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]]> Das Gebäude, in welchem die erste Kammer ihre Sitzungen hält, ist das
Miniaturl'lib der zweiten. Der eigentliche Raum ist halb so groß, dem Zahlen-
verhältniß der beiden Kammern entsprechend, und so siud auch die Tribunen.
Dennoch stehen aus leicht begreiflichen Gründen die Einlaßkarten für die erste
Kammer bedeutend niedriger im Cours, bei welcher Gelegenheit ich indeß die
frivole Bemerkung nicht unterdrücken kann, daß hier die Tribunen reicher sind an
schönen Frauen. Was Gott mit der einen Hand nimmt, gibt er mit der andern
wieder. Die Kleinheit des Locals macht eine sehr elegante Einrichtung möglich:
das Licht sällt nämlich ganz von Oben durch eine Glasdecke hinein.
Die meisten Reden beginnen mit der Versicherung, man finde sich hier eben
so gut in einer Volkskammer, als an einem andern Orte. Hui s'exeus«?, 8'ilccnso.
Es glaubt keiner recht daran, und die Minister selbst, obgleich sie ziemlich alle
Mitglieder der Kammer sind, und obgleich es in ihrem Interesse liegt, auf dies
Institut das möglichste Gewicht zu legen, zeigen bei jeder Gelegenheit unwillkürlich,
daß ihnen die diesseitigen Verhandlungen weniger bedeutend sind.
Die erste Kammer ist keine Volkskammer, darüber ist gar kein Streit möglich.
Ich würde darauf nicht so viel geben, daß dnrch den Census die Zahl der Ur¬
Wähler ziemlich beschränkt ist; aber auch die Selbstständigkeit dieser Urwähler ist
eine prekäre, das hat sich bei den Nachwahlen gezeigt, wo man nach Belieben
diesen oder jenen Minister und hohen Staatsbeamten, der anderwärts kein Unter¬
kommen gefunden hatte, einschob. Die Kaminer kann ihrem Zweck, die conserva-
tive Sache zu stützen, nicht entsprechen, denn sie wird weder von der Meinung
getragen, noch hat sie Kraft und Bedeutung in sich selbst, trotz der vielen Nota¬
bilitäten, die in ihr sitzen: ihr Urtheil im Einzelnen wird man respectiren, aber
als Ganzes haben sie kein Schick. Es ist hier der Ort, einmal wieder einen
Blick auf das Zweikammersystem zu werfen. Wir haben es schon einige Male
gethan, da mau aber noch in keinem der deutschen Staaten auf das allem ver-
nünftige System gekommen ist, und da übrigens unsere ganze constitutionelle Ent¬
wickelung noch im Werden ist, so ist ein verständiges Wort darüber nicht verloren,
auch wenn es eine Wiederholung enthält.
Ich erlaube mir, eine Bemerkung vorauszuschicken. In England, wenn die
beiden Häuser in einer Lebensfrage verschiedner Ansicht sind, und man sich durch
Auflösung und Neuwahl der zweiten überzeugt hat, daß sie wirklich die Stimme
des Volks vertritt, so gibt das Oberhaus entweder freiwillig nach, oder mau
zwingt es dazu, indem die Negierung droht, erforderlichen Falls so viel neue
Pairs zu creiren, daß die Ansicht des Unterhauses durchgeht. Bei uns dagegen
geht man von der Fiction zweier Volkskammern aus, auf deren Zusammensetzung
der Negierung kein Einfluß zustehu soll. Gesetzt nun, in einer Lebensfrage —
also z. B. in Beziehung auf das Steuersystem — differiren beide Häuser; man
löst sie einmal auf, zweimal, dreimal; die Differenz bleibt — ein Fall, dessen
Möglichkeit doch Jeder zugeben wird, namentlich so lauge die erste Kammer zum
großen Theil aus dem höhern Grundbesitz, der Bureaukratie und dem reichen
Vürgerstand zusammengesetzt ist — so frage ich, was soll nun geschehn? Gesetzt,
die Krone überträgt der bisherigen Opposition die Verwaltung, Hansemann, Nod-
bcrtus oder Waldeck — sie kann ja nichts durchsetzen, so lauge das Oberhaus
in seinem Widerstand beharrt. Es ist freilich möglich, daß änßere Gründe es zum
Nachgeben treiben, aber von einer im Gesetz vorgesehenen Ausgleichung ist keine
Rede. Und wenn wir nun den neuen Staat gründen, dessen einheitliche Entwicke¬
lung voraussichtlich auf Illusionen beruht?
Das Zweikammersystem hat seinen natürlichen Ursprung entweder in dem
Bestehen einer mächtigen und selbstständigen Aristokratie, oder in der föderativem
Einrichtung des Staats. Das erste ist der Fall in England, das zweite in Ame¬
rika. In der Herrencurie des vereinigten Landtags hat die Krone das erstere
System zu verfolgen gesucht; sie uneben die mediatistrten Fürsten und die Standes¬
herren in dieselbe auf, vielleicht mit der leisen Hoffnung, für künftige Mediatist-
rnngen einen angemessenen Ersatz in der edlen Körperschaft der preußischen Ari¬
stokratie zu bieten. Der Versuch scheiterte aus zwei Gründen. Einmal ist der
Geist des preußischen Volkes, so wie seine geschichtliche Entwickelung entschieden
demokratisch; er erträgt wohl sociale Vorzüge, aber keine Exclusivität. Sodann
hatte unser hohe Adel keine politische Berechtigung. Er hatte bis dahin, dem
preußischen Staatsleben fern gestanden; er war kosmopolitisch, deutsch oder was
man will, aber, er gehörte nicht organisch zum wirklichen Staat. Der englische
Lord ist mit tausend Fasern in die Realität des Staatslebens verwachse»; seine
Reisen ins Ausland sind nur Episoden. Mit seiner Betheiligung am Staats¬
leben erlangt er auch die höhere politische Bildung, von der bei unserer Aristokratie
keine Rede war. Einen wie kläglichen Eindruck machten damals die Verhandlungen
des improvisirten Oberhauses, wenn man sie mit denen der Dreiständccurie ver-
gleicht — die drei oder vier Männer ausgenommen, die staatsmännische Bildung
hatten, nicht weil, sondern obgleich.
Dem Entwurf der Constituante unter dem Ministerium Auerswald schwebte
das Föderativsystem vor. Die erste Kammer sollte aus den Vertretern der Pro¬
vinzen und Bezirke bestelln. Es war das eigentlich ein bloßes Anshilfmittel,
weil man keine andere Modalität des Zweikammersystems fand, und das Zwei¬
kammersystem einmal wollte, um der möglichen Leidenschaftlichkeit einer einzigen
souveränen Kammer Schranken zu setzen. Daß aber alle wesentlichen Bedingungen
einer föderativem Verfassung, namentlich die politische Selbstständigkeit der ein¬
zelnen Bezirke, fehlten, darf ich wohl kaum in Erinnerung bringen.
Die Nothwendigkeit, übereilten Entschließungen einen Damm zu setzen, und
der Krone diese sehr mißliche Verpflichtung so viel als irgend möglich zu ersparen,
unterliegt keinem Zweifel. Aber wenn in der ersten Kammer das Gefühl eine
eben so große Rolle spielt, als in der zweiten, wenn man sich hier in eben der
Sphäre unmittelbarer Stimmungen, Wünsche und Vorstellungen bewegt, so haben
wir nichts weiter, als ein Spiel entgegengesetzter Kräfte der nämlichen Gattung,
und von einer Bürgschaft, daß in zweiter Instanz das Urtheil politisch correcter
ausfallen werde, ist keine Rede. Weder das höhere Alter, noch der größere
Reichthum geben eine solche Garantie. Man vergleiche unbefangen die Sitzungen
beider Kammern, und frage sich, in welcher über die verwickelten Fragen des
Rechts- und Staatsleben vorurtheilsfreier und gründlicher verhandelt wird. In
der einen läßt mau seinen Sympathien freien Zug wie in der andern, nur nach
verschiedenen Seiten hin; es fehlt überall die technische Sicherheit, wenn ich diesen
Ausdruck gebrauchen darf. Diese Sicherheit gibt nur die Erfahrung aus bestimm¬
te» Lebenskreisen; ein noch so cingcschnltcr Bureaukrat, wenn er sich als Mensch,
als Volksvertreter oder dergleichen gerirt, wird eben solche Sprünge machen, als
der Student, der noch frisch und übermüthig ius Leben greift.
Wenn die erste Kaminer ihren Beruf erfüllen soll, so muß sie ein bestimmt
vorgezeichuetes Geschäft haben. Sie muß eine technische Commission zur Revision
der von der zweiten Kammer ausgehenden Gesetzentwürfe sein; ein Staatsrath,
um die historische Form beizubehalten. In dem Stadium der Geheimeräthe durfte
die Krone diese Commission nach eignem Ermessen zusammensetzen, in unserm neuen
öffentlichen Leben dagegen muß sie eine solidere Grundlage haben. Sie muß in
sich verewigen, was bestimmte politische Bildung in selbstständig abgeschloßnen
Kreisen erworben hat. Der ritterschaftliche und bäuerliche Grundbesitz hat sich in
seinen Creditinstitnten, der Kaufmannsstand in den Handelskammern zusammenge¬
schlossen; das bürgerliche Interesse ist in den Städteordnungen vertreten, die Ge¬
werbe werdeu folgen. Nehmen wir dazu die Domänen-Verwaltung, die Gerichte,
denen man ein sehr eigenthümliches Leben nicht absprechen wird, und den Stab
der Armee, so haben wir ziemlich alle Sphären des unmittelbaren politischen Ver¬
standes zusammen. , ,
Ein solcher Staatsrath ist keine Volksvertretung und soll sie auch nicht vorstellen;
darum kann er mit der Volksvertretung auch nicht gleiche Rechte haben. Wenn wir aber
sür jedes Gesetz, das in der zweiten Kammer berathen wird, nach der Analogie
Englands eine dreimalige Lesung bestimmen, und dem Staatsrath die Ausgabe
stellen, zweimal diese Entwürfe zu revidiren, nach Maßgabe der ihm geschäftlich
näher bekannten materiellen Vorlagen; wenn wir ferner die Verwaltungsmaßregeln,
die der ständischen Controle unterliegen, in beiden Häusern zur Berathung brin¬
gen, so ist eine ebenso segensreiche als neidlose Stellung des Staatsraths die un¬
mittelbare Folge; seine Gründe werden in den meisten Fällen entscheidend wirken,
und von einem Competenzconflict ist keine Rede.
Wie die Sachen jetzt stehn, läßt sich freilich voraussetzen, daß ein solcher Vor¬
schlag von beiden Parteien verworfen werden würde. Wir kehren zu der Realität
zurück.
Die Kammer besteht aus drei Hauptbestandtheilen; dem großen Grundbesitz,
dem Beamtenthum und der Bourgeoisie. Die specifisch sogenannte Intelligenz ist
wenig vertreten, eine Professorenversammlung, wie man die Paulskirche bezeichnet
hat, wird man diese Kammer nicht nennen können. Es sind fünf ganze oder halbe
Geistliche vorhanden, darunter der Couststorialrath Nitsch, dem eine eigne Cha¬
rakteristik bestimmt ist, und vier Professoren (Dahlmann zähle ich nicht mit,
weil sein Erscheinen überhaupt fraglich ist): Walter, Baumstark, Rosen¬
kranz und Stahl. Von den beiden ersten, welche der alten Constituante ange¬
hörten, haben Sie schon Portraits; Rosenkranz und Stahl, wohl die bedeutendsten
Redner der Versammlung, sind in ihrem parlamentarischen Leben noch jung. Ich
werde sie am besten schildern, wenn ich eine der Sitzungen herausgreife, in denen
der für diese Kammer wichtigste Gegenstand verhandelt wurde, die deutsche Frage.
In ihr sollte sich das nlle Preußen, als dessen Vertreter man sie anzusehn doch
einmal geneigt ist, über eine neue Phase der Geschichte aussprechen.
Das einzige wesentliche Amendement, welches zu dem Commissionsentwurf
gestellt war, rührte vom Major Vincke her, dem Bruder oder Vetter des be¬
rühmten Freiherrn. Es unterschied sich dadurch, daß es einerseits die Idee von
Deutschlands Einheit mit größerer Wärme auffaßte, und außerdem bestimmter
auf die nicht in der Thronrede, wohl aber in den preußischen Noten ausgespro¬
chene Ansicht von dem engern Bundesstaat unter Preußens Hegemonie einging.
Einen Tag vorher hatte der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Gras Arnim,
der Kammer die telegraphische Depesche über den Welcker'schen Antrag mitgetheilt,
und man war im ersten Eifer der Ansicht gewesen, die Berathung über diesen
Paragraphen der Adresse müsse ausgesetzt bleiben, bis man nähere Nachricht aus
Frankfurt erhalten. Man ging nunmehr davon ab, der Präsident der Kammer,
Hr. v. Auerswald, erklärte, die Würde der Kammer erfordere es, den Schein
einer Abhängigkeit von einer fremdartigen Einwirkung zu vermeiden, und die De¬
batte wurde fortgesetzt.
Es fällt mir ein, daß es Ihnen bei diesen Berichten vorzüglich auf Schilde¬
rung der Persönlichkeiten ankommt. Rudolf v. Auerswald ist der zweite der
drei Brüder, welche in der neuesten constitutionellen Entwickelung Preußens eine
so bedeutende Rolle gespielt habe». Der Vater war Oberprästdcnt von Preußen
vor schön, die Sohne gehörten zum liberalen Adel der Provinz, und dominirten
in den Provinciallandtagen und den übrigen ständischen Einrichtungen. Der älteste,
Hans, war General, und fiel als Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung
mit Lichnowski gemeinsam unter den Streichen der republikanischen Meuchelmörder.
Rudolf ging- in die Verwaltung; er wurde als noch ziemlich junger Mann zum
Oberbürgermeister von Königsberg erwählt, dann Regierungspräsident in Trier;
unter Camphausen erhielt er das Oberpräsidium vou Preußen, und wurde nach
dem Fall dieses Ministeriums mit der Bildung eines neuen beauftragt, welches er
mit dem Wunsche einleitete, man möge ans seinem Grabstein lesen: Er lebte im Jahr
1848 und war ein Sohn seiner Zeit. Der jüngste Bruder, Alfred, Gencralland-
schastsrath in Planthen, commandirte die preußischen Deputirten auf dem Cen-
trallandtag mit ziemlich absoluter Machtvollkommenheit, und spielte im Uebrigen
stets die Rolle eines Vermittlers, auch wo es sich um Gegensätze handelte, die
einander ausschlossen. Er ist gegenwärtig Viccpräsidcnt der zweiten Kammer.
Rudolf von Auerswald ist ein schlanker, stattlicher Mann, mit feinem aristo¬
kratischem Gesicht, der im Ruf steht, unter all den liberalen Edelleuten der alten
dynastischen Opposition am meisten courfähig zu sein. Er sieht wie ein Gentleman
ans, und behauptet sich in seinem Präsidentenstnhl, im blauen Frack mit gelbe»
Knöpfen,? mit vielem Anstand. Die erste Kammer gibt dein Präsidenten freilich
keine besondere Gelegenheit, einen übermäßigen Aufwand von Kraftfülle zu ent¬
wickeln, doch bin ich geneigt, ihn seiner Haltung wegen dem Präsidenten der zwei¬
ten Kammer, Herrn Oberbürgermeister G rab o w ans Prenzlow sehr wesentlich
vorzuziehn. Woher dieser Mann in der vorigen Constituante seinen Ruf als Prä¬
sident erlangt hat, kann ich in der That nicht begreifen. Für die zweite Kammer,
deren leidenschaftliche Erregtheit mit der in der Paulskirche wetteifert, müßte ein
Mann an der Spitze stehn, dessen Gestalt, Stimme, Auge, dessen Ernst und
Würde imposant genug wären, in jedem Augenblick der anschwellenden Brandung
Halt zu gebieten: ein Gagern, der nöthigenfalls wie ein Jupiter die Augenbrauen
Zusammenzieht, oder wenn man prosaischer sein will, der wie ein gefürchteter Schul-
Monarch zuweilen die Ruthe in die Hand zu nehmen versteht. Grabow ist stets
der freundliche, wohlwollende, bescheidne, etwas unbedeutende Mann, der wenn
^' Jemand wegen unparlamentarischen Betragens zur Ordnung verweist, in seinen
Mienen hinzuzusetzen scheint: aber bitte, nehmen Sie es mir ja nicht übel! Was
soll dieses sanfte Regiment in einer so störrigen, trotzköpfigen Versammlung! In
der letzten Sitzung wurde er, sehr wider seinen Willen, zu unausgesetzten Ord¬
nungsrufen veranlaßt; es ging wie ein Kreuzfeuer, nach rechts und links, aber
eS zündete nicht. Zuerst meinte Herr v. Kirchmann, die Tugenden der Mini¬
ster wären nichts als glänzende Laster. Der Ministerpräsident, der in diesen
Dingen wie seine übrigen College», eine sehr übelangebrachte Empfindlichkeit zeigt
— was müssen die englischen Minister alles mit anhören! — verlangte den Schutz
des Präsidenten gegen persönliche Angriffe. Grabow ließ sich zum schüchternen Ord¬
nungsruf bestimmen. Darauf erfolgte ein fürchterliches Geschrei von Seiten der
Linken, worauf Bismark-Schönhausen — dem ich beiläufig die Gerechtigkeit wie-
derfahren lassen muß, daß er in der letzten Zeit mit nicht immer parlamentarischen,
aber köstlichen Impromptus um sich geworfen hat — von „Grobheiten" sprach,
die sich die Minister nicht gefallen lassen dürften; wieder Ordnungsruf gegen Bis¬
mark-Schönhausen, und so geht es eine Weile fort, bis endlich Vincke gegen
Jung, seinen frühere» Herausforderer und jetzigen Kollegen, der ihn eben ange¬
griffen hatte, sich die Bemerkung erlaubt, er solle vor den Cavallerieofficieren,
über die er sich mit großer Rührung beschwert hatte, keine Besorgnis? hegen, sie
würden die Freiheit in seiner Person ehren; zur Ordnung! brüllt die Linke; der
Präsident meint, er müsse doch abwarten, wie der Redner fortfahren würde, ehe
er sich erlauben könnte, seine Meinung darüber abzugeben; ach nein! erwidert
Vincke, geben Sie dieselbe nnr gleich ab! Und nun spricht Grabow seine Mi߬
billigung aus, worauf der Redner ruhig fortfährt. — Kann eine solche Art des
Regiments einen moralische» Eindruck machen?
Doch zurück zur Sache, zur deutschen Frage in der ersten Kammer.
Der erste Redner war Conrad Graf Dyhrn, in der alten Herreucurie
ein Held der liberalen Opposition, die, wenn ich nicht irre, ans sechs Personen be¬
stand. Der edle Graf ist der fetteste Mann in der Versammlung, aber noch be¬
hende und von patriotischer Wärme beseelt. Er sprach langsam, stockend, aber
nachdrücklich. Daß von den Freiheitskriegen, der Ehre Preußens, der wissen¬
schaftlichen Cultur des deutsche» Volks, dessen Biederkeit, den Vorzüge» einer
einheitlichen Regierung ». s. w. die Rede sein würde, sah ich voraus; als der
Redner aber auch auf das Herz Europas zu sprechen kam, von dessen Gesundheit
und Stärke die des übrigen Welttheils abhängig sei, geriet!) ich doch etwas außer
Fassung. Diese Rede, in der jede Sylbe vaterländische Begeisterung athmete, in
der ich aber sonst keinen Inhalt fand, als daß Preußen keine Schuld daran habe,
daß nicht das gesammte Deutschland zu freiem Reich vereinigt wurde, sondern
Jemand anders, dem Gott vergeben möge, wurde vou beide» Seite» des Hauses
durch fortdauernde Acclamatione» begrüßt. Nur auf der diplomatischen Tribüne
bemerkte ich Anwandlungen von Verdruß und ironischem Lächeln. Als der Red¬
ner geschlossen, stürmten seine Freunde auf ihn zu, ihm anerkennend die Hand
zu schütteln. — Wie ich später gehört hube,, soll die Rede weniger auf die Kam¬
mern, als auf den König berechnet gewesen sein, der in seinem Gewissen noch im¬
mer schwankt, ob er auch ohne Oestreich den Pfad der Einigung Deutschlands
betreten darf. Wie dem auch sei, von einem Mitglied der ersten Kammer wären
mir doch Gründe angenehmer gewesen, als Appellationen, als diese beständigen,
unbestimmten Appellationen an das Gefühl.
Der zweite Redner war der Oberregiernngsrath Trieft, ein kleiner, behen¬
der Mann, der mit großer Lebhaftigkeit und der Regelmäßigkeit eines Perpendikels
deu Kopf vou links nach rechts, von rechts nach links warf. Er sprach schnell,
mit angestrengter aber dürrer Stimme, von der Wichtigkeit der Sache, seiner
Freude, über eine so wichtige Sache zu reden u. s. w., eine Bank nach der an¬
dern wurde leer; ich konnte den Worten nicht folgen, ich beobachtete nnr mit
Staunen das Spiel seiner Gesichtsfalten, die in tausend mäandrischen Krümmun-
gen durch einander vibrirten und die immer wachsende Schnelligkeit seiner perpen-
dikularischen Schwingungen. Als er etwa eine Stunde gesprochen, hielt er einen
Augenblick inne und sagte dann: „nach dieser allgemeinen Einleitung" — Ein
tiefer Stoßseufzer entfuhr der Brust der wenigen Deputirten, die noch zugegen
waren, aber der Schluß ließ uicht lange auf sich warten.
Ihm folgte Karl Rosenkranz, Hegelianer, Professor der Philosophie in
Königsberg, zu Auerswald's Zeit vortragender Rath im Cultusministerium. Ein
hagerer Mann mit der angemessenen Professorenhaltung und geistvollein Gesicht;
in den acht Jahren, daß ich ihn nicht gesehen habe, ist er doch bedeutend geal¬
tert; er kaun höchstens 41—42 Jahre alt sein, aber er sieht älter aus. Er be¬
wegt sich aus der Rednerbühne mit derselben Ungenirtheit wie auf dem Katheder,
und spricht leicht, fließend und anziehend. Mau hört ihm an, daß er frei spricht,
die meisten übrigen Redner machen den Eindruck des Prävarirteu. Ueber den §. 1.
der Adresse — die Anerkennung der octroyirten Verfassung — hatte er einen
trefflichen Vortrag gehalten; was er hier sprach, genügte mir nicht. Während
die beiden vorigen Redner über der Masse von Gefühlen, Betrachtungen und
historischen Reminiscenzen, die sie überströmten, die Sache, um die es sich eigent¬
lich handelte, aus den Augen verloren, hielt sich Rosenkranz mit allzu formeller
Energie lediglich an die Sache, d. h. die Fassung der Adresse, und machte den
Eindruck, als handle es hier sich blos um einen stylistischen Controvers. Er
kam mir vor, wie ein Professor, der den in's Gefühlsgenre verirrten Bureaukra¬
ten zeigen will, wie man staatsmännisch spricht. Daß er Oestreich gegen die An¬
griffe des ersten Redners vom Gesichtspunkt historischer Nothwendigkeit aus
w Schutz nahm, war recht und billig; nur ging die Rechtfertigung nicht tief ge-
u«g auf die Sache ein, und die Versicherung, daß die Podolischen Ochsen, die
Lombardische Seide, die Cremnitzer Dukaten und die ungarischen Zigeuner ein
organisches Ganze bildeten, hatte doch einen mehr belletristischen als politischen
Anstrich. Zuletzt sprach er aus, daß Preußen den Beruf habe, die socialen Fra¬
gen mit den politischen gemeinsam zu behandeln und dadurch den übrigen Staaten
voranzugehen.
Auf Rosenkranz folgte Vir cke zur Vertheidigung seines Amendements. Ein
feiner, schlanker Mann, von mehr diplomatischem als militärischem Anstrich. Seine
Rede verrieth Bildung und Geist; er ging näher darauf ein, was wir schon
so viel gepredigt haben, daß in der ganzen deutschen Geschichte eine Trennung
des alten heiligen Römischen Reichs, und das Aufblühen eines neuen lebensvollen
Staatswesens im Norden bedingt sei; daß also die historische Nothwendigkeit
Preußen die Rolle zuweise, von welcher es sich dnrch romantische Pietät nicht
zurückschrecken lassen dürfe. Dieses und andere interessante Gesichtspunkte gingen
aber verloren dnrch den Mangel an eigenthümlichem Rednertalent; die ganze
Weise des Vertrags war zu weich, zu fließend, zu wenig prägnant. Der Redner
muß entweder durch logische Energie zwingen oder durch geistige Sprühfunkeu
unterhalten, sonst wird man zerstreut.
Geheimrath Dr. Brügge manu, ein Mann von festem Knochenbau, sehr
großem Mund und biederer, tonreicher und ungelenker Stimme, hielt sich als
Katholik für berufen, gegen die Einmischung confessioneller Rücksichten in eine
lediglich nationale Frage, wie es in Frankfurt geschehn, zu Protestiren. Er wie¬
derholte diesen Protest mehrmals, in verschiedenen Wendungen und erregte dadurch
großen Beifall.
,, ES folgt v. Forken b cet, Präsident des Glogauer Oberlandesgerichts, in
der ersten Kammer Chef der äußersten Linken. Eine untersetzte Figur, in deren
starkem Gesicht die Neigung, bei jeder Gelegenheit auf eine gelinde Weise zu rä-
sonniren, deutlich ausgesprochen ist. Er hatte zuerst ein eigenes Amendement ge¬
stellt, nahm dasselbe zu Gunsten des Vink'schen zurück, stellte darauf wieder ein
neues, und nahm es wieder zurück. Mit großer Lebhaftigkeit nahm er in einer so
wichtigen Frage, der kalten Deduction des Professor Rosenkranz gegenüber, für
die Adresse das Recht in Anspruch, gefühl- und gesinnungsvoll zu sein. Er er¬
klärte übrigens, daß in dieser allgemeinen Frage alle Parteien Hand in Hand
gehen müßten. Was es übrigens mit der äußersten Linken in dieser Kammer für
eine Bewandniß hat, davon später.
Der Glanzpunkt der Sitzung war die Rede des Professor und Geheimrath
Stahl, des Sprechers der äußersten Rechten. Ein kleiner, schwächlicher Mann,
mit gelbem, aber distinguirten Gesicht, schwarzem Haar und dunkeln brennenden
Augen; etwas jüdischem Anstrich. Seine Rede ist nicht eigentlich musterhaft; er
muß die Deutlichkeit durch Anstrengung erreichen, weil ihm die Zähne fehlen, und
es fehlt ihm der natürliche logische Fluß, weil jeder Satz mit einer gewissen
zornigen Hastigkeit ausgestoßen wird. Aber die Rede ist durchsichtig, scharf, her¬
ausfordernd und um so affectvoller, je paradoxer sie aussieht. Stahl — der
übrigens, was bei dieser Partei von Wichtigkeit ist, die Unmöglichkeit anerkannten?
nach den neuesten Ereignissen an einen engeren Bund mit Oestreich zu denken —
griff das Frankfurter Project aus zwei Gründen an; in materieller Hinsicht, weil
es die einzelnen Fürsten zu erblichen Präfecten herabsetzt, indem es ihnen die
Theilnahme an der Gesetzgebung entzieht; im Formaten, weil es für die Ent¬
scheidungen der Nationalversammlung diejenige Souveränität in Anspruch nimmt,
die nur den Fürsten zukäme. Dies gab dem Redner Veranlassung, sich mit leiden¬
schaftlicher Bitterkeit gegen den Begriff der Volkssouveränität überhaupt auszuspre¬
chen, durch welchen, ganz wider die Natur, der Staat von Unten aufgebaut wer¬
den sollte. Ein anhaltendes Zischen von der Linken begleitete jeden Satz dieser
Rede und wurde durch ein eben so lebhaftes Bravo von der entgegengesetzten
Seite erwidert.
Nach Beendigung dieser Rede fand sich Professor Baumstark aus Greifs¬
wald veranlaßt, von seinem Standpunkt aus zu repliciren. Nachdem ich diesen
Mann gehört habe, der während der ganzen vorigen Session die rechte Seite ge¬
führt, bin ich geneigt, den Radicalen Vieles zu verzeihen. Wie vollständig, gründ¬
lich und schwammig sieht er schou aus! Die Sätze verfließen so einfach, harmlos,
so dünn und dabei so regelmäßig! Er versicherte, er könne die Stahlschen An¬
sichten ganz und gar nicht loben, er habe vielmehr ganz andere. — Donnerndes
Bravo von der Linken. — Er halte sehr viel von der Volkssouveränität — don¬
nerndes Bravo — obgleich er gegen die Uebertreibungen derselben entschieden sich
aussprechen müsse. Er glaube an die sittliche Kraft des Volks — Bravo — und
sei für die konstitutionelle Monarchie — Bravo — die sich auf sittliche Interessen
stütze. Die Nationalversammlung habe zwei Füße: mit dem einen stehe sie auf
der sittlichen Kraft des Volkes, mit dem andern auf dem Sittlichkeitsgefühl der
Fürsten. Und die sittliche Kraft und das Sittlichkeitsgefühl zu schwächen, das
scheine ihm ein Verrath. So ungefähr ging es weiter; von der sittlichen Befrie¬
digung, welche diese Rede erregt, haben Sie keinen Begriff. Vor Allen bewun¬
derte ich den ehemaligen Minister Grafen Schwerin, der auf einer der Zuhörer-
Tribunen saß. Sein dickes, gutmüthiges Gesicht leuchtete vor inniger Verklärung;
bei jedem neuen Sittlichkeits -Stichwort schlug er auf das Pult, und sah um sich
als wollte er sagen: das ist ein Mann! der hat's ihm gut gegeben.
Nach Baumstarks Abtritt stürmte eins der Häupter der äußersten Linken,
Oberlandesgerichtsrath Maurach aus Jnsterburg, auf die Tribüne. Nicht mit
sittlicher Würde, wie Baumstark, sondern mit dem Ingrimm eines inspirirter Ge¬
müths. Er versicherte, daß nur die im Vorparlament sich aussprechende Volks-
souveränität Deutschland gerettet habe. Die Versammlung hatte des Unerhörten
bereits so viel über sich ergehen lassen, daß selbst diese Ansicht keine Verwunderung
erregte. Das Bravo der Linken galt weniger dem Inhalt der Rede als der
Energie, mit welcher sie gesprochen wurde. Nachher verlangte man namentliche
Abstimmung'über das Stahlsche Amendement, damit das Volk seine Freunde kennen
lerne. Graf Dyhrn warnte vor dieser zu frühzeitigen Spaltung, weil in der deut¬
schen Sache die möglich größeste Einigkeit erzielt werden müsse, worauf Milde in
seiner bekannten Fistelstimme mit großer Heftigkeit bemerkte, er habe unter allen
Umständen den Muth seiner Meinung, worauf der Advocat Fischer, ein Radi¬
kaler in schwarzwalleudem Haupthaar, als thatsächliche Berichtigung hinzufügte, er
habe auch den Muth seiner Meinung, was noch einige andere Herren zu ähnlichen
factischen Bemerkungen veranlaßte, worauf Alles friedlich ausgeglichen wurde.
Wenn wir einen geistvollen Redner der alten historischen Schule, wie Stahl
es unzweifelhaft ist, mit Aufmerksamkeit verfolgen, so wird uns der Gegensatz gegen
uns, die wir einen ähnlichen Kampf gegen die „hohlen Theorien" des modernen
Radikalismus zu bestehen haben, so recht klar. Ich würde mich — wenn auch
nicht bei dieser Gelegenheit, wo der ganze Discours bei den Haaren herbeigezogen
wurde, gegen die widersinnige Idee der Volkssouveränität eben so scharf ausge¬
sprochen haben, als Stahl, würde mit eben so großem inneren Behagen das
Zischen der „Volksmänner" provocirt haben. Und doch stehen wir diesen alten
Doctrinen wenigstens ebenso fern als dem Radicalismus.
Die Volkssouveränität ist, theoretisch genommen, ein nonsous, praktisch eine
verderbliche Theorie, aus zwei Gründen. Einmal geht sie von der Idee der
Souveränität, d. h. der unbedingten Macht aus, die nur in der Form der Willkür
erscheinen kann. Souverän ist der türkische Kaiser, so lange seine Janitscharen ihn
nicht stranguliren, souverän ist der Räuberhauptmann, bis er an den Galgen kömmt,
souverän der tolle Hund, bis man ihn erschlägt. Im echten Staatsleben gibt es
nnr bedingte Gewalt. Jeder Nationalconvent provocirt einen Dictator, jeder
Tyrann eine Revolution. Wenn also ein politischer Körper sich weißmacht, er sei
souverän, d. h. seine Gewalt sei unbedingt, so wird er entweder tyrannisch, wenn
seine Gegner zu schwach sind, und ruft dadurch eine Reaction hervor, oder er geht
mit seinen Forderungen über seine Kräfte hinaus, und erreicht gar nichts. So ist
es der Paulskirche ergangen; sie erklärte sich selber — wenigstens in Beziehung
auf die deutsche Verfassungsfrage — für souverän, d. h., wie ein Ultramontaner
ganz richtig bemerkte, die Herren sahen sich untereinander voll Ehrfurcht an, und
äußerten sich im freundschaftlichen Gespräche: wir sind doch eigentlich sehr mächtig!
In dieser gegenseitigen Versicherung wiegte man sich so lange, bis die herbe Rea¬
lität den schönen Traum verscheuchte, und so ging am Uebermaß eine Fülle der
edelsten Volkskraft fruchtlos zu Grunde. Mit der preußischen Constituante war
es ganz derselbe Fall, sie erklärte sich für unauflöslich, d. h., wie Berg das ganz
richtig näher erörterte, sie rief der Gewalt zu: Probire es, uus aufzulösen! Es
geschah, und damit war die souveräne Constituante im Unrecht. Nicht jeder Be¬
siegte ist im Unrecht, wie das die abstracte Nevolutionstheorie gern aufstellen
möchte, sondern nur jeder besiegte Souverän, denn das einzige Recht der un-
bedingten Gewalt ist — ihre Geltung. — „Keine Macht der Erde soll je¬
mals u. s. w." Es ist ans beiden Seiten das nämliche.
Zweitens. Die Souveränität, d. h. die schrankenlose Gewalt, wird hier einem
Begriff vindicirt, der sich aus Erden gar nicht darstellen läßt. Es gibt wohl sehr
viel Volk, aber das Volk als moralische Person, eines Willens und einer Macht¬
äußerung sähig, ist nur ein Gedankending. Darum ist an sich die Idee der Volks¬
souveränität illusorisch, denn sie läßt sich nicht darstellen; sie ist aber gefährlich,
denn eben darum verbindet jeder Einzelne eine Vorstellung damit, die gerade in
seine Absichten paßt. „Das Volk will es!" rief die Linke im Berliner Schau¬
spielhaus, als der aufgeregte Pöbel auf dem Gensdarmenmarkt heulte; „das Volk
will es!" rief der König von Neapel, als er mit Hilfe der souveränen Lazaroni
die Liberalen niedermetzeln ließ. Die rohste Auffassung der Volkssouveränität ist
auch die consequenteste: — das Recht der Fäuste, wobei es denn freilich curios klingt,
wenn jetzt noch Hr. v. Kirchmann auf das Recht der Revolution pocht, nach¬
dem sie besiegt worden. Das Recht der Revolution heißt gerade soviel, als wenn
ein Junge, der eiuen andern früher häufig geprügelt hat, weil er ihm überlegen
war, später, nachdem sich das Verhältniß der Kräfte gewechselt hat, als Recht
beansprucht, ihn noch weiter zu prügeln. Als das sogenannte Vorparlament zu¬
sammenkam — Süddeutsche und Rheinische do»i Komines, von denen jeder Ein¬
zelne versicherte, er fühle in sich deu Beruf, die Stimmen des gesammten deutschen
Volkes auszudrücken — und sür seine Beschlüsse souveräne Geltung verlangte, so
war das zwar frech, denn es trat alle staatliche und sittliche Ordnung mit Füßen
— aber da wenigstens dem Anschein nach alle sonstige Gewalt unter der Wucht
der Ereignisse zusammengebrochen war, so hätte eS möglich sein können, auf diesem
unregelmäßigen Wege zu einer vernünftigen Gestaltung der Dinge zu kommen.
Jetzt aber, nachdem es sich gezeigt hat, daß diese Gewalten noch bestehn, jetzt ans
die Erklärung jeues Parlaments, daß sie und die daraus entsprungene Versamm¬
lung souverän sei, als auf ein Recht pochen, ist das Uebermaß der Absurdität.
Eine andere Wendung hat unsere äußerste. Linke, die Waldeck'sche Partei, in
dieser Souveränitätsfrage genommen. Es handelte sich um die Anerkennung der
Verfassung vom 5. December. Die Rechte fragt: wenn ihr diese Verfassung, kraft
deren allein ihr seid, was ihr seid, Abgeordnete des Volks, nicht anerkennt, in
welcher Eigenschaft befindet ihr euch eigentlich hier? Darauf replicirte jene Partei:
was die Danaer uns geschenkt haben, wollen wir nicht, wir brauchen es aber
auch nicht; von jener Verfassung hat nnr Eines für uns Giltigkeit, die Urwahlcu;
diese sind uns aber nicht von der Regierung octroyirt, sie sind ein eingebornes
Menschenrecht, verkümmert von Tyrannenhändcn, wieder erobert in dem heiligen
Kampf der Barrikaden. Wir sind hier, kraft der Urwähler, als Vertreter der
Souveränität des Volks, und kraft derselben haben wir allein zu entscheiden,
was für Vollmachten wir uns beilegen wollen. — Die Verwechselung der natur-
wüchsigen und der menschlich geordneten Aeußerung der Volksstimme ist hier so
evident, daß man sie nur durch die gedankenlose Geltung fertiger Phrasen erklären
kann. Barrikaden brauchen freilich von der Negierung nicht octroyirt zu werden,
aber sie sind auch eben so unproductiv als naturwüchsig; man möge sie durch
übereinandergeworfene Omnibusse, durch Schulbänke und Quadersteine über die
Häuser hinaus aufthürmen, so hoch als den Thurm zu Babel, es wird doch nimmer¬
mehr ein Gebäude daraus, in welchem der Staat sich wohnlich einrichten läßt.
Aber das Wahlrecht muß octroyirt werden von der bestehenden Gewalt; denn
die Bestimmung, wer zu den Urwählern gehört (z. B. ob nur die Säuglinge oder
ob auch reifere Lebensalter davon ausgeschlossen sein sollen); wie die Wahl statt¬
finden soll, wie viele Urwähler einen Deputirten stellen und was dieser Deputirte
der bestehenden Gewalt gegenüber sür ein Recht hat — diese Bestimmungen sprie¬
ßen nicht naturwüchsig aus den Straßen auf, wie die Barrikaden, sondern sie
können nur durch den leitenden Verstand gegeben werden, der die Gesammtver-
hältnisse übersieht. Sie vom Bolle herzuleiten, setzt die politische Ordnung, die
erst dnrch sie geschaffen werden soll, bereits als bestehend voraus. Es ist möglich,
daß im Lauf der Ereignisse der ans diese Weise octroyirte Staatskörper durch
einen Vertrag mit der bestehenden Gewalt (ein Vertrag schließt einen vorhergehen¬
den Streit nicht aus) seine Befugnisse erweitert; der Ausgang derselben ist aber
die ihm von den Danaern verliehene, octroyirte, geschenkte Berechtigung.
Eine Revolution hat nur dann einen relativ verständigen Verlauf, wenn sie
von bereits bestehenden Parteien ausgebeutet wird. So die Julirevolution von
den Orleanisten, die Februarrevolution von den socialistischen geheimen Gesell¬
schaften, aber das ist nicht von Dauer. In dem bureaukratischen Staatsmecha¬
nismus Frankreichs ist das überhaupt eher möglich, als bei uns, wo selbst in
der Bureaukratie eine gewisse Selbstständigkeit herrscht. Unsere Demokraten pochen
darauf, daß die Ereignisse vom 17. und 18. März sich ganz von selbst machten,
ohne irgend einen Plan oder Zweck; sie thun sich ans die Naturwüchsigkeit ihrer
Revolutionen etwas zu Gute. Um so schlimmer! deun um so weniger Verstand
war darin. Gerade die merkwürdige Wendung unserer Tage sollte sie belehren,
sich einer Kraft uicht blindlings anzuvertrauen, die man weder in ihrer Extension,
noch in ihrer Richtung im Voraus berechnen kann. Vis consill vxpoi-8 moko i-uit
suit; zu deutsch: Das Volk wird durch seine eigene Souveränität ruinirt.
Mit dieser ganzen Deduction werden wir, so sehr sie im Resultat überein¬
stimmt, der Stahl'schen Doctrin nicht weniger ketzerisch erscheinen, als selbst die
Demokraten. Denn was ist die Idee der Volkssouveränität in ihrem ersten Ur¬
sprung anders, als ein Protest gegen die frechste Usurpation der neuern Zeit, den
Gedanken des fürstliche» Absolutismus? Wenn uns jene Schule zur Zeit des
I'6eg,t e'ost um zurückzuführen strebt, so müssen wir diese Souveränität, die sich
zu Zeiten in den Strickbeutel einer Pompadour versteckt oder unter den Pantoffel
einer Dübarry beugt, wenigstens eben so entschieden zurückweisen, als die unbe¬
dingte Geltung dessen, was die Menge will. Es hilft uns nicht, wenn die mo¬
dernen Legitimisten fromm genug sind, das Recht, dem sie abgöttisch huldigen,
von dem Schöpfer Himmels und der Erden herzuleiten; eine Firma gibt die
andere, die Demokraten berufen sich auf die Natur, und es werden sich licht-
freundliche Pastoren genug unter ihnen finden, welche diese Natur ins Transcen¬
dente hinüberschillern lassen. So lange die Herleitung der fürstlichen Souveränität
von dem unmittelbaren Willen Gottes eine bloße Versicherung bleibt, können wir
sie dahingestellt sein lassen, da uns über das Detail nichts Näheres bekannt ist.
Wir halten uns an das Menschliche; uns ist das Recht kein überirdisches Gut, kein
Granitfels, an dem die Brandung der Revolution sich bricht, denn es steht gar
nicht außerhalb der übrigen Geistesfunctioncn. Es ist die Form und das Maaß,
welche den menschlichen Geist vom Thier unterscheiden. Schon wenn die Kinder
mit einander spielen, finden sie für ihr Spiel eine Form und ein Gesetz; die
Willkür sträubt sich dagegen, und das Gesetz findet bessere Geltung, wenn eS
ihnen durch die Tradition älterer Knaben octroyirt ist. Die Gewalt der Fürsten
ging aus der physischen Ueberlegenheit hervor; sie wurde ihnen nicht vom Volk
octroyirt, wie es Hobbes und die ganze Schule der Naturrechtslehrer behauptet
haben, und was Gott betrifft, so ist seine Hand wenigstens nicht überall darin
sichtbar gewesen. Aber die fürstliche Gewalt gab dem menschlichen Sinn für Ord¬
nung, Form und Konsistenz einen bestimmten Halt; sie befestigte sich, indem sie
sich beschränkte; sie erhielt einen sittlichen Inhalt, indem sie aufhörte, mit der
Wucht einer eisernen Naturnothwendigkeit auf dem Nacken der Menschen zu lasten.
Wir sind Royalisten, nicht ans Verehrung vor dem göttlichen Recht der Könige,
sondern weil wir in der Monarchie einen sichern Leitfaden für die politische Ent¬
wickelung der Völker sehen. Wir sind nicht Royalisten -l tont ,>rix, wir schwär¬
men z. B. nicht mit Stahl sur die deutschen Duodezmonarchien, wir würden sie
sammt und sonders mediatisiren, ohne nach ihrem göttlichen Ursprung zu fragen,
zu Gunsten einer mächtigen Centralgewalt, wenn K möglich wird, ohne die natür¬
liche Entwickelung des Volks auf eine gefährliche Weise zu unterbrechen. Da wir
aber einen solchen Weg noch nicht sehen, ziehn wir die „Vereinbarung" dem Decretireu
vor, und glauben, daß die Gemeinsamkeit der Interesse» endlich die Spaltung
der Leidenschaften überwinden wird, ohne daß man zu Donner und Blitz grei¬
fen darf.
Sie aber, lieber Freund, mögen bei Ihren Lesern die Kühnheit entschuldigen,
Mit welcher ich ihnen mitten nnter den Portraits der ersten Kammer, über welche
wir uns vereinbart hatten, einen Excurs über die Volkssouveränität octroyire;
ich verspreche dafür in den nächsten Briefen, welche die Statistik unserer Pairs
vollenden, sollen, den gesetzlichen Weg strenger einzuhalten. Leben Sie wohl.
In der deutschen Frage haben sich die Parteien so fest in bestimmte Vor¬
aussetzungen verrannt, daß es ihnen schwer wird, einander auch nur zu versteh».
Am schlimmsten geht es darin der radicalen Partei, welche in dem Jubel dar¬
über, die Ideen ihrer Gegner zu vereiteln, ganz und gar zu vergessen scheint,
daß es sich doch auch bei ihr um bestimmte Wünsche handelt, und daß die Wen¬
dung, in welche sie durch ihr Verhalten die Verhältnisse treibt, ganz geeignet
ist, sie selber zu verderben. Die Blasirtheit hat allenthalben schon wieder so über¬
Hand genommen, daß man kurzweg resignirt, es sei ja doch nichts mehr zu er¬
reichen, und sich nun gleichsam an seiner eignen Niederträchtigkeit weidet. Die
Sache liegt aber so, daß allerdings etwas geschehen muß, entweder Schlimmes
oder Gutes. In demselben Augenblicke, wo man zu den ernsthaftesten Zweifeln
berechtigt ist, ob von einem Reich überhaupt die Rede sein könne, beginnt der Neichs-
kricg gegen Dänemark, und wenn man zu träge und zu unentschlossen ist, irgend
einen bestimmten Plan zu fassen, so ist das der allergefährlichste Zustand, denn
man ist in dem besten Zuge, einen Abgrund herabzurollen, der noch vorläufig
gar nicht zu ermessen ist.
Unter diesen Umständen ist es nothwendig, sich wenigstens deutlich zu machen,
worauf die Ideen der verschiedenen Parteien hinausgehn und über welche Mittel
sie zu disponiren haben. Ich unterscheide in der deutschen Frage vier Richtungen,
die Demokraten, die Gagern'sche Partei, die des östreichischen und die des preu¬
ßischen Cabinets.
Von den Demokraten ist im Allgemeinen zu sagen, daß sie sich ans der Sphäre
der Barrikaden in die der gesetzlichen Entwickelung begeben haben, und wenn sie
hin und wieder sich noch auf ewe zweite Revolution berufen, so ist doch die Macht
vollendeter Thatsachen anch über die Politiker der Zukunft zu groß, als daß ein
erhebliches Gewicht darauf zu legen wäre. In Beziehung auf die deutsche Frage
sind sie in einem Punkte einig: sie verlangen von den einzelnen Regierungen die
Publication der in der Paulskirche festgesetzten Grundrechte des Volks. Fast in
allen deutschen Ländern hat sich die Majorität der Kammern entschieden dafür
ausgesprochen, und ich halte bei der großen Sympathie, die mehr die allgemeine
Idee dieser Grundrechte als eine bestimmte Vorstellung von dem Detail derselben
im Volke gefunden hat, einen hartnäckigen Widerstand der Regierungen für frucht¬
los und gefährlich. Es scheint hierbei mehr auf die feierliche Proklamation eines
Princips, als auf eine augenblickliche Veränderung in der Gesetzgebung anzu¬
kommen, und so sehr ich die Bedenken theile, welche man in der Verwaltung und
selbst in der Justiz gegen einzelne Bestimmungen derselben hegt, so scheint mir
doch ein Nachgeben rathsam, wenn man der Publication nur die Erklärung hin¬
zufügt: die zur Einführung der Grundrechte nothwendigen Veränderungen in der
bisherigen Gesetzgebung werden mit den Kammern vereinbart werden. Folgt auf
diese Erklärung ein nicht blos scheinbares, sondern aufrichtiges Eingehen in die
Ansichten des Volks, so werden durch Verständigung manche bedenkliche Punkte
beseitigt werden, und es wird dem Radicalismus eine gefährliche Waffe aus den
Händen gewunden. Sollte anch im Materiellen dadurch nicht so sehr viel gebessert'
werde», so ist allerdings doch die Idee dieser gemeinsamen organischen Gesetzgebung
ein mächtiger Grundstein zum künftigen Bau des einigen Deutschland.
Ueber einen zweiten Punkt — das Verhältniß der Einzelstaaten zu Frank¬
furt — ist die Demokratie sehr verschiedener Ansicht. Ein Theil derselben denkt
consequent genug, der Nationalversammlung, so sehr sie seinen Wünschen wider¬
spricht, noch immer die souveräne Entscheidung über die künftige Gestaltung bei¬
zumessen. Der bei weitem größere Theil dagegen läßt sich durch sein materielles
Interesse bestimmen, diesen eigentlich doch nur fremden Gesichtspunkt auszugeben,
und die einzelnen Staaten gegen die reactionäre Centralgewalt zu empören. Bei¬
des läßt sich wohl vereinigen, wenn man sich über den eigentlichen Herzenswunsch
dieser Partei Rechenschaft ablegt: die Auflösung der beiden Großstaaten Oestreich
und Preußen, in welchen, wie auch die constitutionelle Entwickelung sich gestalten
möge, der Regierung doch immer noch mächtige Mittel genug in der Hand blei¬
ben, um der souveränen Demokratie den ernsthaftesten Widerstand zu leisten. Sie
wäre für eine Centralgewalt, sobald diese nur nicht aus den beiden Großstaaten
hervorgeht, sobald man sie dazu gebrauchen kann, gegen Oestreich und Preußen
zu agitiren; sie ist sür die Erhaltung der kleinen Staaten, weil hier die Re¬
gierung ganz und gar vom Volke abhängt, wenn sie nicht von den Großstaaten
gestützt wird. Sie ist allenfalls sür die gemeinsame Betheiligung Oestreichs und
Preußens bei der Centralgewalt, weil sie hofft, die Eifersucht beider Mächte
gegen einander werde hinreichen, den schädlichen Einfluß ihrer gemeinsamen Ein¬
wirkung zu Paralysiren. Darum — nicht etwa wegen des Refrains im Arndtschen
Vaterlandslicd — setzt sie alles daran, die Idee des preußischen Erbkaiserthums
zu hintertreiben.
Nur daraus ist die Koalition mit den Oestreichern, die Verwerfung des
Welckerschen Antrags, die Streichung des §. 2 erklärlich, obgleich der Inhalt
desselben in die neue Modification des §. 3 wieder eingeschwärzt ist. Die Demo¬
kratie will es darauf ankommen lassen, allenfalls für den Augenblick das östrei¬
chische Droject durchgehn zu lassen, da sie an die Dauer dieses Staates nicht
glaubt, um nur die preußische Hegemonie zu hintertreiben.
Nur Eines wundert mich in der Berechnung dieser Partei — zu der übrigens
" Berlin nicht nur die äußerste Linke gehört, sondern auch die Ministercandidatm
im linken Centrum. Wie nun, wenn die preußische Regierung diese enteilte cor-
dialo, welche die Demokratie mit Oestreich verbrüdert, ihrerseits zur Wahrheit
macht? Mir scheint, die Liebe und Verehrung gegen den edlen Stamm der Oest¬
reicher und sein altehrwürdiges Kaiserhaus macht sich bei den preußischen Absolu-
tisten natürlicher, als bei Herrn Berg er und Konsorten. Wie nun, wenn Preußen,
in dem Bewußtsein, daß es sür sich selbst nichts erreichen kann, ernsthaft auf das
östreichische Project eingeht, bei dem es nach meiner Ueberzeugung immer noch
mehr seine Rechnung findet, als selbst bei dem Gagern'schen Kaiserproject! Wie
nun, wenn ans der Wiederherstellung der heiligen Allianz bitterer Ernst wird?
Wenn man sich die Schleswig-Holsteinsche Verwickelung durch eiuen raschen Frie¬
den vom Halse schafft, und dann seine gesammte Kraft nach Innen wendet? Eine
noch immer sehr mächtige Partei in Preußen arbeitet mit großer Ausdauer dar¬
auf hin.
Mir scheint, die demokratischen Politiker sind allzu schlau gewesen. Hätten
sie in der Paulskirche sür den Welcker'schen Antrag gestimmt, so war das für
Preußen eine große Verlockung, das Panier der Revolution zu ergreifen. Die
Kaiserkrone blendet zu sehr, als daß man nicht in einem solchen Moment das
Princip aus den Augen verlieren sollte.
Was den Gagern'schen Entwurf betrifft, so muß ich aufrichtig bekennen, daß
ich ihn nicht ganz verstehe; daß ich ihn noch weniger verstehe, seitdem Heinrich
v. Gagern in seiner letzten Rede unumwunden erklärt hat, der Schwerpunkt des
neuen Reichs müsse außerhalb Preußens fallen; daß ich zweifle, ob der größte
Theil der Partei sich klar gemacht hat, um was es sich eigentlich handelt. Wenn
Oestreich und Preußen gemeinsam dem neuen Bundesstaat beitreten, so war eS
natürlich, daß man Wien und Berlin in Frankfurt neutralistrte, wie es eigentlich,
wenn auch sehr unvollkommen, schon zur Zeit des alten Bundestages geschehen ist.
Um so mehr konnte mau derartige Gedanken hegen, da es im Anfang den An¬
schein hatte, als solle die in Frankfurt centralisirte deutsche Volkskraft den Nerv
der bisherigen Staatenbildungen in sich absorbiren. Seitdem sich aber Oestreich
zusammengeschlossen und diesem deutschen Mittelpunkt entzogen hat, verliert Frank¬
furt alles Gewicht. Das eigentlich deutsche Leben hat sich in Berlin krystalltsirt,
und wenn man auch damit unzufrieden ist, eine dreihundertjährige Geschichte wird
man nicht im Augenblick aufheben können. Der Enthusiasmus vereinigt zwar im
Rausch des Augenblicks das Widersprechende, aber über die Thatsachen hat er
keine Macht, und wenn man sich das Project der Erbkaiserlichen Partei analystrt,
so bleibt immer das Dilemma: entweder bleibt Preußen mit seiner Konstitution,
seinen Centralständen, seinem Negierungsmechanismus und seinen militärischen
Kräften innerhalb des Reiches bestehen, und dann lassen sich die seltsamsten Con¬
flicte zwischen den beiden Staatskörpern auf keine Weise vermeiden, die Negierung
ist theoretisch in Frankfurt, praktisch in Berlin, und das künftige Uebergewicht,
das man den süddeutschen Staaten im Staatenhause zu geben gedenkt, gleicht das
Mißverhältniß uicht aus, weil es ohne natürliche Grundlage und daher ohne
Berechtigung ist; oder man will, wie es nach den neuesten Erklärungen den An¬
schein hat, Preußen in seine Bestandtheile auflösen, und dann bleibt immer die
Frage, warum stellt man es denn an die Spitze? Der König von Preußen wird
Kaiser, weil er der mächtigste Fürst ist, und dann nimmt man ihm diese Macht.
Das ist doch ein sonderbarer Cirkel, ganz abgesehen davon, daß es denn doch
immer seine Bedenken hat, einen bereits bestehenden Organismus zu Gunsten eines
erst werdenden, von dem man noch keinen rechten Begriff hat, zu zerschlagen. Auch
findet dieser Plan selbst bei den Berliner Demokraten keinen großen Beifall.
Ein zweiter Umstand, den die erbkaiserliche Partei zu übersehen scheint, ist
die Schleswjg-Holsteinsche Angelegenheit. Welche Rechtsansprüche das neue Reich
gegen Dänemark erheben kann, ist doch auf alle Fälle sehr fraglich. Und dabei
bleiben die Verpflichtungen, die man einmal von Seite des Reichs gegen die
Herzogthümer übernommen hat, in ihrem vollen, drückenden Gewicht bestehn.
Endlich ist das Recht der Nationalversammlung, dem deutlich ausgesprochenen
Willen der bairischen, würtemberger, sächsischen und hannöverschen Stände entge¬
gen, die darin mit ihren Regierungen ganz einig sind, die deutsche Krone an
Preußen zu übertragen, mehr als fraglich. Sie hat Recht, so lange sie mit der
öffentlichen Meinung Hand in Hand geht, ohne sie ist ihre Macht eine Illusion.
Ich glaube, daß die Annahme des Welkerschen Antrags das Preußische Gouverne-
ment in die größte Verlegenheit gesetzt haben würde. Denn Preußen hätte sich
ein die Spitze der Revolution stellen und ziemlich dem ganzen Europa zum zweiten
Mal die Spitze bieten müssen, während es sehr zu bezweifeln ist, ob die Parteien
soviel Patriotismus gehabt hätten, sich im entschiedenen Augenblick mit einander
zu versöhnen.
Ich darf aber nicht verschweigen, daß innerhalb der preußischen Kammern'
selbst das Project einen bedeutenden Anhang zählt. Die Partei Vincke wie die
Partei Nodbertus kommen, jede aus ihre besondere Weise, darauf hinaus. Es
ist lehrreich, die Stellung dieser Parteien zum Gouvernement näher in's Auge zu
fassen.
Vincke hat das große Verdienst, die rechte Seite disciplinirt zu haben. Er
halt die widerstrebenden Elemente, ich möchte sagen, mehr mit militärischer als
parlamentarischer Strenge zusammen und wird mehr gefürchtet als geliebt. Mit
der Linken, auch in ihren gemäßigten Fractionen, hat er sich durch kleine Rei¬
bungen, durch Persönlichkeiten, die ein Staatsmann von seiner Bedeutung billiger
Weise vermeiden sollte, so überwerfen, daß an eine Aussöhnung schwer zu denken
ist; die rechte Seite hat er durch sein brüskes Wesen beständig verletzt. Es ist
kaum zu sagen, wo ein Ministerium Vincke die nothwendige parlamentarische Ma¬
jorität hernehmen sollte. Und doch, wenn man die Nothwendigkeit einsieht, an
die Spitze der preußischen Verwaltung einen Mann von eisernem Willen, uner¬
schütterlicher Energie und großartiger Haltung zu stellen, so ist Vincke nicht zu
vermeiden. Den Ehrgeiz dazu hat er. Wenn er bisher das Ministerium — das
eigentlich in der Kammer keine Partei hat — unterstützte, so geschah es lediglich,
um die Verfassung zu consolidiren. In der deutscheu Frage hat er ihm den Fehde¬
handschuh bereits hingeworfen.
Ich bemerke beiläufig, daß trotz des Übeln Rufes, in den ihn seine Stellung
in Frankfurt bei unsern radicalen Berlinern gebracht hat, Vincke's Name noch
immer ein sehr populärer ist. Ich ging den Morgen nach der gewaltigen Rede, in der
er mit der ganzen Macht seines Zorns auf Arnim einstürzte, in einen Cigarrenladen;
der Kaufmann stürzte mir, die Zeitung in der Hand und die elegante Morgenmütze
so tief als möglich aufgedrückt, in ungestümer Begeisterung entgegen: Unser Fink
hat wieder geschlagen! nun ist Alles wieder gut! er hat den schändlichen Men¬
schen, durch welchen Preußens Ehre verscherzt ist, schön die Wahrheit gesagt!"
u. s. w. Preußens Ehre ist ein Köder, der auch unter unsern Demokraten so
manchen locken möchte.
Vincke hat in Frankfurt gegen die kühnen Griffe Gagerns unausgesetzt Pro¬
test eingelegt; das Verhältniß beider Männer zu einander ist wenigstens nicht ein
freundschaftliches gewesen. In der letzten Zeit ist Vincke aber vollständig auf diese
Ideen eingegangen und ist gegenwärtig in Preußen als Haupt der kaiserlichen
Partei anzusehen. In der rechten Seite der zweiten Kammer dürfte in dieser
Frage nur der kleinere Theil mit ihm Hand in Hand gehen; von den Whigs ist
wohl nur Alfred von Auerswald entschieden auf seiner Seite. Mit Schwerin ist
es zweifelhaft; er scheint sich mehr der äußersten Rechten zuzuneigen, die sich ge¬
gen den revolutionären Ursprung der neuen Würde entschieden verwahrt und die
alte traditionelle Politik, das alte Verhältniß zu Oestreich geehrt wissen will.
Arnim-Boitzenburg steht an ihrer Spitze, Griesheim gehört natürlich auch
dazu; die Pietisten sticht und Elwanger; Bismark-Schönhausen und
die ihm zunächst stehenden Kleist-Netzow u. s. w., die in Beziehung auf die
Verfassungsrevision, die Aushebung des allgemeinen Wahlrechts, viel bestimmter
rechts sind, haben sich in dieser Frage gemäßigter ausgesprochen. In der ersten
Kammer hat die kaiserliche Partei — Graf Duhrn und Major Vincke habe ich
schon geschildert — entschieden das Uebergewicht, so stark auch die äußerste Rechte
daselbst vertreten ist; der bei weitem größere Theil der sogenannten Radica¬
len würde sich ihr anschließen. Auf der linken Seite opponire H an fein an n,
der seine alte Triasidee noch nicht aufgegeben hat, aus allen Kräften dagegen;
wie sich aber bei seinem desfallsigen Antrag ergeben hat, ist seine Partei
nicht groß.
Wenn man sich über die Zusammensetzung eines kaiserlichen, whigistischen oder
bestimmter, arti-östreichischen Ministeriums eine Vorstellung macht, so fungiren
jedesmal die bisherigen Neichsminister darin — Penker, Beckerath; ferner
der bisherige preußische Bevollmächtigte in Frankfurt, Camp Hausen; der Ver¬
treter der deutschen Interessen in London, Bunsen: aus den Kammern Auers-
wald, und als Ministerpräsidenten nennt man Heinrich v. Gagern. Eine
Combination, die natürlich vorläufig noch in der Luft schwebt, so lange man über¬
haupt uicht weiß, welche Wendung die Dinge in Frankfurt nehmen.
Wie sich ein solches Ministerium zu den Kammern stellen würde, ist freilich
schwer zu sagen. Außer jeuer äußersten Rechten, würde auch die uuentschiedne
Rechte. — Blömer, Osterrath, die Immermann u. s. w. — dagegen Op¬
position machen, die in den letzten Abstimmungen eine wunderliche Hinneigung zu
Oestreich verrathen haben. Was die Partei Nodbertus betrifft, so hat der
Chef derselben in früherer Zeit entschieden sür die deutsche Sache sich ausgespro¬
chen; wenn seine letzte politische Vergangenheit, seine allzu genaue Berührung mit
der Rechte» nicht hindernd in den Weg träten, so wäre eine Coalition — die ein¬
zige Art, wie unsere parlamentarischen Verwickelungen sich lösen können, gar wohl
denkbar. Doch muß ich bemerken, daß er in der dänischen Frage, die mit der
deutschen enge zusammenhängt, weil die Art der Friedensunterhandlungen von der
Stellung bedingt wird, die Preußen im Reich einnimmt, ein Amendement von
friedlichem Charakter eingebracht hat. Was die äußerste Linke betrifft, so trägt
sie freilich jetzt wieder die deutschen Farben zur Schau, besonders seitdem Wesen-
donk sich an ihre Spitze gestellt hat; sie wäre jetzt, während sie früher die Sou¬
veränität der preußischen Nationalversammlung der Centralgewalt gegenüber ver¬
focht, allenfalls geneigt, Preußen zu Gunsten des Erzherzogs Johann zu Media¬
toren. Da aber vorauszusetzen ist, daß diese Fraction gegen jede Art der Re¬
gierung Opposition machen wird, so ist der augenblickliche Inhalt ihrer Forderun¬
gen von keiner erheblichen Bedeutung.
Die Sache wird einfacher, wenn man die eigenthümliche Stellung ins Auge
saßt, welche Oestreich in der deutschen Frage Preußen gegenüber eingenommen
hat. Auch die torystische Partei der preußischen Kammern ist nämlich bei aller
Abneigung gegen das revolutionäre Frankfurt und bei allen Lcgitimitätswünschcn
preußisch gesinnt, und wird auf ein Aufgeben der weltgeschichtlichen Bedeutung
des preußischen Staats eben so wenig eingehn, als ihre politischen Nebenbuhler.
Um ein solches handelt es sich aber, wenn man die Schritte des Wiener Cabi-
mets von der ersten Note an die preußische Regierung an bis zu der Depesche
Sckwarzeubcrgs an Schmerling verfolgt.
In jener Note war des vorgeschlagene Directorium die Nebensache; das
Wesentliche war die factische Mediatisirung der kleinen deutschen Fürsten zu Gun-
sten der Königreiche. Oestreich war großmüthig genug, für sich wie für Preußen
jede Vergrößerung auszuschlagen, was ihm sehr vortheilhaft wurde, denn Oest¬
reich ist arrondirt und kann nicht wachsen; Preußen aber ist in seiner jetzigen
Lage ein problematischer Staat, und muß sich entweder erweitern oder untergehn.
Die Existenz der kleinen Fürsten machte die Einheit Deutschlands möglich; durch
eine Mediatisirung derselben zu Gunsten der mittleren wird sie auf ewig — oder
bis auf einen allgemeinen Krieg — hinausgeschoben. Recht artig war der Plan,
Hessen zu Hannover zu schlagen, und so zwischen die östlichen und westlichen
Provinzen Preußens einen Keil zu schieben, der nothwendig zu einer factischen
Trennung führen müßte.
Preußen antwortete durch die Koalition mit den kleinen Staaten — der
einzig richtige Weg, dessen consequente Verfolgung zum Ziele führen muß, vor¬
ausgesetzt, daß es gelingt, auch Hannover dafür zu gewinnen und so den Boden
einer natürlichen Staatsorganisation zu schaffen. Oestreichs Politik bestand seitdem
darin, in Frankfurt einen Bund der Königreiche unter östreichischen Protectorat
zu gründen, die Wirkung der Nationalversammlung zu Paralysiren — an den
Cynismus jeuer,Depesche von Schmerling will ich hier nicht erinnern, der Ge¬
genstand ist zu widerwärtig — und wo möglich, jene Koalition zu sprengen. Der
Sturz des Neichsministcriums und der Plan, ein neues aus bairischen/ würtem-
berger und hannoverschen Notabilitäten zu bilde», waren die ersten Erfolge dieser
Anstrengungen.
Die alte Metternich'sche Politik ist also nicht ausgestorben. Das Cabinet
von Ollmütz vergißt aber, daß es ein sehr gefährliches Spiel eingeht. Gelingt
es Preußen, die alte faule Politik, die sich in der Note vom 10. März auf eine
so ekelhafte Weise geltend gemacht hat, wieder von sich zu werfen, gelingt es,
zunächst das eigene Volk, dann jene befreundeten Staaten durch weise Schonung
ihrer vernünftigen Interessen zu gewinnen, so wird nicht nur der neue deutsche
Bund zu Staude kommen, sondern es werden auch Oestreichs Völker sich erin-
nern, daß sie mit ihrer Negierung nicht identisch sind. Für den äußersten Fall
— aber auch uur für diesen — wird Preußen, wenn es sich um seine Existenz
handelt, seine Existenz in die Schranken setzen, und es wird sich dann zeigen,
nach welcher Seite hin der Sturm der Revolution seine Wirkungen ausüben wird,
an einem natürlichen, in seinem Kern noch immer gesunden Staatswesen, oder an
dem Gewebe macchiavellistischer Politik.
Sehen aber die Männer, denen die Leitung Preußens anvertraut ist, aus
Trägheit und Unentschlossenst müssig zu, wie die Geschicke sich erfüllen; stellen
ihnen die Volksvertreter nicht ein bestimmtes Prinzip, sondern nur kleinliche
Mäckeleien entgegen — dann haben wir uns in Preußens welthistorischen Beruf
geirrt, dann gehe unter, was nicht werth ist zu existiren.
Die Leipziger Buchhändler sollten unsrem Ministerium eine Dankadresse einsenden,
einen größeren Liebesdienst konnte es ihnen nicht erweisen als mit dem neuen Gesetz
gegen den Mißbrauch der Presse. Der Minister Bach, der ehemalige Democrat, meint,
dieses Gesetz sei zum Schutze der Freiheit der Presse! Welchen Schutz aber die Presse
genießt, beweist so eben, daß Der Ministercollege Bachs, der Redacteur Schwarzer vor's
Kriegsgericht gezogen wurde, und sogar seine sämmtlichen Mitarbeiter und Korrespon¬
denten namhaft machen mußte, gegen die wahrscheinlich ebenfalls ein Standrechtsproceß
eingeleitet wird. Wenn Pillersdvrf nicht zufällig Baron wäre, der Gouverneur Mel¬
den hätte ihn gewiß auch schon vor seinen Säbel schleppen lassen, denn Pillersdvrf
schrieb sowohl in die ostdeutsche Post, wie in die allgemeine östreichische Zeitung Artikel,
welche beide Organe bereits verboten wurden; ja man behauptet sogar, daß grade die
Pillersdorf'sehen Aufsätze, als am tiefsten und kräftigsten eingehend in die Gebrechen
der jetzigen Verwaltung, das Ministerium und die Militärgewalt am meisten verletzten,
vielleicht hat man nur noch einige Scheu, den Premierminister PillerSdorf Nachts mit
Soldaten aus dem Bette zu holen; das geschieht später auch; für jetzt schickt man um
Mitternacht die Soldateska zu Knranda und Fränkl; die Commissäre dulden nicht, daß
die Dienerschaft diese weckt, sondern stürzen mit Hast in die Schlafgemächer
der Verheiratheten und zerren sie aus den Betten zu ihren Kästen und
Schreibtischen, wo Alles durchstöbert ward. Von einem richterlichen Befehl, von An¬
gabe eines Grundes, ist natürlich keine Rede. Melden scheert sich weder ums Mini¬
sterium noch um dessen Reichsverfassung. Die Soldaten hatten aber doch einen Befehl
in der Hand. Er soll gelautet haben: falls Etwas zum Aufruhr Anregendes (?!) oder
Hvchverräthcrisches (??) gefunden würde, die Jncnlpirten sogleich zu arretiren und vor's
Kriegsgericht zu stellen." — Wie unschuldig müssen die Papiere gewesen sein, daß ein
Sendling der Milirärcommandantur nichts Hochverräterisches fand!? Wurde doch die
Ankündigung des Preßgesetzes an der Ladenthüre der Expedition der ostdeutschen Post
confiscire; auf schwarzem Papiere stand mit ernsten Lettern: hier ist das neue Prcßgesetz
für 2 kr. zu haben. Das wurde natürlich alsogleich denuncirt, und die Militärcom-
mandcmtur verordnete, den Zettel sogleich abzureißen. Der beauftragte Municipalgardist
ging in seinem patriotischen Eifer so weit, nicht blos den Zettel, sondern auch die
nietfeste Tasel der Expedition herabzureißen. Dieser Vorgang ist nur ein Präambulum
zum zweitmaligen Verbot der Kuranda'schen Zeitung, deren Opposition, obwohl voll
Honig und Milch, dennoch nicht geduldet wird. Nur aus Rücksicht gegen den einflu߬
reichen Bürger Gerold ist bis jetzt die gänzliche Unterdrückung unterblieben. — Die
mitternächtliche Untersuchung bei Fränkl scheint mehr wegen seiner Freundschaft mit mehren
Deputirten stattgefunden zu haben; er ist ein College Fisch Hoff, der noch immer
nicht einmal den Grund seiner Verhaftung und Abführung ins Criminale kennt. Fisch¬
hof hatte mehre Verhöre, die aber nnr das „Nationale" betrafen. Uebrigens wird er
sehr anständig behandelt, ja er wird sogar mit Lecture versehen; jede mündliche und
schriftliche Communication, außer mit den Beamten, ist. abgeschnitten. Man nahm erst
die Person in Haft, und dann sucht man ihr Verbrechen anzuheften. Wenn man die
akademische Legion einsperren könnte, so wäre sie jetzt schon am Galgen, denn die
Militärcommandantnr und Melden sagen in ihrem Urtheile über die Mörder Latours:
„Der Mord sei von der Aula gemiethet gewesen und zwar für 3t)si." Wenn es
nicht gar so erbärmlich wäre, wäre es zum Lachen. Nicht etwa blos Studenten, son¬
dern Tausende der Einwohner sind bereit augenblicklich den Eid abzulegen, daß diese
Angabe eine Lüge ist, nud daß sie nicht durch das mindeste Anzeichen gerechtfertigt
wird. Ein iU'Anm<!»rum !»<! lmmiuem sei angeführt. Der unglückliche Latour war
den Studenten noch weniger als den Agitatoren ein Gegenstand des Hasses; er war
ein Ehrenmann, aber, wie sein eigener College Bach sich äußerte, keine
Kapacität. Das Volk war nicht gegen Latour erbittert, sondern — — gegen Bach.
Der Jnstizknabc war mit seinem ganzen Mcphistvwcsen alsobald erkannt; er gerirte sich
als Dcmocrat, er besuchte die demokratischen Clubs, er drückte den radicalstcn Jvur-
nalsührern vertraulich die Hand und besprach mit thuen die Regicrungsmaßregeln. Ge¬
gen Bach war die Wuth des Volkes gerichtet, die sich unaushaltbar im Kriegsgebäude
am 6. October in schändlicher Unthat kund gab. Bach floh in einem Fiaker, aber nicht
zum Kaiser, wie es die Schuldigkeit des Krvubeamten gewesen wäre, um den etwa ge¬
fährdeten Monarchen zu schützen; der Kaiser war diese Nacht und die folgenden Tage
ohne Krourath, und vieles Unheil ist dem Umstände zuzuschreiben, daß in diese» Stun¬
den der Angst und Gefahr kein Minister an der Seite des Kaisers war. Dies sei nur
im Vorbeigehen erwähnt, um ein Licht auf die Verleumdung gegen die Anta, deren
Unreife wohl Anderes verschuldete, deren Edelsinn und jugendliche Begeisterung aber
jedem solchen Verbrechen fern blieb, z» werfen. Die Studenten aber müsse» grundsätzlich
herabgewürdigt werden, und so verdächtigt man sie, indem man gleichzeitig die „an¬
geblichen" Mörder Latours an den Galgen hing. Die Verbrecher mußte» bestraft wer¬
den, aber uach Recht und Gesetz, nicht nach Willkür. Das Verbrechen wurde am
6. October begangen, die Jnculpirtcn wurden aber vor's Ausuahmgericht gestellt und
vermöge der Proklamation vom 23. October verurtheilt! Das Militärgericht scheint
gefürchtet zu haben, das Civilgericht werde die Acrbrccher nicht verurtheilen, und hat
zum Theil damit Recht, denn nach dem Wortlaut des Gesetzes und nach Ermittlung
des Thatbestandes sind die 3 Gehängten keine Mörder, sondern Todtschläger, und selbst
dies mir im niedern Grade, da der Verletzte, nach ärztlicher Angabe, noch lebte als
er diese Streiche erhielt.
Ans diesen Angaben ist leicht zu ersehen, in welchem Zustande der Gesetzlosigkeit
sich Wien befindet. Die „Charte" ist eine Lüge, und die folgenden organischen Ge¬
setze können daher keine Wahrheit sein. Mit dem Erscheinen des Vereinsgesetzes haben
alle Vereine aufgehört und sich ausgelöst, was jedoch gar nicht bedauert wird. Wien
richtet überhaupt seine Hauptsorge nur auf die Rückkehr des Kaisers; die „Gutgesinn¬
ten" meinen, daß dann das Silber, welches bereits 13 pCt. Agio, und das Gold,
das bereits 26 pCt. Agio erhielt, reichlich fließen werde. Einige sehr gut gesinnte
Gemeinderäthe frugen bereits voll Schrecken beim Ministerpräsidenten an, ob bei der
Rückkehr des Kaisers etwa der Belagerungszustand aufhören werde. Fürst Schwarzen-
berg beruhigte ^die Gutgesinnten indem er sagte: „Das ist ein seltsames Vorurtheil
der Wiener. Der König von Preußen sitzt prächtig in Berlin und die Kammern be¬
rathen, trotz der Belagerung." — Daß aber der König von Preußen keine Galgen
inmitten seiner Residenz hat und dort keine Begnadigungen zu Pulver und Blei statt¬
finden, hat der Ministerpräsident den Gutgesinnten nicht gesagt. Ueberhaupt weiß man,
daß unser Ministerium im „Nichtssagen" ein Meister ist. Frankfurt liefert den Beweis.
Die Stimmung über die Abstimmung in der Kaiserfrage, ist hier
ganz gegen unsere Deputirten, die nicht mehr als Vertreter des
östreichischen Volkes, sondern als Handlanger und Werkzeuge des
Ministeriums betrachtet werden. Die Czechen versagen diesem Ministerium ihre
Dienste, von allen gerufenen Exdeputirtcn kam blos Placzek; Schuselka wollte man
gewinnen, der ehrliche Mann trumpfte sie ab, aber die Herren Naumann und Neuwall
sind die allezeit getreuen Diener. Nicht eine Kapacität, nicht eine Autorität geht
mit diesem Ministerium, dessen Pläne von den östreichischen Deputirten Frankfurts,
freiwillig oder unfreiwillig, gestützt werden.
Für uns Oestreichs gibt es gegenwärtig keine bessere Hilfe gegen den Druck, un¬
ter dem wir leiden, gegen die Willkür des Soldatenrcgimcnts, als eine schnelle und
glückliche Vereinigung der Bruderstämme zu einem Einheitsstaat. Ein solcher Bundes¬
staat würde unserer liberalen Partei Kraft und eine feste Stütze geben gegen die Po¬
litik unserer Machthaber. Das Ministerium steht das sehr wohl ein; es hat das größte
Interesse, auch die anderen Völker Deutschlands zu nichts kommen zu lassen, um der
Hydra der Revolution alle Köpfe abzuschneiden und die alte heimliche Politik der Ka¬
binette an die Stelle zu setzen. Das mußten unsere Deputirten in Frankfurt wissen. Sie mu߬
ten die Hochherzigkeit haben zu erklären: Wenn wir auch nicht sogleich Nutzen ziehn von
dem Bundesstaat, der hier geschaffen wird, so wollen wir doch nicht hindern, waS
durch das Volk geschaffen wird, wir wissen, es wird auch uns zu gut kommen. Was
ober thaten sie statt dessen? Sie erkennen in großer Mehrzahl die octrovirte Verfassung
für Oestreich an, und haben doch noch die Taktlosigkeit, im Frankfurter Parlament
sitzen zu bleiben, und anzustimmen und durch ihre Stimmen die Gestaltung Deutsch¬
lands zu vernichten. Wir fürchten die Nachwelt wird richten über diese Männer, sie
haben die Deutschen sowohl, als auch uus Oestreicher tief gedemüthigt. Es gab für
Alle, welche die östreichische Verfassung für giltig, also bindend für sie selbst, erklärten,
keine Wahl, sie mußten augenblicklich auftreten, wie z. B. Nößler und Arneth gethan
haben. — Auch das Mittel, durch welches die Männer der Linken sich zu reinigen
glaubten, das Nichtanerkennen der Verfassung durch die Einzelnen ist mehr abenteuerlich,
als ehrlich. Ehrlich wäre gewesen: der Nationalversammlung die Frage zu stellen: Er¬
klärt ihr die octroyirte Verfassung für giltig und maßgebend für die Beschlüsse der Na¬
tionalversammlung. Und erst wenn die Nationalversammlung durch Majorität mit Nein!
antwortete, durften sie bleiben, antwortete sie mit Ja, so mußten sämmtliche Oestreichs
austreten; das wäre ehrlich und klug gewesen. Das bloße Protestiren von einzelnen
Staatsbürgern gegen eine Verfassung, gleichviel ob diese Einzelnen Mitglieder der Na¬
tionalversammlung sind oder nicht, ist für ihr politisches Handeln ohne jede Bedeutung.
— Wir schämen uns jetzt unserer Deputirten und es wäre gut gewesen, wenn sie uus
diese Empfindung erspart hätten, wir haben ohnedies so sehr vieles Andere, was unser
Selbstgefühl niederdrückt.
In Ungarn stehen die Sachen nicht günstig für Oestreich. Die polnischen Führer
regeln die ungarischen Heerhaufen, und dann steht eine Macht von 100,000 Kämpfern
entgegen. Schlimmer für den Moment ist, daß das fruchtbare Land unbebaut bleibt,
und die Kornkammer Oestreichs eine Wüste ist. Zudem wollen die ungarischen Geld¬
besitzer weder gegen ungarische noch gegen östreichische Banknoten etwas verkaufen, son¬
dern blos gegen baares Geld.
Zum Schluß noch zwei Notizen. Der ehemalige Censor, dann Polizeimann im
Ministerium des Innern, und endlich Deputirte Umläufst wurde mit Beibehaltung seines
Gehaltes von 800 Fi. nach Jnspruck versetzt — als Polizeibeamter.
Ein Bild erschien: der Kaiser umgeben von Radetzky, Windischgrätz, Jellachich
und Melden. Darunter die Devise: „vlrilnis unitis."
Wir sind so weit ins Elend gekommen dnrch die Verhältnisse, d. h. dnrch
unsere Schuld, daß die ganze Geschichte anfängt einen gewissen teuflischen Humor
zu bekommen. Was Teufel wollt ihr dort draußen mit euren Parlamenten/ Re¬
formen, Gesetzvorschlägcn und all den weitläufigen und mühsamen Wegen ein freies
Volksleben durch Recht und Gesetz zu ordnen; wir in Oestreich machen die Schwie¬
rigkeiten kürzer ab; das Ministerium macht Gesetze und Melden hängt und erschießt
die, welche dagegen raisonniren; die Theorie der Minister und die Praxis der
Generäle taugen gleichviel. Da ist uns jetzt wieder so eine allerliebste Taube mit
dem Oelzweig des Friedens ins Haus geflogen, ein neues Preßgesetz. — Haben
Sie das Gesetz gelesen? Die Heiligen mögen mich davor bewahren, den Verfasser
desselben für unsinnig zu erklären, aber ich will mich von Melden hängen lassen,
wenn er nicht zur Hälfte Narr, zur Hälfte Schelm ist. Sagen Sie mir, gab es
nicht einst eine Zeit, wo ein Mann, Namens Metternich, weggejagt wurde? Es
muß lange her sein, mein Gedächtniß hat im letzten Jahr etwas gelitten, es hat
sehr Vieles zu vergessen versucht. Aber es ist vor alten Zeiten Einer weggejagt
worden; das wär ein Ehrenmann, ein freisinniger, braver Mann! wie würde der
sich wundern, wenn er die jetzige Wirthschaft sähe; denn im Vertrauen gesagt,
unsere Minister und Generäle, oder unsere Generäle und Minister — man weiß
uicht, wer von Beiden eigentlich regiert — sind ein wenig reactionär. Man
würde ihnen Unrecht thun, wenn mau diese Eigenthümlichkeit für eine Folge feiner
diplomatischen Bildung hielte, im Gegentheil, es ist reine, kindliche Naivetät. Sie
verstehens nicht besser, sie handeln im guten Glauben, sie sind keine Lügner, sie
sind nichts, als — gute Leute. Aber ihr Freunde an der Grenze, ihr wißt nicht,
wie viel besser es ist, durch einen klugen Schurken regiert zu werden, als dnrch
einen Haufen biederer Strohköpfe; der Schuft vermeidet es euch zu belästige»,
wo es nicht unumgänglich nöthig ist, der Dummkopf drängt sich euch überall auf
Und fordert Dankbarkeit und Anerkennung. — Unser Ministerium hat also ein
Gesetz gegen Mißbrauch der Presse erlasse«. Wißt ihr, wie bei uns ein Gesetz
gemacht wird? Es wird von den Herren Heisere, oder Warrens oder einem an¬
deren Vertrauten Stations eine Gesetzcsvorlage aus den entsprechenden belgischen,
preußischen ze. Gesetzen zusammengeschrieben, das dauert nicht lange, dann kommt
Stadion und macht seine persönlichen Ansichten herein, die wirklich die Ansichten
eines ehrlichen Mannes sind, aber sehr wunderliche und beschränkte, dann nickt
^r Ministerrath sein Ja, dann wird von den erwäh'nten Vertrauten eine zweite
G
Stylübung, dazu gemacht: die Empfehlung des Gesetzes für den jungen Kaiser,
worin Vieles vertuscht und Vieles gelobt wird. Dies ist der schwierigste Act der
Gesetzgebung, deun wir hören mit Freude, daß der Herr hier und da Funken
von josephinischen Feuer zu sprühen wagt — und dann wird das contrasiguirte
Gesetz frischweg ins Publikum herausgeschoben, wie warmes Brot aus dem Back¬
ofen, und seiue Fabrikation hat ungefähr eben so viel Witz gekostet, als Brot¬
backen. Meint ihr, ich übertreibe? Was z. B. im Preßgesetz aus deutschen und
anderen Preßordnungen abgeschrieben ist, könnt ihr selbst sehen. Es ist dies auch
ganz Recht und wäre unter Umständen ein Glück für uns. Was aber Stadion
dazu gemacht hat, wahrscheinlich eigenhändig, das konnte ich euch fast Wort für
Wort anführen; es sind die Dummheiten des Gesetzes, die er — was ich nicht
leugne — in sehr väterlicher Sorge für das Land, ausstudirt hat. Ich behaupte,
er hat in s. 10 die Höhe der Cautionen eingesetzt und die 23, 26, u. 28
corrigirt und die tztz. 32 u. 33 selbst zugeschrieben. Nehmt das Gesetz zur Hand
und schlagt nach: Ihr habt von mir eine Charakteristik Stations verlangt, ihr
mögt sie in dieser Bemerkung finden. Ein guter Maun, der durch polizeiliche
Aufsicht alles Uebel, alles Unglück verhindern möchte; ein ehrlicher Beamter, eigen¬
sinnig und doch unselbstständig, unklar und unfrei, ein unfähiger Reformator, der
znerst zum Tyrannen und endlich zum Spielzeug für fremde Einflüsse wird.
Ich hebe Ihnen einzelne Punkte des ungeschickten Gesetzes hervor.
Der Paragraph !> macht die Berechtigung zur Herausgabe einer periodischen
Druckschrift, welche mit Politik in irgend einer Weise zu thun hat und häufiger
als einmal im Monat erscheint, von dem Erläge einer Caution abhängig. Diese
Kaution beträgt im Umkreise großer Städte von mehr als «0,000 Einwohnern,
10 — 30,000 Fi. C.-M., je nachdem die Zeitschrift täglich oder weniger oft er¬
scheint, in kleinern Orten ist sie halb so groß, also 500V Gulden, wenn das
Blatt in jeder Woche mehr als dreimal, 2500 Gulden wenn es nur dreimal er¬
scheint; 1500 Gulden wenn es wöchentlich zweimal, einmal oder auch nur alle
14 Tage ausgegeben wird.
Ueber Nutzen und Schaden der Caution ist hinlänglich verhandelt worden;
sie ist ein sehr unsicheres Mittel, unberechtigte Meinungen des Einzelnen von der
Öffentlichkeit abzuhalten. Die Nation hat zwar das Recht zu verlangen, daß
der biegsamste und abhängigste Theil des Volkes nicht durch abgeschmackte und
unvernünftige Ansichten verführt und in seiner Entwickelung aufgehalten werde,
aber eben so sicher ist, daß eine freie Nation derartige Beschränkung der indivi¬
duellen Ansichten, trotz der Gefahr, welche das Gegentheil möglicherweise bringen
kann, nicht fordern wird. In einem Lande, wo das politische Leben ausgebildet
ist und die Zeitungen Organe staatlicher Parteien sind, auf welche sie sich stützen,
von denen sie getragen werden, hat es in der Praxis mit der Caution nicht so
viel auf sich, in unserm Lande, wo es noch keine Parteivilduug gibt, ist sie ein
unerträglicher Druck, weniger für große Zeitungen, am meisten für die kleinen
Blätter der Provinzen. Es ist nothwendig, daß die Interessen der Gemeinden
und Kreise in Krcisblättern ihre Vertretung finden; solche Blätter haben sämmtlich
mit Politik zu thun. Wie ist es möglich, daß diese 2500 oder anch nur 1500
Gulden Caution stelle», da ihr Leserkreis eben so beschränkt sein wird, als ihre
Wirksamkeit für Bildung des Volkes bedeutend sein kann? Wahrscheinlich hat die
Regierung die väterliche Absicht, diese Blätter selbst in die Hände zu nehmen,
oder durch Vorschießen der Kaution in zweckmäßige Abhängigkeit von sich zu
bringen.
Diese Caution haftet für alle Geldbußen, sie kann wegen Uebertretung der
Prcßvorschristen ganz oder zum Theil verfallen und muß in beiden Fällen binnen
drei Tagen ergänzt werden. Dieser Verfall der Caution findet selbst dann statt,
wenn der Erleger der Kaution für seine Person nicht strafbar befunden wurde.
Diese letzte Bestimmung ist, so allgemein gefaßt, Unsinn. Da nämlich nach späteren
Paragraphen zunächst der Verfasser eines Artikels, nach diesem der Herausgeber
oder Redacteur, dann der Verleger, der Drucker und sogar der Verbreiter ver¬
antwortlich sind, so wird das Gesetz in allen Fällen Personen finden, an wel¬
chen die Strafe an Geld und Gefängniß vollzogen werden kann; es wird also
in allen Fällen die Caution höchstens als Unterpfand für die zu zahlende Strafe
betrachtet werden können, wie sie aber verfallen soll, wenn der Erleger für un¬
schuldig befunden wird, ist nicht abzusehen. Der Sinn dieser drakonischen Be¬
stimmung ist offenbar der, daß die Zeitschrift als solche strafbar bleibt, auch wem:
der Verfasser eines einzelnen Artikels oder Jnserats besonders verurtheilt worden
ist. In diesem Sinne gibt es aber keinen unschuldigen Erleger der Caution, denn
wer die Caution eingeschossen hat, ist gleichgiltig, die Zeitschrift wird als Cau-
tionshaber betrachtet. Der §. 12 ist eben so schülerhaft stylisirt, als sein Inhalt
barbarisch ist.
Der Z. 17 enthält das bekannte Curiosum: Berichtigungen von Thatsachen von Seite
der Angegriffenen ist der Herausgeber einer periodischen Zeitschrift insofern unent-
geltlich aufzunehmen schuldig, als der Umfang der Entgegnung, den Umfang des
Artikels nicht übersteigt, auf welchen sich die Entgegnung bezieht. — Gesetzt, ein
Blatt, z. B. Ihre Grenzboten, enthält in einem Artikel über Wien die humo¬
ristische Lüge, daß der Theaterdirektor Carl in der Octoberrevolution aus einer
ungeheuren Blundcrbüchse dreilöthige Kngeln vom Stephansthurm herunterge¬
schossen habe, und der Artikel, in welchem solche Notiz vorkommt, wäre 16 Seiten
lang, so würden Sie nach östreichischen Recht verpflichtet sein, in der nächsten
Nummer einen Bogen für Herrn Theaterdirector Carl bereit zu halten, in welchem
er dem Publicum anf 16 Seiten versichern könnte, daß es ihm nicht eingefallen
sei, von einer Donnerbüchse so schändlichen Gebrauch zu machen. Ernsthaft be¬
trachtet aber ist die gesetzliche Bestimmung, daß Berichtigung von Thatsachen dem
Angegriffenen unentgeltlich freistehen soll, in der Praxis eine unausführbare Sache.
Wir können l'el allen Parlamentsverhandlungen hören, wie allgemein das Capitel
der factischen Berichtigungen gefaßt wird, wie zuletzt jeder über alles eine factische
Berichtigung beizubringen hat. Wenn ich in einem Artikel sage, die Studenten
von Wien haben sich an dem und dem Tage bei dem und dem Commers einen
tüchtigen Rausch getrunken, so werde ich mir eine große Anzahl von Berichtigun¬
gen müssen gefallen lasse», in welchen die einzelnen Studenten versichern, daß sie
sich keinen Rausch getrunken haben. Wo ist bei so allgemeinen, so unklaren Be¬
stimmungen für die Presse Gehorsam möglich, und wenn der Gehorsam erzwungen
werden kann, wie ist eine Presse möglich?
§. 19 verbietet das Hausirer mit Druckschriften, das Ausrufen, Vertheilen,
Feilbieten und Anschlagen ans offener Straße gänzlich. Eine harte Bestimmung,
der Tod aller Betheiligung des Volkes bei Tagesfragen, ein unerträglicher Zwang
auch für den Vermögenden, welcher eine Wohnung hat, in welche ihm die Zei¬
tungen gebracht werden können! Das Ausgeben von Extrablätter», die schnelle
Verbreitung von Nachrichten höchster Wichtigkeit wird dadurch unmöglich gemacht,
falls nicht die Negierung die Huld hat, das väterlich selbst zu thun. Auch das
unschuldige Verkaufen von Bänkelsängerliedern, dem Leben der schönen Mageloue,
der Historie vom gehörnten Siegfried u. f. w. hat der Zorn des Ministeriums
getroffen, die armen Guckkasteuerklärer und Drehorgelträger werden das Ministe¬
rium eben so sehr verwünschen, als andere Leute.
Das aber, was durch unser Preßgesetz für straffällig erklärt wird, ist uner¬
hört und ungerecht in empörenden Grade. Wer durch Druckschriften zum Wider¬
stande gegen Verfügungen der öffentlichen Behörde, gegen Gesetze, Verordnungen
und Erlasse der Gerichte oder zu Feindseligkeiten wider die verschiedenen Natio¬
nalitäten, Religiousgenossenschaften/einzelner Classen oder Stände der bürgerliche»
Gesellschaft oder wider gesetzlich anerkannte Körperschaften auffordert, aneifert oder
zu verleite» sucht, wird mit Kerker bis zu 2 Jahren bestraft. Wenn ich heut
ein Buch gegen die östreichische Bank oder den Lloyd schreibe, worin ich die Uebel-
stände dieses Instituts auseinandersetze und alle Patrioten zu einer Geld-Associa¬
tion auffordere, welche im Stande ist, dem Institut entgegen zu wirken, so werde
ich auf 2 Jahre ins Gefängniß gesteckt; wenn ich in irgend einer Zukunft erkläre,
daß der Gemeinderath von Wien seiner radicalen Gesinnungen wegen keine Ga¬
rantie für das Wohl der Stadt biete, und daß es wünschenswerth wäre, andere
Männer an seine Stelle zu setzen, so verleite ich zu Feindseligkeiten gegen eine
anerkannte Körperschaft und werde wieder auf 2 Jahre in den Kerker gesteckt.
Wenn ich als Deutsch-Böhme dem Einfluß der Slovanska-Lipa in Druckschriften
entgegenarbeite und gegen unhaltbare czcchische Nationalitätögclüste zu einer Oppo-
sitionsverbindung auffordere, so verleite ich zu Feindseligkeiten gegen die czechische
Nationalität und werde aus zwei Jahre in den Kerker gesteckt. -- Aber es kömmt uoch
ärger. Wer in Druckschriften wider Einzelne, wider Familien, öffentliche Behör¬
den, einzelne Organe der Regierung mit Beziehung auf ihre amtliche Wirksamkeit,
wider gesetzlich anerkannte Körperschaften, Nationalitäten, Neligionsgcnossenschaften,
einzelne Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, Thatsachen erdichtet oder entstellt, um
dieselben in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen; wer dieselben ohne
Anführung bestimmter Thatsachen schmäht, beschimpft oder verächtlicher Eigenschaften
und Gesinnungen zeiht, oder auch nur ehrenrührige, wenn auch wahre That¬
sachen anführt, welche das öffentliche Interesse uicht berühren, ist mit Arrest, im
ersten Fall bis zu l> Monat, im zweiten und dritten bis zu 3 Monaten zu bestrafen.
Bei Zeitschriften geht überdies ein Theil der Kaution verloren. Die angeführte
Bestimmung umfaßt die §z. 31—33. Nie hat eine tyrannische Regierung ärgere
Beschränkungen erfunden: auch wahre Thatsachen dürfen, wenn sie den erwähnten
Kategorien, also irgend Jemandem im Staate nachtheilig sein könnten, nicht er¬
wähnt werden.
Schon die Fassung der §§ ist seltsam; wenigstens ist nicht einzusehen, wie
es Angriffe auf „einzelne Organe der Regierung auf ihre amtliche Wirksamkeit"
geben kann, (§33) welche sich auf Thatsachen stützen, die das öffentliche Interesse
nicht berühren (§. 32); es ist im Gesetz nämlich unlogisch §.33 an K. 32 angelehnt.
Aus dem unklaren Inhalt geht aber jedenfalls hervor, daß auch wahre Thatsa¬
chen den Behörden und Negierungsorgancn gegenüber nicht besprochen werden
dürfen, wenn sie ehrenrührig sind, beschimpfen oder verächtliche Eigenschaften vor¬
aussetzen. — Es wird hier die Frage erlaubt sein, was darf der Publicist jetzt
noch tadeln? Er behauptet, ein Beamter habe seine Schuldigkeit nicht gethan,
oder er sei seiner Stellung nicht gewachsen. ES ist zwar wahr, es wird bewiesen,
aber es ist ehrenrührig, kostet also einige Monate Arrest. Ein anderer Beamter
hat vielleicht ein sehr schlechtes Gesetz verfaßt, hat darauf ein juristisches Buch
als Commentar darüber geschrieben, alle betreffenden Beamten mußte» es kaufen,
um das Gesetz handhaben zu können, von dem Erlös des Buches kauft er sich
eine Villa bei Wien. Ist bereits da gewesen. Diese Thatsache in einem Blatt
erwähnen, kostet drei Monat Arrest. Und nun gar dem Ministerium gegenüber.
Es ist fortan in Oestreich »nthulich, Thatsachen vor die Oeffentlichkeit zu bringen,
durch welche die Unfähigkeit der Minister bewiesen wird, denn allerdings können
solche Thatsachen leicht für ehrenrührig gehalten werden. Beim gegenwärtigen
Ministerium wird das Publikum freilich uicht begehren, solche Thatsachen in den
Zeitungen zu finden; die Gesetze und Verfügungen des Ministeriums schreien selbst
lauter, als die Presse vermöchte.
Die Schlußbestimmuugen des Gesetzes krönen das Werk. „Jedem zweiten
Strafurtheil kaun bei einer Zeitschrift unter besonders erschwerenden Umständen
eine dreimonatliche Suspension folgen. Das bedeutet in der Wirklichkeit Vernich¬
tung der Zeitschrift. — Für den Inhalt einer Zeitschrift haftet der Verfasser des
Artikels solidarisch mit dem Redacteur. Ist nicht ganz verständlich. Werden beide
Theile oder, wenn mehrere Redacteure, sind alle zusammen jeder mit der vollen
Höhe der Strafe belegt, oder wird sie zu gleichen Theilen unter die Schuldigen
vertheilt? Die Haftung der Redaction dürfte nur eine eventuelle sein. — Den
Drucker und Verbreiter (Colporteur) eiuer Zeitschrift aber ebenfalls für den Inhalt
verantwortlich zu machen, wenn Verfasser oder Verleger auf ihr angegeben sind,
ist ein bitteres Unrecht, das aus allen ältern Gesetzbüchern ausgemerzt werden
muß, in einem neue» aber eine Abgeschmacktheit ist.
Ich behaupte, daS Gesetz ist schlecht, unklar, unvernünftig; daß das Mini¬
sterium aber in seiner Weise ehrlich sein will, beweist der Nachtrag über die
Bildung von Geschwornengerichteu, von denen Preßvergehen beurtheilt werden sollen.
Dies zweite Gesetz ist besser, auch in seinem Detail. Nur sind sür Oestreich zwei
bedenkliche Uebelstände dabei. Zunächst die Bestimmung, daß der Staatsanwalt
erst dann seinen Antrag auf das Strafmaaß stellt, wenn die Geschworenen ihr
Schuldig bereits gesprochen haben, dies Strafmaaß wird von dem Richtercollegium
in geheimer Sitzung bestimmt. Da das neue Preßgesetz in dem harten Srraf-
maaß den Richtern einen ungeheuern Spielraum gelassen hat, der theilweise Ver¬
fall der Caution und die zeitweise Suspension der Zeitschrift anch von ihrem sub-
jectiven Ermessen alihängen, so wird die Wohlthat des Geschwornengerichts schon
dadurch ziemlich illusorisch. Ferner aber sind die Geschworenen noch nicht vor¬
handen, das Gesetz aber bereits in Kraft getreten. Ich bin neugierig, ob das
Gesetz die Geschworenen unnöthig machen wird, oder die Geschworenen das Ge¬
setz. — Wem diese Antithese unverständlich ist, der habe die Güte, noch einige
Wochen zu warten, die Erklärung wird nicht ausbleiben.
Die Einheit des großen Kaiscrstaats, welche in der neuen Verfassung noch
so träumerisch idealisirt würde, erscheint in dem Preßgesetz bereits aufgegeben;
bemerkt, ihr Freunde, daß es für Ungarn und die Südslaven nicht gegeben ist.
— Wir Wiener klagen nicht mehr, Mehrere sind ruhig und werden feist, Andere
werden hager und pressen die Zähne zusammen. Es riecht nach Leichen durch
ganz Wien, wer an einen Gott glaubt, betet ängstlich zu ihm: Herr erhalte
mir meine fünf Sinne! - O es ist abscheulich. —
Es war am 8. März, an einem trüben und unfreundlichen Regentage, als
der große Papierdrache, den mau am 4. März in Olmütz zur Beglückung der
Völker Oestreichs aufsteigen ließ, in die Straßen Prags niederfiel und die oc-
troyirte Charte nebst dem Auflösnngspatent des Reichstags an allen Ecken zu
lesen war. Wer das Glück hatte, in der gehörigen Sehweite vor den Placatm
festen Fuß gefaßt zu haben, übernahm die Rolle des Vorlesers vor einem höchst
aufmerksamen Auditorium, das nach geendeter Vorlesung still und ruhig „der er¬
sten Bürgerpflicht" eingedenk, aber nicht eben sehr erbaut, auseinanderging. Nur
hie und da zuckte ein zufriedenes, halb schadenfrohes Lächeln über das feiste Antlitz eines
Bourgeois, wenn er etwa in dem stillen Mann, der ihm zur Seite stand und an
den Nägeln kaute, den verwitterten Demagogen der Junitage erkannte, welcher
ihn damals mit wilden Flüchen von der Ofenbank zum Barrikadenban hinaus¬
drängte. Im Ganzen genommen, waren aber die unartikulirter Laute des Er¬
staunens, wie sie ein so ungewöhnliches Ereigniß hervorzurufen Pflegt, wenig zu
hören. Nur dann, wenn das Blut noch vom Kampfe erhitzt ist, und in frischer,
revolutionärer Wallung durch die Adern rollt, kann es bei einer solchen Hiobspost
in plötzliche Stockung gerathen; aber mit kaltem Blut kann man selbst der Me¬
duse ruhig nud ohne Gefahr in's Gesicht sehen. Während der Nevolntions-
ftrien der letzten Zeit ist das Volk nachdenklich geworden, und über die sanguinische
Naivetät der Verwunderung mit vielem Glück hinweggekommen. Das Horazische
,M miruri", welches den Männern der Grenzboten als leitender Gedanke in der
Politik vorschwebte, ist jetzt eine Bauernregel, die man ans dem Markte hören
kann, eine simple, hausbackene Moral, die sich das Volk selbst aus der durch¬
gemachten Revolutionsgeschichte abstrahirt. —
Mehr läßt sich über den ersten Eindruck, den der Olmützer Staatsstreich bei
uns gemacht hat, nicht eben sagen. Nun wollen wir aber nachsehen, wie dieses
Ereigniß in der nächsten Woche nach seiner Bekanntwerdung in dem untern Schiffs¬
raum des Staatsschiffes nachklingt. —
Dort leiert ein barfüßiger Troubadour, um dem sich eine buntgemischte Gruppe
gebildet hat, ein Lied herunter, dessen einzelne Strophen lebhast beklatscht werden.
Lassen Sie uns den kundigen Thebaner, den edlen Philosophen hören! Die Me¬
lodie ist alt, sie ist uns schou von dem Gassenhauer: „SusoIKi,, nun niso" be¬
kannt — aber der pikante Text ist neu, und will ein Spottlied auf die Rechte,
auf ihre Flucht von Wien und ihre weiland ministerielle Politik vorstellen. Das
Volk vermag nicht in klarer verständiger Prosa zu sprechen und kalte daher seine
Orakelsprüche in Knittelversen her. Wir wollen schnell dieses Lied dem armen,
frierenden Toms abkaufen, ehe es der Staatsanwalt confisciren läßt; es ist ja
auch ein Beitrag zur Volkspoesie des Ncvolutionszeitalters. Der Knabe stößt
wieder in das Wunderhorn und von Neuem ertönt die Stimme des Volkes in
Liedern.
Treten wir jetzt in dieses Gasthaus ein. Zu solchen Zeiten ist ja eine jede
Wirthsstube eine Höhle des Trvphouius, wo sich Bilder der Zukunft aus den
dunklen Rauchwolken enthüllen. Ein Kreis von tüchtigen, gedrungenen Gestalten
ist um jenen Tisch versammelt. Der derb nationelle Ausdruck ihrer Gesichtszüge,
der Zuschnitt ihrer Röcke, der genau an die Modebeilage der Novin)? 8>vola8><v
erinnert, endlich die rothen Mutzen mit den blauen Quasten lassen uns keinen
Augenblick in Zweifel, daß es Ezcchen sind. „Wir werden jetzt nach Frankfurt
wählen," ruft einer von ihnen — „der Rieger hat es selbst so gesagt — dort
gibt es ja eine Versammlung, die sie noch uicht mit Bajonnetten auseinander ge¬
jagt haben!" — Und jetzt noch einen Blick zum Fenster hinaus. Eine Schaar
von Studenten, mit den Ziegciihaincrn in der Luft herumfuchtelnd, stürmt vorüber,
und ruft ein wildes: /ij» iXossutli" aus voller Kehle. Mögt ihr uur keiner
Patrouille begegnen, ihr tollen Jungen! —
„Nach Frankfurt!" Dieser Ruf ist aus dem Gasthause, wo wir ihn vernom¬
men haben, schnell in das Redactionsbureau der Deutschen Zeitung gedrungen;
und dieses Journal, welches als Vorkämpfer für die deutschen Interessen
seine Lanze bricht, macht schnell ans dem Empfindungswort ein Substantivum und
stößt ganz ernstlich in die Tuba hinein, um in mtrtilins jnlnlolmm neuerdings sür
das Frankfurter Parlament zu werbe». Aber jene Tuba ist eigentlich nichts als
das alte Alpenhorn, in das die Deutsche Zeitung seit einem halben Jahre bläst
und der Czeche erkennt genau die Melodie des Kuhreigens, das alte Lied von
dem germanischen Heimweh, das den Deutschen über die blauen Berge seiner
Sehnsucht, über das Erz- und Riesengebirge uach Deutschland hinüberlockt. Das
bringt ihn rasch zur Besinnung; er nimmt sein voreilig gesprochenes Wort, mit
dem sich ohnehin kein Ernst machen läßt, zurück, und wieder kommt einer jener echt-
nationalen Gassenhauer, auf die er so stolz ist, über seine Lippen.
Doch was will das Jubelgeschrei bedeute», das uns aus den innern Räumen
des Bahnhofes cntgegentönt? Das sind die zurückkehrenden Deputaten, die mit
tausendfachen Hochs und Slavarufeu begrüßt werden; die Helden des Dramas
von Kremster, die dort getrennt vom Volke in klösterlicher Einsamkeit das Volks¬
wohl beriethen, bis endlich die Soldaten, die im Hinterhalte lauerten, ans sie
eindrangen und in die Figuren, die sie gleich Archimedes in den Sand gezeichnet
hatten, schonungslos hineintraten. Bei ihrer Ankunft in Prag finden sie erst den
Chorus wieder, ohne den kein gelungenes politisches Drama denkbar ist; aber was
kann er ihnen jetzt helfen, da das Stück, bei dem er fehlte, nicht weiter gespielt
werden darf? Und wird nicht der neue Reichstag, der in Wien einberufen wer¬
den wird, dort ebenso vereinsamt, wie in Kremsier tagen, da um ihn herum das
Volk nach dem neuen Associationsgesetz, fünf Meilen in der Runde schweigen
muß? —
Viele von denDcputirten des ersten östreichischen Reichstags haben die Hand
muthig über das Feuerbecken hingehalten und sich so ganz heroisch die Finger ver¬
brannt, ohne der Freiheit etwas zu nützen; aber gleichviel! Das Volk küßt jetzt
begeistert diese Hand und fragt uicht weiter uach dem Erfolg. Der nationelle
Particularismus streut Asche auf sein Haupt, weil er sich seiner Mitschuld an
der Auflösung des Reichstages anklagt. Borrosch wird unter dem lauten Rufe:
,,-it /ije!^ von czechischen Studenten aus dem Bahnhofe getragen und einige Tage
darauf vereinigt sich die deutsche Studentenschaft mit der czechischen, um ihm in
Gemeinschaft mit Rieger für seine demokratische Thätigkeit in der Constituante
durch einen Fackelzug zu danken. Ohne heftige Rührung läuft, wie bekannt, eine
solche Demonstration niemals ab; Rieger hielt einen Panegyrikus auf Borrosch,
der seine Wirkung auf die deutschen Studenten nicht verfehlte, und der ohnehin
sentimentale Borrosch fiel zur großen Freude der Czechen Niegern an den Hals,
als wollte er durch diese symbolische Umarmung sagen: „Seid umschlungen, ihr
17 Millionen Slaven!"
Ich bin kein Freund von solchen prunkenden Aufzügen und gebe eben nicht
viel daraus, wenn ein Theil der Bevölkerung seine Gefühle durch einige hundert
Windlichter in der Abenddämmerung in das gehörige Licht zu bringen sucht.
Aber jener Fackelzug hat doch seiue feurigen Reflexe bis in mein Inneres gewor¬
fen; ich habe unterwegs heftig mit den Ministern gezankt und lasse hier einige
Stellen aus einem polizeiwidrigen Monologe folgen.
Laßt euch bewundern, ihr weisen Staatslenker von Olmütz, — so sagte ich
damals, — die ihr durch euer großmüthiges Verfassungsgeschenk keine andere Partei
befriedigtet, als jene, welche schon längst mit euch vollkommen zufrieden war,
nämlich den großen Rattenkönig der Bourgeoisie! Statt ein neues Pantheon zu
bauen, wo jede östreichische Nation eine geweihte Stätte für ihre Palladien findet,
HM ihr den Götzendienst der Börse als Staatsreligion erklärt, wo man des ab¬
strakten Deismus der Freiheit spottet und ein goldenes, mit schwarzgelben Bän¬
dern geschmücktes Kalb göttlich verehrt. Aber auch auf der Wage der Spekula¬
tion ward euer Staatsstreich zu leicht befunden und gedankenlos schrieben die Sen¬
sale in der Form von Courszetteln das Urtheil über eure Charte hin. Inso¬
fern muß ich euch jedoch für euern „kühnen Griff" danken, weil ihr trotz dem
Grundsatz clividv et im^er», der euch ohne Unterlaß vorschwebt, dennoch die
Einigung der östreichischen Völker, das Verständniß ihrer gemeinsamen politischen
Aufgabe angebahnt und so der Koalition des aufgelösten Reichstags wegen des
K. 1. eine tiefere symbolische Bedeutung gegeben habt, als ursprünglich darin lag.
Der Reichstag mußte verhöhnt, verspottet und endlich aufgelöst werden, damit
die Völker Oestreichs durch ihn die Erlösung finden von deu Erbsünden des Na-
tionalhasses. So lange er in Kremsicr ein mattes Scheinleben fristete, konnte er
uns keinen praktischen Nutzen bringen, aber seitdem er auferstanden ist in dem
Herzen der Völker und hier seinen Ostermorgen feiert, kaun sein Andenken als
ein versöhnender Geist in der großen Völkergemeinde der östreichischen Nationen
walten. —
Wenn das VolkHier wie überall in ernster Weise den März des vorigen
Jahres, als den BeMnn der Revolution feiert, während alle, „die des Kaisers,
Brot essen" über den heurigen März in einen erzwungenen Jubel ausbrechen,
wo der Schluß der Revolution durch euch, ihr Herren, decretirt wurde, so hat
jene vom Volke ausgehende Feier nicht nur als ein lauter Protest gegen das
officielle Constitutionsfest, sondern auch noch in anderer Weise eine wichtige Be¬
deutung. Das Volk hat jetzt die wunderbaren Ereignisse des vorigen Jahres,
die in buntbewegtcr Fülle an ihm vorübergingen, in sein Inneres aufgenommen,
und hier zu einem modernen Mythenalter der Freiheit, zu einer heiligen Geschichte
umgedichtet, die den politischen Glauben nähren und beleben soll. Im März 1848
war die Freiheit nur eine frohe Botschaft, die von der Aula der ganzen Welt im
begeisterten Rausche verkündigt wurde; jetzt aber ist sie ein Geisterwort, das aus
den Gräbern der gefallenen Freiheitskämpfer als eine ernste Mahnung an die
Volker ergeht. Damals hat der Freiheitsidee noch zu ihrer Tiefe das Grab ge¬
fehlt: jetzt aber ist ihr Cultus längst durch die Weihe des Martyriums zur allge¬
meinen Volksreligion geworden. Der Tod in der Idee sichert ihr selbst ein un¬
vergängliches Leben, er ist der populärste Beweis von ihrer realen Macht, der
unfehlbar auf die Massen wirkt. Die Revolution des vorigen Jahres hat nun
bereits eine zahlreiche Menge von Glaubenshelden, die der Sinn des Volkes hei¬
lig gesprochen hat, und zu denen die Kämpfer hier unten die Blicke begeistert er¬
heben. Fürst Windischgrätz und Vater Melden haben durch die Füsiladen im
Stadtgraben dem revolutionären Heiligencultns reichen Stoss gegeben und jetzt
wurde durch die steckbriefliche Verfolgung von Deputieren die Zahl der Märtyrer
neuerdings vermehrt. Auf diese Weise wird die Demokratie die verschiedenen
Völker Oestreichs zu Einer großen Kirche vereinigen, die mit der Macht des
Glaubens gegen das Flickwerk des ministeriellen Staates so lange ankämpfen
Einige Wochen sind vorüber, und das Blut wallt ruhiger. Die erste Em¬
pörung über das Verfahren des Ministeriums verwandelt sich in Sorge um Reich
und Volk. Die Illuminationen, der Jubel, das Portraitherumtragen der Resi¬
denz und die Zustimmungen aus den Provinzen sind ein Gaukelspiel der Regie¬
renden und ihrer Schleppträger. Als Kaiser Franz einmal von einer Reise nach
Wien zurückkehrte, gab es offizielle Rippenstöße der von der Polizei bestellten
Leute, um das gaffende Volk zum Vivatrufen zu bewegen. Sedlnitzky hatte, wie
die Alten weinende Weiber bei den Leichen, so ein ganzes Corps Vivatschreier
engagirt, die überall dem kaiserlichen Wagen folgten. Dies ist keine Anekdote,
sondern Thatsache. So wie das alte Spionir- und Spitzelwesen wieder in Schwung
gebracht ist, so hat man auch dieses Vivatrnfercorps neu organisirt. Der Ge¬
meinderath Wiens fühlte selbst, daß dieser Charte wegen eher in Sack und Asche
zu wandeln, als im schwarzen Frack zu denken sei, und er sandte eine Deputation
an den Kaiser, blos um für die Gnade zu danken, daß Wien ferner die Residenz
bleibt. So viel haben die Wiener aber doch schon gelernt, daß sie den Unter¬
schied zwischen einer directen Wahl ohne Census und einer Wahl durch Landtage
mit einem Census von 500 Fi. und 40 Jahren verstehen; auch das verstehen die
Wiener, daß nach dieser Charte niemals ein Reichstag zu Stande kommt, denn
es müssen erst die Landtage octroyirt werdeu, und diese wählen ins Oberhaus.
Wer tiefer als die Wiener in diese Verfassung eingeht, der findet den nassesten
Macchiavellismus in jeder Abtheilung. Gleich im ersten Paragraph wird ein Groß-
herzogthum Krakau und ein Herzogthum Bncowina ernannt, wovon sich kein
östreichischer Diplomat, noch weniger das Volk Etwas träumen ließ. Im 13.
Jahrhundert war Krakau ein Herzogthum, und wir kehren zu jenen mittelalter¬
lichen Zeiten zurück. Krakau und die Bucowiua werden, wenn sie dürfen,
gegen diese Umwandlung protestiren.
Nach §. 19 verleiht der Kaiser auch ferner „den Adel;" nach dz. 44
wird das Unterhaus durch directe Wahlen, aber mit einem Census von 5 bis
20 Fi. und 30 Altersjahren, gebildet; nach H. 46 muß die Stimmgebung bei
den Wahlen mündlich und öffentlich sein; nach §. 49 gelten die Wahlen
fürs Oberhaus l0 Jahre, für's Unterhaus 5 Jahre lang; nach §. 50 beziehen
die Oberhäusler keine Entschädigung. Die Unterhäusler ein Pauschale;. nach s. 57
darf in keinem Hause eine geheime Stimmgebnng stattfinden; nach §. 59 können
vertrauliche Sitzungen gehalten werden, wenn der Präsident oder zehn Mit¬
glieder eines Hauses es verlangen; nach §. 69 kann der Kaiser jeder Zeit die
Auflösung des Reichstags anordnen.
Wir glauben, daß Jedermann der fünf Sinne hat, aus diesen wenigen Ci¬
taten erkennen wird, welcher Art die Reichsverfassung des Kaisertums ist; sie ist
eine etwas ausgeweitete Ständevertretnng, wo die greisen Zöpfe Ja schütteln zu
den Vorlagen des kaiserlichen Commissärs. Die Bestimmungen, welche wegen der
complicirten Maschinerie der Provinzen getroffen wurden, erregen nur ein Lächeln.
Es ist ein ganz charakteristisches Zeichen, daß dieses Ministerium durch seine
Ordonnanzen keine Kämpfe und Meinungsstreitigkeiten erzeugt; man lacht nur
darüber, obwohl mit jenem Salz, den man Humor nennt. Mit Gaudio erinnert
man sich der Carricaturen im Wiener Charivari, die jetzt erst gerechtfertigt sind.
Wenn man auch wollte, man könnte nicht mit Ernst an die Beurtheilung die-
ser Verfassung gehen, wo theils die Ignoranz, theils die plumpe Reaction in
jedem Kapitel sich breit machen. Das Ministerium läßt den Kaiser „verordnen,
in Anerkennung und zum Schutze der gewährleisteten (?) politischen Rechte."
Z. 1> Die volle Glaubensfreiheit und das Recht der häuslichen Ausübung
des Religionsbekenntnisses ist gewährleistet. — Ist das nicht zum Lachen?!
In §.2 ist jede Kirche wie „jede Gesellschaft" den allgemeinen (?) Staatsgesetzen
unterworfen. — Wird es also möglich sein, z. B. die katholische Kirche zu sus-
pendiren oder ganz aufzuheben, wenn sich die Erzbischöfe eines staatsgefährlichen
Vergehens schuldig machen? oder wird der Kirche wie den Gesellschaften verboten
sein, Unmündige, Säuglinge, kaum Geborne in ihren Verband aufzunehmen? —
In §. 5 heißt es: „Die Presse darf nicht unter Censur gestellt werden." Alle
andern Bedrückungen, Verfolgungen sind neuerdings sanctionirt. Wahrhaft possier¬
lich ist §.7: „Die östreichischen Staatsbürger haben das Recht sich zu versammeln
und Vereine zu bilden, insoferne Zweck, Mittel oder Art und Weise der
Versammlung oder Vereinigung weder rechtswidrig (?) noch staatsgefährlich (??)
sind. (Noch nicht genug.) Die Ausübung dieses Rechtes, sowie die Bedingungen,
unter welchen Gescllschaftsrechte (??) erworben, ausgeübt, oder verloren werden,
bestimmt das Gesetz." (???) — Ueber ein solches Grundrecht lassen sich keine
Glossen machen; ebenso wenig darüber: §. 8, „daß die Freiheit der Person ge¬
währleistet ist," aber jede, eine richterliche Funktion gesetzlich ausübende Behörde
eine Person verhaften kann. Deshalb werden in Krem hier, auf Befehl der
Wiener Militärcommandcmtur, Exdepntirte mittelst Militär verhaftet, ohne Bei¬
ziehung der localen Civilbehörde. Aber die Persoualfreiheit ist gruudgesetzlich noch
weiter in Schutz genommen, indem nach dz. 9 die Sicherheitsbehörde (zu Deutsch¬
östreich die Polizei) Jeden, den sie in Verwahrung (?) genommen hat, binnen 48
Stunden freilassen oder dem zuständigen Gerichte überweisen muß. — Welcher
Strafe die Polizei unterworfen ist, wenn sie widerrechtlich Jemand 48 Stunden
in Verwahrung hält, ist nicht angeordnet. Nach §. 11 kann die Beschlagnahme
von Briefen (auf der Post) auf Grund eines richterlichen Befehls vorgenommen
werden.
Das Beste kömmt zuletzt. All diese Grundrechte können „bei Unruhen im
Innern" zeitweilig (?) außer Wirksamkeit gesetzt werden. Da Oestreich dnrch
diese Charte Eins ist, so können diese Grundrechte, kaum gegeben, gleich wieder
außer Wirksamkeit gesetzt werden, denn es ist Krieg, und es siud Unruhen im
Innern, in Italien, in Ungarn u. s. w.
Endlich beauftragt der Kaiser, bis zum Zustandekommen organischer Gesetze,
provisorische Verordnungen zu entwerfen.
Mehr als genug citirten wir, um die Nullität dieser Charte darzulegen; der
Hohn aber, der darin liegt, die Perfidie gegen die einzelnen Länder und Nationen,
das läßt sich kaum darlegen. Ein wahres Verbrechen begeht derjenige, der die
octroyirte Charte Preußens in Parallele bringt mit diesem Wechselbalg. Jubel
würde das Land durchzieh», hätte das Ministerinni nnr die Hälfte jener freisinni¬
gen Verfassung gegeben, oder wäre nnr irgend eine Garantie für irgend eine
Concession, für irgend ein Recht vorhanden. Dies ist der wundeste Fleck Oest¬
reichs und seiner Neugestaltung. Was liegt darau, ob ein Polizeimann einen
Staatsbürger 48 Stunden verhaften, oder ein Korporal, der richterliche Functionen
ausübt, die Briefpost durchstöbern kann? was liegt daran, daß das Volk durch
mündliche und öffentliche Wahlen der Bestechung preisgegeben und der Senat
durch offene Abstimmung corrumpirt wird? was liegt daran, daß selbst der Schein
von Freiheit durch die spätern Ordonnanzen vernichtet wird? — Wenig liegt
daran, denn mit einem Ruck stürzt ein solches Ministerium und ein solches System
heute oder morgen über den Haufen. Allein das große Verbrechen, das crimmi Il»esttv
nil^estittis, rexi8 et ponuli, liegt darin, daß die Minister den Glauben und das Ver¬
trauen in den Kaiser und in das kaiserliche Wort total vernichtet haben. Nicht die
Aula und nicht der demokratische Club, nicht der Sicherheitsausschuß und nicht die
„Linke", vermochten die Achtung und die Neigung für den Monarchen zu erschüt¬
tern; Schwarzenberg-Stadion haben erst das monarchische Princip durch ihre
Staatsstreiche der Revolution preisgegeben. Die kaiserlichen Unterschriften vom
16. Mai, 3. und 6. Juni, 19. October und 2. December, welche dem constitui-
renden Reichstag die nnbeirrte Fortsetzung seiner Berathungen garantiren sollten,
sind gebrochen. Diese Minister haben, dem Centrum und den Czechen, wieder¬
holt mündlich, und dem Finanzausschusse bei Ansuchen des Credits von 80 Mill.
auf dessen Verlangen schriftlich zugesagt, daß weder an eine Auflösung noch
Octroyirung gedacht werde, und daß von dem jungen Kaiser die Zusagen des
alten fest gehalten werden.
Die Minister haben nicht blos des Kaisers Wirt und ihr eigenes, sie haben
die Jahrhunderte bestehenden Gesetze (in Ungarn) gebrochen, und gäbe es Gesetz
und Recht im Lande, sie müßten als Hochverräter vor den Schranken stehen.
Gibt es etwa ein Ehrengericht in irgend einem Winkel der civilisirten Welt, wo
der junge Kaiser jeden Verpflichtungen entbunden ist, die Zusagen der Vorfahren
zu halten, weil nicht er sie gegeben, weil er noch keinen Eid geleistet? Auf diesem
Nevolntivnsbvden agirt das jetzige östreichische Ministerium:!
Im Auflösnugsdecrcte läßt das Ministerium! den Kaiser sagen: „Wir beschlos¬
sen, allerdings nicht ohne Bedeuten, ihn (den constituirenden Reichstag) mit
der Fortführung des großen Werkes betraut zu lassen." „Nach mehrmonatlicher
Verhandlung ist das Verfassnngswerk zu keinem Abschlüsse gediehen." — Wenn
das Ministerium diese Lüge auf eigene Faust gesagt hätte, so konnte man sich be¬
ruhigen ; es ist nicht seine erste und wird nicht die letzte bleiben. Aber dem Kaiser
eine solche Lüge in den Mund zu legen, nennen wir ein Verbrechen. Der Reichs-
t"g war gerade fertig mit dem Entwürfe der Verfassung, und sie war bereits in
allen Händen, als dieses Decret erschien. Das Ministerium legt dem Kaiser die
Lächerlichkeit als Vorwurf für den Reichstag in den Mund, er habe durch Erör¬
terungen aus dem Gebiete der Theorie der Umsturzpartei neuen Muth verliehen:
nämlich wegen der ewigen Wahrheit, woher die Staatsgewalten stammen. Das
Ministerium erlaubt sich endlich, der Majorität des Reichstags zu sagen, sie
bestehe nicht aus achtbaren Elementen.
Das Ministerium läßt einen 18jährigen Kaiser sagen: „Wir verleihen die¬
jenigen Rechte, Freiheiten und Institutionen, die Wir nach Unserem besten Wissen
als die heilsamsten und förderlichsten für das Wohl Oestreichs erkannt haben" —
und diese Rechte, Freiheiten und Institutionen werden nach dem besten Wissen
und Gewissen von 300 Volksvertretern, worunter Heroen der Wissenschaft und
Patrioten mit greisen Haaren, unisono als die nnheilsamsten für Oestreich
erkannt. Außer der von Melden belagerten Wiener Presse und den Naderern der
Journale hat sich nicht eine einzige Stimme zu Gunsten dieser Charte erhoben.
Der ganze Staatsstreich hat nur Eine Quelle. Die Minister fühlten es, daß
sie abtreten müssen. Jeder Tag brachte eine neue Blamage, jede Stunde ein
neues Brandmal für die Impotenten. Statt aber abzutreten, haben sie lieber das
Reich einer nicht ausbleibenden Revolution hingegeben, und Kaiser und Thron des
Vertrauens beraubt. Mit erhöhter Verehrung ward der gütige Ferdinand genannt,
Franz Joseph hat niclMie Liebe des Volkes. Seit der Thronbesteigung wird erschossen,
die Reichsversammlung wurde schmachvoll aufgelöst, und eine Verfassung gegeben, wo¬
gegen der ganze Absolutismus als ein Hesperidenäpfel betrachtet wird. Die erste
Fru le dieser Missethat am Reiche und Volke ist die Freude — daß Preußens
König deutscher Kaiser werden möge. So viele Stimmen darüber gehört wurden,
die erregtesten Tricvloreträger wollten sich jetzt selbst opfern, um nur das geliebte
Deutschland vor einem solchen Ministerium, vor solchem Wort- und Treubruch,
vor solcher Perfidie und Ignoranz zu bewahren. Der „Bundestag und die Ver¬
träge von 18! 5" — das sind die Endziele Schwarzenberg-Stadion'scher Politik
Die östreichischen Verhältnisse gehen raschen Schrittes ihrer endlichen Entscheidung
entgegen. Das Ministerium selbst beschleunigt in polizeilicher Kurzsichtigkeit die nahende
Krise. So lange die Vertreter Polens nud Südtyrvls, Czechen mit Deutschen in
Einem Hause saßen, waren alle föderalistischen Ansprüche jener Volksstämme, bei welche»
das Nationalitätsgefühl überwiegend einflußreich ist, gehemmt, oder vielmehr in der
Schwebe. Der Reichstag ist nun ans eine, das Freiheitsgefühl tief verletzende Weise
aufgelöst, die Führer und Herren der nationalen Frage ihren Ländern zurückgegeben,
einige als Märtyrer Gegenstand der tiefsten Sympathie geworden. Das Ministerium
hat sich einer lästigen Majorität entledigt und geht einem entscheidenden Votum der
Gesammtheit entgegen.
Was bis jetzt an Gesetzen erlassen wurde, ist nicht maßgebend für den endlichen
Ausgang. Die octroyirte Verfassung ließ durch tausendfache Schlingen ihres Netzes
Aussicht' auf Durchzug für so manche Wünsche, Prcßgesetz und Associationsaufhebung,
denn mehr ist die Verfügung darüber nicht, könnten nur den stillen verschlossenen Grimm
erhöhen. Aber der Moment der Entscheidung kömmt, wenn das Ministerium in den
Landesverfassungen seine letzte Karte ausspielen muß und mit ihr nicht nur sich,
sondern vielleicht auch die Monarchie gefährden wird. Die Vertrauensmänner haben
dem Rufe nach Wien nicht Folge geleistet, man hat sich in stummem Groll zurückge¬
zogen von einer Regierung, die offenes, höhnendes Spiel mit den Völkern trieb, man
will ihre Karten, ihre Gedanken im vollen ungeschminkten Glänze sehen, °um sich
dann erst zu entscheiden,
Nun, ein czechischcr König, eine Reorganisation Polens, und ein Hinzuschlagen
Südtyrvls min Venetianischen wird ans Stations Füllhorn nicht hervorgehen.
Inmitten aller Gefahr, von drohenden Wetterwolken überschattet, in seiner Haupt¬
stadt in Frage gestellt, hat der ehrwürdige Spießbürger Wiens noch immer seine Hält'de
im Schooße gefaltet, selig lächelnd, seitdem Stadion ihm den hundertjährigen F,,''be¬
stand der constitutionellen Monarchie und Wien's, als Residenz, in den Kaffeeschädel
decretirt hat. Zwar kehrt nimmer der magyarische, czcchische, italienische Adel zurück,
dem der Wiener Fabrikant nach Metternichs Prohibitivsystem, seinen schwammigen Reich¬
thum zumeist verdankt, allein der Minister hat gesprochen — und der Minister hat
Recht. Man hört nur ihn, man liest mir die von ihm verfälschte Presse. Wer wider¬
spricht, wird als Anarchist verdammt. Aber der schweigenden ist jetzt eine Unzahl
den Sprechenden gegenüber.
Wien wird deutsch werden, wenn rings umher Niemand sein wird, der ihm ange¬
hört, — es wird deutsch sein — wenn es deutsch sein muß.
In den Provinzen weht der alte nationale Geist lebendiger als je. In Ungarn
ist das alte Nakoczylicd erwacht, hat sich losgerissen vom Saitcnsteg der Zigeunervioline
und irrt umher durch die Pusta, Kämpfer suchend für des alten Ungarlandes Fortbe¬
stehen; mit der Marseillaise der Sarmaten: „Noch ist Polen nicht verloren," verwan¬
delte Dcmbinsky, der kluge Parteigänger, die Lanciers, Coburg-Uhlanen, in östreichische
Hochverräter und polnische Patrioten. (?) Ueberall überwindet der langcrstickte Geist ge-
knechtetcr Völker den Unterstand der Metternich'schen Verwaltung.
Und in Wien summt irgend ein Junge um die Straßenecke biegend, das deutsche
Vaterland.
Aller Augen sind nach Frankfurt gerichtet, Schüler und Wigand haben Wiederhall
gefunden in Wien. — Blums Gebein ist das Unterpfand, womit Deutschöstreich an
Deutschland für immer verpfändet ist.
Die Todtenklänge von der Auflösung des Frankfurter Parlaments sind auch an
uns vorübergezogen. Das Jahr 1848 darf aber in der Geschichte der Deutschen nicht
Zum einsamen, leidenden Kreuze am Feldwege werden, an dem der Wanderer vorübergeht,
°en Hut ziehend, aber weder Frucht noch Schatten findet. Michel wird nicht wieder
W" Dachstübchen beziehen, verstaubte Globen herabholen vom Gesimse, Sterndeuterei
"ud Alchymie treiben, er hat von Thomasius bis Bretschneider, von Kant bis Hegel
«°"ug g^acht und geschrieben über Gott und Teufel, um einmal das Mittelding ein
lreier ^Mensch zu werden.
nah ^'"sttoser „„fere Zustände sich durch ministerielle Ordonnanzen gestalten, desto
her ist der Tag des Umschwungs. Der ungarische Krieg hat die Armee demoralisirt,
in Italien wird die Diplomatie Schonhäls, des Adjutanten Nadetzkv's, der selbst nur
ein Aushängeschild ist und »le mehr war, den wohlangelegten Grubcngängcn der
napoleoniden bald begegnen; d,er engere Bund in Deutschland wiegt alle Bnndcs-
sestungen von Ulm bis Rastatt auf. Russische Hilfe wird sich, wenn Nußland
besetzt hat, was es forthin für sich zu bewahren gedenkt, wie das Gold
der Kobolde erweisen, als Kohle, womit die Volker ihren Regierungen dann die Zeche
an die Wand schreiben werden. — Dann ärntet in Oestreich, wer die Saat ausgestreut
hat — seinen Lohn — und es wird an innerer und äußerer Demüthigung nicht fehle».
Möge unsere Lage nicht nach Anschauungen Fremder beurtheilt werden, die nicht
das Leben in seinem tiefsten Organismus zu verfolgen vermöge». Wir sind dem Geiste
und unseren Wünschen nach durch unsere Abgeordneten in Frankfurt längst nicht mehr
vertreten. Das Oestreich vom März hat sie ausgesendet, sie haben aber unseren Mai
und — den October theilweise nicht mehr anerkannt. Oestreich und Preußen stehen sich
nur noch in den Kabinetten gegenüber; in der Mark und an der Enns wächst ein
Volk nach, daraus man das einzige Deutschland machen wird.
Wir wollen und werden i» Deutschöstreich nicht hinter Czechen und Sarmaten
zurückbleiben. In nicht gar lange Zeit, so weht, hoffen wir, wieder die deutsche Fahne
aus Se. Stephans Dome, und Arndt's Lied klingt als erfüllte Prophezeiung dem
Die gegenwärtigen Verhältnisse Oestreichs haben den Grenzboten in den letzten Wochen
mehrfach Klagen und Schilderungen des Unrechts und der Willkür zugeführt. Wir öffnen
unser Blatt diesen Aufsätzen gern, so wenig wir uns über den Grund desselben freuen
können. Nur müssen wir dabei eine Bitte äußern. — Die Grenzboten und ihre kleine
Partei in Oestreich sind in einen offenen und energischen Kampf gegen das jetzige Mi¬
nisterium getreten, weil sie in ihm weder Kraft noch feste politische Ueberzeugungen finden,
und weil sie sehen, wie durch ihre Halbheit und Unsicherheit der Kaiserstaat dem Unter--
gange entgegengeführt wird. Unsere Angriffe aber geschehen vom Standpunkt einer
Partei, welcher der bessere Theil des Ministeriums einst selbst angehört hat. —- Wir
wollen: Einheit des Kaiserstaats und eine starke Ccntralrcgierung. Gegen alle Ma߬
regeln des Ministeriums also, welche wenigstens principiell dahin zielen, werden wir,
wenn sie nicht die Freiheit der ganzen Nation, sondern nur Freiheiten einzelner Theile
zum Vortheile für das Ganze zerstören, keine Waffen haben. Wir wissen sehr wohl,
daß z. B. im ungarischen Krieg die liberale Partei in Oestreich jetzt mehr aus Seiten
der Ungarn, als der Regierung ist, weil die Empfindung einen gemeinsamen Gegner
zu bekämpfen stets neue Sympathien für Ungarn hervorruft. Wir theilen diese Empfin¬
dungen nicht; wir halten den Kampf mit Ungarn für vernünftig und nothwendig, so wenig
wir die Handlungen derer loben, welche ihn für uns führen. - So auch in andern Fällen,
z. B. den föderalistischen Wünschen einzelner' Stämme gegenüber, welche so weit gehen,
eine starke Centralgewalt unmöglich zu machen. — Ueberall aber lieben wir mit Beweisen Z»
kämpfen, und werden unsern Freunden dankbar sein, wenn sie in ihren Buchen die Thatsache»
genau angeben und jeden Streich, den sie führen, ans die volle Kraft von Gründen stützen.-^
Ansichten, welche in Widerspruch mit uusern Ueberzeugungen stehn, können wir nur dann Aus¬
Ein kühler Septembermorgen dämmerte, als wir Panceva verließen, um noch
vor Mittag im Feldlager bei Tomasevac einzutreffen, wo der bekannte serbische
Held Stephan Petrovic Kniccmin, fürstlich serbischer Jnfanterieobrist und Geheim-
rath, kommandirte. Wir fuhren durch die ausgedehnten Ebenen des Banats,
dieses slavischen Kanaans, wo sich die üppigsten Weizenbödeu ausbreiten, wo das
herrlichste Obst und trefflicher Wein im Ueberfluß gedeiht. Jetzt freilich sind viele
Landstriche, welche früher beneidet wurden, sehr bedauernswert!) geworden. Viel Acker¬
land liegt brach, weil dessen Bebauer Harke und Pflug mit der Flinte und Lanze ver¬
tauscht haben, um die Marken des Vaterlandes vor dem alten Erbfeind zu wahren,
die Fruchtbäume und Pflanzungen sind niedergebrannt, die Getreidefelder von dem
Sturm kämpfender Männer und tummelnder Rosse aufgewühlt und zerstampft, ganze
Dörfer verwüstet und verödet. Der rauhe Krieg, der Länder verheerende, hat
hier fürchterlich gewüthet; doch das gesegnete Banat wird sich als freies Land
schnell wieder erholen, und Menschenblut für die Freiheit vergossen, ist ein treff¬
licher Dünger!
„Herr Gott! Seht dort die Reiter! Wenn das feindliche wären! In jener
Richtung liegt Weißkirchen mit starker Magyaren-Besatzung. Was wird ans uns
und unsern Depeschen? Fahre zu, Kutscher!"
Ich ließ den Kutscher langsam fahren, rückte Pistolen und Säbel zurecht, und
rief einen der Straße zunächst haltenden Reiter an. Dieser ritt harr an den
Wagen Hera», die Hand grüßend zum breiten hochanfgckrämpten Hut von schwar¬
zem verschossenen Filz erhebend. Er war ein hagerer Kerl mit platter Nase,
kleinen Augen und breitem, dicklippigem Mund, über den ein schwarzer, struppiger
Bart hing. Seine sämmtliche Kleidung bestand in einem kurzen Hemd und breiter
Leinwandhose — beide hatten wohl mit Seife und Wasser niemals Bekanntschaft
gemacht — und einem braunen Mantel, wie ihn die slovakischcn Nastelbindcr zu
^'ager Pflegen. Am Sattelknopf hing ihm eine rostige Doppelflinte und eine
Troßbauchige Kürbisflasche und an langer Leine hielt er einen hochbeinigen, zottcl-
haarigeu Hirtenhund, der knurrend seine Fangzähne zeigte; des Hundes weißes,
suppiges Fell und sein wohlwollendes Wesen deutete auf die nahe Verwandschaft
^
mit Freund Jsegrimm. Der Reiter, auf unser Befragen, erklärte, er sei ein wal¬
lachischer Viehtreiber und mit hundert fetten Ochsen ans dem Wege in das Toma-
scvacer Lager, dabei zeigte er seine Marschroute vor und wies nach der Seite.
Hier lagen große Maispflanzungen. Die gebräunten Halme hingen zerknickt, ein
guter Theil war niedergetreten, und aus den zerschlissenen Fruchthülsen blinkten
die goldenen, hundertkörnigen Kolben. Drin aber knisterte es unheimlich und aus
dem Kolbeuseld ragte das hohe Gehörne einer zahlreichen Ochsenheerde, die mit
Gier an dem Mais knoberte und malende. Wir rügten diese Verletzung und Ver¬
wüstung fremden Eigenthums; da antwortete der Wallache mit naivem Pathos:
„Das sind die Aecker der gottverdammter Döbeljacer Magyarenbrut, die uns so
lange feind gewesen, bis ihnen vor ein paar Wochen Herr Kuicanin, den Gott
erhalten wolle, das Sündennest über den rebellischen Häuptern in Flammen gesteckt.
Die Männer des Dorfes sind theils erschlagen, theils gefangen, die Uebrigen mit
Weibern und Kindern in jener Schreckensnacht, Gott weiß wohin! ausgewandert.
Den Segen ihrer Felder mußten sie ungeerndtet lassen, die Weizenfelder haben
sich alle von selbst ausgekörnt und der Mais hier wird wohl auch bald zu Grunde
gehen. Unsere Leute können es nicht einachsen, werden sie doch kaum mit ihrer
eigenen Erndte fertig! Damit nun die edle Gottesgabe nicht ganz ungenossen
zu Grunde gehe, lasse ich meine Heerde, die doch ohnehin nach Herrn Knicanin's
Lager geht, ein wenig darin weiden. Schade um den schönen Gottessegen, schade
um die schönen Häuser dort, doch die Döbeljacer Haben's verdient." Mit diesen
Worten deutete der Reiter mit dem Pcitschenstecken auf einen rauchgeschwärzten
Kirchthurm, der sich links von der Straße über dem grünen Ried erhob, drauf
lüftete er den Hut und ritt zur Heerde zurück.
Ja, dort lag vor Kurzem noch ein wohlgebautes Dorf von mehr als 300
Häusern, jetzt steht nur der Kirchthurm wie ein riesiges Grabmal ob den langen
Reihen von Schutthügeln!
Die Bewohner der vereinzelten magyarischen Kolonie Döbcljac hatten sich,
obwohl rings von serbischen Ortschaften und wohlbewehrten Lagern eingeschlossen
und von jeder magyarischen Hilfe abgeschnitten, mit Hilfe einer zurückgebliebenen
Besatzung von etwa achtzig Husaren und zwei Kanonen lange nich't ergeben wollen,
ja, sie beunruhigten noch die benachbarten Orte durch Ausfälle. Knicnnin, der
ihren Heldenmuth offen bewunderte, ließ sie dreimal durch Parlamentäre auffor¬
dern, ihre sämmtlichen Waffen abzugeben, mehr wolle er vou ihnen nicht verlangen,
von jedem Kriegsbeitrag sollten sie befreit bleiben; dabei stellte er ihnen das Nutz¬
lose ihres tollkühnen Widerstandes lebhast vor, garantirte ihnen Sprache und
Nationalität. — Allein die Männer von Döbeljac gaben nicht nach, sie reizten
die Serben nach wie vor durch Ausfälle, fingen mehrere serbische Couriere auf,
ja, sie schössen sogar aus Knicanin's dritten Parlamentair. Nun brach Knicanin
auf, nahm Döbeljac mit Sturm und seine Schaaren steckten das Dorf in Brand-
Wir passirten außer mehreren serbischen Dörfern und der Brandstätte eines
magyarischen noch ein slovakischcs und ein wallachisches Dorf, Kovacica und US-
din; letzteres war zu einem Drittheil zusammengebrannt, übrigens weniger gut
gebaut und minder reinlich als das slovakische, aber die schwarzäugigen, vollbusi¬
gen Wallachinnen in ihrer höchst eigenthümlichen Nationaltracht, bei der die rothe
Farbe und altitalischcr Zuschnitt vorherrscht, gefielen uns dafür weit besser, als
die hageren Slovakinnen in ihren blauen und braunen Tuchkitteln. Vor Toma-
sevac war auf der Straße ein geschäftiges Leben: Wägen mit Proviant und Mu¬
nition und Scharen von Weibern und Kindern, die ihre Angehörigen im Lager
besuchten und denselben sonntägliche Leckerbissen zutrugen, staffirten den sonst öden
und monotonen Weg. Tomasevac ist ein weitläufiges, nettes und reinliches Dorf;
die Häuser in langen Zeilen aneinander gereiht, mit blendend weißen, der Straße
zugekehrten Giebeln, mit seltsam geschnitzten First- und Schornsteinzierrathen, bunt¬
bemalten Thüren und grell gefärbten Jalousien. Das ganze Dorf wimmelte von Sol¬
daten, denn drei Divisionen des Pancevaer Grenzregimcnts hatten hier ihr Stand¬
quartier. Eine bunte Sammlung von Costümen und Trachten! Außer den Chargen
trugen nur Wenige die vollkommene Uniform ihres Corps: braunen Rock mit
hellblauen Aufschlägen und weißen Liezen, blaue enganliegende Beinkleider mit
schwarzgelben Schnüren und ungarischen Knopf, Halbstiesel, schwarzes Riemzeug,
gewöhnliche Czako'S oder blaue Lagermützen. — Die Andern hatten entweder
graue Soldatenmäntel über ihrer gewöhnlichen Haustrachr, oder waren bis auf die
blaue Unifvnnhose ganz bäuerisch gekleidet, in breitkrämpigen Hüten und braunen
Lodenmänteln (Guuja). Wieder Andere hatten gar trotz der warmen Jahreszeit
große Schafspelze, das Rauhe herausgekehrt, und mächtige Pelzmützen aus weißem
Schafsfell; diese waren von dem Kontingent, welches die wallachischen Ansiedlungen
aus dem von den Serben occnpirtcn Theilen der Banaler Militärgrenze ge¬
stellt hatten.
Am Ausgange des Dorfes stießen wir an die eigentlichen Lagerwachen. Ein
Schnurrpvsten stand, das Gewehr beim Fuß hart am letzten Hanse — im rothen
offenen, knrzärmlichen Jäckchen, das die langen Aermel und Schöße seines grünen
Unterkleides (iwtonv) und die zierliche Bruststickerei seiner schwarzseidenen
bis hinaus zugeknöpften Weste (^.>v><) deutlich sehen ließ; er hatte blane weite
Hosen an (s-Uvsirv), den Fez mit blauen Seidensranzen über beide Ohren gezogen,
über den Rücken hing der eine lange Zipfel eines groben, grauen Lodentnches,
der zweite war um seinen Waffengnrrel drappirt, doch so , daß sich Pistolen und
Handzar mit der größten Leichtigkeit herausziehen ließen.
Statt dem üblichen „Halt! wer da?" sprach mich der Posten mit seltsamer
Scheu folgendermaßen an: „Ihr seid doch glücklich angekommen, Arambassa?
6ni»-o llosli. Wenn ihr in's Lager wollt, so zeigt mir Eltern Passus, ich bitte
Euch darum." — Verwundert zeigte ich ihm meinen Geleitsbrief und fragte:
„Was hälst du mich für einen Haiduckenführer?" — „Ich seh's an Euren Silber¬
tressen und an Eurer Mütze," antwortete ehrerbietig der Serbe und gab mir meinen
Paß zurück. — Ich zuckte die Achseln. Der Sohn der Moldau passirte seitdem
im ganzen Lager für einen Räuberhauptmann der böhmischen Wälder.
Der Posten ließ mich bis an das Hauptquartier geleiten, das sich seitwärts
vom großen Lager in einem dichten Erlengebüsch befand, inmitten einer Kavallerie¬
abtheilung.
Auf einer schwanken Nothbrücke überschritten wir den tiefen Lagergraben und
kamen durch eine lange Reihe von Zelten und Erdhütten, zwischen welchen gesat¬
telte Pferde an Pfähle gebunden unter freiem Himmel standen, auf einen geräu¬
migen, halbrunden freien Platz. Die jungen Erlen, welche weiterhin das Reiter¬
lager überschatteten, waren hier gefällt und zur Deckung jener Hütten verwendet
worden. Nur einen alten Eichbaum hatte man inmitten des Halbzirkels stehen
gelassen, zwischen seinen Aesten steckten-eroberte magyarische Fahnen, auf der schön¬
sten davon — sie war roth und grün, und reich mit Silber gestickt — war der
Kopf ihres früheren Trägers aufgespießt, der bei Lazarovo-polje gefallen. Bei
jedem Windstoß bewegten sich gespensterhaft die laugen blonden Locken und schaurig
flatterten die blutbespritzten Fahnenbänder von Atlas, darauf die Worte gestickt:
„Marie von Esekucz der Nationalgarde." Der arme Fähnrich hat seine Fahne
wacker gewahrt, nur mit seinem Herzblut getränkt konnte man sie ihm entreißen!
Grade gegenüber der Eiche erhob sich das Zelt des Feldherrn, hoch und geräumig,
aus grünem Tuch mit rothen Franzen; von seiner Spitze weht ein Fähnlein in
den slavischen Farben, blau, weiß und roth, im mittlern Felde das rothe Herz-
sckild des serbischen Wappens mit dem silbernen Kreuz und den vier blauen Fcuer-
ftäblcn. Vor dem Zelte schritten zwei riesige Haiducken Wache haltend auf und
nieder, der Eine im vollen Nativnalkostüm, im rothen Mantel und Fez, in den
verschränkten Armen ein Bajonnetgcnehr haltend, der Andere, den blanken Handzar
in der Rechten, die klaficrlange, Montenegriner Flinte quer über den Rücken ge¬
hängt, einen weißen Reitermantel über dem nationalen Unterkleid, ans dem Hanpte
den kostbaren Kalpack eines erlegten ungarischen Magnaten mit blitzender Steina-
grasse und stolz nickendem Neiherbusch. Rechts von Knicanin's Zei.e war ein fein
gedeckter Eßtisch unter einer Halbdecke von ungebleichter Leinwand aufgestellt, da¬
neben eine aus Ziegelivänden aufgeführte, mit einem soliden Brelterdache gedeckte
Küche, deren duftige Ausdünstung uns gewaltig anheimelte. Vor der Küäie hing
zwischen vier in die Erde gerammten Pfählen ein blanker, brodelnder Kupferkessel
über einer lustig flackernden Flamme. Eine kleine Laut'hülle links enthielt die
Feldkai.zlei, ein serbischer Kavallerist und ein schwarzgekleideter Kommissair des
Karlovicer CenlralreZierungS5om:des debattirten eben dann sehr eifrig über ein
Actenstück. Noch weiter links standen unter einem bretternen Notstand des Feld¬
herrn Schlachtrosse, alle gesattelt und gezäumt. Meine Sportsmannatur trieb mich
zuerst dorthin, ein schöner englischer Hengst, eine unscheinbare, aber gedrungen
und kräftig gebaute Schimmelstute, zwei Braune, die dem Gestüt jedes Fürsten
Ehre machen würden, und endlich das Prachtstück: ein herrlicher Fliegenschimmel
von türkischer Abkunft, mit Augen, gluthig wie helle Kohle, schön gebogenem Hals
und tadelloser Kroupe, der Boden um ihn war von den ungeduldigen Hufen ganz
aufgewühlt. Die den Halbkreis abgrenzenden Hütten der Reiterei waren aus dem
verschiedenartigsten Material zusammengesetzt, aus gestampften Lehmwänden, frischen
Erlenstämmen, Eichcnbrettern, Stroh und grünem Reisig; ihre Mannschaft war mit
Putzen der Waffen, Striegeln der Rosse und Bereitung der Mittagsmenage gemüth¬
lich beschäftigt. Ein Offizier in Grenzeruniform trat aus dem Feldherrnzelt, wir
baten ihn, uns zu melden, und wurden von ihm sofort zum Obrist Knicanin
geführt.
Knicanin saß im Fond des Zeltes auf einer mit dem feinsten Linnen über¬
zogenen Matratze mit überschlagenen Beinen; er erhob sich, uns durch leichte Ver¬
beugung und Händedruck zu begrüßen. Wohl ist er einer der stattlichsten Männer,
auffallend hoch gewachsen und kräftig gebaut, dem Anschein nach ein angehender
Vierziger. Sein rundes, volles, etwas gebräuntes Gesicht erhält durch eine schön-
gebogene Nase, den kühn geschnittenen Mund und den dichten, langen Schnurr¬
bart einen heldenhaften Ausdruck, während aus den glänzenden braunen Augen
Verstandesschärfe und Gutmütigkeit hervorleuchtet. Das kastanienbraune Haar
trägt er kurz geschnitten unter dem rothen Fez, welchen nichts vor den Kopfbe¬
deckungen der übrige» Mannschaft auszeichnet. Sein ganzer Anzug ist schlichter,
als der von den meisten seiner Subalternen. Eine schwarze Sammtweste, reich
Mit Gold bortirt und bis an den Hals mit einer dichten Reihe silberner Knöpfe
gehabt"sser und sein goldgestickter Waffcngiutcl, um den ein kostbarer persischer
Shawl gewunden ist, bilden die einzige» prunkende» Stücke seiner Kleidung.
Ueber der Weste trug der Herr ein roch und blau gestreiftes Leibchen ans leichtem
Seidenstoff, darüber einen kurzen Nock mit aufgeschlitztem Slenneln aus ziemlich
groben, gelbbraunen Tuch, mit einfache» blauen Sctnüren verziert, blaue Knie¬
hosen von bedeutender Weite und gleichfarbige, sehr eng anliegende Kamascten,
welche unten ein scbwarzseidcucr Zwickel und eine sclmarze Bordüre ausputzte,
während dieser Beinsclnnnck sowie alles Schnürwerk bei den übrige» distinguirten
Serben allemal von Gold- oder Silberstickerei ist. Zu Haupte» Knicanin's hin¬
gen, reiche Waffen, prächtige Pistolen und Tnrkensäbcl in silbernen, kunstvoll zise-
litten Scheiden. Neben Knicanin aber saß ein dicker, wohlgenährter Herr mit
ehrwürdig langem blonden Bart im dunkelblaue» Popcnhabit, die breite rothe
Leibbinde bezeichnete den Rang eines nicht nnirten Erzpricstcrs. Als er meiner
ansichtig wurde, zwinckerte er mit seinen grauen freundlichen Augen, sprang, so
gut es dem wackern Mann seine Korpulenz erlaubte, sichtlich überrascht auf und
fiel mir mit einem herzlichen Kuß um den Hals. Es war ein alter lieber Be¬
kannter! — Herr Paul Stamatovic, der Protvpresbytcr, derselbe, welcher wah¬
rend des Slavencongresses die berühmt gewordene, vielfach verketzerte Slavenmesse
auf dem Roßmarkte zu Prag gelesen hatte. Ans einer Barrikade hatten wir uns
zum letzten Male gesehen! In Wien war mir ein magyarisches Journal mit der
Zeituugslüge in die Hand gekommen, der Priester der Slavenmcsse sei auf seiner
Heimreise bei Preßburg ergriffen und auf die Festung Munkacz gebracht worden.
Ich freute mich also doppelt, den würdigen Herrn als Knicaniu's Feldpater fröh¬
lich und wohlbehäbig wiederzusehen. Während Obrist Knicanin die überreichten
Depeschen durchflog, hatte ich Muße, das ganze Zelt zu mustern. Im dunkelsten
Winkel zwischen Tellern, Kaffeetassen und Tabakspfeifen kauerte ein böhmischer
Mönch (Kaludjcr), ein zweiter Adhemar von Puy, eine Mischung von Geistlich
und Kriegerisch; über die schwarze Klosterkutte war ein Ledergurt geschnallt, in
dem ein Handczar nud zwei Pistolen steckten; sein ausdrucksvolles, gefurchtes Ge¬
sicht, die kühne Habichtsnase und der struppige, bereits mit Grau vermischte Bart
harmonirte mit dem Waffenschmuck mehr, als mit dem geistlichen Gewand und
seiner runden, griechischen Priestermütze. Derlei Erscheinungen sind übrigens in
Serbien, Bosnien, Herzogvwiua und Montenegro nichts Seltenes; ich fand später
unter den Freischärlcrn im Tvmasevacer Lager mehre gesalbte Häupter, die Säbel
und Muskete zu handhaben verstanden, wie Meßkelch und Monstranz. — Auf
einem Feldstuhl am Eingang des Zeltes streckte sich das halbkahle Haupt aus den
Korbgriff seines mächtigen Pallasches gestützt, die lauge« Beine weit ausgereckt,
ein ältlicher Mann in russischer Kampagnenniform, es war Major M., ein Serbe
von Geburt, der früher im Generalstabe des Pravoslavny Car gestanden, ein Hau¬
degen und tüchtiger Strategiker! —
Unsere Unterhaltung mit Feldherrn und Feldkaplan war eben im besten Zuge
und fing an höchst interessant zu werden, als ein Diener mit der Meldung, die
Tafel sei gedeckt, den Faden der Conversation abschnitt, welcher sich grade über
Frankfurt und Deutschland dahuispann. Wir gingen mit kriegerischen Absichten
in das Speisezelt, wo des Feldherrn Tisch für zwölf Personen gedeckt war. Neben
Knicanin, dem Major M., beiden Popen und uns vervollständigten zwei Adju¬
tanten in serbischer Uniform, des Obristen Secretair und drei ganz rationell ko-
stnmirte junge Männer, deren einer einen Turban trug, die Tafelrunde. — „Der
mit dem Turban" — erklärte Freund Stamatovic — „ist einer unserer tüchtigsten
Artillerieoffiziere, ein Türke aus Constantinopel, welcher mit einer erlesenen
Reiterschaar von 4t> Köpfen meist Türken oder arnanttsche Zigeuner — her-
überkam und Handgeld nahm. Dort der junge schmächtige Bursch im schmucken
NativnaMeid muß Sie als lebendiges Abbild seines berühmten Großvaters in-
teressiren, dem er wie aus den Auge» geschnitten gleich sehen soll. Er ist des
gefeierten Milos Stojccvic, Wojwodcu von der Pocerina Enkel ^und der Lieb¬
ling Knicanin's. Sie kennen das Leben seines Großvaters? Er war im
letzten Befreiungskriege anfangs friedlicher Schreiber des Dorfknezen Markovic in
seinem Geburtsorte Pocerje, bis die Türken das Dorf anzündeten, seinen Brod¬
herrn und seine Mutter als Sclaven mit fortnahmen. Da entbrannte Racheglnth
in der Brust des Milos, er sammelte eine stattliche Freischaar und führte sie dem
obersten Feldhauptmann der Serben, Kara Georgje zu. An der Seite dieses
großen Feldherrn focht er so wunderbar, daß ihn Kara Georgje im Angesicht des
ganzen Heeres umarmte und sprach: „„Du bist von nun an mein Sohn und mir
so lieb wie Alexa, mein leiblicher Erstgeborner, ich gebe dir die Wojwodenwürde
über die ganze Pocerina, sei mir treu wie jener Milos Pocerac einst dem könig¬
lichen Marko."" — Der neue Milos von der Pocerina übertraf in der Folge,
wie die Heldenlieder sagen, jenen frühern bei weitem, er war der erste Held in
den Schlachten bei Sabaa und an der Drina. Bei seinem letzten Feldzuge war er
so glücklich, seine alte Mutter aus den türkischen Sklavenketten zu befreien, auch
hatte er sich die berühmteste Siegesbeute erkämpft, das gefeite Kulin'sschwert;
sein Leben ließ er in der schönsten Blüthe seiner Jahre in einem Zweikampf.
Jener junge Mensch wird dem Andenken seines Ahnen Ehre machen. Obwohl
noch blutjung, hat er schon bei Weißkirchen sehr brav gefochten, er will immer
bei jedem Strauß der Erste sein. — Sieh jetzt seinen Nachbar zur Linken" —-
erklärte der ErzPriester weiter — „anch er ist von rühmlicher Abkunft, ein Sohn
des noch lebenden Nestors unserer alten Helden, des tapfern Popen Lukas La-
sarjevic. Sein ehrwürdiger Vater lebt noch zu Sabaa an der save, dem Schau-
Platz seiner schönsten Waffenthat, hochbetagt, doch immer frisch und heiter, ein
Jünglingsgeist steckt in dem Greisenkörper, denn nicht einmal die schweren, lebens¬
gefährlichen Wunden, die sich dieser Türkenfeind vor mehr als 40 Jahren an der
Drina geholt, vermochten ihn mürbe zu machen. Der junge Lasarjevic führt auch
schon eine gute Klinge und ist unser bester Liedersänger und dazu ein Dichter,
ein Poet; man sieht das schon an dem pfiffigen Ausdruck seines hübsch geschnit¬
tenen Gesichts nud an den schwarzen Angen, die unter den buschigen Brauen
so klug hervorgucken. Sein neuestes Mnßcntind ist ein großes Gedicht in den
Weisen des Volks, die Nitterthaten unsers verehrten Freundes, Herrn Knicanin
beschreibend."
„Dummes Zeug" — unterbrach Knicanin gutmüthig polternd — „er hätte das
können bleiben lassen. He, Lazarjewic, hörst Dn? untersteh Dich nicht, das Lied
zu singen. Es war zwar gut gemeint, aber ich will nicht, daß Du es singst,
sonst soll Dir freundlichst der Teufel----!" — „Reden wir von was Anderm!"
sprach mein Pope mit schlauer Miene. „Der Kleine dort von vierzehn Jahren, der
uns die Suppe bringt — ist ein Mordkerl! hat bei Versen einen Deutschen von
der Pesther Mobilgarde niedergehauen, wie viele meiner Leute mit eigenen Augen
gesehen. Der Versuch jedoch, seinem Opfer nach alter Sitte den Kopf abzuschnei¬
den, mißlang, dazu war sein Arm zu schwach, sein Säbel zu stumpf, auch kannte
er den Vortheil dabei noch nicht, kurz, er mußte die Hilfe des nächsten Graubarts
beanspruchen, der arme Schelm hat aber trotz der um ihn pfeifenden Kngeln der
Operation so begierig zugesehn, daß ich darauf wetten könnte, das nächste Mal
müßte er es selbst treffen, wenn nicht im letzten Tagsvefehl das Abschneiden feind¬
licher Köpfe streng untersagt worden wäre."
Die Tasel war echt rationell bestellt, die Lieblingssnppe der Serben, die
Kisela Corda machte den Anfang; eine erstaunlich kräftige Hühnerbrühe mit
Reis, Essig und einer Unmasse von feingestoßener gelber Paprika. Einem durch
französische Küche verwöhnten Gaumen wäre sie freilich zu scharf, übrigens
gleicht sie der aus Ostindien nach England verpflanzten Curry- und Mnlligatewney-
Suppe in Zubereitung und Geschmack so sehr daß mein Freund W., welcher der
Slaven Ursitze in Indien sucht und Swantevit und Radegast für identisch hält
mit Wischnu und Brahma von nun an gewiß lauter Mulligatewucy-Corda als
die vermuthliche Ambrosia Swantevit-Wischnu's essen wird! Gekochte und ge¬
schnittene Rindsnieren mit Pfeffer, Essig und Oel bildeten die Vorspeise;
dem Rindfleische folgte Cebbab, mit Zwiebeln und Reis gedünstetes Schöpsen¬
fleisch, das allbeliebte Gnljas, Gurabie eine wohlschmeckende, gewürzreiche Mehl¬
speise, deren Recept der geneigte Leser in Piller's und Mittcrbachens „Itei- per
g-innen LIllvoniiio nrnvinüttm" eines breiteren mitgetheilt findet, und ein saftiger
Truthahn. Damit aber war die Reihe der Schüsseln nicht beendet. Ein köst¬
licher Bratengeruch, der mir schon vor Tisch lieblich in die Nase prickelte, ging
dem Erscheinen des lini'8 ä'uvuvrl- voran: zwei Männer brachten aus einem lan¬
gen hölzernen Spieß ein jähriges Schwein und legten es auf ein Brett nieder,
gerade unter jenen Eichbaum, auf dem noch der Kopf des armen Fahnenträgers
hin und herschwautte. Einer der Bursche schlitzte die verglaste Haut dieses Pracht¬
stücks serbischer Eichelmast einigemal über den Rist und Widerrist, der andere
klopfte mit einem Stäbchen so darauf herum, das die Glashaut in ziemlich
regelmäßigen Vierecken absprang. Diese Glashaut nun wurde auf unsern Tisch
gebracht, das abgehäutete Schwein wanderte in die Küche zurück, um für den
Dieuertroß des Feldherrn vollends gar zu braten. Während der Tafel ward
der feurige Karlvwitzer Wein getrunken, eine der edelsten Sorten von den Kaba-
nicer Bergen, wo schon Kaiser Probus Weinreben gepflanzt hat; als Desserttrank
kreiste die Palunca, welche der Wiener Feinschmecker unter dein Namen „raizischer
Tropswermuth" kennt.
Nach aufgehobener Tafel folgte uns Lazarjevic mit der Gusle in's Zelt des Feld¬
herrn und stimmte mit kräftiger Stimme und begeistertem Schwung eines der volks-
thümlichsten Lieder vou Serbiens Car Dusau, dem Starken und Unüberwind¬
lichen an und vom alten Türkentödter Kr aljevic-Marko, dann ein Lied von
Kaiser Konstantin den: Großen und der Kaiserin Helene. Konstantin wird darin
als Slave Bulgarischen Stammes gefeiert, unter der verstümmelten Benennung
Car Kostara ist er jedem Serben geläufig, noch mehr aber Kaiserin Helene
(Carina Jelena), welche nach dem Liede an strahlender Schönheit und Milde,
Sonne, Mond und Morgenstern übertrifft*) Die Lieder, allemal im fünffüßigen
Trochäus mit regelmäßiger Cäsur nach dem zweiten Fuße, werden mit erhobener,
starker Stimme fast nnr parlando zu der eintönigen Begleitung vorgetragen und
sind von großer Schönheit, die nur der gehörig zu würdigen weiß, welcher sie
an Ort und Stelle gehört oder in den Sammlungen des Audriv Kacic und Vuk
Stefanovic-Karadzic gelesen, die deutschen Uebersetzungen sind durchweg mangel¬
haft, nicht wenige sogar unterschoben.
Die Ankunft eines junge» Serben, dessen Bandelier die Devise slolwilv
su>vjll»8ton" (für die Freiheit und das Slaventhum) schmückte, unterbrach den
Gesang; er trat zu Knicanin und küßte ihm ehrerbietig die Hand. Dieser zog
ihn freundlich zu sich und fragte: „Was willst denn Du hier, Herzensjunge" —
„Mit Euch fechten, Herr Obrist." — „Wo kommst Du her?" — „Graden
Wegs vou Cupria." — „Weiß Dem Vater davon?".— „Er weiß und gab mir
diesen Brief an Euch." — Knicanin bemerkte uns während er den Brief erbrach,
der junge Mann sei der Sohn seines alten Freundes Bogdan Georgjevic, Be¬
zirkschefs und Obristen von Cupria. „Sein älterer Sohn" — fuhr Knicanin
fort — „ist bei einem Treffen unfern von Weißkirchen an meiner Seite von einer
Kartätschenkngel getödtet worden, jetzt schickt mir der Alte den zweiten Sohn Deme-
ter, den einzigen, den er noch übrig hat, als Stellvertreter für den Gefallenen.
Ein Adjutant meldete, daß sich in den etwa eine halbe Stunde vom Lager
entfernten Dörfern Botos und Orlovat feindliche Truppen gezeigt. Wir sahen
einander lachend an, ein Scharmützel gleich in den ersten Stunden der Ankunft
war mehr als wir gehofft hatten. Knicanin ließ seine Stute vorführen und for¬
derte mich auf, ihn zu begleiten. Wir sprengten den Hügel hinan, auf welchem
sich das stark befestigte Lager befand, von drei Seiten von dem Temcsflnß um¬
spült und von drei großen Redouten geschützt, davou zwei nach den neuesten Re¬
geln der Fortificatiou aufgeführt waren, die dritte kreisrund nach einer ganz ver¬
alteten Art, aber sehr praktisch und zweckdienlich. Vou der Mannschaft des La¬
gers war wenig zu sehen, die meisten steckten in ihren strohgedeckten Erdhütten,
welche in eine Art paralleler Laufgräben gebant waren, so daß nur hie und dort
die rothen Käppchen herausguckten. Einige hatten sich um ein Wachtfeuer gela¬
gert, Würfel spielend und zechend, einige aufmerksam zuhörend um einen Helden-
*) I^ijs vue> messe, ni <1»mica,
Uit jo sunno, int j« i>rilio<krich,
Veo je vno HlovinsK» Krulica
?o jinen» Helena ßvspoji».
liedersänger, dessen Gusle zum Lobe des Milos Odilia erklang, den Fall des
Helden und den Unglückstag von Kossovopolje beweinend. Knicanin ließ 60
Freiwillige ausheben, die sich in Parthien zu 10 bis 20 aus dem Lager schleichen
und bei Orlvvat und Lotos recognosciren sollten. Es waren lauter Burschen,
denen man es ansah , daß sie schon etwelches Leder im Kampfe abgetragen, ihre
guten Klingen öfter mit Feindesblut getränkt und manche ungläubige Seele von
ihrer irdischen Hülle befreit. Ein kleines Kreuzchen von Messing ans der linken
Brust, bezeichnete den einen zwanzig Kopfe starken Zug der sechzig AuSfallsmänner
als Brüder Haiduken. Da wurde signalisirt, feindliche Plänkler haben sich in der
Nähe der äußersten Lagerwachen gezeigt, die Ausfallsmannschaft blieb nun zurück,
nur zwanzig Haiduken wurden auf Schleichpatrouille geschickt. Wir bestiegen, um
das bevorstehende Gefecht überblicken zu können, ein hölzernes Observationsgerüst, daS
über dem Denkmal eines an dieser Stelle gefallenen tapfern Grenzvffiziers errich¬
tet war. Im Jahre 1788 nämlich hatte Hauptmann Radwojewic mit hundert
Grenzerschützen Tomasovac gegen eine neunfach stärkere türkische Uebermacht ver¬
theidigt und war an dieser Stelle den Heldentod gestorben. — Unsere Haiduken
schlichen gebückt ans den Verschanzungen in ein Maisfeld, krochen dann auf dem
Bauche über eine breite Wiese in einen Weingarten und so fort, bis sie den Hu¬
saren auf Schußweite unvermerkt nahe gekommen waren. Auf die erste wohlge¬
zielte Salve sielen sechs, auf die zweite vier Husaren; aus einem Versteck
stürzten mehrere Horwath-heraus und es ging an ein Handgemenge, Säbel und
Messer blitzten in der Abendsonne, da knatterten Flintenschüsse, ein Haiduke stürzte
zusammen, nach kurzem Kampfe aber wichen die Feinde und unsere Haidnken
kamen mit fünf Gefangenen, einem Husaren und vier Honved's, Burschen in
blauen Blousen mit schwarzen Schnüren und runden schwarzen Federhüten zurück.
Auf zusammengesteckten Aesten brachten sie zwei ihrer Kameraden, einen todt,
den audern schwer verwundet. Wie die Kämpfer das Lager wieder betraten, kro-
>Hrn die neugierigen Waffenbrüder aus ihren niedern Strohhütten und Erdlöchern
hervor. Ein überaus bunter, phantastischer Anblick, ein wahrer Maskenball!
Ein solches Gemisch von Trachten hat wohl selten ein Lagers Umkreis in sich ver¬
eint! Hier regulirte Grenzer, gleich zwar in der Bewaffnung, aber bunt ver¬
schieden im Kostüm; die Ueberzahl davon sind Serben, doch finden sich auch
Slovccken und Wallachen, selbst einige Deutsche darunter. Und erst die Frei-
schaaren! von all den 3000 sind nicht zwei gleichgekleidet! Hier Serben, dort
Bosnier, da Arnauten, da Herzogovinaner, dort wieder die stolzen, hochgewachse¬
nen Söhne der schwarzen Berge, edle Montenegriner, selbst ein Häuflein Türken
und veritabler Griechen und um das Nationalitätengemäß ganz voll zu machen,
auch zwei im Bornus, Araber, die früher eines Belgrader Bassa Sclaven waren
und nach ihrer Freilassung serbisches Handgeld nahmen. Das Trachtenquodlibet
wird noch bunter durch den Gebrauch, sich mit den Beutstücken nach Möglichkeit
zu schmücken, seien sie auch von der heterogensten Art! Zu den malerischen Na¬
tionaltrachten denke man sich als Kopfbedeckung Husarenczakos, die runden Hüte
der Mobilgarden von Bnda-Pesth, edelmännische Kalpaks oder Czapkos von-
Uhlanen, oder zu den breiten Hosen, gestickten Westen, Waffengürteln und Shawls,
Husaren-Dolmans mit Seide oder Gold verschnürt, weiße Uniformröcke von
Miguel- oder Alexanderinfanterie, Honvedswaffenröcke, kurz, jedes ordentliche
Kleidungsstück, das in der feindlichen Armee vorkömmt, findet sich hier wieder in
möglichst grotesker Zusammenstellung. —
Die schon vorher aufgehobene Mannschaft wurde verdreifacht und gen Orlo-
vat und BotoS gesendet und wir ritten in's Hauptquartier zurück. Vom Pferde
absteigend warf ich meinen liebevollen Blick nach dem Küchenfeuer, das wieder
lustig flackerte, am Bratspieße schmorte ein ebenbürtiges Seitenstück zum Jors ä'oeuvro
der Mittagstafel.
Wenn die Schwalben kommen, erwacht in dem Menschen der Wandertrieb;
wenn jene freudig das alte Nest begrüßen, wird es ihm, zu eng in dem wohnlichen
Hause, zu düster in den alten Gassen, es locken tausend Boten ihn hinaus in die
weite Ferne. Jetzt zumal, nach einem Winter, der in mancherlei Sorgen und
Kümmernissen verlebt werden mußte, in einem Frühjahr, das uns wenig Blumen
bringen wird, sehen wir auf allen Straßen die Züge der Auswanderer, welche
mit ihren Habseligkeiten den Seehäfen zu eilen, um hinüber zu ziehen in das freie,
glückliche Amerika oder nach dem ewig grünen Festland des fünften Welttheils.
Wehmuth ergreift den Menschenfreund, wenn er Abends auf dem Kai des Hafens
die guten Leute sieht, die aus dem Herzen Deutschlands gekommen, hier uno
dem Mastenwald schon in einer ganz fremden Welt sich finden; stille Beklommen¬
heit ist über ihr ganzes Wesen gebreitet, ängstlich gedenkt die Mutter der langen
Meerfahrt und erst wenn der Vater beginnt zu erzählen von den reichen Wundern
der auserwählten neuen Heimath, beschwichtigt das schon hundertmal Gehörte das
zagende Frauenherz. Welche Vorstellungen werden da lant, welche mitleidswür¬
dige Einfalt der Phantasie und der Erwartung gibt sich in solchen Familienunter¬
haltungen kund! Kaum ein Dritttheil der Auswanderer nach Amerika hat einen
Begriff von dem Wagestück des Unternehmens, kaum ein Zwanzigstel weiß, was
es da drüben will und soll. Um so auffallender und merkwürdiger ist die Er¬
scheinung der massenhaften Auswanderung, welche von Jahr zu Jahr zunimmt.
Was treibt die Leute fort? Ist es die Übervölkerung? Nein, gewiß nicht, denn
Deutschland ist nicht übervölkert und die einzelnen Districte, in welchen Population
und Production im Mißverhältniß zum Schaden der ersteren stehen, danken dies,
laut dem schlagenden Zeugniß der Statistik, einzig der niederen Stufe oder In¬
dolenz der letzteren. Ist vielleicht die Freiheit des amerikanischen Staatslebens,
seine republikanische Verfassung der Lockvogel, der den armen deutschen Bauer in
den Schatten des Urwalds lockt? Schwerlich — oder wenigstens nur in sehr
wenigen Fällen; der deutsche Bauer ist allerdings ein abgesagter Feind vom Steuer¬
zahler, aber deshalb opfert er noch lange nicht die Heimatl) mit allen ihren Er¬
innerungen und Gewohnheiten. Es ist freilich in Frankfurt gesagt worden: Ein
Beweis, daß die politischen Einrichtungen des lieben deutschen Vaterlands die
Mehrzahl zur Auswanderung nöthigen, liegt darin, daß im Jahre 1848, als
sich der politische Horizont auch bei uns zu klare» anfing, seit fünf Jahren die
kleinste Zahl von Auswanderern befördert worden ist. Allein es ist dabei zu be¬
denken, daß die Zustände des vergangenen Jahres es nicht erlaubte», anders als
mit den schwersten Opfern ein Vermögen in liegenden Gütern mobil zu macheu
oder auf andre Weise das Seinige ohne Verlust zusammenzufassen; ja es ist sogar
auch in Betracht zu ziehen, daß die Dänen eine geraume Zeit des Jahres hin¬
durch unsere Answandernngshäsen blokirten und die Schifffahrt hinderten. Jener
Beweis zerfällt also in sich selbst. Die Hauptursache der Auswanderung in Deutsch¬
land trägt das Volk, mehr wie viele andre, in sich selbst: Es ist der romantische
Drang in die Ferne, der in jedem Menschen zeitweise im Jahr erwacht, es ist
die unbestimmte Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage, die zum quälenden
Stachel wird, wenn Berichte und Gerüchte aus fernem Welttheil von den: wun-
dergleicher Glück bekannter Personen, welche früher fortgewandert, erzählen, und
denen gleich zu stehen oder es ihnen gar zuvor zu thu», man ein sicheres Anrecht
zu haben glaubt. Die Auswanderungslust ist kein Product unserer politischen und
socialen Zustände, sondern sie entsprang der unruhigen Menschenseele als ein sich
empörendes Gegengewicht der Stagnation und des Einerlei im practischen Leben.
Mag aber ihre Ursache liegen, wo sie wolle — jetzt, in der gegenwärtigen
Zeit, ist die Erscheinung der Auswanderung eine tiefe, schmerzliche Wunde im
großen Staatsorganismus. Sie raubt dem Lande brauchbare Kräfte; sie entzieht
ihm nach und nach ungeheure Summen von Capitalien, welche durch den Bei lehr
wieder zu erhalten in weiter Ferne noch nicht Aussicht vorhanden ist; sie entführt
den Ständen des Volks in unverhältnißmäßiger Anzahl das wichtigste Bindeglied,
den Kleinbauer, der sich auf eigner Hufe selbst ernährt, und durch Arbeit bei
Andern jährlich ein Sümmchen zu erübrigen vermag, während der Troß der Ar¬
beitsscheuen, der nicht auswandern kann, als schlimme Hefe zurückbleibt. Allen
diesen Nachtheilen gegenüber gewährt die Auswanderung den deutsche» Staaien
keinen einzigen Ersatz — ihnen nützt die Bestimmung des germanischen Stammes,
über die ganze Erde Cultur zu verbreiten, in dieser Hinsicht gar wenig, um so
weniger, als es die Eigenschaft der deutschen mehr wie jeder andern Nationalität
zu sein scheint, mit fremden Elementen sehr leicht in einen neuen Stamm zu zer¬
fließen.
Wenn sich der Nationalökonom, namentlich in neuester Zeit, mit tiefer Be¬
trübniß eingestehen mußte, daß das Uebel der Auswanderung schon so viel kräf¬
tiges Mark im Staatskörper zerstört hat, daß es die höchste Zeit ist, es in irgend
einer Weise unschädlicher zu machen — so richtete sich ganz besonders sein Augen¬
merk aus die hochwichtige Möglichkeit einer Auswanderung und Kolonisation im
Inland, d. h. in Deutschland. Ein forschender Blick auf die Karte wird aller¬
dings den Gedanken einer solchen lebhast unterstützen. Im Süden unseres Ba¬
terlandes sind die großen Donaumoore einer Austrocknung und Cultivirung fähig,
und würden dann vielen Tausenden neuen Boden darbieten — (von den außer-
deutschen Ländern, Ungarn, der Walachei:c. reden wir hier um so weniger, als
es einem Sachkundigen vorbehalten ist, über deren Kolonisation in diesen Blättern
zu berichten) auch das"große Lcchfeld in Baiern vermöchte wenigstens eine dop¬
pelte Bevölkerung ausreichend zu nähren. Im Westen sind die Haiden und
Sandländer Hannovers und Oldenburgs an vielen Stellen so ertragsfähig, daß
manches neue Dorf dort erstehen könnte; abgesehen von der theilweisen Urbarfä¬
higkeit dieser öden Districte durch künstliche Mittel, z. B. artesische Brunnen u. tgi.,
welche wenigstens des Versuches werth wären. Auch im Eifelgcbirg längs deS
Rheins mag noch mancher fleißige Mann ein nährendes Plätzchen finden. Aber
alle diese Gegenden sind von geringem Belang, verglichen mit den ungeheuern
Strecken, welche in Pommern, mehr aber in Ost- und Westpreußen, theils als
Haideland, theils als unnützer, sich gar nicht rentirender Wald, theils als Moore
oder Wüstungen des Pfluges und Säcmanns harren. Dort ist der Punkt, wel¬
cher vor Allein in's Ange gefaßt werden muß, wenn von Kolonisation die Rede
ist. Versuche sind da schon vielfach gemacht worden. In Hinterpommern sind vor
Mehr als einem Jahrhundert Pfälzer und Salzburger eingewandert, deren Kolo¬
nien noch heute bestehen, wenn gleich nicht alle in demselben Wohlstand. Im
Großherzogthum Posen findet sich ebenfalls eine beträchtliche Anzahl von Kolonien,
nnter ihnen die sehr bekannte auf der Domäne Flatow; in Litthauen sind die mei¬
sten Flußniederungen von Salzburgeru, Pfälzern und Elsässcrn beurbart worden;
Noch vor wenigen Jahren hat die preußische Regierung in Nolhfließ einen Colo-
Nisatiousversnch mit hessischen Bauern ausgeführt, der bis heute außerordentlich
gelungen scheint. Und noch viele hunderttausend Morgen liegen in jenen Ländern
unbenutzt! Dorthin also müßte sich der Strom der Auswanderung im Irland vor
allen Dingen richten.
Aber so schön auch diese Aussicht sich dem oberflächlichen Blick darstellt, so
viele Bedenken erheben sich wieder gegen die Möglichkeit und den erwarteten Ge-
wirr ihrer Benutzung, so viele Zweifel, ob die Colonisation im Inlands im
Stande sein werde, die Auswanderung nach fremden Ländern und Welttheilen
genügend zu hemmen. Es ist dies letztere kaum zu hoffen. Wenn man die Sta¬
tistik der deutschen Auswanderung nachschlägt, so findet man das Resultat, daß
in den 13 Jahren von 1836 — 1848 nicht weniger als 629,230 Personen nach
überseeischen Ländern gezogen sind. Wenn nnn auch diese Summe gerade noch
keine übermäßige ist, (etwa 2 Procent der jetzigen Gesammtbevölkerung) so ist sie
doch zu groß sür den allgemeinen Wohlstand, aber auch zu groß, um im Inlande
in dergleichen Zeitfrist placirt worden zu sein. Man denke sich diese Menschen¬
menge in die öden Gegenden Ost- und Westpreußens geworfen, wo, was sehr
zu beachten ist, der Mann mehr als das drei- und vierfache des Areals zu seiner
Ernährung bedarf, als anderswo, und es wird dort wenig Platz mehr übrig
bleiben für den nachdrängenden Strom, der dann nicht so plötzlich in ein anderes
Bette gelenkt werden könnte. Außerdem ist das Verhältniß des Grundbesitzes
im Inlande ganz anders wie in Amerika oder Australien; dort ist der Boden
öfters in den Händen von Privaten, welche sich seiner nicht entäußern wollen und
selbst das Domauialeigenthum kann nnr nach eingeholter Genehmigung der höheren
Behörden erd- und eigenthümlich vergeben werden. Wo er aber nur Pachter,
selbst auf Erbleihe sein kann, geht der deutsche Bauer trotz aller übrigen Vor¬
theile gewiß nicht so gerne hin, als da, wo er mit leichter Mühe und wenig Geld
ein ganz eigenes Gut erwerben kann. Es ist ohnedies schon schwer, seine Ab¬
neigung gegen die Ansiedlung in einem deutsche» Lande zu überwinden, wo er
recht gut weiß, daß er von dem eingeborenen Nachbarn als Eindringling behan¬
delt und der Stcnerbote am Ende kommen wird, wie früher. Da in Deutsch¬
land ganz andre Verhältnisse bei eiuer Colonisation in's Spiel kommen, wie in
Wisconsin oder Texas, so bedarf der Ansiedler dort entweder ein größeres An-
lagecapital oder der Unterstützung der Regierung der neuen Heimath. Diese
Unterstützung bringt aber letztere in ein eigenthümliches Dilemma; denn die alten
Einwohner werden fragen: Warum greift man Fremden unter die Arme und nicht
uns, die wir, wenn dies geschähe, gewiß eben so gut die Production zu vergrö¬
ßern im Stande wären, als jene? Daher müssen solche Unterstützungen nur mäßig
und mit großer Vorsicht stattfinden. Bleiben sie ganz weg, so mißlingen die Colo-
nien allzuleicht, wie dies die Erfahrung gelehrt hat. Es ist aber ein Unterschied
zwischen dem Mißlingen einer Ernte in Missouri und in Westpreußen; in jenem
Land vermag der Bauer zur Noth noch eine Nachfrucht zu erzielen, in diesem
nicht; dort nimmt er vielleicht die Flinte zur Hand und schafft Fleisch in's Haus,
wenn Mangel eintritt, hier wird er gepfändet, wenn er den Hasen säugt, der ihm
den Kohl nascht. Wie schon erwähnt, fühlt auch der ärmste Colone es deutlich,
daß sein Auswandern uach einer andern Provinz des großen Vaterlandes von den
seitherigen Bewohnern der letzteren stets als ein unbefugtes Besitzergreifen zu ihrem
Nachtheil betrachtet werden wird, während er aus Briefen, die der und jener
Abends in der Spinnstube vorgelesen, erfahren hat, daß dergleichen in den AuS-
wanderungsstaaten Nordamerikas nie der Fall ist. Und der Haß und Neid, der
ihn verfolgt, je mehr er sich bemüht, ein sorgenfreies Leben zu erringen, ver¬
bittert ihm Alles, was sein Fleiß erworben hat, verleidet ihm nicht selten so die
ganze inländische Kolonie, daß er ohne weitem Grund wieder zurückkehrt in die
alte Heimath, oder den kaum errichteten Herd der neuen wieder abbricht, um ihn
über den Ocean zu tragen — es sind Fälle der Art schon häufig vorgekommen.
Die Colonieen, welche seither in Deutschland angelegt worden sind, haben keinen
Einfluß auf die Cultur der umwohnenden Bevölkerung ausgeübt; sie sind abge¬
grenzte Gemeinden gewesen, die nur uuter sich verkehrten und Familienbündnisse
schlössen, sie sind heut noch, oft uach 150 Jahren geblieben, was sie waren. --
Die Pfälzer sind in Pommern so wenig Preußen geworden, wie die Franzosen
in Litthauen Deutsche und ihre Nachbarn haben von ihnen nichts gelernt. Auch
das Beispiel der Sachsen in Siebenbürgen darf hier angeführt werde». In Nord¬
amerika wird aber der Einwanderer, sei er, ans welchem Lande er wolle, alsbald
Amerikaner, muß aus eigenen Füßen stehen und gehen lernen und findet überall
freundliche Nachbarn, die ihm mit Rath und That beibringen, so lange eS
Noth thut.
Es ist also die Kolonisation im Inland keineswegs geeignet, die Auswande¬
rung nach überseeischen Ländern vollständig zu hemmen. Trotzdem ist sehr zu
wünschen, daß sie so ausgedehnt und sobald als möglich in's Leben gerufen werde
sie wird jedenfalls mindestens einen Theil von Kräften und Capitalien dem
Vaterland erhalten können — und sie kann jetzt um so leichter stattfinden, da das
freie Umzugs- und Ansiedelungsrecht in ganz Deutschland hoffentlich auch der
That nach zu den erworbenen Früchten der Neuzeit gehört. Aber das Inland hat,
außer den Versuchen der Kolonisation in demselben, noch gar manche andere
Mittel im Ueberfluß, welche, richtig benutzt, auf lange Jahre hinaus hinreichen
würden, jede Uebervölkerung unmöglich, ja die Production so steigen zu machen,
daß die seitherige Ausfuhr, welche schon allein den Glauben an Mißverhältnisse
der Population aufheben muß, sich noch erhöhen würde. Die Vertheilung des
Gemeindeguts mit Ausnahme des Waldes an die einzelnen Gemeindeglieder, die
Parzellirung der Domänen, zweckmäßige Kolonisationen u. s. w. können einer unge¬
heueren Menschenmenge neue Erwerbsquellen eröffnen, zugleich würden die ge¬
nannten Maßregeln ein Gegenwinde für die großen Nachtheile der Ablösung der
Zehnten und Grundrenten bilden, deren Capitalstock von den Berechtigten, gewöhn¬
tet) laut Familicuverträgen fast ganz wieder in Grundeigenthum angelegt worden
ist und dieses daher in den Händen einzelner Besitzer sich ungebührlich gehäuft hat.
R"ge sich zu jenen die Aushebung vieler drückenden Lasten und Schranken, die die
Production jetzt noch vielfach hindern, entzieht strenge Militärpflicht der Güter-
hervorbringung nicht alljährlich gerade die Mehrzahl der besten Arbeitskräfte; do
günstigen die Regierungen und ihre Behörden die Industrie, schützen sie Handel
und Gewerbe durch eine einsichtige Zollgesetzgebung, durch Regelung der Jnnungs-
Verhältnisse n. s. w.; erhöhen sie endlich die Production durch die indirecten Mittel
der Volksbildung und der gegliederte» Association — dann ist mehr als durch
jede Colonisation dem Uebel der Auswanderung die fühlbare Schärfe genommen,
wenn sie selbst dadurch auch nicht aufgehoben wird.
Es ist der Auswanderung kein Ziel zu setzen — wohl aber wird, wenn auch
erst nach langer Zeit, der Augenblick kommen, in welcher sie aufhören wird, uns
zu schaden. Eines Tages werden Amerika und vielleicht mehr noch Australien mit
uns in nachhaltig einttäglicheu Verkehr getreten sein — es braucht einstweilen nur
auf Wolle und Tücher hingewiesen zu werden — und unser Handel wird dann
wahrscheinlich nur auf der Basis des AnSwandrungsbctricbs zu einer so achtnng-
gebieteuden Höhe gediehen sein, daß wir mit andern handeltreibenden Nationen con¬
curriren können. Es ist dies um so mehr kein leerer Traum, als die glücklichen
Anfänge einer deutschen Marine jetzt schon unserer Flagge Schutz und Geltung
verleihen müssen. Wir werden das noch erleben — auch, daß Amerika und
Australien selbst die Auswanderung erschweren werden. Wohin aber soll dann der
romantische Drang in der deutschen Seele uns führen? Unzweifelhaft müssen wir
dann dahin zurückkehren, woher wir vor tausend Jahren gekommen sind — nach der
Hochebene von Asien. Dort stand die Wiege des Menschengeschlechts vielleicht
Ich traf in Frankfurt el», am Vorabende des Tages, der die Debatte über
den Welker'schen Antrag eröffnen sollte. Nur mit Mühe konnte ich noch ein Unter^-
kommen im Ga'sthofe finden, so groß war der Zudrang von Fremden, die aus
allen Gauen Deutschlands herbeigeeilt, um Zeugen der weltgeschichtlichen Ver¬
handlungen zu sein, welche über die Zukunft unseres Vaterlandes entscheiden
sollten.
ES lag mir daran, schnell einen Ueberblick der Stärke und Operationspläne
beider Heerlager zu gewinnen, und der Umstand, daß ich unter den hervorragend¬
sten Centralisten und Totallsten der Linken wie der Rechten alte Bekannte habe,
kam meinem Bestreben fördernd zu Hilfe. Vor allem war ich begierig, die
Stimmungen und Motive der Antikaiserlichen, unserer Gegner, kennen zu lernen,
denn von meinen politischen Freunden, den Vorkämpfern der Welcker'schen Partei,
die bis tief in die Nacht hinein im „Englischen Hofe" versammelt waren, konnte
ich nichts Neues erfahren, als daß sie mit Sicherheit auf eine Majorität von
einigen zwanzig Stimmen rechneten. Man hoffte allgemein, daß Heinrich Simon
und Genossen, welche sich bis dahin ziemlich farbenunbestimmt gehalten hatten,
im entscheidenden Augenblicke zu deu Kaiserlichen übergehen würden; man hoffte
ferner, daß ein großer Theil der Oestreicher sich der Abstimmung enthalten werde;
am Siege zweifelte Niemand — wo sich Bedenken äußerten, war es nur darüber,
daß die Majorität vielleicht eine sehr geringe sein werde.
Ich besuchte im Fluge die Versammlungsorte der Oestreicher und der Linken,
und fand überall eine Aufregung und Rührigkeit, welche mit der siegesfrobm
Ruhe der Herren von der Rechten wundersam kontrastirte. An ein tieferes Ein¬
gehen in die Frage, an ein gründliches Erwägen der Verhältnisse, an ein Sich¬
ten des Wünschenswerthen und Möglichen war hier nirgends zu denken. Das
war ein Lärmen, ein Toben, ein Kreuzfeuer von Worten des Hohnes und der
Verneinung, daß ich meine Bekehrungsversuche ohne Weiteres aufgab, denn mit
Vernunftgründen war nicht durchzudringen, wo Leidenschaftlichkett, Preußen-
haß und blinde Oppositivnslust allein das Wort führten. Alle Vermittlungsversuche
schienen unmöglich, denn nirgends war ein positiver Anknüpfungspunkt zu finden;
vergebens lauschte ich uach einem versöhnenden Gedanken; die Herren schienen
nur zu wissen, was sie nicht wollten, oder sie hielten mit dem was sie wollten,
klüglich zurück.
Ich wandte meine Schritte zum „Braunfels", unter dessen Besuchern der
Rinne Vogt, der gute Venedey, der schwer zu durchschauerte Fallmerayer und
^r gemüthspolitische Raveaux die hervorragendsten Erscheinungen bilden.
Auch den Braunfels verließ ich leider nicht viel klüger, als ich gekommen
war. Vogt wollte lieber deu alten Bundestag wieder hergestellt wissen und das
Heil einer neuen Revolution abwarten, als Deutschland in einen „preußischen
Polizeistaat" umwandeln helfen. Für Raveaux war das „Erbkaiserthnm" der
größte Stein des Anstoßes; er deducirte daraus einen unvermeidlichen Krieg mit
Frankreich. Daß sich auch Fallmerayer zu der Partei dieser Herren geschlagen,
^uß denjenigen unerklärlich scheinen, welche die pessimistische Weltanschauung des
wanderlustigen Fragmentisten nicht genauer kennen. Es dürfte vielleicht wenige
Mitglieder der Nationalversammlung geben, welche mit den östreichischen Zustän¬
den so vertraut wären, wie Fallmerayer; wer aber mit den östreichischen Zuständen
"^'traut ist, der weiß auch, daß das Volk dort selbst nichts anderes will als was
uns die kaiserliche Partei anstrebt; wenn Fallmerayer trotzdem in Frankfurt
Segen die hohenzollersche Dynastie agitirte, so that er das entweder aus Anhang-
^)keit für seinen König, oder aus eingewurzelten Preußenhaß, oder aus reiner"positivnslnst — am wahrscheinlichsten wurde durch d'lese drei Factoren zusam-
mcngenommen seine Handlungsweise bestimmt. Im Grunde glaubt er überhaupt
nicht an eine friedliche Lösung der deutsch-östreichischen Frage und sein Hauptbe-
strebcn ist, sich sobald als möglich des lästigen Maubads zu entäußern und in
seinen geliebten Orient zurückzukehren. Am zugänglichsten für die Idee des preußi¬
schen Erbtaiserthums zeigte sich Venedey. Er war ehrlich genug, seinen Freunden
gegenüber offen zu gestehen, er würde, wenn er keine politische Vergangenheit
hätte (!) unbedingt für den Welker'schen Antrag stimmen; aber um nicht inkonse¬
quent zu werden, müsse er bei der Opposition bleiben, denn zwanzig Jahre lang
sei er ein Mattose auf dem Schiffe Grvßdeutschland gewesen und ans diesem
Schiffe müsse er stehen oder untergehen. Aehnliche Redensarten hörte ich auch
von anderen Herren der Linken, von deren politischer Vergangenheit Niemand
etwas weiß, als sie selbst.
In sehr gedrückter Stimmung kam ich in meinen Gasthof zurück. Am fol¬
genden Morgen machte ich mich in aller Frühe auf den Weg zur Paulskirche, um
einen bequemen Platz zu erbeuten. Um neun Uhr waren schon alle Räume sür
die Zuschauer mit Menschen überfüllt. Eine unbeschreibliche Spannung malte sich
auf allen Gesichtern. Die große Kaiserschlacht wurde durch einen gediegenen Vor¬
trag des H. v. Wydenbrugk eröffnet; doch kostete es große Aufmerksamkeit, dem
Redner zu folgen, denn in der Kirche herrschte — besonders auf deu Bauten der
Deputirten — eine solche störende Unruhe, als ob die Herren nur zusammenge¬
kommen wären, um sich im Husten, Schnaufen, Rülpsen und Spucken zu üben.
Die alle Augenblicke in Bewegung gesetzte Glocke des Präsidenten vermochte uur
hin und wieder die Ruhe etwas herzustellen.
Ich verschone Sie mit einer Detailschilderung der Debatten, welche vier Tage
hindurch, von 9 Uhr Morgens bis spät in den Nachmittag hinein währten und
erlaube mir uur, einige bemerkenswerthe Momente daraus hervorzuheben.
Von den Rednern der sogenannten Großdcntschen waren Radvwitz und Rö¬
mer die Einzigen, welche die'Frage mit Geschick, Würde und Austand behandel¬
ten. Die HH. Buß von Freiburg, Schüler von Jena, Wigard von Dresden,
übernahmen die Rolle der „Clowns" in dem großen Drama. H. v. Hermann aus
München und der Adelsbekämpfcr Mohl aus Stuttgart, schienen in der Kunst wett¬
eifern zu wollen, einschläfernd auf die Versammlung zu wirken; doch trug Ersterer
den Sieg davon. Vogt von Gießen und Simon von Trier machten es sich zur
Aufgabe, alle Sündenregister der Vergangenheit zu durchwühlen, wobei sich denn
häufig Gelegenheit zum Einflechten billiger Witze, preußenseindlicher Wortspiele
und nachmärzlicher Schlagwörter bot, deren jedes von der Linken mit langan-
haltcudem Beifallgeklatsch begrüßt wurde, was natürlich wesentlich beitrug zur
Losung der großen Frage, um die es sich handelte. H. Vogt besonders machte
den Eindruck, als ob er sein Mandat blos erhalten habe, um sich und die preu¬
ßische Negierung lächerlich zu machen. H. Raveaux war einer von den wenigen
.Herren der Opposition, die auf die obschwebcnde Frage überhaupt eingingen. Er,
schlug vor, man solle den König von Preußen vorläufig zur Probe auf 6 Jahre
wählen; dann werde seine Partei dafür stimmen. Da dieser Vorschlag keinen
Anklang zu finden schien, so erzählte H. Raveaux eine lauge Geschichte von der
Gährung des Weines, wandte sich zur Rechten und sagte: „das ist eine Lection
für Sie, meine Herren!" und verließ dann unter wüthendem Beifallgeklatsch der
Linken die Tribüne.
Der sanfte, ehrliche Fröbel gestand, daß für die Republik zur Zeit noch kein
Boden in Deutschland sei und daß das Volk vielleicht noch lange ohne seine Für¬
sten nicht leben könne; trotzdem konnte er sich nicht entschließen, für einen neuen
Kaiser zu stimmen. Es sei ein stehendes Wort nnter den Herren von der Rechten
geworden: „Nach uns kommt die Sündfluth!" — Man möge ihm und seinen
Politischen Freunden erlauben zu sagen: „Und nach der Sündfluth kommen wir!"
Er verließ die Tribüne ebenfalls nnter anhaltendem Beifallgcklatsch der Linken.
Wenn Sie nicht begreifen, was die Sündfluth des H. Fröbel, die Gährung
des Weines des H. Raveaux und die Witze der HH, Vogt und Simon zur För¬
derung der Einheit Deutschlands beitragen können, so geht's Ihnen gerade so
wie mir.
Es ist Hnnrich v. Gagern zum Vorwurf gemacht worden, daß er in seiner
markigen Rede sich zu derber Ausdrücke gegen gewisse Herren von der Linken
bediente.
Wer Zeuge der oft gemeinen Angriffe gewesen, welche der Ministerpräsident
von der Linien zu ertragen hatte, der wird seine gereizte Stimmung und die da¬
durch erzeugte Derbheit des Ausdrucks in der erwähnten Rede, wo nicht entschul¬
digen, so doch vollkommen begreiflich finden. Unbegreiflich aber ist das Benehmen
der Linken, die fortwährend gegen Dtplvmatenkünste und staatsmännische Heuchelei
zu Felde zieht, und dennoch einen Staatsmann wie Gagern verunglimpft, dessen
einziger Fehler vielleicht zu große Offenheit und Ehrlichkeit ist.
Als Gagern die Worte sprach: „Ich unterwerfe meine Handlung gern der
Kritik, aber Ihr Benehmen, meine Herren, ist nnter aller Kritik!" wurde ich un¬
willkürlich an die denkwürdige Scene im französischen Parlament erinnert, wo
Guizot die gegen ihn geschleuderten Vorwürfe mit den Worten beseitigte: „1'outos
Vus in>^n»eIiLS, Nvssivnrk-, no s'vlvvont jus^u'lui invvilu ele mau «it>iliüu!"
Doch, ich eile zum Schlüsse, uicht ohne Besorgnis;, schon zu laug geworden
zu sein in diesem Briefe.
Der Schluß der Verhandlungen, die Rede des Herrn Rießer von Hamburg,
bildet den Glanzpunkt des Ganzen. Diese Rede — unbedingt die bedeutendste,
welche bis jetzt in Frankfurt gehalten wurde — ließ alle früheren Reden als
gänzlich überflüssig erscheinen. Der Gegenstand war vollkommen darin erschöpft.
Alles was sich zu Gunsten des Erbkaiserthnmö anführen ließ, wurde klar und
schön gesagt — alle Einwürfe der Gegner wurden schlagend wiederlegt. Wer
durch diese Rede nicht überzeugt wurde, der war nicht zu überzeugen. Ueber
zwei Stunden währte der meisterhafte Vortrag und der Redner sprach mit einer
Wärme,, mit einer Schärfe und Klarheit des Ausdrucks und mit einer Würde,
wie mir in so schönem Einklange Aehnliches nie vorgekommen. Auch war der
Eindruck ein gewaltiger, ein unbeschreiblicher. Alten Kriegern standen die Thränen
in den Augen; man drückte sich einander die Hände, man sah sich einander ver¬
ständnißinnig an, und wahrlich, ich beneide gewisse Herren von der Linken, die
bei dieser Rede lachen konnten, um ihr Gefühl nicht . . .
Wären die Parteien nicht schon früher gebildet und die Stimmen nicht schon
lange vor Beginn der Verhandlungen verpfändet gewesen, so würde die Partei
der Kaiserlichen in Folge der Rießer'schen Rede eine große Stimmenmehrzahl ge¬
wonnen haben. So aber blieb der Stand der Dinge wie er war, und — das
traurige Resultat der Abstimmung ist Ihnen bekannt! . . .
Daß die Oppositionspartei (wenn man überhaupt das Wort Partei anwenden
kann für eine momentane, aus den heterogensten Elementen gebildete Koalition,
wo Fürstendiener und Radicale, Aristokraten und Demokraten, Pfaffen und Phi¬
losophen einander die Hände reichten), daß diese Partei auch staatsmännische Ka¬
pacitäten von entschieden deutscher Gesinnung, wie Heinrich Simon u. A. zu ihren
Mitgliedern zählte, hat seinen Grund lediglich in einer unrichtigen Auffassung der
Zustände in den deutsch-östreichischen Ländern. Uebrigens wissen wir aus guter
Quelle, daß die später angebahnte Verständigung der Weidenbuschpartei mit der
Westendhalle größtenteils den unermüdlichen Bestrebungen Heinrich Simons zu
danken ist.
Bekanntlich ließ sich die Weidenbuschpartei, nach der Verwerfung des Rießer'¬
schen Ansschußautragcs, zu wichtigen Concessionen herbei (suspensives Veto, freies
Wahlgesetz), und auf diese Concessionen hin war Heinrich Simon der Erste, der
für das preußische Erbkaiserthum Partei nahm.
Bekannt ist ferner, wie nach erfolgter Abstimmung der einzelnen Paragraphen
die Verfassung angenommen und auf Grundlage dieser Verfassung der König von
Preußen mit einer Majorität von 42 Stimmen zum Kaiser von Deutschland er¬
wählt wurde.'Die Nationalversammlung entsendete eine Deputation von l!2 Mit¬
gliedern , den Präsidenten Simson an der Spitze, nach Berlin, um Sr. Majestät
den Beschluß der deutschen Nationalvertreter kund zu thun.
Ich perschone Sie mit geistreichen Vermuthungen, mit Wahrscheinlichkeits¬
berechnungen über die nächsten Folgen des verhängnißvollen Beschlusses, und ich
schließe mit dem herzlichen Wunsche, daß der König von Preußen dem Verlangen
seines Volkes entsprechen und den Forderungen der Zeit gerecht sein möge! -—
Auch Hamburg bat seine drei Tage gehabt wie Paris, wie Brüssel, und
lange bevor in den Märztagen zu Wien und Berlin Geschützesdvnner krachte, pras¬
selte und krachte es in den Straßen der stolzen Hansestadt bei Trommelwirbel und
Hornsignalen. Zwar keine Barrikadenschlachtcn waren es, von denen die Erde
erdröhnte und der Himmel sich röthete, aber es war ein eben so entsetzlicher Kampf,
ein furchtbarer Kampf der Elemente; es waren züngelnde Flammen, prasselnd
stürzende Balken, krachende Minen, um Häuser zu sprengen. Mit den zusammen-
brechenden Häuser» und Tempeln brach auch damals die alte Zeit zusammen und
stieg als ein neuer Phönix aus der Lohe empor. Dieselben Hamburger, die noch
kurz zuvor so gute Leute waren und so gut aßen und tranken, deren Theolo¬
gen zwar wohl über Bedeutung des Abendmahles stritten, über die Bedeutung
des Mittagsmahles aber ganz einig waren — diese Hamburger wie sie einst Heine
geschildert, fingen mit einem Mal an, auch über Politik zu sprechen, verlangten
mit einem Male eine Einsicht in das Getriebe ihrer verrosteten Staatsmaschine
und forderten Rechenschaft von der Verwendung der ungeheuren Summen, welche
der heißhungrige Magen der Verwaltungsbehörden so lange und mit so erstaunli¬
chem Appetite verschlungen hatte. Hamburg wollte nicht mehr das zweifelhafte
Lob in Anspruch nehmen, die Vaterstadt des Rauchfleisches zu sein, der Hambur¬
ger begriff, daß es noch etwas höheres gebe, als „die Hände in beide Hosen¬
taschen zu stecken, wie Einer, der eben fragen will: Was habe ich zu bezahlen?"
wollte auch einmal eine Frage frei haben, nicht an das Schicksal, aber an
^n hochweisen Rath, er wollte — es war ein Abmachen — bei dem Neubau
seiner Straßen und Häuser auch seine Verfassung ein wenig um- und ausbauen,
ganz allmälig, langsam nach guter deutscher Art. 'Der Hamburger ist ein Prakti¬
ker Mann, aber sein politisches Bauunternehmen sing er unbeholfen an; es
ging ihm nicht recht von der Hand, mit der er bisher Geld zu zählen und ein-
ZUsäckeln gelernt. Die kindliche Ehrfurcht nud der fromme Glaube an die Unfehl¬
barkeit der Perrückentöpfe war noch zu tief bei ihm gewurzelt, und wenn ihm
^ehe die Franzoseu nachmals gezeigt hätten, wie man kurzen Prozeß macht, wenn
^ zu lange Zeit dauert, „.jm-is iwllus lvxum^no aei-i^in-et-t svlvoio," — so
hatte noch ein Menschenalter mit dem Neformiren hingehen können. Allmälig ge¬
schah es aber dem Hamburger, wie es dem Menschen überhaupt gar leicht zu ge¬
schehen pflegt, er gerieth von einem Extrem in das andere, und dem Schnecken-
^"ge folgte Ueberstürzen; doch fängt der gesunde Sinn der Bevölkerung nachge¬
be an, den Strom der Bewegung in das ruhige Bett der wahrhaft vernünfti¬
gen rechten Mitte hinüberzuleiten.
Es wiederholte sich, was wir überall in Deutschland seit der Märzerhebnng
des vorigen Jahres gesehen. Die demokratische Partei, in 7 verbundenen Ver¬
einen vertreten, nahm zuerst die Bewegung in die Hand, ertrotzte vom Senat die
Zusammenberufung einer ans Urwahlcu hervorgegangenen constituirenden Versamm¬
lung, nud bevölkerte diese zum größten Theile mit ihren Kandidaten, Der Senat,
statt sich an die Spitze der einmal nothwendigen Bewegung zu setzen, ließ sich von
ihr überflügeln und war nachmals unpolitisch genug, sich jede Concession abringen
zu lassen, verblendet genug, da Halbes zu gewähren, wo er am Ende das Ganze
nicht verweigern konnte. So verfuhr er z. B. in Betreff der Grundrechte, die er
erst dann wirklich publiciren ließ (als Placat), nachdem die demokratischen Vereine
den Druck und die Verbreitung derselben beschlossen. Es ist nicht zu leugnen,
daß die demokratische Partei, in diesem Augenblick durch 12 verbundene Vereine
repräsentirt, viel Gutes und das Gute schnell bewirkt hat, es läßt sich nicht leug¬
nen, daß sie manche talentvolle, redliche und vor allen Dingen gemäßigte Män¬
ner in ihren Reihen zählt; aber diese bilden nur zu sehr die Minderheit, Eitel¬
keit, Anmaßung und Selbstsucht spielen bei den Meisten, namentlich bei Vielen,
die in die Constituante gewählt wurden, die Hauptrolle und sittlicher Ernst, Würde
und Fähigkeit, die persönliche Ansicht dem Allgemeinen unterzuordnen', sind Tu¬
genden, die zu oft bei ihnen vermißt werden. Daher diese persönliche, unehr¬
liche, der würdevollen Haltung gänzlich entbehrende Art des parlamentarischen
Kampfes, diese hohlen Tiraden und leeren Phrase», die weniger der Sache, als
dem Beifallklatschen einer oft die Schranken des Anstandes überspringenden Gal¬
lerte gellen. Und doch — diese Partei der entschiedenen Linken, im Gegensatz
zu anderen verwandten Erscheinungen, ist fern von Vertretung partikulärer In¬
teressen, sie ist wahrhaft deutsch. Das hat sie namentlich bei den Verhandlungen
über die deutschen Grundrechte bewiesen. Der Vcrfassuugsausschuß hatte nämlich
einen, bereits von der constituirenden Versammlung genehmigten Entwurf der
Grundrechte ausgearbeitet. Ju demselben waren diejenigen Paragraphen der Grund¬
rechte zusammengestellt, welche einen allgemeinen Charakter haben, als: Unver¬
letzlichkeit der persönlichen Freiheit, Glaubens,-Gewissens-,Preßfreiheit, Vereins-
nnd Vcrsammlnngsrecht n. s. w.; diese sollen in ihrer Zusammenstellung einen
eigenen Abschnitt in der künftigen Verfassung bilden. Daneben sind speciellere
Bestimmungen der deutschen Grundrechte, z. B. die des Art. 9 über die richter¬
liche Gewalt, das Gerichtsverfahren u. s. w. besonderen Titeln der künftigen Ver-
fassung vorbehalte», während andere, z. B. über Aufhebung der Frobnden, inso¬
fern für diese der wirkliche Boden bestehender Verhältnisse fehlt, ausgeschieden sind.
Um bei dieser Art der Redaction — deren Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßig-
keit dahingestellt sei -...... jedem Misivctsiändnisse vorzubeugen, als ob die deutschen
Grundrechte in ihrer Tctalität keine unbedingte Giltigl'eit für Hamburg haben
sollten, ist ein an die Spitze der Verfassung zu stellender Artikel vorgeschlagen
und genehmigt, welcher jene unbedingte Giltigkeit aller deutschen Reichsgesetze
für Hamburg auszusprechen bestimmt ist. Um auch durch eiuen greifbaren Beweis
ihr unverbrüchliches Festhalten an den Grundrechten des deutschen Volkes zu be¬
kunden, folgte die coustituireude Versammlung bereitwillig einer Einladung deö
Centralcvmitl-S der verbundenen Vereine, und wohnte der Feier jener Grundrechte
am 25. Februar d. I. als Körperschaft bei. — Der demokratischen Partei
gegenüber steht die conservative, namentlich vertreten in dem „patriotischen Vereine."
Sie setzt dem überstürzenden Eifer jener Ruhe nud Mäßigung und oft die größere
Intelligenz entgegen. Das Gute früherer Zustände conserviren zu wollen, eben
weil es sich als gut bewährt hat, ist vollkommen vernunftgemäß; thöricht aber
ist es — und diesen Fehler begeht die conservative Partei nicht selten — auch
das festhalten zu wollen, was im entschiedenen Widerspruch mit geläuterten Zeit¬
ideen steht. Der Parteienkampf ist ein gesundes Element des Staatslebens, wenn
der Kampf ehrlich und würdig geführt wird; aber hier, wie leider auch anderswo
sind Verdächtigungen, unwürdige Persönlichkeiten und Schmähungen nur zu oft
die unreine» Waffen, welche ans beiden Seiten in den Kampf geführt werden,
und gerade diese Art des Streites ist Schuld daran, daß die conservative Partei
häusig da, wo die bessere Einsicht für sie spricht, anch bei den gemäßigten und
unbefangenen Gegnern nnr Erbitterung erzeugt, ein Umstand, der im Interesse
der Freiheit selbst im höchsten Grade beklagenswert!) genannt werden muß. Daß
das erwachte politische Leben sich hier auch literarisch und gesellig geltend macht,
ist natürlich. Was die politische Literatur Hamburgs betrifft — die überall leider
für jetzt noch jede andere absorbirt - - so ist es am besten, darüber zu schweigen.
Gedruckt wird zum Entsetzen viel, und die politischen Blätter kommen wahrhaft
wie Pilze nach einem warmen Regen zum Vorschein; aber es ist auch nicht eins,
das sich über das Niveau der gewöhnlichsten Alltäglichkeit erhübe, keins, in dem
ein Princip, eine Idee, und in dem sie auf eine würdige Weise vertreten wäre.
