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]]>Die deutsche Geldreform. S. 5. 188.
as Jahr 1898 ist sicher eins der merkwürdigsten dieses zu Ende
gehenden gewaltigen Jahrhunderts. Es brachte den spanisch-
amerikanischen Krieg, den französisch-englischen Konflikt in Afrika
und das Friedensmanifest des Zaren. Der erste bedeutet zweierlei:
den Zusammenbruch der Reste spanischer Kolonialmacht, sast genau
vierhundert Jahre nach ihrer Gründung, und das Emporstreben der Vereinigten
Staaten zur Stellung einer Weltmacht, wenig mehr als ein Jahrhundert nach
ihrer Entstehung. So wenig man im allgemeinen bis dahin von Spanien er¬
wartet hatte, einen so ruhmlosen Zusammenbruch hatte doch niemand für
möglich gehalten, zumal einem Feinde wie diesem gegenüber, der zwar über
ungeheure materielle Mittel, aber nur zur See über wirklich organisierte, auf
der Höhe der Zeit stehende Streitkrnste gebot. Die Kläglichkeit dieses Zu-
sammenbruchs war so groß, daß sie selbst die in Europa anfangs lebhaften
Sympathien für Spanien erstickt hat. Und doch hat der Sieg der Nord¬
amerikaner für das einfache Gefühl fo gar nichts Versöhnendes. Eine brutale
kapitalistische Interessenpolitik, dürftig verschleiert hinter heuchlerischen Huma¬
nitätsphrasen, begann den Krieg, und nicht die Tapferkeit, auch nicht die Über¬
legenheit der Organisation oder der Führung entschied den Sieg, sondern lediglich
die bessere Maschinen- und Geschütztechnik. Es ist einer der häßlichsten Kriege
der Geschichte.
Und doch, er vollzog nur das Notwendige und darum Heilsame: die Ver¬
drängung der längst von der Welt verurteilten Herrschaft eines tief gesunknen
Volkes durch ein kräftiges, leistungsfähiges, zukunftsichres, die Fortsetzung
dessen, was sich im Südosten des nordamerikanischen Festlandes schon vor
mehr als fünfzig Jahren abgespielt hat. Und mögen die Sympathien gestanden
haben, wie sie wollen, politisch rechnen läßt sich nur mit dem Ergebnis. Dieses
Ergebnis aber reicht weit über den unmittelbaren Erfolg des Krieges hinaus,
weit über die Thatsache, daß zwei der größten Inseln der Antillen und dazu
die Philippinen in irgend welcher Form unter die Herrschaft der großen angel¬
sächsischen Republik gefallen sind. Mit diesen Erwerbungen auf beiden Halb¬
kugeln zugleich ist die Union räumlich und grundsätzlich über die bisher stets
festgehaltnen Grenzen ihrer Macht hinausgegangen. Sie hat, nur in gro߬
artigeren Maßstabe, genau denselben Schritt gethan, den das alte Rom that,
als es seine Heere gegen Karthago nach Sizilien sandte und damit die streng
kontinentale Politik verließ. Wie die antike Stadtrepublik damals den ersten
Schritt zur Weltherrschaft that, so hat jetzt die Union Beziehungen angeknüpft,
die sie unaufhaltsam in die Weltpolitik hineinreißen werden. Bis jetzt ohne
Nachbarn und deshalb fast ohne auswärtige Politik, ist sie jetzt in die Inter¬
essensphäre fast aller Großmächte eingetreten und dadurch ihr Nachbar ge¬
worden. Mit ihrer selbstzufriednem Isolierung ist es damit zu Ende. Sie
steht an dem entscheidendsten Wendepunkt ihrer Geschichte, sie muß eine Gro߬
macht, also eine Weltmacht werden. Heute ist sie das noch nicht, trotz der
ungeheuern Ausdehnung ihres Gebietes, trotz der 71 Millionen ihrer Bevöl¬
kerung, trotz ihrer unermeßlichen Hilfsquellen. Denn Kriege führt man nicht
allein mit Geld und Schiffen, sondern mit organisierten und geschulten mensch¬
lichen Streitlüsten, in letzter Instanz also mit sittlichen Kräften. Wenn die
Amerikaner jetzt mit ihren schwachen oder ungeschulten Soldtruppen (denn etwas
andres sind auch die sogenannten Freiwilligen nicht) einen leichten Erfolg über
ein gänzlich verlottertes Heerwesen erfochten haben, so ist das kein Beweis
dafür, daß sie mit solchen Kräften ihre neue Stellung behaupten können, und
sie wissen das auch, sie bereiten sich vor, eine große Flotte und eine für ihre
Verhältnisse große stehende Armee aufzustellen. Wie sich eine solche Organi¬
sation, die ohne einen starken militärischen Geist unmöglich ist, mit dieser sou¬
veränen Demokratie vertragen wird, wie dieses beständig wechselnde Beamtentum
ohne sachliche Schulung und ohne wirkliches Pflichtgefühl, diese von den zu¬
fälligen Mehrheiten des Kongresses abhängige Bundesgewalt den Anforderungen
einer großen, aktiven, verwickelten Politik gewachsen sein wird, die nicht
nur mit prahlerischer Worten und mit dem Ellenbogen, sondern mit kühl
abwägenden Verstände und mit Takt gemacht sein will, das vermag jetzt noch
kein Mensch zu sagen. Das aber kann man schon hente sagen: eine reine
Demokratie hat noch niemals eine Großmacht, eine, die es ist, auf die Dauer
geleitet. Die Zeit kann kommen, daß die Nordcunerilaner vor die Wahl gestellt
werden, ob sie eine Weltmacht oder eine Demokratie sein wollen.
Aber gleichviel: zunächst ist ihr Selbstbewußtsein und das des ganzen
Angelsachsentums gewaltig gestiegen. Die Engländer haben von Anfang an
die Erfolge ihrer Stammverwandten mit lebhaften Sympathien begleitet, offenbar
nicht nur deshalb, weil ihnen die Rücksicht auf Kanada verbot, die Empfind¬
lichkeit der Jankees zu reizen, sondern auch in dem unmittelbaren Gefühle
innerer Zusammengehörigkeit. Sogar der Traum eines angelsächsischen Bünd¬
nisses, das die Welt beherrschen soll, ist aufgetaucht und wird vielleicht in
irgend welcher Form Gestalt gewinnen. Begreiflich genug, denn auch das
Selbstgefühl der Engländer ist mächtig gestiegen seit ihrem großen Erfolge im
Sudan, der ihnen, obwohl er militärisch sehr leicht wiegt und nur in der
meisterhaften Überwindung des Raumes eine gewisse Größe hat, die Herrschaft
über das Nilthal in die Hände gegeben hat. In dieser Stimmung haben sie
mit einer Energie, die ihnen nach so vielen Beispielen großmäuliger Prahlereien
und mutigen Zurückweichens niemand zugetraut hätte, durch bloße Seerüstungen
und Drohungen die Franzosen aus dem Nilgebiet einfach hinausgeworfen und
damit einen der Lieblingspläne dieser großartig angelegten Kolonialpolitik
durchkreuzt. Frankreich aber, durch den Zwiespalt zwischen Militär- und Zivil¬
gewalt, zu dem sich der unselige Dreyfushandel dank der Macht des inter¬
nationalen Judentums ausgewachsen hat, in allen Gliedern gelähmt und von
seinem angebeteten russischen Freunde bei dieser ersten ernsten Probe im Stiche
gelassen, hat sich ohne jeden ernsten Widerstand unterworfen, ein Fall, der ini
Grunde ebensowenig erwartet werden konnte wie die Energie Englands.
Die kühle Haltung Rußlands diesem Konflikte gegenüber ist freilich völlig
begreiflich. Mit dem Friedensmanifest in der Hand kann der Zar unmöglich
einen Krieg beginnen, der nicht die eigensten Interessen Rußlands berührt.
Daß es von ihm persönlich ganz ehrlich gemeint ist, kann man, trotz der gegen¬
teiligen Ansicht der Petersburger Gesellschaft, ebenso wenig bezweifeln, wie
daß es den sehr praktischen Bedürfnissen der russischen Politik entspricht. Sie
ist eifrig dabei, ihre Stellung in Ostasien, wo sie deu Engländern unangreifbar
ist, zu erweitern und zu befestigen. Hinter diesen Plänen ist der Vormarsch
nach dem Hindukusch jetzt ebenso gut zurückgetreten, wie der nach dem Bosporus,
und ehe sie nicht bis zu einem gewissen Grade durchgeführt sind, wird und
muß Rußland Frieden halten.
Ein mächtiger Aufschwung des Angelsachsentums und eine vorsichtige
Zurückhaltung Rußlands, das indes unter dieser Deckung ununterbrochen seinem
Ziele zustrebt, geben der Weltpolitik des Jahres 1898 ihre am meisten hervor¬
stechenden Kennzeichen. Wie stellt sich Deutschland dazu?
Unsre Lage ist zunächst dadurch gegen früher erleichtert, daß sich zwischen
Frankreich und England seit der Entscheidung über Faschoda ein breiter, schwer
auszufüllender Spalt aufgethan hat, und daß zugleich die französisch-russische
Freundschaft in einem sehr empfindlichen Falle für Frankreich nutzlos gewesen
ist. Diese bittere Erkenntnis hat sich dort schon hier und da zu dem Wunsche
einer Aussöhnung mit Deutschland verdichtet und sicherlich zu der bemerkens¬
werten Annäherung an Italien, zunächst auf handelspolitischem Gebiete,
wesentlich beigetragen. Aber auch in England kann man offenbar das Gefühl
nicht los werden, daß ein Entscheidungskampf mit Rußland doch schließlich
nicht zu vermeiden sein wird, und daß in diesem Falle auch die begehrte
amerikanische Freundschaft ihm keinen genügenden Beistand gewähren wird.
Daher, im schärfsten Gegensatze zu den Grobheiten und Hohnreden von 1896,
ein inbrünstiges Liebeswerben um die Freundschaft Deutschlands, nach der
bekannten, uns schon oft vorgepfiffnen Melodie von der Unüberwindlichkeit
eines Bundes der stärksten Seemacht mit der stärksten Landmacht.
So stellen sich die Mächte zu uns, die bisher nicht zu unsern Freunden
zählten. Und die Genossen des Dreibundes? Daß die unzweifelhafte An¬
näherung Italiens an Frankreich ein Abrücken vom Dreibunde bedeutet, kann
ohne weiteres um so weniger behauptet werden, als sich seine Verpflichtungen
nur auf die gemeinsame Abwehr Frankreichs beziehen, und ein französisch¬
russischer Angriff auf Deutschland gegenwärtig ganz unwahrscheinlich ist. Eher
wird man in England die Empfindung haben, daß sich Italien von ihm einen
Schritt entfernt habe, denn wenn es von Frankreich nichts mehr zu befürchte»
hat, so bedarf es der englischen Hilfe nicht mehr, und wenn sich die beiden größten
Seemächte des Mittelmeeres friedlich vertragen, so ist dies für Englands
unnatürliche Vorherrschaft dort keine Verstärkung. Größeres Bedenken haben
bei uns die ungeschlichteten und unentwirrbaren Händel in Österreich-Ungarn
erregt. Zwar hat Graf Thun soeben erklären lassen, daß er „amtlich und
persönlich" ein überzeugter Anhänger des deutschen Bündnisses sei; aber die
Thatsache kann er nicht aus der Welt schaffen, daß die Bevölkeruugskreise des
Kaiserstaats, die gegenwärtig zur Herrschaft emporstreben oder sie schon in
Händen haben, die Slawen, Feudalen und Klerikalen keine Freunde dieses
Bündnisses sind, sondern das Gegenteil, und jedenfalls abgesagte Feinde des
Deutschtums überhaupt, gleichviel, ob sie damit in eignem Interesse oder gar
im Interesse ihres Staates handeln oder nicht. Die nähern Beziehungen, die
Österreich mit Nußland angeknüpft hat, beziehen sich jedenfalls auf die Balkan-
Halbinsel und können uns schwerlich unbequem werden, aber wir werden immer
gut thun, daran zu denken, daß Bündnisse nur so lange fortdauern wie die
Lage, aus der sie hervorgegangen sind.
So ist Deutschland in der merkwürdigen Lage, daß bei uns das Ver¬
trauen an die Unerschütterlichkeit des Dreibundes abgenommen hat, und daß
wir auf der andern Seite eifrig umworben werden von den Nachbarn, die wir
bisher nicht zu den guten zählten. Wahrlich, keine ungünstige Stellung, aber
nur für eine starke, selbstbewußte, lcistungs- und bündnisfähige Macht. Daß
wir das bleiben müssen und bleiben wollen, darauf weist die neue Militär¬
vorlage hin und die ernste Äußerung des Kaisers gegenüber dem Neichstags-
präsidenten, die an das Wort Friedrichs des Großen anklang: Ioujour8 su,
vsäLtts, nsrt' se vissusur! Jedenfalls ist es die Aufgabe Deutschlands, zu
verhindern, daß die außereuropäische Welt einfach angelsächsisch und kosakisch
werde, und darauf hinzuarbeiten, daß es selbst seinen gebührlichen Anteil
daran neben den übrigen großen Kulturvölkern erhalte, damit ein gesundes
Gleichgewicht zwischen ihnen hergestellt werde, wie es in Europa schon besteht.
Kein Gedanke also daran, daß wir die gänzliche Niederwerfung der englischen
oder der russischen Weltmacht wünschen oder auch nur zulassen könnten; sie würde
ein unerträgliches Übergewicht der siegreichen Partei bedeuten. Zu diesem
Zwecke der einen oder der andern Partei thätige Hilfe zu leisten, wäre Wahn¬
sinn. Das beste für uns ist somit zunächst die Erhaltung des Friedens, also
die Pflege möglichst guter Beziehungen zu allen unsern Nachbarn. Nur im
Frieden können wir hoffen, unsern rasch wachsenden Anteil an der Weltwirtschaft
weiter auszudehnen und unsre Kolonien, deren Bedeutung nur noch unbe¬
lehrbare Verblendung verkennen kann, zu entwickeln; nur im Frieden vermögen
wir unser Kulturwerk im türkischen Orient weiter auszubauen, das die Fahrt
des Kaisers so energisch gefördert hat, allerdings unter der selbstverständlichen
Voraussetzung, daß man in der Heimat diese neue große Aussicht zu würdigen
und kräftig zu benutzen verstehe. Schon aus diesem Grunde müssen wir
einerseits die Erhaltung der Türkei, andrerseits den Fortbestand Österreichs
dringend wünschen. Ein rascher Zerfall der Türkei würde nur den aus¬
schweifendsten russischen Plänen zu gute kommen und alle unsre Hoffnungen
dort zerstören, ein Zerfall Österreichs würde uns die schwersten Verlegenheiten
bringen, das europäische Gleichgewicht aufs bedenklichste erschüttern und schlie߬
lich wieder nnr Nußland zu gute komme,?, denn ein nominell selbständiges
Ungarn wäre keine Großmacht, sondern ein zwischen Deutschland und Rußland
hin und her gezerrter Mittelstaat, unter Umständen sogar eine Beute Ru߬
lands, das uns damit den geraden Weg nach der Levante verlegen würde.
Wir maßen uns nicht an, der Reichspolitik einen positiven Rat zu erteilen,
wie sie im einzelnen diese Interessen wahren soll; selbst Fürst Bismarck hat
das ohne Einsicht in die Akten abgelehnt und es der aufdringlichen Besser¬
wisserei der Tagespresse überlassen, die so oft mit hochkomischer Überhebung
über die schwierigsten Fragen der auswärtigen Politik zu Gericht sitzt; wir
haben das begründete Vertrauen zur Reichsregierung, daß sie die richtigen
en Nutzen und die Notwendigkeit des Geldes braucht mau — leider!
muß der philosophierende Christ sagen — heut nicht zu beweisen;
und da das Geld nichts nützt, wenn man keins hat oder nur
schlechtes, entwertetes, so gebührt den Urhebern der Geldreform,
die uns reichlich mit gutem Gelde versehen haben, der Dank der
Nation, und darum würde die Geschichte dieser Reform auch dann wichtig und
interessant sein, wenn nicht die bimetallistische Agitation dazu zwänge, sie mit
Gründen zu verteidigen — theoretisch nur, denn thatsächlich, Gott sei Dank,
steht sie unangreifbar da; fest wurzelt sie in dem Bedürfnis wie in den Herzen
(wo euer Schatz ist, da ist euer Herz!), und das Volk würde sehr unangenehm
werden, wenn gewisse komische Käuze im Ernst drangehen wollten, ihm seine
Zwanzigmarkstücke zu nehmen. Helfferichs Werk*) giebt in zwei starken Bänden
(474 und 509 Seiten groß 8°) die urkundliche Geschichte der erfreulichen
Wandlung des deutschen Geldwesens so vollständig und lichtvoll, daß spätern
Forschern und Darstellern auf diesem Felde kaum noch Ährenlesearbeit übrig
bleibt. Der zweite Band enthält außer Tabellen und Urkunden einige Ab¬
handlungen über einzelne Gegenstände, die in der zusammenhängenden Dar¬
stellung nicht unterzubringen waren. Solchen, die nicht Zeit haben, das Werk
selbst zu lesen, wollen wir nach ihm die Geschichte der Reform kurz erzählen.
Die Hauptsache ist, daß nicht etwa eine Gruppe von Staatsweisen oder
eine Verschwörung von Kapitalisten bestanden hat, die den Plan gefaßt Hütten,
Deutschland durch die Goldwährung zu Grunde zu richten, und denen es denn
auch gelungen wäre, ihren höllischen Plan durchzuführen. Sondern die Sache
ist ganz von selbst gekommen, als das Endergebnis zweier konvergierender
Strömungen, die mit den großen politischen Ereignissen von 1870 zusammen¬
trafen. Die eine dieser beiden Strömungen war auf Münzeinheit, die andre
auf eine feste Währung gerichtet. Daß die Deutschen nach Münzeinheit ver¬
langen mußten, war selbstverständlich, denn die aus der Geldverwirrung ent¬
springenden Leiden waren unerträglich. Während sich England schon im Mittel¬
alter eines einheitlichen Münzsystems erfreute, hatte Deutschland beinahe so
vielerlei Münzen, als es Landesherren hatte, und da, wenn neue Münzen
geprägt wurden, niemand daran dachte, die alten einzuziehen, so stieg dadurch
die Verwirrung aufs höchste. Der deutsche Bundestag, schon in allen andern
Dingen ohnmächtig, vermochte gerade im Münzwesen am allerwenigsten etwas
auszurichten, denn das Münzregal bringt die Souveränität am alleraugen-
fälligsten zur Erscheinung, und ihre Souveränität verteidigte jede Hoheit, jede
Durch- und Erlaucht, wie die Bärin ihr Junges. Weh ist das Bild und die
Umschrift? fragte Christus die Fallensteller. Und da sie antworteten: Des
Kaisers, so spottete er: Nun, so gebet auch dem Kaiser, was dem Kaiser gehört!
Nehmt ihr das Geld eines Monarchen in Zahlung, so bekennt ihr euch da¬
durch als seine Unterthanen! In einer Reihe von Münzkonventionen suchten
sich die Einzelstaaten auf dem Wege des Vertrages zu helfen. Am inter¬
essantesten erscheinen unter diesen Verhandlungen und Vereinbarungen die mit
Österreich, weil man daran sieht, wie dieser Staat die politische Bedeutung
des Münzwesens erkannte. Nachdem ihm der Versuch, entweder selbst in den
deutschen Zollverein einzudringen oder den von Preußen gegründeten zu sprengen,
mißlungen war, brachte er am 24. Januar 1857 den Wiener Münzvertrag zu¬
stande, durch den er wenigstens in den Schatten des Zollvereins gelangte, wie
sich Helfferich ausdrückt. Abgesehen von der Einführung einer Haudelsgold-
münze, die mit den auf Silberwährung beruhenden Münzsystemen der vertrag¬
schließenden Staaten in keinen organischen Zusammenhang gebracht wurde,
bestimmte diese Übereinkunft, daß für Norddeutschland der Thalerfuß, für Süd¬
deutschland und Österreich die beiden verschiednen Guldenfüße bleiben, daß aber
die dreierlei Münzen in einem bestimmten Gewichtsverhältnis zu einander aus¬
geprägt werden sollten. Statt der Kölnischen Mark, die in 14 Thaler aus¬
geprägt worden war, wurde das Pfund zu 500 Gramm zu Grunde gelegt;
aus einem Pfunde Feinsilber sollten 30 Thaler, 52^/z süddeutsche und 45 öster¬
reichische Gulden geprägt werden. Das politisch Wichtigste aber war, daß der
Thaler zur Vereiusmünze erklärt, also in sämtlichen Vertragsstaaten gesetzliches
Zahlungsmittel wurde. Österreich, dessen ganzes Silbergeld, Gulden wie
Thaler, auswanderte, hatte davon keinen Gewinn, wohl aber Preußen, das
durch die Beliebtheit, die der Thaler gar bald in Süddeutschland gewann, dort
moralische Eroberungen machte, während der nach Norddeutschland wandernde
österreichische Gulden, als ein handgreiflicher Beweis für die Elendigkeit der
österreichischen Negierung, in Norddeutschland die entgegengesetzte Wirkung
hervorbrachte. Streng genommen hatte man aber in Deutschland nach Her¬
stellung dieser „Einheit" nicht drei, sondern sechs Münzsysteme, denn Bremen,
Hamburg und Lübeck hatten jedes ihr eignes, außerdem liefen, abgesehen von
den einheimischen, viele ausländische Goldmünzen um und eine Unmasse un¬
gedeckte Banknoten und Papierthaler; die „kleinen Raubstaaten" befolgten ge¬
treulich Mephistos Rat: so oft die Negierung Geld brauchte, druckte sie Zettel,
die der geduldige deutsche Michel statt Thalerstücken nahm, obgleich keine Kasse
vorhanden war, die ihm das Papier gegen einen Thaler hätte auslösen können.*)
Im Jahre 1867 wurde der Münzvertrag mit Österreich gelöst, sonderbarer¬
weise aber nicht allein dem österreichischen Vereinsthaler, gegen den sich ja
nichts einwenden ließ, weiterer freier Lauf gelassen, sondern sogar dem Gulden,
der bisher nnr stillschweigend geduldet worden war, die Zulassung bis zum
Jahre 1870 ausdrücklich gesichert. Für das nur formell, nicht thatsächlich
ausgeschlossene Österreich trat 1871 Elsaß-Lothringen mit seinen Franken in
das Deutsche Reich ein, sodaß man wiederum sechs gesetzlich anerkannte Münz¬
systeme neben einem völlig ungeregelten Gold- und Pcipiernmlauf hatte. Daß
das Deutsche Reich, ohne sich vor aller Welt lächerlich zu machen, diesen
Zustand nicht fortbestehen lassen dürfte, und daß seine Bürger die daraus
hervorgehende Unsicherheit des Geschäftsverkehrs unerträglich finden mußten,
das liegt ans der Hand. Hatte man aber über eine Reichsmünze zu ent¬
scheiden, so war auch die Wührungsfrage nicht zu umgehen.
In frühern Zeiten hatte eine solche gar nicht bestanden. Ausdrücke wie
Gold- und Silberwährung, Doppelwährung, Parallelwährung*) hätten im
Mittelalter keinen Sinn gehabt. Aus beiden Edelmetallen wurden Münzen
geprägt; „aber es fehlte nicht nur den einzelnen Sorten verschiednen Metalls,
sondern auch den gleichmetallischen Münzen die unbedingte gegenseitige Ver¬
tretbarkeit, ebenso bestand nicht nur zwischen den verschiedenmetallischen, sondern
auch zwischen den gleichmetallischen Sorten kein festes Wertverhältnis. Weder
in rechtlicher noch in volkswirtschaftlicher Beziehung bestand also damals ein
einheitliches Geldsystem; der Zustand des Geldwesens charakterisiert sich viel¬
mehr als ein Nebeneinander verschiedner Münzsorten, die als allgemeines
Tauschmittel dienten." Schuld- und Kaufvertrage mußten daher immer mit
Beziehung auf eine bestimmte Geldsorte, z. B. ungarische Dukaten oder Schock
Prager Groschen abgeschlossen, und Verbindlichkeiten konnten nur mit Münzen
der vereinbarten Sorte gelöst werden, da es für die Anrechnung keinen ge¬
setzlich anerkannten Maßstab gab. Natürlich fand man diesen Zustand un¬
bequem und erstrebte die Vertretbarkeit der verschiednen Münzsorten auf Grund
eines festen Wertverhältnisses zwischen ihnen. „Dabei dachte man nicht an das,
was wir heute Währungsfrage nennen; man überlegte nicht, ob man für das
angestrebte einheitliche Geldwesen Gold oder Silber oder beide Metalle als
Grundlage annehmen solle; man lehnte sich vielmehr überall an den thatsächlich
vorhandnen Münzumlauf an und experimentierte. Ausschlaggebend war einzig
und allein, wie man zu dem gewollten Ziel, der Einheitlichkeit des Geldwesens,
gelangen könnte, nicht die Frage, welches Währungsshstem, die Durchführung
vorausgesetzt, den Vorzug verdiene. Es erscheint natürlich, daß man zunächst
das System anstrebte, das wir heute Doppelwährung nennen, nicht etwa, weil
man von der Doppelwährung die segensreichsten Wirkungen sür die gesamte
Volkswirtschaft erwartete, sondern weil man die gleichzeitig umlaufenden Gold-
und Silbermünzen durch gegenseitige Tarifierungen am einfachsten zu einem
einheitlichen Geldsystem vereinigen zu können glaubte. Da zeigte es sich
nun, daß es viel leichter sei, ein festes Wertverhältnis zwischen den gleich¬
metallischen Münzen durchzusetzen als zwischen den verschiedenmetallischen."
Während es nach und nach überall gelang, die verschiednen Münzen aus dem¬
selben Metall in ein festes Wertverhültnis zu einander zu bringen, ließen sich
die Wertschwankungen zwischen Gold und Silber, daher auch die zwischen
goldnen und silbernen Münzen nicht aus der Welt schaffen. Die einen Staaten
nun fügten sich in die Thatsache, daß zwei verschiedne Münzsysteme neben¬
einander bestanden, andre quälten sich mit Tarisierungen ab, die das Wert¬
verhältnis zwischen Gold und Silber feststellen sollten. Daß sich ein solche?
Verhältnis nicht erzwingen lasse, sah man wohl bald ein; die Tarifiernng
hatte daher nur den Sinn, das Verhältnis zu ermitteln und bekannt zu machen,
das sich im Geschäftsverkehr von selbst ergeben hatte, und änderte der Verkehr
dieses Verhältnis, so änderten auch die Regierungen darnach ihre Tarifierung.
Die Hauptursache der Wertschwankungen zwischen den beiden Edelmetallen
liegt natürlich in der Produktion, aber nicht immer ist diese ausschlaggebend
für den Wert; nicht immer sinkt dieser mit steigender und steigt er mit ab¬
nehmender Produktion. Die Goldgewinnung stieg in dem Zeitraum 1493
bis 1720 von 5800 Kilogramm auf 12 320 Kilogramm im Jahresdurchschnitt;
nach der Entdeckung der brasilianischen Goldfelder stieg sie bis 1760 auf 24610
Kilogramm im Jahresdurchschnitt. In derselben Zeit, wo die Goldgewinnung
auf das vierfache stieg, hob sich die Silbergewinnung (unter Schwankungen)
auf das achtzehnfache. Die Vermehrung der Edelmetalle hat bekanntlich den
Teil der großen wirtschaftlichen Umwälzung des sechzehnten Jahrhunderts be¬
wirkt, der in der Verteuerung der Waren und in der Ausbreitung der Geld-
wirtschaft bestand. Aber die starke Preissteigerung des Goldes, die man bei
der so verschiednen Produktionszunahme erwarten sollte, ist nicht eingetreten;
1493 stand das Gold zum Silber wie 10,75 : 1, um das Jahr 1600 nur wie
11,80:1. Helfferich erklärt das (II, 35) daraus, daß die Ausdehnung der
Geldwirtschaft weit mehr die Kreise des Bürger- und Bauerntums betraf als
den Großhandel; dieser hatte sich ja schon immer des Geldes, und zwar des
Goldgcldes bedient; dagegen stieg der Bedarf an kleinerm Gelde enorm, daher
fand das neu produzierte Silber Verwendung und Aufnahme, und sein Wert
konnte demnach im Verhältnis zur Golde nur wenig fallen. Und im sieb¬
zehnten Jahrhundert bewegte sich der Wert sogar den Produktionsverhältnissen
entgegengesetzt. Während die Goldproduktion noch stieg, erlitt die Silber-
Produktion eine vorübergehende Abnahme. Anstatt daß hierdurch das Gold
entwertet worden wäre, erfuhr es die stärkste Wertsteigerung, die bis dahin
vorgekommen war, bis zu dem Verhältnis von 15,21 :1. Diese Wertsteigcrung
des Goldes bei zunehmender Goldmenge und abnehmender Silberprodultiou
erklärt sich aus dem Unglück Deutschlands und dem Glück Englands. „In
unsichern Zeiten, wo nicht der Umsatz, sondern der leichte und sichre Transport,
die sichre Aufbewahrung und die Möglichkeit des Verbergens" den Ausschlag
geben, wird stets das Gold bevorzugt. Deshalb war in Deutschland in der
Zeit des dreißigjährigen Krieges starke Nachfrage nach Gold, während bei dem
gänzlichen Stocken des Geschäftsverkehrs, bei der Entvölkerung und Verarmung
des Landes Silber verhältnismäßig wenig gebraucht wurde. Dagegen brauchte
England viel Gold für seinen Handelsverkehr, der sich damals zum welt¬
beherrschenden aufschwang. Vom Jahre 1780 ab, wo keine solche außerordent¬
liche!, Umstände die natürliche Wertbildung störten, brachte abnehmende Gold¬
produktion eine Steigerung des Goldwerts hervor; im Jahre 1810 stand das
Gold zum Silber wie 15,61 : 1.
England, das von der Zeit des großartigen Aufschwungs seines Handels
an energisch nach einer festen Ordnung seines Geldwesens strebte, machte zuerst
die heute allgemein bekannte Erfahrung, daß bei Doppel- oder Parallelwährung
das zu niedrig bewertete Metall nach dem Auslande abfließt. Es hatte am
Ende des siebzehnten Jahrhunderts Goldumlauf und vermochte sein Silber,
dessen es doch für kleinere Zahlungen noch bedürfte, nicht festzuhalten, weil
in einer Zeit, wo die Silbermünzen durch Abnutzung schlecht geworden waren,
der Wert der Guinea auf 30 Shillinge festgesetzt worden war, die später
geprägten guten Shillinge ihrem Silbergehalt nach aber mehr wert waren
als der dreißigste Teil einer Guinea. Bei dieser Minderbewertung lohnte es
sich, die Shillinge auszulaufen, einzuschmelzen und das Silber im Auslande
abzusetzen. Als dann aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Silber¬
preis plötzlich zu sinken begann, wurde bei der vou der englischen Münze an-
genommnen Relation die Ausmünzung des Silbers in England lohnend; die
Edelmetallhändler lieferten bei der Münze Silber zur Ausprägung ein. Nun
drohte das entgegengesetzte, weit schlimmere Übel: die Verdrängung des Goldes
durch das Silber, und da wurde denn 1798 die Prägung von Silber für
Private verboten. Damit war die thatsächlich bestehende Goldwährung ge¬
setzlich anerkannt; ausdrücklich ausgesprochen wurde diese Anerkennung jedoch
erst im Jahre 1816 durch ein Gesetz, das die Goldprägung freigab, die Aus-
prügung unterwertiger Silbermünzen ausschließlich für Rechnung des Staates
vorschrieb und die Zahluugslraft dieser Silbermünzen beschränkte. In der
Prägung von Scheidemünzen war zugleich das Mittel gefunden, das für den
Kleinverkehr notwendige Silbergeld im Lande zu behalten, denn Münzen, deren
Metallwert geringer ist als ihr Nennwert, sind selbstverständlich vor der Gefahr,
eingeschmolzen zu werden, gesichert; andrerseits bedeuten sie keine Gefahr für
den Jnlandsverkehr, da für jeden Betrag solcher Münzen die Staatskassen
Gold zum Nennwert geben müssen. Ähnlich wie England gelangten die Ver¬
einigten Staaten zu einer thatsächlichen Goldwährung, die erst in den letzten
Jahrzehnten durch die bekannten verhängnisvollen Experimente gestört worden ist.
Frankreich hat in währungspolitischer Beziehung dadurch eine gewisse Be¬
rühmtheit erlangt, daß es nach der Behauptung der Bimetallisten durch seine
Doppelwährung in der ersten Hülste unsers Jahrhunderts die Nelativuskonstanz
zwischen Gold und Silber aufrecht erhalten haben soll. Helfferich bestreitet
ihm dieses Verdienst; das Wertverhältnis zwischen den beiden Metallen habe
damals aus dem einfachen Grunde nur wenig geschwankt, weil für eine be¬
deutende Verschiebung keine Ursache dagewesen sei; weder die Produktions-
Verhältnisse der beiden Metalle noch die Nachfrage nach ihnen hätten bis zum
Jahre 1850 bedeutende Veränderungen erfahren. Da wurden die kalifornischen
Goldfelder entdeckt, aber weit entfernt davon, daß diese Entdeckung für die
Goldwährung Stimmung gemacht hätte, fürchtete man allgemein, der Wert
des Goldes werde nun so tief hinabgedrückt werden und so stark ins Schwanken
geraten, daß das Gold die Fähigkeit, als Wertmaßstab zu dienen, verlieren
werde. Soetbeer war der einzige, der schon im Anfange der fünfziger Jahre
die Ansicht vertrat, die reiche Goldausbeute müsse zu einer stürkern Ver¬
wendung des Goldes im Verkehr benutzt werden. Das geschah denn auch,
uicht auf Betreiben irgend einer goldfreundlichen politischen Macht, sondern
weil es die Bedürfnisse des Verkehrs forderten, und diese stärkere Verwendung
verhütete die gefürchtete Entwertung. „Nicht wie ein Zufall, sondern wie
eine wohl erwogne That der Vorsehung erscheint das glückliche Zusammen¬
treffen, wodurch den europäischen Völkern diese großen Goldmassen gerade zu
der Zeit zur Verfügung gestellt wurden, wo das Silber infolge eines glän¬
zenden Aufschwungs der Volkswirtschaft anfing, zum allgemeinen Umlaufs¬
mittel zu schwer und zu unbequem zu werden. Fast gleichzeitig traten Ver¬
hältnisse ein, die, .nicht das Gold, sondern das Silber berührend, den Über¬
gang der europäischen Völker zum Gebrauch des Goldes noch ganz besonders
beförderten: eine überaus starke und anhaltende Nachfrage nach Silber zur
Versendung nach Ostasien. Hervorgerufen wurde diese Nachfrage anfangs
hauptsächlich durch indische Silberanleihen in England, die zu umfassenden
Eisenbahnbauten im indischen Reiche, zur Bekämpfung der häufig wiederkehrenden
Hungersnot und zur Bewältigung des großen Aufstandes von 1857 verwandt
wurden; später durch das Anwachsen der indischen Ausfuhr, namentlich während
der Jahre des amerikanischen Bürgerkrieges und der Baumwollennot." Die
europäischen Staaten erfreuten sich also des doppelten Vorteils, ihrem ge-
stiegnen Goldbedarf ohne Opfer abhelfen und ihr übrig gewordnes Silber
ohne Verlust abstoßen zu können, und ganz von selbst bloß als natürliche
Wirkung des Verkehrs trat in weitem Umfange Gold an die Stelle des
Silbers. „Die Erscheinung, daß trotz einer fast zwanzigfachen Goldproduktion*)
und trotz einer bei ungefähr gleichbleibender Silbergewinnung enorm gewachsenen
Silbernachfrage für Indien das Wertverhältnis beider Edelmetalle nur eine
Verschiebung um wenige Prozente erfuhr, war geeignet, das namentlich bei
den Theoretikern erschütterte Vertrauen auf das gelbe Metall aufs neue zu
befestigen. Die Wertbeständigkeit des Goldes schien die stärkste Feuerprobe
glänzend überstanden zu haben. Die Länder des französischen Systems lernten
in kurzer Zeit die Vorzüge einer überwiegenden Goldzirkulation schätzen, und
immer allgemeiner verbreitete sich die Ansicht, weit über die Länder mit Gold¬
umlauf hinaus, daß die Goldwährung das Währungssystem der Zukunft für
alle zivilisierten Nationen sei." Das Verdienst, diesen Ausgleich vermittelt zu
haben, gebührt nun allerdings den Staaten des lateinischen Münzbnndes,
namentlich Frankreich selbst mit seinem Doppelwährungssystem (das, genau
gesprochen, ein alternierendes System ist, da je nach Umständen bald das eine,
bald das andre der beiden Edelmetalle als Wertmaßstab dient; beide zugleich
können sie diesen Dienst unmöglich verrichten, da es kein Mittel giebt, ihr
gegenseitiges Wertverhältnis unveränderlich zu machen). Daraus aber, daß
die Doppelwährung eines reichen Landes einmal unter ganz bestimmten Um¬
ständen den glatten Verlauf einer großen Umwälzung des Geldwesens ermöglicht
hat, folgt keineswegs, daß der Doppelwährung an sich eine ausgleichende
Wirkung innewohnte oder gar die Fähigkeit, eine gegebne Wertrelation aufrecht
zu erhalten. Die damalige Wirkung der Doppelwährung war an eine Be-
dingung geknüpft, die nicht sobald noch einmal wiederkehren wird, daß nämlich
zu einer Zeit, wo von der einen Seite Gold einzuströmen bereit war, und
auf der andern Seite Silber gefordert wurde, Frankreich mit Silber gesättigt
und Gold in Masse aufzunehmen gern bereit war. Als „in den siebziger
Jahren das bimetallistische System den Umlauf abermals mit Silber anzu¬
füllen begann," da wurde diese Wirkung als sehr unerwünscht empfunden, und
um nicht diesmal das Gold verdrängen zu lassen, wie zwanzig Jahre vorher
das Silber verdrängt worden war, schränkte man die Silberausprägung ein
und hob so das bimetallistische System auf. Trotz der gegebnen günstigen
Bedingungen war übrigens die Wirkung dieses Systems in der Zeit des großen
Goldzuflusfes „so beschränkt und so unvollkommen, daß man im Hinblick auf
das Grundprinzip des Vimetallismus nicht von einem Bewähren, sondern
nur von einem Versagen sprechen kann." Die Doppelwährung hat zunächst
nicht die ihr zugeschriebne Wirkung geübt, in den Ländern, wo sie anerkannt
war, die sogenannte Parität, womit man das Verhältnis 15^ : 1 meint,
aufrecht zu erhalten. Diese Parität hat niemals bestanden, weder vor noch
nach den Goldfunden. Vorher war das Silber, nachher das Gold weniger
wert, als die französische Relation annahm, und zwar nicht bloß auf dem
Londoner Edelmetallmarkte, sondern in Paris selbst. Dann aber — und darin
tritt das Versagen ganz deutlich zu Tage — hat die Doppelwährung ihr
Ziel: beiden Metallen den Umlauf nebeneinander zu sichern, niemals erreicht.
„Für Frankreich bedeutete vor 1850, für die Vereinigten Staaten vor 1834,
so lange das Silber im Münzgesctz günstiger bewertet war als auf dem freien
Markt, die Doppelwührnng einen Verzicht auf das Gold. Als die Vereinigten
Staaten im Jahre 1837 ihre Wertrelation zu Gunsten des Goldes veränderten,
mußten sie auf einen ausreichenden und geordneten Silberumlauf verzichten,
und als die Gvldfunde und die indische Silbernachfrage den Goldwert unter
die französische Relation hinabdrückte, wurden die Silbermünzen der Franken-
Währung eingeschmolzen, der Silberumlauf wurde für die Bedürfnisse des
Verkehrs, wie anderthalb Jahrhunderte zuvor in England, zu knapp, und die
Silbermünzen wurden mit Aufgeld gegeben und genommen. Es gelang also
dem bimetallistischen System in Frankreich und den Vereinigten Staaten so
wenig wie vorher in England, einen ausreichenden Silberumlauf zu sichern
und die Gleichwertigkeit der Gold- und Silbermünzen aufrecht zu erhalten."
Als der steigende Goldbedarf die Geschäftswelt mehr und mehr dem Golde
geneigt machte,*) stieß sie auf den mächtigen Widerstand der Bank von Frank¬
reich. Durch die gesetzliche Doppelwährung berechtigt, ihre Noten mit Silber
einzulösen, konnte sie sich von solchen, die durchaus Gold wollten, eine Prämie
zahlen lassen, zog also Gewinn aus der Doppelwährung; unterstützt wurde
sie durch das ebenfalls silberfreundliche Haus Rothschild. Natürlich, bemerkt
Helfferich, wurde diese Prämienpolitik nur dadurch ermöglicht, daß Frankreich
die einzige bimetallistische und zugleich geldreiche Macht war. Wäre der Bi¬
metallismus die Weltwährung, würden also überall in der Welt beide Metalle
gleich gewertet, so würde eben kein Metall vor dem andern bevorzugt, und es
würde keine Nachfrage bestehen, die bereit wäre, für das bevorzugte eine
Prämie zu zahlen. Die 1865 abgeschlossene lateinische Münzkonvention regte
den Gedanken einer Weltmünzeinigung an, und dieser wurde bei Gelegenheit
der Pariser Weltausstellung 1867 auf einer internationalen Münzkonferenz
erörtert, deren einziges Ergebnis war, daß sich die Vertreter der zwanzig
Regierungen, die die Konferenz beschickt hatten, über die Währungsfrage aus-
sprachen. Alle Staaten mit einziger Ausnahme der Niederlande erkannten an,
daß, wenn eine Weltmünzeinheit zustande kommen solle, sie weder auf der
Grundlage der Silberwährung noch auf der der Doppelwährung, sondern nur
auf der Grundlage der reinen Goldwährung erreicht werden könne. „Wenn
nun die Bestrebungen nach einer Münzeinheit sich als unerreichbar heraus¬
stellten, so konnte darin kein Grund liegen, auch die Bemühungen um eine
Währungsgleichheit zwischen den handelspolitisch wichtigsten Staaten auszu¬
geben; für Deutschland insbesondre wurden damit diese Bemühungen nur auf
ihre ursprüngliche Begrenzung zurückgeführt. Die Währungsgleichheit verhielt
sich eben zur Münzeinheit nicht wie das Mittel zum Zweck, fondern wie die
teilweise Erreichung zur gänzlichen Erfüllung des Zwecks. Und das Votum
der Pariser Konferenz, daß die Münzeinheit nur auf Grundlage der Gold¬
währung erreichbar sei, besagte gleichzeitig, daß auch eine Währnngsgleichheit
für die wichtigsten Handelsvölker nur auf Grundlage der Goldwährung gedacht
werden könne." In Frankreich drängten die Handelskammern und die General-
steuereinnehmer mehr und mehr auf Einführung der Goldwährung; der Ver¬
legenheit, zwischen ihnen und der Bank von Frankreich entscheiden zu sollen,
wurde die Regierung durch den Ausbruch des Krieges mit Deutschland
überhoben.
In Deutschland wurden, wie im Mittelalter, so bis in unser Jahrhundert
hinein Silber- und Goldmünzen neben einander gebraucht, doch herrschte das
Silber vor. Je mehr sich die Münzverhältnisse befestigten, desto deutlicher
zeigte es sich, daß die vermeintliche Parallelwnhrung die reine Silberwührung
war; das Silber gab allein den Wertmaßstab ab, das Gold bekam ein Auf¬
geld nach schwankendem Kurs. Gold blieb in gewissen Verhältnissen, z. B.
bei den Kollegienhonoraren der Mediziner üblich. Natürlich konnte der Gold¬
forderung auch in Silber genügt werden; zehn Thaler in Gold bedeuteten
dann elf Thaler zehn Silbergroschen. Eine Münze aber, deren Wert schwankt,
wird von Leuten, die nicht täglich den Kurszettel lesen, nicht gern genommen;
dem immer stärker werdenden Goldbedarf ließ sich daher auf der Grundlage
der Silberwährung nicht abhelfen. Die im Wiener Münzvertrage beschlossene
Handelsmünze kam nicht in Umlauf. Brauchte man Gold für den inter¬
nationalen Zahlungsausgleich, so war es schwer zu beschaffen, denn die ein¬
heimischen Goldmünzen wurden eingeschmolzen oder ins Ausland verkauft.
Silbergeld kann man wohl bei Goldwährung im Lande behalten — durch
unterwertige Ausprägung, aber dieses Mittel läßt sich natürlich nicht dazu
verwenden, Goldmünzen bei Silberwährung festzuhalten,*) da ja Gold zu inter¬
nationalen Zahlungen dient, unterwertige Münzen aber im Auslande nicht
angenommen werden.
(Schluß folgt)
er bei lungern Aufenthalt in England das wichtigste Hilfsmittel
für die Kenntnis englischer Zustände: Zeitungen, Wochen- und
Monatsschriften fleißig benutzt, wird bald mit einer gewissen
Verwunderung eine Eigentümlichkeit des Sprachgebrauchs wahr¬
nehmen. In zahlreichen Blättern wird der deutsche Kaiser nur
rd<z Xg-issr, der russische ?1is ?sar genannt, während für den alten Kaiser
Wilhelm und für Kaiser Friedrich noch allgemein die Bezeichnung Dniveror
üblich war. Man fragt sich erstaunt, ob die Engländer, deren Stärke sicherlich
nicht in ihren Sprachkenntnissen liegt, auf einmal anfangen hiermit zu prunken,
oder ob wachsender historischer Sinn es ihnen verbietet, einen Namen zu ge¬
brauchen, den auch die deutschen Kaiser des Mittelalters und die römischen Cäsaren
trugen. Die Lösung des Rätsels ergiebt sich, wenn man sieht, daß Hand in
Hand damit der Gebrauch von Vinxir«? und Imxerial in einem ganz beschränkten
Sinn geht. rii<z Dinxirs bedeutet für diese Kreise das Weltreich schlechthin,
nämlich Großbritannien und seine Kolonien als Einheit gefaßt; Imxc-rial ist
alles, was sich auf die Interessen dieses „größern Britanniens" bezieht. In
dieser Spracherscheinung spiegelt sich unsers Erachtens die zunehmende Bedeutung
wieder, die die imperialistische Bewegung in England in dem letzten Jahrzehnt
gewonnen hat. Sie zeigt sich ferner in dem häufigen Gebrauch des Namens
Imxsri-z.1, den sich Institute, Vereine und litterarische Sammelwerke mehr und
mehr beizulegen lieben, in den zahlreichen Erörterungen über Iinxerialisw,
in denen alle möglichen ImpöriaUsts das Wort ergreifen. Weit mehr fällt es
ins Gewicht, daß der Imperialismus zu seinen Trägern so gewaltige Männer
der That wie Cecil Rhodes zählt, und Leute mit Namen besten Klanges wie
Rudyard Kipling und Sir Walter Besant — ich schweige von Heißspornen wie
W. E. Henley — die imperialistische Idee mit aller Begeisterung verkünden.
In der folgenden Abhandlung möchte ich einige Eindrücke über diese Be¬
wegung wiedergebe», die sich mir bei meinem letzten Besuche in England auf¬
gedrängt haben. Ich will nicht verhehlen, daß sie manchen bei uns herrschenden
Anschauungen zuwiderlaufen, die ich früher selber teilte. Die Zeit war viel¬
leicht deshalb günstig für Beobachtungen, weil der spanisch-amerikanische Krieg
kaum beendet war und damals Ereignisse eintraten wie die Einnahme Khartums,
die Wahlen in der Kapkolonie, bei denen Cecil Rhodes mit wenigen Stimmen
von den Holländern geschlagen wurde, die deutsch-englische Vereinbarung, der
Tod Sir George Greys, des bekannten kolonialen Staatsmannes, und schließlich
die französisch-englische Verwicklung wegen Faschoda. Die Väter des englischen
Imperialismus sind Carlyle und Veaeonsfield, die sein Programm entwarfen
und ihm seine Ziele wiesen. Weitere Kreise ergriff die Bewegung jedoch erst,
als Cecil Rhodes in Südafrika wirkte. In den letzten Jahren und namentlich
in dem Jubilüumsjahre begann man dann systematisch darauf hinzuarbeiten, die
englische Politik, statt wie bisher auf eine kleinenglische, auf eine imperialistische
Grundlage zu stellen, meist mit dem Hintergedanken, den engen Zusammen¬
schluß der unter britischer Flagge lebenden Engländer mit einer Verbrüderung
der angelsächsischen Nasse, der Engländer und Amerikaner, zu krönen, die dann
der Welt ihre Gesetze diktieren könnten.
Von Carlyle kommt hier vor allem sein Grundsatz in Betracht, daß das
höher zivilisierte und mächtigere Volk das Recht habe, ein schwächeres zu ver¬
drängen, und daß es selbst die Pflicht eines Landes sei, seinen Söhnen, die
im Inlande nicht Brot und Arbeit fänden, nötigenfalls mit Gewalt in fremden
Erdteilen Raum zu schaffen, wo sie ihre Kräfte bethätigen könnten. „Überall
— sagt er im OllartiLiu (1843) — sehen wir Eroberung, die bloß Unrecht
und Gewalt scheint, sich als ein Recht unter den Menschen geltend machen.
Prüfen wir jedoch, so finden wir, daß in dieser Welt keine Eroberung dauernd
werden konnte, die sich nicht daneben als wohlthätig für die Besiegten wie für
die Eroberer erwies. Die Römer unterwarfen die Welt und hielten sie unter¬
worfen, weil sie am besten die Welt regieren konnten. So waren auch die
Engländer vor achthundert Jahren uneinig, und mit Harolds Tod schwand
die letzte Möglichkeit, das Land gut zu regieren; eine neue Klasse starker nor¬
mannischer Adlicher mit einem starken Mann, mit einer Reihe starker Männer
an der Spitze, und nicht uneinig, sondern durch manche Bande verbunden,
waren imstande, es zu regieren, und regierten es, wie wir annehmen dürfen,
ziemlich erträglich, oder sie würden nicht dort geblieben sein. Sie handelten,
ohne sich eines solchen Amtes bewußt zu sein, als eine ungeheure, freiwillige,
überall vertretne, zum Handeln bereite Polizeigewalt. Es ist ein erfreulicher
Gedanke, daß Macht und Recht, die anfangs oft so schrecklich voneinander ab¬
weichen, am Ende doch ein und dasselbe sind. Eroberung durch bloße Gewalt
und Zwang hat keine Dauer. Sie muß wohlthätig sein, oder sie wird ab¬
geschüttelt. Der starke Mann ist, genau betrachtet, der weise Mann, der mit
Methode, Treue und Tapferkeit begabt ist und zu verwalten, zu leiten und zu
herrschen versteht."
Carlyle wendet sich höhnisch gegen Thierry, der das Schicksal der unter
dem Eroberer dahingesunknen Sachsen pathetisch beklagte und in sein Mitleid
auch die Walliser, überhaupt die Kelten einschloß, die eine stärkere Rasse in
die gebirgigen Winkel des Westens verscheucht hatte. Es ist wahr, sagt
Carlyle, daß diese ohne Erfolg kämpfenden Männer edle Thaten vollführten
und heroische Leiden ertrugen, denen eine Thräne gebührt; es ist auch passend
und recht, daß jemand aussteht, der dieser Verlornen Sache ebenfalls Geltung
zu verschaffen sucht. „Sehr recht — und doch, wenn wir die Dinge nach
diesem großen Maßstabe beurteilen, was können wir sehen, als daß die Sache,
die den Göttern gefallen hat, am Ende auch Cato gefallen muß? Cato kann
es nicht ändern, und Cato wird finden, daß er im Grunde nicht wünschen
kann, es zu ändern. Macht und Recht unterscheiden sich sehr von einer Stunde
zur andern; aber wenn man ihnen Jahrhunderte giebt, um sich zu erproben,
Wird man sie identisch finden. Wessen Land war das britische? Gottes, der
es geschaffen hat, sein und keines andern war und ist es. Welche von Gottes
Geschöpfen hatten das Recht, darin zu leben? Die Wölfe etwa und Auer¬
ochsen? Sicherlich; bis einer sich mit einem bessern Recht zeigte. Der Kette
kam an und gab ein besseres Recht vor; und demgemäß suchte er dasselbe,
nicht ohne Schmerz für die Auerochsen, zu beweisen. Er hatte ein besseres
Recht zu diesem Stück von Gottes Land — nämlich eine bessere Macht, es
nutzbar zu machen —, wenigstens eine Macht, sich dort anzusiedeln und zu
versuchen, welchen Nutzen er daraus ziehen könnte. Die Auerochsen ver¬
schwanden; die Kelten ergriffen Besitz vom Boden und pflügten ihn. Sollte
das für immer sein? Ach, für immer ist keine Kategorie, die sich in dieser
zeitlichen Welt behaupten kann. Kein Eigentum ist ewig nußer dem Gottes,
des Schöpfers; wem der Himmel erlaubt, Besitz zu ergreifen, der hat auch
das Recht. Des Himmels Bestätigung ist eine solche Erlaubnis — solange
sie dauert; weiter läßt sich nichts sagen. Warum wächst der Ysop dort in der
Maucrritze? Weil das ganze, anderweitig genug in Anspruch genommne Weltall
bisher nicht verhindern konnte, daß er wuchs! Es hat die Macht und das
Recht. Nach demselben großen Gesetze werden römische Reiche errichtet, ver¬
breiten sich christliche Religionen und herrschen alle bestehenden Mächte. Das
starke Ding ist das gerechte Ding; das wirst du überall in unsrer Welt finden."
Alle durch Übervölkerung und Arbeitslosigkeit hervorgerufnen Mißstünde,
glaubt Carlhle, ließen sich durch gut geregelte Auswanderung beseitigen, wie
überhaupt die Arbeit organisiert werden müßte. „Übervölkerung? Und doch,
wenn dieser schmale westliche Rand Europas übervölkert ist, ruft uicht gleichsam
überall sonst eine ganze leere Erde uns zu: Kommt und pflügt mich, kommt
und erntet mich! Kann es ein Unglück sein, daß ans einer Erde wie der
unsern neue Menschen find? Als Handelswaren, als Arbeitsmaschinen be¬
trachtet, giebt es in Birmingham oder außerhalb eine Maschine von solchem
Wert? Gütiger Himmel, ein weißer Europäer, auf seinen zwei Füßen stehend,
mit seinen zwei fünffingrigen Händen an seinen Armen und seinem wunder¬
baren Kopf auf feinen Schultern ist etwas Beträchtliches wert, möchte man
s"gen, Der dumme schwarze Afrikaner erzielt einen Preis ans dem Markte,
desgleichen das dümmere vierfüßige Pferd — nur wir haben noch nicht die
Kunst gelernt, unsern weißen Europäer zu verwenden."
Er weist dann anf die weiten, dünn oder nicht bevölkerten Strecken im
Innern Afrikas, im Herzen Asiens, in Spanien, Griechenland, in der Krim
und in der Türkei hin, die zur Besiedlung einladen, und ruft dann aus: „Ach,
wo sind jetzt die Hengiste und Alariche unsers noch immer glühenden und sich
misdehncnden Europas, die, wenn ihre Heimat zu eng geworden ist, diese
überflüssigen Massen unbezwingbarer lebender Tapferkeit anwerben und wie Feuer¬
säulen vorwärtsführcn; ausgerüstet nicht mit der Streitaxt und dem Kriegs-
wagen, sondern mit der Dampfmaschine und der Pflugschar? Wo sind sie? —
Sie hegen ihr Wild!"
Zweierlei fordert Carlyle in „Vergangenheit und Gegenwart" lMst. g.mal
.?rv8ont,, 1843) vor allem von der Negierung, den allgemeinen Schulunterricht
— wie man sich erinnern wird, hat England diesen erst seit 1870 — und die
staatliche Organisation der Auswanderung. Jeder Arbeitswillige funde Raum
in den Kolonien,' und diese wieder würden die besten Abnehmer der Waren
des Mutterlandes sein. Carlyle träumt von einer großen, innig verbundnen
Gemeinschaft, die sich so entwickeln werde. „Mykale war das Pini-Jouion, das
Stelldichein aller Stamme des Ion für das alte Griechenland: warum sollte
nicht London auf lange das Allsachsenheim, das Stelldichein aller »Kinder des
Harzfelsens« bleiben, die in erlesenen Exemplaren von den Antipoden und sonst
woher, mit Dampfschiffen oder anderswie zur »Saison« hierherkommen! —
Welch eine Zukunft! weit wie die Welt, wenn wir nur das Herz und den
Heroismus dafür haben — was, mit Gottes Segen, wir haben werden."
Der Appell, den Carlyle an England richtete, fand zunächst kein Echo.
Es scheint uns sür die mittlern Jahrzehnte unsers Jahrhunderts charakteristisch,
daß man bei der Beurteilung aller Fragen den ökonomischen Standpunkt in
den Vordergrund drangt, den nationalen, ethischen und sozialen dagegen zurück¬
treten läßt. Sobald man die Beziehungen der Menschen zu einander bloß soweit
in Betracht zog, als sie sich in Geld ausdrücken lassen, mußte die Frage nach
dem Werte vou Kolonien laute», ob England von ihnen unmittelbaren Vorteil
habe oder nicht. Häufig wurde dies verneint und vielfach ziemlich offen aus¬
gesprochen, daß es für beide Teile das Vorteilhafteste sei, wenn sie sich von
einander trennten. Kolonien, hatte Tnrgot gesagt, sind wie Früchte an einem
Baume; sobald sie reif sind, fallen sie ab. Und dieser Satz, den das Beispiel
Nordamerikas zu bestätigen schien, wurde beinahe als Dogma hingenommen.
Das Aufblühen einer Kolonie galt als ein Vorzeichen ihrer baldigen Trennung,
und mit möglichst guter Fassung suchte man diese unerfreuliche Thatsache hin¬
zunehmen. In Kanada arbeitete man offen auf die Unabhängigkeit der Kolonie
hin und konnte sich dabei darauf berufen, daß man auf demselben Boden stehe
wie die Minister der Krone.
Die britischen Truppen wurden aus Australien, Kanada und der Kap¬
kolonie zurückgezogen, und in dem unruhigen Neuseeland waren hierdurch die
britischen Ansiedler beinahe schutzlos den Eingebornen überliefert. Carl Gran-
ville gab sogar (1869) den Behörden in Wellington den Rat, die Oberhoheit
eines Maorihänptlings anzuerkennen. In einer mir vorliegenden Schrift")
finde ich einige Stellen aus der limos des Jahres 1870, wo Gladstone am
Ruder war, zitiert. Das ministerielle Blatt brachte die Zuschrift eines frühern
Gouverneurs von Kanada, der erklärte, daß er jetzt gegen seine frühere Ansicht
in diesem besondern Falle und unter den veränderten Umständen dafür sei,
daß beide Parteien auseinander gingen. Im Anschluß daran empfahl die
riwes, daß sich Britisch-Kolumbia den Vereinigten Staaten statt der Herr¬
schaft Kanada anschlösse. Ihr zufolge konnte England nur in derselben Weise
das Mutterland Australiens heißen, wie Schleswig-Holstein das Mutterland
Englands sei. Wenn, so hieß es weiter in der 'Joch, die jetzt befolgte Politik
auf die Lösung der Verbindung zwischen Kolonien und Mutterland hinweist,
so wäre es gut, daß man dieses Ziel voraussähe und sich darauf gefaßt machte,
sodaß es nicht zuletzt überstürzt und in einem unfreundlichen Geiste bewirkt
würde. Natürlich rief diese Haltung des Kabinetts überall große Beunruhigung
hervor, und die Zeichen mehrten sich, daß wenigstens Kanada und Neuseeland
ihre Unabhängigkeit erklären würden. Jedoch gab sich die öffentliche Meinung
so unzweideutig zu erkennen, daß auf dieser Bahn nicht weiter geschritten wurde.
Als Granville Minister des Auswärtigen wurde, atmete der Sxscwtor, ein
liberales, aber kolonialfreundliches Blatt auf, daß er das Kolonialamt verließ,
«ehe eine Kolonie unversehens ihre Unabhängigkeit und ihre unauslöschliche
Feindschaft gegen Großbritannien erklärte. Es war wahrlich sehr nahe daran.. - -
Das englische Volk bezahlt nicht seine Steuern, damit sein Land eine Macht
dritten Ranges werde." Wie weit die von Granville und Gladstone ver-
tretnen Ansichten verbreitet waren, erkennt man am besten an dem Ernst und
der Gründlichkeit, mit der Seeley in seinem berühmten Buche „Die Aus-
dehnung Englands" (rils Kxxansion ot' Nu^lkmä, 1883) sie erörtert und
bekämpft.
Beaconsfield, den sich die Engländer mehr und mehr gewöhnen als ihren
größten Staatsmann in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts anzusehen,
hat, als er zur Regierung kam. sofort die Zerstücklungspolitik seiner Vor¬
gänger zum Stehen gebracht. Vieles ist ihm zufolge versäumt worden, was
schwer wieder gut zu machen wäre. „Als die Selbstverwaltung gewährt
wurde, sagt er einmal, Hütte sie als ein Teil einer großen Politik der
Reichskonsolidierung zugestanden werden sollen. Sie hätte begleitet sein müssen
von einem Neichszolltarif . . . und von einem Militärgesetz, das genau die
Mittel und Beitragsanteile zu bestimmen gehabt hätte, durch die die Kolonien
verteidigt worden wären und nötigenfalls England von den Kolonien hätte
Hilfe fordern können. Sie Hütte ferner begleitet sein müssen von der Er¬
richtung einer repräsentativen Versammlung in der Hauptstadt, die die Kolonien
in dauernde und ummterbrochne Beziehungen mit der heimischen Regierung
gebracht hätte." Man hat Disraeli vorgeworfen, daß sein Imperialismus
hauptsächlich europäisch und asiatisch gewesen sei, während der neuere Im-
perialismns daneben noch amerikanisch, afrikanisch und australisch sei. Allein
man vergißt, daß in keinem andern Lande außer Indien damals etwas ge¬
schehen konnte. Die Ausrufung der Königin zur Kaiserin von Indien, die
Beorderung indischer Truppen nach Europa und der Gewinn Cyperns, einer
so wichtigen Station auf dem Wege nach Indien, wurden in den Kolonien
weit mehr als im Mutterlande gewürdigt und erweckten dort wieder das
Gefühl, daß man ihnen und auch ihren Gefühlen Rechnung trage. Wenigstens
hat Disraeli immer das Vertrauen und die Shmpathien der Kolonien be¬
sessen, und sein Hingang wurde dort besonders lebhaft beklagt. Nicht zu
unterschätzen ist es auch wohl, daß er die Königin mehr zum Hervortreten
bewog und statt der wechselnden Parlnmentsmehrheiten und der von ihnen
gelieferten Minister sie als den sichtbaren Mittelpunkt des Reiches hinstellte.
Daß die Königin in dem weiten Reiche, über das sie gebietet, erheblich mehr
bedeutet, als wir Festländer anzunehmen geneigt sind, und daß die ihr ge¬
widmete Liebe und Verehrung auch dem Reichsgedanke» sehr zu gute kommt,
zeigte sich bei der funfzigjährigen und mehr noch bei der sechzigjährigen Feier
ihres Regierungsantritts.
Als wissenschaftlicher Vertreter des britischen Reichsgedankens verdient
besonders der Historiker Seeleh, uns Deutschen durch sein Buch über Stein
wert, genannt zu werden/") Im Jahre 1883, zwei Jahre nach Bweonsfields
Tode, veröffentlichte er seine in Cambridge gehaltnen Vorlesungen über die
Ausdehnung Englands ('I'bu Expansion ot' M^la-mal). Er untersucht hier sehr
gründlich die Geschichte und Zukunft des britischen Imperiums. Nach ihm muß
zwischen Indien, das durch Nationalität, Sprache und Religion von England
getrennt ist, und den andern Kolonien unterschieden werden, die im wesent¬
lichen durch Gemeinsamkeit des Blutes, der Religion und der Interessen mit
dem Mutterlande verbunden sind. Auf diesen, nicht auf dem Besitz Indiens
beruht nach Seeleh die Zukunft des britischen Reiches. Grundlos scheint ihm
die Befürchtung, daß es in der Natur der Dinge liege, daß sich das Mutter¬
land und die Kolonien mit zunehmender Entwicklung dieser immer mehr von
einander entfernen müßten, und daß darum auch der Verlust der englischen
Kolonien bevorstehe. Das Beispiel Nordamerikas hält er nicht sür einen
Beweis. Denn einmal herrscht jetzt nicht mehr das alte Kolonialshstem, das
bloß auf Haudelsvorteile für das Mutterland bedacht war, nud dann lagen in Nord¬
amerika von Hans ans die Dinge weniger günstig. Um ihres Glaubens willen
hatten die Auswanderer England verlassen und sahen darum von Anfang an mit
weniger freundlichen Gefühlen auf England zurück, als die meisten derer, die
heute eins England nach Kanada, Anstralien oder dem Kaplande gehen.
Vermöge der großen technischen Fortschritte unsrer Zeit, der Naschheit der'
Verbindung nach allen Teilen der Welt sei es heute möglich, daß weitaus¬
gedehnte Reiche doch eine Einheit darstellten, und der Gedanke an eine parla¬
mentarische Vertretung der Kolonien, der Burke wegen der äußern Schwierig¬
keiten der Sache lächerlich erschienen sei, sei heute nicht mehr lächerlich. Das
Problem, an dessen Lösbarkeit man in England verzweifle, sei thatsächlich
anderswo gelöst worden.
Die Vereinigten Staaten, sagt Seeley, haben gezeigt, wie ein Staat einen
fortwährenden Auswauderungsstrom aussenden kann, wie von einem be¬
siedelten Streifen am Atlantischen Ozean ein ganzer Kontinent bis zum Stillen
Ozean bevölkert werden nud doch nie der Zweifel entstehen kann, ob diese
entfernten Ansiedlungen nicht bald ihre Unabhängigkeit beanspruchen, oder ob
sie es sich gefallen lassen werden, zum Norden des Ganzen besteuert zu werden.
Der Fehler liegt darin, daß man unter England nur Großbritannien mit
seiner Bevölkerung von etlichen dreißig Millionen versteht. Man darf in
den Kolonien nicht Besitzungen, sondern muß in ihnen Teile Englands sehen
und mit dieser Ansicht Ernst machen. „Wir müssen aufhören zu denken, daß
Auswnndrer, wenn sie in die Kolonien gehen, England verlassen oder für
England verloren sind. Wir müssen aufhören zu denken, daß die Geschichte
Englands die Geschichte des Parlaments ist, das in Westminster tagt, und
daß Angelegenheiten, die dort nicht erörtert werden, nicht zur englischen Ge¬
schichte gehören können. Wenn wir uns gewöhnt haben, das ganze Imperium
zusammen zu betrachten und alles England zu nennen, werden wir sehen, daß
hier ebenfalls Vereinigte Staaten sind. Hier ist ebenfalls el» großes gleich¬
artiges Volk, eins in Blut, Sprache, Religion und Gesetzen, aber über einen
grenzenlosen Raum verstreut. Allerdings hat es, wenn es auch durch starke
moralische Bande zusammengehalten wird, nichts, was eine Verfassung genannt
werden kann, kein Shstcm, das fähig scheint, einem harten Anprall zu wider¬
stehe». Wenn mau aber geneigt ist, zu zweifeln, ob ein System erdacht werden
kau», fähig, so weit von einander entfernte Gemeinschaften zusammenzuhalten,
dann ist es Zeit, sich an die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
Zu erinnern."
Was so als möglich nachgewiesen wird, ist nach Seeley auf der andern
Seite von dringender Wichtigkeit. „Denn dieselben Erfindungen, die aus¬
gedehnte politische Vereinigungen möglich machen, wirken dahin, daß Staaten
von den alten Größenverhältnissen unsicher, bedeutungslos nud solche zweiten
Ranges werden- Halten die Bereinigten Staaten und Nußland noch fünfzig
^"hre zusammen, so werden am Ende dieser Zeit solche alten europäischen
Staaten wie Frankreich und Deutschland ganz zwerghaft erscheinen und in
zweite Klasse hinabsinken. Dasselbe wird mit England geschehen, wenn
England am Ende dieser Zeit noch immer sich einfach als einen europäischen
Staat denkt."
Den Lobrednern kleiner Staaten, die auf die glänzenden Tage von Athen
und Florenz hinweisen, hält Seelcy entgegen, es sei etwas ganz Verschiednes:
ein kleiner Staat inmitten kleiner Staaten oder ein kleiner Staat inmitten
großer Staaten zu sein. Athen und Florenz brachen sofort zusammen, als
große, festgefügte Landstaaten in ihrer Nachbarschaft emporwuchsen. Schon
jetzt lastet Rußland etwas schwer auf Mitteleuropa, und was wird dann ge¬
schehen, wenn es in fünfzig Jahren die doppelte Bevölkerung hat, sein Eisen¬
bahnnetz ausgedehnt ist und es in Intelligenz und Organisation den west¬
europäischen Staaten nahekommt? In jener Zeit werden Rußland und die
Vereinigten Staaten die heute groß genannten Staaten an Macht ebensosehr
übertreffen, als die großen Staate» des sechzehnten Jahrhunderts Florenz
übertrafen. „Ist dies nicht eine ernste Erwägung und zwar ganz besonders
sür einen Staat wie England, das im gegenwärtigen Augenblick in seiner
Hand die Wahl zwischen zwei Richtungen des Handelns hat, von denen die
eine es in jener künftigen Zeit auf dieselbe Höhe mit den größten jener großen
Staaten der Zukunft bringen kann, während die andre es auf das Niveau
einer reinenropäischen Macht herunterbringen wird, die, wie jetzt Spanien, auf
die großen Tage zurückblickt, wo es den Anspruch erhob, ein Weltstaat zu
sein." Im übrigen sieht Seeley hoffnungsvoll in die Zukunft. Denn das
Reich, auf das er hofft, wird, wenn auch seine Teile über den ganzen Globus
zerstreut sind, wegen der Gleichartigkeit der Bevölkerung im Innern weit ge¬
festigter und dauerhafter sein als Rußland mit seinen zahllosen Stämmen, die
sich in Sprache, Religion und Gesetzen von einander unterscheiden.
(Fortsetzung folgt)
el dem Verleger dieser Blätter wird in wenig Wochen eine Aus¬
gabe des deutschen Originals erscheinen, das dem bei Macmillan
erschienenen Werke von Moritz Busch: Lisinlrrolc, sollte sserot
pg.Aos ol liis In<z (der geschmacklose Titel stammt nicht von or.Vusch,
sondern von den Engländern) zur Grundlage gedient hat. Der
ungeheure Lärm, den die Übersetzung einer Anzahl mit böser Absicht daraus
herausgerissener Stellen in dem deutschen Blätterwald erregt hatte, ist augen¬
blicklich verrauscht; ein andres Buch ist in den Vordergrund des allgemeinen
Interesses getreten, die „Gedanken und Erinnerungen des Fürsten Otto von
Bismarck". Dieser Augenblick der Ruhe macht es möglich, ein ruhiges Wort
über den Verfasser und sein Buch zu sagen.
Wenn ich sage, daß das Originalmanuskript dem bei Macmillan er¬
schienenen Werke als Grundlage gedient habe, so soll damit gesagt sein, daß es
sich nicht völlig mit diesem deckt. Die englische Übersetzung hat das Original
nur verstümmelt wiedergegeben, außerdem hat sie manche Stellen falsch ver¬
standen; daraus läßt sich leicht schließen, von welcher Zuverlässigkeit das war,
was nun dem deutschen Publikum als Buschs Worte gegeben wurde, nachdem die
fehlerhafte englische Übersetzung wieder ins Deutsche übertragen worden war, und
mit welcher Vorsicht die so entstandnen Auszüge, denen die böswillige Tendenz
klar auf der Stirn stand, hätten aufgenommen werden sollen. Es sei hier
gleich vorweg gesagt, daß mit dieser Bemerkung nicht alles verteidigt und gut¬
geheißen werden soll, was das Original enthalten hat, ebenso wenig der Augen¬
blick und die Art und Weise des Erscheinens. Es war nach meiner Meinung
ein Unrecht des Verfassers, das Buch nach England zu verkaufen, was
übrigens schon im Jahre 1895 geschehen ist; geschrieben war es selbstverständlich
schon viel früher und gewissermaßen uuter den Augen des Fürsten Bismarck,
der ja an der Abfassung des ersten Bandes („Graf Bismarck und seine Leute")
direkt beteiligt war. Busch überließ es damit der Willkür der Engländer, ohne
zu bedenke», ob er noch mit allem einverstanden sein würde, was er dem Manu¬
skript anvertraut hatte, wenn das Buch erschiene. Die Engländer haben ihre
Vollmacht natürlich dahin benutzt, daß sie alles, was nicht in ihren Kram paßte,
unterdrückten, während sie Dinge, die ein besonnener deutscher Verleger unterdrückt
Hütte, ohne Skrupel brachten. Und die Leute, die ein Interesse daran hatten,
aus dem Lärm über die Publikation Kapital für sich selbst zu schlagen, haben
sich selbstverständlich mit geschickter Hand alles das zu nutze gemacht, was sich zu
einem Radau benutzen ließ, ohne Rücksicht darauf, welchen Schaden der Brand
stiften konnte, den sie ohne Besinnen anfachten. Und leider hat sich ein großer
Teil der Presse zu Vorspanndiensten für sie benutzen lassen. Diese Leute, die
sich jetzt natürlich „seine Leute" nennen, werden nicht das Vergnügen haben,
weiteres Kapital aus meiner Publikation zu schlagen; sie wird durchaus un¬
anstößig sein und dennoch den Kanzler zeigen, wie er war, wie er dachte und
fühlte, und wie er sprach. Alles, was er Busch gesagt und für eine einstmalige
Veröffentlichung bestimmt hatte, werden auch diese Baude noch nicht bringen,
aber doch das, was jetzt gebracht werden kann, und sie werden auch damit
sah»n eine unvergleichliche Quelle für die Charakteristik des Fürsten auf lange
Zeit hinaus bleiben, trotz aller Schmach, die man auf Busch zu häufen gesucht
hat, der „wie Nikodemus zum Herrn" zu kommen pflegte, als von denen noch
kenie Rede war, die sich jetzt damit brüsten, daß sie sein Vertrauen gehabt
haben und in seine Geheimnisse eingeweiht waren.
Das Verhältnis zwischen den beiden Männern war gewiß eine höchst
wunderbare Erscheinung; sie allein verschafft schon einen eigentümlichen Ein¬
blick in das Leben des Fürsten. Der mächtigste Mann des Reichs läßt jahrelang
wieder und wieder diesen kleinen verleumdeten und gehaßten „Schriftsteller"
zu sich kommen, um eine Seele zu haben, der er sich anvertrauen kann, der
er sein Herz ausschütten kann — mau denke sich diesen mitten in einer von
ihm beherrschten Welt einsam dastehenden Mann von durchdringendem Verstand
und leidenschaftlichem Herzen, allen an Klarheit des Blicks und berechnender
Weisheit überlegen, der keinem trauen darf und keinem traut von allen denen,
die ihn umgeben, der ein Leben lang mit Übelwollen, Haß, Neid und Un¬
verstand zu ringen gehabt hat — es ist kein Wunder, daß er mißtrauisch
wurde. Und dieses Mißtrauen hat auch Busch zu Zeiten erfahren; es gab
ja Leute, die ein Interesse daran hatten, es bei dem Fürsten gegen ihn zu
erwecken, er selbst giebt mit gutem Humor Zeugnisse davon, was ihm natürlich
von edeln Seelen als Bedientenhaftigkeit ausgelegt wird. Busch zeigt es auch,
welche Opfer Bismarck von denen zu verlangen pflegte, die sich in seinen Dienst
stellten. Wie er von sich selbst sagte: x-itri^s inLorvi<zue!o con8umor, so verlangte
er von denen, die von ihm und vou seiner Sache überzeugt waren, daß sie sich
ohne Anspruch auf Dank dafür opferten; Dank haben weder Bücher noch Busch
von ihm erfahren, wenn er nicht darin lag, daß er ihre Arbeit hinnahm, solange
sie sich rühren konnten, und auch die Grenzboten nicht. Das hat natürlich gar
nichts damit zu thun, daß der Fürst, wie Busch zeigt, die Leute, die für ihn
thätig waren, gelegentlich rücksichtslos verleugnete und preisgab, wenn es not¬
wendig war, sein Verhältnis zu ihnen zu verschleiern; das konnte geboten sein,
und es ist kläglich, wenn man jetzt solche Stellen, in denen Busch von solchen
Vorkommnissen berichtet, dazu ausnutzen will, ihn zum Schuft zu stempeln.
Ich habe selbst amüsante Beispiele davon erlebt, wie wenig bei dem Fürsten
die rechte Hand von der linken wußte, wenn z. B. die Grenzboten einen Artikel
brachten, von dem mir bekannt war, daß er vom Fürsten ausging, und ich
denn von andrer Seite, die anch aus der Quelle zu schöpfen glaubte, gefragt
wurde, ob ich verrückt sei, solches Zeug aufzunehmen; die Grenzboten würden
öffentlich desavouiert werden/') Später, als Busch leidend und arbeitsunfähig
war, und der Fürst außer Amt und alt, hatte er andre Leute um sich —
welches Schlags die oftmals waren, ist sattsam bekannt. Es konnte schließlich
jeder von ihm hören, was er wollte, nud wie er es hören wollte, auch Aus¬
drücke über Busch, wie sie der edle Korrespondent der Leipziger Neuesten Nach¬
richten anführt; er brauchte ja nur den Fürsten ans einen solchen Verdacht zu
lenken, wie den, daß Busch der Verfasser des nach Buchers Tode in Schorers
Familienblatt erschienenen Artikels über Bismarck und Bucher sei, der von
jemand herrührte, den Busch nicht einmal kannte, soviel ich weiß, der aber
sehr viel besser wußte, wie Bucher dachte, als Herr s^. Es wird wohl ein
sehr allgemeines Gefühl gewesen sein, daß der Fürst vieles, was er in den
letzten Jahren gesagt hat, besser nicht gesagt hätte, und nicht vor den Leuten,
die sich jetzt ihrer Wissenschaft rühmen und Kapital daraus geschlagen haben.
Das Verhältnis der neuen Bismarckleute zu dem Fürsten wird am besten
durch die naive Mitteilung Horst Kohls gekennzeichnet (Leipziger Tageblatt vom
27. November 1898), daß dem Fürsten Herbert Bismarck erst nach dem Tode
seines Vaters dessen Aufzeichnungen „im Zusammenhange bekannt" geworden
seien. Wie tief andre Leute in das Vertrauen des Fürsten gezogen sein mögen,
kann man darnach ermessen, und die Memoiren zeigen eS ja. Was darin steht,
wußte in der Hauptsache alle Welt vorher — womit ihr Wert durchaus nicht
herabgesetzt werden soll, denn der besteht darin, daß man — soweit sie wirklich
zum Druck vorbereitet waren — das hört, was als des Fürsten ipsissiing.
vördll gelten sollte. Als eine kleine Illustration mag auch dienen, was der
Fürst mir sagen ließ, als ich ihm nach seiner Entlassung geschrieben hatte,
die Grenzboten würden ihn: treu bleiben, und ihn bat, er möchte mir — da
Busch damals arbeitsunfähig war, und meine andern politischen Mitarbeiter in
den Dienst der neuen Negierung übergetreten waren — jemand nennen, der
seine Anschauungen in den Grenzboten vertreten könnte; er ließ mir sagen,
ich möchte so oft zu ihm kommen, wie ich wolle, Schriftliches könne er mir
aber nicht geben, schon aus dem Grunde nicht, weil er niemand um sich habe,
der schreiben könnte. Dem Fürsten fehlte nicht, wie sich Herr Kohl ausdrückt
(Leipziger Tageblatt vom 27. November 1898), die antreibende Kraft, sondern
die fähige Kraft.
Ich habe von dieser Erlaubnis — um dies hier einzuflechten — keinen
Gebrauch gemacht, denn als dann jeder Beliebige, der sich an ihn herandrängte,
Zutritt bei ihm fand, und die Zeitungen sich mit Jnterviewerberichten füllten,
hielt ich es für besser, daß die Grenzboten von fern stehen blieben. Diese
sind dem Fürsten auch nicht treu geblieben. Das heißt, als die sozialen Fragen
begannen, das Volk aufzuregen, sind sie ihren eignen Weg gegangen und haben
sich dadurch des Fürsten Ungnade — man weiß, wie ungnädig sie sein konnte —
w hohem Maße zugezogen; sie haben nicht unterlassen, dem Fürsten ehr¬
erbietigst zu sagen, daß sie sich gerade deshalb für bismarckisch hielten, daß
sie auch gegen ihn das aussprächen, was sie für recht hielten, und sie glauben,
die Vismarckische Tradition jederzeit treu aufrecht erhalten zu haben in Gnade
""d Ungnade, anch bei der rücksichtslosen Verfolgung, der sie durch die
Bismarckpresse in den jüngstvergangnen Jahren ausgesetzt waren — in der
Hohcnzvllerntreue jedenfalls bester als die, die mit Genuß und mit geheuchelter
Entrüstung das nachdruckten, was aus Macmillans Buschausgabe gegen die
Hohenzollern ausgespielt werden konnte.
Was Busch geschrieben hat, hat er als der Vertraute Bismarcks geschrieben
und in dessen Auftrag, wie er auch der war, der seine Biographie Hütte schreiben
sollen, und der zuerst mit den Vorarbeiten der Memoiren betraut war; daran
kann alle Begeiferung nichts andern, und die ehrlichen Leute, die ein wirk¬
liches Urteil über den Wert der Tagebuchblätter Buschs haben, die haben auch
ruhig ihr Urteil in den Hexensabbath des von den neuen Leuten Bismarcks
geschürten Zeitungslürms hinausgerufen; es genügt mir, auf das Urteil von
Zarnckes Litterarischen Zentralblatt hinzuweisen, dem ja nur die Macmillansche
Publikation vorgelegen haben kann:
. . . Die deutsche Presse scheint fast einstimmig zu sein in der Verurteilung
des Buches von Busch, indiskret soll es sein und zugleich voller Entstellungen und
thatsächlich falscher Angaben. Eine Zusammenstellung von solchen Vergehen in
Nummer 233 der Leipziger Neuesten Nachrichten hat die Runde durch die Zeitungen
gemacht. Allein ein Teil dieser Fehler sind Druckfehler, andre erklären sich, wenn
man erwägt, daß über Verhandlungen über politische Dinge, über Gespräche u. dergl.
auch von den beteiligten Personen nur selten übereinstimmende Berichte verbreitet
werden, und daß endlich Irrtümer aller Art unvermeidlich sind bei einer solchen
Fülle vou Mitteilungen über die verschiedenartigsten Dinge.... Es ist nicht der geringste
Grund vorhanden, anzunehmen, daß Busch in diesen und ähnlichen Abschnitten sich
nicht bemüht haben sollte, treu zu berichten. Auch geben sie eine solche Fülle von
Zügen, die des Kanzlers Gepräge tragen, und sind so mannigfaltig, daß es un¬
denkbar ist, sie auf Erfindung zurückzuführen. Das hat auch keiner der Kritiker
gewagt, und ebenso steht es mit den Gesprächen Lothar Buchers mit Busch. Sie
geben einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis dieses vou Bismarck sehr hoch ge¬
schätzten Gehilfen, den wir 2c. aus Poschiugers Biographie doch uicht ganz be¬
greifen. . . . Wir meinen, daß man das Buch vou Busch schon deswegen höchst
willkommen heißen müßte, denn Lothar Bucher hat eine sehr lange Zeit hindurch
eine sehr wichtige Stelle im Dienste Bismarcks ausgefüllt. Aber wie erklärt sich
denn das so ganz verächtliche und leidenschaftliche Urteil über Busch und sein
Buch in jenem Artikel, dessen Verfasser nahe Beziehungen zu Friedrichsruh hatte,
und sonst bei Männern, die dem Hause Bismarck ucche stehen? Eben daraus, daß
sie dem Hanse und dem Kreise der Gehilfen Bismarcks nahe stehen, erklärt sich
der Zorn, denn in diesem Kreise gab es Gruppen, die sich befehdeten, gab es
Rivalitäten und eine Menge überreizte und überarbeitete Personen. Bismarck
strengte seine Leute gewaltig an, und wenige hielten aus. In deu Gesprächen und
Urteilen namentlich von Bucher und Busch kommt nun die eine Gruppe zu Wort,
und ihre Urteile über Herbert Bismarck, Keudell und andre vornehme Herren sind
hart, sind zudem mit der Rücksichtslosigkeit des Privatgesprächs formuliert. Daher
rührt der Zorn, der namentlich in einem, auch in jenem Leipziger Artikel abge¬
druckten Briefe Schweningers einen Ausdruck gewonnen hat, der auf ruhiger
Denkende nur die entgegengesetzte Wirkuug üben wird. Bei solchem Grimm hat
die historische Wahrheit schlecht wohnen. Busch soll die Äußerungen Bismarcks
plump und grob, sensatioushascheud :e. entstellt haben. Der Fürst habe schon selbst
gesagt: „Halten Sie mir Busch vom Leibe, er wird dreist und indiskret" :e.
Allein Bismarck hat ihm doch bis an das Ende seines Regiments und noch darüber
hinaus Vertrauen bewiesen. Daß der Journalist, der ihm in sehr verschieden
Formen dienen sollte, öfters nicht die Form traf, die Bismarck gewünscht hatte,
daß er ihm hier zu viel und dort zu wenig sagte, war doch unvermeidlich. Jene
Äußerung Bismarcks über Busch ist schon deshalb nicht anders zu nehmen wie
viele der Äußerungen über hoch und niedrig, die Busch berichtet, und die ihm
jetzt als Indiskretionen angerechnet werden. Sie sind auch so zu bezeichnen, aber
sind das uicht all die scharfen Urteile auch, die wir längst aus Bismarcks Munde
kolportieren? Gerade in den Tagen, in denen sie über Buschs Indiskretion klagte,
brachte eine der besten und vornehmsten unsrer Zeitungen die Erzählung eines
Studenten, wie Bismarck sich über den vom Kaiser geschenkten Hund geäußert
habe, eine Erzählung, die gewiß authentisch ist. die aber alles übertrifft, was an
Aehnlichem bekannt war. Ist es gestattet, das zu drucken, was tadelt ihr Busch?
Man kann bei Bismarck gar nicht umhin, solche Äußerungen zu beachten,
und es wäre auf das Höchste zu beklagen, wenn uns z. B. Gespräche wie das
Bismarcks über die Opposition, die sein Vertrag mit Österreich zum Schutz gegen
Rußland bei dem Könige und in einflußreichen Hofkreisen fand (II, 410), vorent¬
halten wären. Womit natürlich nicht gesagt ist. daß wir hier gleich ein genaues
Bild erhalten. — Man muß Bismarck ohne Hülle sehen und seine Worte in aller
Schroffheit hören; jeder weiß, daß die geistreiche drastische Art seiner Rede, und
daß die Energie, mit der er die Dinge einer bestimmten Beleuchtung zu unter¬
werfen wußte, dabei in Betracht zu ziehen sind. Wollte man ängstlich sein in
der Mitteilung scharfer Äußerungen Bismarcks über Lebende oder Freunde von
Lebenden, so hätte man auch seine Berichte aus Frankfurt, seinen Briefwechsel mit
Gerlach nicht abdrucken dürfen. ... Die Hauptsache aber ist. daß man die Klage
über die Indiskretion im allgemeinen mit der Korrektur einzelner Angaben bei
Busch uicht vermische. Jene allgemeine Klage ist unsers Erachtens ganz zurück¬
zuweisen. Auch wenn man die Erlaubnis. die Busch um 23. Februar 1879 von
Bismarck empfangen zu haben erklärt, daß er nach seinem Tode alles sagen dürfe,
alles, was er wisse (II, 334), nicht berücksichtigt, so lag in dem sonstigen Ver¬
halten Bismarcks schon eine Erlaubnis und Aufforderung. . . . Busch giebt ein
Bild von der Thätigkeit Bismarcks in der Presse, und zwar so reich und so lebhast,
wie es kaum ein andrer hätte geben mögen. Wir wußten längst, daß Bismarck
die Presse als einen Hauptschauplatz und eine Hauptwaffe des politischen Kampfes
gewürdigt hat, wir wußten das (abgesehen von der Periode nach seiner Entlassung)
aus seiner Frankfurter Zeit und vielen andern Nachrichten, aber das volle Bild
gewinnen wir doch erst jetzt, und damit hat uns Busch zur Erkenntnis des großen
Staatsmanns und der Art, wie er seine Pläne verfolgte, einen wichtigen Beitrag
geliefert. Merkwürdig tritt dabei wieder heraus, wie kühl Bismarck sich doch im
letzten Grunde zu Männern verhielt, denen er in vielen wichtigen Stunden und
Angelegenheiten ein weitgehendes, fast kameradschaftliches Vertrauen schenkte, und
das hat er Bucher und Busch gegenüber in großem Umfange gethan. Man darf
aber nicht sagen, daß sich die sonstige Kühle, wenigstens Busch gegenüber, daraus
erkläre, daß er ein untergeordnetes Werkzeug war. Denn Bismarck hat den Schrift¬
steller Busch nie anders behandelt, als er gebildete und kenntnisreiche Männer zu
behandeln pflegte. Es ist doch nichts Geringes, daß er ihn würdig hielt, seine
Politik namentlich in einer so angesehenen Zeitschrift wie die Grenzboten zu ver¬
treten. Und sodann ist zu beachten, daß die dem Range nach höher stehenden
Gehilfen schließlich kein näheres Verhältnis zu Bismarck gewannen. Man wird
den Tagebüchern von Busch vielfach Bestätigung finden für das, was der badische
Minister IM) aus der Versailler Zeit berichtet. Bismarck belebte die weitesten
Kreise und war allen unendlich, viel, blieb aber einsam. Auch so bevorzugte Mit¬
arbeiter wie Hcchfeldt, Tiedemann und Lothar Bücher wurden von ihm doch nur
als Werkzeuge behandelt und beurteilt. . . .
Wer der Verfasser ist, weiß ich nicht.
Derselbe Sturm, der jetzt in den Blättern getobt hat, tobte auch damals,
mis „Graf Bismarck und seine Leute" erschien. Was ist schon damals gegen
und über diesen Mann gesagt worden, was über das Buch selbst, das nur
den einen Zweck hatte, darüber zu belehren, was das deutsche Volk an dem
Kanzler habe, ihm Verständnis für dessen Größe zu erwecken, als er der
bestgehaßte Mann in Deutschland war. Wenn dem deutschen Volke das Ver¬
ständnis dafür gekommen ist. so hat Buschs Buch dazu wahrhaftig seine
guten Dienste geleistet, und es wird auch sür alle Zeit eine unschätzbare
Quelle für die Erkenntnis des Charakters des Fürsten bleiben. Auch diesem
Buche gegenüber war ja der Fürst, wie es Busch selbst erzählt, ins Wanken
gekommen; er mißtraute der beabsichtigten Wirkung, und das Spiegelbild,
das er sah, behagte ihm nicht in jedem Zuge; aber denen gegenüber,
die Busch zum Lügner stempeln mochten, frage ich: Was verschlägt es denn,
wenn sich in diesem Buche zeigt, daß auch sein Verfasser ein Mensch ist,
der liebt und haßt? Ist es nicht genng, daß seine leidenschaftliche Liebe dem
gilt, den das deutsche Volk jetzt endlich als seineu größten Heros verehrt?
Und daß er seinen Helden mit der größten Treue, wahr und ungeschminkt so
zeichnet, wie er war und wie er sich gab in seiner Große und mit seinen
Menschlichkeiten? Wenn Busch auch tausend Vorwürfe zu machen wären,
sie wären alle nichtig dem einen Verdienst gegenüber, daß er uns dieses
Bild gezeichnet hat. Haben wir denn ein besseres neben diesem oder nur ein
andres? Keiner von denen lebt mehr, die die großen Zeiten in nahem Umgang
mit dem Fürsten erlebt haben, es waren ja nur wenig Leute, denen er sein
Vertrauen schenkte und schenken konnte, auf deren unbedingte Treue er sich
verlassen durfte. Und wie viele von denen, mit denen er intimer verkehrt
hat, waren denn imstande gewesen, ein Bild dieses Mannes zu zeichnen?
Wenigstens Busch hat es vermocht, und wenn er auch keine abgerundete Bio¬
graphie des Fürsten Bismarck geschrieben hat und hat schreiben wollen, so
wird doch kein Bild des Kanzlers gezeichnet werden können, ohne daß die
Züge, die er uns aufbewahrt hat, diesem Bilde eingefügt werden müßten.
Und voraussichtlich wird das, was Busch aufgezeichnet hat, auch in der Dar¬
stellung nie übertroffen werden, denn Busch konnte, was nicht viele können,
er konnte meisterhaft schreiben! Hat ihn in Einzelheiten sein Gedächtnis im
Stiche gelassen, so kommt das doch wahrhaftig dem gegenüber nicht in
Betracht, was wir ihm zu danken habe». Ihn deshalb zu begeifern ist nur
dem Neid möglich. Wie will man es bezeichnen, wenn man, wie man es ihm
gegenüber gethan hat, in einem Atem einen Kranken für unzurechnungsfähig
erklärt, und ihn für das, was er in der Unzurechnungsfähigkeit gethan haben
soll, einen Schurken und einen Lügner nennt? Die Artikel in den Leipziger
Neuesten Nachrichten, eine Anhäufung unwürdiger Schimpfereien, schmücken sich
auch mit dieser Perle. Wie kläglich ist der Vorwurf, den man gegen Busch
erhebt, insbesondre der Geldschneiderei gegenüber, die mit den Bismarckschen
Memoiren betrieben wird, wenn man behauptet, er habe seine Publikationen
allein des schnöden Geldgewinns wegen gemacht! Ich glaube nicht, daß einer von
unsern novellistischen Größen einen Roman billiger verkaufen würde, als Busch
seine Bände nach England hergegeben hat, für die englische und alle andern
Ausgaben und Auflagen zusammen, und ich kann es wohl am besten bezeugen,
ob ihm der Geldgewinn jemals das Ausschlaggebende bei seiner Arbeit gewesen
ist; ich habe die Erfahrung auch nicht einmal gemacht, daß es der Fall gewesen
wäre. Können alle die, die bei der Veröffentlichung der Memoiren beteiligt
sind, etwas ähnliches von sich behaupten?*) Freilich, im Auftrag des Fürsten
haben wohl auch sie gehandelt, wenngleich die überhastete Ausgabe seltsam
berührt. Aber sie sind es, die es bestreiten, daß Busch im Auftrage des
Fürsten gehandelt habe — der es gethan hat lange vor der Zeit, wo der
Fürst „niemand um sich hatte, der schreiben konnte," weil ihm eben Busch und
Bücher fehlten.
Ich habe das deutsche Originalmanuskript der Tagebuchblätter Buschs
von dem englischen Verleger gekauft, um es in der Form zu veröffentlichen,
in der es geboten werden kann, weil ich dem deutschen Volke damit einen Schatz
zugänglich mache, der durch nichts andres ersetzt werden kann, auch nicht durch
die eignen Memoiren des Fürsten selbst. Denn es ist klar, daß dieser anders
zeichnet und Andres, als jemand, der ihn zeichnet. Der Fürst tritt uns
aus Buschs Aufzeichnungen nicht in der Philistergestalt mit Schlafrock und
langer Pfeife entgegen, als die ihn der Philister zu betrachten liebt; als den
soll ihn die Nachwelt nicht betrachten lernen, sie soll ihn sehen mit seinen
Ecken und Kanten, sie soll ihn sehen bei seiner Gedankenarbeit und soll daraus
verstehen lernen, was er gewollt, und wofür er gekämpft und gelitten hat mit
seinem Haß und seiner Liebe; sie soll ihn sehen als den Mann, der von sich
gesagt hat: MI nunriwi g. wo -Msnum xuw. Nichts andres hat Busch zeigen
wollen, und er ist der einzige, der es gezeigt hat. trotz der Memoiren, deren
erhart Hauptmann ist erst fünfunddreißig Jahre alt, und doch
hat er schon seinen Biographen gefunden, der uns in einem
dicken Buche von 271 Seiten seine Lebensgeschichte und seine
künstlerische Entwicklung vorführt.*) So gut haben es Schiller
und Goethe nicht gehabt, ja kaum einer vor ihm. Hoffentlich
geht es ihm nicht in anderm, vor allem in der Wertschätzung, umgekehrt wie
jenen. Hähne, die so früh krähen, frißt am Abend die Katz, sagt ein Sprich¬
wort. Aber man kann es vorläufig noch nicht wissen, ob ihm Ibsens Schicksal
erspart bleibt, der sich schon bei Lebzeiten überlebt hat. Wir gehören nun
einmal einer Zeit an, wo die Kritik und die Litteraturgeschichte mit der Pro¬
duktion Schritt zu halten und jedes bedeutendere Ereignis der unmittelbaren
Gegenwart zu bucheu und in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen
suchen. Die Litteraturgeschichte unsrer Tage ist Gegenstand von Universitäts¬
vorlesungen wie von zahllosen Einzelschriften und Aufsatzsammlungen. Es
wäre kein Wunder, wenn die lebenden Dichter dadurch in ihrem natürlichen
Schaffen beeinflußt, ja vielfach gestört würden. Man denke dem nach, daß ein
Dichter, dem das reifere Mannesalter noch bevorsteht, Reflexionen über sich
selbst, über seine Einordnung in die Bestrebungen und Richtungen der Dicht¬
kunst liest! Es muß ein starker Charakter sein, der sich da noch frei hält und
das Wort Goethes auf sich anwenden kann: „Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet." Nun, bei Hauptmann wird man ja noch sehen,
ob und wohin ihn der Geist treibt, und ob es sein eigner Geist ist oder ein
fremder Impuls von innen oder von außen. Er hat mit seinen fünfunddreißig
Jahren schon eine erkleckliche Zahl von dramatischen Dichtungen geschaffen und
sich auf so verschiednen Gebieten versucht, daß es einen Mann wie Dr. Paul
Schleuther, seinen Freund und Gönner, wohl reizen konnte, dem Entwicklungs¬
gange dieses Geistes nachzuspüren. Schleuther, der langjährige Kunstprophet
und Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schloß diese seine Laufbahn mit
seinem Buche über Hauptmann gewissermaßen ab, als er zum Leiter des
Hofburgtheaters in Wien berufen wurde. Da weiß man denn wirklich nicht,
welches Interesse aktueller ist, das für den Dichter der Versunknen Glocke,
oder das für den Hofbnrgtheaterdirektor, von dessen Geist und Auffassung uns
ja doch das Buch zugleich ein Bild giebt. Über Hauptmanns Dramen ist vor¬
läufig wohl genug gesagt worden, aber sie in der Beleuchtung eines der fort¬
geschrittensten Kritiker anzuschauen, dürfte immerhin einige Teilnahme wecken.
Berichten wir zunächst über das, was uns das Buch, man sagt, nicht
ohne wesentliche Hilfe des Dichters selbst, über den Werdegang Hauptmanns
mitteilt.
Als der Knabe am 15. November 1862 zu Obersalzbrunn in Schlesien
geboren wurde, war sein Vater dort der wohlhabende Besitzer des großen Gast¬
hofs „Zur Preußischen Krone." und es konnte alles Nötige auf seine mW
seiner Brüder Ausbildung verwandt werden. Er besuchte erst die Dorfschule,
dann kam er nach Breslau auf das Realgymnasium. Aber er lernte schlecht
und hatte wenig Sinn für Schularbeit, sodnß er es nur bis Quarta brachte
und dann zu Verwandten aufs Land gegeben wurde, um dort die Landwirt¬
schaft zu lernen. Der Vater, der unterdes verarmt war und die Gastwirt¬
schaft eines kleinen Bahnhofs übernommen hatte, mußte darin zunächst eine
Pekuniäre Erleichterung sehen. Aber Gerhart hielt nicht aus; er sand auch
an der strengen Landarbeit keine Freude. Nur gewisse religiöse Anregungen
nahm er aus dem Hause des Onkels Schubert mit hinweg, dem er den einzigen
früh verstorbnen Sohn hatte ersetzen sollen. „In den Jahren der Entwicklung,
sagt Schlenther, drückte diese streng religiöse Geistesrichtung dem lebhaften
Knabengemüt, welches ohnehin zur transzendentalen Spekulation neigte, einen so
starken Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum etwas Größeres
gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges irgendwie und irgendwo spüren
zu lassen. Überall ist zu fühlen. wie tief und auch wie ungestüm Glaubens¬
dinge den Geist und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. Schon im
Elternhause war Gott etwas mehr gewesen als ein guter Mann. Im täg¬
lichen Tischgebet, das eins der Kinder sprechen mußte, wurde seiner gedacht.
Und wie die Mama Vockerath der »Einsamen Menschen,« so wird auch ihr
Urbild, die Mutter Hauptmann in der Preußischen Krone, wenn es nichts zu
braten und zu backen gab, am liebsten Geroks Palmblütter und Lavaters Worte
des Herzens gelesen haben. . . . Das Schubertsche Haus war eine weltliche
Domäne herrnhutischen Geistes. Hier erholten sich an schönen Sonntagnach¬
mittagen in traulicher Geselligkeit, wohl auch beim Schachbrett, das Onkel
Schuberts irdische Leidenschaft war, die Dorfpastoren der Umgegend von ihrer
Morgenpredigt, der die Hausherrschaft zuvor andächtig gelauscht hatte. Auch
si'r Tante Julie und Onkel Gustav war das irdische Vergnügen in Gott des
Lebens bester Teil. Und wie sich fromme, reine Christenherzen immer am
höchsten, am heiligsten, am freudigste» auf den Schwingen der Musik über die
Zeitlichkeit erheben, so war auch für Tante Julie und deren älteste Schwester,
die Respektsperson der Familie, für das kluge Fräulein Auguste Strühler, die
ihren verwachsenen Körper am liebsten in Herrnhuter Tracht kleidete, die Musik
der herrlichste Lebensgenuß."
Der achtzehnjährige Jüngling sollte sich nun in der bildenden Kunst ver¬
suchen, da er im Kneten und Formen mancherlei Geschicklichkeit gezeigt hatte.
Aber auf der Königlichen Kunstschule in Breslau machte er sich bald unleidlich,
wiewohl man ein gewisses Talent anerkannte; er vertiefte sich damals schon
mehr und mehr in die Dichtkunst und ließ sich durch die altgermanischen
Sagen zum Drama und Epos begeistern. Da er jedoch je länger je mehr
die klaffenden Lücken seiner Schulbildung fühlte, so begab er sich 1882 nach
Jena, wo sein Bruder Karl bei Haeckel Naturwissenschaften studierte, und hörte
an der Universität Vorlesungen, wozu der Großherzog dem Breslauer Kunst-
schüler ausdrücklich Erlaubnis gab. Daß dieses Studium ihm sonderliche
Förderung gebracht habe, wird man bei seiner überaus mangelhaften Vor¬
bildung bezweifeln können. Aber loin: er spielte Student und verkehrte im
akademisch-naturwissenschaftlichen Verein, dessen Heros Darwin war. Jedoch
auch in Jena beim Studieren hielt er nur ein Jahr aus, dann zog er in die
weite Welt, nach Hamburg und auf einem Kauffahrteidampfer ins Mittelländische
Meer. Von Marseille gings zu Eisenbahn nach Genua, Neapel, Capri und
Rom, von wo ihn das Fieber nach Deutschland trieb. Im nächsten Jahre
eilte er nach Rom zurück und richtete sich dort eine Vildhauerwerkstatt ein.
Allein eine Typhuserkrankung machte seinem Streben ein schnelles Ende. Er
flüchtete sich als Genesender in das Haus seiner Braut, der Tochter eines ver¬
storbnen Großkanfmanns, der in Hohenhaus bei Dresden eine schöne Besitzung
hatte, und dessen zwei von seinen fünf herrnhutisch erzognen Mädchen schon
einen Lebensbund mit Gerhards ältern Brüdern geschlossen hatten.
Noch immer schwankte der zweiundzwanzigjährige Jüngling zwischen zwei
Künsten hin und her, als er sich im Sommer 1884 an der Dresdner Akademie
wieder mit Aktzeichncn beschäftigte. Er drückte seinen Kampf in Versen aus:
In diesem Zwiespalt reifte in ihm der ungeheuerliche Plan, beiden Musen
dadurch zu dienen, daß er selbst zur Bühne ging. Eifrig begann er zu dem
Zwecke 1885 Studien in Berlin, doch gab er auch diese Idee bald wieder auf.
In dieser Zeit verheiratete er sich, obwohl er erst 22 ^ Jahre alt und noch
dazu kränklich war. Die Verhältnisse seiner Braut gestatteten ihm, „bescheiden,
aber standesgemäß zu leben, ohne litterarische Frondienste annehmen zu müssen."
Kurze Zeit lebte das junge Paar in Berlin und auf Rügen, dann siedelte es
sich in Erkner an, wo ihm drei Söhne geboren wurden.
Immer stärker übermannte Hauptmann jetzt das Gefühl seiner splitter¬
haften Bildung:
Aber der Dichtkunst allein galt nunmehr sein Leben. Waren bisher
überall Anfänge ohne Fortsetzungen, nirgend Ausdauer und Thatkraft, jetzt geht
es zu energischer dichterischer Arbeit. Zunächst bewegt sie sich uoch in aus-
getretnen Geleisen: ein Gedicht ans den Tod des Gracchus, eine dramatische
Dichtung, betitelt „Das Erbe des Tiberius." ein bald nach dem Druck (1835)
wieder zurückgezognes und eingestampftes Epos „Promethidenlos," eine kleine
Sammlung von Gedichten, die schon vor dem Auslaufen aus dem Hafen dnrch
Schuld des Verlegers Schiffbruch litt, ein autobiographischer Roman, der
schon in der Idee stecken blieb, das war der Anfang, das alles lag vor dem
Sonnenaufgang, d. h. vor der Zeit, wo durch den Umgang mit den jungen
Naturalisten in Berlin der neue Hauptmann geboren wurde. Es war im Jahre
1^89, als ihm im Verkehr mit Arno Holz, dem Verfasser der kleinen Skizzen
aus dem wirklichen Leben, die unter dem Titel „Papa Hamlet" zusammen¬
gefaßt sind, die Augen aufgingen.
Schlenther schildert diesen Entwicklungsgang, worin ein Stück modernster
Litteraturgeschichte w nuos liegt, folgendermaßen: „Holz ging in seiner Papa-
Hamletdoktrin vom Naturalismus Zolas aus. Er that damit an sich ein
rühmeuswertcs Werk. Er überwand die sogenannte neue Schule, in deren
laute Lärmtrompete am schrillsten der Größenwahn Karl Bleibtreus blies. Er
überwand diesen lächerlichen Pseudorealismus, der mit Zolas Naturanschauung
nicht das mindeste zu schaffen hatte und sehr bald an seiner eignen Aufgeblasen¬
heit zerplatzte. Arno Holz trat auf solidern Wegen dem Hyperästhetizismus
und Superklassizismus früherer Generationen entgegen. Seine und Schlafs
treuen Kopien des scharf beobachteten Kleinlebens waren nicht nur tüchtig,
sondern auch eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weil sie die Dichtkunst fester
an den allgemeinen Geist des modernen Lebens banden. Überall hatte die
rauhe Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschen eingegriffen. Bismarcks
Realpolitik, die soziale Forderung des Proletariats, der induktive, detaillierende
Grundzug moderner wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwicklung
aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statistischen Materials, die großen
Schöpfungen ausländischer Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer — dies
alles wirkte zusammen, um auch in der deutschen Litteratur die Notwendigkeit
einer realistischen Darstellungsweise zur Geltung zu bringen."
Was hier an wichtigen Einzelheiten zusammengetragen ist, entspricht im
allgemeinen den Thatsachen, jedoch das Wichtigste ist nicht hervorgehoben. Es
besteht in der einseitigen Übertreibung halb- und mißverstandner und falsch
popularisierter und verallgemeinerter Ergebnisse oder vielmehr Theorien und
Hypothesen der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie, wie der Entwick-
lungs- und Vererbungslehre, und vor allem in der Auffassung der Natur als
einer lediglich materiellen, in der der Mensch ausschließlich ein Produkt seiner
Entstehung und der ihn umgebenden Verhältnisse und Umstünde ist, die Be¬
trachtung der Welt als einer entgeisteten und entgöttlichten. Man kann nicht
sagen, daß diese Welt- und Kunstanschauung Hauptmann erst von Holz ein¬
geimpft worden sei. Schon seit dem Besuch der Jenenser Universität und der
Berührung mit Haeckel, sicher seit 1884 zeigte er eine gewisse Neigung zum
Naturalismus, der sich merkwürdigerweise zunächst immer mit einer Hinneigung
zur Hefe des Volkes, dem Mitleid mit dem Elend und Leiden der Niedrigen
verbindet, worin seine beste Seite hervortritt. Schlenther weist darauf hin,
wie er schon in dem erwähnten Promethidenlos einen Blick in jene Welt ge¬
worfen und sie mit den saftigen Farben des neuen Stils geschildert hatte:
Schon hier sieht man, daß es bei Hauptmann nicht die Freude am Gemeinen
und Elenden ist, die ihn treibt, es zu schildern, sondern ein dieses Mitgefühl,
mit dem man denn auch seine Dramen „Vor Sonnenaufgang" und „Die
Weber" zu rechtfertigen sucht. Er fährt fort:
So brachte also die Berührung mit Holz nur das zur Entfaltung. was
schon in Hauptmanns Seele schlummerte. Es waren Jugendeindrücke der ge¬
schilderten Art, die zunächst zur dramatischen Gestaltung drängten und in seinem
hart umstrittuen naturalistischen Erstlingsdrama „Vor Sonnenaufgang" auch
gelangten. Vertierte Bauern, die sich, durch die Ausbeutung plötzlich entdeckter
Kohlenlager reich geworden, dem niedrigsten Sinnengenuß ergeben haben und
dem Dämon Alkohol verfallen sind, werden mit der brutalste» Naturwahrheit
dargestellt, die sich je in das Gebiet der Kunst gewagt hat. Nichts ist ge¬
schehen, um den Stoff im Sinne der bisherigen Ästhetik künstlerisch zu ver¬
werten oder zu gestalten und ihn durch geeignete Gegenbilder in die Sphäre
allgemeinerer Lebenswahrheit zu erheben. Es ist ein Momcntbild von der
schmutzigsten Seite des Lebens, gewissermaßen ein Ausschnitt, dabei aber doch
eine solche Anhäufung des Schmutzes, eine solche Zusammendrüngung ekel¬
erregender Motive, daß dadurch das Glaubhafte verloren geht, also die Jlluston
der Wahrheit zerstört wird.
Schlenther sucht das Werk zu retten, aber was er darüber vorbringt,
verrät durch das nebelhafte, Ungreifbare des Ausdrucks nur zu deutlich die
Unsicherheit der Überzeugung. Er sagt: „Auch in dem neu erstandnen Drama
»Vor Sonnenaufgang,« das ursprünglich »Der Sämann« betitelt werden sollte,
trillern die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied tönt unverdrossen jenseits von
Gut und Böse(?), jenseits der moralischen Gegensatze, in denen sich dieses soziale
Drama kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich einen leidenschaft¬
lichen Anteil an den moralischen Dingen. Er zeichnet Personen und Zustände ent¬
weder mit Liebe oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie ihn die
Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beobachtet«?), ist hier noch weniger die
Rede als beim Moralisten Zola oder in Tolstois »Macht der Finsternis.« Was
Werke wie »Die Macht der Finsternis« und »Vor Sonnenaufgang« erst natura¬
listisch werden läßt, ist die von keiner konventionellen Rücksicht befangne, unver-
srorne Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Natur¬
verfassung des Tieres annähert(!). Die naturalistische Kunstform klebt noch
am naturalistischen Stoff. Die Bedeutung des jungen Werkes, das von Tolstoi
vielfach abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, un-
polierte und uncirrangierte Wirklichkeit, und zwar häßliche Wirklichkeit in einer
gewissen Kunstform auf die Bühne zu bringen."
Daß mit dieser Rederei gar nichts anzufangen ist, liegt auf der Hand.
Was er an dem Werke retten will, die Nachbildung einer willkürlich zusammen-
gekuppelteu Wirklichkeit, wird ja nicht bestritten. Wo aber bleibt das Künst¬
lerische, das Ästhetische? Ohne Zweifel hat doch die Kunst auf das ästhetische
und ethische Gefühl der Menschen, für die sie da ist, auf die sie wirken soll,
eine gewisse Rücksicht zu nehmen, und zwar die dramatische Dichtkunst ebenso
wie die bildende Kunst, Malerei und Plastik, in ganz besonderm Maße. Denn
beide führen in Wirklichkeitsnachbildung das den Menschen vor Augen, was
sie darstellen wollen. Es ist doch einfach Unsinn, zu sagen: Alles, was ist,
ist auch darstellbar. Es giebt doch Vorgänge im menschlichen Leben, die sich
sicherlich von selbst von öffentlicher Vorführung ausschließen, die weder auf
die Bühne gebracht, noch in einer Marmorgruppe ausgeführt werden können,
man braucht gar nicht einmal an die Beispiele zu denken (sie lassen sich hier
nicht wiedergeben), mit denen Herr v. M. jüngst den Herausgeber des Kunst-
warts sehr drastisch abgeführt hat. Schlenthcr aber thut so, als wenn diese
brutale Rücksichtslosigkeit, mit der Hauptmann hier verführt, gerade das Große
an seinem Drama wäre, wenn er schreibt: „Einfach furchtbar, wie Doktor
Schimmelpfennig von den Zuständen des Witzdorfer' Bauernhofes (in »Vor
Sonnenaufgang«) sagte, sind auch im »Friedensfest« (dem nächsten Drama)
die Zustände der Familie Scholz. Auch hier waltet nicht die geringste Rück¬
sicht auf irgend welche Schonungsbedürfnisse des Publikums und Schönheits¬
regeln stoffhuberischer Ästhetiker."
Man sieht, der neue Hofburgtheaterdirektor steht auf dem fortgeschrittensten
Standpunkte der Ästhetik. Ob er diese in Wien ins Praktische übersetzen wird,
und ob sich die lieben Wiener das gefallen lasten werden? Er hatte natürlich
so manchen Genossen, der gerade so dachte wie er; heute freilich, bei ruhiger Über¬
legung, mögen es nur noch wenige sein, die ihm ohne Einschränkung zustimmen.
Einen wollen wir wenigstens nennen, dessen Urteil Schlenther in seinem Buche
verewigt hat. Er erzählt: „Als das schlecht und aus schlechtem Papier ge¬
druckte Büchlein (mit dem neuen Drama »Vor Sonnenaufgang«) erschienen
war, sandte der Verleger ein Exemplar sofort auch an den damals siebzig¬
jährigen Dichter Theodor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebens¬
wahren Meisterroman »Irrungen Wirrungen« bei Schöngeistern und Philistern
so manches drollige Ärgernis erregt hatte. In seiner höflich graziösen Art
antwortete der alte Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger.
Aber dieser Brief war mehr als eine bloße Artigkeit. Theodor Fontane be¬
glückwünschte den Verleger, ein so bedeutendes Werk edlere zu haben. Er
nannte dieses Werk »die Erfüllung Ibsens,« und er, der vieljährige zahmste
Kritiker des zahmsten Hoftheaters, sprach ganz naiv den verwegnen Wunsch
aus, dieses Drama aufgeführt zu sehen. Er erklärte sich bereit, es der „Freien
Bühne," die eben damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser
Brief des alten vornehmen, genialen Dichters machte auf Gerhard Hauptmann
und alle, die ihm nahe standen, einen tief ergreifenden Eindruck." Offenbar
soll er das auf alle Leser des Schlentherschen Buches auch. Aber auf manchen,
der die Entwicklung, die Fontanes Erzählknnst seitdem genommen hat, ebenfalls
in mancher Hinsicht für eine Verirrung und Wirrung hält, namentlich auf
alle Nüchternen wird er diesen Eindruck nicht machen.
Die fanatischen Freunde aber, vor allem Dr. Otto Brahm, damals der
Vorsitzende der Gesellschaft „Freie Bühne," jetzt der Direktor des Deutschen
Theaters, die beiden Harls u. a. gingen dafür durchs Feuer. Die Aufführung
erfolgte, und die wüsten Szenen, die sich dabei abspielten, sind noch in aller
Gedächtnis. Die Roheiten des Stücks hatten eine Roheit unter den Zuschauer«
entfesselt, wie sie wohl noch nie in einem Theater vorgekommen war. „An
den Protesten der Gegner, gesteht Schlenther, erwärmte und erhitzte sich der
Beifall derer, die in diesem neuen Werke Jugend, Kraft, Mut und eine große
dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie
die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge
Dichter dem tollsten Hexensabbath Stand halten."
Im Jahre 1890 folgte „Das Friedensfest," Szenen aus einem verrotteten,
verkommnen Familienleben, in dem alle einzelnen Glieder gegen einander wüten
und die Möglichkeit eines Ausgleichs, einer Versöhnung immer wieder zu
Schanden machen. Schlenther bezeichnet diesen Zustand als Schicksal, als
Faktum, gegen das ihr Wille nicht ankomme, statt von einer verwahrlosten
Gesellschaft zu reden, die die sittlichen Mächte zu ihrer Rettung nicht benutzt.
„Immer wieder, so sagt er, legt sich mit schwerem, unsichtbarem Druck eine
Geisterhand auf diese langenden Seelen, und im Handumdrehen ist alles wieder
beim schlimmen Alten. Unselige Menschen gehen hoffnungslos durch ihr
Schicksal, das an ihre Familienart festgebunden ist. Ihr Fatum liegt ihnen
wie eine Krankheit in den Adern, schleicht wie ein Bandwurm durch ihre Ein¬
geweide, zehrt wie ein Fieber an ihren Knochen."
(Fortsetzung folgt)
le Ausstellung des künstlerischen Nachlasses des um 31. Mai d. I.
zu Rom verstorbnen Geschichtsmalers Friedrich Geselschap, die die
Königliche Akademie der Künste, einer Ehrenpflicht nachkommend, in
ihren Räumen veranstaltet hatte, ist nun geschlossen, und kaum jemals
wieder wird die Gelegenheit geboten werden, das gesamte Schaffen
dieses großen Künstlers zu überblicken, in seine sich rastlos andeute
Arbeitsweise einen Einblick zu gewinnen, und die geradezu staunenerregende Fülle, aus
der er schöpfte, zu bewundern. Während viele Künstler, bald zufrieden gestellt und
glücklich, eine Komposition im Entwurf zu einem formalen Abschluß gebracht zu habe»,
diese in der vergrößerten Ausführung im wesentlichen beibehalten, thut sich Geselschap
im Gestalten der Komposition nie genug, und immer wieder versucht er eine andre,
den geistigen Inhalt noch deutlicher zum Ausdruck bringende Lösung. Erstaunlich
war die Leichtigkeit, mit der er komponierte. Wer je Gelegenheit hatte — aber nur
wenige» Menschen ist dieses Glück zu teil geworden — zusehen zu dürfen, wie sich
seine Gedanken verkörperten, wie sich im kleinsten Format, weil dieses den besten und
schnellsten Überblick gewährt, der Rhythmus der Linien zusammenschloß, wie dann
beim zweiten Übergehen der flüchtigen Linien die Form immer mehr zu ihrem Rechte
kam, wie jeder Strich die Bewegung seiner Gestalten und ihren geistigen Ausdruck
verbesserte und vertiefte, der beugte bewundernd sein Haupt vor dem Genius, der
diesen Mann beseelte, und fühlte sich gehoben und geehrt, die fleißige Hand drücken
zu dürfen, die das zu vollbringen vermochte.
Gerade der Umstand, daß so viele leider nnansgeführte Entwürfe dort aus¬
gestellt waren, daß man das Entstehen und Werde» eines Kunstwerks von der ersten
traumhaft geschauten, flüchtigen Erscheinung an bis zur formvollendeten, die Wirk¬
lichkeit nachtäuschenden, greifbaren Deutlichkeit verfolgen konnte, gerade dies hat die
Ausstellung in der Akademie so interessant gemacht. Sie war übersichtlich ange¬
ordnet. Im ersten, den: sogenannten Uhrsaale, waren die Werke seiner letzten
Lebensjahre vereinigt, fast alles Arbeiten, die unausgeführt geblieben sind. Im
anstoßenden, langen Saale sah man die Vorbereitungsarbeiten für das Hauptwerk
seines Lebeus, die Ausmalung der Kuppelhalle des Zeughauses, und im sogenannten
Lindenkorridore hingen Jugendarbeiten, Studien köpfe, Porträts und kleinere Arbeiten
verschiedner Zeiten und verschiednen Charakters. Doch gehen wir zum ersten Saale
zurück. Dort, an der Hnuptwand, erregen vor allem die Kartons und Entwürfe
für die Ausmalung der Friedenskirche in Potsdam unsre Aufmerksamkeit. Mit
dieser großen Arbeit beschäftigte er sich seit vier bis fünf Jahren. Sie ist auch
zum Teil, d. h, in einzelnen Bildern weit über die Anfänge des bloßen Entwurfs
hinausgebrncht. Die Anbetung der Hirten, ferner Christus betend am Ölberg vor
der Verhaftung, und die Bergpredigt waren schon bis zur Vollendung des großen
Kartons gediehen. Die übrigen sieben Bilder — jede Seite der Basilika sollte mit
fünf Bildern geschmückt werden — sind in mehr oder weniger vollendeten Skizzen
vorhanden und waren gleichfalls ausgestellt. Besonders die Komposition des Abend¬
mahls hatte ihn wieder und immer wieder beschäftigt. Nach der in jeder Beziehung
vollendeten Darstellung dieses Gegenstandes durch Lionardo da Vinci schien es
Geselschap fast unmöglich, dieses Bild zu gestalten. Der Tisch muß im monumen¬
talen Bilde quer vor dem Beschauer stehen, die dem Beschauer zugewandte Seite
muß frei bleiben, weil sonst nur Rnckenfiguren den Vordergrund des Bildes ein¬
nehmen würden; Christus muß als geistiger Mittelpunkt der Situation in der Mitte
des Bildes sitzen. Und wenn Geselschap nnter diesen Bedingungen seine Kompo¬
sition gestaltete, so wurde jedesmal Lwnardo daraus: „Da werden die klugen Leute
wieder' schreien, ich hätte Lionardo kopiert," sagte er dann mit der Ruhe und dem
Lächeln überlegner Weisheit.
Ferner waren im Uhrsaale der Entwurf zur Ausschmückung der Apsis der
Fnrstengruft in Dessau, eine Komposition in byzantinisch-romanischer, archaistischer
Formengebung. die klugen und die thörichten Jungfrauen darstellend, und eine große
Anbetung der Könige, bestimmt für die Kaiserliche Loge in der Kaiser Wilhelm-
Gedächtniskirche; endlich an der Eintrittswand das Schlußwcrk seines Lebens, sein
„Schwanengesang," die Entwürfe für den großen Festsaal des Rathauses zu Ham¬
burg. Die beiden Schmalseiten dieses Saales sollten je ein größeres Bild als
Schmuck erhalten, die den Fenstern gegenüber liegende lange Wand drei kleinere
Bilder, aber auch diese immerhin noch von ungeheuern Dimensionen. Wichtige Ab¬
schnitte in der Geschichte Hamburgs waren darzustellen. Die Einführung des
Christentums unter Karl dem Großen, die Schlacht bei Boruhövede 1227, in der
der Sieg der Hvlfteiuer unter dem Grafen Adolf IV. über die Dänen dadurch ent¬
schieden'wurde, daß die Madonna uns das Gebet des Grafen hin ihren Mantel
vor die Sonne hielt, sodaß er mit seineu Mannen im Schatten kämpfen konnte;
drittens: das Einbringen des gefangnen Seeräubers Störtebecker. der den Ham¬
burger Handel lange Jahre schwer geschädigt hatte. Viertens das Wiedererstehen
Hamburgs aus dem Schutt und der Zerstörung dnrch die Franzosen nnter Dcwout
1813 bis 1314, und fünftens: Hamburgs Augliederung an das Deutsche Reich.
Die Entwürfe zu diesen Vorgängen sind einfach und verständlich, der Aufbau
der Kompositionen ist in großem monumentalen Stile gehalten. Man erinnere sich
nur der wundervollen Komposition der Schlacht von Bornhövede, wie die Madonna,
das Gebet des auf seinem Streitroß sitzenden und die Arme zu ihr emporhebenden
Grafen erhörend, mit ihrem Mantel die Sonne verhüllt; und jener des vierten
Bildes, auf dem die Hammonia, die arm und von allem entblößt war, neu be¬
kleidet und zu neuen, Glanz und Ausehen gebracht wird. Von links her erscheint
Blücher an der Spitze des Laudwchraufgebots, Freiheit und Sicherheit wieder¬
bringend, und nach rechts hin entflieht Napoleon und der Marschall Davout, den
die Furien mit wilder Gewalt verfolgen und packen. Und diese großartigen Ent¬
würfe müssen unausgeführt bleiben! In der That, es war grausam vom Geschick,
die künstlerische Fähigkeit in einem Menschen zu so hoher Entwicklung zu bringen
und ihm dann wiederum die Kräfte zu rauben, den Körper zu lähmen, sodaß er
unfähig wurde, das auszuführen, was der Geist ersnun. Und so werden und
müssen diese letzten künstlerischen Gedanken Gesclschaps lediglich Entwürfe bleiben!
Aber auch als solche sind sie herrlich, und die Stadt Hamburg kann stolz sein auf
diesen Besitz. Dem Maler, dem künftig die Aufgabe zufallen wird, das Hamburger
Rathaus zu schmücken, werden sie ein mahnendes Vorbild sein zu großer Auffassung
der gestellten Aufgabe und ein Fingerzeig, wie man monumental schaffen muß; aber
eins ist sicher, jeder, wer es auch sei, wird diesen Entwürfe» gegenüber mit seiner
Gabe einen schweren Stand haben.
Der anstoßende, sogenannte „lange" Saal war fast ausschließlich durch Farben¬
skizzen und durch Akt- und Gcwandstudieu zu den Werken der Ruhmeshalle aus¬
gefüllt. Diese Studien gehören fast sämtlich dem Staate und sind in der Bibliothek
der Königliche» Nationalgalerie jedermann zu jeder Zeit zugänglich. Sie geben ein
besonders deutliches Bild von der Gewissenhaftigkeit und dem unermüdlichen Fleiße
Geselschaps im Studium der Natur, wie er es für die Darstellung seiner erdachten
Figuren anwandte. Außerdem enthielt derselbe Saal noch einen Christus und nenn
musizierende Engel in rundem Feld und kolossalen Maßstab, bestimmt für den
Triumphbogen der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, farbige Vorlagen für die Aus¬
führung in Mosaik, Figuren von unbeschreiblicher Anmut und ernster Auffassung;
ferner am Ende des Saales an der Schmalwand die Kartons eines auferstehenden
Christus und zweier Engel, deren einer, sich auf die gesenkte Posaune stützend, zum
Heiland emporblickt, während der andre das Modell eines Doms in den Händen
hält. Auch diese Kartons sind in Mosaik ausgeführt im Grabmal des Architekten
Hitzig auf dem alten Dorotheenstädtischen Kirchhof zu Berlin.
"
In dem sich hier anschließenden „Liudenkorridor hingen zahlreiche Porträts
und Studienköpfe aus verschiednen Zeiten seines Schaffens; ferner eine Anzahl
Kompositionen aus ganz früher Zeit; ans dem Ende der fünfziger und dem Anfange
der sechziger Jahre ein Verlorner Sohn, in Düsseldorf entstanden, noch ganz wie
Overbeck oder Führich; dann Kompositionen aus Dantes Inferno und andres. In
dem kleinen Kabinett endlich, das den Rundgang des Beschauers abschließt, waren
vereinigt die farbige Komposition für das Kirchenfenster von Se. Willibrordi in
Wesel, die der Meister, wie so oft ähnliches für ähnliche Zwecke, seiner Vaterstadt
geschenkt hatte. Gegenüber hing, gleichfalls ein versprochnes Geschenk, die wunder¬
volle Komposition „Die Geburt Beethovens." Wer dieses Bild gesehen hat, wird
es niemals vergessen!
