfeindlichen Richtung, ans
den Haare» gerissen. In der nächsten Komitatsversammlung ist es zu einer
wahrhaft ergreifenden dramatische» Szene gekommen, bei der das geistliche
Oberhaupt des Distrikts, v. Herfurth, deutscher Ehrendoktor, der vor kurze», hier
i" Schlesnng-^olsteiu unser Gast war, einer der Gemäßigte,: des Landes, eine
wahrhaft flammende Rede dem Obergespau ius Gesicht gehalten hat: „Day
wir Gesell, anch harte, einhalten können, haben wir bewiesen; daß wir Nc-
Mrnngsinaßregcl», wem, sie u»r gesetzmäßig sind, beachten und befolgen,
habe» wir bewiese»; daß wir Amtspersonen der Regierung, selbst wenn sie
streng auftrete», ehre», sobald sie n»r auf der Schneide des Gesetzes wandeln,
habe» wir vor wenigen Monaten »»r wieder bewiese». Was solle» w,r „och?
Kann .„an denn mehr als für das Vaterland das Hemd hergeben und das
Blut verspritzen? Haben wirs nicht »»gezahlte male gethan? >,„d thun wirs
nicht jederzeit den beseelt Bürgern gleich? Wie oft sollen wirs denn noch ver¬
sichern, daß wir hier leben und sterben, daß wir miteinander arbeiten und
am Wohl des Staates dumm, dnß wir Frieden und Eintracht halten wollen?
Wir sind ein kleines Volk; blinde Gewalt konnte uns knebeln. Nur zu! Den
Leib kann man in seiner freien Bewegung behindern; die Seele kann niemand
töten; unser Herz bleibt rot und blan! Wir sind ein kleines Volk, aber wir
sind wetterhart und wetterfest, wie die Firnen unsrer Berge. Die Zuversicht
erfüllt uns, daß auch an unserm Volk sich erfülle! das Wort der Schrift: Dieser
Jünger stirbt nicht!"
Ich habe oben schon augedeutet, daß die Gefahr für die Sachsen nicht
nnr von den Magyaren drohe. Eine Gefahr ganz andrer Art droht ihnen
von den Rumänen, eine stille, geräuschlose, vielleicht darum gefährlichere. Die
eine Thatsache wirkt erschreckend, daß heute in Siebenbürgen, wo die Rumänen
oder Walachen vor dem dreizehnten Jahrhundert überhaupt noch nicht waren,
jetzt Millionen zahlen gegen ^ Million Sachsen.
Freilich bis jetzt sind sie noch die stillen Bundesgenossen der Sachse»
gegen die Magyaren; eine noch stärkere Kluft trennt sie von diesen, denen sie
verächtlich sind, vor allem ist die kirchliche Kluft viel stärker, sie siud griechisch-
orieutalisch; unter einem eignen völlig selbständigen Erzbischof halten sie sich
noch ganz abseits, grollend und wartend, sich noch nicht an den Wahlen be¬
teiligend. Sie glauben sich als Nachkommen der alten Dacier die eigentlichen
Herren des Landes und von den Magyaren verdrängt aus ihrem Recht.
Darum ist das Verhältnis zu den Sachsen noch durchaus freundlich.
Während der römisch-katholische Dompropst in Hermanustndt am Tage nach
der Tentschfeicr auf diese Feier und besonders auf uns gewettert hat, und der
Bischof der iilagyarisch-lutherischen Kirche von Zelenka nicht einmal einen Gruß
sandte, nahm der rumänische Patriarch mit seinen Geistlichen daran teil, am
Festzug, am Gottesdienst, sogar um Festessen, bei dem er sich sogar zu einem
deutschen Trinkspruch ans die evangelischen Gläubigen verstand, die Einheit in
der Liebe betonend. Ich habe in Kronstäbe dasselbe freundliche Verhältnis
gefunden, eine gewisse zuthuliche Art mich zu nus Deutschen ans der Ferne.
Dennoch, dieses gute Verhältnis ist auf Zeit und kundbar, nud schon jetzt
sind sie eine ungeheure Gefahr nicht sowohl auf politischem, als auf sozialem
Gebiet. Diese Rumänen, die sich langsam und unmerklich über die Berge ins
Land geschoben haben, weisen eine ganz ungewöhnliche Vermehrung auf. Ich
will ein Beispiel geben. Bei Schäßburg besuchte ich eine der Gustav-Adolf-
gemeindcn, Duucsdorf, eine im höchsten Maße unterstützungswerte und -be¬
dürftige Gemeinde. Als wir zuerst ius Dorf fuhren, kamen wir ein langes
Stück an Ansiedlungen vorbei, bei denen ich mich unwillkürlich an die letzte
Kolonialausstelluug in Berlin mit ihren ost- nud westafrikanischen Ansied¬
lungen erinnerte; dasselbe primitive Durcheinander von lehmigem Gebäu,
Wirtschaftsabfall und schwach bekleideten Menschenkindern. Dann begannen die
stattlichen sächsischen Höfe, eine andre Welt. Die furchtbaren Kriegsnöte, die
Dunesdors in der Nähe der Schäßbnrger Feste besonders hart trafen, hatten
1660 die Bewohner auf zwölf Haushaltungen hinuntergebracht. In unmittel-
barer Nähe fiel 1662 die Entscheidung zwischen Kreuz und Halbmond. Da
an Sachsen Maugel war, wurden Walachei, ans den Ruf des Schäßbnrger
Nntes deu Sachsen zugesellt. Heute sind ans einer Handvoll 1200 geworden,
aus den Sachsen nur 361, freilich ein kräftiges, stnrkgliedriges Geschlecht voller
Opfermut.
Das Einzelbild ist zu verallgemeinern. Die Rumänen verdrängen langsam
die Sachsen ans dein Bezirk. Die meisten sind unglaublich ärmlich, freilich
a»es bedürfnislos — man sagt, sie nährten sich von den Feldfrüchten der
Sachsen. Aber es giebt auch außerordentlich reiche Familien, die sich Grund
und Boden ankaufen, mich für die Kirche, und dnrch ihre Bolkszahl kommen
sie immer mehr in den Besitz der Selbstverivaltimgsstellen. Biele sächsische
Gemeinden sind ganz, andre halb rumänisch geworden.
Dabei sind sie, wenn auch heute noch keine wissenschaftliche Konkurrenz,
doch eine bildungsfähige Nasse; am Eingang des großen rumänischen Quartiers
in Kronstäbe von rein dörflichen, Charakter erhebt sich stolz das rumänische
Gymnasium. Seine rumänische Intelligenz, wurde mir gesagt, bezöge das
Königreich Rumänien ans Siebenbürgen. Man hat den Eindruck, daß sie
von den Sachsen lernen, bis sie so stark geworden sind, sich gegen sie zu
wenden. Im ganzen eine unheimliche Macht, die sicher eine Rolle spielen
wird bei der Lösung der Znkunftsfragen. Was wird sie für die Sachsen be¬
deuten?
Jeder wird begreifen, daß sich uus immer dringender die dritte Frage
aus Herz legte: Wodurch kau» der deutsche Charakter, die deutsche Kultur
unsrer braven Stammesgenossen hier bewahrt bleiben? Darüber noch ein
kurzes Wort. ,
,
Erstlich haben die allgemeinen Verhältnisse doch einige Lichtblicke, die ich
bisher verschwiegen habe.
Auch das Magyarisiereu hat seine Grenze. Wirklich sind die Magharen
nicht nnr in der Minderheit — das ist unbestreitbar —, sondern machen nnr
ein Drittel der Bevölkerung ans, sechs Millionen, der Rest sind Juden und
Deutsche, die ihren Ruinen magharisiert haben und nach diesem äußerliche»
Maßstab als Magyaren gezählt siud. Nun sind aber doch nicht nnr die
Sachsen voll Nationalgefühls. In viel clemeutarcrer Form, aber eben deshalb
um so leidenschaftlicher und gefährlicher ist das Nationalgefühl bei den andern,
roheren nichtmagynrischen Völkern Ungarns erwacht. Daß die Kroaten und
Serben einen wahrhaft glühenden Haß auf ihre Bedränger geworfen haben,
einen Haß, der den gegen die Deutschen weit übersteigt, ist bekannt. Weniger
bekannt, aber vor kurzem erst vom Ministerpräsidenten Koloman Szell im Reichs¬
tage*) als eine betrübende Thatsache bestätigt ist das Anwachsen der slowa-
dischen Bewegung. Nun aber stehn diese Nationen anders als die Dentschen.
Wahrend die Sachsen nach dem Programm Death, der bei ihnen hohe
Achtung genießt, ehrlich an einer innerlich gefunden auf Gerechtigkeit aufgebauten
Entwicklung des ungarischen Staates mitarbeiten wollen und an eine Ver¬
einigung mit dein Ziele ihrer Sehnsucht, dem Mutterlande Deutschland, nicht
entfernt denken können, schielen die andern Nationalitäten über die Grenzen
hinüber: die slowakische Bewegung ist durch die Tschechen entflammt, die
Serben streben die Vereinigung mit dem Königreich Serbien, und die Rumänen
die mit dein aufblühenden rumänischen Nachbarstaate an. Unter den Sieben¬
bürgen! existiert die Meinung, daß, sowie der jetzige Kaiser die Augen schließt,
die Rumänen in Siebenbürgen losschlagen werden. ^Va rgUnoncl^in vvroimin,
heißt es im alten Sachsenwappen. Sollten die Sachsen unter geänderten
Verhältnissen doch noch einmal berufen werden, den ungarischen Staat
zu verteidigen und so ihre Zufriedenheit ein wertvolles Gut werden wie vor
Zeiten?
Schon ans dem Gesagten sieht man, daß der Magyar von Feinden um¬
ringt ist — er ist aber überhaupt isoliert, sechs Millionen, also doppelt so
viel wie das Königreich Sachsen Einwohner hat, von einem Stamme, der
Verwandte »ur in den Finnen und den Türken hat, mit einer Sprache, die
wohltönend aber schlechterdings keine Knltursprache ist. Im Handel ist Ungarn,
wenn es sich nicht zur Bedeutungslosigkeit verdammen will, wie politisch ans
den Dreibnnd und die Freundschaft mit dem Dentschen Reiche, in Wirtschaft
und Kultur ans den deutschen Westen angewiesen.
Und diese Verbindung hat doch anch noch nicht aufgehört. Immerhin
besteht doch die staatsrechtliche Verbindung mit Cisleithanien noch, und nament¬
lich durch die kaiserliche Armee geht trotz allem noch ein deutscher Zug.
Die Sachsen dienen in Scharen in der Armee, und an der Tentsch-
feier hielt auch der höchste Vertreter der Armee einen sympathischen Trink-
spruch auf den sächsischen Bischof. Noch hat die Honvedarmee die Artillerie
nicht, nach der sie sich so sehnt, und die Kaiserlichen haben noch das Heft in
der Hand.
Endlich haben, wie es scheint, die Sachsen in Ungarn selbst einen dentschen
Bundesgenossen in den 800000 Schwabe» des Banat gefunden, die ihr Volks-
tniil völlig unversehrt erhalten haben, bisher aber ohne eigentlich nationales
Bewußtsein. Wir sind einer Reihe dieser treuherzigen Menschen in Kronstäbe
begegnet, die gekommen Ware», die landwirtschaftlichen Einrichtungen der sieben-
bürgischen Staimnesgenosscn kennen zu lernen. Die steigende Agitation gegen
alles Nichtmagyarische hat auch diese schiverflüssige Masse in Bewegung ge¬
bracht lind sie in die Erkenntnis mit Gewalt hineingetrieben, daß es hohe,
teuerste Güter sind, die in Gefahr stehn, und die zu verteidigen Pflicht ist,
gerade um des ungarischen Vaterlandes willen. Seit einem halben Jahre ist
die Bewegung stark gewachsen und hat eine gute Vertretung in mehreren
Organen von energisch-deutscher Haltung gefunden.
Es könnte doch sei», das; wieder el» Staatsmmm i» u»gen» aufträte, der
das Erde Death und Szechenyis ehrlich und nicht nur mit tönende» Phrase»
mifnühme, in der Einsicht, daß es uicht nur nicht nötig, sonder» das; es unklug
'se, gegen die Deutschen zu regiere». Wir wollen davon schweigen, das; das
deutsche Volk im Reich, so freu»dlich die Haltung der Negierung bleiben mag,
diese Drmigsalierung der Stammesgenossen durch den engverbündeten Staat
mit Staunen und Unwillen betrachtet und als eine» „unfreundlichen Akt"
empfindet — el» doch nicht ganz unwichtiges Imponderabile i» unsrer Zeit —;
wir wolle» mich davo» schweigen, das; die Tendenz des magyarischen Chau¬
vinismus auf totale Lösung Ungarns, das nur durch Österreich mit nus
zusannneuhiiiigt, vo» diesem Österreich auch den Wert und die Sicherheit
des großen mitteleuropäische» Bündnisses berührt. Aber das darf gerade
von aufrichtigen Freunden Ungarns betont werden: die Magyaren würden
gut thun, die Erhitzung des Nationalbewußtseins, deren Folge» sich scho»
gegen sie kehren, nicht weiter zu treiben, sondern sich mit de» Deutsche»
Ungarns zusammen die systematische Pflege des ungarische» Staatsgedankens
ohne Hervorkehrung des nationalen Chauvinismus angelegen sein zu lassen:
denn darauf ist, wie Österreich, dieses ethnographisch buntgemischte Staaten-
gebilde angewiesen, und das Wort vom „Nationalstaat" ist angesichts der
Wirklichkeit eine einfache Phrase. Und darauf habe» die Deutsche» Ungarns
ein Recht, ein historisches Recht. Die Sachsen haben es auch jetzt nicht
verwirkt. Ich möchte doch auch hier öffentlich bezeuge», daß wir wohl starke,
freie Worte ehrlicher Entrüstung nud deutscheu Bewußtseins gehört, aber auch
"icht eine Spur von hochverräterischer Untreue vernommen haben gegen den
Staat oder das Land, worin sie wohne». Kei» Urteilsfähiger »»ter ihnen
hat die Einführung des Ungarischen als Staatssprache und die daraus folgende»
Konsequenzen für Verkehr'nud Lehrgang angegriffen. Aber innerhalb dieser
Grenze» will um, das Erbe der Väter i» Sprache. Recht, Gla.be und
Sitte in dem Bewußtsein pflegen und vertiefen, daß man gerade damit dem
gemeinsame» Vaterlaiide das Beste giebt, was man hat. Dieses gottgesche.ille
Pfund ihnen nehmen heißt ihr innerstes Wesen brechen, und das wieder heißt,
aus kurzsichtiger Verblendung den Staat um seine wertvollsten Güter »ut
seine treusten Unterthanen bringen.
Jmmerhi» hat man es in Siebenbürgen als eine We»d»»g zum besser.,
augesehe», daß das Negi.und Bin.ffys de.» gemäßigter» Szells Platz gemacht
hat, wenn man in.es seine große Versöhn.mgsredc im Februar nut dem Schlag-
Wort: „Wir treibe» keine Nassenpolitik" für Sirenengesang hält, so lange die
Thaten dem nicht entsprechen. Immerhin war doch auch e.» Reg.ernngs-
vertreter bei der Teutschfeier, wem. auch stumm wie ein Fisch, und immerhin
konnten dort Reden gehalten werden von großem Freinu.t.
Freilich das Beste müsse» die Sachsen selbst dazu thun. Die richtig,
politische Haltnnq den Magyaren gegenüber zu finden ist ja uuge.»ein schwer.
Auf jeden Fall werden sie peinlich alles vermeiden müssen, was eine Hemd-e
habe bieten kann, ihnen weitere Rechte zu nehmen, werden geflissentlich betonen
müssen, daß sie nichts andres wollen, als im Nahmen des ungarischen Staates
und zu seinem Besten deutsche Art und Sitte pflegen.
Ein siebeubürgischer Student hatte am Grabe Bismcircks in Friedrichsruh
kürzlich einen Kranz niedergelegt und gesprochen — der Name Bismarck übt
eine zauberhafte Wirkung auch ans siebenbiirgische Ohren und Herzen aus —;
der Ministerpräsident hat dann zwar erklärt, der Bismarckkultus sei um sich
nichts mit ungarischen Patriotismus Unvereinbares. Dennoch werden die jungen
Sachsen gut thun, mit dem Absingen von Bismarckliedern und der Wacht am
Rhein und der Aneignung eines spezifisch reichsdeutscheu Patriotismus bor¬
sichtiger zu sein. Um so mehr Aussicht auf Erfolg wird es haben, wenn sie
scharf auf ihr wirkliches Recht sehen. Denn andrerseits müssen sie eisersüchtig
das kleinste ihrer Rechte bewachen. Unter den Sachsen stehn sich zwei Parteien
seit lange gegenüber, die Schwarzen mit dem Zentrum in Hermannstadt, die
Gemäßigten und diplomatischer Behandlung nicht Abgeneigten, die offizielle
Richtung, und die Grünen, die Radikalen mit dem Zentrum in Kronstäbe.
Es ist dringend zu wünschen, daß unter dem Drucke der Not der kleine Hause
vollkommen geschlossen operiere, und da mau in den Zielen völlig eins ist,
sich auch über den Weg einige. In dieser Beziehung brachte die jüngste Fahnen¬
affaire in Kronstäbe eine erfreuliche Erscheinung: die Sachsen standen völlig
geschlossen, und die Schwarzen führte» das Wort.")
Dieselbe Affaire zeigte noch einen andern Lichtblick. Wie ein Mann
standen mich die sämtlichen sächsischen Unterbeamten, die Organe der Selbst¬
verwaltung, gegen den Obergespan auf, der Vizegespnu voran. Einen gewissen
Rückhalt giebt das doch.
Auch das kaun rühmend hervorgehoben werden, daß sich die Sachsen mit
allem Ernste gegen die von den Rumänen drohende soziale Gefahr wenden,
nicht nur mit Naiffeisenscheu Darlehnskassen und ländlichen Produktivgenossen-
schaften, sondern mit einer wirklichen Junerkolonisation, und zwar in der Rich¬
tung auf die Gründung neuer sächsischer oder deutscher Gemeinden durch Ankauf,
Parzellierung und Besiedlung solcher Landgüter, die in der Nähe sächsischer
Ortschaften liegen. Ferner ist eine große Aktiengesellschaft in der Bildung,
zu der die beiden sächsischen Sparkassen in Hermannstadt und die Nations-
uuiversität 1^ Millionen beigesteuert haben, zur Nulchnrmachung des den
Sachsen gehörigen Urwaldes in den Karpaten, der,,Siebenrichterwaldnngen."
Das ist gedacht als der Anfang großer industrieller Unternehmungen, die dem
Volke neue Quellen des Wohlstands öffnen sollen. Denn längst hat das
Volk seine Isoliertheit verloren: neben der großen Linie, die von Pest über
Klansenburg, Schäßburg und Kronstäbe nach Bukarest führt, soll jetzt eine
zweite noch direktere über Hermannstadt durch den Rotenturmpaß nach Bukarest
gelegt werden. Daß also die Großindustrie, die gleich jenseit der Grenze in
Rumänien unter des Königs Karl persönlicher Initiative und mit sächsischen
Kräften emporgeblüht ist, auch in den sächsischen Städten Wurzel fassen wird,
P mit Sicherheit vorauszusehen. Dann nehmen die Sachsen die Bewegung
am besten von vornherein in die Hand: die Rumänen würden ihnen die Ar¬
beiter, die Sachsen wie drüben im Königreich die Werkmeister und Leiter
stellen, und der im Mittelalter so blühende sächsische Gewerbfleiß würde eine
Auferstehung feiern.
Das sind Unternehmungen äußerer, politischer und materieller Art. Am
wichtigsten ist für den Fortbestand des deutschen Charakters doch die Pflege
der innern Beziehungen in dem ihnen gebliebner Gebiete der Kulturinteressen,
und hier müßte es einfach auf dein betretnen Wege fortfahren, denn daß mau
den rechten eingeschlagen hat, kann kein Zweifel sein. Ein Netz von Vereinen,
in dem die verschiednen Interessen gepflegt werden, hat sich über das ganze
Land ausgebreitet. Der August jedes Jahres sieht die Vereinstage, das „Sachsen¬
fest": da feiern der Verein sächsisch-siebenbürgischer Landeskunde, der Gustav-
Adolf-Verein, die Frauenvereine, deren jedes Dorf einen hat, die landwirt¬
schaftlichen Vereine ihr Jahresfest, und das ganze Sachsenvolk sammelt und
stärkt sich im Gefühle seiner Solidarität und der unzerreißbaren Einheit seiner
deutschen Kultur. Seit sich aber ihre Selbständigkeit ganz in ihre Volks¬
und Landeskirche geflüchtet hat, ist noch mehr wie früher und muß immer mehr
ehr nationales Empfinden verwachsen mit dem innersten Leben ihrer Seele.
Als im vorletzten Jahre in Kronstäbe das Denkmal des Reformators Honterus
enthüllt wurde, ist es ihnen wie eine Erleuchtung gekommen: ihre nationale
Sache ist eine heilige Sache, ist eine Sache des Glaubens. Der Enthusiasmus
bei diesem häuslichen Fest soll noch größer gewesen sein als der, den wir erlebten,
lind diesen Glauben an ihren Fortbestand ihnen erhalten zu haben, als ihnen
die alten Formen zerbrachen, das ist das Hauptverdienst ihres großen Volks¬
führers Teutsch.'
Und können wir gar nichts dabei thun? Politisch — das ist klar — gar
nchts. Sozial mehr. Es ist der dringende Wunsch der maßgebenden sächsischen
Kreise, daß sich bei der obengenannten Aktienunternehmung das deutsche Kapital
beteilige. Die Sache ist jüngst im ungarischen Abgeordnetenhause zur öffent-
uchen Diskussion gekommen und von einem inagyarisch-siebenbürgischen Volks¬
vertreter mit Erfolg verteidigt worden: viel lieber sieht man auch ans dieser
Seite reichsdeutschen als österreichischen Einfluß.
Am meisten aber können wir auf dem Gebiete der Kultur thun, und das
'se doch nicht nur moralische Unterstützung. Zwar schon diese, das Zeigen
unsrer Teilnahme, bedeutet ihnen viel. Man hat uns oft gesagt: Sie wissen
gar nicht, wie viel Sie allein durch Ihr Hiersein uns helfen, indem Sie be¬
weisen, daß Deutschland, das große und mächtige, uns nicht vergißt. Wie
weim wäre es ein Leichtes, statt der gewohnten Fahrt in die Alpen oder
nach Italien eillinal dieses van der Natur überreich ausgestattete, durch Völker¬
schicksale so interessante Land zum Reiseziel zu wählen, und wie würde es sie
belohnen!")
Aber wir können doch noch anders zugreifen. Jede Erleichterung des
Studiums, die man einem jungen siebenbürger in der Fremde zukommen
läßt, ist ein Dienst dem ganzen Volke gethan. Wie der Gustav-Adolf-Verein
Jahr um Jahr auch in Siebenbürgen Kirchen und Pfarrhäuser bauen hilft, so
will der Allgemeine deutsche Schulverein besonders die so arg gefährdete Schule
und damit die deutsche Bildung schützen."") Vielleicht zahlt man mit Zinsen
heim. Auch Deutschland hat von dort Gaben empfangen. Aus dem Pfarr¬
haus in Pescheudorf, das jetzt auf dem Nnterstützungsplan des Gustav-Advlf-
Vereins steht, bei Schäßburg in der Nachbarschaft des Stammschlosses der
Bethleu Gabor gelegen, stammt ein Brüderpaar, dessen Namen in der deutschen
Wissenschaft den besten Klang hat: ein Pfarrer in Peschendvrf war der Gro߬
vater von Otfried Müller, dem Göttinger Philologen, und Julius Müller,
dem Hallenser Theologen.
Zum Schluß noch zwei Szenen persönlichen Erlebnisses. Unvergeßlich ist
mir ein Landgottcsdienst, den ich mit Adolf Harnack in einem der großen
Dörfer der Burzenebeue bei Kronstäbe besuchte. Ernst und schweigsam und
stattlich kamen sie in Scharen daher, alle in ihrer Tracht, und füllten ein jeder
an besonder»! Platz die Kirche: auf den Emporen die jungen Männer, rechts
und links die alten, vorn die Kircheuräte, d. h. Ältesten, und die Lehrer, auch
in besondrer Tracht, im Mittelschiff die alten Frauen, dahinter die jungen und
die Mädchen, auf dem Altarplatz die Konfirmanden, auf den Stufe» des Altars
bis zur Predigt die kleinen Knaben. Die Leute wußten nicht, daß wir kamen.
Harnack sprach auf des Pfarrers Wunsch zum Schluß einige Worte an die
Gemeinde, warm und el»drucksvoll: „Werfet euer Vertrauen nicht weg." Es
war ergreifend, die stille, tiefe Wirkung auf den Gesichtern der Bauern zu
lesen. Da sagte ich mir: Auch die E»kek werden das Vertrauen, das die Vor¬
fahren so unerschütterlich festhielten, nicht wegwerfen.
Und die zweite Szene. Als ich ans der Rosenau, der schönen Bauern-
bürg bei Kronstäbe unweit der rumänischen Grenze, MI der Wand des niedrigen
Gelasses, das die Wächterdienst thuende Mincrin bewohnte, den deutschen Kon¬
firmation ssprnch der Tochter eingerahmt sah, äußerte ich unter dem Ausdruck
meiner Freude, in meiner Heimat thue mau ebenso. „Wo sind der gnädige
Herr her?" tend als mein Begleiter sagte, ich sei ein deutscher Professor,
da leuchteten die Augen der Frau, und ganz feierlich sagte sie: „Gott segne
den gnädigen Herrn und geleite ihn heim zu den fernen Lieben!"
Von den Kräften, dnrch die sich das Deutschtum dort erhalten hat, sind
zwei geblieben, wie sie waren: sie grüßten sich in diesen Szenen. Der Bauer
ist ein Bauer geblieben wie sein Better Bnr in Südafrika, ein dickköpfiger
deutscher Bauer, der deutsch ist und bleiben will. Ganz anders als in deu
Ostseeprovinzen liegt die Sache hier. Hier war und ist das deutsche Volkstum
bodenständig. Der Bauer hat das erste Wort im Lande gesprochen, er wird
auch das letzte sprechen. Auf ihm steht unsre Hoffnung, daß die deutsche
Frage Ostungarns nicht so ganz aussichtslos ist. Und noch versteht er ganz
innerlicherweise den Gruß des deutschen Mutterlandes, deutsch - evangelische
Vildnng. Die Verbindung ist aufrecht erhalten, und gerade in den tiefsten
Beziehungen wird sie am kräftigsten gepflegt. An uns ist es, diesen Quell, aus
dem dem wackern Volke immer neue Kraft zufließt, offen zu erhalten und auch
unsrerseits den Glauben nicht wegzuwerfen an den Sieg der Treue, an die
Wahrheit des Wortes Heinrich von Treitschkes, das Fr. Teutsch dem zweiten
Bande der „Bilder ans der vaterländischen (siebenbürgischen) Geschichte" als einen
ans dieser Geschichte gezognen Erfnhrnngssatz zum Motto gesetzt hat:
Noch war kein Volk verlassen,
Dus sich nicht selbst verließ.
äst Völlig versagt aber die Nachbildung gegenüber den im ganzen
zwanzig Meter langen Giebel- und Friesreliefs vom Schatz¬
haus der Knidier, einem ganz hervorragenden, in jeder Hin¬
sicht nnschktzbarcn Werk ans der Mitte des sechsten Jahr¬
hunderts, das über die Entwicklung der archaischen Kunst die
wichtigsten Aufschlüsse giebt. Der Streit des Herakles und des Apollon um
den Dreifuß, der Wettlauf des Pelops und des Önomaos, die Apotheose des
Herakles, der Kampf der Griechen und Troer und vor allem der Kampf der
Götter und Giganten ist hier mit einer Kraft des Ausdrucks wiedergegeben,
mit einer Leidenschaftlichkeit der Bewegung und realistischen Treue, die man
dieser alten Zeit wahrlich nicht zugetraut hätte. Pfeile und Speere waren
besonders von Bronze gefertigt und stecken in den Körpern der Verwundeten;
die starke rötliche Bemalung ist vortrefflich erhalten und muß die Wirkung
der ja in ziemlicher Höhe angebrachten Skulpturen fehr verstärkt haben. Noch
um zwanzig bis dreißig Jahre älter sind die Skulpturen vom Schatzhaus von
Sikyon; schon hier verstanden die alten Künstler, in dem beschränkten Raume
einer Metope die Darstellung einer Ochsenhcrde unterzubringen, ein lehrreiches
Beispiel perspektivischer Tiefengliedrung im Beginn des sechsten Jahrhunderts.
Vou Bauwerken ist vor allem natürlich das berühmte Heiligtum des Apollon
zu nennen, dessen leider sehr zerstörte Reste sich über einer gewaltigen
Terrassenmauer erheben. Andre Bauten, so z. B. die Schatzhäuser, sind noch
mehr zerstört, und die Orientierung in Delphi ist an sich schwieriger als in
Olympia, weil das unebne, überall steil zu den Felsen ansteigende Terrain
eine gleich übersichtliche Anlage ausschloß. Gut erhalten sind aber das
Theater und das Stadion, und sehr schön ist die gesamte Lage im Winkel
der Phädriaden, der steilwandigeu Felsen, die schließlich zum schneebedeckten
Gipfel des Parnaß emporsteigen.
Dagegen macht Delos einen ziemlich unvorteilhaften Eindruck. Die kleine,
völlig kahle und wüste Insel ist ein wirres Trümmerfeld, und da der heilige
Bezirk mit seinen Marmorgebäuden jahrhundertelang den Nachbnrinseln als
Steinbruch gedient hat, so steht man zunächst betreten vor einem schwer zu
deutenden Chaos, das sich nur langsam entwirren läßt. Von dem prachtvollen
Apollontempel und seinen beiden ältern Vorläufern, die dicht dabei liegen,
hat man nur noch das nackte Fundament. Wichtig ist das Theater wegen
seines eigentümlichen Skenengebändcs; zahlreiche schöne Hausbauten aus rö¬
nnscher Zeit läßt man leider zu Grunde gehn, da man sich nach der Frei¬
legung nicht die Mühe nahm, sie gegen die Witterungseinflüsse zu schützen.
Zweifellos wird die regelrechte Frcileguug noch zahlreiche wichtige Skulpturen
zu den schon gefundnen hinzufügen.
An diese drei Festorte möchte ich Epidauros im Peloponnes anschließen,
mit seinem Hieron des Asklepios, das zwar zunächst Heilzwecken diente,
aber doch auch der Schauplatz größerer Feste war. Das imposante, in seinem
Zuschauerraum vorzüglich erhaltne Theater wird allen Reiseteilnchmern un¬
vergeßlich sein, nicht nur weil darin ein griechischer Archäolog uns durch
Deklamation und Gesang die vortreffliche Akustik demonstrierte, sondern mich
weil unsre ganze Gesellschaft — auch die Damen — das Beispiel der erst
dazu beorderten Soldaten nachahmend auf der Orchestra einen höchst stilvollen
Chorreigen aufführte, sodaß die Illusion einer klassischen SclMlspielaufführuug
in prächtigster Weise gewonnen wurde. Aber anch der ziemlich ausgedehnte
heilige Bezirk, der nördlich vom Theater liegt, mit seinen Tempeln, Säulen.-
hallen und Nnterknnftsrüumen für Kranke, sowie vor allem die wundervolle
Tholos des jüngern Polyklet sind sehr sehenswert. Ein ähnlicher Heilgott
wie Asklepios, oder auch nur eine Art Heilheros war Amphiaraos; sein
Heiligtum bei Oropos. an der Nordküste von Attika, ist tief in einer idyllischen
Waldschlucht versteckt und weist neben zerstörten Tempeln und Hallen auch ein
gut erhaltues Theater auf, das dadurch wichtig ist, daß an ihm Anhaltspunkte
erhalten sind für die Art, wie freischwebende Göttergestalten mittels eines
Kraus durch eiuen Ausschnitt im obern Teile des Proskcnions sozusagen
herausgedreht wurden.
Hoffentlich stehn in Korinth, wo die amerikanische Schicke jetzt umfassende
Ausgrabungen vornimmt, noch wertvolle Funde bevor. Als wir hinkamen,
war außer der hübschen Qnellanlage der Peircne mit einer interessanten, weil
mehrmals erneuerten Fassade noch nicht viel neues zu scheu. Noch eine andre
zusammenhängende größere Stadtanlage ist zu nennen: die alte Stadt Thera
auf der gleichnamigen Insel, die der verdienstvolle schlesische Baron Hiller
von Gärtringen aufgedeckt hat, und die für die Forschung von hoher Wichtigkeit
ist, weniger wegen der schönen Königshalle und ähnlicher hellenistischer Bauten,
oder wegen der zahllosen, mehr oder weniger geistreichen Kritzeleien, die die
antiken Gymnasiasten an den Mauern des Gymnasions verbrochen haben, als
wegen der Stadtteile, die in die allerältesten Perioden der griechischen Welt
hinaufführen, in die Zeiten, wo die griechischen Schriftzeichen noch wesentlich
phönilisch sind, noch ohne die Zeichen, die die Griechen später hinzufügten.
Von besonderm Interesse ist die uralte Knltstüttc des Apollon Karnews,
die noch kein eigentlicher Tempel, sondern nur ein primitives kleines Gehöft
ist. ein offner L>of mit Zisterne, eine kleine Vorhalle (Prodomos) und em
schlichtes Gemach mit zwei kleinen, in den Felsen gearbeiteten Nebengemächern,
wohl geheimen SckMräumcn. Da diese Anlage dem neunten oder achten
Jahrhundert angehört.' so liefert sie den Beweis, daß man den ausgebckdeten
dorischen Tempelbau nicht allzu hoch hinauf datieren kann. Sehr imchtlg ist
ferner, daß man Reste von der Ansiedlung der Minyer gefunden hat, die vor
den Dorern hier heimisch waren, Thonwaren mit naturalistischer Bemalung,
vortreffliche Bronzearbeiten mit eingelegtem Gold, bunte Wandmalerer und
Stuck; da diese Dinge hoch mit dem Bimssteinsand einer vorgeschlichen
vulkanischen Eruption' bedeckt waren, so läßt sich infolge dieses glücklichen
Zufalls der Nachweis führen. daß man es mit Resten der vormykemschcn Zeit
SU thun hat. und daß man diese Periode, die der Übergang zwischen der
Zeit der zweiten und der sechsten Schicht von Troja ist, um 20V0 v. Chr.
ansetzen muß.
^
Von einzelnen Tempeln, deren gute Erhaltung oder geschichtliche Be¬
deutung unsern Besuch veranlaßte, neune ich den bekannten schonen Athena-
tempel auf Aigina, den Poseidontempcl auf Kap Suuion, und als besterhaltnen
die Perle aller griechischen Tempel, den Apollontempel von Bashal bei Phigalm.
der auch durch seine eigentümliche Bauart höchst lehrreich ist und mit seiner
Lage inmitten der wildromantischen Landschaft des arkadischen Gebirges kaum
seinesgleichen hat. Sehr schön ist auch die Lage des benachbarten Heiligtums
der Despoina in Lykosnm; auch die beiden Tempel von Rhamnus ein der
Nordostküste von Attika sind hervorzuheben, während die Tempel von Megalo-
polis, Tegea, Argos (das Heraion), Karthnin auf Keos, Eretria auf Euböa,
Paros und Poros in einem sehr traurigen Zustande sind; nur die nackten
Fundamente sind vorhanden, und selbst Dörpfelds Jnterpretationskunst wußte
uicht viel damit anzufangen. Dagegen waren die Theater von Megalopvlis
und von Eretria ausgezeichnet erhalten; bei dem zu Eretria ist besonders
merkwürdig der unterirdische Gang, der vom Proskeuion nach der Mitte der
Orchcstrn führte, um Erscheimmgeu cris der Unterwelt zu ermöglichen. Auch
das elliptische Theater in Thorikos (an der Ostspitze von Attika) und das schone
römische Theater auf Melos verdienen evvühnt zu werden.
Endlich komme ich zu den Orten, wo Denkmäler der mykenischen Periode
vorhanden sind. Ich nenne die mykenische Königsburg auf der Insel Melos, die
über den Resten einer prähistorischen Obsidianmesscrfabrik errichtet wurde — wir
fanden Hunderte von fertigen und unfertigen oder zerbrochnen Messerchen —,
was wieder für die Zeitbestimmung von Wert ist; ferner die Grabstätten von
Thorikos, die den mykenischen analog sind; das Beste ist und bleibt aber
Tiryns und Mykenä selbst, vor allem Tiryns, dessen Königsburg ein vortreff¬
liches und klares Bild von der Behausung eines homerischen Helden liefert.
Die Burgen von Mykenä und Troja sind längst nicht so übersichtlich, be¬
stätigen aber in jeder Hinsicht das in Tiryns Gefundue. In Mykenä inter¬
essieren besonders die schönen großen Kuppelgräber, die Dörpfeld auf die
Atriden zurückführt, während er das Heroon in der mykenischen Burg mit
seinen goldreichen Schachtgräbern der Zeit der Perseiden meent.
Damit wäre in der Hauptsache der Überblick über die Dörpfeldsche Führung
des vorigen Jahres beendet; Athen selbst und seine Umgebung will ich ganz
beiseite lassen, obwohl auch hier regelmäßige Vortrage sowohl Dörpfelds
wie auch andrer Herren stattfinden; aber erstlich ist ja allgemein bekannt,
welche Schütze sowohl im Nationalmuseum wie auch im Akropolismusenm auf¬
gehäuft sind, und sodann ist allein die Akropolis eine solche unergründliche
Quelle reichsten Genusses und zugleich eine so zauberhafte Sphinx an wechsel¬
voller Schönheit, daß hier die bloße Schilderung immer ohnmächtig bleiben
wird. Ich kann nur sagen, daß ich ans manchen Ausflug in der Umgebung
Athens verzichtet habe, nur um immer wieder zu allen möglichen Tageszeiten
zur Akropolis hinanfzupilgern, und ich weiß nicht, was ich mehr preisen soll,
die trotz aller Zerstörung unsagbare Schönheit ihrer architektonischen Trümmer,
oder die Herrlichkeit des Landschaftsbildes, das sich mit den edeln Linien des
attischen Landes darbietet. Auch der Blick von verschiednen Punkten der
Stadt auf die Burg ist fesselnd, denn sie erscheint immer wieder anders und
neu und sieht viel imposanter und hochragender ans, als man nach der be¬
scheidnen absoluten Höhe eigentlich erwarten sollte. Was sich aber ganz der
mündliche» Schilderung entzieht, das sind die unvergleichlichen Farben; ich ent¬
sinne mich eiuer Abendstunde, wo ich zum Areopag emporstieg, als die Sonne
eben hinter dem Parnaß gesunken war. Der Marmor der Akropolis leuchtete
in dein hellgelben Glänze, der die Vorstellung erweckt, als habe der alte Stein
eine Flut des heißen Sonnenlichts aufgesogen; dahinter lagen im Osten der
Hhmettos und im Nordosten der Pentelikon in mildem. rosig angehauchten
Braun; die Berge im Westen, nach Eleusis zu. lagen in tiefem, blauschwarzem
Schatten; im Süden sah man das Meer in den westlichen Teilen bei Piräus
und Salamis dunkelstahlblau, im Osten, hinter Aigina und Hydra, mattgrau¬
blau, überall aber mit intensiv violetten Lichtern bedeckt, die von dem Reflex einer
grellrot beleuchtete» Wolkenbank herrührten; über dieser zeigte der Himmel em
Helles Grün, das »ach dem Zenith zu in Dunkelblau überging; man wurde
bei uus jeden Maler für - mehr als modern erklären, der diese Farven-
shmphome getreu wiedergeben wollte. -
<,<So schön und eigentümlich ist allerdings die Färbung nur selten, ich habe
um an zwei oder drei Abenden derartiges gesehen; aber auch in den Vornnttag-
swndeu hatten wir bisweilen Bilder, die durch Glanz und Farbenpracht unser
Helles Entzücke» hervorriefe». Ich gedenke des prachtvollem Ausblicks, der sich
""s in Arkadien, i.» Tetrasigebirge. darbot, als wir um die Mittagsstunde
nach besclnverlichem Ritt auf halsbrechenden Pfaden die Paßhöhe erreichte»
und um den gewaltigen sah»eeglä»zenden Rucke» des Tahgetos vor u»s
hatte», daneben'den scharf abgeschnittnen Tafelberg Jthome. und hinter uus.
im Norte», das reichgegliederte Gebirgsland Arkadiens mit seinem Gewirr von
Bergen und wildzerrissenen Schichten. Und fast noch schöner war der Aus¬
blick am folgenden Tage, als wir die Bergspitze oberhalb des Apollonte.npelv
bon Vassai erkletterten' und neben dem eben Geschilderten noch einen großen
Teil des Ionischen Meeres mit den Umrissen der Insel Zarte sahen wahrend
sich in. Norden die Schneehänpter des Chelmos. Erymanthos und Khllene
"nporrecktcn. Daß manche der Khtlnden gleichfalls von großer landschaft¬
licher Schönheit sind, ist bekannt, und wohl nur dieser zuliebe geschah es.
daß wir auf Audros, Tiuos. sha, Naxos, Amorgos und Poros landeten,
denn von antiken Resten war hier wenig zu sehen. Dasselbe gilt vou ^thäta.
das mit seiner romantischen Schönheit, seinen prachtvollen Konturen vielfach
Capri erinnert und von uns an drei verschiednen Stellen betreten wurde,
Vor allen, aber ist Thein (Santorin) mit seinen, drohenden Vulkan im Mit el-
b'ekelt und mit seinen schwarzen, steil abfallenden Möwen.den, die hoch oben
v°n weißleuchtenden Ortschafte» bekrönt .'erden, en. Schaustück allerersten
Ranges, von den. die Photographien leider nur eine sehr mangelhafte Bor-
stelluug geben
Doch gen.g des Schwärmens; ich komme zum letzten Tenle meines Themas
zur Schilderunq'in.d kritischen Würdigung der Dörpfeldscheu H-uhruug. Dorpfe d
ist eine iuteres ante Persönlichkeit, obwohl er sich schlicht und einfach giebt
u»d den Begriff der Pose nicht kennt; er ist jetzt 47 Jahre alt, in.ttelgroß.
schlank, sehnig und von großer körperlicher und geistiger Frische und Ausdauer.
Es macht ihm nichts aus, uach ziemlich schlafloser Nacht einen neunstündigen
Ritt auf arkadischen Gebirgspfaden auszuführen und mitten darin einen drei¬
stündigen Vortrag zu halten. Die Vorträge inmitten der antiken Trümmer
gewinnen sehr durch sein Helles klangvolles Organ, das weder in sengender
Sonnenglut, noch bei starkem Wind versagt. Dörpfeld spricht klar und faßlich,
man merkt überall den Sohn des Schulmanns heraus, der systematisch vor¬
geht und alles Sprunghafte vermeidet. Wenn dies bisweilen eine gewisse
Breite zur Folge hat, die für intelligente und gut vorbereitete Hörer nicht
nötig wäre, so ist zu bedenken, daß Dörpfeld einen sehr ungleichmüßigen Zu¬
hörerkreis vor sich hat und oft nicht wissen kann, wieviel er als bekannt
voraussetzen darf. Andrerseits hat er die seltne Gabe, seine Gedanken so zu
formulieren, daß man sich ihrer Beweiskraft schlechterdings nicht entziehn
kann; ich habe in den vielen Vorträgen kaum zwei oder drei nebensächliche
Punkte gefunden, wo mich seine Argumente nicht völlig überzeugten. Er be¬
schränkt sich im wesentlichen auf sein eigentliches Gebiet, die Architektur, und
streift nur gelegentlich die bildende Kunst; aber auch hier ist er ausgezeichnet
orientiert, und wie er sein immenses Wissen immer gegenwärtig hat, das ist
schlechterdings bewnndrungswürdig. Er hatte jederzeit den Pausanias zur
Hand, der ja für die griechischen Altertümer ein ganz unschätzbarer und im
ganzen höchst zuverlässiger Führer ist; wo dieser aber doch einmal eine irr¬
tümliche Angabe macht, wie z. B. gelegentlich in Olympia und Delphi, weiß
Dörpfeld mit großem Scharfsinn und Geschick zu zeigen, was der Anlaß des
Irrtums gewesen ist.
Was aber Dörpfelds eigentliche Größe ausmacht, ist sein scharfer, un¬
trüglicher Blick, dem auch die flüchtigsten Spuren in den Fundamenten, die
leisesten Anhaltspunkte in den Mauerresteu nicht entgeh», und nicht minder
untrüglich ist die scharflogische Konsequenz, mit der er unter vielen möglichen
Schlußfolgerungen immer die einzig richtige herausfindet. Sein Lieblings¬
gebiet ist der Thenterbau, und seine Theorie der Biihneneinrichtung im grie¬
chischen Theater der Blütezeit, die er anfangs auf Grund lückenhaften Materials
entwickelte, hat sich durch alle spätern Untersuchungen, z. V. am neuentdeckten
Theater von Priene, bestätigt und ist heute allgemein als richtig anerkannt.
Infolgedessen erfreut sich Dörpfeld auch bei den Archäologen der andern Na¬
tionen einer außerordentlichen Wertschätzung, wie wir wiederholt mit Vergnügen
beobachteten; der Amerikaner Mr. Richardson in Korinth, der Engländer
Mr. Mackenzie auf Melos, die französischen Herren in Delphi und die grie¬
chischen Forscher an verschiednen Orten empfingen unsern Führer mit ausge¬
suchten Respekt und benutzten mit großem Eifer die gute Gelegenheit, seine
Meinung über ihre Arbeiten einzuholen. Dabei kann es ihnen freilich auch
passieren, daß Dörpfelds Falkenaugen xriiua vists, entdecken, was sie bei
monatelanger Arbeit nicht gesehen hatten, nämlich daß Architravstücke oder
Mauerteile, die sie für zusammengehörig hielten, thatsächlich nicht zusammen-
gehörten. Die betreffenden, allerdings sehr geringen Maßdiffereiizen erkennt
Dörpfeld. ohne den Zollstock zur Hand zu nehmen, oder er findet an den
Quadern feine, kaum sichtbare Verwitterungs marken, die den Beweis liefern,
daß man den Überstand fälschlich zur Auflagefläche des Quaders gerechnet hat;
kurz, es kommt bor, daß Dörpfeld ihnen die schönsten Baupläne einreißt und
dafür etwas andres aufbaut.
Danach wird man sich vorstellen können, was er dort leistet, wo er so¬
zusagen zu Hause ist, in Athen, auf der Akropolis, oder in Olympin; hier am
Zeustempel und noch mehr am Heraion baut er aus dem Fundament und ein
Paar verstreute,? Architravstückeu das ganze Gebäude auf, was beim Heraiou
um so erstaunlicher ist, als hier der alte Oberbau aus ungebrannten Luftziegeln
und das Dach aus Holz bestanden hat; beides ist vor mehr als 1400 Jahren
zerfallen oder verbrannt, eine römische Mörtelmauer wurde über dem verstüm¬
melten Unterbau errichtet, eine Weinkeller im Opisthodom angelegt, und
dennoch leitet Dörpfeld aus sichern Spuren die ursprüngliche Gestalt des
ganzen Tempels bis in die Zeit um 1000 v. Chr. ab und verfolgt schrittweise
die Umbauten und Reparaturen, die im Laufe von 1500 Jahren erfolgt sind.
Es ist ein hoher Genuß, durch Dörpfelds Erklärung ein Meisterwerk antiker
Kunst, wie den großartigen Zeustempel, in allen seinen Teilen, mit all seinem
Skulpturenschmuck wieder erstehn zu sehen, nachdem man vorher ratlos nur
einem Chaos verwitterter Trümmer gegenüber gestanden hat.
Ich erwähnte vorhin die Ungleichartigkeit des Dörpfeldischen Zuhörer¬
kreises. Dörpfeld hegt offenbar den Wunsch, recht viele Leute für seine Be¬
strebungen zu interessieren, und zwar liegt ihm nicht nur am Herzen, plato¬
nisches Interesse zu erwecken, sondern auch solche Leute zu gewinnen, die Talent
zum Müeen haben und auch die Mittel zu weitern, höchst nötigen Ausgrabungen
hergeben. Deshalb weist Dörpfeld keinen zurück, der sich zur Teilnahme meldet,
und das hat zur Folge, daß Leute ohne genügende Vorbildung und ohne tiefer¬
gehendes Interesse die prächtige Gelegenheit benutzen, bequem und verhältnis¬
mäßig billig Griechenland zu bereisen. Dadurch schwillt aber die Teilnehmer¬
zahl ungebührlich an — früher waren es einige zwanzig, diesesmal fast fünfzig --,
sodaß erstlich die Übersicht der betrachteten Trüinmerstätten sehr durch die
Menschenmenge beeinträchtigt wurde, und daß zweitens die Unterbringung und
Verpflegung der ganzen Karawane viel schwieriger wurde. Da nun Dörpfeld
dies alles selbst in die Hand nimmt, selbst die Quartiere verteilt und über¬
haupt den ganzen äußern Apparat versorgt, nur unterstützt von seinem griechischen
Diener, so ist es nicht zu verwundern, wenn er manchmal nervös und gereizt
wird und seine berühmte Grobheit auch dort anwendet, wo sie nicht berechtigt
ist- Dörpfeld sollte bei so großer Teilnehmerzahl einen Manager anstellen, der
ihm das äußerliche Arrangement völlig abnimmt, an den sich die Reisenden
mit Wünsche» und Beschwerden zu wenden haben; Dörpfeld leistet wahrlich
»och immer mehr als genug, wenn er seine Kraft für die wissenschaftliche Seite
aufhebt. Ich kann es auch nicht gutheißen, daß sich Damen beteilige» durften.
denn öfters mußte auf sie gewartet oder sonstige Rücksicht genommen werden
— wobei übrigens Dörpfeld merkwürdig geduldig und ritterlich war! —, wir
hätten uns ohne sie vielfach freier und ungenierter bewegen können und waren
nur froh, daß sie wenigstens die Reitertour durch Arkadien nicht mitmachten,
also von Argos mit der Bahn nach Athen zurückkehrten und erst in Olympia
wieder zu uns kamen. Vollends auf der Inselreihe, wo wir die ganze Zeit
auf den engen Raum: eines kleinen Schiffes angewiesen waren, wo sich aber
infolge der weniger strapaziösen Reiseart die Zahl der Damen noch sehr ver¬
mehrt hatte, ging der Charakter einer ernsthaften Studienreise doch zum Teil
verloren, vollends da Dörpfeld sich noch mehr als bisher auf den Stand¬
punkt eines guten Ordinarius stellte, der auch die Schwachen durchaus mit
fortbringen will, wodurch aber das wissenschaftliche Niveau immer zu leiden
pflegt.
Wenn ich ferner das Gefühl hatte, daß die behagliche Kameradschaftlich¬
keit und demokratische Gleichstellung der Teilnehmer vielleicht noch größer Hütte
sein können, so will ich die Damen nicht allein dafür verantwortlich machen,
denn erstlich wirkte in dieser Hinsicht die zufällige Anwesenheit hochgestellter
Personen ein, und außerdem brachte es die große Teilnehmerzahl und ihre
Nationalitätenverschiedenheit mit sich, daß sich einzelne Gruppen bildeten, die
sich gegen die andern ziemlich ablehnend verhielten. Wir waren mir achtzehn
Reichsdeutsche, ich der einzige Sachse; vierzehn Herren waren Österreicher (ein¬
schließlich Tschechen, Polen, Ruderer und Italiener), die andern waren Dänen,
Franzosen, Belgier, Holländer, Engländer und Amerikaner. Man sieht also,
daß die deutsche Archäologie bei den andern Nationen in hohem Ansehen stehn
muß, da sich diese so eifrig zu unsern Unternehmungen drängen, und es muß
uns mit Stolz erfüllen, wenn die Herren, die, aus irgend einem Winkel der
Bukowina oder Jstriens oder Amerikas kommend, ihre Rcisestipendien zu
griechischen Studien verwenden sollen, dies im Anschluß an eine deutsche Ein¬
richtung thun und den Ruhm der deutschen Wissenschaft in ihrer Heimat ver¬
breiten; aber ich muß gestehn, ich bin ein wenig Chauvinist und sähe es lieber,
wenn die Fremden dabei nicht so dominieren dürften, und wenn dafür lieber
mehr deutsche Herren des Vorzugs teilhaftig würden, die vom Deutschen Reich
gegründeten und mit deutschem Gelde subventionierten Einrichtungen zu be¬
nutzen.
Ich habe deshalb die mir gebotne Gelegenheit ergriffen, die verehrten
Herren Kollegen auf die gegenwärtig obwaltenden Verhältnisse aufmerksam zu
machen und sie zugleich auf die Erfolge der jungen Archäologie im allgemeinen
und die Vorzüge einer griechischen Studienreise im besondern hinzuweisen, und
zwar appelliere ich keineswegs an die klassischen Philologen allein, sondern
an alle Lehrer und alle Fakultäten, da ich der Meinung bin, daß für jeden
von uns ein derartiger Besuch Griechenlands ein erfrischendes Stahlbad
für Leib und Seele sein würde, und ich glaube mit keinem bessern Wunsche
schließen zu können, als mit dem: Möge nie kommen der Tag, wo die deutschen
Gymnasiallehrer aufhören, ans dem unversieglichen Jungbrunnen antiker Kunst
die Begeisterung und die ideale Lebensanschauung zu schöpfen, ohne die ein
gedeihliches Wirken des Schulmanns undenkbar ist.
^-M?^^^
^M^A^V^»in Buchs atz, sollte ich eigentlich sagen. Denn den Druck besorgt
jn die Maschine, und wenn die gut zugerichtet, mit guter Farbe
versehen und gut bedient wird, so druckt sie auch gut, und darin
laßt auch das Buch, das mir den Anlaß zu dieser Besprechung
giebt, nichts zu wünschen übrig, gedruckt ist es tadellos. Aber
als Erzeugnis des Vuchsatzes ist es eine Geschmacksverirrung, und da es leider
nicht allein steht, sondern schon eine Anzahl Vorgänger hat, und zu befürchten
ist, daß es noch eine größere Anzahl Nachfolger finden werde, so möchte ich
doch die Sache einmal zur Sprache bringen, ehe es zu spät wird.
Das Buch, das ich meine, ist vor wenigen Wochen erschienen (im Verlag
von I. I. Weber in Leipzig) und führt den Titel: Die wirtschaftliche
Thätigkeit der Kirche in Deutschland. Von Theo Svmmerlad.
Erster Band.
Da ich mich hier wirklich nur mit dem Äußern des Buches beschäftigen
will, so hilft es nichts, ich muß es dem Leser zunächst kurz beschreiben. Das
Buch hat also 349 Seiten und ist ans starkes Büttenpapier gedruckt und zwar
mit einer neu angefertigten großen gotischen Schrift, die sich an die Missal-
buchstaben ans dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts anlehnt, aber etwas
umgestaltet, „modernisiert" ist. Die Schrift ist so groß, daß bei einer Buch¬
höhe von 29 Centimetern ans einer voll mit Text bedruckten Seite nur 25 Zeilen
stehn. Diese 25 Zeilen bilden eine Kolumne, von 18^2 Centimetern Höhe und
12^2 Centimetern Breite.
Ich will nicht von der unerhörten Verschwendung reden, die hierin liegt.
Das Buch ist ein streng wissenschaftliches, ein ausschließlich fachwisseuschaft-
liches Werk, das auf einen ganz bestimmten, verhältnismäßig eng begrenzten
Abnehmerkreis zu rechnen hat. Vor mir liegt ein zweites Buch, das zufällig
genau dieselbe Kolumnenhöhe hat, 18Centimeter, ebenfalls ein fachwisfen-
schaftliches Werk, höchst anstündig ausgestattet, auf gutes, holzfreies Papier
mit einer schön geschulteren großen, deutlichen Frakturschrift gedruckt. In diesem
Buche hat die Kolumne 38 Zeilen, und während dort, bei Sommerlnd, auf
der Zeile durchschnittlich 12 bis 13 Silben stehn, hat hier die Zeile, obwohl
sie über 1 Centimeter kürzer ist, durchschnittlich 19 Silben, und wahrend die
ganze Kolumne bei Sommerlad durchschnittlich aus 314 Silben besteht, um¬
faßt sie hier durchschnittlich 722 Silben. Wäre also das Buch von Sommcrlad
in der Ausstattung wie das danebenliegende Buch gedruckt wordeu, so würde
es von 349 auf 151 bis 152 Seiten zusammenschrumpfen und mit Titelblatt,
Vorwort und Register fast genau 10 Bogen Großoktav umfassen. Dann könnte
man natürlich nicht von einem „ersten Bande," sondern nur von einer „ersten
Lieferung" reden — was das Buch in der That ist —, aber diese erste Liefe¬
rung hätte sich dann bequem für 5, höchstens 6 Mark in den Handel bringen
lassen. Das wäre aber doch sehr verständig gewesen, denn wenn noch eine
Anzahl ähnlicher „Bände" zum Preise von 20 Mark folgt, so kann das ganze
Werk leicht 60, 80 oder 100 Mark kosten. Aber weder die deutschen Ge¬
lehrten noch unsre öffentlichen Bibliotheken haben so viel Geld, daß sie es zum
Fenster hinauswerfen könnten. Wer sonst aber soll denn dieses Buch kaufen?
„Bücherfreunde" oder „Bücherliebhaber" um der Ausstattung mulier? Wird
ihnen nicht einfallen! Die wissen besser, wie ein schönes Buch aussieht. Und
damit komme ich auf die ästhetische Seite der Sache.
Das erste Kapitel des Buches beginnt mit folgenden Sätzen:
„Nicht in dem geordneten und oft leider allzumattherzigen Stillleben
^gedruckt ist: Stil—lebend und der einschläfernde» und behübigen Mittelmäßig¬
keit eines bürgerlichen Haushaltes im neunzehnten Jahrhundert liegt die Ent¬
wicklung der Geschichte der Menschheit beschlossen. Ihr tiefster Inhalt ist
der Kampf, die einzelnen Kräfte des Organismus drängen und bewegen sich,
und ehe eine Neuordnung der Dinge entsteht, ehe der junge Lebenskeim zur
Selbständigkeit des Denkens und Fühlens erwächst, folgte stets unter schmerz¬
haften langdauernden Wehen eine Erschütterung ans die andre, eine furchtbare,
alles umschmelzendc chaotische Gärung, die heftig und stürmisch auch die indi¬
viduelle Lebenssphäre jedes einzelnen Volksgenossen beeinflußte und beherrschte.
Und vollends alle Gemeinschaftsbildungen der Menschheit sind im aufrüttelnden
Getümmel des Kampfes entstanden, jede auf Zeit hinaus dauernde Ordnung
des gemeinsamen Lebens erwuchs aus dem gegeneinander wogenden Widerstand
der materiellen und geistigen ^soll wohl heißen: der geistigen^ Arbeitskraft,
wenn sich das Bedürfnis des Einzelnen nach Besitz, Lust und Erfolg auf¬
bäumte gegen die Not und den Mangel des Lebens oder gegen die aus¬
gleichende Gestaltung einer überpersönlichen Gemeinschaft. Daher kommt es
denn, daß die denkende Betrachtung dieser ungeheuern Wandlungen ebenso
gegen Liebigs Satz von dem ewigen Gleichbleibe« der moralischen Natur des
Menschen protestieren muß wie gegen eine Anschauung, die mit der Konstruktion
des Begriffs eines unabänderlichen Volksgeistes operierte."
Du verstehst diese Sätze nicht ganz, lieber Leser? Tröste dich mit mir,
ich verstehe sie auch nicht ganz, und ich habe mit wahrem Neid gesehen, daß
eine Leipziger Tageszeitung scholl acht Tage nach dem Erscheinen des Buches
eine begeisterte Anzeige davon brachte. Der Verfasser dieser Anzeige hatte also
das Buch binnen acht Tagen gelesen, verstanden und verdaut! Ich möchte
jeden Satz dreimal lesen. Nun solltest du aber solche Sätze erst einmal in
gotischen Missalbuchstaben gedruckt sehen! Da kommt man vollends nicht vom
Flecke, saugt immer wieder von vorn an und versteht doch nicht ein Wort.
Und da hilft mich gar keine Übung. Man kann sich durch zwanzig Seiten
hindurchgequält haben, es geht anf der zwanzigsten nicht schneller als auf der
ersten. Unsre ganze heutige Art zu denken, zu schreiben und zu lesen steht
nun einmal in Widerspruch zu dieser mittelalterlichen Schrift, und es ist un¬
begreiflich, wie der Verleger hat aus den Gedanken kommen können, ein wissen¬
schaftliches Werk, das durch seine ganze Art sich auszudrücken, außerdem durch
die Unmasse von Fremdwörtern und Zitaten, mit denen es beschwert ist, ohnehin
an den Leser starke Zumutungen stellt, auch noch mit solcher Schrift zu drucken.
Dergleichen laßt mau sich einmal — als Scherz — auf einem Einblattdruck
gefallen: einem Diplom, einer Votivtafel, einer Grundstcinnrkundc, auch auf
einer Speisekarte oder einem Konzertprogramm zu einem fünfhundertjährigeu
Jubiläum; aber ein wissenschaftliches Werk druckt man doch, wenn man ein
Übriges thun und es recht vornehm ausstatten will, mit der schönsten erreich¬
baren modernen Textschrift. Man frage einmal bei Giesecke und Devrient in
Leipzig nach; da kann man lernen, wie man solche Werke drucken muß. Durch
ungewohnte, fremdartige, altertümliche Schrift wird nur die Aufmerksamkeit des
Lesers fort und fort vom Inhalt abgezogen, man wird zerstreut, unruhig und
klappt das Buch endlich ärgerlich zu.
Nun ist freilich diese Wirkung in dem vorliegenden Buche zum Teil eine
Folge der verfehlten Raumverhältnisse, in denen die altertümliche Schrift an¬
gewandt worden ist. Jeder einigermaßen erfahrne Setzer weiß, daß man
nicht für jedes Buchformat und jede Kolumne jede beliebige Schrift verwenden
kann, sondern daß, wenn ein Buchsatz eine ästhetische Befriedigung gewähren,
ein Buch wirklich schön gesetzt sein soll, gewisse Verhältnisse beobachtet sein
müssen zwischen der Schriftgröße, der Höhe der Kolumne, der Breite der Ko¬
lumne (also der Länge der Zeilen) und dein freien Raum zwischen den Zeilen.
Hiervon hat der, der das Buch von Sommerlad gesetzt hat oder so, wie es
aussieht, hat setzen lassen, entweder keine Ahnung gehabt oder keine haben
wollen. Die angewandte Schrift ist für die Kolumne viel zu groß, oder,
was dasselbe sagt, die Kolumne ist für die Schrift viel zu klein; außerdem
ist der Durchschuß zwischen den Zeilen zu schmal. Die Kolumne hat zu wenig
Zeilen, die Zeilen sind zu kurz, und sie stehn auch zu eng an einander. Wenn
ein Buch, mit dieser Schrift gedruckt, einen einigermaßen gefälligen Eindruck
machen sollte, so müßte die Kolumne etwa 33 Centimeter hoch und 20 Centi-
meter breit sein. Dann würde sie eben so viel Zeilen enthalten können, wie
das verglichne Buch (38), und es würden auch eben so viel Silben auf der
Seite stehn können wie dort. Ich will die Zahlen nicht für unfehlbar aus-
geben, aber wenn es die Druckerei versuchen will, wird sie ungefähr zu meinem
Ergebnis kommen. Mit andern Worten: mit dieser Schrift kann nur ein
Folinut gedruckt werden. Da wir uns aber heute schlechterdings nicht mehr
mit Folianten herumplagen können und wollen, viele Leute schon über einen
Qunrtband als zu unbequem jammern, so kann man es nur als eine ar¬
chaistische Schrulle bezeichnen, eine solche Schrift neu anfertigen zu lassen und
sich einzubilden, man könne damit heutige Bücher drucken. Die verhältnis¬
mäßig kurzen Zeilen des vorliegenden Buches, auf denen durchschnittlich nur
12 bis 13 Silben in dieser Schriftgröße Platz haben, bringen überdies den
jedem Setzer bekannten Mißstand mit sich, daß der Satz nicht gleichmüßig ver¬
teilt werden kann. Um nllzuviele Wortbrechuugen um Ende der Zeilen zu
vermeiden, müssen die Wörter bald übermäßig auseinandergezogen, bald über¬
mäßig zusammengedrängt werden. Bald stehn zwischen den Wörtern breite
weiße Lücken, bald sind die Wörter so eng aneinandergerückt, daß eine ganze
Zeile fast wie ein einziges Wort aussieht. Das alles läßt sich vermeiden, wem?
die Zeilen eine größere Anzahl von Silben haben. Da kann sich der Setzer
leicht helfen und eine dem Auge wohlthuende Gleichmäßigkeit herstellen.
Dazu kommen aber nun andre Geschmacklosigkeiten. Das ganze Buch
vou Sommerlad ist mit verzierten Initialen förmlich übersät. Bei jedem so¬
genannten Alinea — wo ein Abschnitt mit einer neuen Zeile beginnt — ist
ein Zierlmchstabe angebracht, der über drei Zeilen breit ist und durchschnittlich
den Raum vou acht Silben wegnimmt — eine ebenso große Platzverschwendung
wie Verunstaltung des Buches. Es ist selbstverständlich, daß derartiger „Buch¬
schmuck" — ein Lieblingswort der Modernen! — nur dann die Wirkung haben
kann, die er haben soll, wenn er sehr maßvoll verwandt wird. Die Zierbuch-
stabcn solle» wichtige Abschnitte eines Buches markieren; machen sie sich auf
allen Seiten breit, so zieren sie nicht, sie verunzieren das Buch.
Ferner: die Anmerkungen — und das Buch ist so voll Anmerkungen,
daß man nach einer glatt gefüllten Textseite förmlich suchen muß — sind rot
gedruckt! Wozu? Heben sie sich uicht schon dnrch die kleinere Schrift und
durch die langen Querstriche genügend vom Text ab? Das ist doch bloße
Spielerei.
Ferner: die Seitenzahlen, die jedes Kind an den obern Ecken der
Kolumnen sucht, sind an die untern Ecken verwiesen. Wozu? Auch das ist
bloße Spielerei.
Ferner: Überschriften, wie „Vorwort," „Inhaltsverzeichnis," siud nicht,
wie es sonst üblich ist, in die Mitte der Kolumne gesetzt und so, daß sie
etwas über dem Text stehn, sondern an die linke Seite, und zwar unmittel¬
bar an Texte klebend, und der Rest der Zeile ist — mit Blümchen gefüllt!
Das ist mehr als Spielerei, es ist geradezu eine Abgeschmacktheit.
Südlich — und uun kommt das Tollste —: das Titelblatt des Buches
ist mit einer Schrift, die dreimal so groß ist wie die Textschrift, in einen
schwarzen Titelrahmen rot gedruckt, und zwar in folgender Anordnung:
Da hat sich nun der Buchdruck jahrhundertelang abgemüht, schöne Titel¬
blätter zu setzen und die Kunst des Titelsatzes immer mehr zu vervollkommnen.
Ein gutes Titelblatt gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Buchsatzes.
Sie wird wohl in keiner Druckerei dem Setzer überlassen, der den Text des
Buches setzt, sondern es ist ein besondrer Setzer dazu da, der Accideuzsetzer,
der auch alle sonstigen Ziersätze herzustellen hat, zu deren Anordnung besondres
Geschick und besondrer Geschmack gehört. Und doch wissen sich bei manchen
Titelblättern selbst gewiegte Accidenzsetzer nicht zu helfen. Bei einem guten
Titelblatt kommt alles darauf an, daß mau es erstens so schnell wie möglich
überblicken kann. Der einzelne Buchtitel liegt mit hundert andern Buchtiteln
gemeinsam im Schaufenster oder auf der Ladentafcl. Da gilt es, so schnell
wie möglich, mit einem einzigen Blick, die drei wichtigsten Bestandteile jedes
Titels zu übersehen: Inhalt des Buches — Verfasser des Buches — Verleger
des Buches. Diese drei Bestandteile müssen so auf dem Titelblatt verteilt
sein, daß jeder für sich sofort ins Auge springt.'") Kann der Inhalt des
Buches nicht mit einer einzigen Zeile angegeben werden, gehören mehrere
dazu, so gilt es mit Recht für einen groben Fehler, dein Sinne nach Zu¬
sammengehöriges zu zerreißen und wonniglich gar Wortteilungen am Ende
einer Zeile vorzunehmen. Dabei sollen aber die Bestandteile des Titels auch
so auf der Titelfläche verteilt sein, daß sie ein angenehmes Bild ergeben. Das
ist die schwierigste Aufgabe. Wer selber Bücher hat drucken lassen, der wird
wissen, wieviel Versuche oft dazu gehören, bis etwas Befriedigendes erreicht
wird. Da wird hier ein wenig Durchschuß herausgenommen, dort ein wenig
zugesetzt, hier eine etwas schmälere, dort eine etwas breitere Schrift probiert,
und oft wollen alle Winke und Ratschlüge nichts helfen, der Setzer hat um
einmal kein Gefühl für die Sache, und es bleibt einem schließlich nichts weiter
übrig als selber in die Druckerei zu gehn, sich an deu Setzerkasten zu stellen
und mit dem Setzer gemeinschaftlich das Titelblatt aufzubauen. Solche Mühe
macht ein gutes Titelblatt! Und hier? Ist allen Anforderungen, die an ein
gutes Titelblatt gestellt werden müssen, aufs gröbste ins Gesicht geschlagen.
Keine Spur von Übersichtlichkeit, alles Zusammengehörige in der kindischsten
Weise zerrissen — man sehe nur Zeiten an, wie „land in der natu-". Dazu
gehört natürlich keine Kunst, das bringt ein Setzerlehrling am ersten Tage
fertig! Und warum das alles? Natürlich nicht aus Ungeschick, sondern mit
voller Absicht: weil in Drucken aus dem fünfzehnten und aus dem Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts Buchtitel meist ebenso gesetzt wurden wie der
Text des Buches, d. h. in der Zeile fortlaufend, nnr mit einer größern Schrift
als der Text. Das thaten aber doch die alten Buchdrucker nur deshalb, weil
sie nichts Besseres machen — konnten! Wenn ein Drucker der Reformations¬
zeit drei verschieden große deutsche und drei verschieden große lateinische Schriften
hatte, so hatte er schon eine reich ausgestattete Druckerei. Den zweiten und
den dritten Grad brauchte er für deu Text und die Randbemerkungen (Mar¬
ginalien, Glossen), den ersten, größten Grad, den er gewöhnlich nur in kleiner
Menge hatte, brauchte er für die Überschriften und die Titelblätter. Er setzte
also den Titel aus einer einzigen Schriftgattung. Und dn er der Schwierigkeit,
die Titelzeilen durch dazwischengeklemmte Holzklötzchen von verschiedner Form
und Größe auf weitere Abstände auseinnnderzusperreu, noch aus dem Wege
ging, so rückte er eben die Zeilen dicht um einander. Wenn er eine sehr große
Schrift benutzte, so entstanden dabei wohl auch Zeilen, wie „land in der natu-".
Sowie man sich aber vor dieser Schwierigkeit nicht mehr fürchtete und einen
größern Schriftenreichtum zur Verfügung hatte, fing man auch sofort an, die
Titelblätter übersichtlich und schön anzuordnen und machte darin bald große
Fortschritte. Welchen Sinn hat es nun da, jetzt wieder auf jene tiefe Stufe
der Armut und Unfähigkeit hinabzusteigen, auf die unbeholfnen Leistungen
jener frühesten Zeit zurückzugreifen?
Leider hat die Sache schon angefangen Schule zu machen. Das vorliegende
Buch ist keineswegs eine Originalnarrheit, es ist nnr ein Beispiel einer Mode,
die immer weiter um sich greift. Wer den Unsinn — auch im Buchsatz — in
voller Blüte sehen will, der muß eiuen Jahrgang des „Pan," des Vsr ssoi-um
zur Hand nehmen oder die Hefte der „Insel." Aber etwas von seinem Dunst ist
schon überall hingedrungen. Vou zehn neuen Büchern, die man in die Hände
bekommt, ist mindestens eins davon angesteckt. Und die Verleger solcher Bücher
werden in „buchgewerblichen" Fachzeitschriften als „Reformatoren" der Buch¬
ausstattung gepriesen und angepriesen. Kunstgewerbliche Wanderprediger ziehen
im Lande herum und reden den Leuten vor, daß der Buchsntz den Zweck habe,
die Papierfläche zu bedecken(!), daß also auf einer bedruckten Seite nirgends ein
leerer, weißer Raum zu sehen sein dürfe, daß jede halbe leere Zeile mit
Blümchen gefüllt werden müsse u. dergl. mehr. Und alle Welt sitzt staunend
dabei, hört die neue Weisheit voll gläubiger Ergebung an, und niemand wagt
es, zu widersprechen. Im stillen zweifelt wohl der oder jener und sieht sich
um, ob er nicht irgendwo noch einen andern Zweifler finde. Aber schließlich
sagt er sich: Du willst doch lieber mitthun, damit es nicht scheine, als wärst
du unfähig, mit „fortzuschreiten." Schon oder häßlich, gescheit oder dumm —
's is e mal was andres! „Mer genn doch nich eegal de Biecher so drucken,
wie mer sehe bis jetz gedruckt haam!"
Nein, lieber Leser, der Buchsatz ist nicht dazu da, die Papierflüchc zu be¬
decken — das verwechseln die Herren mit den Tapetenmustern —, sondern der
Buchsatz ist dazu da, gelesen zu werden, und alles, was dazu beitrüge, das
Lesen zu erleichtern und angenehmer zu machen, bedeutet einen Fortschritt, alles,
was das Lesen erschwert und verekelt, einen Rückschritt.
'S is c mal was andres! Dieses erleichterte Aufatmen gelangweilten
Stumpfsinns, das ist es allein, was tausend Erscheinungen in unsrer heutigen
Mode erklärlich macht: in der Kunst, im Kunstgewerbe, in der Kleidung, in
der Sitte, in der Sprache — überall. Dieselbe Geistes- und Gemütsverfassung,
die nicht mehr „zugänglich" sagt, sondern „zugüngig," die die Kleidertasche
nicht mehr an die Seite, sondern hintenhiu näht, den Stock nicht mehr am
Griff, sondern an der Zwinge anfaßt, Visitenkarten in der Länge von Buch¬
zeichen schneidet, einen Briefbogen ans der vierten Seite zu beschreiben anfängt
und in der Adresse nicht mehr die Stadt, sondern die Hausnummer zuerst
nennt, es schön findet, wenn auf der Straße nicht mehr der Mann die Frau,
souderu die Frau den Mann führt, eine „Griffelkunst" bewundert, deren
„Motive" den krummgewachsenen Mvhnstengeln, den hin- und herwackelnden
Schwimmblumen und dem schwer aufsteigenden und dahinziehenden Cigaretten-
gewölk entnommen sind, dieselbe Geistes- lind Gemütsverfassung druckt auch
Bücher, die vom „land in der natu" handeln. 'S is e mal was andres!
Theo Sommerlad schließt das Vorwort seines Buches mit folgenden
Sätzen: „Möchte den Fachgenossen und allen, die für Kirche und Wirtschafts¬
leben Interesse haben, die Gestalt dieses Bandes willkommen sein, dann wird
zur Fortsetzung und Vollendung meiner Arbeit die Freude der Gestaltung
niemals fehlen!" Seltsame Logik! Also wenn das Äußere des Buches Beifall
findet, dann wird das für deu Verfasser ein Sporn sein, den Inhalt des
Buches weiter zu bearbeite». Ich wünsche ihm vor allem, daß der Inhalt
seines Buches so viel Beifall finden möge, daß ihn das zur Fortsetzung seiner
Arbeit ermuntre. Was aber das Äußere betrifft, so habe ich einen andern
Wunsch. Am Sonnabend vor Ccmtnte ist in Leipzig unter Beteiligung aller¬
höchster und höchster Herrschaften ein deutsches Buchgewerbehaus mit Buch-
gewerbemusenm und „Gutenberghalle" feierlich eröffnet worden, und im Juni
wird in Mainz und anderwärts das fünfhundertjährige Geburtsjubilüum Guten¬
bergs gefeiert werden. Schon wirft der übliche Jubiläumsrummel in Gestalt
von Jnbelschriften, Medaillen, Ansichtskarten usw, den üblichen Schatten voraus.
Die schönste Gntenbergfeier wäre die, wenn Buchhandel »ud Buchdruck in
ihrem dunkeln Drange nach „Reformen" die Schätze des Leipziger Bnchgewerbe-
museums, aber nicht bloß die aus dem fünfzehnten, sondern vor allem auch
die aus dem neunzehnten Jahrhundert recht mit Verstand und Nachdenken
benutzen, sich mit deren Hilfe wieder auf die Gesetze wahrer Schönheit in der
Buchausstattung besinnen und sich von den mannigfachen Holzwegen, auf die
sie sich in den letzten Jahren haben locken lassen, auf die schöne helle breite
Straße zurückfinden wollten, auf der alle gesunde Kunstentwicklung — uicht in
kindischen Seiten- und Rücksprüngen, sondern in ruhigem, stetigem Gange —
vorwärtsschreitet.
n diesen unvergleichliche?: Ausblicken auf Land und Meer, auf
zackige, zerklüftete Kalkformationen und vulkanisches Hochgebirge
beruht die Schönheit von Taorminci, und auf dieser Schönheit
sein Hauptreiz. Geschichtlich betrachtet gehörte Tauromenion
weder zu den ältesten noch zu den größten Griechenstädten
Siziliens, uur zu den festesten, und nur darum war es bedeutend. Zu den
Füßen des Berges Tauros landeten 735 v. Chr. die ersten Griechen, die
nach Sizilien herüberkamen, und gründeten an der Mündung des Akesines,
des heutigen Alkantara, auf der flachen Halbinsel, die in das Vorgebirge Schisv
anslüuft, die Stadt Naxos, diese aber zerstörte Diouysios I. von Syrakus
schou 403. Seitdem blieb die Stätte wüst und ist jetzt ein Orangengarten.
Dafür siedelte der Gewaltherrscher im Jahre 396 Sikuler, 392 Söldner
auf dem Berge Tanros an, dessen beherrschende Lage auf dem hohen Küsten-
vorsprnnge zwischen tiefen Flußthüleru sein militärischer Scharfblick erkannte.
Später, 358, siedelten auch die Neste der alten Naxier dorthin über. Doch
blieb die neue Stadt meist in einer gewissen Abhängigkeit von Syrakus. In
dem schrecklichen ersten Sklavenkriege,, 139 bis 132, war sie eine der letzten
festen Burgen, die die Empörer gegen die Römer hielten, später that sie dem
Sextus Pompejus gegen Octavianus denselben Dienst und erhielt von diesen:
21 v. Chr. eine römische Kolonie, die nun der Stadt eine rechtlich besonders
günstige Stellung sicherte und ihr ein ganz römisches Gepräge gab. Ihre
Ausdehnung war damals bedeutender als heute, denn sie umfaßte außer dem
Theaterhügel auch uoch das Kastell, das uoch fast um 300 Meter über der
Stadt liegt. Was also an antiken Bauten übrig ist, das stammt aus den
letzten vier vorchristlichen Jahrhunderten, und davon wieder übertrifft das
Theater nicht durch die Größe, aber dnrch seine wunderbare Lage und die gute
Erhaltung wenigstens ansehnlicher Teile bei weitem alles andre. In einen
Felsenhügel im Osten der jetzigen Stadt eingebaut öffnete sich der Zuschauer-
raum gerade nach Süden, und die ganze Herrlichkeit dieser unvergleichlich schönen
Küstenlandschaft that sich hier oben auf, wie sie den Beschauer noch heute ent¬
zückt. Welcher einzige Hintergrund für eine Bühne, der »nichtige Ätna! War
es möglich, hier etwas Kleines, Unbedeutendes zu spielen, etwas andres als
„das gigantische Schicksal, das den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zer¬
malmt," vor dem unheimlichen, immer verderbenbringenden Riesen da drüben?
Was jetzt noch von dem Theater steht, ist fast ganz römisches Ziegel-
manerwcrk: der Hintergrund des Bühnengcbändes mit schönen Grnnitsänlen,
hohe Seitenflügel und ein breiter Umgang hinter den obersten Sitzreihen
zwischen beiden, der einst nnter Säulen lief. Vom Bühnengebäude stehn nur
noch die Unterbauten, und auch von den Sitzstnfen ist fast nichts mehr da;
wo sie waren, zieht sich jetzt ein halbkreisförnnger, mit kurzem Gras bewachsener
Abhang hin. Aber geblieben ist die ausgezeichnete Akustik, denn sogar aus
den obersten Sitzreihen versteht man jedes Wort, das unten auf der Bühne
mit gewöhnlicher Stimmenstärke gesprochen wird. Ruinen eines kleinen Theaters
und der sogenannten Nanmachia, einer ansehnlichen Badecmlagc aus römischer
Zeit, finden sich in der heutigen Stadt. Doch der ehrwürdigste Rest des Alter¬
tums ist ein kleiner griechischer Tempel vor der Porta ti Messina, also im
Norden der Stadt, den die Verwandlung in die Kirche des heiligen Pankratius,
des Schutzheiligen der Stadt, ebenso gerettet hat wie den Athenctempel in
Shrakns, ein schöner Quaderbau mit einer jetzt vcrschwundnen Vorhalle ver¬
mutlich von sechs Säulen.
Ans seinen jetzigen bescheidnen Umfang ist Taormina wohl seit der Zeit
zurückgegangen, daß es als eine der letzten griechischen Festungen im Früh¬
jahr 902 den Arabern in die Hände fiel. Diese legten 962 sogar eine
Kolonie hier an, um sich des beherrschenden Punktes zu versichern. Endlich
eroberten es 1078 die Normannen, und sie waren es im wesentlichen, die
dem mittelalterlichen Taormina sein Bnugepräge gaben.
Das heutige Taormina, ein sendenden von etwa 3000 Einwohnern, be¬
steht aus einer langen, engen, etwas gebognen Straße, die aus der schmalen
Hochfläche zwischeu dem Burgberge und dem steilen Abfalle nach der Küste
hin von Nordost nach Südwest, von der Porta ti Messina nach der Porta
ti Catania länft und durch eine Anzahl kurzer Quergassen ergänzt wird.
Häufig begegnen hier gotische Thür- und Fensterbogen, und gleich an der
Porta ti Messina erhebt sich der stattliche Palazzo Corvaja aus dem vier¬
zehnten Jahrhundert, über einer glatten Mauer, hinter deren unregelmäßigen
Fenstern und Thüren jetzt ärmliche Wohnungen, Werkstätten und Luder liegen,
eine hohe ungegliederte Wand, von gotischen Fensterpaaren unter arabische,,
Kielbogen durchbrochen, von arabischen Zinnen gekrönt, das Ganze burgartig,
wie die toskanischen Stadtpaläste, und doch charakteristisch verschieden.
Sehr ähnlich, aber von zierlichem Formen ist der Rest der Baltia vecchia
(Badiazza) am Südende der Stadt und am AbHange des Burgbergs, Doch
daS ansehnlichste Bauwerk Taorminns ist der Dom, eine turmlose dreischiffige
romanische Basilika mit Querschiff, vou außen nach normannischer Weise eigen¬
tümlich festungsartig, glatte Mauern mit Zinnen um die Westseite des hohen
Mittelschiffs, um die niedrigem Seitenschiffe und das wieder erhöhte Quer¬
schiff; im Innern tragen romanische Säulen modernisierte Rundbogen und eine
flache Decke; die Westfront zeigt ein einfaches Renaissanceportal und ein
schlichtes, kleines Nundfenster fast unmittelbar unter dem Zinnenkranze. Davor
auf dem kleinen Platze steht ein zierlicher Renaissanecbrnnnen mit doppelter
Schale; an den Stufen spielten Kinder und schwatzten Frauen, die das flutende
Naß in ganz antik geformten großen doppelhenkligen Krügen auffingen und auf
dem Kopfe von dannen trugen, und an der Brüstung dicht um AbHange lehnten
Männer, die Aussicht beschauend, die sich dort nach dem Meere hin öffnet.
Noch schöner ist sie von einem Vorsprunge aus ganz in der Nähe der
südlichen Stadtmauer dicht am Thore von Messina, über dessen Wölbung das
Wappen von Tnorminn prangt, zweimal drei Türme; dort öffnet sich der Blick
ans den Ätna, auf das tiefe Thal der Fiumara della Decima, auf den wasser¬
reichen Alkantara (Akesines) und die Stätte des alten Naxos, auf die Abhänge
der Berge, die trotz ihrer Steilheit aufs sorgfältigste mit Citronen, Orangen,
Wein und Oliven bebaut sind, und auf zahllose weiße Bauernhöfe mitten drin.
Kolossale Kakteen wuchern an den Felswänden, wo nichts andres fortkommt.