Es existirt hier an der Börse eine sogenannte Schandtafcl, ein schwarzes Brett,
ans dem die Namen der schlechte» Fallitcu verzeichnet werden; eine solche Tafel
für die hiesigen Scribler wäre in der That el» unabweisbares Bedürfniß. Eine
so empörende Maßregel deö alten Polizeistaates es war, mißliebige Schriftsteller
auszuweisen, eine so wohlthätige Einrichtung würde ein Mittel sein, solche lite¬
rarische Misere zum Schweigen zu verurtheilen. Auch das gesellige Leben hat
sich dem politischen Zuge dieser Zelt nicht entziehen tonnen; Theater, Concerte
und die kleine ein-nmPi«) i-c-lui-llvuso bilden nicht mehr die ausschließlichen Gegen¬
stände der Unterhaltung. Aber wie einst Heine von Hamburg sagte: „Es gibt
Gerichte zwischen dem Waudrahmcn und dem Dreckwall, wovon unsere Philosophen
keine Ahnung haben, so könnte man jetzt behaupten, daß es politische Kannen¬
gießerei hier gebe, von der Deutschland keinen Begriff habe. Die Politik mit
ihrer schönsten Errungenschaft ist hier sogar in die Damenwelt gefahren, und es
existirt ein sogenannter socialer Verein ans lauter Mitgliedern des schöneren Theils
der Menschheit mit einer Präsidentin, einer Protokollführerin, mit förmlicher De¬
batte und allem sonstigen Farbenspiel einer politischen Seifenblase. Gewiß wird
die constituirende Versammlung die letzte Consequenz des allgemeinen Stimmrechts
ziehen, und, wie in Kanaan, den Frauen wenigstens die aktive Wahlfähigkeit zu¬
erkennen. O, es wäre surchbar, wem, sie es nicht thäte. Zur Strafe, daß die,
in diesem Punkte, ungalanter Päbste ihr: „l'ii.cent mulier in ecvlesiiil" aus-
sprechen, muß heut zu Tage, wo die Sünden von Jahrhunderten aufgerechnet
werden und ihre Strafe als Rechnungsabschluß erhalten, Pius IX. zum Bettel¬
mönch werden, der die katholischen Mächte um das Almosen der Wiedereinsetzung
fleht. Hütet euch, ihr Männer von Hamburg! Die Geschichte kennt schon einen
böhmischen Mägdekrieg; wehe, wenn Deutschlands Frauen und Jungfrauen erst
die Barrikaden besteigen, und ihre Zwirnknäuel aus Kauonen schießen, um sich
das Wahlrecht zu erobern. Mir entsinkt die Feder bei dem Gedanken an diese
furchtbare Möglichkeit!
Klausenburg wurde am 25. December von den Oestreichern nnter Wardener
geräumt und von Bein, der gegen das Sachsenland heranzog, besetzt.
Die unheilvolle Kunde von der Räumung Klausenburgs erregte für den ersten
Augenblick im Sachsenlande die unbeschreiblichste Bestürzung. Das Militär war
theils im ganzen Lande als Besatzung zerstreut, theils kämpfte es gegen die
Szekler, und war selbst, wenn es sich- gesammelt hatte, schwerlich stark genug,
um das Laud vor der Verwüstung eines raublustigen Heeres von 15,000 Mann
mit 40 Kanonen, das Bem nach Siebenbürgen geführt hatte, zu schützen. Die
Sachsen indeß hatten sich bald gesammelt. Ihre Bürgcrwchrcii, schon seit dem
October mobil, rüsteten neuerdings, und Alles sah ernst und ruhig dem Augenblick
der Entscheidung entgegen. Ihre Zuversicht wurde größer, als sie vernahmen, die
Haromszeker hätten sich in Folge der Niederlage bei Hidveg (22. Dec.) unterwor¬
fen und ihre Anführer, Sombory, Nagy, Horvath, dem Kaiser am 4. Januar
in Kronstäbe den Eid der Treue geschworen. Dadurch wurde es einem Theil der
dort concentrirten Truppen möglich, Kronstäbe zu verlassen und zur Bildung eines
Cordons im Norden des Sachsenlandes gegen Bem nach Neys und Schößburg
zu ziehen. Zu derselben Zeit hielt der commandirende General Puchner Medwisch
mit 3000 Mann besetzt und General KMani und Oberstlieutncmt Losenau standen
in Karlsburg und Blasendorf. Auf diese Weise glaubte man gegen einen Einfall
ins Sachsenland geschützt zu sein.
Von Bem wußte man seit der Räumung Klausenburgs nichts mehr; man
wollte sich glauben machen, er habe Klausenburg verlassen, und sei nach Ungarn
zurückgekehrt. Pnchner beschloß Klansenburg anzugreifen. Schon einige Stunden
unterwegs, erfuhr er, Bem habe Bistritz genommen und eile nun über Sächsisch-
Neen gegen Vasarhely heran. Er verlegte darauf sein Hauptquartier uach Szene
Marton, allem Vasarhely, das nur vou vier Compagnien nnter Major Clocociau
besetzt war, mußte dennoch geräumt werde. Am 16. Januar wurde die Vorhut
Puchner's bei Galfalva mit überlegener Macht angegriffen und mit großem Verlust
ins Hauptquartier zurückgeworfen. Am folgenden Tage standen sich Puchner und
Bem zum ersten Male gegenüber. Bem war in jeder Beziehung der Ueberlegene;
er hatte 13,000 Mann mit 24 schweren Geschützen bei sich, während ihm Pnchner
nur 3000 Mann und 13 Geschütze meist Dreipfünder — entgegenstellen konnte;
Bem war ein Wagehals, Puchner ein Zauberer. Zu einem eigentlichen Kampfe
kam es zwar nicht, obgleich sich die Heere fast den ganzen Tag gegenüberstanden,
aber die Kanonade war eine furchtbare und diese richtete bei der guten Bedienung
des feindlichen Geschützes unter den Oestreichern großen Schaden an. Dazu
wollte mau auch das Kommando Pnchner's nicht eben loben. Die Oestreicher ver¬
ließen in eiligster Flucht den Kampfplatz, gaben Medwisch, dessen Bürgerschaft das
Militär nicht zum Standhalten zu überreden vermochte, mit allen Gewehr-, Pul¬
ver- und Fruchtvorräthen dem Feinde preis und eilten fort, um Hermannstadt zu
decken. Medwisch, dessen Bnrgerwehr die Stadt zum größten Theile verlassen
und sich dem Militär angeschlossen hatte, wurde am 18. Januar von Bem besetzt
und erhielt nach dessen Vorrücken gegen Hermannstadt magyarische Besatzung.
Hermannstadt gerieth fast in Verzweiflung, als es die Truppen fliehend zu¬
rückkehren sah, und vernahm mit Entsetzen, Puchner habe anfänglich die Stadt
aufgeben, sich durch den Rückzug nach Talmatsch den Weg in die Wallachei sichern
wollen und sei erst durch den einstimmigen Ruf des ganzen Heeres, Hermannstadt
bis zum letzten Mann zu halten, zur Bestunung gebracht worden. Die Bevölke¬
rung machte sich auf's Aeußerste gefaßt, denn wehe der Stadt, wenn sie in die
Hände der racheschnaubenden Feinde fiel; Weiber und Kinder wurden größtentheils
über die Grenze geschafft, damit der Bürger mit desto geringerer Sorge auf dem
Kampfplatz weile. Puchuer suchte die zaghaften Gemüther mit Versprechungen
naher Hilfe zu ermuthigen und forderte Jedermann, der eine Waffe tragen könne,
Zum Kampfe auf. Bein verlangte vom Magistrat die Uebergabe der Stadt, sonst
werde er sie schleifen lassen; da gestand Pnchner selbst ein, er könne der Stadt keinen
sichern Schutz gewährleisten und ließ dem Magistrat völlig freie Wahl. Die Ueber¬
gabe wurde verworfen. Schon am 2V. Januar Abends stand Bem in den nächsten
Dörfern bei Hermannstadt. Sein Nachtquartier nahm er siegestrunken beim säch¬
sischen Pfarrer in Großschcuern. „Morgen können Sie mich in Hermannstadt
sprechen, wenn sie sich etwas von mir zu erbitten haben," rief er zum Pfarrer,
als dieser spät Abends von ihm schied. Auch die Kossuth - Husaren ritten mit
brennender Cigarre ganz keck bis in die Nähe der Stadt, stoben jedoch bei dem
wohlgezielten Feuer der Bürgerwehr bald auseinander.
Voll Begeisterung harrten die Oestreicher des Kampfes und jauchzten einander
laut zu, als ihre Offiziere ihnen verkündigten, es werde kein Zeichen zum Rückzug
gegeben werden. Der Kampf erschien als ein äußerst schwieriger, denn obgleich
Tags zuvor Oberstlieutnant Losenau mit seiner Brigade herbeigeeilt war, so standen
dem 12,000 Mann starken Feind nur 4000 Oestreicher gegenüber. Die sächsische
Bürgerwehr von Hermannstadt, Medwisch, Heltau — nahe an 3000 Mann —
wollte der Commandirende so viel als möglich schonen, wenn sie anch wie das
Militär vor den Feind geführt zu werden verlangte. — Als am frühen Morgen
des 21. Januar der Feind in drei Colonnen auf Kauonenschußweite sich der
Stadt näherte, begann ein lebhaftes Kanonenseuer, worin der Feind, der weit
mehr und weit schwereres Geschütz hatte als Puchner, entschieden im Vortheil
war. Deshalb ließ Puchner den linken Flügel unter Losenau und das Centrum
unter General Kalliany einen Bajonnetangriff machen. Der Feind wich, versuchte
sich aus dein rechten Flügel, der mit Ausnahme einer Eskadron Dragoner nur
von sächsischer Bürgerwehr gebildet wurde, zu werfen, wurde aber von hier durch
deu Muth der Bürgerkauouiere und eiuer halben Batterie, die Losenau gerade im
entscheidenden Augenblicke zu Hilfe schickte, mit Verlust zurückgeschlagen. Nach
einem sicbenstündigeu mörderischen Kampf befand sich der Feind an allen Punkten
auf der Flucht und wurde von der Brigade Losenau bis Stolzenburg verfolgt.
5 Kanonen, 4 Munitionswagen und Waffen aller Art waren ihm abgenommen
worden.
Die Sicherheit der Stadt war durch diesen Sieg noch immer nicht gewähr¬
leistet. Bem lag mit seiner ganzen Macht in dem nur 2 Stunden entfernten
Stolzenburg, wo er sich in der Burg und auf deu Anhöhen ringsnm das Dorf
start verschanzte. Vereinigt mit F. M. L. Gedevn, der einen Tag nach der Schlacht
bei Hermannstadt eintraf, unternahm Puchner am 25. Jan. den Angriff auf Stol¬
zenburg. Allein nach kurzem Kampfe gelaugte er zur Ueberzeugung, daß die Ein¬
nahme der festen Stellung Beruf uur mit dem größten Verlust erfolgen könne;
unverrichteter Dinge kehrte er in seine frühere Stellung bei Hermannstadt zurück.
Während Bürger und Militär fortwährend von einem Hilfscorps aus dem Bannt
Rettung aus der bedrängten Lage erwarteten und sich mit dem Vordringen Schlicks
gegen die siebenbürgische Grenze trösteten, mußten sie ruhig zusehen, wie die
Bauschen Schaaren die Umgegend von Stolzenburg und deu ganzen medwischer
Stuhl brandschatzten und ausraubten, wie sie Tag für Tag viele Wagen, voll mit
Vorräthen an Lebensmitteln und Schlachtvieh und mit andern werthvollen Gegen¬
ständen nach Klansenburg und Vasarhely abführten, ohne im Stande zu sein, den
feindlichen Erpressungen auch nur das geringste Hinderniß in den Weg zu legen.
Ja, was für die Oestreicher noch weit bedenklicher war, Bem zog immer mehr
Verstärkung an sich, indem die Szekler durch seine Agitationen und Proklamatio¬
nen bearbeitet und durch die reiche Beute die sie im Sachsenlande zu machen
hofft, verlockt, den vor wenig Tagen, erst geleisteten Eid der Treue brachen, und
wieder zu den Waffen griffen. Wenn auch Schäßburg sich gegen ihre Angriffe
zu vertheidigen wußte, so schwebte doch das von allen Truppen entblößte Kron¬
stäbe in der größten Gefahr und selbst Hermannstadt war verloren, sobald es
den Szeklern gelang, sich in Masse mit Bem zu vereinigen.
In dieser mißlichen Lage blieb nichts anders übrig, als Hermannstadt und
Kronstäbe russischem Schutz anzuvertrauen, denn weit und breit war keine andere
Rettung vor der blinden Zerstörungswuth und dem unersättlichen Blutdurst der
Magyaren und insbesondere der Szekler zu finden und diese Besorgniß völliger
Vernichtung alles dessen, was deutscher Fleiß und deutsche Rührigkeit Jahrhunderte
lang in jenen Gegenden geschaffen hatte, die Furcht vor den unmenschlichsten Grau¬
samkeiten gegen Wehrlose, die nach der Einnahme beider Städte, wie man wohl
wußte, erfolgen sollten, — dies trieb zu raschem Entschlüsse. Gekämpft hatte das
Militär gegen eine dreifache Uebermacht des Feindes mit bewundernswürdiger Aus-
dauer, auch die sächsischen Bürgerwehren hatten dem Feind muthig die Stirne ge¬
boten und wollten auch ferner mit Freuden ins Feld ziehen, aber Weib und Kind
und die wenige Habe, die sie hatten retten können, wollten sie wenigstens in den
beiden Hauptstädten des Sachsenlandes gesichert wissen, während sie dem Feinde
gegenüber standen. Wollte man der Feigheit eines Volkes das Kriegsnnglück zu¬
schreiben, so konnte dieser Vorwurf einzig und allein die Walachen treffen, die,
hätten sie eine ihrer Volkszahl entsprechende Kraftäußerung entwickelt, den Feind
so zu sagen erdrücken konnten. Sie waren es, die durch ihre Prahlereien von
"l95,000 wehrfähigen Romanen" in Wien zu der Täuschung Veranlassung gaben, man
hauche in Siebenbürgen keine Unterstützung mehr; kam es aber zum Schlagen, so
>parer wiederum sie es, die beim ersten Kanonenschuß das Weite suchten. In Er-
Tagung aller dieser Umstände drang die Bevölkerung von Hermannstadt und Kron¬
stäbe in den commandirenden General, seine Beistimmung zur Heibeirnfnng der
Bussen zu geben. Puchner, vom Ministerium ohne alle Instruktionen gelassen,
schwankte lange, die Russen wurden gerufen, und wieder abbestellt, bis endlich
großer Kriegsrath am 1. Febr. sich definitiv für den momentanen Einmarsch
derselben in Hermannstadt und Kronstäbe entschied. Pnchner ersuchte dem rus¬
sischen General Lüders um 6000 Mann für Kronstäbe und um 4000 Mann für
Hermannstadt. Bevor noch die Entscheidung des Kriegsraths in Kronstäbe ein-
treffen konnte, war die Stadt, deren Gebiet schon von 15,000 Szeklern war
überschritten worden, genöthigt gewesen, auf eigne Verantwortlichkeit den an der
Grenze stehenden russischen General Engelhard zum Einmarsch aufzufordern. En¬
gelhard zog am 1. und 2. Febr. in die Stadt ein und schlug schon am vierten die
Szekler bei Honigberg der Art, daß die Anführer der Szekler das Gebiet von
Kronstäbe eiligst räumten, und sich um von ihren Schaaren nicht verlassen zu
werden, zu der Verordnung veranlaßt fanden, Jeder, der da aussage, es seien
in Kronstäbe Nüssen und nicht verkleidete Walachen, solle gehängt werden.
Bem, inzwischen von allen Seiten durch Zuzüge verstärkt, zog sich nach Zu¬
rücklassung einer Besatzung in Stolzenburg mit seiner Hauptmacht (12,000 Mann
und 28 Kauonen) in das von Hermannstadt gleich weit entfernte Salzburg und
erwartete hier von der einen Seite die Szekler, von der andern eine aus Ungarn
dnrch das Zarander Comitat eingedrungen« Magyarenschaar, um am 7. mit ver¬
stärkter Macht Hermannstadt von drei Seiten anzugreifen. Die Poststraße von Her-
mannstadt nach Mühlbach hatte er bereits besetzt und dadurch Puchner von der
Verbindung mit dem Banat und der Festung Karlsburg ganz abgeschnitten. Am
4. Februar stand Puchner mit Tagesanbruch vor Salzburg. Dieser Augriff kam
Bem so unerwartet, daß die Kanonenkugeln der Oestreicher zugleich mit seinen
fliehenden Vorposten in sein Lager gelangten, und er vom halbverzehrten Früh¬
stück auf den Kampfplatz eilen mußte. Die Schlacht war ungemein blutig und
schwankte einige Zeit, denn Beins Schaar hatte die Höhe von Salzburg inne und
war durch das Feuer von 28 Geschützen gedeckt. Der Bajonnettaugriff des ganzen
östreichischen Heeres gab auch hier die Entscheidung, Pnchner nahm an der Spitze
der heldenmüthigen Grenadiere eine feindliche Batterie, die Feinde wurden nach
heißem Kampfe in die Flucht gejagt, Bem selbst entging nur mit genauer Noth
der Gefangenschaft. Die Trophäen dieses Siegs waren 16 Kanonen, die feind¬
liche Kriegskasse, sehr viele Munitionskarren, die Bagage, besonders aber Beins
Briefschaften, die über die Wiener Oktoberrevolution merkwürdige Aufschlüsse gäbe»,
sein Dienstsiegel, worin das vereinigte ungarische und polnische Wappen, sogar
sein mit 4 schönen Pferden bespannter Wagen. Bem, unablässig verfolgt, räumte
mit seinen entmuthigten Truppen am 6den Mühlbach, das er hatte plündern und
zum Theil anzünden lassen, wurde am 7ten aus Broos geworfen und bis Pi5ki an
der Streit verfolgt. Hier erst gestattete Pnchner seinen ermüdeten Kriegern einen Rast¬
tag, griff darauf am 9ten den Feind in seiner vortheilhaften Stellung hinter der
Streit an, als er erfahren, der Feind bekäme dnrch eine bei Arad versprengte Jn-
surgentenmasse Verstärkung. Das Gefecht war eines der hartnäckigsten, die bis jetzt
vorgefallen; nach dreimaligem Sturm gelang es 3 Compagnien des sächsischen Jä-
gerbataillvns, die Brücke zu nehmen. Die Sturmkolour.en der Oestreicher glaub¬
ten den Sieg schon in den Händen zu haben, rückten ans das jenseitige Ufer vor,
als sie durch die schändlichste List um die errungenen Vortheile gebracht wurden.
Ein in der Nähe der Brücke aufgestelltes Bataillon wollte sich ergeben. Während
die Oestreicher sich ihm näherten, um es zu übernehmen, gab das Bataillon Feuer,
einige Züge desselben schwenkten aus und demaskirten 3 Geschütze, die ein furcht¬
bares Kartätschenfeuer eröffneten. Die Oestreicher geriethen in Verwirrung, sam¬
melten sich indeß bald wieder, warfen den Feind nochmals und zogen sich nun,
als fast alle Munition verschossen war und Bern in einer neuen vortheilhaften
Stellung die von Arad herübereilenden 4000 Mann und 8 Geschütze an sich ge¬
zogen hatte, nach Broos und am 10. in die feste Stellung zwischen Alvinz und
Szaszpian zurück, wo sie frische Munition erhielten. Um Mitternacht wurde der
rechte Flügel unter Oberst Stutterheim in Alvinz von Bem plötzlich überfallen,
und in die Festung Karlsburg gedrängt. Bem zog nach Blasendorf, Puchner nach
Hermannstadt.
Während Bem sich im Westen gegen Puchner schlug, Hütte Oberstlieutenant
Heydte, der Schäßburg besetzt hielt, Medwisch genommen, sah sich aber genöthigt, es
vor Bem, der von Blaseudorf an der großen Koelei heraufrückte, zu räumen. Auch
das ganz blvsgestellte Napf wurde am 12. Febr. von 8600 Szetlern eingenom¬
men und mußte sich durch Ablieferung der Gewehre und eine schwere Braudstcuer
von der Plünderung loskaufen. Jetzt sollte die Reihe an Schäßburg kommen.
Die Bürgerwehr war vom bestem Muthe beseelt und hoffte im Verein mit der
starken Besatzung unter Heydte, die drohenden Szekler von ihrer starkbefestigten
Stadt mit Erfolg zurückzuschlagen. Am 13. bestand die Besatzung aus 13 Com¬
pagnien Infanterie, 6 Compagnien Bürgerwebr, fast 2 Divisionen Kavallerie,
7 Geschütz, 168 Doppelhackeu; man gab sich allenthalben der lautesten Freude
hin. Da erklärte Heydte mitten, in der Nacht dem eiligst zusammengerufenen
Magistrat, er müsse die Stadt noch vor Tagesanbruch räumen, indem 16,000
Feinde mit 7 Kanonen von Medwisch, Vasarhcly und Advarhely im Anzüge seien,
eine Macht, der er sich nicht gewachsen fühle. Vergebens war die Vorstellung des
Magistrats, über die Stärke und das Anrücke» des Feindes zuerst nähere Er¬
kundigung einzuziehen, vergebens die Bereitwilligkeit, selbst einen Theil der
Stadt bei der Vertheidigung aufzuopfern; — Hcydte gab weder durch Bitten des
Magistrats, noch denen der Bürgerwehroffizicre nach, marschirte am 16. Morgens
4 Uhr ans und forderte die Bürgerwehr anf, entweder mitzugeben oder die Waf¬
fen abzuliefern. Zähneknirschend ob der schmachvollen Räumung ihrer Vaterstadt,
folgte die Bürgerwehr dem Militär nach Agnothlen und hoffte in kürzester Frist
Zur Vertreibung der Feinde aus den Mauern Schäßburgs verwendet zu werden.
Erst 30 Stunden nach dem Abzug Heydtes rückten 2 Compagnien Magyaren ju¬
belnd in die leichtgcwonnene Stadt ein, es folgten später noch einige tausend
fchlechtbewaffnete Szekler nach, ein klarer Beweis, wie unbegründet Heydtes Furcht
vor einer» Angriff und wie voreilig sein Abzug war. Starke Bollwerke und große
Fruchtvorräthe hatten die Szekler hier ohne Schwertstreich erobert, erpreßten dar¬
auf von den zurückgebliebenen Wehrlosen eine Brandsteuer von 130,000 si>, 200
Pferden und ließen dnrch ihre Weiber, die mit ihnen den Raubzug unternommen
hatten, alles fortführen, was nicht nagelfest war.
Das unglückliche Schicksal der beiden Städte Schäßburg und Medwisch war
es vorzüglich, das den von den Feinden bisher noch nicht betretenen Theilen des
Sachsenlandes zu den bittersten Vorstellungen Veranlassung gab. Seit dem 18. Oc-
tober hatte das Sachsenland allein Steuern gezahlt und die Lasten des Kriegs
getragen. Jetzt wurde vom Feinde immer mehr Land gewonnen und ausgesogen;
Hermannstadt, wo das Militär concentrirt war, fühlte sich bald außer Stande, die
Mittel zum Unterhalt der Soldaten und der zahlreichen Flüchtlinge herzugeben.
Die 15,000 Mann starken Hilfstruppen aus dem Banat erwartete man jeden
Tag; sie erschienen nicht. Erst zu Anfang März traf eine Abtheilung unter Ge¬
neral Leiningen in Siebenbürgen ein, allein nicht zur Verstärkung Pnchners, son¬
dern zur Besatzung des Moroschthales, damit Bem nicht etwa einen Einfall in's
Banat versuche. Man täuschte sich in Hermannstadt mit dem glücklichen Erfolge
der östreichischen Waffen in Ungarn; es zeigten sich für Siebenbürgen täglich we¬
niger günstige Folgen dieses Siegs. Man sendete eine Deputation nach Temcsvar,
zu Windischgrätz um Hilfe; der letztere ließ die Deputirten nicht einmal vor. Und
doch war Puchner mit der geringen Trnppenmacht, die ihm zu Gebote stand, nicht
im Stande, die Bem zu entreißenden sächsischen Gebiete besehe zu halten, und
anch zugleich die Feinde im Schach zu halten! Am meisten rechnete man noch
auf die kühnen Unternehmungen des Obersten Urban, der am 5. Febr. bei einer
Kälte von 22" das Klafter hoch mit Schnee bedeckte Hochgebirge überstiege» und
die ganze feindliche Besatzung von 500 Mann im Passe von Tihutza gefangen ge¬
nommen hatte. Noch glänzender hatte er sich am 19. bei Bayersdorf unweit
Bistritz gegen den Magyaren Nitzko geschlagen. Dieser selbst, 200 Mann und-
3 Kanonen fielen in die Hände des Siegers; die Magyaren zogen steh fliehend
nach Dach zurück. Doch auch Urban ging auf Malkovsky's Befehl bald wieder
an die Grenze, da ein neuer Einfall Beins in die Bukowina befürchtet wurde.
Indeß bewogen diese Siege und die Nachricht, Bein, in Folge einer Wunde am
Arm schwer erkrankt, habe mit seiner Hauptmacht Medwisch geräumt und sich nach
Vasarhely begeben, die Oestre-cher dennoch, die Operationen von Neuem zu be¬
ginnen. Heydte erhielt Befehl, über Agnethlen gegen Schäßburg vorzurücken,
während 3 andere Brigaden gegen Medwisch aufbrachen. Bevor Pnchner am 1.
März den Marsch antrat, wurden uuter die heldenmüthigen Krieger Tapferkeits¬
medaillen ausgetheilt. Mit welcher Auszeichnung die Sachsen gefochten, davon
zeugt schon der Umstand, daß ein Hermannstädter Bürgerwehrmann eine goldene,
4 sächsische Jäger silberne Medaillen erhielten, während keinem einzigen Walachen
aus den beiden Grenzregimentern eine Auszeichnung zu Theil wurde. Am 1. März
folgte das ganze Heer der von Oberst van der Null geführten Vorhut gegen. Med¬
wisch. Van der Null bestand am 2. bei Kleinkopisch ein siegreiches Gefecht. Als
am folgenden Tage auch die Brigaden Kalliany und Stutlerheim zu ihm gestoßen
waren, entspann sich ein sehr heißer Kampf mit den Feinden, die alle ihre Trup¬
pen aus der Umgegend zusammengezogen hatten, und unter Bem's persönlicher
Leitung standen. Bein nahm nach einander 3 sehr feste Stellungen, wurde aus
allen durch das unwiderstehliche Anstürmen der Oestreicher geworfen, vermochte
auch in Medwisch sich nicht länger zu halten und gab endlich seinem Heere Befehl,
sich uach Vasarhclv und Schäßburg zurückzuziehen. Am 4. März war Pnchner
wieder im Besitz von Medwisch.
Durch die Einnahme dieser Stadt war zwar ein großer Theil des Sachsen¬
landes vom Feinde gesäubert und die zur Bedrohung Vasarhelys äußerst wichtige
Kockcllinie gewonnen worden: allein erst mit der Besetzung Schäßburgs konnte
man das Sachseulaud ganz aus den Händen des Feindes gerettet betrachten. Wäh¬
rend also Puchner von Medwisch ans zur Wiedereroberung Schäßburgs die geeig¬
neten Maßregeln traf und Hermannstadt sich dem fröhlichsten Jubel über die Siege
des Heeres überließ, brütete Bem in Vasarhely über einen neuen kühnen Streich
und erschien plötzlich am Ulm früh nach einem Marsch von 28 Stunden um die
linke Flanke Puchners vor Hermannstadt. Die russische Besatzung — 3V00 Manu
unter Oberst Skariatin — schlug sich vom Morgen bis zum Abend, in der
Hoffnung, Puchuer würde zum Entsatz der Stadt herbeieilen. Da jedoch bis
spät Abends keine Hilfe erschien und die Häuser vom Feind in Brand gesteckt
wurden, verließ Skariatin Hermannstadt und gab es dem grausamsten der Feinde
preis, der darin Gräuel und Schandthaten verübte, wie sie nur ein barbarisches
Zeitalter kennt. Trotz der Verwegenheit dieses Zuges hat Bem seinen Zweck, die
Nüssen aus dem Lande zu jagen, doch nicht erreicht, denn von Hermannstadt bis
Zur Grenze gibt es noch manche Stellung, in welcher sich die Nüssen gegen eine
^hufache Uebermacht vertheidigen könne», bis ihnen aus der Walachei Hilfe ge¬
schickt wird. Gelingt es dann noch Puchuer, Bem im Rücken zu fassen, so ist
Niederlage des magyarischen Heeres so gut als gewiß.
Erwiderung an Dr. Adolph Pinkas von Dr. Joseph Alex. Heisere. —
Wien, Karl Gerold n. Sohn 1 849.
Wer kennt nicht die Briefe des Engländers Junius, des großen Unbekannten!
^se es doch, als wäre der Geist des brittischen Volkes in diesen Briefen selbst
ZU Worte gekommen. Nur nach dem Tagewerk einer ruhmvollen Geschichte kann
sich ein Volk in einer so gediegenen Prosa aussprechen, während es in der vor-
geschichtlichen Morgendämmerung in gestaltlosen Sagen dem Lichte entgegen klingt
und nicht anders als in Versen seine Orakel zu geben vermag. Mit demselben
Feuereifer der Wahrheit, mit welchem Lessing die Seichtheit des Archäologen Klotz,
die Bornirtheit des Pastor Götze bekämpfte, tritt Junius seinen politischen Wi¬
dersachern entgegen; er ist ein Lessing auf dem Felde der Politik, und wie in
einem brennenden Dornbusche, tritt uus bei ihm in der Majestät des polemischen
Zornes die göttliche Erscheinung der gediegenen Männlichkeit vor Augen.
Warum erwähne ich aber gerade jetzt den brittischen Heros, da, ich eine Be¬
sprechung der kürzlich erschienenen Heisere'schen Broschüre liefern will? Die Welt
liebt Kontraste, ich beabsichtige, den Lesern der Grenzboten eine Scene aus den
Pygmäenkämpfen der östreichischen Polemik vorzuführen. Unsere Revolution hat
uus noch nicht den sittlichen Ernst gegeben, der zu einer würdigen Polemik nöthig
ist; die Kämpfer sind nicht von dem Religionseifer für eine Idee durchglüht, son¬
dern blos persönlich gereizt, wenn sie sich mit einander messen. Nur eine ange¬
thane Schmach treibt ihnen das Blut in die Wangen, und es handelt sich bei
dieser frivolen Polemik immer nur um die eigene Haut, um einen Fußtritt oder eine
Ohrfeige, über die dann in öffentlichen Blättern der nöthige Lärm gemacht wer¬
den muß. —
Die Streitfrage, durch welche die oben genannte Broschüre veranlaßt wurde,
ist keineswegs eine Ausnahme von jener Regel. Kurz nach der Auflösung des
Reichstages verbreitete sich das Gerücht, der Unterstaatssckretär Heisere habe in
jener Nacht, wo die octroyirte Charte einem auserwählten Kreise von Reichtags-
depntirten vorgelesen wurde, gegen einen böhmischen Abgeordneten, der vielleicht
von einer blutigen Jahresfeier der Pfingstereignisse und andern schrecklichen Din¬
gen gesprochen, sich auf das bestimmteste geäußert, „daß die Ezechen im Fall eines
Widerstandes ohne Weiteres deutsch gemacht werden!" Dieser Beschuldigung
widersprach Heisere im östreichischen Evrrespondenten vom 10. März, dnrch
die Erklärung, daß er es nur „der falschen Auffassung eines in ganz anderem
Sinne geführten Gespräches zuschreiben müsse, wenn ihm diese Worte in den Mund
gelegt werden konnten." Hierauf nannte sich Dr. Pinkas in den Narvdny Noviny
und dem constitutionellen Blatte aus Böhmen als denjenigen Abgeordneten, der
sich in jener Nacht mit ihm unterhalten, und erklärte, daß er zwar nicht die an¬
geführten Worte, aber viele andere, die das Gerücht keineswegs Lügen strafen,
damals aus seinem Munde vernommen habe. Da er das Gedächtniß des Herrn
Unterstaatssekretärs der Wucht der Geschäfte unterlegen glaubt, so kommt er dem«
selben auf bereitwillige Weise zu Hilfe. Er erinnert den jungen Staatsmann daran,
wie er „mit gekreuzten Beinen auf einem Tabouretchen sitzend, in Liebe für sein
Heimatland, und seinem Wahlspruche: „Oeil piol.knien vulxus" treu, den be¬
stürzten Deputirten eisigkalte Belehrungen gegeben, wie er sich geäußert habe,
ein Reichstag, der sich anmaßt, Religion zu machen, dürfe nicht ferner existiren,
und dann seinen Sorgen und Bedenken mit der Drohung entgegen getreten sei:
„wenn Bürgerkrieg ausbräche, würden alle Czechen deutsch gemacht!"
Zur Widerlegung dieses Angriffes verfaßte nun der Herr Unterstaatssekretär
jene Broschüre, die uns als ein willkommener Beleg für die Fähigkeiten des ju¬
gendlichen Staatsmannes erscheinen muß, der auch ein Haar seines Hauptes her¬
gab , um daran das Damoklesschwert zu befestigen, unter dem das souveräne Volk
Oestreichs ängstlich hinwandclt.
Wenn man die Broschüre des Dr. Heisere durchgelesen hat, so scheint es für
den ersten Augenblick, daß er sich genügend gerechtfertigt habe. Weniger die
Gründe, die ihm mit Gewalt abgenöthigt worden sind, als das schlechte Deutsch,
in dem er sie von sich gibt, spricht dafür, daß er die Intention nicht haben könne,
die Czechen germanisircn zu helfen. Freilich mit der loyalen Gesinnung eines öst¬
reichischen Staatsbürgers ist ein guter deutscher Styl geradezu unverträglich; dies
ist eine unumstößliche Wahrheit, die aber mir demjenigen vollends einleuchten kann,
der in zarter Jugend die sogenannten „deutschen Schulen" in Oestreich freqnentnt
seit. Leider haben so viele Leser der Grenzboten jenes schlichte und unscheinbar?
Büchlein noch gar nicht in der Hand gehabt, welches den Titel führt: „Deutsche
Sprachlehre für die normal- und Hauptschüler der k. k. Staaten. Wien, im
Verlage der k. k. Schulbücher-Verschleiß-Administration." Und doch liegt in die¬
sem harmlosen Buch das tiefe Staatsgeheimniß der Centralisation; die Grund¬
lage des östreichischen Bewußtseins, sie ist eine Hauptstütze der Einheit und In¬
tegrität der Monarchie. Die Ruthenen haben selbst ihre Einführung in den Schu¬
len verlangt, da die »me ruthenische Sprache noch nicht fertig ist, und Jellachich
hat für die Schulen der Grenzer zum großen Verdruß der südslavischen Bevöl¬
kerung eben dieselbe östreichisch-deutsche Sprachlehre octroyirt. Das Ministerium
trägt sich mit der t'ühucu Idee, mit Hilfe des allgemeinen Belagenmgsznstanbes
ein großes, einiges Oestrcicherthum zu schaffen, dessen Wurzeln es in dem Tiro-
lerthum, in dem ruthenischen Bauerustaat, und in dem disciplinirten Barbaren-
thum der Militärgrenze gefunden hat. Die wackern tiroler Scharfschützen, der
treue ruthenische Landsturm, und die kroatischen Grenzregimenter haben die große
Sendung, durch einen fortwährenden Eroberungskrieg im Innern des Reiches die
Integrität desselben aufrecht zu erhalte». Ueberall soll baun in deu eroberten Be¬
zirken „die kleine deutsche Sprachlehre für Kinder von 8 — it Jahren" eingeführt,
und so die erwünschte Gleichförmigkeit der Monarchie erzielt werden. Dieses
Schulbuch, bei Leopold Grund in Wien aus schlechtem Papier mit noch schlechter»
Lettern gedruckt, ist das eigentliche Zwinguri der östreichischen Volksstämme, nud
das wunderbare Deutsch, das in den „kleinen Schulen" gelehrt wird, ist die k. k.
östreichische Uuterthanensprache, die wir in ihrer höchsten Ausbildung in den Kund¬
machungen Vater Weiden's und in den Proklamationen des Fürsten Windischgrätz
vorfinden. Unter die Staatsmonvpole Oestreichs gehört nebst dem schlechten Ta-
ba?, den man in den „k. k. Traffiken" zu kaufen genöthigt ist, auch das schlechte
Deutsch, das man an den k. k. Normalschulen lernen muß. Eben darum durften
sonst unter dem patriarchalischen Regiment der Censur so viele ausländische Bücher
nicht den Weg über die östreichische Grenze machen, weil sie in einem staatsge-
fährlichen Deutsch geschrieben waren; eben darum schließt das neue Preßgesetz
alle Ausländer von der Redaction östreichischer Journale aus, weil sie ein solches
Deutsch einführen möchten, in dem sich keine ordentliche Loyalitätsadresse, kein
gehöriges Mißtrauensvotum an gewisse Reichstagsdeputirte abfassen ließe. Aus
diesem Grunde ist an den östreichischen Universitäten noch keine Lehrkanzel für
deutsche Sprache und Literatur errichtet worden, damit die Wirkungen, die die
kleine deutsche Sprachlehre für Normalschulen auf das jugendliche Gemüth aus¬
übt, uicht im reifern Alter durch derartige Vorträge paralysirt werden, und des¬
halb hat auch der Herr Unterstaatssekretär im Ministerium des Unterrichts bei
der Abfassung seiner Vertheidigungsschrift genau die Regeln der kleinen deutschen
Sprachlehre vor Augen behalte«.
Wir gehen in den Inhalt der Broschüre selbst ein. Gleich auf der ersten
Seite versichert der Verfasser: „daß ihm sein ehrlicher Name werth sei so gut
wie irgend einem, und ihm die Meinung nicht gleichgiltig sei, die seine Lands-
leute von ihm hätten." Wohl, Herrn Dr. Heisere ist die Ehre ein Wappen, wel¬
ches das Volk auf offenem Markte zu zerschlagen vermag. Mich hat das larmoy-
ante Wesen des Cassio im Shakesspeare, der in Bezug auf den Ehrbegriff ein
eben so guter Mensch ist, wie der Herr Unterstaatssecretär, immer angewidert.
' »Ich habe meinen ehrlichen Namen verloren," so winselt der armselige Kerl, denn
der Mohr wird ihn abschaffen, er wird nicht mehr sein Lieutnant bleiben können.
Der Mackel an seinem guten Namen ist nichts mehr als ein Loch in seinem Aer-
mel, ein Fleck an seiner Halskrause; aber der Mohr hat dieses unselige Loch, die¬
sen verwünschten Fleck bemerkt. Was thut nun Cassio? Er dingt ein Dutzend
Musikanten, um dem Feldherrn ein Ständchen darzubringen, und ihn aus diese
Weise wieder zu begütigen. Der Herr Unterstaatssecretär möchte gern wieder De-
putirter werden. Dazu ist vor allen Dingen ein ehrlicher Name nöthig, wenigstens
in dem Wahlbezirke, wo man als Candidat auftritt. Was thut der Herr Unter-
staatssckretär? Er sucht die Dissonanzen, die aus der berühmten Nacht von Krem-
sier herüberklangen, dnrch ein Ständchen aufzulösen, das er dem Volke bringt.
„Ich ein Deutscher nach Abstammung und Sprache, habe stets ein warmes Herz
gezeigt für meine czechischcn Landsleute — zu einer Zeit, wo ihre nationalen Be¬
strebungen noch von vielen verkannt, verdächtigt, angegriffen wurden. Mein erstes
Austreten auf dem Felde der Politik galt meinen czechischen Landsleuten, die ich
in Schutz nahm, wie gegen die ungerechten Zumuthungen eines rücksichtslosen
Schwarzrothgoldthums, so gegen die übermüthige Lehre des allein seligmachenden
Panmagyarismus. Ich wurde angefeindet, verdächtigt, verspottet, ich wurde Ver-
rather an der deutschen Sache, ich wurde Abtrünnling genannt, blos deswegen,
weil ich damals nicht der Meinung war, daß Oestreich zur Hälfte deutsch, zur
andern magyarisch sei, weil ich sagte, Oestreich sei Oestreich 0 u,), in welchem
Deutsche, Magyaren, Slaven, Romanen mit gleichem Rechte zu einem großen
Gesammtstaate verbunden seien, weil ich, was mein besonderes Vaterland betraf,
der czechischen Nationalität dasselbe Recht zutheilen wollte, welches ich meinen
deutschen Landsleuten gewahrt wissen wollte."
Ehe nun Herr Di-. Heisere seine Gründe gegen Dr. Pinkas in Schlachtord¬
nung stellt, redet er seinem Gegner folgendermaßen in'S Gewissen. „Mein Herr!
gesetzt, ich hätte die Aeußerung, die Sie mir unterschoben, wirklich gemacht, so
könnten Sie meine Erklärung vom 7. als Beweis hinnehmen, daß ich solche doch
nicht gemacht haben wollte. Sie konnten sich damit begnügen und gegen mich
als reumüthigen Sünder (!) Gnade vor Recht ergehen lassen. Sie haben sich da¬
mit nicht begnügt. Sie haben für gut befunden, die Behauptung, die erst Sie münd¬
lich unter die Leute gebracht, nur mit der Zugabe von allerhand bissigen Auf¬
putz (!) und Zierrath in einem öffentlichen Blatte zu wiederholen. Sie haben ge¬
glaubt, um Ihre Ehre — die ich nicht angegriffen, — zu wahren, die meine
beflecken zu müssen. Mein Herr! ich bin der Schonung, die ich gegen Sie beobach¬
tet, entbunden." Nachdem nun Dr. Heisere den Verlauf des Gespräches, das er
in jener Nacht von Kremsier mit dem Abgeordneten Pinkas geführt und uuter andern
eine harte Aeußerung des letztem in Bezug auf die Deutschböhmen mitge¬
theilt hat, fügt er in christlichem Tone hinzu: „Mein Herr! ich will Ihnen nicht
Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich will nicht den Verdacht auf Sie wälzen,
als hätten Sie jene Worte anders, als in einem Aufwallen augenblicklicher Lei¬
denschaftlichkeit herausgestoßen; ich will Sie selbst vertheidigen und von Ihrer
Loyalität und Vaterlandsliebe voraussetzen, daß Sie ihre deutschen und czechi¬
schen Landsleute ebenso mit gleicher Liebe im Herzen tragen, wie ich es mir im
Innersten der Seele bewußt bin." - Nichts macht einen so widerlichen Eindruck,
als der Dilettantismus der Heuchelei, die uovizenhaste Ungeschicklichkeit im Je¬
suitismus. Und diesen Eindruck empfindet man so lebhaft bei der eben angeführ¬
ten Stelle. —
Kt ,n-»,to88<; voluiit et äelectin-v mock-lo. Der Unterstaatssecretär will nicht
nur das Publikum belehren, sondern gibt sich anch alle Mühe, es zu amüsiren.
Ich führe zur Erheiterung der Leser folgende Stelle an: „Mein Herr! ich kann
von der gütigen Nachsicht, mit der Sie es aus der Wucht meiner Geschäfte ent¬
schuldige« wollen, daß ich ohne Zweifel das Thatsächliche jener Nacht nicht mehr
^ ganz klarer Erinnerung habe, keinen Gebrauch machen und bedarf wahrlich der
gefälligen Bereitwilligkeit nicht, mit der Sie sich erbieten, meinem Gedächtnisse zu
Hilfe zu kommen. Zum Beweise dessen gestehe ich, mich sehr wohl zu erinnern,
daß ich eine Zeitlang aus dem Tabonretchen saß —- ich wußte nicht, daß dies mit
der Liebe zu meinem Heimathlande unverträglich sei; daß ich mit über's Kreuz
geschlagenen Beinen saß — ich ahnte nicht, daß ich einen kritischen Beobachter in
unmittelbarer Nähe habe, der in dieser Stellung den mimischen Ausdruck des
l)iU pi-okimnm vin^us finden könne! — Uebrigens erinnere ich mich auch, den H. Dr.
Pinkas an demselben Abende eine Weile mit gekreuzten Beinen — obgleich nicht
ans dem Tabouretcheu, sondern ans dem Canapee — sitzend gesehen zu haben.
Hat etwa bei dem H. Dr. Adolph PinkaS diese Kreuzung der Beine einen an¬
dern Ausdruck, als bei mir? u. s. w." Wir können uns aber in dem un¬
schuldigen Vergnügen an deu Witzen des H. Uuterstaatssecrctärs nicht unbefangen
gehen lassen; wir werden vielmehr aus dem Idyll sehr unsanft herausgerissen,
wenn wir lesen, wie der junge Staatsmann seine frivole Kälte rechtfertigt: „daß
ich bei ruhigem Blute, oder wie es Ihnen beliebt, „eifigtalt" blieb, während
Alle bestürzt und ergriffen waren, würden Sie mir nicht zum Vorwurfe machen,
wenn Sie wüßten, daß mir die Eröffnung, welche die andern unvorbereitet traf,
um acht Stunden früher gemacht worden war. Der Vorgang der „militärassi-
stenzlichcn Neichstagsbeseitigung" (ein Ausdruck, den Dr. Pinkas gebraucht), war
mir aber in jenem Augenblicke eben so unbekannt, als Ihnen, ja ich erfuhr ihn
sogar um ein paar Stunden später als Sie, da ich, wie Sie sich wohl
erinnern müssen, noch in derselben Nacht mit dem Grafen Stadion nach Olmütz
abreiste. Erst gegen Mittag des andern Tages langte ich von da zurück im
Schloßhofe von Kremficr an und war nicht wenig überrascht, als ich sol¬
chen in ein Feldlager umgewandelt fand."
Die Auflösung des Reichstages war ein Sitnativnsstück mit militärischen
Evolutionen, wie man sie sonst etwa im Josephstädter Theater zu sehen bekam.
Der Schatten des Shakespeare ist nicht über die kleine Bühne von Kremsier hin¬
weggeschritten, der alte Kothurn war nicht in dem Städtchen der Hanna zu suchen.
Ohne tragischen Pathos ward das Schicksal des Reichstags vollzogen, in stiller
Resignation ließen sich die Deputirten den letzten Nest der Diäten auszahlen, und
gingen mit einem kleinen Stachel im Herzen wieder in ihre Heimath zurück. Das
Drama von Kremsier war ohne eigentliche Handlung; die Helden desselben träum¬
ten in dem erzbischöflichen Palast den schönen Traum des Egmont, sie sahen die
Freibeit als eine Vision, von lichtem Glänze umflossen, mit der demokratischen
Bürgerkrone auf dem Haupte, aus der Zukunft Herübel schweben und freuten sich
der herrliche» Erscheinung. Aber eines Morgens wurden sie ans der Seligkeit
des Traumes durch die Auflösung des Reichstages auf sehr unsanfte Weise ge¬
weckt n»d das scharfe Tageslicht absorbirte den leuchtenden Nebel der Traumge¬
stalt. Das catonische: Otorum vor» cvuseo der Grenzboten in Bezug aus die
Auflösung der östreichischen Constituante war sehr ehrlich gemeint; denn wenn auch
das Vorschweben einer Vision kein realer Verlust ist, so wollten wir doch dem Reichs¬
tage deu Katzenjammer der Illusion erspart wissen. Das Ministerium hat es je-
doch anders für gut befunden, es hat den Reichstag ruhig fortträumen lassen, um
ihm dasjenige, was einzelne Mitglieder desselben aus dein Traume heransgespro-
cheu hatten, als Hochverrath zu impntiren.
Wir werden ans dem Gespräche, welches der Herr Unterstaatssecretär mit
dem Abgeordneten Pinkas in jener berühmten Nacht geführt hat und das er uns
in seiner Broschüre vollständig mittheilt, ein gedrängtes Verzeichnis) der Rcichs-
tagssüudeu herauslesen können. Der Kanon der ministeriellen Moral ist leider
ein überwundener Standpunkt. Doch lassen wir den Prediger selbst zu Worte
kommen.
„Der Verlauf des Gespräches war folgender: Ich berief mich darauf, wie
ich es gewesen, der in Olmütz während den Octobertagen mit Brauner für die
Aufrechthaltung des Reichstags gekämpft; ich erklärte, wie ich fort und fort die
Hoffnung genährt, den Wunsch ausgesprochen habe, daß dem Reichstage es ge¬
lingen möge, die Verfassung Hand in Hand mit der Krone zu Stande zu bringe»;
ich sagte, wie ich endlich die traurige Ueberzeugung gewonnen, daß dieser
Reichstag nicht die Fähigkeit habe, das große Werk zu einem gedeihlichen Ende
zu führen; ich berief mich zum Beweise dessen auf die letzten Vorgänge in der
Kirchenfrage und hab ferner, wie der Reichstag seine Stellung und Aufgabe ganz
aus den Augen verloren, wie er sich herausgenommen, in ein Gebiet hinüberzu¬
greifen,' das nicht das seinige, über Dinge zu urtheilen, über die er uicht Richter,
einen Wirkungskreis sich anzumaßen, der ihm nicht eigen. - Sie fragen, ob
ich unter dem Verlangen nach kirchlichen Synoden Neligivusmacherei zu verstehen
beliebe. Der Himmel bewahre! das beliebe ich nicht NeligivnSmacherei zu nennen.
Sonst müßte ich mich auch derselben beschuldige»; denn ich hege selbst das leb¬
hafteste Verlange,', daß eS unsere Bischöfe für gut finden mögen, diese mächtigen
Hebel einer heilsamen Kirchenreform bald möglichst in Bewegung zu setzen. Aber,
wein Herr, Sie wissen es so gut wie ich, daß die Majorität des Reichstags es
Uttbt dabei bewenden ließ, das Verlange» nach kirchlichen Synode» zu hegen.
gesamutte Verfahren des Reichstages bei Verhandlung der Kirchenfrage, das
Verfahren, der Kirche vorzuschreiben, i» welcher Weise sie sich constituiren solle,
welche Schritte sie um ihrer Reform willen zu thun habe, — das, Herr Doctor,
beliebe ich Religion machen zu nennen." —
„Doch ich komme zur Hauptsache, zu dem Hauptpunkte Ihrer Anklage gegen
duch. Sie werden sich cnnner», daß in jener Nacht fast mir von Blut, Nevo-
U'lion, Aufstehen des Volkes, wie ein Mann u. f. w. gesprochen wurde. Ich
^Mui, haß es meinem Gemüthe bange Besorgnisse einflöße, wenn ich wahrnehme,
vie die Ersten der Nation Leidenschaftlichkeit in einem Augenblicke walten ließen,
Wo Besv»»enden vor Allem Noth thut; ich beschwor Sie, zu bedenken, welches Un-
vnleine Brandfackel, unter unser leicht entzündbares Volk geschleudert, anstiften könne;
^ hielt es Ihnen vor, was für Folgen ein innerer Krieg in unserm Böhmen
namentlich in Absicht auf die czechische Nationalität, die Ihnen doch zunächst am
Herzen liege, haben müsse; ich erinnerte Sie, daß gerade die Periode der höch¬
sten Kraftentwicklung unseres Heimathlandes, die Zeit der Religionskriege es ge¬
wesen, welche die Macht des Landes gebrochen, Bildung und Gesittung auf
Jahrhunderte zurückgeworfen, die zu so hoher Stufe gediehne Pflege einheimi¬
scher Sprache und Literatur aufgehalten, gelähmt, unterdrückt habe; ich stellte
Ihnen vor, daß ein Bürgerkrieg in dem jetzigen Zeitpunkte nnr die Folge haben
könne, daß sich die deutschen Kreise Böhmens Deutschland in die Arme werfen
und die Czechen von der Macht des gesammten Deutschlands erdrückt werden,
oder --so endigte ich — „die nickt czechischen Kreise sagen sich los von den an¬
dern und schlagen sich zu Deutschland. — Sie sollen zum Teufel gehen, wenn
sie nicht bei uns bleiben wollen, warfen Sie heftig darein. — Darauf ich: wenn
Ihnen das für nichts gilt, mir ist es nicht gleichgültig; mir „würde es das Herz
zerschneiden, wenn ich mein schönes Vaterland getheilt sähe!" —
'
Welche Staatsweisheit und welch großer Sinn kündigt sich in diesem albernen
Geklätsch an! Hätte der Unterstaatssecretär mit dem Deputirten Pinkas in jener
Nacht eine Parthie l'Hombre gespielt, ich würde es weit eher entschuldigt haben.
Nachdem nun der Herr Unterstaatssecretär noch mancherlei von dem Schmerze,
verkannt zu sein, von dem Bewußtsein, das seiue Brust gegen die Pfeile stählt,
die von allen Seiten ans ihn abgeschossen werden, und von der festen Ergebung,
mit der er die Widerwärtigkeiten seiner Stellung zu tragen denke, gesprochen,
schließt er mit folgende» Worten: „Dies, mein Herr, meine Erwiderung! Dies
einemal habe ich geantwortet, damit es für die Zukunft nicht den Anschein habe,
als könne ich nicht antworten, wenn ich nicht antworten will! Ich werde mich
nicht mehr einlassen, weder gegen Sie, noch gegen andere. Einmal ob der Wucht
meiner Geschäfte, die mir wahrlich nicht die Zeit läßt, jeden Handschuh aufzuhe¬
ben, der mir herausfordernd umgeworfen wird. Dann aber, weil ich es unter
meiner Würde halte - wohl gemerkt, damit Sie nicht ans eine falsche Vermu¬
thung kommen, nicht unter meiner Würde als Unterstaatssecretär, sondern unter
meiner Würde als Maun von Ehre, dem es nur zu wohl bekannt ist, daß er in
solcher Zeit Angriffen und Verdächtigungen nicht entgeht. Mir schwebt dabei ein
Ausspruch Nöthe's vor Ange». Gegen diesen beklagte sich einst Jean Paul über
die Plumpheit der Angriffe, denen er ausgesetzt sei, und meinte: Nun werde er
aber nicht mehr antworten, es sei denn, daß ihn jemand beschuldige, einen sil¬
bernen Löffel gestohlen zu haben." — „Auch dann thun Sie es uicht, mein
Freund!" erwiederte ruhig lächelnd Altmeister Goethe. „Wer dnrch ein Dorf
reitet, den bellen die Hunde an, weil er hoch sitzt und schneller vorwärts kommt,
als sie!"
Solch' stille Verachtung ist der letzte Trost der Unfähigkeit; es liegt eine
Romantik darin, auf die sich ein frommes Gemüth sehr wohl verstehen wird.
Noch ein Wort, ehe wir uus trennen. Wenn Sie manchmal die Grenzboten
gelesen haben, so werden Sie sich zu erinnern wissen, daß es eine Zeit gab, wo
Sie zu unserer Partei gehörten. Wir sind der dithyrambischen Neligionöschwär-
merei der Jugend entgegengetreten, welcher der Feuertrank des Idealismus zu
Kopfe stieg, aber eben so bestimmt müssen wir uus gege^> die Frivolität der Be¬
schränktheit erklären, der es an Ideen fehlt. Wir erwarteten, daß Ihre Gönner
der Revolution ein verständiges Maß geben, nicht aber unter der Aegide des all¬
gemeinen Belagerungszustandes einen Tempelraub begehen würden; so wie man
etwa die Hausbewohner zu binden und zu knebeln pflegt, wenn man silberne Löffel
und andere Dinge von Werth entwenden will. Daß mich Sie Ihre Hand M
der häßlichen Geschichte hatten, ist vollends unverzeihlich; denn Sie sind noch
jung, und ich kann mir es recht lobhast vorstellen, wie gut Ihnen selbst der
Stü
, Ich verschob mein Schreiben von Tage zu Tage, weil man jeden Augenblick
eine neue Wenduna, der dentschen Sache erwarten konnte. Indeß endlich muß
Man doch einmal abschließen. Nehmen Sie denn ein Bild von der gegenwärtigen
Lage und messen Sie es nicht dem Schreiber bei, wenn es kläglich'ausfällt.
», Nachricht von der Wahl machte einen sehr gemischten Eindruck.
Nach der Ablehnung des Wetter'schen Antrags war die geringe und um eiuen so
theuern Preis erkaufte Majorität nicht im Stande, das Jmpvnircnde eines mit
einer gewissen Gewaltsamkeit ausgesprochenen Nationalwillens zu ersetzen. Die
voreilige Nachricht von der Annahme des Wetter'schen Antrags hatte in Berlin
die größte Sensation hervorgebracht, weil sie überraschte; jetzt aber hatte man
Reh mit dem Gedanken vertraut gemacht, und es fehlte ihm der Reiz der Neuheit.
Zwar ließ sich das Gefühl des specifischen Preußenthums, das durch alle Anstren¬
gungen des Radicalismus nicht hat verwischt werden können, eine solche Huldigungvon Seiten der süddeutschen Brüder wohl gefallen, aber auf das Detail der neuen
Situation mit Interesse und Verständniß einzugehen, dazu fehlte die Lust und
Merklich auch die unmittelbare Anschauung. Die Zeitungen, mit Ausnahme der
Scenen Pvenßischen, waren am lautesten in der Anerkennung der octroyirten Würde;
sprach sich in den alten Blättern mit spießbürgerlichen Wohlwollen aus, in
deutschen Reform mit einem gemäßigten Enthusiasmus, in der Nationalzei-
">«g mit grollenden Ermahnungen. Das große Publikum trug sich zu sehr mit
Idee des Belagerungszustandes herum, als daß eine, wenn auch noch so
'vckende Fernsicht es'hätte erheblich elektrisiren können.
> In den beiden Kammern herrschte die kaiserliche Partei vor; nur dominirte,
^ nachdem man sich rechts oder links hielt, der preußische oder der deutsche Volks-
wuveränitäts-Gesichtspunkt. Mail kann übrigens auch der Linken in der zweiten
Kammer nachsagen, daß sie sich in dieser Frage erträglich gouvernemental hielt;
L^r v. Berg' deutete die Nothwendigkeit an, demjenigen'Manne das Scepter
^utschlands in die Hände zu geben, der bereits das Schwert trug. In folgen-
Au Punkten waren alle Parteien einig. Der König müsse die ihm übertragene
^urbe annehmen, weil sonst, wie die Rechte meinte, ein anderer Staat die He-
^Momie Denischlands an sich reißen könnte, oder weil nach der Ansicht der Lili¬
en d^ Auflösung der Nationalversammlung und die Rückkehr zum System der
Eiligen Allianz die unabweisliche Folge einer Ablehnung sein müßte. Selbst die
^giiimisten, in deren Namen diesmal Graf Arnim - Boitzcnburg eine Adresse ab¬
läßt hatte, waren für die Kaiserwürde, wenn sie auch die Rechte der Fürsten schonen
zu missen glaubte, und auf das Recht der Nationalversammlung, die Krone Karl
des Großen zu übertragen, nicht viel geben wollte. Es waren ferner alle Par¬
teien — mit Ausnahme der äußersten Linken, die von der Hegemonie eines reactio-
nären Staats überhaupt Nichts wissen wollte, darin einig, daß der Beschluß der
Nationalversammlung nur sür diejenigen Staaten verbindlich sein könne, welche
sich ihm freiwillig anschließen würden; wobei man freilich voraussetzte, daß mit al¬
leiniger Ausnahme Oestreichs, auf dessen Beitritt nur noch die Herren Blömer
und Ost errath rechneten, ganz Deutschland sich in kürzester Frist fügen würde.
Die Erklärung des Ministerpräsidenten schien dieser Ansicht im Wesentlichen
zu entsprechen. Ueber den Inhalt der neuen Verfassung hatte Graf Brandenburg
sich so wenig ausgelassen, als die Wortführer der parlamentarischen Parteien;
man setzte stillschweigend voraus, daß die unverkennbaren Verkehrtheiten derselben
sich ans dem Wege der verfassungsmäßigen Revision würden ausgleichen lassen.
Die Frankfurter Deputirten — deren Einzug übrigens durch die strengen Ma߬
regeln des Belagerungszustandes etwas farblos geworden war — gingen von der¬
selben Ansicht ans. Um so größere Ueberraschung erregte die Autwort, welche der
König ihnen ertheilte; theils'weil sie das Odium der Fürstenrechte dem Vvlkswillen
gegenüber auf sich nahm, anstatt es ruhig dem eventuellen Widerspruch der ein¬
zelnen Fürsten zu überlassen, theils weil sie über die Hauptsache sich so völlig un¬
klar ausdrückte.
Ju der ersten Hitze der Ueberraschung stellte Vincke den berühmten Antrag,
eine Commission niederzusetzen, um gegen diesen Schritt der Krone, der die Mo¬
narchie in die größte Gefahr setzen müßte und den der Antragsteller ganz rich¬
tig den verantwortlichen Ministern zuschrieb, diejenigen Mittel zu ergreifen, welche
den constitutionellen Ständen zu Gebote ständen.
Ich schöpfte ans diesem Antrag die voreilige Hoffnung, das Einzige, wo¬
durch die Möglichkeit einer parlamentarischen Entwicklung hervorgebracht werden
konnte, die Koalition der beiden Centren, werde durch den gemeinsamen Kampf
gegen die reactionäre Regierung beschleunigt werden. Ich habe mich getäuscht.
Gleich in der Commission traten beide Parteien mit einem besondern Antrag
hervor, der sich nicht dem Inhalt, sondern nur der Fassung nach unterschied und
auf dem doch mit so großer Hartnäckigkeit bestände» wurde, daß darüber beide An¬
trage fielen. Die erste Kammer, in der ein ähnlicher Plau durchgeführt werden
sollte, verlegte ihre Sitzungen bis nach den Feiertagen, anscheinend um der
Krone Raum zur Ueberlegung zu lassen ; in der zweiten fingen gleich den folgen¬
den Tag die alten kleinlichen Zänkereien zwischen den beiden Seilen an. Außer¬
dem erhielt die Sache eine neue Wendung durch die nachträgliche Erklärung des
Ministerpräsidenten, daß die Negierung eine Circulardepcsche an die übrigen
Staaten erlassen habe, um die Geneigtheit der Krone zur provisorischen Uebernahme
der Regierung Deutschlands auszudrücken und sie zu einem schleunigen Gutachten
darüber aufzufordern. Es heißt nun, die Vinckesche Partei halte durch diese Er¬
klärung ihren Antrag für erledigt.
So ist für den Augenblick die Lage; unklar und kläglich genug; erlassen Sie
mir aber die Kritik bis zum nächsten Briefe, in welcher Zeit sich ein bestimmteres
Verhältniß herausgestellt haben wird.
Herr v. Meusebach hatte neulich in der zweiten Kammer die Kühnheit zu
behaupten, er wittere schon den Leichengeruch, der auch der neuen Versammlung
ihr nahe bevorstehendes Schicksal verkündige. So widerwärtig das Hämische dieser
Bemerkung klingt, so drängt sich doch eine ähnliche Jedem auf, der ohne Vor-
urtheil beobachtet. So bedeutend die Kräfte diesmal sind, die sich in dem Som-
merlocal des Döhnhvfplatzes zusammendrängen, die Lebensfähigkeit eines organi¬
schen Ganzen geht ihnen ab: nachdem sie den ersten großen Schritt gethan haben,
den das preußische Volk von ihnen erwartete, die Anerkennung der oetroyirten
Verfassung, hat die Parteibildung eine so anomale Form angenommen, daß es
unmöglich scheint, sie zu einem bestimmt formulirten Beschluß zu vereinige». Die
Sitzung vom 5. April gab ein trauriges Bild dieser krankhaften Entwickelung.
Wenn ein Ereignis?, wie die Kaiserwahl und die dadurch hervorgerufene Erklä¬
rung der Krone nicht im Stande sind, die Versammlung zu elektrisiren, so wird
es schwer, von irgend einer neuen Wendung dieses productive Lebenselement zu
erwarten, das den bisher nur mechanisch verbundenen Gliedern eine Seele ein¬
haucht.
Die Redner der reactionären Partei verstehen freilich die Lebensfähigkeit einer
Versammlung anders als wir. Der Tod, den sie wittern, ist nicht die natürliche
Auflösung, sondern das Ende eines blutigen Conflicts. Sie sehen namentlich in
der zweiten Kammer eine übelgesinnte Opposition gegen die weisen Beschlüsse der
Regierung, und glauben uoch an die Militärgewalt, sie werde hinreichen, den
Trotz eines unberechtigten Widerstandes zu brechen. Sie täuschen sich, denn die
jetzige Versammlung ist uicht mehr der Ausdruck der Revolution, der man im
äußersten Fall durch eine Contrerevolution begegnet, sondern es ist das gesetzliche
Organ der, öffentlichen Meinung. Der Kampf gegen eine revolutionäre Gewalt
ist, wenn er glücklich ausgeht, eine „rettende That;" die Verletzung der Verf.is-
sung dagegen unter allen Umständen ein Verbrechen, das verderblich aus seine
Urheber zurückfällt. Sollte es die Krone in der That versuchen wollen, im Ge¬
gensatz gegen die Vertreter der Nation zu regieren — eine Ansicht, die bisher
nur von den äußersten Fractwnen beider Seiten ihr untergelegt ist, — so würde
damit mehr als die Existenz selbst des preußischen Staats in Frage gestellt sein.
Ich finde die Lebensfähigkeit eines constitutionellen Staatskörpers darin, daß
er einmal in der That die öffentliche Meinung des Landes ausdrückt, und daß er
serner so gegliedert ist, diese öffentliche Meinung auf eine bestimmte Weise for-
muliren zu können. Das letztere hat die zweite Kammer — von ihr ist eigentlich
nur die Rede — bisher nicht vermocht, und der lächerliche Ausgang der Sitzung
vom 5. April, in welcher über die in der deutschen Frage zu erlassende Adresse
zuerst die einfache, dann sämmtliche motivirten Tagesordnungen verworfen, und
endlich die Frage, ob denn überhaupt eine Adresse erlassen werden sollte, gleich¬
falls verneint wurde, spricht nicht sehr für die Möglichkeit, in der Zukunft etwas
besseres zu hoffen. Um dies zu übersehn, vergegenwärtigen wir uns die bisherige
Parteistellung.
Durch die Auflösung der constituirenden Versammlung und die vctroyirte
Verfassung war zwischen den ehemaligen Volksvertretern und der Regierung ein
Rechtsconflict eingetreten, welchen, da kein Gerichtshof für denselben constituirt
war, nur die neue Volksvertretung entscheiden konnte. Darum hatten sich die
verschiedenen Fractionen in zwei bestimmt entgegengesetzte Heerlager gesondert, in
die Anhänger der aufgelösten Constituante und in die Anhänger der Regierung —
was nach den letzten Schritten der Steuerverweigerer fast so viel hieß, als An¬
hänger der Krone. Die Wahlen waren so ausgefallen, daß beide Parteien un¬
gefähr gleichmäßig vertreten waren, mit einem geringen Uebergewicht aus Seiten
der Rechten. Sofort nach dem Zusammentritt der Kammern wurden sie auf eine
ziemlich militärische Weise disciplinirt. Die Mitglieder der rechten Seite unter¬
zeichneten das Programm des Freiherrn v. Vincke, das zwei Punkte enthielt:
die Verpflichtung, sür die Nechtsgiltigkeit der Verfassung zu stimmen, und die
verfassungsmäßige Revision nur im constitutionell monarchischen Sinne auszuüben.
Da der zweite Punkt einen Begriff von ziemlich breitem Umfang enthielt und
überdies sich auf eine weitaussehende Thätigkeit bezog, so hatte unmittelbare
Wichtigkeit nur der zweite Punkt, und mit der Erledigung desselben durch die
Adreßdebatte — die sonst nur eine chronische Krankheit des constitutionellen Le¬
bens ist, diesmal von unermeßlicher Wichtigkeit, weil sie die Grundvesten des
neuen Staatslebens aufbauen sollte — hörte factisch die Koalition der rechten
Seite auf und die künstlich zusammengehaltenen Elemente schieden sich nach ihrer
natürlichen Beschaffenheit.
Die Konsistenz der linken Seite war nur scheinbar fester. Sie war durch
das Band einer gemeinsamen Geschichte zusammengehalten, sie hatten gemeinsam
intriguirt und gelitten. Sie hatten den Vortheil vor der Rechten, wenigstens
gegen das jetzige Ministerium eine compacte Opposition zu bilden, während die
Rechte selber nicht recht wußte, ob sie ministeriell sei; aber sie unterschieden sich
auch in eine wenigstens der Anlage dynastische und in eine radicale Opposition.
So lange die Debatte im Ideellen spielte, konnten sie sich verständigen; in be¬
stimmten Fragen mußten sie auseinandergehn. Die Scheidung der Kammer in
vier große Massen lag in der Natur der Sache; die deutsche Frage war nur die
äußerliche Veranlassung, sie hervortreten zu lassen. Diese vier Fractionen haben
folgende Bestandtheile.
Die Rechte, mit welcher ungefähr die größere Hälfte der ersten Kammer
Hand in Hand geht, repräsentirt das alte Preußenthum. Das ist freilich auch
ein ziemlich complicirter Begriff. Man darf nur zwei Männer wie Oberst Gries-
heim und den Minister der auswärtigen Angelegenheiten mit einander vergleichen,
um sich über die in dieser Partei gebundenen Unterschiede ins Klare zu setzen.
Der erste trat nach dem Hnldigungsrescript im August v. I. in der bekannten
Broschüre, welche ganz Deutschland in Harnisch brachte, mit aller Derbheit des
Alteufritzischen PreußenthumS dem anscheinenden Uebergewicht Oestreichs in dem
neuen Bundesstaat entgegen, während Graf Arnim, in den Traditionen der
Metternich'schen Politik groß gewachsen, am liebsten den Staat in die Bahn zu¬
rückschrauben mochte, welche Herr v. Usedom in seiner Charakteristik des vorigen
Königs vortrefflich schildert^): „Ich weiß, daß die übertriebene Hingabe an das
östreichische System in der hohen Politik, in den preußischen wie in den deutschen
Fragen Deutschland und uns unbeschreiblichen Schaden gethan hat, weil es den
gebildeten, fortschreitenden Theil der Nation so sehr gegen die Regierung empörte.
Sich und seine eigenen Staatsmänner hielt der König in Fragen der europäischen
Politik kaum für competent; in allen Dingen mußte Wien gefragt werden: dort
verstehe man das am besten und eitle Svnderpolitik solle Preußen nicht machen.
Daher denn dieses stete Bedürfniß des Anlehueus, daher bei aller Einsicht und
Tüchtigkeit der Staatsmänner doch diese Scheu und Ungewvhntheit zu handeln,
die in Berlin vorherrschte und zumal bei so großen materiellen Kräften sonst un¬
erklärlich wäre." Ich muß gestehn, daß diese östreichische Partei sich aus sehr
begreiflichen Gründen in der letzten Zeit ans deu Reihen derer recrurirt hat,
denen man sonst eine übertriebene schwarzweiße Gesinnung zuschreiben möchte.
Der gemeinsame Haß gegen die Revolution überwindet auch die dynastischen Anti¬
pathien. Oestreich hat zunächst in seinem eignen Staat durch starke Militärgewalt
die Revolution unterdrückt, es hat sich in einem auswärtigen Kriege, der wenig¬
stens indirect gegen die Revolution geführt wurde, mit Lorbeern bedeckt; es hat
dem seinein Ursprünge nach revolutionären Frankfurt die souveräne Ironie der
Metternich'schen Schule entgegengesetzt. In dem Conflict nun zwischen dem Wunsch,
das eigne Herrscherhaus zu ehren und über alle andern zu erhöhen, und der
Abneigung, aus unreiner Hand diese Ehren zu empfangen, sucht man sich durch
verschiedene Mittelwege zu helfen. So consequent, wie die Neue Preußische,
welche den Abgeordneten der Paulskirche für die Dreistigkeit, dem König eine
Krone anbieten zu wolle», die nur von Gottes Gnaden gedeiht, gern einige Fu߬
tritte versetzen möchte, sind wohl wenige, zum mindesten drücken sie sich diplomati¬
scher aus. Sie wagen es auch nicht recht, die neue Gestaltung der Dinge, wenn
mau den östreichischen Projecten nachkäme und dadurch Preußen seiner welthisto¬
rischen Bedeutung beraubte, näher ins Auge zu fassen; sie begnügen sich in der
Regel mit allgemeinen Declamationen gegen das Gift der revolutionären Ge¬
sinnung.
Die Doctrinärs der Haller'schen Schule und die bekannten Politiker der Wil¬
helmstraße geben der Partei die eigentliche Färbung. In der ersten Kammer sind
ihre Koryphäen: die Stahl, die Bethmann-Hollweg, die Gerlach, die
auch mit aller Dreistigkeit eines einseitigen Doctrinarismus den modernen Prin¬
cipien zu Leibe gehn. Es ist zu bedauern, daß Stahl nicht der zweiten Kammer
angehört; er würde mit seiner Eleganz, der Festigkeit seiner Ueberzeugungen und
seiner Kühnheit ein heilsames Gegengewicht gegen die Redner der äußersten Linken
bilden. An eigentlichen Talenten fehlt es dieser Partei; von Professor Keller
hatte man viel erwartet, aber er ist noch nicht hervorgetreten. Eben so wenig ist
es den Negierungsrätheu sticht und Ellwanger, vou denen der erste in den
Wahlversammlungen bedeutendes Aussehn gemacht hatte, gelungen, mit ihrer Gott¬
seligkeit das unruhige Publikum zu erbauen. Die pommerschen Aristokraten,
Bismark-Schönhausen, Kleist-Netzvw u. s. w. sind wohl geeignet, den
Gegnern vou Zeit zu Zeit heilsame Grobheiten entgegenzuwcrfeu, aber sie stehen
den Ideen der neuen Zeit zu fern, als daß sie einen wesentlichen Einfluß auf die¬
selbe ausüben könnten. Dasselbe muß ich von Bodelschwingh sagen; menschlich
betrachtet, gewinnt man ihn lieb bei näherer Bekanntschaft, aber von der staats¬
männischen Haltung dieser tapfern Offiziere, denen der alte preußische Staat seine
Portefeuilles anvertraute, ist nicht viel zu rühmen.
Der eigentliche Führer der Partei, die bis jetzt noch mit dem rechten Cen¬
trum gemeinsame Parteiversammlnugcu gehabt hat, die sich aber wohl in den
nächsten Tagen unabhängig constituiren wird, ist Graf Arnim-Bonz.en hur g.
Wäre er jetzt Minister, so würden wir wenigstens nicht täglich das klägliche
Schauspiel erleben, daß die Negierung lediglich von der Gnade ihrer Freunde
und von der Geduld ihrer Feinde lebt. Für die Zukunft ist er aber wohl un¬
möglich. Diese feinen, vornehmen Edelleute sind doch tiefer in die alten Ideen
verrannt, als ich geglaubt habe.
Das rechte Centrum — wir wollen den Namen beibehalten — enthält die
alte ständische Opposition ans der Aristokratie und dem Bürgerstande und steht
mit der Frankfurter Weidenbnschpartei, wie mit den Liberale» der ersten Kammer
unter Graf Dyhrn in Verbindung. Sie hat nach der Revolution zwei Mini¬
sterien gebildet, aber nicht zum besondern Ruhm der Partei. Nachdem sich Pfuel
unmöglich gemacht hatte, war von einem dritten die Rede, einem Ministerium
Beckerath; es kam uicht zu Staude. Gegenwärtig ist die bedeutendste Persön¬
lichkeit dieser Partei, Vincke, auch ihr anerkannter Führer, er ist aber den
Schwachen und Halben, die sich in diesen Reihen nicht selten finden, zu schroff,
und ob er als Minister die erforderliche Haltung bewahren würde, läßt sich nach
seinen beständigen Scharmützeln mit der Linken bezweifeln. Er war es, der die
Organisation der rechten Seite leitete; er hat sie auch aufgelöst durch sein ent-
schiednes Auftreten in der deutschen Frage. Für jetzt hat er nur eiuen sehr ge¬
ringe» Anhang, Schwerin ist in dieser Frage entschieden zur Rechten überge¬
treten, es ist, wie ich glaube, nur die Partei Harkort, die mit Vincke hält.
Der Natur der Sache nach, schien diese Partei bei einem etwaigen Rücktritt
des Ministeriums Brandenburg zunächst geeignet, an die Spitze der Verwaltung
berufen zu werden. Wäre die deutsche Angelegenheit erledigt, so hätte Gagern
mit seiner mächtigen Persönlichkeit der Partei in der Regierung einen Halt gege¬
ben. Man sprach von einer Combination Gagern — Beckerath — Camphausen
^- Vincke. Wie die Sache» jetzt stehen, ist davon vorläufig wenigstens keine
Rede mehr.
In den Bänken des linken Centrums sind aber die Aussichten nicht besser.
Gesetzt, die Krone käme in die Lage, die Antecedentien dieser Partei vergessen
M können, sie beauftragte z. B. Hrn. v. Unruh mit der Bildung eines neuen
Ministeriums, so würde dieses muthmaßlich ebensowohl die eigentliche Linke als
die gesammte Rechte gegen sich haben, da eine Coalitiv» mit dem rechten Centrum
uach den gehässigen Scenen der letzten Tage weniger Wahrscheinlichkeit für sich
hat als je. Die Krone verlöre das Militär und den größern Theil der Bureau¬
kratie, und ich sehe nicht, was sie eigentlich gewönne. Außerdem würden die
Persönlichkeiten, die sich in der Opposition gut gemig aufnahmen, im Gouver¬
nement sehr schnell verbraucht sei»; der einzige Mann von bedeutenden Fähig¬
ste» auf dieser Seite ist Hr. v. Kirchmann; bei seiner entschieden praktischen
Richtung würde er sich auch schnell hineinfinden und den Radicalen ebenso gegen¬
überstehen als irgend einer der frühern Minister. Herr Nodbertus würde vom
Ministertisch aus der Versammlung nicht lange imponiren, und eine» abstracten
Randaleur wie Hr. v. Berg an der Spitze des preußischen Staats zu sehn,
schon der Gedanke ist eine Frivolität.
Die Stellung der äußersten Linken — die übrigens an Zahl das linke Cen¬
trum bei Weitem überbietet, ist ungleich günstiger als die ihrer gemäßigten Ver-
bündeten. Die Methode ihres Verfahrens ist höchst einfach. Wenn ein Redner
der Rechten auftritt, so zischt sie, bei passenden Gelegenheiten ruft sie „Pfui!"
und hat beständig ein ironisches Ansetzn. Sie stimmt gegen Alles und ihre An¬
träge sind mehr negativer Natur, ungefähr so: „In Anbetracht, daß Alles, was
hier geschieht, unter der Kritik ist, tragen wir darauf an, daß es gleichgiltig ist,
was geschieht." Sie hat sich durch einige bedeutende Talente rccrutirt, namentlich
Wesendonck und Kinkel, im» steht mit der äußersten Linken in Frankfurt,
sowie mit sämmtlichen demokratischen Vereinen in Rapport.
So findet jede der großen Parteien ein verwandtes Organ in der Paulskirche,
mit Ansnahme des linken Centrums, das überhaupt eine mehr persönliche als
principielle Berechtigung hat. Es würde schwer sein, die Nothwendigkeit dieser
Partei zu erweisen.
Erwägen wir diesen Parteien gegenüber, die Stellung des Ministeriums und
zwar, worauf es uns hier zunächst ankommt, in der dentschen Frage.
Der erste bedeutende Schritt war die Note vom 2!!. Januar. Man hat
diese Note je nach dem Parteistandpunkt verschieden aufgefaßt, man hat die An¬
erkennung des Gagernschen Progamms ebenso wie das Gegentheil darin gesucht.
Noch in den letzten Sitzungen erklärte sie Hr. v. Vinke für einen Ausfluß echtdeut¬
scher Politik, die durch die spätern Schritte der Regierung verleugnet werde, während
Hr. Nodbertus in ihr nichts sah, als die Schilderhebung des Particularismus
gegen die Einheit Deutschlands, mit dem das spätere Verfahren im besten Ein¬
vernehme» stände. Man wird diese entgegengesetzten Ansichten begreiflich finden,
wenn man erwägt, daß das Gagernsche Programm zwei Seiten hatte. Es fußte
einerseits aus der Anerkennung der factischen Verhältnisse, darum sprach es die
Ausscheidung Oestreichs aus dem zu gründenden engern Bundesstaat aus, nicht
aus staatsrechtlichen Gründen, sondern in Betracht der innern Nothwendigkeit;
andererseits aber ans dem Idealismus der deutschen Ratio» und der Berech¬
tigung des Ausdrucks, den dieselbe für ihre Souveränität gewonnen hatte. Die¬
sen inner» Widerspruch werden auch die wärmste» Anhänger der Gagernschen
Politik nicht wegleugnen können. Kraft der Souveränität der deutschen Na¬
tion sollte die Nationalversammlung ein politisches System beschließen, welches
von der Unmöglichkeit ausging, die ideelle Einheit Deutschlands in's Leben
zu rufen.
Die Oestreichische Regierung, die bis dahin das Werk der Nationalversamm¬
lung ruhig hatte fortgehen lassen, so lange sie hoffen durfte, es zu ihren Zwecken
auszubeuten, legte gegen diese neue Wendung Protest ein, und knüpfte zugleich
mit dem preußischen Cabinet Unterhandlungen an, die darauf hinausliefen, ohne
irgend welche Berücksichtigung der bisherigen nationalen Bestrebungen kraft der
Fürstensonvcräuität für Deutschland eine Staatsform zu finden, in welcher das
Volk i» die alte vormärzliche Stellung zurückgeschoben, die dynastischen Verhält-
Nisse aber ganz zu Gunsten Oestreichs und zum Nachtheil Preußens regulirt wer¬
den sollten. Wenn daher die preußische Regierung entschieden gegen jenes Pro¬
jekt auftrat, so wurde sie dazu nicht blos durch ihre deutsche Gesinnung bestimmt,
sondern auch durch das eigne Interesse.
Die Note vom 23. Januar trat insofern auf Seite des Gagernschen Pro¬
gramms, als sie dem östreichischen Protest gegenüber das Recht eines Theils von
Deutschland, sich zu einem engern Staatsverbande zu consolidiren, in Anspruch
"ahn und diesen Anspruch durch das Gewicht des preußischen Degens unter¬
stützte. Daß man sich in Oestreich darüber nicht täuschte, zeigt der erbitterte
Ton der gleich darauf erlassenen Gcgennote.
In einem andern, sehr- wichtigen Punkt ging sie dagegen aus das Gagernsche
Programm nicht ein. Das Neichsminifterium betrachtete die neue Verfassung auch
"ach dem Ausschluß Oestreichs für nichts weiter, als eine durch die gesetzlichen
Gewalten vollzogene Reform des deutschen Bundes, respective des heiligen römi¬
schen Reichs deutscher Nation. Der Bundestag hatte sich aufgelöst und seine Macht
der aus der Nationalversammlung hervorgegangenen Centralgeivalt übergeben;
die Beschlüsse derselbe» sollten daher für ganz Deutschland gesetzliche Geltung
haben.
Die preußische Note dagegen ging von der Ansicht aus, daß der projectirte
Bundesstaat nicht eine bloße Reform des alten Bundes, sondern etwas wesentlich
Neues sein sollte, etwa wie es der Zollverein gewesen war. Das Zustandekommen
^selben hinge von dem freiwilligen Entschluß der einzelnen deutschen Staaten ab,
welche souverän seien, soweit die Souveränität nicht durch die Wiener Bundesacte
^schränkt war. Sie war —Oestreich gegenüber —der Ansicht, daß gegen das Recht
^ Staaten, in eine solche engere Verbindung zu treten, in jeuer Acte Nichts präjudi-
^ sei; aber sie betrachtete den Entwurf der Nationalversammlung rechtlich nur als
°rin>ge, über welche sich dann die Staaten zu vereinbaren hätten. Wenn sie aus
^ckmäßigkeitsgründcn der Paulskirche das letzte Wort in der Entscheidung der
huschen Verfassung zu gönnen schien, und die befreundeten Staaten, welche von
ähnlichen Gesichtspunkte ausginge», aufforderte, vor diesem letzten Wort ihre
edenkeu, Wünsche u. s. w. der Nationalversammlung vorzulegen und zur Be-
^sichtiguug zu empfehlen, so änderte das an der Rechtsfrage nichts. Es war
wichtiger Schritt, daß eine große Anzahl deutscher Regierungen sich mit Pren-
ZU gleichlautenden Bemerkungen vereinigte, und es war ein sträflicher Leicht-
von Seiten der deutschen Nationalversammlung, daß sie diesen Bemerkungen
^nig Aufmerksamkeit hat angedeihen lassen.
Es war ein Fehler von Seiten der Weidenbusch-Partei, daß sie zu starrsinnig
der äußern Form der deutschen Einheit, auf dem Erbkaiserthum bestand, welches
j^^'eußische Note ablehnte: es war ein Fehler, aber nicht ein zufälliger, er lag
Princip. Durch den Kaisertitel war der Zusammenhang mit der alten Geschichte
des Reichs erhalten und die Einheit in dem Sinn genommen, daß von Seiten
des Reichs die bisherigen politischen Organisationen, Preußen nicht ausgeschlossen,
absorbirt werden sollten. Hätte man diese Idee aufgegeben, so wäre nicht allein
der Widerstand der vier deutschen Königreiche ein geringerer gewesen — denn die
Eitelkeit und das Borurtheil thut in solchen Dingen mehr als der gesunde Men¬
schenverstand — sondern auch Preußen hätte sich mit leichterem Herzen auf eine
Würde einlassen können, die nicht allein den König, sondern den ganzen Staat
betraf.
Die neue Constituirung Oestreichs weckte bei allen Patrioten, denen nicht,
wie den Radikalen, vorzugsweise daran lag, daß nichts zu Staude käme, die
schmerzliche Ueberzeugung, daß auf Oestreich in dem neuen Bundesstaat nun defi¬
nitiv nicht weiter zu rechnen sei. Daher der Welcker'sche Antrag, die von der
Commission revidirte Verfassung o» l>Joe anzunehmen, und den König von Preu¬
ßen zum Kaiser auszurufen.
Unter diesen Umständen war die preußische Note vom IN. März allerdings
eine Monstrosität, um so mehr, wenn man den Eintritt des östreichisch gesinnten
Grafen Arnim- Heinrich sdorf damit in Verbindung brachte. Der Antrag
Oestreichs, die ganze projectirte deutsche Verfassung auf eiuen erweiterten Bundes¬
tag zu beschränken, zu welchem Oestreich die größere, das übrige Deutschland die
kleinere Hälfte der Mitglieder stellen sollte, war, gelinde gesagt, eine Unverschämt¬
heit, und auf dieses Ansinnen „freudig" und „mit großer Genugthuung" zu ant¬
worten, ist das Stärkste, was sich bis dahin die Diplomatie hat zu Schulden
kommen lassen. Es verbreitete sich mit Blitzesschnelle in Deutschland die Ueber¬
zeugung, daß das preußische Cabinet mit Oestreich heimlich im engsten Einver-
ständniß sei; der Welcker'sche Antrag fiel, das Ministerium Gagern legte sein A»it
nieder, und zur großen Befriedigung der Oestreichs, die zuletzt mit einem sehr
unrühmlichen Eifer ihre Thätigkeit darauf beschränkt hatten, alle unvernünftige"
Anträge der Linken zu unterstützen, um jede Art der Vereinigung zu hintertreiben,
schien die Auflösung der Nationalversammlung durch die wiedererstarkten Fürsten
in nächster Aussicht zu stehen.
Unter diesen Umstanden machte die deutsche Partei in Frankfurt wie in Ber¬
lin den letzten Versuch. In Frankfurt schloß sie einen Kompromiß mit dem P^
triotischen Theil der Linke»; sie ließ mehrere wichtige Punkte fallen, und verpflich¬
tete sich, an der so zu Stande gekommenen Verfassung keine Abänderung zu d»i-
dem, vou welcher Seite her sie auch versucht werden sollte. Nachdem so die Brücken
abgebrochen waren, wurde das Erbkaiserthum mit einer sehr geringen Stimmen-
Mehrheit angenommen, die Wahl des Königs von Preußen mit einer etwas größ^
ren vollzogen. Der Reichsverweser legte sein Amt nieder, die östreichische Reg"'
rung fing jetzt ernsthaft an, ans Abberufung ihrer Deputirten zu denken.
So wandten sich nun die Augen der gesammten Nation nach Berlin, wolM
die Deputation der Nationalversammlung sich ziemlich langsam begab, wahrschein¬
lich, um der Krone Zeit zum Entschluß zu lassen. Die beiden Kammern nahmen
Veranlassung, zum zweiten Mal mit einer Adresse dem Thron zu nahen. Die vier
Parteien brachten verschiedene Entwürfe vor, allein die Anträge der beiden Cen¬
tren waren wenigstens in den wesentlichen Punkten übereinstimmend: der König
solle die Wahl annehmen, und da dieselbe nur auf Grund der von der National¬
versammlung beschlossenen Verfassung erfolgt sei, diese Verfassung gleichfalls aner¬
kennen; etwaige Uebelstände derselben würde die verfassungsmüßige Revision der
neuen gesetzgebenden Körperschaften beseitigen. Uebrigens könne nicht davon die
Rede sein, irgend einen einzelnen Staat mit Waffengewalt zum Beitritt zu zwin¬
gen; man müsse das der Gewalt der öffentlichen Meinung überlassen. In der
Kritik des bisherigen Verfahrens der Regierung unterschied sich das rechte vom
linken Centrum dadurch, daß Vincke erst in der neuesten Note, Rodbertus dagegen
in sämmtlichen Schritten des Ministeriums einen reaktionären Geist zu erkennen
glaubte; der Unterschied war aber nicht principiell, er bezog sich nur auf das
Urtheil über eine historische Thatsache.
Die allgemeine Meinung war diese. Der König würde annehmen, mit dem
Vorbehalt, daß die Verfassung, so wie die in derselben begründete Centralgewalt
sich nur über diejenigen Staaten erstrecken dürfe, welche sich freiwillig fügten; er
werde aus demselben Grunde die Kaiserwürde ablehnen, und einen bescheidneren
Titel in Anspruch nehmen. Mit diesem Bescheid wäre die Frankfurter Deputation
im Ganzen zufrieden gewesen.
In der Verfassung finde ich eigentlich nur zwei Punkte, die ein erhebliches
Bedenken erregen. Aus das snspensive Veto und die Abschaffung des Reichsraths
lege ich gar kein Gewicht; selbst die Bestimmung der allgemeinen Wahlen ist von
der Art, daß man sich ihr kaum wird entziehen können. Bedenklich ist aber erstens
die Zusammensetzung des Staatenhauses, die zum Nachtheil Preußens die süddeut¬
schen Staaten ohne irgend einen Rechtsgrund begünstigt, und die einer verständi¬
gen Revision der Verfassung unendliche Schwierigkeiten in den Weg legt. Zwei¬
tens die Bestimmung, nach welcher alle Staaten des bisherigen deutschen Bundes
ZUM Reich gehören sollen: eine indirekte Kriegserklärung gegen Oestreich, vielleicht
auch gegen Baiern und Sachsen.
Ans die Antwort, welche der König gab, war aber Niemand gefaßt. Sie
^'"'ge zu sehr den Stempel einer bestimmten Persönlichkeit, als daß man ihren
Ursprung anderswo suchen sollte; das thut aber nichts zur Sache, da die Mini¬
er, was sich eigentlich in einem constitutionellen Staat von selbst versteht, die
Verantwortlichkeit dieser Rede übernommen haben. Noch schlimmer wurde der
Eindruck der Rede durch die Privatgespräche des Königs mit einzelnen der De¬
lirien; durch die etwas brüske Antwort des Ministeriums auf die Erklärung der
Deputaten, sie nähmen die Antwort des Königs für eine Ablehnung, endlich
Gren
durch die gleich darauf bekannt gemachte Circulardepesche an die deutschen Re¬
gierungen.
Was war eigentlich der Sinn der königlichen Antwort?
Der einzige Rechtstitel der Kaiserwürde, die ans Grund der Verfassung voll¬
zogene Wahl, wurde nicht anerkannt, dagegen die Geneigtheit ausgedrückt, für
Deutschland alle möglichen Opfer zu bringen, und zwar am liebsten in der Form,
wie die Nationalversammlung sie vorgesehn hatte. Die Annahme der Wahl wurde
abhängig gemacht nicht nur von der Einwilligung der Fürsten, wobei gar nicht
einmal gesagt war, ob alle gemeint wären oder nur die Majorität, sondern anch
von einem Gutachten derselben über den Inhalt der Verfassung.
Preußen entzog sich dem Beruf, die Revolution dadurch zu beendigen, daß
es sie fertig in seine Hände nahm. Es hatte weder den Muth, sich ihrer ent¬
schieden zu bemächtigen, noch die Resignation, ebenso entschieden ihre Früchte von
sich zu werfen und dem abstrakten Rechtsprincip zu huldigen.
Eine Erklärung der Kammern mußte von unermeßlicher Wichtigkeit sein.
Die legitimistische Partei und einzelne Männer, die aus Nützlichkeitsrücksichten
dagegen waren, daß sich Preußen überhaupt der deutschen Sache annahm, wie
z. B. Hansemann, suchten eine solche Erklärung dadurch zu hintertreiben, daß
sie es für unconstitutionell ausgaben, in einer Sache, welche die Person des Kö¬
nigs allein anginge, demselben eine Meinung aufdrängen zu wollen. Die Nich¬
tigkeit dieses Grundes springt in die Augen. Friedrich Wilhelm IV. ist nicht sei¬
ner Persönlichkeit wegen, sondern als König von Preußen gewählt, und von seiner
Erklärung hängen nicht nur die Geschicke Deutschlands ab, von welchem die preußi¬
schen Kammern einen so mächtigen Theil repräsentiren, sondern anch geradezu die
Existenz des preußischen Staats. Selbst die Minister hatten es gar nicht versucht,
sich hinter diesen Vorwand zu verschanzen.
Aber die Kammern waren leider eben so unfähig, den großen Moment groß
zu erfassen und in der erhöhten Stimmung eines folgereichen Entschlusses die klein¬
lichen Verhältnisse, in denen sie sich sonst bewegte», von sich abzustreifen. I»
die ernsthaften Berathungen über eine Frage, von deren Entscheidung die Zukunft
des Staats abhängt, brachten sie ihre kläglichen Parteistreitigkeiteu hinein.
Vincke hatte im Zorn über die königliche Antwort eine ziemlich scharfe
Adresse beantragt; es wurde in Folge dessen eine Commission niedergesetzt, in
welcher v. Kirchmann eine zweite, etwas schärfere Adresse, die aber im Wesent¬
lichen auf dasselbe lossteuerte, in Vorschlag brachte. Die Commission konnte sich
so wenig einigen, daß beide Adressen verworfen wurde»: ein trübseliges Vorspiel
zu der uoch trübseligeren Entscheidung der Kammer selbst.
Durch die Circulardepesche an die deutschen Regierungen war die Sache in
ein neues Stadium getreten. Preußen hatte dadurch diesen Regierungen gegen¬
über Verpflichtungen übernommen, denen sich auch ein neues Ministerium nicht
entziehen konnte. In Folge dessen schlug Vincke eine motivirte Tagesordnung vor,
die ein entschiedenes Mißtrauensvotum gegen die Negierung enthielt, im Uebrigen
die weitere Beschlußnahme auf die in der Circulardepcsche anberaumte Frist ver¬
tagte. Der größere Theil der Rechten fiel von ihrem bisherigen Führer ab, doch
stimmte eine Anzahl für ihn.
Die äußerste Lücke schlug eine motivirte Tagesordnung vor, in welcher
gleichfalls dem Ministerium ein Mißtrauensvotum gegeben, außerdem aber noch
einiges andere gesagt wurde.
Das linke Centrum wollte gleichfalls dem Ministerium ein Mißtrauensvotum
geben, aber nicht in der Form einer motivirten Tagesordnung, sondern in der
Form eiuer Adresse.
Die Rechte schlug einfache Tagesordnung vor, d. h. Billigung der ministe¬
riellen Politik.
Aus dem Eigensinn, mit welchem jede Fraction an der Form ihrer Willens¬
äußerung haftete, ohne im geringsten darauf Rücksicht zu nehmen, daß in mate¬
rieller Beziehung bei der Majorität der Versammlung Uebereinstimmung herrsche,
ging das wunderliche Resultat hervor, daß gar nichts beschlossen wurde, daß zu¬
erst die einfache Tagesordnung, dann die motivirten Tagesordnungen verworfen
wurden, und daß zuletzt der Vorschlag einer Adresse gleichfalls durchfiel. Außer¬
dem verfehlte die Versammlung nicht, gerade in dieser Sitzung, auf die ganz
Deutschland mit der größten Spannung blickte, das widerwärtige Bild einer ge¬
hässigen, eben so boshaften als kleinlichen Zänkerei zu geben. Ueber das Be¬
nehmen der Einzelnen im nächsten Briefe.
Unmittelbar vor dem Ministertische in der zweiten Kammer stehen ein
paar isolirte Stühle. Auf einem derselben sitzt der Caplan v. Berg in brü¬
derlicher Eintracht neben dem Oberst v. Griesheim: der tapferste Champion
des alten Preußcnthnms neben dem dreisteste» Spötter gegen dasselbe. Es ist
drollig, die ironische Höflichkeit zu beobachte», mit der sie einander grüßen. Sie
haben in ihrem Wesen manche Aehnlichkeit. Griesheim ist ein starker Mann, mit
starkem, jovialisch-martialischem Gesicht und einem Knebelbart, der auch für ihn
zu den Märzerrung enschaftm gehört. Er sitzt, wenn die Redner der Linken ein«
ihrer catilinarischcn Reden gegen das freiheitsmörderische Ministerium hervor-
vransen, mit einer spöttischen Nonchalance da, und sieht so aus, als wolle er
sagen: Das ist ja doch alles Unsinn! Ein paar Regimenter und ich bringe die
ganze Wirthschaft in Ordnung! Er hat, während ich in den Kammern anwesend
war, nur einmal gesprochen. Einer von der äußersten Linken hatte aus der Vossi-
schen einen angeblichen Circnlarbefehl deS Kriegsministers an sämmtliche Offiziere
vorgelesen, nach welchem durch die Auslassung eines wesentlichen Zusatzes es den
Anschein gewann, als sollte bei Ausbruch einer Unruhe von Seiten des Militärs
ohne Weiteres geschossen werden. Sie können Sich deuten, mit welcher Vehemenz
der ehrenwerthe Volksvertreter auf das gesammte preußische Militärsystem los¬
fuhr, und mit welcher Erbitterung er fragte: wie unter so bewandten Umständen
unsere süddeutschen Brüder irgend dann denken könnten, sich mit einem so russi¬
schen Staatswesen einzulassen! Griesheim stieg ruhig ans die Tribüne, las den
betreffenden Erlaß wörtlich vor, und setzte dann hinzu: Wenn unsere süddeut¬
schen Brüder uns aus Veranlassung dieses Erlasses ihre Liebe und Achtung ent¬
ziehen wollen, so müsse» wir uus das gefallen lasse», und stieg unter den obliga¬
ten Zischen der Lücken herunter.
Die kleine Broschüre, in welcher Oberst Griesheim in den Augusttagen deS
vorigen Jahres das ganze Selbstgefühl des preußischen Heeres gegen die Frank¬
furter Centralisationsprojekte und namentlich gegen die Zumuthung, einem östrcich-
schen Erzherzog zu huldigen, herauskehrte, ist Ihnen bekannt. Ich gebe zu, daß
darin der altenfritzische Kriegergeist etwas zu sehr ius Detail herausgearbeitet war,
und daß namentlich die Schwärmerei selbst für die legitime und mit historischen
Erinnerungen überkleidete Nummer der einzelnen Regimenter den Gegnern Stoff
zu gerechte»! Spotte gab, und doch liegt in diesem Selbstgefühl der preußischen
Armee ein sittliches Moment, die Armee bleibt immer der Stock, um welchen sich
das Rankcngewächs unserer liberalen Institutionen zu winden hat. Die Sympa¬
thien unserer Brüder gewinnen wir nur durch die Freiheit unserer Organisation,
ihre Achtung aber hängt wesentlich von unserer Kraft ab, von den, Schwert, das
wir in der Hand tragen. —
Griesheims Nachbar, Herr v. Berg — durch die Kreuz-zeitung, welche ihm
eine besonders liebevolle Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist für ihn die Bencmiung
Bürgerkaplan populär geworden ist ein noch junger Mann, nicht groß, etwas
fett, aber in den Schranken des Anstandes, mit einer Glatze und einem feine»,
weiß und rothen Gesicht, ohne allen Bartwuchs, wie es dem Geistlichen ziemt, mit
einem sehr übermüthige», aber doch gutmüthige» Z»g »in de» Mund; er sieht
aus, als wäre er in seiner Kindheit gewesen, was man einen recht „unnützen
Schlingel" nennt — ^ miscliievous l»c>/. Der Sitz neben Griesheim ist mir sei»
Absteigequartier: er ist während der Sitzung in einer beständigen Promenade;
bald lächelt er, an irgend eine Wand gelehnt, mit zierlich übereinander geschla-
gelten Beinen, den Arm in der Seite, schelmisch dem Redner zu, bald umhalst er
sich mit Nodbcrtus oder Unruh oder einem andern von der Gesellschaft; in jedem
Augenblicke ist er irgendwo anders. Ans der Rednerbühne — und er besteigt sie
jeden Tag 3—4 mal, wirft er zuerst durch seine goldene Brille einen nachdrück¬
lichen Blick auf die rechte Seite, um ihr anzudeuten, sie möge sich jetzt auf einen
tüchtigen Stich gefaßt machen; dann sängt er mit einer an sich schon ironischen
Fistelstimme, die trotz ihres Soprans nicht das schrillende hat, was z. B. den
Reden des ehrenwerthen Abgeordneten Milde einen so unheimlichen.Anstrich gibt,
seine Witze anzubringen. Von welcher Art diese Witze sind, können Sie am besten
aus einem bestimmten Beispiel sehen. Ich meine die letzte Sitzung, auf die ich
schon in meinem letzten Brief zu sprechen kam.
Bodelschwingh, der wegen der fortdauernden gehässigen Angriffe auf seine
Verwaltung und seine Person sich in einer beständig gereizten Stimmung befindet,
hatte von der „sogenannten" Berliner Revolution gesprochen. Das hatte die Ber¬
liner Deputation, die sich auf ihre Revolution nicht wenig zu Gute thun, in Har¬
nisch gesetzt, und man war dem ehemaligen Minister, der jetzt ganz wieder Oberst
ist, scharf zu Leibe gegangen, man hatte ihn gefragt, warum er denn vor einer
blos scheinbaren Revolution geflohen sei? In seinem militärischen Ehrgefühl ver¬
letzt, nahm er jenen Ausdruck wieder auf, und erklärte die „Revolution" vom 18.
März für einen Straßenkampf, der die Hauptstadt und mit ihr daS ganze Land
entehrt habe. Auf diese Aeußerung folgte einen Moment athemlose, unheimliche
Stille, denn ein wahrhaft infernalisches Geheul, von der Linken, die in Masse auf
die Tribüne zustürzte, um den Reactionär hinuuterzntrcibeu; man schrie von allen
Seiten: „Sie entehren die Tribüne!" Bodelschwingh, etwas blaß, aber fest,
trat den Angreifern ein Paar Schritte entgegen; Bismark-Schönhausen
'"'d Kleist-Retzow drängten sich an seine Seite; der Sturm wurde so groß,
daß der Viccpräsidcut die Sitzung aufheben mußte. Als uach dem Wiederbeginn
Sitzung Bodelschwingh von Neuem das Wort erhielt, um seine persönliche Be¬
merkung fortzusetzen, verließ die ganze Linke mit großem Geräusch den Saal, und
nur Behrends blieb,' um den Redner zu cvntrvlliren, und wiederholte, nachdem der¬
selbe fertig war, die Erklärung, derselbe habe durch jene Bemerkung die Tribüne
"'lehrt, welche ein Kind der Revolution sei. Der Präsident rief ihn für diese
Aeußerung zur Ordnung, und wie trat v. Berg diesem Ordnungsruf entgegen?
"Die Geschäftsordnung verbietet natürlich, Personen zu beleidigen; die Tribüne
'se aber keine Person, und ich glaube uicht, daß der Abgeordnete Behrends diese
beleidigen können." Von dieser Art sind stets die Witze des Hrn. v. Berg.
Wenn also ein Officier dem andern sagte: Sie entehren die Uniform, die Sie
^"gen, so wäre daß keine Beleidigung, denn die Uniform wäre eine Sache, keine
Person. Als ob mit jener Aeußerung die Tribüne hätte beleidigt werden sollen,'lud nicht vielmehr der Redner!
Ich bezeichnete die Art, wie Herr v. Berg in der Kammer spricht, als witzig.
Sie ist eben daher affectvoll für den Augenblick, aber nicht nachhaltig. Man wird
zu sehr amüstrt, als daß mau ihm ernsthafte Aufmerksamkeit schenken möchte. Er
hat allerdings Momente, wo er die Maske der ernsten, tragischen Muse vor das
Gesicht nimmt, und auch in dieser ist er brillant. Aber man ist zu sehr an seinen
gewöhnlichen Ton gewöhnt, als daß man nicht davon überrascht werden sollte;
man hört ihm mit einer gewissen Verwunderung zu, und erwartet jeden Augen¬
blick, er werde durch einen burlesken Einfall oder auch nnr ein sardonisches Lä¬
cheln sich über die Andacht moquiren, die seine bloße Maske hervorgerufen hat.
Sophist bleibt er auch, wenn er ernst scheint. Ein Beispiel. In Vincke's Tages¬
ordnung in der letzten Session war die Politik des gegenwärtigen Gouvernements
als verderblich für den Staat bezeichnet, dagegen die Rechtsverbindlichkeit seiner
Schritte nicht uur für dieses, sondern für jedes folgende Ministerium ausgesprochen,
Herr v. Berg sagte nun: wozu sollen wir durch ein solches Mißtrauensvotum einen
Ministerwechsel hervorrufen, der — einerseits wahrscheinlich nicht erfolgen wird,
da die gegenwärtigen Minister an dergleichen schon gewöhnt sind, und der außer¬
dem nur die Personen, nicht die Grundsätze betreffen würde. Die Verwechselung
zweier Begriffe war auch hier evident. Wenn man die Rechtsverbindlichkeit einer
bestimmten Thatsache anerkennt, so bindet mau sich damit keineswegs an die Grund¬
sätze, aus denen jene Thatsache entsprang. Das liberale Ministerium« würde, ob¬
gleich es dieses eine ki>it !>cavus>Il hinnimmt, in entgegengesetztem Sinn verfahren
als das von ihm gestürzte. Freilich hat Berg auf diese Antwort nur gewartet;
er würde, nicht mit Gegengründen, aber mit einer beißenden Anspielung auf de»
Ehrgeiz des Herrn v. Vincke, der die Situation nur benutzt, um sich aus Rudel
zu bringen, replicirt habe».
Diese Rivalität mit Vincke hat etwas überaus Komisches. Sie sehen aus
wie ein Paar Kampfhähne, die auf verschiedenen Universitäten ihren Ruf begrün¬
det haben, und die nun jede Gelegenheit sich mit einander zu messen, bei den
Haaren Herbeizich». Es ist zwischen beiden eine gewisse Achnlichkeit, auch Vincke
ist jeden Augenblick allzu bereit, mit passenden oder unpassenden Witzen, mit schla¬
genden Gründen oder mit Sophismen, wie es gerade füllt, in die Debatte einzu¬
greifen; aber bei Vincke überwiegt doch das Positive, die Gesinnung, das Prin¬
cip; wenn er sich ans seiner unbequemen Lage des Couservireus einmal erhebt,
so ist sein Angriff gewaltiger und furchtbarer als der von Seiten der specifischen
Opposition. In dem Genre des Parteigängcrkriegcs ist ihm Berg an Eleganz
und Gewandtheit bei Weitem überlegen. Bei ihm sieht dieses Spiel zierlich ans,
Vincke's Constitution ist zu robust, die Plänkelei will ihm nicht recht passe».¬
Die fortwährenden kleinliche.« Reibungen zwischen beiden haben etwas Wider
liches. Ich spreche Vincke gar nicht von aller Schuld frei; er ist gröber, wenn
guch der Geguer boshafter ist. Beide sind hinlänglich persönlich, beide renommire",
beide vergessen zu Zeiten über der Gier des unmittelbaren Kampfs den Ernst der
Sache. In der deutschen Frage ist die Kammer dadurch um einen großen'Tag
gebracht werdeu.
Berg's politische Stellung genauer zu charakterisiren, würde schwer fallen; er
ist wie ein Aal, der jeden Augenblick entschlüpft. Am Ende der vorigen Consti¬
tuante meinte er, in der neuen Versammlung werde er auf die Rechte gedrängt
werden. Diese Vermuthung hat ihn freilich getäuscht, weil die Kammer unerwartet
conservativ ausgefallen ist, aber an sich ist die Sache richtig. Es ist ihm zwar
bequem, in der Opposition zu sitzen, weil die Stellung eines Kritikers den Witz
leichter macht, als die produktive Thätigkeit, aber er ist uicht der Mann, mit den
Demokraten zu fraternisiren. Seine Demokratie ist mehr jugendlich aristokratischer
Uebermuth. Er wird vielleicht bald genug Gelegenheit finden, mit den Levellers
eine Lanze zu breche«, um deren Gunst er jetzt buhlt, weil er sie zuleiten glaubt.
Er täuscht sich darin; im gemeinsamen Kampf fällt überall demjenigen die Beute
zu, welcher ein bestimmtes Princip festhält. Das sogenannte linke Centrum wird
von der Linken ausgebeutet, mit der es vorläufig durch die fatalen Erinnerungen
des vergangenen Jahres verknüpft ist.
Welcher Partei er aber auch angehören mag, Berg wird immer ein gefähr¬
licher Geguer sein. Immer schlagfertig, immer mit einem Witz bei der Hand, wo
die Gründe ausgehn, ohne Spur von Furcht oder einer sonstigen Scheu. Man
kann wohl ohne viel zu wagen, die Vermuthung aussprechen, daß ihm in der
Welt nickt viel heilig ist.
Keiner von der Partei hat so viel Anerkennung gefunden — sogar der alte
Graf Renard brach einmal in eine ziemlich unmotivirte Bewunderung seines Geg¬
ners aus — keiner ist auch so viel angefochten. Die Kreuzzeitung widmet ihm
einen großen Theil ihrer Berliner Beobachtungen. Heute begegnet ihm einer der
Bummler, die an ihr arbeiten, mit aufgeschlagenem Rockkragen, sogleich wird die
Vermuthung ausgesprochen, er fürchte sich vor einem Nebenbuhler. Aber auch die
weniger befangene Llironi^ne ««ituclitlviiso der Hauptstadt weiß die wunderlichsten
Geschichten von ihm zu erzählen. Es war die Rede von einem Stück, das auf
dem Friedrich-Wilhclmstädtischen Casino aufgeführt werde» sollte: „Der galante
Ubbo und die Emaucipirte," verfaßt von einer berühmten Freiheitssängerin, die
sich in dem Schleswig-Hvlsteiuschen Feldzuge auch als Amazone ausgezeichnet hatte.
Diese Dame, die viele der Koryphäen der Linken um sich sammelte, sollte theils
wegen geschäftlicher Differenzen, theils ans Zorn darüber, daß Herr v. Berg eine
starke Schwenkung nach rechts machte, ihn der Publicität haben übergeben wollen,
"ut nur durch die Vorstellung mehrerer Demokraten, man solle doch ein so be-
deutendes Talent uicht ohne Weiteres vor den Kopf stoßen, daran verhindert sein.
Bei der Ungenirtheit, mit der man in diesen Vvlksthcatern mit den öffentlichen
Charakteren Berlins umspringt, ist die Geschichte wohl glaublich, und daß
sich Herr v. Berg zu Zeiten mit Grazie in anmuthigen Verhältnissen bewegen mag,
läßt lich auch erwarten. Jedenfalls ist Mirabeau deshalb kein schlechterer Politiker
gewesen, weil er dem Cultus des Schönen seine Opfer nicht entzog.
Auf diese Weise zum Vergleich mit einem großen Schriftsteller herauszufor-
der, ist mißlich, um so mehr, wenn man an das „Räuspern und Spucken" des¬
selben zu sehr erinnert wird. So ist es zu drollig, nachdem in der neuen Königs-
berger Zeitung zwei Briefe mit der Unterschrist Junius gestanden haben, der eine
an die preußische Nationalversammlung, der andere an den Abgeordneten Tamnau,
gleich darauf folgenden Brief an den Drucker der N. K. Z. zu lesen: „Mein
Herr! Ich bin fest überzeugt, daß es mein böser Genius war, der mich auf den
Gedanken gebracht hat, jemals die Feder zu ergreifen. Alle Welt wird mich has¬
sen und vorgeben, daß sie mich verachte; die bleiche Tugend wird mich meiden,
und das schwarze Laster sich vor nur zurückziehen, um durch meine Berührung
nicht noch schwärzer zu werden. Alle Leute, die man unter meiner Maske ver¬
borgen glaubt, werden betheuernd ihre Hand aufs Herz legen, und feierlich er¬
klären, daß sie weder dieser Mensch seien, noch ihn kennen. Der Zustand, mein
Herr, mit dem ich die Welt bedrohe, ist unerträglich. Jedenfalls werde
ich, wenn ich nicht fortan schweige, den Umsturz alles Bestehenden her¬
beiführen u. f. w." Etwas weniger suffisance, etwas weniger Reminiscenz
und etwas mehr Inhalt würde den Briefen vortheilhaft gewesen sein. Als Ver¬
fasser derselben wird uns übrigens aus ziemlich zuverlässiger Quelle Dr. Ferdi¬
nand Falkson angegeben, der in der vormärzlichen Zeit durch seine Heirath
mit einer Christin und den daraus hervorgegangenen Conflict mit der Staatsge¬
walt eine principielle Frage in Anregung brachte. — Der Partcistandpnnkt der
Briefe ist der demokratische; aber schon die elegante, beinah etwas gezierte
Form, in der sie gehalten sind, verräth ihren Unterschied von dem Cynismus der
gewöhnlichen Demokratie. Ueberhaupt hat die demokratische Partei in den alten
Provinzen, namentlich Preußen und Pommern, eine wesentlich andere Bedeutung,
als die Berliner, Rheinische oder Süddeutsche. Das alte Preußen ist darin noch
zu stark, als daß es nicht einen ebenso natürlichen als berechtigten Gegensatz her¬
vorrufen sollte. Man darf nur die Neue Königsberger Zeitung, das Organ der
altpreußischen Demokratie, mit der Oderzeitung vergleichen, um sich diesen Unter-
schied deutlich zu macheu. Die Königsbergs ist ein anständiges und in jeder
Weise wohlgesinntes Blatt, mit dem man sich in Opposition befinden kann, das
man aber immer anerkennt, die andere Zeitung dagegen steht ungefähr auf dem
Niveau des Leipziger „Reibeisens," der gemeinen Lokalklatsche. — Uebrigens soll
die Königsberger Demokratie in der Person des Herrn ol'. Ludwig Metzel eine
Acquisition gemacht haben, der nnter Eichhorn ein von der Regierung subventio-
nirtcs reactionäres Blatt herausgab, später, nachdem die Märzbewegnug sich con-
solidirt hatte, die Fahne des Constitutionalismus aussteckte, und jetzt zu seiner
ursprünglichen Farbe, der rothen Republik, zurückgekehrt ist. Wunderbar sind
diese Metamorphose» ganz und gar nicht; das Ueberspringen von einem Extrem
in das andere ist das eigentliche Symptom der gesinnungslosen Sophistik, welche
die charakteristische Richtung der Restaurationszeit war. Vielleicht wird Herr l)>.
Pflugk, der Redacteur des Königsberger Freimüthigen, nächstens dem Beispiel
seines würdigen Kollegen folgen, und die reactionären Victualienhändler durch
Brandbriefe in Schrecken setzen, wie er früher die liberalen Gewürzkrämer gebrand-
schatzt hat.
Die Briefe sind aus den neuen Jahrbüchern für Geschichte und Politik ab¬
gedruckt. Sie enthalten schätzenswerthe Beiträge für die Kenntniß der Wahlnm-
triebe in Berlin aus den ersten Monaten dieses Jahrs und gehn ebenso dem Ra-
dicalismus zu Leibe, als der Reaction. Sie halten von der Berliner Demokratie
nicht viel. „Wetterwendisch zu sein, ist ein Hauptvergnügen deö Berliners, wie
das allen Räsonneurs begegnet, und längst schon wäre er der Politik herzlich
überdrüssig, ließe sich nicht am Ende eben so gut, wie jeder andere Stoff ge
müthlich. d. h. in der Form von Stadtklatschereien behandeln." Herbe, aber
wahr ist die Kritik der alten Constituante. „In den Mitgliedern der äußersten
Linken erschienen zunächst diejenigen Celebritäten der Volksversammlungen, der
Clubs und der politischen Abendunterhaltungen an der Straßenecke, wie sie als
die zuerst aufgeworfenen Blasen an der brandenden Strömung des Volksgeistes
sich angesetzt hatten. Daher überall dieselben Erscheinungen: krampfhafte Zuckun¬
gen untergeordneter Persönlichkeiten, welche die außerordentlichen Umstände, denen
sie ihre Existenz verdankten, nur dazu ausbeuteten, um die Verwirrung aller na¬
türlichen und menschlichen Gesetze permanent zu machen. Die naive Unschuld
des Volksgemüths hatte sich bei den neuen Wahlen vorzugsweise für diese dürf¬
tigen und durch nichts ausgezeichneten Individualitäten entschieden, und man
konnte dein Volk diesen Irrthum insofern nicht verargen, als es seine Hoffnungen
auch einmal auf Männer setzen wollte , die ihm selbst, dem armen Volke, auch
an geistiger Kraft und Bildung nicht überlegen, sondern vielmehr ebenbürtig wä¬
re«. Daher ist es gekommen, daß so viel geistiges Proletariat überall in
die Nationalversammlungen deö Jahres 1848 gelangte. Die grauenhaften und
selbst in der Bewegung der höchsten Ideen der Menschheit doch so wenig erhe¬
benden Erschütterungen dieses Jahres haben ihren verhängnißvollen Knotenpunkt
in dem materiellen Proletariat, für dessen Ausgleichung und Pacificirnng auch
alle Kräfte der Gesellschaft und des Staates nach Möglichkeit aufzubieten sind.
Dahingegen wird man den geistigen Proletariern nie und nirgend eine Exi¬
stenzberechtigung zugestehen können, weil man am allerwenigsten auf einen mit
Selbstbewußtsein ausgesprochenen Jdecubauterult die Freiheit eines gebildeten und
geistig begabten Volkes zu gründen im Stande sein wird. Unsere geistigen Pro¬
letarier wollten zugleich gern mit aller Absicht die Barbaren spielen, weil ihnen
der Geist immer noch als ein aristokratisches und göttliches Element verdächtig war,
so daß es sich nicht selten um eine künstliche Bestialisirung der „Errungenschaf¬
ten" handelte. Ein Theil der Verschuldung ist den Ministerien zuzuwälzen, welche
sich stets gescheut haben, die Grundrechte der Nationalversammlung auf eine ent¬
scheidende Weise zur Erörterung zu bringen. Nicht minder aber war es die Na¬
tionalversammlung selbst, welche es vom Beginn ihres Zusammeutretcns an sür
gefährlich oder nicht der Klugheit angemessen hielt, sich über ihre eigentliche prin¬
cipielle Stellung und über ihr Rechtsverhältniß zur Krone und zur Regierung
offen zu erklären. Es pflanzte sich dadurch mehr und mehr eine innere Lüge in
der Versammlung fort, welche ihrem Vertrauen bei allen Parteien deö Landes
schadete und sie, statt zu einer die Revolution gesetzlich überwindenden Versamm¬
lung, vielmehr zu einer mit der Revolution experimentirenden und dilettirenden
Freischaar machte. Bei jedem Gesetz, welches nach seinem Hervorgehen aus der
Fabrik der Parteien nicht unmittelbar darauf die Sanction der Krone empfing,
ward der immer zudringlicher sich ausdrückende Anspruch eines Konvents erhoben,
der sofort mit seiner höchsten Ungnade und mit den guten Freunden da draußen
drohte, wenn nicht Alles nach Befehl der hohen Versammlung vollzogen würde."
Ebenso scharf geht es gegen die unsittlichen Mittel der entgegengesetzten Seite her,
die berüchtigten „Enthüllungen", die «it-'indem-it temuoi-is des Herrn Professor
Heinrich Leo, welcher die ganze Schuld der Revolution den alten Constitutionellen
in die Schuhe schiebt, den „Verein zur Wahrung der Interessen der Provinzen"
über das sogenannte Jnnkerparlament, die Kreuzzeitung u. s. w. Aus den Wahl-
scencn theilen wir einige interessante Züge mit. „Das Wahllocal, in welchem ich
meiner Bürgerpflicht zu genügen hatte, war eine Kneipe und glich so ziemlich
einer Räuberhöhle. Der Tabacksqualm war zum Ersticken und die Bier- und
Schnapsgerüche thaten das klebrige. An der Wand hingen dunkelgeschwärzt die
Portraits der königlichen Familie, diese Erbstücke in den Hütten der Armen. Die
Namen der radikalen Candidaten gingen ohne Kampf aus der Wahlurne hervor.
Im nebenan liegenden District erlag Oberbürgermeister Naunyn einem
radikalen Schneider. Unter den Linden hatte ein conservativer Geheimeratl)
seinen radicalen Sohn, einen jener vielen Assessoren, welche die Lorbeeren Wal-
deck's nicht schlafen lassen, zum Gegner und trug nnr mit der Mehrheit einer
einzigen Stimme in der Wahlschlacht den Sieg davon. Um dein Sohne die un¬
entschiedenen Gemüther nicht zur Bearbeitung anheimzugeben, machte der Vater
denselben zum Schriftführer, was übrigens nicht hinderte, daß der Sohn gleich
bei der nächsten Abstimmung Wahlmann wurde. Der politische Tact der berliner
Urwähler erröthete sogar nicht, einen heruntergekommene» und früher um Geld
gehörten Possenreißer, den Inhaber einer „vergnüglichen" Weinhandlung in der
Jüdenstraße, zum Wahlmann zu machen, weil er in einer Vorversammlnng gegen
den conservativen Kandidaten, der die Verfassung als ein Gnadengeschenk des
Königs ohne Weiteres annehmen wollte, mit der Bemerkung auftrat, der Herr
sei aus der Versammlung auszuweisen, da das Wahlgesetz ausdrücklich sage, Al¬
mosenempfänger seien uicht wahlberechtigt." Den „Enthüllungen" der reac-
tionären Partei feste der Berliner Volkswitz im Kladderadatsch eine allerliebste
Persiflage entgegen. „Die Knrfürstenbrücke ist abzubrechen. Der Kurfürst wird
auf das Losungswort „Grimma" nach dem Königstädtischen Theater
sprengen und dort zur Belebung des Volksgeistes sofort die Posse: „Einen Jux
will er sich machen" aufführen lassen. Die Brennmaterialien liegen bei dem
Schauspieler (beliebten Komiker) und französischen Emissär l'Arronge. Im Lake
kr-,,!,«!-»!« ist anzufangen: !24 Gläser Josty und 87 Beefsteaks werden
beim Heranrücken des Militärs von der K. demokratischen Section ans dasselbe
geschleudert. Während die Soldaten mit der Forträumung beschäftigt sind, wer¬
den im Hause Ur. 14 zwei Booten Grog angebrannt. Hier sind gemauerte Vvr-
sichtsbarricaden zu bauen. Hanpipunct, wichtigster Punct der Streitmacht im Gcun-
brinns. Das Weißbier liegt im Keller. Hier ist nnr Bürgerwehr zu ver¬
wenden. Passiver Angriff. Bei dem Fleischhändler im Hause findet man vergif¬
tetes Schweinefleisch. Der Commandeur ist ein Jude. — Zeituughalle: Haupt-
festung. Hier werden 2<» Bummler erscheine». Dem Losungswort: Pumpen Sie
mir 8 Groschen! ist sofort Gehorsam zu leisten. Barrikade am Schinkcupkatz.
In C-U'v ?V>>)«-,-to ist einem Herrn auf das Wort: Haben Sie keine Cigarre
bei sich? zu trauen. Die Kellnerinnen sind zu berücksichtigen. Widersetzlichkeit
wird mit dem Tode bestraft." Von Interesse sind anch die Wahlreden der radi¬
calen Candivaten: Assessor Jung, der trotz seiner geringen Popularität durch
Intriguen und zum Theil anch durch die Capricen des Zufalls gewählt worden
ist, Advocat Volkmar, ein rheinischer Jurist mit blos juristischem Verstände in.
der Politik; Assessor Paalzow (der Verfasser ertheilt ihm meines Wissens mit
Unrecht den Adel), gleich dem Vorigen eifriger Mitarbeiter an der Nationalzeitimg,
der wahrscheinlich bei den Nachwahlen berücksichtigt werden wird, falls Heinrich
Simon, wie zu erwarten steht, sein Mandat niederlegt; serner Herr Lehrends,
dem ich übrigens das Zeugniß ausstelle» kann, daß er in ganz Berlin, so weit
es sich um Politik bekümmert, den Ruf eines ehrlichen Mannes und schlechten
Musikanten genießt; Dr. Jung, bekannt durch seine Geschichte des Judenthums,
der in seiner Rede meinte: „Wann wir uns die ganze bisherige Generation als
eine einzige Mutter denken, so soll die folgende Generation die Tochter sein, und
die Mutter wendet ihre ganze Anstrengung an, daß diese Tochter besser, gerechter
als sie werde, und also auch glücklicher; mit einem Wort, es ist die Ausführung
der Idee, das Schöne des Himmels der Erde zuzuführen!" Endlich
Bruno Ban er, von dem ich mir vorbehalte, bei Besprechung seines neuesten
Werks über die „bürgerliche" Revolution des letzten Jahres eine ausführliche Cha¬
rakteristik zu geben, Theodor Munde, Dr. Virchow, Nees v. Essen deck
und Hoffmann v. Fallersleben. Auch auf diese werden wir Gelegenheit finden,
zurückzukommen.
Der Gelehrte, dem diese Skizze gewidmet ist, hat sowohl in der philologi¬
schen als in der philosophischen Welt el^im geachteten Namen.
Trendelenburg hat sich eines Glückes zu rühme», wie es Philosophen oft
nicht zu Theil wird. Sehr jung gelangte er zu einer ordentliche'.: Professur an
der Berliner Universität. Schon seit vielen Jahren beherrscht er durch seine
Stellung als Examinator sowohl bei dem höhern Schnlcxamen als bei den Pro¬
motionen die philosophischen Studien bei der Jugend. Obgleich er erst wenig
über vierzig Jahre alt ist, ist er schon zwei oder drei Mal Decan der philoso¬
phischen Fakultät und einmal Rector gewesen. Seine Wahl zum Rector erregte
allgemeine Zufriedenheit, weil sein öfteres Auftreten der Art ist, daß es nach kei¬
ner Seite hin verletzt. Vor etwa zwei Jahren wurde er Mitglied der Akademie.
Bald nach seiner Aufnahme hielt Raumer den bekannten Vortrag über Friedlich
den Großen, der sein Ausscheiden zur Folge hatte. In seine Stelle wählte man
Trendelenburg zum Secretär der Akademie.
Man sagt, daß er seine rasche Beförderung in der akademischen Laufbahn
seiner Bekanntschaft mit Nagler verdankt. Ich weiß nicht, was daran wahr sein
mag; doch hat er schon früh sich dnrch zwei kleine Abhandlungen, die sich aus
Punkte der platonischen und aristotelischen Philosophie bezogen, vortheilhaft be¬
kannt gemacht. Ueberhaupt kam seine philosophische Richtung der frühern Regie¬
rung erwünscht, theils weil er eine scharfe und glückliche Kritik an den Hegelia¬
nern übte, theils weil er den Principien des germanisch-christlichen Staates näher
stand, als die meisten andern Philosophen. Er liebt nicht die wohlfeile höhnende
Opposition gegen alles Bestehende, mit der selbst Universität-Docenten oft um
die Gunst ihrer Zuhörer buhlen; er hält sich an die Sache, und wenn sein Vor.
trag den Fragendes praktischen Lebeus sich zuwendet, so äußert er sich darüber
Mist und ruhig, aber freilich auch zu vermittelnd und unbestimmt.
Wie gesagt, ist Trendelenburg halb Philosoph, halb Philolog. Er hat dies
nicht nur durch die Herausgabe einer Schrift des Aristoteles gezeigt, die, in latei¬
nischer Sprache abgefaßt, eiuen philosophischen Gegenstand in den Formen philo¬
logischer Interpretation behandelt, sondern es liegt auch in seiner Art und Weise
des Studiums etwas Philologisches, die Emsigkeit und Gründlichkeit im Sam¬
meln des Details, die so recht eigentlich das Wesen der philologischen Thätigkeit
ausmacht. Wenn der Historiker, um die weiten Räume der Weltgeschichte durch-
messen zu können, aus dem riesenhaften Material, das seineu Forschungen zu
Grunde liegt, die großen Verhältnisse herausnimmt, wenn der Philosoph in eben
derselben Weise in einem noch weiter» Gebiete des Wissens verfährt, so besteht
das Geschäft des Philologen, der es stets mit der Erklärung eiues einzelnen
Denkmals der Literatur zu thun hat, in der Sorgfältigkeit und Genauigkeit, der
auch das Geringfügigste nicht zu unbedeutend scheint. Daß Trendelenburg dieser
Richtung uicht fremd ist, gibt sich zu erkennen in seinen Abhandlungen über ein¬
zelne Begriffe der Aristotelischen Philosophie, namentlich in seiner den Stoff voll¬
ständig erschöpfenden Schrift über die Kategorien des Aristoteles. Mit diesem
Verfahren würde er aber zu nichts Weiterem kommeu, als zu Monographien
über Abschnitte der Geschichte der Philosophie, und er macht Anspurch daraus,
nicht nur das ganze Gebiet der Geschichte der Philosophie zu beherrschen, sondern
auch der Gründer oder Vorbereiter eines eigenen Systems zu sein, das er in
die verschiedenen realen Wissenschaften hineinzuführen gedenkt. Denn ihm ist die
Philosophie nicht etwas Abstractes, das, getrennt von den empirischen Wissen¬
schaften, ein eignes Leben führte; sie ist ihm die Idee der Einheit alles Wissens
und stellt sich ihm daher dar in dem Leben der realen Wissenschaften selbst. —
Es scheint ihm indessen bis jetzt nicht gelungen zu sein, der Naturwissenschaften
und der Geschichte in dem Grade Herr zu werden, daß er eS versucht hätte auch
nur Vorlesungen darüber anzukündigen. Seine „logischen Untersuchungen" enthalten
manche Beispiele aus der Wissenschaft der Natur, die aber mir beweisen, daß
ihm dies Gebiet nicht ganz fremd geblieben ist. Der Geschichte hat er in seinem
bisherigen öffentlichen Auftreten noch gar keine Aufmerksamkeit zugewandt.
Wenn Trendelenburg's wissenschaftlicher Ruf vorzugsweise auf seinen Arbeiten
über einzelne Theile der Aristotelischen Philosophie beruht, so besteht die hervor-,
tretendste Seite seiner akademischen Wirksamkeit in seinen Vorlesungen über Ge¬
schichte der Philosophie. Er gehört nicht zu deu Philosophen der historischen
Schule, die, durch ein falsches Verständniß Hegel's verleitet, ans dem Entwicke-
lungsgange der Philosophie das Princip eines höheren Systems ableiten zu müssen
glaube«; vielmehr hat er in seinen selbstständigen philosophischen Arbeiten einen
eigenen Weg eingeschlagen, ohne danach zu fragen, ob derselbe durch die Ge¬
schichte der vorhergegangenen Systeme gerechtfertigt und begründet sei; ja er hat
eS nicht einmal für nothwendig gehalten, das eigentliche wahre und bleibende
Princip des Hegel'schen Systems zu erforschen, indem er die Kritik desselben mit
der Erwartung schließt, daß die Zukunft die Spreu von dem Waizen sondern
werde. Aber er sieht das Studium der philosophische» Systeme als ein noth¬
wendiges Bildungsmittel an, um zur Philosophie zu gelangen, er wird unbewußt
durch sie geleitet, indem er sich Probleme und Begriffe aus ihnen geben läßt
und falsche Wege vermeiden lernt. — Er geht in seinen Vorlesungen über Ge¬
schichte der Philosophie in zweifacher Weile ans die einzelnen Systeme ein. Er
behandelt sie theils mit einer Genauigkeit im Einzelnen, wie es die beschränkte
Zeit nur irgend zuläßt, theils trägt er sie i» solcher Form vor, daß man bei
jedem System glauben möchte, er sei selbst ein Anhänger desselben. Diese Form,
zu der man durch die genaue Beschäftigung mit dem Detail leicht verleitet wer¬
den kann, mag das Gute haben, daß der Schüler dadurch ein größeres Interesse
an dem Einzelnen gewinnt; aber sie hat den Nachtheil, daß sie den Sinn für
das Lückenhafte und Einseitige der einzelnen Systeme, für ihren Gegensatz unter
einander zu wenig schärft. Und es hilft uicht viel, wenn Trendelenburg, nachdem
er die Darstellung eines Systems beendet hat, mit erhobenem Tone wenige kriti¬
sche Bemerkungen folgen läßt, die theils äußerlich, theils uicht eindringend genng
sind. Gerade darin, daß Hermeneutik und Kritik in steter Wechselwirkung sind,
liegt etwas unendlich Bildendes, und der Historiker der Philosophie sollte diese
Kunst vor Allem zu erreichen suchen. Eine zweite Seite der akademischen Wirk¬
samkeit von Trendelenburg, die wir besonders hervorheben, weil wir wünschen,
daß er darin Nachfolger finden möchte, und die von ihm eingeführten philosophi¬
schen Uebungen, in denen er kleinere, besonders Aristotelische Abhandlungen inter-
pretiren läßt. Es mögen uicht alle Disciplinen für diese Form gleich geeignet
sein, aber die Philosophie ist es vorzugsweise. Denn sie besteht weder in der
Kenntnißnahme eines einzelnen bestimmten Systems, noch in dem Studium der
Geschichte der Philosophie, sondern in der selbstständigen Thätigkeit des Philoso-
phircns, sie ist weit mehr ein Können, als ein Wissen. Der philosophische Unter¬
richt sollte darum vorzugsweise auf formelle Bildung hinausgehen. Die erste
Bedingung dazu ist unstreitig der gemeinsame Umgang des Lehrers mit den
Schülern. Die zweite ist die, daß ein Stoff da sei , an dem das philosophische
Talent geübt werden könne. — I» kleineren Universitätsstädten, wo ein leben-
digerer Privatverkehr zwischen Docenten und Studirenden besteht, mögen An¬
stalten dieser Art entbehrlicher sein; in Berlin sind sie fast unumgänglich nöthig«
Trendelenburg's Vorlesungen sind, theilweise wenigstens, stark besucht, «»
doch ist sein Einfluß auf die Studirenden uicht bedeutend. Er besitzt viel zi
lvenig anregende Kraft. Er gibt weder originelle Ideen, namentlich für diejent-
gen, die bereits anderswoher in die moderne philosophische Bildung eingeführt sind,
Noch besitzt er die Kunst in der Geschichte der Philosophie zur Untersuchung schwie¬
riger historischer Fragen anzuregen. Es fehlt ihm dazu theils an Lebendigkeit,
vielmehr ist über seinen Vortrag eine etwas ermüdende Monotonie ausgebreitet;
theils an der Schärfe, durch die gerade das Widersprechende und Problemartige
bestimmt hervorgehoben wird. Er ersetzt diese Mängel einigermaßen dadurch, daß
er dem Schüler zu einer für den Anfang hinreichenden Masse positiver Kenntnisse
behilft.
Propaganda für seine eigenen philosophischen Ansichten macht er wohl nicht.
Wir glauben darin das Geständnis) zu finden, daß er selbst von der Dauerhaftig¬
keit derselben nicht allzufest überzeugt ist. Auch gibt er selbst seine logischen
Untersuchungen als etwas Unfertiges, als eine Verbreitung für eine spätere
systematische Darstellung dieses Theils der Philosophie. Die logischen Unter¬
suchungen haben den Charakter, den überhaupt die Philosophie der neusten Zeit
trägt, den des Zerfahrenen und Aufladen. Man sucht neue Wege, neue Princi¬
pien, ohne daß mau die Kraft hätte, etwas schlagendes und Durchgreifendes,
etwas Festes und Konsequentes zu gewinnen. Es geht ihm so, wie den meisten
Andern, daß er Vieles als unrichtig erkannt hat, was noch vor kurzem als höchste
Wahrheit galt, während seine eigenen positiven Ansichten meist so beschaffen sind,
daß sie noch viel schneller der Zerstörung erliegen müssen.
Als einen Vorzug muß mau es betrachten, daß Trendelenburg sich von dem
bei den neuer» Philosophen herrschenden abstracten Phrasenreichthum emancipirt
hat. Er spricht menschlich und doch stets als Philosoph. Den Gegensatz zwischen
ihm und den meisten Andern kann man prägnant kennen lernen, wenn man die
Streitschriften zwischen ihm und Gabler, dem Althegelianer, liest. Auch zeichnen
sich seine logischen Untersuchungen oft durch Klarheit und Einfachheit ans, so daß sie
bei den Studirenden, denen es nnr um eine oberflächliche Kenntniß der Philoso¬
phie zu thun ist, vielen Beifall zu finden pflegen. Doch spielt ihm auch in der
Sprache und Darstellung die Sucht, Alles zu erreichen, einen Streich. Er will
nicht blos gut, er will auch schön schreiben; er meint, auch die Philosophie dürfe
des zarten Duftes der belletristischen Ausdrucksweise nicht entbehren. Seine oft
blumigen Redewendungen machen in philosophischen Untersuchungen einen uner¬
quicklichen Eindruck, sie sind affectirt und gesucht.
In neuester Zeit hat auch Trendelenburg versucht, am politischen Leben Theil
!n nehmen. Er hat sich dazu vielleicht berufen gefühlt, durch seine philosophische
Gesinnung, d. h. durch die Einsicht, daß das Maaß und das Mittlere zwischen
Extremen das Beste sei. Von diesen- Geist sind, namentlich in der ausge¬
ben, dem Fanatismus der Abstractionen sich zuneigenden Gegenwart, Wenige
^Seele. Wer solche Richtung in sich fühlt, hat mehr,'als viele Andere, den Ruf,
w Streit der Parteien sich nicht zu entziehen, selbst wenn seine Mäßigung zu-
rückgewiesen wird. Wir hörten es daher mit Freude, daß Trendelenburg den
Muth hatte, sich in den Kampf der Parteien hineinzubegcbcn, um so mehr, da
ihm die Gewandtheit, sich ans allen möglichen Gebieten zu orientiren, nicht ab¬
zusprechen ist. Seine Bemühungen sind ihm aber nicht sonderlich geglückt. Schon
in seinem kleinen Wahlbezirke erregte er Mißfallen, man will in Berlin mit aller
Gewalt extrem sein. Im December wurde er von der Harkvrt'schen Partei als
Kandidat für die zweite Kammer aufgestellt; was aus dieser Kandidatur geworden
ist, ist uns unbekannt. — Man hat ein gewisses Mißtrauen gegen die politische
Befähigung der Philosophen, und es ist auch unleugbar, daß strenge Systematiker,
wenn sie ein falsches Princip aufstellen, damit mehr Unheil anrichten, als andere
gewöhnliche Menschen. Die kleine Abhandlung, die Trendelenburg im Mai des
vorigen Jahres über das Zweikammersystem herausgab und die jedenfalls mehr
Beachtung verdient, als sie gefunden hat, ist ein Beweis der hohem Einsicht, die
über die Stichworte des Augenblicks sich erhebt, ohne sie zu verkennen. Es ist-
der ruhige, nüchterne Denker, der nach allen Seiten sieht, und das, was er ge¬
sehen hat, in einen höhern, umfassenden Gesichtspunkt zu vereinigen weiß. Er
gehört zu den Ersten, die neben einer Volkskammer eine nach Klassen gewählte
erste Kammer verlangten. Diese Ansicht wird ans eine eigenthümliche und scharf¬
sinnige Weise motivirt. „Wo alle ohne Unterschied wählen, werden sie nur im
Allgemeinen übereinkommen; die Wahl wird nur nach dem Maßstab allgemeiner
Ideen geschehen; und es ist mehr dem Zufall überlassen, wie dabei das Beson¬
dere vertreten wird." „Die Idee ist leicht, wenn sie für sich im Allgemeinen ihr
Spiel treibt; da leuchtet sie ein, da will sie unaufgehalten ins Leben. Aber es
hilft nichts sie in die Luft zu zeichnen. An der Ausführung stößt sie Kuf den
Widerstand der Verhältnisse; wer die Reibung nicht kennt, in die sie geräth, ar¬
beitet entweder vergeblich, oder zerstört, indem er sie durchsetzt." „Ist nun die
eine Kammrr aus der Gleichheit des Volkes hervorgegangen, so gehn die andern
ans den Unterschieden der Lebensrichtungen hervor, damit jede besondere Richtung
sich mit dem Allgemeinen ausgleiche und die Erfahrung aller vertreten sei." „Ms!
man eine solche Kammer der Volkskammer gegenüber die Ständekammer nennen,
— sie wird es in einem andern Sinne sein, als der ist, den man gewöhnlich
mit dem Namen der Stände verknüpft. Ohne Privilegium wäre sie nur eine
Aristokratie der besondern Einsicht, während in der Volkskammer die Demokratie
Dieses blödsinnige Machwerk, das in dem Königstädter Theater einige 70 Mi
das Publikum der Spandauer Straße entzückt hat, ist nun auch in Leipzig über
die Bretter gegangen. Man nehme eine Masse zusammenhangloser, verrückter Re-
densarten ohne eine Spur von durchschimmernden Verstand, lasse sie von buntge-
kleideteu Leuten sprechen, und stelle wunderliche Decorationen dazu auf, so hat man
die Töchter Lucifers: Doch nein! ich vergaß ein Ingrediens: die Moral! Man
warne vor dem Spiel, weil es ruinirt, dem Tanz, weil er die Schwindsucht er¬
zeugt, dem Ehrgeiz, weil er die Kräfte unnütz aufreibt, dem Wettrennen, weil
man dabei das Genick brechen kann u. s. w. Die Geschichte ist folgende. Lucifer
hat 7 Töchter, welche beschließen, einen jungen Maler zu verführen. DaS gelingt
aber nicht, weil ihm die Seele seiner Schwester, die man in der ersten Scene
verscheiden sieht, als Schutzgeist zur Seite steht. Zuletzt werden die 7 Teufelinnen,
oder wenigstens zwei von ihnen, da die übrige» mehr als corps >lo d»IIot figuri-
ren, durch einige sentimentale Schnurrpfeifereien bekehrt, und es wird tüchtig ge-
heirathet. Auch jene abgeschiedene Seele, der Schutzgeist, wird versorgt, wie ich
denke, wenigstens erscheint sie zuletzt mit dem Brautkranz im Haar. >— Dekora¬
tionen von Interesse sind folgende: die Hölle mit dem großen Höllenrachen und
allerlei verwunderliche», grotesken Gestalten; ein Maleratelier, in dem sich ein
Bild mehrmals in ein Gespenst verwandelt; ein Blumengarten, in welchem das
lxu-ps <I« d-UIet unter der verbrauchten Firma verschiedener Blumen allerlei schlechte
Tänze aufführt; eine Alpengegend, in der eine Hütte durch den geschickten Thea¬
termechanismus plötzlich von links nach rechts versetzt wird; das Schlaraffenland,
bestehend aus mehrere» correspondirenden Coulissen, welche Würste, Hummern,
Aprikosen u. tgi. vorstelle»; mehrere gedeckte Tische, Bouteillen, Krebse, Spar¬
geln, Messern und Gabeln, Biergläser gehn zum großen Jubel der Galerie über
die Bühne; ein Wettrennen; ein Ball mit obligaten Grabsteinen mit warnender
Inschrift, die plötzlich uuter der Erde auftauchen; eine Spielhölle a I» Jffland;
wieder die Hölle; Otaheite, wo die Königin der Wilden auf einem Kameel an¬
geritten .kommt n. s. w. Dazu sehr viel Grimassen, Affensprünge, auch einige
zeitgemäße Anspielungen.
Hoffentlich wird das Leipziger Theater, das noch vor einem Jahre in seinem
Bestreben, die echte Kunst zu fördern, mit allen Bühnen Deutschlands wetteifern
konnte, uns noch viele Stücke geben, nach Art der Töchter Lucifers, und sich mehr
und mehr in das Niveau der Königstadt erheben.
In die gedrückte Stimmung der letzten Woche tönte voll und ermuthigend
der Kanonendonner von Eckernförde. Doch ein starker Klang, eine herzhafte
That in all der Halbheit, Schwäche und Erbärmlichkeit, welche wir zu ertragen
haben. Die Worte deutscher Könige schwirren zweideutig und kläglich in unser
Dhr, die deutschen Kanonen wenigstens haben entschieden gesprochen. Wir danken
herzlich dem blanken Metall, sein Klingen hat die deutschen Stämme endlich wieder
erinnert, daß sie gemeinsame Frende und gleiches Leid zu tragen haben. Es war
eine rechte Familienfreude, welche von Baden bis Königsberg in alle Herzen drang/
als die großmäuliger Plakate von allen Straßenecken den ersten Seesieg der
Deutschen verkündeten.
Und ein tüchtiger Sieg war es! Zwei der stattlichsten Kriegsschiffe dem
Feinde weggeschossen, ein Linienschiff und eine Fregatte. Ein angenehmer, ein
ruhmvoller Sieg! Ach Gott, wir wären ja auch mit weniger zufrieden gewesen,
unsere Seehoffnungen waren im Ganzen noch sehr bescheiden. Wir hatten eine
recht herzliche Freude schon über unsere Kanonenböte, die allerkleinsten lieben Meer¬
schweinchen in der Heerde des Seegotts, wir gedachten unsere Wirthschaft so allmälig
von der kleinen Race zur größeren hinaufzuarbeiten, und jetzt wirst uns ein güti¬
ger Ostwind auf einmal den Elephanten Christian VIII. und das dänische Noß,
die Gefion, in uusern Seehaushalt; das eine Geschöpf ist zwar todt, aber das
andere lebt noch, und wir wollen es reiten auf der grünen Flut nach unserer
Weise. Ein erstaunlicher famoser Sieg! Was Alles dazu geholfen hat, es sei ge¬
lobt, es sei gepriesen! Die Schleswig-Holsteinische Artillerie, und die Nassauer
Batterie, und die Bürger von Eckernförde, welche riefen: bombardirt uns in den
Grund, aber wir lassen euch nicht ans dem Hafen heraus; alle braven Jungen,
welche schössen und Hurrah riefen, ja der Ostwind selbst, der dein Deutschen sonst
nicht zum Heile bläst, Alle seien gelobt und gepriesen! Wir haben uns sehr ge¬
freut, auch hier in Leipzig, wo durchaus kein Seewasser zu sehen ist, als im Hofe
meines Hauswirths ein kleiner Kahn mit den deutschen Farben bemalt. — Euch,
ihr Männer von Eckernförde aber hätte ich gewünscht, daß ihr das brüderliche
Behagen aus allen Festlands-Gesichtern gesehen hättet. Wie eifrig wurden die
Karten aufgerollt, mit Kreide schrieb man die Stellung der Schiffe und der Bat¬
terien auf den Wirthshaustisch und entzückt glänzten die Angen der Zuhörer, wenn
irgend Einer das Wort ergriff, der Seeluft gerochen hatte und den Unterschied
zwischen Top und Topf kannte. Das war eine gute Zeit durch nautische Kennt¬
nisse berühmt zu werden; unerhörte, wunderbare Worte, wie: Steuerbord und
Backbord, lec und ins, Gästen und Masten wurden mit triumphirenden Blicken
hervorgestoßen; wer sie kräftig in den Faden seiner Rede einzuspinnen wußte,
wurde angestaunt, und es sammelte sich ein kleiner Theil der Eckernförder Ruhmes¬
strahlen um sein Haupt; er war für den Abend besser als die Andern, er stand
der deutschen Marine näher, als wir übrigen gewöhnlichen Landratten.
Eine kindliche, herzinnige Freude! Ach, sie ist uns Deutschen zu gönnen. Wir
haben wenig Freude gehabt in der letzten Zeit, unser junges Selbstgefühl ist ge¬
knickt, schöne Träume, ideale Wünsche sind durch eine traurige Wirklichkeit und
bornirte Gemeinheit vernichtet worden. Unsere Kraft ist noch so wenig bewährt,
unsere Empfindung noch so reizbar und aufgeregt, daß widrige Verhältnisse uns
mehr entmuthigen, als nöthig, als Recht ist. Selbst der dänische Krieg hat im
vorigen Jahr außer einigen vertrockneten Lorbeerreisern uns Deutschen wenig mehr
als Aerger und Scham gebracht.
Es wäre sehr undeutsch, wenn wir an diesen Glücksfall nicht einige philoso¬
phische Betrachtungen knüpfen wollten. Vorläufig nur zwei. Die erste betrifft
den. dänischen Krieg überhaupt. Er ist ein echtes Kind der Revolution von 1848,
den Kabinetten und Ruheliebenden lästig, den Soldaten und der Masse des Volks
ein ehrenvoller, patriotischer Kampf. Wie auch der Nechtspnnkt desselben schwe¬
ben möge, es kommt jetzt gar nicht mehr darauf an. DaS Schwer ist aus der
Scheide geflogen, unsere Brüder stehen im feindlichen Feuer, ein Schelm, wer
jetzt noch daran nackete und seine Hand feige vom Kampfe zurückzieht. Möglich,
daß er ungelegen kam, sehr wahrscheinlich, daß er uns mehr Opfer kostet, als
dänische Kugeln sich holen können, das Alles darf jetzt nicht mehr bedacht werden.
Die deutsche Ehre steht auf dem Spiel, er ist das letzte Terrain, auf welchem
der Idealismus unserer Nation sich behauptet, wir sind uns selbst schuldig ihn
wacker durchzuführen, ehrenvoll zu beenden. Fluch dem Feigen, welcher uns dnrch
einen schlechten Frieden des letzten Gebiet unseres Selbstgefühls nehmen wollte.
Wohl wissen wir, daß unsere Regierungen zum Theil schon so weit gekommen
sind, in dein Auflehnen der Schleswig-Hvlsteiner nur eine Empörung meuterischer
Unterthanen zu sehn; wir werden den Kampf trotzdem für einen nationalen halten
und im schlimmsten Fall uns erinnern, daß wir die Macht haben, die Regierun¬
gen in unsere Ueberzeugungen zu zwingen. National aber ist der Kampf nicht
deswegen, weil wir ein altes verbrieftes Necht deutscher Brüder vertreten, denn
es wäre möglich, daß dies alte Necht ein Unrecht gegen neue Staatenbildung
wäre; auch nicht, allein deshalb, weil der Enthusiasmus des Volkes daran hängt,
unsere Flvttcntränme, unsere Vereiuiguugswünsche; sondern deshalb, weil mir
Dänemarks gegenwärtige Stellung zu Deutschland nicht mehr ertragen können.
Wir müssen eine Ablösung des Sundzolls durchsetzen, wir dürfen keine undeutsche
Politik über unsere Nordküsten regieren lassen. Als Friedrich der Große Schle¬
sien eroberte, frug er den Teufel nach dem Nechtspnnkt, sein Rechtsboden war
schlecht und doch war sein Necht gut; er brauchte Schlesien, um ein Preußen zu
schaffen. Jetzt ist die Zeit der KönigSerobernngen vorüber, die Regenten sind
conservativ geworden, weil sie ihren Rechtsgrund gegen die übermüthigen Wo¬
gen der Revolution zu vertheidigen haben; die schaffende Kraft lebt jetzt in den
Völkern, und wo sie zwcckvoll und tüchtig sich kundgibt, soll man ihr dienen.
Wohl, dieser Krieg hat ein verständiges Ziel, er kann nützlich werden für unsre
Entwicklung und deshalb sollen wir an ihm hängen. Und noch aus einem an¬
dern Grunde. Die Unfähigkeit des preußischen Cabinets hat die Concentration
Deutschlands in klägliche Frage gestellt; die Souveräne mit ihren desparaten Wün¬
schen und Launen sind dnrch seine Erklärung und die politische Unreife ihrer respec-
tiven Kammern wieder privilegirt, Alles was wir seit einem Jahr mit Geld,
Thränen und Blut erkämpft haben, ist in ein Chaos zusammengeworfen. Es stünde
jetzt sehr schlecht um die deutsche Einheit, wenn der dänische Krieg nicht wäre. Dort
kämpft Hannover mit Sachsen, Preußen, Holstein und Nassau in einem Heer ge¬
gen einen gemeinsamen Feind. Auch das gibt ein Band und es wird nicht schlech¬
ter halten, weil es mit rothem Blut gefärbt ist. Unser Volk weiß das.
Die zweite Betrachtung aber gelte unserer Flotte. Wir haben den Anfang
gemacht, eine zu erhalten. Freilich haben wir uns auch hier als Neulinge ge¬
zeigt, haben manches unpraktisch angefangen und mehr Zeit und Geld verloren,
als nöthig war. Das war natürlich, es schadet auch nichts. Etwas ist doch
vorhanden, was mehr werth ist, als Kanonenböte und armirtc Passagierdampf¬
schiffe, an denen wir nicht viel Freude erleben werden. Der stattlichste Zuwachs
ist die Gefion selbst, sie soll in sechs Wochen ftefertig sein, und es wäre ein
stolzer Triumph, wenn wir die Dänen noch Brod gegen Brod besiegten. Aber
wir wollen in unserer Freude auch uicht übermüthig werden. Den erfochtenen
Sieg verdanken wir eben so sehr der Tollkühnheit oder schlechten Jnstructionen
der Dänen, als unsern braven Kanonen. Seit alter Zeit gelten die Dänen zur
See für mannhafte Gegner, wo sie unterlagen, war es fast immer die Schuld
ungeschickter Führer. Wir werden ihnen darin kaum überlegen sein. — Doch
wie es auch komme, mag Fortuna uns den Rücken dreh», oder hold bleiben, wir
wollen die Haltung nicht verlieren. Nehmen die Dänen einmal einen Theil un¬
serer jungen Flotte, so pfeifen wir emsig ein Lied des Trostes und bauen uns
eine neue. Auch die Engländer haben zweimal neue Schiffe bauen müssen, ehe sie
Tromp und Ruyter besiegten. In unseren Wäldern stehen noch einige Einheit und
Fichten als Vorrath, an Seilern fehlt's uns auch nicht und das Eisen graben
wir überall ans dem Boden. Nur guten Willen und frischen Muth, liebe Her¬
ren! und wir kehren die feindlichen Schiffe zuletzt noch aus der Ostsee und fah¬
ren durch den Sund mit einem Besen am Mast.
Es ist bereits aus Morgen und Abend circa der hundertfunfzigste bis
sechzigste Tag geworden, seit der Geist Windischgrätz - Schwarzenberg - Stadion,
die heilige Dreifaltigkeit, wenn auch nicht Dreieinigkeit unserer Gutgesinnten in
steifleinener Majestät über den chaotisch empörten Wassern schwebt und ihnen un¬
ablässig sein schöpferisches: „Es werde Alles wie vor dem 2?. März l848 mit
soviel Errungenschaften der Regierung, als dazu nöthig sind, namentlich mit un¬
eingeschränktein Belagerungszustande" zuruft, und doch will sich noch immer nicht
wieder der friedliche idyllische Sumpf bilden, der mit seiner schönen grünen Decke
von fettem Unkraut, unter der so viele unbedenkliche Frösche gemüthlich quackten
und fett wurden, unsern Staatsweisen als beim ideal vorzuschweben scheint. Der
Reichstag ist der Janustempel, riefen die Gutgesinnten, den man schließen muß,
wenn man Frieden haben will, (gelehrte Citate werden verziehen, wenn sie durch
die betreffende Confusion unschädlich gemacht sind); der Reichstag ward geschlossen,
und keine zudringliche Jnterpellation zwingt das Ministerium, mehr, vierzehn lauge
Tage und schlaflose Nächte viiilxis natis an einer schlecht stylisirten Lüge zu ar¬
beiten; die octroyirte Verfassung ist auch nicht staatsgefährlich, da sich von selbst
versteht, daß sie uur für den exceptionellen Zustand einer partiellen und tempo¬
rären Aufhebung des normalen Belagerungszustandes und für den Fall, daß ihr
sonst kein Bedenken entgegensteht, Geltung haben kann, und doch wollen nicht
nur die ungarischen Rebellen sich noch immer uicht einverstanden damit erklären,
daß sie alle gehängt werden müssen; der lächerlichen deutschen Professoren, die im
Standrecht uicht die Blüthe menschlicher Cultur sehen wolle», gar nicht zu ge¬
denken, sondern selbst Wien, das mit einem außerordentlichen Aufwand von schwe¬
rem Geschütz den übrigen Städten der Monarchie zum Bilde umgeschaffen werden
sollte, kommt «och immer uicht in das alte Gleis zurück. Die Ruh ist hin, die
Ruh ist hin, und kehret niemals wieder! Ich meine natürlich uicht die Ruhe auf
den Straßen, denn die ist mehr als hinlänglich gesichert, sondern die Ruhe, die
vormals ans Wien das Capra der Geister machte. Ob der jetzige Zustand mit
der Zeit etwas Besseres daraus macheu wird, will ich uicht entscheiden; genug,
es ist Alles fortwährend in einer geharnischten, polemischen Stimmung gegen
wirkliche oder eingebildete Gegner; selbst wo sich noch ein Nest der alten Wiener
Gemüthlichkeit findet, hat er immer das Gefühl, daß er eine Opposition bekäm¬
pfen muß, um sich durchzusetzen, und wird darüber sehr ungemüthlich. Sehen
Sie z. B. den alten dicken Herrn da; er hat eben den letzten Bissen seiner reich¬
lichen Mahlzeit langsam auf der Zunge zergehen lassen, lehnt sich jetzt mit ver¬
klärtem Antlitz auf seinen Stuhl zurück, öffnet zu drei Knöpfen seiner weiten
Weste noch den vierten und will eben seinem Entzücken mit deu Worten Lust
Machen: Es geht doch nichts über Wiener Mehlspeis — aber halt! sitzt da nicht
am Ende irgend wo ein verfluchter Radikaler und Wühler versteckt, der das
nicht glaubt? Der Satan sollt' dem Lausbuben in den Leib fahren! Fünfund¬
zwanzig müßt' er auf der Stell kriegen und dann gehängt werden! — Kurz,
was ist zu machen, der Aerger ist da, die Indigestion ist auch da; das verhal¬
tene Entzücken über die Mehlspeise steigt in den Kopf, den alten gemüthlichen
Herrn rührt der Schlag und an alle dem ist nur der verfluchte Wühler schuld,
der seiner erhitzten Imagination vorschwebte. Freilich kommt ein solcher extremer
Fall selten vor; man hat allerlei Präservative dagegen; mau geht Bvrmittag eine
Execution zu sehen, oder wenn gerade keine ist, bespricht man die von gestern
wie einigen Gesinnungsgenossen; Nachmittags denuncirt mau ein wenig, nicht um
Geld, Gott bewahre! sondern ans reinem Patriotismus und schläft den Schlaf
der Gerechten mit dem Bewußtsein, daß man-den Tag nicht verloren hat. —
Sie glauben, ich übertreibe? Ach nein, es ist bittrer Ernst; die Leute, die
ein vernünftiges, liberales Oestreich wollen, sind jetzt mehr terrorisirt, als sie es
jemals in den Octobertagcn waren; wenn Sie die Wiener offiziellen Blätter, von
denen man doch mindestens eine gewisse verständige Sophistik verlangen könnte,
lesen, so werden Sie eine schwache Ahnung von der bestialischer Rohheit habe»,
die gegenwärtig hier das große Wort sührt. Ein Beispiel von vielen möge ge¬
nügen; ein hiesiges Blatt, ich glaube, es war die Ostdeutsche Post, hatte leise
anzudeuten gewagt, daß jetzt die Zeit der Versöhnung gekommen sein dürste; kaum
hört dies der Lloyd oder vielmehr dessen gegenwärtiger factischer Redacteur, War¬
rens, ein Abenteurer, dessen groteske Sprünge und Grimassen ungemein belusti¬
gend wären, wenn er der Hanswurst und nicht die rechte Hand des Ministeriums
wäre, so stürzt er wüthend daraus los, diese blutgierigen, wüthenden Radi¬
kalen; sie wagen sogar Versöhnung,,zu predigen! den Ultraschaudblättern wie
Geißel u. s. w. die Sie wohl schwerlich zu Gesichte bekamen, ist das aber noch
gar nicht stark genug und sie klagen hänfig genng den Lloyd und die Wiener
Zeitung eiuer verdächtigen Hinneigung zu subversive» Tendenzen an!
Der leiseste Versuch der anständigerm Blätter in irgend einer untergeordne¬
ten Frage eine schüchterne Opposition zu machen, ruft in diesen Kreisen natürlich
sogleich eine sehr entrüstete Anfrage an Gott, ob er keine rächenden Bu^e, und eine
sehr ehrfurchtsvolle an Melden, ob er keine Polizeidiener und Soldaten habe, her¬
vor. Sie können sich denken, daß die letztere Anfrage in der Regel mehr Erfolg
hat; es ist ein tragikomischer Anblick, den Leiden der armen Redacteure zuzusehen,
die aber neun Zehntel der Tagesereignisse gar nicht besprechen dürfen und es bei
dem zehnten Zehntel nnr auf die Gefahr hin thun können, ihr Blatt confiscire
zu sehen und selber eingesteckt zu werde»; Saphir bemerkte neulich sehr treffend,
als de» Exminister von Schwarzer, den Redacteur der Allgemeinen Östreichischen
Zeitung dies Schicksal wegen eines Artikels traf, der die Ueberschrift führte:
„Der Wahrheit eine Gasse" es müsse jetzt nicht mehr heißen „der Wahrheit eine
Gasse" sondern „Der Wahrheit ein Loch." Glauben Sie z. B., daß irgend
ein hiesiges Blatt es sich erlauben durste, die Erklärung, die von Goldmark in
den Grenzboten (wenn ich nicht irre, auch in andern Journalen?) abgegeben wurde,
so ruhig und gemäßigt sie auch gehalten war, z» veröffentlichen. Eine Haussu-
chung zur Ermittlung einer Konspiration, die Europa in Brand stecken will, wäre
wahrscheinlich die nächste, aber nicht die unangenehmste Folge davon. Daß nebst
einigen andern Blättern anch die Grenzboten neuerdings mit dem Interdict belegt
worden sind, wenigstens „auf hiesigem Platze" wie sich die Wiener Zeitung in
solchen Fällen auszudrücken pflegt, wissen Sie wohl schon; die Bücherballen wer¬
den zufolge neuster hoher Verordnung immer erst von einem bewaffneten Polizei-
beamten geprüft, der alles Anstößige daraus entfernt; eine traditionelle Vorliebe
für Confiscation der Grenzboten mag auch noch in unserer Polizei geschlummert
haben — kurz sie siud eins der ersten Opfer des neuen Verfahrens gewesen, denn
das 14. Heft ist nicht mehr ausgegeben; nur einige Exemplare die durch Post
kamen, sollen bereits expedirt gewesen sein, als der Befehl kam, was den Post¬
beamten einen strengen Verweis wegen Vernachlässigung des ehrwürdigen vormärz¬
lichen Schlendrians zugezogen haben soll; rei-et-i, tvlvrg.
Sie können sich denken, daß Wien uuter den gegenwärtigen Umständen kein
besonders migenehmer Aufenthalt ist; es ist eine kolossale Lächerlichkeit etwa den
Berliner Belagerungszustand mit dem Wiener gleichstellen zu wollen, wie ich mir
überhaupt vorbehalte, auf die abgeschmackte Parallelisirung östreichischer und preu¬
ßischer Zustände, die namentlich in den radicalen deutschen Blättern eine so große
Rolle spielt, bei Gelegenheit ausführlicher zurückzukommen; indessen gewöhnt man
sich am Ende an Vieles, wenn man es eben nicht ändern kann und es versteht
sich von selbst, daß die Zahl der eigentlichen Schandgesellcn von denen ich sprach, ^
verhältnißmäßig doch immer klein genng ist, daß man ihnen in den meisten Fällen
aus dem Wege gehen kaun, aber freilich muß namentlich einem Deutschen in nar-
libus inlulelium, wie Ihrem Korrespondenten manchmal die Galle überlaufen, wenn
er sie auch mit dreifachem Erze gewappnet hat; Sie finden selten einen Wiener,
der nicht Deutschland als eine natürliche Dependcnzie von Oestreich betrachtet
und ganz entrüstet ist über die Perfidie, die Lächerlichkeit, den Verrath und den
Mangel an historischen Kenntnissen bei der „preußischen Professorenpartci," die
das alles nicht einsehen will. — Nun man darf Ihnen ja wohl zu dem Klein¬
deutschen Erbkaiser gratuliren? fängt z. B. einer mit halb mitleidiger, halb
spöttischer Miene an, wenn er einen Kleindentschen, von Geburt oder Gesinnung
erspäht. — Ach nein, ich bin mit dem Titel unzufrieden; er ist in früheren Zeiten
zu sehr diöcreditirt worden. — Na, glauben Sie mir, lieber Freund, die
Herren Professoren in Frankfurt werden bald einige Saressaner, (die berüchtigten
Rothmäntel) zu fehen bekommen. — Ja, ich glaube auch, wenn die Ungarn
einige übrig lassen, wäre es eine ganz gute Spekulation, sie für Geld sehen zu
lassen; das würde den Finanzen etwas aufhelfen. Haben Sie schon die letzten
Neuigkeiten aus Ungarn gehört? - Ach, Unsinn, lauter Lügen. Sorvus!
Adieu! Der Sturm ist glücklich abgeschlagen, aber den folgenden Tag fangen
wir es wieder da an, wo wir es heute gelassen haben.
Ich habe keine sonderliche Sympathieen für die ungarische Sache, so sehr ich
das Nationalgefühl und die Tapferkeit der Magyaren anerkenne; ich kann es ihnen
nicht vergessen, daß sie an der blutigen Octoberconfusion hauptsächlich Schuld
waren, und sehe außerdem uicht ab, was bei dem gauzeu Kriege Vernünftiges
herauskommen kann, aber für derartige Konversationen sind sie äußerst nützliche
Bundesgenossen. Auch ist es ein uuleugbareö Verdienst von ihnen, daß sie einem
von den drei großen Feldherrn, mit denen Herr Lassaulx das einige Deutschland
bejchenken wollte, den Fürsten Windischgrätz, als das haben erkennen lassen, was
er wirklich ist— der hölzernste aller hölzernen Korporale, der allenfalls eine Exe-
cution, aber keine Armee zu kommandiren versteht. „Mit Rebellen unterhandle ich
nicht" sagte er, als er in Pesth eingerückt war, und, wie viele andere Leute den
Krieg mit den feigen Insurgenten für beendigt hielt. Seit der Zeit scheint er sich
aber des ehrlichen Dogberch Instruction an seine Nachtwächter zum Muster ge¬
nommen zu haben: „Wenn ihr einem Diebe begegnet, so laßt Euch ja nicht mit
ihm ein, souderu geht ihm aus dem Wege, denn wer Pech anfaßt, besudelt sich."
Seit der Zeit ist er denn anch selbst bei den Bestgefinnten in Mißkredit gerathen,
die ihm schon seit seinen geistreichen Banknotenexperimenten, durch die er Kossuth
alle Mittel zur Fortsetzung des Krieges lieferte, uicht besonders wohlwollten. Ich
hörte neulich selber einen Gutgesinnten mit vielem Behagen erzählen, der Fürst
habe sich zur Erholung von den Strapatzcn des ungarischen Feldzuges, der seiner
Konstitution nicht zusage, eine kleine ruhige Stadt zum Bombardircn ausgebeten.
Am glänzendsten hat sich seine Unfähigkeit wohl in Siebenbürgen documentirt, wo
er den siebenbürger Sachsen, einem der treuesten und tüchtigsten deutschen Volks¬
stämme Oestreichs nicht einmal die nöthigen Waffen gab, damit sie sich selber
wehren könnten, und sie so zwang, schließlich die Nüssen ins Land zu rufen, was
ihnen jetzt leider auch nichts geholfen hat; man möge sich doch in Deutschland
zweimal besinnen, ehe man den siebenbürger Sachsen, denen Deutschland doch
leider einmal uicht helfen konnte, einen Vorwurf daraus macht, daß sie in einer
Lage, in der man den Teufel selbst zu Bundesgenossen nehmen würde, zu dem
letzten Mittel griffe«, das Allssicht auf Rettung bot.
Aber kehren wir zu unsern Wienern zurück. Die Nachricht von dem Siege
Radetzky's wurde hier natürlich mit großem Entzücken aufgenommen, das sich selbst
auf den Styl des Siegesbülletins erstreckt, das allerdings eine lin-r uvis uuter
den östreichischen Erlassen, nämlich in reinem grammatischem Deutsch geschrieben
war, ich konnte mir die kleine boshafte Freude uicht versagen, einem kleinen, dicken
Mann, der von dem schönen Styl des Bulletins, das er wahrscheinlich auf Treu
und Glauben hingenommen hatte, ganz berauscht war, einige Wermuthtropfen in
den Wonuebecher zu träufeln, indem ich ihn möglichst unschuldig fragte, wer denn
der Verfasser eines Bülletins sei? — Nun, Schönhals, antwortete er, der schreibt
ja Alles, was aus Italien kommt. — Was ist Schönhals für ein Landsmann? —
Ein Schlesier; aus preußisch Schlesien, setzte er etwas verdummt hinzu, als er
merkte, daß ich weiter fragen wollte, aber bei der italienischen Armee schreiben sie
alle schön.
Durch die glänzenden Erfolge in Italien waren natürlich auch die sanguini¬
schen Hoffnungen in Bezug ans den ungarischen Krieg bedeutend gesteigert worden,
der spezifische Wiener im März ist noch eben so warmblütig und eben so fertig im
Plärren aller Schwierigkeiten wie im Oktober, er hat uur die Objecte seiner
Wunsche und Hoffnungen gewechselt. Namentlich hatte es schon lange Komorn
gegolten, das seit einiger Zeit heftig beschossen ward. „Der Melden wird hin,
und wird es stürmen, hörte man von vielen Seiten, die Kerle fechten ja ohnedies
nur noch für ihr Leben." Natürlich hatte Mancher, der da wußte, daß Komorn
gar nicht zu stürmen sei, und daß Leute sich in der Regel für ihr Leben besser
schlagen, als sür fünf Kreuzer Münz und gelegentliche Fünfundzwanzig, noch einige
bescheidene Zweifel an dem glücklichen Erfolg der Welden'schen Mission; indessen
that man wohl, sie nicht zu äußern. Wie vorauszusehen war, kehrte er den fol¬
genden Tag bereits zurück; er hatte gefunden, was er suchte: den Stoff zu eiuer
prächtigen Proklamation, der ihm hier nach Erschöpfung der Attentate ausgegangen
war. „Der Fink hat wieder Samen, dem Herrn sei Lob und Preis!" wie Eber¬
hard der Greiner in Uhlandö Liedern ruft. Wir bekäme» denn auch sogleich das
neueste Erzeugniß seiner Muse zu lesen, in welchem er erklärt, daß er auf Comorn
schießen werde, so lauge er noch Pulver und Soldaten habe, und daß Gott ihm
dabei helfen werde. Unsere gemüthlichen Sanguiniker wußten indessen auch hier
wieder Nath. „Laß die Schufte in dem ungesunden Loch filzen, bis sie aussterben"
hieß es jetzt, ein Argument, gegen das sich allerdings um so weniger einwenden
läßt, da keine Frauen in der Festung sind, mithin an eine Fortpflanzung der Be¬
satzung nicht zu denken ist.
Doch genug und übergenug des Geredes; wenn Sie mir sagen, daß ich un¬
gerecht gegen die Wiener bin, so werde ich nichts Erhebliches dagegen einwenden
können; es ist eben nur ein Beleg für meine Behauptung, daß gegenwärtig Jeder¬
mann hier gegen Andersdenkende in einer bissigen und gereizten Stimmung ist;
hoffentlich kommen wieder einmal Zeiten, in denen man lachen kann, ohne sich
zu ärgern.
Vom Ministerium hört mau gegenwärtig Nichts; nur dann und wann erschallt
ein vereinzelter Wehruf aus der Provinz, wo es zuweilen im Wege der Verord¬
nung in einen journalistischen Schafstall einbrii^ und einen oder den andern Zei¬
tungsschreiber, am liebsten einen verheiratheten assentirt, d. h. unter die Soldaten
steckt; im Uebrigen läßt es die Damoklcsbande des Belagerungszustandes — ge¬
statten Sie mir die zeitgemäße Variante im Bilde vom Damoklesschwert, das nun
einmal in einem ächten Wiener Aufsatz nicht fehlen darf — über den Häuptern
aller derjenigen Städte schweben, die sich nicht selber genug belagern.
'
?. 8. Eben höre ich die Schauergeschichten aus Brcfeia. Wie soll das enden?
Sicher hat Wien, so lange es steht, noch kein so seltsames Frühjahr erlebt,
als heuer. Alles fühlt sich schauderhaft unbehaglich, der Prater sieht ans wie
gerupft, auf dem Glacis ist's unheimlich, unheimlich sogar in den Trinkstuben,
Man spricht schon wieder leise zu einander, so mit einem gewissen Flüstern und>
Augenzwinkern, wie ehemals, und wittert in jedem fremden Gesicht mit Kalbs¬
augen und einer spitzen Nase den Naderer. Selbst der Wein schmeckt dies Jahr
wie Krätzer. Man hat keine Freude an seiner Umgebung, keine Hoffnung sür
die Zukunft, kein Vertrauen zur eigenen Kraft. Unsere einzige politische Nah¬
rung sind die Berichte von den Kriegsschauplätzen und da schwanken wir auch
wie Buridans Esel zwischen den Heubündeln Italien und Ungarn, oder besser,
wie das Zünglein einer Waage zwischen freudiger Hohe und er'auriaer Tiefe. In
Italien Sieg über Sieg, i» Ungarn Verlust über Verlust. Ich'wünschte Sie
eine Stunde in mein Caso an der Brücke neben mich, zur Rechten triumphirt
ein starker Herr über die Bülletins von Haß und Schönhals, zur Linken murmelt
ein junger Mann mit sehr akademischen Gesicht Vivat Bein, Vivat Dembinski.
Ich in der Mitte habe keine Freude an keiner Nachricht. Freunde über der
Grenze, wohin sind wir gekommen? Diese Kriege verwandeln die Menschen in
Bestien, vernichten Rechtsgefühl, Sitte, Menschlichkeit auf empörende Weise; das
ist kein Kampf großer Gewalten, es ist ein gemeines Metzeln, Menschenblut fließt
wie Wasser und die Sieger treten in wildem Taumel aus den Leichen der Ge-
tödteten herum. In Italien haben wir das Ende des Kampfes nicht anders er¬
wartet. Wer die Italiener kennt und den Aufstand des vorigen Jahres unter
ihnen erlebt hat, kann eine tiefe Verachtung vor diesem phantastischen Geschlecht
nicht verwinden. Sie sind in der Politik nichts als große Earrikatnrcn ungezoge¬
ner Kinderseelen. Jähzornig, wüthend wie Thiere im Augenblick der Aufregung
und bei dein Widerstand fester Kraft gleich darauf feige und verzweifelt. Das
Leben wird ihnen leicht, anch die Revolutionen sind ihnen ein Spiel. An bom¬
bastischer Phrasen sich berauschen, mit eitlem Flitterstaat von Monturen in bril¬
lanten Attitüoeu sich sprechen, ihre Feinde mit feinem Raffinement ärgern und
quälen, das ist ihre Stärke. Nur ein großes Gefühl haben sie, und leider,
leider ist das Haß gegen uns, gegen Oestreich! Ein fanatischer, abstracter Haß,
eine sehr rohe Empfindung, denn in ganz Italien werden Sie nicht hundert Män¬
ner finden, die Ihnen sagen können, weshalb sie Oestreich zu hasse» berechtigt
sind; Feinde der Freiheit, das ist Alles, was mau Ihnen zu sage» weiß; was
aber ihre Freiheit ist, das können sie Ihnen nicht erklären, ohne das albernste Zeug
zu schwatzen. Und doch hat dieser Haß — Dank unseren Ministern jetzt wie¬
der eine Berechtigung gewonnen. Denn Oestreichs Protektorat ist für Italien
kein Glück mehr, welches zu freier Entwickelung der Volkskraft führen kann. So
weit sind wir gekommen, daß wir den Italienern in Wahrheit Tyrannen sein
müssen. Das Detail des Krieges kennen Sie ans den Zeitungen, die Eroberung
Brescia's war das Furchtbarste/ was in dieser blutdürstigen Zeit geschehen ist, selbst
aus den officiellen Berichte» sieht das Gränse» heraus. —'Wenn „unser" Melden den
Oberbefehl über die ungarische Armee übernimmt, so sind wir schwerlich gebessert, auch er
hat das Feldherrntalent, welches wir in Ungarn brauchen, große Combinationskraft,
noch nicht bewährt. Habe» Sie gelcse», daß der junge Esterhazy in Comvrn uuter
den eingeschlossene» Magyaren befehligt und sein Vater der belagernden Armee 180
Fässer 'Wein zur Ermuthigung sendet? — Das ist ein Bild unseres zerrissenen
Lebens, Sohn gegen Vater, Bruder gegen Bruder; das Heiligthum des Fami¬
lienlebens ist durch vergossenes Blut entweiht und die Erynnien sitze» ihre Schlan-
Wie vor den Märztagen sich die aufrichtigen Freunde des Vaterlandes in de»
Grenzboten aussprechen und besonders wieder nach den Maitagen des v. I., als der
politische Himmel Oestreichs sich mit gewitterschwangern Wolken umdnsterte, die Ruhig¬
denkenden dort über unsere Zustände äußerten — so senden alle Wohlmeinenden auch jetzt
wieder ihre Wünsche dahin, aus daß die lieben Grenzboten sie friedlich wieder herein¬
bringen und ohne Furcht — aber auch sine irn et «tuclio! — unsere Zustände be¬
sprechen. Ist einmal der ärgste Druck der Reaction vorüber, legen sich die Stürme
nach außen, hören Militärherrschaft und Belagerungszustand aus, so werden auch Licht
und Recht und Wahrheit mit der innern Ruhe bei uns einziehen und die Freiheit wird
ihre verfallene Hütte wieder aufsuchen und wohnlich einrichten — denn die Elemente sind gut
und der bessere, d. h. gesunde Sinn noch immer so vorherrschend, daß weder die Gewalt
noch auf lange bestehen, noch der tolle Frciheitstaumel mehr die Oberhand gewinnen kann.
Grätz ist. zwar nicht förmlich in Belagerungszustand erklärt, aber der mit Pallisade»
versehene und mit Kanonen bespickte Schloßberg lassen uns das Bild eines solchen scheuen
und kühlen jeden solchen Taumel, wenn er sich regen würde. Auch mehrere Platz-
commandantcn in Landstädten erinnern durch militärische Amtirung uns an die bewegte
Vergangenheit, besonders an der östlichen Landesgrenze. Diese indirekten Drohungen
bringeir das Unzukömmliche mit sich, daß nicht einmal die Freude sich frei äußern
darf, daß man z. B. neben der wirtlichen Freude über die Züchtigung des Sardenkö-
nigs auch eine obligate oder amtliche Freude haben muß, wodurch die gute Sache oft
lächerlich wird. Jedermann wünscht z. B. die endliche friedliche oder siegreiche Lösung
der ungarischen Wirren, aber zu äußern getraut sich Niemand darüber, um nicht mi߬
verstanden zu werden.
, Der Adel, der viel, die Herrschaften, die Alles verloren, verhalten sich ruhig.
Die Entschädigung der Letzter» ist ausgesprochen, aber mager! Die Landstände, welche
nächstens in ihrer neuen Gestalt auftreten und handeln sollen, haben sich auch bereits
in's Unvermeidliche ergeben. Eigentlich gewinnt nur der Bauer, der Landbewohner
und der Bürger insoferne, als besondere Lokalumständc ihn begünstigen werden. Un¬
bedingt verloren hat das Beamtenthum, eine in Oestreich wichtig gewordene Klasse!
Sein Uebermuth ist gebrochen, allein in den letzten Zuckungen gebärdet es sich noch
bureaukratisch. Die Kosten der ständischen Staats-Privat-Gcsellschafs-Gemeinde n. s. w.
Beamten hören aus und der Staat übernimmt mit der Gerichtsbarkeit und Geschäfts-
vberleitung die Kosten der Amtirung, deren Probe eben Steiermark zuerst machen soll.
Alles freut sich auf die neue Ordnung der Dinge, die schönsten Hoffnungen er¬
blühen — aber lange dürste es noch dauern, bis der eigentliche Kastengeist verschwinden
und zwischen den Einzelnen solche Cameradschast herrschen wird, wie z. B. in unserer
Armee, bis der Unterschied zwischen Form und Wesenheit Allen klar wird und der Zeit¬
geist in das Fleisch und Blut übergeht, bis der Buchstabe nicht mehr höher geachtet
werden wird, als der Geist und bis die Geheimniß- und Wichtigkcitskrämereicn in ihr
Nichts zerfallen werden. Großen Einfluß nimmt natürlich ein tüchtiger und geachteter
Borsteher. Gegenwärtig haben wir gar keinen Landcschcs; Jedermann sieht übrigens
die Entfernung Wikenburgs, der die Provinz in den schwierigsten Tagen leitete, sie seit
58 Jahren leitete, dem Kaiserhause treu ergeben war, seinem Dienste und dem Lande
Vermögen und Gesundheit zum Opfer brachte, als Ungerechtigkeit an. Hat er je mit
weniger Strenge gehandelt, so überwiegen seine Verdienste und Opfer (die Bildung
steiermärkischen Freischützencorps allein) dies längst und vielmal. Die aber zu seinem
Fall beitrugen, mögen kaum oft würdig sein, ihm die Schuhriemen auszulösen. Bei
den Perser wurde übrigens Undankbarkeit als Verbrechen bestraft, ein Glück Vieler,
daß deren Gesetze nicht mehr gelten!!
^ Auf dem Lande haben hier weder die März- noch Mai- noch Oetobertage — we¬
der die neue Verfassung noch die Menge der nachfolgenden provisorischen Gesetze große
Sensation gemacht und was man darüber liest, ist leerer Zeitungslärm oder Großspre¬
cherei mancher Kleinstädter. Man ist hier einmal noch zu Nichts reif gewesen und noch
Nicht reif: es zeigen dies deutlich genug, doch die Wahlen zum deutschen und östreichi¬
schen Reichstage, die Gleichgültigkeit bei den wichtigsten Ereignissen, die wenige Theil¬
nahme an öffentlichen Verhandlungen und dergleichen, und diese politische Unmündigkeit
erklärt sich auch leicht durch den bekannten und sichtbaren Mangel jeder politischen und
jeder Vorbildung.
Sogar die Zeitungslektüre ist im Ganzen schwach und Steiermark nur durch wenig
Blätter vertreten. Die Grätzer Zeitung, unstreitig eines der besten Provinzialblätter
in Oestreich, seit Schreiner ihr v. I. neues Leben eingehaucht, und Schulheim sie nun
mit Umsicht leitet, bringt das Neueste schnell und liefert geistreiche Aufsätze, nur wird
sie (als zugleich offizielles Blatt) oft zu legal — immerhin bleibt sie zwischen den zwei
Ultra's „Schnellpost" und „Herold" unser liebstes Blatt. Viele Blätter wird jetzt
der prcßgesetzliche Märzwind verwehen — wenn nur der Rest was Gutes liefert!
Die Rekrutirung ging allseits im Lande ohne Anstand vor sich — nicht, so die
Loosung selbst, die jedoch auch wieder nach „den Zopfe" gepflogen wurde. Auch da
fehlt wieder die Vorbildung. So lange man noch den Bauernburschen mit „dem weißen
Rocke" als Strafe droht, compromittirte Studenten zur Strafe «,6 militiiui, abstellt,
die Mißbräuche in der Armee fortbestehen läßt, das Militär als Gegensatz zum Civile
betrachtet und behandelt u. s. w. darf man weder Liebe noch Eifer zu diesem Stande
erwarten, obwohl der Zudrang außerordentlich ist. Die Wenigsten bestimmt dazu die
gute Sache selbst, sondern trotz der Neuheit, Hoffnung nach Ruhm, wenig Aussicht im
bürgerlichen, und noch weniger im Geschäftsleben.
Wie lange und wie viel muß uns noch die Zukunft heranbilden, bis wir tauglich
sind, mitzusprechen in den großen Angelegenheiten des Vaterlandes, als das wir noch
Unter den Preußen, welche als Mitglieder der Nationalversammlung zu Frankfurt
nicht für die Uebertragung der deutschen Kaiserkrone aus den König von Preußen
gestimmt haben, steht auch der Name: „Kahlert"; als schlesischer Deputirter. Irr¬
tümlicher Weise hat man hier und da den Professor der Aesthetik, Dr. August Kah¬
lert, an der Breslauer Universität, dafür gehalten. Dagegen protestiren die Grenz¬
boten. Der Professor Kahlert ist ein werther Bekannter von uns, ein wohlwollender
und treuherziger Leser der Grenzboten. Wie sollte der solch dummes Zeug machen?
Jener Deputirte Kahlert aber ist ein ganz anderer, seinem Zeichen nach Oberlehrer am
kath. Gymnasium zu Leobschütz in Oberschlesien. Wir benützen diese kleine Berichtigung,
um dem Breslauer Kahlert einen Gruß und unseren Freunden in Schlesien die höfliche
Bemerkung zu senden, daß gerade Schlesien sich das Vergnügen gemacht hatte, neben
wenigen tüchtigen Kräften recht viele Hanswurste nach Frankfurt zu schicke». Die
Schlesier gelten für ein aufgewecktes und spaßhaftes Geschlecht; wollten sie durch solche
liebenswürdige Karrikaturen wie Schlosse!, Rösler von Oels und Konsorten für die
gute Laune der Nationalversammlung sorgen? Wir trauen ihnen allerdings diese
Schelmerei zu, aber der Spaß ging zu weit und dauerte zu lange.
Es ist eine eigenthümliche Erscheinung des deutschen Lebens, daß die kleinen
Städte vermöge der iimerhcilb ihrer Mauern vereinigten Geisteskräfte einen be¬
deutenden Einfluß auf den Entwicklungsgang unserer Bildung ausgeübt haben.
Berlin nennt sich zwar die Metropole der Wissenschaft, allein wie es im vorigen
Jahrhunderte Weimar, so dürfte es gegenwärtig Heidelberg um die Bedeutung zu
beneiden haben, welche dieser kleine Ort dnrch seine während der Revolutionszeit
gespickte Rolle für die Geschichte des Gcsammtvaterlandes gewonnen hat. Daß
der Grund dieser Erscheinung ursprünglich in dem mehr oder weniger zufälligen
Aufenthalte einer oder einiger mächtigen Persönlichkeiten liegt, versteht sich von
selbst; vou vorneherein sollte man aber weit mehr berechtigt sein, anzunehmen,
daß entweder eine solche Individualität viel zu hoch über die engere Ringmauer
emporragte, viel zu sehr der Gesammtheit angehöre, um noch ihrer unmittelbaren
Umgebung ein besonderes Gepräge auszudrücken, oder eher in dem Zusammenstoße
eines vou allen Seiten hervorragenden geistigen wie materiellen Gebietes anzu¬
treffen sei, wo zur Ausmeißelnng ihres Selbst wie zum gestaltenden Eingreifen
in die äußeren Verhältnisse die Gelegenheiten näher an sie herangerückt sind. Aber
wie das Talent sich in der Stille bildet, so scheint gleichfalls wenigstens beim
Deutschen der Charakter zu seiner vollendeten Entfaltung der persönlichen Znrück-
Hezogenheit zu bedürfen. Vielleicht auch, daß ihm jene mehr ländliche Existenz
Noth thut, wie sie sich in einem kleinen schon gelegenen Orte von selbst ergibt,
^rbnndeu mit dem innigeren rückhaltloseren Austausch der verschiedenen Wesen¬
heiten, welcher in seiner widrigsten Form mit Recht als Kleinstädtern verspottet
^ird, vom Geiste getragen aber zu einem alle Kräfte anregenden Jneinanderleben,
genußreichsteu Dasein führt. Der Deutsche muß nicht uur in seinem Hause
Familie, sondern auch um dasselbe als erweiterte Familie einen Kreis von
Freunden haben, als feste Lebensburg, von welcher aus er erst auf die Heerstraße
Oeffentlichkeit zu treten wagt und in die er sich jeden Augenblick zurückzuzie¬
hen vermag, sobald er sich von deu Mühseligkeiten da draußen ausruhen will.
Zu verkennen ist es freilich keinen Augenblick, daß zu der politischen Rolle,
welche Heidelberg während der zwei letzten Jahre gespielt hat, das constitutionelle
Leben Badens die erste Grundlage bildet. In diesem äußersten Winkel Deutsch¬
lands hatte sich ein Nest politischer Freiheit erhalte« und nur in dem Liberalismus
Niles Sondcrstaateö vermochte der Keim der deutschen Einheitsbewegung seine er-
sten nachhaltigen Wurzeln zu treiben. Das noch aus deu dreißiger Jahre« her-
G
stammende badische Preßgesetz war die conäitio sine qu-r von der „Deutschen Zei¬
tung", ihre Entstehung aber und ihr ganz individueller Charakter ist allem aus
dem glücklichen Zusammentreffen einiger eng befreundeter Männer herzuleiten.
Den äußeren Thatsachen nach ist zwar dieses Blatt auf einer im Herbst 1846
stattfindenden Besprechung einer Anzahl Ständemitgliedcr ans den verschiedenen
Ländern über die Lage des Gesammtvaterlaudes, welcher sich verschiedene andere
angesehne Publicisten anschlössen, zuerst „erdacht" worden, d. h. das Bedürfniß
nach einem unabhängigen, in's Gewicht fallenden Organe stellte sich als zu dringend
heraus, als daß man nicht ans seine Befriedigung hätte hinarbeiten müssen, und
dem Anscheine nach fanden sich auch dazu eine hinreichende Menge geeigneter
Kräfte. Allein während Gervinus ernstlich zur Verwirklichung des gefaßten
Gedankens schritt, zeigte es sich nnr zu bald, wie er in seinem ersten leitenden Artikel
schreibt, „daß der wirklich tüchtigen activen Kräfte in Deutschland noch viel zu
wenige sind, daß die vielen Passiver weder den Begriff noch die Neigung einer
Parteistellung haben, daß die Meisten auch der Gleichgesinnten und Fähigen sich
wohl ein Blatt in ihrem Sinne gefallen lassen, aber Nichts dazu thun wollen."
Obgleich es bei den immer drohender heranziehenden Gewitterwolken so dringend
Noth that, sich zu einer festgeschlossenen Partei zu organisiren, obgleich es die
höchste Zeit war, fortan „nicht mehr die Schicksale des Vaterlandes dem blinden
Zufalle und der blinden Leidenschaft preiszugeben", fehlte doch so Mancher der
beschlossenen That.
So wurde denn die „Deutsche Zeitung" recht eigentlich ein Heidelberger
Kind. Mit wenigen Ausnahmen waren es Gervinus nächste Freunde aus seiner
unmittelbarsten Umgebung, ein Vangerow, ein Herle, ein Pfeufser, welche
durch ihre Geldmittel den Anfang des Unternehmens möglich machten. Da ihm
dieser Freundeskreis das Blatt ohne alle weitere Bedingung übergab, konnte er
demselben jenes individuelle Gepräge aufdrücken, jene unerschütterliche Konsequenz
erhalten, welche es nach kurzer Zeit seines Bestandes zum ersten Journal Deutsch¬
lands emporhob. Gervinus ist eine freie, edle Natur, ein harmonisch in sich
vollendeter Mensch, wie es auf dieser Stufe geistiger Ausbildung wohl schwerlich
in Deutschland zum zweite» Male angetroffen wird. Er gehört zu den wenigen
Sterblichen, denen es der erste Blick ansieht, daß sie nie einer niederen Leiden¬
schaft gestöhnt haben und daß selbst die gewöhnlichen kleinen Genüsse — los vitio»
muimres wie sie der feine Castilianer nennt — ihnen als nicht der Beachtung
werth fremd geblieben sind. Man kann ein äußerst tüchtiges geistvolles Mitglied
der menschlichen Gesellschaft sein und doch lieber besser als gut essen oder eine
Upman, als eine Cumanacoa rauchen, man kann der beste Gatte, der liebens¬
würdigste Familienvater sein und dessenungeachtet „unter uns" hie und da in aller
Breite ein Gespräch sichren, dem weder Gattin noch Tochter beiwohnen dürfte;
einen durchweg edlen Menschen legt aber ein unmittelbares Gefühl in uns, keine
solche Liebhabereien bei. Gervinus mit einer Cigarre im Munde oder was ihm
sein etwas materieller Arzt zur Erheiterung oft angerathen soll, mit Behagen
hinter der Flasche, würde aufhören, Gervinus zu sein. Jene Lcbeusjungfräulich-
keit, wie sie dem Weibe uicht selten eigen ist, welche selbst ohne mit höheren
Eigenschaften gepaart zu sein, schon an und für sich jeder fremden Rohheit Ach¬
tung einflößt, verschmilzt bei ihm mit der Fülle des männlichen Geistes und dem
sittlichen Ernste des Willens zu einer Erscheinung, an welcher seine in der Wis¬
senschaft kaum weniger berühmten Freunde in Verehrung hinaufsehen und vor der
selbst die specifisch Heidelbergische unübertreffliche geistvolle Frivolität der Unter¬
haltung verstummt. Seine äußere Gestalt entspricht dabei seiner Wesenheit vollstän¬
dig. Gervinus ist groß, wohlgebaut, aber mit einer etwas weichen, schüchternen
Haltung, sein Schritt drückt uicht fest den Boden, es liegt kein besonderes Mail
in diesem Körper; imponirend an ihm ist nur der in schönen Formen fein aus¬
gemeißelte Kopf, aus dessen Physiognomie sogleich die ganze Mannigfaltigkeit des
hinter ihm wohnenden Gedankenreichthums heraustritt, wenn schon man in dem¬
selben vergebens nach einem hervorstechenden Charakterzug späht. Die Wucht der
Stirn drückt zwar um die Mundwinkel ein leichtes Lächeln; dasselbe deutet aber
weder auf Spott noch verbitterte Schärfe. Innere Kämpfe, wilde Gedankenschlach¬
ten sind nicht über das Gesicht hingezogen, seine Harmonie scheint angeboren,
nicht errungen, wie überhaupt von Künstlicher, Gemachtem, oder gar Ostentativen
bei ihm keine Rede ist. Vielmehr will es dem unbekannten Beobachter zuweilen
bedünken, als sähe Gervinus dem Leben nnr zu, als lebe er selbst nicht mit, so
abgeschlossen und fremd steht er dem gewöhnlichen Treiben der andern Menschen
gegenüber. Wenn ihn die Umstände nicht zum Sprechen zwingen, so läßt er ge¬
wiß auch kein Wort fallen. Dieses Anfichhalten ist aber in keiner Weise mit
CamphansenS abstoßendem Zngcknöpftsein oder der lauernden, jede Blöße verdecken¬
den Glätte des Herrn von Nadowitz zu vergleichen; es entspringt ans einem fei¬
nen ästhetischen Wesen, das, um nicht von Außen verletzt zu werden, sich ilei'er
selbst zurückzieht, als mit einer irritabilen Kraft den Anbringung abweist.
Daß eine solche Natur, im steten Kampfe mit einem nervösen, sast schwind¬
süchtiger Körper, nicht zu einer gewaltigen That geschaffen ist, versteht sich von
selbst. Parteiführer im eigentlichsten Sinne des Wortes ans der Tribüne, wie
auf der Gasse, wenn auch nur nach Art englischer Staatsmänner, zu sein, muß
ihr schon an und für sich unmöglich fallen, abgesehen davon, daß Gervinus auch
während seiner Docentenlaufbahn kaum das kleinste Auditorium zu beherrschen im
Stande war. Die Stube ist allein ihr Reich, allein die Feder ihre Waffe; in
einem Parlamente mußte sie verstummen. Aber trotzdem, daß Rosenkranz Gervi¬
nus nächst Schlosser, „dem Superlativ der Belesenheit," den am meisten belesenen
Gelehrten Deutschlands nennt, hat er von dem specifisch deutschen Prvfessorenwe-
sm keinen Pulsschlag in sich. Der Mann , der die Geschichte der gesammten
deutschen Literatur geschrieben, hat in seinem einfachen, mir dnrch den bekannten
wunderschönen Blick in das Neckarthal ausgezeichneten Zimmer keinen Bücherschrank,
ja im eigentlichen Sinne des Wortes kein Buch, geschweige einen Folianten um
sich her, jener „Apparat" ist bei ihm nirgends zu entdecken. In solchen großen
lustigen Räumen kann keine staubige „Schreiberseele" wohnen, von welcher der
berühmte Rheincorrcspondcnt der Frankfurter „Deutschen Zeitung" spricht; kehrt
auch Deutschlands alte staubige Zeit zurück, und wühlen unsere Gelehrten wieder
mit Wollust in Sanscrit und Keilschrift umher — hier kehrt keine Schreiberseele ein.
Ob jedoch Gervinus, nachdem seine Pläne für Deutschlands Neugestaltung
gescheitert siud, festhalten wird an der deutsche» Sache, ist eine Frage, die sich
nicht so schnell mit ja! beantworten läßt. Seine jetzige politische Periode ist wie
seine literaturhistorische, ein Stufengang seiner eigenen inneren Vollendung. Auf
seinem Wege zum Ziele, dem harmonischen höchsten Ausbau seines Selbst, mußte
er, nachdem er die critische ästhetische Zeit des deutschen Bildungsganges in sich
mit seinem großen Werke beantwortet hatte, auch seinerseits auf die Staatsfragen
hingewiesen werden, sobald sich die Ansätze zu einer besseren Gestaltung unseres
öffentlichen Lebens nachhaltig wieder zu zeigen begannen. Sein unmittelbares
Eingreifen in dieselben ist nichts als ein Act der Reflexion, daß der Mann sei¬
nem Vaterlande nicht fehlen dürfe, selbstbewußt ausgesprochen in dem Programme
der „Deutschen Zeitung." Persönlichen staatsmännischen Ehrgeiz darf man nicht
dahinter suchen; pro virili zmitv wollte er wirken; in der richtigen Abschätzung
seiner Kräfte würde er aber eben so gewiß ein Rcichspvrtefeuille abgelehnt ha¬
ben, wie er sich weigerte, Gagerns Nachfolger in Darmstadt zu werden. Ob
Gervinus fortan sich noch die Mühe geben wird, am Stein des Sisyphus zu
wälzen.....der oben erwähnte Nheincorrcspondent, - sein jetziges Journa¬
listenzeichen — meinte zwar vorigen Winter einmal, daß dein Allscheine nach uur
eine Republik die Hindernisse der deutschen Einheit beseitigen könne; aber Gervi¬
nus als praktischer Republikaner, Wühler von Profession auf Volksversammlungen
und Wahlbesprechnngen! Das so eben in ziemlich unausgefüllten Kvntvuren um-
rissene Charakterbild von Gervinus ist zum innern Verständniß der zwei ersten
Jahrgänge der „Deutschen Zeitung" durchaus nöthig. Ob dasselbe überall ähn¬
lich ist, kann nur von den nächsten Freunden des Betheiligten entschieden werden;
dem ferner Stehenden ist nach und nach dieser Eindruck aus einem leidenschaftlichen
Hasse erwachsen, den zuerst die hohe, vornehm ruhige abgeschlossene Natur in ihm
hervorgerufen hatte.
Aber noch eine zweite Persönlichkeit muß hier berührt werden, welche in je¬
nes Blatt auch einen Theil ihrer Wesenheit abgelagert hat. Während Höslen,
Mathy und hie und da auch Mittermayer an der Zeitung gleich jedem an¬
dern Korrespondenten arbeiteten, erhielt sie nämlich durch Hauffer eine zweite
scharf ausgeprägte Richtung, gleichsam die Ergänzung der Gervinus'schen Jndi-
vidualität, das Jrritabile wenn man es recht verstehen will, die Polemik. Hauffer
ist in vieler Beziehung das gerade Gegentheil seines älteren Freundes. Hat die¬
ser den particnlaristischcn StammtypnS bis auf das weiche hessische K. in der Aus¬
sprache gänzlich abgestreift, so ist an Hauffer jeder Zoll: „Palzer"; er „lebt nach
Außen," wie Gervinus nach Innen, „doch sein Aeußeres", um den Heinischen
Vers fortzusetzen, „ist entzückend, ist bezaubernd." Was Geist, unerschöpflicher
Witz, Lebenslust dem Umgange an Neiz nur irgend zu bieten vermag, findet sich
in ihm vereint; es ist das die leichte Decke einer i» bewnndernngswürdigeiu Ge¬
dächtniß gründenden Tiefe historischer Bildung und politischer Anschauung, aber
zugleich das Erkennungszeichen, daß ein solches Naturell zum ans sich hinaus
Gehen, zur That hingewiesen ist. Hauffer ist bei einem großen organisatorischen
Talente, einer beneidenswerthen Arbeitskraft und Schnelle zum parlamentarischen
Leben wie geschaffen; dabei besitzt er nicht die weichliche Sensibilität von Gervinus
und wird so in seinem noch reich vor ihm liegenden Leben weit mehr unmittelbare
Wirkungen hervorbringen, als jener; wenn er auch vielleicht nicht die ruhige Höhe
der Innerlichkeit erreicht. Denn sein Element rst der Kampf, Körper und Geist sind
bei ihm dazu gerüstet. Verkennen läßt sich jedoch keinesweges, daß der nahe tägliche
Verkehr mit Gervinus Hauffer's rasches leidenschaftlicheres Wesen eher, als eS
sich vielleicht sonst im selbstständigen Entwickelungsgange in die für das staatsmän-
nische Gleichgewicht nothwendigen Schranken geleitet hätte, von der Negation zur
Position übergeführt, die schöpferische Seite in ihm geweckt hat. Seine Stellung
an der „Deutschen Zeitung" ist für ihn eine Abklänmgöperiode seiner historischen
Anschauungen gewesen, dem seine jetzige Mitgliedschaft der zweiten badischen Kam-
wer als treffliche practische Schule nachfolgt. Zu seinem vielseitigen Talente und
Wissen wird sich die Erfahrung der täglichen Wirklichkeit gesellen, und Deutsch¬
land an ihm in seiner Reife einen ganzen Mann finden. Wie hoch eine solche Persön¬
lichkeit für ein Blatt zu schätzen sein mußte, das mit allen nur möglichen Hindernissen
bis zu den jämmerlichstell technischen Schwierigkeiten hinunter zu kämpfen hatte,
i'edcirf keiner weiteren Auseinandersetzung. Jene feine schneidende Malice der
"Deutschen Zeitung", ihr scharfer Blick für unangenehme persönliche Blößen ans
der Gegenwart und Vergangenheit, ihre stete Schlagfertigkeit ist Hauffer's Werk.
Vlittersdvrf und Nadowitz haben mit so vielen Andern für die richtige Würdigung
ihres moralischen Werthes sich bei ihm zu bedanken.
Es kaun hier nicht in unserer Absicht liegen, wenn auch uur oberflächlich
eine Geschichte der „Deutschen Zeitung" während ihrer Heidelberger Periode zu
geben. Ihre Nedactionsgchcimiiisse sind niemals laut geworden und ihre äußere
Politik ist ja Jedermann bekannt, der sich die Mühe gegeben hat, sie zu lesen,
^ur auf ihre unterschiedlichen Eigenschaften in der deutschen Journalistik und
"uf ihr Verhältniß zu der Kaiserfrage soll ein kurzer Blick geworfen werden.
Die „Deutsche Zeitung" war durch und durch ein staatsmännisches Blatt.
Es lag ihr Nichts daran, eine Neuigkeit ein paar Stunden oder einen Tag ihrem
Publikum eher, aber Alles, sie im rechten Lichte zu bringen. Die Grenzboten
haben einst in einer leider nicht fortgesetzten Rundschau des deutschen Zeitungs¬
wesen von ihr gesagt, daß die von ihr gegebenen Thatsachen nur gleichsam die
Musterstücke der im leitenden Artikel enthaltenen politischen Regeln gewesen seien.
Der Gedanke ist sehr glücklich ausgedrückt. Ein zufällig im Texte stehen geblie¬
bener principieller Widerspruch, über den „<.!>« Fvuvri»! ren,^-" scifenglatt hiu-
wegschlüpfte, verursachte der Redaction peinliche Gefühle, ein Correspondent, der
desavvuut werden mußte, galt ihr für eine Blöße. Sie hat daher auch mit
jenem gewöhnlichen Correspondentenschwarm nie etwas zu thun gehabt. Die ari¬
stokratische „Hofrathszeituug" wollte Nichts mit deu Schreibern von Profession zu
schaffen haben, welche sich mit derselben Geläufigkeit über jedweden Gegenstand
verbreiten, weil sie vou keinem etwas Ordentliches wissen, die mit derselben Leich¬
tigkeit von der Beurtheilung literarischer und ästhetischer Leistungen zur Beant¬
wortung der schwierigsten Fragen auswärtiger Dynasten- wie Handelspolitik über¬
gehe», und von denen nicht Wenige jeglicher staatsmänuischcr Bildung baar im
Frankfurter Parlament — Alles durch die bloße Geschwindigkeit — den kläglichen
Ausgang der deutschen Wiedergeburt verschuldet habe». Daher der in andern
Blättern sich Luft machende Neid abgewiesener TageSschwätzcr, die Rache der vom
Liberalismus lebenden Federn; denn unsere gewöhnliche Presse wird von einer
Sorte Menschen versehen, daß man den Diplomaten ihre gewöhnliche Verachtung
derselben nicht verargen kann. —
Allein dieser große Vortheil, welcher der „Deutschen Zeitung" durch ihre fast
nur in den höheren politischen Kreisen sich bewegenden Mitarbeiter erwuchs, schloß
ans der andern Seite eine nicht unbedeutende Gefahr in sich, an welcher sie denn
zum Theil, d. h. in ihrer Heidelberger Gestalt zu Grunde gegangen ist. Ihr
Anhang war nämlich noch nicht scharf genug gesichtet gewesen, oder was vielleicht
eben so richtig sein dürste, der Deutsche ist nicht fähig, einer Sache, einem Plane
des Verstandes gegenüber seine Individualität, sein Gefühl unterzuordnen. Daher,
als nach den Märztagen die Partei der „Deutschen Zeitung" recht eigentlich zur
Herrschaft kam, als, wie man hört, ni.le weniger denn zehn von ihren bisherige»
Correspondenten deutsche Minister, beziehuugswctsc NeichSmiuistcr geworden waren,
zersplitterte sie theils, theils brachte sie in ihren einzelnen Gliedern dies Blatt
in eine gänzlich schiefe Stellung zu der Revolution. Man hat nicht mit Unrecht
den süddeutschen Constitutionellen deu Vorwurf gemacht, daß sie, aus Furcht vor
deu demoralisirten Republikanern ihrer Staaten, der Reaction viel zu früh Vor¬
schub geleistet, viel zu wenig die sittliche Kraft des demokratischen Nordens gekannt
hätten. Die-„Deutsche Zeitung" trägt einen nicht geringen Theil dieser Schuld,
aber weniger in ihrer Redaction, als in einzelnen ihrer selbstsüchtigen Korrespon¬
denten. Gervinus ästhetischer Natur war zwar auch das wahnsinnige Treiben der
Rothen in der tiefsten Seele zuwider, aber sein Charakter war nach der Revolu-
tion derselbe geblieben. Er stieß nur deswegen jenen politischen Cancan mit dem
Fuße von sich, weil in demselben eben so gar kein Ansatzpunkt für seine gro߬
artigen Pläne lag, ohne zu bedenken, und darin liegt sein staatsmännischer Fehler,
daß eine solche Kraft benutzt werden mußte. Er dcsavonirte die Revolution, die
Barrikadenkämpfe, weil sie so gar nicht in sein Bild von einem großen in sich
geschlossenen, nach Außen mächtigen Deutschland hineinpaßten, und doch hätte er
nicht übersehen dürfen, daß bis zu dessen Verwirklichung noch viele Gassen gründ¬
lich gereinigt werden mußten, wenn nicht alsbald wieder der alte Schmutz sie ver¬
stopfen sollte., Die „Deutsche Zeitung" war nicht uur zu nobel, um selbst noch
zu fegen, nachdem der erste Koth weggeräumt war, sondern auch, um überhaupt
das schmutzige Handwerk von Andern betreiben zu lassen und sie traute zu viel
ohne allen Grund plötzlich den — Fürsten. Daß eine derartige Disposition der¬
selben von den Diplomaten schlau benutzt wurde, ließ sich erwarten. Der ganze
alte Klunker der frühern Zeit hing sich ihr nach und nach an die Ferse, suchte
sich mit dem Handschuh ihres guten Namens die Kastanien aus dein Feuer zu
holen, und als sie diesen Pöbel mit der Aristokratie der Ehrlichkeit abschüttelte,
als Gervinus der Frankfurter Rechten eine bittere Wahrheit über die andere
sagte — fiel sie ein Opfer der Intrigue. Ohne Wissen und Willen ihres Re¬
dacteur (!» et>«zf, der sich in Italien befand, verkaufte der Buchhändler Friedrich
Bassermann, ihr eben nicht sehr betriebsamer Verleger, ans Rücksicht für „die
leidenden Actionäre," die sich nie beschwert hatten, das Blatt an die Weidmänni¬
sche Buchhandlung. Ja, der Unterstaatssecretär vergaß sich so weit, an Gervinus
zu schreiben, „daß es ihn reue, jemals einen Kreuzer an die „Deutsche Zeitung"
Es wird gar nicht gehörig anerkannt, daß unsere alte Stadt zu den deut¬
schen Stadtschönhciten gehört wie Nürnberg, Danzig, Bern u. s. w. Unser Rath,
Haus ist der schönste geschnittene Stein germanischer Banart und die Steinrosen
an unsern Kirchen, die reich verzierten Giebel unsrer alten Häuser sind Reize,
die Physiognomie unsrer Stadt in den Augen aller poetischen Archäologen
""ziehend machen müssen. Ihren besten Moment für Maler bietet sie dar,
wenn die Spaziergänger heimkehren und auf dem Goldgrund des Abendhimmels
sich die Arabesken der Giebel in durchsichtigen Bogenwindungen abzeichnen, die
Thürme in dunklerer Färbung sich emporstrecken, namentlich aber die zierlich durch¬
brochene Mauerkrone der Se. LndgernS Kirche auf dem Niesenkranze doppelter
Lindenalleen zu schweben scheint. Ein solches Landschaftsbild ersetzt die schönste
Gegend. Die Sand - und Haidestrecken des Münsterlandes lassen freilich eine
solche nirgend erwarten, und doch tritt dem sinnigen Wanderer auch überraschend
oft ein liebliches Fleckchen Erde hier zu Lande entgegen, hier wohnt die Idylle
zwischen den Eichkämpen, den hügelichem Saatfeldern , den Bauernhöfen nach Ta-
citus, unter deren Strohdächern noch altgermanische Sitte herrscht. Man begreift
wie Immermann sein bestes Wert, den Hofschulten, concipiren mußte, als er hier
lebte. Er hatte sich einen romantischen alten Thurm zum Sommeraufenthalt ge¬
wählt, eine halbe Stunde von Münster, ein Ueberbleibsel eines ehemaligen Gra¬
fenschlosses, von dem nnr noch die Ringmauern und zwei Kapellen steheu, jetzt
ein Kaffeegarten für die gemüthlichen Elemente der Münflerschen Gesellschaft. Un¬
ter einem Wald von blühenden Apfelbäumen schwelgt man dort in ländlichster
Frühlingsluft und vielstimmigen Nachtigalleusaug. Ein anderer deutscher Dichter,
Friedrich Leopold Stollberg, wohnte mehrere Jahre vor Immermann hier und wan¬
delte alltäglich durch ein dämmeriges Eichwäldcheu uach dem nahen Angelmodde,
wo seine Seeleufreuudiu, die Fürstin Gallitzin, in einfachster Ländlichkeit ihre einst
so glänzenden Tage schloß. Ein Grabmal an die Wand des Dorfkirchleins ge¬
lehnt, von Dornen und Unkraut überwuchert, ist jetzt das einzige Erinnerungs¬
zeichen an die merkwürdige Frau. Gedankenvoll geht mau durch die Laubgänge
des Gartens, in dem sie wohnte, die Hecken sind noch kunstvoll zu Figuren ge¬
schnitten, der einzige Luxus, den der Besitzer, ein wirklicher Hofschulte, seinen
Gästen darbietet; sie kommen zahlreich ans der Stadt Hieher, aber nicht um das
Andenken der Fürstin Gallitzin zu feiern, sondern um Kaffee und saure Milch zu
genießen. Der Hvfschnlte läßt sich durch sie aber durchaus nicht in seiner patriar¬
chalischen Hausordnung störe», und wenn die Stunde seiner Abendmahlzeit da ist,
kniet er in tiefster Seelenruhe mit seinem Dienstpersonal zum Dankgebet in der
großen Küche nieder. Durch die kleinen Bleifenster steht manch poetisches Pro¬
testantenauge der frommen Gruppe neugierig zu. — Ich weiß wahrlich selbst nicht
recht, wie ich in den Nahmen dieser idyllischen Naudzeichnuug ein Bild unsrer ge¬
genwärtigen Zustände hineindrängen soll. Bisher erlangte Münster seineu Ruf
durch die Wiedertäufer, zu deren Käfigen noch täglich die durchreisenden Frem¬
den zum Lamberti-Kirchthurm den Hals emporrecken, dnrch den westphälischen
Frieden, dessen Gesandte im Rath Hanse abkonterfeit sind, durch unseren reichen Adel
und durch unsere katholische Strengglänbigkeit, lauter vorsündfluthliche Momente,
aber jetzt haben wir uns auf die modernste Höhe der Zeit geschwungen, unsere volks-
thümlichen Wahlumtricbe und unsere Wühler sind berühmt geworden. Temme, den
Ihr Blatt bereits geschildert hat, wird zu den unsern gezählt und er gehört auch durch
seine Geburt unserer Gegend an. In Wiedenbrück, an der Grenze unsres Re-
gierungsbezirks ist er geboren, in dem Nachbarstädtchen Hamm lebte er lange Zeit
als Subalternbeamter, verkommen in Nahrungssorgen und moralischer Haltlosigkeit.
Sein damaliger Präsident, ein trefflicher freisinniger Mann, erkannte seine unleug¬
baren Talente und ermunterte ihn, sich zu ermannen; seiner Fürsprache hat es
Temme zu verdanken, daß er sich der höhern juristischen Laufbahn widmen konnte.
Der Ministerialmißgriff, der ihn später zum Direktor oder Vicepräsidenten des
hiesigen Oberlandesgerichts machte, war ihm sehr vortheilhaft und sehr erwünscht.