Im Vordergrunde liegt in der Wiege das Kind, das die Händchen nach dem
Lichte ausstreckt, darüber gebeugt und es einhüllend kniet die sorgsame Mutter.
Der Vater, auf eine Stuhllehne gestützt, sieht mit ernstem Sinnen und Sorgen für
die Zukunft des Kleinen auf ihn nieder. Rückwärts schließend hat Gcselschap dem
sinnenden Vater die charakteristischen Züge Beethovens gegeben und hierdurch sofort
die große Schwierigkeit überwunden, uns deutlich zu machen, daß das kleine un¬
ruhige Wesen Beethoven ist. Hinter der Wiege stehen zwei hohe Gestalten. Die
eine, die Musik, mit der Leier im Arm schaut freundlich verheißend auf das junge
Leben, und die andre, die Armut, in dunkle Lumpen gehüllt, reicht ihm mit viel¬
sagender Geberde die Dornenkrone. In einer engen, nur von einem schrägen Dach¬
fenster erhellten Kammer stellt sich der Vorgang dar, Armseligkeit und Bedürftigkeit
ringsum. Und diese Kammer ist Porträt. Im Beethovenhanse zu Bonn ist das
ärmliche Dachstübchen, worin der große Genius der Musik der Welt geschenkt wurde;
und in dieser Dachkammer sollte das Werk des großen Malers aufgestellt werden.
Dorthin hatte er es geschenkt. Meister Joachim hatte ihm einmal davon erzählt,
wie man sich in Bonn bemühe, das Geburtshaus Beethovens zu erwerben, um es
zu einem Nationalheiligtume zu gestalten, worin die Beethovenreliqnien der Nach¬
welt iibermittclt werden sollten, und als der Erzähler hierbei auf die Schilderung
der ärmlichen Dachkammer kam, in der der kleine Ludwig geboren wurde, da stand
das Bild sofort vor Geselschaps Seele, und sein Entschluß war fest, diese Dach¬
kammer mit dem innerlich Geschauten zu schmücken, und unaufgefordert erbot er
sich dazu. Joachim war durch diesen Gedanken so entzückt, daß er ihm jedesmal
eine Beethovensche Sonate vorzuspielen versprach, wenn er um dem Werke malen
wollte.
Einige kleine Werke, eigentlich nnr Farbenversnche, eine Pieta und zwei herr¬
liche kleine Madonnenbilder hingen in demselben Kabinette. Geselschap war der
festen Überzeugung, daß die alten Meister immer mit Temperafarben ihre Werke
untermalten und mit Öl oder Harzfarben nur lasierend fertig stimmten; sein hoher
koloristischer Sinn, das Bedürfnis, sich in Farben aussprechen zu können, sein
Farbendurst, dem das Fabrikmaterial, wie es dem heutigen Künstler zu Gebote
steht, nicht genügte, veranlaßten ihn, Versuche verschiedenster Art jahrelang anzu¬
stellen, um die leider verloren gegangne Technik und Kenntnis dieser Temperamalerei
wiederzufinden. Mit welchem Erfolge er diese Versuche unternahm, lehren uns
diese kleinen Bildchen. Trotz ihrer geringen Dimensionen würden sie, auf einer
Kunstausstellung zwischen moderne Bilder gehängt, alles in ihrer Nachbarschaft dnrch
ihre Leuchtkraft und tiefe Sättigung der Farben totgeschlagen haben.
Das alles und uoch mehr war in der Ausstellung in der Akademie zu sehen.
Drei Wochen lang standen die Pforten offen, drei Wochen wehte einladend das
große buntgestickte Banner vor dem Portale des Gebäudes, und ein Riescnplaknt
machte auf die Ausstellung aufmerksam, aber wie wenig Menschen haben sie ge¬
sehen! „Ich schäme mich, den Mann nicht gekannt zu haben," sagte Adolf Menzel,
der große künstlerische Antipode Geselschaps, als er vor diesen Werken in Betrach¬
tung versunken stand, und legte damit ein schönes und ihn ehrendes Selbstbekenntnis
ab. Diese» Ausspruch wird sich manch ehrlicher Beschauer zu eigen machen, der
bisher an den ihm bekannten und zugänglichen Werken Geselschaps unberührt oder
wenigstens ungefesselt, ohne einen nachhaltigen Eindruck empfangen zu haben, vor¬
überging. Er muß sich die Frage vorlegen, wie es möglich war, an der reinen
Größe dieser Werke achtlos vorüberzugehen, und er wird sich schließlich zu dem
beschämenden Bekenntnisse Adolf Wenzels bequemen. Die tiefe Innerlichkeit der
Empfindung und die .Hoheit und der Adel der Auffassung, die aus allem, auch dem
Kleinsten, das aus Geselschaps Hand hervorging, sprechen, sie müssen ihren Wieder-
holt in dem Herzen des unbefangnen und vorurteilsloser Beschauers finden. Es
ist so schwer, vorurteilslos zu sein. Der moderne Mensch kann sich kaum von der
Meinung des Tages frei halten, die sich ihm in tausenderlei Gestalt unaufhörlich
aufzudrängen sucht, und die ihn schließlich, ohne daß er es selbst weiß, nmrbe
'""ehe. bis er ihr unterliegt. Aber eine spätere Zeit, die, unbeeinflußt von
der Tagesströmung und den Mvdeanschauungen unsrer Zeit, die Masse der
künstlerischen Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts wird überschauen
Wune», sie wird staunen über die Größe des einzelnen, vereinsamten .»carre^,
der den Weg, den die Masse ging, nicht für den seinigen hielt; und sie w^ro ven
K°Pf schütteln über die künstlerischen Begriffe einer Zeit und eines Pnolitnms,
d"s den Mann nicht erkannt und darüber keine Scham empfunden hat.
Denn, ehrlich gesprochen, gekannt und erkannt worden ist die lnniueuM Be¬
deutung Gehet chaps von seinen Zeitgenossen nicht. Außer den wenigen Verehrern,
deren kleine Gemeinde sich merkwürdigerweise nicht ans den. Kreise der Künstler.
sondern der gebildeten Laien zusammensetzte, war die überragende Höhe seiner Kunst
der Welt unbekannt. Er teilte das Schicksal so vieler Großen im Geiste, deren
Bedeutung erst von der Nachwelt erkannt wird. In vielen Beziehungen hat sein
Schicksal eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Goethes. Auch dieser stand als
alter Mann mit der Summe seiner Erfahrungen und seines ausgereiften Könnens
einsam da, auch er unverstanden von der Mitwelt und von der strebenden und
schaffenden Jugend seiner Zeit.
Aber Goethe hatte die großen Erfolge, die ihn auf seine Höhe stellten, schon
in seiner Jugend gehabt; sie waren so durchschlagend gewesen, daß niemand sie zu
ignorieren wagte, und emporblickend zur ausgesprochnen Größe des Alten gingen
die schaffenden Jungen leise auf den Zehen an ihm vorüber. Geselschap ist es in
seiner Jugend nicht so gut ergangen. Er hat bis gegen sein vierzigstes Lebensjahr
keinerlei Anerkennung erfahren, ja er hat geradezu gedarbt, und trotzdem ist er
niemals irre geworden an dem einmal als Recht Erkannten, und die Flamme
heiligen Feuers, die er vor dem Altare der Kunst in seinem Herzen angezündet
hatte, sie hat, sorgsam ernährt, gebrannt und ihn erwärmt, auch in den Zeiten des
Mangels und der Kälte; sie hat ausgehalten und seine Einsamkeit erhellt bis an
sein Ende. Ihr Schein fuhr strahlend in seine Augen und spiegelte sich dort herrlich
wieder, wenn er von Kunst sprach oder an ihren Beruf, die Schönheit zu fordern, dachte.
Er war der begeisterte Priester und Hüter dieser Flamme ebenso als armer un¬
bekannter Mann, wie später, als er mit großen Aufträge» bedacht war. Aber trotz dieser
Unähnlichkeit im äußern Schicksal des Lebens haben die beiden Großen im Geiste
doch viele Berührungspunkte. Bei beiden die Bewunderung des klassischen Alter¬
tums und der auf diesem beruhenden Renaissance; bei beiden die Vorliebe sür
Allegorie, die Neigung, abstrakte Begriffe zu personifizieren und sie faßbar deutlich
künstlerisch zu bilden. Bei beiden die ungeheure Fähigkeit zu künstlerischer Dar¬
stellung, die .Kraft, plastisch zu gestalten, die souveräne Herrschaft über die Form,
die ohne alles Einmalige und Zufällige der Wirklichkeit in ihrer thpischen Wahr¬
heit zur Erscheinung gebracht wird, und bei beiden die immer hohe und vornehme
Anschauung und Gesinnung. Bei beiden die aufrichtige, hingebende Bewunderung
der Werke ihrer großen Vorgänger, Shakespeares einerseits und Michelangelos und
Rafaels andrerseits. Bei beiden die durch langes Leben erworbne Überzeugung
von der Notwendigkeit der Tradition in der Kunst.
Aber gerade diese Überzeugung und das aus ihr hervorgehende Schaffen im
Sinne der großen Meister der Renaissance sind das, was die Welt um Geselschap
auszusetzen hat. Unsre moderne Welt null und sucht andres als solchen hergebrachten
Kram. Der Dampf und die Elektrizität haben uns schou so nervös gemacht, daß
nur noch Neues, noch nicht Dagewesenes (Ben Allda lacht heimlich) unsre Aufmerk¬
samkeit zu errege» imstande ist. Das Publikum, überreizt und darum teilnahmlos,
läßt sich gern angenehm erregen durch die ungewöhnliche», hysterischen Darbietungen
unsrer Jungen in der Kunst und glaubt schließlich einer neueruugs- und sensations¬
bedürftigen Presse und einigen Kunstgelehrten, d. h. Knnstwissern — notAbone Kunst
kommt her von Können —, die uns beide täglich von neuem versichern, daß das
Heil für die Kunst im Origineller ^ tont prix liege.
So stand Geselschap einsam und verkannt mitten im lokalen und geistigen
Trubel des großen Berlin. Was wunder, daß er wieder und wieder Sehnsucht
empfand, das Adoptivvaterland seines Geistes aufzusuchen und dort, wenn auch
gleichfalls unbekannt, so doch glücklich zu leben. In Italien fand er Genossen, die,
ob sie gleich längst im Grabe moderten, doch seine Mitkämpfer waren und ge-
rangen hatten, wie er, um die Siegespalme im Kampfe um die Schönheit. Dort
fand er die milde Heiterkeit und Anspruchslosigkeit des Daseins, die seiner innern
Natur sympathisch waren, dort fand er die Ungebundenheit und Unabhängigkeit von
den Regeln des steifen Zeremoniells und von einer Zeit und Kräfte raubenden und
doch meist hohlen Geselligkeit, dort endlich die Fülle des Lichtes und der Farben,
die sein Malerauge erquickte, und nach der er sich immer sehnte, wenn er an trüben
Wintertagen die graue Misere des nordischen Klimas seufzend ertragen mußte.
Denn ohne Sonnenschein für ihn kein physisches, ohne Spiel des Lichtes und der
Farben für ihn kein künstlerisches Leben! Er war ein Kolorist ersten Ranges.
Zwar hat sich der erste ständige Sekretär der Königlichen Akademie der Künste zu
Berlin, Herr Professor Wolfgang von Öttingen, für berechtigt gehalten, in seiner am
29. Oktober v. I. in der Singakademie zur Gedächtnisfeier Geselschaps gehnltnen
Rede ihm die Eigenschaften eines Koloristen abzusprechen, dennoch wird dieses Urteil
unmöglich bestehen können. Denn wenn Geselschap auch vielleicht für die Form
ein schärfres Gefühl hatte als für die Farben, so beherrschte er doch auch diese
in geradezu staunenerregender Weise. Wer sich je an ihn und sein beratendes
Urteil in Beziehung aufs Kolorit, die Farbengebung wandte, oder wer ihm zusah, wie
er für seine Gewänder die feinsten Nüancen von Farbentönen suchend sich abmühte,
bis er schließlich triumphierend und sich an der Harmonie weidend den richtigen
fand, der wird verwundert den Kopf schütteln über den Ausspruch von dieser Stelle
aus. Die Harmonie der Farbengebung bei den großen Wandbildern der Nnhmes-
halle z. B. des Krieges ist vollendet und wird genügen, das erwähnte Urteil zu
entkräften. Aber so gehts, wenn man das Schicksal hat. verkannt zu werden!
Der andre Vorwurf, der der Nachahmung, gegen den der Redner der König¬
lichen Akademie der Künste Geselschap in Schutz genommen hat, wird vielfach wieder¬
holt und aufrecht erhalten. Worin liegt denn die Ähnlichkeit von Geselschaps
Bildern mit den Werten z. B. Rafaels, der so oft als das Vorbild, als der Kopierte
genannt wird. Ich habe mir die Frage wiederholt vorgelegt. Es ist eben nur
der allgemeine Eindruck des Hohen, Überlegnen, Gewaltigen, der den Werken beider
Künstler eigen ist; das Gefühl, daß man durch die Schöpfungen beider über das
Gewöhnliche, Alltägliche hinausgehoben wird, wie es das Auge des Alltagsmenschen
oder der Photvgravhischen Maschine sieht. Ein feincmpsindender Beschauer sagte
mir einmal, daß ihn ein Gefühl, ein Schauer der Ehrfurcht überkomme, gerade als
wenn er in einen Dom einträte, sobald er sich den Werken Nafnels oder Gesel¬
schaps nähere, und das sei ihm niemals irgend einem andern modernen Künstler
gegenüber passiert. Und das ist es! Das Hoheitsvolle, Reine der Auffassung, die
Tiefe der Empfindung, die beiden Künstlern eigen sind, zur Erscheinung gebracht
durch die Kruft der formvollendeten Darstellung, sie sind das, was die Ähnlichkeit
zwischen beiden ausmacht. Beide lassen ihre Figuren mit edel gemäßigten Gesten,
mit einem gewissen hohen Pathos agieren, einem Ausdrucksmittel, ohne das die
Kunst überhaupt nicht auskommen kann, und auf das die bildende Kunst im be¬
sondern geradezu angewiesen ist. Hohe in der übersinnlichen Welt sich abspielende
Vorgänge. Phnntasiegebilde. die mit der Wirklichkeit nichts zu thun habe», brauche»,
um glaubhaft zu werden, eine besondre Kraft der Darstellung; Götter, Helden, ver¬
klärte, sagenhafte Gestalten, Übermenschen kann man doch nicht mit den Gesten ge¬
wöhnlicher Menschen, wie die Photographie sie uns fixieren kann, agieren lnsM.
Und das ist es wieder! Die Gewalt, die Großartigkeit, das „stilvolle der Dar¬
stellung ist beiden Meistern eigen, und darum haben sie Ähnlichkeit mit einander,
weiter nichts, und Geselschap ist so selbständig, wie nnr je irgend ein schaffender
Künstler. Wie soll mein auch bei anders gestellten Aufgaben kopieren können. Ein
oberflächlicherer, lächerlicherer Vorwurf konnte einem Manne, der so ans dem Vollen
schöpfte, der sein Schaffen gewissermaßen überströmend darbot, gar nicht gemacht
werden.
Und selbst wenn es anders, wenn es so wäre, wie sie sagen! Das abgeklärte
Urteil von Jahrhunderten hat Rafael für den größten Maler aller Zeiten erklärt,
für den Genius, in dem sich die Fähigkeit, „gottähnlich" zu schaffen, zu gestalten,
zur höchsten Vollkommenheit entwickelte, und trotzdem ist der Mann, der jenem
nachstrebend ähnliche Bahnen wandelte und, wie zugegeben wird, täuschend ähn¬
liche Wirkungen erzielte wie jener, über die Achsel angesehen und als Nachahmer
geradezu verhöhnt worden von dem nnabgeklärten Urteil unsrer Zeit, von der
berufsmäßigen Tageskritik, den großen Kunstkennern und Kunstgelehrten und — und
das ist das Schmerzliche — von den meisten Künstlern! Aber die Kleinen konnten
nicht emporheben zu der Höhe, auf der er stand, wie sie ja auch größtenteils den alten
überlebten Kram, den Rafael schuf, kaum kennen. Es liegt nicht so arg viel an
deren Urteil, und für die Welt ist es am Ende much besser, daß sie sich nicht be¬
mühen, im Sinne Rafaels zu schaffen. Der heimgegangne „Epigone" mag aber
ruhig schlafen nnter der Cestiuspyramide in seinem geliebten Rom: es kommt der¬
einst der Tag, an dem das deutsche Volk in Ehrfurcht vor den Werken Friedrich
Geselschaps stehen wird! Denn das ist das Herrliche, das Gottähuliche an jedem
echten Kunstwerke, daß es unvergänglich ist, und daß seine Feuerkraft erwärmend,
neubelebend und beseligend zur rechten Zeit immer wieder hervorbricht.
as Andenken des alten Oberförsters Schlettan in Bnchcnbeck wird
in der ganzen Gegend des Buchenbecker Forstes bis ans den heutigen
Tag wert gehalten. Als er gestorben war und das Tranergeleite,
an dem sich Stadt und Land der ganzen Umgegend beteiligt hatte,
nnseinanderging, wurde einstimmig die Meinung geäußert: So
einen Oberförster kriegen wir me wieder. Man muß nicht denken,
daß der Oberförster Schlettan ein nachlässiger Beamter gewesen sei, er war jeder¬
zeit auf seinem Posten, und er ließ auch kein Unrecht durchgehen, aber er verstand
die große Kunst, Nebensachen als Nebensachen zu behandeln. Er war kein Bürean-
mensch, er hatte seine Freude an seinem Walde und gönnte diese Freude auch andern
Leuten. Er hatte es gern, Wanderern in seinem Walde zu begegnen, und wenn sie
sich halbwegs zivilisiert betrugen, so dankte er auf einen Gruß mit tiefen Bnßtönen
und freundlichem Nicken.
Der Herr Oberförster hatte nämlich über den Wald seine besondern Gedanken,
von denen wir von vornherein zugeben wollen, daß sie altmodisch waren, und zwar
waren es sozialpolitische Gedanken, Die Sozialdemokratie auf dem Lande, Pflegte er
zu sagen, kommt von der Separation. Dadurch, daß die Bauern allen gemeinsamen
Besitz unter sich aufgeteilt haben, ist der besitzlose Stand auf dem Lande entstanden.
Wer nichts hat, ist natürlich zu allen Dummheiten zu haben. Wer feine Beine noch
ans ein Stückchen Erde stellt, das ihm gehört, der ante nicht nach sozialdemokra-
tischen Luftschlössern. Wo giebt es aber jetzt noch Besitz, um dem auch der Ärmste
seinen Anteil hat, außer dem Walde? Ich freue mich, wenn das Proletarierkind
im Walde seine Blumen und seine Beeren pflückt. Den Förster hole der Deibel,
der es dabei stört. Nur Unfug treiben sollen sie nicht. Ich freue mich über den
Arbeiter, der Sonntags im Walde spazieren geht. Davon wird er nicht schlechter.
Und wenn er sich im Jahre einmal einen Schippenstiel oder sein Junge eine Gerte
mitnimmt, davon werden wir nicht Armer.
Grob war der Herr Oberförster, das musz man sagen, sogar sackgrob. Es
nahm ihm aber niemand seine Derbheiten übel. Denn es war keine bösartige
Grobheit, sondern nur eine rauhe Schale zu einem weichen Kerne. Man wußte,
daß er es gut meinte, und zwar gerade dann am besten, wenn er am gröbsten war.
Die Kinder fürchteten sich nicht vor seinem wilden, rötlich-weißen Barte — ein gutes
Zeichen —; wenn der Oberförster einem Trupp Kinder im Walde begegnete, so
liefen sie nicht davon, sondern stellten sich fein ordentlich an den Weg, schwenkten
die Mützen und krähten ihren: Guten Morgen, Herr Oberförster. Darauf nickte
er ihnen zu und sagte, grimmig schmunzelnd: Verflixtes Grobzeug.
Auch mit den Bauern kam er ausgezeichnet aus. Wenn Holzauktion war, so
wußte er durch etliche Kraftworte zur rechten Zeit die Kauflust im Gange zu er¬
halte«: Na, Meister Hannes, Sie alter Leimfieder, Sie denken wohl, wir sollen
Ihnen noch Ihr Holz auf den Hof fahren? Warum bieten Sie denn nicht? Be¬
quemer können Ihnen die Stämme doch uicht liegen. Taxe: Vierundzwanzig
Mark. — Fünfundzwanzig, sagte Meister Haares, dem die Anregung förderlich ge¬
wesen war, und die Sache war gemacht. Noch mehr bedeutete es, daß er auch
deu heikelsten Punkt der Bauern, die Jagdfrnge, zur allseitigen Zufriedenheit mit
seiner urwüchsigen Grobheit löste.
An den fiskalischen Wald grenzten die Fluren von Schiedlingen, Bossenstedt
und Blankenbeck. In der Jagdzeit setzten sich nun die Herren Bauern abends ans
ihre Felder dem Walde gegenüber und schössen jeden unvorsichtigen Hasen und jeden
kleelüsterneu Rehbock weg. Das mußte natürlich den Forstmann kränken. Zu
machen war nichts, die Bauern waren in ihrem Rechte. Wenn sie es nun einmal
wieder zu toll getrieben hatten, so erschien der Oberförster auf einer Dorftreibjagd
-- eingeladen wurde er jedesmal — und „kaufte sich seine Ariäus":
Guten Morgen, meine Herren. Sie jagen schon wieder? Ich wundre mich
nur, daß bei Ihnen auf der Flur noch was Schießbares herumläuft.
Wieso denn, Herr Oberförster?
Weil ihr Himmelhuude das Pulver uicht halten könnt. Herr Gott, was habt
ihr einmal wieder unterm Forste gepulvert. So was ist keine Jagd, so was ist
eine Schweinerei.
'
S ist auch wahr, es ist ein bischen viel dies Jahr geschossen worden.
Freut mich, wenn ihr das einsehe. Denkt ihr denn, daß bei mir um Walde
die Rehe jungen wie die Karnickel? Wenn ihr alles wegschießt, was kaum^hand-
hoch aufgesekt hat, dann muß es doch auch einmal alle werden. Und den schied-
ungern könnt ihr in meinem Namen sagen, wenn sie nichts weiter fertig brachten,
als so eine arme Kreatur von Ricke anznkrakeln, daß sie hernach die Füchse holen,
dann möchten sie lieber mit ihren Knarren zu Hause bleiben.
Jawohl, Herr Oberförster, schießen kann von den Schiedlingern keiner, das
weiß die ganze Gegend.
Und wenn ihr einmal den Blankenbecker Kantor seht, so könnt ihr ihn von
mir grüßen und ihm sagen, wenn ers durchaus nicht lassen könnte, auf deu Anstand
zu gehen, so sollte er wenigstens sein Gewehr wie ein Christenmensch tragen,
man sehe es ihm ja auf eine halbe Stunde weit um, daß er keinen Jagdschein habe.
Solche Erörterungen verursachten großes Gaudium. Es ist ein alter Deutscher,
pflegten dann die Bauern zu sagen. Aber es ist ein glider Mann. Und recht hat
er auch. Darauf beschränkte man seine Jagdlust und verabredete sogar eine Art
von Schießplan.
Das Hauptsommerfest der ganzen Gegend war das Eggelinger Bruunenfest.
Mitten im Forste lag ein Gasthaus: „Zum Eggelinger Brunnen." Hier pflegten
die Revierförster der Gegend zusammen zu kommen und ihre Schießübungen zu
halten. Auch Gäste ans den umliegenden Dörfern und ans der Stadt Dorueberg
pflegte» sich einzustellen — meist zu Wagen, denn die Entfernungen waren etwas
groß. Wenn aber Eggelinger Brnnuenfcst war, gab es an schönen Tagen eine
ganze Völkerwanderung. Man pflückte Blumen, man bestieg die Konigseiche. in
deren Zweigen eine Bühne nebst Leitern angebracht war, man lagerte sich auf der
Wiese und kochte Kaffee. Das Holz zum Kaffeefeuer wurde aus dem Walde geholt,
mag sein, daß dabei auch manches gute Stück mit verbrannt wurde. Wenn sich
ein allzu diensteifriger Förster darüber beklagte, erwiderte der Oberförster: Ach
was! Dummheiten. Mit dem, was eure Holzhacker an einem Tage über ihr
Deputat wegschleppen, bestreite ich das ganze Brunnenfest. Der Oberförster fehlte
zum Feste nie, er und seine Fran und sein Mnriechcn, ein junges Mädchen mit
großen braunen Augen, lachendem Munde und langen Zöpfen, saßen in der
Honoratiorenlanbe und empfingen die angesehenen Gäste. Sie betrachteten das
Fest als ihre Gesellschaft, die sie der umliegenden Gegend im Forste gaben. Es
war sehr hübsch da. Und wenn der Tag verregnete, so gab es eine schwere Sitzung
in der Gaststube des Wirts. Kenner behaupten, das sei bisweilen, wenn der Ober¬
förster bei Laune war, noch hübscher gewesen.
Nun war er gestorben, und die öffentliche Meinung der Gegend hatte sich
dahin ausgesprochen: Einen solchen Oberförster kriegen wir nie wieder. Der neue
Oberförster, Herr von Papenberg, war weit davon entfernt, dieser Meinung zuzu¬
stimmen. Vielmehr hielt er es für unbegreiflich, wie man einen Mann, der so
wenig Beamter und fast schon verbauert gewesen sei, so lauge im Amte gelassen
habe. An dem Zustande der Registratur hatte er, wahrscheinlich mit Recht, manches
auszusetzen. Der Wald war aber in Ordnung, und der Ertrag, den er gab, ge¬
hörte zum höchsten des ganzen Bezirks; nichtsdestoweniger nahm sich der neue Ober¬
förster vor, auch hier energisch einzugreifen und die Waldwirtschaft seines Bezirks
zu einer Musterwirtschaft zu machen.
Natürlich wurde der neue Oberförster von allen Seiten sogleich in scharfe Be¬
obachtung genommen. Der Wald ist für die ganze Einwohnerschaft der Gegend,
die hier ihren Unterhalt hatte, ihren Holzbedarf kaufte oder stahl oder ihre Er¬
holung suchte, eine Sache von großer Bedeutung. Die ersten Beobachtungen, die
man machte, waren nicht erfreulich. Der Oberförster trug Handschuhe und einen
Kneifer, rauchte Cigaretten und trank keinen Grog. Im Kasino zu Dorueberg, wo
der alte Herr gern gesehener Stammgast gewesen war, ließ er sich nicht sehen,
worüber sich die Bürger zurückgesetzt fühlten, und mich mit deu Bnueru kam er
schlecht mis. Daß die Bauern sich auf ihre Felder setzte», um fiskalische Rehe und
Hasen, die auf den Feldern der Bauern ihre Nahrung suchten, wegzuschießen, war ihm
ein Greuel. Am liebsten hätte er die ganze Grenze eingegattert. Das wäre aber eine
sehr teure Geschichte geworden. Er gab also seinen Forstlehrlingen den Auftrag,
abends die Grenze abzupatrouillieren, zu schießen, Lärm zu machen und den Bauern
die Jagd zu verderben. Natürlich kam nun kein Wild heraus, und die Bauern
kamen uicht zum Schusse und ärgerten sich. Darauf beschlossen sie, auch keine
Rücksicht mehr zu nehmen, sondern alles wegzuschießen, was aus dem Walde kam
nud geschossen werden durfte. Da es nun nicht möglich war, die Waldgrenze alle
Abende von den Forstlehrlingen abgehen zu lassen, und die Bauern die größere Aus¬
dauer hatten, ging es vou da an den Rehböcken schlecht.
Nicht weniger war dem Oberförster der „Eggelinger Brunnen" ein Greuel.
Was hat ein Gasthaus im Walde zu suchen? Der Wald ist fiskalisches Eigentum
und gehört dem Staate und nächstdem der Forstverwaltung. Außer den beamteten
Personen hat niemand etwas dort zu suchen. Und nun gar das Eggelinger Bruuueu-
sest! Diesem Unfug mußte durchaus gesteuert werden. Gleich nach dem nächsten
Feste gab es eine Reihe von Strafmandaten. Alle, die Kaffee ans der Wiese ge¬
kocht hatten, mußten drei Mark Strafe zahlen, weil sie offnes Feuer im Walde an¬
gemacht hatten, was nach der Forstpvlizeiordnuug verboten sei. Die Wiese, die dem
Wirte gehörte, konnte nicht abgesperrt werden, dagegen ließ Herr von Papenberg
die Bühne aus der Eiche nehmen, alle Fußwege, die an der Wiese mündeten, ab¬
graben und absperren und den ganzen Waldesrand mit schönen Strohwischen ver¬
zieren. Das gab eine große Unzufriedenheit in der ganzen Gegend, aber was war
zu machen?
Von Dorneberg aus über Bossenstedt führten zwei Wege nach dem Eggelinger
Brunnen und von da weiter nach Buchenbeck, der eine über den Stuckenwmkel,
der andre, die Landstraße, in weitem Bogen über Blankenbeck. Hierzu hatte der
alte Herr einen dritten Weg über den Quitschereuberg einlegen lassen. Und dieser
Weg war extra für die Bequemlichkeit der Spaziergänger bestimmt. Das hatte
man dem alten Herrn besonders hoch aufgenommen. Und man muß auch sagen,
ein Oberförster, der für Spaziergänger in seinem Forste Wege anlegen läßt, ist ein
rarer Vogel. Das erste, was der neue Oberförster that, war, diesen Weg einzu¬
ziehen, ihn mit einem Verhau zu versperren und mit jungen Tannen zu bepflnuzeu.
Eine Warnungstafel bedrohte mit drei Mark Strafe jeden, der sich unterfangen
würde, diesen Weg zu gehen. Die Barriere wurde nächtlicherweile umgeworfen
und die jungen Bäume ausgerissen. Es half nichts, der Wald behielt recht, die
Büsche, die nicht mehr zurückgeschritten wurden, überwucherten deu Weg, und so
verschwand er. Ebenso erklärte der Oberförster auch deu andern Weg über den
Stuckenwmkel für einen Forstabfuhrweg privaten Charakters und verbot ihn im
Amtsblatte, das niemand las, und wonach sich niemand richtete. Die Revierfllrster,
die es einsahen, daß es sür die Bauern eine üble Sache sein würde, den weiten
Weg über Blankenbeck fahren zu müssen, und die es mit der Bevölkerung nicht
verderben wollten, richteten es darauf ein, daß sie nie einem Wagen auf dem ver-
botnen Wege begegneten. Schließlich kam aber der Oberförster dahinter, er machte
ein gewaltiges Donnerwetter, und nnn mußte angezeigt werden.. Einer der ersten,
die drei Mark Strafe zahlen sollten, war der Schulze vou Bossenstedt. Der
kratzte sich hinter den Ohren und hätte am liebsten kein Wort gesagt und in der
Stille seine Strafe bezahlt. Aber die Sache war bekannt geworden, und die Bossen-
stedter benutzten deu nächsten Sonntag Nachmittag, um sich über den Oberförster
und seine neuen Manieren gründlich auszusprechen. Die ältesten Leute wurden als
Zeugen angerufen, daß der Weg über die Stnckenbreite immer ein öffentlicher Weg
gewesen sei. Und alle konnten sich noch erinnern, das; an der Eggelinger Wiese
ein Wegweiser gestanden habe mit der Inschrift: Kommnnalweg nach Vossenstedt,
Und das sollte nun nicht mehr gelten? Der Oberförster müsse wohl närrisch sein?
Das Verbot des Oberförsters sei null und nichtig, und der Schulze dürfe sich das
nicht gefallen lassen. Der Schulze sagte nicht ja und nicht nein und zahlte am
andern Tage seine Strafe. Denn er erwog, welche Kosten und welche Zeitversäumnis
er haben werde, wenn er nach der Kreisstadt drei Stunden weit aufs Gericht
müsse. Bald erklangen auch Wehrufe aus Schiedliugen. Der Oberförster hatte
den Weg von Schiedlingen nach Bucheubeck neu beschütten lassen, es war ein Staat,
wie schön der Weg geworden war. Die Schicdliugcr freuten sich, daß sie einen
so schönen Waldweg erhalten hatten, und beschlossen, ihn fleißig zu benutzen. Aber
kaum war er fertig, so schloß ihn der Oberförster zu und verbot ihn für fremdes
Fuhrwerk. Die Schiedlinger schimpften, wenn sie uuter sich waren, in den lautesten
Tönen: Das könne ihnen der Oberförster nicht verbieten, und das wollten sie
einmal sehen, wer sie hindern wollte, ihren Weg zu fahren. Sie fuhren also trotz
des Verbots, erhielten ihr Strafmandat — und zahlten. Es war immer noch
billiger und bequemer, mit drei Mark davonzukommen, als aufs Gericht in die
Stadt zu müssen. Und den Advokaten ist nicht zu trauen, man kann nie Nüssen,
wer gewinnt und wer verspielt.
Aber Leute, sagte der Dorneberger Doktor, der in dieser Gegend bis nach
Bnchcnbeck hin seine Praxis hatte, seht ihr denn nicht, worauf es der Oberförster
abgesehen hat? Er will euch alle eure Wege abtröpfelt, und wenn ihr Strafe zahlt,
so gebt ihr ihm ja recht.
Das ist ganz richtig, Herr Doktor, aber was kann man denn dagegen thun?
Widerspruch erheben, den Oberförster verklagen!
Ja ja, aber die Bossenstedter könnten doch auch was thun.
Und die Bossenstedter sagten: Ja ja, aber die Blankenbccker könnten doch auch
etwas thun, und so geschah nichts. Nicht einmal, als der gute Blankenbecker Pastor,
der im Frühling zusammen mit seiner lieben Frau im Pnstvrenkutschchen in sein
eignes Holz gefahren war, angezeigt und mit drei Mark bestraft worden war, weil
der Fvrstabfuhrweg wohl mit Leiterwagen, aber nicht mit Kutscher befahren werden
dürfe.
Aber Sie wenigstens, Herr Pastor, werden doch reklamieren, sagte der Doktor
Emser, es ist doch ein haarsträubender Unsinn, Ihnen den Zugang zu Ihrem eignen
Holze verwehren zu wollen.
Aber der Herr Pastor war sehr erschrocken, er wollte lieber mit der Sache
nichts zu thun haben, er wagte nicht gegen die Obrigkeit vorstellig zu werden und
wollte lieber seine Strafe zahlen.
Da geschah das unerhörte, daß Doktor Emser selbst in Strafe genommen
wurde, weil er den Weg über den Stuckeuwinkcl gefahren war, als er zu des
Oberförsters eigner Schwiegermutter gerufen worden war. Doktor Emser erhob
Widerspruch. Er sei Arzt, und ihm sei, wenn Gefahr in Verzug sei, auch erlaubt,
verbotne Wege zu fahren. Die Heerstraße über Blankenbeck sei eine ganze Stunde
um. Hierauf erwiderte der Oberförster: Seine Schwiegermutter sei nicht so krank
gewesen, sie hätte ganz gut die Stunde warten können. Worauf der Doktor mit
seinem Einwände abgewiesen wurde. Jetzt sah er ein, daß er einen falschen Ein¬
wand vorgebracht hatte. Er hätte behaupten und beweisen müssen, daß der Weg
über den Stnckcnwiukel als öffentlicher Weg nicht verboten werden durfte.
Einige Zeit darauf las man im Kreisblatte, daß sich ein Forst-Rechts-Schutz-
Verein mit dem Sitze Dorueberg gebildet habe. Dieser Verein übernehme es, die
Prozesse seiner Mitglieder gegen den Forstfiskus zu führen. Die Kosten würden
aus der Vereinskasse gedeckt werden. Dies war ein feiner Gedanke. Doktor Emser
hatte ihn nusgedncht, der Beifall der Bewohnerschaft hatte nicht gefehlt, und die
Kasse verfügte über eine hübsche Summe. Na warte, Oberförster! Ein kühner
Dorueberger Fleischer wurde mit seinem Wagen auf den verbotnen Weg geschickt,
um sich abfassen zu lassen. Das geschah denn auch, das Strafmandat lief ein, und
der Prozcs; begann. Der Oberförster zog den Prozeß in die Länge, veranlaßte
zahllose Termine, Lokalbesichtignugen und Zeugenaussagen und trieb den Prozeß
aus einer Instanz in die andre. Das Ende war, daß er den Prozeß verlor, und
daß die Forstkasse tausend Mark zahlen mußte. Die Umgegend triumphierte. Als
man aber den crstrittueu Weg fahren wollte, fand man eine funkelnagelneue War¬
nungstafel, auf der der Weg als Holzabfuhrweg bezeichnet und für fremdes Fuhr¬
werk verboten wurde. Der Oberförster hatte nämlich den alten Weg, der in be-
auemcn Buiumelliuieu durch den Wald zog, mit einer neuen schnurgeraden Straße
durchschnitten, sodaß vom alten Wege hier ein Bogen rechts und dort ein Bogen
links lag. Und der Oberförster ließ es jeden wisse», der es hören wollte, der
neue Weg sei sein Weg. Die Bauern könnten ja auf ihrem alten Wege fahre».
Wer auf dem neuen Wege getroffen werde, werde in Strafe genommen.
Nein sowas! sowas! Mau entrüstete sich in der ganzen Gegend über diese»
Oberförster. Auf der alten Straße fahren zu sollen, nachdem er durch die Gräben
des neuen Wegs ein Dntzendmal zerschnitten war, war doch der reine Hohn. Die
Rechtsverständiger steckten die .Köpfe zusammen und brachten heraus, es sei ein
reiner Unsinn, einen öffentlichen Weg einziehen zu wollen, nachdem man ihn durch
einen neuen Weg ersetzt habe. Der Oberförster müsse unbedingt den Prozeß ver¬
lieren. Aber dieser Prozeß mußte doch erst angestrengt werden. Die Arbeit begann
also von neuem. Wieder sollte ein mutiger Bürger in den Wald geschickt werden,
aber es wollte sich lange keiner finden. Die Termine in der Kreisstadt hatten
doch gar zu viel Geld und Zeit gekostet. Endlich erklärte sich ein Dornebergcr
Rentier, wenn man ihn, Pferde und Wagen stelle, bereit, das Wagnis zu über¬
nehmen. Der kühne Rentier fuhr die vcrbvtue Straße, wurde gesehen, aber es
lief keine Anzeige ein. Die Sache wurde wiederholt, aber mit gleichem Erfolg.
Dagegen wurden von Bvssenstcdt nud Schicdliugen aus Anträge um den Verein
gestellt, Prozesse zu führen, was muh geschah.
Aber ehe diese Prozesse beendet waren, war auch die Lkraft des Vereins und
waren die Mittel seiner Kasse erschöpft. Die Beiträge liefen schlecht ein, und
Doktor Emser machte die Erfahrung, daß es für einen Arzt nicht gut sei, sich in
die Streitigkeiten seiner Gegend einzumischen. Er hörte nämlich, daß der Ober¬
förster Schritte gethan habe, einen Arzt nach Bnchenbeck zu ziehen. Damit würde
er nicht allein Bnchenbeck, sondern vielleicht auch Blankeubeck verloren haben. Er
ließ also seinen Verein im Stiche und machte seinen Frieden mit dem Oberförster.
Die schwebenden Prozesse kamen also nicht zur Entscheidung. Die Bauern ge¬
wöhnten sich an den Gedanken, den fiskalische» Forst als ein Verlornes Paradies
anzusehen und den Weg durch den Wald auf dem weiten Uniwcge über Blaulciweck
mache» zu müssen. Und der Oberförster hatte die Genugthuung, auf seinen schönen
Forstwcgen in seinem Einspänner ganz allein durch den Forst fahre» zu können.
Den Fußgängern und Spaziergängern, wenigstens dem anständigen Teile des
Publikums, ging es nicht viel besser als dem fahrenden Publikum. Menschen im
Walde oder gar Kinder waren dem Oberförster überaus zuwider. Das Bellen des
Rehbocks, „Schrecken" nennt es der Weidmann, der bei diesem Worte etwas wouuevvlles
empfindet, die schnarrende Kommandostimme des Nevierförsters, die Schlage der Holz¬
axt waren ihm Musik, Rufen und Gesaug ein Greuel. Vor allem durfte das Wild
nicht gestört werden. Der fiskalische Rehbock mußte sich in voller Sammlung auf
die Stunde vorbereiten, wo er nach den Regeln der Kunst abgeschossen werden
sollte. Als der Oberförster aber einmal ein paar Sprenkel fand und deu dazu
gehörigen Jungen erwischte, machte er ein Aufhebens, als sei ein Mord ge¬
schehen.
Heute hat der Chef aber wieder einmal einen Hauptspektakel gemacht, sagte
der Blaukeubecker Förster zu seinem Kollegen. Ich dachte, er wollte den Jungen
mit seineu Sprenkeln gleich auffressen. Und in meiner Küche stand ein ganzer
Korb voll Singvögel, die sich bei mir in den Dohnen gefangen hatten.
Das ist nicht anders, erwiderte der Kollege. Wir können doch neben die
Schlinge keine Warnungstafel für die Rotkehlchen hängen.") Wenn wir überhaupt
Dohnen aushängen, dann fangen wir in den ersten Wochen auch Singvögel.
Lauter Singvögel! Der Korb Krammetsvogel, den der Chef neulich an den
Oberforstmeister geschickt hat, das waren doch lauter Singdrosseln. Und um so
eine» Sprenkel macht er solchen Lärm.
Wer durch den Wald ging und begegnete dem Oberförster, der konnte darauf
gefaßt sein, daß ihm etwas unangenehmes begegnete, ehe er noch den Wald ver¬
ließ. Entweder wurde ihm von einem Holzhacker klar gemacht, daß er sich auf
verbotnem Wege befand, oder daß der wüste Fleck, ans dem er stand, eine
Schonung sei, oder nun wurde gefragt, woher die Blumen und Beeren flammten,
die man in der Hand trug, oder man wurde auf gewisse Strohwische aufmerksam
gemacht, die alle Wege und Waldränder zierten, oder zur Ruhe oder zur Vorsicht
mit der Cigarre ernährt. Schließlich fühlte sich kein Mensch mehr sicher, wenn
er von der Landstraße abgebogen war. Der Blankenbecker Herr Pastor war seit
seiner Bestrafung mit keinem Rade mehr in den Wald gekommen. Am liebste»
hätte er deu Wald gänzlich gemieden, wenn es ihm nicht ein Bedürfnis gewesen
wäre, seine Nerven im Grünen zu erfrische», und wenn er nicht ein großer Pilz-
frennd und Pilzkenner gewesen Ware. Der Blankenbecker Herr Pastor zog also
mit seinem Pilzsäckchen durch den Wald und begegnete dem Herrn Oberförster, mit
dem er ein wissenschaftliches Gespräch über Pilzsorten und Standpunkte führte.
Bald darauf erschien — offenbar im Auftrage des Herrn Oberförsters — ein Forst-
Wärter und eröffnete, verlegen die Mütze in der Hand drehend, dem Herrn Pastor:
Pilze seien fiskalisches Eigentum, und es sei nicht gestattet, fiskalisches Eigentum
mitzunehmen. Der Herr Pastor erschrak, warf alle Pilze von sich und eilte, ernst¬
lich in seinem Gewissen beunruhigt, nach Hause, um nie wieder den Wald zu be¬
treten. Ähnlich ging es den Töchtern des Bossenstedter Amtmanns, die wegen
eines Sträußchens Erdbeeren behelligt wurden. Der Amtmann wütete und brachte
seine Beschwerde auf dem Dvrneberger Jahrmarkte, wo er sich mit einigen Be¬
kannten traf — auch der Blankenbecker Förster war darunter —, zur Sprache:
Er hätte doch wahrhaftig uicht nötig, seiue Töchter zum Beereustehlen in deu Wald
zu schicken. Der Oberförster sei verrückt, und ein Verbot, Erdbeeren im Walde zu
pflücken, gebe es gar nicht.
Doch! wurde ihm entgegnet, das gäbe es doch! Im Forste gehöre alles,
auch die Schnecken und die Eicheln und die Erdbeeren dem Fiskus.
Kaufen Sie sich doch eiuen Pflanzen-, Pilz- und Vecrenschein, sagte der
Blnukeubecker Förster, kostet fünf Pfennige. Hernach können Sie hingehen, wohin
Sie wollen, und der Chef darf Ihnen kein Wort sagen. Kein Wort darf er
sagen. Habe ich nicht Recht? Kein Wort darf er sagen.
Obwohl dem Amtmann die Geschichte mit dem Scheine gar zu dumm schien,
entschloß er sich doch, sich einen solchen Schein für seine Kinder ausstellen zu lassen.
In es erschien ihm ein sehr schöner Gedanke, wenn sich jetzt ein paar hundert
Menschen für je fünf Pfennige Beerenscheine ausstellen ließen. Davon hätte der
Oberförster eine schöne Arbeit! Er schrieb also einen ordnungsmäßigen Antrag,
und legte fünfzehn Pfennige für einen Pilz-, Pflanzen und Beerenschein bei. Hierauf
erhielt der Antennen sein Schreiben und seine fünfzehn Pfennige zurück mit der
Randbemerkungi Petent müsse sich erst über seine Person und Würdigkeit durch
den Schulzen rekognoszieren lassen. Was? er, der Bvssenstedter Amtmann, die
bekannteste Person in der ganzen Gegend, sollte sich von seinem Schulzen rekognos¬
zieren lassen? Das war zum lachen! In grimmiger Lnuue begab sich also der
Amtmann zum Schulzen, und dieser setzte ordentlich verlegen sein Votum und
Stempel darunter. Nun ging das Schreiben mit den fünfzehn Pfennigen wieder
nach Buchenbeck. Worauf die Autwort unter Beifügung der fünfzehn Pfennige
erfolgte: Der Beerenschein könne in Buchenbeck abgeholt werden. Worauf der Amt¬
mann einen Boden mit den fünfzehn Pfennigen absandte. Der brachte die fünfzehn
Pfennige und den Beerenschein mit der Eröffnung, daß die fünf Pfennige für den
Schein in der Forstkasse in der Kreisstadt einzuzahlen seien, und daß für einen
Pflanzen- und Pilzschein besondre Anträge gestellt inertem müßten. Jetzt verzichtete
der Amtmann darauf, sich je wieder eiuen Schein ausstellen zu lassen.
Der Oberförster erreichte, was er wünschte. Der Buchenbccker Forst, sonst
ein gern besuchter Erholungsort, wurde von dem Publikum gemieden, wenigstens
von dem anständigen Publikum. Die Holzdiebe und Wilderer fragten nach dem
neuen Oberförster weniger, als sie nach dem alten Herrn gefragt hatten, der immer
einmal einen von ihnen erwischte, was dem neuen Oberförster nicht gelingen wollte.
Den Schaden davon hatte der Eggelinger Wirt. Zuerst blieben die Wagen
aus, dann auch die Fußgänger. Die Gastwirtschaft kam herunter, und das Bier
wurde so schlecht, daß es auch die Holzhauer nicht mehr trinken wollten. Zuletzt
war der Wirt froh, als ihm der Forstfiskus seine Wirtschaft für ein Billiges ab¬
kaufte. Nun wurde ein Holzhacker in das Hans gesetzt. Der zog aber bald wieder
ab, da ihm der Weg bis zum Gasthause in Bnchenbeck zu weit war. Seitdem
stand das Hans leer, und man benutzte es als Scheune sür das Wildfuttcr.
Aber die Freude des Oberförsters, den Wald von Wirte» gereinigt zu haben,
dauerte nicht lange, denn bald nach dem Abzuge des Eggelinger Wirtes errichtete
der Schiedlinger Wirt auf seinem eignen Besitztnme, einem Stück Ödland, nicht
Weit von dem Eggelinger Brunnen, eine Schankbnde, wo Bier für die Arbeiter zu
haben war. Sogleich zierte der Oberförster die ganze Umgegend mit Strohwischen
und grub ab, verbarrikadierte und verbot alles, was uur entfernt wie ein Weg
aussah. Es half ihm nichts. Der Schiedlinger Wirt baute einen eignen Zugaugs-
weg auf eignem Grund und Boden und vergrößerte die Bude zu einem stattlichen
Unterkunftshause. Und da der Besuch immer munden, so hätte er gern ein massives
Haus mit Ofen und Küche gebaut. Aber das wurde ihm auf Einspruch des Ober¬
försters untersagt. Wenn das Haus einen Ofen habe, so sei es eine Ansiedlung,
und Ansiedlungen seien im Walde nicht zu gestatten. Der Wirt dürfe nur kalte
Getränke verkaufen. Daß sich der Wirt einen massiven Keller baute, konnte ihm
nicht verwehrt werden. Übrigens weis; jedermann, außer dem Oberförster, daß in
der neuen Wirtschaft anch Kaffee und andre schöne Dinge zu haben sind. Wie das
der Wirt macht, ist sein Geheimnis.
Warum war denn aber der Oberförster so bösartig?
Weil er leberleidend ist, sagte ein Dorneberger Bürger bei einer Aussprache
über den alle so sehr berührenden Gegenstand.
I Gott bewahre, erwiderte der Doktor Emser, keine Spur von Leberleiden.
Aber er hat den pippns l^oalis a,amo8, den akuten Verwaltuugspips.
Der alte Remscheidt schüttelte deu Kopf und sagte: Das ist es alles nicht.
Daran ist seine Frau schuld.
Oho! seine Frau?
Ja, daran ist seine Frau schuld; die ärgert ihn den ganzen Tag, und darum
ist er schlechter Laune und ärgert die Leute weiter. Sie können es mir glauben,
meine Herren, es steckt hinter allem und jedem die Frau dahinter.
Mau lachte den alten Herrn aus, der wohl ans eigner Erfahrung reden
mochte, aber er hatte doch nicht so ganz Unrecht. Die Frau Oberförster war eine
stolze übliche Dame, die es nicht verwinden konnte, daß sie als simple Frau Ober¬
förster auf dem Lande sitzen sollte, während sie doch ihrer Geburt und persön¬
lichen Würdigkeit nach mindestens Frau Forstmeister oder Frau Oberforstmeister
in der Landeshauptstadt sein mußte. Und so lag sie ihrem Manne täglich in
den Ohren, daß er ans sein Avancement dringen sollte. Und so entwickelte denn
der Oberförster einen ganz riesigen Diensteifer. Die Unternehmung mit deu Wegen
war ein feiner fiskalischer Gedanke, der ihn oben empfehlen sollte. Man nehme,
so war seine Theorie, ein zweifelhaftes Recht unermüdlich wahr, so wird aus dem
zweifelhaften Rechte ein unzweifelhaft anerkanntes, denn der einzelne Mann hält es
ans die Dauer nicht aus, aber die Verwaltung kann es aushalten. Und welcher
Gewinn für deu Staat, wenn die verworrnen Rechtsverhältnisse, die man noch
immer im Walde findet, aufgeklärt und festgesetzt werden — natürlich zu Gunsten
des Fiskus.
Man erwartete den Erbprinzen zur Jagd. Hier sollte sich die Gelegenheit
bieten, auf die ganz besondre Tüchtigkeit des Oberförsters hinzuweisen. Der muster¬
hafte Zustand des Waldes sollte ihn empfehlen. Die Versetzung konnte denn much
nicht ausbleiben. Der Erbprinz kam mit etlichen Herren und schickte seine Wagen
fort, um sich an einer bestimmten Stelle später abholen zu lassen. Die Jagd war
wenig ergiebig, das Wetter wurde schlecht, es fiel ein feiner kalter Regen, der
Humor Seiner Königlichen Hoheit wurde säuerlich. Er sah sich die Wohl beschütteten
Waldwege mit tadelloser Wölbung, auf denen friedlich Gras wuchs, die Warnungs¬
tafeln an allen Ecken, die Strohwische, die abgcgrabnen Fußwege und die Verhaue
verwundert an und sagte: Ihr Wald ist ja recht nett, lieber Oberförster. Wenn
ich ein Rehbock wäre, dann wanderte ich hier aus, mir wäre es hier zu gebildet.
Sagen Sie mal, ist es denn in Ihrem Walde gestattet, auch einmal — mit Ver¬
laub zu sagen — auszuspucken?^)
Die Herren des Gefolges lachten pflichtschuldig unbändig, und der Oberförster
wurde blaß vor Ärger.
Man kam an den Eggelinger Brunnen. — Das ist gescheit, sagte der Erb¬
prinz, der gern ins Trockne wollte, daß sich einer hier angebaut hat. Wie heißt
das Nest? Egg? — Egg? — Das halb verwitterte Schild hing noch über der
Thür. Aber das Haus 'war verschlossen, und der Oberförster mußte die Geschichte
des eingegangnen Gasthauses erzählen. — Sehen Sie, sagte der Erbprinz, das
haben Sie davon. Hatten Sie den Wirt in Frieden gelassen, so hätten wir jetzt
ein warmes Glas Grog.
Man machte darauf aufmerksam, daß nicht weit von hier eine Unterkunftshütte
sei, und es wurde beschlossen, dahin zu gehen, um wenigstens uuter Dach zu kommen.
Dies geschah. Der Erbprinz verlangte etwas Warmes, einen Platz am Ofen oder
ein Glas Glühwein. Der Wirt machte eine spitzbübische Miene und sagte: Der
Herr Oberförster habe verboten, hier Grog oder Kaffee zu verschenken. Es dürften
nur kalte Getränke abgelassen werden.
soo! sagte der Erbprinz, ich meine aber, eine Tasse warmen Kaffees ist für
die Leute viel dienlicher als kaltes Bier oder Schnaps.
Der Oberförster war der gleichen Meinung, machte aber unterthiinigst darauf
aufmerksam, daß der Ofen verboten sei, damit uicht das Recht einer Ansiedlung
entstehe. Der Erbprinz hörte nicht darauf, souderu wandte sich an den Wirt: Es
ist aber verwünscht kalt in Ihrer Bilde, und ein warmer Trunk scheint mir sehr
zweckdienlich zu sein. Sagen Sie mal, läßt sich da nicht Hilfe schaffen?
O ja, erwiderte der Wirt, da läßt sich schon was machen, wenn mich König¬
liche Hoheit nicht dem Herrn Oberförster verraten wollen. Der Erbprinz versprach
es lachend. Darauf machte der Wirt die Kellerthür auf und führte seine vor-
nehmen Gäste durch den Keller in einen Nebenraum, ein kleines Zimmer, worin
ein Kauoueuvfeu stand und lustig brannte. Auf dem Ofen summte ein Kessel mit
Wasser. Der Raum war eng, aber es war behaglich warm, und es dauerte uicht
lauge, so hatte jeder der Herren sein Glas Grog in der Hand. Der Erbprinz
war bester Laune, er beschäftigte sich mit besondrer Leutseligkeit mit dem Wirte, der
ein gesundes Mundwerk und einen gesunden Mutterwitz hatte, und ignorierte den
Oberförster gänzlich. — Sehen Sie, meine Herren, sagte er, der Mann gefällt mir.
Ich halte es unter Umständen geradezu für verdienstlich, diesem steifleinenen Fiskus
ein X für ein U zu machen. Und daß Sie mir den Mann nicht anzeigen, Ober-
försterchen, wir sind ihm offenbar Dank schuldig. Man könnte ihm ja die Erlaubnis
erwirken, sich eine ordentliche Stube und einen Ofen hinein zu bauen.
Befehl, Königliche Hoheit.
Der Oberförster sah grün und gelb ans vor Ärger. Er wußte, daß der Wirt
die Geschichte mit der nötigen Zuthat in der ganzen Gegend herumtragen werde. Er
War der Blamierte, seine Autorität war niedergeworfen, und die Aussicht aus Avance¬
ment rückte in weite Ferne.
Neuerdings geht das Gerücht in der Gegend, der Oberförster werde doch ver¬
setzt, und zwar als Forstmeister in die Regierung. Ob dies in Anerkennung seiner
fiskalischen Verdienste geschieht, oder weil er aus der Gegend fort soll, oder weil
der Erbprinz, der, wie man sagt, sich für die Versetzung besonders interessieren soll,
ein Pflaster auf die Wunde legen wollte, hat nicht festgestellt werden können. Die
Leute sehen die Sache mit etwas mißtrauischen Augen an: Wer weiß, obs was
wird. Und wer weiß, was dann für ein Oberförster kommt. So einer, wie der
alte schickten war, kommt nicht wieder. Und damit werden sie wohl Recht haben.
le Sonne stand hinter Semle Barthelmä; stattlich hob sich die alte
Kirche mit ihrem turmhohen Dach vom Abendhimmel ub, und Line
Städel, die über den langen Markt auf die Kirche zu ging, mußte
blinzelnd die Augen schließen, denn eben jetzt kamen ein paar Strahlen
um den plumpen Anbau der Sakristei, und die ganze Markisette ent¬
lang blitzten und blendeten die Fenster der behäbigen Bürgerhäuser.
Das Mädchen mit dem eiligen WerleltagSschritt sah nicht rechts noch links.
Gewohnheit hatte ihr die besondern Schönheiten dieses Anblicks verwischt. Tag für
Tag eilte sie des Morgens hier herab, den Damen von Seukenberg mit ihren
Schneiderkiiusten zu dienen, und allabendlich kehrte sie, der Souue entgegen, nach
Hause zurück. Ihr Gesicht aber sah nicht sonneufroh aus, und je näher sie der
glanzverklärten Kirche kam, desto finstrer wurde es.
Sankt Barthelmn stand frei und hoch vor dem Abendhimmel; es war schon
lange her, daß man Thor und Mauern dort oben niedergelegt hatte, um den Kirch¬
platz frei zu mache». Aber die alte Apotheke zum goldnen Engel, zur rechten
das nächste Haus bei der Kirche, stützte sich noch heute fest auf das dauerhafte
Gemäuer.
Sie war das stattlichste Gebäude des Marktes; je und je hatten die
Brände, die mit dem Gerümpel der Stadt aufräumten, vor dem goldnen Engel
Halt gemacht.
Ihr Besitzer, der alte Nothnagel, erzählte gern, sein Haus habe ehemals
einem Kollegen des Doktor Faust gehört, der gerade so berühmt geworden wäre
wie dieser Teufelsbanner, wenn die Dichter ihn erwischt hätten statt des andern —
ungerechter Zufall, wie alles in der Welt."
Alt geung, diese Erzählung glaubhaft zu macheu, sah das Gebäude aus. Hoch
und steil war sein Dach, Erker und Türmchen, Bildwerk und Inschriften zierten
die Mnnern, breite Stufen mit schmiedeeisernen Geländer führten zu dem halbstock-
hoheu Laden hinnus, und die schmale Hausthür zu ebner Erde trug Eichenschnitzerei
im besten Nürnberger Geschmack, mit einem pausbäckigen Engel als Kronstück.
Auch über der Ladenthür, in der Höhe des ersten Stockwerks, thronte das
Wahrzeichen der Apotheke in einer spitzbogigen Nische, aber hier war es von neuer
geschmackloser Arbeit und wurde alljährlich frisch vergoldet. Um seines Glanzes willen
liebten die Kinder Senkenbergs den Engel sehr; Line Stcidel, die mit jedem Schritte
der Apvthekenthür näher kam, nannte ihn ihren Teufel.
Durch die Apotheke führte der nächste Weg in ihres Vaters Wohnung, deren
eigentlicher Eingang in der Schnhgasse lag, die jenseits der behäbigen Bürgerhäuser
in derselben Richtung mit dem Markte hinlief und nach Westen zu, gerade wie
dieser, die Stadtmauer durchbräche» hatte. Dort lehnte sich auf diese Mauer,
weniger stattlich als die Apotheke, doch ebeu so alt und dauerhaft: Ackermanns
Schmiede.
Rücken an Rücken standen diese beiden Nachbarn nnn schon ein paar Jahr¬
hunderte lang, und ihre Bewohner sahen sich über den trugen schmalen Hos hin
in die Fenster und auf die Finger; sie nannten diesen Hof den Kegelschnb, seine
Nordseite begrenzte ein wohlerhaltncr Stadtmauerrest, nach Süden schlössen ihn die
Seitengebäude der beiden Häuser von dem jüngern Nachbarschaftsgclichtcr ab.
Sankt Barthelmä sah in diesen Hof, und zu Sommerszeiten that es auch die Abend¬
sonne; sie schien gerade hinein in den offnen Gang, der, gedeckt dnrch ein brctternes
Vordach, am ersten Stock dieses Seitengebäudes entlang lief.
Im Bereich der Apotheke lief er an Trockenböden, Darre und Speicher hin;
hinter seiner größern Hälfte, die zu Ackermanns Schmiede gehörte, hatte Lineus
Vater, der Stcindrucker Stadel, seine Werkstatt aufgeschlagen; in stetem Wechsel
führten hier Thüren und Fenster den dahinter liegenden Räumen Luft zu, und der
bretterne Weg mündete in Lineus Küchenthür aus, die den Eintritt in das alte
Vorderhaus der Schmiede freigab.
Unten im Hofe schloß ein Bretterzaun mit einer knarrenden Thür die beiden
Höfe von einander ab, aber oben auf dem Gange konnte man freien Fußes über
die Grenze laufen — leider, leider! denn Tag für Tag lief auch das Unheil diesen
Weg entlang.
Guten Abend, Fräulein Line, guten Abend, wie gehts? fragte es heiser vom
Halbstock der Apotheke nach dem Markte hinunter.
Karoline Stadel sah nicht auf, als sie antwortete: Guten Abend, Herr Noth¬
nagel.
Den Mann da oben mit der heisern Stimme, der großen, hagern Nase und
den Geieraugeu haßte sie mit der ganzen Kraft eines leidenschaftlichen Herzens, dem
der Liebcsquell verschüttet worden ist.
Sie wollte an der geschnitzten Thür vorbeigehn; wenn sie auch mit den
Minuten geizte, und der Umweg über den Kirchplatz um die Stadtmauer herum
und drüben zur Schmiede hinein groß war — immer noch besser so, als unter
dieses Maunes Anqen dnrch die Tcufelsthnr gehn.
Der alte Nothnagel schien ihr die Gedanken von der Stirn zu lesen, sem
schmaler Mund verzog sich zu einem Grinsen, was er lachen nannte, und die heisere
Stimme klang spöttisch, obwohl er nur neckisch sein wollte, als er sagte: Nur dnrch
nur durch! 's ist dem goldnen Engel eine Ehre, wenn Fräulein Karoline Stadel
den Staub dnrch seine Hausflur fegt. ^
Da ging sie hindurch, ohne ein weiteres Wort, aber much ohne Zögern. ^5as
scheute sie denn noch? Es war nun doch alles gleich.
Ein kühler Luftstrom schlug ihr aus dem Durchgang entgegen, über dem Kreuz¬
gewölbe hing schon die Dämmerung. ^ .... <
Ans der Küche an, Ende des Ganges schaute ein Mädchcnges.es heraus:
blanke Auge», gebrannte Stirnlöckchen. gefallsüchtige Jugend Karowie hatte nnr
einen mürrischen Dank für den freundliche.! Guten Abend der Apothekerstochter.
Es wäre ihr mich ganz gleich gewesen, wenn sie das „eingebildete Person" gehört
hätte, was hinter ihr drein murrte. Ebenso wie ihr des Provisors unhöflicher Gruß
gleichgiltig war.
Der junge Herr Frisch hatte Feicrabcndstaat gemacht, eine blaue Halsbinde
mit Weißen Tupfen war das Hauptstück, den Scheitel hatte er auch ein wenig ge¬
brannt. Er machte sich im Hofe vor den Küchenfenstern zu schassen, konnte aber
keinen Blick der Haustochter erhaschen. Sein Ärger brummte hinter Karolinen
drein: Dumme alte Person.
Line war erst dreißig Jahre alt, aber zwanzig Jahre schwerer Arbeit und ein
Ausdruck von Sorge und Verdrossenheit machten ihr Gesicht älter. Die Gestalt
war auch zu breit und zu fest, als daß sie jugendlich halte aussehen können.
Hart schlugen ihre Sohlen gegen das Pflaster des Apothekenhofs; hart öffnete
und schloß sie die Vretterthür, die hinüberführte in Ackermanns Bereich; finster ließ
sie den Blick über deu heimischen Holzgang gleiten. Und doch war der Schmiede¬
hof viel freundlicher als der andre drüben im Schatten des hohen Dachs. Die
Sonne sah noch mit einem letzten Blick zu, wie Frau Flörke, die Wäscherin, die
zu ebner Erde im Seitengebäude wohnte, die letzten Stücke von der Leine nahm;
an ihrer kleinen Bvhnenlaube gabs ein paar rote Blüten, die den ganzen Hof hell
und lustig machtei?, und zwischen Stützen, Leinen, alten Karren, Eisenstangen und
kränklichen Fahrrädern lief Nettchen Flörke umher; Nettchen, „das Ding," wie die
Hnnsgenossen sie nannten — Professor Kilburg im ersten Stock machte sogar
Dingelchen daraus.
Das Dingelchen war nicht gerade klein, anch nicht überbeweglich, trotz seiner
sechzehn Jahre — wo man noch ein Kind ist, sagte die Mutter, die für arbeiten
und zu Hause bleiben war. Aber sie hatte allezeit umherzulaufen; man sah sie
bald ans dem Gange, zu dem eine leichte Holztreppe empor führte, bald unten im
Hof, bald auf der Stadtmauer, wo die Luft am besten an die Wäsche heran konnte,
bald in der Schmiede, wo die Stähle im Herdfeuer glühten — und wo man sie
erblickte, wurde es hell.
Auch Karoline sah etwas weniger grämlich aus, als das Ding an ihr vorbei
lies; sie blieb vor dem Waschhaus stehen, nickte Frau Flörke zu und sagte: Morgen
zum Abendbrot müssen Sie unsre Gäste sein.
Frau Flörke schlug die Hände zusammen, daß der SeifeusclMnn flog. Sie
war allerdings die neuste im Kegelschub, erst vor sechs Jcchreu eingezogen; aber
daß Städels einluden, das war unerhört nud noch nie dagewesen, sie kannte ihre
Hausgenossen inwendig und auswendig — „denn ich bin eine Frnn von Welt und
mach mir meine Gedanken über das, was ich sehe."
Einladen und gleich zum Abendbrot? Der alte Stadel, der nie mit dem
Nötigen fertig wurde und mit dem Unnötigen erst recht nicht, und die Karoline,
die nach nichts verlangte das, ganze Jahr, als muss Nähen zu gehen von früh
bis spät und des Abends zu Hause zu brummen übers Unterlassene und Sonn¬
tags die Wirtschaft reiuznmachen und dann Überarbeit zu thun, was der liebe
Gott und die Polizei gleichermaßen verboten — die wollten einladen? Oder
etwa der junge Mensch, der gestern glücklich von den Soldaten nach Hause ge¬
kommen war? Ein hübscher Mensch, der Scharls, und stattlich geworden beim
Militär, aber noch eben so schüchtern zu Hause, und wenn die Line redete, zu nichts
zu haben, als zu einem unterthänigen Ja — der hatte die Einladung auch uicht
durchgedrückt.
Frau Flörke wunderte sich immer noch, als Karoline wiederholte: Sie kommen
doch sicher.
Und dann machte sie Umstände; die Bildung verlangte das, und sie mußte
auch daran erinnern, daß sie eine fleißige Iran sei.
Ja liebes Fräulein Karline, ob ich Zeit hab. ich weiß nicht.
Kommen Sie nnr, sagte Karline ans ihre Art, ohne alle Verbindlichkeit, ich
nehme mir auch den halben Tag frei, mündig wird einer nur einmal im Leben,
und für deu Karl soll der Tag einen großen Abschnitt bedeuten.
Was tausend, mündig wird er, der Herr Scharls? Nein so Was! Dn
kommen wir, el natürlich! — Was sie weiter sprach, und sie sprach noch eine ganze
Weile, horte Knroline nicht; sowie sie die Znstimninng hatte, ging sie mit kurzem
Kopfnicken ihrer Wege, ins Haus und durch die Hausflur, bis an die Seitenthür
der Schmiede, in der noch der Blasebalg in Schwung war; dort sprach sie einen
Gruß hinein in das Hämmer».
Atom Ackermann, der Schmied, sah auf und nickte mit dein rußigen roten
Gesicht seiner Mieterin heiter zu. Auch nahm er die Einladung ohne weiteres nu;
er wußte schon, um was es sich handelte, und hatte mit Karolinen den Fall als Rat¬
geber hin und her besprochen.
Hier stand sie noch eine Minute still, als sie ihr Ja hatte, und fragte nach
ihrem Verlauf: Wo sind denu die Buben?
Der Schmied lachte.
Schulspaziergang heute; ich denk schon manchmal, ich bin taub geworden, weil
ich keinen Lärm höre.
Karoline lächelte; es war so gerade, als ob die Glut, die vom Schmiedefeuer
über ihr Gesicht flackerte, Zug um Zug Verdrossenheit, Härte und Alter weg¬
wische.
Alle füufe auf und davon?
Alle fünfe, und ich denke, das muß dein ganzen Haus einmal wohlthun.
Warum nicht gar!
Ehrlich, Fräulein Stadel, es sind böse Büheln die Mutter fehlt. Von fünfen
muß ja so wie so schon immer einer das fünfte Rad am Wagen sein, und, weiß
der liebe Gott, das Übcrleie ist einem allemal das nächste. Am Ende sinds wohl
gar lauter fünfte Räder.
Sie versündigen sich, Meister.
Gott behüte, mit vieren möchte ich deshalb noch lange nicht fahren — es
war nnr so eine Bemerkung, wie der nachdenkliche Mensch sie macht, wenn ihm
gerade das Radreifenlegen geläufig ist.
Ihnen sind noch ganz andre Dinge geläufig, sagte Karoline, von deu Jungen
nblenkend und trat an den Werktisch, ans dem eine Blumenranke lag — Schmiede-
cirbeit. uoch nicht fertig, aber weit genug, die gefällige Form zu verraten.
Ein Kunstwerk, Meister.
Er lachte vergnügt. Sonntagsarbeit, will sagen: mein Feierabendpläsier! ^ur
erlaubt, wenn ich Zeit hab — aber Kunstwerk? Behüte, Fräulein Karoline, immer
bescheiden. , ^. ,,
Sie siud wohl ein Künstler, sagte sie eifrig, gerade so ant wie ein nacydenl-
licher Mensch. ^ .
Wollen Sie mir noch einen Spitznamen aufhängen? Das nachdem liebe Haus
heißt meine Schmiede schon, von wegen meiner Redensart und dein Profestor vom
und Ihrem Vater, vor dem die Leute einen höllische» Respekt haben — in doch.
Fräulein Linchen.
Respekt wie vor einem Schwarzkünstler.
Behüte; reinlichen, einfachen Respekt. Na, und dann kam die gute Flörke und
sagte immer, wenn sie drüben am Bach ihre Wäsche stable: Denken, Frau Nach¬
barin, denken ist die Hauptsache! — Das brach denn die Speiche! nun heißen wir
bei dem unbesinnlichsten Gassenbuben das nachdenkliche Haus.
Was nicht geschimpft ist, Meister, und ein Künstler kaun man deshalb auch
noch sein.
Nun also, nun gut! wenn Sie es mögen: Künstler und nachdenklicher Mensch —
in meinem Fach natürlich, jeder in seinem Fach.
Er lachte herzlich. Dabei war die Arbeit fertig geworden; der Lehrjunge
ließ den Blasebalgring fahren, Ackermann legte den Hammer weg, wischte sich die
Hände ab und gab Karolinen die Rechte: Nur iimner guten Mut, Fräulein
Linchen, und auf ein fröhliches Fest morgen abend, und bereden Sie den Bruder
fein linde.
Eiligen Schritts, die in der Schmiede versäumte Zeit einzuholen, stieg Karoline
die Treppe hinauf nach des Vaters Wohnung. Im ersten Stock, neben dem Pro¬
fessor hatten sie ein Zimmer vorn hinaus; die übrige Wohnung streckte sich hinter
dem Holzgang den Hof entlang.
Karoline trat von der Treppeuflur geradeswegs in die Küche, deren Geschirr
unordentlich umher stand, wie von Männcrmahlzeitcn; sie öffnete die leere Vorder-
stube, hängte Hut und Arbeitsbeutel an einen Nagel, band sich eine blane Schürze
vor und ging zurück in die Küche, durch deren dritte Thür der lauge hölzerne
Uuheilsgaug in das Vorderhaus einmündete.
Als sie diese Thür zurückschlug, blieb sie unwillkürlich stehen, sah gerade
aus, seine ganze Flucht entlang und lauschte. Ganz still wars da draußen; an der
Grenze der beiden Seitengebäude wehte ein vergessenes Stück Wäsche, eine vor¬
witzige Bohnenrnnke, die sich verklettert hatte, schwankte haltlos in einem weichen
Abendlüftchen, Schwalben, die unter dem Vordach nisteten, zwitscherten leise, schon
halb im Traum — Line seufzte tief auf und bedeckte die Augen mit der Hand.
Das war so friedlich und lind; da ans das kleine Bänkchen neben der Küchen¬
thür sinken und sich gar nicht mehr rühren müssen, still und froh sein wie der
Feierabend draußen, nicht wie das Ding, dessen Gezwitscher aus dem Waschhaus
herausklaug — uicht jung und froh — das war sie nie gewesen, das war nichts
für sie, nur still sein — ausruhen —, sie meinte sich noch nie so danach gesehnt
zu haben, wie heute.
Eine Minute lang, dann schüttelte sie die Stimmung ab. Ungesunde Stim¬
mung! Sie hatte zu thun, nicht nur mit den Händen, wie der Geselle, dem der
Meister die Arbeit vvrdcnkt, sie mußte Matrose sein und Steuermann zugleich, sie
mußte bedenke» und einrichten, sorgen und schaffen, mußte ernähren, wo sie lieber
bewundert, und hart sein, wo sie sich lieber angeschmiegt hätte.
Aber das wußte sie nicht einmal mehr, selbst solch eine unbestimmte Feier-
abendsehnsncht wurde schnell überwunden — sie strich sich mit der Hand über die
Augen und sah wieder eine nüchterne Welt.
Sofort setzten sich ihre Füße in Bewegung und trugen sie vorwärts, den Gang
entlang. Zuerst an einem Fenster vorbei, das dem Schlafzimmer von Vater und
Bruder Luft gab. Sie sah hinein: dort drinnen wars leer; dann zu einem zweiten,
das gab der Werkstatt Licht, da stand ein junger Mensch an der Presse und druckte.
Rasch trat Karoline durch die wichste Thür.
Noch uicht Feierabend, Karl? Vorwärts, vorwärts! ich muß rein machen
hier; morgen giebts andre Arbeit, und Montag früh muß ich beizeiten weg.
Der Jüngling sah ans, halb Bitte, halb Verlegenheit im Blick; er fuhr mit
der Hand über die Stirn, als wollte er vornübergefallnes Haar zurückstreichen, eine
Bewegung, die er in der Soldatenzeit nicht verlernt hatte, nud sagte: Aber da ist
uoch zu thun.
Sie ging schnell zu dem großen Tisch, der gucr vorm Fenster im Lichte stand,
und sah forschend über die Blätter, Steine, Stichel und Vorlagen hin, die dort
in bunter Menge lagen.
Die Karten für den Rat?
Druck ich eben.
Die Geheiinsache fürs Amt?
Dort auf dem Stein.
Da fehlt noch an der Schrift!
Der Bote vom Rat war schon da und kommt gleich wieder, drum druck ich
erst dies.
Und inzwischen vergeht das letzte Licht. Laß mich! Sie drängte ihn von
der Presse weg, er setzte sich an den Arbeitstisch, schob die Lederscheibe in den
Mund, die den Stein vor dem Atem des Arbeitenden schützen muß, und fuhr mit
leichter Hand in der kaum begonnenen Abschrift fort.
Ein paar Minuten arbeiteten die Geschwister schweigend, dann fragte Line:
Wie könnt ihr so zurück sein? Es war wenig genug Arbeit für zwei Männer.
Gott seis geklagt!
Nothuagel saß am Vormittag hüben, und Nachmittag hat er Vater geholt.
Vater geholt! und sieht selber zum Fenster hinaus!
Mit zwei Schritten stand sie an der Thüre des Nebenranms und stieß sie
auf. Sie nannten ihn im ganzen Hanse die Hexenküche, und unheimlich mochte
er durch seine fremdartige Ausrüstung den hereinschauende» Kindern manchmal er¬
schienen sein. Verstärkt wurde dies Gefühl dadurch, daß den fünf fünften Rädern
jedes Betreten des Raums unter tausend heiligen Donnerwettern verboten worden
war; aber auch Line mußte sich jedesmal eines Schauders erwehren, wenn sie des
Vaters eigenstes Zimmer betrat.
Auch hier stand der Steinschneidetisch am Fenster, sonst aber glich dieser
Arbeitsraum in nichts der Werkstatt nebenan — überall an den Wänden, an der
Decke, auf hohen Borten, auf niedern Gestellen standen, lagen und hingen Modelle
von Luftschiffer und Flugmaschinen. Die Mvngvlfiere schwankte neben der Charlicre,
Besnicrs Doppelflügel versprachen den Besuch der Sterne, und Trouvis Flngel-
flieger schwebte wie ein Vogel Greif mit ausgebreiteten Schwingen an der Decke;
Blnnchards Jahrmarktsballvn mit dein Fallschirm nud den zerbrechlichen Flügel¬
rädern fehlte so wenig wie Abbe Dcsforges fliegender Nachen, der sich nie über
die Erde zu erheben vermocht hatte.
Da hingen Schraubenflieger und Flächenflieger, da schwebten Luftbälle von
allerlei Formen und in allen Stufen der Füllung. Dupuh de Loach Ellipse
strotzend, Griffards Cigarrenförmigcr schon wieder etwas faltig, andre zusmmnen-
lleschlappt, sodaß ihre Form nicht mehr zu erkennen war.
Und nicht diese Modelle allein, sorgfältig ausgeführt bis ins kleinste, füllten
das Zimmer: was irgend über Flugkuuft und Luftschiffahrt jemals gedruckt worden
war, hatte sich hier vereinigt. Merkwürdigkeiten und Seltenheiten fanden sich in
dem bescheidnen Seitengebäude der alte» Schmiede. Das Zeitungsblatt, worin
Blnnchard im Jahre 1784 seine erste Fahrt mit dem „fliegenden Schiff" markt¬
schreierisch angekündigt hatte, lag neben den Spottversen, die seine mißglückte»
Lenkversuche geißelten; der Bericht über Gambettas Flucht aus dem belagerten Paris
fehlte so wenig wie die phantastisch wissenschaftlichen Romane Chrauos von Bergerac,
der seinen Helden den Mond erreichen ließ, ehe ein Menschenkind sich über den
Erdboden erhoben hatte.
An den Wänden, überall da wo die Modelle Raum ließen, hingen die Bilder
der Luftschiffer — die Brüder Mvngolfier richteten ihre edelgeschniitucn Profile
geradeaus, zu Professor Charles hinüber, der ihre kühnen Versuche so schnell über¬
trumpft hatte; Blauchards kleinpfiffiges Gesicht fehlte so wenig wie die mutigen
Engländer Green, Cocking und Robertson; Madame Garnerin lächelte mit einem
Zirkuslächeln von der Wand herab, das keiner hatte sehen können, wenn sie sich
aus ungeheurer Hohe mit ihrem Fallschirm aus dem Ballon stürzte, und Pilntre
de Noziers kühnes Chcvalicrgesicht stand auf dem Werktisch am Fenster, gerade dn,
wo drüben bei dem jungen Städel Senefelders kluge, freundliche Angen der Arbeit
zuschauten.
Was hätte Scnefelder auch gewollt ans einem Platz, wo niemand an Litho¬
graphie denken mochte? Wohl stand da ein Stein mit begonnener Schrift und
künstlerisch angelegter Umrandung, aber er war beiseite geschoben, und der Staub
bedeckte seine empfindliche Fläche, ebenso wie Scheibe, Stift und Schleifer verdeckt
Ware» vou dem andern, das hier Herrenrecht genoß. Schraube», Feilen, Zänglcin,
Federn, Spiralen, Näderchcn, Lupen, Retorten, Gummischlänche, eine Lötlampe,
eine galvanische Batterie und noch Hnnderterlci, was sich dem ersten Blick verbarg,
machten zweifelhaft, ob da ein Uhrmacher oder ein Chemiker Hause.
Diesem Tisch gegenüber, an der Rückwand, deren Mittelstück von dem Luft-
schiffermnseum frei gelassen war, stand ein zweiter Tisch, und hier unter einem leicht
nbhebbaren Glaskasten thronte „das Gespenst des Hanfes": das Modell, an dem
der alte Städel seit zwanzig Jahren arbeitete und versuchte, zerstörte und wieder
zusammenstellte.
„Ich und der alte Städel," würde Apotheker Nothnagel gesagt haben; in Wahr¬
heit beschränkte sich Nvthnagels Mitarbeit aber zumeist auf dreinreden und neue
Einfälle kundgeben.
Anfangs hatte Städel die Chemiekenntnisse seines Genossen angestaunt und
benutzt, jetzt war er ihm längst auch darin nachgewachsen; er beherrschte „sein
Fach," wie man etwas beherrscht, was man mit dem Herzen betreibt.
Jawohl, mit dem Herzen, mit einem Herzen so erfüllt von dem einen, daß
nichts andres mehr Raum darin findet.
Line dachte an dieses volle Herz, das sie ein leeres nannte, während sie
finstern Blicks die Hexenküche musterte, am finstersten den goldnen Engel, der wie
ein Schutzgeist vou einem kleinen Wandbrett auf das Modell herabsah — ein
pausbäckig lächelndes Kindergesicht, bescheidne Flügelchen und traite, hilflose Glieder.
Hätte er nicht aus Nothnagels Hause gestammt, vielleicht wäre Line nicht blind
gegen den naiven Reiz des kleinen Burschen gewesen, dein so wenig mehr von dem
einstigen Golde anhaftete, daß allerorten die kräftige Holzmaser unter der ver¬
regneten Unnatur hervorschaute.
Ehedem hatte er, ein Altersgenosse des Thürengels, in der Apothekennische
gestanden, bis eines Tags den Nothnagel „das Renovieren" packte; da brachte er
das Holzbübchen zum Nachbar.
Ich muß einen neuen Engel über die Thür haben, aber Glück hat dieser bei
unserm Hanse gebracht, und so mag er jetzt das seine um unserm Luftschiff thun —
nur solch einen alten, guten Hausgeist nicht absetzen.
Dazu lachte er, obqleichs ihm im Innersten damit ernst war; und um dieses
Lachens willen, und weil der himmlische Bub aus der Apotheke kam, haßte ihn Line
als die Verkörperung ihres häuslichen Unglücks.
Jäh wandte sie sich auch jetzt vou ihm ab und trat in die Werkstatt zurück.
Was sollte sie in der Hexenküche? Der Vater war nicht da. und wäre er auch
drüben gewesen, daß Notwendige hatte er gewiß nicht gethan.
Ich muß mit dir reden, .Karl, begann sie — aber da kam der Bote des
Rats zum zweitenmal mit ungeduldiger Frage. Stumm holte sie ein Schächtelchen
vom Sims, nahm das zugeschnittne Seidenpapier aus dem Kasten und legte dann
rasch und gleichmäßig, wie man gewohnte Arbeit thut, wechselweise Karte und
Schutzblatt hinein.
Erst als der Junge mit deu Karten fort war, sah sie dem Bruder wieder
ins Gesicht, doch knüpfte sie nicht am abgerissenen Ende an, sondern fragte: Sind
denn die Johaunisfestprogramme fort? und dn Karl dies verneinte, fügte sie schnell
hinzu: Dann trag sie hinüber, die Lvgcnherreu mußt du warm halten, ich besorg
unterdessen das Abendbrot.
Als er aber gegangen war, kümmerte sie sich nicht um das Essen; sie setzte sich
an den Arbeitstisch, ergriff Stichel und Scheibe und schrieb mit sicherer Hand weiter
an der Gehcimsache für das Amt, die nicht in eine Druckerei gesollt hatte.
cMscchuna, folgt)
Englische Kuckuckseier. Welcher vernünftige Mann hält es für möglich,
daß irgend eine gute oder schlechte englische Zeitschrift Aufsätze eines deutschen
Admirals aufnähme, worin deu Engländern gepredigt würde, sie hätten keine größere
Berechtigung, die See zu beherrschen, als irgend ein andrer Großstaat? Wer das
schrankenlose Nationalgefühl der Großbriten einigermaßen kennt, muß die Frage
verneinen. Aber daß ein englischer Admiral in einer deutschen Zeitschrift systema¬
tisch den Wert der Seemacht für Dentschland und für andre Festlandsstaaten herunter¬
setzen darf, so etwas kann eben nnr bei uns, im Volke der Denker, vorkommen.
Der Engländer kommt dabei natürlich ans seine Kosten; er verwirrt verschiedne
unklare Köpfe und erschwert deuen die Arbeit, die die Unkundigen über die Un-
entbehrlichkeit der Seemacht zu belehren suchen. Zerstören ist bekanntlich leichter
als aufbauen; ein Admiral, der der deutschen Opposition zuruft, Deutschland
brauche keine Panzerschiffe, wird bei ihr jedesmal mehr Beifall finden, als wer
mit guten Gründen für die Flottenvermehrnng eintritt. Im Reichstage spielte
deshalb der erste Aufsatz des englischen Vizeadmirals a. D. P. H. Colomb, der im
Aprilheft der „Deutschen Revue" erschiene» ist, eine Rolle, weil man sich auf der
Linken einbildete, in den bizarren Ideen des Verfassers ein Mittel gegen den Neu¬
bau von Panzerschiffen gefunden zu haben. Colomb, der ohne Zweifel ein sehr
kluger Mann ist, auch in Fragen deS Straßenrechts zur See und in unteren schon
sehr verständige Ansichten geäußert hat, hatte nämlich das Märchen vom gepanzerten
Torpedoboot erfunden, tels alle Schlachtschiffe überv'ältigeu, nlso überflüssig machen
soll. Seine Absicht war gar nicht mißzuverstehen; er wollte seinem Vaterlande
damit nützen, daß er die deutsche Flottenvermehrnng zu hindern suchte. Dem Eng¬
länder kann man daraus uicht einmal einen Vorwurf macheu, im Gegenteil, er ver¬
diente Anerkennung. Aber die guten Deutschen, die dem Fremdling ins Garn
gingen und immer wieder hineingehen, verdienen wahrlich mehr als Spott, denn
sie schädigen ihr eignes Vaterland. Colomb wollte, sobald er wußte, daß in
der deutschen Flottenvvrlage der Schwerpunkt auf die Stärkung der Schlacht-
flotte gelegt war, die Aufmerksamkeit der Laien von den Linienschiffen auf die
Torpedoboote lenken. Deshalb wärmte er dieses alte Märchen auf, daß große ge¬
panzerte Torpedoboote, sogenannte Torpedobootszerstvrer, die Schlachtschiffe der
Zukunft sein würden. Nach seinen Worten „kann kein umfassendes Programm
einer Flottenvermehrnng s!) aufgestellt werden, bevor diese Vorfrage erledigt ist."
Er verschwieg aber dabei, daß französische und auch deutsche Fachleute schou vor
reichlich einem Jahrzehnt diese Frage sehr gründlich behandelt und erledigt haben.
Alle verantwortlichen Fachleute, auch die englischen, sind seit der ungeheuern Ent¬
wicklung der Schuellfeuerbewaffuuug darüber einig, daß der relative Wert der
Torpedowaffe von Jahr zu Jahr abnimmt. Damit hängt ja auch die Zunahme
der Panzerschiffsbauten bei allen Mariner zusammen. Und Colomb kann und will
das auch selbst nicht leugnen; denn er giebt in dem ersten Artikel zu, daß Panzer¬
schiffe als „Reserveschiffe nicht zu entbehren" sind, und daß Englands) auch „ganz
recht daran" that, viele Schlachtschiffe zu bauen. Trotz dieser Widersprüche »ahn
unsre Opposition die englische Dreistigkeit sür bare Münze und kämpfte mit Colombs
phantastischen Gedanken gegen unsre verantwortlichen Fachleute, freilich dank der
Einsicht der Mehrheit des Reichstags vergebens.
Inzwischen hat nun der Krieg um Kuba handgreiflich den Beweis geführt,
daß lediglich Schlachtschiffe, also gepanzerte Linienschiffe, den Seekrieg entscheiden.
Auch Männer, die vor einem Jahre noch scharfe Gegner des Flottengesetzes waren,
wie A. Nogalla von Biebersteiu und Dr. Bruno Wnguer, geben hente ehrlich zu,
daß moderne Schlachtschiffe jeder andern Schiffsgattung überlegen sind. Colombs
Phantastereien haben nirgends den geringsten Anklang gefunden, im Gegenteil hat
der Panzerschiffbau bei allen Seemächten seit dem Kriege noch zugenommen. Aber
Colomb ist ein kluger Mann, und er ist auch zähe, wie nur ein Engländer; da
er mit dem Panzertorpcdoboot keine Aussichten mehr hat, versucht er es diesmal
ans ganz andre Weise, denen, die doch nicht alle werden, zu beweisen, daß Deutsch¬
land gnr keine Flotte branche. Bedauerlicherweise giebt sich wieder Fleischers
„Deutsche Revue" dazu her, die englische Ware auf den Markt zu bringen. Im
Novemberheft der genannten Zeitschrift benutzt Colomb deu Vorschlag des Zaren,
um seinen insularen Standpunkt in der Abrüstnngsfrage sehr drastisch zu zeichnen.
Zunächst führt er sehr verständig ans. daß man in Großbritannien die Rüstungslast
gar nicht verspüre, daß noch von keiner Seite Klage über die Hohe der Ausgabe»
für Flotte und Heer erhoben worden seien, obgleich sich diese Ausgaben während
der letzten Jahre nahezu verdoppelt und auf etwa 840 Millionen Mark gesteigert
hätten. Flvttenrüstungcn insbesondre fielen nicht schwer ins Gewicht, weil die
meisten Ausgaben dem Mnteriale (Schiffen, Geschützen nsiv.) zufielen und also als
Arbeitslohn wieder aus Volk zurückgezahlt würden. Also drückend sei die Rüstungs¬
last nur für die Festlandsmächtc! Aber statt daß er nun gleich sagt: England
denke deshalb gar nicht an Abrüste», schiebt er erst den Bruder Jonathan vor:
die Vereinigten Staaten würden sich unmöglich gerade jetzt an einer Friedenskonferenz
beteiligen, weil sie mit vollem Bewußtsein in den Zustand eines Staates mit über¬
seeischen Besitzungen übergegangen seien und daher ihr Heer und ihre Flotte be¬
trächtlich vermehren mühten.
Und nun zieht sich der Wolf Schafskleider nu. Was die Flotten anlangt, so
seien für die, die von den großen europäischen Festlnndstaateu gehalten würden,
wesentlich andre Grundsätze maßgebend, als die, ans denen die Errichtung und
Unterhaltung der britische» Flotte beruhe. Der Augriff der Flotte erstrecke sich
uicht über die Abschneidung des Verkehrs zur See hinaus. Darum sei eine starke
Flotte keine Bedrohung für ein Land wie Rußland, ebenso wenig aber auch für
irgend einen andern in sich abgeschlossenen (!) Staat. Das höchste, was eine Flotte zu
leisten vermöge, sei die Vorbereitung des Wegs für ein Augriffsheer und dessen
Überführung nach der feindlichen Küste. Darum könne da, wo ein Heer, das groß
genug wäre, mit Aussicht auf Erfolg einen Angriff auszuführen, nicht unterhalten
wird, eine Flotte wie die von Großbritannien die Stabilität^!) der großen Kon-
tiueutalstaateu nicht bedrohen und höchstens Augriffe auf auswärts gelegne Käsen
erleichtern oder Angelegenheiten(ü) durch Blockade bereiten.
Das klingt alles so harmlos und fast selbstverständlich und ist doch so nieder¬
trächtig schief und falsch wie uur möglich. Selbst ein Land wie Rußland kann von
einer überlegnen Flotte sehr schwer geschädigt werden, wenn die Flotte seine euro¬
päischen und ostasiatischen Häfen beschießt und — brnudschccht; das stärkste Heer
kann die Verwüstung der Küstenstädte nicht verhindern. Wie stark aber jeder nicht
in sich abgeschlossene Staat von der englischen Flotte bedroht werden kann, das
haben die bekannten Aufsätze im Speewtvr und in der L^wi-Z^ lisviow deutlich
genug gezeichnet. Aber Colomb erwähnt die Bedrohung des fremden Seehandels
gar nicht, wahrscheinlich um seine Anbeter nicht stutzig zu machen; die Vernichtung
der wirtschaftlichen Lebensbedingungen eines Landes wie Dentschland, das ohne See¬
handel überhaupt nicht mehr bestehen kann, bezeichnet er zartfühlend nur als „An-
gelegenheiten" I Die „Stabilität" von Staaten, in denen die Industrie eine wichtige
Rolle spielt, wie in Deutschland oder Frankreich, hängt eben durchaus nicht ledig¬
lich von der UnVeränderlichkeit des Grundbesitzes, sondern auch von der Blüte des
anSwnrtigen, also überseeischen Handels ab. Ob Colomb das wirklich nicht weiß?
Wer den deutscheu Welthandel vernichten kann, bedroht Deutschlands Lebenskraft
mehr, als wer uns einiges Grenzland zu entreißen vermöchte.
Dagegen hält der kluge Seestrntege das britische Reich für bedroht durch eine
Vereinigung der Flotten andrer Völker, die mit ihren Landuugstrnppeu einzelne
englische Besitzungen erobern könnten. Dies dient ihm als Grund dafür, daß die
englische Flotte immer wieder vergrößert werden müsse, wenn andre Länder ihre
Flotten vermehrten. England habe aber nie damit angefangen, die Ausgaben für
Uotteuzwecke zu steigern, und mich die Thatsache, daß die englische Flotte der der
beiden größten Flottcnmächte gleichkomme, sei durchaus keine Drohung für diese oder für
irgend eine andre Macht! Aber England müsse sich jederzeit nach den Flotten seiner
Nachbarn richten, und zwar weil ihm allein nach Colombs Ansicht die Herrschaft
ans dem Meere vou Rechts wegen zukäme. Es ist psychologisch interessant, welche
sonderbaren Rechtsbegriffe in dem seemächtigen Lande herrschen; Colomb sagt
nämlich: „Gerade so wie Rußland die erforderlichen Streitkräfte haben muß, um
sich die Bahn von Se. Petersburg nach Moskau oder Nischui Nowgorod freizu¬
halten, geradeso wie Deutschland freie Bahn (auf dem Schienenwege oder sonstwie)
bon Berlin nach Memel oder Leipzig haben muß, und geradeso wie Frankreich keine
Behinderung auf dem Wege por Paris nach Lyon oder Marseille dulden darf, muß
Großbritannien sich die Bahn von London nach Halifax, nach der Kapstadt, nach
situes oder Bombay frei halten. Alle kontinentalen Reiche halten sich ihre
Straßen (!) mit Gewalt offen. . . . Das weitausgedehnte Inselreich, das nach seinem
Kernlande Großbritannien genannt wird, muß sich in gleicher Weise seine ver¬
bindenden Wasserwege mit Gewalt freihalten, und diese Gewalt kauu nnr in einer
überlegnen Flotte gefunden werden." Das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig: das Weltmeer ist nicht frei, sondern gehört den Engländern, weil es seine
Kolonien mit dem Mutterlande verbindet. Nur wer Englands Gunst genießt, darf
seine Flagge ans dem großen Wasser zeigen; wer aber mit seinem Seehandel oder
mit seinem Kolonialbesitz dem Herren des Meeres unbequem wird, der darf sicher
daraus rechnen, mit Gewalt von den Wasserwegen verdrängt zu werden. Die An¬
maßung Cvlvmbs wäre lächerlich, wen» nicht die riesige englische Flotte in der
That die Macht hätte, die Seeherrschaft zu behaupten.
Weil die englische Flotte den Seehandel nud deu Kolonialbesitz aller andern
Mächte bedroht, ist es ein Gebot der Klugheit und Notwehr, daß jede Macht ihre
Flotte nach ihrem Vermögen so schnell wie möglich verstärkt. Colomb freilich will
nicht begreifen, daß andre auch ihren Anteil an der See zu fordern berechtigt sind;
in seinem brutalen Nationaldünkel erklärt er einfach, Großbritannien könne es un¬
möglich je zulassen, daß eine andre Macht ihm auf See als Rivale entgegenträte.
Und dazu noch die Heuchelei, die britische Flotte hielte sich geschichtlich in der
Defensive und träte auf die Dauer kaum(!) aggressiv auf; hat Englands Seemacht
im Laufe der Jahrhunderte nicht alle seemächtigen Rivalen, die Holländer, die
Spanier und die Franzosen planmäßig niedergetreten? Recht geschickt sucht der
Admiral auch eine der niederträchtigsten Handlungen der Weltgeschichte zu be¬
mänteln: „sie (die Flotte) ging einmal nach Kopenhagen, jedoch nurvin Ausführung
einer Defensivmaßregel, die von der Furcht eingegeben war." Mitten im Frieden
wurde die dänische Hauptstadt überfallen, die ungerüstete Flotte teils verbrannt,
teils weggeführt, weil die vorzüglichen dänischen Linienschiffe vielleicht einmal später
Napoleons Streitkräfte hätten unterstützen können. In England selbst war man
empört über diese „Defensivmaßregcl," die einem ganz gemeinen Straßenrand sehr
ähnlich sah. Wer weiß, ob nicht manche englischen Politiker mit den diesjährigen
Rüstungen der Flotte eine ähnliche Defensivmaßregcl gegen Frankreich im Schilde
führten; wäre die französische Flotte abgeschlachtet, dann hätte England wenig Sorge
vor einer Ausbreitung fremder Flaggen auf seinem Weltmeere. Ganz folgerichtig
ist es denn nnn auch Colombs Überzeugung, daß ein Teil der Flottenvermehrnug
(er meint wohl den Panzerschiffbau!) leine absolute Notwendigkeit für manches!) kon¬
tinentalen Staaten, aber ein dringendes Bedürfnis für das britische Gesamtreich sei.
Er meint, daß Großbritannien bei der Friedenskonferenz das fünfte Rad am Wagen
sein würde. Es läge in der Natur der Flotten, daß sie nichts bedrohten, als andre
Flotten, daraus aber folge, daß Großbritannien nicht zugeben könne, daß seine Flotte
nde Dezember meldete eine Wiener Zeitung als Gerücht, der
deutsche Kaiser habe den Kaiser von Österreich in einem eigen¬
händigen Schreiben um ein Darlehen von zwölf Millionen
Gulden gebeten. Wenn auch die Unsinnigkeit einer solchen Nach¬
richt auf der flachen Hand liegt, so hat sie dennoch ihren Grund
in einer Meinung, der man auch in gut gesinnten und wohlwollenden Kreisen
vielfach begegnet: die finanzielle Lage des Kaiserlichen Hofes sei mißlich. Woher
diese Meinung stammt, ist vollständig dunkel, sie läßt sich nur mit dem Los der
Regierenden erklären, deren gesamtes Leben von falschen Gerüchten begleitet zu
werden pflegt. Man beschäftigt sich überall und gern mit der Person und den
Verhältnissen dessen, der in irgend einem Kreise an der Spitze steht. Das beginnt
schon bei dem Bürgermeister in der kleinen Stadt und geht hinauf bis zum
Throne. Findet sich nichts, worüber man sich aufhalten kann, so erfindet
man etwas, und das aus der Luft Gegriffue setzt sich schließlich fest. Dein
König Friedrich Wilhelm IV. sagte man nach, daß er geistige Getränke über
das Maß zu sich nähme. Dabei trank er fast ausnahmslos Wasser mit etwas
Wein vermischt. Von der Königin Elisabeth, die erst nach mehrjähriger Ehe
aus freien Stücken vom katholischen zum evangelischen Glauben übergetreten war
und ihre Überzeugung sogar dem Papste gegenüber persönlich bekannt hatte,
behauptete man, sie hinge einer katholisierenden Richtung an und suchte ihren
Gemahl dafür zu gewinnen, ja man verstieg sich sogar zu der Behauptung,
der König sei heimlich zur katholischen Kirche übergetreten.
Für jeden, der mit den Verhältnissen auch nur einigermaßen vertraut ist,
steht nicht nur fest, daß die Gerüchte über finanzielle Verlegenheiten am Kaiser¬
hofe aller und jeder Unterlage entbehren, er weiß auch, daß das Gegenteil der
Fall, nämlich daß die Vermögenslage der Krone durchaus günstig ist. Allerdings
sind mit der Übernahme der Kaiserwürde die Anforderungen bedeutend gestiegen.
Das Deutsche Reich zahlt keinen Pfennig für seine Repräsentation, die es dem
König von Preußen auferlegt; andrerseits ist aber nicht allein die preußische
Krondotation erhöht worden, sondern es liegen auch andre Verhältnisse für den
König und Kaiser Wilhelm II. sehr viel günstiger als für seine Vorgänger.
Es wird den allermeisten unbekannt sein, daß die preußischen Prinzen keinen
Pfennig aus der Staatskasse beziehen. Soweit sie kein Privatvermögen besitzen,
besteht ihr gesamtes Einkommen aus einem Jahrgeld, das ihnen der König nach
seinem Ermessen aussetzt, und aus dem nicht nur die persönlichen Ausgaben,
sondern auch der gesamte Aufwand für die Hofhaltung vom Hofmarschall und
der Oberhofmeisterin an bis zum geringsten Stallknecht und dem untersten
Kücheumädchen hinab bestritten werden. Was das bedeutet kann jeder Familien¬
vater, auch wenn er nur einen bescheidnen Haushalt führt, berechnen. Nun
mache man sich einmal klar, wie die Verhältnisse früher lagen, beispielsweise
als König Wilhelm I. den Thron bestieg, und wie sie heute liegen. Damals
waren außer dem Königlichen noch folgende Höfe vorhanden: 1. der Hof der ver¬
witweten Königin Elisabeth; 2. der des Kronprinzen, spätern Kaisers Friedrich;
3. der des Prinzen Karl; 4. der seines Sohnes, des Prinzen Friedrich Karl;
5. der des Prinzen Albrecht; 6. der seines Sohnes, des jetzigen Regenten von
Braunschweig; 7. bis 9. die des Prinzen Friedrich und seiner beiden Söhne,
der Prinzen Alexander und Georg; 10. der der Fürstin Liegnitz, vero. Ge¬
mahlin Friedrich Wilhelms III. Die Königin Elisabeth residierte im Winter
in Charlottenburg, im Sommer in Sanssouci, der Krouprinzliche Hof in Berlin
und im Neuen Palais bei Potsdam, die Prinzen Karl und Albrecht (Vater)
in ihren Palais in Berlin und in Guericke und auf der Albrechtsburg bei
Dresden, Prinz Friedrich Karl im Berliner Schloß und im Jagdschloß Guericke.
Damit vergleiche man den heutigen Zustand: 1. die Kaiserin Friedrich führt
ihr stilles Witwenleben meist außerhalb Berlins; 2. dasselbe gilt von der ver¬
witweten Prinzessin Friedrich Karl; 3. Prinz Heinrich, der in Kiel residiert,
hat bedeutende Vermächtnisse, darunter auch Landbesitz, von seinen Großeltern
geerbt; 4. Prinz Friedrich Leopold, der soeben ein Kommando in Kassel er¬
halten hat, lebte bisher verhältnismäßig in Zurückgezogenheit auf dem Jagd¬
schloß Guericke und bewohnte sein Berliner Palais nur selten. Er bezieht
die Einnahmen aus den Fideikommißherrschaften Flatow und Krvjanke; 5. Prinz
Albrecht wird durch seine Regentenpflichten in Vraunschmeig festgehalten und
lebt im übrigen auf seinem schlesischen Schlosse Camenz; 6. Prinz Georg, der
unvermählt ist, bringt den größten Teil des Jahres auf Reisen zu und hält
sich seines hohen Alters und seiner Gesundheit wegen schon seit Jahren von
allen Festlichkeiten fern. Außerdem sind sowohl er wie der Prinz Albrecht im
Besitz eines sehr bedeutenden mütterlichen Vermögens.
Somit haben sich nicht nur die Höfe der Zahl nach vermindert, sondern
auch ihre Bedürfnisse, und damit sind ihre Ansprüche an die Königliche Kasse
weit geringer geworden. Denn es liegt, wie schon erwähnt, ganz in der Hand
des Königs, wie hoch er die Apanage bemessen, und ob er eine solche über¬
haupt zahlen will.
Nach dem siebenjährigen Kriege ließ Friedrich der Große, um zu zeigen,
daß seine Finanzen noch nicht erschöpft seien, das Neue Palais, mit den dazu
gehörigen Kommüns der prachtvollste Bau, den die preußische Krone besitzt,
errichten, und welche Bauten hat König Friedrich Wilhelm IV., der ebenfalls
alle die vorgenannten Höfe und außerdem den des Prinzen von Preußen
(nachmaligen Kaisers Wilhelm) zu unterhalten hatte, aufführen lassen! Allein
in der Umgegend von Potsdam nennen wir: die Friedenskirche und die Kirche
bei Sacrow, das Schloß Charlottenhof mit den Römischen Bädern, das Ge¬
bäude auf dem Pfingstberge, und vor allem den „Orangerie" genannten Palast,
mit den dazu gehörigen Anlagen, ganz zu schweigen von den großen Summen,
die er überall im Lande und weit über dessen Grenzen hinaus für die Er¬
richtung neuer und die Restaurierung älterer Baulichkeiten aus seiner Privat¬
schatulle hergab. Trotzdem hat Friedrich der Große ein bedeutendes, und
Friedrich Wilhelm IV. das Krouvermögen in durchaus geordneten Verhält¬
nissen hinterlassen, während unser überaus sparsamer alter Kaiser ständig
zurücklegte und dadurch das Hausvermögen bedeutend vermehrte. Alledem
gegenüber soll man nun doch irgend einen Grund geltend machen, aus dem
sich schließen ließe, daß das preußische Kronvermögen, das früher einen so
großen Aufwand tragen konnte, jetzt plötzlich die Ausgaben für die Hofhaltung
des Kaisers nicht mehr zu leisten vermöchte.
Oder sind diese Ausgaben etwa besonders hoch? Das tägliche Leben an
unserm Kaiserhof liegt offen und klar zu Tage. Wer sich näher darüber
informieren will, der lese in dem von Büxenstein herausgegebnen Buch „Unser
Kaiser" den vom Hofprediger Keßler geschriebnen Abschnitt „Der Kaiser in
seinem Heim." Den größten Teil des Jahres ist das Hoflager im Neuen
Palais in Sanssouci. Dort lebt Wilhelm II. in keiner Weise anders, ja in
mancher Beziehung noch weit einfacher als ein reicher Privatmann. Im
Palais selbst wohnen, abgesehen von den Kaiserlichen Kindern und deren Er-
zichungspersonal, nur die Oberhofmeisterin und die drei Damen der Kaiserin.
Der Oberhofmeister und die beiden dienstthuenden Kammerherren, desgleichen
die Hofmarschälle, die Generäle und Flügeladjutanten haben ihr Quartier in
Potsdam und Berlin, nur zwei Flügeladjutauten und ein Kammerherr sind
abwechselnd, nämlich wenn sie „Dienst haben," am Hofe anwesend.
Noch unter Friedrich Wilhelm IV. fand täglich größere Tafel statt, an
der alle Herren und Damen des Gefolges teilnehmen konnten oder mußten.
speiste die Königliche Familie für sich allein (Familientafel, die unter Zu¬
ziehung sämtlicher prinzlichen Herrschaften zumeist am Sonntag stattfand), so
wurde zugleich ein zweites Diner für das Gefolge serviert (Marschallstafel).
Der Regel nach aber sah der König mittags und abends zahlreiche Gäste bei
sich, einheimische und fremde. Magnaten aus dem Laude, höhere Provinzial-
beamte und Militärs, Fremde von Distinktion meldeten sich, wenn sie nach
Berlin kamen, bei Hofe und erhielten eine Einladung zur Tafel. Unter
Friedrich Wilhelm III. hatte der „Kümmerier" des Königs freien Tisch, zu dem
er nach Belieben eine Anzahl Gäste einladen durfte. Alles das ist weg¬
gefallen. Das Kaiserliche Paar pflegt zwar einzelne Gäste zur Tafel zu ziehn,
aber doch nur in einem sehr beschränkten Umfange, und durchaus nicht jeden
Tag. Auch die Zahl der großen Feste ist, wenn man den Vergleich mit der
Vergangenheit zieht, auf das geringste Maß zusammengeschmolzen. Früher
gab der Hof während der sogenannten Karnevalszeit in jeder Woche mindestens
ein Fest zu Zeiten Friedrich Wilhelms IV. im Schloß, unter Kaiser Wilhelm I.
abwechselnd dort und in seinem Palais. Dazu kamen die prinzlichen Bälle und
sonstigen Festlichkeiten, die ja doch nach dem oben gesagten samt und sonders aus
der Kasse des Königs bestritten werden mußten. Jetzt sind die Neujahrs-, die
Geburtstagsfeier und die große Cour, bei denen eine Bewirtung überhaupt nicht
oder doch nur in sehr beschränktem Maße stattfindet, sodann zwei oder drei
Bälle und eine Anzahl größerer Diners am Kaiserlichen Hofe zu zählen. Feste
bei Prinzen finden überhaupt nicht statt.
Wie Wilhelm II. überhaupt ein Freund der Kunst ist, so insbesondre der
Architektur. Aber er scheint Anstand zu nehmen, große und prächtige Bauten auf
Kosten der Privatschatulle ausführen zu lassen, wie seine Vorgänger dies gethan
haben. Nominten, Urville und die Matrosenstation bei Potsdam lassen er¬
kennen, wie sparsam in dieser Beziehung gewirtschaftet wird. Einzig und
allein der Leibmarstall beim Neuen Palais wäre noch zu nennen, der gebaut
worden ist, um endlich die Unbequemlichkeit zu beseitigen, daß der größere
Teil der Pferde usw. beim Stadtschloß in Potsdam Unterkunft haben mußte.
Ein großes Palais, das prachtvollste, das die preußische Krone besitzt, das
Bauwerk Friedrichs II. und — ein Stall daneben, das Bauwerk Wilhelms II.,
das eine von dem Herrscher des kleinen Staates nach dem längsten Kriege,
den Preußen geführt hat, das andre von dem Herrscher des vergrößerten
Staates nach fünfundzwanzigjährigen Frieden errichtet! Und da redet man
noch von großen Ausgaben!
Aber der Kaiser reist so viel, sagt man. Ja, haben seine Vorgänger an
der Krone nicht dasselbe gethan? Friedrich Wilhelm IV. bereiste oft das
Land, inspizierte die Behörden, besuchte Italien und befreundete Höfe. Wil¬
helm I. ging jedes Jahr nach Karlsbad und Gastein oder nach Ems, die
Kaiserin und Königin Angusta residierte in Koblenz und Baden-Baden. Diese
Reisen erforderten sehr viel höhere Kosten als Kaiser Wilhelm II. auf¬
wendet, der, abgesehen von Besuchen an fürstlichen Höfen, entweder in seinem
Hofzuge oder auf der Hohenzollern zu übernachten pflegt. So hat er bei
seiner letzten mehrwöchigen Reise nach Neapel thatsächlich nur in der Hofburg zu
Wien ein Gastbett benutzt. Allerdings brauchen Lokomotive und Schiff Kohlen,
und auch ein Hofzug kostet mehr als die „fahrplanmäßige" Beförderung; aber
was bedeutet das gegenüber dem Aufwand«, der aus dem Aufenthalt fürst¬
licher Reisenden mit Gefolge in Gasthäusern erwächst! Wenn der Kaiser im
Hofzuge wie auf dem Schiff aus seiner Küche speist,, so wird ihm das schwerlich
mehr kosten, als wenn er daheim residiert und repräsentiert- Schon der ein¬
fache Privatmann, der eine längere Reise mit seiner aus mehreren Personen
bestehenden Familie gemacht hat, weiß, was er für Logis, Beköstigung, Trink¬
gelder usw. zu leisten hatte, auch wenn er noch so sparsam lebte. Übersetzt
man diese Preise in solche, die einem Fürsten und noch dazu einem Kaiser
berechnet werden, so kommen ganz ungeheure Summen heraus. Auf einer
Reise, die Friedrich Wilhelm IV. als Kronprinz unternahm, hatte sein
damaliger, noch junger und mit den einschlägigen Verhältnissen unbekannter
Hofmarschall es unterlassen, bei dem ersten Nachtquartier auf italienischem
Boden mit dem Wirt zu akkordieren. Als die Rechnung dementsprechend aus¬
gefallen war, ließ er den Mann kommen und stellte ihn vor die Wahl, ent¬
weder die Preise auf die Hälfte zu reduzieren oder sich darauf gefaßt zu
machen, daß sie in einer Anzahl Zeitungen abgedruckt würden. Der Wirt
erklärte sich ohne Zögern mit der Zahlung der Hälfte befriedigt.
Große Hofjagden in Wusterhausen, Letzlingen, Springe usw. hält der
Kaiser nicht öfter ab als sein Großvater; er jagt außerdem noch viel, aber
dann ladet er sich entweder bei seinen Unterthanen zu Gast, oder er geht, wie
z. B. in Nvminten, dem Weidwerk in der Einsamkeit nach.
Besuche fremder Fürstlichkeiten am preußischen Hofe sind verhältnismäßig
selten und nicht häufiger, als durch das Staatsinteresse geboten ist. Auch in
dieser Beziehung ist im Vergleich gegen frühere Zeiten eine bedeutende Ver¬
minderung zu verzeichnen. So pflegte man unter Friedrich Wilhelm IV.
scherzweise zu sagen, die mecklenburgischen, und zwar sowohl die Schweriner
wie die Strelitzer Herrschaften müßten eigentlich in Berlin Kommunalsteuer
zahlen, weil sie sich einen so großen Teil des Jahres dort aufhielten. Welchen
Aufwand verursachten einzig und allein die regelmäßigen Besuche des russischen
Kaiserpaares Nikolaus I. und seiner Gemahlin, der Prinzessin Charlotte von
Preußen!
Kostspielige Passionen, wie man sie aus der Geschichte andrer Fürsten
kennt, liegen dem Kaiser fern. Ja man könnte sogar sagen, unser Hof sei ver¬
hältnismäßig zu einfach, er sollte länger in Berlin residieren, mehr Feste geben,
dadurch Geld unter die Leute bringen, mehr sür das Theater aufwenden usw.
Vielleicht nimmt man gerade, weil das nicht geschieht, weil in mancher Be¬
ziehung eine große Sparsamkeit geübt wird, an, daß die finanzielle Lage nicht
günstig sei. Selbstverständlich entziehen sich die Gründe für diese Sparsamkeit
der Beurteilung; aber man sollte meinen, sie wären leicht zu erkennen. Sicher¬
lich denkt der Kaiser daran, daß in nicht zu langer Zeit seine sechs Prinzen
erwachsen sein, sich vermählen und ihre eignen Haushaltungen haben werden.
Dann müssen ^ denn die Zahl evangelischer Prinzessinnen und insbesondre
solcher, die eine einigermaßen bedeutende Mitgift besitzen, ist sehr gering —
die Anforderungen an die Königliche Kasse recht groß werden, viel größer als
heute, wo die Kaiserlichen Kinder noch bei ihren Eltern oder, wie die drei
ältesten Prinzen, in einfachster Weise in Plön wohnen.
Somit kann jeder gute Preuße und Deutsche sicher sein, daß die Finanzen
seines Königs und Kaisers so geordnet sind, wie es die irgend eines reichen
Privatmannes im Staat oder Reich nur irgend sein können. Wer aber
noch weiter nachforschen will, der schlage einmal das „Handbuch über den
Königlich Preußischen Hof und Staat" uach. In dem Abschnitt Ministerium
des Königlichen Hauses wird er die unter der Verwaltung der Hofkammer
stehenden Fcnnilicngüter einschließlich des Forstbesitzes, und zwar gegen achtzig
sogenannte „Pachtvorwerke," d. h. Landgüter und fünfzehn Oberförstereien, die
dem Könige, daneben zehn Besitzungen, die dem Prinzen Heinrich gehören, und
außerdem das Königlich Prinzliche Fideikommiß verzeichnet finden, und weiter
unter Hofmarschallamt, Unterabschnitt Schloßverwaltungen, den sonstigen Grund¬
besitz — alles nicht Staats- sondern Krongut, das durch die dazu eingesetzten
Behörden nach den Grundsätzen altpreußischer Sparsamkeit verwaltet wird.
Selbst wenn man sich den Fall denken wollte, der Herr eines so großen Ver¬
mögens — der Kaiser hat sich selbst einmal den größten Grundbesitzer im Lande
genannt — könnte einmal in Verlegenheiten geraten, so hätte er doch Wert¬
objekte genug, die er verkaufen oder verpfänden könnte, ohne in die Notwendigkeit
versetzt zu werden, irgend welche fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Es ist wie gesagt kein Gerücht so widersinnig, daß es nicht doch Glauben
funde. „Etwas muß doch daran sein, sonst könnte man es nicht verbreiten,"
pflegt man zu sagen. Und leider giebt es Leute, die es sich angelegen sein
lasten, aus solchen Verdächtigungen Waffen gegen die Krone zu schmieden.
Die Meinung, der Kaiser sei finanziell in bedrängter Lage, ja er sei sogar
verschuldet und von seinen Gläubigern abhängig, spielt eine vergiftende Rolle
in weiten Kreisen des Volks. So war, wie noch in frischer Erinnerung steht,
verbreitet worden, der preußische Landtag sollte um eine Beisteuer zu den
Kosten der Fahrt nach Konstantinopel und Jerusalem angegangen werden.
Eine derartige Reise hat nicht nur Erholung und Vergnügen, sondern, das
sah man im Ausland wieder besser ein als bei uns, auch die Vertretung poli¬
tischer Interessen zum Zweck, wie dies ja auch in der Thronrede hervorgehoben
worden ist. Somit wäre eine staatliche Kostenbeteiligung durchaus nicht un¬
billig gewesen, höchstens hätte man darüber streiten können, ob sie Preußen
oder dem Reiche zufiele. Aber an der ganzen Sache war wieder kein wahres
Wort. Derartige Ausgaben trägt der Kaiser allein und legt sie nicht dem
Lande ans. Wir sind eine wunderbare Nation! In Amerika und Frankreich
scheint mau mitunter die Republik satt zu haben, und überall im Auslande
beneidet man Deutschland um seinen thatkräftigen Herrscher. Wir aber, statt
uns dessen zu freuen und stolz darauf zu sein, kritisieren und nörgeln so viel
wir nur irgend können, und fehlt uns dazu der Grund, so schaffen wir ihn
uns künstlich.
An der Verbreitung gewissenlosen und schädlichen Klatsches nehmen auch
Leute teil, die sich gern national, königstreu, staatscrhaltend usw. nennen. Sie
vergessen dabei, daß unsre innern Zustünde wahrhaftig nicht durchweg glän¬
zender Art sind, und daß im Jahre 1898 sür die sozialdemokratische Partei
l'/t Millionen Stimmen abgegeben worden sind, nicht minder, daß es diese
Partei von 11 Neichstagsmandaten im Jahre 1887 auf 56 im Jahre 1898 ge¬
bracht hat- Es ist deshalb geradezu gewissenlos gehandelt, wenn man den
schon reichlich vorhandnen Zündstoff noch durch falsche Gerüchte vermehren
hilft. Worin zeigt sich denn Vaterlandsliebe und Treue? Etwa darin, daß
mau in einer großen Schar anruft, wenn ein Hoch ans den Kaiser ausgebracht
wird, „in das die Versammlung begeistert einstimmt," oder darin, daß man
gegebnen Falls nicht nur feindlichen Elementen gegenüber, sondern vor allem
auch im Kreise guter Freunde und Gesinnungsgenossen den Mut hat, scharf
und entschieden des Kaisers Sache zu führen und es auch zu ertragen, wenn
man nach beliebter Mode „Byzantiner" gescholten wird? Den besten Erfolg
wird man haben, wenn man in der Lage ist, falsche Gerüchte sachlich zu
widerlegen; deshalb haben wir geglaubt, den Lesern der Grenzboten einen
Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen dazu das Material in die Hand gaben.
er russische Finanzminister, Herr Witte, hielt sich im Herbst des
vorigen Jahres auf seiner Reise nach Paris einige Tage in Berlin
auf und soll, so sagt man, nicht übel Lust gezeigt haben, unsern
Geldmarkt mit einer neuen russische» Anleihe zu bereichern. Er
fand taube Ohren und mag in dem befreundeten Frankreich kaum
bessere Aussichten gefunden haben, da der gegenwärtige Geldstand in West¬
europa und die gegenwärtige Stimmung in Paris fürchten lassen, daß es ihm
schwer werden dürfte, den russischen Staatsschatz durch neue Anleihen bei
fremden Taschen aufzubessern. Indessen scheint er seine Bemühungen in Eng¬
land und in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Jedenfalls hat das deutsche
Kapital schon aus politischen Ursachen vollkommen recht, sich von russischen
Staatspapieren möglichst zurückzuhalten, auch wenn das Anlagebedürfnis
größer wäre, als es in Wirklichkeit eben jetzt ist.
Herr Witte verdient nicht bloß die aufmerksame Beachtung, sondern auch
die Sympathien aller derer, die sich für russische Finanzen und russische
Politik interessieren. Denn er ist ein aufgeklärter, sehr scharfsichtiger, fleißiger
und energischer Mann, und er spielt in Rußland eine Rolle, die weit hinaus¬
greift über die bloße Verwaltung der Staatsfinanzen und die Leitung des er¬
werblichen Volkslebens. Innere wie äußere Politik sind in erheblichem Maße
von seiner Meinung beeinflußt, und der Neid hat bisher nicht gewagt, auf
seinen Charakter einen Makel zu werfen, dem einige seiner Vorgänger nicht
entgangen sind. Herr Witte ist vom Glück begünstigt worden, indem er aus
niedrer Stellung zu seiner jetzigen Höhe erhoben wurde zu einer Zeit, wo
Nußland durch eine Reihe von Umständen, die nicht immer von ihm abhängig
waren, in eine ganz besonders vorteilhafte äußere Lage gebracht worden war.
Die Leidenschaft, mit der Frankreich nach dem Kriege von 1870, alle
andern Interessen vernachlässigend, sich ganz der Begierde nach militärischer
Rache und Wiederherstellung seiner vermeintlich gekränkten Ehre hingab, warfen
es in die Arme und an die nicht eben sehr warme Brust Rußlands. Diese
Verbindung entfernte die Höfe in Berlin und Petersburg von einander und
beeinflußte natürlich auch die finanziellen Beziehungen der beiden Staaten.
Deutschland folgte dem kurz vorher durch England gegebnen Beispiel, indem
es sich seit 1386 von der Stellung eines Hauptgläubigers Rußlands zurück¬
zuziehen und sich der russischen Staatspapiere möglichst zu entledigen strebte.
Das gelang um so leichter, je heftiger die Franzosen ihrer neuen Schwärmerei
für Rußland auch materiell Ausdruck zu geben bereit waren. Milliarden
russischer Staatspapiere gingen schnell von deutschen in französische Hände
über, und der russische Geldmarkt, dessen Mittelpunkt bis dahin in Berlin ge¬
wesen war, begann nach Paris überzusiedeln. Diese Umwälzung fand Herr
Witte bei seinem Amtsantritt in vollem Gange vor, und er zögerte keinen
Augenblick, sie mit demselben Eiser und in demselben Maße, wie es sein
Vorgänger Wyschnegradski gethan hatte, auszunutzen. Es folgte Anleihe auf
Anleihe, und parallel damit die Konversion des größten Teils der russischen
auswärtigen Schuld von fünf- bis sechsprozentigen Papieren in vier- und
dreieinhalbprozentige. Wenige Jahre waren verstrichen, und Frankreich hatte
über sieben Milliarden Franken an russischen Werten frohen Muts ver¬
schluckt und hätte wohl noch ein Mehreres geleistet, wenn nicht Rußland durch
seine Judenbedrückuug das Haus Rothschild so geärgert hätte, daß dieses
Haus eine schon dem Abschluß nahe neuste Anleihe im letzten Augenblick
vereitelte. Seitdem trat ein Stillstand in der russischen Saugpumpe auf dem
französischen Quellgebiet ein. Inzwischen aber hatten die Minister Wyschne-
gradski und Witte schon einen Metallvorrat angesammelt, dessen Goldmenge
im Jahre 1897 die jedes andern Staates der Welt übertraf. Wie das ge¬
macht wurde, ist freilich nicht vollkommen klar, da die Bestimmung der An¬
leihen meist die war, an die Stelle früherer Anleihen zu treten oder zu Eisen¬
bahnbauten verwandt zu werden. Man muß annehmen, daß mehr geborgt
wurde, als zu diesen Zwecken nötig war, und daß die Überschüsse in Gold beiseite
gelegt wurden, um so mehr, als von Ersparnissen am Budget nicht die Rede
sein konnte. Daneben vermehrt sich die Menge der im Lande umlaufenden
staatlichen Wertzeichen, wodurch sich der Fiskus die Zurückhaltung seines
Geldes erleichtert. So haben z. B. die staatlichen Sparkassen, die über das
ganze Reich verbreitet sind, etwa 500 Millionen zur Verfügung des Fiskus
gebracht, die er zum größten Teil in vierprozentigen Schatzscheinen angelegt
hat, was einer Vermehrung des Papiergeldes um diese Summe im Wesen
gleichkommt. Es sind das verdeckte innere Anleihen, die den Kredit wenig be¬
einträchtigen, aber die Summe der Staatsschuld ebenso vergrößern, wie es
die nußern offnen Anleihen thun. Die Staatsschuld ist denn auch in schnellem
Schritt auf eine bedeutende Höhe gelangt.
In dem Jahrzehnt von 1886 bis 1895 hat sich die Staatsschuld um
1410 Millionen Rubel vermehrt und ist bei 6795^ Millionen Rubeln an¬
gelangt.*) Das ist die Zeit, in der Frankreichs Tasche für die Herren
Wyschnegradski und Witte so offen stand wie die Kasse der russischen Reichs¬
bank. Diese Schuld erforderte im Jahre 1897 eine Verzinsung von rund
272 Millionen Rubeln, sodaß trotz der Konversionen in jenem Jahrzehnt die
jährliche Zinsenlast um 12 Millionen Rubel gewachsen ist. Aber es war, dank
dem Kredit, den Nußland in Europa genoß, soviel Gold im Säckel des Staates,
daß man mit vollen Händen die Industrie unterstützen und daneben großartige
Bahnbauten unternehmen konnte. Nach einer Periode strenger Abschließung
gegen die fremde Industrie chüele man mit dem deutsch-russischen Handels¬
vertrage seit 1892 einem lebhaftem äußern Verkehr die Wege; vorzüglich in¬
soweit, als die russische Industrie der Hilfe europäischer Fabrikate zu schnellerer
Entwicklung bedürfte. Der reiche Geldmarkt Europas verlangte um diese Zeit
zugleich nach höherer Verzinsung, als er daheim finden konnte, wo der Zins¬
fuß auf drei Prozent und noch weniger gesunken war, der Bankdiskont in
London zu Zeiten sogar nur ein Prozent betrug. Das Geld strömte gern
nach Nußland hinein, wo es leicht Anlage und jedes staatliche Entgegenkommen
fand, und wo es eine Periode des Gründungseifers eröffnete, die noch heute
anhält. Unter diesen Umstündeu und im Vertrauen auf einen Goldvorrat.
der sich, wie die offiziellen Ausweise sagten, am 1. Januar 1897 auf 1206
Millionen Rubel belief, glaubte Herr Witte, der Augenblick sei gekommen,
das russische Geldwesen aus seinem pcipiernen, schwankenden Zustande zu reißen
und gleich den leitenden Kulturstaaten auf eine feste Goldwährung zu gründen.