Etwas tiefer als der Dom, schon auf dem AbHange, liegt das ehemalige
Dominikanerkloster. Zwei schöne Kreuzgänge zeigen die edeln, seinen Formen
der Frührenaissance, auch die jetzige Form der Kirche stammt etwa aus dieser
Zeit, ein prächtig geschnitztes Chorgestühl, das Werk eines einzigen fleißigen
Mönchs, aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Doch heute wohnt
nur noch ein alter Dominikaner dort, der jeden Morgen in der Kirche die
Messe liest, denn das Kloster ist 1874 aufgehoben worden und seit 1896 in
ein Hotel verwandelt, das größte und schönste Taorminas. Es muß sich
prächtig dort wohnen in den tiefen Zimmern, an den hohen, luftigen Gängen,
angesichts des schönen großen Gartens, zumal da der Besitzer, ein Mitglied
der auf Sizilien sehr angesehenen Familie Ragusa, es an nichts hat fehlen
lassen, um die für ihren neuen Zweck schon an sich sehr geeigneten Räume
elegant und bequem auszustatten, und es saß sich bei einer Flasche weißen
San Domenico ganz reizend in einer sonnendurchleuchteten Veranda, die den
Blick auf das Meer und das Theater bot.
Diese Verwandlung des Klosters San Domenico in ein Hotel desselben
Namens hat etwas Typisches für Taormina. Die mittelalterliche Blüte und
Bedeutung der Stadt, für die noch die Kirchen und Klöster, die Paläste und
festen Mauern sprechen, ist längst vorüber, heute ist Taormina vor allem eine
Fremdenkolonie fast wie Capri, und in dieser herrschen die Deutschen, wie aus
Capri. Die im November freilich nicht sehr zahlreichen Gäste unsers Castello
a Mare, und was man sonst davon sah, waren mit wenig Ausnahmen alle
Deutsche, ans dem Bahnhöfe hörten wir bei der Abfahrt ringsherum Deutsch
sprechen, der Wirt von Sau Domenico sprach es geläufig, die Herrin von
Castello a Mare, Frau Siligato-Znnke, ist eine Deutsche, und der einzige
Kunsthändler des Orts, Merz, an der Via bei Tentro greco, natürlich auch.
Es lohnte sich übrigens, sich in seinem Geschäft etwas näher umzusehen. Man
könnte sich hier eine ganz niedliche, interessante und echt sizilimnsche Zimmer-
ausstnttung zusammenlaufen, denn was an alten Möbeln nud Gefäßen, an
schönen Seidenstoffen, Schmuck, Werken der Kleinkunst, Münzen, Altertümern
hier herum verkäuflich oder gefunden wird, das trägt man ihm zu, und er
kennt seine Leute. Von besonderen Interesse aber waren die modernen, reizenden
sizilianischen Terrakotten aus Caltagirone (westlich von Syrakus im Binnen-
lande), Typen des sizilianischen und kalabrcsischen Volks, teils kaum spannen¬
lange, teils größere Figürchen, von treuster Naturbeobachtung und schärfsten
Realismus in der Ausführung, in denen man ebenso eine Äußerung sizilia-
nischer Eigentümlichkeit wie eine Nachwirkung altgriechischer Kunsttradition
wird erkennen dürfen. Auch die bescheidnen Töpferwaren, die man gerade in
Taormina zum Verkauf nusgeboteu sieht, haben oft völlig antike Formen.
Nach alter Weise handhaben hier auch die Frauen noch Rocken und Spindel,
oder sie weben breite bunte Bänder auf einer Art von kleiner Haudmaschine,
die annähernd wie ein großer Kamin auf einem schmalen Brett aussieht. In
diesem abgelegnen Erdenwinkel hat sich eben so manches Alte erhalten, was
sonst längst verschwunden ist.
Es hat etwas Trauriges, zu sehen, wie eine solche Bevölkerung auf ihrem
eignen Boden gewissermaßen zurücktritt und in die Dienstbarkeit der Fremden
gerät, die meist gleichgiltig an ihr vorübergehn und geringschätzig auf sie herab¬
sehen, weil sie arm, verwahrlost, faul und schmutzig sei. An Schmutz und
Spuren des Verfalls fehlt es in Taormina allerdings nicht, und von Wohl¬
stand ist keine Rede, trotz der fleißigen Bebauung jedes tragfähigen Erdslccks
in diesem Felsenkante, denn die Bebauer sind nicht die Eigentümer, und die
Bebauung ist sehr einseitig, darum auch der Kreis der Volksnahrungsmittel an
sich sehr eng. Denn da aller Fruchtboden und alles Wasser auf die Agrumen
(Orangen und Citronen) und die Ölbäume verwandt wird, so bleibt für die
Viehzucht und selbst für deu Gemüsebau wenig übrig, das Volk ißt also fast
gar kein Fleisch, für die zahlreichen Gasthöfe kommt beides vom Festlande, die
Milch aus der Umgegend wird auf die Hotels nach festen Sätzen verteilt, und
die Butter kommt aus Venedig. Freilich ist dieses Übergewicht des Agrumen-
bcius ganz begreiflich, denn sie sind weitaus der wichtigste Ausfuhrartikel
Siziliens, und sie gedeihen mir, wenn sie reichlich Wasser haben, sonst sind
die Früchte von geringerm Werte. Tausend Stück Limonen (Citronen) z. B.
werden im Großhandel mit zehn Lire bezahlt, wenn sie gut sind; wenn sie
von mangelhaft bewässerten Boden kommen, gelten sie nur zwei Lire. Leider
hindert diese Benutzung des Wassers nun wieder die Aufforstung, die doch
dringend notwendig wäre, um die spärliche» Niederschläge festzuhalten und die
Wasserlüufc zu füllen. Daß aber die Leute von Taormina sich bemühen, ihre
Lage zu verbessern, zeigt unter anderm ein Arbeiterverein ssovistg. opörgjg),
der seinen Mitgliedern auch Arbeitsgelegenheit vermittelt und regelmäßige Zu¬
sammenkünfte abhält.
Ein paar Volkstypen lernten wir etwas näher kennen, als wir eines
Morgens Esel mieteten, um nach Mola hinaufzurciteu. Der eine der beiden
Begleiter war ein Bursche von sechzehn bis siebzehn Jahren, der andre ein
Knabe von etwa zwölf Jahren. Beide sahen dürftig und schlecht genährt aus
und trugen sich ärmlich genug. Aber der ältere hatte eine gewisse philosophische
Anlage. „Wie alt ist der Esel?" fragte ich ihn, als ich uns dem großen,
starken, fast schwarzen Tiere saß. „Anderthalb Jahre," war die Antwort.
„Was kostet ein solcher Esel?" „150 bis 200 Lire." „Und wie lange kann er
dienen?" „35 bis 40 Jahre, je nachdem er gehalten wird. Sehen Sie, Herr,
das ist mit dem Esel ganz so wie beim Menschen. Wird er gut gefüttert, da
hält er lange aus, bekommt er zu wenig, nun, da dauerts nicht lange." Später
vertraute er nur seine Familienverhältnisse an. „Mein Vater ist blind, und
meine Schwester erst drei Jahre alt; da muß ich für alle sorgen," und nach
einer Pause, mit einem Blick ans sein eignes abgetragnes Schuhwerk: „Haben
Sie nicht noch ein Paar Schuhe?" Erstaunt über diese naive Frage bemerkte
ich: „Gewiß, aber nicht gerade hier in Taormina. Was kostet denn hier ein
Paar Schuhe?" „Zehn Lire, Herr." „Das ist nicht viel." „Nein, viel ist
es nicht, aber wenn man nicht das Geld dazu hat, dann ist es doch zu viel"
(no, von ö Iliolto, eng, 86 N6 mgruzg. it <Zg.ng.ro, 6 vur troppo). Das Schlagende
dieser Beweisführung trug ihm am Schlüsse als Beitrag zu einem Paar neuer
Schuhe eine Lira Trinkgeld ein, von der er allerdings dem Buben einige Soldi
abgeben sollte, aber diese Zumutung wies er mit vergnügten Lachen zurück,
und auch der arme Junge bekam noch etwas für sich. Am nächsten Tage
trafen wir diesen, wie er sich eifrig um der Entladung eines Frachtwagens vor
einem Gartengrundstück beteiligte. LisvAng. 1g.vorg.rv xsr «umZigre! rief er
uns schon von weitem zu, und ich lohnte ihm diese rühmliche Erkenntnis mit
einigen weitern Soldi, obgleich er durchaus nicht gebettelt hatte. Wie hart ist
doch schon die Jugend eines solchen xovsro rg.Ag?2o in so herrlicher Landschaft!
Nach Mola hinauf führt nur ein breiter, in regelmüßigen Abständen mit
Stufen Verseheuer Fuß- und Reitweg zwischen niedrigen Steinwällen; von
Fahren ist gar keine Rede. Was an Lasten hinauf und hinab soll, müssen
Menschen oder Esel auf ihrem Rücken tragen, daher ist der Esel hier das weit¬
aus wichtigste und fast das einzige Haustier. Man kann diese kräftigen , ge¬
duldigen und klugen Tiere in Sizilien und Süditalien förmlich lieb gewinnen.
Nichts possierlicher für den Reiter, als die großen langen Ohren vor sich zu
beobachten, die beständig in Bewegung sind und sich bald jedes einzeln, bald
beide zusammen, wie die Fühlhörner einer Schnecke, nach der Seite richten,
wo sie irgend etwas besondres wahrnehmen. Dabei geht das Tier einen
steilen Weg niemals gerade hinauf, sondern immer im Zickzack, um sich den
Anstieg zu erleichtern, unbekümmert auch um eine Mauer, an die der Reiter
streift, oder den stellen Abhang daneben. Deshalb ist das Abwärtsrciten mit-
unter unangenehm und erfordert eine gewisse Übung, denn wenn der Esel
stolpert, dann macht der unsichre Reiter einen Kopfsprung auf deu steinigen
Weg oder den Abhang daneben, Non avsts paurg,! rief mir daher mein Esel¬
treiber an einer solchen Stelle zu. Rom tlo xanra, antwortete ich, stieg aber
doch lieber ab. Ein Zügelruck macht auf die hartmäuliger Tiere wenig Ein¬
druck, eher Stockhiebe, an denen es denn auch selten fehlt. Der Esel pflegt
sie stumm hinzunehmen und äußert überhaupt seine Gefühle nicht oft in Lauten,
dann aber in einem so kläglichen und durchdringenden Geheul, als wenn das
Leid der ganzen Erde auf dem unglücklichen Langohr laste.
Von der Porta Messina ritten wir an der Nordseite des Burgbergs weg,
daun einen Felsengrat hinauf. Rechts und links fiel der Blick in tiefe Thäler,
links hinter uns, bald tief unter, blieb das Kastell, vor uns erhob sich der
Felsblock von Mola, in der Meereshöhe von 635 Metern noch um etwa
240 Meter hoher als jenes, nach Norden fast überhängend, nach Süden sich
erst leicht, dann rascher senkend. In vielfachen Windungen erreichten wir unter
der überhängenden Felswand weg einen kleinen Vorplatz vor dem Eingang des
Dorfes, wo die Esel blieben, und stiegen nach dem Kastell hinauf, das jenen
höchsten Felsen am Nordende des kleinen Plateaus krönt. Den Schlüssel zum
Thore brachte ein Mädchen aus dein nahen Hause des jetzigen Besitzers;
eine — deutsche Aufschrift darüber belehrte, was für diese Leistung zu entrichten
sei. Oben wucherten riesige Feigenkakteen mit stachligen Blättern (wenn man
so sagen darf) bis zu 40 Centimeter Länge, um die hier und da noch die rot¬
gelben Früchte standen; sonst ist der Raum zwischen den alten Mauern jetzt
mit Ackerland ausgefüllt. Nur durch Überrumplung konnten sich am 1. August
902 die Araber dieser unersteiglichen Feste bemächtigen: einige Neger erkletterten
wie die Katzen den Felsen, und die überraschte Besatzung leistete kaum mehr
Widerstand. Tief unten liegt hier die Landschaft nach der Seeseite hin, aber
landeinwärts nach Nordwesten steigt das kahle Felshaupt des Monte Venere
zu 864 Metern auf; wie eine blaue Wand erhebt sich im Osten das weite Meer,
und im Süden wächst der Ätna noch riesiger heraus als sonst. Und welchen
historischen Schauplatz überblickt man hier! An und auf diesen Felshängen
begann und endete die griechische Herrschaft auf Sizilien, hier landeten
415 v. Chr. die Athener, 278 König Pyrrhos, der zum letztenmale den schönen
Traum eines westgriechischcn Reiches träumte; hier tagten 1410 n. Chr. nach
dem Aussterben des aragonesischen Mmmesstamms die Stände der Insel, um
über eine nationale Verfassung zu beraten; von hier setzte im September 1860
Garibaldi nach Knlabrien über, um die Herrschaft der Bourbonen auch auf
dem Festlnnde zu stürzen.
Unsre beiden Eseljungen wußten natürlich von allen diesen Dingen gar
nichts, dagegen war es ihnen interessant, daß wir Neigung verrieten, in der
Osteria am andern Ende des Orts in der Nähe der Kirche eine Flasche Wein
zu trinken, und sie führten uns bereitwillig durch die enge, schmutzige Dorf¬
gasse dorthin. So ein kleines sizilianisches Bergnest hat etwas Trostloses,
trotz aller schönen Aussicht: ärmliche Häuser, abfallender Putz, kleine, unregel-
mäßige Fenster in den kahlen Mauern, höhlenartige Eingänge, zerfallende
Treppenstufen, nicht die Spur von Grün oder gar von Blumen. Und in
dieser Umgebung bringen die Leute ihr ganzes Leben hin! Doch die Osteria
erwies sich als annehmbar, an den Wänden hingen Bilder des Königspaares
und Karten der Eritrea; der Wein und die Zukost, die beide auch den rgM??i
nicht vorenthalten wurden, waren recht genießbar, die Padrona, eine stattliche
Frau, kam höflich knicksend herbei, zeigte uns stolz das Fremdenbuch, das eine
Menge deutscher Namen, darunter manche bekannten Klanges enthielt, und
weigerte sich vornehm, irgend einen Preis für das Frühstück zu nennen, was
bekanntlich die Sache nicht billiger macht; schließlich ließ sie uns durch ihre
niedliche Tochter Blnmenstrüußchen überreichen und verabschiedete uns mit
freundlichem Luon pig.Mo!
Beim Hinabreiten hatten wir den Westabfall des Kastellberges gerade vor
uns, der kunstvoll terrassiert ist, um die Erde festzuhalten. Wieviel Blut haben
sie doch getrunken, diese Abhänge, wieviel Greuel gesehen, niemals ärgere als
im Jahre 132 v. Chr., da die hier eingeschlossenen empörten Sklaven in ihrer
Verzweiflung Weiber und Kinder schlachteten, um länger auszuhalten, und
dann, als sie sich doch ergeben mußten, auf Befehl des Konsuls Rupilius
diese Felsen hinabgestürzt wurden. Das sind wirklich „Gespenster," die den
Genuß des herrlichen Ausblicks auf Gebirge und See verkümmern könnten,
doch zum Glück eben nur für den sichtbar, der sich daran erinnert.
Wir verließen Taormina gegen Abend und langten nach nur einstündiger
Fahrt längs des Meeres, auf dem das Mondlicht goldne Streifen zog, in
Messinn an. Hier trennte sich mein Reisegefährte von mir, nur noch in der¬
selben Nacht von Reggio zu Lande nach Neapel zu fahren; ich blieb im Hotel
Victoria, weil ich am nächsten Tage den fülligen Dampfer nach Neapel be¬
nutzen und etwas von Messina sehen wollte. Natürlich fehlte es auch in
diesem Gnsthofe, der seit langen Jahren einem Deutschen gehört, nicht an
Landsleuten, und unter Geschäftsreisenden traf ich auch einen jungen Offizier
von einem württembergischen Infanterieregiment, der ebenfalls Sizilien bereist
hatte, jetzt aber rasch der Heimat zustreben wollte, deshalb mit demselben
Dampfer zu fahren gedachte. Da dieser erst am nächsten Nachmittag abgehn
sollte, so blieb für Messina genügende Zeit.
Messina hat durch Nnturgewnlt und Menschenhand mehr gelitten als die
meisten andern Städte Siziliens. Erdbeben haben die Stadt noch in den
letzten Jahrhunderten, 1783 und 1894, schwer geschädigt, Seuchen noch 1740
und 1854 sie entvölkert, und da sie seit ihrer Gründung um 730 v. Chr. an
der Kreuzung zweier der «Unwichtigsten Verkehrsstraßen lag, so haben alle
Eroberer, die vou Italien herüberkamen, znerst Messina in ihre Gewalt ge¬
bracht, 282 die Mmnertiner, 264 die Römer, 1061 n. Chr. die Normannen,
1194 die Hohenstaufen. Daher ist in dieser Stadt, die zu den ältesten der
Insel gehört, von antiken Werken gar nichts mehr übrig, und aus dem Mittel-
alter nur wenig, vor allein der normannische Dom ans dem Ende des elften
Jahrhunderts; aber auch dieser ist im Innern ganz modernisiert, und mir die
Westfassade zeigt die eigentümliche alte Architektur, besonders in den Relief-
streifen zwischen den Steinschichten, die teils Ornamente, teils Szenen aus dem
bürgerlichen Leben darstellen. So ist Messina die modernste Stadt Siziliens
und nächst Palermo die lebhafteste, besonders seitdem die Eröffnung des Suez¬
kanals sie zu einem der wichtigsten Durchgangspunkte für den Verkehr uach
Süd- und Ostasien gemacht hat. In dieser Beziehung wie in ihrer Lage hat
sie manche Ähnlichkeit mit Genua.
Zwischen das Meer und die steilen Küstenberge, die die beiden sie be¬
herrschenden Forts Gonzaga und Castellaeeio tragen, eingeschlossen, streckt sie
sich lang am Strande hin, an mehreren Stellen seltsam durchbrochen von den
meist trocknen Geröllbecken von Torrenten, die bei starken: Regen das Wasser
vom Gebirge herab dem Meere zuführen. Sie besteht daher im wesentlichen
aus einigen wenigen langen nordsüdlichen Parallelstraßen, vor allem der präch¬
tigen Via Garibaldi mit dem königlichen Palast, den: großartigen Rathause
iMlÄWo rnuiüoixiüs) und der Börse, die zugleich das Post- und Telegraphenamt
enthält. Aber durch die Querstraßen schaut immer wieder die See herein und
lockt hinaus nach dem Hafendamm, dem Korso Vittorio Emanuele, wie diese
Uferstraße jetzt heißt. Dort zeigen zahlreiche Schiffahrtsagentureu und die
Flaggen aller Länder einen Verkehr, der weit über die europäischen Gewässer
hinaus bis nach Asien und Amerika reicht, große Dampfer liegen dicht am
steinernen Bollwerk und in dem prachtvollen geräumigen und tiefen Hafen¬
becken, dessen Rand eine schmale, halbmondförmige Landzunge so umfaßt, daß
nur im Norden eine Einfahrt von 400 Meter Breite frei bleibt. Wieviele
Flotten sind von hier aus nach dem Osten gesegelt, unter andern: auch das
gewaltige Geschwader, das 1571 unter Juan d'Austria die Türken bei Lepanto
schlug! Aber das Kastell da drüben, an der Stelle, wo die Halbinsel an das
Land stößt, das die Spanier nach den: zweiten Raubkriege erbauten, war mehr
eine Zwingburg als eine Schutzwehr für die stolze Stadt und hat seine Ge¬
schütze noch 1848 und 1860 gegen sie gerichtet; jetzt ist es im Abbruch be¬
griffen. Draußen flutet die Meeresstrnße vorüber wie ein breiter Strom, und
gegenüber hebt sich in langen Linien das hohe Küstengebirge von Kalabrien
aus der blauen Flut, vom duukelbewaldeten Aspromonte überragt und an:
Fuße längs des Gestades von weißen Ortschaften umsäumt. Nach Süden öffnet
sich in breiter Ausdehnung das Ionische Meer, nach Norden schieben sich die
Bergzüge Siziliens und Italiens so zusammen, daß die Meerenge beinahe wie
ein geschlossener Landsee erscheint.
Doch den vollen Überblick über Land und Meer gewinnt man nicht in
der Stadt, sondern von einer Höhe über ihr oder von der See oder endlich
und an: besten vom Leuchtturm aus, der 12 Kilometer von Messina die engste
Stelle der Meerenge, das eigentliche strstto al Nsssing., bezeichnet. Längs
der Landstraße schließt sich ununterbrochen Ortschaft an Ortschaft; einfache
Häuser, vor deren offnen Thüren Kinder spielen und Frauen eifrig wuschen
oder nähen, wechseln mit ausgedehnten Fruchtgürten und unmutigen Villen,
eine kleinere, aber besonders großstachlige Opuntienart bildet undurchdringliche
Hecke», und an den offnen Stellen des Strandes liegen hochschnüblige Fischer¬
boote, Endlich erreicht man an zwei kleinen Salzseen vorüber und über eine
Brücke das Dorf Färö auf einer flachen, sandigen Landzunge und an deren
äußerster Spitze den Leuchtturm, den Färö selbst, nach dem es heißt. Von
seiner Höhe ans entfaltet sich das umfassendste Panorama: südwärts das hohe,
zackige blaue Gebirge über der Stadt und der flutende Meeresftrom, ostwärts
die hohe kalabrische Küste, und gerade gegenüber die jäh abstürzende Felswand,
die seit grauer Vorzeit den Namen Scylla und das danach genannte Städtchen
Scilla mit seinem trotzigen Schlosse trägt, endlich nach Norden hin die freie
See, und ans ihr hervorragend in blaßblauen Umrissen einige hohe Inseln,
die Lipari, unter ihnen am weitesten rechts ein steilaufsteigender Kegel, um
dessen Haupt eine Rauchwolke schwebt, der Stromboli. Auf meine Frage
nach der Chnrybdis bemerkte der Kustode, das sei weiter nichts, als die zu¬
weilen stärkere Brandung an einige»: Klippen (s<ze>M) am Färö und ganz un¬
gefährlich. Übrigens ist der Strudel, in den Schiller den Taucher schickt, ein
andrer Strudel am Hafen von Messina; „die Klippe, die schroff und steil hinaus-
hüngt in die unendliche See," hat er in jedem Falle hinzugedichtet so gut wie
die ganze romantische Situation.
Übrigens interessierte mich offen gestanden die Erinnerung an Schillers
Taucher und die Charybdis in diesem Augenblicke weniger als der imposante
Anblick des Thrrhenischen Meeres, dem ich mich heute noch anvertrauen sollte.
Der Himmel hatte sich zu bewölken begonnen, der Wind trieb die weißen
Schaumwellen an den Strand, und auch draußen zeigten sich immer dichter
die weißen Köpfe, die Rosse des Erd erschütterers Poseidon. Ob.6 tsmxo
Api'suo stg. notes? fragte ich den Wärter, vo^Il» partirs ig, skia xsr Uavoli. —
0d, um pooo ÄZitÄto, czosi, oosi — dabei machte er mit der flachen Hand eine
sehr bezeichnende auf- und abwärts gehende Bewegung — in» non tropxo;
adbmino l» traincmtÄim (den Nordostwind). In der That blies es schon recht
kalt vom Festlande herüber, und die hellen scharfen Farben begannen aus der
Landschaft zu verschwinden. Am Nachmittage regnete es eine Zeit lang in
Strömen, zur Freude der Sizilianer; bisoZna et'aocMÄ, sagte ein Händler, dem
ich eine Kleinigkeit abkaufte, um die Zeit zu töten; man sah es ja auch dem
Erdreich an, wie lange der Regen hier ausgeblieben war.
Indes als ich nach vier Uhr mit meinem Württemberger nach der „Enna"
hinüberfuhr, die kurz vorher ans Malta eingetroffen war und mitten im Hafen
vor Anker lag, hatte es zu regnen aufgehört, obwohl der Himmel noch be¬
wölkt war, und ich konnte vom hohen Achterdeck des Schiffes ans das herr¬
liche Panorama ringsum ungestört betrachten. In dunkelm Blau stand der
malerische Bergkranz über der hellen Hüusermasse der Stadt, in lichteren die
kalabrische Küste. Vom Hafendamme herüber kam ein vollbesetztes Boot nach
dem andern, und das Fallreep wurde nicht leer von aufsteigenden Reisenden;
dazu rasselte der Dampfkran, schwere Lasten um Bord nehmend und in den
Bauch des Schiffes versenkend. Denn die Dampfer von Messina nach Neapel
(und Genna) laufen nur zweimal in der Woche; die Ankunft eines dritten
großem, der von Alexandria her eintrifft, hängt zu sehr von Zeit und Um¬
stünden ad, als daß man sicher auf ihn rechnen könnte. Daher drängte sich
alles heute an Bord der „Einen," die, obwohl etwas größer als der „Marco
Polo" (1758 Tonnen), doch weder so neu und elegant, noch mit nur wenig
über 1900 Pferdekraft so schnell ist wie dieser, und es war keine Hoffnung,
diesesmal eine Kabine allein zu behaupten, so angenehm das bei der Aussicht
auf eine unruhige Fahrt gewesen wäre.
Um fünf Uhr heulte die Sirene zum letztenmal, der Dampfer drehte und
glitt langsam aus dem Hafen in die Meerenge hinaus. Da der Himmel stark
bewölkt war, so brach die Dunkelheit rascher herein als sonst, und vor uns
blitzte schon das Blickfetter des Färö auf, doch war die See innerhalb der
Straße noch ruhig und Aussicht auf ein ungestörtes Abendessen, das niemand,
der mit der See einigermaßen vertraut ist, in solcher Lage verschmäht, weil er
weiß, daß das relativ sicherste Mittel gegen das dräuende bleiche Gespenst der
Seekrankheit eine gediegne Mahlzeit ist, und eine solche lieferte die Küche der
„Enna" mit trefflichen Weinen. Die kleine Gesellschaft der ersten Kajüte, die
sich bald nach der Abfahrt unter dem Vorsitze des alten, graubärtigen Kapitäns
zusammenfand, war bunt gemischt, und Italienisch, Deutsch und Englisch
schwirrten durcheinander. Bald allerdings wurde das Behagen etwas verringert,
denn der Tisch zeigte eine merkwürdige Neigung, in die Höhe zu steigen, und eine
große Hängelampe darüber geriet in die schwingende Bewegung eines Pendels,
Wahrnehmungen, die einem der Tischgenossen als Signal galten, zu ver¬
schwinden. Wir waren offenbar schon in der freien See.
Zu sehen war allerdings nichts. Rings alles schwarz, schwarz das Meer,
schwarz der Himmel, von dem uoch ganz nahen Lande keine Spur. Bor uns
im Norden zuckten die Blitze und rollte der Donner, doch zog das Wetter
bald seitwärts ub und sandte uns nur prasselnde Regengüsse. So fuhren wir,
statt in eine klare Vollmondnacht, wie ich gehofft hatte, in eine dunkle, regcn-
und gewitterschwere Sturmnacht hinaus. Eine eisigkalte Tramontana blies von
Steuerbord her und trieb die Spritzwellen über das Schiff, sodaß ein Ver¬
weilen auf Deck nur an der Leeseite und auch hier nur unter dem Schutze
des Kajütenhauses möglich war; die meisten Passagiere waren längst ver¬
schwunden. Zugleich stampfte der Dampfer stark. Am behaglichsten war es
noch in der Mitte hinter dem wärmespendenden Schornstein. Aber endlich
trieben die zunehmende Kälte und wiederholte Regenschauer doch hinunter in
die Kabine, obwohl dort, da sie natürlich an der Außenwand und etwas weit
nach hinten lag, die Bewegungen des Schiffes sich wesentlich fühlbarer machten
mis an Deck. Je weiter es in die offne See hinaus ging, desto heftiger
wurden sie, und zu dem Stampfen gesellte sich bald ein schweres Rollen. Drei
bis vier Stöße derart folgten rasch hintereinander mit zunehmender Heftigkeit
lind verursachten das Gefühl, als ob man bald hoch auf- und tief abwärts,
bald seitwärts ans der Koje iMovötta) geschleudert würde; dann folgte immer
eine freilich sich immer mehr verkürzende Pause. Dazu das Arbeiten der
Schraube, das klatschende Anschlagen der Wellen, das Knarren, Klirren und
Krachen im Innern des Schiffs, aus einer Nachbarkabiue gelegentliches
Stöhnen. Von Schlafen war gar keine Rede; ich Vertrieb mir die Zeit, so
gut es gehn wollte, indem ich alles, was ich an Gedichten und dergleichen im
Kopfe hatte, wiederholte. Mitternacht war lange vorüber, als die gewaltsamen
Bewegungen des Schiffs etwas nachließen, wahrscheinlich, weil es vor Kap
Lieosa etwas unter Laudschutz trat, aber die Hoffnung, das ärgste möge nun
vorüber sein, erfüllte sich nicht, vielmehr begannen die Stöße bald ebenso heftig
wie vorher, und mit Ungeduld erwartete ich den Anbruch des Morgens.
Als er gegen sechs Uhr graute, kletterte ich mühsam um Deck. Der nächste
nach mir war ein junger, krausköpfiger, dunkeläugiger Italiener, den ich schon
am Abend vorher bei Tisch gesehen hatte, doch ohne ein Wort mit ihm zu
wechseln. Als er mich etwas betäubt vor meinem Thee sitzen sah, fragte er
mit der liebenswürdigen Höflichkeit seiner Nation mitleidig: Hg, I^el soklrito
Lea notes? — !>l0, AIMM Ä vio, no, INÄ N0N no äoririito tmttg. lÄ llottö ninno
minuto. I^el, us, I^si 8c>t?rito? — Ob. ne>, lo no äormito KsriisZiino. Der
Beneidenswerte! Draußen blies die Tramontana noch so schneidend, daß man
es auf der Windseite nur auf Minuten aushalten konnte, und was von Reise¬
geführten allmählich heraufkam, sich entweder im Salon oder auf der Leeseite
hielt. Aber der Anblick war eigentümlich genug. Ringsum das schäumende
Meer, nicht blau, sondern so graugrün wie irgendwo die Nordsee; den Himmel
hatte die Tramontana ziemlich rein gefegt, ostwärts lagen die Berge von Sa-
lerno, halb noch von schweren, dunkelgrauen Wolken verhüllt, in stumpfem
Schieferblau, im Westen ging soeben zwischen zerrissenen Wolkenfetzcn der blaß-
gelbrotc Vollmond unter, der die auf ihn gesetzten Erwartungen so wenig er¬
füllt hatte, gerade vor uns im Norden erhoben sich links die schroffen Felswände
der Südseite von Capri, rechts die Steilküste von Amalfi. Vor wenigen Wochen
hatte ich da oben auf dem Gipfel des Monte Solaro über Anacapri gestanden
und den Dampfer von Messina her ankommen sehen; damals hatte alles ringsum
in lichtem Sonnenglanze und satten Farben gelegen, heute erschien die ganze
Beleuchtung nordisch kalt und grau; auch die Sonne blieb zunächst verhüllt.
Um sieben Uhr lief die „Enna" durch die Bocca piccola zwischen Capri
und der Sorrentiner Halbinsel dicht unter den senkrechten Felsen der Punta
Campanella durch in den Golf von Neapel ein. Aber auch auf seiner weiten
Fläche glitzerten in der zeitweilig durchbrechenden Sonne die Schcmmwellcn,
im Weißen, kalten Lichte tauchten das wolkengekrönte Jschim, Miseno, Neapel
auf. Der Vesuv war zunächst frei, mit dem Ätna verglichen sah er aus wie ein
zierliches Spielzeug. Dann aber kam eine dunkle Wolke, die den Kegel einhüllte
bis zum Fuße, und als sie nach kurzer Zeit verschwand, trug der Vulkan einen
Schneemantel. Draußen schwankten Fischerboote, die unter großen dreieckigen
Segeln den schützenden Hafen zu gewinnen strebten, und als wir am Kriegs¬
hafen und seinen unbeweglich liegenden schwarzen Kolossen vorüber eben ein-
laufen wollten, kam von Westen her majestätisch ein riesiger weißer Dampfer
heran, die „Aller" ans Bremen, von Genua nach Newyork bestimmt. Es war
wie ein Gruß aus der fernen Heimat, und doch hatte ich schon eine Art Heimats¬
gefühl, als ich die Höhen um Neapel wiedersah. Sie erschienen mir beinahe
wie „des väterlichen Hafens blaue Berge."
Um neun Uhr, nach sechzehnstündiger Fahrt, ging die „Enna" mitten im
Porto grande vor Anker, gegenüber dem „Marco Polo," der um Bollwerk
lag. Aber noch hieß es: ?g.2will5iU Denn zunächst lag uns ein großer
Dampfer, die „Asia," von dichtgedrängten Leichterfahrzeugen umgeben, so nahe
längseits, daß die Boote an die „Enna" gar nicht herankommen konnten; als
sich dann beide Schiffe, das eine rückwärts, das andre vorwärts gehend, so
weit voneinander geschoben hatten, als nötig war, um das Fallreep zu senken,
da drängten nicht nur die harrenden Boote ungestüm heran, sondern auch die
Hoteldiener, Kommissionäre u. dergl. Leute erfüllten im Nu das ganze Fall¬
reep und stiegen an Deck, ja einer kletterte ungeduldig sogar an der hohen
Schiffswand empor, bis ihn der Commissario der „Enna" zornig beinahe ins
Wasser hinunterstieß; das alles natürlich unter lebhaften Reden und Gestiku¬
lationen von beiden Seiten. Innerlich belustigt und mit Gepäck nicht sehr
beschwert sah ich dem bunten Treiben zu, denn es kam mir auf eine Viertel¬
stunde gar nicht um; aber neben mir sagte ungeduldig und mißvergnügt ein
Landsmann: „Da geht es doch in Bremen und Hamburg ordentlicher zu."
Unzweifelhaft, aber wir waren näher an Konstantinopel und Alexandria als
an Bremen und Hamburg und befanden uns nicht nnter Norddeutschen, sondern
unter Süditalienern. Endlich wurde auch für die Reisenden Platz zum Aus¬
steigen, und die Boote füllten sich. Nun gab es neue Unzufriedenheit bei
demselben Landsmciunc, da als Preis der Überfahrt nach der Dogana eine
Lira für die Person verlangt wurde, und über die Zollformalitäten selbst.
O'sse trox xour es xsM ers-sse, diese Worte entflohn bei der Bezahlung dem
Zaun seiner Zähne, aber selbst das Französische glitt unverstanden und wir¬
kungslos an den harten Herzen dieser habgierigen Neapolitaner ab. Übrigens
war die Fahrstrecke gar nicht so kurz, und die Dogana gab sich mit einem
flüchtigen Blick auf das Gepäck zufrieden.
Draußen hielten die gewöhnten neapolitanischen Carozzelle, kleine Wagen
auf niedrige» Rüdern, die nicht besonders gut fahren, aber abscheulich stoßen.
Das war mir in diesem Augenblicke ganz gleichgiltig; froh wieder in Neapel
und auf festem Boden zu sein, bewilligte ich dein Kutscher den mit Psycho¬
logischem Scharfblick auf meine Stimmung geforderten Preis, der trotz des
Hinweises ans sein buon v-ivaUo unverschämt hoch our, nannte die Adresse und
wickelte mich in den Mantel. War das Neapel? Ja, die finstern Mauern
und Türme des Castel nuovo, die Säulenreihe des Theaters San Carlo, die
herrliche Piazza del Plebiscit» vor dem alten roten Bourbonenschlosse und der
Kuppelkirche des San Francesco ti Paolo, das war alles wie sonst, aber es
sub ganz anders aus. Die Kälte und der trübe Himmel schienen den Neapo¬
litanern alle Lebenslust genommen zu haben; Straßen und Plätze, selbst der
Largo San Fernando, der Toledo und die Chiaja waren fast leer; wo sonst
fiwfzig Droschken halten, war heute kann ein halbes Dutzend da. Die
schreienden Verkäufer waren stumm geworden, und was an Menschen zu sehen
war, das hatte sich möglichst eingewickelt und hastete schweigsam vorwärts.
Auch von meinem Zinnner in der behaglichen Pension Bourbon Qnisisana
am neuen Corso Principe Amadeo bot sich wieder der schöne Blick auf die
Orangengärten tief unten und den Golf darüber, aber das Meer tobte, die
regelmäßige Verbindung mit Capri war unterbrochen, nach Palermo lief kein
Dampfer aus, und die Zeitungen meldeten Schiffbrüche an der ganzen West¬
küste und Schneeverwehungen der Eisenbahn in Kalabrien. Auch Capri und
Sorrento waren mir selten sichtbar, der Posilippo sah grau und kalt aus,
und am nächsten Morgen trug nicht nur der Vesuv, sondern auch der zackige
Monte Sand' Angelo über Sorrent eine Schneedecke. Neapel ohne Sonne
und von beschneiten Bergen umgeben ist nicht mehr Neapel. Es war Zeit
zur Heimkehr.
Folgendes Schreiben ist bei uns eingegangen, das wir glauben
der Öffentlichkeit nicht vorenthalten zu dürfen und darum wie folgt abdrucken. Die
Redaktion. — Sehr geehrte Redaktion! Wenn ich es wage, an Sie die nach¬
stehenden Zeilen zu richten, so geschieht es in dem Bewußtsein zu Männern zu
reden, die schon manchem guten Gedanken Hebammendienste geleistet und manchem
verborgnen Verdienste zur Anerkennung verholfen haben. Ja es giebt mehr ver¬
borgnes Verdienst, als man glaubt, mehr Samenkörner des Geistes, die zwar keim¬
fähig aber unerweckt im Boden schlummern, weil ihre Zeit noch nicht gekommen ist.
Kennt die verehrte Redaktion das Gefühl, Wissender zu sein und sein Wissen im
stillen Busen tragen zu müssen, weil man von der Zeit nicht verstanden wird?
Ich kenne es. Kennt sie die Erleichterung, die man empfindet, wenn ein andrer
nusspricht, was man seit langen Jahren gewußt, aber zu sagen nicht gewagt hat?
Ich kenne sie. Nun aber darf man auch selbst nicht weiter schweigen.
Es war zwischen mir und meinem Bruder ein beliebtes Gesprächsthema, wenn
wir an unserm großen Puppentheater arbeiteten — wir waren damals schon ziemlich
große Kerle —, zu erwägen, wie man auch den Geruch in den Dienst der drama¬
tischen Kunst stellen könnte. Daß der Freischütz ohne Pulvergeruch sein könnte,
war uns unfaßbar, und wir versuchten, den nötigen Pulverdampf hinter den Ku¬
lissen zu erzeuge», wobei uns leider ein großes Loch in den schönen, roten Vorhang
brannte. Später traten andre Lebensaufgaben in den Vordergrund, aber immer
wieder kamen wir darauf zurück, zu fragen, wie der Geruch, dieser unendlich
wichtige und stimmungerweckende Sinn zur künstlerischen Bethätigung herangezogen
werden könnte. Nun lese ich in der Zeitung — zwar nur im Feuilleton, aber
doch in der Zeitung — eiuen Aufsatz über „Parfüm-Musik." In diesem Aussähe
wird darauf aufmerksam gemacht, daß der Geruch auf das Gehirn einen intensivem
Eindruck als irgend eine andre Sinneswahrnehmung mache, daß ein Parfüm
einer ganzen Zeit einen bestimmten Charakter verleihen könne, und daß man sich
jahrelcmn an einen Geruch deutlicher erinnere als an einen Kuß oder ein süßes
Wort. Ja der Duft hat — wird weiter gesagt — seine eigne „Persönlichkeit," ein
gewisses Etwas, das nur ihm allein anhaftet. Ans Grund dieser Eigenschaften
könnte man Düfte mischen und modulieren, um auf solche Weise Melodien, Akkorde,
Fugen, Symphonien, kurz eine neue Musik hervorzubringen, die besonders für taube
Menschen gut wäre. Aber nicht für diese allein. Musikfreunde, die Gouuods
„Faust" lieben, sollen Ornngenduft einatmen; der Irisduft ersetzt die Musik von
Saint-Säens; man kann sich Myrrhenkantaten verschaffen, die an Bach erinnern usw.
Wird der Tag kommen, an dem ein Duftzerstäuber unsern Nasen dieselbe angenehme
Empfindung bereiten wird, wie sie unsern Ohren eine mächtige Orgel, Joachims
Geige oder die Stimme der Melba bereitet? Kann man hoffen, daß sich reiche
Leute später zur Erzeugung von Duftmusik Nasenklaviere bauen lassen?
Er geht zu weit, werden Sie sagen, und ich sage es auch, bei Gott, er geht zu
weit. Er macht denselben Fehler, den unsre Musiker machen, wenn sie versuchen,
und Tönen allein Liebe, Haß, Verachtung oder Sehnsucht auszudrücken. Alles dies
wird freilich erst möglich in der Verbindung mit dem gesprochnen Worte oder der
redenden Situation. In dieser Verbindung gewinnt der Ton eine große, die
Wirkung des Wortes übertreffende Bedeutung, er schafft die Stimmung, er bewegt
das Gefühl. Dasselbe gilt vom Gerüche. Daß mau mit Gerüchen wie mit Tönen
oder Akkorden werde operieren können, ist undenkbar, wohl aber kann der Geruch
in Verbindung mit dem Vorgange oder dem Worte eine neue Welt künstlerischer
Wirkung erschließen. An bestimmte Orte knüpfen sich bestimmte Gerüche. Für mich
hat die Mischung des Geruchs von getrockneten Rosenblättern und des der Rauch¬
kammer einen ganz bestimmten Erinnerungsinhalt, sie vergegenwärtigt mir das Pfarr¬
haus meiner Großeltern, das Paradies unsrer Kinderzeit. Und so ist es doch überall.
Es wird die Aufgabe des geruchkuudigen Dichters sein, herauszufühlen, welcher Geruch
zum Milieu seines Stückes oder der vorliegenden Szene gehört. Wir werden also beim
Beginne des Aktes in der Bühnenweisung nicht allein zu lesen haben, welche Thüren,
Stühle und Tische vorhanden sind, sondern auch, wie es in dem Raume riecht.
Und dies ist für die Prägnanz der Stimmung, für die Wahrheit der
Schilderung von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man sich wundern muß, warum
das Wagnersche Musikdrama, das grundsätzlich alle Hilfsmittel in den Dienst nimmt,
warum das realistische Schauspiel, das alles, was schön oder auch nur erträglich
war, der Wahrhaftigkeit opfert, den Geruch noch nicht als Kunstmittel verwandt
haben. Es wäre eine Sache von großer Wirkung, wenn zu der Tragödie des
Hinterhauses auch der spezifische müssige Geruch des Hinterhauses oder zu der
Schilderung von Verbrechern, Lumpen oder Kueipenszenen der Dunst von Schnaps,
Fusel und schlechtem Tabak käme. Im „Fuhrmann Henschel" leistet Gerhardt zu
wenig, wenn er sich nur auf den Dialekt beschränkt, hier sind die zugehörigen Ge¬
rüche eigentlich gar uicht zu entbehren. Wie würde der Eindruck, den „Sodom" macht,
gesteigert werden, wenn zu der schwülen Stimmung der Handlung die dicke, par¬
fümierte Luft des Salons käme. Im Freischütz müßte es je nachdem nach Wald-
moos, Pulver, Schwefel und frischem Linnen riechen, in Wallensteins Lager nach
Pferden und Leder, in den Piccolomini nach Braten und Wachslichtern, im Lear
nach Staub und Ozon, im Tell nach dem Kuhstall. Wenn aber Faust in „ihrem
Dunstkreise satt sich weidet", so genügt es nicht, den „süßen Dämmerschein" durch
Dekoration und Beleuchtung darzustellen, auch der Dunstkreis selbst darf nicht fehlen.
Man ermesse, welche Aufgaben damit dem zukünftigen Gernchskünstler erwachsen.
Hier ist nun freilich eine technische Schwierigkeit zu überwinden. Sie liegt
nicht darin, die Gerüche zu bereiten, das können wir getrost der Chemie über¬
essen, sondern die Gerüche, die man gemacht hat, wieder los zu werden. Denn
so darf es nicht werden wie sonst im Freischütz, wo die Nachwirkungen des Feuer-
regcns den dritten Akt verdarben. Oder man denke sich zum Vergleich eine Musik,
in der alle Töne stundenlang nachklingen! Diese technische Schwierigkeit ist nicht
unüberwindlich, fordert freilich einen Umbau des Theaters. Aber wenn hente ein
Komponist von ausschlaggebender Bedeutung fordert, daß sich das Orchester unter
der Bühne befinde, und wenn man der Forderung bereitwillig nachkommt, wenn
man ferner dasselbe thun würde, sobald die Forderung gestellt würde, das Orchester
solle auf dem Schnürboden sitzen, so hat es kein Bedenken, zu verlangen, legt große
Luftkanäle um und Maschinen, die die Luft des Theaterraumes erneuern. Vier
Exhaustore, die in der Minute hundert Kubikmeter Luft aufsaugen, und eine Dampf¬
maschine von zwanzig Pferdekräften dürften genügen. Sollte hierdurch ein zu leb¬
hafter Luftzug erzeugt werden, so dürfte dies unsern Damen den willkommnen
Anlaß geben, ihre Hüte aufzubehalten.
Man sieht leicht ein, daß man mit diesen Hilfsmitteln Gerüche vorüberziehn
lassen kann, wie im Wagnerschen Musikdrama musikalische Lichter und Schatten
über die Bühne laufe». Im weitern Verlause der Kunstentwicklung werden die
Gerüche symbolische oder individuelle Bedeutung erhalten. Sie werden beim Er¬
scheinen des Helden wie ein Leitmotiv als Leitgeruch auftreten und sich mit der
Änderung der Stimmung ändern. Besonders würde sich das Auftreten der Heldin
durch einen lieblichen, ihren Charakter bezeichnenden Duft ankündigen. Ein
moderner Anthropolog hat unter Beibringung zahlreicher Beweistümer, die aus
dem Leben der Kaffern, Papuas sowie der Hunde genommen sind, die Behauptung
aufgestellt, die Sympathie oder Antipathie von Mann und Frau beruhe auf dem
jedem Individuum eignen Gerüche. Hier also würde man auf wissenschaftlicher
Grundlage künstlerische Wirkung ausüben können, indem man den einzelnen Personen
besondre Gerüche zuwiese, was der Deutlichkeit Wege» auch auf dem Theaterzettel
angegeben sein könnte: Desdemona — Rose; Othello — Blut; Shylock—Knoblauch.
Man könnte mir einwenden, daß unter der Herrschaft von Katarrh, Influenza und
Schnupfen viele Personen überhaupt nichts riechen, und daß andre nur einen unvoll¬
kommen ausgebildeten Geruchssinn haben. Wenigstens pflegte der alte Frau/,vis zu
sagen: „Das weiß der liebe Gott, ich rieche nichts, und wenn ich einmal etwas
rieche, dann flinkes gewiß." Aber affiziert der Schnupfen nicht auch das Gehör, und
giebt es nicht auch unmusikalische Menschen? Wer wollte diesen den Konzertsaal ver¬
bieten? Haben sie doch schon durch deu Anblick der Toiletten der Künstlerinnen ihren
vollen Genuß. So möge es auch bei defekten Geruchssinn gehalten werden.
Ja, mau kann noch weiter in die Ferne sehen. Kurt von Laßwitz schildert in
seinem phantastischen Romane „Auf zwei Planeten" ein Gcfühlskonzert der uns in der
Kultur weit vorauseilenden Marsbewohner. Bei diesem Konzerte werden die überaus
feinfühligen Hände der Marsbewohner in einen Kasten gesteckt und durch künstliche
Maschinen geknetet, gewalkt, gebürstet und gestreichelt. Werde» wir eine solche Er¬
rungenschaft, eine solche Ausbildung noch unausgebildercr Sinne hoffen dürfen? Das
Jahrhundert wird es lehren. Das alte Jahrhundert hat uns zu der Kunst der
Japaner emporgetragen. Wird uns das neue Jahrhundert zu der Ästhetik des Geruchs
verhelfen? Wird es uus Flügel verleihen und uns zu der Bildungshöhe der Mars¬
bewohner emporschwingen? Aber was sage ich: Jahrhundert? Von Jahrhunderten
reden ist unmodern, sprechen wir also lieber von Millionen von Jahren.
Die verehrte Redaktion wird ermessen, wie schwer ich an meinem Wissen, das
ich doch nicht auszusprechen wagen durfte, getragen habe, und welche innere Er¬
hebung sie mir verursachen würde, wenn sie zur Verbreitung der Idee, den Geruch
als Kunstmittel zu verwenden, beitragen wollte.
s giebt heute ohne Zweifel viele Deutsche, die der kaiserlichen
Parole „Weltmacht" vou Herzen zustimmein Wenn aber die
Lösung folgen soll, so stocken wohl die meisten, weil ihnen das
Herz nicht zu sagen vermag, was denn nötig sei, um Deutsch¬
land zu eiuer Weltmacht zu erheben. In der That, es ist nicht
leicht, diesen Begriff fest zu definieren, den weder das Stnatsrecht noch das
Völkerrecht keimen, eben weil er nicht ein Begriff des absoluten Rechts, sondern
der Macht ist, die immer nur eine relative Bedeutung hat. Es gab und giebt
noch heute sehr große Reiche, die doch nicht zu den Weltmächten gehöre», wie
z.B. Brasilien; es giebt andre, die ebensowenig eine Weltmacht sind, und deren
Interessen doch die Welt umspannen, wie die Niederlande mit ihren großen
.Kolonien, wie Norwegen mit seiner großen Handelsflotte. Weder großer Land¬
besitz noch große Interessen also machen einen Staat an sich schon zu eiuer
Weltmacht, sodaß mau nicht ohne Grund etwas mißtrauisch sein könnte einem
Wort gegenüber, über dessen Inhalt die meisten verschiedner Meinung sein
dürften.
Und doch hat es einen ebenso schwer bestimmbaren Begriff gegeben, der
lange Zeit in den politischen Geschäften Europas für vollwertige Münze ge¬
golten hat, nämlich den Begriff der Großmacht, womit sich seit dem Wiener
Kongreß gewisse Staaten beehrten, weil und sobald sie sich die Kraft zutrauten,
andre Staaten als kleine oder mittlere, das heißt als solche zu behandeln,
die nicht die Kraft hätten, sich dem Willen der Großmächte zu widersetzen,
noch das Recht, eine Stimme in ihrem Rate zu führen. Es hat auch vor¬
her große Mächte und kleine Mächte gegeben, aber der besondre Großmacht-
l'egriff, wie er bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein
Geltung hatte, ist doch erst herangereift auf dem Baume, der zu Wien gepflanzt
wurde, und den man seitdem als den Baum der europäischen Penwrchie
über alles niedre Gewächs hat tiefen Schatten verbreiten sehen. Vorher war
dieser Großinachtbegriff so wenig definierbar, daß Preußen, nach allen An¬
strengungen Friedrichs II. und alleu spätern polnischen Aufbauschungen, vom
Basler Frieden bis zum ersten Pariser Frieden noch gar nicht wagte, sich als
Großmacht zu fühlen und zu zeigen, und daß man in Wien anfangs gar nicht
bemerken wollte, wie großmächtig das wiedergeborne Bourbonenreich sei, bis
dann Tallcyrnnd die vier Widerwilligen zu überzeugen wußte, daß es ohne
Frankreich keine Pentarchie und kein Gleichgewicht der großmächtlichen Kräfte
geben könne, wonach dann für Jahrzehnte hinaus die fünf Pentarchen eifer¬
süchtig dafür sorgten, daß kein sechster Staat sich beikommen ließe, großmüchtig
zu werden, so gutes Recht dazu schon damals und besonders nach 1848 sowohl
Italien als Deutschland anch haben mochten. Damit hatte denn allerdings
die Bezeichnung Großmacht einen Sinn bekommen, nämlich den, daß jede der
fünf Großmächte verlangen konnte, daß nichts Wichtiges in dem politischen
Leben Europas vor sich gehn dürfe ohne Berücksichtigung ihrer besondern
Interessen durch die übrigen vier Mitglieder der Pentarchie, widrigenfalls diese
Großmacht Mittel genug aufzuwenden habe, ihre Interessen mit Gewalt zu
schützen. Und so lange diese fünf Großen daran festhielten, wußte man, daß
nur die Macht eine Großmacht sei, die in dem europäischen Areopng mit¬
zusprechen hatte, was von nicht geringem realem Wert und Gewicht war. Der
Großmachtbegriff hatte also damals einen greifbaren bestimmten Inhalt, und
man begann seitdem auch von einem europäischen Konzert zu sprechen, wie
man die von den fünf großmächtlichen Instrumenten vorgetragne Musik be¬
zeichnete, nach der dann die andern, die Kleinen, tanze» mußten.
Es dauerte freilich nicht gar lange, so begann sich dieser pentarchische
Großinachtbegriff zu verwischen infolge zunehmender Disharmonie in dem
Konzert der fünf. Von Anbeginn nämlich war die Musik auf ein Grund-
motiv gesetzt, das allen fünf wohl behagte und dahin lautete, daß dem
revolutionären Wesen für alle Zeit ein Ende gemacht werden müsse. Leider
aber schüttete man sehr bald das Kind mit dein Bade aus, indem man mit
der Revolution auch die geivvhnlichste oder doch vernünftigste Art von Völker¬
freiheit und Menscheilfreiheit im Gebiet der kontinentalen Staaten umzubringen
bestrebt war, was nicht nach dein Geschmack aller fünf Mächte war. Schon
die Kongresse von Laibach und Verona, auf denen die großmächtliche Autorität
gegenüber allen volksfreiheitlichen Gelüsten in Italien und Spanien in Marsch
gesetzt wurde, brachten Risse in die Einigkeit der fünf, indem England mi߬
mutig zur Seite trat. Bald darauf wurden die Risse durch den Freiheits¬
kampf der Griechen erweitert, und als dann die Julirevolution im Westen dem
Legitimitütsprinzip ein Ende machte, im Osten aber zugleich Zar Nikolaus
zum Bewußtsein seiner großen Mission gelangt war, da stimmte nichts mehr
recht in dem Konzert, sodaß sich 1834 England, Frankreich und die beiden
iberischen Staaten zur Verteidigung der vom Osten her bedrohten Volksrechte
zu einer Allianz zusammenschlossen. Bedroht waren diese Rechte eigentlich
nur in Spanien und Portugal, aber die Julirevolution hatte doch auch die
traditionelle Propaganda von 1793 aufgenommen und es dahin gebracht, daß
mit den Phantasien der heiligen Allianz gründlich aufgeräumt und der Abso¬
lutismus um ein beträchtliches Stück weiter nach Osten zurückgedrängt wurde.
Es bildeten sich nun zwei Konzerte statt des einen, das wcstmächtliche und
das ostmächtlichc, sodaß mau seitdem von einem europäischen Konzert bis zum
Pariser Frieden von 1856 eigentlich nicht mehr reden kann. Der Großmacht-
bcgriff des Wiener Kongresses hatte damit an seiner Bedeutung stark eingebüßt,
aber man behielt ihn doch insoweit bei, daß die große kontinentale Politik nur
von den fünf offiziell gemacht wurde und die übrigen Staaten in der zweiten,
mehr oder minder stummen Reihe blieben. Den letzten Stoß erhielt dann die
Pentnrchie deS Wiener Kongresses im Krimkriege. Die beiden Westmächtc
nahmen als Gleichberechtigte neben sich die Türkei, ja selbst das kleine Sar¬
dinien an, und mit Konzert und europäischem Areopag hatte es für längere
Zeit ein Ende. In Paris hatte man wenig dagegen einzuwenden, daß der
Vertreter der hohen Pforte seinen Namen gleich hinter die der legitimen Be¬
sitzer der kurulischen Sessel setzte, zeigte jedoch anfangs nicht übel Lust, Preußen
ganz beiseite zu lassen, was deutlich darthut, wie weit man von dem alten
Begriff der pentarchischen Großmacht abgekommen war.
Wenn von der konservativen Gleichgewichtsidee der alten Pentnrchie noch
ein Rest im Krimkriege zu Tage trat, so ging auch dieser im Laufe der nächsten
Ereignisse verloren. Die größten politischen Umwälzungen gingen vor sich,
ohne auch nur ernsthafte Versuche eines Konzerts der Großmächte. Denn
Konferenzen wie die von London 1804 oder die von Konstantinopel 1876
hinterließen so wenig den Eindruck einheitlicher Grundanschauung unter den
Mächten, daß alle Frieden dräuenden Konferenzen vor einem Kriege in Mi߬
kredit gerieten. Daß sie auch während eines Kriegs von geringem Wert
sind, zeigten die endlosen und nntzarmen Sitzungen der Diplomaten in Kon¬
stantinopel zur Zeit der griechisch-türkisch-kretischen Wirren von 1895 bis 1896.
Wären die Konferenzen so geeignete Löschanstälten, als man sie noch vor siebzig
Jahren gelten ließ, so Hütten fünf Kriegsschiffe im Pirüus viel Blutvergießen
erspart, und man Hütte in Kreta nicht ebenso halbe Arbeit gemacht, wie sech¬
zehn Jahre früher in Bulgarien, dem man Ostrumelicn nicht geben wollte,
was sieben Jahre spüter zu neuen Unruhen und zum eigenmächtigen Anschluß
der beideu bulgarischen Gebiete aneinander führte. Und in Berlin im Jahre
1878 bemerkte man, daß auch Friedenskonferenzen nach einem Kriege von
recht zweifelhaftem Wert für die vermittelnden Staaten sein können. Vollends
zu Grabe getragen hat man dann den ehemaligen europäischen Areopag im
Haag 1899, als große und kleine Mächte sich darüber einigten, daß sie sich
über Krieg und Frieden von keinem Areopag der Welt was wollten vor¬
schreiben lassen.
Die Abrüstungsidee entsprang in Rußland sehr wahrscheinlich aus den
finanziellen Nöten, in denen dieses Reich steckt, und schon das wäre genügend
gewesen, England zu dem Schlüsse zu bringen, daß die Abrüstung schädlich
und die finanziellen Nöte Rußlands möglichst zu erhalten seien. Indessen
ist es nicht nötig, so weit her Gründe zu suchen für die Abweisung so schwer
wiegender Antrüge, wie Abrüstung oder obligatorisches Schiedsgericht, woran
man im ersten Enthusiasmus wirklich zu glauben Schleim Wie ließe sich Wohl
Einigkeit in einer Versammlung erwarten, die so ungeheuer verschiedne Größen,
Interessen und Prinzipien vertrat? Wie konnte man annehmen, eine dauer¬
hafte Autorität zu schaffen, die die Beschlüsse, auch wenn sie jene großen
Neuerungen sanktioniert hätte,?, durchzuführen imstande gewesen wäre? Wer
wäre denn die neue heilige Allianz des Friedens gewesen, die Rußland oder
England hätte hindern tonnen, übermäßig zu rüsten oder Kriege zu führen
ohne vorhergehendes Schiedsgericht? Ein Stantenbund, der solche Gewalt
ausüben wollte, könnte nur von einigermaßen gleich starken und auf ver¬
wandten staatlichen Prinzipien ruhenden Staaten erhalten werden, was auch
mir bei den kontinentalen großen Mächten nicht zutrifft. Es giebt eben heute
keine europäischen Großmächte im Sinne des Wiener Friedens mehr, die einen
Staatenbund, wenn auch in der löschten Form, vorstellen könnten.
In der Geschichte Europas ist die Idee eines solchen Stnatenbundes wieder¬
holt aufgetaucht, und jedesmal zur Abwehr der von einem der europäischen
Staaten drohenden Übermacht, Napoleons uferlose Herrscherpläne trieben die
übrigen Möchte zum Zusammenschluß. Vorher war es das zu gewaltige An¬
wachsen des Hauses Habsburg, das Heinrich IV,, wie es scheint, zu seinem
Projekt einer europäischen Stnatenrepublik führte, einem Projekt, das nach ihm
noch mehrfach in den Köpfen französischer Politiker gespukt und vielleicht auch
noch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in dem Plane einer
<iisw intsrnÄtioiurlg des Abbe de Se, Pierre nachgeklungen hat. Im siebzehnten
Jahrhundert hat W. Peru solchen Zukunftstrüumeu nachgehangen. Ein Anstoß
zu solchen Wünschen kann auch ferner wieder hervortreten, wenn sich z. B.
Rußland von seinen panslawistischeu Ideen einmal zu positiven Handlungen
fortreißen ließe, wozu ein Zerfall Österreichs ohne Zweifel eine starke Ver¬
suchung sein würde. Ein europäischer Staatenbund kann ferner wünschenswert
werden gegen Amerika im Sinn eines Zolllmudes, aber auch im Sinn eines
politischen Bundes, Ein kontinentaler Stnatenbuud endlich könnte notwendig
werden gegen England. Das wären die Fälle, wo das Gleichgewicht, sei es
der kontinentalen Staaten untereinander, sei es zwischen dem kontinentalen
Europa und den nngelsächsischen Weltmächten, bedroht wäre.
Wenn man vom politische« Gleichgewicht sprach, so meinte man bis in
die neueste Zeit immer das europäische Gleichgewicht. Fast unmerklich ist die
Bedeutung des alten Gleichgewichts sehr gesunken gegenüber der Frage nach
dem Gleichgewicht der großen Mächte zur See und in den andern Erdteilen,
voi: dem wir noch weiter werden zu reden haben. Seit dem Zerfall der alten
Weltmacht des deutschen Kaisertums haben fast alle Kämpfe zur Erhaltung
des politischen Gleichgewichts wie alle Kämpfe zu seiner Zerstörung ihren
Angelpunkt in der Schwäche Deutschlands gehabt. Der Dreißigjährige Krieg,
die Kämpfe mit Ludwig XIV., die Kriege Friedrichs des Großen, die uapo-
leonischen zu Anfang des Jahrhunderts und die napoleonischen unsrer Zeit
und manche andre noch — wem haben wir sie meist zu danken, als unsrer
deutschen nationalen Verkommenheit, die unsre Kraft lähmte? Wir ließen uns
immer von ehrgeizigen Fürsten oder herrschsüchtigen Pfaffen mißbrauchen, bis
Deutschland so hohl an Kraft war, daß alle Mächte Europas in Deutschland
mehr zu sagen hatten als wir selbst. Alle saßen sie um die deutsche Schüssel
herum, von Rußland nud England und Frankreich bis aus Dänemark und
Italien,*) und steckten ihre Löffel in unsre Suppe. Und diese Situation war
ein Kardinalpunkt in dem, was man damals das System des europäischen
Gleichgewichts nannte. Damals! denn das ist nun, Gott sei Dank, vorüber
seit 1866 und besonders seit 1870. Und wie vollständig hat sich das Bild
seitdem geändert! So vollständig, daß man fast noch ingrimmiger auf unser
früheres nationales Elend zurücksieht, seit man erkennt, welche nationale Kraft
bloß durch die Uneinigkeit gelähmt war, und was wir, wenn einig, vielleicht
schon längst Hütten sein können. Wie mit einem Znüberschlage sind alle
fremden Finger von der Suppe weg und alle hungrigen Mäuler uach aus¬
wärts gekehrt. Von dem Augenblick an, wo es wieder ein Deutsches Reich
gab, begann der Kontinent sich von der bloß kontinentalen Politik ab- und der
Weltpolitik zuzuwenden.
Freilich war diese Wendung schon eine geraume Zeit vorher durch ver-
schiedne Ursachen vorbereitet wordeu. Seit Englands Seeherrschaft und sein
gewaltiger Kolonialbesitz gesichert waren, lag seine Zukunft ans dein Wasser
und begann sein Interesse an den kontinentalen Angelegenheiten Europas zu
sinken. Industrie und Handel wandten sich immer mehr den außereuropäischen
Ländern zu, und angesichts der großen englischen Erfolge begannen anch andre
europäische Staaten die Pfade Englands aufzusuchen. Frankreich ging nach
Afrika hinüber, Rußland drang erobernd in Mittelasien vor, Norwegen, Däne¬
mark, die Niederlande, die Hansestädte suchten sich stärker am überseeischen
Handel zu beteiligen. Frankreich machte sogar einen unglücklichen Versuch,
sich in Mexiko festzusetzen, und bezahlte ihn mit dem Leben eines österreichischen
Erzherzogs; es unternahm einen kaum nützlichem Zug nach China, von dem
seine englischen Bundesgenossen den Vorteil zogen. Aber noch blieben die
wesentlichen Interessen der kontinentalen Mächte in der kontinentalen Politik
beschlossen, deren hauptsächliche Werte in deutschem, italienischem oder türkischem
Boden bestanden. Da wurden diese Anschauungen aufs neue nach müßen ge¬
lenkt durch die Eröffnung des Snezkanals im Jahre 1869.
Dieser Kanal steht in seinen politischen Folgen würdig neben den beiden
großen Begebenheiten jener Zeit, dem deutsch-französischen Kriege und dem
vatikanischen Konzil. Er brachte in die Industrie und den Handel einen Auf¬
schwung, wie er früher niemals vorgekommen ist, so viel größer auch die Er¬
regung gewesen sein mag, als man in Europa von der Entdeckung des See¬
wegs nach Ostindien um das Kap oder von dem andern Wege über West-
indien hörte. Die Jahre 1869 >ab 1871 haben dem alten Europa ein neues
Ansehen gegeben. Noch einmal versuchte Nußland die alte Orientfrage in seinem
Sinn zu lösen, noch einmal vertrat ihm England den Weg; dann wandte sich
Rußland dem Osten zu, und England legte 1882 die Hand auf Ägypten und
den Kanal. Wird seitdem von der Orientfrage gesprochen, so denkt man vorerst
an Ostasien und erinnert sich erst nachher, daß in Konstantinopel noch immer
der Großtürke herrscht.
Durch den Kanal drängten sich bald die europäischen Großmächte hinaus,
um in Asien und dann in Afrika koloniale Eroberungen zu machen, Frank¬
reich suchte sich in Hinterindien und Afrika für deu Verlust der einstigen großen
Kolonien zu entschädigen, Deutschland setzte sich in Afrika fest, der Kougostaat
wurde gegründet, Italien nahm sich auch ein Stück im Osten, nachdem es von
Tunis durch Frankreich ausgesperrt worden war. Und England griff überall
zu. Kaum war Afrika einigermaßen verteilt, so kam Asien dran. Und so
sehen wir uns heute fast plötzlich vor die Thatsache gestellt, daß die Interessen
der Hauptstaaten Europas über das alte Europa der Pentarchie hinaus die
gesamte Erde in überstürzender Eile zu erfassen bemüht sind. Nicht Herrsch¬
sucht ist das stärkste Motiv dieser Bewegung, wie es wohl bei einem Alexander
dem Großen, Cäsar, Napoleon der Fall war; eher läßt sich diese Bewegung
vergleichen mit dem Drange, der vor anderthalb Jahrtausenden die Völker zum
Wandern brachte: die Volkszahl und die Industrie treiben uns heute über das
Meer, es gilt für Menschen oder Waren Raum zu schaffen. Und an der Spitze
der neuen Kulturwandrung stehn nicht mehr die alten kontinentalen Großmächte,
sondern die Weltmächte.
Charles Dilke sieht in der Zukunft drei Weltmächte: Großbritannien,
die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Rußland. Diese drei Reiche
sind in ihrer natürlichen Unterlage wie in ihrer Kulturausgestaltung sehr ver¬
schieden voneinander. Rußland ist ganz kontinental, in der Kultur von sehr
geringer eigner Kraft, in dieser Kraftlosigkeit erhalten von der erstickenden
Uniformität eines lmreaukratischen Absolutismus, aber durch eben diesen Abso¬
lutismus fähig, die rohen Kräfte für äußere Unternehmungen zu beleben und
zu verwenden. Sein inneres Gedeihen wird erst beginnen mit dem Zerfall
des bürokratisch zentralisierenden Absolutismus, der zu seiner Erhaltung der
expansiv-militärischen Politik bedarf. Im Gegensatz dazu ist England ganz
maritim, freiheitlich, von unerschöpflicher innerer Kulturkraft. Seine Zukunft
hängt davon ub, inwieweit es seine Kolonien in mehr oder minder stark föde¬
rativer Form wird an sich fesseln können. Die Vereinigten Staaten sind
kontinental, aber föderativ, expansiv, von gewaltiger Produktionskraft und in¬
folge der steigenden Industrie jetzt im Begriff sich eine maritime Stellung zu
schaffen. Für England sind die Vereinigten Staaten der gefährlichere von
beiden Nebenbuhlern; denn Rußland wird sich noch für lange keine Industrie
und keinen Handel für die Ausfuhr schaffen, die England zu fürchten brauchte.
Rußland ist also nur gefährlich, soweit und solange es England durch sein
Landheer bedrohen wird. Die Vereinigten Staaten bedrohen Kanada und
Werden es ohne Zweifel über kurz oder lang von England losreißen;
sie sind noch weit gefährlicher durch ihre seit einigen Jahren begonnene über¬
seeische Expansionspolitik. Der Ausdehnung von Industrie und Handel
wird sicherlich der Ausbau einer starken Flotte folgen, besonders von dein
Augenblick an, wo etwa Kanada durch Anschlich an die Union aufhört, das
bequem liegende Werkzeug zu sein, durch das man die englische Bescheidenheit
jederzeit entflammen kann. Auch wird niemand in der Welt von England mit
so viel Respekt behandelt, als der breitspurige Vetter von drüben. Seit im
Jahre 1814 der Frieden von Gent in nachgebender Milde von England ge¬
schlossen wurde, ist es jedem Streit mit den Vereinigten Staate«? höflich aus¬
gewichen. Nur als man glaubte, sich der Hoffnung auf einen innern Zerfall
der Republik hingeben zu dürfen, als im Sezessionskriege eine Trennung
vou Nord und Süd möglich wurde, da wagte man, einen in England aus¬
gerüsteten Kaper gegen die amerikanische Handelsflotte loszulassen. Dem neu-
tralen England war es ganz recht, als die Alabama die amerikanische Handels¬
flotte um Hunderte vou Schiffen armer machte. Von den drei Weltmächten
des Herrn Dilke hat die amerikanische die größte Wahrscheinlichkeit einer glän¬
zenden Zukunft für sich. Am reinsten in ihrem staatlichen Prinzip gegründet,
das föderativ und demokratisch ist, ruht sie zugleich auf einer natürlichen kon¬
tinentalen Basis, wie kein andrer Staat sie hat. Mit der Energie und dem
Fleiß des angelsächsischen Geschäftsmannes verbindet der Nordamerikaner ein
hohes Selbstgefühl und unerschöpflichen Wagemut. Und zuletzt hat es vor
England den ungeheuern Vorsprung, ein geschlossenes, sich selbst genügendes
Wirtschaftsgebiet zu sein, das nie wie England in Gefahr geraten kann, durch
eine überlegne Flotte ausgehungert zu werden. Mit größerer Sicherheit und
mit größerer Kraft als irgend ein Reich der Welt wird Amerika imstande fein,
in den Kampf für seine Weltmnchtstellung zu treten, wenn diese ihm jemals von
E
in Januar des vergmigueu Jahres erhob Adolf Wagner öffent¬
lich seine warnende Stimme gegen die wirtschaftspolitische Tendenz,
die der Besitznehmung Kiantschous zu Grunde lag, wegen der
„Steigerung der sozialen Gegensätze," die daraus folgen müßte.
Vor allein würden „bei solcher Ausweitung des Weltmarkts"
die Kreise profitieren, die die gegebnen Konjunkturen „im großen" auszunutzen
vermöchten: „kaufmännische und industrielle Grvßunternehinungen." Ihre
Kapitalmncht würde noch wachsen, „damit aber auch die Gefährdung großer
Existenzgruppen sich steigern." Einen ähnlichen Gedanken hatte Otterberg in
seinem bekannten Vortrage über „Deutschland als Industriestaat" auf dem
Evangelisch-sozialen Kongreß in Leipzig am 10, Juni 1897 entwickelt, indem
er sagte: „Ausdehnung der Exportindustrie, Gewinnung »euer Absatzmärkte,
Pionierarbeit für geographische Ausdehnung der Machtsphäre deutscher Volks¬
wirtschaft ist nur deutbar unter kapitalistischer Führung und wendet nach aller
Erfahrung und nach aller innern Wahrscheinlichkeit dem Kapital den Löwen¬
anteil am Ertrage zu," Die dadurch geförderte ungleiche Verteilung des
Volksverinögeus zwischen Reich und Arm sei „unwirtschaftlich," Der Reiche
könne sein höheres Einkommen wohl ausgeben, aber nicht in vollem Maße
genießen, wie es die Armen genießen würden. Wirtschaftliche Ungleichheit sei
„so ipso Vergeudung wirtschaftlicher Güter."
Wenn ich die Politik, die der von Wagner und Oldeuberg bemängelten
volkswirtschaftlichen Entwicklungstendenz Rechnung trägt, hier kurz die des
„größern Deutschlands" oder deutsche Weltpolitik nenne, so entspricht das
etwa dem, was Graf Bülow in seiner Neichstngsrede zur Ankündigung der
Flottenvorlage am 11. Dezember des vergangnen Jahres über die Weltpolitik,
in die wir eintreten müßten, und über die Politik des „größern Dentschlands"
sagte: die Weltpolitik „nicht im Sinne der Eroberung, wohl aber im Sinne
der friedlichen Ausdehnung unsers Handels und seiner Stützpunkte," Der Be¬
griff des Kapitals ist, wie ein namhafter Volkswirt erst kürzlich geschrieben
hat, einer der schwankendsten in der Nationalökonomie, da fast jeder Schrift¬
steller seine eigne Definition davon aufstellt. Das kann von dem Begriff der
Weltpolitik auch gesagt werden, nur daß sich die politischen Schriftsteller mit
Definitionen weniger plagen als die national-ökonomische». Wer unter Welt¬
politik, der Politik des größern Dentschlands, etwas ganz andres versteht, dein
soll also durchaus nicht widersprochen werden, wenn ich sage: für eine erfolg¬
reiche Weltpolitik thut uns eine starke Flotte, wie ein starkes Großkapital
dringend not, und zwar ein bewegliches, gut organisiertes und gut geleitetes
Großkapital.
Von vornherein sei übrigens dagegen Verwahrung eingelegt, als ob damit
die fortschreitende Verteilung des Volkseinkommens hintenangesetzt und ein¬
seitig dem Ansammeln großer Kapitalien in den Händen einzelner das Wort
geredet werden sollte. Im Gegenteil, ich räume willig dem Verteilen eine sehr
hohe, vielleicht die höhere Bedeutung ein, aber unter Umständen wird eben
anch das Sammeln dringend. Das Verteilen führt zur Verarmung aller,
wenn nicht dafür gesorgt wird, daß immer wieder etwas rechtes zu verteilen
da ist. Einseitig und kurzsichtig ist es also, wenn sich die Sozialdemokratie
gegen die Flotteupvlitik des Kaisers deshalb auflehnt, weil das Großkapital
bei der Weltpolitik gute Geschäfte zu machen hofft, aber ganz ebenso, wenn
die Herren Agrarier und Mittelstandspolitiker die Weltpolitik ablehnen, weil
dem Großkapital in Handel und Gewerbe dabei die Führung zufällt. Die
Abneigung gegen das Großkapital scheint sich bei uns immer mehr zur fixen
Idee zu verdichten. Man fängt an, seine Größe, seine Schädlichkeit und seinen
Politischen Einfluß sehr zu überschätzen und seinen Wert für die Gesamtheit
zu unterschätze:,. Je unklarer und schwankender die Begriffe sind, um so wirk¬
samer sind die Schlagworte, um so leichter verliert man sich in Phantasien
und fixen Ideen. Seit Jahr und Tag vergeht kaum eine Woche, in der nicht
im Reichstag oder in den Landtagen, wenn sie zusammen sind, gerade aus
den sogenannten stantserhaltenden Parteien heraus die heftigsten Angriffe gegen
das „Kapital," gegen das „Großkapital" und vollends gegen das „mobile"
Kapital als die Wurzel alles Übels gerichtet werden, und in der nicht vom
Regierungstische aus irgend ein Staatssekretär, Minister oder Geheimrat die
Angreifer seiner wärmsten Sympathien versichert. Freilich ohne dadurch zu ver¬
hindern, daß fortgesetzt den Regierungen vorgeworfen wird, sie ließen sich vom
Großkapital ganz und gar beherrschen und gäben das Wohl der Nation, vor¬
nehmlich der Landwirte und des städtischen Mittelstands — d. h. der mittlern und
der kleinen Unternehmerschaft in Handel und Gewerbe — diesem Weltverderber
leichtfertig oder gar böswillig preis. Die Macht des Goldes ist gewiß groß,
und sie war es anch schon in alten Zeiten. Das goldne Kalb wird links und
rechts und in der Mitte angebetet. Aber die Herren mobile» Großkapitalisten
von hente in Deutschland sind politisch doch eigentlich bis zur Kläglichkeit wehr¬
und machtlos, auch den handgreiflichsten Übertreibungen und den unvernünf¬
tigsten fixen Ideen gegenüber. Sie verdienen es wohl vorläufig nicht besser.
Warum haben sie solange nichts als Interessenpolitik getrieben oder doch treiben
wollen, wie sie jetzt die Gegner mit beispielloser Uuverblümtheit und erstaun-
lichen Erfolge treiben. Auch diese werden hoffentlich bald genug abgewirtschaftet
haben. Die Not wird uns schon beten lehren und zum Verständnis des ge¬
meinen Besten und der Weltpvlitik, wie sie der Kaiser will, zwingen.
Ob in den letzten Jahrzehnten die Verteilung des Volkseinkommens unter
den Massen mehr Fortschritte gemacht hat, als die Ansammlung großer Kapi¬
talien in den Händen einzelner, und ob und wie weit überhaupt unser Reich¬
tum an überschießenden, beweglichen Kapitalien, wie wir sie zu einer erfolg¬
reichen Weltpolitik brauchen, im Verhältnis zum Reichtum der konkurrierenden
Nationen schon respektabel geworden ist, ist sehr schwer und statistisch gar nicht
nachzuweisen. Mit Sicherheit ist zwar uach der Lohn-, Einkommen- und Ver-
mvgenstenerstatistik, auch nach der Sparkassen- und der Verbrauchsstatistik an¬
zunehmen, daß Einkommen und Wohlstand der breiten untern und mittler»
Bevölkerungsschichten erfreulich zugenommen haben. Die Lehre von der Ver¬
elendung der Massen und dem Ausfall der mittlern Sprossen der sozialen
Stufenleiter ist stark ins Schwanken gekommen und von vielen ihrer früher»,
Anhänger schon ganz ausgegeben worden. Andrerseits ist auch nicht daran zu
zweifeln, daß die letzten Jahrzehnte den, Wunsche Bismarcks nach mehr Mil¬
lionären in Deutschland in einem gewissen Grade entsprochen haben, auch wenn
man die Aktiengesellschaften, die als Sammelstellen des Kapitals vieler, auch
nicht zu den Großkapitalisten gehörender Einzelner, eine besondre Stellung
einnehmen, mit ihren Riesenkapitalien ganz außer Betrachtung läßt. Beide
Wahrnehmungen sind ganz erfreulich, aber eine Antwort auf unsre Frage
geben sie nicht.
Die vielen und schon lauge untcrnommncn Versuche, das Volksvermögen
und das Volkseinkommen in Deutschland und in den andern Kulturstaaten
zu schützen, haben bisher nur wenig zuverlässige Ergebnisse gezeitigt, und man
sollte sich hüten, so, wie dies neuerdings mehrfach geschehen ist, darüber Zahlen
in die Welt hinauszuposaunen, die jeder sichern Grundlage entbehren lind vor
einer wissenschaftlichen Kritik nicht bestehn. Es ist namentlich in der jüngsten
Flottenkampagne der Mund wegen des rapiden Wachstums unsers National¬
reichtums sehr voll genommen worden, obwohl sich unsre amtliche Statistik
wohlweislich jeder Teilnahme an solchen vagen Schätzungen enthalten hat.
Zu der Annahme, daß Deutschland, das anerkanntermaßen bis vor wenig
Jahrzehnten — etwa gerade so lange, als es zu deu Getreideexportländern
gehörte — ein verhältnismäßig armes Land war, jetzt schou Frankreich an
Nationalreichtnm überflügle und England beinahe eingeholt habe, fehlt es
durchaus an stichhaltigen Grundlagen. Die deutsche Wirtschaftsgeschichte spricht
ganz entschieden dagegen. Es fehlt bei uns nun einmal der Reichtum von
den Großvätern her, der alte Besitz ertragreicher Kolonien, der Schatz von
Edelmetallen in der Erde; und im Handel nach dem Auslande sind wir bis
in die jüngste Zeit hinein viel zu sehr der „billige Maun" — natürlich not¬
gedrungen — gewesen, als daß wir nun auf einmal als Nabobs unter den
Völkern dastehn könnten. Unsre Landwirtschaft hat, von geringen Ausnahmen
abgesehen, niemals wertvolle Exportware geliefert. Zuchttiere und Samen, an
denen viel verdient wird, haben wir schon längst vom Auslande gekauft und
den englischen, französischen, holländischen, belgischen, dünischen und andern
Züchtern schweres Geld dafür bezahlt. Heute ist das kaum besser geworden.
Dafür verkaufen wir den Zucker ins Ausland zu niedrigern Preisen als im
Inlande. Die Industrie hat mit dein Grundsatz „billig und schlecht" im Export¬
geschäft, wie man sagt, seit einiger Zeit gebrochen, aber trotzdem ist bekanntlich
der Wert unsers Exports gegenüber der ungeheuern Steigerung der industriellen
Produktion arg zurückgeblieben, wenn auch die Exportmeugen mit der Zunahme
des Personals in Industrie, Handel und Verkehr von 1882 bis 1895 so
ziemlich gleichen Schritt gehalten hatte. Dagegen ist die Einfuhr auch an
Wert gewaltig gestiegen, die Handelsbilanz immer „passiver" geworden. Daß
seit 1895 der Export wieder etwas lohnender geworden zu sein scheint, ändert
an der ganzen Sachlage wenig. Wo soll denn da das große, überschießende,
bewegliche Kapital herkommen, von dem mau so viel Geschrei macht, zumal
da auch das Verteilen des Volkseinkommens so erfreuliche Fortschritte gemacht
hat? Sind etwa die übertriebnen Emissionen von Jndustriepapieren in deu
letzten Jahren ein Beweis für die Stürke unsers überschießenden Großkapitals?
Erstens sind Kteinkapitalisten wahrscheinlich dabei nur zu sehr aus den Leim
gegangen, infolge ihrer Spekulationssucht, oder weil der Zinsfuß der Staats-
papiere und der landwirtschaftlichen Kreditinstitute ihnen mit Recht zu niedrig
schien. Dann aber dürfte sich das Großkapital, wo es ihm nicht gelungen ist,
die Effekten bald ins Publikum zu bringen, dabei ganz gehörig festgelegt
haben. Das Ende vom Liede wird jedenfalls eine große Schwächung des
mobilen Kapitals für längere Zeit sein, auch wenn wir um einen ernstlichen
Krach herumkommen.
Und ist etwa unser Geschüft in ausländischen Staats-, Kommuual- und
Eisenbahnpapieren so gut gewesen? Wir sind schon seit langer Zeit Gläubiger¬
staat in diesem Sinne, und man hält noch jetzt vielfach diesen Zweig des Aus¬
landsgeschäfts für den anständigsten und vornehmsten bei den Banken. Schöne,
glänzende, ausländische Orden und Titel bringt es den Bankchefs freilich ein
wie kein andres, und die Emissionsfirmen haben es wohl auch bisher meist
verstanden, sich selbst vor Verlust zu schützen und hübsche Gewinne einzu¬
streichen. Aber die Verluste, die das Nationalvermögen an Portugiesen,
Griechen, Spaniern, Argentiniern und andern exotischen Zinspapieren erlitten
hat, haben doch allmählich eine Höhe erreicht, die das Risiko bei dem Geschäft
in schroffem Mißverhältnis zu der Höhe des Zinsfußes zeigt. Leider hat die
Regierung wiederholt aus politischen Gründen solche Geschäfte gern gesehen
und zu ihnen angeregt, ohne in der Lage zu sein, die Schuldnerstaaten, wenn
sie nicht zahlen wollen, zum Einhalten ihrer Verpflichtung zu zwingen, oder
die deutschen Emissionshnuser regreßpflichtig zu macheu. Man kann ihr nur
dringend raten, das nicht mehr zu thun, im Gegenteil alles aufzubieten, um
das Publikum vorsichtiger zu machen. Es fehlt ja auch in allerneuster Zeit
nicht an Versuchen, den Deutschen immer mehr Geld für diese Zwecke aus der
Tasche zu locken, mit 5 Prozent, wo 10 Prozent noch lange keine ausreichende
Nisikoprämie für uns wären.
Auch an die agrarische Misere ist zu erinnern, die doch auch noch andre
dunkle Punkte aufweist, als die von der herrschenden wirtschaftspolitischen
Richtung im agrarkapitalistischen Interesse allein betonten und stark über¬
triebnen. Wir sind jetzt, dank dem unverständigen Eifer, die Bodenpreise auf
einer übertriebnen Höhe zu halten lind dem landwirtschaftlichen Unternehmer
die unumgänglich notwendigen Abschreibungen zu ersparen, in die geradezu
ungeheuerliche Lage gekonunen, daß unsre Landwirtschaft am teuersten produziert
und unsre Nichtlandwirte das teuerste Brot essen in der ganzen Welt. Trotz¬
dem rentiert unser Landwirtschnftsbetrieb nahezu am kläglichsten, trotz des
Rückgangs des Zinsfußes und der fortgeschrittnen, über alles gepriesenen In¬
tensität. Viele Milliarden des Nationalkapitals sind dadurch künstlich festgelegt
und thatsächlich vergeudet worden. Man muß freilich darauf rechnen, als
Feind der Landwirtschaft verschrieen zu werden, wenn man ans diese verkehrte
Politik hinweist, aber gerade als ehrlicher Freund einer gesunden, konservativ
wirtschaftenden Landbevölkerung hat man die Pflicht dazu. Diese Politik
ruiniert das Land, weil gerade sie das kapitalistische Interesse einseitig über¬
treibt und dabei kurzsichtig ist und nicht rechnen kann.