Beliebt war er hier nicht, die Bürger verwahrten sich in dem Lokalblatte wieder¬
holt gegen die Theilnahme an den Fackelzügen ihm zu Ehren, aber seine letzte
Märtyrschaft im Zuchthause gewann ihm doch wieder einige Sympathien; als er
die Wahl, welche seine Anhänger durchgesetzt hatten, ablehnte, sagten diese äußerst
naiv: „un wat vor» Deputirter, gilt uns gut, aberst ut dem Znchthuse muß he
sin!" Justizkommissar Gicrse, auch einer unsrer Erwählten und Lieutnant Kaspars
das neue Mitglied der Linken haben trotz ihres eifrigen Strebens noch keinen Zei¬
tungsruf erlangen können. Letzterer versuchte früher durch schlechte Gedichte sich
die ersehnte Geltung zu verschaffen. Er ist Kommunist und gehörte nebst mehre¬
ren andern Kameraden u. A. Korff, jetzt Gerant der Neuen Rheinischen Zeitung
der Anneken'schen Richtung an. Es bestand nämlich, während Lieutnant Arrete
hier noch in Garnison stand, eine Gesellschaft, als deren Vorsteherin seine nach¬
malige Gattin, unter dem ominösen Titel Kommunistenmutter, fungirte. Wie alle,
denen nach Theilung mit reichen Nebenmenschen gelüstet, war diese junge schöne
Frau aus ihrer Lebensbahn durch Armuth und Verlassenheit gedrängt worden.
Ihre unverletzte eingeborene Weiblichkeit schützte sie vor der Rolle einer Aston,
aber ihr romantischer Ehrgeiz drängt sie wo möglich eine Roland zu werden.
Sie lebt jetzt in Köln und ist eine eifrige Mitarbeiterin an dem ultraradikalen Volks¬
blatt; sie wühlt und erregt die Massen mit der Frau des Dichters und Deputa¬
ten Kinkel um die Wette, die reizbaren Nerven machen ja die Frauen noch em¬
pfänglicher für das Revolutionsfieber als die Männer. Vor wenigen Jahren wa¬
ren noch die friedlichen Musen die Arbeitgeberinnen beider Damen. Frau Arrete
erregte damals durch ihr tragisches und «»gerechtes Schicksal als geschiedene Frau
von I. in Münster viel Theilnahme, da sie katholisch , Herr von T. aber Prote¬
stant war. Namentlich protegirte der Adel ihre Erzeugnisse, die meistens in Ge-
vetbüchern bestanden, dem für Münster günstigsten literarischen Handelsartikel. Die
Enttäuschung der Gönner war äußerst naiv, als sie die Chamälconart ihres Schütz¬
lings entdeckten. — Unser Adel, der im Frühjahr l848 schon das Schicksal des
altfranzösischen zu gewärtigen hatte, der sich nach Kräften populär zu machen strebte
^- seine Erbherrn und sogenannten regierenden Grafen traten sämmtlich bei der
Bürgerwehr ein -— steht doch ein, daß es wohl nicht so gefährlich für sein Leben,
aber doch für seine Vorrechte steht; die meisten Familienhäupter geben große Summen
Her um in Amerika Ankäufe zu machen, da voraussichtlich der Glanz der Familien
nicht lange bestehen kann bei Auflösung der Fideikommisse. Wie wenig sie sich an
die in Frankfurt dekretirte Aufhebung deö Adels kehren, beweisen sie durch die
strenge Handhabung ihrer Gesellschaftstatuten; unter dem Namen eines Damen¬
club, haben sie eine Exklusivität ohne Gleichen darin eingeführt. Für die Spitzen
der Militär- und Civilbehörden läßt man sich zuweilen zu einer Einladung herab,
aber die nnüberfteiglichste Scheidewand ist gegen den sogenannten niedern Adel
aufgerichtet. Es sind dies meist reiche Patrizier, die unter dem letzten Fürstbischof
oder bei der preußischen Besitznahme geadelt wurden. Im Vertrauen ans den Ein¬
fluß des Jahres 1848 versuchte neuerdings ein ehrgeiziges Mitglied dieser niedern
Adelsklasse in den Zauberkreis der Exclusivität einzudringen, der für die Eitelkeit
fabelhafte Lockungen haben muß, wie Beispiele aus ähnlichen Verhältnissen der
englischen Ili^ki lito genugsam darthun. Man unterscheidet jetzt die Parteien durch
die Bezeichnung uach den Kugeln des Ballvttements im adligen Club, die Schwar¬
zen und die Weißen, letztere gelten für gefährliche Aufgeklärte, die den Neuerun¬
gen der Zeit huldigen mochten und für die Aufnahme eines Emporkömmlings in
die Adelszirkel stimmen konnten! Obwohl früher stets eine Abneigung gegen das
preußische Regentenhaus und Vorliebe für Oestreich, unter dessen Erzherzogen der
letzte Glanz des Krummstabes leuchtete, vom Münster'schen Adel an den Tag ge¬
legt wurde, so hat doch der Tod des Prinzen Waldemar die Gemüther erweicht
und zu einer Demonstration der Theilnahme Anlaß gegeben. Der ganze Adel,
die Damen in Hoftrauer mit Schneppenhanben und Krcppschleier», betheiligte sich
an der Leichenseierlichteit und trug noch 14 Tage nachher tiefe Trauer um den
liebenswürdigen Prinzen. Er hatte auf dem ehemaligen sürstbischvflichen Schlosse
hier, jetzt die Commandantur- und Oberpräsidialwohnung, wie ein Einsiedler ge¬
lebt, niedergedrückt dnrch die Wetterwolke, die über seinem Stamme hing und
durch die Todeskrankheit, die an seinem Mark zehrte; seine angebliche Liebe zu
Bettina's schöner Tochter Armgard oder Maxa erhöhte uoch den romantischen Nim¬
bus seiner Persönlichkeit. Man erzählt hier viele schöne Züge seiner Menschen¬
freundlichkeit. Der Münster'sche Aberglaube knüpfte eine schlimme Bedeutung an
deu Tod des Prinzen; es soll eine alte Prophezeiung cxistuen, wonach eine Person
aus königlichem Blute auf dem Schlosse zu Münster sterben würde und dann die
Straßen, dnrch welche der Leichenzug fährt, sämmtlich ein Raub der Flammen werden
würden. Da nun die Leiche nach dem Bahnhöfe gebracht werden mußte, so wurde
die Stadt ihrer ganzen Länge nach von dem Zuge berührt und zahlreiche Petitionen,
gelangten an den kommandirenden General, denselben um die Stadt herumfahren
zu lassen. Es geschah jedoch nicht und es brannte auch nicht. Der eine Flügel
des Schlosses steht seit dem Tode des Prinzen ganz leer; es ist die Amtswohnung
des Oberpräsidenten; Herr Flottwell, der diese Stelle inne hat, war bis jetzt in
Frankfurt und ließ sich dort verleiten um Aufhebung des Cölibats mit Gritzner
und Consorten zu petitioniren. Der Sturm, welche» dieser Antrag hier hervor-
rief, läßt sich schwer beschreiben, Flottwell würde buchstäblich zerrissen worden sein,
hätte er gewagt hierher zu kommen. Carrikaturen und Spottlieder sind uoch jetzt
im Munde der Straßenjugend, das unschuldigste ist noch: „Schleswig Holstein
stammverwandt, Flottwell hat sich den Mund verbrannt!" Dies ist wirklich Volks-
witz, denn der Mißgriff, sich die ganze katholische Bevölkerung Westphalens zu ver¬
feinden , war eben nur Uebereilung und ist aufrichtiger und naiver bereut worden,
als es einem Staatsmanne geziemt. Flottwell hat gegen den Bischof und mehrere
Geistliche seine Unterschrift mit Unkenntniß des Inhalt jener Petition zu rechtfertige»
gesucht; doch hat dies die Gemüther nicht versöhnt und es wird ihm schwerlich geliu^
gen, seine Existenz in Münster wieder zu befestigen, denn man scheint in Berlin mehr
Rücksicht auf den katholischen Klerus zu nehmen, als dieser selbst glauben will.
Flottwell's Vorgänger im Amte war der berühmte alte Vincke, Vater des
bekannten Deputirten, ein würdiger Vater des edlen Sohnes. Schon als Jüng¬
ling schwärmte er wie dieser für das englische Vorbild einer volksthümlichen Ver¬
fassung, für Selbstregierung der Bürger und patriotische Aufopferung der Aristo¬
kraten. Sein klassisches Büchlein: „Darstellung der innern Verwaltung Gro߬
britanniens, 1815," von Niebuhr herausgegeben, legt seine Ansichten in sehr
merkwürdigen und kühnen Erörterungen dar. Man fühlt den Pulsschlag der da¬
maligen Freiheitsregungen Deutschlands heraus. Nachdem Vinde vom französischen
Despotismus verfolgt war, wie sei» Freund Stein, wurde er bei der Neoccnpa-
tion Oberpräsident in Münster und zeichnete sich nochmals als Führer des Land¬
sturms aus, als Napoleon von Elba zurückkehrte. Aus dieser militärischen Wirk¬
samkeit stammte als bescheidenstes Abzeichen eine alte Soldateumütze, die Vincke
fortwährend trug, er mochte im Frack vor dem Könige erscheinen oder im blauen
Kittel als Chef der Provinz eine Dienstreise unternehmen. Seine unbeschnittene
Originalität zeigte sich deutlich auch in seiner äußern Erscheinung, von seiner
Haltung und Kleidung ließ sich dieselbe Beschreibung machen, wie Schiller zur
Zeit des Jena'schen Zusammenlebens einmal von Wilhelm Humboldt freundschaftlich
schrieb: „er sah im besten Anzüge höchstens ans wie ein reputirlicher Schneider."
Gemüthlicher war sein Anblick, wenn er auf Reisen den blauen Fubrmannölittcl
trug, wie er im Münsterlande gebräuchlich ist, die Militärmütze auf dem starken
grauen Haar, die kurze Pfeife im Munde und, den Knotenstock in der Hand wan¬
derte er oft meilenweit zu Fuß oder fuhr mit der ordinäre,, Post. Nicht selten
hielt man ihn für einen schlichten Bauersmann und höchst ergötzliche Mythen
knüpfen sich an derartige Verwechselungen. So kommt er z. B. einmal zu einer
Beamtenfamilie in einem kleinen Städtchen, die ihn unbekannterweise als ihren
Wohlthäter verehrt, und bei der Kunde, daß er in dem Kreise erwartet wird,
ihm mit Herzklopfen und Festkleidern entgegensteht; als der kleine Mann mit dem
freundlichen breiten Gesicht und dem blauen Kittel im Hanse erscheint, führt ihn
die Hausfrau eilig und nicht sehr höflich in den Kuhstall, weil sie ihn für einen
ländlichen Schlächter und Käufer ihres jüngsten Katheders ansieht. Er beachtete
solche Verstöße niemals und benutzte sein Jncognito nur zuweilen, um manche
geheime Mißbräuche seiner Untergebenen zur Verantwortung zu ziehen. Noch
weit zahlreicher sind die Histörchen über seine unbegrenzte Gutmüthigkeit, seine
Freigebigkeit im Wohlthun und seine Sparsamkeit gegen Anforderungen deö Luxus
in seiner Häuslichkeit. Er war ein deutscher Origiualcharaktcr, dessen Leben und
Wirken zu einem vollständigen Bilde zu gestalten eine schöne Aufgabe für unsre
biographischen Schriftsteller wäre, aber es existirt nicht einmal eine ausführliche
Lebensbeschreibung von ihm. Seine rastlose Thätigkeit für die Provinz hatte nach
und nach seine universellere politische Richtung absorbirt, und er folgte sogar den
ersten kühnen Schritten des Sohnes auf dem Wege der Opposition mit mißbilli¬
genden Blicken. Die spätere Entwicklung dieses großen und festen Geistes hat
er nicht mehr erlebt. Er starb am 2. December 1844 an Ueberanstrengung aller
seiner Kräfte, bis zum letzten Augenblicke hatte er gestrebt sie für seinen Beruf
nutzbar zu machen. Er, der in seiner Jugend gegen das Zuvielregieren der
Beamten geeifert hatte, war in spätern Jahren in gewisser Weise und in bester
Absicht Autokrat geworden. Er wollte mit väterlicher Sorge das Kleinste wie
das Größte in seinein Bezirke selbst leiten und überwachen. Die vielgeschmähte,
aber nirgends in strenger Ordnung und Rechtlichkeit übertroffene preußische Be¬
amtenmaschinerie, in der sich die besten Kräfte mit unvergleichlicher und unbe¬
greiflicher Selbstaufopferung geduldig abnutzen lassen, hatte auch ihn mit Leib
und Seele erfaßt. Er nahm seine geliebten Actenstöße mit auf sein Sterbebett
und wird stets als ein Musterbild eines preußischen Beamten anerkannt werden
müssen. Als Familienvater war er eben so vortrefflich als glücklich; er hinterließ
elf lebende Kinder, vier Söhne und sieben Töchter. Der berühmte Abgeordnete
ist der älteste, er besitzt dieselbe Thatkraft, denselben Gemeinsinn wie sein Vater,
und erbte von einer geistreichen Mutter mehr Schärfe und Consequenz des Ur¬
theils, mehr Präcision und Gewalt des Ausdrucks. Der zweite Sohn ist ein
talentvoller Dichter, der jüngste bethätigt seinen strebsamen Sinn, seinen eben¬
bürtigen Villele'schen Geist in diesem Augenblick durch eine Reise nach Amerika
zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Töchter haben in die ersten Familien des Lan¬
des geheirathet. Uebrigens ist diese Linie der Freiherrn Vincke nicht verwandt
mit dem gleichnamigen Major v. Vincke, Abgeordneten der ersten Kammer in
Berlin. Es ist ein seltsamer Zufall, daß so manche der jetzt vielgenannten Per¬
sönlichkeiten in Münster ein Stuck Lebensgeschichte stehen haben. So haben außer
dem berühmten Abgeordneten Vincke, der seine Kinder- und Jugendjahre auf dem
hiesigen Schlosse zugebracht hat, auch die Exminister Schreckenstein und Pfuel
hier jahrelang gelebt, auch General Wrangel's Aufenthalt steht hier noch in leb¬
hafter Erinnerung. Er war hier zur Zeit der sogenannten Kölner Wirren, in deren
Folge Münster sich durch einen Aufruhr auszeichnete. Man zeigt hier noch
ein Localgemälde, wo der schlanke General mit der Lieutncmtsfigur und dem
eisgrauen Kopfe, der beste Reiter der Armee, mit seinem Pferde über die unru¬
higen Köpfe mit einem kühnen Satze hinwegspringt, als sie ihm nicht Platz machen
wollten. Damals wurde er, angeblich wegen zu scharfen Auftretens in dieser
Angelegenheit, nach Stettin versetzt.
„Haben Sie schon die deutsche Flotte gesehen?" Diese Frage brachte mich
fast zur Verzweiflung, denn sie ging wie eine fixe Idee durch alle Gespräche meiner
Bekannten hindurch, die hierher kamen. Ich zuckte die Achseln, schüttelte mit dem
Kopfe, endlich wurde ich grob; auch das half nichts. Da faßte ich einen kühnen
Entschluß. Hat Columbus Amerika entdeckt, so wirst du auch die deutsche Flotte
auffinden können, so dachte ich bei mir selbst, und gerüstet, als wollte ich wie
Capitain Roß eine Südpolexpedition unternehmen, ging ich hinab zum Hafen,
und bestieg mit einem kräftigen Secmannsfluche die bereitstehende Jolle. Jedes
Schiff an dem ich vorbeifuhr, sah ich scharf darauf an, ob es nicht etwa die deutsche
Flotte wäre — vergebens. Endlich, endlich sah ich mit leibhaften Augen die
Kriegsflagge des Reichs deutscher Nation vor mir, schwarz-roth-gelb — mit dem
Reichsadler im gelben Felde; der Adler schwarz, mit roth angeschlagener Zunge,
Und überhaupt alles so bis auf das Haar, wie es die verfassunggebende National¬
versammlung in Frankfurt beschlossen. Die Flagge wehte so stattlich, der Adler
streckte so kriegerisch die Zunge heraus, ich freute mich doch herzlich in meinem
Gemüthe. Es steckt in diesen heraldischen Bestien ein gewisser nichtswürdiger
Zauber, sie machen Einem das Herz schneller schlage», die kleinen romantischen
Posse»! Von der Flagge schweiften meine Blicke sofort »ach dem Schiffe, daS
sann in Verbindung zu stehen schien. Sonderbar, murnielte ich leise — es laut
^ sagen wagte ich nicht, Angesichts einer hcrvorglvtzeiidcn Kanone — die Flagge
^ so neu, so groß, so regelrecht ausgeführt, und das Schiff so alt, so klein, so —.
wahrscheinlich hat man zuerst die Flagge angefertigt und hinterher zu derselben
^» Schiff ausgesucht — und unwillkürlich fiel mir Blumauers travestirte Aeneide
ein:
Man ließ für hunderttausend Mann
Montirungsstücke schneidern,
Und warb darauf Soldaten an
Die paßten zu den Kleidern.
Unterdessen legte die Jolle an, ich ergriff die Strickleiter und schwang mich an
Bord der Reichsdampffregatte „Lübeck." Dieses gemüthliche Kriegsschiff sollte der
Idee nach 13 Kanonen haben; gegenwärtig fehlten noch 12 davon. Die Besatzung
bestand vorläufig aus einem Midshipman und ein paar Matrosen. Doch etwas
fürs Herz, dachte ich, verließ befriedigt das friedliche Kriegsschiff und steuerte der
Kriegsfregatte „Deutschland" zu. Zwar war diese früher ein ehrbarer, schon etwas
bejahrter Kauffahrer gewesen, aber jetzt sah sie ungemein kriegerisch aus, recht
erhoben und geadelt. Auf ihr fand ich auch Marinesoldaten und einen wirklichen
Reichs-Marineoffizier. Von den 32 Kanonen der Fregatte zählte ich schon eine
gute Anzahl und klopfte jede einzeln wohlwollend auf den dicken Leib; die Uebri-
gen kommen nächstens, versicherte mir gutmüthig der Offizier. Segelwerk, Takelage
und dergleichen war freilich noch nicht da, auch seufzte noch ein Mast mit Sehn¬
sucht dem Augenblicke entgegen, wo er aufgerichtet werden sollte. Ich freute mich,
daß Deutschland nicht ganz umsonst sein erstes „Tounengeld" ausgegeben habe,
betrachtete mir bei der Rückfahrt noch ein appetitliches Kanonenboot und fuhr in
tiefem Nachdenken nach Hause. Meine Herren von den Grenzboten! Zwei Dinge '
stehen fest. Erstens ist es wünschenswerth, daß wir die dänische Flotte vernichten,
und zweitens ist es wünschenswert!), daß dies durch unsere Flotte geschehe. Ich
glaube, das wird sich am besten machen lassen, wenn wir die feindlichen Schiffe
sämmtlich in einen Fiord oder Hafen, oder Flußmündung locken und dann mit
aller Kraft von allen Seiten angreifen, mit Kanonen, Böllern, Schlüsselbüchsen.
Unsere Schiffe werden uns um so mehr helfen, je weniger sie deshalb in See zu
gehen haben. Große Seehelden sind wir noch nicht, aber wir haben gute Fäuste.
Es kommt nur darauf an, daß wir den Feind so nahe heran kriegen, daß wir ihn
prügeln können. Dann war der Jubel des 5. April, der glorreiche Tag von
Eckernförde, nur das Vorspiel der eigentlichen Vcrnichtnngsschlacht. Rechnet man
das in die Luft gesprengte Linienschiff und die genommene Fregatte von der däni¬
schen Flotte ab, so werden durch deu bevorstehenden Hauptkampf von unsrer tapferen
Marine an dänischen Schiffen in den Grund gebohrt, i-esu. genommen oder in die
Luft gesprengt werden: 4 Fregatten (Havfrnen, Theils, Bellona, Nota), 5 Kor¬
vetten (Potter, Walkyricn, Galathen, Flora und Najaden) 4 Briggs, 4 Kriegs-
dampfschiffe, andere Dampfschiffe, eine Division Kanonenfahrzeuge und 3 Bark¬
schiffe und Kutter. — Von der Seeschlacht zum Znngcngefecht ist nnr ein Schritt.
Ich wende mich demnach zu den parlamentarischen Kämpfen der Freistadt Hamburg-
Hier muß ich zuvörderst eine mögliche Illusion zerstören. In meinem ersten Be¬
richte habe ich gesagt, daß die hiesige Linke wahrhaft deutsch sei und diese Gesin¬
nung bei der Grnndrechtssrage an den Tag gelegt habe. Da könnte vielleicht
geschlossen werden, daß sie die Kaiserwahl vom patriotischen Standpunkte ans
aufgefaßt, und in diesem Sinne irgend ein Lebenszeichen von sich gegeben habe.
Waren doch auch bei ihnen Bassermanns Worte vom 1». Januar nicht ungehört
geblieben: „Mögen Sie denken über ein erbliches Kaiserthum, wie Sie immer
wollen, das weiß ich — daß die Dänen und Nüssen, und vielleicht auch die Fran¬
zosen am wenigsten Hoffnung übrig behalten für Erreichung ihrer Absichten auf
Deutschland, wenn Sie den Erbkaiser beschließen." Waren doch fast überall und
in allen Fractwncn deutscher Kammern Eiuladungs-, und uach erfolgter Wahl
Zustimmungsadressen votirt. Aber in diesem Punkte hört die Vaterlandsliebe der
hiesigen Linken auf. Wie der gute Fürst Heinrich von Neuß, reitet sie ihr Prin¬
zip der Demokratie, das sie innerhalb einer Monarchie durchaus nicht unterbringen
kann. So kam es, daß in der Oberhauptsfrage von Hamburg tiefes Schweigen
beobachtet wurde. Bei den übrigen Fractionen kann man sich weniger darüber
wundern, da diese hier überhaupt wenig rührig und politisch indifferenter sind.
Bei der großen Lebendigkeit der entschiedenen Linken ist es natürlich, daß ihre
Koryphäen am meisten auf der parlamentarischen Arena erscheinen. Ein paar ihrer
Helden mögen hier kurz geschildert werden. Trittan ist etwas hager, wie Sasso,
der Traum eines Schattens von Ledru-Nollin, Advokat wie dieser. Er spricht
deshalb auch, als ob er seine Reden bogenweis liquidirte, oft zum Entsetzen weit¬
schweifig und in der Regel ein Styl einer Appcllativnsrechtfertignng: Beschwerde
t, 2, 3; -t(i Al-i>.v!in>eil l, 2, !!. Sein Organ ist nicht ungewöhnlich, seine Rede
ohne Feuer und oratorischen Schwung. Nur zuweilen nimmt er einen Anlauf,
aber es will nicht recht vorwärts, er sinkt bald wieder in eine angenehme Alltäg¬
lichkeit. Er ist leicht gereizt, wird noch leichter unangenehm persönlich, und obgleich
^ir seine Berechtigung sich selbst für das bedeutendste Mitglied der constituiren-
^n Versammlung zu halten nicht bestreiten können, so behaupten wir doch, daß
^' über Hamburger und alle möglichen fremden Staatsverfassungen mehr Zeug
bricht, als er antworten kann. Er wird es der Constituante niemals vergessen,
^ß sie sein Zweikammersystem, das gedruckt so hübsch aussah, verworfen hat, und
^ unermüdlich, diese liebste Frucht seiner politischen Wehen in irgend ein offen
KelasseucS Loch der Verfassung unter dem Titel eines permanenten Ausschusses
"der auf andere Weise einznschwärzen, was aber die Kammer-Douaniers sogleich
Ottern und immer wieder vereiteln; zuweilen hält er statt einer Rede einen kleinen
^arrikadenkursns über die leichteste Art eine Verfassung über den Hausen zu
werfen.— Ferdinand Löwe, Schulamtskaudidat, ist der wahre Champion der
^olkssouveräuität. Er schreitet mit einer gewissen dedeigneusen Nonchalence bis
Tribüne, hält oft die Hand an die Sumi, als wollte er das Uebermaß der
bedanken zurückdrängen — vergebene Mühe, er kann sie nicht zurückhalten — und
digere gern sein wohltönendes Organ zu einer völlig überflüssigen Stärke. Wenn
^ von dem Volke spricht, und das geschieht sehr oft, weil er zu versichern liebt,
durchaus für das Volk „gesorgt" werden müsse, so pflegt er in edlem Eifer
^ glauben, die Tribüne selbst wolle widersprechen, und in solchen Momenten hei¬
ler Wuth schlägt er unbarmherzig aus sie los. Er erklärt sehr häufig, daß er
etwas nicht begreifen könne, und findet dabei wenig Widerspruch; er liebt dann
wohl, dies ihm Unbegreifliche theologisch oder mystisch zu nennen. Er redigirt
auch eine Wochenschrift: „Der Volksfreund, Organ für radikale Reform". Dieses
Blatt leidet oft an Mangel des Ueberflusses am Stoffe und ist dann genöthigt,
sich durch Excerpte zu ergänzen, z. B. durch Aehrenlesen ans Börne's Schriften.
Manche meinen nun, es wäre vorzuziehn, lieber gleich den ganzen Börne noch
einmal abdrucken zu lassen, als diese ewigen Auszüge! Doch die so sprechen sind
seine Neider. Uebrigens ist das Blatt immer noch besser geschrieben, als manches
andere hier, jedenfalls steht Löwe in dem Ruf, es ehrlich mit seiner Sache zu
meinen. Mcirr's Radicalismus kennen Sie aus seinen Schriften, ich freue mich,
daß er auch etwas auf Toilette gibt, er trägt sein Haar so glatt wie seine Ge¬
danken kraus sind. Er spricht gern von der Schweizer Verfassung; ob seine Bil¬
dung gründlich und sein Urtheil sicher ist, das weiß ich nicht, ich verstehe nichts
von höherer Politik, darüber müssen sie unsern Professor Wiebel fragen. Uebri¬
gens ist mir Marr der liebste von allen unsern Rednern, seine Reden haben einen
großen Vorzug, sie sind die kürzesten von allen. Er gibt nebenbei den „Mephisto-
pheles", ein satyrisch-politisches Blatt, heraus. — Für heute mag eS an diesem
Kleeblatt genug sein. Was die constituirende Versammlung selbst betrifft, so
berieth sie die Grundbestimmungen der Verfassung mit einer Langsamkeit, die an
die schönsten Zeiten des seligen Reichskammcrgerichts lebhaft erinnerte. Ueber einen
einzigen Paragraphen werden 4 bis 5 Stunden lang Reden gehalten, in denen
6«- multis rebus et <Ze «zmbusditm alii«. Sachdienliches aber desto weniger gespro¬
chen wird. Zwanzigmal Dagewesenes wird zum einundzwanzigsten Male wiederholt,
was der Eine vorgebracht hat, sagt der Andere noch einmal, höchstens mit etwas
verschiedenen Worten. Ueber jeden Paragraphen wird eine wahre Wasserfluth von
Amendements geschüttet, die oft das Papier nicht werth sind, ans dem sie geschrieben
stehen. Bei einem Amendement behauptete Trittan neulich geradezu, er würde es
nicht vertheidigen, was auch dagegen vorgebracht werden würde, aber er wollte
die Versammlung zwingen, darüber abzustimmen. Das ist doch ein vernünftiger
Grund, der sich hören läßt. Es handelte sich um die Initiative des Rathes, die
Trittan für eine demokratische Todsünde erklärte, nachdem Löwe echt handwerks¬
gemäß von einer hohen Mauer gesprochen, die man zwischen der Exekutive und
der Legislative aufführe» müsse. Dabei erinnerte er sich wahrscheinlich von Fried¬
rich dem Großen und dessen Ausspruch über die Fürsten als Diener des Staates
gehört zu haben, denn er schrie mit drohend erhobener Stimme: der Rath sei dazu
da, das auszuführen, was die Bürgerschaft beschlossen, dafür werde er bezahlt, er
sei also ihr bezahlter Diener und müsse kein Titelchen von Recht mehr haben als
ein bezahlter Diener. An das Entscheidende, daß die Bürgerschaft allein die
Gesetze zu beschließen hat,*) dachte Keiner oder wollte Keiner denken, und so
war der ganze giftige Streit eigentlich «to I-iva, ni^n-in», geführt. Als aber Wiebel
nachwies, daß auch der kleine Rath in der gut demokratischen Schweiz das Recht
des Gesetzvorschlages habe, war die Schweiz auf einmal nicht mehr ganz kauscher,
trotzdem sie sonst immer wie eine Citrone ausgepreßt wurde, um Beispiele für die
Einrichtungen der reinen Demokratie herauszutröpfelu. R,e8 mal IVinrios venit!
Da erhob sich Trittau, um zu beweise», daß die linke Seite auch den besten
Gegner nicht zu scheuen habe, und hielt trotz seines besten acceptirten Gelübdes,
uicht zu sprechen, eine halsbrechende Philippina. Umsonst; die Initiative des
Rathes neben der der Bürgerschaft wurde angenommen. Um aber nicht alle Lor¬
beeren von den Heldenschläfen der Radikalen zu reißen, wurde ein Amendement
von Löwe wenigstens als Zusatz angenommen, daß der Rath alle Jahr eine Bot¬
schaft, d. h. eine Art Rechenschaftsbericht über die Staatsverwaltung der Bürger¬
schaft einzureichen verpflichtet sein solle. So endete die denkwürdige Sitzung des
12'. April, sie förderte den ez. 13 zum Schlüsse. Uebrigens muß ich hierbei be.
merken, daß es sich zunächst nur um Aufstellungen von Grundbestimmungen für
die künftige Verfassung handelt. Diese Bestimmungen werden jetzt im Schooße der
Constituante berathen und beschlossen. Erst nachdem auf diese Weise alle einzelnen
Paragraphen des Entwurfes sanctionirt sind, wird von einem besonderen, jetzt erst
gewählten Verfassungsausschusse ein vollständiges Grundgesetz entworfen und dem¬
nächst der Plenarversammlung vorgelegt werden, welcher auch bereits ein Ent»
Wurf über die richterliche Behörde von dem für diesen Zweig der Verfassung beste¬
henden Ausschusse eingereicht ist. — Die Debatten innerhalb der constituirenden
Versammlung sind übrigens nicht die einzigen, welche das öffentliche Leben hier
w Fluctuation erhalten.
Wie die Freihändler mit deutschem Fleiß und deutscher Industrie umspringen,
davon möge ein Beispiel statt vieler gelten. Am 27. März war nach langer
Unterbrechung wieder öffentliche Sitzung des Freihandelsvereins. Der Vorsitzende
Roß machte die bedenkliche Mittheilung, daß die Schutzzollpartei schon ein bedeu¬
tendes Terrain gewonnen habe, daß sie Alles aufbiete, und Adressen über Adressen
nach Frankfurt schicke. Mau wisse freilich, wie die Namensunterschriften, z. B. die
86,000 der Eisenstück'schen Adresse, entstanden seien, wie die armen Fabrikarbeiter
genöthigt würden u. s. w. Solche Mittel müsse natürlich der Freihandelsverein
'Uit Verachtung zurückweisen, aber — da kam der Pferdefuß zum Vorschein —
Propaganda müsse auf alle Weise gemacht werden. Jeder müsse mit den ihm zu
Gebote stehenden Mitteln (?) wirken. Einen heiteren Eindruck machte es, als er
Zum Beweise des endlichen Triumphs des Freihandelssystems pomphaft verkündigte,
daß sich sogar schon eine Ständekammer, die mecklenburgische, dafür ausgesprochen
habe, während ein anderer Redner in seiner Naivetät berichtete, daß auch eine
Ständekammer, die würtenbergische, sich dagegen, und für Schutzzoll entschieden.
Sodann lieferte das Bcreinsmitglied Godeffroy eine sogenannte Kritik der für
Schutzzölle pctitionircnden Adressen. Er kam auf die der Magdeburger Nunkel-
rübenzuckerfabrikanten und ihre Begründung, daß nämlich ein Kapital von 20 Mil¬
lionen in diesen Industriezweig gesteckt sei, daß er eine Masse Hände beschäftige,
daß er den Werth des Grund und Bodens, sowie des inländischen Brennmaterials
erhöhe. Alle diese Gründe fanden natürlich keine Gnade vor den Augen dieses
strengen Rhadamantus. Die ganze Production, so meinte er, sei keine naturwüch¬
sige, und alle angeführten Gründe paßten eben so gut, wenn man statt Runkel¬
rüben Kaffeeplantagen unter Glasfenstern anlege. Darin stecke noch ein größeres
Kapital, dadurch würden noch mehr Menschen beschäftigt u. s. w. Wenn die Nüben-
zuckerfabrikanteu bei dem Zuckerzoll des Freihandelstarifs nicht concurriren könnten,
so sollten sie das Bauen der Runkelrüben aufgeben und dafür Korn bauen. Ebenso
könnten die Tabacksbauer und Winzer ihre Tabackspflanzungen und Weinberge
ans- und niederreißen und Korn banen. So sprach Herr Gustav Godeffroy am
27. März dieses Jahres. — Ich kenne die Ansichten Ihres Blattes über das beste
Zollsystem für Deutschland nicht/) aber ich bin überzeugt, daß diese Auffassung des
Freihandels Ihren Beifall nicht haben kann.
Die Revolution vom Jahre 1848 hat viel kühne Worte und großsprecherische
Thaten — aber wenig Charaktere hervorgebracht. Die Männer der soliden Ord¬
nung und menschenfresserische Haudegen, Cavaignac, Wrangel, Windischgrätz,
Knicanin, Melden, Lamarmora, Bein, Haynau u. A. in. — dies sind die her¬
vorragendsten Gestalten, welche unsere Ncvolutionsepoche in die Vorrathskammer
der Geschichte geliefert hat. Aber die Energie, der feste Stoff in diesen Heroen
ist nicht aus dem Saft und Blut der neuen Zeit. Es sind die aufgespeicherten
rohen Kräfte, welche während der langen Friedensperiode brach gelegen und nun
mit einem Male überall hervorbrechen, wo sie dem jugendlichen Uebermuth
oder der Schwäche der neuen Weltkinder mit der scharfen Klinge Eins versetzen
können. Unter der Zuchtruthe dieser mittelalterlichen Epigonen müssen sich die
modernen Helden heranbilden und aus verweichlichten Idealisten thatkräftige, prak¬
tische Männer werden. Selbst die wenigen friedlichen Größen, Lamartine, Ga¬
gern, Vincke, welche in Frankreich und Deutschland allgemein anerkannt sind, haben
bereits unter dem axa;» leximo die Grundsteine zu ihrem Ruhme gelegt.
Oestreich, so reich eS an tapfern Haudegen und wortreichen Rednern ist, hat
doch während der ganzen Revolutionszeit des vergangenen Jahres einen so großen
Mangel an eigentlichen Charakteren gezeigt, daß selbst die feurigsten Patrioten
über die moralische Schwäche ihres Vaterlandes verzweifeln mußten. Um so be¬
deutender tritt uns die Gestalt eines Mannes entgegen, an welchem die Revolu¬
tion ihren ganzen blutigen Kreislauf vollbracht hat, ohne ihn in unserer Achtung
zu erschüttern, oder den Mann selbst in seinem eigenen kernigen Wesen schwan¬
kend zu machen. Wir sprechen von Adolf Fisch ho f. Wer die Geschichte der
östreichischen Hauptstadt vom Jahre 1848 kennt, kennt auch die Verdienste Fisch¬
hofs um sein Vaterland. Im März 184« war er der Erste, der durch begei¬
sterte Worte das dumpfe Schweigen und die Knechtschaft der Oestreicher brach.
Im April und Mai leitete er die Organisation der akademischen Jugend und war
wieder der Erste, der die Gefahr erkannte, in welche der Staat durch das Ueber-
gewicht der Aula kommen könnte. In Gemeinschaft mit Goldmark hatte er be¬
reits am 24. Mai den Beschluß durchgebracht, daß die Aula geschlossen und die
Berathungen des Studeutenkvmitvs nnr den Angelegenheiten der Legion gewidmet
sein sollten, als das unvorsichtige gewaltsame Einschreiten der Regierung am 26. Mai
von Neuem einen gefahrvollen Sturm heraufbeschwor. An diesem Tage stieg Fisch¬
hof mit mehreren gleichgesinnten Freunden von Barrikade zu Barrikade, um uach
Widerruf der Proclamation wegen Auflösung der Legion seitens des Ministeriums,
die Bevölkerung zur Ruhe und Ordnung zurückzubringen. Aber bereits hatte das
Vertrauen, welches die Negierung in diesen Ehrenmann setzte, denselben in den
Augen des Volks verdächtigt. Der Ruf: Reactionär, durch welchen ihm seine
vereinzelten Gegner beim großen Häuser zu schaden suchten, brachte ihn an diesem
Tage mehrmals in Lebensgefahr, aus welcher ihn nur seine Unerschrockenheit und
die Hilfe der Nationalgarde retten konnte. Dennoch war seine Popularität in
der Mehrzahl der Bevölkerung so befestigt, daß ihm in dem Sicherheitsausschusse,
welcher am Abende desselben Tages vom Ministerium! kreirt wurde, die Präsideu-
tenwürde übertrage» wurde. An diesem Platze entwickelte Fischhof die ganze Fülle
von Talenten, mit welchen ihn die Natur ausgestattet hat. Eine hinreißende, ein¬
fache, aber treffende Rednergabe, Geistesgegenwart und feste Entschlossenheit in
gefahrvollen Momenten, eine gewinnende Milde und Liebeswürdigkeit im Um¬
gange mit allen Klassen der Bevölkerung, edle Offenheit und Männlichkeit im
Verkehr mit höhergestellten Personen, Klarheit und Schärfe des Verstandes in der
Leitung der verwickelten Debatten — diese Eigenschaften befähigten Fischhof zu
seiner schwierigen verantwortlichen Stellung als Präsident einer Behörde, deren
Wirksamkeit damals über den schwachen Ministerrath hinaus in alle Zweige der
Verwaltung eingriff und von deren Verhalten die Ruhe und Sicherheit der Haupt¬
stadt durch mehr als zwei Monate abhing. Durch seine ruhige und möglichst
gerechte Leitung der politischen Debatten in dieser Versammlung wußte Fischhof
die Sympathien der separatistischen Provinzen der Hauptstadt zu erhalten und wie
sehr er selbst die Achtung des gegen jede revolutionäre Erscheinung erzürnten Mi¬
litärs genoß, geht aus den bekannten Worten General Wallmodenö in Prag her¬
vor: „Pillersdorf — den kennen wir hier nicht. Fischhof — ist ein guter Name."
Daß seine Einsicht in die politischen Verhältnisse Oestreichs anch diese Klasse der
Nation berücksichtigte, zeigte eine glänzende Rede, in welcher er die Versammlung,
deren radikale Elemente sich gegen den Krieg in Italien ausgesprochen hatten, zur
Begeisterung und zu reichlichen Beiträgen sür die östreichische Armee hinriß. Eben
so muthig stellte er sich allen revolutionären Gelüsten der Arbeiter so wie der
Demokraten j>»r korce entgegen. Als eines Tages die Aufregung unter den Ar¬
beitern bedenklich gestiegen war, ließ Fischhof die Nationalgarde uuter dem Ober¬
kommandanten Pcmasch ausrücken. Die Arbeiter nahmen von Stunde zu Stunde eine
drohlichere Stellung ein und der Sicherheitsausschuß selbst fürchtete von ihnen gestürmt
zu werden. Anträge auf Zurückziehung der bewaffneten Macht und Gewährung der
unbilligen Forderungen der Arbeiter wurden gestellt. Aber Fischhof donnerte die
Antragsteller mit fester Entschlossenheit nieder und erklärte einen Jeden für einen
Verräther am Wohle der Hauptstadt, der noch einen ähnlichen Antrag vorbringen
oder den Saal vor Beseitigung der Gefahr verlassen würde. Indessen hatte sich
Oberkommandant Panasch persönlich in Unterhandlungen mit den Arbeitern ein¬
gelassen. Als dies im Ausschusse bekannt wurde, ließ der Präsident dem
Obersten Panasch vor die Versammlung entbieten. Keiner der Zuhörer, welche
in jener Stunde im Saale anwesend waren, wird je den Eindruck vergessen,
welchen die Worte Fischhofs auf den alten Solduten sowie auf die ganze Ver¬
sammlung machte. Mit einer Hoheit des Ausdrucks, welche nur der innere See¬
lenadel und der echte Patriotismus verleihen kann, führte der Präsident des
Sicherheitsauöschusses die Gefahren der Stadt und die Unvorsichtigkeit seiner Hand¬
lungsweise dem Obersten vor Augen und zu Gemüth. LautloseStille herrschte im ganzen
Saale, auf der Straße hörte mau das Gesumme und Murren der aufgeregten
Masse, der greise Panasch bot unter Thränen seine Demission an — ein Augen¬
blick der Spannung und tragischen Erhebung bemächtigte sich der Zuhörer. —
Da nahm Fischhvf wieder das Wort. Sein Gesicht ward wieder ruhig und milde,
die Aufregung des edlen Zorns lag nur noch wie eine Verklärung über seinen
Zügen. Mit einer geistreichen Wendung und mit gerührter Stimme reicht er dem
erschütterten alten Manne die Hand und stellte so die Versöhnung und Einheit
zwischen den obersten Behörden der Stadt und in der ganzen Versammlung, welche
in lautem Jubel ausbrach, wieder her. Fischhof hatte den ganzen Tag den Saal
nicht verlassen, — erst als es Nacht wurde und die Arbeiter, von der Fruchtlo¬
sigkeit ihrer drohenden Stellung überzeugt, auseinandergegangen waren, kounte
der Präsident des Sicherheitsauöschusses daran denken, die Anforderungen seines
Magens zu stillen. Ob ihm aber dies gerade an diesem Tage gelungen, können
wir nicht mit Bestimmtheit versichern, da Dr. Fiscthof, damals der mächtigste
Mann der Monarchie, uuter deu größten Entbehrungen und oft um die nothwen¬
digsten Lebensbedürfnisse verlegen, die Lasten und Sorgen seines Amts führte.
Daß bei einem so entschiedene», ausgeprägten Charakter die Verdächtigungen nicht
ausbleiben, ist leicht zu begreife». Die Demokraten nannten ihn reactionär, die
Reaction sah in ihm den Ausdruck der Revolution. Doch zollten ihm alle Par¬
teien so viel Achtung und fühlten sich so sehr vom Zauber seiner Persönlichkeit
gebannt, daß Niemand es wagte, offen gegen ihn aufzutreten. In einer Vormit-
tagsitznng des Ausschusses wollte eine Deputation mehrerer demokratischen Vereine
die Abwesenheit des Präsidenten, welcher eben beim Minister des Innern im
Auftrage des Ausschusses wegen der direkten Wahlen zum Reichstage verhandelte,
benutzen, um denselben in den Augen der Versammlung als Vertrauten des Mini-
steriums zu verdächtigen. Nachdem Fischhof wieder die Leitung der Debatte über¬
nommen und die Erklärung abgegeben hatten, daß er selbst nud die ihm beigege¬
bene Deputation des Ausschusses von der Unansfnhrbarkeir der directen Wahlen
überzeugt sei, wandte er sich mit dem vollen Ausdrucke der Verachtung an die
Dcpmirten des demokratischen Vereins und diückte dieselbe durch die moralische
Wucht seiner Worte so zu Boden, daß er sie selbst vor den thätlichen Unbilden
der aufgebrachten Versammlung schützen mußte.--
Bei deu Wahlen zum Reichstag ging er als Deputirter eines Wiener Vor¬
standsbezirks aus der Urne hervor. Dies und die Ueberzeugung von der fernern
Haltlosigkeit des Ausschusses selbst bewog ihn die Präsidentenstelle daselbst nieder¬
lege», nachdem er noch wenige Tage vorher die deutsche Neichsdeputativu und
^n Erzherzog Reichsverweser im Namen der Hauptstadt begrüßt halte. Die Rede,
welche ex bei Gelegenheit der Annahme der provisorischen Oberhauptswürde vor
^>n Reichsverweser hielt, war eine der gehaltvollsten und würdigsten unter den
^streichen Reden, welche damals gehalten wurde».
Bald uach seinem Austritt zerfiel auch der Sicherheitsausschuß in seiner innern
Auflösung und an der abnormalen Stellung, welche er gegenüber dem Ministe¬
rn, de,n Reichstag und Gemeinderath einnahm.
Das Ministerium, Dobblhoff suchte sich durch die Requisition Fischhofs, sowie
^"iger anderer Männer seiner Farbe im Reichstag zu stütze». Daß es nicht klcin-
ui)er Ehrgeiz oder Stelleusucht war, durch welche Fischhof zur Annahme bewogen
^'de, zeigt seine ganze Haltung während und nach dem Abtritte dieses Mimi-
'teriums. Er wußte zu gut, daß das Ministerium Dobblhoff für den Libcralis-
MUS das einzig mögliche war und daß mit dessen Abtritt nur die Reaction die
Zügel ergreifen würde. Er opferte gerne seine Popularität und die in seiner
vorherigen schwierigen Stellung erworbenen Vcrwaltungskenntnisse, um eine Ne¬
gierung zu stützen, welche bei festerer innerer Konsistenz unter günstigern Ver¬
hältnissen im Stande gewesen wäre, die Anarchie und die Rückkehr des Despo¬
tismus zu gleicher Zeit unmöglich zu machen. Die Reorganisation des öffentlichen
Medicinalwesens, welches Fischhvf ans seiner eigenen practischen Erfahrung als
Secundärarzt im k. k. Krankenhause kannte, ward vorzüglich in Fischhofs Hand
gelegt. Mit welcher Uneigennützigkeit, Gerechtigkeit und Verachtung alles Pro-
tectivnöwcseus er sein Amt verwaltete, davon möge ein kleiner Zug, welcher aber
den ganzen Mann charakterisirt, hier Zeugniß geben. Auf der Reise uach Galli-
zien, welche Fischhof im Auftrag der Negierung zur Inspection der Sanitäts-
anstaltcn machte, besuchte er einen seiner besten frühern College» und Freunde,
welcher in einem kleinen Städtchen der Buckowina unter drückenden Nahrungs¬
sorgen lebte. Dieser bat ihn, ihm eine Kreisarztstelle, welche in der Nähe zu
vergeben war, zuzuwenden. Fischhof versprach, so viel in seinen Kräften liege,
zu thun. Bei dem Ansehen, welches Fischhof als oberster Ministerialbeamte und
seiner Persönlichkeit halber genoß, wäre es ihm leicht gewesen, ein festes Ver¬
sprechen zu geben und zu halten. Aber er wollte seinen persönlichen Einfluß in
keiner Weise geltend machen. Als der Protomedicus des Gnbernialbezirks nach
amtlichen Gebrauch drei Candidaten als die tauglichsten für die Kreisarztstelle
vorschlug, fand sich der Name jenes Freundes nicht darunter, und Fischhos wählte
Namens des Ministeriums Einen der drei fremden vorgeschlagenen Candidaten.
Er entfernte mit Energie viele Mißbräuche und untaugliche Personen aus der
obersten Verwaltung der Hospitäler") und arbeitete an der Spitze einer Commission
für die Umgestaltung der Fakultätseinrichtnngen. Ueberdies war ihm das Departe¬
ment der Wiener Angelegenheiten übertragen. — Fischhof traf erst wenige Tage
vor dem 6. Octbr. von seiner galizischen Reise in Wien ein und die Revolution
überraschte ihn eben so wie viele Patrioten, welche seine Gesinnungen theilten.
Während die meisten Ministcrialbureaus verlassen waren, hielt er es für seine
Pflicht, an der Seite des Finanzministers allein auszuharren und nahm zugleich
als NeichStagsmitglied an der Pcrmanenzcvmmissivn Theil. Daß er hier nur
mäßigend wirkte und für Versöhnung der Parteien sprach, bezeugen die Protocolle.
Als das Ministerium Stadion die oberste Verwaltung übernahm, gab FischM
seine Entlassung ein. Stadion sell'se wollte sie nicht annehmen; aber Fischhof konnte
sie unter der Bedingung, mit dem Ministerium im Reichstag zu stimmen, »ich
behalten. Wenige Tage vorher hatte selbst eine Deputation von Aerzten, welche
ihre amtliche Stellung dem Wirken Fischhoss zu verdanken hatten, in widriger Be-
lagerungSzustandgcsinnung beim Minister des Innern um Entlassung Fischhofs petitio-
nirt! Greis Stadion antwortete: Man würde ihm (dem Minister) einen solchen Schritt
als Verleugnung des März auslegen. Die Militärgewalt jedoch kümmerte sich
nicht um die öffentliche Stimme und brachte Fischhof gleich nach Auflösung des
Kremsier Reichstags in den Kerker. Dort sitzt nun der Mann, welcher Oestreich im
Jahre 1848 aus vielen innern Drangsalen gerettet und harrt des Urtheils, das
ihm auf Grundlage gemeiner Denunciationen und des östreichischen Kriminalgesetz-
bnches, das die Märzbewegung nie anerkennen kann, gesprochen werden soll.
Die Bevölkerung Wiens bezeigt dem edlen Liebling ihre stille Theilnahme, indem
ihm von unbekannten Händen zahlreiche Geschenke und Aufmerksamkeiten in seine
einsame Klause zugesandt werden.
Adolf Fischhof ist 1817 in Pesth geboren, hat daselbst und in Wien seine
medicinischen Studien vollendet und wurde im Jahre 1846 Secundararzt am k. k.
allg. Krankenhause zu Wien. Als practischer Arzt genießt er das volle Vertrauen
seiner College« und zeigt in seiner medicinischen Praxis dieselbe Ueberlegenheit deö
Geistes und Festigkeit der Grundsätze, welche er im politischen Leben bewie¬
sen hat.
Viele Freunde Fischhofs fürchten, daß sein Charakter unter der Wucht seines
unglücklichen Schicksals erliegen würde. Wer aber die echt republikanischen Tu¬
genden*), die tiefe patriotische Begeisterung und Seelenstärke Fischhofs kennt,
welche ihm jedes Opfer, das sich mit der freien Manneswürde verträgt, für das
Gemeinwohl möglich macht, der wird keine solche Befürchtungen hegen.
Der Adel einer menschlichen Seele drückt sich gewöhnlich auch in der äußern
Persönlichkeit aus. Dies ist bei Fischhof der Fall. Eine kräftige Gestalt, Würde
»ut Ausdruck in jeder Bewegung, ein Gesicht, wie wir es an den antiken Büsten
des Jupiter sehen, fest und kernig in den äußern Formen, aber milde und fein
in den Zügen, breite, den Ausdruck der Gedanken bezeichnende Stirn/ein klares
braunes Auge, voller Bart, — dies gibt beiläufig ein Bild jenes Mannes, den
jeder Oestreicher, welcher Nationalität und welcher Partei er auch angehöre, mit
Stolz und Liebe seinen besten Landsmann nennt. Fischhof ist der Patriot des
neuen Oestreich. Altöstrcich hält ihn gefesselt, als wollte es in ihm den Geist des
vergangenen Jahres gefesselt halten.
. . . Sehen möchte ich das Geficht, mit welchem Sie die letzten Liebesbriefe
Schwarzenbergs an Deutschland lesen; ich meine die Noten an Prokesch in Berlin
und Schmerling in Frankfurt. Es hätte dem Cabinet nicht geschadet, mit etwas
weniger Brutalität seinen „Guten Morgen!" zu sagen. Aber es ahnt nicht —
ich weiß dies aus guter Quelle — daß es wie Mrs. Candle das letzte Wort ge¬
habt hat. Fürst Schwarzenberg meint, sich eben nnr wie ein gutmüthiger pol¬
ternder Alter benommen zu haben, und Deutschland, der verlorene Sohn, werde
schon wieder bescheiden an Haus Habsburgs Thüre klopfen.
Ich muß den armen Schwarzenberg und den altfränkischen Stadion ein we¬
nig in Schutz nehmen. Es ist mit ihrem Jesuitismus nicht so weit her. Ein
Nilpferd konnte durch die Maschen ihrer Netze schlüpfen. Uebrigens gingen sie
in der deutschen Frage mit den naiven Anschauungen des gebildeten Wienerthums
Hand in Hand.
Jetzt stehen die Minister wieder an demselben Berge wie im December, als
Gagern ihr Programm vom 27. November beim Worte nahm. Damals sagten
sie: Deutschland für sich und Oestreich für sich. Beide sollten, unabhängig von
einander, sich constituiren, dann ein inniges Bündniß schließen. Sehr wohl. Nur
hegten sie deu Hintergedanken: Wir werden uus constituiren, die Deutschen
unmöglich. Dann müßten sie ja nicht Deutsche sein. Wären sie aber, wider Er¬
warten, doch so verrückt, vernünftig werden zu wollen, so sagt man dem Czaren:
Leid's nicht! Vielleicht kommt es zu ein paar kleinen republikanischen Krawatten
in Berlin, Frankfurt und Karlsruhe. Desto besser. Belagerungszustand wie hier
und gesunde Reaction! Schraubt man in Deutschland die Geschichte um ein Jahr
zurück, so darf mau dann hier zwanzig Jahr weit zurückgehn.
Damals stand die grinsende Kroatenromantik > in höchster Blüthe und das
gutgesinnte Wien schwelgte mit blödsinnigen Cynismus in der Verachtung Deutsch'
lands. Allen abgestandenen Spott auf Deutschland, den Russen und Franzosen
ersonnen oder unseren eigenen Schriftstellern abgelernt haben, kauten sich die ge¬
müthlichen Wiener zum Morgen - und Abendgebet vor. Der Metternichsche Atheis¬
mus, der nur an Geld und Bajonnette glaubt, ist hier noch lang nicht ausgeschwitzt,
und die phäakische Unwissenheit über das Land, dem sie Alles verdanken, was sie
von Nuthenen und Slowaken unterscheidet, ist so dick, daß sie selbst von den prak¬
tischen Interessen, welche zur deutschen Einheit drängen, keine Ahnung haben.
Erwähnte man die geistige Macht der Nation, so hieß es: Bah! Neuß-Kreuz!
Sogar um das schwarzgelbe Standrecht wähnten sie beneidet zu werden. „Huh!
Da draußen geht's wild her. Die wären froh, wenn unser Windischgrätz bei
Ihnen sauber machte!"--
Unbegreiflich war es den wackern Wienern, daß Deutschland nicht in Ohn¬
macht fiel*), als der vornehme Fürst Schwarzenberg es verstieß und enterbte.
Das Ministerium! aber hatte kaum die ernste Stimme Gagern's vernommen und
das Wort Bundesstaat, als es sein Programm umdeutelte: „Das ist ein Mi߬
verständnis So war es nicht gemeint. Oestreich soll ein Bundesstaat werden,
Deutschland ein Staatenbund bleiben, damit wir jeden Augenblick wie der Wall¬
fisch zwischen die Häringe fahren können." Dazu die wärmsten Versicherun¬
gen deutscher Gesinnung. Oestreich sei noch immer herablassend genug, die
erste deutsche Macht bleiben zu wollen. Man ließ sogar durchblicken, Franz
Joseph I. würde die mitteleuropäische Kaiserkrone huldvoll annehmen; denn sei
man nnr der westphälischen, pfälzischen und dänischen Fäuste gewiß, so werde man
den Geier nach dem Brummen der Magyaren, Serben, Kroaten und Ruthenen
fragen. Von Stadion kann ich speciell versichern, daß er wirklich (bureaukratisch)
deutsch gesinnt ist. Gegen das Völkergcwimmel im Osten, selbst gegen seine Origi¬
nalnationalitäten, die er aus dem Koth der Wildniß gestampft und mit k. k. gestem¬
pelt hat, ist er deutsch, d. h. er wünscht ihnen deutsche Hiebe: gegen die gebor-
nen Deutschen ist er kroatisch. —
Da rief der tapfere Heinrich, der schon als Knabe bei Waterloo für die gute
Sache geblutet: Eure bundestägliche Hoffnung wird zu Schanden werden!
Das klang, das traf. Jedes ehrliche Herz in Wien bebte vor Frende, die
„Gutgesinnten" verzogen höhnisch den Mund.
Das Ministerium ließ sich in seinem Raisonnement nicht irre machen. Wie¬
ner Zeitung, Lloyd, Oestreichischer Korrespondent, Geißel?c. sangen im Chor:
Sie sollen ihn nicht haben, den deutschen Staatenbund! Ein allmächtiges Oest¬
reich ist das erste Bedürfniß Gottes; da nun Oestreich einen deutschen Staaten-
bund nicht beherrschen könnte, so darf er nach dem Natur- und Menschenrecht nicht
zur Welt kommen. Will Italien frei und einig werden, so mache es Franz Jo¬
seph zum Kaiser, eben so Deutschland. Die einfältige Verwechselung Deutschlands
mit Italien ist so lockend für den gutgesinnten Unverstand! Der officielle Oest¬
reicher ist ein Kind mit Bart und Perrücke. Abgesehen von seiner fabelhaften Jg-
noranz über Deutschland — man kennt es in Petersburg besser als hier — scheut
er sich nicht die naivste Selbstsucht zur Schau zu tragen. Ein Typus dieser Race,
mein Nachbar Kappelbaumer, geht mit den Männern in Frankfurt um wie mit
den „böswilligen Buben" in Wien. Da es hier ministerieller Styl ist, Pillersdors
— diese blutdürstige Turteltaube — in einen Sack mit Marat und Kühnapfel zu
werfen, so wird es Herrn Kappelbaumer unmöglich, zwischen Gagern und Chaises
einen wesentlichen Unterschied zu machen. Nach Tische, wenn seine geblümte Weste
einen kühnen umgekehrten Spitzbogen bildet, wendet er sich mit drohendem Zeige¬
finger gegen das Ausland. „Ja, die sakrischen Norddeutschen - das sind per¬
fide Gesellen — sind gar nicht gut östreichisch. — Baiern, braves Volk! — Die
Berliner falsch, falsch, und der König dort ganz wie Carlo Alberto. — Aber wart
nur, wir werden ihm Schlesien nehmen"); die Schlesier haben so noch große Sym¬
pathien für Maria Theresia. — Ha, ha, wenn die Seresaner einmal in Frank¬
furt die Hauptwache beziehen! Die werden schauen, die schlechten Kerle." —
„Lieber Herr Kappelbaumer, ich fürchte nur, das Ministerium in London hält's
mit Deutschland." — „Sie haben Recht, ist gar nicht gut östreichisch gesinnt.
Aber wir werden's den Engländern schon gedenken."
Ich hätte Lust, bei meinem Freunde Kappelbaumer zu bleiben, den ich nicht
einmal karrikirte und das Ministerium durch seinen Mund sprechen zu lassen, aber
die Sache ist zu traurig für den Scherz.
Ans endemischer Begriffsverwirrung wurden selbst ehrliche Deutschöstreicher
Bundesgenossen des Cabinets. Theils ließen sie sich von übermächtigen Preußen¬
haß fortreißen, theils ergriff sie panischer Schrecken über das czechische Beifall¬
klatschen zum Plane Gagerns. Statt einzusehen, daß ein respecteinflößendes Deutsch¬
land der einzige moralische Rückhalt für die Sache des Deutschthums und der
Cultur in Oestreich wäre, wollten sie kleinmüthig an der eignen Kraft verzweifeln,
sahen sich wie die Elsasser von Deutschlands Tisch und Bett geschieden, wähnten
sich schon hannakisirt, czechisirt und magyarisirt. Als wären die Drahtenbinder
Franzosen! . . .
Noch blinder triebens die östreichischen Abgeordneten in Frankfurt. Sie träumten,
Vertreter eines souveränen deutschöstreichischen Volkes zu sein — daß Gott erbarm!
— und waren Schwarzenberg'sche Uhlanen, zur Sprengung des Parlaments beordert,
ohne es zu wissen. Doch, was erzähle ich Ihnen? Die Liga von Oestreichern,
Ultramontanern und rothen Republikanern ist ja gesprengt. Wehe den Hiesigen,
die bei der Kaiserwahl in Frankfurt stimmten — sie sind im schwarzen Buch vor¬
gemerkt — aber auch Jener wird man keinen Dank wissen, die in der elften Stunde
zur Besinnung kamen und sich der Abstimmung enthielten. Auf Mehrere, wie
Giskra, Hartmann u. s. w. wird gefahndet, sobald sich ihr Schatten über die
Grenze wagt.
Felsen baut das gutgesinnte Wien jetzt auf die Unentschlossenheit des Königs
von Preußen und vermuthlich, um ihn in seinem Schwanken zu befestigen, schlen¬
derte Schwarzenberg seine letzten Monstrenoten nach Berlin und Frankfurt, Deut¬
lich steht darin geschrieben, daß Oestreich mit seinem Plane, Frankfurt zu krcm-
sicrisiren, von Preußen abgewiesen wurde und dann erst mit der Paulskirche sich
von Neuem verständigen wollte. Als dies nicht gelang, nahm es die durchsichtige
Larve ganz ab. Es beruft sich auf den Wiener Kongreß, weckt den todten Bun¬
destag auf, erklärt das Parlament für ungesetzlich, den vom Parlament berufenen
Erzherzog Johann will es als absolutistischen Reichsverweser bestätigen, endlich
spricht es im Namen der Regierungen, also auch Preußens, gegen die
Reichsverfassung!----
Deutschland verdient, das ewige Gespött der Welt zu bleiben, wenn es dem
Wiener Cabinet diese frechen Note» nicht zerrissen vor die Füße wirst.
Wenn Sie ein interessantes Schauspiel mit ansehen wollen, so eilen Sie so
rasch als möglich nach Wien; unsere Bclagernngs-Nebukadnezare werden wahr¬
scheinlich nächstens auf offenem Markte Gras zu fressen anfangen, wenigstens haben
sie schon die Vorstudien gemacht und die Gemüther hinlänglich vorbereitet. Viel¬
leicht haben Sie zufällig in irgend einem Wiener Blatte eine Proklamation von
unserem bisherigen Civil- und Militärgonverneur Melden gelesen, in der er dem
Publikum in seiner bekannten Weise die Entdeckung mittheilt, daß einige freche
Buben sich erfrecht hätten, freche rothe Abzeichen zu tragen, und daß er sich des¬
halb bemüßigt sehe, besagte freche Abzeichen kriegsrechtlich zu untersagen. Was
dieser neue Geniestreich eigentlich zu bedeuten hatte, weiß Niemand, ist auch unnütz,
danach zu fragen; vielleicht sollten dadurch blos die rothen Scrcssaner, die jetzt
das treue Wien bewachen, ein desto besseres Relief erhalten. Genug, der Befehl
Kar da, die Elasticität der Kategorie „freche Buben" kannte man ans Erfahrung
hinlänglich, und alle rothen Bänder, Halstücher, Schnupftücher u. s. w. verschwan¬
den alsogleich; aber unsere Polizei, die sogenannten Cicherheitsmänncr, die herum¬
gehen wie brüllende Ochsen und suchen, was sie denunziren und „einführen" d. h.
arretiren können, wußten Rath: sie arretirten — ich erzähle Ihnen wahre, ver¬
bürgte Geschichten — einen Mann, der das rothe Bändchen der goldnen Ver¬
dienstmedaille im Knopfloche trug; aber das ist noch nichts, sie rissen einem Mäd¬
chen die rothen Korallen ab, die es in den Ohrgehängen trug; aber das ist noch
nichts sie gaben einem Kindermädchen, das einen Säugling auf der Bastei spatzieren
trug, dessen Häubchen mit rothen Bändern geziert war, die Weisung, augenblicklich
nach Hanse zu gehen und dem Kinde die rothen Bänder abzunehmen, widrigen¬
falls sie mit sammt dem Kinde „eingeführt" werden solle! — Es gibt eine Krank¬
heit — ich glaube sie heißt Diabetes — die allen Nahrungsstoff, der dem Körper
zugeführt wird, in Zucker verwandelt; gewöhnlich ist sie unheilbar; das arme
Oestreich laborirt jetzt, Dank der Geschicklichkeit seiner Aerzte, an einem solchen
HochverrathSdiabetes, der selbst aus den Häubchen der Säuglinge Hochverrath zu
bereiten weiß; ich fürchte, die Krankheit ist unheilbar!
Ich kann Ihnen den deprimirenden Eindruck nicht beschreiben, den die ganze
irrationelle verächtliche Wirthschaft hier — ich brauche sehr milde Ausdrücke —
auf Jeden machen muß, der wie wir, das Bestehen eines vernünftigen östreichi¬
schen Staates von jeher aufrichtig gewünscht hat; für den freilich, der auf den
Auseinanderfall Oestreichs spekulirte, stehen die Aktien jetzt günstiger als je. Nie
waren große Entschlüsse, große Maßregeln nöthiger in Oestreich als jetzt, und nie
war weniger Aussicht dazu da, daß die rechten Männer sich finden werden. Der
ungarische Krieg ist die Lebensfrage für Oestreich; sichere Nachrichten vom Kriegs¬
schauplatze fehlen uns hier seit den letzten Tagen durchaus, aber, wer auch nur
die letzten verrückten Bulletins gelesen hat, in denen bald vorwärts retirirt, bald
rückwärts vorgedrungen, bald ein Sieg erfochten wird, dessen glänzendes Resultat
ist, daß man auf dem Rückzüge von dem Feinde nur wenig belästigt worden, weiß,
daß es dort ganz verzweifelt steht, und wer es noch nicht weiß, der kann es ans
dem Lloyd herauslesen, der mit einem Male höchst sentimental wird, die Entdeckung
macht, daß die scheußlichen ungarischen Rebellen die besten Patrioten, und nur
etwas unklare Köpfe sind, mit denen man sich schleunigst verständige« müsse. Ver¬
ständige euch jetzt einmal, nachdem ihr es durch eure brutale Verachtung der
„feigen ungarischen Rebellen" dahin gebracht habt, mit dem heißblütigen Magyaren,
dessen Stolz. Uebermuth und Selbstüberschätzung wenigstens noch dreimal so groß
ist als seine Tapferkeit; wir wollen sehen, was dabei herauskommt! Wie die Sachen
jetzt stehen, müßte der letzte Hauch von Mann und Roß aufgeboten, nöthigenfalls
die ganze Armee aus den italienischen Provinzen, die man auf diese Weise wenig¬
stens noch mit Ehren los werden könnte, herausgezogen und nach Ungarn geworfen,
und die Insurrektion um jeden Preis bewältigt werden, dann, aber erst dann
könnte man von Verständigung sprechen. Aber freilich, wo soll die Energie her¬
kommen? es ist davon zuviel auf die Executionen im Stadtgraben und die Ver¬
haftung von Säuglingen verwendet worden; an den dummen Schnickschnack von
Patriotismus nud dergleichen darf man ohnedies nicht appelliren; rufen doch selbst
die Slaven schon: Eljen Kossuth!
Doch halt, ja! nach der falschen Seite hin, nach Deutschland entwickelt
wenigstens das östreichische Ministerium noch immer einige Energie; es scheint
instinktmäßig zu fühlen, daß man in Deutschland noch immer zuvorkommend genug
ist, hinter der einfachsten plumpsten Dummheit eine äußerst schlaue und gefährliche
Perfidie zu wittern, gegen die mau nicht vorsichtig und sein genug operiren könne.
Wird man in Deutschland und namentlich in Preußen nicht endlich eürsehen, daß
auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört, und daß Unverschämtheit nicht
immer ein Zeichen von Kraft ist?
I'. 8. Die Grenzboten sind doch ausgegeben morden, nachdem sie eine Woche
auf der Stadthanptmannschaft, krumm geschlossen, gelegen hatten.
Als ich kurze Zeit nach den Barrikaden einem Freunde, der gemeinschaftlich
mit mir in einem Club zuhörte, wie „die Fürsten, was leicht zu entscheiden war,
in wechselndem Gespräch beriethen," die Absicht äußerte, das Theater zu besuchen,
sah er mich mit einem bedenklichen Blick an, als ob er besorgte, ich werde über¬
schnappen. So war damals die Stimmung ziemlich allgemein. Seit dem Bela¬
gerungszustand ist das anders geworden. Zerstreuung muß der Berliner haben,
und kann er sich nicht mehr an den Staatsgesprächen des souveränen Lindenclubs
oder irgend eines Vereins zum Besten deS notleidenden Europa amüstren, so
flüchtet er aus der bittern Realität der Constablerherrschaft in die freie, heitere
Welt des Scheins. So ist denn unter den Märzerrungenschaften auch die verloren
^gangen, ohne erhebliche Kontusionen zu allen Zeiten ein Billet erwerben zu
können. Berlin hat sich zwar durch Ausweisungen verkleinert, aber das trifft mei¬
stens nur die kleinen Leute; die Aristokratie hat ihre alte Stätte wieder aufgesucht.
Mau kann für den Communismus i» »dstr-lLto schwärme», in dem Opern¬
haus läßt man sich die Existenz von Privatcapitalien gefallen. Es ist zu ange¬
nehm, auf deu bequemen Lehnstüylen zu sitzen, umgeben von allem Luxus einer
Hofbühne, vor sich eine vortreffliche Musik, glänzende Toiletten, hübsche Ge¬
mälde und aller sonstige Aufwand, durch welchen unsern Nebenmenschen das Brot
^utzogen wird. Für ein communistischcs Herz sind diese Sitze viel zu breit, wenn
wan sich etwas zusammendrückte, hätten bedeutend mehr Brüder Platz. Die Lo¬
yalität wirkt übrigens auf die Gcstnuuug ein; ich habe bemerkt, daß das Publi¬
kum des Schauspielhauses entschieden demokratisch ist, während das Opernhaus
steh fast der äußersten Rechten zuneigt. Als im Don Juan bei der berühmten
stelle, wo die Soli mit dem ganzen Chor vorwärts treten, und singen: Es
lebe die Freiheit! — eine Stelle, die in dem alten Polizeistaat stets mit donnern-
dem Applaus ausgenommen war — im Parterre geklatscht wurde, hörte man von
den Logen ein freilich nicht lautes Zischen. Das sollte wohl uicht so viel heißen,
als: Nieder mit der Freiheit! denn soweit ist man denn doch hier, daß ziemlich
jede Classe sich für die Freiheit interesstrt, sondern man wollte nur durch die Fern-
haltung politischer Empfindungen die aristokratische Reinheit des Kunstgenusses
aufrecht halte«. Dagegen war im Schauspielhause, als Egmont gegeben wurde,
das ganze Publikum außer sich; die tapfern Aeußerungen des jungen liberalen
Edelmanns zu Gunsten des gedrückten Volks wurden mit unbeschreiblichen Beifall
aufgenommen, was mich eigentlich wunderte, denn man kann Egmont doch höch¬
stens zum linken Centrum rechnen, nud Berlin ist äußerst links; aber es war
wohl das Bild des Belagerungszustandes, was ihm die Sympathien gewann.
Würde doch Rodbertus, obgleich ein Gemäßigter, zweimal gewählt, weil er von
Wrangel und Hinkeldey ausgewiesen war. Die feige Bourgeoisie — die Jetter
u. f. w. — wurden als Belege der seit L. Biene ziemlich allgemein angenom¬
menen Glaubensartikel mit gebührender Anerkennung begrüßt.
Am lebhaftesten fielen mir die politischen Verhältnisse ein bei einem Stück,
das bis jetzt wohl ziemlich selten auf den Brettern erschienen ist: die Familie
Schro fsenstein von H einrieb v. Kleist. Zwei verwandte Familien, die einen
Erbvertrag mit einander geschlossen haben, und von denen daher jede geneigt ist,
der anderen den Wunsch ihres Untergangs zu impuliren, werden durch das ge¬
genseitige Mißtrauen nicht nur in eine Art partieller Verrücktheit versetzt, sondern
auch zu den scheußlichsten Verbrechen getrieben. Ganz wie die Linke und Rechte,
die Trojaner und die Danaer, wie der technische Ausdruck lautet. Wenn heute
das Ministerium Manteuffel in der Kammer den Antrag stellte, seine sämmtlichen
Mitglieder aufzuhängen, so wird die Linke ausrufen: ümeo D-ni-roh! et äoni«, le-
reutet, und dagegen stimmen. Und auf der andern Seite würde es uicht viel
anders sein. Zu nächtlichen tteberfällen, Mordthaten n. f. w. führt das in un¬
serm aufgeklärten Säculum weniger, wohl aber zu einem sinnlosen Widerstand,
in dem eine Kraft die andere aufhebt, bis aus der vollständigen Unthätigkeit eine
allgemeine Fäulniß des staatlichen Lebens hervorgeht.
Die politischen Parteiungen haben sich, wie natürlich, auch der Künstler be¬
mächtigt. Wie man es bei einer Hofbühne erwarten kann, ist die große Mehr¬
zahl loyal — in der französischen Revolution war es derselbe Fall. Vielleicht sind
die Augriffe, die Herr v. Küstuer, nicht gerade aus politischen Gründen, zu
erleiden hatte, zum Theil Schuld daran. Als geschlossene Phalanx schaaren sich
Frau Birch - Pfeiffer, die Crelinger-Stich-Hoppvsche Familie, Hen-
drichs, Döring, um den Thron, um ihn gegen die Angriffe der rothen Republik
zu decken. Dagegen hat man unsere Freunde, Fräulein Unzelmann nud Herrn
Wagner, stark im Verdacht des Carbonarismus. T le erstere hat durch die Fein¬
heit, das Maaß und den Verstand ihres Spiels nach ziemlich schweren Käinpfw
den besseren Theil des Publikums für sich gewonnen, und ihr Abgang ist kei¬
neswegs eine Folge geringer Anerkennung, sondern ein Einfall des Herrn von
Küstner. Bei dem zerfahrenen, zerstreuten Wesen des Berliner Schauspiels,
wo ein eine wirkliche Hingebung an die gute Sache der Kunst keine Rede ist, würde
ihre Stellung dort immer unerfreulicher sein als in Leipzig, wo, wie Sie wissen,
ihr Einfluß vorzugsweise es war, der das innig in einander greifende Zusammen¬
spiel möglich machte, das Leipzig eine kurze Zeit lang unter die Reihe der vor«
züglichsten Theater Deutschlands erhob.
Die Koryphäen des Berliner Theaters — mit Ausnahme der alten Schule,
die noch immer vorzügliches leistet: Frau Crelinger, Weiß :c. . . — wer¬
den allmälig schwach. Herr Hendrichs ist für eiuen ersten Liebhaber eigentlich
doch schon zu fett, Herr Hoppe, Seydelmaun's Copist, ist schwindsüchtig und
hat fast gar keine Kräfte mehr anlzngeben. Herr Dbring, der sich bei „Lutter
und Wegener" auf Devrient-Seydelmanusche Weise zu bewegen liebt, hat sich
dnrch den Beifall der Masse verführe» lassen, seine geniale Komik bei jeder Vor¬
stellung mehr zu chargiren, immer neue drollige Einfälle einzuschieben, so daß zu¬
letzt von Wahrheit und Natur gar keine Rede mehr ist. Bei Rollen, welche an
sich Chargen sind, und nur als solche Berechtigung haben, wie z. B. Dorfrichter
Adam in Kleist's zerbrochenen Krug, ist dieses Spiel vollkommen anzuerkennen;
auch in einzelnen Charakterrollen, wie z. B. in dem schablonenhaft angelegten Po-
sert in Iffland's Spieler, leistet er wunderbares. Wo er aber, der bloßen Ko¬
nnt wegen, die Rolle vollständig umkehrt, wie Elias Krumm in „der gerade
Weg ist der beste", erreicht er zwar den unmittelbaren Eindruck vollständig, denn
wan kommt aus der Ueberraschung und dem Lachen gar nicht heraus, aber wenn
^an zur Ueberlegung kommt, so überwiegt doch die Empfindung falsch angewende¬
ter Kräfte. Man würde es ganz natürlich finden, wenn der alte Major und
Kirchenpatron einem solchen Burschen, der sich mit tameelartig gebogenem Halse,
blonden Haaren und grotesk ontrirten Marktschreierton als Kandidat der Theolo¬
ge vorstellt, im Aerger zuriefe: Herr, Sie wollen mich nur vexiren! Sie sind gar
^in Candidat der Theologie, sie sind ein herumreisender Komödiant, der es sich in
Kopf gesetzt hat, mich zum Narren zu haben.
— Der beste Kunstgenuß, den Berlin in diesem Augenblick bietet, ist die
italienische Oper — welche übrigens in dieser Saison das anerkennenswerthe Stre¬
bn zeigt, einmal von Bellini und Donizetti abzusehn, und sich zur classischen
^usik, zum Theil auch zur fremden, zurückzuwenden. Mit der Letztern will eS
"lehr recht gehn; weder Mozart iMntt» innZic«; Don Giovanni) noch Ander (Fra
Diavolo) will sich, bei aller brillanten Ausführung im Einzelnen, als Ganzes in
italienischen Kehlen aufnehmen; dagegen sah ich zwei ältere italienische Opern, it
""termed),^ ««.Areto von Cimarosa und den Barbier in einer Vollendung, die fast
nichts zu wünschen übrig ließ. Die erstere, eines von den Meisterwerken der alten
Schule, ist gar zu sehr von unserm Repertoir verschwunden und überhaupt ver¬
liert die komische Oper immer mehr ihren eigeutlichni Charakter freier Heiterkeit.
— Die Seele der Oper ist Signora Fodor. Wenn ich Muße hätte, würde ich
mich hier in ein weitläufiges Entzücken verlieren. Eine Stimme, die zu den schön¬
sten gerechnet werden muß, die ich gehört habe, und die an reinem Wohllaut
eigentlich alle übertrifft, eine vollendete Gesangbildnng, ein ebenso feines als an-
muthiges Spiel, das sich zwar am freiesten in heitern Gestalten, wie Rosine, be¬
wegt, das aber auch einer Tigerkatze, wie der Priesterin Norma, vollkommen ge¬
recht wird. Neben ihr ist vor Allem zu nennen der Tenor Labocetta, eine
weiche, schöne Stimme von mäßiger Kraft, Rinaldini, der Figaro, Catalani,
der Dvttore, etwas grotesker, als es gerade nöthig wäre; der Heldentenor P a r-
dini und die beiden Damen Normanni (wie ich höre, eine geborne Engländerin)
und Dogliotti reichen gerade hin, um ein gutes Ensemble zu schaffen. — Wenn
der Communismus siegt, wird Signora Fodor jedenfalls enthauptet werden. Man
hat früher über die Aristokratie der Geburt geklagt, jetzt gilt es mehr der Aristo¬
kratie des Geldes, die Conseqncntcn haben auch schon gegen die Aristokratie des
Verstandes Bußpredigten gehalten, aber auf die Aristokratie der Stimmen ist noch
Niemand gekommen, und doch ist sie eine der unerträglichsten. Wie viel Schwal¬
ben können auskommen mit dem Tonvorrath, den diese einzige Nachtigall leicht¬
sinnig verschwendet, statt ihn zu gemeinnützigen Zwecken zu verwerthen.
Die königliche Oper kaun eigentlich als Ganzes, trotz ihres Aufwandes, mit
der herumziehenden Italienischen nicht wetteifern. Bei den wankelmüthigen Ber¬
linern hat Frau Schlegel-Köster den Sieg über die früher übermäßig vergöt¬
terte Fräulein Tuezek davongetragen; sie wird jedesmal bei ihrem Eintritt mit
Beifallsklatschen empfangen und überall anerkannt, sie mag unternehmen was sie
will, z. B. einen recht spitzen Ton so lange als möglich anhalten, was bei eini¬
germaßen empfindlichen Nerven wie ein Messerstich wirkt. Fräulein Tuczek ist in
Prinzcssiunenrollen und als Soubrette, wo sie sich aber gleichfalls als verkleidete
Prinzessin gerirt, höchst erfreulich, obgleich sie etwas mehr lispelt, als gerade
unumgänglich nothwendig wäre. Fräulein Marx, die lange Zeit die Ungunst
des Publikums zu tragen hatte, ist jetzt wieder ziemlich rehabilitirt; sie hält sich
an kleinere Rollen und leistet dann zum Theil Bortreffliches. Fräul. Brexen-
dorf hat eine bedeutende Stimme, ich habe sie mit der Lind zusammen gehört,
der sie an Stärke nicht das Mindeste nachgab, aber was hilft eine große Stimme
einer Sängerin, die ohne Seele ist? — Mit Martius und Ziesche ist es
völlig vorbei; neulich, im Wasserträger, konnte ich, obgleich ich ganz nahe vor
der Scene saß, und die süßen Gesichter wohl bemerkte, durch die Herr McmtiuS
anzudeuten Pflegt, daß er singt, keinen Ton von ihm hören. Such Böttichers
Stimme verliert täglich mehr an musikalischen Inhalt und nimmt dafür an Rau¬
heit zu. Der einzige Sänger von Bedeutung ist Krause.
Das Repertoir der Oper ist reichhaltig genug und im Ganzen gewählt. Im
Lauf von etwa drei Wochen sah ich den Don Juan, Zauberflöte (wie mag es
kommen, daß gerade in unsern Tagen dieses wunderliche Machwerk wieder mit
so großem Eifer von allen Seiten in Scene gesetzt wird?), Cherubini'ö Wasser¬
träger, Oberon, Mcirtha und eine neue Oper von Nicolai, die lustigen Weil'er
von Windsor, ziemlich getreu nach dem Shakespear'schen Lustspiel arrangirt. Diese
Komödie trägt mehr als eine andere von Shakespeare den altenglischen Charakter:
eine willkürlich aneinandergereihte Handlung, die eigentlich aus einer Reihe von
Episoden besteht, mit sehr detaillirter und genrehafter Ausführung der einzelnen
Figuren. So- viel man über das Einzelne lachen muß, als Ganzes ist sie lang¬
weilig. In der Oper ist diese Willkür und Zusammenhanglvsigkeit geradezu un¬
erträglich, und der Versuch, den halb französischen Jargon des Doctor Cajus,
sowie die albernen Einfälle des Junker Schmächtig in Musik zu setzen, eine wahre
Monstrosität. Zuletzt läuft es dann auf ein Ballet hinaus, einen nicht blos nach¬
geäfften, sondern wirklichen Feentanz mit obligaten Gnomen in der „mondbe-
glänzten Zaubernacht," welche aus den Wily's entlehnt ist. Von der Musik ver¬
sichern Kenner, daß sie untadelhaft sei, jedenfalls ist sie übermäßig ermüdend.
Ich komme auf die Creme des Berliner Theaters, das Ballet. Hat es anch
seit 1840 viel von seinem Glänze verloren, so lockt es doch noch immer die Di¬
plomaten zahlreich in ihre Prosceniumslogen, und ein auserwähltes Publikum,
dem man es ansteht, daß es an Jmme-^out gewöhnt ist. Gerade als ich nach
Berlin kam, trat Fräulein Marie Taglioni, der Liebling des Berliner Tcmzvcr-
ständigen, zum letzten Male ans in „Thca oder die Binnensee." Seitdem hat
Fräulein Lucile Grcchn, königl. Großbritannische Hoftäuzerin, die Sie schon von
^'pzig her kennen, in einer Reihe von Gastrollen figurirt. Sie hat bei Weitem
nicht den Enthusiasmus erregt, den Fanny Cerrito durch ihre kühnen Bcinschwen-
kungen hervorzulocken wußte; Fanny wurde durch ein beständiges, halb wahn¬
sinniges Beifallsklatschen getragen, bei Lucile erfolgt der Applaus erst, wenn sie
^ der schicklichen Tänzerstellnng auf den Zehen vor das Orchester tritt und einen
sägenden Blick ins Publikum wirst: Nun, was sagt ihr dazu? Es ist zum Theil
^uceizz ^'o8tuo. Dieser Unterschied liegt in den Persönlichkeiten. Fanny war
°in rundes, behaglich freundliches Figürchen, man wollte ihr wohl und konnte
über ihre wunderlichen Sprünge herzlich lachen; wenn aber eine sehr große, schlanke,
fast hagere Dame, mit einem Gesicht, das eher geistreich aussieht als reizend,
^es in zwecklosen, unmotivirten Bewegungen auf der Bühne ergeht, so will einem
^s nicht in den Kopf, es ist keine Methode darin.
Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit, in Beziehung auf das Ballet über¬
haupt zu reden und meine Seele zu retten. Ich halte es nicht sür schön, wenn
"'an sich auf die Zehen stellt und die Fersen nach inwärts dreht. Wenn eil,
Tänzer sich 20 — 30 Mal schnurrend um seine eigne Achse dreht, so kommt mir
das lächerlich vor. Wenn eine Tänzerin das eine Bein in einem Winkel von
90—115 Graden zur Seite streckt, so sehe ich nicht ein, was damit bewiesen
wird. Wenn sie, das eine Bei» nach hinten und in die Höhe gestreckt, den Kopf
und die Arme vorauöge-streckt, auf dem andern Fuße über die ganze Bühne hopst,
so erinnert mich das lebhaft an meine Kinderjahre, wo wir ein ähnliches Spiel
hatten; wir nannten es: den Fuchs ins Loch treiben. Und wenn ich in Kurzem
alle Bewegungen, die in dem Ballet ausgeführt werden, zusammenfasse, so be¬
haupte ich: ihre Schönheit ist rein conventionell, wie die Perrücken und Reifröcke,
deren Zeit sie ihre Entstehung verdanken, und das ganze Vergnügen am Ballet ist
ein eingebildetes und nur für überreizte Nerven.
Dies vorausgeschickt, gehe ich zur Sache. Es wird Ihren Lesern nicht un¬
interessant sein, von dem Berliner Ballet einige Notizen zu erhalten.
Also zuerst das bekannteste: Gisela oder die Wily's. Es wurde durch
die Ceritto auf die Bühne gebracht. Um ein hübsches Baucrmädchen freien zwei
Nebenbuhler, ein Jäger und ein verkleideter Prinz. Der letztere wird vorgezogen,
bis es dem Jägersmann gelingt, seinen wahren Stand zu entdecken — er bricht
nämlich' in seine Wohnung ein und bringt ein reiches Barret nebst einem Ritter¬
schwert zum Vorschein, woraus der Jupiter unter dem Strohdach unzweifelhaft
documentirt sein würde, wenn er sich nicht schon vorher in der Person des Herrn
Hoguct-Vestris durch seine fabelhaft hohen Sprünge und die wunderbare Zahl
der Drehungen um sich selbst verrathen hätte. So hoch springt kein Schäfer!
das muß ein Ritter sein. Zum Unglück kommt noch ein König oder Markgraf
mit seiner Tochter hinzu, welche die legitime Braut des verkappten Fürstensohnes
ist. Der armen Gisela gehen die Augen auf und sie verfällt in Wahnsinn, den
sie durch groteske, dämonische Tänze so deutlich als möglich ausdrückt. Ich muß
bemerken, daß sie schon früher durch allzu hitziges Tanzen ihrer Gesundheit ge¬
schadet und ihre gute Mutter in große Besorgniß versetzt hatte. Nachdem sie sich
also eine Weile in ihrem Wahnsinne ergangen, bleibt ihr nichts anders übrig,
als zu sterben, und sie stirbt in der That, zum großen Leidwesen der beiden Lieb¬
haber, die nun unter einander ausmachen mögen, wer an dem Tode des holden
Mädchens Schuld ist. Sie stirbt in Pirouetten, uuter lebhaftestem Beifall des
theilnehmenden Publikums.
Zweiter Act. Eine schauerlich süße Mondgegend! Grabhügel, auf einem
ein Kreuz mit dem Namen Gisela. Dort liegt das gute Kind begraben, und ge¬
rührt spiegelt der Mond sein thränenbleiches Antlitz in einem Moor, der hinter
dem Kirchhof liegt. Eine Zahl ehrlicher Landleute streut Blumen ans de>S theure
Grab. Da schlägt es zwölf; eine unheimliche Bewegung schauert in den Wipfeln
der Weiden und kleine Flämmchen zucken gespenstisch durch die Lüfte. Sind es
Irrwische aus dem Sumpf? oder sind es Geister abgeschiedner Seelen? Wir ver¬
muthen das letztere, denn wir erinnern uns aus Robert dem Teufel, daß die
ruchlosen Nonnen, welche Bertram aus der Hölle heraufbeschwört, um seinen
Sohn in das Netz des Bösen zu locken, sich erst als Irrwische darstellen, ehe sie
das berühmte Ballet tanzen. Die Bauern scheinen derselben Ansicht zu sein, denn
sie entfliehen, sich kreuzend, so schnell sie ihre Füße tragen wollen.
Und siehe da! quer durch die Lüfte schwebt ein liebenswürdiges Wesen, im
Balletcostüm mit ziemlich großen Schmetterlingsflügeln; sie schwebt auf und ab,
hernieder und herauf, steht bald auf einem Bein, bald auf deu Zehen; es hängen
einige Aepfel auf deu Sträuchen, sie schwingt sich auf einem Schwungbret so
lange, bis sie einen uach dem andern hascht. Darauf winkt sie mit ihrem Lilien¬
stengel, oder was sie sonst in der Hand hält, nud von alle» Seite» treten ühu-
liche Figuren aus dem Gebüsch, die in harmlosen Vergnügen mit einander allerlei
Tänze aufführen. Endlich tritt die erste — muthmaßlich die Königin dieser bis
dahin immer noch zweideutigen Wesen — an Gisela's Grab, wiegt den Zweig
hin und her, und siehe! Gisela selbst steigt aus dem Grabe auf, mit ein paar
Schmetterlingsflügeln am Nacken, die, sobald sie der Zauberstab berührt, mit
großer Lebhaftigkeit anfangen zu flattern. Was wir vor uns sehn, sind Wily's
d. h. Geister früh verstorbener Bräute, die in der Mitternachtstnnde auf dem
Kirchhof tanzen, wie Titania nud ihre Elfen. Es muß das dem Menschen nur
gesagt werde». Dem Anschein nach lieblich und ohne Bosheit, haben sie doch
einen kleinen Teufel in sich, das zeigt sich sogleich. Jener zweite, verschmähte
Liebhaber tritt ein, der seinen Nebenbuhler denuncirt und dadurch zuerst Veran¬
lassung zum Tode Gisela's gegeben hatte; sogleich umschwirren ihn die Wily's,
schlingen magische Kreise um seiue Füße nud schleppen ihn um das Theater herum;
jedesmal, so wie er am Grabe ankommt, hält ihm die Königin mit drohender
Gebärde ihren Scepter entgegen, bis er zuletzt darüber den Verstand verliert und
stirbt. Dann entfernen sich die Wilu's, und der Prinz, jetzt in Prinzcncostnm,
tanzt auf der Bühne, er will am Grabe seiner Geliebten weinen und tanzen.
Plötzlich lächelt ihm aus dem Gebüsch Gisela's freundlicher Kopf entgegen, dann
wieder von der andern Seite, rechts, links, oben, unten, sie ist überall. Zuerst
erstarrt und entsetzt, wird er bald vergnügt und tanzt mit ihr auf das Zierlichste,
wie er es gethan, als sie noch lebte. Alles würde ans das Trefflichste ablaufen,
da kommen die strenger gesinnten Wily's zurück und wollen nun mit dem Prinzen
dasselbe Experiment machen, das ihnen bei seinem Nebenbuhler auf eine so un¬
heimliche Weise gelungen ist. Aber die Liebe überwindet, selbst im Tode; Gise¬
la's mit Schmetterlingsflügeln ausgestatteter Geist stellt sich schützend vor den Ge¬
liebten, und als noch einiges Handgemenge entsteht, donnert die Glocke ein mäch¬
tiges Eins, die Wily's erblassen, sinken zusammen, und über den Kirchhof breitet
sich »»heimliche Stille aus. Auch Gisela's Geist stirbt zum zweiten Mal, in
Blumen wird sie gebettet, und noch lange zucken ihre Arme verlangend aus dem
Gesträuch hervor. Darauf kommt der legitime Schwiegervater mit seiner Tochter,
den verzweifelte» Bräutigam zu trösten, und es kann nun geheirathet werden.
Der Inhalt der Sylphide ist ähnlich. Ein Hochländer will eben eine
Clansverwandte heirathen, aber im Traum erscheint ihm eine Sylphide, ein
Frauenzimmer mit Flügeln, thut schön mit ihm und gewinnt sein Herz. Als
darauf die Hochzeitstänze gefeiert werden, springt sie bald zum Fenster herein,
bald durch deu Kamin, bald öffnet sich die Wand, bald der Fußboden, überall
tanzt sie zwischen das Brautpaar, nnr dem Geliebten sichtbar, welchen Umstand
das Publicum freilich erst aus dem Textbuch erfährt. Zuletzt entführt sie ihn,
und der verlassenen Braut bleibt nichts anderes übrig, als zuerst in Ohnmacht
zu falle» und dann einen andern zu heirathen, einen alten getreuen Anbeter.
Mittlerweile ist der Ungetreue ins Land der Sylphiden gekommen, die höchst
graciös von Baum zu Baum huschen, oder auch geradezu in den Lüften schweben.
Das gibt zu deu anmuthigsten Tänzen Veranlassung, doch ist es für die Liebes-
gluth unsers wackern Hochländers unbequem, daß die flüchtige Schöne ihm fort¬
während entschlüpft. Eine Hexe verspricht ihm zu helfe», sie gibt ihm einen
rosafarbigen Schleier, damit soll er sie fange» und festbinden, dan» höre ihre
Flüchtigkeit auf. Die garstige Vettel hat arge Absichten dabei, sie will sich wegen
früherer Schläge rächen. Gesagt, gethan; er breitet den Schleier aus, die neu¬
gierige Tochter der Lust flattert daran herum, bis sie gefangen wird. Er knüpft
den Knoten fest um ihre Brust, sie sieht ihn kummervoll an, die Flügel fallen
ihr aus, sie macht noch einige zierliche Pas und stirbt dann. Aus Blumen wird
sie vou ihren Gespielen in die Lüfte entführt, und da eben der Hochzeitzug vor¬
übergeht, in welchem die verlassene Braut von ihrem neuen Bräutigam heimge¬
führt wird, so hat der ungetreue Schotte uach beide» Seiten hin das nachsehn.
Leider habe ich die Esmeralda — nach Victor Hugo's l^vllo D-mio no
l'in'is bearbeitet — und die darin auftretende Ziege Lucilcns nicht sehen können.
Statt dessen schildere ich Ihnen zum Schlüsse ein neues Ballet, welches eigens
für Lucile Grahn gedichtet ist und ihrem Charakter auch weit mehr entspricht, als
diese allzu luftige Elfeuwirthschaft: Katharina oder die Tochter des Banditen.
Ein Maler — Salvator Rosa nennt ihn der Theaterzettel — schweift in den
Apenninen umher, die Gegend zu zeichnen. Er wird dabei vou Räuber» über¬
fallen, seines Geldes beraubt und gebunden; die Zeichnungen wirst das rohe
Gesinde! verächtlich auf den Boden. Da kommt die Königin dieser wilden Schaar
vom Gebirge herüber, aufgeschürzt, den Stutzer-im Arm, deu Filzhut mit der
rothen Feder keck aufgesetzt. Man zeigt ihr die Cartons und sie wird davon so
überrascht, daß sie den Gefangenen freigibt. Er aber, wie billig, verliebt sich
sofort in sie, und bleibt. Es kommen darauf noch einige 20 bis 30 Amazonen,
mit denen zur Belustigung des geehrten Gastes verschiedene militärische Evolutio¬
nen ausgeführt werden. In diesen angenehmen Beschäftigungen^ die nnr zuweilen
durch die Eifersucht des Räuberleutnants auf den Fremden., und den von Zeit
zu Zeit wiederholten Versuch, denselben zu ermorden, unterbrochen werden, wird
das romantische Nachtgcflügel des Waldes durch die plötzliche Ankunft einer Eska¬
dron römischer Dragoner ans eine höchst unangenehme Weise unterbrochen. Leb¬
haftes Gewehrfeuer nebst Handgemenge; zuletzt werden die Räuber bezwungen
und zum großen Theil gefangen genommen; nur Katharina und Salvator entkom¬
men, in weite Mäntel gehüllt, über das Gebirge. Dort treten sie, von deu Ver¬
folgern hart bedrängt, in eine verlassene Schenke ein; Catharina, rasch entschlossen,
wirft den Mantel ab, und deutet dem Wirth an: verräthst du mich, ^o jage ich
dir diese Pistvlenkngel durch den Kopf; gewahrst dn mir Schutz, so nimm diese
Börse. Er wählt das letztere, und sie verkleidet sich als Bäuerin. Mittlerweile
treten die Soldaten ein, ein großer Preis ist auf den Kopf der Näuberkönigin
gesetzt, eine Beschreibung ihrer Person wird an die Wand geklebt; sie reißt sie
in scheinbarer Zerstreuung ab, macht einen Fidibus daraus und zündet dem Dra>
goneroffizier die Pfeife an. Uebrigens weiß sie die Soldaten dnrch ihr liebens¬
würdiges Wesen allmälig zu bezaubern, und während sie mit ihnen schön thut,
schneidet Salvator die Stricke der Gefangenen durch. In der daraus entstehenden
Verwirrung entkommen beide Flüchtlinge.
Zweiter Act. Glänzendes Atelier des Malers Salvator Rosa zu Rom; eine
Reihe reizender Nymphen bewegt sich vor ihm in antiken Stellungen und Tänzen,
in ihrer Mitte, wiederum als Königin, die Tochter des Banditen. Ein Officier,
der hereinkommt, um das Atelier zu besehn, erblickt sie zufällig neben ihrem Bilde,
das sie noch als Fürstin der Wälder darstellt, er erkennt die Aehnlichkeit, und
eilt fort, sie zu denunciren. Die Attischen Spiele dauern in allen möglichen Va¬
riationen fort, bis die Soldaten kommen und sie fortschleppen, trotz des verzwei¬
felten Widerstandes, den Salvator mit seinen Schülern leistet.
Wir finden sie im Kerker wieder. Gram hat ihre Stirne gefurcht, sie ist
ein Bild des höchsten Leidens, aber nicht wie ein Lamm leidet, sondern eine ge¬
fangene Ticgerkatze — ich bemerke dabei, daß in diesem Ballet Fi. Grahn Gele¬
genheit hat, ein höchst bedeutendes dramatisches und selbst tragisches Talent zu
entwickeln. Es wird ihr das Todesurtheil vorgelesen; man ernährt sie zur Reue,
man weist sie ans Kreuz, um Vergebung ihrer Sünden zu flehn; sie hört es stumpf¬
sinnig an. Das Gericht verläßt den Kerker, mit einem verzweifelten Sprung ver¬
sucht sie, die Thür zu erbrechen, umsonst. Da tönt ein ihr wohlbekanntes Horn;
sie lauscht auf; immer näher; ein Paar Stöße, und das Fenster liegt auf dem
Boden, und ihr alter Leutnant bricht ein. Sie ist gerettet, aber dafür verlangt
er Liebe. Nichts da! sie liebt den Salvator. Er wird wüthend und schwört,
ihn umzubringen. Dann will sie gar nicht entfliehn, sie ringen mit einander, end¬
lich fällt sie in Ohnmacht, er trägt sie hinaus.
Römisches Karneval. Alle traditionellen Masten in höchster Fülle und ziem¬
lich brillanten Costümen. Nachdem er eine Weile gedauert, tritt Salvator auf,
finster brütend und gramvoll. Eine glänzende Maske umtanzt ihn von allen Sei¬
ten; die Larve fällt, es ist Katharina. In demselben Augenblick stürzt eine an¬
dere Maske mit gezücktem Dolch auf Salvator los — jener eifersüchtige Näuber-
leutnant; Katharina reicht dem Stoß ihre Brust entgegen, wird getroffen, stirbt.
Allgemeines Bedauern. —
Vom Reich. Bis jetzt hat die deutsche Frage eine verhältnißmäßig günstigere
Wendung genommen, als wir es verdient haben. Es hat sich gezeigt, daß das
deutsche Parlament, auf welches man wie auf einen bloßen Schatten herabzusehen
pflegte, doch noch Realität genug hat, wenn es nur fest bei seiner Aufgabe beharrt, und
daß es noch immer den idealen Mittelpunkt bildet für alle Bestrebungen der deutsch-
gesiunten Partei. — Betrachte» wir die Folge», welche die 'Antwort des Königs
von Preuße» und die Circnlardepescheu an die Regierung?» gehabt hat, im Ein¬
zelnen. Zuerst auf Seite» dös Parlaments.
Die Entgegnung der Deputation, die angebotene Kaiserwürde könne nicht für
sich, sondern nur auf Grund der Verfassung angenommen werden, war nothwendig;
vielleicht herrschte zu sehr der Ton der Verstimmung in ihr. Die Nationalver¬
sammlung hatte die Besonnenheit, nicht in der Hitze einen voreiligen Beschluß zu
fassen; sie wartete den vollständige» Bericht der Deputation ab. Die Entscheidung,
die sie dann traf, war ihrer würdig, und hatte durch die Koalition der bisherigen
Gegner des Erbkaiserthums, den patriotisch gesinnte» Theil der Linken, mit der
Wndenbuschpartei, etwas Großartiges. Wen» wir auch uicht übersehe», daß in
dieser plötzliche» Ac»deruug eines bisher so lebhaft angefochtenen Prinzips eben
so viel Zorn über die preußische Erklärung lag als Gesetzlichkeit und Patriotismus,
so wissen wir doch die noble Art, mit der Ludwig Simon und Andere diesen
Schritt thaten, gebührend zu würdigen. In ihrem Beschluß, festzuhalten an der
Verfassung, stand die große Majorität der Versammlung wie Ein Mann; die
Wahl der Commission/welche über die zunächst zu fassenden Beschlüsse Anträge
stellen sollte, und die zum größten Theil aus der Linken zusammengesetzt wurde,
war die nächste Folge davon. Freilich haben Eisenstück und Ludwig Simon durch
ihre verkehrte» Anträge in dieser Commission wieder sehr geschadet; sie gehen von
derselbe» Zweideutigkeit ans, die wir schon in den letzten Schritten der National¬
versammlung mehrfach gerügt haben: sie erlassen Dekrete für ein Reich, über dessen
Umfang und Inhalt nicht das Mindeste feststeht, sie verschließen ihre Angen ge¬
waltsam vor der Erkenntniß, daß wenigstens Oestreich an demselben keinen Theil
mehr habe.
In dem gesammte» Volk gewann die Nationalversammlung durch ihre Haltung
die Achtung wieder, die sie aus verschiedenen zumTbeil sehr entgegengesetzten Grün¬
den verloren hatte. Theils sprach sich das unmittelbar in den polnische» Vereinen
aus, theils in den Kammern. Den sächsischen Kammern gebührt der Ruhm, in
der unbedingten Anerkennung der deutschen Reichsverfassung die Initiative ergriffe»
zu haben,, und wenn auch dieser Entschluß, namentlich in der zweiten Kammer
durch Herrn Schaffrath auf eine etwas wunderbare Weise motivirt wurde, so bleibt
das Resultat dasselbe. Die würtenbergische Kammer ist diesem Beispiele gefolgt.
In Hannover war es wegen der Verlegung der Stände uicht möglich, dach hat
sich eine große Zahl der Deputaten, oculi auch freilich uur in der Form nuer
Privatäuß'erung, deutlich genug ausgesprochen. In den preußischen Kammer» lst
die historische Päpken'ildung und der sich an dieselbe anknüpfende kleinliche Per¬
sonenstreit zu stark, als daß sie bis jetzt zu einem klar formulirten Beschluß halten
kommen können, doch ist die Gesinnung der überwiegenden Mehrheit keinem Zweifel
unterworfen,
Was die Negierung betrifft, so ist die großherzige Erklärung der 30 kleinen
deutschen Staaten, unter Badens Vortritt, in welcher sie, als Antwort auf die
Preußische Circnlarnole, sowohl die Reichsverfassung als die Ueliertragung
der Erl'kaiserwürde an den König von Preußen unbedingt genehmigen,
der wichtigste Schritt, der bis jetzt in der deutschen Angelegenheit geschehn ist. Wenn
aber die Linke des Parlaments auf diese Erklärung fußt, und dabei doch die Kaiseiwahl
zurück zu nehme» gedenkt, so möge sie den zweiten Theil der Antwort nicht übeisehn.
Oestreich ist endlich aus dem unsittlichen Verhältniß, in dem es sich bisher
bewegte, gewaltsam hinausgedrängt worden. In der charakteristischen Depesche
des Fürsten Schwarzenberg an Herrn v. Schmerling drückt Oestreich zwar seinen
Verdruß über diese Wendung der Dinge ans, und seine Absicht, der Vollendung
des Verfassungsweiks so hinderlich zu werden als irgend möglich, es wirft Preußen
und seineu Verbündeten mehr oder minder bestimmt deu Fehdehandschuh hin, aber
es spricht zugleich aus, daß es sich über die vollendete Thatsache keine Täuschung
mache. Die Abberufung seiner Deputirten hat zwar bis jetzt nur bei einem klei--
neu Theil derselben Anklang gefunden, die Uebrigen scheinen sich in ihrer bishe¬
rigen durch und durch unsittlichen Stellung ganz behaglich zu fühlen, aber es ist
das nur eine Zögerung, die durch deu Ernst der fort und fort sich abrollenden
Geschichte aufgehoben werden muß.
Jetzt ist die ganze Aufmerksamkeit auf die preußische Regierung gerichtet.
Wenn ein Funke von Menschenverstand i» ihr ist, kann über ihre Erklärung kein
Zweifel mehr obwalten, denn es handelt sich, wenn sie nicht unbedingt die Ver¬
fassung anerkennt, nicht mehr blos um eine Einbuße an Macht und Einfluß, eS
handelt sich um das Fortbestehe» des Staats. Daß man dennoch zweifelt, zeigt
deutlich, ein wie großes Opfer die deutsche Nation durch die Wahl ihres Ober¬
haupts gebracht hat.
Oestreich. Furchtbar sind die Fieberschauer, welche den Leib des kaiserlichen
Oestreichs schütteln, und mit Grauen sieht der Patriot, wie die beste Lebenskraft in wildem
Rasen verzehrt wird. In Italie» zwar hat der Sieg von Nvvarra (23. März)
Sardinien zum Frieden und in ein Bündniß mit Oestreich gezwungen, wir wer¬
den in Kurzem den Abschluß vo» beiden begrüßen. Der junge König Victor Ema-
nuel wirbt um Nadetzkys Freundschaft, seit in Rom und Toskana die Republik
unter Mazzinis Dictatur (30. März) aufgeschossen ist, weichen die Vcrgrößeruugs-
träuiue des Hauses Savoyen dem Kampf um die Existenz; Frankreichs Einmischung
wird abgelehnt, Oestreich ist so klug in seinen Friedensbedingungen mäßig zu sein,
Sardinien ist für die Partei der Legitimität wiedergewonnen und Kaiser Nicolai
beschenkt erfreut den östreichischen Feldherrn mit Titel und Würden eines Marschalls
von Rußland. Die Lombardei und Venedig sind jetzt für Oestreich wiedergewon¬
nen. Wie der sardinische General la Marmora das republikanische Genua am 11.
April seinem Herrn durch Kapitulation unterwarf, so wurde Brescia von den
Oestreichern mich einem gräulichen Straßenkampf wiedererobert und Venedig selbst
ist nach dem Abzug der sardinischen Flotte leichte Beute, da der tüchtige Dictator
Mamin, mit reuommistischer Feigheit und sehr zahlreichen östreichischen Sympathien zu
kämpfen hat. Im Kirchenstaat ist die republikanische Regierung in Begriff an der
Auflösung und Fäulniß deö Staatslebens selbst zu verenden, Bologna hat sich
bereits Plus IX. zu Füßen gelegt; in Neapel ist der Kampf gegen Sicilien wahr¬
scheinlich bereits begonnen. — Ueberall in Italien liegen die Karten für die sou-
veraine, d. h. für Oestreich, günstig.
Entgegengesetzt in Ungarn. Als in diesem Winter die kaiserliche Armee bis
an die Theiß vordrang, hoffte sie den Verräther Kossuth aus Debrezin in die
Pusten und gegen die Südslaven zu treiben und so den Krieg zu beenden,
Der Mangel an energischem Entschluß von Seiten des Fürsten' Windischgrätz.
welcher nie der aristotelischen Partei der Ungarn kokettüte und aus Menschlich¬
keit das müde »»d erkrankte Heer nicht zu dem Aeußersten forcireu wollre, ließ
dem energischen Enthusiasmus der Whigpartei unter der Aristokratie Zeit, Regi¬
menter zu bilden, Wuffe», Munition,'Geld und Führer zu gewinnen. So ge¬
schah das Außerordentliche, daß zwischen den Händen der östreichischen Armee,
welche fast über ganz Ungarn ausgestreckt waren, aus einzelnen Bataillonen eine
ungarische Armee vou 100,000 Mann zusammenfloß. Geschickte Cvrpsführer, Bem
in Siebenbürgen, Görgey in Nvrdungarn, Perczel im Banat sicherten den Zu¬
sammenfluß der einzelnen Honvrdbatallivne und Regimenter, verstärkten sich fest
unbeachtet durch dieselben und breiteten sich zu drei Armeen ans, welche die
sicheren östreichischen Generale, die ihnen siegenüberstanden, warfen, sich bis an
die Grenzen Ungarns ausdehnten und von da zu der Hauptarmee zusammenzogen.
Bem eroberte ganz Siebenbürgen, Pnchnern und 10,000 Mann russischer Hilfstruppen
nach der Wallachei drängend; Perczel, Riß u. s. w nahmen gegen die Serben und Gren¬
zer Peterwarbcin und die Se. ThomaSschauzeu. Unterdeß trat die ungarische
Hauptarmee, Görgey als rechten Flügel mit sich ziehend, unter DembiuSks in die
Offensive, drückte in geschickte» Einzell'ämpfeu die östreichische Armee nach Bnda-
Pesth zurück, täuschte de» Fürsten durch eine Frvntanfstellnng zur Schlacht, während
Görgey den kaiserlichen linken Flügel bis Waitzen zurückvrängte und zum Entsatz
Komorns, des Hauptes vou Ungarn heraufzog; wahrscheinlich ist der linke Flügel
der Ungarn unterdeß über die Donan gesetzt und die kaiserliche Armee von
60,000 Mann ist in diesem Augenblick bereits von Wien abgeschnitten, die Gefahr
für die Oestreicher ist furchtbar und die nächste Woche wird eine Katastrophe her¬
beiführen, welche der fieberhaften Spannung ein Ende macht, in welche das Un¬
gewöhnliche dieses Krieges, der militärisch eben so einzig, als politisch nichtswür¬
dig ist, alle Parteien versetzt. Die Ungarn kämpften im vorigen Sommer für
ihr Prinzipat gegen den nationalen Freiheitsdrang der Südslaven; dann für ihre
Freiheiten gegen die Verwandlung Oestreichs in einen modernen Staat; jetzt für
ihre Nationalität gegen Südslaven und Deutsche. Obgleich ihr Recht um so
besser geworden ist,' je schlechter das Ministerium Stadion sein großes Ideal, einen
vernünftigen Staat, zu gestalten vermag, obgleich leider die Zeit gekommen ist, wo
die Freiheiten der Ungarn sittlicher und wahrer sind, als die jetzige Freiheit
des neuen Oestreichs, so soll doch nicht verkannt werden, daß für ein einiges, ge¬
sundes Stuatslcben die bisherige exceptionelle Stellung der Ungarn eine unver¬
nünftige war und daß dieser Kampf von Oestreich deshalb geführt wird, sich die
Möglichkeit einer staatlichen Existenz zu verschaffen.
'
Wir stehen hier ganz ans Stadions Seite, auf Seiten des Staats, so lange
dieser nicht nach andern Richtungen sich eine Zukunft unmöglich macht. Trotz al¬
len Sünden der Schwäche und Halbheit, der tyrannischen Kurzsichtigkeit und des¬
potischen Willkür ist für Oestreich diese Unmöglichkeit der vernünftigen Existenz
noch nicht vorhanden, und so lange es möglich ist, daß der Kaiserstaat durch
menschliche Vernunft und Weisheit gerettet und gefestigt werden kann, werden
unsere Leser an ihm halten müssen und- kein Zorn über Personen darf sie verfüh¬
ren, das Princip, welches jene ungenügend und schlecht vertreten, zu verrathen.
Ungarn muß ein Theil des Gesammtstaats werden, oder der Kaiserstaat stirbt an
chronischer Schwäche. Eine verhängnißvolle Alternative; wir freuen uns sagen zu
können, daß unter den östreichischen Staatsmännern wenigstens Stadion das begreift.
Sie wünschen von mir Portraits der vielgenannten Männer zu haben, welche
nach der Octoberrevolution die Schicksalsfaden Oestreichs in ihre Hand nahmen
und, nachdem sie ihr eigenes Land um die Freiheit betrogen, jetzt auch aus
Deutschland einen unheilvollen Einfluß zu üben beginnen.
Ehe ich versuche Ihrem Wunsche nachzukommen, muß ich bevorworten, daß
diese Zeilen keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen sollen; ich werde mich
darauf beschränken nur das zu sagen, was entweder selbsteigner Anschauung und
Erfahrung entnommen ist, oder aus Quellen fließt, deren Lauterkeit ich verbür¬
gen kann.
Ich beginne meine Skizzen mit der Zeichnung desjenigen Mannes, der ge¬
wöhnlich die Seele des Olmützer Cabinets genannt wird, während man den fürst¬
lichen Namen Felix Schwarzeubergs nur als Aushängeschild betrachtet.
Graf Stadion, dessen Alter etwa der laufenden Jahreszahl dieses Jahrhun¬
derts entsprechen dürfte, ist ein Mann von hohem Wuchs, regelmäßigen, scharf
ausgeprägten Gesichtszügen und einfachen, gewinnenden Manieren. Der spärliche
Haarwuchs zu beiden Seiten des Kopfes, welcher oben in gänzliche Kahlheit aus¬
läuft, läßt die Stirn weit höher und großartiger erscheinen, als sie ursprünglich
ist. Ueberhaupt würde das ganze Gesicht einen bedeutenden Eindruck machen,
wenn nicht der leblose, schwerfällige Mund und ein seltsames'Gemisch von Mat¬
tigkeit und Kälte die Züge entseelten. Derselbe Mangel an Leben und Frische
offenbart sich am ganzen BeHaben des langausgestrecktem Körpers. Gang und
Haltung, besonders aber die,beim Gehen fast unbeweglich herabhängenden Arme,
deuten auf Verschlossenheit des Charakters.
Graf Station wurde einem größern Publikum zuerst bekannt in seiner Ei¬
genschaft als Gouverneur des Küstenlandes, wo er sich durch langjähriges Wirken
den Ruhm eines freisinnigen Mannes, eines geschickten Administrators und vor
Allem eines fleißigen, unermüdlichen Arbeiters erwarb. Eine etwas zweideutige
Rolle spielte er später als Gouverneur von Galizien, wo er durch seine vielgetadelte
und vielgepriesene „Entdeckung der Nutheuen," dem damals ohnehin schon überall auf¬
flammenden Nationalitäts- und Sprachenkampfe noch ein neues Element zuführte.
Seiner Statthalterschaft nach eigenem Wunsch enthoben, trat er als fast einziger
Repräsentant der höhern deutsch-östreichischen Aristokratie im ersten Reichstage zu
Wien auf.
Und hier spielte er allerdings eine Rolle, die eben so wenig staatömäuuisch
als ehrlich war und seinen vormärzlichen Ruhm in den Kreisen der Eingeweihten
vollständig verdunkelte. Ueberhaupt hatte es mit diesem Ruhme eine eigene Be-
wandtniß, und wir müssen uns, um den Schlüssel zu finden zur Lösung der
scheinbaren Widersprüche, welche sich in der politischen Laufbahn des Grafen offen¬
baren, einen Augenblick in die Vergangenheit und an den Ort zurück versetzen,
wo die Pflanzschule seines Ruhmes war.
Sie kennen das illyrische Küstenland, jene von der Adria umwogte, in das
Stadtgebiet von Trieft, den Görzer und den Jstrianer Kreis zerfallende, male¬
rische Provinz mit ihrer bunt zusammengewürfelten Bevölkerung von Slovenen,
Walachen, Saprinen, Morlacheu, Italienern, Deutschen, von Ueberbleibseln rö¬
mischer Kolonisten, geflüchteten Kandiern, italienistrten Kelten und Slovenen, an¬
gesiedelten Venetianern und Kowuiern, und wie die Volksstämme alle heißen
mögen, welche den Meeressaum von Duiuo bis Muggia und das Länderdreieck
von Jstrien zustimmt den quarnerschen Inseln bewohnen.
Dieses war die Provinz, welche Graf Stadion zu verwalten hatte, eine
Provinz, die sich ihrer Lage, so wie der Mannigfaltigkeit und Culturstufe ihrer
Bevölkerung nach, passend mit dem, vom schwarzen Meer umspülten, südrussischen
Küstenlande, dessen Hauptstadt Odessa ist, vergleichen läßt.
Ich sichre diesen Vergleich mit Vorbedacht an, da mir derselbe wesentlich
geeignet scheint, das Verständniß der hier zu entwerfenden Skizze zu erleichtern.
Wie in dem despotischen Rußland der zu Odessa refidirende Gouverneur, Gras
Woronzow, als der freisinnigste Mann gepriesen wurde, weil er deu Bewohnern
jener reichen Handelsstadt eine Menge Freiheiten gewährte, welche der Bevölke¬
rung des Binnenlandes versagt blieben: so wurde auch in dem despotischen
Oestreich, der zu Trieft refidirende Gouverneur, Graf Stadion, als der freisin¬
nigste Mann gepriesen, weil er den Einwohnern dieser reichen Handelsstadt eine
Menge Freiheiten gewährte, deren sich die übrige Bevölkerung Oestreichs nicht zu
erfreuen hatte.
Diese beiden gleichen Erscheinungen entspringen aus vollkommen gleichen
Ursachen.
In Trieft wie in Odessa herrscht ein so großer Wohlstand, daß Proletarier
dort zu den seltensten Erscheinungen gehören. Jeder Besitzende aber ist seiner
Natur «ach conservativ, und ganz besonders sind dies die meistens eingewanderten
Bewohner jener beiden Städte, welche sich an den Küsten der Adria und des
schwarzen Meeres niedergelassen haben, — nicht um Revolution zu machen, son¬
dern um die dort reichlich strömenden Erwerbsquellen nach Kräften auszubeuten.
Es leuchtet ein, daß von diesen Leuten, selbst bei dem Einschmuggeln der
radikalsten Bücher und Ideen, keine Gefahr zu fürchten ist. Dazu kommt noch,
daß sich in Freihafen, wie Triest und Odessa, überhaupt keine so strenge Absper¬
rung bewerkstelligen läßt, wie in Binnenstädten. Denn jene reichen Handelshäuser,
welche in fortwährendem Verkehr mit der ganzen gebildeten Welt stehen, haben
tausend Mittel und Wege, sich das heimlich zu verschaffen, was ihnen offen ver¬
boten wird.
Worin bestand nun aber die Freisinnigkeit des Grafen Stadion, in deren
Folge er von den Triestiner Nabobs so hoch gepriesen wurde, daß sein Name
durch alle Zeitungen und Lande ging? Er erlaubte den guten Leuten, offen und
am hellen Tage im Lesesaal des Tergestenm „die Grenzboten" zu lesen, eine da¬
mals bekanntlich im ganzen Kaiserstaat stark verpönte Lectüre, daran sich die
Fortschrittsmänner von Wien und den übrigen k. k. Städten nur im verschlossenen
Kämmerlein und bei nächtlicher Lampe zu erquicken wagten.
Der gute Metternich machte dem Grafen Stadion zu wiederholten Malen
ernste Vorstellungen über die sündhafte Lectüre, ja er ließ sogar die Grenzboten
auch in Triest verbieten, aber Graf Stadion — der, zu seiner Ehre sei es ge¬
sagt, mit Metternich niemals befreundet war — wicdersetzte sich, und alle Nabobs
erhoben sich für ihn, und — die Grenzboten wurden fvrtgelesen! Ja, das Un¬
erhörte geschah: die Weserzeitung, welche selbst in Preußen verboten wurde, fand
ihren Weg ins Tergestenm von Triest!... Ein Banquier gab mir triumphirend
ein Exemplar davon zu lesen, als ich mich zu jener Zeit, zum Gebrauch der
Seebäder in Triest aufhielt.
Was Wunder, wenn nach solchen Vorgängen die Triestiner den Grafen
Stadion in den Himmel erhoben, wenn Stimmen in gewissen Zeitungen hoffnungs¬
voll ausriefen: „Was würde aus Oestreich werden, wenn dieser Mann an der
Spitze der Geschäfte stände!"
In Triest lebt bekanntlich kein Adel, weil diese Kaste des Müssiggangs unter
den geschäftigen Gcldmännern sich wenig heimisch sühlen würde. Eben so wenig
ist dort ein gedeihlicher Boden für Kunst, Literatur und Wissenschaft, deren Ver¬
treter dort etwa angesehen werben, wie bei uns Seiltänzer und Kunstreiter. Der
Werth des Menschen wird in Triest nur nach seinem Einkommen bestimmt.
Graf Stadion würde daher eine ganz isolirte Stellung eingenommen haben, wenn
er sich nicht in Verkehr mit den Geldnristokraten der Stadt gesetzt hätte. Dieser
Verkehr mußte um so lebhafter werden, je mehr der Graf, als unverheiratheter
Mann, gesellige Bedürfnisse fühlte. Und bekannt ist, daß die Geldaristvkraten,
besonders wenn ein „von" vor ihrem Namen steht, den Umgang mit einem hoch¬
geborenen Grafen wohl zu würdigen wissen. Die Triestiner machten keine Aus-
nahme von dieser Regel, und sie hatten um so weniger Ursache dazu, als ihnen
aus der Freundschaft mit dem einflußreichen Gouverneur auch mancher erhebliche
materielle Vortheil erwuchs.
Graf Stadion ist in seinen Formen durchaus nicht beengend und für Jeder¬
mann leicht zugänglich, zumal wenn man es versteht, sich die Gunst seines Lieb¬
lings und Vertrauten, eines gewissen Regiernngsraths Oettl, zu erwerben. Her¬
vorheben müssen wir die strenge Rechtlichkeit des Grafen, seine Gewissenhaftigkeit
in der Geschäftsführung und den eisernen Fleiß, womit er die großen Lücken seiner
sehr mangelhaften Schulbildung auszufüllen sucht. In seinem Arbeitszimmer in
Triest waren die Tapeten an den Wänden kaum sichtbar, so war Alles rund um¬
her mit Landkarten, Plänen ?c. überklebt und mit Büchern überstellt, mit deren
Studium er jede freie Stunde ausfüllte. Zudem ließ er sich gern durch das ge¬
sprochene Wort unterrichten, wie ihm denn überhaupt eine Detailkenntniß im
Administrationswesen nicht abzusprechen ist; nur fehlt ihm ein großes Herz, Gro¬
ßes zu verstehen, der weite Blick, Großes zu übersehen, und vor Allem die Fülle
productiver Kraft, welche beim Staatsmann, wie bei allen anderen Staubgeborncn,
zu schöpferischer Thätigkeit unentbehrlich ist. Seine Fehler als Administrator, als
Staatsmann, entspringen nicht schlechtem Willen, sondern beschränkter Ansicht, denn
leider reicht sein Blick nicht über seine Acten hinaus.
Hier muß ich für einen Augenblick diese Skizze unterbrechen, um in wenigen
Zügen einen Mann zu schildern, dessen Charakteristik auf das Genaueste mit der
des Grafen Stadion zusammenhängt; das Verständniß des Einen ist ohne das
Verständniß des Andern nicht denkbar; sie ergänzen sich geistig, wie Mann und
Frau körperlich. Dieses seltsame Individuum ist der schou oben genannte Oettl,
eine unbedeutende, mehr breit als hoch entwickelte Figur, von widerwärtigen, fast
Ekel erregendem Aeußern, die dem Grafen überall folgt, wie der Schatten dem
Körper, und deshalb auch scherzweise „der Schatten Stations" genannt wird.
Doch liegt in dieser scherzhaften Benennung eine sehr ernste Wahrheit: Oettl ist
wirklich der Schatten oder die Schattenseite Stations! Ein wahrhaft freisinniger,
großartiger Mann würde eine solche schmiegsame Sklaveunatur wie Oettl, höch¬
stens zur Abwechslung einmal mit Füßen treten, und Stadion — schenkt ihm
sein Vertrauen!
Herr Regierungsrath oder Hofrath Oettl (ich weiß nicht genau, welchen Titel
man ihm gegeben) ist seines Ursprungs ein Tvroler; doch will ich auch dieses
nicht verbürgen, denn es hält schwer, anzunehmen, daß ein solcher Charakter sich
in frischer Bergluft entwickelt habe. Gewiß ist, daß er, ehe Stadion ihn kennen
lernte, in einer vornehmen Familie Tyrols als Hofmeister fungirte. Er wußte
so schweifwedelnd des Grasen Gunst zu erkriechen, daß dieser ihn mit sich nach
Triest nahm und ihm bald eine gewisse Kammerdiencrherrschaft über sich einräumte.
In kurzer Zeit sprach und schrieb Oettl genau wie sein gräflicher Herr, so daß
es damals schwer war und heute unmöglich ist, den Satzbau und die Handschrift
des Einen von der des Andern zu unterscheiden. Und wie Sprache und Hand¬
schrift, so wußte er auch alle übrigen Eigenthümlichkeiten seines Gebieters auss
Täuschendste nachzuahmen, was letztern natürlich ganz besonders schmeichelte, denn
ein eitler Mensch sieht sich gern im Spiegel, und Gras Stadion ist uicht ganz
ohne Eitelkeit.
Man behauptet, wirkliche Freundschaft sei dem Grafen von jeher fremd ge¬
wesen, und er Pflege die Menschen uur zu schätzen nach Maßgabe des Nutzens
oder Vergnügens, das sie ihm gewähren. Gewiß ist, daß er leine Ahnung von
dem hat, was man deutsches Gemüth nennt; ebenso fehlt ihm bei großer Hart¬
näckigkeit doch die Selbständigkeit des Charakters. Solchergestalt konnte sich
leicht ein seltsames Verhältniß zu Oettl entwickeln, wobei Stadion die Form, und
Oettl das Wesen der Herrschaft ausübt.
In neuester Zeit, wo die Stellung des Ministers eine schwierigere und be¬
denklichere geworden und sein und seines „Schatten" Verstand nicht mehr aus¬
reicht, haben sich andere Einflüsse bei ihm geltend zu machen gewußt — doch
darüber ruht noch ein Schleier, den ich nicht lüften darf. . .
Mit seiner Statthalterschaft im Küstenlande, dessen Bewohner ihn mit tief¬
gefühlten Bedauern scheiden sahen, endet anch der Ruhm, den Graf Stadion sich
im Staatsdienste erworben. Denn wenn das Unerhörte geschehen, und der Ol-
mützer Kabinctsplan (der wahrlich nicht Stations Kopfe entsprungen) triumphiren
sollte üoer die Einheitsbestrebungen Deutschlands, — durch einen solchen Sieg
der rohen Gewalt über die Cultur, des Al'solntismns über die Freiheit, würden
die Sieger sich selbst am meisten brandmarken.
Mit dem Wirken des Grafen als Gouverneur von Galizien, beginnt die Un¬
glücksperiode seines Lebens. Seit jener Zeit schwankte und tappte er von einem
Irrthume und Mißgriffe zum andern. Seine Anhänger preisen den Muth und
die Geistesgegenwart, welche er zu verschiedenen Malen während der Unruhen in
Lemberg bewiesen haben soll. Ich will beides uicht in Abrede stellen; aber zu
einem Staatsmanne unserer Zeit gehören noch ganz andere Eigenschaften als Muth
und Geistesgegenwart, die man unter Kosaken und Sarcssanern auch findet.
Die Art und Weise, wie Stadion die N»he in Gallien herzustellen suchte,
war im Grunde nichts, als eine Fortsetzung des Metternich'schen Systems. Denn
wie Metternich die Einheit Oestreichs nur durch den Haß, die Eifersucht der Völ¬
kerschaften untereinander zu wahren wußte, so fand Stadion zur Beruhigung Ga-
liziens auch kein anderes Mittel, als durch die „Erfindung" der Rnthenen das
Land in zwei feindliche Heerlager zu scheiden. Was soll man aber von der staats¬
männischen Befähigung eines Mannes de>ekelt, der die Haupttriebfedern der Um¬
sturzgelüste in Oestreich noch künstlich vermehrt, blos um einem augenblicklichen
Bedrängniß abzuhelfen, ohne der traurigen Folgen zu gedenken, die daraus er¬
wachsen müssen. Um streng das gefährliche Experiment zu verauschaulichen, wei-
ches Graf Stadion unternahm, indem er gleichsam ein neues Volk schuf, das
seinen Ursprung selbst nur aus dunklen Ueberlieferungen kannte — indem er fer¬
ner den Leuten eine Tracht vorschrieb, die ihnen vollkommen neu war und eine
Sprache zu reden befahl, welche ein großer Theil der Bevölkerung gar nicht ver¬
steht — um dieses tragikomische Experiment zu veranschaulichen, will ich ein Bei¬
spiel ans unseren engern Vaterlande anführen.
Denken Sie Sich, es fiele der preußischen Negierung plötzlich ein, ein Ma¬
nifest an die Pommern zu erlassen, des Inhalts: „Ihr guten Pommern lebt in
einem seltsamen Irrthum! Ihr haltet Euch für Deutsche, und uoch dazu sür
specifische Preußen, und seid doch in Wahrheit den größten Theile' nach ächte
Slave»! Ihr scheint dies freilich selbst nicht zu wissen, aber die Negierung hält
es für ihre Pflicht, Euch darüber aufzuklären, denn wir leben in der Zeit der
Gleichberechtigung aller Nationalitäten, nud es liegt in der Absicht der Regierung
auch Euch gleich zu berechtigen. Pommern, Ihr lieben Leute, ist ein germanisirtes
aber kein ursprünglich deutsches Wort; es stammt aus dem Slavischen, gleichwie
Ihr selbst, und hieß in seiner alten Form no morum, d. h. „Am Meere," Ihr
aber wurdet darnach benannt ?c>mvnmu, d. h. „die am Meere Wohnenden", oder
mit andern Worten „Küstenbewohner". Daraus hat sich denn im Laufe der Zeit
das deutsche Wort „Pommern" gebildet, gleichwie Ihr Euch selbst so verdeutscht
habt, daß Ihr Eure eigene Sprache nicht mehr versteht. Das kann aber nicht
so bleiben; die Regierung wird nachforschen lassen, welchen slavischen Dialekt Ihr
einst geredet habt, und den müßt Ihr wieder erlernen. Auch Eure Kleidung müßt
Ihr ändern und Euch tragen, wie einst Eure Väter gethan: blaue Hosen, gelbe
Stiefeln, rothe Jacken und weiße Mützen mit schwarzem Pelz verbrämt. Die Re¬
gierung wird Sorge tragen, die Landesgesetze in Eure Sprache übersetzen zu las¬
sen; bis dieses geschehen, und bis ein passender Name sür Euch gefunden ist,
dürft Ihr noch deutsch reden und Euch Pommern nennen.
Wir erklären Euch hiemit als gleichberechtigt! Ihr schwebt der Regierung
vor als ein neues Volk; es wird Sorge getragen werden, daß Euch in besonderen
Schulen Eure Sprache und Geschichte gelehrt wird. Einstweilen zieht gelbe Stie¬
feln, blaue Hosen nud rothe Jacken an und wahrt Eure Nationalität vor deut¬
schem Einfluß. Und damit alles dieses ohne Störung der öffentlichen Ruhe ge¬
schehe, versetzt Euch die Negierung vorläufig in Belagerungszustand."
Sie lachen, lieber Freund, die Geschichte erscheint Ihnen komisch, und sie ist
doch nichts als eine Version der ruthenischen Natioualitätserfindung. Nach diesem
wunderlichen Staatsexperimente nahm Graf Stadion als galizischer Abgeordneter
seinen Sitz im Reichstage zu Wien. Die Rolle, welche er hier gespielt, läßt sich mit
wenigen Worten schildern. Als Redner konnte er nicht glänzen, da er eine seltsame
Schwerfälligkeit der Zunge und des' Gedankens besitzt, und nicht im Stande ist,
einen Satz fließend und vernehmlich vorzutragen. So beschränkte sich denn seine
Parlamentarische Thätigkeit lediglich auf den Einfluß, den er über die galizischen
Abgeordneten ausübte. Diese guten Leute, größtentheils aus Bauern bestehend,
die weder lesen noch schreiben konnten und bei ihrer Unkenntniß des Deutschen
kein Wort von dem verstanden, was um sie her vorging, waren so trefflich von
Stadion eingeschult, daß sie auf ein Zeichen von ihm bei jeder Abstimmung regel¬
mäßig wie Ein Mann aufstanden oder sitzen blieben. Eins der gelungensten Bil¬
der im Wiener Charivari stellte die galizischen Deputirten vor mit Zügeln im Munde,
deren Enden Stadion in seiner Hand hielt. Diese Deputirten — die ihrer Kopf¬
zahl nach beim Abstimmen immer ein großes Gewicht in die Wagschale legten —
bildeten mit ihrem Führer die sogenannte „Partei der Stummen" im Reichstage,
etwa den Wasserpolaken im frühern Parlamente zu Berlin vergleichbar.
Georg von Stratimirovic ist der Sprößling einer berühmten slavischen Dy¬
nastenfamilie, welche in den ältesten Zeiten über Ragusa und Cataro geherrscht
hat, später aber, bald von den Venetianern, bald von den Türken gedrängt, ein
Asyl in den schwarzen Bergen des freien Montenegro fand. Bon da wanderten
die Stratimirovice theils nach Nußland aus, theils auf östreichischen Boden,
wo im Süden von Ungarn eben damals laufende Serben unter ihrem Patriarchen
Arsenius Cernvjevic sich eine Heimath gründeten, von Kaiser Leopold I. unter
Gewährleistung der wichtigsten Vorrechte gerufen, das ungarische Reich vor den
Türken zu schütze» ^IKttt). Der russischen Linie der Stratimirovice entsprossen
vier rühmlich genannte Generale. Die östreichische Linie, welche zumeist in der
Banka begütert ist, gebar jenen berühmten Erzbischof von Karlovic. Georg von
Stratimirovic ist desselben würdigen Kirchenfürsten Neffe und zu Kulpin, dem
Hauptorte des gleichnamigen Stratimirovic'schen Familienguts, im Februar des
Jahres l822 geboren. Er besuchte sehr frühzeitig das Karlvvicer serbische Gym¬
nasium, absolvirte und wurde dann, kaum 14 Jahre alt, Zögling des anerkannt
besten der östreichischen Militärinstitute, der k. k. Jngenienrakademie zu Wien.
Nach Vollendung des letzten Kursus erhielt er die Charge eines Premierlieutnants
beim Husarenregimente Fürst Reuß-Kostritz, welches damals in Italien garnisonirte.
Wer die Plackereien des östreichischen Kriegsdienstes in Friedenszeit ans eigener
Anschauung kennt, wird sich nicht darüber wundern, daß Stratimirovic nach ein¬
jähriger Dienstzeit auf unbestimmte Zeit Urlaub nahm und in seine Heimatt)
Zurückging. Hier lernte er die reizvolle und liebenswürdige Tochter des reichen
Gutsbesitzers Z. keimen. Sie sehen und lieben war eins, aber die Einwilligung
der Eltern war nicht zu erlangen. Unser Held machte kurzen Prozeß, er holte sich
einmal Nachts seine Braut aus dem wohlverwahrten väterlichen Schlosse. Eine
Truppe berittener Komitatspanduren war von dem wüthenden Schwiegervater wider
Willen in der ersten Aufwallung des Zorns aufgeboten worden, das fliehende
Pärchen einzuholen und zurückzubringen, allein der Entführer bahnte sich mit be¬
waffneter Hand den Weg zur Flucht und ließ sich auf der nächsten Pfarre mit
seinem geraubten Liebchen trauen (>843). Wenn sich auch Stratimirovic bald mit
dem erzürnten Schwiegervater aussöhnte, war doch die nothwendige Folge dieses
abenteuerlichen Schrittes, daß er seine Osfiziercharge quittiren mußte. Seither
lebte Stratimirovic als Privatmann in bescheidener Zurückgezogenheit zu Neusatz,
unablässig mit literarischen Arbeiten, politischen und strategischen Studien beschäf¬
tigt. Später half er, von einem der eifrigsten serbischen Agitatoren, dem Proto-
presbyter Paul Stamatovic erweckt, die letzte serbische Bewegung, deren Hauptheerd
eigentlich Neusatz war, eifrigst mit vorbereiten. Stratimirovic's erstes öffentliches
Auftreten war bei den Nensatzer Unruhen im April 1848, sein erster wichtiger
Schritt die Aufsetzung und Einbringung jenes bekannten nachdrücklichen Protestes
der Stadt Neusatz an den ungarischen Reichstag, gegen den vom Buda-Pesther
Ministerium über alle von Serben bewohnte Ortschaften verhängten Belagerungs¬
zustand; ein Akt, dem sich alsbald auch die übrigen serbischen Städte anschlössen.
Stratimirovic wurde als Deputirter an den ungarischen Reichstag gesandt; hier
führte er energisch das Wort und er war es, zu dem Kossuth nach langem, hefti¬
gen Debattiren die inhaltsschweren, verhängnißvollen Worte sprach: „Nun wohlan,
wenn Sie so kommen, mögen denn unsere Schwerter in die Wage fallen. Zwischen
uns und den Serben kann nnr das Schwert entscheiden!" —
Georg v. Stratimirovic erschien als Abgeordneter von Neusatz in der serbischen
Metropole zu Karlvvic, als daselbst im Mai des vorige« Jahres die Vertreter des
Volkes tagten, um nach ihren alten, seit Leopold I. von allen östreichischen Kaisern
als Königen von Ungarn garantirten Rechten und Privilegien, einen Patriarchen
und einen Woywoden zu wählen. Patriarch ward der greise Karlowitzer Erzbischof
Joseph Najacic, Woywode (d. i. freigewählter Civil- und Militärgonverneur) der
k. k. Generalmajor Stephan Snplikac de Vitjez. Bei jener Versammlung war es
vornehmlich Stratimirovic, welcher die bekannten Petitionspunkte an den Kaiser
durchführen half. Selfgouveruemeut von Serbien scheint von Anbeginn seine
Haupttendenz gewesen zu sein. Das provisorische Centralregierungskomite (oelbor)
zu Karlowitz konstituirte sich sofort; da aber dessen eigentlicher Präsident, der neu-
gewählte Wojwode, damals noch bei Marschall Radetzky's Armeekorps in Italien
eine Befehlshaberstelle bekleidete, ward Stratimirovic sein Stellvertreter und Vice-
präsident im Karlowitzer Ceutralkomit«, dessen erste energische Schritte zum großen
Theile sein Werk sind.
Ehe noch die an den Kaiserhof zu Innspruck entsendete Deputation zurück-
gekehrt war*) kam die unselige, verhängnißvolle Pfingstwoche herbei. In dieser
wagte der k. k. Feldmarschallieutenant Baron Hrabowsky, der vom ungarischen
Ministerium bestellte Generalkommcmdant von Slavonien, von Peterwardein aus
jenen schändlichen, folgenschweren Gewaltstreich gegen Karlowitz, welcher die Feind¬
seligkeit zwischen Serben und Magyaren in hellen Flammen auflodern machte.
Wir lassen hier eine darauf bezügliche Stelle aus der Korrespondenz des Patriar¬
chen Najacic mit Hrabowsky folgen, ein wichtiges Aktenstück aus den Tagen des
Beginns der Greuel in Ungarn:
„Die serbische Nation" — schreibt der greise Kirchenfürst — „hat nicht an
den Krieg gedacht, bis sie durch Ihren Angriff auf das arme, unschuldige Karlo¬
witz, auf ihre Heiligthümer hiezu provozirt, ja gezwungen wurde. Die Nation
war fest entschlossen, ihr gutes Recht auf gesetzlichem Wege zu suchen und zu ver¬
fechten. Darum entsendeten sie mich mit einer ansehnlichen Deputation an die
Stufen des Thrones. Wahrend ich nun diesen gesetzlichen Schritt that, führen
Sie den Schlag auf Karlowitz, eine ganz offene, unbewaffnete, uuvertheidigte Stadt,
eine Stadt, welche Sie mit Gastfreundschaft empfangen hat. Sie führen den
Schlag an einem der ganzen Christenheit heiligen Tage, in einer Stunde, welche
dem Gottesdienst gewidmet war: statt der Gaben des heiligen Geistes, empfängt
das arme Volk Ihre Kugeln, Granaten und Mordfackeln, welche keinen Unterschied
zwischen Schuldigen und Unschuldigen wissen! Ihre Soldaten — Magyaren —
zünden mit kaltem Blute die ersten Häuser an, hauen und verwunden Weiber und
Kinder, erschießen in dem tiefen Graben unter der Brücke neun ganz unbewaff¬
nete Menschen, werfen einen blessirten alten Mann mit seinem Weibe in ein bren¬
nendes Haus und fliehen dann, von ihren Gewissensbissen und einigen schlecht
bewaffneten Bauern verfolgt, in ihre Festung zurück. Mit diesem übelberechneten
Schlage haben Ew. Excellenz drei Uebel angerichtet: erstens, daß dreizehn ganz
unschuldige Menschen verloren gingen und mehr als soviel Häuser eingeäschert
wurden; daß zweite, daß Sie die serbische Nation aus ihrem legalen Wege heraus¬
schleuderten; das dritte und größte Uebel endlich, daß Sie den gegenwärtigen
Bürgerkrieg entzündeten und ihm den gegenwärtigen greulichen Charakter vor¬
zeichneten."
An der Spitze jenes Häufleins serbischer Bauern und einiger Landwehrmän-
uer aus dem Peterwardeiner Regimentsbezirk hatte sich Stratünirovic gestellt. In
Karlowit/s blutigen Pfingsten sind die Würfel der Entscheidung zwischen Krieg
und Frieden gefallen, jung und alt, wer nur ein Gewehr zu führen vermochte,
rüstete und stellte sich uuter Waffen in die Römerschanzen zwischen die Donau und
Theiß. Das Peterwardeiner Grenzregimeut und das unvergleichliche Cajkistenba-
taillonerhob sich in Masse, und bald folgte das deutschbanater Grenzregiment.
Eine stattliche, wvhlbewcihrte, kampfbegierige Schaar war da, aber kein Führer!
Zu den k. k. Offizieren, den fremden und despotischen Drängern der biedern Grenz¬
mannschaft, hatte das Volk kein Zutrauen, die »leisten von ihnen waren >— nach¬
dem durch ihre elenden Intriguen im Stabsvrte Mitrvvitz Bürgerblut geflossen —
feig geflohen oder von erbittertem Volk theils gefangen, theils verjagt worden.
Das versammelte Volk wählte Stratimirvvic zu seinem Oberfeldherrn, der in ven
Offizieren Milojevic, Joanvvic, Snrducky, Bobalic und Böhmle bald bewährte
Unterfeldherrn fand. Die Operationslinie wurde erweitert und außer den be¬
rühmten Nömerschanzen feste Lager zu Karlowitz, Se. Thomas, Perlaz und Ali-
bunar errichtet und bezogen. Freiwillige aus dem unter türkischer Oberhohheit
befindlichen Fürstenthum Serbien, aus Bosnien und untern Slavenländern kamen
herbei, ihren Stammgenossen zu helfen, ihre Zahl erwuchs bald dergestalt, daß
sie unter des bekannten Kriegshelden Stefan Petrovic Knicanin ein eignes Ar-
meecorps zu bilden stark genug waren. Neben vielen kleinen Gefechten schlug Stra-
timirovic im Monat August die drei Schlachten von Se. Thomas, Temerin und
Eczka siegreich.
Se. Thomas ist der wichtigste Punkt in der Vertheidigungslinie der serbischen
Wojwodschaft, es ist der Schlüssel zu Javok und dem Cajkistenbataillone, mit Se.
Thomas wäre mehr als die Wojwodschaft verloren gegangen Se. Thomas ist,
obgleich in einer bedeutenden Ebene gelegen, doch durch Natur und Kunst zu einem
beinahe uneinnehmbaren festen Lager geschaffen, das unsere Nachkommen einst an¬
staunen werden als bleibende Denkmale bedauernswerther blutiger Kämpfe zwischen
zwei gleich großen, gleich freiheilbegeisterten Nationen, Ungarn und Serben, —
wie wir jetzt die Karlowitzer Nömerschauzen! Das Lager besteht aus vier felsen-
festen, unersteiglichen Schanzen, die stärkste davon, auf der Becejer Seite, von
den türkisch serbischen Freiwilligen besetzt, und oft löwenkühn vertheidigt, heißt
Srbobran — die Serbenwehr. Ein außerordentlich wichtiges Vorwerk, welches
die Behauptung von S. Thomas ungemein erleichtert, ist die feste Position bei
Turia, eine halbe Stunde seitwärts am Ufer der Theiß. Die Theißnfer, der hart
am Lager vorbeifließende Begakanal und die rings ausgebreiteten Sumpfstrecken
gewähren Se. Thomas erwünschten natürlichen Schutz. — Nachdem schon im Juli
einige Angriffe auf diesen wichtigen Punkt gescheitert waren, beschlossen die Ma¬
gyaren im August, Se. Thomas durch einen überlegenen, forcirten Angriff zu
nehmen. Am 19. August erschienen 40,000 Mann ungarischer und östreichischer
Truppen mit 60 Kanonen vor Se. Thomas und Turia, und begannen um 4 Uhr
Morgens mit einer fürchterlichen Kanonade den Kampf. Se. Thomas hatte da¬
mals eine Besatzung von nur 2500 Mann und 12 Kanonen, Turia vertheidigten
blos 1000 Mann mit 4 Kanonen. Stratimirovic kommandirte in Se. Thomas,
Joanovic in Turia. Von der Peterwardeiner Seite begann der Angriff des
Feldmarschallieutencmt Baron Hrabowsky, dieser stürmte mit 10,000 Mann und
12 Geschütze» den Se. Thomaser Brückenkopf; Obcrlieutnant Marinkovic verthei¬
digte die Schanze und brachte uach ZMmdigcm Verzweiflungskampf Hrabowsky
zum Weichen, der nun — wiewohl ohne Erfolg — zu bombardiren anfing, und
einen neuen Sturmangriff gegen Vcrbaszer Lagerseite in's Werk setzte. Hier war
der fürchterlichste Kampf und dauerte bis 2 Uhr zu Mittag. Achtmal stürmten
die Ungarn, das Infanterieregiment Alexander an der Spitze, mit an Verzweiflung
grenzender Wuth, achtmal wurden sie von den Serben geworfen, beim nennten
Anlauf gelang es ihnen, in die Scrbcnschanze zu dringen, doch wurden sie in
weniger als einer Viertelstunde wieder hinausgeworfen. Es war ein kurzer aber
fürchterlicher Kampf, die Bajonnette konnten im Gedränge nicht mehr gehandhabt
werden, desto besser wirthschafteten die Handzare und Messer der Serben. Die
'ngarn mußten hinaus und ließen 100 Tode in der Schanze. Eben auf diesem
jährlichsten Punkte leitete Stratimirovic persönlich den Kampf, neben ihm die
^rü Hauptleute Biga und Böhmle; Stratimirovic immer hoch zu Roß, in
glänzenden Uniform die feindlichen Kugeln gleichsam herausfordernd, deren
in seinen Säbelgriff zerschmetterte. Es war hier ein Kampf sondergleichen,
^ selbst gleise Krieger Kara Georgs, deren sich einige unter den Freiwilligen
befände bezeugten, einen so heißen Kampf noch nicht erlebt zu haben.
Wahren^ ^ ^ Peterwardeiner und Verbaszer Seite vorging, stürzten acht
tausend Ungarn mit einer schweren Batterie gegen die Feketicer Lagerseite, sie
wagten siebenmal vergeblich zu stürmen, und der mächtige Rest des Belagerungs¬
corps bedrohte Srbobran und Turia. Als es Abend zu werden begann, mußten
sich die Ungarn zurückziehn und ließen 800 bis 900 Tode auf dem Schlachtfeld«:;
einige Compagnien Landsturm und Cajkisten kamen beim Ende des Kampfes unter
Dadinov's Führung als willkommener Sukkurs und machten es den Serben mög¬
lich , den Rückzug des ungarischen Armeecorps tüchtig zu beunruhigen. Es war
eine Heldenschlacht eines Häufleins gegen eine stolze Ucbermachr wie die Kriegs¬
geschichte wenige auszuweisen hat, an die Thermopylen, an Szigeth und Mazagran
erinnernd.
Das Schlachtenglück scheint dem jugendlichen Helden denn doch einigermassen
verblendet und übermüthig gemacht zu habe», so daß er sich um seinen Wirkungskreis
als Vicepräsident des Karlowitzer RegierungskomitvS wenig mehr bekümmerte und
das politische Feld dem Patriarchen, der sich unritvitvl mu-»^, d. i. VolkSver-
weser schrieb, völlig einräumte. Als sich jedoch dieser auch um den Krieg eifrig
zu thun machte, und namentlich das Proviant und Geldwesen, mit dem bis da¬
hin sehr leichtsinnig und schleuderisch vorgegangen worden war, regeln wollte, ent¬
standen offne MißHelligkeiten zwischen ihm und Stralimirovic. Die Mehrzahl deS
Volks aber war Stratimirovic zugethan, und trotzdem, daß der Patriarch zu Ende
September eine Art von Bannbulle gegen den Volksgeueial erließ, blieb das Caj-
kistenbataillon und die Population von Banka fest auf Stratimirovic's Seite. Des
Patriarchen Erscheinen in Titel brachte eine solche unliebsame Domonstration zu
Wege, daß der greise Vvlksverweser sich sofort aufs Dampfschiff zurück begab und
das gellende „Zivjo Stratimirovic!" in den Ohren — nach Karlowitz heimfuhr.
Kor Are in-ü Are fand eine endliche Versöhnung zwischen Nojacic und Stratimi¬
rovic statt. Die Ankunft des Wojmodcn Suplikac enthob Stratimirovic der bis¬
her bekleideten Oberbefehlshaberstelle und beschränkte seine Thätigkeit auf eine wich¬
tigere Unterfeldherrnstelle und ans das Viceprästdium im Odbor.
Als Wien fiel und Windischgrätz und Jellachich im Nordwesten von Ungarn
eindrangen, ruhten eine Zeit die serbischen Waffen. Stratimirovic ging an der
Spitze einer Deputation, bei der sich Advocat Bvgdanvvic, Dr. Subotic und ein
Neffe des Wojwoden befanden, an den Kaiserhof, nochmals um die Bestäti¬
gung der serbischen Petition vom Mai 1848 anzusuchen. Bei seinem Erscheine'
in Wien und Ollmütz wurde er anfangs fetirt, bald aber, als er entschied-
und energisch in der Sache seines Volks dem Minister Stadion gegenüber t^
beschwerte sich das ministerielle Organ, der Lloyd, gar bitter über sein zu d^
Austreten. Die Wünsche der serbischen Nation waren ziemlich befriedigt, der "^
jener Mission erfüllt, als der erwählte Wojwode Suptikac bei Panceva pi'"^"
Todes verstarb. Stratimirovic machte sich auf den Heimweg, um seine,
als Vicepräsident des Odbor zu genügen, gewiß auch, um auf die bevorstehende Wahl
eines Wojwoden mit den nöthigen Einfluß zu haben. Jene ihm feindliche Partei,
welche ihn jetzt vergeblich unter dieser und jener Vorspiegelung in Wie» zurück
zu halten gesucht^ hatte indeß eiligst den greisen k. k. General Thcodorvvic an
die Spitze der serbischen Armee gerufen. Nicht genug daran, man suchte Stra-
timirowic sogar von seinem immer noch hochwichtigen Wirkungskreise eines Odbor-
viccpräses zu entfernen. Die Ursache war bald gefunden, man beschuldigte Stra-
timirovic friedestörende, egoistische Wablumtriebe wegen der Wojmvdenwahl gemacht
zu haben, man lud ihn vor ein Kriegsgericht, und als der junge Volksführer im
Selbstbewußtsein seiner Würde nicht erschien, gab der Patriarch einen Hirtenbrief
gegen ihn heraus, welcher ihn sammt seinem Anhang als Rebellen erklärte, und
Jedermann zur Pflicht machte, sich seiner zu bemächtigen und ihn „gebunden"
dem Kriegsgericht zu überliefern. Aber in ganz Serbien findet sich Niemand,
der es wagen würde, die Hand an den unerschrockenen Voltssichrer zu legen!
Der Odbor zu Karlovic nimmt sich des Verkaunteu und Gekränkte» an, der edel
genng ist, in der sturmvollen Zeit seinen großen Anhang nicht mit einigen Feuer-
worten zum offenen Aufruhr zu bringen. Der Odbor brachte eine Versöhnung
zwischen ihm und dem Patriarchen zu Stande, vermochte ihm jedoch seine frühere
Stellung nicht wieder zu schaffen. Nun waren nur uoch zwei volksthümliche Führer
der Serben am Platze, Knicanin und Michael Joanovic. Als aber der Erstere
heimzog vus das türkische Gebiet und der letztere den Magyaren beim^'allzuhitzigeu
Vordringen als Gefangener in die Hände fiel, nahm das Waffenglück der Serben
den Krebsgang. Es nahm den Krebsgang, wenn auch (oder „weil"?) sieben ka is.
kön. Feldherrn, die Generale Nugeut, Hajek, Nnkavina, Theodorovic und Tre-
bersburg und die Obristen Puffer und Mcyerhvfer an die Stelle dieser drei
Volksführer getreten waren. Während Oestreich die serbischen Führer mit Ehren
und Orden überschüttete, blieb Stratimirovic vergessen und Übergängen, allein
seine Brust ziert ein werthvollercö Kleinod, der Milos-Obilicorden der slavischen
Republik Montenegro, welchen außer ihm uur vier Männer besitze», darunter
Fürst Milos Obronovic, der Befreier Serbiens vom Türkcnjoch und Herr Kni¬
canin. In der neuesten Zeit sind die Magyaren - Dank sei es Grafen Albert
Nugent, der Zombor zaghaft verließ -- tief in Serbien vorgedrungen, sie haben
der Serben stärkste Vormauer, die Nömerschanze und das Se. Thomascr Lager
erstiegen, ihr Siegeslauf war unaufhaltsam, wenn sich nicht Stratimirovic im
entscheidenden Augenblick anf's Neue a» die Spitze seiner wackern Cajkisten stellte,
Perczel, den ungarischen Sohn des Sieges an den Marken des Cajkistenbataillons
zurückschlug und dem weitern Vordringen der Magyaren einen festen Damm ent¬
gegensetzte. Nach den neuesten Nachrichten soll Knicanin mit 6000 Freischärlem
herübergekommen und Se. Thomas wieder in den Händen der Serben sein. Stra-
tmiirvvic und Knicanin werden nun das Kommando führen, und der vplftthnm-
lichen Feldherrn Gegenwart wird den gesunkenen Muth der Serben neu beleben
und anfachen zu neuer Heldenthat.
Schließlich geben wir ein Portrait des jungen Serbenhelden. Stratimirovic,
ist von mittlerer Größe, schlank und schmächtig gebaut, beweglich und von den
glattesten, an's Aristokratische streifende Manieren. Der Kopf ist schon und aus¬
drucksvoll, die Stiru hochgewölbt, die Nase griechisch, die Augen von unbeschreib¬
lichem Feuer. Er trägt das braune Haupthaar leicht gelockt und einen blonden
Schnurr- und Backenbart. Seine gewöhnliche Kleidung als Obercommandant der
serbischen Jnsurrection war der Waffenrock eines Stabsoffiziers aus dem Fürsten-
thum Serbien, mit goldgestickten Kragen und Aufschlägen »ud goldenen Epau¬
lettes. Seine Schärpe war vou Silber mit blau und roth durchwirkt, die Kopf¬
bedeckung ein Sturmhut mit weißem hohem Federbusch. Im Felde pflegte Strati¬
mirovic einen grauen Radmantel mit Fuchspelz verbrämt zu tragen darüber hing
Die Besucher deö östreichischen Reichstages werden sich eines Abgeordneten
der slavischen Rechten erinnern, welcher zwar in der Kammer niemals sprach (dafür
öfter im slavischen Klub), aber doch durch seiue bei ihrer Mißgestalt sehr interessante,
ich möchte sagen — anziehende Persönlichkeit, auffiel. Eine kleine, verwachsene
Gestalt, mit aufrechten Kopf, der mit seinen blauen sanften Augen, den blassen,
leidend aussehenden Wangen und dem langen, schwarz glänzenden Lockenhaar etwas
Schwärmerisches, Poetisches hatte. Der kleine Mann war Ol. Johann Spatoplnk
Prest, Professor der Naturgeschichte an der medicinischen Fakultät zu Prag, ein
auserwählter Jünger der Wissenschaft, einer der vorzüglichsten Erwecker, ja, man
kann sagen: Neuschöpfer der jetzigen czechischen Literatur, geachtet und geehrt, s»
weit die slavische Zunge reicht, innig geliebt von Allen, die ihm näher standen.
Prest wird mit Recht unter die literarischen Notabilitäten der Slaven gezählt, er
gehört nebst Hnewkowsky, Puchmcchr, den beiden Nejedly und dem Ritter Jung¬
mann zu den Vätern des jungen Eechien. Professor Prest folgte, der Erste unter
den Deputirten, dem aufgelösten Reichstag ins Grab nach, er starb nach kurzen
Leiden am 7. April l. I. zu Prag. Seine Leichenfeier wurde glänzend, wie die
Jungmanns, gefeiert, und eine unabsehbare Menge schritt hinter dem Sarge, den
ein vom Verewigten wohl verdienter Lorbeer umkränzte.
Johann Spatoplnk Prest war am 4. September >7!N zu Prag geboren und
eben da erzogen und gebildet, und im Jahre 18l5 an der Prager Hochschule zum
Doctor der Arzneikunde promovirt worden, bei welcher Gelegenheit er eine interes¬
sante Monographie des Lorbeers als Inauguraldissertation veröffentlichte. Im Jahre
1818 erhielt Prest die Professur der Naturgeschichte und Technologie an der Oll-
mützer Universität und folgte bald darauf dem Rufe nach Prag an die Karl-Fer-
dinands-Hochschule. Durch seine Bemühung kam bei der dasigen medicinischen
Fakultät ein k. k. Naturalienkabinet zu Staude, daß es durch seine Bemühung für
vier Säle erwuchs. Im Interesse dieses Kabinets machte Prest bedeutende Reisen,
die meiste Ausbeute gewann er jedoch am Kaukasus, in Italien, Jllyrien und Un¬
gar». Auf dem czechisch-literarischen Felde war er seit dem Jahre 1820 unablässig
thätig, er gründete mit bedeutendem Geldopfer eine wissenschaftliche Zeitung, epoche¬
machend in der damals noch in ihren Mitteln beschränkten jungczechischen Literatur.
Sie führte nach dem Namen jenes weisen Fürsten der böhmischen Urzeit den Titel:
,,Krot" und zählte Männer wie Safarijk, Palacky, Winaricky und Wlczek zu ihren
Mitarbeitern. Nachdem er diese Zeitschrift aufgegeben, übernahm er 1837 das
czechische Journal für Technologie des Prager Gewerbevereins. Am eifrigsten
bebaute Prest das Feld, auf welches ihn sein Hauptstudium und seine Stellung
als Universitätslehrer hinwies: die Naturgeschichte und die Technologie. Seine
hier einschlagenden Schriften sind nach dem Urtheil der tüchtigsten Fachmänner von
hohem wissenschaftlichem Werth, in der czechischen Literatur stehen sie, vorzüglich
was Mineralogie und Botanik «»belangt, unerreicht da. In dem technologische»
Fache hatte Prest i» öl. Karl Ammerling einen ebenbürtigen Rival. Seine
Hauptwerke sind: Norn8t<zpi,8 (Mineralogie) 1837, u»d V^cLvbeciiH'rgLtlmopis
Die Herrlichkeit Kremsiers ist vergangen und bald wird der Glanz von Ol-
'nutz vorüber sein. Die Chronisten beider Städte werden die historische Bedeutung
^selben sicher stellen und der Nachwelt überliefern, als mahnendes Beispiel für
Bürger aller Zeiten, wie die Neutralität in Revolutionsperioden dennoch zum
Gute» führen kann. Kremsier war der Sitz des Reichstages und Olmütz wird
b^d das Hoflager des Kaisers gewesen sein. Der uralte Streit zwischen Olnnch und
^nur, welche von beiden Städten die wahrhaftige Hauptstadt von Mähren sei, trat
durch die Verlegung des Hvflagers in die Festung Olnnch in ein ganz neues Stadium
"ud hat für die Olnncher die besten Chance». Brünn konnte sich nie rühmen,
die Residenz eines östreichischen Kaisers zu sein. Aber von Olnnch aus wurde
"^im wiedert erobert und wird Oestreich regiert, von Olnnch ginge» die beruhen-
ten Noten Schwarzenbergs nach Frankfurt und von Olmütz gehen täglich Depe¬
schen nach Berlin und München ab, die nicht nur Oestreich, sondern ganz Deutsch¬
land betreffen. Wie» ist in Ungnade gefallen und gleich ihm dus hundertthürmige
Prag und das liebliche Grätz; um Mailand und Pesth wüthet der Krieg und
Lemberg steht auf durchwühltem Boden; nur Olmütz allein wurde gerecht befunden
unter den Städten Oestreichs. Seine Eigenschaft als Festung wird bei seiner
Erwählung zur Residenz des östreichischen Kaisers wohl nur von untergeordneter
Bedeutung gewesen sein. Aber die Furcht vor einer Olmützer Aristokratie ist un¬
gegründet. Das Schicksal weist die Olmützer auf den demokratischen Pfad. Schon
einmal stand Olmütz vor den Pforten des östreichischen Ruhmes und hatte seine
Hand in jene der Aristokratie gelegt; jedoch alles Schicksal trat diesem Anbahnen
einer Hegemonie unerbittlich entgehen. Die Bürgerschaft von Olmütz ließ sich
während der Belagerung der Festung dnrch den großen Friedrich i. I. 1758 thä¬
tig bei der Vertheidigung verwenden; und als Friedrich nach dem Verluste des
großen Transportes durch LaudouS Ueberfall die Belagerung aufhob, verlieh Maria
Theresia der Bürgerschaft mehrere Privilegien und erhob den gesammten Rath der
Stadt in den Adel. Hundert und ein Jahr sind seit dem verflossen und kein ein¬
ziger Enkel der geadelten Rathsherren ist vorhanden, der das Patricia: für sich
in Anspruch nehmen könnte. Da waren die Brunner weit klüger. Nach einem
festlichen Empfang des Kaisers Franz, erbaten sie sich von demselben die Gnade,
daß ihre Bürgergarde — den Grenadiermarsch schlagen dürfe. Sie sahen voraus,
daß es weit Master sei den Marsch der Grenadiere einer loyalen Bevölkerung zu hinter¬
lassen, als den Adel durch Söhne und Enkel. Olmütz war übrigens das letzte Boll¬
werk Süddeutschlands gegen die Horden der Mongolen. Vor seinen Mauern schlug sie
Jarvslav von Sternberg. In Oestreich zweifelt man daran, daß diese Festung
noch einmal und besonders in unseren Tagen eine so bedeutende Rolle gegen den
Osten spielen werde. Die Einwohner von Olmütz sind also dazu bestimmt, sich
der Demokratie in die Armee zu werfen, und sie können wahrscheinlich den Tag
nicht erwarten, an dem die Abreise des Hofes ihnen Gelegenheit zu einer deutli¬
chen Manifestation ihrer Gesinnung gibt. Man hatte das Aufbrechen des kaiser¬
lichen Hoflagers schon ans den 15. April vorhergesagt, und die Leibgardisten und
Kammerheizer wußten viel davon zu erzählen, daß im Schlosse Schönbrunn heim¬
lich Alles zum Empfang des Kaisers vorbereitet werde; aber bis heute sitzt der
ganze Hof noch so fest hier wie vor zwei Monaten, als Olmütz das Hauptquartier
gegen die Rebellen in Kremsier war. Die Besatzung der Festung ist durchaus nicht
zahlreich. Sie besteht zum Theil aus den Trümmern des italienischen Regimentes
Zanini, von welchem noch immer ein Bataillon in den Reihen der Magyaren
kämpft. Die Soldaten dieses Regimentes haben noch Manches von der magyari¬
schen Adjüstirung an sich, was große Unzufriedenheit unter den Patrioten erregt,
denn die Beibehaltung feindlicher Uniformstücke (z. B. der Patrontaschen) scheint
darauf hinzudeuten, daß die Rüstkammern Oestreichs erschöpft sind. — Drei Te¬
legraphendrähte führen nach Olmütz und dennoch weiß man hier, im Sitze
der Regierung, nur sehr wenig von dem, was in den Provinzen und namentlich
in Ungarn vorgeht. Der Inhalt der telegraphischen Depeschen wird dem Publi¬
kum nicht mitgetheilt und die Geheimnißkrämerei findet hier den besten Platz.
Man lebt in dieser Beziehung ganz wie in den vormärzlichen Zeiten. Wer der
Neffe eines kaiserlichen Unterthürstehers ist, erfährt Manches, wer in einem zärt¬
lichen Verhältnisse mit der Tochter einer Hofwäscherin steht, weiß Vieles, und
wer sich auf das bedeutsame Mienenspiel der Schreiber in den ministeriellen Bu¬
reaus versteht, kann sich wohl an einen politischen Artikel wagen. Die Diplomaten
Mit den hohen Stirnen, spitzigen Nasen und dünnen Lippen sind für die Olmützer,
welche sonst blos die dicken Lippen und die fleischigen Nasen des zahlreichen Kle¬
rus oder die ausdruckslosen Gesichter einer gewöhnlichen Garnison vor sich hatten,
eine sehr befremdende Erscheinung. Im Theater, welches der junge Kaiser sammt
der ganzen kaiserlichen Familie sehr oft besucht, staunen sie zu diesen Lenkeru des
östreichischen Staatsschiffes hinauf und sammeln dankbar von den Kammerdienern
und Gentlemen-Leiblakaien im Parterre Notizen über die Notabilitäten des HoflagerS
ein. Die meisten derselben sind sehr alt und können die metternich-sedlinitzkische
Verwandschaft nicht verleugnen. Ein höchst mittelmäßiges Theater, welches zuwei¬
len durch die Hofschauspieler unterstützt wird und einige Conccrtisten zweiten oder
dritten Ranges bieten dem diplomatischen Corps, der aristokratischen Suite des
Hofes und den Offizieren der Besatzung die nöthige Zerstreuung. <
Vor wenigen Tagen traf Windischgrätz im Hoflager ein. „8in transit Kloi i»
wurM" kann dieser Mann sagen. Wer hätte vor drei Monaten in Oestreich die
Tollkühnheit besessen an dem Feldherrntalente und den großen politischen Gaben
des Fürsten Feldmarschalls zu zweifeln oder in anderen Ausdrücken als jenen der
Maßlosesten Verehrung zu sprechen, und jetzt wagt es der letzte Berichterstatter des
obskursten Journals trotz des drakonischen Preßgesetzes zu beweisen, daß der Ex-
generalissimus nicht ein Bataillon zu commandiren verstehe. In dem letzten Mi¬
nisterrathe soll Windischgrätz für Unterhandlungen mit Ungarn, Stadion für Fort¬
setzung des Krieges mit eigenen Mitteln und Bach für eine ausgiebige russische
Hilfe gestimmt haben. Der Krieg in Ungarn fesselt das Interesse der Bevölke¬
rung bei Weitem in höherem Grade als die endliche Constituirung Deutschlands.
Die Ursache davon mag theils in der Nachbarschaft des aufständischen Landes,
Heils in dem Umstände liegen, daß fast alle Journale von einiger Bedeutung
^it Ausnahme der „Ostdeutschen Post", der ungarischen Frage den größten Theil
Hrer Aufmerksamkeit und ihres Raumes widmen, während Deutschland nur so
Nebenbei beachtet wird. Der Lloyd spricht sogar schon kriegerisch Deutschland ge¬
genüber und die hyperministerillen Blätter wälzen sich vor Freude über das Zu¬
standekommen von Kleindeutschland. Die Bevölkerung der sogenannten deutschöst-
A««
reichischcn Provinzen wird durch den Krieg in Ungarn unstreitig am Meisten in
das Mitleiden gezogen und doch ist den Magyaren im Herzen Niemand gram.
Man sieht ein, daß die Besiegung der Ungarn ein nothwendiges Mittel ist, um nur
die näästc Aussicht in die Zukunft Oestreichs etwas aufzuklären und dennoch wünscht
man, daß es ein anderes Mittel gebe, das Land zu pacificiren. Der Patriotis¬
mus, welcher auch vor den rigorosesten Denunciationsjvurualeu Wiens Anerken¬
nung findet, ist nur bei der Bureaukratie, bei den aktiven und pensionirten Offi¬
zieren und einem geringen Theile der Handelswelt zu suchen.
Was nun der Patriotismus nicht leistet, das bringt der Belagerungszustand
nud das Gouvernement des Säbels zu Stande. Uebrigens kann man annehmen,
daß die meisten Provinzen Alles aufwenden werden, nur deu Frieden in Ungarn
herzustellen, wenn sie wüßten, daß dadurch dem Einmärsche der Russen ein für
alle Mal vorgebeugt würde. — Die Nachrichten vom Kriegsschauplatze find leider
von der Art, daß mau dein Hereinbrechen der russischen Corps täglich entgegen¬
sehen kann; denn die kaiserliche Armee ist in stetem Rückzüge begriffen, vom Er¬
greifen der Offensive kaun daher nichts verlauten; heute Morgeus erzählte man
hier sogar von der Einnahme Pesths und der Entsetzung Kvmorns. Solche Ge¬
rüchte finden hier zahlreiche Hörer und willige Verbreiter, während man zu den
Bulletins der k. k. Armee den Kopf schüttelt und an die oftmals berichtete Ver¬
nichtung Beins, Gefangennehmung Kossuths ?c. erinnert. In der That muß das
gläubigste östreichische Gemüth von einigen Zweifeln bestätigt werden, wennncich ungefähr
40 Sicgcöbnlletins die OpcrationSlinie der k. k. Truppen wieder auf dem rech¬
ten Donaunfer erscheint. In Ungarn befindet sich blos der Kriegsminister in einer
schlimmen Lage: in Bezug auf die südslavischeu Länder das ganze Ministerium.
Die Kroaten und Serben sprachen es offen aus, baß sie von der octroyirten
Verfassung Nichts wissen wollten; die Art und Weise wie man in Ungarn von
kaiserlicher Seite den Krieg führt und in den unterworfenen Comitaten administrirt,
haben das Vertrauen auf das Ministerium Schwarzenberg-Stadion so wankend
gemacht, daß die südslavische Zeitung offen bekennt: „unsere Sachen in Ungarn
stehen mißlich und wenn sich nicht bald die Superi wie vor Troja in's Mittel le¬
gn,, so werden wir bald an die Stelle gelangen, an welcher wir werden aus¬
rufen müssen: I>'i»i8/^user-ri?! Das ist allerdings sehr stark und in den friedlichen
deutschen Provinzen dürfte sich die Presse eben so wenig wie die nicht geheime
Konversation eine solche Aeußerung erlauben. Die Slovaken in Nordungarn sind
ein friedliches Volk, aus den Namen „Ungar" stolz, und wenn sie die Versiche¬
rung haben, daß sie nicht mit der Peitsche gezwungen werden, magyarisch zu
lernen, so dürsten sie sehr leicht dem Plane der „Presse", welche Ungarn nach den
Nationalitäten in größere Bezirke theilen will, entgegentreten. In Galizien ist
die Ruhe eines Kirchhofs, die uur zuweilen durch Gefechte an der ungarischen
Grenze gestört wird. Die Deutschen Oestreichs scheinen zu ahnen, daß ihr Ver-
hältniß zu Deutschland auch auf den Pussten Ungarns entschieden wird. Zudem
wurden sie durch den italienischen und magyarischen Kriegslärm eine Weile von
der großen, gemeinschaftlichen deutschen Angelegenheit abgewendet und jetzt, da sie
mit Erstaunen die neuesten östreichischen Noten lesen und ihren Ton in Erwägung
ziehen, bemerken sie erst, daß in der That die Feststellung des Verhältnisses zu
Deutschland ganz und gar in die Hände des östreichische» Ministeriums zurückge¬
kommen ist und daß sie gerade so weit in dieser Angelegenheit gekommen sind, wie
im März 1848. Die Aussicht wieder von Anfang beginnen zu müssen, die
Ueberzeugung, daß man seit dein 7. März 1849 in Oestreich das Wort Revolu¬
tion, Demokratie, Einigkeit der Ratio», Nationalversammlung ze. nicht mehr so
ungestraft wie sonst in den Mund nehmen darf, macht sie sehr nachdenkend und
seit die östreichischen Abgeordneten aus der Paulskirche abberufen wurden, stieg
ihre Verwirrung auf einen so hohen Grad, daß sie in Wahrheit aus dem Stand
der magyarischen Angelegenheit, die sich aber nicht in wenig Worten zusammen-
fassen läßt, einigen Trost in Bezug auf die mißliche Situation schöpfe» zu können ver¬
meinen, die ihnen aus dem Streit ihrer Sympathie mit deu letzten Note» Schwar¬
zenbergs erwuchs. Uebrigens ist hier die Furcht vor den Russen bei Weitem ge¬
ringer als man bei der mißlichen Situation der k. k. Armee in Ungarn glauben
sollte. Wenn mau auch die Existenz jener Note bezweifelt, in welcher Rußland
dem preußischen Hofe die Besitzergreifung der Moldau und Wallachei angezeigt
haben soll, so erlaubt man sich dennoch anzunehmen, daß das östreichische Cabinet
die Occupation östreichischer Gebietstheile durch die Russen sür ein sehr gefährli¬
ches, jedenfalls für das letzte Mittel im Lande Ruhe zu schaffen, ansehe, indem
Rußland vielleicht zuerst gar zu großen Eifer zeigen, zuletzt jedoch in dem Auf¬
geben seines übernommenen Amtes etwas zu zögernd sein dürste. Natürlich darf mau
einem ministeriellen Politiker mit solchen Befürchtungen nicht nahe treten, aber im
Volke ist die Meinung verbreitet, die guten Dienste Rußlands dürsten Oestreich
wohl das eine oder das andere schöne Grcnzland tosten nud die Feinde Oestreichs
halten sich für vollkommen überzeugt davon, so daß sie den Einmarsch der Russen
z. B. in Galizien nur mit Jubel begrüße» würden. Im Ganzen genommen ist
der Glaube an eine schleunige russische Hilfeleistung nur sehr wenig verbreitet.
Wird einer totalen Absonderung Oestreichs von Deutschland nicht durch das öst¬
reichische Ministerium! entgegengearbeitet und zwar aus eine ziemlich deutliche
Weise, so geht Oestreich einer revolutionäre» Zukunft entgegen. Denn die zu¬
rückkehrenden Abgeordneten werden sich in die jetzigen Umstände so wenig zu
schicken wissen, daß ihnen Nichts übrig bleiben wird, als sich einer revolutionären
Propaganda zuzuwenden, deren Ziel entweder ein zweiter cvnstituireuder Reichs¬
tag in Oestreich oder eine gänzliche Lostreuuung der deutsche» Länder von Oest-
reich ist. Durch die Octroyirung einer Berfassnng und die Auflösung des Reichs¬
tags haben die Minister dem jungen Kaiser jedenfalls den schlechtesten Dienst er-
wiesen. Er ist unpopulär. In Prag wird der Kaiser Ferdinand benutzt zu De¬
monstrationen gegen den neuen Monarchen. Sein Geburtsfest wurde mit ausge¬
zeichneter Pracht gefeiert, man ruft so oft als möglich: Hoch Ferdinand! man
besingt ihn, blos um zu zeigen, daß man den neuen Kaiser nicht mag. Es ist
zu bezweifeln, ob in Wien Franz Joseph I. jene Popularität genießen wird, die
Ferdinand bis zu den Octobertagcn genoß.
Die Gesetze, welche dem Ministerium wunderbar leicht ans der Feder zu
fließen schienen, haben bereits alle ihre Beurtheilung gefunden. Das Gesetz über
die Geschwornengerichte soll mit Nächstem erscheinen. Einige indiscrete Mitthei¬
lungen über dasselbe haben bereits in mehreren Journalen vor der Zeit sehr be-
achtenswerthe Betrachtungen und zugleich eiuen Kampf zwischen der Ostdeutschen
Post und dem Lloyd, welche zwei Journale Tag für Tag mit einander anbinden,
hervorgerufen. Die Ostdeutsche Post meinte, der veröffentlichte Entwurf sei blos
eine Mystifikation. Leider ist dem nicht so. Das Ministerium Schwarzenberg ver¬
stand es, die freie Gemeinde so zu ordnen, daß man mit Schmerzen die Zeiten
der gestrengen Herren Verwalter und hochmögenden Bürgermeister zurückwünsche,
und es wird ihm ein Leichtes sein, das Schwnrgerichtswesen so einzurichten, daß
man Jene glücklich preisen wird, die noch den alten Kriminalgerichten in die
Hände fielen.
Heute ging Fürst Windischgrätz nach Prag ab; man sagt, er wird das
Gouvernement übernehmen. Stratimirovic und Knicanin sollten (nach dem Lloyd)
den ungarischen General Perzcel auf dem rechten Dvnannfer geschlagen haben.
Ist der Sieg in der That so bedeutend, wie ihn der Lloyd schildert so dürfte
Jacobi erzählte kürzlich, wenn er Wohnungen miethen gehe, werde er im¬
mer gefragt, ob er ein Verwandter des berühmten Jacobi sei. Unter dem berühmten
Jacobi versteht Berlin nämlich den „Feind des Hauses Hohenzollerndem das
Volk von Berlin in den Novembertagen einen solennen Fackelzug brachte. Unser
Jacobi ist nur der unbekannte Professor der Mathematik, der sich glücklich fühlen
mag, eiuen Namensvetter vou berühmtem Namen zu besitzen.
Jacobi ist 1804 in Potsdam geboren. Er schwankte längere Zeit, ob er sich
der Mathematik vorzugsweise widmen solle und beschäftigte sich viel mit philvso-
Phischen und philologischen Studien. Nachdem er sich der Mathematik ganz zu¬
gewendet hatte, errang er unglaublich schnelle Lorbeeren. 1824 habilitirte er sich
als Privatdocent in Berlin, 1827 erhielt er in Königsberg eine außerordentliche,
1829 eine ordentliche Professur der Mathematik. Durch das Zusammenwirken von
ihm, Bessel und Neumann wurde die Königsberger Universität der Hauptsitz der
Mathematik in Deutschland. Fast um dieselbe Zeit wurden dieser Anstalt ihre
ersten Koryphäen entrissen, durch den Tod Bessel's und durch die Ernennung Ja-
cobi's zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie. — Die Mathematik be¬
findet sich in dieses Augenblick noch nicht auf dem Punkte der Entwickelung, wo
das Material erschöpft ist und es sich um die formale Abrundung, um die syste¬
matische Gliederung handelt. Vielmehr sind gerade in neuerer Zeit ganz neue
Gebiete entdeckt, neue Wege eröffnet worden, und die Bemühungen der größsten
Mathematiker siud dahin gerichtet, den Blick in die Zahlen- und Formelnwelt im¬
mer weiter auszudehnen, den schon gemachten Eroberungen neue und kühnere hinzu¬
zufügen. Zu dieser Richtung gehört auch Jacobi. Seine Vorlesungen haben in
der Regel einen sehr schwierigen Inhalt. Er überläßt sich ganz seinem Genius,
beginnt mit leichten und einfachen Deduktionen und befindet sich plötzlich auf einem
Gebiet, wohin ihm nur der kleinere Theil folgen kann. Er selbst hat die ver-
wickelsten Formen mit bewundernswürdiger Klarheit in seinem Kopfe und braucht
keine Tafel, um mit ihnen zu rechnen; seine Zuhörer sitzen versteinert da und brin¬
gen oft nichts Anderes nach Hanse, als das Gefühl ihrer Unbedeutenden. Dieser
Nachtheil ist, wie ich glaube, nicht hoch anzuschlagen. Fast in allen Wissenschaften,
namentlich aber in der Mathematik, läßt sich das Positive ans Büchern erwerben.
Soll der Uuiversitätsunterricht einen Zweck haben, so muß er in den Händen von
Männern sein, die durch das Hervorragende ihrer Persönlichkeit, durch die indi¬
viduelle Form, in der sie ihr Wisse» geben, auf die Studirenden wirken. Die
wendige Thätigkeit eines großen Geistes belausche» zu können, tausendmal
^nchtbriugcnder, als ewige Formeln' mehr zu wissen. — Es gibt viele Ge¬
ehrte, die kein Interesse haben an der unmittelbaren Belebung ihres Wissens durch
Unterricht; zu ihnen gehört Jacobi nicht. In Königsberg gründete er mit Ncu-
Mann gemeinschaftlich ein mathematisch-physikalisches Seminar; in Berlin hält er
unausgesetzt Vorlesungen, obgleich er als Mitglied der Akademie nicht dazu ver¬
nichtet ist. Nur freilich darf man nicht von ihm voraussetze«, daß er sich da--
d"res gebunden fühle. In Königsberg kündigte er einmal absichtlich eine so schwie¬
ge Vorlesung an, daß sich nur Wenige dazu meldeten, und diesen Wenigen rieth
^ dann wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes ab, daran Theil zu nehmen.
^' macht überhaupt den Eindruck, als ob er sich uicht leicht zu etwas zwinge.
Interessant war es, Jacobi vom Katheder auf die Tribünen der Clubs stei¬
gen zu sehen. Warum sollte Deutschland nicht auch seine Arago's und Bailly's
)"ben? Er hätte freilich schon längst Gelegenheit dazu gehabt, denn in Königs-
berg war zu der Zeit als Jacobi dort lebte, ein reges politisches Leben, (d.h.
eine rege politische Kaunegießcrei); — damals zog er sich in die stolze Einsamkeit
des Gelehrten zurück.
Sein Aeußeres macht zunächst einen befremdenden Eindruck. Ein beständiges
Lächeln schwebt um seine Lippen, mir dem Grade nach verschieden, ein Lächeln,
halb ironisch, halb gutmüthig. Bei der freundlichen Art, die er gegen Jedermann
hat, kann man ihm eigentlichen Hochmuth nicht zuschreiben; er interessirt sich nicht
blos für sich, auch nicht blos für die Wissenschaft, auch für Menschen und nament¬
lich für die Bildung der Menschen hat er Herz und Sinn. Daneben aber hat er
wie es sich nicht anders erwarten läßt, das Gefühl von der Ueberlegenheit seines
Geistes, und dies prägt sich nicht minder in seinem Aeußern, als in seinen Reden
ans. Er spricht gern von seinen theils vornehmen, theils gelehrten Verbindungen,
er erwähnte einst in einer Rede, daß er Mitglied fast aller großen Akademien Eu¬
ropa's sei; dann freilich hüllt er sich auch wohl in den Mantel der Bescheiden¬
heit, läßt unbedeutenden Menschen große Anerkennung wiederfahren, ja die uneben-
bürtigsteu Gegner habe ich ihn mit merkwürdiger Schonung behandeln sehen. Diese
eigenthümliche Mischung von Selbstgefühl, Geringschätzung und Wohlwollen drückt
sich in seinem Aeußern ans, daneben eine ungemeine Behaglichkeit und Ruhe. Als
seinetwegen die erbittertste Aufregung im Mielcntz'sehen Saale unter tausend Zuhö¬
rern herrschte, stand er mit der größten Ruhe auf der Tribüne, sprach mehr als
eine Stunde, eben so langsam und behäbig, wie gewöhnlich, auch nicht in dem
Ton der Stimme war eine Spur der Anfregung zu entdecken.
Ein Redner ist Jacobi nicht, und doch macht seine Rede Eindruck dnrch die
Eigenthümlichkeit des Geistes, die vor uns tritt. Er spricht nicht nur langsam
und schwerfällig, er verliert anch oft den-Faden des Vortrags, bringt ungelenke
Sätze zusammen, schweigt längere Zeit gänzlich und überlegt, wie er die Rede
weiter führen soll. Seine Reden haben aber stets Inhalt, Zusammenhang n»d
tragen den Stempel der uiucru Geistesthätigkeit. Er legt sich zuweilen kurz vor¬
her die Hauptgedanken, die er erörtern will zurecht und dann ist sein Vortrag
fließender; oft spricht er ganz improvisirt. Er liebt es, über kleine, ganz unbe¬
deutende Fragen das Wort zu ergreifen, namentlich wenn Alles überzeugt ist, daß
kein Einziger darüber sprechen werde. Er pflegt dann nicht gerade etwas beson¬
ders Erhebliches vorzubringen, aber man hat doch vor seiner Person so viel Ach¬
tung, um die Sache ernstlicher in Erwägung zu ziehen.
Als in der erstem Hälfte des Monats April der constitutionelle Club gegründet
wurde, traten gleich anfaugs drei verschiedene Klassen von Mitgliedern hervor,
erstens diejenigen, die bisher dem alten Systeme treu und ergeben gedient hatten
und nun die Maste des Constitutionalismus vorzunehmen für zweckmäßig hielten,
sodann die aufrichtig »ut gemäßigt Konstitutionellen, endlich solche, die eigentlich
aus dem Boden der Demokratie standen und dem politischen Club nur darum u«)
beitraten, weil es ihnen dort nicht fein genug war. Zu welcher dieser drei Klassen
Jacobi gehört hat, der von Anfang an ein regelmäßiger Besucher der Club-Sitzun-
gen war, wissen wir nicht. Er hielt sich indeß lange Zeit hindurch passiv; zum
erstenmale beteiligte er sich bei der Polendebattc durch eine Bemerkung vom Platz
aus. Ein Redner donnerte in die Versammlung hinein: Ist Jemand in diesem
Saal, der die Theilung Polens nicht für ein schmähliches Unrecht hält? Alles
schwieg, nur von einem Platze aus hörte man in ruhigem und gleichgiltigem Tone:
Ich — es war Jacoby. — sein erstes eigentliches Auftreten war zur Zeit der
Wahlen. Der constitutionelle Club hatte es unternommen, Kandidaten zur Depu-
tirtenwcchl in Vorschlag zu bringen. Jacobi bewarb sich um die Unterstützung
des Clubs. Er hielt eine kurze Rede, in der er unter Andern sagte, er Halle die
constitutionelle Verfassung für die zeitgemäßeste, obschon ihn bei dem Worte Re¬
publik gerade keine Gänsehaut überlaufe; man müsse sich über von jetzt an gewöh¬
nen, mit gewissen Worten einen andern Sinn zu verbinden, z. B. mit dem Worte
Ordnung; das hätten die früheren Regierungen stets den Liberalen vorgehalten:
ihr werdet um die Ordnung und Ruhe kommen; ja, fügte er hinzu, um die Ord¬
nung und Ruhe der frühere» Zeit sind wir gekommen und sollen wir kommen,
denn das war eine Kirchhofsruhe, von jetzt an ist Ordnung und Ruhe nicht mehr
denkbar ohne freie Bewegung der Geister. — Seine Gegner benutzten diese Stellen,
um ihn in den Ruf eines Republikaners zu bringen und zu dem Borwurf, er habe
die heiligsten Begriffe frech verhöhnt. Er bekämpfte aber eben nur die Unter--
drücknng der geistigen Freiheit unter dem alten Regime, und war nicht so kurz¬
sichtig, um nicht zu sehen, daß auch die äußere Physiognomie der Gesellschaft eine
bewegtere sein müsse, wenn die Schranken der individuellen geistigen Freiheit fallen
sollten. Gerade aus diesen Punkt kommt er oft zurück; er faßt die Freiheit von
dem Standpunkt aus, von dem sie für den Maun der Wissenschaft das meiste
Interesse hat; man soll die Menschen nicht hindern, ihre Ueberzeugungen zu haben,
sie auszusprechen und sür sie zu wirken. Er scheint die Gefahren, die ans einer
unbeschränkten derartigen Freiheit hervorgehen, da er sich ihrer unzweifelhaft be¬
wußt ist, entweder nicht zu fürchten, oder für ein nothwendiges Uebel zu halten.
Er geht aber offenbar dabei von einer sehr idealen Auffassung aus; was ihm als
Frivolüät ausgelegt wurde, ist gerade der edelste, der echt humane Zug, der durch
seine politische Anschauung durchgeht. — Jacobi erlangte damals wenigstens eine
Art von Erfolg. Den heftigen Angriffen, die Crelinger und andere Königsberger
gegen die Redlichkeit seines Charakters richteten, der Aufregung, die dadurch im
constitutionellen Club entstand, ist vorzugsweise das so plötzliche Sinken dieses
^lubs zuzuschreiben. Theils wollte nach den so leidenschaftlichen und heftigen
Sitzungen, die die Jacobi'sche Angelegenheit hervorgerufen hatte, der trockene Ver¬
lauf der folgenden Debatten nicht mehr zusagen, theils war eine persönliche Ver¬
stimmung eingetreten, die das Ausscheiden Creliugers und vieler andern Mitglieder
zur Folge hatte. Während der Streitigkeiten über Jacobi's Charakter schmolz die
Zahl der Mitglieder auf mehr als tausend an; als sie beendet waren, betrug die
Zahl der Anwesenden selten mehr als hundert. Wir gehen auf die Untersuchung,
ob einem Manne Redlichkeit des Charakters zuzutrauen sei, der dem Könige die
Hand geküßt, eine ehrfurchtsvolle Dedikation geschrieben habe, und nun erkläre,
daß ihn bei dem Worte Republik keine Gänsehaut überlause, nicht ein.
Im Laufe des Sommers schied Jacobi ans dem constitutionellen Club und
ward Vorsitzender in dem eben erst entstandenen Verein für Volksrechte, einem aus
den radikalsten Elementen der Berliner Demokratie bestehenden Club. Daß Jacobi,
als er den Vorsitz übernahm und sich verpflichtete, ihn einen Monat lang zu führen,
die eigentlichen Tendenzen des Clubs nicht kannte, erhellt daraus, daß er, nachdem
dieser Monat verflossen war, uicht nur sein Amt niederlegte, sondern aus dem
Club gänzlich schied. Man hatte, um den Club in die Höhe zu bringen, einen
berühmten Namen an die Spitze stellen wollen, und hatte schon gleich anfangs
daran gedacht, ihn später fallen zu lassen. Da Jacobi die Sache einmal ange¬
fangen hatte, hielt er so lange aus, als seine Verpflichtung ging, bemühte sich
übrigens redlich, den Verein in eine bessere Bahn zu lenken. Er wagte es einmal,
einen Zweifel darüber zu äußern, ob der Proletarier, der von einem Tage zum
andern lebe, dieselben politischen Rechte in Anspruch nehmen dürfe, wie derjenige,
der zwar ein geringes, aber festes Einkommen habe. Alles war außer sich über
diesen Verrath an der Demokratie, wohl zehn Redner nacheinander stürzten auf
die Tribüne und überboten sich in Worten der Entrüstung.
Nachdem Jacobi auch aus diesem Club ausgeschieden war, beschränkte er sich
auf seinen Bezirk und bemüht sich in diesem auch noch jetzt theils zu belehren,
theils zu politischer Bedeutung zu gelangen. Ich habe ihn hier unter Männern,
Frauen und Kindern, die meist aus dem Handwerkerstande waren, einen sehr popu¬
lären Vortrag über das Verhältniß Deutschlands zu Preußen halten hören. Offen¬
bar sah man die Absicht, belehrend und bildend zu wirken, doch verschmäht Jacobi
auch nicht die Künste, die einen Redner bei der großen Menge beliebt machen.
Mit großer Gemüthsruhe machte er Witze in der Art des Krakehlers und anderer
solcher Blätter; Knaben von 8—10 Jahren, die zunächst an der Tribüne standen,
tobten Beifall; diese Umgebung genirt ihn nicht. Und doch ist er im Ganzen zu
ernst und selbstständig, als daß er sonderliches Glück machte. Die Gebildeteren
schieben ihn vor, um mit ihm zu prunken. Er repräsentirt mehr, als daß er wirk¬
lich bedeutenden Einfluß hätte. — Im Januar trat er als Candidat für die zweite
Kammer auf. Seine Rede machte einen sehr günstigen Eindruck. Durch die Ant¬
wort aber, die er auf eine an ihn gerichtete Jnterpellation gab, verlor er Alles,
was er gewonnen hatte. Als er nämlich gefragt wurde, ob er für die Gemeinde-
Verfassung das unbedingte Wahlrecht haben wolle, erbat er sich 14 Tage Bedenk-
zeit zur Beantwortung dieser Frage. Da schon in 8 Tagen die Deputirtenwahl
stattfinden sollte, so hatte er natürlich keine Chancen mehr, gewählt zu werden.
Der höchste politische Grundsatz, den Jacobi hat, scheint, wie ich eben schon
angedeutet habe, die Forderung zu sei», daß ein Jeder sich frei entwickeln und in
der Aeußerung seiner Meinung nicht beschränkt werden dürfe. Es ist klar, daß
man von diesem Standpunkt aus einerseits sehr radikal, andererseits den eigent¬
lichen Wünschen des Volkes sehr entgegengesetzt sein kann. Jacobi ist radikal,
aber er verleugnet nie den vornehmen Geist, der mit den Edelsten seiner Zeit und
aller Zeiten in stetem Verkehr steht, der dem Volke sich nicht nähert, um ihm zu
schmeicheln, sondern um es zu der Höhe, die er selbst errungen, heranzubilden.
Aber ebeu daran scheitern seine Bemühungen, eine politische Stellung zu erreichen;
keine Partei traut ihm, keine Partei liebt ihn. Für Geister, wie Jacobi, ist die
Monarchie ein günstigerer Boden; er ist zu selbstständig und auch wieder in anderer
Art zu biegsam, um von den großen Massen getragen und gehoben zu werden.
Es gibt Charaktere, in deren Natur es liegt, stets und nach allen Seiten
hin in Opposition zu stehen; zu ihnen gehört Agathon Bmary. Ein Bekannter
von mir, ein älterer Mann, dessen ganze Geistesbildung vergangenen Zeiten ange¬
hört, äußerte über ihn: wie unglücklich muß dieser Mensch sein, er ist ja nie
anders als in Wuth! So schlimm ist es nun nicht. Freilich mag eine gewisse
Reizbarkeit, ein verhaltener Groll sich in ihm festgesetzt haben durch die unverdiente
Zurücksetzung, die er wegen seiner theologischen und politischen Ansichten von der
früheren Regierung erfahren hat; — obgleich er an der Universität seit vielen
Jahren keine unrühmliche Stellung einnimmt, ist er noch immer Privatdocent
geblieben; dies mag ihn gehindert haben seine Stellung am Kölnischen Gymnasium
zu Gunsten wissenschaftlicher Studien und akademischer Wirksamkeit aufzugeben.
Ein wissenschaftliches Blatt, das er vor etwa vier Jahren in Gemeinschaft mit
Hotho und Valle herausgeben wollte, erhielt die Concession nicht. Diese kleinlichen
Verfolgungen konnten in einem von Natur tadelsüchtigen Manne einen überspann¬
en Haß gegen Alles hervorrufen, was mit der ihm feindlichen Partei irgendwie
Zusammenzuhängen schien. Aber Bmary besitzt andererseits einen viel zu kalten
Verstand, als daß er sonderlich afficirt werden könnte; er ist stets aufgeregt, aber
seine Aufregung ist kalt. Man kann nicht sagen, daß sich in seinen beißenden
Bemerkungen viel Witz verriethe, ihrem Inhalte nach würden sie einen geringen
oder gar keinen Eindruck hervorbringen; nur die Form, in der er sie vorbringt,
verschafft ihnen hin und wieder Interesse. Sein Stimmorgan, seine Accentuiruug
trägt ganz und gar den Charakter des schneidenden und kalten Hohnes; nicht
Ironie, sondern Verachtung und Uebermuth ist es, was uns bei dem gleichgiltig-
sten Inhalt, über den er sprechen mag, entgegentritt. Darum macht sein Vortrag
einen sehr unangenehmen Eindruck, namentlich bei den akademischen Vorlesungen,
in denen er sich mehr gehen laßt. Bei seinen Clubreden schien er sich in Bezug
auf das Aeußere etwas zusammenzunehmen und sprach weniger monoton, als ge¬
wöhnlich. Vergleicht man das Wesen Beuary's mit dem des Mathematiker Jacobi,
so tritt ein bedeutender Unterschied hervor. Jacobi ist bei aller Geringschätzung,
die er haben mag, immer höflich, freundlich und wohlwollend; Bmary rücksichtslos
und gleichgiltig gegen Fremde. Jacobi wird nie einen Anwesenden angreifen oder
lächerlich machen, vielmehr windet er sich, selbst angegriffen, mit der glattesten
Geschmeidigkeit durch; Bmary sucht absichtlich Gelegenheiten, bald diesen, bald
jenen vor aller Welt auf die wohlfeilste Manier zu verhöhnen und dem Gelächter
preiszugeben. Daher trauen viele Jacobi nicht, wenige hassen ihn; über Bmary
ist Niemand im Zweifel, den Meisten aber, die ihn kennen, ist er ein Dorn im
Auge. Dieser Grundzug bewährt sich auch in der politischen Richtung, die beide
eingeschlagen haben. Mau weiß nicht recht, welcher Partei Jacobi zuzuzählen ist;
von Bmary wissen es Alle, daß er der radikalen Partei angehört. Bei Wenigen
ist Bmary beliebt, am wenigsten bei deu Lehrern der Berliner Gymnasien. Sein
Erscheinen in einer Versammlung von Lehrern der Provinz Brandenburg im Herbst
vorigen Jahres erregte einen wahren Sturm. Schon als er in den Saal trat,
begann ein leises Geflüster. Als er darauf mit seinem unangenehmen Organ, ohne
sich von seinem Sitz zu erheben, die Rede eines Andern unterbrach, wurde er durch
Trommeln zum Schweigen gebracht. Derselbe Auftritt wiederholte sich mehrmals
mit gesteigerter Heftigkeit vou beiden Seiten, bis zuletzt Beuary erklärte: er sei
an diesen Ton gewöhnt und pflege sich durch ihn nicht einschüchtern zu lassen. >—
Solche Scenen trugen sich zu in einer Versammlung der Gymnasiallehrer der Pro¬
vinz Brandenburg.
Bmary's äußere Thätigkeit ist ziemlich bedeutend. Die Schwierigkeit, die
darin liegt, die Gymnasialstelluug mit der akademischen Wirksamkeit zu verbinden,
löst er nicht ohne Glück. Wenn er außerdem nicht allein Zeit gewinnt, sich durch
wissenschaftliche Werke, wie die römische Lautlehre, bekannt zumachen, sondern auch
sich so lebhaft an dem öffentlichen Leben zu betheiligen, wie er es namentlich im
letzten Jahre gethan hat, so kann man annehmen, daß er bei größerer Beschrän¬
kung sehr Bedeutendes geleistet haben würde. Man muß dies mit in Rechnung
bringen, wenn man den Werth, den er als Universitätsdvcent hat, richtig schätzen
will. Er tritt jedenfalls in den Hintergrund gegen Männer, wie Böckh, Lachmann,
Bopp. Dennoch aber gehört er zu den Philologen, die man nicht nur mit Ver¬
gnügen, sondern auch mit Nutzen hört. Durch eine eigene Combination von Kennt¬
nissen nimmt er sogar eine eigenthümliche Stellung ein. Er gehört nämlich erstens
zu denen, die das Sanskrit und die verwandten Sprachen auf das Griechische und
Lateinische angewandt haben. Bopp macht diese Anwendung nicht in der Aus-
sührlichkeit, wie Bmary in seinen Vorlesungen über lateinische Grammatik und in
seinen Interpretationen zu Sallust, Persius n. s. w. Böckh, Lachmann, Zumpt,
Franz verstehen Sanskrit nicht. Erst in den letzten Jahren hatte Bmary
an Georg Curtius einen Concurrenten erhalten; nachdem aber Curtius einen Ruf
nach Prag erhalten hat, ist es wieder Bmary allein, der diese Verbindung von
Kenntnissen besitzt. Zweitens vereinigt er philosophische mit philologischer Bildung.
Diese Vereinigung macht sich namentlich in seinen Vorlesungen über römische Lite-
raturgeschichte und in den literarhistorischen Einleitungen zu seinen Jnterpretations-
Collegien geltend. Neberwiegend ist in ihm wohl die philologisch-historische Auf¬
fassung; durch das Studium der Hegel'schen Philosophie hat er aber eine Anzahl
allgemeiner Begriffe und Ideen gewonnen, die ihn in einen großen Vortheil gegen
alle Philologen setzen, die es für überflüssig halten, sich mit der Philosophie zu
beschäftigen.
War Bmary schon früher keine pu-ssina Fi-et-r, so ist er es seit dem vorigen
Sommer noch weniger. Nachdem er kurze Zeit Mitglied des constitutionellen Clubs
gewesen, gründete er im Verein mit seinen Brüdern den Volköclnb. Der Charakter
dieses Clubs war nicht ganz so kindisch ausschweifend, wie der des demokratischen
Clubs, in allen wichtigen Fragen trat er aber gemeinschaftlich mit ihm auf. Der
demokratische Club war der eigentliche Mittelpunkt, ihm gehörten vorzugsweise die
Radikalen aus den gebildeteren Standen an. Die anderen Clubs, denBenary'schen
Mit eingeschlossen, betrachteten sie nur als Ableger und übten dort als Gäste in
der Regel einen größeren Einfluß aus, als die Gründer und Führer des Clubs
°S selbst im Stande waren. Das Publikum des Vvlksclubö, das fast ganz aus
den niedern Ständen bestand, wählte zwar Bmary immer aufs Neue zum Vor¬
sitzenden, ließ sich aber uicht sonderlich durch ihn leiten. So oft ich diesen Club
besuchte, sand ich Bmary im Kampf mit den übrigen Mitgliedern. Es läßt sich
daher schwer begreifen, wie er bei der offenbar verschiedenen Richtung es uicht
Müde geworden ist, Vorsitzender zu sein. — Bei den letzten Wahlen zeigte es sich,
daß seine Popularität doch so bedeutend geworden war, daß er in der Versamm¬
lung der Wahlmänner aufgefordert wurde, ohne wettern Zweck eine Rede zu
halten. Er erfüllte diesen Wunsch, bewies aber zugleich so viel Selbsterkenntniß,
daß er sich nicht verleiten ließ, als Kandidat für die zweite Kammer aufzutreten.
War je in der Geschichte einem Volke die republikanische Verfassung zusagend,
so waren es die Europäer, welche sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im
nördlichen Theile Amerikas angesiedelt hatten. Fast aus lauter Handelsleuten und
Gewerbsgenossen bestehend, bildeten sie eine homogene Masse, die nachdem sie die
ursprünglichen Bewohner immer mehr und mehr in das Innere und nach den west¬
lichen Küsten zurückgedrängt, ja sich endlich von den Fesseln des Mutterlandes
befreit hatte, den viel schwierigern Kampf mit bestandenen Rechten, Privilegien,
Sitten, Gebräuchen und Vorurtheilen eiuer frühern Geschichte nicht zu bestehen
brauchte, einen Kampf, der in Europa nur mit der Vernichtung eiuer der Par¬
teien zu beenden sein würde. Und so war es denn natürlich, daß diese meist
aus dem englischen Volke entsprossenen Ansiedler sich eine ganz volksthümliche Ver¬
fassung gaben und weder Fürsten noch Adel, noch Majorate, noch eine reichbe¬
gabte Hierarchie, noch theuere Sinecuren bei sich ciuschten. Hierzu kam, daß wie
es in Zeiten allgemeiner Bewegung und der Revolutionen häufig zu geschehen
pflegt, Männer von außerordentlicher Begabung unter ihnen aufstanden, welche
durch zeitgemäße Gesetze und Einrichtungen das Wohl des jungen Staates
gründeten.
So entstand ans einer Anzahl von Niederlassungen und Kolonien ein Frei¬
staat, welcher in etwas mehr als einem halben Jahrhundert zu einer Macht und
Bedeutung heranwuchs, wie die neuere Geschichte kein ähnliches Beispiel aufzu¬
weisen hat. Wer hätte demselben nicht die schönste Zukunft prophezeien sollen?
Und doch haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt, wenn man das Wohl eines
Staates nicht blos nach seinem materiellen Wohlstande abmißt, sondern anch den
sittlichen Zustand seiner Bevölkerung und ihrer Bildung in's Auge faßt.
Wer auf das Urtheil der bewährtesten Schriftsteller über Nordamerika und
dortige Zustände, als Marryat, Boz, Raumer. Gerstäcker und in neuester Zeit
Ziegler und Naumann etwas gibt, wird nicht leugnen können, daß aus ihren
Schilderungen dortiger Zustände eine Demoralisation des Volks und zwar nicht
der untersten Stände allein, hervortritt, wie solche in europäischen Staaten, als
aus Mißbräuchen aller Art, aus voreuthaltner bürgerlicher und politischer Frei¬
heit, aus Übervölkerung und Pauperismus hervorgegangen zu erklären, in einem
so jungen Staate aber immer eine auffallende und betrübende Erscheinung ist.
Es scheint keine Frage zu sein, daß diese Corruption theils aus den ursprüng¬
lichen Bestandtheilen der Bevölkerung hervorgegangen ist, theils ihren Grund in der
Politischen Verfassung hat. Wie bei allen Kolonisten, so war auch bei den An¬
siedlern in den jetzigen nordamerikanischen Freistaaten der Trieb »ach Erwerb mate¬
rieller Güter und materillcn Wohlbefindens bei weitem der vorherrschende, und es
mußte eine lange Zeit vorübergehen, bevor der mildernde Einfluß, welchen Kunst
und Wissenschaft auf den gesellschaftlichen Zustand äußert, eintrete» konnte. Wie
nachtheilig diese übertriebene Sucht nach Erwerb ans die Moralität einwirken muß,
braucht nicht erst nachgewiesen zu werden; ist ja doch allgemein bekannt, daß in
den Freistaaten die Gewandtheit, jemand im Handel und täglichen Verkehr zu über¬
listen, zu bevortheileu, ja zu bettügen nicht als etwas TadelnswertheS, ja viel¬
mehr als ein anzuerkennendes Talent gilt.
Auch die Verfassung der Freistaaten ist von diesem nachtheiligen Einfluß nicht
frei zu sprechen. Das Princip der Gleichheit sührt in seinem Gefolge das Ueble
mit sich, daß in weltlichen Dingen ihm nichts heilig ist. Der Bürger der ameri¬
kanischen Freistaaten hat sich bis jetzt noch nicht auf den politischen Höhepunkt
schwingen können, welchen der Bürger Großbritaniens längst eingenommen hat,
auf welchem das Gesetz ihm heilig ist. Freilich wird hier vorausgesetzt, daß das
Gesetz allenthalben gerecht und weise sei; wer aber kauu dies behaupten da, wo
die Sclaverei nicht allenthalben verboten ist und wo das Lynph-Gesetz noch aus¬
geübt wird? Wo die Rechte der Menschheit nicht geachtet werde», werden auch
die Rechte der Mitbürger nie volle Geltung finden. Wo es nicht zu den Selten¬
heiten gehört, daß die Vertreter der Nation in ihren Versamminngssälen sich
gegenseitig beschimpfen, ja zu Thätlichkeiten übergehen, (es ist selbst vorgekommen,
d"ß sie Pistolen aus einander abgefeuert), wo noch unlängst-der Karner, der an
der Wohnung des Präsidenten des Senats vorüberfuhr, wo Abends die Gesand¬
ten und die Honoratioren von Washington versammelt waren, seinen Karren
stehen ließ und sich in seiner bestäubten und schmutzigen Jacke hinauf begeben
und unter die Gesellschaft mischen durfte, da kann weder Achtung der Bürger
vor ihren Autoritäten noch Achtung des Bürgers vor seinem Mitbürger aufkom¬
men. Auch mag nicht abzuleugnen sein, daß die oft wiederkehrenden Wahlen zu
°en Proviucial- sowohl als zu dem General-Congressen, wo den rohen Ausbrü-
chen des Parteigeistes und politischen Sectirerei Thor und Thür geöffnet werden,
>in'e solche Sonnen uus vou deu oben genannten Schriftstellern mannigfach ge¬
schildert werden, einen nachtheiligen Einfluß aus deu Volksgeist ausüben müssen.
Als Beleg zu dem hier Angeführten, mag eine Schilderung Marryats eines
on seiner Zeit viel Aussehen erregenden Vorfalls zu Washington dienen.
»Die Mitglieder des amerikanischen Senates und Repräsentantenhauses wer¬
den nicht nur für die Hin- und Herreise bezahlt, sondern erhalten auch während
der Sitzung des Congresses die ansehnliche Auslösung von acht Dollars täglich.
Aus diesen Diäten spart mancher Geld zusammen und die welche es nicht thun,
werden jedenfalls in den Stand gesetzt, ihre Familien mitzubringen, die dann in
Washington gute Tage haben. Zudem wird nie während der Abendzeit und bei
Tage nnr wenig im Hause gearbeitet; daher es nicht zu verwundern ist, wie wenig
in einer Session zu Washington beschickt wird. Dies kommt aber auch mit daher,
weil jedes Mitglied sich für verpflichtet hält, zwei oder drei Reden, nicht zum
Wohle der Nation, sondern zum Nutz und Frommen seiner Konstituenten zu hal¬
ten. Diese Reden werden gedruckt und den letzteren zugeschickt, um ihnen darzu¬
thun, daß ihr Mitglied einiges Aufsehen im Hause macht. Der Gegenstand die¬
ser Reden ist nnr selten von einiger Bedeutung und sie strotzen gewöhnlich von
schönen Redensarten, als sternbesäeten Bannern, souveränen Volke und andern
Schmeichelworten."
„Während meines Aufenthalts in Washington fiel ein höchst aufregendes
Ereigniß vor, welches für den sittlichen Zustand der dortigen Bevölkerung und
man kann wohl sagen von dem der amerikanischen Freistaate» überhaupt bezeich¬
nend ist; ich meine das Duell der Kongreß - Repräsentanten Graves und Cilley.
Wohlbekannt war es, daß Ersterer kaum ein einziges Mal in seinem Leben ein
Gewehr abgeschossen hatte; Letzterer hingegen war ein geübter Büchsenschütz und
übte sich beständig, ja man wußte allgemein von ihm, daß er beabsichtigte einen
Zank mit einem der südlichen Mitglieder anzuzetteln; denn er selbst hatte dies öffentlich
laut werden lassen. Er brachte sein Gewehr mit nach Washington, übte sich fast
täglich im Schießen und um so eiftiger that er dies, nachdem er die Herausforde¬
rung hatte ergehen lassen und dieselbe angenommen worden war. Nun traf es
sich, gegen Aller Erwartung, daß nicht Graves sondern Cilley ans dem Platze
blieb. Man trug den Sarg mit der Leiche in das Haus der Repräsentanten,
wo derselbe mit Prunk ausgestellt wurde; das Haus vertagte sich für einige
Sitzungen, um dem Gebliebenen seine Hochachtung zu bezeigen. Die Mitglieder
des Senats und des obern Gerichtshofs wurden eingeladen, der Leichenfeier bei¬
zuwohnen, welche mit einer von dem überlebenden Repräsentanten des Staats
Maine gehaltenen Lobrede auf die Verdienste und Tugenden des Gebliebenen er¬
öffnet ward. Nach Abhaltung der eigentlichen Leichenrede und einer darauf fol¬
genden Ermcchnungsrcde setzte sich in Folge eines gedruckten Programms die Pro¬
cesston in Bewegung, an welcher alle Mitglieder des Hauses der Repräsentanten
sowie des Senats, alle Behörden und Würdenträger der vereinigten Staaten,
welche in Washington anwesend waren, Theil nahmen und welche alles enthielt,
was Washington in diesem Genre Feierliches und Imposantes zu bieten vermochte.
„Der Grund alles dieses hervorzuheben ist, zu zeigen, daß die Vergesell¬
schaftung sich in sehr lockern. Zustande befinden und der Standpunkt der Morali¬
tät einer Nation sehr tief sein muß, wenn ein Mann, der auf vorerwähnte Weise
fiel — ein Mann, der, wenn er seinen Gegner getödtet hätte, wie dies sein an¬
gelegter Plan war, gemäß den Gesetzen Englands, wegen begangenen Mordes
verurtheilt sein würde — wenn solch ein Mann im Tode Ehrenbezeugungen erhielt,
die weit größer waren, als die, welche England dem Helden Nelson zollte.
Wir, die wir, j-t-er einzeln, dir qlcich sind, zusammen ober
viel mehr als du. wir schwören dir Treue, wenn d» unsere
Recht- und Freiheiten wahren wirst; or> nicht, nicht!'
Der Tag der Entscheidung rückt heran. Nach der Erklärung, welche der
preußische Ministerpräsident, Graf Brandenburg, in der zweiten Kammer ab¬
gegeben hat, ist nicht länger daran zu zweifeln, daß die letzte Hoffnung, welche
die deutsche Nationalversammlung ans einen äußern, offiziellen Schutz gesetzt
hat, aufgegeben werden muß. Preußen will lieber, wie bisher, der gehorsame
Knecht zweier Herren, Rußlands und Oestreichs, bleiben, und ihre gelegentlichen
Fußtritte in Demuth und Gelassenheit hinnehmen, als sich mit der Kühnheit,
ihm seine ganze Geschichte als eigentlichen Beruf vorzeichnet, an die Spitze
eines freien Volkes zu stellen. Wir gestehen, daß die Erklärung des Grafen
Brandenburg, die Nationalversammlung habe „leider, leider" die Ansprüche
der Regierungen „ganz, ganz" unberücksichtigt gelassen, und daraus könne „nie¬
mals" etwas Gutes werden, „niemals, niemals, niemals!", wir gestehen,
daß uns diese Redensarten weniger überrascht haben, als der Zusatz des Herrn
> Manteuffel. Denn in jenen Worten lag nichts, als das Erstaunen des
alten Militärs, daß eine Versammlung bürgerlichen Volks, wenn Se. Majestät
geruhten, sich mit ihm überhaupt in Unterhandlungen einzulassen, nicht sofort in
freudiger Devotion aufspringt und für die allerhöchste Huld den unterthänigsten
Dank ausspricht. Der gute Graf soll bei seiner Ernennung gegen den König
selber ausgesprochen haben, daß er von Politik nichts verstehe; schadet nichts, soll
wan ihm geantwortet haben, du verstehst dich wenigstens auf Disciplin. Wenn
nun so ein Mann sehn muß, daß jenes bürgerliche Volk die allerhöchste Willens¬
äußerung seines Königs und Herrn „ganz, ganz" unberücksichtigt läßt, so ist
der Gemüthszustand des extremsten Erstaunens bei ihm wohl begreiflich, er wird,
wie Meister Anton, den Kopf schütteln und erklären, er verstehe die Welt nicht
mehr, daraus könne niemals etwas Kluges herauskommen, „niemals, nie¬
mals, niemals!"