Durch ein Gesetz vom 3. Januar 1897 wurde erklärt, daß die Goldwährung
fortan zu gelten habe, indem ein festes Verhältnis des Papierrubels zum
Goldrubel hergestellt wurde. In seinem Bericht an den Zaren über das
Reichsbudget für 1898 konnte der Finanzminister mit Stolz sagen, er habe
im Jahre 1897 die „Reform des Geldwesens in ihren Hauptzügen zum Ab¬
schluß gebracht." Nicht mit geringerer Genugthuung versicherte außerdem der
Minister, daß die Einnahmen des Staates in stetem „rapiden" Wachstum be¬
griffen seien und schon die erstaunliche Höhe von 1474 Millionen Rubeln er¬
reicht Hütten. Und was am meisten freudige Bewunderung verdient, war die
weitere Versicherung des Ministers, daß dieses Wachstum der Staatseinnahmen
als ein „Kennzeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Besserung
der wirtschaftlichen Lage Rußlands erscheine."
Auf die Anfechtbarkeit dieser Behauptung habe ich in diesen Blättern
schon gelegentlich hingewiesen.*) Während aber einzelne Stimmen seit Jahren
den offiziellen Schilderungen russischer Finanzerfolge einige Zweifel entgegen¬
stellten, hat man sich bei uns in Deutschland in dem alten Vertrauen in die
unermeßlichen Reichtümer Rußlands und besonders in die Pünktlichkeit seiner
Zinszahlungen nicht viel stören lassen. Es ist jedoch von großer Wichtigkeit für
uns, daß wir unsern östlichen Nachbarn weder allzusehr unterschätzen noch über¬
schätzen, weshalb es von Nutzen sein dürfte, solchen Stimmen Gehör zu schenken,
die sich aus Nußland selbst und von wissenschaftlich anerkannten Männern
vernehmen lassen. Ich meine in erster Reihe eine Schrift Jssajews über die
russische Finanzpolitik seit der Mitte der achtziger Jahre,**) die uns jetzt in
deutscher Übersetzung vorliegt, und in der er, wenn auch in weniger scharfer
und schroffer Weise, als es in den bekannten Schriften Cyons geschehen ist,
doch ein Urteil fällt, das von der bewundernden Anerkennung stark abweicht,
in der man sich im ganzen sowohl in Rußland als auch außerhalb hat gehn
oder besser gängeln lassen.
Der Verfasser wendet sich gegen Äußerungen, die Herr Witte in seinem
Rechenschaftsbericht an den Zaren über das Budget für 1896 gethan, und in
denen er die glänzende Lage der Staatsfinanzen zum Beweise der guten Lage
der Volkswirtschaft genommen hat. „Der an und für sich sonderbare Gedanke,
hatte der Minister gesagt, daß die Staatsfinanzen zu einer Zeit, in der die
Volkswirtschaft leidet, gedeihen können, wird noch sonderbarer, wenn er gegen¬
über finanziellen Erfolgen ausgesprochen wird, die alles jemals bei uns und
anderswo erreichte hinter sich lassen und so augenscheinliche Merkmale von
Regelmäßigkeit und Dollständiger Dauerhaftigkeit aufweisen. . . . Die Finanz¬
kunst ist keine Magie. . . . Dauerhafte finanzielle Erfolge können nur bei Vor¬
handensein von Bedingungen, die auch dem Volkswohlstande günstig sind, er¬
scheinen." Diesen triumphierenden Versicherungen des Ministers gegenüber
wies Jssajew ans einige Thatsachen hin, die, wie er meint, „das russische Leben
in einem andern Lichte erscheinen lassen, Thatsachen, welche die große, oft jammer¬
volle Armut des Volkes beweisen." Und Herr Witte hat denn auch den Ton
etwas herabgestimmt, indem er zwei Jahre später seinem Herrn versicherte,
daß, wenn er wiederholt das rapide Steigen der Staatseinnahmen als Kenn¬
zeichen und als unmittelbare Folge der allgemeinen Verbesserung der wirt¬
schaftlichen Lage dargestellt habe, diese Lage namentlich durch den Einfluß guter
Ernten auf die Steuerkraft des Volkes bewirkt worden sei.*) Nun liegen heute
zwei ungenügende Ernten Rußlands hinter uns, und wir müssen daraus
schließen, daß es Herrn Witte schwer werden dürfte, noch ferner, wie er un¬
längst gethan hat, auf ein Erstarken nicht bloß der russischen Finanzkraft,
sondern auch der Landwirtschaft zu pochen. Aber wir wollen vorläufig von
der Landwirtschaft absehen und uns einigen von Jssajew und andern russischen
Fachleuten veröffentlichten Zahlen zuwenden.
Das Bestreben Rußlands, sich von der etwa seit Mitte dieses Jahr¬
hunderts gewaltig um sich greifenden europäischen Großindustrie nicht über den
Haufen rennen zu lassen, führte zu einem immer strengern Schutzzoll, der, bis
zum Jahre 1892 stetig wachsend, der russischen Industrie den Boden freihielt,
auf dem sie sich entwickeln konnte. Der Erfolg war günstig, denn der Wert
der russischen industriellen Produktion, der im Jahre 1880 schon 1214 Mil¬
lionen Rubel betrug, hob sich bis 1890 auf 1656 Millionen Rubel,**) sodaß
man die russische Industrie nunmehr für sicher genug gegründet halten konnte,
daß man mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag im Jahre 1892 der fremden
Konkurrenz freieres Spiel gewähren durfte, umso mehr, als einmal die russische
Industrie selbst in vieler Hinsicht doch der Unterstützung durch die feinere
Technik Europas bedürfte, andrerseits sich auch das westliche Kapital so bereit¬
willig herandrängte, daß man keine Stockung in dem lebhaften Wachstum der
industriellen Anstalten zu fürchten brauchte. Man hat sich denn auch hierin
nicht verrechnet, denn in den fünf Jahren seit dem liberalem Handelsverträge
mit Deutschland hat sich trotz der sehr bedeutenden Steigerung der industriellen
Einfuhr, besonders aus Deutschland, die Produktion der russischen Industrie
angeblich auf 2745 Millionen Rubel an Wert gehoben.*) Hierbei ist freilich
in Anschlag zu bringen, daß an dieser Zahl die landwirtschaftlichen Betriebe
(Branntwein, Bier, Zucker) einen bedeutenden Anteil haben; jedoch ist in diesem
Zeitraum weder die Branntwein- noch die Zuckerproduktion gegenüber der vor¬
hergehenden Periode sehr gestiegen, sodaß man das Anwachsen der industriellen
Werte, wenn man noch die Naphthciproduktiou ausscheiden will, doch haupt¬
sächlich der rein industriellen Thätigkeit in Rechnung stellen muß. Und sehr
zahlreiche neue Gründungen, die in ununterbrochner Folge besonders in den
Grenzgebieten von Petersburg bis Odessa sowie in den Kohlendistrikten des
Donez emporschießen, zeigen, daß der industrielle Aufschwung seinen Gipfel
noch nicht überschritten hat.
Der Staat hat sichs freilich was kosten lassen, um dahin zu gelangen;
er hat nicht nur die Hemmung durch fremde Konkurrenz ferngehalten, sondern
große positive Opfer gebracht, indem er neue industrielle Unternehmungen oft
mit voller Hand unterstützte, Bahnen, Landstraßen baute und Tarife regelte
zu Gunsten der Industrie, die einheimischen Produkte oft mit sehr großen
Verlusten für den Staatssäckel den fremden vorzog, technische Schulen errichtete,
den Fabrikanten Kredite eröffnete n. dergl. Die Negierung ging hierin oft
über die gebotne Grenze hinaus, indem sie durch hohe Schutzzölle im Interesse
der Großindustrie andre Gewerbe schädigte, vor allem den Landbau, dem seine
Werkzeuge und Maschinen sowie die künstlichen Düngemittel verteuert wurden,
dann aber auch das Kleingewerbe, wovon ein großer Teil der bäuerlichen
Bevölkerung der innerrussischen Gubernien lebte. Jssajew führt aus ministeriellen
Mitteilungen an, daß sich der Jahresverdienst eines Arbeiters in verschieden
Gewerben dieser Gubernien auf 17 bis 50 Rubel belaufe, wobei man aller¬
dings schwer begreift, wie ein Mann von 17 Rubeln oder 35 Mark leben
kann. Der Fabrikarbeiter ist zwar besser gestellt im Lohn, aber wenn er von
8 bis zu 29 Rubeln monatlich verdient, so ist zu beachten, daß sich der höhere
Verdienst auf Städte beschränkt, in denen der Arbeiter zu entsprechend größern
Ausgaben genötigt ist, während das Kleingewerbe meist auf dem billigern Boden
des Dorfes blüht.
Das Aufblühen der Industrie hat bisher nur die Bedeutung, daß dadurch
der einheimische Markt versorgt wird, denn an einen großen Export von Fabri¬
katen ist fürs erste nicht zu denken. Er betrug im Jahre 1895 nur 11,2 Mil¬
lionen Rubel und ist im Sinken begriffen, sodaß die weitere Verstärkung der
industriellen Produktion ganz von der Kanfkraft des Inlands abhängt. Da
nun 90 Prozent der Bevölkerung das ländliche Gewerbe betreibt, so bleibt die
Industrie hauptsächlich von dem Wohlstande des Landbauern abhängig, auf
dessen fortschreitende Erstarkung Herr Witte ja vertraut oder doch bis vor
zwei Jahren vertraut hat. Herr Jssajew teilt dieses Vertrauen nicht. Er weist
auf statistische Erhebungen hin, aus denen hervorgeht, daß in vielen Gubernien
ein Viertel bis ein Drittel der bäuerlichen Bevölkerung in Hütten wohnt, die
Meter lang und breit und 2^/< Meter hoch sind; daß der Tagelöhner
in den nationalrussischen Gubernien zwischen 27 und 40 Kopeken, also höchstens
90 Pfennige in der besten Erntezeit verdient, und dennoch im europäischen
Rußland Prozent der Bevölkerung keine Beschäftigung findet; daß von
1885 bis 1896 die Steuerrückstände der bäuerlichen Bevölkerung von 50 auf
142^2 Millionen Rubel angewachsen sind, obgleich im Jahre 1895 8 Millionen
Rubel Rückstände erlassen wurden; daß sich diese Rückstände hauptsächlich in
den östlichen großen und fruchtbaren Gebieten angesammelt haben und in
manchen Gubernien bis 400 Prozent und mehr der Jahressteuer betragen; daß
die bäuerliche Schuld für verabfolgte Unterstützungen durch den Staat 129 Mil¬
lionen beträgt; daß die gesamte auf dem ländlichen Grundbesitz ruhende Schuld
auf zwei Milliarden gestiegen ist; daß die Sterblichkeit seit etwa fünfzig Jahren
nicht ab-, sondern zugenommen hat (Jssajew, S- 5 bis 9). Nehmen wir hinzu,
daß die Verarmung der ländlichen Bevölkerung nach den eignen statistischen
Forschungen des russischen Finanzministeriums, deren sich Herr Witte in den
Berichten an seinen Herrn, wie es scheint, nicht erinnert hat, seit vielen Jahren
andauert, und daß in russischen wissenschaftlichen Werken die Klage wiederkehrt,
das Volk sei aus Mangel an Nahrung in fortschreitender körperlicher De¬
generation begriffen, so wächst unser Mißtrauen in den Wohlstand, auf den
Herr Witte seine glänzende Finanzpolitik stützt. Der Goldschatz, über den der
Minister heute verfügt, ist nicht von dem Überfluß des Volkseinkommens auf¬
gehäuft worden, sondern von dem Ertrage der Anleihen.
Rußland bringt jährlich dreißig bis vierzig Millionen Rubel Gold hervor.
Das will wenig bedeuten gegenüber 272 Millionen Rubeln, die der Staat an
Zinsen jährlich und meist in Gold an seine Gläubiger zu zahlen hat. Von
1881 bis 1895 hat Rußland auf diese Weise 1173V, Millionen Rubel Gold
ins Ausland abfließen lassen (Jssajew, S. 19). Dieser Goldabflnß wird auch
nicht durch den etwa seit 25 Jahren vorhandnen Überschuß in der Handels¬
bilanz ausgeglichen, der im Jahre 1895 fast 154 Millionen Rubel aufwies.
Wie sehr die Handelsbilanz von der Ernte und wie wenig sie von der In¬
dustrie Rußlands abhängt, geht sowohl aus der ganz unbedeutenden und
sinkenden Ausfuhr von Fabrikaten, als aus dem Umstände hervor, daß nach
der guten Ernte von 1890 die gesamte Ausfuhr von Waren im Jahre 1891
um die Summe von 328 Millionen die Einfuhr überragte, aber 1892 sofort
auf 71,7 Millionen Rubel Überschuß fiel, als sich die Mißernte von 1891
geltend machte. Auch ist seit dem Jahre, das den deutsch-russischen Handels¬
vertrag brachte, die Ausfuhr im Verhältnis zur Einfuhr im Rückgang geblieben.
Nun ist zwar die aktive oder die passive Handelsbilanz kein absoluter
Maßstab für das Gedeihen oder Verarmen eines Volkes; vielmehr zeigen gerade
die reichsten Länder das größte Minus ihrer Ausfuhr gegen die Einfuhr an
Waren. Aber dieses Minus muß, wenn das Land nicht verarmen soll, gedeckt
und in Überschüsse verwandelt werden durch die Zinsen aus Kapital, das in
fremden Papierwerten oder in auswärtigen erwerblichen Unternehmungen vor¬
handen ist. Wo solches Kapital fast völlig fehlt und die Erzeugung an Edel¬
metall gering ist, wie in Rußland, da ist die Handelsbilanz der Gradmesser
für das Auf- und Absteigen des Volksvermögens, wenigstens in Rücksicht auf
den Metallvorrat.
Trotz dieser bedenklichen Verhältnisse hat Herr Witte es gewagt, durch
das Gesetz vom 3. Januar 1897 eine Geldreform zu dekretieren, mit der die
lange sistierte Einwechslung des staatlichen Papiergeldes in Gold wieder auf¬
genommen wurde. Man hat diese Reform den Übergang zur Goldwährung
genannt, und sie wird diese Bezeichnung verdienen, wenn und solange der „feste
Glaube an die stetige Weiterentwicklung der produktiven Kräfte Rußlands," auf
den Herr Witte sich beruft, nicht erschüttert wird, und zwar solange, als er
nicht erschüttert wird im Auslande, wo der Zwangskurs nicht hinreicht. Diese
Operation freilich barg, genau genommen, teilweise einen Staatsbankerott in
sich, insofern als der Staat den Wert seines Papierrubels um ein Drittel
niedriger, als wie er ausgegeben worden war, auf die neue Goldmünze ver¬
rechnete: die alte Goldmünze soll nicht mehr zehn, sondern fünfzehn Nudeln
Papier gleichstehen. Das heißt so viel, als daß die russische Regierung den
russischen Rubel zu dem Goldwert einlösen will, den ihm der ausländische
Kredit beilegt, ja sogar niedriger, da sich der Rubelkurs seit Jahren über
2 Mk. 16 Pfg. gehalten hat, der normale Kurs aber nur 2 Mk. 6 Pfg. für
zwei Drittel Rubel ergeben müßte. Hierin schon drückt sich vielleicht die
Sorge aus, ob man den Goldrubel im Lande werde halten können. Und dies
wird auch künftig die Sorge des russischen Finanzministers bleiben.
Vorläufig hat der russische Fiskus freilich mit dieser sogenannten Deval¬
vation des Rudels einen ansehnlichen Gewinn eingestrichen. Indem der Staat
auf jeden Rubel ein Drittel einfach strich, gewann er ein Drittel seiner Schuld
in Papiergeld und auf Papiergeld gestellter Staatswerte, was zusammen einen
Gewinn von etwa 1300 Millionen Rubeln ausmacht. Andrerseits mag der
Finanzminister den Rubelkurs seit Jahren mit starken Opfern auf stetiger Höhe
gehalten haben. Nun gilt es, immer genügend Gold bereit zu haben, um
einem erwachenden Mißtrauen des Auslandes in das Papiergeld entgegen zu
treten, was wesentlich von der Handelsbilanz des Reiches und der Zufuhr
fremden Goldes abhängen wird.
Seit dem Aufblühen der Industrie sind gewaltige Kapitalmengen vom
Auslande her nach Rußland hineingeflossen und haben dem Finanzminister die
Führung seiner Geldwirtschaft, die Aufrechthaltung des Rubelkurses sehr er¬
leichtert. Das Hereinziehen fremden Goldes liegt im Interesse sowohl der
industriellen Entwicklung des Landes als der finanziellen Kräftigung. Jede
Million Mark oder Franken, die ins Land kommt, um ein industrielles Unter¬
nehmen zu fördern, dient zur Befestigung des Rubelkurses und hilft der
Staatsbank ihr Papiergeld vom Auslande zurückbringen. Dieser Umstand wird
von Herrn Jssajew übersehen, indem er in der Zahlungsbilanz an das Aus¬
land nächst der staatlichen Zinszahlung als zweiten bedeutendsten Posten die
Summen in Anschlag bringt, die von russischen Reisenden im Auslande aus¬
gegeben werden. Die Kapitalbewegung nach und aus dem russischen Reich ist
schwer zu schätzen. Indessen dürften die von Reisenden ins Ausland abge¬
führten Summen, so groß sie sein mögen, bei weitem nicht dem Kapital gleich¬
kommen, das jährlich von außen her in Nußland, wenigstens seit einer Reihe
von Jahren, Anlage findet; und schon aus dem Bedürfnisse, das Gold im
Lande zu halten, wird der Minister auch künftig bestrebt sein müssen, fremdes
Gold der russischen Industrie zuzuführen. Stärker noch drängt hierzu der
Mangel an mobilem, der Industrie zufließenden Kapital im Lande selbst.
Wenn aber Herr Jssajew darauf hinweist, daß zwar viel russisches Geld durch
Lustreisende ins Ausland, sehr wenig fremdes aber auf diesem Wege nach
Rußland gebracht werde, so darf doch auch dessen gedacht werden, daß um¬
gekehrt erkleckliche Summen durch Handelsreisende nach Rußland gehen, aber
sehr wenig auf diesem Wege von dort kommen. Endlich sei auch noch darauf
hingewiesen, daß in der Zahlungsbilanz die Zinsen der in Rußland angelegten
industriellen Kapitale zum größten Teil ins Ausland abfließen, also einen
Debetposten schaffen.
Alle diese Dinge werden jedoch bei dem Mangel an fremden Werten die
russische Zahlungsbilanz nur dann und solange zu halten vermögen, wenn und
solange eine gute, d. h. aktive Handelsbilanz zu Grunde liegt. Die englische
Handelsbilanz zeigt ein stetes Defizit vou mehr als einer Milliarde; diese aber
wird voll gedeckt und weit überdeckt von den Zinsen, die für fremde Werte oder
aus Dividenden von Unternehmungen, die mit englischem Gelde in allen Teilen
der Welt geführt werden, nach England fließen. Rußland hat im Auslande
weder Schuldner, die ihm Zinsen zahlen, noch industrielle oder andre Anlagen,
deren Erträge ihm zufließen, ist vielmehr in beiden Beziehungen dem Aus¬
lande stark verpflichtet. So wird seine Zahlfähigkeit hauptsächlich davon ab¬
hängen, ob es nach wie vor mehr an das Ausland verkaufen kann, als es
kauft. Und da die Hälfte aller ausgeführten Waren in Lebensmitteln, von
der andern Hälfte aber der größte Teil in land- und forstwirtschaftlichen Pro¬
dukten besteht, so hängt die Zahlfähigkeit Rußlands an das Ausland nicht
von seiner Industrie, sondern von seiner Landwirtschaft ab.
Etwa seit dreißig Jahren ist die russische Negierung bemüht, durch den
Ausbau ihres Vahnnetzes und durch billige Frachttarife die Erzeugung von
Getreide zum Versand ins Ausland zu steigern. Der Bau jeder neuen Bahn
hatte zur Folge, daß sich große Strecken brach oder uuter Weide liegenden
Bodens in Acker verwandelten, was dann allerdings eine Ausfuhrzahl an Ge¬
treide ergab, die sich schon im Jahre 1884 auf 310 Millionen Rubel belief.
Diese Ausdehnung des Kornbaues war nur möglich unter der Voraussetzung,
daß er zum größten Teil als Raubbau betrieben wurde, indem alles ackcr-
fähige Land umgebrochen und Jahr für Jahr mit Getreide bestellt wurde,
ohne Düngung als höchstens mit Kunstdünger, ohne intensive Ackerung; und
während die Wiesen zu Gunsten des Kornbaues verschwanden, sank dann auch
der Viehbestand hinab. Wenn man von den Grenzgebieten mit fremder Natio¬
nalität, höherer Kultur, dürftigerm Boden und dementsprechend intensiverm
Landbau absieht, so ruht die gesamte Getreideausfuhr Rußlands auf Raubbau.
Der weitaus größte Teil der Brotfrüchte wird in den fetten Gebieten des
südlichen, östlichen, südwestlichen und mittlern Rußlands gewonnen, wo der
Großgrundbesitzer nur wenig, der Bauer gar uicht den Acker düngt. Daß
im Durchschnitt Raubbau getrieben wird, geht auch daraus hervor, daß sich
Rußland, während z. B. England 18 Korn von seinem Acker erntet, mit
41/2 Korn begnügt; und da das Kornverhültnis gerade in den ärmern, aber
intensiv bebauten Grenzländern besser ist (6—7 Korn von der Aussaat), so
folgt daraus, daß die russischen Ebenen nicht einmal vier Korn ernten. Auf
so außerordentlich fruchtbarem Boden bedeutet das offenbar Raubbau.
Von großer Bedeutung ferner ist der Umstand, daß der russische Bauer
(ich nehme die Grenzler wieder aus) nur wenig Getreide für den Export baut.
Sein Acker von vier Hektar nährt ihn bei dem Raubbau nicht; vielmehr muß
er sich außerhalb noch Zuschuß erwerben und Brotfrucht kaufen, und wo er
mehr Land besitzt, da verkauft er doch wenig, geht dafür aber auch nicht nach
Nebenverdienst aus. Verkauft der Bauer Getreide — und das geschieht aller¬
dings vielfach —, so ist es im Herbst, um schnell Steuern oder Schulden zu
decken; und überall pflegt der Bauer im Frühling Brotfrucht und Saat zu
kaufen, weil er im Herbst hatte verkaufen müssen, sodaß rund herum kaum
etwas zur Ausfuhr übrig bleibt. Einen verkäuflichen Überschuß an Getreide
erarbeitet nur der Großbesitzer, und von seinen Ernten hängen die Getreide¬
ausfuhr des Reichs und weiter auch die Handelsbilanz uno die Zahlfähig¬
keit ab.
(Schluß folgt)
een Rhodes, unleugbar eine der machtvollsten Gestalten, die
heute im Vordergrunde der Weltbühne stehen, ist der bedeutendste
praktische Vertreter des imperialistischen Gedankens. Er stellt eine
merkwürdige Vereinigung von Finanzgenie und weit schauenden
Politiker und Staateugrüuder dar. Aber das ist nicht das einzige
Interessante an dem Manne.
Mit neunzehn Jahren besucht Rhodes zum erstenmale Afrika, von dem
milden Klima Natals, wo sein Bruder Herbert lebte, angezogen, um seine
schwache Gesundheit zu kräftigen. Im Jahre 1872 tritt er in Oriöl volley
in Oxford ein; ein Lungenleiden, das von einer beim Rudern geholten Er¬
kältung zurückgeblieben war, veranlaßt ihn jedoch, abermals nach Südafrika
zu gehen. Dort finden wir ihn im nächsten Jahre als Diamantensucher in
Griqualcmd, wo er, vom Glück begünstigt, vermöge seiner rastlosen Energie
den Grund zu seinem spätern ungeheuern Reichtum legt. Die vielen Pläne,
die sich in dem Kopfe des ideenreichen Jünglings drängen, scheinen zunächst
rein finanzieller Art gewesen zu sein, und die Aufregung, die im Gelderwerb
liegt, hat ihn wohl anfangs ganz erfüllt. Seine erste große finanzielle Ope¬
ration hat er mit zähester Ausdauer verfolgt und nach beinahe zwanzigjährigen
Anstrengungen im Jahre 1888 glücklich zu Ende geführt. Ursprünglich arbeitete
auf den Diamantenfeldern eine große Zahl selbständiger Unternehmer neben
einander; Rhodes war von Anfang an bedacht, sie alle in einer einzigen großen
Gesellschaft zu vereinigen. Im Jahre 1880 ist er endlich so weit, daß er die
Ds ZZssrs Loinxg«^ gründen konnte, die nach und nach alle übrigen Gesell¬
schaften und Eigentumsrechte erwarb. Welche Schwierigkeiten dabei zu über¬
winden waren, ersieht man daraus, daß 1885, als schon über tausend Privat¬
unternehmungen zu Gesellschaften verschmolzen waren, noch mehr als vierzig
Gesellschaften und fünfzig Privatunternehmungen bestanden. Die schließliche
Vereinigung gab der Gesellschaft ein thatsächliches Monopol und setzte sie
dadurch, daß sie die Förderung auf den jährlichen Bedarf der Welt an Dia¬
manten beschränkte, in den Stand, den Preis zu regeln und hochzuhalten.
Diese große Finanzoperation, die ein Mann von geringerer Energie kaum
erfolgreich hätte zu Eude führen können, nahm jedoch Rhodes nicht ganz in
Anspruch. Von 1876 bis 1881 teilt er seine Zeit zwischen Oxford und Süd¬
afrika. Während der „Termine" ist er in Oxford, wo er mit Bürschchen, die
ein halbes Dutzend Jahre jünger sind als er, die Schulbank drückt; die großen
Ferien verbringt er jedes Jahr auf den Diamantfeldern, mit der Ausführung
seiner großen Pläne beschäftigt. Im Jahre 1881 erwirbt er in Oxford den
akademischen Grad.
Man erkennt schon hieraus, daß man in Rhodes nicht einen bloßen Finanz¬
mann großen Stils sehen darf. Mehr noch zeigt sich dies in seiner Stellung
zum Gelde. Nie sucht er dies um seiner selbst willen oder um es in Luxus
und Verschwendung zu verbrauchen. Am Sammeln seiner Reichtümer lockt
ihn zunächst die Freude am Erfolg, dann das Bewußtsein, welches gewaltige
Werkzeug zur Verwirklichung seiner Ideen er sich dadurch schafft. Bezeich¬
nend für seinen Standpunkt ist die folgende gut beglaubigte Anekdote.*) Im
Beginn der achtziger Jahre waren General Gordon, der später bei Khartum
fiel, und Rhodes an einer offiziellen Mission bei den Basutos beteiligt. Der
junge selbstbewußte Mann, der dem ältern ruhen- und erfolggekrönten Soldaten
gegenüber immer eigensinnig auf seinem Kopfe bestand, scheint diesem sehr
imponiert zu haben. Wenigstens suchte ihn Gordon, wenn auch vergebens,
sowohl in Südafrika wie später bei dem Zuge uach Khartum zu seinem Mit¬
arbeiter zu gewinnen. Bei einer Gelegenheit erzählte Gordon, daß die chine¬
sische Regierung ihm nach der Niederwerfung des Tai-ping-Aufstandes eine
ganze Stube voll Gold angeboten habe. „Was thaten Sie?" fragte Rhodes.
„Ich wies es natürlich zurück," sagte Gordon. „Und was hätten Sie gethan?"
„Ich hätte es genommen, sagte Rhodes, und so viele weitere Stuben voll
Gold, als sie mir gegeben hätten. Es nützt uns nichts, riesige Ideen zu
haben, wenn wir nicht das Geld besitzen, sie auszuführen."
Demgemäß sehen wir Rhodes auch später, als er sich der Politik zu¬
wandte, sich noch immer an allen großen finanziellen Unternehmungen in
Südafrika beteiligen, so namentlich nach der Entdeckung der Goldfelder des
Rand bei der Gründung der Aolclliötcls c>1 Loutn-^drinn, die mehrfach 125 Pro¬
zent Dividenden zahlten. Nach dem Reichtum war politische Macht das nächste,
was Rhodes erstrebte. Im Jahre 1882 trat er als Mitglied für Barkly West
in das Kapparlament, wo er bald eine führende Stellung einnahm. Er wurde
Mitglied zweier Ministerien und 1890 Premierminister. Er war so zu gleicher
Zeit der Leiter der Kappolitik und der lenkende Geist in drei großen finan¬
ziellen Unternehmungen, in den vo Lse-rs, den (xolclüeläs und in der 1889
gegründeten Linn'tereä lüowpairy. —
Goethe kommt wiederholt auf den Gedanken zurück, daß Genuß und That
unverträglich seien, und daß Männer wie der Antonius Shakespeares deshalb
scheitern müssen, weil sie beides verbinden wollen. Auch dem Kaiser im zweiten
Teil des „Faust" beliebt es.,nach Mephisto
, . -^Osch.zu schließen,
Es könne ivohl zusgimnengehn, , ^
Und sei recht wchiMMiert Md schön,^.
Regieren und zugleich genießen. , ' ^
Darauf bemerkt Faust:
Ein großer Irrtum! Wer befehlen soll.
Muß im Befehlen Seligkeit empfinden.
Es machte Napoleon nach Goethe so groß, daß er nur wirken, nicht ge¬
nießen wollte, aber hierin lag auch die Gefahr eines solchen Charakters, der
niemals mit dem Erreichten zufrieden sein konnte, sondern immer weiter streben
mußte. In diese Klasse von Menschen scheint auch Cecil Rhodes zu gehören,
wenn man auch den ungeheuern Unterschied der Begabung mehr hätte in Be¬
tracht ziehen sollen, als man ihn den „Napoleon von Südafrika" nannte.
Am meisten scheint uns für ihn dies charakteristisch, daß er auf der Welt
nur das Wirken für seine Ziele kennt und ganz darin aufgeht. Der Jüng¬
ling, der in Kimberley Diamanten suchte, wird uns geschildert als träumerisch,
nachlässig in seinem Äußern, zurückhaltend und barsch, aber auffallend durch
seine Energie und seine selbständige Beurteilung von Menschen und Dingen.
Die Unabhängigkeit des Denkens, das auf die Dinge selber geht und weder
von den Meinungen der Bücher noch andrer Menschen beeinflußt wird, die
ungeheure Thatkraft, die nicht durch das Genießen abgelenkt oder gelähmt
wird, die Gleichgiltigkeit gegen den Schein und alle Äußerlichkeiten fallen auch
später besonders an dem Manne auf. „Ich gestand mir ein, erzählt der bekannte
Dr. Jameson über seine ersten Begegnungen mit ihm, daß, was bloße natür¬
liche Begabung anbetrifft, ich nie einen Mann getroffen hatte, der Cecil Rhodes
nahe kam; und ich habe noch immer meine anfänglichen Eindrücke von ihm,
die vollauf durch die Erfahrung gerechtfertigt wurden." Die Größe seiner
Ziele und die Selbständigkeit seiner Ansichten brachten es mit sich, daß er den
meisten exzentrisch und utopisch erschien. Das war auch noch 1889 bei der
Gründung der Otiartöroct <üoiv.xg,n^ die Ansicht der gewiegten Finanzleute,
obwohl doch genug Proben seines finanziellen Genies vorlagen. „Diese selt¬
same Persönlichkeit, sagt ein Franzose,*) der bei der Beurteilung südafrikanischer
Dinge leichter unparteiisch sein kann als ein Engländer oder Deutscher, liebt
nichts von dem, wonach die andern Menschen trachten: weder den Luxus, noch
die Frauen, noch den geräuschvollen Ruhm. Über sein nachlässiges Äußere,
über seine abgetragnen Kleider, über die Abneigung, die er gegen Frauen zeigt,
über die Listen, die er anwendet, um sich den Kundgebungen und der Öffent¬
lichkeit zu entziehen, erzählt man sich in der Wüste in Afrika hundert be¬
lustigende Geschichtchen. Und selbst die Leute, die von ihm mit der geringsten
Sympathie sprechen, gestehen zu, daß diese Sonderbarkeiten nicht gemacht, nicht
die Wirkungen einer Pose sind, sondern daß es die natürliche Art dieses
Schweigers sich zu geben ist. Man kennt von ihm Züge kaiserlicher Freigebig¬
keit gegen seine Ansiedler, aber keine Handlung eines blasierten Verschwenders.
Er gab Parnell eine Viertelmillion Franken, aber man weiß keine Frau, die
er hoher als etliche Pfund veranschlagt hätte."
Diese persönlichen Eigenschaften im Bunde mit politischer und finanzieller
Macht stellten eine Kraft dar, die, auf ein bedeutendes Ziel gelenkt, Gewaltiges
vollbringen mußte. Und Rhodes hat ein solches Ziel, und er sieht die Mittel
zu seiner Verwirklichung klar vor seinen Angen. Jameson, der ihn 1878 in
Kimberleh kennen lernt und ihm näher tritt, berichtet, daß seine ganze Politik,
wie sie sich später entwickelte, schon in dem Gehirn des Sechsnndzwanzig-
jährigen vorgezeichnet war. Diese geht auf Expansion und Föderation aus.
„Nachdem ich die Geschichten andrer Länder gelesen hatte, sagt Rhodes einmal,
erkannte ich, daß Ausdehnung alles ist, und daß, da die Oberfläche der Welt
beschränkt ist, das große Ziel der gegenwärtigen Menschheit sein sollte, so viel
von der Welt zu nehmen, als sie nur immer kann." England, erklärt er, ist
ein kleines Land mit einer großen Bevölkerung, das seit hundert Jahren davon
lebte, Rohprodukte zu verarbeiten und dann der Welt wiederzugeben. Aber
nun beginnen sich die übrigen Länder gegen England durch Zölle abzuschließen.
„Darum ist Klein-England hoffnungslos. Wäre England ein Land wie die
Vereinigten Staaten mit einem riesig ausgedehnten Gebiet, so könnte es eine
solche Bahn einschlagen, aber mit einer ganz kleinen Jusel, die heute beinahe
eine Werkstatt ist, hängt seine Zukunft ab von seinen Beziehungen zu der
äußern Welt. Und diese Beziehungen hängen ab von seinen Beziehungen
zu den Kolonien von Südafrika, Australien, Kanada und der übrigen Welt."
Was dem englischen Volke nach ihm vor allem not thut, sind neue Länder¬
gebiete, die zur dauernden Besiedlung für die überfließende Bevölkerung ge¬
eignet wären und so Märkte für die Waren des alten Landes lieferten. Hohe
Zölle in den Kolonien sind darum durchaus zu verwerfen, denn sie begün¬
stigen nur einen ungesunden industriellen Wettbewerb mit dem Mutterlande.
Im übrigen ist Rhodes alles andre als engherzig britisch. Als geeignetste
Ansiedler in Nhodesia bezeichnet er die Bevölkerung des Kaplandes und Trans¬
vaals, und er hat die Buren immer mit offnen Armen aufgenommen.
In Südafrika, das er sich zum Arbeitsfelde erwählt hatte, sieht Rhodes
min damals eine doppelte Aufgabe zu lösen, und es läßt sich leicht erkennen,
wie sich darnach sein ganzes politisches Programm modelte. Die eine war die
Gewinnung des Hinterlandes der Kapkolonie und überhaupt Zentralafrikas
für die Engländer, die andre die Ausgleichung des Rasfengegensatzes in Süd¬
afrika, wo die Holländer die Engländer an Zahl weit überwogen, und wo das
Gefühl der Solidarität mit den engländerfeindlichen Buren auch in den unter
britischer Oberhoheit stehenden Staaten stark gegen England wirkte. Rhodes
erkannte, daß die zweite Aufgabe an Wichtigkeit der ersten mindestens gleich-
käme, und daß sie nur unter völliger Schonung der Empfindungen der Hol¬
länder gelöst werden könne. Statt wie die meisten seiner Landsleute sich im
Kaplande in einen Gegensatz zu den Holländern zu stellen, näherte er sich
ihnen und erfreute sich bis zum Jamesonschen Einfalle des vollen Vertrauens
und der Unterstützung des Afrikcmder-Bonds. Olive Schreiner, die bekannte
Schriftstellerin, die damals noch eine große Verehrerin von Rhodes war,
erklärte einmal, die Veränderung, die er bewirkt habe, sei geradezu wunderbar,
denn dieser Mann habe in einem oder zwei Jahren mehr geleistet, als irgend
ein andrer in dreißig Jahren fertig gebracht hätte.
Nach Beseitigung des Mißtrauens der holländischen Partei konnte er
nun an sein eigentliches Ziel denken, für das ihm die Unterstützung anch
des holländischen Teils der Kapbevölkerung sicher war: die Vereinigung der
südafrikanischen Staaten zu einem Staatenbunde. Eine solche war bei der
Lage der Verhältnisse nur nach amerikanischem Muster zu denken mit weit¬
gehender Selbständigkeit der einzelnen Staaten, die jedoch einige Angelegen¬
heiten gemeinsam und nach demselben Prinzip zu regeln hätten. Daher schreibt
sich wohl bei Rhodes die Vorliebe für das amerikanische System, dessen Vor¬
teile er seinem Lande durch sein Geschenk an Parnell sichern wollte, der sich
verpflichten mußte, in die Homerulebill eine ähnliche Vertretung der einzelnen
Teile des Reiches im englischen Parlament aufzunehmen.
Gemeinsam wollte Rhodes geregelt wissen die Frage der Eisenbahnen,
der Zölle, der Währung, der Berufung in Strafsachen, der Behandlung der
Eingebornen. Im übrigen erklärte er es für gleichgiltig, ob die vereinigten
Staaten Südafrikas unter britischer Flagge stünden oder nicht — seine Pcme-
gyriker wiederholen aber immer wieder, daß sich die Annahme der britischen
Flagge für alle Staaten schließlich mit Notwendigkeit ergeben Hütte. Und es
ist kaum zu bezweifeln, daß ein auf solcher Grundlage geeinigter Bund zu
einem immer engern Anschluß der einzelnen Staaten unter einander und zum
Vorherrschen des englischen Elements darin geführt hätte. Deshalb sträubte
sich namentlich die Transvacilsche Negierung dagegen, die ihre Zölle erhöhte
und ihre Eisenbahn statt nach der Kapstadt nach der Delagoabai führte. Die
politischen Kämpfe in Südafrika während der letzten zwölf oder vierzehn Jahre
haben beinahe den Charakter eines Duells zwischen seinen zwei bedeutendsten
Männern, Rhodes und Krüger. Ein jeder Schlag, den der eine führt, wird
von dem andern pariert und mit einem Gegenschlag beantwortet. Der Jamesonsche
Pulses, dessen Wirkung unsers Trachtens vielfach überschätzt wird, hat momentan
die Sache zu Gunsten von Krüger und zum Nachteil von Rhodes verschoben,
dessen Sache bei den Holländern des Kaplandes dadurch schwer geschädigt war.
Bei der Schwierigkeit, auf dem nächsten Wege zum Ziele zu gelangen,
hatte Rhodes von Anfang an damit gerechnet, daß man es nur auf einem
Umweg erreichen könne. Als er im Jahre 1884 in einer Rede im Kap¬
parlament sein politisches Programm entwickelte, erklärte er, daß die Aus¬
dehnung nach Norden zugleich das sicherste Mittel sei, die Vereinigung Süd¬
afrikas herbeizuführen. Damals stimmte kein einziger für ihn. Bei seiner
Ausdehnungspvlitik hatte er einen Widerstand zu überwinden, den man heute
kaum mehr begreift. Als er, um eine Grenzstreitigkeit aus der Welt zu schaffen,
als Kommissar Niederbetschuanaland für die Kapkolonie erwarb, weigerte sich
diese, das Land anzunehmen. Durch den Einfluß des dortigen Gouverneurs
wurde schließlich das Auswärtige Amt in London soweit umgestimmt, daß es
das Land annehmen wollte, falls die Kapkolonie die Hälfte der Ausgaben
bestritte. Auch dazu verstand man sich nicht. Im Jahre 1884 kam endlich
das Protektorat zustande, als Mackenzie zum Vertreter Großbritanniens ernannt
wurde. Dieselbe Teilnahmlosigkeit begegnete ihm auch später immer. Nicht
der Energie des Auswärtigen Amts oder der Kapregieruug, sondern ausschließlich
dem Dazwischentreten von Cecil Rhodes hat es England zu danken, daß Ober-
betschuanaland nicht den Buren und Matabeleland und damit Rhodesia den
Deutschen oder Buren in die Hand fielen. Graf v. Pfeil war schon auf dem
Wege zu Lobengula, dem Könige von Matabeleland, als er erkrankte und so
von Rhodes Abgesandten überholt wurde. Mit diesen hatte inzwischen Lo¬
bengula den Vertrag unterzeichnet, auf Grund dessen 1838 die „Südafrikanische
Gesellschaft" zustande kam.
Es scheint uns einer der großen Triumphe von Rhodes Staatskunst, daß
er die Holländer der Kapkolonie zur Annexion von Matabeleland bewog, obwohl
dadurch die stammverwandten Buren ebenso vom Innern Afrikas abgeschnitten
wurden, wie sie schon von dem Meere abgeschnitten waren. Bei der geringen
Opferwilligkeit der heimischen wie der Kapregierung glaubte Rhodes zu einem
andern System, die neu gewonnenen Länder zu erschließen, greifen zu müssen:
er erlangte einen königlichen Freibrief lMarwr) für die Südafrikanische
Gesellschaft, die von jetzt an meist die (nu-utsrect vompan^ genannt —
damit aus der Reihe der Handelsgesellschaften heraustrat und eine politische
Macht wurde. „Ich habe — sagte er später — im Rückblick auf diese Kämpfe
eines herausgefunden, und das ist: wenn man eine Idee hat, und es ist eine
gute Idee, und man hält bloß an ihr fest, so wird man schließlich damit zum
Ziele kommen. ... Ich war so glücklich, in einer Lcige zu sein, die wenigen
zufällt, nämlich eine Idee zu haben und Geld zum besten dieser Idee auf¬
treiben zu können."
Man mag als Deutscher nicht mit den freundlichsten Empfindungen auf
die Thätigkeit von Rhodes Hinblicken, und doch wird niemand seine Bewunde¬
rung einem Manne versagen können, der seinem Volke so große Dienste er¬
wiesen, ihm ein wertvolles, sich rasch bevölkerndes Ländergebiet geschenkt und
für seine Idee mit einer Thatkraft, einer Hingebung und Opferfreudigkeit ge¬
wirkt hat, die nicht ihresgleichen hat. Nicht genug ist namentlich die gro߬
artige Freigebigkeit zu rühmen, mit der er als Privatmann wie als Leiter
großer Gesellschaften die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Förderung
dessen einsetzte, was seinem weitblickenden und unbeirrbaren Geiste für seine
Zwecke notwendig schien. Auf eigne Verantwortung hat er zumeist die großen
Gebiete erworben, die heute als ein unschätzbarer Besitz Englands gelten. Und
es kann kühnlich gesagt werden, daß ihre glänzende Entwicklung wesentlich sein
Werk ist. Das Parnell gemachte große Geschenk, wo es sich doch nur um
eine allgemeine politische Frage handelte, giebt uns schon einen Maßstab für
das, was er zu opfern bereit sein würde, wo seine Lebensideale in Frage
kämen.
Als im Jahre 1888 über die Verschmelzung der letzten selbständigen
Diamantengesellschaften mit den ä«z Lhu-s verhandelt wurde, hatten die drei
Vertreter der beteiligten Gesellschaften jeder besondre Wünsche. Die der Herren
Beit und Barnato waren bald erledigt. Rhodes verlangte dagegen, daß die
«Zv Lösis zehn Millionen Mark für die zu gründende Südafrikanische Gesell¬
schaft, die spätere Odg-rtorsÄ, zeichnen sollten. Hiergegen war namentlich
Barnato, und die Verhandlungen zogen sich bis vier Uhr morgens hin, bis
endlich Barnato nachgab, der, ebenso wie die übrigen Aktionäre, die Überzeugung
hatte, daß man für das Steckenpferd eines andern ein unverhältnismäßig
großes Opfer gebracht habe. Die Befürchtungen waren grundlos, und die as
LösrL haben hier ein glänzendes Geschäft gemacht.
Das Arbeitsfeld der neugegründeten Gesellschaft sollte zuerst auf das Land
südlich vom Zambesi beschränkt sein; Rhodes erwirkte, daß sie sich auch nach
dem Norden ausdehnen durfte, um der Afrikanischen Seengesellschaft die Hand
zu reichen. Nicht zufrieden damit, setzte er es durch, daß die Gründer der
0ort,ör6ä 400000 Mark in die leeren Kassen jener Gesellschaft, die ihre Mittel
erschöpft hatte, einschossen, und daß die (Amrtsrscl jährlich 180000 Mark zu
den Verwaltungskosten der Seengesellschaft beisteuerte. Dank dieser Voraussicht
war die Thätigkeit dieser Gesellschaft nicht verloren, und die lülrartörsck besitzt
heute den größern Teil ihres Landes. Nebenbei sei nur erwähnt, daß Rhodes
für die Züchtigung eines hier sein Unwesen treibenden Sklavenjägers, der
einen englischen Offizier ermordet hatte, aus seiner Tasche 200000 Mark her-
gab. Rhodes war der Meinung, daß für die Erschließung Nhodesias der
Telegraph noch vor der Eisenbahn kommen müsse, und er plante eine tele¬
graphische Verbindung durch das Innere Afrikas von der Kapstadt bis nach
Kairo. Als er die Mittel dafür aufzutreiben suchte, ließ man ihn im Stich.
Von den als Lsers zeichneten nur seine persönlichen Freunde etwas, von den
iZolällelcls, die ihm doch so viel verdankten, traf nichts als der Brief eines
erzürnten Aktionärs ein, der Aufklärung darüber verlangte, wer die Freimarken
und das Papier für die Aufforderung bezahlte. Rhodes soll damals bitter
bemerkt haben, er begreife jetzt, warum die Aktionäre bestohlen würden. Er
stand darum von seinem Plane doch nicht ab. Die Hauptlinie nach dem
Nyassasee mit einer Seitenlinie über Bulawayo und einer Linie nach der Ost¬
küste wurden dennoch fertiggestellt, wenn auch Rhodes vier Fünftel der Kosten
zu bestreikn hatte. Ferner führte er auch die Bahn von Beira nach dem Innern
weiter und veranlaßte Lord Rothschild, eine halbe Million dazu zu geben,
trotzdem dieser nicht an das Unternehmen glaubte und meinte, „er werfe sein
Geld ins Meer."
(Schluß folgt)
lese Auffassung ist bezeichnend für eine ganze Weltanschauung,
die in der Welt nur zufällig zusammengewürfelte Atome sieht;
drum sind ihre Anhänger Pessimisten und Fatalisten. Deshalb
fehlt ihnen auch das klare Urteil in der Kritik der wirklichen
Vorgänge ebenso wie der Dramen, die solche wiederspiegeln.
Das wird hier besonders am Ausgang des „Friedensfestes" deutlich, der einen
Schimmer von Idealismus wahrt, indem er den Ausblick auf die Rettung
wenigstens eines der Familienglieder gewährt. In dem jüngstenSohne derFamilie
Scholz nämlich lebt ein gewisses moralisches Bewußtsein, walten Kräfte, die es
glaubhaft machen, daß er sich aus dieser Verstrickung von Schuld und Mijzlich-
keiten herausretten werde, wenn ihm die Hand gereicht und die Gelegenheit dazu
geboten wird, wenn ein starker Impuls ihn zur Thatkraft beseelt. Er findet sich
in der Liebe eines reinen Mädchens, die sich mit Hingebung an ihn klammert.
So endet das Stück, freilich ohne daß uns der Dichter andeutet, ob sich unsre
Hoffnung erfüllen wird. Aber sie ist da, und wir halten sie aus den Voraus¬
setzungen für begründet. Paul Schlenther jedoch? — Man höre, was die Halt-
losigkeit darüber zu Tage fördert: „Verneinen will Hauptmann die Frage nicht,
denn er traut der Frauenliebe viel zu und mochte hoffen. Bejahen aber kann
er die Frage auch nicht, denu wenn heut und gestern bei sterblichen Menschen
noch Glück und Friede war, wer kann wissen, ob nicht morgen schon die
Gespenster wiederkommen? Die Menschenkenntnis moderner Seelendichter hält
es mit dem alten Philosophen, der keinen vor seinem Tode glücklich pries.
Wenn Hauptmanns »Friedensfest« zu seinem vierten Akt noch den oft begehrten
fünften hätte, so müßte dieser fünfte Akt auf alle Fälle mit dem Tode der beiden
Liebenden schließen (?). Denn wenn er »glücklich« schlösse, so wäre das Ganze
eine »Komödie« gewesen, oder es bliebe die Gefahr bestehen, daß in einem sechsten
Akt das Glück doch wieder ein Ende hätte (!). In dieser Unsicherheit liegt bei
solchen Familienkatastrophen von allem Tragischen das Tragischste. Kein noch
so hoffender Blick in die Zukunft giebt die Gewähr, daß es immer so bleiben
wird, und darum kann der Schluß jedes Dramas, das nicht mit dem Tode des
Hauptbeteiligten endet, immer nur ein Abschluß des Vorhergegangnen, nicht ein
Anfang des Kommenden sein."
Kann es eine deutlichere Bankerotterklärung dieser Weltanschauung wie
der auf ihr beruhenden Kritik geben? Da es, das ist der Kern dieser Ansicht,
keine sittliche Kraft im Menschen giebt, die seinen Charakter ausmacht und
seine Handlungen bestimmt, so kann er nie wissen, ob in seinem Familienleben
nicht morgen das einreißt, was er heute aufgebaut hat. Und da hiernach alles
im Leben auf Zufall beruht, so auch die Ausgänge der modernen Dramen.
Hier ist offenbar die Folgerichtigkeit der dichterisch gestalteten Handlung und
ihre Wirkung verkannt. Wenn der Dichter einen Charakter demgemäß anlegt
und ausmalt, daß wir sehen, in ihm liegen gewisse moralische Kräfte und ein
angemessen starker Wille, dann erwarten wir mit Notwendigkeit dem entsprechende
Handlungen und einen dem entsprechenden Ausgang des Dramas und befürchten
nicht, daß schließlich noch ein stärkrer über ihn komme und im sechsten Akt
alles vorher Angebahnte vernichte. Das ist Thorheit, ist die falsche Konsequenz
einer falschen naturalistischen Theorie.
Schließlich verweist Schlenther den Vorgang ins Psychiatrische, also in
jenes Gebiet, in das die abnormen Geistesvorgänge fallen, offenbar eine bequeme
Ausflucht bei der Erklärung dramatischer Dichtungen. Er sagt, der Dichter
habe im „Friedensfest" die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn
geschildert, nicht in einem ausgeprägten klinischen Fall, sondern als das nahende
Unglück, das, nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete Epi¬
demie die Gemüter der Beteiligten umkreist. „Wer der Kunstgestaltung das
Psychiatrische weigert, so sährt er fort, handelt folgerichtig, wenn er, wies die
meisten ersten Kritiker Hauptmanns thaten, das »Friedensfest« kurzweg ablehnt.
Wer aber der Kunst das Recht zugesteht, die menschliche Seele und das mensch¬
liche Schicksal zu verfolge», so hoch sie steigen und so tief sie sinken, der wird
es nicht verwerflich finden, daß sich ein Dichter durch seinen Stoff genötigt
sieht, psychologische Beobachtungen bis zu psychopathischen Schlußfolgerungen
hinzutreiben. Und wer das gelten laßt, wird die strenge, herbe, ernste Form,
in ders im »Friedensfest« geschieht, künstlerisch bewerten." Hierin liegt wiederum
eine ästhetische Unklarheit, die auf der Unklarheit der sittlichen Lebensanschauung
beruht. Haben wir vorhin nachgewiesen, daß die Handlung eines dramatischen
Helden ans der Folgerichtigkeit beruht, daß auf gewisse Voraussetzungen bestimmte
Folgen eintreten müssen, daß bestimmte Charaktereigenschaften entsprechende Hand¬
lungen zeitigen müssen, so muß hier darauf hingewiesen werden, daß die Entwicklung
der dramatischen Handlung auf der Verantwortlichkeit des Helden ruht. Nur
wenn der vorgeführte Charakter für seiue Worte und Thaten verantwortlich
ist, wenn seine Lebensäußerungen die Folgen haben, die wir aus Vernunft
und Erfahrung als notwendige ansehen gelernt haben, können wir ihm das
Interesse entgegenbringen, das, wie es sich im Drama gehört, zur allerpersön-
lichsten Teilnahme des Zuschauers wird. Man erschrecke nicht, wenn wir ganz
unmodern sagen, wir erwarten den Sieg des Guten und den Untergang des
Bösen. Bei Sophokles, Shakespeare, Goethe, Schiller und den hundert
Dramatikern von Belang bis auf die Gegenwart ist es doch so. und es ist
noch sehr die Frage und noch lange nicht ausgemacht, ob wir wegen Schlenthers
moralloser Weltanschauung diese Begriffe umwerten und unser ästhetisches wie
moralisches Gefühl völlig umlernen müssen.
Das alles aber besteht nur, wenn es einen Unterschied von Gut und
Böse giebt, und wenn der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist.
Das ist ° er aber nur, wenn er im Besitz seiner normalen Geisteskräfte ist.
Schon einen leiblichen Kranken gewöhnlicher Art machen wir nicht für alles
verantwortlich, was er sagt oder thut. Ebensowenig einen Gemütskranken,
dessen inneres Gleichgewicht etwa durch ein großes Leid gestört ist, am wenigsten
aber einen Geisteskranken, der nicht Herr über sich selbst ist. Ein solcher wird
Gegenstand unsers Mitleids im gewöhnlichen, philanthropischen Sinne, d. h.
wir bedauern ihn und suchen für ihn die Hilfe des Arztes — aber zum
dramatischen Helden können wir ihn nicht brauchen. Seine anormale Geistes-
beschafsenheit macht ihn dazu ungeeignet. Die wenigen Ausnahmen, die die
Litteratur in dieser Hinsicht aufweist, sprechen durchaus für unsre Auffassung.
In den „Einsamen Menschen," die auf das „Friedensfest" folgten, sieht
Schlenther mit Recht einen entschiednen Fortschritt. Seine Analyse des Dramas
ist klar und fein, seine Gruudauffasfung aber nicht die unsre. Der Vorzug
des Stückes liegt in der Folgerichtigkeit der dargestellten Vorgänge und
in der durchsichtigen Charakterzeichnung des Haupthelden. Der junge Gelehrte
Johannes Vvckerath ist den altväterischen Vorstellungen seiner Familie entwachsen,
hat den festen Grund, der in ihnen lag, unter den Füßen verloren, seitdem er
auf Kosten des Christentums Haeckelicmer geworden ist. Aber er hat nicht die
Kraft, sich auf dem neuen schwankenden Grunde ein festes Gebäude aufzuführen,
sein haltloser Charakter ist dazu ungeeignet. Deshalb gerät er bei der ersten
Gelegenheit in einen für ihn unlöslichen Konflikt und geht zu Grunde. Diese
Auffassung widerstreitet natürlich der naturalistischen Anschauung Schlenthers.
Seine Abneigung gegen alle sittlichen oder gar christlichen Mächte kommt hier
deutlich zum Ausdruck. Er sieht die Hauptschuld auf feiten der alten frommen
Eltern, besonders der Mutter, die den Sohn auf die Gefahren hinweist, die
in seinem Verhältnis zu der fremden Studentin liegen. „Aus dem unrechten
Glauben (des Sohnes), sagt er, sieht diese »alte erfahrne Frau« in der Borniert¬
heit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie ruft sich ihren Mann zu Hilfe,
und die das Unrecht verhüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der
andern bringt erst etwas Gefährliches in dieses Verhältnis."
Das ist natürlich ganz schief und nur Sand in die Augen. Niemand, der
das Stück unbefangen steht, wird diesen Eindruck gewinnen. Nehmen wir ein¬
mal die Eltern ganz aus dem Drama heraus. Fassen wir bloß die drei Haupt¬
personen ins Auge: die gute, unbedeutende, aber herzige Frau, die die hoch¬
fliegenden Pläne und Ideen ihres Mannes nicht versteht, diesen Dr. Vockerath
felbst und das gelehrte und aufgeklärte Fräulein Anna Mähr. Wäre es nicht
auch so unausbleiblich zu einer Katastrophe gekommen? Oder sollen wir die
Lösung in einer Doppelehe suchen, einer geistigen und einer leiblichen? Offen¬
bar wird die Entscheidung nicht durch die in Schlenthers Augen engherzige,
altgläubige Mutter herbeigeführt, sondern sie wird durch sie nur beschleunigt.
Die alte, sittliche Weltanschauung und die Zukunftsmusik stoßen hier aufeinander,
und der Vertreter der letzten ist zu schwach, diesen Stoß auszuhalten. Das ist
seine eigne Schuld. Schlenther aber formuliert das so: „Ju der Widmung erklärt
Gerhart Hauptmann, er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt
haben. Schon damit deutet er an, daß nicht alle, die es lebten, wie Johannes
Vockerath, den Tod suchen. Die meisten kommen mit blauem Auge davon,
denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren und kompromittieren.
Aber unter Hunderten ist immer einer, der dran glauben muß, der die Schlu߬
folgerungen seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und besonders
sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typische Fall, das von der Natur
statuierte Exempel, die große einzige dichterische Eins, welche all die vielen
Zufallsnulleu der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den hohen
Nennwert giebt." Es erhellt, wie schief diese Auffassung ist. Sie stempelt
den I)r. Vockerath zu einem Helden, der ans Tapferkeit, aus innerer Tüchtig¬
keit die letzten Konferenzen zieht, indem er sich das Leben nimmt. Wir dagegen
sehen in ihm einen Schwächling, der das Leben von sich wirft, weil er nicht
die sittliche Kraft hat, sich mit seinen Realitäten abzufinden oder es nach seiner
Weise zu gestalten. Der Schlußsatz dieser Stelle aber ist beachtenswert, indem
er anerkennt, daß der Naturalismus als Kunstprinzip überwunden werden muß.
„Auch der sogenannte Naturalismus, sofern er poetische Rechte besaß, mußte
über die Nullen sort aus die große Eins losgehen. Das hat Gerhart Haupt¬
mann von vilen Anfang seiner steigenden Dichterkraft gefühlt und durch sein
drittes Drama in freier Herrschaft über die natürliche Kunstform erreicht."
Ein Wiener Kritiker hatte voll Bewunderung über die „Versunkene Glocke"
ausgerufen: „Wer hätte gedacht, daß uns die blaue Blume ans einem Mist¬
haufen wachsen werde." Schleuther ist der Ansicht, Hauptmann habe „den Dung,
der im Haushalte der Natur nicht unersprießlich ist, schon in seinem Erstlings¬
werk aufgebraucht." Also für dieses, für „Vor Sonnenaufgang" lehnt er doch
gelegentlich den Ausdruck „Misthaufen" nicht ganz ab, nur daß er ihn nach
seinem wirtschaftlichen Nutzen, nicht nach seinem Übeln Geruch und Aussehn
wertet!
Und die nun folgenden „Weber," die doch nach dieser Richtung auch
etwas anrüchig sind? Sie nennt Schlenther „eine große, weltumfassende littera¬
rische That," das Drama, „das wie kein andres aus den starken Wurzeln seiner
Kraft entstanden ist"! Was daran so hervorgehoben, so hoch bemertet wird,
ist natürlich wieder die genaue Nachahmung der Wirklichkeit, die historische
Treue. Die Darstellung Zimmermanns und die Berichte der Vossischen Zeitung
vom Jahre 1844 werden dafür zu Zeugen aufgerufen. Aber diese imponieren
nicht, weil der Kundige durchschaut, daß sie die Quellen des Dichters gewesen sein
werdeu, also in eigner Sache nichts bezeugen, nichts beweisen können- Es ist
aber im litterarischen Streit um die „Weber," der bei ihrem Erscheinen und
ihrer Aufführung entbrannte, längst nachgewiesen, daß ihre Darstellung einseitig,
lediglich vom Standpunkt der notleidenden Weber gemacht und keineswegs um¬
fassend und erschöpfend, ja in der Zeichnung des Geistlichen z. B. nicht ein¬
mal richtig ist. Wird das Werk also doch zum Teudenzwerk, so ist die Frage
nach seiner aufreizenden Wirkung nicht abzuweisen, und es ist interessant zu
sehen, wie listig sich Schlenther damit abzufinden weiß, und wie er dabei wieder
über die Haltlosigkeit seines Knnstprinzips stolpert. Wir setzen am besten seine
Worte ganz hierher: „Dennoch hat man das »Schauspiel aus den vierziger
Jahren« mit der Gegenwart in Beziehung gebracht und ihm vorgeworfen, es
predige den Aufruhr, es reize die unbefriedigten Massen zur Empörung gegen
Recht und Gesetz, es sei umstürzlerischer Tendenzen voll. Derartige Einwände, die
häufig zu polizeilichen Verboten der Theateraufführung verleitet haben und durch
eine weise Entscheidung des Königlichen Oberverwaltungsgerichts vom 2. Oktober
1893 widerlegt werden mußten, sind immer nur aus dem Stoff heraus
begründet worden. Niemals konnten sie einen Anhaltepunkt in der künstlerischen
Gestaltung finden.*) Was aber den Stoff betrifft, so sei nochmals auf das
historisch objektive Werk Alfred Zimmermanns hingewiesen usw. Niemals ist
diesem historisch-kritischen Werke eine aufrührerische und umstürzlerische Tendenz
nachgesagt worden. Ohne viel drüber nachzudenken, stellte man es wie jedes
andre Werk freier Forschung nnter den bekannten Verfassungsparagraphen: Die
Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Sollte nun, was der Wissenschaft recht
ist, der Kunst nicht billig sein? Sollte der Künstler, der Dichter nicht genau
so wie der Forscher das Recht haben, ohne viel nach Wiederhall und Tendenz
zu fragen, einen historisch beglaubigten Vorgang historisch treu darzustellen?
Sollte Hauptmann, der schlesische Weberenkel, ans die künstlerische Formulierung
eines Stoffes verzichten, der ihm seit seinen frühen Kindheitstagen aus den
Erzählungen des eignen Vaters ans mitleidvolle Herz gewachsen war? Nur
deshalb darauf verzichten, weil seine historisch treue Darstellung dieses Stoffes
zu aufreizenden Vergleichen mit der sozial bewegten Gegenwart unliebsamen
Anlaß geben könnte? Das hieße, dem Adler den Fittich stutzen!"
Hier tritt nun also der innere Widerspruch dieses Prinzips klar zu Tage,
Kunst ist eben nicht Geschichte, ist nicht Wissenschaft, ist weder dazu da, etwas
zu lehren noch etwas zu erweisen. Die Kunst ist durchaus aktuell, für die
Gegenwart bestimmt und muß nach ihrer Wirkung auf die Gemüter bemessen
werden, für die sie doch unmittelbar bestimmt ist. Die Geschichtsforscher haben
es nur zu thun mit der Wahrheit und Erkennbarkeit, ihr Organ ist der Ver¬
stand, unbeeinflußt durch andre Teile der Seele. Die Kunst dagegen hat
es mit der Wirkung auf Phantasie und Gemüt zu thun! Dem Anatom kann
das Widerwärtigste, Gemeinste, Ekelerregende Gegenstand der Forschung, der
Darstellung und der belehrenden Abbildung werden. Der Bildhauer darf es
darum noch nicht zur Statue, Gruppe oder zum Relief verwerten, und der
Dramatiker auch nicht. Denn die Künstler suchen die unmittelbare Wirkung
auf die Menge; das müssen sie bedenken, bei der Wahl ihres Stoffes wie bei
deren Gestaltung. Darin liegen die Schranken ihres Waltens. Diese lassen
sich freilich nicht gesetzlich paragraphieren. Die ästhetische Bildung des Dichters
und des Publikums, die Zeiten und die Umstände reden da ein Wort mit.
Aber die Grenzen selbst sind ohne Zweifel vorhanden. Freilich nicht für einen
Ästhetiker, der wie Schlenther bei Gelegenheit seiner Schwärmerei für die
„Weber" folgende Definitionen von Kunstwerk und Drama abgiebt: „Ein Kunst¬
werk ist ein Werk, das in sich eine Welt in bestimmter Form umschließt. . . .
Ein Drama aber ist eine Dichtung, die auf der Bühne wirkt." Von diesem
Standpunkt sind allerdings die „Weber" ein Kunstwerk und ein Drama! Und
wer das nicht anerkennt, ist in Schlenthers Augen ein „unlitterarischer Kunst¬
freund."
Über den „Kollegen Crampton" gehen bekanntlich die Ansichten auch unter
den ernst zu nehmenden Kritikern, die nicht unbedingte Parteigänger Haupt¬
manns sind, ziemlich weit aus einander. Manche verwerfen die Dichtung unter
anderm wegen des auch hier wieder ausgewühlten widerlichen Milieus; es ist ja
auch wenig erfreulich, zu sehen, wie ein anständiger, gebildeter Mensch und be¬
gabter Künstler durch die Macht des Alkohols in seiner niedrigsten Gestalt, dnrch
Schnapsgenuß, von Stufe zu Stufe sinkt, und zwar so, daß auch hier wieder
wie in „Einsame Menschen" aus Charakterschwäche kein ernsthaftes Ringen
gegen den feindlichen Dämon stattfindet. Andre sehen hierin aber trotz alledem
einen ehrlichen Ansatz zu einem ernsthaften Charakterdrama und heben hervor,
daß in dem Gegenbild zu dem verkommenden Maler Crampton, in der lieb¬
lichen Tochter und ihrem Bräutigam, endlich auch einmal eine positive Macht
gezeichnet ist, die gegen den zerstörenden Dämon mit unermüdlicher, suchender
Liebe ankämpft und zuletzt, so hoffe» wir, Erfolg haben wird. Daß wir es
nur hoffen, nicht siegesfreudig annehmen dürfen, ist allerdings wieder der alte
Fehler Hauptmanns. In dem Charakter seines Helden ist nichts vorgebildet
oder doch nicht genügend vorgebildet, daß unsre Zuversicht auf seine Rettung
durch die Liebe und durch eine behagliche Häuslichkeit stark genug wäre. Wenn
also Schlenther sagt, nur einem glücklichen Umstände wird es zu danken sein,
daß Crampton nicht ganz untergeht, so bezeichnet er den Mangel ganz richtig,
aber er giebt natürlich wieder nicht zu, daß dies ein Fehler des Werkes ist.
Aus dem Bisherigen ist es schon zur Genüge klar geworden, daß man
Schlenther kein Unrecht thut, wenn man ihn als Kritiker der Parteilichkeit
beschuldigt. Seine völlige Berechtigung findet dieser Vorwurf aber, wenn wir
sehen, daß er auch ein Loblied des „Biberpelzes" zu singen versucht. Seine
unbedeutenden Ausstellungen an dem verfehlten Stück versteckt er unter einem
Vergleich mit Kleists „Zerbrochnem Krug," den er dabei mit Recht eine der
besten Komödien der Weltlitteratur nennt. Geschickt versteht er die klaffenden
Unterschiede zu verdecken. Nur zuletzt muß er klein beigeben. Aber er weiß
sich zu helfen: nur keinen Stein auf die Komödie! „Daß die Spannung im
Laufe dieses köstlichen Genrebildes nachläßt, hat der Dichter zu verantworten.
Er hat dieselben Situationen zu oft wiederkehren lassen. Was wir schon beim
Holzdiebstahl erlebten, erleben wir beim Pelzdiebstahl noch einmal. Für den
Bestohlnen mag am Pelz mehr liegen als am Holz. Für unsre Seelenerkenntnis
ist das eine soviel wert wie das andre. Und so hatte Hauptmanns Stück bei
seiner ersten Berliner Bühnenaufführung mit größerm (also doch!) Recht das¬
selbe Schicksal, das ursprünglich auch Kleists Stück hatte. Es ermüdete auf
der Bühne. Der große Weimarer Dramaturg suchte dem dadurch abzuhelfen,
daß er die Handlung des »Zerbrochnen Kruges« in mehrere Akte zerriß und
so noch weniger befriedigte. Heute funden sich vielleicht Dramaturgen, die
den »Biberpelz« in einen oder zwei Akte zusammenziehen möchten. Auch sie
würden nur Undank ernten (das heißt doch also, es ist ihm nicht zu helfen!).
Man muß die Komödie nehmen, wie sie ist, und ihren Witz herausspüren.
Wem das nicht gelingt, darf sich mit keinem Geringern vertrösten, als mit
Goethe, der eins der größten Meisterwerke der Weltlitteratur, Kleists »Zer-
brvchncn Krug,« auch nicht begriffen hat."
Das find Taschenspielerstückchen! Weil auch ein Goethe sich einmal irrte,
sollen wir glauben, daß der „Biberpelz" ein gelungnes Drama ist. Es ist
eben ein unfertiges Unganzes, das niemand befriedigt. Daß es in Wien im
Hofburgthecitcr gefiel, beweist gar nichts. Aber Schlenther setzt große Hoff¬
nungen auf diese Komödie wie auf den „Kollegen Crampton": mit den Bauern¬
komödien Ludwig Anzeugrubers sollen diese beiden Stücke der deutschen Zu¬
kunftskomödie den Weg aus der bretternen Flachheit auf die Höhen und in die
Tiefen des Lebens weisen. Er sieht gar nicht, daß es im „Biberpelz" vor
allem an Gemüt fehlt, daß zusammengestellte Porträts verdünnter und ver¬
lotterter Menschen an sich keinen Genuß gewähren. Deshalb ist schwerlich
anzunehmen, daß diese flachen Konterfeis der Wirklichkeit noch einmal eine große
Rolle spielen werden. Wir möchten daher den „Biberpelz" am liebsten gar
nicht anrechnen und lieber eine Brücke schlagen vom „Kollegen Crampton" zu
„Hammelef Himmelfahrt" insofern, als wir Hauptmann hier auf dem Wege
fortschreiten sehen, ideale Mächte des Lebens zu erkennen, zu erfassen und in
ihrer Wirkung auf den Menschen darzustellen. Bei des Dichters Rückkehr in
die schlesische Heimat waren heimatliche Eindrücke wieder in seiner Seele
lebendig geworden. Wieder stammten sie aus dem Elend, aus der Hefe des
Volkes. Das Armenhaus und die verkommensten Dorfbewohner mußten aber¬
mals das Milieu abgeben und ein armes, zum Tode geplagtes Mädchen auf
dem Sterbebette die Heldin eines Dramas sein. Der eigentliche Gegenstand
des Stückes aber werden die Fieberphantasien des Kindes, die mit ihrem himm¬
lischen Inhalt seine Seele stärken.
Wie Hauptmann auf diese Idee gekommen ist, stellt die Biographie sehr
hübsch dar. „Wie eine Windesharfe sei deine Seele, Dichter! Der leiseste
Hauch bewege sie. Und ewig müssen die Saiten schwingen im Atem des Welt¬
wehs; denn das Weltweh ist die Wurzel der Himmelssehnsucht. Also steht
deiner Lieder Wurzel begründet im Weh der Erde; doch ihren Scheitel krönet
Himmelslicht." Mit diesen schönen, sein ganzes dichterisches Wesen durch¬
leuchtenden Worten, sagt Schlenther, wollte Hauptmann 1885 „Das bunte
Buch" eröffnen. Wo in diesem „Bunten Buch" die lyrische Form allmählich
von der epischen Form abgelöst wird, steht ein langes Gedicht, das „Die Mord¬
brand" heißt und deu Kontrast zwischen Weltweh und Himmelssehnsucht aus
der Seele des Dichters in die Seele eines phautasiebcgabteu Volkskindes über¬
trüge. Ein armes, verwaistes Bettelkind, Bergliese genannt, hat unter den
Fäusten und Flüchen ihres grausamen Pflegevaters bitterlich zu leiden. Er
jagt sie bei Nacht aus dem Hause hinaus in Sturm und Schnee. Sie irrt
über Feld. Ermattet sinkt sie beim Neisigsammeln vor einer hohen, schlanken
Fichte nieder, die im Mondenschein himmelan strebt. Bergliese schläft vor
Müdigkeit ein. Aber sie ist mondsüchtig und wandelt durch die Nacht. Sie
klettert dem Mond entgegen zum Fichtenwipfel empor, sie will weitersteigen,
tritt in leere Luft, und —
In diesen äußerlichen Vorgang hat der Dichter nun die Phantasien des Kindes
verwoben, das in seiner Sehnsucht den Himmel sucht, wo der Himmelsbräutigam,
Vater und Mutter in verklärter Gestalt seiner warten.
Es ist ohne weiteres klar, daß diese beiden Motive eine epische Behandlung
sehr gut vertragen. Aber auch eine dramatische? Das Drama ist doch nun
einmal dazu da, Handlungen — mag man den Begriff so weit oder so eng
fassen, wie man will —, also zusammenhängende Begebenheiten vor unsre leib¬
lichen Augen als gegenwärtig sich abspielend zu stellen. Sind Fieberphantasien
solche Handlungen? Ja wohl, für sich selbst kann auch einmal ein Traum als
ein Leben, als Wirklichkeit dargestellt werden. Dann erfahre ich ebeu vorher
oder nachher: alles war nur ein Traum. Aber gleichzeitig die nackte Realität,
ein sterbendes Kind im Armenhause, und zwischendurch gleichzeitig, im Raume
ueben einander, die Ausgeburten seiner erregten Phantasie vorzuführen, das ist
eine Unmöglichkeit.
Schlenther hebt das Stück natürlich zu den Sternen, obwohl er den Wider¬
sinn eigentlich zugeben und wenigstens sür eine Stelle einräumen muß, daß
das Wesentliche mißlungen ist. „Diese Traumgestalten — sagt er — sind nicht
nur vereinzelt da, sondern sie treten auch unter einander in Aktion. Engel
tragen einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige dieser
Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Menschen bekannt geworden. Der
Waldarbeiter Seidel, der das Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten,
aber zum Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die vom fiebernden
Hannele mit ihrer toten Mutter verwechselt wird, der Lehrer, den sie für den
Erlöser hält — sie alle haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann
in Hammelef Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit unsern eignen klaren
Sinnen wahr und müssen sie dann mit dem verwirrten Sinn eines andern
Wesens wahrnehmen." Müssen wir wirklich? Ja, wer nötigt uns dazu?
Unsre Sinne sind doch gesund, sind nicht fieberhaft erregt. Wer leitet uns
dazu an, die Personen bald als wirkliche, bald als Wahngestalten aufzufassen?
An einer Stelle ist es denn auch Schlenther zu viel geworden. „Freilich
— sagt er — mußte gerade Schwester Martha auch Ursache zu der einzigen
technischen Schwierigkeit werden, welcher die sonst so sichre Hand des Dichters
nicht ganz Herr geworden ist. Denn kaum hat das leibhaftige, das halbwache
Hamiele mit Martha gesprochen, so tritt wieder die Traumwelt in ihr Recht,
und die lebendige Schwester Martha muß sich mit einer Verbeugung vor dem
nur vom phantasierenden Kinde gesehenen Todesengel aus dem Krankenzimmer,
wo sie jetzt am allernötigsten wäre, entfernen. Das verwirrt und ist bühnen-
technisch kaum zu überwinden."
Man kann also noch so viel rühmen, wie eindrucksvoll, wie rührend viele
Stellen der Dichtung sind, man kann neben den Frauen, die bei der Auf¬
führung in Ohnmacht fielen, den Grafen Hochberg und den vom Kaiser ge¬
schickten Hofprediger Frommel für diese Wirkung anführen, ein rechtes Drama
wird „Hammelef Himmelfahrt" doch nicht. Es ist und bleibt in dieser Hinsicht
ein Mißgriff.
(Schluß folgt)
eit einiger Zeit erscheinen bei Breitkopf und Härtel die von
Professor Todt bearbeiteten weltlichen Kantaten Bachs im
Klavierauszugc. Dieses Unternehmen ist besonders dankenswert.
Man muß wünschen, daß diese eigentümlichen, zum Teil freilich
etwas altmodischen, im ganzen jedoch ungemein frischen und
schönen Schöpfungen eines Meisters, der gerade auch unsrer Zeit so viel zu
sagen hat, in weitern Kreisen bekannt und geschätzt würden. Dazu können die
genannten Klavierauszüge, die mit ihrem mäßigen Preise, ihrer guten Aus¬
stattung und ihrer sorgfältigen, geschmackvollen Arbeit allgemein empfehlens¬
wert sind, sehr wohl dienen. Es mögen jedoch bei dieser Gelegenheit auch
ein paar kritische Bemerkungen erlaubt sein. Der Herausgeber kommentiert
seine Thätigkeit in einer kleinen Abhandlung, die in den bekannten zwanglosen
„Mitteilungen der Musikalienhandlung Vreitkopf und Härtel" (Ur. 52) steht
und ein beachtenswerter Beitrag zur Würdigung der betreffenden Komposi¬
tionen ist. Bei aller Bewunderung nun, die in diesen Erläuterungen den
weltlichen Kantaten Bachs gezollt wird, tritt hier doch wieder die übliche
Geringschätzung der Textdichtnngen und die Empfindlichkeit gegen das alt¬
modische Gepräge hervor, das solche Gelegenheitspoesien haben. Es ist ja
wahr: diese Poesien sind keine Musterstttcke, und es lohnt sich kaum, für
Picander und seine Genossen eine Lanze zu brechen. Trotzdem ist vieles in
diesen Texten, vorausgesetzt, daß man an ihnen nicht Dichtungen im höhern
Sinne, sondern eben nur Texte haben will, ganz hübsch zu lesen. Die Anlage,
der Entwurf ist oft recht geschickt, und manche Stelle leidet nur unter vor¬
gefaßten Antipathien, die auf den zufälligen Geschmack einzelner Beurteiler
zurückgehen und sich unrechtmäßig weiterverbreitet haben.
Selbst Spitta, dessen große Bachbiographie überall die beste und reichste
Belehrung bietet, wird der dramatischen Kammermusik des Meisters nicht ganz
gerecht. Spitta hält Werke wie den „Zufriedengestellten Aotus," obgleich er
ihnen natürlich Gehalt und Reiz zuerkennt, für keine Muster der Gattung.
Er meint, Bach biete zu starke Mittel auf, er werde zu gewichtig, die leicht
spielenden Empfindungen würden ins Schwere und Pathetische, das Komische
ins Groteske gezogen. Gartenpavillons schmücke man nicht mit Kirchtürmen.
Das Gebaren des Aotus eigne sich mehr für eine blutige Tragödie als für
ein heiteres Gartenfest. Auch die Kantate von der Vergnügsamteit, ein Stück
edelster Hausmusik, ein Werk von seelenvollem, rührendem Ausdruck, kommt
zu ungünstig weg. Die Musik, heißt es, sei von behaglicher Tüchtigkeit und
nichts mehr. „Daß sich Bach bewogen fühlte, den philisterhaft geschwätzigen
Text nur zu komponieren, charakterisiert den Manu, für dessen häuslichen Bürger¬
sinn bei aller erreichten Kunstgröße und trotz aller ihm von Fürsten und
Großen erwiesenen Ehren die gemütvolle Ruhe der Familie doch ihren höchsten
Wert behielt." Vortrefflich. Aber ist nicht der Text noch jetzt im ganzen
recht ansprechend? Sind nicht diese Arien mit ersichtlicher Hingebung kom¬
poniert und schon die Rezitative mit ihrer innigen Deklamation, ihren fein-
empfundncn und bedeutenden Wendungen etwas Köstliches? Bei der Kantate
„Was mir behagt" äußert Professor Todt: man könne über der Unmenge des
musikalisch Schönen wohl die Beziehung auf Herzog Christian von Weißenfels
vergessen. Im Gegenteil: wir wollen die Fürsten, denen ein Bach so zugethan
war, keineswegs vergessen. Wir wollen uns freuen, Kunstwerke zu gewinnen
und zu besitzen, in und mit denen ihr Andenken weiterlebt. Leopold von
Anhalt-Köthen ist hier nicht der einzige, wenn auch wohl der edelste und der
würdigste. Wie man bei der „Trauerode" nichts besseres thun kann, als im
wesentliche» alles zu lassen, wie es von vornherein war, sodaß sich mit dem
Kunstgenuß die pietätvolle Erinnerung an die glaubenstreue Kurfürstin Christiane
Eberhardine verbindet, so empfiehlt es sich, auch bei der andern Gelegenheits¬
musik an dem Original möglichst festzuhalten. Man erlebt ja auch sonst,
z. B. bei Mozart, daß Werke, die bisher trotz aller Umarbeitungen und Besse¬
rungen keinen rechten Eindruck macheu wollten, neuerdings „von allen Re-
touchen gesäubert" werden und nun auf einmal höchst wirkungsvoll sind.
Man wende das vor allem auf den schon erwähnten „Zufriedenge¬
stellten Aotus" an. Das Thema vom guten und bösen Wetter ist wirklich
nichts Geringfügiges. Wer es bei einer im Freien zu begehenden Feier für
nebensächlich oder ungeeignet hält, gleicht denen, die sich an den naiven Stellen
in der Odyssee und in Vossens „Luise" stoßen, wo vom Essen und Trinken
gesprochen wird, oder die den Kopf schütteln, wenn ein Philosoph auch einmal
über Sinnesfeinheiten und Sinnesfreuden redet. Bei einem wirklichen Fürsten
ist es gewiß nicht ohne Belang, ob an seinem Ehrentage „Kaiserwetter"
herrscht oder nicht. Der Doktor August Müller, auf dessen Verherrlichung
die fragliche Kantate hinauslauft, war zwar uur ein Mann der Wissenschaft,
aber ein vielverehrter und beliebter Lehrer der studierenden Jugend, und wir
haben keinen Grund, an der Berechtigung seines Rufes zu zweifeln, obwohl
der gute Gelehrte ohne jene zufällige künstlerische Huldigung jetzt längst ver¬
gessen wäre. Gönnen wir ihm von Herzen die Verewigung durch eine Bachsche
Kantate! Freilich, der Name Müller kaun, im Munde der Pallas Athene,
komisch klingen. Das Zauberwort, fürchtet man, werde erschütternd auf das
Zwerchfell des heutigen Hörers wirken. Es ist aber doch bloß ein dummer
Zufall, wenn der Konzertbesucher etwa an Müller und Schlitze denkt. Auch
andre Namen, wie z. B. der Klopstocks, könnten, in ähnlicher Weise vorge¬
bracht, aus der poetischen Stimmung herausreißen und zum Lachen reizen.
Solche Wörter sind eben prosaisch. (Das Komische entsteht dann erst in
zweiter Linie.) Man muß sich aber den Nimbus hinzudenken, der die Namen
allgemein verehrter Personen umgiebt. Setzten wir statt „Müller" vielleicht
„Gellert," so wäre alles sogleich in Ordnung. Im übrigen hindert ja nichts,
den betreffenden Eigennamen überhaupt wegzulassen. Möge man das Werk
einfach unter der Bezeichnung „Zum Namensfest eines gefeierten Gelehrten"
aufführen, und lasse mau dünn Pallas etwa singen wie folgt: Mein Lieb¬
ling — jener Held, der mir vor allen wohlgefüllt — der Musen treuster
Freund — erlebet usw. Den Schlnßchor etwa so: Vivat! Edler Meister,
lebe! Sei beglückt, gelehrter Manu! usw. Änderungen der Diktion lassen
sich nämlich in allen Kantaten Bachs anbringen. Man sollte getrost daran
gehen und die Ausdrucksweise überall, wo sie den Genuß beeinträchtigt, moder¬
nisieren. Dies ist etwas ganz andres als jenes radikale Eingreifen, womit man
ohne weiteres den Personen und der Handlung des Textes zuleide geht und
den ursprünglichen Sinn verwandelt; obgleich auch dieses für den Notfall,
nach dem Vorgang Bachs selbst, grundsätzlich erlaubt bleibt.
Zu den Kantaten, die einen unmittelbaren hohen Genuß bieten und sofort
ausführbar sind, gehören, außer „Phöbus und Pan," die schönen Hochzeits¬
kantaten („Weichet nur, betrübte Schatten" und „O holder Tag") und die
kaum minder wertvollen Kammerkantaten mit italienischem Text (^mors er^äi-
toi-s und Avr sa ode sia äolors). Auch die Kaffeekantate wirkt ohne weiteres.
Bei den Kantaten auf den Kurfürsten Friedrich August II. dürfte es sich freilich
empfehlen, nur einzelne Sätze, Chöre oder Arien, zur Aufführung zu bringen,
z. B. den bekannten prächtigen Chor „Schleicht, spielende Wellen" in der Be¬
arbeitung von Ruft. Dagegen wird die Bauernkantate jederzeit als ein origi¬
nelles, frisches Ganze erfreuen können. Selbst das Dialektische kann hier bei-
behalten werden. Nur müßten an einigen Stellen, namentlich in der ersten
Sopranarie, die Ausdrücke geändert und ein paar neue, feinere Lesarten ein¬
geführt werden. Außerdem könnte die Arie „Dein Wachstum" wegfallen,
vielleicht auch die Arie „Das ist galant" mit dem dazugehörigen Rezitativ. Die
niedliche Kette von kleinen volkstümlichen Gesängen, aus denen diese merk¬
würdige Kantate hauptsächlich besteht, wird besser nur einmal von einer längern,
kunstvollem Arie, nämlich der Sopranarie „Kleinzschocher müsse," unterbrochen.
is Reisender in fremden Ländern wird man wohl nur selten Ge¬
legenheit haben, zu beobachten, wie weit sich zwischen Angehörigen
verschiednen Stammes, die in einem Staatswesen vereinigt leben,
altererbte Abneigung forterhalten hat. Daß selbst in einem so
zentralisierten Staate wie Frankreich die Verschmelzung der Gallier,
Normannen, Vlamen, Provenzalen usw. keineswegs gänzlich gelungen
ist, wissen wir. Die Bewohner Italiens haben mit großer Energie und zum Teil
mit großer Entsagung ihre Selbständigkeit der Einheit zum Opfer gebracht; trotz¬
dem lassen sich aber noch die alten Grenzen in dem Verhalten der Nachbarn zu
einander verfolgen, wie z. B. zwischen den einst so bedeutenden Städten des
venetianischen Festlandes und dem Mailändischen. Auch bei einem Aufenthalt
in Wales fiel mir gleich anfangs auf, daß sich Angelsachsen und Walliser auch heute
noch nicht als ein Volk fühlen. Eine Zeitungsverkänferin gab auf die Frage nach einem
Blatte in der Landessprache in geradezu verächtlichem Tone die Autwort, dergleichen
führe sie nicht. Und die hübsche walliser Wirtstochter, die mit sehr angenehmer
Stimme deutsche Musik vortrug, nahm die Bemerkung, ich hätte Mozart, Mendels¬
sohn usw. in England nicht so verbreitet geglaubt, mit Lachen auf. „Ja, die Eng¬
länder, was wissen die von Musik!" Und ähnlichen kleinen Zügen bin ich mehr¬
fach begegnet. Da in allen solchen Fällen nicht gleich auf Partikularistische oder
gar separatistische Bestrebungen geschlossen werden darf, so brauchen wir auch das
gelegentliche Grollen und Nörgeln deutscher Gebietsuachbaru nicht zu ernst zu
nehmen. Aber von Interesse war es mir jederzeit, zu erkennen, wie geringfügige
Ursachen oft die Gereiztheit nähren, und wie gerade solche durch Generationen im
Gedächtnis haften.
Im Königreich Sachsen war man noch in den vierziger Jahren sehr geneigt,
Preußen als den habgierigen, gewaltthntigeu Emporkömmling zu hassen und auf
Wiedervergeltung zu rechnen. Nicht umsonst Pflegte man noch einen Napolevukultus,
und wenn junge Leute die Gelegenheit vom Zaune brachen, um zu versichern,
daß auch Preußen einmal wieder klein werden müsse, so war darin die Hoffnung
ans das gewaltige Frankreich nicht zu verkennen. „Die einzige Salzquelle haben
uns die Preußen weggenommen." Dagegen rühmte man sich gern der höhern
Schulbildung. Ein Landpastor fragte mich nach den Einrichtungen der preußischen
Gymnasien und wollte durchaus nicht glauben, daß dort dieselben alten Klassiker
gelesen würden wie auf den sächsischen Fürstenschulen. Als er dann erfuhr, daß
mein Vater, ein Schulmann, erst aus Sachsen nach Preußen gekommen war, be¬
ruhigte er sich in vollem Ernste mit der Erklärung, daß offenbar mein Vater die
Vorzüge des sächsischen Schulwesens in seine neue Heimat verpflanzt habe. Eine
in Preußen lebende alte Dame hatte zur Belustigung ihrer Verwandten in Dresden
allerlei norddeutsche Ausdrücke für Speisen und Getränke zusammengetragen, die,,
mehr oder weniger verstümmelt, den Eindruck des barbarischen machen konnten, und
ich wurde ganz treuherzig gefragt, ob es denn wahr sei, daß wir Kreide äßen:
genieint war das aus dem Rheinischen Kraut entstandne und schlecht ausgesprochne
Kraute, Obstmus. Großen Anstoß gaben auch in dem weit überwiegend rationa¬
listischen Sachsen die Pflege des orthodoxen Protestantismus unter Friedrich Wil¬
helm IV. und die innige Freundschaft mit Nußland; und so wenig Segen die
polnische Königskrone Sachsen gebracht hatte, so bestanden doch noch beiderseitig
Sympathien; Polen hielten sich gern in Dresden auf und entworfen bewegliche
Schilderungen von der unbarmherzigen Germcmisativn in Posen durch den charakter¬
fester Oberprnsidenten Flottwell, der denn much zum allgemeinen Schaden bald
abberufen wurde. „Preußen und Reichen sind ja dasselbe Volk," sagte mir ein
Pvlenschwärmer nnr halb im Scherze. Daß ein guter Deutscher den? Freiheits¬
helden Mieroslawski den Sieg wünschen müsse, meinten auch am Rhein viele.
Doch das war 1848. Das für Revolutionen wie ausdrücklich geschaffne Früh¬
jahr dieses Jahres hatte eine bitterkalte Vorrede im Januar; damals kam ich zum,
erstenmal an die ersehnten Ufer des Rheins, zu einem großen Teil noch mit der
Thnrnnndtaxisschen Postschnecke, die ihrem alten Ruf als Marterkasten volle Ehre
machte. Denn den unmittelbaren Bahnverbindungen zwischen Osten und Westen
(Durchqueruugen, wie man jetzt sagt) standen noch verschiedne Schwierigkeiten im
Wege, unter andern« bei mittelstaatlichen Herrschern, die entweder überhaupt
von keinen Eisenbahnen wissen wollten, wie der Kurfürst von Hessen (der, als er
den Ban endlich zugeben mußte, wenigstens den Bahnhof von Kassel so verstecken
ließ, daß er ihn nicht zu sehen brauchte), oder doch wünschten, sich Berlin nicht
nahekommen zu lassen, wie der König von Hannover. Die Reisegesellschaft Politi¬
sierte viel auf der weiten, langweiligen Fahrt. Wenn damals ein deutscher Diplomat
in Paris der Regierung Ludwig Philipps glaubte unerschütterliche Dauer verbürgen
zu können, so war mindestens mit ebenso großem Rechte zu sagen, daß sich Deutsch¬
land ungestörter Ruhe erfreue. Und doch war man allgemein auf große Ereignisse
gefaßt. Das Hambacher Fest mit dem Landauer Schwurgericht, wo Johann Georg
August Wirth durch seiue siebenstündige, gewaltige Rede für die Rechte des deutscheu
Volks und gegen das Unrecht der Rheinbnndfürflen die Freisprechung der angeklagten
Hochverräter erwirkte, war beinahe vergessen; der Vereinigte Landtag Preußens
hatte allgemein angeregt, doch niemand befriedigt, die konstitutionelle Bewegung
schien in den Hintergrund gedrängt zu sein, da sich überall der Radikalismus und
in den Rheinlanden die Anhänger der aus Frankreich eingeführten sozialistischen
Lehren von ihr abgewandt hatten, während in einem großen Teile Deutschlands
noch Deutschkatholiken und Lichtfreunde thätig waren, aber keine bleibenden Erfolge
erzielten. Nun hatte plötzlich die kleine Schweiz alles Interesse in Anspruch ge-
nommer. Vom Standpunkte des bestehenden Rechts konnte ein Kcimpf um den
Sonderbund verschieden beurteilt werden, aber gründlich verhaßt war allgemein das
Jesnitentum, nicht nur bei den Protestanten, In Sachsen war schon durch die
Entdeckung eiuer des Jesuitismus verdächtigen Zuschrift in einer Kirche zu Annaberg
große Aufregung hervorgerufen worden, Nun brachten die Ultramontanen in Luzern
eine regelrechte Revolution zustande mit fanatischem Parteiwüten und Aufhetzung des
Auslands gegen das Vaterland, Allein die Schweizer besorgten ihre Angelegen¬
heiten as. so, wie ein Jahrzehnt später die Italiener sagten. Metternich hatte
keine Lust, sich einzumischen, seine und der Franzosen moralische Unterstützung
nutzte dem katholischen Sonderbnnde so wenig, wie der Zuzug des abenteuerlustigen
Fürsten Friedrich Schwarzenberg, des „Landsknechts," der schon dem Prätendenten
Don Carlos seinen Degen geliehen hatte, und vollends der Protest des römischen
Stuhls. Eines schönen Tags war der Sonderbund gesprengt, und der von den
Jesuiten zum Tode verurteilte Arzt Steiger von Luzern stand wieder um der
Spitze seines Kantons. Die Namen dieses und andrer Führer, wie Dufour,
Ochsenbein auf der einen, des sogenannten „Vlutbeni" Bernhard Meyer ans der
andern Seite waren in jedermanns Munde, und der endliche Ausgang der anfangs
unglücklichen Freischarenzüge wurde als gute Vorbedeutung für Deutschland ge¬
nommen. „Im Hochland fiel der erste Schuß, im Hochland wider die Pfaffen!"
Inzwischen genoß die Bundestagsstadt noch die ihrer Würde entsprechende
Ruhe und Stille. Für den Besuch der größten Merkwürdigkeiten auf dem Römer¬
berge und dem großen Hirschgraben, der Zeil mit der Konstablerwacht und der
Eschenheimer Gasse mit der vor dem Taxisschen Palast Wache haltenden „langen
Bank, auf die vom Deutschen Bunde alles geschoben wurde," reichte ein Vormittag
aus. Was nun weiter? „Nach Homburg, antwortete ein erfahrner Reisegefährte,
das ist selbstverständlich!" Ich war leicht zu dem Ausfluge zu verleiten, der meine
Erfahrungen zu bereichern versprach und so bequem auszuführen war. Bald nach
Mittag ging die Post von Frankfurt ab, und Vorsichtige bezahlten auch gleich die
Rückfahrt für den Fall, daß „die Rassel" (die Roulette) die ganze Barschaft ver¬
schlingen sollte. Kurgäste hatte der schöne Badeort in der Jahreszeit nicht, in der
den Frankfurtern der Besuch der Bank sogar verboten war, was natürlich leicht¬
sinnige junge Leute nicht verhinderte, ihr oder ihrer Brotherren Geld hinauszu¬
werfen. Die Tische waren größtenteils von ältern Damen besetzt, vorzugsweise
Russinnen, die mit Augen, die vor Leidenschaft glühten, eifrig auf ihren Kcirtchen
austüpfelten, ob Schwarz oder Not gekommen war. Ich schaute zuerst neugierig
zu und ließ dann allmählich die in einer besondern Tasche vorrätig gehaltnen
Guldenstücke auf den grünen Teppich gleiten — ohne System, wie mir der erfahrne
Reisegefährte warnend zuflüsterte. Ich lächelte, weil ich noch nicht ahnte, wie viele
Menschen Zeit und Geld damit vergeudeten, das System des Zufalls zu ergründe».
Ein Roulettegelehrter behauptete, daß sich die Metallschale, in der die Kugel um¬
läuft, uach kurzer Zeit ein wenig zur Seite neige, und daß darnach eine Wahr¬
scheinlichkeitsrechnung aufzustellen sei; er hatte vielleicht Recht, aber daß seine Theorie
ihn reich gemacht hätte, entsinne ich mich nicht gehört zu haben. Als mein Spiel¬
geld aufgebraucht war, zog ich mich in das Lesezimmer zurück, wohin mir nach
einiger Zeit der Erfahrne folgte. Geben Sie es schon auf? — Jawohl, und wie
ists Ihnen ergangen? — O, gut. Haben Sie gar kein Geld mehr? — Das
wohl, aber ich will nicht mehr spielen. — Dann leihen Sie mir einige Thaler.
Mir schien einer von der Gattung zu genügen, und ich habe ihn mich nicht wieder
bekommen. Als im nächsten Jahre die Spielbanken im Deutschen Reiche aufgehoben
ivurden, freute ich mich, sie unmittelbar vor ihrem Ende wenigstens noch kennen
gelernt zu haben; aber sie scheinen unsterblich zu sein. Wie andre Beschlüsse der
deutschen Nationalversammlung wurde auch jenes Verbot schleunigst außer Kraft
gesetzt, und nach der Versicherung gründlicher Kenner soll auch das Verbot im
neuen Reiche glücklich umgangen werden können durch die Umlaufe der Bauten in
„Cercle" oder Jockeyklub oder dergleichen Glücksspiele, bei denen man sich in jedem
Sinne All Grunde richten kann, gehören ja zum Sport, und was segelt nicht alles
unter dieser Flagge! Dann und wann dürstet die Welt nach Freiheit, es ist
wahr, aber dauernde Herzensangelegenheit bleibt für sie doch meistens das Treiben
der eleganten Welt mit seineu modischen Aufregungen und — Nichtsnutzigkeiten.
Ich weiß nicht bestimmt, ob es damals war, daß man mir an der Bahnkasse
in Wiesbaden preußische Thaler zurückwies, aber sogenannte Brabanterthaler als
Zahlung nahm; es kann auch zehn Jahre später gewesen sein. Auf jeden Fall
bestand im Geldwesen Mittel- und Süddeutschlands ein Wirrsal, von dem man sich
keine Vorstellung mehr machen kann. Französisches Geld stieß nie auf Widerstand,
von: Louisdor und Napvleondvr bis zu der Scheidemünze ans Kupfer oder Kauonen-
gut, ob sie nun alt- oder neubourbvnisches, republikanisches, napoleonisches oder
orleansches Gepräge trug, Kronenthnler aller Art waren fast überall im Umlauf
und nicht minder burgundische, österreichische, bayrische nud andre Münzen — nur
mit norddeutschen machte man Schwierigkeiten, während fleißig gesungen wurde:
Das ganze Deutschland soll es sein! Auch die Eisenbahnen vergegenwärtigten einem
die deutsche Einigkeit. In Frankfurt kreuzten sich die Neckarbahn von Heidelberg
her und die Taunnsbahn von Mainz, aber wer von der einen Seite ankam, erfuhr,
daß der Zug, der sich anschließen sollte, pünktlich vor fünfzehn Minuten abgegangen
war, und der nächste erst nach drei Stunden folgen werde. Die beiden Bahnen
waren mit einander im Streit und ließen nach beliebter Manier das Publikum
dafür büßen. Der noch nicht überbrückte Rhein ging mit Eis, sodaß die Überfahrts¬
kähne zwischen den Schollen hindnrchstenern mußten. Desto glatter ging die Fahrt
auf der trefflichen Poststraße über den Hunsrück, der im Mondlichte ganz und gar
von Rauhreif glitzerte. Bei Bernkastel, wo der gute „Doktor" gekeltert wird, er¬
reichten wir die Mosel, und nicht angemessener konnte ich in das rheinische Leben
eingeführt werden. Der Wagen, dessen einziger Jnsasse ich bis dahin gewesen war,
füllte sich mit Moselanern, die zu den Schwurgerichtssitzungen („Assisen"!) nach
Trier wollten und sich für die Reise mit einem stattlichen Flaschenkorbe ausgerüstet
hatten; der lustige Schaffner stand auf dem Tritt am offnen Fenster und sang mit
hübschem Bariton die beliebten Rhein- und Mosellieder von H. M. Schmidt, und
so ging es an den malerischen Ufern hin in munterm Trabe, während dessen ich
»ntcrwieseu wurde, wie man, sich in die Kniebeuge hebend, trinkt ohne zu ver¬
schütten. Ans der Mittagsstation ergänzte ich den Flaschenvvrrat, dem an der
prächtig ehrwürdigen ?ortÄ nigiA (dem Simeonsthor) glücklich der Rest gegeben
wurde. Die schöne Stadt lag im Abendscheine noch verlockend genug da, doch fand
ich es geraten, gleich in einem Gasthofe der Ruhe zu Pflegen, da ich, wie der
Oberkellner schelmisch bemerkte, den guten Sechsundvierziger zu schmackhaft gefunden
hatte. Allein aus dem verständigen Plane wurde vorläufig nichts, als ich gerade
meinem Fenster gegenüber meinen künftigen Arbeitsplatz entdeckte. Die Vorstellung
drüben ging anständig von statten, ebenso der unvermeidliche Gang ins Kasino, wo
wieder ein Schoppen getrunken werden mußte, und endlich das Nachtessen in Fa¬
milie; dafür blieb am nächsten Morgen ein echter Kater nicht aus, womit die erste
Prüfung als erledigt angesehen werden konnte. Einen überraschenden Nachtrag
brachte am Abend der Besuch eines Bierhauses, wo, in geringer Entfernung vom
Dome, nach Landessitte Chorus gesungen wurde, und zwar gleich nach dem „Wirts¬
haus an der Lahn" das Spottlied auf die Freifrau von Droste-Vischering, die 1844
vor dem heiligen Rocke von ihrer Gicht geheilt worden war. Die Wahrheit eines
solchen Erlebnisses einer hysterischen Person würden wir hente nicht in Zweifel
ziehen, damals betrachteten alle, die nicht wunderglänbig waren, es als Hokuspokns,
aber dieser Auffassung eben in Trier zu begegnen, hätte ich nicht erwartet. Dann
wunderte es mich schon weniger, daß ein Cigarrenhändler neckend aufgefordert
wurde, mich eine von seinen „Angerührten" versuchen zu lassen. Vor vier Jahren
hatten sich nämlich Hunderte an die Reliquie gedrängt, um Abbildungen des Rockes
oder andre Gegenstände mit ihr in flüchtige Berührung zu bringen.
Im übrigen staken Gläubige und Ungläubige mitten im Karnevals- oder
..Faasnachts" treiben, und der Ernst, mit dem die Vereine die Sache betrieben, rief
das Sprüchlein „wenig Witz und viel Behagen" ins Gedächtnis. Indessen ver¬
nahm ich auch von einer Abendgesellschaft ehrsamer Philister, genannt das Rutil,
wo die Rollen für die erwartete Revolution schon verteilt sein sollten. In der
That kamen bald die aufregenden Neuigkeiten aus Paris, und die Nachricht, daß
eine Diligence mit der Bezeichnung röxnbiieg.ins anstatt roMs an der Grenze an¬
gekommen sei, ließ keinen Zweifel an dem Umsturz des Julikönigtums zu. Nun
mußte auch diesseits alles anders werden, die Schlngwörter Revolution, Republik,
Kaisertum schwirrten bunt dnrch die Luft; ein feuriger Jüngling forderte ans offner
Straße die Wiedereinsetzung „unsrer alten Herzöge" und ließ sich uicht beirren
durch die Frage, wann denn Herzöge von Trier geherrscht hätten. Zunächst ver¬
schwände« die schwarzweißen Schlagbäume und die Tafeln mit dem preußischen
Adler. Das war eine Hauptsache, nun war man befreit von den „Binnen," wor¬
unter preußische Soldaten, preußische Beamte und Protestanten zu verstehen waren.
Von der unerträglichen preußischen Tyrannei wurden sonderbare Geschichten erzählt,
z. B. daß die Frau eines Regierungspräsidenten, der längst in eine hohe Stellung
in Berlin vorgerückt war, für alles ihr Widerwärtige den stehenden Ausdruck gehabt
habe: „Das ist zum Kathvlischwerdcn!" Doch habe ich Hinneigung zu Frankreich
nicht wahrgenommen. Alle Welt wurde durch Volksversammlungen und Wahl¬
agitationen in Anspruch genommen; ein Assessor, der bis vor kurzem die Preßzensur
besorgt hatte, wurde Mitbegründer eines demokratischen Vereins, die allgemeine
Volksbewaffnung wurde durch Umschnallen von Säbeln bewerkstelligt, bis sie als
Bürgerwehr geordnetere Formen annahm. Auch ich versah mich mit „Kuhfuß,"
leinener Bluse und Wachstuchkappe, obwohl die strenge Observanz eigentlich mir
„Trierer Jungen" als echte Vaterlandsverteidiger anerkennen wollte, und ich machte
auch einen denkwürdigen Kriegszug mit. An einem herrlichen Sonntage wurde
unser Zug nach einem Winzerdorfe beordert, das in offner Empörung sein sollte.
In voller Mittagsglut schleppten wir unsre Gewehre auf schattenlosen Wege hin,
bei jeder Abzweigung erinnerte sich der eine oder der andre eines Geschäfts in der
Nähe, sodaß unsre Heldenschnr immer dünner wurde; und auch mir rannte ein gut¬
mütiger Kamerad zu, ich möge doch lieber nach Hanse gehen, bevor die Suppe kalt
werde. Gegen eine solche Fahnenflucht empörte sich jedoch mein Pflichtgefühl, ich
schwitzte tapfer weiter und genoß als Lohn den Anblick der erstaunten Gesichter der
Bauern, die von keinen Unordnungen etwas wußten und uns nicht einmal durch
«me» Trunk „Viez," Apfelwein, erquickten. An das Verspritzen des Schweißes fürs
Vaterland auf ähnlichen Übnngsmärschen hatte ich mich zum Glück schon während
der Kartoffelkrawalle im Jahre vorher gewöhnt.
Zur Revolution, die sich sehen lassen konnte, fehlte nur noch eins: Barrikaden;
auch sie wurden besorgt. Die Garnison wurde gewechselt, an Stelle der Landes¬
kinder rückte Infanterie aus der Provinz Sachsen ein, und dahinter steckten offenbar
schwarze Pläne, die sofort durchkreuzt werden mußten. Im Nu wuchsen in allen
Gassen so viele Verhaue auf, daß das Bespicken der französisch-italienischen Grenze
mit Forts daneben ein Kinderspiel ist. Zum Blutvergießen kam es aber nicht,
General Roth von Schreckenstein verzichtete auf Sturm, als die Stadt durch Weg¬
räumen der künstlichen Hindernisse den Verkehr wieder freigab. Die Erhebung in
der Pfalz schürte jedoch die revolutionäre Stimmung im Hochsommer mächtig, und
ein Unternehmen gegen das Zeughaus zu Prüm hatte insofern ernstere Folgen, als
es zahlreiche junge Leute über die Grenzen trieb.
Um dieselbe Zeit hatte ich Gelegenheit, einem demokratischen Kongresse in
Berlin beizuwohnen. Dieser Kongreß sollte eine Art Gegenparlament zugleich gegen
die beiden Versammlungen in Frankfurt und in Berlin sein, die nicht revolutionär
genug vorgingen; deshalb versammelten sich dort die meisten radikalen Führer.
Man sah dort allbekannte Veteranen, die aus den meisten Ländern Europas Ver¬
trieben und, nach damaligem Brauche, zuletzt zwangsweise uach Amerika geschafft
worden waren, wie Georg Fein, der schon an dem Freischareuzuge gegen den
Sonderbund und an der Gründung der Arbeitervereine in der Schweiz teilge¬
nommen hatte und als erster Präsident des Kongresses die stürmische Versammlung
ermahnte zu bedenken, daß sie nicht in der Paulskirche sei; ferner Wilhelm Weit¬
ling, den Schneider, Kommunistenhäuptling und Verfasser von Lehrbüchern des
Kommunismus (Garantien der Harmonie und Freiheit usw.); da waren Arnold
Rüge, Gottfried Kinkel, damals ein auffallend schöner Mann, der seine kränklich
aussehende Egeria Johanna am Arme führte, Otto von Corvin-Wiersbitzky (später
Oberst in Rastatt und endlich in der llnivnsarmce), der Lokomvtivenheld, der ge¬
heimer Beziehungen zur Polizei verdächtigt wurde, Schlüssel, der von Stieber ent¬
deckte Anstifter der großen Verschwörung im Hirschberger Thale, der Arzt D'Ester,
Bamberger, Oppenheim, Virchow, der sogenannte Berliner Korrespondent aller
demokratischen Blätter, Eduard Mev.er, und viele andre damalige Berühmtheiten.
Demokraten behauptete» sie alle zu sein, aber schon die hier aufgezählten Namen
ließen erwarten, daß sie nicht lange einig geblieben sein würden, wenn es zu einer
Probe gekommen wäre. Den größten Erfolg hatte ein Neuling, Moses Mny, der
sich fünf Jahre nachher im Stäbe des Prinzen von Augustenburg in .Kiel einen
Namen machte, dann als süddeutscher Demokrat und schließlich an der Wiener
Börse gesehen worden ist. Er ist der Autor zweier oft zitierter Aussprüche: Die
soziale Frage muß gelöst werden, sollten wir auch die ganze Nacht aufbleiben, und:
Wir müssen den Deutschen Bund an seiner eignen Schmach und Schande zu Grunde
gehen lassen! Ob dieser letzte Antrag zur Abstimmung gebracht wurde, weiß ich
nicht mehr zu sagen.
nngsam kam die Johannisdämmcrung herauf, sie ließ Line Stadel
Zeit; der goldne Himmel warf sein heitres Licht auf ihren Stein,
aber er machte sie nicht froh. Dem Gespenst, das die Arbeitszeit
der Männer verschlang, fühlte sie sich widerwillig dienstbar, und
das bittre Gefühl, das ihr Herz beengte, wurde stärker, als sie Vater
und Bruder endlich zusammen den Gang entlang kommen horte.
Heiter klang des Alten Stimme über den Hof hin, er redete vom Gas —
welches das kräftigste sei, und vom Metall — welches das leichteste sei.
Denn leicht, leicht muß es werden, alles andre ist Kinderspiel, alles andre
folgt daraus, wie das Fliegen ans den Luftröhren der Vogelfeder folgt — leicht —
leicht — die Erde darf uicht mehr —
Da kam er am Werkstattfettster vorbei nud sah Karolinen sitzen. Er ließ un¬
ausgesprochen, was die Erde nicht mehr durfte, er ließ aber auch das Mißbehagen,
das ihn bei Karolinens Anblick packte, nicht über sich Herr werde». Er hatte es
völlig aufgegeben, Neue zu empfinden, wenn er sah, daß sich die Kinder für ihn
aufopferte«, ohne vorwärts zu kommen. Sie opferten sich ja gar nicht für ihn,
sondern für die Menschheit, der er Flügel geben würde, und nebenbei für sich selber,
denen die beflügelte Menschheit ihr Opfer mit Gold und Ehre lohnen mußte —
mir noch ein wenig Geduld! Einstweilen aber hatte die Line ruhig ein freundliches
Gesicht machen können.
Das Mädchen stand mit einer Miene des Vorwurfs auf nud ging in die
Küche; dort stellte sie schnell und ohne freundliche Anordnung das Abendbrot auf
den wachstuchbezognen Tisch, holte Bier aus dem Keller und rief nach den Männern.
Karl hatte inzwischen die Reinschrift vollendet, räumte in den Schrank, was nicht
verstanden durfte, und eilte in die Küche, wo Vater und Schwester sich stumm gegen¬
über saßen.
Sie aßen auch zu dritt einsam weiter; der Vater fing noch ein, zwei mal an
von seinem Neusten zu reden, mit einem kindlichen Eifer um Lineus verschlossenem
Gesicht vorbei; da aber der Sohn hier keine Autwort wagte, schwieg auch er
endlich.
Karl empfand heftig das Unrecht, das an der Schwester geschah, die müde
vom vollendeten Tagewerk heimkam und dann noch der Männer versäumte Arbeit
thun mußte, und doch wurde er auch daneben dus Mitleid mit dem Vater nicht
los; er war doch nun einmal so und war doch ihr Vater.
Freilich ging dieser Vater in seine Hexenküche zurück, sobald der letzte Bissen
genossen war; was sollte er auch bei den Kindern, wo er weder Teilnahme noch
Verständnis fand?
Karl half still und eifrig der Schwester beim Reinemachen, wie ers als Knabe
gethan hatte, und sie ließ es geschehen. Sie hörten dnrch die offnen Thüren das
Lachen und Prahle» der heimgekehrten fünf Unter, darnach das gutmütige Donner¬
wetter des Vaters, das sie ius Bett scheuchte. Drauf wurde es still im Hofe, und
ein Weilchen spater hub das Ding in der Bohnenlanbe zu singen an: In einem
kühlen Gründe; Kommt ein Vögerl geflogen; Morgen muß ich fort von hier —
eins auf das andre.
Jsts nun uicht schön genug hier? fragte Karl, wir wollen uoch eine halbe
Stunde hinunter gehn; komm, du brauchst Luft.
Line ging mit, sie hatte mit dem Bruder zu rede» nud konnte deu Anfang
nicht finden. Vielleicht unten.
Unten stand das Ding auf der Laubenbank, sang und band vorwitzige Bohnen¬
ranken fest.
Sie kam gleich zu den Geschwistern und schob traulich ihre Hand in Lineus
Arm. Kommt mit in unsre Laube; Mutter trägt Wäsche aus, da haben wir alle
Platz. So! — denkt mal, meine Tauben haben ganz junge Täubchen, winzig klein
und nackt zum Erbarmen. Und vorhin kam ein großer Brief von der Muhme,
meiner Pate, wißt ihr, an die Mutter — dort liegt er, und was drin steht, ist
für mich — allemal wenn sie schreibt, und sowie Mutter kommt, wird er gelesen.
nett erzählte seit sechs Jahren den Geschwistern Städel alles, was sie dachte
und erlebte. Viel wars nicht, dafür aber auch alles, und als Mutter Flörke das
Ding mit hiueingenommen hatte, schien der Hof auf einmal tot und leer zu sein.
Nur der Drogueugeruch vom Apothekengcmg war noch da, und das Fenster der
Hexenküche starrte, ein Helles Viereck, drohend auf die Geschwister herab.
Wir wollen hinaufgehen, sagte Karl.
Sofort erhob sich Line; es war doch besser, sie sah sein Gesicht, wenn sie
ihren Vorschlag machte. Sie benutzten die tellerartige Gangtreppe, die gerade über
der Lattcnthür in die Höhe führte; fest trat Line auf, als sie an des Vaters Fenster
vorbeischritt: mochte es ihn zur Besinnung bringen. Dann schloß sie die Küchen¬
thür ab, brannte drinnen eine Kerze an und sagte zu dem Bruder, der sein Vä¬
terlichen suchte: Komm noch mit mir, ich muß endlich reden.
Erstaunt folgte er der Schwester in das Vorderzimmer, an dem der Alkoven
lag, wo sie schlief. Wartend stand er in der Thür, aber sie redete noch immer
nicht, schloß erst das Fenster, zog die Vorhänge zu, stellte einen Stuhl gerade,
zupfte um der Tischdecke und schlang endlich die Hände ineinander, um sich zum
stillhalten zu zwingen.
Setz dich doch, das geht nicht so schnell.
Er setzte sich und sah die Schwester erwartungsvoll an. Was sollte denn
das eigentlich werden? Sie sah aus, als liege ihr etwas auf der Seele, was
schlimm und schwer war — er wußte doch alles, was bei den Stadels drückte und
zwickte; er hatte sich hineingewachsen in den einundzwanzig Jahren seines Lebens
und war auch in der Soldatenzeit nicht darüber hinausgekommen.
Zwar während der letzten Frühjahrsübungen war ihm gewesen, als könnte er
sich von dem Drucke der Heimat befreien, die Märsche strengten ihn nicht mehr an, er
wußte Bescheid mit, seiner Weisse und seinem Dienst, er stand seinen Melun — dn schien
es von ihm abzufallen: die Sonne leuchtete Heller als sonst, der Frühling hatte
frischere Farben, und die alte Stadt offenbarte sich ihm bei der Heimkehr als ein
Wunder von Schönheit.
Gleich am nächsten Sonntag wollte er die Apotheke, Sankt Barthelmä, den
Kegelschub und das nachbarliche Geniste um der Stadtmauer zeichnen! Morgen
war dieser Sonntag — aber das Frei- und Frohgefühl war schon wieder verflogen,
der Nebel lag schon wieder über ihm: im Schatten des goldnen Engels schien keinem
Städel die Sonne.
Zu eben demi Gedankenschluß war Line zum Hundertsteumale gekommen, als
Karl sagte: Setz dich doch auch.
Sie thats, sah ihm bekümmert in das verlegne Gesicht und fragte plötzlich:
Möchtest du fort?
Fort? — Er starrte sie fassungslos an. Fort? Wo er eben erst wieder¬
gekommen war, wo sie ihn so heilnvtwendig brauchten? Das ging ja gar nicht!
In demselben Augenblick aber hob sich der Nebelschleier ein wenig und that eine
sonnige Weite auf.
Fort? stammelte er noch einmal und fügte dann entschlossen hinzu: Vater läßt
mich nicht, und ihr braucht mich ja mich.
Line hatte die Scheu überwunden, nun die Hauptsache gesagt war, kamen ihr
die Worte leicht, und die Stimme klang belebend kräftig. Er muß dich lassen,
morgen wirst dn mündig, Karl, und recht ist es auch, denn es ist eine Notwehr
gegens Verkommen. Es ist alles verbraucht worden, bis zum letzten Notpfennig;
du ninßt einmal ganz von vorn anfangen, wenn nicht gar schlimmer mit
Schnldenbezahlen, denn ich weiß nicht, ob ich noch vorher wieder damit fertig
werden kann. Das Gespenst ist ein gefräßiges Ungeheuer und ein böser Hexen¬
meister, der gutes Geld in Plunder verwandelt.
Line, du übertreibst, da ist doch Vaters Sammlung! Ich entsinne mich noch
recht gut, wie damals die Fremden kamen, um sie zu sehen, und einer sie sogar
kaufen wollte.
In wohl; das war, als Nvthuagel sie in einem illustrierten Journal beschrieben
hatte — was etwas einbringt bei der Geschichte, besorgen immer die guten Nach¬
barn; was kostet, kommt ans Vaters Halbpart! Ja, damals kamen sie, und einer
bot eine gesegnete Summe. Aber mit Hohn hat ihn der Vater hinausgewiesen,
Karl, mit hoffärtigen Hohn. Nun, derlei Angebote sind Liebhaberangebote, und
ein Glücksfall wiederholt sich nicht im Leben.
Ihren Wert muß sie doch haben, wiederholte Karl beharrlich, ich weiß, welch
hohe Versicherung Vater dafür bezahlt.
Weil sie in dem Holzgebäude steckt, dicht neben den Drvguen; ja wohl —
auch das Geld werfen wir noch in den Abgrund! Mach nur um Gottes willen
diese Sammlung nicht zum Fundament deiner Zukunftspläne, die frißt der Rost und
der Staub. Nein, du mußt ganz allein und ganz fest ans deinen Füßen stehn
lernen, und dazu mußt du hinaus.
Ich war eben erst draußen.
Aber doch nicht für dich, nicht für dein Gewerbe — was kannst du denn?
Nichts. Allenfalls was ich auch so aufgeschnappt habe beim Zngncken, und du hast
das Zeug zu was Tüchtigen. Sieh, ich habe mich umgethan bei ein paar bekannten
Meistern — dieser da schreibt am günstigsten: er nimmt dich, sollst bei ihm wohnen
und nach dem bezahlt werden, was dn ihm leistest.
Karl sah plötzlich im hellsten Sonnenlicht eine Reihe von Blättern vor sich,
die er schaffen konnte, und die er zu Hause nie schaffen würde. Er streckte
die Hand nach dem Briefe aus und las. Das klang gut. Der Mann spielte nuf
Zeichnungen des Großvaters, Jugendarbeiten des Vaters an; die ganze Lebens¬
und Schaffenslust eines Menschen, der seine Kräfte fühlt, kam über ihn, und doch
legte er plötzlich den Brief wieder auf den Tisch, schob ihn der Schwester hinüber
und sagte: Ich muß bleiben — es geht nicht ohne mich; mach mirs nicht schwer.
Es wetterleuchtete in ihren Augen, aber sie antwortete gelassen: Gings denn
nicht bisher ohne dich? Ich will thun, was ich kann, um die alten Kunden zu
befriedigen, damit ich das Geschäft so sachte im Gang halte. Wenn du heimkommst,
findest du, was du verlassen hast. In zwei Jahren, denk ich; dann kannst dn zu¬
greifen und einrichten, wie du willst, bist ein fertiger Mann, der den Vater über¬
sieht, und der ist ja heilfroh, wenn er in sein Gespenst versinken kann, ohne daß
ihn das Gewissen von Zeit zu Zeit aufscheucht. Karl, sag ja! es ist zu deinem
Glück!
Über Karls Gesicht ging ein Zug vou Verlegenheit; die Schwester hatte ihn
immer geschoben im Leben, denn er bewunderte sie; und wo Line ihn nicht schob,
thats die Ehrerbietung vor dem Vater. Heute schien ihm Line zum erstenmal Un¬
recht zu haben; sie war hart, sie war unfreundlich — sah sie gar nicht, wie viel
älter der Vater geworden war, wie sich Furchen auf seiner Stiru eingegraben,
wie sich die Haare verfärbt hatten?
Nein, sie hatte das nicht gesehen, er merkte es an ihrem Erstannen, als er
der Vercindernng Erwähnung that; deshalb fuhr er eifrig fort: Siehst du, nicht
allein die Sorge ums Geschäft heißt mich bleiben.
Line hatte die Überraschung schon wieder überwunden, sie schüttelte kräftig den
Kopf. Vater ist nicht verändert, du hast nnr vergessen, wie er war; weil das
Leben draußen dir die Augen reingewaschen hat, siehst du jetzt unsre Heimat nicht
mehr mit Gewohnheitsblicken, sondern so, wie sie den Fremden erscheint, die von
draußen aus dem Lichte kommen.
Karl fühlte sich wieder unsicher — hatte sie Recht? Wenn sie doch Recht
hätte! Aber da war doch das grenzenlose Erbarmen, das er heute den ganzen
Tag mit dem Vater gefühlt hatte; das Erbarmen mit diesem Dasein ohne Wechsel,
ohne Freude, ohne Erfolg, mit diesem Dasein, das verbrannt und aufgesogen wurde
von einer einzigen Gier, von dem Werben um eine Geliebte, die ewig spröde ge¬
blieben war und ewig spröde bleibe» würde.
Vater ist zu viel allein, sagte er beklommen; vielleicht, Line, könnte man ihn
doch abziehen?
Sie lachte nnr leise, aber Karl fühlte das Biedre dieses Lachens; hastig sprach
er weiter: Und er ist auch schlecht versorgt; du weißt es nicht, Line, es ist kein
Vorwurf für dich. Frau Flörle soll sein Essen beschaffen, aber als ich heute
hinunter ging, es war schon gegen dreien, kam sie gerade vou der Bleiche und meinte
lachend: so pünktlich gehe das nicht bei ihrem Geschäft; Vater habe sich auch nie¬
mals beklagt. Und sieh, Line, eben weil Vater so etwas gar nicht merkt, müsse»
wir doppelt sorgen. Ja wenn Mutter uoch lebte —
Karoline fuhr in die Höhe, zürnend stand sie vor dem Bruder. Sag das
uicht! Du weißt uicht, was du sagst! weißt nicht, was das Gespenst ihr verwüstet
hat! Gour ihr die Ruhe. Geweint hab ich dazumal und mir die Haare gerauft
und nach ihr geschrieen und das dunkle Haus gehaßt, weil ich dachte, das habe sie
umgebracht. Vorher wohnten wir in einem kleinen Garten vorm Thor, da schien
immer die Sonne — bis Nothnagel kam, bis Nvthnagel den Vater beredete, dus
Häuschen zu verkaufen und hierher zu ziehen — hierher! Und uns den goldnen
Engel brachte zum Segen für das Gespenst — in der Woche starb die Mutter —
du warst zwei Jahre alt. Und ich raufte mir die Haare und biß in meine Zöpfe
und schrie zu Gott um ein Wunder. Später hab ich ihm anf den Knieen gedankt
für ihren Tod, als es immer schlimmer wurde, als der Nothnagel Herr wurde
durchaus, als er den Vater mit seinem goldnen Engel behexte.
Wie etwas nie Gesehenes starrte Karl die allzeit gelassene Schwester an, die
jetzt, von Leidenschaft geschüttelt, blaß und zitternd vor ihm stand.
Ja, Line, stammelte er, ich gönne doch der Mutter das Beste, aber dem Vater
gehören wir doch auch; einen von uns braucht er, und da muß ich einstehn, sonst
klappt die Hexenküche ihre Thür über ihm zu, und er vergißt ganz und gar, daß
draußen die Sonne scheint.
Recht so, zum vergangnen Opfer das neue- so machts ja wohl der Teufel,
wenn man ihm seine Seele verschreibt, wenn es einen in sündhaften Hochmut nach
dem gelüstet, was Gott der Menschenkraft verwehrt hat.
Sie machte unwillkürlich eine Bewegung nach der Kommode, wo »eben der
Bilderbibel ein Vilderfaust lag. — Recht so, eine Generation ist im Dunkel ver¬
kommen, und nun wird auch die zweite nachgezogen.
Mit zwei Schritten war Karl neben ihr und faßte ihre Hand; der tiefe
Kummer, der jetzt aus ihren Augen sprach, traf sein Herz schwerer als ihre Leiden¬
schaft. Nicht doch, Line, uicht so — ich kann auch hier ein frischer Kerl werden
und etwas leisten — wir zwei wollen für uns und unser Glück thun, so viel wir
können, nur deu Vater oben halten dabei — mich ficht kein Teufel etwas an.
Horch — singt da uicht dus Ding noch so spät? Das sollte endlich schlafen gehn,
und der Vater auch; ich will ihn holen, sonst sitzt er bis früh. Gute Nacht, Line,
altes gutes Mädchen! sorg dich nicht um mich, ich bleibe nicht hocken, gewiß nicht.
Er schüttelte ihr die Hand und war draußen, ehe sie eine Antwort finden
konnte. Sie schaute ihm lauge nach, sie meinte ihn noch an der Thüre stehn zu
sehen, wie er freundlich nickend den Kopf nach ihr wandte — frisch und mutig
hatte das ausgesehen; aber sie kannte ihn besser, hier würde er nie zum Manne
werden, er wußte sich uicht zu behaupten, er war von der Mutter Art.
Line hob die Hände zur Decke empor und stöhnte laut. Also auch das noch —
wo es ihr blutsauer wurde, sich von dem Bruder zu trennen, wo sie stolz
darauf gewesen war, daß sie so viel über sich vermochte zu seinem Besten, sollte
sie es mit einem neuen Opfer erzwingen — aber was sein mußte, mußte geschehn,
nur keine halbe Arbeit thun im Leben.
Die Hände sanken wieder hinab; gelassen ging sie hinaus, verriegelte die
Gangthür, ging zurück, zog sich aus, mit genauer Ordnung Stück für Stück glatt
legend, setzte sich auf das Alkovenbett und faltete die Hände.
Lange saß sie dort still und überlegte. Endlich löste sie die Finger vou ein¬
ander, sagte, mit fester Stimme, laut vor sich hin: Dann muß ich also zu Hause
bleibe», löschte das Licht und legte sich nieder.
Schnellen Schritts war Karl über den Gang bis zu dem hellen Fenster ge¬
gangen. Von dort aus sah er deu Vater stehn, wie er sich über sein Lnftschiff
beugte, und der goldne Engel lächelte über beiden in die Nacht hinaus. Die Glas¬
glocke war abgenommen, Städel fingerte an dem Räderwerk herum, das dem jungen
Mann noch genau so auszusehen schien wie dniuals, mis er Seukeubcrg verließ.