Deutet so die Geschichte unsrer Volkswirtschaft viel mehr auf das Fort-
bestehn einer verhältnismäßigen Armut an beweglichem Großkapital in Deutsch¬
land hin, als auf einen Überfluß, wie wir ihn brauchen, so stellen uns Er¬
scheinungen der allerneusten Zeit direkt ein Armutszeugnis aus. Zunächst
thut das die ihrem Grade nach und namentlich in ihrer Dauer beispiellose Geld¬
knappheit der Gegenwart. Die bimetallistisch-agrarischen Vorwürfe gegen unsre
Währungs- und Bnnkpolitik sind von kompetenter Seite oft und schlagend
genug zurückgewiesen worden; es braucht hier nichts weiter darüber gesagt zu
werden. Seit Jahr und Tag haben die weitsichtigen und zuverlässigen unter
den Vertretern des sogenannten mobilen Großkapitals — ganz ebenso wie die
Leiter der Reichsbank — nachdrücklich vor der zunehmenden Überspannung des
Kredits, auf der die neuste Gründungsära sich mehr und mehr aufbaute, gewarnt,
weil wir zu kapitalarm seien, uns solche Ausschreitungen ohne gefährliche Rück¬
schläge erlauben zu dürfen. Das mobile Großkapital hat an sich noch am
meisten Chancen, bei dem Gründungs- und Spekulationsfieber seine Geschäfte zu
machen. Um so mehr fällt seine Stimme hier ins Gewicht. Es hat sie lange
und laut genug erhoben, und nur Narrheit oder böser Wille kann sie nicht
verstehn wollen.
Aber nicht weniger deutlich spricht eine andre Erscheinung, die sich neuer¬
dings zu einem akuten Mißstände zuzuspitzen anfängt. Sie liegt auf einem
unmittelbar in die Weltpolitik hineinragenden Gebiet unsrer Wirtschaftspolitik:
auf dem Gebiet der Kolonialpolitik. Bismarck hat anfangs dem Satz vertraut:
Die Flagge folgt dem Handel. Aber er mußte einsehen, daß wir so zu Kolonien
überhaupt nicht kämen, und deshalb versuchte schon er es mit dem Satze: Der
Handel folgt der Flagge! Heute sind wir im Besitz ausgedehnter Schutz¬
gebiete, die bei energischer und zäher Arbeit reichen und dauernden Gewinn
für unsre Volkswirtschaft versprechen. Die Aufwendungen des Reichs dafür
wachsen von Jahr zu Jahr beträchtlich, aber das deutsche Kapital versagt der
Flagge die Gefolgschaft, während sich das ausländische mehr und mehr heran¬
drängt, um unter unsrer Flagge das Geschüft zu machen. Die Kolonialfrennde
zu Hanse werden darüber nervös und schreien Zeter über die Preisgebung
unsrer schönen Kolonien an die Fremden. Aber deutsches Kapital können sie
mit allem Geschrei nicht an Stelle des ausländischen auftreiben. Es ist natürlich
ganz ausgeschlossen, daß die deutschen Millionäre den fremden das Geschäft über¬
lassen würden, wenn sie es selbst machen könnten. Sie könnens einfach nicht,
denn sie haben es nicht dazu. Mit Sparkassen- und Mündelgeldern läßt sich
nun einmal keine erfolgreiche Kolonialpolitik betreiben. Der Mittelstand mit
seinen im einzelnen bescheidnen Kapitalüberschüssen wird vielleicht für koloniale
Minenaktien n. dergl. gelegentlich erwärmt werden können und dabei gehörig
Haare lassen. Zur Erschließung und nachhaltigen Ausbeutung solcher Kolonien,
wie wir sie haben und nur haben können, ist aber nur ein großes überschießendes
Kapital in den Händen einzelner reicher Leute — je mehr es siud, desto besser —
geschickt, das lange warten und ein großes Risiko ertragen kann. Ich will
die Frage nicht weiter behandeln, ob das Reich unsre Schutzgebiete dem aus-
ländischen Gelde verschließen soll und weiter auf Staatskosten „schützen" und
Krieg führen und Schulen, Stationen, Kirchen, Wege und Eisenbahnen anlegen
soll, bis das deutsche Kapital ausgiebig der Flagge folgt, oder ob dieser
Zustand auf die Dauer nicht unhaltbar wird und die „Kultivation" mit
Hilfe fremden Kapitals nicht doch besser ist als gar keine. Es handelt sich
hier nur um die unbestreitbar hohe symptomatische Bedeutung der Thatsache,
daß sich nicht deutsches Kapital, wohl aber fremdes zum Kolonialgeschäft unter
deutscher Flagge drängt. Und was von der Kolonialpolitik im besondern gilt,
das gilt von der Weltpolitik im allgemeinen, von der hier die Rede ist,
erst recht.
So komme ich denn zu der Annahme, daß nicht Kampf und Chikcine
gegen das Großkapital, nicht Lähmung und Unterbindung der Kapitalansamm¬
lung, sondern eine angemessene Pflege, Förderung und Erziehung des Gro߬
kapitals bei uns die richtige Politik ist. Und es ist hohe Zeit, daß die Er¬
kenntnis von der Verkehrtheit des Weges, den die sozialistischen, agrarischen,
mittelstandsparteiischen und nicht zu vergessen: die antisemitischen Schlagworte
uns bisher gewiesen haben, wenigstens unter den zu unabhängigem Urteil be¬
rufnen Gebildeten Raum gewinnt. Von den heutigen Parteien, die um die
Gunst des großen Haufens buhlend nur uoch die einseitigste Interessenpolitik
in allen volkswirtschaftlichen Fragen kennen, ist vorläufig oder überhaupt keine
Umkehr zu erwarten. Und ebenso wenig von dem Teile unsrer Regierungs-
männcr, dessen Staatsweisheit sich in der Anpassung an die sogenannte Mittel¬
linie der Parteiströmungen von Fall zu Fall erschöpft. Diese Parteien und
Staatsmänner werden erst zum Bewußtsein kommen, in was für eine Sack¬
gasse wir mit unsrer Politik geraten sind, wenn wir mit dem Kopfe an die
Wand stoßen. Den rechten Weg zu finden wird der Nation dann teuer zu
stehn kommen, aber untergehn oder für immer flügellahm werden wird sie
daran nicht. Dann wird die Zeit kommen, wo man die rechte Politik darin
erkennen wird, daß man sich um das Panier des Kaisers und des „größern
Deutschlands" sammelt, das er und die Verbündeten Regierungen und die
weitschnucuden, vorurteilsloser Staatsmänner, die ihnen zu Diensten sind, er¬
streben. Aber dann müssen auch die durch' das alte Parteitreiben noch nicht
verseuchten Gebildeten die Führung der Massen zu übernehmen bereit und ge¬
schickt sein. Jetzt sind sie das noch nicht. Gerade in der Frage, von der hier
die Rede ist, zeigt sich das. Die fixe Idee, das „mobile Großkapital" sei die
Wurzel alles Übels und müsse gefesselt, gelähmt, geschröpft werden im Interesse
des Ganzen, beherrscht die gebildeten Kreise bis aus die kleinen Reste des alten
manchesterlichen Freisinns fast ganz.
Was müßte denn die Folge der immer weiter getriebnen Hetze gegen diesen
eingebildeten bösen Feind sein, dem alles, was sich jetzt konservativ nennt, Bei¬
fall klatscht? Wir würden das starke Großkapital, das für den Erfolg der
Weltpolitik so dringend nötig ist wie die starke Flotte, nicht nur nicht ge¬
winnen, wir würden auch das verlieren, was wir davon haben. Man wirft
dem mobilen Großkapital einen gewissen Kosmopolitismus, eine gewisse Jnter-
nationalitüt vor. Für das deutsche Großkapital trifft das sicher zum Teil zu,
wie für die Deutschen überhaupt. Im Auslande werden wir, auch wenn wir
vielleicht die Nationalität bewahren wollen, gern heimatberechtigt, nehmen
einen Wechsel der Staatsangehörigkeit viel leichter als andre. Von den
Milliarden, die Deutsche im Auslande erworben haben, ist deshalb bisher sehr
wenig dem deutschen Nationalvermögen dauernd zu gute gekommen. Ich glaube,
die irischen Arbeiter, die tödlichen Groll gegen den Heimatstaat im Herzen ins
Ausland gegangen sind, haben durch die Geldsendungen nach der Heimat das
Vermögen in den Vereinigten Königreichen mehr erhöht, als alle deutschen
Auswandrer zusammen das deutsche. Wenn die Deutschen Geld nach Hanse
schickten, geschah es, um die Verwandten nachzuholen. Die als deutsches im
Ausland arbeitendes Kapital gezählten schönen Milliarden sind ein immerhin
unsicherer Bestandteil unsers Nationalreichtums. Wer die Verhältnisse kennt
und nüchtern urteilt, kann sich in dieser Beziehung keine Illusionen machen.
Unsre Altdeutschen sind ja so stolz auf ihre realpolitische Rücksichtslosigkeit.
Sie sollten doch auch bedenken und alles daran setzen, daß diesen schönen
Milliarden die deutsche Staatsangehörigkeit nicht noch wertloser erscheint, als
das schon der Fall ist. Aber namentlich sollten sie sich hüten, dem in Deutsch¬
land selbst heimatberechtigten mobilen Großkapital nnr darum die Heimat
unerträglich zu machen, weil die Eigentümer deutsche Juden sind. Will man
von den jüdischen Großkapitalisten Hingebung und Treue für das Deutschtum
verlangen, aber ihnen das Recht, sich deutsch zu nennen, und die Fähigkeit,
deutsch zu fühlen, rundweg bestreiten? Möchten auch in dieser Beziehung die
gebildeten Deutschen bald zur Besinnung kommen und den Bann der fixen Ideen
abschütteln. Der Gesundung des konservativen Geistes im Volke, dessen Grund-
und Eckstein Gerechtigkeit und Billigkeit sind, würde das sehr zu statten kommen.
Heute ist dieser Geist krank, und darin besteht die Hauptschwierigkeit des Kampfs
as Kloster Walnam im Ladvgasee besteht wohl länger als ein
Jahrtausend. Von dieser Pflanzstätte des Mönchtums aus ver>
breitete sich das Christentum über den Norden Rußlands. Ans
einer alten Handschrift des heiligen Abraham Nvstowski ersieht
man, daß es in Walaam schon im Jahre 960 eine fromme
Brüderschaft gab mit dem Abte Theoklistos an der Spitze. Als Gründer des
Klosters gelten die Märtyrer Sergius und German, von deren Leben nur
Wenig bekannt ist. Die Reliquien dieser ehrwürdigen Männer wurden im
Jahre 1163 nach Nowgorod gebracht, aber schon 1170, als man einen Ein¬
fall der Schweden befürchtete, nach Walaam zurückgeschafft. Über die Ruhestätte
der heiligen Gebeine wurde ein strenges Geheimnis bewahrt aus Besorgnis,
die Schweden mochten die kostbaren Reliquien rauben; nur wenigen Mönchen
war der Platz bekannt, wohin mau sie geschafft hatte. Aus Walaam sind die
Stifter aller Klöster und Einsiedeleien des nördlichen Rußlands hervorgegangen.
Als am Ende des vierzehnten Jahrhunderts der Abt Arsenius mit dein Bilde
„der Mutter Gottes vom Berge Athos" heimkehrte und die Einsamkeit auf¬
suchen wollte, zog er sich auf einige Zeit in das Kloster Walaam zurück. Aber
er fand auch hier nicht die gewünschte Ruhe; deshalb begab er sich auf die
wüste Insel Konjeff, wo er ein Einsiedlerleben führte, die Götzenaltäre auf
dem sogenannten Nvßfelsen zerstörte und an deren Stelle das noch jetzt be¬
stehende Kloster gründete. Die Ordensregeln in Konjeff sind jedoch weniger
streng als in Walaam. Nach seiner Lage ist Konjeff gewissermaßen ein Vorort
von Walaam; die Dampfboote, die von Schlüsselburg nach Walaam gehn,
halten vorher in Konjeff an. Trotz der wiederholten Drangsale, die Walaam
durch die Schwede» erlitt, und trotz der entsetzlichen Feuersbrunst, die im
Jahre 1754 das Kloster völlig einäscherte, hat sich die gottgeweihte Nieder¬
lassung doch wieder in ihrer frühern Stärke und Pracht erhoben. Der da¬
malige Wiedererbauer von Walaam war der greise Nasaritts, ein gvttes
fürchtiger Einsiedler aus dem Kloster Sarosf. Dieser dehnte seine Thätigkeit
weit über die Grenzen seines Wirkungskreises aus, indem er zehn Mönche zur
Verkündigung des Christenglaubens nach Alaska entsandte. Das fromme Werk
setzten nach ihm die Äbte Jmioeenz, Jonathan Warlaam und besonders DamaSkin
fort. Dieser stand über vierzig Jahre an der Spitze des Klosters und schuf
alle jetzt noch bestehenden Hauptgebäude, die die Bewundrung des erfahrensten
Architekten erregen.
Die Äbte von Walaam waren offenbar nicht bloß im Bau- und Ver¬
waltungswesen bewandert, sondern mich künstlerisch begabt, denn sie haben
verstanden, die Naturschönheiten der Umgebung des Klosters zu würdigen und
auszunutzen. Ein Beweis dafür sind die Klostergebäude selbst, das weitläufige
Unterkunftshaus für die Wallfahrer, die verschiedenartigsten Wirtschaftsräume,
die zahlreichen Einsiedeleien und Kapellen ans den nnziihligen Inseln des
Ladogasees, die alle mit seltnem Geschmack und mit wunderbarem Verständnis
für die sie umgebenden landschaftlichen Reize augelegt worden sind. Besonders
malerisch heben sich die goldnen und silbernen Kuppeln der verschiednen Kirchen
und Kapellen von dein dunkeln Grün des Fichtenwaldes ab; dieses eigentüm¬
liche Bild prägt sich unauslöschlich dem Gedächtnis ein. Der wunderbare
Garten, der von den Mönchen angelegt ist, umrahmt von ausgedehnten Tannen-
Waldungen, deren Schönheit durch vielfach eingestreute Birkeugruppeu noch ge¬
hoben wird, zur Linken des Klosters die sich in der dunkelblauen Oberflüche
des Sees spiegelnde Einsiedelei des heiligen Nikolaus mit ihrem Smaragd-
grünen Dach — alles das ist eine wundervolle Dekoration für die Hauptinsel,
wo sich auf einem gewaltigen dunkeln Granitfelsen der aus weißen Steinen
aufgeführte Bau des eigentlichen Klosters mit seiner von sieben silbernen Kuppeln
überragten herrlichen Kathedrale erhebt. Eine breite Granittreppe zieht sich
von den Pforten des Klosters den Berg hinab zum Hafen, um dem mehrere
Schuppen für das Schiffgerät und für die Nachen errichtet sind. Hier legen
auch die Dampfboote mit den Wallfahrern und Pilgern an. Täglich hört
man den schrillen Pfiff der kleinen Schaluppe, die eine beständige Verbindung
zwischen allen zu Walnam gehörigen Inseln erlaubt und zugleich den Dienst
eines Schleppers versieht, der die verschiedenartigsten Gegenstände für die In¬
sassen des Klosters herbeischafft. Sonst hört man nirgends ein Geräusch; es
sei denn, daß über die unbewegte Wasserfläche ein heimkehrender Fischerkahn
hingleitet. Dasselbe Schweigen empfängt uns auch oben, wenn Nur durch die
heilige Pforte in den geräumigen Klosterhof eintreten. Wir dürfen nicht etwa
erwarten, die gesamte fromme Brüderschaft in ihren Zellen in stiller Beschau¬
lichkeit anzutreffen; nein, hier herrscht rege Thätigkeit wie im Getriebe der
Außenwelt, aber eine Thätigkeit im Namen Gottes und zum Ruhme des ge¬
weihten Ortes.
Der russische Geschichtschreiber Nemirowitsch-Dantschenko nennt Walamn
„das Reich der Arbeiter"; während die Mönche von sich selbst häufig: Wir
Bauern, oder: Wir Handwerker sagen. Der ganze Orden ergänzt sich fast
ausschließlich aus den Söhnen der untern Volksschichten; alle seine Baumeister,
Architekten und Mechaniker sind aus einfachen Handwerker- oder Tagelöhner¬
familien hervorgegangen. Ein Blick auf diese Mönchsgestalten genügt, sich
davon zu überzeugen. Das sind keine abgehärmten, hagern Asketen der byzan¬
tinischen Kirche, es sind dnrch anstrengende Arbeit gekräftigte Hünengestalten,
deren schwielige Hände und gedrungner Körperbau beweisen, daß sie an An¬
strengung und Thätigkeit gewöhnt sind. Die Schöße der aus grobem schwarzem
Tuch angefertigten Kutte tragen sie meist aufgeschürzt, um nicht dadurch beim
Gehn und bei der Arbeit behindert zu werde». Anspruchslos in ihrer ganzen
Lebensführung von Jugend auf, fühlen sie vielleicht nicht die unerbittliche
Strenge der Ordensregeln von Walamn. Diese sind, nicht nur vom Stand¬
punkt des Laien aus betrachtet, soudern auch im Vergleich mit den Vorschriften
andrer Klöster sehr streng. Längere Gespräche untereinander sind verboten,
nur in der Arbeit sollen die frommen Brüder ihre Erholung finden; auch darf
kein Mönch ohne Erlaubnis der Obern einen andern in dessen Zelle besuchen;
mit Laien sich zu unterhalten, ist durchaus untersagt, es sei denn, daß es der
Abt selbst ausdrücklich erlaubt. Kein Mönch darf außer an dem gemeinsamen
Mittagstisch Speise oder Trank zu sich nehmen, niemand ohne die Genehmigung
eines Vorstehers einen Brief schreiben. Nur wer von Kindesbeinen an solche
Entbehrungen zu ertragen gelernt hat, kann sich in Demut und Ergebenheit dieser
strengsten aller Ordensregeln fügen. Wenn nun auch zuweilen Leute von
höherer Bildung und aus den besten Familien Rußlands in Walamn die
Mönchsweihen empfange« und sich den harten Ordensvorschriften unterwerfen,
so haben diese meist schweres Leid erfahren und entsagen nur einem Leben, das
ihnen nichts mehr bieten kann.
Man kann behaupten, daß alles in Walanm, von den Heiligenbildern
und dem Kirchengernt bis zu dem kunstvoll geschmiedeten Gitter, das das ganze
Kloster umgiebt, Erzeugnisse des Gewerbfleißes der arbeitsamen Mönche sind.
Reiche Nutzgärten, bepflanzt mit schattenspendenden Bäumen, bedecken Hunderte
von Hektaren Landes. Die darin erzeugten Früchte genügen nicht nur für
den Jahresbedarf des Klosters, sondern von dem Überfluß erhalten noch viele
Bedürftige in weitem Umkreis reiche Gaben. Brotkvrn hingegen ernten die
Klosterleute trotz der bedeutenden Fluren nicht genug; denn das Klima ist zu
rauh. Daher müssen Roggen und Weizen für die Klosterbäckereien ausgekauft
werden. Längs des nach Süden hin liegenden Seeufers, um Fuß eines un¬
geheuern Granitkegels, der gegen die rauhen Nord- und Ostwinde Schutz ge¬
währt, ist ein Garten mit wundervollen Obstbäumen angelegt. Beim Anblick
der herrlichen Früchte kann man kaum glauben, daß diese im hohen Norden
unter einem meist bewölkten Himmel in dem Gebiete winterlicher Schnee-
stürme gewachsen sind. Dieser Garten wurde von dem Pater Gabriel auf
nacktem Felsgestein in zwanzigjähriger harter Arbeit angelegt, indem er nach
und nach eigenhändig Schwemmerde auf das Gestein trug. Für seine Früchte
hat das Kloster Walamn auf verschiednen Garten- und Obstbauausstellungen
Medaillen und ehrende Anerkennungen erhalten. An einer andern geschützten
Stelle liegt noch ein botanischer Garten, worin besonders Arzneipflanzen ge¬
baut werden.
Aus den reichen und ausgedehnten Waldungen werden ganz ungewöhnlich
hohe Erträge erzielt. Die großen Stämme wandern auf die Bauplätze, während
das Krummholz als Brennmaterial verwandt wird. Auch die Baumstümpfe und
Wurzeln verkommen nicht unbenutzt; sie werden ausgerodet, und aus ihnen
wird Teer bereitet; außerdem gewinnt man daraus Terpentinöl oder Holz¬
kohlen für den Gebrauch in den verschiednen Werkstätten des Klosters. Das
Teerschwelen ist übrigens eine der schmutzigsten Arbeiten, und deshalb wird
fast jeder neu eintretende Mönch, um ihn mit den Mühsalen, die seiner warten,
bekannt zu machen, während der ersten Zeit in die Teerschwclerei geschickt.
Eigentümlich ist es, daß die Klosterleutc von Walamn nicht nur den Wald
hegen und pflegen, sondern auch alles schützen, was darin lebt. Hirsche, Hasen,
Birk- und Haselhühner leben ungestört vor den Nachstellungen des Jägers in
den weiten Forsten und entfliehn nicht beim Herannahen eines Menschen.
Die vortreffliche Thonerde, die an den Ufern des Ladogasees überall ge¬
graben werden kann, hat den Mönchen die Möglichkeit verschafft, besondre Ge¬
werbe zu betreiben. So giebt es dort eine Töpferei, in der von den Brüdern
irdenes Hausgerät, Töpfe, Krüge usw. angefertigt werden. Da alle Gebäude
des Klosters massiv gebaut werdeu, so entstand, um das nötige Baumaterial
zu beschaffen, in dem Walde an der südlichen Einbuchtung des Sees eine eigne
Ziegelei. Die angefertigten Steine fallen auf durch ihre ungewöhnliche Größe;
jeder Ziegelstein wiegt nicht weniger als sechs Kilogramm. In dem ungeheuern
Ofen werden zu gleicher Zeit 7800 Steine gebrannt. Außer diesen gewöhn¬
lichen werden von den Mönchen auch Chamottesteine hergestellt. Alles Maner-
werk aus diesem soliden Material erhält eine solche Dicke, wie man sie sonst
nur bei Befestigungsanlagen findet. Aber damit begnügen sich die Baumeister
in Walaam nicht, sondern wenden für die Fundamente an Ort und Stelle ge-
brochnen, zu riesigen Quadern behauenen Granit an. Nicht weit von der
Teerschwelerei, auf einer in den See vorspringenden Landzunge, ist ein großer
Schachtofen errichtet, worin aus weißem Marmor Kult gebrannt wird. Die
Arbeit ist hier, besonders im Winter, fast ebenso anstrengend und schwierig wie
in der Teerschwelerei. Im Innern des Kalkofens herrscht völlige Finsternis,
und nur zuweilen erleuchten hervorsprühende Funken das nächtliche Dunkel.
Das Gekrach der erhitzten, berstenden Steine und der brennenden Holzscheite
klingt beängstigend. Dabei herrscht eine unerträgliche Hitze, sodaß man beim
Verlassen des Kalkofcns die Außenluft auch bei hoher Temperatur wie eisig
empfindet.
Alle bis jetzt angeführten Arbeiten bezogen sich mehr oder weniger auf
die unmittelbare Verwertung der durch den Fleiß der Mönche gewonnenen
Naturerzeugnisse. Darauf aber beschränkt sich keineswegs ihre Thätigkeit; sie
haben auch eine sehr bedeutende Fertigkeit in der Ausführung mechanischer
Arbeiten erlangt; sogar alle Maschinen, die sie zur Herstellung solcher Arbeiten
brauchen, sind aus den Werkstätten der Klosterleute hervorgegangen. Ein be¬
redtes Zeugnis dafür liefern die bescheidnen Stempel auf den Maschinen:
„Werk der Brüder von Walaam." Anfangs erscheinen einem freilich diese
Mechaniker und Techniker in der schwarzen Mönchskutte etwas wunderlich,
wenn man sie aber beim Keuchen der Maschinen, dem Pfeifen der Blasebälge,
dem Getöse der unaufhörlich sich drehenden Ruder, dem Pochen der Hämmer,
dem Kreischen der Sägen eifrig beschäftigt sieht, wird man doch mit Erstannen
vor solcher Arbeitsfreudigkeit erfüllt. Die hervorragende Kunstfertigkeit der
Mönche in allen mechanischen Erwerbszweigen erklärt sich sehr leicht daraus,
daß die Handwerker unter ihnen ihre frühere Beschäftigung als Spezialisten
weiter betreiben. In der Tischlerwerkstatt erregen unsre besondre Aufmerksam¬
keit die kunstvollen Schnitzarbeiten aus karelischem Birkenholz; in der Eisen¬
gießerei sehen wir, wie aus dem zischenden, glühenden Eisen herrliche Ara¬
besken für einen Thorflügel entstehn. In der Kunstschlosserei wurde vor
einigen Jahrzehnten die riesige Uhr für den Glockentnrm der Kathedrale her¬
gestellt. Jedes Gewicht dieses Kunstwerks, das mit der berühmten Uhr im
Straßburger Münster Ähnlichkeit hat, wiegt dreieinhalb Zentner. Aber der
Name des Künstlers ist der Vergessenheit anheimgefallen; auch diese Uhr trägt
die allgemeine Aufschrift: „Werk der Brüder von Walaam." Jetzt ist im
Kloster eine besondre Uhrmacherwerkstätte eingerichtet, die in der Qualität der
Uhren mit jedem gleichartigen Unternehmen einen Vergleich aushalten kann;
jedoch mit dem Unterschiede, daß man hier mehr Nachahmungen merkwürdiger
Antiquitäten trifft als irgendwo anders.
Die Mönche von Walaam verstiegen sich in ihrem Unternehmungsgeist
sogar zur Konstruktion eines Tunnels, der von dein eigentlichen Kloster nach
den verschiednen Werkstätten durch deu Granitfelsen gesprengt ist. Die untere
Wandung dieses Tunnels ist mit großen behauenen Quadern, die Wölbung
mit Ziegelsteinen bekleidet. In der Solidität seiner Bauart kann der Tunnel
mit einer andern staunenswerten Anlage von Walaam — der Wasserleitung —
wetteifern. Für dieses Kunstwerk ist das Kloster dem Abte Dmnaskin und dem
Pater Athanasius zu Danke verpflichtet. Früher mußte das Wasser aus dem
See den steilen, etwa hundert Meter hohen Fels hinaufgetragen werden. Bei
dein Schlackerlvetter im Herbst, bei dem Glatteis im Winter, bei Schnee und
Sturm setzte» die Mönche geradezu ihr Leben aufs Spiel, wenn sie mit den
schweren Wassereimern die glatten Treppenstufen hinaufstiegen. Um diesem
Mißstände abzuhelfen, entwarf der erfinderische und vor keiner Schwierigkeit
zurückschreckende Pater Dnmnskin ein Projekt, das Wasser durch Dampfkraft
unmittelbar in das.Kloster zu befördern und von dort weiter durch gußeiserne
Röhren in alle Wohngebäude, Küchen, Keller, Bäckerei, Viehstülle und in die
Obst- und Gemüsegärten. Der klug durchdachte Entwurf wurde mit größter
Genauigkeit und Sorgfalt ausgeführt. Um zu versteh», welche Schwierigkeiten
bei dem Bau der Wasserleitung zu überwinden waren, dürfte es hinreichen zu
sagen, daß quer durch den Granitfelsen von oben nach unten zum See ein
Gang gesprengt werden mußte, in deu hundertundsiebzig Stufen gehauen
wurden, auf denen man bis zum Wasserspiegel hinabsteigen kann. Unter den
Stufen dieser eigentümlichen Treppe liegt das Rohr der Wasserleitung, das in
ein an der tiefsten Stelle des Ganges gebohrtes, zehn Meter tiefes Sammel¬
bassin mündet. Dieses wird vom See her mit Wasser gespeist, und das Wasser
wird wiederum den Berg hinauf in den großen, drei Stockwerke hohen Wasser¬
kuren gepumpt. Die in diesem aufgestellte Dampfmaschine ist imstande, stünd¬
lich 10000 Liter Wasser in den Filtrierapparat zu befördern. Außerdem wird
dieselbe Dampfkraft durch Übertragung für den Betrieb in den verschiednen
Handwerkstätten ausgenutzt; auch setzt sie die Schneide- und Mahlmühle sowie
die Drehbänke in der Kunstschlosserei in Bewegung. In dem untersten Stock¬
werk des Wasserturms liegen die Waschküche des Kloster und die Badeanstalt
für die Brüderschaft und für die Laicnarbeiter, deren es in Walaam zur
Sommerszeit an vierhundert giebt.
Schon im Anfang unsrer Skizze, bei der Beschreibung der wundervollen
Lage des Klosters, haben wir auf den von den Erbauern Walaams offen¬
barten hohen Kunstsinn hingewiesen. Bei vielen Mönchen dieser Ordensgemein¬
schaft hat sich dieser Kunstsinn weiter bis zu einem wirklichen Talent entwickelt.
Allerdings fällt uns bei vielen Bildern der Mangel an Technik, bisweilen
sogar eine völlige Unkenntnis der Grundregeln der Malkunst auf, und doch
verraten wieder gewisse Einzelheiten viel Begabung. In einigen Fällen hat
auch das Kloster besonders begabte Ordensbrüder nach Petersburg auf die
Akademie gesandt; größtenteils aber hat sich die künstlerische Ausbildung der
Mönche auf das Studium billiger Holzschnitte und der vorhandnen Heiligen¬
bilder beschränkt. Neuerdings ist freilich in Walaam eine ordentliche Maler¬
schule gegründet worden, in der nicht nur begabte Mönche, sondern auch
Bauernjungen aus den umliegenden Orten, wenn sie Talent verraten, Unter¬
richt erhalten. Zuweilen verbleiben diese aus besondrer Neigung zu ihrer Be¬
schäftigung und zu den: Klosterleben dort und setzten ihre Thätigkeit zum Ruhme
Gottes fort. Schon viele Klöster und arme Dorfkirchen haben aus Walaam
Heiligenbilder, „ein Werk der Brüder von Walaam" als Geschenk empfangen.
Die Schatzkammer des Klosters ist sehr ärmlich; man findet dort auch
nicht eine Spur der unzähligen Kostbarkeiten, deren sich die Klöster des mittlern
und südlichen Rußlands rühmen. „Das Reich der Arbeiter" zeigt sich auch
hier — diese Mönche bedürfen nicht des Glanzes von Gold und edelm Ge¬
stein, sie rühmen sich nur der im Kloster seit alters überlieferten Verpflichtung
zu harter Arbeit und der völligen Entsagung von allen weltlichen Äußerlich¬
keiten. Auch keine wertvollen Altertümer giebt es in der Schatzkammer von
Walaam. Was irgend begehrenswert war, haben die Schweden bei ihren Ein¬
fällen mit sich genommen. Aber ein kostbares Kleinod werden die Klosterleute
wohl auf ewige Zeiten in Walaam bewahren: den Gehorsam gegen das vor¬
nehmste Ordensgelübde: Bete und arbeite!
in Peer Gynt, sagte ich, habe Ibsen sich selbst verurteilt, pro¬
phetisch nämlich, sein Selbst, wie es sich später offenbart hat,
oder insofern vielleicht auch nicht bloß prophetisch, als dieses
spätere Selbst damals schon in dem Grimm gegen sein Volk
und Vaterland keimte. Vorläufig war sein Idealismus noch
lebenskräftig genug, herrliche Blüten und Früchte zu treiben, die zwei köstlichsten
Früchte seiner Lebensarbeit: „Brand" und „Kaiser und Galiläer." In ihnen
durchbricht er die Schranken seiner Nationalität und betritt — freilich nur
durch die Vermittlung seiner Übersetzer — den Parnaß der Weltliteratur. Dem
Gipfel kommt er darin ganz nahe, und wenn er ihn — trotzdem daß ihm diese
zwei Stücke die Unsterblichkeit sichern — nicht ganz erreicht, so ist der Um¬
stand daran schuld, daß nur der Gläubige im Drama Weltprobleme zu lösen
vermag, Ibsen aber mit der Liebe den Glauben verloren hatte.
Er hat aus den Weltproblemen nicht das aktuellste, die soziale Frage,
ausgewählt, sondern das größte und beständigste, denn es besteht und wird
bestehn, so lange eine Menschenwelt besteht, eben den Glauben selbst. Er be¬
handelt es einmal weltgeschichtlich und das andremal in der Anwendung auf
einen engen Kreis seiner Zeitgenossen. Das Zeitstück „Brand" ist znerst 1866
erschienen, aber das weltgeschichtliche, obwohl erst 1873 veröffentlicht, ist jeden¬
falls zu derselben Zeit, wo nicht früher, konzipiert worden. Es hat Jahre
harter Arbeit gekostet, denn es dürfte kein zweites Drama in der Weltlitteratur
geben, für das so umfangreiche, gründliche und schwierige Studien gemacht
worden wären wie für die Apostatatragödie. Und es riecht dabei — um das
nebenbei zu bemerken, obwohl das in die Litteraturgeschichte gehört und mich
nichts angeht — nicht im mindesten nach der Lampe; kein Fetzchen toter Ge¬
lehrsamkeit und überflüssigen Antiquitätenkrams ist daran Hunger geblieben,
sondern die Zeit des Abtrünnigen tritt uns in lebensvollen Gestalten vor
Augen, und Handlung und Dialog verlaufen spannend in raschem Fluß. Jedoch
bei aller historischen Treue in den großen wie in den kleinen Zügen — sogar
die Gans des alten Kybelepriesters ist historisch — hat sich Ibsen doch das
Recht des Dichters gewahrt und seinen Julian frei geschaffen, aber — und
das ist nun das bedeutungsvolle — ihn nicht etwa auf Kosten des Christen¬
tums idealisiert. Gewiß offenbart dieser Julian eine Fülle idealer Züge: das
reichste Gemüt, die zarteste Empfindung, einen alles umfassenden Geist, das
überschwenglichste Streben, aber als Charakter ist der historische Julian größer
und reiner. Wahrscheinlich ist der wirkliche Julian auch einfacher gewesen; er
wird die Religion des Mörders seiner Eltern und Geschwister von Jugend auf
gehaßt und den Christenglauben nur geheuchelt haben, was ihm nicht allzuhoch
angerechnet werden kann, da am byzantischen Hofe die Heuchelei Daseius-
bedingung war. Aber die furchtbaren Seelenkämpfe, die der Julian Ibsens
von Anfang an bis zum Ende seines Lebens durchzumachen hat, sind gerade
das Wesentliche in dem großen Doppeldrama, und darum konnte der Dichter
nicht darauf verzichten, zwei und mehr Seelen in seinem Helden leben zu
lassen.
Sein Julian ist als Knabe so glaubenseifrig gewesen, daß er in der
kappadozischen Abgeschiedenheit, in der er glückliche Jahre verlebte, andre
Knaben zu Christus führt und mit seinem Bruder einen Kirchenbau zu Ehren
des heiligen Mamas unternimmt. Er ist zaghaften Gemüts, zaghaft seinem
kaiserlichen Vetter gegenüber, vor dessen Ungnade er, an den Hof berufen, be¬
stündig zittert — das Zittern eines jeden, auch des Kaisers, vor jedem, das
ewige Mißtrauen und der Wechsel von Gnade und Ungnade am Hofe des
Despoten werden meisterhaft dargestellt —, voll Furcht auch vor dem Teufel,
gegen dessen Versuchungen er sich durch Kasteiungen vergeblich zu schützen sucht.
Dabei wird sein Herz vom Durst nach Weisheit verzehrt. Während er voll
heiliger Entrüstung die Entfernung des Rhetors und Philosophen Libcmios
aus Konstantinopel fordert, weil dieser den talentvollsten Jünglingen Liebe zum
Heidentum einflößt, wünscht er selbst nichts sehnlicher, als des Unterrichts
dieses zu seiner Zeit berühmtesten aller heidnischen Lehrer teilhaft zu werden.
Das in seiner Seele erwachende heimliche Wohlgefallen am Heidentum verbirgt
er sich selbst unter dem Vormunde, er wolle, von Gott berufen — ein Traum
seines Jugendgespielen Agathon bestärkt ihn in dieser Einbildung — in die
Höhle des Löwen eindringen, um den größten und gefährlichsten Feind des
Christentums zu überwinden. In der That hoffen auf ihn alle Frommen, die
der Erfolg des heidnischen Weisheitslehrers ärgert und beunruhigt, denn
Julians Geist und seine für sein jugendliches Alter erstaunliche Gelehrsamkeit
haben die Aufmerksamkeit sowohl der Christen wie der Heiden erregt und beide
Parteien gierig auf seinen Besitz gemacht. Libanios verlegt seinen Lehrstuhl
nach Athen, und es glückt dein Prinzen, dort seinen Unterricht zu genießen.
Er trifft dort auch Jugendfreunde, die später so berühmt gewordnett Kappa-
dozier Basilios und Gregor von Nazianz. Diese studieren wirklich die grie¬
chischen Wissenschaften, um sie im Dienst des Christentums zu verwenden, sie
halten sich fern von dem luftigen Studentenleben Athens und kennen (was
historisch ist) nnr die zwei Wege zur Schule und zur Kirche; den Julian aber
treffen sie zu ihrem Schmerz in einem Baechantenschwarm. Nicht, daß ihn
dieses Treiben innerlich befriedigte. „Sieh, wie sie sich tummeln," sagt er zu
Gregor, bei dem er zurückbleibt, während die Weisheitsschüler zum Hafen eilen,
wo sie sich um die reichsten der ankommenden Füchse „wie die Wildschweine"
schlagen wollen, um sie dem Libanios zuzuführen; „gleich einer Schar Faune.
Wie sie sich die Mundwinkel lecken voll Begierde nach der Mahlzeit, die es
diese Nacht geben wird. fDie Neuanfgenommnen mußten ihre Mitschüler be¬
wirten.^ Wenn sie in diesem Augenblick ein Gebet zu Gott senden würden,
würde es sein, daß er ihren Magen für das Frühstück leeren möge." Gregor:
„Julian!" Julian: „Sieh mich nur an, ich bin nüchtern." Gregor: „Ich
weiß es, du bist die Müßigkeit in allen Dinge:,; und doch machst du dieses
Leben mit." Julian: „Warum nicht? Weißt dn oder ich, wann der Blitz
niederschlägt? Warum denn nicht einen heitern sonnenreichen Tag verleben?
Vergißt du, daß ich meine Kindheit und meine ersten Jugendjahre in einer
goldnen Sklaverei hingeschleppt habe?" Mit Libanios ist er in wenig Wochen
fertig geworden. Der ist nicht der Löwe, mit dem zu kämpfen Julian ge¬
kommen war. Dann hat ers mit den eleusinischen Mysterien versucht, aber
auch nicht viel gefunden. Auf Gregors Vorwurf antwortet er: „Ich muß
leben, Gregor, und dieses Leben hier bei der Weisheitsschule ist keins. Dieser
Libanios! Ich vergebe ihm niemals, daß ich ihn so sehr geliebt habe! Wie
ging ich nicht bei meiner Ankunft demütig und zitternd vor Freude diesem
Menschen entgegen, verneigte mich vor ihm, küßte ihn und nannte ihn meinen
großen Bruder. In so feierlicher Stimmung kam ich her. Ich sah im Geiste
einen gewaltigen Kampf entbrennet: — es sollte die Wahrheit der Welt mit
der Wahrheit Gottes ringen. Was ist daraus geworden? Libanios hat
niemals im Ernst diesen Kampf gewollt. Libanios hat eine große Lehre, aber
er ist kein großer Man. Libcmios ist habgierig, er ist eitel, er brennt von
Mißgunst."
Trotz alledem hat der Aufenthalt unter gebildeten Heiden Julians Christen¬
glauben erschüttert und beinahe vernichtet. Warum war die heidnische Sünde
so schön? fragt er den Basilios, der meint, sie sei gar nicht schön gewesen,
man habe nur schön gesprochen und gedichtet von dieser Sünde. Julian aber
grübelt weiter darüber, ob die Wahrheit wirklich die Feindin der Schönheit
sein müsse, reißt sich aber gleich darauf den Rosenkranz, das Symbol der
schönen heidnischen Sünde, vom Haupt und versichert, nur eins habe er in
Athen gelernt, daß die alte Schönheit nicht länger schön und die neue Wahr¬
heit nicht länger wahr sei. Denn wo sei denn diese Wahrheit? Welcher
Sinn liege in der Aufforderung — die kappodozischen Freunde und viele andre
hatten sie an ihn gerichtet —, er solle die Christenheit ans Verwirrung und
allerlei Noten erlösen? „Wo ist sie, diese Christenheit, die erlöst werden soll?
Ist sie bei dein Kaiser oder beim Cäsar? sJulians Bruder Gallus.j Ich denke,
ihre Thaten rufen laut genug: Nein, nein! Ist sie bei den Mächtigen und
Vornehmen? Bei diesen lüsternen Halbmenschen des Hofes, die die Hände über
dem gemästeten Bauch falten und säuseln: »Ob wohl Gottes Sohn aus nichts
geschaffen ist?« Vielleicht bei den Bäckern in Konstantinopel, die neulich mit
Fäusten kämpften, um auszumachen, ob die Dreieinigkeit aus drei Personen
oder aus drei Hypostasien bestehe?" Basilios giebt zu, daß es elend um die
Christenheit bestellt sei, aber mau müsse die Wahrheit in den heiligen Schriften
suchen. Dieselbe verzweifelte Antwort! ruft Julian: „Bücher, immer Bücher!
Komme ich zu Libanios, so heißt es: Bücher, Bücher! Komme ich zu euch —
Bücher, Bücher, Bücher! Steine für Brot! Ich kann keine Bücher brauchen,
nach dem Leben hungre ich, nach einem Verkehr, Angesicht zu Angesicht, mit
dem Geiste. Wurde Paulus sehend von einem Buche?. . ." Basilios: „Und
doch steht geschrieben —" Julian: „Ich weiß alles, was geschrieben steht!
Geschriebnes ist nicht Wahrheit im Fleische. Es muß eine neue Offenbarung
kommen, oder eine Offenbarung von etwas neuem. ..."
Die kappadozischen Freunde zeigen ihm den Weg zu dieser Offenbarung,
auf die die Träumer aller Zeiten als auf etwas.Zukünftiges hoffen, während
sie seit Anbeginn der Welt noch jedem zu teil geworden ist, der Mut und
guten Willen hat. „Nicht hier, sagt Gregor, soll die Schlacht geschlagen
werden, nicht mit Rede gegen Rede, nicht mit Buch gegen Buch. Nein, Julian,
draußen im Leben sollst du hervortreten!" Der Cäsar Gallus verübt Greuel¬
taten. „Du bist der Bruder dieses blutigen Cäsaren. Tritt vor ihn hin
^ er nennt sich ja einen Christen —, wirf ihm seine Schandthaten ins Antlitz,
schmettre ihn zu Boden!" „Wahnsinniger, was denkst du?" ruft Julian; er
zittert bei dem Gedanken an ein so gefährliches Wagnis; beide Ohren hält er sich
zu; lieber eilt er zum Bachanal, obwohl ihm davor ekelt; dann wird er nach
Ephesus zum Philosophen und Gaukler Maximus reisen, um sich von ihm
Geister beschwören zu lassen, die ihm die Wahrheit enthüllen werden. So
bebt er auch weiterhin zweifelnd, ängstlich, feig vor jeder entschiednen That
zurück. Er «inne gegen die entrüstete Abmahnuug der kappadozischen Freunde
den mit dem Blute seines Bruders befleckten Cäsarenpurpur an, weil es der
Kaiser, der Gnllus hat ermorden lassen, befiehlt. Er läßt sich als siegreicher
Feldherr in Gallien vom Kaiser jede Demütigung, ja die umvürdigste und un¬
gerechteste Behandlung gefallen und träumt davon, wie er, der Welt entflohen,
mit seiner geliebten reinen Helena (die ein allerliebstes Tigerkützchen ist) in der
Einsamkeit leben und den Übermenschen zeugen wird. Er sieht dann zu, wie
seine angebetete Gemahlin mit Pfirsichen, die ihr der Kaiser geschickt hat, ver¬
giftet wird, ohne sich zu einem entscheidenden Schritt aufzuraffen; zitternd und
zagend und Ausflüchte suchend muß er von den Soldaten gezwungen werden,
zu seiner eignen Lebensrettung die Kaiserwürde anzunehmen und gegen Kon-
stantins zu ziehn. Mein ist das Reich! ruft er nach getroffner Wahl, aber
der Mut stellt sich dock) erst ein, als Konstantins mit Tode abgegangen und
niemand und nichts mehr zu fürchten ist.
Und höchst unköniglich oder unkaiserlich bekundet sich der neu gewonnene
Mut. Zwar daß er nun mit seinen: Glauben offen hervortritt, daß er seinen
Glaubensgenossen die ihnen von Konstantin und seinen Söhnen geraubten
Rechte wiedergiebt, ist ganz in der Ordnung, und Lob verdient es, wenn er
den Hof reformiert, die Schmarotzer wegjagt, die Ungetreuen zur Rechenschaft
zieht, die in ihre Tasche verwaltet haben, und wenn er erklärt: „Mein Hof
soll zugänglich sein allen ausgezeichneten Männern, welche Meinungen sie auch
haben mögen. Laßt uns der Welt das ungewöhnliche Schauspiel geben eines
Hofes ohne Heuchelei, eines Hofes, wo Schmeichler zu den gefährlichsten
Feinden gerechnet werden." Aber wie erfüllt er sein Wort! Wenig Minuten,
nachdem er es gesprochen hat, empfängt er indische Gesandte, die seine Gro߬
thaten preisen und um seine Gnade bitten; sie halten ihn nämlich für seinen
Vorgänger. Er befiehlt, daß die Reden dieser Gesandten dem Volke bekannt
gemacht werden, namentlich, daß bei den Indern die Sage gehe, Alexander sei
wiedergekommen. Ursulos, ein grundehrlicher alter Beamter, wendet dagegen
ein, das würde eine Täuschung des Volkes sein, da sich die Gesandten bei
seinem Vorgänger angemeldet hätten und vom Thronwechsel nichts wüßten.
Julian wird bleich vor Wut: er kenne diese Alten am Hofe schon! Sie seien
Christen und wollten nicht allein die Tempel, sondern auch den Altar der
Dankbarkeit in seinem Herzen niederreißen, der Dankbarkeit gegen Dionysos,
der seine Thaten den Indern verkündet habe. Und Ursulos füllt nicht allein
in Ungnade, sondern wird nach einem Scheinprozeß hingerichtet, mit vielen
andern, die ja noch andres verbrochen haben mögen, als daß sie Christen sind.
Und da die Hinrichtungen nichts nützen, da im Gegenteil die Verfolgung die
lauen Christen wieder eifrig macht, die schon abgefallnen zum Bekenntnis des
Glaubens zurückführt, so steigert sich sein Haß gegen die Christen zur un¬
sinnigen Wut, er läßt nicht allein Todesurteile ohne Zahl fällen, sondern wird
ein zweiter Nero, Decius oder Galerius, befiehlt, die Hartnäckigen fo lange mit
Geißeln zu zerfleischen und mit unerhörten Martern zu peinigen, bis sie Christo
abschwören — was alles ganz unhistorisch ist; der wirkliche Julian hat weder
die Christen noch solche, die sich weigerten, ihm zu schmeicheln, mit Leibesstrafen
heimgesucht, Lächerlich gemacht durch seinen Eifer im Opfern und durch seine
Philosophensitten — rühmte er sich doch, daß sein ungekannter Bart Läuse
beherberge — hat sich auch der wirkliche Julian, aber nicht in dem Grade wie
der Jbsensche, der die Fcstaufzüge zu Ehren der Götter als „stinkendes Laster"
verachtet und doch in Wut gerät über die schwache Teilnahme des Volks
daran, der vor der widerlichen Gestalt der orientalischen Göttermutter in Ent¬
zücken gerät, und der, so oft er sich um den Grenzen seiner Macht angelangt
sieht, seinen letzten Trumpf mit den Worten ausspielt: Wart mir, ich schreibe
ein Buch gegen dich, da sollst dus kriegen! Er, der schon als Jüngling die
bloße Bücherweisheit hat verachten lernen, und der jetzt in den christlichen
Märtyrern gelebten, nicht bloß deklamierten Glauben vor sich sieht! Daß er sich
die Finger schwarz und die Wangen bleich schreibt, ist ja nnn wieder historisch,
aber kindischer Eitelkeit in dem Grade verfallen war er nicht, daß er, wie bei
Ibsen, den längst durchschauten Libauios mit den ekelhaftesten Schmeicheleien
überschüttet hätte, damit dieser eine Lobrede auf ihn schreibe. Überhaupt er¬
scheint das Unternehmen Julians in der Geschichte nicht ganz so sinnlos wie
bei Ibsen, Der historische Julian hat, neuplatonisch, die Götter für Emana¬
tionen des Urgeistes gehalten und hat ihre Funktionen hauptsächlich darin
gefunden, daß sie den verschiednen Nationen ihre besondern Anlagen zu ver¬
leihen und ihren Charakter aufzuprägen hätten. Mit einer solchen Auffassung
konnte man sich uuter einem Gewirr gnvstischer Sekten schon sehen lassen und
sogar neben dem christlichen Engel- und Heiligenkult vor der Vernunft recht¬
fertigen; der Irrtum Julians bestand nur darin, daß er glaubte, die Gebildeten
würden, nachdem das Christentum den Kult des einen Urgeistes allgemein ver¬
breitet hatte, noch einmal zum Kult der Emanationen zurückkehren und diese
noch dazu mit den aus der Mode gekommnen Gestalten der griechischen My¬
thologie identifizieren. Ibsens Julian schwärmt für diese Götter, ohne daß
seiner Schwärmerei eine klare philosophische Einsicht zu Grunde lüge. Was
ihr zu Grunde liegt, das ist Haß gegen die Christen und — ein Cäsaren-
wahnsinu, dessen er sich selbst erst gegen das Ende seines Lebens bewußt wird.
Er haßt den Galiläer als den größten und gefährlichsten aller Revolutionäre,
als einen Zauberer, der Macht ausübt über die Herzen und dadurch den
Machtbereich des Kaisers einschränkt. Er, Julian, will allein herrschen auf
Erden, herrschen nicht allein über die Leiber, sondern auch über die Seelen
und die Überzeugungen aller Menschen. Er oder ich! ist daher sein Wahl-
spruch, er will die Herrschaft mit keinem teilen. Mit dieser Machtgier ver¬
binden sich mystische Träume. Die hohe Erwartung, die Heiden und Christen
auf ihn gesetzt hatten, und die geheimnisvollen Andeutungen seines Lehrers
Maximos erzeugen in ihm die Einbildung, daß er selbst eine Inkarnation
Gottes sei, berufen, ein Weltreich von noch nie dagewesener Art zu begründen,
und in den Christen sieht er das Hindernis der Verwirklichung dieses Reichs.
Diesem Wahnsinnigen gegenüber spielen die edeln unter den Christen, die
Bekenner und Märtyrer, namentlich seine kappadozischen Jugendfreunde, eine
durchaus würdige Rolle und benehmen sich folgerichtig. Beachtet man außerdem,
daß Ibsen auch Wunderbares geschehen läßt, den Apollotempel, dessen Herrlich¬
keit Julian wieder herstellen will, vor seinen Augen einstürzen, seine Blas¬
phemien durch Erdbeben beantworten, seinen Plan, den Galilüer dnrch die
Wiederaufrichtung des Tempels zu Jerusalem Lügen zu strafen, kläglich scheitern
läßt, so könnte man sich versucht fühlen, das Drama für ein Tendenzstück im
Dienste der christlichen Apologetik zu halten. Wenn Ibsen auf den Effekt ver¬
zichtet, mit dem berühmten: „Galiläer, du hast gesiegt!" zuschließen, so scheint
er es nur zu dem Zweck gethan zu haben, Julians Niederlage noch kräftiger
hervorzuheben. Denn in den Minuten zwischen diesem Ausruf und seinen?
Verscheiden pflegt ihn die fromme Makrina, des großen Vasilius Schwester,
und Julian äußert, die Seinen über seinen Tod tröstend: „Lehrt uns nicht
die Weisheit, daß die höchste Seligkeit an das Leben der Seele, nicht an das
des Körpers gebunden ist? Darin haben die Galiläer recht, obschon — doch
darüber wollen wir nicht reden. ..."
Man müßte glauben, Ibsen habe lehren wollen, daß das Christentum,
trotz der Jämmerlichkeit der meisten Christen, die wahre und höchste Religion
sei, wenn nicht die Reden des Philosophen und Zauberers Maximos wären.
Die Hauptstelle darin lautet: „Ms Reich des Kaisers und das Reich des
Galiläersj sie werden beide untergehn, aber nicht vergehn. Geht nicht das
Kind unter im Jüngling, und der Jüngling wieder im Mann? Du weißt,
ich habe niemals gebilligt, was du als Kaiser unternommen hast. Du hast
den Jüngling wieder zum Kinde umschaffen wollen. Des Fleisches Reich ist
vom Reiche des Geistes verschlungen. Aber das Reich des Geistes ist nicht
das abschließende, gleichwie es der Jüngling nicht ist. Dn hast den Jüngling
hindern wollen, zu wachsen — hindern, Mann zu werden. O du Thor, der
du das Schwert gegen das Werdende gezogen hast, gegen das dritte Reich,
wo der Zweiseitige herrschen soll!" Der Zweiseitige, damit ist gemeint, einmal
der Gott-Kaiser oder Kaiser-Gott, und zum andern: Logos im Pan, Pan im
Logos. Die Weissagung dieses uralten und in jedem Zeitalter wieder jungen
Reichs — Utopia hat es der kluge englische Kanzler getauft — würde man
für die eigentliche Absicht Ibsens halten, wenn nicht Maximos, der dem Julian
unmittelbar vor seinem Tode den Sieg verheißt, zuguderletzt als Lügenprophet
dastünde, und wenn nicht das dritte Reich zum erstenmal in einer widerlichen
Gespensterszenc erwähnt würde, wo Julian mit Kain und Judas Jschariot zu
Tische sitzt, und ihm die Aussicht eröffnet wird, daß er die dritte Inkarnation
des Geistes dieser beiden sein werde. Für Ibsen soll nach Ansicht einiger
die Lebensfrage gelautet haben: christliche Entsagung oder heidnischer Genuß?
Seines Julians Lebensfrage ist das so wenig wie die des historischen. Julian
ist hier wie dort zeitlebens ein Entsagender: halb Stoiker, halb Cyniker. Was
ihn vom Christentum abstößt ist nicht die Entsagung, die ja weder von der
Masse noch von den Hofleuten geübt wurde, sondern die rohe Häßlichkeit jener
und der barbarische Prunk dieser, zusammen mit der UnWahrhaftigkeit beider,
und was ihn zum Hellenentum hinzieht, ist nicht roher Sinnengenuß, der ihn
vielmehr anwidert, sondern die Schönheit: in Schönheit möchte er sterben.
Gregor von Nazianz hat auf seinem Landhause ein weit genußreicheres Leben
als Julian geführt — im Stil von Ciceros Tuskulcmum,
So bleibt die Hauptfrage ungelöst, wo die wahre und höchste Religion
zu finden sei, und die Unterfrage, wie es komme, daß die meisten Christen so
jämmerliche oder gar keine Christen sind. Um diese zweite Frage dreht sich
der „Brand." Dessen Inhalt darf ich wohl als bekannt voraussetzen. Raub
und hart wie seine Heimat im unwirtlichen Norden hat Brand von Kindheit
auf im Kriege mit jedermann gelebt, zunächst mit seiner habgierigen und
geizigen Mutter. Sie hat ihn Priester werden lassen, damit er ihr in der
letzten Stunde Verzeihung ihrer Sünden bringe. Als Priester kehrt er in die
Heimat zurück, wo er Pfarrer wird, mit dem Wahlspruch: Alles oder nichts!
und einer wahren Wut gegen das halbe und Scheinchristentum seines Volkes.
Den Gott dieses Volkes will er begraben und ihm den echten, wahren Gott
zeigen. Freches Bekenntnis zum Bösen könnte er ertragen: „Sei du ein Sklav
der Lust, doch willig; sei, was du bist, auch voll bewußt," aber nicht diese
Halbheit, Feigheit und Mattigkeit, dieses sich Verkriechen des Lasters hinter
die christliche Nächstenliebe. „Kein Wort, das so zur Lüge wird auf Erden,
als das Wörtchen Liebe! Das kriecht versteckt heran und irrt des matten
Geistes schwache Triebe. Ein Teppich über tausend Pfuhlen, darunter un¬
gestraft zu buhlen. Ist eng der Weg und steil und krumm, man kehrt aus
Purer Liebe um. Wer geht auf breitem Sündeuwege, hofft, daß sich Lieb ins
Mittel lege. Wer Großes wollte, nie sich mühte, erreicht es wohl durch Lieb
und Güte. Geht einer irr, bewußt, im Laster, die Liebe dentes mit einem
Pflaster." Humanität ist Unsinn. „War Gott human, da Jesus Christ den
Kreuzestod erlitt? O Schade, daß Euer Gott nicht schon regierte, der hätte
Wohl gerufen: Gnade! Wenn ihn der Umstand nicht genierte, daß dann des
Sohns Versöhnnngswerk die That nur war von einem Zwerg." Er kommt
dazu, wie in seinem Heimatorte der Vogt Nahrungsmittel anstellt, denn es
herrscht Hungersnot. Er soll sein Scherflein beitragen. „O könnt ich euch
zu Gott erheben, wie gern wollt ich mein Herzblut geben! Es sollte fließen,
euch zu lehren, bis alle Pulse trocken wären. Doch hier zu helfen brächte
Tod. Gott will euch fdurch den Hungerj heben aus dem Kot." Sofort wagt
er das Leben, um einem Kindes- und Selbstmörder den letzten Trost zu bringen.
Kein Mann wagt sich mit ihm über den sturmbewegten Fjord, nur Agnes,
seines Mitschülers Einar Braut, springt zu ihm in den Kahn, und von seiner
Größe überwältigt und hinaufgezogen wird sie seine Gattin. Standhaft hält
sie bei ihm ans in dieser nordischen Grabesschlucht, wo sie von der Sonne
nur den Wiederschein an der gegenüberliegenden Felsenwand zu sehen be¬
kommt — im Hochsommer. An ihrer Milde scheint sein hartes Herz schmelzen
zu wollen, „Ihr j Agnes und beider Söhnlein Alfj schlüge die Brücke auf
meinem Weg zum Himmel mir. Man kann die Menschheit nicht umarmen,
eh einen man geliebt allein. Ich mußte lieben, mußt erwarmen, sonst ward
mein sehnend Herz zu Stein." Aber es ist nur ein oberflächliches Schmelzen;
im Innern bleibt sein Herz hart. Er bringt seiner sterbenden Mutter nicht
den letzten Trost, weil sie nicht vor dem Tode auf ihr ganzes Vermögen
verzichtet. Als der Arzt erklärt, sein Söhnlein müsse sterben, wenn er es
nicht in ein milderes Klima bringe, opfert er es seiner Pflicht und bleibt.
Der Gattin wirft er ihre sündigen Thränen um das Verlorne Kind vor. Sie
überwindet sich vollständig; sie opfert nicht allein das Kind, nicht allein alle
Andenken an das Kind — dessen Kleidchen und Wäsche giebt sie bis auf den
letzten Rest einer scheußlichen Zigeunerhexe —, sondern auch jeden Gedanken
an das Kind, aber so von der Erde gelöst, ist sie bei Gott und hat auf Erden
nichts mehr zu schaffen: „Lies ob ehrner Pforte jenen Spruch, vor dem ich
graute: Der stirbt, wer Jehovcch schaute." Bei ihrem Tode merkt er, daß er
selbst keineswegs bereit gewesen ist, auf alles zu verzichten. Er fühlt sich seit¬
dem gebrochen. Äußerlich hat er Erfolg. Seine stürmische Beredsamkeit hat
ihm die Mehrzahl der Gemeinde gewonnen, der weltkluge Vogt, ein Mann,
der redlich für das Gemeinwohl sorgt, aber darüber sich selbst nicht vergißt,
hat den Phantasten wegbringen wollen, solange es noch Zeit war, nun, da
das nicht gelungen ist, kapituliert er vor ihm und geht auf seinen Plan ein.
Brand will, durch den Tod seiner Mutter reich geworden, eine herrliche Kirche
bauen, in deren weiten hohen Hallen die engen Herzen weit werden und sich
zu Gott emporschwingen sollen. Die Kirche ist fertig. Der Tag der Weihe
ist angebrochen. Der Propst — das Urbild eines ordengeschmückten Super¬
intendenten, dem die Frömmigkeit zu allen Dingen nütze ist, namentlich bei
Hofe — erscheint mit einem Orden für den Kirchenbauer und einigen über¬
zuckerten Pillen für den Fanatiker; Brand aber hält wahnsinnige Reden, läßt
niemand in die Kirche hinein, schließt sie ab und wirft die Schlüssel ins Wasser.
Das Volk aber fordert er auf, ihm nachzufolgen in des Lebens Gotteshaus.
Das fanatisierte Volk folgt ihm auf die Berge, in der Erwartung des himm¬
lischen Mannas, das er ihm versprochen hat. Da aber die Leute droben nichts
finden als Hunger und geschundne Glieder, und Brand mir Opfer fordert,
statt ihnen den ewigen Festschmaus zu bereiten, treiben sie ihn mit Steinwürfen
in die Felsen hinauf und folgen getröstet dem Vogt und dem Pröpste, die
ihnen nicht allein Verzeihung für ihr aufrührerisches Treiben zusichern, sondern
auch ein Wunder verkünden, das Gott gewirkt habe, um sie in die Heimat
und zu ihrer Pflicht zurückzuführen: während sonst der Hering ihre Küste meide,
habe sich ein Millionen zählender Zug dieser Fische in den Fjord verirrt.
Brand wird von einer Lawine verschüttet. Im Sterben ruft er: „Sag mir,
Gott, im Todesgraus: Reicht nicht zur Errettung aus Manneswillen arg.illum
sg-dis?" Eine Stimme ruft: „Er ist äsus varitÄtis."
Auch in diesem Stück fehlt das Gespenstische nicht ganz. Es wird durch
die Zigeunerin Gerd vertreten und durch Erscheinungen, die dem Erschöpften
kurz vor dem Tode sein krankes Hirn vorgaukelt.
Das erste, woran ich bei dem Lesen von Brand dachte, war der Zarathustra,
und wie hoch Ibsen über Nietzsche stehe, Nietzsche hat zwar in seiner Jugend
Verse geschrieben — welcher deutsche Jüngling thäte das nicht? —, aber ein
Dichter ist er nicht; wäre er einer, so würde er aus dem Zarathustrastoff, da
dieser keine irgendwie mögliche Philosophie enthält, wenigstens ein Gedicht ge¬
macht haben. Aber er hat um seinen Weisen, der mit allen seinen im orien¬
talischen Prophetenstil gehaltenen Redensarten weiter nichts zu sagen weiß, als
daß er selbst nicht weiß, was er will, nur wesenlose Spukgestalten gruppiert,
während Brand weiß, was er will, und unter wirklichen, kräftig und deutlich
modellierten Menschen lebt und wirkt. Nietzsche hat sich jede Möglichkeit,
etwas Lebendiges zu schaffen, von vornherein dadurch verbaut, daß er die
blasphemische Verkündigung des angeblichen Todes Gottes zum Mittelpunkte
seines wüsten Märchens macht; denn als Atheist kann man zwar fabrizieren,
Handel treiben, den Staat regieren, heiraten und durch alles dieses Stoff für
Dramen und Epen liefern, aber die höchsten Fragen kann man als Atheist
nicht beantworten, weil eine Welt ohne Gott keinen Sinn hat, und weil bei
dem Mangel eines festen Wertmaßstabs von Übermenschen so wenig die Rede
sein kann wie von Untermenschen. In der Darwinischen Welt sind Mikrobe,
Molch, Affe und Mensch gleich Sinn- und wertlose Zufallsprodukte. Brand
weiß, was er will, und sein Wollen hat einen Sinn: er will sich und seine
Mitmenschen über das schlechte weltliche Treiben hinaus- und hinaussehen
zu Gott.
Der Fehler des Stücks liegt also weder in der Form, an die sich keine Kritik
heranwagen wird, noch in dem Grundgedanken, der ein großes und wichtiges
Problem enthält; er liegt darin, daß das Problem wohl meisterhaft dargelegt,
aber uicht gelöst ist, weil es eben ein Zweifler nicht lösen kann. Man könnte
ja allerlei Lösungen darin finden, z. V., daß Ibsen die Askese habe g-b-
suräuin führen wollen. Die Entsagung an sich, die nicht zu irgend einem
vernünftigen Zwecke, sondern um ihrer selbst willen geübt wird, bedeutet Selbst¬
mord. Wer allem Irdischen entsagen will, muß auch dem eignen Leibesleben
entsagen, denn das ist doch eben etwas Irdisches, und so läßt denn Ibsen die
Agnes in dem Augenblick sterben, wo sie die vollständige Entsagung zustande
gebracht hat. Was Brand anbetrifft, so hat er selbst die Entsagung, die er
unbarmherzig von jedem andern fordert, keineswegs geübt; bekennt er doch,
daß er erst im Besitz von Weib und Kind die wahre Liebe zu den Menschen
gefunden habe, und opfert er zwar „gleich Abraham" seinen Sohn (daß Gott
die Schlachtung Jsaaks verhindert hat, füllt ihm nicht ein), aber auf Agnes
zu verzichte» geht über seine Kraft, und ihr Verlust raubt ihm den Verstand;
sein Thun bei der Kirchweihe und sein Zug ins Schneegebirge ist Wahnsinn.
Dieser Auffassung hat jedoch Ibsen selbst Vorgebnut. Agnes, die ihm vor dem
Tode erscheint, sagt ihm, wenn er selig werden wolle, müsse er die grauen-
vollen drei Worte streichen: alles oder nichts, und diese Gestalt der Agnes
führt Ibsen ein als — den Versucher in der Wüste in Frauengestalt. Oder
man könnte aus dein „Er ist aeus vÄriwtis" am Schluß folgern, Ibsen habe
lehren wollen, daß Brands Gott nicht der Gott des Neuen Testaments sei,
und auch mehrere Personen des Stücks laßt er bei verschiednen Gelegenheiten
zu Brand sagen: Gott ist nicht so hart wie Ihr! Aber andrerseits kann Ibsen
auch diese Vertreter des so grell gezeichneten verweltlichten Christentums nicht
als die Vertreter des wahren Christentums haben hinstellen wollen. So
bleiben also die beiden Fragen unbeantwortet, warum das gewöhnliche Christen¬
tum so erbärmlich aussieht, und wie das wahre Christentum aussehen würde.
Der Antwort auf beide Fragen würde der Dichter näher gekommen sein, wenn
er statt eines in kleinen Kreisen irrlichtelnden Phantasten und Fanatikers, wie
solche ja vorkommen, einen der historischen Übermenschen gewählt hätte; ent¬
weder einen der Inquisitoren, die aus Liebe zu den Seelen die Leiber ver¬
brennen, oder einen Kirchengründer und Reformator wie Zwingli, Calvin oder
Knox, oder einen der freundlichen Heiligen, die, wie der seraphische Franziskus,
nur sich selbst, nicht ihren Mitmenschen Entsagung auferlegen, oder wie Johann
von Gott einen Orden stiften, der es sich zur Aufgabe macht, leibliche Wunden
zu heilen und leiblich Kranke zu pflegen. Freilich würden wir in diesem Falle
um etwas sehr wertvolles gekommen sein: um die Schilderung des harten und
entbehrungsvollen Lebens in der eisigen Winternacht des hohen Nordens, die,
um noch einmal daran zu erinnern, in Ibsen selbst so vieles erklärt. — Jeden¬
falls müssen wir diesen beiden Dramen zugestehn, daß sie von Idealität beseelt
sind und idealen Zwecken dienen.
nfang dieses Jahres ist der sechsundvierzigste Band als letzter der
Gesamtausgabe der Joh. Seb. Bachschen Werke erschienen. Da¬
mit hatte die Bachgcsellschaft ihre Aufgabe erfüllt. Einzig zu
dem Zweck gegründet, sämtliche Werke Joh. Seb. Bachs kritisch
und monumental zu veröffentlichen, löste sie sich nun nach Er¬
scheinen des letzten Bandes auf.
Ihr Werk ist in doppelter Beziehung bedeutungsvoll. Einmal ist uns
durch sie der Besitz aller noch erhaltnen Werke Bachs, die sie der großen
Mehrzahl nach überhaupt zum erstenmal hat vervielfältigen lassen, von neuem
gesichert. Was das bedeutet, ergiebt sich aus der Thatsache, daß nachweislich
allein in den fünfzig Jahren vor der Gründung der Bachgesellschaft gegen
hundert Werke Bachs spurlos verloren gegangen sind.
„Die Leipziger Vachgesellschnft hat aber — wie der gleich zu erwähnende
Bericht Kretzschmnrs sagt — nicht bloß in das Schicksal der Werke Sebastian
Bachs entscheidend eingegriffen, sie hat eine wichtige Wendung im Verhältnis
der neuen Zeit zur alten Tonkunst überhaupt herbeigeführt. So weit die
musikalischen Völker eine Vergangenheit haben, suchen sie ihre großen Meister
durch Neuausgabeu wieder zu erwecken, die dem Muster der Vachgesellschnft
genau oder freier folgen." Das ist die zweite und vielleicht wichtigste Folge
des Unternehmens gewesen. Der Bachausgabe folgten die Gesamtausgaben
von Händel, Schütz, Palestrina, Orlnndus Lassüs, die Eitnerschen Publikationen,
die Denkmäler der Tonkunst in Deutschland, in Österreich, ihr folgten fran¬
zösische, englische, italienische, holländische Versuche; auch die vollständigen
Editionen der neuern Klassiker sind zweifellos mit durch ihr Beispiel angeregt
Worden. Ja, man darf behaupten, daß sie wesentlich beigetragen hat zum
gegenwärtigen Aufblühen der Musikwissenschaft.
Die Bachausgabe war der erste Schacht in altes Goldland getrieben.
Staunend empfing die Welt in den Bänden der Gesellschaft einen unerme߬
lichen Reichtum, allmählich wurde sie gewahr, daß die Fruchtbarkeit und die
technische Meisterschaft Bachs von seiner Umgebung geteilt, von manchen sogar
überboten wurde. „Wir sind — sagt der Bericht — der musikalischen Er¬
forschung des achtzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erst von Bach und
Händel aus näher getreten; von ihren deutschen Mitarbeitern wissen wir noch
heute nur wenig, ihre italienischen Zeitgenossen und Vorgänger beurteilt die
Menge vollständig ungerecht und in veralteten Anschauungen befangen," Durch
die Buchausgabe wurde der historische Sinn in der Musik mächtig gestärkt,
und diese Stärkung zog die vermehrte und eindringlichere Beschäftigung mit
der Musikgeschichte nach sich.
Da die Bachgesellschaft als erste die große Aufgabe einer musikalischen
Gesamtausgabe auf sich nahm, hatte sie auch die meisten und größten Schwierig¬
keiten zu überwinde». Mit der Aufbietung unermüdlichen, echt deutscheu Fleißes
und unter hartem Ringen und Mühen ist ihr Werk in der verhältnismäßig
langen Zeit eines halben Jahrhunderts zu Ende gebracht worden. In richtiger
Würdigung der geleisteten Arbeit hat sie deun auch ihre Thätigkeit nicht ein¬
gestellt, ohne vorher einen Rückblick zu thun. Das Direktorium der Gesell¬
schaft beauftragte Hermann Kretzschmav, den bekannten Leipziger Professor der
Musikwisseuschaft, einen abschließenden Bericht abzufassen.
Dieser trägt den Titel „Die Bachgcsellschaft in Leipzig" und ist als
Hauptteil des Schlußbaudes der Gesamtausgabe, außerdem auch im Sonder¬
druck^) veröffentlicht wordeu. „Bericht" ist freilich eine mangelhafte Bezeich¬
nung für die Arbeit. Kretzschmar hat seine Ausgabe weit und tief gefaßt. Er
begnügt sich nicht damit, eine Chronik der Gesellschaft zu schreiben, er giebt
eine mühevoll aus unbenützten und versteckten Quellen geschöpfte, aber durch¬
aus gemeinverständlich und lebendig geschriebne Geschichte des Schicksals der
Bachschen Werke voll ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart und schließt mit
gutem Rat für die Zukunft. Die Arbeit bringt ein interessantes Stück Kultur¬
geschichte.
Bachs Werke haben merkwürdige Schicksale gehabt. Zu Lebzeiten ihres
Schöpfers galten sie wenig oder nichts. Bach war für seine Zeitgenossen „der
Fürst aller Klavier- und Orgelspieler"; aber seine Kompositionen stellten sie
mit denen kleiner Geister auf gleiche Stufe. Die Hauptschuld an der Nicht¬
beachtung der Bachschen Kunst trug die Herrschaft der italienischen Schule,
durch die Bach, vom äußern Schicksal weniger begünstigt als Händel, nicht
gegangen war. Erst als diese ins Wanken kam, als das deutsche National¬
gefühl gegen Ende des Jahrhunderts mächtig wuchs, kamen die Bachschen
Werke zum erstenmal zu höhern Ehren. Sie wurden zunächst für einen kleinern
Kreis zum Panier der deutscheu Richtung in der Musik; ihren Schöpfer feierte
man hier als den „Dürer der Tonkunst." Man kannte sie aber noch nur in
spärlicher Anzahl, der Hauptsache nach nur die Orgelkoiupositioilen. Wohl
wuchs die Bewegung derart, daß sich im Jahre 180V nicht weniger als drei
Verleger dazu verstiegen, eine Gesamtausgabe der Werke Bachs anzukündigen.
Es waren Nägeli in Zürich, Simrock in Bonn, Hofmeister und Kühnel in
Leipzig. Sie hielten sich vorzugsweise an die gangbaren Klavier- und Orgel¬
sachen. Erst durch Breitkopf und Härtel wurde Bachsche Vokalmusik erschlossen-
Sie veröffentlichten im Jahre 1803 den bekannten Schichtscheu Motettenband.
Zwischen dem ersten und einzigen von Bach selbst veröffentlichten Stück Kirchen-
musik. der Miihlhäuser Kantate „Gott ist mein König" vom Jahre 1708 und
dem nächsten — eine fast hundertjährige Pause! Diese erste öffentliche Vach-
bewegung gipfelt darin, daß im Jahre 1818 zwei Verleger, Simrock und
Nägeli, die H-no11-Messe herausgeben wollen, daß für ein Denkmal auf Bachs
Grab gesammelt wird, und daß sich im Auslande, Paris und London voran,
eifrige Vachgemeinden bilden, Sie bricht aber hiermit auch ab. Es war — nach
Kretzschmar — die Zeit der Karlsbader Beschlüsse.
Dieser erste Anlauf zu einer Gesamtausgabe ist deshalb besonders inter¬
essant und lehrreich, weil er darthut, welche ungeheuern Hindernisse sich einer
solchen entgegenstellten, und wie Großes also die Bachgesellschaft geleistet hat.
Der „Bericht" macht auf die redaktionellen Schwächen dieser ersten Ausgaben
aufmerksam und zeigt, daß jene Zeit für das Unternehmen musikalisch noch
nicht reif war. Seit die Musik als gleichberechtigt in die Reihe der Künste
getreten ist, hat sie ununterbrochen so viel Neues hervorgebracht, daß die Musiker
nicht dazu kamen, auch keine direkte Veranlassung dazu hatten, sich anf das
Vergangne zu besinnen. Mangel an allgemeinem, weitverbreiteten Verständnis
für den Wert alter Musik dürfte es hauptsächlich verschuldet haben, daß es
trotz der guten Absicht Einzelner so lange gedauert hat, bis Bachs Werke in
ihrer Gesamtheit wieder ans Tageslicht gezogen werden konnten.
In diesem Zusammenhange ist denn auch die Thatsache, mit der Kretzschmar
überrascht, sehr verständlich, daß nicht ein Musiker, sondern ein Gelehrter der
geistige Vater lind in den ersten Zeiten die eigentliche Triebkraft der hundert
Jahre nach Bachs Tode, 1850 gegründeten Bachgesellschaft war, nämlich
Otto Jahr. Fast überall, wo es sich um Wiedererweckung und Studium
der musikalischen Vergangenheit handelte, haben nicht eigentliche musikalische
Fachleute, sondern Männer der Wissenschaft an der Spitze gestanden, und hier
hat sich dasselbe wiederholt. Das kam eben von der langen Zeit unerschöpflich
scheinender Produktion in der Musik, die die Musiker nicht zur Schätzung des
Vergangnen kommen ließ; es bedürfte hierzu des Eingreifens der Gelehrten,
von Männern mit weitem Blick, die in der Musik, besonders unter den
Zeitungskoryphäen äußerst spärlich vorkommen. Warum ist das wohl in den
bildenden Künsten besser?
Natürlich war die oben kurz geschilderte Bachbewegung, wenn sie auch ohne
bestimmtes Resultat verlief, doch nicht nutzlos gewesen. Durch sie waren Bach
überall viele neue Freunde gewonnen worden. Dem war es zu danken, daß
sich, nachdem Zelter, Forkel, Pölchau abgetreten wäre», jüngere Ersatzmänner
funden. Der bedeutendste und verdienstvollste unter ihnen ist Felix Mendels¬
sohn; Schumann kommt, entgegen der bisherigen Annahme, nach Kretzschmar
wenig in Betracht, wohl aber das Süngerpaar Schelble und Franz Hauser.
Schelble hat den Gedanken einer Bachgesellschaft schon im Jahre 1832 aus¬
gesprochen, geformt und verbreitet, Hauser ihrer Thätigkeit die notwendigste
und wichtigste Grundlage gegeben durch einen ungedruckt geblielmen Katalog
der sämtlichen Werke Seb.'Bachs, der die Anfänge aller Kompositionen the-
matisch verzeichnet, die bisherigen Drucke und ihre Verleger und namentlich
auch die Besitzer der Autographen und der gleichzeitigen Abschriften angiebt.
Ohne diesen Katalog, der auf 672 einzelne Kompositionen Bachs gelangt,
wäre die Gesamtausgabe der Bachgescllschaft vielleicht überhaupt nicht in An¬
griff genommen worden, jedenfalls nur mit noch viel größern Schwierigkeiten
durchzuführen gewesen, als sich so wie so ergabein
Diese Schwierigkeiten beruhten zu einem wesentlichen Teil auf dem Zu¬
stand und der außerordentlichen, bei keinem zweite» Komponisten in dieser
Weise wiederkehrenden Zerstreutheit der Vorlagen; aber in einem sehr em¬
pfindlichen Grade anch auf der mangelhaften Organisation der Gesellschaft,
Für einen offiziellen Bericht hat sich Kretzschmar über diesen letzten Punkt
mit einer ungewöhnlichen Offenheit ausgesprochen, jedoch sich bei einzelnen
Mißständen mit Andeutungen begnügen müssen, Seite 21 heißt es z. B,:
„Das Gedeihen des Unternehmens hing in erster Linie von der Thätigkeit des
Direktoriums ab, , , , Im Interesse einer raschen Geschäftsführung war be¬
stimmt worden, daß die drei Fachmnsiker, die ihm angehören mußten, ihren
Sitz in Leipzig hatten. Dabei setzte man voraus, daß sich an diesem Orte
jederzeit so viele mit Bachscher Musik und Bachschen Handschriften vertraute
Kräfte finden würden." Es Hütte nun klar gesagt werde» müssen, was mau
im weiter» Verlauf des Berichts zwischen den Zeilen lesen kann, daß die
Voraussetznttg sich als falsch erwiesen, und daß das Direktorium, besonders
dessen Vorsitz, ungenügend fungiert hat. Eine andre Stelle, in der die Meinung
des Berichterstatters etwas verhüllt bleibt, ist der Abschnitt über Wilhelm
Ruft, de» persönliche Freundschaft gern schlechtweg als „den Herausgeber
der Bachschen Werke" und als den Begründer der Bachwissenschaft feiert.
Kretzschmars durchaus objektive Würdigung läßt über seine Verdienste keine
Zweifel, aber ebensowenig darüber, daß er seine Bachforschungen nicht wissen¬
schaftlich, sondern dilettantisch betrieb. Das hätten wir aber gern deutlich aus¬
gesprochen gescheit. Ein geradezu derbes Wort Hütte das Verhalten der Fach-
und Tagespresse gegen die Bachausgabe verdient. Denn sie verhielt sich — von
Ausnahmen, zu denen die Grenzboten obenan gehören, abgesehen — einfach
schmachvoll.
Trotz aller Hindernisse und Müngel hat die Bachgesellschaft ihr Ziel er¬
reicht, die noch vorhandnen Werke Bachs sind zusammengebracht und in einem
Notentext vorgelegt worden, der musterhaft ist.
Die neugewonnene Bekanntschaft mit Bachs Werkelt hat einen großen
Umschwung ni der Komposition hervorgerufen. Dieser darf zwar nicht allein
auf Rechnung der Gesamtausgabe gesetzt werden, sicherlich hat sie aber vieles
mit dazu beigetragen. Der Einfluß Bachs auf die Komposition beginnt schon
bei Mendelssohn und Schumann; seit aber Richard Wagner in seinen Werken
die Polyphonie zum gestaltenden Prinzip erhoben hat, sind alle Komponisten
bis auf Richard Strauß Schüler Bachs zu nennen.
Weniger wichtig, aber immerhin bemerkenswert sind die Nachahmungen
Bachscher Formen in der modernen Musik, namentlich in der Form der Suite
sind hübsche, lebensfähige Schöpfungen entstanden.
Unmittelbar der Gesamtausgabe zuzuschreiben sind natürlich die Erfolge,
die Bachs Werke in neuerer Zeit im Konzertsaal erzielt haben. Man braucht
nur an die vielen Aufführungen der beiden großen Passionen oder die eifrige
Pflege der Orgel- und Klavierwerke zu erinnern, und jedermann wird die
Wirkung der Gesamtausgabe klar. Trotz dieser Erfolge ist aber nach Kretzschmar
das Erreichte an vielen Punkten hinter dem Erreichbaren zurückgeblieben.
Er erinnert namentlich an die vielen Kantaten, die noch brach liegen, an die
wenig benutzten Konzerte usw.
Der Gründe, weshalb vieles noch nicht die verdiente Würdigung gefunden,
sind mancherlei. Die Kirchcnkcmtnten z. B. gehören in den Gottesdienst und
können im Konzertsaal, wo man es mit ihnen versucht hat, unmöglich volle
Wirkung üben. Auch die mangelhafte Aufnahme und Wirkung der Bachaus¬
gabe fällt zum Teil der Thätigkeit der Gesellschaft zu Lasten. „Wenn von
den Erfahrungen der Bnchgesellschaft — heißt es Seite 45 des Berichts —
überhaupt eine allgemeine Wichtigkeit hat, so ist es die: daß es nicht genügt,
die Werke alter Meister in kritischen Nennusgabcn vorzulegen, sondern daß
Mittel und Wege gefunden werden müssen, diese Neuansgaben in die prak¬
tische Musik überzuleiten. An dieser Verbindung mit der Musikpflege mangelt
es allen unsern heutigen Bestrebungen zur Wiederbelebung alter Tonkunst,
und hier gilt es für die nächste Zukunft einzusetzen. Unsre Neunusgaben er¬
leichtern die allgemeine Zugänglichkeit zur Kunst früherer Zeiten, sie schirmen
und bergen die Schütze der Vergangenheit vor Vergessen und Verderben besser
als Handschriften und Stimmendrucke; aber sie schützen nicht absolut. Wie die
alten Drucke, so werden in absehbarer Zeit auch die Neudrucke wieder in
Bibliotheken begraben sein, wenn ihr Inhalt nicht klingend aufersteht. Auch
die Gesamtausgabe der Bachgesellschaft hat nur als Vorarbeit und Grundlage
für die vollständige praktische Einbürgerung seiner Werke Wert, und die Freunde
des Meisters haben dafür zu sorgen, daß wir dieses Ziel von allen Linien aus
erreichen."
Damit sind wir bei der neuen Bachgesellschaft angelangt. Diese wurde
am 27. Januar d. I., an dem Tage, wo sich die alte Bnchgesellschaft auflöste,
auf Anregung des Berichts gegründet und soll eben das, was zum Schluß
der eben mitgeteilten Worte gefordert wird, zur That werden lassen. Auf
zweierlei Art und Weise sucht die neue Gesellschaft ihr Ziel zu erreichen: einmal
durch Veranstaltung von Bachfesten, die in der Regel aller zwei Jahre statt¬
finden sollen, zweitens durch Veröffentlichung von volkstümlich billigen Aus¬
gaben der Bachschen Werke in Urgestalt oder Bearbeitung und von aufklärenden
Schriften über Werke Bachs.
Den großen Wert der geplanten Bachfeste wird jedermann ohne weiteres
mischen. Will man alte Werke beim Publikum einführen, kommt unendlich viel
darauf an, daß man es richtig anfange. Bei den Bachfesten wird man wissen,
wie man es anzufangen hat — die Namen der an der Spitze stehenden Männer
bürgen dafür —, während, überließe man die Einführung bisher unberücksichtigter
oder ahne Erfolg berücksichtigter Werke den bestehenden Konzertinstitutcn, Mi߬
griffe und damit auch Mißerfolge wahrscheinlich, beinahe sicher wären.