Aber dieser Herr v. Manteuffel! Eine Staatsregierung kauu unweise, kann
vermessen, voreilig, übermüthig, unbedacht und was noch alles sein. Sobald sie
aber das Gefühl verliert für die Ehre des Staats, den sie repräsentirt, ist keine
Hoffnung mehr auf sie zu setzen. Die preußische Regierung hatte in der Eircular-
depesche vom :Z> März ihre Absicht ausgesprochen, an der Spitze derjenigen deutschen
Staaten, die sich darin mit ihr freiwillig einigen würden, einen Bundesstaat zu
gründen, wie ihn die deutsche Nationalversammlung anbahnen wollte, wie er seit
der Note vom 2:i. Januar offiziell von Preußen angestrebt wurde. Was ant¬
wortet Oestreich? Man kann die Antwort in drei Worte zusammenfassen: „Ca¬
naille, unterstehe dich!" Und in Beziehung auf diese Note, den frechsten Hohn,
der je einem souveränen Staat zugefügt ist, hat der Minister die Stirn, der
Kammer zu erklären, sie habe allerdings wesentlich dazu beigetragen, die Negie¬
rung zur Nicht-Annahme der ihr von Frankfurt übertragenen Würde zu bestim¬
men! Auch nicht ein Funke des natürlichen Zorns, de!i doch selbst in dem ge¬
wöhnlichen bürgerlichen Leben ein Mann von Ehre über einen ihm zugefügten
Affront empfindet, nicht eine Spur von Scham; der Herr v. Manteuffel erinnert
sich nur, in den Mußestunden, die ihm seine gehäuften Bureaugeschäfte übrig
ließe», von Frankreich gelesen zu haben, daß es ein höchst revolutionäres,
höchst eroberungssüchtiges und gefährliches Land sei, und daß man sich
vor dem großen Tyrannen Napoleon in Acht zu nehmen habe, und um also
nicht von diesem Wauwau verschlungen zu werden, müsse man sich ganz still,
mäuschenstill halten und nur von Zeit zu Zeit Papa Metternich in London und
Schwager Nicolaus in Petersburg frage»: waS dürfen wir thun? und was müssen
wir nicht thun? Und wenn man sich einmal hinreißen lassen, nicht etwas zu
thun, behüte! nur etwas zu meinen, und der Papa oder seine Bevollmächtigten
in Ollmütz ziehen die Nuthe an, müsse man demüthig seinen Nacken den Schlä¬
gen bieten und stammeln: es soll nicht wieder geschehen, Herr! beschütze uns nur
Vor dem großen Drachen Napoleon und seiner Drachenbrut, den Jakobinern.
Wenn früher von Preußen in Deutschland die Rede war, so gab man es
für ein höchst anmaßendes, naseweises Volk aus, man verabscheute es, aber man
konnte einen gewissen Respekt nicht verleugnen. Wir müssen gestehn, daß auch
bei uns das specifisch preußische Gefühl das specifisch Deutsche überwog. Wo wir
um uns blickten, sahen wir Trophäen einer ruhmvollen Geschichte, in unserm eigensten
Leben eine Bildung und Anlage, die nur des höhern Aufschwungs bedürfte, um
ein vernünftiges Staatswesen hervorzubringen. Deutschland war für uns el»e
Idee der Zukunft, die sich wesentlich an unsere Geschichte anknüpfte. Wenn wir
Vom Aufgehen Preußens in Deutschland hörten, so konnten wir das immer nur
so verstehen, daß der im preußischen Staat wenigstens im Keim vorhandene lebens¬
volle politische Organismus die Kräfte des übrigen Deutschlands in sich absorbi-
ren und sie zu einem blühenden und fruchtbaren Ganzen vereinigen müsse. So
haben wir auch das Gagernsche Programm und die Tendenzen der kaiserlichen
Partei aufgefaßt, die nicht erst vom Sturz das Ministerium Schmerling datirt.
Das Preußen des vorigen Jahres war allerdings geeignet, uns in unserm
Glauben irre zu machen; die Regierung, die constituirende Versammlung und die
Bewegung der untern Volksschichten, das Alles hatte in seiner Erscheinung den
Charakter des Hinsiecheus, der Fäulniß. Wir trennten das Wesen von der Erschei¬
nung und erklärten uns als eine nothwendige Krise der Krankheit, als Entwicklungs¬
prozeß der Reorganisation, worin Andere die Spuren der Verwesung erkennen
wollten. Jener Zustand schien uus nur einer gewaltigen, elektrischen Erschütte¬
rung zu bedürfen, um zu neuem Leben, zu neuer Bewegung geleitet zu werden.
Sittliche Zerwürfnisse werden nicht durch Palliativmittel geheilt, sondern nur durch
die Gluth eines großen Ereignisses, in welchem die verwandten Bildungsformen
einander finden und durch Krystallisation ein harmonisches Ganze erzeugen.
Die Erschütterung ist gekommen, nicht von Außen, sondern durch einen in¬
nerlichen Proceß. Wir haben die Contrerevolution, über deren rechtliche Seite
wir uns nie eine Täuschung machten, mit Freuden begrüßt, weil wir in ihr das
einzige Mittel sahen, das Volk aus seiner krankhaften, bereits chronisch geworde¬
nen Betrunkenheit gewaltsam heraus zu reißen. Die vollständige Losung der sub-
jectiven Willkür, wie sie in dem vorigen Jahr als Recht der Freiheit, der Revo¬
lution u. s. w. feierlich proclamirt und mit hinlänglicher Virtuosität ausgeübt wurde,
hat mit der Betrunkenheit das gemeinsam, daß sie sich nie für freier und kräftiger
hält, als wenn sie vollkommen unfrei und unkräftig ist. Der'Trunkenbold, frei
von den reactionären Fesseln der Vernunft, schwebt in den Sternen, und glaubt
schöpferisch über die Welt als den bloßen Inhalt und Ausfluß seiner Gedanken
ZU gebieten, während er in kläglicher Unfreiheit von den Stimmungen seines Ma¬
gens geleitet wird, er fordert die ganze Welt heraus, während er sich nicht auf
den eignen Beinen halten kann, während ein Fußtritt ihn umwirft. So war es
'N Berlin; die Contrerevolution machte dem souveränen Rausch ein Ende und die
jubelnden Nachtschwärmer sahen mit Schrecken und Schaam, daß ihre Kraft und
ihre Haltung uur eine eingebildete sei. Sie verstanden es wohl, die Geister zu
stiren, aber diese Geister kamen nicht.
Daß nun die ersten Stunden des Erwachens von jeuer dumpfen Empfindung
begleitet sein würden, die von einer durchschwärmten Nacht unzertrennlich ist, hat¬
ten wir erwartet, und die Aeußerungen dieser Empfindung haben uns nicht be¬
fremdet. Aber wir hielten den Glauben fest, daß bei dem ersten großen Schritt,
der am hellen Tage zu machen wäre, die wieder gefundene Vernunft sich geltend
G
machen würde. In dieser Hoffnung sind wir getäuscht worden, getäuscht in der
ersten großen Frage, die seit den Novembertagen in Anregung gekommen ist, der
deutschen Frage. Und zwar bietet uns die Volksvertretung in keiner Weise ein
erfreulicheres Bild, als die Regierung.
Wenn Herr Camp Hansen, der Bruder des Ministers, einer von jenen
Männern, die man absolut verständig zu nennen pflegt, eine scharfsinnige Analyse
der gegenwärtigen Lage übernimmt, und zu dem Resultat kommt: „Annahme
ist sehr bedenklich, vielleicht verderblich. Nicht-Annahme ist auch sehr be¬
denklich, vielleicht verderblich; ich kann mich also für keines von bei¬
den entscheiden," und dann herunter geht von der Tribune mit der süßen
Ueberzeugung, zur Aufklärung der Sache etwas Wesentliches beigetragen zu haben,
so steht er in dieser politischen Neutralität auf dem Niveau der gesammten gegen¬
wärtigen Politik. Daß unter allen möglichen Entschlüssen derjenige, keinen Ent¬
schluß zu fassen, der verderblichste ist, das bedenkt der absolut verständige Mann
nicht. Aber macht es die Regierung anders? Ich erinnere nur an eiuen Fall,
wo die unmittelbare praktische Wichtigkeit einer schnellen Entscheidung am deutlich¬
sten in die Augen springt, den Krieg in Schleswig-Holstein. Das gegenwärtige
Cabinet hat kein Interesse an diesem Krieg, einmal aus dem höchst verständigen
Grunde, weil er keinen bestimmten Zweck hat, weil im günstigsten Ausgang der
Nutzen für den preußischen Staat ein sehr fraglicher ist, und weil die Mittel feh¬
len, ihn in der Ausdehnung zu führen, die allein für einen günstigen Erfolg
Bürgschaft sein darf. Der Krieg ist aber einmal da, und die Regierung hatte
nur die Wahl, entweder um jeden Preis Frieden zu schließen, oder wenn das
absolut unmöglich war, ihn auf alle Gefahr hin ernst zu nehmen. Sie thut aber
keines von beiden! heute beschließt sie, die Armee in Jütland einrücken zu lassen,
morgen, wenn ein mißbilligendes Schreiben aus Se. Petersburg ankommt, ruft
man sie wieder zurück. Man hat weder den Muth, der öffentlichen Meinung
durch einen Frieden ius Gesicht zu schlage«, noch auf sie unbedingt zu vertrauen,
und sich allen Eventualitäten auszusetzen. Und so führt man, blos aus Mangel
an Entschluß, den Krieg auf eine Weise, daß er vielleicht Jahre lang sich fort-
ziehn und den deutschen Handel vollständig ruiniren kann. Wenn nun uuter die¬
sen Umständen Herr Camphausen in der Kammer seine Stimme abgebe» sollte, so
würde er wieder sagen, Krieg ist schlimm, Friede ist schlimm, ich bin für keines
von beiden.
Wenn man die jetzigen Minister ansieht, so fragt man sich, wie ist es mög¬
lich, daß von solchen Leuten eine immer doch kühne That ausgegangen ist? Die
Antwort ist einfach, aber traurig. Die Revolution siegte, weil das was ihr wi¬
derstand, hohl und haltlos war; die Contrerevolution siegte aus demselben Grunde.
Das alte Regiment sagte: nur ewige fremde Aufwiegler, Juden und Franzosen
lästern mein gutes Herz; mein gutes Volt betet mich noch immer an. Als es den
Irrthum gewahr wurde, gerieth es außer Fassung, und die Waffen fielen ihm
aus der Hand. Die Revolution meinte: nur einige Junker aus Hinterpommern,
und einige verthierte Söldlinge glauben nicht an mich; das tapfere Volk, auch
das unter der preußischen Pickelhaube, setzt sein Leben für mich ein. Als sie sich
betrogen sah, wußte sie nicht, was sie thun sollte, bis ihr in einer glücklichen In¬
spiration die Idee des passiven Widerstandes kam, durch den sie der Reaction
ihre Verachtung bezeigen konnte.
In allen Geschichtsbüchern wurden die Worte des Grafen Mirabeau — „Nur
den Bajonnetten weichen wir!" — mit einem gewissen dramatischen Effect berichtet.
Der preußische Mirabeau, der ehrenwerthe Abgeordnete ans Jülich, gebrauchte
dieselbe Phrase, aber sie verlor die Pointe, denn die Bajonnette kamen wirklich;
Wrangel ließ nicht imponiren.
Das „Cabinet der bewaffneten Furcht," wie es die Linke nennt, bestand theils
aus alten Haudegen, die hingingen, wo ihr Herr und König commandirte, theils
aus allen Burcauchefs, die an eine ordentliche, regelmäßige Arbeit gewöhnt wa¬
ren, und denen die geistreich liederliche Wirthschaft der frühem Ministerien zu¬
wider war. Es war nicht Genialität, was ihnen den Sieg verschaffte, man kann
getrost den Spruch Schiller'S aus sie anwenden:
Was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth.
Aber der Erfolg hat diese Männer verblendet. Sie haben in ihren, im Ver¬
hältniß zu der öffentlichen Meinung immer auffallenden Schritten keinen erhebli-
chen Widerstand gefunden, sie haben selbst durch die so sehr gefürchteten Urwahleu
^ne Kammer zusammengebracht, deren Majorität ihre Schöpfung, die neue Con-
stitution, anerkannt hat, nud sie schweben jetzt in der süßen Tünschnng, sie könn¬
en ja wohl auch weiter fort nach der alte» Weise deu Staat regieren, wozu sie
ohnehin als treue Diener ihres Herrn die Verpflichtung fühlen. Der Irrthum
^se gefährlich. Nicht die Kammer ist es, die sie darin hindern wird, denn diese
^ nicht im Stande, ihren eignen Willen zu formuliren, nicht das Volk, sondern
Hre eigne Unfähigkeit. Sie würden auch einen absoluten Staat nicht regieren
^unen, wenigstens nicht in aufgeregten Zeiten, denn nur was einen bestimmten
sittlichen Inhalt hat, eine productive Kraft, kauu sich behaupten. Ein Ministe¬
rin, welches die Naivität hat, mit den famosen Märzgesetzen vor die Kammer
treten, die abgesehn von ihrem politischen Charakter auch in sich selbst geradezu
widersinnig sind — ich erinnere nur an den h. des Preßgesetzes, nach welchem die
^'nit gerade derjenigen Männer, welche der Oeffentlichkeit angehören, der Beam-
und der Volksvertreter untersagt ist — ein solches Ministerium würde sich
selber untergraben, wenn sich keine anderen Kräfte vorfänden, die ihm den Boden
unterwühlten.
Ich weiß nicht, soll ich es ein Glück nennen, daß in diesen Tagen die deutsche
Angelegenheit zur Entscheidung kommt. Für den Augenblick sieht es freilich be¬
denklich aus und es hätte einen mehr dramatischen Effect gemacht, wenn Preußen
in der Lage gewesen wäre, mit kühnem Geist die Krone in die Hand zu nehmen,
die ihm die historische Nothwendigkeit entgegenführte. Allein es mochte was immer
sür ein Ministerium die Geschäfte führen, so weit sind wir im constitu-
tionellen Leben noch nicht, daß man die Person des Königs von der Regierung
trennen könnte und wenn wir diese Person auch nicht einer unparlamentarischen
Kritik unterwerfen wollen, so dürfen wir doch so viel sagen, daß sie der classische
Ausdruck einer Bildung und einer sittlichen Anschauung ist, die mit dem moder¬
nen Staatsprincip keine Vereinbarung zuläßt, so lauge nicht die äußerlichen Ver¬
hältnisse der Art siud, daß auf die Persönlichkeit nichts mehr ankommt. So weit
sind wir, wie gesagt uoch nicht und darum ist es gut, daß es jetzt zu einer prin¬
cipiellen Entscheidung kommt, in einem Augenblick, wo die Entscheidung uoch in
die Hände der Vernunft gelegt werden kann.
Nachdem nämlich das Frankfurter Parlament feierlich erklärt hat, von der
Verfassung in keinem Punkt abzugehen; nachdem ferner das Ministerium Bran¬
denburg eben so bestimmt ausgesprochen hat, die Verfassung, wie sie da ist, uicht
anzunehmen, handelt es sich sür jeden Deutschen und namentlich sür jeden Preu¬
ßen, darum, sich klar zu machen, auf welche Seite er sich in diesem, durch keine
Vermittelung zu lösenden Conflict zu stellen hat, ans die Seite des Königs oder
auf die Seite des Parlaments? Wobei es sich von selbst versteht, daß der
letztere nur von dem rox initio iiiloi-mutus an den rex melius iiilormsuclus
appellirt, um das Princip nicht zu verletzen.
Der Gegensatz tritt um so schärfer auf, weil er nicht blos in Preußen be¬
steht, weil er in Sachsen und Würtemberg sich bereits in der nämlichen Schärfe
ausgesprochen hat, weil er in Baiern und Hannover nur darum noch nicht zum
Ausbruch gekommen ist, weil die Negierung den Ständen ans eine höchstbedenk¬
liche Weise den Mund verschlossen hat.
Wir wollen zunächst die Rechtsfrage berühren, obgleich in Zeiten, wo die
staatsrechtlichen Begriffe sich so ans den Kopf gestellt haben, wie im vorigen Jahr,
das eine ziemlich müßige Frage ist. Das Recht des Buchstabens schwindet vor
der hohem politischen Nothwendigkeit.
Auf der einen Seite steht die Nationalversammlung, welche behauptet, sie
sei einzig und allein berufen, die Verfassung für Deutschland endgiltig festzustellen.
Sie stützt sich theils auf ihre eigene Erklärung, theils aus die Ansicht des revolu¬
tionären Vorparlaments — beides sehr schwache Rechtsgründe! Auf der andern
die Regierungen, welche kraft ihrer angeblichen Souveränität behaupten, es stände
ihnen zu, sich mit der verfassunggebenden Versammlung einerseits, unter einander
andererseits, über die neue Reichsverfassung zu vereinbaren.
Darin kann zweierlei liegen. Entweder meinen die Regierungen, es.stehe
ihnen frei, dem auf die Grundlage der neuen Verfassung aufgerichteten Staat bei¬
zutreten oder nicht. Oder sie beziehn die Vereinbarung auf den Inhalt der Ver¬
fassung selbst.
Die letztere Auffassung wird einfach durch ihre innere Unmöglichkeit wider¬
legt. Die Regierung kann sich nicht mit der Nationalversammlung vereinba¬
ren, denn wenn zwei Parteien sind, die verschiedenes wollen und zwischen ihnen
keine dritte, die entscheidet oder vermittelt, so ist eine Vereinbarung unmöglich.
Die Regierungen können sich aber auch nicht untereinander vereinbaren, denn es
ist keine gesetzliche Modalität vorhanden, eine für ganz Deutschland giltige Ver¬
fassung festzusetzen, seitdem das Institut des Bundestags sich selber aufgelöst hat.
Die erste Ansicht geht von der Voraussetzung aus, durch die Auflösung des
Bundes sei den einzelnen deutscheu Staaten die Souveränität wiedergegeben.
Man kann das bedingt anerkennen. Aber man vergesse nicht, daß jetzt in sämmt¬
lichen dentschen Staaten das constitutionelle System herrscht. Die Regierung ist
im constitutionellen Staat nichts anders, als der Repräsentant des Staats, wie
derselbe seinen bestimmten Willen in den Volksvertretern findet. *) Wenn die
Volksvertretungen der einzelnen dentschen Staaten die Frankfurter Verfassung ver¬
worfen hätten, so wäre es wenigstens sehr fraglich gewesen, mit welchem Rechts¬
grund man sie hätte zum Beitritt zwingen wollen. Es hätten dann andere Rück¬
sichten entschieden, als juristische oder staatsrechtliche: daß Oestreich nicht beitre¬
ten kann, liegt eben einfach darin, daß es keinen constitutionellen Ausdruck für
den Willen seines Staats zu bilden im Stande ist.
Wenn aber die Volksvertretungen sämmtlicher deutschen Staaten die Beschlüsse
der Frankfurter Nationalversammlung sanctivniren — wie es jetzt der Fall ist —
dann ist es nicht mehr ein Recht, das dieser Einstimmigkeit entgegentritt, es ist
die Gewalt, und diese will wohl abgewogen sein, ehe man sie anwendet.
Es sührt mich diese Frage ans deu zweiten Punkt, der hier zu besprechen ist,
nämlich ans den Inhalt der Verfassung, in welchem eine Reihe von Bestimmungen
""geführt werden, die es Preußen unmöglich machen sollen, sich Frankfurt zu unter¬
werfen. Eine dieser Bestimmungen berührt gerade das vorhin angedeutete consti-
tutionell-monarchische Prinzip: die Aufhebung des absoluten Veto.
Die Anhänger des absoluten Veto, soweit sie der liberalen Partei angehören,
argumentiren so. Es wird keiner konstitutionellen Regierung einfallen, dasselbe
anzuwenden, d. h. ein Gesetz, welches von den Ständen zwanzigmal hintereinander
erlassen wird, zwanzigmal hintereinander zu verwerfen. Es wäre das keine konsti¬
tutionelle, sondern eine absolute Regierung. Aber es ist ein Ehrenrecht der Krone,
den Schein des Absolutismus, der Freiheit vor dem Wechsel der öffentlichen Mei¬
nung zu bewahren.
Es kommt also darauf hinaus, aus Galanterie gegen die Krone derselben ein
Recht zuzugestehen, von dem man nicht nur voraussetzt, sondern auch fordert,
daß sie es nie in Anwendung bringen dürfe. Aber aus bloßer Galanterie eine
Lüge zur Grundlage des Staats zu machen, ist doch immer etwas Mißliches.
Das susvensive Veto räumt der Krone eine große Macht ein: dreimal an das
Volk zu appelliren, ob seine Vertreter in seinem Sinne handeln. Diese Macht ist
um so größer, da sie bestimmt und beschränkt ist; eine schrankenlose Macht ist eine
nur scheinbare.
Die alten Absolutisten verbinden freilich mit dem absoluten Veto einen andern
Sinn, aber diese Meinung ist es gerade, die uns dagegen stimmt.
In dem vorliegenden Falle findet man die Aufhebung des absoluten Veto
vornehmlich deshalb bedenklich, weil sie auch auf Verfassungsveränderuuge» aus¬
gedehnt ist, und weil möglicher Weise eine Zeit kommen kann, wo das Parlament
so demokratisch ist, die Monarchie überhaupt abzuschaffen. Dies Bedenke» wird
einmal dadurch ermäßigt, daß zu jeder Abänderung der Verfassung zwei Drittel
der Stimmen in beiden Häusern erforderlich ist. Setzt man nun ferner den Fall,
daß drei auf einander folgende Legislaturen, jedesmal mit einer Majorität von
zwei Dritteln der Stimmen in beiden Kammern, die Abschaffung des Kaiserthums
beschließen, so frage ich, was hilft in diesem Falle die Fiction des absoluten Veto?
Es drückt das eine im Volk so fest ausgeprägte Ueberzeugung aus, daß damit die
Monarchie entweder unbedingt verloren ist, oder daß sie es ans die Gewalt der
Waffen ankommen läßt, was ihr in dem andern Falle mich übrig bleibt.
Das zweite Bedenken ist die Auflösung des Rcichsraths. — Dieses Institut
war an sich schon ein zweideutiges, unnützes und schädliches, und Preußen hat am
wenigsten den Beruf, dafür in die Schranken zu treten, nachdem 30 deutsche Re¬
gierunge», zu deren Gunsten es erfunden war, darauf verzichtet haben.
Mit dem allgemeinen Wahlrecht ist es auch nicht so gefährlich. Einmal zeigt
die jetzige zweite Kammer in Preußen, daß durch dasselbe anch eine conservative
Partei gewählt werden kann. Vor Allem aber muß mau das I^-ut in-compli
anerkennen. Wenn die Manteuffel'sche Verfassung die Urwähler bestehen ließ, so
wird man sie einer von den Volksrepräsentanten herrührenden Reichsverfassung
nicht verargen können. Was endlich die direkten Wahlen betrifft, so geben sie
mehr Veranlassung, die eigentlich für die Volksvertretung Berufenen zur Wahl zu
bringen, als die indirekten. Das Institut der Wahlmänner erleichtert das Her¬
vortreten der Sonderinteressen; die direkten Wahlen werden reine Parteiwahlen,
sie treffen die allgemein bekannten Parteihäupter, und bringen wenigstens in der
P'vßen Politik einen reineren Ausdruck der öffentlichen Meinung zu Stande.
Die einzigen Punkte von Bedeutung find die formale Ausdehnung des Reichs
über die gesammten Staaten des ehemaligen Bundes und das Staatcnhaus. Das
erstere ist allerdings der Sinn der betreffenden Verfassungsbestimmungen, man hat
aber nicht gewagt, es deutlich auszusprechen. Es liegt daher in der Hand des
Neichsoberhauptcs, bei der Annahme seiner neuen Würde zu erklären, daß er
das Reich nur über diejenigen Staaten ausgedehnt wissen will, welche sich frei¬
willig fügen. Mit Ausnahme Oestreichs wird sich alsdann kein einziger deutscher
Staat ausschließen, die ständischen Versammlungen bürgen dafür.
Die fehlerhafte und eigentlich ganz sinnlose Zusammensetzung des Staaten¬
hauses ist schon hinlänglich gerügt worden. Es wäre das allein für Preußen,
welches in demselben auf eine ungerechtfertigte Weise übervortheilt ist, ein Grund,
sich auszuschließen, wenn zwei Umstände nicht wären. Einmal wird das Staaten¬
haus ohne alle Bedeutung sein, weil es keinen Boden hat; es wird gar kein
Interesse vertreten, und wird in allen wichtigen Fragen sanctioniren, was das
Unterhaus beschließt. Sodann - Preußen hat keine Wahl; es hat nur die Wahl
'uit seiner ganzen Kraft in den neuen Staat zu treten und ihn zu beherrschen,
"ber sich stückweise von ihm absorbiren zu lassen.
So stehen die Sachen. In dem ausgebrochenen Conflict zwischen Krone und
Parlament hat die erstere mit Ausnahme der blinden Werkzeuge in Preußen nur
^ Partei Bismark-Schönmark Schönhausen für sich, die beschränkte Unterthanen-
Partei, welche die Bürger der einzelnen Staaten ungefähr so behandelt, wie der
^'sse die „Seelen" der einzelnen Grundbesitzer — der Bojar von Nassau mit
^l),ggg Seelen u. s. w.; diese hinterpommerschenJunker der vorsündfluthlichen Zeit,
Vincke ganz richtig sagte, die Nichts vergessen haben. Die Verhandlungen
^' Preußischen Kammern haben uns, den Constitutionellen von Gestern, auf das
klarste gezeigt, daß wir mit diesem pietistisch-unterthänigen Geschlecht Nichts ge-
">ein haben; sie stehen uns wo möglich noch ferner, als die rothen Jacobiner.
^le sind «l'er die Herrschenden, wenn in dem jetzigen Conflict die königliche Par-
^ den Sieg gewinnt.
Und wo sind die Stützen der Partei außerhalb Preußen? Sind es die Nus-
w!? Die bairischen Jesuiten? Die östreichischen Hofräthe und die Bureaukraten
^ gottseliger Hannover? Sie sind es, so lange es gilt, gemeinsam die Freiheit
^unterdrücken; sie sind es aber nicht, sobald es sich um die Durchführung der po-
'ven Interessen handelt. Die Particularisten der einzelnen Staaten vereinigt
nur die vorübergehende Gefahr des Augenblickes; eigentlich sind sie gegen einander
ebenso feindlich gesinnt, als gegen die Anhänger des neuen Deutschland.
Der Sieg der königlichen Partei kann ans gesetzlichem Wege nicht erfolgen,
denn sie hat dazu keine Organe; er kann nur ein Sieg der Gewalt sein, der eine
neue, schlimmere Gewalt hervorruft. Der Sieg der Krone ist entweder das erste
System der beginnenden Fäulniß, unsers Ausscheidens aus der Reihe der Cultur-
Völker oder er ist der Vorbote einer neuen, blutigen Revolution.
Der Sieg des Parlaments dagegen bringt in allen Staaten, wie im Reich,
wenn er sich auch dem Anschein nach ans eine weitergehende Fraction stützen sollte,
diejenige Partei ans Ruder, welche allein im Stande ist, Deutschlands Ehre auf¬
recht zu halten. Er kann auf ganz gesetzlichem, organischem Wege erfolgen, denn
das deutsche Parlament stützt sich überall auf die Parlamente der einzelnen Staaten.
Hat man den Muth, dieselben aufzulösen, so sind die Folgen einer neuen Wahl
leicht zu berechnen; den Muth aber, die Constitution noch einmal gewaltsam auf¬
zuheben, hat mau nicht, denn man hat — freilich nicht ans Bewußtsein, aber
wohl das instinclartige Gefühl, daß man sich dadurch außerhalb des Gesetzes stel¬
len würde. Die Furckt vor einer deutschen Octroyirung ist wunderlich; was will
man denn octroyiren? Wo auf der einen Seite eine vollkommene Uebereinstim¬
mung, auf der andern die vollständigste Rathlosigkeit herrscht?
Für die 30 Staaten, welche die Verfassung anerkannt haben, hat dieselbe
Rechtsgiltigkeit. Sobald Preußen länger zögert, wird zuerst Würtemberg und
Sachsen, dann Baiern und wahrscheinlich Hannover ihm zuvorkommen. Das Par¬
lament wird sich für permanent erklären, bis der neue Reichstag zusammenkommt,
und in dieser Zeit werden die jetzigen Machthaber begriffen haben, daß ihre Zelt
vorüber ist, und daß sie Männern Platz machen müssen, die der Krone verstän¬
digeren Rath ertheilen. Das Parlament wird dann vielleicht die Mäßigung ha¬
ben, ans seine frühere Wahl zurückzukommen.
Diese Hoffnungen können scheitern, aber wie die Sache liegt, muß man si^
auf alle Gefahr hin erklären. Ans Seite des Particularismus ist jetzt nichts, als
die äußerliche, zufällige Gewalt; die alte Zeit in der Fülle ihrer entwicklungsun¬
fähigen Verwirrung. Ans der Seite des Parlaments ist alle Lebenskraft, ist die
einzige Möglichkeit der gesetzlichen Freiheit. Uns ist die Krone nur das Symbol
einer kräftigen, unerschütterlichen Staatseinheit und insofern bleiben wir monar-
chisch, auch wenn wir gegen die Krone sind. Die zufällige Stimmung einer ^u-
dividualität darf nicht mehr über das Schicksal einer Nation entscheiden. In
sem Conflict also stehn wir zu der Partei, welcher die Zukunft der Nation l»
Der Krieg in Ungarn ist nun in seinem Zenith angelangt. Für die eine
oder die andere Partei muß die Kampfessonne untergehn, sie wird durch kein
göttliches Machtgebot aufgehalten werden, wie zu den Zeiten Iosuas bei Gideon.
Schon einmal glaubte» wir am Wendepunkte angekommen zu sein — es war am
Anfang dieses Jahres; Fürst Windischgrä'jz stand in der Mitte seiner Generale
vor der hohen Königslmrg zu Ofen, um deren Besitz in frühern, halbvergessenen
Tagen die beiden Krummsäbel Europas so viele kühne Schlachten ausgefochten
hatten, und schaute das weiße schneebedeckte Land ringsum zu seinen Füßen, vor
ihm die Donau, welche sich mit einer Eiskruste gesattelt halte, um sein schweres
beschütz von Ufer zu Ufer zu tragen, und trüben die neue Hauptstadt Pesth, den
Feuerhccrd des Krieges, auf dem ein prasselndes Strohfeuer Funken gesprüht hatte
^'ud in sich selbst verloschen zu sein schien. , Oestreichische schwarzgelbe Schilder-
Häuschen standen an den Brückenenden, und in der Mitte derselben, wo Graf
Lamberg unter den Streichen seiner Mörder gefallen war, drängte sich eine schwei¬
gende Menge um eine Kundmachung des Feldherrn: die Verkündigung des Be¬
lagerungszustandes mit seinen ominösen Paragraphen, die heut zu Tage jeder
Knabe in Deutschland auswendig weiß. Pesth bot den alten, friedlichen Charakter
^r; von Krieg, von Widerstand, von Rebellion war keine Spur zu lesen, und
die Verschanzungen, welche sich in einem großen Halbkreise um die Stadt aus¬
dehnten, hatte der Winter mitleidig verhüllt; man hätte sie eben so gut für Ge¬
bilde eines phantastischen Schneegestöbers halten können, das sich in der capriziösen
Gestaltung von Verschanznngshügcln gefallen haben mochte. Der Fürst und seine
Offiziere und mit ihnen wir Alle in und außer Oestreich waren uicht wenig über¬
sehe, als das östreichische Heer beinahe ohne Widerstand die große Strecke von
ungarischen Grenze bis nach Pesth zurückgelegt hatte.
„Magyarc, du bist feig? Ein schaurig Weh
„Durchfährt mich kalt bis zu des Herzens Grunde —
^ir hatten viel gehört von den Wällen und Gräben, hinter denen Kossuth die
Marzconcesstonen vertheidigen wollte. Kinder, Greise und Frauen hatten mit
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schwachen zarten Händen das Material dazu herbeigeführt, und jetzt! — es liegt
ein großes Weh' darin, sich in einer Menschenseele getäuscht zu haben, gilt
das Verkennen einem Volke, dann muß der Schmerz noch bittrer sein.
Wie gesagt, der Fürst stand vor dem Ofner. Schlosse. So weit sein Auge
reichte, war das Laud gewonnen. Aber er dachte nicht, daß der Horizont seiner
Siege ein scheinbarer sei, daß dort in weiter Ferne, wo der Himmel den Boden
abzuschließen scheint, daß hinter dieser Grenze gegen Osten erst die Welt seiner
Feinde lag. Von Pesth bis an die Theiß und von hier weiter bis Debreczin und
Großwarbein dehnte sich das ungarische Haideland, von wenig Hügeln und vielen
Sümpfen unterbrochen. Der Pesther Kaufmann, der seine Waaren nach Debreczin
zu Markte bringt, spricht immer mit geheimen Schauern von diesen Wegen, ans
welchen er seinen eigenen Wagen viel öfter tragen muß, als dieser ihn, wo nach
kurzem Regenwetter das leichte ungarische Roß bis über den Huf versinkt, und
Moorboden, Sumpf und Sand mit einander wetteifern, die Straße unwegsam
zu machen. Hinter diesen ebenen Mauern hatte sich das Parlament von Pesth
zurückgezogen.
In Wien verkündete mittlerweile eine Reihe Bulletins die Siege ohne Kampf
in so undeutscher Sprache, daß mau versucht war zu glauben, der Fürst und sein
Generalstab magyarisiren sich vorsätzlich, um die Sympathien der Ungarn zu gewinnen.
Daß er Alles that, nnr nicht dieses, das war sein erster Fehler, dem wir die
spätern ungünstigen Erfolge großentheils zuzuschreiben geneigt sind. Zum Bom¬
bardiren gab'S nun einmal nichts, und so reizend auch Pesth von der Natur dazu
geschaffen scheint — wie manche Nase für einen Nasenstüber — es wollte sich
dnrckauö keine schickliche Gelegenheit dazu finden. So wurden denn blos einige
Todesurtheile und ein Dutzend armseliger Kerkerstrafeu dictirt, mehrere Offiziere,
welche zur kaiserliche» Fahne zurückkehrten, wurden cassirt mit oder ohne Jnsamie-
erklärnug, mehrere Städte und verschiedene Judengemeinden mußten Strafgelder
zahlen — auf solche Weise wollte der Fürst das Land pacificiren und die abtrün¬
nigen Regimenter zur kaiserlichen Fahne zurückbringen! —
Von vielen Seiten wird es jetzt dem Feldherrn zum Vorwurf gemacht, daß
er nicht unmittelbar nach der Besetzung der Hauptstadt gegen die Theiß vorrückte
und bis Debreczin vorzudringen suchte, um den Feind mit einem Schlage zu
vernichten. Diejenigen, welche so sprechen, haben Ungarn aus der Landkarte bereist,
und die Wege vou Wien uach Pesth und vou dort nach Debreczin mit dem Finger
bemessen, wo sich der Meilenunterschied freilich als ziemlich äquivalent herausstellt.
War aber der Spaziergang bis Pesth und mehr ist es kaum zu nennen
in der strengen Winterkälte schon sehr beschwerlich, so war ein Marsch nach De¬
breczin beinahe eine Unmöglichkeit. Ein warmer Sonnenblick hätte eines Mittags
die ganze Armee in einem unabsehbaren halb aufgcthauten Sumpfe finden können,
aus dein die Pferdeköpfe wie Froschgiganten herausgeschaut hätten, was für eine
Armee mit schwerem Geschütz und Brückenequipagen durchaus keine angenehme
Situation sein soll.
Wende man hier nicht ein, daß die Terrainverhältnisse für beide kriegführende
Parteien gleiche Schwierigkeiten bieten. Das Pferd des Husaren ist ans jenen
Haiden geboren und groß gezogen. Im wilden Zustande durchstreift es die Ebenen,
bis der Czikose (Roßhirte) es zur Zucht tauglich findet und es mit Lebensgefahr
einfängt, um es zuzureiten, es gewissermaßen zu civilisiren. Wie eine Katze in
dem Hanse, wo sie das Licht der Welt erblickt hat, jeden Schlupfwinkel vom
Boden bis zum Kellerloche kennt, so weiß das Haidcpferd aus Jnstinct und Er¬
fahrung Weg und Steg durch Sumpf und Moorgrund. Es wäre im Stande
den Eiertanz der Pfützen mit verbundenen Augen zu tanzen, und wenn der Reiter
ihm im Sattel sitzt, kann er bei Nacht und Nebel nichts besseres thun, als dem
Rößlein selber seinen Weg suchen lassen. Das späht dann nicht, vorsichtig wie
der Esel im Gebirge nach dem Fleck, wohin es mit Sicherheit seinen Huf setzen
könne, das schnaubt und fliegt und spielt im Nennen mit den Füße'n und kokettirt
mit dem Kopfe und thut dennoch keinen Fehltritt. Das Pnßtapferdgcnie, würde
ein deutscher Gelehrter sagen, ist das zur Potenz erhobene Gebirgseseltalent.
Dem Dragoner- und Kuirassierpferde mögen gute Feen an ihrer Wiege
andere Tugenden verliehen haben, aber auf der Haide ist es ihnen unheimlich
Wie Landratten auf stürmischer See, und ihr böhmischer oder deutscher Reiter ist
eben auch kein verläßlicher Steuermann. Daher ist es oft gekommen, daß wenn
steh unsere schweren Reiter zum Verfolgen ihrer neckischen Quälgeister verleiten
ueßen, sie gewöhnlich bald die Rolle des Wildes statt des Jägers übernehmen
wußten. Daher klagten die Bulletins auch zu wiederholten Malen über den
Mangel an leichter Reiterei, welche seit Olims Zeiten in der kaiserlichen Armee
Zum größten Theile aus Husaren bestand und jetzt gewaltig fehlte, zumal den
flauen gegenüber den polnischen Generalen nicht recht zu trauen ist. Die
Ungarn kommen und verschwinden mit ihren leichten Geschützen, welche durch ihre
leichten Eskadronen vortrefflich enact'ire werden können, während die kaiserliche
Artillerie trotz ihrer anerkannten Wirksamkeit ost zur Unthätigkeit verdammt ist.
Hier sei mir die kleine Bosheit gegönnt, eine Anecdote einzuschalten, welche
an der Tafel Kossuth's in Debreczin zur großen Erheiterung der Gäste erzählt
wurde.
Der alte General H ... wurde im Hauptquartier des Fürsten Windischgrätz
vom Feldherrn beauftragt, einen Feldzugsplan für diese oder jene Gegend ans-
zuaU'eilen. General H. .. war ein alter Herr von untadelhaf-em Stammbaum,
der, wenn den Aussagen seines Kammerdieners zu trauen ist, dem Reglement
inen Trotz noch heut zu Tage ein steifes Zöpfchen unter der Militärüavate ver-
h/rgt. Der alte Herr war nach den Aussagen glaubwürdiger Zeugen einmal sogar
lung gewesen, hatte seine Schule durchgemacht und kannte das ABC der alt-
östreichischen Taktik vortrefflich, wo es heißt: Im Centrum die Infanterie, dann
die schwere Kavallerie, zu beiden Seiten die Geschütze und zur Deckung derselben
die nöthigen Eskadronen Husaren u. s. w.
Nach diesen altbewährten Regeln arbeitete General H... drei Tage und drei
Nächte mit gewissenhaftem Eifer. Am Morgen des vierte» Tages trat er in den
Frühstücksalon des Feldmarschalls, der eben ans dem Lloyd zwei neue Siege über
die Ungarn erfuhr, von denen er keine Ahnung hatte. Mit einer steifen militä¬
rischen Verbeugung überreichte er sein Elaborat, welches den Rebellen den Garaus
machen sollte. Dem Feldherrn schien es zu gefallen, er drückte dem alten Herrn
die Hand nud überreichte es seinem Nachbar, dieser seinem Nebenmann und so
in die Runde. Alle drückten in stummen Gebehrden ihren Beifall aus, da plötz-
lich — der Feldmarschall hatte zu seiner nicht geringen Ueberraschung eben im
Lloyd gelesen, daß die Rebellen dem siegreichen kaiserlichen Bajonnette nirgends
Stand halten — tupfte ein junger naseweiser Adjutant dem alten Herrn auf die
Schulter und meinte im bescheidensten Tone: „Excellenz haben nur Eines über¬
sehen, daß in diesem Feldzuge von einer Flankendeckung durch Husaren keine
Rede sein kann. Sie stehn alle bei den Rebellen." Der alte Herr stand bei
dieser treffenden Bemerkung wie vom Donner gerührt, die hohen Herren sahen
einander verblüfft an, und der Fürst verbarg ein verlegenes Lächeln hinter den Falten
der „Presse," auf deren letzter Seite ein neuer Kupferstich aunvncirt war: den
Fürsten inmitten seines hochweisen Kriegsraths vorstellend.
Die Geschichte klingt etwas unwahrscheinlich. Ich muthe auch keinem Men¬
schen zu, sie zu glauben. Aber factisch ist es, daß der Fürst mit wunderbarem
Instinkte seine Umgebung aus deu talentlosesten Offizieren zusammengesetzt hatte,
lauter antediluviauischeu Gestalten, die er aus den Coulissen des Wiener Kriegs-
gebändes hinaus auf die Schlachtenbühne geführt hatte. Mit der Abberufung des
Fürsten Windischgrätz wurden dann auch mehrere hohe Offiziere aus seiner Um¬
gebung pensionirt, so die Generale Wrbna und Rousseau, so F. M. L. Rügens
dem mau nachrühmt, er habe, so lange er im Felde stand, so geschickt operirt,
daß er nie einen Feind zu Gesichte bekam.
Zu den Uebelständen der militärischen Umgebung des Fürsten gesellte sich
noch die schlechte Auswahl seiner politischen Rathgeber. Hätte es sich einfach um
die Bekämpfung einer rebellischen Partei gehandelt, so wäre es ganz in der Ord¬
nung gewesen, daß sich der Fürst bei der Gegenpartei Rath erhole. Bon dieser
Ansicht ging man in Olmütz und in Ofen aus, als man die sogenannten Alt-
Conscrvativen ihre Meinung über die Pacisication des Landes abgeben ließ und
dieser zum Theile huldigte, indem man magyarische Commissäre in die unterwor¬
fenen Comitate schickte. Daß diese Ansicht grundfalsch ist, wollen wir zu beweisen
versuchen, indem wir eine Charakteristik dieser Alt-Conservcitiven geben, durch
welche der Fürst eben so erbarmungslos in die Sandsteppen ihrer Politik hinein-
gelockt wurde, wie die kaiserlichen Dragoner durch die Czikose in die Pfützen der
Theißgründe.
Die alt - conservativen Magyaren repräsentirten zur Zeit der Preßburger
Reichstage das verkörperte Nvbilitätöprincip. Auf ihrer Brust stehn in den Lan¬
desfarben eingegraben die drei Worte null mo t-ni^er«-! das heißt: Rüttle nicht
an meinen Privilegien, laß mich meine Bauern schinden und plagen, wie es mein
Vater und Urgroßvater gethan vermöge der Landesgesetze, laß mich die
Deutschen hassen und die Slowaken und die Juden, laß mich keine Steuern und
keine Brückenzölle zahlen, aber rüttle auch nicht an den Steuer- und Militär¬
pflichtigkeiten der Nichtedellente, an den Mißbräuchen in den Comitaten, verbessere
beileibe nicht unsere Landstraßen, damit die Erfindung der Wegmäuthe nicht in
unser freies Land dringe. Vor allem aber, v König! lege nicht Hand an unsere
alte Verfassung, welche die beste ist von Japan bis England. —
Stolz auf seine Freiheit, oder besser gesagt, auf seine Freiheiten, stolz auf
seinen Knecht, stolz auf sein Pferd, stolz auf seine Sprache, auf seinen Säbel,
auf seine Bornirtheit, auf sein Land und seinen König mußte er jedes i»!»» oder
wiiius der Freiheit verwerfen. Er wollte eben so wenig einen Zuschlag als einen
Abzug. Die französische, die englische, die belgische Verfassung galten ihm durch¬
aus als Parvenus, allenfalls gut für jene Barbaren, aber nicht zu vergleichen mit
den alten Gerechtsamen Ungarns. Lxtr» llunxitiii.in nnn est vit-l, «l oft vita
«on oft nie.
Als sich in den letzten Jahren im ttnterhause zu Preßbuvg eine Opposition
herausbildete, welche, den Forderungen des Jahrhunderts Rechnung tragend, ge¬
gen die Uebergriffe des Hofes und die Mißgriffe der frühern Gesetzgeber gleich¬
gewaltig ihre Stimme erhob, da waren es diese Alt-Conservativen, welche die
Zechte Seite des Hauses repräsentirten. Dem großen Est'amotenr Metternich,
welcher die Freiheiten Ungarns auf jenem Reichstage durch seine Kreaturen wcg-
iuchangircn versuchte, standen sie nicht minder schroff entgegen als einem Deal,
Szr. Kiraly, Kossuth und Böthy, denen das moll me tiMAerv um einige Linien
weniger tief eintätowirt war. Diese Männer, rcichbegabt durch Talent, Energie
und Beredsamkeit, waren darum nicht minder stolze Magyaren; die Kämpfe mit
den Slaven um die Präponderanz der magyarischen Sprache haben es zur Genüge
bewiesen. Aber sie waren nicht sowohl stolz auf das, was Ungarn war und ist,
als auf das, was es werden sollte, wenn erst die starren Formen der Frei¬
heiten in das Lichtgewand der Freiheit gekleidet würde. Ihnen stand der
Mensch hvhxx der Magyare, und leider hatten die frühern Reichstage für alle
Rechte der Staatsbürger besser gesorgt, als für die freien Menschenrechte.
Kossuth's Lieblingsschriftsteller ist Rousseau. Das mag thcilivcise seine Rich¬
tung bezeichnen, wie sie sich bei seinem ersten Auftreten äußerte. Er war jung,
er aus dem Kerker kam, aber sein Haß gegen die östreichische Schergcnherrschust
war in der Gefangenschaft verholzt, verknorrt. Sein Märtyrerthum für das freie
Wort, sein tadelloser Charakter, sein Genie, seine Beredtsamkeit und vor Allem
sein Patriotismus, der das alte Ungarn vergötterte und dennoch für ein Neuzu¬
schaffendes schwärmte, hatten ihm die Sympathien der Jugend längst gewonnen.
Er wurde in den Reichstag gewählt, und entfaltete hier die Grundsätze seiner
Partei mit so siegreicher Suada, daß der größte Theil der Kammer bald zu
seiner Fahne schwor. Hier hielt er seine meisterhaften Reden für die Gleichbe¬
rechtigung der Nationalitäten, für die Aufhebung der Bauernlasten, für die Eman¬
zipation der Juden und gegen die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit.
Den Blumenstaub seiner Gedanken trug der Sturm der Volksbegeisterung
bis in die ärmste Hütte der Pußta, bis in den Versammlungssaal der Magnaten
(Oberhaus). Im freien, geknechteten Ungarvolke - fand es den kcimempfänglichen
Boden und nnter den hohen Würdeträgern der Nation der hochherzigen Geister
genng, die ihn in sich aufnahmen und weiter trugen. So kam es, daß der hohe
Adel des uncivilisirten Adels that, was kein Ade! der Welt bisher gethan hatte*)
— er begab sich freudig und freiwillig seiner Privilegien und proklamirte in Un¬
garn zum ersten Male die freien Menschenrechte.
In Wien folgte der Hof und Metternich diesem Treiben mit bangem Herz¬
klopfen, denn das Beispiel Ungarns konnte gefährlicher werden, als das Beispiel
Frankreichs, weil Ungarn näher liegt und durch tausend Bande mit den übrigen
Kronländern verschlungen ist. Die Alt-Conservativen aber waren von heiligem
Schauer ergriffen, denn die neue Lichtseite der Freiheit galt ihnen als Schmutz¬
sleck auf dem Krönungsmantel des heiligen Stephan, ans den geweihten Blättern
ihrer Constitution.
Nun kam der März 1848. In der Hofburg zu Wien flogen die Völker aus
und ein, wie Schwalben, die nach Futter streifen, und jedes Volk suchte für
sich eine Krnme Privatfreiheit, neben der großen allgemeinen zu erbeuten. Den
Ungarn war dabei der Zufall günstig. Ihre Vertreter saßen in Preßburg, wenige
Meilen von der Hauptstadt, ein Erzherzog, ihr Palatin, machte den dienstfertigen
Vermittler, die Studenten wogten noch im ersten Freudentaumel mit den errun¬
genen Wissen durch die Straßen der Hauptstadt, und der Hof war nach zwer
Nächten bitterer Todesangst sehr — conecssivnsmüibe. Diesem Zusammentreffen
günstiger Umstände verdankten es die Magyaren — wenn jetzt noch vom Verdan¬
ken die Rede sein kann — daß sie ihr besonderes Müusterinm erhielten, oder
besser gesagt erhaschten, wodurch ihr Land sich factisch zur Selbstständigkeit
erhob. Die später nachhinkenden Deputationen der Kroaten, Böhmen und Polen
hatten kein geringeres Begehren auf dem Herzen — und haben es noch jetzt,
trotz der vielgepriesenen Loyalität — aber der Hof hatte sich vom ersten Schrecken
erholt. Sie durften ihre tiefinnerster Wünsche nicht laut werden lassen, und die
allenfalls lautgewordenen wurden mit allerhuldreichsten Versprechungen nach Hause
geschickt.
Was dann weiter geschah bis zum Einmarsch des Barus in Ungarn, bis
ZU jener Epoche, wo die Magyaren an den Thüren des Wiener Reichstags um
Vermittlung pochten, bis zur offenen Kriegserklärung Oestreichs durch seinen
"bösen Genius" Minister Bach, ist bekannt, und den unbekannten mysteriösen
Theil des Drama's, der in den Salons von Olmütz weiter spielte, wird ein
Historiker der Gegenwart schwerlich enthüllen können. — Wir kommen auf unsere
^le-Conservativen zurück.
Bevor das Ministerium Stadion-Schwarzenberg die Deputirten in Kremster
auseinander jagte und seine Lügcnphrasen von der Gleichberechtigung der Natio¬
nalitäten und dem großen, freien einigen Oestreich in die Welt schickte, standen
^e Alt-Konservativen Kossuth, als dem organisirenden, ihrer Meinung nach dem
destructiven Genius Ungarns, schroff gegenüber. Sie waren aus dem Re-
präsentantenhause ausgetreten, und mit ihnen Viele, deren Gedankenflug dem
^offnes's bisher gleichgekommen war, einzig und allein aus dem Grunde, weil
^ nicht bis zum Extreme mit rhin gehen wollten, so der treffliche Deal, der
^üige Szt. Kiraly. Mit der Octroyirung der neuen Charte jedoch hatte die Ne¬
uerung selbst den schlüpfrigen Boden der Extreme betreten, und der jetzige Mi¬
nisterpräsident, Fürst von Schwarzenberg, welcher sich rühmen kann, einmal in
^'en als General und dann als verantwortlicher Minister der Krone in Olmütz
e» Vertretern Oestreichs die Thüre ihres Sitzungssaales vor der Nase zuge-
gen zu haben, derselbe Schwarzenberg, der sich in London die Verachtung
^es ehrlichen Bürgers, in Petersburg das Nidicule aller unehrlichen Diplomaten
^ in Neapel derbe Prügel geholt hatte, wollte mit einem aristokratischen Fuß-
^ete auch die Thüren des Repräsentantenhauses von Ungarn ins Schloß schmeißen.
Boden des Gesetzes, welchen die äußerste magyarische Linke, mit oft gar
^ komischer Aengstlichkeit, festhalten wollte, überhüpsten die ministeriellen Exzel-
^en mit einer graziösen Phrase und strichen mit Einem Federzuge die pragmc^
>che Sanction und die ungarische Verfassung. Die Alt-Konservativen auf den
^elf von Olmütz und im Feldlager zu Ofen fühlten, wie ihnen das eintätowirte
in«. tilli^ol-v auf der Brust blutroth unterlief, denn das hatten sie von ihrem
^°nig „immer erwartet, das hätten sie nimmer geahnt, daß der Knabe Franz
un!^" ' sich der greise Franz im Bunde mit dem grauen Absolutismus
dessen Mandarinen, dem Fürsten Metternich nimmer getraute. Aber zurück
konnten sie nicht mehr, der Dcbrecziucr Reichstag hatte sie für Landesverräther
erklärt, darum blieben sie im Lager ihrer Feinde, von nun an selbst Todfeinde
des Hauses Habsburg und seiner dermaligen Minister.
Wie herrlich sie — oft unbewußt — in Ofen wie in Olmütz für die Plane
Kossuth's gearbeitet haben, das weiß nur derjenige, welcher die Verkehrtheit der
Regiernngsmaßregcln bei der Pacificirung Ungarns zu würdigen versteht. Diese
Conservativen sollten für das Aufgehn Ungarns in Oestreich arbeiten! Eher
Kossuth selbst, eher Wesselvnyi diese Männer wären vielleicht im Stande,
ihr Vaterland einer gewaltigen großen Idee zum Opfer zu bringen, in den Köpfen
Jener aber habe« sich die Paragraphe der ungarischen Verfassung so breit gemacht,
daß für einen weiteren Gedanken kein Raum mehr übrig blieb. Diese sogenannten
Konservativen sind die eigentlichen Ultra-Magyaren, und von diesen erwartet die
Negierung und ein Theil der Negiernngspresse, daß sie ihre alte theure Verfassung
wie eiuen faulen Kürbiß wegwerfen, um in die t»ta morA-er.» des einheitlichen
Oestreichs Entrve zu bekommen? Und legte ihnen der Kaiser ein Ministerportc-
fenille zu Füßen, um diesen Preis wird kein Magyare, welcher Partei er immer
angehöre, die Rolle des Baron Kulmer übernehmen, vorausgesetzt, daß er einen
Namen im Lande hat, und keine der Regierung seit Jahren verkaufte Seele wie
Babarczy und andrerseits auch kein Necscy") ist.
Wenn wir bei dem Thema über die Alt-Konservativen etwa zu lange ver¬
weilten und Abschweifungen dabei nicht zu vermeiden waren, so geschah es in der
Ueberzeugung, daß man über die Begriffe der Parteien in Ungarn sowohl in als
außer Oestreich nicht im Klaren ist. Man hält die Alt-Conservativen gewöhnlich
sür Moderados und die Partei Kossuth für die Ultras. Daß dies ein Irrthum
sei, wollten wir im Vorhergehenden darthun und wie herrlich diese Conservativen
als Commissäre der Regierung für die Pläne derselben arbeiteten, beweisen die
allgemeinen Klagen, welche gegen sie von allen jenen Comitaten einliefen, mit
deren Organisirung sie betraut wurden. Sie werden ewig fanatische Ultra-MagP^
ren bleiben, während Kossuth und seine Freunde nichts mehr und nichts weniger
sind als Vorfechter der demokratischen Monarchie, wie wir deren in ganz Europa
finden, mit dem Unterschiede, daß sie auf der Grundlage ihrer alten Verfassung
weiter bauen, während Deutschland sich erst jeden Stein zum Grundbau zurecht'
meißeln muß. Unsere Vertreter in Frankfurt, Berlin und Kremster hatten si<H
erst über Prinzipien zu einigen, während man über diese in Ungarn längst
hinaus ist. In Deutschland ist die Revolution der Prinzipien bei zu einzelnen
Städtekrawallen und einer verunglückten republikanischen Invasion gediehen. In
Ungarn charakterisirt sich die Revolution als Vertheidignngs kämpf. Statt frucht¬
loser und doch blutiger Cravatte begegnen wir hier Schlachten und Siegen. Der
Geist der Gesetzgeber ist dort längst über die Spekulation des zu Gestaltenden
hinaus, und der Spekulation der Heerführer allein ist es jetzt vorbehalten, die
Revolution zu einem Resultate zu führen.
Wie immer dieser Krieg enden mag, Oestreichs Heere allein werden ihn
schwerlich ausfechten. Daß er bis auf die Spitze von Entscheidungsschlachten ge¬
trieben werden könne, hat gewiß kein Statistiker geglaubt, welcher auf der Land¬
karte richtig nachzuweisen vermochte, daß 4 Millionen eigentlicher Magyaren von
dreimal so viel feindlichen Männern umgeben sind. Diese Feindschaften aber sind,
wie Jeder weiß, noch ein Vermächtniß Metternich's, das sich über kurz oder laug
ausgegeben haben wird, und wenn Stadion auf seinem Lehnstuhle Nationen aus¬
brütet, wie eine gackernde Henne ihre Eier, so dürfte die nächste Zukunft schon
beweisen, daß die künstliche Brütezeit längst verstrichen ist und daß die Grasmücke
Stadion ihre Muttersorgen an Eiern verschwendet hat, die ihr der Kukuk Niko¬
laus mit seinen Popen unter den Steiß geschoben hat. —
Im vorigen Sommer machten alle Wiener Demokraten die ärgerliche, alle
wiener Konservativen die angenehme Bemerkung, daß kein Norddeutscher dieser
,"Ul, der sich nicht zum sogenannten Schwarzgelbthum bekannte. Ich gestehe, daß
^) vor dem November ebenfalls schwarzgelb war und es noch gerne sein möchte, —
^ norddeutschen Sinne nämlich. Mau pflegte hier als eine Schmeichelei aufzu-
^I)»le>,, was von Seiten des Ausländers nur Sorge um Deutschland war. Das
Aufgehen Oestreichs im Arndt'schen Gesammtvaterlande erkannte der Kurzsichtigste
^ einen gefährlichen Prozeß; Polen, Slowake», Magyaren, Serben, Walachen
""d Kroaten konnten über dem Experiment einen Waffeutauz aufführen, in den
"ber Kurz oder Lang der Moskoff als Friedensrichter sich einmischen mußte. Dann
uns vielleicht sür alle Zukunft der Weg nach Osten verschneit, die Donau
Floren, wenn nicht noch ärgere Verwirrung daraus erfolgte. Besser also, daß
Östreich, statt mit ein paar brennenden Trümmern unserem Deutschland im
Augenblick seines Wiederaufbaues ins Haus zu fallen, ganz beisammen blieb:
^"Noth-Obdach für ein Dutzend halbnackte, verwahrloste Völker, zu stolz und
^»«
unpassend für die deutsche Gesellschaft, zu unfähig, einen eigenen Hausstand zu
begründen. Wir wollten gern warten, bis unsere Brüder in Oestreich sich ge¬
kräftigt und bis einige Strahlen deutscher Wirthlichkeit und Bildung den Osten
des Ostreiches durchdrungen hätten. Dieser Calcul war einfach. Ich bin über¬
zeugt, daß Sie noch jetzt an ihm festhalten. Man sollte deshalb hier nicht ver¬
kennen, daß Niemand es mit der Integrität Oestreichs besser meint, als der
Gagern'sche Bundesstaatler. Nicht wahr, Sie wünschen dem einigen und starken
Oestreich alles mögliche Gedeihen, damit Ihnen nur nicht bei nächster Gelegenheit
ein Stück davon an den Kopf fliege? —
Aber, offen gesagt, seit dem 8. November, ja schon seit dem Anfang der
ungarischen Verwicklungen begann ich an unserer Rechnung irre zu werden. Die
Monarchie geht nicht in Deutschland auf und doch lodert der wüste, Länder- und
Völkerfressende Waldbrand zwischen der save und den Karpathen. Was durch die
J»tegrität Oestreichs abgewehrt werden sollte — die Einmischung des langen Arms
und der noch längern Finger aus Petersburg — droht durch die Art, wie die
Integrität behauptet wird, durch die Centralisativnswuth des Cabinets und seine
Duckmäuscrpolitik gegen Magyaren wie Slaven herbeigezwungen zu werden. Un¬
sere rathlosen Minister sitzen wie eben so viele Rastelbinder da, die einen alten
Topf, der bald oben, bald unten in Scherben bricht, mit rostigem Draht zu¬
sammenflicken.
Um die kostspielige Unterdrückung Italiens rascher zu Ende zu führen, fing
man im Juli 1848 an, zur Unzeit und auf eine Weise, welche Talleyrand einen
„Fehler" genannt hätte, mit den Magyaren zu brechen. Dadurch wurde der
Wiener Octoberparvxysmus hervorgerufen, die magyaro-slavische Conslagration an¬
geschürt, und doch genießt Oestreich bis auf diese Minute keinen Gran jener
reichen ungarischen Hilfsmittel, um deren willen die Versprechungen vom 15. März
1848 zurückgenommen wurden. Vielmehr ist Ungarn auf Jahre lang in Verwil¬
derung und Armuth gestürzt, für die Triumphe Radetzky's und die Niederlagen
des Fürsten Windischgrätz wurde der Staat bis über die Ohren in Schulden ge¬
steckt. Und was fruchten die Siege Radetzky's? Was fruchten die standrechtlichen
Urtheile in allen Städten der Lombardei, oder die Confiscationen, mit denen der
greise Feldherr so freigebig war? Wird der „constitutionelle Kaiser" das
italienische Brudervolk anders als durch Geheimpolizei, fremde Soldateska, fremde
Bureaukraten und gelegentliche Hinrichtungen seinem Herzen erhalten können? Der
sarragossanische Kampf in Brescia hat gezeigt, wie die Verzweiflung zuletzt Ita¬
liener lehrt, daß das Sterben keine Hexerei ist. Kinder Halten's aus, nach dem
Sprichwort. Naive schwarzgelbe hörte ich die Grausamkeiten Hayuaus ^)
Brescia mit dem zeitgemäßen Beispiele Barbarossa's entschuldigen! Von Hohen-
staufischem Schwung hat die Welt an dem Habsburger wenig bemerkt. Fällt es
ihnen im 19. Jahrhundert ein, plötzlich hvhcnstaufisch zu werden? Dann sollten
sie auch an Konradin denken.
Wie man mit Wien verfuhr, wird Deutschland nicht vergessen, denn aus
der Soldatenrache, die mau hier zu Gericht sitzen ließ, blickte eine ganz speci¬
fische Malice aus das Deutschthum. Die Thaten deö Fürsten Windischgrätz will
ich diesmal ruhen lassen. Nie ward ein Mann schrecklicher verkannt als dieser
angebliche Feldherr, der ein philiströser Aristokrat, ein „eiserner Ladstock mit höl¬
zernem Knopf" ist, wie der Wiener sagt. Nachdem der Magyar ihm die wohl¬
feil errungenen Bombardementslorbeeren in den Staub getreten, zog er sich nach
Ollmütz zurück, zufrieden, daß man ihm seine Ahnen nicht rauben kann. Der
Hof hat ihn zu seinem Polonius ernannt und als Obersthofmeisterin eingekleidet.
Dort geht er nun auf den Festungswällen spazieren, mit Schleier und Feder-
Hut, — dieser Abkömmling Wallenstein's — betet, wie der Volkswitz murmelt,
einen Rosenkranz, dessen Kügelchen kleine Raketen sind, und singt still vor sich
hin: Nacht muß es sein, wo Friedland's Sterne strahlen! — Also Friede
Mit ihm! —
Nur so viel muß ich bemerken, daß ein Erzfeind des Hauses Oestreich nicht
schlauer hätte wirthschaften können, als Fürst Windischgrätz, Melden und das Mi¬
nisterium gethan. Nach dem Einzuge der Armee in Wien hielten die hohen Militärs
Nath über das Loos der Besiegten (am 3. November). Marchese P......., rühmlichst
bekannt als Krieger nud Gelehrter, sprach für Milde und Schonung. Jellachich
stimmte ihm bei. Da hieß es: P. ist ein Italiener und ein Philosoph, also ein
doppelter Jdeologe, Jellachich ist zwar gut habsbnrgisch, macht aber serbische Verse,
^ nichts da, Standrecht, habe deine» Lauf! — Gewiß ist, daß eine Amnestie
damals ganz Wien binnen 14 Tagen bekehrt batie. Der Kaiser, der Fürst, die
ganze Armee zu Fuß und zu Pferde wären auf Händen getragen worden. Statt
^sseu bemühte man sich, die schwarzsichtigen Weissagungen der radikalen Presse
ehedem wahr zu macheu und zu beweisen, daß der Sieg bei Custozza wirklich
ein Unglück für die Sache der Freiheit gewesen, denn nicht nur erfüllte er die
Armee mit blindem Uebermuth, sondern erhob sie zum Regenten und Vormund
Oestreichs und beim Tendenzproceß des Liberalismus zum Kläger, Richter und
Henker in einer Person^). Folgte man dem Rath des Marchese, so konnte der
Belagerungszustand nach einem Monat ausgehoben werden; die Verschwendung von
Pulver und Blei, leichtem und schwerem Eisen, machte seine Permanenz zu einer
Maßregel der Nothwehr, zu einem traurigen Panzer sür das böse Gewissen der
Militärherrschaft, über deren Heldenthaten noch lange nicht genug Gras gewach"
sen ist. Sie selbst bedarf der Amnestie, sie bedarf des Vergessens von Seiten
des Volkes. Ich zweifle, daß sie ihr bald zu Theil wird. Wenigstens ist die
kleinherzige Politik des Ministeriums nicht geeignet, das Volk an eine aufrichtige
und freiwillige Versöhnlichkeit des Hofes glauben zu machen. . . So lasen wir
vor wenigen Tagen eine kaiserliche Entschließung vom 20. März, welche endlich,
— endlich die Untersuchung gegen Alle diejenigen niederschlägt, die nicht etwa An¬
stifter, Urheber, oder thätige Theilnehmer der Octoberrcvvlutiou gewesen sind!!
„Da hielt man's!" rief mein Wirth, ein ehrbarer Schneider; „die sein von Gott's
Gnaden. Der liebe Gott-hat's akkurat so g'macht. Wie alle bösen Buben in der
Sündfluth ersoffen gewesen sein und kein' Seel mehr g'muckst hat als der gutge¬
sinnte Noah und seine Schlingel, da hat der Himmel Amnestie 'geben und den
Regenbogen als Nationalfarben ansg'hängt! "
In Italien und Ungarn wird die Menschenfresserei großartiger betrieben als
hier, dennoch lege ich ein besonderes Gewicht ans die Wiener Vorgänge; denn
Blutgerichte der Art sind seit Jahrhunderten in der Residenzstadt nicht erhört
worden. Zum ersten Mal bekamen die Wiener eine Ahnung von der östreichi¬
schen Herrschaft in fernen Provinzen. Sie träumten sich in die Seele der Lom¬
barden und verstanden das Land, „wo im dunklen Laub die Goldorangen glühen."
Der goldene Strom der Loyalität, welcher von hier aus alle Erdtaube bewässerte,
ist auf lange Zeit an der Quelle verstopft. In den Vorstädten schwärmt das
Volk für alle Feinde Oestreichs und wenn es vom Krieg in Ungarn spricht, so er¬
wähnt es jeden Vortheil der Magyaren mit den naiv Hochverrätherischen Worten:
„Die Unsrigen haben gesiegt!"
Da stehen wir wieder vor der magyaro-slavischen Conflagration, deren Flam¬
men fast bis Wien züngeln. Die Magyaren haben die kaiserliche Armee zu einr-
ger Ritterlichkeit geschlagen und sind, wie einst die Griechen im östreichischen Beobach¬
ter, in den offiziellen Bulletins allmälig von Räuberhorden zu Rebellen, von Re¬
bellen zu Insurgenten, von Insurgenten zu feindlichen Truppen avcmcirt. Die
späte Anerkennung der magyarischen Tapferkeit und chevaleresken Anlage (siehe
den Lloyd) hat nicht nur ihren Grund in Görgcy's und Dembinski's Erfolgen,
sondern auch in dem Schmollen der südslavischen Völker, welche das vor zeitige
Detroi nicht verwinden können.
Eine unscheinbare Notiz in den offiziellen Blättern warf jüngst ein seltsames
^icht auf den Charakter der kroatischen und serbischen Erhebung gegen die Ma¬
gyaren. Die W. Z. meldete nämlich in dürren Worten, daß Obrist Mayerhoser
Nebst andern Stabsoffizieren nach Agram und Wvydowina abgegangen seien, um
„erkalteten Eifer" der Serben zu beleben. Groß wie die Beschwerden der
Südslaven gegen die Pesther Negierung gewesen sein mögen, so scheint es doch,
baß ihre nationale Schilderhebung großentheils und von Anfang an dnrch kaiser¬
liche Offiziere einexercirt worden ist. Auch neue goldene Berge wurden mittelst
Villetdvux an Jellachich und Stratimirovich den Kroaten übermittelt, die sogleich
Mißtrauischen Gebrauch davon machten, indem sie die octroyirte Verfassung auf
die genialste Weise mit Füßen traten und der Einheit Oestreichs dnrch Ausrufung
eures dreieinigen Königreichs: Kroatien, Slavonien und Dalmatien, ein Schnipp¬
en schlugen.
Huon5s>u<z t-indem? Glaubt man, die Völker werden nicht zuletzt das plumpe
Spiel durchschauen? Ist es möglich, die Politik des 17. Jahrhunderts in das
Säkulum hineinzuschmuggeln? Müssen nicht zuletzt Deutschen und Slaven
^'e Augen darüber aufgehen, daß sie nichts als blutrünstige Marionetten sind. Wenn
^ Cabinet sich nur dadurch halte» kann, daß es die alten Schauer- und Trauer-
Ipiele von Prag (1620) und Eperies (1087) in einer Provinz nach der andern
Kleber aufführt, ist es dann werth gehalten zu werden und muß man nicht mit
"n Abgeordneten Schnselka rufen: Dieses Ministerium leistet das unmöglich Ge¬
raubte. Es ruinirt Oestreich.
Bald flattert die magyarische Tricolore an der deutschöstreichischen Grenze,
Heinrich der Finkler ist da, sie abzuwehren, und — doch — steigen die
Staatspapiere. Die Börse baut nämlich ans Nußland, dessen Intervention stund-
"eh erwartet wird. Dann wird Oestreich die Wahl haben, entweder in Deutsch¬
er, aufzugehen oder in Rußland. Was die viclverschrieene Personalunion viel¬
leicht herbeigeführt hätte, wird die russische Hilfe gewiß vollführen.
Sollte es Nußland gelingen, mit einer liebermacht von 200,000 Mann die
oller zwischen der save und den Karpathen niederzutreten, so werden TagelohnUnd Trinkgeld für diese saure Arbeit groß sein. Gute Nacht, östreichische Zukunft
Osten, gute Nacht gewaltige Donau! Das Kossutl/sche Finanz- und Kriegö-
wlsterium wäre im Vergleich damit ein Bankerott, dnrch den man reich wird - denn
die Donauländer, sagte Cankrin einmal, auf die östreichische Karte zeigend, sind
die Weichen des Krokvdills; nur dort die Fänge angesetzt!
Doch setzen wir den Fall, daß Oestreich mit seinen materiellen Interessen sich
nicht ganz dem Czaren verschreibt oder daß es ihn dupirt, wie die Kirchenbann'
des Mittelalters den Gottseibeiuns — wird ein durch russische Hilfe gebändigtes
Ungarn nicht ein zweites Polen werden? Muß nicht Schwarzenberg's Politik eine
Provinz nach der andern in einen ewig glimmenden Ncvolutionöheerd verwandeln?
So daß ein Tag kommen wird, wo die Konservativen Enropas, im Interesse
des besonnenen Fortschritts, diese Monarchie fürchten werden, wie einen halb ver¬
westen Leichnam, dessen Ausdünstungen weithin die gesunden Lüfte der Freiheit
und Civilisation verpesten.
.... Er war kein Mann nach meinem Herzen. Dennoch möchte ich seinen
Nekrolog in Ihren Blättern von keiner unbarmherzigen Feder geschrieben sehen
und suche deshalb andern Hioböbotcn zuvorzukommen. Stadion gehört unter
die zahllosen Opfer, die das östreichische Fatum gekostet hat und kosten wird.
Zum ersten Mal sah ich den Grafen Franz Stadion als Abgeordneten in der
hiesigen Reitschule. Während einer Pause der Verhandlung stand er inmitten
einer Gruppe von Deputaten, alle um einen Kopf überragend, mit Ausnahme
Löhners, welcher lebhaft vor ihm gesticulirte. Stadion verharrte stolz und re¬
gungslos : eine Marmorstatue gegenüber der verkörperten Leidenschaftlichkeit. Vom
Weiten hatte sein Aeußeres einen Anflug vom englischen Staatsmann; in der Nähe
gesehen, machte er einen kanzleistylartigen Eindruck. Er sprach mühsam pedan¬
tische Gemeinplätze, zuweilen entschlüpfen ihm Worte und Phrasen, die an das
Kucheldeutsch der Maria Theresia erinnerten. Er hatte in frühern Jahren Eng¬
land bereist und liebte es, seine Bewunderung für gewisse praktische Kleinigkeiten,
die ihm dort auffielen, an den Tag zu legen; z. B. die Art der HäusernumeN-
rung, die englischen Wegweiser, welche durch Reliefbuchstaben ihren Zweck auch
in stockfinstrer Nacht erfüllen u. f. w. Als Gouverneur von Jstrien eiferte er, so
weit es ging, den britischen Mustern nach, etwa wie Woronzoff in Bessarabien.
Er genoß dafür in Trieft'dieselbe wohlverdiente Popularität wie der aufgeklärte
Russe in Odessa. Unermüdlicher Fleiß und entschiedenes Talent im Administriren
waren ihm so wenig abzusprechen, wie die uneigennützigste Redlichkeit und der
unglückseligste Starisinn gegen jede bessere Einsicht. Diese Eigenschaften machte»
ihn zur Zeit der Dobblhoff'schen Ohnmacht zum Hoffnungsstern der Conservattv-
Liberalen in Oestreich. Seine Wirksamkeit beim coustttnirenden Reichstage schien
mir jedoch unwürdig des künftigen Staatsmannes. Statt mit muthiger Beredt-
samkeit in das Rad der überstürzenden Revolution zu greisen, benutzte er tre
vollständige Hilf- und Ratlosigkeit der ruthenischen Bauern zur Agitation für die
Dynastie und gegen das Ministerium. Loblied wäre es gewesen, diesen int'.-niübns
(Sprachlosen) als treuer Dolmetscher zu dienen und sie dann nach eigenen! Gewissen
stimmen zu lassen. Allein er kommandirte sie — wie Bauer in Berlin die Wasser-
polacken — zum Aufstehen und Niedersitzen. Vom juristischen Standtpunkt läßt
sich dies constitutionelle Marionettenspiel nicht verurtheilen; für harmlos mag ein
solcher Kunstgriff in England oder Amerika gelten: sündhaft war es, den jung-
baulichen Glauben der Wiener Jugend an die Heiligkeit und Wahrheit des con-
stitutionellen Wesens zu untergraben. Es hieß mit andern Worten sagen: Ihr
habt Constitution gewollt. Gut, wir wollen Euch zeigen, daß wir auf Constitu-
ionisch dasselbe vermögen, wie auf Absolutistisch. Diese Taktik zur Erküusteluug
^u Majoritäten, sammt der Unverautwortlichkeit des Kriegsministers und der
Unwahrheit seiner öffentlichen Aussagen brachten die Schale des Volksmißtrauens
öUin Ueberfließen, reizten zu Gegenmine, zur Verschwörung und Gewalthat.
Wie viel die Olmützer Contrerevolution dem Grase» Stadion, wie viel sie
seinen Collegen Bach und Schwarzenberg verdankt, kann man zur Zeit schwerlich
"bwägcn. Die volle Verantwortlichkeit für das Wirken des Novemberministeriums
lastet jedoch um so sicherer und schwerer auf Sradion, als er zu herrisch und
k'genwillig war, um sich von untergeordneten Persönlichkeiten gängeln zu lassen.
D>e Scheinverfassuug vom 4. März kennen Sie. Am Vorabend der Kremsierer
Katastrophe wies Schnselka dem Grafen Stadion eine schreiende Lüge nach. Die¬
ser versicherte, nur die amtliche Verbreitung der Frankfurter Grundrechte Ander¬
st zu haben, während er allen Kreisäintern den Mas zugesandt hatte, auf je-
en Abdruck der Grundrechte und jeden Verbreiter eines solchen zu fahnden.
,° weit ging die contrerevolntionäre Verachtung der Volksmeinung, daß man es
'Acht der Mühe werth hielt, durch ein Paar Zeilen in der Wiener Zeitung der
Anklage entgegenzutreten, sondern sich stumm und laut, ohne Erröthen und Za-
^u, zur System der Lüge bekannte. Mehr noch entrüstete die massenhafte As-
s°"tirung der Studenten. Unter Metternich befreiten nur durchgängige Vorzugs-
^sser bei den jährlichen und halbjährlichen Zwangsprüfuugeu vom Soldatenrock.
Giftlose Büffelei, duckmäuserische Altklugheit, Kriechen oder Bestecher konnten
allein dem Studierende» die Auszeichnung der Vorzugsklassen sichern, und wenn
'^ehe grade die hoffnungsvollsten Studios jährlich in die Kaserne gesteckt wurden,
^° lag dies theils an der Bestechung der Militärärzte, theils an der Menschlichkeit
^ Provinz- und Lokalbehörden. Kaiser Ferdinand hob, bis zur Reform des
^'Neewesens, den Metternichschen Usus auf, und befreite vom Militärdienst alle
Edierenden, die deu fleißigen Besuch der Collegien nachwiesen. Das Cabinet
^ssirte das Edict Ferdinands und während er sich ans die Abschaffung der Pri-
i egie» berief, erklärte er nicht alle Studenten für militärpflichtig, sondern die-
°>"gen, welche nicht durch Glück oder vormärzliche Manipulirungen im Jahre
1847 (!) die Vorzugsclassen gewonnen hatten. Der Zweck war klar; es galt, die
Studentenwelt von „böswilligen Elementen" zu säubern. Folgerecht handelte darin
eine Regierung, welche in Galizien und Italien die gebildeten Stände gewißermassen
außer dem Gesetz erklärt und uur die Kinder Szela's als gute Oestreicher anerkennt,
weil sie keine Bücher lesen, weder am hellen Tage noch in heimlichen Nächten.
Aber die bnchstabentrene Tücke, mit der das Princip der Gleichheit Aller vor dem
Gesetz in diesem Falle ausgelegt wurde, hätte Ehrenshylock Ehre gemacht. Die
Gleichheit Aller und die vormärzlichen Vorzugsclasseu! Und daß die Anwendung
des Princips der Gleichheit eine entsprechende Reorganisation des Heerwesens und
des militärischen Strafcvdex voraussetzte, sollte vor lauter Patriotismus über¬
sehen werden. Um diesem willkürliche» Treiben die Krone aufzusetzen, behandelte
man die Armee als Strafanstalt und steckte verheiratete Journalisten, mit Um¬
gehung aller Gesetze, Gerichte und selbst der Conscriptionsformen, als gemeine
Soldaten in den weißen Kittel. Und was sind diese Details gegen die ministe¬
rielle Politik im Großen und Ganzen!
Weit entfernt also, ein Freund oder Bewunderer Stadion's zu sein, stellt
ich ihn doch bergehoch über seine Mitschuldigen. Er hat seine Thaten gebüßt, in¬
dem er an Oestreich zu Grunde ging. Mit ihm ist die Seele des Cabinets dahin.
So lange Bach und Schwarzenberg regieren, gibt es sür ihn keinen Ersatzmann,
— außer man nähme einen alten Jünger der Metternich - Nesselrode'schen Schule,
wie Ficquelmont.
Vor 14 Tagen mußte sich Stadion, wegen „geschwächter Gesundheit," auf
das Land zurückziehen. Finstere Gerüchte durchliefen die Stadt. Heute sind sie
bestätigt. Stadion hat sich überarbeitet, indem er am Ruin Oestreichs arbeitete.
Er ist geistesabwesend geworden. Dieselbe Finsterniß, welche Schwarzen¬
berg über die Welt heraufbeschwören möchte, — dieselbe Nacht, welche Lenau,
Hölderlin und andere Söhne der funfzigjährigen deutschen Dämmerung ergriffen
hat — umhüllt die Sinne des ersten Fahnenträgers eines eisernen einheitlichen
Oestreich. Vor so tragischer Nemesis verstummt der rückblickende Tadel, nur kleine
Geister können sie schadenfroh belächeln.
Das Unglück gereicht in meinen Augen dem Grafen Stadion zur Ehre.
Schwarzenberg und Bach sind vor ähnlichem Loos gesichert. Jener hat keinen
Verstand zu verlieren, dieser — jetzt ein Hof- wie früher ein Pöbelschmeichler
hat zu wenig Herz und Gewissen, um über sein Vaterland verrückt zu werden.
Wenn es heut in Trümmer stürzt, wird er — gleich dem Stoiker des Horaz
die Fassung nicht verlieren und sich uuter den Ruinen — nicht begraben lassen.
Stadion soll sich gegen die russische Intervention bis zum letzten Augenblick
gesträubt haben. Sie ist der Lieblingsgedanke Bachs und Schwarzenbergs, die z»
einer Zeit, wo der magyarische Hannibal noch nicht, vor den Thoren stand, sie
vorbereiteten und bei den Haaren herbeizogen. Von den Winken, welche hoch¬
gestellte Offiziere darüber fallen ließen, will ich Nichts erwähnen. Es gab andere
und ehrenvollere Auswege. Sie wollten durchaus von Rußland gerettet werden,
^- um für die Zukunft von den Verpflichtungen gegen Petersburg einen Vorwand
und einen Popanz gegen das Volk zu haben.
Vier russische Heersäulen — 100,000 Mann im Ganzen — fallen durch die
Bukowina, die Wallachei, Galizien und Schlesien in Ungarn ein. Die letztere
wird den Goldknanf des Stcphansdomes mit einem dreimaligen Hurrah begrüßen.
Soll ich von dem Eindruck sprechen, den diese Katastrophe in Wien macht?
Die „Gutgesinnten" begrüßen das „Hilf Samiel!" des Cabinets mit wiehernden
Vravos! Ihnen scheint jede russische Kugel gefeit, die Ehrfurcht vor das Auto-
^alors politischer Allmacht im Innern seines Reiches übertragen sie abergläubisch
"uf die russischen Waffen. Die schwärmerische Jugend baut auf die Verwandt¬
schaft der magyarischen Pußta mit der russischen Steppe, sie sieht im Geiste schon
^n Waldbrand durch Podolien, Volhynien, Lithauen und Polen stammen, die
russischen Schergen zwischen zwei Feuern unter dem Sturmgeläute von ganz En-
"vpa erliegen. — Ach, wenn ein Wunder geschähe, in dieser lendenlahmen Zeit! —
An Oestreichs lymmerische Zukunft denken weder die Einen noch die Andern,
dreimal wurde binnen Jahresfrist die Rettung der Monarchie verkündet. Ra-
war der erste Heiland, die Kroatenarmee im November der zweite, Rußland
^'ne als der dritte auf. Mit dürren Worten spricht ein halboffizielles Blatt es
^'s: „Die hereinbrechende Zerstörung der Monarchie" wird durch die Moskowiter
gewendet werden. Nicolaus und seine Kinder und Kindskinder werden diese
^^'te mit goldener Schrift über ihren Thronhimmel schreiben.
Mich erinnert die dritte Rettung an den Schlagfluß, der zum drittenmal
^belles ist, ^ ^ Moschus, der dem Fieberkranken in den letzten Zügen und ge¬
wöhnlich zu srM gereicht wird. Die Loose mögen fallen wie sie wollen: fahr' hin,
^reichischer Stolz und östreichische Ehre! Lebe wohl, majestätische Donau! Die
T^ugolen werden deine Ufer beherrschen. Der Doppelaar und der einköpsige
^ier si,es solidarisch geworden. In Galizien, Ungarn, Bukowina, Kroatien,
Serbien und Dalmatien wird künftig der Russe sein Wort einlegen, neben dem
estreicher. Wird der Czar nicht Secrs vor neuem Untergang im Voraus bewcch-
müssen, was er im October 184» nicht umsonst gerettet haben will? Auch
entschöstveich wird den Eiöwind spüren, so oft er sein väterliches Herz öffnet.
ein Schwert ist ja gegen die „europäische Anarchie" überhaupt gezückt.
Flehend streckt Deutschöstreich seine Arme über die schivarzgelben Schranken
"ud ruft den Deutschen zu: Rettet euch um enret- und unsertwillen. Donnert es^
euern Fürsten in die Ohren, daß die letzte Stunde der Entscheidung geschlagen
hat. Ist es jetzt noch Zeit zu streiten, ob sich Wittelsbach dem Hohenzoller
oder Hohenzoller dem Wittelsbach unterordnen soll? Dreht sich die Welt um Ku-
kclöbach und Kakclsbach? Wahrlich, nicht am deutschen Volke möchte man schier
verzweifeln, aber an euch, ihr kleinen blindverstockten Pharaohs, die ihr den
diplomatischen Zeichendeutern traut und harret und zögert, bis die eiserne Noth
euch den Stuhl auf der Gasse bereitet oder die Wogen des rothen Meeres über
euern Häuptern und Kronen zusammenschlagen!
Es ist bekannt, daß uach dem Ausbruche der Octoberrevolution eine Menge
Deputirte von der Rechten und deu Centren heimlich die Hauptstadt verließen/
während das Rumpfparlament in beschlußfähiger Auzahl, unter dem Vorsitze Smol-
ka's forttagte. Stadion schien lange zu schwanken, ehe er einen bestimmten Ent¬
schluß fassen konnte, zu welcher Partei er sich schlagen sollte, ob zu der geschlos¬
senen Partei der fliehenden Tschechen, oder zu den Männern des Rumpfparlaments-
Es fehlte ihm in diesem, wie in allen spätern wichtigen Fällen der Muth einer
selbstständigen Meinung. Er leugnete die Kompetenz des Rumpfparlaments und
wohnte doch den Sitzungen desselben bei; er äußerte sich in den Kreisen seiner
Bekannten mißbilligend über die Richtung welche der Reichstag eingeschlagen, und
halte doch nicht den Muth, von der Tribüne herab seine Meinung zu sagen;
nicht daß ich etwa durch diese Bemerkung den Grafen Stadion als einen Mann
der blassen Furcht bezeichnen wollte, nein: die Besorgniß, man werde seine Fin^
als einen Act der Feigheit auslegen, war das einzige Motiv seines Bleibens.
Durch seine Freunde endlich" dennoch zum Rücktritt bewogen, verkehrte er abroech'
seind mit einigen Vertrauten in' der Hauptstadt und mit der Hofpartei in OlmG
bis er nach langem Zaudern den Entschluß faßte, ein neues Cabinet zu bilden,
doch machte er dabei den Wiedereintritt des mit Recht bei allen Parteien ver¬
haßten ol. Bach zur Bedingung, lieber die verschiedenen Stimmungen, welche
durch die neue Miuistercombinativn in Wien erzeugt wurden, ist es fruchtlos
Ihnen zu schreiben, um so mehr da diese Combination bis zur Einnahme der
Stadt nur. gerüchtweise und unvollständig bekannt war. Bald hieß es, Mu-
dischgrätz werde das Kriegsministerium übernehmen und Heisere das Mini¬
sterium der Justiz; bald wurden Strobach und Melden an der Stelle des
Elstern genannt — kurz, die Gerüchte wechselten mit jedem Tage. Unter allen
obenerwähnten Männer war Stadion noch der am wenigsten gehaßte; die ganze
Volkswuth kehrte sich gegen Windischgrätz und Bach; Heisere, ein ganz junger,
unerfahrener Mensch, dessen Nichtigkeit und serviles Wesen in den Grenzboten
schon früher nachgewiesen wurde, war damals den Wienern noch zu wenig be¬
kannt. Ueberhaupt konnte inmitten der erschütternden Drangsale der Hauptstadt,
das Gerücht einer neuen Miuistercombination nicht von nachhaltiger Wirkung sein.
Die wochenlange Aufregung hatte zuletzt eine gewisse Abspannung und Erschlaffung
^jeugt, man war auf das Schlimmste gefaßt; der glührvthe Himmel, die bren¬
nenden Vorstädte, die Raketen und Bomben des Fürsten Windischgrätz sprachen
deutlicher als alle Worte. —
Es ist hier nicht der Ort zu einer ausführlichen Schilderung der Schreckens-
^ge, welche der Eroberung von Wien vorausgingen, doch scheint es mir nöthig,
»Zhnen wenigstens andeutungsweise die Zustände der Stadt vom 29. October bis
Zum Einrücken der Truppen zu veranschaulichen, zur Rechtfertigung meiner Be¬
hauptung, daß die später gegen die Bevölkerung angewandten Maßregeln (die
folgerichtig dem Ministerium zur Last fallen) verkehrte Maßregeln waren.
Bekanntlich wurden am 29. October in Wien Vertrauensmänner von allen
Compagnien der Bürgerwehr zusammenberufen, um zu berathen ob die Stadt
^Pitulireil oder sich noch länger vertheidigen solle. Bei der Abstimmung sprach sich
vie überwiegende Majorität für Kapitulation ans und schon an demselben Abend
wurden von den meisten Bewohnern die Waffen abgelegt. Nur ein Theil der
akademischen Legion, die Arbeiter und übergegangenen Soldaten, die lieber im
Gefechte sterben, als standrechtlich erschossen werden wollten, weigerten sich, dem
Befehl der Entwaffnung Folge zu leisten. Man wagte nicht, Gewalt gegen sie
Anwenden, obschon das numerische Verhältniß der Fricdlichgeflnnten zu den im
Kampfe Beharrenden war wie l00 zu I. Ich durchstreifte von jenem Abend bis
in die Nacht hinein mit mehreren Freunden die Straßen der Stadt, um die
^tiinmnng der Bevölkerung zu erforschen; überall war man froh, dem Ende der
wirren nahe zu sein. Die Bürger waren des anstrengenden Waffendienstes müde
"ud sehnten sich zu friedlichen Beschäftigungen zurückzukehren; wo sich Besorgnisse
äußerten, galt es nicht dem Einzuge der Truppen, man fürchtete für.die Nacht
Excesse von den bewaffnet gebliebenen Proletariern und Soldaten.
Ein dichter Nebel lagerte sich über die ganze Stadt, gleich als ob der Him¬
mel einen Schleier ziehen wollte über die Greuel und Schrecknisse der vergangene-
^u Tage. Der Kanonendonner war verhallt, das Feuer verloschen, welches vier
"ge hindurch den Himmel röthete und nur hin und wieder schallte noch Waffcu-
geklirr durch die Straßen, gleichsam wie ein Nachhall des frühern Kriegögetnm-
mets. Die Stande verstrich ruhig, wie im tiefsten Frieden, und erst am folgenden
Tage wurde durch das Gerücht vom Anrücken der Magyaren wieder einige Auf¬
regung erzeugt. Doch, so groß das Geräusch in deu Straßen war, so klein
war verhältnißmäßig die Anzahl derer, die es machten. Ich übergehe die bluti¬
gen Scenen des 31. October, wo die Soldaten und Proletarier deu Kampf der
Verzweiflung fochten, bis nach einem furchtbaren Bombardement das Militär bei
einbrechender Dunkelheit in die Stadt einrückte. Der Kampf war verstummt. Man
schöpfte Athem nach der laugen, gewaltigen Aufregung. Auf allen Plätzen und
Straßen standen Gruppen an Gruppen, drängten sich Menschen an Menschen; die
Soldaten wurden mit Vivats begrüßt, kurz, es war ein so reges Leben wie in
einer kleinen Stadt, wo zum Erstenmal Militär einrückt. Alle Häuser des
Stephanplatzes waren Fenster an Fenster bis zu den Dächern hinauf erleuchtet.
In feierlicher Ruhe ragte dazwischen empor der alte Stephansthurm, geisterhaft
glänzend vom Widerschein der fern aus der Augustinerkirche auflodernden Flammen;
wie eine Hand des Friedens streckte er eine weiße Fahne ans, und aus allen Häu¬
sern tiefunten wehte dasselbe Zeichen des Friedens.
Hätte man damals den Umständen Rechnung getragen und Milde geübt, statt Tau¬
sende büßen zu lassen für die Schuld Einzelner, so wäre Wien in Kurzem wie¬
der die friedlichste Stadt der Welt geworden, und der Thron der Habsburger
stände heute fester als je.
Statt dessen folgte eine kaltberechuetc Menschenschlächterei, die kaum in der
russischen Geschichte ihres Gleichen findet — und an diesem Treiben ist Graf
Stadion wesentlich Schuld. Wußte er auch die Verantwortlichkeit dafür von sich
zu schütteln, gegenüber dem machtlosen Reichstage von Kremsier, die Geschichte
macht ihn mitverantwortlich für das Blutgericht in Wie». Ich sah ihn am Tage
nach der Ermordung Blums bei einem Bekannten. Er war in der heitersten
Gemüthsstimmung und hatte keine Ahnung von der politischen Wichtigkeit, den
weitausgreifenden Folgen jenes Schrittes. Er machte mir ganz deu Eindruck, ans
ob er dächte: was hab' ich Zeit, mich um dergleichen zu bekümmern! Das muß
Windischgrätz besser verstehen! — Graf Stadion dachte damals an ganz andere
Dinge. Er träumte schon von der Herstellung des mitteleuropäischen Reichs, wo¬
zu eine im „Lloyd" erschienene Beurtheilung der bekannten Fröbel'scheu Brochüre
ihm den ersten Gedanken gegeben. Er hatte ferner schon mit seinem Vertrauten
Oettl die Vorarbeiten zu einem neuen östreichischen Gemeindegesetz begonnen,
dessen erster Entwurf später so allgemeinen und gerechten Tadel in der Presse
fand. Auch ein ganz eigenthümlicher Centralisationsplan für Oestreich war bereits
in Angriff genommen. Alles dies hat ihm manche schlaflose Nacht gekostet, denn,
wie schon oben bemerkt, Graf Stadion ist ein ehrlicher und fleißiger Arbeiter;
aber leider hat er mehr Sitzfleisch als Geist und Blick . . .
Bekanntlich wurde die Reitschule, wo das Wiener Rumpfparlament bis zur..
Eroberung der Stadt seine Berathungen fortzusetzen hatte, von Fürst Schwarzen¬
berg geschlossen und der vollständige Reichstag versammelte sich wenige Wochen
darauf in der weltberühmten Hcnmahstadt Kremsicr. Am 22. November fand die
Eröffnung des Reichstages statt und am 27. erschien zum Erstenmale das neue
Gesammtministerium in der Kammer. Dies war der Tag an welchem der Mini¬
sterpräsident Schwarzenberg jenes denkwürdige Programm verlas, davon ein öst¬
reichischer Publicist treffend sagte: „ich fürchte mit dem Ministerium in Conflict zu
kommen, wenn ich mich an sein Programm halte — und mit dem Programm,
wenn ich mich ein's Ministerium halte!"
Doch kehren wir zum Grafen Stadion zurück. Wir sind jetzt zu dem Punkte
gekommen, wo wir ihn einmal als dramatische Figur, d. h. redend und handelnd
auftreten lassen können. Bis dahin war keine Gelegenheit dazu geboten, ein Um-
standwelcher, wie Sie begreifen werden, meine Aufgabe zu einer sehr schwierigen machte.
Ich durfte meinen noch lebenden Helden nicht eher sprechen lassen, als bis er an¬
fing zu reden, denn ich habe Ihnen einen politischen Charakter zu schildern, wie
er ist, nickt wie er sem sollte. Und so viel mir bekannt, hat Graf Stadion bis
zur Erlangung der Muüstcrwürde immer ein lautloses parlamentarisches Leben ge¬
ehrt. Das einzige Mal, wo er seine Stimme im Reichstage zu Wien ertönen
ließ, war im vorigen Sommer bei der Debatte über die Znrückl'crnfnng des nach
Insbruck geflüchteten Kaisers Ferdinand. Der Monarch hatte den wiederholten
Bitten der Wiener, in die Hauptstadt zurückzukehren, kein Gehör gegeben, und
die Herren von der Linken beantragten demzufolge, „die hohe Kammer möge be¬
schließen , den Kaiser aufzufordern, seiner Pflicht nachzukommen, jedem Rufe der
Volksvertreter zu folgen." So ungefähr war der Sinn jenes Antrags; ich citire
"»S dem Gedächtniß und kann mich des Wortlauts nicht genau mehr entsinnen.
Stadion erhob sich dagegen und suchte nachzuweisen, daß der Reichstag den Kai¬
ser wohl um etwas bitten, aber zu Nichts auffordern könne. Der Graf ge¬
bieth aber dabei so in's Stottern und brachte seine Ansicht in so wunderlicher
Wortstellung zum Vorschein, daß jene Rede, weniger ihres Gehalts als ihrer Ge¬
stalt wegen, dem Reichstage in unvertilgbaren Andenken geblieben ist.
In Kremsicr speißten die Herren von der Ministerbank und ein großer Theil
^r Deputaten im Saale des erzbischöflichen Palastes. Während des Diners
wurden bei den überhäuften Beschäftigungen der Staatslenker auch eben einge¬
laufene Papiere durchlesen, Leute zum Gespräch zugelassen .'c. Von einer solchen
Tischscene entsinne ich mich genan, daß, während ich mit einem andern Minister
sprach, dem Grafen Stadion ein paar Hofräthe oder ähnlich betitelte Menschen
""gekündigt wurden. „Was!" — rief der Gras, den Namen des Einen wieder¬
holend — „ist der alte Zopf auch hier; na, der kann warten! und X., dieser
Stockreaktionär? der kommt gerade an den Rechten, wenn er sich an mich wendet!
Diese Leute" — fuhr er fort, sich zum Fürsten Schwarzenberg wendend — „diese
Leute glauben, jetzt blühe ihr Weizen; nun sie werden schlechte Rechnung bei uns
finden!" und ein kaltes Lächeln umschwebte dabei seine Züge, welches Lächeln
von seinem fürstlichen Nachbar sehr graziös erwidert wurde.
Ich habe diese Scene hervorgehoben, weil mir dadurch Gelegenheit wurde,
den Grafen selbstredend auftreten zu lassen. Was er hier sagte, war ihm voll-
kommner Ernst, so drollig solche Worte in seinem Munde anch klingen mögen.
Er bewegt sich in einem geschlossenen Kreise von Vorstellungen und Ideen, die
ihm freisinnig und zeitgemäß scheinen; was darüber hinausgeht oder nicht hinein¬
paßt, gilt ihm als reactionär oder als nltraradical. In diesem Sinne war anch
sein Rundschreiben an die östreichischen Beamten abgefaßt, worin er alle diejeni¬
gen, die nicht ganz seine freisinnige Anschauung theilten, aufforderte deu Dienst
zu verlassen. Eben so ließ er einmal in Wien alle unter ihm stehenden Beamten
zusammenkommen und hielt ihnen eine eindringliche Rede, deS Inhalts, daß er
weder Reactionäre noch Radicale im Dienste dulden wolle, daß also alle diejenigen,
welche der einen oder der andern Seite sich zuneigten, augenblicklich ihre Stellen
niederlegen sollten. Es versteht sich von selbst, daß alle Beamten die rechte Mitte
hielten und Keiner den Dienst verließ.
Graf Stadion hat einen gewissen Begriff von der Nothwendigkeit einer freien
Presse, aber er hat im vorigen Sommer so viele Angriffe auf sich gelesen, daß
er doch eine gewisse Beschränkung der Presse für nöthig erachtet. Er berieth sich
mit seinen Freunden Bach, Heisere, Oettl, Piepitz, Neumann und Leuten ähn¬
lichen Gelichters, die sämmtlich in der Preßfreiheit nichts als ein Mittel sehen,
sie an den Pranger der Öffentlichkeit zu stellen.
„Wir müssen die radicalen Journale ganz unterdrücken," sagt Bach, „und
die gesinnungstüchtige Presse unterstützen." Piepitz und Neumann stimmen dem
bei. „Wir müssen Cautionen einführen," sagt Oettl, „und zwar nach einem
Maßstabe, daß nnr der „Lloyd" und ähnliche gutgesinnte Journale dabei bestehen
können; dann haben wir gewonnenes Spiel." Heisere ist ganz derselben Ansicht.
So wird eine Woche laug hcrumbcrathen und es werden Prcßgesetzeutwürfe an-
gefertigt, so viele wie Tage in der Woche sind, und am Ende kommt Stadion
zu der Ansicht, daß der von ihm selbst vorgeschlagene Modus der Preßbeschrän¬
kung noch von allen der freisinnigste ist. Nur mit Mühe gelingt es seinen Freun¬
den, ihn von seinem eigenen Entwürfe abzubringen; Zoll für Zoll gibt er nach,
bis endlich durch die vielrn Zusätze, Veränderungen.'c. eine Mißgeburt zum Vor¬
schein kommt, die ihren Erzeugern wenig Ehre macht. So geht es in Einem,
und so geht es in Allein.
Ich hörte Stadion einmal sagen: „Die Leute nennen mich reactionär, wäh¬
rend ich doch entschieden freisinniger bin als Bach, Heisere, Oettl und Piepitz;
aber diese Männer haben Recht: für Oestreich ist einmal ein gewisses Maaß von
Despotismus nothwendig!"
So ist Stadion von seiner Schwärmerei für die Preß- und Lehrfreiheit nach
und nach so weit zurückgekommen, daß jetzt sogar die „Grenzboten" in unserm
lieben Wien verboten sind, dieselben „Grenzboten," welche die Wiege von Sta¬
dion's vormärzlichen Ruhme waren. Einst waren sie seine liebste Lectüre, so lange
er von Triestiner Korrespondenten darin gelobt und Metternich darin getadelt
wurde; seitdem haben sich die Zeiten geändert und mit ihnen die Ansichten des
Grafen Stadion. Jetzt begreift er vollkommen, warum der greise Staatskanzler
die grünen Wanderer nicht leiden konnte.
Dieser unscheinbare Umstand scheint mir ein wesentliches Moment in der Cha¬
rakteristik des edlen Grafen. Es läßt sich Vieles daraus erklären. Ich habe
keine hinreichend schlechte Meinung von ihm, um anzunehmen, daß er sich von
Anfang an für einen großen Mann gehalten. Dieser Wahn wurde ihm erst von
seinen Speichelleckern beigebracht. Sein Unglück ist, daß er immer sehr unge¬
schickt in der Wahl seiner Umgebung gewesen. Es erfordert mehr Selbstständig-
keit und Bescheidenheit als Graf Stadion besitzt, sich immer einen großen Staats¬
mann nennen zu hören und am Ende nicht selbst daran zu glauben. Er hält
sich allen Ernstes für einen entschiedenen Fortschrittsmann, und sieht sich zu Nnck-
schrittsmaßregeln immer nur „leider gezwungen." Ich habe ihn stark im Verdacht,
daß die Worte im Ministerprogramm: „das Ministerium will sich an die Spitze
der Bewegung stellen" von seiner Diction sind. Daß diese Bewegung eine
rückgängige werden sollte, lag ursprünglich gewiß nicht in seinem Plane. Er
wollte mit der Zeit gleichen Schritt halten, aber die Hindernisse, die sich ihm
entgegenstellten, hatte er nicht den Muth und die Kraft zu überspringen oder
hinwegzuräumen — sie wurden ihm Gründe zur Rückkehr. Er gehört mit Leib
und Seele jener Gattung von Menschen an, von welchen Pröhle singt:
„Sind emanzipirte Krebse,
Fühlen uns so groß und frei!
Nur das Rückwärtsgehn behielten
Wir aus Pietät noch bei."
Wie gesagt, Stadion ist, von seinem Standpunkte aus, ein ganz freisinniger
Mann; aber er begeht denselben Fehler, den unsere Demokraten begingen. Er
will die Freiheit, aber nur die Freiheit des Ministeriums, wie die Demokraten
ebenfalls die Freiheit wollten, aber nur die Freiheit des Volkshaufeus. Stadion
haßt die absolute Monarchie, aber er liebt ein absolutes Ministerium. Nebenbei
mag immer noch ein Reichstag existiren, die Leute mögen schwatzen und reden so
viel sie wollen, wenn ihre Absichten nur den Absichten des Ministeriums nicht
Zuwiderlaufen. Konnte ein Reichstag aus lauter Oettl's, Neumann's, Piepitzen
und Heisere's gebildet werden, so wäre Stadion der beste konstitutionelle Minister
von der Welt. So aber war seine ganze ministerielle Thätigkeit nichts als eine
Reihe von Niederlagen und Mißgriffen. Die Ereignisse sind noch zu frisch im
Gedächtniß der Leser, um hier mehr als der Andeutung zu bedürfen. Wir er¬
innern zunächst an seine schwankende Politik in Bezug auf die Neugestaltung
Oestreichs. So viele Monate er jetzt Minister ist, so viele Meinungsphasen hat
er in jener Frage durchlaufen, und noch immer ist nichts Bestimmtes festgestellt.
Dasselbe gilt in Bezug auf die deutsche Frage. Das ministerielle Programm zog
eine Scheidelinie zwischen Deutschland und Oestreich, obgleich dem Cabinette schon
damals ein mitteleuropäisches Reich unter Habsburger Herrschaft vorschwebte.
Aber Station und die Herren von Olmütz glaubten, das Frankfurter Parlament
werde niemals eine Verfassung zu Stande bringen, fähig, das zersplitterte Deutsch¬
land zu einen, und die Fürsten und Völker würden sich zuletzt gezwungen sehen,
ihr Heil in der Staatsweisheit der Männer von Olmütz zu suchen. —
Den glänzendsten Beweis seiner Unfähigkeit legte Graf Stadion in der stür¬
mischen Reichstagssitznng vom 4. Januar ab, wo er vor Beginn der Berathung
über den vom Verfassungsanöscbusse aufgestellten dz. 1. der Grundrechte: „Alle
Staatsgewalten gehen vom Volke ans nud werden auf die in der Constitution
festgesetzte Weise ausgeübt," jene berüchtigte Ministerialerklärung verlas, wodurch
er die Debatte von vornherein zu einer unfreien machte. Von diesem Tage ein
war sein Ansehn im Reichstage für immer gebrochen, nud dem ersten Schritte
mußte über kurz oder laug der zweite: die Auflösung des Reichstages, folgen.
Die Auflösung wäre schon weit früher geschehe», wenn man nicht unruhige Folgen
gefürchtet hätte; erst als man durch die ministeriellen Blätter den Reichstag in
der Meinung des-Volks hinlänglich verdächtigt hatte, wagte man den entscheiden¬
den Schritt ihn gänzlich aufzulösen.
Die Darlegung der Politik des Cabinets zu Olmütz behalte ich mir für
einen größern Aufsatz vor.
Geschriebene Portraits der hervorragend sten Deputirten deS östrei¬
chisch en Reichstags. Wien, Jasper, Hügel und Mainz.
Die Portraits sind während der Sitzungen geschrieben, bis zur Auflösung
des Reichstags. Die veränderte Lage der Dinge hat oft genug die Charaktere
von einer Seite erscheinen lassen, welche das frühere Leben nicht darbot, und
so ist der Verfasser zuweilen in die Lage gekommen, ziemlich scharf ausgesprochene
Ansichten über einzelne Persönlichkeiten wieder zurücknehmen zu müssen. Mit Rie¬
ger hat er es ausdrücklich gethan, über Bach ist sein Urtheil jedenfalls noch ent-
schiedener geändert. Unbedingte objective Wahrheit darf man von einer flüchtig
hingeworfenen Skizze, dem Resultat einzelner Beobachtungen, nicht erwarten; aber
dieser Mangel wird in unserem Fall ersetzt durch eine scharfe, ins Innere gehende
Anschauungsgabe und durch eine geistvoll plastische Darstellung. Die Galerie zer¬
fällt in 3 Abtheilungen; die erste enthält u. a. Fischhof, Goldmark, Fühler, Pil-
lerödorf, Bach, Schwarzer, Löhner; die zweite Strohbach, Borrosch, Lubomierski
Violand, Krauß, Rieger, Hornbostl, Station; die dritte Smolka, Kudlich,
Schuselka, Umlaufe, Palacky, Wcsscnberg, Lasser, Trojan.
Wir theilen auszugsweise die Portraits von Fischhof und Stadion mit, die
wir schon von anderer Feder gebracht haben.
Fisch ho f. Starker runder .Kopf, — kurz geschornes Haar, dichter brauner
Bart. Er hat auf den ersten Anblick irgend etwas Römisches in seiner Physiog¬
nomie, — der Typus seines Stammes ist jedoch bei genauer Betrachtung unver¬
kennbar. Weniger robuster als voller Körper, mit ziemlichem Aplomb. Man
würde ihn seinem Aeußern uach viel eher für einen behaglichen Rentier als für
einen unbedeutenden Arzt halten, welcher bisher von einem kümmerlichen Taggclbe
als Assistent des Krankenhauses gelebt hat.
Fisch Hof ist poetischer Phlegmatiker. Gewiß keine gewöhnliche Natur. Er
hat keine eigentliche Bildung, — jedoch ziemlich viel Belesenheit, aber auch wie¬
der nicht in den eigentlichen politischen Fachwissenschaften, sondern mehr in der
reflektirenden kritischen Allgemeinheit der Politik, geschöpft aus Börne,
Heine, der politischen Broschürenliteratur und der politischen Poesie. Diesen Cha¬
rakter trägt auch seine Beredsamkeit.
Er hat eine blühende bilderreiche Sprache, welche augenblickliche Wir¬
kung selten verfehlt, welche jedoch durchaus nicht überzeugt, und nachhaltig ist.
Er ist mehr dazu geeignet, Ideen anzuregen, als dieselben logisch durchzuführen.
Er faßt womöglich die Fragen von der Gefühls seite auf. Er besitzt durchaus
nicht die Gabe, den vorgebrachten Gründen zu folgen, sie zu widerlegen. Ich
möchte Fischhof als Redner mit einem Arabeskenzeichner vergleichen: Lauter
hübsche, nette Kleinigkeiten, die ein solides Gebäude wohl zieren könnten, die je¬
doch ein und für sich werthlos und als Nürnbergerei mehr Spielzeug für Kin¬
der sindund den Geist wohl erheitern, aber nimmer befriedigen, und vor dem
Forum der Kritik Stand halten können.
Ich glaube nicht, daß Fischhof je Leiter einer Partei werden wird. Dazu
besitzt er weder die nöthige Vertrauen erregende Durchbildung und Rüh¬
rigkeit, noch die nöthige Energie — noch endlich wie mir scheint, jene Gattung
höheren Ehrgeizes, welche eine unumgängliche Eigenschaft eines Parteihauptes
sein muß. Fischhof scheint ein durchaus ehrlicher Charakter, — ein Mensch, der
sich gehen läßt, (wiewohl er selbst das Gegentheil zu glauben scheint). Er liebt
die Behaglichkeit und würde wahrscheinlich die verlockende Seite der Oeffentlichkeit
und des Rufes, vielleicht mit erleichterten Herzen mit der rurst lire «lap eines
Viciu- ok 'WilclivliM vertauschen.
Fischhof hat viel Bildung im gewöhnlichen Sinne, — besitzt viel Takt und
den sogenannten Großen gegenüber eine keineswegs gemachte Nonchalance, worin
er sich besonders von der oft widerlichen Affektation und sich in die Brust werfen¬
den, gespielten Novlesse seiner Glaubensgenossen unterscheidet.
Stadion. Das alte System hatte eine ganz eigene Art, seine Auserwählten
zu Ruf zu bringen.
Der Anfänger begann seine Laufbahn bei irgend einer höheren Behörde
als Volontier, man nennt das überzählig, — bald darauf bekam er einen
höheren Posten bei einer untergeordneten Behörde, ebenfalls als unzähliger
unbesoldeter Beamte. Das ging leicht und schien unschuldig, Niemand konnte sich
dadurch gekränkt fühle», denn Niemand wurde dadurch materiell beeinträchtiget.
Daraus wurde der junge Herr Dillettant, Gubernial- oder Kameralrath, noch
immer ohne Gehalt, zugleich aber wurde sein Name in Cours gebracht, als
Kandidat für irgend einen leitenden Posten in der Provinz. Durch die lange
Stufenleiter seiner Dienstleistung, bei verschiedenen Verwal-
tungszmeigen, hatte er dazu die vollsten Ansprüche erlangt, — er hatte sich
Vielseitigkeit erworben, er verstand nichts gründlich, nichts von der Staatsökonomie,
nichts von Gesetzgebung, nichts von der politischen Administration, aber er wußte
von Allem Etwas, er war Encyclopädist.
Das anch ist Stadion. Dabei aber hat er auch nicht den geringsten Anflug
von Geistesfrische und Genialität. Selbst auch nicht die Gabe besitzt er, seinem
Wissen eine scheinbar originelle Form zu geben. Er ist durchaus keine productive,
sondern lediglich nur eine executive Individualität, wiewohl er sich einbildet, das
Gegentheil zu sein.
Stadion hatte aus Trieft, wo er Gouverneur war, den Ruf eines sogenann¬
ten erleuchteten Sldministrateurö mitgebracht. Galiz-im hat ihm selbst diesen, wie¬
wohl sehr werthlosen Nimbus abgestreift.
Kein Land der östreichischen Monarchie hatte so sehr zu leiden unter dem
Drucke der Bureaukratie, als Galizien. Stations Aufgabe war es, die Schroff¬
heit, welche zwischen Bureaukratie, d. h. der Regierung und der gesammten In¬
telligenz dieses Landes bestand, zu mildern. Er mußte, wenn nicht mehr dem
alten Systeme wenigstens eine minder verletzende Form geben, worin die bei wei¬
tem größere Mehrzahl der gemeinen Menschheit nnr zu häufig das Wesen der
Sache erblickt. Er that es nicht. Er ging vielmehr in dem breit getretenen Ge¬
leise der metternichischen Politik weiter, — aber er vereitelte selbst die Vor¬
theile, welche man früher für das System gewann. Die Absichtlichkeit,
womit er zu Werke ging, die grobe Behandlung dieser fluchwürdigen, bis dahin
mit aller Finesse ausgeführten Politik litt unter seinen ungeschickten Händen und
hatte zur Folge, daß dieselbe zu augenscheinlich zu Tage kam, und endlich
auch von der großen Masse durchblickt und wirkungslos wurde.
Geschichte der deutschen Nationalliteratur der östreichischen Mo¬
narchie von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart. Von I. G. Toscanv
del Banner. 1r Bd. Wien, Jasper, Hügel und Manz.
Wir wollen auf dieses Werk, dessen nähere Besprechung wir uns vorbehalten,
nur vorläufig aufmerksam macheu. Es ist die Frucht vieljähriger Arbeiten, und
hat außer dem wissenschaftlichen Zweck — der sich namentlich in einer sehr aus¬
führlichen Zusammenstellung des vorhandenen literarischen Materials äußert —
auch eine» patriotischen; es soll die Deutschen Oestreichs auf ihren geistigen
Zusammenhang mit dem großen Mutterlands und auf ihre Berechtigung in dem¬
selben aufmerksam machen. Eine Tendenz, welche die Grenzboten nur auf das
Lebhafteste unterstützen können. So entschieden wir, wenigstens für jetzt, gegen
die politische Trennung Deutsch-Oestreichs von seinen nichtdeutschen Neben¬
ländern und folglich auch gegen seine Einverleibung in den centralistrten deutschen
Bundesstaat uns erklären müssen, so eifrig werden wir jedes Mittel ergreifen,
das nationale Verständniß mit unsern vorläufig einem andern Staatsverbande an-
gehörigen deutscheu Brüdern aufrecht zu halten.
Dem Ursprung der deutschen Kaiseridee etwas näher nachzuspüren, dürfte,
selbst auf die Gefahr hin, oft Gesagtes dabei noch einmal wiederholen zu müssen,
doch wohl in der Gegenwart von so vielem Interesse sein, daß der Leser es über¬
sehen wird, wie dafür der Titel des Aufsatzes nicht so ganz paßt — obschon in
Heidelberg das Brautbett stand, in welchem dieses schwergebvrne Kind in ehrlicher,
selbstsuchtsloser Liebe zum Vaterland gezeugt ward. Wir möchten gern sür den
kommende» Geschichtsschreiber unserer Tage einige Notizen, Andeutungen und An¬
schüttungen festhalten, welche bei den leise eingedrückten, nur von Wenigen bemerk¬
ten Figuren, um die sie sich drehen, fast wohl bald von dem Strom der neucin-
dringenden Begebenheiten zugleich mit jenen verwaschen werden. Denn eben so
populär wie heute die preußische Kaiserkrone überall ist, eben so jung ist auch
diese Popularität; für die Menge ist sie seit vorigen Herbst allmächtig, eine dnrch
die Wucht der Thatsachen trotz allen Widerstrebens herangerückte Nothwendigkeit
geworden; nur Einzelne dürfen sich dieselbe als eine ursprüngliche staatsmännische
Idee aneignen; und selbst uuter diesen Einzelnen sind es wiederum nur Wenige,
welche ihr mit unerschütterlichem Muthe durch alle Wetter des Nevolutionsjahres
bis zu ihrer Verwirklichung dnrch das Parlament unausgesetzt angehangen haben.
Selbst für Dcchlmann war die Frage nach der endgiltigen Form der deutscheu
Reichsverfassung noch sehr lauge eine offene. Sogar im Anfange October, als er bei
der Uebersiedlung der „deutschen Zeitung" nach Frankfurt von dem jungen interi¬
mistischen Redacteur über die Abfassung des neuen Programms zu Rathe gezogen
wurde, strich er noch einen Satz in dem ihm vorgelegte» Entwürfe, welcher mit
klaren Worten, getreu der Vergangenheit des Blattes, die alte Fahne auch um
neuen Orte aussteckte, mit der Bemerkung: „das kaun man jetzt noch gar nicht
wissen." Das Hansemann'sche Direktorium hatte damals uuter den in Betracht
kommenden Mitgliedern des Parlamentes noch viele Chancen für sich. — Herr von
Usedom sagt in seinen kürzlich erschienenen „politischen Briefen und Charakteristiken
der Gegenwart", die heutige deutsche Bewegung sei nichts als eine Intrigue eini¬
ger Süddeutschen, welchen ihre kleinen Länder ein zu unansehnliches Piedestal ge¬
wesen wären, als daß sie nicht hätten wünschen sollen, dasselbe gegen ein mehr
umfassendes Reich einzutauschen; in den größeren Staaten, d. h. in Preußen,
spüre man daher auch nichts von jenem Zuge"). Der ehemalige Berliner Ge¬
sandte in Rom ist um die Naivetät zu beneiden, mit welcher er sich dies Armnths-
zeugniß ausstellt. Von einem Manne, der doch über die Scholle seines Jnnter-
hoses hinausgesehen, der an den verschiedensten Orten der Erde das Weltmeer
erblickt hat, und sich als Mitglied eiuer auswärtige» Diplomatie wenigstens eine
Ahnung von dem hätte verschaffen können, was man die äußere politische
Stellung einer Nation nenut, um vou ihrer ökonomischen ganz zu schweige», muß
eine solche Aeußerung mehr wie auffallen. Aber freilich, auf den preußischen Le¬
gationen ist man so wenig an Selbständigkeit gewöhnt, daß man seine Unselbst-
ständigkeit gar nicht einmal empfindet, und besitzt leider Gottes einen so geringen
Grad handelspolitischer Kenntnisse, daß es völlig gleichgiltig bleibt, ob das an
der Ostsee gelegene Preußen für immer sich als Agriculturstaat hinschleppt, oder,
an das Nordmeer vorgedrungen, mit irritabeler Kraft unabhängig in das kos-
mische Güterleben eingreift. Daß die französische Revolution nichts Anderes war,
als der Durchbruch des beweglichen Eigenthums durch die Feudalität des Agri-
cultnrzustandes zur politischen Gleichberechtigung, daß die Kontinentalsperre eine
nothwendige Konsequenz dieser Thatsache war, indem der neu erstandene Bürger-
stand Frankreichs vor dem ein Jahrhundert früher zur Herrschaft gelangten eng¬
lischen nicht zu der ihm gebührenden Theilnahme am Weltverkehr zugelassen wer¬
den sollte: daß gegenwärtig das deutsche bewegliche Eigenthum gleichfalls an den
Durchbruchspunkt augelangt ist, und von der Kirche und dem Adel, diesen poli¬
tischen Ablagerungen des Agricnlturzustandes, ebenfalls Gleichheit der Rechte for¬
dert; daß in diesem Sinne Deutschland sich nach Einigung sehnt, um seine öko¬
nomische Weltaufgabe zu erfüllen, und den Kampf gegen England wieder aufzu¬
nehmen, an dem Frankreich unterging — ,,du»t i8 tu» muck 5or elle In-in» of n,
^i-nssiim — vvltitt eilll — suttksmlm." Aber ein solcher Mensch ist glücklich;
er fühlt nichts von dem brennenden Schmerze in der Brust, der auflodert, wenn
das Auge täglich mit ansehen muß, wie es sich im Vaterlande statt um Baum¬
wolle zur Lösung der sogenannten socialen Frage nur um russische Hermclinfelle
handelt. Denn sein Blick ist für dergleichen „Kaufmannsangclegenheiten" zu vor¬
nehm blind; Handclscvnsuln zu sein, wie Talleyrand sagte, davon sind unsere
Diplomaten noch himmelweit entfernt, sie wissen noch nichts von ökonomischer Po¬
litik, sie kennen nur Könige, Prinzen und Prinzessinnen. —
Die Bewegung unserer Tage scheint eine doppelte zu sein, wir hören so häufig
die nationale Frage von der Freiheitsfrage trennen, und doch sind beide nur ver¬
miedene Krystallisationsfvnuen ein und derselben Materie oder der Materie über¬
haupt. Denn diese ist es, das bewegliche Eigenthum, das wider Willen unserer
Diplomaten im Zollverein hervorwuchs, ist es, welches zur Geltung gelangen
^ni. Dazu bedarf aber sein Repräsentant, das Bürgerthum, ein Doppeltes, näm-
I'es die Fähigkeit stets durch geeignete politische Maßregeln dem Handel, der In¬
dustrie, kurz dem gewerblichen Leben zu Hilfe kommen zu können, d. h. eine con-
stitutionelle Verfassung, und zweitens die innige Association des gesammten Eigen¬
tums in der ganzen Nation, um uach Außen hin den Kampf gegen die fremde Be¬
drückung nachhaltig beginnen zu köunen, d. h. el» einiges Deutschland. Daß auf dem
!U dieser Weise angemalten Schachbrette die verschiedenen handelnden Figuren bunt
durch einander stehen und ganz anderen Triebfedern zu gehorchen scheine», darf
jemanden in Verwunderung setzen, der in der Geschichte das innere Knvchenge-
üude von dem äußeren Fleische zu scheiden gelernt hat, der da weiß, daß einer
^den Revolution, die nicht ein Knalleffect ist und wirklich eine „neue Zeit" ge-
aren soll, ein sich durchringcnwvllendcr ökonomischer Zustand zu Grunde liegen
Uluß. wurzeln alle unsere edleren, geistigen Hoffnungen beim Ur¬
hunde einer lang ersehnten Periode, wie die Blumen in der nährenden Erde, er
allein vermag, ohne daß der größte Theil der Gesammtheit es auch nur ahnt,
den Geist, der sich bei der Umwälzung in den Vordergrund gedrängt hat, zu
fixiren und so eine Nation vom Rückschlag zu bewahren. Der Agriculturzustand
bedingt als nothwendige politische Ablagerung die Feudalität mit ihrem Adel und
Pfaffen- oder Pfarrerthum; die ökonomische Unfreiheit des großem Theils der
Staatsangehörigen hat unausbleiblich ihre politische Abhängigkeit zur Folge; kom¬
men aber Handel und Industrie irgendwo auf, so darf man gewiß sein, daß die
Freiheit nicht fern steht" sagt Friedrich List. Sie sind ein ganz anderer ökonomi¬
scher Zustand, sie erfordern eine vollständig andere Lebensweise, also geben sie
auch dem sie vertretenden Menschen einen ganz anderen Lebenszug. Stemmt sich
der Agricnlturzustand mit seiner Schwere der Entwickelung des beweglichen Eigen¬
thums entgegen, so muß das Bürgerthum so lange mit dem Adel kämpfen, bis
es sich Gleichberechtigung errungen hat, und dieser fortan einsieht, daß auch er
als Gutsbesitzer durch dasselbe gewinnt, oder es nicht einsehend, gehorsam den
unsichtbaren aber auch uuentziehbarcn ökonomischen Gesetzen zu Gründe geht.
Daß die Menschheit von Jäger - zum Nomadenleben und von da zum Gründen
fester Wohnsitze, zum Landbau fortschreitet, ist eine allbekannte Sache; daß aber
nach dem Landbau der Manufacturznstand kommt, der über die Grenzen des Staa¬
tes hinaus die Existenz einer Nation mit in das kosmische Güterlebett verwebt,
dasselbe jedoch nur dann in sich einen festen Halt trägt, wenn in der Concentra-
tioii seiner heimischen Kräfte ein einheitlicher Wille lebt, davon scheint Herr von
Usedom eben so viel zu verstehen, als Herr Thadden Trieglaf oder Herr von Bis¬
mark- Schönhausen.
Das ist der Standpunkt, von welchem ans Gervinus in der „Deutschen Zei¬
tung" seine Linien durch den anscheinend so verworrenen Knäuel unserer Geschichte
gezogen hat; er wollte durch die Erhebung des Königs von Preußen zum deutschen
Kaiser nicht nur das feudale Königthum zum Bürgerkönigthnm umwandeln, sondern
auch mit demselben Wurfe jene ökonomische Einheit herstellen, ohne deren Grund¬
lage alle übrigen Vereinigungen n»r Phrasen bleiben. Schon lange vor den März¬
tagen des vorigen Jahres lag in diesem Puncte sein Ziel; darum sein scharfer
Kampf gegen deu „vereinigten Landtag," sobald in demselben sich nicht mehr ent¬
wickelte als eine romantische Nococofeudalität, darum sein unermüdliches Rin¬
gen für die preußische Hegemonie. Daß Friedrich Wilhelm es gegenwärtig vor¬
zieht, der König seines Bauernadels zu sein, statt über eine mit ihren einzelnen
Bestandtheilen harmonisch ineinander greifende Nation zu herrschen, ist ein Geschick
Deutschlands, nicht ein Fehler in Gervinus Combination. Er wollte den ökonomischen
Zustand fixiren und befriedigen und dadurch deu über demselben entstandenen Kampf
der Menschen rasch beendigen, welcher anch in seinen Nachschwingnngen bald aus
gehört haben würde, wenn ihm das ursprüngliche Moveus entzogen war; das
Auge der Nation sollte dann nach Außen hin beschäftigt werden, denn sein letztes
politisches Ziel, vor weichem alle anderen Stufen dahin zum Mittel werden, ist,
Deutschland, als der geographische Mittelpunkt Europa's auch zum ökonomisch
Politischen Schwerpunkt dieses Erdtheils emporzuheben; und er muß auf dein Wege
dahin, wenn er seine Hebel überschaut, eben so nothgedrungen zu einem Zollkriege
des Continents gegen England kommen, wie im Anfange unseres Jahrhunderts
der Herzog von Gaeta. Der offne ausgesprochene Plan, das Parlament an die
Nordküste zu verlegen, um so den politischen und ökonomischen Angelpunkt auch
Physisch in einander fallen zu lassen, die Nation ans solche Weise durch ihren steten
Blick ans die See auch in ihrem Bewußtsein ans die Höhe zu erheben, wo man
über deu Dorfkirchthurm hinaus von seinem Vaterlande aus aus den gestimmten
Globus schaut, und von allen Theilen desselben die Linien auf sich zurückzieht,
läßt sein politisches Glaubcnsvclenntniß nicht verkennen. Nur hat er sich in der
Verfolgung desselben überstürzt; er bedachte nicht, daß man die immobil!« »mssn,
nur langsam nachzuziehen vermag; was in ihm klar und bestimmt ausgedacht lag,
sollte auch sogleich von der Nation begriffen sein; in der Ausführung seiner Ge¬
danken war er für einen Staatsmann viel zu hastig zu — nervös, weil er trotz¬
dem die Revolution nicht zum vollkommenen Ausbruch gedeihen lassen wollte. Und
in diesem Sinne gehört er zu den Girondisten unserer Zeit! Er stumpfte zu früh
seine Waffe ab, an der unempfindlichen Menge, welche, wenn er sie erst durch
Zug der Zustände hätte für seine Idee empfänglich und reif werden lassen,
das Nettende in derselben weit mehr gefühlt haben würde, und, wie gesagt, er
traute dabei zu viel dem gesunden, ehrlichen Sinn der -- Fürsten!
Schlosser hat im Laufe des Sommers einmal geäußert: „Gervinus geht
jetzt viel zu viel mit deu Diplomaten um und wird in seiner Ehrlichkeit gewiß
von ihnen betrogen. Denn um den Leuten die Stauge zu halten, muß man ge¬
rade so niederträchtig sein, wie sie." Und so war es auch. Seinen Plänen zu
^lebe vergaß er, daß das dieselben Preußen waren, denen er noch vor dem März
"is ein rother Republikaner erschienen; dieselben, die sein Blatt noch im Februar
hatten von Bnndestagswegen unterdrücken wollen. „Die „Deutsche Zeitung" war
°inige Male nahe daran, im besten Glauben, die Rolle der Oberpostamtszeitung
i>> spielen, wenn freilich Herr von Blittersdorf anch vergebens um Einlaß bei ihr
Zettelte, um seine Bundestagspolitik rein zu waschen.
Die obige Episode wird in der folgenden Entwickelung dem Leser zu Gute
^innen. Wir haben sie nicht etwa deswegen eingeschaltet, um den albernen Ver¬
acht zu entkräften, der während deö Sommers hie und da in der Presse auf,
suchte, als sei die „Deutsche Zeitung" von Preußen aus bestochen worden; son-
°tru einmal um Gervinus gegen den ihm oft gemachten Vorwurf des Doctrinä-
Nsmus zu vertheidigen, und andererseits seiue gesammte Anschauungsweise sestzu-
^lien, in welcher er kürzlich an die Heidelberger Universität kritisch hineingetreten
^- Von diesem nationalen Boden aus beurtheilter, wie es uns wenigstens scheint,
Menschen und Zustände. Wir Deutschen sind jedoch gar zu sehr Familienhocker,
um uns über dieselbe hinaus auf einen solchen allgemeinen Standpunkt zu stellen.
Weil bisher unser Blick auf das Haus beschränkt war, rücken wir um auch in
einer großen Zeit das Haus mit Allem, was darin hängt in die Politik hinein,
und bilden uns el», wenn Jemand ein guter Hausvater sei, so müsse er auch noth-
gedrungen in der Politik ein achtbarer Mensch sein. Die Weiber mit ihrem „Herzen"
machen bei uns viel zuviel mit in Politik; sie können es nicht begreifen, daß man
zum Wohle des Vaterlands im sittlichsten, edelsten Willen oft ein hartes, schnei¬
dendes Verdammungsurtheil aussprechen muß. Sobald ja etwas aus Deutschland
werden soll, kann man das häusliche Pantoffelregiment nicht grob genug ans der
Politik hinauswerfen. Wir werden in diesem Sinne in der Fortsetzung an die „be¬
rüchtigten" Artikel der „Deutschen Zeitung" über die Heidelberger Universitätszu¬
stände hervortreten. Uns kümmert nicht der Mann in seinen häuslichen Beziehungen,
uns kümmert nur der Mann auf dem öffentlichen Gebiete; hier allein haben wir
das Recht, ihn zu beurtheilen. —
Die Würfel sind gefallen. Die gleichzeitige Auflösung der Kammern in Ber¬
lin, Hannover, Dresden --München wird voraussichtlich in kürzester Frist folgen;
die gleichzeitige definitive Ablehnung der deutschen Reichsverfassung von Seiten
Preußens, Hannovers und Baierns sind ebensoviel Symptome, daß das König-
thum von Gottes Gnaden, der Egoismus der einzelnen fürstlichen Hoheit sich
enge verbindet hat zum Entscheidungskampfe gegen die Nation. In meinem letz¬
ten Briefe, wo die Monarchie das letzte Wort noch nicht gesprochen hatte, durfte
ich mich meiner Gemüthsaufregung überlassen; Hoffnungen, Wünsche, Befürchtun¬
gen haben von der letzten Stunde der Entscheidung noch Raum. Jetzt, wo der
Fehdehandschuh hingeworfen ist, gilt es, sich ernstlich zu rüsten, nicht in der Hitze
eines augenblicklichen Unwillens, sondern mit der Kälte des festen Entschlusses.
Der Feind ist der angreifende Theil; wenn wir ihm begegnen sollen, müssen
wir uns zunächst klar machen, was er vorhat.
Es ist kein Zweifel, daß die gleichzeitigen Kammer-Auflösungen auf einer ge¬
meinsamen Verabredung beruhe». Man hat erklärt, in Preußen sei der Entschluß
erst im letzten Augenblick gefaßt, als der Telegraph den Beschluß der deutsche»
Nationalversammlung nach Berlin brachte, durch welchen alle Regierungen ausge-
fordert wurde», ihren Völkern die Gelegenheit, sich durch die gemäßigten Organe
über die deutsche Angelegenheit auszusprechen, nicht zu entziehn. Die preußische
Bureaukratie hätte darauf geantwortet: „Just nicht!" — Man geht zwar ziem¬
lich sicher, wenn man diesem Gouvernement jedesmal die unvernünftigsten Motive
unterlegt, diesmal aber würde es doch deu Horizont des Begreiflicher überschrei¬
ten. Jener Beschluß der Paulskirche war unter allen, die in Frage kamen, der
gelindeste; er war namentlich sür Preußen so günstig, daß ihn nur eine so
gemäßigte Versammlung fassen konnte; er war endlich, was jene Auffor¬
derung betrifft, nicht gegen Preußen gerichtet, sondern gegen Baiern und
Hannover, wo durch die fortdauernde, dem Geist des constitutionellen Staats
widersprechende Vertagung der Kammern dem Volk jede Gelegenheit abgeschnitten
wurde, seinen Willen gesetzlich zu formuliren. Wenn eine äußerliche Thatsache auf
den Entschluß der Negierung eingewirkt hat, so sind es wohl die Vorgänge in
Würtemberg, wo der Eigenwille der königlichen Persönlichkeit dem Willen der von
den Ständen getragenen königlichen Regierung weichen mußte. Der König
hatte erklärt, er würde sich dem Hause Habsburg unterworfen haben, dem Hause
Hohenzollern aber unterwerfe er sich nicht, den» das sei gegen das Wohl des
Landes. Die Negierung und die Stände antworteten ihm: es ist nicht gegen das
Wohl des Landes, das müssen wir besser wissen. Darauf wurde das tel est iw-
U'e pliüsir als letzter Trumpf ausgespielt und verlor: ein bedenklicher Vorgang für
^salbte Häupter, wenn er auch seinem materiellen Inhalt nach dem Geschlecht der
Hohenzollern zu Gute kam. Der König will nicht gedrängt sein! Er wird er¬
messen u. s. w. Man kennt die Phrasen.
Die Motive, durch welche die preußische Regierung die Auflösung der Kam¬
mern begründet, sind folgende: Einmal seien von Seite der Opposition sehr sub¬
versive Theorien ausgesprochen. Die alte Doctrin des Absolutismus! er will nicht
u»r seinen Anhängern, sondern auch seinen Gegnern das, was sie sagen sollen,
^ den Mund lege», und eine Opposition, die andere Ausdrücke gebraucht, als
Hin bequem sind, erklärt er für mißliebig, er findet in ihren Angriffen einen frechen,
unehrerbietigem Tadel der bestehenden Landesgesetze, er verwundert sich über sie
^d weiß ihnen nicht zu antworten, wie der angehende Doctor, der sich auf ein
^isputatvrium nach der Schablone vorbereitet hat und nun durch eine Stegreiffrage
"us der Rolle gebracht wird. Wen» im Uebrigen seine Majorität in der Kammer
^iß wäre, schon eine Opposition von 10—12 Mitgliedern mit subversiven Theo-
würde ihn außer Fassung setzen, er würde die Kammer auflösen, um das
)w unbegreifliche Factum zu constatiren, daß Principien, die er gar nicht ve»
'^t, von einem Theil des Volks gebilligt werden können.
Das zweite Motiv ist die Fluctuation der Majorität. Mit einer Kammer,
°N der sich bei keiner Frage berechnen ließe, wohin die Entscheidung fallen würde,^r
könne man nicht regieren. Es ist das an sich ein richtiger Vorwurf, den wir
selber schon mehrfach erhoben haben; die Kammer hat eine grenzenlose Ungeschick¬
lichkeit erwiesen, Beschlüsse zu fassen. In solchen Fallen hat allerdings die Ne¬
gierung nur die Wahl, durch eine Auflösung der Kammer an's Volk zu appelliren
oder zurückzutreten. Man löst die Kammern auf, wenn man auf einen günstigern
Ausfall der neuen Wahlen rechnet. In diesem Fall hat die Regierung nur Einen
Umstand übersehen. Jene Fluctuation beruhte gar nicht darauf, daß ihre Anhän¬
ger und ihre Gegner sich ungefähr die Wage hielten, sondern darin, daß die
verschiedenen Fractionen ihrer Gegner aus Eisersucht gegen einander jedesmal
verschiedene Anträge stellten, die zwar das Gemeinsame enthielten: „Die Politik
des Ministeriums ist erbärmlich," aber dann noch irgend einen unerheblichen Zu¬
satz, z. B. „gelb ist eine schone Farbe," oder grau oder dergleichen. Wenn
sie nach den eben so leidenschaftlichen als durchdachten Angriffen, in denen Viu cke,
der Repräsentant, wenn auch nicht der Führer des rechten Centrums, ihr System
in seiner ganzen Kläglichkeit enthüllte, drehe Partei zu ihren Anhängern rechnen,
so überschreitet das beinahe das Gebiet des Möglichen.
Wie dem auch sei, das Ministerium hat jedenfalls das formale Recht, die
Kammer aufzulösen, auch wenn es in derselben eine überwiegende Majorität gegen
sich hat, sobald esHuur hofft, in den neuen Wahlen zu siegen. Nach der Kon¬
stitution vom 5. December, die dnrch Annahme von Seiten der Kammer rechts¬
kräftig geworden ist, müssen die neuen Wahlen in spätestens 40 Tagen beendet,
die neuen Kammern in »0 Tagen einberufen sein. Ob das Ministerium darauf
rechnet, daß sie conservativer ausfallen werden! Folgende Umstände sprechen da¬
gegen. Die äußerste Rechte hat mehrfach ausgesprochen, daß bei den Urwähler
an eine zweckmäßige Volksvertretung nicht zu denken sei; daß sie selbst ihre Wahl
lediglich dem Zufall verdanke. Man hat die Urwähler mit zu den Motiven
gerechnet, der deutschen Reichsverfassung die Zustimmung zu versagen. Die letzten
Wahlen gingen aus einer Stimmung des größern Theils der Nation hervor, no
jeden Preis einen geordneten Zustand und als Fundament desselben die Anerken¬
nung der octroyirten Verfassung zu erwerben. Diese Anerkennung ist jetzt aber
ausgesprochen und es treten andere Bedürfnisse in den Vordergrund, die bereits
factisch einen großen Theil der rechten Seite bewogen haben, mit der Opposition
zu stimmen. Die Hoffnung des Ministeriums auf einen conservativen Ausfall der
neuen Wahlen wäre also wenigstens eine Illusion; daß dieselbe aber gar nicht eM
wesentlicher Bestimmungsgrund der Kammerauflösung war, zeigt das dritte, das
wichtigste und gefährlichste Motiv. Es wird mit dürren Worten gesagt, die KaM'
mer habe ihre Kompetenz mehrfach überschritten, und zwar namentlich in zwe
Fällen, bei dem Antrag auf Aufhebung des Belagerungsznstandes in Berlin »no
bei der Anerkennung der deutschen Reichsverfassung. Es ist also evident, daß
die Regierung die Möglichkeit, daß von den neuen Kammern ähnliche BeschlW
ausgehn, in Erwägung gezogen und für diesen Fall eine neue Auflösung in Aus¬
sicht gestellt hat, und so in'S Unendliche fort.
Wir wollen zunächst jene beiden Fälle ins Auge fassen. Der erste ist ganz
unzweifelhaft. Der Belagerungszustand darf nur mit Genehmigung der Kammern
aufrecht gehalten werden; in Folge dieses unbestrittenen Grundsatzes legt die Re¬
gierung der Kammer ihre Motive vor und verlangt theils eine JndemnitätSbill
über die frühere Verhängung des BelageruugszustaudeS, theils eine Erlaubniß
zur vorläufigen Fortdauer desselben, bis durch anderweitige Gesetze den Gefahren,
welche die Auflösung mit sich führte, vorgebeugt sein würde. Die Kammer erklärt
die Motive für ungenügend; sie hat die Mäßigung, das Gouvernement nicht, wie
es ihr zustand, wegen der Vergangenheit in Anklagestand zu setzen, in Anbetracht
der eigenthümlichen Verhältnisse, für welche der Rcchtöpunkt schwer aufzufinden
wäre; sie setzt aber voraus, daß nunmehr diese Beschränkung der constitutionellen
Freiheit nothwendig wegfallen müsse, und hält es, einem Ministerium gegenüber,
das noch neu in constitutionellen Dingen ist, für nöthig, diese Voraussetzung be¬
stimmt auszusprechen, also dasselbe aufzufordern, den Belagerungszustand sofort
aufzuheben: eine Voraussetzung, die sich eigentlich von selbst versteht, da derselbe
rechtlich nur mit Genehmigung der Kammern möglich ist, da seine Rechtsgiltigkcit
also augenblicklich wegfällt, sobald diese Genehmigung versagt wird. Wenn nun
das Ministerium erklärt, zu einer Einmischung in Verwaltungsangelegenheiten (die
Beschränkung der Freiheit eine Verwaltungsaugclegeuheit!) sei die Kammer uicht
competent, so läßt es sich dadurch von einer Reminiscenz an vergangene Zustände
verleiten, die in keiner Weise mehr paßt. Damals hatte man es mit einer con-
stituirenden Versammlung zu thun, d. h. mit einem Staatskörper, dessen ein¬
zige Aufgabe die Feststellung der Verfassung war, soweit ihm nicht ständische Be¬
fugnisse ausdrücklich übertragen waren; jetzt aber leben wir in einem constitutionellen
Staat, und die Kammer hat das Recht, jede Handlung der Regierung vor ihr
Forum zu zieh», und namentlich bei Schritten, die eine Verletzung der Constitution
enthalten oder darauf ausgehn, die augenblickliche Zurücknahme zu fordern. Sonst
wäre ja die Regierung uicht constitutionell, soudern absolut; sie ließe die Stände
Gesetze geben, welche sie wollte und handelte dann uach Gutdünken.
Der zweite Punkt, in welchem die Negierung eine Überschreitung der stän¬
dischen Competenz zu erkläre» glaubt, ist die Anerkennung der Reichsvcrfassmig
von Seite der zweiten Kammer. Ich habe schon früher auseinandergesetzt, !>iß
die deutsche Angelegenheit eine Lebensfrage Preußens ist und daß es der Regie¬
rung nicht freistand, in derselben irgend einen entscheidenden Schritt zu UM,,
ohne die Zustimmung der Vertreter des deutschen Volks. Die Ansicht derselben
hatte sich in beiden Kammern, durch mehrere auf einander folgende Adressen, auf
d«s Unzweideutigste kundgethan. Ich gebe zu, daß eine fehlerhafte Taktik der
Parteien, eine gewisse Unbestimmtheit in dem, was man eigentlich erreichen wollte,
es der Regierung erleichtert hat, die zweideutige Politik, die sie namentlich ihren
Anhängern in Frankfurt gegenüber getrieben, weiter fortzuführen. Es kam hin¬
zu, daß es damals den Anschein hatte, als ob die verfassungsmäßigen Gewalten
der deutschen Königreiche sich gegen das Gagernsche Programm aussprächen. Mit
der definitiven Feststellung der Verfassung aber und mit dem Eindruck, deu die
Aufnahme derselben von Seiten des Königs in Deutschland erregte, änderte sich
die Sache. Die Volksrepräsentanten der gesammten deutschen Staaten erklärten
ihren Willen, die von der deutschen Nationalversammlung entworfene Verfassung
für rechtsgiltig zu erachten — ob sie es auch ohne diese Zustimmung war, ist
eine ebenso zweifelhafte und unerhebliche Frage, als bei der Konstitution, welche
Manteuffel und Genossen dem preußischen Staat octroyirt haben. Als die soge¬
nannte Rechtspartei in der Paulskirche, von Vinke geleitet, gegen deu Anspruch
der Nationalversammlung, ausschließlich über die deutsche Verfassung entscheiden zu
wollen, Protest einlegte und den Regierungen der einzelnen Staaten das Recht
vindicirte, ihre Stimme dabei abzugeben, so meinte sie damit die constitutio-
nellen Regierungen d. h. die aus der Majorität der Volksvertretungen hervor-
gegangenen Ministerien. Die reinen Royalisten aber verstehn nnter Negierung nichts
anders, als die Person der Gesalbten und es ist eine Inconsequenz, die lediglich
aus der Kürze und Ungewohntheit ihrer neuen Herrschaft zu erklären ist, wenn
sie nicht auch für sämmtliche Agnaten der regierenden Fürsten das Recht in An¬
spruch nehmen, durch ihr Veto die deutsche Verfassung aufzuheben, wie es ja im
Jahr 1838 mit der hannöverschen Verfassung der Fall gewesen ist. Gegen diese
Partei von Gottes Gnaden ist mit Gründen nicht zu streiten, denn sie bewegen
sich in dem transcendenter Gebiet des unmittelbaren göttlichen Einflusses, gegen
sie gelten andere Waffen. Wer sich dagegen an das constitutionelle Princip hält,
wird nicht in Abrede stellen können, daß die preußische Regierung die Verpflich¬
tung hatte, ihren definitiven Entschluß in Beziehung auf die deutsche Angelegen¬
heit den Kammern zur Begutachtung, resp. Genehmigung vorzulegen, daß daher,
als die Regierung diese constitutionelle Pflicht versäumte und im Gegentheil an¬
deutete, sie werde sich „niemals, niemals, niemals!" von den Fluchen der Volks-
meinung treiben lassen, die Kammern vollständig in ihrem Rechte waren, ihre Auf¬
fassung der Frage durch einen bestimmten Beschluß zu formuliren. Wenn dagegen
die Regierung, gleich nachdem sie die Kammer aufgelöst, ihre definitive Erklärung
an Frankfurt abgab, worin sie erstens die Reichsverfassung, zweitens die auf
Grund derselben dem König vou Preußen übertragene Kaiserkrone ablehnte, so
ließe sich allenfalls über die Berechtigung des letzteren streiten, da hier eine be¬
stimmte Persönlichkeit in Betracht zu kommen scheint; ich sage scheint, denn ge¬
setzt, Friedrich Wilden IV. wäre der Ueberzeugung, er könne die dem König von
Preußen übertragene Kaiserkrone nicht annehmen und gesetzt, der preußische Staat
wäre der Ueberzeugung, daß sein König die deutsche Kaiserkrone tragen müsse, so
wäre die Lösung wie mich dünkt, eine sehr einfache und man dürfte nur an daS
jüngste Beispiel in Oestreich erinnern, wo anch das fragliche Verhältniß des Kai¬
sers zum König von Ungarn zu einem Thronwechsel Veranlassung gegeben hat. In¬
dessen es ließe sich, wie gesagt, über diesen Punkt streiten; nicht so über den
ersten. Die preußische Regierung hatte nicht das Recht, ohne Zuziehung der
Volksvertreter und gegen den deutlich ausgesprochenen Willen derselben die deut¬
sche Reichsverfassung für ungillig zu «Mären und es ist also nicht die Kammer,
sondern das Gouvernement ist es, welches den Boden des Rechts verlassen hat.
Um die Ansicht, welche unsere Regierungen von dem Repräsentativstem ha¬
ben, schärfer aufzufassen, muß man die Motiven, welche bei den übrigen Kam¬
merauflösungen vorangestellt siud, in Vergleichung ziehn. Die hannöversche Re¬
gierung ist stets offner, d. h. brutaler gewesen, als die preußische, sie ist es auch
jetzt. Die Ordonnanz, in welcher der König von Hannover die Kammer auflöst,
gibt ausdrücklich als Hauptgrund dieses Schrittes an, daß sich in der Kammer
eine Partei gebildet habe, welche in der deutschen Frage eine bestimmte Haltung
einnehme, welche der Ansicht der Regierung entgegengesetzt sei. Ich bezweifle,
ob je ein officielles Actenstück der Regierung die Naivität weiter getrieben hat.
In Preußen moquirt mau sich darüber, daß durch einige Schwankende der Aus¬
schlag bald nach dieser bald nach jener Seite gegeben werde, in Hannover ist
Man darüber entrüstet, daß ein solches Schwanken uicht stattfinde» solle. Die
sächsische Regierung, die sich immer in gesetzlicheren Formen hält, motivirt die
Kammerauflösuug durch die spärliche Alt, wie die Volksvertreter ihr die Steuern
Zumessen, um sie fortwährend in Abhängigkeit zu halten, was dech unzweifelhaft
ein constitntionelles Recht derselben ist, und das einzige Mittel, aus die Regierung
einen wirklichen Einfluß auszuüben. Ich muß übrigens gestehn, daß, wenn die
süchMe Kammerauflösung allein stünde, ich auf Seite der Regierung treten würde,
^nur ich auch über die Zweckmäßigkeit ihres Verfahrens anderer Meinung wäre;
^ diesem Zusammenhang aber setzt sich auch die sächsische Regierung dem Verdacht
^us, dem Bunde der Fürsten gegen die Nation beigetreten zu sei».
Ueberhaupt hat in Preußen die Kammcrauflösuug eine ganz andere Bedeutung
in den übrigen Staaten. In diesen kleinen politischen Gebäuden vou höchst
beschränktem Gesichtskreis hatte eine einzige Partei die Wahlen gelenkt, und die
Gläubigen den Schriftgelehrten vorgezogen. Die Kollisionen dieser kleinen Kam¬
mern mit den Regierungen machten einen höchst peinlichen Eindruck, denn mau
^unde es sich nicht ableugne», daß die Einsicht und anch zum Theil der gute
^ille bei Weitem mehr auf Seite der letztem war. In Preußen war das anders.
^ wäre» in deu Kammern sämmtliche politischen Standpunkte auf das Würdigste
vertrete», und man kann sagen, daß sie die Blüthe der Nation darstellten, so gut
Und so schlecht diese nnn sein mag. Ihnen gegenüber spielte die Regierung eine
^gliche Rollenden» sie vertrat eine schlechte Sache und noch dazu ohne alles
Geschick. Die Auflösung erschien also hier um so mehr als ein Act roher Gewalt.
Endlich repräsentirt jede andere Kammer doch nur einen sehr geringen Bruchtheil
der deutschen Nation; in Preußen handelt es sich aber um einen Staat und um
ein Volk, in dem auch intensiv die eigentliche Macht Deutschlands ruht.
Alles dies zusammeugrnvmmen, fallen die Kammerauflösungen unter zwei Ge¬
sichtspunkte. Einmal wollen die Regierungen zwei Monate frei haben, um 1) ihre
militärischen Maßregeln zur Beruhigung des Volks ungestört fortsetzen zu können,
um 2) dem Versuch, von Seiten der Nation ans die Reichsverfassung zu begrün¬
den, nach Belieben ein Ende zu machen, um endlich 3) die dänische Frage ohne
ständische Dazwischenkunft zu erledigen. Ob gegen die Frankfurter Nationalver¬
sammlung ein Gewaltschritt im Werke ist, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt wer¬
den, es wird das theils von dem Verhalten der Paulskirche, theils von den Er¬
folgen der östreichisch - russischen Waffen in Ungarn abhängen. Daß die Fäden
des fürstlichen Einverständnisses in Olmütz und weiterhin in Se. Petersburg zu¬
sammenlaufen, kann nicht länger in Zweifel gestellt werden. Hat man doch in
Berlin das bisherige Organ der preußisch - deutschen Partei, die deutsche Reform,
dem östreichischen Gesandten, der bei der Bekehrung des Potsdamer Hofes die
thätigste Rolle gespielt hat, Ritter v. Prokesch-Osten verkauft, und läßt also
das eigentliche Blatt der ministeriellen Partei durch einen Diplomaten aus der
Schule Metternichts iuflueuziren. Auch darüber ist kein Zweifel, daß die Fürsten
vollkommen geneigt wären, das deutsche Volk mit einer octroyirten Charte zu be¬
schenken, wenn nur uuter ihnen selbst über diesen Punkt eine Vereinbarung so
leicht wäre. Am liebsten würde man, da man eigentlich in Oestreich wie in Preußen,
höchst uuproductiv ist, da man eigentlich beiderseits nicht weiß, was man will, die
Sacke ruhig gehen lassen, nur mit Unterdrückung aller Parlamente, wenn nicht
die dänische Frage vorläge, wenn nicht für das Reich, in dessen Namen doch bis
dahin der Krieg geführt worden ist, eine Vertretung gefunden werden müßte, die
eine internationale Bedeutung haben muß. So ist der dänische Krieg, so ver¬
kehrt er an sich ist, für die deutsche Sache der letzte Rettungsanker. Gibt sich
Preußen zum zweiten Mal dazu her, uuter den vorwaltenden Umständen einen
schimpflichen Separatfrieden zu schließen, so hat seine letzte Stunde geschlagen.
Der zweite Gesichtspunkt ist nun der. Was soll nach deu zwei Monaten ge¬
schehen, innerhalb welcher die Kammern wieder einberufen werden müssen? Vor¬
aussichtlich wird man innerhalb dieser Frist so viel Sünden an der Nation begehe«,
daß dann eine Volksvertretung der Krone gegenüberstelln wird, erbitterter und
feindseliger als zu den Zeiten der französische« Revolution. Wenn man sich auch
bis jetzt noch nicht den Gedanken klar gemacht hat, so wird man unbedii-igt dar¬
auf hingedrängt werden müssen, dieser Verantwortlichkeit dnrch einen neuen An¬
griff in die Verfassung zu entgehen. Ich glaube gern, daß das Ministerium Bran¬
denburg verblendet genug ist, sich diese Consequenz nicht klar zu machen, und
ehrlich genug, sich ihm, wenn es dazu kommt, zu entziehn. Aber ist es erst so
weit, so wird der Hof schon andere Werkzeuge finden. Die absolute Rechtlosigkeit
wäre dadurch proklamirt und damit die Revolution.
Es fragt sich nun, wie können wir diesem Aeußersten entgehen? Wir, die
constitutionelle Partei, die bis zum März vorigen Jahres in den einzelnen Staaten
die Opposition bildeten, die wir vom März bis zum September an der Spitze
der liberalen Partei das neue Reich zu gründen suchten, und seit dem September
durch die Gefahren des Radikalismus zu einem Bund mit den Regierungen und
der alten dynastische» Partei gedrängt wurden?
Wir haben uns zunächst klar zu mache», daß dieser Bund lediglich der Noth
des Augenblicks entsprang und daher ein vorübergehender sein mußte; daß unsere
Ansicht von der Monarchie in allen Punkten der Doctrin des historischen Rechts
diametral entgegengesetzt ist. Hätte die preußische Negierung den Muth gehabt,
deu Traditionen des großen Friedrich zu folgen, und mit einem großen Entschluß
durch einen Bund mit der Nation dem Militär- und Diplomatenregiment Alt-
Oestreichs einerseits, der verrottete» Kleinstaaterei andrerseits gegenüberzutreten,
so hätte es keine eifrigem Royalisten gegeben als uus. Wir gaben Preußen das
Schwert des Reichs in die Hände; es war zu furchtsam und zu befangen in seiner
alten Convenienz, um es zu ergreifen. So müssen wir denn unsern Weg gehen
ohne Preußen. Wir waren monarchisch, absolutistisch, wenn man will, in dem Sinn,
daß wir für Deutschland eine mächtige Centralisation, daß wir eine kräftige Unter¬
drückung der Souderbüudlerei, der sogenannten Stammesunterschiede der Hechinger
und Lippe-Detmolder Nationen für nothwendig erachteten; aber nicht in dem Sinn
Monarchisch, wie die Hofjunker, Hofscifensieder, Kammerdiener und Maitressen unserer
Duodczresidcnzcn, die als ein Recht von Gottes Gnaden die Fortdauer ihrer fau¬
len Zustände vertheidigen, Zustände, welche die deutsche Nation vor Europa mit
Schande und Schmach bedeckt haben. Wir wollen das Königthum, das Kaiserthum,
Um an diesen Angelpunkt die constitutionelle Krystallisation des Volks zu knüpfen;
wir wollen das Königthum nicht, wenn es sich dieser nothwendigen Ent-vicklung
widersetzt. Wir waren für Preußen, weil wir in ihm den mächtigen Kriegerstaat
sahen, der das Banner der neuen Zeit siegreich den Barbaren des Ostens entgegen
tragen würde; wir sind gegen den Staat, der sich zum Trabanten der Baschkiren
und Kroaten hergibt.
Auf der andern Seite müssen wir uns klar machen, daß unter unsern bis¬
herigen Gegnern, den Radikalen, ein großer Theil durch die Schule der Erfah¬
rung geläutert ist und von uus eigentlich nur uoch durch die Traditionen des
vorigen Jahres getrennt wird. Mit diesen uns verbinden, kann gegen unser
Princip nicht streiten, es liegt aber auch in ihrem Interesse, denn lassen wir die
Dinge weiter gehen, wie sie gehen, so ist in kurzer Zeit nur noch von dem reinen
Gegensatz die Rede zwscheu rother Monarchie und rother Republik, zwischen Win«
dischgrätz und Hecker. Ein großer Theil unserer Partei scheut sich vor einer ener¬
gischen Opposition gegen das Gouvernement, obgleich es dasselbe ebenso mißbilligt
als wir, in diesem 'Augenblicke, wo die sociale Frage hereindroht. Er fürchtet in
jedem neuen Kampf eine neue Stockung der Geschäfte, neuen Nothstand, neues
Elend, — zuletzt Krieg der Besitzlosen gegen den Besitzende». Ein Bedenken von
der höchsten Wichtigkeit, welches aber durch die einfache Reflexion gehoben wird,
daß in einer schnellen nud energischen Opposition der gescnumten liberalen Par¬
tei und den schnellen Sieg über die Willkür der Höfe das einzige Mittel gegeben
ist, jenen blutigen Kampf zu vermeiden, der sonst unvermeidlich hereinbrechen muß.
Das einzige Organ unserer Partei — der Partei der gesetzlichen Freiheit —
ist für jetzt die Nationalversammlung zu Frankfurt. Wir hoffen, daß sie mit der
unglaublichen Mäßigung und Besonnenheit, die sie bis jetzt bewährt hat, im ent¬
scheidenden Augenblick auch die Kraft und Energie verbinden wird, ohne welche
jene Eigenschaften keine Berechtigung h«ben. Ihr zur Seite stehen die Staaten
von Würtemberg, Baden, beiden Hessen und sämmtliche kleine Staaten, stehen die
ständischen Erklärungen von Preußen und Sachsen, steht endlich d e gesammte
Nation. Sie hat über keine militärischen Mittel zu disponiren, aber d'le Noth¬
wendigkeit der Verhältnisse ist sür sie. Bleiben die Regierungen auf constitutio-
nellen Boden, d. h., schreiben sie nach der Aufforderung der Paulskirche
augenblicklich die neuen Wahlen ans, und berufen die daraus hervorgegangenen
Kammern, dann ist die weitere Entwickelung euifach und organisch. Bis dahin
haben alle Korporationen, dle städtischen Behörden, die Bürgerwehren, laut ihre
Stimme zu erliebeu zu Gunsten der deutscheu Sache, zu Gunsten der Freiheit.
Je schneller und energischer das geschieht, je weniger wird die Regierung versucht
werden, ihre letzte Karte auszuspielen.
Sollte es aber dennoch geschehen; sollten die Mäuner der Gewalt es wagen,
ihre Hand an das Palladium der deutschen Nation zu legen; es wagen, die
Grundlage der gesetzlichen Freiheit in den einzelnen Staaten ebenso zu unterwüh¬
len, als die des Reichs; sollten sie, wie das tief gesunkne Oestreich, den Russen
gegen ihren eignen Mitbürger zu Hilfe rufen — dann ist unsere Partei, die Par¬
tei der Vermülcliuig, aufgelöst, und der Fluch der Ereignisse, die daun unver¬
meidlich sind, möge ans das Haupt derer fallen, die sie heraufbeschwöre» habe».
Nachschrift. Jeder Tag bringt sei» Neues. Preußen hat also an dem¬
selben Tage, wo seine Ablehnung nach Frankfurt gesandt wurde, die Fürsten auf¬
gefordert, in einem berliner Congreß die Verfassung zu berathen, die dem deutsche»
Volk vctrvyirt werde» soll; es' hat gegen jede Widersetzlichkeit der Unterthanen
kräftigen militärischen Schutz verheißen. Es wird falsch gerechnet haben, die 30
Regierungen werbe» nicht in einen preußischen Sonderbund eintreten, sie werden
halten, was sie dem Parlament gelobt; die vier Königreiche, welche nur darum,
weil Preußen an die Spitze gestellt werden sollte, der Verfassung
ihre Anerkennung versagten, werden jetzt sich freudig ihr anschließen. ^-
Ferner spricht die „Deutsche Reform," das Organ des Hofes, es aus, nach dem bis¬
herigen Wahlgesetz dürfe in Preußen nicht wieder gewählt werden. Also geht das
Ministerium iii der That damit um, die von ihm selber octroyirte Verfassung will¬
kürlich wieder aufzuheben; es proclamirt den Zustand der Willkür und Rechtlosigkeit.
Diesmal wird die Rechte — welche die Verfassung anerkannt hat — mit derLinken einig
sein, daß von einer Wahl nach dem neuen Modus nicht die Rede sein könne.
Seit der Zerstörung Jerusalems haben die Juden, wie bekannt, sehr viel
Geld gewonnen und sehr viel Courage verloren. Vou dem gerühmten Todes-
»tttthe des alten israelitischen Volkes bei der Vertheidigung ihrer Mauern und
ihres Tempels hatte die jüngere Generation Capital sammt Zinsen verzehrt, und
ihre Feigheit einer nackten Klinge gegenüber „die um Gotteswillen losschießen
könnte," mußte nothwendig viel zur Erniedrigung dieses unglückseligen Volkes
beitragen.
Seit dem großen Revolutionsjahre 1848 haben die Juden, wie bekannt, sehr
^ick Geld verloren und sehr viel Courage gewonnen. Dieses Jahr 1848,
diese Thürangel in der Historie, um welche sich die Geschichte der europäischen
Völker mit einem kreischenden Ruck gedreht und ihre eisenbeschlagene Eichenseite
^n Machthabern zugewendet hat, scheint somit auch einen Wendepunkt in der
Geschichte des Jude» abgeben zu wollen. Aus deu kriechenden Feiglingen hat die
öffentliche Meinung plötzlich die furchtbarsten Wühler gemacht, ein Avancement,
allerdings über sich hinaufgelaufen ist, aber doch — ein Avancement!
Die ungarischen Juden standen zu ihren Glaubensgenossen in den übrigen
Provinzen der Monarchie von jeher in demselben Verhältnisse, wie Ungarn über-
^upt zu den andern Kronländern. Das freie Naturleben des Volkes hatte sich
^'es im Charakter des Juden abgespiegelt, er war weniger gedrückt als sein
Glaubensgenosse in Böhmen, Mähren und Galizien, darum ist er auch weniger
^ge, weniger kriechend, und die Vaterlandsliebe, welche der kaum emanzipirte
Auve in Deutschland noch als Eierschale ans dem Kopfe trägt, läuft bei den
^uden in Ungarn schon lange als ausgewachsenes Huhu herum. Die reichen Juden
^dren übrigens mit vier Pferden und einem Husarenbedienten auf dem Kutschbock
^'le der erste Edelmann, dagegen sagt mancher arme Schelm unter ihnen ganz
bie sein katholischer Nachbar im Walde: „Hob' ich ehrlich' Auskommen, bin
^ Räuber." Sie siud alle gute Magyaren geworden und haben die Landes-
brache lieb gewonnen, so daß ich zu meinem Erstaunen in ungarischen Dörfern
°se kleine Judenjungen traf, die gut magyarisch sprachen, aber vom deutschen keine
^
Ahnung hatten, während es eine ausgemachte Erfahrungssache ist, daß man in
den übrigen Ländern Europa's, Frankreich und England nicht ausgenommen, nur
sehr selten einen Hebräer findet, der nicht den jüdisch-deutschen Jargon spricht
oder doch versteht. Auffallend ist es ferner, daß in allen zu Ungarn gehörigen
Kronländern in Slavonien und Kroatien, in der Militärgrenze wie in der Slo-
vcikei die Juden sich ohne Ausnahme dem Magyarismns zuneigen, das Deutsch-
thum gern verläugnen und dem Slaventhum immer abhold blieben. Der Sla¬
vismus war im Allgemeinen bisher nicht glücklich im Proselytenmacher, eS darf
daher nicht sehr wundern, daß er anch den Juden nicht mundete. Das Deutschthum
aber, wie es in den k. k. Freistädter Ungarns durch den deutschen Städtebürger
repräsentirt wird, konnte — wir müssen es mit Leidwesen eingestehen — dem
Juden unmöglich viel Zutrauen abgewinnen.
„Der Magyare," sagt Adolph Neustadt in seinen dem neuen Preßgesetze leider
zum Opfer gefallenen politschen Briefen, „ist großherzig, der deutsche Bürger
engherzig. Kein Magyare hat seinen Namen deutsch umgetauft, während Hunderte,
ja tausende Deutsche ihre Bittgesuche einreichten, um die Namen ihrer Väter ab¬
zulegen und sie magyarisircn zu dürfen. Deutsche Magyaren gibt es in Unzahl.
Sollten die Ungarn im Reichstage der Monarchie ihre Plätze einnehmen, so wird
man nach der ersten Stunde erkennen, welcher Seite die beiden Parteien an¬
gehören. Die Magyaren werden links, die Deutschen im Centrum ihre Plätze
wählen, rechts wird kein einziger Ungar sitzen, außerdem es gelingt,
einem slovatischen Prediger gewählt zu werden. Selbst die Magnaten ge¬
hören zur liberalen Partei, während der Schuster aus der Stadt sich der
Reaction anschließt. Der Deutsche in Ungarn hat keinen nationalen Eifer, keine
nationale Tendenz, er bestrebt sich blos um Rechte; der Magyare steckt ganz
und starr in seiner Nationalität, sein Gott ist magyarisch, sein Himmel ist magya¬
risch, Adam trug ungarische Schnürhosen, sein ganzes Bestreben aber ist: Freiheit.
Der Deutsche will die Freiheit als Ausnahme, der Magyare als Regel. Bei
Berathung der Grundrechte wären die Deutschen Ungarns ein Bleigewicht, die
Magyaren Luftballons u. f. w."
Neustadt's Urtheil ist hart, aber darum nicht minder wahr. Ju dieser Wahr¬
heit ist der Grund zu suchen, warum die Juden von jeher lieber mit den Ma¬
gyaren als mit den Deutschen sraternisirten. Denken wir dann noch an die letzten
Judenverfolgungen vom vorigen Jahr in Preßburg und Tyrnau durch deutsche
Städtebürger — in magyarisch en Ortschaften ist ähnliches nie vorgekommen--
daß ferner der ungarische Reichstag durch Kossuth's Motive schon vor dem März
die faktische Emanzipation der Juden ausgesprochen hatte, so werden wir es er¬
klärlich finden, daß die Juden Ungarns sämmtlich begeisterte Freunde Kossuth's
und des Magyarenthums sind.
Nach dieser zum Verständniß des folgenden nothwendigen Einleitung wenden
wir uns wieder zu den beiden kriegführenden Mächten.
Das Ministerium Stadion - Schwarzenberg, welches, da es einmal nicht po¬
pulär werdeu kann, sich gerne das „starke" schimpfen läßt, hatte es nicht nöthig,
für Ungarn Rnthcnen zu erfinden. Die Magyaren hatten an den Wallachen,
Slovaken, Serben und Kroaten Feinde in beliebiger Auswahl, und wenn sie
bisher im stolzen Uebermuthe sich für die alleinigen Herren des 4000 Quadrat-
Meilen großen Gartens gehalten hatten, in welchem die Pferde wild wuchsen und
die Tabaksstaude, und als dessen Cactusumzännnng die slavischen Stämme figu-
rirten, so hatte diese ihre Stacheln doch eben so wohl nach innen wie nach außen.
Das Ministerium Wesseuberg und das jetzige hatten als freundliche Gärtner nichts
besseres zu thun, als die Umzäunung sorgfältig zu begießen, sie groß zu ziehen
und nach einwärts zu rücken. Sie versprachen den Feinden der Magyaren alles
was sich deren Phantasie nur träumen lassen wollte, sie caresstrten die Slovaken
und die Serben und die Numainen, sie caresstrten den Baums und den Wojwvdcn
geheim und öffentlich, kurz sie buhlten um die Freundschaft dieser Mäuner, und
vergaßen dabei an die mächtigste der Nationen, die nie ungestraft vergessen wer¬
den darf, weil sie sich selber nie vergißt — sie unterließen es, sich die Juden zu
befreunden, die allem von dem „großen, freien, einigen Oestreich" nichts zu er¬
warten hatten, weil sie durch deu ungarischen Reichstag schon emancipirt waren.
Ja, Fürst Windischgrätz that noch weit schlimmeres, er machte sich die Juden
Zu Feinden. Während andere Lieferanten und Helfershelfer Kossuth's einfach
und Pulver und Blei abgethan worden waren, wurde den Judengemeinden, denen
ein solcher Verräther — -Ula« Patriot — angehörte, das bei der Exekution ver¬
puffte Schicßmaterial noch extra mit 20,000 Fi. C.-M. berechnet. Die Gemeinde
tollte hasten für jeden ans ihrer Mitte, daß er kein Leder oder Tuch schmuggle
Nach Debreczin; der Vater mußte zum Strick beisteuern, mit dem sein Sohn ge¬
hängt werden sollte, und fand es doch so natürlich, daß sein schaust Leder für
Kossuth liefere und dabei seinen Profit hatte i» diesen ledig schlechten Zeiten.--
Die immensen Strafgelder blieben nicht ohne alle Wirkung. Die Ge¬
meinden sahen die Unmöglichkeit ein, ihre einzelnen Mitglieder zu überwachen,
darum gingen sie den sicherern Weg und schmuggelten als Korporation, wo
das Erwischtwerdeu schwerer ist. Während schaust und Mosche mit ihren christ¬
lichen Nachbaren Lajos und Ferencz in den ersten Reihen der Magyaren tapfer
fochten, bildeten die dahcimgebliebenen Graubärte die Mittelglieder jenes unge¬
heuren Telegraphennetzes, welches sich von Wien bis Debreczin und von Arad
bis Kommorn ausdehnte. Ihre weitverzweigten Handelsgeschäfte, Korrespondenten
und Bekanntschaften kamen ihnen dabei vortrefflich zu statten. Was half's, daß
man den Knoten des Briefgeheimnisses mit dem Säbel entzweihieb? Der Inhalt war
immer unschuldig und unverfänglich wie die Augsburger Allgemeine. So schreibt
z. B. ein ehrenwerther Graubart aus Waitzen an seinen Geschäftsfreund in Ke-
reßtur: „Reb Amschel geht mit 14 Kisten schwerer Waare morgen zu euch auf
den Jahrmarkt. Thu' alles was in deinen Kräften steht, damit ihm unsere Freunde
seine Waare abnehmen." — „Verfluchtes Judenpack!" höre ich den Offizier in der
Canzlei seines Chefs sagen, „das mitten im blutigsten Kriegsgetümmel noch an
seine lumpige Waare denkt." — Der Geschäftsfreund aber weiß jetzt, daß Reb
Amschel (die jüdische Uebersetzung von Alfred, dem Taufnamen des Fürsten) 14
Stück schweres Geschütz mit gehöriger Bedeckung gegen Kcreßtnr beordert, und
hat sofort nichts Eiligeres zu thun, als die guten Geschäftsfreunde, die Husaren,
die zufällig an der Theiß spazieren reiten, davon zu benachrichtigen. Ist das
dann ein Balgen und Raufen um die schwere Waare! — Nach zwei Tagen schreibt
der Geschäftsfreund aus Kereßtur dem Vetter nach Waitzen zurück: „Reh Amschel
ist glücklich hier angekommen und hat brillante Massematten (Geschäfte) gemacht.
Er hat alle seine Kisten bis auf zwei abgesetzt."
Da hätten Sie denn ein Formular eines magyarisch-jüdischen Siegesbnlletins,
das in wenig Tagen seine Runde durchs ganze Land macht. Ist es auch nicht
besser deutsch geschrieben, wie eines von den 3« Armeebulletins, mit welchen
Melden die Rebellen vernichtet hat, so denken Sie: Gott sieht auf's Herz und
nicht auf den Styl. Die Ungarn haben das Herz, und Melde» — den Styl.
Doch ich sprach von einem Telegraphennctze! — Ein deutscher Gelehrter,
welcher diese wunderbar ungelehrte Abhandlung über die neueste Geschichte Ungarns
in einem Winkel des Leipziger Museums liest, rutscht auf seinem Sessel hin und
her und beginnt an seiner eigenen Gelehrsamkeit zu zweifeln, denn so viel er auch
studirt — von ungarischen Telegraphen hat er nie gehört und nun gar ein T e le-
grapheunetz, ein ungeheures Netz! — Ein deutscher Gelehrter aber, der
an seiner Gründlichkeit zweifeln muß, ist ein Minister; der zweifelt, ob er ein
Schurke oder bloßer Lump sein soll, ist ein Ruthene; der zweifelt, ob er nicht
am Ende doch nnr ein Pole ist, ist der König von Preußen, der in Zweifel ist,
ob er denn doch „aufgehn" soll, kurz er ist einer der unglücklichsten Menschen der
Schöpfung. Dem Manne muß geholfen werden! —
Trösten Sie sich mein Freund im Leipziger Museo. Es gibt keine Tele-
gaphen und gab keine Telegraphen im freien Lande Ungarn, das da grenzt
an das starke einige Oestreich noch hente und an das starke einige Deutschland
mit Nächstem. Es gibt da keine Balken- und keine Räder- und keine Fcnerwerks-
apparate auf den Höfen, keine Kupferdrathe und elektrischen Batterien in der
Ebene und dennoch hatte Kossutl) seine Telegraphen.
Werfen Sie mit mir gefälligst einen Blick nach Ofen auf die Generalwiese.
Dort herrscht ein buntes Gewimmel. Offiziere sprengen ab und zu, Marketende¬
rinnen packen ihren Kram, die Brückenequipage wird bespannt, die Trommel und
die Trompete schallt. Die Pferde wiehern, das Riemzeug knarrt, Tornister wer¬
den geschnallt, Kanonen rücken vor in Marschordnung, die Kolonnen setzen sich
in Bewegung und allmälig ordnet sich der ganze ungeheure Train und marschirt
Mit dumpfem Tritt über die beiden Brücken nach Pesth um den Weg gegen
Szolnok einzuschlagen. Schweigend stehn die Pesther in den Straßen gedrängt,
aus den Fenstern sehn bekümmerte Franeugcstchter, aber alles schweigt, kein Zu¬
ruf an die in den Kampf ziehenden Krieger wird gehört und ein hunderttausend
fromme Wünsche für die Feinde, die sie bekämpfen sollen, ist alles, was sie mit
auf die Reise bekommen. — Ein eleganter Reiter war indessen vvransgesprengt
durch die Straßen und hat an der Pfeife eines an der Barriere müßig dastehen¬
den Landmanns seine Cigarre angezündet. Dem Bauer ist dabei das Feuer aus¬
gegangen — ich weiß uicht, was ihn so heftig bewegt — er läuft seitwärts ge¬
gen einen Sandhügel, schlägt mit Stein und Stahl schnell wieder Feuer, aber
statt des Tabaks in der Pfeife zündet er ein Reisigbündel an, löscht es wieder
aus und zündet es wieder an und geht seine Wege. Der Mann ist offenbar ein
Träumer oder Toller, denn er hat auch sein kurzes Pfeifenrohr in die Glut ge¬
worfen, damit das Feuer lustig flackre. — Jetzt schaun Sie weiter. In mäßiger
Entfernung wieder eine Rauchsäule und wieder und noch eine. Ein kleiner buck¬
liger Junge, der seit frühem Morgen Reisig im Gehölze gesammelt hat, sieht die
Rauchsäulen und wirft gleichfalls sein mühsam zusammengerafftes Bündel ans den
Boden und steckt seinen Schatz in Brand, ein zweiter Sardanapal. — Jetzt
blicken Sie uoch weiter gegen Osten. Durch das Dorf läuft ein Knabe, über die
Haide fliegt ein Reiter, durch den Fluß schwimmt ein Hund und Roß und Rei¬
ter, Hund und Knabe, sie alle sind Glieder jener unsichtbaren Telegraphenkette,
Kor der ich Ihnen sagte. Wenige Stunden nachdem sich die kaiserliche Armee in
Pesth in Bewegung gesetzt hat, weiß man in Debrezin ihre Marschroute und trifft
die nöthige» Vorkehrungen, während der kaiserliche Feldherr mit all' seiner Macht
^ud seinem Golde keinen verläßlichen Spion erkaufen kann. lind dies, niam
Herr, ist die Geschichte von den ungarischen Telegraphen, die schon unter Philipp II.
^ den Niederlanden gang und gebe waren und überall ihre Anwendung finden
werden, wo ein nationaler Krieg gegen ein fremdes stehendes Heer geführt wird.
Die Kraft eines Volkes ist gleich der Kraft des Bodens anf dem es fußt,
^as Individuum repräsentirt die Scholle Erde, ans welcher sich der Pflanzen-
stengel entwickelt, und wie das kleinste Atom des Bodens noch keimempfänglich ist,
^ birgt auch die Seele des unscheinbarsten Individuum genug des Stoffes, um
fruchtbringend zu werden sür das Allgemeine. Was zumal ein ursprünglich tapfe-
^6. Volt vermag, wenn durch potenzirte Geister sein kriegerischer Charakter zu
Kraftanstrengungen angeregt wird, das haben wir aus diesem Kriege erfahren,
der sich Armeen aus dein Boden stampfte.
Ein Theil der jetzigen ungarischen Heeresmacht und zwar ihr Kern, die Hu¬
saren lagen beim Ausbruch des Krieges einige Regimenter stark im Lande selbst,
und wer den Katechismus des Husaren kennt, war nicht lange in Zweifel darüber,
zu welcher Partei sich derselbe schlagen werde. Aber auch vou Böhmen und Mäh¬
ren, von Galizien und Steiermark desertirten einzelne Schwadronen, um für das
gefährdete Vaterland zu fechten. So schlugen sich, um hier nur Ein Beispiel aus
vielen zu erwähnen, 300 Mann mit ihren Pferden und Offizieren von Klattau
aus Böhmen bis nach Ungarn durch. Ich selbst war Zeuge, als diese Braven in
Oedenburg ankamen, und von der begeisterten Menge mitsammt ihren Pferden
in die Stadt beinahe getragen wurden. Von allen Seiten verfolgt, so lange
sie sich noch ans kaiserlich östreichischen Boden befanden, hatten sie sich durch ein
ganzes Regiment Kürassiere mit bedeutendem Verluste durchschlagen müssen. Den
Tag über verbargen sie sich in Wäldern, um ihren Verfolgern zu entgehen, und
nnr des Nachts gings ohne Unterlaß fort gegen die heimathlichen Grenzen. Ihre
Kleider waren in Fetzen, Blut und Koth klebten auf ihren Gesichtern, das Riem-
zeug war zerrissen, die Pferde zu Skeletten eingeschrumpft, sie selbst mehr todt
als lebendig vou Entbehrung und Strapatzen, aber ihr Ange blickte begeistert auf
die Landsleute, die sich um sie drängten, und ihr Ohr lauschte gierig den theuren
Lauten der Heimatt), für die zu sterben sie gekommen waren mit Lebensgefahr. —
Auch in Italien stehn noch an 20,000 Mann Ungar», aber so sehr man ih¬
nen von Hause ans in die Hände arbeitete, die waren zu strenge bewacht, um
an Flucht denken zu können, und so sehnsüchtig sie anch nach dem piemontesischen
Boden hinüberblickten, sie konnten ihn nicht erreichen, um von dort aus auf sar-
dinischen Schiffen in Dalmatien ans Land gesetzt zu werden, und sich zu ihren
Brüdern durchzuschlagen. Kossuth hatte ans diese Regimenter sehr gerechnet, aber
dennoch, aufs schlimmste gefaßt, mittlerweile nichts versäumt, um für Ungarn ein
neues Heer zu organisiren. An Rekruten fehlte es nicht, und für Offiziere sorgte
die östreichische Armee, dann Pole». Der neue Soldat sollte auch mit seiner
neuen Bestimmung eine» neuen Namen bekommen; Kossuth nannte ihn Honvod,
was so viel bedeutet als „Vaterlandsvertheidiger" im Gegensatz zum „Soldaten"
der sich für armseligen Sold anwerben läßt. Es ist daher ein Irrthum, den ich
allgemein verbreitet fand, wenn man die Honvvds für irreguläre Truppen, se»-'
Landstürmler hält. Der Houved ist aber der reguläre ungarische Soldat, und der
Husar ist der berittene Honved.
Wo aber ein reguläres Corps sich zu einer Expedition in Bewegung setzt,
da verlassen die Bauer» ihren Pflug oder ihre warme Stube, um als Avant- und
Arrieregarde dasselbe zu begleite», zu umschwärmen. Lavinenartig schwillt dann
dieser Knäul mit jeder Meile an. Die Landstürmler sind die Quartiermacher, sie
besorgen die Transportmittel, die Verproviautirung, den Vorpostendienst, und
übernehmen dann wohl auch aus eigener Machtvollkommenheit, die Arbeit, kleinere
kaiserliche Corps zu umzingeln oder zu jagen. Die Bleiknopfpeitsche des Cstkvse
und seine Hacke, die er mit bewundernswerther Sicherheit zu werfen versteht, sind
den Kaiserlichen eine furchtbare Waffe geworden, da gegen dieselbe bis jetzt kein
östreichischer General ein Defensivmanöver ausgemittelt hat. In neuster Zeit sind
ganze Schwadronen solcher Csikose den regulären Truppen eingereiht worden, und
die Kühnheit nud Verschlagenheit dieser Noßhirten muß in der That wunderbar
sein, wenn schon der östreichische Soldatenfreund (ein militärisches Tageöblatt) ein¬
gesteht, daß das kaiserliche Centrum vor Kommvrn von ihnen durchbrochen und
östreichische Kavalleristen zu widerholten Malen von ihnen im Stalle überfallen
wurden.
Herr v. Nadowitz wird freilich über solche Kriegführung die Hände andächtig
falten, und schwer begreife» können, daß eine östreichische Schwadron sich nicht
durch Vedetten sicher stellen sollte. Aber der Vorpostendienst der Kaiserlichen ist
in diesem Kriege so ermüdend und dabei doch so unzuverlässig, daß er allein im
Stande ist, die beste Truppe in wenig Monaten aufzureiben. Wochen lang kam
oft der arme Soldat nicht aus seinen Kleidern, der Sattel nicht vom Rücken des
Pferdes. Zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bei Sturm und Wind und Sonnen¬
schein mußten sie eines lleberfalls gewärtig sein, und beliebt es dann einmal einem
vorgeschobenen Piquet die Sybariten zu spielen d. h. die Schuhe auszuziehen,
oder sich für die Nacht menschlich bequem zu mache», oder die Fleischtöpfe übers
Feuer zu stellen, so wird beim ersten Sattelriemen, den der Cavallerist losschnallt,
anch schon der Bauer des Dorfs den draußen lauernden Csikvsen ein Zeichen ge¬
geben haben, daß etwas für sie zu holen ist. Die magyarische» Vorposten dage¬
gen schlafen sanft in den Betten ihrer Wirthe, das Rößlein frißt ans der vollen
Krippe, der Junge striegelt es und wäscht ihm seiue Glieder mit Wein, und lauge,
ehe der Feind i» Schußweite kömmt, sind beide schon in Sicherheit.
Ans einem Rückzüge gehts gewöhnlich den Kaiserlichen noch viel schlimmer.
Haben sie nach stundenlangen, forcirten Marsche, welchem, um mit Melden zu
freche» „der Feind in Eile folgt" ein Dorf erreicht, wo sie eine Stunde Rast,
°in Glas Wem, el» Stück Brot, eiuen Trunk Wasser für sich und ihre Pferde
ZU erlangen hoffen, so finden sie die strohbedeckten Lehmhütten gewöhnlich men¬
schenleer. Die zurückgebliebenen Mütterchen haben selbst kein Wasser mehr und
^ager, daß sie dem Verhungern nahe sind. Die Brunnen sind versandet, die
Keller geplündert, und vom Heuschober sind blos die leeren Stangen übrig ge¬
blieben. Drohungen führen zu keinem Ziele, zum Suchen aber ist die Zeit zu
^rz, denn am Horizonte werden schon die nachjagenden Husaren sichtbar. So
^ehe der Trupp fort aus dem Dorfe, schmachtend und verhungernd wie er gekom¬
men , um vielleicht doch noch mit den letzten Kräften ein Hauptcorps zu erreichen.
Aber o Wunder! kaum haben sie den Rücken gewendet, so wirds lebendig in
den verlassenen Hütten. Die Männer kriechen aus den Verstecken, wie Biber ans
ihren Wasserbauten, wenn der Feind vorbei gehuscht ist, und alles rennt jetzt toll
dnrch einander, die angesagten besrenndeicn Gäste zu empfangen. Wein in Ueber-
fluß — Wasser in Strömen — Heu, Brot und Speck in Massen — und Küsse
und Händedrücken mit in den Kauf. Das Dorf ist zum Jahrmarkt geworden,
die Mütterchen trippeln hin und her, die Buben streicheln die Pferde, die Mäd¬
chen sorgen fürs Essen und die Männer fragen in Eile, ob Kossuth „den Gott
segne" noch in Debreczin ist und ob Windischgrätz „dessen Urgroßmutter schon
verflucht war" den König noch immer gefangen halte.
Es liegt viel Schreckliches und viel Poesie in diesem nationalen Kriege, und
die Russen werden trotz ihrer Kautschukmageu ihren Kindeskindern noch viel von
dieser Poesie zu erzählen haben. —
Sonderbar genug hatten die Stiefkinder der Neuzeit — die Künstler, Mitte
Februar d. I. zu München in prachtvoller Festlichkeit die große Wallfahrt aller
deutschen Stämme zum Kyffhäuser und Barbarossa's Erlösung dargestellt"); die
Wittelsbacher hatten's mit angesehn und in den Begeisteruugsjubel des versam¬
melten Volkes eingestimmt. Als aber der beschwvreue Barbarossa am 28. März
d. I. unter dem Glvckengeläut der Mainstadt wirklich erstanden, da waren die
hiesigen offiziellen Stimmen die zuerst feierlichst Protestirenden. Die Weltkinder
spotteten, daß die Kaiserbvten so langsam reisten: sie fürchteten, hieß es, am
1. April das Kaiservließ zu bringen; die Auserwählten des Herrn aber sahen
weiter; sie erblickten in dem Umstand, daß die Nachricht von der Wahl des pro¬
testantischen Kaisers am schmerzhaften Freitag hier einlief und wiederum die Ant¬
wort Friedrich Wilhelm IV. am Charfreitag, eine höhere Fügung; die stille
Woche der Kirche sollte den Kindern der Politik die Enttäuschung bringen. Die
kirchlichen Ceremonien dieser Woche und deren Ausgang, die Auferstehungsfeier
wurden unter Theilnahme des Hofes mit aller mittelalterlichen Pracht begangen
und die ultramontane Presse wollte wissen, die Kirchen seien noch nie so zahlreich
besucht, uoch nie mit so glühender Andacht der Gläubigen erfüllt gewesen. Es
konnte nicht auffallen, wenn unsere illustrirte Zeitung, die „Leuchtkugeln," die
deutsche Kaiserfrage von ihrem demokratischen Standpunkte aus ausbeutete, aber
es war gewiß sehr lehrreich, daß die offizielle und ultramontane Presse, die Augs¬
burger Postzeitung an der Spitze, den neuen Kaiser so lange mit wahrhaft cyni-
schen Hohn und Spott übergössen, als sie in ihrer blinden Leidenschaft annahm,
der König Friedrich Wilhelm IV. könne die Ankunft der Kaiserkrone kaum erwar¬
ten, er werde ihr wohl noch entgegenreifen. Als aber des Königs Antwort an
die Kaiserboten dieser Presse als Ablehnung erschien, stand der preußische König
plötzlich vor ihnen als ein Charakter, mit welchem Ehrennamen die sacrosancte
Presse nun auch unsern Premier Dr. Ludwig v. d. Pfordten geschmückt hat.
Ein Dr. Friedrich Beck hatte im „Neichsboten," einem schwachen Contingent
der loyalen NegierungSpresse, mit großer Salbung den Schaudertag des 28. März
besungen und es dem deutschen Volke verkündet, es werde demnach dem Parla¬
mente nicht gelingen, das große einige Deutschland zu spalten.
Fragen Sie nach wahren, aufrichtigen Volkssympathien für Preußen, so find
solche wohl in keinen der acht bairischen Kreise vorhanden, wenn sie eine kleine
Schaar eifriger Protestanten aufnehmen, die in Preußen einseitig den Hort des
confessionellen Protestantismus sehen, während doch gerade in Preußen wenigstens
von Seiten der gebildeteren Volkskreise der Protestantismus von einer höheren
Warte als der schmalen Zinne der Konfession aus aufgefaßt wird »ud andererseits
gerade dort die katholische Kirche durch den edlen Charakter und die tiefe Gelehr¬
samkeit ihrer Priester wie durch deu festen Zusammenhalt ihrer Laien eine wahr¬
haft respektable Stellung behauptet. Die Mittelfränkische Zeitung brachte zwar
im verflossenen Winter in einem länger» Aufsatz so etwas von Hinneigung der
Ansbacher nud Baireuther zu Preußen; allein es ist spurlos verhallt. Dagegen
iGt sich mit Bestimmtheit behaupten, daß hätte Preußen seit 1848 eine bestimmte,
offene, beharrliche volksthümlich deutsche Politik eingeschlagen, die Mehrheit der
Bevölkerung Baierns wie ein Mann zu ihr gestanden wäre. Man ist der mit¬
telalterlichen Politik der eigenen Regierung, der bureaukratischen und geistlichen
Bevormundung etwa mit Ausnahme der Mehrheit von Oberbaiern im ganzen
übrigen Lande herzlich müde und sehnt sich nach freieren Wettlauf mit dem übrigen
Deutschland in allen geistigen und materiellen Interessen. Der Ultramontanismus
i>n vulgären Sinne ist Allen bekannt, nicht so die ultra montane Tory-
pcirtei am Hofe, geleitet durch die Prinzessin Luitpold, geborene Erzherzogin
Auguste von Oestreich, großherzogliche Prinzessin von Toscana, einen hochkatho-
Aschen, politisch wie dynastisch ganz entschiedenem Franencharakter, welcher den
Einflüssen der geistvollen Sophie, der Mutter des jugendlichen Kaisers von Oest¬
reich so weit sehr nahe steht, als es das bairische Hausinteresse zuläßt.
Der reiche Graf Arco-Valley gibt von hier aus die Parole und die Inspira¬
tionen an die cui und tlo-»« nimm-um ^enim» im Staate und die rothen Schaa-
ren des Ultramontanismus draußen im Volke. Die Hanptstrebnisse dieser Hos-
Partei laufen auf die Glorie des strengsten Katholicismus und die Wahrung der
alten Hausinteressen und der «us sie gestützten Cat'inetspolitik hinaus: doch ist
diese Partei eben so entfernt von dem professorlicheu Paubavarismus der preußi¬
schen Ankömmlinge (Görres, Philipps), als von dem geistlichen ultramontanen Ueber-
schuappen, das nur in Folge totaler Unkenntniß der schlauen östreichischen Welt-
lichkeitspolitik von dem katholischen Nachbarlande alles Heil erwartet, in ihm nö¬
tigenfalls aufzugehen bereit scheint. Die ultramontane Hospartei weiß sehr
wohl, was der uralte Volksspruch bedeutet: „Lieber bairisch sterben, als östreichisch
verderben."
Man hat in dem Umstände, daß das Wohl Baierns in dem kritischen Wende¬
punkte deutscher Interessen in die Hand des Protestanten Dr. Ludwig von der
Pfordten gelegt worden, den Sieg eiuer „protestantischen Hofpartei" sehen wollen.
Das-ist ein Irrthum. Die Zahl bairischer Staatsmänner ist nicht sehr groß.
Ein Ministeriuni Abel, ganz abgesehen von dessen jüngster parlamentarischer Nie¬
derlage in der Volkskammer und der Abfertigung seiner Unschuld durch Maurers
Eröffnungen, würde wie jedes andere ultramontane Cabinet die Mehrheit des Landes,
auch die Kammer gegen sich haben, könnte also mit konstitutionellem Gewissen gar
nicht verwalten, würde sich auch von der tiesgrollenden Geistlichkeit gedrängt, mit
unzeitigen Maßregeln überstürzen, ein deutsch gesinntes Ministerium vou dem
schwachen Willen Lerchenfeldö an bis hinauf zu voller Wahrheitehrlichkeit des
würtembergischen Römer will der König so wenig als der Hof; also bliebe noch
Ludwig von O ettinge n-W a l lerstein, der fürstliche Literat, der Großdeutsche,
der aber einst ans einer Volksversammlung in Nördlingen gesprochen und deshalb
creditlos am Hose ist, ferner auf Seiten der verfassunggebenden Nationalversammlung
steht und im Stillen wie man weiß, einen gefährlichen Groll hegt. Also war
von der Pfordten der einzige Mann, dem man vertrauen durfte. Bewährt
durch seinen Widerstand gegen Frankfurt im Reiche der Diplomatie, war er auch
durch die Gloriale des Altliberismns, durch reinen Privatcharakter und den festen
Willen, ein bairisch-constitutionelles Eben aufzurichten, gewissen Kreisen empfohlen. Er
soll hocherfreut gewesen sein, Baiern noch zu rechter Zeit als eine tvrra inde^r-t zu
finden und gelobt haben, das schöne Vaterland vor der preußischen Scylla und
der östreichischen Charybdis gleich entschieden sicher zu stellen. Da war er ja also
ganz der Mann nach dem Herzen des Hofes und der Bureaukratie; diesen Regio¬
nen ist es ohnehin nicht wünschenswert!) einem Manne des Volkes das
Staatswohl in die Hände zu geben.
Es gibt aber auch einepreußisch-kaiserliche Hofpartei mit den Idealen
eines geistig großen, materiell hochblühenden und militärisch unüberwindlich einigen
Deutschlands. Was die hellsten Köpfe, die bravsten Herzen in Preußen, in ganz
Deutschland von jeher erstrebt, das will auch sie, unaufhaltsamen Fortschritt in
allen geistigen und materiellen Interessen, sie hält die Verwirklichung dieser Ideale
an die Vollendung nicht des einseitig confessionellen, sondern des intellectuellen
und sittlichen Protestantismus geknüpft; es war immer ihre schönste Hoffnung
auch in schlimmen Zeiten, Baiern dereinst noch in vollem ebenbürtigem Wett-
lauf mit dem gesäumten übrigen Deutschland zu sehen; darum erschien es ihr als
die allein würdige Politik eines jeden bairischen Cabinets, mit Preußen eher als
mit Oestreich zu gehen. Der Hauptträger dieser erbkaiserlichen Partei ist der
Fürst von Leiningen; sie ist auch im Lande organistrt. Sichere Charaktere,
erleuchtete Köpfe, die von jeher wußten, was sie wollten, gehören zu ihr. Die
neuesten Hefte der „historischen politischen Blätter" sagen in den Glossen zur Ta¬
gesgeschichte mit verhaltenem Groll von diesen Männern: „die eifrigen und über¬
eifriger Führer und Verfechter des Protestantismus in Baiern, Graf Giech, Ba¬
ron Notenhan, Professor Stahl, v. Raum er ans Dinkelsbühl, v. Zer zog,
Dekan Bauer haben in demselben Augenblick das Interesse Baierns und ihres
Königs geopfert, als sich die Aussicht bot einen protestantischen Kaiser zu kühren."
Wir müssen hier noch eines Instituts gedenken, das in der täglichen, schlimm¬
sten Erinnerung der Münchener, der bairischen Presse überhaupt lebt — es ist das
auf Negierungskosten erhaltene Hofblatt die „neue Münchener Zeitung", redigirt
von Dr. Haller und Vogel; von denen ersterer ehemals Redacteur des radia¬
ler, nunmehr eingegangene» fränkischen Merkur gewesen, und letzterer den frei¬
sinnigsten Volksschriftstellcrn früher angehört hat. Dr. Haller lieferte auch, bis
zum Sturz der französische» Julidynastie in Paris wohnhaft, der Allgemeinen Zei¬
tung die Mittheilungen über spanische und französische Zustande und soll seine Feder
eine Zeit laug von Espartero beeinflußt gewesen sein. Die erwähnte Zeitung ist die
Arena der gesinnungstüchtigen bureaukratischen und Hofschriststeller. Die Namen Ar-
Mcmöperg, Adel, Dönniges, Seuffert und eine bunte Zahl von activen und ehemaligen
Ministern, Staats- und Miuisterialrätheu werdeu als solche genannt, die hier bald
gegen die Grundrechte, bald gegen die Reichsverfassung, bald gegen das souvc-
ränetätsschwindsüchtige Parlament, bald gegen das infernale preußische Erbkaiser-
thum, bald für Groß- und Ganzdeutschland gegen Halbkleindentschland, bald für
Baierns unbedingte Selbstständigkeit und Unverletzbarkeit in blitzendem Waffen¬
schmuck sich ergehen. Es ist mehr eine glänzende Parade als ein Krieg hoch^
ster und hoher Federn, die natürlich schon als solche des Eingehens in die
Sachen überhoben sind. Da die Aufsätze dieser Zeitung wirklich aus
»staatsmännischen" Federn geflossen sind, so ist auch damit erwiesen, welche
kolossale Veränderung die Welt erlitten hat. Ans schwankenden, binnen Seilen
tanzen ergraute Staatsmänner sogar ohne Balancirstange und zwar gratis und
ohne Zuschauer, wenigsteus ohne das Publikum, — in wunderlichsten, in wahr¬
haft halsbrechenden Sprüngen einher. Nach diesen Aufsätzen bringt bald Baiern
für Deutschland die ungeheuersten Opfer, bald wieder heißt es, Baiern werde
auch eine Zeit lang ganz allein ohne Deutschland zu stehen wissen, bald wieder
ist Hoffnung da, mit Preußen nicht zu brechen, bald wieder ist Baiern schon von
dem furchtbaren preußischen Fiscus verschlungen und man sieht nur noch schwache
Spuren ehemaliger Größe aus seinem Maul herausragen, bald fällt Baiern dem
Oestreichs, an Siegen und an Ehren reich, liebeglühend um den Hals, bald wie¬
der beschließt es Verrath witternd auch ohne Oestreich fest zu stehen und allein
durch seine Entscheidung, d. h. Unentschiedenheit die deutsche Einheit und Freiheit
zu retten; jeden Tag. hat hier Baiern einen andern Zollverband, heute mit Preußen,
morgen mit Oestreich, übermorgen mit sich allein; auch an Drohungen, schlimm¬
sten Falles lieber mit dem freien Frankreich als dem absolutistischen Preußen zu
stehen, hat es im Laufe vorigen Sommers nicht gefehlt.
Es ist, kurz gesagt, eine elende Wirthschaft in unseren Regicrungskrcisen und
die neulichen Worte eines ihrer östreichischen Korrespondenten passen auch auf
Baiern: „es ist wunderbar, mit wie wenig Witz die Welt regiert wird."
Am ersten Mai — zugleich mit der offiziellen Anmeldung der nordischen
Godegisel — erhielten wir eine wahlverwandte Bescheerung: die letzte preußische
Nundnote, die ihren Vcreinbaruugs - Mehlthan svrgsamlich bis auf das letzte
Gänseblümchen des deutschen Völkersrichlings träufelt.
Nach dem ersten Anfall von Zorn, Ekel und Entmuthigung überraschte mich
die fast athemlose Stille im Lager unserer Feinde. Sie selbst schienen verblüfft
über diesen Triumph Schwarzenberg's. So große Wunder sie sich von dem ro¬
mantischen Wankelmuth des vierten Friedrich Wilhelm versprachen, — das hatten sie
nicht erwartet; am wenigsten jetzt, nachdem man hier Miene machte, sich mit Er¬
gebung in das Unvermeidliche zu fügen und für das verlorene Buudestagspräsi-
dium sich durch den Vorsitz im sogenannten weitern Bunde zu trösten. In diesem
Augenblick bläst der König von Preußen sammt der Verfassung des Reichs ") seine
Einheit um, droht mit einem Fürflencongreß und hängt die Zornruthe der Octroyi-
rung aus. Und dennoch geizt der „Lloyd" mit seinem Bravorufen, und der
„Oestreichische Korrespondent" gibt nur ein gedämpftes Hosiannah! von sich.
Es ist und bleibt aber diese Note ein Triumph des bornirten Schwarzen¬
berg über die diplomatische Intelligenz von Berlin, wo sehr viel Geist, Geschmack
und Treibhausrvmcmtik, und sehr wenig Muth, weder zum Guten noch zum Bösen,
zu Hause ist. Es fällt schwer, diesen kläglichen Entschluß, Nichts zu beschließen,
anders auszulegen denn als eine Olmützer Eingebung und einen Sehusuchtsblick
nach Oben, auf den König der Könige am Newastrand, nach dem nordöstlichen
Winterhimmel, von wo die prachtvollste Fata Morgana einer neuen heiligen Allianz
oder eines europäischen Brandes herübertönte.
Offenbar hatte Manteuffel nicht ans die Einstimmung der achtundzwanzig
kleineren Souveräne gerechnet. Als der schwarzrothgoldeue Strich durch seine
Rechnung fuhr, appellirte er an die vier Könige, die mit Olmütz verbündet wa¬
ren, und flehe da, das östreichische Hexarchenprojckt, welches man glücklich be¬
graben glaubte, taucht mit einem Mal frisch und munter aus den Fluthen der
Spree zu neuem Leben ans.
Davon können Sie überzeugt sein, daß, wie die Dinge jetzt stehen, Oest¬
reich mit vereinbaren wird. In der preußischen Note ist Nichts, womit das
Olmützer Cabinet nicht einverstanden sein könnte. Oestreich hat jeht freie Hand;
die Sorge für die Erziehung seiner uugeberdigen Kinder im Osten hat es bis
ans Weiteres dem russischen Hausfreund überlassen, so daß ihm die nöthige Muße
zur Jntervention in Rom und Toskana bleibt. Ju Deutschland wird es um so
derber und gröber sein Wörtlei» mitsprechen und zwar nicht als Fürst der deutsch¬
östreichischen Stämme, sondern auch als Pächter von Galizien, Grundherr in
Italien, Majoratsherr in Kroatien und Plantagenbcsitzer in Ungarn. Wer wird
einem so reichen, mächtige» Landedelmann, der noch obenein die Protektion deS
Selbstherrschers besitzt, nicht das erste Wort einräumen! Preußen hat dies ge¬
than, es hat der östreichischen Gesannntmouarchie das Principal über Deutschland
abgetreten!
Und doch, wie gesagt, hört mau keinen Jubel im Lager der schwarzgelben.
Es scheint, daß die Konstellation ihnen uicht geheuer vorkommt. Der „Lloyd"
verstieg sich sogar zu einem Warnungsruf an die Fürsten, sie möchten rasch mit
einem positiven Plan hervortreten, es sei Gefahr im Verzüge. Rasch! Als
hätten die Kabinette etwas Positives fertig! Als müßte das Wirbel nicht erst
Neun Monate lang in einem kosmopolitischen Badeort ausgetragen, begackert und
sorgfältig gebrütet werden.
Ja, kleinlaut wird die Freude der Schwarzenberg'sehen, denn sie trauen der
deutschen Geduld nicht mehr. Sie fürchten die Wirkung, die das Triumphgeschrei
der Republikaner haben wird: „Seht, Ihr habt fromm und gläubig gewartet,
die Souveräne mußten es euch erst schwarz uns weiß geben, daß — sie Sou¬
veräne siud. Haben wir euch nicht vor Jahr und Tag gesagt, daß die schwerste
Noth von den Großmächten kommen wird? Daß auch Preußen, trotz seines
musterhaften bureaukratisch - militärischen Uhrwerks, nach Stämmen und Provinzen
zerfallen müßte, um in Deutschland aufzugehn?"
Gott bewahre Deutschland vor kleinen Krawatten. Begierig suchen die
Schwarzenberg'schen in den auswärtigen Zeitungen nach telegraphischen Depeschen
über Proletaricrtumnlte, rothe Kinderstreiche und improvisirte Barrikaden. Dar¬
über sprächen sie ihren Segen.
Was sie ernsthaft erschrecken würde, ist: — entweder eine Revolution im
großen Maßstabe, — oder, noch mehr, die gesetzliche Agitation nach dem Beispiel
der trefflichen Würtenberger.
Ein Wink mit dem Zaunpfahl. — In Pesth herrscht vollständige Anar¬
chie, meldet die Wiener Zeitung. Natürlich, denn seit dem Abzüge der Kaiserli¬
chen ist dort die Herrschaft des Standrechts unterbrochen, und Kossuth hat ver¬
künden lassen, daß Niemand seiner Gesinnung wegen verfolgt werden solle. Das
eben ist Anarchie. — Als Windischgrätz vor drei Monaten merkte, daß er den
wohlorganisirten Kräften der Magyaren Nichts anhaben konnte, warf er ihnen in
feldmarscharrlicher Bannbulle den „Communismus" an den Kopf. Und indem die
Wiener Zeitung heute die Heerschaaren Nicolai's anmeldet und alle Flügelthüren
und Hinterpförtchen Oestreichs, die der Magyar nicht verrammelt hat, vor ihnen
weit aufreißt, ruft sie laut aus: der Czar, der edle Czar kämpft in Ungarn uur
gegen die allgemeine europäische Seuche, er kommt, die Menschheit vor der „Auf¬
lösung aller gesellschaftlichen Bande" zu retten. — Hütet euch, zu glaube«, dieser
Kolophoniumblitz gelte blos dem aristokratischen Magyarcuvolk; auch dem demo¬
kratischen Deutschland gilt er. Die geleckten Gesandschaftsattachos und die außer¬
ordentlichen Hofemissäre, die hier im Interesse eines gewissen Königreichs gegen
die deutsche Einheit wühlen, flüstern und säuseln es überall laut genug: Es han¬
delt sich in Deutschland um den Bestand der Familie, ^des Eigenthums, ja beim
wahrhaftigen Gott, des Eigenthums. — Ich hätte es nie geglaubt, daß Gagern
und Consorten Communisten geworden sind, aber so ist es. Ich hab es von di¬
plomatischen Lippen, und diese trügen niemals, wenn sie aus der Schule schwatzen.
Nachschrift: So eben erzählt mir ein Mann aus der Grüuangergasse,
— wo Juden und Christen mit Staatspapieren spielen — es sei „Befehl" nach
Berlin ergangen, 40,000 Mann preußischer Truppen gegen Ungarn zu stellen.
Wissen Sie etwas Näheres darüber?
Damit Sie nicht für Verleumdung halten, was ich Ihnen letzthin über die
rechtlose Assentirungswirthschast in Oestreich schrieb, mache ich Sie auf ein Akten¬
stück aufmerksam, welches zuerst die „Deutsche Zeitung aus Böhmen" mittheilte.
Dies ist ein Präsidiale Ur. is? — oder ein RegicrungSerlaß an die Werb-
bezirkskommandos und die Mitglieder der Asseutiruugskomission, des Inhalts:
Da es im Lande bösgesinnte Leute gebe, wider welche „keine genügenden
Anhaltpunkte zur strafgerichtlichen Amtshandlung" vorlagen, de¬
ren „Unschädlichmachung" jedoch „wünschens werth" sei, so möchten die
Assentirungskommissionen, wenn ein solches Individuum ihnen gestellt würde, in
der Beurtheilung seiner Militärdiensttauglichkeit „möglichst nachsichtig" ver¬
fahren. Unterzeichnet ist der Erlaß: Khevenhüller, datirt: Prag, 24. April.
Klingt es nicht ungemein väterlich und wohlwollend, dieses „möglichst nach¬
sichtig?" Und doch heißt es so viel als: Wenn der Unglückliche, von dessen
böser Gesinnung sein Denunziant und die betreffende Behörde moralisch überzeugt
sind, dem jedoch , aus Mangel an Belagerungszustand und Kriegsgericht, auf ge¬
setzlichem Wege uicht beizukommen ist, ^- wenn dieser Unglückliche nicht grade
bucklig, lahm, blind, taub oder mit einem doppelten Wasserbruch gesegnet ist, so
möge man über sonstige LeibcSschäden „nachsichtig" wegsehen und ihn unter irgend
eine Abtheilung der ambulanten Strafanstalt, die man Armee nennt, stecken. Aehn-
liche Nachsicht wurde im I. 1824 geübt, als Kaiser Franz, der Vaterliebe, nach
Prag kam und sah, daß der Studenten zu mele waren. Ein Jurist, der zum
Fuhrwesen gekommen war, mußte nach einem Vierteljahr wegen Blutspeiens wie¬
der entlassen werden. Ein Anderer war so glücklich, die Sehkraft des Militär¬
arztes mittelst einiger Doppeldnkaten zu schärfen: ihn befreiten vom Militärdienst
zwei Hühneraugen auf der großen Zehe des rechten Fußes!
Das sind die constitutionellen „Wege der Verordnung." Und die „starken"
Minister, welche auf diese Art Willkür, Anarchie und Lüge zum System der Ver¬
waltung erheben, führen die „Ordnung" und die „Gesetzlichkeit" im Munde.
Schwarzenberg's Kreaturen ist das Beispiel Englands in der Theorie gar geläufig,
in der Praxis ist ihr Vorbild Neapel.
Auch ein hiesiges Blatt theilte obige Verordnung mit; sie wurde ohne Erstau¬
nen und ohne Entrüstung gelesen. Die Mehrzahl hat gelernt, die monströsesten
Ordonnanzen von diesem Cabinet zu erwarten, den Andern ist eben Alles recht
und billig, was von Oben kommt; und ich verpflichte mich, Sie zum Pascha von
Kalifornien zumachen, wenn es Ihnen gelingt, einem hiesigen-Vollblutloyalen
nur ein inconstitntionelles Jota in dem erwähnten Aktenstück nachzuweisen. Um sich
von der obligaten Begriffsverwirrung dieser Prachtmenschen eine Vorstellung zu
Machen, müßten Sie wieder meinen Freund Kappelbaumer hören. Und wohlge-
Merkt, die Kappelbaumers sind nicht immer fette Hausbesitzer, sondern eben so
häusig weitgereiste Kavaliere, Staatsbeamte und Zeitungsschreiber.
Also pflegt mein Freund Kappelbaumer zu rufen, wenn vor seinen Fenstern
das Militär in wohlgeordneten Reihen vorbeimarschirt: „Warum ist unsere Armee
^nig, he? Wo hört man in der Armee von Parteien und Factionen? Ach, hätten
sich die Herrn in Kremsier daran ein Exempel genommen! Fast in jedem Regi-
neue befinden sich heute von allen möglichen Nationalitäten Oestreichs"), und
doch welche Harmonie: welche Ordnung und Brüderlichkeit! Wann werden wir'ö
erleben, daß die Volker so einträchtig und ordentlich zusammengehen wie unsere
braven Soldaten!"
Diese Blätter gehören zu den Gegnern des Ministeriums Stadion-Schwar¬
zenberg. Der Lloyd gehört zu ihren Freunden. In diesen Blättern wurde die Be¬
fürchtung ausgesprochen, die Regierung könnte geneigt sein, sich gegen Ungarn die
Hilfe Rußlands zu erflehen, zu erbetteln, zu erkaufen. Der Lloyd dankt dem Glücke
Oestreichs dafür, daß ihm russische Truppen in der jetzigen Zeit der Bedrängniß
zu Gebote stehn. Mag nun die Freundschaft des Lloyd für die ersten Organe
der östreichischen Verwaltung eine obligate, paktirte oder freiwillige, aus der Ueber¬
zeugung des Wahren geflossen sein — wir wollen darüber hinweggehn, weil wir
es können. Der Lloyd jedoch trägt seit Monaten als treuer Schildknappe der
Minister diesen ihre Lanzen und Köcher mit in die Schlachten, welche sie der
öffentlichen Meinung zu liefern für gut finden, er politisire und diplomatisirt mit
ihnen in seltener bedientenmäßiger Harmonie, er hat wie hochnäsige Kammerdiener
altadeliger Häuser die Manieren seiner Herrschaften sich angeeignet und behandelt
alles was nicht zum „Hause" gehört als Canaille. Man muß daher einmal mit
diesem Kammerdiener ein offenes Wort reden, damit es zu den Ohren seines Ge¬
bieters komme.
Wie gesagt, der Lloyd glaubt sich dem Glücke Oestreichs gegenüber zu Dank
verpflichtet, daß ihm die Freundschaft Rußlands zur Disposition steht und tröstet
sich leicht über das Wehgeschrei der Opposition und ihre „sentimentale" Politik.
Auch wir würde» uns gerne über die praktisch sein sollende Politik des Lloyd trö¬
sten, wenn sie sich ihr Terrain in Schweden oder Nordamerika ausgesucht hätte.
Wir stehen aber auf östreichischen Boden und bereiten uns Trauerflöre für die
Zukunft, darin sind wir sentimental. Wir würden ganz Europa in Bewegung
setzen, um uns die Kosakenfreundschast zu ersparen, darin sind wir Wühler.
Wir tragen in uuserer hilflosen Lage unserer „starken" Regierung gegenüber un¬
sere Schrecken und unsre ungeheuern Besorgnisse vor den Nüssen offen zur
Schau; darin sind wir Heuler. Warum wir fürchten, wo der Lloyd hoffen
kann, das wollen wir in Kürze auseinandersetzen, und dabei den Leitartikeln des
Lloyd Schritt vor Schritt zu folgen trachte».
Er fragt: „Liegt das Jahr 181!!, wo weißgekleidete Mädchen und Blumen
und Ehrenpforten und Ehrengeschenke .'c. ze. die Mitbefreier des deutschen Vol¬
kes freudig begrüßten, denn gar so weit hinter uns, daß wir bei dem Anblick
der Russen, welche unsere Väter mit Jubel begrüßen, vor Entsetzen außer uns
gerathen sollten?" — Darauf antworte» wir folgendes: Die Russen haben mit
uns gekämpft gegen Napoleon, sie haben mit uns gesiegt und haben sich den
Dank und deu Lohn selber geholt mit wucherischer Zinsen. Dem Wucherer aber
dankt kein Schuldner. Zwischen dem Jahre I8l3 und dem jetzigen liegt ein Jahr¬
tausend, und in diesem Jcchrtauseud steht verzeichnet: Der Wiener Congreß, die
Karlsbader Beschlüsse, die Münchergratzer, Teplitzer und Veroneser Verhandlun¬
gen, die Einverleibung Polens, die Katzenschliche in den Donaufürsteuthümern,
die Korrespondenzen Metternichs, ferner die großen Freiheitsbewegungen in Paris,
Wien, Berlin und Frankfurt, die Furcht und die Annäherung, die Freundschaft
und der Zwiespalt der beiden Großmächte in bunten Abwechselungen. Nicht auf
die Väter dürfen Sie sich berufen, welche jene Ehrenfeste in Wien gesehen haben.