Nur der Vater veränderte sich, sein Haar wurde grau, seine Haut verwitterte vor
der Zeit, die Räder und Kurbelu blieben blank und beweglich.
Lines Zorn ans das Gespenst kam jetzt auch über den Jüngling, nur machte
er ihn nicht hart und bitter; sein Herz pochte in Mitleid für den freudlos
alternden Mann. Hastig, als könne schon seine Gegenwart helfen, trat er in den
hellerleuchteten Arbeitsraum.
Bater, es ist spät, nur wollen schlafen gehn.
Städel schrak zusammen und wandte sich um. Du? — Du mußt mich nicht
so jäh stören, du reißt mir eine Gedankenkette, eine Berechnungsfolge auseinander,
die mir vielleicht nie wieder kommt.
Hab ich? fragte Karl reuevoll.
Nicht jetzt, jetzt warens bloß Träume; aber es hätte sein können, es ist schon
oft gewesen. Ihr habt nicht genug Respekt vor meiner Arbeit, ihr begreift nicht,
was das einmal für die Menschheit sein wird, ihr denkt nur an euer kleines Ge¬
schäftchen und an euern Groschenverdieust und haltet euer Leben und eure Gesund¬
heit wer weiß wie hoch im Preis. Das ist ja aber alles wertlos an sich, ganz
wertlos — nur daß mans hinwerfen kann für etwas Großes und was Großes
damit aufbauen, das giebt dem Leben Wert und Bedeutung. Solch ein Dutzend¬
mensch, der ißt und trinkt und Alltngsbravheit übt, und Kinder in die Welt setzt,
und sich glücklich schätzt, weil er mit dem zufrieden ist, was ihm im Schlafe be¬
schert wird, der ist anch nicht lebendiger als der Vogel auf dem Ast und das
Schaf auf der Weide; aber die audern, die was köunen und wollen, was Schweiß
und Blut und Nerven kostet, die sind euch natürlich die Narren.
Der Alte lief während dem Reden im Zimmer auf und ab, er wußte gar
nicht mehr, zu wem er sprach. Das galt allen denen, die ihn draußen ans der
Straße mitleidigen Blicks von der Seite betrachteten oder spöttisch musterten; das
galt vor allem der Line drüben, „seinem Kerkermeister." Als sein Blick jetzt auf
deu Sohn fiel, der noch immer verlegner Gesichts in der Thüre stand, schüttelte
er deu Kopf. Nicht du, Charles, dich mein ich nicht; du bist ein guter Junge,
der Achtung vor seinem Vater hat, nur noch nicht die Jahre, wo man was Großes
begreift.
Ich werde morgen mündig, Vater, fiel Karl ein, unwillkürlich lächelnd, weil
er an Lines Rede vom Mann werden und sich durchsetzen dachte.
Mündig — mündig? Das sind einundzwanzig Fahre — damals fing ich
nu eittuudzwauzig — beinah eine Geschlcchtsstufe.
sendet starrte sein Modell an: die Jahre, die er ihm geopfert hatte, stiegen
Vor ihm auf — außer den ersten tastenden, kämpfenden, wo sich seine Lebens- und
Jugendlust noch gewehrt hatte gegen den Thrnnnen, war eines verlaufen wie das
andre in ergebner Dienstbarkeit. So sehr glichen sie einander, daß ihm schließlich
der Maßstab abhanden gekommen war. Einundzwanzig Jahre — neunzehn, seitdem
der goldne Engel auf seine Arbeit niedersah.
Einundzwanzig Jahre verbracht in Grübeln und Sinnen, Suchen und Finden,
Ausführen und Verwerfen!
Einundzwanzig Jahre! Städel sah vom Modell zum Sohne — ein Bübchen
war er damals gewesen, das die Wände anschrie, und nun wollte er zum Manne
werde» — mündig!
Komm her, Charles, ich glaube, du kannst mich begreifen, du hast Licht in
den Augen — mau sollte meinen, dn konntest. Ich will dir mal Bescheid sagen,
anders als heute früh, wo ich dir die Sachen gezeigt habe, wie 'nem IZiiAlisnmau,
der sich Kuriositäts halber meine Sammlung ansieht; sondern wie meinem Erben
und Nachfolger. Es könnte doch sein, daß ich vorher davon müßte — einundzwanzig
Jahre!
Er schob seinen Arm in den des Sohnes und ging mit ihm an das eine
Regal, an dem ein Zettelchen klebte mit der Aufschrift: Versuche.
Da standen die Modelle, die Städel und Nothnagel so nach und nach für
die rechten gehalten und wieder verworfen hatten. Von einem zum andern führte
der Alte den Jungen und zeigte und erläuterte.
Zuerst hatten sie es mit der Fläche versucht — kleine schräg gelegte Platten
gleich denen von Pelins nie ausgeführtem Riesenschiff, und große, „die nur erst
oben zu sein brauchten, um jedem Sturme Trotz zu bieten."
Aber sie hätten zu groß werdeu müssen, und Städel versuchte es mit mäch¬
tigen Flügeln, die unfehlbar Richtung gegeben hätten, wenn sie nicht bei jeder
kräftigen Drehung abgebrochen wären.
So ging es weiter. Acht verworfne Modelle standen da, ausgeführt bis ins
kleinste.
Als Mahnung dessen, was dem Rechten fehlen muß, sollen auch die auf die
Zukunft kommen! Und um tritt hierher, das ist das Rechte, der wirkliche goldne
Engel. Wir sind wieder ganz einfach geworden und auf den Ballon zurückgegangen:
der Gassack, die Gondel, die Lenkvorrichtnng, die Bewegnngsmaschine — die uuum-
giinglichen zehn Meter in der Sekunde leistet sie spielend. Dazu die Maschine
immer leichter und das Gas immer schneller zu ersetzen, das ists allein, »voran
man jahraus jahrein von neuem mit Nutzen rechnet und probiert. Und dann —
dann das Letzte — die Ausführung —
Die Stimme verklang; eine Minute lang wars ganz still. Der Alte starrte
das Modell an, Karls Augen hafteten um dem goldnen Engel. Plötzlich hob der
Alte den Kopf und sagte: Ich habe an eine Lotterie gedacht, glaubst du, daß uns
die das Geld zusammenbringen würde?
Wenn man sie erlaubt —
Der Alte klopfte mit den Knöcheln auf den Modelltisch, daß die Rnderchen
klirrten, und sagte laut und heftig: Erlaubt, erlaubt! Natürlich erlaubt mau. Das
Luftschiff will doch mehr besagen als so ein Krankenhaus in den Kolonien, worum
sie jahrelang Lose hinauswerfen. — Dann wurde die Stimme wieder leise. Ich
glaube nämlich, wir sind so weit. Da ist zunächst das Aluminium — leichter
werden wir nichts bekommen — und mit Kohlensäure und Ammoniak machen wir
drüben eben jetzt ausschlaggebende Versuche. Aber das Letzte, das Beste — du sollst
es wissen, das große Geheimnis.
Flüsternd begann er seine Mitteilung, als seien all die toten Bilder an den
Wänden Nebenbuhler und Spione, im Reden aber faßte ihn die Leidenschaft, und
seine Worte wurden lauter und lauter.
Sieh her, mein Junge, so nach und nach ist es ganz hell bei mir geworden.
Die Gondel lenken, das nützt nichts, damit kommt man nicht auf gegen die
Gewalt des Gasballs; den Ballon lenken, das ists. Von oben muß die Richtung
kommen. Aber das Anbringen, das Anbringen! — erst dachte ich an ein Rohrnetz
oder eins von Metall, das stand hielte für Flügel und Steuer, aber dagegen reibt
sich die Hülle, das geht nicht. Nun hab ichs — schau her —
Karl sah statt auf das Modell in des Vaters Gesicht, das ein strahlendes
Kinderlächeln verjüngte. Der Alte merkte nichts davon, er stak tief drin in seinen
Gedanken; unempfindlich für all das Glcichgiltige außerhalb sprach er weiter.
Das Netz wie sonst, aber neben dem untern Reifen, dem Netzhcilter, ein
zweiter, weiterer, und an diesem vier emporragende Stangen durch einen dritten
Reifen oben fest verbunden, an jeder Stange in Mittelhöhe ein Flügel — nun
was sagst du? Wenn sich da der Wind einsetzt als gehorsamer Diener, wenn man
ihm die breit bietet, wie der Schiffer das Segel — nnn?
Ja Vater — aber würden die vier Flügel den Ballon nicht einfach im Kreise
Herumdrehen, wie eine Windmühle?
Junge! rief der Alte und faßte den Sohn mit beiden Händen, Gott segne
dich, du verstehst was! Du hast die richtigen Fühlfäden. Das ists ja gerade,
wonach ich suche, das ists ja! Und ich finde, wie dem zu begegnen ist, ich find
es, ich hab schon den Punkt! Und du sollst von nun an alles wissen, was mir ein¬
fällt — dmnits doch einer sicher hat. Denn der drüben — ich brauch ihn, es ist
gut, wenn ein Zweifelsinn da ist zur Kontrolle schweifender Gedanken — aber ver-
stehn, das Tiefere — nein, verstehn thut er nichts. Du sollst alles wissen: mein
Erbe, mein Nachfolger, wenn ich vorher davon müßte.
Der Alte sah verklärt ans, trotz seiner nassen Augen, und Karl hatte ja heute
den ganzen Tag Freude für den Einsamen ersehnt. Dennoch, er konnte sich nicht
helfen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Sein Erbe — sein Nachfolger —
so weiter Hansen — noch einmal im Schatten des goldnen Engels ein ganzes
Menschenleben hingeben ohne Blüte, ohne Frucht, für nichts als ein echtes, rechtes,
schwankendes Luftschloß?
Nein, Vater, nein! rief er hastig abwehrend, du wirst es vollenden; für mich
sind die Steine da drüben. Aber zur Hand will ich dir gehn, und was dn mir
anvertraust, will ich wert halten.
Der Alte hörte ihn gar nicht, er redete schon wieder von seinen vier Flügeln,
die er zeitweise anch Segel nannte, und zeigte dem Sohne an einem kleinen Modell
verschiedne Versuchsstellungen.
Aber Karl hörte nur noch mit den Ohren zu, seine Gedanken waren bei seiner
Zukunft. Ihm war, als habe das Gespenst vier riesenhafte Fledermausflügel über
ihm ausgebreitet, eine heftige Sehnsucht kam ihn an: fort — hinaus aus dem
Schatten; der Vater mochte sagen, was er wollte, seine Gedanken antworteten nichts
als: Ich wollt, ich könnte Lineus Pläne verwirklichen, ich wollt, es ginge hier ohne
mich alles seinen guten Gang.
Hallend schlug Sankt Barthelmä die dritte Stunde in den schmalen Hof
hinter dem goldnen Engel hinein, und zugleich verlosch schwnlend Städels Lampe.
Vater und Sohn tappten sich durch die Werkstatt nach dem Schlafzimmer und
dachten beide noch lange daran, wie man die Wolken bezwinge. Nur meinte einer
die Wolken oben in der Höhe des Himmels, und der andre die dickgeballtcn
Svrgenwolken, die das Leben seiner Lieben überschatteten.
(Fortsetzung folgt)
Wenn man sich jetzt als Geschäftsmann
mit einem „Bankmenschen/ d. h, einem Angehörigen der tmutg emanes unterhält
und seine schweren Besorgnisse wegen des hohen Zinsfußes der Reichsbank erwähnt,
so heißt es: „Irgend ein Sicherheitsventil muß da sein; die stetige Erhöhung des
Diskonts bedeutet ein außerordentliches Wachstum unsrer Industrie, und jeder hat
den Nutzen." Dem zu widersprechen ist leicht: Wer, wie der Schreiber dieser
Zeilen, ein nicht ganz unbedeutendes Fabrikations- und Handelsgeschäft betreibt, der
arbeitet natürlich mit großen Außenständen. Der Einkauf kaun im großen nur
gegen drei Monate Accept geschehen, wenn anders man nicht in der Wahl der
Eltern so vorsichtig gewesen ist, daß man nur in den „Feuerfesten" hineinzugreifen
braucht, um gegen Kasse — ja das höchste erreichbare Ideal jedes Geschäftsmannes —
kaufen zu können. Es kommen also Tage, von denen man sagt, sie gefallen einem
nicht, nämlich die Tage, an denen die Aeeeptc fällig sind und gedeckt werden müsse«.
In jedem größern Geschäfte nun geschieht ein sehr großer, wenn nicht der größte
Teil der Regulierungen in Rimessen, deren angenehmste die Checks in nach oben
unbeschränkter Höhe auf Bankplätze sind, nutAdenö wenn gute Vormäuner darauf
stehen. Leider ist uun diese mit Recht äußerst beliebte Spezies der Rimessen ver¬
hältnismäßig klein: schon einen größern Raum nehmen die kurzen Rimessen auf
Bankplätze und den größten die langsichtigen auf Nichtbankplätze, also Nebenplätze,
und manchmal was für welche, ein.
Ein sehr großer Teil der Kundschaft hat — leider — die merkwürdige
Auffassung, daß das Bezahlen, eigentlich eine Gefälligkeit ist, daß also der Lieferant
froh sein muß, wenn er für reell gelieferte Waren überhaupt, aber keineswegs
prompt am Verfalltage oder kurz dahinter sein ihm rechtmäßig zukommendes
Geld bekommt. Wenn man nun nach geschehener Mahnung wirklich sein Geld be¬
kommt, so ist häufig das bare Geld in verschwindender Minorität, und wenn die
Wechsel so sind, daß man sie ohne nennenswerten Verlust verwenden kann, so drückt
mau des lieben Friedens wegen, und um den Kunden nicht zu verlieren, beide
Augen zu. Wenn aber die Rimessen derartig sind, daß man sie als vernünftig
rechnender Kaufmann nicht verwenden kann, ohne durch den beim Weitergeben
nötigen Diskont seinen ohnehin schmalen Nutzen völlig einzubüßen, so muß man
dem Kunden doch logischerweise denselben Diskont berechnen, den man selbst bezahlen
muß. Ist der Diskont niedrig, wie vor Jahr und Tag 3 Prozent, so ist es nicht
schlimm; augenblicklich aber ist das eine Kalamität. Der Nutzen wird an und für
sich immer kleiner und durch deu hohen Diskontsntz fast völlig in Frage gestellt.
Nur die Banken haben den Nutzen. Jedes Bankhaus hat viel täglich kündbares
Geld zu sehr billigem Zinsfuß und schlägt damit beim Diskontieren leicht das doppelte
heraus. Diese Herren haben es leicht, ihr Kapital zu erhöhen, den Agivgewinn
einzustreichen und dann von der geldbedürftigen Geschäftswelt bei den jetzigen Ver¬
hältnissen hohen Nutzen herauszuwirtschaften. Am 21. November 1398 war der
Diskont nach dem Berliner Tageblatt in Amsterdam 2^ Prozent, in Berlin 6,
Brüssel 3, London 4, Paris 3, Petersburg 4, Warschau 5^, Wien 4^, Italie¬
nische Plätze 5, Schweiz 5^, Skandinavische Plätze S, Kopenhagen 5, Madrid 5,
Lissabon 4.
Bei einem Hinweis auf diesen sehr bedeutenden Unterschied heißt es von
Seiten der Bankwelt: Wir sind nicht so reich wie England und Frankreich, und
in den andern Staaten ist die industrielle Thätigkeit nicht so bedeutend, daß das
Geld knapp wäre. Ja da sind wir im hochentwickelten Deutschland, dessen Wohl¬
stand doch seit Jahrzehnten unzweifelhaft sehr gewachsen ist, doch am allerschlimmsten
dran. Der Handel hat absolut keinen Nutzen von diesem „Blühen," sondern gegen
andre weniger entwickelte Länder den schwersten Nachteil. Es drängen sich bei
uns auf allen Gebieten die Banken ein, die billiges Geld zur Verfügung habew
und dem Geschäftsmanne bedeutend überlegen sind, der mit eignen Mitteln arbeiten^
muß. Und wie heute die Warenhäuser, die Konsumvereine, Beamtenvereine, Offizier¬
vereine dem kaufmännischen Mittelstande die schwersten Schädigungen zufügen, s»
wird die Zeit nicht mehr fern sein, wo das Großkapital, durch die von ihm ins-
Leben gerufnen und stetig gestärkten Banken, allen den selbständigen Fabrikanten
und Händlern den Garaus machen wird, die nicht selbst mit einem nach Millionen
zählenden Kapital arbeiten. Jede „gegründete" Fabrik, jedes „gegründete" Unter¬
nehmen überhaupt ist jedem andern mit eignen Mitteln arbeitenden Etablissement
derselben Branche himmelhoch überlegen, da es vermöge des immer vorhandnen
Geldes der dahinter stehenden Bank die Mittel hat, um jede Konjunktur auszu¬
nutzen.
Die Banken verdienen am Diskontieren der Rimessen der Konkurrenz und>
machen vermöge dieses Gewinns aufs neue um so schärfere Konkurrenz. Es ist
wohl nicht zuviel verlangt, wenn die Geschäftswelt eine Erhöhung des Aktienkapitals,
der Reichsbank fordert, denn ein Diskont, wie wir ihn jetzt haben, ist doch schon
ein Notstand. 3^/zprvzentige Reichsanleihe kostet über 100, und derselbe Staat,
der diese niedrigen Zinsen zahlt, nimmt einen Zinsfuß von 7 Prozent, wenn man
auf diese seine eignen Schuldverschreibungen von ihm Geld borgt! Der Nutzen aus
dem hohen Diskont kommt einer geringen Minorität zu gute, und die ganze andre
G
Nach der Ermordung der Kaiserin
von Osterreich auf Schweizer Boden dnrch einen italienischen Anarchisten war nimm
natürlich gespannt, welche Stellung der Eidgenössische Bundesrat den zahlreichen in
der Schweiz lebenden ausländischen Anarchisten gegenüber einnehmen werde, nament¬
lich ob das Asylrecht ein Hindernis für ein energisches Einschreiten sein würde.
Nach den Ausweisungen der Italiener nach den Genfer Unruhen in diesem Jahre
konnte mau ja auch diesmal ein energisches Vorgehen der Bundesbehörden erwarten;,
aber gegenüber den unerhörten Vorwürfen, die die sozialdemokratische und ein Teil
der liuksliberalen Presse dem Bundesrate wegen dieser Ausweisungen machten, konnte
man auch fürchten, daß er nachgeben würde. Glücklicherweise ist dies nicht der
Fall gewesen, und der Bundesrat hat am 23. September einen Beschluß gefaßt,
der mancher andern Regierung recht Wohl zum Vorbild dienen konnte; er hat
nämlich zuerst sechsunddreißig Anarchisten ans der Schweiz ausgewiesen auf Grund
der Artikel 70 und 102 der Bundesverfassung. Der erste lautet: „Dem Bunde
steht das Recht zu, Fremde, welche die innere oder äußere Sicherheit der Eid-
genossenschaft gefährde«, aus dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen." Der zweite
(Punkt 10): „Der Bundesrat sorgt für die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft
für Handhabung von Ruhe und Ordnung." Aus den von den Kantonen einge-
gangnen Pvlizeiberichten, heißt es in dem Erlaß des Bundesrath, geht hervor, daß
sich diese sechsunddreißig Personen an der anarchistischen Propaganda beteiligt haben
oder gefährliche Anarchisten sind. Es sind darunter solche, die sich der Verherr¬
lichung anarchistischer Attentate schuldig gemacht haben oder wegen gemeiner Ver
brechen bestraft worden sind oder falsche Persvnalpapiere haben. Verschiedne sind
anch schon wegen ihres anarchistischen Treibens aus Frankreich oder aus schweize¬
rischen Kantonen ausgewiesen worden.
Der Erlaß des Bundesrath beauftragt ferner deu Bundesanwalt, über andre
sich in der Schweiz aufhaltende Ausländer, die sich an der anarchistischen Propa¬
ganda beteiligen, oder die gefährliche Anarchisten sind, dem Bundesrat Bericht und
Antrag vorzulegen; die Kantone aber werden eingeladen, Ausländer der erwähnten
Art, sobald sie ihr Gebiet betreten, dein Bundesanwalt namhaft zu machen und
über sie genau zu berichten. Die Kantone sollen ferner das Treiben aller sich auf
ihrem Gebiete aufhaltenden Anarchisten genau überwachen und dem Bundesanwalt
alle Gesetzesübertretungeu, insbesondre solche, die sich auf das Bundesgeseh vom
12. April 1394 beziehen, zur Kenntnis bringen. Schon wenige Tage später hatte
der Bundesanwalt Veranlassung, weitere acht Personen als Anarchisten zu bezeichnen,
die infolgedessen durch Bundesratsbeschluß vom 27. September ebenfalls ausgewiesen
wurden.
Das Bundesgesetz vom 12. April 1894 wurde in der Hauptsache wegen der
anarchistischen Attentate in Paris und Barcelona erlassen, nachdem schon im Jahre
1885 der Bundesanwalt auf die Unzulänglichkeit des eidgenössischen und kantonalen
Strafrechts in Beziehung auf anarchistische Verbrechen aufmerksam gemacht hatte.
Zur Begründung der Gesetzcsvorlage führte der Bundesrat in seiner Votschaft vom
18. Dezember 1893 an, „daß 1. das Aufmuntern und Anteilen zu Verbrechen,
die das Leben von Menschen in Gefahr bringen, namentlich wenn es in der Absicht
geschieht, die soziale Revolution, den Umsturz des Bestehende» vorzubereiten und
einzuleiten; 2. die Herstellung und der Verkehr mit Sprengstoffen, die zu Ver¬
brechen gebraucht werden sollen; 3. der verbrecherische Gebrauch von Sprengstoffen,
die Verletzung der Anzeigepflicht, sowie endlich darauf bezügliche Preßdelikte unter
strengere Strafe gestellt werden müßten." Die Bundesversammlung schloß sich den
Anschauungen des Bundesrath an und erließ die nachstehenden Strafbestimmungen
für die augeführten Delikte: „Wer Sprengstoffe zu verbrecherischen Zwecken ge¬
braucht, wird mit Zuchthaus von wenigstens zehn Jahren bestraft; wer solche
Sprengstoffe, von denen er annehmen muß, daß sie zu Verbrechen gebraucht werden,
herstellt oder zu ihrer Herstellung Anleitung giebt, erhält Zuchthausstrafe nicht unter
fünf Jahren; wer solche Sprengstoffe in Besitz nimmt, aufbewahrt usw., wird mit
Gefängnis nicht unter sechs Monaten oder mit Zuchthaus bestraft; wer in der
Absicht, Schrecke» zu verbreiten oder die allgemeine Sicherheit zu erschüttern, zu
Verbrechen gegen die Sicherheit von Personen oder Sachen aufmuntert oder an¬
leitet, wird ebenfalls mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten oder Zuchthaus be¬
straft. Werden diese letztgenannten Verbrechen durch die Presse oder durch ähnliche
Mittel begangen, so sind die sämtlichen Teilnehmer ^Thäter, Anstifter, Gehilfen und
Begünstiger) ebenfalls strafbar."
Wenn sich dieses Gesetz in der Hauptsache auch nur mit der verbrecherischen
Anwendung von Sprengstoffen beschäftigt, so geht doch aus dem oben auszugsweise
angeführten Beschluß des Bundesrath vom 23. September d. I. hervor, daß es
der Eidgenössischen Behörde heiliger Ernst ist mit der energischen Bekämpfung
anarchistischer Umtriebe jeglicher Art; man kann nur wünschen, daß alle europäische»
Regierungen i» derselben Weise vorgehen und den anerkannten Anarchisten den
Boden für ihr verbrecherisches Treiben entziehen. Daß man dabei die den Anar¬
chisten mehr oder weniger nahe stehenden Parteien ebenfalls scharf im Auge behält,
darf wohl als selbstverständlich bezeichnet werden.
Es dürfte zum Schluß nicht ohne Interesse sein, die bis jetzt aus der Schweiz
ausgewiesenen 44 Anarchisten nach ihrer Nationalität und ihrem Beruf näher zu
bezeichnen. Es waren darunter 35 Italiener, 5 Franzosen, je ein Spanier, Pole
und Tiroler. Der Beschäftigung nach waren 25 Handwerker, 3 Journalisten,
3 Buchdrucker, 2 Mechaniker, je einer Photograph, Graveur, Coiffeur, Kellner,
Erdarbeiter/ 4 Handlanger, eine Person ohne Beruf und einer früherer Polizei-
beamter(I), Das Alter der Ausgewiesenen schwankt zwischen 19 (ein Färber aus
Spanien) und 59 Jahren (ein Spengler aus Tirol).
Seitdem das vorstehende geschrieben wurde, haben uoch mehr¬
fache Ausweisungen von Anarchisten aus der Schweiz stattgefunden; so zuletzt die
von 16 Männern durch die Bnndcsratsbeschlüsse vom 8., 15. und 13. November.
Von diesen waren 14 Italiener und 2 Österreicher.
Etwa vor fünfundzwanzig Jahren, als
die kirchenpolitischen Kämpfe in Deutschland auf dem Höhepunkt standen, bildete sich
zu den etwa seit dem Anfange dieses Jahrhunderts bestehenden studentischen Vereinen
eine neue Art aus, nämlich die „katholischen Studentenverbindungen." Sie, die
bis dahin nur an wenigen Universitäten als ganz lockere Verbände ein kaum be¬
achtetes Dnsein geführt hatten, schössen Plötzlich wie Pilze aus der Erde, sodasz es
im Laufe einiger Jahre nur wenige deutsche Hochschulen gab, an denen die katho¬
lischen Verbindungen fehlten, deren ausgesprochner Zweck war, das Leben in studen¬
tischen Kreisen nach den Grundsätzen der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu
regeln. Das Jahr 1830, wo die antisemitische Bewegung in großen Städten ihren
Höhepunkt erreichte, gab wieder zu einer neuen Vereinsbildnng im studentischen
Leben Anlaß; es entstanden die „Vereine deutscher Studenten," die zwar Stu¬
dierende romanischer und slawischer Abstammung als Deutsche ansehen und in den
„Deutschbund" aufnehme», nicht aber Studenten jüdischer Abstammung oder gar
jüdischen Glaubens. Ihnen ahmten bald der Kösener Konvent der Korps (S.-C.),
der Eisenacher Konvent der Burschenschafter (D.-C.) und der Koburger Konvent der
Landsmannschaften (L.-C.) nach, indem auch diese Verbände wenigstens die Aufnahme
von Studierenden jüdischer Religion grundsätzlich ablehnten, während sie, soweit be¬
kannt, bei der Aufnahme von Studenten christlichen Bekenntnisses, die nur jüdischer
Abstammung sind, milder als die „Vereine deutscher Studenten" verfahren. Auch
akademische Turm- und Gesangvereine, ebenso wissenschaftliche Vereine folgten bald
mehr bald minder diesen Beispielen; und nach dem Grundsatz, daß die äußersten
Gegensätze sich berühren, hat die antisemitische Bewegung in allerletzter Zeit noch
eine ganz neue studentische Vereinsbildnng hervorgerufen, nämlich die „Vereine
israelitischer Studenten."
Nein äußerlich betrachtet haben diese Vereine israelitischer Studenten eine
gewisse Ähnlichkeit mit den erwähnten katholischen Studentenverbindungen, insofern
nämlich, als in beiden ein bestimmtes Religionsbekenntnis der Mitglieder voraus¬
gesetzt wird. Aber diese Übereinstimmung ist eben rein äußerlich; die innerliche
Gegensätzlichkeit springt sofort in die Augen: die katholischen Studentenverbindungen
bezwecken, wie erwähnt, eine Regelung des studentischen Lebens nach den Grund¬
sätzen der katholischen Glaubens- und Sittenlehre; dagegen beabsichtigen die Mit¬
glieder der israelitischen Studentenvereine keineswegs eine Regelung des studentischen
Lebens nach den Grundsätzen der jüdischen Glaubens- und Sittenlehre, am wenigsten
nach den tnlmudischeu Sabbath- und Speisegesetzen; im Gegenteil stehen sie den
Offenbarungen des Alten Testaments im allgemeinen ebenso fern wie denen des
Neue», und die talmudischen Speisegesetze nebst der Sabbnthordnung haben sie fast
ausnahmslos über Bord geworfen. Und weiter: während die Mitglieder der tathv
lischen Studentenverbindungen durchaus in der Lage sind, im Verein mit anders¬
gläubigen und andersdenkenden Kommilitonen die studentische Geselligkeit zu Pflegen,
die katholischen Studenten sich also freiwillig und ohne äußern Druck zu besondern
Vereinen zusnmmengethan haben, gründen die israelitischen Studenten nur deshalb
besondre Vereine, weil ihnen die Aufnahme in die Vereine andrer Studenten
versagt wird. Schon dieser letzte Umstand läßt die Vereine israelitischer Stu¬
denten in einem ganz besondern Lichte erscheinen. Daß einem oder einer bestimmten
Art von Studierenden die nachgesuchte Aufnahme in bestehende Vereine abgeschlagen
wird, kommt ja oft vor; daß aber die so zurückgesetzten einen besondern Verein
der Zurückgesetzten begründen, ist auffallend.
Niemand trägt doch eine ihm zugefügte — sei es noch so unverdiente —
Kränkung offen zur Schau; es fällt doch niemand ein, unangenehme Zurücksetzungen,
die ihm widerfahren sind, in die Öffentlichkeit zu peitschen, oder auch nur zu er¬
wähnen, daß ihm die Aufnahme in eine Ressource, in das Offizierkorps u. dergl.
verweigert worden ist. Die Mitglieder des Vereins israelitischer Studenten tragen
aber das Kainszeichen der ihnen von den christlichen Kommilitonen zugefügten
Kränkung, der von diesen gegen sie verfügte» Ausschließung offen zur Schau; der
Verein ist der lebende Beweis jener vom Standpunkt seiner Mitglieder aus jeden¬
falls sehr bedauerlichen Verhältnisse. Es gehört deshalb kein besondrer Scharfblick
dazu, zu wissen, daß die Mitglieder der Vereine israelitischer Studenten das Bestehen
ihres Vereins für ein Unglück, für ein Übel halten, vielleicht für ein notwendiges
Übel — denn den israelitischen Studenten ist das Bedürfnis zu geselligem Zu¬
sammensein mit Kommilitonen selbstverständlich ebenso eigen wie den christlichen —,
aber doch immerhin für ein durch die Umstände gezeitigtes Übel. Es macht in der
That einen geradezu kläglichen Eindruck, weim man bei studentischen Aufzügen in¬
mitten der Korps, Burschenschafter sowie andrer Vereine aller Art Plötzlich einige
Dutzend von Studierenden sieht, denen man sofort anmerkt, daß sie nicht Müller
und Schulze, sondern Laser, Cohn, Levy heißen, und daß ihre Vorfahren nicht
unter Hermann dem Cherusker im Tentuburger Walde angekämpft haben, sondern
damals ihre Wohnstätten in einem weit südlicher gelegnen Lande hatten.
Und noch in einer andern Beziehung erscheint das Bestehen der Vereine israe¬
litischer Studenten merkwürdig. Das studentische Vereinsleben soll die Mitglieder
für das spätere Leben vorbereiten, für das private Leben wie für das öffentliche
Leben des Staatsbürgers. Nun sind aber die israelitischen Studenten durchaus
nicht Anhänger des Zionistenvereins; sie erstreben leine Auswanderung der
Jsraeliten nach dein gelobten Lande; sie wollen vielmehr später als Ärzte, Lehrer,
Schriftsteller, Richter, Anwälte oder auch als Industrielle in Deutschland bleiben.
In jedem dieser Berufe aber sind sie auf ein Zusammenleben und Zusammenwirken
mit christlichen Staatsangehörigen angewiesen. Unter diesen Umständen muß es
doch als wenig zweckmäßig erscheinen, daß die israelitischen Studenten die Gesellig¬
keit nur unter sich genießen und sich von den christlichen Studenten selbst insoweit,
als dies durch das Verhalten der letzten nicht geboten ist, absondern. Es trifft hier
also die israelitischen Studenten derselbe Vorwurf, der gegen die katholischen
Studentenvereine zu erheben ist, mir wieder mit den schon hervorgehobnen Unter¬
schieden, daß die Absonderung der letzten freiwillig gewählt, die der ersten teilweise
dnrch die Umstände erzwungen ist, jene auch die Regelung des gesamten Lebens
der Studierenden selbst über die Universitätszeit hinaus nach den Grundsätzen der
katholischen Glaubens- und Sittenlehre bezwecken, während den Vereinen israelitischer
Studenten eine derartige Absicht gänzlich abgeht.
Die Universitätsjahre vergehen, und man weiß, daß sie von den israelitischen
Studenten gewöhnlich viel besser benutzt werden als von den christlichen, daß sie
deshalb im allgemeinen die Prüfungen früher und besser bestehen als die christlichen
Kommilitonen. Kommt nun der „Philister" des Vereins israelitischer Studenten
in das Leben, so erkennt er bald, daß die Universität ein Mikrokosmos ist, d. h.
daß derselbe Geist, der den Verein israelitischer Studenten schuf, auch im „Philister¬
lande" herrscht, nämlich jener Geist der Abneigung, die dem Deutschen gegen den
Jsraeliten angeboren zu sein scheint, jener Geist, dessen Bethätigung noch vor
zwanzig Jahren für eine Sache des Pöbels galt, inzwischen aber von der Kanzel,
dem Katheder und der Tribüne öffentlich verkündigt wird und darum auch das
akademische Leben beherrscht. Überall tritt dieser Geist dem Philister des Vereins
israelitischer Studenten entgegen. Von der Laufbahn des höhern Verwaltungs¬
beamten, als Staatsanwalt, als Lehrer an staatlichen Schule», als Offizier ist er
in sämtlichen Bundesstaaten ausgeschlossen; seine Anstellung als Richter unterliegt,
wo sie überhaupt erfolgt, großen Beschränkungen. Noch mehr drückt es ihn zu¬
weilen, daß jeder polnische Schnorrer und jeder Güterschlächter ihn dreist als den
Seinigen in Anspruch nimmt, und daß man ihm auch da, wo man von der an¬
geblichen „Schmach des Jahrhunderts" spricht, mit einer . gewissen Fremdheit und
Abneigung entgegentritt; es sind eben, wie Lessing richtig sagt, „nicht alle frei,
die ihrer Ketten spotten." Durch alle derartigen Mißlichkeiten wird der Philister
des Vereins israelitischer Studenten nicht beirrt. Obwohl er den talmudischen
Speisegesehen völlig entwachsen ist, zahlt er dennoch an die Shnngogengemeinde
die bedeutenden Beiträge, die diese dazu verwendet, um eiuen polnisch-galizischen
Schächter anzustellen, der in der dem Judentum eigentümlichen, geschmackvollen
Weise das Amt eines Seelsorgers mit dem eines Viehschlächters verbindet, und ob¬
wohl der Philister des Vereins israelitischer Studenten nicht daran glaubt, daß es
Gott wohlgefällig sei, wenn man an neugebornen Knaben die bekannte half Körper¬
verletzung nicht gerade strafbare) Verkürzung vornimmt, so läßt er sie doch durch
den jüdischen schlichter ausführen und überträgt diesem auch den Religionsunter¬
richt seiner Kinder. Obwohl der Philister des Vereins israelitischer Studenten nicht
daran glaubt, daß Gott die Welt gerade an bestimmten Oktobertngen etwa vor
6500 Jahren geschaffen habe, so geht er doch an diesen Tagen jährlich einmal in
die Synagoge, und bei der Einweihung eines neuen Tempels hält er gar eine
zündende Ansprache. Er hofft, daß etwa nach zwei Jahrzehnten auch seine Knaben
die Universität beziehen und dann wieder Mitglieder des Vereins israelitischer
Studenten werde»; doch kaun er die bange Sorge nicht unterdrücken, daß vielleicht
anch in Deutschland die Zeit kommen wird, wo Jsraeliten, wie dies in Rußland
der Fall ist, nur in beschränkter Zahl zum Universita'tsstndium zugelassen werden.
Auch durch diese Sorge wird der Philister des Vereins israelitischer Studenten
nicht beirrt; der Zufall der Geburt, der ihn gerade als Jsraeliten hat geboren
werden lassen, hat für ihn eine unwiderstehliche Macht. Er bleibt eben dem
Glauben seiner Väter treu, wohlgemerkt, dem Glauben — seiner Väter; denn er
selbst hat keinen Glauben, er ist Rationalist, und jedenfalls steht er den Wundern
des Alte« Testaments ebenso verneinend gegenüber wie denen des Neuen.
Schon vor etwa zwanzig Jahren hat Theodor Mommsen seine Verwunderung
darüber ausgesprochen, daß die Juden, die das Judentum völlig überwunden haben,
die christlich-deutsch denken und suhlen, in jenem anachronistischen Ban, dem sie doch
nur durch den Zufall der Geburt angehören, verbleiben, warum sie nicht in Scharen
ans dein Judentum austreten, sei es, um Christen zu werden oder als Dissidenten
zu leben; warum sie nicht wenigstens ihre Kinder jener Gemeinschaft frühzeitig
entfremden und dem Christentum zuführen, nach dem bekannten Grundsätze, daß das
Kleinere im Größern, das Schlechtere im Bessern aufgehen muß. Der Philister
des Vereins israelitischer Studenten ist für solche Erwägungen nicht empfänglich;
nach dem Grundsatz, daß sich die äußersten Gegensätze berühren, eignet er sich die
Gründe des Rassen-Antisemitismus an, daß nämlich die Judenfrage keine Religions-,
sondern eine Rassenfrage sei; wehmütig weist er darauf hin, daß die Zeiten, wo
die zum Christentum übergetretnen Juden in Preußen nicht nur keine Zurücksetzung,
sondern anscheinend sogar eine Bevorzugung zu erwarten hatten (man denke an
Neander, Stahl, Friedberg, Simson), längst und für immer vorbei seien, und daß
er durch den Austritt aus dem Judentum wohl sein Religionsbekenntnis, allenfalls
auch seinen Namen ändern könne, nicht aber seine Nationalität, seine Rasse, die ihn
von den christlichen Mitbürgern unterscheidet. Der Philister des Vereins israeli¬
tischer Studenten übersieht bei dieser Begründung nur, daß, wenn schon seine Eltern
oder Großeltern den ihnen von Mommsen angcratnen Schritt gethan hätten, er
eben gar nicht mehr nötig gehabt hätte, in den Verein israelitischer Studenten ein¬
zutreten, daß also eben — einer den Anfang machen muß. Was der große Rechts-
lehrer Savigny in seiner berühmten Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit zur Gesetz¬
gebung und Rechtswissenschaft" am Anfang des Jahrhunderts vorausgesagt hat, ist
völlig in Erfüllung gegangen: die Juden führen trotz ihrer durch die französische
Gesetzgebung zu Anfang des Jahrhunderts eingeführten „Emanzipation" noch heute
ein klägliches Sonderdasein, und zur Verewigung der Judenfrage trägt wieder bei
das Erzeugnis der neusten Zeit, die „Vereine israelitischer Studenten," die nach
und nach an allen Universitäten entstehen.
Die den Dortmund-Rhein-Kanal betreffende Vorlage würde
im preußischen Abgeordnetenhnuse vielleicht angenommen worden sein, wenn sich die
Kanalfreunde die von der Gegenpartei geforderte Bedingung gefallen lassen hätten,
daß die Kosten des Kanalbetriebs dnrch eine Kanalabgabe gedeckt werden sollten.
Der Regieruugsbaumeister E. Lühning weist nun in einem Schriftchen^) nach,
daß die Forderung durchaus berechtigt sei, da, wer die Vorteile eiuer Verkehrs-
nnstnlt genießt, auch die Kosten zu tragen habe, und da es den Landwirten nicht
zugemutet werden könne, als Steuerzahler zu den Betriebskosten von Kanälen bei¬
zutragen, die die Einfuhr ausländischen Getreides erleichtern und verbilligen. Die
Kanalabgabe soll nicht den Charakter einer Steuer, eines Zolls tragen, sondern
eben nur die Kosten bezahlen; eine solche Abgabe soll aber nach Ansicht des Ver¬
fassers auch den Benutzern natürlicher Wasserstraßen auferlegt werden, sofern diese
dnrch Schleusen und Regulierungen Kosten verursachen. Auch bei Entrichtung einer
Abgabe werden die Wasserstraßen immer noch den Eisenbahnen überlegen bleiben,
da diese allermindestens 2,72 Pfennige für den Tonnenkilometer fordern müssen, jene
aber höchstens 1,1 Pfennig zu fordern brauchen. Die Abgabe soll aber nicht nach
Tonnenkilometern, sondern nach Kanalstrecken und Raummetern oder Registertonnen
berechnet werden, weil sich nur an Ladeplätzen, nicht aber auf Durchgangsstationen
das Gewicht der Ladung ermitteln lasse. Die Hebestellen sollen zugleich zur In¬
spektion der Manometer benutzt werden, damit dem gefährlichen Überheizen der
Kessel gesteuert werde.
le Würfel sind gefallen. Am 5, Januar dieses Jahres ist die
Entscheidung des Bundesrath in dem Streite zwischen Schaum¬
burg-Lippe und Lippe erfolgt.
Ehe jedoch auf den Wortlaut, die rechtliche Grundlage, den
Inhalt und die Tragweite dieses Beschlusses eingegangen werden
kann, ist es unumgänglich und geboten, den Gang des Rechtsstreits bis zum
Beschlusse genau, wenn auch so kurz als irgend möglich, darzulegen.
Nur so wird der Beschluß völlig verständlich.
Am 26. November 1896 stellte Graf Ernst zur Lippe-Viesterfeld. wie in¬
zwischen auch in der Presse mitgeteilt worden ist, bei dem uuter Vorsitz des
Königs von Sachsen zur Entscheidung des ersten Aktes, wie man wohl sagen
darf, der Lippischen Thronfolgefrage zusammengetretnen Schiedsgericht den
Antrag:
„Hohes Schiedsgericht wolle Urteil dahin erlassen, daß nach Erledigung
des zur Zeit von Seiner Durchlaucht dem Fürsten Karl Alexander zur
Lippe innegehabten Thrones die gräflich erbherrliche Linie zur Lippe-
Biesterfeld zur Negierungsnachfolge im Fürstentum zuerst und aus¬
schließlich berechtigt und berufen ist."
Hierauf entgegnete die Schaumburgische Erklärung vom 9. Februar 1897:
„Hinsichtlich des Biesterfelder Antrags ist noch zu bemerken, daß der¬
selbe so, wie er angebracht ist, im Widerspruche mit dem Schiedsvertrage
steht. Nach diesem unterliegt der Entscheidung des hohen Schiedsgerichts
nur die Frage, wer von den drei Paziszenten (dem Grafen Ernst zur
Lippe-Viesterfeld, dem Grafen Ferdinand zur Lippe-Weißenfeld und dem
Fürsten Georg zu Schaumburg-Lippe — d. V.) zuerst zur Thronfolge
im Fürstentum Lippe berechtigt und berufen sei. Das hohe Schieds¬
gericht wird weder in der Lage sein, etwa der Linie des Grafen zu
Biesterfeld, noch gar ihr ausschließlich das Thronfolgerecht zuzu¬
sprechen. Letzteres nicht, da den Linien Weißenfeld und Schaumburg
ihr Thronfolgerecht, soweit es überhaupt besteht, auch gewahrt bleibt,
wenn die Biesterfelder Linie als zuerst zur Thronfolge berechtigt an¬
erkannt werden sollte.Gegen die Linie Viesterseld, speziell gegen die Deszendenz
des Grasen Ernst zu Lippe-Biesterfeld liegen aber noch selb¬
ständige Anfechtungsgründe vor, die hier nicht zur Erörterung
stehen."
Der am 22. Juni 1897 gefallne Schiedsspruch lautet wörtlich, wie folgt:
„Seine Erlaucht der Graf Ernst Kasimir Karl Eberhard Graf und
Edler Herr zur Lippe-Biesterfeld ist nach Erledigung des zur Zeit von
Seiner Durchlaucht dem Fürsten Karl Alexander zur Lippe innegehabten
Thrones zur Regierungsnachfolge in dem Fürstentum Lippe berechtigt
und berufen."
Es ist ohne weiteres klar, daß allein schon nach diesem Wortlaut, namentlich
aber, wenn man ihn im Vergleich mit den geschilderten Vorgängen betrachtet,
nur die Thronfolgefähigkeit des Grafen Ernst, nicht aber die Thronfolge¬
fähigkeit und Ebenbürtigkeit seiner Söhne oder gar der Söhne seiner Brüder
rechtskräftig feststeht. Höchstens wird man <zx asquo se ocmo noch folgern
können, aus dem Schiedsspruch ergebe sich auch die Thronfolgefähigkeit der
Brüder des Grafen Ernst, da diese mit ihm hinsichtlich der Abstammungs¬
verhältnisse in genau der gleichen Rechtslage sind.
Unmittelbar nun, nachdem Graf Ernst infolge dieses Schiedsspruchs die
Regentschaft übernommen hatte, legte der Fürst zu Schaumburg-Lippe bei dem
Lippischen Landtage und unter dein 9. Juli auch bei dem Bundesrate Protest
dagegen ein,
„daß die Nachkommenschaft des Grafen Ernst aus der unebenbürtiger
Ehe mit der Gräfin Karoline, gebornen Gräfin Wartensleben als zur
Thronfolge berechtigt angesehen werden könne."
Erläuternd ist hier zu bemerken, daß die Söhne der Brüder des Graf¬
regenten, deren Ehen bisher überhaupt mit Söhnen gesegnet sind, an dem¬
selben Ebenbürtigkeitsdefekt laborieren, wie die Söhne des Grafregenten aus
dessen Ehe mit der Gräfin Karoline Wartensleben, daß aber natürlich zur Zeit
sür Schaumburg keine Veranlassung vorlag, auch gegen die Ebenbürtigkeit dieser
Ehen zu protestieren.
Der angeführte Schaumburgische Protest hatte nun zur Folge, daß die
Lippische Regierung im Lippischen Landtag einen Gesetzentwurf einbrachte, durch
den namentlich Thronfolge und Regentschaft geregelt und vor allem die Sohne
des Grafen Ernst für fueeessionsberechtigt erklärt werden sollten (28. Oktober).
Gegen den Erlaß dieses Gesetzes und von neuem gegen die Ebenbürtigkeit
der Kinder des Grafen Ernst protestierte der Fürst zu Schaumburg-Lippe
(12. November).
Die Antwort des Landtags war folgender Beschluß:
Bei diesem Beschluß ist der Lippische Landtag offenbar von der unzweifel¬
haft irrigen Ansicht ausgegangen, es handle sich um einen Streit „privat¬
rechtlicher Natur," den der Fürst zu Schaumburg-Lippe durch Klageerhebung
bei einem bürgerlichen Gerichte zur Entscheidung zu bringen in der Lage sei.
Indessen kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß jedes ordentliche Gericht
auf eine derartige Klage den Rechtsweg, weil es sich nicht um eine Klage
privatrechtlicher Natur handelte, für unzulässig hätte erklären müssen (§ 17 des
Gerichtsverfasfungsgesetzes), sobald gegnerischerseits die entsprechende proze߬
hindernde Einrede vorgebracht worden wäre (Z 247 der Zivilprozeßordnung).
Da dem Fürsten zu Schaumburg-Lippe mit diesem Landtagsbeschluß eine
unerfüllbare Bedingung auferlegt worden war, erhob die Schaumburg-Lippische
Staatsregierung bei der Regierung des Fürstentums Lippe Einspruch gegen das
beabsichtigte Gesetz, indem sie der Negierung das Recht bestritt, die Thronfolge
in Lippe mit dem Landtage ohne Zustimmung der Agnaten selbständig zu regeln
(4. Januar 1898).
Als die Lippische Regierung hierauf ablehnend antwortete (11. Januar), rief
endlich die Schaumburg-Lippische Staatsregierung auf Grund des Artikels 76,
Absatz 1 der Reichsverfassung die Entscheidung des Bundesrath an und be¬
antragte, die Lippische Regierung zur Zurückziehung des eingebrachten Gesetz¬
entwurfs zu veranlassen (20. Januar).
Die Lippische Negierung bestritt ihrerseits beim Bundesrat dessen Zu¬
ständigkeit (1. Februar).
Es erging nunmehr folgender Beschluß des Bundesrath:
„an die Fürstlich lippische Regierung das Ersuchen zu richten, zu ver¬
anlassen, daß vor der Beschlußfassung des Bundesrath über den Antrag
von Schaumburg-Lippe der Beratung des dem Lippischen Landtage vor¬
liegenden Gefetzentwurfs, betreffend Thronfolge und Regentschaft im
Fürstentum Lippe, kein Fortgang gegeben werde" (3. März).
Hierbei bestand im Bundesrat Einverständnis darüber, daß der Bundes¬
rat durch diesen Beschluß weder der Frage seiner Zuständigkeit, den Antrag
Schaumburg-Lippe vom 20. Januar zu erledigen, noch einer sachlichen Ent¬
scheidung des Streites vorgreifen wolle.
Trotz dieses Bundesratsbeschlusses kam in Lippe am 23. März unter Hoch¬
druck der Regierung eine Novelle zum Lippischen Negentschaftsgesetz vom
24. April 1895 zu stände, wonach Nachfolger des Grafregenten Ernst in der
Regentschaft sein jeweilig ältester Sohn sein soll. Eine jährliche Abgabe
von achttausend Mark aus dem Domanialeinkommen an die Landeskasse war,
nebenbei bemerkt, der Preis für die Majorität des Lippischen Landtages. Es
ist klar, daß diese Novelle, wenn auch nicht dem Wortlaute, so doch dem Sinne
des Bundesratsbeschlusfes vom 3. März widerspricht.
Bereits am 18. März hatte die Schaumburgische Negierung beim Lippischen
Landtage gegen den Erlaß dieser Novelle protestiert.
Am 18. Mai beantragte sie beim Bundesrate unter Wiederholung des
Antrages vom 20. Januar:
„der Bundesrat möge erklären, daß das Negentschaftsgesetz vom
24. März 1893 für Seine Hochfürstliche Durchlaucht deu Fürsten zu
Schaumburg-Lippe und sein Haus unverbindlich sei, und beschließen, daß
die Fürstlich lipptsche Regierung hiervon verständigt werde."
Was dann noch erfolgte, kann hier nicht weiter interessieren. Es ist ein
reges Austauschen und Überreichen von Schriftsätzen und Rechtsgutachten seitens
der streitenden Teile.
Seit dem 18. Mai sind Monate ins Land gegangen: ein Beweis dafür,
einer wie gründlichen und sorgfältigen Erwägung durch die verbündeten Re¬
gierungen die Angelegenheit unterzogen worden ist.
Der nun mit erdrückender Mehrheit gegen wenige Stimmen (darunter
natürlich die des Fürstentums Lippe) gefaßte Beschluß des Bundesrath lautet
folgendermaßen:
Für jeden, der nicht das Scheuleder des Partikularismus oder der ein¬
seitigen Biesterfelder Interessenvertretung vor Augen hatte, kommt dieser Be¬
schluß in keiner Weise unerwartet. Er ist erfolgt, wie er nach Recht und Ver¬
fassung erfolgen mußte. Eine freudige Überraschung ist nur die große Mehr¬
heit: es sind nur zehn der achtundfunfzig Stimmen des Bundesrath (Preußen
hat bekanntlich siebzehn Stimmen) dagegen gewesen. Dagegen stimmten: Bayern
mit sechs, Meiningen, Reuß ä. L. und Lippe mit je einer Stimme. Ob die
zehnte Stimme die von Mecklenburg-Strelitz oder die von Schwarzburg-
Sondershausen ist, konnte ich bisher nicht feststellen. Noch erfreulicher ist es,
daß es gerade der König von Sachsen war, der für den Antrag Preußen, dem
eine knappe Majorität schon seit etwa zwei Monaten absolut gesichert war,
die Formulierung fand, die den damals noch bedenklichen Staaten die Zu¬
stimmung ermöglichte. Warum das als ein besonders glücklicher Umstand
angesehen werden muß, bedarf keiner nähern Ausführung.
Die Rechtsauffassung nun, die sich der Bundesrat nunmehr zu eigen ge¬
macht hat, ist von mir, in meiner Eigenschaft als Ratgeber des Schaumburg-
Lippischen Hauses für die Thronfvlgeangelegenheit, vom Sommer 1897 an
vertreten worden. Ich habe sie sodann in einem der Schaumburg-Lippischen
Regierung unter dem 28. Mürz 1898 erstatteten und von dieser dem Bundes¬
rate überreichten Gutachten niedergelegt und begründet. Ich habe sie endlich,
nachdem mir eine staatsrechtliche Autorität wie Zorn in einem gleichfalls dem
Bundesrate überreichten Gutachten vom 6. Juli in allen wesentlichen Punkten
zugestimmt hatte, in Gemeinschaft mit Zorn mit Nachdruck gegen die Angriffe
der Gegenseite, insbesondre eines der namhaftesten Staatsrechtslehrer, des Pro¬
fessors von Seydel in München, in der Presse und sonst (von Zorn erwähne
ich noch besonders das Gutachten vom 29. Oktober) verfochten.
Wenn ich daher im Nachfolgenden bei der Darlegung der Rechtsgründe,
aus denen der Beschluß des Bundesrath abzuleiten ist, meine eignen frühern
Ausführungen zu Grunde lege, so wird man das wohl verzeihlich finden. Ich
stehe dabei von einer Polemik gegen Seydel völlig ab. Koma loeutg, est:
der Bundesrat hat Herrn von Seydel mit großer Mehrheit Unrecht gegeben.
Daran kann auch der sonderbare Versuch Seydels in Ur. 9 der Münchner
Allgemeinen Zeitung, den Nachweis zu führen, eigentlich hätte Schaumburg
Unrecht und er Recht bekommen, nichts ändern. Das genügt mir aber völlig,
um so mehr, da feststeht, daß Seydel, durch den selbstgefälligen und an¬
maßenden Ton in seiner der lippischen Regierung erstatteten und von dieser
dem Bundesrate offiziell überreichten Denkschrift, einen oft sogar höhnischen
Ton gegen die Anträge Schaumburg-Lippes und die Gutachten von Zorn
und mir, der Sache, deren Anwalt er war, mehr geschadet als genützt hat.
Artikel 76, Absatz 1 der Reichsverfassung, aus dem der Bundesrat seine
Zuständigkeit für begründet erklärt hat, lautet:
„Streitigkeiten zwischen verschiednen Bundesstaaten, sofern dieselben
nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichts¬
behörden zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen Teils von
dem Bundesrate erledigt."
Daß der Bundesrat von dem einen Teile, nämlich von Schaumburg-Lippe,
angerufen worden war, unterlag nach dem oben mitgeteilten Gange der Dinge
keinem Zweifel, ebenso wenig, daß es sich nicht um eine „Streitigkeit privat¬
rechtlicher Natur" handelte, deren Entscheidung den „kompetenten Gerichts¬
behörden" zufällt.
Bestritten war dagegen, ob eine „Streitigkeit zwischen verschiednen Bundes¬
staaten" vorliege, oder genauer gesagt, ob der Staat Schaumburg-Lippe
Streitteil sei, denn darüber, daß Lippe als Staat am Streite beteiligt sei,
herrschte gleichfalls keine Meinungsverschiedenheit.
Von drei Gesichtspunkten aus ist Schaumburg-lippischerseits die Anwend¬
barkeit des Artikels 76, Absatz 1 begründet worden:
1. Das Wort Bundesstaat ist in der Reichsverfassung gleichbedeutend
mit „Bundesglied," unter Bundesglied nach dem Sprachgebrauche und nach
der Terminologie der Reichsverfassung aber auch ein Bundesfürst zu verstehen.
Eine Staatenstreitigkeit im Sinne des Artikels 76, Absatz 1 liegt also vor,
wenn im Streite sind:
2. Der Streit, worin der Fürst zu Schaumburg-Lippe gegen den Staat
Lippe den Bundesrat angerufen hat, ist seiner Natur als Thronstreit nach kein
persönlicher Streit des Fürsten als Thronprätendenten, sondern ein Streit des
Staates Schaumburg-Lippe, weil der Inhaber der Staatsgewalt in diesem
Fürstentum auf Thron und Staatsgebiet eines andern deutschen Vundesstaats
für sich und seinen Staat Anspruch erhebt.
3. Thatsächlich ist von dem Fürsten zu Schaumburg-Lippe die An¬
gelegenheit zur Sache und zum Streit des von ihm regierten Vundesstaats
gemacht und von der Regierung dieses Staats aufgenommen worden, der Fürst
führt den Streit unter Einsetzung seiner landesherrlichen Persönlichkeit und mit
den Machtmitteln des Landesherrn.
Aus den Gesichtspunkten zu 2 und 3 ergiebt sich unmittelbar, daß
auch der Staat Schaumburg-Lippe Streitteil ist, aus dem Gesichtspunkte zu 1,
daß er es im Sinne des Artikels 76, Absatz 1 ist. Den ersten hatte ich in
meinem Gutachten vom 28. März 1898, den dritten in meinem Nachtrage
dazu in den Hamburger Nachrichten in den Vordergrund geschoben, während
sich Zorn in seinem Gutachten wesentlich auf den zweiten stützte.
Dem Bundesratsbeschlusse vom 5. Januar sind keine Entscheidungsgründe
beigegeben, es ist also auch nicht erkennbar, welche der vorstehenden Gesichts¬
punkte der Bundesrat als durchschlagend angesehen, welche er etwa nicht ge¬
billigt hat. Daß sie innerlich nicht sehr von einander verschieden sind, springt
in die Augen. Nur das ist zweifellos, daß er sich für materiell, nicht etwa
bloß formell, zuständig erklärt hat. Daraus gewinnt die Staatsrechtswifsen-
schaft für zukünftige Fälle als sicheres Ergebnis den Satz, daß, wenn der In¬
haber der Staatsgewalt eines deutschen Bundesstaats mit einem andern Bundes¬
staate über die Thronfolge in diesem im Streite liegt und den Bundesrat durch
seiue Regierung zur Erledigung dieses Streites anruft, eine Streitigkeit zwischen
verschiednen Bundesstaaten im Sinne des Artikels 76, Absatz 1 der Reichs-
verfcifsung vorliegt und die Zuständigkeit des Bundesrath begründet ist. Noch
offen geblieben ist die Frage der Zuständigkeit dagegen für den Fall, daß zwei
Vuudesfürsteu unter einander etwa um die Thronfolge in einem dritten Staate
streiten würden.
Soviel über die Zuständigkeitsfrage.
Was war nun der Gegenstand der zwischen Schaumburg-Lippe und Lippe
herrschenden Streitigkeiten?
Der eigentliche Gegenstand des Streites war die Ebenbürtigkeit der Ge¬
mahlin des jetzigen Grafregenten, der Gräfin Karoline, gebornen Gräfin
Wartensleben und somit die Suceessiousfühigkeit der Söhne aus dieser Ehe.
Den Streit hierüber hatte die lippische Regierung dadurch beendigen zu können
geglaubt, daß sie die Thronfolgefähigkeit dieser Söhne auf dem Wege der
Landesgesetzgebung festlegte. Dadurch erst ist Schaumburg-Lippe gezwungen
worden, beim Bundesrate überhaupt und namentlich schon jetzt Recht zu suchen.
Von diesem Augenblick an handelte es sich also um zwei von einander
Wohl zu unterscheidende, wenn auch innerlich im engsten Zusammenhange
stehende Streitigkeiten. Die eine dieser Streitigkeiten betrifft die Frage, ob
die lippische Landesgesetzgcbung berechtigt ist, einseitig und unter Widerspruch
in ihren Rechten vermeintlich beeinträchtigter Agnaten die Thronfolge- und
Regentschaftsordnung zu regeln, die andre die Frage, ob durch die geplante
und teilweise durchgeführte Regelung der Thronfolge- und Negentschaftsord-
nung Rechte der Agnaten beeinträchtigt werden, mit andern Worten, ob die
Söhne des Grafregentcn Ernst zur Thron- und Regcntschaftsfolge im Fürsten-
tume Lippe berechtigt sind. Ist der Bundesrat aber zuständig, die zweite
dieser Streitigkeiten zu erledigen, so ergiebt sich mit logischer Notwendigkeit,
daß sie durch Akte der Landesgesetzgebung seiner Zuständigkeit nicht entzogen
werden kann.
Schon in meinem Gutachten hatte ich mich dahin ausgesprochen, nur die
erste der Streitigkeiten sei eine gegenwärtige, die zweite sei eine zukünftige,
und zwar aus folgenden Gründen. Gegenwärtig steht nicht nur fest, wer in
Lippe Fürst ist (der kranke Fürst Alexander), sondern kraft Schiedsspruchs auch,
wer nach ihm den Thron einzunehmen hat (der jetzige Grafregent Ernst). So
lange diese beiden Personen noch am Leben sind, kann die Successionsfähigkeit
der Söhne des Grafen Ernst nicht Gegenstand einer „Erledigung" des Bundes¬
rath sein, weil in einem Streite um die Thronfolge erst dann und in dem
Augenblicke von einer a-vllo ug.tÄ gesprochen werden kann, wenn Streit darüber
besteht, an wen der Thron als an den berechtigten Inhaber gefallen ist;
frühestens dann, wenn Zweifel herrscht, wer infolge der Primogeniturordnung
der nächste Thronfolger (Erbprinz) ist. Hieraus folgerte ich für den Bundes¬
rat die Unmöglichkeit, zur Zeit über die Thronfolgefühigkeit der Söhne des
Grafen Ernst eine sachliche Entscheidung zu fällen. Diese Unmöglichkeit ergab
sich sür mich schon allein daraus, daß der Grafregent seine sämtlichen Söhne
überleben kann.
Von solchen Erwägungen ausgehend hat Schaumburg-Lippe beim Bundes¬
rat auch gar nicht beantragt, zur Zeit in eine sachliche Entscheidung über die
Thronfolgefühigkeit der Söhne des Grafen Ernst einzutreten.
Andrerseits sprach ich die Ansicht aus, daß die erste der Streitigkeiten
(über die Verbindlichkeit einseitiger Akte der lippischen Landesgesetzgebung) vom
Bundesrat schon jetzt entschieden werden könne und müsse, und daß sie in ver¬
neinenden Sinne entschieden sei, sobald der Bundesrat seine Zuständigkeit be¬
jahe. Denn eine Streitigkeit kann unmöglich zugleich eine zwischenstaatliche
sein und als solche zur Kompetenz des Bundesrath gehören und zugleich
eine innerstaatliche, die als solche endgiltig von der Landesgesetzgebung ent¬
schieden wird.
Aus alle dem hatte ich den Schluß gezogen, daß der Beschluß des
Bundesrath, nach Bejahung seiner Zuständigkeit gemäß Artikel 76, Absatz I.
weiter lauten müsse:
Dieses war meine Meinung. Zorn trat ihr im wesentlichen bei, sprach
sich aber dahin aus, daß die sachliche Erledigung vom Bundesrat sogleich
vorgenommen werden könne und aus praktischen Gründen auch sogleich vor¬
genommen werden müsse, rechtlich sei indessen dem Bundesrat die Möglichkeit
gegeben, seine sachliche Entscheidung nach Bejahung seiner Zuständigkeit noch
auszusetzen.
Prüft man nun die Absätze 2 und 3 des Bundesratsbeschlusfes, so ergiebt
sich, daß er auch hier den oben vorgetragnen Ansichten vollkommen beigetreten
ist, wenn auch unentschieden bleibt, ob er sich auf den Standpunkt der aotio
Hom, Ma imtg. gestellt hat, oder ob er angenommen hat, er könne zwar die
sachliche Entscheidung schon jetzt vornehmen, aus praktischen Gründen aber
hiervon Abstand nehmen.
Absatz 2 des Beschlusses besagt nämlich nichts andres, als daß die sach¬
liche Entscheidung über die Ebenbürtigkeit der Söhne des Grafregenten erst dann
möglich oder wenigstens notwendig ist, wenn die Thronfolge eines dieser Söhne
unmittelbar in Frage steht.
Absatz 3 stellt fest, daß eine, zugleich mit der sachlichen Entscheidung über
die Thronfolgefähigkeit der Söhne des Grafen Ernst später vorzunehmende
Nachprüfung über die Wirksamkeit der Akte der Lippischen Landesgesetzgebuug
gegenüber den von Schaumburg-Lippe erhobnen Thronfolge- und Regen tschafts-
ansprüchen dem Bundesrate kraft seiner Zuständigkeit vorbehalten bleibt.
Sucht man sich nun die Wirkung des Beschlusses für die streitenden Teile
klar zu machen, so ergiebt sich: Schaumburg-Lippe hat die Sicherheit gewonnen,
daß seine vermeintlichen Rechte nicht durch einseitige Akte der Landesgesetz¬
gebung, die ja in diesem Falle Partei ist, geschmälert werden können. Es hat
ferner eine unparteiische Instanz erlangt, die den Streit über die Thronfolge¬
fähigkeit der jüngsten Generation des Hauses Lippe-Biesterfeld, sobald diese Frage
aktuell ist, nach Recht und Gesetz entscheiden wird. Lippe-Biesterfeld sieht sich
allerdings der Möglichkeit beraubt, die Streitfrage einseitig und unter Beiseite¬
setzung der Rechte der widersprechenden Agnaten mit dem bei angemessener
jährlicher Abgabe aus dem Domanialvermögen an die Landeskasse vielleicht
willfährigen Landtage des Fürstentums zu beendigen.
Dafür hat es aber die Gewißheit, für den Fall, daß dereinst der Bundes-
rat sich zu Gunsten der Erbfolgefähigkeit der jüngsten Biesterfelder Generation
aussprechen würde, diese Erbfolgefähigkeit aller weitern Anfechtung entzogen
zu sehen. Man sollte auch meinen, eine so konservativ und monarchisch denkende
Familie, wie das Haus Biesterfeld, könne den Vorteil nicht verkennen, der in
diesem Falle für sie daraus erwachsen würde, nicht „von Landtags Gnaden,"
sondern kraft Richterspruches der Gesamtheit der deutschen Bundesfürsten zur
Jnnehabung des Lippischen Thrones berechtigt zu sein.
Das Haus Viesterfeld hat übrigens so oft den Satz „Recht muß Recht
bleiben" als seinen Wahlspruch im Thronfolgestreite hingestellt, daß es sich
ohne Zweifel sonder Bitterkeit dem Zuständigkeitsbeschlusse des Bundesrath
fügen wird. Ist es von dem Thronfolgerecht seiner jüngsten Generation über¬
zeugt, so kann es ja auch mit Ruhe der dereinstigen Entscheidung der deutschen
Fürsten entgegensehen.
Daß es für die Bevölkerung Lippes nicht gerade angenehm ist, in einer
vielleicht Jahrzehnte dauernden Ungewißheit darüber zu schweben, ob der lippische
Thron im Hause Biesterfeld vom Vater auf den Sohn oder nur von Bruder
zu Bruder übergeht, ob nicht vielleicht die ganze Herrschaft des Hauses eine
Episode von verhältnismäßig kurzer Dauer sein wird, soll nicht geleugnet
werden. Indessen sind das Verhältnisse, die in jedem Lande und in jeder
regierenden Familie, wenn der Landesherr oder gar mehrere Mitglieder des
regierenden Hauses ohne Söhne sind, eintreten können. In einem solchen
Falle muß man sich auch damit abfinden, und ich glaube, daß man die nach¬
teiligen Folgen solcher Verhältnisse sehr überschätzt. Im gegenwärtigen Stadium
des lippischen Streites war meiner Meinung nach rechtlich keine andre Ent¬
scheidung des Bundesrath möglich.
Nachdem nun so Begründung, Inhalt und Wirkung des Bundesrats¬
beschlusses vom 5. Januar 1899 einer genauen Betrachtung unterzogen worden
sind, erscheint es endlich noch notwendig, sich über seine allgemeine Trag¬
weite klar zu werden. Diese ist doch am Ende das Wichtigste, und daß sie
sehr groß ist, ist nicht zu verkennen.
Der Beschluß schafft zunächst eine staatsrechtliche Streitfrage aus der
Welt. Das ist ein unleugbarer Vorteil. Ich habe schon oben das juristische
Prinzip aus dem Bundesratsbeschlusse herauszuschälen versucht. Für gleich¬
artige Fülle von Thronstreitigkeiten steht nun fest, daß der Bundesrat zu¬
ständig ist. Thronstreitigkeiten liegen aber auch in andern Bundesstaaten
durchaus nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. Eine ruhige, friedliche,
unparteiische Erledigung durch die oberste Instanz des Reichs ist nunmehr
gewährleistet. Damit ist aber auch gewährleistet, was Zorn mit so treffenden
Worten aussprach, daß ich nur erlaube, sie wörtlich anzuführen: „daß das
Reich über die Grundlagen seines Bestandes und damit am letzten Ende seiner
Existenz selbst entscheiden kann und nicht mit gebundnen Händen der Landes-
gesetzgebung ausgeliefert ist, auch wenn deren Gang zu unlösbaren Streit¬
fragen unter Bundesgliedern führt." Gewährleistet ist, wie Zorn es treffend
nannte: „die Festigkeit der Rechtsordnung. Denn Rechtsunordnung ist es
und bleibt es, wenn ein Thronfolgestreit, der zwischen Bundesgliedern schwebt,
nicht in der Form Rechtens erledigt werden kann."
Daß die Landesgesetzgebung einen solchen Streit nicht in der Form
Rechtens erledigen kann, ist doch ebenso wenig zu bezweifeln, wie daß ein
Thronprätendent, gleich dem Fürsten zu Schaumburg-Lippe, wenn er beim
Bundesrate keine Rechtshilfe findet, wie Zorn sagt, keine Möglichkeit hat: „das
nach seiner Überzeugung ihm zustehende gute Recht zu erstreiten oder eine
Feststellung hierüber in der Form Rechtens herbeizuführen, denn die völker¬
rechtlichen Mittel sind ihm gleichfalls versagt." Entspricht diese Sicherheit
der Rechtsordnung nicht den Eingangsworten der Reichsverfassung, daß ein
ewiger Bund geschlossen ist „zum Schutze des Bundesgebiets und des inner¬
halb desselben giltigen Rechtes" ?
Gefestigt und gestärkt ist, dank der Besonnenheit und Einsicht der Ver¬
bündeten Regierungen, die Reichsgewalt aus dem Streite hervorgegangen,
der infolge einer geschickten Mache und unablässiger Verhetzung und Irre¬
führung der öffentlichen Meinung — lippischerseits ist seinerzeit einem leitenden
Staatsmanne gegenüber gedroht worden: Wir machen die ganze Presse mobil,
wir veranlassen einen Neichstagsskandal! — schon bedrohlich zu werden anfing.
„Daß alle Schritte in diesem Sinne ein Segen sind, läßt sich doch nicht ver¬
kennen" (Treitschke).
Mit Recht ist daher der vorliegende Bundesratsbeschluß als eine nationale
That gepriesen worden. Noch in der ersten Zeit des Deutschen Bundes waren
bei dem thüringischen Erbfolgestreite (1825 bis 1826) alle Staatsmänner, sowohl
die kleinstaatlichen wie die von Preußen und Österreich, entschlossen, jedes
Tribunal dem des Deutschen Bundes vorzuziehen (Röscher). Welche Wendung
seitdem! Huoä donum, tslix lÄusturaquö sit!
urch die Regulierung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse,
durch die Befreiung des Grund und Bodens von kulturhemmenden
Lasten, durch die Zusammenlegung der Grundstücke u. a. in. haben
sich die Generalkommissionen hoch anzuschlagende Verdienste um
das Wohl des preußischen Staates erworben. Und doch erfreuen
sie sich einer weitgehenden Unbeliebtheit! Die zahlreichen Angrisse, die seit
langen Jahren in der Presse wie in parlamentarischen.Körperschaften gegen
die Generalkommissionen erhoben werden, lassen darüber keinen Zweifel. Es
ist deshalb wohl am Platze, einmal auf die Gründe einzugehen, die zu dieser
Unbeliebtheit geführt haben.
Die Angriffe, die offen gegen die Generalkommissionen erhoben werden,
gipfeln in Beschwerden über die lange Dauer und die Kostspieligkeit des Ver¬
fahrens; in der neuern Zeit, namentlich seit Einführung der Rentengutsgesetze,
hat man in dem Ausdruck „büreaukratische Schwerfälligkeit" gern alles zu¬
sammengefaßt, was man gegen sie vorzubringen hat.
Der Vorwurf der büreaukratischen Sachbehandlung muß auffallen. Die
Generalkommissionen sind die einzigen Behörden, deren Mitglieder während
einer Reihe von Jahren (acht bis zehn) im unmittelbaren Verkehre mit der
landwirtschaftlichen Bevölkerung gestanden haben. Sie haben sich besonders
eine eingehende Kenntnis des Bodens und seiner Ertragsfähigkeit verschafft.
Dadurch, daß sie lediglich mündlich mit den Parteien — und zwar in der
Regel ohne Zuziehung von Anwälten — verhandelt haben, haben sie gelernt,
in das Wesen der Dinge einzudringen. Sie haben Anschauungen, Wünsche
und Bedürfnisse der Landbewohner kennen gelernt und sich von der Über¬
zeugung durchdringen lassen, daß mit langen, wohlgedrechselten Verfügungen
nicht zu helfen ist, sondern daß frisch und thatkräftig eingegriffen werden muß,
um eine praktische Erledigung der Geschäfte zu erzielen. Wenn auch Wohl
jetzt noch manche Angelegenheiten bei den Generalkommissionen nicht die den
Parteien erwünschte Schnelligkeit der Behandlung erfahren, so hat dies seinen
Grund vornehmlich in der Natur der Geschäfte, die den Generalkommissionen
übertragen sind.*) Häufig, ja in der Regel handelt es sich dabei um die Auf¬
hebung jahrhundertelang bestehender Verhältnisse und deren Ersatz durch neu
herzustellende Zustände. Gerade in diesem Umstände liegen Schwierigkeiten,
die bei der lediglich erhaltenden und vorzugsweise auf die Erledigung laufender
Arbeiten gerichteten Thätigkeit andrer Behörden ausgeschlossen sind. Meistens
sind es ferner Angelegenheiten, die an sich äußerst verwickelt und dabei um¬
fangreicher sind als die Arbeiten andrer Provinzialbehörden. Die Zahl der
Beteiligten und die Verschiedenheit ihrer Rechtsverhältnisse machen es not¬
wendig, daß die Kommissare der Generalkommission zur Aufklärung aller Streit¬
punkte häufig an Ort und Stelle verhandeln. Und da diese Verhandlungen
nicht immer in einem Zug und Zusammenhang vorgenommen werden können,
so beanspruchen sie einen großen Zeitaufwand. Bei den wichtigsten Aufgaben,
Separationen, Zusammenlegungen und Rentengutsbildungen, bedarf es umfang¬
reicher Neumessungen und Kartierungen, die zum Nutzen der allgemeinen Landes¬
vermessung und zur Beschaffung richtiger Kataster mit größter Sorgfalt eins-
geführt werden müssen. Die Aufgaben der Generalkommissionen würden an
sich, namentlich bei dem geringern Boden im Osten, gar keine so sorgfältige
und zeitraubende Ausführung dieser Arbeiten erfordern. Zur Beschaffung
richtiger Kataster- und Grundbücher sind sie aber genötigt, peinlich genau zu
arbeiten. Den Dank für diese dem Staate geleistete Hilfe haben sie dann in
den Klagen der Beteiligten über die Verzögerung der Geschäfte! Ferner sind
Jahreszeit und Witterung von großem Einfluß auf die Dauer des Verfahrens.
Zahl und Umfang der Geschäfte wechseln sehr häufig, sodaß es nicht immer
möglich ist, sofort nach eingetretnem Bedürfnis die erforderliche Zahl von Kom¬
missären, Sachverständigen und Landmessern zur Stelle zu haben. Häufig
genug sind es gerade die Parteien selbst, die durch kleinliches Beharren auf
grundlosen Ansprüchen, Häufung von Beweismaterial, das sich nachher als un¬
tauglich herausstellt, und in andrer Weise eine rasche Erledigung der Geschäfte
verhindern. Wenn in der neuern Zeit auch in Rentengutssachen über die lange
Dauer des Verfahrens geklagt wird, so wird dabei übersehen, daß diese lange
Dauer in der Regel dadurch herbeigeführt wird, daß es den Verkäufern nicht
gelingt, tüchtige und vermögende Ansiedler zu gewinnen, Und sind sie ge¬
wonnen, so ist die Generalkommisston zur Aufklärung der persönlichen und
Vermögensverhältnisse der Bewerber wiederum auf andre Personen angewiesen,
die sich von der Eilbedürftigkeit der von ihnen verlangten Nachrichten nicht
leicht überzeugen lassen. Endlich ist die Gründung einer Kolonie eine so tief
in das wirtschaftliche, soziale und politische Leben einer Gegend eingreifende
Maßregel, daß Verzögerungen unvermeidlich werden. Das ist um so mehr
der Fall, als unsrer Büreaukratie im allgemeinen von der außerordentlichen
Bedeutung der innern Kolonisation wenig Verständnis nachzurühmen ist. Manche
Beamten stehen dieser Aufgabe geradezu feindlich gegenüber und suchen ihr offen
oder versteckt Abbruch zu thun. Manche verhalten sich gleichgiltig dagegen,
und nnr wenige suchen die Thätigkeit der Auseinandersetzungsbehörden zu
fördern. Alle Verzögerungen, die durch solche UnWillfährigkeit entstehen, werden
natürlich der leitenden Behörde, der Generalkvmmission, zur Last gelegt.
Vor den Kosten, die durch Auseinandersetzungssachen entstehen, herrscht
noch immer große Angst, und doch ist diese Furcht durchaus unbegründet.
Nachdem durch das Gesetz vom 24. Juni 1875 müßige Pauschsätze eingeführt
sind, sind die Kosten nirgends mehr ein Hindernis sür die Durchführung von
Auseinandersetzungen. Für Separatiouen und Zusammenlegungen sollen für
das Hektar umzulegender Flüche in der Regel 12 Mark erhoben werden, die
Generalkommissionen sind aber befugt, diesen Satz unter besondern Umständen
bis auf 27 Mark zu erhöhen oder bis auf 3 Mark zu ermäßigen. Man darf
als sicher annehmen, daß der Höchstbetrag wohl nur ganz selten erhoben wird,
und daß dem Gesetze gemäß Erhöhungen nnr bei außergewöhnlich hohem Wert
und Ertrag und bei außergewöhnlichem Umfange der Arbeit vorkommen werden;
bei den an sich weniger technische Arbeiten erfordernden Nentengutssachen wird
der Fall wohl nur selten eintreten, daß der gewöhnliche Pauschsatz von
12 Mark überschritten wird. Dieser ist aber so gering, daß bei wertvolleren
Boden der in Rentengutssachen wegfallende Kausstempel von 1 Prozent sast
soviel betragt wie die Kosten des ganzen Rentengutverfahrens.
Dazu kommt, daß, wenn die Beteiligten der Beihilfe des Staates bedürfen
und durch besondre Nachgiebigkeit die Verhandlungen erleichtern, die Kosten
ganz oder zum Teil erlassen werden können- Diese Befugnis ist bis zum
Betrage von 150 Mark auf die Generalkommissionen übertragen und wird von
ihnen in wohlwollender Weise gehandhabt. Die Generalkommissionen sind
endlich befugt, die durch eine unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld
der Beteiligten entstandnen Kosten niederzuschlagen und für abweisende Bescheide,
wenn der Antrag auf nicht anzurechnender Unkenntnis der Verhältnisse oder
auf Unwissenheit beruht, Gebührenfreiheit zu gewähren. Auch von dieser Be¬
fugnis wird nicht selten Gebrauch gemacht. Was endlich die Kosten der infolge
der Ausführung von Auseinandersetzungen und Nentengutsgründungen not¬
wendig werdenden Anlagen an Wegen, Gräben und sonstigen Einrichtungen
einschließlich der Kosten für Arbeitslöhne, Steine, Stangen, Pfähle usw. betrifft,
so sind hierfür im letzten Staatshaushalt für Auseinandersetzungen 355000,
für Nentengutssachen 200000 Mark ausgesetzt. Diese Beitrüge reichen vor¬
läufig aus, bedürftigen Beteiligten angemessene Unterstützungen zu gewähren.
Nach alledem kann man füglich behaupten, daß die Klagen über die lange
Dauer und die Kosten der Geschäfte der Auseinandersetzungsbehörden, soweit
sie begründet sind, nicht den Generalkommissionen zur Last fallen, sondern in
der Natur der Geschäfte ihren Grund haben und keine Beachtung finden können,
wenn man die Sache selbst für gut und zweckmäßig hält. Im wesentlichen
sind diese Klagen — man darf es ruhig aussprechen — auch gar nicht die
wirklichen Gründe der Unbeliebtheit der Generalkommissionen. Die wirklichen
Gründe liegen auf ganz andern Gebieten. Ein Mitglied des Abgeordneten¬
hauses (also nach der Ansicht des Herrn Präsidenten von Kröcher einer der
klügsten Leute) hat einmal den Ausspruch gethan, es gehöre zum guten Ton,
auf die Generalkommissionen zu schimpfen. Der sogenannte „gute Ton" wird
aber in Preußen — und wohl auch anderswo — in nichtmilitürischen Kreisen
vorzugsweise durch zwei Bevölkerungsklassen angegeben, die sich großen An¬
sehens und reicher Machtfülle erfreuen. Und gerade deren Gunst haben sich
die Generalkommisstonen verscherzt. Diese Gegner sind die gesamte Vüreau-
kratie, besonders in der Verwaltung, und der Großgrundbesitz. Der Grund
der Feindschaft liegt bei dem ersten Gegner in der Machtvollkommenheit, die
den Generalkommissionen in den bei ihnen anhängigen Geschäften eingeräumt
ist; bei dem ander» Gegner liegt er in der Thätigkeit der Generalkommissionen
selbst. Das bleibt näher zu begründen. Solange eine Auseinandersetzung oder
eine Nentengutsbildung bei einer Generalkommisston anhängig ist, tritt diese
im wesentlichen an die Stelle aller übrigen Verwaltungs- und Justizbehörden.
Sie hat, wie es in den Verordnungen vom 20. Juni 1817 und vom 30. Juni
1834 heißt, nicht bloß den Hciuptgegenstand der Auseinandersetzung zu regeln,
sondern auch alle andern Rechtsverhältnisse, die bei der vorschriftsmäßigen
Ausführung der Auseinandersetzung nicht in ihrer bisherigen Lage verbleiben
können. Dabei gebührt ihr, außer der allgemeinen Leitung und Belehrung der
mit den Auseinandersetzungen beauftragten Kommissare, der Erlaß aller obrig¬
keitlichen Festsetzungen, deren es bedarf, um die Auseinandersetzung zur Aus¬
führung zu bringen und die Beteiligten zu einem völlig geordneten Zustande
zurückzuführen. Ihr gebührt die Bestätigung der Auseinandersetzungsrezesse
und die Veranlassung der Zwangsvollstreckung. Wo eine Auseinandersetzung
schwebt, unterliegen ferner alle Streitigkeiten, die die Teilnehmungsrechte oder
die Art und Weise der Abfindungen betreffen oder sonst in notwendigen Zu¬
sammenhange mit der Auseinandersetzung stehen, der Entscheidung der Aus¬
einandersetzungsbehörden. Diese haben also unter andern: über alle Eigentums-,
Besitz- und Grenzstreitigkeiten zu befinden. Nicht minder entscheiden sie die
Streitigkeiten über die Entschädigungsansprüche aus der Vergangenheit und
über die Rückstände von Abgaben, die zur Ablösung gelangen. Sie sind ferner
befugt, ihre Vermittlung auch auf Geschäfte sowohl unter den Hauptparteien
als unter diesen und andern nicht beteiligten Personen auszudehnen. Und
diese Befugnis haben sie sogar dann, wenn die Regelung solcher Geschäfte zwar
in keinem Zusammenhange mit dem Hauptgegenstande der anhängigen Aus¬
einandersetzung (Rentengutsbildung) steht, aber zur bessern Ordnung des Haupt¬
geschäfts gereicht. Sie haben ferner das Interesse der entferntem Teilnehmer,
besonders der eingetragnen Hypothekengläubiger sowie der Lehrs- und Fidei-
kommißsolger und -Anwärter von Amts wegen wahrzunehmen. Und endlich
liegt ihnen auch die Wahrnehmung der landespolizeilichen Interessen z. B. für
die öffentlichen Wege ob. Erst mit der Bestätigung des Rezesses tritt mit
bestimmten, hier nicht näher zu erörternden Ausnahmen die Zuständigkeit der
ordentlichen Justiz- und Verwaltungsbehörden wieder ein. Hiernach setzen sie
in der That, solange eine Auseinandersetzung schwebt, alle übrigen Behörden,
so weit es sich um den Gegenstand der Auseinandersetzung handelt, sast außer
Thätigkeit. Allerdings sind sie immer aus den guten Willen zahlreicher andrer
Behörden angewiesen; sie haben noch mancherlei Genehmigungen von Aufsichts¬
behörden, Vormundschaftsgerichten usw. einzuziehen, die Negierung um die Be¬
richtigung der Kataster, die Amtsgerichte um die Berichtigung der Grundbücher
anzugehen, in Kolonisationsangelegenheiten den Kreisausschuß, in Wegesachen
den Landrat zu hören usw., und dadurch werden viele Verzögerungen herbei¬
geführt, die natürlich alle den Geueralkommifsionen aufs Kerbholz gesetzt werden.
Doch bleibt ihnen immer noch eine Machtfülle, die selbstverständlich der übrigen
Beamtenwelt nicht angenehm ist. Wenn es auch vorkommen mag, daß Gerichte
die Akten in einer recht verwickelten Prozeßsache gern an die Auseincmder-
setzuugsbehörde abgeben, so ist doch schließlich bei allen Sterblichen die Freude
am Besitze der Macht zu groß, als daß jemand eine solche Beeinträchtigung
mit günstigen Augen betrachten sollte. Lehnen sich andre Behörden gegen das
störende Eingreifen der Generalkommissionen auf, so ziehen sie meistens den
Kürzern, und das kann nicht überraschen. Die Generalkommissionen haben in
diesen Zuständigkeitsfragen die reichsten Erfahrungen und wissen in der Regel,
wie weit sie ihre Ansprüche auszudehnen haben. Sie kennen auch die Zu¬
ständigkeit und den Geschäftsgang der andern Behörden, mit denen sie in
Streitigkeiten geraten, während diese von den Befugnissen und demi Geschäfts¬
betriebe der Auseinandersetzungsbehörden häufig nur recht mangelhaft unter¬
richtet sind. Holen sie sich nun bei dem Kompetenzgerichtshof oder bei der
sonst entscheidenden höhern Stelle eine abweichende Entscheidung, so wird das
Mißvergnügen über die Machtvollkommenheit der Generalkommissionen nur
vermehrt.
Weshalb der Großgrundbesitz die Generalkommissionen mit unfreundlichen
Augen betrachtet, leuchtet leicht ein. Sie sind es ja, die durch Aufhebung der
Dienste wie überhaupt durch die Regulierung der gutsherrlich-bäuerlichen Ver¬
hältnisse die Macht des Großgrundbesitzes in den östlichen Landesteilen er¬
heblich eingeschränkt, ja seine ganze Stellung von Grund aus verändert haben.
Noch vor kurzem schrieb ein Großgrundbesitzer an den Verfasser dieses Auf¬
satzes, das Gesetz vom 2. März 1850. betreffend die Ablösung der Reallasten
und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, sei nicht
für die Großgrundbesitzer gemacht. Wie weit die Abneigung gegen die General¬
kommissionen geht, hat sich bei den vor zwei Jahren gepflognen Laudtags-
verhcmolungen über die Gründung einer neuen Generalkommissivn in Königsberg
klar gezeigt. Besonders die Äußerungen einzelner Redner des Herrenhauses
lassen über die Stimmung, von der manche Mitglieder des hohen Hauses gegen
diese Behörden durchdrungen sind, nicht den geringsten Zweifel. Einer der
Redner vergleicht in höchst geschmackvoller Weise die Einsetzung einer neuen
Generalkommission in einer Provinz mit der Eröffnung eines neuen Wirts¬
hauses in einem Dorfe. Nicht minder deutlich äußert sich ein andrer Herr in
einer ungehaltncn Rede, die in Ur. 107 der Kreuzzeitung vom 4. März 1896
unter der Überschrift „Generalkommission rsclivivg," abgedruckt ist. Hier wird
den Generalkommissionen auch der Vorwurf gemacht, daß sie sich schon in der
achtunovierziger Bewegung keineswegs durchweg als Träger der königlichen
Autorität bewährt Hütten. Die Ansicht, daß die Gencralkommissionen nur aus
„Liberalen" zusammengesetzt seien, herrscht überhaupt wunderbarerweise noch in
manchen Kreisen des Beanuentums und des Großgrundbesitzes. Ein ostelbischer
Landrat soll sie nach glaubhafter Mitteilung kurz aber klar „rote Behörden"
bezeichnet haben. Und doch ist nichts unrichtiger als diese Anschauung. Die
Generalkommissionen als solche sind natürlich weder liberal noch konservativ.
Ihre Mitglieder und Beamten befassen sich im allgemeinen wenig mit Politik,
weil sie der Ansicht sind, daß sie sich unparteiisch zwischen den verschiednen
politischen Anschauungen der Beteiligten halten oder vielmehr darüber stehen
müssen. Auch sind sie mit dienstlichen Geschäften so überladen, daß ihnen zur
Beschäftigung mit politischen Treibereien keine Muße bleibt. In einer Zeit,
wo die Pflege der Landwirtschaft die staatliche Fürsorge so sehr in Anspruch
nimmt, ist es wahrhaftig kaum zu begreifen, wie noch so viele Großgrund¬
besitzer die einzige lediglich mit landwirtschaftlichen Dingen beschäftigte Behörde
zum Gegenstande von Angriffen machen können. Das ist umso verwunder¬
licher, als keine neue Einrichtung auf dem Gebiete der Agrarreform eingeführt
wird, ohne daß den Generalkommissionen die Ausführung oder doch eine weit¬
gehende Mitwirkung dabei übertragen wird. Ich erinnere nur an die Renten¬
güter- und die Anerbengutsgesetze. Man muß immer wieder auf die General¬
kommissionen zurückgreifen, weil es eben an andern, auch nur annähernd so
geeigneten Behörden mangelt; und man kann sagen, hätte man die General-
kvmmissionen nicht, so wäre es gerade jetzt zur Durchführung einer gesunden
Agrarpolitik geboten, solche oder ähnliche Behörden zu schaffen. Es ist ein
erfreuliches Zeichen, daß sich diese Überzeugung in neuester Zeit auch in den
Kreisen der mit der Vertretung der Landwirtschaft betraute» Landwirtschasts-
kammern Eingang zu verschaffen anfängt. Das Zusammenwirken einiger öst¬
lichen Generalkommissionen mit den Landwirtschaftskammern läßt nichts zu
wünschen übrig und berechtigt zu der Erwartung, daß die Vorurteile gegen
die Generalkommissionen immer mehr schwinden werden.
Muß man hiernach entschieden gegen die — allerdings nur vereinzelt —
geforderte Aufhebung oder wesentliche Umgestaltung der Genernlkommissionen
eintreten, so ist doch keineswegs zu verkennen, daß mancherlei Verbesserungen
in ihrer Einrichtung höchst wünschenswert, ja dringlich notwendig sind. Das
Ziel aller Änderungsbestrebungen kann aber nicht in einer Verbinonng mit
andern Staats- oder Selbstverwaltungsbehörden liegen, die zum großen Teil
an einem ganz andern Strange ziehen oder Kirchturmsinteressen verfolgen. Zur
Durchführung einer gesunden Agrarpolitik, besonders zur Leitung der durchaus
gebotnen innern Kolonisation sind unabhängige Behörden nötig, die ihre schweren
Aufgaben uneigennützig nach großen nationalen, volkswirtschaftlichen und sozial¬
politischen Rücksichten zu erfüllen suchen. Solche Behörden können nur da¬
durch geschaffen werden, daß die Einrichtung der Generalkommissionen im
wesentlichen beibehalten und eine geeignete, für die Begründung von Renten-
gütern schon angebahnte Verbindung mit den Laudwirtschaftskammern her¬
gestellt wird.
is man gleich nach der Gründung des Reichs notgedrungen an
die Ordnung des Geldwesens ging, erschien zunächst die Be¬
seitigung oder Einschränkung und Regelung des Papiernmlaufs
den meisten als ein die Münzfrage nicht unmittelbar berührender
Zweig der Bankgesetzgebung. Erst allmählich brach sich die Er¬
kenntnis Bahn, daß die Notenbanken nicht bloß zur Befriedigung privater
Kreditbedürfinsse dienten, daß eine Zentralbank notwendig sei, die den gesamten
Geldverkehr und die Beziehungen des inländischen Geldumlaufs zum aus¬
ländischen zu überwachen und zu regeln habe, und daß diese Zentralbank gerade
bei der geplanten Neuordnung des Geldwesens wichtige Aufgaben zu erfüllen
haben werde. Man faßte also vorläufig das Ziel der deutschen Münzeinheit
ohne Rücksicht auf das Bankwesen ins Auge. Vorgearbeitet hatten namentlich
der Kongreß deutscher Volkswirte und der deutsche Handelstag, die, von
Soetbeer belehrt, die englische Goldwähruugstheorie angenommen hatten. In
England hatte zuerst Locke erkannt, daß es nur einen Wertmesser geben könne,
Doppelwährung also unmöglich sei, und Lord Liverpool hatte dann weiter
als Ergebnis der Erfahrung den Satz aufgestellt, daß die Völker bei fort¬
schreitender Kultur vom weniger wertvollen zum wertvollern Münzmetall über¬
gehn. Dieser Satz bedarf freilich, wie Helfferich bemerkt, der Korrektur, da
gerade die ältesten Münzen Goldmünzen sind. Aber abgesehen von dieser
allerültesten Zeit, wo das Geld noch weit mehr bloß Ware als wirkliches Geld
war, ist man in der That bei fortschreitender Kultur immer von wohlfeilern
zu teurem Münzmetallen übergegangen, und ein solcher Übergang findet heute
noch statt. Der volkswirtschaftliche Kongreß hat von 1359 an, der deutsche
Handelstag von seiner Begründung im Jahre 1861 an die Münzfrage auf die
Tagesordnung gesetzt. Beide sprachen sich für die Goldwährung aus, erklärten
aber die Münzeinheit für das nächste und dringendste. Bei der Frage nach
der zu wählenden Münzeinheit hatte der Drittelthaler, die Mark, die Mehrheit
für sich, obwohl die Süddeutschen eifrig den Gulden, deu Zweidrittelthaler,
empfahlen, nur des Namens wegen, denn der süddeutsche Gulden, der in kein
vernünftiges Münzsystem gepaßt hätte, war das ja nicht. Diese nüchternen
kaufmännischen Beratungen wurden einigermaßen durch den Rausch gestört,
den 1867 der Pariser Kongreß mit seiner Idee der Weltmünze erzeugte. Die
Resolutionen von 1367 und 1868 forderten den Anschluß an das Franken¬
system, und selbst Soetbeer ließ sich von der allgemeinen Begeisterung fort¬
reißen. Wenn man nun auch davon wieder zurückkam, so hatte doch der
Kongreß in allen Fachmännern die Überzeugung befestigt, daß die Zukunft dem
Golde gehöre, und daß sich Deutschland isolieren würde, wenn es sein Münz-
wesen auf einer andern Grundlage als der Goldwährung ordnen wollte; daß
um dieselbe Zeit der Silberpreis zu sinken begann, konnte zum Fortschreiten
auf der eingeschlagnen Bahn nur ermutigen. Sonderbarerweise, und doch ganz
natürlicherweise, war es gerade die steigende Goldfülle, was nicht das Gold,
sondern das Silber entwertete. Indem sich nämlich die europäischen Völker
mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut machten, daß Gold das eigentliche
Währungsmetall sei, hielt die Nachfrage nach Gold mit der Produktion gleichen
Schritt, während die nach Silber nachließ. Unter diesen Umständen wurde das
Verlangen der Handelswelt nach einer baldigen Münzreform immer dringender.
Man sah den weitern Sturz des Silberpreises bei fortschreitender Demoneti-
sierung des Silbers voraus, und daß für Deutschland der Verlust an seinem
Silber um so größer sein werde, je länger es zögre und sich die andern
Staaten zuvorkommen lasse. Die führende Macht im Norddeutschen Bunde,
Preußen, hielt sich jedoch vorsichtig zurück. Einerseits mochte die Negierung
die Kostspieligkeit der Änderung fürchten, dann aber waren die hohen Staats¬
beamten mit Arbeiten so überhäuft, daß sie kaum Zeit gefunden haben können,
die schwierige Materie zu studieren und Klarheit darüber zu gewinnen. Da
brach der französische Krieg aus, schuf das Deutsche Reich und rurale alle
Hindernisse der Münzreform hinweg.
Zunächst die der Vielstaaterei entspringenden: die Reichsverfassung erklärte
das Münz-, Papiergeld- und Notenwesen für eine Angelegenheit des Reichs.
Dann konnten bei dem Riß zwischen Deutschland und Frankreich die auf eine
Münzeinheit gerichteten Bestrebungen nicht mehr durch die Idee einer Welt¬
münze auf der Grundlage des Frankensystems abgelenkt werden. Endlich und
vor allem aber hatte man das Gold zur Durchführung der Währungsordnung.
Auch in dieser Beziehung, wie in der Weltstellung überhaupt, hatten Deutsch¬
land und Frankreich die Rollen vertauscht. Wir können den Gang der nnn
beginnenden Refvrmarbeit nicht Schritt für Schritt verfolgen und müssen uns
darauf beschränken, die wichtigsten und interessantesten Etappen anzumerken.
Der erste im Reichskanzleramt ausgearbeitete Entwurf hatte noch gar nicht
die durchgreifende Münzregulierung zum Gegenstände und ließ die Wührungs-
frage beiseite; er wollte nur dem Bedürfnis des Verkehrs nach Goldmünzen
abhelfen und die neuen Goldmünzen so einrichten, daß sie in das zukünftige
deutsche Münzsystem paßten. Die drei ersten Paragraphen des Entwurfs
lauteten: „Es wird eine Reichsgoldmünze ausgeprägt, von welcher aus einem
Pfunde feinen Goldes 46^/z Stück ausgebracht werden. Der dreißigste Teil
dieser Goldmünze wird Mark genannt und in 10 Groschen, der Groschen in
10 Pfennige eingeteilt. Außer der Neichsgoldmünze zu 30 Mark sollen aus¬
geprägt werden: Neichsgoldmünzen zu 15 Mark, von welchen aus einem Pfunde
seinen Goldes 93 Stück, und Reichsgoldmünzen zu 20 Mark, von welchen
aus einem Pfunde feinen Goldes 69^ Stück ausgebracht werden." Dieser
Entwurf rief in den Kreisen der Münzgelehrten und der Kaufleute eine heftige
Opposition hervor; denn er brachte außer der Aussicht auf Goldmünzen nichts
als das alte Thalcrshstem — Ersatz der Zehnthaler- und Fünfthalerscheine
durch Goldstücke — mit einer nicht hinein passenden Konzession an das Mark¬
system, dem Zwanzigmarkstück, und ließ in Süddeutschland die Gulden bestehn.
Man verlangte sür das ganze Reich die Mark als Einheit und streng durch¬
geführte Stückelung nach dem Dezimalsystem, ohne Rücksicht auf die Thaler.
Gerade die Thaler aber waren dem alten Kaiser ans Herz gewachsen, und das
goldne Zehnthalerstück wollte er sich nicht nehmen lassen, das war die eine
große Schwierigkeit unter vielen andern. Hier nun leistete der Partikularismus
einmal der Reichseinheit einen Dienst: die Süddeutschen waren bereit, den
Gulden zu opfern, wenn Preußen den Thaler opfre, und so mußte dieser denn
zuletzt weichen — nicht körperlich, so haben wir ihn ja noch, aber als Grund¬
lage des Münzshstems. Mehr noch als die technische Weisheit der Münz¬
verständigen hat die frische Begeisterung der nationalliberalen Reichstagsmehr-
heit für die Neichseinheit unsrer braven Mark zum Siege verholfen, wie es
andrerseits weniger Sachkenntnis als Partikularistische und ultramontane Ab¬
neigung gegen die Reichseinheit mit der preußischen Spitze war, was die Minder¬
heit auch in der Münzfrage zu opponieren veranlaßte. Von den Staatsmännern
war der ganz in preußischen Partikularismus eingesponnenc Finanzminister
Camphausen sowohl bei der Münzreform wie später bei der Reichsbank¬
gründung der Vater aller Hindernisse. Der Präsident des Reichskanzleramts,
Delbrück, war zwar der Reform günstig gesinnt; er war auch „ein feiner Kopf
und ein sehr geschickter Diplomat, aber keine Kraftnatur; es fehlte ihm das
Pathos in Reden und Handeln. So trat er auch in der Münzfrage nichts
weniger als leidenschaftlich für seine Pläne ein; wo er Widerstand fand, scheint
er sich nicht allzusehr bemüht zu haben, schon in diesen ersten Stadien der
Gesetzgebung seiner Auffassung Geltung zu verschaffen." Bismarck endlich
wappnete sich gegen die unangenehme Sache mit dem Panzer der Wurschtigkeit;
er hielt die Münzangelegenheit sür eine Bagatelle, um deren willen es sich
nicht lohne, es mit den Regierungen und den Landesvätern zu verderben. Nur
wenn ihm die Mißstimmung einer Negierung über Beschlüsse in der Münz¬
sache das Konzept zu verderben drohte, griff er in die Verhandlungen ein.
So wies er in einer Reichstagssitzung den Grafen Münster scharf zurecht, der
dagegen protestiert hatte, daß die Neichsgoldmünzen das Bildnis des Landes¬
herrn tragen sollten,*) was natürlich bei den bayrischen und wiirttembergischen
Abgeordneten einen Sturm erregte. Mit t,urbg,rs oiroulos insos! rief er dem
unvorsichtigen Deutschpatrioten zu. Als in der ersten Lesung die Anträge Bam-
bergers, die die Münzhoheit des Reichs klar auszudrücken bezweckten, abgelehnt
wurden, warf der Antragsteller die Büchse ins Korn und erklärte, einem Gesetz,
das dieses Wichtigste unentschieden lasse, könne er seine Zustimmung nicht
geben. Bei der zweiten Lesung brachte Laster diese Anträge durch, die als
s 6 des Gesetzes vom 4. Dezember 1871 lauten: „Bis zum Erlaß eines Gesetzes
über die Einziehung der groben Silbermünzen ersolgt die Ausprägung der
Goldmünzen auf Kosten des Reichs für sämtliche Bundesstaaten auf den Münz¬
stätten derjenigen Bundesstaaten, welche sich dazu bereit erklärt haben. Der
Reichskanzler bestimmt unter Zustimmung des Bundesrath die in Gold aus¬
zumünzenden Beträge, die Verteilung dieser Beträge auf die einzelnen Münz¬
stätten und die den letztern für die Prügung jeder einzelnen Münzgattung
gleichmäßig zu gewährende Vergütigung. Er versieht die Münzstätten mit dem
Golde, welches für die ihnen überwiesenen Ausprägungen erforderlich ist."
Die drei ersten Paragraphen wurden in folgender Fassung Gesetz: „Es wird
eine Reichsgoldmünze ausgeprägt, von welcher aus einem Pfunde feinen Goldes
139^/z Stück ausgebracht werden. Der zehnte Teil dieser Goldmünze wird
Mark genannt und in 100 Pfennige eingeteilt. Außer der Reichsgoldmünze zu
10 Mark sollen ferner ausgeprägt werden Reichsgoldmünzen zu 20 Mark, von
welchen aus einem Pfunde feinen Goldes 69^ Stück ausgebracht werden."
In weitern Paragraphen wird bestimmt, daß alle Zahlungen in diesen Gold¬
münzen giltig geleistet werden können, und wieviel sie in der bisherigen preu¬
ßischen, süddeutschen, indischen, bremischen und Hamburger Währung gelten
sollen. Der Z 10 lautet: „Eine Ausprägung von andern als den durch dieses
Gesetz eingeführten Goldmünzen, sowie von groben Silbermünzen, mit Aus¬
nahme von Denkmünzen, findet bis auf weiteres nicht statt." Der § 11 endlich
ordnet die Einziehung der „zur Zeit umlaufenden" Goldmünzen an und er¬
mächtigt den Reichskanzler, „in gleicher Weise die Einziehung der bisherigen
groben Silbermünzen der deutschen Vundesstacitcn anzuordnen und die dazu
erforderlichen Mittel aus deu Beständen der Reichskasse zu entnehmen." Über
die Ausführung dieser Bestimmungen solle dem Reichstag alljährlich Rechen¬
schaft gegeben werden.
Helfferich faßt das Ergebnis in folgenden Sätzen zusammen. „Die Mark
war, wie vorgeschlagen, als Ncchnungseinheit angenommen, aber jeder allzu
deutliche Anklang an das Thalersystem war konsequent beseitigt. Die Münz¬
verfassung war zentralistisch geordnet, im Gegensatz zur Bundesvorlage. Von
höchster Wichtigkeit sür die Durchführung der Reform war, daß nach den Be¬
schlüssen des Reichstags die Landesmünzen von Reichs wegen und auf Reichs¬
kosten eingezogen werden sollten, während nach der Auffassung des Bundesrath
die einzelnen Landesregierungen selbständig die Beseitigung ihres Müuzumlaufs
hätten vornehmen müssen. Dadurch, daß der Reichstag die Leitung der Reform
in die Hunde der Zentralgewalt gab, ermöglichte er überhaupt erst die Durch¬
führung der Münzreform. Der Übergang zur Goldwährung, an sich und bei
einheitlicher Leitung schon schwierig genug, hätte niemals gelingen können,
wenn man es den Einzelstaaten überlassen hätte, für sich und jeder nach seinen
Kräften und seinem guten Willen auf die Goldwährung loszumarschieren.
Schließlich that der Reichstag, über die Bundesvvrlage hinaus, eiuen be¬
deutenden Schritt zur Goldwährung. Da man eingestandnermaßen allgemein
die Goldwährung wollte, so mußte man alle Maßregeln ergreifen, um sich
jetzt schon den Übergang zu ihr möglichst zu erleichtern. Der Bundesrat hatte
in dieser Hinsicht das Gesetz gegenüber dem Präsidialantrag schon bedeutend
verbessert, indem er den Goldmünzen an Stelle des vorgeschlagnen Kassen¬
kurses gesetzlichen Kurs gegeben hatte. Aber erst der Reichstag zog aus dem
Willen, zur Goldwährung überzugehn, die vollen Konsequenzen, indem er das
Verbot der weitern Silberprägung und die Ermächtigung zur Einziehung von
Landessilbermünzen in das Gesetz einschob, Bestimmungen, ohne welche sich die
Schwierigkeiten des unvermeidlichen Währnngswechsels noch erheblich vergrößert
hätten. Man mag heute zur Währungsfrage stehen, wie man will, in jedem
Falle wird man anerkennen müssen, daß der Reichstag das Beste an diesem
grundlegenden Gesetze geleistet hat. Er setzte sich mit kühnem Schwung über
die Bedächtigkeit und Engherzigkeit der Einzelregierungen und des Bundesrath
hinweg und gab vor allem dem deutschen Volke eine wirklich einheitliche Münz-
verfnsfung."
Oder vielmehr erst die Grundlage für eine solche. Denn das Gesetz hatte
eigentlich nur zwei neue Goldmünzen eingeführt, diese aber in den verschiednen
Landesmünzen tarifiert und die Landeswährungen selbst nicht angetastet; der
Norden rechnete nach wie vor nach Thalern, der Süden nach Gulden. Ebenso
wenig war die Goldwährung eingeführt. Die heutige Ordnung ward erst
durch das Gesetz vom 9. Juli 1873 geschaffen, dessen erster Artikel lautet:
„An die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Neichs-
goldwährung. Ihre Nechnungseinheit bildet die Mark, wie solche durch s 2
des Gesetzes vom 4. Dezember 1871, betreffend die Ausprägung von Neichs-
goldmÜnzen, festgestellt wordeu ist." Diesem Gesetze stand die große Schwierig¬
keit im Wege, daß die neue Währung nicht süglich proklamiert werden konnte,
ehe der Verkehr mit den Münzen des neuen Systems ausreichend versorgt
war, daß aber das vorgeschlagne Gesetz die Prägung der außer den Gold¬
münzen erforderlichen Stücke erst anordnen sollte. Indes Not bricht Eisen,
und so kam man durch allerlei widerspruchsvolle Zustände und Gefahren hin¬
durch schließlich in die unabwendbare neue Währung hinein. Von den Pessi¬
misten und den grundsätzlichen Gegnern der Goldwährung wurden die Schwierig¬
keiten natürlich übertrieben. Als bei der Beratung des Bankgesetzes im Spät¬
herbst 1894 ein neuer § 14 vorgeschlagen wurde, der die Neichsbauk verpflichtete,
Barrengold zum Satze von 1392 Mark für das Pfund fein gegen ihre Noten
umzutauschen, da erklärte der Bimetallist Schröder-Lippstadt, er widerspreche
dem Paragraphen nur wegen seiner grundsätzlichen Tragweite, praktisch sei er
bedeutungslos. „Die alten Parther haben einmal einen sehr habsüchtigen
Römer, den Krassus, dadurch umgebracht, daß sie ihm geschmolzenes Gold in
den Hals gössen. Wenn sie nicht mehr Gold gehabt Hütten, als was infolge
dieses Paragraphen in die deutsche Reichsbnnk fließen wird, so würde Krassus
heute noch leben." Einen so weiten Rachen hat Krassus denn doch nicht
gehabt; die Neichsbauk hat bis 1897 für weit mehr als zwei Milliarden Gold
angekauft. Aber klein war die Schwierigkeit nicht. Darin bestand sie ja nicht
mehr, daß man nicht gewußt hätte, woher man das Gold nehmen sollte; das
hatte man ja dank der Tapferkeit der deutschen Heere, ihrer vortrefflichen
Leitung und den von Bismarck diktierten Friedensbedingungen. Die Frage
war nur: Wohin mit dem Silber? N»d wie soll man den Abfluß des neu
gewonnenen Goldes verhüten? Dieser drohte nämlich, wenn es nicht gelang,
die Silbereinz'ehung gleichzeitig mit der Verbreitung des Goldes zu bewirken.
Ließ man das Silber weiter umlaufen, so entstand ein Geldübe^fluß, der not¬
wendigerweise zur Ausfuhr von Eoelmejall führen mußte, und es war keine
Frage, daß das kostbarere Metall abfließen würde. Andrerseits würde eine
rasche Einziehung und Veräußerung alles Silbers den S'lberpreis übermäßig
gedrückt und dadurch dem Reiche bedeutende Verluste zugezogen haben. Nach
Helfferichs Darstellung hat die Neichsregierung mit Hilfe der Reichsbank die
schwierigen Aufgaben der Goldbeschafsnng und der Silberveräußerung") sehr
gut gelöst, ist dagegen bei der Einziehung des Silbergeldes allzu lässig ver¬
fahren. Dazu kam, daß man anch das alte Papiergeld umlaufen ließ, während
Goldgelb zwar reichlich vorhanden war, aber in den Juliusturm und in die
Banken, namentlich in die Preußische Bank — die Reichsbank war noch nicht
vorhanden — eingesperrt und daher unsichtbar blieb, was der Goldwährung
viel Spott zuzog. Als dann das Gold endlich in den Verkehr gelangte und
demnach der große Geldüberfluß zur Erscheinung kam, da beförderte dieser
zunächst die Gründerei; auf diese folgte, durch den Krach eingeleitet, eine
längere Depression; ein Teil des Geldes war nun überflüssig, und das Gold
begann im Juli 1874 wirklich abzufließen. Indes kam man mit der Zeit
über alle diese Schwierigkeiten hinweg, obgleich dem Verlangen Bambergers
nach einem „Münz-Stephan" nicht entsprochen wurde, und das Reichskanzler¬
amt unter Delbrücks Leitung neben seinen sonstigen ungeheuern Aufgaben auch
noch diese wahrlich nicht kleine zu lösen hatte. Daß man die Thaler nicht
allein beibehalten, sondern ihnen sogar Zahlungskraft eingeräumt hat, ist mehr
ein Schönheitsfehler — unsre Währung hinkt bekanntlich — als eine Ge¬
fährdung der Goldwährung. Die noch vorhandnen Thaler machen 380 Mil¬
lionen Mark aus; davon liegen 150 Millionen Mark überflüssig in der Neichs-
bank, die zur Regelung des Silberumlaufs nur 125 Millionen Mark an
Thalern und Scheidemünzen braucht, aber 275 Millionen hat. Wie wenig
übrigens die Reform planmäßig angelegt war, wie sehr man, ganz so wie früher
England, unter dem Drange der Umstände auf dem Wege der Abwehr von
Schädigungen hineingeriet, wird unter anderen durch die Thatsache beleuchtet,
daß schou am 3. Juli 1871, ehe sich noch die Regierungen über den Entwurf
eines provisorischen Münzgesetzes verständigt hatten, die Berliner Münze den
Silberzufluß durch die Verweigerung weiterer Silberankäufe hemmen mußte.
Über die viel umstrittne Frage, ob und in welchem Grade die Demoneti-
sierung des Silbers in Deutschland die Silberentwertung verschuldet habe,
erhält man im zweiten Bande von Helfferichs Werk den vollständigsten und
genauesten Aufschluß. Nicht bloß von Jahr zu Jahr, sondern von Vierteljahr
zu Vierteljahr und beinahe von Monat zu Monat verfolgt der Verfasser die
Bewegung des Silberpreises und die auf ihn einwirkenden Umstände. Aus
den Thatsachen geht klar hervor, daß die deutschen Silberverküufe unmittelbar
gar keinen Einfluß geübt haben. Nur durch Fälschungen ist es Otto Arendt
in seiner Schrift: „Die vertragsmäßige Doppelwährung" gelungen, einen un¬
mittelbaren Zusammenhang zwischen den deutscheu Verkäufen und dem Fall des
Silberpreises nachzuweisen. Helfferich führt in der Anmerkung auf Seite 345
einen Fall von Datumsfälschung an und bemerkt, daß solche Fälschungen in
dieser Schrift nicht etwa Ausnahmen, sondern die Regel seien. Hätte Deutsch¬
land sein ganzes überflüssiges Silber auf einmal auf den Markt geworfen, so
hätte das allerdings einen starken Preissturz zur Folge haben müssen, denn
diese Masse überstieg die Silbergewinnung eines Jahres um ein mehrfaches.*)
Aber Deutschland verfuhr, wie schon bemerkt worden ist, in seinem eignen
Interesse vorsichtig und schonend. Nicht die einzelnen Silberverkäufe, wohl
aber die Demouetisierung des Silbers in Deutschland, dem andre Staaten,
zunächst die skandinavischen, folgten, wirkten preisdrückend schon aus dem
Grunde, weil dadurch die Minderwertigkeit des Silbers für monetarische Zwecke
aller Welt offenbar wurde. Und diese Wandlung in der Schätzung des Silbers
traf zusammen einerseits mit einer starken Steigerung der Silberförderung,")
andrerseits mit der Abnahme der indischen Nachfrage, wobei noch dazu die
Jndia-Council-Bills, die Anfang der siebziger Jahre in Brauch kamen, dem
Silber Konkurrenz machten; es sind dies Wechsel, die vom indischen Rate in
London auf die indische Finanzverwaltung gezogen werden. Aus rein psycho¬
logischen Ursachen entsprang der starke Preisrückgang im Juli 187ö (von
56^ Pence für die Unze auf 46^ Pence). Man hatte in London immer
noch gehofft, trotz der Aufhebung der freien Silberpräguug in Deutschland.
Skandinavien, Holland und der lateinischen Münznnion den Silberpreis
halten zu können; zu der angegebnen Zeit kam jedoch die Erkenntnis zum
Durchbruch, daß dies nicht möglich sei, und das hatte eine Panik auf dem
Silbermarkte zur Folge. Helfferich verfolgt a. a. O. die Wechselwirkung zwischen
der deutschen Müuzreform und den Bewegungen des Silberpreises nur bis
zum Jahre 1878, dem letzten, in dem bedeutende Mengen deutschen Silbers
verkauft worden sind. Das Schlnßkapitel des ersten Bandes ist überschrieben:
Die Vollendung der Geldreform durch die Thatsachen. Helfferich berichtet
darin zunächst über die geradezu staunenswerte Vermehrung des deutschen
Goldvorrats (von 1580 Millionen Mark im Jahre 1885 auf 2850 Millionen
im Jahre 1897), über die Vermehrung der Goldgewinnung der Erde (im Jahre
1897 betrug die Ausbeute eine Milliarde Mark), die das Gerede von der
zu kurzen Golddecke so gründlich abgethan hat, über die Silbergewinnung, die
auf 5 Millionen Kilogramm gestiegen ist und den Silberpreis bis auf 27 Pence
hinabgedrückt hat, über die bimetallistische Agitation und die münzpolitischen
Maßregeln, die, den Thatsachen Rechnung tragend, dieser Agitation den Boden
entziehen: die Einstellung der Silberausprägnng in Indien, den Übergang
Rußlands und Österreich-Ungarns zur Goldwährung und die Erfolglosigkeit
der Bemühungen der nordamerikanischen Silberpartei, die europäischen Mächte
für ihre Interessen einzufangen. Er schließt mit den Worten: „Je mehr sich
die Erkenntnis der unbestreitbaren und großen Besserung, welche die inter¬
nationalen Währungsverhältnisse in den letzten Jahren erfahren haben, Durch¬
bruch verschafft, je mehr die ungeheuern Gefahren des von den Bimetallisten
erstrebten Zieles gewürdigt werden, desto geringer wird die Kraft und werden
die Aussichten der bimetallistischen Bestrebungen. Während die hocherfreuliche
Entwicklung des deutschen Geldwesens das halb vollendete Reformwerk zu
einem befriedigenden Abschluß geführt hat, nimmt die Gestaltung der gesamten
internationalen Verhältnisse der gegen die Grundlage der deutschen Geld¬
verfassung gerichteten bimetallistischen Bewegung ihre stärksten Waffen. So
erscheint heute die deutsche Goldwährung, deren Durchführung während einer
Reihe von Jahren ernstlich bedroht schien, nach innen vollendet und nach außen
gesichert. Damit ist das Werk der Geldreform zu dem erstrebten Abschluß
gebracht."
is im Jahre 1891 ein Teil dieser fruchtbaren Ackerprovinzen von
einer Mißernte getroffen war, verbot die russische Regierung aus
Furcht vor einer Hungersnot die Ausfuhr von Brotfrüchten von
einem gewissen Termin ab. Bis zu diesem Termin aber hatte
man in aller Eile doch soviel Korn über die Grenze geschafft,
daß am Schluß des Jahres für 136 Millionen Getreide war ausgeführt
worden, wobei allerdings die vorhergegangne Ernte den Hauptposten geliefert
hatte. Die Wirkung des Mißjahres auf die Handelsbilanz war, daß die Gesamt¬
ausfuhr von 721,6 Millionen Rubel im Jahre 1891 auf 489,4 Millionen Rubel
im Jahre 1892 hinabsank. Seitdem hob sich die Getreideausfuhr wieder und
erreichte im Jahre 1895 sogar 323 Millionen Rudel; allein schon 1897 fiel
die Ernte wieder ungenügend aus, und das Jahr 1898 wird als ein voll-
kommnes Mißjahr angesehen werden müssen.
Die russische Regierung hat es unterlassen, wieder zur Hemmung der
Brotausfuhr zu schreiten, aus leicht begreiflichen Gründen. Wer nun aber
meint, die Ausfuhr müsse stark zurückgegangen sein, der würde sich bei einer
Vergleichung der betreffenden Zahlen getäuscht sehen. Die Rubrik „Lebens¬
mittel" weist im Ausfuhrhandel nach Angabe eines russischen Fachblattes*) auf
für die ersten sieben Monate
Sonach hat die mangelhafte Ernte von 1897 und die doch in der Hauptsache
schon im ersten Halbjahr vorauszusehende Mißernte von 1898 nicht verhindert,
daß der Wert des gesamten russischen Exports von Lebensmitteln, in denen
das Getreide den weitaus überragenden Posten einnimmt, in den ersten sieben
Monaten des letzten Jahres gegen 1897 um 20 Prozent, gegen 1896 um
19^/z Prozent gestiegen ist. Und wenn die Getreideausfuhr seit dem 1. August
auch gegen die vorhergehenden Jahre zurückgegangen ist, so ist das doch in
einem Maße geschehen, das eine so ernste Hungersnot, wie sie vor der Thür
zu stehen scheint, kaum erkennen läßt. Denn die Ausfuhr betrug nach offiziellen
Mitteilungen für die 4^ Monate vom 1. Juli bis 14. November (alten Stils)
also einen Verlust gegen die beiden Borjahre von 33 oder 26 Prozent. Immerhin
sind von der letzten Ernte bis Ende November unsers Stils schon Getreide¬
massen im Werte von 146 Millionen Rubeln ins Ausland gegangen und werden
noch weitere Mengen im Laufe des Winters folgen, was scheinbar im Wider¬
spruche steht zu der offiziell statistische» Angabe, daß der russische Acker nur
wenig über vier Korn in mittlern Jahren trage. Man fragt sich: Wie viel
trägt er denn bei Mißwachs? Etwa drei oder zwei Korn? Und da sich der
Landmann davon doch auch unsrer muß, so erscheint es erstaunlich, daß er
überhaupt etwas verkaufen kann. Wenn nnn die statistische Angabe richtig ist,
so muß man sich erinnern, einmal, daß die Masse der russischen Bauern eben
nicht oder doch nur wenig verkauft, vielmehr meist selbst kauft, und daß es
sich nur darum handelt, ob ein oder anderthalb oder zwei Korn, die an den
durchschnittlichen vier Korn fehlen, durch Kauf zu ersetzen sind; dann aber, daß
die Ernte nicht allenthalben gleich ausfällt, sondern daß es in den ungeheuern
Ackerebnen Rußlands immer Striche giebt, wo die Ernte gut ausfüllt. So
erfuhr man auch im Mittsommer dieses Jahres von Weizenernten im südlichen
Rußland, wie sie in Deutschland nie und nirgends gemacht werden. Endlich
fällt ins Gewicht, daß, wenn der Großgrundbesitzer auch nur sechs Korn erntet,
er dank dem billigen Raubbau leicht drei Scheffel vom Morgen verkaufen kann.
Das bringt auf den großen unter Korn stehenden Flächen große Mengen, die
verkauft werden können.
Wenn nun ein größerer Teil des Landes von einer Mißernte getroffen
ist, so wäre bei gesunden Zustünden der Volkswirtschaft die Folge, daß das
Volk seinen Bedarf ans den Überschüssen der Provinzen mit guter Ernte deckt.
In Rußland jedoch steht es so, daß das aus Mangel an Geld unterbleibt.
Der Bauer in den Gubernien der Mißernte, z.B. Saratow, hat kein Geld,
um Brvtlorn aus Charkow zu kaufen, wo Überfluß ist; er beginnt, statt erst
um Neujahr oder Ostern, wie er es gewohnt ist, zu hungern oder zu betteln
oder zu tagelöhnern, schon im November sein Strohdach an die Kuh zu ver¬
füttern, dann die Kuh zu verkaufen, endlich das letzte Pferd und geht um
Weihnachten „Krumen sammeln," besten Falls auf Arbeit in eine entfernte
Stadt, und im Frühling ist der Hunger da, und die Kinder und Weiber sterben,
und kommt der Mann zurück, so sieht es mit der Wirtschaft für das neue
Jahr schlimm aus: weder Pferd, noch Pflug, noch Brot — da muß erst außer¬
halb etwas erarbeitet werden, um neu die alte ausgesogne Scholle zu quälen.
Und da ist auch wieder die Obrigkeit, die ihn im vorigen Herbst nötigte, die Kuh
zu verkaufen und jetzt wieder Steuern fordert! Besser man überläßt die Scholle
der Gemeinde und geht fort, vielleicht nach Sibirien, wo viel frisches Land
von der Obrigkeit vergeben wird und Holz und Gerät und Geld obendrein —
wie der Soldat Stepan in Twer erzählte. Und er geht und geht, bettelnd,
und kommt endlich vielleicht in besseres Land — weiß Gott wo!
Inzwischen haben die Großbesitzer im Gubernium Charkow eine reiche
Ernte gemacht; und es war die höchste Zeit, denn das schöne Gut des Herrn
Stepnikow war seit Jahren auf der Liste zur Versteigerung wegen rückständiger
Bankzinsen, und andre Schulden drückten außerdem, sodaß in aller Eile ge¬
droschen, verkauft, nach Odessa verfrachtet werden mußte, bis die Ernte fort
war nach England und die Scheunen so leer, daß im nächsten April der Jude
Vorschüsse in Saaten wird geben müssen. So mehrten sich von vielen Seiten
die Zufuhren, und Odessa konnte im Herbst 1898 wöchentlich etwa 700000
Zentner Getreide verschiffen, während Millionen von Menschen weiter im
Nordosten des Reichs zu hungern anfingen. Und Herr Witte wird genötigt
sein, wieder aus dem Staatssäckel dem Hunger zu wehren, und vielleicht wird
es nicht viel weniger als der 154 Millionen Rubel, die 1891 dafür aus¬
gegeben wurden, bedürfen, um die Not von 1898 zu lindern.
Raubbau, bäuerliche Dorfverfassung, Armut der Bauern, Armut des ver¬
schuldeten Großbesitzers — das sind keine festen Grundlagen für die Land¬
wirtschaft, auch wenn sie sich bei einem Volke vorfänden, das dem Landbau
mehr zugethan wäre als das russische. Dieser unsicher begründete Landbau
aber ist die Grundlage für die Industrie sowohl als für die Handelsbilanz;
und da die Zahlfähigkeit des Staates wieder von dieser Handelsbilanz ab¬
hängt, müßte, so scheint es, die Hauptsorge des Staates darauf gerichtet
sein, jene unterste Grundlage zu festigen. Bisher hat man von ernsten An¬
strengungen in dieser Richtung nicht gehört; aber der Finanzminister scheint
zu meinen, daß es solcher Anstrengungen auch gar nicht bedürfe, oder daß
andre Bedürfnisse wichtiger seien.
Das Neichsbudget schwebt für 1898 mit 1474 Millionen Rubeln, für
1897 mit 1414 Millionen; es betrug zehn Jahre früher, im Jahre 1887 nur
881 Millionen Rubel. Allerdings waren im Jahre 1888 an Zinsen für die
Staatsschuld 288 Millionen, heute sind nach den Konversionen, wie das Budget
angiebt, 272 Millionen Rubel zu zahlen, oder wenn man privaten russischen
Fachleuten Glauben schenken will, sogar mehr als vor den Konverstonen. Aber
dafür sind große Eisenbahnen verstaatlicht worden; bedeutende Mehrerträge
liefern die Zölle, die Gewerbesteuern, die Post, das Nafta, der Zucker, die
Getränke, besonders seit der Einführung des staatlichen Verkaufs des Brannt¬
weins (346 Millionen für 1898 veranschlagt). Es sind stolze Summen, mit
denen Herr Witte operieren kann, und sie haben ihn ermutigt nicht nur zur
Anhäufung französischen Goldes, sondern auch zur Proklamierung der Gold¬
währung, zur Unterstützung der Industrie mit großen Darlehen, zum Bau
gewaltiger Bahnlinien, zur Vermehrung der Kriegsmacht, besonders der Flotte.