Für sehr wertvoll erachten Nur aber auch die geplante Neuausgabe der
Werke Bachs in Formen, die für den unmittelbaren praktischen Gebrauch ein¬
gerichtet sind, und die Beigabe erklärender Schriften, Dadurch wird endlich
die Brücke geschlagen über die breite Kluft, die die nach wissenschaftlichen
Grundsätzen hergestellten Gesamtausgabe!! von der praktischen Musikübung not¬
wendig trennt. Eine kritische Gesamtausgabe hat sich genau an das Original
zu halten, die heutige Praxis aber kann die Werke in der Originalgestalt sehr
oft nicht verwenden. Wir haben eine Reihe alter Instrumente nicht mehr,
andre haben ihre Technik geändert, wo die frühere Zeit sich begnügen durste,
den Ausführenden Skizzen vorzulegen, wird sie vom heutigen Geschlecht nicht
mehr verstanden. Wir bringen keine Serenaden mehr, haben die Musik im
öffentlichen Leben, in der Kirche stark beschnitten, sogar im Konzert sind ehe¬
mals beliebte Gattungen ausgestorben. So stellen die alten Originale, wie
sie eine wissenschaftliche Ausgabe vorlegen muß, den praktischen Musiker, der
in seinen Konservatorien von Geschichte und allein Mnsikwescn wenig genug
erfährt, vor eine Menge Verlegenheiten; die Folge ist, daß diese kritischen
Ausgaben unbenutzt bleiben oder mißbraucht werden. Viel nötiger als für
Goethe und Shakespeare sind für Bach, Händel, Schütz, Palestrina usw.
Institute und Einrichtungen, die das Verständnis lind die richtige Behandlung
ihrer Werke vermitteln.
Es gilt, Ausgaben zu schaffe», die bei aller wissenschaftlichen Zuver¬
lässigkeit mich der Praxis zu dienen vermögen, es gilt, die Praktiker über die
Ausführung alter Musik aufzuklären. Dies speziell bei Bach zu erreichen, hat
sich die neue Gesellschaft zur Aufgabe gemacht. Möchte es ihr gelingen, das
Ziel zu erreichen!
Nach dem Gesagten ist eine besondre Empfehlung der neuen Bnchgesell-
schaft nicht mehr notwendig. Jeder, der Sinn hat für ernste, deutsche Musik,
sollte Mitglied werden. Zur Vervollständigung unsrer Angaben fügen wir
noch das Verzeichnis des Direktoriums, das aus der erste» Wahl hervor¬
gegangen ist, bei. Die Namen lauten: Professor I)r. Hermann Kretzschmar in
Leipzig, Vorsitzender; Professor Gustav Schreck, Kantor zu Se. Thomae in
Leipzig, Schriftführer; Breitkopf und Härtel in Leipzig, Schatzmeister; Professor
Dr. Joseph Joachim in Berlin; Kapellmeister Dr. Franz Wüllner in Köln;
außerdem als Beigeordnete der zunächst in Aussicht genvmmnen Feststadt:
Professor Dr. Martin Blumncr in Berlin und Professor Siegfried Ochs in
B
as Ministerium Körber, das mit ebensoviel gutem Willen als zäher
Geduld die schwierige Aufgabe übernommen hatte, das vom Grafen
Badeui gestörte, vom Grafen Thun nur ganz zeitlveilig hergestellte
und auch unter seinem Nachfolger Grafen Clnry noch immer be¬
drohte konstitutionelle Leben Österreichs wieder in das richtige
Geleise zu bringen, ist mit Klugheit und Geschick an die Lösung der
großen Lebensfrage Österreichs, einen Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen
herangetreten. Nach Überwindung großer Schwierigkeiten, die man einem Ausländer
schwer begreiflich machen kann, gelang es ihm zunächst, Vertreter der beiden das
Königreich Böhmen bewohnenden Völker am grünen Tische zu außerparlamenta¬
rischer Beratung zusammenzubringen und wenigstens einige zwischen ihnen strittige
Punkte, insbesondre die Sprache bei den autonomen Behörden, einem Einvernehmen
ganz nahe zu bringen. Nun hatte aber die deutsche Volkspartei die Ausgleichungs-
kvnferenz nur uuter der Bedingung beschickt, daß der Reichstag bald wieder ein¬
berufen werden sollte. Mit der Erfüllung dieser Zusage vor demi vollständigen
Abschluß eines Ausgleichs, der für die rein tschechischen Bezirke Böhmens die
tschechische innere Amtssprache bringen sollte, waren nun die Tschechen höchlich un¬
zufrieden und griffen alsbald zu der Waffe der Obstruktion. Nur mit großer
Mühe wurden sie von ihren Verbündeten, den Polen und den Klerikalen, dahin
gebracht, wenigstens die Bewilligung einer der Krone am meisten um Herzen
liegenden Stnatsnotwendigkeit, die Bewilligung des Rekrntenkontingents, nicht zu
hindern. Angesichts der Notwendigkeit, auch die Landtage zur Erledigung ihrer
gesetzlichen Obliegenheiten einzuberufen, forderten die Tschechen die Fortsetzung der
Ausgleichskvnferenzen in Prag. Das wurde auf das bestimmteste von den Deutschen
abgelehnt, die einesteils mit gutem Grunde das Ausgleichswerk nicht durch die
Leidenschaften der Straße bedrohen lassen konnten, andernteils grundsätzlich die Be¬
ratung über eine das ganze Reich betreffende.Angelegenheit nicht mit der Thätig¬
keit des böhmischen Landtags in Verbindung gebracht wissen wollten, da sie dessen
Kompetenz in der Sprachenfrage bestreiten. Daß in Prag ein für jeden Ausgleich
ungünstiger Wind wehn würde, stand von vornherein fest.
Der Verlauf der böhmischen Landtagssession hat gezeigt, wie begründet die
Befürchtungen wegen einer Beeinflussung der Friedensncigung der tschechischen
Volksvertreter gewesen sind. Die radikale Partei wirft den Jnngtschechen allzu¬
große Nachgiebigkeit vor und sucht ihnen in der Bevölkerung in ganz ähnlicher
Weise den Boden abzugraben, wie es vor einem Jahrzehnt bei den Wiener Punk¬
tationen den Alttschechen widerfahren war.
Jetzt rächt sich an den Herren Pacnk, Herold, Kaizl, Kramarsch und Genossen
die maßlose Aufstachluug der nationalen Leidenschaften bei ihren Stammesgenossen.
Schon der Eintritt in die Ausgleichskonferenzen ohne vorherige Sühne der Auf¬
hebung der Badenischen Sprachenverordnungen, mit andern Worten ohne be-
dingungslosc Gewährung der innern tschechischen Dienstsprache in den rein tsche¬
chischen Bezirken wird ihnen als halber Landesverrat vorgeworfen. Ja aus der
eignen Mitte der Klubs, vom hitzköpfigen Gregr, dem alten Rufer im Streit gegen
die Alttschechcn, sind in einer Wählerverscnnmlung Anklagen erhoben worden und
haben in weiten Kreisen des von einem wirklichen Größenwahn erfaßten Volkes
Wiederhall gefunden. Da ist das bescheidne Maß von Mäßigung, jede Rücksicht
auf das österreichische Staatsgauze, jede staatsmännische Einsicht rasch in die Brüche
gegangen.
Die selbstverständliche Bedingung jedes Ausgleichs, die Zurückstellung der weit¬
gehendsten Ansprüche, wurde im böhmischen Landtag ohne besondre Veranlassung rasch
über Bord geworfen. Der Abgeordnete Pacak brachte einen Antrag wegen der
Durchführung des gleichen Rechts der tschechischen Sprache bei den Gerichten und
Staatsbehörden ein, der notwendigerweise alle zwischen den beiden Völkern des
Landes schwebenden Gegensätze zur Erörterung bringen mußte und somit der Her¬
stellung des nationalen Friedens nicht dienlich sein konnte. Daß die Beilegung des
Sprachenstreits nur auf Grund absoluter Gerechtigkeit erfolgen dürfe, wie ebeu die
Tschechen sie versteh», sind die Deutschen schon zu hören gewöhnt, und auf diesem
Boden war ja auch eine Erörterung möglich, die nicht mit den Ausgleichskvnfe-
renzcn im Widersprüche stand. Aber der Antragsteller bezeichnete sofort much die
staatsrechtliche Frage als Hnnptstnck eines Ausgleichs, obwohl er ganz gut weiß,
daß die Deutschen nie und nimmer ein höhnisches Staatsrecht neben der Verfassung
oder vielmehr zu deren Umsturz anerkennen werden. Die Bezeichnung der Auf¬
hebung der Sprachenverordnnngen als eines „Verbrechens" und als einer „Unter¬
werfung vor der gewaltthätigen und landcsverrnterischen Obstruktion der Deutschen"
war nur die Einleitung zu der Erklärung, daß die Ausgleichskonferenz erfolglos
bleiben mußte, weil die Regierung keine neue Idee, keine Initiative, keine Energie
in der Beilegung des Sprachenstrcits entwickelt habe. Die in dem Blatte Mrociui
I^ist/s erschienene — einem an dem Landsmannminister Nezek begangnen Vcrtrauens-
mißbranch zu verdankende — Enthüllung über den Sprachcngcsetzeutwurf des Ministers
Körber gab dem Antragsteller die Handhabe, die darin enthaltnen Grundsätze für
unannehmbar zu erklären und sich ebenso gegen den in den Konferenzen vorgelegten
Abgrenzungsplan auch im Namen seiner politischen Freunde auszusprechen. Die in
§ 19 des Staatsgrundgesetzcs ansgcsprochne Gleichberechtigung aller Stämme und
Sprachen wird nun aber von den Tschechen anders aufgefaßt und gedeutet als
vou den Deutschen. Die Deutschen stützen sich auf die grundgesetzliche Bestimmung,
daß niemand zur Erlernung einer Sprache gezwungen werdeu kann, und verwerfen
die von Pnenk abermals aufgestellte Forderung, daß jeder Beamte in Böhmen
beider Landessprachen mächtig sein müsse. Ebenso entschieden bekämpfen dagegen
die Tschechen die von deutscher Seite geforderte Abgrenzung in ein deutsches und
ein tschechisches Sprachgebiet, in deren jedem die Minderheit denselben Schutz
genießen würde, und die Teilung der Oberbehörden nach Sprachen. In den ge¬
mischten Bezirken wollen die Deutschen die Zweisprachigkeit der Behörden zugeben.
Diese schiedlich-friedliche Lösung würde der Gleichberechtigung vollkommen Genüge
thun. Das Tschecheutum nennt sie aber Landeszerreißung, und mit diesem Schlag¬
wort entflammt es sein historisches Staatsbewußtsein. Eines seiner Hauptmotive
hat Pacak in den Worten ausgesprochen, die Deutschen müßten endlich ihre Supe-
rioritätsgelüste aufgeben und sich dessen bewußt werdeu, daß beide Nationalitäten
Böhmens gleichwertig seien. Diese immer wieder betonte Gleichwertigkeit ist nur
ein andrer Ausdruck für die nationale Eitelkeit. Diese Eitelkeit erlaubte den
Tschechen auch nicht die Anerkennung des Deutschen als Staats- oder Vermittlungs-
sprnche. „Wir wollen keine Nation zweiter Ordnung sein, wir wollen xs-roh mehr
ps/i-hö sein." „Unterwerfen werden wir uns nicht." Und die für die praktische
Politik hieraus gezogne Folgerung lautet: „Entweder wird uns das zurückgegeben,
was uns »rechtswidrig« (von Clary) genommen worden ist (nämlich die als bloße
Vollzugsverordnuug bezeichnete Badenische Spracheuvcrordnuug oder ihr wesentlicher
Inhalt, die innere tschechische Dienstsprache), oder kein Ausgleich!"
In zahlreichen Wählerversammlungen, die die namhaftesten Abgeordneten ab¬
gehalten haben, um den von den Radikalen gegen sie erhobnen Vorwürfen ent¬
gegenzutreten, genauer genommen, um der radikalen Strömung aus Sorge für die
bedrohten Mandate nachzugeben, wurde dann der Verzicht auf eiuen Ausgleich,
über den sich die Deutschen und der österreichische Staat nicht weiter zu beunruhigen
brauchten, deutlich in eine Drohung mit weiterer Obstruktion, also mit Lähmung der
Thätigkeit des Parlaments, umgewandelt. Ein Ausgleich, wie ihn der tschechische
Größenwahn fordert, sollte sonach auf diesem Wege erzwungen werden, und wenn
darüber in Österreich das Chaos hereinbräche.
Vergebens warnten die besonnenern Elemente vor der Anwendung dieser zwei¬
schneidigen Waffe. Vergebens tauschten im mährischen Landtag die Führer der
Deutschen und Tschechen, I)r. Funke und Dr. Zaczek, versöhnliche Reden aus. Ver¬
gebens erhoben die Organe der übrige» Mehrheitsparteien ihre Stimmen gegen
eine etwaige Obstruktion. Unmittelbar vor dem Beginne der Neichsratssitzungen
beschloß der jnngtschcchische Klub trotz der dringenden Abmahnungen von Abgesandten
seiner nächsten Bundesgenossen, der feudalen Grundbesitzer, mit 34 gegen 18 Stimmen
bei 8 Enthaltungen das Eintreten in die Obstruktion und setzte damit in der ersten
Sitzung ein, obwohl Minister Körber Gesetzentwürfe über die Sprache der Behörden
in Böhmen und Mähren und über die Einteilung Böhmens in zehn Kreise (fünf
rein tschechische, drei rein deutsche und zwei gemischte) vorlegte und in einer vor¬
trefflichen Rede begründete.
Mit diesem Entschluß hatten sich nun die Tschechen im Reichsrate vollständig
isoliert. Denn weder die Polen noch die Slowenen wollen ihnen mehr die Kastanien
aus dem Feuer holen und auf die Vorteile verzichten, die ihren Wahlkreisen die
vom Ministerium schon vor der Tagung der Landtage eingereichte Vorlage eines
Jnvestitionsanlehns bieten würde. Daß sich hauptsächlich gegen dieses sowie gegen
die Bewilligung eines weitern Budgetprovisoriums die Obstruktion richten solle, war
in den tschechischen Wählerversammluugen schon angekündigt worden.
Nun ist allerdings kein Zweifel, daß sich die Obstruktion der sechzig Tschechen
keineswegs mit der der hundertzwanzig Deutschen gegen Badeni und Thu» an
Wirksamkeit messe» kann, und es wurden begründete Zweifel erhoben, ob den
raub- und bartlosen Tschechen ihr Unternehmen auf die Dauer gelingen werde,
da sie ja in Wien nicht wie in Prag die Rückendeckung der Straße haben, sondern
auf feindselige Kundgebungen aus den Kreisen der Wiener Bevölkerung gefaßt sei»
mußten. Auch im Reichsrate selbst mußten sie eine solche der Galerie des Ab¬
geordnetenhauses über sich ergehn lassen und waren scharfen Anremplungeu der
in ihren Gefühls- und Meinungsäußerungen bekanntlich wenig wählerischen Christlich-
Sozialen ausgesetzt, sodaß sie in der nächsten Sitzung den Schutz des Präsidiums
anriefen. Nun sieht es aber mit der jungtschechische» Einigkeit im eignen Lager
sehr wüidig aus. Der Obmann des Klubs, Dr. Engel, hat auf das entschiedenste
von der Obstruktion abgemahnt, und als er in der Minorität blieb, die Obmann-
stelle niedergelegt. Man sprach dann einige Zeit von dem bevorstehenden Austritt
der Minderheit, die sich jedoch vorläufig fügte.
Der schließliche Erfolg der Obstruktion, der ein zweifacher sein, nämlich ent¬
weder zum Rücktritt des Kabinetts Körber oder zur Auflösung des Reichsrath führen
kann, hängt von den Parteien der Rechten, von den bisherigen Bundesgenossen
der Tschechen ab. Deren Resolutionen konnte mein nicht ohne weiteres trauen, denn
an solchen hat es auch vor dem Sturze Clarhs nicht gefehlt, und doch hat sich die
jungtschechische Obstruktion damals einer wohlwollenden Duldung, wenn nicht Förde¬
rung durch die Parteien der Rechten zu erfreuen gehabt. Dieses Doppelspiel mutete
mau insbesondre dem feudalen Grundbesitz zu, so wie mau auch von den galizischen
Stancziken weiß, das; sie um keinen Preis das slawisch-klerikal-feudale Bündnis
aufgeben mochten. Eine etwas entschiednere Abwendung wird von den Klerikalen
erwartet. Direkte Genossenschaft in der Obstruktion haben den Jungtschechen nur
einige Kroaten geleistet, was um ihrer Isolierung wenig ändert. Da zur Stellung
gewisser Anträge die Zahl 50 genügt, sind die 61 Jungtschechen imstande, den Mi߬
brauch der Tagesordnung, den sie sich nnn einmal aus Trotz in den Kopf gesetzt haben,
auch ohne fremde Hilfe durchzuführen. Dem Antrage des Klerikalen Kathrein auf
Entsendung eines Ausschusses zur Abänderung der Tagesordnung wollte die deutsche
Opposition nicht zustimmen, weil sie ihrem rühmlichen Kampfe gegen die Lex Falken-
hayn nicht selbst nachträglich die moralische Berechtigung entzieh» kann. Sie überläßt
es vielmehr den übrigen Parteien der Rechten, die Jungtschechen wieder zur Vernunft
zu bringen. Das Exekutivkomitee der Rechten trat auch alsbald zu einer langen Be¬
ratung zusammen, um über die Möglichkeiten eines Kompromisses zu verhandeln, jedoch
ohne Erfolg. Und nachdem das Abgeordnetenhaus nur drei Sitzungen gehalten
hatte, vou denen die letzte wegen Beschlußunfähigkeit geschlossen werden mußte, wurde
abermals eine achttägige Sitzungspause beschlossen, weil die Delegationen in Budapest
zusammentraten. Übrigens schälkelen die Tschechen manche Verhandlungsgegenstände
aus der Obstruktiou aus. So haben sie unter ausdrücklicher Verwahrung gegen ein
daraus zu folgerndes Präjudiz die Abhaltung einer besondern Abendsitzung zur
Vornahme der Wahl der Quoteudeputatiou zugelassen, offenbar um die Krone, die
über die Aufrechthaltung der dualistischen Beziehungen zu Ungarn mit besondrer
Empfindlichkeit wacht, nicht gegen sich aufzubringen. Inzwischen wurde in Böhmen
von radikaler Seite ein Entrüstungsrummel gegen die Körberscheu Sprachgesetzentwürfe
veranstaltet und von juugtschechischer Seite mitgemacht. Ebenso verkünden aber auch
die Deutschradikalen die Uncmnehmbarkeit der allerdings vom Ministerpräsidenten
selbst als abänderungsfähig bezeichneten Vorlagen, solange nicht die deutsche Staats¬
sprache gesetzlich festgestellt ist. Unter den bestehenden parlamentarischen Verhält¬
nissen muß aber jedermann die Undurcyführbarkeit dieser Forderung erkennen.
Die Hoffnung, daß während der für die Delegatiousverhaudlungen bestimmten
achttägigen Pause die in Pest versammelten österreichischen Parteiführer die Jung¬
tschechen zum Aufgeben ihrer Obstruttioustaktik bestimmen würden, fand keine Er¬
füllung, und so mußte im voraus mit der Lähmung des Reichsrath nach dessen
Wiederzusammentritt gerechnet werden. Das Ministerium mußte schon damals, wenn
es nicht den Platz räumen wollte, dem Gedanken an eine Auflösung des Abgeordneten¬
hauses näher treten. Allerdings konnte an die Ausführung nicht früher gegangen
werden, als bis die Delegationen ihre Arbeit gethan hatten. In dieser Zeit mußte
es sich entscheiden, ob auch die eruste Mahnung, die der Kaiser beim Empfange
der Delegationen an die Jungtschechen gerichtet hatte, fruchtlos bleiben würde.
Freilich wurde es allgemein angenommen, weil angeblich die tschechischen Abge¬
ordneten von einer Auflösung des Hauses und einer Neuwahl eine Stärkung ihrer
Stellung gegenüber den Radikalen erwarten und nur die Polen und Deutschliberalen
eine Anzahl von Mandaten zu verlieren fürchten. Gerade darum giebt man sich
Mühe, eine Auflösung zu verhindern. Kommt es doch dazu, so hat äußerlich die
jungtschechische Obstruktion einen Sieg errungen, der aber dann mit dem Zerfalle
der Majorität bezahlt worden ist, deren übrige Parteien in diesem Falle die
tschechische Rücksichtslosigkeit endlich selbst erfahren hätten. Ohne den Rückhalt an
den antonomistischen Bundesgenossen, die den Grafen Badeni erst in seine verhäng¬
nisvolle Sprachenverordnungspvlitik gedrängt beiden, können um aber die Tschechen
ihr Ziel nicht erreichen, ihre Obstruktion als ebenso wirksam zu erweisen, wie es
die der Deutschen war.
Ob sich dann die blasse Furcht, die Mandate an die Radikalen zu verlieren,
nicht als schlechter Ratgeber erwiesen haben wird, mich eben abgewartet werde».
Die Tschechen fühlen selbst, daß sie ein sehr gewagtes Spiel spielen, und würden
ja nichts lieber thun, als die Obstruktion aufgebe», wenn dazu eine Abänderung
der Geschäftsordnung durchgesetzt werden könnte, die den in der Opposition stehenden
Deutschen das Betreten des Obstruktionsweges in Zukunft ebenfalls unmöglich
»wehen würde. Diese aber bieten zu solcher Politik des momentanen Nutzens nicht
ihre Hand.
Die eindringlichen Ermahnungen des geriebnen Obmannes des Polenklubs, des
Abgeordneten Jaworski, im Interesse der Erhaltung der Majorität der Rechten von
der Obstruktion abzustehu, waren diesesmal durchaus nicht Komödie wie in frühern
Fällen. Die abermalige Vertagung des Reichsrath ließ den Tschechen genügend Zeit,
ihren Entschluß reiflich zu überlegen. Aber sie glaubten anch die Christlich-
Sozialen auf später vertrösten zu können, die von ihren frühern Bundesgenossen die
Ausschaltung der ihnen sehr an? Herzen liegenden Gewerbeordnungsnovelle aus der
Obstruktion forderten, was die Sozialdemokraten wegen des Gesetzentwurfs über deu
ueunstündigen Arbeitstag thun.
Scheinbar waren wohl die Tschechen die Herren der parlamentarischen Lage.
Aber auch uur scheinbar. Denn in ihren eignen Wählerkreisen bricht sich die Er¬
kenntnis Bahn, daß die Obstruktion eines beträchtlichen Teiles der Mehrheit nicht,
wie einst bei der deutschen Minderheit, die Berechtigung der äußersten Notwehr
hat, sondern ganz mißbräuchlich angewandt wird, lediglich um nicht von den
Radikalen überboten und bei der nächsten Wahl in der Glühhitze des nationalen
Fanatismus der Mandate beraubt zu werdeu. Die Verscherzung des Wohlwollens
der Krone dürfte den politisch denkenden Kreisen des tschechischen Volkes doch auch
nichts weniger als gleichgiltig sein, der Ausfall von Neuwahlen gegenüber dem
Einfluß einer zwar peinlich unparteiischen, aber an die äußerste Grenze ihrer
Geduld gedrängten Regierung auch gar nicht sicher erscheinen. Daß bei solcher
Mißachtung der wichtigsten wirtschaftlichen Interessen der Alpenländer und Gali-
ziens, die durch die von or. Körber eingereichte Jnvestitionsvvrlage Befriedigung
finden sollen, auch die slawische Solidarität einen schwer heilbaren Riß bekommen
würde, und vollends die katholische Volkspartei sich von der Mehrheit, diesem
bisherigen wirksamsten Mittel zur Erfüllung der tschechischen Wünsche, lossagen
müßte, ist gewiß von der gegen ihre Überzeugung zur Teilnahme an der Obstruktion
gezwungnen Minderheit des Jungtschechenklnbs geltend gemacht worden. Allein die
dem Kommando von or. Strnnsky und Pacak folgenden und unbewußt nur
dem Ehrgeiz und dem Rachegefühl des gewesenen Finanzministers Dr. Kaizl dienenden
jungtschechischen Hitzköpfe sind in eine Sackgasse geraten, aus der sie ohne tiefe
Schädigung ihres politischen Ansehens den Weg nicht finden können.
Der Obmann des Exekutivkomitees der Rechten war schließlich genötigt, als
beim Wiederzusammentritt des Reichsrath nach Pfingsten die Juugtschecheu trotz aller
Abmahnungen die Obstruktion fortsetzten, die bisherige Reichsratsmajorität für auf¬
gelöst zu erklären. Wohl lehnten die feudalen böhmischen Großgrundbesitzer und
der Südslawische Klub jede schroffe Bekämpfung der bisherigen Bundesgenossen
ub, und auch der rechte Flügel der Klerikalen unter Führung Baron Dipaulis
wollte sich nur an Maßregeln jegen jede Obstruktion, nicht aber an der Nieder¬
werfung der jungtschechischen allein beteiligen. Jedoch vereinigten sich die Polen,
Klerikalen, Rumänen, Rnthenen und Italiener mit allen deutschen Oppositions¬
parteien zu einer sogenannten Tagesordnungsmajorität mit dem nächstliegenden ge¬
meinsamen Zweck, die parlamentarische Bewilligung des Budgetprovisoriums unter
Anwendung aller geschäftsordnnngsmäßig erlaubten Mittel durchzusetzen. Damit
war die Beseitigung des größten Hindernisses konstitutioneller Gesundung, der
feudal-klerikal-slawischen Mehrheit, des vom Grafen Taaffe geschmiedeten und unter
dem Regiment Badenis gegen dessen Willen neu ausgelebten eisernen Ringes be¬
siegelt. Die den Tschechen am nächsten stehenden böhmischen feudalen Großgrund¬
besitzer und Südslaweu schlössen sich mit der kleinen Zentrumsgruppe zu einem
engern Verbände zusammen, worin der frühere Hohenwartklub seine Auferstehung
feiert.
So schien die Hoffnung gerechtfertigt, daß mir Ausdauer die Obstruktiou der
vollständig isolierten sechzig Juugtschechen ohne Verletzung der Geschäftsordnung
niedergerungen werden würde. Zu dieser Wendung hatte wohl neben den Äuße¬
rungen des Kaisers über die parlamentarischen Skandale, „die Österreich zum Ge¬
spötts der Welt machen," am meisten die Rede des Ministerpräsidenten Körber bei¬
getragen, worin nicht bloß auf die unabweisbare abermalige Anwendung des Z 14
zur Befriedigung der dringendsten Staatsnvtweudigkeiten, sondern auch auf eine
Auflösung des Reichsrath verständlich hingewiesen war. Der „Antiobstruktiousrat"
der arbeitswilligen Reichsratsfraktionen schien zum Krystallisationspunkt einer ganz
neuen Parteikonstcllation werden zu wollen, durch die dem Ministerium Körber
eine Wiederherstellung normaler Verhältnisse in Österreich, die Herbeiführung
besserer Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen wesentlich erleichtert werden
würde.
Ein unscheinbarer Vorfall hat gewissermaßen über Nacht die Sachlage wieder
vollständig verändert und den Tschechen einen von ihnen selbst nicht geahnten
Augenblickserfolg gebracht, der sich freilich leicht in sein Gegenteil umkehren kann.
In der Sitzung vom 8. Juni beantragte ein jungtschechischer Abgeordneter,
die voni Notstaudsausschuß beschlossenen Anträge noch in derselben Sitzung dring¬
lich in Beratung zu ziehn. Das Haus stimmte zu und nahm die Anträge an,
was den Abgeordneten Zeltinger veranlaßte, den Antrag zu stellen, es möge die in
einer frühern Sitzung unterbrochne Verhandlung der Gewerbenovelle beendet
werden. Als Präsident Fuchs hierüber abstimmen lassen wollte, protestierten hier¬
gegen die Jungtschechen als gegen eine Verletzung der Geschäftsordnung und kün¬
digten sofort die Anwendung der äußersten Mittel an. Die Absicht des Präsi¬
denten, trotzdem zur Abstimmung zu schreiten, verhinderten sie durch einen wüsten
Spektakel, durch Lärmen mit den Pultdeckeln und Pultschnbladen, Pfeifen und
Singen, schließlich mit Kindertrompeten, metallnen Topfdeckeln und Wasserlassen,
Mundharmonikas, Tamtams. Nach eine:» zweistündigen Ministerrate fuhr Minister¬
präsident Körber nach Schönbrunn, um dem Kaiser Bericht zu erstatten, den er
jedoch nicht aus dem Schlafe wecken lassen wollte. Inzwischen kam es zu Zu¬
sammenstößen zwischen Tschechen und Chr istlich sozialen. Der Zchneransschnß der
arbeitswilligen Parteien beriet über das einzuschlagende Vorgehn. Dem christlich¬
sozialen Verlangen, trotz des Lärms die Abstimmung vorzunehmen, widersetzten sich
die andern deutschen Parteien, ebenso jeder Bekämpfung der gewaltthätigen Ob¬
struktion durch einen Bruch der Geschäftsordnung. Die Feudalen beschworen den
Ministerpräsidenten, das Haus zu vertagen, weil es sonst zu Blutvergießen kommen
könnte. Gegen Mitternacht entschied sich der Ministerrat für sofortige Schließung
der Session, der Minister fuhr abermals nach Schönbrunn, erstattete dem Kaiser,
der nun geweckt wurde, Vortrag und kam mit der unterschriebnen allerhöchsten
Entschließung ins Parlament zurück.
Erst als er auf seinein Platze stand, wurde es still, und er konnte die Session
für geschlossen erklären. Die Tschechen ließen einen kurzen Beifallsruf ertönen,
glaubten sie doch einen Sieg errungen zu haben.
Als eine Maßregel der öffentlichen Ordnung wird die Schließung des Reichs¬
rath indes nur der Vorläufer weiterer politischer Maßnahmen sein, die der Regie¬
rung eben aufgedrängt worden sind.
Man zweifelt nicht an der baldigen Auflösung des Abgeordnetenhauses und
an dem Versuche, die Lösung der Sprachenfrage auf Grund des Notverordnungs-
parngraphen 14 in der nächsten Zeit zu unternehmen.
Die deutschen Parteien sind über das Zurückweichen der Regierung vor der
tschechischen Obstruktion verstimmt, obwohl sich deren Führer nach der auf diese
Weise erlangten Satisfaktion einer Verständigung mit den Deutschen geneigter zeigen.
Alle Parlcunentsparteieu, am mißmutigsten die Polen, fangen schon an, sich zu den
ans die Auflösung folgenden Neuwahlen zu rüsten.
Der „berühmte" Literar¬
historiker hielt Ende März in Pest einen Vortrng über Ibsen und wurde, wie es
bisweilen geht, in überraschendster Weise um ein gut Stück bekannter, als er wohl
selbst gewünscht hatte. Das verschuldete zwar nicht so sehr sein Vortrag und dessen
Inhalt, als vielmehr die Eiuleituugsworte, die er zu der versammelten Zuhörer¬
schaft spreche» zu müssen geglaubt hatte. Er redete nämlich über sein Verhältnis
zu der Sprache, in der er sich mit den Erschienenen verständigen sollte, in einer
Weise, die es wohl mit veranlaßt haben mag, daß die deutschgeschriebnen Blätter
der ungarischen Hauptstadt darüber weghuschten und es den magyarischen überließen,
von dem besondern Kunststück des Herrn G. Brandes zu berichten. „Der beste
Litteratnrkenner unsrer Zeit und besonders des deutschen Volks," der, wie nicht
ohne Seitenblick von den Zeitungen verkündet wurde, ein — Däne sei, führte sich
nämlich (vgl. LaäApssti ^pio, 1. April 1900) anf folgende Weise bei seinem Zu-
hvrerkreise ein: „Meine Damen und Herren! Die Sprache, in der ich zu Ihnen
rede, ist nicht die Ihre und nicht die meine. Ich bekenne offen, daß ich die
deutsche Sprache nicht sehr liebe, und ich weiß, daß sie auch bei Ihnen
nicht sehr beliebt ist: doch was ist zu machen? Die Hauptsache ist denn doch,
daß wir uns verständigen. Ich habe das Deutsche erst in meinem dreißigsten
Jahre erlernt, und obwohl ich es vollkommen beherrsche, so ist meine Aussprache
dennoch eine mangelhafte. Es ist also nicht Phrase, wenn ich Sie um Nach¬
sicht bitte!"
Diese Worte, die von einem deutschen Blatte aus dem engen Winkel magya¬
rischer Zeitungen herausgegriffen wurden, Verfehlten nicht, in verschiedensten Kreisen
berechtigtes Aufsehen zu erregen, und bald kam es zu ernsten, scharfen Tadels-
wvrten gegen den „berühmten Mann," der sich in so glatter Selbstverständlichkeit
auf dem genieinsamen Boden der Antipathie gegen die deutsche Sprache mit seinen
Zuhörern zurecht finden konnte. Denn da es klar war, daß der Vortragende weder
dänisch, noch magyarisch, noch französisch sprechen durfte, weil man sich ja ver¬
ständigen wollte, da es ferner nach den eignen Worten des dänischen Professors
noch Vor dem Vortrug bestimmt worden war, daß er in deutscher Sprache gehalten
werden sollte, mußte sich einem die Frage aufdrängen, warum der Vortragende zu
diesem Ausfall gegen seine Vortragssprache komme: Hatte er einen besondern Zwang
zu einer so auffälligen Erklärung? Hatte man von ihm ein Glnnbeusbekenntnis
über sein Verhältnis zur deutschen Sprache verlangt?
Gewiß nicht. Man hat nur, wie er selbst versichert, den Wunsch ausgesprochen,
er möchte seinen deutschen Vortrag französisch einleiten. Dies erschien ihm jedoch
ungereimt, und deshalb fing er gleich an deutsch zu sprechen. Aber er fand so¬
fort das Wort, sich zu seinen Zuhörern in einen gewissen Kontakt zu setzen. Er
liebte zwar die deutsche Sprache nicht, er sprach sie nur. Seine Zuhörer liebten
sie ebenfalls nicht, aber sie verstanden ihn und sie. Sie fanden sich nicht nur in
der Vermittlungssprache, sondern auch in ihrem beiderseitigen Widerwillen gegen
dieselbe Sprache. Das gab zu denken, und der Anlaß zu Protesten war vorhanden.
Man warf dem Kopenhagner Gelehrten vor, daß er zunächst seine Undankbarkeit
gegen die Sprache geäußert hätte, die es ihm allein ermöglichte, sein Licht in der
ungarischen Hauptstadt leuchten zu lassen. Man tadelte, daß er seine feine Witte¬
rung für die in ihrem Deutscheuhaß befangne Presse von Pest so scharfsinnig habe
wirken lassen, um sich vor allem seinen Erfolg zu sichern. Man erzählte von ihm
als glaubwürdige Äußerung, er habe sich über die starke Pflege^!) des Deutschen
in der ungarischen Metropole gewundert und empfohlen, die ungarische Gesellschaft
möge sich lieber an die Franzosen und ihre Kultur anschließen. Man protestierte
endlich von deutscher Seite Ungarns entschieden dagegen, daß ein landfremder Mensch
gegen eine in diesem Lande von vielen Menschen gesprochne Sprache Hetze, und
am allerwenigsten dürfe ein Mann, der gerade dieser Sprache einen großen Teil
seines „Ruhmes" verdanke, das Gewicht seiner Persönlichkeit dazu hergeben, die in
diesem Teile von Europa gegen das Deutschtum herrschende Stimmung mit einer
so leichtfertigen Erklärung zu stärken und zu vertiefe».
Solches ist gegen den berühmten Mann vorgebracht worden. Flugs eilt aber
der Angegriffne mit einer Erklärung auf den Plan. Er meint, der Bericht über
seine Einlettungsworte sei unrichtig. Er habe nnr die Erklärung seinem Vortrage
vorausgeschickt, daß die deutsche Sprache, die weder er noch seine Zuhörer liebte»,
doch die Vermittlungssprache sein müsse. Nach dieser schönen Berichtigung, das
heißt Bestätigung, fügt er dann in aller Unschuld hinzu, daß diese Worte als
Grundlage für heftige Angriffe etwas schwach seien. Etwas Kränkendes für die
deutsche Sprache liege nicht in ihnen. Und wehmütig greift er in alte Erinnerungen
zurück, wie er gewissermaßen als angehender Märtyrer für eine Verständigung der
Deutschen mit seinen' dänischen Landsleuten einzutreten bereit war, bis er durch die
böse Politik Preußens belehrt worden wäre, daß die ihm licbgewordue deutsche
Sprache plötzlich die seiner Feinde geworden war.
Wozu die vielen Worte? Kann Brandes voraussetzen, daß seine nachträgliche
Erklärung den bösen Eindruck, den seine Pester Worte gemacht haben, nur einiger¬
maßen wegwischen werde? .Kann er glauben, den sichern Nachweis erbracht zu
haben, daß er unter einer besonders dringenden Nötigung seine Worte sprechen
mußte? Kann er behaupten, daß die unbedachten Worte, die er in Pest — und
dort ist ein heißer, auch für hochgestellte Redner eigentümlicher Boden — geredet
hat, auch jetzt noch seinen eignen ungelenke» Beifall fänden? Oder sollte er sich
einigermaßen der kuriosen, um nicht zu sagen lächerlichen Situation bewußt werden,
in der er war, als er in einer leicht beeinflußten Versammlung seine Antipathie
gegen das deutsche Wort entdeckte und doch dagegen lebte? Es war genau das¬
selbe Schauspiel, das ein österreichischer Slawenkongreß der erstaunten Menschheit
geboten haben soll. Da waren nämlich die heißen Söhne Libussas zusammen-
gekommen mit den stammverwandten und gleichgesinnten Brüdern, den Slowenen,
Krönten usw., und da sie sich doch verständigen wollten, mußte die bestgehaßte
deutsche Sprache den Liebesdienst den Männern thun, die wahrlich nicht den Weg
zu einander gefunden hatten, um ihre hochgemuten Herzen am Wohlklang deutscher
Worte zu ergötzen.
Die alten Juristen fragten in manchen Fällen: Cul hano? Diese Frage könnte
hier so gestellt werden: Hat sich Herr Georg Brandes durch seine Worte einen
nennenswerten Dienst geleistet, der über einen augenblickliche» Erfolg (in Pest)
hinüberreicht? Wenn er diese Frage mit einem frischen Ja beantworten will, dann
kann man ihm die Empfindung seiner Genugthuung gönnen und ihn laufen lassen.
Die Deutschen werden ja wissen, was sie von diesem Manne zu halten haben, deu
eine Klasse von Herausstreichern, seine Schmeichler und Glaubensgenossen in Pest,
ihrem Publikum als den „Stolz Deutschlands" nufredeu wollten.
In der Zeitschrift „Die Woche"
von, 7. April d. I. findet sich ein Aufsatz des Majors K. von Franyois, des
frühern Landeshauptmanns in Deutsch-Südwestafrika, der die Frage bespricht, ob
die Buren, wenn sie von den Engländern besiegt und unterworfen würden, aus¬
wandern oder im Lande bleiben und sich in das Unvermeidliche fügen würden.
Er glaubt, es werde im allgemeinen das letzte der Fall sein, doch würden sich
vielleicht manche von ihnen an die deutsche Regierung in Deutsch-Südwestafrika mit
Gesuchen um Landüberlnssuug wenden, und unsre Negierung müßte schon jetzt er¬
wägen, ob es im Interesse der Kolonie liege, solchen Gesuchen zu entsprechen. Schon
im Oktober 1892 sei der Bevollmächtigte der deutschen Siedlungsgesellschaft, Graf
Pfeil, in deren Auftrage mit dem Antrag an ihn herangetreten, die Ansiedlung
von vierzig Familien wohlhabender Buren aus Namaland bei der Reichsregierung
zu befürworten; er habe dies jedoch abgelehnt, obwohl er die Tüchtigkeit der Buren
als Ansiedler vollauf schätze. Ihr patriarchalisches, frommes Familienleben und ihr
bescheidnes Wesen hätten etwas, was zum Herzen spreche. Sie seien friedliebend,
genügsam, zuverlässig und fleißig. Der Hauptgrund seiner Ablehnung sei gewesen,
daß wir eine deutsche Kolonie mit deutscher Sprache und Kultur brauchten. Die
Deputierten der Buren hätten aber damals als Bedingung die Einführung hollän¬
discher Schulen verlangt. Das könne nicht zugelassen werden. Die Sprache drücke
einem Lande seinen nationalen Stempel ans. Wir müßten unsre Kolonien rein
halten von fremden Elementen und für eine kräftige deutsche Ansiedlung sorgen.
So gewichtig und beachtenswert die Meinung des frühern Gouverneurs der
Kolonie gewiß ist, der Land und Leute dort kennt, so können wir doch sein da¬
maliges ablehnendes Versälle» gegen die Ansiedlung von Buren uicht billigen und
'"einen, man hätte die Leute nur aufnehmen sollen, gern und mit Freuden. Seine
Gründe beruhen auf der noch immer herrschenden Anschauung, daß die Holländer
eine fremde Nation seien, und daß ihre Sprache eine fremde Sprache sei. Diese
Anschauung aber ist — das kauu uicht genug wiederholt werden — durchaus irr¬
tümlich. Die Holländer sind nichts andres als ein deutscher Volksstamm, und die
holländische Sprache ist nichts andres als eine niederdeutsche Mundart, die nur in
Folge der politischen Trennung des Volks vom deutschen Reiche zur Schriftsprache
geworden ist. Auch die holländischen Schulen hätte man für deu Anfang den
Buren wohl konzedieren und dann später darin auch deutsche» Unterricht erteilen
lassen können. Sie würden damit ja nicht gezwungen worden sein, eine fremde
Sprache zu lernen, sondern nnr hochdeutsch zu lernen, was die Westfalen, die
Holsteiner und die Mecklenburger in der Schule ja auch lerne» müsse», und was
jeder gebildete Holländer heute schon spricht.
Auch aus politischen Gründen hätte man die Buren nicht abweisen sollen.
Unverkennbar bricht sich die Überzeugung immer mehr Bahn, daß Holland seine
selbständige Rolle in der Geschichte ausgespielt hat, und dessen Anschluß an Deutsch¬
land, in welcher Form es auch sei, in kürzerer oder längerer Zeit mit Notwendigkeit
kommen werde, auch ohne jedes Zuthun unsrerseits, eine Überzeugung, die wir in
diesen Blättern schon früher (1897, Heft 22) ausgesprochen haben, und die der
gegenwärtige Krieg in Südafrika früher gezeitigt hat, als es wohl sonst der Fall
gewesen wäre.
Der Verfasser bietet etwas andres, als der Titel zunächst vermuten läßt, eine
Art von Philosophie der deutschen Geschichte oder genauer genommen der staat¬
lichen Entwicklung Deutschlands. Seine Aufstellungen sind nicht selten paradox,
er konstruiert im ganzen zuviel, führt die Dinge zu sehr auf gewisse Prinzipien
zurück und fordert durch dies alles oft zum Widerspruch heraus, ist aber immer
selbständig in seinem Urteil und trifft oft auch deu Nagel auf den Kopf. Man
würde allerdings sein Buch lieber und leichter lesen, wenn seine Ausdrucksweise
mehr Fluß hätte und nicht auch an störenden stilistischen Gewohnheiten litte.
Eine ziemlich willkürliche Konstruktion ist gleich die Definition des Nativnali-
ttttsprinzips, von der er ausgeht. Er faßt von der ursprünglichen Bedeutung des
Wortes aus die Nation als eine durch Blut und Verwandtschaft verbundne Menschen¬
gruppe und bezeichnet demgemäß das Nationalitätsprinzip Napoleons III. als einen
Schwindel, da es in jenem Sinne europäische Nationen nicht mehr gäbe, weil sie
alle mehr oder weniger gemischten Blutes seien. In diesem Sinne fassen wir aber
den Begriff einer Nation gar nicht mehr; für uns ist die Nation eine durch
Übereinstimmung in Sprache und Sitte, in historischen Erinnerungen und sittlichen
Anschauungen derart verbundne große menschliche Gemeinschaft, daß sie sich andern
Völkern gegenüber als ein Ganzes fühlt und behauptet. Sie ist danach weder
eine natürliche, noch eine künstliche, sondern eine historische Bildung und fällt
zwar nicht mit dem Begriff Staat zusammen — eine Identifizierung, gegen die
der Verfasser ebenfalls polemisiert —, findet aber erst in der Bildung eines Staats
ihre Vollendung. Da aber das, was wir Nationalitätsprinzip nennen, für den
Verfasser das „Nationalkulturprinzip" ist, so handelt es sich dabei eigentlich um
einen bloßen Wortstreit. Zu sehr konstruiert ist auch der Gegensatz zwischen
Autoritiits- und Jndividualitätsprinzip als dem Lebensprinzip romanischer und
deutscher Staatsauffassung. Zur Staatenbildung müssen eben beide zusammenwirken,
denn sie ist weder ohne Autorität »och ohne Hingebung des Individuums an den Staat
denkbar; nur in dem Überwiegen des einen oder des andern „Prinzips" kann ein
Gegensatz der beiden großen Völkergruppen gefunden werden. Da nun nach Trampe
die deutsche Nationalität auf dem Individualismus beruht, so ist dieser auch das
Prinzip der deutschen Staatenbildung, die durch Bindung von Mensch zu Mensch
den Staat auferbaut. So that es Heinrich I., indem er die Herzöge der Stämme
an sich band; Otto I. gab dies auf, um mit Hilfe der Kirche eine dem deutschen Wesen
nicht entsprechende Ordnung aufzurichten (weil nämlich die „Bindung" der Herzöge
vollkommen versagte!), Daun wurde das Jndividualitätspriuzip im Lehnswesen
verwirklicht. Friedrich I. versäumte die Vollendung, indem er den römischen Cäsa¬
rismus, d. h. das romanische Autoritätsprinzip an die Stelle feste; da ihm aber
darin das Papsttum als der legitime Erbe des römischen Imperiums weit über¬
legen war, so unterlagen er und seine Nachfolger in dem dadurch heraufbeschwor»«»
Kampfe, dem die Nation selbst fern blieb, und die lehusrechtliche Bindung führte
zu einzelstaatlichen Bildungen, also zur Zerreißung des Reichs. Das klingt alles
ganz annehmbar, ist aber Konstruktion und entspricht nicht den historischen That¬
sachen. Friedrich Barbarossa hat den Cäsarismus nicht in Deutschland, sondern
nur in Italien erstrebt; in Deutschland hat gerade er das Lehnswesen vollendet;
sein Kampf mit den, Papsttum war einfach ein Kampf um die Behauptung der
bedrohten Souveränität des Staats, d. h. seines Wesens gegen die Kirche, und in
diesem unvermeidlichen Kampfe, wie in dein Kampfe gegen die lombardische Städte¬
freiheit, deren germanischer Individualismus sich dem römischen Autoritätsprinzip
widersetzte, hat Friedrich I. die deutsche Nation unzweifelhaft hinter sich gehabt.
Erst seinen! dritten Nachfolger, Friedrich II., hat sie sich versagt, weil dieser selbst
die deutschen Interessen beiseite schob. Was aber die lehusrechtliche Ausbildung
der Eiuzelfürstentümcr bedeutete, liegt auf der Hand: die Auflösung jeder wirklich
staatlichen Ordnung durch den schrankenlosen „Individualismus" der Lehnsträger.
Denn der Individualismus, zumal der deutsche, hat wahrhaftig nicht nur staats¬
bildend, sondern ebensosehr staatszerstöreud gewirkt. Unzweifelhaft richtig ist es
natürlich, daß Luther dem deutschen Individualismus auf religiösem Gebiete zum
Siege verhalf, und eine ebenso geistvolle wie wahre Auffassung, daß die brcmden-
burgisch-preußischen Fürsten, vor allem König Friedrich Wilhelm I., ihn in neuer
Gestalt zum Grundstein ihres Stnatsbaus machten, indem sie den Staat auf die
Mannentreue, die Persönliche Hingebung des Beamtentums und des „Offiziertnms"
an den König begründeten. Darum erscheint dem Verfasser das Preußentum als
„die politische Fassung des Deutschtums," während der Individualismus der außer¬
preußischen Deutschen staatsfeindlich wurde und so auch in der Litteratur zum Aus¬
druck kam, nur daß Goethe im Götz wie im Werther dem Individuum, das sich
gegen die zwingende Neuordnung des Staates und die altüberlieferte Ordnung
der Gesellschaft auflehnt, Unrecht giebt und es tragisch untergehn läßt. Weil die
neuen leitenden Stände nach 1786 ihre Stellung nicht mehr als Pflicht, sondern
als Vorrecht auffaßten, somit das Volk dem Staate entfremdeten, ging das alte
Preußen 1806/7 zu Grunde. Es wurde wieder hergestellt durch die persönliche
Hingebung aller Stände an den Staat und ' nach 1815 neugestaltet durch das
erneuerte preußische Beamtentnm, entwickelte aber die neue politische Form, i» der
sich der deutsche Individualismus anderwärts zur Geltung brachte, das Verfassnngs-
leben nach französischem und englischem Muster, zunächst nicht. Daß sich Friedrich
Wilhelm IV. dagegen sträubte, entsprang nicht einer romantischen Grille, sondern
hatte eine tiefe Berechtigung, da der Konstitutionalismus in seiner damaligen Ans-
prnguug viel Altdeutsches hatte; aber sein eignes ständisches Staatsideal war will¬
kürlich zurecht gemacht und schob den bürgerlichen Mittelstand zu Gunsten des
Grundherrcntums zu sehr zurück. Wenn er trotzdem 1848 im entscheidenden Augen¬
blicke nachgab, so war das eine großartige Selbstüberwindung, die von dem Ge¬
danken getragen war, daß sein ständisches Ideal undurchführbar sei. Echt deutsch
war auch die Haltung des Königs in der Kaiserfrage, denn die Frankfurter Neichs-
einheit ging von der republikanischen romanischen Idee der Volkssouveränität aus,
war also in ihrem Kerne undeutsch. Im Kampfe mit ähnlichen Idealen der Fort-
schrittspartei stellte Wilhelm I, das echt deutsche, auf kraftvoller Individualität
beruhende Königtum wieder her, und Bismarck gab in seinem Verhältnis zu ihm
ein neues großes Beispiel deutscher Mannentreue, Beide haben, indem sie „das
lebendig wirkliche Jndividualkönigtnm" sieghaft hochhielten, der preußischen Staats¬
ordnung einen geschichtlichen Abschluß gegeben und das neue gesamtdeutsche Staats¬
wesen in echt deutschem Sinne begründet, „als eine von Grund aus in sich das
Gesetz seines Seins tragende Neugestaltung des Deutschtums, als Reinkultur deutscheu
Wesens, als stileine und stilreine Kulturgröße, als Kultnrgrvße in des Begriffs
schärfster Bedeutung." So wird es die Entscheidung zu geben haben in dem
bevorstehenden großen Kampfe zwischen dem vor allem von Frankreich vertretnen
sinkenden Romanismus, dessen Autoritätsprinzip sich als unkräftig erwiesen hat, und
dem Angelsachsentume diesseits und jenseits des Ozeans, das seinen Staat ver¬
bildet hat, weil es ihm nur die Rolle des „Nachtwächters" zuweist und die rück¬
sichtslose wirtschaftliche Ellbogenfreiheit als unbedingte Voraussetzung seiner öffent¬
lichen Ordnung betrachtet, damit aber, nachdem die Welt im großen und ganzen
verteilt ist, rasch um Ende anlangen wird. Auffallend ist dabei, daß Trampe auf
die Stellung der Slawenwelt, auf die Bedeutung der russischen Macht gar nicht
eingeht. Aber sein hoffnungsfreudiger „Schluß" hat etwas Hinreißendes, und wir
wünschen mit ihm, daß dem Deutschtume im neuen Jahrhundert eine so glänzende
Rolle zu teil werden möge, gegen deren Voraussetzungen sich der deutsche „Indi¬
vidualismus" in der Form doktrinärer Verrauntheit freilich hier und da noch sträubt.
Von dein Rückgang der romanischen Völker sind wir nicht so unbedingt überzeugt
wie Trampe; derartige Perioden, wie diese zum Teil jetzt, hat jedes große Volk
durchgemacht, uicht zum wenigsten das deutsche, und wir sehen das Heil der Zu¬
kunft uicht in der Alleinherrschaft eines einzigen „Nationalkulturprinzips," auch
uicht des deutschen, sondern in dem Zusammenwirken aller großen Nationen in
ihrer Art. Nur der beständige Wettkampf erhält sie gesund.
deren zwei erste Hefte uus vorliege», siud dem Vorworte »ach teils
zur Aufnahme von Übersichten über die Bestände der Staatsarchive bestimmt, teils
zur Sammlung von fachwissenschaftlichen Beiträgen, Erörterungen über Fragen
der Archivtechnik, Berichten über archivalische Forschungsreisen und wissenschaftliche
Unternehmungen, Darstellungen der Geschichte der einzelnen Archive und Beschrei¬
bung ihrer „Unterknnftsstätteu."
Das erste, von R. Koscr verfaßte Heft bringt eine Übersicht über den
Inhalt der stattlichen Reihe von 74 Bänden der Publikationen zur allgemeinen
brandenburgisch-Preußischen und deutschen Geschichte, sowie der sonstigen archiva-
lischen preußischen Veröffentlichungen, ferner einen aufklärenden Aufsatz über die
Benutzung der Archive durch Privatpersonen und endlich den augenblicklichen Per¬
sonalbestand der preußischen Archivverwaltung. Mit am interessantesten ist dabei
wohl die Thatsache, daß sich der Ausgabeuetat dieser Verwaltung vou 75375 Mark
im Jahre 1852 auf 487667 Mark im laufenden Jahre erhöht hat.
Das zweite Heft enthält eine sorgfältige Geschichte des königlichen
Staatsarchivs zu Hannover von Max Bär, in der Schritt für Schritt nach¬
gewiesen wird, wie es sich allmählich aus einem geheimen Privatrepertorium der
Staatsbehörden zu einer öffentlichen wissenschaftlichen Anstalt entwickelt hat.
MI hat seit 1815 England oft den Balancier Europas genannt,
lind in der That hat England sich jederzeit bemüht, keinen der
kontinentalen Staaten zu stark werden zu lassen, und zwar, hat
es das nicht erst seit der napoleonischen Zeit, sondern mich schon
vorher gethan. Ein Unterschied lag mir darin, daß es sich vorher
immer gegen die Macht wandte, die zur See übermächtig zu werden drohte,
wie Spanien zur Zeit Philipps II., dann Holland nach der Losreißung von
Spanien, dann Frankreich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Seit
es keinen Nebenbuhler zur See mehr gab, balancierte England das kontinentale
Gleichgewicht, indem es Schützer der Schwachen wurde, soweit diese ihm gegen
die Starken nützlich werden konnten. Nachdem es die französische Flotte ver¬
nichtet und die französischen Kolonien genommen hatte, gab es Frankreich etwas
eigenmächtig und etwas pomphaft seinen .König wieder »ut verhinderte die
Rückgabe des Elsaß und den Wiederanschluß, der Niederlande um Deutschland.
Besonders die letzte Eventualität hätte ja eine holländisch-deutsche Seemacht
können erstehn lassen; und noch weniger durste Frankreich an der Küste des
Kanals gestärkt werden, weshalb denn die alten spanischen Niederlande zu
einem neuen Königreich wieder vereinigt werden mußten, und weshalb sich
seither England immer als Protektor der Freiheit der Niederlande gebärdete.
mich wenn niemand diese Freiheit bedrohte. Der Eifer für die Freiheit der
Kleinen ging so weit, daß England im Jahre 1830 mit Wohlgefallen Belgien
sich von Holland trennen und eine eigne Unabhängigkeit gründen sah, wodurch
Holland noch weniger gefährlich wurde als vorher. Als sich der französische
Schützling Englands in Verona, 1822, entschloß, in Spanien dem bourbo-
nischen Better ans der Patsche zu helfen, da überkam England das alte
Gruseln vor bourbonischen Fmnilienpakten, und indem Cuming im Namen der
Freiheit alle» polizeilichen Einmischungen der Großmächte in Spanien und
anderwärts entgegentrat, löste er England von der Politik der Pentarchie los,
wie sie 1815 in Wien war festgestellt worden, einer Politik, die freilich darauf
gerichtet war, überall die von der Revolution bedrohte Ordnung zu schützen,
aber zugleich den Starken die Gelegenheit bot, noch stärker zu werden, was,
soweit es andre betraf, nicht im Interesse Englands lag. So trat England
damals von dem europäischen Kouzert zurück und inaugurierte das Prinzip
der Nichtiuterveutiou, half aber den spanischen Kolonien unabhängig zu werden
und dadurch den spanisch-amerikanischen Handel in einen mehr englisch-ameri-
kanischen zu verwandeln. Als sieben Jahre darauf die Mächte Miene machten,
die belgische Revolution mit Waffengewalt niederzuwerfen, bekannte sich auch
Frankreich zu diesem sogenannten Prinzip, das fortan gerade von England
jederzeit in der zwanglosesten Weise mißbraucht worden ist zur Erhaltung deS
europäischen Gleichgewichts im englischen Sinne. Ju Italien, in Griechen¬
land, in Polen, im Krimkriege — überall unter der Flagge des Schutzes
Schwacher dieselbe Sorge, keinen europäischen Staat stark genng werden zu
lassen, daß er seine Kräfte auf Kriegsflotten verwenden und nach andern
Weltteilen hin zur Geltung bringe» konnte. Je größer die Last ist, die die
europäischen Mächte zur Erhaltung ihrer Landheere auf sich laden, um so
besser für England, denn um so weniger werden sie für Bau und Erhaltung
von Flotten übrig haben. Das ist so klar, daß man den weitern Schluß mit
Sicherheit ziehn kann, daß England keine dauernde Verbindung mit einer der
Großmächte eingehn wird, wodurch diese in den Stand gesetzt würde, ihre
Militärlasten zu verringern. Auch wird England immer freundliche Annähe¬
rung oder Allianzen einer Großmacht von maritimer Bedeutung mit einer
andern von gleichem Charakter zu hindern suchen. Ein einigermaßen sicherer
Freund ist England von jeher nur für reine Koutiueutalstaateu in Europa
gewesen, wie z. B. Österreich und die Türkei, oder für ungefährliche kleine
Staaten wie Portugal, Griechenland, auch die Niederlande, seit diese keine
Seemacht mehr sind, und solange als England den Nest der holländischen
Kolonien nicht braucht. Wie steht es nun mit der englischen Freundschaft
für das neue Deutschland?
Indem wir Industrie und Handel entwickelten, sind wir Deutschen ans beiden
Gebieten im Weltverkehr von der vierten Stelle zur zweite» aufgerückt. Ju
Quantität und Qualität unsrer Waren und unsrer Handelsflotte stehn wir nnr
noch hinter England zurück, d. h. wir sind schon eine kommerzielle Weltmacht
geworden und hoffen, diese Macht noch weiter zu vermehren. Wir haben
ferner in zwei Weltteilen staatlich Fuß gefaßt als kolonisierende Macht. Im
Verhältnis zu dieser Erweiterung unsrer Interessen und unsers Einflusses ist
die Kriegsmacht, mit der diese Interessen und dieser Einfluß geschützt werden
müssen, weit zurückgeblieben, denn sie steht unter den Seemächten erst an der
siebenten Stelle. Das ist ein Mißverhältnis, das uns verhängnisvoll werden
kann, wie vor uns andern Staaten. Denn je stärker wir in dem Handels-
Verkehr werden, »in so mehr fordern wir die Eifersucht konkurrierender Staaten
heraus, und wir haben gesehen, wie systematisch ein solches Mißverhältnis be¬
sonders von England jederzeit ausgenutzt worden ist. Wir müssen darauf
gefaßt sei», das; bei irqend einem Kriege, in den wir geraten, England als
Gegner auftreten und, ohne unsre kontinentale Stellung zu gefährden, unsern
Welthandel zerstören wird. Die Versuchung dazu ist zu groß bei der mari¬
timen Übermacht und der heutigen in den Bahnen einer imperialistischen Ge¬
waltpolitik treibenden Aktionslust der Engländer. Wir sind außer stände,
ihnen direkten Widerstand zu leisten, und werden nach der Vergrößerung unsrer
Schlachtflotte im Jahre 1917 England gegenüber auf dem Weltmeer und ohne
Verbündete nicht besser gestellt sein als bisher. Eine Verdopplung unsrer
Schlachtflotte wird uns noch nicht zur Weltmacht erheben. Wir werden durch
sie nur nllianzfähiger für einen Seekrieg und unabhängiger für den Fall eines
Landkriegs werde«.
Deutschland mit seiner großen Landmacht ist für England viel wert als
Gegengewicht gegen Rußland und wäre ihm von dem Augenblick an verhaßt,
wo es aufhören müßte zu glauben, daß sich Deutschland im Notfall oder ans
Interesse einem überschäumenden Slawentum entgegenwerfen werde. Ein eng
mit Rußland verbnndnes Deutschland wird darauf gefaßt sein müsse», bei
Passender Gelegenheit dnrch England vom Meere weggefegt z» werde», falls
ihn: keine genügenden Mittel zum Schutz zu Gebote steh». Ganz ähnlich ver¬
hält es sich mit Frankreich. So lange es dazu dient, die finanziellen eignen
Kräfte »ut die von Deutschland in Rüstungen für einen Nachekrieg zu lähmen,
werden die Wünsche Englands im wesentlichen befriedigt sein; sobald Frank¬
reich ehrlichen Frieden mit Deutschland macht und eine Allianz möglich wird,
ist es mit dem englischen Wohlwollen vorbei. Ohne die unheilvolle Rache-
Politik wäre Frankreich nicht aus Ägypten hinausgedrängt worden, wodurch
der Ring der englischen Blockade Europas geschlossen und die Suprematie
im Mittelmeer, für die Frankreich so lange gekämpft hat, ihm entwunden
worden ist.
„England allein würde jetzt »och de» vier Flotten von Frankreich, Rnß-
lmid, Italien »ut Deutschland gewachsen sei»" (Nassow, Deutschlands See¬
macht), denn das Verhältnis der Kräfte stellt sich wie 1001 zu 1114. Das
but England erreicht, indem es als Glied des europäischen Konzerts mit den
ander» Mächte» dafür sorgte, daß das europäische Gleichgewicht erhalten bleibe.
El» Gleichgewicht von Staaten, die zuletzt allesamt das Gleichgewicht gegen¬
über England völlig verloren habe».
Es hat lange gedauert, bis dem kontineiitalen Europa der Stand der
Dinge ganz klar wurde. Solange das Bedürfnis nach überseeischen Waremnürkten
gering'war auf dem Kontinent, sah man wohl mit Neid ans die schnelle
Steigerung des englischen Welthandels, aber man fühlte keine Schädigung am
eignen Leibe. Noch bis gegen die Mitte des nemizehnte» Jahrhunderts freute
>>um sich in Europa, mit so guten und vielen Jndnstrieartiteln durch England
überschüttet zu werden, die man selbst nicht herstelle» konnte. Aber je weitere
Eroberungen die Dampfkraft auch auf dein Kontinent machte, um so fühlbarer
wurde der englische Druck, erst zu Hause auf dem Festlande und dann, als
die Produktion überzufließen begann im heimischen Kessel, auch draußen über
dem Wasser. Da war nur eiuer der Herr, nur die englische Flagge bot
Sicherheit für den Handel, die andern waren bloß geduldet, nie gleichwertig.
Das hat sich seitdem, insoweit es sich um das Verhältnis zu England handelt,
wenig' geändert, obwohl die Beteiligung nichtenglischer Länder an dein Welt¬
verkehr beständig gewachsen ist; und soweit es sich etwa gebessert hat, mag
eben das dazu beigetragen haben, daß diese Beteiligung einer gauzeu Reihe
von Ländern zugefallen ist, die dadurch, dem englischen Übergewicht gleichmäßig
ausgesetzt, ein gemeinsames Interesse haben an seiner Zügelung. Man wurde
besouders aufmerksam auf die englische Weltpolitik, seit man dort eine Be¬
wegung auf engern Zusammenschluß der englischen Kolonien und des Mutter¬
landes hin bemerkte, deren Gefahr für die Kvntinentalstaaten darin lag, daß
sie von dem englischen künftigen Kaiserreich wirtschaftlich durch Zölle ausgesperrt
oder doch im Verkehr eingeschränkt werden konnten. Man meinte in Eng¬
land, das „größere Britannien" könne sich wirtschaftlich selbst genügen und
die Politik des Freihandels, die England seit einem halben Jahrhundert mit
Schätzen überhäufte, zu Gunsten eines gewaltigen britischen Zollbuudes auf¬
geben. Da war es denn geboten, sich genauer das Gebiet dieses möglichen
Zollbnndes und die Folgen anzusehen, die er für Europa haben könnte. Mau
wurde unruhig, als mau die Sache zahlenmäßig klar machte, und mit Recht.
Denn England arbeitet unausgesetzt daran, den künftigen Kaiserstnat in die
Verfassung völliger Unabhängigkeit von äußern Gefahren zu setzen, wodurch
er dann auch in der Lage wäre, deu Weltmarkt in einen englischen Markt zu
verwandeln.
Was hat England gethan seit dem Kriege von 1870, der das alte kontinen¬
tale Gleichgewicht des Wiener Kongresses endlich über den Häuser warf und die
Kontinentalstaaten achtundzwanzig Jahre eines allerdings schwerbewaffneten
Friedens genießen ließ? Ein angesehener englischer Statistiker, Robert Giffen,
hat etwa vor einem Jahre (März 1899) einen Rechenschaftsbericht über diese
Periode abgestattet, dem folgende Zahlen entnommen sind:*)
Im Jahre 1897 umfaßte Großbritannien auf dem Erdball 11^ Millionen
Quadratmeilen (1 Meile----1609 Meter), oder mit Einschluß von Ägypten und
Sudan 13 Millionen Quadratmeilen.^) Die Bevölkerung dieses Gebiets be¬
trug 407 Millionen, mit Ägypten und Sudan 420 Millionen Menschen, das
heißt ungefähr ein Viertel des Menschengeschlechts. Davon waren etwa
50 Millionen Angelsachsen. Zwischen 1871 und 1897 vergrößerte sich das
Reich um 2850000 Quadratmeilen und 125 Millionen Menschen; die herr-
scheide R'asse ivuchs um '/,, die »uterwvrfuen Rasse» um mehr als dieses
letzte Wachstum war hauptsächlich eine Folge von Laudannexioneu.
Jm Jahre 1897 erreichten die öffentlichen Einnahmen in dem gesamten
Reiche die Summe von 257053000 Pfund Sterling, der Handelsumsatz die
Summe von 1375 Millionen (über 33 Milliarden Franken), was gegen 1871
eine Zunahme darstellt von 115143000 Pfund Sterling an Einkünften
(40 Prozent der heutigen Summe) und von 428 Millionen Pfund Sterling
in> Handelsumsatz (33 Prozent der heutigen Summe), Von den Einkünften
fallen auf das eigentliche England, das heißt die LöltAcivvrillng' lZnMsIr xortionL
ot' tun IZmxirtZ, 145 Millionen, auf die nicht in Selbstverwaltung stehenden,
unterworfnen Gebiete 120 Millionen. Die Bevölkerung englischer Rasse im
Vereinigten Königreich, in Britisch-Amerika und Australien ist um 33 Prozent
gewachsen, nämlich um 26 Prozent im Vereinigten Königreich, 41 Prozent in
Britisch-Amerika. 126 Prozent in Australien. Die öffentlichen Einnahmen
stiegen um 52 Prozent im Vereinigten Königreich, 86 Prozent in Amerika,
165 Prozent in Anstralien. Der Handel stieg um 23 Prozent im Vereinigten
Königreich. 48 Prozent in Amerika, 112 Prozent in Anstralien, 513 Prozent
in Südafrika, 83 Prozent in Indien. In den nuterworfuen Gebieten stieg
die Bevölkerung um 31 Prozent in Indien, 275 Prozent in Südafrika.
81 Prozent in den andern Ländern.
Das ist eine Entwicklung, wie sie wohl noch niemals in der Welt vor
sich gegangen ist, ein Riesenreich, wie es nie vorher bestanden hat, und eine
Schöpfung, die auch bei dein Skeptischsten Bewundrung erregen muß, wenn
er sich bewußt bleibt, daß es nicht ein Gewaltstaat wie der eines Attila oder
DschingiSkhan, sondern ein Kulturstaat ersten Ranges ist, den wir vor uns
haben. Das sind staatliche Verhältnisse, die eS verständlich machen, wenn
Herr Giffen selbst mit etwas Beklemmung ans die Schivierigkeiten. die Ver¬
antwortung und mich die Gefahren hinwies, denen England durch sie aus¬
gesetzt sei. Inzwischen hat England gezeigt, daß es von diesen Schivierigkeiten.
Verantwortungen und Gefahren nicht im mindesten eingeschüchtert worden ist.
indem es leichten Herzens daran gegangen ist, das Nicsenreich noch um einen
halben Kontinent zu vergrößern. Wie wertvoll auch die Goldfelder Transvaals
den straßenräuberischen jüdischen und auch christlichen Fiuauzjobberu sein mögen,
die hente schon die alte englische Aristokratie in eine jüdische Plutvkratie zu
verwandeln auf dem Wege sind, und welche finanzielle Macht auch mittelbar
dem englischen Staat zuflösse, wenn mit diesen Goldfeldern ^ oder, wie Eng¬
länder uns versichern, nur die Hälfte der Goldprodnktion der Welt unter die
Kontrolle Englands geriete: die Hauptsache bleibt doch, daß England nicht
bloß die Goldfelder, sondern ganz Südafrika unter seine Kontrolle stellen will.
Und nachdem es Ägypten und die Nilqnellen in Besitz genommen hat, wird
es nicht zögern, Nord und Süd zu einem Domiiiinm zusammen zu schweißen,
das in Afrika »ngefähr die Rolle spielen wird, wie vor fünfzig Jahren die
Vereinigten Staaten in Nordamerika.
Die Thatkraft dieses Volkes ist erstaunlich. Aber ist denn dieses Welt¬
reich noch ein europäischer Staat? Gehört England noch zu dem enropäischen
Staatensystem? Welche Interessen hätte es noch in Europa, die, in dem Tiegel
stantsmännischer Skepsis aufgelöst, nicht als einzigen realen Bestandteil das
Bedürfnis zurückließen, Enropn in der Blockade zu erhalten und keine großen
Flotten aufkommen zu lassen? Im übrigen behält es sich vor, Nebenbuhler
in Industrie und Handel, die gefährlich werden, beiseite zu dränge». Zwar
nicht in Europa, sondern dn, wo es Herr ist, draußen zur See und in andern
Weltteilen. Denn das Geschäftsprinzip in dieser Aktiengesellschaft, die Eng¬
land heißt, blieb bisher zwar der Freihandel, aber doch mir deshalb, weil
immer und überall für deu Stärksten die Freiheit am vorteilhafteste» ist.
Käme eilt Stärkerer, so würde die Firma England ihr Geschäftsprinzip keinen
Augenblick länger beibehalten, und die Herren des (Zroa-Wr Lritmn und des
KrikiLli l^inpii'ö haben das Prinzip prinzipiell ja mich schon aufgegeben. Des¬
halb, weil Englands Politik längst ebensowenig europäisch ist, wie die der
Vereinigten Staaten von Nordamerika; deshalb, weil jede zwischen zweien der
Kontinentalstnnten auftauchende Frage, auch jeder nnsbrechende Krieg, von
England, auch wenn es daran thätige» Anteil nimmt, niemals im Interesse
der Wohlfahrt Europas, im Interesse eines der streitenden Teile, sondern
immer im Interesse seines außereuropäischen Weltreichs wird beurteilt werden:
deshalb wird keine Rechnung stimmen, die ein europäischer Kongreß nnter Mit¬
wirkung Englands in enropäischen internationalen Geschäften-aufstellt. Eng¬
land wird immer bereit sein, i» diese» Geschäften eiuen Einfluß zu üben, aber
es wird keinem Kongreß einen gleichen Einfluß ans sich selbst erlauben. Wer
mit England aus einer Schüssel essen will, der muß eilten längern Löffel
haben, als wie er in Enropa wenigstens bis heute aufzutretben ist.
Vor anderthalb Jahrhunderten schon schien es dem englischen Gelehrten
Hume, daß England „gänzlich gleichgiltig und sorglos in Rücksicht auf das
Schicksal Europas" werden konnte. Das ist um in dem Sinne eingetreten,
daß es für England bellte zweifelhaft erscheine» kann, ob ihm die Existenz
Europas nützlich oder hinderlich ist. Es braucht Europa kaum mehr, um sich
ans seiner materiellen und staatlichen Höhe zu erhalten. Aber schwerlich wird
eilt englischer Staatsmann den Rückhalt missen wollen, den die englische Kultur-
kraft in Europa findet. Das alte Europa der klassischen Kultur macht immer
eine Familie eigentümlichen Geistes aus, dessen belebender Kraft keines der
Familienglieder ohne Schaden entbehren kann. Und ein Weltreich wie das
Größere Britannien besteht nicht ewig, so wenig wie Rom ewig bestanden hat,
dem es doch ähnlich ist an werdender Kraft und staatlichem Charakter. So
gut wie Nordamerika sich loslöste, so gut kau» das auch mit andern Kolonien
geschehn, und Leute wie Gladstone siud ja geneigt, freiwillig die britische Herr¬
schaft aufzugeben. Herrscht heute der Imperialismus, so ist vielleicht morgen
die entgegengesetzte Meinung zur Leitung der Geschäfte berufen. Und Leute
wie Dilke gestehn, daß, soweit es sich um eine Zentralisatio» durch eine alle
Kolonien umfassende parlamentarische Organisation handelt, bisher noch wenig
Allssicht ist, gerade die wichtigsten und in andrer Hinsicht geeignetsten Kolonien,
wie Kanada und Australien, für solche Pläne zu gewinnen.^)
Umgekehrt braucht Europa England, und zwar ein mächtiges England,
und besonders wir Deutschen brauchen es. Wenn heilte England verschwände,
so bräche in vielen Teile» Europas das größte wirtschaftliche Elend aus.
England nimmt mehr von den Erzeugnissen, besonders den Rohstoffen Europas
auf als irgend ein andres Land. Die deutsche Ausfuhr betrug im Jahre 1898
»ach England und seiiie» Kolonien 939,2 Millionen Mark, und Ägypten ein¬
gerechnet 950,9 Millionen, das ist fast ein Viertel der gesamten Ausfuhr.«)
Ähnlich verhält es sich mit dem Handelsinteresse der übrige» europäischen
Länder.
Aber wir brauche» el» starkes England auch in rein politischem Interesse.
Das alte Europa ist seit hundert Jahren vom Absolutismus zu freier» Formen
des staatliche» Lebens übergegangen. Viele Irrungen sind bei dieser Entwicklung
mit untergelaufen, aber bellte will und kann keins der alten Kulturvölker mehr
Staatsformen aufgebe», die dem Einzelnen und den sozialen Gruppe» ein
erhebliches Maß von Selbstbestimmung, von selbstthätigem Leben gewährleiste».
Alle Arbeit, nicht bloß auf rein geistigem sondern ebenso auf sozialem wie auf tech¬
nischem und wirtschaftlichem Gebiet, die in England geleistet wird, ist mich für den
Kontinent in gewissem Sinne geleistet, und diese Arbeit ist um so größer, als
dort das Volk mir mit sehr geringer staatlicher Hilfe, besonders i» der Sozial¬
politik, sie verrichtet. N»r einer der europäische» Großstaateii — den» die Türkei
steht außerhalb — hält sich abseits von dem Wege. Rußland bleibt absolutistisch,
zentralisiert sich und sammelt eine gewaltige, dem übrigen Enropa innerlich lind
äußerlich fremde Macht, die sich von jeher nur nach außen, expansiv bethätigt
hat. Das slawische Nußland ist England um politisch-nationalem Anspruch gleich,
aber für Europa keine schöpferische Macht. Diese Macht hat besonders in den
letzte» Jahrzehnten eine» ebenso gewaltsamen nationale» Imperialismus gezeigt
wie England in Südafrika, aber ohne die englische Kulturkraft zu ihrer Recht¬
fertigung zu haben. Sie nimmt gern das Geld Europas zu Hilfe und glaubt,
damit eine eigne, uicht europäische Kultur begründen zu können bloß auf wirt-
schaftlicher Basis; ein Irrtum, der sie zu zahllosen legislativen und administra-
tiven Mißgriffen verleitet hat. Rußland ist national noch eine rohe Masse.
Das Nationalitätsprinzip ist hier verderblicher als in andern Staaten, weil
es die Kulturkräfte andrer Nationen zerstört oder abweist, die diesem Volke
selbst doch gerade fehlen. Indem Rußland dem Hirngespinst einer slawischen
und nicht der europäischen Kultur »achjagt, schließt es sich prinzipiell von Europa
innerlich wie äußerlich ab, wodurch es in einen Gegensatz zu Europa gerät
oder in ihn: vielmehr verharrt, der immer beunruhigend auf Enropa wirkt,
nicht unähnlich dein Verhältnis, worin die Türkei so lange Europa gegen¬
über gestanden hat, die ihrer Zeit auch eine Weltmacht genannt werden konnte,
lind wie leicht der nationale Chauvinismus die rechtlichen und andern Schranken
der Kultur nicht bloß in England, sondern auch in dem Slawentum zu über¬
springen geneigt ist, haben Nur an dem Verfahren gegen die Finnländer und
die Ballen sehen können, worin eine Parallele zu den Vorgängen in Südafrika
klar vor Augen liegt. Aber der russische Chauvinismus billigt das eine und
verdammt das andre, wie es eben dem Machtbewnßtsein, nicht dein Rechts-
bewußtsein paßt. Aspirationen, wie Frankreich sie unter Ludwig XIV. und
Napoleon l. erhoben hat, liegen ganz im Geiste eines Volkes von so wenig
differenzierten Körper wie des russischen, eines Staats von so rücksichtsloser
Ausnutzung der Volkskraft an Mensche» und Gütern, und einer Kirche, die
von demselben Geist des staatliche« Beamtentums erfüllt ist. Diese Macht in
Schranken zu halten ist ein Bedürfnis für das englisch-indische Kaiserreich und
ein Lebensbedürfnis für das Europa der alten Kultur. Ohne England geriete
an diesem Pnnkte das Gleichgewicht Europas leicht ius Schwanken; hier,
gegenüber dem Slawentum, decken sich die Interessen des Kontinents und
Englands, oder richtiger Europas und der von europäische« Staaten in Asien
beherrschten Kvlonialländer. Denn wie England zur See, in Australien, in
Afrika monopolisierend vorgeht, so Rußland in Asien. Europa hat nach beiden
Seiten große Interessen zu verteidige». Es handelt sich hente nicht mehr um
ein Gleichgewicht der europäischen Kontiuentalstaateu untereinander, sonder»
um das Gleichgewicht zwischen Europa als Ganzem und den Weltmächten
Großbritannien und Rußland. Europa hat wirtschaftliche Lebensinteressen, die
es gegen beide verteidigen muß, wobei es sich abwechselnd mit der einen und
der andern der beide» Weltmächte in Überei»stimm»»g finde» wird.
Keiner der europäische»! Kvntineutalstaateu kann daran denken, sich für
einen ohne Koalitionen zu führende« Seekrieg mit dem heutigen Euglnud vor¬
zubereiten, der die maritime Übermacht dieses Staates zu brechen bezweckte.
Auch Frankreich, auch nach der Vermehrung seiner Flotte mit Aufwand der jüngst
bewilligten 900 Millionen Franke», ist England nicht zur See gewachsen.
Und England läßt die Hände ja nicht im Schoß, es wird sich nicht über¬
flügeln lassen von irgend einer Macht. Wenn Dentschlnnd ein Schiff baut,
wird England ihrer zwei bauen, und so bleibt es beim alten. ^ oorsirirs
oarLiüre et- cisini.
Inzwischen haben uns vertrauenswürdige Fachmänner dargelegt, daß für
den Seekrieg die Menge der Kriegsschiffe, die ein Staat hat, weniger aus¬
schlaggebend ist als die Zahl der Regimenter in einem Landkriege. Auch im
Landkriege findet die Menge der für die Schlacht zu verweudendeu Truppe»
eine Grenze in der Möglichkeit, sie an einem Pnnkte zu konzentrieren. Wenn
man sich vorstellt, daß Deutschland etwa mit Rußland in einen Krieg geriete,
wo auf jeder Seite je eine Million Soldaten zur Schlacht gebracht werden
sollten, so scheint es unmöglich zu sein, daß diese zwei Heere trotz aller Eisen-
bahnen aneinander gebracht werden könnten, weil zwei Millionen Menschen
nicht vierundzwanzig Stunden lang in offnem Felde ernährt werden könnten.
Deshalb ist die Furcht vor dem russischen Millionenheere unbegründet. Wenn
Rußland auch drei und fünf Millionen Soldaten hätte, so könnte es doch nie
diese Mengen zugleich für eine Schlacht verwenden. Ebenso ist es nicht
möglich, in einer Seeschlacht eine unbegrenzte Zahl von Schiffen anf einmal
zu verwenden. Hat ein Geschwader die nach den Bedingungen deS Raums
und der Tragfähigkeit der Geschosse mögliche größte taktische Stärke erreicht,
so ist es, so sagt man uns, für jede Seeschlacht ausreichend stark. In der
Seeschlacht kann uns jeder Seite nicht mehr als eine gewisse Anzahl Schiffe
in Thätigkeit kommen. Man kann nicht fünfzig oder hundert der heutigen
Schlachtschiffe zugleich ins Gefecht führe», souderu nur etwa sechzehn. sonach
wird Deutschland durch Schaffung einer Flotte, die den Anforderungen der
taktischen Einheit genügt, mich einem Staate gegenüber zur See kampffähig,
dessen Flotte uns um Schiffszahl weit überlege«: ist. Wir können in der Ostsee
oder der Nordsee eine Seeschlacht mit Aussicht auf Erfolg liefern, und daß diese
Möglichkeit von sehr großem Wert für uns ist, wird jeder einsehen, der über¬
haupt sehen Null. Wenn unsre alte Kleinkrämerei in politischen Dingen nus
nicht wiederum einen Streich spielt,") werden nur in einigen Jahren besser
als bisher imstande sein, der durch unsre maritime Schwäche an andre Staaten
herantretenden Versuchung, unsern Handel, unsre Industrie niederzuwerfen,
einen Zügel anzulegen. Rußland, Frankreich werden unsre Küsten nicht mehr
schuhlos finden. England wird sicher, sobald es seinen Handel zu sehr be¬
drängt sieht, den seiner Konkurrenten zuerst angreifen, der ihm wirtschaftlich
am gefährlichsten und im Seekriege am wenigsten gefährlich ist. Das sind
bis jetzt wir Deutschen. Ist Deutschland abgethan, dann käme, nach bemalten
englischen Rezept, Frankreich dran. Nur eine Rücksicht wird sich England in
dieser Beziehung immer auferlegen, nämlich die Erwägung, daß es einmal
Deutschlands gegen Rußland bedürfen könnte. Wäre Rußland nicht Vor¬
häute», so hätten wir wahrscheinlich sehr bald einen Krieg mit England, der
unsre Arbeit von dreißig Jahren vernichten würde. Denn vier sich nicht von
der europäischen Geschichte der letzten dreihundert Jahre hat überzeugen lassen,
der wird doch dem glauben müssen, was er eben jetzt sich abspielen sieht. So
sehr das moralische Ansehen Englands durch diesen Burenkrieg gesunken ist,
so sehr ist die Besorgnis vor weiteren Mißbrauch der Macht durch England
gestiegen. Die Folge ist das Bestreben der Großmächte, ihre Flotten zu
stärken, und das beunruhigende Bewußtwerden des Gegensatzes zwischen den
Interessen des europäischen Kontinents und den englischen.
Indessen drängt England heute mehr als die kontinentalen Haudelsläuder
dazu, einen Ausweg zu suchen. Gegenüber den Seerüstungen der großen Kor-
tinentalstaaten stärkt England seine Flotte und auch sein Lnudheer; und es ist
wohl im Zusammenhang hiermit, wenn es sich mit Hintansetzung aller völker¬
rechtlichen Billigkeit und mit Aufwand sehr großer Mittel beeilt, in Afrika
eine Suprematie zu befestigen, die ihm in gewissen Grenzen bisher von nie¬
mand streitig gemacht worden ist. Nachdem es sich den Seeweg durch das
Mittelmeer und den Suezkannl gesichert, im Roten Meer Aden, weiter Sansibar
als Stationen hinzu erworben, nachdem es Deutschland nicht erlaubt hat, die
Luciabai zu erwerben, soll nun Südafrika bis zum Sambesi englisch werden,
was die Erwerbung des besten südafrikanischen Hafens in der Delagoabai nach
sich zieh» wird. Dann ist auch das Indische Meer in der Hand Englands.
Die beiden Zugänge zu den südlichen und den östlichen Ländern Asiens um
das Kap der Guten Hoffnung und durch den Suezkanal werden gegen Europa
geschlossen werden können, womit Europa auf den Weg um das Kap Horn
verwiesen wäre. Nur Amerika behält freie Verbindung. Eine nicht englische
Macht könnte von der Delagoabai aus die Wirkung der beiden Sperrforts
lahmen, darum darf dieser für große Flotten geeignete Hafen nicht in andre
als englische Hände kommen.
(Schluß folgt)
in holländischer Schriftsteller, der um die Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts von der glanzvollen Höhe hinabschant auf die An¬
fänge seines Vaterlands, nennt Holland treffend ein Land, das
von Natur nicht würdig gewesen wäre, bewohnt zu werden.