Die Väter, die Greise sind's zumeist, welche die graue Staatsweisheit Rußlands
fürchten. Die Jugend Oestreichs fürchtet sie weniger; es gelüstet ihr seit Jah¬
ren, sich im offenen Felde mit ihr zu messen. Wenn daher von Furcht und Sen¬
timentalität hier die Rede ist, so trifft dieser Vorwurf das bedächtige Alter, wel-
ches viel erlebt hat, was es uicht wieder erleben will, uicht aber die Jugend,
die an der Spitze der Opposition steht und aufs Aeußerste gefaßt ist.
Der Lloyd sagt ferner: „Unsere sentimentalen Politiker mögen keine Unter¬
stützung von Nußland, weil der Selbstbeherrscher aller Neusten keine Konstitution
beschworen und seinem Volke keine politische Macht zugestanden hat." Wenn der
Haß des freien Oestreichs gegen den russischen Absolutismus blos die Eingebung
einer mordsüchtigen Sentimentalität ist, dann bei Gott ist auch die Liebe zur Frei¬
heit eine lächerliche Sentimentalität, wenn mau die Erhebung im März vorigen
Jahres die lächerlichste Comödie einer überspannten Burschenschaft nennt, dann haben
wir für eine sentimentale Position gelitten, gekämpft und geblutet, dann beschäfti¬
gen wir uus lieber mit der Züudhölzelfabrikatio», oder redigiren ministerielle
Journale. Vielleicht thut man uns dann die Ehre an uns praktisch zu nennen.
Liebe und Haß sind ja blos Empfindungen einer noch nicht petrificirten Men-
schenseele. Was soll's mit diesen Albernheiten? —
„Aber" — meint der Lloyd — „wo sollen wir denn Hilfe suchen, deren wir
benöthigt sind? Preußen hat eine recht hübsche, nagelneue Konstitution, aber kein
Heer für uns. England genießt seit Jahrhunderten die Segnungen der Freiheit,
aber Lord Palmerston intriguirt gegen uns in Italien und wirb uns ganz gewiß
seine Hilfe in Ungarn nicht angedeihen lassen. Frankreich nennt sich anch frei,
aber es nennt sich nicht unsern Bundesgenossen. Wir wollten gerne auf die hun-
derttausend nuconstitutionellen russischen Truppen Verzicht leisten, wenn nur
unsere Nussenhasser uns hunderttausend Mann constitutioneller Truppen ir¬
gend einer andern Macht in's Feld stellen könnten, welche uns helfen würden,
die ungarische Insurrektion zu bekämpfen?" — Lloyd, Lloyd! du hast ein Wort
gesprochen, bittrer, kränkender, beschämender als alle Verlorne Schlachten, als
eine Verlorne Provinz. Also so weit ist es mit Oestreich gekommen, daß es bei
den freien Völkern Europas uicht Einen Freund mehr auszuweisen hat? — So
weit hat es die Politik dieses Ministeriums nach außen und seine Schreckensregie-
rnng im Innern gebracht, daß seine Organe eingestehen, wie uns der civilisirte
Westen von sich stößt, daß wir in die Arme der Barbarei im Osten taumeln?
Oestreich wollte sich an das Morgenroth im Westen anschließen, und die Negierung
aus Furcht für ihre pitoyable Existenz verkroch sich im Abenddämmerungsschein
des Ostens? Wohin soll ein solcher widerstrebender Kampf der Meinungen zwischen
Volk und Regierung führen? Ist das die gelobte Praktik? Uns schauert vor einer
solchen Politik, denn es ist keine Politik der Volksinteressen, es ist die unselige
Diplomatie der Kabinette, und diese verhält sich zur wahren Politik wie die Spitz¬
büberei des Augenblicks zur ewigen Vorsicht. Und wer hat uus so weit gebracht,
daß wir keine Freunde mehr im freien Europa haben? Das Volk? — Nie und
nimmermehr. Oestreichs Volk ist geliebt und geachtet in Europa vou unsern
äußersten Marken bis dort wo die Meereswellen ein freies Jnselland bespülen.
Oestreichs Revolutionen? — Nein, denn das Volk hat seinen biedern Charakter
bewährt, selbst nachdem sich der Mord in seine Reihen eingeschlichen hat, selbst
nachdem es der Wahnsinn bis auf die Spitze trieb. — Die Regierung hat uns
an den Rand des Abgrunds gebracht, durch ihre schlechtgewählteu Organe, durch
ihre Politik gegen Deutschland, durch ihre Ordonnanzen im Innern. Die Minister
haben zu Deutschland gesagt: constituire dich, wir wollen das gleiche thun, dann wollen
wir abrechnen. Deutschland hat sich constituirt und Oestreich h at mit ihm abgerech¬
net. Die Minister betrieben die Wahlen nach Frankfurt als es zu spät war, und
riefen sie zurück als es wieder zu spät war. Die Minister traten als Kandida¬
ten für den östreichischen Reichstag auf und jagten ihn 3 Tage darauf auseinander.
Die Minister gaben hierauf eine octroyirte Charte und müssen sich dazu versteh«,
sie schon theilweise zurückzunehmen. Die Minister geben ein Preß - ein Assozia-
tions- ein Gemeindegesetz und das östreichische Volk fragt starr vor Schmerz: Ist
das unsere Freiheit? — Unsere tapfern Truppen erkämpfen mit ihrem greifen
Führer an der Spitze das Verlorne Italien und heute erklärt sich Odillon-Barrot
gegen die Friedensbedingungen, welche das Ministerium zu dictiren für gut fin¬
det! Ein anderes tapferes Heer verblutet in Ungarn an den Fehlern seiner unum¬
schränkten Feldherrn und aus — Mangel an Munition und Geschütz! — Und
nach allem dem schilt man uns Träumer, weil wir den Lenkern von oben nicht
weiter vertrauen wollen? — Es ist nicht praktisch, die Tretmühle des Un¬
glücks weiter zu treten, weil das Rad einmal im Gange ist; es ist nicht prak¬
tisch eine Provinz zu erobern und die Monarchie dafür zu verkaufen. Es wäre
sentimental, ewig und immer zu vertrauen, weil Vertrauen eine schöne Tu¬
gend ist, weil ein Mädchen ihrem Geliebten noch vertraut, wenn er sie dreimal
getäuscht hat. Wir vertrauen längst nicht mehr, darum sind wir praktisch.
Und wenn es Rußland heute einfiele, Nein zu sagen, uun dann — wird der
Lloyd sagen, wenden wir uns an die Araber, an die Chinesen, an die Kaffern,
oder an die Rothhäute in den Urwäldern. Sind lauter charmaute Leute, wenn
sie auch keine Konstitution haben und werden die Ungarn zu Paaren treiben.
Als wenn alles gethan wäre, wenn wir aus Ungarn ein östreichisch Italien, ein
russisch Polen gemacht haben, als wenn Rußland nicht seine Bedingungen stellte,
als wenn es ihm um Gotteslohn zu thun wäre; doch davon im zweiten Theil
des Aussatzes.
Der Lloyd hat zwei Arten zu argumeutireu, wenn er den Staatsanwalt oder
Advokaten seines Herr» und Meister spielt. Entweder er bringt Gemeinplätze und
allgemeine Maximen vor, trotz einem La Rochefoucauld, oder er schlägt in dem gro¬
ßen schwarzen Register nach, wo die Leiden anderer freien Völker und die Mi߬
griffe ihrer Regierungen verzeichnet sind, und dann ist ihm nicht bange, irgend eine
Passende Stelle zu finden; die schreibt er uns dann ab und sagt: „Seht, England
ist frei, Amerika ist frei, Frankreich ist freiheitsdnrstig und doch ist dort Analoges
mit unserem gegenwärtigen Zustande zu finden"!! Zumeist benimmt sich der Lloyd
bei solchen Vergleichen grob und ungeschickt, und man brauchte weder Mezcray noch
Hume zu sein, um ihn zu widerlegen; immer aber vergißt er klüglich auf die
Consequenzen jener Mißgriffe einzugehen; er erzählte uns wohl, daß England
erst in neuester Zeit die Habeas-Corpus-Acte in Irland aufhob und mit bewaff-
neter Macht dem drohenden Aufstande dieser unglücklichen Schwesterinsel entgegen¬
trat, aber das erzählt er nicht, daß jener Suspension ein Parlamentsbeschluß
zu Grnnde lag, und daß keiner von den Rädelsführern in Irland mit Pulver
und Blei hingerichtet wurde, das erzählt er nicht, daß den Assignaten in Paris
die Füsiladeu und Noyaden in ganz Frankreich die Hinrichtung des Königs und
die Proklamirung der Republik folgte. — Ju solchen Gemeinplätzen und Analo-
gieen bewegt sich der Lloyd auch in seinem Leitartikel vom 27., wo er der russischen
Intervention das große Wort führt. „Wenn wir fremde Hilfe brauchen, müssen
wir uns zuvörderst an jene Macht wenden, welche Willens ist, sie uns zu leihen."
— „Wenn wir in der Noth sind, so ist der uns ein guter Freund, welcher uns
in unserer Bedrängniß zu Hilfe eilt." — „Der absolutistische Russe, der uns
hilft, ist uns lieber, als der konstitutionelle Engländer, der am Brande Oestreichs
ruhig sein Beafsteak schmort." — Das ist alles sehr kindlich und weise, erinnert
uus aber unwillkürlich an die Arien Bertrams in Meyerbeers Robert dem Teufel,
mit denen er seinen Freund und Schützling im Unglück tröstet, zu dem er selbst
das Meiste beigetragen hatte. — Die ministeriellen Blätter haben seit den letzten
Unglückstagen in Ungarn schon so vieles eingestanden, über dessen Enthüllung
durch die sogenannte Opposttionspresse sie vor Kurzem noch Mord und Zeter riefen,
vielleicht ist jetzt der Moment eingetroffen, wo sie anch zugeben, daß die octrvyirte
Charte nicht jenen Enthusiasmus in den Provinzen hervorrief, den sie dnrch ihre
Correspondenten so hinreißend zu schildern versuchten. Vielleicht gestehen sie ferner,
daß alle bisherigen Ordonnanzen des Ministeriums — das Jagdgesetz vielleicht
allein ausgenommen — nicht alle wirklichen Patrioten für sich hatten, vielleicht
bekennen sie endlich, daß die Oppositionsblätter mit Recht ihre warnende Stimme
erhoben, wenn sie sagten: „Ans diesem Wege wird das einheitliche Oestreich
nimmer zu Stande kommen, ans diesem Wege kann daS kranke Vaterland nicht
gesunden." Nachdem aber die Opposttionspresse bei jeder Karte, welche die
Regierung ausspielte, dieser jedesmal zugerufen hatte: „Ihr seid verzweifelte
Spieler, Ihr kennt die Karten nicht, mit denen Ihr handtirt, und reißt uns Alle
und Euch mit ins Verderben!" — ziemt es da dem Lloyd, welcher dergleichen
vornehm überhüpfte, in diesem Augenblicke zu fragen: „Was sollen wir denn
thun, wenn uns das constitutionelle Europa verlaßt, und wir uns selber uicht
mehr helfen können?" — Ziemt es dem Lloyd dann mit bitterem Spott zu sagen:
„Helft Ihr uus, Ihr sentimentalen Politiker, die Ihr vor den Russen zurück¬
schreckt wie vor einer Vogelscheuche!" — Lloyd, Lloyd, der du so weit gereist bist,
wirst auch einmal an einem grünen Tisch gestanden sein, wo ruu^o et loir gespielt
ward. Ein Spieler setzt, allen Mahnungen zum Trotz, sein Hab und Gut auf
trügerische Karten, endlich ist Alles, Alles verloren. Die Freunde wenden sich
schandernd ab von dem Unglücklichen, und wenn dieser ihnen in einer der nächsten
Nächte im Hohlwege als Räuber begegnet und sie mit spitzbübischer Gelassenheit
frägt: „Was wollt Ihr, daß ich anders thue, helft mir doch Ihr sentimentalen
Freunde, die Ihr vor dem Aeußersten zurückschreckt!" da freilich werden die
Freunde nichts anderes zu sagen haben als: „Dn bist verloren, gottloser Mann,
wende die Pistole gegen die eigene Brust — für Dein Weib aber und Dein Kind
wollen wir ehrlich sorgen." — Den Spieler, Lloyd, Du wirst ihn errathen haben.
Weib und Kind aber das ist unser Vaterland, das man auf die Karte setzte und
— verspielte. Den Spieler geben wir auf, Weib und Kind aber drücken wir an
unser Herz, wir werden vereint noch Kraft genug haben, sie zu retten. — Hängt
das Wohl Oestreichs an ein paar Männern, die — im besten Falle — sich ver-
rechneten? Hängt das Schicksal des Vaterlandes an der Durchführung eines Pro¬
gramms, einer Charte, die sich, seitdem sie geboren, schon gehäutet hat? — Schieß
Dir eine Kugel durch den Kopf, wahnsinniger Spieler, Weib und Kind werden
wir retten. Oestreich hat der Freunde genug im freien Europa und hat noch
Enthusiasten genug im freien Vaterlande. Für das octroyirte Oestreich aber
schwärmen uur Wenige, und diese mit Unverstand, denn auf jene Höhe haben sie
sich noch nicht hinauf geschraubt, wo sie ein Ministerium Kossuth-PiukaS-Schuselka
für möglich hielten, und zur hypothetischen Möglichkeit eines so gestalteten
Centralministeriums muß mau wenigstens doch gekommen sein, wenn man von
einem einigen und freien Oestreich phantasiren will. — Der Lloyd möge uns nicht
wissentlich hier mißverstehen wollen. Wir sind nicht so sentimental-schwärmerisch,
um das Ministerium Station-Bach-Schwarzenberg dnrch jene Männer jetzt ersetzen
zu wollen; der Lloyd wäre im Stande, uns einen solchen utopischen Gedanken
zuzumuthen. Aber wir sagen nur höflich — weil wir nach dem Preßgesetze nicht
schmähen dürfen — es thuen uns Männer an der Spitze der Regierung noth,
welche etwas weniger Selbstvertrauen und dafür etwas mehr Vertrauen in die
Völker Oestreichs besitzen, und um welche sich Oestreichs Jugend mit Enthusiasmus
schaaren kann — stark genng gegen jeden Feind von innen und von außen.
Der Lloyd sagt: „Wer uus hilft, dem dürfen wir nicht viel Fragen vor¬
legen; ob er ein Ketzer, oder ein Rechtgläubiger, ein Konstitutioneller oder ein
Absolutist ist, kann uns dann gleichgültig bleiben." Ja wohl kann uns das poli¬
tische und religiöse Glaubensbekenntniß des Helfers gleichgiltig sein, aber ein
Blöder ist's, der sich helfen läßt und nicht frägt: „Was soll dein Lohn dafür
sein?" Oestreich sieht bekümmert die Russen ins Land rücken und frägt betroffen:
»Um welchen Preis?" — Zahlbar nach Monaten oder nach Jahren — gleichviel.
Oestreich wird ihn zahlen müssen, wenn die Männer, die den Vertrag abgeschlossen
haben, schon verstorben oder auf Reisen sind. — Wir trösten uns nicht, daß Oest¬
reich, oder besser gesagt, seine Regierung, mit seiner praktischen Nusseuansicht unter
den freien Staaten nicht allein dastehe. Wäre ein analoges Beispiel ans dem
schwarzen Register des Lloyd aufzuweisen, auch dann selbst wär's ein bitterer Trost,
aber es ist nicht, es ist Lüge, daß irgend ein freies Volk ein Bündniß mit
einer absoluten Macht geschlossen habe, um einen Theil seiner selbst zu pazifiziren.
„Wir sind also gern bereit", schließt der Lloyd, „russische Hilfe anzunehmen,
jedoch aufVedinguugeu. Die erste ist, daß sie uns schnell, daß sie uns gleich
ZU Theil werde; die zweite, daß sie uns in ausreichender Zahl, massenweise zu¬
komme." O, es ist zu klug, zu fein, was der Lloyd da sagt. Also wir stellen
die Bedingungen und Nußland keine, gar keine? Wirklich? — Wir, die Bedräng¬
er fordern 100,000 Maun und das noch in diesem Monate. Und wenn Rußland
"icht will, so — rufen wir die Gesandten zurück, oder wir schmollen mit Peters¬
burg, weil es nicht großmüthig genug war. Und wenn Polen und Deutschland
dann in Brand geräth und einen Kreuzzug gegen die russischen Hilfsvölker pre¬
digt, und wenn Oestreich um einen Schritt näher am Abgrunde steht, dann wird
der Lloyd wieder fragen: „Warum helft Ihr nicht, sentimentale Politiker?"
Ja wahrhaftig, die ostdeutsche Post hat Recht, wenn sie sagt: „So räsonnirt kein
Oestreicher." Was thut's, wenn Oestreich kosakisch wird! Der Redacteur des Lloyd
wandert mit seinen Mitarbeitern über die Grenze.
Während der Agitationen für das Erbkaiserthum zerfielen die aus dem Prin¬
cip hergeleiteten Parteien in landsmannschaftliche Fractionen; die unerwartet feste
Haltung, welche das absolutistische Preußen in der seine eigenen Interessen so
nahe berührenden Oberhanptsfrage einnahm, hat sie wieder vereinigt. Die ge¬
säumten Absolutisten Deutschlands, mit Oestreich und Rußland im engsten Ein¬
Verständniß, haben ihren alten Bund wieder erneuert, auf der andern Seite halten
die Rothen, mit polnischen Flüchtlingen zersetzt, mit Sympathien für die ungarische
und italienische Sache sich tragend, gleichfalls zusammen. Kartätschen und Bar¬
rikaden sind wieder die Träger der entgegengesetzten Principien. Und in der Mitte
dieser tvdfeindlichen Gegensätze steht unsere eigne, die constitutionelle, nationale
Partei, im Zustand der völligster Desorganisation — wir dürfen uns eine That¬
sache nicht verhehlen, die unabweisbar geworden ist.
Die constitutionelle Partei, welche in den einzelnen deutschen Staaten — in
Oestreich und Preußen — durch die vereinigten, wenn auch entgegengesetzten An¬
strengungen des Radicalismus und der Reaction gefallen war, hatte in Frankfurt
in der Weidenbuschpartei ihren bestimmten Ausdruck gefunden, und es schien, als
ob der in Preußen siegreiche Absolutismus sich mit ihr verbunden würde. Das
Ministerium Manteuffel vctroyirte eine Verfassung, in welcher dnrch Anerkennung
des Rechts der Urwähler die Demokratie befriedigt wurde, während es den Aus¬
schweifungen der Partei einen festen Damm entgegensetzte; es schlug in seinen
Noten an Frankfurt und die deutscheu Regierungen einen Weg ein, der freilich
die demokratischen Centralisationspläne nicht befriedigen konnte,, der aber wenig¬
stens den ernstlichen Wunsch, mit der Nationalversammlung in ein gedeihliches
Einverständniß zu treten, ausdrückte, und der den altdynastischen Gelüsten Oest¬
reichs scharf genug entgegentrat. Es erfolgte nun der Zusammentritt der preußi¬
schen Kammern, in welche unsere Partei das Uebergewicht zu haben schien, gleich
darauf die Constituirung des Centralstaats Oestreich, freilich vorläufig nur auf
dem Papier, und in Folge dessen der Welcker'sche Antrag, der durch einen kühnen
Griff das Heft des Reiches in die Hände Preußens legen sollte.
Mit dem Fall desselben beginnt eine Reihe von Intriguen, die einen höchst
widerwärtigen Charakter an sich tragen, über die man aber nicht hinausgehn kann,
wenn man sich über die jetzige Lage der Parteien verständigen will. Die Demo¬
kraten, welche für sich die Majorität nicht erlangen konnten, beobachteten die von
ihrem Standpunkt aus gar nicht zu verwerfende Taktik, mit den beiden dynasti¬
schen Parteien zu handeln, und für den Gewinn realer Freiheitsbestimmungen der
einen oder der andern diejenigen dynastischen Formen preiszugeben, welche man
gerade begehrte. Die östreichischen Absolutisten hatten die Gemeinheit, auf diesen
Plan einzugehen, und, indem sie mit der Linken stimmten, in die deutsche Reichs¬
verfassung eine Reihe von Paragraphen einzuschmuggeln, die nur die Absicht hat¬
ten, die Annahme derselben von Seiten des Königs von Preußen unmöglich zu
machen. Die constitutionelle Partei stand in diesem Augenblick rathlos; sie hatte
auf Preußens Hegemonie die letzte Hoffnung einer energischen Constituirung des
Reichs gebant, und Preußen hat es verschmäht, durch eine bestimmte Erklärung
vor der definitiven Feststellung der Verfassung sich darüber auszusprechen, wie es
sich zu derselben verhalten wolle. Ob diese Zögerung Perfidie oder Schwäche war,
kann mit Bestimmtheit nicht ausgemacht werden; die sogenannte Großdeutsche Par¬
tei — als deren Wortführer in Sachsen Herr Professor Wuttke bekannt ist, hat
zwar nicht verfehlt, den Erfolg der Weidenbuschpartci den Intriguen der preußi¬
schen Politik zuzuschreiben, welche sich dadurch in eine günstige Position habe brin¬
gen wollen, wenn sie gleich entschlossen gewesen sei, die aus solche Weise erschmei¬
chelte Kaiserkrone nicht anzunehmen; allein trotz des Dunkels, mit dem unsere
Modernen Diplomaten sich umgeben, scheint uns doch die Ehrlichkeit solcher Män¬
ner, wie Brandenburg und Manteuffel, zu unzweifelhaft, als daß wir ihrem
Verfahren den Verdacht einer offenbaren Ehrlosigkeit unterschieben sollten, wir
finden vielmehr, daß diese Partei durch die Motive, die sie ihrem Gegner
unterschiebt, sich selber charakterisirt. Es scheint alles darauf hinzudeuten, daß
das preußische Cabinet bis zur letzten Stunde unschlüssig war, und zu einer be¬
stimmten Entscheidung erst denn kam, als die Bewegung für das Erbkaiserthum
einen entschieden demokratischen Charakter angenommen hatte.
Der Weidenbuschpartei blieb nichts anderes übrig, als auf der Ausführung
der Verfassung, für welche sie ihre Ehre verpfändet hatte, zu bestehn. Sie stützte
steh auf die constitutionellen Vertreter der einzelnen Stämme, die nun sich überall
in ihrem Sinne aussprachen; freilich aber dadurch auch Elemente in die Partei
Yachten, die ihr bis dahin fremd geblieben waren. So würden z. B. wir in
Achsen, die wir bisher ans Seite der Negierung gegen die radicalen Kammern
Wanden halten, in eine gemeinsame Opposition gegen die Regierung gedrängt.
Verfolgen wir nun die Fortschritte der Parteibildung.
In Baiern und Hannover werden die Kammern vertagt. Die Nationalver¬
sammlung sendet durch die Reichsgewalt Commissaire an die einzelnen Regierun¬
gen, um sie zur nachträglichen Anerkennung der Verfassung zu vermögen und sie
aufzufordern, der gesetzlichen Stimme der Landesrepräsentanten ihr Ohr nicht zu
verschließen. Als Antwort daraus werden in Preußen, Sachsen und Hannover
die Kammern aufgelöst; Herrn Bassermann wird in Berlin die Thür gewiesen, mit
dem Ersuchen, sich in die innern Landesangelegenheiten gefälligst nicht mischen zu
wollen; dasselbe geschieht in Dresden mit Herrn v. Watzdors, in München mit
Herrn Matthy, nur daß Herr v. d. Pfordten, wie es bei untergeordneten Agen¬
ten der Fall zu sein pflegt, noch etwas unhöflicher ist, als Graf Brandenburg.
Den gesetzlichen Vertretern des Landes ist nun der Weg verschlossen. Ein¬
zelne Kammermitglieder sammeln sich in Frankfurt, um aus der Entfernung, dem
Mittelpunkt der Bewegung, auf ihre Heimath zu influiren. Dagegen treten zu¬
erst die östreichischen Abgeordneten, dann ein Theil der bairischen und noch andere
aus der Nationalversammlung ans. Sie beschließt, um nicht ganz auseinander
zu fallen, die Zahl der zur Giltigkeit eines Beschlusses erforderlichen Mitglieder
zu reduciren, und das Präsidium zu ermächtigen, an jedem beliebigen Ort den
Reichstag auf's Neue zu versammeln.
Die Coalition der Linken mit den Centren ist schon gelöst. Die Linke, ge¬
stützt auf die allenthalben gebildeten demokratischen Vereine, verlangt einen Aufruf
an's Volk zur zweiten Revolution; sie verlangt die augenblickliche Vereidigung
des Militärs auf die Verfassung. Diese Anträge werden verworfen, „weil nur
durch die Regierung auf die Soldaten eingewirkt werden könne." Die rechte Seite
schmeichelt sich noch, die Regierungen gewinnen zu können, nachdem ihre Agenten
überall hinausgeworfen sind.
Dagegen beschließt sie, den neuen, nach der Verfassung zusammengesetzten
Reichstag auf einen bestimmten Tag auszuschreiben. Als Antwort erläßt das
preußische Cabinet an die Oberpräsidenten den Befehl, jedem derartigen Ansinnen
mit der ganzen Strenge des Gesetzes zu begegnen.
Die Bewegung beginnt einen gewaltthätig«» Charakter anzunehmen. In Wür-
temberg gelingt es, durch die Vereinigung des Ministeriums mit den Kammern
wenigstens die Form des gesetzlichen Ganges zu wahren. Der König fügt M
nach längerem Sträuben dem Willen des Volks. Darauf richtet Preußen an
sämmtliche Fürsten eine Circularnote, worin es sie zu einer Konferenz nach Berlin
einladet, um die Reichsverfassung zu octroyiren und innerhalb derselben einen
Sonderbund (politischen Zollverein) unter preußischer Hegemonie, mit vorwiegendes
Richtung gegen den Radicalismus, zu errichten, und worin es jeder Regierung
zum Kampf gegen ihre Völker Waffenhilfe verheißt. Die Deutsche Reform, das
Organ der herrschenden Partei, erklärt, daß an Transaction nicht weiter zu denken
sei, das Schwert müsse entscheiden, und sie hoffe nur, die Entscheidung werde
uicht allznblutig sein — eine Hoffnung, die bekanntlich bei der Unterdrückung des
Wiener OctoberaufstandeS Herr Welcker, der damalige Reichscommissar, gleichfalls
getheilt hatte.
Das Reichsministerium erklärt dieses Versprechen Preußens für ungesetzlich;
nur der Centralgewalt stehe es zu, über die Verwendung von Truppenthcilcn des
einen Staats in dem andern zu verfügen. In Folge dieser Erklärung rücken
preußische Truppe» in Dresden ein, um den ebeu ausgebrochenen Aufstand zu
dampfen, preußische und östreichische Truppen nähern sich der Rheinpfalz, wo
ebenfalls ein Aufstand zu Gunsten der Verfassung bevorsteht.
Was thut uuter diesen Umständen die Centralgewalt? Sie schickt auf's Neue
Commissarien an die betreffenden Punkte, deren Wirksamkeit uoch dadurch gehoben
wird, daß sich der Träger der Centralgewalt in einem Privatschreiben an den König
von Würtemberg mit dem Princip der Vereinbarung vollkommen einverstanden erklärt.
Inzwischen bekämpft der Kaiser von Oestreich mit Hilfe russischer Truppen
die ungarischen „Heiden", seine rebellischen Unterthanen.
- Die blutigen Ereignisse in Sachsen scheinen nnn derjenige Puukt zu sein, um
welchen die vollendete Contrerevolution sich crystallisiren wird. Die gesetzlichen
Mittel, die Regierung von ihrem bisherigen Wege abzuwenden, waren für den
Augenblick erschöpft. Dennoch war es, so lange die Regierung uoch durch
keinen offenen Schritt angedeutet hatte, sie wolle von der sächsischen Verfassung
abgehen, ein Verbrechen, zum Aufstand zu schreiten, um so mehr, da man zu
denselben die unreinen Elemente, vou welchen man sich bis dahin strenge geson¬
dert hatte, heraufbeschwören mußte. Durch die Einsetzung einer provisorischen
Regierung trat der Aufstand in Dresden aus allen constitutionellen Schranken;
in Leipzig schrieen die Sturmvögel der rothen Republik ihre wilde» Schaaren zu¬
sammen, bei deren Bekämpfung es sich nicht mehr um ein politisches Princip,
sondern um die letzten Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung handelte. Es
waren zum Theil entlassene Zuchthaussträfliuge, die man auf der Barrikade einfing.
Die Stadt, deren Behörden im Anfang soweit gingen, sich für neutral zu erklä¬
ren zwischen der Regierung und der Jnsurrection, ist nun dnrch eine sehr natür¬
liche Reaction wieder im extremsten Sinne conservativ geworden.
Unter diesen Umständen bleiben der Nationalversammlung mir zwei Wege.
'Entweder stellt sie sich offen an die Spitze des Aufstandes oder sie unterhandelt mit
den Regierungen und geht im Wesentlichen auf deren Vorschläge ein. Sie wird
keinen von beiden wählen. An dem ersten hindert sie ihr gesetzlicher Sinn; sie
wußte, wie die Franzosen in Canada gegen die Engländer, die wilden Rothhäute
bewaffnen und diese Verantwortung kann sie nicht tragen. Von dem zweiten hält
sie ihr Ehrgefühl zurück. Jeder Mittelweg aber entscheidet den, Sieg der Contre-
revolution.
Er wird den Siegern nicht zu Gute kommen. Sie sind eben so wenig pro-
ductiv als die Republikaner. Sie können mit ihren Heeren den Aufstand bändi¬
gen, aber sie können den wankenden Staatsorganismus nicht wieder in seine Fugen
einrücken. Entweder halten sie bei der Verfassung, an die sie gleichfalls durch
ihre Ehre gebunden sind, und dann erliegen sie auf eine gesetzliche Weise der
Demokratie; oder sie wagen einen neuen Staatsstreich und damit ist der letzte
Nest des Nechtsgesühls in der Nation untergraben und die Revolution nnr auf
kurze Zeit vertagt, die durch eine weise Anordnung der Umstände bereits hätte
beendigt sein können.
Es ist ein leidiger Trost, wenn wir das Joch, unter dem wir seufzen, auch
aus Anderen lasten sehen. Unser Freiheitötraum ist nicht schneller verflogen, als
der Rausch unserer Nachbarn im Süden und Westen. Eine Armee der französischen
Republik identificirt auf italienischem Boden Republik mit Anarchie und erklärt
die freien Städte in Belagerungszustand, um das göttliche Recht des Papstes,
vou freche», heidnischen Unterthanen verletzt, wieder herzustellen. Die National¬
versammlung, der ganz reaktionären Negierung gegenüber im Geruch eines extre¬
men Radikalismus, erklärt sich mit 42!! gegen 226 Stimmen sür das Fortbestehn
des Preßzwanggesetzcs und unterwirft die Presse Cautionen, die noch bei uns
unerhört sind. Sie genehmigt die Schließung der Clubs, also die dauernde
Suspension deö Vereiuiguugsrechtes. Herr Falloux, Cultusminister, erläßt an
die naseweisen Schullehrer um Circnlar, das Eichhorn nicht besser hätte abfassen
können. Eine partielle Amnestie der politischen Verbrecher, eine Mäßigung der
massemveisen Deportationen, wird als Gnadenact am Jahrestag der Republik der
Nation ins Gesicht geworfen. In der auswärtigen Politik waltet die alte dyna¬
stische Intrigue, im Innern dreht sich das Hauptinteresse um die persönlichen
Angelegenheiten des neuen Hoff, der Familie Bonaparte. Wie in Oestreich, do-
r.iinirt der Wille der Feldherrn, nur daß neben ihnen noch die Herren von der
Börse und ihre Agenten das Wort führen. Die gesammte Reaction, mit welchem
königlichen Portrait sie sich auch ansstasfiren möge, sammelt sich um die Doktri¬
närs des alten Regiments. Für die socialistischen Fragen, in denen man die eigent¬
liche Productivität der neuen Staatsumwälzung sah, hat man weiter keine Ant-^
wort, als Gefängniß, Geldstrafen und die Carricaturen des Charivari. Dem
forcirten Pathos der modernen Gläubigen, P. Leroux, Proudhon und wie sie
heißen, stellt sich der rohe Cynismus der Besitzenden entgegen. Für die staatliche
Organisation ist gerade so wenig geschehen, als uuter Guizot, und wäre man nicht
durch die Wahl uuter verschiedenen Dynastien in Verlegenheit gesetzt, schon längst
wäre das Palladium des souveränen Egoismus wieder auf dem Altar des Vater¬
landes ausgerichtet.
In Frankreich hatte die Bewegung den einzigen Zweck, eine volksthümliche
Regierung herzustellen; in Deutschland kam dazu die schwierige Aufgabe, die
Staatseinheit der Nation zu gründen. In Italien wurde beides erschwert durch
den Einfluß, den ein fremder Kriegerstaat'über die Politik der Halbinsel ausübte.
Von den beiden Parteien, welche seit Jahren für die Unabhängigkeit Italiens
arbeitete, hatte die revolutionäre, repräsentirt durch Mazzini, für den Augenblick
immer die meisten Chancen, denn es war nichts leichter, als die ganz kraftlosen
Regierungen durch einen raschen Stoß umzuwerfen; allein das Volk militärisch
zu organisiren, um es gegen die Restauration von Seiten Oestreichs zu schützen,
dazu hatte sie keine Kraft. Die Hoffiiuugen der echten Patrioten, die über den
Augenblick hiuanSblickten, knüpften sich also an diejenige Partei, welche sich mit
unserer erbkaiserlichcn vergleichen läßt. Der Abbate Gioberti ist ihr vorzüglichster
Vertreter. Sein Plan ging auf die Gründung eines Bundesstaates unter der
Hegemonie eines kriegerischen Königthums. Dieses Königthum konnte nnr dem
einzigen militärisch organisirten Staat und seinem Fürsten, dem „Schwert Italiens"
zufallen. Der geringe Erfolg des vorigen Jahres hatte die Hoffnungen Carl
Albert's nicht gebrochen, er setzte noch einmal die Existenz seines Staates für
seinen Ruhm und für die Unalchängigkeit Italiens ein, und verlor. In drei
blutigen Tagen vernichtet der greise Radetzki (20.-23. Mai) die Streirkräste der
Piemontesen, und der neue König mußte das Reich mit einem demüthigenden
Waffenstillstand, mit der Auflösung der uationalgesinnten Kammern und der Be¬
kämpfung seiner eigenen Stadt Genua eröffne». Sardinien ist nnn in die Reihe
der von Oestreich abhängigen Kleinstaaten gezogen und nur Eines kann es retten,
die Unmäßigkeit deö Siegers. Seit der rücksichtslosen Besetzung von Alessandria
durch die Oestreicher (24. April) sind die Unterhandlungen vorläufig abgebrochen,
und weniger die Intriguen Gioberti's in Paris, als die Erfolge der östreichischen
Waffen in Ungarn werden nnn entscheiden, ob das westliche Europa sich in den
Kampf des Absolutismus und der Republik in der Halbinsel einmischen wird.
Nur eine Stadt der Lombardei hatte sich durch deu Krieg verleiten lasse», von
Oestreich abzufallen-, Brescia wurde mit blutiger Geißel gezüchtigt (l. April). Die
Schnelligkeit der Kriegsoperationen ließ in der übrigen Lombardei keinen Gedanken
an Wiederstand aufkommen. Gleich nach dem Sieg über die Piemontesen wurden
die kleinen von Oestreich abhängigen Fürstentümer —- Parma, Modena — re-
staurirt. In Toscana war die Bewegung über ihre natürlichen Greuzen hinaus¬
gegangen, das liberale Ministerium hatte sich, vou den Demagogen gedrängt, in
ein republikanisches verwandelt, ohne sich doch der zu Rom versuchten italienischen
Centralisation einzuschließen. Wenn in der ersten Aufregung über die Ereignisse
in Oberitalien Guerazzi (27. März) zum Dictator ernannt wurde, so war das
eine künstliche Anspannung; die Reaction ging aus natürliche Weise von dem Volke
selbst aus, das sich theils vor den Republikanern aus den untern Volksschichten,
«
theils vor den Oestreichern fürchtete. So erfolgte den 12. April die Restauration
des Großherzogthums und gleich darauf die Auflösung der Kammern, nur in
Livorno behauptete sich die Republik, aber auch hier nur durch das Proletariat.
Auf Sicilien hatte man die besten Hoffnungen gesetzt. Während des vorigen
Aufstandes hatte das Volk einen tüchtigen Sinn und eine Geschlossenheit gezeigt,
die eine seltene Erscheinung bei den Italienern ist. Die Entschiedenheit, mit wel¬
cher die Negierung und das Parlament im März die Vermittelungsvorschläge der
englischen und französischen Bevollmächtigten verwarfen, ließ einen ernstlichen Kampf
erwarten, und das Erstaunen war daher nicht gering, als im Lauf von noch nicht
14 Tagen ganz Sicilien sich ohne eine Schlacht der Discretion des Königs von
Neapel unterwarf. Den Polen, welche hier wie in Sardinien, wie in allen
Kriegen gegen den Absolutismus sich am Commando betheiligt hatten, blieb nichts
übrig, als sich nach Frankreich zurückzuziehn.
So ist das letzte Asyl des „freien Italiens" — wenn wir Venedig aufneh-
men, dessen ernstliche Belagerung jetzt gleichfalls durch den Eroberer von Brescia,
F. M. Haynau, beginnt — die alte Hauptstadt der Christenheit. Hier hat der
Radicalismus sein höchstes Ziel erreicht; man hat die Bannbulle des frommen
Pius verlacht, und das ehemalige Haupt des jungen Europa, der Chef aller ge¬
heimen Verbindungen, die seit 20 Jahren die Grundvesten der alten Legitimität
unterwühlten, steht an der Spitze der Republik. Wahrscheinlich ist der kurze
Traum schon in diesem Augenblick vorüber; unsanft gestört von einer Seite, wo
man es am wenigsten erwartet. Die französische Republik, welche mit der Ver¬
sicherung debütirte, allen Völkern durch „friedliche Mittel" zur Erwerbung ihrer
Freiheit zu verhelfen, beginnt ihre Thätigkeit damit, das Papstthum zu restauri-
ren. Die Phrasen, mit denen der in den Formen der jüngsten Philosophie ge¬
schulte Mazzini reichlich umzugehn weiß, werden gegen die Bajonnette des alten
Napoleonischen Marschalls nicht weit ausreichen, und die Wiege der italienischen
Erhebung wird auch ihr Sarg sein.
Die Ostermesse stand hier im schönsten Flor, da flog durch die Menscken-
massen und Budenreihen die finstre Nachricht, in Dresden sei Aufstand losgebro¬
chen, man kämpfe gegen das Militär, die hiesige Garnison solle auf der Eisen¬
bahn nach Dresden geschafft werden. Aufgeregte Volkshaufen wogten um den
Bahnhof und durch die Nachbarstraßen, die Schienen wurden aufgerissen, um den Ab¬
zug der Schützen zu verhindern, welche auf einem Umwege außerhalb Leipzig die
Bahnlinie zu erreichen wußten; das Frankfurter Thor wurde durch Lastwagen ver¬
rammelt, weil man den Einzug von Preußen aus Mersevurg oder irgend woher
befürchtete. Das war der Anfang von vier unruhigen Tagen. Die Nachrichten
ans Dresden erhielten eine athemlose Spannung, die Sprecher der demokratischen
Vereine schürten in der Masse, allerlei Gesinde!, welches zu Meßzeit in dem wohl-
häbigen Leipzig zahlreicher ist, als sonst, lärmte mit den wenigen Exaltirten Leip¬
zigs durch die Straßen. Ein Waffenladen ward vom Pöbel erbrochen und in der
Nacht vom Sonntag zum Montag floß in dem Kampf der Communalgarde gegen
die Tobenden Menschenblut im Straßenkampfe. Der Kravall in Leipzig war so
unmotivirt, planlos und schädlich als möglich, die Communalgarde und der Ma¬
gistrat hatten ihre deutsche Gesinnung erklärt, ein Feind der deutschen Einheit war
in der Commune Leipzig gar nicht zu bekämpfen. Dagegen wurde durch diese
Aufregung Vieles verloren. Außer mehr als einem tüchtigen Menschenleben, die
Einkünfte ans einer großen und glänzenden Messe, welche in ihrer besten Zeit
aufgehoben werden mußte, und was noch höher anzuschlagen ist, ein Theil des
Selbstgefühls und des Gewichts, welches Leipzig in die Waagschale des Parlaments
zu werfen hatte. Zwar hat die hiesige Communalgarde mit ehrenwerther Aus¬
dauer für Ordnung und Gesetz gestanden, und fünf Nächte hindurch die Pflichten
eines treuen Wirths gegen ihre Gastfreunde und deren Güter männlich erfüllt;
aber die Vorsteher der Commune ließen sich durch das Drängen der exaltirten
Partei doch zu einem Schritt verleiten, welcher mild gesagt, unklar war; sie stell¬
ten die Gemeinde Leipzig durch Absendung eines Commissars »ach Frankfurt und
dnrch öffentliche Erklärung „bis zu Austrag der Conflicte zwischen Krone und
Volk" uuter den Schutz der deutsche» Centralgewalt. Was sollte das heißen? —
Keine Commune, und sei sie die mächtigste, hat das Recht sich in solcher Weise
von ihrer Landesregierung loszulösen, so lange diese verfassungsmäßig be¬
steht. Und bestand die Regierung Sachsens nicht sowohl factisch, als zu Recht,
trotz dem Aufstand in Dresden? — DaS kann von keiner Partei geleugnet werden.
Die Krone Sachsens hat die Anerkennung der Frankfurter Verfassung verwei¬
gert und deshalb die Kammern aufgelöst. Für die Anhänger des Frankfurter
Parlaments, welche die Ueberzeugung haben, daß erst durch die gemeinsame Ein-
willigung der Negierung und der Landeskammcr die deutsche Verfassung für den
einzelnen Staat Rechtsgiltigkeit erhalte, ist das Recht der Krone, in diesem Fall
durch Auflösung der Kammern und neue Wahlen an das Volk zu appelliren, ganz
unzweifelhaft und der gesetzliche Weg, den Volkswillcn in den neuen Kammern
auszudrücken, ganz unzweifelhaft; für die Entschiedener aber, welche erklären,
daß die Publikation der Reichsverfassung im Centralgesetzblatt allein, auch ohne
Veistimmung der Landesregierungen und Landeskammern und also ohne Publica¬
tion derselben in den Landesgcsetzblättern ausreiche, die Reichsverfassung rechtSgil-
tig zumachen, ist die Berechtigung sich gegenwärtig von ihrer Landesregierung
loszusagen, um nichts größer. Zwar ist von ihrem Standpunkt ans jede Weige¬
rung der Landesregierungen eine gesetzwidrige Handlung, aber da sie die Ober-
gewalt des Centralparlamcnts und seiner Executive, des Neichsministeriums, .so
hoch fassen, müssen sie anch die Beschlüsse dieser höchsten Autorität über die Schuld
und Strafe der ungesetzlichen Handlung abwarten, und haben nicht das geringste
Recht, sich in That oder Wort eigenwillig und voreilig von ihrer Landesregierung
abzulösen. Weder hatte Dresden auch von diesem Standpunkt aus das Recht die
Waffen zu ergreifen, noch Leipzig, sich durch eigenmächtige und willkürliche Er¬
klärung von einer unpopulären Negierung abzulösen. Auch praktisch nützlich war die
Erklärung nicht, denn was hätte die Centralgewalt der Stadt Leipzig für einen
Schutz gewähren können? Reichstruppen? Auch die Braunschweiger sind noch
nicht vereidet. Oder einen neuen Netchstvnuuissar nach dem Königstein? Es ist
keine Hoffnung, daß der etwas ausrichten werde. Leipzig mußte sich selbst helfen
gegen seine innren Feinde, und das hat es endlich anch gethan, und in dem
Kampf gegen die Krone durfte die Gemeinde nicht zweifelhaft sein, welchen
Weg sie zu gehen habe. Es ging aber, wie es in der Eile und im großen Eifer
auch dem Guten zu gehen pflegt, man suchte nach einer Phrase, um sich und An¬
dere zu beruhige».
Wenn übrigens jene Erklärung der Gemeinde, wie wir hören, ein Grund
ist, daß Leipzig seinen tüchtigen Oberbürgermeister Klinger verliert; wenn er wirk¬
lich wegen seiner Neigung zum Radicalismus von den ehrenwerthen ältlichen
Herren zur Niederlegung seines Amtes gedrängt wurde, so bedauern wir seinen
Abgang herzlich, denn wir halten ihn für ein Unglück Leipzigs. Wohl möglich,
daß Klingers ehrenwerthe Gesinnung sich inmitten des kraftlosen und hastigen
Parteitreibens uicht immer freien Blick und Ruhe erhalten hat, wie viele von uns
können sich dessen rühmen? — aber er ist ein Mann von Talent und versprach
ein politischer Charakter zu werden und an den alten grauen Motten, welche durch
die letzten harten Schläge in Leipzig aufgeschreckt, um den Nathstisch herumflattern,
läßt sich weder Talent, noch Charakrer, noch irgend etwas bemerken, als Unfähigkeit.
Die Grenzboten haben ihr leichtes Zelt in der Gemeinde Leipzig aufgeschla¬
gen, auch sie haben der Stadt für gastliche Aufnahme und vielen Einzelnen für
menschliches Wohlwollen zu danken. Und so sei es uns gestattet, an die Bür¬
ger Leipzigs ein ehrlich gemeintes Wort zu richten. — Dieser Frühling hat über
Deutschland den Anfang eines ungeheuern Kampfes gebracht, in welchem die deut¬
schen Völker vor der Welt den Beweis zu führen haben, ob sie Männer mit Ver¬
nunft, festem Willen und praktischen Forderungen, oder ungeschickte Poeten und
schwache Träumer sind, ob der alte Drang nach deutscher Einheit eine unnütze
Phantasterei oder ein tiefes Bedrängniß edler Naturen war. Was die Besten
der deutschen Nation lauge ersehnt, das hat die Blüthe deutscher Kraft zu Frank¬
furt durch die Thätigkeit eines Jahres der Wirklichkeit nahe gerückt, aller Idea-'
liSmus, alles Selbstgefühl der Volker hat sich an das Frankfurter Parlament ge¬
hängt, die deutsche Verfassung ist durch unsere gesetzlich gewählten Vertreter auf
rechtsgültigem Wege zu Stande gebracht worden, unter den schwierigsten Verhält¬
nissen, eine Riesenarbeit für ein edles, aber politisch ungebildetes Volk. Durch
Blut und Irrthümer, durch Zweifel und Täuschungen schritt unsere Nationalver¬
sammlung eifrig und ehrlich in dem Wege des Rechts und der Gesetzlichkeit vor¬
wärts. Jedes gute Wort, das in Frankfurt gesprochen, jeder Beschluß der dort
gefaßt wurde, war unser, wie auch der Parteistandpunkt ihn grade beurtheilte;
wir waren ein Jahr lang wirklich ein einiges Volk und trotz allerlei Unglück
des Privatlebens war das letzte Jahr das größte, welches die deutschen Völker
seit langer Zeit erlebt, ist die Verfassung unsere größte That seit langer Zeit. Es
kommt jetzt gar nicht mehr darauf an, ob alle Bestimmungen der Verfassungen
alle Parteien befriedigen, die Verfassung ist nach Recht und Gesetz geschaffen, durch
unser Herzblut, durch unsere Thränen, unsere Liebe geweiht, sie gehört uns und
wir ihr. Jetzt gilt es, ihr Gesetzeskraft zu verschaffen, die Regierungen weigern
sich, sie anzuerkennen, die Souveräne und ihre Hausmacht stehen gegen die Völ¬
ker. Unsere Pflicht ist, die Souveräne zur Anerkennung zu zwingen.
Das ist die Pflicht der einzelnen Völker, der Sachsen, Preußen, Hannove¬
raner und Baiern. Das Frankfurter Parlament hat der Hausmacht der einzel-
nen Regierungen gegenüber keine andere Waffe, als die Sympathien der Völker.
Und wie das Parlament im letzten Jahr für uns gearbeitet hat, so ist jetzt die
Zeit gekommen, wo wir, die deutschen Männer, sür das Parlament arbeiten müssen.
Erwartet jetzt voll Frankfurt keine diktatorischen Beschlüsse, es wäre unweise und
schädlich, wenn das Parlament jetzt viel mehr thäte, als in würdiger und fester
Haltung der Nation zu vertrauen. — Wie man auch das Recht der National¬
versammlung gegenüber den einzelnen Staaten fassen möge, Misch ist bereits der
^eg eingeschlagen worden, daß die einzelnen Staaten ihre Stellung zu der
^kchissm,g erklärten, also das Recht in Anspruch nahmen, sich darüber zu ent¬
scheiden. Daß dies in der That ihr Recht sein müsse, ist nebenbei gesagt, unsere
Ansicht, aber wohlgemerkt, ein Recht der Staaten, d. h. der Regierung und ihrer
^lkskammeril zusammen, keinenfalls der Regierung allein. Wenn also in einem
Staat, wie in Sachsen, Preußen und Hannover die Kammern die Anerkennung
Reichsverfassung ausgesprochen haben und die Regierung sich weigert, diese
Anerkennung zu bestätigen, so tritt sür die Bürger des einzelnen Staates
das Recht ein, im verfassungsmäßigen Wege den Widerstand der Negierung zu
beseitigen. Zunächst in den neuen Kammern. Verfassungsmäßig müssen in den
^izelnen Staaten die neuen Kammern in kurzer Zeit zusammentreten. Wahr¬
scheinlich werden die Regierungen bis dahin alle Mittel aufbieten, das Frankfurter
Parlament unschädlich zu machen. Was sie auch durch Anwendung von Gewalt
wagen mögen, die Verfassung können sie nicht vernichten, sie ist in'^echt und Gesetz gemacht und Eigenthum der deutschen Nation. Die nächsten Kam¬
mern werden die Rechtsgiltigkeit derselben von neuem auszusprechen haben. Weigert
sich dann die Krone noch, so tritt der Fall ein, wo das absolute Veto, welches
nach den Verfassungen ihr Recht ist, anch ihr Verhängnis) wird. Das suspensive
Veto macht eine constitutionelle Losung der Conflicte zwischen Kammern und Krone
sicher, das Volk weiß, daß die Krone durch zwei Legislationen das Recht hat,
dem Volkswillen zu widerstehen und hat nnter allen Umständen die Pflicht, dies
Recht zu ehren. Das absolute Veto faßt den Begriff der Majestät so hoch, daß
es die Versöhnung eines Gegensatz zwischen Krone und Vvlkswillen der Intelli¬
genz des Souveräns vertrauensvoll überläßt. Wenn aber den Vouveräucn,
wie gegenwärtig der Fall ist, das Verständniß für die Forderungen des Vol¬
kes fehlt, so tritt der unlösbare Gegensatz zwischen dem gesetzlichen Recht des
Volks und der Krone in so schneidender Schärfe hervor, daß eine Versöhnung im
Gleise des Gesetzes unmöglich wird; dann kämpft Gewalt gegen Gewalt; wenn
die Krone dann Gewalt nicht scheut, die Bürger Leipzigs werden sie nicht fürchten. —
So ist in dem großen Kampf der Gegenwart auch dem sächsischen Volk seine
Rolle zugetheilt. Die neuen Kammern haben die Anerkennung der Reichsverfassung
von neuem von der Krone zu verlangen. Verweigert der besonnene und ehrliche
Mann, welcher gegenwärtig Sachsens Krone trägt, auch dann die Anerkennung,
so werden sie ihm den Wunsch des Volkes vorzutragen haben, von einer Stellung
freiwillig abzudanken, in welcher seine Ueberzeugungen mit denen des Volks nicht
länger bestehen können. Verweigert er anch das', so wird durch Auflösung der
Kammern und daraus hervorgehende Verweigerung der Steuern der Staat auf¬
gelöst und eine neue blutige Katastrophe wird Sachsen mit den Bruderstämmen
zusammenkitten. Hoffen wir, daß es zu diesem Letzten, Furchtbaren nicht kommen
wird, wenn die Krone aber eine solche Katastrophe herbeiführen sollte, dann komme
die Schuld des Blutes über das gekrönte Haupt. Leipzig wird dann seine Schul¬
digkeit thun, wie es jetzt für Gesetz und Ordnung seiue Pflicht gethan hat. Wenn
endlich die Souveräne wagen sollten, die Kammern nicht in der gesetzlichen Frist
zusammen zu berufen oder eigenmächtig die Verfassung zu verändern, so haben sie
die Constitution gebrochen und sind Verbrecher gegen'das Gesetz. Das gilt auch
von Preuße», denn obgleich die Verfassung dort noch nicht beschworen ist, besteht
sie doch zu Recht, und das Wahlgesetz ist ein Theil der V er fassun g.-^->
Die jetzigen vereinzelten Aufstände, wie in Dresden, waren nichts als gesetzlich!
unberechtigte Gährungen eines unbesonnenen Taumels, und die Regierung^
war noch in ihrem vollen Recht, sie zu bekämpfen. i
Mau ist auch hier in Leipzig geneigt, den beginnenden Kampf mit Mißmuthz
und Bangigkeit zu betrachten. Die Grenzboten tonnen diese Stimmung nicht!
theilen. Das Parlament hat abgeblüht, eine seltene Blüthe, die aus unseren'Herze»»
hervvrgeschossen ist. Was thut's? Die Frucht ist uns geblieben, ihre Verfassung,
und wir haben zu sorgen, daß sie Wurzel schlägt und ein Baum daraus wächst,
unseren Kindern zu Freude und Schutz. -— Wir haben lange genng die Hände
in den Schooß gelegt und zugesehen, wie unsere Brüder in Frankfurt für uns
gestanden haben, jetzt sollen wir uns selbst regen, um das Größte durchzusetzen«
Bei Gott, das ist Freude und Ehre, aber kein Grund zur Trauer! Oder meintet
ihr, daß die Freiheit und ein gesetzliches Gedeihen von Oben herab dem Untha-
eigen in den Schooß fallen würde? Diese höchsten Güter werden nur durch Mühe
erworben, durch Falten auf der Stirn und schwielige Hände. Wir würden sie
nicht über Alles lieben, wenn sie wohlfeiler werden. — »
ilie»
Was ihr aber anch thun müßt, ihr Bürger von Leipzig, ein heg
Schwert haltet fest, so lange ein Stück davon ans der Welt ist, das Recht! -
Die Partei des guten alten christlichen Staats, welche bisher meistens nur
auf populäre Weise das Volk aufgefordert hatte, die „infamen Jndenbengel,"
die es gegen seinen allergnädigsten König und Herrn aufwiegelten, tüchtig
durchzuprügeln, fängt plötzlich an, sich auf das Gebiet der heidnischen Gelehr¬
samkeit zu verirren. Die „Deutsche Reform" erklärte in einem Artikel, der mit
"Land! Land!" austug, die Gutgesinnten könnten sich jetzt einem ungetrübten Ent¬
zücken überlassen, da die Regierung entschlossen sei, die Urwahleu, die sie octroyirt,
durch eine neue Octroyirung wieder aufzuheben, und motivirte die NechtSgiltigkeit
c>ues solchen Staatsstreichs aus dem grimmen Heiden Aristoteles. Selbst dieser
Gott verlassene Mensch, der von den Wahrheiten des christlichen Staats und
der in demselben begründeten Ungleichheit der Meuscheu noch nichts wissen konnte,
hat durch eine gewisse Vorahnung des himmlischen Lichts, wie es der barmherzige
^vel von Zeit zu Zeit auch in die Brust Ungläubiger fallen läßt, die Entdeckung
^Macht, daß es drei Klassen vou Meuscheu gebe, die hochbesteuerten, die mittel-
besteuertei; und die niedrigbesteuerten. Auf diese Grundregel fordert die Deutsche
Reform das Publikum auf, seine gespannte Aufmerksamkeit zu richten, und dedncirt
""u folgendermaßen. Die Gerechtigkeit verlangt, daß im Repräsentativstaat Alle
^treten sein sollen, da es um aber drei verschiedene Menschenklassen gibt, so
U'äre es eine himmelschreiende Bevorzugung Eines Standes, sämmtliche Klassen
dei der Wahl durcheinander zu mischen; dem könne man dadurch abhelfen, daß
"'an jede Klasse für sich wählen lasse.
So innig ich nun auch von der Nichtigkeit dieser Beweistheorie durchdrungen
so glaube ich doch, daß die Deutsche Reform nicht weit genug geht. Es
M nämlich nicht drei Menschenklassen, sondern sechs. Die Deutsche Reform
sich an eine falsche Autorität gewendet. Aristoteles war eigentlich eine gemeine
Seele; zwar hatte er seinen plebejischen Ursprung anscheinend durch seinen Hof-
dienst bei dem gesalbten Monarchen Alexander dem Großen in Vergessenheit ge-
""
bracht, aber natiinun exnollas lurca, timion usizue ivcurrit! der Hofphilosopl) ließ
sich mit den rothen Republikanern von Athen, dieser zum großen Theil aus Ja-
cobinern zusammengesetzten nltrademokratischen Stadt in hochverrätherische Umtriebe
gegen seinen König und Herrn ein, und wurde daher mit Schimpf und Schande
cassirt. Wie kann die Deutsche Reform einen Wühler als Autorität citiren!
Hinter dem gleisnerischem Anstrich einer guten conservativen Meinung versteckt
sich dieselbe verruchte Gesinnung, die seit Klisthenes fluchwürdiger Auflösung der
alten Phylen die Geschichte Athens zu einem beklagenswerthen Gewebe unaus¬
gesetzter Meuterei und perennirenden Hochverraths gemacht, wie sich die Deutsche
Reform aus den Schriften ihres Freundes, des Professor Heinrich Leo, des Brei¬
teren darüber belehren kann.
Vielleicht erinnert sich die Deutsche Reform aus ihren Jugendjahren an den
römischen Schriftsteller T. Livius, den mau in Secunda zu exponiren Pflegt. In
diesem Autor, der jedenfalls populärer ist, als der häufig unverständliche Stagirit,
hätte sie eine viel höhere Staatsform finden können, als ein philosophirender Di¬
lettant sie bieten kann: ich meine die Verfassung des Königs Servius Tullius,
welche dieser Monarch mit der seinem Hause angestammten Erbweisheit (seine illegitime
Geburt thut nichts zur Sache) seinem Volk octrvyirt hatte, und welche seitdem im rö¬
mischen Staat zu Recht bestand, selbst nachdem das Königthum von Gottes Gna¬
den aufgehoben war. Diese Verfassung, mit zeitgemäßen Reformen, dem preußi¬
schen Staat zu Grunde zu legen, wäre nicht nur dem Princip entsprechender —-
weil hier eine concrete historische Basis vorliegt, bei Aristoteles ein bloßes Ideal
— soudern auch zweckmäßiger für die gute Sache der conservativen Partei. Es
müßten in jedem Kreise durch die Steuerkataster die Angehörigen der sechs Clas¬
sen ermittelt werden. Jeder Kreis stellt t 92 Wahlmänner, wovon die erste Classe
— die Millionäre — 97 erwählt, die andern Steuerklassen 95, die letzte, die
Proletarier, die c-tun-z consi, weil wir doch einmal Christen sind, nach der gün¬
stigsten Interpretation Einen. Diese Wahlmänner wählen nach absoluter Stim-
menzahl die betreffenden Deputirten. Wenn daraus nicht eine conservative Kam¬
mer hervorgeht, dann kann Herr v. Manteuffel sich niederlegen in die Gruft sei¬
ner Ahnen, und ausrufen: Ich verstehe meine Zeit nicht mehr.
Die Bezugnahme auf die Centurien hätte noch einen andern Nutzen, was die
Nechtsgiltigkeit einer neuen Octroyirung betrifft. Im preußischen Staat besteht zu
Recht, was durch das Landrecht und die Gesetzsammlung in der Dcckerschen Wirkt.
Geh. Hofbuchdruckerei publicirt ist. Die Schriften des Aristoteles gehören nicht
dazu, wohl aber das mit der Verfassung vom 5. December gemeinsam octroyirte
Wahlgesetz. Der griechischen Philosophie ist gesetzlich kein Einfluß auf das preu¬
ßische Recht eingeräumt worden. Wohl aber haben berühmte Juristen es versucht,
das Landrecht durch einen Recurs auf die betreffenden Paragraphen des Codex
Justinianeus, aus denen es doch zum guten Theil hergeleitet ist, zu kritisiren'
Zwar ist in diesem Codex von der Centuriat-Verfassung keine Rede, aber unsere
bewährtesten Rechtslehrer haben es ja nachgewiesen, daß eigentlich diese Aufzeich¬
nung nur als eine principlose Unterbrechung der organische» Fortbildung des rö¬
mischen Rechts aufzufassen ist. Gesetzlich ist die Centuriat-Verfassung nie aufge¬
hoben, wenn auch das bekannte Gesetz ut quoll triliutim nlvbes Msisct, >>o>»»I»in
tvnoiet, dem Umfang ihrer politischen Functionen Abbruch gethan haben mag.
Es wäre immerhin ein Znrückgehn auf ein im wissenschaftlichen Recht Begrün¬
detes, wenn mau die Manteusselsche Verfassung durch das Statut des Servius
Tullius ameudirte.
Ueberdem wäre dadurch die Einheit des Princips in der Verfassung strenger
festgehalten. Wie es jetzt ist, wählen die' Hochbesteuerten — die beiden ersten
Tullianischen Classen — die erste Kammer ausschließlich, an den Wahlen zur zwei¬
ten haben sie nur so viel Theil, als die übrigen Classen, wenn das Ministerium
auf meinen Vorschlag eingeht, würde diese Form beibehalten, dem Inhalt nach
aber würden die Wähln: zu beiden Kammern ausschließlich der ersten Classe zu¬
kommen , was auf die Uebereinstimmung dieser beiden gesetzgebenden Körper nur
einen ersprießlichen Einfluß haben könnte. —
Bekanntlich hat schon in den vormärzlichen Zeiten das Princip der sogenann-
ten ständischen Vertretung mit dem Princip der abstrakten Kopfzahl gekämpft. Da¬
mals konnte die Partei des organischen Naturwuchses nicht lebhaft genug das
System des französischen Census verurtheilen, welches den Staat in die Hände
der dickbäuchige» Bourgeoisie gab. Damals coquettirte die Reaction mit dem
Radicalismus, und es wurde» gegenseitig Komplimente gewechselt: was der Geg¬
ner behaupte, sei zwar Blödsinn, aber es habe doch Hand und Fuß; das princip-
uud farblose ^lüfte- Nililui dagegen u. s. w. Das preussische Repräsentativsystem
hatte die wunderliche Einseitigkeit, einem einzigen Stande, dem Grundbesitzer, die
Vertretung des Volks zu übertragen; es unterschied zwischen fürstlichem, ritterli¬
chem, städtischem und bäuerlichen Grundbesitz, aber der Kaufmann, der große
Fabrikant, der Gelehrte, der Staatsbeamte war weder wählbar noch Wähler,
wenn er nicht zugleich Grundbesitzer war. Herr v. Bülow Cummcrow gab damals
das Stichwort: Vertretung der Interessen, anstatt Vertretung der Stände. Denn
die staatliche Anerkennung ständischer Unterschiede hat nur so lange Sinn, als
diese selbst bestehn; der specifische Unterschied aber zwischen dem Ritter, dem Bür¬
ger und Bauern war im Zeitalter der Aufklärung verwischt. Das Princip, sämmt¬
liche divergirende Interessen innerhalb des Staats zu einer politischen Geltung
zu bringen, hat den Anschein großer Berechtigung, wenn nnr die Möglichkeit der
Ausführung näher läge. Einmal ist es aber schwer, die Interessen zu sondern.
Nur ein Beispiel. Nichts kann mehr anseinanderlaufen, als das Interesse des
Fabrikanten und des Kaufmanns, des großen Kaufherrn und des kleinen Krämers,
des Fabrikbesitzers und des Fabrikarbeiters. Wirft man alle diese Classen zusam-
neu, so wird eine Einheit des Interesses wahrlich daraus nicht hervorgehn; trennt
man sie, so ist es unmöglich, sie auch nur räumlich zu einem öfteren Beisammensein,
wie es die Wahl erforderte, wenn sie etwas Organisches sein soll, zu vereinigen, am
wenigsten in einem Staat, wo der Zunftzwang so völlig aufgehoben ist. Es würde
ferner schwer sein, principmäßig festzustellen, wie das Verhältniß sein soll,
um eine verständige Ausgleichung der widersprechenden Sonderinteresscn zu sichern.
Endlich darf man nicht vergessen, daß der Fabrikant nicht blos Fabrikant, der
Kesselflicker nicht blos Kesselflicker ist, daß der Mensch nicht völlig in die Interessen
der Fabrik, des Handels, des Gewerbes, der Gelehrsamkeit aufgeht, daß er noch
andere menschliche und bürgerliche Interessen hat, die vorzugsweise das verbin¬
dende, das zugleich conservative und Vorwärtsdrängende Moment des Staatslebens
ausmachen. Der Staat ist nicht ein Conglomerat ans Fabrik-, Handels-, Soldaten-,
Gelehrten- u. s. w. Interessen, er ist ein ethisches Ganze, wie der Mensch, der sich
noch nicht zu der Theatcrfigur eines abstracten Schneiders, Bedienten, Hofmarschalls
herabgesetzt hat. Daß wir übrigens eine Vertretung der technischen Korporationen
in einer ersten Kammer als Ergänzung der Volksvertretung für nützlich und selbst
nothwendig halten, haben wir mehrfach ausgesprochen.
Wenn aber diese Systeme wenigstens den Anschein eines Princips haben, so
hört bei der Theilung der Classen nach der runden Summe des Vermögens auch
aller Anschein von Vernunft auf. Zwischen sämmtlichen Bauern, sämmtlichen Kauf¬
leuten u. f. w. ist doch etwas gemeinsam; aber zwischen denen, welche 600 Thlr.
jährliche Einkünfte haben, gar nichts. Von der Brutalität, eiuen Rothschild/
weil er 10 Millionen im Vermögen hat, bei der Wahl gerade so viel Stimmen
einzuräumen, als 20,000 Krämern, Gelehrten, Beamten (ein Assessor schlägt sich
bis zum 35. Jahre, ein Oberlehrer bis zum 40. mit circa 500 Thlr. Durchschnitts¬
einkommen herum), will ich gar nicht reden.
Jener Abklatsch vom System des Servius Tullius oder des Aristoteles hat
auch nicht einen logischen oder sittlichen Grund, er geht nur vou der Zweckmäßig¬
keit aus. Man hofft durch Wahlen, in denen der Reichthum den Ausschlag gibt,
gefügige Kammern zu erhalten. Man vergißt dabei nur, daß Kammern die Re¬
gierung nur so weit kräftigen, als sie selbst Kraft haben. Wenn sie nicht von
der öffentlichen Meinung getragen werden, sind sie ein sehr schwaches Bollwerk
gegen die Fluth der Revolution. Das hat das Parlament der Juli-Dynastie
gezeigt, das ließ im Kleinen schon jetzt die Herrcncnrie und die preußische erste
Kammer erkennen, obgleich wir bei einer ersten Kammer nicht vergessen wollen,
daß ihre einzige Aufgabe die ist, voreilige Beschlüsse der zweiten Kammer, die
mit einer kleinen Majorität gefaßt werden und von denen man daher nicht weiß,
ob sie auch wirklich der öffentlichen Meinung entsprechen, durch ein vorläufiges
Veto aufzuhalten, ohne die Krone in diesen immer gehässigen Conflict hineinzu«
ziehen. So hat das Oberhaus Großbritanniens seine Aufgabe gefaßt; einer ent¬
schiedenen Majorität des Unterhauses setzt es keinen Widerstand entgegen.
Die einzige Ausgabe liegt darin, diejenigen Personen, welche ein selbststän¬
diges Urtheil über Staatsangelegenheiten unmöglich haben können, von der Wahl
auszuschließen, um dieselbe nicht zu einem unwürdigen Hasardspiel zu machen.
Man hat schon eine gewisse Altersgrenze anerkannt, man wird auch eine Grenze
des Besitzes oder der Beschäftigung finden können. Völlig genügend wird eine
solche Grenze nie sein, so wenig man bestimmen kann, wie viel Sandkörner dazu
gehören, um einen Sandhaufen zu bilden; sie wird nur annähernd ihr Ziel er¬
reichen, und Zufall und Willkür sind nicht davou auszuschließen. Völlig aufge¬
hoben wird der Uebelstand nur dann, wenn ein kräftiges, organisches Gemeindc-
leben in Stadt und Land sich entwickelt haben wird. Darauf können wir aber
nicht warten, denn die völlige Organisation der Gemeinde wird.längere Zeit er-
fordern, als die vorläufige Organisation des Staats.
Es handelt sich, wie man steht, um eine verständige gesetzliche Definition des
Begriffs „selbstständig." Auch eine solche stellt die Deutsche Reform in Aussicht.
Hätte das Ministerium am 5. December eine solche gegeben, so wäre rechtlich
dagegen so wenig einzuwenden gewesen, als gegen die Octroyirung der Verfassung
überhaupt. Es hat vorgezogen, Urwähler anzuordnen, und die zukünftige Be¬
schränkung derselben der gesetzmäßigen Revision zu überlassen. Es hat recht daran
gethan, denn die Idee der allgemeinen Wahlen war so populär geworden, daß
eine eigenmächtige Einschränkung derselben mit größeren Nachtheilen verbunden
gewesen wäre, als je aus dem allgemeinen Wahlrecht sich hätten ergeben können.
Nachdem aber die Verfassung durch die Anerkennung von Seiten der Kam¬
mern rechtskräftig geworden, wäre es ein hochverräterisches Attentat gegen die
Majestät der Nation, auch uur deu kleinsten Punkt derselben, wenn anch nur
durch eine neue Interpretation, eigenmächtig wieder aufzuheben. Es wäre nicht
allein verbrecherisch, es wäre auch verderblich; denn die letzte Spur einer Achtung
vor Recht und Gesetz wäre durch ein so frevelhaftes Spiel ausgelöscht. Nicht
nur das gegenwärtige Ministerium, sondern anch die Krone, in deren Namen die
Verfassung proklamirt worden, ist mit ihrer Ehre an den Buchstaben des Gesetzes
gebunden.
Herr v. Vincke hat erklärt, so schädlich die Politik der Regierung sei, so
halte er doch die Träger derselben für Ehrenmänner. Wenn sich Herr v. Man-
teuffel u. f. w. dazu hergeben sollen, wie es die Deutsche Reform ihnen eingibt,
durch einen unerhörten Wortbruch dem Rechtsgefühl der Nation und ihrem eignen
'us Gesicht zu schlagen, so müssen wir bedauern, unsere Achtung vor dem Urtheil
jenes ausgezeichneten Mannes aufgeben zu müssen.
„Wäre ich wie Friedrich der Große," soll unser König zu Herrn v. Becke-
rath gesagt haben, als dieser ihn zu bewegen suchte, ans die Anträge des deut¬
schen Parlaments einzugehn, „so würde ich mich auf eine kühne Politik einlassen;
ich kann aber nur nach meinem Naturell handeln." Daß Friedrich Wilhelm IV.
kein Friedrich der Große ist, können wir nach diesem Eingeständniß als Factum
gelten lassen; es handelt sich hier nur darum, was unter den gegenwärtigen Um¬
ständen gefährlicher war, die Kühnheit eines Friedrich, oder die Zaghaftigkeit
seines Epigonen.
Das Ministerium Brandenburg — denn es würde unmöglich sein, den eigent¬
lichen intellectuellen Urheber der gegenwärtigen preußischen Politik herauszufinden,
und so halten wir uns nach constitutionellen Gebrauch an den verantwortlichen
Träger derselben — das Ministerium gab als einen der Gründe, welche es be¬
stimmten , dem Könige die Annahme der Kaiserkrone anzurathen, die Nothwendig¬
keit an, in welche Preußen dadurch gesetzt sein würde, mit deutscheu Bruderstäm¬
men Krieg zu führen. Diese Nothwendigkeit war sehr problematisch, im Gegen¬
theil hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach nur eines Vorgangs von Seiten Preußens
bedurft, um auf friedlichem Wege die übrigen deutschen Fürsten — mit Ausnahme
Oestreichs — im Einverständnis) mit ihren Ständen zu einer Anerkennung des
deutschen Reichs zu bewegen. Der König von Sachsen hat als das wesentliche
Motiv seiner Weigerung das Versprechen angeführt, das er dem König von Preußen
gegeben. Und sieht sich Preußen jetzt in einer besseren Lage? Die Ablehnung
der Kaiserwürde war unmittelbar verbunden mit der Nichtanerkennung der deut¬
schen Verfassung; für diese stehn aber nicht nur die Mehrzahl aller deutschen „Unter¬
thanen" ein —darauf würde es de» Männern des alten Regime wenig ankommen
sondern auch eine Reihe souveräner Fürsten, die im Einvernehmen mit ihren Stän¬
den die deutsche Verfassung anerkannt haben, und jeden Augenblick dazu bereit
sind, ihr Heer und ihre Beamte» aus dieselbe zu vereidigen. Preußen sieht sich
also jetzt genöthigt, wenn es nicht die Bildung eines zweiten Rheinbundes dulden
will, den Krieg, den es gegen seine Feinde scheute, jetzt gegen seine Freunde zu
führen, deun jene Fürsten waren es, welche sich zuerst für die preußische Supre¬
matie aussprachen. Und seine neuen Bundesgenossen sind mehr als zweideutig.
Noch schwankt Baiern, wenn sich aber das Parlament dazu entschließt, in der
letzten Noth dem König von Baiern die Rolle zu übertragen, welche Preußens
Zaghaftigkeit verschmähte, so wird man plötzlich alle Parteien einig, und alle ge¬
gen Preußen die Fahne erheben sehn, Herrn v. Abel mit Herrn v. Beisler und
Herrn v. Hermami im Bunde. Oestreich, ans dessen Drohungen hin nach Man-
teuffels eigner Erklärung das Cabinet sich entschlossen, blickt mit übelverhehlter
Geringschätzung aus den jetzt schwächlichen Staat, der vor einem Jahrhundert dem
halben Europa in den Waffen getrotzt, und wird jetzt am wenigsten ans die
Hegemonie Gelüste eingehn, welche das preußische Cabinet durch kleinliche Intri¬
guen erschleichen möchte, da es einen großen Schritt nicht gewagt. Der König
von Hannover war vorzüglich darum gegen Frankfurt, weil es ihn dazu zwingen
wollte, sich den Hohenzollern zu unterwerfen; er wird sich unter den gegenwärtigen
Umständen leichter mit Frankfurt als mit Potsdam verständigelt. In Sachsen frei¬
lich ist der alte Einfluß Preußens ans eine ähnliche Weise wieder hergestellt, wie
unter dem Ministerium Könneritz, aber nicht zum Heile Preußens, denn er wird
reichlich aufgewogen durch den neu angefachten Preußenhaß, der sich fast ganz ver¬
loren hatte.
Wenn die Abneigung, dnrch Gewalt die Erneuung Deutschlands zu bewir¬
ke», auf dieser Seite zu eiuer viel größern Gewaltthätigkeit sichren müßte, so ist
es mit der Scheu vor der Rechtsverletzung nicht viel anders. Auf deu Gegen¬
satz zu dem Frankfurter Parlament will ich nicht so viel Gewicht legen, denn hier
war die Rechtsfrage nicht klar, obwohl sich eigentlich Preußen durch die Aner¬
kennung der Centralgewalt, die lediglich aus der constituirenden Versammlung
hervorgegangen war, die Hände gebunden hatte; aber das Widerstreben gegen
die Beschlüsse des Reichs führte auch zu einem Widerspruch mit den eignen Stän¬
den, dies führte zu Gewaltthätigkeiten, und eine offenbare Rechtsverletzung wird
am Ende uicht zu vermeiden sein. Es sind nicht etwa die Kommunisten, die jetzt
am Rhein in einer offnen Erklärung die Fahne des Parlaments aufpflanzen, selbst
auf die Gefahr hin, daß darüber der preußische Staat zu Grunde gehe; es sind
die Conservativen, welche der Anarchie von Oben denselben Widerstand entgegen¬
setzen, mit dem sie früher die demokratischen Anarchisten bekämpft. Vereinzelte
Tumulte kaun die Waffengewalt dämpfen; gegen den unausgesetzten, organistrten
Widerstand der gesammten Nation ist sie wehrlos.
Es ist nicht der Inhalt der Reichsverfassung, es ist ihr Ursprung, den ihre
Gegner nicht verzeihen können. Wie die Dvctrinärs der souveränen Demokratie
das vortrefflichste Gesetz nicht anerkennen, wenn sie es nicht erobert haben, so
stößt die Schule der absoluten Monarchie, auch was ihr günstig ist, zurück, wenn
es nicht seinen Weg anscheinend durch den Thron genommen hat. Daß der eigent¬
liche Urheber der fürstlichen Gesetze fast niemals derjenige ist, den der fürstliche
Reif schmückt, ist ihnen ebenso gleichgiltig, als die physische Legitimität legitimer
Monarchen. Man kann sich leicht ein System des absoluten Despotismus denken,
ohne eigentliches Oberhaupt. In Oestreich ist es so; die Regierung ist abso¬
luter, als unter Metternich, wenn man aber fragt, von wem sie eigentlich
ausgeht, so wird die Antwort schwer sein. Der Kaiser ist es nicht, das Mimi-
sterium ist es eben so wenig; dieser oder jener General gibt den Ausschlag, aber
auch nicht ein bestimmter, denn selbst der mächtige Windischgrätz fiel, als er den
herrschenden System nicht mehr als ein brauchbares Werkzeug erschien. Selten
hat der Absolutismus das Glück, welches ihm in Nußland geworden, daß in seinem
Träger Name und Sache zusammenfallen.
In den preußischen Friedlands ist keine Productivität; sie sind wohl die Stützen
des Thrones, denn sie haben den unmittelbarsten Einfluß auf die Heere, aber der
Gang der Politik geht nicht von ihnen ans. Wrangel fordert wohl in einem Au¬
genblick des Enthusiasmus die Königin auf, dafür zu sorgen, daß der König fest
bleibe, das Uebrige möge man ihm überlassen. Aber das ist etwas ganz Allge¬
meines. Sie mögen die Frankfurter nicht leiden, weil es Federfuchser sind; die
Berliner nicht, weil sie Barrikaden gegen sie ausgerichtet haben. Ueber diese An¬
tipathien hinaus erstreckt sich ihr Gesichtskreis nicht.
Einflußreicher ist die alte Schule, die Politiker der Wilhelmstraße, welche
unter der Regierung des vorigen Königs gegen den modernen Staat Opposition
machten, daun das Heft in die Hand nahmen, nud seit dem März zuerst in ver¬
steckter, dann in offener Konspiration das Zusammenwirken des Königs mit seinen
constitutionellen Ministerien vereitelten. Die Boß, die Gerlach, die Bethmaun-
Hollweg, Stahl u. s. w. Die Herren v. Thiele und v. Nadowitz, ihre frühern
Chefs, sind in der Metropole der Intelligenz wieder anwesend, und, dem Letz¬
teren ist sogar der Vorsitz in den Berathungen über das neu zu octrvyirende
deutsche Reich übertragen — Berathungen, die sich freilich vorzugsweise durch den
Mangel an Theilnehmern auszeichnen. Diese Götzendiener eiuer ausgestorbenen
Zeit werden mit einander Betstunde halten und sich durch eine Inspiration vom
heiligen Geist über die Maßregeln, welche zur Erhaltung der Throne und Altäre
nöthig sind, unterrichten wollen; gedeutet werden ihnen aber die dunkeln Orakel-
sprüche dieser Pythia durch die erfahrenen Priester zu Olmütz und Se. Peters¬
burg. Die östreichische Regierung ist weder geistreich, noch witzig, noch roman¬
tisch, darum hat ihr Verfahren immer einen gewissen Zusammenhang; der viel¬
seitige Dilettant auf der Wilhelmsstraße sieht von seiner Vogelperspective mit
suffisanten Lächeln auf diese Naturkinder herab, er umkreist sie mit neugieriger
Ironie, aber er folgt ihnen, denn sie haben einen bestimmten Weg, langsam oder
schnell, sie gehn auf's Ziel, er ist nur ein Kritikus und darum unfrei. Der
Wiener ist Enthusiast oder brutaler Egoist, er ist aus Einem Gusse; der Berliner
schwindelt sich in den Egoismus oder Enthusiasmus erst hinein, darum reißt er
auch Niemanden mit sich fort. Wenn man den Berliner wirthschaften sieht, so
fürchtet man sich vor dem unabsehbaren Apparat von Listen, mit denen er den
Gegner zu fangen gedenkt; oder der Apparat ist so weitläufig, daß man mit ihm
nicht bequem hantieren kann; am Ende wirft man ihn ungeduldig weg, ist blasirt
und verstimmt, und läßt geschehen, woran im Anfang auch nur zu denken man
für eine Lächerlichkeit gehalten hätte. Der Wiener geht gemüthlich weiter, spricht
von Zeit zu Zeit von seiner Ehrlichkeit und Treuherzigkeit, und hat dabei doch
einen kleinen verschmitzten Teufel im Nacken, der ihn über Wege leitet, auf denen
ein geschickter Seiltänzer den Hals brechen würde. Was ist noch darüber zu ver¬
wundern, daß die östreichische Politik die preußische ins Schlepptau nimmt!
— Indem ich dieses schreibe, erhalte ich den Staatsanzeiger mit dem Ab-
berufungsdecret der preußischen Abgeordneten aus der Paulskirche. Also auch
darin ist man dem Herrn und Meister in Olmütz getreulichst gefolgt. Aber Oest¬
reich hatte eine dringende Veranlassung, seine Deputirten aus Frankfurt zu ent¬
fernen, es hatte schon zu lange gezögert. Wo von beiden Seiten der ursprüng¬
liche Zweck, wozu die Versammlung einberufen war, ein Centralisationssystem
Deutschlands mit Einschluß von Oestreich, aufgegeben war, konnte die Anwesenheit
der Oestreichs nnr noch wie ein Spott auf die weiteren Zwecke der Versammlung
aussehn. Das preußische Cabinet dagegen geht lediglich von dem Gesichtspunkt
aus: wenn die kaiserliche Regierung grob sein kann gegen die Männer der Nation,
so weiß ich nicht, wer es mir verwehren will. Um seinen Schritt einigermaßen
zu motiviren, stammelt es etwas von dem exaltirten Preußenhaß der Versamm¬
lung, während es gerade die Ansicht war, welche die Majorität von dem hohen
geschichtlichen Beruf Preußens hegte, was die Partei der Republik und die Partei
des mitteleuropäischen Reichs — beide wollen Preußen mediatisiren — zu Falle
brachte, was die Entscheidung zu Gunsten Preußens geleitet hat. Nie hat Preußen
edlere Vertheidiger gehabt, als die Anhänger des Gagern'schen Programms; und
Mit ihnen stoßt es die letzten von sich.
Noch in einem Punkt täuscht sich das Cabinet. Oestreich — wenn es durch
weise Schonung seine verschiedenen Nationalitäten mit einander versöhnt — ist
lebensfähig und mächtig auch ohne Deutschland. Preußen ohne Deutschland ist
ein absolut werthloser Staat, eine politische Monstrosität, welche die erste Fluth
verschlingen muß. Der Geist Friedrichs und der Geist der Männer, welche es
w den Jahren 1806 bis 14 regenerirten, gab ihm eine weltgeschichtliche Bedeu¬
tung; das Preußen aber, welches sich lediglich auf die Disciplin seiner ttntcr-
officiere stützt, während die Herzen der gesammten Nation anderwärts schlagen,
wird aus der Geschichte gestrichen werden.
Der Streich ist gefallen, der seit einem Jahr unserem Haupt drohte, auch
wir haben einen Barrikadentag gehabt und der Belagerungszustand hängt mit
seinen häßlichen Fledermausflügeln über den spitzen Giebeln unserer alten
Stadt. Das Detail des hiesigen Aufruhrs ist aus den Zeitungen bekannt,
es ist so traurig als möglich und gleicht ähnlichen Momenten in anderen Städten
so sehr, daß wenig darüber zu sagen ist; doch hatte Breslau vor anderen Städ¬
ten vielleicht größere Rohheit des Pöbels, größere Bornirtheit und Feigheit der
AufHetzer und im Verhältniß zu der Masse blutiger Phrasen und Vorsätze auch
weniger Leichen zu beklagen, als andere Städte, obwohl die Anzahl der Letzteren
leider groß genug ist. Wer Breslau früher gekannt hat, die alte respektable
Stadt mit den hohen Thürmen, dem prächtigen Marktplatz, den lebenslustigen
Leuten und dem frischen Verkehr in den engen Straßen, der konnte sie seit vori¬
gem Frühjahr traurig verwandelt finden, sie sah aus, wie eine freundliche dicke
Dame, die in ihren Vermögensverhältnissen sehr heruntergekommen ist, ihr Ge¬
sicht wird sauertöpfisch, ihr Nock fadenscheinig und bettelhaft. Es war jammer¬
voll, wie die Stadt aussah; das Gedränge aus den Straßen hatte noch zugenom¬
men, aber es warm meist schmutzige, verwilderte Gesichter, unreinliche und wüste
Bärte, eingefallene Augen und faltige Wangen, die man an den slavischen Köpfen
der Einwohner zu bewundern hatte. Keine Stadt Deutschlands hat ein so zahl¬
reiches und so demoralisirtes Proletariat, als Breslau, und ich muß hinzusetzen,
in keiner Stadt ist es seit einem Jahr so furchtbar gewachsen, als hier. Das
hat mehrere Gründe. Die slavische Vergangenheit Schlesiens hat seiner Haupt¬
stadt als letztes Erbtheil eine schmutzige Armseligkeit und Mangel an Energie in
den unteren Schichten der Vermögenslosen zurückgelassen. Die Nachbarschaft Po¬
lens und die HandelsverlMnisse Schlesiens als einer Grenzprvvinz, haben große
Entwicklung der Industrie viel weniger, als einen Kleinhandel und Handwerker¬
thätigkeit begünstigt. Die Bevölkerung Breslaus besteht fast ausschließlich aus
kleinen Handwerkern, solchen, die ohne Capital von der einen Woche zur an¬
dern lebten und aus den großen Märkten der Hauptstadt und der Provinz ihre
Existenz fristeten, die immer kläglicher wurde, je fester die polnische Grenze sich
verschloß. Solche Bevölkerung kann die Verluste eines Nevolutionsjahrs nicht
überstehen, ohne die größte Einbuße an Selbstgefühl und moralischer Kraft zu
erleiden. Und dieser zahlreichste Theil der Bevölkerung, der arme zurückgekommene
Bürger, war gefährlicher, unruhiger und gesetzloser als der Arbeiter, der an re¬
gelmäßige Fabrikthätigkeit gewohnt ist, oder der junge Gesell, der am Leben noch
nicht verzweifelt. ES war eine traurige Beschäftigung für Physiognomiker, im
letzten Herbst oder Winter die Wachmannschaften der Bürgerwehr zu beobachten,
wie sie sich mühsam mit der langen Muskete schleppten, ein schwächliches, bleiches
Geschlecht, ohne jede Spur der stämmigen Behaglichkeit, welche den National-
gardisten in Wien oder Berlin tren begleitete, auch wo ihn die kriegerische Hal¬
tung verließ. — Und vollends die Lungerer und Bummler auf den Straßen,
welche abscheulichen Köpfe, welche Rohheit in ihren Reden und welch siecher
Uebermuth in ihrem Benehmen. Bis zum December vorigen Jahres war es für
Männer und Frauen nicht rathsam, in neuem Rock oder mit dem Strich einer
eleganten Toilette über die Straße zu schlüpfen und wer das Renoinve hatte, kein
„Demokrat" zu sein, that weise, uach Sonnenuntergang nicht ohne eine Waffe
in der Tasche auszugehen. Glauben Sie nicht, daß ich übertreibe, es war eine
sehr häßliche, schlechte Zeit, die wir verlebt haben und es ist nothwendig, sich
daran zu erinnern, um die gegenwärtige Stimmung der Stadt nicht auffallend
zu finden. —
Breslau brachte gefährliche Elemente in die Revolutionszeit und hat die
Schrecken derselben redlich durchgemacht. Die Bürgerwehr war so schlecht discipli-
nirt, so unsicher und anmaßend als möglich, die städtischen Behörden einer schrei-
lustiger und unzuverlässige» Bevölkerung gegenüber so schwach als möglich, und die
„demokratischen" Vereine so thätig, talentlos und siech, als möglich. So konnte
es geschehn, daß durch Vermittlung des Russen Bakunin, welcher sich in¬
kognito in Breslau aufhielt, damals Rüge als Kandidat uach Frankfurt durchge¬
setzt wurde, so kam es, daß das ganze vorige Jahr ein Straßenscandal auf den
andern folgte, daß diesen Herbst und Winter Diebstähle, Noth und Cholera
fürchterlich an sich griffen und daß Breslau ein widerliches Bild von politischer
Unreife und Bürgerschwäche gewährte. Ueber die Führer der alten Demokratie,
in Breslau: Stein, Bchnsch, Gras Reichenbach, Nees vou Esenbeck, Engelmann,
Laßwitz u. s. w. ist wenig zu sagen, sie waren politische Boviste, nicht besser und
nicht schlechter, als Clubführer zu sein pflegen; da sie jetzt in Unglück und Gefahr
Ad, so hat dies Blatt ein Recht, sie zu schönen und deshalb möge hier nur die
Bemerkung stehe», daß die große Schwäche der gemäßigten Partei sie erst zu etwas
gemacht hat. Hätte Breslau einen einzigen starken Charakter unter seinen städti¬
schen Autoritäten gehabt, Vieles wäre anders und besser geworden.
Die conservative Partei aber war bis zum Spätherbst 1848 ohne jede cr-
wähmmgswerthe Organisation, denn ihre Clubs waren nicht der Rede werth,
nichts als ein schwächliches Geschwätz und leere Bänke. Die Auflösung der Na¬
tionalversammlung aber rief gegen die Steuerverweigerer eine Verbindung der
conservativen Kräfte in's Leben, den Verein für Gesetz und Ordnung, hör sah,^
zu großer Ausdehnung an, alle furchtsamen Herzen und reactionären Wünsche
schlössen sich an ihn an, er wurde eine Macht für Breslau und unterstützte die
Behörden wirksam und energisch bei den Winterleiden der Stadt. Der Einfluß,
den das geschlossene Auftreten der Konservativen ausübte, zeigte sich sehr bald
auch darin, daß die demokratischen Clubs immer mehr in Verfall geriethen. Frei¬
lich war der neue Verein nichts als eine verständige Reaction der Besitzenden
gegen die Ruhestörer; er war nützlich bis zu dem Zusammentreten der letzten
preußischen Kammern, ist aber schon vor der Erklärung des Belagerungszustands
überlebt und für den politischen Fortschritt Breslaus unnütz geworden. Es sind
ehrenwerthe und tüchtige Männer, welche sich ihm widmeten; aber man konnte an
ihm sehen, daß ein solcher Verein, der sich nicht auf einen bestimmten Zweck
concentrirt, sondern in den politischen Fragen des Tages sein Votum abgibt,
die Mitglieder nie fördert, sondern zurückhält.
Die Presse Breslaus wird durch drei größere Zeitungen vertreten, welche
alle, als echte Provinzialblüthen, aus Inseraten mehr als ans Abonnentengeldern
ihr Gedeihen schöpfen. Die schlestsche Zeitung ist ein respektables Blatt, einer
respektabeln Handlung gehörig und wird sehr wohlmeinend und konservativ regiert.
Ihr offizieller Redakteur Voigt ist ein tüchtiger Geschäftsführer, die Seele der
Politik ist Hahn, ein junger talentvoller Mann, Hauptsprecher im Verein für
Gesetz und Ordnung. Die schlestsche Zeitung ist wie ein schlesischer Geschäftsfreund
aus gutem Hause, etwas breit und wortreich, geneigt das Beste aus Allem her-
auszufangen, loyal und salbungsvoll, voll Zorn gegen die Bummler, aber durch¬
aus gutherzig und gern guter Laune, wenn es die Demokratie nicht gar zu bunt
treibt.
Ihr zur Seite läuft die Breslauer Zeitung, die einst der Ehrenmann
Karl Schall, Breslaus Fallstaff gegründet und der Avantuncr von Vaerst von ihm geerbt
hat, bis sie in die gegenwärtigen ehrlichen Bürgcrhände gekommen ist. Die Geschichte
dieser Zeitung ist ein kleiner düsterer Roman, in dem berühmte Todte, Gannc-
reien und Täuschungen scandalös genug vorkommen. Der gegenwärtige Redakteur
und Miteigenthümer Rinds ist zu gleicher Zeit Theaterdirektor und man erzählt
sich, daß er beide Institute zeitgemäß und constitutionell uach den Grundsätzen
des Selfgovernments verwaltet, Zeitung und Theater regieren sich selbst und
es wird nicht durch doctriuäres Wesen oder Arroganz dem Publicum irgend ein
Aergerniß gegeben. Die Breslauer Zeitung ist etwas jünger und kleiner als die
Schlestsche und als ein jüngeres Herrchen von mäßiger Statur auch beträchtlich
mehr links, als seine Schlestsche Tante. Dem Demokraten erster Klasse wird sie
durchaus nicht genügen, denn ihr Herz ist noch weich und menschlicher Gefühle
fähig, sogar für Könige und was noch mehr sagen will, für Regierungsbeamte,
sie haßt uicht, aber sie mißtraut, ja sie mißtraut sehr und schüttelt schwermüthig
den Kopf oder schlägt wohl auch in hitziger Aufregung auf die Rocktasche, als auf
den Ort, wo verzweifelte Gesellen furchtbare Mordgewehre tragen, sie selbst hat
aber nichts darinnen, als ihr Sacktuch und eine Düte Bonbons für die Damen
vom Theater. Sie ist ein gutherziger Krakehler, der zuweilen mit Widerwillen
Scandal macht, blos um nicht durch Zufriedenheit und Lächeln ein Aergerniß zu
erregen; und ist das Blatt aller unzufriedenen Freisinnigen, welche recht viel Frei¬
heit wollen, aber keinen Communismus. — Das dritte Blatt, die Allgemeine
Oderzeitung, von einer ultramontanen Partei gestiftet, ist jetzt das auser¬
wählte Blatt der Demokratie, eine schlechte Zeitung, die viel Schuld hat an der
blödsinnigen Aufregung des Landvolks in Schlesien. Wenn ein ehrlicher Bres-
lauer alle drei Zeitungen alle Morgen zu lesen im Stande wäre, er mußte ein
wunderbarer Philosoph werden, -denn täglich würde eine Zeitung die Wirkung der
andern neutralistreu; z. B. der König hat eine Verfassung octrvyirt, die Schlesi-
sche Zeitung ruft: Hurrah! die Breslauer: Sehr bedenklich! die Oder: Fluch!
^— oder: Graf Zielen ist zum Deputirten für den Breslauer Landkreis erwählt,
die Schlestsche: Hurrah! die Breslauer: Sehr bedenklich! die Oder: Fluch! —
oder: Ju Dresden ist der Bürgerkrieg ausgebrochen! Die Schlesische ruft: Fluch!
Die Breslauer: Erfreulich aber bedenklich! Die Oder: Hurrah! Hurrah! — Da
nun bei Ausbruch der Revolution ungefähr ein Drittel der sämmtlichen Zeitungs¬
abonnenten so viel selbstständige Meinung hatte, um sich das Blatt nach ihren
politischen Ansichten zu wählen; zwei Drittel der Abonnenten aber durch die Zei¬
tung, die sie grade hielten und die großentheils ihre einzige Tageslektüre war,
erst zu einer politischen Farbe gebracht wurden, so kann mau ermessen, welchen
ungeheuern Einfluß auf die politische Stimmung unserer Provinz von 3 Millionen
Menschen durch diese drei Zeitungen ausgeübt wurde. Wenn z. B. die jüngern
katholischen Geistlichen im vorigen Jahr der großen Mehrzahl nach radikal waren
und ihre Gemeinde» in derselben Richtung führten, so war ihre ungesunde sociale
Stellung viel weniger die Ursache, sondern der zufällige Umstand, daß sie die
Oderzeitung noch ans ihrer katholischen Periode her zu halten gewohnt waren.
Eine solche Betrachtung unserer Volksintelligenz ist sehr demüthigend, aber sie ist
leider wahr.
Den letzten Winter verlebte Breslau in einer Abspannung, die etwas Trost¬
loses hatte. Die demoknitischen Clubs waren erschlafft, die Cholera wüthete furcht¬
bar in den lichtarmer und schmutzigen Wohnungen der Armen, der Verein für
Gesetz und Ordnung hielt seine Sitzungen und auf der Straße prügelten sich hin
Und wieder zwei Verbindungen, die schwarz und weißen Landwchrkrenze unter dem
Motto: Mit Gott sür König und Vaterland und die rothen Landwchrkrenze, eine
demokratische Verbindung von Bummlern. So lauge die Kammern versammelt waren,
hielt diese mißliche Ruhe an, die ungeschickte Auflösung der zweiten Kammer warf
Ueucn Gärungsstoff in die Massen und die deutsche Frage wurde von der demokrati¬
schen Partei zum Vorwand genommen, eine Schilderhebnng zu versuchen. Der 20te
Mai scheint ursprünglich anch in Breslau dazu bestimmt gewesen zu sein und die
letzten Fäden des Complotts waren in den Händen eines geheimen Comites, von
welchem der erwähnte Russe Bakunin, der in Dresden selbst commandirte, ein
thätiges Mitglied war. Die Führer der Breslauer Demokratie waren wahrschein¬
lich theils im Ein Verständniß, theils selbst dupirt. Die Taktik der Empörer
war hier, nicht hinter den aufgeworfenen Barrikaden zu kämpfen, sondern die
Truppen an dieselben zu locken und aus den benachbarten Häusern auf die stür¬
menden zu schießen. Es war ein böser Tag in der Geschichte Breslaus und
der Belagerungszustand noch nicht die schlimmste Folge desselben.
Weit gefährlicher für die gute Sache ist die Stimmung der „constitutionellen"
Partei in Breslau. Diese besteht, wie Sie wissen, aus dem zahlreichen und an¬
gesehenen Kaufmauustand, ans der überwiegenden Mehrzahl der Beamten, einigen
Professoren und der verhältnißmäßig geringen Anzahl wohlhabender und besonnener
Bürger, wozu noch die in Breslau lebenden Gutsbesitzer mit ihrem Familienan¬
hang gerechnet werden mögen, letztere fast durchweg von Adel und tüchtige Reak¬
tionäre. Seit einem Jahr hat diese Partei für Eigenthum und Leben gefürchtet
und sie hatte in der That Grund dazu, seit einem Jahr ist ihre Sehnsucht vor
Allem auf Herstellung eines geordneten Zustandes gerichtet, welcher dem Privat¬
leben und Verkehr Sicherheit und Garantien bietet. Und deshalb ist diese Partei
zunächst darauf angewiesen, die Regierung zu kräftigen, damit diese ihr selbst und
dem Lande ein kräftiger Schützer sein könne. Wer wird solche Reflexionen dabei»?
sie sind natürlich und haben volle Berechtigung. Aber traurig ist es, daß die
tüchtige Kraft und die deutsche Gesinnung vieler Einzelnen durch diese herrschende
Parteipolitik gebunden sind; und noch trauriger ist, daß aus diesen Gründen für
die Sache des deutschen Volkes und seiner Verfassung von Breslau und Schlesien
wenig zu hoffen ist. Man kann sich eines sehr bittern Gefühls nicht erwehren,
wenn man sieht, wie dnrch die Schurkerei und die Dummheit einer bornirten und
leidenschaftlichen Partei auch die Verständigen in Einseitigkeit getrieben und in
ihrem Gesichtskreis bornirt worden sind. Erwarten Sie, ich wiederhole es, von
Breslau Nichts für die Sache des deutschen Volkes; die Parteibildung der Stadt
und Provinz ist noch gar nicht reif für einen energischen und männlichen Wider¬
stand gegen die preußische Negierung, so traurig steht es damit noch in Breslau,
daß der Belagerungszustand von Vielen als ein Glück gepriesen wird, und ich
versichere sie, es sind keine schlechten Männer, die so sprechen.
Die Barrikaden sind gefallen, auf das wüste Träumen unserer jungen Re¬
publikaner ist ein nüchternes Erwachen gefolgt, die Souveräne haben — mit
unserer Hilfe — deu Versuch einer Partei vereitelt, den Staat zu vernichten.
Ueber den Barrikaden aber schwebt ein anderer Kampf, nicht mit Büchsen und
Spitzkugeln, sondern mit den Waffen des Gesetzes. In diesem Kampf stehen wir,
konservative Männer, gegen die Kronen. Wir kämpfen für die deutsche Ver¬
fassung gegen die Souveränitätsträume und gegen die ungesetzliche Willkür der
Fürsten.
Die Partei, welche dieses Blatt stolz mit „wir" bezeichnet, hat verschiedene
Namen, ja sie hat oft in entgegengesetzten Lagern gekämpst, die rechte, wie die
linke Seite hat ihre besten Häupter daraus genommen. Es ist die große Anzahl
deutschgestnnter Männer, welche das Parlament von Frankfurt während seiner
Thätigkeit mit Liebe und Theilnahme begleitet haben, weil sie in ihm eine Ver¬
söhnung der alten mit der neuen Zeit sahen, die Heiligung leidenschaftlicher Volts-
wüusche durch Recht und Gesetz; weil sie in ihm fanden, was weder die Könige,
noch die rothen Demagogen haben, productive Gestaltungskraft; weil sie unter
seinen Mitgliedern fast ausschließlich die Männer zählten, auf deren Schultern
das Vertrauen der deutschen Völker unsere Zukunft legen wird; die Frucht der
Parlamentarischen Thätigkeit war die deutsche Verfassung, ihre Anerkennung ist ein
Rechtsprozeß geworden zwischen den Kronen und den Völkern, „unsere" Partei
ist die Volkspartei, welche diesen Prozeß auf gesetzlichem Wege durchführen wird
gegen die Krone.
Wir haben in diesem Rechtsstreit keinen Obmann und Richter. Die parla¬
mentarischen Kämpfe zwischen Fürst und Volk schweben in Deutschland noch ohne
Reichsgericht, sie sind demungeachtet an bestimmte gesetzliche Bestimmungen ge¬
bunden, von denen nur der Frevler abgehen darf. Der nächste Ort für den
Kampf sind die neuen Kammern in Preußen, Sachsen, Hannover und Baiern.
Nicht die Centralgewalt mehr und nicht die Nationalversammlung zu Frank¬
furt. Als die vier großen Regierungen die Anerkennung der Verfassung verwei¬
gerten, gingen sie noch einen Schritt weiter und versagten der Centralgewalt auch
in anderen Dingen den Gehorsam. War es doch schon im letzten halben Jahr
Wir dem Gehorsam nicht Ernst gemeint, nur widerwillig, nach langem Verhandeln
und Zögern fügten sich die Regierungen, oder nahmen wenigstens den Schein an,
^s thaten sie's. Offen gegen die Centralgewalt aufzutreten, wagten sie erst jetzt,
seit Preußen sich an die Spitze der Regierungen gestellt hat, um unabhängig von
Frankfurt die deutschen Verhältnisse zu ordnen. An diesem ersten offenen Wider¬
stand mußte die Centralgewalt und die Nationalversammlung zerbrechen. Doch
die Centralgewalt war nichts als ein Provisorium, dessen Ohnmacht alle Parteien
längst gefühlt hatten, über welche herüber die Besonnenen nach Preußen, die
Republikaner nach ihren Idealen sahen; die Thätigkeit der Nationalversamm¬
lung war schon seit langer Zeit gehemmt und bestimmt durch die selbstständige
Gestaltung, welche die einzelnen deutschen Staaten neben ihr gewonnen, schon
längst hatte das vernünftige Leben der einzelnen Staaten sich an der RevvlutivuS-
lauue gerächt, welche das Gebäude deutscher Einheit vom Dache und nicht vom
Grunde begann; aber die Klugheit und Mäßigung einer geschlossenen Fraction
der Nationalversammlung hatte über alle diese Schwierigkeiten hinweg den Weg
gebahnt sür ein wirkliches Zusammenwachsen der einzelnen Staaten. Mit der
Vollendung der Verfassung war ihre Aufgabe erfüllt, ihre Kraft erschöpft. Was
wir seit der Weigerung des Königs von Preußen, die deutsche Vvlkskroue anzu¬
nehmen, in Frankfurt erlebt haben, waren Symptome der Auflösung einer Ver¬
sammlung, deren executive Macht mit der Größe ihrer Vollmacht in gar keinem
Verhältniß stand. Und wenn es ein tragischer Anblick ist, daß edle Kräfte sich
zersplittern und der laug verhaltene Parteigroll in^ bedauerlichen Ausbrüchen sich
auf derselben Tribune Luft macht, wo das Edelste und Gehaltvollste gesprochen
wurde, was je an das politische Ohr der Deutschen flog, so muß uns über diese
Zerstörung der Gedanke trösten, daß die Verlegung des Verfassungskampfes in
die einzelnen Staaten und deren Kammern an sich betrachtet, ein großer Fortschritt
in unsrer Entwicklung ist.
Unsere Partei muß dafür sorgen, daß die Zusammensetzung der neuen Kam¬
mern Garantien für die Energie und Würde des neuen Staatsprocesses gebe.
Sie kaun es, wenn sie will, das heißt wenn sie ihre Kräfte gebrauchen lernt.
Bis jetzt standen die Wahlen in deu einzelnen deutschen Ländern fast ausschließlich
in den Händen politischer Clubs und Vereine — welche, wie auch sonst ihre Hal¬
tung und Tendenz sein mochte — der bei weitem größern Anzahl von Indifferenten
und Schwankenden als compacte Massen gegenüberstanden und dieselben fortrissen.
Das alte Vereinswesen ist ungenügend sür deu gegenwärtigen Standpunkt unsrer
Entwicklung. Die demokratischen Vereine sind, abgesehn von ihrer Tendenz, zum
großen Theil durch die neusten Aufstände compromittirt und in Auflösung begriffen.
Die constitutionellen Vereine haben an vielen Orten Haltung und Vertrauen, wenn
sie dasselbe überhaupt je besaßen, verloren und werden in der jetzt schwebenden
Frage schwerlich im Stande sein, Einfluß zu gewinnen, weil die konservative Par¬
tei sich jetzt selbst in verschiedene Lager vertheilt. Außerdem ist das Mißtrauen
und der Haß der einzelnen Vereine gegen einander zu groß, als daß eine Ver¬
einigung derselben zu einem gemeinschaftlichen Zweck in Aussicht stünde. Ueber-
haupt kann ein politischer Verein nur dann eine große Frage mit Kraft durch-
setzen, wenn er sich für einen bestimmten Zweck zusammen thut und nach Errei¬
chung desselben auflöst. Soll unsre große Partei in den nächsten Kammern der
vier Königreiche ihre Stärke entfalten können, so muß sie in einem großen Verein
ihren Ausdruck finden, einer Association für Durchführung der deutschen Verfassung.
Ein solcher Verein braucht weder Statuten, noch regelmäßige Versammlungen, nichts
als ein kurzes Programm, in welchem der Weg vorgezeichnet ist, auf welchem er
die Anerkennung der Verfassung durch die souveraine auf gesetzlichem Wege durch¬
zusetzen gedenkt. Gegen einen solche» Verein ist selbst der Belagerungszustand ohn¬
mächtig und wenn er sich über das ganze Land ausdehnt und durch seine Kandidaten
in den nächsten Kammern gemeinsam zu operiren weiß, so wird sein Auftreten un¬
widerstehlich, sein Erfolg sicher sein. Der Gegner, welchen wir zu bekämpfen
haben, sind die Gefühle und Stimmungen der Könige gegenüber der deutschen Be¬
wegung. Die Monarchen haben ihre persönlichen Ansichten dem gesetzmäßig aus¬
gesprochenen Willen des Volks mit schneidender Schärfe gegenübergestellt, und
dadurch für diesen Streit das constitutionelle Recht verloren, ihre Persönlichkeit
der öffentlichen Betrachtung zu entziehn. Wir haben die Ansicht, daß wir unsre
Partei nicht mehr ehren können, als wenn wir von unsern Gegner» so groß und
gut als möglich denken. Noch halten wir eine Versöhnung der Volker mit den
Kronen sür möglich und so lange diese möglich ist, ist sie nützlich und nothwendig
für die Staaten. Wir wünschen die Krone dem deutschen Staatensystem zu er¬
halten, vielleicht nicht deshalb, weil wir sie lieben, sondern weil wir erkennen,
daß ihr Fall uns möglicherweise durch alle Stadien der alten französischen Revo¬
lution, eine Schreckensherrschaft und die Tyrannei brutaler Feldherrn führen wird.
Wir wollen die großen Kronenerhalten, und sei es auf Kosten derer, welche dieselben
gegenwärtig tragen. Die Fürsten, welche ihren Willen dem des Volks entgegen¬
gesetzt haben, sind mit Ausnahme des Königs von Baiern, dessen ganze Stellung
in der deutschen Frage eine andre ist, vor der Revolution auf den Thron gestie¬
gen, sie sind in den Gefühlen und Ueberzeugungen souveräner Herren der alten
Zeit zu Jahren gekommen. Alle drei haben die Tugenden, welche dem Leben eines
Privatmannes Werth und Ansehn geben, allen dreien ist von ihrem Volke die
Ehrfurcht nicht zu versagen, welche ein unbeflecktes Privatleben und ehrenhafte
Gesinnung abnöthigen; aber auch das ist ein Fluch unsrer furchtbaren Zeit, daß
die Souveräne gerade jetzt, wo bürgerliche Sittlichkeit und häuslicher Sinn, die
alten Stammtugenden der Deutschen, in ihren Kreisen heimisch geworden sind, das
Verständniß verloren haben sür die Forderungen der Gegenwart, daß grade jetzt
ein Heller Blick und fester Wille auf den Thronen seltner geworden ist, als in der
Zeit maaßloser Regentenwillknr. Mit Theilnahme, ja mit Rührung mögen wir
den Konflikt sehn, in welchen ein ehrlicher, vielleicht liebenswürdiger Mann, zwi¬
schen seinen anerzogenen Ansichten und den strengen Forderungen der Gegenwart
kommt. Aber diese Betrachtung wird uns nicht irre machen auf dem Wege, welche
unsere Partei zur Rettung des Vaterlandes eingeschlagen hat. Wir wollen eine
Versöhnung mit unsern Fürsten, ehrlich und mit vollem Herzen, wenn aber ihre
Ueberzeugungen sich unversöhnlich gegen das stemmen, was Noth thut, so werden
unsere Kammern an den Edelmut!) derselben zu appelliren haben, sie ehrfurchts¬
voll zu bitten haben, durch ein großes persönliches Opfer den schwebenden Streit
zu lösen. Hoffen wir, daß diese Bitte eines schmerzlich aufgeregten Volkes nicht
nöthig sein wird, und daß, wenn sie nöthig wird, ihr eine hochherzige Gesinnung
entgegenkomme; denn was dahinter liegt, wird bitter und finster sein.
Was wir wollen, müssen wir thun, um das Vaterland zu retten. Wir
müssen diese Revolution schließen, wir dürfen den Faden des Rechts und
eines gesetzlichen Fortschritts nicht zum zweitenmal aus der Hand verlieren, wir
fordern Frieden, damit fein Segmentes Licht die Verwüstungen heile, die dieses
letzte Jahr unserem Verkehr, unserem Vermögen, unserer Thätigkeit geschlagen hat;
wir fordern endlich Achtung vor dem Selbstgefühl der deutschen Völker und Ver¬
wirklichung der edlen Sehnsucht, welche die deutschen Stämme durch ein volks-
thümliches Band zusammenbinden will. Wir sind keine Doctrinäre,' keine eigen¬
sinnigen Systematiker, könnten die Regierungen uns das Recht, den Frieden, das
Selbstgefühl eines freien Volkes auf dem Wege geben, welchen sie eingeschlagen
haben, wir würden ihn aus ihrer Hand nehmen. Aber sie können uns nichts
von dem Allen bieten. Ans dem Pfade, den sie betreten haben, liegt nichts, als
Emeuten, Jnsnrrectionen, Belagerungszustände, eine Tyrannei durch Soldatcn-
regimcnt; ein fortdauerndes Siechthum der Völker, ein fortgesetztes Hadern in
deu Kammern, Ausnahmegesetze, Sinken des Handels und Verkehr und vor Allem
eine immerwährende Demoralisiruug der Volksmassen, Ertödtung alles RechtSge-
fühls und zuletzt eine greuelhaste blutige Katastrophe. Wenn die Könige sich
über unsere Zukunft täuschen, wir dürfen es nicht. Zu tief ist das letzte Jahr
in die Seelen der lebenden Generation gedrungen, es ist nicht mehr darin zu
vernichten. Wohl ist Hoffnung, daß unsere Jugend noch Achtung vor dem selbst-
gegebcnen Gesetz lerne, vor den Befehlen der Monarchie lernt es keine mehr.
Wie man diese Wahrheit auch betrachte, sie ist durch keine Füsilladen wegzubrin¬
gen. Die weisesten Gesetze, das reinste Wollen, von den Thronen herab wird
mit Mißtrauen und Groll betrachtet werden, sobald die Könige einen Strich
machen durch den Weg, der von Frankfurt ans vorgezeichnet ist; Alles, was sie
thun können, um eine Vereinigung der deutschen Stämme hervorzubringen, wird
vom Volk mit Hohn und Haß betrachtet werden; denn nimmer werden die Völker
vergessen, daß sie durch das Octroi der Könige um eine selbstkräftige Verbindung
gebracht worden sind. Allerdings ist das Volk in manchen Landschaften jetzt noch
lau und gleichgiltig gegen die Verfassung, welche seine Vertreter gegeben haben,
von dem Augenblick aber, wo das Revolntionsjahr durch die Fürsten begraben
wird, wird sich eine warme Sympathie in der ganzen Nation verbreiten, die
dreifarbigen Kokarden werden als theure Erinnerung den Kindern aufgehoben,
die Verfassung wird hinter Glas und Rahmen gesetzt, die Poeten werden hervor¬
kommen und Lieder machen, die Jugend wird sie singen und das Volk wird
nach seiner Weise naiv und sentimental das Jahr 48 im Herzen tragen und da¬
neben seinen Groll gegen die Fürsten, bis einmal plötzlich der ganze Vorrates von
Gefühlen und Ncflectionen in einer raschen That des Zornes explvdirt. Es ist
unmöglich, das vergangene Jahr aus den Seelen des Volkes zu streichen, es ist
unmöglich, dem Volke durch vctrvyirte Verfassung das freudige männliche Selbst¬
gefühl zu geben, nach dem es sich so lange gesehnt hat, bis zur Schwärmerei
und Krankheit. Es ist unmöglich, auf dem Wege der Könige, selbst wenn diese
alle Weisheit und Kraft für sich hätten, das Volk aber nichts, als seine Begehr¬
lichkeit und seine Träume.
So steht es aber nicht. In Opposition gegen die Kronen stehn nicht nur
die Gefühle des Volkes, anch fast Alle, die in dem parlamentarischen Leben der
Nation sich Verehrung oder Liebe verschafft haben. Nicht nnr die wilden Schö߬
linge der Revolution, die Männer der Linken, sondern das ganze Centrum der
Nationalversammlung, alte und neue Kraft, ja die Talente der Landcstammern
bis tief in die rechte Seite hinein, die preußische Streitaxt Vinke, der redliche
Harkvrt u. s. w. Zu tief find die Frankfurter Deputirten durch das taktlose und
verletzende Verhalten der Krone Preußen gekränkt worden, als daß sie nicht eifrige
Gegner einer Politik werden müssen, von welcher sie sich für verrathen halten.
Und ans die Worte von Gagern, Beseler, Riesser, Ludwig Simon und anderer von
ähnlichem Klänge wird die Nation noch lange hören. Wenn diese Männer nach
der eingeleiteten Auflösung der Nationalversammlung in ihre Heimath zurückkehren,
so werden ihr Geist, ihre Ueberzeugungen in allen Theilen Deutschlands der Em¬
pörung gegen den Unverstand der Machthaber Organ und Ausdruck geben, zumeist
gegen den König von Preußen. Und welche Persönlichkeiten bleiben den Kronen
als Rathgeber? alte Höflinge, Beamte ans der alten Schule, wenig Talente, noch
Weniger Kräfte. Diese allein können als Werkzeuge sür das neue Regiment ver¬
wendet werden. Wohl mag hier und da eine aristokratische Kraft, wie Nadvwitz,
Graf Arnim oder eine tüchtige Beamtenrvntine, wie Bodelschwingh, Friesen u. s. w.
härtlich und brauchbar werden, aber diese Kräfte, die sich schon vor dem Jahr
48 in glattem Fahrwasser als ungenügend erwiesen, wie können sie das Staats¬
schiff durch den Orkan und die Klippen retten, zumal jetzt die höchste Uupopnla-
rität und deshalb ein Mangel an Sicherheit ans sie gekommen ist, der den ver¬
haßten Mann, auch wenn er stark ist, niederdrückt. Sie und die Krone, welche
sich an sie lehnt, können nur regieren trotz dem Volk, der Trotz aber treibt in
Einseitigkeit und Verblendung immer tiefer hinein. Schon jetzt, sind die frommen,
Thiele und Consorten der Trost des leicht erregten Königs von Preußen, jeder
Widerstand von Frankfurt oder den Rheinlanden her treibt schon jetzt von einem ^
gewagten Schritt zum andern, auf die Abberufung der Frankfurter Deputirten
wird schnell die rechtswidrige Veränderung des preußischen Wahlgesetzes, auf jede
Weigerung eines Bezirkes, nach dem neuen Wahlgesetz zu wählen, werden neue
Willkürlichkeiten solgen müssen, und wieder auf jeden Widerstand der neuen Kam¬
mern neue Beschränkungen der Verfassung und der gesetzlichen Freiheit, die Presse
wird lästig und unter tüchtige Controle gesetzt, die politischen Vereine werden
verboten; eins folgt aus dem andern, und dieselben Männer, die sich als Helfer
mit den Kronen verbanden, ehrlich und mit erträglich liberalen Empfindungen,
um ihr aus dieser Verlegenheit zu helfen, werden sich und die Krone bis zu
einem Punkt der Tyrannei führen, vor dem sie jetzt selbst erschrecken würden.
Denkt daran, auch Graf Stadion vou Oestreich war ein ehrlicher und „liberaler"
Mann, als er vor einem halben Jahr übernahm, den Kaiserstaat zu retten und
wohin ist er gedrängt worden? Der Staat in die Hände der Russen, er selbst in
traurige Geistesschwache. Vielleicht ist die Kraft der preußischen Minister dauerhafter,
aber schon jetzt sind sie von der octroyirten Verfassung durch alle möglichen Gesetze
und Gesetzentwürfe, die Wenige zu lesen, noch wenigere zu befolgen Lust haben, bis
zur Aenderung des Wahlgesetzes, also der Verfassung, die sie selbst publicirt haben,
gekommen. Aendern sie eigenmächtig das Wahlgesetz etwa durch neue Interpre¬
tation des Wortes „selbstständig", so sind sie bereits jetzt Verbrecher gegen das
von ihnen selbst octrvyirte Verfassnngsgesetz.
Die Gesandten der königlichen Höfe sind jetzt in Berlin versammelt, die
Reichsverfassung zu revidiren, diese revidirte Verfassung soll octroyirt werden und
die Anhänger der Krone hoffen dadurch alle billigen Forderungen zu befriedigen.
Auch das ist eine verhängnißvolle Täuschung. Es ist möglich, daß die so revidirte
Verfassung in einzelnen Punkten praktischer wird; ja es ist möglich — obwohl
wir das sehr bezweifeln — daß sie von unserem Standpunkt aus im Gan¬
zen besser wird, als die Verfassung der Paulskirche. Alles das kommt jetzt
gar nicht mehr in Betracht; die Berliner Verfassung und sei sie ein Meisterstück
hat grade so viel Berechtigung, als eine andere, die z. B. die Märzvereine dem
deutschen Volk octroyiren könnten, sie ist eine ministerielle Stilübung, denn sie
ist nicht nach Recht gemacht. Dreißig Staaten haben die Frankfurter Ver¬
fassung anerkannt, mit welcher Stirn kann die preußische Regierung ihre unge¬
setzliche Arbeit diesen aufdrängen wollen? sie hat auch uicht den kleinsten Rechts¬
titel dafür. Ihr einziges Recht ist — Gewalt. Gutwillig werden sehr wenige
der dreißig Verbündeten die octrvyirte Verfassung annehmen, und wenn die Re¬
genten es wollten, sie dürfen es nicht wagen, ohne wortbrüchig zu werden und
die Rache der empörten Völker auf sich zu laden. Und kennt die preußische Re¬
gierung den tiefen Haß, das Mißtrauen, ja die Verachtung so wenig, welche im
Süden und Westen Deutschlands seit jener Audienzstunde in Berlin gegen sie em¬
porquillt? Oder glaubt sie, daß die finsteren Stirnen und zornigen Blicke nur
jenen rothen Aufwiegeln angehören? da ist sie wieder in einem verhängnißvollen
Irrthum. Der Kern der deutschen Nation, der sichere angesessene Mann ist's, der
sehr, sehr niedrig von ihr denkt, und sie für treulos und heuchlerisch hält, wäh¬
rend sie doch nur ans Schwäche gewaltthätig ist. Was auch die jetzige Regierung
Preußens dem deutschen Volk noch bringe, und sei es wie eine Gabe des Him¬
mels, es wird mit Haß und Verachtung zurückgewiesen werden, und vou einem
großen Theil der Preußen erst recht. Der jetzige König von Preußen hat den Stolz
einer weichfühlenden und träumerischen Nation tödtlich verletzt, denn als sie grade
entschlossen war, ihn zu lieben, hat er sie in ihren Vertretern gedemütdigt. Er
kann Deutschland keinen Frieden mehr geben, und die Hohenzollern können es
nur noch, wenn ein anderes Haupt ihre Krone trägt, und wenn das lange aus¬
steht, gar nicht mehr.
Die Stunde, in welcher der König von Preußen in seinem Audienzsaal der
Frankfurter Deputation die vielbesprochene Antwort gab, war die unglückseligste
Stunde seines Lebens; damals öffnete sein zweideutiges Wort die Thüren der
Hölle, in welche die Geister der Zerstörung und des Bürgerkriegs zurückgedrängt
waren. Wir trauern nicht darüber, daß ihm die Verfassung nicht gefiel, sondern
darüber, daß er, den man als geistreich rühmt, nicht einsah, wie ihm gar keine
Wahl blieb, sie anzunehmen oder abzulehnen. Die Annahme der Verfassung war
das Opfer, welches die Fürsten bringen mußten, zu ihrer und des Volkes Ret¬
tung, der letzte Preis, um welchen sie den Dämonen der Zerstörung unser Vater¬
land abkaufen konnten. Daß Friedrich Wilhelm IV. und seine Verbündeten das
nicht verstanden, wird vielleicht ein Verhängniß für sie selbst; wir haben die
Verpflichtung zu verhindern, daß das Unheil nicht auch uns und den Staat
verderbe.
Die Ereignisse überstürzen sich, der Rheinbund, an welchen unsere süddeut¬
schen Brüder jetzt denken, ist nur ein Erzeugniß der Opposition gegen die nord¬
deutschen Könige, auch er ist eine Vernichtung der Einheit Deutschlands, seine
Möglichkeit und Lebensfähigkeit höchst zweifelhaft. Ueberall aus dem Kriegslärm
Und Tumult, aus der Anarchie und dem Bürgerkriege werden Urtheil und Rechts¬
gefühl auf das einzige Positive, das Gesetz der Nation, auf die Verfassung zurück¬
kommen müssen. Denn Aufstand und Bürgerkriege bauen nichts ans, sie reißen
nur nieder. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß eine wilde Zukunft die Ur¬
sache des Kampfes, die Verfassung, zeitweise vergessen wird, es ist möglich, daß
das Endziel des beginnenden Kampfes sich so weit von dem Ausgangspunkt ent¬
fernt, daß die Verfassung nicht mehr in all' ihren Paragraphen anwendbar ist,
aber immer und in jeder Lage wird sie, die Schöpfung des Volkes und sein
besetz' wieder der Grund werden müssen, auf dem die gebrochene Burg unsers
Rechtes sich von Neuem aufbaut. Und deshalb müssen wir daran festhalten bis
Zur letzten Möglichkeit in jeder Lage; jetzt aber ist die Möglichkeit noch vorhält-
den, sie auf dem Wege des Gesetzes durchzusetzen, und auf diesen Weg treten
wir. —
War es je die Pflicht der Presse, den Empfindungen des Volkes Stimme
zu geben, so ist dies jetzt der Fall. Auch die Grenzboten werden nach Kräften
versuchen, dies zu thun. Und wenn sie sich sonst als Wochenschrift etwas damit
gewußt haben, daß ihr Urtheil ruhiger, die Wahl ihrer Worte bedächtiger sein
konnte, und der Anschlag ihrer Stimme an die Seelen ihrer Freunde zwar lang¬
samer, aber vielleicht nachhaltiger war, als bei der Tagespreise; so empfinden sie
in dieser Zeit doch sehr klar, daß sie ihre Partei nicht zu führen, sondern als
treue Boten und Wächter ans ihrem Wege zu begleiten haben. Auch diese Stel¬
lung ist nicht ohne Nutzen. Unsere Ueberzeugungen, unsere Politik haben wir
immer ehrlich herausgesagt, gradezu und rücksichtslos haben wir das Schlechte
getadelt, und was wir als gut erkannten, nicht säumig gelobt. Wir habe» uns
als Demokraten gefühlt, als wir im vorigen Jahr die Uebergriffe der Volkspartei
geißelten, wir haben ein Recht uns jetzt conservativ zu nennen, wo wir in Oppo¬
sition gegen die Regierungen treten. Die Parteinamen schwanken und die Vor¬
stellungen, die man mit ihnen verbindet, wechseln noch sehr schnell; in der Sache,
in dem, was wir wollen, sind wir stets dieselben geblieben, und in der Strömung
und Gegenströmung gewaltiger Ereignisse schaukelte unsere Zeitschrift auf und nieder,
ein grünes Blatt aus den rollenden Wogen; aber seinen Halt hatte es tief unten
im stillen Grunde, und der Boden, in dem wir fest Wurzel geschlagen haben,
war das Recht. Wir erinnern jetzt unsere Freunde daran, denn auch jetzt stehen
wir fest auf dem Grnnde des Rechts.
Schon wieder Trommelschlag und kriegerische Fanfaren; mit klingendem Spiel
ziehen die Jäger von Vincennes und das zwanzigste Linienregimcnt über die Place
de la Concorde, neugierige Gaffer, jubelnde Gamin's umdrängen sie, aber mir
hier und da steht mit verschränkten Armen der Mann des vierten Standes an den
Straßenecken und schießr zürnende Blicke nach den glänzenden Trvupies. Wenn
Sie ihn fragen, was der Einmarsch der Truppen bedeute, so zuckt er höhnisch die
Achseln und entgegnet mit wegwerfenden Tone: „Der Bourgeois fürchtet sich, denn
der Berg kreist — aber er wird eine Maus gebären!" So ist es — die Berg¬
partei beschließt in jeder Woche mindestens zweimal, es müsse nunmehr'etwas
geschehen, aber die Garnison wird verstärkt und so bleibt es beim Alten. Dafür
sind aber Messieurs Ledru-Rollin und Marrast auch noch lange keine Georges
Cadoudal und Pichegru — und Louis Napoleon hat gleichfalls von dem kleinen
Corpora! nichts als den Namen. Doch nein — noch eine Eigenschaft seines
Oheims hat sich ans ihn vererbt: Er liebt die Repräsentation, Glanz und Pracht,
gefällt sich in feierlichen Aufzügen und hält viel auf einen glänzenden Hofstaat,
üppige Diner's und reiche Giraudolen. Das kostet freilich viel und weder die
Civilliste noch das sehr zusammengeschmolzene Privatvermögen des napoleoniden
vermag Alles genügend zu bestreikn. Und somit scheint es gar nicht unwahr¬
scheinlich, daß der Prinz sich eines schönen Tags um die Hand der Miß Condes
in London, der reichsten Erbin der Welt, beworben haben mag. Aber die gute,
ältliche Dame, welche schon allen möglichen Anfechtungen ausgesetzt gewesen ist,
hatte so wenig Neigung für den Präsidenten der französischen Republik, wie einst¬
mals für den Marquis of Waterford, und sandte einen zierlichen Korb zum größten
Leidwesen aller Pariser Epiciers, welche schon ihre gesammte Phantasie in Thätig¬
keit gesetzt hatten, um die bevorstehenden Hochzeitsfcstlichkeiten sich vorzumalen.
Inzwischen möchte ich hier irgend Jemand kennen, der mir einen in die Angen
fallenden Unterschied zwischen Republik und Monarchie nachzuweisen vermöchte.
Die Reformbankette sind nach wie vor verboten und die Preßfreiheit ist jetzt viel
eingeschränkter, wie zur Zeit des Bürgerkönigs. Das Ministerium weiß mit merk¬
würdiger Consequenz alle mißliebigen Blätter durch fortwährende Preßprozesse auf¬
zureiben; dem Peuple hat es allein deren schon etliche zwanzig angehängt, aber
dies Blatt hat das zähe Leben einer Boa, und ist selbst in seinem Agvniekämpfen
gefährlich. Sein Herr und Meister Proudhon, welcher wie Beranger's petit
i">meno Al-i8, eine wahre volksthümliche Persönlichkeit geworden ist, hört nicht auf,
"us seinem Schlupfwinkel die Präsidentschaft und deren Träger mit den Pfeilen
des giftigsten Hasses, oder besser gesagt, einer maaßlosen Grobheit, zu verfolgen.
Offiziell soll sich der große Socialist in Rousseau's Asyl am Lemar aufhalten,
allein jedes Kind in Paris weiß, daß er die Königin der Städte niemals ver-
^sser hat, daß er eines Tages an der Spitze der l'rilViMourL eA-Unan-of von
Neuem auf dem Kampfplatz erscheinen wird, ehe Mr. Odilon Barrot es vermuthet,
und dann wehe Euch, ihr Familienväter und Hausbesitzer, wehe der Bourgeoisie
Und vio«. I» bin«!»«; <In I>öl>i>Ik!! — Zuweilen besuche ich die ^Jul>5 foci-rUstes —
^>esten, daß mein ehrwürdiger Papa, dem ich dies einstmals brieflich berichtete,
^ir zu verstehen gegeben chat, daß er mich enterben würde, wenn ich solche Höhlen
ses Unheils frequentire — und ich muß gestehen, daß ich mich allda trefflich cultu-
^e. Freilich ist ein solcher Besuch ohne gewisse Vorbereitungen unmöglich oder
wudestcns gefährlich; denn Hut und Rock sind in diesen stürmischen Versammlun¬
gen als Aristo'ö vcrvehmt und gebrandmarkt, und nur die Blouse wird als ol-
^7«» Iwnttöte betrachtet. Daher werfe ich die Blouse über, setze die Schirmmütze
"ur der Troddel, welche deu Ouvrier auszeichnet, verwegen auf's Ohr, umgebe
"und zuweilen mein glattes Kinn mit einem mächtigen falschen Barte und dann —
Sie sollten nur sehen, wie Marc Causfidiere mir die Hand drückt, was er freilich
jedem Einzelnen thut, oder wie Jaques Hilbert mir vertraulich in's Ohr flüstert:
Hie Vit tuon--N0U8 80MML8 VN et-lün, II0U8 et los ilutros — tuverlits to» mi-
r.into! Vou der parlamentarischen Ordnung dieser Clubs machen Sie sich übrigens
keinen Begriff, nirgends wird eine ungehörige Opposition siegreicher bekämpft als
hier, denn sobald irgend ein Unsinniger es sich wollte beifallen lassen, hier Ver¬
nunft zu predige», so mare» augenblicklich hundert Arme bereit, ihn durch Thüre
oder Fenster zu spediren, so schnell, daß er selber nicht wüßte, wie ihm geschähe.
Ich habe dies Experiment ein einziges Mal an einem Ilomme «lo suretv in der
Straße Marceau ausführen sehen und habe vor solchem iUAnmeutmn tmminom
allen möglichen Respect bekommen. Thatsache ist inzwischen, daß die socialistische
Partei in Frankreich mit jedem Tage zunimmt. Sie entfaltet aber auch eine außer¬
ordentliche Thätigkeit, namentlich jetzt, wo die Wahlen zur Nationalversammlung
bevorstehen und schon das Tagesgespräch aller Flaneurs bilden. Trotzdem ist kein
Zweifel, daß die kommende ^ssomblva inde'muito zum größten Theil aus Royalisten
und darunter die Majorität Legitimisten, bestehen wird. Stehen ja doch schon,
— wer sollte es glauben, aber bei Gott und in Frankreich ist kein Ding unmög¬
lich >— die Herren Guizot, Duchatel und der Admiral de Joinville auf der Kan¬
didatenliste! Die beiden Letzten haben zwar in großen Placaten sich mit bestem
Dank für die gütige Absicht die Wahl verbeten, aber der erstere hat wirklich alle
Chancen für sich, gewählt zu werde». Das hätte man hente vor einem Jahre
prophezeien sollen — man wäre augenblicklich gesteinigt worden. Die Unzufrieden¬
heit mit der jetzigen Lage der Dinge ist auf das Höchste gesteigert worden durch
die niederschlagende Nachricht von dem Sieg der Römer über das Oudinot'sche
Jnterventionscorps. Frauzosen — und zwar Schnurrbärte aus Algier >— besiegt,
und besiegt vou italienischen Mausfallenhändlern, das war ein furchtbarer Schlag!
Der Pariser Epicier bestritt die Nachricht drei Tage lang, allen Zeitungen zum
Trotz, auf das Hartnäckigste; Mr. Lefevbre stellte sich im Caffee Turqne auf das
Billard und bot Jedem seine Karte an, der es wagen könne, dem französischen
Namen eine solche Schmach aufzuheften — aber es half Alles nichts und die
Niederlage der Franzosen blieb wahr.
Da hätten sie nur den Ingrimm und den Schmerz unserer guten Bürger
sehen solle»! Wenig hätte gefehlt und sie hätten das Elysee national gestürmt; die
Titel, mit welchen der Präsident und seine Minister in diesen Tagen in CabaretS
und Estaminets beehrt worden sind, hätten selbst die Volkssprachekenntniß des in
sich selbst zurückgezogenen Mr. Sue bereichert. Gewiß ist, daß in allen Portier¬
logen und Epicericn die niemals fehlende Statue des Kaisers mit einem Flor
umwunden ward; Mr. Lefevbre ging noch weiter und sperrte die Vrouzefigur sei¬
nes angebeteten Feldherrn, die als Heiligthum den Kamin zierte in einem Wand¬
schrank. Denn, sagte er und biß sich auf den grauen Schnurrbart, seine edlen
Züge würden sich selbst im Metall verzerre», wenn er Solches von seinen Kindern
vernähme! — Also Krieg, Krieg, Krieg mit der ganzen Welt, wenn es sein
Miß, nnr in Blut den Makel abznwaschc»! — Die Cholera wüthet immer noch
und sogar in stetem Zunehmen, jedoch ist sie weit minder gefährlich, wie 1832.
Diesmal hat die Seuche es hauptsächlich auf die Assemblve nationale abgesehen,
wenigstens ist schon ein halbes Dutzend Deputirte von ihr hinweggerafft worden.
Man bekümmert sich übrigens im Durchschnitt sehr wenig um sie. Die Vergnü-
gungsorte siud durchaus nicht weniger zahlreich besucht, wie sonst und in den
Spcctacles drängt sich die Menge nach wie vor. Ein großer Vorzug der Scinc-
stadt ist die Wohlfeilheit der Theater; Sie in Deutschland werden erstaunen, wenn
ich Ihnen sage, daß ich für zwanzig Franks Actionaire de la Gallo bin und für
diese Bagatelle ein ganzes Jahr lang jeden Abend das Theater besuchen kann.
Aber wer wird das thun und namentlich jetzt, wo mit dem Frühling die eigent¬
liche Saison von Paris, d. h. die Saison des Volkslebens beginnt? Schon hat
Pore Mabille am ersten Mai zum erstenmale seine glänzenden, heiteren, freudc-
sprühenden Räume eröffnet; schon zaubern die farbigen Lampen und im Feuer
springenden Fontainen unter den grünenden Bäumen des iKüteüu ron-zö eine
Feenwelt hervor; Musard hat von seinem Orchester nicht einen Mann eingebüßt
und vor Allem sind sie noch da — Alle sind sie noch da, die eleganten Loretten,
die zephyrleichten, reizenden Kinder des Faubourg, die Blumen des Boulevards
und die Sterne der Barrieren, sie lachen, scherzen, küssen und trinken Champag¬
ner, wie sonst it I)«8 I-i po>it,i<zuo! Das Leben öffnet seine schönsten Pforten, laßt
^ uns genießen, mit dem leichtsinnigen Volk, das uns umschwärmt und welches
wie gleicher Leidenschaft Barrikaden baut, wie den verführerischen Cancan tanzt.
Welches Gewühl jetzt schon vor den Barrieren, in den tausend und tausend An-
bergcs und Tanzsälen! Welch ein Lärmen, welch sinnbetänbendes Getöse! Aber
>elbst hierher, in das ländliche Paris, von welchem Deliba sang: ost xour Jo
l'wup to pli^s no coeiiFnv, ü-uis sui'til- I-i vitio it tiouvv I" c<in>i>lig'»o —
weisen die düsteren Klänge der bewegten Zeit. Dort eine Bettlerin; eine In¬
schrift neben ihr nennt sie: Vonvv it'»» «I^wi-to <1u ^»in, und reichliche Almosen
f"Iten in ihren Teller und hier die Verkäufer der Tagesliteratur, die sich wie
Schatten an die Spaziergänger heften und ihnen mit gellender Stimme so lang
die Ohren rufen: I^s mittlres du 8t. jj-ulies, oder: Ob-mson «In ins av
Kt. i^mxz ^_ ins der Gemarterte sich zum Kauf entscheidet, für das Eine, wenn
^' rother Republikaner, für das andre, wenn er rother Royalist ist.
Als Fürst Windischgrätz im März d. I. die Ungarn über Pesth-Ofen hin-
weggedrängt hatte und die durchlauchtigen Lügen seiner pomphaften SiegeSbulletius
uns glauben machten, der Feldzug sei bald beendet und die Jutregität des Ge-
sammtstaates gesichert, da sprachen wir die Zweifel aus, ob der vielgerühmte Be-
lagcrungsheld auch die Pacistcatiou der wiedereroberten Landestheile zu vollführen
im Staude sein werde und ob überhaupt die jetzigen Gewalthaber Oestreichs eine
nationale Politik des freien Kaiscrstaats verfolgen würden? Wir mißtrauten dem
Organisationstalent des kaiserlichen Cabinets, dem Uebermuth und den aristokrati¬
schen Neigungen des unumschränkten Bevollmächtigten. Unsere Zweifel waren mehr
als gerecht! Fürst Windischgrätz hatte sich Mu seinen magyarischen Freunden in
Schlaf tuller lassen, indessen brachen die „Nebellenhaufcn", welche bisher von der
tapfern kaiserlichen Armee wie Spreu hinweggefegt schienen, aus den Theißsümpfen
hervor und jagten die hochgräflichen k. k. Generäle bei allen Grenzen zum Lande
hinaus. Der gefeierte Held von Prag und Wien wurde abgedankt und das öst¬
reichische Cabinet suchte die Schmach des Verlornen Feldzugs nicht durch völlige
Entfernung des Feldmarschalls, durch einen begeisternden Aufruf an die treuen
Völker Oestreichs, durch energische Entwickelung frischer Streitkräfte zu tilgen —
nein, das kaiserliche Cabinet sank zitternd zu Boden und flehte den großen Czaar
im fernen Osten um seine Huld und Hilfe an! Dieses Faktum an und für sich
zeugt, wie sehr die Herrn Schwarzenberg-Stadion - Bach ihren eigenen Kräften
mißtrauen, daß ihnen der Bestand eines einigen und starken Oestreichs nicht als
„ein europäisches Bedürfniß", sondern als ein Siuckur der Habsburger und deren
Anhänger und Minister erscheine, daß sie kein Gefühl für die Ehre der von ihnen
vertretenen „Großmacht", noch weniger für die Freiheit der östreichischen Völker
kennen. Wir „sentimentalen Politiker", wie uns der ministerielle Llyod zum Un¬
terschiede von den gewöhnlichen „Wühlern" nennt, sind der entschiedenen Mei¬
nung, daß ein Volk, das sich nicht durch seine eigene Lebenskraft gegen einen An¬
griff von Innen zu halten im Stande ist, keine selbstständige Stellung verdient;
eine Regierung aber, welche, bevor sie uoch die Begeisterung und materielle Macht
ihrer Nation in den Kampf gerufen hat, schon an ihrer eigeuen Kraft verzweifelt
und ihre Existenz von der Gnade einer fremden Macht abhängig macht, eine solche
Negierung gibt sich und die von ihr vertretene Nation der allgemeinen Verach¬
tung und — der Gewalt des Stärkern preis.
Wir wollen über das Factum selbst uicht weiter sprechen. Die 150,000 Rus¬
sen, welche bereits die östreichischen Grenzen überschritten haben, werden wahrlich
vor dem Zuruf eines Federbetten nicht zurückschrecken. Aber wir wollen der öst¬
reichischen Regierung klar machen, welches Verhängnis) sie über sich und das
Reich heraufbeschworen hat. Im November v. I. wurde der Feldzug gegen die
Magyaren im Namen des Gesammtstaats und der Gleichberechtigung aller Natio¬
nalitäten begonnen. Damals war es blos die revolutionäre Partei des ungarischen
Reichstags, welche mit ihre» schnell zusammengebrachten Schaaren der kaiserlichen
Armee gegenüberstand. Der hohe Edelmann und der deutsche Bürgerstand hatten
sich der Bewegung nicht angeschlossen, standen vielmehr mit der kaiserlichen Ne¬
gierung im besten Einvernehmen. Die Freunde eines einigen und mächtigen Oest¬
reich billigten das bewaffnete Einschreiten in Ungarn, obwohl sie keinen Augen¬
blick verkannten, daß das formelle Recht, mit Berufung ans die pragmatische
Sanction und die Aprilgesctze 1848, ans Seite der magyarischen Nation war.
Aber um einen östreichischen Staat mit einer dauerhafte» Organisation zu grün¬
den, mußten alle Privilegien und Spezialfrciheiten der einzelnen Völker für die
Freiheitsentwicklnng und Machtäußerung der ganzen östreichischen Nation geopfert
werden. Die Aprilgesetze 1848 hatten das unsittliche Verhältniß, welches bisher
zwischen den Ungarn und ihrem Könige bestanden, nur in eine neue Phase gebracht.
Seit der Verbindung Ungarns mit dem Hause Oestreich war das ganze kon¬
stitutionelle Staatsleben der magyarische» Nation Nichts als ein selbstgefälliges
Pochen ans seine angestammte persönliche Freiheit seiten des Edelmanns, während
in Wahrheit alle Kraft in Händen der unverantwortlichen Regierung am Wiener
Hose lag und die sorllvdernde Opposition der Preßburger Stände schlug oft in
hellen Flammen auf und verbreitete sich über das ganze Land — ohne daß das
unparlamentarische Cabinet der östreichischen Kaiser davon berührt ward. Der
Haß der Nation gegen die östreichische Bevormundung und die Kluft zwischen der
Dynastie und den ungarischen Ständen mußte von Jahr zu Jahr größer werden,
da der Widerstand der Nation stets aus der parlamentarischen Bahn heraus auf
das alte legitime Mittel der bewaffneten Jnsurrection geworfen ward. Die April¬
concessionen v. I. enthielten Nichts als die nothwendigen Konsequenzen der Prag-
Watischen Sanction und der ungarischen Verfassung: die Unabhängigkeit und Selbst-
ständigkeit der Krone des h. Stephan, welche der Nation gegenüber durch ver¬
antwortliche Rathgeber vertreten sein soll. Das Unrecht der Ungarn lag daher
nicht in der Forderung ihrer Rechte, sondern in der Verkeninuig ihrer politischen
Lage. Sie hatten allerdings ein gutes Recht, das unnatürliche Verhältniß zwi¬
schen dem absoluten Kaiser und ihrem konstitutionellen Lande zu reformiren, ja
selbst es aufzuheben — aber ans der Geschichte und geographischen Lage der
Donauländer und aus dem Bedürfnisse einer raschen und durchgreifenden Culturent¬
wicklung mußten die ungarischen Patrioten erkennen, daß nur in Verbindung und
unter dem Schutze einer starken östreichischen Centralgewalt die materiellen und
geistigen Interessen ihres Landes gefördert werden können, daß also jene bcab-
sichtigte Reformation der constitutionellen Gesetzgebung nicht in einer Sonderstellung
gegenüber den übrigen Theilen der Monarchie, in der Begründung eines neuen
unnatürlichen Verhältnisses zwischen dem östreichischen Kaiser und dem ungarischen
Könige bestehen könne, sondern in einer Gleichstellung ihrer constitutionellen Rechte
mit jenen der übrigen östreichischen Provinzen. Der magyarische Stolz, die Er¬
innerung an das freie ungarische Leben des Mittelalters, das in den eigenen
Sümpfen bei Mohacs erstickt war, verblendet den Demokraten Kossuth eben so
sehr über die mögliche Regeneration seines Volkes wie die Hocharistokraten ans
der Betlenschcn Schule. — Mit der Losreißung vom Hanse Habsburg-Lothringen
haben die Debrecziucr Stände nur die Erbschaft des blinden Haßeö, den sie von
ihren Vätern überkommen, vollständig angetreten. Das Gaukelspiel mit der an¬
gestammten Treue an das Haus Oestreich, welches besonders im letzten Jahrhundert
von der Dynastie und der ungarischen Nation zu gegenseitiger Schwächung getrieben
wurde, hat in dem blutigen Ernst der Schlachten sein Ende gefunden. Ungarn
wagt den letzten Kampf für seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit und appel-
lirt an den begeisterten Patriotismus der ganzen Nation. Oestreich kämpft gleich¬
falls für seine Unabhängigkeit und Integrität und appellirt — an das Mitgefühl
des russischen Czaren. Das. Wiener Cabinet erklärte selbst durch das Herbeirufen
der Russen, daß es jetzt nicht mehr als östreichische Centralgewalt gegen eine anf-
ständische Provinz, sondern gegen einen äußern Feind kämpfe. Ungarn soll nun
mit Hilfe der Russen nicht zum gesetzlichen Gehorsam gezwungen, sondern er¬
obert werden. Wenn sich die ungarische Nation durch polnische und deutsche Führer
und Verbündete verstärkt, so handelt sie ebenfalls als selbständige politische Macht,
welche von einem Nachbarlande bedroht wird. Das läppische Geschwätz „von
einer socialen Revolution, welche von Ungarn ans den Umsturz der ganzen euro¬
päischen Gesellschaft beabsichtigt", kann weder die auswärtigen Kabinette uoch das
östreichische Volk über den Charakter des jetzigen Krieges in Ungarn täuschen.
Die östreichische Negierung hat durch das Herbeirufen Rußlands negativ die
Selbstständigkeit Ungarns anerkannt und sich selbst, als in ihrer Existenz von
einem äußeren Feinde bedroht, der Gnade eines starken Bundesgenossen anver¬
traut. Nußland aber, dessen erste Intervention in Siebenbürgen Nichts als eine
Inspection der zu erwartenden Beute und eine Falle für das gutgläubige Oest¬
reich war, das despotische Rußland führt nicht für die Integrität des Gesammt-
staats Oestreich, sondern für sich, für die Integrität des eigenen Reichs den
Krieg gegen Ungarn. Eine slavisch-ungarische Republik, zu welcher viele Ele¬
mente vorhanden siud, wäre jedenfalls, so schwach sie anch im Anfang sich gebärdete,
dem nordischen Absolutisten gefährlicher, als ein hinfälliges, russifieirtes Oestreich.
Also nicht für das östreichische Volk, nicht für das Haus Habsburg führt Fürst
PaStewitsch die Armee seines kaiserlichen Herrn gegen Ungarn in's Feld! Nein,
der alte Polenbändiger jagt in den ungarischen Wäldern nach neuer Beute für den
Bölkerkäflg des großen Czaars. Russische Tagsbefchle und Ukase werden den
Kaiser von Oestreich belehren, wie er seine Völker constitutionell regieren kann,
russische Polizei hat sich bereits in Krakau angesiedelt, um zugleich mit dem Vor¬
rücken der Armee ihr geheimes demvralisirendes Gift den östreichischen Völkern
einzuimpfen; wie viel von dem „eroberten" Lande sich Nußland vorbehalten
werde, bleibt der Gnade des CzaarS oder „der Treue" desselben, wie sich die
Wiener Zeitung ausdrückt, und den englisch-französischen Kabinetten anheimgestellt. Wir
glauben selbst, wie das sehr gläubige östreichische Ministerium, daß sich Rußland
»icht direct bei der ungarischen Beute, wie einst bei Polen, betheiligen werde.
Ihm wird die intime Bekannischaft mit den östreichischen Serben und Wallachen,
die Befestigung in der Herrschaft über die Donaufürstenthümer, eine Absperrung
Oestreichs und Deutschlands von den Ufern des schwarzen Meeres und des Bos-
Phvrnö genügen. Das russische Cabinet wird sich freundlichst bemühen, dein
schwachen Verwaltungötalcute des östreichischen Cabinets dnrch ein r^Il;>»«!»t in'-
Kiwi«!»« für die ungarischen Länder zu Hilfe zu kommen, welches dessen Einfluß
in Serbien, Kroatien, Siebenbürgen und Ungarn eben so sichern wird, als bis¬
her das russ. i«>gleme»t vrg'lui^in in der Wallachei und Moldau. Fürst Paö-
kewitsch versteht sich auf gouvernementale Behandlung der Polen und wird seine
Thätigkeit uicht blos auf die ruthenischen Schützlinge des Grafen Stadion be¬
schränken, sondern dem erlauchten Grafen gewiß in der „Organisation" der übri¬
gen Provinzen mit seinen Erfahrungen u»d Besatzungen an die Hand gehen.
Noch sucht das östreichische Kabinet sich selbst über die verhängnißschwerm
Folgen seiner Feigheit zu täuschen und verbirgt, wie Vogel Strauß, den Kopf,
die unausweichliche Gefahr nicht zu, sehen. Der junge, von seinen Rathgebern
verrathene Monarch übernimmt den Oberbefehl über die vereinigte Armee, um
der Eifersucht der östreichische» «ud russischen Feldherrn vorzubeugen. Aber er
^'gißt, daß der Retter in der Noth seine Hilfe um so höher anschlägt, je schwächer
"ud verächtlicher sich der Bedrängte in deu Augen der Welt gezeigt hat. Die
östreichische Armee ist dnrch die Ungeschicklichkeit ihrer Führer, dnrch die geistige
Ohnmacht des obersten Kricgsraths deöorganisirt und materiell und moralisch
geschwächt - die russische Hilfsarmee ist der östreichischen an Anzahl, Disciplin,
^"sstattnng und Vertrauen in den europäischen Nuf der Führer überlegen. Der
^"sse läßt sich für seine Hilfe nicht bezahlen , er null nicht Diener, sonder.'! Herr
Hanse Oestreich sem. Glaubt nur der Kriegsminister Gordon oder Fcldzeug-
weister Melden, der russische Feldmarschall, ein Meister in der Unterdrückung von
Volköinsurrectioncu, werde sich von ihnen Operationspläne und Befehle dictiren
^sser? Oder hofft das östreichische Kabinet den russischen Sieger nach der ersten
gewonnene» Schlacht über die Ungarn in seinem wohlberechneten Vordringen auf¬
halten und zum Friedensschlüsse mit den Ungarn vermögen zu können? Eine
Pacisication Ungarns von Seite Oestreichs ist jetzt unmöglich.
geworden ohne die Intervention Englands und Frankreichs,
das östreichische Kabinet hat den ganzen Kaiserstaat abermals zum Spielball fremder
Interessen gemacht. EineZertrümmerung oderZerstückeluug des Reichs,
welche bisher als ein beabsichtigtes Werk des Radikalismus betrachtet wurde, oder
die vollständige Contrer evolntion, die russische Botmäßigkeit
der Habsburger und ihrer unterjochten Länder — dies sind die zwei
Chancen, in welche die östreichische Monarchie durch die feige Ratlosigkeit deö
jetzigen Kabinets getrieben wurde.
Wir sprechen daher nicht mehr vom östreichisch-ungarischen Kampfe, sondern
von einem russisch-europäischen Kampfe. Das factische Recht, welches bisher die
Ungarn als ihr heiliges Privile ginm gegen Oestreich vertheidigt haben, ist jetzt
durch das gemeinsame Auftreten der Contrerevolution in Deutschland, Italien und
Oestreich zu einem gemeinsamen Palladium der im Jahr 1848 befreiten Nationen
Europas geworden. Es gilt nun den Kampf der rohen Willkür gegen die Freiheit
und das in ihr begründete Recht der Völker.
Die einzelnen Excesse des Pöbels oder die republikanischen Putsche, welche
von einer unverständigen ehrgeizigen Partei versucht werden, können die jetzige .
Bewegung in den europäischen Ländern nicht als „soziale Revolution" bezeichne».
ES handelt sich vor Allem um die Sicherung des politischen Fortschritts inner¬
halb des frei und selbstständig organistrten Staates. Kann Oestreich diese histo¬
rische Aufgabe nicht durch seine eigene Kraft erfüllen, ist es in seinem innern
, Lebensmark so ausgehöhlt, daß es anstatt „eine Vormauer europäischer Bildung
und Sitte" zu bilden, seine losen Ländertheile zu russische» Verschanzungen ver¬
wenden ließe, dann mag die Habsburgische Hausmacht in Trümmer gehen und
unter ihrem Schütte den russischen Koloß erdrücken. Die kräftigen Volksstämme,
welche das heutige Oestreich bewohnen, werden sich in dem Kampfe gegen den
gemeinsamen Unterdrücker vereinigen und ihre besondern Berechtigungen gern für
„Na, heute Abend wirds losgehen!" sagte mit nachdrücklichem Tone ein jun¬
ger Mann, dem man es ansah, daß das Knffcchauslebcn seine vornehmste Be¬
schäftigung war — „heute Abend wird's losgehen!"
— Das sagten sie gestern auch — entgegnete ungläubig die schmucke Kell¬
nerin — das sagten Sie vorgestern auch, als die Kammer aufgelöst war, und
es wurde doch nichts Gescheutes!
„Nun, ging's denn nicht bunt genug her, Sie kleine Reactionärin? wurden
nicht Barrikaden gebant und die Straßen gesperrt, nud mußten nicht ganze Re¬
gimenter aufmarschiren und dreinhauen und schießen um das Volk zu zerstreun?"
— Ja, aber was war's denn am Ende? Im Ganzen sind nur fünf Men¬
schen um'ö Leben gekommen, und zwölf, glaub' ich, verwundet. —
Die Worte des jungen Mädchens machten einen seltsamen Eindruck auf mich.
Es ist mein Schicksal gewesen, die Menschen verschiedener Himmelsstriche und
verschiedener Kulturstufen in ihrer rohesten Kraftäußerung zu sehen: den wilden
Abasechen, der seinen Gefangenen die Fußsohle aufschlitzt und Pferdehaare hin¬
durchzieht, um die Wunde unheilbar zu machen; den räuberischen Tartaren, der
jeden Raub mit einem Morde besiegelt; den fanatischen Feueranbeter, der in sei¬
nem eigenen Fleische wühlt, wähnend der Gottheit dadurch zu gefallen; die Bru¬
derkrieg predigenden Pfaffen des Svnderbundes der Schweizerkantone und die den
Leichnam des gemordeten Latour umtobenden, entmenschten Weiber von Wien.
Aber all diese grausigen Bilder der Vergangenheit schienen mir in dem Augenblicke
weniger schrecklich, als die gleichgiltig gesprochenen Worte des jungen Mädchens:
„es sind nur fünf Menschen um's Leben gekommen, und zwölf, glaub' ich, ver¬
wundet."
Welch ein Schrei des Entsetzens ging durch die deutschen Lande, als vor
einigen Jahren in Leipzig ein Conflict zwischen Militär und Bürgern stattfand,
wobei auch mehrere Menschen um's Leben kamen. Ich war eben damals anf einer
Rundreise durch Deutschland begriffen und überall, wohin ich kam wurde von dem
vorfalle mit Entrüstung, als von einem ungeheuerlichen Ereignisse gesprochen;
Zeitungen waren voll davon, verbotene Gedichte und Brochüren flogen darüber
v"n Hand zu Hand.
Ich thue dieses Vorfalls Erwähnung, weil er als Maßstab dienen kann für
^n ungeheuern Umschwung, welcher seitdem stattgefunden in Deutschland. Heut zu
Tage xg ^n ganz gewöhnlicher Vorfall berichtet, wenn bei einem Stra-
ßcnkravall ein halb Dutzend Menschen erschossen werden; das Interesse, der Un¬
wille gilt weniger der Sache, als den dabei gefallenen Opfern. Das Volk hat
sich an das Schrecklichste gewöhnt, und das Schrecklichste ist jetzt vom Volke
fürchten. Wir stehen am Vorabend eiuer Revolution, gegen welche die März-
stnrnie des vergangenen Jahres nur wie ein lindes Frühlingswehcn erscheinen
Werden. Ich schreibe diese Worte mit blutendem Herzen, denn blutige Wahrheit
"age darin. Noch vor wenigen Wochen wäre es möglich gewesen, dem Unglück
^'Mengen; die Schicksalsfaden Deutschlands lagen in der Hand der preußischen
^egienmg; von ihr hing es ab, die Lösung der deutschen Einheitssrage auf sticd-
lchem oder auf gewaltsamen Wege herbeizuführen; sie wählte den Weg der Ge«
^le, nud das Volk wird ihr begegnen auf demselben Wege. — Unser erleuchtetes
^binde hat vollbracht, was alle Demokraten und Wühler bis jetzt vergeblich erstrebt
haben: es ist ihm gelungen, die Gährung durch alle Schichten der Gesellschaft zu
verbreiten, das unzufriedene Volk zum Bundesgenossen des revolutionäre» Volkshau-
feus zu machen. Dieselbe Bedeutung, welche das Ministerium Stadion-Schwarzenberg
in Oestreich gewonnen, wird das Ministerium Manteuffel-Braudeiibnrg in Preußen
gewinnen. Die Geschichte wußte was sie that, als sie solche gute Männer an
die Spitze der Staaten stellte. Sie bilden das eigentliche revolutionäre Element
unserer Zeit; jeder Einzelne von ihnen macht für die Bewegungspartei mehr Pro¬
paganda, als alle Freiheitsapvstel der Gegenwart zusammengenommen. Die Män¬
ner des Umsturzes, die Faustkämpfer der Freiheit mögen frohlocken über sie; die
Partei der Gemäßigten, welche auch die Freiheit will, aber uicht durch blutigen
Umsturz, kann nur trauern darüber. Es ist so weit gekommen, daß alle unab¬
hängigen Blätter, mit Ansnahme der berüchtigten Kreuzzeitung, auf der Seite
der Opposition stehen; aber das Ministerium kümmert sich so wenig um die Mei¬
nung der Presse, wie es sich um die Meinung des Reichstags kümmert-e; die
„deutsche Reform", das einzige Journal, worauf mau im Cabinet einige Rücksicht
nahm, wurde durch Nedactionswcchsel und reiche Subventimien aus seiner bishe¬
rigen Bahn getrieben und in ein ministerielles Organ umgewandelt. Dadurch
hat dieses Blatt, welches eben im kräftigsten Aufblühen begriffen war, allen Cre¬
dit verloren und wird in den meisten Häusern und öffentlichen Lokalen gar nicht
mehr gelesen. Und in der That, hätte noch Jemand zweifeln können an Schlecht
tigkeit der Sache des Ministeriums, die letzten Artikel der Reform, worin das
Ministerium? seine eigenen Maßregeln vertheidigt, wären hinreichend, alle Zweifel
zu zerstreuen. Ich habe Herrn v. Manteuffel in Verdacht, der Verfasser dieser
Artikel zu sein, denn sie sind eben so stotterhaft geschrieben, wie er von der Mi-
nisterbank herab stvtterhaft sprach. Ergötzlich sind die schlauen Prophezeiungen,
welche gewöhnlich Morgens durch die Spalten des ministeriellen Blattes schleichen,
und dann schon Abends in Erfüllung gehen. Im Morgenblatte heißt es: „wir
hegen die feste Erwartung, daß unsere Regierung auf die negative Erklärung
v. 28. Apr. über die Nichtannahme der Frankfurter Verfassung, jetzt eine posi¬
tive Erklärung über dasjenige, was zu thun sei, folgen lassen wird." Danach
beginnt dann der Leitartikel des Abendblattes: „In unserer Erwartung über den
von der .'e. haben wir uns nicht getäuscht; wir konnten das Kommende um so
leichter voraussehen, als bei der bekannten Offenheit und Ehrlichkeit unserer Re¬
gierung ze. ze."
In einem andern Leitartikel (v. 1. Mai) wird nachgewiesen: es stehe der
zweiten Kammer uicht an, sich auf deu Standpunkt des offenbar ungenügen¬
den geschriebenen Rechts zu versetzen, nachdem von den Mitgliedern der
Majorität in dieser Kammer so oft auf die politische Nothwendigkeit eines über
geschriebenen Gesetzen stehenden Rechts hingewiesen worden sei! ferner habe
man Unrecht, die preußischen Zustände mit den englischen zu vergleichen; in Eng-
land müsse allerdings das Ministerium zurücktreten, wenn es die Majorität in
der Kammer gegen sich habe, aber diese parlamentarische Regel könne in Preußen
nicht angewandt werden, weil — hier die Volksvertretung aus allgemeinen Ur-
wähler hervorgegangen sei!!
Und mit solchen dummen Phrasen, wovon die hier angeführten noch nicht
die dümmsten sind, glauben die klugen Herrn das Volk irreleiten zu können. Sie
mögen daraus die Verblendung erkennen, in welcher man höheren Ortes lebt!
Auch ist die Stimmung jetzt hier eine solche, daß Niemand — etwa mit Aus¬
nahme von Bodelschwingh, Griesheim u. s. w. es wagt, sich öffentlich als einen
Anhänger des Ministeriums zu bekennen.
Die ultramontane Volkspartei in München ist an die Ufer der Jsar nicht
einzig geknüpft; sie reicht durch Baiern, durch Deutschland, durch die Welt. Sie
verlangt die unbedingte Freiheit des kirchlichen Glaubens, Unter¬
richtes und der Verwaltung von aller und jeder Staatsbevormun¬
dung, in allem auch dem unscheinbarsten Geäder des Kirchcnle-
bens, S elfgov eminent. Gott hat durch Christum unmittelbar seine Kirche
nuf Erden gegründet, diese ist die römisch-katholische; sie hat vor dem Staate,
der zeitlich ist, die Ewigkeit und die Erziehung der Menschen im Zeitlichen für
dieselbe voraus, darum ist ihr Werk höher als das des Staates und der Staat
hat keinerlei Berechtigung, wenn sie in freiester Entwickelung ihrem göttlichen Be¬
Ulfe nachkommen will, sie darin zu störe». Der Träger der höchsten Kirchengewalt
Und aller Kirchensatzungen ist das Priesterthum in seiner geschichtlich vollendeten
organischen Gliederung; darum und weil der heilige Geist die Kirche in alle Wahr¬
heit leitet, hat das Pncsterthnm die tiefste Einsicht in die Mittel und Wege zur
Vollendung der Kirche im Glauben, Unterricht und Leben. Die Priester wählen
uach ihrer Einsicht ans den Laien die tauglichsten zur Mitarbeiterschaft am Werke
der Kirche.
Das sind die Schlüsse,, Grundsätze und Ueberzeugungen, nach welchen die
ultramontane Partei als integrirender Theil des katholischen Weltganzen sich dar-
stellt; ihr besonderer Beruf aber und womit sie erst den Charakter einer Partei
annimmt, besteht darin, daß sie über die Verheißungen des heiligen Geistes und
^'-n'
seinen geschichtlich-organischen Wirkungen im Kirchenganzen hinaus, die Aufgabe
ergriffen hat, in voller, freier Selbstthätigkeit die Zwecke und Ziele der Kirche
der Entwickelung des Staatslebens gegenüber zu sichern, und die dadurch unver¬
meidlichen Conflicte mit dem Staate durchzufechten. Daher die Erscheinung, daß
die ultramontane Partei bald als entschiedene Feindin der jeweiligen Staatsregie-
rungen und Staatsrichtungen, bald als ihre scheinbar intime Verbündete auftritt,
je nachdem ihr Parteizweck gesichert erscheint, ganz abgesehen davon, daß die po¬
litischen Interessen überhaupt im Völkerleben überwiegend geworden und die
geistliche Herrschaft nur durch den Einfluß im politischen Leben begründet werden
mag. Je nach den priesterlichen und Laiencharakteren, die sich am Bau des Ultra¬
montanismus betheiligen, werden natürlich auch die Sonderinteressen neben dem
kirchlichen Gemeininteresse ihr Gewicht behaupten; doch dürste es nicht leicht
eine Partei geben, deren Mitglieder durch Aufopferungsfähigkeit an das Ganze
besser geschult sind, als die ultramontane.
Als die hauptsächlichsten Führer und Sachwalter des Münchener und bairi-
schen Ultramontanismus in Kirche, Wissenschaft, Politik und Leben kann man be¬
trachten, die Grafen Arco-Vallez (Reichsrath), Graf Scinöheim (Reichsrath), Frei¬
herr v. Arctic (Reichsrath), Baron Freyberg, v. Abel, Baron Schrenk, v. Rings-
eis (Geh. Ob. Medicinalrath und Prof.), v. Guido Görres (Sohn deS 1847
verstorbenen Joseph v. Görres), vornämlich der Erzbischof v. München-Freysing,
Gras Reisach, die Bischhöfe von Würzburg, Regensburg, Passau und Speyer,
Dompropst Prof. Dr. Döllinger, Domcapitular Dr. Windischmann, Pfarrer Stumpf,
Prediger Eberhard, der quiescirte Regierungspräsident v. Hörmann, Regierungs-
rath v. Moy, die Professoren v. Lassaulx (Philolog in München), Philipps (für
Jurisprudenz in Würzburg), Bruder des preußischen Abgeordneten und Bürger¬
meister Philipps v. Elbing, Arndts (für Jurisprudenz in München), Archivar
Dr. Constantin Höfler (Bamberg), Assessor Dr. Krätzer (München), die 01). Sepp
(Verfasser des Lebens Jesu) und strebte, die Redacteurs Dr. Haas (ehemals
evangel. Pfarrer), Zander, Antiquar Zipperer.
Schon aus den Namen und einflußreichen Stellungen der genannten Personen
kann man wohl auf die Macht der ultra mondänen Partei schließen. Und in
der That beherrscht sie den Geist und Charakter des Münchner Lebens, und darüber
hinaus steht so ziemlich ganz Oberbaiern, der größere Theil Niederbaierns und
der Oberpfalz unter ihrem höchst wachsamen und kein Mittel scheuenden Einflüsse.
Daß in Bai«in von jeher der Unterricht auf allen Lehr-, Bildungs- und Er¬
ziehungsanstalten der männlichen wie weiblichen Jugend in den Händen der Geist¬
lichkeit gewesen, kommt ihr sehr zu Statten. Bei der gegenwärtig handelnden Gene¬
ration, die sich aus wer weiß welchen liberalen Elementen zusammengesetzt träumt,
sind die ultramontanen Jugcndeinflüsse oft in höchst interessanter und pihuanter
Weise hervortretend. Die guten Leute schimpfen auf die Pfaffen, auf den Ultra-
MvntaniSmUS in liberaler Gesellschaft oder des guten herrschenden ZeittoneS Hal-
ber, und sieht man ernster zu, so sind sie entweder von den Unterstützungen der
Ultramontanen abhängig oder die von diesen durch religiöse Eindrücke vollkommen
beherrschte Frauenwelt oder ihre eigene mangelhafte und sittliche Bildung hält
sie an unsichtbaren Fäden fest in den Händen jener Partei.
Wundert man sich, daß München allein unter den großen bairischen Städten
in der Agitation sür die Reichsverfassung zurückgeblieben ist? Diesmal war die
ultramontane Partei gegen die Bewegung, während sie die Austreibung der
Lota und in den ersten Märztagen die Bevölkerung geschoben und getrieben hatte,
weil sie damals noch der frohen Hoffnung war, die Bewegung in ihrem Sinne
auf weiterhin lenken und ausbeuten zu können. Fast alle ultramontanen Kräfte
waren in Frankfurt vereinigt. Man hoffte anfangs die unbedingte Freiheit der
Kirche vom Staate im Parlamente durchsetzen zu können und selbst als dies mi߬
glückte, hoffte man noch. Wir wissen, wie bedeutungsvoll die Würzburger
Bischöfeversammlung sich sür die Nationalversammlung aussprach. Erst als dk
erbkaiserliche Partei mit ihren Planen offenbar wurde, begann das von dem bai¬
rischen und dem übrigen deutschen Ultramontanismus gegen Frankfurt gerichtete
Zerstörungswerk in den fatalen Abstimmungen in der particularistischen Wirksamkeit
an den Höfen.
In München hatte sich frühzeitig die ultramontane Wirksamkeit in dreifacher
Richtung gezeigt, am Hofe, in der Presse und im Vereinsrecht. Ein Hanpt-
verein sür constitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit
hatte sich unter Guido v. Görres Leitung gebildet, der alle Bestandtheile des
Adels, der höheren und mittleren Bürgerkreise vereinigte, in stetem Briefverkehr
wie den Koryphäen in Frankfurt und mit den Filialvereinen in Ober- und Nieder-
baiern, Oberpfalz und Schwaben stand. Diese Vereine entwickelten in der deut¬
schen Frage eine erstaunenswerthe Rührigkeit; sie stand fortwährend auf ihrer Ta¬
gesordnung und als die Wogen für Preußen hoch zu gehen schienen und der
König Friedrich Wilden IV. noch nicht definitiv die Krone und Reichsverfassung
abgelehnt, hatte der ultramontane constitutionell-monarchische Verein in Augsburg,
der sich bekanntlich feierlich für ein erbliches östreichisches Kaiserthum ausgesprochen,
bereits die besten Arrangements zu allseitiger Befriedigung getroffen, in der Augs-
burger Postzeitung und in Flugblättern hatte er ein Programm veröffentlicht,
"ach welchem der König von Preußen als Kaiser an die Spitze von Norddeutsch-
land, an die von Süddeutschland der König Max von Baiern treten, Oberhaupt
ganz Deutschland aber der Kaiser von Oestreich (der Jüngling) werden sollte,
dann sollte der König von Preußen den Neichsmarschall und der König von
Baiern den Neichsoberrichter spielen. Dieser von dem protestantischen Freiherrn
^ Bernhard in Augsburg herstammende Plan wurde von allen ultramontanen
Preßvrganen dem Hofe und der Regierung in allem Ernste empfohlen.
Auch in der Presse entwickelte unsere ultramontane Partei die umfassendste
Rührigkeit; der „Volksbote" mit einem Beiwagen und einem Sonntagsblatt „der
treue Katholik" „das neue Münchener Tageblatt" „Scherz und Ernst" mit einem
katholischen Sonntagsblatt und einem Zuschauer in München nach Art der neuen
preußischen Zeitung bearbeiten die mittleren und unteren Volksschichten in Stadt
und Land. Die „historisch-politischen Blätter" v. G. Görres und Philipps, diese
ultramontane Großmacht in Deutschland, die Augsburger Postzeitung mit ihrem
geistlichen Sonntagsblatt, redigirt v. Ludwig Schönchen, die neue Sion, redigirt
von Dr. Haas, der Lechbote in Augsburg,, das Würzburger Journal, redigirt
von Dr. Brühl und das bairische Volksblatt in der Oberpfalz entwickeln die Ideen
und Pläne des Münchener ultramontanen Centrums des weiteren in Baiern und
im übrigen Deutschland, wie der „Westphälische Merkur" und namentlich die
„Rheinische Volkshalle" wiederum in den hiesigen ultramontanen Kreisen gelesen
und verbreitet werden. Daß alle irgend brauchbaren Aufsätze in deutschfeindlichen
particularistischen Zeitungen z. B. in der Frankfurter, hannoverschen und preußi¬
schen Zeitung, in der ultramontanen Presse weiter verbreitet werden, versteht sich
von selbst. Auch an Brochüren von dieser Seite gegen Preußen hat es nicht ge¬
fehlt. So erschien bei Manz in Regensburg: „Tcmgesta, Preußens Verdienste
um Kaiser und Reich" und in dem bekannten ultramontanen Verlag von B. Schmid
^ in Augsburg: „Preußens Politik in Beziehung auf Deutschland." Ferner „die
Grundrechte und die Reichsverfassung für Deutschland, beleuchtet von einem Baier
(v. Moy?) bei B. Schmid. Augsburg. Auch zwei Flugblätter von den Ultra¬
montanen ausgegangen, wurden in unzähligen Exemplaren in Stadt und Land
jüngst verbreitet, die „Reichsverfassungszeche" (Berechnung der Verluste Baierns
bis auf den Heller) und das andere: „Wie dnrch die Frankfurter Reichsverfas-
sung Baierns Wohlstand und ganzer Bestand zu Grunde gerichtet wird."
Zwei Umstände begünstigten insbesondere den Einfluß der Ultramontanen in
jüngster Zeit; der Hof und die bureaukrattsche Partei fühlten ihre Schwäche ohne
jene dem Volke gegenüber; darum ward die Coalition mit den Ultramontanen ein¬
gegangen, die so eng ist, daß die Neue Münchner Zeitung, dets anerkannte Hvf-
uud Regierungsorgau ihre Spalten anch der so mächtigen Partei zu öffnen ge¬
nöthigt war. Die Bureaukraten und ihr Vvlksorgan „der Reichsbote" standen
der geistlichen Partei nicht mehr gegenüber, wiewohl sonst, sondern mit aller Ent¬
schlossenheit zur Seite. Der andere günstige Umstand ist darin ruhend, daß die
beide» gelesensten Organe in Baiern, die Augsburger Allgemeine Zeitung und na¬
mentlich der Korrespondent von und für Deutschland in Nürnberg das ganze Jahr
l848 hindurch bis heute eine mittlere zusehende, mehr warnende und rathende
als leitende Stellung in der Agitation für die deutsche Einheit behaupteten, und
namentlich letzteres Blatt weder Oestreich jemals ernstlich aufzugeben, noch vom
Vereinbarungspriucip zu lassen entschlossen war und in der Coalition der erklär-
ten Konservativen mit den Republikanern, zu Gunsten des preußischen Erbkaiser-
thums, nur die Niederlage der Konservativen zu sehen vermochte.
Mag man immerhin spottweise von einer „rothen Kirche" sprechen, mögen im¬
merhin an den Straßenecken in München und Augsburg die famosesten Carrika-
turen auf die Geistlichkeit und unzählige Flugblätter z. B. gegen die barmherzigen
Schwestern (deren Oberin man als zu barmherzig schildert), der Teufel im Talar,
römisch-katholischer Küchenzettel, der Peterspfennig, Christus und der Papst, der
Herr Pfarrer u. s. w. ausgeboten und in immer neuen Auflagen verkauft werden,
mag man selbst auf öffentlichen Spaziergängen die Christlichkeit insnltiren, so daß
die Concurrenten beim Pfarrerexamen nicht nach München kommen wollten, der Ul-
tramontanismus muß grade dnrch solche unedle Angriffe gewinnen, wie der Mär¬
tyrer in der öffentlichen Meinung steigt. Die Geistlichkeit wirkt im Stillen um
so sicherer. Einige Beispiele. Die Basilika des heiligen Bonifacius kounte bis¬
her dem öffentlichen Gebrauch nicht übergeben werden, weil der Erzbischof beharr¬
lich, da die Fonds zur Dotirung der Geistlichkeit fehlten, die Einweihung ver¬
weigerte; jetzt sind die Fonds zu rechter Zeit erwirkt und die brillante Kirche wird
zu rechter Zeit die Münchner Frömmigkeit vermehren.
Im baierischen Hochlande hängen die Bildnisse der frommen Koryphäen, selbst u»1s
des unglücklichen Sepp in den Bierbrauereien und Dorfhütten, und werden gleich
Amuletten verehrt. Die Hirtenworte der in Würzburg versammelt gewesenen Erz-
bischöfe und Bischöfe Deutschland's an die Gläubigen ihrer Diöcesen (v. 11. Nov. 1848
und die desfallige Denkschrift (v. 14. Nov. 1848) sind, die erster» in allen untern
und mittleren Volksweisen in Stadt und Land in unzähligen Exemplaren verbreitet
und wie das wirkliche Evangelium der Gegenwart und Zukunft angenommen, die
andere Schrift aber in den höheren und gebildeten Kreisen als einzige Leuchte im
TZirrsal der Gegenwart betrachtet.
Zwar haben die guten Bolksschnllehrcr im December 1848 hier in München
cüicn Kongreß gehalten und sehr liberale Beschlüsse gefaßt; allein wer wird sie
Ausführen und wie möge» sie daheim von Pfarrern und Gemeinden empfangen
worden sein. — Sogar die letzte protestantische General.probe hat das vortheil¬
hafte der Ohrenbeichte sich angeeignet und die Prediger in Franke» dieselbe in
seiner Gemeinde bereits eingeführt, wie man in der neuesten Nummer des Main¬
zer „Katholiken" lesen konnte; die königliche Regierung von Mittelfranken hat an
alle Schutt'ehördeu ein Rescript ergeben lassen, nach welchem die Schullehrer, die
steh deu Geistlichen widersetze» und den extremen politischen Ansichten, (d. h. den
Grundrechten und der Schulreform) huldigen, in letzter Instanz mit Absetzung
bedroht werden. Selbst an den Universitäten dauert das System der Zwangs-
cvllegien fort. Die Leiche der Königin Caroline steht noch heute in der Thcatiner-
ku'che, also getrennt von ihrem guten Max !.; wenn am 13. Novbr. ihr alljähr-
luher Trauergottesdienst in der protestantischen Kirche stattfindet, fehlen alle Höhe-
ren Chargen, bei Begräbnissen wird nicht selten protestantischen Männern katholi¬
scher Frauen das Vortragen des kirchlichen Kreuzes verweigert, noch im Decem¬
ber 1848 stand öffentlich und amtlich an der Se. Michaelskirche zu lesen, wie
man nicht nur für begangene, sondern auch für künftige Sünden auf 4 Jahre vor¬
aus einen Ablaß erlangen könne. ES ist Thatsache, daß der bairische Buchhandel
fast nur durch Gebetbücher-Verkauf getragen wird, daß die flammenden Gcbet-
und Erzählungsbücher der Liguorianer in unzähligen Exemplaren verbreitet, daS
Volk beseligen, daß wir als tägliche Buchhändlerannoncen folgende lesen: „Heilige
Seelenlust oder geistliche Hirtenlieder der in ihren Jesus verliebten Psyche, An¬
dachtbuch zur allerseligsten Jungfrau und Mutter Gottes um ihren Scvntz zu er¬
flehen, besonders für unsere Zeit; Andacht zur Ehre der heiligsten Kindheit Christi,
geistlicher Krippenban u. s. w.," eS ist Thatsache, daß unser Volk sich auch nach
folgenden Schriften drängt und sich um sie schlägt: der Traumdeuter, Worte eines al¬
ten Propheten niederschrieben „gegen Ende 1848, um vor Aufhebung der Lotterie
noch reich zu werden," der unfehlbare Schlüssel zum Sprengen der Lotterie. Nach
den hinterlassenen Schriften der 115 Jahre alt gewordenen Nonne Cäcilia Cata-
lini von Ludovico Caraccini Dr. tbvol. und i»t>nos.; diese Broschüren erleben fort¬
während neue Auflagen.
Unsere liberale Partei täuscht sich sehr, wenn sie ihren Feind für schwach
und überwunden hält; er ist sehr mächtig und sobald er es einmal für nützlich hal¬
ten wird, den Fanatismus des Volkes zu gebrauchen, wird er uns seine Macht
beweisen.
Um die Abberufung der preußischen Deputirten aus der Nationalversammlung zu
rechtfertigen, erklärt der König, „sie sei in ihrer Mehrheit nicht mehr jene Vereinigung
von Männern, ans welche Deutschland mit Stolz und Vertrauen blickte." Wenn man
nun fragt, wer an jener Vereinigung fehlt, so sind es die Oestreicher und Vaicrn, die
nämlichen, durch deren perfide Koalition mit der Linken eben jene Bestimmungen in
die Verfassung eingeschwärzt wurden, um deren Willen Preußen dieselbe nicht annehmen
zu kviincu erklärt. Wenn also die Haltung jener Männer gegen Preußen eine andere
geworden ist, so liegt das nicht in, dem Austritt jener Feinde Preußens, sondern an
der veränderten Stellung des Cabinets. Der König versichert, er habe Alles gethan,
um eine Verständigung herbeizuführen. Das ist nicht der Fall. Hätte die preußische
Negierung vor der letzten Entscheidung mit Bestimmtheit erklärt, unter diesen Bedin¬
gungen könne die Krone nicht angenommen werden, so hätte man sich anders resolvirt;
wan hätte sich mit den Oestreichern verständigt, ein Directorium eingerichtet, oder was
immer. Jetzt ist aber diejenige Partei, welche die Sache Preußens aus das Lebhafteste
verfochten hat. u. A. gegen Herrn v. Würth, den jetzigen Bundesgenossen der preußi¬
schen Politik, der sie damals öffentlich beschimpfte, von Preußen selbst aus das Aergste
compromittirt. — Der König versichert, die Centralgewalt habe Unrecht gethan, sich
in das Einrücken der preußischen Truppen in Sachsen zu mischen, während doch selbst
nach den alten Buudesgesctzen ein derartiges Einschreiten nur auf Veranlassung der
Centralbehörde verstattet war. Es war gerade so, als bei der Erklärung der Kammer
über die Gesetzlichkeit des Belagcrnngsstandes derselben versichert wurde, sie habe sich
in Vcrwaltungsangclcgcnheiten nicht zu mischen. — Der König spricht der National¬
versammlung das Recht ab, eine Verfassung zu geben, obgleich 30 Regierungen sich
dafür erklärt haben, sich selbst aber vindicirt er, im Verein mit drei Königen, dieses
Recht, gegen den Willen jener 30 Regierungen und der Nationalversammlung. — Er
versichert, die octroyirte Verfassung einem Reichstage zur Revision vorlegen zu lassen;
wahrscheinlich eben so, wie die octroyirte preußische Verfassung, wo man die Kammern
sprengte, ehe sie noch an ihre Aufgabe gehen konnten. — Er setzt hinzu: „Deutsch¬
land vertraue dem Patriotismus und dem Rechtsgefühl der preußischen Regierung."
Eben darum, weil Deutschland weder dem einen noch dem andern vertraut, will es
die Verfassung nicht, sie möge ausfallen, wie sie wolle. Deutschland mißtraut nicht
einmal mehr, sondern es weiß, daß die gegenwärtige Regierung nichts ist, als der
Ausdruck des alten Regiments. Sie wird eine Verfassung geben, in der es §. 1 heißt:
Die Regierung darf nur nach den Gesetzen verfahren. §. 2 es steht ihr frei, wenn
?e es für gut findet, nicht nach den Gesetzen zu verfahren. Sie kann nur durch Aus¬
nahme-Maßregeln, Belagerungszustand u. dergl. regieren, und darum will Deutschland
Weder sie, noch ihre Verfassung, wenn eine solche überhaupt zu Stande kommen sollte,
>v» sämmtliche Betheiligten etwas Anderes wollen.
Daß selbst unsere gegenwärtigen Machthaber, so bereit sie sind, eine Frage,
welche freie Staaten auf verfassungsmäßigen Wege erledigen, der blutigen Entschei¬
dung des Schwertes zu überlassen, ja — wir bedauern es aussprechen zu müssen, so
geneigt sie waren, eine solche Entscheidung zu provociren — ein jedes Blatt der
Neuen Preußischen Zeitung spricht dafür — so schrecken sie doch vor dem Aeußersten
Zurück.
Die Deutsche Reform hatte darauf hingedeutet, das man von dem so vielfach
^schmähten Rußland zuletzt in der äußersten Noth die Hilfe erwarten müsse, die
Deutschland sich selber nicht leisten könne. Von den Organen der Frankfurter konstitu¬
tionellen Partei wurde diese Aeußerung, die sich freilich zunächst auf die östreichischen
Angelegenheiten bezog, deren Anwendung auf uns aber zu nahe lag, mit großer Hes-
^gkeit angegriffen. Die Deutsche Reform protestirt nun gegen eine solche Unterlegung.
^" es! rvir glauben selbst, daß es Preußen nicht wünschenswert!) sein wird, in eine
"och größere Abhängigkeit von dem nordischen Coloß zu gerathen, aber ist es etwas
anderes, wenn überall das ruhmvolle Preußische Heer die nulle von Dienern der Gewalt
spielen muß! Ist es ein Schritt zur Versöhnung, wenn in dem königlichen Armee¬
befehl sämmtliche Gegner der Regierung — wozu Männer wie Vincke gehören — als
eine Partei des ,Mdbrnchs, der Lüge, des Verraths und des Meuchelmords" bezeichnet
werden? Nicht wir haben zuerst gesagt, wer nicht mit uns ist, ist wieder uns, son¬
dern ihr. >— ^
Es ist außer allem Zweifel, namentlich seit der offenbar republikanischen Jnsur-
rection in Baden, daß die Bewegung, welche ursprünglich durch das von der preußi¬
schen Regierung verletzte Rechtsgefühl des deutschen Volkes hervorgerufen wurde, in
ihrer jetzigen Wendung einer Partei in die Hände gefallen ist, welche die deutsche
Reichsverfassung nur zum Vorwand braucht. Wie wir es vorausgesagt, steht die rothe
Republik der rothen Monarchie gegenüber. Wenn nun aber, auf dieses Dilemma ge¬
stützt, die Organe der reaktionären Partei den Constitutionellen zurufen: „wer hätte
es gedacht, daß ihr in dieser Krisis von uns abfallen würdet!" so ist der Vorwurf
lächerlich. Die Vereinigung der constitutionellen und der legitimistischen Partei im
November des vorigen Jahres hatte in vorübergehenden Verhältnissen ihren Grund.
Die konstitutionellen Regierungen konnten den Ausschweifungen der Demokraten nicht kräftig
genug entgegentreten, weil sie über die Kräfte des Staats nicht frei disponirten; sie
machten daher der Gegenpartei Platz, und unterstützten dieselbe, unter der Voraus¬
setzung, daß sie durch die Zeit belehrt und wahrhaft zum constitutionellen Princip
übergegangen sei. Die preußischen Kammern haben uns eines andern belehrt; die
Kamarillen haben nichts gelernt und nichts vergessen, der Constitutionalismus ist nur
ein schlechtes Aushängeschild. Naiv genug erklärt die Deutsche Reform in demselben
Augenblick, wo sie die Constitutionellen haranguirt, die Preußischen Minister wollten
dem deutschen Volt eine liberale Verfassung geben, obgleich es völlig in ihrer Macht
läge, den alten Bundestag und was um und an ihm lag wieder herzustellen! Sie
wollten die Gnade haben! Falle nieder, ihr Völker und danket euern Wohlthätern!
Allerdings sind auch wir der Ueberzeugung, daß eine entschiedne Unterdrückung
der Anarchie nur durch eine neue Koalition der beiden conservativen Parteien möglich
ist. Diese kann aber nicht darin besteh», daß wir uns von Neuem in die Arme des
Absolutismus weisen. Mögen diejenigen, welche Alles von der rothen Republik zu
fürchten haben, im letzten Augenblick sich der Nation anvertrauen. Roch steht es den
Regierungen frei, der constitutionellen Partei das Ruder zu übergeben. Geschieht
es nicht — der Bürgerkrieg ist schon da; das Endresultat ist rothe Republik oder Ab¬
solutismus. Die erste ist ein Fieber, das vorübergehn muß; die letztere aber procla-
mirt sich als einen dauernden Zustand. Die constitutionelle Partei wird nicht mit den
Demagogen aus den Barrikaden stehen, eben so wenig aber wird sie sich zu Schergen
deS absoluten Staats hergeben. Sie wird sich fester organisiren, um wie auch die
Entscheidung ausfalle, für Ordnung und Gesetz einzustehn. Stehn wir fest zusammen,
so geht die Fluth schnell über unsere Häupter weg, ohne unser Fundament zu unter¬
wühlen; und wer auch siegen mag, er wird mit uns „vereinbaren" müssen.
WliiU n, Kinne kollov is lui5 Zro^vn to de.
lie v»s lsnivli meUlv ^oren i>o vont i» »eiiool.
Das Epos unserer Revolution ist nicht arm an überraschenden Abenteuern,
man kann fast sagen, daß es sich nach dem ersten heroischen Anlauf ins Anekdo¬
tenhafte verloren hat, eine Intrigue kreuzt die andere in diesem bunten Masken--
spiel, eine Figur nach der andern verschwindet, oder läßt zu früh den Satyr
unter der tragischen Kleidung Hervorscheinen. Für den spätern Historiker sind
Züge genug vorhanden, aus denen sich ein fortlaufender Gang der Handlung
und damit ein bleibendes Interesse zusammensetzen läßt, für uns aber, die der
schalkhafte Genius der Zeit selber in diesem Fasching umhertreibt, dem auch der
Kritiker sich nicht entziehen kann, hat die ewig wechselnde kleine Spannung etwas
Ermüdendes. Es geht wie in einem Lasontaineschen Roman; der beständige Stoff-
Achsel, nur durch die Einheit der Phrase zusammengehalten, wird zuletzt lang-
^nig. In der französischen Revolution war doch wenigstens ein localer Mittel¬
punkt, der Energie genug besaß, auch die geistige Bewegung um sich zu krystalli-
^'en, bei uns zerstreut sie sich in wahrhaft Ariostischen Sprüngen und in nicht
^os scheinbarer Gesetzlosigkeit über ein Terrain, das wir nur mit Schwierigkeit
übersehen; ein rother Faden blickt überall hervor, aber er hat zu wenig Reiz,
daß man sich abmühen sollte, ihn zu verfolgen. Dieser Mangel einer natür¬
lichen, objectiven Einheit ist nur durch eine subjective zu ersetzen.
Vielleicht erinnert sich noch mancher unserer Leser an einen frühern Versuch,
Bewegung der Zeit in ihren Trägern zu charakterisiren. Ich meine die Por-
traits von Robert Blum und Johann Jacoby Wir gaben sie als Typen
der Zeit, und wenn es keine Heldengemälde wurden, so rechte man darüber mit
unserm Jahrhundert. Wir werden den Versuch fortsetzen, aber nicht blos an den
Männern der Bewegung, in deren Gesicht doch immer eine gewisse Monotonie
herrscht, sondern anch an den „Neactionairsden „Kritikern", welche gegen den
Strom schwimmen und welche sich in der Regel des Vorzugs einer gewissen Ori¬
ginalität erfreuen. Die Zeit spricht sich in denen, welche sie verachten, nicht
minder vernehmlich ans, als in der braven Mittelklasse, die sich von ihr treiben
läßt, ohne über sie zu reflectiren. Bruno Bauer, der es sich zur Aufgabe
seines Lebens gemacht zu haben scheint, sich an den Phänomenen der irdischen
Verwesung „dem Geyer gleich, der auf Morgenwolken schwebt," aus luftiger
Hohe zu weiden, möge es uus uicht verargen, wenn wir ihn und seinen unnah¬
baren Standpunkt, die souveräne Kritik, als eine der Erscheinungen begreifen,
deren Wesen er eben so geschickt als boshaft secirt hat.
Die Generation, als deren Typus Bruno Bauer das Recht hat, charakteri-
sirt zu werde» — der kritische Absolutismus der jüngern Hegel'schen Schule —-
ist durch die „bürgerliche" Bewegung der letzten Jahre absorbirt und läßt sich
schon mit der Unbefangenheit anschauen, die man einem geschichtlichen Ereigniß
bewahrt. Das Wesentliche dieser Richtung — die „geistreiche" Reaction
gegen den Schlendrian fertiger, bequemer Vorstellungen — finden wir in der
Geschichte überall, wo eine bestimmt abgeschlossene Weltanschauung in der Masse
so populär geworden ist, daß eine gewisse Kühnheit dazu gehört, sich auch nur
für Augenblicke diesem Lebenselement zu entwinden. Der Anlauf, den man bei
diesem Entschluß nehmen muß, treibt dann ins entgegengesetzte Extrem. So hatte
im dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts die junge Generation der conven-
tionellen Glätte des aufgeklärten Zeitalters die Allmacht des Herzens entgegen¬
gesetzt; man hatte in England, Frankreich, vornämlich aber in Deutschland, das
Evangelium der Natur verkündet, einer Welt, die ganz in künstliche Formen ver¬
strickt war, und hatte, um es gründlich zu betreiben, gleich die entlegenste Natur
aufgesucht, le Vaillant's Hottentotten oder die Robinson-Insel des Emile; man
hatte durch Humor und Sentimentalität — das Recht der individuellen Stimmung
und Caprice — den Aberglauben' an das Gesetz der Sitte und des „gesunden Men-
schenverstandes" erschüttert; man hatte der Leerheit des herrschenden Glaubens¬
systems mit der dunkeln Fülle der Mystik zu imponiren gesucht, man war zuletzt
— in der romantischen Schule — so weit gegangen, diese Paradoxien des Ge¬
fühls in ein System zu bringen, die individuelle Stimmung, die Originalität,
Laune u. f. w. zu regeln, und als eine neue Convenienz der geistreichen Welt
zum beliebigen Gebrauch zu überlassen. Aus der naiven Sentimentalität entwickelte
sich, wie es in solchen Fällen immer zu geschehen pflegt, wie wir es schon vorher
an der Reaction des Pietismus gegen die herrschende Wortglänl'igkcit beobachten
konnten, eine reflectirte.
In unserm Zeitalter hat die Spießbürgerlichkeit einen entgegengesetzten Cha¬
rakter. Wenn man den Nestor im Zerbino, den Albert im Werther und ähn¬
liche Typen des damaligen Philisterthums, welche die Dichter der Romantik zu
Ehren ihres Gottes gegeißelt, mit den unsrigen vergleicht, so sehen wir dort
einen eingefleischte», hausbackenen Verstand, der sich keine Illusionen macht, der, in
den derben Gelüsten des unmittelbaren Egoismus und in dem Gesetz angestammter
und herkömmlicher Sittlichkeit befangen, alle weitere Perspective ins Unbestimmte
und Ideale hinaus hartnäckig von sich weist, während unser Philister, in den
Traditionen der Romantik erzogen, viel Herz hat für die Menschheit, viel an¬
muthige Illusionen nährt, und so viel Sentimentalität, Liebe, Natur, Freiheit
Und Stimmung in sich trägt, als eine enge Brust nur immer ertragen kann. Der
Philister unserer Tage ist der Jerome Patnrot, der eine allgemeine Form sucht,
in welcher die Welt glücklich zu machen sei, bei uus Herr Piepmcyer oder wie
ihn der Volkswitz sich sonst vorstellt. Dieser Convenienz des Herzens, dieser un¬
bestimmten sittlichen Voraussetzung des Idealismus stellt die moderne Reaction
des freien Geistes nickt mehr das Gefühl, sondern die Kälte des frechen, voraus-
setzungslosen Verstandes entgegen, und was damals der Mystiker leistete, erreicht
heute der Sophist. Das absolute Gefühl brach deu Aberglauben an die gemein
gewordenen Sätze des populären Verstandes; die absolute Kritik erschüttert den
Aberglaube» an die Convenienz des Herzens. Diesen Gegensatz müssen wir scharf
ins Auge fassen, wenn wir die eigenthümliche Stellung, in welcher Bruno Bauer,
der satyrische Reactionär, dem Philisterthum (er neunt es Bürgerthum) seines
Zeitalters gegenübersteht.
Die Reaction ist keineswegs frei von den Voraussetzungen, welche sie bekämpft;
sie ist in ihrer (.«rscheinnng wie in ihrem Wesen durch diejenige geistige Richtung
bedingt, welche sie als ihren Gegensatz begreift. Die „Natur" der Sturm- und
Drangperiode war conventionell, wie die Convenienz, über welche sie sich zu er¬
heben glaubte, das „Herz" reflectirt und eitel, wie sein Gegensatz; darum kam
^ zuletzt zu einer wunderlichen Casuistik des Herzens. Die moderne Sophistik,
welche sich über die priuciplose Sentimentalität des „bürgerlichem Gefühls" lustig
macht, ist in ihrem Ursprung eben so sentimental — denn sie geht aus einem
durch die Hohlheit der Phrase verletzte» Gefühl hervor; in ihrer Ausführung eben
so Principlos, denn sie heftet sich an die einzelnen Bewegungen ihres Gegensatzes,
und wird von denselben willenlos in willkürliche Irrfahrten verleitet. Sie ist
endlich unproductiv, wie die Romantik es war, unproductiv, wie jede Reaction
es sein wird, die wohl als der Ausdruck einer gerechtfertigten Sehnsucht, aus
dem Gefühl eines wesentlichen Mangels, aber nicht als der Ausfluß einer wirkli¬
chen, ihrer selbst gewissen Kraft zu begreifen ist.
Die souveräne Kritik wird daher, weil sie in sich selbst kein festes Gesetz
findet, den Schwankungen der Zeit unterworfen sein. Wir sehen Bruno Bauer
zuerst als orthodoxen Hegelianer die radicale Kritik der jungen Schule bekämpfen,
dann an ihrer Spitze jene glückliche Zeit durchmachen, in welcher man die
Mauern von Jericho mit Kanonen umzuwerfen glaubte, die lediglich mit Ideen
geladen waren, zuletzt als einsamer Kritiker, nnr von einer kleinen Schule Aus-
erwählter umgeben, die Trojaner wie die Achäer gleichmäßig verspotten. Die
Zeitabschnitte seiner BildungSphasen knüpfen sich an bestimmte Perioden der
öffentlichen Entwicklung an. Der erste umfaßt die Jahre 1834 — 39, die zweite
die Zeit des philosophischen Radikalismus, bis zur Unterdrückung der Jahrbü¬
cher 1843.
Im Jahre 1834 wurde Bruno Bauer Licentiat der Theologie an der Uni¬
versität Berlin, wo er studirt hatte. Er war damals 25 Jahr alt. Sein Vater,
ein schlichter Mann, war Hofgärtner in Charlottenburg; seinen Geist soll er,
wie seine Brüder, von der Mutter geerbt haben. Seine Thätigkeit bestand in
dieser Periode in der Herausgabe eiuer „Zeitschrift für speculative Theologie"
1836—38, und in einer „Kritik der Schriften des alten Testaments" 1838. Mit
einer bereits im Ton seiner spätern Polemik abgefaßten Broschüre: „Herr Dr.
Hengstenberg" und seiner Versetzung nach Bonn als Privatdocent 1839 schließt
diese Periode.
Was damals strebsamen Geistes in Berlin war, schloß sich der Hegel'sehen
Schule an, deren anscheinend mystische Dunkelheit ein ehrgeiziges Gemüth eben so
reizen als abstoßen mußte. Auf keine Wissenschaft hat die Schule so viel Einfluß
geübt, als auf die Theologie; die übrigen setzen der Speculation die Festigkeit
eines realen, concreten Inhalts entgegen, der sich mit „allgemeinen" Gedanken
nnr bis zu einem gewissen Grad verträgt; was aber in der Theologie Werth hat,
ist lediglich speculativer Natur, und eine willkürliche, mit rohen Vorstellungen und
poetischer Mystik zersetzte Speculation kann ans die Länge der Energie einer ge¬
bildeten Speculation nicht widersteh». Dem Anschein nach galt Hegel's Polemik
dem Rationalismus, welcher dem christlichen Glauben ungefähr auf das Minimum
zurückgeführt hatte, das in Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver¬
nunft" enthalten war, nämlich auf den Glauben an eine Vorsehung, um dem mo¬
ralischen Jnstinct des Meuscheu gerecht zu werden, und ein ein jenseitiges Leben,
um die Widersprüche dieses Glaubens an die Vorsehung mit dem Weltlauf aus-
zugleichen. Diese Dürftigkeit einer auf praktische Interessen eingeschränkten Reli¬
gion mußte einen Geist, dessen Richtung vorzugsweise auf das Deuten ging, aufs
Tiefste verletzen, weil sie gerade von den höchsten Angelegenheiten des mcnschliciM
Lebens das Denken auszuschließen schien. Hegel fand, daß in dem Christenthums
wie es sich in den Kirchenvätern und den Scholastikern entwickelt, ein ebenso tiefsinniges
als umfangreiches System von Gedanken enthalten sei, und stellte dieselben, auf
ihre logische Form zurückgeführt, und in einen innern Zusammenhang gebracht,
in zwei ziemlich starken Bänden zusammen. Man kann sagen, daß über diese Ent¬
deckung, wieviel speculativer Inhalt im Christenthum verborgen sei, Niemand mehr
überrascht und betroffen war, als die Anhänger des alten christlichen Systems.
Ans der einen Seite kam es ihnen ganz gelegen, denn ihre Gegner, welche sie
bis dahin nur der Herzlosigkeit zeihen können, wurden nun von einem hochgebil¬
deten Geist als flach und trivial dargestellt; ihr eigner Glaube war schon zu kalt,
als daß er sich an fremdem Feuer nicht gern hätten nähren mögen. Aber es wurde
ihnen auch unheimlich dabei, denn wenn sie sich bei ihren Dogmen Nichts hatten
denken können, so war das ganz in der Ordnung,, weil das Wesen der überlie¬
ferten Glaubenssätze eben darin bestehn sollte, daß sie über die menschliche Ver¬
nunft hinausgingen; daß sie aber die neuen Erläuterungen ebenso wenig verstehn
sollten, war ihnen unbequem. Ein Gott und drei Personen! das ließ sich hören,
es war eben ein Geheimniß. Aber daß dieses Geheimniß nnn das offenbare sein
sollte, daß die Identität des An-steh-seins, des Für-sich-seins und des An-und-
sür - sich - seins diese übermenschliche Offenbarung in einen menschlichen Vernnnftsatz
verwandeln sollte — die alten Herren schüttelten die Köpfe, sie konnten sich nicht
hineinfinden.
Um so triumphirender blickte die Schule nach ihren Gegnern auf beiden Sei¬
ten hin: nach denen, welche den Inhalt der Offenbarung nicht anerkennen wollten,
Und nach denen, die es für eine Anmaßung hielten, ihn logisch begründen zu
wollen. Sie merkten es selber nicht, daß sie durch ihre Rechtfertigung des christ¬
lichen Glaubens, daß Gott die Welt regiere, d. h. daß ans Erden Alles ver¬
nünftig zugehe, dem Wesen des christlichen Glaubens widersprächen, daß zwischen Gott
und dem Menschen, den, Reich des Guten und dem Weltlauf, eine unausfüllbare Kluft
^ge. Sie waren, wie es den Deutschen immer gegangen ist, die am liebsten im
Reich der Ideale, im Jenseits der Speculation verweilte», zu sehr Theologen, um
den eigenen Widerspruch auch nur zu suhlen. Die eigenthümliche Methode der
vorzugsweise aus eine absolute Theodicei? ausgehenden Schule bestärkte sie in dieser
Naivität.
Die Philosophie Hegels hat zwei Seiten; einmal die logische. „Das Ideal
ist wirklich/' dieser Glaubenssatz soll sich erweisen, durch eine Kritik der Begriffe
^deal und Wirklichkeit, zu welchem Zweck eine Logik in drei Bänden geschrieben
ist, die mit dein „Sein" anfängt, dnrch die Mittelstufen des „Daseins" und der
"Existenz" zur „Wirklichkeit" übergeht und endlich an das luftige Reich der „Idee"
Klange, vou der es sich zeigt, daß sie eigentlich nichts anderes ist, als „Sein"
-'Wirklichkeit" u. s. w. in einer höhern Einheit. Die Methode dieser Dednctton
ist einfach und bekannt; die Einseitigkeit der Begriffe wird aufgehoben, indem man
ihre andere Seite in's Auge faßt, indem man z. B. erwägt, daß ein Ding etwas
nur darum ist, weil es etwas anderes nicht ist, z. B. das Dreieck ist nicht co
Viereck u. s. w. Beides ist verschieden, aber doch wieder identisch, denn beides ist
Figur und nun so weiter fort. Die Methode ist ebenso bequem als leer, wenn
sie nicht durch eiuen so reichen Inhalt wie ihn Hegel in sich trug, ausgefüllt
wird; leere Geister, wie der größere Theil der Hegelianer es war, erfüllt sie mit
einer unerträglichen suffisance und verleidet ihnen jede gründliche Bildung.
Denn das Bedürfniß eines zweiten Theil der Philosophie, neben der Logik,
macht sich freilich sofort geltend. Wir wissen nun, daß Idee und Wirklichkeit im
Begriff Eins sind, wir wollen es aber auch in der Anwendung sehen. Wir
wollen im Reich der Natur, der Geschichte, des Rechts, der Religion u. s. w.
erkennen, daß was wir empirisch gelernt haben, das Wirkliche, auch ideal, ver¬
nünftig ist.
Dieser Nachweis — der phänomenologtsche Theil der Philosophie — soll nun
eigentlich so geführt werden, daß man aus den logischen Begriffen heraus Natur, Ge¬
schichte, Recht, Religion u. f. w. a pria-i construirt. Der Form nach geschieht es
auch, nur hat z. B. die Geschichte das Unbequeme, daß in ihr Namen und Zah¬
len vorkommen, die sich wenigstens mit Eleganz aus dem absoluten Begriff heraus
nicht entwickeln lassen. Die Sache wird also so gemacht: das aus der empiri¬
schen Wissenschaft bekannte Material wird auf eine Weise gesichtet und geordnet,
daß der logische Gang der Idee in ihm durchscheint: eine Methode, die um
so bequemer ist, je weniger concretes Wissen man zu überwinden, in die Scha¬
blone einzuführen hat. Darum haben junge Hegelianer mit großer Vorliebe na¬
mentlich die Geschichte construirt und zwar bis tief in die Zukunft hinein, nach
These, Antithese, Synthese, -l, l», c, -l', I,-, u. s. w. So wird das Reich
der Empirie dein Gesetz der Nothwendigkeit unterworfen.
Aber es wird dadurch auch ziemlich verflüchtigt. In dem Fluß der absoluten
Idee verliert sich so leicht das Bestimmte. In der „Geschichte der Philosophie," der
„Philosophie der Geschichte" u. s. w. ist ein träumerischer Anstrich nicht zu verkennen,
wie kräftig auch im Detail der geschickte Künstler die der Realität entnommenen
Farben darzustellen weiß. Alexander, Friedrich, Napoleon, Luther — wer sie
kennt von anderwärts her, erhält durch einzelne eben so kühne als glückliche ZU!^
ein Verständniß, wie er es im gründlich einseitigen Detailstudium vergebens suchen
.würde, für eine wissenschaftliche Begründung -- die nicht blos anregen, sondern
überzeugen soll — ist aber wenig gethan.-
Am Klarsten wird dies Verfahren in einem Werk, wie der Phänomeno
logie: der Geschichte der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Be¬
wußtseins. Man wird überall dnrch weite Perspectiven angeregt, durch Lichtfunken,
die schnell und kurz ein abenteuerliches Labyrinth erleuchten, erweckt; wenn man
aber fragt, von welchem Geist ist eigentlich die Rede? von dem individuellen Be-
wußtsein, wie es sich von der Kindheit bis zum Greisenalter entwickelt? oder von
der Theologie? oder von der Menschheit im Lauf der Geschichte? so findet man
keine Antwort. Es ist das alles, und zwar durcheinander; eine Fata Morgana,
über deren zeitliches und räumliches Verhältniß wir keinen Ausschluß haben. Es
ist „der Geist" überhaupt, um den es sich handelt, und es klingt wie ein mär¬
chenhaft sinniger Mythus von der Menschwerdung eines Gottes bis zu seiner
Himmelfahrt. Die Realität scheint überall durch, in den meisten Fällen fühlen
wir, worauf sich das ideelle Spiegelbild bezieht, aber wie das Alles zusammen¬
hangt, bleibt ein Räthsel. ES ist ein- Parabel, in welcher versinnlicht wird, wie
ein einseitiger Standpunkt des Bewußtseins seinen Gegensatz als Reaction hervor¬
ruft, nach hartem Kampf sich mit ihm zu einer „höhern Einheit" versöhnt, in
dieser Stellung zu einer neuen Einseitigkeit verhärtet u. s. w. Jeder Standpunkt
ist gut, weil nothwendiges Resultat der frühern; jeder böse im Keim, weil er
Alast der absolute ist. Das ist der Grundbegriff von der Flüssigkeit des Rechts,
wie ihn die Schule populär gemacht hat; je nach der geistigen Richtung wird die
absolute oder endliche Seite der Erscheinung hervorgehoben. Im ersten Eifer der
neuen Entdeckung ruft der Idealismus: Alles ist gut, was da ist und wie es da
ist. Die zweite Stufe ist: Alles ist gut im Wesen, sobald es sich mir in der
Erscheinung durchgearbeitet hat. Die dritte: alle Erscheinung ist schlecht, denn
sie erschöpft das Wesen nicht. Alle drei Standpunkte hat Bauer durchgemacht.
Die phänomenologische Behandlung ist in der Logik wie in der Philosophie
der Geschichte. In der ersten wird mit Begriffen: „Sein," „Nichtsein," „Wesen"
u. s. w. gerade so umgegangen, wie in der zweiten mit: „Revolution," Kritik,"
"Monarchie" — die abstracten Begriffe werden personificirt. Auch das ist Theo-
logie; „des Menschen Sohn" wird in der Erscheinung verehrt, warum sollte nicht
auch „die Kritik" als Jncarnation in einer bestimmten Person — am liebsten in
der eignen — gefühlt werden? Man kennt den Baccalaureus im zweiten Theil
des Goethescher Faust, der die Erschaffung der Welt als einen Act seines Bewußt¬
seins begreift.
Um das Jahr 1834 kam in die Hegel'sche Theologie eine neue Wendung.
Wahrend sich in Berlin die Schule damit begnügte, die phänomenologischen Schat¬
tenbilder des Meisters im Detail weiter auszuführen, und diese oder jene logische
Formel tiefer zu durchdenken — so machte Herr Werber die überraschende Ent¬
deckung, daß das „Nichts" nicht blos, wie es Hegel aufgefaßt, identisch sei mit
^M „Sein," sondern viel inhaltreicher, und gerieth darüber in eine gewisse
Schwärmerei für das absolute Nichts — ging die schwäbische Schule mit den
Principien, die sie durch Hegel gewonnen hatte, dem empirischen Stoff ernsthaft
Zu Leibe. David Strauß kritisirte das Leben Jesu nicht mehr, wie es bis dahin
geschehen, vom einseitig pragmatischen, sondern vom speculativen Standpunkt aus,
ohne dadurch der Gründlichkeit der Kritik etwas zu vergeben. Er stellte den idea-
im Inhalt der einzelnen Geschichten vom Menschensohn in seiner Flüssigkeit dar,
er zeigte, wie das Wesentliche in denselben nicht die nackte Thatsache, sondern die
Vorstellung sei, die das Christenthum sich von seinem höchsten Wesen gemacht,
und wie diese Vorstellung innerhalb des Christenthums selbst sich entwickelt, und
damit auch den angeblichen Thatsachen eine andere Färbung gegeben habe. Die
Geschichten des Evangeliums wurden darüber zu Mythen, aber so, daß einerseits
sich in ihnen die ewige logische Wahrheit bildlich ausdrücken sollte, welche Hegel
im Christenthum gefunden hatte, und daß es auf der andern Seite dahingestellt
blieb, ob ihnen nicht neben dieser ewigen, symbolischen Bedeutung auch noch die
an sich gleichgiltige historische Wahrheit zukäme.
Zu dieser theologischen Eroberung der Schule verhielt sich der Rationalismus
uicht mehr so ablehnend, als zu ihrer frühern Scholastik. Hier fand man sich
auf neutralem Gebiet; zwar klangen die speculativen Wahrheiten, die in dem
christlichen Mythus ausgedichtet sein sollten, vornehmer als die einfache Anerken¬
nung der praktischen Interessen, wie sie Kant in der Religion gesucht hatte; zwar
blieb in der Entstehung der Mythen etwas Mystisches, denn zwar nicht der heilige
Geist, aber der christliche Geist, eine der Metamorphosen des geschichtlichen Gei¬
stes, sollte sie gedichtet haben, aber an diese Art der Entstehung war man schon
durch die Doctrin der „historischen" Schule von den Volksliedern, von der Sprache,
von dem Recht, das nicht aus einem bestimmten Act des Bewußtseins, sondern
naturwüchsig entstanden sein sollte, gewöhnt worden.
Für die Frommen war Strauß nicht genießbar, denn er war ein Schrift-
gelehrter. Den eigentlichen Theologen machte ihn dieser Umstand werth; er galt
ihnen als Ketzer, aber eben als solcher gehörte er in ihr Bereich. Am unange¬
nehmsten fanden sich die Hegelianer von der stritten Observanz überrascht, und
es war Bruno Bauer, der in ihrem Namen das System gegen den kühnen Neuerer
vertheidigte; eine Polemik, die ganz im Geist der alten Scholastik gehalten war,
und an sich selbst zu wenig Interesse bietet, um hier uoch näher erörtert zu wer¬
den. Die „Kritik" mußte ihre „Voraussetzung," die Scholastik, auf das Gründ¬
lichste durchmachen, um sich gründlich von ihr zu befreien. — Die Polemik gegen
den rohen Empirismus der gottseliger evangelischen Kirchenzeitung ergänzte diesen
Kampf gegen den Abfall von der Schule, die sich wissende Rechtgläubigkeit schied
sich von der naiven.
Inzwischen fand die neue Richtung der Schule — ungefähr um dieselbe Zeit
als Bauer nach Bonn versetzt wurde, einen Mittelpunkt in den Halleschen, später
den Deutschen Jahrbüchern. Zuerst war es die „liberale" Speculation, die sich
in ihnen aussprach; Rosenkranz und die andern vom „linken Centrum der Schule",
um mit Michelet zu reden; aber bald genug trat man in einen bestimmten Gegen¬
satz gegen die ganze Richtung der bisherigen Philosophie. Dieser Gegensatz be¬
stimmt gesetzt, ist folgender.
Der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie, daß das Wirkliche vernünftig
sei, war bis dahin in einseitig theoretischem Interesse ausgebeutet worden.