So stark die Stellung des Herrn Witte ist, so leitet er doch nicht unmittelbar
die äußere Politik und mag oftmals nur sehr widerstrebend die Summen anweisen,
die für die Zwecke dieser Politik von ihm gefordert werden. Andrerseits ist
bekanntlich eine erfolgreiche Politik nach außen hin sehr geeignet, die Thätigkeit
des Finanzministers zu erleichtern. Und es ist augenfällig, daß die äußere
Politik Rußlands seit zwanzig Jahren so erfolgreich, so glänzend ist, wie sie
nur in der besten Zeit des Zaren Nikolaus war. Die geographische Lage des
Riesenreichs, die verhältnismäßig kleinlichen Zänkereien der europäischen Staaten
unter einander, die bureaukratisch-despotische Verfassung, alles das drängt fast
unwillkürlich diesen Staat zu einer Politik äußern Glanzes, in der sich diese
Vorzüge gegen andre Länder verwerten lassen und zugleich innere Übel dem
Bewußtsein des Volkes mehr oder minder entzogen werden. Seit Jahrhunderten
ist das stetige Erobern neuer Gebiete in Rußland traditionell geworden; seit
Jahrhunderten hat sich das Volk in diesen Kämpfen ein starkes nationales Be¬
wußtsein geschaffen, wie es wenige andre Völker, am wenigsten leider das
deutsche, haben. Kein andres Volk Europas, vielleicht die Türken ausgenommen,
ist im Dulden so geübt wie das russische; aber wenn es auch die ärgste Not erträgt
sür den Glanz des Zaren und den Ruhm des Reichs, wenn die russische Schild¬
wache auch auf dem Schipka ruhig erfriert für Zar und Volk, so wäre die Ruhe
im Innern doch bald in Gefahr, sobald die äußere Politik von schweren Schlägen
getroffen würde. Wenn heute ein äußerer Krieg, etwa mit England, ausbräche,
so dürfte die Regierung getrost auf die größte Opferwilligkeit der Unterthanen
zählen, auch wenn Hunderttausende dabei dem Hunger erlägen; ein Zurück¬
weichen vor England oder starke Niederlagen im Kampfe konnten leicht ver¬
hängnisvoll für den Thron werden. In diesem Sinne darf man auch die
Politik eine äußere nennen, die von der russischen Regierung gegenüber ihren
eignen Unterthanen fremden Stammes oder Glaubens feit fünfunddreißig Jahren
angewandt wird. Polen, Livland, Finnland haben den Boden liefern müssen
für eine Politik des nationalen Kampfes nach außen, der so gut wie blutige
Kriege das nationale Bewußtsein beschäftigt, befriedigt und ihm ohne Mühe
große Opfer entlockt für nationalen Ruhm nach außen, während daheim die
nationale Armut nach Brot schreit. Welche Unsummen sind verwandt worden
auf Russifikation und religiöse Bekehrung von allerlei Leuten, wieviel Kräfte
an „Intelligenzen" aller Art wurden im nationalen Sinne nach außen ver¬
wandt, während daheim der Bauer hungerte, der Pope bettelte, die Schule
fehlte, die guten Beamten und Richter selten waren! Es ist nicht zum Ver¬
wundern, wenn das wirtschaftliche Rußland von einem russischen Schriftsteller
neulich wehklagend mit einem Kuchen verglichen wurde, der an den Rändern
schön emporwächst, während das Innere immer mehr zu einer versinkendem
Höhlung wird.
Extensio wie die russische Landwirtschaft ist auch die Politik, und der
Bau der großen sibirischen Bahn erinnert in etwas an einen Landmann, der
einen Sumpf an der äußersten Grenze seines Besitztums mit großen Kosten zu
entwässern sucht, während sein alter Acker aus Mangel an Sorgfalt und Mitteln
der Versumpfung anheimfällt. Hunderte von Millionen werden für eine Bahn
verausgabt, deren wirtschaftlicher Nutzen für das europäische Rußland denn
doch noch sehr in fraglicher Ferne liegt. An Land, an Kolonialbvden besitzt
Rußland in Europa wie in Asien längst übergenug; die Landwirtschaft kann
sich von dieser Bahn also keinen Vorteil versprechen, sondern eher fürchten,
daß sich neue Flächen dem Raubbau öffnen lind den Übergang zu intensiverer
Bodenkultur in den alten Provinzen erschweren und verzögern. Es könnte sich
um Absatzgebiete im chinesischen Osten für die russische Industrie handeln. Aber
wenn auch der neue Weg der überlegnen westeuropäischen Industrie verlegt
werden könnte, so fänden die russischen Fabrikanten an dem andern Endpunkte
industrielle Konkurrenten, denen sie schwerlich gewachsen sein werden. Die
Japanesen sind schon jetzt ganz in der Lage, den Abfluß russischer Fabrikate
uach Japan, Korea, China zurückzudümmen; und die Chinesen werden bald
hinter ihnen herkommen. Dort kann es sich nur um Fabrikate, nicht um Roh¬
stoffe für die russische Ausfuhr handeln, sofern man von einem Nutzen für das
europäische Rußland redet; für Fabrikwesen aber liegen die Verhältnisse den
Japanern und Chinesen weit günstiger als den Russen an der Wolga oder in
Moskau. Japaner und Chinesen sind den Russen in allem überlegen, was die
Industrie erheischt, in alter Kultur, Kunstsinn, Arbeitsamkeit, Anstelligkeit, in
billiger, genauer, ausdauernder Arbeit, in billigen Rohstoffen. Und was den
Handel angeht, so versteht der Chinese sich darauf besser als irgend wer sonst
in der Welt. Es ist demnach weit wahrscheinlicher, daß die sibirische Bahn
zum Vorteil der gelben Rasse dienen, als daß sie dem russischen Handel und
russischer Ausfuhr nützen werde, auch wenn man die Konkurrenz europäischer
Ausfuhrländer auf dem Seewege gar nicht in Anschlag bringt.
Wenn man annehmen wollte, daß ein tiefer Plan diesem Unternehmen zum
Dasein verholfen habe, so scheint es nur ein solcher gewesen zu sein, wie ihn
nicht ein Finanzminister, sondern ein Minister des Äußern faßt. Die politische
Machtstellung hat hier den Ausschlag gegeben. Ohne Zweifel wird es Rußland
möglich sein, nach dem Bau der Bahn eine Stellung in China und Zentral¬
asien einzunehmen, der England unter den heutigen Verhältnissen schwerlich das
Gegengewicht wird halten können. Aber ich wüßte nicht, womit die ungeheuern
Kosten, die die Erwerbung und Erhaltung solcher Stellung Rußland auferlegen,
gedeckt werden könnten, wenn man nicht etwa politische Macht und politischen
Ruhm an sich gegen Millionen in gutem Golde in Tausch nehmen will. Der
Stille Ozean ist kein günstiges Gefechtsfeld in einem Kampf mit England; die
Stellung dort bietet eher einen neuen und gefährlichen Posten dem Angriffe
Englands dar. Dem verwundbarsten Punkte Englands nahe zu kommen, ge¬
nügte die Bahn über Merw nach Kuschk, die im Dezember 1398 eröffnet
worden ist.
So gehören, wie ich glaube, die großen Erfolge, die Rußland im Osten
davon getragen hat, wiederum, wie die von 1877, weit mehr in das Gebiet der
rein staatlichen Mnchtpolitik, als in das des Nutzens für die Wirtschaft und die
Kultur des russischen Volks. Diese Unternehmungen sind Tratten auf zu weite
Sicht für ein Volk, das heute nach Brot und Geld verlangt, für ein Volk, dessen
Eintritt in moderne industrielle Wirtschaft vielleicht etwas verfrüht war angesichts
einer Landwirtschaft, die im ganzen noch auf der untersten Stufe der Technik steht,
und einer Manufaktur, die nur sorgsam gepflegt zu werden brauchte, um sich
reich zu entfalten und allmählich die natürliche Unterlage für den Großbetrieb
zu werden. Auch die etwas gewaltsam gezüchtete Industrie gehört zu den
Dingen in Nußland, die nur zum Teil von den natürlichen Kräften des Landes
und Volkes, zum andern Teil von den bedenklichen Ehrenpflichten hervor¬
getrieben werden, die ein Staat im Bewußtsein der Großmacht sich und seinem
Volke gelegentlich auferlegt. Wie so oft und mit so schlimmen Folgen, vergißt
man auch in dieser Sache wieder, daß große staatliche Machtstellung den Vorzug
nicht auszugleichen vermag, der sich aus der Schulung und Arbeit von Jahr¬
hunderten zu Gunsten des einen Volkes gegenüber einem andern, wenn auch
hoch begabten ergiebt, das erst im Beginn seiner Schulzeit ist.
Aus Rußland kommen böse Gerüchte herüber. Als zu Anfang des letzten
Sommers die Presse von bevorstehender Not in einigen östlichen Gubernien
zu erzählen begann, erklärte die Regierung, dem sei nicht so. Nachher fand
sie doch, daß vier, fünf oder sechs Gubernien von einem Mißwachs bedroht
seien. Jetzt will man wissen, daß viele Millionen Menschen dem Hunger ent¬
gegengehn. Das Note Kreuz ist von der Regierung mit der Aufgabe betraut
worden, den Kampf gegen den Hunger zu leiten. Diese Gesellschaft hat in
neun Gubernien von ungeheurer Ausdehnung ihre Thätigkeit begonnen. In
derselben Zeitungsnummer aber (Ur. 349 der Se. Petersburger Zeitung), in
der das Rote Kreuz seinen ersten Bericht veröffentlicht, lesen wir ein paar
Spalten weiter, daß im Gubernium Woroncsch, das nicht offiziell zu den not¬
leidenden gehört, Summen angewiesen worden seien, um den Bauern, die ihre
Pferde verloren haben, neue Pferde zu verschaffen. So dehnt sich das Not¬
gebiet immer weiter aus. Wenn es so steht, wird Herr Witte Millionen
hergeben müssen, um dem Unheil zu wehren. Woher die Millionen aber
nehmen? Schon seit geraumer Zeit macht sich in der innern Verwaltung
des Landes eine auffallende Sparsamkeit in kleinen und oft doch notwendigen
Bedürfnissen, z. B. für Polizei, Kanzleien, Krankenhäuser u. dergl., bemerkbar,
die nicht recht erklärlich ist bei so vollen Staatskassen. Es hat aber den An¬
schein, als wolle man an Hemd und Hose sparen, um einen neuen und schonen
Gaul vor die Kutsche zu spannen. Eine neue äußere Anleihe ist kaum unter¬
zubringen. Die Bahnbauten können nicht plötzlich abgebrochen werden. Zar
Nikolaus hat freilich befohlen, daß für die nächsten Jahre — man sagt für fünf
Jahre — je 90 Millionen Rubel jährlich zum Ausbau der Flotte anzuweisen
seien. Aber zwischen Anweisen und Verwenden liegt das Haben, und Herr Witte
war lauge schon in Zweifel, wo er die ersten 90 Millionen herbekommen sollte.
Nun las man in den Zeitungen, daß die Verwendung der ersten 90 Millionen
hinausgeschoben worden sei. Das ist recht schön, schafft aber noch kein Geld für
den Notstand oder für neue Kanonen, weil die 90 Millionen bisher nur ein
Wunsch oder Befehl, aber keine Wirklichkeit waren. Es bleibt der angesammelte
Goldschatz oder die Nvtenpresse als Ausweg. Die umlaufenden Banknoten
haben sich in den ersten elf Monaten vorigen Jahres um 150 Millionen Rubel
vermindert, während der Notenvorrat der Staatsbank nur wenig abgenommen
hat und Ende November 68^ Millionen Rubel betrug, die dem Bedürfnis
nicht genügen würden. Ein wie großer Goldvorrat dem Herrn Minister, der
ihn vor einem Jahre mit 1470 Millionen angab, heute noch zur Verfügung
steht, ist mir nicht bekannt. Man darf indessen sicher annehmen, daß er sehr
abgenommen hat, ob nun um 164 Millionen, wie versichert wird, oder um
mehr, bleibt dahingestellt. Nach Ausweis der Staatsbank belief sich ihr Gold¬
vorrat am 16./28, November vorigen Jahres auf mehr als 995 Millionen, sodaß
sie nach dem Bankgesetz oder vielmehr dem zarischen Befehl vom 29. August
1897 in der Lage wäre, noch etwa 515 Millionen Rubel an Banknoten in
Umlauf zu setzen, die im Lande wohl ohne Anstand würden aufgenommen
werden. Immerhin ist es mißlich, den Goldvorrat, von dem der fremdländische
Nubelkurs abhängt, so stark in Anspruch zu nehmen. Zudem wird durch eine
ausgedehnte Hungersnot die Sicherheit der Zahlen, mit denen das Budget
des Staates prangt, einigermaßen gefährdet, auch wenn man sie an sich ohne
Bedenken annehmen will.
Befände sich die Volkswirtschaft in gesunder Verfassung, so ginge vielleicht
die gesamte Ernte Rußlands drauf, um jedem fo viel Brot und Viehfutter
zukommen zu lassen, als Mensch und Vieh bis zur nächsten Ernte bedürfen.
Wie die Dinge liegen, wird zwar eine ansehnliche Menge Getreide ausgeführt
werden, aber doch nicht genug, ohne starke Verminderung des Goldvorrats
der Negierung die staatlichen und privaten Zahlungen auszugleichen, die ins
Ausland gehn müssen. Mehrere Fachleute Rußlands (Jssajew, Ohl. Golowin)
fürchten einen gefährlich starken Abfluß des Goldes ins Ausland. Herr Golowin
hat noch eben in der Rovojs ^Vrsing. auf die Gefahr hingewiesen, die den Gold¬
verhältnissen Rußlands aus der gegenwärtigen Spannung auf dem Geldmarkte
droht. In der That wird Herr Witte nicht nur kein frisches Geld borgen,
sondern auch nicht verhindern können, daß der Zufluß an Anlagekapital für
die russische Industrie bedeutend eintrocknet. Und sollte eines Tages auf der
Pariser Börse der Gedanke laut werden, daß die russischen Papiere wegen Un¬
sicherheit des Rudels abzustoßen seien, so wären die Folgen davon für Nu߬
land verderblich, wenigstens für die neue Währung und die neue Industrie.
Es ist höchst unheilvoll für den russischen Finanzminister, daß seiner kühnen,
die günstigen Geldverhältnisse Europas ausnutzenden Kreditwirtschaft unmittelbar
ein Umschwung in Europa gefolgt ist, der den Diskont an den Banken von
England und Deutschland auf eine außerordentliche Höhe getrieben hat. Der
Diskont an der Englischen Bank hat mit vier Prozent eine Höhe erreicht, die seit
dem großen Baringschen Krach nicht vorgekommen ist; die deutsche Neichsbank
hat mit sechs Prozent den höchsten Diskont zu verzeichnen seit ihrer Gründung.
Die großen russischen Unternehmungen sind auf einen europäischen Zinsfuß von
zwei bis drei Prozent gegründet und müssen es hemmend empfinden, wenn er
auf fünf bis sechs Prozent steigt. Jedenfalls wird der Herr Finanzminister
aber an einem Punkte seines Weges dem Minister des Auswärtigen begegnen
und sich mit ihm darüber auseinandersetzen müssen, wie weit die Geldwirtschaft
Rußlands seiner äußern Politik auf ihren steilen Bahnen folgen kann. Jede
auch nur entfernt auftauchende Gefahr einer kriegerischen Verwicklung würde
den kühnen Ausbau der russischen Finanzen wahrscheinlich sofort ins Wanken
bringen; man wird kaum zu weit gehn mit der Annahme, daß England es
in der Hand hat, Nußland in die größte wirtschaftliche Verwirrung zu stürzen,
noch ehe seine Flotte einen Schuß ans russische Häfen gelöst hat. Eine Lage,
durch die die bisher unabhängige äußere Politik Rußlands stark beeinflußt
werden dürfte. Oder sollte diese Verständigung der beiden Minister schon
stattgefunden haben? So scheint es in der That.
Das Rundschreiben, das die europäischen Mächte zu gemeinsamer Ab¬
rüstung oder Einschränkung ihrer Rüstungen aufrief, hat allgemeines Erstaunen
und viel Kopfschütteln hervorgerufen. Man schüttelt den Kopf, weil man
an die Ausführbarkeit solcher Pläne in unsrer Zeit und soweit sie bedeutende
Wirkung haben sollten, nicht recht glauben will. Man erstaunt, weil sie von
dem Staate ausgehen, der von jeher alle andern an Eroberungslust über¬
troffen und mehr als alle andern seine Kraft in den Dienst der äußern Politik
gestellt hat. Ist dies wirklich pure Humanität? Nun wird aber über die
Herkunft dieses Friedensmanifestes folgendes erzählt. Es wurde, so sagt
man, ersonnen von niemand anders, als dem Finanzminister selbst, und aus¬
gearbeitet in dessen eigner Kanzlei. Das Projekt des Herrn Witte ist dann
vom Minister des Äußern angenommen worden. Ungewiß bleibt, ob der Zar
vorher durch Witte gewonnen worden ist, oder ob der Graf Murawjew das
Projekt unmittelbar vom Finanzminister übernommen und dem Zaren vorgelegt
hat. War dieses die Vorgeschichte der überraschenden Kundgebung, so wird
die europäische Verwunderung sich leicht in ein verständnisvolles Lächeln ver¬
wandeln.
Etwa bis vor einem halben Jahre hatte die äußere russische Politik einen
ziemlich dröhnenden Schritt. Man kümmerte sich wenig um englische Drohungen
und schien ganz bereit zu sein, es auf einen Krieg ankommen zu lassen. Dazu
bedürfte man neuer Schiffe, neuer Geschütze, schleunigen Aufbaus der sibirischen
Bahn und andrer Mittel der Verteidigung in Europa und in Asien. Es mag
Herrn Witte schwül zu Mute geworden sein, als man ihm befahl, jährlich
90 Millionen für Schiffsbauten für die fünf kommenden Jahre herbeizuschaffen;
als man, dann mehr als 200 Millionen für Herstellung schnellfeuernder Geschütze
forderte und weitere Millionen für Hafenbauten und Befestigungen im fernen
Osten. In der Not mag ihm der geniale Gedanke gekommen sein, Nußland plötz¬
lich zum Apostel des Friedens zu machen. Indem der Zar das Rundschreiben
unterzeichnete, hatte er seinem Finanzminister eine Waffe in die Hand gegeben,
mit der er dem Andrang von Generalen, Kriegslustigen, wenn nötig, selbst
dem Grafen Murawjew widerstehen konnte. Eben hat Nußland, hat der Zar
ein Manifest des Friedens in die Welt gesandt — wie sollte man da zu neuen
großen Rüstungen gerade in Nußland selbst schreiten? Wurde Herr Witte
durch den Befehl überrascht, zu Flottcnzwecken Hunderte von Millionen herbei¬
zuschaffen, so wurden die Flottenschwärmer jetzt durch den Gegenhieb ent¬
waffnet. Die Kriegslustige» haben ihren Gegner gefunden, der politische
Grundton ist milder geworden. Und der Zar hat sich auf den Frieden ver¬
pflichtet.
So löst sich die rätselhafte Friedensaktion in eine Finanzaktion auf. Was
auch auf der bevorstehenden Konferenz beschlossen werden mag: der eigentliche
Zweck dieses Unternehmens ist erreicht, indem Herr Witte wenigstens fürs erste
mit den großen Geldforderungen für kriegerische Rüstungen verschont bleibt.
Ganz Nußland bewundert die erhabne Politik seines Zaren, Europa huldigt
seinem idealen Humanismus, und Herr Witte hat einige hundert Millionen
und seine Goldwährung vor unmittelbarster Gefahr gerettet. Er hat zugleich
einen großen Sieg über kriegslustige und andre Gegner erfochten. Ist diese
Darstellung des Hergangs der Sache richtig, so müssen wir bekennen, daß wohl
selten auf der politischen Bühne ein geistvolleres Stück gespielt worden ist.
Ist es nicht gerade von großem Stil und tiefer Idee, so doch von geistreicher Er¬
findung und kühner Inszenierung. Die Moral ist. daß Rußland aus finanziellen
Gründen seine großen Rüstungen, wenigstens vorläufig, einstellen will. Das ist
von größter Bedeutung für die internationale Politik. Und wenn man erwägt,
wie sich seit der Kundgebung die Haltung Englands geändert hat, so liegt die
Annahme nahe, daß man dort den tiefern Sinn des russischen Vorgehens längst
erkannt hat. Bis vor einigen Monaten war die englische Politik wie erstarrt,
jetzt ist sie von einer Lebhaftigkeit, einem Selbstvertrauen, einer Aktionsfreiheit,
die einen auffallenden Umschlag in der Schätzung des Gegners andeuten. Man
fühlt sich in London von dem russischen Druck vorläufig befreit, und man ist
Herrn Witte dafür dankbar. Und ist Herr Witte ein Mann des Friedens, so
ist er sicher heute die beherrschende Potenz in der russischen Politik. Wenn
irgend jemand, so hat er die Kräfte und den Geist, die russischen Finanzen
und die russische Volkswirtschaft aus ihrer bedenklichen Lage zu reißen.
Wir Deutschen haben allen Grund, zu wünschen, daß ihm das gelingen
möge, daß ein Nachbarvolk, das der natürliche und beste Abnehmer unsrer
Waren ist, kaufkräftig bleibe, und wir sehen mit Interesse dem Ausgang der
Anstrengungen zu, die ein hochbegabter und entschlossener Finanzmann auf die
B
eher „Florian Geyer," mit dem der naturalistische Dichter den
Sprung vom Boden der Gegenwart in die geschichtliche Ver¬
gangenheit wagte, giebt Schlenther zunächst sechzehn Seiten
historische Abhandlung, lehrreich genug dadurch, daß auch für
den aufmerksamen Leser nicht ein Zug herausspringt, der sür
die Figur des Helden inneres dramatisches Wesen verspräche. Daß er, der
Ritter, der Bauernrevolution treu war bis zum Tode, genügt doch nicht.
Wie die Wahl des Stoffes mit den vertretenen Grundanschauungen des
Verfassers übereinstimmt, wie er sich an die verkommenen Bauern des
Erstlingswerks, an die verlumpten Bewohner des Armenhauses, an die revo¬
lutionierenden Weber reiht, ist leicht zu sehen. Aber warum wieder und wieder
ein so passiver Held herauskommen muß, dem es an Thatkraft fehlt, sich
in den Vordergrund zu stellen, und dem ein klares Ziel nicht vor Augen
schwebt, das ist nicht einzusehen. Man wende nicht ein, daß es solche Helden
alleweile giebt und in der Dichtung gegeben hat. Wir erwarten dann doch
wenigstens ein Gegenspiel treibender Kraft und klarer Gedanken. Aber auch
das ist im „Florian Geyer" so wenig der Fall wie, um dies schon vorweg
zu nehmen, in der „Versunkenen Glocke." Den Dichter erkennen wir doch
weniger an der Wahl des Stoffes als an seiner Gestaltung. Hier mußte
unsers Erachtens Hauptmann entweder zeigen, daß er es den bisherigen
Größen des historischen Schauspiels gleichthun, oder daß er mit den Mitteln
der neuen Kunst auch auf diesem Gebiet etwas Packendes leisten konnte. Aber
sein Versuch ist mißlungen.
Das Vorspiel wagt selbst Schlenther nicht zu retten, möchte aber, obwohl
er doch das Werk gedruckt vor sich hat, die Schuld am liebsten auf die Schau¬
spieler abwälzen. Auch bei der Besprechung des übrigen Stückes kommt er
auf diesen Nebenpunkt immer wieder zurück, während er in der Hauptkritik
so leise wie möglich auftritt, etwa so: „Es beginnt unter Florian Geyer die
Beratung. Damit treten wir endlich aus der breiten Darlegung des histo¬
rischen Standes der Dinge in die eigentliche Aktion ein, von der wir nur
wünschten, daß sie rascher fortschreite." Ja, wenn sie nur fortschritte, wenn
wir nur endlich einen Einblick in das Wesen und Wollen des Helden er¬
hielten, wenn er nur endlich in Aktion träte! Aber Schlenther muß selbst
gestehen (S. 214): „Geyer handelt nun nicht, sondern er redet." Und am
Ende des thatenloser zweiten Aktes: „Dieser Akt, in allen Tonarten spielend,
endigt mit einem elegischen Akkord. In der entscheidenden Stunde vom Orte
der Entscheidung weit entfernt, hält sich Geyer damit auf, einem einzelnen
Mann die Faust ins Gesicht zu schlagen und zum Fenster hinaus eine schöne
Volksrede zu halten. Ist das sein Charakter oder sein Schicksal (!)? Statt
frischer That Symbol und Worte!" (S. 222.) Auch im dritten Akt, wo er
sich endlich aufrafft, „wieder bloß in Worten ein Strafgericht" (S. 224).
Und so geht es durch bis zum Ende, überall unendliches Reden (S. 241).
Kann uns der Charakter eines Helden interessieren, den der Kritiker ganz
bezeichnend so schildert: „Ziele wie Karl der Große, wie Luther, wie Bismarck
kann er sich setzen, aber er wird sie nicht erreichen. Der idealistische Doktrinär
ist in ihm nur eine Hand breit größer als der durchgreifende Realpolitiker.
Weil er für Recht und Freiheit ist, giebt er in der Stunde seines höchsten
Triumphes seinen eignen Willen auf und läßt einer unsichern, uneinigen
Vielheit die Macht. Und in entscheidender Stunde der Gefahr läßt er sich
zu minderwertigem Geschäft beiseite schaffen, damit die andern, die kompakte
Majorität, gegen seinen Willen ihr Stück durchsetzen." Dennoch, trotz alledem,
sucht Schlenther auch dies Stück zu retten, und zwar damit, daß der Dichter
das Kolorit der Zeit so wunderbar getroffen, die Situationen so wahrheits¬
getreu geschildert habe. Darin liege die wahre Größe der Dichtung. „Auf
sein Weberdrama — sagt er — ließ er sein Bauerndrama folgen. Wie dort, so
geht auch hier, von souveräner Künstlerhand geführt, durch das ganze Stück
der große Zug des sozialen Mitleids. Soziales Mitleid erweckt man nur
durch Wahrhaftigkeit in der Darstellung der mitleidwürdigen Zustände. Auch
im historischen Drama ist Hauptmann seinem konsequenten Realismus treu
geblieben, und hier mehr als je hat er bewiesen, wie unendlich reich der kon¬
sequente Realismus sein kann."
Uns dünkt, daß Hauptmann mit seinem „Florian Geber" etwas ganz,
andres bewiesen hat, nämlich daß dieser Realismus nicht imstande ist, mit
den von ihm geübten Kunst- oder Handwerksmitteln ein historisches Schauspiel,
ein Drama höhern Stils zu schaffen. Oder sollte der Mangel in dem Dichter
selbst begründet sein? Fast scheint es so, als fehle es Hauptmann an der
tiefern geistigen Durchbildung, an jenem höhern Schwung, der in der Er¬
fassung und klaren Durcharbeitung ernster Ideen und Aufgaben liegt. Wenigstens
spricht der Ideengehalt seines idealsten und reifsten Werkes, der „Versunkenen
Glocke" dafür.
Wir haben das Werk in einem größern Aufsatz in dem Jahrbuch „Aus
Höhen und Tiefen" (Band I 1898) zergliedert, seinen poetischen Gehalt an¬
erkennend dargelegt und die Idee herauszuschälen und zu beleuchten versucht,
an deren Gestaltung der Dichter gescheitert ist, was man auch immer sonst
zum Lobe seines neuen Werkes sagen mag. Zunächst ist hervorzuheben und
festzulegen, daß Hauptmann mit der „Versunkenen Glocke" die naturalistischen
Sphären verlassen hat, daß er sich also vom „Biberpelz" durch den verun¬
glückten Versuch des historischen Dramas hindurch zur idealistischen Dichtung
entwickelt hat, wenn es anders eine Entwicklung und nicht nur ein versuchendes
Tappen ist, was erst die Zukunft lehren wird. Schlenther gesteht es mit den
Worten zu: „Der Dichter ist von seiner eigensten Domäne auf fremdes Gebiet
getreten." Hierin liegt zugleich die Anerkennung, daß er hierbei nicht original
gewesen ist. „Er ruft sich den Goethe des zweiten Faustteils und den
schlegelisierten Shakespeare des Sommernachtstraumes zu Hilfe, und diese
Muster helfen ihm nun eine Verssprache schmieden. Die Versunkene Glocke ist
das erste und einzige dramatische Werk G. Hauptmanns, worin er nicht mehr
künstlerisch revoltiert. Er lenkt in schöne alte Traditionen ein."
Daß damit notwendig eine Vernachlässigung in der Charakterisierung der
handelnden Personen verbunden sei, wird niemand behaupten wollen- Haupt¬
mann ist hier aus einer unklaren Vermischung von Allegorie und Vermensch¬
lichung nicht herausgekommen. Er hat statt lebendiger Einzelwesen nur Gat¬
tungswesen geschaffen, und darunter hat doch unzweifelhaft der Schein des
Wirklichen schwer gelitten. Schlenther muß dies, wenn auch in der mildesten
Form, zugestehen. „Mit seiner naturalistischen Kunst des Jndividualisierens
hat der Dichter allerdings gründlich gebrochen. Die Natur liegt hier vielmehr
in den Märchengestalten (?). Aus der Welt des Menschengeistes treten in diese
Natur typische Erscheinungen ein. Meister Heinrich ist keine Person für sich,
sondern der hochstrebende, von Schönheit verlockte, verirrte Künstlergeist, wie
er im Buche steht. Ebenso ist seine Frau Magda kein Wesen sür sich, sondern
der Inbegriff eines verlassenen und betrognen Frauenschicksals. Die Knaben
tragen das allgemeine Zeichen der Waisenschaft. Pfarrer, Schulmeister, Barbier,
deren Namen wir gar nicht einmal erfahren, sind nichts andres, als eben
Pfarrer, Schulmeister und Barbier. Sie alle sind weniger Menschen, als daß
sie Menschliches repräsentieren. Dadurch erst erhalten sie jene Allgemeingiltigkeit,
durch die sie sich einer andern Welt gegenüber behaupten können. Das historische
Drama konnte noch naturalistisch sein. Dem transcendenter Drama gelingt es
nicht mehr."
„Im transcendenter gelang es Hauptmann nicht mehr," so hätte Schlenther
sagen sollen. Denn daß in einer Jdeendichtung oder im Märchendrama nicht
wirkliche Menschen, individuelle Gestalten von Fleisch und Blut auftrete»
könnten, wie will man das erweisen? Und wenn es erwiesen wäre, so wäre
damit unsers Erachtens das Urteil über diese Dichtungsart gesprochen, weil
das Drama solche lebendigen Einzelwesen durchaus nicht entbehren kann. Hat
es diese Kunst mit der Nachahmung des wirklichen Lebens zu thun, sollen wir
glauben, daß die vorgeführten Personen lebende Wesen sind, so dürfen sie nicht
Typen sein, sondern Individuen, d. h. also: nicht bloß Typen. Je mehr das
Typische sich dem Zuschauer aufdrängt, desto mehr verlieren sie an Wahrheit,
desto mehr wird die notwendige Illusion gestört. Vielleicht aber brauchte der
obige Satz nur zu heißen: „Im transcendenter gelang es Hauptmann noch
nicht." Denn so sehr wir in dem Werke einen Fortschritt anerkennen, so weit
sind wir doch davon entfernt, in ihm ein Meisterstück zu sehen. Es ist viel¬
mehr zu hoffen, daß es dem Dichter, der doch die Mitte der Dreißig kaum
überschritten hat, noch gelingen wird, Idealismus und Realismus in besserer,
in rechter Weise zu vereinen. Schiller hatte in diesem Alter auch noch keinen
„Wallenstein" geschaffen, damit tröste er sich und uns. Aber — Schiller hat
die zehn Jahre zwischen dem „Don Carlos" und seinem ersten Meisterwerk aller¬
dings strengster Geistesarbeit gewidmet, um die Lücken auszufüllen, die ihm
selbst eine siebenjährige Schulung der Militärakademie gelassen hatte. Erst ein
eingehendes Studium der Geschichte, der Antike und der Philosophie ließ in
ihm die Geistesarbeit und die Geistesschärfe reifen, die ihn zur Erfassung der
höchsten Menschheitsprobleme befähigte.
Daß dies Hauptmann noch fehlt, muß man aus der Unklarheit schließen,
mit der er die Idee seiner „Versunknen Glocke" erfaßt und durchgeführt hat.
Es ist schon bedenklich, daß wir nicht recht erkennen, wodurch die Wandlung
in dem Glockengießer Heinrich, der doch nach aller Mitmenschen Zeugnis bisher
so Schönes geleistet hat, eigentlich hervorgerufen wird, und wodurch sie innerlich
vorbereitet ist. Vollständig unklar aber bleibt es, was er nun nach der merk¬
würdigen Umwandlung durch Rautendeleins Einfluß als sein Ziel ansieht.
Werke wirken aus der Kraft der Höhen, ein wunderbares Glockenspiel gießen,
das aus sich selber klingend sich bewegt; dann wieder neuen Grund hoch oben
legen zu einem neuen Tempel, um die Menschen zu Sonnenkindern und Sonnen-
Pilgern zu machen — wer kann mit solchen unfaßbarer Worten einen ver¬
ständigen Sinn verbinden? Das ist doch aber in der Tragödie vor allem
nötig, daß wir den Helden begreifen, daß wir sein Ziel verstehen. Wie können
wir denn sonst in die volle Teilnahme für sein Geschick hineingezogen werden!
Unklare Köpfe und Phantasten sehen wir ohne Erbarmen ans ihrem Himmel
stürzen.
Wie findet sich nun Schlenther mit diesem größten Mangel des Stückes
ab? Daß er ihn nicht erkannt haben sollte, ist bei seiner Findigkeit nicht an¬
zunehmen. So müssen wir doch also wohl glauben, daß er ihn mit zartem
Schleier zu verhüllen suchte. Was zunächst den Umschwung in dem Meister
Heinrich angeht, so faßt er ihn — risuw Wue-Ms — ganz naturalistisch, indem
er kurz und gut sagt: „Ein Mädchen küßt ihn gesund!" Er sieht darin freilich
auch etwas Wunderbares, aber das sind doch nur Redensarten, wenn er sagt:
„Auf wunderbare Weise wird er gesund. Er wird noch einmal seinen Schritt
Ms Leben wenden, noch einmal wünschen, streben, hoffen, wagen — und
schaffen, schaffen. Dies Wunder, das Frau Magda zunächst ach so jubelnd
begrüßt, dies Wunder, an dem sie dann selber sterben soll, vollführt der junge
Zauber eines fremden weiblichen Wesens." Armer Hauptmann! Wenn du dir
wirklich nichts weiter dabei gedacht hast?! — Aber vermutlich hat Schlenther
hier nur einen etwas leichtfertigen Witz machen wollen, wie er ihn in seinen
Theaterkritiken liebte — weil ihm nichts Besseres einfiel, weil er einen triftigen
Grund für Heinrichs Bekehrung und Heilung nicht wußte.
Allein das ist ja nur ein Nebenpunkt; die Hauptsache ist Heinrichs Ziel!
Wie findet sich Schlenther damit ab? Er sieht in den, beabsichtigten Glocken¬
spiel „das Sinnbild sür Höheres, für Unbestimmtes; der Realist schwebt zum
Ideal empor." ..Auch Heinrich der Glockengießer fliegt auf zur Sonne. Er
hebt sich von der Niederung, wo ihm Herd und Werkstatt maßvoll gediehen.
Sein Denken sucht eine überirdische Kunst, sein Fühlen sucht eine übermensch¬
liche Liebe. Am Übermaße dieses Doppelwollens stürzt er." Hier thut also
Schlenther stillschweigend so, als wenn selbstverständlich der Idealismus im
Unbestimmten. Unklaren bestehe. Das ist aber grundfalsch und nur ein Zeichen
von der Unklarheit naturalistischer Theorien. Der Idealist weiß sehr wohl,
was er will, selbst ein Karl Moor wußte es. ein Ferdinand, Posa, Wallen¬
stein und wie sie alle heißen mögen, die an ihren Idealismus ihr Leben setzten.
Aber nicht an der Unklarheit des Ziels gingen sie zu Grunde, sondern an den
falschen Mitteln, die sie zu seiner Erreichung anwandten.
An andern Stellen schieben sich dann aber doch auch bei Schlenther andre
Auffassungen ein, und wo es ganz unabweisbar ist, müssen doch auch einige
Mängel hervorgehoben werden. So soll das Gewissen zuletzt an dem Scheitern
seiner Pläne schuld sein. Und über den Märchengehalt wird so geurteilt: So
fein dieser und jener Zug ist, „so spukt doch daneben allerhand Fabelkram
umher, der nicht ganz lebendig geworden ist, wie die Zwerge in Meister Heinrichs
Höhenwerkstatt, die Ausweitung des Glockenmotivs zum Tempelmotiv, die un¬
durchsichtige Symbolik der drei Becher, aus denen Heinrich Licht, Kraft und
daun doch den Tod trinkt. Aus all diesem Halblebeudigen erklären sich bei
dem starken Interesse, das die Dichtung überall erregt, die zahllosen Deutungs¬
versuche kluger und überkluger Leute, deren Zahl schon zu einer wahren Bro¬
schürenlitteratur angewachsen ist. Ich will solche Kommentare hier nicht be¬
reichern (ah!). Auch von diesem Märchen gilt das Goethische »Märchen noch
so wunderbar, Dichterkünste machens wahr.« Aber wo die Dichterkunst nicht
wahr genug geworden ist, wollen wir diese Schwäche, anstatt uns darüber den
Kopf zu zerbrechen, einfach zugestehen."
Wenn Schlenther das auch mit den andern dunkeln Punkten gethan hätte,
wenn er mit scharfer Kritik den Finger darauf gelegt hätte, so würde er wahr¬
scheinlich dem jungen Dichter mehr genügt, sicher aber die allgemeine Erkenntnis
mehr gefördert haben, als durch das Bestreben, Hauptmann, wo nur irgend
möglich, oft auch noch mehr, zu verherrlichen. Daran aber hinderte ihn seine
Freundschaft für ihn und vor allem die Schiefheit einer naturalistischen Kunst¬
lehre und Weltauffassung. Das sollte diese Auseinandersetzung zu beleuchten
versuchen.
Während dieser Aufsatz in der Redaktion des Drucks harrte,
ist das Erwartete oder Unerwartete eingetreten. Der „Fuhrmann Henschel"
ist herausgekommen und hat der staunenden Welt verkündet, daß die Glocke
wirklich aus ihrer Höhe gestürzt ist und nur noch in der Tiefe klingt. Die
letzten beiden Dichtungen Hauptmanns bedeuten also bloß eine Abschweifung,
nach der der Dichter wieder in die alten Geleise eingelenkt ist. Mit den ge¬
wohnten, von ihm mit Meisterschaft gehandhabten Mitteln der Kleinmalerei
hat er ein Werk geschaffen, das, jeglichen idealen Wertes bar, zwischen den „Ein¬
samen Menschen" und den „Webern" steht. An diese erinnert der Dialekt,
in dem „Fuhrmann Henschel" geschrieben ist — sympathisch und besonders
bühnenwirksam ist die schlesische Mundart wahrhaftig nicht!*) —, erinnert auch
die ganze Heimatssphäre, in die wir versetzt werden, ohne daß uns etwa Dinge
entgegentraten, die nur in Salzbrunn und Umgegend zu denken wären; erinnert
endlich auch das Milieu des niedern Volkes, das uns vorgeführt wird. Hatte
dies aber in den „Webern" und selbst in „Vor Sonnenaufgang" einen Zug
ins Große, Allgemeine, insofern uns dort gezeigt wurde, wohin leibliches Elend
und sittliche Verkommenheit die Menschen bringen können, so haben wir es
hier wie in den „Einsamen Menschen" mit einem intimen Vorgange aller-
einfachster Art zu thun, und zugleich allergewöhnlichster. Dort konnte doch
noch der geistige Vorgang in dem jungen Gelehrten fesseln; es handelte sich
gewissermaßen um höhere Dinge, um gebildete Leute, deren geistige Interessen
bei uns Teilnahme und Verständnis finden. Daß ein Mensch nicht geistig
ausreifen, besonders aber nicht geistig schaffen kann, wenn ihn seine Umgebung
herabzieht und für seine Aufgaben keinen Sinn hat, wenn sie ihm gar das
innere Gleichgewicht stört und den Flug seiner Gedanken aufhält, das begreifen
wir, und weil es allgemein menschlich ist, so nehmen wir daran innigen per¬
sönlichen Anteil. Aber daß ein Fuhrmann, ein biedrer, rechtlicher und fleißiger
Mensch, durch seine schlecht gewählte zweite Frau zu Grunde gerichtet wird
und sich zuletzt, am Leben verzagend, aufhängt, weil er seiner ersten Frau auf
dem Sterbebette versprochen hatte, das gemeine Weib nicht zu heiraten, das
kann nur ganz gewöhnliches Mitgefühl erregen. Ja es würde eine dramatische
Teilnahme gar nicht wecken (denn es ist ein ausschließlich epischer Stoff), wenn
es nicht mit der Hauptmann eignen virtuosen Fertigkeit dargestellt wäre.
Diese zeigt das Stück in der That in höchster Vollendung. Weiter kann
die Kunst nicht getrieben werden, einfache Vorgänge des täglichen Lebens in
der Kellerstube Henschels und in der Fuhrmannskneipe so vorzuführen, wie
man sie in Wirklichkeit schauen könnte. Darüber hinaus aber ist der Dichter
auch nicht im geringsten gegangen. Es ist uns, als träten wir in einen Raum,
wo die Figuren gegen das Licht gestellt sind, so flach, so silhouettenhcift er¬
scheinen sie uns. Jede plastische Ausgestaltung, jede wirkliche Charakteristik
ist meisterlich vermieden. Wir sehen nur Umrisse, während wir erwarten, daß
uns der Dichter Blicke in die Tiefe des Seelenlebens thun läßt, sehen meist
Handlungen, ohne über die Motive klar zu werden. Wirkliches Interesse erregt
eigentlich nur Herschel, und auch dies wird dadurch abgeschwächt, daß ihn gar
nicht die Schlechtigkeit seines Weibes zu drücken scheint, sondern nur eine aber¬
gläubische Furcht vor seiner ersten Frau, die wegen des von ihm gebrochnen
Versprechens nicht zur Ruhe kommen kann. Dieses Motiv schiebt sich plötzlich
(im fünften Akt) da in den Vordergrund, wo man folgerichtig eine Wirkung
davon erwartet, daß ihm (im vierten Akt) unter einem fürchterlichen Ausbruch
seines Zorns die Gemeinheit der liederlichen Hanne enthüllt wurde. Dieses
Weib aber ist völlig flach gezeichnet. Auch nicht ein Blick in ihr Inneres
wird uns eröffnet. Wir ahnen nicht, was in ihrer Seele vorgeht. Alle
übrigen Personen sind nicht mehr als in großen Zügen geschilderte Typen,
der gutmütige Gasthofsbesitzer, der charakterlose Pächter der Schankstube, sein
leichtfertiges, faules und eitles Töchterchen, der sächsisch redende Kellner, der
hausierende Jude, der stupide Stallknecht u. s. f. Unter allen nicht ein einziger
Mensch, mit dem wir im Leben ohne triftigen Grund länger als eine Viertel¬
stunde zusammen sein möchten, im ganzen Stück nicht ein einziger Gedanke,
der uns zu fesseln oder zu beschäftigen vermöchte, nicht eine einzige Regung
der Seele, die in uns nachklänge, sobald der Vorhang gefallen ist. Und
damit sollte sich das deutsche Volk beschäftigen, einen ganzen Theaterabend
lang, oder gar noch länger? Das sollte wirklich echte Kunst sein?
Wenn Schlenthers Buch über Gerhart Hauptmann die zweite Auflage
erlebt, fo wird er sich auch darüber äußern müssen. Wir sind gespannt, ob
er den Mut finden wird, auch diese Frage zu bejahen.
in andern Morgen verschliefen sich alle drei, aber Line war doch
schon mit Kaffeetisch, Kuchen und Blumenstrauß bereit, als das Ge¬
burtstagskind endlich übernächtig, blaß in die Küche trat. Sie um¬
faßte Karl, küßte ihn auf die Stirn, sagte: Auf ein gutes gesegnetes
Jahr! und schenkte ihm ein.
Sie hatte aber keine Festtagsruhe, stand zeitig auf, ordnete in
der Vorderstube einen Tisch fürs Abendbrot, ging zurück, sagte Karl, daß er in
der Werkstatt wegräumen müsse, was nicht verstanden dürfe, von wegen des
Mßchens, das da drüben getrunken werden solle, ging ab und zu, bis der Vater
kam, eilte ins Schlafzimmer, da Ordnung zu machen, zog drauf ihr bestes Zeug
an und ging.
Wo will sie hin? fragte Stadel, und auf das: Ich weiß uicht! des Sohnes
setzte er hinzu: Ist nicht leicht mit der Line, gar nicht, dn kennst sie kaum. Ja ja, ich
weiß schon: tüchtig, fleißig, nimmt alles ernst, auch die Fliege an der Wand und
das Stäubchen in der Luft; weiß schon. Aber der Schwung fehlt, der Flügel.
Fleißig sein — ja doch, die Ameise ists auch — machst du dir 'n Vorwurf, wenn
du die Ameise zertrittst, die nur fleißig ist? Vom Menschen verlang ich was mehr.
Damit ging der Alte hinüber in sein Bereich, und Karl blieb zurück mit
schweren Gedanken: Wer die beiden hätte zur Freude, wer die beiden hätte wieder
zusammenbringen können!
Kein Mittel fiel ihm ein.
Line kam spät nach Hause, war wortkarg bei Tisch, und am Nachmittag ging
sie noch einmal. Als sie zurückkam, zeigte sie übergroße Geschäftigkeit, das Ver¬
säumte einzuholen, und erst um die Zeit, wo die Gäste erwartet wurden, nahm sie
Karl beiseite und flüsterte ihm zu: Ich war bei meiner Kundschaft — sie find alle
bereit, mir die Arbeit künftig ins Hans zu geben. Ich bleibe hier und sorge für
den Vater — dn kannst also fort.
Blutrot stiegs in Karls Gesicht empor. Er strich wieder mit hilfloser Ge¬
berde das Haar aus der Stirn, das nicht da war, und stotterte: Es ist nicht nur
das da sein, Line, es ist mehr. Du bist hart, du bist verdrossen, du bist nicht
gut gegen den Vater — er muß uicht nur satt werden, er muß auch froh sein
können —
Da sie nicht mit heftiger Abwehr einfiel, sondern ihn nur starr ansah, redete
er mutig weiter. Sei gut mit ihm, Line. Vielleicht ginge es, wenn du nicht mehr
an das dachtest, was anders sein könnte, sondern es nähmst, wie es ist? Denk
ihn dir noch fünfzehn Jahre älter, fertig mit seiner Kraft: ein Greis, für deu du
sorgen, dem du uach der Lebensarbeit sein Spielzeug gönnen darfst.
Lebensarbeit! — wenn die ganze Lebensarbeit nur Spielerei gewesen ist, der
alle Kraft und alle Wärme geopfert wurde! In Liuen schrie und jammerte es,
aber dabei stand sie stocksteif vor dem Bruder und rührte sich nicht. Das steigerte seine
Erregung: Wahrhaftig, Line, du thust ihm nichts Liebes, das Nötigste so um Gottes
willen, nicht mehr. Schon daß du mich nie Charles nennst! Du weißt doch, daß
es ihm um des alten Luftschiffers willen Freude macht — wenn man einem so leicht
Freude machen kann —
Leicht? sagte Line; dann wandte sie sich ab und ging nach ihrem Alkoven.
Leicht! — Sie setzte sich auf die Bettkante und faltete die Hände, gerade so wie
gestern, wo sie den Entschluß gefaßt hatte, zu Hause zu bleiben. Das war also
noch nicht genug gewesen — sie sollte heucheln, sollte lächeln, wenn ihr bitterernst
zu Mute war, sollte Anteil zeigen, wo sie lieber geflohen wäre bis ans Ende der
Welt, sollte mit dem Gespenst tändeln. Charles! — als ob das eine Kleinigkeit
wäre! Als ob das nicht Symbol wäre, gerade wie der Holzengel, als ob man
sich mit solcher Tändelei nicht dem Teufel perschriebe!
Leicht! — das war das Schwerste von allem.
Eine zögernde Hand drückte an dem Thürschloß. Line?
Ja.
Line, komm doch! Meister Ackermann ist da, und Flörkens hör ich auch schon
auf dem Gange.
Ich komme.
Sie zog den Vorhang des Alkovens zu und ging hinaus. Ackermann schüttelte
ihr kräftig die Hand, aber nur nebenbei, denn Städel hatte ihn schon fest und
redete vom Aluminium; was daran sei und wie sichs verarbeiten werde: er habe
etwas vou federleichter Hausschlüsseln gehört. — Was meinen Sie dazu?
Taxiere, einer wird sie verlieren, und der andre wird sie abdrehen, was
Hausschlüsseln überhaupt manchmal passieren soll.
Da kamen Flörkes; die Mutter mit einem Schwall von schönen Reden über
mündig werden und geboren worden sein — erst im allgemeinen und schließlich im
besonder». Das Ding kam nicht zu Worte mit seinen Glückwünschen, lief zu Limen,
faßte sie an beiden Schultern und sagte eifrig: Ich soll zur Pate! Das stand in dem
großen Brief. Denken Sie, zur Pate mit dem feinen Bandladen und den aller-
neusten Hüten. Und Putz soll ich lernen, und alles, was dazu gehört, sobald ich
groß genug sei. Bin ich wohl groß genug?
Line lächelte das Kindergesicht an, dem das Arbeitsverlangen einen lieblichen
Ernst ausprägte. Gewiß, zum lernen und fleißig sein reichlich groß genug.
Da kam Frau Flörke angefegt und redete mit den Händen so .eifrig wie mit
dem Munde.
Nicht wahr? Grvsz genug, und wird ein nettes Mädchen: sie kann abreise«.
Denn das mit der Pate, das lohnt sich, so was wie erben soll das Ding. Ja ja,
guckt nur allezusammen.
Sie guckten aber gar nicht, kaum Meister Ackermmm hörte zu; Nettchen wünschte
Karl eben das Haus voll Glück, nud als die beiden neben einander standen, dachte
Line mit einem Gefühl wie Aufatmen: Vielleicht erbt sie wirklich etwas! und eine
schnelle Folge von Bildern ging an ihr vorüber: wie es sein werde, wenn etwas
Geld ins Haus käme.
Gleich darauf schob sie das beiseite; sie hatte keine Zeit zum Träumen, sie
mußte ja den Bruder hinausbringen aus der schweren Luft, die ihn am Wachsen
und Werden hinderte, mußte ihn lehren sein eignes Leben zu leben, gegen seinen
Willen, ihr selbst zum Leid; aber sie mußte, sie hatte ihn gehegt von klein auf wie
ein leibliches Kind, und der Instinkt der Mutterliebe war ihr ins Herz hinein¬
gewachsen.
Aber sie war gewohnt, hart mit sich zu sein, mochte ihr Herz noch so .viel
bedrücken. Während sie den Gästen das Abendbrot bot, lächelte sie und sprach wie
sonst; lachte auch ein und das andre mal leise, obgleich sie vor ihrem eignen Lachen
erschrak, sagte auch Charles, obwohl ihr zu Mute war, als müsse sie dabei eigentlich
allemal drei Kreuze schlage».
Nur einmal ging ihr die Selbstbeherrschung aus. Das war in der Werkstatt,
wo sie bei dem Fäßchen saßen, und plötzlich der alte Nothnagel mit seiner Jenny
über den Holzgang hereinkam.
Guten Abend, sagte der Alte, die Nachbarschaft wünscht Glück — auf daß
wir bald fliegen, natürlich! ans daß Sie uns ordentlich helfen, natürlich! und sonst
noch was Gutes extra vom Tisch, auf dem das Leben seine Raritäten aufbaut.
Nothuagel brachte ein Lachen fertig, das den Mund beinah von Ohr zu Ohr
zog, und Jenny überreichte dem Mündigen einen Rosenstrauß.
Ich wünsch dem Herrn Nachbar Glück auf eine schöne Rosenzeit. Dabei machte
sie ein paar Augen, daß das Ding sie starr ansah.
Limen aber stiegs heiß ins Gesicht und bitter den Hals herauf; sie mußte
schlucken und schlucken, daß sie deu ungebetnen Gästen nicht ihre bittersten Worte
vorsetzte, denn das durfte ja nicht sein, wenn der Karl gehn sollte.
Sie bezwang sich, sagte Guten Abend, schenkte ein, lächelte und redete wie vorher;
nur das Lachen ließ sich nicht mehr erzwingen.
Am andern Morgen kam der Lohn. Karl trat in ihr Zimmer und sagte:
Gieb mir den Brief noch mal, du hast doch wohl Recht, es ist gut, wenn einer sich
die Welt einmal ansieht — ich hab mit dem Vater geredet.
Limen kamen die Thränen in die Augen, sie faltete die Hunde und sagte leise:
Gott sei Dank, du kommst dem Gespenst ans den Krallen.
Nicht mehr Gespenst sagen! bat er, kühn gemacht durch ihre Nachgiebigkeit.
Soll ichs den goldnen Engel nennen?
Er merkte die Bitterkeit gar nicht, die dies fragte. Thus, antwortete er heiter,
vielleicht bringt uns der Name Glück.
Ein paar Stunden später reiste nett lachenden Mundes und thränenden Auges
mit ihrem kleinen Koffer ab. In der Rechten trug sie eine Bohnenblüte — etwas
mußte man doch mitnehmen aus dem lieben alten Kegelschub.
Als der Brief ein den Meister Wendelin beantwortet und alles in Ord¬
nung war, kam den alten Stadel etwas wie Reue an. Er setzte sich am letzten
Abend zu den Kindern auf den Gang, redete nicht vom Luftschiff, sondern von
seiner Lehrzeit und brummte uur ab und zu einmal dazwischen: Ja ja, ich soll
auf meine alten Tage, wo andre sich eine Stütze heranholen, wieder den Packesel
machen.
Als er das zum drittenmal sagte, antwortete Line: Das bin ich schon, Vater,
ich trag auch für zwei, stund auf, ging hinein und schnürte des Bruders Reisekvrb
zusammen.
Sie ist dir gut, Vater, bat Karl leise, du mußt auch gut mit ihr sein.
Ja ja; ja doch! wenn man nur mehr Zeit zu den kleinen Dingen hätte, die
den Frauenzimmern so wichtig sind. Sei nur ruhig, Charles, sie bekommt noch
mal ihr großes Teil am Erfolg, damit machen wir alles wett.
Am andern Morgen ging Karl dennoch mit schwerem Herzen; zum erstenmal
hatte er das sichre Gefühl, daß der Vater ihn selber vermissen werde, nicht nur
die Hand, die ihm lästige Arbeit abnahm; aber der alte Kilburg sprach zum
Fenster heraus: So ists recht, junges Blut muß in die Welt, dmnits wägen und
messen lernt.
Das begleitete Karl Stadel wie ein Segen und eine Sühnung. Leicht¬
füßiger schritt er aus, frischer sagte er in der Schmiede und bei Mutter Flörke
Lebewohl, nickte noch einmal zu Vater und Schwester hinauf und ging dnrch die
Apotheke, wo Jenny am Küchenfenster guckte, um sich einen Abschiedsgruß zu holen.
Und die Jenny! Um die Jenny bringst dn ihn auch uoch, brummte der
Vater.
Gott gebs.
Jenny sah dem Davongehenden ärgerlich nach, etwas ausführlicher hätte er
Guten Morgen und Lebewohl sagen können, wo man sich doch heiraten sollte.
— Überhaupt jetzt davon zu gehn, so'n dummer Mensch, so'n hübscher Mensch —
jetzt haben wir doch das Alter, reichlich. Wir Hütten ab und an zu Tanze gehn
dürfen, die Line könnte uns lange bemuttern — so'u dummer Mensch. — Auf der
Stelle heiraten konnten wir, wenn wir nur wollten — und wenn wir uns nachher
zu zweit ordentlich breit und fest hinstellten, wir würden der Vergeudung seines
und der Geizerei meines Vaters schon die Spitze bieten.
Guten Morgen, Fräulein Nothnagel, guten Morgen. Immer so früh auf, und
immer wie eine Rose im ersten Tau, sagte Herr Frisch, der Provisor, verbeugte sich
zweimal nach der neusten Mode und strich sich den dunkeln Schnurrbart, damit
Man seinen Stolz und Staat auch bemerke.
Fräulein Nothnagel lächelte; wenn sie auch Karl Stadel heiraten wollte, solch
hübsche Wendung hörte sich von jedem gut an; einstweilen, da der hübsche Mensch,
der dumme Mensch fort war auf zwei Jahre, konnte man vielleicht mit Herrn
Frisch tanzen. Sie lächelte weiter, blieb im Küchenfenster stehen und ließ ihn reden.
Herr Frisch aber benutzte die Gelegenheit, der Apothekerstochter und sich selber
schön zu thun, auf das gründlichste.
Line, die auf dem Gang geblieben war, so lange ihr Auge dem Bruder folgen
konnte, sah auch dies und freute sich dran. Das war das letzte Gute; dann be¬
gann die schwere Zeit stündlichen Kampfes gegen den Zorn über den Dämon, der
ihr Haus verwüstete, und gegen den Groll über den Vater, der sich von dein Dämon
hatte unterjochen lassen. Sie sagte sich jeden Morgen, wenn sie mit der Sonne
aufstand: Du mußt den Jungen ersetzen, du mußt arbeiten für drei und mußt
freundlich sein.
Die Arbeit machte der Freundlichkeit das Atmen leichter als das Nichtsthun;
nur allzuviel durfte es nicht werden, dann wurde die Kraft im Tagewerk verbraucht,
die Line nötig hatte zum Kampfe mit Zorn und Groll.
Die Schneiderkundschaft kam wirklich ins Haus; die Line hat nun einmal Ge¬
schmack, und auch das Grobe der lithographischen Bestellungen konnte sie trefflich
erledigen. Spiegelschrift hatte sie schon in der Schulzeit zum Ärger ihrer Kame¬
radinnen glatt hingeschrieben, und wenn ihr nur des alten Nothnagel Gegenwart
nicht Galle ins Wasser schüttete, blieben ihre fleißigen Tage nicht ohne Er¬
frischung.
Sobald sie aber den schlürfenden Schritt über den Gang schleichen hörte oder
den Droguenbodeu entlang, dann stieg es bitter in ihr anf, und sie lief lieber mitten
im Satze aus des Vaters Nähe, weil sie ihrer selbst nicht sicher war. Wußte sie
doch, sobald der Alte von drüben kam, gabs einen neuen Einfall, der Geld kostete.
Den Einfall brachte Nothnagel triumphierend, das Versuchsgeld durfte Städel auf¬
bringen; so wars immer gewesen, deshalb gedieh die Apotheke, die Steindruckerei
aber ging zurück.
Wenn wir den Nothnagel los waren, wenn wir fortziehen konnten, wenn das
Ding der Pate Hans erbte, und wir könnten dort unsre Werkstatt errichten — fort
von Senkenberg, ans dem Bereich des goldnen Engels, wieder ins Helle —
Sie wußte gar nicht, daß sie die Pate und Nothnagel totschlug und den Vater
so veränderte in ihren Phantasien, daß ers überhaupt nicht mehr war. Dergleichen
kam auch selten in den Kopf, der immer von jetzt auf gleich nachher denken mußte,
sodaß kein Raum mehr blieb für Vergangenheit und Zukunft. In den vier Mo¬
naten aber, seit Karl und das Ding fort waren, hatte dieses Phantasiebild schon
viermal gespukt.
Das war allemal an den Tagen, die Karls Briefe brachten. Heitere Briefe
mit Berichten von Arbeit, Kunst, dem Leben, wie es lebendigen Menschen verläuft
unter vielfachen Beziehungen, und mit Planen, wie künftig die Arbeit im Hause
Städel gethan werden solle.
Diese Briefe behielt sie für sich allein, genau so wie der Alte vou den seinen
nichts berichtete als einen Gruß für die Line. Auch er bekam welche, was aber
der Tochter wunderbarer schien, war, daß er sie beantwortete. Ohne einen zu
sehen, wußte sie, daß von nichts in diesen Briefen stand, als von dem Modell;
hätte sie aber geahnt, wie lang, wie häufig und wie gründlich diese Berichte „an
meinen Sohn und Erben" waren, ihr wäre angst geworden um den Bruder, nach
dem die Gespcnsterarme sich bis in die sichre Ferne streckten.
So trug sie die Freude darüber, daß ihr Liebling im Hellen war, durch die
harten Tage.
Nun lagen schon die Novembernebel über Senkenberg, und der Reif hatte
sich bis gegen Mittag auf der Stadtmauer gehalten: ein Märchenbild, dem der
alte Kilburg eine halbe Arbeitsstunde gönnte.
Er nickte Karolinen zu, die vor der Küchenthür hantierte. Macht Sie die
Pracht auch fröhlich, oder hats sonderlich gute Nachrichten gegeben?
Sie grüßte wieder und lächelte. Beides, Herr Professor. Karl wächst zu¬
sehends, und manchmal mein ich trotz des Novembers, meine Sonne tonus doch
noch zum Sommer bringen.
Das ist recht, gerade das mein ich auch. Wollen Sie wieder einmal was zu
lesen? Ich hab dieser Tage was für Sie in die Hunde bekommen — ein Buch
von der Geduld und Treue.
Sie wurde rot von dem Lobe, das in Blick und Ton des alten Herrn lag,
und antwortete schnell: Ein Viertelstündchen zum Besinnen muß schon des Abends
werden, wenn man sich nicht zerfasern will.
Recht. Dafür sinds auch Verse, bei denen sciense man in einer Viertelstunde
mehr ein als bei einer Erzählungswasserflut. Ich Schlaks Ihnen. Er nickte ihr
noch einmal zu und schloß dann sein Fenster.
Karoline ließ die Hand mit der Bürste sinken. Geduld und Treue — ihr
War, als seien ihr da auf einmal zwei Flügel gewachsen, die sie sanft und sicher
über die Steine und Dornen ihres Tages hinüber heben wollten. Der gute
Professor, der alles ringsum sah und für alles ein gutes Wort fand!
Treue für den Bruder, Geduld für den Vater. Sie sah noch einmal lächelnd
über den Ranchreif hin und trat dann in ihre Küche zurück.
Was für ein Buch mochte er diesmal für sie haben? Vielleicht konnte sie
den beiden Lehrmädchen, die drinnen im Vorderzimmer eifrig bei ihren Nähten
saßen, einen und den andern Vers vorlesen, damit sie nicht nur Tanz- und Putz-
gedanken in die Arbeit nähten — sie freute sich auf das Buch.
Die große Hausthürglocke klapperte; da Line den Milchmann erwartete, nahm
sie eine Kanne und ging hinunter. Es war aber nicht der Milchmann; der Bote
vom Lotteriekollekteur stand auf der Flur und kam nicht weiter, weil er mit Meister
Ackermann einen Schwätz hielt.
Als er Line sah, schwenkte er verbindlich die Mütze. Guten Morgen, gratu¬
liere; gratuliere ganz ergebenst; schönen Gewinn gemacht der Herr Papa, sehr
schönen Gewinn gemacht.
Auch Ackermann wünschte ihr heiter Glück.
Ich hab das Geld nie für ne große Sache gehalten, Frttulein Line, denn
mehr als satt werden kann keiner, aber ne hübsche Sache ists doch, Wenns
einer hat.
Line wurde dunkelrot. Unmöglich, stammelte sie, er spielt ja gar nicht.
I natürlich spielt er, na ob er spielt!
Er spielte — hinter ihrem Rücken, obgleich die andern es wußten — wahr¬
scheinlich das ganze Haus. Aber ihre Empfindlichkeit wurde durch das Entzücken
gemildert. Du lieber Gott, wenns tausend Thaler wären! Die häßlichsten Schulden
aus der Welt schaffen, eine Schnellpresse einstellen, ein ordentliches Schild an die
Thür, einen gelernten Gesellen in die Werkstatt — und das Aufatmen! —- Die
Erbschaft der Pate Putzmacherin verblich dagegen zum Schatten.
So langsam stieg Line im Ansturm dieser Pläne die Treppe hinauf, daß der
Bote schon wieder auf dem Rückweg war, ehe sie in des Vaters Zimmer trat.
Da lag das Geld, gerade unter Pilätre de Rvziers Bild lagen die Scheine,
Rollen und Geldstücke aufgereiht.
Hastig trat Line heran und zählte — es waren hunderttausend Mark. Die
Röte der Erregung wurde noch dunkler; ein Gefühl wie Ersticken kam über sie,
Schatten liefen ihr vor den Augen hin, sie mußte aufschreien, um nicht ohnmächtig
zu werden.
Der alte Städel stand kaltblütig mitten im Zimmer; daß die Line dort
nachzahlte war ihm nur halb recht, aber großen Eindruck mochte es ihm auch nicht.
Er nickte seinem goldnen Engel mit behaglichem Lächeln zu und sagte dann zu der
Tochter: Nun was schreist du denn? Es hat lange genng gedauert, aber es mußte
ja schließlich kommen, ich wußte es ganz genau. Und gerade zur rechten Zeit ist
es da und ist mir zugleich ein Zeichen, daß es die rechte Zeit ist.
Spielst du denn schon lange? fragte sie hastig.
Seit zehn Jahren.
Sie rechnete blitzschnell nach, was ihn das gekostet haben möge, und schalt sich
zugleich darüber, denn nun war ja alles gut, nun war ja geholfen, nun konnte sie
die kräftigen Arme, die doch müde wurden vom ewigen Halten und Stützen, ein¬
mal, ein einziges kurzes mal, aufatmend sinken lassen, nun brauchte sie nicht mehr
zu rechnen von früh bis spät, bis sie sich ganz erbärmlich vorkam in dem ewigen
Sorgen um das Geld, nun konnte sie zum erstenmal um sich und ihr eignes Leben
denken.
Sie hatte über dem Rauschen lind Brausen ihres Blutes nicht gehört, daß
es den Gang heranschlnrfte, und erschrak bis ins Innerste, als plötzlich die Thür
aufging und Nothnagcl eintrat.
Ihr erster Gedanke war, das Geld zu verbergen, aber ehe sein Blick den
Tisch gestreift hatte, sagte er schon: Das ist doch mal ein Glücksfall.
Schon gehört?
Natürlich, Fräulein Line; bin bei dem Gewinn doch beteiligt wie der gute
Papa.
Sie?
Die Summe schrumpfte zusammen, aber es blieb ja immer noch mehr als
genug zu ein Paar festen Stützen für das wankende Hans Städel.
Nothnagel kam herein, schloß vorsichtig die Thür, setzte sich und rieb sich be¬
haglich die Hunde.
Jedesmal, seit das Modell spielt, hab ich auf die Ziehung gewartet wie auf
die ewige Seligkeit, wir haben lange Geduld üben müssen, heut aber hat es ge¬
lohnt, und nun bauen wir die Maschine.
Line wurde blaß, die Gedanken schössen ihr durcheinander; sie konnte keinen
fassen, so schnell waren sie, überstürzten sich und drehten sich im Kreis, sie stam¬
melte nur tonlos die Worte Nothnagels nach: Nun bauen wir die Maschine.
Es ist knapp, fuhr der Apotheker fort; wir müssen noch zuschustern, aber es
geht, und ich hab schon einen Mechaniker an der Hand, der kann bei mir wohnen
und in irgend einer Werkstatt hier die Ausführung übernehmen. Das Modell ist
gerade im richtigen Status, und haben wir nnr erst die Probefahrt gemacht, dann
kommen Gewinn und Ruhm mit Häuser.
Der alte Städel nickre strahlenden Angesichts zu cilledem Zustimmung und
streichelte das Geld, das dem Luftschloß seines Lebens Grund und Boden auf der
Erde verschafft hatte.
Vater! rief Line, die Hunde erhoben in einer Erregung, die all ihre knappe
Schroffheit löste, Vater, dieses Geld gehört uns, den Lebendigen — Gott hat Mit¬
leid gehabt mit unserm Verfall und streckt uns die helfende Hand entgegen — nur
braucheus zur höchsten Not: die Schulden, das veraltete, abgebrauchte Werkzeug,
eine Presse, ein Geselle —
Heftig fuhr Städel vom Tisch, auf dem das Geld lag, herum und wandte
sich der Tochter zu: Was fällt dir ein? Das Modell hat gespielt, seit zehn Jahren
spielt es, das Modell hat gewonnen.
Wenn Herr Nvthnagel seinen Anteil in den Wind jagen will, so gieb ihm,
gieb! Die Apotheke hat ihn nicht nötig. Aber unsre Hälfte —
Der alte Städel lachte, stellte sich mit stolzer Geberde vor die Tochter und
sagte ohne Scheu: Nein, Line, so ist es nicht; bezahlt hab ich allzeit die Lose
allein, mein ist das Hochgefühl, wenn wir schwergliedrigen Menschenkinder uns
endlich zu Herren der Lust machen werden — ich würde es auch gar keinem
andern gönnen.
Vater, schrie Line auf, du allein, dn? So gieb mir nnr dreitausend Mark
davon — ich richte mich ein.
Was denkst du, brummte er, unsicher geworden und verdrießlich wegen seiner
Unsicherheit, es langt so kaum.
Sie faßte nach feinen Händen, die er ihr hastig entzog, faßte nach seinem
Rock, glitt an ihm herab, bis sie auf den Knieen vor ihm lag, trotz Nothnagels
und des goldnen Engels Gegenwart.
Nur drei von hunderttausend — du sollst sehen, was ich daraus mache! Auch
du sollst aufatmen, du sollst nie mehr mit den Steinen geplagt werden, es soll
alles still und hell um dich sein, ich brauche nicht mehr mit dem Öl für deine
Lampe zu geizen, und wenn der Bruder heimkommt, soll er es so finden, daß ihm
wohl wird zu Hause — nur drei von hundert — ein Griff — dort liegts, und
du merkst es kaum.
Städel sah unsicher auf die Knieende hinab — einen haltlos und bittend zu
sehen, der sonst allzeit sicher und schroff durchs Leben geht, ist eine eigne Sache,
drzu dieser flehende Ton, der ihn zum erstenmal an die Stimme seiner Frau er¬
innerte und an seine Frühlingstage in dem kleinen Häuschen vorm Thor, die
Aussicht, nichts mehr mit den Steinen zu thun zu haben und all das andre,
was Line versprach, die noch niemals an ihren Worten gebeutelt hatte — er
wurde weich.
Aber da stand Nothuagcl, der kluge Nothnagel mit dem fatalen Lachen und
dem höhnischen Ton, der den harmlosesten Worten Messerschärfe zu geben vermochte.
Gieb nur, sagte er, gieb! Jetzt dreitausend und über acht Tage vier und dann nochmal,
und ein andermal; denn wenn ein Weiberkopf ans Verbesserungen fällt, dann nehmen
sie kein Ende — wir aber bauen für die Menschheit, und wenn wir zur Hälfte
fertig siud, giebts keinen Groschen mehr, und wir haben ein Schloß ohne Dach.
Pröhle Mahlzeit! schenkt nnr dem Weibe ein Goldstück, es verzettelts in Hellem,
und vergeblich sucht ihr darnach, was sie wohl damit geschaffen habe.
Städel sah von Nothnagel zur Tochter, die leider ein Weib war mit engem
Sinn, unfähig, die Größe seines Unternehmens zu empfinden, und sah wieder zurück
zu Nothuagcl, der glücklicherweise allzeit bei Verstand blieb.
Nein, sagte er verdrießlich, nein, Line, es geht nicht; sei klug. Es brächte
auch Unglück, wenn ich von ihrem Gelde wegnehmen wollte. Betrügen wir die
Maschine, betrügt sie uns wieder.
Vater!
Nein nein nein; es geht nicht. Grämlich klang die Stimme, und die Hände
mühten sich, den Rock von der nmklnmmernden Tochter frei zu machen — da hatte
sie ihm richtig wieder einmal Essig in den Freudenwein gegossen, statt ihn durch
Mitfreude süßer zu machen.
Mühsam stand Line vom Boden ans, wie verbrannt war ihr zu Mute, ganz,
kahl und leer, heiß und durstig. Sie ging langsam hinaus, sie sah und hörte nichts;
dumpf tags ihr über Auge und Ohr. So stand sie noch an die Gangbrüstung
gelehnt, als Nothnagel aus der Werkstatt kam und, vorsichtig ihre Schulter berührend,
stehen blieb.
Das fühlte sie; mit jäher Bewegung rückte sie sich aus Nothnagels Nähe.
Was wollen Sie von mir?
Nun nun; warum immer so häuslich?
Häuslich? Immer? Als ob ich es nicht vermiede, mit Ihnen zu reden.
Das auch mit, und das ist unklug, mein kluges Fräulein Stadel; ich konnte
und kann Ihnen manchen guten Rat geben — jetzt eben den, daß Sie dem Vater
uicht mit Querelen kommen, wo er seine Gedanken zum großen Werke braucht.
Aber wenn ich mit diesem freuudnachbarlichen Rat —
Line that einen tiefen Atemzug! Ich danke für Ihren freundnachbarlichen
Rat, ich danke. Sie sagen, ich sei häuslich — du liebe Zeit, wann hab ich denn
einmal geredet? Aus dem Weg bin ich Ihnen gegangen; wenn Sie mir aber
nachlaufen, nun warum nicht, dann niags einmal herunter vom Herzen. Sie haben
meiner Mutter den Mann und uns Kindern den Vater gestohlen; Sie haben uns
das Gespenst über die Schwelle gebracht und uns in den Schatten Ihres goldnen
Engels gelockt, der ein Teufel ist, damit Sie uns auch ganz sicher in der Gewalt
haben. Und findet sich doch ein Luftzug in unsern Winkel, der uus Freiheit geben
null, so stehen Sie richtig da und werfen die Thür wieder zu — was thuts,
wenn wir ersticken, was thuts, wenn der Karl verkümmert.
Nun nun nun — jetzt haben Sie ja wohl ausgeredet, weil Ihnen nichts
weiter einfällt. Der Karl gerade wird schließlich einmal alles haben, Ehre, Ruhm,
Gold, die Apotheke und mein Mädchen dazu — 'n hübsches Mädchen —, lassen
Sie doch die Steine, mit denen ist kein Geschäft mehr zu machen heutzutage.
Auch uoch! Die Steine, um denen seine Neigung und seine Begabung hängt,
hingebe» für eine Heirat mit dem Rädergespenst! Nein, was an mir liegt, gewiß
uicht; was an mir liegt, soll er frei werden, ein ordentlicher Mann, dein nichts an¬
hängt als sein Beruf.
Ein Simpel also! rief der alte Nothnagel zornig und schlürfte zwischen seinen
Kamillenbündeln davon.
(Fortsetzung folgt)
Unter den kathedcr-
sozialistischen Professoren der Nationalökonomie hat sich als akademischer Lehrer und
als gelehrter Schriftsteller wohl keiner größere Verdienste um die Wissenschaft er¬
worben als Adolf Wagner. Seine Irrtümer und Einseitigkeiten werden ans diesem
Gebiete reichlich aufgewogen durch seine Leistungen als Shstematiker. Er erzieht
dnrch diese die akademischen Schiller selbst zur Kritik seiner Schroffheiten und Über¬
treibungen. Leider begnügt er sich nicht mit seiner akademischen Wirksamkeit, sondern
glaubt immer wieder, sich auch an die große Masse wenden und den Volkslehrer,
um nicht zu sagen: den Agitator, in der praktischen Politik spielen zu sollen. Aber
dafür ist kein Mensch weniger angelegt als er, und bei dieser Rolle kommen seine
Irrtümer und Einseitigkeiten ohne jedes Gegengewicht zur Geltung. So hoch man
den Akademiker und Theoretiker Wngner schätzen mag, den Volksredner und prak¬
tischen Politiker Wagner muß mau fast immer scharf bekämpfen, er richtet eben fast
immer Verwirrung, Mißverständnis und Schaden an.
Kürzlich hat er sich, wohl durch eine gewisse Gutmütigkeit, verleiten lassen,
die „Umfrage" eines sehr verbreiteten Berliner Lokalblatts, das vielfach als Klntsch-
blcitt verurteilt wird, aber für seinen große» Leserkreis doch die Quelle politischer
Weisheit ist, durch eine ausführliche Zuschrift über die neuste Entwicklung unsrer
überseeischen Wirtschaftspolitik zu beantworten, und dabei hat er insbesondre den
Anteil des Deutschen Reichs an der Entwicklung der Dinge in Ostasien den Lesern
in einer so einseitigen Beleuchtung und so ungünstig gefärbt dargestellt, daß schon
im Interesse der Wahrheit eine Zurückweisung nötig wäre. Vor allen Dingen aber
erfordert es das heutige Entwicklungsstadium der deutsche» Überseepolitik dringend,
daß diesem nnr allzu wirksamen Schüren der Feindschaft und des Mißtrauens gegen
sie im großen Publikum entgegen getreten wird. Die Person Wagners tritt dabei
ganz in den Hintergrund, wenn auch sein Name der Agitation besondern Nachdruck
giebt. Der Sache gilt nachstehende Kritik. Das sei allen, die die Person nicht
von der Sache zu trennen vermögen, von vornherein gesagt.
Jahrhundertelang hat der deutsche Michel müßig zugesehen und ohnmächtig zu¬
sehen müssen, wie sich die andern Völker in die Erde teilten. Erst seit einem
Menschenalter sind wir zu der politischen Macht gebracht worden, die uns erlaubt,
im Interesse unsrer Zukunft auch draußen in der Welt ein Machtwort mit zu reden.
Aber die Faulheit, das alte Behagen an der Bärenhaut liegt dem Volke noch im
Blute, Nur ganz langsam und schwerfällig, fast widerwillig fängt die Masse an,
sich um das zu kümmern, was die großen Führer angebahnt und ermöglicht haben.
Mit beschämender Gleichgiltigkeit und pöbelhaftem Undank steht das Spießbürgertum,
bis hoch hinauf in die eingebildete Intelligenz und den thatsächlichen Reichtum,
namentlich in Berlin, dem unermüdlichen Ringen des deutschen Kaisers nach Siche¬
rung unsrer wirtschaftlichen Zukunft gegenüber. Das deutsche Kapital ist immer
noch viel mehr geneigt, durch verschmitzte Spekulation auf die Dummheit der eignen
Landsleute, durch schwindelhafte Ausbeutung des „innern Markes" Geschäfte zu machen,
als deutschen Unternehmungen jenseits des Wassers kräftig zu Hilfe zu kommen. Immer
noch will nun es in echt spießbürgerlichen? Stumpfsinn unbeachtet lassen, daß mehr
als jemals sich Engländer, Franzosen, Russen und Nordamerikaner rühren, uns wie
in alter Zeit um die notwendigsten Vorbedingungen unsrer wirtschaftlichen und
nationalen Selbständigkeit anch für die Zukunft zu prelle». Die alte Bärenhäuterei
ist noch die herrschende Stimmung. Und da wendet sich jetzt ein preußischer
Professor der Stnntswissenschaft, der genau weiß, was sein Name bedeutet, an das
Berliner Spießbürgertum mit einer schrullenhaft pessimistischen Kritik der über¬
seeischen Bestrebungen des Kaisers und der Regierungen, die in ihren für den
kritiklosen Spießbürger unabweisbaren Konsequenzen auf nichts andres hinaus¬
läuft als auf die Warnung: Haltet die Taschen zu! Wehrt euch eurer Haut
gegen die Welthandelspolitik! Sie ist des Bürgers Rum. Nur auf dem innern
Markt finden der Bauer und der Junker, der Krämer und der Zunftmeister seine
Rechnung, und außer diesen Leuten hat doch kein Mensch ein Recht, als vollwertiger
Deutscher zu gelten!
Über die Aussichten in Ostasien wird den Lesern zunächst folgendes aufgetischt:
Unsern Erfolgen dort stünde vor allem „die ungeheure Konkurrenz der Engländer,
wohl auch der Nordamerikaner und vermutlich bald der Russen" entgegen, die der
deutschen Industrie die Eroberung der neuen Marktgebiete erschweren, den Gewinn
aus den neuen Handelsbeziehungen ganz erheblich schmälern würden. Man mache
in Deutschland „ganz großartige Vorbereitungen für die ostasiatische Campagne,"
und da sei eine „Überproduktion mit allen ihren schweren Folgen" — „durchaus
nicht unmöglich!"
Selten ist naiver versucht worden, den deutschen Michel zu nasführen, als es
in diesen wenigen Sätzen geschieht. Freilich auch selten mit mehr Verständnis für
das, was man dem Michel bieten kann, und was ihm behagt. Wo in aller
Welt haben wir denn die Konkurrenz der genannten Völker und noch mancher
andrer nicht zu bestehen? Wo wird bei diesen Völkern nicht gerade so geklagt
über die Konkurrenz der Deutschen, über Erschwerungen und Schmäleruugeu, die
sie in der Ausbeutung ueuerschlossener Handelsbeziehungen durch uns erfahren?
Stehen die Engländer, die Nordamerikaner, die Russen von der Verfolgung ihrer
Handelsinteressen ab, weil auch wir dahinter her sind, weil sie nicht ganz allein,
konkurrenzlos, das Geschäft machen können? Die Oloenbergsche Balkoneniheorie,
dieses n0n plus ultra, schutzzölluerischer Übertreibung i daß niemand über die Grenzen
des derartigen politischen und polizeilichen Kontrollgebiets des Einzelstaats hinaus
Geschäfte zu machen habe, daß Deutsche mir mit Deutschen konkurrieren dürsten, treibt
hier recht charakteristische Blüten. Wenn sich ein Professor in der Studierstube
über diese unnatürlichen Gebilde freut, so haben wir nichts dagegen. Aber dem
deutschen Volke mit solchen Schrullen die Welthandelspolitik des deutschen Kaisers
verleiden, der Nation ihre Zukunft verderben zu lassen, dagegen Front zu machen
hat jeder patriotisch denkende gebildete Mann im Reiche heute mehr als jemals
das Recht und die Pflicht.
Und wie steht es denn mit der Wahrheit der so „objektiv" hingestellten Be¬
hauptung von den „ganz großartigen Vorbereitungen für die ostasiatische Cam¬
pagne," die man in Deutschland mache? Das ist objektiv die reine, volle Unwahr¬
heit. Die deutsche Industrie — und diese kaun nur in Betracht kommen — denkt
nicht daran, in unvorsichtigem Optimismus ihre Warenproduktion für den zu er¬
wartenden Export nach China nennenswert zu steigern. Liegen für einen oder
den andern Artikel die Chancen gerade günstig, so werden natürlich Exporteure
und Fabrikanten, wie schon immer, darauf bedacht sein, rechtzeitig liefern zu können.
Allein auf die letztjährigen Erfolge unsrer ostasiatischen Politik hin hat der deutsche
Gewerbfleiß eine Erhöhung seiner Produktion bis jetzt kaum ernsthaft in Erwägung
gezogen, viel weniger schon in einem Maße ins Werk gesetzt, daß man die Be¬
fürchtungen einer folgenschweren Überproduktion auch nur mit einem Schein von
Recht mit diesen Erfolgen, oder dieser „Entwicklung" unsrer überseeischen Wirtschafts¬
politik in ursächlichen Zusammenhang bringen könnte. Eine Überproduktion mit
ihren in der That „schweren Folgen" droht heute vor allem aus der schwindel¬
hafter Überschätzung der Aufnahmefähigkeit des „innern Markes" bei zurückgebliebner
Entwicklung der Ausfuhr. Die Leute, die jetzt gegen die Welthandelspolitik und
ihre neuste „Entwicklung" eifern, werden in Wirklichkeit für eine kommende Über¬
produktion verantwortlich zu machen sein, und es könnte fast so scheinen, als ob
sie mit ihren überseeischen Gespenstern das Volk blind machen wollten, daß es die
Schuldigen nicht sieht, wenn eine Katastrophe kommt. Es klingt ja sehr bescheiden,
und es ist fast verdächtig selbstverständlich, wenn gesagt wird, eine Überproduktion
sei „durchaus nicht unmöglich." Aber daß das heute in Bezug auf die angeblich
durch die Entwicklung unsrer chinesischen Handelspolitik im Übermaß gesteigerte Unter¬
nehmungslust gesagt wird, hat schlechterdings keinen Sinn, wenn nicht den einer
Täuschung über den möglichen Grund der Äberprodultionsgefahr. Die Bemühungen,
deutsches Kapital für die Ausbeutung chinesischer Kohlenlager und für den Eisen-
bahnbnu in China zu gewinnen, können bei der Erörterung einer möglichen Über¬
produktion unsrer Industrie nicht in Betracht kommen. Es konnte da höchstens
von weggeworfnem Gelde die Rede sein. Aber die Engländer und die Russen sind
doch jederzeit bereit, ihrerseits das Geschäft zu machen, und wir werden sehr froh
sein dürfen, wenn wir nicht auch hier schließlich wieder nichtdeutschcs Kapital an
der Ausbeutung der von Deutschland erworbnen Konzessionen teilnehmen lassen
müssen, weil sich das deutsche Kapital lieber im Schwindel auf dem „innern
Markt" -— immer im weitesten Sinne genommen — und vielleicht auch in der
Unterbringung exotischer Stnatspapiere erschöpft. Wie nehmen sich angesichts dieser
Wirklichkeit — und wir vermögen beim besten Willen keine andre zu entdecken —
die Warnungen Wagners an die Berliner Weißbierphilister aus?
Wie die Spekulation ans dem „innern Markt" zum Schwindel, der den Krach
bringen muß, zu werden anfängt, das haben die Grenzboten kürzlich nachgewiesen.
Heute kommen uns darüber noch folgende lehrreiche Zahlen in die Hand. Das
für Aktien deutscher Jndustriegesellschaften aufgebrachte Kapital betrug in Millionen
Mark
Mit Recht macht der „Deutsche Ökonomist" auf dieses erschreckende Steigen der
Gründerthätigkeit und der Kurstreiberei seit 1395 aufmerksam, als den Vorboten
des Krachs wie in den Jahren 1889/91. Es sollte uus gar nicht wundern, wenn
man diesen Schwindel vom „Standpunkt agrarischer Schuhzölle," d. h. dem Wagner-
Oldeubergs, mit der „Entwicklung" unsrer Exportindustrie und Seeiuteressen in
Verbindung zu bringen die Dreistigkeit hätte, sobald es zu krache» anfängt. Da
ist es doch wirklich an der Zeit, den Leuten die Augen darüber zu öffnen, daß
unsre Industrie seit 1894 in Wirklichkeit nnr auf deu „innern Markt" spekuliert
und geschwindelt hat, und die Exportinteressen schon seit 1832 geradezu vernach¬
lässigt worden siud.
Dazu käme, sagt Wagner, noch folgendes: Schon in Japan sähen wir, wie
schnell sich ein intelligentes Kulturvolk die Errungenschaften europäischen Wissens
in Industrie und Handel aneigne. Die Japaner rüsteten sich schon mit europäischen
Maschinen und Fabrikeinrichtungen, um ihren Bedarf durch eigne Arbeit zu decken
und uus womöglich in Europa selbst Konkurrenz zu machen. Ähnliches sähen wir
auch in Indien ans dem Gebiete der Textilindustrie und mancher andern Jndustrie-
arbeit. Es wäre thöricht und kurzsichtig, die Leistungsfähigkeit der Chinesen, die
nach ihren uralten Methoden vielfach schon Ausgezeichnetes leisteten, bloß wegen
der Unfähigkeit ihrer Regierung und ihrer Rückständigkeit in einzelnen Dingen zu
unterschätzen. Die Chinesen seien vortreffliche Industrielle, ausgezeichnete Kaufleute
und geschickte, bedürfnislose Arbeiter. Würden sie erst anfange», europäische Konkur-
renz zu spüren und den Wert der europäischen Arbeitsmethoden zu erkennen, dann
würden sie gar schnell dabei sein, mit ihren reisessenden, einfach gewöhnten Arbeitern
so ziemlich alles zu machen, was ihnen der Markt Europas bietet, und was sie
den europäischen Konsumenten zu bieten hätten. Wie die Industrie Europas diese
Konkurrenz werde bestehen können, das scheine ihm „eine sehr unheimliche" Frage.
Wem unter den gebildeten Europäern bringen diese Betrachtungen wohl etwas
Neues? Ans die Berliner Bierphilister werden sie freilich Eindruck machen, ebenso
wie Bebel und Genossen damit auf die Arbeiter vorläufig noch Eindruck machen.
Wir sind von jeder Schwärmerei für die chinesische Entwicklung frei, wir hätten
gar nichts dagegen gehabt, wenn man das hiiumliche Reich noch eine Zeit lang
seiner Fäulnis ungestört überlassen hätte. Aber daß Deutschland nicht die Augen
offen und die Faust bereit halten sollte, wenn gerade in diesen Riesenkessel des
Verfalls und der Neubildungen von ander» europäischen Kulturvölkern rücksichts¬
los hineingegriffen wird, das wäre doch einfach eine ungeheure Dummheit und
Feigheit! Was bestimmt denn die Engländer, die Russen, die Franzosen und
die Japaner dazu, sich den Eingang ins himmlische Reich jetzt zu sichern? So
klar und einfach liegt das Geschäft natürlich nicht, wie wenn der Bauer einen
Scheffel Erbsen nach Buxtehude zu Markt fährt, oder der Kalauer Schuster in
Kremmen seiue Jahrmarktbude aufschlägt. Vollends wie nach dreißig, nach fünfzig,
nach hundert Jahren die Dinge in China liegen werden, weiß niemand. Aber
das liegt doch ans der Hand, daß bei dein Übergang zur europäische« Kultur China
für mehr oder weniger lange Zeit ein außerordentlich wichtiger Markt für die
europäische Industrie werden wird. Sollen wir, die wir am dringendsten uach
Absatz im Auslande suchen müssen, nicht daran teil nehmen? Was wir dabei an
Gewinn erzielen, jede Erhöhung unsers Nativnnlreichtnms macht uns doch wider¬
standsfähiger für kommende Zeiten und ihre Gefahren. Wer in der Politik dem
Deutschen empfiehlt mit dem flotten Burschen zu singen: „Nun hob ich mein Sach auf
nichts gestellt, und mein gehört die ganze Welt!", der kann sich vielleicht dafür er¬
wärmen, daß wir in froher Selbstgenügsamkeit uns voll Bier trinken, aber uns
den Teufel um das scheren, was jenseits der Grenzen geschieht. Ein ernsthafter
Politiker wird aber anzuerkennen haben, daß es sträflicher Leichtsinn gewesen wäre,
wenn Deutschland nicht auch seine gewappnete Faust in die Spalte geschoben hätte,
um sich die Thür offen zu halten, mag das, was im Hause zu hole» ist, auch
noch nicht gerichtlich inventarisiert und taxiert sein.
Wagner selbst bricht über den Wert dieser seiner Weisheit vernichtend den
Stab, indem er sie durch folgende geradezu klassischen biertischpvlilischen Oberfläch¬
lichkeiten krönt: Die Erschließung Chinas vollziehe sich heute verhältnismäßig leicht,
weil die chinesischen Soldaten die üble Gewohnheit hätten, vor den Gewehren und
Kanonen des Feindes davon zu laufen. Wie aber dann, wenn sie nicht mehr davon
liefen, wenn es den europäischen Lehrern gelänge, die Chinesen militärisch zu dis¬
ziplinieren, wenn dieses Volk vou nahezu 400 Millionen sich so seiner Kraft bewußt
würde und sich einmal anschicken sollte, das kleine Europa mit einer neuen Völker¬
wanderung zu überschwemmen?
Jede Kritik ist dem gegenüber überflüssig.
Aber damit hat sich Wagner noch nicht begnügt. Von der Betrachtung der
chinesischen Frage ausgehend hat er im Sinne der Oldenbergschen Übertreibungen
ganz allgemein gegen die deutsche Welthandelspolitik Propaganda zu machen gesucht,
und er wird damit um so läutern Beifall finden, aber anch um so mehr Unheil
anrichten, weil er den Kampf gegen „diese Entwicklungen," wie er die Pflege unsrer
überseeischen Handelsbeziehungen zu nennen pflegt, ausgesprochnermaßcu „vom
Standpunkt der agrarischen Schutzzölle" aus führt.
Er fährt nach dem Hinweis auf die feruwcite chinesische Völkerwanderung in
Bezug ans die Gegenwart fort: Man werde Eisenbahnen von vielen tausend Kilo¬
metern bauen, neue Handelsflotten würde» entstehen, und ein großartiger Güter¬
austausch würde eingeleitet werde». „Sind dabei — fragt er — für u»ser»
Volkswohlstand so viele dauernde Vorteile zu gewärtigen?" Jedes Ding habe als
Naturprodukt einen gewissen Wert, der sich bei der Verwandlung zum Fabrikat
um den Preis der Arbeit vermehre, die an den Gegenstand verwandt werde. Unsre
ökonomische Überlegenheit beruhe auf die Dauer darauf, daß wir durch Verbesserung
der Technik die Kosten des Rohprodukts und des Fabrikats verminderten. Das
habe aber doch immer seine Grenzen. Dann drücke die Konkurrenz auf den
Arbeitslohn und Gewinn. Hier aber drohe der Sieg dessen, der mit deu niedrigste»
Löhnen arbeiten könne, und das sei der Asiate. „Ist somit — heißt es wörtlich
weiter — wirklich eine Besserung des Wohlstands des Bürgers von solchen Ent¬
wicklungen zu erwarten? Man verbilligt das Einzelne und vermehrt die Bedürf¬
nisse; die Lebensbedingungen selbst werden damit nur komplizierter. Was aber die
Schwierigkeiten verschärft, das ist die Steigerung der sozialen Gegensätze. In
erster Linie werden ja bei solcher Ausweitung des Weltmarkts jene Kreise profi¬
tieren, die die gegebnen Konjunkturen im großen auszunützen vermögen, kauf¬
männische, industrielle Großunternehmen. Es wird mit der Ansammlung von großen
Kapitalien in den Händen einzelner der Luxus solcher Kreise wieder einen unge¬
heuern Aufschwung nehmen, die Kapitnlübermacht derselben noch wachsen, damit
aber auch die Gefährdung großer Existenzgruppen sich steigern. Ich stehe, nebenbei
bemerkt, weil ich die Stärkung des innern Markes diesen Entwicklungen vorziehe,
trotz aller Bedenken, die mit Zöllen auf notwendige Lebensmittel verbunden sind,
auf dem Standpunkt der agrarischen Schutzzölle. — Der äußerlich jedem erkenn¬
bare Gegensatz von reich und arm wird augenfälliger werden, und bei der stetig
zunehmenden Übervölkerung Deutschlands, die ich keineswegs als eine so glückliche
Erscheinung betrachte, ist die Verschärfung dieser Gegensätze gewiß nicht unge¬
fährlich."
Also auch noch die Gefahr, daß die im überseeischen Geschäft erzielten Ge¬
winne — sie wurden bisher als gering und unsicher hingestellt — „in erster
Linie" Grußiudustrielleu und Großkaufleuteu „große Kapitalien" zuführen, muß
gegen die Welthaudelspvlitik ius Treffen geführt werden! Und alles „zur Stär¬
kung des innern Markes," vom Standpunkte der „agrarischen Schutzzölle." Wie
der innere Markt Dentschlands durch die Absperrung „auf die Dauer" ergiebiger
werdeu soll, wie wir die dichte und stark wachsende Bevölkerung auf diesem abge¬
sperrten innern Markt satt machen sollen und doch ein Kulturvolk bleiben, darüber
sagt Wagner kein Wort. Will er nicht lieber offen den Spießbürgern und Gro߬
bauern das Zweikindersystem empfehlen? Er würde dafür, in vielleicht ihn selbst
erschreckendem Maße, ein wohl vorbereitetes Publikum finden.
Aber das ist seine Sache. Wir unsrerseits entnehmen aus dem Wagnerschen
Angriff auf unsre überseeische Entwicklung nur aufs neue die Lehre, daß alles jetzt
einzusetzen ist, um in dem Wirrsal der theoretischen Schrullen und Phrasen wie
der praktischen Eigensucht und Sonderinteresscn eine geschlossene Macht nüchterner,
patriotischer Staatsbürger zu sammeln um das Panier des Kaisers, über den heu¬
tigen Parteien, kampfbereit nach rechts und links, für „diese Entwicklung," auf der
Der vortreffliche Artikel im 47. Heft v. I. erinnert
mich um die Anfänge der wunderlichen Erscheinung. Eifrige Pfarrer haben schon
im Anfang unsers Jahrhunderts, meistens aus eignen Mitteln, kleine Jugend- und
Volksbibliotheken augelegt. Darm mag sich auch manches von protestantischen
Autoren befunden haben, aber vorzugsweise schaffte man natürlich katholische Jugend-
schriften an, an denen es seit Christoph von Schmid nicht fehlte. Doch enthielten
diese bis auf Herchenbach — das ist der letzte, den ich kennen gelernt habe —
nichts bigottes und fanatisches. Erst nach 1848, als sich die Anfänge einer
katholischen Publizistik mühsam Bahn brachen, war man darauf bedacht, die ge¬
bildeten Erwachsenen auch mit katholischen Unterhaltungsschriften zu versorgen; der
Borromäusverein wurde gegründet, der sich durch einen Vertrag mit einigen Ver¬
legern in den Stand setzte, seinen Mitgliedern die Bücher sehr wohlfeil abzugeben,
und so die Gründung von Pfarr- und Schulbibliothcken erleichterte. Doch wurde
damals das „katholisch" eigentlich nur negativ verstanden; man wollte aus der
Lektüre der Katholiken alles entfernen, was gegen die Moral verstößt, die katholische
Empfindung verletzt und geeignet ist, religiöse Zweifel zu erregen; ein Streben,
das, so unberechtigt es vom ästhetischen Standpunkte sein mag, doch den Seel¬
sorgern wohl eigentlich nicht übel genommen werden kann. In der deutschen
Unterhaltuugslitteratur Waren nun aber die Erzeugnisse, die diesen drei Anforderungen
genügten, sehr spärlich gesät, und man sah sich daher ans Übersetzungen angewiesen.
Als Typen der damaligen katholischen Novellist!! nenne ich Hendrik Conscience,
den Diepenbrock durch seine Übersetzung dreier kleiner Erzählungen in Deutschland
eingeführt hatte, Fernen Caballero und eine Engländerin, die, wenn ich mich recht
erinnere, Georgina Fullertou hieß. Bei solchem Mangel konnte es nicht fehlen,
daß der Wunsch ausgesprochen wurde, es mochten doch Katholiken Novellen und
Romane schreiben. Diesem Wunsche entsprach zuerst die Hahn-Hahn, die wenigstens
eine geborne Dichterin war; aber nicht lange darauf meldete sich der erste Fabrikant,
Bolanden, und da konnte denn keine andre Litteratur entstehen, als die, die man
innerhalb der ultramontanen Grenzpfähle hat. Ich kenne sie gar nicht — denn
Bolanden war mir nach den ersten Seiten, die ich kostete, so widerwärtig, daß
ich ihn nicht weiter lesen mochte, und von dem, was nach ihm erschienen ist, habe
ich keine Zeile gelesen —, kann mir aber denken, wie sie aussieht. Anschaffen
mußte man den Bolanden, wenn man nicht in den Verdacht der Heterodoxie
kommen wollte, denn das ebenso fromme, als nach geistiger Nahrung hungrige
Frauengeschlecht — die Männer lasen außer Zeitungen gar nichts — verschlang
ihn mit Entzücken. Recht naiv trat mir die neue Richtung in der Person eines
adlichen Konvertiten entgegen, der mich bat, ihm Werke zur Anschaffung vorzuschlagen.
Er selbst lese ja nicht viel — denn viel lesen sei nicht ritterlich —, er blättere
nur in den Sachen, und das meiste bleibe unanfgeschuitten liegen, aber er kaufe
grundsätzlich jedes echt und gut katholische Buch, um die katholische Litteratur zu
unterstützen. Ich nannte Wisemans Fabiolci. „Bleiben Sie mir vom Leibe mit
den unanständigen alten Römern, die mit nackten Beinen rum laufen, die passen
doch nicht in unsre Gesellschaft!" Dann die Lady Fullertou. „Ach, mit der ists
auch nichts. Bei der erfährt man ja gar nicht mal, was die Leute in ihren
Romanen für eine Religion haben! Sehen Sie hier den neuesten Roman von der
Hahn-Hahn! Der fängt an: Ich bin katholisch! Da weiß man doch gleich, woran
-> >>^?K»^
^»'-Mk'iÄ?IN den dogmatischen Sätzen der internationalen Sozialdemokratie
gehört die Forderung, das „stehende Heer" sei abzuschaffen und
durch eine „Volkswehr" zu ersetzen. Mit dem stehenden Heere
meinen sie jedoch keineswegs die Werbearmeen, die nur noch in
England und in den Vereinigten Staaten als ein Überbleibsel
des achtzehnten Jahrhunderts vorkommen, sondern die durch die allgemeine
Dienstpflicht ergänzten Kadresheere, die seit 1866 nach dem preußischen Vor¬
bilde in den meisten europäischen Staaten errichtet worden sind. Die deutsche
Sozialdemokratie empfiehlt im allgemeinen das Milizsystem, wie es in der
Schweiz besteht und dort dauernd zu großer Leistungsfähigkeit ausgebildet
wird. Die schweizerische Sozialdemokratie dagegen will selbst von der heimischen
Wehrordnung nichts wissen. Ihre Presse zeichnet sich durch immer wieder¬
kehrende Angriffe gegen die eidgenössischen Offiziere aus und ist eifrig bemüht,
alle Maßnahmen der obersten Militärbehörden verächtlich zu machen.
Was heißt nun „Volkswehr"? In einem demokratischen Staate ergänzt
sie sich aus allen nur irgendwie waffenfähigen Bürgern; diese sollen in der
Stunde der Gefahr das Vaterland verteidigen. Es liegt demnach auch hier
der sonst von der Sozialdemokratie so häufig bekämpfte Zwang vor, daß sich
jeder männliche Staatsangehörige zum Waffendienste stellen muß, gleichviel,
ob er es gern thut, oder ob er etwa als Friedensliguist oder aus religiösen
Gründen, wie z. B. die Mennoniten und die Nazarener, in jeder Kriegsleistung
die ärgste Sünde sieht.
Auch die „Volkswehr," heiße sie nun Nationalgarde, Landsturm oder
amerikanische Miliz/') bedarf doch einer Friedensschule. Es genügt nicht und
hat niemals genügt, einen Mann in irgend eine Rüstung oder Uniform zu
stecken, um ihn dann als Schütze, als Reiter, als Artillerist, als technischen
Soldaten, als Krankenwärter, als Verpflegungsmann ins Feld zu stellen. Die
alten Eidgenossen, die bis zu den Burgunderkriegen thatsächlich Landstürmer
waren, exerzierten regelmäßig; der Gleichschritt, den sie seit den Römerzeiten
zuerst wieder übten, sicherte ihren Gewalthaufen die Unwiderstehlichkeit.
Es genügt aber heute nicht mehr, im Tritt marschieren und seinen Spieß
tragen zu können. Der Infanterist muß mit einem mechanischen Wunderwerke
schießen lernen, den wahrlich nicht leichten Sicherheitsdienst verstehen und sich
geschickt im Gelände zu bewegen wissen, will er nicht im Gefecht als pures
Kanonenfutter dastehen. Von dem Kavalleristen wird verlangt, daß er sein
Pferd in allen Gangarten und in jedem Terrain reiten könne; daneben soll
er die blanke wie die Feuerwaffe gebrauchen. Der Artillerist bedarf außer
seiner rein soldatischen Ausbildung einer Summe von praktischen und theo¬
retischen Kenntnissen, die auch beim besten Willen nicht im Handumdrehen zu
erlernen sind. Ganz ähnlich steht es mit dem Geniesoldaten, selbst wenn man
ihn aus den technischen Handwerkern rekrutiert. Als die Minimalzeiten für
eine flüchtige, ebenhin genügende militärische Ausbildung müssen in Anschlag
gebracht werden: bei der Infanterie 60, bei der Kavallerie 90, bei der Ar¬
tillerie und dem Genie 60 Tage; jeder Tag zu zehn- bis zwölfstündiger wirk¬
licher Dienstarbeit gerechnet.^)
Es ist ganz richtig, daß die Welt schon gesehen hat, wie völlig unaus-
gebildete Truppen Krieg führten, aber ein „schöner Anblick" war das nicht.
Die die Marseillaise brüllenden Föderierten von 1792 liefen regelmäßig aus¬
einander, wenn der Gegner ihnen ernsthaft die Zähne wies.
Es dauerte lange, bis die Heere der ersten französischen Republik that¬
sächlich ÄZUErri<Z8 waren. Und dabei darf nicht vergessen werden, daß sich in
ihnen noch die alten Stämme der ehemaligen stehenden Armee fanden, daß
man sie seit 1796 von allen schlechten Elementen zu reinigen suchte, und daß
sie endlich in allen Führerchargen zum allergrößten Teile gediente Männer
hatten. Ausgenommen Lannes und Moreau, haben sämtliche französische
Generale und Marschälle, die zwischen 1792 und 1815 mit Auszeichnung
dienten, schon dem königlichen Heere angehört und sind von jeher Berufs¬
soldaten gewesen. Dem von Carnot präsidierten Kriegsausschuß gehörten alt¬
gediente und bewährte Generalstabsoffiziere wie d'Ar<)0n, Oberbein, Montalem-
bert und Marescot an; sie verfügten über alle Hilfsmittel des vsxvt as 1^
Auei-rs, einer Gründung des Königtums. Die Nationalgardengenerale, wie z. B.
Santerre der Brauer und Hulin, der Held des Bastillensturms (1806 Gou¬
verneur von Berlin), Henriot, der unwissende Hanswurst, die Kopfabschneider
Westermann und Rossignol, hatten auch nicht das geringste militärische Ver¬
dienst aufzuweisen. Hulin wurde von Napoleon gewissermaßen als ein histo¬
risches Stück übernommen, und Santerre erhielt aus denselben Gründen das
Gnadenbrod.
Während des Sezessionskrieges in Nordamerika mußte man - Wohl oder
übel zu dem Mittel greifen, Armeen aus Freiwilligen herzustellen, denen nach
ihrer überwiegenden Zahl jegliche militärische Ausbildung fehlte. Die meisten
von ihnen ließen sich anch wohl weniger aus patriotischen Gründen rekrutieren,
als wegen der Aussicht auf die verlockenden materiellen Vorteile, die der Dienst
darbot. Aber man erinnere sich der unglaublich elenden Kriegführung, die bis
ins Jahr 1863 hinein dauerte, der furchtbaren Grausamkeit, die beide Gegner
entwickelten, der ungeheuern, durch keinen europäischen Feldzug je erreichten
blutigen und unblutigen Verluste, sowie der nicht minder ungeheuern Kosten.
Weil der Krieg erst Soldaten erziehen mußte, dauerte er vierundeinhalbes Jahr,
und die Vereinigten Staaten haben dieses lange Elend genügend auskosten
können. Wer da behauptet, die finanzielle Lage der Vereinigten Staaten sei
darum so rosig, weil ihnen der „unersättliche Militürmoloch" fehlt, der begeht
einen Irrtum. Der Ki-loin ^riet^ von 1868, der fast einen Staatsbankerott
ausbrechen ließ, der ungeheure, jährlich auszurichtende Pensionsbetrag, die ge¬
waltigen Zollmauern finden geradezu ihren Ursprung im Sezessionskriege.
Wer wird noch heute einem lange dauernden Kriege das Wort reden
wollen? Es giebt schwerlich jemand, der sich für die Periode der deutschen
Geschichte begeistert, die zwischen 1618 und 1650 fällt. Je rascher ein Krieg
verläuft, desto weniger umfangreich sind seine Übeln volkswirtschaftlichen Folgen.
Der deutsche Krieg von 1866 bietet dafür ein schlagendes Beispiel.
Es kommt noch hinzu, daß unverhältnismäßig mehr Mittel für die Krieg¬
führung in Anspruch genommen werden, wenn, wie nach amerikanischem Muster,
keine Friedensvorbereitungen getroffen worden sind, und man erst im Augen¬
blicke der Mobilmachung mit den notwendigen Anschaffungen beginnt. Die
Lieferanten von Kriegsmaterial wissen sich solche Zwangslagen des Staates
wohl zu nutze zu machen, und dabei wird das Heer noch immer schlecht bedient
sein. Die Vereinigten Staaten sowie Frankreich können davon ein Lied fingen.
Während des Sezessionskrieges kaufte die Union alle alten europäischen Kriegs-
handfeuerwasfen zu übertriebnen Preisen auf, und die heimische Technik ließ
sich nicht minder für ihre Leistungen bezahlen. So kostete z. B. dem Staate
ein Mehrlader des Systems Spencer 40 Dollars, der wirkliche Wert betrug
10 Dollars; jede Patrone, die herzustellen etwa 1^ Cent kostete, mußte mit
4 Cent bezahlt werden. Angekauft wurden vom Wardepartement während des
Krieges 366788 glatte und 1055862 gezogne Vorderlader neben 400 058 ein¬
fachen Hinterladern und Magazingewehren. Darunter waren 35 verschiedne
Modelle und 8 verschiedne Kaliber. Man mag sich leicht vorstellen, welche
Verwirrung oft beim Munitionsersatz herrschte. Weiterhin erhielten die Truppen
nicht selten Schuhe mit Pappsohlen und Bekleidungsstücke aus Shoddystoff.
Selbst die Arzneimittel wurden gefälscht. Die Franzosen waren 1870/71 unter
dem Regime Gambetta-Freycinet ganz ähnlich daran. Die am 1. Februar 1871
in die Schweiz übertretende französische Armee (Vourbaki) marschierte in Lumpen
gehüllt und zum guten Teil ohne Schuhe daher. Sie gab sechs verschiedne
Gewehrsysteme ab, von denen jedes einer eignen Munition bedürfte.
Man hüte sich demnach, das bisherige amerikanische System des Nicht-
rüstens zu empfehlen. Es führt unter allen Umstünden zu einer wahnsinnigen
Verschleuderung der Staatsmittel, und selbst die reichste Nation wird dabei zu
Schaden kommen, wenn sie sich in einen Krieg verwickelt sieht mit einer nach
modernen Grundsätzen vorbereiteten Macht. Das heutige Spanien ist dies
nicht, wie ja jedermann weiß. Glaubt man aber, daß die Vereinigten Staaten
ebenfalls so wohlfeile Siege erringen würden, ja überhaupt Erfolge zu er¬
zielen vermöchten, wenn sie es mit einer europäischen Großmacht zu thun
hätten? Das Geld nützt nach dem Beginn der wirklichen Kriegshandlung
verhältnismäßig wenig; wäre dies anders, so hätten die Truppen der fran¬
zösischen Nationalverteidigung 1870/71 die Deutschen rasch aus dem Lande ge¬
trieben. Das Geld schützt auch nicht vor den ersten Hauptschlägen, und deren
Ausfall entscheidet heute, im Zeitalter der rasch geführten Bewegungskriege,
über die ganze Angelegenheit. Ein nicht vorbereiteter Staat erliegt sicher dem
schnell handelnden Gegner, und verfügte er auch über zehn Millionen wehr¬
fähige, aber unausgebildete Männer, und schössen diese mit Kugeln von Gold
und Silber.
Die zweite Periode des deutsch-französischen Krieges liefert uns noch weitere
beherzigenswerte Fingerzeige. Gewiß haben sich die republikanischen Massen¬
aufgebote häufig genug mit Bravour geschlagen, trotzdem unterlagen sie immer,
selbst wenn sie fünfmal stärker als der Gegner waren. Denn der soldatische
Geist fehlte ihnen; der ließ sich nicht kaufen und dem Individuum einfiltrieren.
Um den Patriotismus ist es eine heilige Sache, aber er verblaßt im Regen¬
wetter, er erstarrt in den eisigen Biwaks, und er verdorrt beim langen Marsch
auf sonnendurchglühter Straße. Wo die innere soldatische Tüchtigkeit, die
Mannszucht fehlen, da verpufft der Patriotismus rasch, und Mißtrauen gegen
die Führung (nous sonunss ti-g-mis), Unlust zum Kämpfen, zum Ertragen der
Mühseligkeiten, Unbotmäßigkeit gegen die Befehle der Obern bleiben allein
übrig. Ein unter solchen Umständen notwendig werdender Rückzug führt un¬
ausbleiblich zu einer Katastrophe. Die Kälte, die Marschanstrengungen, der
Mangel an guter Verpflegung waren im Januar 1871 für das Werdersche
Korps dieselben wie für die französische Ostarmee. Aber in welchem Zustande
langte diese auf dem Gebiete der Schweiz an? Sie war Physisch und moralisch
völlig zu Grunde gerichtet. Die Soldaten des großen Friedrich kannten keinen
Patriotismus, aber eine eiserne Mannszucht, und mit dieser blieben sie Sieger,
auch wenn sie auf dem Schlachtfelde unterlegen waren.
Noch eines kommt in Betracht. Wo mehr oder minder irreguläre „Volks-
wehrcn" (Freischärler, Landstürmer, Nationalgarten) Krieg führen, nimmt dieser
immer einen grausamen Charakter an; denn dann heißt es Aug um Aug.
Zahn um Zahn! Frankreich hat das vor achtundzwanzig Jahren am eignen
Leibe erfahren. Und welches Ergebnis brachte ihm 1a Ausrrs Z. outranos?
Die Verlängerung des Elends um volle fünf Monate, den Verlust von weitern
fünfzigtausend jungen Leuten, von Lothringen, von drei Milliarden Kriegs¬
entschädigung, von mindestens zwei Milliarden sonstiger Einbuße und deu
Kampf der Kommune. Nutzen zog aus alledem nur Herr Gambetta, dem ein
„ungenannter Wohlthäter" für seine patriotischen Anstrengungen ein großes
Vermögen schenkte. So lange das Zeitalter des ewigen Friedens nicht an¬
gebrochen ist, so lange demnach Kriege in Aussicht stehen, hat jedes Staats¬
wesen die Verpflichtung, sich auf die rütirng, ratio in umfassender Weise vor¬
zubereiten, um seine Selbständigkeit zu schützen. Dazu bedarf es einer gehörig
organisierten, ausgerüsteten und ausgebildeten Armee. Keinesfalls jedoch wird
das Ziel durch eine „Volkswehr" erreicht werden, wie sie die internationale
Sozialdemokratie gegenwärtig im Auge hat.
Viele Tagesblätter, und zwar nicht nur solche, die sich zur Sozialdemo¬
kratie bekennen, feiern in allen Tonarten die Erfolge der Nordamerikaner gegen¬
über den Spaniern als Siege, die die „Volkswehren" über ein stehendes Heer
davongetragen hätten. Betrachten wir zunächst die spanische Armee und Marine.
Ihre Mannschaften werden durch eine so ungerecht wie nur irgend möglich
gehandhabte Konskription aufgebracht. Die Ausrüstung wie die Ausbildung
sind über alle Maßen mangelhaft; die Verteidiger von San Jago ti Cuba
entbehrten bekanntlich des Proviants wie der Munition. Die spanische Ober¬
führung ist indolent und wenig kriegserfahren; sie hat niemals das Beispiel
eines modernen großen Krieges mit eignen Augen gesehen. Dagegen haben
die Vereinigten Staaten eine ansehnliche Streitkraft zur See, deren Ausrüstung
wie Ausbildung und Führung mit den Forderungen der Zeit, wenigstens allem
Anschein nach, Schritt hielt. Die amerikanischen Seeleute sind durch Werbung
aufgebracht, sie werden vortrefflich bezahlt und verpflegt; ihre höhern Führer
haben ausnahmslos eine nicht zu unterschätzende Kriegserfahrung.
Die nordamerikanischen Landtruppen, die bisher ins Gefecht kamen, zählen
zu dem stehenden, gewordnen Heere, für das keine Mittel gescheut werden,
um es gehörig schlagfertig zu erhalten. Die höhern Führer (Generale Miles,
Shafter usw.) standen schon im Sezessionskriege an der Spitze von strategischen
Einheiten (Divisionen, Korps); die Subalternen sind Berufsoffiziere und auf
der ausgezeichneten Militärakademie von West-Point gebildet worden. Daß
sich die wirkliche Armee der Vereinigten Staaten nicht als Volkswehr fühlt,
geht schon daraus hervor, daß sie den kubanischen Insurgenten, die ihrerseits
Volkswehrcn pg>>' öxvellonoo im Sinne der Sozialdemokraten sind, mit aus-
gesprochner Verachtung begegnen. Und nun die amerikanischen Milizen! Sie
sind von dem Augenblick an, wo sie in den wirklichen Kriegsdienst treten,
„Freiwillige," also gewordne Soldaten. Die allgemeine Dienstpflicht besteht
nicht in den Vereinigten Staaten. Niemand kann dort zum Wasserträger ge¬
zwungen werden. So weigerte sich denn auch ein fashionables Newyorker
Regiment, in den Krieg zu ziehen, und kein Bericht meldet, daß es wegen
offenbarer Meuterei zur kriegsgerichtlichen Verantwortung gezogen worden sei.
Von einem Felddienste der nordamerikanischen Freiwilligen hat man so
gut wie nichts gehört, wohl aber von ihren Exzessen in den Kneipen von
Tampa und von einer völlig verunglückten Parade vor dem Präsidenten. Es
ergiebt sich also nach diesen Ausführungen folgendes: 1. Eine vorzügliche
Marine oder ein gutes, geworbnes Heer haben über eine verfallne Seemacht
und einen Teil einer vollständig hinter den Forderungen der Zeit zurückge¬
bliebnen Konskriptionsarmee gesiegt. 2. Die Erkenntnis des bisher beobachteten
fehlerhaften Verfahrens in der Heeresorganisation wird die Vereinigten Staaten
zwingen, wollen sie ihre Eroberungen schützen und ihre Europa gegenüber ge¬
wonnene Machtstellung bewahren, eine ansehnliche See- und Landmacht auf¬
zubringen. Sie werden, da dem Volke schwerlich die allgemeine Dienstpflicht
gefallen wird, das bisherige gewordne Heer sehr verstärken müssen, wodurch
ungeheure Kosten entstehen werden. Es dürfte ferner nach allem menschlichen
Ermessen eine Zeit kommen, wo die Leute, die heute von den großen Erfolgen
der amerikanischen Volkswchren sprechen, mit Schrecken erkennen, daß der „Mili¬
tarismus" auch das Land erfaßt hat, das bisher mitleidig zu dem unter der
Last des bewaffneten Friedens seufzenden Europa herttberblickte.*)
Als im Jahre 1848 die deutsche Volksbewaffnung nach den berühmten
Vorbildern der einstigen französischen Nationalgarten von 1739 bis 1794 im
Vordergrunde des Interesses bei der demokratischen Partei stand, tauchte auch
das Verlangen auf. die Offiziere durch die Truppe wählen zu lassen. Diese
Forderung ist von der Sozialdemokratie aufgegriffen worden; vor einiger Zeit
berieten die Delegierten der schweizerischen Partei darüber, ob sie die Osfiziers-
wcchl nicht der eidgenössischen Wehrordnung durch ein Jnitiativbegehren auf¬
nötigen könnten. Die Voraussicht, mit derlei Plänen beim Schweizervolk ein
klägliches Fiasko zu machen, ließ sie davon abstehen. Bei der nordamerikanischen
„Miliz" hingegen besteht die Offizierswahl wirklich, und zwar ganz im sozial¬
demokratischen Sinne. Dagegen werden die höhern Führer der Kriegsfreiwil¬
ligen durch die Staatsgouverneure ernannt. Übrigens ist es im englischen
wie im spanischen Amerika bekanntlich sehr leicht, einen militärischen Titel,
freilich ohne das dazu gehörige Kommando, zu erlangen. General, Col'nel
oder mindestens Capt'n heißt dort jeder Mensch, der nur halbwegs anständige
Kleider besitzt. Andrerseits gab Washington, der doch gewiß etwas vom prak¬
tischen Kriegswesen verstand, seinen Landsleuten den berühmten Rat: Wählt
nur Gentlemen zu Offizieren!
Von den Führern der französischen Volkswehren in der jakobinischen Periode
läßt sich nichts Rühmliches berichte». Nicht ihre militärische Befähigung, ihre
Leistungen entschieden über ihre Wahl oder ihre Beförderung, sondern ihr
politisches Glaubensbekenntnis und die Zungenfertigkeit, mit der sie es vor
allem Volke darzulegen verstanden. Kameradschaft, Ehrgefühl, Pflichterfüllung
suchte man vergebens bei diesen Nichtgentlemen; dafür fanden sich Angeberei,
Roheit, Gemeinheit und Dienstvernachlüssigung in überreichen Maße. Erst
von 1796 ab gelang es der Armee, diese schlimmen Elemente zurückzudrängen;
ganz und gar verschwanden sie niemals.
Es liegt gewiß ein demokratischer Gedanke darin, die Führer durch die
Truppe wählen zu lassen, aber die ideale Theorie steht der brutalen Praxis
auch hier wieder einmal so scharf gegenüber wie Feuer und Wasser. Eine
Truppe, die sich beliebig als Wahlkörper aufthun darf, wird ihren Führern
nur so lange folgen, wie es ihr beliebt. Das Vertrauen, das der Führer
genießt und genießen muß, wenn seine Truppe überhaupt auch nur den kleinsten
seiner Befehle ausführen soll, hängt aber keineswegs ab von der Einsicht der
Truppe, sondern von den agitatorischen Elementen, die sich in ihr finden.
Diese werden ebenso gut in der Kompagnie wie in der Parteiversammlung den
Ausschlag geben; die Masse wird aber hier wie dort das sprachlose Stimmvieh
sein. Die „Genossen in den vordern Reihen der Partei," die schon heute auf
den Parteitagen und hinter den Kulissen des politischen Theaters so viel
Gegnerschaft finden, dürften ihres Lebens nicht mehr sicher sein, wenn sie als
echte Dilettanten die Volkswehren, die über geladne Gewehre verfügen, kom¬
mandieren wollten. Nicht dadurch, daß die Truppe sich ihre Offiziere wählt,
wird das notwendige Vertrauen der Mannschaft in die Führung begründet,
sondern allein durch die Tüchtigkeit der Offiziere. Tüchtige Führer finden sich
aber nicht von heute auf morgen. Man spricht nicht umsonst von einer Kriegs¬
kunst. Kunstfertigkeit will aber errungen werden durch mühseliges Streben,
und über künstlerische Leistungen gerecht zu urteilen, müssen wir doch wohl
den feingebildeten Ästhetikern überlassen. Dies auf das militärische Beispiel
angewandt, heißt: Die Truppe wird scharf kritisieren — wie die breite Masse
des Publikums es auch thut —, aber sie wird niemals ein wirkliches Urteil
abgeben können, weil ihr der gehörige Maßstab, ja selbst die Ausdrucksweise
dafür fehlt. Unsre Zeit glaubt nicht mehr an die Richtigkeit des bequemen
Satzes: Vox xoxuli, vox vczi; selbst die Sozialdemokraten wollen davon nichts
mehr wissen.
Es giebt zwei größere Beispiele aus der Geschichte der neuesten Zeit, die
uns zeigen, was Volkswehren unter selbstgewählten, besser gesagt, ihnen durch
politische Schwadroniererei aufgedrängten Führern leisten. Da ist zunächst
der unselige badisch-pfälzische Aufstand von 1849. Als Truppenmaterial
kamen neben Freischaren reguläre badische Regimenter in Betracht, unter den
Führern fanden sich viele, die gedient und eine gewisse militärische Begabung
hatten. Und was sehen wir? Intriguen, Verratsverdüchtigungen, Durchkreuzen
der Befehle, offnen Ungehorsam neben absoluter Unfähigkeit, Feigheit und
thatsächlicher Verrüterei. Ferner steht uns der über alle Maßen grüßliche
Kampf der Kommune von 1871 vor Augen. Und was finden wir dort?
Den noch etwas mehr verzerrten, noch leidenschaftlicher sich selbst unter¬
grabenden Widerstand der Volkswehren. Nein, wer nur einen Funken Mensch¬
lichkeit in sich fühlt, der darf zu solchen, von einer einseitig doktrinären Politik
diktierten Maßnahmen nicht raten. Wen» er es dennoch thut, nachdem er sich
die kriegsgeschichtlichen Beispiele gehörig vergegenwärtigt hat, so ist er ein —
Volksfeind. Denn das Volk muß schließlich die blutige Zeche bezahlen mit
all dem Jammer, den jeder Krieg heraufbeschwört; die wahrhaft Schuldigen
gehen meistens leer aus, und wenn sie wirklich büßen, so bleibt ihnen trotz
allem die Palme des Märtyrers.
Man liebt es, von „gebornen Feldherren" zu sprechen, und die das Kriegs¬
wesen berührenden sozialdemokratischen Schriften behaupten oft genug, daß
Genies ohne weiteres die aus dem Boden gestampften Volkswehrhecre zum
Siege führen werden. Die Kriegsgeschichte lehrt auf jeder ihrer Seiten, daß
auch im Feldherrutnm kein Meister vom Himmel fällt und fallen kann. Cromwell,
auf den man sich gern beruft, wenn man das Beispiel eines gebornen Feld¬
herrn geben will, hatte für seine Zeit die genügende militärische Vorbildung,
denn damals kam es noch vorzugsweise auf ein imponierendes Haudegentum an.
Übrigens hatte auch Cromwell eine freilich kurze Schule als Unterführer durch¬
gemacht, ehe er das militärische Haupt der Independenten wurde. Und kann
dieser finstre, puritanische, ungekrönte König von England wirklich das Feld¬
herrnideal einer sozialdemokratischen Volkswehr sein? Friedrich der Große so
gut wie Napoleon waren theoretisch vorgebildet, als sie ihre Feldherrnlaufbahn
begannen, dennoch erlebte der eine Mollwitz, der andre Arcole, und nur das
unberechenbare Glück sicherte sie hier wie dort vor einer schweren Niederlage.
Angesichts dieser Thatsachen, die die beiden größten Feldherren der neuern Zeit
betreffen, will man kaltblütig behaupten, irgend jemand, der vielleicht bis dahin
einer rein bürgerlichen Beschäftigung nachgegangen ist, könne als veus ox
nig-s-ninÄ auf dem Blachfelde erscheinen, wo die eisernen Würfel rollen. Und
glaubt man ferner wirklich, der siegreiche Volkswehrfeldherr, dem alle Mittel
zur Verfügung stehen, werde sich nach seinen Erfolgen noch von den daheim
ratenden Genossen gängeln lassen? Man vergesse doch nicht, die Spitze der
römischen Demokratie trug den Namen: Casus Julius Cäsar. Endlich, wer
würde es wagen, sagen wir z. B. einen Drechslermeister in die Oberleitung
eines elektro-chemischen Unternehmens oder einen Redakteur an die Spitze einer
großartigen Maschinenfabrik zu stellen? Man möchte bei derlei Experimenten
doch wohl sehr trübe Erfahrungen machen. Dagegen behauptet man kaltblütig,
Feldherren fänden sich zu Dutzenden, sofern man sie nur nötig hätte. Pfuschende
Fabrikleiter kosten Geld, und vielleicht töten sie auch durch ihr Ungeschick einige
Menschen. Unfähige Feldherren vernichten aber Hunderttausende von arbeit¬
samen, tüchtigen Bürgern, Milliarden an Geld und meistens auch die staat¬
liche Selbständigkeit ihres Vaterlandes. Gewiß, pfuschende Feldherren und
unfähige Fabrikdirektoreu können zu allen Zeiten in jedem Staate vorkommen.
Aber die Gefahr, daß sie zum Schaden der Allgemeinheit auftreten, vermindert
sich doch ganz bedeutend, wenn ihre Ausbildung die mögliche Bürgschaft leistet,
daß sie zu ihrem Berufe wirklich fähig sind.