Unendlich wenig brachte das Land selbst hervor. Fast alles,
was für die Ernährung der Volksmassen, für Industrie und Schiffahrt von
nöten war, mußte vom Auslande erworben werden. Wollte dieses Volk
höhere Geltung erlangen, die Waren der Fremde erwerben tonnen, so mußte
es ans die See hinausgehn und in den Berufen des Fischers und Schiffers
Verdienst suchen. Die langgestreckte .Küstenheimat, ein Mittelding zwischen
Meer und Land, erleichterte diese» Mergaug ganz wesentlich.
Bis in die Zeiten der Karolinger hinauf lassen sich die Friesen, die Be¬
wohner der Küstenlandschaften von der Schelde bis zum Dvllart, von Seeland,
Holland, Westfriesland, als Seefahrer und Händler nachweisen. Nach England
und Südnorwegen richtete sich die Fahrt. Sie scheinen auch die ersten ge¬
wesen zu sein, die die Fahrt um das Kap Skagen nach der Ostsee, wenigstens
bis zur Ausmiiudung des Sundes erprobten. Hier gewann das Handelsleben
im Anschluß an das Emporblühn der Heringsfischerei im Sund etwa seit dem
Schlüsse des zwölften Jahrhunderts zugleich große Umschlagsplätze an der
Südspitze Schwedens in Skmiör und Falsterbo. Jedoch hemmte der gewaltige
Aufschwung, den der Handel der niederdeutschen Städte während des vier¬
zehnten Jahrhunderts nahm, die Fortschritte des friesischen Verkehrs in der
Ferne, Schiffahrt und Verkehr der Skandinavier, der Russen, der Engländer
und der Friesen wurden von den heimischen Meeren verdrängt. Fast kon¬
kurrenzlos herrschte auf ihnen Ende des vierzehnten Jahrhunderts das hansische
Schiff, der hansische Kaufmann.
Deutlich erkennbar ist seit dem zweiten Kriege der Hansen gegen König
Waldemar von Dänemark ein handelspolitischer Gegensatz zwischen Hansen und
Holländern. In den Friedensschlüssen mit Dänemark 1370, mit Norwegen
1376 wurden den Holländern, die Seite an Seite mit den Hansen die nordischen
Herrscher bezwungen hatten, dieselben Vergünstigungen wie den Hansen im
Verkehr mit dem Norden eingeräumt. An der Ausnutzung aber wurden die
Holländer alsbald allerorten, in Bergen, dem großen Hanptstapelplatze Nor¬
wegens nicht minder wie im Sünde, von den Hansen beeinträchtigt. Nicht
von allen Hansen, nur von denen, die den Verkehr des Nordens mit dem
Ausland immer vollständiger in ihre Hände zu bringe» suchten; das waren
die sogenannten wendischen Städte Stralsund, Rostock, Wismar und Lübeck,
das Haupt der ganzen Hanse. Die Reibungen wurden dadurch vermehrt, daß
sich die Holländer immer entschiedner und planvoller der Frachtfnhrt und des
Zwischenhandels zwischen dein Ostseegebiet und den großen Märkten des west¬
lichen Kontinents auf flandrischen Boden anzunehmen begannen. Denn in
der Herrschaft über den ostwestlichen Handel lag die Überlegenheit begründet,
die Lübeck und seine Nachbarstädte — mich Hamburg und Lüneburg stellten
sich immer entschiedner an ihre Seite — in dem ganzen nördlichen Handels¬
gebiet ausübten. In Preußen und Livland, den Vorländern des riesigen,
Produktenreichen vstenrvpäischen Binnenlandes, suchten sich die Holländer ein¬
zunisten. Sie begannen sich zu Herren von Handelsartikeln zu machen, deren
Vertrieb ebenfalls ganz besonders indisch-wendische Erwerbszweige bedrohte,
so des westfranzösischen Seesalzes und des Nordseehcrings. Mit diesem Salz
bekämpften sie die Herrschaft des Lüneburger Salzes in den Ostseeländern; des
Fischfangs in der Nordsee nahmen sie sich i'n wachsendem Maße an, seit ihnen
die wendischen Städte am Ende des vierzehnten Jahrhunderts die Teilnahme am
Handel mit dein Sundhering erschwerten. Sie schmälerte,? den Absatz der im
indischen Verkehr zwischen Flandern und Rußland alteingebnrgerten flandrischen
Webwaren, indem, sie eine eigne Tuchindustrie zu entwickeln begannen. Sie
suchten in allen Zweigen des wendischen Zwischenhandels zwischen Ost und
West Fuß zu fassen. Im fünfzehnten Jahrhundert war der Kampf zwischen
Lübeck und Amsterdam — um die leitenden Städte zu nennen — anf allen
Punkten entbrannt. Wiederholt suchte Lübeck die Hansestädte zu einmütiger
Sperrmaßregeln gegen den holländischen Handel zu vereinigen. Sie erwiesen
sich im wesentlichen als wirkungslos, schärfere Mittel mußten angewandt
werden, wenn Lübeck seine augefochtne Handelsherrschaft behaupten wollte.
Auf zwei großen Straßen bewegte sich der Verkehrszwischen der Ostsee
und der Nordsee, auf der holsteinischen Landstraße, die Lübeck mit Hamburg
verband, und die in den Jahren 1390 bis 1398 ergänzt worden war durch
einen indischen Kanalbau zwischen Trave und Elbe, und ans der Seestraße
durch die dänischen Gewässer. Die Landstraße stand vollständig unter der
Herrschaft Lübecks, lind die Seestraße mußte dieses Schicksal teilen, wenn es
Lübeck gelang, den skandinavischen Norden und seine Herrscher wirtschaftlich
wie politisch weiter zu beherrsche!,. Das war altindische Politik; mit ihr
verquickte sich nnn die Spekulation, um die lästig werdenden Konkurrenten
vom Norden und von der Ostsee möglichst fernzuhalten.
Schon in den zwanziger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts nahm der
Kampf um den Sund und um den Zwischenhandel, der Hollands europäische
Bedeutung begründet hat, akute Formen an. Im Kampf und im Bunde mit
den nordischen Herrschern suchte Lübeck wiederholt den Sund zu sperren, und
die große Menge der Bevölkerung jubelte diesen Unternehmungen zu, um be¬
geistertsten, als Wnlleuwever 1534 seine verwegnen Pläne in die That um-
zusetzen begann. Aber diese scheiterten schnell und vollständig; die indische
Herrschaft über den Sund und über den Norden brach damit für immer zu¬
sammen, und der holländische Handel konnte sich fortan sicher vor fernern
thätigen Gegenwirkungen Lübecks das Übergewicht in der Ostsee erringen.
Wiederholt hatte die holländische Seemacht während dieser Kriegsperiode
Gelegenheit gehabt, ihre Tüchtigkeit zu beweisen. Die Vertrautheit mit der
See durch den großen Fischfang in der Nordsee machte die Niederländer zu
einem seegewohnten und seegewandten Volk, erzog eine eisenharte, kühne,
seemächtige Bevölkerung. Von dem Gelingen der jährlichen Heringsfischerei hing
Hollands Wohlfahrt ab, von der Ausrüstung der Schiffe, dem Knüpfen der
Netze usw. lebte» Tausende. Dem gesamten Volke wurde der Verkehr mit der
See geläufig. „Die Fischerei hat uns zum Seevolk gemacht, sodasz wir großen
Handel treiben konnten," das war die feststehende Überzeugung der Nieder¬
länder (de la Court). Und dieser Handel fand seinen Mittelpunkt in dem
trefflichen Hafen von Amsterdam. Schon 1438 konnte die Landesregierung bei
dem Ausbruch eines Krieges mit den wendischen Städten erklären, daß Holland
und Seeland gänzlich uns Kaufmannschaft begründet seien. Vom freien Ver¬
kehr mit den Ostseegcbieten hing der Schwung des Handels mich für die andern
Richtungen des Amsterdamer Verkehrs ab. Wenn es richtig ist, daß Holland
schon um 1500 für neun Zehntel seines Getreidebedarfs ans überseeische Ein¬
fuhr, und zwar ganz überwiegend ans den Ostseegebieten, angewiesen war, so
erklärt sich auch daraus die Erregung, die jede Erschwerung des Snndverkehrs
in Holland hervorrief. Bald war der Handel mit dem baltischen Korn über¬
haupt der vornehmste Erwerbszweig des Landes. Amsterdam wurde die große
Kornscheuer, von wo aus Westeuropa und namentlich das Mittelmeergcbiet
mit Getreide versorgt wurde.
Noch als Unterthanen des wcltgebietenden spanischen Königs gelangten
die Holländer vor allen Ländern Europas zu ihrer glänzenden maritimen Ent-
Wicklung, Die spanische Statthalterschaft nahm meist sorgfältig Rücksicht ans
die Verkehrsinteressen ihrer nördlichen Provinzen, Zudem öffnete ihnen dieser
politische Zusammenhang den ungewehrteu Zugang zu den neuen Brennpunkten
des Welthandels, Lissabon, Sevilla, Antwerpen; ja der Verkehr zwischen den
sudlichen Kornlandcn des Weltreichs und seinen niederländischen Provinzen
geriet schon damals fast ganz in ihre Hände. Noch behauptete Antwerpen als
Hafen und Handelsplatz einen bedeutenden Vorrang vor Amsterdam. Die Zahl
der Schiffe betrug dort das Fünffache des Schiffsverkehrs im Amsterdamer
Hafen. Wie bedeutend aber der Aufschwung des Amsterdamer Handels z. B.
in der Zeit von 1531 bis 1566 war, das zeigen die Abgaben von der Wage
und vom Pfahlgeld. Die ersten stiegen um mehr als das Doppelte, die letzten
im Verhältnis von 3 zu 8, und das, ohne daß die Tarife verändert waren.
Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hat Holland eine höchst
leistungsfähige Handelsflotte und ein ausgezeichnetes, großes Seemaunspersvnal.
Einer Berufsslotte, um den Umfang des Handels, die Freiheit der Meere, die
errungne wirtschaftliche Stellung zu schützen, hatte es bis dahin nicht bedurft.
Die Kauffnhrer, die ohnehin meist mit Geschützen lind Waffen versehen waren,
um schweifenden Seeräubern begegnen und die Neutralität in Kriegen andrer
Mächte wahren zu können, waren auch zugleich die Kriegsflotte. Noch bestand
der Seekrieg überwiegend in Kaperei. Die großen Seeschlachten von Berufs-
flotten gehören einer spätern Zeit gewaltigerer Kämpfe an. Aber diese Zeit
war anch für Holland nahe herangerückt.
„Von der See ist Hollands Blüte, Macht und Ruhm gekommen; unsre
Hauptkraft liegt in dem Imperium in^ris," so schrieb 1618, mitten in der Zeit
des Freiheitskampfes ein holländischer Schriftsteller.
Als die spanische Knechtschaft die südlichen Niederlande überwältigte und
die nördlichen bedrohte, als Steuerdruck, Inquisition, Scheiterhaufen so furchtbar
auf dem Volke lasteten, da kam die Erlösung von der See her. Nie vielleicht
hätte sich das geüngstigte Volk wieder aufgerichtet ohne die Wassergeusen. Scharen
von Answandrern trieb das gransame Wüten Aldas aus dem Lande, die eifrigsten
Protestanten eilten ans dem Süden in das.Heer des Prinzen von Oranien,
unter ihnen auch der edle Marnix von Se. Aldcgondc, der Dichter des Liedes
Wilhelmus von Nassanwen. Aber die sicherste Zuflucht für alle freiheitliebenden
Elemente der ganzen Niederlande gewährte das Meer. Es waren meist See¬
leute aus Holland und Seeland, die die Scharen dieser Wassergeuseu bildeten.
Die ersten Kaperbriefe wurden 1568 durch die oranischen Prinzen an sie aus¬
gestellt. Der Kampf gegen den spanischen Tyrannen war ihre Lösung. Nur
Niederländer durften als Kapitäne, Leutnants, Schiffer angestellt werden. Die
Beute wurde geteilt, auch der Prinz erhielt seinen Anteil. Klein waren die
Schiffe, es waren nur notdürftig armierte Handelsfahrzeuge. Aber die Kaperei
mehrte schnell ihre Zahl, und die gesamte Mannschaft war seegcwandtes Volk.
So fing der Krieg an, der Hollands Bedeutung zum Range einer Weltmacht
erhob.
Aber Ordnung, Halt und Nachdruck kam in diese revolutionäre Bewegung
doch erst, seit sich Seeland und Holland mit gesammelter Kraft den Rebellen
anschlössen. Die Eroberung von Briel durch die Wassergeuseu gab 1572 das
Signal zur Erhebung. Der Bund der beiden Landschaften war der Kern, um
den sich die andern schlössen. Den Höhepunkt fand diese Entwicklung 1579
in der Utrechter Union, dem Kriegsbündnis der sieben Provinzen des nieder¬
ländischen Nordens, der Genernlstanteu, gegen Spanien. Das Schicksal des
kühnen Unternehmens war freilich zunächst unbekannt. Die Münzen der
Generalstaaten aus diesen gefahrvollen Jahren zeigen — sehr bezeichnend —
ein Schiff, das steuerlos und segellos auf hoher See dahiutreibt mit der Unter¬
schrift: Ineorwm, <zuo lata ihr^ut. Unabsehbar dehnte sich der furchtbare Krieg
mit der spanischen Weltmacht vor den Blicken ans.
Zur Errichtung einer nationalen Monarchie aber, die das erste Ergebnis
des Kriegs sein zu müssen schien, kam es nicht. Graf Wilhelm, der große
Schweiger aus dem immer so volkstümlichen Geschlechte der Oranier, wurde
ermordet. Und nnn riß das Patriziat der Städte, allen voran die selbstherr¬
lichen Handelsherren und Stadtregenten von Amsterdam, die Leitung der jungen
Nation an sich. In keinem andern Lande hatte ja das Bürgertum ein so un¬
zweifelhaftes Übergewicht über die sozialen Mächte, wie in den Niederlanden.,
Dieses Bürgertum hatte in seinem Partikularismus, in seiner Eifersucht ans
Wahrung erworbuer Rechte dafür gesorgt, daß die Bundesgewalt der Union
ans das allerdürftigste ausgestattet worden war. Mit Ansnahme des Münz-
nnd Zvllwesens blieb alles der Selbstverwaltung der einzelnen Städte vor¬
behalten. Nicht ganz mit Unrecht ist gesagt worden, daß der Niederländer vor
1795 eigentlich kein Vaterland, sondern nur eine Vaterstadt gekannt habe.
Die Rücksicht ans Provinz und Stadt ging den: Wohle des Bundes voran.
Und derselbe kaufmännische Eigennutz widerstrebte aufs lebhafteste der
Aufnahme der flandrischen und brabantischen Provinzen in die Union. Dann
blieb ja Antwerpen der erste Weltmarkt! Und ungerührt schaute er zu, als
1585 diese Stadt von den Spaniern verwüstet wurde. Der Zweck wurde er¬
reicht; fortan war Amsterdam der erste Handelsplatz Europas, und die Stadt
sorgte durch die Schließung der Scheide dafür, daß Antwerpen für Jahrhunderte
ungefährlich blieb.
Durch den unerhörten Kampf mit Spanien trat die Union der Nieder¬
lande in den Mittelpunkt der europäischen Politik. Aber der Verlauf dieses
Kampfes ist ein wunderbares Schauspiel. Der Kaperkrieg der Wassergensen
wurde während der ganzen Kriegszeit rüstig weitergeführt und brachte der
Union in manchen Jahren ganz bedeutende Einkünfte. Schnell lernte die
Republik, wie der Krieg den Krieg ernähren müsse. Spanien allein trug die
Kosten des gewaltigen Ringens. Großartig entfaltete sich die Spannkraft des
kleinen Gegners. Unerschöpfliche Lebenskräfte strömten der nationalen Sache
zu. Unglücklich zu Wasser wie zu Lande mußte Spanien dulden, daß sein
Gegner im Außenhandel des Weltreichs eine hervorragende Rolle spielte. Als
es dieses unwürdige Verhältnis abschüttelte, den holländischen Schiffen 1584
Lissabon, 1599 die spanischen Häfen schloß, da trieb es nur die holländischen
Getreideflotten ins Mittelmeer und veranlaßte einen bald ganz kolossalen
Schinnggelhandel, der namentlich in den Händen der kühnen Seelünder lag,
und dabei stellte es die Holländer nnr vor die Wahl, entweder die Kolonial¬
waren durch eine Zwischenhaut zu beziehn oder selbst ihre Ursprungsländer
aufzusuchen.
Und wagemutig und schnell entschlossen thaten sie das zweite. An die
Stelle der friedlichen Erwerbung der Kolonialwaren setzten sie ihre Eroberung
mit den Waffen. Im Kanal, auf dem Atlantischen Ozean, in den Gewässern
der beiden Indien, überall maßen sich die beiden Feinde. Wiederholt hat die
spanische Diplomatie versucht, den Niederländern den Hauptnerv ihres Handels,
den Verkehr mit der Ostsee abzuschneiden. Immer vergeblich. Im Jahre 1596
landete Houtmann nach fünfzehnmonatiger Fahrt ans Java. Jahr für Jahr
zogen nun die wagehalsigen Entdecker und Ervbrer aus den heimischen Häfen,
um einen vom Feinde nicht bedrohten Weg nach den Ländern der Gewürze zu
finden; ein unzähmbares Geschlecht voll Thatendrang und Abenteuerlust, würdig
der Grabschrift des Seehelden van der Hülfe in der Amsterdamer Kirche. süd-
westwärts erprobten sie den Weg um Amerika herum, in nordöstlicher Richtung
suchten sie die Durchfahrt nach Asien zu finden clvgr8 <lo»r't ^s.
Im Jahre 1601 genehmigten die Hvchmögenden die Stiftung der ost¬
indischen Kompagnie, 1621 folgte die Einrichtung der westindischen. Der Zweck
war, Spanien und Portugal von den Quellen ihres Reichtums, dein Verkehr
mit ihren Kolonien abzuschneiden, die Sicherheit der eignen Kauffahrer zu er¬
höhen, Nachfrage und Handelsgewinn zu sichern. Die Gesellschaften waren
souverän in Amerika, Westafrika und um den Gestaden des Indischen Ozeans.
Die ganze Verwaltung war allerdings ein schwerfälliger Mechanismus, wenn
er auch im Anfang, angetrieben dnrch den allgemeinen Aufschwung des nieder¬
ländischen Handelslebens, durch die koloniale Begeisterung, das Glück der
Waffen, in lebhaftem Schwunge war. Die Gesellschaften unterhielte» eigne
Heere und Flotten, nud der hartnäckigste und begeistertste Verfechter der west¬
indischen Kompagnie, llsselinex, glaubte seinen Landsleuten die Bedeutung
kolonialer Unternehmungen dnrch nichts deutlicher machen z» könne» als dnrch
den Hinweis darauf, daß gerade sie dem Staate eine große und schlagfertige
Seemacht für Krieg nud Handel schufen. Und klar setzte er ihnen ferner aus¬
einander, daß sich die Seemacht eines Landes nicht nach der Macht des Landes
überhaupt richten dürfe, sondern daß sie sich dem Seehandel des Landes an¬
zupassen habe. Nicht besser konnte die innige Beziehung zwischen der Größe
der Handelsflotte und der Kriegsflotte als etwas zwingend Notwendiges aus¬
gesprochen werden. Und solange die Niederlande diese Einsicht geteilt haben,
solange sie sich nicht von übel angebrachter Sparsamkeit und eitler Friedeus-
seligkeit habe» leite» lassen, solange haben sie die erste Rolle auf den Welt¬
meeren als Seemacht und Handelsvolk zu spielen vermocht.
Auch wegen der großen und langen Seefahrt war die Erwerbung ferner
Kolonien von dein höchsten praktischen Wert, Je länger die Reise war, um so
stärker mußte die Bemannung sein, wodurch im Kolonialverkehr eine gleiche
Tonnenzahl bedeutend mehr Seeleute, zumal Matrosen heranzubilden imstande
war, als im Verkehr mit den europäischen Nachbarn, Deal das eigentlich
Bildende für den Seemann ist doch immer der möglichst lange Dienst auf dem
Meere selber gewesen. Aber die langen Seereisen erforderten auch eine an¬
sehnlichere Größe der Schiffe, und große Schiffe eigneten sich, wenn nötig,
wieder besonders gut zur Verwendung als Kriegsschiffe, Auf große Schichten
des Volks, sowohl in den Niederlanden wie in England, wirkte der Kolonial¬
handel gerade in diesen Richtungen außerordentlich fördernd.
Rasch dehnte sich das ostindische Kolonialreich der Niederländer aus. List
und Gewalt, tiefste Demütigung und herrische Grausamkeit waren die Hebel
der Fortschritte, Im Jahre 1619 wurde Batavia die Residenz des General-
gouöerneurs. Sogar mit dem starren Japan wurden Handelsbeziehungen an¬
geknüpft, auf Formosa entstand eine holländische Kolonie für den Handel mit
China, der durch die Eroberung der Straße von Malakka noch eine weitere
Sicherung erfuhr. Im Jahre 1657 wurde das überreiche Cehlon den Portu¬
giesen entrissen. Nach Südosten waren Neu-Seeland und Vandiemenslnnd
die äußersten holländischen Posten. Erst gegen Ende deS siebzehnten Jahr-
hunderts wurde das Kapland als Stützpunkt auf der indische» Handelsstraße
von den Holländer» besetzt.
Nicht ebenso glücklich war die Lage der westindischen Kompagnie, Sie
sollte die eigentliche Waffe gege» Spanien sein, in organisierten Seeraub mit
starken Geschwadern den Verkehr- zwischen Spanien und Amerika unmöglich
machen. Darüber hinaus aber schritt sie vor allem zur Eroberung Brasiliens.
Bis 1636 waren große Teile des köstlichen Landes den Portugiesen abge¬
rungen. Von der Hauptstadt Necifc aus entfaltete Moritz von Oranien als
Generalstatthalter der Kompagnie eine weise weitschauende Negententhätigkeit,
Doch der Glanz währte nicht lange. Die heimischen Siedler, die fester als
Besatzungen und Kanonen die Eroberungen behaupten sollten, bliebe» aus, die
Handelsherren von Amsterdam aber schrieen über die ungeheuern Summe», die
die Kolonie koste, verlangten, daß sie etwas Ordentliches einbringen oder auf¬
gegeben werden solle. Als sich Portugal 1640 wieder von Spinne» losriß,
wirkte dieser Befrei»»gskrieg auch jenseits des Ozeans gewaltig stärkend auf
de» Widerstand der Portugiesen und Mischlinge gegen Holland. Und un»
erteilte die Kompagnie dem Prinzen de» Abschied und verminderte die kost¬
spielige» militärische» Kräfte der Kolonie ganz bedentend. Die Folgen zeigten
sich sofort; 1654 war ganz Brasilien von den Portugiesen wiedergewonnen,
und auch die westafrikanischen Eroberungen der Holländer gingen zum Teil
wieder verloren. Wieder war der Seeraub das Hauptgeschäft der Kompagnie,
dazu ein enormer Schmuggel zwischen den spanischen Häfen Amerikas und den
holländische» Stapelplätzen in Westindien,
Der Holländer wollte seine Kolonien nur für den Handel ausbeuten, und
er verfuhr darin ganz monopolistisch. Habsucht und Unsittlichkeit traten im
holländischen Kolonialsystem grell zu Tage. In geradezu schimpflicher Weise
wurde in den Aufwendungen für Heerwesen und Rechtspflege in den Kolonien
gespart. Die Organisation eines großen Reichs durch eine schöpferische Politik,
wie sie von den Engländern in Indien nachmals so glänzend gelöst worden
ist, wurde von den Holländern in ihrem Indien nie versucht. Die Thätigkeit
des Oraniers in Brasilien stieß auf den Widerspruch der Kaufleute, weil sie
uicht sofort auf ihre Kosten kamen, und mußte aufgegeben werden. Und die
einzige wahrhafte SiedluugSkolonie der Holländer, Neu-Niederland mit der
Hauptstadt Neu-Amsterdam, dem heutigen Newyork, erlag der kolonisatorischen
Überlegenheit der angelsächsischen Rasse. Nicht anders erging es der benach¬
barten schwedischen Kolonie. Lange bevor Hollands Stern vor dein englischen
erblich, war Nordamerika von den Angelsachsen friedlich erobert worden.
Der Eroberung der neuen Welten durch deu holländischen Handel ging
ein gewaltiger Aufschwung des holländischen Handels in Europa parallel. Zu¬
nächst in der Ostsee. Alle Zeugnisse der Zeitgenossen stimmen darin überein,
daß sich auf die Beherrschung des Ostseeverkehrs aller übrige Wohlstand gründe.
Den Verkehr durch den Sund uuter allen Umständen in Gang zu erhalten,
blieb daher ein Hauptziel der friedlichen wie der kriegerischen Politik der
Union. Noch 1531 waren 310 holländische Schiffe nach der Ostsee gefahren,
1587. im April liefen gegen 800 dahin aus, für 1635 giebt ein offizielles
Aktenstück die Zahl der niederländischen Ostseefahrer auf 6000 mit einem
Naumgehalt von 720000 Last an. Das war ein Sechstel des Gesnmtbestands
der niederländischen Handelsmarine, aber über ein Drittel des Gesamtraum-
gehnlts. Und zu derselben Zeit wurde der ganze Kolouialhaudel von 300
Schiffen mit 75000 Last betrieben. Im Jahre 1666 waren drei Viertel des
Kapitals der Amsterdamer Börse im Ostseehandel angelegt. Nächst diesem
spielte die Heringsfischerei in der Nordsee die Hauptrolle. Ihr standen 1634
2500 Schiffe mit 75000 Last zur Verfügung. Und darüber hinaus lockte der
Walfischfang nach den Gewässern des Nordens, unschätzbar als die hohe
Schule für das Schiffsvolk. Zum Mittelmeer nahmen die holländischen Be¬
ziehungen einen mächtigen Aufschwung durch Antwerpens Fall und trotz des
Krieges mit Spanien. Im Jahre 1591 gingen 400 holländische Schiffe mit
Korn nach dem Mittelmeer, wo allerdings große Teuerung war. Für 1634
werden als thätig im Mittelmeerhandel, Spanien und Portugal mitgerechnet,
angegeben 1500 Schiffe mit 150000 Last. Die Verdienste der Kaufleute und
Reeber aus diesem Verkehr waren, ebenso wie die aus dem indischen, enorm.
Kolonialwaren, Ostseegetreide, Nordseeheringe, holländische Mauufakturwaren
fanden hier einen vorzüglichen Markt. Nur in Flotten zu 30 bis 40 Schiffen
jedes mindestens 100 Last groß und uach Vorschrift mit 16 bis 28 Geschützen
armiert durfte die Fahrt wegen der französischen und marokkanischen Seeräuber
gewagt werden. Daß der Schaden durch diese Seeräuber zwischen 1641 und 1650
jährlich für Holland fast eine Million Gulden betrug, wirft doch auch ein Licht
auf einen Handel, der solche Verluste ohne Störung tragen konnte.
Gerade diese Periode des achtzigjähriger Ringens mit Spanien ist die
Zeit der gewaltigsten Ausbreitung, der Höhepunkt der niederländischen Lei¬
stungen in Handel und Schiffahrt geworden. Nie wieder hat ein Volk ein so
unzweifelhaftes Übergewicht im Welthandel und in der Reederei behauptet,
wie die Niederlande gegen die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Und
Colbert übertreibt vielleicht gar nicht, wenn er vier Fünftel der ganzen euro¬
päischen Marine den Holländern zuschreibt. Alle nationalökonomischen Schriften
dieser Zeit sind denn auch voll des Lobes über die Segnungen von Handel
und Schiffahrt und vergessen nicht, unter den Gründen für diese wunderbare
Blüte auch das Vorhandensein einer tüchtigen, schlagfertigen Kriegsflotte
hervorzuheben. Allerdings würde der holländische Seehandel nicht im ent¬
ferntesten vermocht haben, sich zu solcher Überlegenheit emporzuschwingen, wenn
nicht während dieser ganzen Zeit mächtige Schlachtflotten und Kreuzer im
Kanal vor den heimischen Küsten wie auf dem freien Ozean der Handelsflagge
ruhmvoll die Bahn gebrochen hätten. Seine Weltstellung verdankte das
niederländische Volk ganz ausschließlich den kühnen Wagnissen eines unver¬
gleichlichen Menschenmaterials, der festen Überzeugung von der Notwendigkeit
einer großen Seerüstnng, der schnellen und einmütiger, ja begeisterten Schaffung
einer solchen in Fällen der Gefahr. Dann drängte das seemännische Genie
des Volkes zur That, und die Pieter, Heyn, Tromp, van Galen, de Ruyter,
Jan und Cornelis Evertson u. a. führten die Flagge der Generalstaaten auf
allen Meeren zum Siege.
Daß der Krieg zur See in allererster Linie ein wüster Kaperkrieg war,
brachte es mit sich, daß uoch 1587 die zwei größten Kriegsschiffe der Union
nicht über 100 Last groß waren mit 95 Mann Besatzung und 16 Geschützen
zumeist von ganz leichtem Gewicht. Die armierten Kauffahrer waren häufig
wesentlich größer. Dagegen finden wir 1628 die Flotte in der Stärke von
133 Schiffen, wovon weit über die Hälfte 100 bis 300 Last groß war. Eine
bedeutende Verstärkung erwuchs dieser heimischen Seemacht durch den mächtigen
Schiffsbestand der beiden großen überseeischen Kompagnien. Unter ihnen waren
solche von 400 bis 500 Last, die man in der regulären Flotte vergeblich sucht.
In sehr wirkungsvoller Weise entlasteten sie dadurch, daß sie den Krieg aufs
freie Meer hinausspielten, entweder die heimische Schlachtflotte, oder sie stellten
in schwierigen Augenblicken ihre Kreuzer den Schissen des Staates an die
Seite, wie z. B. in der großen Seeschlacht vor den Downs 1639 gegen die
spanische Armada, die an Gefechtskrast der einzelnen Schiffe unzweifelhaft
überlegen war und dennoch völlig zertrümmert wurde. Es war die moralische
Überlegenheit der Niederländer, die diesen glänzenden Sieg errang. Und erst
diese furchtbare Schlacht verlieh der niederländischen Flotte das überlegne Selbst¬
vertrauen, das vor keinem Feinde Halt macht, und der niederländischen Politik
die schneidige Waffe, die sie mit demselben Vertrauen auf Erfolg fortan benutzte.
Im Jahre 1648 wurde zu Münster zwischen Spanien und den Nieder¬
landen Frieden geschlossen. Der Krieg um Glauben und Freiheit war sieg¬
reich beendet. Was erwarteten die holländischen Regenten nicht erst alles vom
Frieden für die Blüte des Handels! Fielen doch alle die Kriegslasten und
ein großer Teil der Ausgaben für das Heer weg, zu denen sich der Kaufmann
nur widerstrebend entschloß. Wie unbequem diesen Kreisen schon längere Zeit
der Krieg gewesen war, das bezeugt ganz unzweideutig ein Wort de la Courts,
des engen Freundes und politischen Vertrauten Jau de Wilts: „Besser ein
Friede mit Beschwerlichkeit, als ein Krieg mit eitel Gerechtigkeit." Ein andrer
Freund variierte dasselbe Thema in dem bekannten: „Friede in unsern Tagen
und Friede überall, weil unsre Kommerzien überall hingehn." Die Parole
des Amsterdamer Welthandels aber betonte es am schärfsten: „Friede mit
jedermann, Friede um jeden Preis." Unumwunden trat nach dein Friedens-
schlusse in den regierenden kaufmännischen Kreisen die Scheu vor Geldauf-
wendungen, die klägliche politische Feigheit hervor, die bisher uoch immer durch
die Kriegsbegeisterung der Massen zum Schweigen gebracht worden waren.
In schimpflicher Fricdcnsseligkcit suchte sich der holländische Kaufmann seinen
Platz und sein Ansehen zwischen Nationen zu wahren, die zu Lande die eine,
zur See die andre nach der Weltherrschaft zu trachten begannen. Was wollten
denn aber überhaupt seine Ansprüche ans Berücksichtigung seiner selbstgewählten
Neutralität, auf ein Monopol der Beherrschung der Meere und des Koloninl-
handels bedeuten, wenn seine elende Sparsamkeit, seine politische Unfähigkeit,
besserer Einsicht unzugänglich, die Abrüstung durchsetzte? Die Festungsbarrierc,
die jetzt gegen Frankreich hätte schützen müssen, wie sie früher das Bollwerk
gegen Spanien gewesen war, ließ man verfallen, trotz der drohenden Fort¬
schritte des französischen Gegners. Aber noch blieb die Flotte zum Schutz
gegen den Feind, den der holländische Kaufmann als seineu gefährlichsten
Rivalen ansehen mußte, gegen England! In, die Flotte, dieser Grundpfeiler
der ganzen Handelsblüte, die Flotte, die ihm die Welt erobert hatte, die ihm
allein den sichern Besitz des Welthandels und die freie Fahrt auf allen Meeren
sichern konnte, diese Flotte wurde ebenfalls vernachlässigt. Unglaublich erscheint
es, mit welcher Kurzsichtigkeit sich Holland selbst dem Verderben auslieferte.
Sogleich nach dem Friedensschlüsse wurde die Zahl der regulären Kriegsschiffe,
die 130 bis 150 betragen hatte, auf 40 hinabgesetzt, die Mannschaft wurde
entlöhnt bis auf die gnr uicht zu entbehrenden Menschen für die in Dienst
bleibenden Schiffe; technische Verbesserungen unterblieben. Wozu mich Aus¬
gaben machen? Man war ja Herr der Meere, man lebte ja in Frieden mit
den Nachbarn! Viel kostbares Personal trat damals in fremde Dienste.
Allerdings wurde dem holländischen Kaufmann und dem Leiter des Staats
Jan de Witt unbehaglich, wenn sich ihr Blick ans die emporstrebende Seemacht
Englands lenkte, die nicht gewillt schien, ehrfurchtsvoll Halt zu machen vor
holländischen Monopolen. Jetzt zerbrachen die alten Grundlagen des handels¬
politischen Verhältnisses zwischen beiden Mächten. Schon seit der Mitte des
sechzehnten Jahrhunderts hatte das englische Volk einen begeisterten Anlauf
genommen, die See zu gewinnen, den eignen Handel selbständig, unabhängig
von fremder Vermittlung zu macheu. Die trüben Zeiten der Stuarts brachten
wieder Rückschritte in den auswärtigen Unternehmungen. Vergeblich erhob Sir
Walther Naleigh seine mahnende Stimme und wies zuerst seine Landsleute
auf das holländische Vorbild hin. Erst lange nach seinem Tode reiften die
Früchte seiner Wirksamkeit. Noch im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts
sah es mit der englischen Seeschiffahrt im Vergleich zur holländischen dürftig
aus. Noch 1640 standen im Verkehr durch den Sund 1600 holländischen
Schiffen 430 englische gegenüber, noch 1650 verhielt sich der holländische zum
englischen Handel wie 5 zu 1. Da erhielt der Ehrgeiz der Nation seine Ver¬
körperung in Oliver Cromwell. Die Navigationsakte wurde 1651 erlassen.
Sie verbot zum Schutz und zur Hebung der englischen Seefahrt den Zwischen¬
handel aller fremden Flaggen. Es war ein Schlag, dessen volle Wucht Holland
traf. Wohl legten diese Prohibitivbestimmungen dem englischen Volksvermögen
zunächst schwere Opfer auf; es mußte jetzt teuer im Inlande produzieren, was
es bisher mit Leichtigkeit vom Auslande bezogen hatte. Der Schiffbau, der
vor allem durch die Akte gefördert werden sollte, war 1653 über 30 Prozent
teurer als vor dem Erlaß. Die Matrosenlöhne stiegen dermaßen, daß der
russische und grönländische Handel der Engländer vollständig an die Holländer
verloren ging. Dennoch wurde auch die Akte bei der Restauration der Stuarts
1660 sogar noch erweitert, und schon 1669 wurde sie von dem tüchtigen
Nationalökonomen Child als die ingAua oug-rta des englischen Seewesens ge¬
feiert. Wenig später drückte der Großkanzler das Endziel der britischen Heraus¬
forderung der Niederländer durch das brutale: LartliASinöm osso ävlönäiliri
im Parlament aus, und die Regierung schuf das Mittel, diesem Worte Nach¬
druck zu geben und deu holländischen Welthandel durch einen britischen zu er¬
setzen, planmäßig und mit zäher Energie: eine überlegne Kriegsflotte.
Auf die Navigationsnkte, diese Vergewaltigung der holländischen Schiff-
fnhrt, antwortete Holland im Vertrauen auf eine krieg- und sieggewohnte Flotte
mit Krieg. Und nun rangen die alte und die junge Macht deS Welthandels
in dreien der schwersten und blutigsten Seekriege (1652 bis 1654, 1665 bis
1667, 1672 bis 1674). Die Holländer stritten mit dem alten Löwenmute.
Aber die holländischen Admiräle selbst erhoben die gewichtige Stimme über den
geringen Wert der eignen Flotte gegenüber der englischen, die in fieberhafter
Thätigkeit durch mächtige Schiffe verstärkt wurde.
Aufs schwerste rächte sich nun die Knauserei des herrschenden Regiments
an der Nation. Die niederländischen Schiffe waren kleiner, schwächer armiert,
»»vollständig ausgerüstet und bemannt. Die Flotte war nicht den gestiegnen
Anforderungen des Seekriegs, der Verstärkung der fremden Mariner ent¬
sprechend, weiter entwickelt worden. Und die Versuche der Niederländer,
während dieser Kriegsperiode das Versäumte nachzuholen, waren insofern er¬
folglos, als auch England unablässig seine Flotte verbesserte. Ein Blick auf
die beiden Flotten wird das erläutern: Die englische 1653: 131 Linienschiffe,
davon 26 zu 700 bis 200 Mann Besatzung und zu 104 bis 50 Kanonen.
Die holländische 1654: 101 Linienschiffe, davon nur el» einziges mit 120 Manu
und nur 10 zu 50 bis 60 Geschützen. Die englische 1665: 109 Linienschiffe,
davon 50 bis 60 zu 700 bis 200 Mann, 34 zu 100 bis 50 Kanonen, die
holländische 1665: 103 Linienschiffe, davon 63 zu 400 bis 200 Mann, 37 zu
78 bis 50 Kanonen.
Aber die anscheinenden Fortschritte der holländischen Armierung dürfe»
nicht täuschen: von den holländischen Geschützen waren die schwersten zu
36 Pfund sehr spärlich vorhanden, die nächstgrößten von 24 Pfund auch nicht
häufig. Von beiden Sorten verfügte die Flotte nnr über 92 Geschütze. Die
britische Flotte dagegen führte 452 Geschütze zu 42 bis 24 Pfund, dabei
allein 78 zu 42 Pfund!
Wenn die niederländische Flotte in diesen drei Kriegen die See sogar
noch mit Ehren behauptet hat, so dankte die Nation dies der unverwüstlichen,
überlegnen seemännischen Fähigkeit der Mannschaften, wie ihrer Führer Tromp
und de Ruyter. Aber gleichwohl wurde die Leistungsfähigkeit des Volkes er¬
schöpft, und es vermochte nicht, die Versäumnisse im Seewesen nachzuholen
und die Engländer zu zwingen, ihre Forderungen zu mildern. Es mußte die
Navigatiousaktc anerkennen, es mußte der britischen Flagge den Gruß auf den
Meeren zugestehn, es mußte auf seine nordamerikanische Kolonie verzichten.
Trotz der niederländischen Heldenthaten zur See stand es 1674 fest, daß die
erste Seemacht der Welt fortan England hieß.
Als beim Ausbruch des dritten Seekriegs mit England feige Angst die
Unmännlichkeit des kaufmännischen Regiments offenbarte, als Jan de Witt in
kriechender Demut England zu beschwichtigen suchte, da geriet wohl das Volk
in furchtbare Erregung, zerfleischte die beiden Brüder de Witt und rief den
letzten Oranier an die Spitze des Staats. Aber als er 1689 den englischen
Thron bestieg und die Niederlande bis 1702 in eine Union mit ihrem gefähr¬
lichsten Rivalen kamen, erntete nur England die Vorteile davon. Von 1660
bis 1715 verdreifachte sich nahezu die englische Kriegsflotte; die niederländische
zeigte schon 1691 leine Fortschritte gegenüber dem Bestand um regulären Schiffen
in der Kriegszeit, dagegen schon bis 1706 ein Zuruckgehn der großen Linien¬
schiffe zu 94 bis 50 Geschützen von 44 auf 30 Schiffe und der Gesamtbesatznng
der Flotte von 16000 auf 11500 Köpfe. Das war die Antwort auf den Rat
eines Einsichtigen, der noch is69 die Notwendigkeit einer Flotte, die der eng¬
lischen die Stange halten könnte, dringend betont hatte. Resigniert machte
derselbe Mann das Eingeständnis, daß der ganze Handel und Fischfang der
Niederländer von Englands Freundschaft abhänge.
Dahin war es gekommen, so tief gesunken war in wenig Jahrzehnten das
Heldenvolk des spanischen Kriegs, das groß geworden war durch seinen Kampf
um die Herrschaft auf den Meeren. So verständnislos legte es die Hände in
den Schoß, ließ es seine Flotte verfallen und sah zu, wie der englische Rivale
die seinige vermehrte, wie dessen Handel lind Schiffahrt es svgcir aus den
wichtigsten Erwerbszweigen zu verdrängen begann, wie dann auch Frankreich
und andre Staateil durch Zolltarife und Ausfuhrverbote auf Rohstoffe seinem
Handel, seiner Industrie und Schiffahrt Schlag auf Schlag zufügten, wie Frank¬
reich seinen Allsprüchen auf die souveräne Beherrschung des Mittelmeers Nach¬
druck verlieh, wie Ostsee- und Mittelmecrmüchte seinen Verkehr schädigten. Und
doch wußte man es sehr gut, daß die Niederlande unmöglich weiterbestehn
konnten, wenn ihrer Flagge nicht die Achtung des Allslands, ihrem Handel
nicht die auswärtigen Absatz- und Bezugsländer gewahrt blieben!.
Die politische Geltung der Niederlande war in unaufhaltsamem Verfall.
Als mit dem Tode Wilhelms von Ormiien die Union mit England zerriß,
da klammerten sie sich gleichwohl ängstlich an die Freundschaft Englands, um
in englischem Schutze Störungen ihres Handels durch andre Mächte zu ver>
meiden. Immer kläglicher ließ man die Wehrkraft des Landes verfallen, ja
1757 brachte es der Staatsrat der Union über sich, ein Gutachten abzugeben,
das dahin ging, daß die Republik ihre Kriegsflotte auflösen und es den Kauf-
fahrern überlassen solle, sich selbst zu schützen. Der sinkenden politischen und
militärischen Bedeutung der Niederlande folgte allmählich, aber unabwendbar
der Verlust des Handels auf dem Fuße. Wie sollte sich auch das Vertrauen
in eine Schiffahrt erhalten, auf deren Beschirmung der Staat selber verzichtete!
Dagegen zeigte sich England in stetig wachsendem Maße imstande, seine
Handelsflotten mit den auch im achtzehnten Jahrhundert noch unentbehrlichen
starken Cvnvois zu Versehen. Jetzt zeigten die Niederlande in ihrer haltlosen
selbstgeschaffnen Schwäche die größten Sympathien für die Ausbildung eines
Seerechts, wovon sie in den Zeiten ihrer eignen Seeherrschaft nie viel hatten
wissen wollen. Immer lebhafter suchten sie dem Grundsatze: Frei Schiff, frei
Gut Geltung zu verschaffen. Aber vergeblich: weil die Niederlande ihren
Wünschen und Ansprüchen nicht mehr mit gewappneter Faust Nachdruck zu
geben wagten, mußten sie demütig ihr Schicksal aus der Hand der sec-
mächtigen Nationen erwarten und schweigend die Kapereien der Freunde wie
der Feinde dulden.
So begann im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts der Seehandel,
als sich ihm das Ausland verschloß und der heimische Staat ihm keine Sicher¬
heit und Anerkennung bei den andern Mächten zu erzwingen wagte, die Nieder¬
lande zu fliehen. Hatte sich der holländische Handel zum englischen wie 5:1
Verhalten, so war das Verhältnis hundert Jahre später wie 6:7, und nach
furchtbarem Kriege und nach dem Aufkommen der neuen Maschinengewerbe 1792
nur noch wie 2 : 5. Der Rückgang der Industrie war beispiellos. Die großen
überseeischen Handelskompagnien verfielen infolge der Vcrrottung ihrer Ver¬
waltung, infolge der Konkurrenz der Engländer und der Schutzlosigkeit der
Schiffahrt gegen Kaperei. Der tüchtige Luzae, der 1778 sein Buch über
„Hollands Nykdom" schrieb, nannte als eins der allergrößten Übel, als eine
Hauptursache des Verfalls der holländischen Handelsmacht und Seegewalt die
unzeitgemäße Sparsamkeit Heer und Flotte gegenüber, die in den Zeiten des
städtisch-kaufmännischen Staatsregiments immer am schlimmsten gewesen sei.
Wohl traten gewichtige und einsichtige Urteile auch sonst hervor und sprachen
beredt und überzeugend dafür, daß mit dem alten Schlendrian in der Heimat
und in den Kolonien gebrochen werden müsse, daß man die Hände nicht in
den Schoß legen und verzweifeln dürfe. Aber sie schlugen die seemännische
Tüchtigkeit des Volkes nur noch gering an. Sie empfahlen, sich für See¬
wesen und Schiffahrt in der ausländischen Litteratur Rats zu holen und See-
mmmsschnlen zu gründen. Umsonst; auf keinem Gebiete zeigte sich ein praktischer
Erfolg aller dieser Vorschläge, und plötzlich war jede Reform verspätet: die
Nation stand vor ihrem schwersten Kriege.
Im Jahre 1775 begann die Erhebung Nordamerikas gegen die englische
Herrschaft. In den Niederlanden war die Begeisterung groß für die Tapfern,
die gegen die englischen Heere für Freiheit und Vaterland fochten. Eigen¬
mächtig schloß Amsterdam 1780 mit der jungen Union der amerikanischen
Staaten eiuen Handelsvertrag ab. Waffeusendungen gingen aus deu Nieder¬
landen nu die Aufständischen. Die englische Negierung führte Beschwerde, das
englische Volk geriet in ungeheure Erbitterung. Mit frivolem Leichtsinn wurde
die Kriegserklärung Englands herausgefordert, und sie erfolgte schnell, ehe noch
die Niederlande Rückhalt suchen konnten an der eben gegründeten bewaffneten
Seeneutralitüt der nordischen Mächte. Wo aber waren die Waffen, mit denen
Holland den großen Worten auch Thaten hätten folgen lassen können; wo
war die Flotte, die allein gegen einen solchen Gegner hätte Schutz gewähre»
können? England führte den Krieg mit der ganzen Wut, die seine Mißerfolge
jenseits des Ozeans im Volke angesammelt hatten. Was die Holländer noch
nu Welthandel hatten, wurde vernichtet. Ihre Handelsmacht erhielt den töd¬
lichen Stoß, die Kolonien wurden ihnen fast sämtlich genommen, ihre Schiffe
massenhaft gekapert, unermeßliche Bente wurde von den Engländern gemacht.
In kurzer Zeit war das Land in das furchtbarste Unglück gestürzt, die Verluste
für das Nationalvermögen waren nicht wieder gut zu macheu.
So rächte sich die bodenlose Vernachlässigung seiner Seerüstnng an Holland,
die vier Generationen lang systematisch von dem kaufmünnisch-patrizischen Staats¬
regiment betrieben worden war. Von 1796 bis 1813 stand die Republik nnter
der Herrschaft Frankreichs. Der englisch-französische Krieg seit 1803 und
vollends die Kontinentalsperre vollendeten die Vernichtung des holländischen
Seeverkehrs. Zwar gab der allgemeine europäische Friedensschluß 1814 deu
Niederländern die wertvollsten indischen Kolonien zurück, stellte die Selbständig¬
keit des Staats wieder her; aber die Lebenskraft und die Seegeltung des Volkes
bliebe» gebrochen.
Der unselige Glaube, sich in Friedenszeiten zu Lande und zur See un¬
gestraft der Sorge um die Kriegsmacht entschlagen, die Mittel zur Sicher¬
stellung des Staates und seines Handels vernachlässigen zu dürfen, dieser
Glaube seiner Machthaber brachte Holland im achtzehnten Jahrhundert a»
deu Rand des Verderbens; er lieferte die Errungenschaften von Jahrhunderten
emsiger, fast beispielloser Arbeit des Volkes der Vernichtung durch seemächtigere
Gegner aus; er führte den Zusammenbruch der politischen Machtstellung des
Staates herbei.
ir Leute von der Feder beschweren uns immer darüber, daß das
deutsche Publikum zu wenig Bücher kaufe, aber im Grnnde ge¬
nommen kauft es viel zu viel; es kauft Schund, es kauft ver¬
rückte Bücher, es kauft Sachen, die durchzulesen der Rezensent
sich mir entschließen kann, wenn er ein gläubiger Christ ist, weil
er dann solche Lektüre als eine Buße für seiue Sünden auf sich nimmt, die
ihm ein paar Jührchen Fegefeuer ersparen. Zu dieser Sorte von Büchern gehört:
Das Komische. Eine Untersuchung von Dr. Karl Überhorst, ordentlichem
Professor der Philosophie an der Universität Innsbruck. (Leipzig, bei Georg
Wigand.) Der erste Teil, der das „Wirklich-Komische" behandelt oder viel¬
mehr behandeln soll, ist vor vier Jahren erschienen und muß doch Absatz ge¬
funden haben, sonst würde sich der Verleger auf den zweiten jetzt erschienenen
nicht eingelassen haben, der, 824 Seiten stark, „das Fälschlich-Komische, be¬
sondre Erscheinungen des Komischen, Witz, Spott und Scherz" behandelt und
außerdem „Nachträge zur Lehre vom Wirklich-Komischen" enthält. Schon die
Definition des „Wirklich-Komischen" ist ein Hohn auf die Ästhetik des zwanzigsten
Jahrhunderts. „Komisch erscheint uns ein Zeichen einer schlechten Eigenschaft
einer andern Person, wenn uns um uns selbst keines eben derselben schlechten
Eigenschaft zum Bewußtsein kommt, und das keine heftigen unangenehmen Ge¬
fühle in uns hervorruft." Ich lache über die Dummheiten, die ich selbst aus
Ungeschicklichkeit oder infolge meiner Taubheit begehe, gerade so wie über die
andrer Personen, und wenn auch oft, nicht immer, „eine schlechte Eigenschaft,"
worunter Überhorst alle geistigen, sittlichen, körperlichen und Bildungsmangel
versteht, den Anlaß zur Komik giebt, so liegt diese doch nicht in der „schlechten
Eigenschaft" selbst, sondern in deren Kontrast mit irgend etwas anderm. Ein
Loch in der Hose ist an sich nichts Komisches, sondern uur etwas Häßliches.
Über deu zerlumpten Vagabunden lachen wir nicht, sondern wir empfinden bei
seinem Anblick, je nach Stimmung und Umständen, Mitleid oder Entrüstung
oder Ekel. Dagegen lachen wir über einen Stutzer, dem, ohne daß ers ahnt,
ein Teufelchen die Gewandung verunziert hat, weil dann seine Erscheinung im
stärksten Gegensatz steht zu der Ängstlichkeit, mit der er die tadellose Eleganz
seines äußern Menschen anstrebt. Über zerlumpte Arme tonnen wir nnter
Umstanden lachen, z. B. wenn wir zerlumpte Kinder froh wie Götter sehen,
oder wenn wir zerlumpte Zigeunerknaben fragein Was seid ihr denn? und
einer von ihnen antwortet mit majestätischer Gebärde: Künstleer! Es kann
einer ganz frei sein von schlechten Eigenschaften: ein Apoll von Gestalt, ein
Sokrates an Weisheit, dazu ein Heiliger und ein Held, wenn er aber in eine der
Gesellschaften geraten ist, wo man nach Tisch den Kaffee stehend trinkt, und
wenn er niesen muß, während er — in der linken Hand die volle Kaffee¬
tasse, in der rechten ein Stuck Kuchen — dasteht, so bietet er einen komischen
Anblick.
Aus der ersten Verschrobenheit geht die zweite hervor, der wir diesen
dicken Band verdanken. Weil zum Komischen eine „schlechte Eigenschaft" ge¬
hört, so soll in den Fällen, wo nur über den Schein einer schlechten Eigen¬
schaft gelacht wird, das ein Fälschlich-Komisches sein. Es lohnt nicht, auf die
Begriffsspaltere! einzugehn, mit der Überhorst dieses Fälschlich-Komische, sowie
dann Witz, Spott und Scherz, Erzeugnisse der Laune, die sämtlich in das
Prokrustesbett der schlechtem Eigenschaft gesummt werde», in unzählige Arten
und Unterarten zerlegt, sodaß er eins der wunderlichsten Beweisstücke für übel
angewandten Gelehrteuscharfsinn und Gelehrtenfleiß zustande bringt. Und mit
der Gelehrtenpedanterie verbindet er einen unglaublichen Grad von Schul¬
meisterpedanterie. Manche von seinen Erörterungen würde sich ja in den Mittel¬
klassen eines Ghmnasiums ganz gut machen, da es jedenfalls zum Unterricht
im Deutschen gehört, daß der Lehrer bei einem witzigen Satze fragt, worin
das Witzige bestehe, und wenn es die Schüler nicht hermisbekommen sollten,
es ihnen erklärt. Aber was man den Dümmern unter den Tertianern zu er¬
klären genötigt sein kaun, braucht doch den Lesern eines wissenschaftlichen
Buchs nicht erklärt zu werden, und Überhorst erklärt viel mehr, als die
dümmsten Tertianer brauchen. Man lese z. B. folgendes ans Seite 665:
„Vor einem Holzverkanftermine hatten sich gewisse Käufer über ihre ab-
zugebeudeu Gebote resp, sovil Wustmann hat der Innsbrucker Philosophie-
Professor keine Ahuuugj über das unter sich zu verteilende Material nicht
einigen könne»; von Anzüglichkeiten kam. man zu Thätlichkeiten, bis eine
glänzende allgemeine Prügelei im Gange war. Da rief jemand, der hinzu¬
kam, aus: »Eine sonderbare Auktion! hier wird schon zugeschlagen, ehe nns-
geboten ist!« Der Ausdruck »hier wird schon zugeschlagen« wird zunächst in¬
folge des Zusammenhangs der Rede in der Bedeutung von: »Hier wird schon
der Zuschlag erteilt« genommen. Nun erweist es sich aber als sehr unwahr-
scheinlich, daß bei einer Auktion der Zuschlag erteilt wird, bevor ausgeboten
wurde, und diese llinvahrscheinlichkeit veranlaßt den Hörer, den angegebnen
Ausdruck vielmehr im Sinne von: »Hier wird scho» geprügelt« aufzufassen,
wodurch sodenn die Bemerkung i» el»e spöttische sich verwandelt." Das wäre,
sollte man meinen, sogar für einen dentschen Professor der ansgestorlmen Art
gründlich — und ungeschickt genug; aber diesem Professor des zwanzigsten
Jahrhunderts genügt das noch nicht. Er bringt nenn Proben von dieser Art
des „sarkastischen Wortspiels" und erklärt alle neun so breitspurig wie die
erste. Und wenn er nur wenigstens bei seinen Erklärungen uicht oft so auf¬
fällig dancbenschösse, daß man meint, er stelle sich bloß dumm, und sein ganzes
Buch sei eine Mystifikation — ein Gedanke, der sich mir beim ersten Bande
aufdrängte, den aber das furchtbar ernste Vorwort zum zweite» Bande und
dessen Dicke unzulässig erscheinen läßt: so viel Mühe und Papier verschwendet
kein vernünftiger Mensch auf einen Scherz. Nur eine Probe von den un¬
zähligen Fehlschüssen! Als „besonders deutliches Beispiel davon, daß das
Wortspiel eine Leistung eiues guten Gedächtnisses ist," druckt er Seite 533
eine der lahmen und frostigen Witzeleien ab, deren Art durch den Anfang der
vorliegenden hinreichend kenntlich gemacht wird: „Der Entdecker der Kohle war
ein Onkel der alten Römer, der, da sie die Kohle Carbo nannten, von ihnen
Carbunkel genannt wurde. Sehr bald fand man, daß die Carbo, gut zubereitet,
ein ganz angenehmes Nahrungsmittel abgab; dasselbe ist noch heutzutage als
Carbouade bekannt usw." Nicht das Gedächtnis ist es, das zu solchen
wertlosen Leistungen befähigt, denn jeder mittelmäßig Gebildete hat alle die
Dinge und ihre Namen, die hier zusammengebracht werde», im Gedächtnis,
sondern es gehört dazu die Gabe, Dinge, die in unserm Gedächtnis weit aus¬
einander liegen, zusammen zu bringen; weshalb der Witz als die Fähigkeit
definiert werden kaun, verborgne Ähnlichkeiten heraus zu finden. Der Gleich¬
klang der Wörter ist nun aber nicht einmal eine verborgne Ähnlichkeit. Das
Wortspiel gilt deshalb mit Recht als die roheste Art von Witz und erscheint
nur dann erträglich, wenn, was bei Shakespeare immer der Fall ist, der Gleich¬
klang der Wörter dazu benutzt wird, eine Gedankenverbindung herzustellen.
Dagegen ein ganz sinnloses Verknüpfen von einander fremden Dingen durch
deu bloßen Namen, wie hier, ist gar nicht mehr witzig, oder gilt höchstens in
einer Gesellschaft von Hausknechten für witzig; es gehört daher zu einer solchen
Leistung weder Gedächtnis noch Witz, sondern nur Geschmacklosigkeit. Geschmack¬
losigkeit gehört nun auch dazu, solche Beispiele in ein wissenschaftliches Buch
aufzunehmen, nicht minder dazu, Beispiele, die sich rechtfertigen lassen, in solcher
Menge zu hüufeu, wie Überhörst es thut, und dergleichen massenhaft aus all¬
gemein bekannten und leicht zugänglichen Büchern und Zeitschriften aufzunehmen.
Von den 824 Seiten des Buchs kommen sicherlich nicht weniger als 600 auf
die Beispiele. Er druckt unter anderm ab: vier Seiten aus der Komödie der
Irrungen, zwei aus dem von Schiller übersetzten Lustspiel: Der Neffe als Onkel,
eine Unmasse aus dem Don Quixote, aus Heines poetischen und Prosasatireu,
aus Moliere und Fritz Reuter, er druckt das Gespräch zwischen Mephisto und
dem Schüler ab, statt bloß daran zu erinnern, und er begnügt sich nicht damit,
für gewisse Klassen von Witzen und von unfreiwilliger Komik auf deu Kladdera¬
datsch, auf dessen Briefkasten und auf die Fliegenden Blätter zu verweisen und
daraus nllerhöchstcus ein Beispiel für jede Gattung anzuführen, sondern er
druckt halbe Jahrgänge ab, ebenso viele Seiten aus Sammlungen scherzhafter
Gedichte und Vorträge. Wenn sein Buch nicht so umfangreich wäre, könnte man
es den Handlungsreisender als Ersatz für den „allzeit witzigen Gesellschafter,"
den „allzeit fertigen Toastredner" und die übrigen Requisiten eines Wirts¬
hauslöwen empfehlen.
Einer neuen Theorie des Komischen bedürfen wir nicht; mit den alten Lehren
unsrer großen Ästhetiker, die einander ergänzen, kommen wir vollständig ans.
Für den Ausbau dieser alten Theorien bleibt allerdings noch Raum und
Material übrig, und im einzelnen wäre noch so manches nützliche Geschäft zu
verrichten. So z. V. müßte einmal gründlich gegen das Fälschlich-Komische
zu Felde gezogen werden, nicht gegen das, was Überhörst irrtümlich so nennt,
sondern z. B. gegen Albernheiten wie die oben angeführten, die er selbst als
Witze passieren läßt. Es gehört dahin auch, wem? in Familienblätteru Un¬
fälle, die reine Unfälle und sonst nichts sind, Unsitten wie das Schulden-
machen, die ernste Rüge verdienen, und Dummheiten, die gar nicht vorkommen,
weil es so dumme Leute nicht giebt, als Stoff für Witze verwandt und sogar
zu sogenannten Humoresken ausgesponnen werden. Im häufigen Lachen über
Dinge, die eigentlich gar nicht lächerlich sind, liegt dann auch die Aufforde¬
rung, einmal den subjektiven Bestandteil des Komischen gründlich zu unter¬
suchen. Der ganz Stumpfsinnige lacht überhaupt nicht; weil er nur mit den
Angen und Ohren, nicht mit dem Geiste sieht und hört, darum schön und
häßlich, ernst und komisch nicht unterscheidet, kann er so wenig lachen wie das
Tier; deshalb sehen die Gesichter der brasilianischen Urwaldbewohner ernsthaft
und traurig aus. Der Stumpfsinnige verwundert sich auch über nichts; seine
Aufmerksamkeit erregt nur das, was entweder seinen rein tierischen Bedürfnissen
Befriedigung verspricht oder seineu Leib mit Schmerz und Tod bedroht. Ist
der Stumpfsinn überwunden und das geistige Leben erwacht, dann erregt jede
neue Erscheinung zunächst die Verwunderung, deren Ausdruck uns am nor¬
malen Kinde des Europäers erfreut. Und was den Ungebildeten aber zum
vollen Selbstbewußtsein Erweckten, z. B. einen Hinterwäldler, der das erstemal
im Leben eine Stadt betritt, was einen solchen in Erstaunen versetzt, das er¬
regt meistens auch sein Lachen; durch den Gegensatz zu allem Gewohnten wirkt
das Neue als ein Komisches auf ihn. (Von diesem Lachen ist das Verlegcn-
heitslachen des Ungebildeten zu unterscheiden, der reden soll aber keinen Satz
herausbringt, und der sein Verlangen, sich als ein denkendes Wesen zu be¬
thätigen, nur durch Gesichterschneiden, unartikulierte Laute, Drehen der Mütze,
Trippeln und dergleichen ausdrücken kann.) Lacht der Unwissende und Uner-
fcchrnc über alles Neue, so der Rohe und Bösartige über die Schmerzen andrer,
deren Kundgebung ihm komisch erscheint und Freude bereitet; der Gebildete
lacht über keins von beiden, dafür lacht er über feine Witze und politische Er¬
eignisse, die die beiden andern gleichgiltig lassen, weil sie die Komik davon
nicht versteh«. Dafür hält er wieder den von Mark Twain geschaffnen
Arizona-Kickerstil nicht für komisch, sondern bloß für roh und albern (Überhorst
würdigt eine solche Redaktionsstnben,,Humoreske" der Aufnahme). Und wie
sehr hängt es von der Stimmung eines jeden ab, ob er über einen Vorfall
lachen, weinen oder fluchen wird! Viel Subjektives steckt much in der Dialekt¬
komik. Daß niemand seinen eignen Dialekt komisch findet, scheint darauf hin-
zuweisen, daß Sprachen und Dialekte gar nicht an sich komisch sind, und daß
wir, wenn wir sie komisch finden, uur in den Fehler der Ungebildeten zurück¬
falle«, die über alles Fremde und Ungewohnte lachen. Dagegen steht aber
wieder die Erfahrung, daß noch niemand am Lateinischen, Griechischen oder
Italienischen etwas komisch gefunden hat, während uns am Englischen bald
der Klang, bald die Schreibweise (in Wörtern wie burnvlo, ävvinäle, vluinsioick),
bald der Kontrast zwischen Schreibweise und Aussprache (of^vllo — ssailci) so
komisch anmutet, daß wir die englische Sprache für besonders geeignet für
humoristische Darstellung halten und uns einen Dickens in einer andern Sprache
nicht gut vorstellen können. Auch scheint den deutschen Dialekten die Komik
in verschieduei? Graden eigen zu sein. Der schlesische dürfte den meisten
Deutschen, die gebildeten Schlesier nicht ausgeschlossen, weniger komisch als
einfach häßlich vorkommen, wenigstens in seiner gröbsten Form, die Hanpt-
MMIN für seinen Fuhrmann Henschel gewählt hat. Das Schwäbische klingt
fein, gemütlich und kindlich, und wirkt komisch uur dann, wenn es bei Ge¬
legenheiten gebraucht wird, die Würde, Pathos oder edelste poetische Form,
daher das Hochdeutsche fordern, z. B. wenn in Stuttgart die „Stimme von
oben" ruft: „Ischl gerettet." Dagegen dürfte Edwin Bormanns Sächsisch,
das jn vielleicht nirgends in Sachsen „rein" gesprochen wird, jedermann schon
gleich bei der ersten Zeile und ohne Rücksicht auf den Inhalt komisch finden.
Worauf das nun beruht, auf welcher Gruppierung von Konsonanten und Vo¬
kalen, das müssen einmal sprachgelehrte untersuchen.
Ein Gegenstand endlich, der das Studium lohnte, wäre auch der nach
Ort und Zeit wechselnde Ausdehuungsbereich des Komischen. Das Komische
ist nicht bloß eine Unterhaltung in müßigen Stunden und ein Mittel der Er¬
heiterung für die Verdrießliche«?, sondern es ist eine Weltansicht. Die Welt¬
geschichte ist eine Tragikomödie nicht nur, weil sich in ihr Tragisches und
Komisches gemischt findet, sondern much, weil ihr Tragisches komisch und ihr
Komisches tragisch aufgefaßt werden kann. Es giebt keinen heidnischen und
keinen jüdisch-christlichen Weisen, der nicht die Vergänglichkeit und Wertlosig-
keit aller irdischen Güter und die Nichtigkeit aller irdischen Bestrebungen ge¬
predigt hätte. Wer sich nun ans die Höhe des unbeteiligten Beschauers
hinaufzuschwingen vermag, wer von dort aus sieht, wie so viele nach dem
Höchsten Strebende entweder nichts erreichen oder das Gegenteil von dem Er¬
strebten bewirken, und wie vergänglich auch die wirklichen Erfolge sind, dem
kommen alle Strebenden, alle Größen der Weltgeschichte komisch vor, desto
komischer, mit je größerm Ernste sie ihre als Sisyphusarbeit erscheinende
Lebensarbeit betrieben haben. Andrerseits summieren sich die kleinen Wider¬
wärtigkeiten des Lebens, die, jede einzelne betrachtet, komisch erscheinen, und
üben zusammen eiuen Druck aus, der viele zeitlebens unglücklich macht und
manche zur Verzweiflung treibt, sodaß also das ursprünglich Komische zuletzt
in eine Tragödie ausläuft. Beide Ansichten betreffen aber nur die Welt im
großen und ganzen und aus einer gewissen Entfernung gesehen. Sieht man
genauer hin aufs einzelne — und das ist die gewöhnliche Art des Sehens
beim gewöhnlichen Manne, der weder philosophische noch ästhetische Augen
hat —, so sieht man viele und vieles, was weder tragisch noch komisch, mich
weder schön noch häßlich ist und überhaupt in keine ästhetische Kategorie fällt.
Der beschränkte Kopf in mittlerer Lebenslage hegt keine andre als leicht er¬
füllbare Wünsche, setzt sich nnr leicht erreichbare Ziele, die er mich wirklich
meist erreicht, und stirbt nach einem befriedigenden Leben einen ganz gewöhn¬
lichen Tod in seinem Bette. In frühern Zeiten fand auch der gemeine Manu
in je einem von zwei oder drei Fällen einen gewaltsamen Tod, und wirkte ein
solches Schicksal des Einzelnen nicht tragisch, so that es die Masse. Es gab
Zeiten und Gegenden, wo Krieg, Hunger und Pest in wenig Monaten: die
halbe Bevölkerung hinwegrafften, und wo sich jeder Überlebende bald von
Nünbern bald von einer barbarischen sogenannten Justiz bedroht sah. Das
ist seit hundert Jahren anders geworden; die heutige Beherrschung der Natur
und die heutige bürgerliche Ordnung sichern der überwiegenden Mehrzahl einen
ruhigen und natürlichen Ablauf des Lebens, und von einer Tragik, die er¬
schütternd wirkt, ist nnr noch in den selten gewordnen und in ihren Wirkungen
beschränkten Kriegen und bei Unglücksfüllen die Rede, von denen immer nnr
einzelne oder eine verhältnismäßig geringe Zahl betroffen werde». Zudem
verlaufen die Unglücksfälle und gar erst die Verbrechen meistens derart, daß
sie nicht ästhetisch wirken. Wie der Tragik, so wird mich der Komik immer
mehr Gebiet entzogen. Wenigstens versucht mau es und ist man eifrig bemüht,
ihr den Garaus zu machen, wenn mich ihre hartnäckige Gegenwehr bisher diese
Bemühungen vereitelt hat. Die Sitten »ut Kleider der zivilisierten Menschen
der ganzen Erde sind gleichförmig geworden, »ut die Naturvölker und die
Barbaren werde» bald ausgerottet oder zivilisiert sein. Originale werden nicht
mehr geduldet. Wo wäre heut noch el» Professor möglich wie der Freiburger,
von dem Reichlin-Meldegg erzählt, der sich einen Hut mit beweglichem Deckel
und eine Maschinerie zum Ans- und Zuklappen konstruiert hatte und ihn beim
Spazierengehn je nachdem es schön war oder regnete offen oder geschlosse»
trug! Heut soll und heut will jedermann korrekt erscheine» »ut ist ängstlich
beflisse,,, i» Kleidung, Sprache, Benehmen »ut Handeln alles zu vermeide»,
was ihn von andern unterscheiden könnte; i» seinen Meinungen »ut Über-
zeugungen kann um, leider nicht mit allen übereinstimmen, da will man aber
wenigstens in einem möglichst große» Hansen unterkrieche», mit dem man
unisono reden, schreiben, singen, deklamieren, triumphieren und sich entrüsten
kann. Bald wird die ganze Gesellschaft bis in ihre tiefsten Schichten hinunter
„die gute" sein, von der Goethe sagt: „man nennt sie die gute, wenn sie zum
kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt." Und ein Hmiptgrnnd dieses ängst¬
lichen Strebens nach Unauffülligkeit ist die Flucht vor der Lächerlichkeit, die
Besorgnis, man könnte komisch erscheinen. Mit dem Komischen schwindet
aber überhaupt alles Interessante: das Originelle, das scharf Charakteristische,
das Geniale, sogar das auffällig Schöne; die ausschließlich herrschende Nützlich¬
keit verbannt und verdrängt das Ästhetische (soweit dieses nicht dein Prunk,
der Eitelkeit, der Neichtnmsentfaltung dient) und entwöhnt uns der ästhetischen
Lebensbetrachtuug. Allerdings hat diese Strömung gerade im Kampfe gegen
das Komische bis jetzt am wenigsten Erfolg gehabt. Eben die Flucht vor
dem Komischen liefert am meisten Stoff zum Lachen, indem zwar jeder und
jede, um nicht absonderlich zu erscheinen, die Mode mitmacht, diese Mode selbst
aber sich in absonderlichen und lächerlichen Formen bewegt. Und wenn auch
die Originale aussterben, so bleiben uns doch die Narren, die persönlich ganz
gewöhnliche gar nicht originelle Menschen sind, sich aber dadurch hervorthun,
daß sie alten Unsinn immer wieder neu aufwärmen und ihn einzeln oder in
Vereinen betreiben. Die politische Satire endlich hat es zur Virtuosität in
der Kunst gebracht, auch die allerernstesten, nüchternsten, unauffälligsten Per¬
sonen und Begebenheiten lächerlich zu machen, und allwöchentlich geben unsre
Witzblätter die würdigsten und korrektesten Männer, die dem Ungeübten auch
zum kleinsten Gedicht keinen Stoff liefern würden, in possenhaften Verkleidungen
und Entkleidungen dem Spott des Publikums preis. Wenn aber fromme
Bolksvorumnder einmal Maßregeln treffen, dem losen Volke irgend ein un¬
heiliges Lachen abzugewöhnen, so machen sie sich damit selbst regelmäßig zum
erwünschten Stoff dafür und erzeugen endloses Gelächter. So würde denn
auch diese Seite der Sache einem Ästhetiker, der kein komischer Pedant wie
Überhörst wäre, allerlei dankbare Themata an die Hand geben, z. B.: Das
Komische im Kampf um sein Dasein. Wie hat sich der Jugenderzieher, wie
der Volkspädagog dem Komischen gegenüber zu verhalten? Ist das Komische,
und überhaupt das Ästhetische, wirklich in Gefahr, vom Nützlichen, Trivialen,
Maschinenmäßigen verschlungen zu werden, und wenn das geschieht, haben wir
es als einen Fortschritt oder als einen Rückschritt, als ein Glück oder als ein
Unglück anzusehen?
icht für jedermann ist heutzutage noch Lavater eine sympathische
Persönlichkeit. Seine physiognomischen Versuche sind verfehlt,
sein krasser Wunderglaube und seine empfindsame Schwärmerei
kommen uns veraltet oder gar komisch vor, als Dichter hat er
wenig oder gar nichts zu bedeuten; und seine Eitelkeit hat schon
Schiller in dem bekannten Xenion gegeißelt. Gleichwohl überwiegt
das Hohe in seiner Natur, um bei dem Schillerschen Distichon zu bleiben, im
Grunde genommen sicherlich das Niedrige. Er meinte es doch mit seiner Frömmig¬
keit aufrichtig und war frei von groben Borurteilen, ja er wußte als Sohn der
freien Schweiz die Grundsätze der Toleranz und eine aufgeklärte politische
Denkweise mit seiner streng positiven Auffassung religiöser Fragen unbefangen
zu vereinigen. Er hatte eine staunenswerte Leichtigkeit des Verkehrs und die
Gabe, die Menschenherzen an sich zu fesseln wie wenige. Treffend beobachtete
er, was um ihn vorging, und verstand es, die Eindrücke, die ihm von allen
Seiten zuströmten, zu sammeln und dauernd festzuhalten. Sein riesenhafter
Briefwechsel, vou dem verhältnismäßig noch weniges ans Licht getreten ist,
verspricht noch manchen Aufschluß, mehr noch seine sorgfältig geführten Tage¬
bücher. Von diesen hat er ein geringes Bruchstück noch zu seinen Lebzeiten
herausgegeben, den Anfang seiner denkwürdigen im Jahre 1793 nuternommnen
Reise nach Dänemark. Diese Veröffentlichung ist neuerdings ergänzt worden
durch den Dänen L. Bode in seinem Buche: ^omni Lasvar I^vatörs Röjso t.i.1
I)-Min,g,r1c i Lominersn 1793. Iltßivst vaa l^oranlocliiinK ol luvUnsZigvö (11?. us-
o<zntIo>v. Xjödsnlmvn 1898 — eine schätzbare Gabe für jeden, der sich einiger,
maßen für dänische Geschichte interessiert, aber auch für Lavaters Beurteilung
von großer Bedeutung.
In Dänemark saß damals auf dem Throne der schwachsinnige Christian VII.,
der Gemahl der unglücklichen Karoline Mathilde, die durch ihre Beziehungen
zu Struensee in das tragische Geschick dieses hochbegabten und weitblickenden
Staatsmanns verflochten wurde. Aber thatsächlich führte die Regierung der
Erbprinz Friedrich, der nachmalige König Friedrich VI. Ihm stand als
leitender Minister zur Seite der jüngere Bernstorff, ein Mann von streng
religiösen, konservativen Grundsätzen, der aber trotzdem in der Hauptsache
liberal regierte, indem er die Leibeigenschaft aufhob und die Preßfreiheit ein¬
führte. An der Spitze des Finanzwesens stand der Graf Ernst Schimmel¬
mann, es ist derselbe, der im Verein mit dem Erbprinzen von Augustenburg
dem durch Krankheit und Nahrungssorgen bedrängten Schiller zu Hilfe kam
und so dein Dichter die Gesundheit, dem deutschen Volke seinen Dichter erhielt.
Die beiden Angusteuburger, Vater und Sohn, lebten damals auf ihren Be¬
sitzungen auf der Jusel Alsen, der Erbprinz war mit der Schwester des dä¬
nischen Kronprinzen vermählt. Großes Ansehen hatten auch die Grafen
Reventlow, fünf werden von Lavater genannt, unter ihnen zwei Brüderpaare,
die Grafen Friedrich und Ccijus, andrerseits Christian und Ludwig. Alle
lebten ans ihren Gütern, die teils auf Seeland und Fünen, teils in Holstein,
der Heimat des alten Geschlechts, lagen. Unter diesen ist besonders Emken-
dvrf bekannt geworden, wo Friedrich Reventlow mit seiner geistreichen, für
alles Gute und Schöne empfänglichen, aber krünklicheu und überspannten Ge¬
mahlin Julie, der Schwester des eben genannten Grafen Schimmelmann, wohnte.
Emkendorf war damals der Sammelpunkt eines erlesenen Kreises, eine Stätte,
wo Kunst und Wissenschaft wohlwollende Gönnerschaft fanden. Klopstock, die
Stolbergs, Claudius, Boie, Fritz Jacobi und andre fühlten sich dort wohl, aber
der ganz in der Nähe wohnende Voß zog sich bald zurück, weil ihm, dem aus
gröberen Stoff geformten Freidenker, die im gräflichen Hause mehr und mehr
hervortretende Gläubigkeit, die noch dazu ein wenig zum katholischen Mysti-
zismus neigte, nicht zusagte.*)'
Alle Mitglieder desAdels aber und der Beamtenwelt überragte damals
durch seinen Rang der Landgraf Karl von Hessen, der Schwager des Königs
und Schwiegervater des Kronprinzen, der damals als Statthalter des Herzog-
tuins in Schleswig residierte, eine höchst merkwürdige, schon damals von der
Parteien, Gunst und Haß innstrittue Persönlichkeit^ Während seine Gegner
ihln vorwarfen, er habe den König zu den wilden Ausschweifungen verführt,
die seine Gesundheit untergraben hätten, oder seine Ideen abgeschmackt und
thöricht nannten, waren ihm andre, wie z. B. der Minister Bernstorff, unbe¬
dingt ergeben, und Jung Stilling, der ihn 1803 in Kassel traf, nennt ihn einen
großen und aufgeklärten Fürsten, einen wahren Christen, der für seinen Er¬
löser lebt und stirbt, und einen Mann von außerordentlichen Kenntnissen und
Erfahrungen. Ein solches Lob aus dem Munde des zu hohen Ehren gelangten
Schwärmers hat freilich nicht viel zu bedeute», er war damit freigebig gegen
alle, die sich zu dein Glauben an eine übersinnliche Welt und die Möglichkeit
eines direkten Verkehrs mit ihr bekannten. Und das that der Landgraf, seit
er in Altona, wohin er sich nach Beendigung des bayrischen Erbfolgekriegs
zurückgezogen hatte, den bekannten Wunderthäter und Charlatan Se. Germain
kennen gelernt hatte. Er ließ sich von ihm in seine Geheimlehre einweihen,
betrieb mit ihm alchymistische Studien, wandte sich dann der Theologie zu und
glaubte im Zustande besondrer Erleuchtung überirdische Zeichen zu schauen und
himmlische Stimmen vernehmen zu können. In dieser Zeit, die unter dem
Zeichen Cagliostros stand, war ein solcher Wunderglaube in den höchsten
Kreisen der Gesellschaft bekanntlich nichts seltnes. Nennen wir jetzt noch die
beiden Stolbergs, von denen der ältere Christian als Amtmann in dein hol¬
steinischen Tremsbüttel lebte, während Friedrich als Präsident der fürstbischöf¬
lichen Regierung in Eutin Vorstand, ferner den Dichter Jens Baggesen, der
den Schillerkultus in Dänemark eingeführt und die beiden oben genannten hoch¬
gestellten Persönlichkeiten zu ihrer hochherzigen That angeregt hatte, und
zuletzt die als Schriftstellerin damals viel genannte Friederike Brun, die
Tochter des Hofpredigers Münter, so kennen wir so ziemlich alle Personen,
die sich für Lavaters Kommen nach Dünemark interessierten.
Freilich waren die Beweggründe nicht überall dieselben. Während die
einen nach dein Rufe, der ihm voranging, den geistreichen, gebildeten Weltmann,
den gläubigen Christen und edeln Menschenfreund, den erleuchteten Kanzel-
redner und liebenswürdigen Berater in ihm zu finden hofften, erwarteten die
ander», voran der Prinz von Hessen, in Lavater das unfehlbare Orakel einer
höhern Welt, den Apostel, der dem Bunde der Eingeweihten seinen Segen er¬
teilen sollte. Allerdings war dieser Bund nicht gerade sehr umfangreich. Außer
dein Prinzen gehörten ihm mit ganzer Seele eigentlich nnr der Graf und die
Gräfin Bernstorff und Cajus Reventlow an, dazu die Gräfin Julie Reventlow,
die freilich von dem Haupte des Bundes, dem Landgrafen, nicht viel wissen
wollte; der Sohn des zuletzt genannten war berufen, aber uoch nicht aus¬
erwählt, und der Kronprinz hatte für die Bestrebungen der gottbegnadeter
kleinen Gemeinde wenigstens lebhafte Sympathien. Aber Fritz Reventlow hielt
sich fern, nicht minder der Herzog von Augustenburg, der überdies einen hef¬
tigen persönlichen Widerwillen gegen den Prinzen von Hessen hegte, auch
Bnggesens unbeständiger sin» konnte für die große Sache nicht gewonnen
werden. Bon diesen schreibt Auguste Bernstorff an Lavater: Sie suchen
Weisheit in menschlichen Schriften, wir schöpfen Wahrheit und Kindersinn an
dem Worte Gottes allein.
Die Gräfin Bernstorff war es auch, die schon im Jahre 1791 in einen
Briefverkehr mit Lavater trat. Sie war die Schwester der beiden Stolbergs,
dieselbe, die man als Gnstge» aus dem von ihr mit Goethe unterhaltueu
Briefwechsel kennt, dieselbe, die sich, ohne Goethe jemals gesehen zu haben,
ihm doch geistig immer verbunden fühlte und noch als altere Frau einen Brief
an ihn richtete, worin sie den Abtrünnigen zur Rückkehr zum wahren Glauben
aufforderte. Mit dem Grafen Peter Andreas Bernstorff war sie seit 1783
vermählt, sie war in dieser Ehe die Nachfolgerin ihrer Schwester Henriette.
Sie lud den Schweizer Propheten ein nach Dänemark zu kommen, indem sie
zugleich für die Reisekosten zu sorgen versprach. Nach weiteren brieflichem Ge¬
dankenaustausch, an dem sich auch der Graf Vernstorff und der Landgraf be¬
teiligten, zeigte sich denn auch Lavater willig, aus die Einladung einzugehn.
Den 20. Mai 1793 trat er, von seiner Tochter Reinette (nette), der nach¬
maligen Gattin des Züricher Pfarrers Geßner, begleitet, die weite Reise an.
Es ging über Lindau, Augsburg, Donauwörth, durch Thüringen nach Jena,
von da nach Weimar, weiter über Erfurt, Langensalza, Hildesheim, Hannover
nach Hamburg. Überall wurden Bekanntschaften erneuert und Besuche gemacht:
in Donauwörth bei dem bekannten Mystiker Salier, nachmaligen Bischof von
Regensburg, der vou den Protestanten für einen Jesuiten, von den Katholiken
für einen Abtrünnigen ausgegeben wurde, in Köstritz bei dem geistesverwandten
durch musterhafte Frömmigkeit hervorragenden gräflich Reußischcn Ehepaar, in
Jena bei Wielands Schwiegersohn, dem Philosophen Reinhold, den Lavater
schon vor Jahren dnrch Baggesens Vermittlung kennen gelernt hatte, und dem
er später die Professur in Kiel verschaffte. Schiller war, wie wir wissen,
damals noch leidend, aber Charlotte vergoß Freudenthränen, als sie den
Heiligen unvermutet wiedersah, dein sie zuerst auf ihrer Schweizerreise be¬
gegnet war.
In Weimar fand Lavater die Herzogin veredelt und verjüngt, Herder war
kühl und zurückhaltend und wünschte in einem vertraulichen Briefe an einen
Freund dem Gaste eine glückliche Reise und guten Mut, sich und die Welt bis
an sein seliges Ende zu betrügen. Aber Wieland, wahrscheinlich von Reinhold
beeinflußt, war entzückt von der Liebenswürdigkeit des Gastes, schloß einen
Seelenpakt mit ihm und bekannte sich — seltsam genug — unumwunden zu
dessen Religion. Goethe war derzeit abwesend, er weilte mit dem Herzog im
deutschen BelagernngSheere vor Mainz, äußerte sich aber nach seiner Rückkehr
über deu einst so höchlich bewunderten Freund seiner Jugendjnhre recht ab¬
füllig, indem er namentlich über das unnatürliche Bündnis spottete, das der
Wunderglaube mit der Modephilosophie — Reinhold war bekanntlich Kan¬
tianer — geschlossen zu haben schien. In Erfurt wurde der aus Schillers
Lebensgeschichte bekannte Koadjntvr Dalberg besucht, bei dem damals der fran¬
zösische Encyklopädist weilte, in Hannover ein Landsmann begrüßt, der
berühmte königliche Leibarzt Zinunermann,' und als sich bald darauf der Wagen
der beiden Reisende» durch die Lüneburger Heide wand, begegnete ihnen
Baggesm, der mit seiner Gattin in die Schweiz reiste und den Freund, dem
er damals noch ans vollster Seele zugethan war, nach dessen Rückkehr im
August in Zürich wiedersah. In Hamburg war Klopstock für Lavater „nicht
zu sprechen, weil er sich getränkt fühlte durch dessen ihm hinterbrachte Äuße¬
rungen über seine Stellung zur französischen Revolution, dafür machte der
Züricher Prophet die Bekanntschaft von Christine Reimarus, der nachmaligen
Gattin des französischen Diplomaten Grafen Reinhard, die spater erklärte, daß
sie anstatt des erwarteten handauflegenden und segnenden Propheten einen ältern
ehrwürdigen Manu gefunden habe, aber seine bedeutenden und klugen Gespräche
mit dem Unsinn seiner Schriften nicht recht in Einklang zu bringen wüßte.