Man hatte es der Idee überlassen, sich in der Geschichte zu realistren und war
dann hingegangen, um nachzuweisen, daß es so gut sei. Da uun aber das „Ver¬
nünftige" in einer successiven Entwickelung begriffen wurde, so lag die zweite Auf¬
fassung ucche, aus den gegebenen Prämissen sich das zunächst Vernünftige zu cvn-
stnnren und dasselbe alsdann als „wirtlich" zu proklamieren, d. h. an das Leben
die Forderung zu stellen, es solle sich nach dein Bilde des von der Schule als ver¬
nünftig anerkannten umgestalten. So trat das praktische Interesse, wieder
Ziemlich einseitig, in den Vordergrund. Die neuen Evangelisten lebten nämlich in
einer doppelten Illusion. Einmal nämlich stellten sie, ganz im Geist des Systems,
das „für die jetzige Zeit Vernünftige" als etwas Absolutes, in sich Vollendetes
hin; sie abstrahirten vou den bestimmten Voraussetzungen dieser Nation, dieses
Staats. Im Anfang zwar unterschieden sie sich von den „ordinären Liberalen"
dadurch, daß sie nicht behaupteten, diese oder jene Form des Staats, des Rechts,
der Kirche n. s. w. ist das absolut Vernünftige und was dieser Form nicht ent¬
spricht, ist unvernünftig gewesen in den Zeiten des Perikles wie unter Napoleon;
sie erkannten die zeitliche Bedingtheit. Wohl aber erklärten sie es für die einzig
Mögliche Form des modernen Lebens und machten daher den Unterschied zwi¬
schen humanen Völkern und Barbaren —- human war das Volk, welches jene
Formen wenigstens in sein Glaubensbekenntniß aufgenommen hatte; barbarisch, wo
das nicht geschehen war. Für die Kritik der einzelnen Staatsformen haben sie
daher auch Nichts geleistet — das gilt übrigens von der Rheinischen Zeitung,
die auf dem Gebiet der Politik die Jahrbücher ergänzte, ebenso. Im Eifer des
Kampfes schwand gar bald auch jener Unterschied; man entdeckte, daß eigentlich
die Geschichte erst mit den französischen Encyclopädisten beginne, welche die Rechte der
Menschheit proclamirt hatten und mit der Revolution, welche wenigstens den An¬
fang damit gemacht, sie in's Werk zu setzen. Die frühere Geschichte wurde, ganz
wie voll den christlichen Historikern geschehen war, als ein Zeitalter der Barbarei
verleugnet.
Die zweite Illusion war der Glaube, daß man den vernünftigen Begriff
des Staats und der Kirche nur proklamiren dürfe, um ihn sofort zu verwirklichen.
Zum Theil entsprang diese Illusion — im Princip wieder eine Consequenz des
Systems — aus der freien. Bewegung, welche seit der Thronbesteigung Friedrich
Wilhelms IV. der preußische Staat der Presse octroyirte. Wenn mau also im
Anfang so weit gegangen war, anzunehmen, der Staat, welcher doch nach
Hegel der höchste Ausdruck von der Wirklichkeit der Vernunft sein sollte,
werde sofort die rechte Form annehmen, wenn ihm dieselbe nur von Seiten der Theo¬
rie dargelegt wäre, so erwartete man später wenigstens, er werde seinerseits nichts
dagegen einzuwenden haben, wenn die Theorie durch blos geistige Mittel sich durch-
^-N
setzte. In beiden Voraussetzungen getäuscht, wußte man der Macht des Wirklichen
nichts entgegenzustellen, als Erstaunen und Unwillen. Die Theorie wurde in
ihrer Opposition immer weiter getrieben. Zuerst gab man den preußischen Staat
auf, deu man im Anfange wenigstens der Anlage nach als die Verwirklichung des
vernünftigen Staats gepriesen hatte; dann ging mau von den Reformen des
Staats überhaupt ab und appellirte an das Volk, die Demokratie. Als man so
weit gekommen war, intervenirte der Staat dnrch das Verbot sämmtlicher Organe
des Radicalismus und als die Demokratie nichts that, um dies eigenmächtige
Verfahren des Staats zu hintertreiben, proklamirte der ungeduldige Philosoph
als neues Manifest der Partei: „Mit den Deutschen ist nichts anzufangen, es ist
ein niederträchtiges Volk, von den Franzosen allein kann das Heil der Menschheit
kommen." Ein neuer Glaubensartikel, den die Geschichte zu widerlegen hatte.
Der einzige theoretische Fortschritt, der in der jungen Schule vertreten wurde,-
betraf wieder die Religion. Es war das „Wesen des Christenthums" von Lud¬
wig Feuerbach. Die Schule hatte gelehrt, daß in den christlichen Dogmen in
der Form der Vorstellung, des Bildes die volle speculative Wahrheit involvirt
sei. Feuerbach setzte ganz richtig hinzu: Aber eben diese Form hebt das. Wesen
auf. Indem wir die göttliche Welt als den Inbegriff alles Guten und Wahren
construiren, und dieselbe als etwas anderes der irdischen Welt gegenüberstellen,
wird die irdische Welt zu einem Inbegriff des Bösen und Nichtigen, und so ist
diese Trennung des Göttlichen vom Menschlichen das böse Wesen der christlichen
Religion. Durch Feuerbach ist eigentlich die Schule erst populär geworden, und
zwar mehr dnrch seine Fehler als durch sein Verdienst. Ungeduldig, wie die ganze
Richtung, deren vorzüglichster Vertreter er war, warf er die gesammte Christen¬
heit, die doch eine Jahrtausendjährige Geschichte umfaßt, in ein einziges Bild zu¬
sammen, in welchem seine eigne Stimmung — Sympathie und Antipathie — den
Leittvn gab; das Christenthum wurde, wie die neue Religion, die man anstrebte,
ein Ausfluß des praktischen Interesses, soweit dasselbe sich im Idealen bewegte,
und so entstand durch das Ausmerzen alles speculativen Inhalts ein leicht über¬
sichtliches aber nur halbwahrcö Gemälde, dem man denn ein anderes Evangelium
entgegensetzte, eine Heiligung der praktischen Interessen, einen Zustand sinniger
Beschaulichkeit, ein Ideal geschichtloseu Quietismus, der verklärten und seligen
Menschheit: ein Cultus der Humanität, der gebildercr, seiner, aber im Grnnde
ebenso unproductiv war, als der des Pietismus und die spätere Aufklärung, wie
sie sich in Herder's Ideen ausmalt.
Diese Periode der souveränen Wünsche, der humanistischen Religion, hat
Bauer mit der ihm eignen Energie durchgemacht. Er war einer der eifrigsten
Mitarbeiter an der rheinischen Zeitung — von Marx redigirt, der damals der
Philosophie noch nicht den Absagebrief geschrieben hatte — und an den Jahrbü¬
chern, denen er in ihrer spätern Phase eigentlich den Charakter gab. Schon da-
MM theilte sein jüngerer Bruder Edgar, der in Berlin studirte, seine Bestre¬
bungen. Mit seiner „Kritik des Evangeliums Johannis" 1840 beginnt seine Po¬
lemik gegen das passive Construiren fertiger Geschichten, wie es die Schule bis
dahin ausgeübt hatte. „Die evangelische Landeskirche Preußens" ist noch im Geist
des Systems abgefaßt, nach welchem der Staat der Jubegriff und Regulator aller
geistigen Functionen sein sollte. Das Werk aber, wodurch er zuerst seine neue
Wendung mit einem gewissen Eclat verkündete, war „die Posaun? des jüngsten
Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen." 1841. Es enthielt eine
Anthologie aus Hegels Schriften, aus welcher sich allerdings auf das schlagendste
^'gab, daß die Vorstellungen des gewöhnlichen Christenthums von der Existenz
eines extramundanen wohlwollenden Gottes, von der persönlichen Fortdauer nach
dem Tode, von der partikulären Vorsehung u. s. w. in diametralem Widerspruch
standen mit der philosophischen Auffassung. Die Paradoxie, mit welcher diese
Entdeckung der Welt verkündet wurde, sollte wohl eigentlich den altgläubigen He¬
gelianern gelten, sie war aber auch der Ausdruck der eignen Ueberraschung.
Diese Ueberraschung theilte sich der gesammten jüngern Generation mit; man er¬
staunte über sich selbst, diese Stellen gelesen zu haben, und doch über den offen¬
bar darin liegenden Sinn hinweggegangen zu sein. Für die Gegner war eine
solche Methode wohl berechnet; ein wissenschaftlicher Werth ist ihr aber nicht bei¬
zulegen. Durch Sammlung einzelner Eleate kntisirt man in der Regel nur dann
ein Werk, wenn man seiner nicht Herr ist. Trotz jener Widersprüche mit den
einzelnen, allerdings wesentlichen christlichen Vorstellungen ist Hegel doch kein Atheist,
denn der Begriff des Atheismus liegt in der Kategorie der Zufälligkeit, in wel-
Her man die Erscheinungen faßt, in dem Unglauben an eine geistige, nicht blos
phhsische Nothwendigkeit. Hegel ist ein Gegner des Christenthums, insofern er es
verklärt, d. h. die in den ursprünglichen Vorstellungen ans den Einzelnen berech¬
nete Führung, Erlösung u. f. w. auf das Ganze der Menschheit überträgt. Den
Glauben aber an die geistige Einheit der Welt hat er strenger festgehalten als
U'gerd ein Theolog und ist darin christlicher als die Gemeinde der Heiligen.
In einer zweiten Schrift „Hegel'S Lehre von der Religion und Kunst" 1842
wurde dasselbe Thema mit mehr Ruhe behandelt; die anfangs paradoxe Meinung
von Hegel's Atheismus war durch die fortdauernden Denunciationen der Altgläu¬
bigen, denen die „Posaune" ein unendlich bcgnemes Material geboten hatte, schon
trivial geworden. Edgar Bauer, entzückt über den man gewonnenen freien Stand¬
punkt, beeiferte sich, den Berlinern in einer Reihe von Flugschriften in dem stu¬
dentischen Ton, der nicht blos seinen Jahren, sondern anch seinem Charakter an¬
gemessen war, auseinander zu sehen, daß ein Atheist im>e Hörner und Klauen
^'"ge, daß er ein Mensch sei wie die andern Wcißbierphilister auch, daß er äße
u«d tränke wie sie, zuweilen anch seine Schulden bezahle u. s. w., ungefähr wie
Wein es bei dem sreigeistischen Bedienten in Lessing lernen kann. Man fühlte sich
glücklich, den Philister durch das Bekenntniß des absoluten Unglaubens, der un¬
eingeschränkten Freiheit, scandalisiren zu können und ihm eben dadurch zu imponiren.
In dieser Zeit erschien die „Kritik der Synoptiker" — 1841 bis 42, Bruno
Bauer's theologisches Hauptwerk. Strauß hatte die Evangelien, als bildliche
Ausdrücke einer allgemeinen geistigen Richtung, über die endliche Entstehung hin¬
ausgehoben; dadurch war in ihren Ursprung wieder etwas Mystisches gekommen.
Die theologische Kritik warf sich nun auf das Einzelne, und von Weiße und
Wilke wurden scharfsinnige Untersuchungen über das Verhältniß der Evange¬
lien zu einander angestellt. Von diesen angeregt und zum große» Theil auf sie
sich stützend, entwarf nun der Kritiker ein vollständiges System. Sonst hatte man,
bei allen „Entstellungen," die mau im historischen Christenthum fand, auf das
„Ursprüngliche" desselben als auf das absolut Reine und Heilige zurückgewiesen,
wenn der Inhalt desselben auch, uach Lelsings Vorgang, in dem einfachen Wort
des Apostels sich beschränken sollte: Kindlein, liebt euch unter einander. Bauer
dagegen ging von der ganz richtigen Voraussetzung aus, daß das Ursprüngliche
immer das Rohe, Sinnliche, Aeußerliche sein wird. Das Ursprüngliche des Chri¬
stenthums war die Beziehung auf seine Voraussetzung, die jüdischen Propheten,
die verkündete Erfüllung ihrer Verheißungen. Den einfachsten Ausdruck dieser
Beziehung fand der Kritiker im Markus, dessen Naivität die spätern Evangelisten
theils durch die Bemühung, einen pragmatischen Zusammenhang hineinzubringen,
theils durch das in der weitern Entwicklung begründete spiritualistische Moment
vergeistigt und — entstellt haben sollten. Die Sache stellte sich also so heraus,
daß Markus die Vorstellung der christlichen Gemeinde von ihrem höchsten Wesen
zu einem Roman ausgedichtet habe, und daß die dem jedesmaligen Bewußtsein
entsprechende Umarbeitung desselben die Grundlage der heiligen Geschichte aus¬
mache.
Mir fehlt die Kenntniß, den wissenschaftlichen Theil dieser Kritik zu prüfen.
Nur in einem Punkt zeigt sich anch hier die Selbstüberschätzung, die von einer
einsamen Stellung in der Literatur schwer zu trennen ist. Bauer war der Ueber¬
zeugung, daß erst in diesem Werk das Christenthum widerlegt sei, und daß jede
andere Art, sich vom Christenthum loszumachen, als durch das Studium dieser
Kritik, eben so oberflächlich als ungenügend sein müsse. Er übersah dabei, daß
seine Widerlegung die „Aufklärung" des Zeitalters voraussetze, daß ein frommes
Herz, welches das Wunder, d. h. den Widerspruch, als höchstes Wesen verehrt,
sich durch seine Kritik eben so wenig wird irre machen lassen, als dnrch die hand¬
greiflichen Widersprüche der heiligen Schrift, auf welche die frühere, pragmatische
Exegese der Nationalisten aufmerksam gemacht hat. Für eine Zeit, welche und
dem Begriff der Transcendenz nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in dem
Lommm, - se.»« der Masse gebrochen hatte, war die Entdeckung des Mythisch-
Symbolischen in den Evangelien von größerem Werth, als eine Kritik des Details,
die als historische Arbeit von großer Bedeutung sein mag — wie die Forschung
über die Pharaonen — die aber das Heilige nicht mehr trifft. Voltaire hatte
den Glauben erschüttert, indem er seine augenfälligen Absurditäten dein Gelächter
Preis gab; Hegel hatte die über ihre eigne Thorheit betroffene Welt dadurch be¬
ruhigt, daß er auch in den Absurditäten eine» geistigen Inhalt nachwies. Ein
weiterer principieller Fortschritt ist nicht möglich; der Wissenschaft bleibt es nnn
übrig, das Detail aufzuhellen, so weit es bei einer ihrem ganzen Wesen nach dun¬
keln Zeit möglich ist.
Wenn also die Frömmigkeit dennoch über die „Kritik der Synoptiker" außer
sich gerieth, so war es uicht über den Inhalt, sondern über den Ton derselben.
In dem hastigen Treiben der jungen Generation steigerte Einer den Andern; der
Werth der Opposition wurde danach abgemessen, „wie weit" man ging. Es ge¬
hörte zum arten Ton, fühlen zu lassen, daß man dieses und jenes Vorurtheil
überwunden habe. Die Schärfe deö Ausdrucks that das Beste. Nun war unter
den Kennern nur Eine Stimme, daß Bruno am weitesten gehe; Strauß, der
mittlerweile die Dogmatik derselben Kritik unterworfen hatte, als die Evangelien,
gehörte bereits einem „überwundenen Standpunkt" an, er war ein Philister.
So glaubte denn auch die Negierung, welche sich damals des Kirchenregiments
mit Eiser annahm, ein Uebriges thun zu müssen. Da die evangelische Kirche in
ihren legitimen Organen noch nicht constituirt war — bekanntlich ist später der
Versuch mit der Generalsynode gescheitelt — so schickte man die Kritik der Sy¬
noptiker an die theologischen Facultäten des preußischen Staats, und fragte an,
so ein Mann noch länger Docent der Theologie seul könne. Die Fakultäten
statteten ihren tiefgefühlten Dank für die Rücksicht ab, welche der Staat ihnen
"»gedeihen ließ, und antworteten ziemlich einstimmig: Nein! Es geht nicht! Und
so wurde Bruno Bauer zu Ostern 1^-12 von seinem Amt entfernt. — Von Seiten
sentimentaler Politiker hat man es ihm oft vorgeworfen, daß er uicht freiwillig
leine Stellung niederlegte; er antwortete aber, und ganz mit Recht, er habe die
Ueberzeugung, der wahre Theologe zu sein, denn nur durch gewissenhaftes und
gründliches Studium sei er zu der Einsicht von der Verkehrtheit der Theologie
gekommen, und wenn man von ihm verlange, er solle aus der Kirche auftreten,
s" wäre das gerade so viel, als wem, er sich auf den Markt hinstelle und aus¬
riefe, daß er kein Kind mehr wäre. Allein die Wichtigkeit, welche das Ministe¬
rium auf die Sache gelegt hatte, übte einen nachtheiligen Einfluß aus ihn aus.
In einer Schrift: „Die gute Sache der Freiheit und meine eigne" stellte er den
Streit „der Kritik" mit dein Staat nach geschichtsphilosophischen Kategorien als
einen nothwendigen dar, und die Absetzung Bruno Bauer's erschien als ein eben
s" symbolischer, für die Selbsterkenntnis der Menschheit eben so wesentlicher Act.
"is der Opfertod des Menschensohnes. Darum kamen in seiner Kritik der ver¬
schiedenen theologischen Gutachten diejenigen am besten weg, welche erklärten: die
Ketzerei dieses Bauer ist etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes! weg mit dem
Bauer! am schlechtesten die Vermittler, welche den Gegensatz auszugleichen, und
dadurch die amtliche'.Stellung des Kritikers zu retten suchten. Am allerschlimmsten
— und das gereicht seinem Rechtsgefühl zur Ehre — erging es Marheinccke, der
die „Kritik" pragmatisch aus der Verstimmung herleitete, in welche Bauer durch
die geringe Berücksichtigung von Seilen der Universität versetzt sein müsse.
Unter den übrigen Schriften dieser Periode erregte die „Judenfrage" das
meiste Aussehn. Der Radicale ging den Juden ebenso scharf zu Leibe, als sie
von ihren orthodoxen Verfolgern gewohnt waren; und im Grunde sprach auch hier
noch der Rechtgläubige. Er erklärte die Juden für unfähig, emancipirt, befreit zu
werden, weil sie die Kämpfe der Geschichte, welche allein zur Freiheit führten,
nicht durchgemacht hätten. Das Judenthum sei ein zurückgebliebner Standpunkt;
die Absurdität, die in ihm nur im Keime lag, sei erst im Christenthum zur völligen
Reife gekommen, und ohne diese bittere Frucht gekostet zu haben, könnten sie von
dem Fluch ihrer Gcschichtlosigkeit nicht erlöst werden. Die Juden hätten sich iso-
lirt, für die Befreiung der Menschheit nichts gethan, sie hätte» also kein Recht
auf die Freiheit. Damals kntisirte ihn Marx, der den unglücklichen Versuch
machte, mit Rüge die deutsch-französischen Jahrbücher herauszugeben; er stimmte
mit seinen Deductionen ganz überein, behauptete aber/ daß er noch nicht weit
genug gegangen sei: er habe das Judenthum tntisirt, aber nicht den Staat und
nicht die Emancipation, der Staat sei selbst Indisch geworden n. s. w., zuletzt
wurde die Kritik immer schärfer, das Lächeln immer diplomatischer, immer seiner,
immer geistreich unverständlicher, bis man zuletzt nichts mehr sah, als das stereo¬
type Lächeln des Blödsinns.
Eine andere Schrift von Interesse — durch die Censur in den Jahrbüchern
gestrichen — hieß: „Leiden und Freuden des theologischen Bewußtseins." Eine
Reihe glücklicher Beobachtungen über das lügenhafte Wesen, in welches ein Heili¬
ger dnrch die fortwährende Bewachung seiner Heiligkeit nothwendig gerathen muß!
nur daß auch hier, wie es die Schule aus der Phänomenologie gelernt hatte, nicht
von einer bestimmten Persönlichkeit, sondern von einer Abstraction die Rede war,
sowie die rechtgläubigen Schüler das „Bewußtsein" überhaupt, den „Geist", oder
das Wesen zu behandeln pflegten. Um so gefährlicher war diese Abstraction i»
der Kritik des theologischen Bewußtseins, da dem theologischen Kritiker die ganze
Welt die Farbe der Theologie angenommen hatte, und da er eigentlich seine Kri¬
tik hätte überschreiben können: Darstellung des wahnsinnigen Zeitalters, in wel¬
chem wir leben, welches aber kommen mußte, um die souveräne Kritik möglich z"
machen, wie Adam in den Apfel beißen mußte, um der Erscheinung Christi willen.
In Berlin, wohin sich Bauer uach seiner Absetzung zurückzog, fand sich
der Kreis der „Freien" zusammen, der in dem radicalen Zeitalter fast ebenso auf¬
merksam verfolgt wurde, als im bürgerlichen Zeitalter die Lichtfreunde und die
Deutschkatholiken. Es'waren die zersprengten Freicorps des gesammten Radica-
lismus, dessen bisherige Concentration durch das ziemlich gleichzeitige Einschreiten
der Regierungen gehemmt war. Das Verbot der rheinischen Zeitung, der Jahrbü¬
cher durch das Votum der zweiten sächsischen Kammer bestätigt — der allge¬
meinen Leipziger, welche als Klatschblatt des Radikalismus damals selbst bei den
Regierungen in ziemlichem Ansehn stand, der Wescrzcituug, selbst der kleinen Lo¬
komotive, folgten einander aus dem Fuße. In Berlin etablirte sich nnn jenes
Korrespondenzen-Bureau, welches sämmtliche Zeitungen Deutschlands und einige
französischen versorgte, und die abstracte Berliner Literatur in den Angen des
Publicums zum Mittelpunkt der weltgeschichtlichen Bewegung machte. Der Hori¬
zont dieses Kreises war enge genug, er beschränkte sich eigentlich auf ihre per¬
sönlichen Verhältnisse. Da man, Dank der Geheimnißkrämerei seiner Hohenpriester,
vom Staatswesen nichts erfuhr, so war man floh, wenigstens von dem souveränen
Stehely'sehen Kaffeehaus etwas Neues zu hören. Die Weltgeschichte, welche man
hier machte, bestand darin, daß man Tag für Tag eine neue Persönlichkeit und
einen neuen politisch-religiösen Standpunkt für verbraucht, für überwunden erklärte.
Die Rapidität dieser geistigen Wiedergeburten stieg ins Unglaubliche. „Auf wel¬
chen Standpunkt sind wir indeß gelangt?" fragte mich ein Freund, als er acht
Tage von Berlin verreist war. Bruno Bauer hatte einen Band der Culturge¬
schichte des 18. Jahrhunderts geschrieben. Das Censurgericht hielt ihn zwei Mo¬
nate zurück. Höchst ergrimmt, schrieb er an die Behörde: In dieser Zeit ist
"die Kritik" schon auf einem weit höher» Standpunkt angelangt, „sie" hält das
M- uicht mehr wahr, was sie damals geschrieben hat, aber das Publikum ist
doch begierig, zu erfahren, was „sie" vor zwei Monaten gedacht hat. Es war
also so weit gekommen, daß man die kritische Unsicherheit, den Mangel an festen
Principien als ein wesentliches Moment geschichtlicher Bildungsfähigkeit zu rüh¬
men wagte.
Die Fortschritte erfolgten jedesmal in einem Manifest, ruckweise; man de-
crctirte das neue Glaubensbekenntniß. Arnold Ruge hatte in den Jahrbüchern
diese Methode populär gemacht. Daher kam es, daß die gesammte radicale Lite¬
ratur, die stets in ihrem eignen Kreise sich bewegte, bei aller Verachtung gegen
die Außenwelt sich unter einander selbst mit grenzenloser Geringschätzung betrach¬
te. Es gab kaum einen, den nicht ein Anderer, was den Standpunkt betraf,
überflügelte und darum als zurückgebliebenen Philister ansah. Das hindert nicht,
bei feierlichen Gelegenheiten im Rausch der Begeisterung der Welt den Fehde¬
handschuh hinzuwerfen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, wo Herwegh und
Hoffmann v. Fallersleben auf ihrem TriumplMg durch Deutschland auch die
Berliner Kritik heimsuchten. Zwar wurden sie als deutschthümelnde Philister auf
herzlichste ausgelacht, aber im Taumel des Freiheitsgefühls lag sich denn dochwieder Alles in den Armen. Ein alter Burschenschafter, mit ehrwürdigen Bart,
trat zu Hoffmann und hielt ihm eine „Pauke," in der er den lieben Gott gerührt
aufforderte, den wackern Vrndcr in seinen Schutz zu nehmen. Gleich darauf brachte
Edgar den Toast: Pereat Gott! und hielt einen Dithyrambus über das Blut,
welches fließen müsse. Man blasphemirte auf das Greulichste, und, was das
Drolligste ist, mit einer gewissen Scheu, wie Furchtsame den Donner durch lantes
Sprechen zu vergessen suchen. Der Ketzer blickt noch unheimlich seitwärts nach
dem Götzenbild, nach dem er Steine wirst.
Indeß die Trennung mußte doch einmal erfolgen. Als Bauer in seiner Lite-
raturzeitung feierlich proclamirte, „die Kritik" sei jetzt „gesinnungslos" geworden,
da wurde es den Radicalen, die bisher mit ihm gegangen waren, weil er „am
weitesten ging," doch zu bunt. Gesinnungslos! sie wußten nicht, was sie dazu
sagen sollten. Ruge erklärte seinerseits in einem Manifest, diesen Fortschritten ge¬
genüber sei er doch reactionär, er halte viel auf Gestuuuug, und zwischen den
„Sophisten" »ut „Humanisten" erhob sich jetzt ein scharfer Federkrieg.
Verfolgen wir zunächst Bruno Bauer in seiner Wirksamkeit als souveränen
Kritiker. Sei» Bruder Egbert verband in Charlottenburg mit einem Tabaksladcn
eine Buchhandlung, in welcher nur Werke der Schule verlegt wurden. Dieselbe
war ebeu so prvductiv in ihren Schriften als in der Ueberwindung von Stand¬
punkten. Theils in den historisch-kritischen Schriften, von denen in jedem Jahr
eine ziemliche Anzahl Bände erschien, theils in der „Literaturzeitung," die sie ein
halbes Jahr laug Herausgaben, läßt sich diese kritisch - reactionäre Richtung ver¬
folgen. ^
Der Radikalismus hatte sich in seinen Manifesten, in seinen Wünschen und
in seiner Polemik erschöpft. Er wußte nichts weiter zu sagen, und praktische
Resultate hatte er uicht gewonnen. Eine herbe Ernüchterung mußte folgen. Die
„souveräne Kritik" ist der Ausdruck sür diesen Katzenjammer des Radikalismus
über seinen eignen Rausch. Die Genialität, der „Geist," der bisher im fortfln-
thenden Gewühl sich hatte mitreißen lassen, besteigt nnn die einsame Warte, uM
den planlosen Strom der „Masse" ironisch zu überschauen.
Der neue Charakter, welchen die deutsche Bewegung mit dem Jahr 1843
annahm, diente dazu, diesen Gegensatz schärfer hervortreten zu lassen. Die Schrift
gelehrten und Poeten zogen sich zurück und die Masse trat handelnd ein. Der
Gustav-Adolph-Berein, die Dentschkatholit'en, die lichtfreundlichen Proteste, die
Vereine zur Hebung der niedern Volksklassen u. s. w. waren Symptome dieser
veränderten Richtung: der Kritik um so gelegener, da sie ihre beiden Gegensätze
in sich vereinigten: die Spießbürgerlichkeit und das Christenthum.¬
Wir haben bereits erwähnt, wie „die Kritik" ihre „Gesinnungslosigkeit" pro
clamirte, paradox, wie es die romantische Schule zu thun pflegte, weil sie n»r
die eine Seite des Gegensatzes auffaßte. Gestunuug ist das classische Stichwort
der Masse, ihr Protest gegen die freie Eigenthümlichkeit. Sie bezeichnet den
Vorrath fertiger sittlich-politisch-religiöser Vorstellung, den man haben Miß, um
ihr bequem zu sein. Daß die Kritik, wie die Wissenschaft überhaupt, gesinnungs¬
los (früher sagte man unparteiisch) sein muß, ist etwas so triviales, daß man
nicht wüßte, wo das Erstannen über jenes Manifest eigentlich herkam, wenn man
»icht erwägt, daß „die Kritik" nur ein Euphemismus war für „Bruno Bauer,"
wie man ,',Se. Majestät" sagt. Die Gesinnungslosigkeit, Grundsatzlosigke.it des
Einzelne» ist aber ein Unding, (»me jede Handlung geht von Maximen aus, die
man fertig in sich hat, wenn man sich darüber auch im Augenblick keine Rechen¬
schaft gibt. Bruno Bauer würde im höchsten G'.abe darüber empört sein, wenn
man ihm die Fähigkeit zutraute, sich zu verkaufen. Daß er es nicht thut, ist
aber eben Gesinnung, und der Schüler Hegel's wird die erste Grundlage dersel¬
ben , die Unmittelbarkeit einer edlen Natur, nicht über den geistigen Erwerb einer
sittlichen Maxime erheben wollen. Die scheinbare Paradoxie liegt also nur in der
Ungezogenheit der Form. „Der Philister," sagt Max Stirner, Bauer's Mit¬
kritiker, „hält König Franz für einen gemeinen Menschen, weil er sein Wort brach.
Welche Thorheit!" Ist es möglich, ruft der Philister, Stirner sanktionirt den
Wortbruch? Man höre weiter! „Vielmehr brach König Franz sein Wort, weil
er ein gemeiner Mensch war!" Eine Sophistik, die nach der ersten Schulbank
schmeckt. Natürlich ist der Wortbruch nicht der Grund, sondern das Kriterium
der Gemeinheit.
Die Gesinnungslosigkeit der Kritik wurde nun praktisch erwiesen durch eine
heftige Polemik gegen die Koryphäen deö Tages, gegen den religiösen und poli¬
tischen Liberalismus, deu Ausdruck der bürgerlichen Mittelmäßigkeit. Die unter¬
geordneten Anhänger der Kritik wandten noch immer das alte Stichwort an: sie
gehen nicht weil genug; es lag aber jener Polemik ein sehr gerechtfertigtes, ästhe¬
tisch-sittliches Mißfallen zu Grunde, das nur den einzigen Fehler hatte, unpro-
ductiv zu sein.
Der Liberalismus war eigentlich nichts, als einerseits die Scheu vor Extre¬
men, andererseits der Ausdruck der innern Unruhe, welche die Zeit bewegte, ohne
sich über ihren Grund recht klar zu sein. Sie sucht nach einem Gegenstand und
"greift deu ersten besten. Am deutlichsten tritt dies bei dem religiösen Liberalis¬
mus hervor. Man kann sich keine größere Misere denken, als die religiösen An¬
schauungen, welche die Deutschkatholiken und die protestantischen Lichtfreunde zu
Tage gefördert haben. Dennoch ließen sich Männer wie Gervinus und Ruge zu
glänzender Anerkennung hinreißen. Bei Ruge war es sehr erklärlich; es war
Geistesverwandschaft, er hörte seine eignen Redensarten wieder, und war voll¬
kommen davon überzeugt, daß nun die Vernunft in der Welt wieder hergestellt
wäre. Wenn nun gar Dowiat, nachdem er in seinem weißen Gewand die Masse
der Philister zu einer eben so lauten als stoffloser Begeisterung hingerissen hatte,
sich dann beim Glase Wein über sie lustig machte, sie nur als Werkzeuge seiner
G
hohem Ideen darstellte, und wo möglich einige Redensarten, wie „Immanenz
und Transcendenz" einfließen ließ, so geriet!) Meister Ruge vor Entzücken außer
sich. Mit Gervinus war es anders, er war froh, daß nur irgend „etwas ge¬
schah," daß man von der blos destructiven Opposition endlich zum Aufbauen
überging. Freilich übersah er dabei, daß mit dem Aufbauen von Kartenhäusern
für die Cultur uicht viel gethan ist. Aber die Kritik verfiel in den entgegenge-
setzten Fehler. Sie verkannte das Recht des gesunden Menschenverstandes, durch
einen einfachen Protest die Gespenster von sich zu scheuchen, die sich in eine ihnen
fremd gewordene Welt eindrängen wollen. Wenn anf die Wallfahrt zum heiligen
Rock und den Spuk, der dabei getrieben wurde, wenn auf den Glaubenszwang
der Eichhorn'schen Schule der gemeine Menschenverstand nichts weiter erwiderte,
als: das ist ja Unsinn! so war er in seinem vollen Recht, er erreichte seinen
Zweck sicherer, als die gelehrte Kritik, und irrte nur darin, daß er nnn etwas
Positives ausgestellt zu haben glaubte. Das ästhetische Mißfallen der Kritik an
dem hohlen Pathos engbrüstiger Schwächlinge, an der leeren Phrasenwirthschaft
war ganz begründet, und sie vergaß nur, daß ihre eignen Dogmen — z. B. von
der Dummheit Norge's und der Gemeinheit Uhlich's — in ihrem Kreise eben so
phrasenhaft ausgebeutet wurden, als es von den Lichtfrennden geschah.
Der religiöse Liberalismus entsprang nur aus dem Mangel an einer vernünf¬
tigen Beschäftigung; er war in sich selbst eine Lüge, weil er von der Indifferenz
ausging und doch eine Kirche gründen wollte. Anders schien es sich mit dem
politischen Liberalismus zu verhalten, der wenigstens auf ein bestimmtes Ziel los¬
steuerte, auf die Durchführung des constitutionellen Systems in den einzelnen
Staaten und die Vereinigung Deutschlands zu einem politischen Ganzen. Die An¬
grisse der Kritik gingen sowohl auf den Inhalt als auf die Form, in der sich
diese Richtung geltend machte. Sie stellte den constitutionellen Staat als einen
in sich unwahren und unhaltbaren dar; welche Behauptung sie aber mehr durch
heftige Versicherungen als durch Gründe verfocht. Gegründeter war ihre Bekäm-
pfung der Mittel, deren sich der politische Liberalismus bediente. Er stützte sich
namentlich in Preußen ans den Rechtsboden, d. h. anf die königlichen Verspre¬
chungen von 1815 und 182Z. Die Kritik behauptete einmal, das absolute Recht
habe in Staatsangelegenheiten nicht mitzusprechen, der Staat sei befugt, es auf¬
zuheben, wenn es seinen Zwecken widerspräche, sie behauptete ferner, das Recht
sei eine schlechte Waffe gegen die Macht, die es nicht anerkennen wolle, gegen
die Gewalt helfe nur Gewalt. Beide Behauptungen waren einseitig. Eine Rechts¬
verletzung erschüttert die sittlichen Grundlagen des Staates und widerspricht daher
seinen Zwecken auf das Entschiedenste; und gesetzliche Agitation ist auch Gewalt,
denn die öffentliche Meinung steht nicht blos vor der Thür, sie dringt in die ge¬
heimen Cabinette ein und macht sich an der Negierung geltend. Aber die Kritik hatte
Recht gegen das Verfahren z. B. eines Jacoby, der, wie sein späteres Auftreten
beweist, das Recht nur zum Vorwand nahm, andere Zwecke, die nicht im Recht
begründet waren, durchzusetzen; also gegen die Unehrlichkeit dieser abstrakt juristi¬
schen Deductionen, mit denen man den Gegner nur beschwatzen wollte. Aber
die politische Polemik der Schule war um nichts besser; denn in der Politik
wird durch abstrakte Kritik nichts gefördert, und was sie Positives geleistet hat,
beschränkt sich ans die Angriffe Ludwig Buhl's gegen die v. Nagler'sche Postver-
waltung, wofür er alle Vierteljahre einmal das Martyrium einer Festungshaft über¬
nahm. Bis zu welcher Absurdität aber die Theorie von der Unzulänglichkeit des
gesetzliche» Fortschritts getrieben werdeu konnte, mag ein Beispiel lehren. Ein
ungelehrter Mann, Reichard, verdorbener Buchdrucker, hatte sich in den Kreis
der Bauer begeben, deren Verwandter er war, ihre Ideen eingesogen und als
Mann des Volks an ihrer Literaturzeitung mitgearbeitet — die beiläufig neben
sehr pathetischen Manifesten, auch Kritiken unbezahlter Schnciderrechnungen, schlechte
Novellen u. dergl. enthielt, alles als Symptome der allgemeinen Fäulniß. Spä¬
ter, als er wegen gar zu mangelhafter Bildung von der „heiligen Familie" aus¬
geschlossen wurde, forderte er den Staat auf, ihn aus seine Kosten Socialismus
studiren zu lassen, um später an der Reorganisation des Staats arbeiten zu kön¬
nen. In Berlin trug er sich mit einer Reihe von Broschüren über locale Ver¬
hältnisse, vom Standpunkt der souveränen Kritik aus aufgefaßt, einmal unter
andern über das Verhältniß der Schneider zu deu Juden, die durch Kleiderfabri-
kation ihnen in das Handwerk pfuschten. Die Schneider hatten sich an den Staat
gewendet, um diesem Uebelstand abzuhelfen, Reichard aber klärte sie über die
Nichtsnutzigkeit des Rechtsbodeus auf, und ermunterte sie, lieber auf revolutionäre
Weise, als durch Anrufung des unproductiven Staats, der Niemanden emanci-
piren könne, sich ihrer Gegner zu entledigen. — Auch aus der Carricatur darf
man ans das Vorbild schließen.
Am schärfsten verfuhr die Kritik gegen ihre ehemaligen Verbündeten, die Ra¬
dialen, sowohl in Beziehung auf ihre Polemik gegen die Regierung als auf das
Positive, das sie brachten. Der Radikalismus hatte die Regierung mit einem
gewissen unwilligen Erstaunen gefragt, warum sie nicht auf seine Ideen einginge;
die Kritik wies nach, daß sie ihrem Begriff nach so handeln müsse wie sie han¬
delte. Dieser Nachweis athmete nicht die althcgeliauische Befriedigung, sie fand
"icht, das Alles gut sei, wie es ist, sie weidete sich nur mit einer gewissen krank¬
haften Wollust an der Niederträchtigkeit, die sie als nothwendig zu begreifen
weinte. In einer Schrift: „Der Streit der Kritik mit Staat und Kirche" — die
beiläufig eingestampft wurde und ihren Verfasser Edgar nach Magdeburg brachte,
bis die Revolution ihn befreite — waren die Verfolgungen gegen die Kritik _
die Festungshaft freilich noch nicht mit eingeschlossen — als unvermeidliches Re¬
sultat der Geschichte dargestellt: sie mußte abgesetzt, ceustrt, verboten werden,
auf das erfüllt würde, was geschrieben steht u. s. w. Der eingesperrte Theil der
Kritik trug übrigens sein Schicksal mit möglichem Humor, und die Stndentcn-
streiche der Gefangenen wird die Sage noch spät in Magdeburg aufbewahren.
Die Ironie gegen den Inhalt der verschiedenen Seiten des Radikalismus
war zum Theil sehr treffend, sie mochten sich nun Hnnianisten oder Socialisten
nennen, ihre Macht war die Phrase. Aber die Kritik gewöhnte sich so sehr an
den ironischen Ton, an die satyrischen Gänsefüßchen, mit denen sie die Absurdi¬
täten ihrer Gegner einführte, daß man in vielen Fällen nicht wehr errathen konnte,
wo eigentlich die Pointe wäre. Das Hauptstichwort war: der Geist gegen die
Masse. Die Masse wolle durch ihre Organe, die Communisten n. s. w., alle
Eigenthümlichkeit ausheben und das Große zu sich herabziehn; weil Einige Lumpen
wären, sollten dem Princip der Gleichheit zufolge Alle Lumpen sein. Einem von
der Schule, Max Stirner, kam der „Geist," und das ganze Princip der Kritik,
die Wahrheit, auch noch zu reactionär vor; er schrieb ein Buch: „Der Einzige
und sein Eigenthum" (eigentlich wollte er es „Ich" taufen), worin er den Geist,
die Menschheit u. s. w. mit den alten Götzen in das Reich der Gespenster warf.
Real auf Erden bin uur Ich, und die Speise, die mich nährt, die Bilder, die
mich ergötzen, die ich verbrauche zu meinem souveränen Nutzen und Vergnügen.
Wozu ein Staat? wozu Recht und Gesetz? warum soll ich die Wahrheit sagen?
warum meine Schulden bezahlen? Die härteste Knechtschaft ist die des Gedan¬
kens, ein Ruck, ein Gähnen, und Ich bin frei! — Dergleichen Einfälle, anmu¬
thig vorgetragen, haben der ewigen Ernsthaftigkeit gegenüber eine Berechtigung,
nur durch gelegentliche Ungezogenheit wird die Sitte werth; wenn man aber hört,
daß das die Frucht jahrelanger Studien und gewissenhafte» Nachdenkens, das letzte
Resultat der Philosophie sein soll, wenn man die Harlekinade mit einer Pedan¬
terie betreiben sieht, wie sie uur ein Philologe ans ein .Si'Ul sübseii^»,» verwen¬
den kann, so wird der Spaß fast zu grob, um zu amüsiren. Der Mensch geht
ja seiner Natur uach auf ein geordnetes Gemeinwesen, ans wissenschaftliches Er-
kennen aus, sonst würde ihn kein Moralsystem weder zum Staat noch zur Wissen¬
schaft getrieben haben, und wenn der wahre Egoist sich in der Welt sehr wohl
zu bewegen weiß, so wird der Romantiker, der anf dem Princip des Egoismus
herumreitet, sich überall vor Schläge» zu hüten haben und so seines eignen
Princips wegen sich zu bescheiden wissen. Komisch genug forderte derselbe Stirner
einige Zeit darauf in der Vossischen Zeitung ans, ihm auf Personalcredit 500 Thlr.
zu leihen: also der Glaube an die Ehrlichkeit der Welt war durch sein System
nicht ausgerottet. — Nach Stirners Lehre bildete sich in Kolben eine ganze Schule
von „Egoisten," die aber natürlich noch „weiter gingen," als der Meister; das
eine „Individuum" fand schon das verständige Anschauen der Welt, welches
Stirner uuter Umständen noch gebilligt hatte, zu philisterhaft; der eigentliche
Mensch dürfe die Natur uur an stierem Wenn man erst im Zuge ist, so hat
der Unsinn keine Grenze; jedenfalls mußte im Sprechen selbst die reactionäre
Cultur ausgemerzt und dasselbe zu einem freien Blöken idealisirt werden. — Die
Schnelligkeit, mit der man es in diesem sophistischen Spiel zur Virtuosität bringt,
ist erstaunlich. Wie in den Zeiten der Romantik, durste mau die Begriffe nur
auf den Kopf stellen, um auf der Hohe der Zeit zu stehen. Stirner war empört
darüber, daß Rudolph in den Mysterien von Paris die Leute zur Tugend ver¬
führe, während sie in der vollen Durchführung des Lasters die echt menschliche
Kraft hätten bewähren können. Ein Anderer bewies, daß in Goethe's Egmont
der Herzog von Alba eigentlich den Fortschritt repräsentire, da Egmont der hö¬
hern Staatsform, die der König ihm anbot, nichts entgegenzusetzen wisse, als 5ne
Berufung aus seine Privilegien. Edgar schrieb unter dem Namen Martin von
Geismar eine Literaturgeschichte des Zeitalters der Reformation, in welcher die
letztere als Reaction des Pöbels, der Bourgeoisie, der Lumpe, gegen die freie
Eigenthümlichkeit des Adels dargestellt wurde: das Christenthum habe theoretisch
die Lumperei proclamirt, die Reformation habe sie praktisch gemacht.
In der Abneigung gegen die „Mittelmäßigkeit" begegnet sich die eigentliche
Demokratie und die Aristokratie; beide verachten die bürgerliche Sittlichkeit, die
öffentliche Meinung, Gesinnung und was dahin gehört. Der Edelmann, Student,
«der was sich sonst zur Exclustvität rechnet, schlägt den Philister mit der Reitpeitsche;
der Demokrat speit seinen Kautabak auf die reichen Teppiche des Bürgers. Der
Aristokrat streckt die Beine zu den Wagenfenstern heraus, der Lazaroni wälzt sich
heulend auf der Gasse; dem Bürger würde Beides schrecklich sein, Der Edelmann
hat sein Duell, der Mann deö Volks seine Prügel, der Bürger ist für das Gesetz.
Der Vornehme hat das Recht des Spleens, der Pöbel ist ungezogen, der Phi¬
lister ist so sittlich wie verständig. Er wird es nicht billigen, wenn der Junker
sich Mätressen hält, oder wenn der Matrose in schlechte Häuser geht. Aber es
'se doch ein Unterschied zwischen Frechheit und Gemeinheit. Mau lese in Wigand's
Epigonen, die Schilderung, die Edgar von seinem Transport nach Magdeburg
wacht. Er macht einem Frauenzimmer, das wegen wiederholten Diebstahls ein¬
gesperrt wird, die Cour, gibt sich mit ihr aus die Zeiten der Freiheit ein Rendezvous,
U"d geht mit dem übrigen Gesinde! um, als wären es seines Gleichen. Der junge
Aristokrat geht auch gern mit schlechtem Volk um, aber nnr, weil er es bequemer
"ut Füßen treten kann. Und plumper noch, als der naive Gamin, ist der Gamin
aus Reflexion, der sich in schlechten Häuser» herumtreibt, nicht weil es ihm Ver¬
zügen macht, soudern um zu zeigen, daß er über die bürgerliche Sittlichkeit
hinaus wäre.
Wenn sich also die Clique über den sentimentalen Anstrich des modernen
Philisterthums, über diese Mischung von Idealismus und Filzigkeit, wie es dem
deutsche,, Jerome Paturot eigen ist, lustig machte, so merkte sie dabei nicht, wie sehr
lie in jene Kategorie gehörte. So sehr sich die Kritik der Masse entgegengesetzt, sobraucht sie doch eine Sphäre, in der sie gilt. Abgesehen von einzelnen jungen
Männern, die aus theoretischem Interesse sich ihr anschlössen, hatte sich eine ganze
Reihe von Bummlern um sie geschaart, welche wenn Bauer sprach — es geschah
selten — ehrfurchtsvoll an den passenden Stellen lachten oder schimpften, und im
Uebrigen ihre Nichtsnutzigkeit durch die Lehre von der Souveränität individueller
Caprice» gerechtfertigt sahen. Die Bummelei wurde in diesem Kreise mit einem
gewissen Pathos getrieben, feierlich, gleichsam als Religion. Man kam Abends
bei Hippel zusammen, eine Kneipe, die als Sitz der „Freien" einen gewissen Nus
hatte, und die man gesehn haben mußte, wenn man sich auf die Merkwürdigkeiten
von Berlin legte. Cmancipirte Frauen, ein Seidel vor sich, und die Cigarre
im Munde, mußten dabei sein — nicht etwa die liebenswürdigen, naiven Grisetten,
sondern Schülerinnen der Kritik, die aus Pflichtgefühl kneipten. Es war Pflicht,
cynisch zu sprechen, einander zu schimpfen, gelegentlich zu schlagen und dabei zu
bemerken, daß mau über das Duell hinaus sei. Mau erzählte die Mythen von
der Kritik, daß sie ihre Theorie von der Uugiltigkeit des sittlichen Wesens durch
diese oder jene Aeußerung zur Erscheinung gebracht habe: es waren nicht indi¬
viduell interessante Geschichten, sondern Dogmen, in Anekdoten übersetzt, wie es
die Kritik von den Evangelisten nachgewiesen hatte. Dies Wesen machte sich auch
in der Literatur geltend: aus der Literaturzeitung wurde der „Charlottenburger
Beobachter," ein Blatt für Bummler, das sich von ähnlichen nur durch die ge¬
legentliche Andeutung unterschied, es sei Alles Ironie.
Die Ironie eines derartigen Treibens gegen die praktischen Versuche, die
Verbesserungen, welche man sonst vom Staat erwartete, durch unmittelbare bür¬
gerliche Thätigkeit herbeizuführen, hatten keine Berechtigung. Vieles in diese»
Bestrebungen — z. B. der Central - und Localverein zur Hebung der unter»
Volksclassen, hatte den Anstrich der gewöhnlichen Berliner Schwindelei, dagegen
war z. B. im Johaunesverein durch die sittliche Kräftigung des Geselleustandes
eine vortreffliche Grundlage gelegt, die leider in der Berliner Barrikadenzeit un¬
tergraben wurde. Die Kritik stand mit ihren socialistischen Tendenzen, ans die
sie auch mitunter verfiel, trotz ihrer Abneigung gegen die Gleichmacherei, ungefähr
auf dem Standpunkt Stieber's, der sich eine gründliche Kenntniß von der Berli¬
ner Prostitution erwarb, aber keinen Weg anzugeben mußte, ihr abzuhelfen. Als
Bettine, die damals aus den ästhetische» Phantasien ins Religiös - Communistische
übersprang, „dies Buch gehört dem Könige" schrieb, waren es Schüler der Ku-
lik, die die Voigtländer Zustände verarbeiteten, Ueberhaupt war das Verhältniß
zwischen Frau v. Arnim und Bruno Bauer ein Bild von der Verwandschaft der
alten Romantik mit der neuen; beide richten auf dem schwankende» Grund der
individuellen Stimmung. Sie verstanden einander nicht, aber sie schätzten siel)'
Bcttiucus Sohn, Freimnud, verfocht gegen Bauer „die gute Sache der Seele,
in sehr nnbcschrciblichni Ausdrücken; er hätte gern den Kritiker, den er achtete'
weil er gleich ihm die Masse geringschätzte, durch Einwirkung ans sein Gemüth
bekehrt. Daß plötzliche Umgestaltungen in der Grundansicht sophistischer Bildung,
durch die Macht irgend eiuer Reflexion oder das Hervortreten einer zufälligen
Stimmung, keineswegs etwas ungewöhnliches sind, zeigt das Beispiel von Julius
und Jordan. -
Ueber die historischen Arbeiten des Bauer ist wenig zu sagen. Die Geschichte
ist ihm ein ewig verzehrendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer. Sie fängt ihm
u>it dem 18. Jahrhundert an und hat bis jetzt nichts gezeigt, als Symptome der
Aulniß. Vou einsamer Höhe herab schaut er ans die Cultur des 18. und 19.
Jahrhunderts, und beweist von jeder Erscheinung, die ihm zufällig aufstößt,
—- je uach der Quelle, die ihm gerade in die Hand fällt — daß sie nothwendig
und — nichtig sei. In dem weiten Strom der Zeiten sucht die Kritik „ewig nur
ihr eigen Bild." Er kann nicht erzählen, denn er hat keine Lust am Objectiven;
er kann bei aller geistvollen Auffassung im Einzelnen, für das Ganze den richtigen
Gesichtspunkt nicht finden, weil er mit der Ungeduld eines Schülers, was er
heute lernte, der Welt vorträgt, als habe es die Wissenschaft erst jetzt entdeckt.
Der Dilettantismus ist um so gefährlicher, wenn er mit philosophischem Dünkel
und mit wirklicher Bildung verbunden ist. „Ekel, schaal und unersprießlich," das
ist die einzige Kategorie, die seine Geschichtschreibung in beständigen Variationen
wiederholt. Dazu kommt, daß er den Theologen nie verleugnen kann; als per¬
sönlicher Feind des lieben Gottes sieht er in jeder Erscheinung, die ihm mißfällt,
ein Symptom des Christenthums. Die „Geschichte der bürgerlichen Revolution
von 1844—48" hat das meiste, wenigstens subjective Interesse, weil die Stimmung,
die es characterisirt, selbst erlebt und uicht erst einem frühern Zeitalter untergelegt ist.
Die kurze Moral dieses Werks ist: „Hängt euch alle auf, wie ihr da seid, denn
einen Schuß Pulver seid ihr insgesammt nicht werth."
Bei dieser Stimmung könnte es seltsam erscheinen, daß Bauer sich im vori¬
ge« Johve auch an der praktischen Politik zu betyciligen versucht hat. Indeß ist
die Sehnsucht nach einer realen Thätigkeit bei einem ursprünglich kräftigen Geiste
uur zu natürlich und für ihn selbst würde es von dem heilsamsten Einfluß sein,
obgleich der Staat durch die Theilnahme eines souveränen Kritikers nicht wesent¬
lich gefördert werdeu dürfte. Komisch genug war es, wie Bauer in der Rheini¬
schen Zeitung seine Entrüstung darüber aussprach, daß in den Berliner Wahlen
die Bourgeoisie — nicht einmal in dem Ausdruck ist er originell — gesiegt habe,
^le man Männern von so zurückgebliebenen Standpunkt, wie Waldeck und Jacoby,
Zu Volksrepräsentanten habe wählen können! Die meisten der Schule haben sich,
um doch etwas Positives auszusprechen, dem Freihandclssysteme angeschlossen —
dem schönsten Ausdruck jener abstrakten, gedankenlosen Freiheit, wie sie der sou-
verainen Kritik recht ist. Edgar ist Theilnehmer, ich glaube auch Präsident des
demokratischen Clubs gewesen, was keine Veränderung seines Standpunktes ist,
denn dieser Club war nichts als der Protest der souveränen Gamin-Ungezogenheit
gegen den Staat überhaupt.
Wir möchten nicht gern mit einem sentimentalen Bedauern schließen: wie
Schade, daß eine an sich so edle und tüchtige Natur durch eigne Schuld zu
Grunde geht! Aber es ist nicht anders. Die Anschauung der Kritik von der
Fäulniß der Menschheit ist nur ein Spiegelbild; wie der Dichter der Maria Mag-
daleua in der confusen, haltlosen, siechen Welt, die er darstellt, sein eigenes
Innere reproducirt. Die souveräne Kritik, welche mit den Gegenständen ein
göttliches Spiel zu treiben glaubt, ist ein Spiel der Gegenstände; in unfreier
Bewegung folgt sie dem Strom der Ereignisse, lästernd und spottend; aber die
Lästerung und der Spott ist nur ein Zeugniß ihrer eigenen Unprvductivität und
ihrer Abhängigkeit vou dem Gegensatz, an dem sie allein ihr Dasein hat.
Die Geschichte Englands seit dem Regierungsantritt Jakobs II
Von Thomas Babington Macaulay. ttebersetzt von Prof. Butan.
Leipzig, T. O. Weigel. 1. Band.
In dem Gewirr von Unverstand, Schlechtigkeit, Furcht und Ueberspanntheit,
von Feigheit und Idealismus, das wir heute Politik nennen und welches Wissen¬
schaft und Kunst fast eben so einspannt, als das öffentliche Leben, erregt es ein
Behagen, wie der Anblick einer Oase in der Wüste, wenn uns etwas Verständi¬
ges begegnet. Die Lectüre des obengenannten Werkes macht einen solchen Ein¬
druck, dem Inhalt wie der Darstellung nach. Seit längerer Zeit ist in England
kein Werk populärer gewesen. Kaum ein Vierteljahr alt, hat es bereits die dritte
Auflage. Selbst der „Punch," wenn' er einen englischen Hausvater schildert, der
sich auf den Abend einen rechten häuslichen Genuß vorbehalten habe, sagt: ^
habe sich vorgenommen, im Macaulay zu lesen.
Eine ausführliche Besprechung behalten wir uns vor, sobald uns der zweite
Theil vorliegt. Der erste enthält Folgendes. Im I . Cap. kurze Skizze der eng¬
lischen Geschichte mit vorzüglicher Berücksichtigung der Revolutionszeit bis zur
Restauration. Cap. 2. Geschichte Karl II. Cap. 3. — das glänzendste, und
namentlich für uus lehrreichste — die Sitten Englands am Ende des .17. Jahr¬
hunderts. Die beiden folgenden Capitel enthalten die beiden ersten Jahre der
Negierung Jacobs II.¬
Als eine vorläufige Probe geben wir die Darstellung des englischen Land
edelmanns im 17. Jahrhundert.
„Wir würden uns sehr irren, wenn wir uns die Sqnires des 17. Jahr¬
hunderts als Männer vorstellen wollten, welche eine genaue Aehnlichkeit mit
ihren Nachkommen, den Grasschaftsdeputirten und den Vorsitzenden der Quartal-
sitzungen*), mit denen wir vertraut sind, gehabt hätten. Der neuere Laudgeut-
lemau empfängt eine liberale Erziehung, geht aus eiuer ausgezeichneten Schule
w ein ausgezeichnetes Kollegium, und es fehlt ihm an keiner Gelegenheit, ein
vorzüglicher Gelehrter zu werden. Er hat in der Regel etwas von fremden Län¬
dern gesehen. Ein beträchtlicher Theil seines Lebens ist gemeiniglich in der Haupt¬
stadt verbracht worden, und die Verfeinerungen der Hauptstadt folgen ihm aus
das Land. Vielleicht gibt es keine so reizende Classe von Wohnungen, wie die
Landsitze der englischen Gentry. In den Parks und Lustgärten trägt die Natur,
von der Kunst geschmückt, aber uicht verhüllt, ihre lockendste Form. In deu
Gebäuden verbinden sich gute Einsicht und guter Geschmack, um eine glückliche
Vereinigung des Behaglichen und des Reizenden zu bewirken. Die Gemälde, die
Musikalischen Instrumente, die Büchersammlung würden in jedem andern Lande
als Beweis gelten, daß der Eigenthümer ein ausgezeichnet feiner und durchge¬
bildeter Mann sei. Ein Landedelmann, der ein Zeuge der Revolution gewesen
war, nahm wahrscheinlich etwa den vierten Theil der Rente ein, die seine Aecker
jetzt seiner Nachkommenschaft bringen. Er war daher, im Vergleich mit seiner
Nachkommenschaft, ein armer Mann und war in der Regel genöthigt, mit wenig
Unterbrechung, auf seinem Gute zu wohnen. Auf dem Festland zu reisen, eine
häusliche Einrichtung in London zu haben, oder auch nur London häufig zu besuchen,
waren Genüsse, denen sich nur die großen Eigenthümer hingeben konnten. Es
kann zuversichtlich behauptet werden, daß von den Sqnires, deren Namen sich
unter den Friedensrichtern und Lieutenants^) König Karls finden, nicht einer von
zwanzig einmal in fünf Jahren zur Stadt""") kam, oder jemals in seinem Leben
so weit gereist war, wie Paris ist. Viele Grundherren hatten eine Erziehung
bekommen, welche sich wenig von der ihres HauSgesiudes unterschied. Der Erbe
eines Gutes brachte oft seine Knaben- und Jünglingsjahre am Sitze seiner Fa¬
milie zu, ohne bessere Hofmeister zu haben, als Stallknechte und Wildhüter, und
erlangte kaum so viel Kenntniß) seinen Namen unter ein mittimus -j-) zu setzen.
Wenn er zur Schule und zum Kollegium ging, so kehrte er in der Regel, ehe er
^vanzig Jahr alt war, zur Abgeschiedenheit der alten Halle zurück, und wenn
uicht sein Geist sehr glückliche natürliche Anlage hatte, so vergaß er seine akade¬
mischen Studien bald in ländlichen Geschäften und Vergnügen. Seine vornehmste
ernstliche Beschäftigung war die Sorge für sein Eigenthum. Er untersuchte Korn-
probcn, befühlte Ferkel, und an Markttagen machte er, bei einem Schoppen, sei¬
nen Handel mit Viehhändlern und Hopfenhändlern. Seine Hauptvergnügungen
flössen gemeiniglich aus Jagd und Wettkampf*) und aus einer nicht verfeinerten
Sinnlichkeit. Seine Redeweise und Aussprache war so, wie wir sie jetzt nur von
den unwissendsten Bauerburschen zu hören erwarten würden. Seine Schwüre,
groben Scherze und possenhaften Schimpfworte wurden mit dem breitesten Accent
seiner Provinz ausgesprochen. Es war leicht, an den ersten Worten, die er
sprach, zu erkennen, ob er von Somersetshire oder Aorkshire kam. Er trug wenig
Sorge, seinen Aufenthalt auszuschmücken, und wenn er eine Verzierung versuchte,
so brachte er selten etwas heraus, als eine Entstellung. Der Unrath eines Pach¬
terhofes sammelte sich uuter deu Fenstern seiner Schlafkammer, und die Kohlköpfe
und Stachelbeerbüsche wuchsen dicht an seiner Saalthüre. Sein Tisch war mit
einem Ueberfluß derber Speisen beladen, und Gäste waren herzlich willkommen
dazu. Aber da die Gewohnheit, übermäßig zu trinken, bei der Classe, zu der er
gehörte, allgemein war, und sein Vermögen ihn nicht in den Stand setzte, große
Gesellschaften täglich mit Claret oder Canariensckt zu berauschen, so war starkes
Bier das gewöhnliche Getränk. Die Masse des in jenen Tagen consnmirten Bieres
war in der That ungeheuer. Deun Bier war für die mittlern und untern Classe»
nicht blos, was es jetzt ist, sondern Alles, was jetzt Wein, Thee und gebrannte Wasser
sind. Nur in großen Häusern, oder bei großen Gelegenheiten wurden fremde
Weine auf die Tafel gesetzt. Die Damen des Hauses, deren Geschäft es gewöhn¬
lich gewesen war, das Mahl zu bereiten, entfernten sich, sobald die Speisen ver¬
zehrt waren und ließen die Gentlemen ihrem Ale und Tabak. Die derbe Fröh¬
lichkeit des Nachtisches wurde oft verlängert, bis die Schwelger unter dem Tische
lagen.
Selten hatte der Landgentleman einen Schimmer der großen Welt erfaßt,
und was er davon gesehen, diente mehr, ihn zu verwirren, als seinen Verstand
zu erleuchten. Seine Ansichten über Religion, Verfassung, fremde Länder und
frühere Zeiten, nicht aus Studium, Beobachtung oder Unterredung mit erleuch¬
teten Gesellschaftern, sondern aus Ueberlieferungen geflossen, wie sie in seinein
eignen kleinen Kreise gangbar waren, waren die Ansichten eines Kindes. Gleich¬
wohl hing er an ihnen mit der Hartnäckigkeit, welche gewöhnlich bei unwissenden
Menschen gefunden wird, welche gewohnt sind, mit Schmeichelei bedient zu wer^
den. Seine Abneigungen waren zahlreich und bitter. Er haßte Franzosen un
Italiener, Schotten und Irländer, Papisten und Presbyterianer, Indcpendente»
und Baptisten, Quäker und Juden. Gegen London und die Londoner fühlte er
einen Widerwillen, welcher mehr als einmal wichtige politische Wirkungen her--
vorgebracht hat. Seine Frau und Tochter standen in Geschmack und Fertigkeiten
unter einer Haushälterin oder einem Kammermädchen des heutigen Tages. Sie
nähten und spannen, brauler Stachelbeerwein, legten Ringelblumen ein und machten
die Kruste zur Wildpastete.
Nach dieser Beschreibung könnte man annehmen, daß der englische Esquire
des 17. Jahrhunderts sich nicht wesentlich von einem Müller oder Bierhauswirth
auf dem Lande unterschieden hätte. Indeß gibt es einige noch anzuführende wich¬
tige Bestandtheile seines Charakters, welche dieses Urtheil wesentlich modificiren
werden. Wie fremd er der geistigen Bildung und feinen Manieren war, so war
er doch in einigen wichtigen Punkten ein Gentleman. Er war ein Mitglied einer
stolzen und mächtigen Aristokratie, und viele sowohl der guten als der schlimmen
Eigenschaften, die den Aristokraten angehören, bezeichneten ihn. Sein Familien-
stolz ging über den eines Talbot oder Howard. Er kannte die Stammbäume und
Wappen seiner ganzen Nachbarn und konnte angeben, welche von ihnen ohne Recht
dazu Schildhalter angenommen hätten, und welche so unglücklich wären, die Ur¬
enkel von Aldermen zu sein. Er war eine Magistratsperson und handhabte, als
solche, unentgeldlich, für seine Umwohner eine rohe patriarchalische Justiz, welche,
trotz unzähliger Schnitzer und gelegentlicher Acte der Tyrannei, doch besser war,
als wenn es gar keine Justiz gegeben hätte. Er war ein Offizier der Miliz, und
wem, auch seine militärische Würde die Heiterkeit der Tapfern, die eine Campagne
in Flandern mitgemacht, errege» mochte, so hob sie doch seinen Charakter in sei¬
nen eignen Augen und in den Augen seiner Nachbarn. Auch war sein Soldaten-
thum in der That kein Gegenstand, welcher Spott verdiente. In jeder Grafschaft
gab es ältere Gentlemen, welche Dienst gesehen hatten, der kein Kinderspiel war.
Der Eine war von Karl I., uach der Schlacht vou Edgehill, zum Ritter geschla¬
gen worden. Ein Anderer trug noch immer ein Pflaster über der Narbe, die er
bei Naseby davon getragen. Ein Dritter hatte sein altes Haus vertheidigt, bis
Fairfax die Thüre mit einer Petarde aufsprengte. Die Gegenwart dieser alten
Cavaliere, mit ihren alten Schwertern und Halftern und mit ihren alten Geschich¬
ten über Göring und Lnnsford gab den Musterungen der Miliz all den Ernst
und das kriegerische Aussehen, woran es ihnen sonst gefehlt haben würde. Selbst
diejenigen Landgentlemen, welche zu jung waren, um selbst mit den Kürassierer
des Parlaments Hiebe gewechselt zu haben, waren von Kindheit auf von den
Spuren des erst kürzlich beendigten Krieges umgeben gewesen und mit Geschichten
von den kriegerischen Thaten ihrer Väter und Oheime vollgestopft worden. So
war der Charakter des englischen Esquire des 17. Jahrhunderts ans zwei Ele¬
mente» zusammengesetzt, die wir nicht gewöhnt sind, vereinigt zu finden. Seine
Unwissenheit und Plumpheit, sein niedriger Geschmack und seine groben Redens¬
arten würden in unsrer Zeit als Zeichen einer durch und durch plebejischen Natur
und Erziehung gelte». Und doch war er wesentlich ein Patrizier und besaß in
hohem Maße sowohl die Tugenden, als die Laster, welche bei Männern ge¬
deihen, die sich von ihrer Geburt an in hoher Stellung befinden und an Autorität,
Ehrerbietung und Selbstachtung gewöhnt sind. Es ist nicht leicht für eine Ge¬
neration, die gewohnt ist, ritterliche Gesinnungen nnr in Gemeinschaft mit libera¬
len Studien und feinen Sitten zu finden, sich einen Mann mit dem Benehmen,
dem Sprachschatz und der Aussprache eines Fuhrmanns zu denken, der doch pein¬
lich genau in Angelegenheiten der Genealogie und des Vorranges und bereit ist/
lieber sein Leben zu wagen, als einen Flecken ans die Ehre seines Hauses gewor¬
fen zu sehen. Aber nur wenn wir dergestalt Dinge zusammenstellen, welche in
unsrer eignen Erfahrung selten oder nie zusammen gefunden werden, können wir
eine richtige Idee von jener ländlichen Aristokratie fassen, welche die Hauptkraft
der Armeen Karls I. bildete und welche lange Zeit, mit wunderbarer Treue, die
Sache seiner Nachkommen stützte.
Der grobe, ungebildete, ungereiste Landgentleman war gemeiniglich ein Tory;
aber wie ergeben er auch an der erblichen Monarchie hing, so hatte er doch keine
Parteilichkeit für Höflinge und Minister. Er dachte uicht ohne Grund, daß White-
hall mit den Verderbtesten der Menschheit angefüllt sei; daß von den großen Sum-
men, die das Haus der Gemeinen der Krone seit der Restauration bewilligt, ein
Theil von listigen Staatsmännern veruntreut und ein anderer Theil an Possen¬
reißer und ausländische Buhlschwestern verschwendet worden, sei. Sein trotziges
englisches Herz schwoll vor Unwillen bei dem Gedanken, daß die Regierung seines
Landes französischen Vorschriften unterworfen sein solle. Da er in der Regel selbst
ein alter Cavalier, oder der Sohn eines alten Cavaliers war, so dachte er mit
bittrem Grolle über die Undankbarkeit nach, mit welcher die Stuarts ihre besten
Freunde belohnt hatten. Wer ihn über die Vernachlässigung murren hörte, uiid
der er behandelt worden, und über die Verschwendung, mit welcher an die Ba¬
starde von Lorcheu Gwynu und Madam Carwell (f. S. 187) Reichthum ausge¬
streut wurde, würde ihn für reif zur Rebellion gehalten haben. Aber all diese
üble Laune dauerte nur, bis der Thron wirklich in Gefahr war. Gerade dann,
wenn Die, welche der Souvermn mit Reichthum und Ehren überschüttet hatte,
von seiner Seite wichen, schaarten sich die Landgentlemen, die in der Zeit seines
Glückes so mürrisch und meuterisch geblieben waren, wie Ein Mann um ihn-
So kamen sie, nachdem sie zwanzig Jahre lang über die schlechte Negierung
Karls II. gemurrt hatten, in seiner äußersten Bedrängniß, wie seine eignen Staats-
seeretaire und Schatzlords ihn verlassen hatten, zu seiner Rettung und setzten ihn
in den Stand, einen vollständigen Sieg über die Opposition zu gewinnen; auch
kann nicht gezweifelt werden, daß sie seinem Brüder Jakob gleiche Loyalität be¬
wiesen haben würden, hätte nur Jakob, sei es auch nur im letzten Angenblicke,
sich enthalten wollen, ihr stärkstes Gefühl zu verletzen. Denn es gab eine Insel-
ludion und nur eine einzige, die sich selbst noch höher Schoten, als die erbliche
Monarchie, und diese Institution war die Kirche von England. Ihre Liebe zur
Kirche war allerdings nicht die Wirkung von Studien oder Nachdenken. Wenige
unter ihnen hätten irgend einen, aus der Schrift, oder der Kirchengeschichte ge¬
schöpften Grund angeben können, warum sie ihren Lehrsätzen, ihrem Ritual und
ihrer Verfassung anhingen; anch waren sie, als Stand genommen, keineswegs
strenge Befolger jenes Codex der Sittlichkeit, welcher allen christlichen Secten ge¬
mein ist. Aber die Erfahrung vieler Jahrhunderte beweist, daß Menschen bereit
sein können, für eine Religion bis zum Tode zu kämpfen und mitleidslos zu ver¬
folgen, deren Glauben sie nicht verstehen und deren Vorschriften sie gewohnheits¬
mäßig unbefolgt lassen")."
Nirgendwo machte sich vor der Sündfluth, (1848) die Verachtung „papierener"
Constitutionen breiter als in Oestreich, und die Enlenaugcn des „Östreichischen
Beobachters" sahen Vieles für papieren an, was so natürlich gewachsen war wie
das Blatt am Baume. Die Nemesis hat gewollt, daß Metternichs Nachfolger selbst
in die krasseste Papiermachcrei verfallen mußten. Ihr Octroi vom 7. März ent¬
spricht so wenig der Natur und den geschichtlichen Erinnerungen der Völker, daß
hochkundige Engländer^) einstimmig das Cabinet Stadion als revolutionär-auto-
kratisch und ideologisch, die Opposition in Ungarn, Polen und Böhmen dagegen
als conservativ-liberal bezeichnen. Die Minister scheinen jetzt ihrer Unfehlbarkeit
nicht mehr ganz sicher, und der Orkan im Osten ist ein willkommener Vorwand,
um das Oktroi vom 7. März gar nicht zu Ende zu schreiben. Die wichtigsten
Ergänzungen der sogenannten östreichischen Verfassung, z. B. die organischen Ge¬
setze über Reichsgericht und Heerwesen, lassen noch immer auf sich warten. Frei¬
lich erwartet sie Niemand mehr. Allem Anscheine nach wird das Fabrikat, —
möge die Conflagration welch ein Ende immer nehmen, — in den Papierkorb der
Geschichte fallen.
Dieses vielsagende konstitutionelle Stillschweigen hat unsere Bureaukraten und
Absolutesten einen Stein vom Herzen genommen. Wenn ein ehrbarer Pudel ein
paar Minuten mühsam auf zwei Beinen gestanden hat, so fällt er mit Wollust
wieder auf alle Viere und wedelt glückselig mit seinem angebornen Zepter: er ist
wieder ganz er selbst. Und Sie haben keinen Begriff vom Behagen unserer ser¬
vilen. Jetzt können sie mit majestätischem Patriotismus Jeden anknurren, der noch
von constitutionellen Rücksichten und Skrupeln spricht, „wozu der Augenblick doch
wahrlich schlecht gewählt sei"; jetzt dürfen sie ohne Scham und ungenirt in die
antediluvianische Sprache zurückfallen, mit der sie aufgehängt sind. Dies unarti-
kulirte Idiom unterscheidet sich nur durch einen altmodischen Pfiff vom Russischen
Nikvlay I., in seiner Offenbarung vom 11. Mai (Petersburger Zeitung), entfesselt
den Boreas gradezu gegen die „Unruhen und Empörungen im Westen," gegen
die paar Dutzend Millionen Seelen Europas, die der Weisheit von drei, vier
Völkerhirten deu Gehorsam kündigen.
Zu solcher Sprache gehört aber die Kühnheit des unverkünstelten Despoten.
Unsere kleinen und verschämten Russen fuhren die absolutistische Polemik mit Hilfe
eines allmächtigen Schlagwortes. Einst war das Geschrei: „Burschenschafter und
Demagog" Mode, dann das Wort: „Franzosenfreund"; seitdem aber die Fürsten
selbst die Demagogie und Burschenschafterei von 1817 getrieben und sich für daS
welsche System von Louis Philipp erklärt haben, zieht dergleichen nicht mehr.
„Communismus", „sociale Revolution" ist das Feldgeschrei, mit dem jeder Wider¬
spruch und alle Logik aufs Haupt geschlagen wird. Ju Deutschland weiß die
Reaction diese Waffe etwas feiner zu führen. Hier schlägt man damit, wie früher
mit dem Papagaicnruf: „Gleichberechtigung" oft nach einer Seite, auf die es
wie die Faust aufs Auge paßt.
Hören Sie einmal die offizielle Wiener Zeitung aus dem Schlaf reden.
Hartnäckig phantasirt sie vou der „socialen Revolution" in Ungarn. Sie meint
damit nicht die galizischen Schlächterscencn (1846), welche die Regierung durch den
urwüchsigen Communismus walachischer und serbischer Freibeuter in Sündungarn
neu aufspielen ließ: sie faselt allen Ernstes — oder thut doch so — von den
socialistischen Tendenzen der magyarischen Revolution und ihrer aristokratischen
Führer. Nur über den einen Punkt ist sie noch im Unklaren: ob die ungarischen
Czikvse (Noßhirtcn) mehr zu Fourier oder zu Baboeuf neigen. Was die Husaren
betrifft, so ist es authentisch, daß sie bei ihren abendlichen Wachtfeuern Proudhon
und nichts als Proudhon studiren.
Ungeheuer ist das Geheul moralischer Entrüstung gegen die Söhne der pol¬
nische» Nemesis, die überall in fremden Ländern für ihr Vaterland fechten. War¬
um habt Ihr ihnen kein vaterländisches Schlachtfeld gelassen? Niemand hörte ich
so unbarmherzig gegen die P?im in Ungarn und Italien wüthen als einen k. k.
Offizier, der selbst in russischen Diensten gegen Tscherkessen gefochten und in Bra-
Mer ein Bataillon Neger kommandirt hatte. Auch der Schweizer, die für 20 K.
C.-M. täglich, für den Bourbon von Neapel, für Radetzky oder den Herzog von
Modena kämpfen, pflegt sich die gutgesinnte Logik nicht gern zu erinnern.
Und will keine „sociale Revolution," kein „Polcutyum" und kein anderer
Popanz mehr verfangen, so greift die Wiener Zeitung zu ihrem uralt heiligen
Jammer über die allgemeine europäische Propaganda und über die ambulante Re-
volutionsarmee von Fremdlingen und Landstreichern aus allen Weltgegenden.
Hier hat die Wiener Zeitung Recht, allein ich kann ihr nicht helfen. Sie
hätte längst wissen sollen, daß in gewissen Dingen die Völker eben so solidarisch
N"t einander verbunden sind, wie die Kabinette und daß der Diplomatenpropa-
sMda von Europa eine Propaganda der Jugend, der Leidenschaft, der Verzweif-
buig gegenübersteht. Nur von Heimlichkeit und Verschwörung redet nicht. Tiefer
»ut dunkler ist die Heimlichkeit der diplomatischen Vehme. Offen und am bren¬
nenden Licht der Sonne wird ans der Fäulniß diplomatischer Mißgeburten der
böse Hauch tollköpfiger Revolutionen ausgebrütet. Die deutschen Schilderhebnngen
in Wien, Dresden, Breslau und Baden waren waghalsige Improvisationen, —
darum werden sie so oft und leicht zu Schanden. Ein Cabinet geht Jahre lang
mit seinen Geburten schwanger: das empörte Volk keinen Monat, keinen Tag, oft
keine Stunde.
Aber stets und überall findet es heutzutage langhaarige, abenteuerlich kostü-
Mirte Fahnenträger und immer sind es Fremdlinge. Wahr! Breslauer, z. B.
starben ans Berliner Barrikaden, Hamburger blutete» vor den Wiener Linien;
nicht einmal Schutzverwandte waren sie in Berlin oder Wien. Autochthonische
Hausbesitzer sind überall ruhige Bürger, freuen sich vielleicht, wenn die deutsche
Einheit und Größe zu Stande kommt. Wo nicht, werden sie sich auch zu trösten
wissen.
Die allgemeine europäische Propaganda wird eines süßen Todes sterben, an
dem Tage wo das Reich der Freiheit im Volke und das Reich der Wahrheit in
den Kabinetten beginnt. Bis dahin ist sie unüberwindlich wie die Pforten der
Hölle. Ihr konnt den Menschen nicht mehr an die Scholle und deu Zunftstock
binden; Ihr könnt die blitzschnelle Reibung der Geister durch Dampf und Drucker¬
schwärze nicht mehr hemmen; die Propaganda des Lichtes, der Luft und des
Wortes werdet Ihr nicht mehr tödten, — selbst wenn Ihr den ganzen Stadt¬
graben rings um die Wiener Stadt mit den Leichen der von „Zuläufern, Ver¬
wichenen, Flüchtlingen, Landstreichern und unbefugten Pasquillanten verschiedener
Nationen" ausfüllt, also! —
Zwiegespräch auf einer Treppe. — Baron. Na, die Preußen ha¬
ben in Dresden brav gewirthschaftet, todtgeschlagen, ins Wasser geschmissen, zum
Krüppel gehauen, was nur wie ein Demokrat aussah. — Ich: Sie haben doch
Nichts dawider? — Baron. Im Gegentheil: Brave Soldaten! Ich wollte
Sie nur erinnern, daß kein Unterschied ist zwischen deutschen Soldaten und öst¬
reichischen, — weil Sie uns immer mit dem Oktober kommen. — Ich: Ein
Wort! In Dresden kämpfte Partei gegen Partei, Royalisten gegen Demokraten.
Ein Fanatismus ist des andern werth. Die Preußen vom Alexanderregiment folgten
eben so einem moralischen Antrieb wie ihre Gegner. Sie berauschte im Pulver¬
dampf und Kugelregen die Leidenschaft für Thron und Altar, sie hetzte Offizier
und Junker mit dem rothen Lappen der Anarchie, des Communismus, was weiß
ich. Im Rausch wird der Mensch blind und mordet den leiblichen Bruder, kommt
er ihm in den Wurf. Aber für Eines bürge ich mit meinem Kopf, Eines haben
die Preußen und Sachsen in Dresden nicht gethan. — Baron: Ich bin begierig. —
Ich: Ich vermuthe, daß die Preußen nicht geplündert, auch nicht gestohlen,
auch nicht nachher auf dem altstädter Markt, -— pu>>,- col-ri^r 1-l kuren»« «Jo
volviii-, — gebettelt haben, wie die Kroaten hier auf dem Stephausplatz. Wenn
Sie mich widerlegen können, so stelle ich Ihnen morgen 40,000 Mann preußischer
Linie und Landwehr unter den Stock und das Commando des seligen Suppli-
katsch! —
Unglaublich ist die Lethargie, mit der das Wiener Volk das russische Fatum
über sich hereinbrechen sieht. Man läßt sich von Reisenden ihre schöne Waldhorn-
mnsik, ihre Uniformen und stattlichen Rößlein schildern; man überzahlt im Geiste
die baaren Rudel und Dukaten, die sie in das papiergeldreiche Land bringen wer¬
den; der russische Einfluß — ist eine Chimäre, erfunden von fremden Wühlern,
ein Vorurtheil, gesogen aus „vormärzlicher Broschürenweisheit", wie der Lloyd sagt.
Doch hört man vom Weiten schon leise, leise das Sterbeglöcklein östreichi¬
scher Unabhängigkeit und Ehre läuten. Mit triumphirendem Hochmuth behandelt
der russische Offizier den östreichischen, der gemeine Russe läßt sich nicht immer
herab, den letztem zu salutiren. Der Kaiser Franz Joseph muß den nomineller
Oberbefehl über die gestimmte Armee führen, damit die östreichischen Heerführer
den Schmerz verwinden, unter Paskiewitzsch gestellt zu werden. Aber bedeutungs¬
voller send die russische» Eingriffe ins Verwaltungswesen, — nur auf dem Kriegs¬
schauplatz, aber der Kriegsschauplatz nimmt H der Monarchie el». In Galizien ist
die russtche Polizei bereits allmächtig. General Saß läßt „Uebelgesinnte" nach Be¬
lieben verhaften. General Dwernicky, aus dein polnischen Kriege von 1831 be¬
kannt, der in Lemberg ein Asyl erhalten, wendet sich an die Negierung mit der
Frage, ob er das Asylrccht ferner behalte, ob er sicher sei. Man antwortet ihm
ausweichend, man kann ihm keinen Schutz versprechen gegen etwaige Wünsche
Rußlands. Er flieht. So wird mir aus guter Quelle berichtet.
Aber mit eigenen Augen sah ich am schwarzen Brett des Schottengymnasiums
einen Tracht- und Toiletteukas angeschlagen, worin „langes Kopfhaar, flache
Kappen mit kurzen Schirmen, Ziegenhainer Stöcke, Meißner Pfer-
kenköpfe, ausgeschlagene (?) Hemdkragen n. dergl." verpönt werden,
"is Abzeichen jener fremden Wühler, „deren Aufgabe es ist, nach dem
demokratischen Princip Unruhen zu stiften und zu verbreiten,
und dem Communismus und der Anarchie neuerdings die Bahn
zu brechen." Professor Hye, der vom 13. März 1848 Punkt 5 Uhr Nach¬
mittags bis zum l. April desselben Jahres zu den entschieden Freisinnigen zählte,
soll die Weisheit dieses russischen Gcsctzplagiats in einer salbungsvollen Rede ge¬
feiert haben.
Armes Oestreich, wenn du glaubst, daß ein Meißner Pfeifenkopf dir gefährlicher
werden kann als die Kopflosigkeit deiner verantwortlichen Regenten. — Von einem
schwachsinnigen Greis erzählt man, daß während der Donauüberschwemmung von
1830 der Sturm das Dach seines Hauses abgetragen, der Eisstvß eine Mauer
eingestürzt, die Fluth seine Treppen bis zum > . Stock erklommen hatte; er aber
arbeitete rastlos, die Ritzen der alten Zimmerthür, das Schlüsselloch und die Luft¬
löcher unterm Fensterrahmen mit Moos zu verstopfen! — O Hye, o Oestreich! —
Unser Prag wird also anch seit einer Woche belagert. Erwarten Sie von
mir keinen naiven Brief mit Ausrufungszeichen — die Belagerung ist in Oestreich
kein Auöuahmszustand mehr. Khevenhüllcr hat uus eine gemüthliche militärische
Verfassung in wenig Pharagraphen für unbestimmte Dauer octroyirt, weil wir
uus mit dem großen Octroi vom März uoch immer nicht zufrieden stellen, und
die Revolution nicht als geschlossen betrachten wollen. Ich verspreche Ihnen näch¬
stens auf die Freudenjagd auszugehen, um die kleinen ergötzlichen Details unseres
Belagerungszustandes zu sammeln; aber für heute lasse» Sie uns einige Rückblicke
w die Vergangenheit werfen, um darin wo möglich die näher oder serner liegen¬
den Motive jener hohen Maßregel zu finden, über die das militärische Orakel
bis jetzt noch stumm ist, und in den Plataeer, die wir demnächst zu erwarten
haben, sich wahrscheinlich in einer solchen Prosa offenbaren wird, die an Unklar¬
heit den Versen der Pythia nichts nachgeben soll. —
Man thut gewaltig Unrecht, wenn man die phantastische Exaltation der
Juugczechcn mit dem Naturwuchs der Slovaken, Kroaten und Serben in Eins
zusammen wirft, und so die slavische Bewegung in Oestreich mit einem Male ab-
gefertigt zu haben glaubt. Die Czechen, die von Anbeginn in der bewegten
Mitte von Europa leben und an den großen Geschicken des Welttheils unmittelbar
Theil genommen haben, konnten bei dem lebhaften Scenenwechsel des großen
Völkerdramas nie für die Dauer zu jener lyrischen Stimmung zurückkehren, die
zur nationalen Selbstbeschauung nothwendig gehört und in dem abgeschlossenen
Hochlande oder der indifferenten Steppe so reichlich genährt wird. Die slavische
Innerlichkeit wurde an dieser unruhigen Stätte aus ihrem brütenden Versnnken-
sein frühzeitig herausgerissen, und unter dem Einflüsse deutscher Bildung allmälig
sich selbst entfremdet, während sie bei den östlicher wohnenden Slaven, die fort¬
während in specialhistorischer Zurückgezogenheit beharrten, nichts von ihrer Eigen¬
thümlichkeit und ihrem Naturwuchs einbüßte. Dort ist der Panslavismus der
allgegenwärtige, lebendige Geist der Vewegnng, der unmittelbare Pulsschlag in
allen Herzen; aber in Böhmen war er nur ein mythischer Gast aus der Vergan¬
genheit, der in unserer Zeit, wo alle Gräber sprangen, anch die Gruftsiegel zer¬
brach, und der Natnrwuchs der Jungczechen stammte aus eben jener Hexenküche,
aus der Faust sich seiue zweite Jugend holte. Der Ziergarten der neuczechischen
Literatur, der in den letzten Jahren des politischen Müssigganges während der
großen weltgeschichtlichen Pause der Restaurationsperiode angelegt wurde, war
keineswegs aus der Fülle des nationalen Lebens hervorgegangen, sondern es sollte
umgekehrt durch die Illusion einer gemachten Nationalliteratnr auf die abgestor¬
bene Ursprünglichkeit zurückgewirkt werden, der Czeche sollte dasjenige aus den
Büchern der ,M»tico cvsk-t" herauslesen, was nicht mehr als lebendige, blut¬
warme Empfindung durch seine Adern rann, die neuczechischen Schriftsteller dachten
in allem Ernste daran, allmälig ein Volk heranzubilden, welches zu ihren Büchern
passen möchte; sie hielten sich für die berufenen Slavenapostcl der Neuzeit, und
gruben die alten Heiligthümer wieder heraus, um den gesunkenen Glauben des
Volkes an sich selbst neu zu beleben. Die Königinhofer Handschrift, die „slavi¬
schen Alterthümer" von P. Saffarik, die gelehrten Abhandlungen im „cavvw's
c^Je-Im Misemn" bekamen in dieser Weise die geheimnißvolle Bedeutung einer
neuen et-lviculil 8ni.-unoiii8z durch welche der Geist der Väter aus seinem ver¬
schollenen Grabe gerufen werden sollte.
Wie zwischen den Theorien der Aufklärungsperiode und den Thaten der Re¬
volution eine genaue Beziehung stattfindet, so läßt sich auch ein ähnlicher Zusam¬
menhang zwischen den gelehrten Forschungen der czechischen Philologen und Histo¬
riker und der nationalen Bewegung vom Jahre 1848 nachweisen; nur führten die
Abstractionen des 18. Jahrhunderts zum Bruche mit der Vergangenheit, während
die Empirie der böhmischen Gelehrten das romantische Gelüste der Restauration
weckte. Diese rückwärts gekehrten Propheten erschienen auch zum größten Theile
an der Spitze der czechischen Bewegung, und übten auf sie einen thätig fördern¬
den Einfluß. Allein wir können durchaus nicht sagen, daß an ihnen der allge-
Meine Wille des Volkes zur individuellen Leidenschaft sich herausgebildet hätte; sie
sind im Gegentheil romantische Subjecte, die von der Wirklichkeit des Volkslebens
abgetrennt, in der Traumwelt eines imaginären Vaterlandes lebten, sie sind
Bürger einer Zeit, die bereits entschwunden ist. Auf die studirende Jugend wirk¬
en sie zwar erhebend und begeisternd ein, aber dem Volke wurde ihr Idealismus
nicht verständlich, und erlangte daher über die Gemüther keine bleibende Macht.
Und doch sollen die Führer einer nationalen Bewegung markige Individuen sein,
in denen sich der allgemeine Volksgeist verkörpert hat, die überall, wo sie sich
Zeigen, jubelnd auf's Schild gehoben werden, denen alle Herzen entgegenschlagen
und alle ohne Widerrede sich unterwerfen, weil das Volk nur in ihren Worten
und Thaten sich seiner bewußt werden, und eben in jenem unbedingten Gehorsam
sein Selbstgefühl an den Tag legen soll. In der Slovakei und den südslawischen
Ländern fehlte es nicht an solchen Männern; Seur und Hurban, Stratimirovic
und Knicanin sind hier zuvörderst zu nennen. Dort ist der Einzelne noch nicht
abgelöst von dem substantiellen Leben seines Volkes, er hat diese geheiligte Grund¬
lage in sich noch nicht durch Reflexion und dnrch Bildung zersetzt; im Gegentheil
tritt hier der Nation ihre vollends ausgeprägte Eigenthümlichkeit nnr in der
Individualität ihrer Führer entgegen, die gleich den Heroen des Alterthums un¬
trennbar sind von dem Boden, aus dem sie hervorgegangen.
Dort thut es auf der andern Seite auch uicht noth, die kümmerlichen Flam¬
men aus dem eignen Aschcnhäufchen her aufzublasen, und bei künstlich genährten
Feuer von fremdem Schmaus das Ragout einer „Nationalliteratur" zu brauen,
um das Volk von seiner Originalität und seinem Naturwuchs zu überzeugen; eine
ursprüngliche Glut brennt dort lichterloh durch alle Herzen, und der Mann ans
dem Volke braucht nicht erst lesen und schreiben zu müssen, um sich dessen bewußt
ZU werden, daß er ein Serbe oder Kroate ist. Bei uns dagegen droht mit der
Auflösung der „!>1at,i<-v ce-«Ki>" (so heißt nämlich das bekannte Institut zur Be¬
sorgung der Ausgabe einheimischer Werke) der czechischen Nationalität selbst ernst¬
lich Gefahr; denn diese braucht geschriebenes Zeugniß, um den Glauben an sich
selbst nicht zu verlieren, und die alten, ans dem lebendigen Gedächtniß des Vol¬
kes größtentheils entschwundenen Traditionen nicht einzubüßen. Diese doktrinäre
Grundlage der czechischen Bewegung rief alle jene phantastischen Ausschweifungen
hervor, über die sich deutsche Blätter hinreichend entsetzt haben. Da man nicht
Mehr die eigenthümliche Stammesart des Czechenthnms in ihrer unmittelbaren
Lebendigkeit vorfand, so hatte die Phantasie ti.huln i-i^u, und konnte dieselbe nach
Belieben ausmalen. Die Zeit, in der die Phantasie allein zu Hause ist, weil
sie sie auch erschaffen hat, ist die poetische; in diese versetzte sie sich nun über
alle bestimmten Zeiträume der böhmischen Geschichte zurück, und brachte von dort
zum Schrecken der treuen Deutschböhmen das mythologische Bild der Swvruost
Mit, um es aller Prosa der Vernunft zum Trotz, auf den Schauplatz der Gegen-
wart zu verpflanze». Das wunderbare Costum des vielberühmte» Se. WenzelS-
corps, das keiner wirklichen Nationaltracht irgend eines bestimmten Slavenstam-
mes entlehnt ist, scheint sogar auf den Versuch hinzudeuten, den abstrakten Gat¬
tungsbegriff der Slaven zur äußern Erscheinung zu bringen. Daher kaun der
Swornoster in seinem theatralischen Auszüge und erkünstelten Barbarenthlnn recht
gut den Slaven im Allgemeinen repräsentirt haben, während der Serezaner in
seinem historischen Rothmäntel und mit dem schwerfälligen Waffcnmagazin im Gür¬
tel ohne weitere Symbolik nur sich selber bedeute« kann. - >
In Prag bemühte man sich, den geheimen Leitton des gesammten Slaven-
thums herauszufinden; wie in einer Omler» obscur-l reflectirten sich hier die
bunten Bilder des bewegten Lebens aus der ganzen Slavenwelt. Dieses rein
generelle Interesse, welches durch den wenig ausgebildeten Stammescgvismus den
verwandten Brudervölkeru gegenüber nicht getrübt wurde, machte anch das hun-
dertthürmige Prag zu der passendsten Stätte für den oftbesprochenen Slavencon-
greß; gleichsam zu einem neuen Antis, wo sich die nenverbrüdertcn Stämme der
Slaven sammeln können, um vou da vereint hinanöznsegeln auf die bewegten
Wogen der Weltgeschichte. Während Lubomiröky, BvriSkiewic, Stamatowic, Hur¬
bau u. a. deu Berathungen jenes Congresses im Name» ihrer Stämme mit den
bestimmtesten, specifischen Wünschen und Beschwerde» beiwohnten, wischten sich die
Czechen im Hintergründe die Angen aus Rührung und Frende über ihre wer¬
then Gäste, und streckten mit deklamatorischer Geste die Arme aus, um die
verbrüderte» Millionen Slaven zu umschlingen. —
Ich brauche nicht erst zu bemerken, daß man ans dem Lande die Maskenzüge
und das redouteuhafte Treiben der Hauptstadt nicht verstand. So lauge es blos für
ein Schauspiel gelten konnte, ließ man steh's recht gern gefallen, als aber die Schau¬
spieler mit der Handlung Ernst machten und die Zuschauer selbst als mithandelnde
Personen auf die Bühne ziehen wollten, da ging nur ein geringer Theil auf eine
solche Zumuthung ein. Die theatralischen Helden deö Slavencongresses konnten dem
Volke nicht als wirkliche Heroen gelten; es sah die Vorgänge in Prag nur als
bühnengerechte Darstellungen aus dem slavischen Mythenalter an, und trennte ge¬
nau die Wirklichkeit seiner Zustände und Stimmnnge» von der Bühnenhandlnng
der Aula und des Museums ab. Als daher in Prag die Jnnirevolte zum Aus-
bruche kam, und man erst nachträglich das eigentliche Volk für diese nationale
Erhebung zu gewinnen suchte, da konnten die Emissäre vo» Prag nicht an das
Nationalgefühl, soudern nur an den bäuerlichen Egoismus der Landleute sich wen¬
den; sie mußten dein Volke vorspiegeln, daß der Absolutismus der Gutsherrn
und die Robot wieder werde eingeführt werden, wenn sie sich nur einigermassen
eine Wirkung versprechen wollte». Die Nothwendigkeit einer Wiederherstellung
des großmährischen Reiches hätte das czechische Landvolk niemals begriffen, wäh¬
rend doch ein jeder gemeine Serbe für die Unabhängigkeit der Woiwodowina jetzt
gegen die Magyaren, und bald vielleicht gegen Oestreich kämpft, und die bittere
Erinnerung des magyarischen Druckes die slovaüschen Landleute unter Hurbans,
Seur's und Janecek's Fahnen versammelt.
Der Junianfstand mißglückte - die Swornost, welche durch unmittbare That,
M den Waffen in der Hand, die wunderbaren Ideen des Slavencongresses rea¬
leren sollte, wurde aufgelöst. Dafür bildete sich aber auf dem ersten östreichi¬
schen Reichstage eine neue, besser organisirte Swornost, die slavische Rechte, die
">it rüstigen Kräften in die parlamentarische Schlacht ausrückte. Sie Schreb den
Namen „Oestreich" aus das rothblauweiße Banner, aber trotz dem vielen Gerede
von der Integrität der Monarchie galt ihr der Gesammtstaat nie als eine unbe¬
dingte, substantielle Macht, die sich überall zum Bewußtsein des östreichischen
Staatsbürgerthums individualisiren und als allgemeines, besonderes Gewissen in
der Brust jedes Einzelnen, ohne Unterschied der Nationalität ankündigen soll.
Ebenso sah die Rechte den Föderalismus keineswegs blos als die neue Form an,
die der Einheitsstaat Oestreich nothwendig annehmen müsse, damit sich sein starrer
Mechanismus zur Mannigfaltigkeit und Harmonie eines organischen Gliederbans
belebe und der unfreie habsburgische Staat zu einer freien Völkergemeinde ent¬
falte, sondern sie strebte vielmehr unter diesem Namen ein gewisses staatliches
Kleinleben, ein patriarchalisches Beisammensein verwandter Stämme an, welches
sich dann in einer möglichst freien Losgebnndenheit von der Centralgewalt weiter
entwickeln konnte. Die föderalistischen Bestrebungen der Slaven wollten die Welt¬
geschichte zum Idyll verfluchen und die verschiedenen Nationalitäten Oestreichs
malerisch gruppirtund unter der Habsburgischen Schujzherrschaft zu einem ganz lockern
Staatenbunde vereinigt sehen. Diese Art von Föderalismus, wie sie von den
Ezechen in Gemeinschaft mit den übrigen Slaven vertheidigt und geltend gemacht
wurde, war daher nur ein euphvnistischer Ausdruck für jene Tendenzen, welche
b" den Führern des Octvberkampfes, des italienischen und ungarischen Befreiungs¬
krieges nur bestimmter und unter dem wahren Motto heraustraten; und hätte sich,
den slavischen Hoffnungen der N.'lMiu' nrs?-^ und das große deutsche Vaterland
nicht geradezu in den Weg gestellt, sie wären gewiß statt der conventionell loyalen
Außenseite, die sie sich mit vielem Geschick anzueignen wußten, in die revolutionäre
Großsprecherei unserer Zeit vollends eingegangen. So aber kämpften sie einem
ausdrücklichen oder stillschweigenden Uebereinkommen mit der Krone zu Folge in
der Parlamentarischen Arena oder auf deu magyarischen Schlachtfeldern für ein
„starkes Oestreich", ohne sich jedoch je ernstlich in dasselbe Hineinleben zu wollen.
Der dynastische und nationale Egoismus kann jedenfalls seine gegenseitigen An¬
sprüche und Forderungen durch Vertragsbestimmungen regeln. Statt daher an
einem starken und freien Gesammtstaat Oestreich im vollen Ernste mitzubauen,
traten die Slaven eigentlich blos mit dem Hanse Oestreich in Unterhandlung,
dessen gutes Recht sie nach Kräften durch Wort und Schwert gegen das Magya-
renthum und den Germanismus zu wahren versprachen, wenn es wieder seiner¬
seits der freien Entwicklung des Slaventhums nicht hindernd in den Weg treten
würde. Durch die Deputationen des czechischen und serbischen Nationalcomitvs,
so wie durch die Unterhandlungen des Kroatenhäuptlings mit dem Hose wurde
ein beinahe feudalistischer Weg zur Regelung der dynastischen und slavisch-nationa¬
len Interessen betreten; das göttliche Recht der Revolution wurde durch willkür¬
liche Bestimmungen zu einem Contrakte, auf den sich die Formel: .,(!» ut f-was"
anwenden läßt, profanirt, und der Versuch gemacht, die sämmtliche Allgemeinheit
in eine Summe zufälliger Gerechtsamen und Privilegien für die einzelnen Länder
aufzulösen. Da mußte freilich der alte dynastische Egoismus wieder von Neuem
sein Haupt erheben; die Slaven hatten ihn ja anerkannt, indem sie sich mit ihm
in Unterhandlungen einließen. Wenn die Krone und die Vertreter des Volkes
wie zwei Pacisceuten sich einander gegenüberstellen, so verlassen beide den allge¬
meinen Boden, ans dem sie standen, um auf rein privatrechtliche Weise ihre ge¬
genseitigen Rechtssphären zu beschränken. So wird aber der Gegensatz zwischen
Krone und Volk fest, und jener Dialektik entnommen, die den Lebenspuls des
gesunden Constitutionalismus ausmacht. In dem Pantheon des Staates darf
nicht gefeilscht und gemäkelt werden; anch hier hat der edle Zorn seine Berechti¬
gung, der die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel jagen möchte/
Die Rechte und die Linke wirkten mit vereinigten Kräften dahin, um sich nach
den harten Mühen des Kampfes um die Ernte der Freiheit zu bringen; und was
in der Reitschule von Wien verdorben wurde, konnte in der bischöflichen Resi¬
denz von Kremsier nicht mehr gut gemacht werden. Die Wiener Demokraten ver¬
darben alles durch den Ungestüm, mit dem sie immer gradezu auf Principienfra-
gen losgingen, ohne jemals an den wirklichen Verhältnissen ihre politische Lebens-
klugheit zu üben, und stürzten sich zuletzt aus Verzweiflung über ihre parlamen¬
tarischen Niederlagen in jenen unseligen Kampf, der die Nothwendigkeit des Miß-
lingens in sich trug; die Czechen dagegen, die die bittern Erfahrungen eines ver¬
unglückten Aufstandes bereits in's Parlament mitbrachten, befolgten zwar im
Gegensatz zu den links sitzenden Idealisten eine Politik, die ans empirischer Grund¬
lage beruhte — aber die Empirie der Rechten war leider ein Abfall von der
Idee und die Spitze ihres Scharfsinns war so fein, daß sie am Ende abbrechen
mußte. Die Grundsätze, die in der unheiligen Bibel Machiavells stehen, können
allenfalls in einem Ministerconseil, niemals aber in einem parlamentarischen Club
mit Erfolg angewendet werden, und von der diplomatischen Begabung , die die
czechischen Deputirten an den Tag legten, hat wider ihre Absicht die Krone,
Nicht aber das Volk Nutzen gezogen.
(Die Fortsetzung folgt.)
Der Kampf für die Reichsverfassung ist, wenigstens in der gegenwärtigen Phase
unserer Revolution, als beendigt anzusehn; unsere Partei hat ihn verloren. Der
Austritt derjenigen Männer, von welchen die Idee zu derselben ausgegangen ist
Dahlmann und Heinrich von Gagern an der Spitze, war der letzte Schritt,
den man freilich nach den frühern Vorgängen mit Bestimmtheit erwarten konnte.
Wie die Sache jetzt steht, stehn sich zwei Parteien gegenüber, die mit der Reichs-
verfassung beide nichts zu thun haben. Der Kampf ist begonnen, und läßt sich
nicht weiter aufhalten. Wem wir für den jetzigen Augenblick den Sieg wünschen,
kann nicht zweifelhaft sein. Bei einem Siege der Regierungen ist wenigstens die
Möglichkeit vorhanden, daß sie ihn mit Maß und Vernunft gebrauchen; ein Sieg
der Republikaner aber ist nur der Anfang eines chaotischen Getümmels, von dem
sich kein Ende absehn läßt.
Daß unter diesen Umständen unsere Partei in Frankfurt sich nicht länger dazu
hergeben konnte, schon durch ihre Existenz einer Richtung in die Hände zu arbei¬
ten, die ihr feindlich ist, verstand sich von selbst. Sie haben unter zwei Uebeln
das kleinere gewählt, sie haben die unmittelbare Betheiligung an einem Kampfe
aufgegeben, dem sie nicht mehr gewachsen waren. Und dennoch war es ein schwe¬
rer, schmerzlicher Schritt. Der Idealismus der Nation, der an dieser Versamm¬
lung sich erwärmte, hat seinen letzten Halt verloren, die Anstrengung eines Jah¬
res, welches Deutschland das größte seiner Geschichte zu nennen geneigt war, ist
umsonst gewesen.
Wir stehen wieder ans dem Standpunkt des Februar 1848. Ob wir von
den „Errungenschaften" der Revolution irgend eine behaupten werden, ist die Frage.
Der Kampf wird also von Neuem beginnen, und zwar ans dem Wege, auf wel¬
chem man hätte anfangen sollen, weil er der natürliche war: in den einzelnen
Staaten. Gewonnen haben wir eigentlich nur ein Feldgeschrei: die deutsche Reichs¬
verfassung. Von ihrem Inhalt ganz abgesehn, ist sie das Panier, unter welchem
die Freiheit sich sammeln wird, weil sie der einzige Ausdruck des gemeinsamen
Volkswillens ist.
Ihr Sieg wird den Fürsten nicht zu Gute kommen. In demselben Augen¬
blick , wo die Organe der preußischen Negierung ein Triumphgeschrei erheben, als
seien nun die Könige einig und es könne das Volk mit dem Geschenk seiner Heere
beglückt werden, spricht der Minister des Königs von Baiern in der Kammer es
"us, daß gerade die Punkte, auf welche Preußen den meisten Werth legt, nicht
eingegangen werden können; erklärt der Minister des Königs von Würtemberg, daß
er keinen Theil nehme an jenen Conferenzen, erklärt das Organ der Hannoverschen
Regierung, sich den Frankfurter Plänen nähern zu wollen, erklärt der östreichische
Gesandte, er unterzeichne die Protocolle nur, um zu constatiren, daß er dabei ge¬
wesen sei, wählt der Reichsverweser ein „Großdeutsches" Ministerium, getragen
von einer Partei, die der Politik des 23. Januar entschieden feindlich ist.
Also bleibt nur Sachsen übrig, dessen inbrünstige Liebe zu Preußen freilich
den Ausschlag geben wird. Und um dieses Resultat zu gewinnen, hat die preu¬
ßische Regierung dem Volk den Fehdehandschuh hingeworfen! Die Nation wird es
nicht vergessen.
Freilich wird man sich zuletzt einige»! Das versteht sich von selbst. Mau
wird -— schon um den süddeutschen Republikanern gemeinsam Widerstand zu leisten
— die militärische Gemeinsamkeit des alten Bundes erneuen. Aber man wird das
politische Band so lose als möglich machen — vielleicht mit Aufopferung einiger
der kleinen Fürsten, die sich zuerst Preußen in die Arme werfen — man wird
mich keinen Grund weiter haben, Oestreich auszuschließen, da von einer Centra¬
lisation nicht mehr die Rede ist.
Sobald die Bewegung in Süddeutschland unterdrückt, der dänische Krieg
durch einen Frieden oder auch uur durch eiuen Wrssenstillstand beendigt sein wird,
geht das alte diplomatische Jntriguenspiel von Neuem an— wenn nicht vorher von
Westen her ein zweiter Sturm losbricht, der diesmal mit den Rittern der Ver¬
gangenheit nicht wieder so glimpflich umspringen wird.
Die Wahlen sind für die gegenwärtigen Machthaber in Frankreich eine ernste
Lehre. Die rothe Republik ist im Wachsen, mit Riesenschritten geht sie vorwärts.
Wie wäre es, wenn die Regierung diesem Strom ein Ventil öffnete? Nach dem
Nhnne hin! Wird Nußland die deutschen Regierungen, die in einem großen
Theil des Volks eher Feindseligkeit als Unterstützung zu erwarten haben, allein
halten können, wenn gleichzeitig Polen sich erhebt, wenn in Ungarn der Krieg
fortdauert?
Es ist möglich, denn der Ausgang eines europäischen Krieges kaun nicht
berechnet werden. Aber was haben unsere Fürsten dann gewonnen? Sie sind
dann zu dem Kaiser von Rußland in das Verhältniß getreten, welches die radi>
talem Blätter als schon vorhanden annahmen; vielleicht theilt er sich mit den
Franzosen in die Beute, wie es ja schon unter Alexander im Werke war —
daß heute ein Rheinbund eine Unmöglichkeit ist, wird auch der Optimist nicht
behaupten — und Preußen, das durch einen kühnen Aufschwung die dritte Stelle
in der Reihe der Großstaaten hätte einnehmen können, tritt in das ruhmlose
Dunkel einer vom Ausland abhängigen, in sich selbst kraftlosen Kleinstaaterei zurück.
Nachdem Preußen definitiv mit der Nationalversammlung gebrochen hatte,
war der nächste, unvermeidliche Schritt die Lossagung von der Centralgewalt.
Das eigenmächtige Verfahren in den sächsischen Wirren deutete schou darauf hin;
bei Gelegenheit der dänischen Frage spricht das Organ des Ministeriums es offen
aus. Die Reichsgewalt soll uicht mehr competent sein, mit Dänemark über den
Frieden oder auch nur über den Waffenstillstand zu unterhandeln; sie sei über¬
haupt nur denkbar im Verein mit der Nationalversammlung; nur durch die dieser
Versammlung verantwortlichen Minister könne sie regieren, mit der Auflösung der¬
selben hörten daher anch ihre eigenen Funktionen auf.
Eine Deduction, deren rechtliche Basis sehr schwach ist. Die provisorische
Centralgewalt sollte so lange bestehen, bis die Reichsverfassung eingeführt wäre. Das
ist uicht geschehen, und was die Verantwortlichkeit der Neichsministcr betrifft, so
Kehl dieselbe natürlich auf den neu zu berufenden Reichstag über. Sonst müßte
ja bei jeder Parlamentsauflösung die Regierung ihre Thätigkeit einstellen.
Am schwierigsten aber wird es zu begründen sein, wie Preußen dazu kommen
die Unterhandlungen mit Dänemark und gar den definitiven Abschluß dersel¬
ben in seiue Hand zu nehmen. Es führt den Krieg doch nicht auf eigne Hand
Und nicht allein, sondern es führt ihn im Auftrage des Reichs und mit allen
Mietern desselben gemeinsam. Wenn Preußen die Ehre hatte, den ruhmvollen
Waffenstillstand vou Malmoe abzuschließen, so geschah das im speziellen Auftrage
des Reichs. Gegenwärtig hat es aber keine Vollmacht, und wenn es dennoch einen
Separatfrieden abschließt, so sagt es sich damit nicht blos von der provisorischen
^entralgewalt los, sondern vom deutschen Bunde, dessen Functionen auf vollkom¬
men legalem Wege an den Reichsverweser übertragen worden sind.
Freilich hat Preußen die Neigung, und hat sie auch ausgesprochen, selber
^e Centralgewalt zu bilden. Es stützt diese Neigung ans die Berufung des Kö¬
nigs von Preußen zur deutschen Kaiserwürde ans Grund der von dem Parlament
^
festgestellten Reichsverfassung. Allein diese Berufung ist null und nichtig, seitdem
Preußen die Verfassung verworfen, nud auch bei den andern Königreichen diese
Verwerfung veranlaßt hat. Wenn es daher jetzt den Erzherzog Reichsverweser
auffordert, die Reichsgewalt in seine Hände zu legen, so ist dieser in seinem
vollen Recht, darauf nicht einzugehen, ja er darf es nicht thun; denn als ihm
seine Würde durch die Nationalversammlung und in Folge dessen durch den Bun¬
destag übertragen wurde, war nicht im Entferntesten die Rede davon, daß er
seineu Nachfolger selbstständig ernennen dürfe.
Freilich hat das preußische Cabinet eine Conferenz der deutschen Fürsten
nach Berlin ausgeschrieben, um die neue Reichsverfassung dem deutschen Volk zu
octroyiren, allein es haben nur vier Staaten ihre Bevollmächtigten abgesandt,
und von diesen haben zwei entschieden die preußischen Anträge von sich gewiesen,
so daß das Ministerium sich durch sein Organ auffordern ließ, auf eigne Hand
für das Wohl des Vaterlandes zu sorgen. Ein kühner Entschluß, namentlich
wenn man die vollkommene Rathlosigkeit der Männer in Erwägung zieht, von
denen er ausgeht.
Wenn also das Ministerium mit dem dänischen Abgeordneten, Herrn v. Reedtz,
der sich jetzt in Berlin aufhält, eigenmächtig einen Vertrag abschlösse, so wäre
die natürliche Folge davon, daß zuerst die Centralgewalt ihn für ungiltig er¬
klärte, daß sämmtliche deutsche Staaten — allenfalls mit Ausnahme von Sachsen —
sich dieser Nnllitäts-Erklärung anschlössen, daß die Herzogthümer, denen er gilt,
sich ihm nicht fügten, und daß endlich die preußischen Stände, die denn doch
wohl, trotz der frommen Wünsche der guten Regierung, noch vor Ablauf eines
Jahres einberufen werden müssen —- denn wo will sie sonst Geld hernehmen?--
daß die Vertreter des preußischen Volks selbst sich dem Votum ihrer deutschen
Brüder anschlössen.
Aber vielleicht hätte Preußen, indem es mit seinem Volke brach, eben da¬
durch die Gunst seines hohen Alliirten, des Kaisers von Rußland gewonnen?
Wer kaun es wissen? Das Ministerium gewiß nicht! Heute läßt es in der
Deutschen Reform erklären, daß eine russische Note vorhanden sei, in welcher der
Einmarsch in Jütland für einen Olsus dvlli angesehen werde, morgen wider¬
ruft es diese Erklärung, und versichert, Se. Majestät dächten liberal genug, das
preußische Cabinet seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Damals ward in die
Lärmposaune gestoßen, Deutschland solle jedes Attentat auf die Freiheit seines
Willens mit Indignation von sich weisen, jetzt ist man schon kleinlaut: natürlich
werde man seinen freien Willen ausüben, aber es müsse doch den Umständen
Rechnung getragen werden u. s. w. Von welcher Beschaffenheit also dieser Frie¬
den sein wird, kann danach das deutsche Volk schon ermessen.
Und doch ist es noch die Frage, ob der mächtige Nachbar damit zufriedenge¬
stellt sein wird, ob es überhaupt in seiner Absicht liegt, mit Preußen zufrieden
zu sein. Die preußischen Legitimisten lieben es, ihren Staat als eine Vormauer
des heiligen Rußland gegen die Jacobiner zu betrachten. Aber das Reich eben
dieser Jacobiner hat den Kaiser in diesem Augenblick durch einen Botschafter an¬
erkannt. Wer weiß, ob nicht das republikanische Frankreich vor den allerhöchsten
Augen mehr Gnade gefunden hat, als das absvlntistische Preußen, obgleich es sich
wiedergefunden hat? Den» nicht so leicht ist die zweideutige Gesinnung zu ver¬
gessen, mit der Preußen die Rebellion der Herzogthümer gegen ihre» gesalbten
Monarchen unterstützt hat, mit der es noch immer, trotz seiner Opposition gegen
Frankfurt, die Rechtsverhältnisse der Wiener Bundesacte zu alteriren sucht. Rußland
würdegegen dieMachtcrweiteruugPreußens auch in dem Falle protestiren, daß Preußen
die unumschränkteMouarchie wieder einführte, denn es liegt ihm nicht am Despotismus
als solchem etwas, sondern an dem Despotismus, der ihm ergeben ist. Ein mächtiges
Preußen, welches eine selbstständige Politik zu verfolgen vermag, ist der Todesstoß für
Rußlands Einfluß im Westen, so nützlich ihm die bisherige Scheinexistenz Preußens war.
Sollte es daher möglich sein, daß Preußen, vielleicht mit Hannover, Sach¬
sen — Meklenburg und die beiden Hessen würden sich dann wohl entschließen — den
projectirten Bundesstaatsvereiu zu Stande brächte», so würde dieser, trotz seiner
legitimistischen Neigungen, die Fürsten der heiligen Allianz zu seinen entschieden¬
sten Gegnern haben. Er würde, nach Außen hiu, denselben Gefahren entgegcn-
sehn, die den Gagernschen Bundesstaat bedrohten, es würde ihm aber Ein mächti¬
ger Bundesgenosse fehlen — die Sympathie des deutschen Volkes, selbst wenn
seine gesetzlichen Grundlagen so leidlich ausfallen sollten, als sich von einem Mini¬
sterium Manteuffel uur immer erwarten läßt. Denn sollte auch der materielle
Unterschied der preußischen Reichsverfassung vou der Frankfurter noch so gering
sein, das verletzte Rechtsgefühl des Volkes wird immer eine Partei ansteche hal¬
te«, welche für das, nun historisch gewordene Recht seiner Vertreter einsteht.
Die Wahlen werdeu immer so ausfallen, daß die Regierung sich zu bestän¬
diger Opposition gegen deu Volkswilleu, zu beständigen Versuchen, die Verfassung
zu umgehen oder geradezu zu verletzen, veranlaßt sieht und so wird in dem elen¬
den Staatsmechanismus, den man ganz mit Recht einen Schciuconstitutionalismus
nennt, und der darin besteht, daß die beiden Factoren des Staatslebens, Ver¬
waltung und Repräsentation, nicht im Einklang mit einander gehen, sondern ein¬
ander zu übervortheilen suchen, das Fieber der Revolution permanent erklärt.
Die Regierung möge sich nicht darüber täusche», daß die Opposition, welche
ihren neuen Gewaltschritt im eigenen Lande gefunden hat, verhältnißmäßig nicht
so laut ist, als diejenige, welche sich im November gegen die Auflösung der Consti-
tuante erhob. Damals war ein Staatsstreich noch etwas Neues, und man über¬
schätzte die Macht der öffentlichen Meinung ebenso, als mau die Macht der phy¬
sischen Gewalt zu genug anschlug. Seitdem hat sich einerseits der Militärstaat
bedeutend gekräftigt, und man hat ihn nicht fürchten gelernt, andererseits haben
sich die Ementiers von Profession zu sehr in den Vordergrund gedrängt, als daß,
nicht die bessere Klasse der Bürger zu dem sehr natürlichen Wunsch getrieben sein
sollte, sich vor Allem ihrer gefährlichen Bundesgenossen zu entledigen. Aber ein
Staat, der sich nicht auf Sittlichkeit stützt, hat keinen Halt. Hat denn die Re¬
gierung schon ganz den 18. März vergessen! Damals war die Militärmacht eben¬
so fest als hente und doch warf ein Hauch sie um. Die damalige Regierung
wird man wahrhaftig nicht „schwächlicher" Nachgiebigkeit zeihen. Aber sie wurde
von der Bürgerschaft verlassen und siel, wie es wieder geschehen wird, wenn ein
starker Stoß von Außen kommt, und wenn die Scheu vou den rothen
Republikanern nicht mehr so groß sein wird, den Haß gegen den
Militärdespotismus zu paralysiren.
Diese Scheu allem ist es, welche die schnelle Beendigung der Bewegung
in der Rheinprovinz, in Westphalen, in Breslau und den andern Orten erklärlich
macht. Wenn ausgesprochene Communisten auf den Barrikaden stehen, wird ihnen
natürlich der Bürger seine Thür verschließen. Eine provisorische Negierung, an
deren Spitze Tschiruer sich stellt, wird der Bürger uicht anerkennen. Aber die Regie¬
rung möge den Barometer der öffentlichen Meinung, wie er sich in der Presse
ausspricht, nicht zu gering anschlagen. Wir sind weit davon entfernt, ihn zu
überschätzen: er repräsentirt immer nur die Eine Seite der Volksstimmung, wenig-
steus so lange die Reaction der „Ruhigen" nicht stark genug geworden ist, um
selber in der Form der Leidenschaft aufzutreten. Aber mau vergleiche die Rich¬
tung der gemäßigten Journale vor dem März 48 mit der vor dem November 48
und mit der jetzigen. In der ersten wie in der letzten ging der Strom gegen
den souveränen Unverstand der Regierung, wie im November gegen den souverä¬
nen Unverstand der Volksvertreter. Diese Presse repräsentirt den passiven, aber ge¬
waltigen Einfluß, welchen die Stimmung der Bürgerschaft auf die Entwickelung
ausübt — sie bringt ihn nicht hervor, aber sie macht ihn anschaulich. Die Re¬
gierung möge sich in diesen Schichten genauer umsehe», ehe sie den letzten, ent¬
scheidenden Bruch mit dem Rechtsleben wagt.
Dieser letzte Schritt wäre die Unterlassung der Wahlen zu den Kammern in
dem verfassungsmäßig anberaumten Termin — 40 Tage nach Auflösung der Kam¬
mern. Sollte die Regierung den Muth haben, den Schritt zu wagen, den sie
sich durch ihr Organ anrathen läßt — die Suspension der Verfassung ans ein
Jahr, so kann sie vielleicht deu Widerstand vorläufig durch eine Ausdehnung des
Bclageruugszustaudes über das ganze Laud unterdrücken, aber sie kann eben, s»
versichert sein, daß die nächsten Kammern, die sie doch einmal einberufen muß,
einen Convent bilden werden. —
Wenden wir jetzt unsern Blick von Preußen auf Deutschland. Den Plänen
der preußischen Negierung stehn drei sehr verschiedne Parteien gegenüber: die na¬
tionale, die großdeutsche-ultramontane und die demokratische.
Die nationale Partei hat ihren bisherigen Mittelpunkt, die Nationalversamm¬
lung, ausgegeben. Sie mußte es thun, aus zwei Gründen. Einmal wurde.ihr
durch die Weigerung des Reichsverwesers, auf das Programm des Ministeriums
Gagern einzugehen, jedes Mittel entzogen, aus gesetzliche Weise für die Durch¬
führung ihrer Absichten zu wirken, denn die Centralgewalt war ihr einziges ge¬
setzliches Organ, wenn sie sich nicht in einen Convent verwandeln wollte. Dahin
aber — und das war der zweite Grund drängte sie die Linke, welche immer
mehr in der Versammlung dominirte. Entweder mußte also die nationale Partei eine
Scheinexistenz fortführen, deren Verlängerung ihr jede Würde und jeden Einfluß
nahm, oder sie mußte den Demokraten in die Hände arbeiten. Beides durfte sie
nicht; es blieb ihr also nichts übrig, als aufzutreten.
Die Partei hat, nachdem ihre wesentlichen Organe, die Kammern, überall
aufgelöst sind, ihren gesetzlichen Halt zunächst in denjenigen Staaten, welche die
Reichsverfassung anerkannt haben, Würtemberg an der Spitze. Diese Regierungen
befinden sich in einer höchst mißlichen Lage. Die von ihnen anerkannte Central¬
gewalt hat jetzt offenbar eine Richtung genommen, welche der endlichen Durch¬
führung der Verfassung widerstrebt. Das Würtenberger Ministerium hat daher
der Kammer erklären müssen, daß es die Verordnungen derselben auch in Bezie¬
hung auf ihren materiellen Inhalt einer Prüfung unterwerfen, und diejenigen,
welche dem Sinn der Verfassung widerstehe», nicht vollziehen wird. Auf der an¬
dern Seite ist die Nationalversammlung, welche formell noch immer als die ge¬
setzmäßige Volksvertretung anerkannt wird, nicht mehr von der Art, die Nation
wahrhaft zu repräsentiren. Endlich sind Baden und die Pfalz, welche sich ihrer
Angabe nach für die Reichsverfassung erhoben haben, ganz in den Händen des
demokratischen Gesindels, und ein Bündniß mit denselben für jede Regierung un¬
statthaft, welche nicht geneigt ist, alle Ordnung über den Hansen zu werfen.
Ans diese Weise wäre es möglich — wie auch Römer, dieser deutsche Maun
in des Wortes edelster Bedeutung angedeutet hat — daß die Regierungen,
welche die Reichsverfassung anerkannt haben, sich dennoch dem preußischen Ent¬
wurf anschließen, weil sie weder einen demokratischen Rheinbund unter französischem
Protectorat,noch die Wiedereinführung des Bundestags unter Oestreich haben wollen.
Aber auch diese Wendung würde den Plänen des preußischen Cabinets uicht
M Gute kommen. Durch die unmittelbare Annahme der Reichsverfassung konnten
die Wahlen für das Neichsparlamcnt in die conservative Richtung gelenkt wilden,
^otz ihrer demokratischen Form; wie die Sache jetzt liegt, wird die ungeheuere
Mehrzahl, a n es w nur die Centuriatver fa Sön n g d e s S ervi u s T ni l i u s
beliebt werden sollte, gegen das Gouvernement ausfallen, und das erste
Bestreben wird dahin gehen, die Verfassung in dem Sinn zu reformiren, daß
^e wesentlichen Bestimmungen der von der Paulskirche entworfenen daritt aufge¬
nommen werden.
Die sogenannte Partei der „Großdeutschen" hat eigentlich nur eine negative
Basis: Abneigung gegen die preußische Hegemonie und gegen die Republik. Ihr
Stichwort: die volle Einheit Deutschlands, ist nichts weiter als eine Kritik der
bestimmten, und daher beschränkten Formen, in der man diesen zerflossenen Be¬
griff zu realisiren sucht. Es mischen sich in ihr daher die verschiedenartigsten Ele¬
mente. Diejenigen Männer, welche ans ehrlicher Ueberzeugung im Anfang mit
ihr gemeinsam gegen das Gagern'sche Programm Front machten — wie Welcker,
Wydenbrugk u. A. - haben sich von ihr losgesagt, seitdem Oestreich sich als
selbstständiger Centralstaat constituirt und dadurch die Unmöglichkeit, das ganze
Deutschland zu einem Centralstaat zu vereinigen, erwiesen hatte. Sie setzt sich
zusammen aus den Antipathien Süddeutschlands gegen Norddeutschland, aus dem
Particularismus der Höhe und ihrer Junker, ans der Furcht der Ultramontanen,
unter der Hegemonie eines protestantischen Fürsten ihren Einfluß zu verlieren, aus
dem Hochmuth der doctrinäreu Legitimisten gegen alles, was das Gepräge eines
volkstümlichen Ursprungs an der Stirn trägt, aus dem specifischen Nationalge¬
fühl Altbaierns und aus Intriguen. Die Partei an sich würde ohnmächtig sein,
wenn sie nicht einen mächtigen Schlitz im Ausland fände, und durch die Zweideutigkeit
der Preußische» Regierung getragen würde. Die Fäden der Partei laufen im östrei¬
chischen Cabinet zusammen, das den angestammten Metternich'schen Einfluß über
Deutschland nicht aufgeben will — hat ja noch kürzlich der alte Kriegsheld Ra-
detzky eine Proklamation in diesem Sinn erlassen. Aber auch da ist noch nicht
der letzte Knoten. Die mächtige Hand, welche jetzt die östreichische Politik leitet,
gehört dem Kaiser von Rußland; der Erste unter den Kriegsfürsten, der Oest¬
reichs Negierung gegen die eignen Bürger beschützt, um Oestreich als Vorkämpfer
gegen Deutschland zu benutzen.
Diesen eigentlichen Feinden des preußischen Staats hat die preußische Re¬
gierung, als ihr die Macht in die Hände gegeben war, sich mit demüthigen Fle¬
hen in die Arme geworfen; sie ist zum zweiten Mal mit Hohn zurückgewiesen. Sie
murrt, aber - - möchte meine Prophezeiung falsch sein! — sie wird sich unterwerfen.
In Deutschland selbst hat Oestreich seine Stütze an der Centralgewalt, die
jetzt, von allen natürlichen Verbindungen abgeschnitten, von ihren Voraussetzungen
abgelöst, nur noch dazu dient, die Verwirrung Deutschlands auf die Spitze z»
treiben. Dem alten, würdigen Mann, den die übersprudelnde deutsche Gemüth¬
lichkeit als den ersten Bürger Deutschlands zu preisen sich erfreute, hat das Schick¬
sal kein glückliches Ende seiner sonst so ruhmvollen Laufbahn beschicken. Wir
wollen ihn darum nicht anklagen; das Gefühl war es, was ihn in seine Stellung
führte, und in ihm selbst kämpfte Gefühl gegen Gefühl. Der Erzherzog von
Oestreich und der deutsche Bürger — in gemüthlichen Trinksprüchen läßt es sich
vereinigen, aber nicht im ernsten Augenblick der Entscheidung. Er mußte endlich
brechen mit der Macht, die ihn selber gerufen hatte, und es gereicht ihm zur Ehre
daß er es mit Widerstreben that. Aber trauern dürfen wir, daß das Geschick
seiner Würde nicht wenigstens den Fluch des Lächerlichen erspart hat. Das Mi¬
nisterium Grävell — als Nachfolger eines Gagern — schließt die Erhebung des
Volks mit einem schlechten Theaterwitz. Schmerling war der böse Genius der
Nationalversammlung, Grävell aber war in der für einen Staatsmann unendlich
ungeschickteren Lage, ihr unfreiwilliger Spaßmacher zu sein: die penible Gewissen¬
haftigkeit in einer Zeit raschen Entschlusses, die extreme Pedanterie in einer Ver¬
sammlung voll wahrer und gemachter Genialität. Grävell ist ein ehrlicher Mann,
aber eine ungemessne Eitelkeit hat ihn über seinen Beruf geblendet: in eine Stel¬
lung gedrängt, wo auch der Entschlvsseue keinen Ausweg findet, wird er den schlimm¬
sten Schluß hervorrufen, den eine große Sache haben kann, die Farce. Neben
ihm Herr Detmold, der feine satyrische Advocat, der, wie ein ministerielles Blatt
ganz in vollem, naivem Ernste meinte, für die Auflösung der Versammlung schon
darum sein muß, weil auf dem Bureau sein Talent sich viel glücklicher entwickeln
darf, als ans der Rednerbühne, wo die zwerghafte Gestalt mit dem Höcker seinen
Erfolgen immer in den Weg treten muß; endlich, pour comble cle pluisu-, als
Minister des Aeußern ein Pascha mit drei Noßschweifen, ein Abenteuerer ohne
Zweck und Gehalt, ein Diener aller möglichen Monarchen, der jetzt die Geschicke
Deutschlands in seine Hand nehmen soll! Einem derartigen Reichsregiment gegen¬
über hat freilich Preuße» uicht Noth, irgend Respect zu beweisen, auch wenn eine
noch schlechtere Verwaltung an seiner Spitze stände, als diejenige, deren wir uns
jetzt erfreuen.
Was nun die Demokraten betrifft, so ist in Baden die letzte Hülle gefallen.
Die Reise des Herrn Rüge als Abgeordneten nach Paris, verbunden mit der
Abwerfung des Welker'schen Amendements in der Paulskirche und den freund¬
schaftlichen Verhältnissen zu den französischen Grenzern zeigen es deutlich, daß wir
es nicht blos mit Anarchisten zu thun haben,'mit Schwindlern, die um bequemer
aufräumen zu können, Alles über den Haufen werfen, sondern mit offenbaren
Verräthern, welche die Zeiten von 1806 erneuen wollen. Wer freilich zu seiner
Hilfe die Russen ius Vaterland ruft, hat kaum ein Recht, sich darüber zu be¬
So eben bringt der Staatsanzeiger die lange verheißene octroyirte Reichs-
verfassung. Ich behalte mir eine ausführliche Kritik derselben, im Vergleich zu
der in Frankfurt entworfenen, für das nächste Heft vor. Für jetzt uur Fol¬
gendes.
Drei deutsche Mächte, Preußen, Sachsen und Hannover erklären, daß sie
innerhalb des deutschen Bundes ein engeres Bündniß geschlossen, und zugleich,
um den übrigen Bundesstaaten den Zutritt zu erleichtern, sich über den Entwurf
einer allgemeinen Verfassung vereinbart haben, unter welcher der engere Bundes¬
staat, mit Ausschluß Oestreichs, gebildet werden könne. Diese Erklärung
hat aber nicht einmal für die drei Staate», welche sie unterzeich¬
net haben, bindende Kraft. Der König von Sachsen hat in der Prokla¬
mation an sein'Volk ausdrücklich erklärt, sie sei nur unter dem Vorbehalt
der Genehmigung der verfassungsmäßigen Kammern vollzogen.
Daß aber die nach dem zu Recht bestehenden Wahlgesetz einberufenen sächsischen
Kammern diese Verfassung nicht genehmigen werden, liegt wohl ziemlich außer
allem Zweifel. Eben so wenig werden es die hannöverschen Kammern thun, und
so bliebe doch Preußen wieder allein übrig. Baiern wird durch Oestreich, Wür-
temberg und Baden durch seine Demokraten von dem Beitritt zurückgehalten
werden.
Wäre die Verfassung, wie sie jetzt vorliegt, aus einem Beschluß der Natio¬
nalversammlung hervorgegangen, und nicht ein Gnadengeschenk des Ministers Man-
teuffel, das gewohnt ist, ähnliche Geschenke unter Umständen wieder zurückzuneh¬
men , so ließe sich gegen den Inhalt derselben wenig Erhebliches einwenden. Sie
ist in manchen Beziehungen besser, in manchen schlechter als die Frankfurter. Bes¬
ser , deun sie hält den Charakter des Bundesstaates strenger fest, sie geht bestimm¬
ter von den fertigen Staaten ans; schlechter, denn ihr Verhältniß zu Grvßdentsch-
land ist unklar, oder, um es bestimmter ausznspreche», lügenhaft. Ob diejenigen
Bestimmungen, welche zur Beschränkung der Demokratie eingeführt sind, an und
für sich besser oder schlechter sein mögen, kann dahingestellt bleiben: für den Augen¬
blick sind sie jedenfalls schlechter, deun sie sind unpopulär, und rufen eine prin¬
cipielle Opposition des Volks hervor.
Wenn die Völker Deutschlands eben so vernünftig wären, als ihre Regie¬
rungen es nicht gewesen sind, so würden sie die Anträge Preußens an-
nehmen. Auf das abstrakte Rechtsprincip kommt es nicht an in einem Augen¬
blick, wo die größte Gefahr für ein völliges Auseinanderfallen Deutschlands vor¬
handen ist, und wenn das Volk verdienen will, politisch reif zu sein, so bietet
auch diese Verfassung ihm hinlängliche Gelegenheit, sich die volle Freiheit zu er¬
kämpfen. Der Versuch, um Stuttgart herum einen deutschen Bundesstaat zu kry-
stallisiren, muß zum Schlimmsten führen, zum Abfall eines Theils von Deutsch¬
land an Frankreich. Zudem ist die Verfassung die angemessenste Form, mit denen,
welche bisher der Einheit Deutschlands aus blindem Eigendünkel oder Befangenheit
in verrotteten Vorurtheilen widerstrebt haben, zu Gericht zu gehn.
Seit dem in neuerer Zeit die nationalen Fragen eine so große Bedeutung
in der Politik gewonnen, und man bemerkt hat, daß so viele Tageserscheinungen
der Einwirkung nationaler Sympathien und Antipathien ihr Dasein verdanken,
ist es uuter den Publicisten Mode geworden, für alle Phänomene der Tages¬
politik nach ethnographischen Erklärungen zu suchen und Alles, was da geschieht,
aus der wechselseitigen Anziehung und Abstoßung der verschiedenen Nationalitäten
herzuleiten. Und in vielen Fällen, wo man solche anziehende und abstoßende
Nationen nicht schon bei der Hand hatte, sah man sich der neuen politischen Gra¬
vitationstheorie zu Liebe genöthigt, erst eigens welche zu entdecken oder zu erfin¬
den, um nur die Ereignisse systemgcrecht erklären zu können.
> Einem solchen Zufalle verdankt Galizien die Entdeckung der großen Nation
der Rnthenen.
Noch im Jahre 1846, als der polnische Adel in diesem Lande wider die
östreichische Herrschaft ausstand, und das Landvolk an diesem Aufstande nicht nur
keinen Theil nahm, sondern sogar seine östreichischen Sympathien auf eine Weise
an den Tag legte, die nur zu sehr an die französische Jacqncrie oder an den
deutschen Bauernkrieg erinnerte, hatte Herr Professor Wuttke in Leipzig zuerst
den glücklichen Gedanken, die Ursache dieser Erscheinung in einem nationalen
Conflicte zu suchen, dessen Ursprung und Wesen er damals in der A. A. Z. aus.
führlich auseinander setzte.
Nach ihm gab es in Galizien zwei von einander durchaus verschiedene Na¬
tionen, nämlich erstens die Polen, ein slavisches Volk von schlankem Wuchse,
blauen Augen, blondem Haar u. s. w., ungefähr wie die Deutschen des Tacitus,
und zweitens die Sarmaten, ein Volk von kleiner Statur, dunkeln Haaren und
Augen, die nicht einmal Slaven sind, sondern in gerader Linie vom babylonischen
Könige Nebucadnezar abstammen und vor alten Zeiten von Asien her nach Polen
eingedrungen waren, sich das Land unterworfen und die Eingeborenen, die eigent¬
lichen Polen, zu ihren Sklaven gemacht hatten, die sie bis zum heutigen Tage
jämmerlich bedrücken. Diese bösen Sarmaten waren es nnn gewesen, die sich
gegen Oestreich empört hatten und dafür von den loyalen Polen mit ihren Sensen
und Dreschflegeln bedient wurden, womit ihnen natürlich ganz recht geschah.
Als später unser jetziger Minister des Innern, der sich bekanntlich ebenfalls
viel mit politischer Ethnographie befaßt, die Verwaltung Galiziens übernahm und
in neuester Zeit wieder politische Bewegungen in diesem Lande zu beobachten Gc-
legenden hatte, überzeugte er sich vollkommen von der Nichtigkeit der Wuttke'schen
Entdeckung im Allgemeinen, daß nämlich Galizien von zwei verschiedenen Ratio-
nen bewohnt sei! Doch fand er, daß das Volk, welches sich mit den Polen in
den Besitz des Landes theilt, nicht, wie jener annahm, die Sarmaten, sondern
die Nuthenen seien. Mau darf nicht glauben, daß es sich hier blos um eine
Verbesserung der Nomenclatur handle, und daß die heutigen Urtheilen identisch
seu'n mit den Sarmaten des Wuttke. Durch die Entdeckung der ruthenischen
Nationalität ist vielmehr das ganze Zwei-Nationen-System so ganz umgestaltet
worden, daß sogar der Charakter und die Gesinnungen der Polen selbst sich da¬
durch wesentlich geändert haben. Es hat sich nämlich klar herausgestellt, daß die
Sarmaten, welche eigentlich gar uicht mehr existiren, an dem Aufruhr vom Jahre
1846 ganz unschuldig waren, sondern die damaligen Rebellen und die Radikalen
und Wühler vou heute sind eben die schlanken und blonden Polen, während die
Rolle der getreuen östreichischen Unterthanen jetzt den Nuthenen zukommt, die
zwar ihren Stammbaum nicht bis auf seine babylonische Majestät zurückführen
können, aber dafür eben so gute oder vielmehr noch bessere Slaven als die Polen
selbst sind.
Wir müssen jedoch gestehen, daß wir auch an diese neue ruthenische Natio¬
nalität noch keinen rechten Glauben haben. Nicht als ob wir die wirklichen leben¬
digen Nutheneu selbst bezweifelten und sie für bloße Geschöpfe der Einbildung
ansähen, wie die etwas gespenstischen Sarmaten, im Gegentheil, wir sind von der
handgreiflichen Realität unserer lieben ruthenischen Landsleute vollkommen über¬
zeugt, und haben gegen ihre Existenz nicht das Geringste einzuwenden; aber ihre
Nationalität, insofern man sie der polnischen als eine von dieser verschiedene ge¬
genüberstellen will, kommt uns, obwohl noch ganz neu, bereits etwas fadenscheinig
vor, und, nichts für ungut, nicht viel solider, als die weiland sarmatische.
Die Entdecker und Protectoren derselben haben indessen sehr viel gethan, um
sie zu befestige», nud besonders gegen Augriffe von polnischer Seite her in ge¬
hörigen Vertheidigungszustand zu setzen. Sie haben die griechisch-unirte, oder,
wie sie sie nennen, die ruthenische Kirche als tiefen Graben um dieselbe gezogen,
dahinter die sogenannte ruthenische Sprache als hohen Wall aufgeführt nud auf
diesem die Buchstabe» des Cyrillischen ABC als spanische Reiter aufgesteckt. Wer,
meinen sie, sollte es nun wagen, eine Nationalität zu bezweifeln, die sich durch
eine eigene Religion, eine eigene Sprache und sogar eine eigene Schrift kund
gibt? Gesteht man doch bereitwillig den Franzosen eine besondere Nationalität zu,
ungeachtet sie in diesen Beziehungen weit schlechter dotirt sind als die Nuthenen,
und wohl eine eigene Sprache für sich, aber dagegen die römisch-katholische.
Kirche und das lateinische ABC mit Spaniern, Italienern, Crethi und Plethi
gemein haben.
Oder, um ernsthaft zu reden, es wird ungefähr so argumentire: Die Rü-
theilen, welche das östliche Galizien bewohnen und sich weit hinein nach Rußland
ausdehnen, siud zwar ein, wie die Polen, dem großen slavischen Stamme ange-
höriges Volk, von diesen selbst aber eben so verschieden, als etwa die Czechen.
In frühern Zeiten waren sie sogar staatlich mit ihnen nicht verbunden, sondern
wurden von ihren eigenen ruthenischen Fürsten regiert. Auch sprachen und schrie¬
ben sie ihre eigene rnthenische Sprache und bedienten sich sogar dabei nicht wie
die Polen des lateinischen, sondern eines eigenen, des sogenannten Cyrill'schen
ABC. Als sie jedoch später unter polnische Herrschaft kamen, suchte man sie
auf alle mögliche Weise zu polouisiren. Die griechische Kirche wurde von dem
mächtigen römisch-katholischen Clerus gedrückt und verfolgt, die rnthenische Sprache
von der polnischen ans dem öffentlichen Gebrauche verdrängt und dadurch so ver¬
nachlässigt, daß sie zum literarischen Gebrauche fast ganz untauglich wurde, und
selbst geborene Nutheucn, wenn sie als Schriftsteller auftraten, in polnischer Sprache
schrieben. Der rnthenische Adel, um seine Macht und seinen Einfluß auch unter
dem polnischen Regime zu bewahren, opferte größtentheils seine Nationalität, trat
von seiner griechischen zur herrschenden römischen Kirche über, vertauschte seine
Sprache mit der polnischen und polonisirte sich nach und nach ganz. Das Land¬
volk jedoch und ein kleiner Theil des Adels hielten fest an ihrer Religion und
Sprache, und fühlen sich bis zum heutigen Tage als ein von den Polen verschie¬
denes Volk, so daß man auch im gemeinen Leben Ausdrücke, wie: „der da ist
ein Pole, jener ein Nuthene" und ähnliche auf die Verschiedenheit der Nationa¬
lität hinweisende zu hören bekommt. Deshalb haben anch die nationalen Bestre¬
bungen der Polen und die Versuche derselben, ihr polnisches Reich wieder herzu¬
stellen, bei den Ruthenen durchaus keine Sympathien gefunden, und deshalb wahren
sie sich auch so energisch gegen jeden Versuch derselben, ihnen in Schule und
Tribunal die polnische Sprache aufzudrängen, und wollen lieber, bis ihr eigenes,
jetzt noch zu wenig ausgebildetes Idiom zu diesem Gebrauche tauglich sein wird,
sich der deutschen Sprache bedienen, weil sie überzeugt sind, daß sie von dieser
Seite her weniger für ihre Nationalität zu befürchten haben, als von den Ueber-
griffen der Polen.
Ohne die Nichtigkeit dieser Angaben in Frage stellen und z. B. unter¬
suchen zu wollen, ob die Bedrückung der griechischen Kirche, die hier mit Polo-
nisirnngsbestrebungen in Verbindung gebracht wird, nicht vielmehr blos in reli¬
giöser Intoleranz, ihren Grund hatte, wie sie anch anderswo außerhalb Polens
und wohl in noch höherem Grade zu siudeu war, und in diesem Lande selbst
nicht nur gegen griechische Christe», souderu auch gegen Protestanten, die keine
Ruthenen waren, sich geltend machte, wollen wir uns vorerst gegen die Beweis¬
kraft geschichtlicher Deductionen in einer Sache verwahren, wo es hauptsächlich
auf gegenwärtige Zustände ankommt. Die Frage über die Nationalität der Ru¬
thenen ist offenbar mehr eine statistische als eine historische.
Denn es handelt sich hier nicht darum, ob dieser Stamm zu irgend einer
Zeit ein von den Polen verschiedenes Volk ausmachte, oder ob er, wenn gewisse
historische Ereignisse eingetreten oder nicht eingetreten wären, eine gesonderte na¬
tionale Existenz errungen oder bewahrt hätte, weil man sonst auch in England
noch heutzutage eine britische, sächsische und normännische Nationalität, in Frankreich
eine gallische und fränkische unterscheiden müßte; eben so wenig kommt es hier
auf die Rechtmäßigkeit oder auf die Moralität der Mittel an, die etwa in frühern
Zeiten angewendet sein mochten, um die Verschmelzung der westlichen Polen und
Ruthenen zu einem Volke zu bewirken oder zu befördern, sondern es kommt hier,
da die gemeinschaftliche Abstammung beider unbestritten ist, nur darauf an,
den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen und sich klar zu machen, ob wir
hier jetzt zwei Völker desselben Stammes vor uns haben, die sich zu einander
etwa so verhalten, wie Deutsche und Schweden, oder vielmehr blos zwei verschie¬
dene Stämme eiues und desselben Volkes, z. B. wie Sachsen und Hessen, die
beide Deutsche sind. Suchen wir nun nach einem Criterium der Nationalität,
d. h. nach einem Merkmale, welches alle einzelnen Stämme, die wir für Ein
Volk halten, mit einander gemein haben, wodurch sie sich aber von allen andern,
selbst verwandten Völkern unterscheiden, so finden wir erstens, daß dieses Merkmal
uicht die Religion sein kann.
Bei den Völkern des Alterthums, z. B. deu Jude», Aegyptern u. a. mögen
allerdings Religion und Nationalität so innig verbunden gewesen sein, daß diese
eigentlich in jeuer aufging. Bei deu neuem aber, zumal europäischen Völkern ist
dies durchaus nicht mehr der Fall. So gehört z. B. fast der ganze romanische
Völkerstamm, Spanier, Franzosen, Italiener ze. der römisch katholischen Kirche
an, und doch wird deswegen Niemand diese verschiedenen Nationen für Ein Volk,
und umgekehrt die katholischen und protestantische» Deutschen für zwei verschiedene
Völker ansehen; und um so weniger kann dies in Polen der Fall sein, wo doch
zwischen römischen Katholiken und uuirten Griechen streng genommen nicht von
einer Verschiedenheit der Religion, soudern blos von einem verschiedenen Ritus
die Rede sein kann.
Die staatliche Einheit trägt zwar sehr viel bei, die einzelnen Stämme eines
Volkes zu vereinigen, und das nationale Bewußtsein bei ihnen zu erhöhen; daß
sie aber nicht das Criterium der Nationalität sei, sehen wir schon daraus, daß
wo sie einem Volke ganz oder zum Theile fehlt, es sich dennoch als ein Ganzes
fühlt, und, wenn es erst zu einer gewissen politischen Reife gelangt, darnach strebt,
seine innere Einheit auch äußerlich in seinem staatlichen Leben unter irgend einer
Form zur Erscheinung zu bringen, wie dies z. B. gegenwärtig in Deutschland und
Italien der Fall ist; während andererseits eine staatliche Einheit auch recht wohl
ohne eine nationale bestehen kann, wie z. B. in der Schweiz oder bei uns in
Oestreich.
Dagegen finden wir bei jedem Volke, das wir als solches anerkennen, eine
ihm eigenthümliche Sprache, durch die es sich von allen Völkern anch derselben
Familie unterscheidet, und die sich zwar bei den einzelnen Stämmen desselben zu
verschiedenen oft sehr weit von einander abweichenden Dialekten modifizirt, in¬
deß in allen so viel Gemeinsames und Aehnliches behält, daß sich eine gemein¬
schaftliche Schriftsprache bilden kann, welche, von allen, die nur einen Dialekt
sprechen, ohne besonderes Studium verstanden werden kann").
Wenden wir das Gesagte auf die Verhältnisse der Rnthenen an, so fin¬
den wir, daß im östlichen Galizien zwar ein anderer Dialekt gesprochen wird als
im westlichen, daß aber beide durchaus nicht mehr von einander abweichen, als es
bei den Dialekten anderer Sprachen der Fall ist. Der masurische Anwohner der
Weichsel und der Rnthene aus der Umgegend von Lemberg verstehen einander
eben so gut und vielleicht uoch besser als der Oberöstreicher und Ostfriese, wäh¬
rend keiner von beiden den ebenfalls slavischen Kroaten versteht. Der westliche
Dialekt steht allerdings der Schriftsprache näher als der östliche ruthenische, aber
eines solchen Vorzugs erfreuen sich auch in Italien der toscanische und in Deutsch¬
land der sächsische Dialekt, ohne daß die Lombarden deshalb aufhören Italiener
und die Oestreicher Deutsche zu sein.
Auch bedienen sich die Rnthenen, wie alle andern Polen der polnischen Schrift¬
sprache, d. l). nicht nur der Gebildete liest und schreibt polnisch, sondern jeder
Nuthene, der nur lesen kann, ist im Stande, ein polnisches Buch zu verstehen,
ohne erst die Sprache als eine fremde erlernt haben zu müssen.
Wenn in frühern Zeiten manche Schriften in ruthenischen Dialekte abgefaßt
wurden, so ändert dies an der Sache nichts. Die Prooem^aler haben in ihrem
Dialekte wohl eine bedeutendere Literatur auszuweisen als die Rnthenen, und sind
deshalb doch keine schlechter» Franzosen als die andern. Dagegen aber schreibt
heut zu Tage, oder vielmehr richtiger schrieb bis zum Jahre 1848, kein Mensch
rnthenisch, und obwohl es ein eigenes ruthenisches Alphabet geben soll, wird man
doch im ganzen Lande keinen Kaufmann finden, der es in seiner Handlungscvr-
respondenz oder in seinen Facturen gebrauchte, und kein Mädchen, das sich dessel¬
ben zu ihren Wäschzetteln oder Liebesbriefen bediente.
Wo jetzt ruthcnisch geschrieben wird, ist es eine bloße Demonstration gegen
das Polenthnm, und manche sehr eifrige Rnthenen schreibe,: vielleicht ihr: vertrau¬
lichen Briefe an Familie und Freunde polnisch, weil sie sich in diesem fremden
Idiome leichter schriftlich ausdrücke», als in ihrer sogenannten Muttersprache.
Freilich schiebt man das Alles auf den polnischen Druck. Dieser, heißt es,
habe die Nutheuen um ihre Sprache gebracht, und ihnen die polnische aufgedrängt.
Sonderbar, daß man diesen Druck und den von den Polen angeblich geübten
Sprachzwaug erst jetzt zu spüren beginnt, mehr als 70 Jahre nachdem er ganz
aufgehört hat. Denn seit Galizien östreichisch ist, hatte sich die polnische Sprache
gewiß keiner Begünstigung von Seiten der Regierung zu erfreuen; sie wurde so¬
gar als Schul- und Gerichtssprache vou der deutschen verdrängt, und war also
durchaus nicht im Stande, gewaltsame Eroberungen auf dem Gebiete einer andern
Sprache zu macheu. Wie dem aber auch sei, mag die polnische Sprache in frü¬
herer Zeit immerhin den Nutheuen gewaltsam aufgedrungen worden sein, genug
jetzt ist sie bereits die ihrige geworden, und wir begreisen nicht, zu wessen Nutzen
und Frommen man ihnen jetzt zumuthet, eine Sprache, die,sie bis jetzt stets als
die ihrige betrachtet, und die in der That auch ihnen gehört, wie nnr irgend
einem Volke die seinige, an deren Ausbildung sie eben so mitgearbeitet, und zu
deren Literatur sie eben so viele Beiträge geliefert haben als die andern Polen,
aufzugeben, und wieder vou vorn anfangend sich erst aus ihrem Dialekte eine neue
Sprache und Literatur auszubilden.
Die Römer würden, wenn die Barbaren nie nach Italien gekommen wären,
wohl jetzt noch die Sprache des Cicero reden, sind also auch gewisser Maßen ge¬
waltsam um ihre Sprache gebracht worden ; deshalb aber fällt es auch den eifrig¬
sten Patrioten unter ihnen nicht ein, wenn sie „lam-i, i b-uliin'i" rufen, ihnen anch
Dante und Petrarka über die Alpen nachzuwerfen, und statt ihrer den Virgil
und Horaz hervorzusuchen, sondern sie machen sich gar kein Gewissen daraus noch
ferner italienisch zu sprechen und zu schreiben, und nnr die Schulüiaben machen
lateinische Persa.
Was nun das Volksbewußtsein betrifft, so ist es allerdings wahr, daß man
auch im gemeinen Leben polnisch und ruthcuisch wohl unterscheidet; aber man macht
diesen Unterschied blos in religiöser, nicht in nationaler Beziehung, und diese Aus¬
drücke bedeuten hier so viel als römisch katholisch und griechisch unirt.
Daß das rnthenische Landvolk keine Sympathien für die polnische Sache ge¬
zeigt, hat ebenfalls seine Nichtigkeit; allein der Bauer des westlichen Galiziens
ist doch unstreitig ein Pole, und doch spielte der galizische Bauernkrieg vom Jahre
184K eben in den westlichen Kreisen deö Landes, während das Landvolk in dem
östlichen ruthenischen Theile sich ganz passiv verhielt, und der Adel daselbst ebenso
eifrig wie der im Westen sich am Aufstände betheiligte. Wenn man also die Er¬
eignisse jenes Jahres durchaus durch nationale Antipathien erklären will, so
würde man jedenfalls mit der Wuttke'sehen Hypothese, daß alle Bauern Polen
und alle Edelleute Sarmaten seien, besser auslangen als mit der jetzigen von der
ruthenischen Nationalität.
Wir glauben jedoch, daß die damalige Haltung der Bauern und der Zwie¬
spalt, der sich zwischen ihnen und dem Adel kund gab, ganz nndersworin ihren
Grund haben.
Das polnische Reich war bekanntlich eine Adclsrcpublik mit einem Scheinkö¬
nige, eine Aristokratie vom reinsten Wasser gewesen. Mit der Theilung desselben
verlor die herrschende Kaste zugleich die Freiheit und die Herrschaft. Es ward
dem polnischen Adel ein Land genommen, das er als sein Privateigenthum zu be¬
trachten gewohnt war, und zugleich wurde er aus einer Republik, die ein reges,
mitunter sogar etwas turbulentes öffentliches Leben hatte, mitten in das langwei¬
lige büreaukratische Stillleben versetzt. Er hatte also doppelte Ursache zur Unzu¬
friedenheit, und während er gestützt auf das historische Recht in seiner Gesammt¬
heit sich als dcpvssedirter Prätendent geriren, vertrat er zugleich als ehemaliger
Republikaner die liberalen Ideen gegen den Absolutismus, und seiue Schilderhe¬
bungen hatten stets den doppelten Charakter eines legitimistischen Aufstandes und
einer Insurrektion für die Freiheit.
Anders verhielt es sich mit den Bauern. Diese hatten bei dem Untergange
des polnischen Reiches blos ihre Herrscher gewechselt, und dabei wohl eher ge¬
wonnen als verloren. Denn es traten nun geordnetere Rechtszustände ein, und
der auf ihnen lastende materielle Druck wurde, wenn er auch nicht ganz aufhörte,
doch gegen früher gemildert. Für politische Freiheit aber war bei der niedrigen
Bildungsstufe derselben noch kein Sinn vorhanden. Dazu kamen in Oestreich
beim Fortbestehen des Unterthanverbandes zwischen Bauer und Gutsherrn noch
alle jene Reibungen und Ursachen der Mißstimmung hinzu, die sich überall erzeu¬
gn, wo verschiedene Volksklassen mit entgegengesetzten Interessen in naher Berüh¬
rung stehen, und die z. B. in industriellen Ländern so häufig zwischen Gesellen
und Meistern, zwischen Arbeitern und Fabrikherren vorkommen. Feruer lud der
Edelmann, wenn er als Gutsherr im Delegationswege manche Regierungsakte
ausübte, für alles Harte derselben auch das Odium auf sich, und der Bauer ge¬
wöhnte sich, alles Unangenehme, das ihn betraf, und alles Unrecht, das er zu
leiden glaubte, seiner Gutsherrschaft zuzuschreiben, während er mit der Regierung
und ihren Organen weniger in Berührung kam. Dies alles zusammengenommen
war genug, seine Gleichgültigkeit gegen die polnische Sache, die er als die der
Edelleute betrachtete, in Haß gegen dieselben zu verwandeln, und jenen schreck¬
lichen Ausbruch der Volkswuth zu veranlassen, ohne daß man ihn, wie es von
polnischen Ultras geschieht, einzig und allein den Aufreizungen der Beamten und
dem Gelde der Regierung zuschreibe» kann, wodurch man die galizischen Bauern
für ein Volk von Banditen, die um Tagelohn morden, erklären würde, noch den
Grund in einem nicht vorhandenen nationalen Conflicte zu suchen braucht.
Aehuliche Erscheinungen hat man übrigens zu verschiedenen Epochen auch in
andern Ländern beobachtet. Z. B. in den Wer Jahren sympathisirten in ganz
Oberitalien die Städte mit der französischen Republik und griffen zu den Waffen
skr die Revolution, während sich das Landvolk für das alte Regime erhob; und
heutzutage sind in Neapel die Lazaroni fast eben so eifrige Stützen des Thrones
als die Schweizer. Sind sie deshalb keine Italiener?
Freilich in jenen Regionen, von wo aus man den Ruthenen ihre Nationalität
octroyirt hat, weiß man das Alles recht gut; aber man hat im Jahre 1846 von
der Uneinigkeit des Volkes so viel Nutzen gezogen, daß man für alle Eventuali¬
täten die Kluft offen zu halten wünscht. Da es jedoch nicht schicklich wäre, von
oben herab die verschiedenen Volksklassen gegen einander zu Hetzen, so versucht
mau es jetzt die Parteien in Nationen zu verkleiden, um sie dann unter der
Fahne der Gleichberechtigung ins Feld zu führen.
Dies mag recht schlan sein, aber wahre vorsorgliche Politik ist es nicht.
Diese begnügt sich nicht damit, zur Zeit der Ruhe die Mittel vorzubereiten, künf-
tigen Aufständen zu begegnen, sondern sie sucht sie durch Hinwegräumen der ver¬
anlassenden Ursachen unmöglich zu machen. Und dies ist auch hier uicht so schwer.
Wir wenigstens halten die Polen, den Adel inbegriffen, durchaus nicht für un¬
versöhnliche Feinde Oestreichs. Sie denken freilich noch immer an ihr altes
Vaterland, und daß Oestreich zu dessen Zerstückelung mit geholfen und einen Theil
der Spolien an sich gebracht, war eben nicht geeignet, dieser Macht ihre Sym¬
pathien zuzuwenden. Aber das Motiv ihrer wiederholten Aufstände war nicht blos
der Groll über altes historisches Unrecht, auch uicht allein das Streben nach
Wiedervereinigung mit den andern polnischen Provinzen, sondern, wie wir bereits
angedeutet haben, noch mehr als dies alles der Mangel politischer Freiheit und
alles öffentlichen Lebens. Wären sie (die Polen) statt unter drei absolute Mo¬
narchien, unter eben so viele freie Staaten vertheilt worden, sie hätten den Verlust
ihrer Selbstständigkeit jetzt bereits verschmerzt. Denn das Bedürfniß nationaler
Einheit und Selbstständigkeit ist allerdings ein wahres, aber keineswegs ein sol¬
ches, daß ein Volk, wenn es sich sonst im Genusse bürgerlicher und politischer
Freiheit befindet, und wenn sein Zustand auch in materieller Beziehung ein befrie¬
digender ist, eine Revolution anfangen sollte, blos um einen Staat auf Grund¬
lage der Nationalität herzustellen.
Dies gilt, nebenbei gesagt, uicht nur von Polen, sondern auch von Italien
und Deutschland. Hätten die einzelnen Regierungen Italiens ihre Aufgabe nicht
gar so sehr vernachlässigt, hätten sie mehr für die materiellen Interessen gesorgt,
der Bildung und Aufklärung des Volkes keine Hindernisse in den Weg gelegt
und ihren Unterthanen mehr politische Freiheit gewährt, blos um der „Constituante"
willen hätte» die Italiener nicht zu den Waffen gegriffen. Und eben so in Deutsch¬
land, wären im Jahre 18l5 in Wien und Berlin Parlamente zusammenberufen
worden, so säße jetzt vielleicht keines in Frankfurt. Den besten Beweis hiefür
liefern das Elsaß und Korsika. Warum sind diese Länder der deutschen und ita¬
lienischen Bewegung so fremd geblieben? Weil die Corsen und Elsässer als frau-
zösische Bürger das großen Theils schon seit lange haben, wornach ihre Brüder
am Main und an der Tiber erst mühsam ringen.
Und ein ähnliches Verhältniß, wie zwischen diesen Provinzen und Frankreich,
dürfte einst auch zwischen Galizien und Oestreich stattfinden.
Wenn erst unsere Konstitution eine Wahrheit und Oestreich wirklich ein freies
Land geworden sein wird, dann werden sich anch die Polen in die neuen Staats-
formen behaglich einleben und es erkennen, daß so ein konstitutioneller Staat der
Neuzeit doch uoch etwas Besseres sei als eine mittelalterliche Adelsrepublik. Dann
werden sie sich mit Oestreich aussöhnen und anfangen, es als ihr Vaterland zu
betrachten. Und sogar wenn dann einmal ein erfolgreicher Aufstand im russi¬
schen Polen stattfindet, so werden die Galizianer die wärmsten Sympathien für
ihn haben, und viele werden wohl auch hinüberetlen, um in den Reihen ihrer
Brüder zu kämpfen, aber Galizien wird sich eben so wenig von Oestreich los¬
reißen wollen, als das Elsaß daran denkt, sich von Frankreich zu trennen.
Diese Versöhnung wird freilich nicht das Werk eines Tages sein, aber wenn
die Verhältnisse Oestreichs uur überhaupt sich so gestalten, wie wir es wünschen
und, dürfen wir noch sagen, hoffen? wird sie gewiß nicht ausbleiben. Das
Kunststück hingegen, Bauern gegen Edelleute und unirte Griechen gegen römische
Katholiken, oder Rnthenen gegen Polen zu Hetzen, um die einen dnrch die andern
in Schach zu halten, ist ein gefährliches, zweischneidiges Mittel, das leicht mehr
schaden als nützen kann. Denn man täuscht sich, wenn man glaubt, die Uneinig¬
keit der Regierten vermehre die Kraft der Negierung. Sie hat freilich bei einem
uneinigen und zerrissenen Volke weniger von innern Aufständen zu befürchten, aber
sie verliert in demselben Maße an Stärke gegenüber dem Auslande, welches vor¬
kommenden Falls die Stammesfeindschaften und religiösen Antipathien eben so gut
auszubeuten wissen wird, als die eigene Negierung.
Und wir haben an Nußland einen Nachbar, der sich auf dergleichen trefflich
versteht, und hier uoch durch die Umstände besonders begünstigt ist. Denn je
wehr man die Kluft zwischen römischen Katholiken und unirten Griechen erweitert,
desto mehr verengert man jene zwischen Letztern und den nicht unirten. Je mehr
^ gelingt die Union als blos dnrch polnischen Druck herbeigeführt darzustellen,
desto wünschenswerther wird eine Rückkehr zum Schisma erscheinen. Wir haben
Vor Kurzem gesehen, wie leicht es in Rußland gewesen, Millionen von Unirten
^r griechischen Kirche zurückzuführen. Die Habsburg-Lothringer aber sind römi-
A)e Katholiken, oder, wie man hier zu Lande sagt, Polen, die Holstein-Gottorp
dagegen rechtgläubige griechische Christen und der Kaiser von Rußland das Haupt
der morgenländischen Kirche. Seine Heere werden bald vor der Donau stehen,
deren Mündung er schon lange beherrscht. Scheint das noch nicht genug? Muß
-
''i---.-,^-
Neben dem ultramontanen Hauptverein für konstitutionelle Monarchie und
religiöse Freiheit ist das Weißblau vom reinsten Wasser besonders organisirt in
dem „constitutionell-monarchischen Verein für Freiheit und Gesetzmäßigkeit." Der
Grundzug dieses Vereins, dessen Organ „der Reichsbote" ist, besteht in jener
gottseliger Hyperloyalilät, welcher Hof und Minister noch zu radikal erscheinen.
Die Hauptbestandteile dieses Vereins sind Bureaukraten, Advocaten, Bürger,
Kaufleute, Privatiers, Pensionärs und Lehrer von verschiedenen Schulen. Die
Advocaten Keller, Nuhwandl, k. Rath Dr. Hirncis und Dr. Graf geben die lei¬
tenden Genien ab. Der Verein ist eigentlich der schwache Epigone einer unter¬
gegangenen Bürgergröße. Der „Bürgerverein für Freiheit und Ordnung," zu
welchem die Celebritäten des Mittelstandes, aber nur die hier bürgerlich Ausässigen
gehörten. Fabrikant Härte war Vorsitzender, der Münchener Reichstagsabgeord¬
nete Ministerialrath Prof. Ilr. Hermann stand mit diesem Verein von Frankfurt
aus in Briefverkehr und Oberappellatious-Gerichtsrath Pixis hielt darin Vor-
lesungen über Geschwornengerichte. Bei aller Bildung, die im Verein vertreten
war, schwebte über ihm ein eigener Austern. Er wollte die „Freiheit," die er
als fest errungen annahm, gemüthlich im Volke vertheilen, aber die Zeit war
gar zu unruhig, es gelang ihm nicht.
Gedenken wir nun einer Corporation, die in fester Gliederung dem jungen
Freiheitsstreben hier den ersten kalten Todesstoß versetzt hat; es ist der „allge¬
meine Gewerbeverein," aus mehr als 3000 Mitgliedern bestehend. Seine Parole
lautet: Hebung des vaterländischen Gewerbfleißes, so wie Beseitigung aller Mi߬
stände in demselben. Ein stillgrollendcr Feind des Zollvereins, ohne alle Erfind-
samkeit und Genialität, mußte er natürlich den Kampf gegen die Grundrechte und
die von ihnen gepredigte Freizügigkeit und Gcwerbcconcnrrcnz mit Wuth beginnen.
Der sichere Einfluß, die feste Organisation dieses Vereins und seiner Presse konnte
nichts anders als den Ultramontanen und Bureaukraten wohlgefällig in die Augen
lachen. Selbst ohne alles Verständniß der gewerblichen Interessen, ohne tieferes
Mitgefühl bezüglich der Gefahren der Concurrenz, konnte man doch aus der
Gegnerschaft des Gewerbevereins gegen die verhaßten Grundrechte Seitens der
Geistlichkeit und des Beamtenthums die besten Früchte für sich ziehen. Der Ver¬
ein setzte bei den Landtagswahlen den Schlossermeister Wiedemann, den er¬
klärtesten Feind der Gewerbefreiheit und somit anch aller damit zusammenhängenden
freien Institutionen durch, wie es der Wirksamkeit des ultramontanen und bureau¬
kratischen Vereins gelungen war, den Oberst v. Kratzeisen, den fulminantesten
Gegner der freien Presse und den Ministerialrath Feder, den gefälligsten In¬
terpreten der Märzerrungenschaften für die Kammer durchzubringen. Alle drei
Abgeordnete waren in der kurzen Kammerthätigkeit eifrige Mitglieder der Rechten.
Kratzeisen hat wahrscheinlich im Gefühl, als Soldat bald bessere Dienste zu leisten,
denn als Abgeordneter, sein Mandat niedergelegt und wird durch einen Gleich¬
gesinnten, den zweiten Bürgermeister, v. Steirsdorff, in die Kammer ersetzt wer¬
den. Ultramontanismus, Bureaukratie und Gewerbcstand beherrschen, wie man
sieht, unseren Boden in vereinigter Wirksamkeit. Der allgemeine Gewerbeverein
hat in seiner schroffen Stellung zu den Grundrechten einen rein politischen Cha¬
rakter angenommen; er ist übrigens nicht selbstständig, da er eine namhafte Unter¬
stützung des Königs genießt, wie aus einer Dankadresse an denselben hervorgeht.
Um den Schein der Selbständigkeit gegenüber den Itttramontanen zu retten, hat
sich der allgemeine Gewerbevereiu als solcher an dem Fackelznge derselben vom
9. Februar, der dem Könige gegen die Adresse der Kammermajorität gebracht
wurde, nicht betheiligt, auf der Adresse aber, welche die Ultramontanen gegen
die Reichsverfassung an den König gerichtet, prangte anch der Gewerbevereiu.
Ihm stellen wir am besten einen andern Verein gegenüber, der nicht minder
aus dem Leben der Nation herauswachsend dem vernunftgemäßen Fortschritt auf
der Bcchu der Volksfreiheiten huldigt. Es ist der „Volksverein zur Beförderung
der Landwirthschaft." Der Verein will die Rechte und Interessen der landwirth-
schaftlichen Bevölkerung wahre», die Landwirthschaft überhaupt, die in Baiern
leider noch auf einem kaum mittelmäßigen Standpuncte steht, heben, und alle ihr
entgegenstehenden Hemmnisse beseitigen. In rein politischer Beziehung erstrebt der
Verein: Aufrechthaltung der constitutionellen Monarchie mit einer freisinnigen,
volksthümlichen Verfassung, die Verwirklichung der Märzverheißungen, die unge¬
schmälerte Einführung der allgemeinen Grundrechte des deutsche» Volkes, so wie
die Einigung und Einigkeit des gesammten deutschen Vaterlandes; bei vollster
Erstarkung will der Verein eine ländliche Creditanstalt gründen; an der
Spitze dieser Vereinigung steht der Gutsbesitzer Chr. Reubel, die Grundsätze
und Strcbnisse derselben werden in einem höchst freisinnig und sehr volksthümlich
geschriebene» „Vereins blatt" im ganzen oberbairischen Volk in vielen tausenden
von Exemplare» verbreitet. Es scheint als werde neben diesen Verein noch ein
anderer mit eingreifenderen Tendenzen trete». Der katholische Pfarrer Max Ste¬
phan Stigelmaier zu Thanning, seit Jahren als einer der liberalsten Geist¬
lichen auch a»f dem Felde der Presse bekannt, hat auf den 29. d. M. eine große
Volksversammlung für ganz Oberbaiern »ach Thanmng ausgeschrieben, die mit
Gottesdienst beginne» soll, wozu er alle Vereine, seine sämmtlichen College» und
alle Stadt- und Dorfgemeinden eingeladen. In diesem Meeting sollten die wich¬
tigen Tagesereignisse, vor allem aber die Bildung von Landvolksvereinen
besprochen werden; es galt der Wohlfahrt der Landbewohner, der Landstädte und
Märkte in materiellen und politischen Interessen, der Durchführung der Grund¬
rechte, der Wahrung der Märzerrungenschaften von 1848, der gesetzlichen Erlan¬
gung vollkommener politischer und religiöser Freiheit für Alle, der Erlangung deutscher
Einheit. Die Versammlung ist zwar vorläufig verboten worden, doch ist sie sicher nicht
auf lange zu verhindern. Schließt sich der gebildete Theil der katholischen Geistlichkeit
diesen Bestrebungen an, so ist der erste umfassende Anstoß zur Entsumpfung des
verwahrlosten Oberbaierns und seines Landvolks gegeben und die Folgen in ma¬
terieller wie intellectueller Beziehung siud unberechenbar.
Das Leben ist interessant überall wo man's packt, sagt Goethe, und er hat
Recht; wir dürfen bei Beurtheilung des Volkslebens anch die kleinsten Zeichen
aus demselben für richtigeres Verständniß der politischen, wie sociale» und reli¬
giösen Fragen der Gegenwart nicht übersehen. So ist in unserm ultramontanen
München, wo einst Prediger Eberhard von der Kanzel die Kinder aus gemischten
Ehen dem Teufel übergab, dem streng katholischen Se. Vincenzverein seit Mitte
Januar 1849 ein Waisenverein an die Seite getreten, der ohne Unter¬
schied der Konfession den schönen Zweck verfolgt, einfache und Doppelwaisen
der verstorbenen ordentlichen Mitglieder aus den mittleren Ständen, Militärs,
Bürgern, Künstlern zu erziehen, zu verpflegen, zu unterstützen und ihnen Wege
der Versorgung für's Leben zu bahnen. Ferner wirkt ein Verein deutscher
Frauen für Erziehung der Kinder in den Schule» und Unterbringen der Mäd¬
chen in guten Haushaltungen, wobei ihnen edle Lectüre und Erlernen aller weib¬
lichen Arbeiten geboten wird. Ferner sind zwei andere Fr ane,n vereine zur
Bildung weiblicher Dienstboten vorhanden, alle drei Vereine wirken ohne alle
Rücksicht auf die Confession der zu Unterstützenden. Wir erwähnen diese
erfreuliche Thatsache, weil sie noch vor einem Jahre im Münchner socialen Leben
zu den offenbaren Wundern gehört haben würde. Auch an sehr krankhaften Er¬
scheinungen unseres socialen Lebens fehlt es nicht; es ist bekannt, daß beinahe
alle bairischen Landtage den Antrag auf Abschaffung des Lotto wiederholt haben;
nun jetzt die Negierung Anstalten dazu macht, hat sich im Volk unter einem ge¬
wissen Carro ein Verein für das Lotto gebildet. Dieser sucht den unzwei-
felhaften Volkswillen zu erforschen, wie er selbst in seinem veröffentlichten Pro¬
gramm sagt: „gegen alle Kathedcrdoctrinen gelehrter Professoren, gegen den Glnh-
eifer überspannter Moralisten ohne Moral, gegen den Fluch fanatischer Prediger.
Der Volkswitz hat sich dieser Erscheinung bemächtigt und in Flugblätter» dargctha»,
wie mit Abschaffung des Lotto auch die „katholische Religion" die höchste Gefahr laufe.
Nach vielen Gefahren und Hemmnissen hat sich dem ultramontanen Boden
endlich auch eine deutsch-katholische Gemeinde entringen können; sie zählt
ungefähr 250 Mitglieder und steht mit den freien Gemeinden in Franken *) und
in der Rheinpfalz in lebendigem Verkehr; sie enthält mehr Frauen als Männer
und hat sich aus dem Protestantismus überwiegender als aus dem Katholicismus
recrutirt.
Um die hiesige „deutsche constitutionelle Zeitung" , das edelste Localorgan,
ist wie um ein gemeinsames Banner die Gemeinde der wahrhaft Constitu-
tionellen geschaart. Fern von äußerer schroffer Parteibildung erstreben hier in
verständigen, sachgemäßen Aufsätzen, Aristokraten, Geistliche, Lehrer, Beamte, kurz
Männer aus alleu Lebensrichtungen die Verwirklichung, den organischen Ausbau
der Monarchie mit reinem Gewissen. Die Beiträge werden freiwillig und ohne
alles Interesse geleistet. Die leitenden Aufsätze sind meist aus der Feder des
Fürsten Wallerstein, der seit den Erschütterungen des Jahres 1848 ein aufrichti¬
ger Vorkämpfer für die Volksinteressen geworden zu sein scheint. Daß dieses Un¬
ternehmen trotz den freiwilligen Beiträgen und der Aufopferung seines Verlegers
nur geringe materielle Führung erhalte», beweist am schlagendsten, wie wenig Bo¬
den in ganz Baiern für deu von alleu Auswüchsen und Unaufrichtig-
ketten gereinigten Constitutionalismus zu finden ist, wie sich auch
unseres Wissens sür Nechtsgiltigleit der deutschen Grundrechte in ganz Baiern nur
ein Senat des Stadtgerichts in Bamberg und nnr ein praktischer Jurist, der
rechtskundige Magistratsrath Reichere in Bamberg erhoben hat, während ein Se¬
nat des obersten Gerichtshofes in München sich offen dagegen ausgesprochen hat.
Die eigentlich demokratische Partei, die deutsche gegenwärtig genannt,
lst von dem hiesigen Centralmärz verein und deu mit ihm innigst verbunde¬
nen Vaterlands verein getragen, die mit beiden gleichnamigen Vereinen in
der Vorstadt An und in dem nahen Haidhansen in steter Wcchselwich'amten stehen.
Der Ccntralmärzverein, an dessen Spitze gegenwärtig der Coucipist Her¬
mann steht, der politische O'Connell Oberbaierns, hat seit seinem Bestehen
eine enorme Thätigkeit entwickelt. Der Ccntralmärzverein hat sein Hauptaugen¬
werk ans die allgemeinen politischen Verhältnisse Deutschlands, der Vaterlandsverein
hat die des engern Vaterlandes Baiern kritisch in's Auge gesaßt. Das erklärte Preß-
°rgan beider Vereine ist der hiesige „Eilbote", außerdem finden sich Aufsätze
"As der Feder vou Mitgliedern beider Bereine in der „deutschen constitutionellen
Zeitung," im „Laudboten", in den „Neusten Nachrichten" und im „Gradaus", der
^s ausschließliches Organ deö Auer Märzvereius sehr radical ist. Das unablässige
Bemühen beider Vereine, einen festen Halt in der Bürgerschaft und in den mitt¬
leren Ständen zu finden mißlang natürlich trotz allen öffentlichen Demonstrationen,
was ihnen aber hier abging, das wurde ihnen durch eine nähere Verbindung mit
der Linken der Volkskammer und dnrch einen großen Einfluß auf deu hiesigen
^entrai-Arbeiterbild ungs verein zum Theil ersitzt. Dieser Verein von
entschieden social demokratischer Tendenz, hat zum Wahlspruch: „Einheit macht
uns stark, Entschiedenheit führt uns zum Ziele"; ist der Centralpunkt aller Ar-
beitervereine in Baiern und ein integrirender Theil der gesammten Arbeiterver-
brüderuug von Deutschland. Wenn wir bedenken, daß die städtischen Arbeiter¬
vereine in Baiern, in Deutschland sich seit einiger Zeit zum Ziel gesetzt haben,
Arbeitervereine auf dem Lande, sogenannte Bauernvereine zu gründen, also
städtisches und ländliches Proletariat in eine einzige große Verbrüderung gegen
die Herrschaft des Capitals zu verschmelzen, so wird einleuchten, welches Gewicht
man auf den Einfluß zu legen hat, den die beiden hiesigen demokratischen Vereine
aus den Central-Arbeiterbildungsverein ausüben. Wir haben hier 12 bis 14,000
Arbeiter, unter denen viel Lernbegierde und noch mehr Entschlossenheit herrscht.
An Begeisterung und Rührigkeit fehlt es in diesem Verein nicht; aber weder
damit, noch mit der negativen Kenntniß der vorhandnen Mängel baut man den
Rechtsstaat auf. Wenn Eines der hiesigen Demokratie bei allen ihren Mängeln
Vorschub leisten kann, so sind es die zahllosen Blößen, welche die Regierung in
ihrer Politik, wie namentlich in ihrer Presse seit dem März 1848 Schlag für
Schlag gegeben hat und ferner ein gewisser limitirender Tact, welcher einem
großen Theil der bairischen Demokratie überhaupt eigen ist. Noch muß einer
sehr kleinen, aber auch sehr rührigen Partei gedacht werden, der sogenannten Li¬
beral-Konservativ en. Obwohl nur aus den Gebrüdern Rohmer, Pro¬
fessor Bluntschli (für Jurisprudenz an hiesiger Universität) und den wenigen
Freunden derselben bestehend, entwickelte diese Partei bisher durch Friedrich Roh-
mers Brochüren und Zcituugsaufsätze eine große Thätigkeit. Die jetzt eingegangene
süddeutsche politische Zeitung war ganz in ihren Händen; sie wirkt jetzt nament¬
lich in der Augsburger Abendzeitung, im Nürnberger Correspondenten und in einer
von ihr ausgehenden lithographirten Korrespondenz an die auswärtigen Blätter.
Wäre Friedrich Rohmer nicht gar so berüchtigt, so arrogant und eitel, so
würde er längst eine einflußreiche politische Stellung erlangt haben, denn an Fähigkeit
und Umsicht fehlt es ihm nicht, wie sein jüngstes Sendschreiben an's bairische
Staatsministerium für Anerkennung der Reichsve'fassuug beweist.
Lassen Sie mich nun mit einigen Worten der hiesigen Tagespresse gedenken,
so weit sie noch uicht besprochen worden. Baiern war stets in der Presse daS
rührigste Land und München ist seit dem März 1848 mit Tagesliteratur über¬
schüttet gewesen. Außer den in 20,000 Exemplaren verbreiteten illustrirten „flie¬
genden Blättern" und den in 4000 Exemplaren wirkenden illnstmten „Leuchtku¬
geln" ist neuerdings die illustvirte Zeitschrift „Lug in's Land" erschienen; Bertram
unser beliebtester Humorist, geißelt in seinem „Punsch" mit unerschöpflichen aber
überwiegend localen Humor Tagesereignisse und Personen. — Die „neuesten
Nachrichten", die 5000 Abonnenten in München und 0000 auswärts zählen und
mit einem wahren Frachtwagen von Anzeigen und Briefränzcln versehen sind, bil¬
den den eigentlichen Saal aller Spezies der Volkötlatsche; doch haben sie auch in
Vielen Aufsätzen die Mängel der Bureaukratie-Verwaltung schonungslos an's Licht
gebracht und bieten für 1 Kreuzer dem Volke das Neueste aus der Politik. Selbst
der Hof und die höhere Bureaukratie hat sich in diesem Blatt gegen die Grund¬
rechte, gegen die Reichsverfassung und namentlich gegen die Verprenßuug Baierns
vernehmen lassen; das Blatt wird regelmäßig vom Könige Max gelesen. Die
„neuesten Nachrichten" riefen die „allerneuesten Nachrichten" in's Dasein, das
„Vorwärts" seinerseits das „Rückwärts." Wir hatten „ein freies Wort", den
„reisenden Teufel" dann den „Nevolutivnsteufel" wir haben noch das salinische
Blatt „den Fiucssenseppcrl" redigirt von Robert Lenke (dem Redacteur der hier
vor mehreren Jahren erschienenen Kunstblätter); derselbe hat auch einen Volkskate-
chismuS herausgegeben und deu lieben altbairischen Kindern die Grundrechte ge¬
deutet.
Nißle, der Agitator des Arbeitervereins gab ein republikanisches Blatt „Es
muß Tag werden" heraus; schon die Nummer ward confiscire und der Ver¬
sasser auf Hochverrath verhaftet. Die Ausschweifungen des ultramontanen
„Volksboden" haben eine liberale „Vvlksbötin" hervorgerufen, redigirt vom Re¬
dacteur des Punsch, die am ersten Tage ihres Erscheinens schon 7V00 Exemplare
absetzte. Die Vvlksbötin tritt im echten Volkston für die Volksfreiheit in die
Schranken, das gute Maß des Humors womit sie die Tagesereignisse und die
Personen beleuchtet, muß ihr auch für alle Zukunft die Theilnahme des Publi¬
kums sichern; sie wird wohl unser bestes Volksblatt werden. Die „Münchener
Volkshalle" redigirt von Sax ist unbedeutend, dagegen scheint . Zopf und Scheere"
Organ des Fortschritts im Gemeindewesen, redigirt von Florian, das alle Ver¬
handlungen der Gemeindebehörden vollständig bringt und oft treffend durchhechelt,
ziemlich große Verbreitung zu haben.
Mau sollte nun meinen, bei dem regen Interesse, welches unsere Bevölkerung
den Preßcrzeugnissen zuwendet, müsse eine gewisse politische Cultur in allen Kreisen
sich äußern, dem ist aber nicht so. Die mangelhafte Schul- und Hansbildung
läßt bei deu Meisten wenig anderes aufkommen, als platte Neugier, blöde
Spott- und Lachlust, und es ist nur daraus erklärlich, warum Bureaukratie nud
Ultramontanismus immer wieder, auch bei deu größten Erschütterungen der Zeit,
einen organischen Fortschritt in weiteren Kreisen zu hintertreiben vermögen. Schafft
uns andere Schulen und Universitäten und ihr werdet ein neues Volksleben
rasch erblühen sehen. Bis dahin wird München berühmt sein, als die Stadt des
Bock, der architektonischen Launen König Ludwigs, und als die Stadt der wohl¬
genährten Leute, aber große politische Weisheit muß man von ihrer Bevölkerung
nicht verlangen.
Beiträge zur Krankengeschichte Oestreichs zu' schreibe», ist eine gehässige Auf¬
gabe für deu harmlose» Touristen, der seine traurigen Bemerkungen nicht mit heil-
künstlerischen Rathschlägen begleiten kann. Indessen, auf die Symptome deuten
darf auch der Laie. Die viele» Doctore», welche de» Leidende» bearbeiten, »lo¬
gen am Besten wissen, was z» thun ist; wenn sie es ehrlich nieinen, werde» sie
die Aussagen des theilnehmenden Zuschauers über die nächtlichen Fieberphantasien
des Patienten dankbar anhören und beachten; wo nicht, werde» sie ihm das Re¬
de», verbieten, weil „besser machen schwerer sei als tadeln."
Die Rückkehr des jungen Kaisers in seine Residenz- und Vaterstadt war kein
Ereigniß, und das ist ein böses Zeichen. An dem unbedeutende Eindruck, den sie
hervorbrachte, ersah man, wie sehr das Volk in diesem Jahre vom Baum der
Erkenntniß gegessen hatte. Diese »egative Errungenschaft ist die einzige, welche
kein starkes Ministerium zurücknehmen kann. Sonnabend erfuhr die Stadt, Franz
Joseph sei in Schönbrunn. Eine doppelte Reihe Equipagen rollte hinaus, eine
Masse vo» Proletariern sah neugierig zu, wie die Herrschaften ihre Aufwartung
machte»; der ehrbare Mittelstand war bei dieser Huldigung fast gar nicht vertreten.
Der Kaiser soll mürrisch oder verlege» dreingcblickt habe». Abends obligate Illu¬
mination. Selbst „Hans Jörgel" war solid genug, den Talgkerzenpatriotismus
für das zu nehmen was er ist, den» wenn der Gemcindercith für Franz Joseph
dreimal alle Hausmeister in Bewegung setzte, so hätte er, salls Kossuth kam, i»
löblicher Feigheit dieselbe» Hausmeister sechsmal zu alle» Insassen geschickt und
wo möglich um Wachskerzen bitte» lassen. Sonntags fuhr man den jungen Mo¬
narchen sogar »ach Wie», zum Schottenthor herein, durch die Herrengasse, und
sogleich wieder zum Burgthor hinaus, daß er die Nevvlutiousnarben am Haus
seiner Väter nicht gewahrte. Bei der Revue auf dem Glacis, im A»blick der
wahrste» und treuesten Oestreicher, seiner Soldaten, zeigte er sich tief gerührt , und
kehrte nach Schönbrunn zurück. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen und
hörte das Volk reden. Die einzige Aeußerung echter Loyalität, welche mir auf¬
fiel, kam vou den Lippe» eines Steinalten Mütterchens. Wir standen vor einem
Zuckerbäckerladeu und am Schaufenster prangte in halb erhabener Arbeit aus süßem
Stoff das Konterfei des Kaisers aus einem von guten Genien gezogenen Triumph¬
wagen. Das Portrait war merkwürdiger Weise ähnlicher als viele kunstvolle Stiche
und Lithographien von beliebten Meistern. Die Alte erkannte die alten Habsbur¬
gischen Züge aus der guten alten Zeit, und indem sie die neumodischen Gesichter und
kalten Mienen der Umstehenden überflog, schlug sie die matten Augen gen Himmel
auf und sagte seufzend: „Ach, Gott helf ihm bei seiner schweren Aufgob!"
Ja wahrlich, wenn es der Herrgott selbst nicht thut, diese Minister werden
ihm nicht helfen. Seit die Minister am 4. Januar das Dogma: Von Gottes
Gnaden, auf die parlamentarische Arena schleppten, erlosch der Glaube daran,
nun war der Zauber gebrochen. Der Glaube läßt sich eben nicht octroyiren.
Und was hatten die Minister gethan, um den welkenden Glauben aufzufri¬
schen? Um den jungen Monarchen nicht blos als russischen Schützling und Sol¬
datenkaiser zurückzuführen? Wie eine kalte, umflorte Wintersonne ging die neue
Majestät den Wienern auf; so wenig Eindruck sie machte, so wenig Spuren hat sie
bis jetzt zurückgelassen. Das Bischen Nimbus, welches sie in der Ferne noch um¬
gab, ward durch die Enttäuschung aller Hoffnungen, die man in den letzten Mo-
naten an ihre Erscheinung knüpfte, vollständig zerstreut und zerrissen. Sie ist
nicht von Gottes, nicht von Volkes Gnaden.
Die Anwesenheit des Kaisers stört nicht im mindesten den erbarmnngölosen
Gang der Militärherrschaft und ihrer Vehmgerichte. Amnestie? So hoch verstieg
sich die rosensarbigste Einbildungskraft nicht, aber selbst die kleinherzige Zusage,
den Oktvberschnldigen dritten oder vierten Grades die peinliche Untersuchung zu
erlassen, eine Zusage, die vom März datirt, wird täglich unter den Angen des
Kaisers gebrochen. Ich kenne Personen, die noch jetzt wegen eines unbesonnenen
Wortes, das sie am 28. October gesprochen haben „sollen", mit täglichen Vor¬
ladungen und Verhören gequält werden. Frische Verurtheilungen zu schweren und
leichten Eise» schmücken von Zeit zu Zeit die Straßenecken. Fischhofs Proceß,
ausnahmsweise, vor ein öffentliches Gericht zu weisen, — diesen kühnen Gedanken
wagt noch kein hiesiges Blatt anzuregen; in ungestörter Heimlichkeit weidet sich
die vvrmärzliche Justiz vielleicht noch ein Jahr lang an ihrer edlen Beute. Haus-
suchungen, Inquisitionen über den Inhalt empfangener Briefe und Ausweisungen
ohne Angabe des Grundes unterbrechen die Eintönigkeit des Wiener Lebens. Zur
Abwechslung hat am 21. Mai im Stadtgraben anch eine Begnadigung durch Pul¬
ver und Blei stattgefunden").
Daß Welden'S martialischer Styl noch immer an die Proklamationen von wei¬
land Lin. dem chinesischen Oberkommissär im Opiumkriege, erinnert, dafür will
us das Ministerium nicht verantwortlich machen. Neulich ertönte seine patriar¬
chalische Stimme wieder in der Wiener Zeitung und drohte die Verstockten unter
den magyarischen Rebellen mit „größter Strenge zu vernichten" (die Andern mit
größter Milde). Diese Stylübuugen Weidens gehören zu den kleinen Freuden
des Belagerungszustandes und die einzige Klage ist, daß sie jetzt seltener sind als
früher. Daß in Lemberg beleidigende Aeußerungen gegen den Czaren Nicolai
kriegsrechtlich bestraft werden und in Hradisch „auf Verlangen der Nüssen" kein
Jude übernachten darf, .'gehört nur in sofern Hieher, als wir das Vergnügen
haben, die betreffenden constitutionellen Erlasse in hiesigen offiziellen Blättern zu
lesen. Der „Lloyd" ist gewissermaßen stolz auf die Russen und prahlt mit ihnen
gegen Deutschland, Frankreich und Italien. Daß er so naiv ist, triumphirend
aus die Sympathien hinzuweisen, welche die russischen Retter und Befreier bei
deu Slaven Mährens und Ungarns finden, möge ihm das Ministerium verzeihen;
ich thue es gern. Auch das gehört zum Humor des Belagerungszustandes und hat
mit der Anwesenheit des Kaisers nichts zu schaffen; denn könnte sie anch Wunder
wirken, das Schamgefühl des Lloyd zu wecken, würde ihr nicht gelingen.
Vor einigen Tagen sandte der Wiener Gemeinderath eine Deputation nach
Olmütz an die Erzherzogin Sophie und ließ ihr, wie man sich erzählt, den Dank
der Residenz aussprechen für die treffliche und freisinnige Erziehung, die sie ihren:
Sohne Franz Joseph gegeben. — So kann nur der Aberglaube an das Von-
Gvttes-Gnaden-Dogma heucheln. Als wäre man mit achtzehn Jahren erzogen!
Armer Kaiser! Ich würde dich ein paar Jahre ans Universiäten und Reisen
schicken. In Heidelberg oder Cambridge, in Rom oder Edinburg, überall wür¬
dest du mehr lernen, als ein Romulus Augustulus zu werden, und nebenbei wür¬
dest dn wenigstens deine Jugend genießen*)!
Nun, mein Wunsch ist erfüllt! Der Kaiser ist zu seiner Ausbildung auf Rei¬
sen gegangen — nach Warschau; wie die Wiener Zeitung meldet, um den zufällig
dort anwesenden Czaren, „den treuen Bundesgenossen und bewährten Freund des
kaiserlichen Hauses" mit einem Besuch zu überraschen. Den kaiserlichen Telemach
begleitet als constitutionelle Minerva oder Minervcneule der Ministerpräsident
Fürst Schwarzenberg. In der Umgebung des Czaren befinden sich Nesselrode
und Graf Orloff. Die imponirende Persönlichkeit des russischen Kaisers wird
ans Franz Joseph um so sicherer einen tiefen Eindruck machen, als der junge
Monarch vorwiegend militärische Neigungen und Anlagen besitzt und für den ge-
schworenen Ritter der Legitimität eine aufrichtige Bewunderung hegen soll. Es
läßt sich annehmen, daß die Unterredung zwischen den beiden, in ihren Schick¬
salen so unähnlichen Kaisern sich nicht auf die dringendsten Geschäftsangelegen¬
heiten beschränken wird und vermuthlich finden wir nächstens im Lloyd oder im Oest-
reichischen Korrespondenten einige Bruchstücke aus der Warschauer Conversation
mit diplomatischer Treue ausgezeignet, etwa wie folgt:
So hab ich Sie endlich! — Nußland ist
der Revolution zu hohem Dank verpflichtet für so werthen Gast und segnen möchte
Ich den bösen Feind, der alle Sturm' und Gluthen des Abgrundes gegen Ihr
ehrwürdiges Oestreich entfesselt hat. —
— Nachteule. Wo die Noth am höchsten, ist der
Czar am nächsten.
Noch ganz der langweilige Schmeichler wie 1825.
Ja, Nußland verläßt seine Freunde nicht. Vor einem Jahre waren Wir
vergessen, zu den Barbaren geworfen, die ältesten und legitimsteu Bande schienen
ans ewig zerrissen. Man affectirte in Wien sogar, Unser Feind zu sein.
Majestät verzeihen, es gibt eine constitutionelle Etiquette; die
Zunge mußte dem wüthenden Aufruhr nachgeben, das Herz zeigte, wie die Mag¬
netnadel stets nach Norden.
Lassen wir, was nicht zu ändern ist. Unrecht wäre es, auf das
Haupt dieser unschuldigen Majestät glühende Kohlen zu sammeln. Sie, junger
Fürst, haben die Krone in einer schweren Zeit anf's Haupt gesetzt, Sie werden
Mühe haben, sie festzuhalten, aber nur Muth, ich werde Sie mit starkem Arm
unterstützen, wenn Sie standhaft genug sind, meinem väterlichen Rath zu folgen.
Erröthen Sie nicht. Es ist nicht Ihre
Schuld, wenn Sie eines Vormundes bedürfen. Ihre Mutter ist der einzige Manu
im Hanse Habsburg. Werden Sie ein Mann und benutzen Sie die furchtbare Lehre,
die der schwache Ferdinand mit seinem zerrütteten Erbe Ihnen hinterließ. Halb¬
heit ist der Weg zum Abgrund, Sentimentalität ist Selbstmord. Ein Paar Flin¬
tenschüsse in der Herrengasse raubten ihm die Fassung. Und später mußten seine
Nerven doch den prächtigsten Kanonendonner vertragen lernen.
Ein Augenblick Festigkeit und die Ordnung war ans ein Menschenalter ge¬
rettet. Womit verglich Ich den Schaden, welchen Ferdinand angerichtet?
Mit dem Loch im Aermel. Noch im April, noch im Mai
war es zu flicken. Ja, die Konstitution ist ein garstiges Loch im Aermel, das
unfehlbar weiter reißt, bis der Purpur in Fetzen ist. Seltsam, im Abendlande
halten Völker und selbst Fürsten solch ein Loch wie einen Segen heilig und be¬
mühen sich vergeblich, es durch sogenannte gesetzliche Näthe zu begrenzen. Es
reißt doch immer weiter.
Wie Frankreich zeigt. Eine feine Bemerkung, lieber Gras.
Wir drängen Niemand unsern Glauben auf und wir verläugnen
ihn vor Niemand. Ich bin kein Freiheitsfeind, nnr die halbe und falsche Freiheit
Hass' Ich. Den freien Herrscher begreife Ich, oder das freie Volk. Eine Nation
von Kaufherrn, wo Alle einander beherrschen oder ein Volk von Soldaten wo
Einer herrscht, Amerika oder Nußland. England ist ein Auswuchs, eine Unna¬
tur. Der constitutionelle Schacher und Doppelsinn, die perfide Galgenfrist für
Krone oder Volk ist Mir ein Gräuel. Ich begreife die Monarchie oder die Re¬
publik.
Majestät gehen in Ihrem ritterlichen Freisinn sehr weit. Die
Republik wird hoffentlich Niemand seinem Herrn empfehlen.
Vor Jcchrcu schon haben wir jene goldenen Worte Sr. Ma¬
jestät vernommen, die in ganz Enropa widerhallen. Sie wiegen alle geschriebene
Weisheit auf. Allein wir, — wir haben leider mit den Vorurtheilen verbildeter
Völker, mit tausend Rücksichten auf den Eigennutz der verschiedenen Stände zu
kämpfen, — wir sind nicht stark genug. —
Gewiß, gewiß. Ihre Lage ist sehr schwierig und wir wer¬
den ihr alle Rechnung tragen. Man muß aus die Vorurtheile der Völker eine
Zeitlang eingehen, scheinbar mindestens um sie gründlich zu bekämpfen. —
Wie ich eben bemerken wollte, lieber Gras. Vergleichen Sie
uns vielmehr mit dem Jrrenarzt, der auf die tollsten Phantasien des Wahnsinni¬
gen eingeht. —
Bei uns schlägt man tolle Hunde todt, meine Herren.
Läßt man sich von den Bestien nnr ritzen, so wird man selber toll; man hat auch
Beispiele, daß Irrenärzte den Verstand verlieren.
Halte den Rand, Orloss. — Meine Herrn, unser hohe Gast ist
kein Freund von diplomatischen Spitzfindigkeiten. Junge Helden füttert man mit
anderem Zeug. — ^ su-opos, Schwarzenberg, wie führt Ihr Euch in Deutsch¬
land auf, wie steht Ihr?
Gut, Majestät. Wir haben Preußen freie Hand versprochen,
für sein collegialisches Auftreten gegen Frankfurt; und wir haben alle Aussicht,
daß der bairische Ehrgeiz die deutsche Sache jetzt eine gute Weile hinhält, — wir
sehen ein, daß Deutschland nicht vor uns in Ordnung sein darf.
Das läßt sich hören. Wenn nur Frankreich Ihnen keinen Strich
durch die Rechnung macht. — Nesselrode, wir haben doch die französische Re¬
publik offiziell anerkannt? —
Längst an Barrot depeschirt.
^ I:>, bomio Iionrv. — Kommen Sie! Wir wollen Unserem deut¬
schen Kaiser die Araber zeigen, die Wir ihm bestimmt haben, und das Regiment,
welches bei der Parade am schönsten marschirt, soll Franz Joseph heißen! —
... Wenn ich früher sagte, die Rechte des östreichischen Reichstages sei die
zweite Swornost gewesen, so sollte dies nicht blos ein allgemeiner, oberflächlicher
Vergleich sein. Das Corps des heiligen Wenzel bildete die auserlesenen Kern-
tnippen der czechischen Partei, die durch eigenthümliche Tracht und höhnisches
Kommando ihren tiefer liegenden nationalen Tendenzen einen sinnlichen Ausdruck
gaben, und übrigens bei einer seltenen Toleranz in Hinsicht des eigentlich politi¬
schen Glaubensbekenntnisses nur in nationaler Beziehung, die ihnen als das wahre
Wesen galt, die strengste Uebereinstimmung von den einzelnen Gliedern forderten.
Eben so trat im „slavischen Club" die politische Meinungsverschiedenheit in den
Hintergrund, und doch war sie in der That so bedeutend, daß dieser eine Club
vielleicht an alle Fractionen eines geregelterer Parlaments sein Contingent hätte
stellen können. Die Männer der Smoruost erfanden eine neue Sorte von Co-
^rden, in denen die Farben der Monarchie mit denen des Landes verbunden wa-
ren, und steckten sie mit dem Gedanken: „in to<: «ixnn viuae«" auf ihre Mühen;
"ber im Juni verirrte« sie sich dennoch ans die Barrikade», obgleich sie im Mai
uoch ihre Entrüstung über das Benehmen Wiens in Loyalitätsadressen ausgespro-
chen hatten. Die Rechte deutete jene Zeichensprache durch ihre parlamentarische
Politik erst vollständig; sie untermalte das östreichische Hanswappeu mit den sla¬
vischen Farben, verhinderte die Vvrlassuug der magyarischen Deputationen und
schleuderte von Prag aus ihren Bannstrahl gegen das Numpfparlameut von Wien
und die Männer der Octoberrevolntion. Zuletzt aber verließ sie doch uach der
winistenellm Erklärung über den K. 1 der Grundrechte den Boden der Loyalität
und verlor sich in Hochverrätherische „Erörterungen aus dem Gebiete der Theorie,
welche die Wiederkehr der Ruhe, Gesetzlichkeit und des öffentlichen Vertrauens in
die Ferne rückten, in den wohlgesinnten Staatsmännern trübe Befürchtungen er¬
zeugten, und der dnrch Gewalt der Waffen in Wien el'en erst geschlagenen, in
einem andern Theile des Reiches noch nicht gänzlich besiegten Partei des Um¬
sturzes neuen Muth und neue Thätigkeit verliehen." — Der Reichstag mußte
aufgelöst werden, als die bunten nationalen Farben in dem weißen Lichte der
Freiheit zusammenflossen, und die Völker von Oestreich trotz ihrer desparaten
Interessen sich mehr als jemals in ihren Sympathien für den Reichstag einigten.
Aber in ihrem Gedächtnisse blieb dennoch ein jedes tüchtige Wort haften, welches
in den letzten Tagen vor Verkündigung des Anflösnngspatents zu Kleinster ge¬
sprochen wurde; die Rede Riegers über die Volks Souveränität drang bis in die
deutschen Dörfer Böhmens und wurde dort verstanden, und Schuselka erhielt von
den czechischcn Studenten eine Dankadresse, die ihn für den Gassenhauer, den
ein Prager Sansculotte auf ihn gedichtet, reichlich entschädigte.
Mit den Märzveilchen des Jahres 1849 ist uns anch die fromme Heuchelei
des Unterthanenglückes wieder zurückgekehrt. Der junge Monarch hat die reli¬
giöse Toleranz, der sein großer Ahn Gesetzeskraft verlieh, mich auf die politischen
Konfessionen unserer Zeit ausgedehnt, und es soll auch in dieser Hinsicht Nie¬
mandem sein Gefühl und seine Kirche geraubt werden. Das Octroi vom 4. März
ist nichts weiter, als eine Erweiterung oder Wiederholung des Toleranzpatentes,
die Religion der Freiheit und die verschiedenen Secten ihrer Bekenner werden in
Oestreich geduldet, aber keine davon zur Staatskirche erhoben; die Demokratie
bleibt wie ehemals die tvlerirten Glaubensbekenntnisse eine Privatsache, und ist
als häuslicher Cultus uach Z. 1 der vctroyirtcn Grundrechte gestattet. Der Ab¬
solutismus, der hinter der matten euphemistischen Umschreibung, hinter dem leicht
zu durchblickenden Jncognito der Verfassungsurkunde lauert, hält in der gepan¬
zerten Faust hoch empor das alte, viclbewährte eiserne Palladium Oestreichs; und so
wie,in dem Gedächtnisse der einzelnen Völker des Gesammtstaates nach ihrem Er¬
wachen aus dem politischen Winterschlafe im vorigen März die specialhiftvrische
Glorie ihrer Vergangenheit auftauchte, so erinnerte sich auch wieder das glorreiche
Haus Oestreich im heurigen März an seine eigene specifische Geschichte, an die
Tage der alten dynastischen Herrlichkeit. Es machte gegenüber dem phantastischen
Particularismus der Nationalitäten die territoriale Einheit deö habsburgischen
Staates geltend und verurtheilte die buntfarbigen Stämme der Monarchie dazu,
mit unterthäniger Ausdauer als stumme Karyatiden das morsche Gebälk von Alt-
östrcich zu stützen.
Die tapfere Armee solle dem Staate jene blos äußerliche, geistlose Einheit
der Territorialinicgrität wieder zurückgeben, die dazu erforderlich ist, damit er
seiue Realität außer dem concreten Leben der Provinzen habe, sich wieder in sein
früheres Jenseit zurückziehe und aus seinem Centrum, welches außerhalb des
Volksbewußtseins liegt, als eine fremde und abstrakte Macht die autonomen Ge¬
lüste der einzelnen Länder bändigen könne. Um die Armee in dieser ihrer Mission
nicht zu beirren, mußte der Reichstag beseitigt werden, weil er in die Aufgabe
der Einigung Oestreichs einen nicht zu ermittelnder Dualismus brachte, da es
nicht zu gleicher Zeit von unten aus constituirt und von oben erobert und bela¬
gert werden konnte. Eine innerliche Einigung der Volksstämme von Oestreich,
eine Verständigung der durch die Sprache entzweiten und verwirrten Volksgeister
kann uicht in der Absicht der dynastischen Politik liegen. Die vielen dämonischen
Mächte, welche det Bewegung in Oestreich einen so vielgestaltigen, phantastischen
Charakter gaben, welche das Mythcnalter wieder heraufholten und die Prosa der
Geschichte in wüste Volksmärchen auflösen, dürfen nur negativ in gewisse Schran¬
ke» zurückgewiesen, aber uicht positiv in dem Pantheismus der Freiheit versöhnt
und befriedigt werden. Die Regierung braucht Amel-Deutsche, Auti-Magyaren,
Amel-Polen u. s. w., und wem, sie uicht da wären, so müßte man sie erfinden
und schaffen. Aber eben durch die gewaltthätige Auflösung des Reichstages wurde
die Einigung der Volker Oestreichs im Geiste und in der Wahrheit mächtig ge¬
fördert, und das theure Vermächtnis) ihrer Vertreter, der Verfassungsentwurf
eines östreichischen Bundesstaates tief in ihre Herzen geschrieben. Die Idee eines
in solcher Weise popularistrten Oestreich steht nun klar und in bestimmten Um¬
rissen vor den Augen der Völker — sie haben daran einen festen Maßstab, und
brauchen nicht erst der träumenden Willkür die Erfindung eines idealen Staates
ZU überlassen, um damit die Misere des wirklichen zusammenzuhalten. —
Seitdem sich das revolutionäre Laster erbrach, setzte sich die patriarchalische
Tugend, die zahlungsfähige Moral der lieben alten Zeit wieder zu Tisch. Der
hohe Klerus constituirte sich zu einem Concil, oder besser zu einem privilegirten
Club, um der Kirche eine „zeitgemäße" Verfassung zu octroyiren, und die alten
Stammbäume schlugen wieder lustig aus, seitdem die Axt an den Freiheitsbaum
gelegt wurde. Das hohle Salongeschwätz, welches durch die Philippika des Reichs-
^Uf eine Zeit lang unterbrochen ward, kann sich wieder frei ergehen, und je Stil-
es ans dem Forum wird, desto lauter wird es bei den Theetischcn und in den
Privatcirkcln. Die Revolution untergräbt den Frieden des Privatlebens; die Pc-
"ater sind ihr Götzen, die sie mit einem mächtigen Ruck schonungslos vom Altar
stürzt. Sie duldet weder die romantische Gcistrcichigkeit eines Königs, der den
Staat als eine Welt beherrschen mochte, die er willkürlich aus seinem genialen
^es heraus construirt har, uoch auch die noblen Gewohnheiten des Adels und
^»e kleinen Hausfreuden, die der behäbige Kleinbürger nnverkümmert genießen
Möchte. Aber alle jene Stände, an welche die Revolution ihre rücksichtslosen For¬
derungen stellt, lassen nichts unversucht, um sich dem kategorischen Imperativ der
demokratischen Tugend zu entziehen, und die weltgeschichtliche Flut des öffentlichen
Lebens wieder zur Ebbe des Privatlebens zurückzuführen. Auf dem Markte soll
nichts vorgehen, damit das inhaltslose, ungeschichtliche Spiel im Innen der Han^
fer wieder seinen Fortgang nehmen könne, der geharnischte Geist Shakespeares
soll nicht weiter über die Weltbühne schreiten, damit die Haustheater und die
bürgerlichen Epopäen nicht ruinirt würden. Der Egoismus hat sich zu einer festen
Partei constituirt, um sich mit vereinten Kräften zu isoliren und den Mord an
der Allgemeinheit vollführen zu können. In dieser Phalanx der Einzelnen, der
absoluten Privatpersonen wiederholt sich in tausendfachem Echo das berüchtigte
Motto: „I^'celle c'oft ani^; ein jeder legt das Wesenhafte des Staates in seine
Kaste, der bornirte Edelmann in den wesenlosen Glanz des Adels, der bornirte
Bourgeois in den Metallklang der Stenerguldcn. Nur in seiner Einzelheit will
der Privatmensch etwas bedeuten, und das, was er eben vorstellt, will er von
Gottes Gnaden sein; die "beste Welt ist ihm die, wo jeder, wie der erste Mensch
im Paradiese, sich ans sich selbst bezieht. Dieses Idyll, von dem die Welt mit
einer jeden Revolution immer mehr abfällt, muß um jeden Preis wieder errungen
werden; und der Czar von Nußland ist der verheißene Messias, der die Privat¬
menschen wieder in ihr verlorenes Paradies zurückführen, die geschichtlvse Ruhe,
die privatrechtliche Ordnung vollends herstellen soll. Wenn vielleicht der mosko-
witische Winter über Europa hereinbricht, und in dem nordischen Eishauch der
Strom der Weltgeschichte eine Zeit lang gefriert: dann werden die hohen und
allerhöchsten Herrschaften Eispalläste bauen auf der glatten Fläche, an den Fen¬
stern deö BourgoiS werden sich wieder die gemüthlichen Eisblumen von ehemals
bilden, und mit der Strenge des absolutistischen Winters würde wieder die sans^
liebe Enge und Gemüthlichkeit zurückkehren. Dies alles verspricht sich diejenige
Partei, die man hier die gutgesinnte nennt, von Paskicwitsch's seltener Begabung;
aber wenn anch der russische Wunderthäter das Unerhörte leistet, so werden doch
jene Winterfrenden nur bis zum nächsten Eisgange Stand halten.
Der pnvatrechtlichcn Isolirtheit, dem Verrathe deö Egoismus gegenüber tritt
nun die nationale Vereinzelung beschämt zurück; und indem die Czechen die all¬
gemeine Entrüstung über den Atomiömus der privilegirten Klassen theilen, denken
sie nur wenig zurück an ihre atomistische Auffassung der Föderation, an die con-
stituirenden Landtage und die Souveränität der Provinzen. Während sie die
Weltgeschichte in Oestreich nur zur Specialgeschichtc verflachen wollten, so sehen
sie jetzt mit Erbitterung, wie die Reaction gern einen ganz geschichtlosen Zustand
herbeiführen möchte; und so wird ihnen durch die häuslichen Epopäee, welche
man schon jetzt wieder abzuspinnen anfängt, die Freude an ihrem Nationalepos
verleidet. Der romantische Traum des Panslavismus zerstiebt an der bittern Rea¬
lität des Nusseucinmarsches. Früher wurden die Czechen von dem Gedanken in
ihrer Politik geleitet, daß nur über den Trümmern der magyarischen Herrlichkeit
die Sonne des Slaventhums aufgehen könne, und das feste Band, welches fortan
die verwandten slavischen Stämme umschlingen soll, die Trennung der deutschen
Stämme Oestreichs von den verwandten Brudervölkern nöthig mache. Jetzt sehen
sie wohl ein, daß es sich auf den Schlachtfeldern Ungarns noch um etwas ganz
anderes handle, als um die magyarische Glorie und um die Krone des heiligen
Stephan, und daß es auch in Deutschland nicht die Geistermahnung vom Kyff-
häuser ist, welche die Mäuner von Frankfurt zur wackern Ausdauer, die Pfälzer
Zu den Waffen, die Sachsen zum verzweifelten Kampfe rief. Darum können sie
auch ihrerseits nicht mehr an das Prävalireu des eiuen oder des andern natio-
nalen Elementes, sondern uur allein an den Sieg der Freiheit denken. Den
Czechen ist übrigens der Haß gegen Deutsche und Magyaren nicht angeboren, wie
dies etwa bei den Uugarslaven der Fall ist; nicht die Völker selbst, sondern die
politischen Grundsätze Palacky's, Kossuth's und Löhner's standen sich feindlich
gegenüber, und hat man sich auch in der letzten Zeit in einen phantastischen
Nationalhaß hineiurcflectirt, so kehrt man jetzt wieder zu der ursprünglichem Liebe
zur Freiheit zurück. Der Pantheismus der Freiheit unterwirft sich die nationalen
Unterschiede, wie ehemals das Christenthum es that. Der Traum von dem Auf¬
gang der slavischen Herrlichkeit wird zwar immer als ein lyrischer Grundton in
dem Gemüthe der Czechen nachklingen, aber er wird nicht mehr, wie es in den
Ueber das Leipziger Theater. An Heinrich Marr in Hamburg.
Lieber Freund! Seit Sie die technische Leitung der hiesigen Bühne aufgege¬
bn, haben wir Leipziger viel Grund gehabt, uns an Sie zu erinnern und Sie
Zurückzuwünschen. — Wir hatten durch drei, vier Jahre eine Bühne, die nicht
Uur eine glückliche Vereinigung schöner Talente war, sondern sich auch durch ein
SUtes Ensemble und ein künstlerisches Zusammenhalten der Mitglieder auszeichnete.