Volkswehren im sozialdemokratischen Sinne, mit allen ihren Anhängseln
der Ofsizicrswcchl durch die Truppe und dem ox jmxrompw aus dem poli¬
tischen Spargelbeet aufschießenden Feldherrutnm mögen dort vorzüglich sein,
wo man sicher ist, keine Kriege mehr führen zu müssen. Solange jedoch re¬
publikanische Staaten bestehen, in denen es zum amen Tone auch bei den
Sozialisten gehört, auf Revanche zu hoffen, werden deren Nachbarn im Interesse
der Kultur gut thun, beim alten, bewährten System der Landesverteidigung zu
bleiben und es stetig auszubauen und zu stärken, trotz aller Angriffe von links
und rechts.
s läßt sich nicht hinwegleugnen, daß die riesigen Bazare oder
Warenhäuser in den großen Städten, in denen man Waren
der verschiedensten Art zu ungemein niedrigen Preisen zu kaufen
bekommt, Geschäftshäuser wie NggAsin an liOuvrs und ^.u bon
inarokö in Paris, wie der frühere Kaiserbazar und Wertheim in
Berlin, den kleinern Handel- und Gewerbetreibenden unberechenbaren Schaden
zufügen. Selten kommt es vor, daß die Kaufleute in der nächsten Nähe solcher
Bazare sich zu halten vermögen, sie sind über kurz oder lang zur Anmeldung
des Konkurses gezwungen, und bei den guten Verkehrsverbinduugen in den
großen Städten, bei der Leichtigkeit des Warenversandes durch Post und
Eisenbahn macht sich die erdrückende Konkurrenz der großen Warenhäuser nicht
nur in ihrer Nachbarschaft, sondern im ganzen Lande auf die empfindlichste
Weise geltend, und man kann es nur berechtigt finden, wenn die Kaufmanns¬
welt die Regierung zum Schutze ihrer bedrohten Existenz anruft und die Regie¬
rung zunächst durch kommunale Besteuerung, und wenn das nichts nützen sollte,
durch staatliche Maßnahmen die ärgsten der durch die Warenhäuser geschaffnen
Mißstände beseitigen zu helfen gewillt ist. Ob das gelingen wird heute, wo in
Handel und Industrie, im Geld- und Verkehrswesen alles auf den Großbetrieb
hindrängt, ist eine Sache für sich. Die großen Bazare sind der Aufgabe des
Kaufmannsgeschüfts, die Waren dem laufenden Publikum so gut und so preis¬
wert wie möglich zu verschaffen, im großen und ganzen eigentlich gerecht ge¬
worden. Es kommt aber auch nicht darauf an, eine natürliche Bewegung
künstlich zurückzudrängen, sondern nur darauf, während der Übergangszeit die
schwächern und nicht ganz so leistungsfähigen Existenzen im Kampf ums Dasein
zu schützen. Sollte das auch nur während einer Reihe von Jahren erreicht
werden, so ist damit alles erreicht, was erreicht werden konnte. Die durch
die Warenhäuser gefährdeten Kreise der Bevölkerung haben Zeit gefunden, sich
den neuen Verhältnissen anzupassen.
Aber heute, wo die Bewegung gegen die Warenhäuser, die Großbetriebe
des Kleinhandels, immer weiter um sich greift, ist es vielleicht ganz angebracht,
einen Blick auf die wirtschaftlichen Zustände in abgelegnen Gegenden unsers
Vaterlandes zu werfen, in denen der Kleinhandel noch in vollster Blüte steht,
Gegenden, die in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind, und über die ein
Jahrzehnt nach dem andern, man möchte sagen, ein Jahrhundert hinweg¬
gegangen ist, ohne daß Handel und Gewerbe in ihnen wesentliche Änderungen
erfahren haben.
Der Leser folge uns in ein kleines Weberstüdtchen in den Sudeten.
Früher, zu Anfang unsers Jahrhunderts und bis in die fünfziger Jahre hinein,
als die Webwaren bei uns in Deutschland noch zumeist auf Handstühlen her¬
gestellt wurden, war es als Leinenfabrikationsort nicht ohne Bedeutung ge¬
wesen, es konnte sich ruhig mit den Nachbarstädten messen, und seine Bewohner
erfreuten sich einer gewissen Wohlhabenheit. Das wurde anders, als die
mechanische Weberei immer mehr an Bedeutung gewann, und die Eisenbahnen,
mit denen man die schlesischen Gebirge überzog, rechts und links in weitem
Bogen an unserm Weberstädtchen vorbeigeführt wurden. Die großen Fabriken
mit Dampfbetrieb, Spinnereien und Webereien kamen in die Nachbarorte, die
zugleich mit der Eisenbahn billige Kohle und billige Warentransporte erhielten.
Unser Städtchen blieb nach wie vor auf die Handweberei angewiesen, in der
die Arbeitslöhne infolge der erdrückenden Konkurrenz des mechanischen Betriebs
ständig heruntergingen. Zuletzt verdienten die Handweber bei angestrengter
Arbeit kaum das Sattessen; wer irgend konnte, zog nach außerhalb, und die
Abnahme der Bevölkerung wie die schlechte wirtschaftliche Lage der Zurück¬
bleibenden übten ans Handel und Wandel der ganzen Stadt ihren Einfluß aus.
Die Wohnungen blieben unvermietet, die Handwerker fanden nicht mehr ge¬
nügende Beschäftigung, in den Kaufläden und Gasthäusern wurde der Umsatz
der denkbar schlechteste, und die Folgen sind um so schlimmer, als von früher
her die Konkurrenz groß war.
Der Umsatz in den einzelnen Kauflüden ist verschwindend klein geworden,
bei den bescheidensten Ansprüchen wollen aber die Ladenbesitzer leben. Sie
müssen deshalb die Preise für ihre Waren immer wenigstens so hoch ansetzen,
daß sie ihr Durchkommen finden, also schon ein Grund, weshalb bei ihnen
die Waren nicht so wohlfeil sein können, wie um andern größern Orten-
Es kommen aber noch zwei andre Gründe hinzu, die auf die Verteuerung
der Kolonialwaren und Jndnstrieerzeugnisse in unserm Städtchen von Einfluß
sind. Der Umsatz ist klein, und nach dem Umsatz richtet sich die Größe des
Einkaufs. Beim Einkauf aber hat man einen umso größern Vorteil, in je
größern Mengen man kauft. Der kleine Krämer bezieht seine Waren schon an
und für sich zu höhern Preisen als der Großkaufmann, und deshalb ist er
mich nicht in der Lage, so billig zu verkaufen wie dieser. Und dann sind die
Kaufleute in unserm Städtchen einzig auf die Vermittlung der Reisenden an¬
gewiesen. Hat eine Stadt Bahnverbindung, so führt ein Kaufmann bald einmal
nach der Provinzialhauptstadt, nach der nahe gelegnen Fabrikstadt, um an Ort
und Stelle auszuwählen, was ihm für seine Kunden am geeignetsten zu sein
scheint. Eine Reise, die zum Teil mit Gespann zurückgelegt werden muß, ist
immer teurer als eine bloße Eisenbahnfahrt und läßt sich auch selten an einem
Tage abmachen, man muß schon eine Nacht von Hause fortbleiben. Und ist
die Reise mit solchen Kosten und Umständen verbunden, so ist es für beide
Teile vorteilhafter, daß der Kaufmann in der großen Stadt nach dem abgelegnen
Platz, an dem er vier oder fünf Abnehmer hat, seinen Reisenden schickt, als
daß diese vier oder fünf Geschäftsleute selbst zu ihm herüber kommen. Aber
bei dieser Abwicklung der Geschäfte durch die Reisenden wird den Kaufleuten
in der kleinen Stadt das Leben zu bequem gemacht. Die Reisenden bringen
und schaffen ihnen alles, was sie brauchen, ins Haus, und deshalb lernen die
Kaufleute nur die Geschäftshäuser kennen, von deren Vertretern sie besucht
werden, und nur die Waren, die von diesen Geschäftshäusern geführt werden.
Sehr zu ihrem Nachteile. Denn die Handlungen, die viel und namentlich in
kleinen Städten reisen lassen, in denen wegen des geringen Absatzes die Un¬
kosten am meisten ins Gewicht fallen, pflegen nicht gerade die preiswertesten
Waren zu führen. Die Kosten, die die Reisenden verursachen, müssen doch
jedenfalls Herauskommen. Ist die Ware gut, so ist der Preis hoch, und scheint
der Preis mäßig, so ist die Ware dafür um so schlechter.
Und schlecht sind die Kaufmannswaren in unserm kleinen schlesischen
Weberstädtchen, schlecht und teuer. Die Hausfrauen, die aus der größern
Stadt kommen, wissen ein Lied davon zu fingen. Der Zucker süßt nicht, das
Salz salzt nicht, die Streichhölzchen brennen nicht, der Kaffee hat kein Aroma
und schmeckt surrogatartig. Von Wolle kommt nur das Erzeugnis der Neu¬
zeit, die Kunstwolle vor, bei den Hemdenknöpfen reißt der leinene Überzug
nach der ersten Wäsche. Von täglichen Gebrauchsartikeln, Tüchern, Decken,
Bändern führt man nur Ausschußware, an Kleidungsstücken sind nur Laden¬
hüter größerer Geschäfte auf Lager, und will man die einfachsten Wirtschafts¬
gegenstände kaufen, sei es aus Porzellan oder Eisen, so muß mau doppelt
so hohe Preise anlege», als in Berlin oder Breslau. Die besser gestellten
Familien lassen sich Kolonialwaren und Jndustrieerzeugnisse fast durchgängig
von außerhalb schicken, die Kleidungsstücke bringt man sich gelegentlich von
einer Reise mit, zur Schneiderin und Putzmacherin fährt man, schon um für
die Zuthaten mehr Auswahl zu haben, nach der nüchstgelegnen Stadt herüber.
Wer Geld hat, weiß sich zu helfen, nur daß er für Kleidung und Essen und
Trinken eben mehr braucht als in der Großstadt. Zu beklagen bleiben nur
die armen Weber, die bei ihrem kärglichen Verdienste von fünf bis sechs Mark
wöchentlich für die ganze Familie die notwendigen Gebrauchsartikel so ungemein
teuer bezahlen müssen, in Bewahrheitung des alten Spruches: „Wer nicht hat,
dem wird auch das er hat genommen werden."
Doch über die Preishöhe und Minderwertigkeit der Kaufmannsartikel
könnte man sich noch hinwegsetzen. Man ist an die hohen Preise für gewisse
Waren in unserm Städtchen gewöhnt, man kennt es nicht anders, und wenn
die Sachen auch nicht so lange vorhalten oder nicht so gut munden, jedenfalls
sind sie nicht gesundheitsschädlich. Der Fluch des Kleinhandels macht sich in
vollem Maße erst da geltend, wo die Gesundheit ins Spiel kommt, vor allem
beim Bier, beim Branntwein und bei den Cigarren.
Wenn man für die meisten Gebrauchsgegenstünde in unserm Städtchen
höhere Preise zahlen muß, als an andern größern Orten, so giebt es gewisse
Artikel, für die man überall einen und denselben Preis anzulegen Pflegt. Einer
dieser Artikel ist die Cigarre. Der kleine Beamte, der bessere Handwerker, der
Landmann rauchen ihre Fünfpfennigeigarre, ebenso in Berlin, wie am Rheine,
wie in Oberschlesien. Erhält man aber in Berlin für fünf Pfennige zumeist
eine ganz gute Cigarre, zu der vorzugsweise schon amerikanische Tabake ver¬
arbeitet werden, so kauft man in unserm Gebirgsstädtchen für diesen Preis ein
jämmerliches Kraut, das vielleicht mit Ausnahme des Deckblatts auf heimischem
Boden gewachsen ist. Nun ist es aber eine bekannte Thatsache, daß die in
unserm kalten Norden gezognen Tabakpflanzen nahezu viermal soviel Nikotin
enthalten als Havannatabak, 7 bis 8 Prozent gegen 2 Prozent, und daß sie
daher um ebenso viel giftiger sind. Schon der Qualm dieser Cigarren ist,
namentlich in Gaststuben, wo drei oder vier Raucher beisammen sind, so scharf
und betäubend, daß man, ohne selbst zu rauchen, Kopfschmerzen bekommt, es
müßte denn sein, daß man Nerven von Stahl hat, oder von Jugend auf an
den Rauch gewöhnt ist. Daß diese schweren, nikotinhaltigen Cigarren bei
stetem Gebrauche mit der Zeit Nervosität, Herzschwäche oder Magenübel er¬
zeugen, liegt auf der Hand.
Noch schlimmer beinahe, als mit den Cigarren, steht es aber mit dem
Bier und dem Schnaps. Die Herren Gastwirte in unserm Weberstädtchen
machen es genau so wie die Kaufleute, sie beziehen ihr Bier aus deu sieben
oder acht Brauereien der Umgegend, die ihnen das Bier frei ins Haus schaffen,
umso mehr als die Brauer von Zeit zu Zeit bei ihnen eine Zeche machen
und es mit dem Gelde auch nicht so ängstlich haben. Sei es nun, daß die
Herren Brauer nicht gerade viel von ihrer Kunst verstehen, sei es, daß sie ihr
Anlagekapital immer schnell wieder umsetzen wollen, kurz, sie lassen ihr Bier
nicht lagern und klären es dann mit künstlichen, gesundheitsschädlichen Mitteln.
Und das allerjüngste, allerschlechteste Bier wandert in unser Gebirgsstädtchen
herauf, da die Gastwirte dort nicht etwa immer nnr aus einer und derselben
Brauerei ihr Bier beziehen, sondern der Reihe nach herum aus allen sieben
oder acht, und bekanntlich der Kunde immer am schlechtesten bedient wird, der
am wenigsten Bedarf hat. Ist man wegen einer Vereinsversammlung oder
sonst aus irgend einem Anlaß genötigt, in unserm Städtchen ein Wirtshaus
zu besuchen, so kann man zehn gegen eins wetten, daß man auch bei mäßigem
Biergenuß am nächsten Tage die schönsten Kopfschmerzen hat. Ein Teil der
Honoratioren, der größere, verzichtet deshalb überhaupt auf den Wirtshaus¬
besuch, und die Leute, die der alten Sitte treu geblieben sind, es aber daneben
mit ihrer Gesundheit und ihrem Beruf ernst nehmen, müssen schon beim zweiten
Schoppen mit sich zu Rate geben, ob er ihnen auch uoch zuträglich sein wird.
Die schlechten Bierverhältnisse sind in der kleinen Stadt zur wahren Kalamität
geworden. Hier, wo einem sonst so wenig Zerstreuung und Abwechslung ge¬
boten wird, muß man auf die einzige Anregung verzichten, die einem geblieben
ist, die Gesellschaft, und auch in seiner Häuslichkeit kann man sich nicht einmal
den von früher her gewohnten Abendschoppen leisten. Denn sind die Faßbiere
nicht bekömmlich, so sind es die Flaschenbiere noch weniger. Die Leute aber,
die die unabgelagerten, künstlich geklärten Biere tagaus tagein zu trinken
pflegen, weil sie an nichts andres gewöhnt sind, thun das auf Kosten ihrer
Gesundheit. Eine Zeit lang scheinen sie sich zu halten, aber mit einemmale
fallen sie zusammen, der eine früher, der andre später.
Geht das Bier die bessern Gesellschaftsklassen an, so hat die ärmere Be¬
völkerung unter dem elenden, fuselhaltigen Branntwein noch mehr zu leiden.
Der Genuß geringer Mengen dieses Gifts führt zu Betrunkenheit und dadurch
entweder zu völliger Teilnahmlosigkeit und Schlafsucht oder zu Ruhmrederei
und Händelsucht. Ziehen sich in den Kneipen die ungereimten Reden eines
solchen Betrunknen, die immer auf demselben Fleck stehenbleibenden Streitig¬
keiten zwischen zwei Zechgenossen oft die ganze Nacht bis zum frühen Morgen
hin, so hört man auch auf offner Straße bei Hellem lichtem Tage des öftern
ein Zeug schwatzen oder gamern, wie der Schlesier sagt, daß man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen möchte, und bei jeder größern Festlichkeit sieht
man die Abfallenden einen nach dem andern vom Festplatze in die Stadt zurück-
schwankeu. Damit, daß die Leute zu wenig und zu schlecht essen, findet diese
geringe Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol allein nicht ihre Erklärung.
Sie ist begründet der Hauptsache nach in der Fuselhaltigkeit des Branntweins,
an den man nach dem eignen Geständnis der Wirte gewöhnt sein muß, um
ihn vertragen zu können. Und dieser schlechte Schnaps zerrüttet unfehlbar
die Gesundheit, in kleinern Mengen genossen führt er zu Magenschwüche, in
größer» zum Irrsinn, in jedem Falle aber zur Entartung der kommenden
Generation. Wenn in unserm Städtchen von 1950 Einwohnern deren sechs
oder sieben in Irrenhäusern untergebracht und ebenso viel andre fürs Irren¬
haus reif sind, die man nur ihrer Ungefährlichkeit wegen noch frei herum¬
laufen läßt, wenn wir es in ihm mit so vielen schwachsinnigen und geistig
zurückgebliebnen Kindern zu thun haben, so ist eine Ursache der Branntwein.
Gegen die großen Bazare will der Staat einschreiten, weil sie den Ruin
für viele kleine Kaufleute bilden. Gut, wir sind damit einverstanden. Aber
in der gleichen Weise müßte man energischer, als das heute geschieht, auch
gegen die Schäden des Kleinhandels vorgehen, wenigstens da, wo es sich um
die Gesundheit handelt. Die Gesundheit des Volks, das Wohl und Wehe der
kommenden Generation ist mehr wert als Hab und Gut, und wie in unserm
Weberstädtchen werden die Verhältnisse im großen und ganzen an vielen andern
kleinern Orten liegen/wenn ihre Schäden auch vielleicht hier und da durch
die größere Wohlhabenheit der Bevölkerung etwas gemildert werden.
Zu einer strengern Beaufsichtigung des Kleinhandels und des Kleingewerbes
bedarf es auch keiner neuen Gesetze. Das Gesetz vom 14. Mai 1879 betreffend
den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln usw. sieht alle die Fälle vor,
die für uns hier in Betracht kommen. Nach den Bestimmungen des Z 5 dieses
Gesetzes können durch kaiserliche Verordnung Vorschriften erlassen werden, die
sich auf Herstellung, Aufbewahrung, Verpackung und Feilhalten von Nahrungs¬
und Genußmitteln beziehen, und nach § 12 und § 13 sind gegen die Personen,
die vorsätzlich gesundheitsschädliche Nahrungs- oder Genußmittel herstellen,
strenge Strafen festgesetzt. Damit läßt sich vollständig auskommen. Nur
müssen die in den kleinen Städten zum Verkauf kommenden Nahrungs- und
Genußmittel einer schärfern Kontrolle unterzogen werden, als das bisher ge¬
schehen ist.
u einem Zeitpunkte, wo die Fonds der Li^rtergä erschöpft
und Rhodes eigne Kasse durch die verschiedenartigsten Unter¬
nehmungen aufs stärkste in Anspruch genommen war, brach der
erste Matabelekrieg aus. Rhodes bestritt die sämtlichen Kosten
des von Jameson geleiteten Feldzugs, die sich auf zwei Mil¬
lionen beliefen, während sie, wenn das Reich ihn geführt hätte, vielleicht
zehn- oder zwanzigmal höher gewesen wären. Rhodes hatte zu dem Zwecke
unter den allerunvorteilhaftesten Bedingungen für anderthalb Millionen Aktien
der Onartsrsä zu verkaufen, die damals ihren niedrigsten Stand erreicht hatten.
Nach dem Jamesonschen Einfall hatte sich Rhodes, der inzwischen von seinem
Posten als Kapminister zurückgetreten war, in London zu verantworten. Er
kehrte von dort im Mai 1896 zurück, um sich ganz der innern Arbeit in dem
Lande der <ü1un'or«za zu widmen. Hier war Ende März, zum Teil durch
Jamesons Mißgeschick, das dem Ausehen der QnarwreÄ sehr geschadet hatte,
zum Teil durch die Verheerungen der Rinderpest veranlaßt, ein neuer Aufstand
der Matabele, weit gefährlicher als der erste, ausgebrochen. Die kleine englische
Truppe focht in mehreren Kämpfen mit großem beiderseitigen Verlust gegen die
Aufständischen, aber war nicht imstande, sie zu besiegen. ^ Ein neuer Feldzug mit
einer weit stärkern Truppe schien für das Jahr 1897 unvermeidlich. Da gelang
es Rhodes, den Streit friedlich beizulegen. Mit drei Begleitern folgte er uu-
bewciffnet einer Einladung zu einer großen Beratung der Matabeles und bewog
diese gegen sein Versprechen, einige ihre Beschwerden abzustellen, sich ihm
wieder zu unterwerfen. Diese That, die ebenso sehr von Rhodes großem Mut
wie von seiner genauen Kenntnis des Charakters der Eingebornen zeugt, war
von den größten Folgen für die Oven-tersä LompM^. Denn nicht nur sparte
diese die Kosten eines neuen Feldzugs, sondern es konnten auch jetzt wieder
die kolonisatorischen Arbeiten aufgenommen werden, die während des letzten
Jahres gestockt hatten. Die angestrengte Thätigkeit in dem jungen Lande, das
überall sein Eingreifen forderte, war wohl mehr nach dem Geschmack von
Rhodes, als seine frühere offizielle Stellung mit ihrer Förmlichkeit. „Was
mich persönlich anbetrifft, sagte er in einer Rede in Bulawayo, so bin ich ein
glücklicher Mann gewesen, seit ich unter euch bin."
Es ist leicht zu verstehen, wo so Großes geschaffen wurde und überall so
sichtbar zu Tage liegt, wie viel davon der persönlichen Initiative und der
Voraussicht eines Einzelnen zu danken ist, daß dessen Einfluß und Ansehen
bald ins Ungemessene wachsen mußte. Namen wie der „ungekrönte König von
Afrika" zeugen von der Bewunderung des Weltteils, der seine Thaten gesehen
hat. Keine Frage, keine Schwierigkeit konnte in Südafrika auftauchen, ohne
daß sich alsbald aller Blicke auf ihn richteten, und mit einem beinahe aber¬
gläubischen Vertrauen folgte man seiner Leitung. Ju den zehn Jahren, die
vor Jamesons Einfall liegen, hat er, wenn auch nicht dem Namen nach, so
doch thatsächlich als Diktator am Kap geherrscht. Auch ist es nicht zu be¬
zweifeln, daß England ihn in einem Atem mit den Männern nennen wird,
die ihm das indische Reich schenkten, ja vielleicht noch vor diesen, wenn sich
der Traum von Rhodes verwirklichen sollte, daß vermittelst Nhodesias sich
ganz Südafrika südlich vom Zambesi zu einem wesentlich britischen Staatenbund
zusammenschließen werde. Durch das friedliche Zusammenwirken von Engländern
und den aus allen Teilen Südafrikas herbeigeströmten Holländern und durch
die stetig zunehmenden Handelsbeziehungen des neuen Staates zu alleu alten
werden sich nach ihm die trennenden Unterschiede mehr und mehr verwischen
und sich die von ihm gewünschte Vereinigung langsam anbahne». Das soll
dann das Vorspiel zu einem engern Zusammenschluß zwischen England und
seinen Kolonien und weiterhin von allen englisch redenden Völkern sein.
Das erste Ziel wird nach ihm in absehbarer Zeit erreicht werden, aber
auch das Hinarbeiten auf ferne Ziele hat seinen Lohn in sich: „Ich erinnere
mich — sagt er in einer seiner Reden —, daß ich in dem Ungestüm meiner
Jugend mit einem Mann in vorgerückten Jahren sprach, der pflanzte — was
denken Sie? Er pflanzte Eichbäume, und ich sagte zu ihm sehr artig, das
Pflanzen von Eichbäumen durch einen Mann in vorgerückten Jahren schiene
mir doch sehr eine Sache der Einbildung zu sein. Er ging sofort darauf ein
und sagte zu mir: Sie merken, daß ich nie den Schatten genießen werde. Ich
sagte: Ja! und er antwortete: Ich hatte die Einbildung und weiß, was dieser
Schatten sein wird, und in jedem Falle wird niemand je diese Linien ändern.
Ich weiß, daß ich nicht erwarten kann, sie höher als einen Busch zu sehen.
Aber mir bleiben der Gedanke und der Schatten und der Ruhm. Und so
haben auch manche von uns Gedanken, und wir dürfen sagen die rückhaltlose
Überzeugung, daß in unsrer zeitlichen Existenz die Resultate nicht erkannt
werden können: darum können wir aber doch langsam und Schritt vor Schritt
auf diese Resultate hinarbeiten, die nach unserm zeitlichen Dasein kommen können.
Und es war mir eine Genugthuung, zu wissen, daß man die Linien in der¬
selben Weise festlegen kann, wie ich das Vergnügen dieses Mannes sah, der
die Linie seiner Eichbäume bestimmte." In derselben Rede spricht er sich auch
über seine Motive aus: „Meine Motive sind angegriffen worden. Ich habe
viele Feinde, und diese haben mir viele Gründe untergelegt; aber sie verstehen
noch nicht die volle Selbstsucht meiner Ideen; und ich will Sie ins Vertrauen
ziehen und Ihnen dies sagen, daß ich eine große Idee habe, die ich aus-
zuführen wünsche, und ich kenne sehr wohl den Lohn: der Lohn ist der höchste,
den ein menschliches Wesen erhalten kann, nämlich der Kredit, das Vertrauen
und die Wertschätzung meiner Mitbürger."
Über das Hochgefühl, das aus der Größe und der Natur einer Aufgabe
fließt, wie sie Rhodes sich gestellt hatte, sagt er in einer Rede nach der Be¬
schwichtigung von Matabelelcmd: „Einige von Ihnen haben sehr viel Mit¬
gefühl mit mir. Ich darf sagen, daß ich das nicht brauche. Wenn Sie sich
überlegten, was die größte Freude im Leben sei, so würden Sie, denke ich,
finden, daß die Erschließung eines Landes so groß wie Deutschland, Frankreich
und Spanien zusammengenommen eine Arbeit wäre, die für jeden eine Frende
sein würde. . . . Beim Überschauen der verschiednen Wege im Leben, die ein
Mann verfolgt, kann ich mir keinen erfreulichem denken, als die Erschließung
eines Landes, an das die Einwohner so fest glauben." Daß wir hier that¬
sächlich den Schlüssel zu seiner Handlungsweise haben, und daß der ihm oft
gemachte Vorwurf, sein Ziel sei bloß Bereicherung, den Mann verkennt, scheint
uns offenbar. Weniger grundlos sind wohl die Vorwürfe über seine Un-
bedenklich keit bei der Wahl seiner Mittel. Selbst einer seiner Lobredner, wie
Mr. Walter Staat, gesteht zu, „daß in manchen Dingen seine ethische Ent¬
wicklung zweifellos etwas zurückgeblieben ist. Die Atmosphäre der Diamanten¬
felder ist nicht gerade ein Treibhaus sür die schönern Gefühle und die zartern
Tugenden der Zivilisation." Rhodes sagte einmal, um anzudeuten, daß der
Mahdi kein Hindernis sei sür die Durchführung seines großen afrikanischen
Telegraphenprojekts: „Ich habe noch nie jemand getroffen, mit dem ich nicht
ein Geschäft machen konnte." Daß er, um einen Widerstand aus seinem Wege
zu entfernen, Bedenken getragen habe, jemand zu kaufen oder zu bestechen, wird
schwerlich jemand glauben. Dennoch war er berechtigt, die „salbungsvolle
Rechtschaffenheit" (Motuous riZiitsonLnoss) seiner Landsleute zu verhöhnen,
die seinen frühern Erfolgen immer zugejubelt hatten und nun, wo der Erfolg
ausgeblieben war, sich mit sittlicher Empörung von einem so verworfnen
Menschen abwandten.
Auch ist wohl nur zu gewiß, daß der Zuwachs an politischer Macht und
materiellem Vorteil für England nicht zugleich auch einen Zuwachs an Ge¬
sittung sür das unterworfne Land bedeutete. Nach Kimberley, Johannesburg
und Rhodesia strömten doch auch eine Unmenge Abenteurer, und in deren
Kreisen wie in denen der von dem Fieber des Erwerbs wie des Genusses be¬
sessenen Spekulanten, in deren Mitte sich doch die afrikanische Existenz von Rhodes
abspielte, herrschten nicht die höchsten sittlichen Begriffe. Mit Abscheu blickten
die sittenstrengen und religiösen holländischen Bauern ans diese neu hinzu¬
kommende industrielle Bevölkerung, die Trunk, Spiel und alle Laster der Zivi¬
lisation in ihre einfachen Verhältnisse gebracht hatte. Die Abneigung der Trans¬
vaalburen, den Neuhinzugekommuen ohne Unterschied alle Rechte ihres Staates
einzuräumen, hat daher ihre guten Gründe, und die Klagen der „Uitlanders,"*)
die im Namen von „Freiheit" und „Gerechtigkeit" gegen die „korrupte" Buren-
vligarchie deklamieren, sollten nicht uneingeschränkt von denen wiederholt werden,
die sehen, daß hier ein tapfres und wackres Völkchen um seiue nationale Existenz
und für seine Sitten kämpft. Auch auf die Eingebornen im Lande der LiKar-
t,<zrsÄ Ooinpg.n^ haben die neuen Zustände vielfach demoralisierend gewirkt.
Daß Neger, unter denen ein Mann wie der Häuptling Khama möglich war,
der es mit seinem Christentum und seinen Pflichten gegen sein Volk so ernst
nahm, wie dieser Fürst, sittlich auf keiner niedern Stufe stehen, wird jedermann
zugeben müssen.
Von der Tugend der Vantufrauen spricht Olive Schreiner mit dem höchsten
Lobe. „Nach einem Kriege anfangs der neunziger Jahre — erzählt sie —
war ein ganzes Regiment im Herzen eines unterworfnen Bantustammes während
Monaten stationiert. Nicht nur war das Ergebnis der Berührung von Sol¬
daten mit eingebornen Frauen in Beziehung auf uneheliche Geburten gleich null,
sondern es war thatsächlich für die Soldaten während der ganzen Zeit un¬
möglich, Frauen für schändliche Zwecke zu kaufen." Hierzu macht die Schrei¬
berin 1896 den bittern Zusatz: „Ich beziehe mich nicht auf das, was statt¬
findet, wenn Engländer, ungehemmt durch eine öffentliche Meinung oder durch
die britische Herrschaft, unumschränkt über eine zermalmte Eingebornenrasse
herrschen, wie heute in den Gebieten nördlich des Limpopo." Der einzige
Segen für das unterworfne Land besteht für den Angenblick wohl darin, daß
hier Friede, Sicherheit und Ordnung herrschen, wahrend früher die friedlichen
Maschonas von den kriegerischen Matabeles in jeder Weise bedrückt und mi߬
handelt wurden. Es ist zu hoffen, daß auch die übrigen Segnungen früher
oder später eintreten werden, die niemals ganz ausgeblieben sind, wo englische
Macht und englisches Gesetz die Vorbedingungen für Gesittung schufen.
Wir sind auf Cecil Rhodes so ausführlich eingegangen, weil die ganze
Persönlichkeit des Mannes in hohem Maße zu dem Erfolg der von ihm ver-
tretnen Ideen beigetragen hat. Diese waren durchaus nicht neu. Sir George
Grey, der seinerzeit in Neuseeland durch seine Einsicht einen der größten Fehler
der heimischen Regierung gut gemacht und ein andres mal durch die selbständige
Entsendung von Truppen nach Indien zur Zeit des großen Militäraufstandes
vermutlich Indien für England gerettet hat, Sir George Grey durfte sich
rühmen, daß er ohne das Eingreifen der englischen Regierung im Jahre 1854
eine Vereinigung der südafrikanischen Staaten zu stände gebracht hätte. Auch
war diese auf derselben Grundlage wie die von Rhodes geplant. Überhaupt
ist dieser auf keinem Gebiete eigentlich schöpferisch. Er ist wesentlich ein prak¬
tischer Geist. Unbeirrt von Schulmeinungen übersieht er mit klarem, offnem
Auge die thatsächlichen Verhältnisse und richtet darnach seine Vorschläge ein.
Man wird ihn daher immer mit Nutzen und Interesse hören, sei es, daß er
über die Frage der Zölle, sei es, daß er über gesetzliche Bestimmungen für
die Eingebornen spricht: aber was ihn auszeichnet, ist wesentlich sein großer,
nüchterner Verstand und sein praktischer Blick, nicht aber Originalität in höherm
Sinne. Und für seine Zwecke genügten jene. Daneben kam ihm aber auch
die Gunst der Zeit reichlich zu statten.
In den achtziger Jahren beginnt das Problem des Imperialismus erhöhte
Bedeutung zu gewinnen. Die allgemeine Weltlage und die Homerulepolitik
Gladstones, die auf eine Zerbröckluug des Reichs hinauszulaufen schien, zwang
alle ernsten Männer der Nation, über die Zukunft des Reichs und das Ver¬
hältnis aller seiner Teile nachzudenken. In hohem Maße bezeichnend ist darum
der außerordentliche Erfolg von Seeleys ^xx-msion ok LnAlaml, das wie kein
Buch der letzten Jahre das politische Denken der jüngern Generation beeinflußt
hat. Zu dem nun, was Seeley theoretisch entwickelte, stellte sich Rhodes Wirken
als die praktische Ergänzung dar. Und es zeigte sich auch hier wieder, daß
ein großes Volk auf die Dauer nicht teilnahmlos gegen das sein kann, was
seine Zukunft und seinen Bestand angeht. Die beiden großen Parteien Eng¬
lands machten damals eine Wandlung durch; bei der Unklarheit, die darum
im Innern herrschte, mußte das öffentliche Interesse um so bereiter sein, nach
neuen Gegenständen zu suchen, die es fesseln könnten. Als ein solcher bot sich
Cecil Rhodes dar, der auch dem Gegner Achtung einflößen mußte durch die
Größe der Opfer, die er brachte, und der Verantwortungen, die er übernahm.
Seit seinem Eintritt in das Kapparlament sah man in ihm daheim den be¬
deutendsten Vorkämpfer der britischen Machtstellung. Auch haben seine journa¬
listischen Freunde allen seinen Handlungen immer eine nationale Seite abzu¬
gewinnen gewußt. Überhaupt ist, seitdem es eine Presse giebt, kaum je der
Ruhm eines Mannes und seiner Schöpfung so geschickt und eindringlich ver¬
kündet worden wie der von Rhodes und der Lüuu'tsrsä Oomxem/. Mr. Staat
sandte kaum eine Nummer seiner lisvisv ok lisvievs in die Welt, ohne seinen
Lesern von einer neuen Äußerung der politischen Weisheit des „großen Reiche¬
stifters" (Linxirs-builäör), des Mannes, „der über Kontinente nachsinnt" (Mo
tninlcs 0Q eoiitiliönts), zu berichten. Achtungswerte Leistungen in Rhodesia,
wie der Zug der zweihundert Wegebauer von der Küste durch schwieriges
Terrain und zum Teil feindliche Stämme nach Salisbury, oder die Nieder¬
werfung eines Negerhäuptlings durch Jameson wurden zu Thaten ausgebauscht,
die in der Kolonialgeschichte nicht ihresgleichen hatten: jener Zug wurde
auf eine Stufe mit dem Zuge der Zehntausend gestellt, und Jameson wurde
nicht nur als ein tapfrer, entschlossener und umsichtiger Mann, sondern als
einer der größten Helden und Führer aller Zeiten gefeiert: man weiß, wie
schwer sich das bestraft hat.
Vielfach wurde auch der imperialistischen Idee etwas Mystisches beigemischt.
Seitdem den Engländern der größte Teil des Kolonialbesitzes von Spanien,
Holland und Frankreich zugefallen ist, ist es ein ihnen geläufiger und lieber
Gedanke, daß eigentlich die ganze Welt ihnen gehöre — zum Herrschen und
Ausbeuten. Dieser Gedanke wird um auf einmal religiös gewandt und da¬
durch der breiten Masse des englischen Volkes, die auch noch heute „biblisch"
ist, wie damals, als Stendhal sie so bezeichnete, erst mundgerecht gemacht.
Die englische Rasse, verkündet man, vertritt Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden,
sie ist darum das auserlesene Volk Gottes, berufen, die Welt zu beherrschen
und zu verbessern. Bemerkenswert ist, daß durch diese Wendung des Ge¬
dankens an Stelle des englischen Volkes als politische Macht auf einmal die
englische Sprachgemeinschaft tritt, die durch dieselben Gesetze, Grundsätze und
Sitten verbunden ist. Es soll nicht untersucht werden, was alles noch zu der
Annäherung Englands an Amerika zusammengewirkt hat. Wir verzeichnen hier
bloß die Thatsache, daß die meisten Vertreter des Imperialismus, von der
ältern Generation des Sir George Grey an bis zu den heute tonangebenden
wie Chamberlain, immer einem Zusammengehen mit Amerika das Wort redeten.
Und wie stark das Band zwischen beiden Ländern ist, zeigte sich darin, daß
das verletzende Auftreten Nordamerikas in der Venezuelafrage nnr eine flüch¬
tige Trübung in den Beziehungen bewirkte und in England alles aufgeboten
wurde, um einem Bruch vorzubeugen. „Die englische Rasse darf in einem
besondern Sinne als der Bannerträger des Allmächtigen gelten, und ihr Ziel
ist die Verbreitung der großen Prinzipien des Friedens, der Gerechtigkeit und
Freiheit über die ganze Welt. Das ist etwas von dem bloß-britischen Impe¬
rialismus weit Verschiednes, denn es ist ebensowohl ein amerikanischer als ein
englischer Gedanke, und er geht die zwei großen Zweige der englischredenden
Rasse an als die rechte und linke Hand der Vorsehung, die die Geschicke der
Welt formt."
So wenig religiös nun auch Rhodes sein mochte: das Unglaubliche ge¬
schah, er wurde zum Propheten dieses Glaubens ausgerufen. Mr. Stead,
von dem man sich schon solcher Dinge gewärtigen konnte, verkündete im Jahre
1891 der Welt die „Rhodestsche Religion." Rhodes Patriotismus ist, hören
wir hier, seine Religion. „Aber Rhodes glaubt nicht nur wie ein Römer an
sein Land. In seiner obersten Leidenschaft ist mehr als eine Spur von der
Verehrung der Hebräer für das Land der Verheißung. Sein Israel sind die
englisch redenden Menschen, wo immer sie sich finden zu Land oder Wasser,
und in ihnen sieht er das Volk der Vorsehung, die Erwählten Gottes, die
vorausbestimmten Herrscher der Welt." Diese Überzeugung ist aber auch
wissenschaftlich begründet: die Englischredenden sind die ersten unter allen
Völkern nach dem Darwinischen Grundsatz, daß immer die Tauglichsten über¬
leben. Denn überall in der ganzen Welt haben sie alle andern Völker über¬
flügelt, auch die Völker, die einmal einen Vorsprung vor ihnen hatten. Aber
sie sind auch die würdigsten. Denn sie vertreten den Jndustrialismus gegen¬
über dem Militarismus des Kontinents und haben eine tiefe, eingeborne Ver¬
ehrung für Gesetz und Gerechtigkeit und Ordnung. „Darum, wenn wir viel¬
leicht auch den Schliff des Franzosen, die Wissenschaft des Deutschen oder die
Kunst des Jtalieners nicht haben, so steht doch Rhodes in der Rasse, die
Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit vertritt, die Instrumente der Vorsehung
für die Besserung der Welt. Es ist die alte hebräische Idee. Rhodes zweifelt
ebenso wenig an der göttlichen Sendung des englischen Volkes als Josua an
der göttlichen Berufung des alten Israel. Keine Beweisführung wird ihn je
überzeugen, daß der Lenker des Weltalls vorhatte, daß die erlesensten Teile
seiner Schöpfung auf immer von Portugiesen oder Zwergen beunruhigt sein
sollen. Indem daher Rhodes mit umfassenden Blicke alles überschaute, ist
er zu dem Schlüsse gelangt, daß, wenn es einen Gott giebt, der über die
Nationen der Menschen herrscht und sich mit den Schicksalen der Sterblichen
befaßt, es unmöglich ist, ihm besser zu dienen, als wenn man so viel als
möglich von der Weltkarte britisch rot färbt und, soweit es möglich ist, dazu
mitwirkt, daß die Menschen, die Milton »Gottes Engländer« nannte, überleben,
und die Untauglichen in Gestalt von Wilden und andern, rückständigen Aus¬
wurf der Menschheit ausgeschieden werden." In England tritt einem neben
echter und tiefer Religiosität religiöse Heuchelei in allen nur denkbaren Formen
gegenüber. Mir ist jedoch keine begegnet, die so widerwärtig wäre wie diese
hier, wo die Religion als Deckmantel nationaler Selbstsucht dient.
Wenn es nun auch nicht möglich war, Rhodes zu einem Josua zu
stempeln, der sein Volk in das Land der Verheißung führt, so ist er doch that¬
sächlich für die Mehrheit seines Volkes die Verkörperung und der Träger des
imperialistischen Gedankens gewesen. Seine Erfolge wurden als nationale
Triumphe, seine Niederlagen als nationale Mißgeschicke empfunden. Und die
Mehrzahl der Schwankenden oder der Gegner trat nach dem Jamesonschen
Einfall offen auf seine Seite. Einen solchen Wandel konnte man beispiels¬
weise sehr wohl bei der LawiM/ Rsvic^v beobachten, die vorher Rhodes meist
mit den Augen der Olive Schreiner betrachtete, dann aber entschieden seine
Partei nahm. Gegen diese enge Verbindung der Sache des Imperialismus
mit einem Manne, dessen sittliche Grundsätze ziemlich bedenklich erschienen, und
der mit Geld alles glaubte machen zu können, erfolgte damals mancher Ein¬
spruch, der aber die Thatsache bewies. „Wie zu alter Zeit durch die Welt
ein Ruf erscholl: Es giebt bloß einen Gott, und Muhammed ist sein Prophet!
so klingt hente in unsern Ohren der Sammelruf des neuen Islam: Es giebt
nur ein Imperium, und Cecil Rhodes ist sein Prophet! Das mag manchen
übertrieben erscheinen, aber es faßt in ein Wort die Gefühle vieler zusammen,
die an die unermeßliche Zukunft des englisch redenden Stammes glauben."
(^Vgstnünstsr Rsviovv, Juni 1896.)
In den letzten Jahren hat nun besonders ein Dichter das Problem des
Imperialismus von seiner menschlichen und poetischen Seite betrachtet und den
mächtigsten Wiederhall in dem weiten englischen Reiche gefunden. Es ist
Rudyard Kipling, der „?c>6w I^ur6Äw8 des größern England," wie man ihn
oft genannt hat. Er zeigt, daß die Kolonien nicht bloß materiell für England
in Frage kommen, daß sie nicht bloß britische Waren aufnehmen und England
dafür mit billigen Rohmaterialien und Nahrungsmitteln versorgen, sondern
daß dort ebenfalls Menschen, Engländer, leben, deren Herz für England schlüge,
während England sie vergessen hat:
Es seien zum Schluß noch einige Bemerkungen über neuere Vorkomm¬
nisse angefügt, die ein Licht auf den Charakter und die Stärke politischer
Strömungen werfen, die mehr oder weniger imperialistisch gefärbt sind. Das
Verhalten Englands in der Veneznelafrcige und gegenüber der Depesche des
deutschen Kaisers an den Präsidenten Krüger zeigte deutlich, daß wir nicht
ebenso wie Nordamerika behandelt werden. Die Herausforderung Amerikas
nahm man ruhig hin, und eine ungeheure Agitation wurde ins Leben gerufen,
um das „Verbrechen" eines Blutvergießens zwischen den englisch redenden
Brüdern für jetzt und in aller Zukunft durch Errichtung eines dauernden
Schiedsgerichts zu verhindern. Die Depesche des deutschen Kaisers dagegen
wurde mit einer unbeschreiblichen Erregung aufgenommen, und um diese zu
steigern, wurden die sinnlosesten Lügen über deutsche Komplotte in Südafrika
eifrig verbreitet und eifriger geglaubt. „Diese Erregung, die unmittelbar nach
der unerschütterlichen Ruhe kam, mit der wir die weit direkter» Drohungen
von feiten des Präsidenten der Vereinigten Staaten entgegengenommen hatten,
betonte so nachdrücklich, wie nichts sonst es hätte thun können, die Verschieden¬
heit, mit der wir Mißhelligkeiten in der englisch redenden Familie und Drohungen
von fremden Mächten betrachten" — stand damals in einer politischen Monats¬
übersicht zu lesen. „Mit Schaudern," erklärte Chamberlain, würde er auf
einen „brudermörderischer Streit" Hinblicken, mit Freude erfüllte ihn dagegen
der Gedanke an die „Möglichkeit, daß das Sternenbanner und der Unica ^anat
zusammen flattern werden zur Verteidigung einer gemeinsamen Sache, die durch
die Humanität und Gerechtigkeit geweiht ist," und wie, fügen wir hinzu, sie
damals England gegen Transvaal, ja auch gegen Deutschland, sowie später
Nordamerika gegen Spanien zu vertreten vorgab.
Biedre Empfindungen mußte bei dem Deutschen auch die Aufnahme des
deutsch-englischen Abkommens in England erwecken. Die Kölnische Zeitung
hatte sich damit geschmeichelt, daß England und Deutschland hierbei ihre Inter¬
essen fänden, ohne daß die der Buren deswegen verletzt würden. Die eng¬
lischen Blätter belehrten ihre rheinische Kollegin darüber, daß man Wohl
Krüger etwas Skeptizismus zu gute halten dürfe, da das Abkommen sich gegen
ihn richte. „Es ist hohe Zeit — erklärte die Uoruing' ?oft vom 16. Sep¬
tember —, daß die Seifenblase der deutschen Kolonialpartei platzt." Die deutsche
Regierung wurde dann beglückwünscht, daß sie nicht länger gemeinsame Sache
mache mit dieser „Gruppe von Hamburger Kaufleuten."
Für die gegenwärtige Lage in England scheint uns dies am meisten
charakteristisch, daß sich das Interesse von den innern Fragen abgewandt und
ganz den äußern zugekehrt hat. Damit steht in Verbindung der Zusammenbruch
der liberalen Partei, deren altes Programm nichts mehr bietet, und die ein
neues noch nicht gefunden hat. Ganz und gar hat sich die Stellung der liberalen
Pcirtei zu den Kolonien geändert, und mit Unbehagen sieht sie sich an ihre frühere
Haltung erinnert. Es galt früher als einer der Triumphe des Liberalismus,
daß er den Aufwand für Heer und Marine vermindert hatte: heute ruft alles
nach Verstärkung der nationalen Wehrkraft; man erörtert mit allem Ernst die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und die Negierung wird dnrch die
Volksstimmung geradezu gezwungen, ihre Forderungen für Heer und Flotte
zu erhöhen. Nie ist England so willig und so bereit gewesen, Opfer für seine
Machtstellung zu bringen.
Die Frage einer Vertretung der Kolonien in dem englischen Parlament
wie die Frage eines Zollbundes sind im Fluß, und beide werden kaum zur
Ruhe kommen, ehe sie nicht in mehr oder minder befriedigender Weise gelöst
sind. Es verschlüge dabei wenig, daß die Konferenz in Ottawa im Jahre 1894
wie auch die manchen spätern Versuche wenig Positives geschaffen haben. Der
Unterschied gegen die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren ist der, daß damals die
Kolonien nur an eine Lostrennung dachten und die Mittel dazu erörterten,
während sie heute nur an eine Vereinigung und die Mittel dazu denken. Sehr
bedeutungsvoll waren namentlich die verschiednen Äußerungen Sir Wilfried
Lauriers, des Premierministers von Kanada, der, von Abstammung ein Franzose,
die Anhänglichkeit der englischen wie der französischen Bevölkerung von Kanada
an das britische Reich verkündete. Und doch war Kanada zu Anfang der
siebziger Jahre die Kolonie gewesen, deren Abfall unabwendbar geschienen hatte.
Zwei kleine Vorkommnisse neuesten Datums genügen unsers Trachtens
vollständig, den großen Umschwung in der Stellung Englands zu dem Reichs¬
gedanken zu bezeichnen. Während der Wahl im Kapland im August vorigen
Jahres brachten Blätter wie der only rslsgraxli und die vsily Rai1, die
am getreusten die Gesinnungen des Durchschnittspublikums in England ver¬
treten, täglich ausführliche telegraphische Depeschen über den Wahlfeldzug. Es
wurde bemerkt als das erste Beispiel, daß die Wechselfälle eines kolonialen
Wahlkampfes täglich von der englischen Presse eingehend berichtet wurden.
Als Sir George Gres, den vor beinahe vierzig Jahren ein liberales Mini¬
sterium wegen seiner Selbständigkeit aus dem kolonialen Dienste entlassen hatte,
in diesem Sommer hochbetagt starb, wurde dem hochverdienten Mann ein Be¬
gräbnis auf Staatskosten in der Paulskirche bewilligt. Kurz darauf trat ein
Komitee zur Errichtung eines Denkmals für ihn zusammen, dem die nam¬
haftesten Vertreter kolonialer und imperialistischer Interessen zugehörten. An
seiner Spitze stand der Kolonialminister Chamberlain, der ehemalige Radikale,
dann kamen Earl of Roseberry, der Führer der Liberalen, Earl Grey und
Mitglieder aller Parteien.
erüchte von Goldfunden in Deutsch-Ostafrika sind nichts neues
mehr. Neulich noch konnte der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika,
Generalmajor Liebert, in Leipzig einen Brief vorlesen, worin
jemand wieder eine solche Entdeckung mitteilte. Bisher haben
sich diese Meldungen leider immer nicht bestätigt. Wenigstens
aber sind wir für alle Fälle gesichert, denn die Juristen unsrer Kolonial¬
verwaltung haben es sich nicht nehmen lassen, schleunigst ein Schürfgesetz dem
gewaltigen Kodex von Kolonialgesetzen einzuverleiben.
Als Mann der Praxis erwies sich dagegen Premierleutnant Werther,
dem ebenfalls ein Gerücht von Goldfunden zu Ohren gekommen war. Bei
seiner Rückkehr von der Dampferexpeditivn nach dem Viktoria Nyanza (1893)
hielt sich Premierleutnant Waldemar Werther nämlich auf einige Zeit in der
den mittlern Hochländern des nördlichen Deutsch-Ostafrika zugehörige!, Land¬
schaft Jrangi auf. Dort in dem Dorfe Kondoa zeigte ihm ein befreundeter
Araber zufällig einige Körnchen Gold und erzählte ihm, er habe diese in einem
Bache gefunden und möchte wohl wissen, ob es sich lohne, darnach weiter zu
forschen. Der Mann war angeblich Elefantenjäger und pflegte sich in den
Gegenden von Umbaywa aufzuhalten. Werther fragte ihn genau aus, wo er
den Fund gemacht habe, und gewann die Überzeugung, daß der Bach, der
Fundort der Goldkörnchen, ein Zufluß des Kwoaiflusses sein müsse. Sofort
nach seiner Rückkehr nach Deutschland machte sich Premierleutnant Werther
daran, seine Entdeckung praktisch zu verwerten. Er gewann einige Hamburger
für seinen Plan und begründete zur Ausbeutung der etwa im Jrangigebiete
vorhandnen Mineralschätze eine Gesellschaft. Diese Jrangigesellschaft erhielt
vom kaiserlichen Auswärtigen Amt eine Konzession, die ihr in einem größern
Bezirk im mittlern Hochlandsgebiet auf längere Jahre das' alleinige Schürf¬
recht sowie Ländereien in einem gewissen Umfange gewährte. Als Gegen¬
verpflichtung sollte die Gesellschaft unverzüglich eine Expedition zur Erforschung
der betreffenden Landschaften ausrüsten. Das that sie denn auch. Mit der
Führung der Expedition wurde Werther selbst betraut und ihm als Fachleute
der Bergingenieur L. v. Tippelskirch und eilf Mineraloge Freiherr W. v. Fircks
beigegeben.
Am 6. Mai 1896 reisten die erstgenannten beiden Herren nach Deutsch-
Ostafrika ab und begannen sofort nach ihrer Ankunft mit der Bildung der
Karawane. Am 12. Juli 1896 brach die Expedition von Bagamoyo auf. Herr
v. Fircks mußte bald, infolge von Fieberanfällen und Ameisenbissen krank, nach
Deutschland zurückkehren, während die andern beiden Herren ihrem Ziele zu¬
strebten. Der Weg führte mit Umwegen nach Mpuapua in nordwestlicher
Richtung nach Kondoa in Jrangi, dann durch die prachtvollen Hochgebirgs¬
landschaften des sogenannten ostafrikanischen Grabens und führte dann, nachdem
das Salzseegebiet, der Eiassi- und Hohenlohesee durchforscht waren, wieder
nach der Küste zurück. Die Ergebnisse dieser Forschungsreise sind in einem
sehr beachtenswerten Werke niedergelegt, das kürzlich erschienen ist.")
Wer das Buch zur Hand nimmt, weil er sich für Goldfunde interessiert,
wird enttäuscht werden. Über das Thema „Gold" wird in dem Werke wenig
und nur beiläufig gesprochen. Eine kurze Notiz des Geologen v. Tippelskirch
belehrt uns, daß abbauwürdige Mineralien fast gar nicht gefunden wurden.
Vielleicht wollte auch die Jrangigesellschaft die ihr etwa gewordne Mitteilung
von solchen Funden nicht vorzeitig preisgeben. Mehrere male hatte die Ex¬
pedition aber Gelegenheit, Legenden von Goldfunden den Garaus zu machen.
So wollten französische Missionare in Mpuapua im Msuerobach Gold gefunden
haben, das sich aber bei näherer Untersuchung als goldglänzender Glimmer
herausstellte. In Kondoa wurden später im Sariflusse thatsächlich Goldspuren
entdeckt, die aber, wie Werther erzählt, immer nur Spuren blieben, ein Fund
von wissenschaftlichem, aber nicht praktischem Werte. Obwohl nun der ur¬
sprüngliche Zweck der Expedition, Gold zu finden, nicht erreicht scheint, hat
sie doch eine große Bedeutung wegen ihrer wertvollen wissenschaftlichen Re¬
sultate. Werther ist ein tüchtiger Geograph, diese seine Erforschung des ab¬
flußlosen Gebietes unsrer Kolonie sichert ihm einen Ehrenplatz in der wissen¬
schaftlichen Welt. Die Sammlungen, die er zurückbrachte, sind von Fach¬
genossen verarbeitet und die Resultate in Monographien dem Reisewerke ein¬
verleibt, das sich somit aufs würdigste der stattlichen Anzahl hervorragender
Werke anreiht, die im letzten Jahrfünft über unsre Kolonie erschienen sind.
Werther hat aber noch ein ganz besondres Interesse. Er war der Mann,
auf den gewisse Kreise Hoffnungen für einen ausgiebigen Kolonialskandal setzten.
Von der Antisklavereiexpedition her stand er in dem Rufe der Rücksichtslosigkeit
und übergroßen Schneidigkeit. Der Weltreisende des Berliner Tageblatts,
E. Wolf, hat ihn sogar unerhörter Grausamkeit geziehen. Werther sollte einen
kranken Askari unterwegs haben liegen lassen. Diesen Askari, der nach E. Wolfs
Bericht angefault und von Hyänen angefressen worden war, traf Werther nun
aber auf dieser zweiten Reise wohlgemut wieder. Wie der Askari erzählte,
hätte er sich in einem Palmenwald ausgeruht. Da wäre Wolf des Wegs
gekommen und hätte ihm angeboten, ihn mittragen zu lassen. Das hätte der
Askari abgelehnt, weil er sich als Soldat nicht tragen lassen wollte. Darauf
hätte ihn Wolf ins nächste Dorf schaffen lassen. Wie die Sache sich nun auch
verhalten haben mag, jedenfalls herrschte in der Kolonie selbst gegen Werther
eine ablehnende Stimmung. Denn als er auf seiner Jrcmgiexpedition beim
Gouvernement darum einkam, eine militärische Bedeckung (sechzig Magazin¬
gewehre) mitnehmen zu dürfen, wurden ihm Schwierigkeiten gemacht. Diesmal
war der „grüne Tisch" nachsichtiger als die „Männer der Praxis." Denn das
Auswärtige Amt erteilte ihm „schlankweg," wie Werther sagt, die Genehmigung,
und nach einigem Zögern gab sie auch der Gouverneur.
An Unannehmlichkeiten wegen seiner Schneidigkeit fehlte es Werther denn
auch nicht auf seiner Jrangiexpedition. Die Expedition mußte bekanntlich ab¬
gebrochen werden, weil ein von Werther entlassener Feldwebel ihm beim Gou¬
vernement harte Dinge nachgesagt hatte. Die Sache hat damals viel Staub
aufgewirbelt. Es scheint aber Werther gelungen zu sein, sich zu rechtfertigen,
denn man hat nichts Belastendes mehr gegen ihn vernommen. Jedenfalls
gehört Werther zu den sogenannten „schneidigen Afrikanern." Er denkt nicht
daran, auf dem Zuge durch die Wildnis das sieggewohnte Monocle abzulegen,
dieses Rüstzeug des Ich-Menschen, dagegen verzichtet er drüben auf Europas
übertünchte Höflichkeit und zieht ein kurzes Schnellfeuer einem langen Schanri
vor. Blut hat denn auch auf der Jrangiexpedition wieder mehr als einmal
fließen müssen. Die Ansichten über Behandlung der Eingebornen sind ja, wie
man weiß, geteilt. Man stelle nur Werther, Peters und Wißmann neben¬
einander. Wißmann verurteilt die „Schießerei" aufs energischste und ist
augenscheinlich auch kein besondrer Freund Werthers gewesen. Er hat seinen
bemundernswerten Zug „durch Afrika von West nach Ost" ohne jedes Blut¬
vergießen gemacht, er ist der ruhige und bescheidne Offizier, zugleich aber
Diplomat. Werther ist der junge thatendurstige Offizier. Er hält stramme
Disziplin in seinem Lager, duldet keine Ausschreitungen der Expeditions¬
mitglieder, aber er ahndet auch die geringste Ungezogenheit der Eingebornen
sofort mit der Waffe. Er glaubt das seiner Offizierehre schuldig zu sein und
ist nebenbei auch noch überzeugt, daß das die einzig richtige Art der Be¬
handlung vou Eingebornen ist. Das ist wenigstens ein Standpunkt. Werther
nimmt übrigens mehrfach Gelegenheit, die Nichtigkeit dieses Standpunkts an
Praktischen Beispielen zu erhärten.
Peters wiederum hat eine ganz andre Art von Schuldigkeit, wie man
aus seinen eignen Reisewerken ersehen kann. Er läßt keine Gelegenheit vor¬
übergehen, dem „schwarzen Gesinde!" mittels blauer Bohnen morss beizubringen.
Er schildert dann diese Kämpfe mit der ganzen epischen Breite von Hinter¬
treppenromanen und unterläßt es nie, den Effekt zu stärken, indem er an
solche Schilderungen allerhand schwermütige und geistreiche Betrachtungen über
Schopenhauer anknüpft. Das macht die Peterssche Reiseberichterstattung
unerfreulich. Werther dagegen renommiert nicht, und darum wird er aus seinen
Reisewerken heraus auch dem sympathisch, der seinen Standpunkt nicht teilt.
Dazu kommt noch, daß er in wissenschaftlicher Beziehung sehr ernst zu nehmen
ist, was bei Peters keineswegs der Fall ist. Seinen Lesern tritt Werther sehr
bald nahe. Er hat einen frischen flotten Plauderton, dem man allerdings
hin und wieder die Kasinoschule anmerkt, seine Darstellung ist witzig und
fesselnd, und wo es sein muß auch manchmal recht scharf und beißend. Dabei
urteilt Werther über koloniale Fragen in so vorurteilsfreier vernünftiger Weise,
daß man ihn auch von dieser Seite schätzen lernt. Er warnt z. B. eindringlich
vor den Kolonialphcmtastcn, die mehr schadeten als die Pessimisten. Denn
infolge, der Vorspiegelungen jener würden viel Menschen und viel Kapital
unnütz geopfert. Er verdammt es aufs entschiedenste, daß so viele waghalsige
Behauptungen in die Welt geschleudert würden, ehe durch Untersuchungen
eine genaue Sachkenntnis erworben worden sei.
Zu diesen waghalsigen Behauptungen rechnet Werther z. B- die von der
absoluten Fieberfreiheit in Deutsch-Ostafrika. Er leugnet es entschieden, daß
irgend eine Gegend sieberfrei sei. Seiner Ansicht nach hängt das Bestehen
der Malaria nicht von der Meereshöhe des betreffenden Ortes, sondern von
seiner Feuchtigkeit ab. Er kommt damit also auf den Fischerschen Grundsatz
zurück, daß Ostafrika da gesund sei, wo es unfruchtbar, d. h. trocken, und
ungesund, wo es fruchtbar, d. h. feucht sei. Besonders der Pflanzer und der
Bauer, der fruchtbare, d. h. feuchte Gebiete aufsuchen müsse, könne sich dem
Fieber nie entziehen. Das klingt wenig tröstlich, Werther aber will dieses
abweisende Urteil nicht so verstanden wissen, als hieße „ungesund" tödlich.
Bei vernünftiger Lebensweise könne es ein Europäer wohl einige Jahre aus¬
halten.
n der „Täglichen Rundschau" von 1894 (Ur. 267) finden wir
das Urteil eines Kritikers, von dem wir bei der Behandlung
unsers Themas ausgehn möchten, und das folgendermaßen
lautet: „Es giebt in Deutschland eine ziemlich reich blühende
katholische Dichtung, von der im allgemeinen die nichtkatholische
Bevölkerung kaum etwas weiß; selten gelingt es einem Vertreter jener Dichtung,
in die Litteraturgeschichte, die nur nach der Kunst und nicht nach der Kon¬
fession fragt, Eingang zu finden. Daran trägt nicht etwa die religiöse Ab¬
sonderung als solche schuld, souderu der litterarische Charakter jener Dichtung,
der freilich durch die Absonderung bedingt ist. Die meisten katholischen Dichter
— ich spreche natürlich nur von den religiös schaffenden — stehn in fast gar
keiner Berührung zu der allgemeinen Kunstbewegung der Zeit, in der Form
und den Ausdrucksmitteln sind sie sehr konservativ, und wenn sie sich Vorbilder
wählen, so kümmern sie sich im großen und ganzen mehr um die Glaubens¬
reinheit des Vorbildes, als um seine künstlerische Bedeutung."
Veremundus, der Verfasser der auch in den Grenzboten besprochnen
Schrift: „Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?" (im Verlage
von Franz Kirchheim zu Mainz. 1898), pflichtet diesem „bittern aber wahren"
Urteil bei und sucht bei der Frage nach den Gründen der litterarischen Rück¬
ständigkeit der katholischen Schriftsteller und ihrer Abseitsstellung die Ursachen
nicht in der geringern Begabung und in einem thatsächlichen Mangel an
Talenten unter den Katholiken, sondern in mehr äußerlichen, vorübergehenden
Zuständen. Zunächst sei es der Mangel um Interesse, die Engherzigkeit durch
Hineintragen jugenderzieherischer Grundsätze, die Prüderie und endlich die
mangelhaften Zustände auf dem Gebiete der Kritik, die als Gründe der im
allgemeinen unbefriedigender Litteraturverhältnisfe (von wenigen ehrenvollen
Ausnahmen abgesehen) bezeichnet werden müßten. Wenn schon die in Betracht
kommende Kritik dieses Buches in katholischen Kreisen zugeben mußte (vgl.
Kölnische Volkszeitung Ur. 731. Jahrgang 1898), „daß das Werk viel zu viel
Wahrheiten enthalte, die man respektieren müsse, auch wenn sie unbequem
seien," so wird der objektive Beurteiler, der dem konfessionellen Standpunkt
in Kunstfrcigen fern steht, diesem Urteile nnr beipflichten müssen. Die beachtens¬
werten Ausführungen von Veremundus befassen sich nun vornehmlich mit der
Frage, wie es um die katholische Belletristik in unsern Tagen steht. Beim
Lesen dieser Schrift kommen wir unwillkürlich zu den Fragen: Ist das immer
so gewesen, wie war insbesondre das deutsche Litteraturleben in den vor¬
wiegend katholischen Gegenden unsrer engern Heimat in der Vergangenheit be¬
schaffen, und in welchem Maße hat die Rheinbevölkerung an dem geistigen
Umschwunge des vorigen Jahrhunderts Anteil genommen? Man hat diese
Frage häufig mit Voreingenommenheit behandelt, und um so mehr dürfte es
sich zur Ergänzung der Wahrheit und zur Klärung vielfach bestehender Vor¬
urteile empfehlen, in einer kurzen Betrachtung auf völlig objektiver Grundlage
die Frage endgiltig zu würdigen, auf welcher Hohe das deutsche Litteraturleben
am Rhein damals gewesen ist.
Ich will mich bei der Untersuchung und Entscheidung nur an die That¬
sachen und die Quellen*) halten und diese sins irs et stuäio abwägen und
prüfen. Ich bemerke hierbei ausdrücklich, daß ich an dieser Frage von keinerlei
politischem oder konfessionellen Standpunkte aus, sondern lediglich als rhei¬
nischer Schriftsteller interessiert bin, da meine Eltern und Voreltern am Rhein
gelebt und gewirkt und auch an dem geistigen Leben der damaligen Zeit
nach ihren Verhältnissen und Kräften teilgenommen haben. Es ist mir daher
keineswegs gleichgiltig, in welcher geistigen Luft sich ihr Dasein vollzogen hat.
Freie Mitteilung der Wahrheit ist nach Fichte das schönste Vereinigungsband,
das die Welt der Geister zusammenhält, und so wollen auch wir die Wahr¬
heit, wenn sie auch bitter sein sollte, nicht scheuen und sie in dieser die deutsche
Litteraturgeschichte eng berührenden Frage ungeschminkt und vorurteilslos zu
Worte kommen lassen, eingedenk der Worte Shakespeares:
Die Wahrheit lnszt sich nicht genug bestätigen,
Selbst wenn der Zweifel immer schwiege.
Die rheinische Litteraturgeschichte hätte unzweifelhaft beim Beginn des acht¬
zehnten Jahrhunderts einen andern Lauf genommen, wenn die kirchlichen und
nationalen Gegensätze nicht die Zerreißung der Niederlande und die Trennung
vom deutschen Reich bewirkt und sich nicht dem freien Staat der protestan¬
tischen Niederlande im Norden die katholischen Niederlande im Süden unter
fremden Einflüsse», fremder Herrschaft und fremdem Geschmack gegenüber
gestellt hätten. Dieser Einfluß und Geschmack, der das Fremde begünstigte,
wirkte nachhaltig auch in Beziehung ans die Litteratur am Rhein bis tief in
das achtzehnte Jahrhundert fort. Wie der Glanz der rheinischen Geschichte
mit der Macht des geeinten Reichs zusammenhängt, so hängt die Erschlaffung
des rheinischen Litteraturlebens auch mit dem Niedergang des mittelalterlich
deutschen Reichs zusammen. Und dieser Niedergang fand seine Entscheidung
unter den Kämpfen der Reformation, von der ab die rheinische Geschichte ihren
höhern Schwung verliert. (Vgl. M. Ritter, Über rheinische Geschichte und
die Aufgaben der rheinischen Geschichtsgesellschaft. Köln, 1885.)
Nachdem wir dies zum Verständnis des Zustandes, worin die rheinische
Litteratur am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war, vorausgeschickt habe»,
wollen wir nun zu einer Prüfung der Thatsachen und der Quellen übergehn.
Einem ähnlichen Urteil wie Veremundus begegnen wir schon bei einem
Zeitgenossen des achtzehnten Jahrhunderts am Rhein, mit dem wir den Leser
kurz bekannt machen möchten; er ist zwar wegen seines Charakters und Lebens¬
wandels im allgemeinen kein ganz klassischer Zeuge, ein etwas lockerer Geselle,
indes immerhin eine Persönlichkeit, die auf dem Gebiete der schönen Wissen¬
schaften ernst genommen werden muß. Es ist der Bonner Universttätsprofesfor
Eulogius Schneider, der frühere Franziskanermönch. Jedenfalls verdient er
auf dem Gebiete unsrer Forschung unbedingten Glauben. Der aus der Hütte
entsprossene, im Kloster erzogne, an den Hof, auf die Universität, zuletzt in
den Kerker und aufs Blutgerüst geratne bekannte und berüchtigte Schöngeist
Enlogius Schneider (vgl. Sein Leben und seine Schriften. Von Dr. Ehrhard.
Straßburg, 1894) wirkte von 1789 bis 1791 an der Universität Bonn, an
die ihn der Kurfürst berufen hatte. In seiner akademischen Antrittsrede ver¬
breitete er sich eingehend: „Über den gegenwärtigen Zustand und die Hinder¬
nisse der schönen Litteratur im katholischen Deutschlande." Eines dieser
Hindernisse, warum die Katholiken in dem, „was die Kultur der schönen
Litteratur betrifft, noch weit hinter dem Ziele zurück sind, welches die
Protestanten erreicht haben," findet Schneider in der mangelhaften und vom
jesuitischen Geiste durchdrungnen Bildung und Erziehung auf den Gymnasien.
Ein zweites ist in seinen Augen die „Mönchsmoral," die sich noch immer mit
der christlichen Moral vermische und unter den guten Samen des Evangeliums
ägyptisches Unkraut streue. Schneider verlangt eine Moral, die die Liebe
nicht „zu einem bloß tierischen Triebe herabwürdige." die Gedichte erlaubt,
„die zärtliche Gefühle" atmen, und die nicht den Nationalstolz, den Patrio¬
tismus verletze. Er verdammt die Moral, die der Ehrbegierde „eine gewisse
Selbsterniedrigung, eine ungerechte Wegwerfung seines eignen Wertes, die man
Demut nennt, entgegensetzt, . . . diejenige, welche Zärtlichkeit und Ehrliebe zu
Verbrechen, Gefühllosigkeit hingegen und Niederträchtigkeit zu Tugenden macht."
Er schloß die Rede mit folgender Aufforderung: „So, meine Herren, wollen
wir Hand in Hand dem Haine der Musen zuwandeln und in ihrem Umgange
jene edlern Vergnügungen aufsuchen, welche zwischen den reinen Freuden des
Himmels und den rohen Ergötzungen der tierischen Welt die Mitte halten
und eben deswegen unsrer Natur vorzüglich angemessen sind."
In seinem Werke „Die ersten Grundsätze der schönen Künste überhaupt
und der schönen Schreibart insbesondre," das seinen Schülern als Handbuch
dienen sollte, setzte er ferner seine Ansichten über Kunst und Ästhetik aus¬
einander: „Es soll, sagt er in der Einleitung, ein Lehrbuch der schönen
Wissenschaften werden. Unter diesen versteht man die Redekunst und Dicht¬
kunst, welche aus einigen nicht sehr wichtigen Gründen von den schönen Künsten
unterschieden werden. Mein Wunsch wäre, das ganze Gebiet des Schönen zu
umfassen; aber das Bedürfnis meiner Zuhörer und meine Bestimmung fordern,
daß ich mich bloß auf die schönen Wissenschaften beschränke. Da aber diese,
ohne die allgemeine Theorie des Schönen vorauszuschicken, nicht können erlernt
werden, so wird der erste Hauptteil dieses Werkes die Ästhetik sein. Der
zweite ist der Untersuchung der Sprache in Hinsicht auf schöne Wissenschaften
gewidmet. Der dritte wird die Dichtkunst, der vierte und letzte die Redekunst
behandeln."
Die Stellung, die die streng kirchliche Partei, deren Hauptvertreter ein
großer Teil der Bürgerschaft Kölns, die Kölner Universität und das Kölner
Domkapitel waren, Schneider gegenüber wegen seines Verhaltens, seiner Lehren,
seiner Schriften und besonders seiner Gedichte einnahm, führten bekanntlich
zur Entlassung Schneiders aus seinem Lehramte. Dessen ungeachtet hat
Schneider selbst Bonn als „die aufgeklärteste Universität im katholischen
Deutschlande" bezeichnet. Aus diesem Urteil geht hervor, daß nach Schneiders
Meinung lediglich die Mönchsmoral und die jesuitische Bildung und Erziehung
der schönen Litteratur im katholischen Deutschland als Hindernis entgegenstehen,
keineswegs sagt er dies aber von dem Rhein und seinen Bewohnern. Mönche
und Jesuiten gab es in damaliger Zeit überall. Aber das auffallendste ist,
daß er gerade die Universität Bonn als die aufgeklärteste im katholischen
Deutschlnnde rühmte. Es muß daher doch nicht so schlimm mit der littera¬
rischen Bildung am Rhein beschaffen gewesen sein, es erscheint uns daher
geradezu unverständlich und übertrieben, wenn man den Rheinlanden im Ver¬
gleich mit andern Gegenden unsers großen deutschen Vaterlands den Sinn
und die Empfänglichkeit für unsre nationale Dichtkunst im vorigen Jahrhundert
abzusprechen sich bemüht hat. Wir verweisen in dieser Beziehung uuter anderen
auf eine Stelle in Zarnckes Litterarischen Centralblatt (Ur. 20 vom 16. Mai
1874), worin bei der Besprechung eines Aufsatzes von Hermann Hüsfer
„Rheinisch-Westfälische Zustünde zur Zeit der französischen Revolution" (vgl.
Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, Heft 26. S. 1) von
dem Verfasser der in dem Aufsatz mitgeteilte» Briefe gesagt wird, „er könne
als Typus des damaligen unter dem Krummstab behaglich dahinlebenden und
verkommenden Geschlechts gelten, das selbst der Sturm der Revolution nicht
mehr habe umwandeln können. Dieses Geschlecht mußte verschwinden, wenn
es in Deutschland besser werden sollte." Hüffer hat damals dem Kritikus
gründlich heimgeleuchtet (vgl. Heft 27 a. a. O., S. 448) und betont, daß sich
in Wahrheit neben den abgestorbnen staatsrechtlichen Formen ein reicher Schatz
von künstlerischer Befähigung und gelehrten Kenntnissen erhalten hatte, be¬
sonders in den mittlern Ständen. Wäre es anders gewesen, so würde der
gewaltige Anstoß von außen die Zerstörung, nicht die Neugestaltung und
Kräftigung unsers Vaterlandes herbeigeführt haben.
Die folgenden Ausführungen werden hoffentlich genügendes Material
zur Beantwortung der uns gestellten Aufgabe bringen, um auch die letzten
Schatten einer voreingenommenen und geschichtsfälschenden Beurteilung des
Bildungsgrades unsrer Vorväter am Rhein im achtzehnten Jahrhundert zu
vertreiben und das Märchen von dem obskuranten Rhein ein für allemal
energisch zurückzuweisen.
Die deutsche Litteratur erfuhr in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts einen mächtigen Umschwung. Hochbegabte Männer der verschiedensten
Richtung schlugen neue Bahnen ein und erreichten teils durch die Zerstörung
und Bekämpfung verjährter Irrtümer, Vorurteile und falscher Ansichten, teils
durch geniale Schöpfungen eine Höhe der Bildung, wie sie in der neuern
Geschichte kaum ihresgleichen hatte. Den größten Aufschwung nahmen die
Dichtung und der Kunstgeschmack, sodaß die poetische Bildung jeder andern
den Vorrang abgewann, daß Philosophie und Religion im Bunde mit der
Dichtkunst standen, daß Phantasie und Gefühl auch auf das Gebiet der Wissen¬
schaft hinübergetragen wurde. Die größten und edelsten Geister der Nation
wandte» der Dichtkunst ihre Talente zu. Die litterarische Bildung war vor
einem Jahrhundert weiter entwickelt und stand höher im Preise als heute, wo
Politik und Naturwissenschaften mit ihren fortwährenden Überraschungen und
neuen Entdeckungen das Interesse der Zeitgenossen vorwiegend beschäftigen.
Das gemeinsame Band für die geistigen Bestrebungen war damals vor¬
wiegend die litterarische Bildung. Sprachforscher wie Wilhelm von Humboldt,
Naturforscher wie Alexander von Humboldt waren mit unsern großen Dichtern
aufs engste verbunden; die Vertreter der Philosophie gingen mit den Heroen der
Dichtung Hand in Hand. Während Goethe auch als Naturforscher Entdeckungen
machte und wissenschaftliche Theorien aufstellte, die damals, wenn auch viel
umstritten, großes Aufsehen erregten, lebt Schiller nicht nur als Dichter,
sondern auch als Denker in unsrer Nationallitteratur fort. Mau denke ferner
an den Physiker Lichtenberg, an den Philosophen Herder und andre Größen,
in deren Schriften und Gedanken Wissenschaft und Dichtkunst Hemd in Hand
gehn. Selbst die strengern Fachmänner schlossen sich nicht von den schön-
wisfenschaftlichen Bestrebungen der damaligen Zeit ab. Aber auch schon damals
haftete dem deutschen Schriftwesen der Fluch an, daß Bücher auch solcher
Schriftsteller, die zu großem Ansehen gelangten, in der Regel von den Zeit¬
genossen nur einmal*) gelesen und dann für immer beiseite gelegt, von den
nachfolgenden Geschlechtern aber selten wieder aufgenommen wurden. Daher
haben die sinnvollsten und lehrreichsten Dichtungen nur eine geringfügige, jeden¬
falls eine sehr vorübergehende Wirkung auf die nationale Bildung geäußert,
und die historischen Vorurteile, die Lessing vor hundert Jahren aus dem Ge¬
biete der Geschichte hinwegzuräumen bemüht war, behaupten noch heute bei
einem großen Teile der Nation, auch dem gebildeten und belesenen Publikum,
ihre Geltung. Die meisten deutschen Fürsten**) erwiesen der deutschen Litte¬
ratur keine Förderung, und an dem Kaisersitze und bei den katholischen Höfen
war für eine vom protestantischen Norddeutschland ausgehende Geistesregung
noch weniger zu erwarten. Erst in den Tagen, wo die Existenz des Reiches
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf dem Spiele stand, waren Poesie
und Philosophie die Zielpunkte des nationalen Strebens der Deutschen, er¬
regten die Dichtungen, mit denen Goethe und Schiller das Jahrhundert be¬
glückten, die humoristischen Romane des genialen Bayreuthers Jean Paul
Friedrich Richter so sehr die öffentliche Teilnahme, daß selbst hervorragende
politische Ereignisse in den Hintergrund traten. Was nun insbesondre das
geistige Leben am Rhein im vorigen Jahrhundert anbetrifft, so ist es vielfach
durch geschickte Gruppierung vereinzelter Thatsachen als ein vollständiges Nacht¬
gemälde ohne jeden Strahl erwärmenden Lichts dargestellt worden. Es soll
daher unsre Aufgabe sein, in kurzen Zügen ein objektives Bild von dem da¬
maligen geistigen Leben aufzurollen.
Am Rhein gab es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vornehmlich
vier Städte, Köln, Düsseldorf, Koblenz und Bonn, in denen die Kunst und
die Wissenschaft gepflegt wurden. In der kurpfälzischen Residenz der Herzöge
von Berg, in Düsseldorf, war es der Landesherr, der dort im Einvernehmen
mit den Ständen die berühmte Gemäldegalerie anlegte, die noch heute der
Grundstock zu der Münchner Pinakothek ist. Düsseldorf, die sinnige Kunst¬
stadt, hat uns schon im vorigen Jahrhundert eine Reihe unsrer besten Dichter
gegeben, Johann Georg Jacobi, den Freund Gleims, dessen Bruder Friedrich
Heinrich Jacobi, den Freund Goethes, Varnhagen von Ense, Immermann und
Heinrich Heine, der sich zwar in seiner Selbstbiographie als „einen der ersten
Männer des Jahrhunderts" bezeichnet, den wir aber mit Rücksicht auf sein
Geburtsjahr 1797 noch ins achtzehnte Jahrhundert nehmen müssen. Immer¬
mann stammt zwar nicht aus Düsseldorf, aber sein Name ist mit dem geistigen
Leben dieser Stadt und des Rheinlandes so innig verknüpft, daß wir
ihn nur von hier aus betrachten und als den „unsern" bezeichnen können.
Zwei andre Düsseldorfer Poeten, Wilhelm Lindau (geb. 1774), einen frucht¬
baren Romanschriftsteller, und Eduard von Schenk (geb. 1788), den nach¬
maligen bayrischen Minister des Innern und Günstling König Ludwigs, will
ich auch noch erwähnen-*)
Unstreitig aber ist eine Glanzzeit in der deutschen Litteratur die Jacobische
Zeit, die uns Goethe in „Dichtung und Wahrheit" ausführlich geschildert hat.**)
Damals war der Altmeister im Jahre 1774 mit Lavater und Basedow in
leichtem Kahne auf dem Rhein hinabgeschwommen von Koblenz nach Köln.
Prophete rechts, Prophete links.
Das Weltkind in der Mitten,
Im Jahre 1792 sehen wir Goethe abermals in Düsseldorf. Hier finden
wir Herder, die Fürstin Gallitzin, den Denker und „Magus des Nordens"
Hamann, den Reisenden Forster, und als ständigen Gast Heinse, den geistreichen
Verfasser des „Ardinghello." Hier entspann sich der interessante Briefwechsel
zwischen Johann Heinrich Jacobi und Wieland, dein Wandsbecker Boten Claudius,
Lavater, Schiller, Fichte, Wilhelm von Humboldt und andern Größen der
deutschen Litteratur. Georg Jacobi, der Dichter, sang hier seine zartesten
Lieder.
Auch dem Theater hatte man in Düsseldorf früh eine Heimstätte bereitet.
Im siebzehnten Jahrhundert hatte es schon eine italienische Oper (1687). Seit
dem Jahre 1751 wurden regelmäßig Vorstellungen einer fahrenden Schauspieler¬
truppe unter N. Schuchs Leitung gegeben, dann folgt 1753 bis 1755 Geovazio
Sillani mit Lustspielen, 1758 Direktor Karl Theophilus Doebbelin, 1759
Pierre Jacques Ribon, 1767 Am. Heinrich Porsch, 1775 Josephi. 1783
(19. Februar) wird Hamlet gegeben, 1788 finden wir die Truppe der Witwe
Böhm. Unter Immermanns Leitung wurde später das Düsseldorfer Theater
eine Musteranstalt für ganz Deutschland. (Vgl. Geschichte der Stadt
Düsseldorf, herausgegeben vom Düsseldorfer Geschichtsverein. Düsseldorf,
1888, bei Kraus.) Im übrigen erschien schon 1745 die Stadt-Düsseldorfer
Post-Zeitung, der 1760 das Jülich-Bergische Wochenblatt folgte.
Der Trierer Kurfürst Clemens Wenzeslaus und der Kölnische Kurfürst
Maximilian Franz ließen es sich in Koblenz angelegen sein, für die geistige
Hebung des Volkes thätig zu sein und hierbei die Musik zur Blüte zu ent¬
falten.***) In der Residenz der Kölnischen Kurfürsten zu Bonn wurde ebenfalls
der Musik eine Pflanz- und Pflegestätte bereitet, die sich nur auf dem Boden
eines vielseitig angeregten Lebens entwickeln konnte. Cornelius, Beethoven
und Görres, deren frühe Jugend in das Ende des römischen Reichs deutscher
Nation fällt, sind diesem geistigen Gebiete der Städte Düsseldorf, Bonn und
Koblenz entsprossen. War der Rhein doch schon damals fast nach allen Rich¬
tungen hin die Hauptader des öffentlichen Lebens in den deutschen Landen.
Selbst die Schrecken des dreißigjährigen Krieges konnten der von Natur so
bevorzugten rheinischen Gegend nichts anhaben, und Kurköln hatte sich im
vorigen Jahrhundert eines lange andauernden Friedens zu erfreuen. Die
Kurfürsten von Mainz. Trier und Köln traten nicht, wie der Fürstbischof von
Würzburg, als Priester unter das Volk; auch in ihrer Regierungsweise wurde
nach dem Zeugnisse K. A. Wenzels (vgl. Neuere Geschichte, Band 6, S. 181)
nichts vermißt, was die Zeitgenossen an den großen Regenten des Jahrhunderts
als Staatsweisheit und Volksbeglückungskunst rühmten. Der Erzherzog Maxi¬
milian Franz in Bonn machte es sich zur Aufgabe, dem freien Geiste in der
Universität Bonn, im Gegensatz zu dem im alten Köln, eine neue Wohnstätte
zu bereiten. Die Domherren und der Adel waren nicht minder als die Fürsten
mit dem Gedanken der Freiheit und Aufklärung befreundet. Auf den neu¬
erbauten Palästen sah man allegorische Bilder der Poesie und Künste, in den
Gemächern der geistlichen Fürsten die Bilder und Büsten Voltaires und
Rousseaus, deren Werke sogar die Dombibliothek ausleihen mußte. (Vgl.
Nicol. Vogt, Rheinische Geschichten. Frankfurt, 183«. IV, S. 236.) Einige
meinten schon mit dem protestantischen Professor der Geschichte Johannes von
Müller, das katholische Deutschland habe den richtigen Weg ruhiger Bildung,
von dem die ganze Nation vor zwei Jahrhunderten durch den Kampf der
Bibelgläubigkeit gegen die Kirchgläubigkeit weggedrängt worden sei, zuerst
wiedergefunden und werde mit den geretteten Mitteln leichter als das prote¬
stantische zur gedeihlichen Entwicklung gelangen. (Vgl. Johannes von Müllers
Werke. Band XVI, S. 309. Brief an Friedrich Nicolai in Berlin.)
Nach der Aufhebung des Jesuitenordens (in Bonn am 16. August 1774)
erhob der im Jahre 1761 gewählte Kurfürst Max Friedrich die in Bonn be¬
stehende Lehranstalt der Jesuiten im Jahre 1777 zu einer Akademie, um
„reineres Licht über die Wissenschaften im Erzstifte Köln zu verbreiten." In
der philologischen Fakultät wurde außer dem Unterrichte in der deutschen
Sprache nach Ramlers Einleitung in die schonen Wissenschaften, Gellerts
praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in den Briefen in den Lehr¬
plan aufgenommen, ferner Gottscheds deutsche Sprnchlunst und Stoschs Versuch
in richtiger Bestimmung gleichbedeutender Wörter, später auch die Anweisung
zur deutschen Sprachkunst zum Gebrauch der Erzstiftisch-kölnischen Schulen
(Bonn, 1781). Das geistige Leben am Rhein war zu dieser Zeit schon, wie
wir bei einer unbefangnen Würdigung der Thatsachen finden werden, in hoher
Blüte, als der Osten unsers Vaterlandes noch lange nicht die Sonne Goethes
hatte aufgehn sehen.
Der bekannte Literarhistoriker Hermann Hüffer spricht sich über die
damaligen Zustünde in den geistlichen Fürstentümern folgendermaßen aus:
„Man kann nicht behaupten, daß in diesen geistlichen Territorien die Regierung
schlechter, die wirtschaftlichen und sozialen Zustünde mehr veraltet und zer¬
rüttet gewesen, als in weltlichen Staaten von ungefähr gleicher Bedeutung.
Das alte Sprichwort »Unter dem Krummstab ist gut wohnen« hatte seine
Bedeutung und gerade bei denen, die es am nächsten anging, seine Anerkennung
noch nicht verloren. Selten haben, soweit ich sehen kann, die Einwohner,
und zwar alle Klassen der Einwohner, anderswo so zufrieden, so neidlos und
in ihrer Weise behaglich neben einander gelebt." Namentlich waren zu Ende
des achtzehnten Jahrhunderts die Ereignisse auf der Weltbühne in hohem
Maße geeignet, das Interesse der gebildeten Welt ganz besonders in Anspruch
zu nehmen. Im Westen rangen die Amerikaner mit den Engländern in blutigen
Kämpfen um ihre Unabhängigkeit, im Osten entfalteten sich die glänzenden
Siege Katharinas II. und Josephs II. über die Türken, in der Nähe erwärmte
den Deutschen das Bild des großen Preußenkönigs Friedrich II. Vom benach¬
barten Welschland drohte das Grollen der Empörung in einem unheimlichen
Wetterleuchten, das einem welterschütternden Gewitterstürme vorausging. Doch
weder die Wirren im Auslande, noch die damals unerfreulichen Zustände in
allen Gegenden unsers deutschen Vaterlandes vermochten die litterarische
Bildung in unserm Volke hintanzuhalten. Die Gebildeten unsers Volkes be¬
reicherten sich dessen ungeachtet an den Schätzen der deutschen Dichter und
Denker, die sie für Mit- und Nachwelt aus ihrem Geiste gefördert hatten.
In wenigen deutschen Städten mochten damals die Verhältnisse günstiger ge¬
staltet gewesen sein, als in Bonn am Rhein. (Vgl. Hermann Deiters, Ludwig
van Beethoven. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1882; Beethoven, Biographische
Notizen von Wegeler und Ferdinand Nies, 1838.)
Der Verfasser der „Malerischen Reise am Niederrhein" (Köln am Rhein,
bei dem Verfasser, und Nürnberg, bei L. Weigel und A. B. Schneider, 1784)
spricht sich bei der Beschreibung des kurfürstlichen Schlosses zu Bonn S. 26
dahin aus, daß man ein deutsches Schauspiel, auch bei den vorigen Regie¬
rungen, in Bonn noch nicht gehabt habe, außer was die beiden letztverstorbnen
Kurfürsten Clemens August und Joseph Clemens durch ihre Musikanten und
Hofbediente von Zeit zu Zeit geben ließen. Von Joseph Clemens erzählte
man sogar, daß er seine Leute meist selbst, und oft sehr fühlbar, dressiert
habe. Unter der letzten Regierung habe man vieles auf Franzosen und Ita¬
liener verwandt. Selbst noch unter diesem Herrn seien Gesellschaften aus
jenen Nationen gewesen. Aber nun ist, sagt er, seit verschiednen Jahren alles
deutsch. Sonderbarerweise hat der ungenannte Verfasser die dem Buche bei¬
gegebnen Kupfertafeln nur in französischer Sprache beschrieben.
(Fortsetzung folgt)
er Rausch von 1848 war zu Ende und hatte nur den bittersten
Nachgeschmack zurückgelassen. Die Schlacht von 1849 war geschlagen,
ohne einen Friedensschluß herbeizuführen, nicht einmal einen Waffen¬
stillstand. Erbitterung erfüllte die Unterlegnen, die abermals wie
nach den Befreiungskriegen die Hoffnungen des deutschen Volkes und
alle feierlichen Zusagen in Dunst aufgehen sahen, die Sieger wußten,
daß die große Mehrheit mit dem Herzen auf feiten der Gegner stand. So be¬
obachteten beide Parteien einander mit dem tiefsten Mißtrauen. Freunde und An¬
hänger außerhalb der Kreise der unbedingten Reaktion zu gewinnen, darauf konnten
die Regierungen wohl nicht rechnen, vielmehr bedienten sie sich ihrer Machtmittel,
um die „Übelgesinnten" aller Art, so gut die „Revolutionäre in Schlafrock und
Pantoffeln," wie der Minister Mcintenffel die Konstitutionellen nannte, als die
Demokraten und Roten unschädlich zu machen, zu unterdrücken oder doch zu er¬
müden. Die berüchtigte Mainzer Zentraluntersuchungskommission von 1819 ff.
wurde nicht erneuert, da in den Grundsätzen der Verfolgung alle Machthaber im
wesentlichen einig waren. Aber es läßt sich annehmen, daß die Akten jener Kom¬
mission aufmerksam studiert wurden, die nicht nur wegen hochverräterischer Unter¬
nehmungen, Teilnahme an gefährlichen Verbindungen, sondern auch wegen „ent¬
fernter Beihilfe" zu solchen Verbindungen, wegen „Verdachts der Mitwisfenschaft,"
„Nichtanzeige der Wissenschaft von dem Versuche der Stiftung einer solchen" und
dergleichen mehr berichten, sondern auch Listen von „Individuen" führen, denen
kein Prozeß gemacht werden konnte, die jedoch „als offenbare Feinde der in Deutsch¬
land bestehenden Ordnung" galten. In diesem weiten Umkreise findet mau alle
Stände vertreten, am zahlreichsten Studenten und Handwerksgesellen, aber auch
Geistliche, Gelehrte, höhere und niedere Beamte, Frauen, die beschuldigt sind, „in-
juriöse Schriften" verbreitet zu haben, Dienstmädchen, die behilflich gewesen waren,
Untersnchuugsgefangne zu befreien usw. Es ist interessant, sich die Namen einiger
der damaligen Hochverräter ins Gedächtnis zu rufen. Wir greifen aufs geratewohl
heraus. Die Professoren Eisenmann in Würzburg, der Mediziner; K. Hase in Jena,
Theolog; Havemann in Göttingen, Historiker; Bensen, Geschichtschreiber des Bauern¬
kriegs in Franken; Berche, später Redakteur des reaktionären „Rheinischen Be¬
obachters"; die Redakteure der Augsburger Allgemeinen Zeitung Kolb und Mebold;
Wilhelm Hauff; Venedey; Rüge; G. A. Wislieenns, Gründer der freien Gemeinden;
Binzer, Dichter des „Wir hatten gebauet," dann erster Redakteur von Pierers Uni¬
versallexikon; Gustav Körner, zuletzt Gesandter der Vereinigten Staaten in Madrid;
Viebahn, Statistiker; Georg Büchner, Dichter des Dramas Danton; Fritz Reuter;
Kriegk, Archivar in Frankfurt; Börne; Heine. Das Verzeichnis könnte viel länger
werden, wenn alle berücksichtigt würden, die in der Revolution als Politiker einen
Namen gewannen. Doch ist auch so die Liste bunt genug, zu zeigen, wie anregend
das Beispiel für strebsame Nachfolger der Untersuchungskommission sein mußte. Und
es fiel auf um so ergiebigem Boden, als die Verhältnisse noch vielfach unklar
waren. Überall hatten „gesetzgebende" oder „vereinbarende" Versammlungen getagt
und sich bemüht, der frühern Willkür gegenüber dem Volke bürgerliche und poli¬
tische Rechte zu verbürgen und in dein politisch noch unerfahrnen Bürger den
Glanben erweckt, er habe diese Rechte durch die Beschlußfassung seiner Vertreter.
Sie sollten vereinbaren. Mit wem? Nun, die Abgeordneten mit einander! Als
das Vorparlament seine Beschlüsse verkündigte, erkannten die Radikalen wohl das
Prinzip der Volkssouveränität als nun geltend an, keineswegs aber die Bestim¬
mungen irgendwie beschränkender Art dieser ohne ein Mandat znsammengetretnen
Versammlung, während sich die meisten Regierungen wenigstens unsicher gegen die
„Grundrechte" vertrösteten, ans die in Frankfurt so viel Zeit verwandt worden war.
Zusammenstöße ergaben sich von selbst, da das Polizeiregiment wieder jeden für
verdächtig ansah, der seine gute Gesiummg uicht beweisen konnte.
Zu den auf dem Papier stehenden aber gründlichst mißachteten Rechten ge¬
hörte namentlich die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses. Man bediente sich
daher gern der Deckadressen, gleichviel ob wirklich politische Geheimnisse oder freie
Äußerungen oder auch Privatangelegenheiten vor Spürnasen gehütet werden sollten.
Und Vorsicht dieser Art verschaffte mir die Ehre, in das berüchtigte Schwarze Buch
eingetragen zu werden.
Ich lebte damals in Frankfurt und machte manchmal Spaziergänge mit einem
Schriftsteller, den die Mainzer Untersuchungsbehörde als in Paris thätiges Mitglied
des „Bundes der Geächteten" gekannt hatte. Er erzählte gern von seiner Flucht-
liugszett, namentlich von Heine, dessen oft berichteten Witz, er werde immer noch
von den Weibern auf den Händen getragen, weil Wärterinnen ihn in sein Bett
zu heben pflegten, ich damals zum erstenmal hörte. Häufige Zeitungsnotizen über
Heines schweres Leiden nahm er als sichere Ankündigung eines neuen Buches, und
in der That erschien bald darnach der „Nvmauzero." Als ich einmal erwähnte,
daß ich einen Brief unversehrt nach London zu befördern wünsche, erklärte er sich
zur sichern Beförderung bereit, ich nahm dankbar das Erbieten an und glaubte
den Brief längst an Ort und Stelle, als er bei Gelegenheit einer Korrespondenten-
Hetze bei dem gefälligen aber nachlässigen Vermittler aufgefunden wurde. Das
war unangenehm, da ich mich im Gefühl der Sicherheit beim Schreiben keiner
sonderlichen Vorsicht befleißigt hatte, doch meinten juristische Bekannte, die freie
Stadt Frankfurt werde kein Bedenken tragen, einem unbeschvltuen Privatmanne
einen von ihm selbst geschriebnen Brief als sein Eigentum auszufolgen; und so
entsprach ich denn in ziemlicher Ruhe der Aufforderung, mich auf dem Römer ein¬
zusinken, obschon die Aufschrift der Thür „Peinlich Verhöramt" nicht sehr einladend
war. Doch wollte der Kriminalrat vor allem den Inhalt des Schreibens kennen
und machte mich, als ich glaubte, meinen Wunsch als begründet behaupten zu können,
nachdrücklich darauf aufmerksam, daß die „Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser
Caroli(!) des Fünften" ihn mit sehr wirksamen Mitteln ausstatte, jede Unbotmäszig-
keit zu brechen. Er fand den Brief sehr bedenklich, ordnete eine Haussuchung
an, die kein Ergebnis hatte, und dann erhielt ich freie Wohnung in der Kon-
stablerwacht.
Das Haus mit diesem altertümlichen Namen war zu einiger Berühmtheit ge¬
langt durch den unglückseligen Pulses, der im Volke das Frankfurter Attentat, in
den Akten die Meuterei vom 3. April 1833 genannt wird. Eine Schar Burschen¬
schafter von den benachbarten Universitäten hatte im Vertrauen auf Unterstützung
durch Frankfurter Republikaner einen Sturm auf das genannte Wnchhnus versucht,
um von da ans die Bundesversammlung zu sprengen. Doch mich in dieser Ver¬
schwörung hatte der Verräter nicht gefehlt, die Wache war vorbereitet und über¬
wältigte die Angreifer, die meistens gleich eingesperrt werden konnten. Hatte das
waghalsige Unternehmen keine nennenswerte Unterstützung gefunden, so gelang es
doch Gesiuuuttgsgenossen oft, die Gefängnisthüren zu öffnen, und namentlich zeigten
in diesen und ähnlichen Fällen Frauen viel Mut, Geschick und Glück. Über einen
ehemaligen hessischen Offizier Wilhelm Schulz, der in den vierziger Jahren den
entsetzlichen Prozeß eines politischen Märtyrers, Pfarrer Weidig, veröffentlichte,
ging sogar die Legende um, seine Frau habe ihn im Strickbeutel über den Rhein
getragen.
Mehrere Tage lang hatte ich nnn Verhöre zu bestehen und dazwischen Muße,
mir auszumalen, daß auch damals beim Reinigen der Zellen durch Sträflinge eine
Thür unverschlossen geblieben, und ein Gefangner in der Morgendämmerung ans
den Hof geschlichen sei, wo ihm Freunde über die nicht hohe Mauer helfen konnten
und dergleichen mehr. Das waren nur theoretische Studien, auf Hilfe von außen
konnte ich nicht rechnen, wollte aber auch gar nicht flüchten, weil ich mich auf
baldige Niederschlagung des ganzen Handels verließ. Inzwischen wurde ich zur
Reise nach Berlin genötigt, unter Bedeckung natürlich. Zwei Beamte von der
Berliner Kriminnlpolizei waren für meine Sicherheit verantwortlich, und der obere
von ihnen mahnte mich gemütlich von jedem Fluchtversuch ab, indem er mit Vor¬
weisung eines Dolches beteuerte, lebendig werde er mich nicht entkommen lassen.
Es war Mitte Novembers, in Thüringen waren die Ackerfurchen mit frischem Schnee
gefüllt, bald sahen wir weiße Berge, und in Halle lagen bereits mehrere Züge,
die nicht weiter konnten. Da nach mehrstündigem Harren in dem Bahnwagen
immer ungünstigere Gerüchte verlauteten, blieb nichts andres übrig, als Nacht¬
quartier zu suchen, wobei meinen Hütern begreiflicherweise nicht ganz behaglich zu
Mute war. Am nächsten Tage erreichten wir nur Wittenberg, wo ein Gastwirt
sein Mißvergnügen über eine so große Einquartierung sehr rückhaltlos zur Schau
trug und sich bemühte, sich durch unwahre Nachrichten über Herstellung des Bahn-
Verkehrs die Gäste so bald als möglich vorn Halse zu schassen. Erst am dritten
Tage konnte ich mein neues Quartier in der Stadtvogtei beziehen. Durch die
vielen Fahrtunterbrechungen hatte sich eine Art von Geselligkeit gebildet wie bei
längerer Reise zur See, man erfuhr, daß einzelne nicht genügend mit Geldmitteln
versehen waren, und half ihnen aus der Not, stellte Kadetten, die ihren Urlaub
überschreiten mußten, freiwillig Leumundszeugnisse aus, und andres mehr. Natürlich
war anch die Art meiner Beziehungen zu den beiden Bewaffneten kein Geheimnis
geblieben, und hier und da konnte ich den guten Willen erkennen, mir behilflich zu
sein. So sehe ich noch deutlich den Augenwink einer Kellnerin, der mich auf eine
ins Freie führende Thür des Bahuhofbuffets aufmerksam machen sollte. Indessen
ließ ich mich zu keinen Abenteuern verleiten, die ja nur mit neuerlicher Einbringung
und Verschärfungen hätten endigen können.
In Berlin waltete ohnehin eine viel strengere Hausordnung als in Frankfurt.
Fast ununterbrochen hörte ich behutsame Schritte auf deu Matten des Ganges,
nud stockten einmal die Schritte, so konnte ich sicherlich ein Auge an dem Guck-
loche meiner Thür wahrnehmen. Ich erfuhr, daß jeder Schläfer, gleichviel ob
Untersuchungs- oder Strcifgefanguer, sich sofort zu erheben habe, „wenn es bimmelte,"
und daß es verdächtig mache, über die Fensterverschcilnng ein Stück Himmel er¬
spähen zu wollen. Für Beschäftigung des Geistes war durch das Neue Testament
und ein Gesangbuch gesorgt, in denen ich gern alte Bekannte aufsuchte, wenn gerade
kein Verhör notwendig befunden wurde. Freilich hatte ein Polizeirat ziemlich oft
Sehnsucht uach mir, da er eingestandnermaßen die Absicht hatte, nicht eher zu ruhen,
als bis er alle meine schwarzen Anschläge ans Licht gebracht hätte. Er drohte
nicht wie sein Frankfurter Kollege mit der Folter, sondern mit seinem Scharfsinne,
und zum Beweise dessen teilte er mir Lesefrüchte aus aufgefundnen Familienbriefen
von mir mit, flickte jedoch gern Äußerungen ein, die ich weder gethan hatte noch
gethan haben konnte, erschütterte also selbst seine Autorität. Seine Schlauheit schien
auch schou bekannt zu sein: eines Tags wurde ich beim Durchschreiten eines Bureaus
von einem jungeu Beamten, natürlich im Flüsterton, nach dem Namen meines In-
quirenten gefragt und hörte dann ebenso leise: „Dann seien Sie unbesorgt, der
hat noch nie etwas herausgebracht." Das traf auch bei mir ein, aber an frucht¬
losen Anstrengungen hat es der gewissenhafte Mann noch monatelang nicht fehlen
lassen, wie ich noch nach dem Berliner Aufenthalte spürte.
Es wird am 3. Dezember gewesen sein, daß ich in der Bewunderung eines
außerordentlich feurigen Sonnenuntergangs durch die Botschaft gestört wurde, ich
habe mich zur Abreise bereit zu machen. Wohin? „Dos werden Sie schon er¬
fahren!" Der mir schon bekannte Pvlizeihauptmann übernahm mich wieder, doch
diesmal ohne Dolch, nur mit einem Spazierstock bewaffnet. Es ging ans den Frank¬
furter Bahnhof, und dort elektrisierten mich die Rufe der Zeitungsträger „Die
neuesten Nachrichten aus Paris!" Welche Bedeutung konnten diese Worte haben?
Was konnte in den drei Wochen meiner gänzlichen Abgeschlossenheit geschehen, wie
weit konnte der „Prinz-Präsident" in der Vorbereitung seiner allbekannten Pläne
gediehen sein? Mir ein Zeitungsblatt zu kaufen erklärte sich mein Begleiter nicht
befugt, aber ein Herr im Wartesaal überließ mir seine Kreuzzeitung. Und da las
ich denn in flammenden Worten die Verurteilung Louis Napoleons und seiner
Prätoricmer. Noch wütete der Straßeukampf, wiewohl an dem Siege der Saint-
Arucmd und Genossen kaum noch zu zweifeln war. Und nun fuhr ich wieder die
Nacht durch bis Görlitz, und erst nach einigen Tagen erhielt ich Zeitungen, die
über Verlauf und Ausgnng der schmählichen Verschwörung berichteten.
Der Winter meines Mißvergnügens schlug zwar noch nicht in glorreichen Sonnner
uni, ein Vierteljahr lang blieb ich auf eine enge Zelle beschränkt. Allein, daß ich
längere Spaziergänge auf dem großen Hofe machen konnte; daß mir unbenommen
war, einen Flügel des vergitterten Fensters zu öffnen und mit Tauben in freund¬
schaftlichen Verkehr zu treten; daß mir verschiedne Bücher und ein primitives Schach¬
spiel zum Zeitvertreibe zugelassen wurden — alles dies machte den Aufenthalt er¬
träglich. Vor allem dankbar aber erinnere ich mich des Untersuchungsrichters, der,
ohne seiner Amtspflicht das geringste zu vergeben, mir bei jeder Gelegenheit mensch¬
liche Teilnahme bewies, mich in freien Stunden in sein Arbeitszimmer berief um
ein Weilchen mit mir zu plaudern, mitunter auch nicht verheimlichte, für wie un¬
gerechtfertigt er die Berliner Polizeipolitik hielt, jemand, den man einmal in Händen
hatte, womöglich nie wieder loszulassen. Doch zählte dieses System auch einen
Bekenner in dem Gerichtsdirektor. Als nämlich das Gericht die Einstellung der
Untersuchung und demgemäß das Aufhören meiner Haft beschlossen hatte, meinte
der Direktor, das Obergericht werde wahrscheinlich die Sache wieder aufnehmen,
und da ich unlängst seine Frage nach meinen etwaigen Wünschen verneinend be¬
antwortet habe, werde ich mir auch nichts daraus machen, noch einige Monate lang
in sicherer Verwahrung zu bleiben. Zum Glücke ließ das Kollegium sich von dieser
Logik uicht überzeugen, die für mich die Lehre enthielt, daß man sichs wohl über¬
legen soll, bevor man sich bescheiden und mit seinem Lose zufrieden erklärt. In
spätern Jahren sind mir in der That Beamte gezeigt worden, die mit ungewöhn¬
licher Geschwindigkeit die Stufenleiter erklommen haben, weil sie grundsätzlich immer
über Zurücksetzung geklagt haben sollen. Was mich anbetrifft, beschloß ich damals
sofort, mich keinen fernern Mißverständnissen ähnlicher Art auszusetzen, und wartete
deshalb den Ausgang des Prozesses im Auslande ab.
Im Frühjahr 1852 zwang Louis Napoleon die schwächern Nachbarländer,
politische Flüchtlinge von den französischen Grenzen zu entfernen, und so strömten
Scharen von Verdächtigen, die bisher in Belgien, in Holland oder in der Schweiz
Zuflucht gefunden hatten, nach England. Es war ein buntes Gemisch von Natio¬
nalitäten, denn die Regierung vom 2. Dezember betrachtete jeden Politiker, der
nicht Begeisterung für den Bonnpartismus zur Schau trug, als Feind, und manche
Staaten, wie z. B. Genf, benutzten den Anlaß, sich von allen Elementen zu be¬
freien, die ihnen hätten Angelegenheiten bereiten können.
Das Dampfschiff, das in der Nacht des 23. April Ostende verließ, war so
übervoll, daß man die Luft in den Kajüten kaum atmen konnte, sodaß ich es vor¬
zog, trotz Sturm und Regen auf dem Deck spazieren zu gehen, bis die Ermüdung
nach mehrstündiger Bahnreise, Besteigung des Leuchtturms, der wenig Aussicht ge¬
währt, und mancherlei Aufregungen mich endlich doch hinuntertrieben. Für die
echte Kanalfahrt mit all ihren Unannehmlichkeiten entschädigte ein goldner Morgen.
Den möwengleich auftauchenden Fischerkähnen folgten bald größere Fahrzeuge, dann
majestätisch dahcrschwebende Dreimaster mit vollem Linnen, und je mehr wir uns
der Küste näherten, desto dichter wurde das Gewimmel von Schiffen jeder Größe.
Da noch keine Bahnverbindungen zwischen London und den Küstenplätzen bestanden,
fuhren die Schiffe die Themse aufwärts bis zu den Docks. Diese Fahrt ging
langsam von statten, weil das Schiffsgedränge immer dichter wurde, wie jetzt das
Wageugedräuge in den Hauptstraßen großer Städte; dafür erhielt man aber einen
unvergleichlich großartigen Eindruck von dem Verkehr Londons.
Die Idee der ersten großen Industrieausstellung war, wie erinnerlich, in Eng¬
land auch Befürchtungen begegnet. Der Vertreter Lincolns im Unterhause, Miliz--
oberst Sipthvrp gliche zu verlvechseln init dem berühmten Botaniker dieses Namens),
hatte unermüdlich Schilderungen der furchtbaren Gefahren entworfen, denen Gottes¬
furcht und gute Sitte Alteuglcmds durch den Einbruch unerzogner, ungläubiger,
schmutziger Ausländer ausgesetzt sein würden. Und wenn auch die festgewurzelte
Überzeugung von der Überlegenheit alles Englischen durch ihn nicht erschüttert war,
hatte man doch ein Zugeständnis durch Einführung der festländischen Paßkontrolle
für nicht überflüssig gehalten. Infolgedessen erkundigte sich auf der Landungsbrücke
von Catheriuedocks ein Beamter nach den Legitimationen der Reisenden, nahm die
Pässe in Empfang, ließ aber die meist schon durch den Bartschuitt kenntlichen Fran¬
zosen, die kurz antworteten: RötugieU ohne weiteres ihrer Wege gehen. Wir
andern hatten in dem Bureau geraume Zeit zu warten, bis die angelsächsisch ver¬
unstaltete» deutschen Namen aufgerufen wurden; vermutlich unterhielt es die Be¬
amten, die deutschen Pässe mit ihren umständlichen Personbeschreibungen und sonstigen
Weitläufigkeiten zu studieren. Eine gedruckte Aufforderung, beim Verlassen der
Insel sich wieder zu melden, war das Ergebnis der Revision. Als wir wieder
auf die Gasse kamen, waren alle Lohnfuhrwerke bereits verschwunden, und jeder
hatte not, wenigstens Träger für sei» Gepäck aufzutreiben, was mir besonders
schwer fiel, da ich vom äußersten Osten in den damals äußersten Norden Londons,
in einen neuen Anbau von Jslington mußte. Der Marsch war laug und beschwerlich
genug bei kräftigem Sonnenschein und in der für die Seefahrt noch unentbehrlichen
Winterkleidung, und ich mußte der alten Anekdote von einem Dresdner Polizisten
gedenken, der einem paßlosen Reisenden sagte, er könne froh sein, denn mit einem
Passe würde er viel S.l/rerei gehabt haben. Vorläufig gelobte ich mir, bei der
Abreise von dem Passe keinen Gebrauch zu macheu. Und als es mir am folgenden
Morgen endlich gelungen war, den Schlaf aus deu Augen zu reiben, genoß ich
vor allem das Bewußtsein, der väterlichen Fürsorge der festländischen Regierer für
einige Zeit entrückt zu sein.
me stand still und sah ihm nach. Ihr war besser zu Mute als
vorhin, sie hatte sich die Erregung, die sie erwürgen wollte, vom
Halse geredet, sie hörte und sah wieder, was um sie her vorging,
horte Frau Flörke im Waschhaus hantieren und das Lachen der
Ackermannschen Buben, die mit Katapulten von der Stadtmauer aus
nach den letzten Kastanien schössen, die der Wind den mächtigen Vor¬
stadtbäumen gelassen hatte.
Da stieg sie hinunter, machte straffe Ordnung unter den Knaben, daß sie halb
lachend, halb beschämt von ihrem Unfug abließen, und sagte zu Ackermann, der
schmunzelnd in der Hofthür stand: Nichts für ungut.
Darauf wurde sein Schmunzeln ein fröhliches Lachen, er kam heraus ins Freie,
sodaß sie mitten im Hofe standen, gleich weit ab von jedem lauschenden Ohr, das
Haus oder Nachbarhaus etwa auf Kundschaft schicken konnte, und da sagte er:
Im Gegenteil, Fräulein Line, das freut mich! Sie haben noch niemals fehlkom-
mandiert bei den Unnützen, und das will was heißen, das nenn ich so die richtige
Mutterhand für die Jungen. Und weil doch hente einmal allerlei Veränderungen
in der Luft liegen — wie wärs, wenn Sie meine Frau würden? Ich weiß
schon, ein Schöner bin ich nicht, aber Sie haben mich immer meinen lassen, Sie
hielten was ans mich. Und ein Ruhekissen ist der Posten auch nicht, aber das würde
Ihnen am wenigsten gefallen —
Die Rede stockte ihm plötzlich, denn der Ausdruck, mit dem sie nach dem
Gang hinauf blickte, machte ihn nun doch wieder irre. Als er schwieg, sah sie ihn
an: das gute, kluge Gesicht, das helle Auge, der heitre Mund, die feste Gestalt —
sie hatte ihre Freude an diesem Anblick, und sie schätzte den Mann sehr, und vorn
in der Schmiede schien ihr trotz des rußigen Handwerks und der fünf Räder allzeit
die Sonne. Sie hätte sich gern in den Sonnenschein gesetzt, aber davon konnte nun
freilich gar keine Rede sein.
Sie dankte ihm so warm es aus ihrem gequälten Herzen heraus möglich war,
und da sie ihm ansah, daß er nicht daran dachte, sich so einfach ihrem Nein zu
geben, fügte sie hinzu: Ich darf Karl uicht zurückrufen um meinetwillen — er kann
noch frei werden, mich hat das Gespenst nun schon unter.
Warum nicht gar! Eben jetzt ist am wenigsten Zeit zu Kleinmut, Sie können
einen Gesellen nehmen, nicht wahr? Und nahe genug wären wir auch, um ein
Auge aufs Geschäft und auf deu Vater zu haben; von mir aus —
Wir könnten! fiel sie ein, aber wir können nicht — das ists noch außerdem;
es war ein Irrtum, wir haben kein Geld.
Ein Befremden ging über Atom Ackermanns Gesicht, aber nnr einen Augen¬
blick, dann waren seine guten Augen wieder hell. Das sollte mich nicht irremachen,
Fräulein Line, Sie sind das Ihre wert auch ohne um Groschen Geld; wenn der
schon natürlich nicht zu verachten ist, besonders hier, wo er Sie freimachen sollte
von der Überlast und beim Vater ersetzen, weshalb es mir eben hente die Zunge
gelöst hat. Denken, FrLuleiu Line, mußt ich schon lange daran, und ich meine jetzt,
es ginge auch ohne das Geld. Überlegen Sie mal, ob sich ein Geselle, den wir
zwei beaufsichtigten, uicht doch selber bezahlt machte, bis der Karl draußen fertig
geworden ist.
Sie schüttelte den Kopf und schlang die Finger ineinander in stummer Pein.
Erst als er mit einer ausführlichen Beweisführung anrückte, fiel sie ihm ins Wort.
Das ist ja gar uicht mehr so einfach, Meister, wie gestern und vorgestern, sondern
viel schlimmer. Das Geld ist da, nnr nicht für uns, kein roter Heller; das Modell
hatte gespielt, und nnn bauen sie ihr lenkbares Luftschiff — das Gespenst kommt
los vou der Kette.
Line mußte ein paar Minuten ans Antwort warten, ehe Ackermann dies neuste
begriffen und verarbeitet hatte; endlich sagte er heiter: Also sie bauen! Je nnn,
Fräulein Line, wer weiß! Sie müssen nicht gnr zu nachtschwarz ins Leben Hinaus¬
sehen, vielleicht will uns da eben die Sonne aufgehen. Ist schon manch eine große
Sache so in der Stille erwogen und ausgereift worden — auf einmal war sie da,
und den Leuten draußen, die vor dem vielen Kleinkram im Tageslauf den Blick aufs
Große verlernen, gingen die Augen über vor Stannen. Wer weiß, wie das noch
mit unserm Luftschiff wird —^ merken Sie was? Dn sag ich schon unserm!
Line schüttelte noch immer den Kopf, nur das krampfhafte Fingerspiel hatte
sie aufgegeben. Ich glaube nicht an das Luftschiff, sagte sie traurig, überhaupt
nicht. Das hätte ja längst einer erfunden, wenns möglich wäre. Und sollt ich
mich irren, Herr Ackermann, flog das Gespenst in den Himmel hinein, ein gehor¬
samer Spielball der kleinen Menschenhand — die Thränen der Mutter und Karls
trübe Jugend könnte kein Erfolg wett machen.
Atom Ackermann, der nachdenkliche Schmied, wußte keine Autwort auf diese
Anklage. Er konnte sich gut auf die junge Frau Städel besinnen, die so blaß und
lieblich auf dem Bnnkchen vor der Küche gesessen hatte, daß sein zwanzigjähriges
Herz in schnellern Takt kam, wenn er durch den Hof lief. Eure kurze Zeit lang
war er allabendlich auf die Stadtmauer geklettert, um dort oben seiner Zieh¬
harmonika die rührendsten Lieder zu entlocken, bis die Mutter der fünf Buben
seinen Weg kreuzte, worauf er seine Ziehharmonika anderswo zog. Aber daß die
blasse Frau an der Sorge und dem Kummer über Stadels Erfindung zu Grunde
gegangen sei, das wußten alle Leute ringsum, die zwanzig Jahre zurückdenken
konnten, und es fiel Ackermann keine Trvstlüge ein für die Tochter an seiner Seite.
Line erwartete gar keine Antwort, sie war nur ein Weilchen still, und als sich ihre
Gedanken aus jener Zeit wieder zurückgefunden hatten, begann sie selber von neuem:
Also, lieber Meister, nicht wahr, wir lassens beim Alten, aber ich darf drüben in
Ihrem Haushalt und bei den Jungen ein bischen zum Rechten sehen, bis — bis
Sie eine andre gefunden haben.
Er wollte etwas antworten, was er nicht recht herausbrachte, weil ihm die
Enttäuschung in der Kehle saß; sie ließ ihm auch gar keine Zeit dazu — sie wollte
ihm ja gar kein Geschenk machen mit dem bischen Hilfe, er sollte ihr ja beistehen,
sie wollte ja viel mehr haben von ihm, als geben.
Hastig fast berichtete sie ihm von dem Gespräch der Männer, von dem Mecha¬
niker Nothnagels und der Absicht, hier am Ort die Maschine nach dem Modell zu
bauen.
Und das muß bei Ihnen geschehen, Meister! Einem Mechaniker Nothnagels
trau ich uicht ohne Aufsicht, Sie aber konnten dem Ärgsten steuern; auch wäre Vater
gleich bei der Hand, den Fehlern des andern zu begegnen — ich bitte Sie darum,
ich weiß, über Sie hat das Gespenst keine Gewalt, Sie stehen fest auf dem Boden,
der uns angewiesen wurde zum Ausfechten unsrer Kämpfe, Sie kriegen das Fliegen
sicherlich nicht. Sagen Sie ja, Meister! jeder andre würde ihn zu sehr übers Ohr
hauen, und verdienen sollen Sie doch auch darau.
Atom Ackermann machte ein bedenkliches Gesicht; er hatte vielerlei Widerhalt
gegen diese Arbeit, seine Blattgewinde waren ihm lieber. Wenn aber Karoline
Städel eine Sache so eindringlich verfocht, dann war Meister Ackermann nicht
von Stein.
Nachdem die beiden alles für und wider beredet hatten, stiegen sie die
Gaugtreppe hinauf und verschwanden zusammen in der Hexenküche.
Der alte Städel legte sich an diesem Abend zu Bett wie ein glückliches Kind:
der goldne Engel hatte gesegnet, das Geld war da; sein Traum würde lebendig
werden, hier im Hans würde er Gestalt werden, und die Line zeigte endlich ein
Herz für das Modell. Die Line hatte ihm den Ackermann gefügig gemacht.
Zum erstenmal redete Nothnagel in Luftschiffsachen vergeblich; Ackermanns
Schmiede war zu bequem, als daß sich Städel diese Werkstatt hätte abstreiten lassen.
In Ackermanns Schmiede würde die Maschine gebant werden, Nothnagel mußte zu¬
frieden sein, daß sein Mechaniker nicht beiseite geschoben wurde.
Sie waren immer fleißig gewesen im Kegelschub, doch schien erst jetzt die Zeit
der Arbeit zu beginnen. Heiße Zeit, bange Zeit, verdrießliche Zeit.
Die Sonne schien nicht mehr in den Hof, es wurde dunkel in Werkstätten
und Waschhaus. Das brachte der Lauf des Jahres so mit sich, aber es deuchte
die fleißigen Leute in diesem Winter dunkler als sonst, und Line schalt um jeden
Tropfen Petroleum, der verbrannt werden mußte. Seit das Geld im Hause war,
das doch dem Hause Stadel nicht zu gute kam, war sie fieberhaft sparsam geworden,
als sei ihr erst jetzt zum Bewußtsein gekommen, daß uns ihrer Kraft ganz allein
die Sicherheit der Wirtschaft stehe.
Aber auch als die Sonne wieder neugierig um die Ecke der Apotheke guckte,
wurde es im Hof an der Stadtmauer uicht hell, denn es lief nichts Junges mehr
über die saubern Pflastersteine.
Karl war in der Fremde, weit mehr als in der Soldatenzeit: gegen ein Muß
ist der Mensch geduldig, aber geht einer freiwillig, so sieht das leicht aus, als
werde er nie wiederkommen. Auch Pflegte niemand mehr Blumen in dem dunkeln
Hofe, und von selber konnten sie hier wirklich nicht wachsen: die Bvhneulaube
blieb kahl.
Und nett sang nicht mehr und huschte nicht mehr wie ein Sonnenstrahl über
Hof und Gang, auf die Mauer und nach der Bleiche. Statt dessen schrieb sie
steife Neujahr- und Osterbriefe, was sie lerne, und daß sie Frau Flörkes gehorsame
Tochter sei.
Mutter Flvrke hatte das nie bezweifelt, aber schwarz auf weiß machte es ihr
besondern Eindruck. Sie strich einen solchen Brief zehnmal des Tags mit dem
Handrücken glatt und zeigte ihn voller Stolz jedem, der durch den Hof ging.
Jenny Nothnagel bekam trotzdem keinen zu sehen, sie sparte sich den Weg
dnrch die Schmiede, seit es keinen Karl mehr da drüben gab. Auch öffnete sie das
Fenster uicht mehr, wenn sie ihre Modestücke auf dem Klavier nbpedalte: Herr
Frisch konnte sie auch ohne das bequem hören.
Nur die fünf Schmiedejungen machten manchmal Lärmversnche, aber Fräulein
Line klappte sie kurz ab; Fräulein Line war jetzt immer zur Hemd mit ihrer dauer¬
haften Elle. Und was sollten sie denn auf dem Hofe? Nicht einmal soviel Schnee
fiel vom Himmel, wie fünf Buben zu einer ordentlichen Schneeballschlacht brauchten.
Es war ein mißratner Winter.
Der Lenkbare ließ sich Schnee und Sonne nicht kümmern, er wuchs langsam
heran. Sehr langsam, obgleich sie sich alle an ihm und um ihn atemlos arbeiteten.
Der Mechaniker, der mit öligglattem Scheitel in der Apotheke eingezogen war,
vergaß das Pomadisieren über den Nüssen, die er zu knacken fand, und der Gier auf
Vogeltunste, die ihn ebenso unbarmherzig wie seine Arbeitgeber beim Schöpf nahm.
Ackermanns Altgesellen „hatte das Unwesen auch." Der verständige Gottlieb
scharwerkte und fluchte, und scharwerkte aufs neue, wenn die Sache nun doch nicht
so klappte, Wie bei dem kleinen Modell, oder sich im großen nicht so ausnahm und
bethätigte, wie es die Herren „oben in der Schreibstube" verlangten.
Das is mien Teufel im geht nich.
Muß, muß! schrie der Mechaniker und fuhr sich mit der rußigen Hand in die
Haare, daß sie wie Stachelschweinborsten auseinander fuhren.
Muß, sagte auch Meister Ackermann, der den Grund nicht unter den Füßen
und die Ruhe nicht aus dem Kopfe verlor. Aber das Herz wurde ihm schwer um
der Line willen, wenn die Tausende durch die Esse flogen und er kein Ende sah.
Wie hatte er zusammenhalten, sparen und fördern wollen, und um gings
doch schon ins zweite Jahr. Der Mechaniker lag den Erfindern auf der Tasche,
umsonst konnte er es mit seinen Gesellen auch nicht thun, dabei mußte immer noch
dies und das auswärts gemacht werden, und kam dann solch ein kostbarer Flügel
an: so leicht und fest, als Menschenkraft diese beiden Eigenschaften nur irgend zu
verbinden vermochte, dann paßte er nicht mehr in das neuste, was ausprobiert
worden war, oder es erwies sich, daß man doch ein falsches Zutrauen in seine
Leistungen gesetzt hatte. Mit den Flügeln wars nichts.
Karl wurde anfangs von Vater und Schwester gleichermaßen über den Stand
der Arbeiten unterrichtet. Nur von der großen Enttäuschung jenes Tages, der
ihnen den Gewinn ins Haus warf, schrieb Line nichts; sie hätte es nicht gekonnt,
ohne Dinge zu sagen, die sie Karl am wenigsten sagen mochte. Sie meldete ihm
nur: die Erfinder sind zu Geld gekommen und bauen. Darauf folgte allmonatlich
ein knapper Bericht, wie weit das Werk gediehen sei.
Anfangs war ihr das eine Lust, denn nachdem sich nur erst die Verzweiflung
ausgetobt hatte, keimte ein zartes Hoffnungspflänzchen in ihrem Herzen auf: dies
war das Schlimmste, aber zugleich auch der Anfang der Erlösung. Los müßt ihrs
werden, das Gespenst, nur erst bauen, nur erst einmal Wirklichkeit werden, fliegen
lassen, dann sind die Besessenen frei, dann dürfen wir leben wie andre Menschen¬
kinder, und am End'e bleibt von dem Gelde noch ein hübscher Rest, mit dem wir
unser Lebensschiff ausbessern können.
Das Hoffnungspflänzchen keimte und wuchs geduldig ein halbes Jahr lang.
Natürlich blieb Geld übrig; was der Vater da gesagt hatte von nicht reichen, war
Übertreibung, so viel konnte man ja gar nicht in den Wind fliegen lassen. Und
daß nichts vergeudet wurde, dafür stand Meister Ackermann da.
Ja, er stand da und streckte die Hand aus nach dem davonflatternden Gelde,
aber halten konnte ers nicht; das Gespenst War ein gefräßiges Ungeheuer, und satt
mußte es werden, eher stieg es nicht in den Himmel.
Das Hoffnungspflänzchen erstickte unter Sorgen, Enttäuschung und Groll; Karl
bekam keine Briefe mehr von der Schwester. Nur der Vater schrieb noch welche,
und wenn sie auch nicht mehr in dem überschwenglichen Triumphatvrton daher-
ranschten wie seine ersten, die der Menschheit das große Weihnachtsgeschenk in aller¬
nächster Zeit verhießen, zuversichtlich und stolz klangen auch die spätern noch.
Dem Karl war sehr behaglich, daß daheim Frende herrschte. Auch er war
froh, ihm glückte, was er angriff, und die Welt that sich vor ihm auf mit ihrem
vielverzweigten und vielgestaltigen Leben, das ihn ans seinem Winkel heraus in
Beziehung zu andern Menschen brachte, ihm von Stadt zu Stadt, von Land zu
Land Wege bahnte; er fühlte sich lebendig, wachsend und glücklich.
Immer mehr nur ein Bild vergangner Zeiten wurden ihm der Hof im Schatten
des goldnen Engels, die Hexenküche, in der der alte Vater saß, weit ab vom leben¬
digen Leben seine Modelle hudert, und die düstre Schmiede mit dem rotglühenden
Auge, aus der das Wunder hervorgehen sollte, das die trennende Macht starrender
Felsen, stürzender Wasser, kochender Lavaströme und aufgetürmter Eisberge mit
leichtem Flügel wegwischen würde von Pol zu Pol.