Claudius, der Wandsbecker Bote, lag fieberkrank im Bette, als Lavater
das Städtchen passierte, aber in Tremsbüttel erwartete ihn der alte Freund
Christian Stolberg samt seiner Gattin Luise, einer gebornen Gräfin Reventlow,
die Lavater in voller Übereinstimmung mit dem, was man sonst von ihr weiß,
die geistreichste, gelehrteste, feinste, kultivierteste Fran nennt, die er angetroffen
habe. Nach kurzer Rast ging es dann durch Heiden und Wälder nach dein
gastlichen Emkendorf. Aber auch hier dauerte der Aufenthalt nnr einen Tag,
die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die Familie Bernstorff und den
Prinzen von Hessen, gegen den namentlich die als Gast in Emkendorf weilende
Kathnrine Stolberg den Fremdling einzunehmen suchte. Um so mehr war
dieser darauf gespannt, dem so verschieden beurteilten fürstlichen Mystiker ins
Auge zu schauen.
Kaum war er über Rendsburg in Schleswig eingetroffen, so wurde er
— aber ohne die Tochter — zur Tafel befohlen. Zuvor aber hatte er eine
Unterredung mit dem Prinzen uuter vier Augen. Der Prinz erschien ihm
„ehrlich, wahrhaft, aber weder tief penetriert von der Sache noch salbungsvoll."
Die Emkendorfer mochten das Gegenteil berichtet haben. Als dann aber die Rede
auf die „Lehre" kam, brach Lavater, nachdem er den Ausführungen des Prinzen
lange geduldig zugehört hatte, endlich in die Worte aus: „Ungenießbar, unerwiesen,
erkünstelt, geschraubt, grundlos von einem Ende zum andern," ein Ausbruch,
den der Prinz mit großer Gelassenheit aufnahm. Auch in Luisenlnnd, dem
Landsitze des Prinzen, wo Lavater nun vier Tage verweilte, kam eine An¬
näherung nicht zustande. „Die Ungesalbtheit des Führers und die Abgeschmackt¬
heit einiger Lehren und Behauptungen, schreibt er, sind zwei kaum besiegbare
Glaubenshindernisse." Im übrigen ließ er dem Prinzen Gerechtigkeit wider¬
fahren. Er rühmt seinen religiösen Sinn, seine Thätigkeit, seine Ordnungs¬
liebe, den Umfang seiner Kenntnisse, nennt ihn furchtlos und gutmütig, spricht
ihm aber den Sinn für Kunst ab und meint, daß sich oft etwas Rohes, Un¬
elegantes, Massives in sein zwischen Kindlichkeit und Männlichkeit hin und her
schwankendes Wesen dränge. Daß der Verfasser der Physiognomik auch das
Äußere des Prinzen scharf ins Auge faßte, ist leicht begreiflich. Er hat sehr
stark hervorstehende Augenbrauen, heißt es im Tagebuch, und wenn er spricht,
so ist sein Mund etwas schief. Die Stirn ist einfach, verständig, ohne eigent-
lichen,, Scharfsinn.
Über Flensburg, Apeurade und Hadersleben, wo des Fremden die ge-
fürchtete Biersuppe wartete, und über den Kleinen Belt ging es jetzt nach
Fünen. In Asiens besuchte unser Reisender, der überall Bekanntschaften zu
machen liebte, den Pfarrer und Professor Steinwinkel. „Dat is Lawader,"
sagte die Hausfrau, als sie seiner ansichtig wurde. Mai hatte von ihm schon
in der Zeitung gelesen und soeben von ihn? gesprochen. In Asiens fiel Lavater
die Ähnlichkeit der Stadt mit dem Städtchen Barth in schwedisch-Pommern
auf, wo er vor dreißig Jahren neun selige Monate bei Spnloing verlebt hatte.
Er bemerkte ferner, daß hier schon dänisch gesprochen wurde, fügt jedoch hinzu,
daß „jeder einigermaßen habliche" des Deutschen mächtig sei. Und nun folgte,
nachdem Fünen durchwandert war, wo sich die Reisenden über die beständig, mich
während des Gehens strickenden Weiber, die turmlosen Kirchen und die hohen
Preise der Lebensmittel wunderten., die gefürchtete Fahrt über den Großen
Belt nach Seeland. „Gottlob, an Land, jenseits des Großen Betts," lautet
der erste Eintrag in Korsör, die Fahrt war, abgesehen von „einigen schauer¬
lichen Momenten, glatt abgegangen." In Rothschild wurden natürlich die
Königsgrüber besichtigt, und am Avend desselben Tages gelangte man bei
regnerischem Wetter nach dem eigentlichen Reiseziel, nach dem eine Stunde von
Kopenhagen entfernten Landgute Bernstorff.
Gleich nach dem Empfang siel dem Sohne der freien Schweiz das
„Ministerielle" im Wesen des Grafen auf, der zu jeder Zeit, auch spät am
Abend mit Stern und Band im roten Kleid und blauatlassener Weste im
Familienkreise erschien, ein schöner Mann, dem man die hohe Geburt eher
ansah als dein Prinzen von Hessen, im übrigen arbeitsam und über alle be¬
langreichen Fragen wohl unterrichtet. Die Gräfin — Auguste Stolberg —
bezeichnet der Gast als eine liebliche Erscheinung, anmutiger als ihre Schwester
Katharine. In Bernstorff weilte damals zum Besuche Casus Reventlow, der
sich mehr als alle andern an Lavater anschloß. Aufgeknöpfter in seinem
Wesen als Bernstorff — „de Bur kummt," sagten die Hvlsteiner Bauern,
wenn er sich in Emlendorf sehen ließ — verkehrte er in zwanglosester Weise
mit dem Gottesmanne, saß im Schlafrock bis Mitternacht in dessen Zimmer
und unterhielt sich mit ihm, während er sein Haar wickelte oder schon im Bett
lag. Von Bernstorff ans wurden Besuche gemacht in Seeluft beim Grafen
Schimmelmann, in Friedrichsthal bei Vruns, in Lingby bei Klopstocks Schwager
Nahn und anderswo. Man sprach natürlich vor allem von der Sache, um
derentwillen Lnvater gekommen war, ohne daß wir jedoch etwas näheres
darüber erführen, unterhielt sich aber auch über alles, was damals die Geister
bewegte: über die Pflichten des rechten Christen, über Rousseau, Goethe, Herder
und andre litterarische Größen, über den „sogenannten" Friedrich den Großen,
die dänische Königsfamilie, Struensee, die Zustände in Frankreich und die Be¬
lagerung von Mainz, über Klopstock und Kramers Freiheitsdrang, über
Cciglivstro usw. Nur der Name Schiller wird nirgends genannt, ja selbst
das vertrauliche Gespräch, das Lavater mit dem Grafen Schimmelmann ein¬
mal in aller Stille unter vier Augen geführt haben will, und das von Kant
und besonders von Reinhold handelte, soll verlaufen sein, ohne daß der
Name Schiller über des Grafen Lippen kam, der ihn noch soeben vor dem Unter¬
gang gerettet hatte. Es wird einem schwer, das zu glauben, es sieht fast so
ans, als ob Lavater absichtlich das Wort Schiller vou seinem Tagebuch fern¬
gehalten hat, ein deutliches Mguinönww, sx silentio.
Natürlich wurde auch Kopenhagen öfter besucht. Bei einer großen Heer¬
schau sah Lavater mich den König, der in roter Uniform mit blauem Ordens¬
band dastand und anscheinend die Parade abnahm, nach deren Beendigung er
von zwei Kammerdienern willenlos in den Wagen gehoben wurde. Bei dem
Kronprinzen hatte Lavater zweimal Audienz, wobei ihm das lange Warten im
Vorzimmer recht lästig fiel. Um so mehr sagte ihm das Gespräch mit dem
Kronprinzen zu, „Ich fand in ihm, schreibt er, einen der stärksten Menschen¬
kenner, einen religiösen Mann, einen ernsten Freund der evangelischen Wahr¬
heit und einen herzlichen Anbeter Christi." Er fragte wenig und ließ den
Fremden sich nach Herzenslust aussprechen. So kam dieser über das Unbehagen
hinweg, das ihm die abstoßende Häßlichkeit des Kronprinzen, sein schiefer
Mund, seine weißen Augcubrnnen, seine „Kakerlakaugen," auf die übrigens auch
Klopstock einmal in seiner Ode Fürstenlob anspielt, zuerst einflößten. Das
zweitemal wurde er sogar mit einer Umarmung entlassen.
'
Natürlich wurdenauch die Sehenswürdigkeiten der dänischen Residenz ein¬
gehend besichtigt: das Mcnschengewimmel im Tiergarten, der großartige Kriegs¬
hafen mit seinen zahlreichen Orlogschiffen erregten das Staunen des Gastes,
vor allem aber widmete er den Kunstsammlungen ein genaues Studium, er hat
in seinem Tagebuch einen großen Teil der vorhandnen Gemälde mit dem Titel
und dem Namen der Künstler aufgezählt. Auch die Kostbarkeiten und Raritäten
werden ausführlich behandelt, darunter auch die goldnen Hörner genannt — sie
warm damals noch im Original vorhanden, Mährend man heute nur die Nach¬
bildungen sieht —>, ohne daß jedoch der berühmten Runeninschrift oder der
Bildwerke gedacht würde. Man hatte damals für solche Altertümer noch keinen
Sinn, In der Kirche der französischen reformierten Gemeinde hielt dann der
berühmte Geistliche unter besonderm Zulauf der Lutherischen einen Gottesdienst.
Er sprach über die Wirksamkeit des Gebets und teilt die Gliederung der Predigt
in seinen Aufzeichnungen mit. Unter den Zuhörern war auch Henrik Steffens,
der nachmals so bekannt gewordne Schriftsteller. Er giebt nach Bodes Mit¬
teilung von dem Redner folgende Schilderung: „Lavaters Benehmen, sagt er,
war höchst interessant; der Gang des hohen, schlanken Mannes war etwas ge¬
bückt, sein Gesichtsausdruck äußerst geistvoll, die scharfei: Züge zeugten von
einer unter schweren innern Kämpfen durchlebten Vergangenheit. Sein Ange
überraschte mich durch Feuer, Glanz und Klarheit,"
Vierzehn Tage hatte Lavater mit seiner Tochter in Bernstorff zugebracht,
da erfolgte nach Ausfertigung der üblichen Devisen und Stammbuchseinträge
der Aufbruch. Casus Reventlow ließ es sich nicht nehmen, den Herzensfreund
zu geleiten, auch die Gräfinnen Charlotte Schimmelmann und Constantia Bern¬
storff schlossen sich an. Man mußte in Korsör wegen stürmischen Wetters
eine Nacht bleiben. Bei dieser Gelegenheit lernte Lavater die Gräfin Fries
kennen, eine der ersten Damen Dänemarks, „die mit sechzehn Gefolgsmenschcn
und acht Hunden ebenfalls auf die Ruhe des Wassers wartete." Außerdem
besuchte er Baggesens Mutter, die in Korsör wohnte, wobei er sich nach seiner
Angabe eines dort im Hanse wohnenden Geistlichen als Dolmetschers bediente,
da die Alte kein Deutsch verstand. Dies war, wie wir von Bode erfahren,
der Pfarrer Birtner, ein entschiedner Kämpfer für die Preßfreiheit, der mit
Bernstorffs etwas antokrntischem Regiment nicht immer einverstanden war und
darum auch dessen Vertrauten mit einigem Mißtrauen betrachten mochte. Sein
Urteil über Lavater, das Bode ebenfalls mitteilt, mag hier eine Stelle finden,
weil es zeigt, daß es damals in Dänemark auch Leute gab, die in die all¬
gemeine Begeisterung für den Schweizer Propheten nicht ohne weiteres ein¬
stimmten. „Lavater, berichtet er, tummelte hier tüchtig sein physiognomisches
Steckenpferd und deutete einige Nasen. Man sagt von ihm, daß er sonst ein
ganz guter Mensch ist, auch tolerant gegen alle Menschen, welchen Glauben
sie auch haben mögen — wenn nur der Sinns ihrer Nasenwinkel einem glück¬
lichen Logarithmus in seiner physiognomischen Nascnsinnstafel entspricht. Das
Glück schien ich nicht gehabt zu haben, weiß der Himmel, was für ein Teufels¬
zeug er an meiner Nase entdeckt haben mag. Denn er war äußerst kalt gegen
mich, gab mir zum Abschied die Hand, aber hielt den Kopf fortwährend zur
Seite, wie wenn man sich fürchtet, von einer aufsätzigen Person einen Kuß zu
bekommen." Die Abneigung scheint gegenseitig gewesen zu sein, denn Lavater
nennt, wie bemerkt, weder den Namen des Mannes, noch verliert er ein Wort
über dessen Persönlichkeit.
Am nächsten Morgen trat günstiger Wind ein, die Wagen wurden, indem
man die Ruder abnahm, nach der Lnndessitte ins Schiff gehoben und standen
so nahe nebeneinander, daß man sich die Hand reichen konnte.
Noch liegt Korsör links und beginnt uns sanft zu entschweben,
Und ich schreib an die Lieben im Wagen N aus dein Wagen
^. hinüber ein Blatt von gleich nun folgendem Inhalt.
Mit diesen Worten beginnt der Erguß, mit dem Lavater von der Insel See¬
land Abschied nahm. Er preist in den folgenden Versen die Tugenden Char-
todte Schimmelmanns, zeigt aber auch in diese», wenn sie mich ein wenig besser
geraten sind als der übel gelungne Anfang, nichts von einem Dichter. Dieses
mal machte er die Reise aber nicht nach Assens, sondern nach Faaborg, weil
man noch in Brahe-Trolleborg, dem alten Stammsitze der Reventlows, einkehren
wollte. Hier hauste Graf Ludwig, dessen Gemahlin eine Schwester der Gräfin
Schimmelmann war. In Trolleborg lernte Lnvater den Schriftsteller Villaume
kennen, einen schon bejahrten Mann von entschieden demokratischer Gesinnung,
der sich mit den Seinigen von Berlin zurückgezogen hatte und nun in einem
Bauernhause, das ihm der Graf geschenkt hatte, lediglich mit Ackerbau be¬
schäftigt sein Leben verbrachte. Außerdem wurde der Kirchhof des Ortes be¬
sucht, nicht sowohl wegen der schönen Linden und Blumenbeete, wodurch er
einem Garten glich, als weil Fritz Stolbergs erste Gemahlin Agnes hier ruhte.
'
Aber schon seit zwei Tagen wartete in Trolleborg ein Jäger des Erb¬
prinzen von Augustenburg, um eine Einladung zu überbringen. Und so setzten
denn die beiden'Reisenden ohne das gräfliche Gefolge, das nun in Trolleborg
zuriickblicb, von Faaborg nach der Insel Alsen über. Es war hoher Seegang,
sodaß Lnvater mehrfach sein Herz zum Himmel wandte, und erst in der Nacht
landete man im Hafen. „Prinz Costenbnrg — vier Pferd hier — schmucke
Herr" — riefen die Leute, die die Ankömmlinge in das Fährhaus führte!?,
woraus sich entnehmen ließ, daß der Prinz schon mit Fuhrwerk auf die Gäste
gewartet hatte. Nach mehrstündiger Rast ging es nun zu Wagen nach Auguste»-
bnrg, man stieg in einem Gasthause ab, dessen Wirt die Reisenden mit den
Worten empfing, der Prinz sei dein Herrn Pastor entgegengekommen. Ans
Lavaters Frage, ob er ihn denn kenne, erwiderte er, v ja, er habe ja ein
Liederbuch von Lavater, in dem er täglich lese. Kurz darauf erschien ein
Adjutant des Prinzen, um die Gäste nach dem Schlosse zu geleiten.
Das Gefühl, das den Prinzen bewogen hatte, den Schweizer Gottesmann
einzuladen, war eigentlich mehr Neugierde als Sympathie für seine Person
oder die von ihm gehegten Anschauungen. Darum ist es zu einer Aussprache
über wirklich wichtige Fragen auch nicht gekommen. Der Aufenthalt dauerte
auch mir einen Tag; der Gottesdienst und das Festgeprängc — es war gerade
Sonntag und der Geburtstag der Erbprinzessin — füllte den größten Teil des
Tages ans. Natürlich wurde der Gast auch dem „podagränlichen" Vater des
Erbprinzen und mehreren Tanten vorgestellt. Bon Schiller ist auch hier, in
dein Hanse seiner fürstlichen Wohlthäter, wen» wir Lavater glauben können,
nicht die Rede gewesen, wiewohl doch Baggcscn und Reinhold erwähnt werden.
Die Mission, die der Gast übernommen.hatte, einen Ausgleich zwischen dem
Landgrafen von Hessen und den fürstlichen Mitgliedern des Augustenbiirger
Hauses herbeizuführen, oder wenigstens anzubahnen, wurde mit kühler Zurück¬
haltung aufgenommen. Dennoch' war der Erbprinz von Lavaters Wesen an¬
genehm berührt. Mit großer Anerkennung spricht er sich über seineu Geist
und besonders über seine Duldsamkeit aus. „Nicht leicht, schreibt er, kann
mein Urteil mehr schwanken, mein Kopf mit meinem Herzen mehr in Streit
liegen, als dies hinsichtlich Lavaters der Fall ist. Sein Wesen hat mein Herz
gewonnen, und was könnte man nicht alles sagen über seine heitere, liebens¬
würdige Persönlichkeit, über seine Wahrheitsliebe, die ans all seinen Worten
hervorleuchtet, und über sein anspruchsloses Auftreten?"
Wieder wurde in Luisenlund gerastet, aber diesesmal nur zwei Tage. Es
fanden große Festlichkeiten statt —' denn auch hier war gerade Geburtstag, der
Geburtstag der Landgräfin — mit steifem Gepränge und einer Beleuchtung
des Parks, bei der vier- bis fünftausend Lampen angezündet wurden. Gleich-
wohl fand sich wieder Zeit, über die wichtige geheimnisvolle Angelegenheit zu
verhandeln, die den Zweck der ganzen Reise ausmachte. Auch Casus Reventlow
war wieder eingetroffen, der den Sitz der Augustenburger gemieden hatte.
Dieser geleitete jetzt den Gast nach Krop zur Familie Baudissin und von dn
nach seinem eignen Gute Glasau, wo mau Fritz Stolberg mit dem Erzieher
seiner Kinder, dein Königsberger Nieolovius, traf. Mit beiden ging es daun
nach Eutin. Eutin war damals noch ein selbständiges Fürstentum, dessen
Regent ein Mitglied des Holstein-Gottorpschen Hauses sein mußte. Es war
ein Musensitz in bescheidnen Maßstabe: der Maler Heinrich Wilhelm Tischbein
ist dort gestorben, französische Emigrierte, wie z. B. der berühmte Gelehrte
Quatremere de Quiney, hielten sich dort auf, Karl Marin von Weber kam
dort bekanntlich im Jahre 1786 zur Welt. In der That hatte der damalige
Regent, Fürstbischof Peter, etwas von einem Kunstmäeeu; er war ein schöner,
leutseliger Herr, der überall Bescheid wußte, er lud Lavater zur Tafel ein,
und in lebhaftestem Gespräch verbreitete nun: sich über die interessantesten
Tagesfragen. Natürlich war auch viel von der Schweiz die Rede, und ganz
besonders von Halber und dessen Familienleben, das durch einen ungeratuen
Sohn sehr verdüstert war. Lcwaters grobschlächtiger Widersacher Voß war
damals nicht in Eutin, er weilte in dem dithmarsischen Meldorf und war froh
darüber. „Wie glücklich bin ich, schrieb er an einen Freund, daß ich den
Züricher Apostel nicht gesehen habe. Auch Eutin hat der Wundermann mit
Segen und Gebet beglückt. O wie leicht ist es, selbst kluge Leute hinters Licht
zu führen!"
In Eutin fand der also Verunglimpfte schon eine Einladung nach Trems¬
büttel. Hier weilte er einen Tag und schloß Freundschaft mit dein „siebzigjährigen
Jüngling" Ebert aus Brnunschweig, dem alten Freunde Klopstocks, der sich
mit seiner Frau zum Besuch bei Christian Stolberg aufhielt. Dann wurde
das Hauptquartier nach Wandsbeck verlegt, wo die verwitwete Gräfin Schimmel¬
mann, die Mutter des Ministers, einen prachtvollen Landsitz hatte. Noch immer
war der getreue Casus Reventlow im Gefolge des Propheten, Christian Stol¬
berg und Katharine hatten sich angeschlossen. Und in Wandsbeck hatte sich
schon zum Empfange Julie Reventlow, die Tochter der Gräfin, eingefunden,
äußerst leidend, von häufigen Ohnmachten und Vlutspeieu heimgesucht. Das
hinderte sie jedoch uicht an lebhaftem Gedankenaustausch mit dein ersehnten Gaste,
ja man saß gleich am ersten Abend nach dessen Ankunft in trauten Verein
um das Bett der Blut speiender Gräfin. Diesesmal war auch Claudius wohl¬
auf, er erschien im Schlosse mit seiner „bescheidnen, treuen, durch Kindergebären
selig werdenden Rebekka" und empfing den Gegenbesuch des gefeierten Gastes.
Auch der alte Freund Passavant hielt sich damals in Wandsbeck auf: früher
Prediger in Hamburg, jetzt in Detmold wirkend, hatte er die alten Beziehungen
wohl festgehalten und weilte, wie wir annehmen dürfen, zum Besuch in dem
ihm lieb gewordnen Städtchen. Bei Claudius traf Lavater ferner mit zwei
Damen aus Hamburg zusammen, mit Emilie Reimarus, Lessings jetzt stark
gealterter Freundin, und der Demoiselle Rudolphi, die ein großes Mädchen¬
pensionat hielt und sich als Dichterin einen bescheidnen Namen gemacht hat.
Beide hatten ein leicht erklärliches Vorurteil gegen den Fremden, wurden
jedoch bald davon geheilt, als sie merkten, daß er Toleranz predigte und auch
den Deisten Gerechtigkeit widerfahren ließ. Sie kamen des Abends in den
Schimmelmanuschen Park, man setzte sich in einer zierlichen Sommerlaube zu¬
sammen, und nun „quästionierteu, behorchten, bepulsgrifften, beguckten, be¬
schielten und visitierten die gelehrten Weiber" ihren Liebling nach Herzenslust.
Man bat den Apostel, der an seine Abreise dachte, noch länger zu bleiben,
und mochte er sich auch anfangs sträuben, den Thränen der Gräfin Julie
konnte er nicht widerstehn. Man gewann indessen nur einen Tag, An diesem
nahm Lavater mit seineu Getreuen gemeinsam das Abendmahl, sprach sich noch
einmal mit Cajus Reventlow aus, schrieb einen Vers in dessen Stammbuch,
schloß mit ihm Duzfreundschaft und nahm das zur Heimreise erforderliche Reise¬
geld in Empfang, Am Abend traf er, von Casus, Passavnnt und Katharine
Stolberg begleitet, in Hamburg ein. Kaum war er hier im Hause der Rudolphi,
seiner neuen Bekanntschaft, abgestiegen, so erschien Klopstocks Frau, die Win-
deme, und bat ihn himmelhoch, er möge 5Aopstock besuchen und sich nicht durch
dessen Heftigkeit aus der Fassung bringen lassen, Lavater, der schon in Wcmds-
beck erfahren hatte, daß der böse Feind, der das Unkraut in den Weizen von
Klopstocks milderer Denkungsart gesät hatte, kein andrer als der auch sonst
durch seine Ränke bekannte und gefürchtete Kapellmeister Reichardt war, nahm
die dargebotne Hand an, und nnn kam eine Unterredung zwischen beiden
Männern zustande, die Lavater ziemlich wörtlich in seinem Tagebuch wieder¬
gegeben hat. Er fand den Dichter sehr gealtert, er stand steif da, wie wenn
er sagen wollte: Nun, wie wollen wir nun anfangen? Als dann Lavater eine
Umarmung vorgeschlagen hatte und diese vollzogen war, begann die Aussprache,
die zu einer vollkommnen Nerstäudigung führte. Klopstock erkannte, daß sein
Groll durch Mißverständnisse herbeigeführt war, an denen zum Teil anch
Freund Baggesen schuld war, und beide schieden nach abermaliger Umarmung
in Frieden und Freundschaft. Am nächste!? Tage wurde nnter anderm noch
Melas Grab besucht, die üblichen Stammbuchblätter geschrieben, dann bestiegen
die beiden Reisenden mit großem Gefolge ein Schiff und rollten später ans
dem Reisewagen der Heimat zu.
Lavaters Verbindung mit den nordischen Freunden dauerte auch nach
seiner Heimkehr noch fort. Zwar schied Verustorsf schon 1797 aus dem Leben,
aber seine Witwe und der Prinz von Hessen setzten den brieflichen Verkehr
mit dem Schweizer Freunde fort. Ja bei diesem wurde der Glaube an die
übernatürlichen Kräfte der nordischen Seher jetzt erst recht lebendig, und selbst
ein offenbarer Betrug, dessen Opfer er geworden war, konnte ihn nicht irre
machen. Wiederholt wandte er sich mit Fragen an das nordische Orakel und
glaubte sogar den Versicherungen des Prinzen von Hessen, daß Christi Jünger
Johannes von seiner Wanderung dnrch den Norden demnächst auch bei ihm
Einkehr halten werde. Noch auf seinem Schmerzenslager, auf das ihn die
Kugel eines französischen Soldaten, den ,er eben noch mit Speise und Trank
erquickt hatte, meuchlings geworfen hatten, gab er in einem Schreiben an den
Prinzen dieser seiner Sehnsucht Ausdruck. Johannes kam nicht. Dafür er¬
schien ein andrer Bote aus dem Gottesreich, der bei allen Menschenkindern,
Gläubigen wie Ungläubigen, einmal einkehrt, der Tod. Am Neujahrstage 1801
wurde Lavater von seinen Leiden erlöst.
- ^ o man nach dem Seiterich hinuntergehe, und man links oben auf der
Höhe den Bürgerwald zur Seite sieht, läßt man den großen Nuß-
bciuiu zur rechte» Hand und geht auf die Waldspitze zu, immer ge¬
radeaus. So kommt man sachte den Berg hinauf. Wer steh»
bleiben muß, um Atem zu schöpfen, möge sich ja umdrehn. Der
Blick ist gar schon. Fern im Thale sieht man die Ziegelhütte von
Wetbachhausen; geht man ein paar Schritte weiter hinauf, so sieht man auch die
Kirchturmspitze hinter dem Waldeck hervorlngen. Wenn man ganz oben ist, kann
man den Wald um seinein Zipfel packen, das ist ein Haselbusch. Um den muß mau
herum. Dann sieht man einen Schlupf, der zwischen dem Bucheujuugholz in den
Wald hineinführt. So kommt man in den Noten Reisig. Nicht weit davon ist
das Ende der Welt.
Mitten im Roten Reisig steht eine Turme und schaut über alle andern Bänme
hinaus, denn sie steht auf einem Hügelchen. Ihre Wurzeln sind durch das Hügelchen
so akkurat und vernünftig gewachsen, wie wenn der Zimmermann ein Dach auf¬
schlägt. Dort drinnen wohnte seit unvordenklichen Zeiten der Wnrzelmann.
Warm wurf in seinem Hänschen, aber stockfinster. Darum wollte auch das
Nixlein, um das der Wurzelmann freite, lieber hübsch oben bleiben, über den
Wurzeln.
Nämlich just am Fuße des Hügelchens, woraus die Temme wächst, gegen
Seusenbach zu, ist einmal in einer schönen Mondnacht ein flinkes Nixlein ans
seinem El geschlüpft, gleich fix nud fertig, mit silbernen Pantöffelchen an den
Füßen.
Wie die Hasen so liegen auch die Nixen am liebsten da, wo sie geheckt worden
sind. Und so lagerte denn auch unser Nixlcin an manchem heißen Sommertag,
wenn alles im Walde Mittagsruhe hielt, und in mancher langen Winternncht,
während die Sterne langsam über den Wipfel der Tanne hinzogen, auf einem
Wurzelknorren am Abhang des Hügclchens und streckte die silbernen Füßchen dahin,
wo im Erdreich noch ein Abdruck zu sehen war von dem El, woraus es ge¬
schlüpft war.
Wenn so das Nixlein dasaß und die Hände im Schoße gefaltet hatte und
an nichts weiter dachte als etwa, warum es eigentlich keine goldnen Schühlein
trüge, oder warum denn eigentlich die Schnecken keine Flügel hätten, lag der
Wnrzelmann in seinem Häuflein und schaute zu einem Guckloch hinaus, und ob¬
gleich nur wenig Licht hereinfiel, hielt er sich doch die Hand über die Augen, wie
wenn er geblendet wäre.
Wie es nun so geht, eines Tages mußte der Wurzelmann niesen. Da schaute
das Nixleiu her und sagte: Da hat wohl jemand den Schnupfen? Worauf der
Wnrzelmann erwiderte: Nein, aber die Sonne scheint mir so arg in die Nase.
So gab ein Wort das andre, und bald wurden die beiden gut Freund. Der
Wurzelmann that alles, was dem Nixlein nur gefallen konnte. Er schlug Purzel¬
bäume, stellte sich auf den Kopf, stieg auf den höchsten Gipfel der Tanne und ließ
sich herunterplumpsen, oder er kauerte zu des Nixleins Füßen und schnitt die selt¬
samsten Gesichter. Das gefiel dem Nixlein über die Maßen wohl, und wenn es
den Wurzelmann nur von weitem sah, mußte es lachen.
Eines Tages trieb ers mit Possen so arg, daß das Nixlein schrie: Hör auf,
sonst muß ich sterben I Da wurde er ganz ruhig. Das Nixlein aber hielt sich
beide Backen, denn sie thaten ihm weh vor lauter Lachen. Er aber trat herzu
und sagte ganz ernsthaft: Du, weißt du was? Wir wollen Hochzeit halten!
Das Nixlein schaute ihn an und erwiderte: Ich möchte dich ganz gern heiraten,
aber du trägst deinen Zwerchscick nicht hübsch.
Der Wurzelmcmu sagte kein Wort, ging in den Wald hinein und ließ sich
drei Tage lang nicht sehen. Dmi Nixlein wurde es schon grundlangweilig. Da
kam er eines Morgens aus dem Gebüsch heraus. Seinen Zwerchscick hatte er um
den Leib geschlungen wie eine Schärpe, und den Zipfel hatte er schief über die
Schulter geworfen. Er stellte sich vor das Nixlein hin und fragte: Trag ich ihn
jetzt hübsch?
Ja, schon, sagte es; aber jetzt gefällt mir dein Zwerchscick selber nicht.
Der Wurzelmann erwiderte kein Wort und ging in den Wald zurück. Nach
drei Tagen kam er wieder mit einem funkelnagelneuen Zwerchscick, der so köstlich
roch, wie nur neue Säcke riechen können.
Gefällt dir der? fragte er das Nixlein. Ja, sagte es, der ist sehr schön.
Aber dein Bart steht nicht hübsch im Gesicht.
Da ging der Wurzelmann betrübt von dannen, denn er war sehr stolz ans
seinen Bart. Nach drei Tagen kam er wieder, todmüd und ganz staubig. Er
war in Wetbnchhansen gewesen beim Schurken. So nennen die Leute in Wetbach-
hausen den Chirurgen. Der hatte ihm den Bart abgeschnitten und die Wangen
und das Kinn glatt gekratzt. Aber während des Rückwegs fingen die Hcirlein
wieder zu wachsen um und standen hinaus wie was Böses.
Der Wurzelmnnn trat vor das Nixlein hin und fragte kleinlaut: Jsts so recht?
Ja, erwiderte es ganz erschrocken, mit deinem Bart schon, aber jetzt gefällt
mir dein Gesicht selber nicht!
Da wurde er sehr traurig, ging in sein Wnrzelhäuslein und ließ sich neun
Tage und nenn Nächte lang nicht sehen.
In der neunten Nacht ging das Nixlein an das Guckfenster und rief hinein:
Wurzelmann, lebst noch?
Ja, antwortete er mit ganz schwacher Stimme, aber fast nimmer.
Mach die Thür auf! Ich will einmal dein Hüttchen sehen!
Wurde da der Wurzelmcmu froh! Er sprang auf, schob deu Riegel zurück
und führte das Nixlein um der Hand über die Schwelle.
Kaum aber hatte es einen Schritt hineingethan, so rief es: O Wnrzelmcmn,
ists aber hier einmal finster! Scheinen denn da keine Sterne herein?
Doch, zum Guckloch; aber immer nur einer auf einmal.
Wurzelmann, wenn ich dich heiraten soll, so müssen sie alle herein scheinen,
sonst wird nichts drams.
Aber das geht nicht, sagte der Freier. Über uus steht ja der Baum, und
den kann ich doch nicht herausreißen.
Ja, das ist wahr, sagte das Nixlein und besann sich. Aber weißt du was?
Hol du die Sterne herunter vom Himmel, die stecken wir in die Decke und in die
Wände von unserm Hüttchen; dann soll die Hochzeit sein.
Und es huschte hinaus, setzte sich auf seinen Wurzelknorren und sah zu, wie
der große Wagen seine goldne Deichsel hinter dem Wipfel der Tanne vorstreckte. —
Eine gute Stunde weiter hinten gegen das Ende der Welt zu liegt eine breite
Wiese, auf Scnsenbncher Gemarkung. Auf dieser Wiese stand vini nnn an der
Wnrzelmann allnächtlich auf der Lauer, und wenn er eiuen Stern fallen sah, sprang
er hin und hielt sein Säcklein unter. Aber es wollte keiner hineinfallen.
Jeden Morgen, wenn er taudurchnäßt und mit steifen Gliedern zu seinem
Hüttchen kam, schaute ihn das Nixlein spöttisch an und fragte:
Wie gings heut nacht beim Sternenfang?
Es wird der Braut die Weile lang.
Darauf erwiderte der Wurzelmann:
Beinah hatt ich einen gefangen,
Aber er ist daneben gangen.
Eines Morgens aber, als das Nixlein eben seine Frage gethan hatte, schaute
es den Wurzelmnnn genauer an und erschrak bis in den Tod. Denn das Sncklcin
war voll und schwer, und der es schleppte, machte das lustigste Gesicht von der
Welt. Er gab zur Antwort:
Heut ging die Jagd aufs allerbest.
Morgen nacht hol ich den Nest.
Aber bis auf den allerletzten! sagte das Nixlciu tvdesblnß.
Der Wnrzclmnnu hatte in der Nacht Glück gehabt.
Auf deu hohen Tannen am Rande der Wiese saßen nämlich die Eichhörnchen.
Die hatten ausgemacht, dem Wurzelmaun eiuen Tuck zu spielen, denn sie hatten
das Nixlein lieb. Es fielen gerade eine Menge Sternschnuppen in dieser Nacht,
und der Freier sprang mit seinem offnen Säckchen wie besessen auf der Wiese
herum. Jedesmal nun, wenn ein Stern fiel, warf das Eichhörnchen, das am
nächsten faß, einen Tannenzapfen in den Sack, und der Wnrzelmann war so im
Eifer, daß er von dem Betruge gar nichts merkte. So kams, daß er beim Heim¬
weg schwer genug zu schleppen hatte.
Als er nun aber seinen Sack aufgebunden hatte, und die Tannenzapfen heraus-
rvllteu, dem Nixlein zu Füßen, da hättet ihr das Gelächter hören sollen! Dem
Nixlein wollte das Herz fast zerspringen vor Lustigkeit. Der Wurzclmann aber
schlich in sein Häuschen und ließ sich vierzehn Tage lang nicht sehen.
Als die vierzehn Tage um wäre«, ging das Nixlein an das Guckloch und rief
hinein: Wurzelmann, lebst noch? ...
Niemand gab Antwort. Es blieb ganz still.
Er ist gestorben! sagte das Nixlein zu sich selber und hub an zu weinen und
setzte sich auf seine Wurzel und trug Leid um den Freiersmann, wirklich und wahr¬
haftig, ganze zwei nud eine halbe Stunde lang.
Der Wurzelmann aber war gar nicht gestorben, sonder» kurz bevor das Nix¬
lein in das Guckloch hineinrief, während es gerade anfing sich des Spiels mit
seinem Eichhörnchen zu langweilen, war er aus dem Häuschen geschlüpft lind hatte
sich hinter die Tanne und in das Gebüsch hineingestohlen, und um die Stunde,
wo sich das Nixlein nach seinem Liebhaber umschaute, trat der Wurzelmaun in eine
Hütte, die am nördlichen Rand des Roten Reisig gegen Ettersbronn zu uuter den
abgestorbnen Ästen eines uralten wilden Birnbaums stand. Von dem Gipfel des
Baumes konnte man das Ende der Welt sehen. In dieser Hütte wohnte ein
Zaubrer, der in seinem Fache sehr bedeutend war. Der Zaubrer hatte gerade den
neuen Zaubermantel anprobiert, den ihm seine Nichten in Sensenbach verehrt hatten,
und er war sehr guter Dinge. Denn der neue Zaubermantel war bequem wie
ein Schlafrock und dazu wunderschön. Unten am Rande herum lief ein Kranz von
Fliegenpilzen, prachtvoll gestickt mit blütenweißer und purpurroter Seide. Aus
diesen, Kranze krochen etwa fünfundzwanzig fette Salamander mit dicken Köpfen
und krummen Schwänzen und krabbelten dornen am Schoß und an den Seiten
und am Rücken hinauf und über die Achseln an den beiden Ärmeln hinunter.
Diese Salamander waren so natürlich geraten, daß der Zaubrer seine Lieblings¬
tierchen streichelte, als ob sie lebendig wären, und vor Vergnügen mit der Zunge
schnalzte.
So war er in der besten Laune, als der Wnrzclmaun bei ihm eintrat. Nicht
einmal seinem Feinde hätte er etwas abgeschlagen. Als darum der Wnrzelmnnn
bescheidentlich seine Bitte vorgetragen hatte, der Zaubrer möchte ihm doch aus
nachbarlicher Freundschaft alle Sterne vom Himmel herunter und in sein Wurzel-
häuscheu hinein zaubern, strich sich der Zaubrer den Bart und sagte: Wollen mal
sehen, was zu machen ist!
Dann stellte er sich in die Mitte seines Zimmers und fragte: Habe ich nicht
eine feine Wohnung? Habe ich nicht eine schöne Bibliothek? Habe ich nicht einen
prachtvollen Znnbermautel? Keuiieu Sie meine Nichten in Seusenbach? Die habe»
ihn mir verehrt.
Hierauf trat er an sein Büchergestell und suchte im Negistcrband. Drum
holte er das Hauptbuch, setzte sich auf seinen Divan, legte das Hauptbuch in seinen
Schoß und schlug auf Seite 728. Währenddem sagte er: Ich sage nichts, als -
was zu uneben ist — wird gemacht.
Als er die richtige Seite gefunden hatte, zog er die Stirne kraus, legte den
Finger an die Nase und fing zu studieren an. Dabei murmelte er in den Bart:
Das versteht nicht jeder. So — und so — und links herum — und noch ein¬
mal so — fertig.
Er schlug das Buch zu, stellte es wieder an seinen Platz, setzte sich auf den
Divan und sah deu Wnrzelmann, der auf einem Stühlchen saß, nachdenklich an.
Machen können wirs schon, aber, aber, aber. . . . Wir brauchen drei Dinge,
die sehr schwer zu beschaffen sind.
Was ist denn das? fragte der Wnrzelmann verzagt.
Erstens ein Nastüchlein, das ein Waldhüter verloren hat.
Der Wnrzelmnnn saß ganz geknickt ans seinem Stühlchen.
Zweitens eine Leberwurst, die von Natur drei Zipfel hat.
Der Wnrzelmann sank noch tiefer in sich zusammen.
Drittens — aber das kann ich meinem Herrn Nachbar nur ins Ohr sagen.
Der Zaubrer stellte sich mitten in das Zimmer. Das Wurzelmännlein stieg
in>f sein Stühlchen, stellte sich ans die Zehen und hielt das linke Ohr hin. Der
Znubrer neigte sich nieder und sagte dem Wnrzelmann etwas ins Ohr. Das muß
etwas gar arges gewesen sein, denn der Wnrzelmann wurde ganz rot. Er wurde
immer röter, blutrot, feuerrot, feuer-feuerrot. Schon schlugen aus beiden Backen
die Flämmlein hervor. Da erschrak der Zaubrer. Er blies, um zu löschen, auf
die linke Backe. Da fuhr aus der rechten eine spannenlange Lohe. Des Wurzel-
mä'nnlcins Bart, der wieder laug gewachsen war, stand in Heller Flamme. Das
Feuer lief an dem Röcklein hinunter und an dem Zwerchsack hinauf. Das arme
Wurzelmäunlein brannte lichterloh. Das Feuer fiel ans den Teppich und lief am
Boden hiu. Der Zaubrer eilte »ach seinem Hauptbuch, aber es war zu spät.
Unter den Salamandern, die an dem Rücken des Zanbermantels htnaufkrochen, war
z»in Unglück much ein Feuersalamander. Der machte sein Maul auf und streckte
die Zunge heraus und sing Feuer. Das lief durch deu Zaubermantel ans die Haut
des Zanbrers. Der explodierte mit einem großen Knall wie ein Pulvertönnchen,
denn er war ein Zaubrer. Jetzt stand die ganze Hütte in Flammen, und der
Holzbirnenbaum brannte wie eine Fackel. Von Ettersbronn her wehte ein frischer
Wind. Der beugte die Flamme nieder und legte sie in den Wald hinein. Und
der Wald fing zu brennen an, hundert dürre Sträucher und tausend Grnsbüschel.
Das Feuer lief an den alten Stammen hinauf, die warfen die brennenden Äste ab,
und jeder Feuerpflock, der auf den Boden fiel, schuf einen neuen Feuerherd.
Eine glühende Luft fuhr vor dem Feuer her und entzündete breit hin und immer
breiter hiu alles, was brennen konnte. So wälzte sich eine Feuerfink durch den
Noten Reisig, unaufhaltsam, und wo sie hinkam, verschwand der Wald krachend und
trallernd in den Flammenwogen.
Das Nixlein hatte sich gerade zum Schlafen hingestreckt. Es sah gen Himmel
und dachte: Was die Nacht so schwarz ist! Kein Sternlein ist zu sehen. Da hörte
es von ferne ein seltsames Rauschen, und es spürte einen scharfen Dunst in der
Nase. Es richtete sich auf und sah sich um. Was ist denn das für eine düstere
Glut, die von Ettersbronn her durch den Wald bricht? Es kann doch nicht der
Morgen sein, so glüht kein Mvrgenrot, und das erste Drittel der Nacht ist noch
nicht um.
Wurzelmann, Wurzelmann! rief das Nixlein, und es sprang auf das Thürchen
zu. Eine dicke Otter huschte ihm voraus durch die Thürritzc, und das Nixlein
hörte, wie sie in die Wurzeln hineinkroch und sich immer tiefer im Erdboden
versteckte.
Wnrzelmmm, Wurzelmmm! schrie das Nixlein. Aber in dem Häuschen war
nichts als schwarze Finsternis, und wo es hinlaugte, griff es Erdwttnde und Wurzel¬
balken. Da ging das arme Nixlein wieder hinaus und setzte sich ratlos und hilflos
auf seinen Wurzelknorren.
Wie war es im Walde so unheimlich lebendig geworden! Lautlos huschten
die Vögel durch die Wipfel, Häher und Drosseln, Eulen und Blaumeisen. Durch
das Gebüsch raschelten Hasen und Rehe. Und auf dem Boden regte es sich allent¬
halben. Kröten hüpfte» eilig vorbei, Haselmäuschen schlüpften durch das Gras,
Blindschleichen krochen aus dem Farnkraut. Alles Getier kam von Ettersbronn
her und floh gegen Sensenbach zu. Das Nixlein stand auf und schaute nach
der Richtung, wo die Flucht herkam. Die Glut war Heller, breiter, höher ge¬
worden. Zuweilen leuchtete es dnrinneu auf wie von Hellem Flammenschein, und
glühende Meteore stiegen in die Höhe und zerstreuten blitzende Sterne.
Da ging dem Nixleiu ein Licht auf, und es erschrak bis in den Tod. Die
Helle kommt von des Zaubrers Hütte her. Der Zaubrer hat dem Wurzelmmm
die Sterne vom Himmel gezaubert. Jetzt kommt der Wurzelmann herangezogen
mit all ihrem Heer. Er hat sie alle, alle, und ich muß mit ihm Hochzeit machen!
Das Nixlein war in die Kniee gesunken, so that ihm das Herz weh. Aber
ini nächsten Augenblick hatte es sich aufgerafft, denn es war ein tapferes Nixlein,
und es lief auf und davon in den Wald hinein. Wo die Büsche am finstersten
standen, wandte es sich hin. Aber der Schein ging ihm nach, und vor und neben
und hinter ihm rauschte, raschelte, flatterte, zitterte, schnaufte es von dein flüchtigen
Getier. Da kam das Nixlein mitten in einen breiten Zug flüchtender Schlangen
hinein, die zischten zornig in die Höhe, wenn sie einen Tritt bekamen von den
silbernen Pantöffelchen. Ich will stehn bleiben, bis ihr vorüber seid, sagte das
Nixlein und ließ deu Zug an sich vorbei rauschen, dann wandte es sich weiter
links, um aus dem Strome der flüchtenden Tiere zu kommen. Wie es unter einem
Eichbaum hinlief, sprang ihm etwas auf die Schulter, und ein klopfendes Herzchen
drückte sich an seine Wange.
Du bist es, mein Liebling! sagte das Nixlein zärtlich und küßte das Eich¬
hörnchen. Gottlob, daß ich nimmer allein bin!
Und das Nixlein floh innrer weiter und weiter durch den dunkeln Wald.
Die Tiere blieben hinter ihm zurück, es wurde stiller und stiller. Die Glut stand
seitwärts. Sie ergoß sich weithin, aber sie kam nicht mehr naher. Jetzt wurde
auch der Wald dünner, und bald hatte das Nixleiu das Ende erreicht. Hinter
ihm glühte der Himmel düsterrot. Aber bor ihm stieg eine sanfte Helle mu Himmel
empor. Die kam vom Ende der Welt her und verkündete den Morgen.
Das Nixlein verließ den Wald und kam aufs freie Feld. Auf einem niedern
Hügel stand eine einsame Linde. Auf die ging das Nixlein los, und als es um
Stamme angekommen war, legte es sich auf den Boden, denn es war todmüde.
Es machte die Augen zu und schlief ein Weilchen. Das Eichhörnchen legte sich
neben das Nixlein und schmiegte sich an seinen Weißen Hals.
Als das Nixlein aufwachte, rieb es sich die Augen und sah um sich. Da
erblickte es den Morgenstern und rief fröhlich: Gott sei Dank! den hat er noch nicht!
Wer hat wen noch nicht? fragte das Eichhörnchen, das auch aufgewacht war.
Der Wurzelmann hat den Morgenstern noch nicht, und ehe er den allerletzten
but, werde ich nicht seine Frau.
Ja meinst du deun, daß er die andern hat? fragte das Eichhörnchen.
Freilich hat er sie! Schau doch nur einmal, dahinten leuchtet das ganze
Sternenheer aus dem Noten Reisig.
O dn dummes Nixlein! lachte das Eichhörnchen. Und es sing an, dem
Nixlein zu erzählen, was sich in der Hütte des Zaubrcrs zugetragen hatte. Das
Eichhörnchen hatte nnmlich auf einem Türmchen gesessen vor des Zcmbrers Hütten¬
fenster und hatte alles mit augesehen und angehört.
Als das Nixchen den Bericht vernommen hatte, fragte es: Was hat denn der
Zaubrer dem Wurzelmauu ins Ohr gesagt?
Das weiß niemand in der ganzen Welt. Der Wurzelmauu ist ja zu Asche
verbraunt, und der Zaubrer ist in die Luft geflogen wie ein Pnlvertönncheu,
denn er war ein Zaubrer.
Das Nixleiu schwieg eine Weile. Dann fing es wieder an: Du!
Was deun?
Was but denn der Zaubrer dem Wurzelmauu ins Ohr gesagt?
In diesem Augenblick hörte man ein Helles Hornsignal.
Das ist die Feuerwehr von Wetbachhausen, sagte das Eichhörnchen.
Ein andres Signal ertönte aus weiterer Ferne.
Das ist die Feuerwehr von Senseubach, rief das Eichhörnchen. Der Haupt¬
mann der Wetbachhäuser Feuerwehr hat einen schwarzen Helmbusch, und seine Ad¬
jutanten haben weiße Troddeln. Und der Feuerwehrhauptmann von Sensenbach
hat einen roten Helmbusch, und seine Adjutanten haben schwarze Troddeln. Jetzt
kann ich nimmer länger bei dir bleiben.
Und das Eichhörnchen lief spornstreichs querfeldein der Brandstätte zu.
Das Nixlein blieb in schweren Gedanken zurück und sagte vor sich hin: Ach,
wenn ich nur wüßt, wenn ich nur wüßt, was der Zaubrer dem Wurzelmauu ins
Ohr gesagt hat!
Und es erhob sich und ging gedankenvoll des Wegs dahin, gerade auf das
Ende der Welt zu. Mitunter blieb es stehn, rang die Hände und jammerte:
Ach, der Wnrzelmmm ist zu Asche verbrannt, und der Zaubrer ist in die Luft
gefahren wie ein Pnlverfäßchen, und um kann niir niemand, niemand sagen, was
der Zaubrer dem Wurzelmann ins Ohr gesagt but!
Jetzt war das Nixchcn ganz nahe an das Ende der Welt gekommen. Aber
es sah die Warnungstafeln nicht, so war es in Gedanken versunken.
Ach, lieber Wurzelmann, klagte es, daß du noch lebtest! Wie gern wollt ich
dich heiraten, wenn du mir sagtest, was dir der Zan —
Da war das Nixlcin über den Rand der Welt hinnusgclanfen und ans der
Welt hinausgefallen. —
Wo ist denn das Nixlein hingeraten?
Das weiß nur der liebe Gott.
Und was hat denn der Zaubrer dem Wurzelmann ins Ohr gesagt?
Das weiß nicht einmal der liebe Gott.
Das Flottengesetz vom 15. Juni Z 900. Am 15. Juni hat der Kaiser
ein Gesetz vollzogen, dem in den Annalen des Reichs für alle Zeiten ein hervor¬
ragender Platz gebührt. Aber wir Deutschen von 1900 sind etwas blasiert ge¬
worden, vielleicht mich wieder etwas in den alten grämlichen Sonder- und Klein¬
geist zurückgeraten, der lange Zeit der Welt erlaubte, sich aus deutscher Haut
Riemen zu schneiden. Wenn wirs nicht scharf ins Licht gerückt bekommen, merken
wirs kaum noch, daß das Flottengesetz mehr sagen will als die „Lex Heinze" oder
das Fleifchschaugesetz. Es ist ja über das eine beinahe so viel gestritten worden
wie über das andre. Das bekommt man satt: Laßt uns mit der „gräßlichen"
Flotte jetzt endlich in Frieden; Gott sei Dank, daß das Gesetz unter Dach ist!
Gerade deshalb ist ein Uein^uto sehr am Platz.
Wer Hütte, lieber Michel, noch vor einem Jahre diese gewaltige Wendung
zum bessern für möglich gehalten! Sogar als du dich über die UnHöflichkeiten
entrüstetest, die uns vor Samoa widerfahren, da hast du wohl unes alter Art auf
Kaiser und Reich geschimpft, daß sie ihre Pflicht nicht thäten, den vermeintlichen
Schimpf zu rächen; aber dem Kaiser und dem Reich die starke Flotte zu geben,
so schnell als möglich, die dazu gehört, daran dachtest dn Bärenhäuter noch lange
nicht. Es war ja erst das Jahr vorher ein neuer Flottenbauplan mit allen mög¬
lichen und unmöglichen Bindungen unter den schwersten parlamentarischen Wehen
und konstitutionellen Bedenken überein getragen worden, wie vor dreihundert Jahren
die Herren Stände sagten. Wie konnte man es da wagen, schon wieder eine noch
stärkere Flotte, ja sogar ihre Verdopplung zu verlangen. Der Kaiser hats gewagt.
Er allein, er persönlich. Sein Werk ists, vor dem wir stehn; seine Politik, zu der
wir uns bekehrt haben; sein Kurs, den das Reich jetzt gewonnen hat. Aber er hat
nnr gewagt, was die monarchische Pflicht ihm gebot, und er hat nnr gesiegt, weil,
was er gewagt hat, des deutscheu Volks und des deutsche!, Vaterlands Sache war,
nicht seine eigne, auch keine preußische, keine brandenburgische, wie vor dreihundert
Jahren. Es ist ein herrlicher Triumph des monarchischen Prinzips im Deutschen
Reich, den wir erleben. Dabei ein Triumph, so ganz natürlich und zeitgemäß, so
ganz einfach und selbstverständlich, daß wir alle uns im Augenblick gar nicht
wundern. Aber was Wilhelm II. hier in einfacher, selbstverständlicher Erfüllung
seiner Pflicht als Kaiser von Deutschland gethan hat, das wird sich als mächtiger
Eck- und Grundstein der Monarchie im Deutschen Reich bewähren, und die Wellen der
leidigen Stammeseifersucht, des Rückschritts und der Pöbelherrschnft werden sich
an ihm brechen. Wir haben einen Kaiser von Deutschland, der nach Reichsrecht
für des ganzen Volks und des ganzen Landes Zukunft wacht und wagt. Daran
werden weder preußische noch bayrische, weder welfische, noch lippischc, noch reußische
Nörgeleien und Reservatrechte fortan etwas ändern.
Bei nüchterner Überlegung können wir mit dein praktischen Ergebnis der
Flottenkampagne sehr zufrieden sein. Es ist erreicht, was jetzt erreicht werden
mußte, Die Schlachtflotte, bis vor kurzem der streitigste Punkt, ist genau uach
dem Negieruugseutwurf bewilligt worden. Abgekehrt ist dagegen die Vermehrung
der Anslcmdsflotte um fünf große und fünf kleine Kreuzer und weitere zwei große
und zwei kleine Kreuzer in der Materialreserve. Da die Negierung selbst vor
1906 nicht mit dem Bau der neuen Auslandsschiffe beginnen zu können glaubt,
ist ihr Abstrich vorläufig belanglos. Aber er ist ganz besonders thöricht. Gerade
die Vermehrung der Auslandsflotte wird sich in den nächsten fünf Jahren als so
unmittelbar und unabweisbar notwenig aufdrängen, daß kein Reichstag es wagen
wird, den darauf abzielenden Anträgen der Negierung ernsthaft Widerstand zu
leisten. Die Gedankenlosigkeit und die innere UnHaltbarkeit der anch von den Mehr-
heitspartcieu unter ultramontaner Führung parteitaktisch für angezeigt gehaltnen,
wenigstens teilweis ablehnenden Stellung gegen eine Flottenvermehrung, die mit
Anspannung unsrer ganzen Leistungsfähigkeit durchgeführt werden müßte, werden durch
nichts besser bezeichnet als durch die plötzliche, ohne jede Begründung gelassene
Bekehrung der Reichstagsmehrheit von der Auslands- zur Schlachtflottenfreundschaft.
Jedes Wort darüber thäte diesem Parlamentsspiel zu viel Ehre an. Sorgen wir
nur nach Kräften dafür, daß es in Zukunft anders wird, daß der Reichstag deu
Beruf bekommt, das Geschäft des Deutschen Reichs und nicht das der Parteien zu
besorgen.
Von irgend welchen „Bindungen," wie sie das Gesetz von 1898 belasteten,
ist, Gott sei Dank, in diesem neuen Flvttengesetz nicht die Rede.
Zunächst ist das Tempo der Flottenverstärknng nicht festgelegt. Ausdrücklich
ist in deu Verhandlungen von den Mehrheitspnrteien anerkannt worden, daß die
dem Negieruugseutwurf beigefügten Schätzungen der Baufristen usw. uicht in diesem
Sinne gedeutet werden können. Erlauben die Finanzen des Reichs und der Stand
der technischen Einrichtungen ein schnelleres Tempo, so darf die Regierung es
einschlagen, und der Reichstag darf entsprechend größere Barraken bewilligen.
Aber nicht nur das, sie werden dann sogar verpflichtet sein, in schnellerm Tempo
zu bauen. Das kann schon jetzt dem deutscheu Volke nicht eindringlich genng
zum Bewußtsein gebracht werden. Das ganze Flotteugesetz von 1900, das dem
von 1898 in so auffälliger Hast folgte, hat keine» Sinn, wenn es nicht als die
unzweideutige und ausdrückliche Anerkennung der ganz besondern Dringlichkeit der
Flottenvermehruug aufgefaßt wird. Das giebt ihm sein charakteristisches Gepräge.
Der Reichstag, der diese besondre Dringlichkeit anerkannt hat, machte sich selbst zum
Narren, wenn er das Ziel langsamer erreicht sehen wollte, als es irgend möglich
ist. Mit Leuten, die in der Abrüstung eine Bürgschaft für Macht und Friede»
zu sehen heucheln, ist natürlich jede Diskussion Verlorne Mühe.
Die den Kostenpunkt behandelnden Bestimmungen des Gesetzes haben folgenden
Wortlaut:
'
§ 5. Die Bereitstellung der zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Mittel unter¬
liegt der jährlichen Feststellung durch deu Reichshcmshaltsctat.
§ 6. Insoweit vorn Rechnungsjahre 1901 ab der Mehrbedarf an fortdauernden und ein¬
maligen Ausgaben des ordentlichen Etats der Marinevcrwnltung den Mehrertrag der Reichs-
stempclabgaben über die Summe von 5Z 708 000 Mark hinaus übersteigt und der Fehlbetrag
nicht in den sonstigen Einnahmen des Reichs seine Deckung findet, darf der letztere nicht durch
Erhöhung oder Vermehrung der indirekten, den Massenverbrauch betastenden Reichsabgaben auf¬
gebracht werden.
Das ist alles. Die zugleich erlassenen Gesetze, die dem Reich für den er¬
höhten Aufwand für die Flotte »me Einnahmen zuweisen »vollen, enthalten ihrer-
seits ebenso wenig irgend welche „Bindungen," die einer technisch durchführbaren noch
so starken Beschleunigung des Bautempos entgegenstünden. Möchten sich nur die
technische« Voraussetzungen schaffen lassen, das Ziel schneller, als man bis jetzt an¬
genommen hat, zu erreichen. Daß es an den Geldmitteln fehlen könnte, ist ganz
ausgeschlossen, zumal da unsers Erachtens dem nichts im Wege steht, daß Regierung
und Reichstag, wenn es ihnen angebracht erscheint, sich zur vorläufigen Deckung der
Kosten aus Anleihen entscheiden. So sehr man ein Maßhalten in der Belastung
des Reichs mit neuen Schulden und eine kräftigere Schnldentilgnng wünschen muß,
der Grundsatz, unter keinen Umständen die Kosten der Flottenvermehrung aus An¬
leihen zu decken, wäre einfach Unsinn und Eigensinn. Er ist trotz aller großen
Worte darüber glücklicherweise nicht in das Gesetz übergegangen.
Aber auch der Reichstag ist nicht gebunden, bestimmte Raten zu bewilligen,
um das Einhalte» eines bestimmten Tempos zu ermöglichen. Der Z 5 verleiht ihm
das uneingeschränkte Recht alljährlicher etatsmäßiger Bewilligung oder Nicht-
bewilligung der Baugelder. Wir hätten keine konstitutionellen Bedenken gegen eine
Bindung des Reichstags für eine längere Reihe von Jahren und für eine stattliche
Reihe von Millionen gehabt, aber wir halten den Weg, den die verbündeten Re¬
gierungen in dem neuen Gesetzentwurf vorgeschlagen, und den das Gesetz einge¬
schlagen hat, für kein Unglück, vielleicht für den natürlichen und bessern Weg. Die
logische und moralische Verpflichtung, die beschlossene Erhöhung unsrer Wehrkraft
zur See möglichst schnell zu stände zu bringen, ist unzweifelhaft anerkannt und fest¬
gestellt worden. Freilich ist dadurch uicht jeder Mißbrauch des Rechts der Bewilligung
und der Nichtbewilligung ausgeschlossen. Ein Blick auf die Verhandlungen über
das neue Gesetz belehrt uns darüber. Abgesehen von der sinnlosen Opposition der
Sozialdemokraten und Demokraten, auch die Haltung der Mehrheitsparteien läßt
die Wiederholung des sogenannten Kuhhandels befürchten, zumal bis zur endgiltigen
Regelung der schwebenden zollpolitischen Fragen. Recht widerliche Erscheinungen in
diesen Beziehungen stehn vielleicht bei den nächsten Etatsberatnngen bevor, aber sie
werden der kaiserlichen Flottenpolitik kein Bein mehr stellen können.
Freilich erlahmen dürfen die überzeugten Freunde dieser Politik keinen Augen¬
blick in dem Bemühen, aufklärend und befestigend auf die öffentliche Meinung ein¬
zuwirken. In der Flotteupropaganda darf nicht nachgelassen werden, sie muß
kräftig fortgesetzt werden in verbesserter Form, zu nachhaltiger tieferer Wirkung.
Der Weltlauf geht schnell in uusern Tngeu. Was sich in China vorbereitet,
was in Südafrika werde« wird, was in der Levante und in Nordafrika um Un¬
haltbarem vorhanden ist, was die unruhigen Geister in Amerika versuchen können,
was wir aus Samoa und den Karolinen machen sollen, wer kann darüber von
heute bis übers Jahr eine Antwort geben! Wahrhaftig, es fehlt nicht an Stoff
zur ernsten Belehrung des deutschen Michels. Mau lasse nur die Phrasen und
Schlagworte, die Übertreibungen und Überschwänglichkeiten, mit denen man ihn für
die Weltpvlitik begeistern möchte. Sie verfangen doch nicht, denn der Michel ist
träg, aber nicht dumm.
Und wenn, was schnell geschehn möge, der Sollbestand unsrer Kriegsschiffe
nach dem Gesetz vom 15. Juni 1900 erreicht sein wird, und wen« auch, was ganz
selbstverständlich ist, die Auslandsflotte weitere vierzehn Kreuzer — die Reserve
mitgerechnet — erhalten hat, dann muß das Volk einsehen gelernt haben, daß erst
der Anfang gemacht und der Grund gelegt ist zu der Seemacht, die das größere
Deutschland braucht. Ihm das heimbringe«, das ist el«e schöne Aufgabe, und die
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UMcum England seine Kolonien zu einem durch Vorzugszölle
gegen das Ausland geschützten wirtschaftlichen Bunde abschließt,
so wird fast ganz Europa davon betroffen. Unser deutscher
Handel betrug im Jahre 1898 mit Großbritannien und Irland
! 1629,5 Millionen Mark, mit den englischen Kolonien und
Ägypten 536,3 Millionen Mark/') Von diesen 536,3 Millionen fielen ans
den Handel, der durch den Suezkanal oder um das Kap der Guten Hoff¬
nung geht, 468,4 Millionen Mark. Unser Handel nach nichtenglischen Ländern
in Asien und Polynesien betrug 159,5 Millionen Mark. Auf beiden Handels¬
straßen verkehrten also deutsche Waren im Werte von 627,9 Millionen Mark.
Nun ist heute China das Land der Zukunft, von dem alle Industriestaaten
Europas großes hoffen; am meisten natürlich England, das schon auf die
reichsten Gebiete dieses reichsten aller Länder die Hand gelegt hat. So lange
England bei dem Prinzip der offnen Thür bleibt, so lange seine Seepolizei
nicht zu Gewaltmaßregeln greift wie in den Zeiten von 1650 und in der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, so lange mag der europäische Wett¬
bewerb ruhig seinen Lauf nehmen. Aber es kann auch anders kommen. Wird
der Wettbewerb zu stark, bedroht er zu weite Kreise des englischen Volks mit
dem Versiegen von Absatz und Verdienst, spürt das englische Volk um eignen
Leibe das Unbehagen wirtschaftlicher Stockungen, dann hat England nie ge¬
zögert und wird es nicht zögern, die Konkurrenz mit Zöllen oder Kanonen
vom Wasser zu verjagen. Wenn es Herrn Chamberlain einfiele, sich Chinas
mit Ausschluß aller andern Mächte wirtschaftlich zu versichern in einem Marsche
auf Peking und durch Besetzung aller wichtigen Häfen — wer außer Amerika
oder Japnu könnte ihn daran hindern? Er sperrt die beiden Zugänge um das
Kap und den Suezkanal, und ehe Europa ihn zwingt, sie zu öffnen, ist er
schon Herr der chinesischen Küste. Wie die europäischen Staaten heute zu
einander stehn, darf sich England alles ohne große Gefahr erlauben, lind es
ist ganz in der Lanne, sehr viel zu unternehmen. Mit der sibirischen Bahn
aber hat es für russischen Widerstand vorerst noch gute Wege.
Der englische Publizist HerrStead^) sagt: „Das Erste und Notwendigste
ist das Vorhandensein einer außerordentlichen Kraft, mächtig genug, die Eini¬
gung derer zu erzwingen, deren Existenz sie bedroht. Mit andern Worten,
um ein himmlisches Königreich zu gründen ist es nötig, daß man einen wirksam
schaffenden Teufel hat; John Bull war im achtzehnten Jahrhundert die Ver¬
körperung des Bösen, im Widerspruch wogegen die amerikanische Union ins
Leben trat."
Nun, in Wahrheit, mau kann kaum etwas Passenderes von den, England
unsers zwanzigsten Jahrhunderts sagen. Dieser Teufel schasst heute so wirksam
als nur jemals. Wenn aber Herr Stead daraus schließt, daß sich die Staaten
Europas mitsamt England zu einem Bunde vereinen sollte»?, so verkennt er
die Natur des Teufels, oder er hält die andern Staaten für lauter Engel.
Wenn sich England heute in den europäischen Sack sperren ließe, so würde es
ihn morgen zerreißen, nachdem es einige mit eingesperrte Engel erwürgt hätte.
England ist zu groß für einen europäischen Sack, und es gebärdet sich gerade
gegenwärtig so, daß an ein Znsmumcngehn mit dem Kontinent fürs erste nicht
zu denken ist. Der kommerziell-gewaltthntige Charakter der Engländer hat sich
in den letzten Jahrzehnten zum Jingo gesteigert, diesem krankhaft angeschwollncn
nationalen Hochmut, für den wir zum Glück bisher kein deutsches Wort brauchten.
Und das Jingo hat im Imperialismus ein Ideal gefunden, das seiner Ma߬
losigkeit ganz entspricht. Die Welt soll englisch oder doch angelsächsisch
werden, das ist das Ziel, das vielen in England ganz ernstlich vorschwebt,
und für dessen Erreichbarkeit auch die beweisenden Zahlen bei der Hand sind.
Diese Idee stützt sich auf die reißende Verbreitung der englischen Sprache in
allen Weltteilen, auf die Machtstellung der angelsächsischen Nasse und auf das
civis L-omanus sum, mit dem der Engländer auf alles Nichtenglische herabblickt.
Diese Idee hat weite Kreise ergriffen, hat ihre Presse zur Verfügung und ihre
Anhänger bis hinauf in das Kabinett. Diese Idee hat sogar die Kirche er¬
griffen und ist dort in die Propaganda für ein „englisches Christentum" um¬
gesetzt worden. Es ist wie ein religiös-politischer Eifer im Geist der .Kreuz¬
züge in diese kalten, besonnenen Kaufleute gefahren. Und ist man erst ans
der von englischen Kirchenhäuptern gepredigten Platform angelangt, diese
Unterwerfung aller niedern Rassen — und welches andre Volk gehörte nicht
dazu nach englischer Anschauung? — als eine göttliche Mission Englands zu
betrachten — nun, dann folgt alles andre ebenso wie bei andern göttlichen
Missionen, und Torquemada, Peter Arbnez, die Verbrennung Crcmmers und
die Ausrottung der Wnldenser sind nicht mehr weit. Mit dem Fanatismus
einer kirchlichen Sekte wird heute in England offen gepredigt, daß, wo das
Wohl Englands in Frage komme, kein Recht andrer Völker bestehn könnet)
Dieses englische Volk, das im privaten Leben die für die Kultur fundamentale
Heilighaltung des Rechts ebenso wie andre Kulturvölker anerkennt, duldet eine
Strömung, die sich wie ein Attila, Tamerlan oder Napoleon national über
alles fremde Recht hinwegsetzt. Dieses fromme Volk ertrüge eine Partei, die
von hervorragenden Engländern selbst für mit der Moral unversöhnbar erklärt
wird, und die heilte England regiert. Wenn sich dieser imperialistische Fanatis¬
mus in England weiter ausbreitet, dann steht zu befürchten, daß die Grund¬
lagen unsrer Kultur erschüttert werden. Wir sind schon weit genug abge¬
kommen von diesen Grundlagen, indem wir Humanität, nationales Recht, indem
wir Prinzip und Treue belächeln, indem wir der Kraft, auch wenn sie nur
rohe Gewalt ist, indem wir uns nur zu leicht dem Nutzen, dem Erfolge beugen.
Soll die Verleugnung von Moral und Recht, soll die rohe Macht nun unser
sittliches Ideal werden? Was haben wir denn hundert Jahre lang die Fran¬
zosen wegen ihrer Revolution geschmäht, in der Moral und Recht von einem
Volk gebrochen wurden, das doch immerhin eine Art von Naturrecht auf Rache
in einer lange vorhergehenden Mißhandlung für sich hatte? Damals zerbrach
die Leidenschaft des Unterdrückten alle sittlichen und rechtlichen Schranken:
heute will die Leidenschaft des Unterdrückers dasselbe thun; was die Jakobiner
zur Erkümpfnng der Freiheit für erlaubt hielten, das halten die englischen
Imperialisten für erlaubt zur Begründung der Knechtung. Wir haben genug
und übergenug an Nietzschischem Wahnsinn und an der Vergötterung der rohen
Macht! Mit dem imperialistischen England kann Europa keinen Frieden haben,
weder in Moral und Recht, noch in Volkswirtschaft und Politik. Und es ist
erfreulich, daß dieses Gefühl in fast allen Völkern des Kontinents wach ge¬
worden und zum Ausdruck gelangt ist. Wie es aus England zurückschallt,
könnte man fast meinen, daß dort nur ein Napoleon Bonaparte fehle, um die
Welt zu erobern. Inzwischen bliebe zu erwägen, in welcher Weise die Staaten,
die sich bedroht fühlen, durch eine Einigung größere Sicherheit erlangen
könnten.
Einer unsrer geistvollsten Publizisten^) hat vor mehr als vierzig Jahren
geschrieben: „Um es kurz zu sagen, es kommt auf eine große Koalition an,
deren kontinentale Basis das deutsche Staatensystem bildet, und welche ihre
maritime Ergänzung in England zu suchen hat. Und solange eine solche
Koalition nicht besteht, ist das europäische Gleichgewicht eine Phrase, wohinter
das Gegenteil von dein verborgen steckt, was sie sagen will." Und weiter
sagt er: „Unter solchen Umständen könnte von einem wirklichen Gleichgewicht
erst dann die Rede sein, wenn sich zwischen Frankreich und Rußland eine
Macht befände, die wenigstens in der Defensive so viel Kraft besäße, um beiden
zusammen genommen gewachsen zu sein," Der Mann hat ein scharfes Auge
gehabt, der das im Jahre 1859 schrieb. Frantz konnte aber damals nicht
wissen, wie England im Jahre 1900 aussehen werde, und was ihm als das
deutsche Staatensystem vorschwebte, war etwas andres als das heutige Deutsche
Reich. Das staatliche Grundprinzip, auf dem er damals und später jenes
Staatenshstem aufbauen wollte, war freilich das föderative, auf dem ja auch
Deutschland von jeher geruht hat und jetzt wieder neu errichtet worden ist.
Es ist das Prinzip, auf dem allein große Staaten, Weltreiche dauerhaft ruhen
können, wenn sie Kulturstaaten sein oder werden wollen. Insoweit hat Deutsch¬
land das Prinzip oder besser die staatliche Grundform zu einem Weltreiche.
K. Frantz meint nun weiter^) in Bezug auf die Bedingungen, die nötig
wären, um einem Staat den Charakter einer Weltmacht zu geben, daß dazu
dreierlei gehöre: „1. Eine Marine, stark genug, um an fernen Küsten einen
Eindruck hervorzubringen und die einheimische Kraft dahin übertragen zu
können; 2. eine territoriale Basis von solcher Breite, daß sie dem betreffenden
Staate durch sein bloßes Dasein einen natürlichen Einfluß auf einen ganzen
Weltteil gewährt; 3. ein eigentümliches politisches oder kirchliches Prinzip, das
der betreffende Staat in der Welt zu repräsentieren hat oder geltend machen
will. Erst die Vereinigung dieser drei Elemente bildet eine Weltmacht im
vollen Sinne des Worts."
Wenn wir diese Schablone an das neue Deutschland legen, so finden wir,
daß man in Rücksicht auf den ersten Punkt eben damit beschäftigt ist, die
Forderung einer starken Marine auf das angelegentlichste zu erörtern. Ob
wir eine deutsche Flotte bekommen werden, stark genug, eine Weltmacht darauf
zu gründen, ist schwer im voraus zu schätzen, aber angesichts der englischen
Übermacht unwahrscheinlich. Indessen darf man hoffen, daß wir uns eine der
heutigen Bedeutung Deutschlands innerhalb des kontinentalen Europa ent¬
sprechende Flotte schaffen werden, nämlich eine Flotte nicht siebenten Ranges,
wie sie jetzt ist, sondern dritten oder zweiten Ranges.
Die geforderte territoriale Basis ferner haben wir offenbar nicht. Wir
haben uns bisher selbst die engen Grenzen gezogen, indem wir die Nationalität
zum Maßstab für die Größe des Staates nahmen. Die starke nationale Basis
war zweifellos notwendig, um überhaupt zu einem Reich zu kommen, und ist
auch ferner notwendig, ob wir nun Weltmacht werden sollen oder nicht. Aber
wenn wir wachsen wollen außen wie innen, dann werden wir die nationale
Begrenzung aufgeben und andre Nationalitäten innerhalb unsrer Reichsgrenzen
als in Staat und Reich mit dem Deutschtum gleichberechtigt anerkennen müssen.
Weltpolitik kann man nicht treiben wollen, solange man den Staat zu einer
Germanisierungsanstalt von allerlei Fremden macht. Sind wir als Volk nicht
fähig, uns der 2^ Millionen Polen oder der Franzosen oder der Dänen zu
erwehren, dann sind wir sicherlich auch nicht reif für eine Wcltpolitik; glauben
wir aber diese Reife zu haben, dann sollten wir nicht danach streben, einige
Zwangsgermanen mehr zu schaffen, sondern uns damit begnüge», Ordnung
und Frieden zwischen Deutsche!, und nichtdeutschen zu erhalten.
Ob wir nun Weltmacht werden oder nicht, wir werden doch über kurz
oder laug unsern territorialen Besitz erweitern, und zwar erweitern müssen
aus mancherlei Gründen. Denn staatlich werden wir einmal mit dem Slawen¬
tum den Kampf aufnehmen müssen, der national heute schon von dem Adria-
tischen Meer bis zur Ostsee tobt, und dem wir nicht mehr lange als bloße
Zuschauer werden gegenüber stehn können. Kommt für uns der Kampf, dann
werden wir ihn auf keinem andern Prinzip zu gutem Ende führen können als
auf dem der nationalen Föderation. Wie das Deutsche Reich auf der Föde¬
ration der Staaten erbaut ist, so werden wir auf die Föderation unser Ver¬
hältnis zu den mehr oder minder slawischen Gebieten gründen müssen, die sich
uus vielleicht angliedern werden. Die Kulturkraft des deutschen Volks soll
Ausdruck und Organisation im Deutschen Reiche finden; aber das nationale
Ringen soll nicht vergiftet werden durch staatliche Gewaltmittel. Der Staat
soll das Deutschtum als Träger der Kultur gegen Angriffe schützen und für
den Kampf stärken, aber er soll sich aller direkten Zwangsmittel gegen andre
Nationalitüten enthalten, die den Anspruch machen können, als Träger eigner,
mit der der großen Nationen Europas gleichartiger Kultur zu gelten. Mit
diesem Prinzip staatlicher und nationaler Föderation können und müssen wir
die Erweiterung unsrer territorialen Basis erreichen, die uns auf der einen
Seite davor sichert, wie England von fremder Kornzufuhr abhängig zu sein,
auf der andern davor, daß unsre Ausfuhr von englischem Wohlgefallen abhängt.
Wie steht es nun mit der dritten Forderung Frantzens, dem „eigentüm¬
lichen politischen oder kirchlichen Prinzip," das zu einer Weltmacht gehören
soll? Seit Frantz dieses schrieb, hat sich vieles, auch der Wert der politischen
und kirchlichen Prinzipien in der Welt geändert. Wir glauben nicht mehr an
den „allein selig machenden" Charakter dieser oder jener Fraktion innerhalb des
Christentums; wir glauben nicht mehr an den. allein zufrieden machenden Cha¬
rakter dieser oder jener Staatsform. Wir neigen zu der Meinung, daß man
in jeder Kirche des himmlischen und in jeder Staatsform des irdischen Glücks
teilhaftig werden kann, und daß es weniger auf kirchliches oder politisches Dogma,
als auf das wirkliche, das konkrete religiöse oder staatliche Leben des Einzelnen
und der Gesellschaft ankommt. Und dieses wirkliche Leben hat sich seine Be¬
dürfnisse geschaffen und Formen für ihre Befriedigung gefunden, die sich dreist
den alten politischen Prinzipien, die um 1848 verehrt oder verdammt wurden,
zur Seite stellen lassen. Ein solches Bedürfnis ist für Deutschland wie für
die meisten andern Staaten Europas die ungehinderte Teilnahme um Welt¬
handel, der Zugang zu überseeischen Märkten für die heimische Produktion.
Und wem daran gelegen ist, mit Prinzipien zu operieren, der mag diese offne
Thür ein wirtschaftliches Prinzip nennen und damit Herrn Frantz Genüge
thun. Allerdings nicht volles Genüge, denn dieses Prinzip ist keineswegs
Deutschland als Weltmacht „eigentümlich," sondern war bis hente eher Eng¬
land eigentümlich. Nun haben ja manche Leute in England, auf die schon
mehrfach hier die Rede gekommen ist, gemeint, daß, wenn die fremde Kon¬
kurrenz auf dem industriellen Markt noch weiter erstarke, der Augenblick
kommen könne, wo es für England besser wäre, wenigstens für sich und seine
Kolonien das Prinzip der offnen Thür und des alten manchesterlichen Frei¬
handels aufzugeben. Vorläufig ist diese Meinung noch nicht reif genug, in
Verträge und Gesetze umgesetzt zu werden. Es ist vielleicht eben jetzt der
Augenblick nähe, wo England die weitere Ausdehnung seines Kolonialbesitzes
in den Hauptgrenzen abschließen wird. Dann könnte die Frage nach wirtschaft¬
lichem Abschluß des Reichs ernstlicher gestellt werden. Und wenn der politische
Imperialismus in den selbstregierenden, von Europäern bewohnten Kolonien
auch wenig Aussicht ans Verwirklichung hat, so ist von diesem Plan der andre
eines Zollbundes unabhängig.
Am 3. April dieses Jahres sagte Herr Chamberlain im Unterhause, er
sei nie für einen Neichszollverein gewesen, sondern er verlange Freihandel
innerhalb des Reiches und Zölle nach außen. Ich wüßte freilich nicht, worin
sich diese Forderungen voneinander unterscheiden sollten; klar aber ist doch
wohl, daß der wirtschaftliche Abschluß Englands und seiner Kolonien gegen
die übrige Welt im Plan des einflußreichsten englischen Ministers liegt. Kanada
hat ja schon Vorzugszölle zu Gunsten Englands bei sich eingeführt, die vom
1. Juli dieses Jahres ab 33^ Prozent vom Wert betragen werden. Wenn
sich der englische Imperialismus auf wirtschaftlichem Gebiet durchsetzen sollte;
wenn diese täglich an Bedeutung wachsende Partei die Zukunft Englands be¬
stimmen sollte, wie es den Anschein hat: dann wird die Politik Europas einen
gewaltigen Umschwung erfahren. Das wirtschaftliche Bedürfnis wird Europa
nötigen, eine Solidarität der Interessen der alten kontinentalen Kulturstaaten
gegenüber den heutigen Weltmächten anzuerkennen und sich zu ihrer Ver¬
teidigung zu verbinden.
Um also zu einer Weltmacht im Sinne des Herrn Frantz zu gelangen,
Hütten wir die offne Thür als wirtschaftliches Prinzip des Deutschen Reichs
von England zu übernehmen und in dem Sinne nach außen zu vertreten, daß
in den internationalen Handelsbeziehungen keine Differentialzölle aufkommen,
die als Schutzzölle für die Waren ganzer Länder oder für bestimmte Waren¬
gattungen innerhalb des überseeischen Verkehrs wirken würden. Unsre Zeit
ist weit weniger von politischen Interessen als von wirtschaftlichen beherrscht,
worin wir ja nur deu Spuren Englands folgen, das längst schon nur für sein
wirtschaftliches Gedeihen kämpfte, während es auf der Arena des kontinentalen
Europas noch immer die alten politischen Turniere fröhlich und mit ernster
Miene mitmachte. Indem wir nun dieses bis jetzt noch von dem offiziellen
England immer proklamierte Prinzip der offnen Thür annehmen, wäre der
Boden gefunden, auf dem wir eine engere Verbindung mit England selbst ein-
gehn könnten. Wenn wir England zu einem Vertrage auf der Grundlage
auffordern, die offne Thür sowohl innerhalb der Grenzen beider Reiche zu
garantieren als auch außerhalb mit geeinter Kraft zu vertreten, verletzen wir
keine Interessen dritter Staaten und gewinnen für die unsrige den Schutz, den
wir unter den heutigen Verhältnissen billigerweise anstreben können.
Indessen kann man sich die Möglichkeit nicht verhehlen, daß England im
Übermut seiner Macht den Abschluß eines solchen Vertrags unter Verleugnung
seines ihm bisher „eigentümlichen" Prinzips ablehnt, Oder es kann auch
kommen, daß England ihn zwar abschließt, aber im weitern Verlauf praktisch
durchlöchert, worin eS von jeher eine große Geschicklichkeit gezeigt hat. Oder
es kann sich ereignen, daß auf den Wellen des doch nun einmal vorwiegend
englischen Elements die beiden Töpfe aneinander schlagen und der thönerne
in Scherben geht. Auf solche Fülle müssen wir vorbereitet sein.
Da bietet sich uns dann ein andres Prinzip dar, das föderative. Wir
haben Nachbarn von verwandtem Stamme, von gleichwertiger Kultur, von
gleichen wirtschaftlichen Interessen. Holland, Dänemark, Schweden-Norwegen
haben das gleiche Interesse wie wir, daß ihnen die Weltmärkte nicht ver¬
schlossen werden von einer großen Seemacht. Dänemark und besonders Holland
haben das andre Interesse mit uns gemeinsam, ihre Kolonien gegen die
Expansivnslust großer Seemächte zu sichern. Diese beiden Interessen sind die
natürliche Basis für eine wirtschaftliche Föderation, die sie vertragsmäßig zu
schützen hätte. Die politische Unabhängigkeit dieser Staaten würde in keiner
Weise dadurch gefährdet werden. Holland insbesondre steht unter der Garantie
der Wiener Verträge und hat Kolonien von ungeheuerm Wert, mit einer
kolonialen Bevölkerung von mehr als 30 Millionen, mit sehr bedeutende»,
Handel. Es ist mit seiner Kriegsflotte von etwa 150 meist veralteten Schiffen
längst nicht mehr imstande, sich mit den großen Seemächten zu messen. Eine
deutsch-holländische Handelskonvention liegt so sehr im Interesse beider Länder,
daß abgebrochne Verhandlungen (von denen im vorigen Jahre Gerüchte umgingen)
über kurz oder laug doch wieder angeknüpft werden müßten. Die Küsten
Hollands, in deren Flußmündungen und Kanälen sich ganze Flotten bergen
können, die in der Seefahrt erfahrne, charaktervolle Bevölkerung, das in der
gegenwärtige» Lage natürliche Bestreben Deutschlands, den großen holländischen
Zwischenhandel in deutsche Häfen zu leiten: alles das deutet auf eine enge
Handelsverbindung hin, die durch eine Flottenkonvention geschützt werden müßte.