G^ße Talente sind für ein Theater Glückssache, das gute Zusammenspiel ist ein
Verdienst des leitenden Geistes. Und der waren Sie. -—
Es war in den Jahren 1845 bis 47 ein vortreffliches Leben in unserm
Schauspiel. Aufblühende Talente neben verständiger Praxis und einer vortreff-
^chen Regie. Jede erste Darstellung eines renvmmirten Stückes war ein Festtag
Schauspieler und Publikum. Der Dichter war sicher, daß das Gute, was
^ geschaffen, mit feiner Empfindung dargestellt und genossen wurde, daß seine
schwächen durch die Thätigkeit der Schauspieler und die Nachsicht der Schauenden
^deckt wurden, daß man Schlechtes und Fades unerbittlich richtete. Und wer
Veranlassung hatte, hinter den Coulissen zu stehen, der mußte sich herzlich freuen
über den Antheil der Schauspieler an einander, über die Achtung vor den gegen-
genseitigen Leistungen, die freundliche Kritik, den menschlichen Antheil, den Einer
dem Andern bewies. In dem kleinen Sprechzimmer des unbequemen Theater-
raums saß und lebte in den Entreakten eine fröhliche, behagliche Genossenschaft
zusammen. Wagner schweigend ans seinem Stühlchen, vor ihm Freund Marr,
der ihm väterlich den verschobenen Halskragen zurechtrückt und ihn in liebevollem
Basse bittet, bei seinem nächsten Abgänge als Uriel sein Feuer zu mäßigen und
leine Coulisse umzureißen; in der Sophaecke die Unzelmann, welche ihm ein „gut"
zuflüstert; vor ihnen Richter auf- und abgehend, dessen nettes Wamms aller
Gegenwärtigen Bewunderung erregt; auf dem Tische in der Ecke sitzt unser armer
Hofdichter, noch traurig darüber, daß er als nette im zweiten Akt der Karlschüler
vergessen hat, ans dem Kamin zu verschwinden, sobald der Herzog die Räuber¬
bande beim Tabakrauchen überrascht. Ja, er hatte es aus lauter Aufmerksamkeit
auf den Herzog und die schauervolle Situation ganz vergessen und saß recht ge¬
müthlich und ausfällig auf den Kohlen, bis Lanbe als Dichter den Effekt seiner
Scene dadurch rettete, daß er hinter den Coulissen zu ihm stürzte und ihn ver¬
schwinden machte. Und Keller dazwischen auf- und niedersteigend und seine Rolle
schwenkend, und die Geh neben der Unzelmann in der andern Ecke, und unsere
gute Madam Eicke und wer sonst noch im Stück zu thun hatte, wie aufgeregt
und selig saß und lief das Alles durcheinander, wenn das Stück gefiel, oder
Henry Schnurriges Zeug machte, oder Guttmann als Bösewtcht ungewöhnlich un¬
moralisch aussah! — Und wieder auf der Bühne, wie dirigirte Marr bald mit
Stentorstimme und bald dnrch Pantomime; wie ärgerte er sich, wenn die Brüder
des Akosta, hoffnungsvolle Anfänger, es vergaßen die großen Schlapphüte abzu¬
nehmen, als sie mit ihrer Mutter die elegante Judith besuchten, und wie uner¬
müdlich winkte und brummte er: hierher, dorthin, feuriger, lauter u. s. w.,
ja kroch er uicht gar auf eine Lampeuleitcr hinter den. Coulissen und diri¬
girte als Kapellmeister mit ungeheurer Papierdüte eine große Volksversamm¬
lung in Fröbel'S Republikanern, so daß sämmtliche Choristen als aufgeregte
Nepul'likanermasse von Genf unheimlich schielten, mit einem Auge als trotzige
Schweizer hinaus ius Publikum, mit dem andern Auge als ängstliche Kunstjünger
nach der weißen Papierdüte. — Bah! das ist alles zu unbedeutend für unser
großes Jahr 1849, wer kümmert sich jetzt noch darum, wie mau einst das Leip-
ziger Theater regierte! — Wir, Freund Marr, wir Leipziger thun's doch uoch-
Das Publikum hatte den Genuß von dem kleinen Stillleben hinter den Coulissen;
daß die Schauspieler gut spielten, kam daher, daß sie Freude an einander hatten,
sich achteten, und wußten, daß sie in Gemeinschaft etwas Gutes leisten konnte».
Keinem von Allen ist's außerhalb Leipzig so wohl geworden, wie damals hier.
Sie waren Alle verwöhnt, die Armen. Verwöhne dnrch ein gutes KünstlerlebM
und verwöhnt durch ein Ensemble, wovon man bei den meisten andern Bühnen keine
Ahnung mehr hat.
Wenn ich mitten in, Lärm und Wüthen politischer Gegensatze Ihnen und un¬
sern Lesern dies sage, so hat anch das seinen guten Grund. Ein Jahr der Ne>
Volution und wohin ist unsere dramatische Kunst gekommen! Die besseren Theater¬
schriststeller sind aufgeregt und verstimmt, das Wenige was sie schaffen, ist nicht
gemacht, die Kunst zu fördern, die Tagearbeiter breiten sich mit schlechten Carrika-
turen, Parodien und gemeinen Faxen auf den mürrisch knarrenden Brettern; die
Existenz der meisten Theater ist bedroht, die Geldverhältnisse fast aller, sogar der
größeren Hoftheater zerrüttet, die darstellenden Künstler selbst an Gagen-Aussich-
ten und Courage sehr verkürzt, durch leere Häuser entmuthigt, die Besseren durch
die Launen und Rohheiten eines revolutionölustigen Publikums gedemüthigt. Wo
soll das hinaus? Nirgend in Deutschland hat die Kunst der dramatischen Dar¬
stellung gegenwärtig ein Asyl, wo sie im Schutz einer verständigen und kunstlie-
benden Bevölkerung sich erhalten und fortbilden könnte für unsere Nation, für
ruhigere Zeiten. Nicht in Berlin, nicht in Wien, nicht in Stuttgart, selbst in
Dresden nicht mehr. All den kleineren Höfen noch weniger. Ob das Publikum
von. Hamburg geeignet ist, der Kunst wohlzuthun, mögen Sie selbst beurtheilen.
Ueberall droht das Gespenst eines Bürgerkrieges, oder die harte Last von Be¬
lagerungszuständen und Ausnahmegesetzen. Auch solche Zeiten füllen die Hänser,
aber nicht zum Vortheil für die Kunst. Wer Kränkungen und politische Verstim¬
mungen unter dem Kronleuchter unseres Plafonds kuriren will, der verlangt stär¬
kere Mittel für Zwcrgfell und Thränensäcke, als ein ehrlicher Arzt ihm geben
darf.
Und doch gibt es in unserem Vaterlande einen Ort, der vortrefflich dazu ge¬
eignet ist, der geschenchtcn Muse des Dramas Zuflucht zu gewähre», und dieser
Ort ist Leipzig. Daß ich nicht durch persönliche Interessen zu dieser Ueberzeu¬
gung gebracht werde, mögen Sie mir schon zutrauen; ich bin ja selbst kein Bürger der
guten Stadt und kann mich mir als Wandergeselle betrachten, der zufällig in
ihren Mauern Arbeit gefunden hat. Wer aber Leipzig kennt, wird mir Recht
geben. Die Stadt zählt 60,000 Einwohner und ist von allen deutschen Städten
die, wo ein behaglicher Wohlstand am meisten verbreitet ist; sie hat seit alter
Zeit den Ruf, daß ihre Einwohner Bildung und Kunstliebe besitzen, und in der
That glaube ich, daß eine sehr wohlthuende Zuneigung zu der Kunst und ihren
Jünger» sich hier häufiger und liebenswürdiger äußert, als sonst irgendwo. Un¬
sere Freunde und Freundinnen vom Theater könnten viel davon erzählen, wie häufig
und wie zart und rührend zuweilen die Zeichen von menschlichem Antheil sind,
die ihnen von ganz Fremden, oft sehr schüchtern und heimlich kommen; Enncchnuu-
gen, Urtheile über einzelne Rollen, Lob und Dank, kurz Alles, was dem ehrli¬
chen Künstler Freude und Behagen macht, selbst wo es ungeschickt herauskommt,
weil es ihm ein Zeichen des Interesses ist, welches seine Mitbürger an ihm neh¬
men. - Auch das letzte Jahr hat dieses Interesse an Kunst und Künstlern nicht
vermindert, denn Leipzig hat verhältnißmäßig wenig an Wohlstand und Haltung
verloren. Die letzten Barrikadenvorgänge mögen Ihnen ein Beweis sein, welche
rühmliche Ausnahme unsere gute Stadt gegenüber den leidenschaftlichen Siimmuu-
geu der Nachbarstädte macht. Es gibt keine Theaterstadt, welche fortan so sicher
vor Emeuten und gewaltsamen Ausbrüchen der Bolköwuth sein dürfte.
Es ist bei uns möglich gewesen, die classischen Stücke unsres Repertoirs bei
gefüllten Häusern und warmer Theilnahme des Publikums zu geben, neben seiner
Liebe zu musikalischen Aufführungen hat sich der Leipziger den Sinn für das reci-
tirende Schauspiel höhern Styls treu bewahrt. Ein solches Publikum, so treu
dem Theater, so warm auch sür die darstellenden Künstler, hat das Recht, ein
gutes Schauspiel zu fordern und die Pflicht gegen sich selbst und gegen die Kunst
ein solches zu erstreben. Der gegenwärtige Standpunkt des hiesigen Theaters
ist ein so ungenügender, daß Sie, mein Freund, mir jede Kritik erlassen werden.
Es ist hier nicht die Absicht anzuklagen, sondern ans das hinzuweisen, was uus
Noth thut. Möglich, daß in der Gegenwart, bei unsicheren Einnahmen und
zweifelhafter Zukunft mehr als gewöhnliche Energie dazu gehört, ein großes
Kunstinstitnt mit Ehren zu führen. Gewiß ist, daß die Aufführungen classischer
Stücke anch bei mäßigen Ansprüchen nicht mehr anzusehn sind, daß die ab¬
genutzten Reizmittel von Balletdarstellnngen und Gastspielen sehr wenig ge¬
eignet sind, ein Repertoir zu schaffen und daß die besseren unter den noch vor¬
handenen Künstlern durchaus keine Ursache haben, die Gegenwart auf Kosten der
Vergangenheit zu loben. Das Leipziger Theater ist aus dem Wege, eine Pro-
vinzialbühne im schlechtesten Sinne des Wortes zu werden. Billige Handwerker
werden an die Stelle von Künstlern treten, die Farce und das Spectakelstück wer¬
den gegenüber dem höhern Schauspiel eine höchst unbillige Ausdehnung erhalten
und der bessere Theil des Publikums wird sich dem Theater vollends entfrem¬
den. Es nutzt nichts, wenn unter solchen Umständen die Oper immer noch besser
bleibt, als das Schauspiel, denn bekanntlich bringen die vollen Häuser der Opern-
vvrstellnngen nur dann Segen in die Theaterkasse und Behagen in's Publikum,
wenn die Mehrzahl der Abende dnrch ein gutes Schauspiel gesichert ist, überall
wird das Renommee eines Theaters da, wo Schauspiel und Oper verbunden sind,
nach der Güte des erster» gemessen n»d endlich ist eine unbestreitbare Thatsache,
daß nichts verderblicher für die Kasse eines Directors und für den Muth der
Künstler ist, als wenn bei den Urtheilslosen die Ansicht überhand nimmt, daß die
Bühne nichts werth sei.
Leipzig ist aber nicht nur seinen Einwohnern schuldig, auf ein gutes Theater
zu halten, sondern anch den Fremden, welche die Stadt besuchen. Eine Me߬
stadt, in welcher sich jährlich hunderttausende von Besuchern aufhalten, ein Heu-
delsplatz, welcher den Fremden seinen Wohlstand und sein Ansehn in Deutschland
verdankt, hat doch wohl die Verpflichtung, auch in den städtischen Anstalten, welche
für Erheiterung nud Bildung der Menschen vorhanden sind, etwas Ehrcnwerthes
zu bieten. Wo jährlich Hundertausende von Thälern verdient werden, da wird es
nicht mehr als schicklich und anständig sein, einen kleinen Theil davon im Interesse
derer, welche Gelegenheit zu solchem Verdienst gebe», zu verwenden. Man werfe mir
nicht ein, daß das Meßpnblikum in seiner durchschnittlichen Bildung keine großen
Ansprüche an hohe Kunstleistungen macht, das ist unwahr, denn auch der unge¬
bildete Geschmack folgt gern der Autorität eines bessern Urtheils, und zu den Meß-
besuchen, Leipzigs gehört ein großer Theil der tüchtigsten Männer unsrer Nation.
Aber anch der deutschen Kunst und unserm Vaterland ist Leipzig gerade jetzt
ein gutes Theater schuldig. Das soll keine Phrase sein. Denn gerade jetzt, wo
so Vieles in's Schwanken und zum Bruch gekommen ist, wo die Budgets der
Hoftheater zweifelhaft werde», und KriegSlcirm und Aufstände in vielen Gegenden
jede Kunstleistung unmöglich machen, liegt Leipzig wie eine grüne Insel in der
brandenden See. Ein tüchtiges bürgerliches Selbstgefühl darf der Leipziger eher
haben als der Besitzende an jedem andern Orte unsres Vaterlandes; und zu dem
gerechten Stolz, mit dem er jetzt ans seinem massiven Hanse ans Throne nud
Hütten sehen kaun, gehört auch das Gefühl, daß seiue Stadt von je eine
Rolle gespielt hat in der Entwicklung unsres geistigen Lebens. Wenn eine Stadt
durch Jahrhunderte für Wissenschaft und Kunst ein Mittelpunkt gewesen ist, so
übernimmt der Sohn auch von seinem Vater her Verpflichtungen gegen das, was
dem Erdenleben Schmuck und Würde gibt. Durch Gottsched nud die Neuberiu
Offnere Leipzig vor hundert Jahren den Tempel unserer dramatischen Kunst, eines
Neuen deutscheu Dichtcrlebcns. Es ist würdig und geziemend für dieselbe Stadt,
sie jetzt, wo die Kunst als Verbannte heimathlos umher irrt, ihr vou Neuem
schützend die Thore offne.
Das muß geschehn durch die Gemeinde Leipzigs selbst, es kann geschehen
°sue große Opfer, ja vielleicht ohne irgend ein anderes, als daß sie dnrch ihre
Autorität ein Schauspielunternehmen garantirt. Die letzten Verpachtnngsversuche
^d gemacht worden ohne jede Prüfung der künstlerischen Befähigung derer, welche
sich dazu gemeldet hatten, das ist für Leipzig eine Schmach, welche mit den stärk¬
en Ausdrücken getadelt werden muß; wer es mit der Kunst und dem Reuvmme
Stadt gut meint, hat die Verpflichtung dahin zu arbeiten, daß dergleichen
sich in Zukunft uicht wiederhole. Gestatten Sie mir deshalb den gegenwärtigen
Pachtznstand als ein Provisorium zu betrachten, und obgleich ich der Person des
öegenwärtigcu Pächters alles Gute gönne, so bin ich doch genöthigt in unserm
Interesse zu wünschen, daß er dies Gute irgend wo Anders erlebe, als hier in
^Pzig. Sollte also der Fall eintreten, daß das hiesige Theater über kurz oder
"ug pcichtsrei würde, so wird Ihre Erfahrung, lieber Freund, der Ansicht N,echt
geben, daß ein neues Pachtverhältniß nach dein Muster der frühern nicht einge¬
gangen werden kaun, ohne ein neues Siechthum der Bühne und eine Wiederho¬
lung der kläglichen Zustände herbeizuführen, welche wir in der letzten Zeit ert?de
haben. Zwei Grundsätze, welche Eduard Devrient vortrefflich begründet hat, sind
für das Gedeihn jedes Theaters nothwendig, erstens: jede Bühne muß die
Sicherheit eines festen Etats haben, und zweitens bei jedem, auch
sehr kleinen festen Etat ist eine gute Bühne zu erhalten, wenn
dieselbe verständige Leitung hat.
Es ist für die Leipziger Gemeinde sehr leicht, nach diesen beideu Grundsätzen
das hiesige Theater einzurichten. Der Etat des Theaters ist nach dem Verhältniß
der letzten Jahre festzustellen. Er hat in der glänzendsten Zeit Ihrer Regie un¬
gefähr 80,000 Gcsamiutausgabe betragen und wird jetzt wahrscheinlich zwischen
00 bis 70,000 schweben. Die Erfahrung hat gelehrt, daß diese Summe der
Ausgaben in guten Jahren durch die Einnahme bedeutend übertroffen, daß selbst
im schlechten vorigen Jahr der Ausfall ein verhältnißmäßig nicht zu bedeuteuder,
und keineswegs den politischen Ereignissen allein, sondern weit mehr der innern
Auflösung des Instituts zuzuschreiben war.
Nehmen wir an, daß die Gemeinde Leipzig den Ausgabenetat ihrer Bühne auf
75,000 festsetzt, so läßt sich dafür dieselbe, vielleicht uoch größere Ausdehnung
des Institut's herstellen, als sie in den Jahren 46 und 47 war. Diese Summe
hätte die Gemeinde in der Art zu garantiren, daß sie sür den etwaigen Ausfall
einzelner Jahre auskäme, die Ueberschüsse anderer Jahre nach bestimmten Abzügen
an sich zöge.
Die Gemeinde setzt dem Institut einen Director mit einem festen Gehalte
vor. Was über den Etat eingenommen wird, mag zwischen dem Director und
der Stadtkasse getheilt werden, denu es ist allerdings vortheilhaft, dem DirectX
ein Interesse an dem pecuniären Gedeihen des Instituts zu bewahren.
Die Stellung des Directors zu den Mitgliedern und nach Außer bliebe, lo
Ganzen betrachtet, die bisherige; der Dirigent eines großen Theaters muß freie»
Spielraum haben und autokratische Kraft entwickeln können nud darf namentlich
bei Abschließung von Contracten, Kündigung derselben u. s. w. so wenig als mög¬
lich eingeengt sein.
Die Hauptsache ist, daß die Gemeinde Leipzig für eine solche würdige F«-'""
ihres Theaters den rechten Director findet. Auch hier theile ich die Ueberze»'
gnug unsres Freundes Devrient, daß der Director selbst ein darstellender Künstle'-'
gewesen sein muß. Was für Eigenschaften er aber besitzen müßte, um seine See ^
trug zur Ehre der Stadt und der Kunst auszufüllen, das wäre hier unnütz zu sage",
Sie brauche» das uicht zu wissen, denn Sie haben diese Eigenschaften selbst, un
das Leipziger Publikum braucht sie auch nicht zu erfahren, denn es hat dieselben wal¬
lend Ihrer hiesigen Regie bereits kennen gelernt.
Ich hoffe Veranlassung zu haben, öfter auf die Theater-Verhältnisse Leipzigs
zurückzukommen, mögen die auswärtigen Leser der Grenzboten deshalb nicht
zürnen. Es ist nicht nur eine Leipziger, sondern in der That eine allgemeine
deutsche Angelegenheit, ein tüchtiges Theater nach verständigen Grundsätzen herzu¬
stellen , welches auf Bürgerkraft ruht und in dieser Zeit des Sturms der deut¬
schen Kunst eine freie und sichere Existenz bietet. Die Vertreter der Gemeinde
Leipzig aber bitte ich artig und hochachtungsvoll, ihre väterliche Aufmerksam¬
keit auch auf die hiesige Bühne zu richten. Wir verehren an dem Bürgermeister Koch
eine Verbindung von geschäftlicher Tüchtigkeit und humaner Bildung, möchten seine
Ueberzeugungen sich von den hier ausgesprochenen nicht zu weit entfernen.
Ihnen aber, mein Freund, habe ich diesen Brief geschrieben, weil für mich
und Viele in Leipzig der Gedanke an Sie auf's Engste verbunden ist mit den
vielen schönen Erinnerungen, welche uns das Leipziger Theater aus seiner guten
Zeit zurückließ. Leben Sie wohl.
Die Philosophie des Musketier Athos. An unsere Korrespon¬
denten und Freunde. — Ihr hängt eure kluge» Köpfe, wie Glockenblumen,
in welchen eine borstige Hummel gekrochen ist. Alle Briefe, Correspondenzen und
Privatschreiben sind sehr schwermüthig, gedrückt und kummervoll. Unser Sofi
sitzt traurig auf seinem Teppich und bläst den Rauch der Verzweiflung aus den
Naslöcheru der Vaterlandsliebe, die beiden N. in Berlin wandeln bleich und rastlos
straßauf, straßab, von den Constablern beargwöhnt, selbst von Wraugcln wegen
ihrer verzweifelten Miene bemitleidet, und Ihr in Wien versucht vergebens hinter
einem leisen Lächeln die Bitterkeit zu verbergen, von welcher Eure harmlosen Seelen
jetzt überträufeln. Alle tragen wir etwas Jämmerliches in uns herum. Auch das
soll einmal gesagt sein und das Publikum mag es hören. Denn wir Journalisten
sind in Vieler Meinung nichts als Schwämme, welche die Tagesneuigkeiten ein¬
saugen und wieder ausspritzen; wie sie aber auf uus selbst wirke» und wie die
ewigen Dummheiten und Nichtswürdigkeiten, die wir zu berichte» und zu deuten
haben, in uus selbst arbeiten, darnach frägt kein Teufel. — Für uns aber,
weine Herren, steht zweierlei fest. Erstens, daß wir vor einem Jahr mehr Blut
in den Wangen hatten als jetzt, und zweitens, daß wir uns durchaus Mühe geben
Müssen, wieder welches hineinzubekommen, denn sonst werden wir, die wir dies
Jahrhundert zum Nutzen der Menschheit verdauen und verarbeiten sollen, vor der
Zeit selbst verarbeitet und aufgezehrt.
Soll die fröhliche Schlauheit unseres Kreises Mönchskutten tragen und sich
mit Geißelhieben den Rücken streichen? Eine nicht auszuwerfende Frage. Sollen
wir, die Könige des Lebens, uns wegen der Thorheit der Kronenträger zu Gall¬
äpfeln verunstalten? Eine wohl aufzuwerfende Frage. Gibt es dagegen ein
Mittel? Ja. Und wie heißt es? Philosophie. Ich empfehle Euch Philosophie,
ihr Freunde, sie gibt Trost, Stärke, Beruhigung. Unter allen philosophischen
Systemen, welche der menschliche Scharfsinn ausgeheckt hat, gibt es zunächst zwei,
in denen Segen ist. Zuerst das englische unseres Freundes Taplay (Chuzzelwit,
Boz), dem kein Elend groß genug war, und dem die Klapperschlangen, welche
auf seinem Bett in Amerika Pfropfenzieher spielten, nur ein verächtliches Lächeln
abnöthigten. Diese Philosophie paßt für euch, ihr Wiener. Wir trauern über
den Gcldruin Oestreichs. Fassen wir die Sache gemüthlich, sie hat auch ihre
großen Vortheile. Sonst mußte man sich mit Geld schleppen, um zu existiren.
Das war ans mehreren Gründen oft recht unbequem. Jetzt ist das ganz un¬
nöthig, man zieht eine kleine schmutzige Ecke Papier aus der Westentasche, die
man vom ersten besten Fidibus abgerissen hat, und erhält dafür die besten Back-
hahnerl und viele Maaß Wein. Es ist immer noch viel Behaglichkeit bei der
Sache. — Wer aber trotziger von Natur ist, z. B. wir Nordländer, der halte
sich in dieser schlechten Zeit an das französische System des verstorbenen Musketier
Athos. Athos schloß sich während eines Belagerungszustandes in den Keller sei¬
nes Wirths ein, baute eine Barrikade von Schinken Und führte ein wohlwollendes
Stillleben unter Bnrgunderflaschen, bis seine Feinde ihn um Pardon baten.
Auch für uns gibt es ein Mittel unseren Feinden, den Herren des Belage¬
rungsznstandes, so fürchterlich zu werden, daß sie zuletzt um Gnade bitten, und
das Mittel heißt, sich durch jede Art Humor zu verbarrikadiren. Um aller Göt¬
ter willen, erhaltet Euch Eure gute Laune, lieben Freunde. Ein jeder Mann
muß zu allen Zeiten einen Kellerraum in seinem Herzen haben, wohin kein Tyrann
seine Hände stecken darf, in den er sich frei zurückziehn kann, wenn ihm das
Wetter über den Hals kommt. Sorgt dafür, daß ihr den aufbaut. Ihr werdet
um so bessere Fechter sein, wenn ihr einen solchen Zufluchtsort habt. — Findet
ihr keinen reizender», wird es euch irgendwo zu ungesund und unerträglich, wohlan,
so kommt zu uns zurück, wie dctagirte Corps zur Annee. Sind wir auch einzeln
ärgerliche Leute, in Gemeinschaft mit einander fitzen wir emsig und fröhlich am
Quell gottseliger Weisheit. Ihr Herren in Wien, Prag, Berlin und wo sonst einer
unserer Genossenschaft lagert, seid brüderlich gegrüßt und daran erinnert, daß wir
zwar znerst unserer Zeit gegenüber die Pflicht haben zu arbeiten, gegen uus selbst
und unsere Freunde aber die Pflicht glücklich zu sein.
Die" sonst ziemlich inhaltlosen Blätter des StaatSanzeigerS haben in der
letzten Woche eine überraschende Fülle entwickelt; kann, hatte man Zeit, den Ein¬
druck von heute in sich zu verarbeiten, so drängte sich morgen ein neues Interesse
dazwischen. Es thut Noch, diese wechselnden Eindrücke zu ordnen. Wir wollen
zunächst, was die preußische Regierung gethan, in den Mittelpunkt stellen.
Folgendes sind, nackt hingestellt, die vorliegenden Thatsachen.
Preußen hat mit Hannover und Sachsen ein Schutz- und TrulMndniß ge¬
schlossen; es ist ihm in demselben die Leitung der gemeinsamen Angelegenheiten
übertragen worden, ohne daß über die Form, in welcher dieselben berathen und
geordnet werden sollen, oder anch nnr über den Umfang und die Dauer des
Bündnisses etwas festgestellt wäre. Zunächst ist man nur über ein Ansträgalgericht
von sieben Mitgliedern übereingekommen — drei aus Preußen, zwei aus Hanno-
vc>', zwei aus Sachsen — vor welchem die gegenseitigen Streitigkeiten ausgeglichen
werden sollen. Das Gericht wird vorläufig wenig zu thun haben.
Es haben ferner die verbündeten drei Ncgiernugc» an die übrigen deutschen
Staaten die Aufforderung erlassen, sich diesem Bündniß iiuzuschlicßeu. Als Be¬
engung des Anschlusses haben sie einen Verfassung« - Entwurf ausgearbeitet,
welcher zum Theil dem Frankfurter entspricht, in maiiche» wesentlichen Punkten
Modifikationen eintreten läßt, vor Allem aber von dem Gesichtspunkt ausgeht,
daß Oestreich an dein projectirten Bündniß keinen Antheil nehmen werde.
Dieser Entwurf ist also in keiner Weise eine re.i tsgillige Verfassung. Ein¬
mal richten sich seine Bedingungen zum großen Theil nach der Zahl der Regie¬
rungen, welche ihn annehmen. Noch aber kann man nicht einmal von Hannover
oder Sachsen sagen, daß sie ihm definitiv beigetreten wären, wenigstens hat das
^lere ausdrücklich erklärt, es gebe seine Zustimmung nnr unter dem Vorbehalt
der Genehmigung seiner Kammern.
Aber auch nach der Einwilligung sämmtlicher Staaten soll die Verfassung
M) nicht rechtsgiltig sein. Sie soll vielmehr mit den Volksrepräsentanten — die'
freilich nur auf Grund der bereits vollzogenen Verfassung sich versammeln kön¬
nen — vereinbart werden. Da« klingt volksthümlicher als es ist. Das Beispiel
der Verfassmig vom 5. December, liegt zu nahe. Damals erklärte man auch, man
wolle die octroyirte Konstitution nicht eher für rechtsgiltig erklären, als bis sie
von den Ständen revidirt wäre. Die Kammern nahmen sie in der Adresse r>u>v
an, und wurden darauf zum Dank, weil sie in anderer Beziehung der Negierung
unbequem wurden, nach Hause geschickt und die Verfassung selbst nach Gutdünken
geändert. Med der neu zu berufenden deutscheu Constituante würde man es
wahrscheinlich eben so machen.
Das ist nämlich die zweite Thatsache, welche hier in Betracht kommt, die
Verletzung der preußischen Verfassung in zwei wichtigen Punkten: einmal daS
Hinausschieben der Ständeversammlung weit über den gesetzlichen Termin (vom
26. Juni auf den 7. August), sodann die eigenmächtige Veränderung des Wahl¬
gesetzes. Das erste ist ein temporärer Eingriff, für welche» die Regierung, wenn
sie ihn gehörig begründet, von den Kammern eine Jndemnitätsbill fordern darf;
das zweite aber ist eine organische Rechtsverletzung, welche durch nichts wieder
gut gemacht werden kann. Es ist eine zweite Auflage der Juliordonnanzen.
Unter diesen Umständen sind folgende Fragen zu erwägen.
Einmal. Wie denkt sich Preußen das bestehende Rechtsverhältniß? und
zwar zum Reich und zum preußischen Volk?
Zweitens. Wie denkt sich Preußen die Rechtsverhältnisse, welche durch die
Begründung seines separat - Bundesstaats in beiden Beziehungen erwachsen
sollen?
Was zunächst die Auffassung der bestehenden Rechtsverhältnisse zum Reich
oder zum deutschen Bunde betrifft, so liegt darin mancher Widerspruch.
Nachträglich erfahren wir aus der Deutschen Zeitung, daß bereits unter dem
18. Mai der preußische Bevollmächtigte in Frankfurt, v. Kamptz, dahin instruirt
wurde, der Centralgewalt die Eröffnung zu machen, sie sei nicht mehr competent,
die Verhandlungen mit dem Ausland — hier zunächst mit Dänemark >— weiter
zu führen. Denn da sie nur durch ihre verantwortlichen Minister regieren könne,
so höre ihre Negierungsthätigkeit auf mit der Auflösung des Parlaments, dein
sie verantwortlich gewesen. Demnach werde Preußen selber die Verhandlungen
in die Hand nehmen. Zugleich sei der Reichsverweser aufgefordert worden, seine
förderhin unhaltbare Stellung aufzugeben.
Wir vernehmen ferner, daß am 24. Mai der Reichsverweser gegen diese IN"
sinuatiou und gegen den beabsichtigten „Bundesbruch" Preußens einen energischen
Protest eingelegt hat, contrasignirt von seinen Ministerpräsidenten: zwar sei er
schon längst Willens gewesen, abzudanken, aber „keine Macht ans Erden" solle
ihn zwingen, diesen Schritt früher zu thun, als er es für angemessen hielte.
Man erinnert sich unwillkürlich dabei an eine ähnliche Versicherung des Königs
von Preußen, es nie zugeben zu wollen, daß ein beschriebenes Blatt sich zwischen
Ihn, sein Volk und seinen Gott stelle.
Es scheint nun ein Widerruf zu sein, wenn die am 31. Mai veröffentlichte
Preußische Staatsschrift über das mit Hannover und Sachsen abgeschlossene Separat-
Bündniß Folgendes enthält. „Dieses ans den Forderungen der Gegenwart her¬
vorgegangene und von deren Dauer abhängende Bündniß ist nicht der
deutsche Bund von 1815. Auf die Befugnisse gestützt, welche Art. 11 der Bun¬
desakte allen Bundesglicdern vorbehält, berührt es nirgend den völkerrechtlichen
Verein der Staaten, die zum deutschen Bunde gehöre», sondern erkennt vielmehr
den rechtlichen Fortbestand desselben mit allen hieraus erwachsenen neckten und
Pflichten unverändert an. Ebensowenig fällt daher die an Preußen übertragene
Leitung der gemeinsamen Interessen jenes Bündnisses mit der durch den Bundcs-
beschluß vom 12. Juli 1848 anerkannten provisorischen Centralgewalt zusammen;
Über die Fortdauer dieser Institution wurde, wenn der Erzherzog-Reichsverweser
sich veranlaßt finden sollte, sein Mandat niederzulegen, immer wieder nur durch
die Gesammtheit der Glieder des deutschen Bundes bestimmt werden können."
Ferner. „Sollte es erforderlich werden, die durch die Auflösung des Bun¬
destages verursachte Lücke in der formellen Behandlung der Bnndeögeschäfte durch
neue Uebereinkünfte zu ersetzen, so werden sich die in dem engern Bundesstaat
vereinigten Glieder dazu stets bereit finden lassen."
Aber der Werth dieser Gefälligkeit wird sehr vermindert, wenn man in der^
selben Denkschrift liest: „der bisherige und rechtlich fortbestehende deutsche Staa-
tenbund ist nicht fähig, seine Glieder gegen den innern und äußern Brand zu
schützen." Ferner: „die Nationalversammlung hat es den Regierungen unmöglich
gemacht, ihren ferneren Handlungen irgend eine Giltigkeit beizumessen." Endlich:
»Da die Negierung des Reichsverwesers nur durch die der Nationalversammlung
verantwortlichen Minister ausgeübt wird, so hat auch deren Thätigkeit ebenso ihren
rechtlichen Boden verloren, als sie jetzt factisch anßer Stande ist, einem Berufe
!U genügen" n. s. w.
Also: der rechtlich fortbestehende Bund mag entweder in der alten Form er¬
neuert oder, wie bisher, durch den Reichsverweser vertreten werden, wir haben
"indes dagegen, nur sprechen wir seiner Thätigkeit jede rechtliche Basis und
jede factische Befähigung ab.
Da aber der Bundestag rechtlich wie factisch aufgehört hat, und da der pro¬
visorischen Centralgewalt, welche die einzige Vertretung der Einheit Deutschlands
!si, jede Wirksamkeit entzogen wird — sogar die Durchführung des von ihr an¬
geknüpften völkerrechtlichen Verhältnisses zu Dänemark, so ist in der That kaum
Abzusehen, worin die Fortdauer des Bundes eigentlich noch bestehen soll. Jeden¬
falls ist das etwaige Bündniß, welches man mit den ehemaligen Staaten des
deutschen Bundes abschließen mag, ein neues, auf Grund dessen z. B. Holstein
oder Limburg kaum wird angehalten werden können, sein Contingent zur Bundcs-
armee zu stellen.
Statt also offen zu sagen: Es siud in Folge des deutschen Bundes rechtliche
Verhältnisse entstände», welche auf rechtlichem Wege abgelöst werden müssen, z. B.
die NeichSsestnngen, zu denen Oestreich seinen Theil beizutragen hat, wie gewisse
allgemeine Gesetze, z> B. das gegen den Nachdruck — nimmt man den Mund
voll und zwingt sich selbst in Unwahrheiten hinein, die Niemanden täuschen können.
Indeß von dieser theoretischen Schwierigkeit könnten wir absehn, wenn sich
die praktischen nicht zu sehr vordrängten.
Gesetzt nämlich, der projectirte Bnndesstaatsvereiu käme dnrch einen Beschluß
der norddeutschen, sowie einiger westdeutschen Regierungen zu Stande: wie will
man sich zu dem Bunde verhalten, den möglicher Weise Baiern um sich crystallisirt,
dem sich Oestreich schützend zur Seite stellen wird, und dem sich vielleicht mit einem
letzte» Verzwcift»»göstreich die Neste der parlamentarischen Partei in die Arme
werfen?
Wie will man ferner den demokratischen Bestrebungen in Baden begegne»,
wenn man sich selber vom Gehorsam gegen die Reichsgewalt lossagt? Endlich wie
will man seinen Forderungen in der deutschen Frage eine rechtliche Begründung
oder auch nur eine klare Fassinig gebe», wenn man nicht medr im Namen des
Reichs anftritt? Werden die Regierungen der nicht dem neuen Bündniß angehöri-
gen Staaten sich dazu hergeben, ihre Truppen im preußischen Interesse verwenden
zu lassen?
Das alles sind Fragen, auf welche uns die preußische Staatsschrift die Ant¬
wort schuldig bleibt. Sie sind es aber hauptsächlich, auf welche das Einheitöbe-
streben der deutschen Nation sich gründet. Löst man sie vom Standpunkt des rein
dynastischen Interesses, so wird es schwer fallen, dasselbe noch ferner auszubeuten.
Die Schwierigkeit wäre geringer, wenn Preußen im eignen Staatswesen
reine Hand hätte. Es könnte dann sagen: macht mit dem Bunde, was euch be¬
liebt, ich, der souveräne Staat Preußen, werde handeln, wie meine eignen Be¬
dürfnisse es erheischen.
So steht es aber nicht; dnrch ihren Bruch mit dem Reich und mit den Be¬
schlüsse» der deutschen Nationalversammlung hat die preußische Regierung anch «ut
den Vertretern des eignen Volks gebrochen. Auf diese innern Verhältnisse müssen
wir einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit richten.
Nachdem Preußen unter dem Ministerium Camphausen sich für einen consti-
tutionellen Staat e>klärt hatte, kam es darauf an, den Inhalt der Verfassung
festzustellen. Die Regierung selbst, obgleich von de» Demokraten lebhaft dazu
aufgefordert, fühlte sich nicht im Stande, denselben einseitig zu octroyiren; gegen
die Uebertragung dieses Geschäfts an das bisherige Organ der ständischen Ver-
tretnng erklärte sich aber die öffentliche Meinung. Demnach ertheilte die Regie¬
rung, mit der verfassungsmäßigen Zustimmung des vereinigten Landtags, einer auf
Urwähler begründeten constituirenden Versammlung das Recht, die preußische
Verfassung zu entwerfen.
Die Versammlung wurde aufgelöst, weil sie über den Umfang ihrer Befug¬
nisse mit der Krone in einen Conflict gerieth, und die Krone verlieh einseitig die
Verfassung, doch so, daß sie den Entwurf der Constituante zu Grunde legte, daß
sie dem wichtigsten Factor der neuen legislativen Gewalt, der zweiten Kammer, die
ursprüngliche Form derselben ließ, und daß sie deu nächsten Kammern das Recht
vorbehielt, die Verfassung zu revidiren. Erst nach dieser Revision sollte sie be¬
schworen werden.
Nun sind aber die Kammern gleich zu Anfang ihrer Thätigkeit aufgelöst, die
Verfassung ist nicht revidirt und nicht beschworen, und die Regierung hat ihr
eignes Werk eigenmächtig verändert. Ihre frühere Versicherung, daß wir seit
dem 5. December in einem constitutionellen Staat leben, hat sich also als lügen¬
haft erwiesen, denn das ist kein constimtivneller Staat, wo die Regierung das
Recht hat, nach Beliebe» die Grundgesetze umzuwerfen.
Das Wahlgesetz war aber ein integnrender Theil der Verfassung, und zwar
einer der wesentlichsten. In der Trennung beider geht beiläufig die Regierung
mit den Demokraten Hand in Hand: die Linke nahm das Wahlgesetz an, aber
nicht die Verfassung.
Die ministerielle Denkschrift bezeichnet drei Punkte des Wahlgesetzes als solche,
die mit dem wahren Wohl des Staats nicht vereinbar wären: die ungenügende
Definition des Begriffs „selbstständig," die mangelhafte Oeffentlichkeit der Wahlen,
und die gleiche Berechtigung sämmtlicher Wähler. Das erste abzuändern findet
sie uicht angemessen, wenigstens nicht für jetzt; wahrscheinlich behält sie es einer
neuen Octroyirung vor, denn daß sie sich bestimmte Vorstellungen darüber ge¬
macht hat, zeigt der Entwurf des Reichswahlgcsetzes. Die beiden andern Punkte
dagegen modificirt sie uach Gutdünken.
Der neue Wahlmodus ist complicirt genug. In jedem Urwahlbezirk wird
ein Verzeichniß der Urwähler angefertigt, nach der Reihe, wie die Höhe ihrer
directen Steuern auf einander folgt. Die Steuern werden summirt und in der
Reihe, wo ein Drittel dieser Summe sich ergibt, ein Strich gemacht. Dahin
reichen die Urwähler der erfreu Classe. Das zweite Drittel bildet die zweite. Jede
Classe wählt die gleiche Anzahl der Wahlmänner.
Was das Materielle dieser beiden Abänderungen betrifft, so halte ich die
Oeffentlichkeit der Wahlen für einen Fortschritt. Zwar erhält dadurch uuver-
kcuni'air die Aristokratie einen größern Einfluß, aber dieser Nachtheil, der sich
um so mehr geltend macht, da diesmal der Armee eine unverhältnißmäßig große
Betheiligung bei den Wahlen zugestanden ist, wird dennoch aufgewogen durch
die Nothwendigkeit, in die jeder Einzelne sich versetzt sieht, für seine Stimme auch
mit seiner Ehre einzustehn. Bei den heimlichen Wahlen fällt der Einfluß den
Demokraten zu, der noch gefährlicher ist, weil er auf unsittlicheren Motiven ba-
sirt. — Der Wahlmodus hat den Nachtheil, daß er schwer zu handhaben ist,
und daß er eine große Zahl veranlassen wird, sich bei der Wahl nicht zu bethei-
ligen; er beruht ferner auf einer falschen Anwendung des richtigen Grundsatzes,
daß die Rechte den Leistungen entsprechen müssen. Denn nicht allein durch die
Steuer betheiligt sich der Bürger am Staat: er ist ihm unter andern mit seinem
Leben verpflichtet, und diese Verpflichtung ist in Preuße» für Alle gleich. Außer¬
dem ist es, da der Reichthum schon ausschließlich die erste Kammer zusammensetzt,
eine schreiende Ungerechtigkeit, seinem Einfluß auch die zweite zu unterwerfen.
Allein es kommt darauf auch gar nicht an. Niemand wird bestreiten können,
daß mit jenem Wahluwdus eine sehr bedeutende materielle Veränderung in der
Verfassung eingetreten ist, denn nicht allein die den Kammern zugeschriebenen Rechte,
sondern auch ihre Zusammensetzung bildet die Grundlage derselben. Zu einem
solchen Eingriffe halte die Regierung kein Recht, und selbst in dem Falle, daß
er in allen Punkten eine Verbesserung enthielte, wäre der Nachtheil, der durch
die Verdrehung des öffentlichen Nechttgesühls entsteht, viel größer. Denn jede
Willkür ruft die entgegengesetzte hervor.
Durch diese Veränderung — die beiläufig auch die übrigen constitutionellen
Staaten, welche sich dem neuen Bunde anschließen, bedroht — wird auch die zweite
Verletzung der Verfassung erschwert: das Hinausschieben des Eiuberufungstermins
auf sechs Wochen. Denn die Kammern, von welchen die Regierung eine Indem-
nitätsbill zu fordern hat, sind nicht die alten, verfassungsmäßigen mehr, es ist
ein neues Institut, das zur Entscheidung einer solchen Rechtsfrage incompe-
tent ist.
Der Hauptgrund dieses Hinausschiebcns ist der, daß bei der jetzt herr¬
schenden Stimmung die Regierung auf mißliebige Wahlen zu rechnen hat, trotz
ihrer Kunststücke. Das ist ganz richtig, aber das will bedacht sein, ehe man eine
Kammer auflöst. Eine Auflösung ist nur dann berechtigt, wenn man auf eine
günstigere Wendung der Wahlen rechnen kann.
Die Regierung hat also gezeigt, daß die von ihr selbst verliehene Verfassung
für sie nicht verbindlich ist. Sie hat sich eben so wenig über den Umfang der
Rechte ausgesprochen, den sie den neuen Kammern zugesteht. Ich will nur zwee
Punkte hervorheben. Sollen sie das Recht haben, die Verfassung zu revidiren,
wozu eigentlich nur die alten Kammer» einberufen waren? Ferner, wird man
ihnen eben so, wie es der König von Sachsen seine» Stände» verheißen hat, den
Entwurf der Reichsverfassung zur Genehmigung vorlegen? Und wird das Votum
derselben von irgend einem Einfluß auf die Entschlüsse der Regierung sein? Es
ist daraus kaum zu rechnen.
Die Frage, ob die liberale Partei nach diesen Prämissen sich überhaupt an
den Wahlen betheiligen soll, ist daher wohl auszuwerfen. Ich selber trage kein
Bedenken, sie mit Ja zu beantworten. Auch diese Verfassung ist eine Waffe,
welche die Regierung der liberalen Partei in die Hand gibt, sie zu bekämpfen.
Für den Augenblick haben die Liberalen keine andere. Sie sollen daher wählen,
und ohne Vorbehalt: denn bei dieser Art von Verfassung, wo die Negierung sich
in jedem Augenblick das Recht vindicirt, nach Gutdünken Abänderungen zu treffen,
versteht es sich ganz von selbst, daß ihren Gegnern dasselbe Recht zusteht, sobald
sie die Macht haben werden. Die Verfassung ist nichts als eine Einigung über
den Boden, auf welchem man vorläufig den Kampf führen will.
In diesem Sinn nehmen wir Act von folgender Erklärung der Deutschen
Reform. „Die Octroyirung des Wahlgesetzes wäre und bliebe eine Verletzung
der Verfassung, wenn diese Verfassung der formellen Anerkennung beider
Kammern ungeachtet sich nicht im Angenblick ihres Erscheinens durch ihr
Wahlgesetz selbst wieder aufgehoben hätte. (!) Staat und Demokratie sind
Gegensätze, die einander unbedingt ausschließen. Die Verfas¬
sung vom 5. December war nicht im Stande, den Staat zu retten,
denn sie heiligte in trauriger Verblendung (bedankt euch, ihr Excellenzen!) den
ersten Grundsatz der Demokratie, die Auflösung des staatlichen, d. h. nach dem
Unterschiede der gesellschaftlichen, materiellen (lange Beine und dicke Arme) und
geistigen Kräfte gegliederten Volks in die unterschiedslose, Kopf an Kopf gezählte
Masse. Das Wahlgesetz der Verfassung vom 5. December war demokratisch und
hob somit den Staat seinem Begriffe nach auf. — Einer Partei gegenüber, welche
kein Mittel des Verrctthes und der Lüge scheut u. s. w., sollte die Krone durch
einen Artikel der Verfassung sich gezwungen glauben, ruhig zuzu¬
schauen, wie der Staat ans die verfassungsmäßigste Weise ruinirt wurde? Niin-
wermehr! Die Feinde des Vaterlandes sind außer dem Gesetz, und in dieser
staatlichen Rechtlosigkeit der Demokratie liegt das Recht des den Staat re-
präsei,tirenden Ministeriums (!!), der Demokratie und ihren begriffsloscn
Massen die auf dem alten Wahlgesetz beruhende Alleinherrschaft um jeden Preis
ZU entreißen. — Die heutige formelle Verletzung der Verfassung ist nichts als
eine nothwendige Folge ihrer materielle», durch das Wahlgesetz bedingten Wesen-
losigkeit. Die Aushebung war die erste Bedingung für die Möglichkeit der
Herstellung eines wirklichen Rechtszustandes durch Ausmerzung der Demokratie
ans dem staatlichen Leben und Verweisung derselben an die Stelle, an welcher sie
einzig berechtigt ist, auf die Barrikade."
Einer Partei, welche kein Mittel des Verraths und der Lüge scheut — muß
die Alleinherrschaft um jeden Preis entrissen werden. Um jeden Preis!
Ueber die Ansicht der Regierung von dem bestehenden Recht sind wir im
Klaren. Wir kommen auf die zweite Frage: wie denkt sie sich die zukünftigen
Rechtsverhältnisse, welche durch die Gründung des neuen Bundesstaats sich bilden
sollen?
Der principielle Unterschied des preußischen Entwurfs von dem Frankfurter
springt in die Augen, und wir müssen sogleich hinzusetzen, der erste kommt der
Ansicht, welche wir selbst über die Entwickelung der deutschen Verhältnisse vom
Anfang der Revolution an ausgesprochen haben, viel näher als der zweite, und
wir würden ihm auch jetzt noch den Vorzug geben, müßten wir nicht aus seinem
Ursprung mit Gewißheit schließen, daß fortwährende Verletzungen desselben von
Seiren der Regierungen „die nothwendige Folge seiner materiellen Wesenlvsigkeit"
wären. Dies zu begründen, müssen wir einen Augenblick in die Geschichte des
vergangenen Jahres zurückgehen.
Diejenige Partei, welche sich nach der Märzrevolution , bei der vollständigen
Ohnmacht der deutschen Regierungen, der Bewegung bemächtigte, setzte sich zum
Ziel die Herstellung des deutschen Reichs. Der deutsche Bund sollte durch eine
aus der Volksvertretung hervorgegangene und ihr verantwortliche Centralgewalt
ersetzt, und zu Gunsten dieser Centralgewalt die einzelnen deutschen Staaten,
namentlich die beiden mächtigsten, Oestreich und Preußen, mediatisirt werden.
Aus diesem Streben ging die provisorische Gewalt des Reichsverwesers hervor.
Wir gehörten zu der sehr geringen Zahl derjenigen, welche dielen ganzen
Weg für einen falschen ansahen. Gar zu stark versteckte sich hinter der Maske
der Centralisation der bloße Haß gegen den berechtigten — großstaatischen Par-
ticularismus von Seiten des unberechtigten, kleinstaatischen. Wir konnten mit
derjenigen Partei nicht gehen, welche zu Gunsten des Einheitsstaats ernstlich alle
Fürsten verjagen wollte, weil diese keinen andern Hinterhalt hatte, als die zügel¬
losen Massen; wir konnten aber noch viel weniger die Illusionen derjenigen Partei
theilen, welche naiv genug war, die Oberherrschaft einer constitutionellen Reichs-
gewalt und zugleich das Fortbestehen zweier Großstaaten für möglich zu halten.
Wir waren der festen Ueberzeugung, daß Deutschland unfähig sei, sich durch einen
innerlichen Proceß zu einem Einheitsstaat zu gestalten. Trotz der Schwäche, in
welche Oestreich und Preußen damals versunken schien, glaubten wir doch an die
Fortdauer ihres welthistorischen Berufs und knüpften die Idee einer deutschen
Macht an die Entwickelung dieser beiden Kriegerstaaten.
Oestreich schrieben wir den Beruf zu, seine außerdeutschen Provinzen und
dem deutschen Geist zu durchdringen und zu einem Einheitsstaat zu verschmelzen.
Preußen, in die Bahn von 1808 zurückgeführt, sollte die Hegemonie in dem übri¬
gen Deutschland führen. Beide Staate» sollten in ein enges, völkerrechtliches
Bündniß zu einander treten.
Wir dachten uns eine gleichmäßige constitutionelle Verfassung in sämmtlichen
deutschem Staaten, den König von Preußen mit der Führung der auswärtigen
Angelegenheiten betraut und mit der Aufsicht über die gemeinsamen innern Ver¬
hältnisse, Handel, Zölle u. s. w. Zur Controle sollte ihm ein Ausschuß der ver¬
schiedene» deutsche» Parlamente zur Seite stehn.
Die Zeit, in welcher diese Verfassung auf organische Weise, d. h. durch einen
freien Vertrag der einzelnen Staaten, hätte entstehen können, ging durch die
Schwäche der preußischen Regierung, deu Uebermuth der süddeutschen Patrioten
und die Einmischung der Oestreicher in das deutsche Versassungswerk verloren.
Daß Männer, wie Gagern, die scho» damals — seine Rede in der Darmstädter
Kammer bezeugt es -— von ähnlichen Ideen ausgingen, und in deren Händen es
damals lag, der Bewegung eine Richtung zu geben, durch die Einberufung eines
großdeutschen Parlaments gegen ihr eignes Werk arbeiten konnten, mögen sie mit
ihrem politischen Gewissen abmachen.
Das Gagern'sche Programm, veranlaßt durch die beginnende Centralisation
Oestreichs, widersprach diametral seine» Voraussetzungen, dem Frankfurter Par¬
lament und der Centralgewalt. Es war verkehrt, daß die Abgeordneten aller
deutschen Länder eine Verfassung entwerfen sollten, die nur für einen Theil der¬
selben giltig sei» sollte; noch dazu in einer Zeit, wo bereits die physische Macht
der Einzelstaaten über die blos moralische der Reichsgewalt hinaus trat. Wenn
daher die preußische Negierung der Verfassung vorwarf, sie sei principlos und ent¬
halte widersprechende Bestandtheile, so war das zum Theil begründet, deun die
Verfassung war durch Transaction von drei verschiedenen Parteien gegründet, von
denen zwei — die Großdeutschen und die Demokraten — Alles daran gesetzt hat¬
ten , sie unmöglich zu machen. Allein es war diese Transaction das einzige Mit¬
tel , eine Verfassung überhaupt zu Stande zu bringen, und der Perfidie Preußens,
mit seinen Feinde», den Oestreichern und Ungarn, zu intriguiren, anstatt seinen
Anhängern gegenüber eine klare und hilfreiche Stellung anzunehmen, hat zum Theil
verschuldet, daß es uun, anstatt auf organischem Wege die Resultate des vorigen
Jahres ordnend zu entwickeln, mit einer neuen Gewaltthat in das Rad der Ge¬
schichte eingreifen, die Nation aufs Neue bitter verletzen mußte.
Wie dem auch sei, wir müssen zugestehen, daß der Berliner Entwurf, wenn
er nicht an der Spitze von Bajonnetten dem Volk entgegnigetrage» würde, im Prin¬
cip den Vorzug verdiente, so mangelhaft in vielen Punkten die Ausführung ist.
^ni preußischen Staat ist der feste, fertige Mittelpunkt gegeben, um welchen das
übrige Bundessystcm sich crystallisirt; die Reichsgewalt tritt nicht als eine neue,
feindselige Macht den bestehenden Staateil gegenüber, sie ist vielmehr die collec¬
tive Gewalt der sämmtlichen Staaten, in eine möglichst handliche Form gebracht.
Die Grundsätze der Note vom 23. Januar sind im Wesentlichen festgehalten; von
der Verfassung ist vorläufig nichts ausgeführt, als ein gemeinsames Schiedsgericht,
so wie ein Verwaltungsrath der dem König von Preußen zur Seite stehen soll,
über den freilich noch nichts Näheres festgestellt ist. Die Anerkennung des Reichs¬
gerichts ist für den weiteren Eintritt den übrigen Staaten als Bedingung gesetzt;
ob man über die sonstigen Bestimmungen Unterhandlungen offen lassen wolle, ist
nicht gesagt.
Aber wie verständig auch alles Einzelne angelegt sein möchte, die Verfassung
hat doch als solche keine Lebensfähigkeit, denn sie geht nicht von einem konstitutionellen,
sondern von einem eiugeständlich absolutistischen Staate aus, der nach Belieben
Verfassungen octtoyirt und wieder aufhebt, der bald diese bald jene Kammern
einberuft und sie, wenn sie ihm irgend widersprechen, nach Hause schickt — dem
Staat der alten Fürstenwillkür.
>„ Dennoch bleibt den Staaten keine andere Wahl, als sich Preußen anzu¬
schließen. Die Frankfurter Verfassung, als die legitime, auf die Fahne der Partei
zu schreiben, hat wenig praktischen Nutzen, da man nicht wissen kann, ob sich
nicht in wenig Jahren die Verhältnisse so vollkommen geändert haben werden,
daß sie nicht mehr paßt. Das bisherige „Reich" könne keinen Mittelpunkt mehr
bilden, es ist eigentlich nie lebensfähig gewesen und wird jetzt von der schlechte¬
sten und principlosesten Partei, die wir haben, der Großdeutschcn ausgebeutet. An
Oestreich sich anzuschließen, wäre noch thörichter, denn hier haben wir nicht blos
deu gewaltsamen, sondern bereits wieder den sinnlosen Absolutismus. Das Ab¬
surdeste aber wäre, die staatliche Verwesung Badens und der Pfalz sich weiter
über Deutschland ausbreiten zu lassen.
Der Staatenbund bietet wenigstens einen vorläufigen Halt für die weitere
Entwickelung, die in ein neues Stadium treten wird, sobald Preußen ein kon¬
stitutioneller Staat geworden sein wird. Durch seine enge Verbindung mit den
übrigen deutschen Staaten wird es schneller dahingetrieben werden. Es ist wohl
nur ein Scherz, wenn man meint, die preußische Fürstensouveränität werde sich
stärken durch ihre Zusammenschmelzung mit den übrigen Fürstengewalten. Wenn
nur Oestreich ausgeschlossen bleibt, die einzige unnahbare Schutzwehr des Absolu¬
tismus, so wird Preuße» sich mit der Volksvertretung gegen die'kleinstaatliche
Fürstenwillkür, die Fürsten werden sich mit ihr gegen die preußische Militärherr¬
schaft verbinden, wenn sie auch im Anfang das Gegentheil sich vorsetzen.
Man mag diese Hoffnung sanguinisch schelten; in Zeiten so wunderlicher
Verwickelung ist es praktischer, den vollendeten Thatsachen irgend eine Seite ab¬
zugewinnen, von der aus man sie nach den eignen Absichten zurechtlegen kann,
als mit träumerischer Wehmuth zu restgniren.
Selbst die inneren Widersprüche des Entwurfs werden dazu beitragen, die
weitere Entwickelung im Sinn der Freiheit zu fördern.
Diese Widersprüche liegen namentlich in der Unklarheit, in welcher das Ver¬
hältniß Preußens zum „Reich", und des Reichs zum „Deutschen Bunde" aufge¬
faßt ist. Der Schwerpunkt des Reichs fällt nun allerdings nach Preußen, wohin
er Wen mußte, wenn nickt der Natur und der Geschickte Gewalt angethan wer¬
den sollte und nicht nach Süddeutschland, wo ihn selbst Gagern suchte, wo er aber
immer nur ein idealer, imaginärer geblieben wäre. Die höchste Reichsgewalt ist
eine immanente Eigenschaft des preußischen Königthums, nickt mehr etwas we¬
sentlich Anderes, gleichsam Feindliches. Preußen wird nicht mehr mediatisirt.
Dennoch hat der König zwei Regierungen unter sich und zwei ständische Körper¬
haften, die einander an Einfluß ziemlich gewachsen sind und die leicht in eine
gegnerische Stellung gerathen können. Wie diese Veihältuisse, auch nur in der
Zukunft, einmal geordnet werden können, darüber gibt der Entwurf keine Andeutung,
tiugcuscl einund, weil sich die Verfasser selbst keine Vorstellung davon gemacht haben.
Noch viel wunderlicher ist aber die Ansicht, welche der Entwurf von dem
Verhältniß des „Reichs" zum Deutschen Bunde veranlaßt. Der letztere soll nickt
blos fortbestehen, er soll auch wieder durch eine Centralbehörde repräsentirt wer¬
de», an welcher sich Oestreich wesentlich betheilige» soll. Schon in den Veihand-
lungcu über die §§. 2. und 3. der Verfassung wüßte man nicht, wie Gagern,
Vincke, Radowitz nud Andere sich ihren engern und weitem Staat vorstellten, man
Mußte Vieles, was sie über die innige Vereinigung sagten, für eine Opt-mo be-
vev»Imli-lo gegen die Oestreicher nehmen. Nach dem Entwurf hört nun vollends
jeder bestimmte Begriff auf. Man scheint sogar eine Centralgewalt, ähnlich der
Provisorischen anerkennen zu wollen und doch wird dem engern Bunde die Benen¬
nung „Reich" vindicirt, trotz der Bedeuten der Hansemannschcn Flugschrift, der
dieser Name viel zu vornehm für die bescheidenen Ansprüche erscheint, welche die
Verfassung realisiren soll.
Wir wollen nun die wesentlichen Differenzen zwischen den beiden Verfassungs-
entwnrfen verfolgen. Der Berliner schließt sich ganz dem Gange des Frank-
furter an.
1. Das Reich. Frankfurt: „DaS deutsche Reich besteht aus dem
Gebiet des bisherigen deutscheu Bundes. Die Festsetzung der Verhältnisse des
Herzogthums Schleswig bleibt vorbehalten." Berlin: „Das deutsche Reich
besehe aus dem Gebiet derjenigen Staaten des bisherigen deutschen Bundes,
welche die Reichsverfassung anerkennen. Die Festsetzung des Verhältnisses Oese-
^ichs zu dem deutschen Reiche bleibt gegenseitiger Verständigung vorbehalten."
Die letztere Fassung ist unstreitig vorzuziehn, weil die erste unausführbar und
darum unwahr ist.
U. Die Reichsgewalt. Der Frankfurter Entwurf geht davon aus, den
^inzelstaaten alle höhern Negierungsbefugnisse zu nehmen. Der Berliner über¬
aßt der unmittelbaren Reichsverwaltung — mit Ansnahme der Vertretung nach
^"Keil hin, welche das Reich sich von den Fürsten ausschließlich übertragen läßt
nur wenig, in einzelnen Fällen vielleicht zu wenig. Der Frankfurter Entwurf
hatte dem Reich bestimmte Einnahmen zugewiesen; der Berliner dagegen beschränkt
sich auf Folgendes: „dz. 48. Zur Bestreitung seiner Ausgaben ist das Reich
zunächst ans die Matricularbeiträge der einzelnen Renten angewiesen. §. 40. Die
Reichsgewalt ist befugt, in außerordentlichen Fällen Anleihen zu machen oder son¬
stige Schulden zu contrahiren." Wobei sich die sehr erhebliche Frage aufstellen
läßt, wer denn uuter solchen Umständen dem Reich Credit geben wird?
III. Das Neichsoberhaupt. Der preußische Entwurf hat zwischen dem
Programm der erbkaiserlichen Partei und dem der Großdentschcn das <5,isto Alilio»
gewählt. Die Regierung ist einem Fürstencolleginm aus sechs Mitgliedern über¬
tragen, dessen beständiger Vorstand der König von Preußen ist. Alle eigentlichen
Regierungshandlungen übt dieser Vorstand aus. Es läßt sich manches gegen diese
Ausgleichung einwenden. Der Gang der Geschichte wird dadurch verzögert, und
die Gefahr, daß die vereinigte Stimme der Fürsten sich nicht selten in der Lage
finden wird, der Volksvertretung entgegen zu wirken, wird noch dadurch vergrö¬
ßert, daß ihr nach der falschen monarchischen Theorie das absolute Veto zuge¬
schrieben ist. Andererseits dürfen wir aber auch nicht verkennen, daß die beiden
wesentlichen Anforderungen, die man an die Centralgewalt zu stellen hat: Einheit
und Concentration aller staatlichen Macht, nnr in dieser oder einer sehr ähnlichen
Form realisirt werden könne.
IV. Der Reichstag. Das Staatenhans ist ganz in derselben princip¬
losen Zusammensetzung gelassen, die der Frankfurter Entwurf ihm gab, für den
Fall, daß Oestreich sich nicht anschlösse. — Die Wahlperiode des Volkshauses
ist von drei Jahren auf vier erhöht. Fehlerhaft ist es, daß an der Feststellung
des Budget das Staateuhaus gleichen Antheil haben soll, doch wird es möglich
sein, diese Bestimmung wieder nach dem Frankfurter Entwurf vor definitiver Ein¬
führung der Verfassung umzuarbeiten. Ein zur Hälfte aus Regierungsbeamten
zusammengesetztes Haus darf über Geldbewilligungen nicht Votiren.
V. Das Reichsgericht. Stimmt im Wesentlichen mit dem Frankfurter
Entwurf.
VI. Die Grundrechte. Sie haben den wesentlichen Vorzug größerer
Kürze. Auch noch in dieser Form enthalten sie viel zu viel, da dergleichen ab-
stracte Bestimmungen nur in der Form eines wirklichen Gesetzes einen Sinn haben.
Daß der K: „Der Adel als Stand ist aufgehoben," weggefallen ist, ist sehr ver¬
ständig, denn man weiß nicht, was man sich eigentlich darunter denken soll.
Außerdem ist die Abschaffung der Todesstrafe nicht ausgesprochen. Der wesent¬
liche Inhalt der übrigen Grundrechte ist dem Volke gewährt, und es kommt nu»
nur darauf an, diesen überreichen Inhalt durch wirkliche Gesetzgebung ins Leben
zu rufen.
VII. Gewähr der Verfassung. Enthält keine wesentliche Differenz-
Mißlicher ist es aber, daß nicht erklärt ist, ob die Revision der Verfassung durch
den zu diesem Zweck ausdrücklich einberufenen Reichstag in denselben, sehr er¬
schwerenden Formen geschehen soll, wie spätere Abänderungen derselben. ES ist
ferner keine Garantie dafür geboten, daß der vorliegende Entwurf auch wirklich
von den Fürsten gehalten wird, falls das Volk darauf eingeht: ein Mangel, der
um so mißlicher ist, da die Experimente mit der preußischen Verfassung vorliegen.
VIII. Neichswahlgesetz. Wir müssen zugeben, daß das Frankfurter
Wahlgesetz zu demokratisch war. Die Volksvertretung soll die Bildung des Volks
repräsentiren, das geschieht aber nicht, wenn der Bildungsumfang aller Einzelnen
summirt und dann die mittlere Proportionale daraus gezogen wird. So war es
unter andern mit den aufgelösten sächsische,: Kammern. Der preußische Entwurf
geht aber auf der andern Seite viel zu weit, und muß unter allen Umständen
modificirt werden. Das Recht, zu wählen, ist an folgende Bedingungen geknüpft,
l) Alter von 25 Jahren. 2) Berechtigung zu den Gemeinde-Wahlen des Wohn¬
orts. 3) Zahlung einer directen Steuer. 4) Unbescholtenheit. 5) Fester Wohn¬
sitz von wenigstens drei Jahren am Ort der Wahl und Heimaths-
berechtigung daselbst. (Diese Bestimmung, vou der die Soldaten
ausgenommen sind, schmeckt ganz nach dem vereinigten Landtage,)
Nimmt man dazu, daß die Wahl induced und nach den bekannten drei Steuer¬
klassen vollzogen wird, so ergibt sich allerdings ein höchst conservatives, aber auch
ein höchst unwahres Resultat. Aus einer so beschränkten Wahl geht keine wahre
Volksrepräsentation hervor, und der Reichstag würde wie das Jnliparlament als
ein fremdartiges Institut dem Volk gegenüberstehn.
Wer an' dem Rand der grünen Felder dahinschreitet und seineu Blick auf dem
wogenden Meer der Halme hinanfglciten läßt, dem wird grade jetzt ein wunder-
sames Gefühl von Ruhe und Behagen kommen. Das Leben der Staaten scheint so
krank, so trostlos, dagegen das Leben der Natur, welche der Mensch seinen Zwecken
dienstbar gemacht hat, gerade jetzt so gesund, so vielverheißend. Die Periode der
Frühlingssaaten ist vorbei, schon beginnt die schöne Zeit der Ernte, wo die Scholle
des Ackers den Pflüger mit goldenem Dank bezahlt. Von der lustigen Hcnmath
über die Halmerute bis zum Spätherbst, wo die pflegmatischcu Knollengewächse
das Tageslicht kugeln, welch eine Mle von Ereignissen, wie gesetzmäßig siud
^ in ihrer Folge, und wie verständlich und nützlich für das Ganze ist jede dabei
Nöthige Thätigkeit des Menschen. Der Kreislauf, welchen der Landwirth im Bunde
mit der Natur alle Jahre durchmacht, ist in seinen Grundzügen stets derselbe,
Bearbeitung des Bodens zur Saat, Vertheidigung der Saat gegen feindliche Kräfte
der Natur und zuletzt das triumphirende Einsammeln der geschaffenen Frucht ; aber
im Detail ist seine Arbeit unendlich verschiede» je uach dem Charakter des Bodens,
welchem er sich verbündet hat, und uach dem Charakter der Früchte, welche er
baut; und alle seiue Thätigkeit fordert eine gesunde Kraft des Geistes und Kör¬
pers, einen ganzen, tüchtigen Menschen. Man ist seit uralter Zeit gewöhnt, den
Lcuidbauer glücklich zu preisen; und wenn man die Unschuld des Landes und die
Verderbtheit der Städte einander gegenüber stellte, so pflegte man dem Lande zu
schmeicheln, und den Städten sehr viel Böses nachzusagen; was sich ganz natürlich
daraus erklärt, daß die Schreibende« und Preisenden meist Stadtbewohner sind,
welche am herzlichsten das loben, was sie gar nicht, oder nur unvollständig keime».
Nicht das Glück deö Landmanns, sondern seine Stellung zu der gegenwärtigen
Krisis unserer deutscheu Entwicklung, soll hier die Leser der Grenzboten interes-
siren, es sei daher erlaubt, deu leitenden Gedanken dieser Reflexion voranzustellen.
Bei allen gewaltsamen Erschütterungen der Staaten ist die
Beschaffenheit des Landbaus in dem einzelnen Staat maßgebend
für Form und Inhalt der neuen Bildungen, welche aus der Re¬
vo lutionsperi ode herauswachsen, aber wohlgemerkt, nur diejenige Be¬
schaffenheit des Landbau's und Grundbesitzes, welche am Ende einer umstürzen¬
den Periode vorhanden ist. Und zweitens läßt sich beweisen, daß die Festig¬
keit alter, wie derueuen staatlichen Bildungen zum großeuTheil
davon abhängt, ob die arbeitenden Kapitalien eines Volkes zu¬
meist aus den Ueberschüssen des groß en Grundbesitzes oder aus in¬
dustrieller speculatio n zusammen geflossen sind. Beide Wahrheiten beruhen
auf einem und demselben Grnnde, auf der großen conservativen Kraft, welche
der Landbau und Landbesitz im Staatsleben äußert. Es ist nicht uninteressant
nach den Ursachen zu suchen, ans denen der Ackerbau gegen staatliche Neuerungen
gern reagirt, die neuen Bildungen nach seinem Standpunkt modifizirt, und ihrer
Dauer Garantien gibt. Diese Ursachen liegen theils im Charakter des Landwirths,
theils in der natürlichen Beschaffenheit des ländlichen Grundbesitzes.
Wer im vorigen Jahr die Haufen aufgeregter Bauern mit Sensen und
Dreschflegeln gegen die Wohnungen der Gutsherrn ziehen sah, und das Glück be¬
obachtete, mit welchem die elendesten Agenten demokratischer Clubs ganze Kreise
ehrenwerther Grundbesitzer zu falschen politischen Maßregeln trieben, der wird
kein großes Vertrauen zu den conservativen Instinkten der Landbewohner haben
können. Aber die Erscheinungen des vorigen Jahres sind durchaus kein Ausfluß
der Gesinnungen und Grnndstimmungen des Landvolks. Es war der Mangel an
jeder politische» Bildung, welche nicht nur beim ländlichen Proletariat, sondern
auch bei größeren Grundbesitzern, dem Strome neuer Idee» gegenüber ans eine
Zeitlang den Schwerpunkt ihres Lebens verrückte, es war ferner ein kurzsichtiger
und roher Egoismus, welcher den dnrch Abgaben und Lasten beschwerten Bauer
auf eine kurze Zeit mit unserer politischen Propaganda verband. Selbst wo noch
jetzt die demagogische Aufregung unter dem Landvolk wüthet, ist dieser Zustand
eine Krankheit, eine Art ansteckender Wahnsinn, wie sie zu Zeiten in der politi¬
schen Geschichte der Völker erscheinen. Er steht in seltsamer Opposition zu dem
ganzen Gemüth des Landmanns, den er befallen hat, und mau kaun überall bei
Aufständen unseres Landvolks die Beobachtung machen, daß die Reaction ihres
Gemüths gegen solche vorübergehende Trunkenheit eine sehr starke wird.
In Schlesien z. B. war im vorigen Jahre einem geachteten Gutsbesitzer
das Schloß von einer fanatischen Rotte demvlirt worden, bevor noch der Arm
des Gesetzes die Verbrecher erreichen konnte, hatten sich drei derselben aus Schmerz
über ihre That selbst entleibt; an andern Orten haben demvkrcuische Urwähler
ihrem radikalen Vertreter in den Kammern die stärksten Beweise von Mißfallen
gegeben, wenn er es unternahm dieselben Stimmungen zu vertreten, die seine
Wahl veranlaßt hatten n. s. w.
Die Thätigkeit des Landmanns entwickelt sein Seelenleben auf sehr auffallende
Weise; in der Art wie er sich selbst in der Welt empfindet und sein Verhält-
niß zur Außenwelt auffaßt, läßt sich das erkennen. Der Landmann fühlt sich
beständig im Zusammenhange mit dem Leben der Natur und hat täglich Ge¬
legenheit, seine Herrschaft über dies Leben auszuüben. Lebendig ist ihm sein Acker,
dessen eigenthümliche Naturanlagen er erkennt, dessen alte Kraft er als etwas ge-
heimnißvolles respectirt, lebendig ist ihm das Thier, dessen Persönlichkeit er in
seiner Weise studirt und mit Kunst und Wohlwollen beherrscht, lebendig ist ihm
auch die Pflanze seines Ackers, deren Eigenheiten und Lebensbedingungen er sein
ganzes Leben hindurch mit warmem Interesse verfolgt; ein feindliches Leben haben
für ihn auch seine Gegner, die Unkräuter des Feldes, die Käfer und Raupen,
welche seine Saaten eigenmächtig beschädigen. Dieser Umstand, daß er überall als
Herr und Gebieter über Lebendiges anstritt, gibt ihm ein Selbstgefühl und eine Hal¬
tung, deren Formen oft nicht gefällig sind, aber anch den niedrigsten Handarbei¬
ter des Feldes sehr vorteilhaft von dem Fabrikarbeiter unterscheiden. Der Knecht
welcher mit seinem Gespann die Pflugfurche zieht, wie trotzig stemmt er die Last
seines Körpers gegen den Pflug, mit welchem Herrengefühl schwingt er in kühnem
Bogen die Peitsche gegen seine Rosse; der Schäfer unter seiner Heerde stützt sich
Mit dem Stolz eines Weisen auf seinen eisenbeschlagenen Stab und lenkt in un¬
erschütterlicher Kraft durch kurze Befehle an seinen Hund das gemeinsame Volk
seiner wolligen Freunde, deren Physiognomien er mit derselben Würde erkennt,
wie der Professor die Gesichter seiner fleißigen Zuhörer. — Dieses Selbstgefühl
wird dadurch vermehrt, daß der Landmann mit den meisten Thätigkeiten des prak¬
tischen Lebens bekannt werden muß und viele derselben als Nebenwerk auszuüben
hat;-er kennt die Kunstgriffe der meisten Handwerke, ist den Geheimnissen des
Handels nicht fremd, hat Veranlassung die mannigfaltigsten geschäftlichen Verbin¬
dungen mit andern Menschen einzugehen, die Gesetzgebung und die administrativen
Einrichtungen seines Staates kennen zu lernen, daraus entsteht ein schönes Ge¬
fühl der Sicherheit, es gibt wenig Fremdes, was den erfahrenen Landwirtl) im-
ponirt, wenig Beziehungen der Menschen zu einander, von welchen er nicht dnrch
sein Leben Vorstellungen bekommen hat. Dazu kommt endlich das wichtigste von
Allem, daß jeder, auch der niedrigste Tagelöhner der Feldmark, mit eigenen Augen
den Segen erblickt, welchen seine Arbeit auf das Ganze der Wirthschaft ausübt.
Im Lauf eines Jahres wird der Kreis der landwirthschaftlichen Thätigkeit unter
seinen Angen vollendet, wer gut gesäet hat, steht seine Saat regelmäßig aufge¬
hen, wer dem Wasser des Himmels in den ausgeworfenen Rinnen genügenden
Abfluß bereitet, sieht den Wolkenbruch vielleicht ohne Schaden über das Feld sei¬
ner, Thätigkeit dahinstürzen, wer zur Erntezeit die Sense geschwungen hat, mißt im
Winter die Scheffel der Körner, welche er einbringen half. Dieser Umstand, daß
der Nutzen jeder Arbeit so Aar, ihre gute oder schlechte Besorgung von solchem
Einfluß auf das Ganze des complicirten Geschäftes ist, gewährt den Arbeiter
-nicht nur das Gefühl der Nützlichkeit in hohem Grade, sondern außerdem noch
el» Verständniß des Ganzen, ein Behagen und eine Freude an seiner Arbeit,
welche der Fabrikarbeiter selten hat. Dazu rechne man noch die bekannten Vor¬
züge des Landlebens, die gesunde Thätigkeit in freier Lust und eine verhältnißmäßige
Leichtigkeit, die ersten Bedürfnisse des Lebens zu gewinnen.
Dies kräftige Selbstgefühl des Landmanns ist in Deutschland gegenwärtig
eine der besten Garantien für die jugendliche Kraft unserer Nation. Man muß
Misanthrop sein um es wegzuleugnen. Allerdings sind die Gegenden nicht selten
wo ein schlechter Boden die Ansiedler schwach und roh erhält, wo schädliche Ab¬
hängigkeitsgesetze und eine ungesunde Vertheiluug des Grund und Bodens die
Ursache widriger Aufsätzigkeit oder eines fortwährenden Mißbehagens der Gedruckten
werden, aber bei weitem der größte Theil unserer Landbauer ist im Genuß eines
gesunden Lebens, oder doch auf dem Wege dasselbe zu gewinnen.
In seinem Verhältniß zur Welt wird der Landwirth sich daher um so mehr als
Egoist ausweisen, je weniger er durch anderweitige Thätigkeit humanisirt ist. Gewöhnt,
sich als nützlicher Mensch, als der Mittelpunkt, oder als nothwendiger Theil eines
geschlossenen Ganzen, der Wirthschaft, zu betrachten, ist er geneigt, von diesem
Mittelpunkte aus die übrige bestehende Welt so anzusehen, als sei sie zu seinem
Nutzen vorhanden, wie sein Acker, sein Gespann. Aber der Egoismus des Land¬
bewohners ist bei aller Roheit doch nicht ohne eine sehr gemüthliche Zuthat. Er
schließt sich uicht ab gegen die Welt, sondern er verarbeitet sie gern und mit war¬
mem Herzen. Mau hat das Gemüthsleben unserer ländlichen Bevölkerung häufig,
aber nicht immer glücklich als Stoss für die Poesie benutzt, indem man die Ein-'
fachheit der Lebensformen als Gegensatz zu einer großen Sentimentalität des
Empfindens verwandt hat. Die wichtigsten Eigenthümlichkeiten, welche das
Gemüthsleben des Landmannes charakrerisircn, sind verhältnißmäßig wenig
ausgebeutet. Durch seine Beschäftigung mit den mannigfaltigsten Formen des
Naturlebens erhält der Landwirth ein gutes Verständniß für das Charakteri¬
stische. Die Persönlichkeit seiner Feldfrüchte, seiner Thiere, seines Bodens gibt
ihm die Fähigkeit auch das Individuelle im Menschenleben zu verstehen und zu
achten, er hat einen richtigen Blick für Menschen und ist im Verkehr mit ihnen
in der Regel vorsichtig, oft listig; wo die Rücksicht auf seinen Vortheil und das
Nützliche ihn nicht ungerecht macht, ist er geneigt den Fremden, welcher ihm im-
ponirt, anzuerkennen und gelten zu lasse«. Deshalb ist der Landmann in der
Politik nichts weniger als ein Gleichmacher; Alles was ihn umgibt hat seiue eigene
eigenthümliche Existenz, der Weizen gedeiht nicht, wo der Roggen noch Frucht
trägt, der Hafer schüttelt seine Rispe da, wo die Gerste kummervoll dahin sieht,
das Rin.d gedeiht oft nicht, wo das Schaaf sich behaglich nährt. Ja, da er ge¬
wohnt ist auch die kleinen Unterschiede in dem individuellen Leben seines Kreises zu
berücksichtigen, so ist er auch Mensche» gegenüber sorgfältig beflissen, dieselben nach
ihrer Stellung und Persönlichkeit zu unterscheiden, und jedem einen besondern
Antheil von Achtung zu gewähren, für sich selbst aber seinen Theil mit eifersüch¬
tiger Wachsamkeit zu behaupten. Deshalb umgibt er sein Leben überall mit einem
gewissen Ceremoniell und mit Schicklichkeitsformen, über welche wir lächeln mögen,
die aber doch ihren guten Grund haben. Der große Bauer sieht herab auf den
kleinen Bauer, der Halbbaucr ans den Gärtner oder Kossäten, der Freigärtner
auf den Tagelöhner, der Großkuecht auf die andern Knechte, der Knecht auf
deu Pferdejungen und so herab. Jede Wirthschaft ist ein administratives Ge¬
bäude voll von Graden und Abstufungen, von deuen jede ihr eigenes Selbst¬
gefühl hat, sie ist eine Art von chinesischem Knopssystem, von dem niedrigsten
Mandarin, dem Gänsejungen, bis zur strahlenden Sonne des Ganzen hinauf,
dem Herrn. Diese Gewohnheit, die verschiedenen Thätigkeiten in Rang und
Stellung zu charakterisiren, ist eine Hauptursache, daß der Landbewohner monar-
chische Jnstincte hat und den rothen socialistischen Theorien unzugänglich blei¬
ben wird. Es ist belehrend zu untersuchen, welche Wirkung diese streng monar¬
chische Verfassung des Landbaus, welche offenbar aus der ursprüngliche,! Anlage
des Volkes hervorgegangen ist, in den verschiedenen Ländern auf die Staatsform
jetzt ausgeübt hat, am vollständigsten ausgebildet ist sie bei den Deutschen,
f"se gar nicht vorhanden bei den Nordamerikanern. Es mag jedem überlassen blei¬
ben, ob er den Mangel derselben für einen Vorzug der nordamerikanischen Freiste
ten halten will, sicher ist, daß dieser Mangel zunächst eine Folge des hohen Werths
von arbeitender Kraft in Amerika ist, und daß ähnliche Formen wie bei uns, sich
höchst wahrscheinlich auch in Amerika einfinden werden, wenn die Bevölkerung
lange Zeit in demselben Maaße zugenommen haben wird.
Daß bei uns aber die bestehende Einrichtung aller Wirthschaften einen großen
Einfluß auf die loyalen Stimmungen der ländliche» Bevölkerung ausübt, darf
nicht verkannt werden. Auch in den Gegenden, wo das aufgeregte Landvolk in
Massen nach Republik ruft und mit Sensen auszieht, sie zu erringen, ist der In¬
stinkt des Volkes für Monarchie noch eben so sehr vorhanden als in Anderen, und
wird sich sicher über kurz oder lang geltend machen. Denn die Gemüthsstimmungen
und natürlichen Neigungen der Völker werden, wie bei einzelnen Menschen, oft
durch die Stürme plötzlicher Affecte durchkreuzt und in den Hintergrund gedrückt,
sie tauchen doch immer wieder auf, erlangen nach und nach ihre alte Macht wieder
und geben gerade da den Ausschlag, wo es gilt, große Krisen zu beendigen. Der
größte Theil der schnellen Umschläge in den Stimmungen eines Volkes ist aus
den Gegenarbeiten seiner dauernde» gemüthliche» Neigungen und temporären Lei-
deuschafreu zu erklären.
Die Neigung des Landmanns zu monarchischen Institutionen wird durch
eine andere Eigenthümlichkeit seines Empfindens bedeutend verstärkt, durch sein
Festhalten an dem Bestehenden, Gegebenen, an dem Gesetz und Brauch, in
welchem er eingelebt ist. Auch diese Eigenschaft hat ihren Grund in der jähr¬
lichen regelmäßigen Wiederkehr aller seiner Geschäfte, so wie darin, daß alle
Handgriffe, alle technische Fertigkeit, welche er sich erworben hat, ihm weit mehr
imponiren und größeren Antheil an seinem Selbstgefühl haben, als wir Cultur-
menschen uns träumen lassen. Jeder Landwirth weiß, wie schwer es ist, heimelt
Arbeitern neue Handgriffe, neue Ackerwerkzeuge anzugewöhnen, es ist uicht Unge¬
schicklichkeit, welche sich dagegen stemmt, sondern verletztes Selbstgefühl und Miß'
trauen gegen eine Neuerung, welche mehr zu bedeuten vorgibt als das, was der
Arbeiter bis dahin mit Sicherheit sein eigen genannt hat. Dies zähe Festhalten
an dem Bestehenden läßt sich beim Landmann in ruhiger Zeit an allen Richtun¬
gen seines Lebens wahrnehmen, es ist eine bekannte und alte Klage; es wird
auch in Beziehung anf den Staat sich allgemein geltend machen, wenn erst der
Bauer einsehen wird, daß seine egoistischen Interessen durch das Revolution^
fK'ber nicht unbedingt gefördert werden, daß die Getreidepreise deshalb niedrig
stehen, die Abgaben sich vermehren, und daß durch die Mobilmachung der Heere
ihm die Arbeitskraft seiner Söhne und Knechte entzogen wird. Wir haben, w»
er nicht schon eingetreten ist, bei unserem Landvolk in der nächsten Zukunft eine»
großen Rückschlag der Stimmung zu Gunsten der Kronen zu erwarten.
Was hier gesagt ist, sollte in kurzer Uebersicht längst Bekanntes begründe«,
daß Leben und Thätigkeit das Individuum auf dem Lande bei uns im Allge¬
meinen conservativ stimmen und wahrscheinlich noch lange stimmen werden.
dem gegenwärtigen Kampfe um ein neues Staatsleben sind diese Stimmungen
des größten Theils der Bevölkerung nicht deshalb von so großer Wichtigkeit, weil
ste in dem Kampf selbst sich mit unwiderstehlicher Kraft geltend machen, sondern
deshalb, weil sie vor einem rücksichtslosen Abwerfen bestehender Verhältnisse
warnen müssen; denn jeden Schritt, welchen die Fortschrittspartei zu weit geht,
wird das Volk einst, in Zeiten größerer Erschöpfung, wo die Grundstimmung
der Mehrzahl wieder zu ihren Rechten kommt, zurückgehen müssen.
Aber die Stimmungen der Individuen sind abhängig von ihren Lebensver¬
hältnissen, und wenn die Bedingungen ihres Lebens Andere werden, ändern sich
wehr oder weniger die Ansichten der Menschen. Der Einfluß, welchen der Land¬
bau auf die politische Entwicklung ausüben muß, hängt also nicht allein von den
Landbauern ab, sondern auch von der Beschaffenheit des Grundbesitzes, seiner
Größe, seiner Cultur und seiner Stellung zu Vermögen der Nation.
Der alte Streit darüber, ob großer oder kleiner Grundbesitz vortheilhafter
für das Leben der Völker sei, ist in diesem Blatt durch Koppe behandelt worden,
ich kann mich auf das Urtheil des berühmten Landwirths beziehen und kurz fassen.
Die eigenthümlichen Vortheile des großen Grundbesitzes für die Entwicklung der
nationalen Kraft sind im allgemeinen folgende: Er ist für dünn bevölkerte und
entlegene Länder, oder für uncultivirte Landstriche von mäßiger Bodengüte das
einzige Mittel, dieselben zu cultiviren, weil in beiden Fällen eine ausgedehnte Wei¬
dewirthschaft, also Viehzucht nöthig wird, entweder um die nicht verkäuflichen Früchte
der entlegenen Gegend in Fleisch, Wolle, Talg, Hänte zu verwandeln und so zu
versilbern, oder um den Boden dnrch Weidegang und Dünger großer Viehheerden
zu dem Ackerbau planvoll heranzubilden; er gibt ferner, gut bewirthschaftet bei
jeder Bodenbeschaffenheit im Ganzen genommen höhere Ernteerträge,
als der kleine Grundbesitz, weil der große Vorrath von Arbeitskraft da, wo es
gerade Noth thut, in schneller Concentration wirken kann; weil Anforderungen der
einzelnen Früchte an eine bestimmte Beschaffenheit der Ackerkrume weil mehr be¬
rücksichtigt werden, und endlich weil ein großer Besitz auch leichter die Energie
"Ad Intelligenz el »es tüchtigen Menschen für sich gewinnt, während dieselbe Feld¬
mark in kleinere Güter getheilt, viele leitende Kräfte von derselben Intelligenz bedarf,
annähernd günstige Resultate zu geben. Für den Nationalwohlstand haben große
Güter eine doppelte Bedeutung. Einmal sind die Abzüge der Wirthschastskvsten
von der Gesammteinnahme geringer, als bei kleinen, von dem Ertrag großer Güter
^ ungefähr ein Drittel für die Wirthschaft abzuziehn, von dem Ertrage kleinerer
die Hälfte und mehr, es bleibt demnach von derselben Fläche ein größerer Nein-
^'trag, wenn sie in großem Gut zusammenliegt, als wenn sie in kleine Einheiten
Varcellirt ist; und zweitens gibt der Reinertrag in einer Hand eine jährliche
^berschußsumme, welche die productive Geldkraft der Nation wesentlich ver¬
wehrt und weitere Fortschritte der Cultur möglich macht. Wir verdanken end¬
lich dem großen Grundbesitz eine Fülle von Culturbiloungen, welche der kleine
nicht zu schaffen vermag, z. B. das Holz. Die Forstcultnr wird stets vorzugsweise
die Begleiterin großer Güter sein; die Beschaffenheit der meisten „Bauerngehölze"
zeigt, daß mit kleineren Grundbesitz, und sei er sonst noch so stattlich, sich grade
dieser Anbau schlecht verträgt. Wie sich das Ange erst des Waldes freut, wenn
er eine ansehnliche Ausdehnung hat, so wird er auch durch seine Große erst recht
nützlich nud seine Pflege vortheilhust. Auch die Schafzucht und unsere Wvllenin-
dnstrie muß man als eine Folge des großen Grundbesitzes betrachten, große Heer-
den und feine Racen sind für vorteilhaften Betrieb gleich nöthig, sie fordern eine
Arbeitskraft und Behandlung, welche sich auf kleinen Gütern nicht bezahlt. Der
Anbau der Hackfrüchte und Handelsgewächse hat den großen Grundbesitz mit der
Industrie, welche deu gewonnenen Rohstoff des Landbau's als Material benutzt,
in eine so innige Verbindung gesetzt und der Zusammenhang beider ist ein so fester
geworden, daß der größte Theil unserer nationalen Industrie, als Wolle, Linnen,
Oel, Spiritus, Mehl, Rübenzucker u. s. w. in Abhängigkeit von dem größeren
Grundbesitz erscheint: Nimmt mau dazu sein eigenthümliches Verhältniß zum Berg¬
bau, seinen ungeheuern Einfluß auf den Handel, daß z. B. unsere wichtigsten
Ausfuhrartikel nach England: Weizen und Wolle fast ausschließlich von ihm ge¬
schaffen werden, so bekommt man eine schwache Borstellung von der Wichtigkeit,
welche er für unser Staatsleben hat.
Der bäuerliche Grundbesitz, sehr verschieden in seiner Größe von dem Um¬
fange eines beträchtlichen Ritterguts bis hinab zu der Grenze des vvrtheilhaficn
Ackerbaus, zu dem Flächenraum, welcher mit zwei starken Zugthicreu bearbeitet
werden kann, gibt im Gegensatz zu den großen GntSflächen allerdings verhältni߬
mäßig kleinere Reinertrage, und liefert seine Überschüsse fast nur in Halmfrüchten,
einzelnen Stücken Zucht- und Mastvieh und kleinen Geldkapitalien der Nation ab,
aber er ist eben deshalb von ungeheurer Wichtigkeit für den Verkehr der Märkte,
den Consum des Inlands, das geschäftige Kleinleben des Staats. Der National-
öconom sollte den schönsten Nutzen desselben darin finden, daß er der großen Mehr¬
zahl von Menschen, welche nur mit kleinem Kapital arbeiten, eine gesunde, freie
und thätige Existenz gewährt, und daß das tüchtige menschliche Leben, welches sich
in der Beschränkung seiner Sphäre entwickelt, ein nie versiegender Quell ist, ans
dem die Nation die aufsteigende Kraft der Individuen schöpft; alle Kreise, alle
Thätigkeiten des Erdenlebens rekrutircn sich aus der unverdorbenen, bildungsfä¬
higen Menschenkraft, welche der Bauernstand unaufhörlich hergibt. Häufig vollen¬
det sich der Kreislauf einer Familie, welche aus dem Bauernhaus emporgegange»
in der Art, daß sie nach 4 — 5 Generation zum Landbau zurückkehrt*), oft bleibt
sie durch viele Geschlechter mit steigender Kraft in den Städten und in der Staats¬
verwaltung thätig und stirbt nach Jahrhunderten ruhmvoll ab, »der sinkt unbe¬
merkt in die große Masse des Volkes zurück.
Die Interessen des großen, wie des guten bäuerlichen Grundbesitzes sind in
der Hauptsache dieselben. Der feste Grund, auf dem die Saaten grünen, ist durch
das Gesetz dem Eigenthümer geweiht und in feste Grenzen abgesteckt; dieser bedarf
den starken Schutz des Gesetzes für sei» Eigenthum, welches jedem fremden Fuße
freiliegt, er bedarf Dauer und Festigkeit der Rechte und Gesetze, wie er der Sonne
bedarf und der jährlichen Widerkehr des Sommers. Die Einkünfte des großen
Herrn und des bäuerlichen Grundbesitzers hängen von dem Preis der Produkte,
von der Größe und Lebendigkeit der Konsumtion ab, diese aber gedeihen nur im
Frieden. Deshalb macht aller freie Grundbesitz conservativ, und Landstriche wo
freie Bauernhöfe sich vorzugsweise breiten, oder wo die Herrenschlösser das Land
beherrschen, müssen zuletzt überall conservativ werden. Man kaun das auch anders
sagen: z. B. ein Land, wo die Schafzucht herrscht, wo große Walburga» das
Klima feucht erhalten, ist in seinen Interessen conservativ. Freilich ist das nicht
mißzuverstehn. Die Kluft, die unsere Revolutionszeit zwischen großem und bäuer¬
lichen Grundbesitz gemacht hat, ist mir von vorübergehender Wichtigkeit, sobald
der Rittergutsbesitzer dem Bauer gegenüber seine lästige» Privilegien der Gerichts¬
barkeit und Polizei abgegeben bat und die servitutem des Bauern abgelöst sind,
werden beide friedlich in der Politik Ha»d in Hand gehen.
Dem producriven Landbau, welcher einen Ueberschuß seiner Erzeugnisse aus
der Wirthschaft für den Consnm des Volkes und einen Reinertrag aus den ange¬
legten Capitalien für die Vermehrung des Nationalreichthums abgibt, sieht der
unproductive Ackerbau direkt gegenüber, welcher nur soweit reicht, dem Eigenthü¬
mer des Grundstücks die Mittel zu einer beschränkten Existenz für seinen Haushalt
zu geben, das auf ihn verwandte Capital aber dürftig verzinsen. Dahin muß man
im Ganzen alle kleinen Wirthschaften rechnen, welche nicht mehr im Stande sind
kräftige thierische Zugkraft (2 Thiere) ans ihrem Boden zu ernähre», und nicht
durch günstige Lage und ausgezeichneten Bodeuwerth des Grundstücks in Stand
gesetzt sind, Gartercultur zu treiben oder dnrch sichere Tagearbeit gegen Lohn
andere Stützen ihrer Existenz zu finden. Der kleine Lambda» dieser Gattung hat
Wit verhältnismäßig größeren Bcstellungskvsten, schlechterer Zurichtung des Ackers,
Mangelhaften Fruchtwechsel und deshalb mit schlechteren Erträgen zu kämpfen und
"nährt daher hänfig gedrückte, armselige Mensche», deren Kampf um die Exi¬
stenz ein so harter ist, daß vo» all dem Guten und Schönen, welches unserm
Leben Schmuck und Würde gibt, sehr wenig in ihre Hütten fallen kann. Wer
^e Nothwendigkeit der Dismembration Predigt, hat in der Regel die Gründung
solcher kleinen Stellen vor Angen. Das ist Unverstand. W» sie übermäßig zahl¬
reich vorhanden sind, werden sie schon jetzt ein Verhängnis; für ihre Gegend.
Sie sind die Quellen eines ländlichen Proletariats, welches nach zwei, drei Jah¬
ren Mißwachs fürchterlich demoralisirt wird und der größten Noth ausgesetzt ist.
Der nützliche und weitverbreitete Stand der ländlichen Tagearbeiter ohne Grund¬
besitz ist im Ganzen weit besser daran, als diese kleinen Eigenthümer; er ist nicht
an die Scholle gebunden und kann der Arbeit nachziehn, wird auch von dem größeren
Landwirth, wo dieser freie Wahl hat, in der Regel lieber beschäftigt, als jeuer;
denn es ist sicher auf ihn zu rechne», die Lohnarbeit ist seine einzige Thätigkeit,
während der Eigenthümer mit halber Kraft arbeitet, in den schwierigste,, Zeilen
durch seine eigne Wirthschaft in Anspruch genommen wird, und durch diese sehr
häufig an nachlässige und schlechte Arbeit gewöhnt ist. Wenn man ein großes
Gut etwa von 1000 preußischen Morgen in 10 — 15 Bauergüter theilt, so wird
man zwar die reinen Ueberschüsse des Bodens sehr bedeutend vermindern, und
derselbe Boden, welcher früher 3000 Scheffel Brotfrüchte über den Wirthschafts¬
bedarf erzeugte, wird vielleicht nur noch 1000 abgeben können, und an Mastvieh,
Wolle u. s. w. im Verhältniß noch weniger, aber es werden doch noch da, wo
sonst eine Familie in ansehnlichem Wohlstand und ein Dutzend andere in der
Stellung von Amtmann, Schäffer, Schäfer und Lohnarbeitern lebten, jetzt 10—15
unabhängige Hausstande in beschränkter, aber freier und gesunder Existenz gedei¬
hen können; wenn man aber dasselbe Gut in 50 — 100 Besitzungen zerschlägt, so
wird der Ueberschußertrag des Bodens fast ganz aufhören, ja die erzeugten Früchte
werden zuweilen nicht mehr hinreiche», das Leben der neuen 50—100 Familien zu er¬
halten, der Acker wird verschlechtert, weil er dieselben für den Haushalt und zum Vieh¬
futter nöthigen Früchte alle Jahre tragen muß, die Baarkosten des Feldbaus aber
werden bedeutend vermehrt, denn wo sonst, als das Gut noch Einheit war,
15 Pflüge mit 30 Zugthieren ausreichten den Acker tüchtig zu bestellen, da wer¬
den jetzt bei 50 Familien 50 Pflüge mit eben so viel Zugthiereu nöthig sein, wo
sonst das Ineinandergreifen der getheilten Arbeit durchschnittlich 40 —5<? Menschen
täglich beschäftigte, dieselben vollständig ernährte und noch einen großen Ueberschuß
an Produkten und einen Reinertrag von dem angelegten Capital gab, da werden
jetzt bei 50 Familien 100 Menschenkräfte, also die doppelte Zahl, unvollständig
beschäftigt sein, alle in dürftiger Existenz und ohne Nutzen für die Gesammtheit. —
Die Kraft des Staates wird durch solchen Grundbesitz uicht vermehrt, außer etwa
da, wo er in die Lage kommt, die persönliche Kraft seiner Bürger in Anspruch
zu nehmen, wie beim Kriegsdienst; wohl aber wird sein Gedeihen dnrch denselben
sehr gefährlich bedroht; denn das ländliche Proletariat der kleinen Stellen hat
viel weniger Interessen, welche es mit dem großen Strom unseres Lebens verbin¬
den, als andere Klassen armer Menschen; in einer isolirten Existenz, ohne dauernde
Verbindung mit irgend einer andern menschlichen Thätigkeit, ohne Hoffnung, ohne
Furcht lebt eS dahin, weniger unglücklich, als der Proletarier der Stadt, weil
es weniger zu beneiden hat; aber auch roher, zügelloser, furchtbarer, wenn es.
durch irgend eine Phantasie in Bewegung gesetzt wird; der aufgeregte Barrikaden¬
bauer der Stadt schreibt noch auf die Häuser seiner reichen Nachbarn: „heilig daS
Eigenthum", der Proletarier des Landes demolirt die Schlösser der Gutsbesitzer.
Die conservative Kraft des Grundbesitzes wird demnach durch die kleinen Eigen¬
thümer beträchtlich vermindert, denn einfältig und kräftig wie sie in der Regel
sind, werden sie die eifrigsten Kämpfer für jede Neuerung, von welcher sie eine
Verbesserung ihrer Lage zu hoffen gelernt haben. Den Grundbesitz eines Landes
i» kleine Stellen zerschlagen, heißt nichts anders, als allen Handel, alle Industrie, alle
Cultur tödten nud deu Staat selbst in Phalausterieu vou Bettlern und Mördern
auflösen.
Ein Land, wo aller Grundbesitz in großen Haufen zusammengeballt ist, wäre
ein Laud von wenig Herren und vielen Gehorchende», als Staat eine tyrannische
Despotie, ein solcher Zustand ist das Zeichen einer niedrigen Stufe nationaler
Entwicklung, aber wohl gemerkt, einer Stufe, die zu höheren Entwicklungen führt.
Denn ist der wirthschaftliche Betrieb solcher Güter auch sehr schlecht, so gibt er
doch immer noch Ueberschüsse an Producten und außerdem Reinertrage, welche
aus der Hand reicher Gutsherrn in die Hände der Erwerbenden übergehn, Handel
und Industrie fördern, das Handwerk heben, und neben und unter dem alten
Grundbesitz allmälig einen Stand »euer und strebsamer Landwirthe heraustreiben,
bis endlich Schritt für Schritt die Mannigfaltigkeit in den Landbau kommt, welche
zum Aufblühen der Volksmacht nöthig ist. Ein Staat dagegen, wo der kleine
Grundbesitz herrscht, nachdem der große zerschlagen ist, geht seiner Auflösung ent¬
gegen; es wäre unthunlich, eine Masse kleiner Stellen zusammen zu fassen, um
neue Einheiten in größerem Maßstabe zu bilden, denn das Capital wäre nicht
vorhanden, oder seine Anlage im Grundbesitz nicht lohnend und unpraktisch, weil
es nicht mehr sicher wäre; ein solches Land würde von einer Staatskrisis zur
andern geschleudert, und entweder aussterben, oder die Bente eines erobernden
Volkes werden; in Europa würde wahrscheinlich das erstere eintreten. Denn bei
uns wird durch Zertheilung des großen Landbesitzes auch die Forstkultur vernichtet,
die steigenden Holzpreise sind dem kleinen Besitzer eine unwiderstehliche Lockung
sein Stück Wald niederzuschlagen; der Continent Europas aber kann seine Wälder
nicht entbehren, ohne an der Masse der atmosphärischen Niederschläge und der
Vertheilung derselben im Laufe des Jahres wesentlich zu leiden. Da rinn aber
die Fruchtbarkeit eines Grundstücks auch davon abhängt, daß die Frnhlingsfluthen
dasselbe nicht ersäufen, der Sommer es nicht ausdorrt, so ist ihm die schützende
Decke der Bäume ans den Berghöhen und im Oberlauf der Flüsse nothwendig,
denn diese sind es, welche unseren Bächen im Sommer das Wasser sichern und
die Schneeschmelze des Winters auf so lauge Zeit vertheilen, daß ihre Wuth nicht
die Saaten vernichtet. Unsere Wälder niederschlagen, heißt unseren Erdtheil in
eine Steppe verwandeln. Davor uns zu schützen, ist eine Aufgabe des großen
Grundbesitzes. Rußland ist ein Beispiel und einzelne Departements in Frankreich
send ein anderes. In unserem Osten uoch die Gebundenheit massenhafter Güter-
complexe, und i» einigen Gegenden Frankreichs bereits ein Dahinscheiden der'
humosen Bodeutraft und eine Verminderung der atmosphärischen Fruchtbarkeit;
dort siud die Bande der Leibeigenschaft noch nicht gebrochen, hier hat die zerstö¬
rende Wuth der Revolution bereits das Lebensmark einer edlen Nation angegrif¬
fen, indem sie ihre Wälder niederschlug und ihre großen Güter in Trümmer warf.
Deutschland liegt uoch in der rechten Mitte zwischen beiden Extremen; wohl
ist das Verhältniß des großen Grundbesitzes zu dem bäuerlichen und kleinen nicht
überall das beste; dem östlichen Deutschland wäre vielleicht mehr Theilung, den
Rheingegenden größerer Zusammenhang der Besijzuugeu zu wünschen; indeß soll
man nicht vergessen , daß Länder am AbHange der Gebirge, welche den oberen
Lauf großer Ströme beherrschen, wie Böhmen, Steiermark, Schlesien, oder Flach¬
länder in der Nähe des Meeres mit sandigem oder grasigen Grund, wie Preu¬
ßen , Pommern, Mecklenburg, Hannover ihren aristokratischen Anstrich, die Menge
großer Gütercomplexe, im höchsten Interesse der Cultur unseres Vaterlandes be¬
sitzen. Denn Böhmen, Steiermark und Oberschlesien halten durch ihre großen
Höhcuwäldcr theils die kalten Stürme des Ostens ab, theils erhalten sie den re¬
gelmäßigen Wasserlauf der Elbe, der Oder, selbst der Donan; die Flachländer
aber bedürfen Landbau in großen Räumen, um entweder auf schlechtem Boden
Cultur zu schaffen und Reinertrage zu gewinnen, oder dnrch eine höchst sinnreiche
Verbindung großartiger Viehzucht mit dem Ackerbau den letzteren vortheilhaft zu
machen. Der größte Uebelstand der großen Güter in manchen Gegenden Deutsch¬
lands ist der, daß sie nicht kräftige Bauergüter ueben und zwischen sich besitzen
und nach Ablösung der bäuerlichen Lasten und Roboten aus sich ausscheiden, son¬
dern kleine kraftlose Besitzungen, welche ihnen und dem Staat zum Schaden ge¬
reichen. Im Ganzen aber ist der Blick auf die Vertheilung unseres Grundes
beruhigend, denn die Morgenzahl der Besitzungen, welche ihrer Große nach der Gewähr
von Uebcrschüssen sähig sind, ist die unendlich überwiegende; und demnach ist auch
der Einfluß, welchen der Landbau ans unsere politischen Gestaltungen auszuüben
hat, ein conservirender. Auch ist nicht zu fürchten, daß unsere Revolutions-
periode große Veränderungen in dem Verhältniß des großen Grundbesitzes zu
zu dem kleinen hervorbringen wird; die Aufhebung der Majorate und Fideikom-
misse wird den großen Grundbesitz viel weniger zerschneiden, als die Besitzer jetzt
fürchten, und unsere großen Gutsherren mögen so conservativ und loyal als
möglich sein, sie haben das Schicksal nicht zu fürchten, das den Adel Ludwig XVI
traf, denn sie sind nützliche Staatsbürger geworden.
Und wenn man die Erschütterungen bedauert, welche die gewaltsame Aufhe¬
bung der Scrvituteu in dem Wirthsschaftsbetrieb und Wohlstand großer Grund¬
besitzer hervorgebracht hat, so darf man sich doch tröstend sagen, daß auch dadurch
die Existenz und das Gedeihen des großen Landbaus ernstlich nicht gefährdet wird,
denn mit den Gespanndiensten und stehenden Verpflichtungen zwischen Gutsherrn
und Arbeitern fällt auch ein großer Theil der Fesseln, welche den Ackerbau hier
und da mock im alten ausgetretenen Gleise erhielten. Die größere Freiheit und
günstigere Lage aber, in welche die kleinen Landbauer durch die rechtswidrige
Aufhebung ihrer Verpflichtungen gekommen sind, wird ihnen allerdings zu gut
kommen, aber erst in den nächsten Generationen.
Wenn wir die Größenverhältnisse des deutschen Landbaus mit Befriedigung
betrachten, so dürfen wir uns noch mehr über den Höhenpunkt freuen, wel¬
chen seine theoretische Bildung und die Cultur des Bodens erreicht hat. Wahr¬
lich, wer geneigt ist, die Gegenwart schwarz zu scheu und an der starken Lebens¬
kraft unserer Nation zu zweifeln, der überschaue die Eroberungen, welche der
Ackerbau in den letzten fünfzig Jahren gemacht hat. Seit der Einbürgerung der
Electoralschafe in Sachsen, seit der Einordnung der Hackfrüchte in die Dreifelder¬
wirthschaft, welche ungeheure Masse von Fortschritten in Viehzucht, Ackerbau und
den ländlichen Fabrikanlagen! Die Cultur der Futterkräuter, der Handclsgewächse,
der Zuckerrüben; der Wieseukuustbau, die Bildung edler Racen von Schafen,
Rindern, selbst von Pferden, welche mit dem Grund, der ihre fremden Ahnen
einst an sich zog, fest verwachsen sind; die künstlichen Systeme der Frnchtfolgcn,
die Vervollkommnung der Ackergeräthschaften, die Ausmittlung des Fnttcrwerths
der Bodcnprodukre, die chemischen und physikalischen Entdeckungen über Leben und
Ernährung der Pflanzen und Nutzthiere, die Cultur selbst des Düngers, vor
Allem aber die Verbindung großartiger Fabrikrhätigkeit mit dem Ackerbau, und
die vortreffliche Organisation unserer Wirthschaften. Es freut und erhebt die
Seele, so große Resultate des menschlichen Fleißes zu sehen. Wir bewundern so
stern in die Ferne hinein, was irgendwo Wunderbares geschaffen worden, und
überall dicht um uns hat der menschliche Geist in stiller, emsiger Thätigkeit das
Größte gefördert, eine weise Herrschaft über die Natur, welche innerhalb gewisser
Grenzen fast souverän waltet. Und diese Musterwirthschasten, die Höhenpunkte
unserer Agricultur, stehen nicht mehr vereinzelt, fast in allen Theilen Deutschlands
send sie zu sehen, nicht mehr isolirt, sondern in Massen, und überall macht sich
ihre segensreiche Wirkung auf die kleineren Landgüter mehr oder weniger geltend.
Muß ich erst sagen, daß die große» Güter die Träger dieser neuen Cultur sind?
Die productive Kraft des deutschen Volkes ist in der letzten Vergangenheit nicht
nur in Wissenschaft und Kunst thätig gewesen, sie hat sich auch im Reiche des
Praktischen Geistes ihr Gebiet erobert und daS wird uus grade jetzt zum Heil
dienen.
Der Einfluß, welchen der Landbau auf deu Staat ausübt, wird aber bedingt durch
das Verhältniß, in welchem er zu den beiden anderen großen Kreisen praktischer
Thätigkeit steht, zum Handel und zur Industrie des Handwerks und der Fabriken.
Das Verhältnis; dieser beiden produktiven Thätigkeiten zum Ackerbau wird aber wieder
bcstimiut durch die Waaren, welche sie beide fördern und durch die Größe der Reiucr-
tuige, welche sie ihrerseits dem Nationalvermögen zufließen lassen. Die Abhän¬
gigkeit der Handwerker in kleinen und Mittelstädten von den Landbewohnern
ihrer Umgegend ist sichtbar genug, aber auch die großen Städte, dieHauptvrte der Pro¬
vinzen und Staaten gedeihen bei uns zumeist als Mittelpunkte, aus denen die feinere
Gcuußlicbe des umliegenden Landes ihre Nahrung saugt. Die Fabrikanten sind als
Verarbeiter der Rohprodukte ihres Landes in derselben Abhängigkeit vom Landbau,
und selbst in dem seltneren Fall, wo sie aus fremden Rohstoffen: Baumwolle, Seide
u. s. w. ihre Fabrikate anfertigen, sind sie in Deutschland wieder zum großen
Theil vom Gutsbesitzer abhängig, weil der Verbrauch solcher Fabrikate in der
Regel auf das Inland beschränkt ist und die Fähigkeit der Städter, Waaren zu
bezahlen, immer wieder davon abhängt, ob diese ihrerseits von den Urprvduccn-
tcn des Landes, den Landbewohnern, Verdienst gehabt haben. Deshalb steht in
Deutschland nicht, wie in England, das Interesse der Fabrikanten dem der Land-
b.uicr entgegen, sondern geht mit ihm Hand in Hand. Der englische Gutsbesitzer
verlangt hope Getreidepreise und Schutzzölle, der englische Fabrikant freie Ge¬
treideeinfuhr, weil er daun mit billigeren Tagelohn zu arbeiten hofft und sein
Absatz nicht von den gefüllten Taschen des englischen Gutsbeschers abhängig ist.
Bei uns freut sich der Fabrikant, wenn das Getreide „gilt" und der Verkehr
der Getreidemärkte ein lebhafter ist. Ueber Theuerung der Halmfrüchte freut sich
aber bei uns auch der verständigeLaudwirth nicht. Der deutsche Großhandel endlich ist
entweder Vertrieb deutscher landwirthschaftlicher Producte und der Jndustrieerzeug-
uisse im Irland und ins Ausland, oder Erwerb fremder Waaren für den Kon¬
sum des Inlands. Der frühere große Transitohandel Deutschlands nach deM
Osten und von dem Osten in's westliche Ausland ist durch die russische und öst¬
reichische Handelspolitik in der letzten Zeit ausschließlich aus die deutschen Grenz¬
linien, den Rhein, die Triester Eisenbahn und etwa noch ein Stück Weichsel be¬
schränkt worden und auch auf diesen sehr verkümmert; die Hauptadern deutsche»
Handels, die Eid- und Oderliuie haben ihn fast ganz verloren. Wenn aber der
deutsche Kaufmann davon lebt, daß er Erzeugnisse unseres Bodens, gleichviel ob
Nvhproducte oder Fabrikate in's Ausland schafft, oder die Erzeugnisse des Aus¬
lands, Colonialwaaren, Fabrikate, rohe Producte für den Consum des Inlandes
herbeigeschafft, so ist klar, daß auch er in entschteduer Abhängigkeit von dem Acker¬
bau seines Landes steht. Denn die Consumtionskraft seiner Gegend richtet sich
den Provinzialstädten wie auf dem Lande nach den Börsen der Landbauern. Das
Behagen, welches die Sicherheit einer guten Ernte oder eines guten Wollmarkts
in irgend einem deutschen Land auch über alle Klassen der Handeltreibenden ver¬
breitet, ist ein Zeichen der Familienabhängigkeit, in welcher selbst der Handel l>el
uns noch von dem Patriarchen der Staatsproduction, dem Ackerbau steht.
Daß auch die Summe der Reinertrage oder productiven Capitalien, welcke
der Landbau zur Vermehrung des Nationalvermögens beisteuert, bei weitem größer
sei, als die entsprechenden Capitalsvermehrungen des Handels und der Industrie,
lehrt ein Blick auf die Vermögensumstände der Menschen fast in allen größten
Theilen unseres Vaterlandes. Und das ist gerade jetzt ein großes Glück. Denn
es ist für das Lebe:: eines Staats keineswegs gleichgiltig, ans welchen Quellen
die productiven Capitalien für neue Unternehmungen zusammen fließen. Der
Grundherr, welcher die jährlichen Ueberschüsse seiner Gntsetnncchmcn anlegt, l^t
als fester, solider Mann eine entschiedene Vorliebe für alle solche Anlagen, welcke
wie der Bodencnltur in einem nahen Zusammenhange stehn, er sieht prüfend auf
das Nützliche und Dauerhafte seiner Speculationen: sichere Eisenbahnen und
Kanäle, Chausseen und Bergwerke in seiner Gegend, oder der Ankauf von Effek¬
ten, bei welchen er weniger anf hohen Zinsfuß, als auf Sicherheit achte, werden
ihn am meisten anziehen. Nicht dieselbe Vorsicht hat der Kaufmann, der Indu¬
strielle, der Händler, welcher Reinertrage außerhalb seines Geschäfts anzulegen
sucht. Die Sucht reich zu werden, lockt zu den abenteuerlichsten Schwindelgeschäf¬
ten, zu jeder Art von gewagten und unsicheren Unternehmungen, die Börsenspekulationen
der letzten zehn Jahre sind ein häßliches Beispiel davon. Liegen die productiven
Capitalien vorzugsweise in den Händen solcher Waghälse, so können die Folgen
davon sehr traurig sein. Erschütterungen des Staatscredits, schmachvolle Kor¬
ruption ganzer Klassen der Gesellschaft, Erbitterung des Volkes gegen die Be¬
sitzenden, Haß gegen das Capital überhaupt und endlich ethische und politische Lehr¬
gebäude, welche deu Staat zu vernichten drohen. Wir haben das Alles in Frank¬
reich erlebt. — Man ist gewöhnt, der unsittlichen Bestechlichkeit und der Börsen-
gauuerei unter Louis Philipp zu fluchen. Aber er selbst hatte sehr wenig Schuld;
es war ein tödtliches Leiden Frankreichs, welches sich gerade unter seiner ftied-
lichen Regierung offen darlegte, der Umstand, daß das productive Vermögen
Frankreichs vorzugsweise in deu Händen von politischen Aveuturiers und über¬
müthigen Speculanten war, es war der empvrkeimende Wohlstand einer jungen
Industrie, welcher kein genügendes Gegengewicht in dem Vermögen eines starken,
respectablen Grundbesitzes fand; es war der Fluch der alten Revolution, welche
großen Grundbesitz über den Häuser geworfen oder in die Hände von Spe-
culanten gegeben hatte. Die Geschichte Fcaukreichs ist seit Napoleon eine Geschichte
^s Capitals oder productiven Vermögens der französischen Nation, die Schwankungen
und Gefahren, an denen Frankreich leidet, lassen sich aus dem Mangel an großem
Grundbesitz erklären, welcher das Volk in seiner geraden Entwickluugsbahn bestimmen
könnte. Die Gründe, aus denen der große Grundbesitz Frankreichs selbst in den
legenden, wo er noch massenhaft vorhanden ist, wenig für das Gedeihen des
Ackerbaues, noch weniger für die Fortbildung der Nation thun kann, fordern zu
einer Vergleich«»«, mit Deutschland heraus, für welche hier kein Raum ist. —
In Deutschland sind die Geldverhältnisse fast entgegengesetzt. Die größten Fort¬
schritte deutscher Cultur, welche uns Bürgschaften für das Gedeihen unserer Zu¬
kunft geben, sind unter der Aegide unserer Landwirthschaft entstände», ich meine
den Bergbau, das Hüttenwesen und die zahlreichen Thätigkeiten, welche damit
in Verbittdung stehen; selbst die Eisenbahnen. Den größten Theil seiner Rein¬
ertrage hat allerdings der Landbau zu seinem eignen Nutzen verwendet, und daß
er in den landschaftlichen Kreditsystemen und der soliden Hypothekcnordnnng Nord-
deutschlands so sichere Garantien für Anlage seiner Capitale fand, hat wohl den
größten Antheil an dem schnellen Aufblühen seiner Agricultur
Es wird Zeit, das hier Gesagte kurz zusammen zu fassen und eine Folgerung
zu ziehen.
Der Landbau ist in Deutschland von den productiven Thätigkeiten des praktischen
Lebens noch immer die stärkste und am meisten ausgebildete, er beherrscht Handel
und Industrie, und bestimmt die Wege der nationalen Fortbildung in allen Sphären
des praktischen Lebens.
Der produktive Landbau Deutschlands ist in der Politik ans Gemüth und
Interesse conservativ; die Ausdehnung des unproduktiven ist ihm gegenüber im
Ganzen nicht gefährlich.
Unsere Revolniion kann diese Stellung des deutschen Landbaues nicht um¬
werfen.
Sobald die deutsche Politik nach außen und innen auf ihrer vernünftigen
Basis, auf den gemüthlichen und praktischen Interessen der Majo¬
rität der Nation feststehn wird, muß die Politik und der Staatsbäu Deutsch¬
lands wesentlich conservativ werde».
Dieser Zeitpunkt muß bald eintreten.
Die neuen staatlichen Bildungen in Dentschland versprechen nur dann Dauer,
wenn sie eine verständige Vereinigung der conservativen Neigungen des Grund-
besitzes mit den idealen Forderungen der Theorie darstellen.
Die Garantie ihrer Dauer liegt darin, daß der Grundbesitz noch einen Hanpt-
anihcil an den producirenden Kräften hat, welche das praktische Leben unserer
Zukunft bilden.
Von diesen, Standpunkt aus ist der monarchische Staat mit starker Executive
und repräsentativer Vertretung des Volkes die Form des Staatslebens, welche
dem gegenwärtige» Standpunkt unserer innern Entwicklung am meisten entspricht.
Wem daS hier Gesagte bekannt ist, der möge diese Reihenfolge von Bemer¬
kungen doch als wahr bestätigen und nicht für unnütz halten. Wenn die politischen
Erscheinungen des Völkerlebens so unerfreulich und verstimmend sind, wie jetzt, thut
der Besonnene gut, nach dem Grunde des Lebens selbst zu sehen und den Boden zu
untersuchen, aus dem es emporschießt. Eine solche Beschäftigung kann uns Deut¬
schen jetzt Trost und einen Halt geben. Und deshalb ist es für das sorgenvolle
Herz des Patrioten so erheiternd, dnrch die wogenden Aehrenfclder unseres Landes
zu gehen und den Fuß fest auf den Boden zu stemmen, welcher uns und die
Schon die Koalition der nationalen Parteien zu Krcmsier schloß das still¬
schweigende Uebereinkommen in sich, bei der bevorstehenden Berathung und Ab¬
stimmung über die Grundrechte den allgemein-politischen Standpunkt voranzustellen;
die Führer der Rechten und Linken gingen zwar keinen ewigen Frieden, aber doch
einen Waffenstillstand für längere Zeit mit einander ein, um während der Dauer
desselben die divergirenden Ansprüche der Nationalitäten unberührt zu lassen und
als gute Volksmänner mit vereinten Kräften gegen die Privilegien der Hierarchie
und des Adels und überhaupt gegen jenen Staat der ministeriellen Doctrin an¬
zukämpfen, der noch immer in einer unnahbaren, jenseitigen Göttlichkeit seinen
Mittelpunkt sucht, nachdem der heilige Geist, das lebendige Bewußtsein der
staatlichen Allgemeinheit doch schon so lange aus seinem Jenseits he> abgestiegen
ist und sich dem Volke mitgetheilt hat. So haben also schon die Neichstagsdepu-
tirten nach der Erklärung Stations v. 4. Jänner, wodurch gleichsam der Rechtsbo-
den für das künftige Oetrvy festgestellt wurde, den nationalen Einheitopunkr gefunden,
aus dem wieder ganz folgerichtig die politischen Differenzen heraustreten mußten; und
als die Auflösung des Reichstages und die Octroyirung der Charte wirklich er¬
folgte, da wurde das Verhalten der Volksvertreter zum Vorbilde für das Volk
selbst, und überall traten ans den mehr oder weniger indifferenten nationalen
Grundlagen die politischen Meinungen scharf gesondert heraus. Dies ist unsere
neue Märzerrungcnschaft, auf die wir jedenfalls das größte Gewicht legen müssen.
Indem sich im Schooße der sluvittisliä lijm die conservative Partei von der radi-
taken trennte und der letztem in kurzer Zeit den Platz räumte, wurde dieser Club
in einen demokratischen Verein auf nationaler Basis umgewandelt, während er
sich früher einen nationalen Verein auf demokratischen Grundlagen nannte. Damals
sah die slovimskit lin.i und mit ihr die Rechte des Reichstags die demokratische
Monarchie für einen festen und unwandelbaren Boden an, der durch die Siege
des Wiener Volkes ein für alle Mal gewonnen war und gar nicht mehr wanken
könne unter den erhitzten Kämpfen der parlamentarischen Gegner, die über diese
Grundlage mit einander einig, nur noch um ihre nationalen Palladien streiten.
Nach den Märzereignissen des Jahres 1849 gelangte aber dieser Verein zu der
Ueberzeugung, daß das lebendige Nationalgefühl nur eine Voraussetzung sei und erst
durch das demokratische Streben einen Gehalt bekomme, so wie das Herz für
einen bestimmten Gegenstand schlagen und sich mit demselben erfüllen muß. Hätte
die «Ivviuislvii ki^in mehr gereifte und zuverlässige Elemente gehabt, so würde ihr
diese neue Grundlage vielleicht Gelegenheit zu erfreulichem Wirken dargeboten
haben; so waren es aber größtentheils unreife Jungen, welche unter dem geän¬
derten Motto willkommenen Anlaß für neue Tollheiten fanden. Derselbe Verein,
der in den Tagen des Oktobers die Verbreitung revolutionärer Flugschriften unter
dem czechischen Landvolk und die möglichen Zuzüge ans denlschböhmischen Gegen¬
den noch weit energischer, als die Behörden selbst, zu verhindern suchte und für
diese loyale Haltung das offen ausgesprochene Lob des Ban Jellachich erntete, hielt
nnn die Hand über dasselbe Feuerbecken hin, in welchem sich die Anta und der
demokratische Centralverein von Wien die Finger verbrannt hatten und gab sich
Mühe, die Gotteslästerungen, die er früher über den „Weltgeist" der Wiener
ausgestoßen, in sehr barokker Weise zu sühnen. Er debütirte als demokratischer
Verein mit dem Entwurf einer Petition, worin nichts weniger verlangt wird, als:
Se. Majestät möge das Ministerium Schwarzenberg-Station entlassen, alle von
demselben erlassenen Gesetze annuliren, die vom Reichstag entworfene Charte oc-
troyiren und jene vom 4. März zurücknehmen. Da aber die Hitzköpfe der slo-
Viuislvii, Il>>ii den» doch später einsahen, daß sie auf diese Art viel zu auffallend mit
dem Strange der kaum zur Ruhe gebrachten Sturmglocke spielten, so veröffent¬
lichten sie endlich diese Petition in einer mildern Fassung, so daß sie beiläufig fol¬
genden Inhalt hatte: „Se. Majestät geruhe dem östreichischen Volke jene Grund¬
rechte zuzugestehen, welche der Reichstag schon zum Theil angenommen hat, und
zugleich dem Verfassungsentwurf seine Sanction zu ertheilen, wie er aus den Be¬
rathungen des ConstitutionsauSschusses hervorgegangen ist." Aber auch in dieser
Form beunruhigte sie den politischen Quietismus der „Gutgesinnten" und rief
eine Gegeuadrcsse hervor, für die noch immer unter dem Schutze des Belagerungs¬
zustandes Unterschriften gesammelt werden. „Schon in der Constitutionsurkunde
vom 25. April 1848," heißt es darin, „erblickten die besonnenen Patrioten die
Grundlage für das Gebäude der fortschreitenden Staatswohlfahrt. Aber durch
beklagenswerthe Verlockungen seien bald Forderungen erhoben worden, welche
keineswegs als Wunsch der uriheilöfähigcn Gesammtheit des Volkes gelten könn¬
ten, und dann sei das große Unglück geschehen — das Octroy wurde zurückge¬
nommen und ein coustituircuder Reichstag einberufen. Dieser sei ans Wahlen
hervorgegangen, die bei den schädlichen Einflüssen der mannigfachsten Wahlagitatio¬
nen durchaus nicht als der wahre Ausdruck des bewußten Vertrauens anzusehen
siud; daun habe er nur die kostbare Zeit schnöde vergeudet, im October eine ganz
falsche Stellung angenommen, die seinem Wirken fortan wie ein Kirch anhing,
und in Krcmsier eine Sammlung von Paragraphen berathen, die Grundrechte ge¬
nannt wurden, und abgesehen vou ihren sonstigen Mängeln, in Verbindung mit
dem Verfassungsentwnrfe, sogar die Basis unseres Staatsbestandcs in dem mo¬
narchischen Principe in Frage stellten. Indessen lösten die Erfolge des ruhmwür¬
digsten Heldeuheeres den Zweifel an dem mögliche» Bestände Oestreichs als eines
Ganzen (?); die Aufgabe der Constituirung hatte daher einen größer» Umfang
gewonnen, und es mußte nothwendig eine Verfassung vctroyirt werden. Jeder
besonnene Patriot werde dieses Ereigniß als ein für ganz Oestreich heilbringendes
Preisen und anerkennen, daß dieses Octroy allen sittlich zu rechtfertigenden Wün¬
schen und Anforderungen entspreche. Daher erklären die Unterzeichneten, daß sie
in der Octroyirung einen Akt von seltener Weisheit und Kraft erblicken und ein
unbeirrtes Festhalten an der verliehenen Verfassung sehnlichst wünschen."
Zwischen diesen beiden Petitionen, von denen ich die andere ihrer seltenen
reactionären Frechheit wegen ausführlicher mitgetheilt habe, suchte das Stadtver-
vrdnetencollegium durch eine dritte zu vermitteln, welche folgende Bitte enthält:
„Se. Majestät möge geruhen, unter Erlaß eines freisinnigen Wahlgesetzes die
nöthigen Vorarbeiten anzubefehlen, welche die Wahl einer volksthümlichen Landes¬
vertretung bedingen und den böhmischen Landtag mit möglichster Beschleunigung
einzuberufen." Dieses in würdigem Tone abgefaßte Aktenstück spricht die Wünsche
der gemäßigten Partei im czechischen Heerlager aus, und die Gemeindebehörde
der Hauptstadt erscheint als völlig berufen, sich an die Spitze dieser Partei zu
stellen und dasjenige, was sie als nächstes Bedürfniß des Landes erkannt hat, im
Namen desselben auszusprechen. Nur die Hinweisung auf den durch die kaiser¬
lichen Majestätsbriefe vom 24. März und 8. April gewährten constituirenden Land¬
tag, dessen Zusammentreten „durch politische Verwicklungen" verhindert wurde,
erinnert wieder an die föderalistischen Tendenzen und an die von den Czechen
stets angestrebte Provinzialsouvcränität und rief daher den Widerspruch der deut¬
schen Zeitung hervor, die seit jeher den Landtagen abhold gewesen und ihren
Wirkungskreis möglichst beschränkt wissen wollte. Dagegen trägt die Petition der
«lovimsKii, lipii das Gepräge eines ganz allgemeinen Radikalismus, ohne eine be¬
stimmte nationale Grundlage durchschimmern zu lassen.
Nun wollen wir näher nachsehen, wie sich die auswärtige Politik der
Czechen (darunter verstehe ich ihre Grundsätze im Bezug aus das Verhältniß zu
Ungar» und Deutschland) seit dem März 184!» gestaltet hat. — Der unleugbar
günstige Eindruck, den seit längerer Zeit die Stege der Magyaren ans die Mehr¬
heit der Czechen ausüben, und der sich auch bei dem Plebejer auf naive Weise
durch Eljenrufe äußert, hat wie begreiflich, nicht in eiuer Sympathie für die Ma¬
gyaren, sondern »ur in der geheimen Schadenfreude seinen Grund, daß sich auf den
ungarschen Schlachtfeldern die Illusion des abstracten habsburgischen Staates, der
durchaus nicht in dem festen Boden der Böller wurzeln will, in ihrer ganzen
Unhalibarkeit klar herausstellt. Bon Gottes Gnaden geschehen keine Wunder mehr,
der Hinblick auf den König der Könige vermag weiter keine Hilfe zu schaffen:
nur das Boll, wenn es einen Gott in sich trägt, kann Wunder wirken. Mit
Entrüstung sahen die Czechen, daß die Krone nicht in dem freien Bündniß mit
jenen Bölkern, die im Kampfe gegen die Magyaren zu ihr standen, siegen wollte,
weil in dieser Weise das Princip der Volkssouveränität mitgesicgt hätte; daß sie
nicht nur die Farce des Magyar corszag bekämpfte, sondern auch den fernern Be¬
stand der Monarchie von ihren strategischen Erfolgen abhängig machte. Nur durch
die gerechten Forderungen der übrigen Völker ließ sich der Krieg mit den Magyaren
rechtfertigen, weil der einseitig abgeschlossene Vertrag, der zwischen der magyari¬
schen Deputation und der Krone zu Stande gekommen war, mit dem allgemeinen
Princip der nationale» Gleichberechtigung als unverträglich erschien. Die Regie¬
rung mußte in einer solchen Pflichten-Kollision dem Recht der Revolution gegen¬
über jene besondern Concessionen hintenansetzen, und im Namen der Gleichheit
des nationalen Rechts den Magyaren den Krieg erklären; sie war berufen, an
die Spitze dieses „heiligen Krieges" zu treten, damit so das Gleichgewicht in der
Völkerfamilie deö neuen Oestreich bleibend hergestellt, und der Ausnahmsstellung
Ungarns, als dem letzte» Ueberreste von Altöstreich ein Ende gemacht werde.
Aber die Regierung eröffnete blos im Namen der Völker den Krieg, um ihn dann
ura, domo hat zu Ende zu führen, und durch die volle Entwicklung einer absolu¬
ten , den: Volksbewußtsein e»tgegentrete»de» Macht die alte Herrlichkeit des habs¬
burgischen Staates so viel wie möglich wieder herzustellen. In Ungarn will man
der Schlange der Revolution auf deu Kopf treten, nachdem man schon in den
andern Ländern die Sturmglocke zum Schweigen gebracht hatte; und darum that
auch das Ministerium uach dem sogenannten Siege bei Kapolna jenen kühnen Schritt,
durch den die Revolution in Oestreich geschlossen werden sollte. Aber nur Pas-
kewitsch erscheint als völlig berufen, den Feldzug zu beenden, den Fürst Windisch-
grätz so ruhmvoll begonnen. Da wo Oestreich das Bündniß seiner eigenen Völ¬
ker verschmäht, kann es sich nur aus die heilige Allianz stützen; ja, bei dein Dop¬
pelsiege, den es erkämpfen will, muß es sogar jenes profane Bündniß auf das
entschiedenste zurückweisen. Daher waren die Führer der slvvakischen und serbischen
Nation, Hurban, Seur, Stratimirowic, Knicanin keine willkommenen Bundesgenossen
der Regierung; denn sie führten ihre Schaaren „für die Freiheit und das Slaven-
thum" in den Kampf, während nach den Wünschen der Regierung nnr die unbedingte
Treue für die angestammte Dynastie und die geistlose Formel des Fahneneides,
nicht aber der Eigenwille eines freien Volkes, die Wviwodowiua oder das drei¬
einige Königreich für die begeisterte Ausdauer im Kampfe entscheiden soll.
Aus dem Gesagten läßt es sich leicht erklären, wie die Czechen zu gleicher Zeit
sich über die großen Verlegenheiten des Barons v. Weiden und über die klei¬
nen Erfolge des „ritterlichen Helden" Stratimirvvic freuen konnten; denn dieser
steht noch an der Spitze eines nationalen Kreuzzugs, während jener nur ein
diplomatisches Rechenexempel auf strategischen Wege zu lösen hatte. Vorläufig
halten die czechischen Organe noch immer an der Idee eines östreichischen Bun-
desstaates fest, obgleich sie kein rechtes Vertrauen mehr dazu haben; aber wie
würde»es wohl damit stehen, wenn die crvatisch-serbische Bewegung, die bis jetzt
noch eine föderalistische ist, gleich der in Ungarn und Italien in einen Uuabhän-
gigkcitskampf umschlagen sollte? Die Hanptsührcr der südslavischen Bewegung
vertreten nämlich zwei verschiedene Richtungen; die einen streben die Autonomie
des dreieinigen Königreichs und der Woiwodowina innerhalb des östreichischen Län-
dcrcompler.es, die andern aber die Verschmelzung der beiden Serbien und der
übrigen südslavischen Länder, die theils unter östreichischer, theils unter türkischer
Herrschaft stehen, zu einem selbstständigen Ganzen als letztes Ziel an. Wenn nun
diese andere Partei, die in ihrer Abenteuerlichkeit ohnehin dem naturwüchsigen
Sinn der Südslaven mehr zusagen wird, wirklich den Sieg davon trägt, wilden
dann die Czechen anch ihrerseits wieder Barrikaden für die Idee des großmähri¬
schen Reiches bauen? O nein! Hören wir nur, wie sich die Narodni noviny
in naiver Resignation darüber ausspricht: „Wenn wir auch zugeben, daß die
Bevölkerung der böhmischen Krone an und für sich genügte zur Gründung eines
eigenen Staates, finden wir dann wohl bei uns die übrigen Erfordernisse, welche
dazu unausweichlich nothwendig sind? Wir vermissen gleich das wichtigste: näm¬
lich die Eintracht. Auf der einen Seite zwei feindlich einander gegenüberstehende
Nationalitäten, aus der andern Seite eine unzeitige Eisersucht zwischen Böhmen
und Mähren, und dazu uoch die vielfältige Zerrissenheit unter uns selbst — das
sind wahrhaftig nicht die Elemente, welche einen neuen Staat begründen." Sollte
nun wirklich der äußerste Fall kommeu — sollte sich in der That nicht mehr über
dem Gesammtstaat Oestreich der rothblauweiße Farbenbogen der slavischen Hoff¬
nungen wollen können, dann sind die Czechen selbst der größten Resignation, näm¬
lich des Anschlusses an Deutschland, sähig. „Darüber siud wir nie (?) in Zweifel
gewesen;" eben so versichern uns die slavischen Centralblätter vom 22. Mai, „daß
ein Anschluß Oestreichs an Deutschland für die Völkerfreiheit von großen Folgen
wäre, und Garantien für die Befestigung und Ausbildung der östreichischen Cor-
stitution bieten würde, wie sie Oestreich in sich gegenwärtig durchaus uicht auf¬
zuweisen hat. Es war aber die Ervbcrnngswuth des deutschen Parlaments, die
unersättliche Länder - und Völkergier des jung aufsprossenden Deutschlands, welche
uus zur Vorsicht mahnte, nachdem wir die Wirkungen des großen „Dranges nach
Osten" leider schon mit einem großen und weiten Läudcrgebiete gebüßt haben.
Jetzt ist diese Eroberungssucht gestillt, und so kann überhaupt jetzt allerdings die
Rede von einem Anschluß von Oestreich an Deutschland sein."
Mit dieser Erschlaffung haben die bisherigen rein nationalen Bestrebungen
der Czechen geendet. Sie suchten den Naturwuchs ihrer slavischen Brüder durch
ihre gemachte Romantik zu ersetzen; sie führten mit nüchterner Abstchtlichkeit das
Wunderbare wieder ein in die Prosa der Gegenwart, und pflegten jene exotische
Blüthe in dem Treibhause der Reflexion, die in Serbien und Kroatien allerdings
im Freien gedeiht. Sie entschlossen sich zur Schwärmerei, die darum ein°Selbst-
betrug war, weil ihr der Entschluß, aus dem gewöhnlichen Zustand der Nüchtern¬
heit herauszutreten, voranging. Die naturwüchsige Kraft der wahren Schwärme¬
rei ging ihnen auch ab, und sie bestanden uur mittelmäßig bei jener Bluttaufe,
der sich der naive Schwärmer ohne Bedenken unterzieht.
Die slavische Gescuumtbewcgung in Oestreich hat wohl eine innere Berechti¬
gung, die uur der Befangene in Zweifel ziehen kann — aber es fehlt ihr noch
an Maaß und Richtung, und an einem bestimmten, erreichbaren Zielpunkt. Wie
in Frankreich die Ständcglcichheit nach der Erstürmung der Bastille, so war in
Oestreich die Gleichbcrechtiguiig der Nationalitäten das nächste Motto der Revo¬
lution ; von den durch ihre Vergangenheit geadelten Nationen fordern andere wie¬
der einen freien Spielraum für die Zukunft. Handelt es sich bei der socialen
Umgestaltung darum, daß die festgewordenen Unterschiede der Stände fallen, so
ist es hier, wo die Einzelnen nicht nur mit einem bestimmten Standesbewußtsein,
sondern mit einer gewissen durch historische Reminiscenzen ausgebildeten Ausschlie߬
lichkeit sich selbst gegen das Allgemeine des Staatslebens börniren, darum zu thun,
daß diese Befangenheit, dieser Ahnenstolz, diese Ueber- und Unterordnung der
Nationen schwinde. Die Erklärung der Menschenrechte, welche Lafayette eins
Amerika nach Frankreich mitbrachte, soll in Oestreich nicht Mehr auf einzelne Staats¬
bürger, sondern auf ganze Völker Anwendung finden. Hier durften zunächst die
Slaven mit vollem Rechte von den Deutschen und Magyaren verlangen, daß sie
ihnen gegenüber jedes aristokratische Vorurtheil aufgeben, und ihre politische Zu¬
kunft in keiner Weise verkümmern mögen ; sie habe» aber darin gefehlt, daß sie
die Perspective ihrer Zukunft blos mit den Bildern ihrer Vergangenheit ausfüllten.
So haben die Czeckeu eine poetische Vergangenheit heraufgeholt, die Serben da¬
gegen verschollene Institutionen, die keine Lebenskraft mehr haben, in die Gegen¬
wart verpflanzt. Die Revolution ist nicht da, um unter den Todten Wunder zu
thun, durch das Erdbeben soll der Boden befruchtet, aber nicht die Grüfte aus-
geleert werden, damit es dann auf der Weltbühne Gespenster gebe. Der welt¬
geschichtliche Glaube kennt keine Auferstehung der Todten; sie sollen nur aufersteh»
Der Anblick der Seinestadt in den letzten Tagen vor den Wahlen zur Na¬
tionalversammlung ist ein höchst eigenthümlicher, und der Fremde, namentlich der
Deutsche, fühlt sich vollständig in eine neue Welt verseht, in welcher leine Sinne
ihm den Gehorsam zu versagen drohen. Von dem Lärm und der Agitation in
den Gassen, auf den Boulevards und Plätzen können Sie sich unmöglich eine
Vorstellung machen. Alle Mauern sind von oben bis unten mit ungeheure» Affi-
chen beklebt, welche in emphatischen Worten den oder jenen Candidaten vorschlage»;
überall stehe» lebhast gesticnlirende Gruppen von Neugierigen vor diesen Anzeigen,
und die Stimmenwerber schlüpfen bald da, bald dort durch die Menschenmenge,
um ihr Gewerbe anzubringen. Jede Partei sucht die raffinirtesten Künste hervor,
UM ihren Gegnern so sehr als möglich Terrain abzugewinnen. In den beiden
letzten Tagen vor den Wahlen ist es wirklich, um toll zu werden. Via» kaun
seine Schritte nirgends hin wende», ohne daß Einem Hunderte von Wahlzetleln
in die Hand gepreßt werden, Zettel von allen Farben, rothe, weiße, blane,
grüne, je nach den politischen Abzeichen der Parteien. Man mag machen,
was man will — es ist unmöglich, sich des Empfangs solcher Zettel zu erwehren,
und ich kann Sie versichern, daß am Sonnabend vor den Wahlen meine Tasaen
damit ganz vollgepfropft gewesen sind. D'ehe Vertheilung gibt inzwischen Anlaß
zu einer ganz besonderen Industrie — die schlauen Evicicr's machen sich dieselbe
zu Nutz, um sich auf wohlfeilste Art mit dem beuöihigten Papier zu versehen.
Sie schicken ihre Lehrburschen fort, um in allen Straßen Wahlzettel einzusam¬
meln — und so kommt es, daß man vier Wochen lang in ganz Paris keinen
Häring, kein Loth Schnupftabak kaufen kann, dessen Enveloppe nicht ein «»llvtin
<lo volo wäre. Auch Mr. Lesevbre hat eine reiche Ernte von Wahlzetteln gehal¬
ten, einzig und allein , um mit denselben, in zweckmäßigen Schattirungen, ein
kleines Gemach zu tapeziren, an welcher Tapete er nunmehr seine kindische Freude
h»t- Ich glaube übrigens kaum, daß in Deutschland jemals der Sinn für das
öffentliche Wohl so ausgebildet werden wird, wie dies hier in Paris jetzt schon
der Fall ist, wie sich das insbesondere durch die allgemeine Betheiligung an dem
Wahlgeschäft documentirt. Man muß gber auch sehen, wie sehr die politische
Lectüre hier schon zum täglichen Brot, zur Lebensnothdurft geworden ist, um den
Unterschied zwischen einer deutschen und der französischen Hauptstadt augenfällig
zu gewahren. Hier lies't Jeder sein Journal, man begegnet Niemandem, der es
nicht in Händen hielte und gehend, fahrend, stehend darin studirte; der Kutscher
auf seinem Bock, der Onvrier an der Hobelbank, der Chissonnier ans dem Kehricht¬
haufen, ja selbst der Gamin — Alle lesen die Zeitungen. In den unteren Re¬
gionen der Gesellschaft ist vor Andern das famose Journal le Peuple das poliri¬
sche Orakel. Es wird dasselbe täglich in einer fabelhaft großen Menge von Exem¬
plaren, meistens durch fliegende Buchhändler, verkauft. Jedermann, Socialist
oder nicht, kauft und lies't es, freut oder ärgert sich über seine heftigen, immer
interessanten, aber oft ins Persönliche streifenden Ausfälle. Trotz dem, daß es
schon zehnmal wegen Preßvergehen — insbesondere wegen Proudhon's, des Re¬
dacteurs oil clivt', wüthender Angriffe auf den Präsidenten und sein Ministerium
— zu immensen Geldstrafen verurtheilt worden ist, vermag doch tun noch so
schwerer Schlag sein zähes Leben zu enden. Jene belaufen sich auf nicht weniger
als 62.000 Franks — aber schon ist eine Subscription zur Tilgung derselben er¬
öffnet, die bis jetzt etwa 20,000 Fr. eingebracht hat. Dergleichen wäre in Deutsch¬
land sicherlich unmöglich. Sie können übrigens schon ans diesem einen Factum
ersehen, daß der Socialismus in Frankreich auch uuter de» Besitzenden mehr und
mehr Anhänger erwirbt. Auch in der Armee beginnt er, Fortschritte zu machen;
die Socialisten sind aber auch unermüdlich in ihren Bestrebungen, die Soldateska
zu verführen. Wie sehr dies bis jetzt schon gelungen und wie geschickt sie operi-
ren, beweist die Wahl der drei Sergeanten Nattier, Bvichot und Commissaire in
die Nationalversammlung; es muß dieselbe, weil sie dem Stolz der Soldaten
schmeichelt, einen ungeheuern Erfolg haben. Alle Kasernen werden mit gratis
vertheilten socialistischen Journalen überschwemmt, und das trotz der ärgerlichsten
Wachsamkeit der Offiziere. Wehe dem armen Troupicr, der von einem seiner
Vorgesetzten etwa bei der Lectüre des Peuple betroffen wird — man schickt ihn
so bald wie möglich nach Algerien — es mag in dieser Provinz jetzt schon eine
recht hübsche Zahl von Jüngern des Socialismus in der blauen Jacke stecke».
Auf dem Boulevard Beaumarchais sah ich vor einigen Tagen, daß ein Polizei-
sergeant einem Soldaten den Peuple ans der Hand riß. Der resolute Krieger
belohnte dies Attentat augenblicklich mit einer fürchterlichen Ohrfeige, und als der
wüthende Diener der öffentlichen Sicherheit seinen Beleidiger verhaften wollte,
hatte sich im Augenblick ein Volkshaufen so drohend um ihn gesellt, daß er froh
war, blos mit der Ohrfeige, aber ohne Gefangenen, davon schleichen zu dürfen.
Dergleichen kleine Züge werfen treffende Schlaglichter auf die hiesigen Volks-
zustände.
Interessant ist die Präsentation der Candidaten zur Nationalversammlung
vor den socialistischen Wahlcomitvs, welche mit alle» möglichen Formalitäten ge-
schickst. Ich habe dieselbe in der Katlo «le Iir tVickeniite genau kennen gelernt.
Der Kandidat besteigt die Tribüne, und der Präsident legt ihm sodann folgende
Fragen vor: I^los vous nur- in i-en»l>ki«>ne «tempel-uiisne et 8ueiiile? — (ji>elle
«8t v»tre jück'essio»? - - (jre hin-jivx onus diiN8 le« ^nnnees «lo^um? etc. l-te.
Wenn der Kandidat auf diese Fragen ruhig und wie ein vernünftiger Mensch ant¬
wortet, so fällt er ganz gewiß dnrch — schreit er aber, wie ein Besessener, ki'^t
er, wie ein Gascogner, hat er einige hochtrabende Zeitnngsphrasen auswendig
gelernt, die er mit möglichst cynischen Pathos vorzubringen versteht, und weiß
er sich insbesondere als Imsen^e «le ^um zu geriren — dann kommt er sicherlich
ans die Liste. Neulich war ich bei der Auflösung eines socialen Clubs zugegen.
Der Präsident wollte eben die 8e>-u>ce eröffnen, als an die Thür geklopft ward
und ein Commissaire de >,<>Iiev mit Begleitung hereintrat. HIe85im>'8, sagte er, je
vie»8 d'i^sistei- n votiv se-uieo. Die Versammlung brach in den fürchterlichsten
Tumult ans. Lieder« ^ nes der Präsident, I-i, eonstitiitiiiii e->t vinlee, «I >(.-un'o»8
iwus en ut»-in!in<!„et!! Aber anch das hilft nichts, denn die verthierten Söldlinge
sind hier, wie in Deutschland, zum großen Theil noch sehr geneigt, den Gesetzen
Nachdruck zu verschaffen, und trotz alles Tobens und Schreiens waren die Herrn
Mitglieder des Clubs gar bald genöthigt, ihre Protestationen in die Straßen
zu tragen.
Voll allen socialistischen Associationen besuche ich am meisten und liebsten >->,
Kitllo ,le lit i'i-it,<zi-ni>«z, me IVIüi'tel; es ist dieser Saal mit einer Pracht nett i- le-
ganz gebaut, welche kaum etwas zu wünschen übrig lassen. Merkwürdig ist, daß
derselbe vou den Arbeitern der Association ganz allein und zwar völlig unentgeld-
lich errichtet worden ist; die Kosten der Beleuchtung ze. werden dnrch Samnilnn--
gen an den Thüren gedeckt. Mein spaßhafter Hauswirth, Mr. Lesevbre, brachte
mich hier vor einigen Tagen in eine curiose Situation. In einem Scherze seiner
Art erzählte er den Nebenstehende», ich sei ein Chef der Wiener Demvkratenle-
gion gewesen, welcher bei der Einnahme von Wien geflüchtet sei. Augenblicklich
war ich vou einem ganzen Rudel höchst wild und verdächtig aussehender Kerle
umringt, welche mich dringend und angelegentlich auszufragen begannen. Nun
hätte ich nicht seiner Zeit die „Grenzboten" gelesen haben müssen, um ihnen nicht
hinreichend antworten zu können. Der Enthusiasmus stieg, man hob mich auf
die Schultern und schleppte mich nach der Tribüne, von welcher herab ich eine
Rede halten sollte. Ich hätte vielleicht gewagt, ihnen irgend eine Phrase, wie:
<^no^t!N8, 8illud et slittvrnitv tlo in I«in-t, «je Vl>8 tiervs «j'.^klein.^lie, oder Ähn¬
liches vorzudeclamircn, aber glücklicherweise genügte ihnen die einfache Entschuldi-
gung, daß mein Accent mir nicht erlaube, vor einer solchen illustren Versamm¬
lung aufzutreten. Aber ein donnernder Applaus folgte mir dennoch, als ich zu
meinem Platz zurückkehrte, wo der alte Schelm Lefevbre sich die Hände rieb und
boshaft lächelte. Vor mehreren Tagen war ich auch in dem berühmten socialisti-
sehen Club der ki.ne 8t. ^ulvae, s»le«late ni»>- I'.^Iib^ »le Nontloiiis; es ging da¬
selbst über alle Begriffe stürmisch her, denn man berieth die monströse Siurmpetition,
welche, zur Unterzeichnung in ganz Frankreich circnlirend, Louis Napoleon und
seine Minister sogleich in Anklagestand und Gefängniß gesetzt wissen will. Einen
großen Abstich gegen die genannten Neunions bildet der Club I^itimist? et« 1»
me Dunkirk. Hier ist bi»n ^em-e, Fashon und Bildung. Der Präsident ist <lo
in lioelu'jusjiivlin, aus dem alten, berühmten Geschlecht, das der Vendee ihre
Führer lieferte, er ist der größte und mit der stärksten Körperkraft begabte Mann
in ganz Frankreich, und ein vortrefflicher, begeisterter Redner. Als er kürzlich
das Recht und die Heiligkeit der Sache der Bsurbonen mit glühenden Worten
geschildert, habe ich viele Männer weinen und schluchzen gesehen, und aus hun¬
dert Kehlen erscholl der Ruf: K b.es I.l ieu»t>Il<>no! Aber dies war das Zeichen zu
einem wüthenden Kampf; es waren Eingeschlichene in dem Saal, welche furchtlos
mit dem Geschrei: Viv« I>r i-e»nlzli<>ne tlvmvei'.'etique et ««ol-rle! antworteten.
Faustschläge wurde» gewechselt, schon blitzten Messer in den Händen, als noch
zur rechten Zeit die Wache einschritt und das Local räumte. — Paris ist jetzt
die Stadt der Associationen; überall sehen Sie Schilde prangen mit-der Inschrift :
^8foci»ti«n kiittvi »eil,! des o»ol'j«i-s tailleiu-s, c«iAvur8, car^Ioniiter's, et?, etc.
Am interessantesten sind die Associationen der Otu«iuiel8. Es sind dazu unge¬
heure Locale außerhalb der Barrieren eingerichtet, z. B. an der öuiiieie
lin Alluiue, woselbst das größte sich befindet, in welchen die hungrige und durstige
Menschheit durch gemeinsame Sorgfalt, aber natürlich gegen Bezahlung , gespeist
und getränkt wird. Ueber hundert enisinieis «»«.ietiüros lausen in bien Räumen
Umher: t!it0)'e», sj»e l'und it von» «ervie? Oiw^e» , veuillex von« ils«uir etc.
Hier vereinigt sich die Hefe und der Schmutz von ganz Paris, betrunkene Män¬
ner und Weiber wälzen sich auf den Bänken und Tische« , düstere, viehisch ab.-
gcstumpfte Physiognomieen stieren mit verhängnißvollen Ausdruck nach jedem
Wohlgekleideteu, der einzutreten wagt; Vmielun«!, ^riitto, hört er von allen
Seiten murmeln. Jeder hier Einheimische hält einen großen steinernen, mit Eisen
beschlagenen Topf vor sich, der mit einem Getränk angefüllt ist, welches sie Wein,
oder vielmehr le nelle, bleu ne In buri-lei-e nennen. Hier ist wöchentlich d^er
Schauplatz der großartige» Razzia's, welche die Pariser Polizei mit unnachahm¬
licher Gesckicklichkeit und Muth auszuführen versteht. Jetzt freilich werden Sie
hier nicht blos deu Auswurf der Gesellschaft mehr finden: ich glaube, daß viele
Mitglieder der nunmehrigen Nationalversammlung ebenfalls dort Stammgäste sein
werden. Deun dieselbe ist ans Elementen zusammengesetzt, welche solche Ver-
muihnug sehr rechtfertigen. Daß 3 Schuster, ein Maurergeselle, 3 Sergeanten,
ein Schornsteinfegergehülfe rc. darin sitzen, ist nicht befremdlich; aber daß unter
den Mitgliedern zwei Borbet'lwirthe (in Mteon und gewählt) und ein Hen¬
ker (!l>un) sind, das ist doch zu arg. Lächerlich war der am Freitag stattfindet
Auszug der socialistischen Deputirten des Elsasses, die mit den ^>8«u-rei>'ich n»-
tuniil!^« anlangten. Die Knie sahen alle aus, wie bankerotte Vagabunden, tru¬
gen als Kopfbedeckung das bekannte >»in,>«.>t ni>i)j>i(!», und Mehrere ungeheure
Säbel an der Seite. Und von diesen Hanswursten erwartet man das Heil der
Die Krystallisation der Parteien, welche ans dem deutschen VerfassungSwerk
entsprungen ist, hat sich um zu so bestimmten Formen gebildet, daß in den
Nächsten Tagen jede der großen Fraktionen aus der Paulskirche durch ein eignes
Parlament vertreten sein wird. Die Majorität der letzten Sessionen, aus der
ehemaligen Linken zusammengesetzt, ist mit dem gesammten Bureau nach Stutt¬
gart übergesiedelt; der kleine Nest der Großdeutschen, mit andern, weniger klaren
Elementen zersetzt, ist unter dem Schutz der Frankfurter Legitimität und der Cen-
tralgewalt zurückgeblieben, und sucht ihre früheren Verbündeten, auch wenn sie
sich üUter die Heerlager Haynau'ö oder Radetzky's verloren haben sollten, wieder
zusammen zu trommeln, und das Zeichen des Weidenbusches wird in wenig Tagen
in Gotha aufgesteckt werden.
Was die Linke betrifft, so hat es sich wohl mehr und mehr herausgestellt,
daß unter diesen blutrothen Brustbändern keine Löwenherzen schlagen. So lebhast
Wal sich in den letzten Tagen gegen die Tyrannen und die russischen Unterknäse
echauffirte, so waren die Grausamkeiten, die Man mit denselben vornehmen wollte,
doch mehr in unbestimmten Umrissen angedeutet, als in deutlichen Zügen ausge¬
führt. Die Paulskirche erlebte das sonderbare Ereigniß, daß Herr Vogt sich be¬
rufen fühlte, gegen die Ungezogenheiten eines weiter Vorgeschrittenen zu remvn-
striren und die gesammten Entschiedener waren darüber bestürzt, daß sie die Ma¬
jorität erhielten und um erklären sollten, was sie eigentlich vorhätten. „Den
Platz changiren!" Das war endlich das bequemste Stichwort. Stuttgart ist der
Sitz des größten unter den Staaten, welche die Verfassung anerkannt haben; es
sieht also so aus, als ob hier der Mittelpunkt des verfassungsmäßigen Klein-
deutschlaud und der Operationen gegen die rennenden Könige gesucht werden solle.
Einerseits ist aber die geographische Lage dieses Kleindeutschland nicht von der
Art, sich lange zu halten, andererseits hat unter den verbündeten Staaten kein
einziger Lust, sich für die Linke zu schlagen, selbst Würtemberg nicht, wo die
Negierung sogar darüber in Zweifel ist, ob sie dem Rumpfparlament überhaupt
auch nur ein officielles Lokal einräumen soll. Ein Staat nach dem andern wird
zu den Sonderbnudlcrn abfallen und zuletzt wird dem Rumpf nichts weiter übrig
bleiben, als sich weiter nach links zu wenden, nach Badni hinaus oder nach der
Pfalz, wo die liederliche GaminwirllMaft sich bereits eines solchen Umfangs er¬
freut, daß es von den Regierungen sehr unklug ist, sich darein zu mischen: sich
selbst überlassen, würde die heitere Maskerade in wenig Tagen zu Eude sein.
Noch wunderlicher sieht der zweite Rumpf ans, der uuter der Führung der
Herrn Wuttke und Buß i» Frankfurt zuiückgebliebeu ist. Er schaart sich um eine
in Bezug auf die Zahl ihrer Mitglieder noch ziemlich complicirte Reichsregiernng,
die aber ans dieser weiten Erde nichts zu regieren hat, und die von Niemand
mehr anerkannt ist. Indeß kommt es dieser großdeutschen Partei — in deren
Namen neulich Herr v. d. Pfordten eine Erklärung gegeben hat, deren Perioden-
bau nnr in Deutschland möglich ist: „freilich", „indessen", „sondern", „aber"
u. s. w. mit einem Wort: wie kaun das uralte Haus der Wittclbacher hinter den
jungen Parvenus, den Hohenzollern, hergchn! — es kommt dieser Partei weniger
darauf auf, daß etwas geschieht, als daß nichts geschieht, nichts nämlich, um die
Souvcräuitcitsrechte der europäischen Staaten Baiern u. s. w. zu beeinträchtigen.
Baiern befindet sich in der sonderbaren Lage, weder mit Preuße», noch mit dem
Frankfurter Parlament, noch mit dem Stuttgarter, noch selbst mit Oestreich gehen
zu können, und die Thätigkeit der großdeutschen Partei wird sich so ziemlich daraus
beschränken, durch Herrn Professor Wuttke Bußpredigten gegen die Erbkaiscrli-
cheu ius Leipziger Tageblatt zu schicken.
Die Versammlung zu Gotha wird von den drei Parlamenten entschieden das
würdigste sein, denn die edelsten Kräfte der Nation werden sich darin vereinigen.
Aber ihre Stellung ist zu unklar, als daß sich eine sehr bedeutende Wirksamkeit
von ihm erwarten ließe. Einmal wird bis dahin Manches eingetreten sein, was
der Bewegung einen bestimmter» Impuls gibt, als alle Berathungen wohlmeinen¬
der Männer; sodann wird sie sich gar zu leicht versucht fühlen, sich wieder als
eine Art Vorparlament zu geriren, und in die schon hinlänglich ausgebildete Ver¬
wirrung noch einen neuen Knäuel zu werfen. Ihre edle Aufgabe ist die doppelte!
einmal die drei verbündeten Mächte zu Modifikationen in ihrem Verfassungsent-
wurf, namentlich aber im Wahlmodus, zubewegen; andererseits die kleinen Staa¬
ten zu bestimmen, sich alsdann dem Entwurf anzuschließen. Unter den vorhandene»
Uebeln — der rothen Partei und der schwarzgelben — ist dies das erträglichste-
Es war eine gute Zeit, wo der Berliner sich noch damit begnügte, die Welt
und ihre Wirren durch die graue Brille der guten alten Tante zu betrachten. In
keiner Haushaltung fehlte das treffliche Löschpapier zum Morgenkaffee, und nur
ein ganz abnormer Gesundheitszustand hätte es entschuldigen können, wenn man
eine Seite der 2—3 Bogen schlechten Drucks überschlagen hätte. Zuerst kamen
die amtlichen Ernennungen, die Orden, dann folgten unter der Rubrik Paris kurz
gefaßte und ziemlich unverständliche Aphorismen über Thiers, Guizot, Spanien, die
Börse, den Proceß Lafarge, Nordamerika, Peel und mehreres andere, dann unter der
Rubrik London das nämliche, und dann kamen die vermischten Nachrichten. Diese
ganze Reihe war dem Bürger mir darum bequem, weil sie ihm häufiger Gelegen¬
heit gab, den Kopf zu schütteln, als eine Zeitung, welche zusammenhängend re-
serirte. Der eigentliche Inhalt kam erst später: zuerst Rellstab mit den anmuthi-
gen Kritiken über das königliche Theater, die Concerte, einzelne ihm eingesandte
Romane und lyrische Gedichte, vorzüglich aber in der Winterzeit mit den liebens¬
würdigen Weihnachtswauderuugen, welche dem guten Berliner ein Leitstern wür¬
den für die Pflichten seiner Zerstreuung. Dann ging man zu den officiellen
Theateranzeigen, den metercologischen Notizen und dem Börsencours über, und
uun nahm der Bürger und Hausbesitzer rasch einen neuen Schluck Kaffee, und
rückte die Nachtmütze zurecht, den» jetzt trat „Berlin wie es ist" selbstredend aus
die Bühne, es kamen die Civis, die viens pro in»Ili8, die X. U. Z. und andere
Metamorphosen des Philisterthums mit ihren Bemerkungen über die Gasbeleuchtung,
die Religion, die Straßenrciuigung, die höhere Politik und die Mißbräuche des
Droschkenwesens. Durch Länge und Gelehrsamkeit zeichnete sich der Stadtrath Breda,
durch einen gewichtigen Lapidarstyl der Oberst v. Bülow aus. Welchem Berliner
schlug nicht das Herz vor Entzücken, wenn er folgenden Aphorismen las:
^Varna ist manelwr (Zeistlielie, der llocli alas lüllristentlnim nielit liloss teu-
ren, sonäern aucti snsüken sollte, nocll immer «o jntvieiimt?
Das ist ein Manu! der hat es den Jesuiten „jut" gegeben! Und wir lebe»
eigentlich doch in einem aufgeklärten und ziemlich freisinnigen Staate, denn die
Censur verwehrt es uns nicht, uns über die Orthodoxie zu moquiren, wenn wir
um die Grenzen des Anstandes nicht überschreiten.
Auf die kleinen Plänkler der „Eingesandt" folgte das Gros der Armee, die
Kindtanfs-, Hochzeits-, Todes-Anzeigen; die Anpreisungen der jüdischen National-
Kleider-Magazine: „Meine Herren! es gibt keine Armuth mehr! wer tausend
Thaler gewinnen will, komme, Spandauer Sachen so nud so viel, da sind Bein¬
kleider und Westen so wohlfeil, daß man einen jährlichen Gewinn von 50 Thalern
dabei macht, den Procenten jenes Capitals." Und wie die gute» Botschaften
sonst lauteten.
Ein wunderbares Gesicht machten die Berliner Zeitungen im Jahr 1840, als
mau es höchsten Orts für angemessen erklärte, auch über vaterländische Angele¬
genheiten freimüthig, wenn auch bescheiden und wohlmeinend sich zu äußern. — Ja
worüber sollte man sich in aller Geschwindigkeit hören lassen? — Die Spenersche
betrat zuerst die Bahn deS Ruhmes und der Freiheit. Ju einer Reihe leitender
Artikel wurde die Budensrage ventilirt: ob es zweckmäßiger wäre, dein Opernhaus
gegenüber die Neuerung kleiner Verkaufsladen einzuführen, oder den alten Zustand
zu conserviren? Der Federkrieg wurde ziemlich lebhaft geführt, und dauerte einige
Monate. Die Vossische gewann einige Zeit darauf einen noch viel einträglicheren
Inhalt durch den Eifer des Herrn v. Drieberg, das Publikum darüber aufzuklä¬
ren, daß eS keinen Luftdruck gebe, und durch die nicht minder große >We der
Physiker, die Legitimität des Barometers zu retten.
So konnte es indeß auf die Dauer nicht fortgehen. Die Provinzialpresse
bediente sich des neugewonnenen Raums für den Flügelschlag einer freien Seele
mit großer Lebhaftigkeit, man kaun sagen, mit einigem Muthwillen. In Köln,
in Königsberg, selbst in Stettin erschollen StaatSgesprächc, und der Berliner konnte
sich nicht genug wundern, daß er erst ans der Fremde erfahren mußte, was in
seiner unmittelbarsten Nähe gethan würde. Denn der eigentliche Mittelpunkt alles
dessen, was in den deutschen Zeitungen geschrieben wurde, blieb immer Berlin:
entweder wollte man auf die Negierung einwirken oder man wollte sie ärgern. Am
meisten aber mußte es den gutgesinnten Bürger befremden, als selbst die Regie¬
rung, die sich damals gleichfalls der Presse zu bemächtigen suchte, ihre Organe
in die Provinzen verlegte. Das Berliner politische Wochenblatt, welches eigentlich
nie für nule wirkliche Zeitung hatte gelten können, war mit der Thronbesteigung
Friedrich Wilhelm IV. eingegangen, die Staatszeitung nahm mir für eine kurze
Zeit, unter Hermes, einen selbstständigen Anlauf, und man überließ es dem rhei¬
nischen Beobachter und der Zeitung für Preußen, das herrschende System gegen
die subversiven Theorien der Liberalen zu vertheidige».
Freilich wurde der größere Theil dieser Zeitungen dennoch in Berlin geschrieben.
Die abstracte Literatur, welche-in ander» Zweige» in Leipzig wucherte, fand in
den politischen Geschäften doch in Berlin ihren ergiebigste» Boden. Von Stehcly
aus und dem Häringschen Lesekabinct wurden sämmtliche deutsche Zeitungen ver¬
sorgt, radicale wie reactionäre. In die Berliner Zeitungen zu schreiben, sand
Man keine Veranlassung, denn sie zahlten kein Honorar. Die Eigenthümer der
Zeitung — von einer eigentlichen Redaction war keine Rede — bewirthschafteten
dieselbe, in Beziehung ans Politik nach den Grundsätzen der strengste» Oekonomie.
Irgend ein Herr nahm die am Abend erschienene Staatszeitung, zog daraus mit
möglichster Schnelligkeit einige Notizen aus, die nun so confus als möglich zusam¬
mengestellt und durch willkürliche AuSwssnugcn unverständlich gemacht, den fol¬
genden Morgen neben deu Charaden des Beobachters an der Spree das Publikum
erfreuten. Die Zeitung hatte ihre ungeheure Einnahme lediglich aus deu Inserate»;
durch ni»e Vergrößerung ihres Leserkreises konnte sie den Ertrag nicht vermehren,
sie fühlte also auch keine Veranlassung, da« Publikum durch irgend eine kühne
Neuerung anzulocken. Die Zeitung gedieh, wie das Unkraut, naturwüchsig, sie
schrieb sich selbst, ohne Nachdenken und ohne Leidenschaft.
Doch ging sie mit der Zeit mit. Namentlich als die Deutschkatholiken und
die lichtfreundlichen Proteste auftraten, öffnete sie ihre Spalten dem Geleier dieser
armen Propheten. ES war nicht blos das Pflichtgefühl des Modewaarenhändlcrs,
mit der gangbaren Waare die Käufer zu bedienen, es war auch Gesinnung; man
ärgerte sich ernstlich über Hengstenberg und die übngcn Heiligen, die in einer so
aufgeklärten Zeit wieder .das große Wort führen wollten. Im Deutschkatholicismus
sah man die Zukunft der Nation. Einheit aller Konfessionen, reines Christenthum
und dabei doch reine Vernunft, das war ja etwas ganz Vortreffliches! Nachher
gaben die verschiedenen Vereine für das Wohl der Nothleidenden hinlänglichen
Stoff zur wohlwollenden Unterhaltung, und mau ließ sich zuweilen so weit gehe»,
über die ganze Richtung der Negierung bedenklich den Kopf zu schüttet». Das
erregte so großes Aufsch», daß Willibald Aleris, der eine» derartige» Artikel ge¬
liefert, in einem königlichen Handschreiben einen Verweis erhielt.
Die Zeit des vereinigten Landtags war für die Vossische nicht günstig. Der
Grundton ihrer Stimmungen war die süße Hoffnung, es werde sich ja wohl Alles
machen. Im Landtag sprach sich zuerst die unabweisbare Thasache aus, daß es
mit diesen einfachen Wünschen doch nicht so abgethan wäre, daß sich der öffentli¬
chen Meinung ein sehr fester Wall entgegenstemmte, über den der bloße Wunsch
nicht hinausführte. Außerdem war die politische Publicität damals noch etwas
Neues, Reden mit den vollständige!, Namen waren in Deutschland noch nicht da¬
gewesen, man war noch nicht übersättigt von dem politischen Stoff, und ließ es
sich daher nicht verdrießen, die stenographischen Berichte in der Staatszeitung zu
lesen, da eine vorhergehende Publikation ohne diese officielle Vermittelung unter¬
sagt war, und mau es in der Vossischen erst aus der zweiten Hand und einer
sehr ungeschickten, überliefert erhielt. Zudem schwoll durch diese Berichte der po¬
litische Text übertrieben an, und machte verdrießliche Kosten. Indeß man konnte
sich doch mit dem Bewußtsein tragen, dadurch die gute Sache der politischen Frei¬
heit zu fördern.
Endlich kam der große Tag der Barrikaden, und unserer alten Freundin er¬
ging es, wie manchem andern Kopf, sie fing an, außer sich zu gerathen. Doch
muß man gestehn, daß bei ihr dieser Zustand eine ebenso liebenswürdige als selt¬
same Form annahm. In dem „Extrablatt der Freude" wurde nicht nur der Jubel
über die Errungenschaften des 18. März , deren Umfang man damals noch gar
nicht vollständig ermessen konnte, mit einer lyrischen Virtuosität ausgeströmt, wie
nur ein Bourgeois in Feiertagen ihrer fähig ist, nicht nur wurde das Mittel, zu
denselben zu gelangen, die Jnsurrection, vollständig in der Ordnung gefunden,
sondern das Herz der Tante war weit genng, sämmtliche streitende Parteien mit
gleicher Inbrunst zu umfassen, den König wie das Volk, die Garde wie die Emente.
Das Volk wurde wegen seiner Tapferkeit, seiner Großmuth, seiner Mäßigung in
den Himmel erhoben, und von den Soldaten gesagt, sie wären sähig, Europa
zu erobern, denn nur von den Berlinern, der heldeinuüthigsteu aller Nationen
seien sie gewichen. Jetzt werde übrigens Alles ans -das Vollkommenste gut, frei,
glücklich u. tgi. werden, Deutschland, Preußen, der König, das Volk, die Repu¬
blik — Alles, Alles werde gedeihen nach der glorreichen Nacht des 18. März.
Noch ein paarmal unternahm es die Voß, in leitenden Artikeln sich über die
Politik vernehmen zu lassen. Eigentlich ist der Grundzug ihrer Politik Loyalität,
und wenn sie die Berliner Barrikaden rühmt, so ist auch das nnr Patriotismus:
jetzt könnt ihr Pariser u. s. w. uns nichts vorwerfen, wir haben unsere Revolu¬
tion, mit Nationaleigenthum und allen übrigen Pertinentien so gut als ihr! Gern
würde sie auch ein wenig Republik haben, wenn nnr der König dabei bestehn könnte.
Im Ganzen hat sich aber die Politik wieder.in die Inserate zurückgezogen,
wo sie mehr Raum, mehr Freiheit und dadurch auch mehr Laune und Naivität
findet. Hier darf sie ohne Groll und ohne Bangen sich dem lieblichen Lüftchen
der augenblicklichen Stimmung überlassen, lieben, hassen, schmollen, kokettiren, wie
der Geist es ihr gebietet. Und darum ist anch unsere Freundin, obgleich alle
die jungen Schwestern, die um die Volksgunst mit ihr buhlte«, verständiger, ge¬
setzter, brauchbarer waren, dennoch der Liebling Herrn Bnffcy's geblieben, denn
er treibt Politik nur der Zerstreuung wegen, und das hat er bequemer in dem
confusen Geplauder der guten Tante, als in dem weitläufigen Näsonniren der
übrigen Zeitungen, die durch Gründe, Cvnscquenzmacherei und ähnliches pedanti¬
sche Gehabe die gute Lanne und die individuelle Freiheit des Hausbesitzers ver¬
kümmern.
Die beiden guten Alten sind Zwillingsschwestern, aber die Vossische, als Be¬
sitzerin einer öffentlichen Wirthschaft, hat vorzüglich locale Bekanntschaften und
Interessen, ihre Schwester, die Geheimeräthin a. D. blickt durch ihre etwas trübe
Brille nach dem gesammten Staat. Sie bringt „Nachrichten von Staats- und
gelehrten Sachen," und gibt allwöchentlich zweimal unter der Rubrik: wissenschaft¬
liche und Kunstnachrichten Auszüge aus einem beliebigen französischen Katalog.
Durch ihr Format schloß sie sich schon früher der europäischen Aristokratie der
Foliozeitungen an, während die Voß dem gemüthlichen Quart treu blieb. Die
letztere gibt Berlin wie es ist, die Spener vermittelt es mit den Provinzen. Häu¬
figer als ihre Kollegin treibt sie Astronomie. Selbst in ihrer Kritik der Theater,
Concerte n. s. w. ist sie ansehnlicher; die Vossische hatte an ihrem Rellstab
Zwar einen feinen Kunstkenner, der aber seine Wissenschaft mit der Maske des
Berliner Witzes überdeckte, ihre beiden andern Referenten, Dr. Wöniger und
Gubitz, gehörten ganz dem Berliner Bewußtsein an. Die Spenersche dagegen
erfreute sich eines Philosophen. He>r Professor Rötscher aus Bromberg, deV-
den Aristophanes ans der Idee -> i>iinii hcrausconstrnirt, und über Mimik, Ge-
stikulcmon u. tgi. mehrere logisch-phänomenologische Abhandlungen verfertigt hatte,
grub in den Spalten der Spenerschen die absolute Idee in die Birch-Pfeisserschcn
Stücke hinein. In der Politik war in der Folio eben so wenig eine Redaction
zu erkennen, als in der Quart; es kamen ein Paar Wochen hintereinander eine
Reihe leidlich radicaler Artikel, das Publikum geriech in Aufregung, die Behörde
nahm Notiz davon, und der Geheimerath, dem die Schicksale der Zeitung in der
Tasche liegen, wurde aufmerksam gemacht, nud siehe da, es folgte ein plötzlicher
Schuß rother Reaction, der dann wieder, wenn es dem Publikum unbequem
wurde, der entgegengesetzten Stimmung Platz machte.. Aber die ansehnlichere Zei¬
tung trieb, wie es einer Diplomatin ziemt, die Inconsequenz weiter, als ihre
bürgerliche Schwester; sie gab sich zuweilen dazu her, wenn auch mit Unlust, gut
geschriebene und gründliche Aufsätze aufzunehmen, während in der Bossischen,
Mochte die Tendenz nun . roth oder schwarzweiß sein, die Eine und untheilbare
Sudelküche des politischen Kannegießers durchzuschmecken war.
Als der Belagerungszustand in Berlin eingeführt wurde, ließ der neue Ge¬
bieter die beiden Tanten zu sich kommen. „Meine Damen! ich ehre das schöne
Geschlecht, und verkeime ihre großen Verdienste um die Bildung unseres Städt¬
chens keineswegs; aber, versteh» Sie mir! in Ihren Kaffeegesellschaften ist in der
letzten Zeit zu spitzig über die Negierung gesprochen worden. Sie werden einsehn,
versteh,, sie mir! daß unter den gegenwärtigen verdrießlichen Umständen das nicht
so fortgehen kann, versteh» Sie mir!" — „Ja, aber wie sollen wir es denn
machen? Bitte, setzen Sie uns einen Censor!" — „Wohl, das will ich thun.
Ich will Ihnen einen Censor setzen, einen Ehrenmann, wenn Sie den nicht an¬
erkennen, so kann ich die Achtung, welche ick vor Ihnen empfinde, nicht mehr
bewahren. Dieser brave Mann, dieser Censor soll sein — Ihr eigenes Herz,
versteh,: Sie mir!" — Darauf Rührung, Händeschütteln und gemeinsames Diner.
Die Kaffeegesellschaften haben ihre Pflicht gethan.
Frau Geheimeräthin a. D. ist in der Provinz und in dem Umfang der
Jffland'schen Muse el» Gegenstand; in Berlin aber sieht der rechte Bussey, der
fette Hausbesitzer mit dem Doppelkinn, mit souveräner Ironie ans die halbseide¬
nen Kleider der dünnen Dame herab. Die Geheimeräthe, wie aus Eisele und
Beisele bekannt ist, wohnen vom Svnterrän an bis unters Dach.
Hier haben wir es mit einer höhern Charge zu thun, dem Wirklichen Ge¬
heimen Rath, Excellenz, dem Mann des unbedingten Schweigens, mit dem Be¬
wußtsein feiner, allgemein unverständlicher Anspielungen.
Die Staatszeitung hat in wenig Jahren mit ihrer Firma zweimal gewechselt.
Jener Name'selbst ist nur uoch ein traditioneller. Sie verwandelte sich in eine
Allgemeine Preußische, als die Regierung die Nothwendigkeit erkannt hatte, ihren
Gegnern mit gleichen Waffen zu Leibe zu gehn und ein conservalives Organ, wie
das Journal des Dvbats zu gründen; sie wurde wieder officieller Staatsanzeiger,
Moniteur, unter dem constitutionellen Ministerium Camphausen. In keiner die¬
ser Phasen hat sie ihre Rolle rein ausgespielt.
In einem bureaukratischen Staat ist es überhaupt mißlich, von einer Regie-
rnngspresse zu rede». Die einzelnen Departements haben keinen innern Zusam¬
menhang, ein jedes steht unter seinem Chef für sich, und correspondirt ent¬
weder unmittelbar oder durch den Cabinetsrath mit dem Könige. Von einer ge¬
meinsamen Politik, deren Vertreter für die einzelnen Zweige die Departementschefö
sind, ist keine Rede. Seit 1840 gewannen zwar die pietistischen Doctriuärs den
Bureaukraten vo» der alten Schule ein Terrain nach dem audern ab, selbst
Rochow unterlag ihnen, aber es bleiben die beiden feindlichen Elemente dennoch
untereinander gemischt. Es war daher ein verkehrtes Unternehmen, in einem
Blatt, welches von der Negierung abhängig sein sollte, die conservative Politik
vertreten zu wollen. Die Eintheilung des Raums i» amtlich und nicht-amtlich
half dabei nicht; jeder bedenkliche Satz im nicht-amtlichen Theil mußte doch die
gesammten Regierungen compromittiren. Außerdem konnte die büreaukratische
Steifheit sich mit dem specifisch journalistischen Wesen, das sich doch durch eine
polemische Stellung in die Zeitung einführen mußte, nicht vertragen; deshalb
fielen Hermes, Rousseau und wer sonst angeworben wurde; zum Theil hat¬
ten sie es freilich auch ungeschickt genug gemacht.
Aber für einen bloßen Moniteur hatte das Blatt einen zu großen Umfang.
In Frankreich würde es komisch genug aussehen, wenn das vfstcielle Regierungs¬
blatt die Politik des Auslandes in 3 bis 3z großen Folioseiten behandelte.
Ein eigentliches Princip der Redaction war bei diesem Wechsel der Stimmung
eben so wenig heraus zu erkennen, als in den beiden populären Blättern, nur
daß die büreaukratische Gewohnheit eine größere Haltung gab. Mit Ausnahme
der amtlichen Anzeigen enthielt das Blatt nnr Berichte aus London, Paris, Ma¬
drid und zwar bis zu seiner Verwandlung in einen Staatsanzeiger nicht blos Aus¬
zuge ans den englischen und französischen Zeitungen — die übrigens die Berichte
der übrigen Blätter an Gründlichkeit und Eleganz bet Weitem übertrafen — son¬
dern anch selbstständige Berichte, die pikant genug abgefaßt waren. Aus London
schrieb ein Korrespondent von der Peel'schen Partei - wahrscheinlich ein Beamter
der preußischen Gesandschaft; der Pariser Berichterstatter stellte mit einem innern
Jnbel die Verkehrtheiten dieses modernen Gomorrha dar, ohne einen erheblichen
Unterschied zwischen dem officiellen Frankreich, dem die Teste u. s. w. angehörten,
und dem nichtofficielle:'. zu machen, er durfte Nichts weiter dazu thun, als die
Pariser Berichte etwas schärfer pointircn. Am köstlichsten aber war der Kor¬
respondent in Madrid — Herr Leute, Versasser einer spanischen Geschichte in
der Untere-Hecrenschen Sammlung, die aber nnr bis zum ersten Baude gediehn
ist. Die unschuldige Isabelle war von der preußischen Regierung nicht anerkannt,
die Medisance hatte also hier vollkommen freies Feld. Da wurde heut erzählt,
wie die junge Königin mit diesem oder jenem Granden eine Orgie gehalten, wie
sie betrunken mit einander auf einen Wagen gesetzt, umgeworfen — die Stellungen
wurden im Detail ausgemalt n. s. w. Morgen wurden wir in den Kongreß ge¬
führt, um eine lächerliche Rede des „Kikeriki von Estremadura" zu hören, in Folge
dessen ein lebhaftes Wechseln von Ohrfeigen zwischen den Ministern und Deputaten
" - alles zu Ehren der heiligen Allianz, vor deren Angen das ganze moderne Spa¬
nien ein illegitimes Land war.
Wenn man also der Staatszeitung nachsagte, sie sei langweilig — und am
meisten geschah das von Beamten, deren nothgedrungene Lektüre sie war — so
galt das nicht von ihren Berichten aus den Staaten der Revolution. Zuweilen,
obwohl selten, wurde auch ein Ausfall ins feindliche Heerlager ans vaterländischen
Boden gemacht. Die lebhafteste Sensation aber erregte es, wenn unmittelbar hinter
-der Ueberschrift: „Nicht Amiliches," eine Erklärung von Gewicht stand, die man
irgend einem Ministerium zuschrieb. Sie waren meist in militärischer Kürze ge¬
halten. Zuweilen beschränkten sie sich auf ein energisches Streichen des schnurr-
t'arts. Ich erinnere mich, daß unter anderen folgender Passus großes Aussehn
machte. „Man behauptet, die preußische Regierung habe keinen Sinn für die
deutsche Sache in Schleswig-Holstein. Dem ist nicht so." — Allein dergleichen
Eröffnungen wurden immer spärlicher, besonders seitdem man im rheinischen Beob¬
achter ein bequemes Organ gefunden hatte, seinem Herzen Luft zu machen, ohne
sich weiter zu geniren. Den rechten doctrinärcn Muth, den die Partei in den
Zeiten des politischen Wochenblatts gehabt, wo sie wenigstens zur Hälfte Oppo-
sition war, besaß sie nicht mehr, seitdem sie selber die Zügel des Staats ergriffen.
Zu weit gehende Loyalität in Kirchen- und Staatssachen, wie man sie z. B. in
der evangelischen Kirchenzeitung antraf, waren der Regierung selber höchst unan¬
genehm. Sie war aus ihrem ersten Amtseifer wieder in die verdrießliche Stim¬
mung der dreißiger Jahre zurückgekehrt, sie mochte von Politik überhaupt nichts
mehr reden hören, weder Gutes noch Böses. Sie begnügte sich damit, durch ein
eignes Bureau die falschen Nachrichten der liberalen Blätter berichtigen zu lassen,
uno die mißliebigsten zu verbieten.
Seit dem vereinigten Landtag gewann die Sraatszeitung wieder an Wichtigkeit.
Man war in ganz Deutschland zu neugierig auf die Persönlichkeiten der preußischen
Politik, die bisher in dem Dunkel der PrvviuMlstäude vergraben gewesen, und die
nnn plötzlich an's Licht traten; man war überrascht von der Masse von Freisin-
nigkeit und gefunden Menschenverstand, der sich in ihren Reden aussprach. Dies
übte wieder eine rückwirkende Kraft auf die Verhandlungen der übrigen Kammern
aus; die Staatszeitung wurde nun freigebiger in ihren Mittheilungen aus Deutsch¬
land, und ihrem Beispiel folgten, anfangs schüchtern und vielfach gehemmt, die
übrigen preußische» Blätter. Noch immer ist sie in dieser Beziehung die zuver¬
lässigste und ausführlichste Quelle.
Einen schlimmen Stand hatte sie, als die Revolution ausbrach. Gerade
damals war sie mehr als je ans ihrem Geheimeraths - Schweigen herausgetreten,
und mit ungewöhnlicher Heftigkeit gegen die Vagabunden, die sich in Berlin sam¬
melten, um die Grundvesten des Staats zu unterwühlen, zu Felde gezogen. Un¬
mittelbar nach dem Ausbruch in Wien hatte sie durch die Erklärung, es sei er¬
freulich, daß Oestreich nun anch in die Bahn des Fortschritts eiugeireten sei, die
Preußen schon so lange verfolge, den Ekel aller Gebildeten erregt. Nach dem
l8. Mai fand sich nun der Redacteur., Professor Zinkeisen, zu der Erklärung
veranlaßt, daß jene Artikel nicht von der Redaction ausgingen, sondern unmittel¬
bar vom Ministerium. Ein schlimmeres Geständniß der Furcht, als selbst jenes
Vossische Extrablatt der Freude. Der Rheinische Beobachter fiel anständiger, er
erklärte offen, seine Partei sei besiegt, und darum müsse er aufhören (weil die
Subvention ausblieb). Der Staatsanzeiger hat seit der Zeit, mit Ausnahme
seiner amtlichen Mittheilungen, keinen Versuch gemacht, direct in die Politik ein¬
zugreifen.
In den Jahren des neu ausbrechenden Radikalismus war der preußischen
Bureaukratie kein Blatt so lästig, als die Leipziger Allgemeine, besonders seit
ein Junghegelianer und ehemaliger Theolog, Herr Gustav Julius, ihr eine
bestimmtere Richtung gab. Bei den Schwierigkeiten, welche die preußische Censur
jeder Mittheilung über die innern Angelegenheiten in den Weg legte, war Leipzig
ein zu gut gelegener Ort, um nicht als Stapelplatz aller Neuigkeiten zu dienen,
deren man in Berlin irgend habhaft werden konnte. Die Bureaukratie selbst griff
^gierig uach dem Blatt, weil sie erst daraus erfuhr, was in ihrer unmittelbarsten
Nahe vorging; mancher Geheimerath wurde überrascht, seine geheimsten Gedanken,
die er doch Keinem mitgetheilt zu haben glaubte, hier gedruckt wiederzufinden —
Zuweilen freilich, uoch ehe er sie selber gedacht. Das ging uicht länger, sie wurde
verboten, und Herr Brockhaus fand sich veranlaßt, seinen Redacteur und selbst
den Namen seiner Zeitung fallen zu lassen.
Berlin wurde daher uicht wenig überrascht, als etwa zwei oder drei Jahre
darauf bekannt wurde, daß Herr Julius von der Regierung die Concession zu
einer politischen Zeitung in Berlin und zugleich zur Gründung eines großartigen
Lesccabinets erhalten habe. Wenn man die geringe Neigung des preußischen Gouver¬
nements in Erwägung zog, das Entstehen irgend einer neuen Zeitschrift zuzulassen,
wenn sie nickt lediglich den Ncgiernngsintercsscu gewidmet war, wenn mau sich zugleich
an die kleinen Plänkeleien erinnerte, die Julius in der letzten Zeit auf staatsökonomi-
schen Gebiet mit den Liberalen geführt, so glaubte man sich der Ueberzeugung hin¬
geben zu können, daß es sich hier um eine schimpfliche Apostasie handele, und das,
die neue „Zeitungshalle" — so genannt von dem Lesekabinet, mit dem sie ver¬
bunden war — bestimmt sei, eine zweite Auflage des Rheinischen Beobachters
zu bilden. Der neue Redacteur versicherte dagegen, sein Blatt solle ein unpar¬
teiisches sein, bestimmt die durch Parteiwünsche von beiden Seiten verkümmerte
Wahrheit der Thatsachen wieder herzustellen.
Die alten legitimen Zeitungen Berlins — verdrießlich über die neue Con-
currenz — und die gesammten Liberalen, die sich an dieselben anreihten, faßten
die Sache mit sittlicher Indignation ans. Rüge in Leipzig erließ einen offenen
Brief an Julins, worin er ihm vorwarf, er habe aus seinem Studium der Je¬
suiten gelernt, in das feindliche Lager — nicht überzulaufen, sondern sich hin¬
überzuwinden. Ein Angriff, der freilich zum Theil durch eine nicht unbedingt
anerkennende Charakteristik Ruge's hervorgerufen wurde, die Julins in den Grenz¬
boten gegeben hatte.
Wer sich an meine Charakteristik Bruno Bauer's erinnert, wird den Ueber-
gang begreiflich finden. Julius gehörte zu deu „Epigonen" des Radikalismus;
Zu den Idealisten, bei welchen der Kahenjammer den Rausch verdrängt hatte.
In dem zerstrntteu Leipziger Literateuleben beschäftigte er sich mit abstrakter Kritik,
wie seine Berliner Vorbilder: er suchte, mit der bei einem Hegelianer wohl zu
erwartenden dialectischer Gewandheit an den Erscheinungen diejenige Seite auf,
welche dem gewöhnlichen Urtheil entging, weil sie weniger hervortrat — eine
Lieblingsbeschäftigung der alten Sophisten. So wurde es ihm in seiner, nicht
weit über den Anfang hinausgeführten Geschichte der Jesuiten leicht, nachzuweisen
wie die allgemeinen, und daher unbestimmten Vorwürfe der Aufklärung das Wesen
der Sache häufig genug nicht getroffen hätten.
In der letzten Zeit hatte er sich vielfach mit staatsökonomischen Studien ab¬
gegeben, und war auf Resultate gekommen, die von dem gewöhnlichen Wege seiner
Schule abwichen. In der Regel mündete die abstracte Kritik im Freihandel aus,
schon der Bequemlichkeit wegen; Julius blieb bei dem communistischen Princip
stehn, die kleinen Capitalien zusammen zu schlagen und sie dem Staat zu um¬
fangreicher und wirksamer Benutzung zuzuweisen. Freilich meinte der Communis-
mus damit einen andern Staat, die freie Gesellschaft, die sich im Geist der Liebe
u. s. w. selber organisirt, aber warum sollte mau uicht eine Wahrheit, die von
diesem galt, bis zur Errichtung desselben vorläufig auch vom bestehenden Staat,
dem Polizeistaat gelten lassen?
Die Sache hatte für den Augenblick für Preußen eine praktische Bedeutung
durch die Streitigkeiten, die sich an das Institut der Seehandlung knüpften. Es
wurde vou Seiten des Liberalismus aus verschiedenen Gründen angegriffen, theils
aus dem allgemeinen Grundsatz, daß der Staat der schlechteste Verwalter sei, theils
wegen der drückenden Concurrenz, die ein so übermäßiges Capital der Privat¬
betriebsamkeit erregte. Auch gab die zweideutige Stellung zu dem übrigen
Finanzsystem des Staats Anstoß. Da nun Julius mit ziemlicher Heftigkeit gegen
die „oberflächlichen Deductionen" der staatsökonomischen „Dilettanten" Partei ucchni,
so schien es ausgemacht, daß der ehemalige Theolog von Rother, dem Chef der
Seehandlung gewonnen sei. Ich will es übrigens uicht als ausgemacht hinstellen,
daß so etwas uicht in den Absichten des Redacteurs gelegen habe; er erklärt hin
und wieder mit einer gewissen Bitterkeit, daß ihm von Seiten des geachteten Chefs
keine Mittheilungen wurden. Aber dergleichen Mittheilungen widersprechen eben
dem Wesen des bureaukratischen Staats.
Das Lokal des neuen Instituts war mit auffallendem Glanz eingerichtet, selbst
für Berlin. Eine Auswahl von Zeitschriften aller Art, gegen welche das damals
renommirte Leipziger Museum gar uicht in Betracht kommen konnte, brillante
Meubel», etwas zu orientalisch, um das angemessen solide Ansehn zu habe»,
Damenzimmer mit Goldfischchen und andern Nippes, in welche Julius Schwester
die eine oder die andere verirrte ZcitnngSleserin einführte. Sehr bald wurde die
Zeitungshalle, was früher Stehely gewesen, der Sammelplatz und die eigentliche
Heimath der abstracten Literatur, die in dem Blatt häufig genng aufs Lebhafteste
angegriffen wurde.
Das Blatt legte es vorzugsweise auf ein reiches Material an. Um auszu-
fallen, ersann der erfinderische Geist des Redacteurs täglich neue Rubriken, ^
welche die Masse desselben geschichtet wurde. Bald wurden die Markt- und Börsen¬
berichte zur Seite gedruckt, bald vorn, bald hinten. Diese beständige Unruhe war
dem Berliner, der an das konservative System der Vossischen gewöhnt war, u»"
bequem, die Zeitung fand keinen Anklang; sie brachte zu viel Stoff und erschwerte
die Verdauung durch die wunderlichen Gesichtspunkte, welche sie aufstellte. Der
Bürger will etwas sür's Herz, die kalte, ironische Sophisttk des Verstandes
sagte ihm nicht zu; obgleich Julius sein Mögliches that, auch die lokale»-Zu¬
stände gründlicher zu geben, als es die frühern Zeitungen gethan. Dieselben
Gründe hinderten das Blatt an der Verbreitung über Deutschland. Eine allge¬
meine Zeitung muß entweder das Organ einer großen Partei sein und von einem
bestimmten politischen Principe ausgehn, oder sie muß, wie die Angsb. Allgemeine,
durch elegante und ^ ausführliche Erzählung gewinnen. Das fehlte Julius; seine
Darstellung war so unbeholfen als möglich, seine Form weder natürlich noch
gebildet.
Er entwickelte übrigens dabei eine kolossale Thätigkeit, eigentlich schrieb er
den größten Theil der Zeitung selbst. Nur das Feuilleton hatte er Klein ni.d
Kossak überlassen. Das Publikum, das ita zuweilen inspinrte, war die Schule
der Kritik, jene rosenblntwangigen, am weitesten vorgeschrittenen Jünglinge, denen
Albu der Repräsentant des höhern Staatsprincips war, weil Egmont sich auf
nichts anders zu berufen wußte, als ans seine Privilegien.
Die Angriffe gegen den Liberalismus und die Vertheidigung des Gouverne¬
ments beleidigten um so mehr) da fortwährend versichert wurde, man wolle un¬
parteiisch sein. Einem provocirten Parteiblatt läßt man das Hervorheben bestimmter,
beschränkter Gesichtspunkte gelten, deren jede Sache verschiedene darbietet: es ist
eben nicht seine Aufgabe, zu unterrichten, es will nur in »>!>><» om der »luiiiun
die Gegner schlecht machen. Aber mit dem Anschein der Unparteilichkeit nach dem
alten romantischen Princip dasjenige, was der Menge gefällt, als trivial zu ver¬
spotten, das greift dem Bürger ein's Herz, lind es befriedigt nicht einmal die
Partei, der es zu Gute kommt. Das zeigte sich am Deutlichsten bei der Einver¬
leibung Krakans,
In dieser Frage griff der Staat der Julirevolution das Verfahren der heili¬
gen Allianz vom Rechtsboden aus an, der durch die Umstände nicht aufgehoben
werden könne — freilich nur, um die factische Aushebung desselben zu proclami^
ren und sich die Freiheit, zu erwerben, gleichfalls nach dem Recht nichts zu frage».
Kein Staat, sagte Guizot in Uebereinstimmung mit der Adrcßcommissiou, kann
bestehende Vertrage verletzen, ohne eben dadurch den andern Kontrahenten das
Recht zu geben, ihrerseits nur ihren Vortheil ins Auge zu fassen.
Die Zeitungshalle war eines der wenigen liberalen Blätter, welche die ver¬
bündeten Mächte in Schutz nahm, aber freilich mit dem Grundsatz: die Macht
der Geschichte steht über dem geschichtlichen Recht; es ist ein flüssiger Begriff,
welcher von den Zeitumständen modificirt wird. Verträge binden nur so lange,
als die Verhältnisse fortdauern, welche sie hervorriefen, und jeder Vertrag enthält
stillschweigend die Clausel, daß man sich bei passender Gelegenheit vorbehält, ihn
zu umgehen. Eine Deduction, gegen welche die conservativen Journale entschie¬
den Protest einlegen mußten.
Ueberhaupt konnte man die Ansichten der Zeitungshalle, so sehr sie im Re¬
sultat mit denen der Regierungspresse übereinzukommen schienen, leicht von der¬
selben unterscheiden. So wie die Apostaten vom Protestantismus trotz ihrer Be¬
geisterung für das Princip der allgemeinen Kirche dennoch auf protestantischen Bo¬
den bleiben — denn die aus der Reflexiv» hergeleitete Anerkennung des Alte»
setzt Freiheit voraus, während das Princip der Kirche Gehorsam ist, — so bleibt
der Radicale, wenn er durch die vermeintlichen Consequenzen seines Princips zum
entgegengesetzten Extreme fortgetrieben ist, immer ein verkappter Jacobiner. Seine
Principien gehen nicht in die Gesinnung über, er behält immer die sophistische
Freiheit, mit deu Gesichtspunkten zu wechseln und wenn er heute dem Philister
vorwirft, er gehe mit seinen Wünschen über seine Kräfte hinaus, so wird er
morgen unter Umständen hinzusetzen, aber diese Wünsche gehen noch lange nicht
weit genug, darum weg überhaupt mit dem Philister und es lebe das souveräne
Volk und die Guillotine!
Während der Zeit des Landtags und des Polenprocesses behielt die Ironie
gegen die Philister die conservative Maske. Das Blatt wurde auffallend unpo¬
pulär. Als aber die Lärmglocke der französischen Revolution erscholl, da regten
sich mit Macht die alten Sympatien. Die Zeitungshalle wurde der Versammlungs¬
ort der Demagogen; in der Nacht des 18. März wurde sie vom Militär erstürmt.
Das Volk hatte gesiegt. Gleich darauf brachte die Zeitungshalle einen Ar¬
tikel, der in Berlin das ungeheuerste Aufsehn erregte. Es hieß darin, mit den
vorläufigen Errungenschaften der politischen Freiheit sei es nicht abgethan, es
handle sich jetzt um einen viel ernsthafterer Conflict, den zwischen Arm und Reich,
und diesem Uebelstand müsse sofort abgeholfen werden. Darüber gerieth die Bour¬
geoisie ganz eigentlich außer sich, sie rückte deu vermessenen Wühler mit Schlepp-
säbeln auf den Leib und zwang ihn zu einer Art Deprecation. Seitdem ging
Julius nicht anders aus, als mit einer Muskete auf dem Rucke»; er predigte
von der Souveränität des Volks, und Träume von Marat und Robespierre um-
gaukelten seine Nächte.
Die Zeitungshalle wurde nun ihrem Ton wie ihrem Inhalt nach ein Blatt
der entschiedenen Demokratie, d. h., es wurde grob, cynisch, es machte Lärm
ohne erheblichen Grund, es war unermüdlich in Forderungen, nur um deu eignen
Radikalismus unausgesetzt in Athem zu erhalten, es lästerte die Fürsten und
schmeichelte dem Pöbel, vor alle» Dingen, es erklärte die Polen für das erste
Volk der Erde. Als der demokratische Kongreß in Berlin zusammentrat, gelang
es Julius, sei» Blatt zum officiellen Organ der Demokratie zu erheben. Aber es
dauerte nicht lange, die Reform trat bald in seine Stelle. Julius konnte einerseits seine
Vergangenheit nicht in Vergessenheit bringen, er war zu bekannt, um die Rolle eines Pro-
pheten mit Glück fein zu spiele», andererseits verkannte anch das souveräne Volk überall
den Lärm, den er machte, niemals die Hohlheit seiner Empfindungen. Der echte
Sansculotte läßt sich durch Tricots nicht täuschen , er fühlt sehr bald heraus / ob
man seines Gleichen ist von Natur oder durch Reflexion. Auch Kleou ist eine
Maske, die studirt sein will, selbst zur Gemeinheit gehört Methode. Julius ist
zu unruhig und wieder zu reflectirt, um lange mit der Masse gehen zu können.
Seine Zeitung ist zwar äußerlich unterdrückt, durch den Belagerungszustand, aber
sie wäre auch ohne das eingegangen, ihr Leben war nur ein scheinbares.
Wir kommen jetzt zu den jüngern Zeitungen, den Kindern der Revolution.
Sie vertreten sämmtliche Nuancen und Parteiungen, und haben vor den alten
Zeitungen insgesammt den Vorzug, von vornherein im Dienst eines bestimmten
Princips unternommen zu sein.
Die Nationalzeitung war die erste, welche aus der Revolution hervorging;
sie ist zugleich diejenige, welche den weitesten Umfang gewonnen hat. In den
ersten Monaten dieses Jahres hatte sie gegen 9000 Abonnenten; das kurze Verbot
wird wahrscheinlich dazu beigetragen haben, die Zahl derselben zu vermehren, wie
es auch das erste Mal der Fall gewesen ist.
Gleich nach Publikation der Preßfreiheit traten diejenigen Schriftsteller, welche
bisher als die vorzüglichsten Vertreter des specifischen Berliner Radikalismus ge¬
golten hatten, zusammen, um die Partei in einem bestimmten Organ zu fixiren.
I)r. Nutcnbcrg, eine Zeit lang Redacteur der Rheinischen Zeitung, Dr. Zabel,
Mügge, der Novellist, Volkmann, ein Rheinischer Advocat und einige andere.
Es waren dieselben, welche vor einigen Jahren unter Umgehung des polizeilichen
Verbots eine politische Wochenschrift hatten gründen wollen, aber von der Censur
daran verhindert waren.
Es bildete sich ziemlich schnell ein Actienvercin, und die Zeitung trat schon
den 1. April ins Leben. Sie war so schlan, eine Classe zu gewinnen, die bisher
von der Presse sehr vernachlässigt war, die aber zur Verbreitung derselben das meiste
beitragen konnte, die Postbeamten. Die Nationalzeitung drang mit Ernst darauf, die be¬
drängte Lage derselben zu verbessern, und gewann dadurch den großen Vortheil, schneller
und eindringlicher bekannt gemacht und verbreitet zu werden. Nachher förderte sie
freilich nicht dieser äußerste Umstand, sondern die Sympathien, die ihr Inhalt überall
erregte. Die Nationalzeitung leistet mit Bewußtsein, was die alten Berliner Blätter
aus Instinkt thaten: sie drückt die öffentliche Meinung aus, d. h. sie reproducirt die
Meinungen der meiste» Einwohner des preußischen Staats, die sich überhaupt mit
Politik abgeben. Ihre Gedanken sind wie Jedermanns Gedanken, sie gehn nicht
von der Heerstraße ab.
Sie begann daher in der Revolution nicht, wie die Zeitungshalle, mit Cr-
bitterung gegen das Bestehende, sondern mit Wohlwollen und mit Hoffnung; sie
war überzeugt, daß nun der Tag des Edlen endlich kommen müsse. Ihre Re¬
dacteure hatten den Inhalt dessen, was der Geist der Jetztzeit, die Demokratie
zu fordern habe, schon ziemlich fertig in sich verarbeitet; sie begnügten sich damit,
an den guten Willen und den gesunden Menschenverstand des Publikums zu ap-
pelliren, in dem festen Glauben, damit sei auch die Realität ihrer Wünsche erreicht.
Als unerwartete Hindernisse sich derselben entgegensetzten, geriet!) sie zuerst in Er¬
staunen; dies Erstannen verwandelte sich bald in Unwillen, da jene Hindernisse
doch nur aus bösen Absichten hervorgehen konnten, und zuletzt wurde die sittliche
Indignation so perennirend, daß sie nur hin und wieder durch dunkle Drohungen
und durch sentimentale Rückblicke unterbrochen wurde.
Den Wendepunkt in der Stimmung des Blatts bezeichnet der Austritt des
!)>. Rutenberg, dem es allmälig zu radical wurde. Es war die Zeit, in welcher
die constitutionelle Partei sich den Ausschweifungen der Demokratie gegenüber als
conservative zu organisiren begann.
Die Hindernisse, welche der Durchführung der Demokratie entgegen traten,
waren, wenn man von der Ungunst der Verhältnisse absteht, deren Nothwendige
keit auch der männlichste Entschluß nicht durchbrechen konnte, theils der böse Wille
der absolutistischen Partei, theils die Schwäche der augenblicklich herrschenden Ge¬
walten, theils die völlige Nichtsnutzigkeit der vorwärtstreibende» Demokratie. Die
Nationalzeitung, deren Redacteure keineswegs zu den letzteren gehörten, hatten
doch die Einseitigkeit, nur die erste der angegebenen Ursachen ins Auge zu fassen,
die zweite nur halb: sie sahen die Schwäche nur in den Ministerien — was wir
Vollkommen zugeben — für die gänzliche Unfähigkeit der Constituante und die er¬
bärmliche Beschaffenheit der Bürgerwehr hatte sie kein Auge. Sie kokettirte mit
den Blättern, welche geradezu den Pöbel, und uur diesen, in beständiger Aufre¬
gung erhielten, und warf all ihren Unwillen auf die Reaction, die einer solchen
Demokratie gegenüber nur zu berechtigt war.
Daß sie vom November an, wo sie einmal Partei genommen hatte, durch die
Ereignisse sich weiter treiben ließ, und ihrer rothbärtigen Verbündeten beraubt,
denen sie früher die bedenklichsten Waffen überlassen hatte, mehr und mehr an
deren Stelle trat, kann ihr nicht weiter verdacht werden. Eben so wenig ihre
Haltung in der deutschen Frage, deren Auffassung von Seiten des linken Cen¬
trums — derjenigen parlamentarischen Partei, welche der Nationalzeitung am
nächsten steht — uns überhaupt unverständlich ist.
Natürlich aber war es, daß durch diese Richtung ein larmvyanter Ton und
eine beständige Verbissenheit an Stelle der vergnügten Bravour trat, mit der sie
im Anfang gegen die Feinde des Volks in die Schranken getreten war. Diese
Melancholie wurde noch vermehrt theils durch den Mangel an bestimmtem Stoff,
der sich bei einer derartigen resignirten Opposition immer geltend machen wird,
und' dessen Gefühl den Verdruß steigert, theils durch den eigenthümlichen Styl,
der zuletzt in den Leitartikeln vorherrschend winde, und der mit seinen kurze»,
durch Pausen des Schauders unterbrochenen Sätze lebhaft an Alexander Dumas
erinnert, wenn er erfühlt:
Es war Nacht.
Alles war still.
Man schlief.
Auch der Wind war nicht stark. U. f. w.
Eine artige Erfindung der Nalionalzeitnng ist die Zeitnngsschan, ein Aus¬
zug eins den leitenden Artikeln der Berliner Zeitung, die, seitdem durch die litho-
graphirten Korrespondenzen, der thatsächliche Inhalt derselben ziemlich abgegrenzt
ist, den wesentlichsten Unterschied ausmachen. Nur sollte sie sich deu ironischen
Ton abgewöhnen^ der zuletzt seinen Gegenstand verliert und ermüdend wirkt. Die
deutsche Reform in ihrem neuesten Stadium hat es ihr nachgemacht.
Die Natioualzeituug verdient den Ruhm, unter allen specifischen Opposttions-
blättern den anständigsten Ton eingehalten zu haben. Unter all' den neuen Zei¬
tungen ist sie die gefährlichste Nebenbuhlerin der alten Plaudertaschen, die eigent¬
lich nur noch die süße Gewohnheit der Morgenpfeife erhält.
(Fortsetzung im nächsten Heft.)
In kleinen Universitätsstädten verschwindet selten eine geistreiche Persönlichkeit.
Das hiesige Zusammenleben der Studenten bewirkt, daß bald von diesem, bald
von jenem Professor gesprochen wird; seine Vorzüge, seine Schwächen, seine Eigen¬
thümlichkeiten werden hin und her discutirt; je eigenthümlicher er ist, desto mehr
Reiz hat er für dies jugendliche Alter, das mehr angeregt, als belehrt sein will.
In Berlin ist dies ganz anders. Man folgt hier dem allgemeinen wissenschaft¬
lichen Zuge und den anerkannten wissenschaftlichen Größen; das Besondere, In¬
dividuelle bleibt unbeachtet zur Seite liegen. Und entschließt sich ja einmal einer,
von dem noch Unbekannten oder Eigenthümlichen lernen zu wollen, er spricht nicht
davon und es bleibt Alles beim Alten. Nirgends könnte man eine reichere Man¬
nigfaltigkeit wissenschaftlicher Individualitäten kennen lernen und sich durch sie
heranbilden, als in Berlin, und nirgends ist das Studium farbloser, als in Ber¬
lin, weil die Meisten diesen Schatz ungehoben lassen. An einer kleinen Universi¬
tät hätte Stuhr leicht einen solchen Ruf gewinnen können, daß er sogar eine An-
ziehungskraft für die Universität gewesen sein würde. In Berlin ist er kurze
Zeit emporgetancht, jetzt muß man ihn zu denen zählen, die nur von wenigen
gekannt, von noch wenigeren gehört werde». Die Eigenthümlichkeit seiner Richtung
und ein nicht sonderlich anziehender Voitrag sind die Ursache eines Erfolgs, der
zu der geistigen Bedeutung des Mannes in gar keinem Verhältniß steht. Stuhr's
Vortrag ist noch verworrener, als seine schriftstellerische Darstellung; dabei ist sein
Organ rauh und polternd, oft sogar sür den, der es niet t kennt, ganz unver¬
ständlich; mit auffallender Heftigkeit stößt er einzelne Bemerkungen heraus, er wird
leidenschaftlich, aufgebracht. Nei'er dieser Heftigüit, die ihn während seines Le¬
bens in viele unangenehme Verwickelungen gebraut hat, liegt in dem Ausdruck,
namentlich der Augen und des Mundes etwas Weiches uno Mildes, das den
Beobachter den ersten Blick in den Reichthum seiner innern Natur thun läßt. Er
unterscheidet sich darin von den meisten Gelehrten, daß ihm der wissenschaftliche
Inhalt nicht kalt und leblos bleibt oder nnr, wie in neuerer Zeit, durch den
Geist der Kritik ein gewisses Leben erhält; er löst ihn sich unmittelbar in
Ideen auf und zwar, wie aus der Form der Darstellung hervorgeht, in selbstge¬
dachte, selbstdurchlebte Idee». Außerdem ist er subjektiver als man es sonst in
wissenschaftlichen Werken zu finden gewohnt ist. Er spricht gern von sich, aber
nicht aus Eitelkeit. In seinem vierundzwanzigsten Jahre gab er unter seinem Na¬
men ein Werk heraus: „Die Staaten des Alterthums und der christlichen Zeit in
ihrem Gegensatze dargestellt;" im Jahre darauf unter dem Namen: „Feodor Eggo"
das berühmt gewordene „Der Untergang der Naturstaaten." In diesem letztern
erwähnt er in höchst reiner Weise jenes vorhergenannten als eines viel zu vorei¬
lig geschriebenen Werkes; es sei von einem gewissen Stuhr; es seien allerdings
ganz gute Ideen darin, aber eine wunderliche und krankhafte Manier.
Peter Fedderscn Stuhr ist 1787 in Flensburg geboren. Wie er selbst er¬
zählt, lebte er bis zu seinem achtzehnten Jahr in schönen, ungetrübten Familien¬
verhältnissen, ohne sich viel um Wissenschaft und Gelehrsamkeit zu kümmern.
1805 ging er nach Kiel, um hier die Rechte zu studiren. In einer sehr zerrisse¬
nen Geistesstimmuug, die theils dnrch übertriebene» Fleiß, theils durch Ueberdruß
über das Trockne und Geistlose seiner bisherigen wissenschaftlichen Studien her¬
vorgerufen war, begab er sich 1806 nach Heidelberg, wo er sich namentlich durch
Görres und Schelling angezogen fühlte. In dieser Zeit senkten sich in seinen
Geist die Keime der Ideen, deren weitere Ausbildung die Aufgabe seines Lebens
war. Darauf brachte er mehrere Jahre mit Reisen zu und gab 1811 und 1812
die beiden oben genannten Werke heraus. 1812 machte er unter den Uhlanen
der hanseatischen Legion den Feldzug mit und nahm uach dem ersten Pariser Frie¬
den als Stabsrittmeister seinen Abschied. Nach der Rückkehr Napoleons von Elba
trat er in die preußische Landwehr ein. Von diesem Augenblick an ward er ganz
Preuße; Preußen galt ihm als der Staat der Zukunft, als der Staat, in dem
seine Ideen und Ideale zur Verwirklichung kommen sollten. Trotz seiner conser-
vativen, christlichen und preußischen Gesinnungen, trotz des Reichthums seiner
Kenntnisse und Ideen, trotz seiner literarischen Productivität und Vielseitigkeit ist
er von der Regierung Preußens nie begünstigt worden; er ist seit 1820 außer¬
ordentlicher Professor. — Seine wifseittschaftlichen Werke beziehen sich theils auf
Mythologie, theils auf neuere, namentlich preußische Geschichte, theils gehören
sie, wie die beiden oben erwähnten, rein der Philosophie an. Von ihm erschienen
sind: Abhandlungen über nordische Alterthümer, 1817; Brandenburgisch-Preußische
Kriegsverfassung zur Zeit Friedrich Wilhelm's des Großen, Kurfürsten von Bran¬
denburg, 1819; Deutschland und der Götterfriede (gegen Görres „Dentschliind
und die Revolution" gerichtet), 1820; Sendschreiben'an G. A. Stengel, 1820;
Untersuchungen über die Ursprünglichkeit und Alterthümlichkeit der Sternkunde
unter den Chinesen und Indien« und über den Einfluß der Griechen auf den Gang
ihrer Ausbildung, 1831; die chinesische Reichsreligion und die Systeme der indi¬
schen Philosophie in ihrem Verhältniß zu den Offenbarnngslehrcn, 1835; allge¬
meine Geschichte der Religionsformen der heidnischen Völker, 2 Bände, 183» und
1838; die drei letzten Feldzüge gegen Napoleon, kritisch-historisch dargestellt, 1832;
der siebenjährige Krieg in seinen geschichtlichen politischen und allgemeinern mili¬
tärischen Beziehungen, 1834; die Geschichte der See- und Cvlvnialmacht des
großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1839; das Verhältniß
der christlichen Theologie zur Philosophie und Mythologie, 1842 ; die preußische
Verfassungsfrage vom weltgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, 1847 ; die
Phantasten deö Herrn Gervinus und seiner Freunde über die Geschichte und die
Verfassung Preußens, 1847; Forschungen und Erläuterungen über Hauptpunkte
des siebenjährigen Krieges, 2 Bände, 1842.
Man sieht aus diesem Ueberblick, daß Stuhr sich namentlich viel mit den
Mythen der Völker abgegeben hat. Die eigene Darstellung der Ideen eines Vol¬
kes über seine Vergangenheit ist, weil er aus dem unmittelbaren, dnrch Reflexion
und Nachdenken noch nicht gebrochenen oder irregeleiteten Bewußtsein hervorgeht.
Was durch die Thätigkeit des Verstandes heraustritt aus dem verborgenen Gäh-
ren des menschlichen Geistes, mag eS durch Klarheit der Begriffe noch so aus¬
gezeichnet sein, was als öffentliche Meinung erscheint, weil keine andere Meinung
die Kraft gewonnen hat, in so klarer und bestimmter Form hervorzutreten, ist
ihm durchaus nicht identisch mit dem Geist und der Idee eiues Volkes. Darum
ist es ihm ein Zeichen der Krankheit, wenn Gelehrsamkeit und ausgebildete Klar¬
heit des Bewußtseins die Entscheidung über die Angelegenheiten des Lebens haben;
darum spricht er von den „Phantasten" des Herrn Gervinus und behauptet, daß
Preußen keine sucht nach Constitutionen habe, daß die Deutsche Zeitung die
Stimmung des deutschen Volkes nicht repräsentire; die Kenntniß der leitenden
geschichtlichen Ideen sucht er eben noch in einer andern Quelle, als/in dem, was
davon an das Tageslicht tritt, und so muß er natürlich auf den Mythos und die
Religionsformen ein bedeutendes Gewicht legen.