Jetzt, wo er fern war, zeichnete Karl, was ihn zu Hanse allzeit umgab und
dabei spröde seinem Stift widerstanden hatte.
Meister Wendelin sah die Bildchen mit Entzücken, schickte sie aber, um seiner
Sache gewiß zu sein, einem Kenner.
Starkes Talent, schrieb der zurück. Festhalten.
Von dein Tage ein kam dem jungen Stadel keine Schrift mehr unter die
Hände, nur noch Landschaft und Schmuckwerk, Man sorgte dafür, daß ihm auch
anderlei Technik geläufig wurde, und je mehr man ihm zutraute, desto reifer ent¬
faltete er sich.
Ganz fremd wurden ihm des Vaters Pläne, aber er dachte sich gern, daß sie
zu Hause froh seien in ihrem seltsamen Winkeldasein.
Als freilich Line fort und fort schwieg, auch auf seine immer bestimmtem
Fragen, nistete sich die Sorge bei ihm ein und wurde von Monat zu Monat zu¬
dringlicher.
Irgend etwas mußte da drüben nicht stimmen — war es uicht seiue Pflicht,
einmal nach ihnen zu sehen?
Ihm graute vor Senkenberg, aber er meinte doch seine Pfingstfeiertage opfern
zu müssen; da trat kurz vor dem Fest Meister Wendelin eines Nachmittags in
seine Mansarde, deren vorgebautes Fenster Karls Zeichentisch voller Skizzen, Bücher
und Arbeitsgerät nngebrochues Licht gab.
Wendelin betrachtete alles begonnene, freute sich an dem und jenem, lobte
etliches und kam endlich mit seinem Vorschlag heraus. Karl Städel sollte ganz
und gar zu ihm kommen, solle daheim die kleine Quetsche, auf der heutzutage doch
keine Seide mehr zu spinnen sei, aufgeben und sich als Zeichner bei ihm ver¬
dingen.
Karl wußte nicht, was er zu alledem sagen sollte, es warf um, was er sich
bisher für die Zukunft zusammengebaut hatte, aber es wurde ihm viel versprochen,
und das Vorgebäude war doch, bei Lichte besehe», jämmerlich spärlich: nenn bis
zehn Kunden, die Line ihm mühsam erhielt, verbrauchtes Gerät, abgeschliffne Steine
und eine verkommne Werkstatt.
Während er sich das alles dnrch den Kopf gehen ließ, lockte Meister Wendelin
weiter. Zum ersten mit gutem Gehalt — heiraten konnte man darauf, gleich auf
der Stelle —, zum andern mit dem, was es zunächst zu arbeiten gab. Er hatte
absichtlich lauter Aufgaben zusammengesucht, die eines Künstlers würdig waren.
Die schwere Bedingung, daß er sich auf zehn Jahre binden müsse, die
Wendelin vorsichtig zuletzt vorbrachte, wog für Karl am leichtesten, vom spekulie¬
renden Geschäftsmann hatte er nichts an sich, und gebunden sein, wo man sich wohl
fühlt, ist ein gutes Ding.
Die Sonne flimmerte auf dem Flusse, der vor seinem Fenster dahinglitt,
die Birken standen im ersten Anhauch des Frühlings, Stare trugen schwatzend zu
Nest, alles war hell, und wie weit er auch hinaussah in die neue Zukunft: Licht
überall.
Sagen Sie ja, Städel! wir werden unsre Freude aneinander haben. Möchten
Sie bleiben?
Karl atmete tief auf. Gern, antwortete er, von Herzen. Und dankbar bin
ich Ihnen, und was um mir ist, will ich auch. Aber reden mit denen zu Hause,
ehe ich mich binde, das muß ich. Sie sorgen für mich nun an die dreiundzwanzig
Jahre, thun meine Arbeit daheim und haben sich das Künftige anders gedacht. Ich
kanns ihnen nicht anthun, daß ich einfach über mich verfüge, als wären sie nicht
auf der Welt.
Meister Wendelin gab sich zufrieden. Die Schwester würde ja klug sein;
hatte sie den jungen Menschen doch auch damals herausgebracht, sogar gegen seinen
eignen Willen. Er gab Karl Urlaub und empfahl ihm, nnr ja recht anschaulich
zu schildern, wie gut es das Leben hier mit ihm meine.
Einen heißen Pfingstsonnabend lang hatte sich Senkenberg für die Feiertage
geschmückt, dreitönig läuteten die Glocken von Sankt Barthelmtt den heiligen Geist
ein und lauteten über ein wunderliches Getier hin, das im Kegelschub hinter Acker¬
manns Schmiede stand. Mächtige Reifen drohten aus einer Gondel von starkem
Rohrgeflecht zum Himmel empor, in der Gondel lag ein öligblankes Räderwerk,
Stricke und Drahte liefen zu dem Reifen hinauf, und das ganze Gebun umkreisten
die Münner von hüben und drüben.
Aber das Ding muß dran, sagte Nothnagels heisere Stimme, muß! so gut
wie das Sinnbild an die Schiffsgallion; jedes anständige Luftschiff hat seinen Namen,
und von Pappe wirds ja wohl leicht genug sein. Die Jenny kommt, sowie es
der Buchbinder schickt.
Jenny kam »ut brachte einen goldnen Pappengel, den bronzenen hatte der
Mechaniker als unnütze Last verworfen. Da ist er, sagte sie mit süßer Stimme,
und beim Glockenläuten müßt ihr ihn festmachen, das ist so romantisch. Herr Frisch
sagt es auch.
Herr Frisch, der hinter Jenny drein lief, wiederholte eifrig das „romantisch,"
wozu die beiden alten Erfinder etwas weniges knurrten.
Dn nun aber doch einmal ein Frauenzimmer in den würdevollen Kreis ge¬
treten war, klappte auch Mutter Flörke mit ihren Holzpantoffeln heran.
Der goldne Engel? Na, ich sags ja! nur immer fein überlegt; denn warum?
Engel gehören in den Himmel, und der da fliegt ganz gewiß gleich bis oben hinauf.
Man muß nur immer alles ordentlich bedenken, dann fällt einem das Rechte von
selber ein.
Da machte auch noch der Professor sein Fenster ans, um nach dein Länder zu
hören. 15—A—v— schwebte es über den Täufling hin, und Kilburg nickte denen,
die den goldnen Engel um der Gondel befestigten, freundlich zu und sprach ein
Segenswort auf das Räderwerk hinab.
So bethätigten sich alle bei der wichtigen Handlung, nur Line stand abseits
unter hinter der Hausthür, sah durch die Spalte und hatte die Hände inbrünstig
gefaltet. Laß es zum guten sein, Herr Gott, du weißt, was das Gute ist! Laß
es endlich gut bei uns werden.
Da legten sich zwei Arme um ihre Schultern, und ihr Schreckensruf wurde
durch einen Kuß erstickt.
Altes Mädel, dem Junge ist da!
Sie konnte nicht gleich antworte», sie faßte den Karl an den Händen, ob ers
wirklich sei, sie zog ihn ins Licht, das von dem Schmiedefeuer in die Flur fiel,
und sah ihn glückselig an.
Junge, Junge! so dran»! so kräftig! so männlich! Sogar einen Bart hast
du! Einen dicken Schnurrbart wie ein Feldwebel.
Sie lachte sich selber aus und fing doch wieder von neuem an, ihn mit Worten
abzumalen, bis er ein Ende machte.
Was meinst dn, ob ich Hunger hab?
Ob dn Hunger hast? Natürlich hast du! Und gleich sollst du satt werden.
Sag nur dem Vater guten Tag — sie laufen das Unwesen — einstweilen Schafs
ich dir zu essen.
Damit ließ sie ihn stehen, und Karl schaute nnn durch dieselbe Thürspnlte auf
das Luftschiff hinaus und auf die Männer ringsum.
Da ragte es ja gen Himmel, und sie schienen mit ihm zufrieden zu sein, der
Vater versuchte ein paar Handgriffe, die leicht und sicher die Weite des obern
Reifens veränderten. Schmied und Geselle, Mechaniker und Apotheker machten den
Griff nach und nickten sich zu.
In bester Ordnung.
Aber Karl hatte keine Lust da hinaus zu gehen, wo Jenny Nothnngel die
Augen schweifen ließ und Frau Flörke wahrscheinlich verlangt hätte, er solle gleich
auf dem Flecke Rede steheu über das, was er doch erst zur Entscheidung bringen
wollte.
Lieber ging er die Treppe hinauf durch die Küche, wo Line Eierkuchen but,
schritt von da über das Gangcckchen ins Schlafzimmer und packte sein Felleisen
aus. Hier war alles unverändert; stünde das Luftschiff nicht in, Hofe, so hätte
er denken können, er sei gar nicht weggekommen. Und als er kurz darauf den
Vater herauftrappen hörte und hinüberging ihn zu begrüßen, sunt er auch den
unverändert.
Karl merkte erst jetzt, daß er der Meinung gewesen war, der zu früh gealterte
Maun müsse durch die Erfüllung seines Lcbenswunsches verjüngt werden. Davon
spürte man nichts.
Im ersten Augenblick sah Städel den Sohn verblüfft an, als ob er ihn nicht
erkennte. Dann leuchtete es in seinen Angen auf.
Aber er sagte nicht: Woher? weshalb? oder: sei mir willkommen! Der Ge¬
danke an das Werk unten im Hofe verschlang jeden andern, ehe er recht lebendig
werden konnte.
Städel faßte des Sohnes Arm, sah sich vorsichtig um und sagte dann: Draußen
steht es, nun fliegen wir. Aber es war eine heiße Arbeit, Charles, und ist es
noch. Tausenderlei störte und quälte einen dazwischen. Widerwärtiges, Wider¬
spenstiges, das Geld, das nur mühsam bis zur ersten Füllung reicht, Line, die bei
jedem Groschen, den wir ausgeben, ein Gesicht zieht wie beim Essigschluckeu. Als
wir anfingen, dacht ich: Endlich begreift sie! Das Große hat sie gepackt! Das
dauerte ein paar Monate, und jetzt haben wir wieder das kleinliche Getriebe, das
immer zwackt und halten will und einen am Aufschwünge hindern. Aber mich
hindert keiner, weder am innerlichen, noch an dem draußen.
Ja, Vater, sagte Karl, wann ists denn so weit?
Wann? Bald. In drei Wochen oder in sechsen; ich muß uur noch aus¬
probieren, ob der Reifen in dem Gasball ebenso sicher arbeitet wie in der freien
Hand. Jetzt kommt das Gestell in ein Schutzhaus, heute nacht wird es über die
Mauer gehoben. Wir haben auf Ackermanns Wiese einen Schuppen gebant, dort
kann es stehen, und Gesell und Mechaniker werden als Wächter draußen schlafen.
Hier wurde es zu groß, und die Jungen sind ihm auch aufsässig, weil es sie vom
Hofe vertreibt. Nur der Respekt vor der Line — alles, was wahr ist, Charles —
hält sie davon ab, dem Lenkbaren etwas zu Leide zu thun. Wir haben ihn
vorhin getauft, Charles: der goldne Engel soll er heißen — ich denke, das wird
ihm Glück bringen.
Karl lief ein widerwärtiges Gefühl über deu Rücken. Line würde sagen: Der
Name bringt Unglück. Aber das war natürlich Kinderei, mit der mau fertig
werden mußte und auch fertig werden konnte, wenn man aus dem Hellen kam,
mit einem Herzen voll Erfolgsfreude und Arbeitskraft.
Städel schickte den Sohn hinunter, die Maschine anzusehen, er selbst hatte
noch in sein Arbeitsbuch einzutragen, was heute an dein Werke geschehen war.
(Fortsetzung folgt)
Die Entscheidung des Bundesrath
vom 5. Januar d, I, in dem beklagenswerten Lippischeu Streitfall hat in der
Reichstagsverhcmdlnng vom 17. Januar und seitdem fortgesetzt, namentlich in der
liberalen, ultramontanen und sozialdemokratischen Presse eine so leichtfertige, un¬
gerechte und über alles Maß gehässige Kritik erfahren, daß es uns nötig erscheint,
heute nochmals auf die Sache zurückzukommen, nachdem in Heft 3 der Grenzboten
einer der Ratgeber des Schaumburg-Livpischeu Hauses, Kekule von Stradouitz, in
anerkennenswerter Objektivität die Rechtslage aufgeklärt und damit die Berech¬
tigung und Notwendigkeit des Urteilspruchs des Bundesrath nachgewiesen hat.
Nicht am wenigsten veranlaßt uns zu einer Besprechung der Neichstagsverhandlung
vom 17. Januar der Umstand, daß weder aus den konservativen Parteien heraus
noch vou selten der Nationalliberaleu dem unerhörten Mißbrauch der parlamenta¬
rischen Redefreiheit, der sich die Kritiker der Entscheidung vom 5, Januar schuldig
gemacht haben, anch nur mit einem Wort, geschweige denn gebührend entgegen ge¬
treten worden ist. Gerade diese Haltung der konservativen und nationalliberalen
Reichstagsabgeordneten hat die Hchpresse zu der skandalösen Ausbeutung der Ver¬
handlungen vom 17. Januar angeregt und — wie wir uns persönlich zu über¬
zeugen hinreichend Gelegenheit gehabt haben — viel mehr als jene Hetzereien selbst
zur Verwirrung des Urteils und — das muß leider ausgesprochen werden —
zur weitern Korruption der politischen Gesinnung in den gebildeten Kreisen bei¬
getragen. Dieses Anzeichen einer tiefgehenden Zerrüttung des patriotischen Pflicht¬
gefühls in den Parteien und Gesellschaftskreisen, die sich beständig vor allen andern
rühmen, die „staatserhaltenden" und die „nationalen" zu sei», mahnt uns an die
Unfertigkeit und UnHaltbarkeit der heutigen politischen Zustände, es beweist, daß
Deutschland, vor einem Menschenalter aufs Pferd gesetzt, noch heute unfähig ist
zu reiten, und es zeigt vor allem den deutschen Fürsten, welche Verantwortung
ihnen auch im neuen Deutschen Reiche noch obliegt, und daß die Volksvertreter
von heute ihnen nichts davon abzunehmen fähig sind.
Die vom Reichskanzler im Reichstag am 17. Januar verlesene Erklärung
bot ganz natürlich durch ihre in dem verwickelten — teils veralteten, teils un¬
fertigen — Rechtszustande begründeten Schwerverständlichkeit eine willkommne Ziel¬
scheibe billigen Spottes und bissiger Hetzereien allen denen, die die Grundlage ihrer
öffentlichen Bedeutung in dem mangelhaften Verständnis der Massen suchen. Nach
dem unzweifelhaft geltende« Recht steht eigentlich nnr eins fest: der Bundesrat war
der zuständige Gerichtshof in dem dadurch gegebnen und damit fest begrenzten
Streitfall, daß immerfort die Regierung und der Landtag von Lippe es versucht
haben, durch einen Akt der Landesgesetzgebnng die etwa nach dem deutschen Privat¬
fürstenrecht bestehenden Erbfvlgeansprüche der Schauenburger und andrer Agnaten
einseitig und einfach zu beseitigen, und daß andrerseits die Regierung von Schaum-
burg-LiPPe dagegen Einspruch beim Bundesrat erhoben hat. Diese Streitfrage
konnte nicht nur, sondern mußte unsers Erachtens der Bundesrat als eine „Streitig¬
keit zwischen verschiednen Bundesstaaten" auffassen und sich deshalb in Bezug ans
sie nach Artikel 76 Absatz 1 der Reichsverfassung für zuständig erklären. Sowohl
der Reichskanzler wie der Staatssekretär des Innern haben diesen Standpunkt als
den der großen Mehrheit des Bundesrath bezeichnet und vertreten. Daß der
Reichskanzler als Vorsitzender des Bundesrath es dabei ablehnte, sich in eine Dis¬
kussion des verfassungsgemäß vom Bnndesrat gesprochnen Urteils einzulassen, war
völlig berechtigt und wird auch wohl von keinem verständigen Politiker angefochten,
wenn nicht eben der Zweck zu Hetzen jede andre Rücksicht überwiegt. Die Erklä¬
rung des Fürsten Hohenlohe war in allen ihren Teilen durchaus korrekt und wird
bei allen, an deren Urteil überhaupt etwas liegt, ihre volle Würdigung finden.
Gewiß wäre es nicht nur für die Verhältnisse in Lippe, sondern für die im
ganzen Reiche dringend zu wünschen gewesen, daß der Lippische Handel überhaupt
aus der Welt geschafft worden wäre, d. h. eine endgiltige Entscheidung dahin
hätte getroffen werden können, daß entweder die Erbfolgefähigkeit der verschiednen
Prätendenten und ihrer Angehörigen festgestellt, oder die Berechtigung der lippischen
Landesgesetzgebung zur einseitigen Aufhebung etwa nach dem deutschen Privatfürsten¬
recht bestehender Ansprüche aller sonstigen Agnaten zu Gunsten der Biesterfelder
Linie, überhaupt zur völligen Annullierung des Privatfürstenrechts, anerkannt worden
wäre. Es beweist aber große Gedankenlosigkeit bei der großen Masse und noch
mehr bösen Willen bei den großem liberalen Zeitungen, daß die Behauptung, der
Bundesrat hätte ohne weiteres in dieser Weise die Sache abthun können, oder
sich einfach für unzuständig zu jeder Entscheidung, auch zu der über die Kompetenz
frage nach Artikel 76 der Reichsverfassung, erklären müssen, so allgemeine
Zustimmung findenen konnte. Der Wortlaut des Gesetzes schloß uach der Über¬
zeugung der großen Mehrheit des Bundesrath die Erklärung der Inkompetenz aus.
Politisch wäre sie — so wenig rechtliche Wirkung die Kompetenz in diesem Falle
noch zu haben scheint — ein großer Fehler gewesen, da in dem heutigen un¬
fertigen Stadium des deutschen Neichsstaatsrechts die einzige organisierte Körper¬
schaft der Souveräne im Reich unter keinen Umständen ans eine kompetente Mit¬
wirkung und Entscheidung in derartigen Streitfällen ein für allemal verzichten
durfte, vor allem in der Frage des Verhältnisses der Landesgesetzgebung zu dein
aus der Zeit vor 1371 stammenden aber teilweise nun einmal geltenden Privat¬
fürstenrecht. Aber der Bundesrat hat — in gewissenhafter Berücksichtigung der
Unfertigkeit des deutschen Reichsstaatsrechts gerade auf diesem Gebiet — es mich
vermieden, über das Verhältnis von Landesgesetzgebuug zum Privatfnrstenrecht in
Erbfolgefragen in anderm Sinne ein Präjudiz zu schaffen, indem er ausdrücklich
dahin erkannt hat: „daß durch diesen Beschluß einer spätern Entscheidung über die
Wirksamkeit der Akte der lippischen Landesgesetzgebung gegenüber den von Schaum¬
burg-Lippe erhabnen Thronfolge- und Negeutschaftsansprüchen nicht vorgegriffen
werde." Er hat dann natürlich in keiner Weise das Recht der Landesgesetzgebung
anerkannt, die ans dem Privatfürstenrecht hergeleiteten Rechtsansprüche einfach zu
brechen. Und endlich bat der Bundesrat gar nicht anders gekonnt, als jede Ent¬
scheidung der Erbfolgefrage selbst als zur Zeit nicht in Frage stehend abzulehnen.
Der Bundesrat hat damit freilich — ob bewußt oder unbewußt, können wir
uicht entscheiden — in lapidnrem Stil die klaffende Lücke im deutschen Reichs¬
staatsrecht allen Regierungen und vor allem den deutschen Fürsten und Fürsten-
häusern vor Augen geführt. Klagen wir über die Gedankenlosigkeit der Massen,
so müßten wir wahrhaftig uoch weit mehr über die Gedankenlosigkeit der Regie¬
rungen, Fürsten und fürstlichen Familien klagen, wenn sie jetzt nicht sofort daran
gingen, diese Lücke auszufüllen und auf der Grundlage ergänzender Verträge unter
Zustimmung der sonstigen verfassnngsmdßigen Faktoren endgiltige Normen zu schaffen,
um ein für allemal solchen die skandalöse Ausbeutung geradezu herausfordernden
Erbfolgestreitigkeiten vorzubeugen. Der Staatssekretär des Innern hatte zwar in ge¬
wissem Sinne Recht, es im Reichstag am 17. Januar als „beruhigend" zu bezeichnen,
daß man von keiner Seite auch nur entfernt daran gedacht habe, daß der Bundes¬
rat selbst „in der Sache" entscheiden sollte, daß vielmehr, wenn diese Entscheidung
einmal notwendig sei, sie entweder in der Form eines „Austrägalgerichts" oder
durch ein schiedsgerichtliches Verfahren gewonnen werden würde. Aber damit wird
doch nicht der Wiederholung der antimonarchischen Hetzereien und reichsfeindlichen
Treibereien, die sich mir zu leicht an alle einzelnen derartigen Fälle knüpfen können,
ein Riegel vorgeschoben. Die alte „Austrngaliustcmz" kläglichen Andenkens besteht
nicht mehr, es würde sich immer nur um Schiedsgerichte im einzelnen handeln
können. Die Aufregung, der Streit, die Verbitterung wird damit fast in Perma¬
nenz erklärt. Die deutschen Fürsten und Einzelstaaten müssen sich zur Festsetzung
bestimmter Grundsätze und zur Schaffung bestimmter Organe für die Dauer einigen.
Das verlangt freilich Patriotismus von Fürsten und „Völkern" und wird auf alle
Falle ein schweres Stück Arbeit sein. Aber sind die Fürsten und Völker unfähig
dazu, so wird die Geschichte sie auslöschen wie wertlose Nullen, und sie werden es
nicht besser verdient haben.
Angesichts dieses traurigen Zustands im deutschen Reichsstaatsrecht ist es wahr¬
haftig keine Kunst, dem großen Haufen das gewissenhafte Verhalten des Bundes¬
rath als „konfus," widerspruchsvoll usw. darzustellen, aber es kann dies, wenn es
von Sachverständigen geschieht, unter Umständen zur Lüge und zur Perfidie werden.
Schlimm genug, daß das Staatsrecht des Reichs noch recht viel „Konfnses" ent¬
hält. Man könnte es angesichts der eifrigen Ausnützung seiner konfusen Parteien
fast bedauern, daß die Schärfe des Schwerts 1866 und 1870 die Knoten
und Verworrenheiten nicht radikaler beseitigt hat. Wir unsrerseits freuen uns aus
mancherlei Gründen der Zurückhaltung, die damals geübt worden ist, ober wir
möchten den Herren Lenzmann und Lieber und ihrer Gefolgschaft doch raten, nicht
gar zu sehr die übrig gebliebner „Konfusionen" auszuspielen, wenn sie die Einig¬
keit Deutschlands aufrecht erhalten wissen wollen. Sie können ja andrer Ansicht
auch über diese selbst sein, wir aber hoffen, daß es der weisen Mäßigung der Re¬
genten und Regierungen, wie sie in der Lippischen Affaire der Bundesrat bewiesen
hat, gelingen werde, sich um die Klippen und Strudel, die noch bestehen, herum-
zuwinden — dem Himmel seis geklagt, daß man so sagen muß —, bis endlich auf
friedlichem Wege das Fahrwasser des Reichsstantsrechts gereinigt ist. Der Jurist
Lcuzmann hat sich als Reichstagsabgeordneter herausgenommen, nicht nur den
Urteilsspruch des Bundesrath sachlich zu kritisieren, sondern die persönliche Inte¬
grität der Richter anzutasten. Er hat am 17. Januar im Reichstage nicht nur
gesagt, der Bundesrat bestehe nicht ans Richtern, die aus Überzeugung entscheiden,
sondern aus Gesandten, die so stimmen müßten, wie ihnen die Regierung vorschreibt —
den daraus etwa zu ziehenden Konsequenzen, die die rechtliche Kompetenz des
Bundesrath an sich in keiner Weise alterieren konnten, hat der Gerichtshof in
diesem Falle durch die Vermeidung einer Entscheidung in der Sache taktvoll Rech¬
nung getragen. Der Jurist Lenzmann hat vielmehr noch die Bemerkung hinzu¬
gefügt: „In dieser Sache hatte die eine der Parteien einen mächtigen Fürsprecher,
die andre keinen, da kann der Bundesrat nicht gegen den Willen des Volks auf¬
kommen." Der gewandte Advokat wußte, als er das sagte, und alle deutschen
Juristen wissen, was er damit sagen wollte, nämlich das! der deutsche Kaiser und
König von Preußen habe seinen Einfluß auf die Richter — niögeu diese nnn in
den Bnndesratsmitgliedern oder in den ihre Abstimmung regelnden Fürsten gesehen
werden — zu Gunsten der Schauenburger und zu Ungunsten der Biesterfelder mit
Erfolg gemißbraucht.
Selbst in einem republikanische» Staat wie Frankreich hätte sich Lenzmann
durch eine solche Unterstellung auf das Niveau des Herrn Quesnay de Beaurepaire
begeben, im Deutschen Reiche ist das ein Skandal, der nur dadurch noch überboten
wird, daß weder im deutschen Reichstage noch unter den deutschen Juristen diese
sich objektiv als schwere Verunglimpfung des Kaisers darstellende Bemerkung die
Behandlung findet, die sie in einem ähnlich schweren Fall in den Parlamenten
und der Juristenschast aller andern europäischen Kulturstaaten mit weniger kalt¬
blütiger Bevölkerung gefunden hätte. Der heutige Reichstagspräsideut hat vor
langen Jahren Bismarck gegeuüber einmal einen wenig parlamentarischen Zwischenruf
hören lassen. Der heutige Reichstag hat sich dem Abgeordneten Lenzmanu gegeuüber
nicht so unparlamentarisch benommen, vielmehr durch Stillschweigen sein Be¬
nehmen geduldet, aber es hieße an der Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe des
deutscheu Volks verzweifeln, wenn nicht über kurz oder laug diese strafrechtlich nicht
zu erfassender Hetzereien gegen den Kaiser mit einem durch das ganze Reich
Ein neues Buch über Kant — das reizt nicht
sonderlich zum lesen; aber wenn es von Paulsen ist,*) so greift man doch darnach,
und siehe da, man findet seine Erwartung übertroffen! Es ist ein Buch, das man
mit Andacht und Genuß liest, und am Schluß behält man als Frucht das Be¬
wußtsein! nun endlich habe ich Kant verstanden! Paulsen macht es nicht wie
andre Kanterklärer, die an jeden wie Galimcithias klingenden Satz Kants einen
wirklichen Galimathias hängen, den sie für eine Erklärung ausgeben; sondern er
schält aus jeder der Kantischen Untersuchungen das Ergebnis heraus und legt es
dem Leser in gutem, klarem, verständlichen Deutsch vor. Und das Hauptergebnis
ist höchst erfreulich: Kant ist viel Positiver, als man gewöhnlich meint. Seine
Kritik der Praktischen Vernunft ist keineswegs so zu verstehen, wie sie Heine
spottend erklärt hat, daß er unsern Herrgott tot geschlagen, aber aus Mitleid mit
seinem treuen alten Lampe, der einen Herrgott braucht, wieder lebendig gemacht
habe. Sondern er hat nur die alten Beweismethoden abgethan, weil sie allesamt
die Kritik herausfordern und dadurch zum Unglauben führen. Seine Kritik hat
keinen andern Zweck, als sowohl die Physik wie die Metaphysik felsenfest zu be¬
gründen und gegen jeden Zweifel sicher zu stellen. Und die beiden so begründeten
Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntnis vereinigt er in der Weise zu einer har¬
monischen Weltanschauung, daß er lehrt: „Die Welt, die den Gegenstand der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis ausmacht, ist uicht die Wirklichkeit
an sich, sondern bloße Erscheinung in unsrer Sinnlichkeit; die Welt des religiösen
Glaubens dagegen ist die übersinnliche Wirklichkeit selbst." Auch die Persönlichkeit
Kants tritt in Paniscus Darstellung, obgleich er sparsam mit Anekdoten ist, klarer
hervor als in irgend einer frühern; wie an ihm selbst, so erkennen wir deutlich
um seiner Philosophie den kleinbürgerlich-demokratischen und schulmeisterlichen
Charakter, der sie in scharfen Gegensatz stellt einerseits zur liederlichen Genie¬
philosophie der höfischen Philosophen Frankreichs, andrerseits zum modernen Über-
Menschentum. Und Paulsen lehrt die Studenten Knut lese»; er sagt ihnen, daß
sie sich nicht aus übertriebner Gewissenhaftigkeit in die unverständlichsten Sätze
verbohren und dann steckeubleiben fallen; gerade solche sind es, von denen Kant
in einem Briefe (an Beck) bekannt hat, daß er sich da selbst nicht hinreichend ver¬
standen habe. — Man denke sich von allem, was wir zum Lobe Paniscus gesagt
haben, ungefähr das Gegenteil, so hat man unsre Kritik der Schrift: Kant und
Helmholtz. Populär-wissenschaftliche Studie von Dr. xkil. Ludwig Gold-
schmidt, mathematischem Revisor der Lebensversicherungsbank für Deutschland in
Gotha. Hamburg und Leipzig, Leopold Boß, 1878. Die Schrift ist gegen die
Ansicht gerichtet, daß unsre alte, euklidische Mathematik nur für unsern Rinn
gelte, daß es auch andre, ein-, zwei-, vierdimensiouale Räume geben könne, für
die eine andre Mathematik gelten würde, ja daß auch unser Raum möglicherweise
anders sei, als wir ihn uns bisher vorgestellt haben, z. B. gekrümmt, sodaß eine
gerade Linie bei gehöriger Verlängerung in sich selbst zurückkehren, also gar keine
gerade Linie, sondern ein Kreis sein würde. Je mehr sich auch so bedeutende
und solide Forscher wie Helmholtz durch ihren Überscharfsinn in dieses phantastische
Labyrinth haben verlocken lassen, desto verdienstlicher ist die Bekämpfung dieser
Träumereien, denn auf die großen Gelehrten berufen sich die kleinen Narren, und
in der vierten Dimension wohnen die Gespenster, Aber so anerkennenswert auch
Goldschmidts ehrliches Bemühen um die Sicherstellung der Mathematik und damit
der Wissenschaft überhaupt und des Lebens gegen die Angriffe der Schwärmer ist.
seine Leistung bleibt hinter dem guten Willen weit zurück; seine verworrene und
unverständliche Darstellung ist sogar geeignet, die Narren vollends toll zu machen.
Hätte er das, was er sagen wollte, in einfacher, verständlicher Sprache auf zwanzig
Seiten gesagt und sich die übrigen 115 Seiten erspart, so hätte er sich Dank
verdient. Das aussprechen zu müssen thut uns um so mehr leid, als an einer
frühern Schrift von ihm, die wir nicht gelesen haben, über die Wahrscheinlichkeits¬
rechnung, die Rezensenten rühmen, daß sie wissenschaftliche Gründlichkeit mit dem
Vorzuge klarer, gemeinverständlicher Darstellung verbinde.
Dagegen haben wir an Dr. Richard Falckenberg, ordentlichem Professor
zu Erlangen, der soeben seine Geschichte der neuer» Philosophie vou
Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart bei Veit u. Comp. in Leipzig in dritter,
verbesserter und vermehrter Auflage herausgegeben hat, wieder einen Klassiker
von Paniscus Art. Die Klarheit und Schönheit seiner Darstellung ist über jedes
Lob erHabe», und der Reichtum des in einem mäßigen Baude zusammengedrängten
Stoffes bewundrungswürdig. Nach zwei Seiten hin hat er seiueni Werke eine»
Grad vou Vollständigkeit verliehen, den unsers Wissens kein andres Kompendium
erreicht; er hat nicht bloß die Philosophen vom Fach aufgenommen, sondern alle
Denker, die auf das Geistesleben Europas bestimmend eingewirkr haben, z. B. die
großen Astronomen (die Dichter jedoch, bis auf einige philosophierende, ausgelassen),
und er hat alle Fachphilosophen aller Kulturvölker wenigstens genannt; wenn solcher¬
gestalt hie und da, z. B. bei den polnischen Denkern, ein bloßes Nameusverzeichnis
daraus geworden ist, so läßt sich das durch den Zweck des Buches, das zunächst
den Studenten dienen soll, entschuldigen. Höchste Beachtung verdient in der
glänzend geschriebnen Einleitung die Abweisung der Vorstellung, als ob die ältern
philosophischen Systeme durch die später» „widerlegt" wären und in die Rumpel¬
kammer gehörten. Keines der philosophischen Systeme ist widerlegt; jedes bedeutet
eine Weltanschauung, die in aller Zukunft Anhänger haben wird; Aristotclismus
und Platonismus, Rationalismus und Empirismus, Materialismus und Idealismus.
Pessimismus und Optimismus bleiben, sobald sie da sind, für alle Zeiten lebendig.
Nicht von der Logik, sondern von der Gemütsanlage hängt es ab, für welches
System sich der Einzelne entscheidet. In einer Zeitschrift lasen wir neulich! Plato
und Aristoteles seien doch nur Bilder im Ahnensaal; bei Darwin und Häckel fühle
man sich nnter lebendigen Menschen. Uns geht es gerade umgekehrt; wenn wir
den Phcidon lesen, finden wir uus uuter Menschen, die fühlen wie wir, und die
die höchsten Interessen mit uns gemein haben. Darwin, der den Sinn für Musik
verloren hatte und dem Shakespeare nichts als Unsinn zu sagen schien, könnten wir
höchstens um Würmer und Affen befragen, die uns wenig am Herzen liegen, und
die wir auch im Konversationslexikon finden. Es freut uus, das; Falckenberg auch
Eduard von Hartmann, den die Zünftigen sonst immer noch zu ignorieren ver¬
suchen, mit vier Seiten gerecht wird; noch mehr aber freut es uus, daß er Lotze,
den Hartmann so tief verachtet, für den Philosophen erklärt, dessen System unter
den nachhegelschen das bedeutendste sei und die lebenskräftigsten Zukunftskeime ent¬
halte. — Einen, wie Paulsen hervorhebt, echt kantischen Gedanken, daß gerade die
mechanische Weltbetrachtung zu Gott führt, hat Professor Dr, Günther Thiele
in Berlin sehr schon in seiner Antrittsvorlesung ausgesponnen, die er unter dem
Titel: Kosmogenie und Religion (Berlin, Konrad Skopnik, 1393) herausgegeben
hat. — Die Psychologie der Verändernngsauffassung von L. William
Stern (Breslau, Preuß und Jünger, 1898) enthält Untersuchungen der Art, die
man als Feinmechanik der Seelenkunde bezeichnen könnte. S. 164—165 wird
u. a. gelehrt, daß warm und kalt nicht qualitativ, sondern nur quantitativ verschieden
seien; wie es nun dennoch kommt, daß wir bei einer unter Null sinkenden Tem¬
peratur nicht immer schwächer sondern stärker empfinden, das glauben wir in einem
der Nietzscheartikel (Jahrgang 1398 der Grenzboten, 2. Band, S. 479) befriedigender
erklärt zu haben als Stern.
In dem Artikel: „Die Deportationssrage vor dem deutschen
Juristentage in Posen habe ich (1898, IV, S. 571) Herrn Rechtsanwalt Dr. Scherer
(Leipzig) auf Grund der dort zitierten ihm in den Zeitungsberichten in den Mund
gelegten Äußerungen als Gegner der Deportation bezeichnet. Nachdem nunmehr
die offizielle» Verhandlungen des deutscheu Juristeutages (Berlin, Gutteutng, 1898)
erschienen sind, habe ich mich überzeugt, daß Herr Scherer gerade das Gegenteil
gesagt hat.
Im übrigen muß ich mein Urteil über die Behandlung der Deportationsfrage
auch nach Kenntnisnahme der offiziellen Protokolle leider aufrecht erhalten.
rotz der Statistik an allen Ecken und Enden haben sich die letzten
Jahrzehnte durch ein ganz besonders großes Maß von Über¬
treibungen und Illusionen auf volkswirtschaftlichen und sozialem
Gebiet ausgezeichnet. Bis heutigen tags scheint man vielfach die
Thatsachen vor Zahlen nicht zu sehen.
Es sind jetzt über zwanzig Jahre her, daß ein Berliner Handwerkerverein
das „sachverständige" Gutachten abgab: „In Erwägung, daß die normale
Produktionsweise die der Großindustrie ist, daß die großindustrielle Organi¬
sation sich mehr und mehr über alle Gebiete der Warenerzeugung ausdehnt,
daß also dem Kleingewerbe an und für sich nicht mehr geholfen werden kann,
erklärt der Verein, in der Veranstaltung von GeWerbeausstellungen kein Mittel
zur Hebung des Handwerks zu erblicken." Das war damals in Berlin — die
GeWerbeausstellungen und der Ausstellungsschwindel, zu dem sie seitdem aus¬
geartet sind, interessieren hier nicht — nicht etwa kathedersozialistische Weis¬
heit, sondern ein Dogma des deutschen Manchestertnms, wie es von der „Volks¬
wirtschaftlichen Gesellschaft in Berlin" dem Spießbürgertum gepredigt und vom
deutschen Liberalismus geglaubt wurde. Ich habe schon damals vor dem
Sachverstände der Berliner und überhaupt der altpreußischen Handwerker- und
Gewerbevereine — im schärfsten Gegensatze zu den süddeutschen — in der
Hcmdwerkerfrage keinen großen Respekt gehabt, denn sie kümmerten sich schon
damals um alles andre, nur nicht um das Handwerk. Soweit sie sich über¬
haupt mit volkswirtschaftlichen Fragen — für die sozialen hatten sie gar kein
Interesse — befaßten, thaten sie es eben nur als Agitationsvrgane der
manchesterlichen Wortführer. Im übrigen dienten sie dem politischen Partei¬
liberalismus und staffierten sich nur nebenher mit einigen naturwissenschaft¬
lichen, historischen und prähistorischen Vorträgen aus. Die deutsche Statistik
hatte ihre Zählungen auch noch nicht auf das Handwerk ausgedehnt. Für
die Gewerbezählung von 1875 sing der Gewerbebetrieb überhaupt erst bei den
Betrieben mit fünf Gehilfen an. Aber auch ohne Zählung lag es für den,
der in Stadt und Land mit offnen Augen die Dinge betrachtete, doch auf der
Hand, daß der Liberalismus damals eine große Dummheit und Leichtfertigkeit
beging, wenn er in dieser Weise über eine gewerbliche Betriebsform den
Stab brach, in der sich ersichtlich die große Mehrzahl nicht nur der selb¬
ständigen Gewerbtreibenden, sondern der gewerbthütigen Personen überhaupt
nährte, und damit über einen Stand, der nicht etwa nur mit berechtigtem
Stolz auf eine blühende Vorzeit zurücksah, sondern auch im Bürgertum der
heutigen Städte noch thatsächlich der ausschlaggebende Bestandteil war und
an dem, was unsre Stadtgemeinden an Rühmenswertem leisteten, seinen
vollen Anteil beanspruchen durfte. Ist es zu verwundern, daß dadurch auf
der einen Seite die anfangs zu schönen Hoffnungen berechtigende Jnnungs-
bewegung der ausgesprochnen wirtschaftlichen Reaktion, dem Ziinftlertum,
in die Arme getrieben wurde und auf der andern Seite der Svzialdemo-
krcitie zahlreiche sehr brauchbare Rekruten geworben wurden, ganz abgesehen
davon, daß jener manchesterliche Irrtum sich mit der Irrlehre von der Prole¬
tarisierung der Massen im modernen Gewerbe vollkommen deckte?
Dann kam die erste umfassende gewerbliche Betriebszühlung von 1882.
Sie brachte zahlenmäßig den Beweis für die hohe Bedeutung, die das
Handwerk neben und trotz der „normalen" Produktionsweise der Großindustrie
im deutschen Gewerbfleiß behauptet hatte. Es waren gezählt worden in der
Industrie (einschließlich Gewerbe und Bauwesen):
und in den Betrieben
Im Jahre 1882 war die Jnnungsbewegung schon ganz in das reaktio¬
näre und zünftlerische Fahrwasser geraten, und die Zahlen wurden nun aus¬
schließlich in diesem Sinne ausgebeutet. Wenn die liberalen Volkswirte über¬
haupt davon sprachen, bestritten sie ihre Beweiskraft, und die jetzt in den
Vordergrund getretner Kathedcrsozialisten und Sozialdemokraten spielten die
Zahl der Personen gegen die der Betriebe aus, erklärten nun erst recht den
Fortbestand des Handwerks neben den „modernen Unternehmungsfvrmen" der
„kapitalistischen Wirtschaft" für ganz unmöglich, widmeten die Arbeit ihrer
Phantasie ausschließlich dem „vierten Stande" und sahen hohnlächelnd auf den
herab, der überhaupt noch vom Handwerk sprach. Es würde viel zu weit
führen, hier von dem Wirrsal irrtümlicher und übertriebner Vorstellungen auch
nur ein annäherndes Bild zu geben, die sich die phantasievollen Jünger der
in Preußen allmächtig gewordnen nationalökonomischen Schule bis auf den
heutigen Tag von der Lage und Entwicklung des Handwerks machten und in
unzähligen „Werken" der staunenden Mitwelt vorsetzten. Auch die Massen¬
veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des Handwerks
haben neben einzelnen vortrefflichen Darstellungen der Wirklichkeit — unter denen
sich vor allem die Arbeit über das Kleingewerbe in Karlsruhe durch nüchterne,
vorurteilsfreie Forschung auszeichnet — und neben einer Menge wertvoller
Einzelbeobachtungen im großen und ganzen den Bann doktrinärer Vorein¬
genommenheit, unter der die kathedersozialistische und die sozialdemokratische
Behandlung der Handwerkerfrage leiden, mehr zum Ausdruck gebracht als
gebrochen.
Unter diesen Umstünden gewinnen natürlich die Ergebnisse der mit der
Berufszählung vom Juni 1895 verbundnen gewerblichen Betriebszählung eine
ganz besonders hohe Bedeutung. Es wäre vielleicht verständiger gewesen,
wenn der Verein für Sozialpolitik sie abgewartet hätte, ehe er seine Forscher
losließ. Solch eine Zählung ist denn doch ein Wirtschafts- und sozialwissen¬
schaftliches Ereignis allerersten Ranges. Die Zählungen von 1895 kosten über
drei Millionen Mark, sie werden also sobald nicht wiederholt werden. Bis
jetzt liegen — abgesehen von der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik und
einigen kleinern Mitteilungen — nur die reinen Tabellenbünde vor; die wissen¬
schaftliche Zusammenfassung des Thatbestands, der sich aus dem Zahlenerwerb
ergeben wird, steht noch aus. Sie erst wird die Probe auf das Exempel
machen und den Beweis bringen, inwieweit sich unsre Doktrinäre bei der
Beurteilung der Handwerkerfrage mit der Wirklichkeit abgegeben haben oder
mit Wahnvorstellungen. Immerhin läßt sich doch auch jetzt schon aus den
veröffentlichten Zahlen ein Urteil darüber gewinnen, ob die Veränderungen
seit 1882 die Lehre von dem Untergang des Handwerks bestätigen oder nicht.
Wenn hier daran gegangen wird, dies zu untersuchen, statt die amtliche Er¬
schließung des Zahlenwerth abzuwarten, so ist der Grnno dazu, daß man sich
in neuerer Zeit bemüht hat, durch statistische Arbeiten den ausgesprochen
Übertreibungen, die oben gekennzeichnet sind, noch in der letzten Stunde den
Schein der Berechtigung zu wahren. Gerade aus der Berliner kathedersozia¬
listischen Schule heraus ist kürzlich eine Arbeit — bemerkenswerterweise mit
finanzieller Unterstützung des im allgemeinen der manchesterlichen Orthodoxie
treugebliebncn Ältestenkolleginms der Berliner Kaufmannschaft — erschienen,")
worin die vor zwanzig Jahren von dem Berliner Handwerkerverein angestimmte
Melodie wieder aufgenommen und fortgesungen wird, und der Verfasser be¬
wiesen zu haben glaubt, „daß für Berlin der Konkurrenzkampf zwischen der
modernen Unternehmung und dem alten Handwerk in der Hauptsache bereits
zu Ende ist," oder mit andern Worten: „daß die Umbildung des Berliner
Gewerbes aus der Produktionsform des Handwerks in die der modernen
Großunternehmung" nunmehr als statistisch erkennbare Thatsache zu gelten
habe.
Das ist so falsch, wie nur etwas falsch sein kann, und daß sich der Ver¬
fasser darüber zu täuschen vermag, trotz seiner statistischen Schulung und seines
statistischen Fleißes, beweist so recht deutlich, wie sehr die Einseitigkeit der
herrschenden kathedersozialistischen Schule den Blick ihrer Jünger für die
.praktische Wirklichkeit getrübt hat. Es verdient Beachtung, daß die Arbeit
nicht nur in den Schmollerschen Forschungen erschienen ist, sondern auch von
Schmoller in seinem Seminar angeregt und dem Ältestenkollegium der Berliner
Kaufmannschaft zur finanziellen Unterstützung empfohlen worden ist. Eine
kurze Darlegung der angeblichen Beweisführung des Verfassers für die in
Berlin endgiltig besiegelte Niederlage des Handwerks und den ausgesprochen
Sieg der modernen Großunternehmung erscheint deshalb am Platze. Es ist
dabei von vornherein im Interesse einer klaren Utis vontisstg-dio daran zu er¬
innern, daß in der von niemand bestrittnen Thatsache, daß sich der Gro߬
betrieb im Laufe der Zeit blühend entwickelt hat, niemals der Beweis gefunden
werden kann, es bestehe neben ihm nicht auch ein blühendes Handwerk.
Kann die riesige Zunahme der mechanischen Pferdekräfte in der Industrie bei
nüchterner Beurteilung noch als Beweis für die endgiltige Verdrängung der
Menschenkräfte ausgespielt werden? Hat nicht gerade in Deutschland neben
ihr allein in der Zeit von 1882 bis 1895 eine nie erhörte, nie für möglich
gehaltene Zunahme der Personen im Gewerbe stattgefunden?
schulgerecht sieht der Verfasser das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischeu
Handwerk und „moderner Großunternehmung" in der Arbeitsteilung, die darin
bestehe, „daß der Arbeitsprozeß in mehrere einzelne Operationen zerlegt
wird, von denen je eine einem besondern Arbeiter übertragen wird." Das
ist im Licht der praktischen Wirklichkeit schon unhaltbar, aber was soll
man zu der Kühnheit der Forschung erst sagen, wenn es in unmittel¬
barem Anschluß daran heißt: „Sie (die Arbeitsteilung) kommt somit(!) in
der Zahl der in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter zu einem deutlichen,
statistisch erkennbaren Ausdruck." Wenn ein Bäckermeister, ein Schmiede¬
meister, ein Schreinermeister heute mit einem Gesellen und dem Lehrjungen
auskommt und übers Jahr vier Gesellen braucht, so ist die Zunahme der
Personenzahl von drei auf sechs als Maßstab für die Beurteilung einer
zunehmenden Arbeitsteilung absolut nicht zu brauchen. Verwendet man ihn
dazu, so Wird die Forschung zur Spielerei und die Statistik zum Unfug. Die
Arbeitsteilung ist überhaupt nicht in dem Grade als Merkmal für die Grenze
zwischen Handwerk und „moderner Großunternehmung" oder Fabrik, wie das
vielfach geschieht, anzuerkennen. Auch im unzweifelhaften Handwerk kommt sie
vor und geschah sie schon zu Hans Sachsens Zeiten. Es hat immer geschickte
und ungeschickte Gesellen gegeben, und die ungeschickten haben beim Meister Sachs
ebenso wie heute bei jedem Schuhmachermeister das Befohlen und andre Flick¬
arbeiten mit den Lehrlingen besorgt, gerade in der Maßarbeit, aber das „Zwicken,"
das ist das besonders wichtige Ausspannen des Oberleders auf den Leisten, hat
der Meister immer selbst besorgt oder doch nur dem besten Gesellen anvertraut.
Und nun gar erst das Zuschneiden. Es ist höchst ergötzlich, es in manchen
neuern Forschungen als ein Zeichen des Verfalls des Handwerks entdeckt zu
sehen, daß der Schneider- und der Schusterlehrling nicht auch im Zuschneiden
vollkommen ausgebildet werde. Als ob jemals jeder Schneider- und Schuster¬
geselle zugeschnitten hätte! Und nicht anders liegen die Dinge im Handwerks¬
betrieb andrer Gewerbzweige. Wenn auch die Polizei geglaubt hat, die Arbeits¬
teilung als Merkmal für die Unterscheidung von Handwerks- und Fabrikbetrieb
in Bezug auf die Anwendung mancher Bestimmungen der Arbeitsschutzgesetz¬
gebung brauchen zu können, so ist das nur ein Beweis, daß man sich über¬
haupt keinen Rat weiß. Dem Zweck des Arbeiterschutzes entspricht diese un¬
brauchbare Schablone ebenso wenig, wie irgend einer vernünftigen Grenzlinie
zwischen Handwerk und Fabrik. Der Doktrinarismus ist hier bedenklich in
die Praxis eingedrungen, aber die gesunde Willkür der Polizei hilft Gott sei
Dank über manche UnVerständlichkeit hinweg, zu der der Verstand der Über¬
verständigen geführt hat oder führen muß.
Wenn auf solcher Grundlage nnn gar Statistik gemacht wird, was
kann da nicht alles bewiesen werden? Würden — so fährt unser Totengräber
des Handwerks fort — in einem Gewerbe die Abhängigen den selbständigen
gegenüber gestellt, so ergäbe die Verhültniszahl, wie weit durchschnittlich in
den Betriebsstätten dieses Gewerbes die Produktionszerleguug Eingang gefunden
habe. Im Jahre 1729 hätte beispielsweise ein selbständiger Meister in Berlin
0,9 Abhängige, 1890 dagegen 3,7, also die vierfache Zahl beschäftigt: „ein
Anzeichen, daß, im großen angesehen, die Überführung der ganzen Industrie
(d. h. immer: einschließlich des Handwerks) aus der handwerksmüßigen in die
fabrikmäßige Betriebsweise sehr fortgeschritten ist." Was ist damit in der
Sache, um die es sich handelt, bewiesen? Im Jahre 1729 war von Gro߬
industrie in Berlin überhaupt keine Rede. Wenn aber im Handwerk von da¬
mals, wie alte Zunftstatuten beweisen, ein Meister bis drei Gesellen und einen
Lehrling, unter Umständen auch noch mehr Personal halten durste, so wäre
unter Umständen die Arbeitsteilung ohne Großindustrie fortgeschrittuer gewesen
als 1890 mit ihr. Und wenn, wie der Verfasser angiebt, im Jahre 1801 auf
einen selbständigen 2,7 Abhängige kamen, so wäre von 1729 bis 1801 der
Fortschritt vom Handwerk zur sogenannten modernen Großunternehmung wie
0,9 : 2,7 ^ 1,8 zu schätzen, von 1801 bis 1890 aber nur wie 2,7 : 3,7 1,0.
Das würde „statistisch" eine starke Verlangsamung des Fortschritts zu einem
„deutlich erkennbaren Ausdruck" bringen, wenn es überhaupt statistisch oder
sonstwie ernsthaften Sinn hätte. Es ist doch wirklich die reine Phantasterei,
wenn jemand aus diesen Durchschnittszahlen und den weitern, daß 1801 auf
einen Gewerbtreibenden (Selbständige und Abhängige znscnnmen) 4,180 Ein¬
wohner gekommen sind, im Jahre 1890 aber 3,9327 zu dem schon erwähnten
Satze begeistert wird: „daß für Berlin der Konkurrenzkampf zwischen der mo¬
dernen (Groß-)Unternehmung und dem alten Handwerk in der Hauptsache be¬
reits zu Ende ist," um zu dem freilich sehr verschwommnen Schlußsatz zu ge¬
langen: „Es giebt kein Berliner Gewerbe, wo sich das alte Vollhandwerk er¬
halten hätte, ohne in seinem Produktionsgebiet, in seinen Absatzverhültnissen
oder sonst irgendwie geschmälert zu sein; das Handwerk ist also(!) überall im
Weichen, ja teils schon ganz verschwunden."
Für die Gegenwart wird vom Verfasser ferner folgender mehr als will¬
kürliche Grundsatz aufgestellt: „Bei zwei bis drei Personen (d. h. einschließlich
des Betriebsinhabers) kann es fraglich sein, ob ein arbeitsteiliges Jneinander-
arbeiten rentabel ist, bei fünf bis sechs Personen ist dieser Zweifel kaum mehr
haltbar. Die Zahl fünf würde sonach als hochgegrisfne Durchschnittsgrenze
anzusehen sein." Das sind die Füße, auf denen das ganze Werk, der ganze
massenhafte Zahlenbau, die ganze statistische Beweisführung beruht. Sie find
nicht einmal von Thon, sie sind Luft und Nebel, aber sie stehen leider auch
nicht allein. Die Unterlagen, auf denen die Kathedersozialisten und Sozial¬
demokraten ihre statistischen Bauten aufführen, sind vielfach um nichts besser
bestellt. Der Verfasser wagt es sogar, von der Hohe seines phantastischen Auf¬
baus herab, die im Sommer 1895 im Deutschen Reiche veranstaltete amtliche
Enquete über Verhältnisse im Handwerk deshalb als tendenziös zu kennzeichnen,
weil sie angenommen habe, daß auch Betriebe mit mehr als fünf Personen zum
Handwerk gerechnet werden könnten, obwohl doch diese sehr vorsichtig veran¬
staltete und besonders gründlich und kritisch verarbeitete Enquete schlagend
ergeben hat, wie sehr man mit dieser Annahme im Recht war. Obwohl in
den als „handwerksmäßige" bezeichneten etwa siebzig Gewcrbszweigen Be¬
triebe mit mehr als fünf Personen mit gezählt wurden, sind in dem Erhebungs¬
gebiet—es waren nur einige sogenannte „typische" Bezirke ausgewählt worden —
neben etwa 1600 weiblichen Betriebsinhabern, meist Meisterwitwen, überhaupt
57 666 Meister gezählt wurden, von denen nicht weniger als 96,8 Prozent
eine regelrechte Lehrzeit durchgemacht hatten, und zwar 96.1 Prozent bei einem
Handwerksmeister und nur 0,7 Prozent in einer Fabrik. Der kleine Rest
(3.2 Prozent) hatte seine Ausbildung beim Militär, in Lehrwerkstätten, in Fach-
Schulen, auch in Blinden- und Taubstummenanstalten u. dergl. erhalten. Alle
bezeichneten sich selbst und wurden von der Ortsbehörde als Handwerker im
gemeinüblichen Sinne bezeichnet. Die handwerksmäßige Vorbildung der Betriebs¬
inhaber — im Unterschiede zur kaufmännischen und wissenschaftlich-technischen —
tritt hier als besonders wichtiges Kriterium hervor; neben manchem andern
freilich, so auch neben der Zahl der Personen, für die aber nicht die Zahl
fünf sondern zehn als die nicht hoch, sondern niedrig gegriffn? Durchschnitts¬
grenze anzusehen sein würde, selbst wenn man das nächstwichtige Kriterium,
die regelmüßige handwerksmäßige Mitthütigkeit des Betriebsinhabers, streng
berücksichtigt. Es mag ja unter den Betrieben der handwerksmäßigen Gewerbe,
wie sie für die Enquete vom Sommer 1895 aufgezählt werden,'") solche mit
zehn Personen und auch weniger geben, die von gelernten Kaufleuten und andern
NichtHandwerkern geleitet werden, vielleicht auch einige, die von gelernten Hand¬
werkern ausgesprochen fabrikmüßig organisiert waren, was immer schwer, niemals
aus der Verwendung von Motoren allein festzustellen sein wird, aber ihre Zahl
wird wahrscheinlich mehr als aufgewogen durch die von gelernten Handwerkern
handwerksmäßig betriebnen Werkstätten oder Geschäfte mit mehr als zehn Per¬
sonen, deren Inhaber man mit Fug und Recht nach ihrer ganzen wirtschaft¬
lichen, sozialen und technischen Stellung als Handwerker anzusprechen hat. Die
einzelnen handwerksmäßigen Gewerbe Verhalten sich in dieser Beziehung sehr
verschieden. Aber wer nur den guten Willen hat, sich in seinem Kreise un¬
befangen umzusehen, der wird sich bald überzeugen, daß in der Regel die In¬
haber von Betrieben handwerksmäßiger Gewerbe mit zehn und weniger Per¬
sonen nach ihrer Vorbildung und ihrer Thätigkeit Handwerker sind und nicht
zu einem vom Handwerkerstande zu unterscheidenden Fabrikantenstande gehören.
Noch eins ist hier zu erwähnen und abzufertigen. Der Verfasser der be-
sprochnen statistischen Arbeit hält auch das Überhandnehmen der Frauenarbeit
für ein vollwertiges Anzeichen des Untergangs des Handwerks. Nun ist aber
auf keinem Gebiet so mit der Statistik gespielt und sind so arge Übertreibungen
aus ihr heraus konstruiert worden, wie auf dem der Frauenarbeit. Das
Meisterstück in dieser Beziehung hat ein Dr. Robert Wuttke in einem 1897
in der Gehestiftung zu Leipzig gehaltnen Vortrage: „Die erwerbsthätigen
Frauen im Deutschen Reiche" geleistet. Es ist hier nicht der Raum, auf die
Sache näher einzugehen. Der ganze sensationelle Rummel zerfällt in sich selbst
angesichts der auch Wuttke wohlbekannten Thatsache, daß in der gesamten In¬
dustrie (einschließlich des Kleingewerbes) der Anteil des weiblichen Geschlechts
an der Erwerbsthätigkeit im Hauptberuf nur um winzige 0,75 Prozent von
1882 bis 1893 zugenommen hat. In Preußen hat er sogar abgenommen.
Dabei ist immer zu bedenken, daß es sich um eine Periode handelt, in der
der Übergang von der hauswirtschaftlichen Produktion zur gewerblichen ganz
besonders starke Fortschritte gemacht hat, also eine ganz besonders große
Menge weiblicher Arbeitskraft für das Gewerbe freigeworden ist, und daß die
Periode sich überhaupt durch eine bisher unerhörte Vermehrung der erwerbs¬
thätigen Personen in der Industrie auszeichnet. Was die Zunahme der
Weiberarbeit im Handwerk im besondern betrifft, so fallen hier die im hand¬
werksmäßigen Warenverkauf thätigen Frauen — meist Familienangehörige —
sehr stark ins Gewicht, namentlich in der Bäckerei und Fleischerei und der¬
gleichen. Es beruht gerade bei diesen Personen die Zunahme zum Teil auch
auf genauerer Zählung.
Für Berlin hatte die gewerbliche Vetriebszühlung vom Juni 1882 er¬
geben, daß an industriellen Betrieben (also ohne die Gärtnerei, nichtlandwirt¬
schaftliche Tierzucht, Fischerei. Handel und Verkehr, aber einschließlich des Klein¬
betriebs) vorhanden waren:
Soweit die Ergebnisse der gewerblichen Betriebszählung vom Juni 1895
bis jetzt vorliegen, fehlen allerdings zahlenmäßig ohne weiteres vergleichbare
Daten, schon weil für 1895 die Betriebsgrößen nach der Zahl der beschäf¬
tigten Personen (einschließlich der Inhaber) gebildet sind, während sie für 1882
nach der Zahl der Gehilfen (ohne die Inhaber) abgegrenzt waren. Trotzdem
ist eine Gegenüberstellung beider Ergebnisse für die Frage, um die es sich hier
handelt, durchaus zulässig und beweisend. Es sind nämlich in Berlin gezählt
worden:
Es haben also die Betriebe mit zehn und weniger Personen im Jahre
1882 nicht weniger als 95,79 Prozent und im Jahre 1895 noch immer
93,96 Prozent aller Betriebe ausgemacht. Trotz des ungeheuern Zuflusses
von Arbeitskräften zur Industrie überhaupt und trotz der den Großbetrieb
zweifellos begünstigenden mächtigen Entwicklung des Kraft- und Arbeitsmaschiuen-
wesens hat der Anteil deS Handwerks nnr um 1,83 abgenommen. Dabei ist
aber — und das ist ganz besonders zu beachten — der Anteil der Handwerks¬
betriebe von zwei bis zehn Personen um mehr als 6 Prozent größer geworden.
Nur die Alleinbetriebe sind zurückgegangen- von 64615 auf 54376, also um
10239. Vou diesem Rückgang kommen aber fast 8000 allein auf die (in der
Statistik von den Schneiderinnen unterschiednem) Näherinnen, der Rest fast ganz
auf die Textilindustrie. Von einer bedauernswerten Abnahme des Handwerks
ist in diesen Füllen natürlich ganz und gar nicht zu reden, wahrscheinlich von
einer durchaus gefunden sozialen Erscheinung. Für sehr bemerkenswert in nicht
ungünstigem Sinne erscheint es mir, daß — bei näherm Eingehen auf die
einzelnen Gewerbsarten — z. V. schon die Schneiderei eine ganz beträchtliche
Zunahme der Alleinbetriebe erkennen läßt, obgleich es sich hier auch teilweise
um Schneiderinnen, die im Hause der Kunden, und um Schneider und Schneide-
rinnen, die für fremde Konfektions- und Maßgeschäfte entweder hauptsächlich
oder nur nebenher arbeiten, handeln wird. Das Arbeiten „auf der Stör"
raubt dem Handwerker ebenso wenig seine Handwerksqualität, wie dies ohne
weiteres die Arbeit „fürs Geschüft" thut. Aber abgesehen davon, auch die
Alleinbetriebe der Steinmetzen, der Gold- und Silberschmiede, der Klempner,
der Schlosser, der Büchsenmacher, der Uhrmacher, der Mechaniker, der Buch¬
binder, der Gerber, der Sattler, der Riemer und Tapezierer, der Drechsler,
der Fleischer, der Hutmacher, der Kürschner, der Schuhmacher, der Barbiere,
der Maurer und Zimmerleute, der Glaser, der Stubenmaler, der Ofen¬
setzer usw. zeigen mehr oder weniger eine so erfreuliche Zunahme, daß man
die Entwicklung des Handwerks in dieser der Unselbständigkeit am nächsten
kommenden Schicht von Unternehmern nur günstig beurteilen kann.
Für das ganze Reich stellten sich die oben für Berlin mitgeteilten Haupt¬
zahlen 1895 wie folgt:
Die Zahlen bedürfen keiner weitern Erläuterung. Die Entwicklung seit 1882
ist im Reich für das Handwerk nicht ungünstiger als in Berlin. Es kann
hier auf ein näheres Eingehen auf sie verzichtet werden. Die noch ausstehenden
amtlichen Veröffentlichungen werden den Vergleich der Zahlen von 1895 und
1882 hoffentlich auch im einzelnen wesentlich erleichtern.
Daran ist schon nach dem, was jetzt vorliegt, nicht zu zweifeln, daß die
Verkündiger der Lehre vom Untergang des Handwerks nicht weniger wie all
die sensationslustigen Apostel des Dogmas von der völligen Umwälzung der
sozialen Struktur des modernen Erwerbslebens in den Ergebnissen der Bcrufs-
und Gewerbezählung von 1895 ein eiskaltes Sturzbad erhalten haben, das
eine starke Hypnose zu brechen, arge Phantasten zu ernüchtern imstande sein
sollte. Ob es die Träumer selbst aufwecken wird, wer kann das wissen? Aber
es genügt schon, wenn der Nimbus, der sie bisher vor der kritiklosen Masse
der Gebildeten unsrer Tage umgab, abgestreift wird. Das aber gebe der
Himmel!
Vor zwanzig Jahren ist die Jnnungsbewegung verdorben worden durch
die wirtschaftliche Reaktion mit der Parole, man könne dem Handwerksmeister
nicht zumuten, seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gegen Lehrling, Gesellen,
das Handwerk und die Kundschaft zu thun, wenn man ihm nicht durch nutz¬
bringende Privilegien Geschäftsgewinne wenigstens vorgaukle. Zu dieser Zeit
hoffte ich, beim deutschen Handwerk werde das damals wieder auflebende
Verständnis von Bestand sein, daß die Rückkehr des Einzelnen zu seiner per¬
sönlichen Pflichterfüllung das Haupstück sei, auf das es ankomme, wenn dem
Handwerk im ganzen geholfen werden solle, und daß ohne Rückkehr des Einzelnen
zur Pflicht alle Zwangsorganisationen und nutzbringenden Privilegien keinen
Pfifferling wert seien. Nichts hat das Wiedererwachen des Pflichtbewußtseins
bei den Handwerksmeistern mehr vereitelt, als die unglückselige Lehre: Laßt
alle Hoffnung fahren, die moderne Wirtschaftsordnung hat keinen Platz mehr
für euch! Möchte auch in dieser Beziehung die Statistik mit ihrem kalten
Wasserstrahl die giftigen Nebel zerstreuen. Aber die sündhafte Übertreibung der
unüberwindbaren Macht der neuen Verhältnisse hat mehr als alles andre auch
die Rückkehr zur sozialen Pflichterfüllung bei den Einzelnen überhaupt ver¬
hindert, den Wahn, daß der Staat, das organisierte Ganze, jetzt die Pflichten
des Einzelnen zu übernehmen habe, erzeugt und großgezogen. Das ist die
Lüge, an der unsre Entwicklung krankt, die unsre Zukunft bedroht. Die
Wahrheit führt nicht zum Umsturz, wenn man sie nur sprechen läßt. Und
die Statistik ist die Wahrheit über unser gesellschaftliches Leben. Sie mund¬
u den Hauptaufgaben, die sich der deutsche Verein für öffent¬
liche Gesundheitspflege gestellt hat, gehört die Beschaffung guter
und gesunder Arbeiterwohnungen. In seiner Tagung vom
Jahre 1889 stellte er die Grundzüge auf, die hierbei gelten
sollen. Als vornehmste und unabweisbare Bedingungen forderte
er, daß bei der Gründung neuer Ansiedlungen nicht nur für Straßen und
Plätze, vielmehr auch für öffentliche Gärten ein entsprechender Teil des Bau¬
grundes als unbebaubar erklärt werde, die Höhe eines Gebäudes nicht größer
sei als sein Abstand von der gegenüberliegenden Baufluchtlinie, die Höhe der
Hoffronten das anderthalbfache des mittlern Abstands von der gegenüber¬
liegenden Begrenzung des unbebauten Raumes nicht übersteige, die mittlere
Breite eines Hofes nicht unter vier Metern zu bemessen sei, Aborte möglichst
für jede Wohnung einzurichten und mit einem ins Freie gehenden Fenster zu
versehen seien. Ferner verlangt der Verein, daß Räume, die zu lungern
Aufenthalte von Menschen dienen, eine lichte Höhe mindestens von 2,5 Metern
haben und nicht höher als im vierten Stockwerke liegen sollen; die lichtgebende
Gesamtfläche der Fenster soll mindestens ein Zwölftel der Grundfläche be¬
tragen, der Fußboden aller Räume über dem höchsten Grundwasserstande, im
Überschwemmungsgebiete über Hochwasser liegen und gegen Bodenfeuchtigkeit
gesichert sein. Wohnungen in Kellern sind unbedingt unzulässig, bei Geschäfts¬
räumen darin soll der Fußboden höchstens einen Meter unter, der Fenstersturz
mindestens einen Meter über der Erdoberflüche liegen. Bor der Benutzung
soll jede Wohnung behördlich geprüft werden. Vermietete, als Schlafrcinme
benutzte Gelasse sollen sür jedes Kind unter zehn Jahren mindestens fünf Kubik¬
meter, für jede ältere Person mindestens zehn Kubikmeter Luftraum enthalten,
und auf jedes Kind sollen mindestens 0,1 Quadratmeter, auf jede ältere Person
mindestens 0,2 Quadratmeter lichtgebende Fensterflüche entfallen. Diese von
ihm gutgeheißenen Wünsche unterbreitete er in einer Vorstellung dem Reichs¬
tage als Vorschläge sür ein zu erlassendes Reichswohnungsgesetz. Im Laufe
der Zeiten scheint der Verein Bedenken gegen die Durchführbarkeit seiner phi¬
lanthropischen Ideen gefaßt zu haben. Denn bei seiner vorjährigen Tagung
nahm er am 16. September v. I. eine Resolution an, wonach er zwar eine
durchgreifende Wohnungsbeaufsichtigung für ein dringendes Bedürfnis erachtet,
jedoch zur Zeit Anträge auf reichsgesetzliche Regelung für erfolglos hält und
daher deu Erlaß von Landesgesetzen oder eine ortspolizeiliche Regelung oder
allgemeine polizeiliche Verordnungen empfiehlt. Inzwischen hat der Abgeordnete
Bassermann im Reichstage am 13. Dezember v. I. den Erlaß eines Neichs-
wohngesetzes befürwortet.
Bevor dieser letzte Beschluß gefaßt wurde, hatte schon das königlich
sächsische Ministerium den Versuch gewagt, die Arbeiterwohnungsfrage im Wege
des Ortsstatuts ortspolizeilich zu regeln, indem es Normativbestimmungen für
eine Ortsbauordnung ausarbeitete, die als Grundlage für die Beschlüsse der
Gemeindeverwaltung zu gelten hat. Die hier aufgestellten Grundzüge zerfallen
in vierzehn Abschnitte mit einundachtzig Paragraphen, von denen die sechs
ersten die Erfordernisse einer Straßenbauordnuug, d. h. die Eigenschaften der
zum Anbau fertigen Straßen und die Beschaffung des hierfür erforderlichen
Grund und Bodens behandeln. Diese haben schon in der Straßenbauordnung
für die Stadt Dresden vom 30. März 1897 und in der Bauordnung für die
Stadt Leipzig vom 27. Oktober 1897 sinnentsprechende Berücksichtigung ge¬
funden. Ihnen schließen sich in den Abschnitten 7, 9, 10, 11, 12 die bei der
Bauausführung zu beobachtenden Grundsätze an, während Abschnitt 8 die Eigen¬
schaften der Bewohnbarkeit von Familienwohnungen aufstellt; die Abschnitte
13 und 14 enthalten Übergangsbestimmungen. In diesem Normalstatut wird
den vorangestellten Grundzügen im weitesten Maße Rechnung getragen. Unter
den Bebauungsvorschriften wird im Z 49 angeregt, den Bezirk der Gemeinde
hinsichtlich der baulichen Ausnutzung des Grund und Bodens in zwei oder
drei Zonen zu zerlegen, von denen die letzte das neuerschlossene Baugelände
zu umfassen habe. Für diese äußerste Zone sieht Z 50 als Regel vor, daß
von jeder Baustelle nur vier Zehntel mit Gebäuden überbaut werden dürfen,
in Landgemeinden die offne Bauweise die Regel sein solle, aber auch in Städten
das Außengelände möglichst weiträumig zu bebauen sei, die Gebäudehöhe, ab¬
gesehen von öffentlichen Gebänden in Städten, möglichst auf drei, in Land¬
gemeinden auf zwei Geschoß einschließlich des Erdgeschosses festzusetzen sei,
für Straßen, auf denen ein größerer Geschäftsverkehr nicht zu erwarten steht,
eine hinter die Straßenflucht zurücktretende Bauflucht und das zwischen beiden
liegende Gelände als Vorgarten vorzusehen sei. Unmittelbar hinter jedem
Vorderhause muß in voller Länge ein unbebauter Raum als Hof oder Garten
vorhanden sein, dessen Tiefe der Hauptsimshöhe des Vordergebäudes wenigstens
gleichkommt. Der Erdgeschoßfußboden soll (§ 52) in der Regel wenigstens
0,50 Meter über der Oberfläche der Straße oder des Vorgartenlandes liegen
und die Außenwand durch Jsolierschichteu vor dem Eindringen des Gruud-
wassers geschützt werden. Auch ist nach § 70 für jede Familienwohnnng ein,
besondrer Abort vorzusehen.
Als Erfordernisse einer Fcimilienwohnuug stellt Z 58 einen gut heizbaren
Wohnrnnm, einen Schlafraum und eine Küche nebst dem erforderlichen Neben¬
gelaß zur Aufbewahrung von Gerätschaften, Holz usw. auf. Wohn- und
Schlafräume müssen zusammen wenigstens dreißig Quadratmeter Grundfläche
haben, mit beweglichen unmittelbar ins Freie führenden Fenstern, deren Gesamt¬
fläche nicht nnter einem Zwölftel der Grundfläche des betreffenden Raumes
betragen darf, versehen sein, anch in der Regel zwei sich gegenüber liegende
Fenster haben, um eine gründliche Lüftung der Räume zu ermöglichen. Der
Einbau von Alkoven ist unstatthaft. Es untersagt Z 59 die Einrichtung von
selbständigen Wohnungen und von Werkstätten im Kellergeschoß, läßt ihn
zwar ausnahmsweise für Hausmanns-, Kutscher-, Gärtnerwohnungen in frei¬
stehenden Häusern zu; doch muß dann das Grundstück in einem Gebiete liegen,
wo die Möglichkeit einer Überschwemmung ausgeschlossen erscheint; ferner
dürfen die Wohnräume nur nach Süden, Osten oder Westen straßenwärts so
angelegt sein, daß der Zugang des Sonnenlichts in einem Winkel von wenigstens
fünfundvierzig Grad gesichert ist, auch soll die Sohle des Fußbodens wenigstens
einen Meter über den mutmaßlich höchsten Stand des Grundwassers angelegt,
sowie der Fußboden in einer Dicke wenigstens von 0,15 Meter dekoriert
und gegen das Eindringen der Erdseuchtigkeit geschützt sein. Endlich ist der
Einbau von Wohnräumen im Dachgeschoß zufolge K 60 nur in Vorderhäusern
gestattet, wenn das Dach als Mansarde ausgebaut ist und eine Neigung von
sechzig bis siebzig Grad erhält, die äußern Umfassungen dovpelwandig, gegen
Eindringen von Feuchtigkeit sowie gegen die Sonnenhitze und Kälte verwahrt
sind, sämtliche Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume stehende zum Öffnen einge¬
richtete Fenster erhalten, deren lichtgebende Fläche wenigstens ein Zehntel der
Bodenfläche des betreffenden Raumes betragen soll. Dieser Raum muß
wenigstens für die Hälfte der Deckenfläche eine lichte Höhe von 2,85 Metern
haben und in keinem Teile unter 0,80 Meter hinabgehen. Abgesehen von Eck¬
häusern und solchen Gebäuden, die von öffentlichen Behörden, gemeinnützigen
Vereinen oder Stiftungen verwaltet werden, läßt endlich § öl den Einhalt
nur von zwei selbständigen Wohnungen in einem Stockwerke zu.
Als überfüllt ist nach Z 58 eine Wohnung anzusehen, wenn sie nicht für
jede erwachsene Person wenigstens zwanzig Kubikmeter, sowie für jedes Kind
wenigstens zehn Kubikmeter Luftraum bietet. Im Einvernehmen mit dein
königlichen Vezirksarzte hat die Baupolizeibehörde nach Befinden die Räumung
von Wohnungen anzuordnen, die diesen Bestimmungen nicht genügen; Zuwider¬
handlungen werden «ach Z 79 bestraft.
Eine Gegenüberstellung der vorangeschickten Vorschläge, die übrigens im
allgemeinen auf das hinauskommen, was von Mangoldt in Heft 1 der Schriften
des Vereins „Reichswohnungsgesetz" (Frankfurt a. M, Johannes Alt, 1898)
als Grundzüge hinstellt, mit den sächsischen Normativbestimmungen läßt eine voll-
kommne Übereinstimmung beider in denk Bestreben erkennen, dem erwerbthätigen
Teile der Bevölkerung zu Wohnungen zu verhelfen, denen die zur Gesundung un¬
entbehrliche Menge von Luft und Licht zugeführt werden. Insoweit wird von
einer Prüfung der einzelnen vom Verein aufgestellten Sätze um so mehr Ab¬
stand genommen werden können, als er mit Fachkenntnis uneigennützig, vor¬
urteilsfrei, unbefangen die einschlägigen Verhältnisse geprüft und reiflich er¬
wogen hat, bevor eine Entscheidung getroffen wurde. Dennoch erscheint die
Festsetzung dieses geringsten Raumgehalts und Lichtzuflusfes für die einzelne
Person als unabweisbare Voraussetzung der Bewohnbarkeit von Räumen be¬
denklich. Man will doch ein Gesetz schaffen, das dem Wohle der arbeitenden
Bevölkerung dienen soll, und da müßte man zunächst verhüten, daß das Dar-
gebotne zum Danaergeschenk werden kann. Und gerade dies ist mit Wahr¬
scheinlichkeit zu befürchten. Wird nämlich die Thatsache berücksichtigt, daß das
Streben der arbeitenden Bevölkerung nach einem Normalarbeitstag und nach
einem Normalarbeitsverdienst zu dem Endergebnis führen muß, daß alle Berufs¬
arbeiter desselben Jndustriezweigs unter sich ein ziemlich gleiches Einkommen
haben müssen, daß also die Einkünfte eines Mannes mit großer Familie die¬
selben wie die eines Arbeiters mit kleiner sind, so kann „der kinderreiche Ar¬
beiter nicht mehr, eher weniger auf Mietzins verwenden, als sein kinderarmer
Berufsgenosse." Die Aussichten, eine geräumige, gute Wohnung zu bekommen,
sind für kinderreiche Arbeiter natürlich schwächer und ungünstiger als für den
kinderarmer. Aber gerade hierin liegt der Schwerpunkt der Bedenken gegen
das vorgeschlagne Prinzip, also der Widerspruch zwischen dem theoretischen
Gedanken und seiner praktischen Verwertung. Überwinden läßt sich diese
Schwierigkeit nur, wenn das Reich, der Staat, die Gemeinde oder Vereine
Mietgelasse Herrichten, die den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen und
kinderreichen Familien zu einem niedrigen Mietzinse überlassen werden, womit
man auf das hinauskommt, was Ferdinand Lassalle und Karl Marx als
Aufgaben des Zuknnftsstaats bezeichnen, auch Hertzka sich als Ziel seiner Frei¬
landträume vorstellt.
Abgesehen von diesem volkswirtschaftlichen Bedenken ist der Grundsatz im
Z 58 über die Räumung unzulänglicher Wohnungen schwer durchzuführen.
Zunächst pflegt erfahrungsgemäß das kinderreiche Familienoberhaupt beim
Mieter der Wohnung die Zahl seiner Kinder geringer anzugeben, um nicht
von vornherein den Vermieter abzuschrecken. Würde der geplante Grundsatz
gesetzliche Anerkennung finden, dann würde eine derartige wahrheitswidrige
Angabe ein straffälliger Betrug sein. Es müßten dem Mieter die gemieteten
Räume versagt, er also von vornherein obdachlos gemacht werden. Auch kann
in der Zeit, wo der Mietvertrag abgeschlossen wird, die Wohnung noch aus¬
reichend sein, was nicht mehr zuträfe, wenn sich durch Neugeburten die Zahl
der Familie vergrößert, oder eines der Kinder allmählich den Nciumgehalt Er-
wachsamer beansprucht. Wer soll dies überwachen und die Strafen aus K 79
erleiden, der Mieter oder der Vermieter? In solchen Fällen die Räumung
zu erzwingen, wäre eine Härte, die dem Arbeiter nicht zum Wohle, sondern
zum Unheil gereichte. Man könnte dies zwar in der Weise mildern, daß nicht
die ganze Familie hinaufgesetzt und obdachlos gemacht wird, vielmehr bloß
die überschießenden Glieder, die dem Asyle für Obdachlose oder dem Waisen¬
hause zuzuführen wären. Aber dieses Mittel wäre hart und grausam. Ganz
konsequent würde sich aus dieser Raumbestimmnng auch das Verbot ergeben,
den Luftraum durch nufgeuommne Gäste oder durch gehaltne Haustiere zu
verkümmern, d. h. dem kinderreichen Arbeiter eine Freude versagen, die
dem kinderarmer Berufsgenossen unbeanstandet erlaubt wird. Unter keinen
Umstanden darf es dem Ermessen der Polizei überlassen werden, über die
Wohnungen endgiltige Entscheidungen zu treffen, soll nicht eine besondre Ge¬
fahr geschaffen werden; vielmehr müßte die Entscheidung der Polizei im ge¬
ordneten Verfahren anfechtbar sein, wie der Verein „Reichswohnuugsgesetz" sich
die Organisation dreigliedrig als Bau- und Wohnungsrat, Wohnungsinspektor,
Reichswohnungsamt denkt, damit das Verwaltungsrecht auch hier Schutz gegen
Mißb
Zu der Frage der Wohnungsnot und Wohnungsreform liegt ein neues
Aktenstück vor, das zunächst zwar nur die Verhältnisse einer einzelnen Stadt
behandelt, aber eine weit darüber hinausgehende allgemeine Bedeutung be¬
ansprucht: die Flugschrift des Frankfurter Mietervereins über „Das Woh¬
nungselend und seine Abhilfe in Frankfurt a. M."*)
Dieser Verein hat im Herbste des vorigen Jahres eine Untersuchung der
Wohnungen in den ältesten Stadtteilen veranstaltet und legt nun das dabei
gewonnene Material über 215 Wohnungen, das nach den hauptsächlichsten Ge¬
sichtspunkten statistisch verarbeitet worden ist, in dieser Schrift vor. Beigefügt
sind im letzten Abschnitt praktische Vorschläge zur Abhilfe der Wohnungsnot,
die aus der Feder des auf diesem Gebiete sehr verdienten Dr. Karl von Mangoldt
stammen, und die wegen ihrer klaren und besonnenen Fassung ganz besondre
Beachtung verdienen.
Schon das Material an sich ist durch den Einblick, den es wieder einmal
in das Wohnungselend einer Großstadt thun läßt, von großem Interesse,
freilich auch betrübender Art. Mancher wird, wenn er die Schrift liest, staunen,
welche Zustände selbst in einer so reichen Stadt wie Frankfurt möglich sind,
einer Stadt überdies, die wegen ihrer öffentlichen und privaten sozialen Für-
sorge nicht mit Unrecht gerühmt wird. Leider hat aber der Magistrat gerade
für seine Weitschauende Bodenpolitik, die die Grundlage jeder durchgreifenden
und nachhaltigen Wohnungsreform ist, bei den Stadtverordneten keine Zu¬
stimmung gefunden. Mit den „kleinen Mitteln" aber, über die man bisher
nie recht gewagt hat hinauszugehn, ist es den immer größer werdenden Mi߬
ständen gegenüber nicht mehr gethan. Dies hat gerade die Frankfurter Enquete
wieder klar gezeigt. Ich will hier nur auf einen Punkt, der mir der wichtigste
scheint, aufmerksam machen.
Daß es auch in Frankfurt an kleinen Wohnungen fehlt, war voraus¬
zusehen. Was aber jetzt besonders erschreckend zu Tage getreten ist und oft
in seiner gesonderten Bedeutung nicht genug gewürdigt wird, ist der Mangel
an allerkleinsten Wohnungen für die allerärmste Bevölkerungsschicht. Daß
hieran die private Bauthätigkeit etwas ändert, muß nach den bisherigen Er¬
fahrungen als ausgeschlossen gelten. Ebenso wenig darf man aber hier auf
baugenossenschaftliche „Selbsthilfe" rechnen. Denn die Leute, um die es sich
dabei handelt, sind, wie Mangoldt mit Recht betont, viel zu hilf- und mittellos,
um sich zu Baugenossenschaften zusammen schließen zu können. Es ist deshalb
notwendig, daß die Stadt und die gemeinnützigen Gesellschaften endlich hier
eingreifen und Abhilfe schaffen. Dazu muß aber vor allem Klarheit darüber
bestehen, wie dies geschehen kann.
W. H. Riehl stellte einst in seiner „Familie" an die gemeinnützigen Ball¬
gesellschaften die Forderung, sie möchten beherzigen, „daß es im Geiste ihrer
Mission als einer sozialen liegt, nicht Wohnungskasernen herzustellen, und
seien dieselben noch so trefflich eingerichtet, sondern wirkliche Familienhäuser."
Dieser Wunsch ist nicht ganz unerfüllt geblieben: noch heute schwebt den Bau-
genossenschaften und Ballgesellschaften mehr oder weniger bei ihrer Thätigkeit
das Ideal des Familienhauses, wenn auch nicht gerade des Einfamilienhauses
vor. So gut das gemeint ist, so wenig wird es den realen Verhältnissen
gerecht. Eine einigermaßen freundliche und gute Wohnung läßt sich nun
einmal nicht unter einem gewissen Preise, zumal in einer Großstadt, herstellen
und deshalb auch nicht unter einem gewissen Preise vermieten, selbst wenn
eine noch so mäßige Verzinsung^) gefordert wird. So mag also der Mietpreis
verhältnismüßig noch so billig sein, ein großer Teil unsrer untersten Vevölke-
rrillgsklassen wird nicht imstande sein, ihn zu zahlen. Auch die gemeinnützigen
Ballgesellschaften haben bisher in der Regel ans die geringe Leistungsfähigkeit
dieser ärmsten Schichten zu wenig Rücksicht genommen und selbst da, wo sie
die cmsgesprochue Absicht hatten, ihnen zu helfen,**) dadurch ihren Zweck
verfehlt, daß sie sich das Ziel zu hoch steckte» und zu gute Wohnungen bauten.
Ich scheue absichtlich nicht das Wort „zu gut"; denn hier ist es wirklich so,
daß nicht nur das Bessere der Feind des Guten, sondern auch das Gute der
Feind des zuerst und durchaus notwendigen sein kann.
Auch sonst hat ja auf diesem Gebiet ein gewisser hygienischer Übereifer
nur geschadet. So stellt sich jetzt auch in Frankfurt heraus, daß die rigoroser
Bcmverorduungen, die man vor zwei Jahren in bester Absicht erlassen hat,
direkt ungünstig gewirkt haben, insofern sie den Neubau vou kleinen Wohnungen
erschweren und so dazu beitragen, die ärmsten Leute in den schlechten alten
Häusern zusammenzudrängen. Es ist überhaupt Einbildung, zu glauben, daß
man in absehbarer Zeit für die Majorität anch nur der mittelgut gestellten
Arbeiter wirklich ganz den gesundheitlichen Anforderungen entsprechende Woh¬
nungen ermöglichen könne; denn einer der Hauptmißstünde, die Überfüllung,
läßt sich gar nicht ganz beseitigen. Man mag noch so genau das Minimum
von Luftraum, das in einer Wohnung für die Person vorhanden sein muß,
berechnen: in Hunderten von Fällen wird die Kinderzahl einen dicken Strich
durch die Rechnung machen. Denn der „kleine Mann" kann ja nicht ent¬
sprechend seiner wachsenden Kinderzahl auch größere Wohnungen mieten;
hierin ist er eben an ein gewisses Maximum gebunden, das durch den Betrag,
den er für Wohnung ausgeben kann, bestimmt ist, und dieser wird selbst bei
dem besser gestellten Arbeiter kaum 25 Mark pro Monat übersteigen; dafür
erhält er, je nach den Umständen in besserer oder schlechterer Beschaffenheit,
zwei Zimmer nebst Küche, was vom streng hygienischen Standpunkt für eine
zahlreiche Familie nicht genügt.
Wie viel Hunderte von Existenzen giebt es aber, die nicht entfernt soviel
für ihre Wohnung zu verwenden imstande sind, Familien z. B., wo der Mann
gestorben oder krank und arbeitsunfähig ist und nun die Frau, so gut sie kann,
den Unterhalt für sich und ihre Kinder zu gewinnen sucht. Gerade solche
Fülle sind viel häufiger, als man denkt, und hier steckt ein Stück Frauenfrage,
das viel wichtiger ist als die meisten der in der Öffentlichkeit sich so breit
machenden Forderungen. Wenn man diesen Ärmsten der Armen helfen will,
darf man sich von vornherein das Ziel nicht zu hoch stecken, sondern muß
zufrieden sein, wenn man ihnen wenigstens einigermaßen erträgliche Wohnungen
verschafft, die dafür auch wirklich von ihnen benutzt werden können. Dies ge¬
schieht aber nur durch den Bau von großen Mietkasernen, und zwar nicht
nur mit Zweizimmerwohnungen, sondern auch mit Wohnungen, die aus einem
Zimmer nebst Küche, ja solchen, die aus einem einzigen Raum bestehen,
der aber von vornherein als selbständige Wohnung eingerichtet ist.*) Gewiß
werden derartige Wohnungen nicht allen hygienischen Forderungen an Luft¬
raum usw. entsprechen, aber sie werden wenigstens gesund und trocken gebaut
sein und dadurch, daß man den Bauplan gleich auf solche allerkleinsten Woh¬
nungen berechnet, auch frei von den Mißständen in der Wasserversorgung und
vor allem in den Aborten, die in den alten, ursprünglich auf ein oder zwei
Familien berechneten Häusern ost so unerträglich sind. Entweder hilft man
jenen ärmsten Volksschichten in dieser begrenzten Weise, oder man hilft ihnen
gar nicht, und es ist ein großes Verdienst Mangoldts, daß er dies nachdrücklich
betont und den Einwand, man dürfe doch nicht Wohnungen errichten, die
nach dem für sie geforderten Preis nur hygienisch mangelhaft sein können,
scharf zurückweist: „Gegenüber den elenden Löchern der Innenstadt und gegen¬
über der Not und Plage der Aftervermietuug wären solche Wohnungen immer
noch ein sehr großer Fortschritt, und man hüte sich, diesen Fortschritt unter
dem Deckmantel hygienischer Einwände verhindern zu wollen." Daß der
Ausdruck Löcher auch für Frankfurt keineswegs zu stark ist, dafür sei es mir
gestattet, einen Beweis aus den Erfahrungen, die ich persönlich als Teilnehmer
an der Erhebung gemacht habe, anzuführen.
Im dritten Stock eines alten Hanfes, das schon von außen einen bau¬
fälligen, ungesunden Eindruck machte, hatte sich die Familie eines Schuhmachers
eingemietet, der wegen einer Augenkrankheit schon seit längerer Zeit arbeits¬
unfähig war und damals gerade im Spital lag. Als Wohnraum, Küche
und Schlafraum für die Eltern und ein Kind diente ein kleines Zimmer,
das ursprünglich ohne Zweifel einmal als Mansarde verwandt wurde, jetzt
aber als selbständige Wohnung vermietet wird. Es faßte 23 Kubikmeter
Luftraum und empfing Licht und Luft durch ein einziges kleines Fenster
(68x59 Centimeter) ans einem ganz engen schmutzigen Hof oder vielmehr
Lichtschacht, der Hinter- und Vorderhaus trennte und unten großenteils durch
die Abortsaulage eingenommen wurde. Die beiden andern Kinder schliefen in
einem direkt unter dem Dach liegenden Gelaß, für das der Name Dachstübchen
zu gut wäre; es hatte 7 Kubikmeter Luftinhalt, für jedes Kind also Z^/s Kubik¬
meter, und in der Decke waren mehrere Nisse, durch die es nach der Aussage
des ältesten Töchterchens durchregnete und durchschneide: „Wenn ich morgens
aufwache, ist manchmal das Bett davon ganz naß!"
Noch schlimmer sah es aber in einer Parterrewohnung im Hinterhaus
aus, die aus zwei Räumen bestand. Der „bessere" der beiden, der zugleich
als Wohn- und Schlafraum und Küche diente, war ein kleines, total feuchtes
Zimmer, das auf den oben erwähnten engen Hof ging. Schon an und für
sich waren die unten im Parterre gelegnen Wohnungen, die mit Luft und
Licht auf diesen dunkeln und dumpfigen Hof angewiesen waren, schlecht
daran; nun aber lagen noch obendrein die Aborte direkt vor den Fenstern
jenes Zimmers; der Leser kann sich denken, wie es da mit Luft und Licht im
Zimmer bestellt war. Hier schlief die Mutter und eine Tochter von sechzehn
Jahren; Vater und Sohn schliefen in einem zweiten Raum, der kaum anders
als eine Höhle bezeichnet werden konnte und früher offenbar einmal zum Auf¬
bewahren von Waren oder als Keller für Holz und Kohlen gedient hatte.
Ein ins Freie führendes Fenster hatte er überhaupt nicht. Luft und Licht
bekam er einzig und allein ans dem andern, selbst schon müssiger und dunkeln
Zimmer durch die Thür und durch ein kleines schmales Fenster in der Zwischen¬
wand. Die Frau hatte uns gleich gesagt, daß in diesem Raum das Ungeziefer
„schwadronenweise" sei, und in der That sahen wir, nachdem wir wegen der
völligen Dunkelheit um 10'/.^ Uhr vormittags ein Lämpchen hatten anzünden
müssen, daß die Wände teilweise geradezu schwarz davon waren — ein der¬
artiger Raum mit feuchten, zum Teil halb verfaulten Wänden mußte ja auch
geradezu ein Züchtungsherd für Ungeziefer sein, wogegen selbst der beste Wille
der Einwohner wehrlos ist.
Hier fragt man sich denn doch, wo eigentlich die Polizei bleibt. Aber
diese, die sonst so überaus empfindlich ist, scheint diesen Wohnungsverhältnissen
gegenüber merkwürdig starke Nerven zu haben. Es wäre sonst doch wohl nicht
möglich, daß solche Fälle vorkommen, wie sie jetzt in Frankfurt aufgedeckt sind,
wo z. B. sich in einem Hause ein Abtritt fand, der von fünfzehn Parteien
mit fünfzig Personen und außerdem von den Wirtsgästen im Parterre benutzt
wird, in einem andern Hause ein einziger Abort für acht Parteien mit sechzig
Personen vorhanden ist. Fülle, die geradezu eine öffentliche Gefahr sind und bei
Ausbruch einer Seuche verhängnisvoll werden müssen.
Die einzige Entschuldigung, die es für das Verhalten der Polizei giebt,
liegt darin, daß es für die Bevölkerungsklasse, die heute in jenen Löchern ihr
Dasein fristet, ebeu noch keine andre Wvhnungsgelegenheit giebt, und man jene
Leute doch nicht einfach auf die Straße setzen kann. Eben deshalb aber ist es
Pflicht der Stadt, hier einzugreifen und den Bau allerkleinster Wohnungen
endlich selbst in die Hand zu nehmen. Vorbedingung ist dafür eine vernünftige
kommunale Bodenpolitik, die das freie Banterrain der Spekulation entzieht
und dadurch zugleich der Steigerung der Mietpreise steuert. Denn die Höhe
dieser ist ja oft gar nicht durch ein natürliches Wachsen des Bodenwerts ver¬
anlaßt, sondern durch eine unerhörte Bodenspekulation, die auf Kosten der
Gesamtheit ihre Profite einsteckt.
Auch dafür hat in jüngster Zeit Frankfurt ein Beispiel geliefert, das zu
denken giebt. Vor einiger Zeit hatte der Magistrat den Ankauf eines größern,
vor der Stadt gelegnen Baugeländes beantragt; die Stadtverordneten hatten
es aber abgelehnt, und so war das betreffende Gelände von einem Konsortium
einiger Privatleute für zwei Millionen Mark gekauft worden. Heute, nach
Ablauf eines Jahres, hat dieses Konsortium dasselbe Gelände für — drei
Millionen Mark weiter verkauft. Eine Million Mark Profit in einem Jahre
an einem Grundstück — man braucht sich wirklich nicht zu Wundern, wenn ein
Arbeiter, der wegen der hohen Mietpreise gezwungen ist, in jenen alten, un¬
gesunden Wohnungen zu leben, und nun von solchen Spekulationen und Profiten
liest, die Fäuste ballt und die Gesellschaftsordnung, die solches zuläßt, zum
T
r kommt aus dem Zuchthaus! Gemieden, geächtet — losgerissen
von Freundschaft und Verwandtschaft, von allen Mitteln ent¬
blößt, so steht er da in der Welt, die ihm inzwischen fremd ge¬
worden ist. Wohl schaut er sich um nach einem Rettungsanker;
er sucht Arbeit: aber wer giebt sie ihm? Wo waren Sie zuletzt
in Stellung? Die Frage kehrt überall wieder, und wenn er beschämt die
Augen niederschlägt, dann zuckt der vorsichtige Arbeitgeber bedauernd die Achseln.
So kommt es, daß selbst der reuige Verbrecher, der mit den besten Vorsätzen
die Strafanstalt verlassen hat, doch nach kurzer Zeit wieder dahin zurückkehrt,
weil er das nicht gefunden hat, was ihn einzig und allein wieder zu einem
nützlichen Mitgliede der bürgerlichen Gesellschaft Hütte machen können: nämlich
ehrliche Arbeit, die ihn redlich nährte. — Das ist gewöhnlich der Grundton,
worauf alle die Artikel gestimmt sind, die von den Vereinen zur Fürsorge für
entlassene Strafgefangne in die Blätter gebracht werden, damit sie für ihre Sache
Propaganda machen.
Es ist gewiß etwas Schönes um die edeln Bestrebungen warmherziger
Menschenfreunde, durch die man dem Armen und Elenden in seiner Not bei¬
zuspringen gedenkt, aber es giebt auch ganz ebenso gewiß kein kläglicheres
Schauspiel, als wenn solche Bestrebungen von Leuten ausgehen, die von den
thatsächlichen Verhältnissen auf diesem Gebiete gar keine Ahnung haben, und
die nun, lediglich vom krankhaften Humanitätsdusel getrieben, nicht eine nütz¬
liche Wohlfahrtseinrichtung, sondern ein häßliches Zerrbild zustande bringen.
Zu diesen Mißgeburten unsrer mit fragwürdigen Wohlthätigkeitsanstalten aller
Art schon mehr als überreich gesegneten Zeit gehören zweifellos auch die
Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne, wie sie im Laufe der Jahre
in sehr vielen deutschen Großstädten von übereifriger Menschenfreunden ins
Leben gerufen worden sind. Ihre Entstehung verdanken sie wohl insgesamt
den Berichten und Erzählungen der Sträflinge, die gewöhnlich bei ihrer Rückkehr
ins Gefängnis mit großer Geläufigkeit ein aus solchen Phrasen, wie sie oben
angeführt worden sind, gewobnes Märchen als Entschuldigung vorzubringen
pflegen. Auf Grund so unzuverlässiger Angaben aber gleich ein philanthropisches
Rettungswerk aufzuführen, ist doch mindestens ein gewagtes Unternehmen. Daß
sich jeder, den sein Geschick auf die Anklagebank oder ins Gefängnis geführt
hat, gewöhnlich nach Möglichkeit weiß zu brennen sucht, wird gewiß niemand
überraschen; befremdender ist es schon, wenn jemand die unglaubliche Naivität
hat, alle diese faulen Ausreden für bare Münze zu nehmen. Soviel ist gewiß:
wenn wir aus unsern Strafanstalten die notorischen Gewohnheitsverbrecher,
sowie alle die herausnehmen, die thatsächlich nur durch ihren Leichtsinn hinter
Schloß und Riegel gekommen sind, dann werden wahrscheinlich nur sehr wenige
bleiben, bei denen wirkliche Not die Ursache gewesen ist, und selbst unter diesen
wenigen wird sich höchst wahrscheinlich nur selten einer finden, dessen Notlage
durch eine frühere Bestrafung hervorgerufen worden war.
In moralischen Erzählungen macht es sich ja gewöhnlich sehr gut, wenn
uns geschildert wird, wie so ein armer Wurm zum erstenmal aus irgend einer
harmlosen Ursache ins Gefängnis kommt, nach seiner Entlassung aber alle«
Anstrengungen zum Trotz wegen dieser Bestrafung keine Arbeit mehr bekommen
kann, den alten, bösen Bekannten aus dem Gefängnis wieder in die Hände
fällt und nun aus purer Verzweiflung aufs neue zum Verbrechen greift und
ins Gefängnis kommt. In Wahrheit erfolgt aber gewöhnlich die zweite und
dritte Rückkehr ins Gefängnis aus keinen andern Gründen, als der erste Besuch
auch. Wer wirklich an das alberne Märchen glaubt, daß die Bestrafung eines
Menschen schon ein unüberwindliches Hindernis sei, wieder ehrliche Arbeit zu
bekommen, der kennt das praktische Leben nur sehr wenig und würde jedenfalls
besser thun, sich erst etwas darin umzusehen, ehe er sich mit solchen Fragen
beschäftigt, zu deren Lösung schließlich doch noch etwas mehr gehört als bloßer
guter Wille.
Für die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne ist es nun aber
in der That Voraussetzung, daß ein bestrafter Mensch gar nicht in der Lage
sei, durch eigne Kraft wieder ehrliche Arbeit zu finden, sondern daß er hierzu
meist der thätigen Hilfe edler Menschenfreunde bedürfe, dies ist die Grundlage
ihres Daseins; wer ihnen also den Nachweis liefert, daß das einfach eine halt¬
lose Phrase ist, der versetzt ihnen eigentlich schon den Todesstreich. Dieser
Beweis liegt nun aber schon darin, daß doch immer nur ein sehr kleiner Prozent¬
satz der aus deu Strafanstalten Entlassener die Hilfe solcher Vereine in An¬
spruch nimmt, der weitaus größere Teil aber auch ohne ihre Vermittlung wieder
in Lohn und Brot kommt. Das wird ja auch niemand überraschen, der unser
modernes Wirtschaftsleben kennt. Wenn heutzutage an den Anschlagsäulen zwei¬
hundert Erdarbeiter verlangt werden, so giebt der Schachtmeister einfach jedem,
der sich meldet, eine Schippe und läßt ihn in Gottes Namen buddeln, ohne erst
lange zu fragen, „woher er kam der Fahrt, noch wie sein Nam und Art." Ebenso
im Baugewerbe! Wenn ein Haus abgerissen oder aufgeführt werden soll, so
stellt der Polier einfach soviel Leute ein, wie er braucht, und wenn er dabei viel¬
leicht überflüssige Fragen thun wollte, so würden ihn die Arbeiter wahrscheinlich
sofort in eine Kiste packen und als Kuriosität ans städtische Museum schicken.
Und wie auf diesem, so auch auf allen anderen Gebieten, wo große Arbeiter¬
massen beschäftigt werden. Da fragt keine Seele nach der Vergangenheit des
Arbeitsuchenden; da heißt es einfach: Hier die Arbeit, da das Geld. Nichts
ist ja verkehrter als die Annahme, daß schon die jedesmalige Frage des Arbeit¬
gebers: „Wo haben Sie zuletzt in Arbeit gestanden?" immer gleich das Todes¬
urteil für den entlassenen Sträfling bedeute. In den weitaus meisten Fällen,
wo die Frage gestellt wird, ist es eine reine Gewohnheitsfrage, und wenn der
Mann nur aufs Geratewohl ein paar Namen nennt, so ist die Sache gewöhn¬
lich erledigt. Zeugnisse und Referenzen kommen doch heutzutage überhaupt nur
noch für Vertrauensstellungen in Frage, und diese seinen Schützlingen zu ver¬
schaffen ist auch ein solcher Verein niemals in der Lage. Übrigens ist aber
auch gerade die Zeugnisfrage für jeden, der Gefängnisluft geschluckt hat, ge¬
wöhnlich ohne jede ernste Bedeutung. Jeder praktische Polizeimann weiß, daß
in der Gauuerwelt nichts so schwunghaft betrieben wird als der Handel und
die Fabrikation falscher Arbeitsattestc. Durchschnittlich für 20 bis ij0 Pfennige
bekommt man in allen Herbergen von den „Flebbenmelochnern" schon Certi-
fikate, mit denen man sich getrost um einen Kassiererposten in der Neichsbank
bewerben könnte.
Die wunderschönen Zeugnisse, über die jeder gewiegte Gauner verfügt, bieten
denn auch gewöhnlich die einfachste Erklärung für die sonderbare Thatsache,
daß sich gerade Leute dieses Schlages gewöhnlich in überraschend kurzer Zeit
die schönsten, bequemsten und lohnendsten Arbeitsgelegenheiten zu verschaffen
wissen. Es giebt kaum einen größern Hohn auf die Phrase, daß ein bestrafter
Mensch nur durch Vermittlung edler Menschenfreunde wieder in Lohn und Brot
kommen könne, als die einfache Thatsache, daß ergraute Verbrecher, wenn sie sich
endlich genötigt sehen, ihr Handwerk an den Nagel zu hängen, mit Vorliebe
Stellenvermittlungsbureaus eröffnen. Wir haben in Berlin ein ganzes Rudel
solcher Agenten; „Plattenschieber" nennt sie die Gaunersprache, weil sie nament¬
lich die Besorgung landwirtschaftlicher Arbeiter schwunghaft betreiben. Für den
Kenner des Verbrecherlebens liegt auch in dieser Erscheinung nichts Auffallendes;
es war in diesen Kreisen immer ein eifrig gepflegter Sport, Gesinnungsgenossen
als Dienstboten oder Arbeiter in vornehmen Häusern und Geschäften zum Aus-
kundschaften einzuschmuggeln, und es kann also nicht weiter wunder nehmen,
wenn sie auch heute noch bei einer Stellenjagd gewöhnlich jedem andern Be¬
werber den Rang ablaufen. Wir sehen also, daß die Bestrafung selbst, wenn
jemand wirklich die Strafanstalt mit dem festen Vorsatz verläßt, sich durch ehr¬
liche Arbeit eine neue Existenz zu gründen, noch kein besonders großes Hindernis
dafür ist. Er wird sich freilich im Anfang bescheiden müssen und nach dem
greifen, was sich ihm gerade bietet; aber das müssen heutzutage auch tausend
und abertausend andre thun, auf deren Vergangenheit nicht der leiseste Makel
ruht- Daß ein solcher Makel, wenn er bekanntgeworden ist, den Kampf ums
Dasein etwas erschwert, soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden, aber er
braucht ebeu in den weitaus meisten Fällen gar nicht bekannt zu werden, denn
die ewigen Lohnkümpfe unsrer Tage haben schon längst dahin geführt, daß sich
die Arbeitgeber im großen und ganzen alle überflüssigen Fragen nach der
moralischen Beschaffenheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter abgewöhnt haben
und oft froh sind, wenn sie nur überhaupt Leute bekommen.
Ebenso wenig wie die Unternehmer kümmern sich aber anch die Kollegen
um die Vergangenheit des Arbeitsuchenden. Die tendenziösen Erzählungen von
menschenfreundlichen Fabrikanten, die es wirklich einmal mit einem Zucht¬
häusler versuchte», aber bald von ihren übrigen Arbeitern gezwungen wurden,
ihn wieder zu entlassen, weil sie sich in moralischer Entrüstung weigerten, mit
einem solchen Menschen zusammen zu arbeiten, können eben nur solche Leute
glauben, die das Arbeiterleben gar nicht kennen. Das Gefängnis ist heutzu¬
tage in der großstädtischen Arbeiterbevölkerung geradezu populär geworden;
dafür haben namentlich die zahlreichen Sozialistenprozesse mit ihrer zwei¬
schneidigen Wirkung gesorgt. Jeder Gefängnisbeamte weiß, wie bei der demon¬
strativen Abholung dieser Duodezverschwörer oftmals Taschendiebe und Paletot¬
marder von Hunderten ganz rechtlicher Arbeiter in einer Weise gefeiert worden
sind, als wären sie die edelsten Märtyrer der Freiheit gewesen, während doch
ihr ganzes Verdienst nur darin bestand, daß sie zufällig mit dem „Genossen"
zugleich entlassen wurden.
Die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne sind also mindestens
überflüssig, denn wer wirklich das Gefängnis mit dem festen Vorsatz verläßt,
sich wieder ehrliche Arbeit zu suchen, der wird doch nicht so dumm sein, sich
an einen solchen Verein zu wenden, dessen Vermittlung seine Vergangenheit
an die große Glocke hängt, während er sie andrerseits weder seinem Arbeit¬
geber noch seinen Kollegen auf die Nase zu binden braucht. Denn daß eine
solche offizielle Brandmarkung das Einleben in neue Verhältnisse nicht gerade
besonders erleichtert, ist klar. Dazu kommt nun noch, daß die Stellen, über
die ein solcher Verein gewöhnlich verfügt, für einen tüchtigen Arbeiter durchaus
nichts Verlockendes haben. Meist sind es ländliche Arbeitsgelegenheiten. Um
solche Stellen zu erhalten, braucht man sich aber wahrlich nicht erst an die
Vereine zu wenden, denn sie sind, allem Gerede von Arbeitsnot zum Trotz,
jeden Tag und jede Stunde zu haben. Man braucht sich nur auf eins der
stereotypen Inserate „50 Knechte aufs Land ?e." zu melden, so kauft einem
der betreffende Agent sofort ein Eisenbahnbillet und ist froh, daß er seine
Provision einstecken kann; und auch der Gutsbesitzer schert sich heutzutage
den Teufel darum, ob die Leute, die man ihm schickt, schon was auf dem
Kerbholz haben oder nicht; er ist froh, wenn er nur welche bekommt. Die
ungeheure Arbeiterkalamität in der Landwirtschaft und die daraus entspringende
Gleichgiltigkeit gegen die sittlichen Zustünde der Arbeiter wird ja durch nichts
besser illustriert als durch die köstliche Anekdote von dem mecklenburgischen Guts¬
inspektor, der sich von seinem Agenten ein Rudel Arbeiter für die Ernte hatte
schicken lassen, worunter zufällig ein schon lange steckbrieflich gesuchter Raub¬
mörder war und nun, als dieser plötzlich auf dem Gutshöfe verhaftet wurde,
den Gendarmen zutraulich fragte, ob er ihm den Kerl nicht noch acht Tage
lassen könnte, bis wenigstens der Roggen herein wäre.
Diese Arbeitsstellen sind nun aber noch die besten, über die gewöhnlich
die Vereine verfügen können, denn wenn die Löhne hier natürlich auch nur
sehr niedrig sind, so werden sie doch wenigstens gleichmäßig gezahlt und nicht
denen, die einen Makel haben, auch noch verkürzt. Das ist aber fast bei allen
andern von diesen Vereinen vermittelten Arbeitsgelegenheiten der Fall, und
wenn man sich nicht von der in den Jahresberichten angegebnen Anzahl der
vermittelten Stellen verblüffen läßt, so wird man von der eigentümlichen
„segensreichen" Thätigkeit dieser Vereine sehr sonderbare Begriffe bekommen.
In ihren Ausrufen wenden sich zwar alle diese Vereine immer nur an edle
Menschenfreunde, und es fehlt ja auch selbstverständlich niemals an solchen, die
für den guten Zweck den Geldbeutel ziehen und ein mehr oder weniger großes
Scherflein opfern. Weiter aber als bis zur Leistung eines kleinen Geldbeitrags
pflegt sich ihr Interesse niemals zu erstrecken. An die Hauptsache, nämlich sich
der vom Verein angebotnen Arbeitskräfte zu bedienen, denken weder sie noch
— und das ist gewiß charakteristisch für diese Schöpfungen — die Herren vom
Vereinsvorstand selbst. Das ist ja auch durchaus erklärlich! Man wird es
noch verstehen können, wenn ein Arbeitgeber — vorausgesetzt, daß er nicht in
einer Notlage ist — einen Angestellten auch dann noch ruhig weiter beschäftigt,
wenn er vielleicht nachträglich erfährt, daß der Betreffende schon einmal be¬
straft worden ist; daß aber jemand die Menschenliebe soweit treiben soll, sein
gesamtes Dienst- oder Arbeitspersonal aus dem Zuchthaus zu beziehen, das ist
doch wohl ein etwas starkes Verlangen. Ein solcher Mensch wäre entweder
ein Narr oder ein gewissenloser Blutsauger, der sich nur deshalb an diese Vereine
wendete, weil er bei ihnen die billigsten Arbeitskräfte nachgewiesen erhält.
Daß in der That die von den Vereinen zur Fürsorge für entlassene Straf¬
gefangne vermittelten Arbeitsgelegenheiten das äußerste an Lohndrückern leisten,
ist ein von allen einsichtigen Gefängnisbeamten erkannter Übelstand und wird
von ihnen lebhaft bekämpft; denn gerade dieser Methode, den Leuten einfach
wegen ihrer Bestrafung einen weit niedrigern Lohn zu zahlen als andern Arbeitern,
hat man es wohl zu verdanken, daß Menschen, die thatsächlich den besten Willen
hatten, ein andres Leben anzufangen, doch bald wieder ins Gefängnis zurück¬
kehren; in ihrem Unverstand hatten sie sich bethören lassen, sich an derartige
Vereine zu wenden, von denen sie dann noch einmal mit beispielloser Ge¬
wissenlosigkeit in Arbeitsverhältnisse gebracht wurden, wo ihnen gar keine andre
Wahl blieb als entweder zu verhungern oder neue Verbrechen zu begehen- Man
glaube nicht etwa, daß ich hierbei übertreibe, derartige Fälle könnten nötigen¬
falls mit Gerichtsakten belegt werden. So kam z. B. vor einer Reihe von
Jahren vor dem Berliner Amtsgericht ein Prozeß wegen Unterschlagung gegen
einen jungen kräftigen Hausdiener zur Verhandlung, der von dem dortigen Verein
an einen biedern Geschäftsmann für einen Wochenlohn von drei Mark ver¬
kuppelt worden war — anders kann man diese Art Stellenvermittlung nicht
nennen. Davon konnte er aber unmöglich Nahrung, Kleidung und Wohnung
bestreiten, und so ging er eines Tages vom nagenden Hunger getrieben in ein
Lokal, um sich wieder einmal satt zu essen, und bezahlte die kleine Zeche von
dem Gelde, das er für seinen edeln Prinzipal erhalten hatte, und der Patron
trieb nun seine unerhörte Gewissenlosigkeit — so nannte es nämlich der
Präsident selbst — so weit, daß er den Menschen zur Anzeige brachte. Damit
hatte er nun allerdings kein Glück, denn der arme Teufel wurde unter diesen
Umstünden freigesprochen uno bekam sogar noch im Gerichtssaal in einem der
Schöffen einen neuen Brodherrn. Der geringste Lohn für eine solche Stelle
betrug nach übereinstimmendem Urteil der Sachverständigen auf dem Berliner
Arbeitsmarkt fünfzehn Mark; was soll man nun zu einem Vereine sagen, der
mit einer so philanthropischen Devise im Wappen die sich ihm im guten Glauben
anvertrauenden Menschen wissentlich solchen Ehrenmännern zur schrankenlosen
Ausnutzung in die Hände liefert? Man mag über die manchmal rücksichts¬
losen Lohnkämpfe der Arbeiter denken, wie man will, so glänzend sind sie jeden¬
falls alle nicht gestellt, daß sie ihren Lebensunterhalt noch auf ehrliche Weise
bestreiten könnten, wenn man ihren Lohn plötzlich auch nur auf die Hälfte,
geschweige denn gar auf ein Fünftel herabsetzen wollte. Und wenn man nun
ganz und gar im gedankenlosen Unverstand derartige Experimente gerade an
solchen Personen vornehmen läßt, deren sittliche Grundsätze an und für sich
schon nicht sehr fest sind, so kann dieser frivole Leichtsinn nicht hart genug ver¬
dammt werden.
Das hätte mau sich sagen können, daß die moralischen Begriffe solcher
Menschen, die schon einmal der Versuchung erlegen sind, nicht dadurch gebessert
werden können, daß man sie in die Hände gewerblicher Halsabschneider und
Bauernfänger liefert, die sittlich noch tief unter ihnen stehen. Allen guten
Vorsätzen zum Trotz müssen sie doch dahin kommen, durch kleine Veruntreuungen
wieder einzubringen, was man ihnen von ihrem wohlverdienten Lohn unter¬
schlägt. Aus diesen Mißbräuchen heraus erklärt es sich denn auch wohl ganz
einfach, daß gerade unter den Gefangnen, die sich bei ihrer Entlassung an solche
Vereine gewandt haben, der Prozentsatz der Rückfälligen weit größer ist als
unter den übrigen. Diese sonderbare Thatsache zeigt aber auch andrerseits,
daß die Bildung solcher Vereine gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was
man eigentlich von ihnen erwartet. Anstatt das Verbrechertum einzudämmen,
züchten sie es immer neu.
Das liegt nun freilich nicht allein an der famosen Art und Weise ihrer
Stellenvermittlung, sondern wohl noch mehr an den eigentümlichen Privilegien,
mit denen man sie von den Behörden in einer übel angebrachten Anwandlung
von Humanität glaubte ausstatten zu müssen. So wird in einigen Städten
kein Landstreicher, der beim Betteln abgefaßt worden ist, dem Arbeitshaus
überwiesen, wenn er nachweist, daß er sich wenigstens beim Verein zur Für¬
sorge für entlassene Strafgefangne um Arbeit bemüht hat. Das kommt natürlich
einem Freibrief auf Betteln völlig gleich, denn jeder Strömer läßt sich nun
selbstverständlich in das Register dieses Arbeitsnachweises eintragen, um dann
dreist und gottesfürchtig loszubetteln, da ihm ja, wenn er dabei ertappt werden
sollte, nun nicht mehr allzu viel geschehen kann. In Berlin war es sogar
früher Sitte, daß der Beamte des Vereins die Angaben des Vagabunden jedes¬
mal beschwören mußte, doch ist man wenigstens von dieser unwürdigen Komödie
wieder abgekommen und läßt es bei dem bloßen Zeugnis bewenden. Natürlich
denken diese Kerle gar nicht daran, den Arbeitsnachweis dieses Vereins jemals
ernstlich in Anspruch zu nehmen. Sie nehmen einfach die materiellen Vorteile
ebenso mit, wie die aller andern ähnlichen Schöpfungen, die lediglich ins Leben
gerufen zu sein scheinen, um sie in ihrer Faulheit zu bestärken. Wenn so ein
Vnrsche im Winter, wo es ihm draußen zu kalt wird, aus Mutwillen ein
Ladenfenster zertrümmert hat, läßt er sich bei seiner Entlassung von dem
Anstaltsgeistlichen noch eine Empfehlung an diesen Verein geben und erhält
darauf für einen Monat Schlafstelle und Kaffee; das bischen tägliche Essen ist
bald zusammengefochten, und für die nötige Anfeuchtung hat er ja in seinem
mitgebrachten Anstaltsverdienst das genügende Anschaffungskapital, sodaß er es
im Notfall schon ohne Arbeit aushält und sich keineswegs die Hacken so danach
abzulaufen braucht wie der ehrliche, rechtschaffne Arbeiter. Wenn dieser plötzlich
seine Arbeit verliert — und wie oft passiert ihm das —, dann ist er that¬
sächlich mit dem entlassenen Strafgefangnen in derselben Lage. Während nun
aber dieser durch den zwangsweis ersparten Arbeitsverdienst vor der ersten
Not geschützt ist, steht der gewöhnlich nur von der Hand in den Mund lebende
sreie Arbeiter gleich von Anfang an dem Nichts gegenüber, und dieser Umstand
dürfte wahrscheinlich der Überlegenheit, die ihm seine Unbescholtenheit im Kampf
ums Dasein vor seinem Rivalen verschafft, vollständig die Wage halten, sodaß
es dem unbescholtnen Arbeiter immer nur als eine herbe Ungerechtigkeit er¬
scheinen muß, wenn er sieht, daß man in der That mehr Eifer darauf ver¬
wendet, dem Lumpen wieder Arbeit zu verschaffen als ihm.
Ist es nicht ein Hohn auf den gesunden Menschenverstand, wenn ein recht¬
licher, stellenloser Arbeiter, dessen Frau und Kinder zu Hanse auf Brot lauern,
bei seiner eifrigen Suche nach Arbeit auch in den Stellennachweis eines solchen
Vereins tritt und man ihm nun dort ganz unbefangen eröffnet — wie es
thatsächlich schon geschehen ist —, daß man ihm leider keine der angemeldeten
Stellen geben könne, weil er noch nicht bestraft worden sei? Es ist gewiß
richtig, daß ein Verein nur dann ersprießlich zu wirken vermag, wenn er sich
bestimmte Grenzen steckt, aber er soll nicht erwarten, daß man seine Thätigkeit
für verdienstlich hält, wenn solcher Unsinn zu stände kommt. Etwas andres
als Absonderlichkeiten haben aber die Bereine zur Fürsorge für entlassene
Strafgefangne überhaupt noch nicht zu Tage gefördert uns werden es wohl
auch in Zukunft nicht thun. Am allerwenigsten werden sie jemals etwas dazu
beitragen, daß sich die rückfälligen Verbrecher vermindern. Das gewohnheits¬
mäßige Gaunertum „spuckt" auf diese Vereine; die aus Leichtsinn Entgleisten
haben aber fast immer Angehörige, und wenn es diesen nicht gelingt, sie auf
die rechte Bahn zu bringen — dem büreaukratischen Schematismus eines
solchen Vereins gelingt es doch erst recht nicht. Es bleiben somit nnr die
wirtschaftlich Schwachen, die nur deswegen nicht aus dem Gefängnis heraus¬
kommen, weil sie außer stände sind, den Kampf mit dem Dasein aufzunehmen.
Gerade für solche Menschen werden sich aber die Arbeiterkolonien weit segens¬
reicher erweisen als die Vereine zur Fürsorge für entlassene Strafgefangne in
ihrer heutigen Verfassung. Würde man ihnen die Mittel zuwenden, die man
jetzt aus völliger Unkenntnis der Verhältnisse diesen opfert, so würde man
wahrscheinlich auch bald andre Früchte sehen.
chon seit einer Reihe von Jahren haben berufne Kenner des
Binnenlandes von Rio Grande do Sui, dem südlichsten Staate
der brasilischen Union, immer wieder ihre Stimme für die Er¬
schließung der für gewöhnlich unter der sehr dehnbaren Bezeich¬
nung der „sieben Missionen" zusammengefaßten Ländereien erhoben
und diesen Gebieten eine Zukunft prophezeit, die alles bisher in den blühenden
deutschen Kolonien des Landes erreichte weit hinter sich lassen werde. Das
Areal des eigentlichen Kernlandes dieser Mission, des bis heute nur an ver¬
einzelten Stellen dünn besiedelten Waldgebiets des Rio Uruguay, schützt Max
Beschore», den eine achtzehnjährige Thätigkeit als Feldmesser in Rio Grande
vielfach gerade in diese Landesteile geführt hat, auf etwa 16000 Quadratkilo¬
meter, also eine Ausdehnung etwa von der Größe der preußischen Provinz
Hessen-Nassau. Da nun diese Ländereien zum großen Teile Regierungsland
sind, so hängen alle auf deren Erschließung gerichteten Bestrebungen vor allem
von dem guten Willen der gerade am Staatsruder sitzenden regierenden Herren
ab. die sich bis in die neueste Zeit nicht veranlaßt gesehen haben, die Kolo¬
nisation des Gebiets in großem Stile in Angriff zu nehmen. Endlich gelang
es aber vor wenigen Monaten einem deutschen Kaufmann in Porto Alegre,
eine Konzession zu erlangen, die ihm erlaubt, eine etwa tausend Kilometer
lange, meist dem Rio Uruguay entlang laufende Bahn zu bauen, und ihm die
Staatsländereien zu beiden Seiten der Bahnstrecke in einer Breite von je zehn
Kilometern für Besiedlnngszwecke zu einem sehr niedrigen Preise sichert. Ob es
dem mutigen Manne gelingen wird, in Deutschland die nötigen Kapitalien zum
Ausbau der ganzen Bahn zusammenzubringen, bleibt freilich noch abzuwarten,
auch erlauben wir uns selbstverständlich kein Urteil über die mutmaßliche
Rentabilität des Unternehmens. Jedenfalls aber ist die Erschließung des
Uruguaygebiets, die von den deutschen Kolonisten der Serra Gerak schon
lange sehnsüchtig erwartet wird, nur noch eine Frage der Zeit. Ist sie aber
erfolgt, so eröffnet sich eine unermeßliche Aussicht für die weitere Kolonisations¬
thätigkeit, da dann ein fester Stützpunkt gewonnen ist, von dem aus sich den
Pionieren der Kulturarbeit ein großes, vielversprechendes Arbeitsfeld erschließt,
und zwar in den Ländergebieten des südlichen Matto Grosso, dem Hinterland
von Parana mit dem vielgerühmten Jguassuthal, den rechts vom Uruguay
liegenden argentinischen Missionen und endlich in dem immer noch nicht in
größerm Maßstab kolonisierten Paraguay.
Bei diesem neuen Aufschwung nun, der den einst von den Jesuiten zuerst
kolonisierten Urugnayländereien bevorsteht, erscheint es angebracht, über die Er¬
fahrungen, die von den Vätern der Gesellschaft Jesu bei ihrer wertvollen
Arbeit in diesen Ländern gemacht wurden, die vorhcindne Litteratur zu be¬
fragen, zumal da die sonstigen Quellen nur recht dürftige Anhaltspunkte er¬
geben. Da ist es denn besonders ein in den Bibliotheken selten gewordnes
Büchlein, das uns manche schätzbare Auskunft zu erteilen vermag. Der
Deutschtiroler Pater Anton Sepp, einer der rührigsten unter den Heidenmissio¬
naren in Paraquaria, berichtete über seine Reise nach diesem Lande und seine
dortige Thätigkeit in mehreren Briefen, die von seinem in Europa zurück¬
gebliebnen Bruder zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in Buchform heraus¬
gegeben wurden. Im zweiten Teile dieser Mitteilungen, der „Kontinuation
oder Fortsetzung der Beschreibung" (Ingolstadt, 1710), erhalten wir über die
einstige Kolonisation in den uns hier beschäftigenden Landesteilen des nordwest¬
lichen Rio Grande wertvolle Angaben, denen wir die nachstehende Schilderung
entnehmen.
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts
treffen wir Pater Sepp als Pfarrherrn zu S. Michael, dem heutigen S. Miguel,
einer Reduktion, die er schon in fertigen Zustande übernommen hatte. Um
jene Zeit aber beschloß sein vorgesetzter Provinzial, von hier aus eine neue
Reduktion ins Leben zu rufen. Die Dorfschaft, unter allen Reduktionen am
linken Ufer des Uruguay die ansehnlichste, hatte dermaßen an Bevölkerung
zugenommen, daß es dringend notwendig erschien, diese in zwei Teile zu trennen
und mit der einen Hälfte eine neue Kolonie zu begründen. Dies auszuführen
war Pater Autonius bestimmt. Man kann sich recht Wohl in die Stimmung
des wackern Mannes versetzen, an den mit einemmal ein solches Ansinnen ge¬
stellt wurde. „Sage her, ruft er dem Leser seiner Beschreibung zu, der du
dieses Blatt in der Hand hast und liesest oder ablesen hörest: wenn dir gesagt
wird: Nun wolan mein Freund! Ich hab ein Dorffschafft, in welcher mehrer
denn 6000 Seelen gezehlet werden, es ist hoch vonnöthen selbe abznthailen,
ein neues Dorfs aufzurichten und zu bauen, und zwar an einem Orth, allwo
gantz und gar nichts bißhero gefunden worden als daß griene unfruchtbare
Graß, keine in schöner langer Ordnung gepflanzte Weingürten, keine mit
Waitzen und anderen Getraide zum Schnitt zeitige Felder: keine mit feißter
Oliven reiche Ölberg, keine mit fruchtbaren Bäumen versetzte Aerger oder
Zwinger. Mit einem Wort, dise neue Coloniam mußt du sichren und auf¬
bauen auf einem Feld, allwo du so gar kein Strohhütlein eines Schasfhirtens
antreffen sollest. Was sagest du zu disen? Liebster Leser! was Hertz hättest
du barme?" Aber sein starkes Gottvertrauen verläßt ihn nicht. Er rust die
Kaziken des Dorfes zusammen und teilt ihnen den Befehl mit, der von seinen
Obern an ihn ergangen ist. Er stellt ihnen vor, wie die Bevölkerung so
angewachsen sei, daß sie von einem oder zwei I^tribus ni8siovg.rils nicht mehr
regiert werden könne. Die das Dorf umgebenden Äcker seien infolge des immer¬
währenden Gebrauchs nicht mehr imstande, dem Ackersmann den gewohnten
hundertfältiger Ertrag zu geben. Zudem Hütten sich die gefräßigen Ameisen
— auch heutzutage noch ein schlimmer Feind der Pflanzungen in Rio Grande
do Sui — außerordentlich vermehrt und arbeiteten bei Tag und Nacht, den
trügen und hinlässigen Sämann an den Bettelstab zu bringen. Deshalb würde
es ihnen nicht allzu schwer fallen, diese Stätte zu verlassen, zumal wenn sie
bedächten, wie er selbst aus Liebe zu ihnen, seinen indianischen Kindern, seine
eigne Mutter, Brüder und Schwestern, Haus und Hof, sein liebes Vaterland
Tirol und ganz Europa verlassen Hütte.