Solange England ein der offnen Thür für sich und andre innerhalb wie
außerhalb des britischen Reichs festhält, lüge in solcher föderativem Sicherung
der mitteleuropäischen Interessen nichts Verfängliches. Und es könnten Er¬
eignisse eintreten, die es England nahe legten, sich einer solchen Föderation
im eigensten Interesse anzuschließen. Denn wie nach Herrn Stead John Bull
der wirksam schaffende Teufel für die Errichtung der nordamerikanischen Union
gewesen ist, so kann diese Union wiederum als ein solcher Teufel für einen
Umschwung in der englischen Politik und für einen Wiederanschlnß an Europa
wirksam werden. Die Ansprüche des Onkel Sam wachsen ebenso ins Riesen¬
hafte wie die von John Bull, Das Selbstvertrauen des Amerikaners ist un¬
begrenzt, die Mittel zu gewaltsamen Unternehmungen sind vorhanden, der
kviumerziell-rücksichtslose Sinn ist stark entwickelt. Die Behandlung Spaniens
und seiner Kolonien hat schon in Mittel- und Südamerika die Sorge wieder
vermehrt, daß die Union eines Tngs den ganzen Kontinent von Amerika für
ihre wirtschaftliche Einflußsphäre, wie der heutige zarte Ausdruck lautet, halten
könnte, auf deren Benutzung sie ein Vorrecht vor allen nicht amerikanischen
Mächten habe, Wenn die Gefahr solcher Ansprüche festere Formen annähme,
so wäre England vielleicht geneigt, das Gleichgewicht unter den Weltmächten
für bedroht zu halten und sich zu erinnern, daß das alte Europa bisher die
amerikanische Monroedoktrin nicht anerkannt hat, England, und nicht bloß
England, sondern andre wirtschaftlich expansive Staaten auch, werden in neuer
Zeit von der dritten Weltmacht Rußland immer wieder daran erinnert, daß
dieses Reich begonnen hat, für Asien eine russische Übersetzung der Monroe¬
doktrin zu verbreiten. Im Osten Korea und die Mandschurei, in Mittelasien
Afghanistan und Persien, im Westen Anatolien bis an die Dardanellen her —
das ist das heute schon von Nußland für sich als Einflußsphäre beanspruchte
Gebiet, Wie England in Südafrika, so geht Rußland in Mittelasien vor.
Immer hört man von den „alten und berechtigten Interessen," die Nußland
in Persien, in Kleinasien, bis nach Bagdad und Smhrna und an den persischen
Golf hin zu verteidigen habe. Freilich hat uns noch niemand den historischen
Nachweis dafür liefern können, daß Nußland auf diese Gebiete irgend ein
besseres Recht als ein andrer Staat habe. In Kleinasien z. B., um Euphrat,
am persischen Meerbusen hat es bisher weder Russen noch russische Waren
gegeben. Die Ansprüche auf eine Suprematie in diesen Ländern sind völlig
aus der Luft gegriffen. Aber indem man sie immer wiederholt, wird daraus
eine Doktrin wie die des Präsidenten Monrve, und die Doktrin gebiert das
Recht in dem Bewußtsein des fordernden Volkes. So tritt der englischen
Weltmacht hier eine russische Weltmacht mit einer Doktrin entgegen, die durch¬
aus aggressiv gegen die englischen Interessen in Asien vorgeht. Nußland thut
in Asien, was England in Afrika, was in engern Grenzen die Union in
Amerika thut. Was sollte Rußland hindern, unter bessern Vorwänden, als
sich England in Transvaal verschaffen konnte, seine Suprematie bis an den
persischen Golf und bis in die Nähe von Peschawer ebenso nachdrücklich aus¬
zudehnen, wie es England in Südafrika thut? Wenn das geschieht, dann
könnte der Traum des Herrn Stead von einer Union europäischer Staaten
mit Einschluß des britischen Weltreiches vielleicht Aussicht auf Verwirklichung
finden.
er bekannte französische Sozialpolitiker Graf d'Haussvnville be¬
handelt in seinem neusten Werke die wirtschaftliche Lage der
erwerbthätigen Frauen in Frankreich. Er hat ihm den sehr be¬
zeichnenden Titel: Lalg-irgs se Nisörss als ?sinwks*) gegeben.
Von den Arbeiterinnen hat er als charakteristische Beispiele die
Näherin und Konfektionsarbeiterin ausgewählt, da drei Viertel aller Arbei¬
terinnen in Paris in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind; außerdem
behandelt er die Lage der jetzt in Frankreich ziemlich zahlreichen Beamtinnen,
Lehrerinnen usw., über die bisher noch keine eingehende Untersuchung vorlag.
Ferner erörtert er das Unterstützungswescn für arbeitende Frauen, die Aus-
wandrung der Frauen nach den Kolonien und andres. Das Werk enthält
ein sehr dankenswertes Material, aus dem ich im Nachfolgenden das Wichtigste
mitteilen möchte.
Vor einigen Jahren hat Graf d'Haussonville versucht, in einem umfang¬
reichen Wertes die Lebenshaltung der Arbeiter nud Arbeiterinnen in Paris
zahlenmäßig darzustellen. Er war dabei zu folgenden Zahlen eines Arbeiter¬
budgets gelangt. Wohnung: 100 bis 150 Franken, Nahrung: 550 bis 750,
Kleidung: 100 bis 150, verschiedne Ausgaben, Heizung, Beleuchtung, Wäsche,
kleine Vergnügungen: 100 bis 150, Summa: 850 bis 1200 Franken.
Bei 300 Arbeitstagen müßte der Tagesverdienst also 2,75 bis 4 Franken
betragen. Der Verfasser fügte hinzu, bei einem Verdienst von weniger als
2,75 Franken könne nur Elend herrschen, während ein Arbeiter, der über
4 Franken verdiene, ein ruhiges Dasein führen könne. Infolge dieser Be¬
rechnung wurden lebhafte Angriffe gegen den Grafen d'Haussonville gerichtet,
indem man vorgab, er habe behauptet, in Paris könne ein Arbeiter mit
850 Franken jährlich sehr wohl auskommen. Der Verfasser giebt denn auch
zu, daß er sich — allerdings in andern, Sinne, als man ihm vorwarf —
geirrt habe, indem er sich seither überzeugt habe, daß es in Paris Arbeiterinnen
giebt, die täglich weniger als 2,75 Franken verdienen und doch ein „normales,
regelmüßiges Leben" führen. Er bezieht sich dabei auf die verdienstvolle Unter¬
suchung Charles Benoists über die Näherinnen in Paris. Eine Hemden-
arbeiten» verdient z. B> 2 Franken täglich, also 600 Franken jährlich, Ihre
Ausgaben verteilen sich wie folgt:
Hierzu kommt für die Nahrung täglich 90 Centimes, die sich durch¬
schnittlich wie folgt verteilen:
Die Ausgaben für die Nahrung betragen also 328,50 Franken, sodaß
die Ausgaben in Summa 596,50 Franken betragen. Es bleibt demnach fürs
ganze Jahr noch ein Überschuß von 3,50 Franken für kleinere unvorhergesehene
Ausgaben. Diese Arbeiterin führt gewiß ein sehr bescheidnes Leben, aber sie
gehört noch zu den Glücklichen, denn wenn ihr Lohn auch niedrig ist, so hat
sie doch das ganze Jahr Verdienst. Eine ganz junge Kvnfektionsarbeiterin
verdient nur 1,25 Franken täglich, was einen Jahresverdienst von 375 Franken
ausmacht. Ihre Ausgabe» sind folgende:
Für die Nahrung bleiben 65 Centimes täglich, die sich wie folgt verteilen:
Daß sich ein solches Mädchen nicht satt essen kann, ist leicht begreiflich,
aber wie viele müssen sich damit begnügen. Und sie sind noch froh, wenn
sie das ganze Jahr Arbeit behalten, denn sobald diese ausbleibt, leiden sie
Hunger. Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen viele der Verführung
anheimfallen. In Paris waren 1896 von 58706 Geburten 16814 unehelich,
also mehr als 30 Prozent (in ganz Frankreich etwa 8 Prozent). In den
Bezirken, wo die Zahl der Arbeiterinnen besonders groß ist, stieg der Prozent¬
satz der unehelichen Geburten sogar auf 40 und 50 Prozent. Berolft nennt
dies „das moralische Elend der Arbeiterin." Der Graf d'Haussonville hebt
dem gegenüber aber auch die Tugend der Pariser Arbeiterin hervor, denn es
giebt anch tugendhafte Mädchen und Frauen unter ihnen, die sich trotz ihres
geringen Lohnes die Heiterkeit des Gemüts und die Reinheit bewahren. Unter
den besser gestellten Arbeiterinnen verdient die Maschinennäherin 3 bis
3,50 Franken täglich und die Verkäuferin bis zu 4 Franken. Es giebt aller¬
dings einzelne Näherinnen, Modistinnen und Blumenmacherinnen, die noch
mehr verdienen, aber ihre Zahl ist gering, und im allgemeinen kann man sagen,
daß der Jahresverdicnst einer tüchtigen Arbeiterin 900 bis 1200 Franken
nicht übersteigt.
Die Löhne könnten dadurch eine Aufbesserung erfahren, daß sich die
Arbeiterinnen organisierten, aber es fehlt an einem festen Zusammenschluß.
Die Arbeiter haben in vielen Zweigen in den letzten Jahrzehnten durch ihre
Gewerkschaften (sMäioaw) eine bedeutende Lohnsteigeruug durchgesetzt. In ganz
Frankreich giebt es nur 26 ausschließlich weibliche Gewerkschaften. In Paris
giebt es zwei Nüherinnenverbändc, aber sie zählen nur wenige Mitglieder.
(Das SMÄieat as 1'aiFutIls zählt nur 1200 Näherinnen als Mitglieder, und
von diesen bezahlt kaum die Hälfte den Beitrag von einem Franken monatlich!)
Und doch beläuft sich die Zahl der Näherinnen und Konfektionsarbeiterinnen
auf 300000! Sie leben getrennt in der ungeheuern Stadt, sie kennen sich
gegenseitig nicht, und jede nimmt selbst zu den niedrigsten Preisen Arbeit an,
sei es, weil sie ausschließlich darauf angewiesen ist, sei es, weil der Verdienst
ihres Mannes nicht genügt. Außer den Zwischenmeisterinnen giebt es in
Paris 10 oder 12 klösterliche Anstalten, die eine große Masse von Frauen¬
arbeit besorgen. Graf d'Haussonville beklagt es, daß auch diese die Preise
drücken, statt sich gegenseitig zu verständigen, um ihren Arbeiterinnen bessere
Löhne gewähren zu können.
Da eine Steigerung der Löhne vorläufig nicht zu erwarten ist, fragt es
sich, wie die Lage der Arbeiterinnen wenigstens durch Verminderung der Aus¬
gaben verbessert werden kann. Für die Toilette giebt die Näherin nicht viel
aus, obschon sie meist nett gekleidet ist. Dagegen verursachen Nahrung und
Wohnung verhältnismäßig sehr hohe Ausgaben, und deshalb haben Philan¬
thropen versucht, hier einzugreifen. Die Union olu-ütionns clss arslisi'8 <1<z
tsmrnW, eine Vereinigung von Geschäftsdamen, die sich verpflichten, in der
Behandlung ihrer Arbeiterinnen die Regeln der christlichen Moral zu beobachten,
hat das erste Arbeiterinnenrestaurant in Paris gegründet. Hier können die
Arbeiterinnen für 15 bis 20 Sous essen. Hier kommen sie auch nicht wie
in deu schmutzigen MiMtW mit Männern in Berührung. Seither sind in
verschiednen Vierteln noch weitere solche Restaurants eröffnet worden, und
ihre Zahl wird bald noch mehr steigen. Diese Restaurants decken zwar ihre
Kosten, nicht aber die Miete, die im Mittelpunkt der Stadt sehr hoch ist. Da
aber hier die meisten Arbeiterinnen beschäftigt sind, so müssen die Gründer
solcher Anstalten den größten Teil der Miete tragen.
Wohnt die Arbeiterin bei ihren Eltern, so braucht sie keine Miete zu be¬
zahlen, aber wenn sie allein ist, so ist die Miete eine drückende Last für sie,
denn unter 100 Franken jährlich findet sie in Paris kein Zimmer. Aber sie
muß es anch möblieren, denn kein Eigentümer vermietet ihr ein Zimmer,
wenn sie nicht wenigstens einige Möbel mitbringt, die er als Sicherheit für
seine Miete betrachtet. Sie kann zwar ein „möbliertes Kabinett" mieten, aber
diese Häuser sind meist weiter nichts als Prostitutionsstätten. Um diesem Übel-
stand abzuhelfen, hat die Union etuMsnns ass gMiörs as tsininizs in Paris nach
dem Muster der englischen Home8 lor trisnälsss Airls zwei sogenannte Naisons
ä<z lÄmiUo gegründet, in denen Arbeiterinnen ein sicheres und billiges Unter¬
kommen finden. Ein drittes Haus dieser Art wurde auf Veranlassung des
L^nclioat «Zo 1'giß'uiIIö und ein viertes durch ein Frauenkloster gegründet. Die
Arbeiterinnen bezahlen in diesen Häusern monatlich 50 bis 60 Franken für
Wohnung und Nahrung (ohne eignes Zimmer 15 Franken weniger). Eines
dieser Häuser kann achtzig Arbeiterinnen aufnehmen, sechzig in Schlafsälen und
zwanzig in einzelnen Zimmern, die außerordentlich beliebt sind. Graf d'Hausson-
ville betrachtet diese Häuser noch keineswegs als ein Ideal, und dabei sind
die Preise für die schlecht bezahlten Arbeiterinnen noch sehr hoch. Aber auch
abgesehen davon, wie sollen die wenigen Häuser, die zusammen nicht einmal
300 Betten zählen, die große Wohnungsnot der vielen Tausende einzel¬
stehender Arbeiterinnen lindern können? Da müßte deren Zahl noch ganz
bedeutend vermehrt werden, aber dies ist nur dann möglich, wenn sich opfer¬
willige Menschen finden, die einen Teil der Kosten übernehmen, da an eine
Verzinsung absolut nicht zu denken ist.
Neben all den Schwierigkeiten, die wir bis jetzt erwähnt haben, bleibt
das Hauptübel die mores-Saison, die Arbeitslosigkeit in der stillen Jahreszeit.
Diese dauert von Mitte Juni bis Mitte September. Sind die Herbst- und
Winterkleider fertig, so tritt wieder eine flaue Geschäftszeit ein (Ende Dezember),
die je nach den Verhältnissen von kürzerer oder längerer Dauer ist. Als der
Zar nach Frankreich kam, trat keine Arbeitslosigkeit ein, und auch dieses Jahr
waren die Arbeiterinnen mit Rücksicht auf die bevorstehende Weltausstellung
vollauf beschäftigt. Diese „glücklichen Ereignisse" sind aber selten, und wenn
der Winter einen traurigen Verlauf nimmt, so ist nnter den Näherinnen und
Konfektionsarbeiterinnen das Elend groß.
Graf d'Haussonville teilt folgendes Budget einer Näherin mit, die in
einem vornehmen Konfektionsgeschäft der rue dö 1a?aix beschäftigt ist, solange
die Saison dauert. Sie braucht monatlich für Nahrung mindestens 60 Franken,
für Miete 9 Franken, Wäsche, Toilette usw. 12 Franken, in Summa 81 Franken.
Dabei ist für Vergnügungen nichts mitgerechnet, und welche Entbehrung das
für ein junges Mädchen von zwanzig Jahren bedeutet, vermag nur der zu
beurteilen, der den lebenslustigen Charakter der Pariserin kennt. Der Lohn
beträgt 4 Franken täglich, also etwa 10V Franken monatlich. Da bleibt also
ein Überschuß vou 19 Mark monatlich, sodaß die Arbeiterin mit einer Er¬
sparnis von 152 Franken in die tote Saison eintreten kann. Wenn sie aber
in diesen vier Monaten nichts verdient und ihre Ausgaben nicht einschränkt,
so steht sie vor einem Defizit von mindestens 200 Franken. Die Lage ist
noch schwieriger für die vielen Arbeiterinnen, die nicht das Glück haben,
4 Franken täglich zu verdienen. Wohlwollende Prinzipale kommen ihren Ar¬
beiterinnen allerdings in der Weise entgegen, daß sie alle wenigstens während
halber Tage beschäftigen, um niemand .entlassen zu müssen, aber kleinen Ge¬
schäften ist das nicht einmal möglich. Die entlassenen Arbeiterinnen suchen
dann Beschäftigung bei Bekannten und Verwandten, und daher kommt es,
daß in Paris selbst die Frauen, die für ihre Toilette nur wenig Geld aus¬
geben können, so gut gekleidet sind. Aber ans jeden Fall müssen die Arbeite¬
rinnen ihre Ausgaben einschränken, und zwar die Ausgaben fürs Essen. In
der Milchhandlung und beim Bäcker finden sie zwar zuweilen auf kurze Zeit
Kredit, nicht aber beim Speisewirt lMiteur), und die Folge ist, daß viele
hungern müssen. Auch die Zeitung zu .einem Sou können sie nicht mehr
kaufen, und das bedeutet für sie oft eine ebenso schwere Entbehrung, wie
wenn sie auf das Frühstück verzichten müssen. Die Tapfern hungern vielleicht
wochenlang, bis sich wieder Arbeit findet, aber viele unterliegen bis dahin der
Versuchung, die von so vielen Seiten an sie herantritt, und wenn sie einmal
den Weg des Lasters betreten haben, verlassen sie ihn nur selten. Die un¬
genügende Nahrung hat eine körperliche Schwäche zur Folge, die diese armen
Geschöpfe für Krankheiten um so empfänglicher macht. Viele fallen der Schwind¬
sucht anheim.
Welches sind die Mittel zur Abhilfe? Arbeiterinnen, Prinzipale und
Publikum können zur Linderung der Not beitragen. Die Arbeiterinnen dadurch,
daß sie zur Zeit des Verdienstes sparen und sich für die Periode der Arbeits¬
losigkeit etwas zurücklegen. Aber leider thun das nur wenige. Die Ver-
suchung zu Ausgaben aller Art ist zu groß. Die gegenseitige Versicherung
gegen Arbeitslosigkeit hält Graf d'Haussonville in der Bekleidungsindustrie für
unmöglich. Dagegen empfiehlt er, die Kinder möglichst früh zur Sparsamkeit
anzuleiten; ein erster Versuch ist damit gemacht worden, daß den Kindern bei
Preisverteilnngen statt der bisher üblichen Geschenkwerke Sparkassenbücher
übergeben werden. Da besonders die Zahlung der Miete den Arbeiterinnen
Schwierigkeiten bereitet, hat das 8McU<zg.t as 1'glZnills eine (üg-isss as lo^srs
gegründet, in die die Arbeiterinnen wöchentlich einen kleinen Betrag einzahlen
können, der ihnen mit 20 Prozent verzinst wird.
Was die Prinzipale betrifft, so sind, wie schon bemerkt, die zahlreichen
kleinen Geschäfte, die nur mit Mühe ihr Auskommen finden, nicht in der Lage,
die Arbeiterinnen während der toten Saison zu beschäftigen. Die Leiter der
großen Konfektionsgeschäfte können dagegen die Arbeit so verteilen, daß wenigstens
keine völlige Unterbrechung eintritt.
Es sind auch wohlthätige Vereinigungen gegründet worden, die Arbeits¬
lose durch Arbeit unterstützen (g,ssi8eg,ii<zö xg.r 1s travail). So läßt z. B. die
Vereinigung im 14. Pariser Gemeindebezirk die beschäftigungslosen Näherinnen
Kleider anfertigen, die von der Schulkasse (os,isss ass ssolss) übernommen
werden. In mehreren Vierteln sind auch Arbeitshäuser für beschäftigungslose
Arbeiterinnen eingerichtet worden. So hat das bedeutendste, l'Osuvrs ass
msrss as tamills, in wenigen Jahren schon 5000 Familienmütter durch Arbeit
unterstützt. Diese Anstalt konnte allerdings nur dadurch bestehn, daß ihr von
wohlthätigen Gönnern ein bedeutender Betriebsfonds überwiesen wurde. Der
Absatz der Arbeitsprodukte verursacht diesen Anstalten auch bedeutende Schwierig¬
keiten, da die Ladenmieten außerordentlich hoch sind. Und schließlich können
diese Anstalten auch nur Arbeiterinnen zu Hilfe kommen, die zufällig ohne
Beschäftigung sind, nicht aber der großen Masse von Konfektionsarbeiterinnen,
die beim Beginn der toten Saison alle auf einmal aufs Straßenpflaster ge¬
worfen werden. Gegenüber einer solchen Fülle von Elend sind auch die segens¬
reichsten Einrichtungen machtlos.
Die auf den Erwerb angewiesenen Mädchen ziehn jetzt immer mehr eine
Stelle in einem Bankgeschäft, in den Bureaus einer Eisenbahngesellschaft oder
als Telephonistin und Telegraphistin vor. Dort können sie allerdings nicht
wie in der Moden- und Blumenindustrie einen Lohn bis zu 4 Franken täglich
erreichen, aber sie haben eine feste Stellung; sie brauchen die Arbeitslosigkeit
nicht zu fürchten, und sie ziehn diese Stellen auch deshalb vor, weil sie nach
einem höhern sozialen Rang streben. Als Beamtinnen fühlen sie sich un¬
endlich weit über den Arbeiterinnen erhaben, aber auch ihre Lage ist in den
meisten Füllen nicht beneidenswert. Graf d'Haussonville hat für sie den
charakteristischen Namen non-olasss'Sö erfunden. Im Gegensatz zu den as'olasss'hö,
die aus ihrer ursprünglichen sozialen Stellung hinabgesunken sind, handelt es
sich hier um Mädchen und Frauen, die aus dem Volke hervorgegangen sind, sich
emporgearbeitet haben und die Befähigung zur Lehrerin, Gouvernante, Bureau-
beamtin oder dergleichen erlangt haben, aber in vielen Fällen leine Stellung
finden, die ihren erworbnen Kenntnissen entspricht, und so ungewiß zwischen
zwei sozialen Klassen stehn. Ihr Streben ist gewiß anerkennenswert, aber
wenn sie ihr Ziel nicht erreichen, so sind sie in einer schlimmern Lage als die
gelernte Arbeiterin.
Seitdem in Frankreich nnr noch weltliche Lehrerinnen amtlich angestellt
werden, hat sich eine überaus große Zahl junger Mädchen dem Lehrberuf zu¬
gewandt. Die meisten glaubte», wenn sie ihr bropst hätten, wäre ihre Existenz
gesichert. Aber das Angebot übertraf bei weitem die Nachfrage, und Tausende
bleiben stellenlos. Bei den Schulen in Paris war Ende 1898 die Zahl der
Bewerberinnen so groß, daß nur noch die seit 1896 eingetragnen Bewerbe¬
rinnen berücksichtigt werden konnten. Bei einer erneuten Prüfung wurden
7000 Bewerberinnen ausgeschieden und nur noch 1014 zur Berücksichtigung
in eine Liste eingetragen. Vom 1. Januar bis zum 1. Oktober 1899 wurden
von diesen 1014 nur 193 angestellt. Auch in der Post- und Telegraphen-
Verwaltung ist der weibliche Andrang so groß. Für 200 Stellen hatten sich
kürzlich 5000 Bewerberinnen gemeldet.
Das Finanzministerium beschäftigt eine Anzahl Buchhalterinnen. Auch
in Bankhäusern und in den Bureaus industrieller Gesellschaften findet man solche,
und zwar ist man im allgemeinen durchaus zufrieden mit diesen weiblichen
Hilfskräften. Auch hier sind die Bewerberinnen überaus zahlreich. Ju der
LaiMie as ?rg.n<zö, wo jährlich etwa 20 bis 25 Stellen zu besetzen sind,
waren kürzlich schou 6000 Bewerberinnen vorgemerkt, deren Zahl auf 900
reduziert wurde. Im Orväit I^vnnu,i8 melden sich jedes Jahr 7—800 Be¬
werberinnen, von denen etwa 80 bis 100 Stellen erhalten. In andern Bank¬
geschäften ist das Verhältnis ähnlich. Die Anstellung erfolgt übrigens nicht
sofort definitiv. Die Bewerberinnen werden vielmehr während ein bis zwei
Jahren nur zeitweilig an den Hanptverfallterminen beschäftigt.
Von den Eisenbahngesellschaften hat z. B. die Orleansbahn 200 Frauen
in Bureaus angestellt; es werden aber nur Frauen, Witwen und Töchter von
Beamten der betreffenden Bahn berücksichtigt. Neuerdings werden auch in
den Bureaus der großen Warenhäuser Frauen angestellt, aber überall über¬
steigt das Angebot die Nachfrage ganz bedeutend. Graf d'Haussonville schätzt
die Zahl der jungen Mädchen, die allein in Paris auf Stellungen in amt¬
lichen oder privaten Bureaus warten, auf mindestens 15—20000. Das ist
das Heer der non-olassSös. Und doch ist der Lohn in diesen Stellungen gar
nicht besonders hoch. Er übersteigt im allgemeinen nicht 3 Franken täglich.
Nur in der Lamms as Kairos ist er etwas höher, wo eine Bureaubeamtin
nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit bis zu 6 Franken erhält. In andern
Bureaus steigt der Lohn aller zwei Jahre um 25 Centimes täglich bis zu
einem Maximum von 4 oder höchstens 4,50 Franken. Dabei ist die Arbeit
meist eintönig und anstrengend. An die Inhaberin einer solchen Stelle werden
ganz andre Ansprüche gestellt als an eine bessere Modistin oder Konfektions-
arbeiterin. Sie ist zu höhern Ausgaben gezwungen, weil sie zu stolz ist, wie
eine Arbeiterin zu leben, aber trotz aller Nachteile sind die Stellen sehr begehrt,
weil sie eben wenigstens eine sichere, wenn auch bescheidne Existenz bieten.
Die Erzieherinnen (Privatlehrerinnen) verdienen im günstigsten Falle
1200 bis 1500 Franken jährlich (in einigen aristokratischen Familien allerdings
mehr). Die sous-maltressös in den Pensionaten verdienen dagegen nur 50
bis 60 Franken monatlich oder erhalten bei freier Wohnung, Beköstigung und
Kleidung überhaupt keinen baren Lohn. Auch unter den Erzieherinnen sind
die Stellenlosen sehr zahlreich. Einzelne Privatstunden werden sehr schlecht
bezahlt, und meist ist es noch schwierig, solche zu finden. Diese Mädchen sind
in einer um so traurigern Lage, als sie für andre Arbeiten meist nicht geeignet
sind. Wie groß das Elend unter vielen von ihnen ist, kann man schon daraus
sehen, daß jedes der Nachtasyle in Paris jährlich fünfzehn bis zwanzig Lehre¬
rinnen und Erzieherinnen aufnimmt. Manche nehmen Stellen als Kammer¬
jungfer, Modistin oder dergleichen an, aber viele andre haben diesen Mut nicht
und enden im Elend.
Vor vier Jahren hat eine ehemalige Lehrerin einen Unterstützungsverein
gegründet unter dem Namen Looi6t6 6s xrotsotion äos institmrrioös dran<Msgs.
Dieser Verein besitzt ein allerdings erst kleines Heim in Nenilly. Hier finden
stellenlose Lehrerinnen Aufnahme; sie brauchen sich beim Austritt nur zu ver¬
pflichten, später die Kosten ihres Aufenthalts (3 Franken täglich) zu bezahlen,
falls sie dazu in der Lage sind. Der Anfang ist erst klein, aber man hofft,
daß sich Gönner finden, die das Werk unterstützen werden. Soll dieses sich
einigermaßen wirksam erweisen, so muß es bedeutend ausgedehnt werden.
Graf d'Haussouville bespricht sodann die Auswanderung von Frauen nach
den französischen Kolonien. Die Union oolonials lrime^iss hat seit 1897
Propaganda für diese Auswandrung gemacht, aber bis jetzt noch keinen be¬
deutenden Erfolg gehabt. Man will den Mädchen, die keine Aussicht haben,
einen Mann zu finden, und den Mädchen, die irgend eine Thätigkeit erlernt
haben, aber kein genügendes Auskommen finden, Gelegenheit bieten, sich in
den Kolonien eine Existenz zu begründen. In Tunis ist zwar das Verhältnis
der Frauen zu den Männern noch ziemlich günstig (46 Prozent Frauen und
54 Prozent Männer), nicht aber in den andern französischen Kolonien, Neu-
Kaledonien, Cochinchina, Tonkin, Arran, wo auf 100 Einwohner nur
20 Frauen kommen. In England giebt es nicht weniger als vier Gesell¬
schaften, die die Auswandrung von Frauen nach den Kolonien begünstigen,
und siebzehn Anstalten, die den Mädchen eine besondre Erziehung zu diesem
Zwecke geben. Die Unitsä Lridi8n ^Vomon Diniß'rgUon ^.ssoomticm hat in
den fünfzehn Jahren ihres Bestehns mehr als 10000 Frauen nach den Kolo¬
nien gesandt. Sie verfügt allerdings anch über bedeutende Geldmittel und
kann deshalb mittellosen Frauen, die auswandern wollen, Unterstützung ge¬
währen.
Die Looi6t.L tra-n^ilise et'viniArMon ach lömmss hat bis jetzt ihre Thätig-
keit nur in geringem Maße ausüben können, weil sie auf viele Hindernisse
stieß. Vorerst glaubte man, es fänden sich in Frankreich keine Frauen, die
auswandern wollten. Aber es haben sich genug Frauen gemeldet, und zwar
in zwei Jahren 98 Lehrerinnen, Erzieherinnen und Gesellschaftsdamen, 83 Be¬
amtinnen, 27 Hebammen, 1 Ärztin, 1 Zahnärztin, 88 Näherinnen, 22 Mo¬
distinnen, 37 andre Arbeiterinnen, 17 Köchinnen, 18 Kammerjungfern, 19 Dienst¬
mädchen, 98 professivnslose Frauen usw. Wie man sieht, sind die gebildeten
Frauen viel zahlreicher als die, die einen andern Beruf erlernt haben. Nun
verlangt man in den Kolonien aber gerade Köchinnen oder Kammermädchen,
sodaß von den 50 Nachfragen aus den Kolonien nur 38 befriedigt werden
konnten. Soweit bis jetzt bekannt ist, sind diese 38 Frauen, von denen ein
Teil geheiratet hat, in den Kolonien durchaus zufrieden. Durch Vermittlung
der Gesellschaft sind mir wenige Heiraten zustande gekommen, weil die Kolo¬
nisten nur Mädchen mit Mitgift heiraten wollen, solche aber keine Lust zum
Auswandern haben. Dazu kommt, daß die auswandrungslustigeu Frauen meist
nicht einmal die nötigen Mittel für die Reise und nicht einmal eine anständige
Aussteuer haben. Die Gesellschaft wird deshalb in Zukunft nur durch Be¬
reitstellung bedeutender Mittel eine größere Thätigkeit entfalten können.
Zum Schluß bespricht der Verfasser die weiblichen Uiiterstützungsvereiue
oder Kassen. Die Vereine zu gegenseitiger Hilfe (sooistss ssoours mutnvis)
haben verhältnismäßig mir wenig Frauen unter ihren Mitgliedern, weil die
Arbeiterinnen meist nicht in der Lage sind, regelmäßig Beitrüge zu bezahlen.
Nach der letzten Statistik des OKios ein travail betrügt der Dnrchschnittslohn
der Frauen in der Industrie 2,20 Franken täglich. Dieser Verdienst genügt
aber kaum, die notwendigsten Bedürfnisse zu bestreiten. Es giebt Unter¬
stützungsvereine verschiedner Art; die meisten sind solche, deren Statuten vom
Ministerium des Innern oder von dem Prüfekten des betreffenden Departe¬
ments genehmigt worden sind. Es giebt in Frankreich 5508 solcher Vereine,
die ausschließlich aus Männern bestehn, 2202 mit männlichen und weiblichen
Mitgliedern und nur 233, die ausschließlich weibliche Mitglieder haben. Die
gemischten Vereine haben 165478 Frauen als Mitglieder, die rein weiblichen
32887, sodaß im ganzen 198365 Frauen darau beteiligt sind. Die Zahl der
Mitglieder ist aber ziemlich stark im Steigen begriffen.
Die Einnahmen der 233 rein weiblichen Vereine betrugen 1896 an Mit¬
gliederbeiträgen 386080 Franken, an Eintrittsgeldern 7026 Franken und an
Strafgeldern 12089 Franken, in Summa also 405185 Franken. Der Dnrch-
schnittsbeitrag ist in ganz Frankreich 10,89 Franken, in Paris 16,81 Franken.
Obligatorisch sind die Ausgaben für ärztliche Pflege, Entschädigung während
der Krankheit und Begräbniskosten. Die Ausgaben für Waise,?, Invaliden,
Alterspensioncn sind rein fakultativ. Die erstern beliefen sich 1896 auf
465000 Franken, sodaß, da die Einnahmen nur 405185 Franken betrugen,
ein Defizit vou 59815 Franken vorhanden war, das durch wohlthätige Spenden,
d. h. durch Beiträge der Ehrenmitglieder gedeckt werden mußte. Der älteste
Unterstützungsverein in Paris ist ig?ari8i6uns (seit 1875); dieser erhebt einen
monatlichen Beitrag von 1,50 Franken und gewährt seinen Mitgliedern Unter¬
stützung und ärztliche Hilfe in Krankheitsfüllen, sowie im Sterbefall ein an¬
ständiges Begräbnis. Außerdem besitzt der Verein eine Sparkasse, die Ein¬
lagen vou 50 Centimes an annimmt. Zu den eingezahlten Beträgen gewährt
der Verein einen Zuschuß, der dem Mitglied aber mir ausbezahlt wird, wenn
es entweder heiratet, ein Geschäft gründet oder in ein Kloster eintritt. Die
Ausgaben der Unterstützungskasse beliefen sich 1898 auf 14297 Franken, die
Einnahmen aus den Mitgliederbeitrügcn aber nur auf 1471 Franken, während
die Beitrüge der Ehrenmitglieder 13625 Franken betrugen. Dieser Verein
gedeiht also nur deshalb, weil er dreimal so viel Ehrenmitglieder hat als
Mitglieder.
Ausschließlich auf Gegenseitigkeit beruht dagegen die Licmwriörk, obschon
auch diese Zuwendungen von mildthätiger Seite erhült. Die Mitglieder sind
meistens bessere Konfektionsarbeiterinnen, und der Veitrag demnach sehr hoch:
25 Franken jährlich. Dieser Verein gewährt außer den üblichen Unterstützungen
jeder Wöchnerin, die vier Wochen lang nicht arbeitet, 50 Franken und, falls
sie ihr Kind selbst stillt, 25 Franken. Ähnliche Unterstützungen gewährt die
Nu.tuMtv ing,t«zi'nell<z, die dadurch bei ihren Mitgliedern die Sterblichkeit der
Säuglinge, die in Paris 35 bis 40 Prozent beträgt, auf 9 bis 10 Prozent
reduziert hat. Der Beitrag beträgt jährlich nur 3 Franken. Die Mitglieder,
1705 an der Zahl, entrichteten 1898 5184 Franken an die Kasse. Diese gab
dagegen 45000 Franken aus, und zwar wurde, außer den Beiträgen der Ehren¬
mitglieder in Höhe von 7509 Franken, das Defizit von 32 500 Franken durch
einen Bazar gedeckt. Der Charakter der Unterstützung auf Gegenseitigkeit
schwindet also bei dieser Kasse fast vollständig. Diese drei Kassen haben etwa
3200 Mitglieder, während in Paris die Bekleidungsindustrie 303771 Arbeite¬
rinnen beschäftigt. Es ist also nur ein verschwindend kleiner Teil, der die
Wohlthaten dieser Kassen genießt.*)
Es bestehn auch mehrere Darlehnskassen für Arbeiterinnen. Das 8M-
alva,t as l'lÜAuIIlö hat 1893 eine solche gegründet, die in sechs Jahren an
Arbeiterinnen und Inhaberinnen kleiner Geschäfte 17840 Franken ausgeliehen
hat, von denen nur 817 Franken nicht zurückgezahlt wurden. Auch die
vouwi'iM'v besitzt seit 1897 eine solche Kasse, mit der sie gute Erfahrungen
gemacht hat.
Graf d'Haussvnville glaubt, diese Unterstützungsvereine würden noch viel
mehr Anklang bei den jungen Arbeiterinnen finden, wenn fie ihnen ein Lokal
zur Verfügung stellen könnten, wo sie sich abends und Sonntags gesellig ver¬
einigen könnten. An solchen Lokalen fehlt es noch fast vollständig in Paris.
Allerdings wird dies nur möglich sein, wenn uoch weitere Kreise als bisher
diesen Anstalten und Einrichtungen durch Zuwendung freiwilliger Beiträge zu
Hilfe kommen. In diesem Sinne hat Graf d'Hnuffonville nachgewiesen, daß
die Versicherung der Arbeiterinnen auf Gegenseitigkeit uicht genügt, sondern
daß eine Unterstützung von andrer Seite durchaus notwendig ist. Man darf
wohl erwarten, daß der warme Aufruf, den der französische Akademiker an die
besser situierten Kreise richtet, um so weniger nutzlos verhallen wird, als er
selbst sich seit langen Jahren bemüht, die Not der arbeitenden Frauen durch
Unterstützungen aller Art zu lindern.
an bezeichnet die Regiernngsthütigkeit Friedrichs des Großen mit
allerlei kurzeu, treffenden Stichworten, man sagt unter anderm
von ihr, sie habe sich in der Gewerbe- und Wirtschaftspolitik
auf merkantilistische Grundsätze gestützt. Auch das Wesen des
Merkantilismus wiederum bezeichnet mau, wenn man von einem
solchen überhaupt sprechen kann, mit gewissen Stichworten, unter denen die
Sozialpolitik nicht vorkommt, weil sie noch nicht erfunden war. Aber man
würde irren, wollte man deshalb annehmen, daß Friedrich der Große ebenso
wie schon sein Vorgänger Friedrich Wilhelm I. nicht Grundsätze angewandt
hätten, die man recht wohl sozialpolitische nennen kann. Daß sie es aber
wirklich gethan haben, ist ein großer Zug ihres Charakters, der bisher noch
nicht genügend hervorgehoben worden ist. Wir können deshalb Gustav Schmoller
nur dankbar sein, daß er uns in seinem Buche: Hinrisse und Untersuchungen
zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (Leipzig, 1898,
Duncker und Humblot) außer andern trefflichen ältern Arbeiten auch zwei über
die russische Tuchkompagnie in Berlin von 1724 bis 1738 und über die
preußische Seideniudustrie im achtzehnte» Jahrhundert und die Begründung
jener durch Friedrich Wilhelm I., dieser durch Friedrich den Großen vorgeführt
hat, denen wir sehr lehrreiche Bemerkungen über die dem kleinen Mann und
Gewerbtreibenden freundliche Sinnesart der beiden Könige entnehmen.
Es wäre gar nicht wunderbar, wenn sich Friedrich Wilhelm I. ohne
weiteres auf den Unternehmerstandpunkt und den Standpunkt seiner Großhändler
gestellt hätte, denn für ihn war das Gedeihen oder der Niedergang der von
ihm unterstützten oder unmittelbar ins Leben gerufnen gelverblichen Unter¬
nehmungen eine Sache des Staatswohls; man könnte deshalb versteh», wenn
er ihre Blüte um jeden Preis gewünscht und durchzusetzen versucht Hütte. Wie
weit er in seiner Auffassung ging, daß die Gewerbepflege eine Staatsangelegen-
heit sei, bezeugt Schmoller, indem er beschreibt, wie der preußische Gesandte
in Petersburg, von Mardefeld, geradezu als Generalagent für die Tuchkom-
pagnie seine diplomatischen Beziehungen aufs äußerste nnsnutzen mußte und
in der That auch sehr geschickt ausnutzte. Der größtmögliche Unternehmer-
gewinn war indes nicht das Ziel, worauf Friedrich Wilhelm I. ausging, sondern
eine dauernde Tüchtigkeit der Industrie sollte erreicht werden, indem zugleich
die im Dienste der Unternehmungen stehenden Kleinmeister und Arbeiter nach
Möglichkeit gegen Ausbeutung geschützt wurden. Auch hat dieser König Mono¬
pole und Privilegien immer nur erteilt auf Zeit lind mit dem offen ausge-
sprochnen Borbehalt der Zurücknahme, sobald die Kinderjahre der betreffenden
Unternehmungen abgelaufen waren und sie auf eignen Füßen stehn konnten
oder stehn sollten. So hatte die Tuchkompagnie gegen den Wunsch des Königs
auf sechs Jahre zunächst die Freiheit vou allen Jmposten für russische Waren
bis auf die Niederlage von Stettin und Frankfurt erhalten, um den Handel
mit russischen Produkten, der bisher durch den Sund nach der Nordsee ging,
möglichst nach Stettin zu ziehn.
Nach Ablauf der sechs Jahre machte der König sofort den freilich dann
nachgelassenen Versuch, der Kompagnie das Recht wieder zu nehmen. Als sie
die Zölle auf dem Oder-Haveliürs uach Magdeburg hauptsächlich für russischen
Talg soweit ermäßigt haben wollte, daß sie die Waren so leicht wie die Ham¬
burger nach Magdeburg bringen könnten, wollte der König davon gar nichts
Nüssen; er schrieb zunächst auf ihr Gesuch: „ich halte uns von die ganze
Compagnie, sobald sie nit 3—400000 g-ronirisn einländische Tücher nach Rus-
land schicken; sie habe dieses M- 100000 gesandt, wie sie sag, ich glaube es
aber nit, solln sich exenixir!" Als nach 1730 die Wollpreise in Brandenburg
sehr stark stiegen und dies anscheinend durch die russischen Lieferungen der
Tnchkompagnie veranlaßt wurde, schlug der König das Verlangen, der Kom¬
pagnie Exportprämien (Doueeurgelder) auf die Ausfuhr von Tücher nach
Rußland zu geben, da die Tuchpreise dort nicht entsprechend den Wollpreisen
hier stiegen, ärgerlich ab und befahl 1731 „sowohl Neumairk) als Pomme(rü)
u. Kür Marck auf fixen Preis die Wolle zu setzen, pitto. 'U." Die
Kompagnie wagt es, ihr Gesuch auf Exportprämien zu wiederholen, doch der
König bleibt unerbittlich und antwortet: „sonder lissonnir sollen die Wolle
auf den Preiß setzen, wie gewehsen ist. >V."
Das Generaldirektorium und die Berliner Kriegs- und Domänenkammer
haben dann, nach Schmoller, den bei einem König, wie Friedrich Wilhelm,
nicht ungefährlichen Weg beschritten, den Befehl einfach nicht auszuführen,
weil sie ihn für falsch hielten. Alle diese Entscheidungen des Königs zeigen
uns aber, daß er sich von den Unternehmern durchaus nicht einschüchtern ließ,
daß er sie nur insoweit zu schützen gewillt war, als das öffentliche Interesse,
das Gemeinwohl einen Schlitz geboten. Auf der andern Seite finden wir aller¬
dings auch wieder seltsame Maßregeln patriarchalischer Art, um die Kompagnie
sicher zu stellen, daß die Tuchmacher auch die Lieferungsverträge einhielten.
Sowohl die Tuchindnstrie wie die Seidenindustric beruhten auf dem Ver¬
lagssysteme, beide beschäftigten Hunderte kleiner Meister als Hausiudustriellc.
Für die Tuchkompagnie war die Schwierigkeit die, von den vielen einzelnen
Tuchmachern, die im Lande zerstreut wohnten, die erforderliche Menge von
Tücher pünktlich zu erhalten und dabei gleichmäßige Stoffe, die deu in
Rußland von der Armeeverwnltung, für die die meisten Tuchlicfcruugen
erfolgten, gestellten Bedingungen entsprachen. Die Verhandlungen mit den
Tuchmachern waren, schreibt Schmoller, sehr schwierig. Die zahlreichen, teil¬
weise bitter armen Leute sahen im Tuchhändler und Kaufiunuu an sich deu
Blutegel, der sie aussauge. Und das war nicht bloß ihre Meinung; sie war
allgemein verbreitet und nach Lage und Entwicklung der Geschäftsverhältnisse
nicht unberechtigt; sie reichte bis hinauf zum König und veranlaßte diesen
wiederholt zu ärgerlichen Äußerungen über die Kompagnie. Die Tuchmacher
waren gewöhnt, nicht in Geld, sondern in schlechten Waren bezahlt zu werden;
nur zu oft mußten sie in der Not zu Spottpreisen losschlagen. Die großen
Bestellungen der Kompagnie suchten sie darum selbstverständlich zur Erzielung
guter Preise zu benutzen. Die Abschlüsse, die mit ihnen gemacht wurden,
wurden aber oft unpünktlich ausgeführt. Die Zünfte der Tuchmacher weigerten
sich, als Zünfte Abschlüsse zu machen, man blieb also meist auf die einzelnen
Meister angewiesen. Ein weitrer Übelstand ergab sich daraus, daß die Tuch¬
macher die Wolle selbst einkaufen mußten, daher in die Gefahr unlohnender
Arbeit kamen, als die Wollpreise stiegen, die Kompagnie aber kaum höhere
Preise für die Fabrikate zahlen wollte. Aus all dem ergaben sich im ge¬
schäftlichen Verkehr zwischen der Kompagnie und den Tuchmachern große
Schwierigkeiten, bei denen die Steuerräte und Magistrate eingriffen, und zwar
oft ganz energisch. Die Walter, Färber und Tnchbereiter wurden zur Liefe¬
rung guter Arbeit angehalten, und als die Kontraktcrfüllungen ausblieben,
ging man so weit, militärische Exekution gegen säumige, nachlässige Tuchmacher
einzuleiten, so z. B. 1725 durch eine Ordre an deu Kommandanten der
Festung Driesen.
Andrerseits griffen die Behörden aber auch zu Gunsten der Tuchmacher
gegen die Kompagnie ein, so bei der Bemessung der Preise. „Wo wir die
amtlichen Organe in die Preisverhandlungcn eingreifen sehen, ist es eher zu
Gunsten der Tuchmacher als der Kompagnie. So ist es derselbe Kriegsrat
Reinhard, der die unbotmäßigen Tuchmacher aus Spandau in die Karre schicken
will, der es 1725 in Nenrnppin durchsetzt, daß sie für den größern Teil ihrer
Tücher 9 Thaler statt 8^ erhalten. Die dauernde Beschäftigung der kleinen
Meister zu billigen Bedingungen, die Beseitigung ihrer Not ist einer der
leitenden Gesichtspunkte bei allen Entschlüssen des Generaldircktoriums und
allen Handlungen der Steuerräte." Der König, wie gesagt, war der Kompagnie
gegenüber immer sehr zurückhaltend, zum Teil, weil er größere geschäftliche
Erfolge von ihr erhofft hatte, zum Teil beruhte sein Mißtrauen aber auch,
wie Schmoller sagt, „ans dem ganz richtigen königlichen Instinkte, die Partei
der Tuchmacher, der kleinen Leute ergreifen zu müssen, wahrend das höhere
Beamtentum eher geneigt war, mit den reichen Kaufleuten zu paktieren. So
schreibt er später einmal, als es sich um die Erneuerung des Privilegs der
Kompagnie handelt: „sie hat das gantze nsAvtio verdorben, daß sie an die
Russe nit gnhte Wahre geliefert und zu groß prout genommen und die hiesige
Tuche sehr wohlfeil bezahlet, das die UanukÄvwriöi-8 kein Brot gebadet." Die
Tuchkompagnie wurde 1738 aufgehoben.
Die Versuche, in Brandenburg Seidenzucht, Seiden- und Sammetweberei zu
treiben, beginnen nach Schmoller sicher im siebzehnten Jahrhundert unter dem
Großen Kurfürsten. Die Einwcmdrung französischer Flüchtlinge von 1680 an,
unter denen mancherlei Leute dieser Gewerbe waren, führte zur systematischen
Förderung dieser Industriezweige und zur Erhöhung der Accisetarife, um die
fremden Waren dieser Art abzusperren. Friedrich der Große leitete schon 174V
seine großangelegte Gewcrbepolitik ein, bezeichnete in einer Instruktion aus
diesem Jahre auch die Seidenindustrie als eine solche, die einzuführen sei, und
widmete ihr besonders in den Jahren 174-6 bis 1756 seine Thätigkeit mit
solchem Erfolge, daß schon nach dieser Zeit über 1000 Webstuhle in der Mo¬
narchie gingen, wovon 400 bis 500 auf Sammet- und Seidenstoffe eingerichtet
waren. „Die Mittel, um soweit zu kommen, waren gewesen: ein Verbot der
Sammeteinfuhr, die Aufhebung der Accise für Rohseideueinfuhr, ein müßiger
Schutzzoll für Seideuwaren von 6 bis 8 Prozent, der erst 1754 bis 1755
teilweise auf 18 bis 25 Prozent erhöht wurde, ein energischer Kampf gegen
den Schmuggel mit fremden Seidenwaren, der von den jüdischen Seidenhändlern
Berlins so schwungvoll betrieben wurde, daß der König endlich 1756 glaubte,
nur durch ein Verbot der gewöhnlichen fremden Seidenstoffe helfen zu können;
dazu kam ein zunehmender Druck der Verwaltung auf die einheimischen Klein¬
händler, neben den fremden bestimmte Quantitäten der einheimischen neuen Wate
zu nehmen; für bestimmte Fabriken und Wareubrcmchcn wurden Exportprämien von
4 bis 8 Prozent bezahlt, die aber 1756 für Berlin in sogenannte Stnhlgelder ver¬
wandelt wurden (man zahlte für jeden regelmäßig beschäftigten Stuhl 25 Reichs-
thaler jährlich). Endlich hatte man zahlreichen Unternehmern Häuser, Stühle,
Vorschüsse, den neuen Arbeitern Reisegelder und Pensionen zugewiesen und
seit 1749 durch ein staatliches Seidenmagazin mit einem Kapital von 55000
Reichsthalern den Bezug des Rohstoffs erleichtert. Wichtiger aber als alle
äußere Hilfe und Organisation war die unermüdliche Thätigkeit von drei Per¬
sonen: der König selber und sein treuer Minister Marschall greifen überall ein,
raten, helfen, tadeln, stiften Frieden und Eintracht, benachrichtigen die Geschäfte
von jeder Änderung der auswärtigen Handelspolitik, begutachten die Güte der
Stoffe, sorgen unermüdlich für den Absatz. Und ihnen zur Seite steht fast
ebenbürtig, zumal nach dem Tode Marschalls, der große Kaufmann Gotzkowski,
vom König vielfach in seinen Unternehmungen unterstützt, aber daneben selb¬
ständig Geschäfte für Millionen machend; er allein schützt Berlin vor der
russischen Plünderung, Leipzig vor einer die Stadt und ihren Handel ver-
richtenden preußischen Kontribution; er halt den Kredit Berlins in Hamburg
und Amsterdam aufrecht, er bürgt für ein andres Berliner Haus, nur im Inter¬
esse des Berliner Kredits, und verliert dabei 150000 Reichsthaler; zuletzt hat
die schwere langdauernde Handelskrisis der Jahre 1763 bis 1767 ihm selbst
Vermögen und Stellung geraubt; aber er bleibt einer der bedeutsamsten Be¬
gründer des Berliner Handels und der Berliner Industrie; er war für den
König von 1749 bis 1763 wohl die wichtigste Autorität in Sachen der Seiden¬
industrie.
Auch die Seidenindustrie hat nicht frühzeitig zur zentralisierten ge¬
schlossenen Betriebsform geführt, sie ist bis heute teilweise Hausindustrie ge¬
blieben; in Brandenburg stand eine freie kaufmännische Verlegerschaft den nach
und uach zünftig organisierten Meistern nud Gesellen gegenüber, und zwar
waren die Berliner Verleger meist jüdische und französische Kleinhändler, die
für den technischen Teil des Betriebs Werkmeister zur Seite hatten. „Unter
den Meistern und Gesellen waren im Anfang die zugewanderten, in der Seiden¬
weberei oder sonstigen Technik erfahrnen, ebenso unentbehrlich als der Zahl
nach überwiegend; es waren darunter zahlreiche geschickte, aber wenige moralisch
tadellose, viele unordentliche, auch gewiß viele geringe Elemente. Neben ihnen
stellten die ältern Kolonistenfamilien manche brauchbare Kraft; in der zweiten
Generation überwogen die einheimischen Arbeitskräfte, die solider und tüch¬
tiger als die fremden, wohl aber noch etwas weniger leistungsfähig waren."
Die Mittel, die der König anwandte, um bei möglichster Förderung der
Industrie doch zugleich eine leidliche Lage der Arbeiter zu erzielen, schildert
Schmoller etwa wie folgt: Die Beziehungen der Verleger zu den Meistern und
dieser zu den Gesellen hatten sich zuerst so entwickelt, wie es den Gewohn¬
heiten der Zugewanderten entsprach, bei Streitigkeiten griff die Verwaltung
nach bestem Wissen und nach den Umstünden ein; aber gegenüber den stündigen
Klagen über allzu hohe Löhne, Veruntreuungen des Materials, Abspeustig-
machen der Meister und Gesellen genügte das bald nicht mehr, und so wurde
deun im März 1766 ein Reglement erlassen zur zünftigen Organisation der
Sammet- und Seidenwirker in Berlin und zur Einsetzung einer Manufaktur¬
kommission. Das Reglement sah von der beabsichtigten Lohnregulierung ab;
in dieser Frage vermittelten die Regierung oder die Mannfakturkommission aber
später verschiedne male. Es regelte die Beziehungen der Beteiligten im Sinne
loyaler, gegenseitiger Rücksichtnahme und schützte den Verleger gegen Verun¬
treuung und Kontraktbruch, die Weber aber gegen plötzliche Brotlosigkeit und
rücksichtslose Ausbeutung. Konkurrenz im Innern sollte in gewissen Grenzen
besteh» bleiben; die von außen hatte man allmählich durch Accisenerhöhung
und Einfuhrverbote zurückgedrängt, die Industrie im Inlande zwar gefördert
mit Konzessionen, Unterstützungen, Darlehen, mit der Verpflichtung, eine be¬
stimmte Anzahl Stühle im einzelnen Unternehmen gehn zu lassen, aber all-
mühlich sollten die Konzessionen und Privilegien beschränkt oder aufgehoben
werden. Kurz, das Ziel der Politik war leistungsfähige, in lebendiger Kor-
kurrenz stehende Privatgeschäfte, nicht Staatsindustrien, zu erziehn, denen manche
staatliche Hilfe zu teil wurde, denen zahlreiche, besonders sozialpolitische
Schranken im öffentlichen Interesse gezogen waren, die aber auf eigne Gefahr
einkaufen, produzieren und verkaufen sollten.
Die Meister, die wenigstens teilweise eigne Stühle, in der Regel zwei
bis vier gehn ließen und von der Arbeit ihrer Gesellen einen kleinen Vorteil
hatten, wollte man durchaus als selbständige Mittelglieder zwischen den Ver¬
legern und deu Gesellen erhalten; die Forderung, daß auch der Fabrikant und
Verleger, wie der Meister, uicht über vier Stühle haben dürfe, wies man zwar
ab, aber man hielt am Prinzip fest, daß auch der größere Fabriknut auf je
vier Stühle einen Meister halten müsse, und daß der Verleger und der Meister
nnr gelernte zünftige Kräfte am Webstuhl beschäftigen dürfe, während ander¬
wärts damals die Frauenarbeit im Interesse geringrer Löhne schon sehr um¬
fangreich angewandt wurde. Der einzelne Meister sollte gleichzeitig nur für
einen Verleger arbeiten; beide Teile wurden an eine zweimonatige Kündigung
und an eine gemalt vorgeschriebne schriftliche Abrechnung gebunden; das gänz¬
liche Verbot aller Vorschüsse ließ sich nicht aufrecht erhalten, wohl aber der
Rechtsgrundsatz der Unpfändbarkeit des Stuhls und aller Gerätschaften. Der
Allstritt aus dem Verhältnis zu einem Verleger mußte durch einen Ent¬
lassungsschein bezeugt werden. Auf vier Stühle durfte immer nur ein Lehr¬
ling gehalten werden, was ebenso wichtig war für die Erhaltung guter Löhne,
als die Ausschließung unzüuftiger Arbeiter. Das Lehrlingsverhältnis war
genau geordnet, sodaß eine gute Ansbildung der Leute gesichert war. Meister
und Gesellen standen sich mit dem Recht einer vierzehntägiger Kündigung
gegenüber. Für die große Zahl unzüuftiger Hilfskräfte, die Wicklerinnen und
Spulerinnen, die Ziehjungen an dem Zngstuhl, hatte man erst vierwöchige,
später sechsmonatige Kündigung eingeführt, um auch dieses Verhältnis möglichst
dauernd zu machen. Die Verleger wie die Meister waren mit dem Reglement
aus leicht begreiflichen Gründen niemals ganz zufrieden. Aber es ist zweifel¬
los, daß es ein ebenso wirksames Mittel zur Erzwingung solider Ware und
solider Geschäftsgewohnheiten war, wie die Stellung des Königs, des fünften
Departements und der Manufakturkommission in den sozialen Streitigkeiten
diese Hausindustrie zwar zu etwas teurerer Produktion zwang, aber auch zu
menschlicher Behaudlung der Arbeitskräfte.
Die Frage der Herabdrückung des Arbeitslohns, der Zulassung von Frauen-
uud Kinderarbeit, der beliebigen Arbeitercntlassnng ist von 1766 bis 1806 in
steigendem Maße in den Vordergrund getreten. Das Wachstum der Industrie
war auch damals immer erkauft durch starke Schwankungen des Absatzes, wobei
das Stillestehn von Dutzenden, ja Hunderten voll Stühlen für kürzere Zeit in
Frage kam. Die Konkurrenz mit Lyon wurde zeitweise trotz des Einfuhr¬
verbots äußerst drückend, weil in den Zeiten, wo Absatz lind Handel in Frank¬
reich stockten, die französischen Waren durch ihre Spottpreise den Schmuggel
immer neu belebten. Die allmähliche Einschränkung der Bonifikation, der Pri-
vilegieu oder ausschließlichen Prvduktiousberechtiguugeu suchten die Verleger
häufig mit Lohnreduktionen und Arbeiterentlassungen zu beantworten, schon
weil sie wußten, wie empfindlich der König dagegen war. Fast in jedem solchen
Fall wandten sich die Betroffnen an die Behörden oder ein den König selbst;
die Sache wurde untersucht; möglichst suchte man den entlassenen Webern
wieder Arbeit zu schaffen. Als 1775 die Verleger infolge der ermäßigten
Bonifikation die Löhne um 25 Prozent herabsetzten, vermittelte die Manufaktur¬
kommission und setzte durch, daß die Ermäßigung auf 12 Prozent vermindert
wurde. Ähnliches kam wiederholt vor zur Freude der Arbeiter, zum Schmerz
der Verleger. Am einschneidendsten war die Verfügung vom 3. September 1777,
daß kein Unternehmer bei zehn Reichsthaler Strafe einen ausschließlich für ihn
arbeitenden Meister ohne verfassungsmäßige, amtlich gebilligte Ursache entlassen
dürfe, daß bei Maugel an Beschäftigung jeder Meister nur zwei Stühle gehn
lassen dürfe, daß er zuerst die Gesellen, die Soldaten und Ausländer seien,
dann die ledigen und zuletzt die verheirateten, diese aber nnr im äußersten
Notfalle entlassen solle. Jm°Jahre 1784 (15. Oktober) verfügte man, um die
Arbeitslosigkeit zu bannen, daß zwei Jahre lang kein Geselle Meister werden
dürfe. Im Jahre 1800 zahlte mau an die brodlose» Arbeiter aus dem Mauu-
fakturfouds wöchentlich 16 Groschen für deu Maun, 12 für die Frau, 8 für
jedes Kind unter fünfzehn Jahren. Unter Umständen zwang man anch die
Fabriken, entlassenen Arbeitern Wartegelder zu zahle», die die Manufakturkasse
vorschoß, oder ma» erreichte die Wiederanstellung durch irgend welche Ver¬
besserung oder Verlängerung der betreffenden Konzession. Das sind jedenfalls
für die damalige Zeit interessante Versuche, zu einer Versicherung gegen Ar¬
beitslosigkeit zu kommen.
Die allgemeine Bedeutung dieser Gewcrbepolitik Friedrichs des Großen
faßt Schmoller schließlich in die Sätze zusammen: Es handelt sich um die
Gründung einer technisch sehr hochstehenden Industrie auf spröden Boden mit
allen Mitteln konsequenter merkantilistischer Politik; sie sind in solchem Um¬
fang und mit solcher Nachhaltigkeit kaum irgendwo angewandt worden, anch
kaum irgendwo mit einer so genauen allmählichen Anpassung an die konkreten
Verhältnisse. Es handelt sich um eine Hausindustrie, die teilweise schon zur
Fabrikverfassuug übergegangen ist, in der aber die Arbeiter durch Zunftrecht,
Reglement und staatliche Inspektion geschützt werden; es handelt sich um eine
für den großen innerstaatlichen wie auswärtigen Markt arbeitende Industrie,
deren Unternehmer und Verleger die denkbar schwierigste Stellung haben, trotz
aller Staatsunterstützung und alles Schutzes mit einer starken Konkurrenz, mit
den Wechselfällen der Konjunktur, mit deu schwierigsten technischen und kauf¬
männischen Aufgaben zu ringen haben. Und es war nicht das geringste Verdienst
der Fridericianischen Politik, daß sie immer mit klarem Verständnis auf das
doppelte Ziel hingearbeitet hat, durch staatliche Initiative, staatliche Mittel,
Gesetze und Inspektion eine blühende Industrie zu schaffen, sie aber, sobald es
und soweit es ging, ans eigne Füße zu stellen, lebensfähige Privntunter-
nehmungen zu schaffe«, sich selbst gleichsam überflüssig zu machen. Wo, wie
in Krefeld, die Gunst der holländischen Nachbarschaft eine bedeutende Industrie
ohne Schutzzoll, ohne Bonifikation und Reglement geschaffen hatte, da dachte
der König uicht um Staatseimnischnng; höchstens stützte er das thatsächliche
Monopol der Gebrüder von der Lehen, weil er sah, daß dieses große Haus
war, die ganze Industrie musterhaft emporzubringen und zu leiten. Im
übrigen zeigte er gerade darin seine administrative, sich nicht nach der Scha¬
blone, sondern nach den Menschen und Verhältnissen richtende Weisheit, daß
er zugleich so entgegengesetzte Shsteme der Judustriepolitik anwandte, in Berlin
die schroffste staatliche Leitung der Industrie, in Krefeld ein vollständiges
I^g,i8868 lÄirs.
Freilich war er ja selbst in seinem innersten Wesen ebenso sehr ein philo¬
sophischer Jünger der individualistischen Aufklärung, als ein letzter großer Ver¬
treter des fürstlichen Absolutismus; der preußische Staat war unter ihm ebenso
auf Rechtssicherheit, Unabhängigkeit der Überzeugung und der individuellen
Meinung als auf Disziplin, Gehorsam und Unterordnung gestellt. Hätte er
nicht diese seltnen Eigenschaften in sich vereinigt, er wäre nicht der große König
gewesen.
Wir meinen, daß sich mit diesen Studien Schmoller das Verdienst er¬
worben hat, die vagen Begriffe „absolutistische Regierung," „Staatsindustrie" usw.,
die man auf die Regierung Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Große»
häufig anwendet, in lebensvolle Wirklichkeiten verwandelt zu haben. Freilich
stammen diese Arbeiten alle ans frühern Jahren, und mau sollte meinen, ihre
Ergebnisse würcu längst Gemeingut geworden; das ist aber leider keineswegs der
Fall, und wir können es deshalb nur mit Freude begrüßen, daß dieser Gelehrte
uns seine bisher verstreuten kleinern Arbeiten gesammelt übergiebt. Der Band,
aus dem wir unsern Stoff geschöpft haben, ist der vierte dieser Sammlung, auf
die nachdrücklich aufmerksam zu machen wir uns für verpflichtet halten.
es habe mir in diesen Tagen aus dem Werke von Karl Braun
„Bilder ans der deutschen Kleinstaaterei" den Artikel „Der letzte
kurhessische Landtag" vorlesen lassen, denn meine emnndneunzig-
jährigen Augen erlauben mir nicht mehr selbst zu lesen, und da
sind mir drei mir ganz genau bekannte kleine Ereignisse einge¬
fallen, die einerseits die von Braun gegebne Charakteristik des Seelenlebens
des letzten Kurfürsten von Hessen vervollständigen, andrerseits aber auch einen
weitem Beitrag zu den Zustanden Kurhesseus liefern.
Es war im Jahre 1836 oder vielleicht in den ersten Monaten des fol¬
genden Jahres — ich war noch nicht lange verheiratet —, da brannte in
Kassel das „Gicßhaus" ab. Dieses Gebäude war vor mehr als hundert
Jahre» von einem Landgrafen von Hessen erbaut worden, um darin Kanonen
gießen zu lassei?. Der Meister, dein diese Arbeit anvertraut wurde, bekam
keinen jährlichen Gehalt, aber dafür wurde ihm die Erlaubnis gegeben, wenn
der Landgraf seine Dienste nicht in Anspruch nahm, das „Gießhaus" zum
gießen andrer Gegenstünde, zur Anfertigung von Maschinen und dergleichen
zu benutzen, und sowohl die Verpflichtung, Kanonen zu gießen, als anch das
Recht, andre Gegenstände zum eignen Nutzen anzufertigen, sollten in der Familie
erblich sein; es war also eine Art Lehen und ist es auch geblieben unter der
Negierung des Königs Jerome bis zum Abbrennen des „Gießhauses."
Es wurde damals natürlich eine Untersuchung über die Entstehung des
Brandes eröffnet, aber es stellte sich heraus, daß weder eine strafbare Absicht
noch eine grobe Fahrlässigkeit vorlag. Die Ursache blieb unerklärt.
Der Oberbergrat Henschel, der in dem abgebrannten Gebäude eine schon
damals sehr bekannte Maschinenfabrik errichtet hatte, und der ein ausge¬
zeichneter Maschinenbauer war, bekam von der preußischen Regierung eine
Anerbietung, er möge eine neue Maschinenfabrik in Preußen, und zwar in der
Nähe von Magdeburg, errichten; er würde dabei vom Staate ans kräftig unter¬
stützt werden. Aber er zog es vor, im Vaterländchen zu bleiben; er baute
dicht bei der Stadt Kassel eine neue Fabrik, die er natürlich in erweitertem
Maßstabe anlegte.
Ich habe sie öfter besucht, da ich mit Henschel sehr bekannt geworden war,
und mich über das Abhobeln von Eisenplatten usw. gefreut. Das „GießhanS"
stand in einiger Entfernung von den Werkstätten, und seine Kuppel hatte eine
sehr eigentümliche Konstruktion; sie war nämlich aus großen leeren Töpfen
gebildet, das Gewölbe war also sehr leicht und doch fest genug; auch das neu¬
erbaute zweistöckige Wohnhaus hatte eine Eigentümlichkeit, die mir sehr auf¬
gefallen ist. Die beiden Ecken der Vorderseite wurden nämlich durch zwei
große, vom Grunde bis zum Dach aufsteigende runde Säulen gebildet. Im
zweiten Stockwerk dieses Gebäudes wohnte Werner Henschel, der Bruder des
Oberbergrath, ein ausgezeichneter Bildhauer, dem der Auftrag geworden war.
eine für die Stadt Fulda bestimmte Kolossalstatue des heiligen Vonifaeins an¬
zufertigen, die dann in der Gießerei seines Bruders in Erz gegossen werden
sollte. Alle Personen, die sie gesehen haben, haben diese Statue in vollem
Maße gelobt. Als nnn die Statue vollendet war und nach Fulda übergeführt
werden sollte, fragte der Professor und Bildhauer unterthänigst bei seiner
Königliche» Hoheit an, ob höchstdersclbe vielleicht die Statue in Augenschein
nehmen wolle, bevor sie nach Fulda gebracht würde.
Der Kurfürst kam denn auch in Begleitung seiner Gemahlin, der Gräfin
Schauenburg, und bezeigte seine volle Zufriedenheit mit der Arbeit, Dies gab
dein Künstler den Mut, deu hohen Herrn zu fragen, ob er vielleicht geneigt
sei, die Gipsabgüsse vou deu frühern Arbeiten des Professors anzusehen und
bei der Gelegenheit auch die mechanischen Werkstätten seines Bruders in Augen¬
schein zu nehmen. Beides genehmigte der Kurfürst und lobte sowohl die
Arbeiten des Bildhauers wie die Einrichtungen der Werkstätten und das Ar¬
beiten der Maschinell seines Bruders. Kaum war er aber im Palais angelangt,
als ein Befehl von ihm an den Staatsanwalt hinabfloß, wie man in Oster¬
reich sagen würde, den Obcrbcrgrat Henschel wegen des Brandes des Gieß-
hauscs gerichtlich zu belangen.
Henschel remonstrierte, da ja die llutersuchnng wegen des Ursprungs des
Feuers nicht den geringsten Anhalt zu einer Klage ergeben hätte. Die Re-
mvnstration half nichts; es kam ein zweiter Befehl, man solle den Obcrbergrat
Henschel verklagen. Der Staatsanwalt remonstrierte zum zweitenmal und setzte
ausführlich auseinander, ans welchen Gründen die Anklage eine Freisprechung
des Angeklagten zur Folge haben müsse. (Diese Schrift ist von dem damaligen
Assistenten deS Staatsanwalts Eduard Wiegcmd, der später einmal auf wenige
Tage rin Herrn von Loßberg Minister gewesen ist, abgefaßt worden, wie
dieser, mit dem ich befreundet war, mir selbst erzählt hat.) Diese zweite
Nemonstration hals ebensowenig mie die erste, und nun mußte allerdings der
Staatsanwalt die Anklage beim zuständigen Gericht anstrengen. Der Erfolg
war, wie der Staatsanwalt vorausgesagt hatte, die vollständige Freisprechung
des Bergrath Henschel. Der Kurfürst hatte aber die Genugthuung, ihm viel
Verdruß und einige Kosten verursacht zu haben.
Als ich noch in Kassel war, waren die Leute dort allgemein der Meinung,
der Kurfürst ärgere sich jedesmal, wenn es einem seiner Unterthanen besonders
wohlgehe. Die Henschelsche Maschinenfabrik erweiterte sich immer mehr, anch
unter dem Sohn und dem Enkel; als ich noch in Kassel war, erbaute sie ihre
erste Lokomotive, »ut vor einigen Monaten haben die Zeitungen berichtet,
daß die tausendste Lokomotive aus der Fabrik dem Verkehr übergeben werden
konnte.
Bei dem großen Zufluß von Fremden, die im Sommer Kassel besuchen,
zumal an den Sonntagen und Donnerstagen, wenn die Wasserkünste der
Wilhelmshöhe spielen, glaubten die Gebrüder Wüstenfeld, Kaufleute in Han¬
noverisch-Münden, es wäre eine gute Spekulation, die von diesem Ort nach
Kassel gehenden Fremden auf einem Dampfschiff ans der Fulda nach Kassel
zu befördern, wobei sie mehr Bequemlichkeiten Hütten als ans der staubigen
Chaussee, die außerdem durch ein wenig interessantes Gelände führt, während
der Weg auf dein Fluß eine viel reizendere Gegeud durchzieht. Eine große
Schwierigkeit für dieses Unternehmen war, daß die Fulda sehr flach ist, und
ein Dampfschiff darum einer ganz besondern Konstruktion bedarf/ um auf diesem
seichten Wasser fahren zu können. Die Gebrüder Wüstenfeld wandten sich an
den Oberbergrat Heuschel, der, nachdem er mehrere Kombinationen und Ver¬
suche angestellt hatte, es übernahm, ein solches Dampfschiff zu bauen.
Er selbst hat mir ein paarmal von deu Schwierigkeiten seiner Arbeit er¬
zählt und ein Modell eines nur wenige Fuß tiefgehenden Dampfschiffs gezeigt,
das auf einem Teich seines Hofes schwamm. Das Dampfschiff mußte bis zu
einem bestimmten Tage fertig sein, und es war eine ziemlich starke Kouveu-
tioualstrafe festgesetzt für jeden Tag der Verzögerung. Wenig Tage vor dein
Termin der Ablieferung war das Dampfschiff glücklich fertig und lag auf
der Fulda.
Der Oberbergrat Henschel schrieb nun an seinen gnädigsten Landesherrn,
ob er vielleicht das erste in Hessen erbaute Dampfschiff vor seiner Abfahrt nach
Münden besichtigen wolle, wobei er natürlich nicht vergaß, den Tag der Ab¬
lieferung anzugeben; der Kurfürst kam denu auch am genannten Tage, aber
spät nachmittags, ein oder zwei Stunden nachdem das Schiff abgegangen war.
Er konnte natürlich dem Oberbergrat Henschel keine Vorwürfe macheu, da
dieser ja, wenn er in Erwartung des kurfürstlichen Besuchs die Abfahrt des
Dampfschiffs auf nur einen Tag hätte aufschiebe» wolle», die ziemlich starke
Konventionalstrafe hätte zechten müssen. Aber , , , das Schiff tam nun
den nächsten Sonntag voll vo» Passagiere» in Kassel an, und um» wurde
ihnen verboten, ans Land zu steige», da das Dampfschiff nicht das Recht habe,
Passagiere zu befördern. Diese protestierten natürlich und erhielten denn auch,
aber nur ausnahmsweise und für dieses erstemal die Erlaubnis, ans Land zu
gehn. Es ist begreiflich, daß die Gebrüder Wüstenfeld gegen das Verbot,
Reisende zu befördern, protestierten »ut unter anderen auch geltend machten,
daß durch nnangefochtne Staatsvertrüge zwischen Hannover und Hessen die
Stadt Münden das Recht der freien Schiffahrt ans der Fulda nicht bloß bis
Kassel, sondern sogar noch weiter aufwärts bis Hersfeld habe. Dem entgegen
behauptete die kurhessische Pvlizeidirettion, dieses Recht beziehe sich uur auf
das Verfrachten von Gütern, aber nicht ans die Beförderung von Personen.
Die Gebrüder Wüstenfeld beruhigten sich nicht bei dieser sonderbaren Inter-
pretation und betraten den Rechtsweg. Sie gewannen den Prozeß, die kur¬
hessische Regierung wurde verurteilt, das Verbot aufzuheben und außerdem
deu Gebrüdern Wüstenfeld eine beträchtliche Entschädigung wegen des luoruiu
V08WQ8 zu bezahlen.
Bei den Schwierigkeiten, die das Dampfschiff durch die Aalfange auf seiner
Fahrt zu überwinden hatte, haben sie aber, soviel ich weiß, die Dampfschiff¬
fuhrt ans der Fulda aufgegeben. Die Darstellung, die Fr. Müller in seinem
Buch „Kassel seit siebzig Jahren" von diesem Vorgange gegeben hat, ist un¬
genau,
Hessen besaß bekanntlich infolge des Westfälischen Friedens die eine Hälfte
der Grafschaft Schauiuburg, während die andre einem Grafen von Lippe zu¬
erkannt worden war. Dieser hessische Anteil hatte bedeutende Forsten mit viel
Wild, und diese standen unter der Verwaltung des Oberförsters von Blumenthal,
In einem Sommer nun — ich habe das Jahr vergessen — stellte der
Kurfürst Jagden in diesen Forsten um, und der neckische Zufall wollte, daß der
Herr Oberförster in irgend einem Geschäft im Walde zu thun hatte und ohne
es zu ahne» in die Nähe der kurfürstlichen Jagdpartie geriet, die eben ein
Frühstück einnehmen wollte. Hätte er sich doch zurückgezogen! Aber nein.
Er ging auf den Kurfürsten zu, entschuldigte sich, daß er in seinem gewöhn¬
lichen Anzüge und nicht in Galauniform erschienen sei, da er nicht vermuten
konnte, mit seiner Königlichen Hoheit zusammenzutreffen; er habe es aber auch
so für seine Schuldigkeit gehalten, näher zu treten und zu fragen, ob Seine
Königliche Hoheit irgend einen Befehl für ihn habe. Der Kurfürst dankte
ihm, sagte aber leise einem neben ihm stehenden Herrn: „Nun muß ich den
Menschen gar noch zum Frühstück einladen."
Sobald der Kurfürst wieder in Kassel war, schrieb er an den Oberland-
forstmeister, er möge sogleich die Pensionierung des Oberförsters von Blumen¬
thal beantragen. Dieser erwiderte, daß das nicht wohl angehe, da der Be¬
treffende bis dahin sein Amt zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ver¬
waltet habe, bekam aber zum zweitenmale den Befehl, die Pensionierung zu
beantragen. Nun mußte man doch wohl gehorchen.
Der Herr Oberlandforstmeister begab sich nun, um irgend einen Vorwand
für einen solchen Antrag zu finden, nach dein schanenburgischen Forst und zog
unter der Hand allerlei Erkundigungen über den Oberförster ein. Er erfuhr
nun, daß der schon etwas über siebzig Jahre alte Maun bei deu Holzauktionen
bisweilen einnickte, und daß er sich bisweilen nicht sogleich auf den Namen
eines Reviers besinnen könne, sonst aber alle Pflichten seines Amtes voll¬
kommen erfülle. Der Oberlandforstmeister von Münchhausen besuchte nun den
Oberförster, und freundlich mit ihm plaudernd sagte er diesem, es müsse ihm
doch nachgerade bei seinem vorgerückten Alter beschwerlich fallen, den Forst zu
begehn, warum er sich doch nicht pensionieren ließe, da er doch nach seinen
langen Dienstjähreu eine hübsche Pension zu erwarten habe. Der Oberförster
erwiderte ihm, er habe auch schon daran gedacht, wolle aber mit der Ein¬
reichung seines Pensionierungsgesuchs noch sechs Monate warten, denn er
könne alsdann sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern, da die beiden Jahre,
die er 1813 und 1814 im Heere gedient habe, doppelt gerechnet würden.
Nun berichtete der Oberlandforstmeister an den Kurfürsten, der von Blumen¬
thal werde aus dem angegebnen Grunde in sechs Monaten nur seine Pensio¬
nierung einkommen, erhielt aber den Bescheid, er solle sogleich pensioniert
werden. Zu dein Ende bedürfte es aber eines Vorwandes. Der Oberförster
erhielt eines Tngs zu seiner großen Verwundrung ein Dekret, das ihm mit¬
teilte, er sei wegen Geistesschwache pensioniert. Da wurde er aber wild und
klagte bei Gericht wegen gesetzwidriger Pensionierung, denn er sei nicht geistes¬
schwach. Die kurfürstliche Regierung wurde nun vom Gericht aufgefordert,
den Beweis zu liefern, daß der p. v. von Blumenthal wirklich geistesschwach
sei, und dieser Beweis konnte mir durch die Untersuchung seines Geistes¬
zustands durch eine Kommission von Ärzten geliefert werden.
Diese erklärten jedoch, der Oberförster habe zwar nicht die Geistesfrische
eines jttngern Mannes, aber er sei durchaus nicht geistesschwach. Infolge
hiervon erklärte das Gericht, die kurfürstliche Regierung habe dem Kläger
seinen vollen Gehalt auszubezahlen, bis er bei weiter vorgerückten Jahren
wirklich geistesschwach sein werde oder aus einem andern Grunde pensioniert
werden müsse. In sein Amt konnte er nicht wieder eingesetzt werden, da
mittlerweile ein andrer Oberförster ernannt worden war. Diese Geschichte ist
mir von einem mir intim befrenndeten Mitgliede des Oberforstkollegiums er¬
zählt worden.
Der kurhessische Staat hatte aber nicht sehr lange die Pension zu be¬
zahlen, da der Oberförster von Blumenthal nach einigen Monaten starb. Diese
Pensionierung erinnert an die des Ministers von Hanstein. Dieser wurde
ebenfalls kurze Zeit, bevor er sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern konnte,
entlassen, und zwar ohne daß irgend etwas vorgefallen wäre, was eine solche
Entlassung Hütte motivieren können.
nur die alten Weiber in Rockendorf von Herrn Leisring und seiner
Frau und beider Vergangenheit redeten, geschah es nur im Flüster¬
töne und mit gelegentlich seitwärts gewandten Augen, ob nicht etwa
unberufne Ohren lauschten. Denn Herr Leisring war Dorflanfmann
und Dorfwirt, eine Persönlichkeit, die mit Vorsicht behandelt sein
wollte, und deren Unwillen mehr bedeutete als ein Donnerwetter
vom Herrn Amtsvorsteher. Es gab übrigens noch einen zweiten Wirt im Dorfe,
den kleinen Brauns. Aber Brauns war eigentlich Landwirt und Gastwirt nur im
Nebenamte und wurde besucht von Leuten, denen es nicht darauf ankam, zu warten,
bis es Herrn Brauns beliebte, seine Gäste zu bedienen. Ganz anders Herr Leis¬
ring. Dieser hatte sich die Manieren des gelernten Kaufmanns angeeignet, rieb
die Hände, sagte „Bitt schön" und wcir immer beweglich und kulant — wenigstens
solange, als er uoch uicht dick und asthmatisch geworden war, Frau Leisring da¬
gegen war dünn und beweglich geblieben. Dazu gebrauchte sie ihre Zunge mit
einer Fertigkeit, daß niemand gern mit ihr anhand, besonders die nicht, die dem
Herrn Gemahl und seinem Borgbnche gegenüber kein reines Gewissen hatten. Und
das waren alle kleinen Leute im Dorfe.
Von besagten alten Weibern konnte man nun unter demi Siegel der Ver¬
schwiegenheit erfahren, daß Leisring vor zwanzig Jahren als hausierender Schuster
ins Dorf gekommen sei. Alles, was er besaß, war auf eine baufällige Schiebkarre
geladen. Weil nun diese Schiebkarre auseinander gefallen war, und weil damals auch
Leisrings Frau tu die Wochen kam, so war er in Rockendors sitzen geblieben. Man
hatte ihn im Armenhause untergebracht und ihm Arbeit gegeben. Aber Ackerarbeit
hatte für die Schusterseele Leisrings keinen Reiz, überhaupt keine Arbeit, die
Muskelschmalz forderte. Ebensowenig war er fürs Stillesitzen geschaffen. Herum¬
bummeln, hausieren und handeln, das war sein Element. Aber wie sollte er seinen
Hansierkram wieder zusammenbringen, da er weder Geld zum Leder, uoch Werk¬
zeug noch Lust zur Arbeit hatte? Seine Lage wäre hoffnungslos gewesen, wenn
er nicht das Glück gehabt hätte, ein. paar hundert Thaler in der Lotterie zu ge¬
winnen. Für dieses Geld kaufte er sich ein Anwesen, eine Bude, ein Mittelding
zwischen Wohnhaus und Stall, die in einem Winkel zwischen zwei Höfen ein¬
geklemmt war. Diese Bude richtete er zum Kaufladen ein. Der Dvrftischler lieferte
die Regale auf Borg, die Kaufleute die Waren ans Kredit. Der Kaufmann war
fertig, und der Krystallisativnspnnkt für ein zu erwerbendes Vermögen war ge¬
geben.
Anfangs ging es Leisring knapp genug. Manchmal hatte er kaum das tägliche
Brot. Aber nachdem die Schulden abgestoßen, und nachdem Ware und Haus freies
Eigentum geworden waren, ging es sichtlich vorwärts, wofür Frau Leisrtug als
Thermometer gelten konnte. Zuerst war Frau Leisring so klein und demütig ge¬
wesen, als wollte sie sagen: Ach du lieber Gott, nehme es nur nicht übel, daß ich
auch da bin. Später steckte sie ihre spitze Nase mit Selbstbewußtsein in die Luft
und sogar eine Schleife ins Haar. Später kaufte sie sich eiuen Mantel, wie ihn
die Stadtleute trugen. Und da dieser Mantel doch auch zur Geltung kommen
mußte, so kaufte sie sich einen Platz in der Kirche, woraus ein erbitterter Streit
mit dem Kirchenrendanten entstand, der ihr einen Platz ans der Priechenseite an¬
wies, während doch die vornehmern Plätze auf der Kanzelseite lagen. Später
rechnete sie sich zu den tonangebenden Frauen, wozu sie infolge ihrer Zungenfertig¬
keit wohl berechtigt war. Ja sie wurde das wandelnde Intelligenzblatt von
Nockendorf. Alle Neuigkeiten des Ortes flössen in ihrem Laden zusammen und
wurden von hier aus nach gründlicher Bearbeitung weiter verbreitet. „Veredlungs-
verkehr" nennt man ja wohl diese Thätigkeit ans wirtschaftlichem Gebiete.
In. dem Maße, als sich das Geschäft ausbreitete, wurde natürlich der Raum
des Hauses zu klein. Alles vom Keller bis zum Dache war vollgestopft von Kisten,
Fässern und Ware«.. Leisriug flickte an seinem Hause herum und errichtete Kunst¬
bauten, die aller Baupolizei Hohn sprachen. Für sich und seine Familie behielt er
nur eine einzige Kammer übrig.
Eines Tages riß er kühn das Dach seines Hauses ab und baute eine Gaststube
über den Laden, zu der eine Treppe von gemeingefährlichem Charakter hinauf führte.
Darauf kam er um den Konsens zur Einrichtung einer Schnnkwirtschaft ein. Als
dieses Gesuch an den Schulzen zur Begutachtung kam, entstand unter der Bauernschaft
im Dorfe eine tiefgehende Aufregung. Es war doch ersichtlich, daß August Brauns,
der alte Wirt, durch die Konkurrenz Schaden haben werde. Da man nun mit
August Brauns verschwägert war, und da August Brauns Acker in der Flur besaß
und zu den Bauern gehörte, so mußte er gegen Leisring geschützt werden. Der
Schulze berichtete also, daß ein Bedürfnis für eine zweite Gastwirtschaft nicht vor¬
handen sei, worauf Leisring abschlägig beschieden wurde.