Indem er gegen diejenigen kämpft, die ihre persönlichen Ideen ohne Rücksicht
auf die historischen Verhältnisse der Volker durchzusetzen streben, indem er selbst
gegen große Parteien kämpft, die dies unternehmen, anch wenn keine andere Partei
a>f dem Schauplatz der Oeffentlichkeit stehen sollte, beweist er sich als den Histo¬
riker. Vom Standpunkt des natürlichen Bewußtseins aus kümmert man sich nicht
darum, ob das, was man erstrebt oder für recht hält, mit dem Geiste deö Volkes
übereinstimmt; diese Reflexion ist die eines Gelehrten. Die Absicht ist löblich:
den Völkern sollen nutzlose Unruhen und Erschütterungen erspart werden; indem
die weitere Entwicklung sich' stets an das Gesammtleben eines Volkes anknüpft,
wird keine der Ideen verletzt, von denen das Volk getragen wird. Wäre die Aus¬
führung dieses Gedankens möglich, Revolution und Reaction würden unbekannte
Dinge unter den Menschen sein. Aber wie ist sie möglich? Sind die Kenntnisse
aller Fäden, die ein Volksleben zusammenhalten, irgend erreichbar? Wer will
all die verschiedenen Interessen und Wünsche, die verschiedenen Bildungskreise und
Sitten, die verschiedenen Grade des Talents und der Kraft in dem Leben eines
Volkes berechnen und ermessen? Wir können bis zu einem gewissen Grade mit
unserer Erkenntniß der Praxis voraneilen, von allen Dingen brauchen wir nicht
uns durch wirkliche Erfahrung zu überzeugen, ob sie haltbar und passend sind;
aber auch dies hat seine Grenzen, und es rritt ein Moment ein, wo ein Jeder
mit seinen Ideen vor dem, was er für recht und angemessen hält, ins Leben tre¬
ten und die Schule der Erfahrung durchmachen muß. Stuhr gehört keineswegs
zu den Historikern, die das Bestehende erhalten wollen, weil es besteht; aber er
geht zu weit, wenn er jedes individuelle Eingreifen in den Gang der Geschichte
verdammt, denn er verlangt damit Unmögliches. — So ist er denn selbst anch
keineswegs von individuellen Anschauungen der Geschichte frei zu sprechen. Wenn
er behauptet, Preußen habe keine sucht nach Constitutionen, so mag er, wenn
man mir auf die Masse des Volkes, nur aus die Kopfzahl sieht, 1847 Recht ge¬
habt haben; wenn er aber z. B. für die heilige Allianz schwärmt und in dem
Bunde Preußens mit Rußland die Idee der endlichen und schließlichen Wieder¬
vereinigung des Orients und Occident's feiert, so kann mau wohl, ohne die Be-
sorgniß, widerlegt zu werden, die Versicherung aussprechen, daß das preußische
Volk, mag man es nun nach der Kopfzahl oder nach ständischer Gliederung neh¬
men, diese Schwärmerei nicht theilt. Aber auch abgesehen von solchen Einzelheiten,
so geht gerade Stuhr mehr, als die meisten Andern, von allgemeinen Ideen aus,
für die er sich begeistert, und die ihren Ursprung mehr in seiner Individualität,
als in der Strömung der Zeit haben, woher es denn auch zu erklären ist, daß
er, namentlich in der neusten Zeit, für seinen Ideenkreis wenig Empfänglichkeit
gefunden hat. Und eben so wenig würde er sich jemals abhalten lassen, das, was
ihm an sich als recht und sittlich erscheint, darum fallen zu lassen, weil es etwa
in dem Leben eines Volkes noch keine Wurzeln geschlagen hätte. Dieses Schwan¬
ken zwischen dem wirklich Geschichtlichen und seinen eigne» Ideen tritt z. B. sehr
bestimmt in dem Untergang der Naturstaaten hervor. Ihm ist das Princip der
Demokratie in Griechenland und Rom — und dies beginnt ihm in Rom schon
Mit der Verfassung des Servius Tullius — das auflösende Princip, das Princip
der Sünde, die Aristokratie das Princip der „freundlichen Gemeinschaft." Für
diese, für das gemüthliche und einige Zusammenleben, schwärmt er so, daß er es
ganz gerechtfertigt findet, wenn die Patrizier als Stand grausam und tyrannisch
gegen die Plebejer waren, denn sie kämpften ja für eine herrliche Idee. Dennoch
aber kann er sich auch von einer wahrhaft spcculariven Auffassung der Geschichte
nicht ganz lossagen; schou damals (1812) hegt er den Hegel'schen Gedanken, daß
das Wirkliche vernünftig sei; und obschon er in seinem Herzen der Demokratie
bitter grollt, so gesteht er doch auch wieder zu, vom geschichtlichen Standpunkte
aus augesehen, sei es eine ganz eitle Frage, ob die Demokratie oder die Aristo¬
kratie das Recht für sich hatte; denn in der höchsten Anschauungsweise löse sich
Alles unmittelbar in Nothwendigkeit auf, durch sein Dasein selber thue jedes sein
Recht dar. Er begründet näher das Recht der Demokratie, indem er zugesteht,
daß die Griechen ohne sie nicht ihre großen Leistungen in Wissenschaft und Kunst
vollbracht haben, die Römer ohne sie nicht das erobernde nud wahrhaft welthistorische
Volk geworden sein würden; er gibt zu, wer sich vorzugsweise angezogen fühle
dnrch ein freies Spiel der Kräfte, dnrch das Uebergewicht der menschlichen Fähig¬
keiten über die gemüthliche Seite, müsse sich für die Demokratie entscheiden; den¬
noch aber erklärt er sie in dem Grade für das sündhafte nud verderbliche Princip,
daß er sagt, von einer Ausartung der Demokratie könne man gar nicht.reden,
da sie schon an sich, in ihrem Princip, Ausartung sei. So steht bei ihm die
geschichtliche Auffassung mit persönlichen Ansichten vom Sittlichen in Widerspruch.
Dem Natnrpriucip in der Bildung der Staaten stellt Stuhr das Princip
der Freiheit — und diese bezeichnet er bald als Willkür, bald als Sittlichkeit —
gegenüber. Bei einigen Völkern nun, wie bei den Griechen und Römern, findet
er, daß das Naturpriucip in einem gemüthlich gemeinsamen Leben bestanden habe,
bei andern, wie bei den Deutschen, in einem feindselig abgeschlossenen; bei jenen
ist ihm das Erwachen des Princips der Freiheit Abfall, bei diesen beginnt ihm
damit die Zeit wahrhafter Sittlichkeit, bei den Deutschen mit dem unter den Ka¬
rolingern geltenden Princip der Treue. - Diese Idee der gemüthlichen Einigkeit,
des ruhigen und gottseliger Lebens ist es, die er mit besonderer Vorliebe sein
ganzes Leben hindurch vertreten hat, am schärfsten und einseitigsten in „Deutsch¬
land und der Gottesfriede." In diesem Werk, das durch häufige Wiederholun¬
gen, durch verworrene Anordnung, dnrch einen starken pietistischen Beigeschmack
und durch eine Art von geistigem Rausch, mit der es geschrieben ist, fast unlesbar
wird, ist Alles allein auf diese Idee bezogen. Die Wissenschaft und die Gelehrten
werden geschmäht, die Kraft des menschlichen Verstandes verachtet, die Bestrebungen
jener Zeit (t820), zur Freiheit und Einheit zu gelangen, verdammt; übrig bleibt
nichts, als der Gottesfriede, der unter den Menschen ovium soll, und der im
Gegensatz zu Paris von Berlin aus sich über die Welt verbreiten wird. Welchen
Inhalt dies „ruhige und gottselige Leben in aller Stille und Ehrbarkeit" haben
wird, wissen wir freilich nicht, da die Beschäftigungen des Bauern, Handwerkers
und Kaufmanns als eben so niedrig angesehen werden, wie die Bestrebungen der
Wissenschaft als ohnmächtig. Nur durch deu Frieden Gottes gewinnt die Wissen¬
schaft ein Ziel und einen Einheitspunkt. Die Gelehrten sollen gebenedeit sein durch
den Frieden Gottes und die Priester erkcnntnißreich. Drei Zustände des me»sah>
liehen Lebens gibt es, die Unmittelbarkeit des Friedens, von diesem gelte der Name
„Volk"; die Zeit des Zerfalls und der Sunde, in der vermöge des Gesetzes ein
Schein des Friedens herrsche: der Staat; die Zeit des wieder hergestellten, dnrch
Freiheit wiedergewonnenen Gottesfriedens: das Reich. Diese EintheilnngdcrStaats-
foruien schwebt ihm auch noch in neuester Zeit vor; er stellt sie der gewöhnlichen
in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, deren EintheilungSprineip er als un¬
wesentlich und äußerlich bezeichnet, entgegen. Auch jetzt noch hält er daran fest,
daß der Staat des Gesetzes — und dieser in seiner vollendetsten Form ist die
Republik — nur für ein in Sünde verfallenes Geschlecht sich eigne. Die einzige
Aufgabe deö Fürsten und der Neichsgenvssen, worunter er die hohe Aristokratie
versteht, ist die, den Frieden zu schirme». Das gemeine Leben, die bürgerlichen
Verhältnisse der Handwerker u. s. w., ihre Noth und Armuth liegen außer dem
Bereich seiner Verpflichtungen; es ist eine thörichte Forderung, von den Fürsten
zu verlangen, daß sie dafür sorgen sollen. Zu solcher Lieblosigkeit verflüchtigt sich
die Liebe. — Der frömmelnd aristokratische Geist, in dem „Deutschland und der
Gottcefriede" geschrieben ist, ist allerdings das Grundelement auch in Stuhr'S
späteren Schriften, hat aber viel an seiner Härte und Schärfe verloren. Nament¬
lich hat Stuhr die Ansicht ganz fallen lassen, daß der Staat sich um die irdischen
Dinge nicht zu kümmern habe. Es versteht sich von selbst, sagt er in der Schrift
gegen Gervinus (1847), daß alle Richtungen des Staatslebens, auch die verein¬
zeltste» und äußerlichsten, selbst die Interessen der einzelnen Mitglieder des Staats
in die Berathungen der Gemeindeversammlungen zu ziehen sind. Ja selbst die
Neigung zu dem friedfertig stillen gemüthlichen Leben und der Haß gegen das
freie Spiel der Kräfte scheinen insofern nachgelassen zu haben, als er die innere
Berechtigung der Freiheitsbewegungen der neuern Zeit in dem öffentlichen Hervor¬
trete» und dem Kampfe der vorhandenen Gegensätze findet. Der Zustand deö
ewigen Friedens ist ihm jetzt das Ideal; ehe aber das Ende aller Tage erreicht
ist, sollen die Gegensätze sich auskämpfen; nur so ist die Geschichte lebendig; daS
geschichtliche Dasein ist aber die wahre Bestimmung deö Menschen.
Schönen Dank, liebwerther Prediger von der Ferdinandsbrücke, für den
sinnreichen Zuspruch in Ur. 23 der Grenzboten. Ich sehe mit Vergnügen, daß
Ihr im Hauptquartier die Fahnen hoch haltet und die Trommel der Vaterlands¬
liebe noch nicht mit dem schwarzen Tuch der Betrübniß gedämpft hat. Paukr muthig
darauf los, aber redet nicht vou unserem jämmerlichen Kleinmuth. Ihr solltet
nur auf acht Tage nach Wien kommen und ich wette, der Prediger wird die
„Backhabnerl" der Gemüthlichkeit mit schmerzlich verzogenem Munde essen, Kobold
wird den Schnurrbart der Tapferkeit zu weicher Charpie zerzupfe» und Ihr- Bei¬
den werdet mit dem Sofi den guten Humor bewundern, mit welchem wir auf un¬
serem Posten in Wien bisher ausgeharrt haben. — Sie verweisen mich auf die
Philosophie von Mark Tapley; so bitte ich auch mit nächster Post um ein scharfes
Beil, denn der Uankee, welchen Dickens mit dem guten Mark reisen läßt, war
zu sehr in-lttor ot" l'net — in:in, um das „höhnische Lächeln" für eine ausreichende
U-iKii-r (!Il.»t.r gegen nächtliche Schlangen-Haussuchungen zu halte». Vielmehr
sprach er, den Tabaksaft der Verachtung ans dem linke» Mundwinkel spritzend,
also zu dem lustigen Tapley: N-ulv in<-, lciieixiier, es kommt wohl um Mitter¬
nacht eine Klapperschlange auf deine Bettdecke, oder setzt sich dir zu Häupten auf's
Kopfkissen, Pfropfenzieher spielend und spionirt dich mit blutdürstigen Auge» an,
>>t>t never miixl, du hast ja ein scharfes Beil bei der Hand, nicht wahr? Well,
du haucht ihr ganz ruhig den Kopf ab, lachst ein oder zweimal über den guten
Sport und schnarchst weiter wie eine Säge, wenn sie im Urwald arbeitet.
Aber hier ist das Beil »ut »f U>o <i>!k«ti0n, wie Tapley sagen würde, denn
ob auch Wien seine Sümpfe und Schlange» hat, trotz einem amcnkaniscbcn Ur¬
wald, so erfreut es sich dafür der besten europäischen Verfassung, „des Belage¬
rungszustandes, umgeben von konstitutionellen Versprechungen", wie neulich die
Ostdeutsche Post spottete, und diese Verfassung, welche auch die gesetzlichen wie
die ungesetzlichen Wege vcrbarrikadirt, begünstigt das Gewürm gegen die Men¬
schen und erlaubt deu letzter» kaum ein höhnisches Lächeln anderswo als zwischen
ihren vier Pfähle».
Wenn Sie nach Wien kommen sollten und ein Wirthshaus besuche», so rathe
ich Ihnen, steh in die sogenannte „Schwemme" z» setze», das Zimmer der Fuhr¬
leute, Holzhauer und Tagelöhner. Das Herz wird Ihnen aufgehen über die
gute Natur und die kernige Naivetät des untern Volkes. Jedenfalls plaudert
sich'S angenehmer und sicherer mit dem Holzhauer, als mit dem Bürger ans der
innern Stadt. Wenn Sie dagegen in den civilisirtern Räumen Platz nehmen, so
rath ich Ihnen zweierlei: erstens befleißigen Sie sich (außer beim Kauen) der
Mundsperre, zweitens thun Sie Baumwolle in Ihre Ohren! Der Vollblutbonr-
geois begnügt sich nicht damit, Andersdenkenden das Maul zu stopfen: er hat
eine wahre Wuth, überall mit lauter Stimme das Evangelium der Reaction zu
predigen. Es könnte Ihnen geschehen, daß Sie die Herrschaft über Ihr Zwerch¬
fell verlieren oder Ihren Gedanken K In Callvt-Hoffmann durch Gesichterschneiden
Luft machten, — und ich stehe nicht für die Folgen. Gestern z. B. trieb mich
mein böser Genius zum Abendbrot in den „Bazar." Alles, Schwemme und Sa¬
lon, war voll, ein einziger Sessel an einem runden, philisterbesetztcn Tisch war
leer und der Kellner nöthigte mich ans diesen Armensünderstiihl. Am Nebentisch
strichen einige Offiziere sich den bierfeuchten Schnurrbart und erzählten italienische
Heldenthaten. „Das Nest," sprach einer von einem Ort bei Mailand, „haben
wir schön 'kriegt. Bomben und Granaten ringsherum aufgefahren — neing'feuert
— das hat in 'ner halben Stund' so schön gebrannt wie die Wachskerzen bei der
Melken — nachher sein's aussi kommen wie die Schwoben, wie die Wanzen, sag
ich, — in Pantoffel, in Hemd und Unterrock — und die Unsrigen drauf Schei¬
ben g'schossen, Jemine, Jemine, — und die Beute! Mein Franz (sein Fourier)
hat mir'n andern Tag 'ne ganze Katz' mit Dukaten und Zwanzigern 'zeigt." —
„So kriegt man die Zwanziger von die schuftiger Italiener wieder z'ruck," lachte
mein Nachbar. — „Aber in Ungarn geht's langsam," sagte ein Anderer, „und
die Unfügen," setzte er leise hinzu, „werden jetzt die Bente mit den Russen hal-
biren müssen." Die Offiziere waren, das zeigte ihre starke Mundart, neulich
avancirte Corporäle. .4 ur Auvrro coiume u in, Aiivi-ro, dacht ich; pikanter waren
die Herzensergießungen meiner bürgerlicher Umgebung. Ihr Vorredner war ein
bauchiger Mann mit rothem Gesicht, das er in Pathos der Deklamation zu sen¬
ken pflegte, wie ein Kampfstier, wenn er das Horn fällt. Als ich mich setzte,
schlug er grade mit der Hand ans den Tisch und rief mit seiner malzfettigen
Stimme: „Herunter mit die Köpf', herunter mit die Köpf, sag ich, und Ruh is."
Nach einer Weile sah ich, daß er Niemand köpfen wollte, als Kossuth, Bathyani,
Bem, Dembinski, Jrauyi, Görgey, Klapka, Vetter, Guyon, Perczel, die pol¬
nisch-ungarische, die deutsch-ungarische Legion, Fischhvf, Violaud, Goldmark, dann
die Zeitungsschreiber, die Wühler überhaupt, weiter Niemand, „und Ruh is!"
Er versicherte überdies, daß in Ungarn mehr Preußen, Sachsen, Polen und an¬
dere Landstreicher als wirkliche Ungarn gegen Oestreich thätig sind. — Ueber
Fischhvf, der im vorigen Jahr, als Präsident des Sicherhcitsausschnsses, mit der
Frvhnleichnamsprocession gegangen war, wurden besonders aromatische Witze ge¬
rissen, und der Vorredner beklagte, daß man mit ihm so viel Federlesens mache,
statt ihn vor's Kriegsgericht zu stellen. Die Krone setzte dem Gespräch ein dürrer
Graukopf auf, der mit der „Geißel" bemerkte, daß nur Schurken über zu viele
Spitzel (Denuncianten) sich beklagten, indem ein ehrlicher Mann sie nicht zu
scheuen brauche. „Mich geniren's nit, mich uit," wiederholte er, indem er mit
würdevoller Energie in das Mundstück seiner Pfeife biß. Ich that Baumwolle in
meine Ohren, kaute geschwind fertig und bewerkstelligte meinen Rückzug.
Zur Schande Wiens sei es gesagt, daß unter der wohlhabenden Bürgerklasse
die Denunciation seit Kurzem ein gewöhnliches Laster geworden ist. Auf der
Stadthanptmannschaft und im Lokale der Milirürnntersuchnngscommissivn wimmelt
es den ganzen Tag von wohlgekleideter Angebern und ich beneide die k. k. Beamten
nicht um die Geduld und Fassung, welche sie, wie es heißt, aufbieten, um ihren
Ekel vor dem Gezücht zu bemeistern. Ich würde mehr vou ihnen halten, wenn
sie weniger Fassung besäßen und ihren Ekel nicht überwinden konnten.
Es thut mir weh, Ihnen die Pestbeulen Wiens zeigen zu müssen, und da¬
mit Sie uns nicht zu sehr l'emitleideu, will ich Ihnen gestehen, daß es den so¬
genannten Böswilligen auch nicht an humoristischen Entschädigungen fehlt. Ich
meine die ungarischen Nachrichten, die man sich zuflüstert und süß findet wie Was¬
ser aus den Strömen des Paradieses. Man denkt nicht daran, was aus Oest¬
reich dabei werden soll, und freut sich über jeden Streich, den die Nemesis gegen
die tückische Bornirtheit unserer Schwarzenberg'schen führt. Von Welden's Fiasko
und Rücktritt haben Sie gehört; seine Rücksichtslosigkeit gegen die Soldaten, die
er als Kanonenfutter traktirte und ins Feuer warf, wie dürres Reisig, hatte ihn
zuletzt auch bei der Armee verhaßt gemacht. Haynau folgte ihm, Haynau der
Brescianer, und begann damit, daß er in Preßburg gefangene ungarische Offiziere
wie Räuber behandelte. Er hat Mednyanski und Gruber nicht einmal zu Pulver
und Blei begnadigt, er hat sie gehängt. Aber bei Trentschin wurde Haynau, der
ritterliche Haynau von dem Juden Danneberg (auch unter dem Namen Don Prado
bekannt) aufs Haupt geschlagen.
Alle Zeitungen prophezeiten, die Thronentsetzung des Hauses Habsburg werde
das Magyarenvolk erbittern und zur Loyalität zurückführen. Statt dessen brechen
Husarentrnpps aus Böhmen und Oestreich, wo ihnen jene That Kossuth's kein
Geheimniß geblieben fein kann, mit romantischer Waghalsigkeit auf, schlagen
sich von Schmugglern geführt, durch Büsche und Schluchten bis über die unga¬
rische Grenze durch, um ihr Heimweh nach einem Magyarischen Schlachtfelde zu
stillen. Reisende aus Ungar» versichern, daß zwischen Polen und Magyaren noch
immer das herzlichste Einverständnis; herrsche. Es kommandiren im Ganzen nur
drei Polen in Ungarn: Bein, Dembinski und Wysocki; die polnischen Hilfstrup¬
pen betragen höchstens 10,000 Mann, können daher unmöglich, wie man hier
behauptet, die magyarische Armee terrorisiren. Eben so abgeschmackt ist die Be¬
hauptung der Wiener Blätter, daß die Ungarn an die russische Intervention nicht
glauben wollen. Man erfuhr sie dort früher als hier; weitersehende Magyaren
mögen darüber ängstlich werden : ans die Masse des Volkes hat sie einen erbittern¬
de», aber nicht entmuthigenden Eindruck gemacht.
Wie kommt es doch, daß jeder Schritt und Tritt der Magyaren romantische
Echos weckt, daß ihr ganzes Thun und Treiben sich so chevaleresk und poetisch
gestaltet, während in ganz Oestreich für Oestreich sich kein Hauch der Begeisterung
regen will. Und wenn einst der Magyar von russischen Füßen zertreten und ein¬
gestampft ist, so werden Görgey, Kossuth und ihre Husaren im Munde des öst¬
reichischen Volkes fortleben, Ziller- und Harfenklang wird sie in jeder Schenke
feiern, während Melden, Windischgrätz und Hayuau vielleicht im Wurstclprater
beim Marionettenspiel als komische Wntheriche figuriren werden.
Die Gesammtmonarchie appellirt an die materiellen Interessen. Es ist klar,
wie Einmaleins, daß die materiellen Interessen den Zusammenhang der östreichischen
Lande verlangen. Am Ende ist die leibliche Nothdurft der Kitt aller Staaten,
aber wehe dem Staat, dessen ganze Seele die Nothdurft ist. Sie begeistert nicht,
sie fanatisirt nicht, sie hilft nicht aus den Brandungen einer Krisis, wie die jetzige;
die Rücksicht ans die materiellen Interessen verfärbt höchstens den Großhändler,
wenn er die Kassandra durch die Grünangergasse stürzen sieht und schreien hört:
Das Silber steht 25 Procent! Es fällt ihm darum nicht ein, sein Vermögen
ans den Altar des Vaterlandes zu legen, sondern er kauft englische Papiere. So
rächt sich die althabsbnrgische Verachtung jeder Idee, welche sich über den Gedan¬
ken der Disciplin und Subordination erhebt.
Wenn der Magyar siegen sollte, so wird die Macht der materiellen Be¬
dürfnisse den Zusammenhang der östreichischen Lande ebenfalls fordern. Die Mo¬
narchie wird vielleicht auf kurze Zeit aus den Fugen gehen, und die getrennten
Reiche werden sich wieder einigen, aber durch ein anderes Band als den eisernen
Reisen des Schwarzenberg'schen Absolutismus.
Das Frohnleichnamsfest und der Appetit der Wiener erfreuen sich seit un¬
denklichen Zeiten einer gewissen Celebrität in der christkatholischen Welt. Der
Appetit ist geblieben trotz der Ungenießbarkeit unserer Zustände, aber das Frohn¬
leichnamsfest hat viel von seinem Glänze eingebüßt, seit Oestreich seine Aufer-
stehung feierte. Demokraten mit subjectiver Anschauung mögen es im vorigen
Jahre idealisch schön gefunden haben. Da machte Nationalgarde und academische
Legion Spalier, der Sicherheits-Ausschuß mit Fischhof an der Spitze hatte den
Ehrenplatz hinter dem Himmel, den sich die Geistlichkeit hier ans Erden zurecht
gemacht halte. Nur geweihte Tonsuren finden unter diesem Himmel Raum, und
selbst der Kaiser muß sich bequemen, hinter demselben dreinzugehu; sein Auge
sieht deu Himmel offen, reizend wie den Schalten einer Eiche, wie einen bunten
Sonnenschirm in schönen Händen, aber er darf darunter vor deu glühenden Lie-
bcsblicken der Sonne keinen Schutz suchen. Und gerade am Frohnleichnamstage
pflegt es in Wien sehr heiß zu sein, nach Einigen aus göttlicher Bosheit gegen
die östreichischen Hofchargen, wahrscheinlich aber deswegen, weil der Feiertag in
den Hochsommer fällt. Wie gesagt, im vorigen Jahre ging Fischhof an des Kai¬
sers Stelle hinter dem rothen Himmel her; Heuer sitzt er im Gefängnisse und
sieht den ewig blauen durch die Gitterstäbe seiner Kerkerzelle.
Schandblätter, die zur Ehre Oestreichs nicht über die Grenze kommen, ha¬
ben allerunterthänigst darauf aufmerksam gemacht, wie herrlich das heurige Fest
mit dem vom vorigen Jahre contrastire, und daß Fischhof Heuer jenen Platz
occnpire, der ihm von Rechtswegen gebühre. Die Schelme thun, als hatten sie
erst jetzt wieder den Glauben an Gottes Gerechtigkeit wiedergefunden, und rufen
pathetisch: Jetzt, da der Kaiser und Ruhe und Ordnung in Wien ist, werden die
Gewerbe wieder anfangen zu blühen, und der Wohlstand in Saamen über¬
gehn u. f. w. Das haben sie gesagt, wie Windischgrätz über Leichen eingezogen
ist, wie Blum und Messeuhauser erschossen wurde, wie der Reichstag in Kremsier
auseinandergejagt und ein einiges Oestreich decretirt, und das 30. Siegesbulletin
ans Ungarn angeschlagen wurde, das sagen sie bei jeder Gelegenheit, als ob aus
jedem Düngerhaufen schnell Ananasse wüchsen, als ob Gott jeden Tag gelaunt
wäre, ans Lüge Wahrheit zu machen, wie sein eingeborner Sohn in der Wüste
aus Nichts Brot but. Dabei wird aber das Brot täglich kleiner und die Noth
größer, der Verdienst wird schmäler und die Polizei breiter und der Banknoten-
cours uiednger und der Leichenberg höher und der Blutstrom tiefer, aber der
„ritterliche" (?) Kaiser ist hinter dem Baldachin hergegangen, eiz»--
DaS Boll liest wenig und merkt sich viel, und das Viele wird große dicke
Aehren treiben wie Dreschflegel und Keulen und dann wird eS c-i-^o heißen. Das
Volk hat ein gutes Gedächtniß, und wäre es so vergeßlich wie seiue Regierun¬
gen, es würde diesen wenig nützen. Jeder Stein in- Wien dient ihm zum
Anhaltepunkt, und mögen sie Fischhof als Hochverräther erklären und in die Ver¬
gessenheit des Spielbergs einsargen, das Volk wird es nie und nimmer verges¬
sen, daß er es war, der das erste freie Wort für Oestreich in Oestreich gesprochen.
Vor und hinter dem goldgestickten Baldachine bewegte sich der höchste Kle¬
rus des Landes, der eben hier versammelt ist, um in den großen Ruinen der
Gegenwart das Wuuderblümcheu der katholischen Christenheit zu schirmen und zu
Pflegen, daß es nicht zu Grunde gehe. Die geistlichen Herren conferiren fleißig,
aber das Volk hat keinen Sinn mehr für Trieutinische Concilien. Es fürchtet
die Dünnen und die Dicken nicht mehr, seitdem es an den breitbeinigen Thronen
gerüttelt, und scheert sich um die Bannblitze der Kirche nichts mehr, seit es dem
profanen Donner der Kanonen Stand gehalten.
Heute aber war's gut, daß die Bischöfe anwesend waren; sie gaben dem re¬
ligiösen Festzuge etwas theistisch - superbes, denn der monarchische Staat war
mesquin-monotonisch. Der Glanz der östreichischen Krone ist durch Rostflecke
entstellt. Rostet denn auch Gold durch Blut wie gemeines Eise», oder war das
Metall nie ächt gewesen? Ich weiß es nicht zu sage», aber wer den Spectakel
von sonst gesehen, der mußte, und hätte er seit 2 Jahren keine Zeitung gelesen,
beim Anblick des heurigen Festes auf den Gedanken kommen: Es ist etwas
faul in Dänemark.
Holla! He! Ihr Ordner des Zuges, Ihr reichbetreßten Hofmarschälle, Ihr
goldbortirten Ceremonienmeister! wo bleiben denn Heuer die ungarischen Magna¬
ten mit den kostbaren Dolmans, an denen jede Schnur eine Perlenreihe und je¬
der Knopf ein Edelstein war? Wo steckt die italienische Garde, die Blüthe des
lombardischen Adels, mit ihren feinen Gesichtern und goldenen Helmen und ihren
herrlichen braunen Rossen? Und warum fehlen die hundert jungen Edelleute
ans Ungarn mit ihren rothen silbervcrzierten Gewändern, den Zobel auf dem
Haupte, und den Reiher auf dem Kalpak, und ihre silberweißen Rößlein, die sie
sonst bäumen ließe», daß die Pflastersteine und die Frauenaugen Feuer sprühten?
Und wo weilen denn die schönen Damen aus Polen, Ungarn und Italien, die
sonst das Auge blendeten durch ihre Schönheit und mit feenhaftem Schmucke an¬
gethan ihrer Kaiserin und Königin zur Kirche folgten? —
Hör' aus zu fragen, toller Junge — wir haben keine Königin, und die Frau,
die uns regiert, hat daheim in der Wirthschaft zu thun, derweil ihr Sohn den
Kaiser spielt. O sie ist klug und kennt die Welt, und weiß, was sie dem Volke
gilt, darum will sie nicht, daß der Schatten ihrer Gegenwart die Zukunftsblüthe
ihres Sohns verdunkle. Die schönen Damen sind auch daheim geblieben. In
Mailand und Brescia und Verona kniet die Signora in Trauerflor gehüllt im
kühle» Dome und betet warm und heiß für sich und alle Welt, nur uicht für
Oestreich. In Lemberg lugt die Frau des Edelmanns hinter den Fenstergar¬
dinen, ob kein russischer Sbirre sich blicken läßt, dieweil ihr Gemahl sich in der
Stube mit den Freunden bespricht ob es noch nicht an der Zeit ist — und
vor dem Thore ihres Schlosses sitzt die Edelfrau in Ungarn in Mitten ihrer
Mägde, und zupft Charpie zurecht für blutige Wunden, und lauscht dem fernen
Kanonendonner und betet für ihren Mann, für ihren Sohn, für ihre Knechte,
und flucht dem Könige, der nicht mehr ihr König heißen soll.
Ja wohl — der Glanz der Krone ist verdunkelt durch blutige Flecken aller
Art. Was heute noch an ihr schimmerte, war baar bezahlter Flitter an Hofla¬
kaien, Generalen und Hofchargen, daun die Geistlichkeit, die sich selbst honorirt.
In der Wirklichkeit gibt's keine Kaiserkrone von Oestreich. Sie ist der ab¬
strakte Gedanke der verschiedenen Königskronen, welche die Monarchie repräsenti-
ren, und davon soll jede mit Bajonnetten ewig bewacht, mit Waffengewalt wie¬
der und wieder erobert werden. Lieber aber wollt' ich — ein armer Abenteu¬
rer — eine Expedition gegen China unternehmen und mich in der Voraus¬
setzung des Gelingens Kaiser Tschnkin schelten lassen, als den Kaiser von
Oestreich spielen, bevor ich nicht Italien, Galizien und Ungarn fest in der Tasche
habe, hineingezwängt durch die innere Nothwendigkeit des Zusammenwirkens.
Es lebe Kaiser Tschnkin und das einige chinesisch-japanisch-mongolische Reich! —
Auf dem Graben stand ein Bataillon Grenadiere und gab die üblichen Sal¬
ven. Ein paar Dutzend vereinzelte Schusse im Stadtgraben abgerechnet, die ih¬
ren Widerhall bis an die äußersten Enden der civilisirten Welt fanden, hatten
wir seit vielen Monaten kein Gewehrfeuer gehört. Manchem that's wohl und
Manchem weh. Am Stephansplatz knallte seit Menschengedenken an diesem Tage
die Bürgergarde mit ihren Büchsen so gut es eben gehn wollte. Heuer war's
dort still. Die alte Bürgermiliz war von der naseweisen Nationalgarde in's
Schlepptau genommen worden, und so sind beide in den Katarakten des Belage¬
rungszustandes jämmerlich zu Grunde gegangen. Ob der Phönix mit schwarz-
gelben, schwarzrothgoldnem oder gar russischgrünem Gefieder la est Cocarden,
aus dem Grabe auferstehn wird, wissen die Götter. Heute mußten die ehrsamen
Spießbürger sich bequemen, mit den gottlosen Proletariern und ihrer Teufels¬
brut hinter den Spalieren Platz zu nehmen, und die Fußtritte der k. k. Sol¬
daten über sich ergehn lassen. Das vergessen die Wiener dem Hofe nie, und wenn
Bach-Schwarzenberg einmal in Anklagezustand versetzt werden sollten, muß dies der
erste Paragraph der Klageakte werden. Mein Schneider stimmt dann für den Tod.
Wer mir vor einem Jahre von dem kriegerischen Geiste der Wiener gespro¬
chen, den würde ich für den zweiten Narren Deutschlands erklärt haben — der
König von Preußen war schon damals der erste — und jetzt! Nicht einmal auf
die Feigheit der Städtcbiuger können sich die Fürsten mehr verlassen, nachdem die
Wiener dem Windischgrätz und die Römer dem Oudinot Respect eingeflößt haben.
Erst hente, als ich mich hinter den Spalieren herumtrieb, konnte ich neuerdings
gewahren, daß die Wiener von einem gewissen militärischen Geiste wie besessen
sind, trotzdem daß sie bis jetzt so übel dabei davongekommen waren. Würde doch
von jedem einzelnen Soldaten herumgeschnnppert, und alles beguckt und gemustert
und bekrittelt! Die Kritik fiel sehr ungünstig für's Militär aus, und das war
natürlich, denn die ganze Garnison besteht aus Rekruten. Die Offiziere sind auch
meist Neulinge, unbärtige Muttersöhnchen, denen jetzt Raum gegönnt ist, die
kleinen Tyrannen zu spielen und in ihren Mußestunden die Theorie des Constabler-
thums zu studiren.
Unsere weiland Nationalgardisten zupfen einander voll Schadenfreude rechts
und links am Aermel, die Töchter lehnten sich im Hochgefühl des Triumphes ver-
trauungsvvllcr an die Arme der entpuppten Studenten, nur die bösen kleinen Ran¬
gen kicherten gar unverschämt, als die Truppe selbst in den einfachsten Elementen
des Exercitiums mit den Flinten schlotterte wie Schuljungen mit der Zunge.
Der Major commandirte, die Offiziere errötheten, die Korporale stießen rechts
und links — vergebens; die Masse konnte erst wieder nach vielem scandalösen
Durcheinanderrennen in Colonnen zum Abmarschircn formirt werden, und auch
dazu war manche unsterbliche Nationalgardenscele hinter dem Spalier behilflich,
was die Offiziere noch röther und wüthender machte. Endlich ging's vorwärts. - -
Die osstciösen Leistungen wußten des andern Tages viel von dem „grenzen¬
losen, wahrhaft rührenden Jubel" der Bevölkerung zu erzählen, und daß Gewerbe
und Handel nun wieder blühen werden u. s. w. Ich habe nur Eine ungeheu-
chelte aber höchst unloyale Freude bei den Wienern beobachtet, darüber — daß
die Truppen so schlecht exercirten — sich in keiner Beziehung mit der alten Na¬
tionalgarde messen können, von der verewigten akademischen Legion gar nicht zu
reden. —,—
Nestroy gibt in einer Posse die Rolle eines 13jährigen Jungen. An seinem
Geburtstage zieht ihn der Vater auf den Schooß und frägt zärtlich, was sein
kindliches Gemüth sich am meisten zum Angebinde wünsche. „Papa! ein Se¬
rail!" antwortet der kleine Taugenichts. — Anständige Leute finden dergleichen
sehr unanständig, müssen aber nichts desto weniger darüber lachen. Wird man es
nicht auch unanständig finden, wenn wir jungen Leute in dieser bitterbösen Flegel¬
zeit den Wunsch nach männlichem Humor und grauhaariger Philosophie aussprechen?
In gewissen Kreisen — ja. Aber man wird dessen doch froh werden. Darum
Dank für Ihren freundlichen Rath. Er war gut gemeint. Aber Sie irren sich,
wenn Sie aus den Stoßseufzern unserer Berichte ans zerschlagene Gemüthszustäiide
schließen. Nur Melancholiker und Hypochondristcn schreibe» Lustspiele, um jeden
Rückstand von Heiterkeit als beschwerlichen Ballast über Bord zu werfen und dem
Haifischracheu des Publikums Arbeit zu verschaffen. Der wahrhaft Heitere gibt
von seinem Kapital nicht gerne etwas aus, er läßt es in der Taufe seines Herzens
zu Zinsen anwnchern. So auch wir. Wir sind mit unserer Heiterkeit die größten
Geizhalse geworden; Communisten im engen Freundeskreise verschließen wir unsere
Schätze dem raubsüchtigen Pöbel.
Glauben Sie nicht an die Verzweiflung unseres Hafis in Berlin. Auf diesen
Einen Weisen kommen dort tausend Narren, und da findet seine ernstnmschattete
Brille in dem hohlen Wellenschlage der Thorheit die kostbarsten Muscheln, gefüllt
mit humoristischen Perlen. Diese behält er für sich, die schmutzigen Seba-
im gibt er der Brandung zurück. Und wenn alle Preußen über Nacht weise wür¬
den wie Hafis selbst, der Eine, Große, Unentschiedene in Sanssouci wird die
große Reichsnarrenjacke bis an's Ende seines Lebens nicht ablegen, und Hases
wird in der Nähe dieser humoristischen Salzquelle nicht verschmachte» dürfen.
Fast wie in Wien — uns verursacht der Humor schon Blähungen. Die Re¬
gierung füttert uns damit u civve/. Früher die SicgeSbulletins, später die ver¬
schiedenen Kundmachungen über Standrecht, Kriegsrecht, Toilette, Anstand. Man
muß an jeder Straßenecke Humor lassen. Und dann — Sie kennen doch so ziemlich
unsern Wirkungskreis. Das Schreiben ist ewig Nebensache, wir handeln Thaten.
Vormittags arbeiten wir im Bureau des europäischen Vereins „zur Verführung
k. k. Unteroffiziere," da gibt's genug Spaß, denn wir haben die höchsten Damen
zu Vereinsmitgliedern, dann correspondiren wir mit dem Mutterkind „zur Vertil¬
gung aller Fürsten," dann empfangen wir Gesandte von den demokratischen Cravallen
in Breslau, Elberfeld, Düsseldorf, Leipzig und Sachsenhauser, dann verfertigen
wir Knallsilber, um Eisenbahnen in die Lust zu sprengen und Deutschland um
1000 Grad über seine eigene Fläche zu erheben, endlich leiten wir die polnisch¬
magyarisch-anarchisch-sozialistische Umsturzcrhebung in Magyaren und übersetzen
die französischen sozialistischen Broschüren für die ungarischen Schweinehirten. Ach
Gott! gibt's da Spaß und Arbeit. — Und wenn uns alles das nicht aufrichten
könnte, gibt uns nicht der Lloyd früh und Abend einen halben Bogen Possen zum
Besten? Marquis, wie konnten Sie den Lloyd vergesse»?
Nur Eines hat uns bisher gefehlt, um den Duft unsrer demokratischen Philo¬
sophie in mystischer Wolkengestaltung zu Allah emporsteigen zu lasse» — guier
türkischer Tabak. Aber auch-dafür ist gesorgt. Durch unsre sichern Verbindungen
haben wir Bem nach Siebenbürgen die Noth seiner hiesigen Verbündeten wisse»
lassen, und gestern erhielten wir in einer hölzernen Kanone, die wie ein roher
Baumstamm aussteht, die wunderbarsten Tabaksblättcr, die je von türkischen Pro¬
letariern gepflanzt wurden. Aus jedem Stengel erblüht uns el» Galgen, wenn
wir von der Polizei ausgewittert werden. Sie sind zu allen unsern Genüssen
freundlich eingeladen, wenn Sie die Langeweile in Leipzig überkommt.
Wenn ich letzthin versprach, Ihnen über die r.tela siillicic-us unseres Belage¬
rungszustandes ausführlich zu schreibe», so habe ich Unrecht daran gethan und
Ihre Erwartungen ungebührlich hoch gespannt. Die cake katholische Ueberzeugung,
die ich von der Unergrüttdlichkcit der Rathschlüsse der östreichischen Negierung und
von der Unerfvrschlichkcit ihrer Wege erlangt habe, erlaubt es mir nicht weiter,
über hohe und allerhöchste Maßregeln zu grübeln. Der Mangel des östreichische»
Bewußtseins ist zwar bei uns allen sehr fühlbar, aber der Belagerungszustand
jedenfalls ein vortreffliches Surrogat; wir wären vielleicht versucht, das „einige
und starke" Oestreich im Monde zu suchen, wenn wir es nicht innerhalb des
Belagernngsrayons finden würden. Wir sind zwar häufig sehr ungenügsam, und
behaupten sogar, der östreichische Constitutionalismus röche allzusehr uach russischen
Juchten; aber dann brauchen wir nur einige Male vor den Kanonen der Citadelle
Wissehrad auf und nieder zu gehen, und uns fallen wieder allmälig die vergessenen
Strophen der östreichischen Volkshymne bei. Diese stummen Sphinxe des Abso¬
lutismus wirken wunderbar auf unser Gemüth, unverstandene Entzücken Schauern
uns aus ihren finstern Mündungen an, und vor ihnen gewinnen wir-wieder die
Ueberzeugung, daß der Habsburgische Staat noch die meisten göttlichen Eigenschaften
besitze, die der römische Katechismus anführt. Er ist allmächtig in der Schußwette
seiner Kanonen, er ist allwissend, denn die östreichische Polizei kennt noch immer
unsere geheimsten Gedanken, und ohne ihr Wissen fällt kein Sperling vom Dache;
er ist unveränderlich, denn er ist jetzt nach dem März I84ö wesentlich derselbe, wie
er vor dem März 1848 gewesen; er ist gerecht, denn er belohnt die Guten mit
Orden und Tapferkeitsmedaillen und bestraft die Bösegestnnten mit dem Stand¬
recht; er ist sogar barmherzig, denn er begnadigt mitunter vom Strange zu Pulver
und Blei. —
Ich habe Ihnen in meinem letzten Briefe geschrieben, wie die Czechen den
romantischen Versuch, die versunkenen Schätze ihrer ehemaligen Herrlichkeit zu heben,
in der jüngsten Zeit aufgegeben haben, weil sie den gegenwärtigen Besitz darüber
in Frage gestellt sahen. In bitterer Enttäuschung erkannten sie sich als die Schatz¬
gräber, denen man die Baarschaft aus der Tasche zog, während ihnen die Wün¬
schelruthe das vergrabene Gold anzeigte. Die wirkliche Gefahr löste den Zauber,
der sie in dem Irrgarten der Imagination festbannte. Der Nekromant wird seine
Geister im Stiche lassen, wenn das Dach über seinem Haupte zu. brennen anfängt;
bei dem wirklichen Feuerlärm verlöscht die magische Flamme. Durch den 4. März
1849 wurden die Czechen gezwungen, von jener Geisterwelt, die sie aus dem hei¬
ligen Grabe der historischen Erinnerung heraufgeholt hatten, den Blick auf die
Wirklichkeit zu wenden, die immer trüber zu werden, drohte. Früher hatten sie
den „Weltgeist" der Wiener nicht verstanden; er konnte sich nicht offenbaren dem
isolirten von der Allgemeinheit abgefallenen Volksgeist, der sich der großen Arbeit
der Gegenwart nicht ungetheilt hingeben, sondern nur sich selbst auf phantastische
Weise realisiren will. Jetzt aber, nachdem sie einsahen, daß die slavischen In¬
teressen nicht durch eine nationale Contrerevolution verwirklicht werden können,
bekehrten sie sich zu dem „Weltgeist", und ließen sich auf seinen Namen taufen.
Während sie ehedem die wohlgemeinte revolutionäre Despotie der Hauptstadt auf
das Heftigste bekämpften, welche die östreichische Revolution innerhalb der Wiener
Lumer zu Ende zu führen dachte: so tritt jetzt die slovanskii Un», von Prag selbst
im Namen der Gesammtheit auf, und fordert in ihrer schon letzthin besprochenen
Petition für alle Völker Oestreichs die vom Reichstage entworfene Verfcissuugsur-
knnde. Sie hält sich nicht mehr für berufen, gegenüber der Allgemeinheit jener
weltbeglückenden Phrase, welche die Wiener Demokraten im Munde führte», die
Partikularität des Czechenthums zur Geltung zu bringen; sondern sie dachte viel¬
mehr, jetzt sei die demokratische Mission für ganz Oestreich aus dem belagerten
Wien nach Prag, übergegangen, welches noch unter allen Städten der Monarchie
sich am Freiesten bewegen könne und daher von dieser Freiheit auch einen förder-
samen Gebrauch für das Ganze machen müsse. Die Petition der sIuv-uiLki- I^>ii konnte,
da sie in dieser Fassung eine günstige Erledigung nicht erwarten ließ, zugleich den
Sporn zur revolutionären Selbsthilfe des Volkes enthalten, und war, wenn sie
überhaupt einen Zweck haben sollte, auch auf diese letztere Wirkung berechnet.
Der entschiedene Ton, in welchem sie abgefaßt war, deutete mit Bestimmtheit
darauf hiu, daß man sich in den abschlägigen Bescheid, auf den man ohnehin
rechnete, nicht mit stiller Resignation ergeben wolle. Vielmehr sollte diese Peti¬
tion ein Ultimatum des Volkes an die Krone und zugleich das Programm einer
künftigen Erhebung sein. Indem die Mitglieder der slovnnskä lipä und ihrer
Filialen, wie begreiflich auf dem Lande Unterschriften für diese Petition sammel¬
ten, fanden sie auch Gelegenheit, auf das Volk vorbereitet einzuwirken, und der¬
jenigen Gemeinden sich zu versichern, anf die man im entscheidenden Falle rechnen
könnte. Ueber den Zeitpunkt einer Volkserhebung wird man sich noch kaum ge¬
einigt haben; möglich ist es aber immer, daß man im Henrigen Mai auf das
Octroi vom 4. März 1849 eine Antwort des „souveränen" Volkes in Prag er¬
folgen lassen wollte, so wie das Volk ans das Octroi vom 28. April 1848 im
vorjährigen Mai in Wien geantwortet hatte. Dies läßt sich aber mit Bestimmt¬
heit behaupten, daß die Bewegung, wenn sie wirklich zum Ausbruche gekommen
wäre, kein anderes Motto, als die Anerkennung der vom Reichstag entworfenen
Constitutionsurkunde gehabt haben würde. Da die Kraft des Wiener Volkes ge¬
brochen war, so dachte man daran, in Prag jene große, altöstreichische Bastille
zu stürmen, in der die Volkögeister gefangen gehalten wurden und an ihrer Stelle
den Grundstein zu jenem Pantheon zu legen, von dem der Reichstag bereits den
Riß entworfen.
Diesem möglichen Fall wurde nun durch den Belagerungszustand vorgebeugt,
der zur allgemeinen Ueberraschung am 10. Mai über Prag verhängt wurde. Die
sogleich vorgenommenen Verhaftungen betrafen solche Personen, welche bereits an
dem Juni-Aufstande betheiligt gewesen; jedoch scheine», da einige schon wieder
entlassen wurden, die Untersuchungen kein erhebliches Resultat haben zu wollen.
Kaum hatte Khevenhüller in seiner Proclamation uns bekannt gegeben, „daß durch
übereinstimmende Anzeigen und erhobene Thatsachen die revolutionären Pläne
einer verbrecherischen Fraktion festgestellt seien," so war an demselben Tage die
Mythe einer neuen Verschwörung fertig gedichtet, und spukte in verschiedenen
Varianten durch mehrere Journale. Daß aber der Hauptsache nach nur die
Worte der stop-uiickii lijiii. welche freilich noch lange keine Thaten waren, die
Verhängung des Auönahmözustandes zur Folge hatten, kann man unter andern
anch aus folgender merkwürdiger Geschichte entnehmen, welche uns in der „Nu-
rodny Nowiny" erzählt wird: „Von 156 Gemeinden des Buuzlauer und Rako-
uizer Kreises war eine Deputation abgesendet worden, welche dem Kaiser eine
Petition überreichen sollte, die in einem noch weit entschiedeneren Tone, als die
von der Llov-miet!! entworfene, abgefaßt war. Sie enthielt nämlich folgende
Punkte: 1) Se. Majestät möge das Ministerium Schwarzenberg entlassen und vor
ein Gericht stellen, weil eS durch die Auflösung des Reichstages u. s. w. die
Rechte des Volkes und die kaiserlichen Gelübde verletzt hätte; 2) die octroyirte
Charte vom 4. März und alle von diesem Ministerium erlassenen Gesetze wieder-
rufen; Z) ein neues Ministerium aus redlichen und volkstümlichen Männern bil¬
den; 4) die vom Reichstag entworfene Verfassung als Verfassung Oestreichs pro-
tlamireu und auf deren Grundlage einen neuen Reichstag einberufen; 5) eine
rasche Errichtung der neuen Justiz- und politischen Behörden verfügen.
Mit dieser Petition begaben sich die Deputirten, an ihrer Spitze H. Clemens
Morawek aus Mscheno, am 17. Mai uach Schopla (bei Metrik), wo sich die dem
dortigen Amte zugehörigen Glieder der Deputation die nöthigen Gcleitscheine ver¬
schaffen wollten. Da jedoch der Schopkaer Amtödirektor ihnen dieselben verwei¬
gerte, so beschlossen sie, die nöthigen Schritte beim k. k. böhmischen Landespräsi¬
dium zu machen; wurden aber unterwegs bei Lieben von einem Unbekannten an¬
gehalten, um ihre Gcleitscheine befragt, und kaum daß sich Morawek seinerseits
mit einem solchen ausgewiesen, von Knrassiren umringt, und in das k. k. Jnva-
lidcnhans bei Prag gebracht. Dort wurden sie nach langem Warten von einer
militärischen Commission einzeln verhört, und genau durchsucht, die Petition ihnen
genommen, die Deputirten aber, mit alleiniger Ausnahme des Herrn Morawek,
in Freiheit gesetzt. Gleich am folgenden Tage machte die Deputation die nöthigen
Schritte um Freilassung ihres verhafteten College» und um Rückgabe ihrer Petition,
und wählte-endlich — nach langem Hin- und Herziehen — aus ihrer Mitte drei
Mitglieder, welche beim Justizministerium eine Klage wegen Verletzung des Pe¬
titionsrechtes und der persönlichen Sicherheit einbringen, und die Freilassung des,
Herrn Morawek, sowie die Rückstellung der Petition verlangn! sollten. Während
diese drei Abgeordneten nach Wien abreisten, wurde Morawek nach 4tägiger Haft
freigelassen, und die Petition zurückgestellt, mit dieser zugleich aber durch Versehen
einige Denuntiatiousbriefe (?), in Folge deren der Deputation die erwähnten Un¬
annehmlichkeiten widerfahren waren. Morawek folgte nun sogleich der Deputation
nach Wien, wo beim Justizministerium auf Untersuchung und Bestrafung der an
dieser rechtswidrigen Verhaftung und Behandlung schuldtragenden Personen ge-
klagt wurde. Das Justizministerium versprach ihnen Genugthuung. Am 30. Mai
übergaben die Deputaten die Petition der 156 Gemeinden dem Gen. Adjut. Sr.
Majestät, und erhielten in einer Audienz am 1. Juni vom Kaiser den B:schalt,
daß dem Ministerium bereits eine allerhöchste Verfügung zugekommen sei, ehestens eine
schriftliche Erwiederung abzufassen, welche der Tcputativn durch das bösen. Lan¬
despräsidium zugestellt werden würde." —
Ich weiß es, Sie erlassen mir gern die ohnehin nicht sehr interessanten De¬
tails unseres Belagerungszustandes und werden sich mit einigen allgemeinern Be¬
merkungen zufrieden stelle». Der Belagerungszustand ist seinem Wesen nach ein
künstliches Idyll, ein anbefohlener Feiertag, an dem man von der geschichtlichen
Arbeit ausruhen, und uur ftomme Lieder, wie z. B. die Volkshymne singen soll.
Wäre ich ein reicher Bourgois, oder auch nur ein armer Edelmann, dann würde
ich über dieses Idyll mit Religion zu schreiben verstehen, und gelinde schwärmen
von diesem seligen Indifferenzpunkt, in dem die fieberhaft bewegten Pulse des ge¬
schichtlichen Lebens verstummen, von diesem glücklichen Paradies, in das wir durch
die Entschlossenheit eines kaiserlichen Generals wenigstens auf einige Monate zu¬
rückgeführt werden können , von dem geschichtlosen Quietismus, von diesem «l»Ich
t'in- liivuto im Schatten der Kanonen, die uus alle zu dem allein seligmachenden
Staate, von dem wir durch die Revolution abgefallen sind, wieder bekehren sollen.
So aber muß ich mich damit begnügen, in der nüchternen Weise der Grenzboten
eine ganz uuromcmtische Schilderung derjenigen Arkadier zu entwerfe», die sich im
Belagerungszustände selig fühlen.
Dem Adel zunächst ist wieder seine früher olympische Ruhe in vollem Maße
zurückgekehrt. Jetzt darf die Canaille seine Palläste nicht mehr mit jenen wirren
Lärm umtoben, den mau die geschichtliche Bewegung nennt. Früher wurde er
aus seiner standesgemäßen Weltverachtung auf so unangenehme Weise herausge¬
rissen; die bewegte Menge konnte ihm nicht mehr gleichgiltig sein, da er gegen
sie ankämpfen mußte. Jede kann er aber wieder eine Zeit lang über den Ernst,
der die Massen bewegt, vornehm lächeln, ohne daß die Angst, die sich ehemals
in den blassen Zügen malte, mit dieser Ironie contrastirt. Er kann sich wieder
dem arkadischen Genuß seiner an sich werthvollen Existenz hingeben, und wieder
ruhig wie früher seine Thiergärten, Pferdeställe und Bildergalerien besorgen. Denn
er allein hat noch nicht das Paradies verloren, in dein der Mensch in einer hei¬
ligen Gemeinschaft mit Gott nud den Thieren lebte, uur der Troß ist daraus ver-
trieben worden, um draußen im Schweiße des Angesichts sein Brot zu essen, und
mit hungrigen Magen Geschichte zu machen. Ihm ist daher die Dialektik der
Weltgeschichte mit ihren zahllosen „Gemeinheiten" ein Gräuel; die Vergangenheit
steht ihm still in den Bildern seiner Ahnen, und in der üppigen Vegetation des
Stammbaums gedeiht jenes vornehme Pflanzenleben, welches erst mit dem Baron
anfängt. Es ist in der That merkwürdig, wie schnell sich der Adel den nachmärz-
lichen Angstschweiß von der Stirne getrocknet, und wieder die kalte Miene der
vormärzlichen Verachtung angenommen hat. „Ich kaun es Ihnen versichern," so
sagte mir vor kurzem ein adeliges Fräulein, „baß der Advokat P..... (ein be¬
kanntes Mitglied der Rechten im aufgelösten Reichstage) alle Clienten, die er unter
dem Adel besaß, verloren hat, keiner der Kavaliere, die ihm früher so gewogen
waren, spricht weiter mit ihm!"
Die Ruhe, die der Edelmann für das Privilegium des Müssiggcmgs, für
das inhaltslose Spiel seines Daseins verlangt, beansprucht wieder der Bourgois
für den ungestörten Verlauf seiner alltäglichen Geschäfte. In beiden Fällen ist
das Leben ein ungeschichtliches Idyll, mag es nnn in hohem Poussin'schen Styl,
oder in vaterländisch-trivialer Weise durchlebt werden. Die große Arbeit der
Geschichte greift verwirrend in das System der kleinen Arbeiten ein; sie nimmt
die Massen in Anspruch, und verkümmert dem Einzelnen das isolirte Recht seineu
eignen Weg zu gehen. Nicht nur dem Archimedes oder dem vereinsamten For¬
scher, auch dem Gevatter Schuster, Schneider und Handschuhmacher überrascht der
ernste Geist der Zeit in seiner Werkstätte und zerstört ihm seine Figuren. Der
Bvnrgois kennt mir den Quietismus s-ins ulunso; er ist froh, daß er jetzt nicht
alle Augenblicke ans Fenster treten muß, um zu sehen, was es draußen gibt.
„Wer nur den lieben Gott läßt wallen" dies ist sein Grundsatz in Sachen der
Politik. Wo seine Werkstätte oder Schreibstube aufhört, da fängt für ihn die
göttliche Vorsehung an. Für die Allgemeinheit schlägt ihm kein Herz, denn sie
ist ein Begriff, und dieser kann für den Gedankenlosen nicht existiren. Die Re¬
volution ist ihm eine Gotteslästerung, das Selbstvertrauen der Masse aus die
eingeborne Kraft entspringt aus einem Mangel an Vertrauen zu Gott, und zu
seineu gekrönten Stellvertretern auf Erden. Zum größten Unglück hat der Bour¬
geois den bösen Feind im eigenen Hause; es ist das Corps der Lehrlinge, bei
dem der historische Sinn sehr ausgebildet ist, weil es ja die Muflkcapelle der Re¬
volution bildet. Aber auch diesen Gegner hält der Belagerungszustand in Zaum.
Am meisten genirt mich der Bourgois, wenn er neben seinem gewöhnlichen
Gewerbe uoch eine edle Liebhaberei hat, und z. B. Musik treibt. In diesem
Falle erhält sein Quietismus einen aristokratischen Anstrich, einen Zug von No¬
blesse, die mit seinem übrigen Wesen nicht zusammenstimmt. Er will dann in
der ganzen Welt die Stille des Concertsaalcs wiederfinden, und möchte sein Phe!
den unbescheidener Männern der Bewegung zurufen, damit Thalberg immerfort
gefühlvolle Adagio's spielen könne. Ich kenne hier in Prag einen musicirenden
Kaufmann, bei dem ich mich uach einem jeden wichtigen Ereignis) nach seinem Be¬
finden erkundige. So fragte ich ihn uach dem 4. März: Nun, wie geht es
Ihnen jetzt, Herr G.? „Seit gestern gut," antwortete er, „jetzt werden die Course
wieder steigen." Die gleiche Frage richtete ich an ihn nach der Verkündigung
des Belagerungszustandes. „Ich bin ganz zufrieden" war die Antwort; „jetzt kann
ich doch eine Sonate von Chopin ruhig einstudiren, ohne daß ich fürchten muß,
daß mich ein Slraßenspectakel stört!"
Aber lassen wir diese Glücklichen, deren Seligkeit wir nicht theilen können,
und wenden wir uns lieber deu Trauernden zu. Sehen Sie, dort hinten in
dem verlassenen Winkel der Kneipe sitzt ein Bruder Studio vor einem Glase
Dünnbier, das er noch gar nicht angerührt hat. In seinen Zügen malt sich eine
hilflose Wuth, ein elegischer Zorn, eine grimmige Melancholie. Ach, sie haben
ihm auf der Hanptwciche seinen Zicgenhainer genommen, well dieser anch unter
„die politischen Abzeichen" gehören soll; und er war ihm doch so lieb, es standen
darin zierlich eingeschnitten alle Namen jener Verbindung, der er angehörte, und
rund herum stand der Spruch: „Der Gott der Stöcke wachsen ließ, der duldet
keine Philister!" - Der arme Junge'. Er ist schon lauge wieder von dem Fo¬
rum an jenen Pflug zurückgekehrt, den er im März des vorigen Jahres auf dem
Felde der Wissenschaften stehen ließ und ackert wieder mit der Ausdauer eines
altöstreichischcn Studenten weiter. . . . Und dann muß er anch obendrein in sei¬
nem Kollegium absolutes Staatsrecht anhören, das der Professor aus seinen vor-
märzlichen Schulhefteu, die er noch gar nicht geändert, nach alt hergebrachter
Gewohnheit gelassen herunterlieft! — Ob sich unser Bruder Studio jetzt an den
Schwank currere, den er vor mehreren Wochen mit andern lustigen Gesellen an
demselben Tische ausgeführt? Da saugen die losenJungen in dem: ,,Kien«1<Zi»mu8 ixi-
tur" den einen Vers: „Viv:rr et resnubllc-r" so ungebührlich laut, daß einige
Philister in der andern Ecke zusammenführen und die Sicherheitswache holen
wollten, weil sie glaubten, die Burschen hätten die Republik ausgerufen. Der Scherz
war harmlos, aber doch würde er ihn jetzt nicht zu wiederholen wagen, denn
eben in diesem Augenblicke geht eine verstärkte Patrouille ganz nahe an den Fen¬
stern der Kneipe vorbei, damit niemand darin die lateinische Republik ausrufen möchte.
Wer bei der jetzigen östreichischen Armee einen östreichischen Geist vermuthen
wollte, weil diese es unbestreitbar war, die Oestreich bis auf die jüngste Zeit
zusammengehalten, würde gewaltig irre«: deu Kitt in der Armee lieferte beim
Ausbruche der Märzrevolution einzig und allein die Aristokratie, und zwar eine
doppelte, die ständische sowohl als die des militärischen Ranges; mit der Zer¬
splitterung Oestreichs würde ja sowohl der Graf-General, wie der General über¬
haupt aufgehört haben. Die Aristokratie hat daher im vorigen Jahre, als es in
Oestreich faktisch keine Regierung gab, das Gerippe dieses Staates als ihre Ver¬
sorgungsanstalt zusammengehalten. Aber mit Stabsoffizieren allein läßt sich keine
Revolution bändigen, man mußte sich des Heeres vergewissern. Auf welche Art
und Weise konnte dies nnn bei einem Bürgerkriege, wo man die Soldaten immer
gegen das Volt führen mußte, anders geschehen, als indem man dem Soldaten
den Bürger als seinen Feind gegenüberstellte und der Armee den Geist der großen
Compagnien und Banden des Mittelalters einflößte? indem man ans einer böh¬
misch-deutsch-serbisch-magyarisch-italienischen Armee, von welchen Nationen immer
eine nach der andern im Aufstände sich befunden hatten, eine Wailensteinische
schuf? Unsere wahnsinnigen Radikalen unterstützten eifrigst durch ihr ewiges
Hetzen gegen die Truppen das Streben der Aristokraten, und den vereinigen
Bemühungen der Aristokraten und Radikalen ist in kurzer Zeit das Unglaublichste
gelungen. Die östreichische Armee ist innerhalb eines Zeitraums von einem Jahre
aus einer Staatsarmee zu einem prätorianischcn Heere, zum Selbstzweck geworden.
Soldaten wie Offiziere betrachten den Staat blos als eine Anstalt, die zu nichts
andrem da ist, als eine hohe Lohnung und Revolutionen zu garantiren, wobei man
Contributionen erheben und Beute machen kann. Nicht einer der unwichtigsten
Gründe zur Belagerungszustand-Erklärung so vieler Städte und Gegenden ist
der, den Soldaten ^deu Sold verdoppeln zu können, denn die Truppen in den
Garnisonen wollen von der allgemeinen Bente, dem Staate, doch auch etwas pro-
fitiren. Der Gemeingeist der östreichischen Armee ist also der prätoriauische, das
Beiwort östreichisch ist rein zufällig. Am schärfsten tritt dieser Charakter bei der
italienischen Armee hervor. Wer Belege will, den verweisen wir ans Sedlitz'
Soldatenlieder. Aber die Aristokratie hat sich selbst die Grube gegraben. Der
Geist der Unzufriedenheit über die Bevorzugung des Adels beim Avancement ist
bei der Armee täglich im Wachsen, denu der prätoriauische Geist kann kein an¬
derer als ein rein demokratischer, der Geist des Gleichmachcns sein. Der Soldat be¬
ginnt sich zu fühlen, wird sich dessen bewußt, daß er Herr und Meister geworden.
Welche Zukunft Oestreich daraus erwachsen kann, kann leicht geahnt werden. Das
Staats- und Bürgcrbewußtsein ist in der Armee gänzlich verwischt. Nur hie und
da findet sich noch ein alter Corporal oder Feldwebel mit grauen Schnurrbart,
in dem noch etwas von specifischem Oestrcicherthum als Erbstück aus den Natio-
nalkriegeu der napoleonischen Zeit geblieben ist. Die edlen Elemente, die in der
Armee sich finden, werden von der wilden Poesie des Knegölebens und der Aben¬
teuer, von der Romantik des Esprit dn Corps absorbirt.
Doch wie soll der Mangel des Staatsbewußtseins bei der Armee befrem¬
den, die blos untergeordnetes Werkzeug sein soll, wenn man dieses Bewußtsein bei
den obersten Staatslenkern, ja bei der Dynastie selber umsonst sucht? Das klingt
fast absurd, ist aber nichts desto weniger vollkommen wahr. Der Staat wird blos
«is ein großes Waarenmagazin von Ländern betrachtet, in welchem Artikel sich
jetzt machen, mit Profit kaufen und verkaufen läßt, und da eben ein rentables
Geschäft in Deutschland und Italien in Aussicht steht, die eigene» Kapitalien
aber dazu nicht ausreichen, so tritt man mit einem reichen Kapitalisten in Gesell¬
schaft. Der östreichische Kaiser könnte sich mit größerem Rechte ^omnÄAuie
schreiben, als der wahnsinnige Christian von Dänemark. Wenn sich der liebe
Herrgott und die Franzosen nicht darein mengen, bekommen wir einen Länder¬
schacher, daß sich der höchstselige Franz im Grabe vor Freude über den so treulich
nachartenden Enkel dreimal umkehren wird. Oestreich intervenirt, als bedürfte es
eines Aderlasses, um seiner überflüssigen Kräfte loszuwerden, mit 50,000 Mann
im Römischen und Toskanischen, schickt Truppen an den Rhein und überläßt Un¬
garns Pacification der vt ^omusAinv. Mit der heiligen Allianz ist's ans; man wird
Preußen in die Compagnie nur aufnehmen, wenn die Noth dazu drängen sollte.
Gelingt es Frankreich und die Türkei so lange einzulullen, bis man mit Ungarn
und Italien fertig geworden, wie man's in Kurzem hofft, so liegt der Vorwand
zum Kriege mit Preußen, welches nicht mehr zur Hammer-, sondern Amboßrolle
bestimmt ist, schon in Bereitschaft. Daher der schnell abgeschlossene Vertrag mit
der Türkei, daher die plötzliche Anerkennung der französischen Republik, daher der
Protest gegen den Einmarsch in Jütland, wovon man bei gelegener Zeit Gebrauch
zu machen gedenkt. Preußen und England werden nicht gefürchtet; in ersterem sorgt
das Ministerium Manteuffel und Nadowitz, in letzterem Cobden und Hume dafür,
daß Nußland keine wesentlichen Hindernisse finde. Den Thcilnngsplan des öst¬
lichen Europa trägt Herr Schwarzenberg bereits in der Tasche. Von der deutsch¬
italienisch-türkischen Beute bekommt Oestreich, was sich von Italien möglicherweise
nehmen läßt — daher die Anforderung an den Großherzog von Toskana abzu¬
treten — daun von der nordwestliche» Türkei und von Preußen was eS ungefähr
auf einmal verdauen kann. Als Entschädigung erhält Nußland wahrscheinlich
Galizien — die russischen Generäle geruen sich bereits darin als die Herren und
erlassen Befehle und Verordnungen auf eigene Faust — die preußischen Ostscc-
läudcr und was ihm sonst in Deutschland und der Türkei zu nehmen gut dünken
wird. Daß Oestreich bei all diesen Plänen nur das blinde Werkzeug des Czars ist,
welches dieser zerbrechen wird, sobald es ihm ohne Gefahr thunlich scheine» wird,
um als alleiniger Herrscher des Ostens und somit von ganz Europa dazustehen,
sieht weder die Dynastie, uoch die Negierung in ihrer verhäugnißvollen Verblen¬
dung. Sie beurtheilen Rußland von ihrem eigenen Standpunkte als Vorfechter
der Legitimität. Nußland bedient sich der Legitimität blos als Larve, denn es
braucht nicht dafür zu kämpfen, wie die übrigen Dynasten AlteuropaS — sie steht
unangefochten da. Nußland hat mit den übrigen dynastischen Mächte» nichts ge¬
mein, es ist keine Macht des Stillstands, es braucht nicht zu conserviren und zu
vertheidigen, es hat eine höhere Aufgabe, die des Fortschritts. Freilich nicht des
Fortschritts in uuserem Sinn und Geschmack, denn es ist der Fortschritt zur Welt¬
herrschaft. Umsonst hat Nikolaus uicht sein ganzes Leben und alle Kräfte Ru߬
lands aus Heranbildung einer furchtbare» Armee gewendet, umsonst ist dem russi¬
schen Soldaten nicht eingeprägt worden, die Könige Europas wären blos die
Unterkncise seines Czars. Die Berührung mit den Russen könnte bei den Mährern,
Slovaken und Serben unversehens, wie mit einem elektrischen Schlage eine Begei¬
sterung für Mutter Slava erzeuge», die den östreichischen Staat in einem Momente
zersetzen würde — Wer rettet dann Europa und die Civilisation? Struve oder
Nadowitz? Die Verblendung der östreichischen und deutschen Regierungen hat
etwas Hochtragisches — der Gott der Bibel, „der die Weisen bethört und die
Könige irre führt," scheint wieder das Heft der menschlichen Angelegenheiten er¬
griffen zu haben — ich glaube die Hand zu sehen, die an die Wände der euro¬
päischen Königssäle das schreibt — aber die Könige können die Schrift
Die das liebe Vaterland in Kreuz und Quer durchschneidenden parallelen eisernen
Schlangen und die auf ihnen dahineilenden Locomotiv-Ungethüme haben Raum und
Zeit so sehr gekürzt, und den Menschen dem Menschen so viel näher gebracht, daß er
mit erhöhtem Interesse verfolgt, was die zu Nachbarstädten gewordenen größeren Orte
Deutschlands in Freud und Leid bewegt. Wir Breslauer lesen gern, was da draußen
in Berlin, Dresden, Leipzig u. s. w. vorgeht, und betrachten es als eine Erholung,
wenn die Nachrichten von daher nicht streng politischer Natur find, sondern auch zur
Abwechslung einmal andere Gegenstände — wäre es selbst ein bischen Medisance -—
behandeln. Da wir nnn auswärts in Betreff unserer Stadt gleiche Ansichten und
Gesinnungen wünschen und vermuthen, so ist es Ihnen vielleicht nicht unangenehm,
meinen Plaudereien einen Augenblick zuzuhören und selbst ein Bischen ni>mali»o se-rü-
«luliniso mit in den Kauf zu nehmen. Zur Sache also. Der nvrvns ivrum, oder
deutsch gesagt, der Mittelpunkt, um den sich dieser Tage hier alles dreht, ist der Woll¬
markt. Damit nun scheint Breslau seit einigen Jahren Unglück zu haben. Vergan¬
genes Jahr schlechte Preise, fast keine Kauflust und fast zuviel Aufregung; diesmal
gute Preise, viel Wollwollcnde, mehr und mehr Wurzel fassende Abkühlung und wach¬
sender Konservatismus, und — die Cholera! Dieser fatale asiatische Gast, der noch
unlängst unser Breslau so schwer heimgesucht hat, sängt bereits wieder an, sein Wesen
zu treiben, und hat im Laufe vergangener Woche unter 137 dem Herrn Entschlafenen
81 Opfer gefordert. So etwas stimmt trübe. Einen uoch peinlicheren Eindruck aber
muß es machen, wenn man bedenkt, daß unter den vom Schauplatz des Lebens Abge¬
tretenen fast doppelt so viel Frauen sind, als Männer. Was hat unsere arme Stadt
verschuldet, daß man sie ihrer schönsten Zierde berauben will, und der Würgengel aus
Osten unter denjenigen Ernte hält, die dazu bestimmt sind, das Leben zu verschönern
und zu versüßen. Geht es so fort, so wird Breslau bald deu wohlverdienten Ruf
exemplarischer Reinlichkeit verlieren; die eben so geschmackvollen als zweckmäßigen langen
Kleider, die heute so hübsch Straßen und Promenaden fegen und jeden Strohhalm mit¬
nehmen, werden mehr und mehr verschwinden, wenn ihre holden Besitzerinnen dem Orkus
verfallen, und wir haben dann die Unannehmlichkeit, in Staub und Koth zu wate»,
wenn nicht Jemand auf den glücklichen Gedanken fällt, durch irgend eine plausible
Finanzoperation es dahin zu bringen, daß zu gehöriger Zeit in hinreichender Menge
gegossen und gekehrt wird. Zwaugsanlcihen machen rennend, schon um deswillen, weil
sie Zwang sind; deshalb Gnade, Gnade, allerdurchlauchtigste, großmächtigste Cholera!
laß uns unsern lieblichen Damenflor und unsere Reinlichkeit.
Mit den Barrikaden und obligaten Schüssen hat Breslau den Ruf politischer Wich¬
tigfeit errungen, und ist in eine neue Phase, in die des Belagerungszustandes getreten.
In Folge dessen bemerkt man jetzt ein bedeutendes Uebergehen aus der rothen Farbe in
die schwarz-weiße, eine fast unheimliche Stille an der Kornecke und ein vollständiges
Verschwinden aller Literatur und Kunst an den Straßenecken, so wie auch aller Kala¬
breser, langen Bärte und nachlässigen Toiletten. Breslau hat seine, amerikanischen
Farmern gleichenden Heroen verabschiedet, und gibt sich Mühe, wieder „sein" zu wer¬
den. Verliert es bei dem Tausche?
Daß wir belagert sind, erfuhren wir zuerst durch einen Anschlag des k. Gouverne-
ments und durch das kriegerische Ansehen, welches die Stadt gewann. Heute werden wir
höchstens uoch durch die vermehrten Wachen und die halbgcspauuten Hähne der Soldaten
daran erinnert, bewegen uns jedoch im Uebrigen so frei und ungezwungen, wie man
es nur verlangen kann. Selbst die politische Presse hat keine Einschränkung erfahren,
und wenn eins unserer radikalen, aber eben nicht consequenten Organe die Flügel etwas
eingezogen hat, so hat es dadurch einen Act der Klugheit begangen, der es vor dem
Untergang rettete. Andere satyrisch oder humoristisch sein sollende Blätter, wie „Pulses,"
„Geißel" und das ästhetische „Wurst wieder Wurst" haben ihr kurzes Leben ausge¬
haucht, wobei Europa nach meiner Ansicht nichts verloren hat. Doch wer verloren
hat, das sind die fliegenden Buchhändler, der kleine Pulses an der Spitze. Die schönen
Tage des Ausschrciens der Extra- und sonstigen Blätter sind vorüber; lautlose Stille
herrscht im Lager der Verbreiter der Tagesliteratur. Wohl bieten sie noch ihr „Abend¬
blatt" an, doch die Kommentare dazu haben aufgehört. Neulich wollte einer dieser
Industriellen einen kühnen Griff thun, und hatte schon sein: „Ein Extrablatt der"
über den Lippen, als ein Gensd'arm mit donnerndem: „Wart', ich werd' ihm helfen"
auf ihn zutrat und den Extrablättlcr versprengte. Zu den Errungenschaften der neue¬
sten Zeit wird wohl anch gehören, daß diese angehenden Kaufleute dahin zurückkehren,
wohin sie gehören, d. h. in die Schule und unter die Zucht der Eltern.
Die Baulust ist dieses Jahr wohl an den Barrikaden hängen geblieben, denn man
fleht fast keine neuen Häuser entstehen. Im Grunde genommen ist dies kein Verlust,
denn es stehen trotz der ermäßigten Miethen ohnehin viel Wohnungen leer; zu bedauern
sind mir die armen Leute, die dadurch ohne Verdienst bleiben. Theilweise könnte dem
wohl durch städtische Bauten abgeholfen werden, und es wäre besonders nichts weniger
als Luxus, wenn der mephitische Graben der Gartenstraße aus Breslaus Mauern ver¬
schwände und sein Fluidum in einen verschlossenen Kanal ergösse. Doch scheinen dies,
vor der Hand wenigstens, fromme Wünsche zu bleiben. Woran wird's wieder liegen?
An dem, wovon viele mehr verlangen, als sie haben. Nichts desto weniger wird jetzt
eine Straße gepflastert, die zu den abgelegensten in der ganzen Stadt gehört und sich
es wohl nicht im Entferntesten träumen ließ, dieser Ehre so bald theilhaftig zu wer¬
den. Unsere Schweidnitzer Vorstadt ist unstreitig der nobelste Theil — das Faubourg
Se. Germain von Breslau, aber wohlverstanden, nur bei Tage oder Mondschein. Zu
jeder andern Zeit ist sie ein Tartarus von Dunkelheit, und nach längerem Regen ein
Abklatsch der pontinischen Sümpfe. Sie ist demnach, freilich sehr wider Willen der
Einwohner, nicht lichtfreundlich, hat aber dafür den Vorzug von einigen öffentlichen
Gärten, welche auch in der Neuzeit sich die alte Anhänglichkeit bewahrt haben, und
durch Anschläge, die man bequem ohne Brille lesen kann, den vergnügungssüchtigen
Breslauer zu sich locken. Wer sich einen deutlichen Begriff von einer Wallfahrt machen
will, der postire sich den Nachmittag eines heitern Sonntags an ein Fenster der neuen
Schwciduitzerstraße. Von da aus erblickt er einen ununterbrochenen Zug von Pilgern,
die zwar nicht zu einem Heiligenbilde, wohl aber zu Liebich oder Weiß wandern, um
dort bei vortrefflicher Musik und dito Essen und Trinken die Leiden der verflossenen
Woche zu vergessen und sich Lebensmuth für die beginnende zu holen. So wie man
aber überall nur durch Kampf zum Sieg gelaugt, so auch hier; ehe der Vergnngen-
suchcnde das reizende Eldorado erreicht, muß er den oben erwähnten fatalen Graben passiven.
Doch nicht nur in die Gärten der genannten Vorstadt rufen die Placate an den
Straßenecken; auch jenseits der Oder winkt Genuß, und unzählige Male durchschneidet
die Fähre deren Spiegel, um das genußsüchtige Völklein uach Schcitnig, dem Weiden-
damm oder dem Wintergarten zu bringen. Eine solche Ueberfahrt hat, ist sie gleich
kurz, das Gute, daß man, begünstigt durch die Enge des Raums, leichter Bekannt¬
schaften anknüpft und so Stoff zu Betrachtungen sammeln kann. Auch ich wurde da¬
durch Zuhörer an einem sür mich äußerst interessanten Gespräche. Der Inhalt dessel¬
ben — es wurde, wie mir schien, von einigen hiesigen Bürgern geführt — betraf die
in so schönen Formen hervortretende Bürgerschule zum heiligen Geist, und bald kam
man von der Schale auf den Kern. Das Urtheil war ein sowohl sür die Anstalt, als
auch sür die daran wirkenden Kräfte sehr ehrenvolles, was mich um so mehr freute,
als es nicht nur streng wahr schien, sondern mir anch als Volksstimme gelten konnte,
an der doch einer bürgerliche» Anstalt, wie die erwähnte, etwas gelegen sein muß.
Mit einer Art von Stolz erwähnte man, wie nun der Herr Sohn bald französisch
sprechen werde nud sogar Hoffnung vorhanden sei, daß er es im Polnischen, was eben¬
falls daselbst eingeführt werden solle, so weit bringen könne, um den Polaken im
Großherzogthum und in Oberschlesien die nöthigen Wahrheiten in ihrer Landes¬
sprache vorzudemvnstriren. Ja, meinte ein anderer, dem Anschein nach ziemlich gebil¬
deter Mann, zu verwundern ist es doch, daß das polnische in unsern Schulen so wenig
getrieben wird. Ich habe meine Jungen aus dem Gymnasium; aber so oft ich frage:
was habt ihr auf, so höre ich von griechisch, lateinisch, hebräisch oder überhaupt von
Sachen, bei denen ich nicht recht weiß, was sie einmal damit anfangen sollen. Mir
wäre lieber, sie lernten solche Sachen, die sie können müssen, um in der Welt fort¬
zukommen, und ich' würde mehr Werth darauf legen, wenn sie mir gut schrieben und
rechneten, hübsch zeichneten und fertig französisch und polnisch sprächen, was sie ja
jeden Tag brauchen, als daß sie mir da über Büchern liegen, die ihnen nach meiner
Ansicht nicht viel nützen. Hätte ich aus meinem Stillschweigen heraustreten wollen, so wäre
es mir wohl nicht schwer geworden, die guten Leutchen zu überzeugen, daß gerade in
Betreff der polnischen Sprache, die allerdings an unsern Schulen zu sehr in den Hinter-
grund getreten ist, neuerdings deren Einführung beim Magistrate in Anregung gebracht
und vorzugsweise vou den Rcctvrcn der Gymnasien unterstützt worden sei. Doch ich
zog vor, den Fluß der Rede nicht zu stören, die ja ohnedem einen sür den Vater so
wichtigen Gegenstand behandelte, und nütze dadurch vielleicht mehr, als durch gelehrtes
Dociren und Argumentireu; denn kommen diese Zeilen in die Hände von Männern,
die sich sür die Sache interessiren, so werden sie doch vielleicht Nachdenken erwecken und
das Gute fordern.
Sie waren letzthin nicht gut unterrichtet, als Sie meldeten, der Herr Hahn sei
die Seele der in der Schlesischen Zeitung vertretenen Politik. Wie ich bestimmt zu wissen
glaube, steht Voigt als sehr tüchtiger Geschäftsmann der Zeitung vor. Aber den Cha¬
rakter derselben, sowie die Redaktion bestimmt und leitet allein der !)>-. Mveche, von
dem auch die gediegenen Leitartikel herrühren. Herr Hahn war und ist nur Mitarbeiter
des Blattes, "seine Artikel sind stets mit einem II gezeichnet und unterliegen der Ent¬
Sie haben, hochgeehrte Herren, ihre Auffassung von der Lage, in welche uns
der von den verbündeten Regierungen Preußens, Sachsens und Hannovers vor¬
gelegte Verfassungsentwurf versetzt, in einem Programm niedergelegt, dessen prak¬
tische Bedentniig Niemand verkeime» wird, einmal, weil es der nahe bevorstehen¬
den Versammlung deutscher Patrioten zu Gotha von zwei ehemaligen Rcichötags-
dcputirten, die es mit unterzeichnet haben, als Material vorgelegt werden soll,
insofern man darin die Stimmung eines großen Theils der gebildeten Bevölkerung
Sachsens ausgedrückt findet, sodann weil es für die Wahlen zum sächsischen Landtag
den Maßstab zu geben bestimmt ist. Dieser praktischen Bedeutung wegen, die es
wesentlich von den gewöhnlichen Adressen unterscheidet, erlaube ich mir, es einer
nähern Kritik zu unterzieh». Es lautet folgendermaßen:
Der deutsche Verein hält I) für gerathen, die von Preußen, Sachse», Hanno¬
ver vorgeschlagene Verfassung nicht unbedingt abzulehnen, weil durch sie noch ein
letztes Mittel geboten ist, wenigstens einen Theil unserer Wünsche, erfüllt zu sehen.
Wir wollen aber zur Verwirklichung dieser Verfassung nur thätig sei», wenn 2) das,
unseren sächsischen Verhältnissen völlig unangemessene, von Preußen octroyiren Wahl¬
gesetz wenigstens in Sachsen nicht zur Anwendung kommt, und erwarten deshalb
3) von diesen Ständen, daß sie eine Revision dieses ReichswcchlgcsetzcS zur Bedin¬
gung der ihnen durch königl. Proklamation vom Mai vorbehaltenen Zustimmung
zum Anschluß an den Verfassungsentwurf, so wie der ihnen zustehenden Wahl zum
Staatenhause machen. 4) Unter denselben Bedingungen haben die Stände ferner
eine Garantie dafür zu fordern, daß der endgiltige Abschluß der Verfassung wirklich
durch den Reichstag erfolge und nicht etwa dessen freie Zustimmung wieder zur Täu¬
schung werde durch den Vorbehalt einer Vereinbarung, die die letzte Entscheidung
abermals einzig in die Hände der Regierungen legen würde. 5) Sind diese Bedin¬
gungen erfüllt, so wünschen wir, daß die Stände auf ein weiteres Zustimmuugsrecht
im Interesse des endlichen Zustandekommens der Reichsverfassung Verzicht leisten.
Zunächst fällt mir aus, daß die Instruction, welche Sie Ihren Abgeordneten
ertheilen wollen, nur eine eventuelle ist. Für den Fall, daß die Regierungen
auf Ihre Bedingungen eingehen, geben Sie den Kammern den Rath, auf einen
weiter» Einspruch zu verzichten; die entgegengesetzte Eventualität übergehn Sie
mit Stillschweigen. Ihr Programm enthält also eine Lücke, welche ausgefüllt
werden muß, wenn man es nicht etwa so deuten wollte, daß sie für diesen Fall
im Namen der constitutionellen Partei auf eine weitere Einwirkung auf die Po¬
litik überhaupt Verzicht leisten.
Es scheint mir von einer nicht genanen Auffassung des NcgierungS-
entwurfs auszugehen, wenn Sie Sich wieder zwei contrahirende Parteien denken,
das deutsche Volk auf der einen, die Staaten auf der andern Seite, zwischen
denen die Verfassung vereinbart werden soll, und wenn Sie, aus der ganz rich¬
tigen Reflexion, daß bei einem Streit zwischen zwei Gleichberechtigten nothwendi¬
gerweise die Entscheidung einem Dritte» zufallen muß, ans das ganz neue Institut
eines Schiedsgerichts zwischen den Volksvertretern und der Regierung geleitet
werden. Aber nach dem Plane der Regierungen soll die Revision der Verfassung
keineswegs einem deutschen Reichstag übertragen werden, sondern den Central-
ständcn derjenigen dentschen Staaten, welche sich dem preußischen Separatbündniß
angeschlossen haben. Freilich ist Ihr Irrthum leicht zu erkläre», einmal aus der
Proclamcttion des Königs von Sachsen, nach welcher das Bündniß mit Preußen
nur unter einem bestimmten Vorbehalt geschlossen wäre, während die offizielle Er¬
klärung von einem solchen Vorbehalt nichts mittheilt, sodann dnrch die unbe¬
stimmten Redensarten, mit denen, ähnlich wie bei der octrvyirlen preußischen Ver¬
fassung vom 5. December, dem deutschen Volke die Meinung beigebracht werden
soll, es habe uoch eine wesentliche Stimme abzugeben. Sie, meine Herren, ver¬
langen von der preußischen Regierung eine Garantie dafür, daß sie nicht auf
einen Sonderbund ausgeht, sondern ans ein deutsches Reich, während die Regie¬
rung bereits so bestimmt als möglich erklärt hat, sie habe es allerdings auf einen
Sonderbund abgesehen, wenn sie anch hoffe, derselbe werde sich so weit ausdehnen,
daß man ihn ganz füglich „Reich" nennen könne. Auf diesen wichtigen Unter¬
schied zwischen dem Berliner und Frankfurter Entwurf müssen wir unsre ganze
Aufmerksamkeit richten: der eine geht von der Souveränität der einzelnen Staaten
ans, und schreitet von ihr dnrch ein freies Bündniß zu einem Bundesstaat fort;
der andere beginnt mit der Souveränität des Reichs, und überträgt kraft derselben
den einzelnen Staaten diejenige Gewalt, welche ihnen noch bleiben soll.
Welcher von beiden Wegen ist der natürliche? — Mich dünkt, der erste, und
daß wir im vorigen Jahr den unnatürlichen, erstell Weg gegangen sind, dies
allein, und nicht etwa die politische Unreife des dentschen Volks, und nicht die
Verschwörung der Fürsten ist Schuld daran, daß unsere Revolution gescheitert ist.
Wenn im gegenwärtigen Augenblick das Volk den Rath befolgt, dem Sie ihm
ertheilen, so ist nicht nur Gesahr, sondern sast Gewißheit dafür Vorhäute»,
daß das unwürdige Spiel des vorigen Jahres sich wiederholt. Wie man im
vorigen Jahr die Abgeordneten sämmtlicher Staaten zusammenberufen hat, um für
Deutschland eine gemeinsame Verfassung zu entwerfen, ohne sich im geringsten z»
fragen, ob nicht der eine oder der andere dieser Staaten sich in der Lage befinden
würde, auch beim besten Willen auf eine solche Verfassung nicht eingehn zu können,
und wie daraus das klägliche Schauspiel sich entwickelt hat, daß ein Theil-der
Deputirten durch unwürdige Intriguen — ich erinnere an die Abstimmung der
schwarzgelben für das Suspeusiv - Veto der Reichsgewalt — diese Verfassung
illusorisch zu machen suchte — so, meine Herren, würde auch das Resultat eines
neuen constituirenden Reichstags sein. Die Oestreicher von einem solchen auszu¬
schließen, haben Sie kein Recht, und es ist eine Willkür, wenn Sie z. B. die
Baiern, die nnr für den Fall, daß Oestreich eintritt, an dem „Reich" teilnehmen
wollen, wider ihren Willen dazu zwingen wollten. Sie haben sehr Recke, meine
Herren, daß 39 Regierungen sich nie über eine gemeinsame Verfassung vereinbaren
werden; wohl aber köunen sich zwei, drei vereinigen, und die politische Nothwen¬
digkeit kann alsdann die andern zwingen, sich diesem Vertrage nachträglich anzu¬
schließen. Der Zollverein ist ein Beispiel. Ein Vertrag zwischen Staaten aber,
welcher die Souveränitätsrechte derselben alterirt, kann nur durch die einheitlichen
Vertreter derselben, die Regierungen, abgeschlossen werden, nicht dnrch einen
ständischen Kongreß — wenn nicht vor diesem Congreß factisch die Existenz jener
Staaten aufgehoben ist. Daß dies bereits geschehen wäre, darin lag der große,
unheilvolle Irrthum des Jahres 1848.
Lassen Sie uns miteinander die Grunde in Erwägung zieh», welche sich einer
unbedingten Annahme des Berliner Entwurfs entgegenstellen. Sie kommen auf
folgende drei Punkte heraus.
Erstens. Das Ehrgefühl der deutschen Nation sträubt sich dagegen, ein
Werk aufzugeben, an welchem ihre edelsten Kräfte ein schweres Jahr hindurch in
rühmlicher Anstrengung gearbeitet, aufzugeben den eigenen Willen gegen das Ge¬
schenk einer fremden Willkür.
Zweitens. Das in der Revolution entwickelte Rechtsbewußtsein wird ver¬
letzt dnrch den Inhalt dieser Gabe, in welchem — abgesehn von einzelnen, minder
wichtigen Jnconvenienzen — zwei der theuersten Ideen des Volks die Anerken¬
nung versagt wird: der Volkssouveränität und der Einheit Dentscklands.
Drittens. Die Gabe wird noch weiter verdächtigt durck die Geber, und
es läßt sich sehr wohl die Frage auswerfen, ob nicht dieselbe Willkür, welche die
Verfassung verlieh, sich unter Umständen anch veranlaßt fühlen dürste, sie wieder
zu nehmen, zu modiftcircn, oder wie es sonst gut scheint. Das Beispiel der
preußischen Verfassung liegt zu nahe.
Erlauben Sie, daß ich alle diese Punkte einer nähern Prüfung unterwerfe.
Was den ersten betrifft, so können die Männer, deren unmittelbares Werk
die Verfassung vom 28. März ist, nicht lebhafter von diesem Gefühl Verletzter
Ehre durchdrungen sein, als ich selber, als überhaupt jeder Deutsche, der mit
Theilnahme den Anstrengungen der Nation, sich ans eigener Kraft zu constituiren,
gefolgt ist. Unsere Wünsche, Hoffnungen, Ideen, zinvcileu selbst unsere positiven
Rath schläge, begleiteten die Arbeit der Nationalversammlung, und in diesem Sinne
können wir sagen, daß wir alle unsere Hände im Werk gehabt haben. Uns allen
stieg die Glut des Zorns ins Gesicht, als mit dem Hochmntl) einer physischen
Uebermacht unsern Vertretern der Fehdehandschuh vor die Füße geworfen wurde.
Aber diese Glut — war sie nicht zugleich die Nöthe der Scham? Wie war
es möglich, daß der Nation auf eine so dreiste Weise Trotz geboten wurde, wenn
sie es nicht selber mitverschuldet hatte? Wir dürfen uns vor dem Geständniß
dieser Schuld nicht schämen, wenn uns nur ein, freilich bittrer, Rückblick auf
unsere Vergangenheit vor neuem Fehlen bewahrt. Warum erhob sich uicht in dem
Augenblick, als die preußische Regierung der Paulskirche ihr dreistes „Niemals!"
entgegenschleuderte, die gesammte Nation einmüthig, ihr Palladium zu verthei¬
digen ?
'Weil dies Palladium, weil diese Verfassung, obgleich das Werk der Nation,
dennoch den Willen keines Theils derselben vollständig ausdrückte; weil es auf Vor¬
aussetzungen aufgebaut war, die mit seinem Resultat in Widerspruch standen; weil
nur die Ehre dafür sprach, während der Verstand stumm blieb. Es erhoben sich
nur diejenigen für die Verfassung, nachdem sie abgelehnt war, welche bis dahin
ihre heftigsten Geguer gewesen waren.
Im Inhalt der Verfassung lag die Möglichkeit ihres Falls. Theoretisch
ging sie aus von der Einheit Deutschlands, und sollte als ein Rechtszwang gegen
alle Renitenten gehandhabt werden; praktisch schloß sie einen Theil Deutschlands
aus, welcher durch seine Theilnahme wesentlich dazu beigetragen hatte, daß sie so
geworden war, wie sie geworden war. Sie wagte Oestreich nicht direkt auszu¬
schließen, weil sie es rechtlich nicht konnte, weil sie von den Oestreichs» mitbe-
rathen war; sie schloß es aber indirekt aus und ließ daher zu Oestreich ein ebenso
unwahres als unsittliches Verhältniß besteh». Theoretisch ging sie von der
Allmacht der Reichsgewalt a»s und von der Nichtigkeit aller einzelnen Staaten;
praktisch konnte sie die Souveränität derselbe», die nicht blos im dynastische»
Interesse lag, sondern auch im Particularismus der Volksstämme, nicht brechen;
sie ließ also zwischen der Reichsgewalt und den einzelne» Staate» el» ebenso un-
wahrcö als unsittliches Verhältniß bestehn. Theoretisch führte sie die Herr-
schaft der Volkssouveränität ein und gab dem Reich eine» ideale» Mittelpunkt;
praktisch legte sie auf der einen Seite die Gewalt in die Hände des Königs
von Preuße», des mächtigsten Kriegssürstc» vo» Deutschland, während sie ans der
ander» durch ihr Wahlgesetz el»e Demokratie heraufbeschwor, vo» der ma» nach
aller Wahrscheinlichkeit berechnen mußte, daß sie in ihren Forderungen so aus¬
schweifend und zügellos als möglich sei» würde. Nach der neuen Verfassung war
der ans seine Hausmacht gestützte Kaiser und die in der Nationalversammlung ver¬
einigte Demokratie in einer unhaltbaren, feindlichen Stellung, und nach der einen
oder der ander» Seite hin mußte der Ausschlag fallen. Sowohl die Linke
als die Rechte hüteten sich sehr wohl, den Inhalt der Verfassung
bona fiel« zu adoptiren; beide rechneten auf eine wesentliche Re¬
vision durch den nächsten Reichstag, beide freilich in sehr verschie¬
denem Sinn.
Ich gehörte zu denen, die auf den gesunden Sinn des Volks vertrauend, auf
eine Revision im conservativen Sinn rechneten und darum die preußische Regierung
anfeindeten, weil sie eine neue Gewaltthat der gesetzlichen Entwickelung vorzog.
Ich bin noch derselben Ansicht, aber ich darf mich der Wahrheit nicht verschließen,
daß das thatsächliche Verhältniß jetzt ein anderes geworden ist.
Der Aufstand, welcher im Namen der Reichsverfassung ausbrach, war nicht
für dieselbe, er ging von der demokratischen Partei aus. Er verfolgte Zwecke,
die uns fremd sind. Er ging so weit, vervätherisch die Franzoseu zu einem Bündniß
aufzufordern*). Er trat feindlich auf gegen den bessern Theil des Volks, gebrauchte
Mittel, wie sie sonst dem absolutistischen System vorgeworfen werden, und war
außerdem so kopflos angelegt, daß dagegen selbst die Linke des Vorparlaments,
das freilich unter viel günstigeren Verhältnissen zusammentrat, wie ein Senat wei¬
ser Männer erscheint. Die Naivetät, mit welcher die neue RcichSregeutschast ganz
nach alter Weise Neichscvmmissäre und Befehle an die preußischen Generale ab¬
schickt, während selbst das Ministerium! Römer ihr nicht blos den Gehorsam, son-
dern selbst das Asyl aufkündigt, macht das neueste Parlamentsspiel zu einer
schlechten Farce.
Mit der Unterdrückung der sächsischen Bewegung, mit der Lossagung der
Centralgewalt von deu Beschlüssen der Nationalversammlung, und mit dem Aus¬
scheiden der constitutionellen Partei war die letzte Hoffnung aufgegeben, die Reichs-
verfassung unmittelbar durchzuführen.
Es bliebe noch übrig, mit Resignation auf den äugend'icklichen Erfolg sie
„im Herzen zu tragen", wie die Spanier und Neapolitaner die Konstitution von
t812. Aus zwei Gründen erscheint das bedenklich. Erstens ist die völkerrechtliche
Lage Deutschlands der Art, daß die eine oder die andere neue Ordnung der staat¬
lichen Verhältnisse nothwendig jetzt eintreten muß und wird. Außerdem macht es
die Eigenthümlichkeit der Verfassung vom 28. März wenigstens höchst wahrschein¬
lich, daß in kürzester Frist die thatsächlichen Umstände sich so geändert haben wer¬
den, daß sie nirgend mehr paßt. Mit der Beendigung des ungarischen Kriegs
wird die Lage Deutschlands eine so ganz andere, daß von den alten Voraussetzun¬
gen nicht mehr die Rede sein wird.
So haben wir keine Wahl, als, mit Aufgebung deö Nechtspnucipö, wie
der ehrliche Römer ganz richtig sich ausdruckt, unter den möglichen Verfassungen
diejenige zu wählen, die uns convenire. Und auch darin hat Römer ganz
Recht, daß zunächst jeder einzelne Staat danach fragen soll, was ihm das Heil¬
samste ist, denn wie die Sachen jetzt stehn, sind doch lediglich die einzelnen Staa¬
ten die Träger der sittlichen und gesetzlichen Ordnung, und die beiden Reichsre¬
gentschaften, im Augenblick die einzigen Vertreter von Deutschlands Einheit, die
durch ihr gegenseitiges Verhältniß am besten ausdrücken, wie es mit dieser Einheit
beschaffen ist, sind nur noch die Centralpunkte der dentschen Unordnung.
Der Mensch hat die Kraft, zu vergessen, wenn es ihn auch schmerzt. Wer¬
fen wir die Vergangenheir in die Winde! Das Geschehene macht kein Gott un¬
geschehen, aber der Mensch kann sich seinen Fesseln entreißen. Blicken wir nur
in die Zukunft.
Da der radicale Aufstand in Baden und in der Pfalz am Vorabend seines
Falls steht, so bleibt uns aHer dem preußischen Entwurf nur noch Eine Even¬
tualität übrig: der Sieg der grvßdeutschen Partei. Unter diesen besteht ein
Theil freilich aus Theoretikern, in deren Atlas die Grenzen des deutschen Reichs
nach der Akte vou 1815 verzeichnet stehen, und die es unbequem finden, die
Karte anders zu färben, oder die aus dem Arndt'schen Vaterlandsliebe gelernt ha¬
ben: Das ganze Deutschland soll es sein! Aber der eigentliche Kern der Partei
ist Oestreich, das die Hegemonie rechtlich beansprucht, ist Baiern, das sie gleich¬
falls haben will, ist der König von Würtemberg, der keiner jüngern Dynastie den
Vorrang einräumt, ist der Reichsverweser, der über seiner neuen Würde den
Erzherzog nicht vergißt, — also eine Reihe sehr divergirender Absichten, die sich
aber alle in dem Medium begegnen: Preußen soll nicht durch einen Bundesstaat
seinen Einfluß vergrößern, und darum soll es, mit einigen Modifikationen, bei der
alten Bundesacte bleiben.
Diese Partei hat gerade soviel Aussichten als die preußische;
sie hat in Preußen selbst einen starken Anhang, bis in die allerhöchsten Regionen,
und der Sieg ist ihr gewiß, wenn die liberale Partei inPrenßen,
Sachsen und Hannover entschieden dem Project ihrer Regierun¬
gen entgegentritt, denn in diesem Falle ist die preußische Regierung gezwun¬
gen, sich Oestreich und Nußland in die Arme zu weisen. Welche von beiden
Bestrebungen deu Vorzug verdient, lasse ich hier unerörtert, an Sie aber, meine
Herren, und an unsere ganze Partei richte ich die ernste Frage: welche von
beiden steht dem Gagernschen Programm, das der Ausdruck
unserer Ueberzeugung war, näher? — Die Autwort auf diese Frage
und folglich die Entscheidung, kann nicht zweifelhaft sein. —
Ich gehe zum zweiten Punkt über. — Widerspricht der Inhalt der octroyir-
ten Verfassung sosehr unseren Ueberzeugungen, daß wir sie darum nicht annehmen
können? — Deu Punkt vou der Einheit Deutschlands glaube ich nach dem Obi¬
gen übergehen zu köunen; ich fasse nur deu Widerspruch gegen die Vvltösvuve-
ränität in's Ange. — Ich habe gegen den Ausdruck, eine der schlechtesten Er¬
rungenschaften unserer Revolution, oft genug angekämpft. Jede Souveränität,
d. h. jede unbedingte Gewalt, ist verderblich und unhaltbar, möge sie den Fürsten
oder dem Voll vindicirt werden. In politischen Dingen gedeiht nur die bedingte
Gewalt. — Allerdings gebe ich zu, daß der Berliner Entwurf in zwei wichtigen
Bestimmungen auch dem vernünftigen Begriff von dem Recht deö Volks wider¬
spricht. Einmal, indem er in dem Fürstencollegium der Centralgewalt die ver¬
einigte Macht der dynastischen Interessen zur Seite stellt, und es so der letzter«
leichter macht, sich dem Willen des Volks zu entziehen. Aber ohne dieses Zuge¬
ständnis waren die großen Regierungen nicht zu gewinnen, und — die Groß-
deutschen bieten ungleich weniger. Ist die Volksvertretung wirklich ein Ausdruck
von dem Verstand der Nation, so wird der mit dem Fürstencolleginm umgebene
Neichsvorstand ihr so wenig Widerstand leisten können, als der alleinstehende
Erbkaiser, der doch selbst nach dem Frankfurter Entwurf mit einem dynastischen
Staatenhaus zu unterhandeln hatte.
Zweitens ist das provisorische Wahlgesetz ein schlechtes, vornämlich deshalb,
weil es so complicirr ist, daß es nie populär werde», daß es den untern Volks¬
schichten nie einen klaren Begriff von ihrer Stellung geben, ihnen also anch nie
ein lebendiges Interesse an den Wahlverhandlungen einflößen werde. Sie haben
ganz recht, meine Herren, wenn sie der Versammlung zu Gotha empfehlen, auf
eine Modifikation desselben bei den Regierungen hinzuwirken — natürlich nicht in
der Art, daß der Frankfurter Entwurf an die Stelle treten soll, denn nach diesem
würde nur er den gegenwärtigen Umständen ein Reichstag hervorgehen,
dessen „souveräner Unverstand" Ihnen selbst, meine Herren, Gelegenheit zu scharfen
Adressen geben würde. Verstehn Sie mich recht! ich halte das Frankfurter Wahl¬
gesetz für das Ziel, auf welches wir hinzusteuern haben, zu welchem wir gelangen
werden, wenn wir auf naturgemäße, gesetzliche Weise weiter schreiten. Ich glaube
aber nicht, daß wir in diesem Augenblick dazu reif siud. DaS Beispiel der säch¬
sischen Kammern liegt zu nahe, als daß ich Sie daran zu erinnern nöthig hätte.
Die Wahlen würden so ausfallen, daß sie nicht die Bildung der Nation, sondern
die mittlere Proportionale zwischen der Bildung aller Einzelnen ausdrücken würden.
Was werden Sie thun, wenn die Regierungen auf ihren Antrag, das Wahl¬
gesetz zu modificiren, uicht eingehen? — Nach meiner Ansicht ist die erste wesent¬
liche Anforderung, die mau an eine Volksvertretung zu stellen hat, diejenige, daß
sie aus liberalen und gebildeten Männer» besteht, daß Staatsmänner von einem
großen »»d freien Blick sich in ihr geltend machen könne», und daß sie mit Ernst
und Gewissenhaftigkeit ihren Beruf, das wahre Interesse des Volkes bei der Re¬
gierung geltend zu machen, auffaßt und durchführt; die zweite, daß sie populär
ist. — Ob wenigstens die erste Anforderung durch das octroyiren Wahlgesetz zu
erreichen ist, kann freilich nicht von vornherein entschieden werden; ich habe
das Vertrauen zu meiner Nation, daß sie auch in diesen Formen sich geltend machen,
daß sie selber auf gesetzlichem Wege sich zu freierer» entwickeln wird. Freilich
ist bei der factischen Unmöglichkeit, nach dem gegebenen Modus bei dem Steuer¬
system einzelner Landstriche zu wähle», gegründete Aussicht, daß auf Ihre Vor¬
schläge eingegangen wird.
Ich schließe mit der Betrachtung des dritten Punkts. — Verdienen die
Urheber der Verfassung Vertraue», daß sie auch nur bei diesen beschränkten Con¬
cessionen steh» bleibe» werde»? — Ich antworte ohne Zögern: Nein! — Das
Ministerium! Brandenburg hat durch die eigenmächtigen Eingriffe in die von ihm
selbst vcttoyirte Verfassung das Rechtsgefühl des preußische» Volks auf das
schwerste verletzt, und wir find nicht einmal davor sicher, daß es nicht in kürzester
Frist einem noch viel schlechteren den Platz räumt.'
Aber der Weg, den Sie vorschlagen/trifft uicht deu Kern der Sache. Was
soll von solchen Männern eine »'eitere Garantie helfen? Diese nachher ans höhern
Staatsrücksichten zurückzniiehme», kostet nicht mehr Mühe, als von dem Vcrfassungö-
entwurfe abzugehen. — Ob es überhaupt thunlich ist, Difsereuze» zwischen deu
Repräsentanten und der Negierung durch ein Schiedsgericht (etwa das Staaten-
hanö) auftrage» zu lasse», bleibe' dahingestellt. — Hier kommt es vorzugsweise
darauf an: wieweit geht das Interesse unserer Partei mit dem der Verfassnng-
geber Hand in Hand? Soweit werden wir wohl darauf rechne» könne»,-daß
sie i» ihre» Anerbietungen aufrichtig sein werden.
Von den betheiligten Regierungen ist die preußische entschieden die aufrich¬
tigste, denn ihr ist darau gelegen, ans die Dauer die Hegemonie i» Deutschland
zu haben, welche die Uebrigen ihr nnr in der Noth des Augenblicks zugestehn.
Es wird diesen also ans keine Weise unlieb sein, den Widerspruch ihrer Kammern
und der liberalen Partei überhaupt zu weitere» Nemvnstrativnen gegen die Ver¬
fassung zu benutze», nicht aber in der Richtung, wie wir sie wünsche»
müssen, daß nämlich der Einfluß der Centralgewalt erhöht wird, sondern um¬
gekehrt. Gleichzeitig wird die „fromme" Partei' in Preuße» darauf bedacht sei»,
sich de» alten Aliirtcn in die Arme zu werfe», u»b die grvßdeutsche Intrigue
wird freies Spiel haben.
Nicht auf die Verfassung des neuen Bundesstaats kommt es zunächst an, son¬
dern darauf, daß el» solcher unter Preußens Hegemonie zu Stande kommt. Wie
auch seine Formen sein mögen, er ist unter allen Umständen der Anfeindung der
rilssisch-östreichischen Allianz ausgesetzt, und eben dadurch genöthigt, sich'dem
Volk in die Arme zu werfen. Kommt der engere Bundesstaat vor Beendigung
des ungarische» Krieges nicht zu Staude, so treten wir dann in die Zustände des
Jahres 1,847 zurück.' De»ke» Sie daran, daß wir die Reichsverfassung, obgleich
nicht in allen Punkten mit ihr einverstanden, gebilligt haben, weil sie ans dein
Elend der Kleinstaaterei herausführt. Es kommt darauf an, auf welchen Theil
ihres Programms sie deu Accent legen: ob auf die bedingte Annahme, oder
ans die bedingte Annahme. Denken Sie daran, daß bei dein bestehenden Wahl¬
gesetz in Sachse» es sehr fraglich ist, ob unsere Partei in de» nächste» Kammern,
die über den Entwurf ihr Gutachten abgeben und im Fall der Anerkennung zum
Staatenhaus wählen sollen, überhaupt ihre» Platz finde» wird. Wähle» Sie, ob
Sie die von Preußen projectirte Bildung eines Bundesstaats im Princip aner¬
kennen, und nur aus die Form desselben reformirend einwirken, oder ob sie, aus¬
gehend vou der Idee der Einheit Dentschlands, ih» vereiteln wollen Noch steht
Julinir Schmidt.
Ungefähr gleichzeitig mit der Bildung der Actiengesellschaft für die National¬
zeitung, in den letzten Tage» des März, reiste Arnold Ruge nach Berlin, um
mit einigen politischen Freunden gleichfalls die Gründung einer Zeitung zu be¬
sprechen, welche in derselben Weise der Träger des reinen „Humanismus" werden
sollte, wie es in den Zeiten der abstracten Literatur die Hallischen, die deutschen
und die deutsch - französischen Jahrbücher gewesen waren. Bekanntlich war der
neueste Glaubensartikel dieses Philosophen, wie er sich aus seinem zweijährigen
Aufenthalte in Paris entwickelt hatte, das Aufhören der nationalen Unterschiede
in der Gemeinschaftlichkeit der Partei. Die „Humaner" in Frankreich, Deutsch-
land, Polen, Ungarn u. s. w. sollten in eine enge Verbindung treten, um gegen
die „Barbaren" in denselben Völkern mit vereinten Kräften zu Felde zu ziehen.
Humanität und Barbarei wurden theils durch das politische Glaubensbekenntniß
coustcitirt, theils aber, und das ist charakteristisch für Ruge, durch persönliche
Bekanntschaft. Seine literarischen Gegner gehörten unzweifelhaft zu den Barbaren.
In Frankreich hatte im Februar die „Humanität" gesiegt; mehrere von den
Männern, mit denen Ruge in Paris persönlich verkehrt hatte, waren bei der pro¬
visorischen Regierung betheiligt, und Herr v. Lamartine, der geistreichste Phraseur
aller Zeiten, erließ fast einen Tag um den andern ein Manifest, welches den An-
bruch des goldenen Zeitalters verkündigte. Alle Menschen sollten Brüder sein, mit
Ausnahme der Tyrannen und ihrer Helfershelfer, alle frei und alle gleich. In
Frankreich hatte das principielle Organ der Humanität also nichts weiter zu thun,
als anzuerkennen, und die übrigen, halbbarbarischen Völker aufzufordern, sich von
dem großen Strom der Bewegung, den die edelste aller Nationen über Europa
^'goß, mit Hingebung und Vertrauen forttragen zu lassen.
Schwieriger war das Verhältniß zur deutschen Revolution. Es ging dieselbe
eigentlich nicht aus einem „rein humanen" Interesse hervor, sondern wenigstens zum
Theil aus einem „romantischen" Bestreben, aus der Idee der deutschen Einheit,
welche Rüge schon mehrfach zu bekämpfen Gelegenheit gehabt hatte. Er hatte den
Schleswig-Holsteinern vorgeworfen, daß sie in dem eitle» Trachten nach der
Bereinigung mit einem staatlich ihnen eigentlich fern liegenden Ländercomplex die
Unmittelbare staatliche Befriedigung, welche Dänemark ihnen anbot, verschmähten;
^ war gegen den Bassermann'sehen Antrag, eine Vertretung des deutschen Volks
beim deutschen Bunde zu bewerkstelligen, mit allen Waffen des Spottes zu Felde
gezogen. Und doch war es dieser Antrag, dessen vorläufige Durchführung in der
rohen Form des Vorparlaments der deutschen Bewegung die charakteristische Rich¬
tung gab, und es war der Aufstand in Schleswig-Holstein, der sie zu einer be¬
stimmten Haltung nach Außen hin veranlaßte.
Ruge fand ein Mittel, diese Widersprüche auszugleichen Er hat es zwar
nie bestimmt ausgesprochen, vielleicht uicht einmal bestimmt gedacht, aber seine
ganze Stellung in Frankfurt hat es deutlich gezeigt: er betrachtete das Vorparlament,
den Funfzigerausschuß und die Nationalversammlung nicht als die rechtliche Ver¬
tretung der deutschen Nation, sondern als den Centralausschuß der humanen,
d. h. demokratischen Partei, der die Bewegungen derselben leiten und mit ihrer
vereinten Kraft die Fürsten niederdrücken sollte. Die Nationalversammlung sollte
planmäßig, auf geordnete Weise dieselben Zwecke verfolgen, welche Hecker mit
seinen Freischaaren aufrichtiger aber zugleich planloser verfochten hatte.
Den hauptsächlichsten Eindruck von der Revolution aber erhielt Ruge, der,
wie alle an Abstractionen gewöhnte Naturen, allzuleicht dnrch eine vereinzelte un¬
mittelbare Erscheinung gewonnen und bestimmt wird, in Berlin. Es herrschte
damals ein Zustand von Ungebundenheit und zugleich in den Wünschen und An¬
forderungen ein Uebermaß, wie es nur bei diesem leicht beweglichen Völkchen und
in einem Augenblick des Rausches, erregt durch den unbegreiflichen Sieg über
eine furchtbare Militärmacht, zu begreifen war. Gar zu leicht war man versucht,
was eigentlich ein Zeichen der vollkommenen Schwäche und Haltungslosigkeit war,
dieses wüste Auseinandergehen der Parteien, dieses Vorherrschen einer augenblick¬
lichen Stimmung, dieses fortwährend wechselnde Hereinbrechen der einen oder der
andern Leidenschaft, für Kraft zu nehmen. Viele sind noch nicht einmal dnrch die
Novembertage eines Bessern belehrt.
Deu Anfang der Reform machten also begeisterte Schilderungen von der un¬
eingeschränkten Freiheit und Vernunft in Berlin. Wäre das Blatt sofort in Berlin
erschienen, so hätte es innerhalb der damals noch in der Bildung begriffenen Par¬
teien eine bestimmte Stellung genommen, aber Ruge'ö Privatverhältnisse knüpften
es an Leipzig, und so traten die eigentlich leitenden Artikel, von Oppenheim und
den übrigen Radicalen geschrieben, verspätet und in der ungenügenden Form von
Correspondenzen auf.
Da Ruge bald mit seiner Wahl nach Frankfurt beschäftigt, später von seiner
Thätigkeit als Parlamentsmitglied absorbirt war, so hatte das Blatt keine eigent¬
liche Redaction. Es hatte nur das einzige P'inzip, überall, wo eine Bewegung
gegen das Gouvernement ausbrach, dieselbe zu vertreten, ohne Rücksicht auf die
Principien, aus denen sie hervorging. Daß man für die Italiener, die Ungarn
und daher gegen Oestreich auftrat, stimmte mit den sonstigen Tendenzen, daß
man sich aber auch für die Czechen und namentlich für den panslavistischcn Kongreß
in der Pfingstwoche begeisterte, hatte lediglich seinen Grund in den Sympathien
für das Freiheitssymbol der Barrikaden, die hier gegen Windischgrätz aufgerichtet
wurden.
Vor Allem aber überwog die polnische Sache. Die Polen vereinigen in sich
den Gegensatz der intensivsten, ausschließlichen Nationalität — der Traum ihres
Reichs ist ihnen der Mittelpunkt, um welchen die Welt sich dreht; und einer wahr¬
haft kosmopolitischen Praxis. Wo es diesseit nud jenseit des atlantischen Oceans
einen Aufstand gibt, sind sie sicher zu finden, sie intriguiren allenfalls am Missi-
sippi dafür, eine Constellation der Wcltpolitik hervorzubringen, wie sie die Re¬
stauration des Jagellonenreichs möglich macht. Wie ans die Barrikaden, so war¬
fen sie sich auch ans sämmtliche demokratischen Journale. Beinahe ein Drittel der
Reform — deren Umfang übrigens damals so klein war, als es unter den Umstän¬
den irgend möglich war, enthielt apologetische Korrespondenzen ans Polen, und
wunderlich genug nahm es sich aus, wenn die atheistische Reform selbst die reli¬
giösen Klagen der frommen polnischen Katholiken gegen die rationalistische Ein¬
wirkung des freigeistischcu preußischen Gouvernements vertrat.
Selbst als auf das Andringen der Berliner Korrespondenten die Reform
nach Berlin verlegt wurde, dauerte die liederliche Wirthschaft fort, das Blatt er¬
schien zuletzt im Umfang eines halben Bogens, bis es endlich der in Berlin re-
fidirende Ausschuß der demokratischen Vereine, in Verbindung mit der äußersten
Linken der constituirenden Versammlung, zu seinem offiziellen Organ erhob. Es
wurde ein ziemlich zahlreiches Redactivus - Comitv ernannt, Ruge selbst, dessen
Stellung in der Paulskirche immer unhaltbarer geworden war, kam nach Berlin,
das Blatt erweiterte sich zum Folio, und es kam Methode wenigstens in sein
äußeres Ansehen. Die Helden, welche ehemals in der Mannheimer Abendzeitung
gedonnert, fanden nun hier ihre Stätte. Hin und wieder versuchte uoch Rüge,
durch einige zierliche Manifeste und Portraits dem Ganzen einen Anstrich von
Bildung zu geben, aber es war umsonst. Die Reform wurde ein radikales Blatt
wie andere radikalen Blätter auch; es wiederholte sich in beständigen Wuthaus-
brüchen, und seine ewigen Denunciationen von Verschwörung, Intrigue und Con-
trerevolution fingen an, das Publikum zu ermüden; als es durch den Belage¬
rungszustand unterdrückt wurde, blieb keine fühlbare Lücke: die Nativnalzeitung,
die nun etwas radikaler wurde, reichte hiu, die Reform und Zeitungshalle zugleich
zu er-setzen.
Sie hat den Ruhm, unter den größer» Blättern das einzige zu sei», welches
an Gemcinhcir mit den radikalen Winkcljvurnalen wetteifern darf. Selbst die
Neue Rheinische Zeitung, obgleich sie das Mögliche leistete, konnte darin nicht
mit ihr rivalisiren.
Das Blatt zerfällt in zwei, durch den Feuilletonstnch von einander geschiedene
Theile. Oben predigen die Kapuziner des modernen Pietismus das Evangelium
von der allgemeinen Sündhaftigkeit dieser Erdenwelt, welche von Gott und seinen
Gesalbten nichts mehr wissen will; sie rufen ihr Zeter über die Radikalen, Ge¬
mäßigten, die Frankfurter Versammlung, die sämmtlichen constitutionellen Stände,
die Lichtfreunde, und fahren selbst ein Ministerium Manteuffel hart genug an,
daß es so säumig ist, das Schwert der Gerechtigkeit gegen die Ketzer und Wühler
zu handhaben; unten, im Berliner Zuschauer, ist das Asyl der Bummler, welche
die Aufgabe haben, die ('!>lo»isj>lo Ko-rmlitle»«« der einzelnen Liberalen zu geben.
Sie treiben sich in allen Bordellen und Winkelkneipen herum, von Morgens an
bis tief in die Nacht, in sämmtlichen schlechten Häusern von Berlin, nur um
zu lauern, ob nicht ein Liberaler hineingeht; sie wissen von jedem Einzelnen den
Lebenslauf des Tages zu erzählen und verschmähen es nicht, seine schmutzige
Wäsche zu durchwühlen, um Spuren seines sündhaften Wandels aufzufinden.
Scheinbar ist der Gegensatz groß genng, oben die Heiligen und unten die
kleinen Kobolde, welche die »»bußfertigen Sünder zwicken. Aber beides gehört
zusammen, der Heilige wäre nichts, wenn er nicht die Verworfenheit im Speciellen
verfluchen könnte, und dazu muß er sie kennen. Darum sind die schlimmsten
Sünder später die brauchbarsten Heiligen, wie die ärgsten Diebe die besten Po¬
lizeispione abgeben. Wer lerne» wollte, auf was für unerhörte Abscheulichkeiten
der Mensch verfallen könne, mußte die casuistische Anweisung für Beichtväter stu-
diren; darin waren sie alle detaillirt, bis zur Sodomiterei herunter.
An ihrer Spitze trägt die neue Preußische ein Laudwehrkreuz mit der Um¬
schrift: Mit Gott für König und Vaterland. Darum heißt sie im gewöhnlichen
Leben die Kreuzzeitung. Ihr Redacteur, Assessor Wagner, gehört zu den „Pro¬
pheten," einer religiösen Gesellschaft, die sehr mystisch sein sott. Des Sonntags
liefert er ein Extrablatt, worin die guten, ehrlichen Landbewohner aufgefordert
werden, die infamen Judenbengel, welche ihren allergnädigsten König und Herrn
betrüben, gehörig durchzuprügeln.
Das Blatt ist sehr verbreitet, wie man es auch von den radikalen Blättern
ähnlichen Schlages rühmen kann. Der Ton ist eben so cynisch roh und selbst in
den Ausdrücken gemein. Diese Partei wird dadurch charakteristrt, daß Männer,
wie Stahl, Leo u. s. w. eifrige Mitarbeiter an demselben sein sollen. Man rühmt
zuweilen seine Consequenz, aber diese ist wohlfeil genug. Sie besteht darin, daß
sie täglich wiederholt: alle Hunde, die mucksen, an den Galgen, ihren Weibern
den Staupbesen, ihre Kinder ins Findelhaus. Ich weiß nicht, ob sie auch sür
Wiederherstellung deö Ghetto und der Leibeigenschaft schwärmt; jedenfalls betet
sie den russtscyen Kaiser an, und weist Gagern und Vincke ganz auf dasselbe Arme-
snnderbänkchen, auf welchem Ottcnsosser und Vater Karbe sitzen.
(Schluß im nächsten Heft.)
Das Centrum und meine politische Stellung in der aufgelösten
zweiten preußischen Kammer. Von N. Wantzel, Präsident des Ap-
pellativnsgerichts zu Ratibor. Breslau, Max u. Comp.
Der Verfasser rechtfertigt seine Partei gegen den Vorwurf, sie sei Schuld
gewesen an der Auflösung der Kammern. Im Ernst hat wohl Niemand daran
gedacht. Dennoch bleibt es zu beklagen, daß die Trennung, welche zwischen der
äußersten Rechten und der Constitutionellen nothwendig stattfinden mußte, von
einer Fraction ausging, welche in sich nicht stark und selbstsiäudig genug dastand,
um eine eigne Politik verfolgen zu können. Daran sind aber nicht diejenigen
Männer Schuld, welchen ihr Gewissen nicht länger erlaubte, mit einem Biömark-
Schönhausen Hand in Hand zu gehen, sondern die eigentlichen Führer der constitu¬
tionellen Partei, Vinke, Auerswald u. s. w., welche, nachdem ihr Zweck, die An¬
erkennung der Constitution vom ü. December, erreicht war, sofort daran hätten
denken sollen, sich selbstständig zu organisiren. Die deutsche Frage gab dazu hin-
reichende Veranlassung. Früher oder später hätten dann die beiden Centren (ein
Theil des linke» Centrums wäre zur Linke» übergegangen) zu einer Koalition
kommen müssen. Aber die Reminiscenzen der Vergangenheit waren wichtiger über
ihren Geist, als die politsche Nothwendigkeit des Augenblicks.
Wir wollen den Verfasser über seine Ansichten selbst hören.
„Die Verfassung vom 5. December 1848 ist eine höchst liberale. Ihre Geg¬
ner sind die, welche sie wesentlich ander» wolle». Die Eine» wollen darüber
hinaus, die Anderen wünschen einen Standpunkt zu gewinnen, über den die Ver¬
fassung hinausgegangen war. In der Mitte zwischen ihnen stehen die, welche an
der liberalen Verfassung vom 5. December 1848 aufrichtig festhalten wollen; sie
könnte» das nicht, we»» sie nicht selbst liberal wäre».
„Ich glaube, daß die zweite Kammer i» ihrer Majorität aus liberalen Con-
stitutionellc» .bestand. Ich glaube dies insbesondere von der großen Mehrheit der
rechte» Seite des Hauses und von nicht Wenigen, die ans der linken Seite saßen.
Zum Unglück war ein Theil dieser von mir gemeinte», die auf viele Neueingetre-
tenen einen Einfluß ausübten, in der Nationalversammlung gewesen und dort zu
weit gegangen. Der Vorwurf, den ich diesen Letzteren mache, besteht darin, daß
sie es nicht über sich vermochten, diese ihre Vergangenheit zu ignoriren. Daß sie
nicht unbefangen genug waren, zu erkennen, wie. das Volk, dessen Vertreter sie
doch waren, sich a» die Verfassung hielt und nicht an den Conflict zwischen der
Regierung und der früheren Nationalversammlung. Paß sie diesen nicht aus
Patriotismus zu vergessen vermochten, daß sie die geschichtlichen Thatsachen wie
das Factum in einem Prozeß unter privat rechtlichen Gesichtspunkten beurtheilten.
„Daher kam es: daß diese Männer sich mit der entschiedenen Linken in eine
Verbindung einließen, daß sie dieselbe principiell in der Opposition gegen das
Ministerium unterstützten, daß sie sich nicht von vorne herein mit denen zusam¬
menhielten, die ihnen als liberale Cvnstitntionelle bekannt waren. Daß also die
Einen nicht in dem Grade patriotisch waren, von sich ganz abzusehen, die Anderen
nicht praktisch waren, das war die erste Veranlassung, daß sich nicht von vorn
herein die Parteien so gestalteten, wie sie sich gestalten mußten, ans der einen
Seite die, welche ehrlich ein coustitntiouelles Königthum wollten, auf der anderen
die, welche es nicht wollten.
„Aus der eine» die, welche keine Fortdauer der Revolution wollten, auf der
andere» die, welche in der Fortdauer ihren Vortheil fanden. Bei einer solchen
richtigen Sonderung der Parteien hätte es sich nicht um eine Versöhnung der
Parteien, von der ich eben weitläuftig gesprochen, handeln können. Denn zwischen
so geschiedenen Parteien gibt es nur einen Kampf und keine Versöhnung, und
zwischen Fractionen einer großen, durch einen Grundgedanken verbundenen Partei,
wie solche sich gestaltet hätte» und gestalten müssen, bedarf es keiner Versöhnung.
„Ich habe aber die Hoffnung uicht aufgegeben, daß sich bei Revision der
Verfassung alle ehrlichen, liberale» Constitutionellen zusammenfinden würden, wobei
ich allerdings darauf rechnete, daß Manche, die in gemäßigten Fractionen der
Linken saßen, dahin übergehen wurden, wohin sie, nach dem, was sie sprachen,
eigentlich gehörten, nämlich zur entschiedenen Linken.
„Ich kann vou mir nicht sagen, daß ich zu denen gehört habe, die seit einer
längeren Reihe von Jahren alles Heil für unser Staatsleben von schneller Ge¬
währung einer Constitution, als dem einzig möglichen Heilmittel, abhängig ge¬
dacht haben. Diese Form war mir nicht das Höchste. Ich wünschte sie, aber
mein Verlangen danach war nicht ein so brennendes, als bei vielen Andern.
„Allerdings trug ich in mir anch ein Gefühl für die wahre Freiheit, die ich
immer darin faud und noch finde, daß nnr das Gesetz und nicht die Willkür
herrschen, daß el» Jeder nnr jenem und nicht dieser unterworfen ist, und daß nur
das Gesetz sei, was dem Bewußtsei» des Volkes, »icht der Lau»e oder dem sub-
jectiven Willen eines Einzelnen entspricht. Aber ich fand in der Geschichte Preu¬
ßens eine Zeit, in der auch ohne Constitution die Reform so großartig vorgeschritten
war, so viele andere Staaten hinter sich zurückgelassen hatte, daß ich an der Hoff¬
nung nicht verzweifelte, auf diesem Wege auch zu einer Gestaltung unserer staats¬
rechtlichen Verhältnisse zu gelangen, die eine wahrhafte Vertretung des Volkes,
einen sicheren Schutz gegen Willkür gewährten. Sah ich doch andererseits mein
Ideal vielfach in den Staaten uicht verwirklicht, die sich eine Constitution auf
anderem Wege errungen hatten. , -
„Die Revolution brachte uns in ihrem weiteren Verlauf die Verfassung vom
5. Dezember. Sie war octroyirt, aber das Volk hatte darauf geantwortet: wir
wollen, daß hiermit die Revolution geschlossen sei. Wir waren in die Reihe der
konstitutionellen Staaten eingetreten. Ich wurde zum Volksvertreter gewählt und
nahm die Wahl an, mit dem freudigen Gefühl, daß eine Basis für die wahre
Freiheit gewonnen sei, mit der freudigen Hoffnung, daß bei einer feinden Ver¬
fassung ein Herrschen der Willkür nicht zu fürchten bleibe.
„Auch hier nehme ich keine» Anstand, die Frage mit Nein zu beantworten:
ob ich mich über den raschen Sprung aus dem absoluten Polizeistaat in eine
so liberale Verfassung, wie die vom 5. December 1848 ist, gefreut habe?
„Ich habe es schmerzlich beklagt und werde es stets beklagen, daß man den
Weg der Reform verlassen und dadurch, bei dem Eintreten äußerer Ereignisse,
eine Revolution heraufbeschworen hat.
„Sie hat uns in politischen und sozialen Zuständen überfallen, die, wie ich
fürchte, der baldigen festen Gestaltung eines Staatslebens mit freien Institutionen
und einer festen starken Negierung wenig förderlich sind. Ich fürchte, es wird,
ehe es dahin kommt, viel materielles Wohl zertreten werden, manches geistige
Gut eine Zeit lang entbehrt werden. Noch manche anarchische Bestrebung wird
erst mit Gewalt unterdrückt werden müssen, ehe die wahre Freiheit aus dem
Kampfe hervorgeht. Aber ich halte es auch eben so entschieden für eine praktisch
ganz müßige Betrachtung, was das Wünschenswerthe gewesen wäre.
„Wir hatten nun einmal diesen Sprung gemacht, das ist eine vollendete That¬
sache. Der Standpunkt muß festgehalten werden. Die Verfassung vom 5. De¬
zember 1848 liegt uns vor; was sie bietet, muß man nun auch eine volle Wahr¬
heit sein lassen. Ich unterscheide mich wesentlich von denen, die mit mir einen
ruhigen Entwicklungsgang ans dem Wege der Reform gewünscht hätten, und des¬
halb es für die Aufgabe der Kammern halten mögen, die Verfassung in der Art
zu revidiren, daß wir anf einen Standpunkt zurückgeführt werden, den wir ans
dem Wege der Reform hätten einnehmen können. Ich halte ein solches Streben
für verderblich.
„Ich bezweifle nicht, daß ein solcher Standpunkt das Volk befriedigt hätte,
wenn wir auf dem Wege der Reform dazu gelangt wären. Aber wir können doch
nun einmal nicht wegleugnen, daß wir eine Revolution gehabt haben, wenn ich
auch den Straßenkampf in Berlin mir als einen beklagenswerthen Akt in dem
großen weltgeschichtlichen Ereignis; ansehe.
„Und Freiheiten, die ein Volk durch eine Revolution erlangt hat, läßt es
sich nur durch eine neue Revolution nehmen, selbst wenn sie anch für den größten
Theil desselben nur eingebildete wären. Nur die Schranken gegen den Mißbrauch
und zum Schutz der wahren Freiheit läßt es sich willig gefallen, deren Noth¬
wendigkeit es erkannt hat.
„Wie mit den erlangten Freiheiten, an deren Genuß das Volk nicht gewohnt
war, zu deren Genuß es eines sittlichen Haltes bedarf, der noch vielfach fehlt,
damit aus der Freiheit nicht Anarchie, d. l). Freiheit ohne Ordnung, werde, wie
mit diesen das Staatsleben zu regeln, das ist nach einer Revolution die schwierige
Aufgabe. Und weil dies oft nicht auf dem friedlichen Wege gelingt, weil oft¬
mals so viele Volksvertreter aus einer Revolution hervorgehen, die ihre egoisti¬
schen Zwecke verfolgen, die deshalb nicht wollen, daß die Revolution sobald als
möglich geschlossen werde, so Manche, die ihre absoluten Negieruugsgelustc an die
Stelle einer absoluten Regierung setzen möchten, darum folgt so oft der Despo¬
tismus auf eine für die Freiheit unternommene Revolution. Es geschieht dies,
weil der Despotismus eines Einzelnen immer noch erträglicher ist, als der Ter¬
rorismus der Anarchisten.
„Ich bin der Ueberzeugung, daß nichts leichter zu verderblichen Conflicten
führt, als eine Verfassung mit sehr freien Institutionen nud daneben mit einem
Anhängsel von Möglichkeiten, sie durch Negieruugsmaßregeln zu beschränken.
„Eine starke Negierung ist nach meiner Ansicht diejenige, der im vollen Um¬
fange die Mittel gewährt sind, dem Gesetz nach allen Seiten hin die unbedingteste
Anerkennung zu verschaffen. Im absoluten Staat ist der Wille der Regierung
das einzige Gesetz. Im konstitutionellen bringt mir der übereinstimmende Wille
des Volks und der Krone ein Gesetz zu Stande. Die Negierung ist also stark,
wen« sie mit den Mitteln versehen ist, Das durchzuführen, was so zum Gesetz
geworden, und jede Bestrebung niederzuhalten, die etwas Anderes durchsetzen will.
Wer ihr grundsätzlich die Mittel gewähren wollte, ihren nicht zum Gesetz erhobenen
Willen durchzusetzen, würde sich mit dem Wesen des constitutionellen Staates in
den entschiedensten Widerspruch setzen. — Auf diesen Grundsätzen beruht unser
Programm."
Zum Schluß noch die Auffassung der gegenwärtigen Lage.
„Wenn eine Partei, der ich stets offen und mit Entschiedenheit entgegenge¬
treten bin, Ereignisse heraufbeschworen hat, wie sie in den letzten Wochen herein¬
gebrochen sind, dann bewahren sich uur Wenige den Standpunkt freier, unbe¬
fangener Beurtheilung.
„Gilt es dann allerdings, die Empörung mit Gewalt zu Boden treten, vor
Allem kräftig und energisch handeln; müßten die Freunde der wahren Freiheit
dieser auch das Opfer bringen, sich zeitweilig einer Beschränkung derselben zu
unterwerfen, dann fehlt es nicht an folgenden Erscheinungen.
„Diejenigen erheben ihr Haupt, die da möchten, daß diese traurige Nothwen¬
digkeit sich zu einem dauernden Zustand gestaltet. Die Schwankenden und Furcht¬
samen fühlen sich getragen und gesichert, indem sie sich auf die Seite stellen, auf
der sie die Kraft und die Macht sehen. Viele redliche und wahrhaft konstitutio¬
nelle Männer fassen nnr den Moment ins Auge. Sie sagen: vorläufig lassen
wir es dahin gestellt; wie weit ihr, die sogenannten Centrum-Männer, mit uns
einverstanden seid, das mag in anderen Zeiten einmal zur Sprache kommen. Für
jetzt wissen wir nicht, ob ihr mit uns einverstanden seid über das, was der Au¬
genblick erheischt, wir halten uns an die, von denen wir das wissen.
„Möge es der Regierung nicht blos gelingen, mit der Macht die sie besitzt,
den Aufruhr niederzutreten; möge sie sich auch nie täuschen über die öffentliche
Meinung im Lande. Wir haben Zeiten erlebt, in denen sie sich getäuscht hat.
Ich deute dabei an die Zeit, in der sie sich über ihre Macht, Ordnung nud Gesetz
aufrecht zu halten, — wie ich glaube — durch das Geschrei einer Partei täuschen
ließ, aber ich denke dabei auch an eine frühere Zeit, in der sie von einer andern
Partei getäuscht wurde. Möge sie das Beispiel wiederhole», das sie, im Besitz
der Macht, am l>. Dezember 1848 gegeben hat!"
Ich weiß nicht, thut's das Sonnenlicht, oder die schöne Zeit der Rosen, oder
ist etwas Lustiges in der Stadt passirt, aber alle Leute, die heut an mir vorüber-
gehn, sehen aus, als ob sie innerlich lachten. Nicht übermäßig, nur ungefähr
so, wie der arme Schulmeister lächelt, wenn ihn sein Herr Pfarrer einmal auf
eine gemästete Gans einladet; es ist ein allerliebstes heimliches Lachen, es be¬
deutet offenbar: „heut thu' ich mir was Gut's, heut will ich froh sein und heut
nix von Politik." Ja es muß an der Lust liegen, seht nur, wie elastisch sie
ausschreiten, sogar der dicke Herr versucht ausdauernd sich mit den Beinchen im
Schwunge vorwärts zu schnelle», sie wollen hinaus aus deu engen Gassen, in'S
Freie, in's Grüne, unter das schöne blaue Zelt, das ihnen die Natur, die alte
würdige Schenkwirthin ausgespannt hat. Und diese Kinder, nein diese Kinder,
so viel Kinder hat Wien nie gehabt, als in diesem Nevolntivnsjahr. — Meine
Herren, wir Alle wissen nicht, wohin es in diesem furchtbaren Jahr mit dem
Kaiserstaat noch kommen wird, wenigstens in jener Vergangenheit, als man auf
meiner Brücke noch von Politik sprechen durfte, sagten Einige: der arme Kaiser¬
staat kann's nicht aushalten, und Andere wieder: vielleicht thut er's doch noch
einmal; aber wie es auch mit dem Staat Oestreich werde, eins steht fest, die
Oestreicher hören nicht auf, darauf kann sich Europa verlassen; wenigstens meine
Wiener werden da sein, so lange noch irgend eine Möglichkeit vorhanden ist, auf
dieser Erde „menschlich mit Menschen umzugehn," wie ihr Nordländer sagt, oder
sich einen Jux zu machen, wie wir sagen. Wahrlich, waren die Wiener in allen
Stücken so eifrige Patrioten, wie sie gute Väter sind, es stünde besser mit uns.
Doch heut keine Melancholie. Alles ist wunderschön, der Himmel leuchtet von
Gold, sogar die Donau versucht ihrem trüben Wasser durch den Silberschein
kleiner Wellen ein Ansehn zu geben; die Männer sehn fröhlich und unternehmend
ans, die Augen der Mädchen glänzen noch mehr als gewöhnlich, ihre knappen
Mieder veranlassen in jungen Burschen loyale Empfindungen, welche mit Politik
nichts zu thun haben, und die Kinder sind so bausbäckig, glücklich und rührend,
wie die Kinder in Wien zu sei» pflegen. Woher kommt es, daß der Anblick der
Kinder bei uus beweglicher ist, als irgendwo? — Seht dies volle gesunde Leben
eines kleinen Buben, wie kräftig und ehrlich ist er in seiner Liebe und in seinem
Haß, wie stolz und sicher schwenkt er die Weidenruthe, sein Schwert, wie eifrig
ist er das Unrecht zu rächen, das ihm oder seiner jüngern Schwester durch das
bellende Spitzel am Eckstein zugefügt wurde? Wenn er aber groß wird, kriegt er
vielleicht Kalbsaugen und einen Hängebauch, oder eine rothe Nase, oder Hühner¬
augen und Gemüthlichkeit. — Und dann ist noch ein andrer Grund, der einem
das Herz schwer macht, wenn man einen recht kerngesunden Wiener Knaben an¬
sieht und an seine Zukunft denkt, aber das gehört nicht hierher. — Guten Tag,
Meister Hcfstel, der Schneider! Ihr auch auf meiner Brücke und Ihr allein traurig,
faltig im Gesicht, ein Hypochonder, was quält Euch lieber Meister? — Hcfstel
schüttelt schmerzlich den Kopf und sieht mit verzweifeltem Blick hinunter in die
Donau, endlich sieht er sich mißtrauisch um und flüstert mir bebend ins Ohr:
Der Schnitt wird unterdrückt; ich halt's nicht mehr aus, ich kann's nicht ertra¬
gen. Die Civilrocke mit einer Reihe Knöpfe sind verboten, die weiten Hosen ohne
Stege sind verboten, die farbigen Mützen sind verboten, die breitkrempigen Hüte
sind verboten, rothe Westen, rothe Halstücher, roide Bänder sind verboten, um¬
gelegte Halskragen sind verboten, die Knotcnstöcke sind verboten, lockiges Haar ist
verboten, was soll der Mensch noch anziehen, aussetzen, um sich hängen? Es
bleibt nur sehr wenig übrig, was noch erlaubt ist. Das Genie wird unterdrückt,
auch der Schnitt steht unter Censur. Trägt man einen schwarzen Nock, so heißt
es: er trauert über die Verlorne Freiheit, marsch ins Loch; trägt man einen
blauen: er war Legionär im letzten October, marsch inS Loch; zieht man einen
weißlichen Sommerrock an, so brüllt die Commission: er ist ein heimlicher Turner,
marsch ins Loch; und hat man gar keinen an, ist man hcmdsärmlich, so schreien
sie: er ist Communist, marsch ins Loch! Ins Loch kommt man unter allen Um¬
ständen, das ist eine schlechte Behandlung seiner Mitmenschen und wird auf die
Länge unangenehm. — Fort von mir, Hesstel, Ihr seid ein Malkoutcnter. —
Weiß Gott, ich bin's, murrte der Schneider und schlich traurig uach der Leopold¬
stadt. — Dank euch, ihr guten Generäle, die ihr Wien regiert, ihr versteht es,
die Bevölkerung einer großen Stadt zu ziehen; die dreifarbigen Kokarden wißt
ihr zu cvnsiSciren, Schneider und arme Studenten versteht ihr zu ärgern, aber
den verderblichsten Feind eures Regiments, das Lächerliche, welches über euren
kleinen, patriarchalische», dickköpfigen Maßregeln schwebt, könnt ihr dnrch keine
Füssiladen wegbringen. Verbindet immerhin mit dem Lächerlichen das Schreckliche,
ihr macht euch selbst dadurch nicht größer, nud je kleiner ihr jetzt das Volk zu
machen versucht, desto mehr wird es euch einst hassen und verwünschen.
Als vor einem Jahr die Rosen blüthen, ging der Strom der öffentlichen
Meinung nach Westen, nach der fremden, dämmernden, unbekannten Gegend, die
man das Land der Freiheit nannte, damals trug Groß und Klein, der Haus¬
besitzer und der Arbeiter, die deutsche Trikolore und ballte die Faust nach der
Burg; jetzt siud wir klüger geworden, jetzt denuncirt man unehrerbietige Worte
und krümmt den Rücken, sobald mau in die Nähe des Kaiserschlosses kommt, jetzt
geht der Gegenstrom der gemeinen Sympathien nach Osten, und die höchsten
Welle», die er wirft, lecken respektvoll die Füße des Thrones! Was ist dabei
zu wundern? Das war von je so nud wird ewig so sein. Wer sich stark zeigt,
dem folgt die blöde Menge mit ihrer Verehrung, ihren Sympathien; der Akade¬
miker'auf der Weintonne, oder der General ans der Trommel, wer am lautesten
mit den Beinen an seinen hohlen Sitz schlägt, dem jauchzt der große Haufe der
Unwissenden, Eigennützige», Schwachen begeistert zu. Jetzt wird der Wiener
Bürger dnrch seine „gute Gesinnung" lästig. Glaubt mir, wenn die Rosen zum
dritte» Mal blühen werden seit dem März 48, wird derselbe Mann thun, was
wir jetzt thun, er wird das militärische Regiment der Stadt verwünschen und
über seine schnurrbärtigen Erzieher lache». Das ist ganz in der Ordnung; denn
alle diese Blüthen der öffentlichen Stimmung in Wien, die rothen Rosen der
jugendlichen Schwärmerei von 48 und die weißen Rosen der loyalen Unterthänig-
keit von 4'.), sind im Großen betrachtet, nichts als Zeichen einer Fortbildung der
Nation, der Beweis eines natuckräftigen Lebens, ja uuisvmehr, je wunderlicher
nud einseitiger sie sich zeigen. Denn ans den Gegensätzen entwickelt sich der Fort¬
schritt der Völker, nicht ans der geraden Linie einer schwärmerischen Fraktion.
Unsere akademische Legion war ein Moment und Vater Weiden ist das zweite;
fragt im Juni des nächsten Jahres, was aus beide» geworden ist.
Je reißender der Strom nach eiuer Richtung geht, desto stärker und furcht¬
barer wird mich der Gegenstrom. So ist's im Leben der Nationen. — Nicht so
ist es bei meiner Donau. Gelbe Donau, Herrin unsers Lebens, die du alle
Völker an deinen langen Ufern mit einem festen Bande zusammenschnürst, du
rinnst ewig thalab vou Oestreich nach Ungarn; ewig spülst dn die Blumenblätter,
welche der Wiener spielend in dich hineinwirft, in Pesth an das Ufer; das Blut,
welches in Pesth als el» rother Bach zu dir fließt, das trägst du nicht nach Wien
zurück, und doch sehen, fühlen, greifen wir's; es liegt auf den Steinen der
Straße, aus den Bänken des Pratcrs, es fliegt in der Lust, es brennt in den
Blättern der Zeitungen, es schwimmt in der Nöthe des Himmels, ja, es liegt
auch in dem Kelche der Rosen, es ist Bruderblut, welches dort rinnt, und wir
einfinden es bei Tag und Nacht.
Seht, der Tag ist so schön und die Menschen so froh, nud doch ist es in
Wien unmöglich zu sagen: nichts von Politik!
Ich sitze im Geiste nach Jahren im Lesesaal einer deutschen Bibliothek. Vor
mir ein Schrank voll Bücher groß und klein, dick nud dünn, in Einbänden von
allen Farben, und auf dem Simse des Schrankes eine Tafel, darauf geschrieben
steht: Die Revolutionen Deutsch lands vom Jahre 1848 bis 1849.—
Es mögen an tausend Bände sein, und mich gelüstet, die Titelblätter anzuschaun.
Da finde ich wohlgeordnet die verschiedenen Berliner und Wiener Revolutionen,
dann die sächsische, bairische, die badische, die Breslauer, Elberfelder, Tüssel-
dorfer — und von der Sachsenhauser zwei voluminöse Bände, der dritte ist eben
ausgeborgt. Ich schäme mich der vielen Dummheiten, welche hier unsern Kindes¬
kindern überliefert werden schwarz auf weiß, und bücke mich, um mein Erröthen
zu verbergen nach einem ehrwürdigen Fvliobande, der ganz zu unterst auf einem
Gestelle einsam dasteht, in Schweinsleder gebunden mit rothem Randschnitt, Mes¬
singecken und Messingspangen. Es ist die Geschichte der ungarischen Revolution
und des ungarischen Freiheitskampfes gegen Oestreich und Rußland. Ob der Band
ans Unkenntniß oder Verständniß des Bibliothekdieners zu den deutschen Un¬
sterblichkeiten gerathen ist, weiß ich nicht zu sagen.
Wie so kömmt's, daß der Kampf in Ungarn so groß, so achtunggebietend,
die Erhebung deS gebildetsten Volkes der Erde dagegen so kleinlich, so - - jäm¬
merlich war? — Mein armes theures Deutschland! worin du gefehlt und gesün¬
digt , das werden dir dieselben gelehrten Männer in umfangreichen Werken am
besten zu erklären wissen, die selber gefehlt und gesündigt habe» gegen dich, die
dich und sich betrogen haben aus zu großer Ehrlichkeit, die noch auf die Gro߬
herzigkeit einzelner hochgeboruer Menschen bauten, nachdem sie den Glauben an
den gesunden mäßigen Sinn ihres Volkes aufgegeben hatten. Was aber Ungarn
so stark machte in seinem Kampfe gegen ein Niesenreich, das — ein kindcömör¬
derisch er Pelikan — sich selber die Brust aufschlitzte, um seiue Jungen im
Blute zu ersäufen; wie es kam, daß es sich in Ungarn zu Schlachten und nicht
zu Cravallen, zu Siegen, aber nicht zu Barrikadenkämpfer gestalten konnte, das
will ich hier versuchen, auseinander zu setzen.
Ich werde nicht sprechen vom juridischen Rechte der Magyaren — einen hei¬
ligerer Kampf als deu des deutschen Volkes in diesen Jahren hat es in der Ge¬
schichte nie gegeben; ich werde auch nicht sprechen von den Männern, die an der
Spitze der Bewegung stehn — auch in Deutschland wird es uicht an Männern
fehlen, die Größe des Momentes zu erfassen; ich will auch uicht sprechen von den
wahnsinnigen Maßregeln der Negierung — sie werden überall leicht den Kopf ver¬
lieren; mit Einem Worte, ich will mich in keine Parallele einlassen zwischen der
deutschen und der ungarischen Erhebung, so lehrreich auch dieses Thema werden
könnte; ich will hier blos die Eigenthümlichkeiten Ungarns und seiner Be¬
wohner zu schildern versuchen, welche ihren Kämpfen gegen ein wohlansgerüstetes
eingeübtes Heer sehr zu Statten kamen, und dem deutschen Leser einiges Interesse
abgewinnen können. Sie werden bald sehn, daß diese Eigenthümlichkeiten im
Ganzen nicht eben sehr beneidenswerther Natur send, so poetisch sie sich auch
darstellen.
Die humusreiche Schwärze des Bodeus ist die Lichtseite des Landes. Der
Landmann, der ein Feld sein eigen nennt, ist mehr dessen Rentier als dessen Behälter.
Er pflügt nicht, und säet nicht, und erntet nicht, und ißt sein Brot uicht im Schweiße
seines Angesichts und schlägt somit dem Fluche Gottes vom ersten SchöpfungSjahr
ein Schnippchen. Im Frühjahr komme» Caravanen dürftiger Mährer über die
Grenze und der Slovake kömmt mit Weib und Kind in die fruchtbaren Ebenen
des Magyaren. Sie bebauen ihm gegen Lohn sein Feld, im Herbste schneiden
sie ihm sei« Korn. Er scU'se reitet mit seinen Jungen des Morgens n»d in der
Abendkühle hinaus auf den Acker, um nachzusehen, und im Schatten einer
Kukuruzstaude seine Pfeife zu rauchen. Im Winter zehrt er dann wie ein Mur-
melthier an seinem Fette und an dem seines Schweines, an Brot ist kein Mangel
auf dem Tische, und an Holz nicht im riesenhaften Ofen. Die Tabaksstaude blüht
im Gärtchen vor der Thüre, und die Rede streckt ihre Augen zum Fenster hinein.
Was kann ihm da der Krieg so Arges anthun? Steckt ihm in Gottes Namen
die Hütte in Brand, so zieht er mit Weib und Kind von dannen. Ihm folgt
sein Pferd treu wie sein Hund, das Dach stürzt ein, der Ofen bleibt, und liegt
das Feld ein Jahr lang brach, so wird es das Blut der Feinde nur noch frucht¬
barer machen.
Unter solchen Verhältnissen ist der Landsturm leicht organisirt, wenn hervor¬
ragende, im Lande geachtete Persönlichkeiten das Landvolk zu fauatisiren verstehen.
Denn so träge der Bauer auch ist, dem Boden ein paar armselige Kohlköpfe ab-
M-iiigeu, so rührig ist er, wenn es sich um den Kopf eines Feindes handelt.
Dazu hat er den Willen, die Kraft und das Temperament. Die alten Türken¬
kriege leben in Legenden und Gesängen unter dem Volke fort, und braucht es jetzt
eines geehrten Namens ihn zu begeistern, nun denn — Kossuths Name ist geehrt
und gekannt bis in die einsamste Hütte der Pußta (Haide).
Als das Debrccziner Parlament die Thronentsctzung des Hauses Habsburg aus¬
sprach, da brachen alle östreichischen Negiernugsblätter in einen Schrei des Jubels aus;
denn jetzt, quillen sie, sei Habsburg des Sieges gewiß, der Bauer werde nicht mehr
kämpfen gegen seinen König und der Husar keinen Streich mehr sichren gegen
die heilige Krone. Laßt darum hallelujah singen in allen Kirchen, schickt die Rus¬
sen wieder heim wo sie nöthig sind, die Stephanskirche werde schwarzgelb ange¬
strichen, ein paar arme Teufel mögen begnadigt werden — zu Pulver und Blei,
und die Kaiserin Mutter mag in die Küche laufen und es den Mägden verkünden
daß Kossuth sich selber vernichtet habe! ---
Wohl ist es wahr, daß dem Ungar das Königthum heilig ist als der Inbe¬
griff der Tapferkeit, des Heldenmuths, des Ritterthums. Was aber das König¬
thum im Lande so groß gemacht hat, waren nicht die Pygmäengestalten des Hau¬
ses Habsburg, die vor oder uach der Huldigung zu Wien nach Preßburg fuhren,
sich den Mantel des heiligen Stephan umhängen ließen, der sie zu Boden drückte,
die Krone sich aufs Haupt setzten, und das Schwert nach allen vier Himmelsge¬
genden schwangen, so gut es die Kraft ihres Armes erlaubte, und dabei eitel
schworen, dem Lande ein guter König zu sein und treu zu regieren nach der alten
Verfassung. In diesen Nachkömmlingen ehrte der Magyarc nichts als das
Andenken an die gekrönten Kämpen der Vorzeit, die seine Väter zum Siege geführt
hatten. Und an dieser Verehrung rüttelten die ungarischen Könige aus dem Hause
Habsburg gewaltig, seitdem sie nichts thaten, als die Kassen des Landes in die Wiener
Hofkanzlei schleppen, »in damit die Beamten zu bezahlen, die gegen die Freiheit Un¬
garns nud der Monarchie arbeiten mußten. Das Wort Republik ist daher dem
gebildeten Magyaren bei weitem nicht so schrecklich als man in den Antichambres zu
Schönbrunn gern glauben möchte, und der gemeine Manu — v du liebe Einfalt!
Haben doch die Croaten die Anta für eine böse Frau gehalten, die Mutter vieler
böser Buben, der man den Kopf abschneiden müsse zum Frommen des Baums;
warum sollte man, so lange es Noth thut, dem ungarischen Bauer nicht weiß
machen können, die Republik sei eine Königin, groß wie Maria Theresia, für
die er kämpfen müsse gegen die Oestreicher? lind wenn's schon einen König ge¬
ben muß, warum nicht lieber Kossuth als den Wiener Jüngling mit den deutschen
rothen Höslein und dem grünen Vormund aus Moskau? Um'S Hans Habsbnrg-
Lothringen kümmert sich kein Mensch im ganzen Lande. Das ist vorbei.
Wenn sich unsere deutschen Brüder „draußen" die Mühe nehmen, Wiener
»»deutsche Blätter zu lese», dann werde» sie daraus ersehen, daß alle Tage Hu¬
saren zu uns herübergclaufen komme» „weil sie das Gewisse» drückt"? —
Wenn Sie den Zeitungen »icht glauben wolle», wenn Sie sich sogar erkühnen,
diesen Zweifel in einem k. k. östreichischen Gasthause laut werden zu lassen, so Hot
der Gastwirth die Verpflichtung, Sie als „Böswilligen" arretiren zu lassen. Darum
sagen wir Ihnen über die Grenze hinüber ganz leise ins Ohr, daß die Wiener
Zeitungen in diesem wie in vielen andern Dingen Lügner sind. Der Husar von
seinen Kameraden, aus seinem Lande fortlaufen hinüber zu den Kaiserlichen, weil
drüben Einer König von Ungar» genannt wird, der die Krone des heiligen
Stephan noch nicht gesehen hat?! Nie und nimmermehr. Der Husar ist der
verkörperte Magyarismus; auf der Haide ist er geboren und groß gezogen, ans
der Haide hat sein Rößlein das Licht der Welt erblickt und ist mit ihm aufge¬
wachsen, dort hat er die ersten Zigeuner gehört, dort hat er zum ersten Mal den
Csiirtms getanzt, dort hat er das erste Mädchen geküßt, dort will er leben und
sterben, denn dort wohnt sein Gott.
Ja — sein Gott, sein Magyar Isten, der sich vor der ganzen Welt nur
um Ungarn zu kümmern hat, der als ein Ableger der großen Wcltgottheit blos in
Ungarn lebt und herrscht. Sie sehen Freund! Der Mann ist stolz und theilt
nicht einmal seinen Gott mit andern Völkern; er hält sich und sein Land für be¬
deutend genug um die intellektuellen Fähigkeiten eines eigenen Gottes aus¬
schließlich in Anspruch nehmen zu müssen. Zu diesem seinem Privatgott betet
der Husar, wenn er in die Schlacht reitet, „der hat ihn noch nie verlassen." —
Bei Gödöllö an der Straße von Pesth nach Debreczin wurde im März d. I.
eine Schlacht geschlagen, vielleicht die blutigst« und entscheidenste von allen. Von
hier erst beginnt die große ungarische Ebene, die sich ohne Unterbrechung bis ein
die Theiß und drüber hinaus nach Debreczin erstreckt und dann wieder drüber
hinaus. Bis Hieher hat das Elcmcntarfcncr noch Hügel aufgeblasen, die als zu¬
sammenhängende Kette später erstarrt siud, und Gödöllö ist der Schlußpunkt die¬
ser Hügelreihe. Windischgrätz sah sich nach der „siegreichen" Schlacht bei Kapolna
genöthigt, Schritt vor Schritt bis sicher zurückzugehn, um zu einem Ruhepunkt
zu gelangen, wo sich wieder mit Muße ein Bulletin schreiben und eine feste Stel¬
lung einnehmen ließe. Das Terrain konnte nicht besser gewählt sein, um die
Heeresmassen, welche über die Theiß herüberbrachcu, zum Steh» zu bringen. Die
waldigen Hügel strömten von östreichischen Bajonnetten, jeder Baum beherbergte
ein paar Jäger, die Häupter der Anhöhen waren mit Geschi'es gekrönt, und an
den Seiten schimmerten die Kuirasse der schwere» Reiter durch die Büsche. Jel-
lachich commandirte de» linken Flügel, Schlick den rechten, der Fürst in Person
befehligte das Centrum. Ihm gegenüber stand Görgey.
Dieser kannte die Positionen der Oestreicher und wußte sie ihrem ganzen
Werthe nach zu schätzen, aber er kannte auch den Werth seiner Leute. Nachdem
er alle Dispositionen zur Schlacht getroffen, ritt er zu einer Abtheilung Husaren,
die seitwärts in Reih und Glied aufgestellt waren, und das Zeichen zum Angriff
erwarteten.
„Wo ist der Offizier? Wer commentirt euch Brüder?"
Ein alter Wachtmeister ritt vor mit silberweißem Haar. Die Offiziere waren
sämmtlich bei Kapolna gefallen.
„Bruder Husar," redete ihn der junge General an, „du siehst dort den Berg
mit den Bäumen, du siehst auch die Reihen der Oestreicher und das Blinken ih¬
rer Bajonnette und ihre plumpen Reiter und ihre Kanonen, die auf uns gerichtet
sind und bald Feuer speie» werdeu. Dieser Hügel, siehst du, muß von euch
genommen werdeu. Es werden Viele von euch fallen, vielleicht die Hälfte, viel¬
leicht die Meisten, vielleicht auch Alle, aber ihr seid bestimmt, das Vaterland zu
rette», ihr werdet das eurige thun und Gott steh' euch bei."
Der Wachtmeister salutirt und wendet sich zu seinen Leuten. Er zeigt ihnen,
was ihm der General gezeigt hat, er widerholt ihnen dessen Worte. Dann wendet er
den Blick zum Himmel und spricht laut und vernehmlich: „Dich aber, ungari¬
scher Gott, will ich heute nur um Eines bitten. Hilf' uns nicht bei unsrem
Unternehmen, aber — (und er droht dem Himmel mit der Hand), hilf auch den
Oestreichern nicht. Dort in jenem Gehölz laß' dich nieder (und er weist dem
Herrgott seine Position an bei Seite), dort bleibst du und siehst zu, und — ich
versprech' dirs heilig, du wirst deine Freude haben, wie deine Husaren arbeiten
werde»."
Kaum hat er geendet, so wird das erste Zeichen zum Augriff gegeben —
die Husaren setzen sich im Sattel zurecht; zweiter Ruf — die Säbel fahren aus
der Scheide; zum dritten Mal — da sprengt der Hause vor im wilden Car¬
riere, Roß und Reiter liegen gedehnt auf dem Boden, die Kanonen donnern, die
Büchsen knallen, die Schwerter blitzen, Staub und Pulverdcnnps umnebeln das
Auge, aber mitten durchs Höllenfeuer stürmt die tolle Schaar den Berg hinan,
jagt die Reiter und die Jäger und die Kanoniere in die Flucht. Die Kanonen
schweige», sie siud in ihre» Händen, der Tag ist entschieden. Kossuth, der die
Schlacht selbst mitgemacht, drückt Görgey an seine Brust und ruft begeistert:
„Jetzt ist Ungarn gerettet, denn wir haben ein Heer, mit dem sich die Oestreicher
nicht messen können."
Der alle Wachtmeister und die Hälfte seiner Leute sind gefallen. —
So kämpfen ungarische Husaren. Es gibt keine Waffengattung im
östreichischen Heere, die sich mit ihnen messen kann, sei's in Neiterkühnheit und
Gewandheit, in Präcision des Manövers, in fere»ger Subordination, Sauberkeit
und Verläßlichkeit. Es gibt aber auch keinen Offizier im östreichischen Heere, der
den Vorzug dieser Truppe nicht ohne Widerrede anerkennt, und wer einmal be'
den Husaren gedient hat, wird sich bei andern Regimentern nie recht herrisch
fühlen.
Auch andere Länder haben diese Waffengattung in ihren Heeren eingeführt,
aber es sind eben nur preußische, französische, russische Reiter mit ungarischen
Schunrröckeu. Es fehlt der Geist, das Pferd und — der Magyar Isten. Darum
erkennt sie der ungarische Husar auch uicht als Brüder an, und wenn er mit ih¬
nen im Kampfe zusammenkam, begegnete er ihnen meist mit einer verächtlichen
Nonchalance. So erzählt man sich, daß in den französischen Kriegen das Bivouac
preußischer und ungarischer Husaren einmal hart an einander zu liegen kam. Ein
Preuße kam herüber und wollte „mit dem ungarischen Bruder gemüthlich anstoßen."
Der aber strich sich den Schnurrbart, wies das Glas barsch zurück und sagte:
„Was Bruder? — Nix Bruder. — Ich Husar - du Hauswurscht'.
Man nehme diesen Ausdruck nicht als Prahlerei. Der Husar ist kein Fan-
farvu wie ein französischer Chasseur, aber er lebt im Bewußtsein seiner Tüchtigkeit
wie ein Grenadier von der alten Kaisergarde. Ihm sind der Dolmany, der
CsM, und die Csitzmen") an den Leib gewachsen, es ist das Feiertagscostume des
Magyaren auch außer Dienst, es ist die Nationaltracht ius Militärische übersetzt,
und weil er weiß, daß dies bei andern Völkern nicht der Fall ist, gilt ihm die
Hnsarcntracht bei Nichtnngarn so viel wie Comödientand, wie Bedientenlivr«, und
der Mann hat logisch gar nicht Unrecht.
Der Husar ist von Natur gutmüthig, wie der Magyare im Allgemeine».
Der pünktlichste Mann im Dienst ist er zugleich der lustigste Bruder in der Schenke,
der seinen Krug Wem uicht all ein leeren wird, wenn dem böhmischen oder deut¬
schen Reiter an seiner Seite das Geld schou früher aus der Tasche geflogen ist.
Nur Ein zweibeiniges Geschöpf gibt es unter der Sonne, das dem Husaren ver¬
ächtlich und hassenswert!) erscheint, wie kein Thier des Waldes und des Sumpfes.
Das ist der Baudcrialhu sar, dieses Zwittergeschöpf vou Crvat und Ungar,
diese Carricatur des Husareuthums, die den Nciterdienst an der Grenze versieht,
wie der Croat als Infanterist. Nie hat ein ungarischer Husar mit einem Ban-
derialhusareu getrunken, nie wird er mit ihm an Einem Tische essen, nie auf
Einer Streu schlafe». Eine Schlange wird er zertreten, wo er sie trifft, einen
Wolf wird er jagen im Gebirge, mit einem Büffel sich balgen auf sumpfiger Haide,
mit einem elenden Roßdieb raufen um das Halfter eines Pferdes; den Banderial-
husaren aber, den spukt er an, wo er ihn trifft.
Bei Hatvau war's, wenn ich uicht irre, oder bei Tapolya Bicske, da standen
zum erste» Male in diesem Kriege, vielleicht zum ersten Male seit Menschengeden-
ken, ungarische Reiter den Banderialhusarcn in der Schlacht gegenüber. Wenn
Blicke todten könnten, dann hätte es keines Kampfes bedürft, denn die Augen
der Husaren sprühten Haß und Tod gegen die unwürdigen Gegner, die sich ihnen
zu stellen wagten. Da schmettert die Trompete zum Angriff, und in dem¬
selben Augenblicke, von gleichem Gedanken erfaßt, stoßen die Husaren
die schweren Säbel zurück in die Scheide, und mit eiucM Fluche, so grä߬
lich, wie ihn die deutsche Sprache nicht wiederzugeben vermag, stürzen sie ohne
Waffe mit verhängtem Zügel los auf ihr verzerrtes Spiegelbild, das ihnen
der Zufall in deu Weg gestellt. So heftig, so unwiderstehlich war der Stoß,
daß die armen Kroaten gegen die Rasenden von ihrer W.löse keinen Gebrauch ma¬
chen konnten. Sie stürzten rücklings von den Pferden, die sich mit thuen über¬
schlugen, oder wurden mit den Fäusten aus dem Sattel zu Boden geworfen;
was rennen konnte, suchte sein Heil in der Flucht. Die Husaren verschmähten eS,
sie zu verfolgen, beklagten sich aber bitter bei ihren Offizieren, daß man sie sol¬
chem Gezücht gegenüberstellen konnte. Die Mädel ans dem Dorfe, oder der
Schatten ihrer Sporen, wie sie sich ausdrückten, hätten eben so gute Dienste ge¬
than gegen---nun folgt ein ganzes Heft Grenzboten voll der exquisitesten
Flüche.
Diesen Haß gegen den berittnen Grenzer nimmt der Husar mit in sein Grab,
und das Sterben würde ihm viel saurer sein, wenn er nicht gewiß wüßte, dieser
Sorte „drüben" nicht mehr zu begegnen. Es sind wenig Tage her, da wurden
zwei Verwundete ins Wiener Militärspital gebracht, der Eine war von der be¬
rüchtigten Sorte, der andere ein zu Tod getroffener Husar nur s-uiA. Nach
einer Weile trat der Chef des Hospitals in. die Krankenstube, wo beiden das
Schmerzenslager gebettet war, und erkundigte sich, ob hier die beiden Husaren
untergebracht wären. Nur Einer, ruft der Ungar, dem die Frage im Todes-
kampfe zu Ohren gedrungen war. Hier! — Richtet sich auf, sinkt zurück und
stirbt.--
Wo mag sein Rößlein jetzt weilen? Erschlagen ward's nicht.' Es stand
noch fest auf alleu Vieren, als sein Reiter ihm vom Rücken weggeschossen wurde.
So mag's wohl jetzt schon todt sein , todt vor Hunger und Kummer. Es wär so
fromm und sauft, und wieder so wild und ungestüm wenn der Trompeter mit
dem rothen Federbusch zum Augriff blies. Der Vater des Husaren wird ein Va¬
terunser beten für den gefallenen Sohn, die Schwester drei Sonntage laug uicht zum
Tanz in die Schenke gehn; die Mütter sich krank weinen, aber der Doctor aus,
der Stadt wird ihr eine Medicin geben, und sie wird wieder gesund werden;
die braune Stute aber hat kein Futter mehr genommen aus fremden Händen, und
ist gestorben drüben bei deu Gevattersleuten, die einer alten Bekannten gerne einen
Winkel im Stalle einräumten. Als sie eiues Morgens vor der Hausthür stand
mit blutigem Sattel, zerzauster Mähne und zerrissenem Riemzeug, da merkten sie's
gleich, daß ihnen die Braune keine Hand voll Hafer kosten wird. „Das arme
Thier! Einen Stein könnt' es erbarmen! Herr Jesus, laß es drüben seinen
Herrn wieder finden. Amen!" —
Rheinische Demokraten werden diese rührende Anhänglichkeit eines Thieres,
die verthierte Subordination eines zu Tode gehetzten Gaules
nennen. Gegen solche Ausdrücke müssen wir uns aber im Namen aller Husaren¬
pferde aufs feierlichste verwahre«, so feierlich, wie sich der östreichische Korrespon¬
dent, das Organ Schwarzenbcrgs und des Wiener Hofes im Namen aller Esel
gegen die Zusammenkunft Gagerns und seiner Freunde in Gotha verwahrt hat.
Den Mer scheu überrascht oft die Liebe im Traum, in einer Postkutsche, in der
Oper, bei einer Quadrille; wo aber ein Thier die ganze Macht instinktartiger
Zuneigung einem Menschen zuwendet, da muß es durch Positiveres als durch die
Laune des Augenblicks bewegt werden. Sie lächeln Madame! und nennen eine
solche vierbeinige Liebe egoistisch. Mag sein, aber dafür hält sie länger Stich.
Das Hnsarenpferd darf seinen Reiter lieben ohne zu erröthen, denn es wird ihm
mit Liebe in gleichem Maße entgegenkommen. Das I es des Husaren ist, so lange
er lebt, die zweite Person, sein Pferd ist die erste, Er trinkt nicht und müßt'
er verdursten, bevor sein Pferd nicht versorgt ist; er ißt nicht 'ind müßt' er ver¬
hungern, so lange es nicht Heu oder Hafer zwischen den Zähnen knabbert, und
bevor das Roß nicht seine Streu hat geht er sicherlich selber nicht zur Und! Der
Husar hält sich für so klug, wie uur irgend eine» Menschen auf der Welt, sein
Pferd aber hält er für noch klüger als sich. Er muß wohl seine Gründe dazu
haben, denn er sitzt Stunden lang im Stalle neben ihm, und spricht mit ihm
und erzählt ihm Geschichten von Arpad und Mathyas und stellt Fragen und re-
plicirt auf die Antwort, die Niemandem außer ihm verständlich ist, und vergißt
auf die Kameraden und das Wirthshaus , und wenn er dann aus dem Stalle
herauskriecht, macht er ein zufriedenes Gesicht wie ein fleißiger Student nach einer
profitabler Vorlesung. Aber ins Wirthshaus zu gehn, ist schon zu spät — „die
Schincickelkatz hat ihn einmal wieder über Gebühr aufgehalten" -- nun denn in
Gottes Namen kauft er sich noch eine Blase voll Tubal und — um einen Gro¬
schen Seisengeist für die Schmcichelkatz.
Ja — Seifengcist für's Pferd, das macht eine große Ziffer in der Rubrik
seiner Ausgaben. Heu nud Hafer gibt das Regiment, aber damit wird noch lange
kein Pferd stark und gesund; es braucht Scifeugeist für seine Glieder, und das
bezahlt der Mann aus seinem Beutel. Scifeugeist für'S Pferd, das ist seine Lei¬
denschaft. Er könnte mit Gott schmollen, daß der Plattensee nicht voll dieser stär¬
kenden Essenz ist, um seinen Freund dahin ins Bad zu schicken.
„Sehn Sie, Anno nenne" — so erzählte mir ein alter pensionirter Oberst,
der von jedem Mann aus seiner Truppe ein Dutzend Geschichten wußte — „da
hatte ein Korporal von unserm Regimente einen feindlichen Major gefangen. Sie
waren beide gut beritten gewesen, und mein alter Johl — Gott hab' ihn selig
und sein Pferd - hatte lang zu thun, bis er den Franzosen aus dem Sattel
brachte. Daun hob er ihn manierlich ans, und brachte ihn zu mir mit aller Höf¬
lichkeit, und ich empfing ihn auch, wie sich gebührt für einen Edelmann. — Mein
alter J«»si — Gott hab ihn selig und sein Pferd — war längst beim NegimentS-
inhaber vorgemerkt für die silberne Medaille. Jetzt nehm' ich meine eigene vom
Spenser und sag': Na! willst deJcist? Er aber, der alte Fuchs - nein, sagt'
er, gestrenger Herr Obersch. Für was? sagt er, gestrenger Herr Obersch. Wenn
mich der Herr Feind gefangen hätte, er — mich, er — den Jüsi, dann hätt'
er Medaille verdient; aber ich? — von wegen ihm?! — Bitt' ich unterthänigst
gestrenger Obersch, um einen Zwanziger Scifengeist für mein Ferd." — —
Ich könnte Ihnen noch viel schnackiges Zeug erzählen, wie ich es vom alten
Obrist an langen Winterabenden zu hören bekam, aber das würde zu weit führen.
Ich wollte die Eigenthümlichkeiten Ungarns schildern, durch welche es mög¬
lich wurde, daß der zottige Pudel Revolution hinter dem Ofen anschwoll zum bösen
Dämon eines verheerenden Krieges und bin nicht über die Husaren hinausgekom¬
men. Nächstens vou den Csikäsen, Gnlyäscn und Kanuszen, deren Namen nicht
einmal in Deutschland gekannt werden.
Als die östreichische Regierung die russische Hilfe in Anspruch nahm, um Un¬
garn zu „pacificiren," wurde sie zu diesem Bündnis; voll Bitterkeit und Demüthi-
gung außer dynastischen Gründe» auch durch den Umstand gedrängt, daß eine
schnelle Unterwerfung Ungarns die einzige Möglichkeit war, den Kaiser-
staat zu erhalten. Die Zerrüttung der Finanzen war sehr bedrohlich gewor¬
den. Fürst Schwarzenberg wenigstens und Bach scheinen befürchtet zu haben, daß
ein jahrelanges, vielleicht unglückliches Kämpfen nicht nur die Autorität der Krone
anf's Höchste gefährden, sondern alle Schrecken eines StaMbankrotts herbeiführen
werde. Denn ein monatliches Deficit von 10—15 Millionen Fi. C. M. ver¬
mochte Oestreich nicht mehr bis zum December 184!) auszuhalten, ohne auöciu-
anderznfallcn, es wird für den Staat bereits jetzt kaum möglich, allmonatlich
diese Summe aufzutreiben, die Bank ist in der That ausgesogen und bankerott,
vou einem Staatscredit ist bei Oestreich »ich« mehr die Rede, selbst die Einnahmen
auf welche das Budget für 4ü noch gerechnet hatte, sind sehr hinter den Erwar¬
tungen zurückgeblieben. Wenn es dagegen gelang die Revolution des Ostens im
Lauf weniger Wochen zu beenden und die italienische Armee vollzählig über die
revolutionären Staaten Mittclitaliens zu wälzen, so war nach ihrer Ansicht uoch
die Möglichkeit gewonnen, den Kaiserstaat aus seiner finanziellen Auflösung her¬
auszuheben. Auf die Ehre kam es ihnen nicht sehr an, wo es sich um das Leben
handelte. Diese Auffassung der Verhältnisse, welche man den unglücklichen Po¬
litikern — gewiß nicht um sie zu erniedrigen — unterstellen kann, ist an sich gtinz
richtig, weise aber ist sie doch selbst nicht, in Beziehung auf die Finanzen.
Allerdings ist die schleunige Pacification Ungarns für Oestreich eine Lebensfrage,
aber eine Unterwerfung durch russische Truppen machte den Kampf zu einem Ver-
tilgungskriege, sie muß eine Vernichtung der Capitalien, eine vollständige Läh¬
mung aller productiven Kräfte Ungarns und für die Zukunft eine tödtliche Feind¬
schaft der Magyaren zur Folge haben, welche nichts aus ihrer Geschichte zu ver¬
gessen pflegen. Die Krisis, welche dem Kaiserstaat droht, wird möglicherweise
noch auf kurze Zeit verschoben, vermieden wird sie nicht. — Durch dies russische
Bündniß aber hat der ungarische Krieg für das östreichische Volk und fürDenisch-
land eine ganz andere Bedeutung bekommen. Der liberale Oestreichs sieht mit
Entsetzen alle Consequenzen einer solchen Brüderschaft mit dem absolute» Nußland
auf sich hereindringen, und die übrigen dentschen Völker wissen, wozu Oestreich
und Rußland ihre Arme gebrauchen werden, sobald sie mit Ungarn fertig sind.
Und so ist jetzt die unnatürliche Stellung der Parteien die,-daß viele Oestreichs
und die dentschen Völker eine rasche und vollständige Unterwerfung der Ungarn
nicht wünschen, ja als ein großes Unglück für sich fürchten. Die Liberalen in
Oestreich sympathisiren entschieden mit den Ungarn. Auch unser Blatt hat in
seinen östreichischen Korrespondenzen diese Stimmung ausgesprochen. Ju dem vor¬
angehenden Artikel, mit dem wir dieses Heft schmücken, mögen die Leser der
Grenzboten einen Beweis finden, wie auch ehrliche Patrioten in Dcntschöstreich
die traurigen Verhältnisse ansehen. Es ist eine totale Verzweiflung an der Le¬
bensfähigkeit des jetzigen Regiments, ein bitterlicher Schmerz über die Irrthümer
und Sünde» der Regierung, welcher das ermüdete, gedrückte Volk in nervöser
Abspannung gegenübersteht, die hinter den Zeilen der glänzenden Schilderung zu
finden ist. — Die übrigen Deutsche», welche noch auf die Concentration Deutsch¬
lands z» einem Bundesstaat hoffen, habe» wenigstens ebenso großen Grund, den
östreichischen und russische» El»si»ß a»f unsere Verhältnisse paralysirt zu wünsche».
Es ist für die bedenkliche und zögernde Politik PrennenS ein unermeßliches Glück,
daß ihm der ungarische Krieg noch Monate Frist gibt, sich mit den kleineren
Staaten zu vereinigen. So sind die Magyaren allmälig Bundesgenossen Deutsch¬
lands geworden. Aber mir Bundesgenossen unserer Furcht, wohl anch unserer
romantischen Neigungen, nicht aber unserer vernünftigen Ueberzeugung. Je schlech¬
ter die Regierung Oestreichs an dem Leben ihrer Völker handelt, desto besser
wird allerdings das Recht der Ungarn, alle Freiheiten gegen sie zu verfechten,
je mehr der östreichische Staat in den Absolutismus der Vergangenheit zurückgc-
drängt wird, desto geringer ist sein Recht, die Prärogative dieser starken und
heißblütigen Nation zu vernichten und dieselbe mit den übrigen Stämmen Oest¬
reichs in ein gleiches Joch zu spannen. Aber eine Republik Ungarn ist zwischen
Russen, Türken, Kroaten und — Deutschen gegenwärtig ein Unding, die
politische Verbindung mit Oestreich darf, so lange Rußland lebt, auch nicht auf
die kürzeste Periode unterbrochen werden, wenn nicht Deutschöstreich und Deutsch¬
land anch ihre Südgrenze mit russischen Schlagbäumen besetzt sehn wollen. Und
vorläufig ist die Dynastie Habsburg noch das Band, durch welches das erzürnte
Ungarn an Deutschland gehalten wird; die Sympathien und Interessen des östreichi¬
schen Volkes haben noch lange nicht die männliche Stärke erlangt, um frei das
freie Ungarn mit sich zu verbinden und an sich festhalten zu können.
Wir können nicht wünschen, daß Rußland durch Vernichtung der ungarischen
Kraft sich für seine Staatsgrundsätze neues Terrain und durch die Sympathien
der Nuthenen und südlichen Slaven eine neue Herrschaft gründe; wir dürfen auch
nicht wünschen, daß der Kaiserstaat durch ungarische Siege in Trümmer geworfen
werde, denn sein Erbe würde Nußland sei». Wäre uoch die Möglichkeit eines
billigen Vertrages unter den kämpfenden Parteien, so könnte man alle Sehnsucht,
alle Wünsche darauf richten, aber leider ist ein solcher unmöglich geworden. .Die
Vernichtung des liberalen Magyarenthums, oder der Tod des Kaiserstaats wird
die Folge dieser ungeheuren Operationen sein.
Fällt der Magyar, so häuft sich auf dem Haupt der Deutschen die unge¬
heure Pflicht, den Streit mit dem absoluten Osten allein auszukämpfen, es bleibt
aber dem Deutschöstreicher die Aussicht, dem zerschlagenen Leib Ungarns neues
Leben einzuhauchen; siegt der Magyar, so fällt der Kaiserstaat durch Bankerott.
Nicht nur der Thron der Habsburger, auch das Leben der östreichischen Völker
wird tödtlich getroffen, wenn sein geschäftliches Verkehrsmittel, welches alle Kultur
trägt und hält, den Werth verliert. Wenn die Banknoten Oestreichs in der
That so tief sinken, als sie nach dem kaufmännischen Verhältnisse der Bank schon
jetzt gesunken sein müßten, so hören die Völker Oestreichs auf zu existiren, und was
ans der schauervollen Auflösung aller menschlichen Verhältnisse herauswächst in die
Zukunft, wird sehr traurig und schrecklich sein. Und deshalb haben wir Deutsche,
welche wir keine Oestreicher sind, gegen unseren Vortheil, gegen die
Sympathie unseres Herzens, trotz dem tiefen Groll, den wir gegen das Regi¬
ment und die Principien der Habsburger hegen, ja trotz alledem haben wir die
Verpflichtung, den östreichischen Waffen Erfolg zu wünschen. Wie mau auch diese
Ueberzeugung aufnehmen mag, eigennützig soll man sie nicht schelten
Zu Oestreichs treuesten u»d tapfersten Schaaren zählen unstreitig die Littauer
Grenzer. Die mobilen Bataillone des Littauer Grenzregiments und dessen Land¬
sturm haben sich vor Wien und in Ungarn furchtbar gemacht, den gewichtigsten
Klang jedoch hat der Name Littauer in Italien. Keinen östreichischen Soldaten fürch¬
tet der Lombarde und Sardinier so sehr, wie die kroatischen und slavonischen Gren¬
zer; unter diesen aber zunächst die Littauer, Otoczaner und Gradiscaner! „l^c-mi,
Otocimi, öl-ildisc-uiij tutti e-uiiü" ist ein im letzten Kriege neu erwachsenes ita¬
lienisches Sprichwort.
Die Littauer sind ein urwüchsiges Gebirgsvolk, wenig gebildet, aber bedeu¬
tend bildungsfähig, von äußerst kräftigem Körperban, in jeder Hinsicht abgehärtet,
knochig und sehnig, meist hochgewachsen, doch in der Regel hager und von fahler,
fast leidender Gesichtsfarbe. Ihre Köpfe sind härter, ausdrucksvoller als in den
übrigen kroatischen Grenzen, nicht selten von einem sehr leidenschaftlichen Gepräge.
Im Kriege ist der Littauer kühn, äußerst gewandt, von Jugend auf übt er sich
selbst in den Waffen, vom Alter der Mannbarkeit an wird er in Reih und Glied
gestellt und ordentlich exerziere. Am besten läßt er sich beim Ueberfall, beim An¬
griff, beim Sturm verwenden; seine List und Behendigkeit, das Imposante und
Erschreckende seines wilden Hervorbrechens, befähigen ihn ganz besonders zu dem
ersteren. Seine Lebensweise in der Heimath läßt ihn die härtesten Strapatzen,
Mangel und Entbehrung während des Krieges leicht ertragen. Der Littauer
führt daheim in seinen Bergen ein mühsames, arbeitsvollcs Leben, dem magern
Boden vermag er nur wenig abzutrotzen, ja bei aller Anstrengung muß er nur
zu häufig bittere Noth, ja Hunger leiden! Die Litla ist der zumeist gegen We¬
sten vorgeschobene Theil des östreichischen Grenzcordons*), gebirgig, unwirthlich
und fast unwegsam, einer Masse von beinahe jährlich wiederkehrenden Elementar-
Der östreichische Grenzcordon zerfällt in vier Haupttheile mit folgenden Unterabthei-
lungen.
ereignissen auf eine bedauerliche Weise ausgesetzt. Die angrenzenden böhmischen
Hochgebirge, das morlachische Gebirge an der dalmatinischen Grenze und die kreuz
unb quer durch das Ländchen gehenden Stöcke und Ausläufer des Chemer-
uicza und Kapcllagebirges machen das Klima rauh, hemmen halbe Jahre lang die
Communication und suchen die wenigen fruchtbaren Thäler zu ihren Füßen mit
Überschwemmungen nud Lawinenstürzen heim. Die Litla hat freilich nur zwei
bedeutendere Flüsse, die Unna und die Korbava, doch gibt es eine Masse kleiner
Bäche mit ganz unbedeutenden Quellen, welche durch Schnee und Regen aufge¬
schwemmt, unendlich schädlich und gefährlich werden können. Diese kleinen Bäche
vermögen in angeschwollenem Zustande schone Strecken urbaren Landes zu versan¬
den, sie schwemmen die fruchtbare, oft mit unbeschreiblicher Mühe und großem
Kunstfleiß aufgeführte Dammerde von den Hügeln und Gebirgsplateaus und ver¬
nichten so in wenigen Stunden die Anstrengung und die Kosten vieler Jahre.
Der erste Hauptfluß, die Unna, entspringt an der Basis des Chermernicza-
gebirges aus einem kaum zugänglichen Felsenkessel und wirst sich in jähem Sturze
wohl 50 Klaftern von den Gebirqsklippen herab, wasserreich genug, um unfern
ihres Ursprungs ziemlich große Fahrzeuge tragen zu können. In ihrem näch¬
sten Fortlauf bildet sie theilweise die natürliche Grenzscheide mit der Türkei,
was besonders bei dem Umstände, daß sie mit rapider Schnelligkeit strömend
nur äußerst selten zufriert, den Cordonsdienst der Lithauer ungemein erleichtern
hilft. Unangenehmer macht sich die zweite Wasserader der Litla ihren Anwoh¬
nern, die Korbava. Bei Vissnc entspringend und durch die Vereinigung mit dem
grünwässrigen Pcciuabache verstärkt, verliert sie sich bei Herksic in tiefe Erdschlünde,
und sehr häufig geschieht eS, daß bei dem Anschwellen der Korbava sich die Herk-
sicer MüudnngSft kunde verstopfen und das in größere» Massen zuströmende Was¬
ser nicht mehr aufnehmen können; dann bildet sich in wenigen Tagen ein förmli¬
cher See voir einer Tiefe mehrerer Klaftern, der oft einige Jahre lang liegen
bleibt, bis sich die Schlünde von Herksic endlich durch den Druck der Wasser wie
von selbst öffnen.
Bei einer dergestalten Beschaffenheit des Bodens muß der Fruchtertrag ge¬
ringfügig ausfallen, so zwar, daß nur die Zuschüsse ans den k. k. Aercuialgetrei-
dcmagcizinen in minder ergiebigen Jahren den armen Grenzer der Litla vor der
bittersten Noth, ja vor dem Hungertode zu schützen vermögen. Hafer ist das
Hanpterträgniß der magern, schwer zu kultivierenden Ackerboden; aus Hafermehl
bereitet der Littauer seine gewöhnlichste Speise, die Pogacza, - - ein dünner, un--
gegohrner Brotteig, über Kohlen oder in heißer Asche gebacken. Roggen gibt die
Litla sehr wenig, dafür etwas mehr Waizen, und dieser ist auffallender Weise
trotz des schlechten Ackerlandes und des ungünstigen Klima's besonders schön, rei¬
ner, sogar schwerer und ergiebiger als jener, welchen die hochgepriesene Korn¬
kammer Ungarns, das gesegnete Banat, hervorbringt. Da nun die Früchte nicht
in hinreichender Quantität producirt werden, und deren Preis ein verhältnismä¬
ßig hoher ist, bleibt dem Grenzer in dürstigeren Jahren keine andere Aushilfe
als sein Viehstano, welcher jedoch leider in ganz schlechten Jahren gleichfalls un¬
endlich herabzukommen pflegt. Die Pferde sind klein und schwächlich aussehend,
aber doch von ziemlicher Kraft, sehr ausdauernd und behend. Auch das Horn¬
vieh, des Likkauers größter Reichthum, hat nicht das glänzendste Aeußere, woran
wohl Mangel an Pflege, Unausgiebigkeit des grünen Futters und die wenige
Sorgfalt für Veredlung der Racen Schuld ist, dessenungeachtet aber ist es von
einer überraschenden Nutzbarkeit. Das Schaf der Litla ist von besserer Gattung,
am besten aber gedeihen die Ziegen, deren das ärmste Hans mit Leichtigkeit eine
große Menge hält, ebenso vom Federvieh. Der Puterhahn wird am häufigsten
gehalten, oft in merkwürdig großen Schaaren und als Festtagsbraten am aller¬
meisten geschützt. Die Schweinezucht treibt mau in der Litla weniger als in al¬
len übrigen Bezirken der kroatischen und slavonischen Militärgrenze. Zur über¬
flüssigen Vermehrung der ohnedies leicht eintretenden Noth trägt des Litkaners
Leichtsinn, seine geringe Sorge um seine und der Seinen Zukunft uicht wenig bei.
Gleich nach der Erndte zehrt der Littauer, ohne einen Blick in die Zukunft zu
werfen, brav drauf los, vertrödelt einen guten Theil seines spärlichen Fruchter-
tragnisseö, um für den Erlös recht viel Wein, der in der Litla nicht wächst, son¬
dern ans Dalmatien importirt wird, anschaffen zu können. Dafür weiß er aber
anch den größten Mangel mit stoischer Resignation zu ertragen; wenn ihm sein
Haferbrot ausgeht, wird er sich ohne Murren mit Wurzeln und .Kräutern begnü¬
gen. Uebrigens liebt der Littauer leidenschaftlich die Jagd, welche neben dem
Fischfang für viele* Familien eine gute Erwerbsquelle abgibt.
Seine Kleider macht sich der Littauer selbst, die rindsledernen Bundschuhe
(Opanken) höchsteigcnhändig, bei Verfertigung der Linnen und des groben Tuches
hilft ihm das Weib. Die gewöhnliche Kleidung der Littauer ist jener der Bos¬
nier und Serbier ähnlich, nnr einfacher und ärmlicher, charakteristisch ist die Kopf¬
bedeckung, indem man hier selten türkische Käppchen, oder slavische Rundhüte sieht,
sondern fast durchgehends rothe, laugherabhängeude Mützen mit gewaltigen Trod¬
deln, ähnlich denen, welche in den meisten Gegenden Spaniens getragen werden.
Fast auf jeder dieser Mützen findet mau Halbmond und Stern eingestickt, doch
nicht als Symbol des Islam, sondern als ein traditionelles Wappen des alten
Illyriens. Die Uniform der regulirten Littauer-Grenzer besteht in braunen Tuch¬
röcken mit gelben Aufschlägen und weißen Knöpfen, blauen eng anliegenden Ho¬
sen nach ungarischen Schnitt, Tschischmen und Czako'S, ihre Bewaffnung gleicht
der des übrigen k. k. Linieumilitärs. Das Lilkauerregimcnt stellt, wie die übri¬
gen kroatischen Regimenter, welche mit Bosnien grenzen, seine Abtheilung Sere-
zauer, welche gewöhnlich die äußersten CordvnSposten beziehen. Auf die Beschaf¬
fenheit, den Schnitt und die Farbe der Unterkleider wird im Dienst gar nicht
gesehen, der obligate rothe Mantel, die Kappe, die rothe mit einer Unzahl von
Bleiknöpfen verzierte Weste, hauptsächlich aber die Bewaffnung, die lange Flinte,
der haarscharfe Handzar und zwei Pistolen machen den Serezaner. Das Sereza-
uerkorps ist gewissermaßen die Elite der Grenze: die schönsten, kräftigsten, best¬
verhaltenen Männer werden dazu ausgehoben, welche in eigener Kleidung und ei¬
genen Waffen ohne anderes Entgeld den beschwerlichen Cvrdonsdienst verrichten,
uur daß ihr Haus und Hof Steuer- und abgabenfrei bleibt.
In der Litt'a herrschen zwei Confessionen in ziemlich gleichem Verhältniß, die
katholische und die griechische nicht unirte. Die Sprache ist die serbische und wird
äußerst rein gesprochen. Für Volksbildung hat die Militärregierung der Litla,
welche in der Stabsstadt Gospic ihren Sitz hat, wenig gethan, die nationalen
Schulen sind im Zustande trauriger Verwahrlosung; besser eingerichtet, dagegen
unbeliebt und von wenigem Nutzen sind die deutschen Kompagnieschuleu. Der
Littauer ist im Allgemeinen bildungsfähig, begreift sehr schnell und hat großen
Hang zu nationale», besonders historischen Poesien, welche gleichwie bei den Ser¬
ben zur Guöle abgesungen werden. Die Litla dürfte noch immer eine ergiebige
Fundgrube für noch unedirte, herrliche Volkspvesten abgeben. Andreas Kabale
und Vuk Stcfanovic haben hier mit Erfolg geschöpft. —
Glück auf! die russische Allianz schlägt hier zusehends tiefere Wurzeln und
wächst mit Gottes Hilfe zu einem ehrwürdigen, weitschallenden Baum; bald über¬
hängen seine Zweige den östreichischen Zaun und werfen auch dem guten deutschen
Reich einige Forderungen fauler Aepfel in den Schooß.
Willkommen, Prinz Luitpold, willkommen, Herr v. der Pfordten in Wien!
Sie werden sich überzeugt haben, daß Oestreich von Nikolai's Gnaden wieder
faktisch und rechtlich die erste deutsche Macht ist. Herr d'Aspre spaziert » !a
Hohenstaufen durch Welschland und ein Feldmarschall-Lieutenant Schwarzenberg
marschirt mit 2l>,000 Mann nach Baden, ein Beweis, daß „die östreichische Re¬
gierung den deutschen Zuständen wieder ihre Aufmerksamkeit scheuten kann." Oest¬
reich erklärt die Wahrung des Buudesfriedeus für seiue Sache, oder für Sache
der Centralgewalt, was gleichbedeutend ist. Oestreich ist aus Deutschland nicht
herausvctroyirt. Gottlob! Die Großdeutschen haben gesiegt und wie gesiegt? Ich
fürchte, daß sie unter der Last ihrer Lorbeeren erliegen. Nicht lar das ganze Deutsch-
land soll es sein, sondern das ganze Mitteleuropa und ein Stück Asien obendrein.
Nicht blos das ganze Oestreich, sondern auch das ganze Rußland gehört zum
deutscheu Staatenbunde.
Also stellen Sie das Haus Wittelsbach wie ein frommes Marienbild in den
Schatten der mitteleuropäischen Bundesreiche und es ist für ewige Zeiten vor dem
Blitzstrahl der Revolution geschützt, vor Hagelschlag, Markfäule und Mediatisirmig.
Auch das bairische Volk und das deutsche Volk gelangen dadurch zur ewigen
Ruhe. Amen!
Herr v. d. Pfordten, der bairische Minister, soll 14 Tage hier bleiben; es
gibt also bedeutende Arbeit. Die Herrn stricken an einem großdentschen schwarz-
gelbgoldenen Baude, welches über deu Wittelsbacher Wipfel hinweg um den Zäh-
ringer Fürsteustamm sich schlingen soll. Wenn nur die Würtenberger nicht so
verteufelt gescheidt und wenn die Nentlinger Demokraten etwas lustiger wären.
Die Rothen hat man hier sehr lieb; „die sind doch offen und ehrlich", sagt man.
Struve und Blind haben für Großdeutschlaud gewirkt; einem Koujon, wie der
Römer in Stuttgart, kann man nicht zu Leibe, und er macht Einem das Leben
so sauer wie früher Gagern. —
-Pfordten ist ein Biedermann, der als Leipziger Professor Juris, für mehr
als römisches Recht geglüht hat und zu Norge's Zeiten gegen die Ultramontanen
das Schwert ziehen wollte. An den Deutschkatholiken gefiel ihm das Wörtchen
„deutsch"; mit den Ultramontanen versöhnt ihn das großmäulige Wort „groß-
deutsche." Ans dem Professor ist ein Minister geworden, aber den Umgang mit
Diplomaten hat er im Ministerium Oberländer schwerlich zu lernen Gelegenheit
gehabt. Pfordten wird Niemanden für einen Diplomaten halten, der lieber Bier
als Thee trinkt, einen guten Händedruck verführt und ein gemüthliches Lächeln
im Gesicht hat. Hamlet's Wort, „eine » in-in in»^ finito, a»et finito, und do a
sah......." wird theoretisch leichter beherzigt als praktisch. Der Umgang mit
Professoren ist dagegen für den gewöhnlichsten Diplomaten Kleinigkeit. Ich
wünsche, mich zu irren, allem ich fürchte, der biedere Pfordten ist leicht zu be¬
stechen, wen» mau sich an die Großmuth seines guten deutschen Herzens wendet
und dazu ein recht undiplomatisches einfältiges Gesicht macht. Letzteres wird dem
Fürsten Schwarzenberg nicht schwer fallen.
Lieber Pfordten, wird er collegialisch beginnen, Sie sind unser Nothanker,
Sie werden das Deutschthum in Oestreich retten. Die preußische Intrigue hat
uns Rußland in die Arme geworfen. Europa weiß, wie uns das Herz dabei
blutet, obgleich wir bei näherer Bekanntschaft mit dem Czaren gesunden haben,
daß er deu Ideen deutscher Bildung in der That nicht mehr seind ist, als wir
selbst. N-us, vous s-ive? Ja tvrcs ach elosch. .. Haben Sie nicht selbst in
Ihrer echtdentschen meisterhaften Kammerrede schlagend nachgewiesen, daß nur das
deutsche Principal uns vor dem slavischen Fatum bewahren kann? Ich versichere,
wenn ein Hohenzoller heute Neichsvorstcmd wird, so erwachen wir morgen als
Czechen, Hannaken, Serben, Nüssen, was weiß ich? Wir suchen ein Glas Wasser
und finden Wodky; wir greisen nach einem Haselstock und sieh da, er nennt sich
Kanthschn; wir wollen Guten Morgen sagen und herauskommt — Nix denses.
Wär es nicht schrecklich? Was sollte dann ans den Reformen im Beamten und
Unterrichtswaffen bei uns werden, mit denen Pipitz so fleißig sich beschäftigt, was
aus der Verfassung vom 4. März? Und welchen unseligen Nachbar hätten Sie
dann an Oestreich! Dagegen kann Oestreich, vereint mit Baiern u. s. w. —
Preußen und Rußland in die Schranken rufe». Sie behalten freien Spielraum
im Innern, Sie mögen die Kammern auflösen oder nicht, Oestreich deckt Sie
nach allen Seiten so gut und besser wie Preuße», Sachsen deckt, und die Völker
wird das Band der materiellen Interessen mit allen andern Banden aussöhnen...
Worin die „materiellen Interessen", die ein großdentsches Hauptargument
des Ministerraths Hermann aus München bilden, eigentlich bestehen? Erstens,
in der Aufhebung der Zollschranken zwischen Tyrol und Baiern. Die guten Ty-
roler freuen sich schon jetzt darauf. Ihnen wäre die Vergünstigung zu gönnen.
(Die Frage ist nur, ob Deutschland mit seiner Zukunft dafür zahlen soll.) Die
loyalen Tyroler haben die Gewohnheit, bei jedem politischen Anlaß, er sei wel¬
cher Natur er wolle, Hoch! zu schreien. Ihnen ist Alles recht, wenn es in ge¬
müthliche Phrasen eingehüllt aufgetischt wird. Verfassung oder uicht Verfassung,
Großdentschland oder Kleindeutschland, Kaiserthum oder Direktorium, alles eins,
— vorgesetzt, daß Ihr „Häusel" oder sonst ein Prinz die Sache mit einer klei¬
nen Nebendosts goldener Berge vorträgt und sie mit dem vertraulichen Du anre¬
det, so schreien sie: Hoch wie unsere Berge! Sie haben sich seit Jahren heiser ge¬
schrien; in diesem Falle wüßten sie doch wofür.
Zweitens, in den gelobten Ländereien, die im eroberten Ungarn süddeutschen
Einwanderern versprochen werden. Die Idee ist Stadion's und nicht uneben.
Sie kommt aber zu früh oder zu spät. Oestreich will mit Hilfe deutscher Kolo¬
nisten Ungarn bändigen, den Magyaren ein ^Gegengewicht geben, und zwischen
Nord- und Südslaven einen trennenden Keil schieben. Um diesen Zweck zu er¬
reichen, müßte wenigstens die Hälfte des bairischen Volkes, in einer gedrungenen
und wehrhaften Masse einwandern. Die Kolonie müßte sich selber vertheidigen.
Oestreich, welches 300,000 Sachsen in Siebenbürgen preisgeben mußte, würde
einige tausend deutsche Bauern an der Theiß gegen die nationale Eifersucht von
Slaven und Magyaren nicht einmal unter vormärzlichen Zuständen zu schirmen
vermögen, — viel weniger, nachdem es aus Maryarien ein zweites Polen ge¬
macht haben wird. Oder soll der deutsche Cvlouist sich dort von Nußland prote-
giren lassen und mit den Batuschkas Brüderschaft trinken oder, wozu Vetter
Michel'S Natur am meisten neigt, seinen Kindern magyarische Sporen und Dol-
man anziehen? Nein, der deutsche Landmann, der seine Heimath einmal aufzuge¬
ben entschlossen ist, trage die Wiege seiner Kiuder lieber nach Pensylvanien. -
Auf ein paar hundert Meilen Entfernung mehr kommt es nicht an. Der
weite Ocean ist keine Kluft, sondern eine Brücke zwischen Alt- und Nendentsch-
land. Selbst uuter den Rothhäuten wird er sich nicht so verloren fühlen, wie auf
den Pußten, aus deren Grunde das Blut der Völkerhetze zum Himmel um Rache
schreit....
Doch Predigen ist eitel. Und spräche Schwarzenberg zehnmal offener und bur¬
lesker als meine Phantasie ihn sprechen ließ, er würde den Professor und Minister
Pfordten doch gewinnen, denn Pfordten muß bereits mit unheilbarem Großdeutsch-
thum geschlagen sein, sonst hätte er unmöglich als Ritter „der glorreichen 1000-
jährigen Partikulargeschichte", als Paladin der bairischen Politik, nach Wien
kommen können.
Großdentschland hat nur noch einen Lindwurm zu erlegen, und der heißt:
Magyarieu. Es ist wahr, aller Unternehmungsgeist, alle Ritterlichkeit, alle Ener¬
gie stehn auf magyarischer, alles Zopfthum anf östreichisch-russischer Seite — ich
werde dies Thema nächstens ausführlich behandeln — aber die slavisch-östreichische
Sündfluth wird den stolzen Felsen untergraben; die ungeheuere Majorität der
Flinten- und Kanonenkugeln wird abstimmen und das Magyarcnvolk zum Schwei¬
gen bringen, auf ein Jahrfüuf wenigstens. Dann wird Oestreich den deutschen
Zuständen eine noch größere Aufmerksamkeit schenken als jetzt. Es wird ja.hof¬
fentlich nicht an einem zeitgemäßen Krawall da oder dort in Mitteldeutschland
fehlen, der die Hilfe der ersten deutschen Macht wünschenswerth erscheinen läßt.
Diese wird sogar genöthigt sein, wie Rußland in Ungarn, die eigenen Feinde
aus deutschem Gebiet zu bekämpfen. Der Kreuzzug wird nicht gegen das consti-
tutionelle Unwesen gerichtet sein, — behüte, — nur gegen die Umsturzpartei,
welche, unter dem Vorwande, für eine Verfassung zu kämpfen, mit communisti-
schen Zahn an den Wurzeln der Gesellschaft nagt. Und dann wird ein Tag kom¬
men, da man sagen wird: Das Jahr 1848 ist ein schöner Traum gewesen.
Wenn Sie wüßten, welche Pläne in den Salons unserer militärischen Di¬
plomatie mit gemüthlicher Offenheit besprochen werden, so würden Sie meine
Worte nicht als Schwarzmalerei belächeln, wie Sie jetzt wahrscheinlich thun. —
Trösten wir uns mit dem Sprichwort: Man soll den Tag nicht vor dem Abend
tadeln.
Die Cholera in Breslau. Eine Anfrage von H. T. in Breslau. —
Vor einem Jahr strich das Gespenst der Cholera durch die Straßen und Woh¬
nungen Breslaus, viele Opfer hat sie damals gefordert und die Bewohner von
Breslau athmeten tief auf, als der Würgengel von ihnen schied. Aber zu leicht
war es ihr geworden in unseren engen Gassen, den hohen finstern Häusern, den
schmutzigen und unreinlichen Wohnungen der massenhaften Armuth ihre Beute zu
fassen. Sie kam wieder; und das Grauen und Entsetzen der letzten Wochen,
welche wir durchlebt haben, vermag ich Ihnen nicht zu schildern. Das schwarze
Gespenst trat in den heißen Tagen zuerst einzeln auf, es kauerte zusammengedrückt
an den Bettpfosten armer Leute, dann wuchs es größer und immer größer, sprang
von Giebel zu Giebel, huschte Trepp auf, Trepp ab, zeichnete ganze Wohnungen,
ganze Hänser mit dem Kreuz des Todes, endlich breitete es seine Riesenflügel über
die gesammte Stadt ans und warf seine Opfer zu Hunderten auf deu Tvdtenkarren.
Siebzig, achtzig, hundert Leichen an einem Tage! Das Volk schrie entsetzt:
der schwarze Tod! und zitterte vor dem Untergange der Stadt, auch dem Herzhaften
wurde ängstlich zu Muth, wenn er die Anzahl der Särge sah und die Verwüstung
so vieler Familien. Vergebens versuchten die Aerzte dnrch alle möglichen Reiz¬
mittel das schnelle Aufhören der Lebenskraft an ihren Patienten zu hemmen, die
Einen geben Opium und Phosphoräther, Andere veratrum .Ub»in, ein junger
demokratischer Arzt Lewy glaubte endlich gar im Höllenstein das Radicalmittel ge¬
funden zu habe». Die Seuche spottete aller Arzeneien, im Verlauf von 4 bis 5
Stunden verwandelte sie den Gesunden in eine Leiche. Unerklärt in ihrem Wesen,
geheimnißvoll das tödtliche Gift in die Adern des Erkrankenden tröpfelnd, riß sie
Alt und Jung, Reich und Arm mit ihren Krallen zu Boden. Viele tüchtige
Männer hat Breslau »erkoren, die Universität, die Beamtenwelt, der Arbeiter¬
stand haben gleichen Grund zur Trauer. Noch ist die Anzahl der Erkrankungen
sehr groß, aber die intensive Wuth der Krankheit ist verringert; der Verlauf der
Krankheit ist langsamer, und der Heilkunde wird Gelegenheit, mit einigen Erfolg
gegen den Dämon zu kämpfen. Ihr Blatt macht es sich zur Aufgabe, die bedeutenden
Erscheinungen des deutschen Lebens dem Publikum darzustellen; — können Sie uns
Breslanern etwas Sicheres über die Natur und das Wesen der gespenstischen Er¬
scheinung mittheilen, welche unsere Stadt in Trauerfarbe gehüllt hat, so thun
Sie es. Was unsere Aerzte lehren, ist so widersprechend und so ungenügend als
möglich. Kennt man die Ursache der Cholera? Kennt man. den Verlauf der
Krankheit in den innern Organen des Menschen? Gibt es auf dem weiten Erden¬
rund kein Heilmittel, welches sie vertreiben kann?
Das Wesen und die Heilung der Cholera. Die Redaction ent¬
spricht dem Wunsch des geehrten Einsenders und gibt ihm auf seine Fragen die
Antwort, welche bei dem gegenwärtigen Standpunkt der medicinischen Wissenschaft
gegeben werden kann. Wir haben das Recht, einiges Vertrauen für unsere Aus¬
kunft in Anspruch zu nehmen, da sie von einer der Autoritäten herrührt, welche
in neuster Zeit im Gebiet der Heilkunde als Reformatoren aufgetreten sind, und
welche dadurch, daß sie die gesammte Heilkunde auf eine vernünftige und sichere
Grundlage gestellt haben, eine totale Umwälzung der alten Heilmethoden und eine
Vernichtung der anmaßenden Charlatanerie unwissender Aerzte herbeiführe» werden.
Es wird in einer Zeit, wo ein ehrlicher Manu alle Ursache hat, um die
Gesundheit seines Körpers besorgt zu sein, unseren Lesern Interesse gewähren,
über die neue Richtung und den bedeutenden Fortschritt, welche die Heilwissen-
schaft in unserer Zeit gefunden hat, Näheres zu erfahren. In einem der nächsten
Hefte werden die Grenzboten dies in Anspruch nehmen.
Aus dem Folgenden wird unser anfragender Freund sehen, daß die Wissen¬
schaft den letzten Grund der Cholera noch gar nicht, den Entwicklungsproceß der
Krankheit im Körper nur zum Theil kennt. Deshalb können auch die zu reichen¬
den Mittel noch nicht mit Sicherheit als radikale betrachtet werden. Ein wichtiges
Ding für unsere Medicin ist die Ehrlichkeit, hat man sich erst klar gemacht, was
man nicht weiß, so ist Hoffnung da, daß fortgesetztes Beobachten und Forschen
das Fehlende ergänzen wird. — Das Heilmittel, welches unsere ärztliche Auto¬
rität empfiehlt, stimmt — nebenbei gesagt — in der Hauptsache, in der Anwen¬
dung einer Menge warmer Flüssigkeit mit der Heilmethode, welche in Paris als
glänzendes Mittel gefeiert wird. Der französische Arzt heilt durch heißen Thee
von Kannten u. s. w. in ungewöhnlich großen Massen genommen. Das Nähere
darüber haben in diesen Tagen die meisten deutschen Zeitungen mitgetheilt. —
Wir lassen Einen, der weiser ist, als wir, selbst reden:
Das Wesen der Cholera ist bis jetzt den Aerzten noch ganz unbekannt ge¬
blieben, nur zwei wichtige Veränderungen sind regclmäsiig in den Leichen von Cholera-
kranken'gefunden worden, welche einiges Licht auf diesen Krankhcitsproceß werfen. Die
eine derselben besteht in entzündlicher Affection der D armschlcimh ant (vor¬
zugsweise des dünnen Darmes), und zwar in sehr verschiedenem Grade, mit Ausschei¬
dung einer enormen Menge von wässrigen Bestandtheilen des Blutes; die andere besteht
dagegen in einer Entartung des Blutes und zwar in der Regel in so bedeuten¬
der Ein dickung desselben, daß die Circulation erschwert und selbst gehemmt wird.
Die letztere Veränderung, die Eindicknng des Blutes, welche höchst wahrscheinlich durch
den großen Wasserverlust des Blutes im Darme hervorgerufen wird, ist insofern die
wichtigere und die zunächst zu berücksichtigende, als durch sie die Stoffwechsel in den
Organen aufgehoben und somit der Tod herbeigeführt wird. Die Frage, welche von
diesen beiden Veränderungen die frühere sei, ob die Darmaffectivn erst die Blntcntar-
tnng, oder umgekehrt diese jene nach sich ziehe, läßt sich noch nicht mit Sicherheit bean-
Worten. Doch sprechen viele Scctionsbcfunde für das Entstehen der Blutalteration aus
der Darmaffection. Alle übrigen beim Kranken und Leichname wahrnehmbaren Ver¬
änderungen lassen sich aus den genannten beiden Entartungen erklären.
Was dieHc'trug der Cholera betrifft, so ist bis jetzt vou den Aerzten ganz
erfolglos gegen diese Krankheit und zwar mit den verschiedenartigsten Mitteln gekämpft
worden. Die einen bestrebten sich die Ab - und Aussonderung im Darme zu hemmen,
die andern suchten dagegen die unterdrückte Haut- und Nicrenthätigkeit zu beleben, und
noch andere bemühten sich dnrch starke Erregung der Herzthätigkeit den Blutkreislauf
wieder ordentlich in Gang zu bringen, ohne dabei aber zu bedenken, daß das so dicke
Blut, wenn das Herz auch noch sehr drückt und pumpt, doch' nicht durch die seinen
Aederchen des Körpers geschafft- werden kann. Das Natürlichste dürfte aber wohl sein,
zuvörderst der gefährlichsten, todbringenden Erscheinung, der Störung der Blutcirculation,
zu begegnen, also das Blut zum Fließen überhaupt wieder tauglich, das eingedickt?
Blut flüssig zu machen, damit die Stoffmctamorphose, das Leben, nicht aufhöre. Dies
kann aber nur durch Einführung des Wassers in das Blut ermöglicht werden, und des¬
halb ist Wasser (vorzüglich heißes, weil dieses schneller in die Blutgefäße aufge¬
nommen wird und eine auflösendere Kraft als das kalte Wasser hat), gleich zu An¬
fange der Krankheit (nicht etwa erst dann, wenn Patient schon im Sterben liegt) in
großer Menge und 'in kurzen Unterbrechungen immerfort, wenn es auch anfangs wieder
ausgebrochen wird, getrunken (und auch durch Klystiere beigebracht), das beste und ra¬
tionellste Mittel gegen die Cholera. Die Darmaffection zu heben überlasse man nur
ruhig der Natur, diese scheint besser sür die irruirte Schleimhaut des Darmkanals zu
sorgen, als die Aerzte mit ihren gewaltigen aber nichtsnutzigen Mitteln. Der Unter¬
zeichnete sah im Jahr l83U zu Warschau in Militärspitälern die glänzendsten Erfolge
von der Behandlung der Cholera blos mit heißem Wasser. Daß aber diese Be¬
Handlungsweise weder bei den Kranken noch Aerzten Eingang finden mird, davon ist
derselbe fest überzeugt: Denn wie sollte gewöhnliches Wasser, das nicht einmal in
der Apotheke bereitet wird, so große Dinge thun können?"
UM» Mit dem I. Juli beginnt das II. Semester
des VIII. Jahrgangs der Grenzboten. Wir laden hiermit
zur Pränumeration auf dieselben ein.
Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellun¬
gen darauf an. Der halbjährliche Pränumerationspreis ist
S Thlr.. Die Werlaftshandlnnft