Darob erhob sich ein großes Gezeter im Kaufladen, und alle Leute, die dahin
kamen, wurden mit Unwillen über den Schulzen, der die guten Absichten Leisrings
vereitle und dem Glücke des Dorfes im Wege stehe, getränkt und gesättigt. Man
fing an zu „murmeln." Überall, wo sich der Schulze zeigte, trat man in Gruppen
zusammen und murniclte Laute des Unwillens. Als der Schulze in der nächsten
Gcmeindesitzung einen Wegebau, der ihm sehr am Herzen lag, denn der Weg führte
zu seinem Acker, genehmigen lassen wollte, wurde der Weg von den kleinen Leuten
und allen, die mit Leisring in Verbindung standen oder bei August Brauns nicht
für voll angesehen wurden, glatt abgelehnt. Da hatte der Schulze seinen „Nacken¬
schlag" weg. Und es folgten solange andre nach, bis er ein Einsehen bekam und
um den Kreisausschnß berichtete: Nach neuerdings angestellten Erhebungen habe sich
herausgestellt, daß in Rockendorf eine zweite Gastwirtschaft doch ein Bedürfnis sei;
worauf eine zweite Eingabe Leisrings genehmigt wurde. Nur dürfe er, hieß es
in dem Konsense, in seiner Gaststube keinen Schnaps verkaufen. Branntwein im
Laden zu verkaufen konnte ihm freilich nicht verwehrt werden.
Das Angebot steigert die Nachfrage. Als die Gaststube eröffnet war, fehlte
es nicht an Gästen. Die Knechte und die Arbeiter, die sonst ihren Schnaps zum
Frühstück oder Vesper aus freier Hand tranken und nur bei besondern Gelegen¬
heiten den Krug besucht hatten, wurden bei Leisring seßhaft. Die jungen Bengel,
die bei Brauns überhaupt nicht geduldet wurden — denn was braucht einer, der noch
nicht einmal Knecht ist, überhaupt in der Schenke zu sitzen —, fanden jetzt die Ge¬
legenheit, für voll zu gelten. Sie gründeten schleunigst einen Verein, der löblichem
Streben gewidmet war, nämlich einen Pfeifenverein, und kamen allwöchentlich
zweimal zusammen, um sich an dem Gerüche ihrer verschiednen Kräuter zu erfreuen
und über ihre Pfeifentroddeln fachzusimpeln, wobei sie die Düfte, die aus dem
Laden heraufzogen, noch gratis hatten. Sobald der Besuch im Wirtszimmer einmal
nachlassen wollte, half Frau Leisriug freundlich nach, indem sie den Kindern der
ungetreuen Gäste, wenn sie Waren holten, gute Ermahnungen mit auf den Weg
gab: Dein Vater ist ja recht lange nicht hier gewesen. Er ist doch nicht etwa krank?
Sage doch deinem Vater, ich ließe ihm gute Besserung wünschen, und er möchte
sich bald einmal sehen lassen. Das Kind richtete die Bestellung natürlich aus, der
Vater kratzte sich auf dem Kopfe, gedachte seines Borgbuches und that seine
Schuldigkeit.
Wer nun oben sein Glas Bier getrunken hatte, wurde unten, wenn er durch
den Laden ging, freundlich angehalten, daselbst auch seine Schuldigkeit zu thun und
ein viertel oder ein halbes Liter Schnaps mitzunehmen. Auf bar Geld Wurde
kein besondres Gewicht gelegt, aber das Borgbuch erhielt seine reichliche Ein¬
tragung.
Bei dieser Gelegenheit machte Leisring die erfreuliche Erfahrung, daß es kein
glatteres und besseres Geschäft gäbe, als ein flott fließendes Bierfaß und ein eben¬
solches Schnapsfaß, und die Arbeiter machten die weniger erfreuliche Bemerkung,
daß mau unglaublich viel Branntwein verbrauche, wenn man ans Borg lebe. Dies
galt besonders von den „Bruchern." So nannte man die Arbeiter, die einige
hundert Mann stark in dem benachbarten Schieferbruche beschäftigt waren und den
Tag wenigstens drei Mark verdienten — und dies das ganze Jahr lang. Diese
Brücher waren Leisrings beste Kunden. Wenn sie bei ihrem unordentlichen und
unwirtschaftlichen Leben schon früher nicht viel erübrigt hatten, so reichte jetzt unter
der freundlichen Nachhilfe Leisrings der Lohn bei weitem nicht mehr aus. Ja die
Brücher kamen in dem Maße herunter, als Leisring Fett ansetzte. Dies gestaltete
sich zu einem öffentlichen Notstände, der sich sowohl bei der Krankenkasse, als auch
bei der Schulverwaltung, als auch bei der Polizei und der Strafkammer der be¬
nachbarten Stadt geltend machte. Denn die Frauen der Brücher, die von ihren
schnapstrinkenden Männern kein Geld bekommen konnten, stahlen wie die Naben, die
Kinder vcigabondierten, und die Männer prügelten sich.
Leisring hatte noch einmal Glück. Sein Nachbar brannte ab. Ihm selbst
verbrannte auch etliches, aber das schadete nichts. Da nun der Nachbar, weil es
seit Menschengedenken in Rockendorf nicht gebrannt hatte, nicht versichert war und
seinen Hof nicht wieder aufbauen konnte, so kaufte ihn Leisring und bezahlte ihn bar.
Soviel hatte inzwischen das Geschäft schon abgeworfen. Er erweiterte also seinen
Kaufladen und seine Gastwirtschaft und baute einen Tanzsaal auf, gegen den der
niedrige altvaterische Saal bei Brauns und seinen krummen Dielen, seiner Balken¬
decke und seiner Eleganz des Kuhstalls gar nichts war. Der neue Saal erhielt
Parkettfußboden, hohe Fenster, einen Kronleuchter und eine Galerie für die Musi¬
kante», ganz wie in der Stadt. Das ganze Dorf staunte und fing an zu begreifen,
daß auch Rockendorf fortzuschreiten anfing. Der kleine Brauns aber hatte nächt¬
licherweile lange Gespräche mit seiner lieben Frau, deren Resultat war, daß auch
er einen neue» Tanzsaal baute. Aus diesem Saale wurde aber nicht viel ge¬
scheites, da Brauns nach Bauernweise zwar großartig anfing, aber an dein sparte,
was zur Vollendung nötig war, geradeso wie einer, der sich eine» Rock bauen läßt,
aber aus Sparsamkeit die Knöpfe wegläßt. So bot denn der neue Saal nach
Raum und Bequemlichkeit nur halb befriedigendes; aber es war doch ein Tanzsaal,
mit dem sich gegen Leisring Konkurrenz machen ließ.
Nun aber haben Tnnzscile, in denen nicht getanzt wird, ihren Beruf verfehlt.
Bis dahin war in Rockendorf wenig getanzt worden. Die paar Vereine feierten
ihre Stiftungsfeste, außerdem wurde beim Mädchenlaufen und dem Knechtereiten
getanzt, und damit war man fertig. Jetzt aber sollte womöglich aller acht
Tage Tanz sein, damit die Herren Wirte mit ihren neuen Sälen ans ihre Rech¬
nung kämen. In den Vereinen gab es jedesmal Zank, wenn entschieden werden
sollte, wo das Stiftungsfest abgehalten werden sollte, ob bei Brauns oder bei Leis¬
ring. Das Ende vom Liede war, daß der Gesangverein in die Brüche ging, und
daß sich der Kriegerverein teilte. Jetzt feierten die „Krieger mit Gewehr" ihre
Feste bei Leisring und tranken dessen schauderhaften Wein, und die „alten Kriegs¬
kameraden" tafelten bei Brauns und vergifteten sich mit dessen ebenso schlechtem
Punsch. Getanzt wurde jetzt in jedem der beiden Vereine auf besondern Wunsch
der Herren Wirte zweimal.
Der Gesangverein hatte seine Übungen in der Schule gehabt, was Herrn
Leisring in hohem Maße mißfiel, denn dort konnte doch kein Bier abgesetzt werden.
Er stiftete also seine Freunde an, daß sie bei Königlicher Regierung gegen den Ge¬
brauch der Schulklasse zum Übungslokale vorstellig werden und die Behörde be¬
schwören sollten, ans pädagogischen und moralischen Gründen dem Gesangverein die
Schule zu verbieten. Als das nichts half, wurde nnter den jüngern Mitgliedern
eine Verschwörung angestiftet. Eines Tages drangen nach langem Streite die Ver¬
schwörer durch und beschlossen, daß die Übungen bei Leisring abgehalten werden
sollten. Worauf der Herr Kantor die Direktion niederlegte, die nun der dritte
Lehrer übernahm, der aber von Musik nichts verstand und nichts dagegen hatte,
wenn statt Übungen zu halten und Konzerte zu geben getanzt und Theater ge¬
spielt wurde.
Wenn ans dem Dorfanger Adlerschießen abgehalten wurde, so hatte bisher
Brauns ein Schcmkzelt aufgestellt und die herkömmlichen Schmorwürste verkauft.
Jetzt baute Leisring ein zweites Zelt daneben, schlachtete gleichfalls ein Schwein
und bot seine Schmorwürste an. Wer nun keine Ungelegenheiten haben, oder wer
im Dorfe etwas vorstellen wollte, war nunmehr gehalten, sowohl bei Brauns als
auch bei Leisring Schmorwurst zu essen. Ob man Hunger hatte oder nicht, ob das
Geld reichen wollte oder nicht, darauf kam es nicht an, sondern nur darauf, daß die
Herren Wirte zu ihrem Rechte kamen, nämlich ihre Schmorwürste verkauften.
Hierzu kamen soviel öffentliche Tanzlustbnrkeiten, als der Herr Amtsvorsteher
irgend genehmigte. Der ganzen Bevölkerung von Rockendorf, besonders der weib¬
lichen, bemächtigte sich ein gewisses Tanzfieber. Nicht bloß die Mädchen strömten
in hellen Häuser zum Tanzsaale, wenn etwas los war, auch die Frauen glaubten,
nicht fehlen zu dürfen. Und die von ihnen, die kleine Kinder hatten, brachten ihre
armen Würmer mit, die, weil sie gern schlafen wollten und die halbe Nacht wachen
mußten, ein Konzert auf eigne Rechnung gaben — was aber niemand störte. Die
größern Kinder aber trieben sich auf der Treppe und im Vorsaale herum, waren
Zeugen des Unfugs, den die Großen vor und hinter den Kulissen trieben, und gaben
ihre Groschen für Stollwercks Probeschokoladentafeln aus, die ein Automat auf dem
Schanktische unermüdlich spendete.
Daß dies alles zwar dem dicken Leisring und seiner Kasse zu gute kam, in
der Gemeinde aber, besonders unter der arbeitenden Bevölkerung einen sehr
Übeln Einfluß ausübte, daß die Eltern wirtschaftlich zurückkamen und die Jugend
verwilderte, ist nur natürlich. Da nnn ähnliche Erscheinungen auch in andern
Dörfern zu Tage traten, so war „über Nacht ein Notstand erwachsen, der ge¬
bieterisch Abhilfe erheischte," und mit dem sich die Kreissynode in ihrer nächsten
Tagung beschäftigte. Herr Pastor Uhlenhorst, der Agent für innere Mission und
daher berufsmäßiger Ausrufer aller Notstände, Gebrechen und Schandthaten des
Volks war, hielt eine gewaltige Rede, rief auf zu dem Kreuzzuge wider die Ver¬
gnügungssucht und beschwor die Synode, die Ketten der „Kcmponokratie," unter der
unser Volk seufze, zu brechen. Das Wort Kauponokratie (zu deutsch: Kneipen¬
herrschaft) machte tiefen Eindruck, umsomehr, als es die Herren Synodalen nicht
verstanden. Da es aber klar war, daß es sich um ein gutes Werk handle, so
murmelte man Beifall. Zum Schlüsse wurde der Antrag eingebracht: Hochwürdige
Synode wolle beschließe«, den Synodalvorstand aufzufordern, dahin zu wirken, daß
der Königliche Landrat die Amtsvorsteher anweise, weniger bereitwillig als bisher
Tanzerlaubuis zu geben, und daß bei Königlicher Regierung Borstellungen ge¬
macht werden, Königliche Regierung wolle Maßnahmen treffen, zu bewirken, daß die
bestehenden gesetzlichen Vorschriften betreffend die Fernhaltung der Jugend unter
sechzehn Jahren von Tanzlustbarkeiten strenger als bisher innegehalten werden.
Dieser Antrag wurde freudig und mit Einstimmigkeit angenommen.
Die hohe Behörde brachte dem Antrage hohes Verständnis entgegen. Der
Apparat der Verwaltung setzte sich in Gang und arbeitete in dem ihm eigentüm¬
lichen Tempo so zuverlässig, daß schon vor Ablauf eines halben Jahres die Ver¬
fügung herauskam, die Erlaubnis zu öffentlichen Tanzlustbarkeiten dürfe nicht öfter
als monatlich einmal gegeben werden, und in den Sälen müsse eine Bekanntmachung
angeschlagen werden, daß Personen unter sechzehn Jahren der Zutritt verboten sei.
Desgleichen beschäftigte sich das Königliche Konsistorium mit der „Kauponokratie," schob
es in seiner Beantwortung der Synodalverhandlungen den Synoden in das „Ge¬
wissen," für die Austilgung des fraglichen Krebsschadens am Leibe des christlichen Volks
zu sorgen, und ordnete zufolge Z 14 der Kirchengemeinde- und Kreissynodalordnung
an, daß alle Gemeindekirchenräte in ihrer nächsten Sitzung die Beratung über diese
zwar in der Peripherie des Glaubenslebens liegende, aber doch den Lebensnerv der
Volksseele berührende Frage eröffnen sollten. Zufolge dessen schob es der Herr Pastor
in Nockendorf in der nächsten Sitzung seinem Gemeindekirchenrate „in das Gewissen",
der Vergnügungssucht des Volks und besonders den Tanzlustbarkeiten am Sonnabend
mit allen Mitteln entgegenzutreten und dafür zu sorgen, daß die alten guten Zeiten
wiederkehrten. Die würdigen Herren nickten Beifall, lobten die alten guten Zeiten,
in denen sie, die Kirchenältesten, noch jung gewesen waren, und tadelten die jetzige
Zeit und das jetzige Geschlecht und den überhandnehmenden Luxus. Und dabei,
sagte man, werde das Bier von Jahr zu Jahr schlechter, und Leisrings Cigarren
seien überhaupt uicht mehr zu rauchen. Ein solcher Mensch wie Leisring, fügte
Rudolph Brauns, ein Vetter des kleinen Brauns, hinzu, sei überhaupt eine Schande
und eine Plage für das ganze Dorf. Das war unvorsichtig geredet, trotzdem der
Gemeindekirchenrat unter sich war. Denn Leisring erfuhr das Diktum wieder.
Darauf machte Frau Leisring der Frau Brauns bei nächster Gelegenheit eine große
Szene, rückte ihr alle ihre Sünden vor und erklärte unter Zustimmung der über¬
wiegenden Mehrheit des Dorfs, ein Mensch, der einem Menschen seinen Verdienst
nicht gönne, sei auch eine Schande für das Dorf. Sie, Leisrings, brauchten
Brannsens nicht, Braunsens möchten ihr Petroleum und ihre Heringe in Gottes
Namen kaufen, wo sie wollten. Worauf Frau Brauns klein beigab. Dies war
das Endresultat der Synodalbeschlüsse gegen die Kauponokratie.
Nicht viel mehr erreichte die Königliche Regierung. Der Anschlag mußte
natürlich gemacht werden; jedoch stellte Frau Leisring allen, die in den Laden
kamen, das Unrecht der Behörde, die nichts weiter könne, als die Leute chikcmieren,
in so Helles Licht, daß es die Bevölkerung als eine gute That ansah, das Verbot
zu übertreten. Biederer war es, daß jetzt die Tanzerlaubnis vom Herrn Amts¬
vorsteher verweigert wurde. Um dem zu begegnen, bildeten sich unter wohl¬
klingenden Namen mehrere neue Vereine, die sich die Aufgabe stellten, für ihre
Mitglieder Tnnzlustbarkeiten zu veranstalten. Die Mitgliedschaft wurde durch ein¬
malige Zahlung von zehn Pfennigen erworben. Vereinen konnten nämlich die Ver¬
anstaltungen von Lustbarkeiten nicht verboten werden. An der Spitze dieser Vereine
standen mehrere „Brücher," die in Leisrings Borgbnche besonders hoch angeschrieben
waren. Der Automat wurde nunmehr ans die Straße gestellt, wo er sich als
noch zugkräftiger erwies als zuvor.
Dies gab dem Schulvorstande Anlaß, sich mit Herrn Leisring zu beschäftige».
Einige Schüler hatten Geld aus der Schulbibliothekkasse gestohlen, um sich Schoko¬
lade aus dem Automaten holen zu können. Der Schulvorstand ging der Sache
auf den Grund, das heißt, er berichtete an den Herrn Landrat und fragte an, ob
dem Leisriug nicht verboten werden könnte, den Automaten auf die Straße zu
stelle», wo er der Jugend zu fortwährender Verführung gereiche. Die Eingabe
hatte keinen Erfolg. In einem Rechts- und Polizeistaate kaun einer in harte
Strafe kommen, wenn er Anlaß giebt, daß sich sein Mitmensch an das Schienbein
stößt, aber es ist uicht möglich, einem Menschen das Handwerk zu legen, der der
Jugend sittlichen Anstoß bereitet, wenn er seinen Gewerbeschein gelöst hat. So
konnte auch der Herr Laudrat nur aus straßenpolizeilichen Gründen die Entfernung
des Automaten verfügen. Hierauf stellte Leisring den Automaten unter seinen
Thorweg. Weiter war nichts zu machen, und die Jugend mauste und naschte
weiter.
Damals trafen sich zwei Reisende, Ernst Schnabel und Gustav Eiselein, bei
Leisriug in der Gaststube. Der erste reiste für ein Weingeschäft, sah schlagflüssig
aus und hatte eine stark ausgeprägte Weinfahue, und der andre reiste für ein Likör¬
geschäft, hatte wässerige, verschwommne Augen, ein schwammiges Gesicht von unge¬
sunder Farbe und war offenbar nicht mehr nüchtern. Leisring hatte, wie das
Geschäftsbrauch ist, für die Reisenden zunächst keine Zeit. Den Reisenden mußte doch
Gelegenheit gegeben werde», erst einmal Zeche zu macheu. Beide Reisende kannte»
sich schon, und nachdem sie gemerkt hatten, daß sie keine Konkurrenten waren,
setzten sie sich zusammen. Der eine bestellte eine Flasche Wein, und der andre
suchte das Quartier ab, ob er nicht jemand fände, der mittrinken könnte. Es war
aber niemand da als ein fremder Radfahrer, der sich Selterwasser hatte geben lassen.
Darauf bestellte auch er eine Flasche Wem.
In was reisen Sie denn jetzt? fragte Schnabel seine» Kollege».
In Selbstmord. Und Sie?
Auch in Selbstmord.
Was? fragte der Radfahrer, die Herren machen doch uicht in Giften?
Beinahe, erwiderte Eiselein. Denn wenn man alle Tage von früh bis zum
Abend diesen Wein und diese Liköre trinken muß, das wirkt wie das reine Gift.
Aber meine Herren, warum thun Sie das?
Warum wir das thun? Weil wir müsse». Denn hat man nicht erst eine
ordentliche Zeche gemacht, so kauft einem keiner von diesen Wirten etwas ab.
Ein Skandal ist es, fügte der andre hinzu. Wen» mau immer Leute fände,
die mittrinken oder die man freihalten kann, dann möchte es noch sei», aber früh
morgens oder in der Ernte ist keine Seele zu finden. Dann muß man selber heran
und das verdammte Zeug trinken. Und das hält auf die Dauer kein Mensch
aus. Sieben Jahre ist das höchste, und dann ist es alle.
Aber warum reisen Sie dann in diesen Artikeln?
Weil es am besten bezahlt wird, und weil wir Esel gewesen sind. Hier mein
Freund Schnabel und ich haben uns in ein paar hübsche Mädchen verplempert und
geheiratet. Nun müssen wir in Selbstmord reisen, denn sonst reicht das Geld
nicht für Frau und Kind.
Was soll denn aber werden, wenn Sie sich kaput getrunken haben?
Ja, das weiß Gott!
Wenn Herr Pastor Uhlenhorst, der Agent für innere Mission, hiervon Kenntnis
gehabt hätte," so würde er ohne Zweifel die Wein-, Champagner-, Likör- und Bier¬
reisenden auch unter die Opfer der Kanpouvkratie gerechnet und von, Staate ver¬
langt haben, daß, wenn er Gesetze gebe, um deu Angestellten der Kaufleute ihre
Sonntagsruhe zu schützen, er auch ein Gesetz geben müsse, nach dem es verboten
sei, einen Handlungsreisender zu nötigen, mehr zu trinken, als er vertragen kann.
Übrigens muß man dem Unternehmungsgeiste des dicken Leisring alle An-
erkennung zollen. Kaum hatte er Platz gefunden, seinen Laden zu erweitern, so
legte er sich auch ein Schnittgeschäft zu. Links im Laden kaufte man also Öl,
Sirup, Heringe und saure Gurken und rechts Kleiderstoffe, Leinwand, Bänder
und Hüte — natürlich alles von der billigsten und schlechtesten Sorte und darum
verhältnismäßig recht teuer. Die Waschkleider hielten, da sie mehr aus Kleister
als aus Gewebe bestanden, keine Wäsche aus, und die sogenannten wollnen Stoffe
zerfielen wie Zunder, wenn sie kaum vier Wochen getragen waren. Die seidnen
Bänder bestanden aus Baumwolle mit einem leisen Hauche von Seide, und die
Hüte waren nur zum Ansehen bestimmt.
Leisring kam mit seinen- Schnittgeschäfte den Instinkten der Bevölkerung ent¬
gegen. Wer gern tanzt, hat auch gern die dazu gehörigen Kleider, besonders wenn
sie nach viel aussehen und wenig kosten. Solange man. um zu kaufen, in die
Stadt ging, überlegte man sich die Sache und kaufte etwas ordentliches; seitdem
aber die Ware beinahe auf der Straße lag, griff man leichten Herzens zu, be¬
sonders wenn man nicht bar zu bezahlen brauchte. Auch hielten es eitle Mütter
für durchaus notwendig, ihre Kinder zu jedem Feste vom Kopf bis zum Fuße neu
zu kleiden und mit bunten Fähnchen, d, h, Kleidern auszustatten, die nirgend be¬
quemer zu haben waren als bei Leisring. Ein Dienstmädchen war zum Tauze
viel feiner gekleidet als ihre Frau, und gegen die Kleider der Tagelöhnerkinder
konnte die Frau Kantor rin den Kleidern ihrer Kinder nicht aufkommen. Dafür
fehlte es aber auch an Geld für warme Winterkleider und dauerhafte Arbeitsanzüge.
Geflickt wurde nichts und konnte nichts werden, man riß also sein Zeug ab, so¬
lange es ging, kaufte neues ebenso schlechtes und verlumpte.
Und das Borgbuch war eine Last, die man nicht los wurde, es sei denn, daß
die Summe zu groß geworden war, als daß sie einzeln wieder aufgebracht werden
konnte. Dann war Herr Leisring so gnädig, den Betrag im Buche zu löschen und
als Hypothek auf das Häuschen eintragen zu lassen.
Bald darauf bereiste der Herr Regierungspräsident in Begleitung des Herrn
Landrath seinen Bezirk, nicht bloß, um festzustellen, daß sich die Ortschaften des
Kreises thatsächlich da befänden, wo sie auf der Karte verzeichnet waren, sondern
auch um seine Personalkenntnis zu erweitern und Blicke in die soziale Lage des
Volks zu thun. Der Ortsvorstand, der Herr Schulze und die beide» schöpften
waren zur Begrüßung der hohen Herren zu morgens neun Uhr befohlen und hatten
sich, umgeben von einer Corona angesehener Ortseingesessenen, vor der Schmiede
— gegenüber lag Leisrings Gasthof — aufgestellt. Der lcmdrätliche Wagen rollte
auch, da man um zehn Uhr beim Herrn Baron Stappenstein auf Stappenstein zum
Frühstücke erwartet wurde, pünktlich heran. Die Herren Ortsvorstnnde machten
ihren Diener, und der Herr Regierungspräsident fragte, ohne auszusteigen, nach
dem Namen und der Dienstzeit der Herren, nach der Größe der Flur, nach der
Höhe der Grundsteuer, Staatssteuer und Kommunalsteuer, sowie der Seelenzahl und
nach der Beschäftigung der Bevölkerung und gewann den Eindruck, daß der Herr
Schulze — der übrigens von dem Herrn Landrate zuvor instruiert worden war —
ein recht verständiger Mann sei. Darauf gab er das Zeichen zum Weiterfahren, aber
das Sattelpferd lähmte; es hatte ein Eisen verloren und sich einen Stein in den
Huf getreten. Fatal! Es half aber nichts, das Pferd mußte neu beschlagen
werden, und inzwischen trat man bei Leisring ein. Der Herr Regierungspräsident
und der Herr Landrat nahmen an einem Tische, der von Frau Leisring unter
vielen Entschuldigungen schnell noch mit der Schürze abgewischt wurde, Platz, die
Herren Ortsvorstände blieben in respektvoller Entfernung stehn, und den Hinter¬
grund füllte die Corona. Der Herr Regierungspräsident liebte es sehr, pünktlich
zu sein, besonders war es ihm unlieb, den Herrn Baron von Stappenstein und
sein Frühstück warten zu lassen. Er war also verdrießlich und schweigsam. Der
Herr Landrat, ein noch jüngerer Herr, der nicht die Absicht hatte, als Landrat zu
sterben, füllte die etwas peinliche Pause aus, indem er die Verhältnisse seines
Kreises in günstiges Licht stellte und hervorhob, daß Rockendorf in Bezug auf
Pflasterung, sanitäre Verhältnisse, Steuerkraft und Wohlgesonnenheit der Bevölke¬
rung als Musterdorf angesehen werden könnte. Aber der Herr Landrat war noch
zu unerfahren, zu wissen, daß man dem Urteile hoher Herren nicht vorgreifen darf.
Sie nehmen das übel. Der Herr Regierungspräsident, der so wie so schon un¬
gnädiger Laune war, sagte denn auch nichts weiter zu dem Vortrage des Herrn
Landrath als Hin! und fragte darauf scheinbar unvermittelt in seinem gezognen Tone,
der ein Gemisch von Beamten- und Offizierstvn war: Sagen Sie mal, lieber
Landrat, wie hoch sind denn hier die Einlagen der kleinen Leute in der Krets-
sparkasse?
Der Landrat hatte keine Ahnung; er sah fragend den Herrn Schulzen an,
und dieser die Herren Schöppen. Sie wußten es alle nicht. In der Corona
stand Meister Hübner, ein ganz guter Mann, der nur nach dem Urteil der Bauern
den Fehler hatte, daß er das Maul nicht halten konnte und mit einer Sache ge¬
rade herausplatzte, die sie erst noch lange mit diplomatischen Winkelzügen umgangen
haben würden. Also Meister Hübner ergriff das Wort und sagte: Wenns erlaubt
ist, ein Wort zu reden — sparen thut hier niemand.
So? Lieber — ä?
Hübner, Maurermeister Hübner, Besitzer eines der hiesigen Schieferbrüche,
sagte der Schulze.
Also, fuhr der Regierungspräsident fort, man spart hier nicht? Der Verdienst
ist wohl hier zu schlecht zum Sparen?
Gott bewahre, sagte Meister Hübner, die Kerls verdienen ein Heidengeld.
Der Knecht kriegt neben allem andern hundert Thaler Lohn, und meine Leute ver¬
dienen mit Überschichten vier bis fünf Mark täglich. Sogar eine Knhmcigd hat ihre
fünfzig, sechzig Thaler. Aber wenn sie auch noch einmal soviel hätten, es bliebe
doch nichts übrig. Denn es wird alles versoffen und verfressen. Und seit wir
hier die zweite Gastwirtschaft haben, ist es noch schlimmer geworden als vorher.
Der Schutze und die Schoppen blickten erschrocken über die Achsel, ob nicht
vielleicht Leisring das vermessene Wort gehört habe. Richtig, da stand er in der
Thür, rieb die Hände und lächelte. Aber es war das Lächeln einer Medusa.
Und wenn eine Dienstmagd abzieht, fuhr Hübner fort, was läßt sie zurück?
Lumpen und Schokoladenschnlden. Aber sie hat nichts auf dein Leibe und nichts
im Leibe.
So so? sagte der Herr Regierungspräsident, man lebt ja hier recht üppig.
Jawohl, Herr Präsident, die Knechte und Mägde leben wie der Herr Gott
in Frankreich, und die Arbeiter leben von Kaffee, Butterbrot und Gehacktem.
So so? Sagen Sie mal, lieber Schutze, was kostet denn hier das Pfund
gebrannter Kaffee?
Der Schutze wußte es nicht, die Schöppen wußten es auch nicht, und der
Herr Landrat nahm sich im stillen vor, eine Erhebung über die Kaffeepreise des
Kreises anzuordnen und überlegte sich schon die Rubriken des zugehörigen Frage¬
bogens.
Da ist ja der Wirt, sagte der Regierungspräsident, sagen Sie mal, Herr
Wirt, Sie haben doch, wie ich sehe, einen Kaufladen? Was kostet denn bei Ihnen
das Pfund Kaffee?
Leisring rang die Hände und hielt einen langen Sermon, machte aber so
schwankende Angaben, daß man den Kaffee ebensogut für billig wie für teuer
halten konnte.
Kann ich Ihnen sagen, Herr Präsident, meinte Meister Hübner, das Pfund
Kaffee kostet bei Leisring zwei Mark zwanzig.
Das ist ja aber horrend, rief der Regierungspräsident. Unser erster Kauf¬
mann in M. führt gar keinen Kaffee für zwei Mark zwanzig, und meine Frau
zahlt eine Mark sechzig. Und dabei lebt der Arbeiter von Butterbrot und Kaffee?
Ist das nicht so?
Jawohl, Herr Präsident, eine ordentliche Suppe zu Mittag giebts nicht mehr.
Die Frauen der Arbeiter können nicht einmal Suppe kochen. Wenn ich in meinem
großen Hausstande so wirtschaften wollte wie meine Arbeiter, ich müßte die Bilde
übers Jahr zumachen.
So so? sagte der Herr Regierungspräsident. Sie sehen, lieber Landrat, fügte
er mit leiserer Stimme hinzu, das sind soziale Schäden, von denen unsre Ideo¬
logen und Professoren keinen Schimmer haben. Ich frage Sie, was hilft alle
Erhöhung des Einkommens, wenn diese Leute mit ihrem Einkommen nicht wirt¬
schaften können, wenn sie unerhörte Preise für ihre Lebensmittel zahlen müssen,
und wenn sie aus Unverstand viel zu teuer leben? Sagen Sie mal lieber — ä —
Hübner, was zahlt man denn bei Ihrem liebenswürdigen Kaufmann für Reis?
Dreißig Pfennige.
Und für Graupen?
Zwanzig Pfennige.
Also lauter höchste Preise.
Und Schundware, Herr Präsident.
Sehen Sie, lieber Landrat, hier muß bessernde Hand angelegt werden. Der
Arbeiter muß wirtschaftlich erzogen werdeu, es muß ihm Gelegenheit gegeben
werden, preiswert einzukaufen. Es ist dies ein Gegenstand der Fürsorge der Kreis¬
behörden und der untergeordneten Organe. Man wird es ohne Zweifel höhern
Orts gern sehen, wenn diese Behörden mit Erfolg thätig sind.
Der Herr Regierungspräsident war ganz gnädig geworden. Hohe Herren
machen das so. Wenn sie Gelegenheit haben, der untergeordneten Welt zu impo¬
nieren, und wäre es auch nur durch ihre Kenntnis der Kaffeepreise, so werden sie
leutselig. Es war angespannt worden. Der Herr Regierungspräsident verabschiedete
sich von dem Meister Hübner, der im ganzen Gesichte glänzte, mit besondrer
Freundlichkeit, grüßte die Corona, ließ den Herrn Schulzen unbeachtet stehn und
fuhr davon. Der Herr Landrat aber schrieb sich die Worte: „Man wird es ohne
Zweifel höhern Orts gern sehen ..." und so weiter . . . mit Frakturschrift hinter
die Ohren.
Was weiterhin in Gremio der hohen Behörden deliberiert worden ist, ent¬
zieht sich der allgemeinen Kenntnis. Nur soviel hat sich feststellen lassen, daß ein
Schreiben der Königlichen Regierung beim Landrntsamte eingelaufen ist, worin
gefragt wurde, was inzwischen seitens der Kreisbehörde zur wirtschaftlichen Hebung
der Arbeiterschaft in Rockendorf geschehn sei. Den Herrn Landrat berührte das
Schreiben nicht gerade angenehm. Er hatte sobald noch keine Erinnerung erwartet
und war über die einleitenden Schritte, nämlich die Aufstellung eines großartigen
Fragebogens, noch nicht hinaus gekommen. Jetzt galt es also Eile. Sogleich sandte
er eine Verfügung an den Schulzen in Rockendorf, in der vertraulich angefragt
wurde, ob es nicht möglich sei, in Rockendorf eine Vorschußkasse Ratffeisenschen
Systems sowie einen Konsumverein ins Leben zu rufen. Der Schulze mochte die
Sache in die Hand nehmen und binnen vier Wochen berichten, was in der Ange¬
legenheit geschehn sei.
Der Schulze war von diesem Schreiben so wenig erbaut wie der Landrat
von dem seinigen. Was eine Raiffeisensche Vorschußkasse sei, davon hatte er keine
Ahnung, und gegen einen Konsumverein hatte er ein tiefes Mißtrauen, da die Sache
jedenfalls viel Arbeit und Ärger, vielleicht aber sogar Kosten verursachen würde.
Das sah er ein, daß die Sache gegen Leisring gerichtet sei, und er hatte keine Lust,
mit Leisring anzubinden Er teilte also das vertrauliche Schreiben jedermann mit
in der Hoffnung, daß sich jemand finden werde, der ihm die Arbeit abnähme. Aber
es fand sich niemand. So verging die Zeit, und es lief ein Exzitatorium vom
Landratsamt ein. Auch dieses legte der Schulze beiseite. Nun kam aber ein ge¬
harnischtes Schreiben: der Schulze möchte unverzüglich berichten, was zur sozialen
Hebung der Arbeiterschaft tu Rockeudorf geschehn sei, oder die Behinderungsgründe
angeben. Nunmehr setzte sich der Herr Schulze in Gang und zauberte mit Hilfe
des Herrn Kantors einen Bericht, worin dargelegt wurde, daß weder für Vorschuß
uoch für Konsum Meinung im Dorfe vorhanden sei, und daß es auch an Persön¬
lichkeiten fehle, die geeignet und geneigt seien, die Sache in die Hand zu nehmen.
Hierauf machte sich der Herr Landrat selbst auf den Weg. Als er unterwegs,
in seinem Wagen sitzend, überlegte, an welchem Ende er die Sache anfassen sollte,
holte er Meister Hühner, der von der Stadt nach Hause ging, ein. Ha! dachte
der Herr Landrat, das ist mein Mann! Wenn er gewußt hätte, wie sehr sich
Hübner und Leisring wegen der Kaffeepreise verzürut hatten, und wie sehr Hülmer
darauf brannte, Leisring eins auszuwischen, so hätte er sein „ha!" noch lauter ge¬
dacht. Der Landrat ließ Meister Hübner in seinen Wagen einsteigen und trug
ihm sein Projekt vor. Hübner war Feuer und Flamme. Es hätte nicht des Hin¬
weises bedurft, daß die Gründung eines Konsumvereins höhern Orts gern gesehen
würde. Als praktischer Manu wußte Hühner auch, worauf es ankomme. Er hatte
in seinein Bureau einen alten Kerl von Schreiber, dieser und dessen Frau konnten
das Geschäft übernehmen. Ein leerstehender Raum seines Lagerschuppens konnte
zum Laden eingerichtet werden. Fehlte nur noch der Verein und das Betriebs¬
kapital, doch das waren kleinere Sorgen. Als der Herr Landrat und Meister
Hühner in Rockendorf einfuhren, war die Gründung des Vereins gesichert, und es
blieb nur übrig, das Lokal und den alten Kerl zu besichtigen, was zur Zufrieden¬
heit ausfiel. So war also ein entscheidender Schritt zur Hebung der sozialen Lage
der Arbeiterschaft geschehn. Der Herr Landrat verfehlte denn auch nicht zu be¬
richten, daß es ihm gelungen sei, die Gründung eines Konsumvereius in Rocken¬
dorf in Fluß zu bringen, und daß dieser Verein zweifellos zur sozialen Hebung
der Arbeiterschaft höchst segensreich wirken werde.
Freilich dauerte es noch ein volles Jahr, ehe es gelungen war, den Verein
zusammenzubringen, das Betriebskapital flüssig zu machen und alle Kontremiueu,
die Leisring anlegte, unschädlich zu machen. Wenn nicht Meister Hühner, getrieben
von seinen wenig wohlwollenden Gesinnungen gegen Leisring, alle Kraft dahinter
gesetzt hätte, so wäre wohl aus der Sache überhaupt nichts geworden.
Nach einem Jahre aber prangte eine Tafel mit der bedeutsamen Inschrift
„Konsum" über der Thür des neuen Ladens, und die soziale Hebung der Arbeiter¬
schaft begann. Der Zulauf, den das neue Geschäft, das gute Ware zu billigem
Preise anbot, fand, war enorm. Leisrings Laden verödete. Daß dies Leisring
nicht gleichgiltig war, konnte man daraus sehen, daß er in dieser Zeit viele Schnäpse
trank, was er sonst nicht gethan hatte. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts merken.
Er stand fett und jappend in seiner Ladenthür, notierte sich aber im stillen alle
Arbeiter, die statt zu ihm die Straße hinauf in den „Konsum" gingen. Na wartet, ihr
Brüder, sagte er sich, ich kriege euch schon noch. Und Frau Leisring, die vor lauter
Ärger das Zittern in die Hände bekommen hatte, heizte bei ihrem lieben Manne
täglich ein, daß er an den Verrätern Rache nehmen solle. Leisring als gewiegter
Kaufmann setzte also die Preise seiner Waren herab. Darauf kündigte er einigen,
die bei ihm besonders übel angeschrieben waren, die Hypotheken, was einen großen
Schreck im Dorfe verursachte. Andern, die so unvorsichtig waren, an Leisrings
Laden vorüberzugehn, winkte er in den Laden einzutreten, wo er ihnen ihr Borg¬
buch präsentierte, und von wo sie ohne Abschlagszahlung nicht davon kamen. Und
Frau Leisring kontrollierte genau alle Mützen, Bänder und Schuhe, die getragen
wurden und nicht aus ihrem Laden stammten, und bediente die mit spitzen Redens¬
arten, die so etwas zu tragen wagten.
Dies alles würde den „Konsum" nicht zu Grunde gerichtet haben, wenn nicht
auch innerhalb des Vereins Unzufriedenheit geherrscht hätte. Man behauptete, nicht
so aufmerksam bedient zu werden als bei Leisring, und von dem alten Kerl, der
dem Konsum Vorstand, war das ja anch nicht zu erwarten. Daß aber im Konsum
kein Schnaps ausgeschenkt wurde, und vor allen Dingen, daß kein Kredit gegeben
wurde, betrachtete man als Harte, ja als Beleidigung. Sie, die Arbeiter, wären
noch keinem Menschen etwas schuldig geblieben. Und was Leisring könne, müßte
der Konsum auch köunen. Und wenn sie jede zehn Pfennige bar bezahlen sollten,
so gingen sie lieber zu Leisring zurück, der nicht so „gefährlich" sei wie der Konsum,
der niemals genug verdienen könne. Und wirklich, nur um von der süßen Ge¬
wohnheit des Borgens nicht lassen zu müssen, nur um nicht Ordnung in seine
Finanzen bringen zu müssen, kehrte man zu Leisring zurück, der ja jetzt auch
billigere Preise bewilligte.
Auch der Geschäftserfolg war unbefriedigend. Das Inventar wollte nie
stimmen, und der errechnete Profit wollte sich nie zeigen. Nicht als ob „der alte
Kerl" unehrlich gewesen wäre, es zeigte sich eben nur, daß es ein Unterschied ist,
ob ein Geschäft auf fremde Rechnung, oder ob es auf eigne Rechnung geführt wird.
Als der Verein sichtlich zusammenschmolz und auch die Arbeiter Hübners zu
desertieren anfingen, erließ dieser den Ukas, er erwarte und verlange, daß seine
Arbeiter dem Konsum treu blieben. Er rate dies im eignen Nutzen der Arbeiter,
die ja dort ihre Waren billiger und besser erhielten als im offnen Laden. Darauf
hatte ein sozialistischer Hetzapostel nur gewartet, um nach bekannter Weise seinen
Sermon los zu lassen: Der Arbeiter sei kein Sklave, er sei auch kein Kind, sondern
mündig. Niemand dürfe ihm vorschreiben, was er thun und lassen wolle. Was
der Arbeiter verdiene, sei sein Eigentum, dessen Gebrauch niemand beschränke» dürfe;
es sei gesetzwidrig, ihn zwingen zu wollen, sein Geld im Konsum anzulegen. Hübner
aber wolle nur seine Arbeiter aussaugen, denn nur er habe den Vorteil vom Konsum.
Darauf wurde nach allen Regeln der Kunst ein Aufstand inszeniert, und Hübner,
der gerade dringende Lieferungen übernommen hatte, mußte nachgeben.
Der Konsumverein führte noch einige Zeit ein klägliches Dasein und mußte
zuletzt liquidieren. Die das Geld zu dem Unternehmen hergegeben hatten, be¬
sonders Meister Hübner, verloren manches tausend Mark. An dem Tage, wo der
Konsum geschlossen wurde, setzte Leisriug seine Preise in die Höhe, diesesmal aber
gründlich, denn er hatte viel nachzuholen. Allen Angriffen gegenüber steht er jetzt
siegreich da, und seine Frau hat sich ein neues Atlaskleid gekauft.
Aber das Kleid macht ihr offenbar keine Freude. Wie aus ihrer schmerzlichen
Miene und ihrem wehleidigem Tone zu merken ist, hat sie Sorgen. Was es ist,
verrät sie niemand, aber man flüstert sich schon heimlich zu, Leisring, der große
Leisring trinkt. Und das ist auch wahr. Die Schnäpse, die er sich in der schweren
Zeit des Kampfes mit dem Konsum angewöhnt hatte, lassen ihn nicht wieder los.
Er trinkt, ganz heimlich, aber so nachdrücklich, daß er schon „Nervenzufälle" be¬
kommen hat — Drillirien nennen es die Leute. Es soll schauderhaft sein, wenn
er in seiner Angst glaubt, der Konsum sitze auf seiner Brust und wolle ihm die
Nase abbeißen, und alle seiue Borgbücher kriegten Flügel und wollten davon
fliegen wie Tauben, die sich satt gefressen haben.
Das ist recht, sagen die Leute, so muß es so einem gehn.
PaulLechlerund der Staatsminister a. D. Dr. Albert
Schaffte bemühen sich seit Jahren um die Lösung der Wohnungsfrage. Sie haben
zusammen drei Schriften herausgegeben: Nationale Wohmmgsreform, Neue Beitrage
zur nationalen Wohnungsreform und Der erste Schritt zur nationalen Wohnungs¬
reform. Die zuletzt genannte haben wir im zwölften diesjährigen Heft kurz an¬
gezeigt. Ihr liegt ein Vortrag Lechlers zu Grunde, der Anlaß gegeben hat, daß
der Verein Arbeiterheim und der Gesamtverband der evangelischen Arbeitervereine
zusammen eine Eingabe an den Reichstag gerichtet haben. Dieser hat sie am 14. No¬
vember 1899 beraten und hat beschlossen: „Die Petition dem Herrn Reichskanzler
zu überweisen mit dem Ersuchen, eine Kommission zu berufen, in welcher auch Mit¬
glieder des Reichstags vertreten sind, mit der Aufgabe, durch Untersuchung der be¬
stehenden Wohnungsverhältnisse und der auf dieselben bezüglichen Gesetzes- und
Verwnltungsbestimmungen festzustellen, ob und in welcher Weise ein Eingreifen des
Reichs zur Beseitigung der Wohnungsnot angezeigt ist." Da hiermit die Sache in
die Bahn amtlicher Verhandlungen geleitet ist, haben Schäffle und Lechler eine
neue Broschüre herausgegeben unter dem Titel: Die staatliche Wohnungs¬
fürsorge aus Anlaß des Reichstagsbeschlusses vom 14. November 1899 (Berlin,
Ernst Hofmann u. Comp., 1900), worin sie ihre Vorschläge in die unmittelbar für
den Gesetzgeber verwendbare Form bringen. Sie führen zehn „Leitende Gedanken"
ans und hängen jedem eine Begründung an. Im folgenden versuchen wir den
Kern dieser zehn Leitgedanken kurz gefaßt wiederzugeben. 1. Die als sittliche, Poli¬
tische und volkswirtschaftliche Notwendigkeit allgemein anerkannte Verbesserung der
Wohnungszustände der kleinen Leute läßt sich ohne Mitwirkung des Staates nicht
durchführen. 2. Die Mitwirkung des Staates hat sich auf dem Boden und inner¬
halb der Schranken der bestehenden Gesellschaftsordnung zu bewegen und darf keinen
kommunistischen Charakter annehmen. Die kleinen Leute haben auch in Zukunft ihr
Wohnungsbedürfnis ganz ans eignen Mitteln zu bestreiten, und der Mietzins oder
Kaufpreis, den sie für die durch die Vermittlung des Staates ihnen dargebotnen
Wohnungen zu entrichten haben, muß die Verzinsung oder Tilgung des Baukapitals
vollständig decken. Der Staat hat eben nur die Auswüchse des bisherigen Ver¬
mietungswesens und die Hindernisse einer zweckmäßigen Bauthätigkeit zu beseitigen;
ob er in Ergänzung der Privatbauthätigkeit selbst Wohnungen herstellen soll, wird
erst erwogen werden dürfen, nachdem die Erfahrung gelehrt haben wird, wie weit
eine solche Ergänzung notwendig erscheint. Zwang darf der Staat nach keiner
Seite hin ausüben, weder auf die Steuerzahler zur Aufbringung von Zuschüssen
» tonäs xorSu noch auf die kleinen Leute, um sie zur Benutzung der herzustellenden
Wohnungen zu veranlassen. „Eigentlich ist der ganze Plan lediglich darauf an¬
gelegt, eine latente (den Mietern selbst fast unbewußte) Genossenschaft zu solidarischer
Wohnungsselbsthilfe ins Leben zu rufen. ... Die Wohnungsselbstfürsorge würde
jedem Angehörigen der minder bemittelten Klassen durch den bloßen Akt der frei¬
willigen Einmietung und Mietgeldbezahlung erreichbar werden." Der Fortbestand
einer auf Gewinn gerichteten Herstellung und Vermietung von Häusern, der Privat¬
spekulation, soll nicht in Frage gestellt, sondern es soll nur beseitigt werden, was
dabei Wucherisches vorkommt. Die von der Polizei erlassenen Bauvorschriften helfen
für sich allein dem Hauptübelstande nicht ab, sondern verschlimmern ihn, indem sie vom
Bau von Wohnungen für kleine Leute abschrecken. 3. „Die Mitwirkung der Re¬
gierung, Gesetzgebung und Verwaltung hätte sich streng innerhalb jener Zuständig-
keitsgrenzen zu bewegen, die durch das bestehende Reichs-, Landes- und Kvmmunal-
recht gezogen sind." Hiernach würde deu Einzelstaaten die leitende Mitwirkung
obliegen; ein Ncichswohnuugsgesetz scheint wegen des zu befürchtenden Aufeiuauder-
stoßcns ultrazeutralistischer und ultraföderalistischer Tendenzen vorläufig nicht an¬
gezeigt. „Die Einzelstaaten würden jedenfalls die Hauptträger der Baugarantie
sein, könnten aber weiter zu einer freien Gesamtbürgschaft und Rückversicherung
der allerdings nur schwachen Risiken untereinander, ohne alles Dazwischentreten
des Reichs, sich vereinigen." 4. Den Anfang der staatlichen Mitwirkung Hütte eine
vom Reich oder von den Einzelstaaten durchzuführende allgemeine Wohnungsenqnete
zu bilden, für die einzelne Großstädte schon durch ihre statistischen Ämter unmittelbar
verwertbares Material gesammelt haben. 5. Die Fürsorge ist besondern Behörden
zu übertragen, die Wohnungskommission oder sonstwie zu nennen sind. Das Reichs-
zentralorgau könnte entweder als Neichsamt oder in Form freier Konferenzen der
Landeskvmmissionen eingerichtet werden. Es würde für diese Kommissionen kein
großer Apparat nötig sein; nnßer einem von der Regierung gestellten Fincmzbeamteu,
einem Regierungs- und einem kommunalen Baubeamten würden acht ehrenamtliche
Mitglieder genügen. Die Verfasser widerlegen die Ansicht, daß die Unfallversichernngs-
anstalten, die einen Teil ihrer Kapitalien in Bauhypothekeu anlegen sollen, oder
gar die Sparkassen die Obliegenheiten von Wohnungskommissionen sozusagen im
Nebenamt übernehmen könnten. 6. Die Wohnungskommissionen werden die aus
den Kreisen der Wohnungsinteressenten einlaufenden Vorschläge und Gesuche zu
prüfen, die Gründung gemeinnütziger Baugenossenschaften anzuregen, mit den Ge¬
meinden über die Erlangung wohlfeiler Bangelände, die Herstellung billiger Fahr¬
gelegenheiten, die Wohnungsinspektion u. dergl. zu verhandeln, die Gesuche um Bau-
Vorschüsse und Staatsgarnutien zu begutachten, die richtige Verwendung, Verzinsung
und Tilgung der Staatsdarlehn zu überwachen, die Verwaltung der Reservefonds
zu beaufsichtigen, Miettarife und Verläufe von Häusern zu genehmigen haben. 7. „Die
Beschaffung der Geldmittel, soweit sie die finanzielle Leistungsfähigkeit der privaten
und der kommunalen Reformbestrebungen übersteigt, wird nach den bisherigen Er¬
fahrungen ohne Gewährung staatlicher Bankapitalvorschüsse oder ohne staatliche
Garantie des Baukredits in ausreichendem Maße nicht gelingen." Daß daraus
den Steuerzahlern, deu Versicherungsanstalten und Sparkassen keine Belastung er¬
wachsen darf, daß vielmehr die Mietzinsen und Verkaufspreise der zu bauenden
Häuser die vorgeschossenen Kapitalien voll verzinsen oder erstatten sollen, ist schon
bemerkt worden. 8. „Die Gewährung vou Baukrediten ist in zweierlei Weise denkbar:
entweder leiht (garantiert) die Regierung . . . den vollen Herstellnngswert, aber
nnter besondern vom Staat zu bestimmenden Kautelen und Beaufsichtigungen, oder
er giebt (garantiert) mit Anwendung leichterer Kautelen Darlehn für Wohnungen,
die über den bei Privaten, Banken, Versicherungsanstalten, Sparkassen usw. zu er¬
langenden Hypothekarkredit hinaus von den gemeinnützigen Baubestrebungen ^Bau¬
genossenschaften?^ ans Kapitalrisiko dritter Personen hergestellt werden können, oder
behufs größerer Freiheit von strengern staatlichen Kautelen so hergestellt werden
wollen. . . . Vorläufig wäre die Beschränkung einzuhalten, daß die Vollkrcdite
nur an gemeinnützige Baugesellschaften und Baugenossenschaften gewährt werden."
9. „Was die Art der Finanzierung der staatlichen Bauvorschüsse und Baukredit¬
garantien betrifft, so würde zwar auch die Zuwendung von Beständen der Staats¬
kassen oder die Ausfolgung gewöhnlicher Stantsschuldtitel zur Anschaffung von Bau¬
kapital sich empfehlen, doch erscheint uus als noch wirksamer die Ausgabe tilgbarer
besondrer Baurententitel," die den Charakter von Staats-Baupfandbriefen haben
würden. In der Begründung von Ur. 8 bemerken die Verfasser: „Es handelt sich
nicht darum, mit der privaten Befriedigung des Hypothekarkreditbedürfnisses für
Herstellung und Erwerbung vou Wohnungen in Konkurrenz zu treten, sondern jenen
gemeinnützigen Wohnbestrebungen entgegenzukommen, die ein über die gewöhnliche
hypothekarische Beleihung hinaus erforderliches Baukapital selbst nicht zu beschaffe,:
vermögen. Daher liegt in unsern Vorschlägen weder die Tendenz einer Verstaat¬
lichung des Hypotheknrkredits ans Wohnhäuser überhaupt, noch eine künstliche Kon¬
kurrenz gegen die Hypothekenbanken, noch eine Konkurrenz gegen die Herstellung
von Wohngebäuden ans Privatkredit. Es gilt vielmehr ein Baukreditbedürfuis zu
decken, das bis jetzt überhaupt keine Befriedigung findet und ohne staatliche Ver¬
mittlung vollständige Befriedigung auch niemals finden kann." IN. Ein Überblick
über diese Vorschläge berechtigt zu dem Glauben, daß durch ihre Ausführung die
Wohnungsfrage auf die einfachste und wohlfeilste Weise gelöst werden würde. —
Auch wir sehen keinen andern Weg der Lösung und wünschen, daß er von der
Gesetzgebung des Reichs und der Einzelstaaten eingeschlagen werden möge.
Nach der Besoldung kann man die Dozenten an unsern
Universitäten in drei Klassen einteilen: in die Klasse der ordentlichen Professoren,
die einen festen Gehalt aus der Staatskasse beziehn, in die der außerordentlichen
Professoren, die nur zum Teil besoldet werden, und in die der Privatdozenten, die
überhaupt keinen Anspruch auf einen Gehalt aus der Staatskasse haben. Allen drei
Klassen gemeinsam ist die Einnahme der von den Hörern für die Privatvorlesnngen
zu zahlenden Honorare. Als Beispiel seien die Gehnltsverhältnisse angeführt, die
nach den Angaben des bekannten Hallischen Professors Conrad sin dem Sammel¬
werk: Die deutscheu Universitäten, herausgegeben von W. Lexis, Berlin, 1893) auf
den preußischen Universitäten in dem Etatsjahr 1891/92 bestände». Danach gab
es ans sämtlichen preußischen Universitäten 534 ordentliche Professoren, die zusammen
einen Gehalt vou 2955120 Mark aus der Staatskasse erhielten; auf den Einzelnen
entfielen im Durchschnitt 5534 Mark (Mindestgehalt 1500, Höchstgehalt 12600 Mark).
Daneben gab es 187 außerordentliche Professoren; von diesen hatten 92 keinen
Anspruch ans einen Gehalt aus der Staatskasse, die übrigen bezogen zusammen
457 740 Mark (Durchschuittsgehalt 2448, Mindestgehalt 600, Höchstgehalt 4800Mary.
Die höchsten Gehalte wurden an den größten Universitäten gezahlt: in Berlin be¬
trug das Durchschnittsgehalts eines ordentlichen Professors 7396 Mark (Mindest¬
gehalt 3000 Mark, Höchstgehalt 12000 Mark), in Greifswald dagegen nur
4670 Mark (Mindestgehalt 2800, Höchstgehalt 6000 Mark). Die Summe der
eingegangnen Honorare schätzt Conrad auf die Hälfte der gezählten Besoldungen,
also auf rund 1,7 Millionen Mark. Natürlich sind die Anteile der einzelnen
Dozenten an diesen Kollegiengeldern sehr ungleich.
Der Kenner des Beamtenbesoldungswesens im Reiche und in den Einzelstaaten
sieht auf den ersten Blick, daß diese den Dozenten gegenüber angewandte Be¬
soldungsart nicht in den Nahmen der modernen Besoldung hineinpaßt. Dort ist
der Gehalt für jede Beamtenstelle im voraus genau bestimmt; der Inhaber der
Stelle steigt mit den Jahren im Gehalt auf (durch Alterszulage), auch wenn er
nicht in einen höhern Rang befördert wird. Hier wird bei der Berufung eines
Dozenten auf einen akademischen Lehrstuhl der Gehalt in gegenseitigem Handeln
vereinbart, eine Alterszulage giebt es nicht, und ein sehr großer Teil des Ein¬
kommens ist von der Fähigkeit des Dozenten abhängig, Hörer um sich zu sammeln.
Schon vielfach sind Bestrebungen hervorgetreten, diese Besoldungsart zu beseitigen,
vor allem aber die Zahlung und die Verteilung der Kollegiengelder zu ändern.
In dem genannten Sammelwerk, das für die Universitntsausstellung in Chicago
(1893) bestimmt war, bezeichnet Pnnlsen diese Bestrebungen als unzweckmäßig; er
faßt in drei Punkten alle Gründe zusammen, die sich für die Beibehaltung dieser
Art der Honorarzahlung angeben lassen. Da wir die Absicht haben, seine Aus¬
führungen zu widerlegen, so wollen wir seine Gründe wörtlich anführen.
Zunächst sagt er: „Die Einrichtung kann auf den ersten Blick als eine illiberale
erscheinen; wäre es nicht besser, diesen letzten Rest mittelalterlichen Gebührenwesens,
das sonst überall abgeschafft ist, zu beseitigen? Gerade in dem Verhältnis des
wissenschaftliche!: Lehrers zu seinen Schülern scheint die Sache etwas Peinliches zu
haben. . . . Die Zahlung eines Fixums an die Universitätskasse, wofür dem Stu¬
denten alle Vorlesungen offen stünden oder die Unentgeltlichkeit des ganzen Unter¬
richts, nachdem in der Abiturientenprüfung gleichsam der geistige Eingangszoll er¬
hoben ist, wäre, so scheint es, eine würdigere und freiere Gestaltung. Dennoch
trifft man bei den Universitätslehrern meist Anhänglichkeit an die alte Einrichtung.
Nicht ohne Grund. Schwerlich wird der Grund in dem egoistischen Interesse zu
suchen sein: die jetzigen Inhaber der Stellen würden ja bei einer Neureglung
kaum zu kurz kommen, im Gegenteil, sie würden bei einer Berechnung des Durch¬
schnitts wohl eine Abrundung nach oben und jedenfalls eine Sicherung gegen
Schwankungen erreichen."
Dagegen, so fährt er fort, fallen ernsthafte Gründe ins Gewicht: „Erstens,
der Mensch schätzt und nutzt besser, was er für sein gutes Geld kauft, als was ihm
geschenkt wird; von dieser allgemeinen Regel wird auch der Student keine Aus¬
nahme machen. Und daran ändert auch eine allgemeine Schnlgeldzahlung im
Semester nichts: jetzt erwirbt er durch eine in seine Willkür gestellte Zählung einen
Anspruch auf diese bestimmte Leistung. Die Einführung einer allgemeinen Semester¬
zahlung würde zu vagen, unregelmäßigem Besuch aller möglichen Vorlesungen ver¬
führen, und dem würde dann die Verwaltung durch Einführung schulmüßiger Ord¬
nungen zu wehren suchen. Jetzt wühlt sich der Student im ganzen mit ernster
Überlegung die Vorlesungen aus, die er wirklich zu besuchen vorhat."
Was zunächst die Behauptung betrifft, der Mensch nutze besser, was er für
sein gutes Geld kaufe usw., so kann die auf ein hohes Alter zurücksehen: der in
preußischen Volksschulkreisen bekannte Bericht einer Bezirksregierung, der 1861
erstattet wurde, sich für die Beibehaltung des Schulgeldes an Volksschulen aus¬
sprach und deshalb nu Gründen zusammentrug, was überhaupt nur zusammen¬
getragen Werden konnte; dieser Bericht enthält schon dieselbe Behauptung. Aber
durch sein Alter hat dieser Grund nicht an Gewichtigkeit gewonnen. Übrigens
zahlt der Student in der Regel das Honorar nicht aus seiner eignen Tasche,
sondern aus der seines Vaters. Der Student hat häufig noch keine Ahnung davon,
wie schwer Geld zu verdienen ist. Er schätzt und nutzt darum nicht einen Deut
besser die Vorlesung, die er einzeln bezahlt, als die, die er sich durch die Entrichtung
eines Fixums an die Universitätskasse zugänglich macht. Folgerichtig müßte Paulsen
der Ansicht sein, daß öffentliche Vorlesungen, für die bekanntlich kein Honorar von
den Studenten entrichtet wird, wenig geschätzt und wenig besucht würden, denn sie
werden dem Studenten ja geschenkt; aber es sind häufig gerade die öffentlichen
Vorlesungen, in denen sich eine große, lerneifrige Hörerschar vereinigt.
Ferner muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß der gegenwärtige
Zahlungsmodus nicht vor „vagen, unregelmäßigem Besuch aller möglichen Vor¬
lesungen" schützt. Wir wollen uns hierüber weiterer Ausführungen enthalten, denn
wir glauben, es ist allen Beteiligten recht gut bekannt, daß mancher eingeschriebne
Hörer Vorlesungen regelmäßig hört, die er nicht belegt hat, und mancher andre
eine Vorlesung belegt, aber sehr unregelmäßig besucht, daß er vielleicht gnr nicht
im Auditorium erscheint. Nur die äußerste Grenze, bis zu der der „vage, un¬
regelmäßige Besuch" gelangt ist, wollen wir durch ein drastisches Beispiel be¬
zeichnen: An einer der Thüren zum größten Hörsaal der Leipziger Universität war
im Februar noch folgender Anschlag zu lesen: Da sich mehrere meiner Zuhörer
darüber beschwert haben, daß es ihnen nicht möglich sei, geeignete Plätze zu finden,
so bitte ich alle inskribierten(I) Hörer die von ihnen gewählten oder zu
Wählende» Plätze durch ihre Karten zu belegen. Zugleich bitte ich dringend,
diese Belegungen streng respektieren zu wollen.
Was hier gesperrt gedruckt ist, ist dort unterstriche». Dieser Anschlag sagt
doch genug; eiues Kommentars bedars er wohl nicht. (In dem vorliegenden Falle
handelt es sich um die Privatvorlesung über Völkerpsychologie.) Daß sich Hörer¬
scheinloses Publikum in die Auditorien drängt, ist eine Erscheinung, die alle be¬
rühmten Professoren aus eigner Erfahrung keimen. Wir habe» noch nicht gehört,
daß die Verwaltungen diese Erscheinung durch die Einführung schulmäßiger Ord¬
nungen zu bannen gesucht hätten, und wen» man den: Publikum gegenüber diese
allerdings recht weitgehende Rücksicht walten läßt, sollen dann die eingeschriebnen
Hörer einer strengern Behandlung unterworfen werden?
Wir sind überzeugt, eine Änderung in der Art der Honorarentrichtung würde
denn einen recht günstigen Einfluß auf den Vorlesungsbesuch durch die Studenten
ausüben, wenn man sich a» maßgebender Stelle entschließen könnte, den gegenwärtig
üblichen Zahlungsmodus durch Zahlung eines Fixums im Semester an die Uni¬
versitätskasse zu ersetzen. Das Fixum dürfte aber nicht zu hoch gegriffen sein; dann
wäre mancher weniger bemittelte Student i» der Lage, auch die Vorlesunge» zu
hören, deren Besuch er sich heute versagen muß, weil er einen gewissen Houorarbetrag
uicht überschreiten darf, und weil er es vor seinem Gewisse» »icht verantworte»
kann, eine Privatvorlesnng zu höre», die er »icht bezahlt hat, zu „Schlute»," wie
der tsrillinus teennious lautet.
„Zweitens, so fährt Pnulsen i» seiner Beweisführung fort, der Lehrer fühlt
sich durch ihre Leistungen diesen Hörern zur Gegenleistung verpflichtet; und zu¬
gleich ist von der Art seiner Gegenleistung für die Folge sein Einkommen in einigem
Maße abhängig: ein doppelter Sporn, sein bestes zu thun. Es scheint mir nicht
dem mindesten Zweifel zu unterliegen: würde die Honorarzahlung abgeschafft und
durch vermehrtes Gehalt ersetzt, so würde in demselben Augenblick eine starke
Tendenz sich geltend macheu, die Arbeitsleistung quantitativ und qualitativ zu ver¬
mindern, d. h. die Professur nach Möglichkeit in eine Sinekure zu verwandeln,
etwa mit Hilfe von Vikaren. . . . Von dieser Tendenz der menschlichen Natur, für
eine bestimmte Leistung mit dem zulässig geringsten Maß von Gegenleistung aus¬
zukommen, würde anch die deutsche Professorennatur keine Ausnahme machen. Die
notwendige Folge wäre dann: verstärkte Aufsicht und Kontrolle. Auch in dieser
Hinsicht ist also die Honorarzahlung ein Schutz der Freiheit."
Wir haben eine bessere Meinung von der große» Mehrzahl der deutsche»
Uuiversitätsdozeuteu: Gewiß wird jeder bestrebt sein, ein möglichst hohes Einkommen
zu erreichen — wer wäre das nicht! —, aber daß sie die Tendenz hätten, quan¬
titativ und qualitativ weniger zu leisten, wenn sie statt der Honorare einen festen
Gehalt bekämen, das müssen wir bezweifeln. Man müßte ja sonst von den deutschen
Reichs- und Staatsbeamten glauben, daß bei diesen die gerügte Tendenz hervortrete,
denn diese sind durchweg auf festen Gehalt gestellt.
Professor Paulsen fährt in seiner Beweisführung fort: „Sie ist es endlich
drittens noch insofern, als sie den Universitätslehrer in seinein Einkommen von der
Regierung in einem gewissen Grube unabhängig macht; er würde ganz Beamter,
wenn er ganz auf Gehalt gestellt wäre. Die Honorarzcchluug ist demnach eine für
die Erhaltung des alten freie» Charakters der deutschen Universität durchaus
wesentliche Einrichtung. Ihre Aufhebung würde die Tendenz haben, die Universität
in eine bureaukratisch verwaltete Fachschule mit festen Lehr- und Lernordnnngen
umzuwandeln. Das wäre aber das Ende der Universität in deutschem Sinne."
Der Glaube, ein Professor sei infolge des Honorars in seinein Einkommen von
der Negierung bis zu einem gewissen Grade unabhängig, ist wohl nicht richtig:
gerade infolge dieser Einrichtung ist er abhängiger von der Negierung. Es ist
doch ohne weiteres klar, daß die Regierung einem Professor das Honorar dadurch
leicht schmälern kann, daß sie ihm einen Konkurrenten zur Seite stellt! Der Pro¬
fessor wäre der Regierung gegenüber viel unabhängiger in seinem Einkommen, wenn
er auf einen in feiner Höhe und seinem Wachstum fest bestimmten (einklagbaren)
Gehalt Anspruch hätte. Wir können übrigens nicht verstehn, weshalb gerade dieser
Umstand zur Beweisführung herangezogen wird; hat in Preußen die Wissenschaft
und ihre Lehre, um frei und unabhängig zu sein, nicht einen viel wirksamern Schutz
in der bekannten Bestimmung der Verfassungsurkunde?
Also die Art der heutigen Hvnorarzahlnng könnte beseitigt werden, ohne die
Lehr- und Lernfreiheit nnr irgendwie zu beeinträchtigen; sie müßte abgeschafft werden
im Interesse einer gerechten und gleichen Behandlung aller Staatsbeamten. Damit
kommen wir zu dem wichtigsten Grunde, der für die Beseitigung der Honorarzcihluug
in der Weise, wie sie heute üblich ist, beigebracht werden kann. Professor Bücher in
Leipzig hat sich in seiner Vorlesung über Finanzwissenschnft (Wintersemester 1898/99)
entschieden gegen die gebräuchliche Honorarcntrichtuug ausgesprochen, mit der Be¬
gründung, daß sie ein Überrest mittelalterlichen Gebührenwesens sei und den An¬
forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit nicht entspreche; denn, so meinte er,
den letzten Puukt erläuternd, die Professoren kämen ebenso in Mode wie der
Schnitt von Kleidungsstücken; alles belege dann bei diesem Professor, während bei
einem andern doch ebensoviel zu lernen sei. Daß nicht etwa jemand glaube, diese
Behauptung entspränge einer mißgünstigen neidischen Stimmung Büchers gegenüber
seinen glücklichern Kollegen, so heben wir hervor, daß seine Vorlesungen zu deu
besuchtesten der Leipziger Universität gehören.
Wenn ein Professor „Mode wird," so könnte ein Freund der heutigen Art
der Houorarentrichtuug entgegnen, dann verdankt er das der Güte seines Vortrags,
der Vorzüglichkeit seiner Leistungen, und darum ist eine besonders hohe Gegen¬
leistung in Gestalt eines großen Honorars gerechtfertigt. Das könnte man gelten
lassen, wenn die Größe des Honorars allein von der Vorzüglichkeit der Leistungen
abhinge; aber es sind noch andre, zufällige Umstände, die die Größe des Honorars
in hohem Maße mitbestimmen. Zu diesen Umständen gehören die Größe der Uni¬
versität, der Gegenstand des Vortrags, der Zeitgeist u. a. Ein berühmter Professor,
der z. B. in Halle Staatswissenschaften lehrt, wird uicht dieselben Einnahmen an
Honorar haben können, wie ein ebenso berühmter, genau dasselbe leistender Pro¬
fessor an der Universität zu Berlin.
Ferner wird ein Professor, der über die Theorie der kontinuierlichen Trcms-
formationsgruppen liest, niemals denselben Zulauf haben, wie ein andrer Professor
an derselben Universität, der über Völkerpsychologie liest; der Mathematikprofessvr
wird selbst dann geringern Zulauf haben, wenn er in seinem Fache noch vorzüg¬
licheres zu leisten imstande wäre, als der Philosophieprofessor in dem seinen. Wenn
schließlich Schopenhauer etwa zwei Menschenalter später seine Vorlesungen in Berlin
hätte halten können, als es thatsächlich der Fall war, er würde dann wohl nicht
über das leere Auditorium in Unmut geraten sein und sich nicht nach Frankfurt
in den „Schmollwinkel" zurückgezogen haben; und wenn jetzt in unsrer sozial er¬
regten Zeit zu den Vorlesungen über Sozialismus und Verwandtes die Hörer aus
allen Fakultäten Herzuströmen, so werden vielleicht dieselben Vorlesungen schon in
wenigen Jahren vor leeren Bänken gehalten werden.
Außerdem ist daran zu erinnern — wir gehn damit auf den letzten Teil der
Bücherschen Behauptung ein —, daß doch mich die nicht von der Mode begün¬
stigten Dozenten in ihren Vorlesungen ihr bestes leisten; ihr Vortrag läßt an
Lebendigkeit und Gründlichkeit gewöhnlich nichts zu wünschen übrig, ja gerade bei
diesen haben wir häufig einen Schwung der Rede wahrgenommen, den wir bei den
berühmten vermißten.
Zuletzt wird man sich vergegenwärtigen müssen, daß die Dozenten der Uni¬
versitäten Staatsbeamte sind, und daß sie darum in der Besoldung nach denselben
Grundsätzen zu behandeln sind, nach denen die übrigen Staatsbeamten behandelt
werden. Mit diesen Grundsätzen ist es nicht vereinbar, daß ein Beamter kraft
seiner besondern Leistungsfähigkeit sein Amt gewerbcmäßig ausbeutet. Auch die
Leistungsfähigkeit der übrigen Staatsbeamten ist unter sonst gleichen Verhältnissen
verschieden, aber jeder leistet dem Staate, der Gesamtheit sein bestes und ohne An¬
spruch auf besondre Gegenleistung, wenn sich seine Leistung über das Mittelmaß er¬
hebt. Unsrer Meinung nach wäre es sehr zu wünschen, wenn man die heute übliche
Art der Honorarentrichtnng und Verteilung in der angedeuteten Weise abänderte
Neuerdings hat Professor Stieda in
Leipzig in Conrnds Jahrbüchern in der Form einer Besprechung neuerer Schriften
über Handelsschüler und Handelshochschnlen eine beachtenswerte Beurteilung der
Handelshochschulbewegung gegeben, und hat ferner Professor Vanderbvrght in
Aachen in seinem — von Stieda noch nicht berücksichtigten — Lehrbuch „Handel und
Handelspolitik" diese Frage von seinem Standpunkt aus näher beleuchtet.
Nach Stiedas Urteil sind die Erfahrungen, die man in Leipzig mit der seit
Ostern 1898 eröffneten Handelshochschule gemacht hat, sehr erfreulich, aber auch
insofern lehrreich, als die als Regel vorgesehene Voraussetzung des Abiturienten-
examens für die Zulassung zum „Studium" thatsächlich mehr zur Ausnahme ge¬
worden ist, da zwei Drittel der Hochschüler nicht Abiturienten waren. Stieda stellt
die Forderung ans, daß jeder Kaufmann, der seine Lehrzeit beendet und einen tadel¬
losen sittlichen Lebenswandel geführt hat, zum Besuch der Handelshochschule zu¬
zulassen sei. Er warnt davor, dem zukünftigen Praktiker Kenntnisse beibringen zu
wollen, für deren Verwertung er nicht geeignet sei, und die er sich nur aneignen
könne, indem er sich für eine gewisse Zeit den eigentlichen Aufgaben seines Berufs
entfremdet. — Man wird dem nur beipflichten können. Die bessere Ausbildung
für den praktischen Beruf als Kaufmann muß durchaus als der zu erstrebende Zweck
fest im Auge behalten werden, wenn sich die erfreulich in Aufnahme gekommne Be-
wegung nicht in mehr oder weniger unnütze und wirkungslose Experimente ver¬
laufen soll."
Vanderbvrght betont nachdrücklich die ..Wissenschaftlichkeit der Sache. Was
seien — fragt er — die Kameralwissenschaften, die landwirtschaftlichen und die
technischen Wissenschaften ursprünglich anders gewesen als ein bestimmter Wissens¬
kreis, der für einen besondern Ausbildungszweck ausgesucht worden sei? Und
doch stelle heute niemand, der sie wirklich kenne, ihren „wissenschaftlichen Charakter"
in Abrede. Dasselbe sei auch beim Handel möglich. Wolle man die Notwendigkeit
der Handelshochschnlen ablehnen, so stelle man den Kaufmanusstnnd tiefer als den
Stand der Ingenieure, Techniker, Architekten, Landwirte, Forstwirte, Bergleute usw.
Man würde damit erklären, daß sogar die „höchsten Kräfte des Handelsstandes"
mit einer Bildung auskommen könnten, die jenen andern Berufen für ihre führenden
Geister nicht mehr genüge. „studieren" sollten zwar nicht alle, die Kaufleute
hießen, aber „studieren müßten" heute die Kaufleute, die an der Spitze der Kauf¬
mannschaft marschierten und deshalb weithin gesehen würden, und die im öffent¬
lichen Leben als die berufnen Vertreter dieses Standes erschienen.
Das sind Raisonnements, denen wir trotz aller Hochachtung der „wissenschaft¬
lichen" Bildung im allgemeinen und bei den Kaufleuten im besondern keinen reellen
Wert zuzuerkennen vermögen. Jedenfalls kann es eine Handelswissenschaft geben,
und es giebt auch eine ohne besondre Handelshochschulen, und Kaufleute können
diese Wissenschaft „studieren" und auf ihre Höhe gelangen, ohne das gerade auf
Handelshochschulen thun zu müssen.
Wir würden es sehr im Interesse des gewollten guten Zwecks, um deu sich
auch Vanderborght entschieden Verdienste erworben hat, bedauern, wenn etwa
auch hier der leidige doktrinäre Streit um den „wissenschaftlichen Charakter" und
„Rang" dieser sogenannten „Hochschulen" im Verhältnis zu den Technischen Hoch¬
schulen und den Universitäten in den Vordergrund gedrängt würde. Gerade die
Intelligenz unter den Kaufleuten denkt viel zu nüchtern nud sieht viel zu klar, als
daß sie sich durch solche Imponderabilien gewinnen ließe. Es ist aber namentlich
anch für die Zukunft strikt von der Hand zu weisen, daß alle die Kaufleute, „die
an der Spitze der Kaufmannschaft marschieren und im öffentlichen Leben als die
berufnen Vertreter dieses Standes erscheinen," im schulmäßigen Sinne studiert haben
müßten, oder daß sich überhaupt in der Praxis der Unterschied zwischen „studierten"
und „unstudierten" Kaufleuten in diesem Sinne einbürgerte.
Die Förderung der haudelswissenschaftlichen und der handelspolitischen Bildung
in der deutschen Kaufmannschaft erscheint uns als eine so dringende Pflicht aller
berufnen Teile, daß wir jeden Streit um Doktor- und Formfrage, der vom kräftigen
Handeln abhält, tief beklagen und lieber die schönen aber leeren Namen „Hoch¬
schule" und „Akademie," ja auch das in diesem Falle Undefinierte und sehr strittige
Wort „Wissenschaft" ganz preisgeben, als die Sache darunter leiden sehen wollen.
Praktisch gilt für die nötige Förderung der haudelswissenschaftlichen und handels¬
politischen Bildung unter den Kaufleuten in ganz besonderm Grade der Spruch:
„Es führen viele Wege nach Rom!" Der eine wird diesen gehn, der andre jenen;
der eine wird ihn mit zwanzig Jahren antreten, der andre mit vierzig oder fünfzig
Jahren. Nur daß ihn recht viele und immer mehr Kaufleute antreten, und daß sie
zu einem gedeihlichen Ziele gelangen, dafür ist kräftige Fürsorge und ausgiebige
Gelegenheit zu schaffen. Besondre „Handelshochschulen" und besondre „Handels¬
hochschulkurse" werden die Gelegenheit in sehr wünschenswerter Weise vermehren;
als die einzige zweckmäßige Gelegenheit sind sie aber nicht zu betrachten, ein Monopol
auf die hier erwünschte „Wissenschaftlichkeit" ist ihnen nicht zuzusprechen.
Das muß schon deshalb scharf betont werden, weil man überhaupt an der
Neigung krankt, alle Hilfe von öffentlichen, womöglich „behördlichen" Institutionen
zu verlangen, und wenn gerade dieser Weg irgendwo nicht gangbar erscheint, über¬
haupt das Vorgehn aufzugeben. Es muß gerade deshalb den jungen und den alten
Kaufleuten die Erkenntnis beigebracht werden, daß die Erlangung eiuer höhern
handelswissenschaftlichen und handelspolitischen Bildung auch denen möglich ist, die
keine Handelshochschule besuchen können.
Auch kaufmännische Fortbildungsschulen und Fachschulen können den handels¬
wissenschaftlichen Geist pflegen und ihren begabten Zöglingen die Anregung geben,
sich durch zweckmäßiges „Selbststudium" auf die Höhe emporzuarbeiten. Auch Vereine
giebt es für junge und alte Kaufleute genug; aber die handelswissenschaftliche Er¬
kenntnis zu fördern, geschieht in ihnen verhältnismäßig recht wenig. Hier ist, wenn
man nur will, viel zu leisten. Auch gelesen wird von den Kaufleuten viel, aber
was wird gelesen? Entweder unmittelbar das eigne Geschäft interessierende Branchen-
u»d Jnsercitenblatter oder die politische Parteipresse, wozu auch die bekannten Or¬
gane der Standesiuteressenvertretungen zu rechnen sind. Das Lesen der wenigen
ans die Hebung der allgemein handelswissenschaftlichen und handelspolitischen Bildung
abzielenden ernsthaften Zeitschriften liegt im deutschen Kaufmannsstande geradezu
kläglich danieder und verdient zu allererst eine eifrige Pflege und Befürwortung
bei den führenden Kreisen.
Wir acceptieren also die Handelshochschnle als ein Mittel zu dem Zweck des
sogenannten „wissenschaftlichen" Studiums der Kaufleute, aber nicht als das einzige
und einzig mögliche. Freilich auch als ein ganz vorzügliches, vielleicht das beste
Mittel, vorausgesetzt, daß der Unterricht und die ganze Einrichtung zweckmäßig
eingerichtet ist.
Wie diese Einrichtung der Hochschulen sein soll, darüber herrscht noch arge
Unklarheit. Von der von verschiednen Seiten empfohlenen Angliederuug an die
Universitäten und technischen Hochschulen versprechen wir nus keinen besondern Vor¬
teil; vollends wenn man mit Sticdn jedem Kaufmnun den Eintritt freigeben will.
Der Wunsch nach dieser Angliedernng entspringt wohl meist der unklaren und un¬
haltbaren Vorstellung, man diene der Sache, wenn man der Schule den äußern
Rang der Universitäten verleiht. Oder sollen etwa die Universitätslehrer an den
Handelshochschulen das Monopol haben? Wir raten im Gegenteil dem Kaufmann¬
stande dringend, seinen „Hochschulen" die Freiheit zu wahren, recht viele tüchtige
Kaufleute, die sich dank ihrer zu Hause oder im Ausland, in Schulen oder dnrch
selbständiges Studium erworbnen handelswissenschaftlichen Bildung dazu eignen, zu
Lehrern zu machen. Die Pflege der Handelswissenschaft sollte noch weniger als
die der Nationalökonomie überhaupt zum Monopol der Universitäts- und technischen
Hochschulprofessoren gemacht werden. So dankenswert die Leistungen der deutschen
Universitäten auch auf volkswirtschaftlichen Gebiet gewesen sind, es wird doch hohe
Zeit, daß auf ihm bei uns Männer, die in der Praxis groß geworden sind, auch
die wissenschaftliche Arbeit mehr in die Hand nehmen. Daß das anch Kaufleute
thun können, beweist das Ausland durch eine Reihe glänzender Beispiele.
Je mehr und je verschiednere Handelshochschulen bald errichtet werden, um so
eher wird man lernen, wie sie zweckmäßig einzurichten sind. Vorläufig weiß man
es noch nicht, und a priori wird man auch uicht darauf kommen. Es gilt auch
hier trotz des „wissenschaftlichen Charakters" der Satz: Probieren geht über Stu¬
di
Dem jetzt verschollnen, jüngst uoch so gefürchteten Häuptling
der Filippinos wollen wir hier ein Gedenkblatt widmen, oder eigentlich nur seinem
Namen. Der sieht auf den ersten Blick ganz spanisch aus, giebt sich aber bei
näherer Besichtigung als urgermanisches, ja rein deutsches Gewächs zu erkennen.
Denn scheidet man aus dem Worte die romanischen Zuthaten, das o der Endung
und das der Aussprache halber eingeschobne u aus, so bleibt Aginald übrig, ein
Lautgebilde, dem man sofort die germanische Art ansieht. Und in dieser Gestalt
erscheint das Wort schon in fränkischen und alemannischen Urkunden aus der Zeit
Karls des Großen, daneben auch Agenold und die schon den Amiant zeigenden
Formen Eginold, Egenold und Einold, ferner die latinisierten Formen Aginnldus
und Agenoldus. Dieser Name wird also durch westfränkische Vermittlung, und
zwar und der lateinischen Endung, deren Nest eben das spanische o ist, über die
Pyrenäen gelangt sein. Denn daß er, was an sich möglich wäre, als westgotisches
Erbteil zurückgeblieben sei, ist nicht wahrscheinlich. Es giebt übrigens noch andre
Ruinen, die durch Zusammensetzung mit der Lautgruppe nigin entstanden sind, der
bekannteste ist Aginhard, mit Amiant Eginhard und nach dem Ausfall des g (wie
Eiuold für Eginold) Einhard — so hieß bekanntlich der Schwiegersohn und Bio¬
graph Karls des Großen —, ferner Agiuo(u)is oder Egiuvlf und Egeuols, Agimbert
für Aginbert, Agcmfred, Agambvd (Agau ist die Vorstufe von agir), Agiutrud (ein
weiblicher Name) und andre. Dazu kommt noch die Koseform Agino, spater Eginv,
die sich zu Aginnld und den ähnlich gebildeten verhält wie Kuno zu Ku(o)nrat oder
Benno zu Bernhard. Von diesen Namen siud die meisten jetzt verschollen, auch
Einhard, das sich zu Einard und Eiucrt hatte fortentwickeln können, dürfte kaum
noch erhalten sein, und ein Egenold oder Einhold (für Aginald) wird ebenfalls
kaum nachzuweisen sein. Aber Aginolf lebt noch in dem Familiennamen Egenolf
fort, und Egiuo, mit der Zeit zu Egon umgestaltet, kommt uoch als Vorname vor
und ist in der fürstlich Fürstenbergischen Familie erblich.
Fragt man nach der Bedeutung dieser Bildungen, so hängt sie natürlich zu¬
nächst von dem Ursinne der Lautgruppe agir, eigentlich ag-an ab. Dieser dürfte
„Spitze" oder „Schärfe" sein — man denke an die verwandte lateinische Wurzel s.o,
die in acus und anno vorliegt —, und da sich ans der sinnlichen Bedeutung der
Wurzeln vielfach eine unsinnliche entwickelt, in zweiter Reihe „Schrecken." Wenigstens
ist in der verwandten Bildung ag-es, weiterhin agis und egis dieser Bedeutungs¬
wandel nachweisbar. Demnach wäre Agimbert etwa durch „Schreckglanz" (dert, aus
derbe entstanden und noch in vielen Namen, wie Bertha, Adalbert oder Albrecht usw.
erhalten, bedeutet bekanntlich Licht oder Glanz), Agimbod durch „Schreckensbote,"
Aginhard dnrch „Schreckhnrt" (das ist, da hart eigentlich stark oder kühn bedeutet,
der „furchtbare"), Aginolf, da vis aus Wulf oder Wolf entstanden ist, dnrch
„Schreckenswolf" wiederzugeben. Und was Agiuald betrifft, so hellt sich dessen
Bedeutung leicht auf, wenn wir auf die Grundform Agin-wald zurückgehn. Denn
auch hier ist das anlautende w geschwunden, wie in Berthold (für Berht-wald)
oder Reinald (für Neinwald) und ähnlichen. Aginald wäre also Schreckwalt, der
des Schreckens waltende, das ist wiederum der furchtbare. Also jedenfalls echt
deutsch. Und so hat denn der spanische Aguinaldo dasselbe Schicksal wie seiue ehe¬
maligen Gegner. Sein Name ist germanischen Ursprungs, wie das von dem Worte
A
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