Diese Anrede verfehlte ihre Wirkung nicht. Einundzwanzig Kaziken mit
750 Familien, zusammen mehr als 3000 Seelen, erklärten ihre Bereitwilligkeit,
sich seiner Führung anzuvertrauen. Am 13. September 1697 erfolgte der
Auszug in das unbekannte Land, das der Schar eine neue Heimat bieten
sollte. Voran ritt Sepp mit zwei andern Vätern von der nächstgelegnen Re¬
duktion auf schön gezierten Pferden. Ihnen folgten die vornehmsten und
ältesten Kaziken zu Fuß, mit Stäben als Zeichen ihrer Würde in der Hand.
Ebenso trug der Corregidor oder Schultheiß einen Handstock. Die Schalmeien,
Fagotte und Pfeifen der Musikanten weckten mit ihrem hellen Schall, in den
sich das tiefe Brummen der Trommeln mischte, das Echo der Urwälder ringsum,
die noch nie der Fuß eines Europäers betreten hatte. Zuerst gelangten
sie gegen Sonnenaufgang auf eine große Grasebne, bis diese von sanften
Höhenzügen, heutzutage Cochillas genannt, unterbrochen wurde, in die freund¬
liche, mit Vaumwuchs bedeckte Thäler eingebettet waren. Gegen Abend näherte
sich der Zug einem allmählich in die Höhe steigenden Hügel, den rings kleine
Wäldchen mit stattlichen Baumgruppen umgaben. Vier krystallklare Brünn-
lein entsprangen unter dem dichten Schatten dieser Bäume. Nachdem sich die
Führer der Schar überzeugt hatten, daß hier alle natürlichen Bedingungen
für eine neue Siedlung erfüllt waren, denn auch von allen vier Hauptwindcn
konnte die Anhöhe bestrichen werden, da entschlossen sie sich kurzer Hand mit
Zustimmung der vornehmsten Häuptlinge und verkündeten alsbald der harrenden
Menge: dies sei der Ort, den der allmächtige gütige Gott schon von Ewigkeit
her für sie vorausbestimmt, und von dem er beschlossen habe, er solle nach so
vielen tausend Jahren seiner Erschaffung aus einer Wildnis und Einöde der
Barbaren zu einer christlichen Wohnung und Dorfschaft der katholischen Para-
quarier werden. Dann schlug man am Fuß des Hügels die Zelte auf und
legte sich zur Nachtruhe nieder. Am andern Morgen wurde in aller Frühe
die Anhöhe bestiegen und das heilige Kreuz aufgepflanzt. Pater Antonius
warf sich vor ihm auf die Kniee nieder, betete es an und umfing es mit
beiden Armen. Darauf warfen sich alle Indianer gleichfalls zu Boden und
beteten, während die Musikanten den Ambrosianischen Lobgesang 1s on-uiv.
IkmäÄinus anstimmten. Und die Vorsehung selbst schien ein Zeichen geben zu
wollen, daß sie dieser Stätte hold sei. In dem Zelte eines der Väter hatte
unter dem Lager, auf dem dieser schlummerte, die ganze Nacht hindurch eine
abscheuliche Giftschlange gelegen, ohne daß sie dem Manne Gottes einen Schaden
zugefügt hätte. Am andern Morgen wurde sie von Indianern entdeckt und
getötet.
Nun ging es an die Gründung der neuen Ortschaft, die nach Johannes
dem Täufer Sancti Joannis Baptistae heißen sollte (das heutige Sav Joao).
Die Kciziken samt ihren Unterthanen wurden angewiesen, ihre Jvchochsen für
den Feldbau in Bereitschaft zu setzen, was allerdings in vielen Fällen leichter
gesagt als gethan war. Denn es kam oft genug vor, daß die gefräßigen
Indianer die Zugochsen, die man ihnen anvertraut hatte, ohne weiteres brieten
und aufzehrten und das hölzerne Joch dazu als Brennholz benutzten. Sodann
ging es in die Wälder, um durch deren Ausrodung neuen Boden für den
Ackerbau zu gewinnen. Das Verfahren war etwa dasselbe, wie es heutzutage
die Siedler im ersten Stadium der Bebauung anzuwenden pflegen. Bäume und
Gesträuch wurden niedergehauen, zum Teil mit den Steinbeilen, die die Indianer
noch führten, und das Holz wurde, nachdem es dürr geworden war, angezündet
und verbrannt. Nun nahm der Indianer oder sein Weib den nächsten besten
Stecken oder die Rippe eines zuvor verzehrten Stückes Rindvieh zur Hand,
rührte damit die Asche ein wenig auf, machte ein kleines Loch und warf zwei
oder drei Weizenkerne, Erbsen oder Bohnen hinein, worauf sie es wieder mit
Asche zudeckten. Wenn dann der Morgentau drei- oder viermal darauf ge¬
fallen war, oder ein kleiner Regen die Erde befeuchtet hatte, so sproßte als¬
bald die Saat hervor, die mit der Zeit das hundertfältige gab, was, wie
Pater Sepp meint, „der faule Indianer durchaus nicht verdienet." Immerhin
blieb noch genug Wald übrig, um das nötige Brenn- und Bauholz zu liefern
und als Reserveland für die einzelnen Acker- und Wiesenlose zu dienen, deren
Vermessung und Zuteilung an die Kaziken und deren Unterthanen nunmehr
in Augriff genommen wurde.
Bald zeigten überall aufgepflanzte Kreuze, die als Marksteine dienten,
die Flurgrenzeu an. Nun mußte aber auch für die Bekleidung der künftigen
Bürger dieses Landes gesorgt werden. Daher ließ Sepp die geschickter» unter
den Indianern lange Seile in die Länge und Quere ausspannen, und wo diese
sich schnitten, was immer in einem Abstand von sechs bis acht Schuh zu ge¬
schehen Pflegte, steckte er sieben oder acht Kerne des Baumwollstrauchs, für
dessen Gedeihen das Klima sich besonders eignete. Nachdem so das Nötigste
für des Leibes Notdurft vorgesehen war, galt es die provisorisch errichteten
Zelte und Hütten durch dauernde, solide Behausungen zu ersetzen. Nun war
ja unser Pater kein gelernter Baumeister, aber er war ein Mann, der sich,
weil er nicht an Überstudiertheit litt, in allen Lebenslagen zu helfen wußte.
Bei seinen vielen Reisen in Europa hatte er wohl beobachtet, daß so
viele Dörfer und Städte in ihrer Anlage einen festen Plan vermissen ließen,
daß die engen und krummen Güßlein die eine da, die andre dort überzwerch
hinaus liefen, und die einzelnen Häuser bald hoch, bald niedrig erbaut waren.
Neben der Unbequemlichkeit war bei dieser Bauart die Feuersgefahr sehr groß.
Den Pfarrhof und die Kirche aber hatten die Baumeister vielfach, wie Sepp
aus Mangel an historischen Kenntnissen irrtümlich annahm, ohne weiteres Nach¬
denken willkürlich statt in die Mitte von Stadt oder Dorf an deren Ende
hinausgestellt. Um diese Fehler zu vermeiden, nahm er zuvor gründliche
Messungen mit der Richtschnur vor und ließ in der Mitte einen geräumigen
Platz frei, der jene beiden wichtigsten Gebäude aufnehmen sollte, und von dein
aus alle Gassen in gleicher Entfernung von einander schnurgerade ausliefen.*)
Und als mit dem Bau begonnen wurde, da kam von überall her erwünschter
Sukkurs: die eine Reduktion schickte fünfzig Indianer mit hundert Ochsen, eine
andre dreißig mit ebenso viel Zugtieren. Andre sandten Maultiere und seine
getreue frühere Dorfschaft Japeyu hundert starke Pferde.
So wurden den» gewaltige Cedern aus den Wäldern herbeigeführt, Ziegel
gebrannt, schwere Steinquadern zurechtgehauen, alles unter lustigem Trommel¬
nno Pfeifenklang. Im Laufe eines Jahres gelang es, die Kirche nebst Pfarr¬
hof zu errichten, und auch der Bau der Indianerhütten ging rüstig vorwärts.
Da trifft abermals ein Erlaß des Provinzials ein, der Sepp außer seinem
neuen Dorf die Seelsorge auch für seinen frühern Sitz Se. Michael überträgt,
das einen Tagmarsch vom erstem entfernt liegt. Aber der geduldige Mann
nimmt gehorsam auch die neue Bürde auf sich. Mit unermüdlichem Eifer
waltet er des doppelten Amtes, bis es ihm schließlich vergönnt wird, sich
ganz seiner neuen Kolonie zu widmen. Besonders die Ausschmückung der neu
erbauten Kirche ist es, der er nun seine Sorgfalt zuwendet. Nach einem in
Madrid befindlichen Vorbild wird das Tabernakel des Hochaltars aus Cedern-
holz angefertigt und mit Perlmutter, Halbedelsteinen, an denen das Uruguay¬
gebiet besonders reich ist, und kleinen Spiegelgläsern kunstvoll verziert. Den¬
selben Schmuck weist die reich vergoldete Kanzel auf. Die Nebenaltäre sind,
wie die ganze Kirche, mit Gemälden geschmückt, einer davon, der von einer
andern Reduktion stammt, wo die Indianer sich besonders in der Bildhauer¬
kunst auszeichnen, kam auf tausend Reichsthaler zu stehen. Dieselbe Summe
kosteten fünf Statuen aus Cedernholz. Vor dem Hochaltar hängt ein über-
silberter Leuchter von der Decke herab, der dreißig Kerzenstöcke trügt. In
dem an die Kirche sich anschließenden Gottesacker erhebt sich eine gleichfalls
nach europäischem Muster angelegte steinerne Kapelle mit Kuppelbau.
Aber neben dieser künstlerischen Thätigkeit verabsäumt unser Pater seine
Pflichten als Landwirt nicht. Drei Tage braucht er, wenn er um alle seine
Weiden und Felder reiten will, fast so viel, als wenn er von Trient nach
Innsbruck reisen sollte. Allein das Gebiet, das der Schafweide dient, ist nach
seiner Angabe länger und breiter und dabei fruchtbarer, als das berühmte
Lechfeld bei Augsburg. Als er einst, mehrere Jahre nach der Gründung der
neuen Kolonie, seinen Prokurator zur Zählung des Rindviehs ausschickte,
zählte dieser über 60000 Kühe und 20000 junge Kälber, die allein in einem
Sommer von ihren Müttern gefallen waren. Auch der Ertrag seiner Baum-
Wollfelder ist recht erfreulich. Im dritten Jahre nach der Erbauung der Dorf¬
schaft weisen die Pflanzungen über 300000 Baumwollstöcke auf, die in einem
fruchtbaren Jahre mehr als 4000 Zentner der geschätzten Faser einbringen.
Die Arbeit des „Klaubens" der Baumwolle besorgen die Mädchen, die hernach
zur Belohnung jede ein „schneeweißes langes Hemmetlein" erhalten. In der¬
selben Zeit haben ihm seine „obwohlen träge" Indianerinnen mehr als 20000
Ellen baumwollne Leinwand gesponnen, wovon 14000 an die nahenden Pfarr¬
kinder ausgeteilt werden. Die übrige Masse wird nach Buenos Aires geschickt,
wo die Elle einen Preis nahezu von einem halben Reichsthaler erzielt. Den
größten Triumph aber feiert Pater Sepp, als es ihm gelingt, ganz nahe bei
seiner Reduktion ein Metall zu entdecken, dessen Mangel sich immer in der
empfindlichsten Weise fühlbar gemacht hatte.
Über sieben Jahre waren verflossen, seit das letzte Schiff aus Spanien
in Buenos Aires eingelaufen war, und Eisen und Stahl, die man nur aus
dem Mutterlande beziehen konnte, waren höchst selten geworden. Da in der
größten Not, nachdem er vielfach zu Gott und den Heiligen gebetet, entdeckte
Pater Sepp ein ergiebiges Lager von Eisenerzen, wie es scheint, Raseneisen¬
stein. Ob dieses an ein Wunder grenzende Ereignis der Fürbitte der allezeit
wunderthätigen Mutter Gottes von Alten-Öttingen und seines Patrons, des
heiligen Antonius von Padua, zu verdanke» sei, oder aber der Beihilfe der
armen Seelen im Fegefeuer, denen er zu diesem Behuf etliche heilige Messer
gelesen hatte, wagt Sepp nicht zu entscheiden. Zur Ausnutzung dieser Gottes-
gabe werden sogleich Schmelzöfen erbaut und durch ein sinnreiches Verfahren
lange eiserne Stangen hergestellt, aus denen dann die verschiedensten Werkzeuge
geformt werden können. Aber anch Waffen muß die neue Entdeckung liefern,
denn die Reduktion ist die der brasilischen, also portugiesischen Grenze am
nächsten gelegne Ortschaft. Darum ist auch die Bevölkerung immer bereit,
mit gewaffneter Hand jedem Friedensstörer entgegenzutreten. Die Infanterie,
unter dem Befehl von Kriegsobersten und Kapitänen, bestand aus Pikeuierern,
sowie Pfeilschützen und Schlingenwerfern, auch Musketiere gab es, nur waren
sie so feuerscheu, daß man sie kaum zum Losbrennen der Musketen zu bringen
vermochte. Die Reiter werden Wohl neben Pfeil und Bogen vor allem die
Wurfschlinge, das Lasso, als Waffe geführt haben. Aber auch mit den bürger¬
lichen Einrichtungen war es Wohl bestellt: Bürgermeister und Ratsherren,
Richter, Zunft- und Rentmeister gab es genau so, wie in einer wohlbestellten
Bürgerschaft des damaligen heiligen römischen Reiches deutscher Nation, und
alle waren sie rein indianischer Abstammung, da ja außer den Patres kein
Europäer in dem „Gottesstaat" geduldet wurde.
Dies mag genügen, uns ungefähr einen Begriff von der Art und Weife zu
geben, wie die Jesuiten kolonisierten, und welche Erfolge sie erzielten. An der
Wahrhaftigkeit Sepps zu zweifeln haben wir umso weniger Grund, als er
auch sonst in seinen Angaben einen zuverlässigen Eindruck macht und daher
selbst den ausgesprochnen Gegnern der Jesuiten und ihres Missionswerks
Achtung abnötigt. Die Ordensbrüder, die jede Lüge, wenn sie nur zum Vor¬
teil des Ordens diente, gleisnerisch entschuldigten, waren eher an den Fürsten¬
höfen Europas, als in den Urwäldern der Neuen Welt zu finden. Und gewiß
ist auch das Urteil durchaus ehrlich gemeint, das er über die Vorzüge Para-
quarias — wozu das ganze von dem Netz der Jesuitenmissionen umspannte
Territorium des Laplatastromsystems gehört — gegenüber der Alten Welt
fällt. „Ich lasse das Wälschland einen Lustgarten Europae sein, heißt es,
Teutschland ein irdisches Paradeiß, Frankreich eine Zierde aller Gärten: so
bin ich doch gcintzlicher Mainung, daß Paraquaria dise alle in Schön- und
Lustbarkeit weit übertreffe, weilen jene mehr von der Kunst als Natur, dises
aber alleinig ihre völlige Schönheit von der Natur her entlehnet. solle
Amerika wie Europa bewohnet sein und dise zwen Theil der Welt der große
Oceanus nicht also weit von einander entschiden hätte; würde Amerika in ein
volckreiches Europam, Europa aber in ein Amerikanische Einöde verkehret zu
sehen sein." Das Land der Missionen etwa als Auswauderungsziel anzu¬
preisen, konnte ihm nicht in den Sinn kommen, da ja die Jesuiten ängstlich
darauf bedacht waren, alle Europäer von ihren Reduktionen fern zu halten.
Übrigens liest sich heutzutage die Stelle fast wie eine Prophezeiung, die teil¬
weise schon in Erfüllung gegangen ist. Man denke nur an die von ihren
fleißigen Bedauern entblößten Hochflächen Schottlands oder an manche ent¬
völkerten Landstriche Italiens, deren Bewohner die Alte Welt mit der Neuen
vertauscht haben! Wo aber einst die Jesuiten ein Reich aufzurichten trach¬
teten, das sich von den Gestaden des Atlantischen bis zu denen des Stillen
Ozeans und von den Urwäldern des Amazonasgebiets bis zu den Steppen
Patagoniens erstrecken sollte, werden, wenn noch Tausende und Abertausende
von Einwandrern ihren Weg dorthin gefunden haben werden, neue Staaten¬
gebilde entstehen, und wo die Ruinen der alten Jesuitenkollegien heutzutage
der schweigenden Landschaft eine gewisse historische Staffage geben und den
Geist zu wehmütiger Betrachtung stimmen, wird emsige menschliche Thätigkeit
wiederum neues Leben und neues Gedeihen schaffen.
ußer der geistlichen Musik nahm das Theater die Interessen der
Bonner Gesellschaft in Anspruch. Unter Max Friedrich erfuhr
die deutsche Bühne einen allgemeinen Aufschwung. Fürsten
und Höfe begannen allenthalben in Deutschland das deutsche
Drama zu unterstützen, und die Bemühungen Gotthold Ephraim
Lessings fanden auch am Rhein Beifall und führten dort einen gänzlichen
Umschwung des Geschmacks herbei. Was in Gotha der Herzog, in Mann¬
heim der pfälzische Kurfürst auf diesem Gebiete ins Werk setzte, dasselbe
unternahm Max Friedrich mit gleichem Geschick und gleichem Verständnisse.
Die in Bonn gebildete Schauspielergesellschaft (Direktoren: Reich« und Steiger)
sollte nach seinen eignen Worten dazu führen, „daß die deutsche Schauspiel¬
kunst zu einer Sittenschule für sein Volk erhoben werden möchte." Das Theater
wurde am 26. November 1778 eröffnet.") Auf dem ständigen Repertoire fanden
sich Lessings Dramen: Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, außerdem über¬
setzte Stücke von Garrick, Beaumarchais, Goldoni und Moliere. Ferner kamen
Dramen von Shakespeare, Schillers „Räuber" und „Fiesko" neben Opern
von Gluck, Picciui, Gretry, Saechini, Hiller, Salieri, Cimarosa und Mozarts
„Entführung aus dem Serail" zur Aufführung.
In Köln bestand schon im Anfange des Jahres 1782 eine nicht unbe¬
deutende Theatergesellschaft, die später im Bonner Hoftheater aufging „zur
Wiederbelebung des Nationaltheaters." Leopold Kaufmann, der Verfasser der
„Bilder aus dem Rheinland," führt als ein wichtiges Zeugnis für die da¬
maligen geistigen Bestrebungen den Schriftwechsel des Hoforganisten und Musik¬
direktors Reese an, der auch ein gebildeter Schriftsteller war. Danach
wurden in der ersten Wintersaison vom 3. Januar bis 23. Mai 1789 dreizehn
Opern aufgeführt von Venda, Pavsiello, Desaides, Mozart, Salieri, Gretry
und Cimarosa. In der zweiten Saison blieb dieselbe Zahl von Opern, dar¬
unter aber zwei von Mozart, und zwar Don Juan und die Hochzeit des
Figaro. Von der Aufführung der letzten berichtet Reese: „Sie gefiel ungemein;
Sänger und Orchester wetteiferten miteinander, dieser schonen Oper Genüge
zu thun. Auch waren die Kleider prächtig und geschmackvoll." Figaros Hoch¬
zeit wurde viermal, Don Juan dreimal, der Barbier von Sevilla von Paösiello
zweimal gegeben. In dem Zeitraum von vier Jahren, von 1788 bis 1792,
hat Ludwig van Beethoven hier als thätiges Mitglied des Opernorchesters
gewirkt. Die Mitteilungen aus dem Verzeichnisse der aufgeführten Opern
zeigen, daß die besten Schulen der Zeit vollständig von ihm in ihrer ganzen
Stärke und Schwäche bemeistert worden sein müssen. Bekannt ist, daß Beethoven
in dem Hause der Witwe des kurkölnischer Hofkammerrath Joseph von Breuning,
Helene von Kerich, die erste Bekanntschaft mit der dentschen Litteratur machte,
vorzüglich mit den Dichtern Lessing, Klopstock, Herder und Goethe. Wir ver¬
weisen dieserhalb auf die „Erzählungen eines rheinischen Chronisten" von
Wolfgang Müller von .Königswinter (Furioso, Seite 158), der als freier und
objektiver Mann über jeden Verdacht erhaben ist, daß er die Geschichte ein¬
seitig gefärbt hat.
Das frische, regsame, vor allem sich auf Wissenschaft und Kunst richtende
Leben in Bonn mußte auf die Bildung des Geistes und Charakters Beethovens
den nachhaltigsten Einfluß ausüben. Wie wir „bei ihm eine gewisse Vielseitig¬
keit der Interessen sein ganzes Leben hindurch beobachteten und zweifelsohne
auf die geselligen Einflüsse zurückzuführen haben, unter denen er sich entwickelte"
(vgl. Thayer, Ludwig van Beethovens Leben, bearbeitet von H. Deiters, I,
S. 131 und 133), so müssen wir dieselbe vorteilhafte Eüiwirknng auf die litte¬
rarische Bildung der damaligen Bonner Kreise gleichfalls annehmen. Der
mainzische Bibliothekar, Hofrat Johann Georg Forster, der wie kein andrer
Schriftsteller das achtzehnte mit dem neunzehnten Jahrhundert, das Zeitalter
ausschließlich schöngeistigen und wissenschaftlichen Strebens mit dem Zeitalter
staatlicher und gesellschaftlicher Kämpfe vermittelt, sagt in seinen „Ansichten
vom Niederrhein" (1790) bei Besichtigung der Bibliothek des kurfürstlichen
Schlosses in Bonn, daß er „in den reichvergoldeten Schränken die besten
Schriftsteller unsrer Nation in jedem Fache der Litteratur, ganz ohne Vor¬
urteil, gesammelt" gefunden habe. Ferner meint er, „daß je reicher die Aus¬
bildung unsers Zeitalters, desto umfassender unser Denk- und Wirkungskreis
sei, und daß wir uns auf diesem Punkte der Geistesbildung befinden, das
beweist der gegenwärtige Zustand der Erziehungsanstalten, der Universitäten
und der belletristischen Litteratur."
Ferner dürfte hier das Ergebnis der Untersuchungen Dr. Paul Kaufmanns
in seiner „Geschichte der Familie Kaufmann ans Bonn und von Pelzer ans
Köln" (Bonn, 1897) hervorzuheben sein: „Man hat, sagt er, in jüngerer Zeit
öfter behauptet, im damaligen Bonn habe gar kein Sinn für die aufwachende
deutsche Litteratur geherrscht. Dies ist jedoch nur mit großer Einschränkung
zuzugeben. Unser Großvater") schaffte alle damaligen Novitäten an: Hagedorn,
Gellert, Rabener usw. Sein vertrautester Freund, der Hofkammerrat Boosfeld,
beschäftigte sich sogar sehr lebhaft mit allen neuen Erscheinungen dieser Art;
mit gleicher Lebendigkeit verfolgte sie unsers Großvaters Nichte, Amalie von
Masticiux, die spätere Frau von Grub. Ein großer Freund der Litteratur
war endlich der damalige Professor Fischenich, später Staatsrat und Präsident
in Berlin, der als Jenenser Student im Schillerschen Hause gelebt hatte und
mit Charlotte von Schiller fortwährend in Briefwechsel blieb. Unsre Mutter
erzählte, Fischenich habe, als Frau von Schiller ihm das Lied von der Glocke
zugeschickt, seine juristischen Vorträge für eine Stunde Wert und statt dessen
zu größtem Entzücken seiner Zuhörer das Schillersche Meistergedicht vorgelesen.
Wie sehr Oper, Schauspiel und Musik in dem damaligen Bonn blühten, ist
zu bekannt, als daß man darüber noch zu sprechen brauchte, und die Einrich¬
tung der kurfürstlichen Universität ist ein hinlänglicher Beweis, daß der Sinn
für Bildung und Wissenschaft in den höhern Kreisen der Gesellschaft nicht
mangelte. An dem Professor Eulogius Schneider besaß die Stadt auch einen
später freilich sehr berüchtigt gewordnen Dichter. Boosfeld dichtete gleichfalls,
und auch unser Großvater Pelzer hat sich in Versen versucht. Geistige Le¬
thargie trat erst in der unglücklichen französischen Periode ein, und dies war
ganz natürlich, da der größte Teil des gebildeten Publikums die Stadt ver¬
lassen hatte. Die wenigen Zurückgebliebnen, wie Boosfeld, der Geheimrat
von Gerold, Frau von Grub, ihre Freundin, die schöne Gräfin Belderbusch u.a.
konnten dagegen nicht in die Wagschale sollen. Auch des kunstsinnigen Kano¬
nikus Pick (geb. 1750 zu Bonn), des »heitern, geistreichen Mannes«, dessen
Sammlungen Goethe (Kunst und Altertum am Rhein und Main, Erstes Heft,
Stuttgart, Cottasche Buchhandlung, 1816. S. 31 ff.) eingehend beschreibt, ist
hier zu gedenken. — Eine ins Absurde gehende Übertreibung ist es, wenn Adolph
Freimund in seiner 1845 erschienenen Schrift: »Die historisch-politische Schule
und Böhmers geschichtliche Ansichten« behauptet, in der ganzen verarmten und
Verdünnter Stadt Bonn habe sich nicht eher ein Buchbinder befunden, als
bis in Königswinter Dr. Augusti einen gemietet."
Die im vorigen Jahrhundert (am 1. Dezember 1787) in Bonn gegründete
„Lesegesellschaft" vereinigte die Liebhaber der schönen Litteratur und Wissen¬
schaften (weit über hundert Mitglieder) zu einer litterarischen Vereinigung,
deren Bedeutung bei unsrer Frage nicht unterschätzt werden kann. Jedem
Litteraturfreund stand damals der Besuch frei. In dieser Gesellschaft wurde
auch die Aufstellung des Bildnisses des Kurfürsten durch den Vortrag einer
schwungvollen Ode von Professor Eulogius Schneider*) begleitet (2. Dezember
1789). Der Sekretär der Gesellschaft von Mastiaux hob in seiner Rede hervor,
„daß dieses Institut durch gemeinschaftliche Kräfte unterstützt, Litteratur, nütz¬
liche Kenntnisse unter den Gliedern verbreite und seinen wohlthätigen Einfluß
durch Geselligkeit und wissenschaftliche Kultur auf das Wohl des ganzen Landes
ausgieße." Professor von der Schüren hob hervor: „Um den Fortschritt der
Wissenschaften in unserm Vaterlande bewirken zu können, haben sich hier die
Litteraturfreunde verbrüdert." Im Laufe der Zeit wurde die Gesellschaft denn
auch von den größern Geistern der Zeit gelegentlich besucht, so u. a. von
Haydn, Humboldt, Wallraf, Sulpiz Boisseree usw. Führen wir endlich noch
an, daß der Kurfürst Clemens August für das Theater in Bonn allein jährlich
über fünfzigtausend Reichsthaler ausgab, so kann man sich ungefähr einen
Begriff von dem damaligen geistigen Leben machen. (Vgl. Euren, Geschichte
von Stadt und Kurstaat Köln. 1856, II. Band, S. 364.)
Auch Hermann Hüffer betont in seiner Abhandlung über „P. I. Boosfeld
und die Stadt Bonn unter französischer Herrschaft" (Annalen des historischen
Vereins für den Niederrhein, Heft 13, 1863, S. 145), daß sich die Form
der von Boosfeld geschriebnen Briefe vor den meisten auszeichne, die damals
in der Rheinprovinz geschrieben wurden. Dadurch solle aber gewiß nicht an¬
gedeutet werden, als sei die Bildung dort im Verhältnis zum übrigen Deutsch¬
land ungewöhnlich niedrig gewesen, die erst fremder Einwirkung alles verdanken
mußte. Schon damals lebte in den Rheinlanden eine große Zahl von geistig
bedeutenden, hochgebildeten Männern, die, auch der litterarischen Bewegung
nahestehend, der Sprache in ausgezeichneter Weise Meister waren. Den
besten Beweis dafür giebt der kürzlich veröffentlichte Briefwechsel der Boissere-es,
dem sich aber noch manches anreihen ließe. Im Besitze Hermann Hüffers ist
noch ein Exemplar der Vossischen Übersetzung der Odyssee von 1781, das mit
Anmerkungen von Boosfelds Hand reichlich ausgestattet ist. Peter Joseph
Maria Boosfeld, 1750 in Bonn geboren, war 1772 Advokat bei der Hofrats-
kanzlei, 1784 Hofkammerrat, 1786 Mitglied des Bonner Magistrats, später
Maire der neuen Stadtverwaltung.
Der Bonner geistigen Lust entstammte, wie schon vorher bemerkt worden
ist, der dort am 2. August 1768 geborne, mit zweiundzwanzig Jahren (1791)
zum Professor der Rechte an der dortigen Universität ernannte, spätere Staatsrat
und Präsident in Berlin Bartholomäus Ludwig Fischenich, dem der Kurfürst
Urlaub zu seiner weitern Ausbildung an der Universität Jena erteilte. Schillers
Ruf war es, der ihn dahin zog; mit diesem wurde er bald zu innigster Freund¬
schaft verbunden, und Schiller war mit ihm tagtäglich in wissenschaftlichem
Verkehr. Fischenichs Briefwechsel mit Charlotte von Schiller (vgl. Fischenich
und Charlotte von Schiller von Dr. I. H. Hermes, Frankfurt a. M, 1875, und
Andenken an Bartholomäus Fischenich von demselben Verfasser, Stuttgart und
Tübingen, Cottas Verlag, 1841) giebt ein beredtes Zeugnis über dessen viel¬
seitige litterarische Bildung. In dem Buche „Schillers Sohn Ernst. Eine
Briefsammlung von Dr. Karl Schmidt, Oberlandesgerichtsrat zu Kolmar^
Paderborn, 1893" finden wir die Urteile über ihn und wie Schillers Gattin
über diesen Bonner denkt. Am 19. Dezember 1818 schreibt sie an ihren Sohn
Karl: „Ein solcher Umgang und ein Mann von einem solchen Charakter könnte
von der größten Wichtigkeit für Ernst sein."
Gehen wir um weiter den Rhein abwärts nach Köln, das schon 1388
die älteste, vom Papste Urban IV. mit Privilegien und Freiheiten ausgerüstete
Universität hatte. Trotz seiner Universität, trotz seiner vielen Gymnasien (schon
seit 1222) und Kollegien und Institute war Köln auf litterarischem Gebiete
nicht das, was es wirklich hätte sein können. Der Verfasser der „Reise auf
dem Rhein" (II. Band, S. 296) beklagt, „daß in den niedern Schulen noch
der alte Schlendrian herrsche und hundert Hindernisse, die der Kölner aus an¬
klebenden alten Vorurteilen nicht heben will und mag, das Ganze, das man
doch in den benachbarten Städten so gut und glücklich wirken sieht, in seiner
Schwungkraft hemmen." Auch Gercken (S. 273) meint, daß es mit dem Ruhm
der Kölnischen Universität nicht recht fort wolle, obgleich sie eine Tochter der
Pariser und eine Mutter der zu Löwen in Brabant sei. Es herrsche noch bei
ihr viel alter Schlendrian, der die Wissenschaften nicht aufkommen ließe.
Dr. C. Varrentrapp führt in seinen „Beitrügen zur Gründung der Kur-
kölnischen Universität Bonn" (Bonn, 1868) ein an Meusel aus Bonn gerichtetes
Schreiben vom 28. September 1784 an, worin es heißt: „Von der kläglichen Be¬
schaffenheit der Dorfschulen muß ich Ihnen doch einige besondre Beispiele
mitteilen. Zu Herzogsfrende ist eine Kapelle, die von einem Mönche bedient
wird und der auch die Schule besorgen soll, aber herzlich schlecht katechisiert.
Im Dörfchen Uckesdorf ist bei der dortigen Kapelle ein Bencfiziat, der Messe
liest, übrigens aber ein Stallausfeger, Buttermacher und Holzhacker ist. In
Jppendorf wurde vor einigen Jahren durch den wahrhaft patriotisch denkende».
Herrn Pfarrer Schlösser in Langsdorff eine Schule eröffnet und ein armer,
aber ziemlich geschickter Schulmeister dabei angestellt: er konnte aber wegen der
großen Armut der Leute nicht lange daselbst bleiben." Merhet, Histor. Litt,
f, 1734. Band 2. 363.)
Wenn wir nun auf den Stand der Litteratur in der mächtigen Handels¬
stadt Köln übergehn, so darf an diese wohl nicht derselbe Maßstab gelegt werden,
wie an die übrigen rheinischen Städte. Wir müssen zunächst zugeben, daß der
Gebrauch der Volkssprache wenig gepflegt und zu Gunsten der lateinischen
Sprache verdrängt wurde, da man besorgte, daß durch die deutsche Sprache
auch der verflachende Geist in die katholische Theologie eindringen werde.
(Vgl. K. A. Menzel. Neuere Geschichte der Deutschen, alte Ausgabe 11. S. 185.)
Die alten Pedanten haßten die deutsche Sprache förmlich. In Köln wollte man,
als man schon in andern deutscheu Städten lateinische Grammatiker gebrauchte,
die in deutscher Sprache geschrieben waren, nichts von einer solchen wissen.
Bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein dauerte es, ehe die deutsche
Sprache Gemeingut der rheinischen Bevölkerung auf den Gymnasien nud Uni¬
versitäten wurde. Außer den Laurentianern waren es die Jesuiten in Köln,
die anfingen, „die Jugend von der ersten Klasse an zu gewöhnen, ihre Mutter¬
sprache nach den Regeln gut und rein zu reden und zu schreiben." In dem
„handschriftlichen Bericht des Jesuitengymnasiums an den Magistrat der
Stadt Köln" wirv darauf hingewiesen, „daß der echte Geschmack in Poesien
ohnehin aus den Alten erlernt werden muß. Wird man diese Wohl inne haben,
so wird sich das Genie, so vielleicht einer zur Dichtkunst in sich fühlet, in der
Muttersprache, die uns geläufiger ist, gar leicht entwickeln und zur Vollendung
können gebracht werden." Die klüger» Väter der Jesuiten sahen nun ein, daß
sie mit der bloß griechischen und lateinischen Litteratur neben den immer mehr
vorschreitender Protestanten nicht bestehen würden. Sie hatten daher gegen
die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre Zöglinge mit den Musterwcrken der
deutschen Litteratur bekannt gemacht und sie in einem reinen Stile ihrer
Muttersprache geübt. Von dieser Zeit an war es üblich, daß die Studenten
nebst ihren lateinischen Aufsätzen und Versen auch deutsche anfertigen mußten.
Ihre bei der Austeilung der Zeugnisse aufgeführten Schau- und Lustspiele
wurden in deutscher Sprache vorgetragen und die Schönheiten der Werke
Gellerts, Hagedorns und Klopstocks in dem Unterrichte dargelegt. Von Koblenz
berichtet Joseph Gregor Lang 1789 (Seite 187. Bd. 1): „Die deutsche Mutter¬
sprache, die man ehedem fast gar nicht berührte, wird nun nach den bestimmten
Regeln gelehrt."
Wie die deutsche Sprache auf der damaligen kurfürstlichem Universität zu
Bonn behandelt wurde, dafür ist uns ein klassisches Zeugnis des Theobald
Knoll. der als Pfarrer zu Meckenheim bei Bonn gestorben ist, erhalten. Er
hat mit eignen Ohren den damaligen Professor der Rechte Dr. Gottfried Daniels
die dortigen Professoren mit folgenden Worten anreden hören: „Meine Herren,
es ist eine wahre Schande, daß die öffentlichen Lehrer der Universität nicht
imstande sind, einen fehlerfreien deutschen Aufsatz zu liefern; es ist durchaus
nötig, daß Sie die Regeln der deutschen Sprache lernen!" (Vgl. Lersch, nieder¬
rheinisches Jahrbuch für Geschichte, Jahrgang 1844, S. 104. Meuser, Zur
Geschichte der kurfürstlichen Universität Bonn.) Und der das sagte, war ein
Rheinländer von Geburt! Eines weitern Kommentars bedarf es daher unsers
Dafürhaltens uicht. Oillloilg <zst>, salir^in non soribM, wenn man hierbei an
das schöne Deutsch der Juristen in unsrer heutigen Zeit denkt, das von Zeit
zu Zeit in den bekannt gewordnen Urteilen des Reichsgerichts von berufner
Seite beleuchtet und gewürdigt worden ist. Auch heute könnte es nicht schaden,
wenn ein Professor Daniels^) am Reichsgericht und an den andern Nechts-
burgen unsers großen Vaterlandes gleiche Musterung hielte!
Gehen wir nunmehr auf die Litteratur in Köln näher ein.
In Köln war nicht der Boden für eine Litteratur, wie sie sich allmählich
im Norden Deutschlands entwickelt hatte. Die Zensur der Universität hatte
durch eine Bulle des Papstes Sixtus IV. vom 17. März 1479 das Recht,
„den zum Verkauf bestimmten Büchern die Approbation zu erteilen oder zu
versagen, die Buchhandlungen und Vuchdruckereien zu kontrollieren usw." Mit
dieser Zensur konkurrierte das erzbischöfliche Offizialat und der päpstliche Nuntius.
So war in Köln die Litteratur durch ein dreifaches Band geschnürt. Unter
diesen Umständen war auch der Buchhandel gehindert, sich frei und selbständig
zu entwickeln. Man wandte der einheimischen Litteratur den Rücken und suchte
in der französischen Litteratur Befriedigung für die geistigen Bedürfnisse, wo
man feinern Geschmack, mehr polierte Sitten und weniger Prüderie zu finden
glaubte. Obgleich Köln eine der ersten Städte gewesen war, die die neu-
erfundne Buchdruckerkunst in ihren Mauern sorgsam gepflegt hatte, war der
Kölner Buchhandel, der auf der Frankfurter Messe eine so bedeutende Rolle
bis dahin gespielt hatte, immer mehr hinabgesunken. Solange die lateinische
Sprache fast ausschließlich die Sprache der Gelehrten und der Weltmänner
war, behauptete die Frankfurter Messe ihren Vorrang vor den übrigen Messen;
als auch die deutsche Sprache in ihre Rechte eintrat und den ihr gebührenden
Platz in der deutschen Litteratur einnahm, blieben die fremden Buchhändler
weg. Auf diese Weise wurde Leipzig, die gefährlichste Rivalin Frankfurts,
der Mittelpunkt des deutschen Buchhandels. Wie es mit der Versorgung der
damaligen wissenschaftlichen Welt im Rheinlande mit den Erzeugnissen der Liede-
ratur aussah, das beweist folgende Anzeige eines Kölner Buchhändlers aus
dem Jahre 1785: „Joh. Arnold Jmhof, aus Köln a. Rh., hat die Ere, den
Herrn Liebhabern der Litteratur und schönen Wissenschaften hiemit bekannt zu
machen, daß er bei seiner Durchreise uach Koblenz gesonnen sei, sich dahier
zu Bonn bis den 12. April laufenden Jahres aufzuhalten. Er furt ein
starkes und schönes Sortiment der neuesten und auserlesensten Bücher aus
allen Teilen der Wissenschaften bei sich, worunter viele prächtige Berliner,
Leipziger, Dresdener, Hamburger usw. Originalausgaben usw., die er aus den
Leipziger Messen gezogen, und in hiesigen Gegenden gar nicht wohl zu haben
sind. Sein Laden ist bei Hofe dahier."
Der Verfasser der „Reise auf dem Rhein," Joseph Gregor Lang (Koblenz,
1789—1890) berichtet, daß ein Koblenzer Buchhändler ihm im Gespräche
mitgeteilt habe, „obschon viele denkende Köpfe in Koblenz sich vorfänden, so
wäre doch verhältnismäßig wenig Hang zur Schriftstellerei." Er begrüßte
daher des Verfassers Absicht, ein Buch über den Rhein zu schreiben, mit
um so größerer Freude, als er bisher keinen Schriftsteller dazu hätte aus¬
findig machen können (S. 174 ff., I. Band). Von den Benediktinern in der
Abtei Laach rühmte er dagegen, „daß sie eine ausgebreitete Littcraturkenntnis
besäßen, und in deren Privatbibliotheken auch die neuere deutsche Litteratur
durch ihre deutschen Dichter vertreten wären." Dabei bemerkt er: „Welch ein
auffallender Abstich zwischen der ersten und zwoten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts im Mönchtum, in welcher erstern, wenn man zurückblickt, der
Mönch nebst seinem Brevier nichts andres kannte, als eine oft höchst wider¬
sinnige Dogmatik oder fabelhafte Legende" (Band II, S. 98 ff.). Der Ver¬
fasser ist, wie man sieht, ein freidenkender Mann. Wir vermögen daher auch
seine Betrachtungen (Band I, S. 196) über die damalige Reform des
Schulwesens nur als berechtigt anzuerkennen, wenn er seine Freude über
den geistigen Umschwung in folgenden Worten ausdrückt: „Glückliches Zeitalter
für jeden Freund der Menschheit — wo mau alle Zweige nützlicher und an¬
genehmer Kenntnisse nicht nur für den gelehrten Stand, sondern für jeden
Freund des Guten und Schönen überhaupt bearbeitet, und den Menschen durch
zweckmäßigere Bildung seiner geistigen und körperlichen Kräfte stets mehr zu
jenem Grade der Vollkommenheit vorzubereiten sucht, den er ungehindert in
kommenden Zeitaltern unter dem Schutze weiser und thätiger Fürsten ersteigen
kann und wird!"
Er nimmt daher auch S. 258 kein Blatt vor den Mund, wenn er von
Köln sagt, daß „Haß gegen Neuerungen, Intoleranz, mißverstandne Freiheit,
womit sie ihre verjährten Privilegien durchsetzen wollen, und die keine Polizei
ahnden darf, die Hindernisse sind, warum es nicht recht Tag werden will;
und wenn, wie hier, Steifsinn und Vorurteil die Zerstreuung des Nebels
verbaut, da weiß man schon, wie schwer es der Philosophie wird, mit ihren
Strahlen durchzuringen. Überhaupt ist Köln in der Kultur wenigstens noch
ein Jahrhundert hinter dem ganzen übrigen Deutschland zurück. Wenn man
das fünf Stunden nur davon entlegne Bonn und das benachbarte Düsseldorf,
das nur sieben Stunden davon abliegt, damit in Vergleich stellt, so weiß man
gar nicht, was man sagen soll. Doch ist keine Regel ohne Ausnahme. Man
trifft hier Gesellschaften an, in denen ein sehr feiner Ton herrschet, die sich durch
Geschmack auszeichnen usw."
Über die höchste Bildungsanstalt des Landes, die Kölner Universität,
äußerte 1777 ein Kölner Professor Dr. Menn: „Es waren Zeiten, wo sich
unsre Vaterstadt das Athen am Rhein nennen durfte. Aber warum mußte
doch unser Athen dem alten auch darin gleich werden, daß die Wissenschaften
von ihm auswanderten und dieser ihr Wohnsitz in gänzlichen Verfall geriet?
Seit anderthalb Jahrhunderten zog sich ein immer trüberer Nebel um uns
her, der auch sogar vou dem im übrigen Europa mehr und mehr aufgehenden
Licht keinen Strahl zu uns durchließ. Es verscheuchten wohl innerliche Un¬
ruhen oder Kriegsläufe die Musen eine Zeit lang von ihrem geliebten Wohnsitz;
aber ist es nicht eine unverzeihliche Sache, daß hier statt einer vernünftigen
Gelehrsamkeit die Sphinx jener rätselhaften abgezognen und leeren Schulweisheit
unter der Larve einer systematischen Philosophie sich vor das feiernde Heiligtum
lagerte und es bisher gegen die Ansprüche der zurückkehrenden Wahrheit mit
Vorurteilen behauptete?" (Vgl. Bianco, Die alte Universität Köln I, S. 590.)
(Schluß folgt)
tho stieg Karl allein die Gangtreppe hinunter und beschaute das
Gestell. Aber sehr obenhin, die Augen glitten immer wieder ab,
den Hof entlang, der jetzt völlig leer war, schweiften nach dem
leeren Fenster der Wäscherin, nach der kahlen Lattenlaube, nach der
dunkeln Rückwand der Apotheke. Die Spatzen lärmten in den
Kastanien hinter der Stadtmauer, und Jenny spielte bei offnem
Fenster: „Du, du liegst mir im Herzen." Sie hatte den dummen Karl über den
Hof gehen sehen, er war wahrhaftig noch hübscher geworden.
Nun sah auch Frau Flörke den Heimgekehrten, stellte das heiße Eisen zum
zweitenmal an diesem ereignisreichen Abend beiseite, trotz der stattlichen Reihe
Feiertagshemden, die es noch zu bügeln galt, und kam heraus.
Nein, so was! nein aber! Da ist der Herr Scharls! Schon wieder zu Hause?
Nur auf Urlaub? Nun ja, das ist auch ganz hübsch, aber das hat meine Tochter
nich nötig, sie kriegt dort ihre Feiertage. Statiös, mit Tanz und Landpartien.
'S geht ihr mächtig gut, un sie wird ästimiert als 'n hübsches Mädchen, was sie ist.
Was ich ganz gut sagen kann, obwohl ich die Mutter bin. Un sie is höllisch
gescheit im Laden; sie hat enim Hut geschickt zum Fest: piekfeiner Geschmack! so
schön, daß er einem beinah nich gefällt. Ja. Un da is en Verwandter im Geschäft,
der is was Rechtes: gelernter Kaufmann. Der steckt die ganze Stadt in die Tasche,
un wenn die nett was geerbt hat, nimmt er sie zur Frau, un dann wirds ne
große Sache, denn die Pate hat immer noch son bischen altmvdsche Ansichten.
Fährt lieber Schiebekarrn wie Eisenbahn.
So, antwortete Karl verdrießlich, und das hat Ihnen nett alles geschrieben?
Warum nich gar — nett! Nein, die Brendeln. Was eine hiesige is, die
hat dorthin geheiratet, und die hats so von den Leuten, un von was einer hört,
da is immer was dran, und sie is hingegangen in den Laden un hat sich füm
Groschen Band gekauft, und dabei hat sie gesehen, wie scharmant der junge Mann
mit meiner nett umgegangen is. Ja! Wenn einer nur erst mal naus kommt,
dann sieht er, was er wert is — zu Hause gehts in der lieben Gewohnheit
weiter, bis die letzten Schuh durchgelaufen sind.
Karl ärgerte sich über Frau Flvrkes Geschwätz und ärgerte sich über die kahle
Bohnenlaube. Vorhin hatte er beschlossen, in seinen Urlanbstagen Bohnen zu
pflanzen. Nun nett aber doch nicht wiederkam, wärs unnütze Tändelei gewesen.
Ist doch ganz gut, wenn ich wegbleibe, dachte er, bin hier herausgewachsen.
Da setzte Sankt Bnrthelmä zum dritten Läuten ein, und Line rief zum
Abendbrot.
Sogar den Vater lockten Ruf und Geläute aus seiner Stube, er hatte noch
nicht wieder vergessen, daß der Sohn zu Hause war. Er wartete vor der Werk¬
stattthür auf Karl, schob die Hand in seinen Arm, drückte ihn ein wenig und
fragte leise: Du bleibst, nicht wahr? du hast nun genug gelernt. Du mußt doch
dabei sein, wenn wirs probieren, mußt zuschauen, mußt den Kritiker machen. Wir
gehen nicht gleich vors große Publikum, nur ein paar Sachverständige laden wir
ein: zwei, höchstens drei, und lassens auch nicht vorher in die Zeitungen. Ich
Habs gegen Nothnagel durchgesetzt, man weiß doch nicht — so beim erstenmal kann
eine Kleinigkeit versagen, und das unvernünftige Volk meint dann gleich, die ganze
Sache sei faul. War ne Arbeit, das durchzusetzen: der Nothnagel ist doch ein
banausischer Gefährte. Aber freilich, freilich, besser so einer als gar keiner; die
Menschenstimme will ein Echo haben. — Du bleibst da, unterbrach er sich plötzlich
mitten in seinen rückwärtsschauenden Gedanken, du mußt zusehen.
Ja Vater, antwortete Karl, wieder völlig im Banne seiner alten Abhängigkeit.
Drinnen, beim Eierkuchenessen, fragte ihn Line ub, wie es in der Fremde
sei, und was ihn heimführe. Da sagte er alles.
Der Alte schalt, naunte Meister Wendelin einen Sklavenhändler, der von
andrer Leute Herz und Hirn zu leben denke, und Line saß schweigend da in bitter¬
schwerem Kampf. Selbständigkeit war eine schöne Sache, aber hier unter Spinnweb
und Gespenstern, eingeengt durch Schulden und Vorurteile, war das noch Selb¬
ständigkeit? Nein, sie brachte den Mut nicht ans, den Bruder ums Bleiben zu
bitten, so sehr sie sich nach seiner Gegenwart sehnte.
Mir scheint das sehr günstig, sagte sie leise und sah auf den Teller, damit
Karl nur nicht in ihren Augen läse, wie schwer ihr die Zustimmung wurde.
Karl sah von Limen auf den Vater, vom Vater auf Limen, sah zur offnen
Küchenthür hinaus, durch die man den Ballonreifen gegen den Abendhimmel sehen
konnte.
Freilich wars günstig, aber da draußen stand seines Vaters Lebenswerk.
Mußte er nicht dabei sein, wenn das zum Abschluß kam?
Ja Line, sagte er schnell, um den Zwiespalt los zu werden. Aber — ich
denke, es läuft mir nicht davon.
Du könntest zum Aufstieg auf einen Urlaub herkommen, redete Line weiter
zu, aber matt, es wurde ihr gar zu schwer. Herr Wendelin würde dirs nicht ver¬
weigern.
Der Vater brummte, Karl sagte: Natürlich nicht. Aber ein Urlaub hat
Anfang und Ende, es könnte sich mit dem Aufstieg etwas verschieben, ich müßte
um mehr schreiben, und sie hätten sich mit der Arbeit so eingerichtet, daß das nicht
ginge. Nein nein. Es ist auch keine Gefahr dabei, Line, was ich heute kaun,
kann ich auch übers Jahr. Ich habe das Zutrauen, daß ich so einen Platz wie
den gebotueu jederzeit fände; ja ich meine sogar, einen Teil der Entwürfe ließe
mich Wendelin hier machen, wenn er nur merkt, 's ist mir ernst mit dem zu Hause
bleiben. Wir wärs, wenn ich am dritten Feiertag zurückführe und mich so schnell
als möglich freimachte.
Bravo, rief der Vater, bravo! das heißt wie ein Sohn gesprochen! Und du
wirst dabei sein, wenn wir zum erstenmal steigen, du wirst! Sollte auch Wendelin
deine Abreise hinauszögern, wir warten auf dich. -
Lines stumme, das ganze Gesicht erleuchtende Freude rührte den Bruder am
meisten.
Ackermanns Schmiede hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen: im Hof flatterte
Wäsche, die fünf Jungen verführten ihren Bubeulärm — Fräulein Line hörte ihn
kaum. Seit das Gespenst, Gestalt geworden, in der großen Scheuer stand, konnte
sie nichts andres mehr denken als den Aufstieg.
Würde er glücken, würde der goldne Engel gehorchen, wie noch niemals einer
seinesgleichen gehorcht hatte?"
Die Gudrun des alten Professors, „das Lied der Geduld und Treue, lag
vernachlässigt neben Bibel und Bilderfaust. Was kümmerte Limen jetzt Glück und
Leid dieser allzeit jungen Menschenkinder, die sich so gesund und kräftig mit ihrem
Schicksal herumschlugen, mochte es auch sieben und aber sieben Jahre währen. Sie
holte sich heimlich Buch für Buch aus des Vaters Sammlung und las in die
Nächte hinein von den schauerlichen Fahrten, die fast allesamt mit Sturz und Tod
geendet hatten, las von Wind und Wetter, Feuer und Wasser, die dem Menschen
gleichermaßen Verderben sannen, sowie er den schützenden Grund seiner heimischen
Erde verließ. Auch quälte sie, daß der Ballon ihrer Aufsicht entrückt war, daß
sie nicht mehr rechnen konnte, was neues „in den Wind gejagt" wurde; sie schätzte
nur so ungefähr, daß die Hunderttausend verbraucht sein müßten. Der Lotteriebote
kam wieder ius Haus — aber um Geld zu holen. Der alte Städel konnte einen
neuen Gewinn brauchen.
Nur mit Karl ging alles nach Wunsch; in der sichern Erwartung, der junge
Manu werde den Kleinkram zu Hause bald satt haben, ließ Meister Wendelin ihn
schon um Johanni frei. Kopf und Herz voll von den auszuführenden Arbeiten,
kam Karl an und wurde vom Vater sofort eingesponnen in das, wofür man im
Bereiche des goldnen Engels allein leben durfte.
Morgen, Charles, morgen! Heute zeig ich ihn dir. Aber sag der Line nichts,
sie ist ganz verdreht, sie thäte was, ums zu hindern. Doch nicht, widersprach er
sich selber und sah dem Sohne nachdenklich ins Gesicht. Doch nicht. Etwas
Schlechtes würde sie nicht gerade thun, sie kann sich nur nicht aufschwingen und
glaubt nicht an andrer Leute Flügel; weder an die der Seele, noch an meine sicht¬
baren draußen auf der Wiese. Klein ist sie, dafür kann sie nichts, ist ein Weib.
Mein Junge, nimm dich vor den Weibern in acht, sobald du etwas Großes auf
die Füße stellen willst. Entweder spinnen sie dich ein mit ihrem kleinen Behagen
wie die Elfen den Ritter im Mondschein, bis du dich nicht mehr rühren kannst
und unthätig hinträumst, was sie ein glückliches Leben nennen; oder sie zerstören
dir mit Quengeln und Jammern den Arbeitsfriedeu, werfen dir Erbsen in den Weg,
auf daß du ausgleitest, und hängen sich um deine Schwingen, bis sie gebrochen sind.
Sie können nichts dafür, es ist ihre Art.
Karl wollte das «icht glauben; wie er aber dann von Frau Flörke zur Rede
gestellt wurde über das Wo und Wie seiner Rückkehr, wie er Limen bluß und er¬
regt beim Vesperbrot hantieren sah, da standen des Vaters Worte lebendig vor
ihm mit hinweisender Hand, und die andern, die lieblichen, wie die Meisterstochter
draußen, oder nett, das Ding, die mochten einen nachher wohl einspinnen zu willen¬
loser Traumseligkeit.
Gleich nach der Vesper gingen die beiden Stadels hinaus zum Luftschiff; der
Vater besuchte es jeden Tag, und daß ers dem Sohne zeigte, war selbstverständlich,
dennoch faßte Limen eine unbestimmte Angst, das Gefürchtete könne heute geschehen.
Sie lauerte dem Mechaniker auf und fragte ihn: Steigt er heute?
I wo, antwortete der erschrocken, sie so nahe bei der Wahrheit zu finden.
Denkt nicht dran, Fräulein Line, liegt noch bleifest im Schuppen.
Sie sollen mir nichts weismachen: es geht etwas vor; mein Bruder ist da,
und in der Zeitung steht, daß man mit der Füllung begönne.
Der Teufel hole die Zeitungen. Nein, Fräulein Line, so was geht langsam,
heute nicht und morgen nicht.
Also übermorgen? fragte sie, als er innehielt.
Übermorgen? antwortete er, in die Enge getrieben, das könnte schon eher
sein, da wärs vielleicht möglich.
Also übermorgen, sagte sie noch einmal, und der Mechaniker machte sich aus
dem Staube.
Die Lehrmädchen waren entlassen, das Vorderzimmer gelüftet und aufgeräumt;
dann prüfte Line die Werkstatt noch einmal. Sie hatte dort nach Kräften geschafft,
um Karl deu Raum behaglich zu mache», uun war er ja wohl überhaupt noch
nicht drin gewesen.
Herr Gott, behüt uns in Gnaden, daß ihn das Unwesen nicht auch zu fassen
kriegt, sagte sie leise, den alten Senefclder auf dem Arbeitstisch noch etwas näher
an deu Willkommstranß rückend, als ob diese Blumeuuähe die ganze Steinschreiberei
lieblicher machen konnte.
Da sah sie endlich, daß Karl doch schon hier gewesen war; seine Mappe lag
auf dem Ständer neben dem Arbeitstisch, und als sie die aufschlug, schauten ihr
seine Entwürfe entgegen. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Gut, flüsterte sie,
gut, und wischte sich einen Hauch Feuchtigkeit aus deu Augen.
Unten im Hofe nahm Frau Flörke die letzte Wäsche ab. Ackermann stand in
der Thür und redete ein Wort zwischen den Leinen durch, Frau Flörke flugs auf
und spann eine lange Autwort daraus; inzwischen schaute der Meister deu Schwalben
zu, entdeckte dabei Line auf dem Gange und rief sie herunter.
Feierabend!
Sie folgte dem Ruf, gesellte sich zur Flörke und griff beim Wäscheabnehmen
zu. Solange einer hantierte, konnte Line nicht stillsitzen.
Sie sehen ja so vergnügt aus, als obs schon flöge, sagte Frau Flörke plötzlich,
während sie das letzte Stück vom Laubentisch nahm und in den Korb drückte.
Sofort schwand die Heiterkeit aus Lineus Gesicht, aber Ackermanns fragendem
Blick antwortete sie doch. Ich sah Karls Arbeiten oben liegen; man begreift, daß
Wendelin ihn halten wollte, und da kamen mir so allerlei Znknnftshoffnnngen.
Hoffnung läßt nicht zu schänden werden, sagte Frau Flörke breit und behaglich
und kam sich vor wie ein denkender Mensch.
Limen aber überflog die Erinnerung um all die zärtlich gepflegten Hoffnungen,
die ihr lebenslang zu schänden geworden waren. Sie saß jetzt in der kahlen
Lattenlanbe und hatte die Hände ums Knie geschlungen.
Hoffen, sagte sie, wenn einer etwas erhoffen könnte, mir glückte es gewiß, so
heiß wies in mir ist, aber es nützt alles nichts; alles Wünschen, Bitten und Warten,
alle Kraft und alle Arbeit sind vergeblich. Maikäfer am Faden sind wir, die sich
abzappeln mögen, weils possierlich aussieht für irgend wen, der da zuguckt.
Das sollten Sie nun doch nicht sagen, Fräulein Line.
Sie sah zu Ackermann ans, der an die Latten getreten war, und es stieg ihr
dunkel in die Angen. Daß der sie tadelte, der sonst allzeit zufrieden mit ihr war,
that ihr weh; sie wurde aber auch dadurch nicht mit der unfaßbarer Bangigkeit
fertig, die ihre Adern und Gedanken mit Unruhe füllte.
Ich hab es Gott anbefohlen, er soll thun, was gut ist, sagte sie leise mit einer
fast zornigen Eindringlichkeit.
Ackermann schüttelte den Kopf. Thut er das nicht immer, Fräulein Line?
Wir aber verwirren es mit täppischen Fingern. Oder er giebt uns seinen Rat, wir
aber wollen sein Wort nicht hören —
Ich horche, sagte das Mädchen mit erstickter Stimme, aber ich höre nichts.
Plötzlich stand sie auf und trat dichter an Ackermann hinan, denn die Flörke kam
wieder heraus, um die Leinen abzunehmen.
Ist es wahr, was heute in der Zeitung stand? Das mit der Füllung?
Was?
Daß jedes einzige mal füllen des Ungeheuers so viel kostet.
Ja.
Tausende?
Er hätte ihr gern diese Sorge weggelogen, aber was konnte das helfen. Ja,
antwortete er noch einmal langsam.
Ja, wiederholte sie matt. Aber wie denn? Woher denn? Das Geld ist
jn alle.
Nun, das ist noch nicht schlimm. Lassen Sie ihn nur erst mal seinen Kreis
geflogen sein —
'
Wenn!
Thut er, thut er schon, er läßt sich lenken! Bedenken Sie doch, wie gut das
Modell seine Wasserprobe bestand! Und dann kommen die andern: das Militär
und die Sachverständigen, die Fachpresse und die überholten Erfinder; dann bieten
uns offne Hände Geld und wieder Geld, denn jeder will bei einer Sache sein, die
so viel verspricht.
Und wenn ein Unglück geschieht?
Ackermann schüttelte den Kopf, sie aber fuhr dringender fort: Es ist doch
möglich! selbst wenn alles geglückt wäre, wenn die Maschine thäte, was ihr erwartet,
was kann da alles noch vom blinden Zufall verdorben werden, und dann? Dann
stehen wir wieder am Anfang.
Ja, dann würden wir noch einmal bauen müssen, sagte Ackermann ernst und
ruhig, wie man von einer unabweisbaren Pflicht spricht.
Auch er! Das ganze Herz voll warnender, beschwörender Worte drängte sich
zu Lineus Lippen empor, aber was nützte es denn zu reden und zu klagen, die
Männer ließen sich von ihrem Gespenste doch weiter treiben und foppen; und jetzt
hatte es auch den tüchtigen Atom Ackermann gepackt, dessen nüchterner Ruhe sie so
sicher gewesen war. Sie konnte nichts mehr sagen und nichts mehr hören, einzig
vermochte sie noch das häßliche Lachen zu ersticken, das ihr in die Kehle stieg. Sie
nickte dem Schmied stumm zu, ging eilig hinauf, schloß ihre Thüre ab und setzte
sich noch einmal an die Schneiderarbeit.
Als Vater und Sohn von der Buschwiese kamen, fanden sie einen Imbiß in
der Küche stehn, im übrigen mußten sie sich selber helfen.
Am andern Morgen trat Line beizeiten auf den Gang. Es hing Nebel in
der Luft, die Sonne, die dahinter stand, färbte ihn gelbrot und zerriß ihn; aber
er kam nicht herab, er löste sich in flatternde Fetzen, schwang sich an Sankt
Barthelmäs breitem Turm empor, hob sich von dem hohen Dach des goldnen
Engels in phantastischen Gestalten, hing sich auf kurze Zeit als flimmernder
Dunst über die ganze Breite des Himmels und verschwand dann bis zu gelegner
Rückkehr.
Line hatte keine Zeit für den Nebel, sie meinte heute noch gehetzter zu sein
als sonst. Sie versorgte ihre Wirtschaft, sie stellte die Lehrmädchen an, die jung,
hübsch und redelustig das Vorderzimmer füllten und allemal froh waren, wenn
das gestrenge Fräulein ein Viertelstündchen draußen zu schaffen hatte.
Heute redeten sie nicht von Nachbars Fritz und dem hübschen Ladendiener
des Kleiderhändlers, heute redeten sie von dem Lenkbaren draußen auf Acker¬
manns Wiese.
Nun wirds, sagte die große Schwarze, ob Fräulein Line nachher bessere Lamme
kriegt?
Mein Vater sagt auch, es sei Unsinn, mit so viel Geld könne man Gescheiteres
anfangen.
Jawohl, pflichtete die Kleinste bei und rümpfte das Stumpfnäschen unter dem
blonden Stirngelock. Zumal wenn man Schulden hat! Und wir müssen auch nur
so schauderhaft fleißig sein, weil Fräulein Line mit unsern Stichen diese Schulden
abbezahlen will.
Eine Antwort verbot sich, da Line Städel ins Zimmer kam und sich ans
Vorrichten machte. Als sie aber eine Stunde später draußen nach dem Essen sah,
fragte die kleine Blonde: Habt ihrs gesehen? und alle wußten gleich, was sie ge¬
sehen haben sollten, und antworteten eifrig: Ja! ja!
Ich gestern; die ganze Seitenwand der Scheune ist offen, damit sich Herans¬
schieben können, und Vater sagt, das fliegt ganz gewiß morgen zum Sonntag,
weils natürlich recht viele Leute sehen sollen. Ich gehe aber nicht hin, wenn sie
nachher etwa mit der Büchse kommen, wie auf dein Jahrmarkt.
Die Schwarze lachte, und die Vierte, mit dem spitzen Gesicht und der spitzen
Stimme, sagte: Wir Werdens doch frei haben, als die Lehrmädchen! das wäre
doch wirklich eine Schande.
Na, ich laufe naus, und Wenns auch was kostet, gewissermaßen gehört man
doch auch mit dazu. —
So nach und nach hatte sich ganz Senkenbergs ein angenehmes Interesse für
Stadels Lenkbaren bemächtigt; in den Kneipen sprachen sie von ihm, in den Kaffee¬
gesellschaften schüttelten sie die Köpfe und bedauerten die arme Person, die Schneiderin,
die soviel Last mit ihrem verdrehten Mannsvolk habe, Ackermanns Wiese lag zwar
weit draußen, aber für einen Feierabendspaziergang immerhin noch erreichbar. Wer
seiner Gesundheit Bewegung gönnte, lief Heuer auf die Buschwiese hinaus.
Es wird natürlich wieder nichts, sprach Hinz zu Kunz, denn die Naturgesetze
kann man nicht weglöschen wie falsche Exempel von der Schiefertafel, aber die
Zunft der Narren ist groß, seitdem sich der erste die Schellenkappe über die Ohren
gezogen hat.
Und Kunz rechnete Hinz vor, was seit hundert Jahren für reale Werte,
Stücke unersetzlichen Volksvermögens verprobiert und in die Luft gejagt worden
seien. Seine Wahrscheinlichkeitsrechnung brachte eine abenteuerliche Summe zusammen,
und je größer die wurde, desto lustiger wuchs auch die Narrenkappe, die auf dein
Haupte der Stadels und Nothnagels saß.
(Fortsetzung folgt)
und die russische Dorfverfassung.
Herr Witte hat schon oft und viele Leute in Erstaunen gesetzt; er übertrifft sich
aber selbst in dem am 1. Januar a. Se. publizierten Budget für 1399 und dem
daran geknüpften Rechenschaftsbericht.
Das Budget schwebt mit rund 1572 Millionen Rubeln in Einnahme und
Ausgabe, um 97 Millionen mehr als im Vorjahre. Um diese Höhe der Einnahme
zu erreichen, bedarf der Münster keiner neuen Anleihen; vielmehr hat er im vorigen
Jahre über die budgetmäßigen Anschläge hinaus noch der Reichsbank 75 Millionen
übergeben können, hat für das Gebiet des Notstands 35 Millionen ausgesetzt, hat
90 Millionen für Schiffsbauteu gefunden, hat 83 Millionen verwandt für Schulden¬
tilgung, Darlehen an Eisenbahnen n. a. in., und hat doch am 1. Januar 1899
einen Einnahmerest von 115 Millionen in der Hand behalten, rin dem die außer¬
ordentlichen Ausgaben des laufenden Jahres voll gedeckt werden sollen. Woher
sind diese Summen um geflossen? Am 1. Januar 1898 befand sich in der Reichs-
rentei ein verfügbarer Barbestand von 214,7 Millionen; in den ersten elf Monaten
1898 überstiegen die ordentlichen Einnahmen die Anschläge des Budgets um
212,5 Millionen; dazu kamen 83 Millionen unvorhergesehene Eingänge, 10 Mil¬
lionen an veranschlagten, aber nicht aufgebrauchten Ausgnbeposten früherer Jahre.
Das macht zusammen 522,5 Millionen Rubel, die über das Budget hinaus in die
Hand des Ministers geflossen sind und mit Ausnahme von 98 Millionen, die in
außerordentlichen Einnahmen für 1899 gebucht siud, unter dem nennen freier Bar¬
bestände außerhalb des Budgets auch verwandt wurden oder werden zu außer¬
ordentlichen Ausgaben. Budgetmäßig sind all außerordentlichen Ausgabe» eingestellt
109 Millionen. Für 1893 ist also aus jenen Barbeständen zu außerordentliche»
Ausgaben außerhalb des Budgets verfügt worden über 424,5 Millionen, und da
innerhalb des Budgets 1898 noch 124 Millionen verausgabt wurden, so stellt sich
heraus, daß die gesamten außerordentlichen Ausgaben für 1398 — 543 Millionen
betragen haben, d. h. etwa zwei Fünftel der ordentlichen Ausgaben. Ich glaube
nicht, daß ein andres Budget in der Welt so Außerordentliches in seinen Ausgaben
leistet.
Die für 1399 veranschlagten außerordentlichen Ausgaben kommen fast gänzlich
dem Bau von Eisenbahnen und der Anschaffung von Bahnmaterial zu gute. Von Be¬
schaffung neuer Geschütze ist nicht die Rede, und wenn Herr Witte auch 90 Millionen,
wie er sagt, bereit hat zu Schisfsbauten, so sind für diese Pläne im Budget doch
vorläufig nur 34 Millionen, d. h. kaum 15 Millionen mehr als 1393, ausgeworfen.
Der Goldvorrat betrug zu Ende 1893: 1591 Millionen, gegen 1397 um
121 Millionen mehr; die Notemnenge 725 Millionen, gegen 1897 um 274 Mil¬
lionen weniger. Die Einnahmen aus Zöllen, Eisenbahnen, Accise steigen, kurz, es
ist das Idealbild eines blühenden Finanzwesens, das wir da vor uns sehen. Zu
ideal, fürchte ich, für ein Laud, dessen Volkswirtschaft so sehr unter dem Mangel
sowohl an Kapital als an intensiver Arbeitskraft leidet; zu ideal für ein Volk, das
dem Sparen so abgeneigt ist, und das zu 90 Prozent einer Klasse angehört, deren
elende Lage Herr Witte offen anerkennt.
Als ich vor kurzem in dieser Zeitschrift (1899, Heft 1) mein Vertrauen in
die Kraft des Herrn Witte, die volkswirtschaftlichen Zustände Rußlands aus ihrer
elenden Lage zu reißen, äußerte, ahnte ich nicht, daß er sich schon an das Werk ge¬
macht habe. Man mag von den Zahlen dieses Budgets nun denken, was man will,
man mag anch die Darlegungen des Berichts für noch so idealisiert halten: das
Bedeutendste und hoffentlich Realste in dieser ministeriellen Kundgebung liegt in der
darin enthaltnen Verheißung einer gründlichen Reform der bäuerlichen Agrarver-
fassnng.
Nachdem der Minister auf die wiederkehrenden Mißernten und die Unfähig¬
keit des russischen Bauern, sie aus eigner Kraft zu überwinden, hingewiesen hat,
erörtert er die Thatsache, daß der russische Bauer es bisher noch nicht so weit ge¬
bracht hat, eine gesicherte wirtschaftliche Lage zu erringen, die ihn in den Stand
setzen könnte, den natürlichen Wechsel von guten und schlechten Ernten auszugleichen,
wie es in Westeuropa längst geschehen sei. Wo steckt die Wurzel des Übels? fragt
der Minister. Die tiefen Kornpreise sind es nicht, denn die Bauernwirtschaft ist
fast reine Naturalwirtschaft und als solche unabhängig von den Kornpreisen. Die
Besteuerung ist es nicht, denn der Gesamtbetrag der direkten Staats-, Landschnfts-
und Gemeindeabgaben beträgt 2 Rubel 20 Kopeken auf den Kopf, die Regierung
hat seit Jahren diese Steuern vermindert oder abgeschafft, nie aber angespannt.
Die Rückstände, besonders aus den Zahlungen für die Landablösung von 1361,
sind es nicht, denn hierin werden die weitestgehenden Erleichterungen gewährt.
Die indirekten Steuern sind es nicht, denn sie treffen nicht die zum Leben des
Bauern notwendigen Gegenstände. Die mangelnde Bildung ist es nicht, denn in
andern Ländern hat der Bauer in einer Zeit, wo er ebenso wenig gebildet war,
wie heute der russische, doch verstanden, sich wirtschaftlich zu sichern. Es muß eine
andre, „in der Organisation des Wirtschaftslebens, in der Tiefe der Volkswirt¬
schaft selbst wurzelnde Ursache wirksam sein." Diese Ursache meint Herr Witte zu
erkennen in der „Unbestimmtheit der vermögensrechtlichen und gesellschaftlichen
Verhältnisse des Bauernstands." Indem er weiter diese Mängel rechtlicher und
sozialer Natur erörtert, vermeidet er doch mit Absicht, das Kind beim Namen zu
nennen, spricht von unzeitgemäßem Gewohnheitsrecht, von der Unsicherheit der
Rechtsverhältnisse, von den Lücken und Mängeln der Gesetzgebung von 1861 her,
die nur durch „Lösung der allgemeinen Prinzipienfragen des Agrcirwesens" be¬
seitigt werden könne. Wenn der Minister sich nicht entschließt, diese Prinzipien-
frcigen zu nennen, so wird die Presse nicht zögern, es zu thun, indem sie diesen
Bericht des Herrn Witte für den ersten offnen und offiziellen Angriff auf die
russische Dvrfverfassnng erklärt. Nur hierum kann es sich handeln: diese Ver¬
fassung, die vor Jahrhunderten überall in Europa bestanden hat, die aber Herr
von Haxthausen vor fünfzig Jahren in übertriebner Höflichkeit auf seinen Reisen
in Rußland für etwas ureigentümlich Slawisches und für ein soziales Ideal erklärte,
was zur Folge hatte, daß die Russen auf diesen groben Leim gingen und seitdem
glaubten, im Besitz dieses slawischen Heiligtums dem faulen Westen sehr überlegen zu
sein. Diese Verfassung mit ihren Gewannen in Form von Schnnrländereieu, mit dem
Recht jedes Bauern auf einen Anteil an ihnen, mit den Anleitungen der Äcker, mit
der Unsicherheit des Besitzes und daraus hauptsächlich folgend mit der elenden, aus
Nuriks Zeiten her gleich gebliebner Art der Bodenkultur. Und die andre faule
Stelle an dieser Dorfverfassung deutet Herr Witte ebenfalls an, indem er sagt:
„Die Gesetzesbestimmungen über die Steuer- und Abgabenerhebung dürfen nicht
den Verordnungen über die bäuerlichen Lebenseinrichtungen zu Grunde gelegt
werden." Das eben war die bisherige Lage: die Dorfgemeinde ist ein Steuer¬
körper mit gegenseitiger Haftpflicht der Gemeindeglieder. Das ist ein höchst be¬
quemes Institut für die Steuerbehörde und ein höchst verderbliches für den Bauer.
Diese Steuerordnung und jene Agrarordnung — sie sind von 1361 bis jetzt das
Thema endloser Kämpfe gewesen, die zwischen slawischen Eiferern und ihren Gegnern
geführt wurden; sie sind so offenbar verderbliche Institutionen, daß mit ihnen be¬
lastet das begabteste Kulturvolk zu Grunde gehen müßte; sie sind die hauptsächliche
Ursache der bäuerlichen Armut, und wer sie beseitigt, wer diese eiserne Fessel der
agraren Entwicklung bricht, der wird mehr geleistet haben, als die Gesetzgeber der
Bnuernemanzipation von 1861. Hoffen wir, daß Herr Witte dieser Reformator
wird. Seine Kritik der agraren Lage atmet ein Verständnis, eine Freiheit von
Vorurteil und einen Mut, die das Beste erwarten lassen.
Ein sehr gutes Buch ist: Die soziale Lage der
arbeitenden Klassen in Berlin von Dr. E. Hirschberg, Direktoriäl-Assistenten
am statistischen Amt der Stadt Berlin, Leiter des statistischen Amts der Stadt
Eharlotteuburg. Nebst mehreren graphischen Darstellungen. Berlin, Otto Lieb-
mann, 1897. Der Verfasser behandelt mit stetem Rückblick auf die frühern Ver¬
hältnisse bis zum Anfang unsers Jahrhunderts: die Zahl der Arbeiter nach Beruf,
Alter, Konfession, die Wohnungsverhültnisse, Erkrankungen und Sterblichkeit, die
Arbeiterversicherung, das Schulwesen, die soziale Fürsorge der Behörden, die Orga¬
nisationen der Selbsthilfe, die Arbeiterbewegung, die Arbeitslosigkeit, den Arbeits¬
nachweis, Arbeitslohn und Arbeitszeit. Er kommt zu dem richtigen Ergebnis, daß
man die heutigen Berliner Arbeiterverhältnisse weder gut noch schlecht nennen könne,
weil gut und schlecht relative Begriffe sind und es einen absoluten Maßstab für
die Beurteilung nicht giebt. In vielen Beziehungen ist gegen früher eine ent-
schiedne Besserung anzuerkennen, dafür sind dann wieder andre neue Übelstände
hervorgetreten. Im einzelnen wollen wir nur zwei Punkte hervorheben. Hirsch¬
berg bemerkt, daß die jungeu Arbeiter, die nnr eine Schlafstelle haben, zum Wirts-
Hausbesuch geradezu gezwungen seien, weil sie außerhalb der Schlafenszeit bei ihren
Quartiergebern höchstens geduldet sind, und weil, wenn man sie duldet, der dortige
Aufenthalt nichts weniger als angenehm zu sein pflegt; der zweite Umstand treibt
bekanntlich auch die Inhaber dieser Wohnungen ins Wirtshaus. Es ist schon un-
zähligemal gesagt worden, muß aber bei jeder Gelegenheit aufs neue wiederholt
werden, daß, solange nicht allgemein für behagliche Wohnungen und alkoholfreie
Erholungsstätten gesorgt wird, der Kampf gegen den Trunk vergebens ist. Sogar
die Arbeitsnachweise von Innungen befinden sich im Wirtshause. Wenn es ein
Maurer damit entschuldigt, daß er im Jahre 440 Mark im Wirtshause ausgiebt
(bei einer Ausgabe von 625 Mark für Essen und Trinken im Haushalt), so ist die
angebliche Nötigung natürlich nur ein Vorwand, aber solche Vorwttnde sollte es
doch nicht geben. Außerdem möchten wir ein paar Worte über das Kapitel Arbeits¬
losigkeit verlieren. Im 38. Hefte der Grenzboten von 1898, Seite 534, ist gesagt
worden, in Wirklichkeit fehle es an Arbeitern, und die Arbeitslosigkeit sei nichts andres
als die zeitweilige Unterstandslosigkeit der Kinder bei dem Spiel: Kämmerchen ver¬
mieten. Das würde bei den Dienstboten zutreffen, wenn es diesen beliebte, bei
jedem Stellenwechsel ein paar Tage zu feiern; nötig haben sie es nicht, da die
Nachfrage nach Jedem und Jnseen jederzeit das Angebot übersteigt. Fürs große
und ganze aber ist zunächst zu bemerken, daß sich die relative Übervölkerung keines¬
wegs bloß im Überangebot von Handarbeitern kund giebt. Wir haben genug andre
Klassen, die teils nichts oder nicht genug zu thun haben, teils Dinge thun, die
besser umgethan blieben. Die Not der Krämer z. B., die jetzt als mittelständliche
Staatsstützen gerettet werden wollen, besteht darin, daß ihrer viel zu viele sind.
Und in dem viel dünner bevölkerten Frankreich hat vor einigen Monaten Miiline
gesagt: ^.oso ig, baisss an tgux <is l'indol'se, toutss Iss koituuss äiminusnt se tont
1s woiulo sse odlig'ö as rrg,va,nisi'; 1s rsvs soeislists hö rösliss as lui-usus; ig,
'LollSkguoileg, o'sse aus toutss 1s8 ogrrisrss Iid6rg.Iss sont snoowbross, rsAm^fut as
var>al<lÄ,t8 ani rslluönt,, mseoutsnts se g-i^ris, für Is. sooists pu'ils geoussut. Die¬
selbe Nummer der Rstorms üeonomians/°) die die zu Remiremont gehaltene Rede
des frühern Ackerbauministers enthält, bringt einen Artikel über die Kolonisation,
worin es heißt, die Söhne der ehemals vermögenden Familien seien heute genötigt,
sich eine Position zu schaffen. Ja, aber wo denn? I^Sö xrotossions libsralss, 1s
lollotioiiÄrismö, lo oommsios inswö sont snoombrös. Was nun die Lohnarbeiter
anlangt, so ist ihre periodische Arbeitslosigkeit das Ergebnis von zwei Gezeiten, die
einander bald verstärken, bald aufheben, und deren jede wieder aus vielen ver¬
schieden verlaufenden Wellenbewegungen besteht. Die eine ist die Flut und Ebbe
der Saisongewerbe, die andre entsteht durch die Gesamtkonjunktur, die Arbeiter-
massen bald anzieht bald abstößt. Die bloß einige Tage dauernde Arbeitslosigkeit
wegen Stellenwechsels berücksichtigt Hirschberg auch, aber von den im Jahre 1895
in Berlin gezählten männlichen Arbeitslosen (am 14. Juli 26 592, am 2. De¬
zember 41451) war der vierte Teil schon ein Vierteljahr lang arbeitslos. Und
die beiden Zahlungstermine waren schlecht gewählt, weil, wie Hirschberg sagt, im
Baugewerbe die Sommerarbeit am 14. Juni noch nicht lange begonnen, am
2. Dezember noch nicht völlig aufgehört hat (in vielen Gewerben, muß außerdem
bemerkt werden, steht gerade vor Weihnachten die Saison auf ihrer Höhe), „hätten
die Zahlungen einige Monate später stattgefunden, so würde vermutlich im Sommer
eine kleinere, im Winter eine größere Zahl Arbeitsloser konstatiert worden sein."
Überdies hatte gerade im Sommer 1395 die aufsteigende Konjunktur eben begonnen,
die heute noch fortdauert. Wahrscheinlich würde die Zahl der längere Zeit Arbeits¬
losen geringer sein, als sie jetzt ist, wenn wir einen gut organisierten Arbeitsnachweis
hätten, der Angebot und Nachfrage rasch und sicher zusammenbrächte. Jetzt laufen
Unzählige auf der Arbeitsuche ins Blaue hinein, und es ist reiner Zufall, wenn sie
einen Platz finden. „Wer den kolossalen Andrang vor dem Hause des Berliner
Lokalanzeigers in den Nachmittngsstunden sieht, und wie jeder sich bemüht, das
Blatt zu durchfliegen, um möglichst zuerst an Ort und Stelle nachzufragen, wird
erkennen, daß die Nachfrage nach Arbeit zu allen Zeiten in Berlin nicht gering
ist." Aber selbst ein vollkommen organisierter Arbeitsnachweis würde die periodische
Arbeitslosigkeit vieler nicht beseitigen, weil ein verheirateter Arbeiter nicht in jedem
beliebigen Augenblick von Berlin nach Mannheim oder umgekehrt übersiedeln kann,
und weil Bebels Ansicht falsch ist, daß jeder zu jedem tauge. Wenn plötzlich die
Ausdehnung des Fahrradsports mehr Metallarbeiter fordert, dagegen die Riemerei
und Sattlerei einschränkt, so können sich die überzähligen Lederarbeiter nicht sofort
in Metallarbeiter verwandeln, und selbst zum Schneeschippen taugt mancher in seinem
Fach — z. B. als Uhrmacher, Feinmechaniker oder Bogenschreiber — ganz tüchtige
nicht viel. Wirklicher Arbeitermangel herrscht übrigens auch in dieser Zeit auf¬
steigender Konjunktur nur in einem Gewerbe, in der Landwirtschaft. Abgesehen
nun aber auch von der ungesunden Agrarverfassung Ostelbiens, die diesen Maugel
schon seit langem verschuldet hat, kann es nicht als ein gesunder volkswirtschaftlicher
Zustand bezeichnet werden, wenn die vom Erntewagen fortgelcmfnen Bauernknechte
deswegen in der Stadt Arbeit finden, weil ein hochzcitsreisendes Ehepaar auf der
Fahrt von München nach Bozen für dreißig Gulden Ansichtskarten verbraucht, und
wenn die Berliner Bäcker in jedem Frühjahr auf den oberschlesischen Dörfern ein
paar hundert Jungen kaufen, das Stück zu zehn bis zwanzig Mark/") die sie nach
beendigter „Lehrzeit" auf die Straße setzen. Denn nur die wenigsten von diesen
„Lehrlingen" bringe» es zu einer kümmerlichen Selbständigkeit im Bäckergewerbe,
und über dreißig Jahre alte Bäckergesellen finden keine Arbeit mehr, ein Teil sucht
und findet Arbeit in einem andern Beruf, ein Teil wandert ans, „London wimmelt
von deutschen Bäckern" (a. a. O.), ein Teil geht an den Folgen der Überanstrengung
körperlich zu Grunde, und ein Teil verfällt der Vagabondage. Die Zahl der
deutschen Vagabunden ist viel größer, als sie in deu amtlichen Nachweisungen er¬
scheint. Die Strenge der Polizei treibt viele über die Grenze; vor ein paar
Jahren klagte man in Italien, heute klagt man schon in Palästina über deutsche
Strolche. Nehmen wir noch ein andres Handwerk! Der „Zimmerer" sagt in der
vorjährigen Ur. 3: „Das übermäßige Angebot hat u. a. die Folge, daß eine
säuberliche Auslese gehalten wird. Die Großstädte konsumieren nur die Blüte der
männlichen Kraft und stoßen die ausgemergelten Kräfte schnell wieder ab; hat einer
das vierzigste Lebensjahr überschritten, dann ist er ein alter Mann, den niemand
mehr mag. Entweder er muß in ein andres Gewerbe eintreten, oder zurück in
die Heimat, oder untergehen." Wir entnehmen dieses Zitat der ersten Abteilung
des zweiten Teiles von Sebastes Werk: Die sozialdemokratischen Gewerk¬
schaften in Deutschland (Jena, Gustav Fischer, 1893), dessen ersten, allgemeinen
Teil wir im zweiten vorjährigen Bande Seite 198 angezeigt haben. Es droht
zu einer ganzen Bibliothek anzuschwellen, denn der vorliegende Band (300 S.
groß 8") behandelt nur die Zimmerer, nach seiner Vollendung wird es aber auch
eine sehr wichtige und vollständige Informationsquelle sein. — Das Handbuch
des gewerblichen Arbeiterschutzes vom Regiermigsrat Georg Evert (Berlin,
Karl Heymann, 1897) ist ein reines Nachschlagebuch; es enthält die gesetzlichen
Bestimmungen mit erläuternden Anmerkungen. — Mit einem einzelnen Zweige des
Arbeiterschutzes beschäftigt sich Dr. Arthur Dodd in dem Buche: Die Wirkung
der Schutzbestimmungen für die jugendlichen und weiblichen Fabrikarbeiter und
die Verhältnisse im Konfektionsbetriebe in Deutschland. (Jena, Gustav Fischer,
1893.) Der Verfasser findet, daß die Schntzbestimmungen die Lage der Frauen
und der „Jugendlichen" bedeutend verbessert und der Kinderarbeit in Fabriken ein
Ende gemacht haben; ob die Kinder dafür nicht anderwärts desto ärger geplagt
werden, das bleibt eine offne Frage. Die Statistik ist stellenweise unklar. Über
die Konfektionsarbeiter erfahren wir nichts neues, doch verdient die Schilderung
der Wohnungshöhlen in Hamburg, Berlin, Breslau, die der Verfasser besucht hat,
besonders der in der Hamburger Steinstraße, Seite 199, gelesen zu werden. Zwar
weiß vor der Hand niemand, wie diesem Elend abgeholfen werden könnte — der
Verfasser will zunächst die Konfektion der Gelverbeaufsicht unterworfen wissen, aber
wie diese Maßregel wirken würde, ist zweifelhaft —, dennoch ist es notwendig, daß
solche Zustände allgemein bekannt werden. Sie haben Wirkungen, die in die Augen
fallen, und kennen die Gesetzgeber die Ursache nicht, so lassen sie sich zu einer
falschen Kur auf Symptome verleiten, die die Übel erster wie zweiter Ordnung nur
verschlimmert. — Wie der englische Arbeiter lebt, vom Bergarbeiter Ernst
Dückershoff (Dresden, O. V. Böhmert. 1398) ist ein Schriftchen, das jedermann
lesen muß. Der Verfasser schildert deutsche und englische Arbeiterzustände, wie er
sie mit seinen klaren Augen gesehen und in seinem Herzen empfunden hat, schlicht
und trocken; er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, ohne zu posen, ohne
sich als Schriftsteller aufzuspielen und sich zu zieren. Wir wollen nur etwas von
dem anführen, was er über den Trunk sagt. Die englische Arbeiterschaft trinkt
seiner Schätzung nach im ganzen ungefähr ebenso viel wie die deutsche; aber der
Spiritus verteilt sich dort anders als bei uus; der anständige und mäßige süss,
der bei uns so hoch in Ehren steht, ist dort selten; der anständige Arbeiter trinkt
fast gar nicht, der Lump desto mehr. Der ordentliche Arbeiter erholt sich zu Hause
oder im Freien; seine Versammlungen hält er in Sälen ab, in denen es nichts zu
trinken giebt, und versammelt man sich einmal in einem Gasthause, so bleibt die
Thür zum Schanklokcil geschlossen. Desto zahlreicher sind die Trunkenbolde, und
diese ruinieren ihre Familie unfehlbar, denn Tabak und Alkohol siud viermal so
teuer als in Deutschland; die Trinker und Raucher, meint Dückershoff, trügen die
Steuer für die ganze Arbeiterschaft, die nüchternen und nicht rauchenden Arbeiter
seien so gut wie steuerfrei. Der Trunkenbold endet meistens im Arbeitshaus, und
der Familie nimmt sich eine der zahlreichen Wohlthtttigkeitsgesellschaften an. Die
Sekten, meint er, seien nicht sowohl Gebets- und Bekenntnisgemeinschaften, als
Vereine für die Ausübung der christlichen Nächstenliebe; deshalb stehe der englische
Arbeiter dem Christentum nicht feindlich gegenüber. — Die unermüdlichen Webbs
haben das Jubiläumsjahr nicht vorübergehen lassen, ohne das Fazit des Viktoria¬
zeitalters für die Arbeiterschaft zu ziehen. Ihr Schriftchen ist unter dem Titel
Englands Arbeiterschaft 1837 und 1897 bei Vandenhoeck und Ruprecht in
Göttingen deutsch erschienen. Die oder vielmehr der Verfasser — Herr Sidney
Webb scheint diesmal allein, ohne die Gattin, zu sprechen — meint, wer den Fort-
schritt seit 1837 rühme, der lege einen sehr niedrigen Maßstab ein, denn das Jahr
1837 bezeichne eben den Tiefstand, 1737 hätten sich die Handwerker und Lohn¬
arbeiter in einer weit bessern Lage befunden. Seit 1837 sei die Zahl der ganz
Elenden relativ zwar gefallen — sie mache einen kleinern Prozentsatz der Arbeiter¬
schaft aus —, absolut aber gestiegen. Außerdem hätten bedeutende Verschiebungen
stattgefunden. Die Kohlengräber von Northumberlcind z. B. seien vor sechzig Jahren
elende Sklaven gewesen, heute stünden sie an der Spitze der Arbeiteraristokratie.
Dafür hätten sich neue Arten von geplagten Arbeitern gebildet. Während vor
sechzig Jahren noch jedermann zwischen acht und neun Uhr zu Bett gegangen sei,
werde heute bis tief in die Nacht hinein verkauft und gekneipt und die Nacht hin¬
durch gereist; das hätten die in Läden und Gasthäusern, die auf der Eisenbahn
und bei der Pferdebahn Angestellten zu empfinden. Die beigegebne kleine Arbeits¬
losenstatistik beweist, daß es sich auch in England dabei um kein bloßes Spiel
handelt; die Parlnmeutskommissionen, die sich damit zu beschäftigen haben, nehmen
die Sache sehr ernst, wie wir vor zwei Jahren bei der Besprechung eines Blnn-
buchs gesehen haben. — Der Gerichtsasscssor Dr. W. Lohinann kritisiert in seiner
Schrift: Das Arbeitslohngesetz (Göttingen, Vcmdenhoeck und Ruprecht, 1897)
die Lehren Ricardos, die er der Hauptsache nach als richtig anerkennt, sowie die
von Marx und Henry George. Da sich die ungeheure Mannigfaltigkeit des Lebens
in die Formel: Verhältnis zwischen: konstanten und variablen, Kapital, nicht ein¬
zwängen läßt, so werden sich kritische Köpfe weder durch die darauf gebaute marxische
Rechnung noch durch Lohmmms Gegeurechuuug überzeugen lassen; besser wirkt dessen
weniger formelhafte Widerlegung des amerikanischen Agrarsozialiflen. Seinem End¬
ergebnis stimmen wir mit Vorbehalt bei: „Die Chancen für den Arbeiter sind dann
am günstigsten, wenn mit großen Verbesserungen in der Organisation und in der
Technik der Güterprvduktion zugleich eine Ära sinkender Rente eintritt; das wird
bei uns seltner und in geringerm Maße durch Meliorationen in der heimischen
Landwirtschaft geschehen, als durch die Erschließung von Ländern mit jungfräulichen
Boden. Wenn diese Chancen erschöpft sind, und wenn die Rentensteigeruug schneller
vor sich geht, als daß ihre Wirkung durch Einführung arbeitsparender Methoden
ausgeglichen werdeu kann, dann werden wir das Malthusische Gesetz in Thätigkeit
sehen; ein Zeitpunkt, von dem wir, wie ich hoffe, noch weit genng entfernt sind." —
Dr. Emanuel Adler hat in seiner Schrift Über die Lage des Handwerks
in Österreich eine dankenswerte Ergänzung zu den „Untersuchungen" und dem
Werke von Waentig geliefert. Was vom Handwerk zu retten ist, und dessen sei
nicht wenig, das ist seiner Ansicht nach nur auf dem Wege der genossenschaftliche»
Selbsthilfe und dnrch bessere Ausbildung der Handwerker zu retten; für die Re¬
organisation des Lehrlingswesens werden ausführliche Vorschläge gemacht Adler
steht unserm eignen Standpunkte sehr nahe.
in Ur. 45 (10. November 1398) der Grenzboten. Die vortreffliche kleine Ab¬
handlung: „Tastbare Malerei" über Bernhard Berensons florentinische Maler der
Renaissance sieht — neben ihrem Hauptzweck, der Kritik der Bereusonschen
Charakteristiken der großen Florentiner Maler — das Neue der Bereusonschen
Betrachtung gewiß mit Recht „nicht in einer von der bisherigen abweichenden
Erkenntnis der Sache, sondern in einer etwas ungewöhnlichen Terminologie," und
drückt gleichsam zum Belege dieser Auffassung Berensons Hauptschlagwort: die
, Taktilität" der Gemälde einfach durch „Rundung, Körperlichkeit, perspektivische
Vertiefung, Greifbarkeit" aus. Berensons physiologische Deutung dieser „Taktilität"
hat sie nicht weiter berücksichtigt. Eine dahin gerichtete Kritik lag eben außerhalb
des Zwecks der Abhandlung. Aber es ist doch wohl nicht ohne Interesse, zu
zeigen, wie Berenson mit einer physiologisch durchaus irrigen Vorstellung operiert.
Übertragen wir das Fremdwort: „Taktilität" ins Deutsche: Belastbarkeit, so
wird sofort klar, eine wie unbestimmte Eigenschaft von Gemälden Berenson statt
der bestimmten Qualitäten (wie Rundung, Körperlichkeit u. tgi.), die durch das
Tasten (wenn es überhaupt ein solches wäre) erkannt werden, angiebt — so
unbestimmt, daß sie ohne nähere Bezeichnung gar nicht verständlich ist. Aber
— abgesehen davon — ist „Taktilität," Belastbarkeit, vor allem darum verfehlt,
weil es eine falsche Vorstellung des innern physiologischen Vorganges erweckt,
durch den wir der Dimensionen nicht nur gemalter Gegenstände, sondern aller
körperlichen Dinge inne werden. Und diese irrige Vorstellung war es auch, die
Berenson zu seiner Taktilität verleitet hat. Es ist nicht der Tastsinn, der uns
die Vorstellung von den Dimensionen der Dinge vermittelt, der hat nichts damit
zu thun, sein Bereich ist — ganz allgemein ausgedrückt — der Widerstand des
Körperlichen (die Kohttsion, der Aggregatszustand), sowie die Beschaffenheit der
Oberfläche (Rauhigkeit, Glätte); es ist vielmehr lediglich der Muskelsinn, der uns
durch das Maß der Bewegung, das eine bestimmte Muskelgruppe ausführen muß,
um einen Gegenstand in seinen Dimensionen, d. h. in der gegenseitigen Entfernung
seiner verschiednen Grenzen zu erfassen, seine Höhe, Breite und Tiefe kennen lehrt,
indem dieses Bewegungsmaß nach dem Muskelzentrum gemeldet wird. Dieser
Muskelsinn ist allen Muskeln eigen, je nach der Übung verschiednen Gruppen in
verschiednen Grade, also auch den Augenmuskeln, und zwar diesen sowie den
Handmuskeln am meisten.
Es ist also unrichtig, wenn Berenson behauptet: „Die Empfindung von der
dritten Dimension (der Tiefe) giebt uns als Kindern nicht das Auge, sondern
der Tastsinn; später vergessen wir den Ursprung und sehen auch mit den Augen
dreidimensional. Diese großen florentinischen Figurenmaler regen also unsre
Tastvorstelluug an, sie veranlassen uns, unsern Netzhautempfindungen »Taktil-
werte« zu geben, wir erkennen Greifbares, also Wirklichkeit." Weder das Auge
noch der Tastsinn giebt uns diese Empfindung, sondern eben der Muskelsinn der
Augenmuskeln, wir vergessen den Ursprung der Empfindung der dritten Dimension
aus dem Tastsinn nicht, weil sie nie darin ihren Ursprung hatte, und wir verlegen
diese Empfindung nicht in die Netzhaut, sondern ins Muskelzentrum. Und endlich
ist es nicht nur die dritte Dimension, die die Berensonsche Taktilität, iüig.« der
Mnskelsinn, vermittelt, sondern es sind alle drei Dimensionen. Dabei ist es für
den physiologischen Borgang gleichgiltig, ob die Dimensionen wirklich sind oder nur
scheinbar, durch die Kunst hervorgebracht.
Wollte man also statt der speziellen Bezeichnungen der Dimensionsempfinduugen
als hoch, breit, tief ein diese drei zusammenfassendes Wort, der Berensonschen Tak¬
tilität entsprechend, schaffen, so würde es etwa Mensurabilität lauten, womit, was
ja thatsächlich der Fall ist, wenn auch wieder zu allgemein, ausgedrückt würde,
daß ein Gemälde auch in seiner dritten, der Tiefendimension (mittels der Augen¬
muskeln), „gemessen" werden kann. Aber wozu das? Körperlichkeit, perspektivische
Vertiefung u. tgi. sind viel bezeichnender.
n unserm Kolonialbestande ist Deutsch-Südwestafrika die wert¬
vollste Kolonie, weil sie die einzige ist, die sich in klimatischer
Hinsicht zu einer Masseneinwanderung von Deutschen eignet.
Handelsfaktoreien und tropische Plantagenwirtschaft allein werden
^j^Wein Volk wie das deutsche niemals zu befriedigen vermögen.
Sie sind gewiß nicht von der Hand zu weisende wertvolle Förderungsmittel
unsers nationalen Wohlstands; aber allein sind sie unzureichend, um die von
Jahr zu Jahr zunehmende Übervölkerung — im Jahre 1897 betrug der Über¬
schuß der Geburten über die Sterbefälle 784634 — und als Folge davon
die fortschreitende Proletarisieruug breiter Schichten unsrer Bevölkerung zu
verhindern.
Hierzu bedürfen wir eines Stückes Erde, auf dem sich die wirtschaftlich
Schwachen ansiedeln können, und in Deutsch-Südwestafrika haben wir glück¬
licherweise ein solches Land in mehr als ausreichendem Umfange gefunden.
Gegen die vereinzelten Stimmen einiger weniger, die dies bestreikn, wie Graf
Joachim Pfeil, Freiherr von Bülow und Dove, haben sich bedeutende Kenner
südafrikanischer Agrikulturverhältuisse. wie Hindorf,*) Kurt von Franyois.**)
or. Max Esser**") und neustens ganz besonders der Regicrnngsbaumeister
Rehbock erhoben, der Deutsch-Südwestafrika im Auftrage des Syndikats für
Bewässerungsanlagen im Schutzgebiete ein Jahr lang bereist hat. Rehbock
schließt seinen ausführlichen Bericht mit den Worten: „Daß das Land imstande
ist, eine ansehnliche Anzahl von Europäern in behaglicher Weise zu ernähren,
daran kann nicht gezweifelt werden, das beweisen die Ersahrungen aus den
von der Natur nicht mehr begünstigten Nachbarländern in Südafrika, das
zeigen eine Reihe von im Namalande seit Jahrzehnten lebenden Farmern und
eine größere Zahl in den letzten Jahren eingewanderter Buren, die sich im
Lande wohlfühlen."
Und ebenso wird in der dem Reichstage jüngst zugeganguen amtlichen
Denkschrift über Deutsch-Südwestafrika (S. 130) berichtet, daß sich zur Zeit
unter den Weißen eine starke Neigung zeige, sich seßhaft zu machen und den
landwirtschaftlichen Beruf zu ergreifen, eine Neigung, die im Interesse des
Schutzgebietes nur mit Freuden begrüßt werden könne. Also Ackerbau und
Gartenkulturen (besonders Weinbau), nicht nur Großviehzucht können, wenn
auch nicht überall, so doch an vielen Punkten des Schutzgebiets mit gutem
Erfolge betrieben werden. Fast jede Post aus Deutsch-Südwestafrika bringt
neue Belege für diese Thatsache. Die Rinderpest, die bis vor kurzem die
Herden in Deutsch-Südwestafrika dezimierte, beweist am besten den großen
Irrtum, in dem Graf Pfeil, Freiherr von Bülow und Dove befangen sind,
wenn sie aus dieser Kolonie lediglich eine Riesenweibe für ein paar Millionen
Rinder machen wollen.
Freilich gehört zu einer Besiedlung mit Kleinbauern eine rationelle Vor¬
bereitung des Landes. Mit dem Bau der Eisenbahn von Swakopmuud nach
Windhoek und der in Aussicht gestellte» Verbesserung des Hafens allein ist
das nicht gethan. Ich habe in verschiednen Abhandlungen*) in eingehender
Weise ausgeführt, welche Vorteile uns gerade dieses Land in kriminal-, kolo¬
nial- und sozialpolitischer Beziehung zu bieten vermöchte, wenn sich nur das
Reich entschlösse, unsre Sträflinge zu deportieren. Ich habe insbesondre
darauf hingewiesen, was von der Negierung zur Ableitung des deutschen
Auswandrerstroms nach Südwestafrika, das zur Zeit noch wenig Verlockendes
bietet, geschehen müßte. Hierzu gehört, wie alle Sachverständigen überein¬
stimmend erklären, außer billige» Transportmitteln und Verkehrswegen vor
allem die Ausführung von Berieselungsanlagen in großem Stile. Daß dann
das Land für die Besiedlung mit Ackerbauern, besonders mit kleinen Leuten
sofort geeignet wäre, wagt auch heute Graf Pfeil**) (Kolonial. Jahrb. IX,
S. 273) nicht mehr zu bestreiten. Er meint nur, daß die Kosten solcher An¬
lagen zu groß seien, und in der vorerwähnten Denkschrift, Seite 130, heißt
es: „daß es außer Zweifel stehe, daß in Deutsch-Südwestafrika genügender
Grund und Boden von so guter Qualität vorhanden sei, daß sich bei hin¬
reichender Bewässerung der Anbau von Hafer, Weizen, Mais, Kafferkorn, sowie
von Gemüse» aller Art lohnen würde."
Richtig ist wohl, daß der Reichstag in seiner jetzigen Zusammensetzung
diese einen nachhaltigen Erfolg versprechenden Mittel nicht bewilligen wird; ja
es ist sogar unwahrscheinlich, daß die Regierung in den nächsten Jahren im
Reichstage für diese Zwecke eine Majorität erreichen wird. Da nun die Ver¬
hältnisse bei uns so liegen, so ist es nur zu verwundern, weshalb die Regie¬
rung nicht das von uns empfvhlne Projekt der Deportation mit allen ihr zu
Gebote stehenden Mitteln durchzuführen bestrebt ist. In unser» heimischen
Strafanstalten liegen nach Tausenden zählende intelligente Arbeitskräfte brach,
die mir ihrer rationellen Ausnutzung harren. Und die ungezählten Millionen,
die wir jetzt im Reich in einem vergeblichen Kampfe gegen das Verbrechertum
vergeuden, könnten zum Wohle der Kolonie verwandt werden. Die Gegner
des Dcportationsprojekts aus kolonialen Kreisen, selbst Gras Pfeil und
Vnlow, sind durchweg für die Verwendung unsrer Sträflinge bei den
Kultnrarbeiten in Deutsch-Südmestafnka, nur die dauernde Ansiedlung der
Sträflinge in der Kolonie nach ihrer Entlassung verabscheuen sie, einerseits,
weil sie fürchten, dieses schöne Land könnte mit dem Giftstoff verbrecherischer
Elemente infiziert werden, andrerseits, weil sie besorgen, daß der ehrliche Mann
das Land meiden würde, worin sich gewesene Sträflinge in größerer Zahl an¬
zusiedeln berechtigt wären. Allein wir habe», wie wir glauben, überzeugend
nachgewiesen, daß die von uns projektierte Ansiedlung enilassener Sträflinge
bei sachgemäßer Wahl des Ortes die Ansiedlung freier Einwandrer nicht im
geringsten zu stören vermag.
Wird das Ansiedlungsgebiet der Deportierten, wie Esser u. a. vorge¬
schlagen hat, nach dem Norden des Schutzgebietes südlich des Kuncne ober,
wie Franyois vorschlägt, in das Thal des Okavango gelegt, so liegt es ganz
außerhalb der Sphäre des Ansiedlungsgebiets freier Einwandrer. Das Thal
des Otavango insbesondre ist von dem übrigen Schutzgebiet „durch eine etwa
hundertzwanzig Kilometer breite, während des größten Teils des Jahres
wasserlose, parkähnliche Landschaft völlig getrennt" (Franyois). Und dieses
in einem abgeschiednen Winkel des Schutzgebietes gelegne, für die Deportation
ausreichende Stück bedeutet nur einen verschwindend kleinen Bruchteil des süd?
afrikanischen Schutzgebiets. Es verbleibt mithin dieses ungeheure, zur Zeit
noch so gut wie menschenleere Gebiet, das für Millionen ehrlicher Deutscher
ausreicht, der freien Einwandruug zur ausschließlichen Benutzung offen. Die
freien Ansiedler Hütten von den Deportierten nur den Vorteil, sich in einer
schon für den Landbau vorbereiteten Gegend niederzulassen und sich zugleich
der Sträflinge als billiger Arbeitskräfte zu bedienen.
Ginge die Regierung auf unser Projekt ein, so würde sie Deutsch-Süd¬
westafrika ohne große Kosten und schnell seiner Bestimmung entgegenführen.
„Das Okavangothal, sagt Kurt von Franyois (a. a. O.), würde dann die Korn¬
kammer des Schutzgebiets werden und ihm die Bedürfnisse zuführen, die zur
Zeit, wie Mehl, Reis, Kaffee, Zucker, über Kapstadt hingelangen. Dies würde
eine noch größere Unabhängigkeit von der Kapkolonie zur Folge haben, in die
noch immer ein großer Teil der vom Reiche jährlich für Deutsch-Südwest¬
afrika ausgegebnen Gelder fließt; der englische Einfluß würde mehr und mehr
schwinden und die Kolonie zu dem werden, was sie sein soll: ein Abfluß- und
Absatzgebiet für Deutschland." Dann werden die Söhne unsrer deutschen
Bauern, die auf der väterlichen Scholle überflüssig sind und keine Mittel
haben, sich im alten Vaterlande anzukaufen, nicht mehr das städtische
Fabrikproletariat zu vergrößern brauchen, sondern sie werden sich in ihrem
neuen deutschen Vaterlande auf jungfräulichen und schuldenfreien Boden als.
selbständige Wirte niederlassen und eine Familie begründen können. Und mit
dem Gedeihen der Ackerbaukolonie werden dort zugleich unsre deutschen Hemd-i
werter, deren so manche durch den modernen Fabrikbetrieb und durch die,
Großindustrie zu unzufrieduen, weil hoffnungslosen Proletariern hinabgesunken
sind, Beschäftigung und Nahrung finden. Auch sie werden bald in der Lage
sein, eine eigne Heimstätte zu begründen und damit des Segens eines sorgen¬
losen Familienlebens teilhaft werden. Aus stumpfsinnigen, unzufrieduen
und vaterlandslosen Proletariern werden arbeitsfreudige, glückliche Menschen
mit patriotischer Gesinnung werden. Mit dem reichlichen Zuzug von Lands-
leuten werden auch bald im neuen Vaterlande größere städtische Gemeinwesen
entsteh», in denen mit dem Anwachsen des Wohlstandes ihrer ansässigen Be¬
völkerung auch höhere Berufsarten lohnende Beschäftigung finden werden.
Ärzte, Lehrer, Techniker, Gewerbetreibende aller Art, die infolge der durch die
Übervölkerung in der Heimat hervorgcrufnen Konkurrenz in Not geraten und
aus Verzweiflung Sozialdemokraten geworden sind, sie werden im neue» Vater¬
lande mit ihren Familien gleichfalls ihr Auskommen haben. In solcher Weise
ließe sich ein Teil der sozialen Frage auf friedlichem Wege lösen.
Wie kleinlich erscheinen diesem großen Ziele gegenüber die bisherigen
Maßnahmen zur Besiedlung des Schutzgebiets. Zu der ablehnenden Haltung
der Reichsregierung gegen unser Projekt trügt auch viel bei, daß sich die
Regierung bei ihren Maßnahmen viel zu sehr von Leuten bestimmen laßt, die
sich teils aus selbstsüchtigen, teils aus ganz haltlosen Gründen gegen die
Kleinsiedlung und die sie vorbereitende und unterstützende Deportation unsrer
Sträflinge erklären. Zu der ersten Kategorie gehören die Vertreter der
großen südwestafrikanischcn Erwerbsgcsellschaften; sie sind Bodenspekulanten,
die für die Rentabilität ihrer Unternehmungen fürchten; zu der andern Kategorie
gehören die Kolonialfreunde, denen der Gedanke einer Strafkolonie an sich
nicht sympathisch ist. Sie halten eine Strafkolonie für einen Schönheitsfehler
und möchten deshalb Deutsch-Südwestafrika davor bewahren. Aber diese
Gegner übersehen darüber das unverhältnismäßig größere Anrecht des Reichs
auf eine Verwendung des Schutzgebiets, die den Interessen der Allgemein¬
heit dient.
Wenn feststeht, daß Deutsch-Südwestafrika imstande ist, den Bevölkerungs¬
überschuß aufzunehmen, der bei weiteren Anwachsen eine ernste soziale Gefahr
für unser Vaterland in sich birgt, wenn ferner feststeht, daß Deutsch-Südwest-
afrika durch die Pionierarbeiten unsrer Sträflinge auf die billigste und schnellste
Weise der deutschen Einwandrung erschlossen werden kann, wenn endlich fest¬
steht, daß dieses Land geeignet ist. uns einen großen Teil unsrer Sträflinge
abzunehmen, sie zu erhalten, zu bessern und sie wieder dauernd zu nützlichen
Gliedern der Gesellschaft zu machen, dann überwiegen die Vorteile der Depor¬
tation hundertfach die angeblichen Nachteile, die die Gegner prophezeien, und
es dürfte nicht mehr zweifelhaft sein, in welcher Richtung sich die Regierung
zu entscheiden hat. Weder der einseitige Jnteressenstanopnnkt der Erwerbs¬
gesellschaften, noch die mehr aus ästhetischen Gründen hervorgehende Abneigung
einiger einflußreicher Kvlonialfreunde darf bestimmend sein.*)
Man beklagt sich über das mangelhafte Verständnis der großen Masse»
unsers Volks für die Bedeutung unsrer Kolonie. Es ist richtig, der deutsche
Philister hat die unermeßliche Bedeutung von Deutsch-Südwestafrika für das
Reich bisher nicht erfaßt. Hierzu fehlt ihm der weite Blick. Er sieht nur
die großen Opfer, die solche Unternehmungen, bevor sie sich rentieren, natürlich
erfordern, und einzelne Mißgriffe der Verwaltung. Und weil das so ist, so
hätte die Regierung schon längst eine volkstümliche Kolonialpolitik treiben
müssen. Sie hätte deutlich ihre Absicht kundthun müssen, daß es ihr mit der
Kleinsiedlung wirklich ernst sei. Statt dessen wurde gerade die entgegengesetzte
Richtung eingeschlagen. Leider wurde schon unter dem verflossenen Kolonial¬
regiment dadurch arg gefehlt, daß ein großer Teil besiedlungsfähigen Landes
an eine kleine Zahl von Erwerbsgesellschaften ohne jede nennenswerte Gegen¬
leistung vergeben wurde. Eulige dieser Gesellschaften besitzen ein Areal, das
dem von Fürstentümern gleichkommt. So erreicht zum Beispiel das an die
Loutll ^V«zst. ^kriea Oomvim^ vergebne Land den Umfang des Großhcrzogtums
Mecklenburg-Schwerin, das Areal der Siedlnngsgesellschaft für Deutsch-Süd¬
westafrika übersteigt das des Königreichs Württemberg noch um 500 Quadrat¬
kilometer. Die Konzessionen der Loutll ^kriog. lörriwriss I,imiteä bestehn
aus Mincngerechtsamcn, die sich über ein Gebiet von etwa 38 Millionen eng¬
lischen Acres erstrecken (d. i. den ganzen Süden unsers Schutzgebiets) und in
der Berechtigung, ein Siedlungsgebiet im Gesamtumfange von etwa 11 Mil¬
lionen englischen Acres (um Gebiete der Lomlsl-zwarts ^wurtluoclllsr und
VvIclLiMnäraAörs) auszuwählen. Diese Gesellschaft ist rein englisch.
Und diese alles andre als Humanität und rein deutsche Interessen ver¬
tretenden Gesellschaften suchen die ihnen su gro8 geschenkten Ländereien ent¬
weder gleich wieder durch Verkauf ihrer Konzessionen im ganzen los zu werden
oder so bald wie möglich lieber an einzelne wenige aber zählbare Großvieh-
züchtcr weiter zu verkaufen, als an arme kleine Leute, die nur ein Stück
Scholle zur Feldarbeit für sich und ihre Familien suchen. Das Siedluugs-
geschüft setzt überdies gewisse wirtschaftliche Vorbereitungen voraus, die Geld
kosten. Das und der Verkehr mit vielen kleinen, unbemittelten Leuten ist den
Gesellschaften unbequem und vor allem nicht lohnend genug. Deshalb lassen
sie durch ihre Ageinen verbreiten, daß sich Deutsch-Südwestafrika uur zur
Einwanderung vo» Viehzüchtern in großem Stile eigne, die mindestens 15 bis
20000 Mark mitbringen. Im Deutschen Kolonialkalender für 1899 (S. 221)
wird sogar ein Vermögen von 30 bis 40000 Mark für deutsche Ansiedler in
Südwestafrika als erforderlich erklärt, was freilich einer Absperrung unsrer an
Landnot leidenden Volksgenossen von Deutsch Südwestafrika gleichkommt.
Für eine Kolonie, die bestimmt ist, ausschließlich dem materiellen Wohle
einiger englischen Ermerbsgesellschaftcn zu dienen. vermag sich das deutsche
Volk nicht zu erwärmen. Für solche Zwecke sind ihm die Opfer zu groß, die
vo» Reichs wegen verlangt werden. Seit 1884, dem Jahre, in dem Dentsch-
Südwestafrika in den Besitz des Reichs gelangt ist, haben wir viele Millionen
auf die Verwaltung der Kolonie verwandt. Aus den in den letzten Jahren
dem Reichstage zugegangnen Denkschriften über die Entwicklung unsrer Schutz¬
gebiete ersehen wir nur, wie sich alljährlich unser Verwaltungsapparat in
Deutsch-Südwestafrika vergrößert hat, und wie kostspielig er dadurch geworden
ist. Aber diese komplizierte Verwaltung arbeitet in einem menschenleeren
Lande. Sie ist reiner Selbstzweck. Sicher haben die bisher aufgewandten
großen Opfer dem Reich noch nicht den geringsten Nutzen gebracht.*) Die
Thätigkeit der großen Land- und Minengesellschaften ist gleich Null.**) Ver¬
hältnismäßig geringfügige Dinge werden in der den Erwerbsgcsellschaften er¬
gebner Tagespresse zu erfreulichen, das Aufblühen der jungen Kolonie be¬
weisenden Erfolgen aufgebauscht. Wie oft haben wir nicht schon gelesen, daß
in der Lüderitzbucht ein Dampflondcnser aufgestellt werden wird und endlich
aufgestellt worden ist zur Freude der Zugochsen. I» Spitzkopje hat die Ko¬
lonialgesellschaft eine Farm für Viehwirtschaft eingerichtet, eine Viehtränke in
Gestalt einer kleinen Stauanlage errichtet und um vier Stellen mit Erfolg nach
Wasser gegraben. In der Nähe von Windhoek hat die Siedlungsgesellschaft
eine Mnstcrfarm gegründet. Schon ist eine Anzahl aus Deutschland stammender
Schafe, Puten, Hühner und Gänse angesiedelt worden, sodaß, wie die Zeitungs¬
berichte melden, „eine erfreuliche Nachzucht zu erwarten steht, die nur bei den
Gänsen durch den Tod des Gänserichs mehr als in Frage gestellt ist."
Das Gouvernement beschränkt sich darauf, das Schutzgebiet fast aus¬
schließlich mit einem Teile der alljährlich zur Entlassung kommenden Mann¬
schaften der Schutztruppe zu besiedeln, und dabei ist nicht einmal ein deutscher
Nachwuchs gesichert, denn es ist unmöglich, diese Art Ansiedler mit weißen,
geschweige denn deutschen Frauen zu versorgen. Aber dreizehn deutsche Mädchen
sind ja schon auf dem Wege nach Swakvpmuud. Freue dich, Neu-Deutsch¬
land! Deine Zukunft ist nun gesichert. Im nächsten Jahre werden wir
wieder von dergleichen Nachschüben aus Deutschland lesen. Ich sehe schon,
das viel ersehnte Maskulinum, den Nachfolger des leider zu früh verstorbnen
Gänserichs, in Swakvpmuud landen und dann einsam durch das menschenleere
ungeheure Land in der Richtung auf Windhoek zu marschieren in dem er¬
hebenden Bewußtsein seiner großen Mission. Als Nachtrab erscheint dann
vielleicht wieder ein Dutzend ehrsamer deutscher Jungfrauen, die Hoffnung der
deutschen Reiter unsrer Schutztruppe. Wie viele Jahrhunderte müßte wohl
Deutschland warten, wenn in solcher Weise die Besiedlung von Deutsch-Süd¬
westafrika vor sich gehen soll?
Es tragen eben alle Maßnahmen der Gesellschaften und auch der Regie-
rung in diesem Schutzgebiete den Charakter des Kleinlichen. Trotz aller Schön¬
färbereien besteht die Thatsache, daß die europäische Einwcmdrung in Deutsch-
Südwestafrika zur Zeit gleich Null ist. So betrug am 1. Januar 1898 die ge¬
samte weiße Bevölkerung nur 1532 Personen, darunter nur 1242 Deutsche, von
denen allein der Schutztruppe und der Verwaltung 801 Personen angehörten,
in einem Lande, dessen Flächeninhalt 835100 Quadratkilometer betrügt, mithin
den Flächeninhalt des Deutschen Reichs beinahe um drei Vierteile übersteigt;
und im Deutschen Reiche wohnen 52 Millionen Menschen, während die Be¬
völkerung der Eingebornen in Deutsch-Südwestafrika nach neuern Schätzungen
kaum 150000 Seelen beträgt. Das ungeheure, an die Privatgesellschaften
verschenkte Terrain ist heute noch so wertlos, wie es vor Jahren war, wo es
in den Besitz dieser Gesellschaften überging, und in diesem Zustande der Le¬
thargie wird das südwestafrikanische Schutzgebiet verharren, solange sich nicht
das Reich zu einschneidenden Maßregeln verstehen wird.
Die Hoffnung, daß mit dem Wechsel an leitender Stelle auch endlich ein
Wandel in der Verwendung dieses kostbaren Koloniallaudes eintreten werde,
hat sich leider nicht erfüllt, und wir sind jetzt auf dem Punkte angelangt, wo
das Reich fast jeden Einfluß ans die weitere wirtschaftliche Entwicklung Deutsch-
Sndwcstafrikas verloren hat. So lesen wir in den „Berliner Neusten Nach¬
richten" vom 29. November vorigen Jahres:
In Bezug auf Deutsch-Südwestafrika hat sich im November vorigen Jahres
eine Veränderung vollzogen, die die ganze wirtschaftliche und wohl auch die poli¬
tische Lage des Schntzgevicts auf eine neue Grundlage stellt. In einem Berichte
über die Hauptversammlung der Soutn West ^.kriea. 0o. in London am 24. August
unter Vorsitz von Mr. Cawston wurde mitgeteilt, daß der Votstand auch eine Be¬
teiligung an der 3eine.Il ^tiiea ^oreitories on>, beschlossen habe. Daß solche Ver¬
handlungen im Gange waren, verlautete schon seit langer Zeit. Thatsächlich hat
nunmehr die Loutu West ^tnea, 0o. den Hauptbestand der Anteile der Lauer
^krieg. I°ori'loi'is8 erworben, und im November vorigen Jahres hat sich in einer
Sitzung im Bnstolhotel zu Berlin die Direktion der Lauer ^ti-iea. I'vrritories auf¬
gelöst; nur ein deutsches Mitglied ist darin geblieben, da die Verwaltung ein mög¬
lichst deutsches Ansehen erhalten soll. Die Loutü We-se, ^triog, <ne>., bezw. deren
führendes Mitglied I)r. Scharlach, hat nun auch die Leitung dieser Gesellschaft
übernommen. (Nach einer Mitteilung des Vorsitzenden der Louin 'West! ^tun-i
0ompRn^> George Cawston, befinden sich 66 Prozent der Anteilscheine in England,
23 Prozent in Frankreich, Belgien und andern Ländern und ungefähr — 6 Prozent
in Deutschland.) Da die Lontli West ^.kriW <no. auch Teilhaberin und Leiterin
nicht nur der Kaokoland-Minen-Gesellschaft, souderu auch der hanseatischen Land-,
Minen- und Handelsgesellschaft ist, so befindet sich faktisch fast das ganze Schutzgebiet
zunächst wirtschaftlich in ihren Händen.*)
Damit ist der alte Plan zur Ausführung gekommen, den schon die sogenannte
englisch-holländische Gesellschaft (Groll u. Co.) 1389 hegte. Einige weitere Hin¬
weise werden die Bedeutung dieses Vorgangs besser beleuchten. Der Vorsitzende
des Verwaltungsrath der Soulli Vsst LckrieÄ tuo., Mr. Cawston, war von Anfang
an bis zum August Mitglied des Vorstands der Rhodesschen ol^reor-Gesellschaft,
er gehört zu den nähern Freunden von C. Rhodes, und dieser ist auch Anteilhaber
der Loutli Vsst ^triizg, vo. Auf diese Weise hat nun C. Rhodes jetzt eine gewisse
Herrschaft über ganz Südwestafrika erhalten; da auch das Barotheland an unsrer
Nordostgrenze vor einigen Monaten dem Lande der lüdartgr-Gesellschaft zugeteilt
worden ist, so ist das deutsche Schutzgebiet in eine Lage gekommen, die sich mehr
fühlen als uussprechen läßt. Von kundiger Seite wird angedeutet, daß alle diese
Vorgänge in inneren Zusammenhange mit dem deutsch-englischen Abkommen stünde».
Doch hat sich die Sonlli 'West ^kriea Vo. nicht mit den Erwerbungen in Deutsch-
Südwestafrika begnügt, sondern hat auch noch das Gebiet der Loutd ^trioa, Oo.
im portugiesischen Angola in ihren Besitz gebracht, das 30 000 englische Geviert¬
meilen umfassen soll. Nach englischen Angaben soll durch das neue Abkommen
auch das Gebiet nördlich vom Kumme an Deutschland übergehen. Somit würde
die Loutb Vsst ^krioa, <no. schon im voraus sich die Herrschaft in wirtschaftlicher
Beziehung über Landstriche gesichert haben, die später an Deutsch-Südwestafrikci
angeschlossen werden sollen.
Welcher deutsche Patriot vermag von dieser Auslieferung unsers wert¬
vollsten Kolonialbesitzes an England ohne Beschämung und Empörung Kenntnis
zu nehmen! Wäre diese bisher unwiderlegte Nachricht wirklich wahr, so hätte
das Deutsche Reich allerdings nur noch die Geschäfte der englischen Kaufleute
zu besorgen, ihnen durch die Erhaltung und Vermehrung unsrer Schutztruppe
die Sicherheit ihres Eigentums zu verbürgen und dadurch und durch die Er¬
bauung von Eisenbahnen und Berieselungsanlagen in großem Stile die Renta¬
bilität ihres ihnen von Reichs wegen geschenkten Areals zu erhöhen.
Kaum drei Jahre sind verflossen, als wir in unsrer Abhandlung: „Neu-
Deutschland und seine Pioniere" (S. 62) auf die Folgen der Verschleuderung
des besten Landes unsers Schutzgebiets mit den Worten hinwiesen: „Also unsre
wirtschaftlich Schwachen, die eine Heimstätte, eine Scholle für ihre und ihrer
Familie Ernährung suchen, sollen warten, bis das Land unter einige wenige
Erwerbsgesellschafteu und Latifundienbesitzer verteilt sein wird, damit diese dann
bei regerer Nachfrage nach Boden mit dem geschenkten und im Wert erheblich
gesticgnen Areal Schacher zu treiben vermögen." Und schon heute ist dieser
Zeitpunkt eingetreten. Von der Gnade englischer Kaufleute hängt es nun ab,
ob sie in Deutsch-Südwestafrika überhaupt unser überschüssiges Menschenmaterial
aufnehmen wollen, von ihnen hängt es ab, ob und unter welchen Bedingungen
sie deutschen Staatsangehörigen gestatten wollen, an der Förderung der Mineral¬
schätze unsers Schutzgebiets teil zu nehmen. Mußte nicht der Hinblick auf die
großartige wirtschaftliche Entwicklung der südafrikanischen Nachbarstaaten unsre
Regierung bei der Vergebung unsers Landbesitzes zur größten Vorsicht mahnen? —
wenn man bedenkt, welche Entwicklung z. B. der Oranjefreistaat in den letzten
fünfzig Jahren gewonnen hat. Dieser Staat, der nach einer Schilderung unsers
Experten Rehbock eine auffallende Ähnlichkeit mit großen Teilen des Schutz¬
gebiets hat, stand im Jahre 1845 etwa auf der jetzigen Kulturstufe des deutschen
Schutzgebiets. Im Jahre 1890 hatte das Land schon einen Bodenwert von
800 Millionen Mark und einen Viehbestand von 900000 Stück Großvieh.
7500000 Stück Kleinvieh und 270000 Pferden und Maultieren. Es er¬
zeugte im Jahre 39 Millionen Kilo Getreide und 11 Millionen Kilo Wolle
und konnte 17400 waffenfähige Bürger zur Verteidigung seiner Grenzen stellen.
Findet in Deutsch-Südwestafrika auch nur eine ähnliche Entwicklung statt, so
können nach Rehbock die Ausfuhrwerte die zur Erhaltung selbst einer großen
weißen Bevölkerung erforderliche Einfuhr reichlich decken. Eine deutsche Be¬
völkerung kann dort leben und gedeihen, sie kann sich ohne Unterstützung vom
Mutterlande erhalten und schützen und wird berufen sein, bei der weitern Ge¬
staltung der südafrikanischen Verhältnisse eine wichtige Rolle zu spielen.
Hätte die Regierung von vornherein die Ansiedlung kleiner Leute be¬
günstigt und ihnen das — im Verhältnis zu den von den Gesellschaften projek¬
tierten Riesenfarmen von 20000 Morgen für den Kopf — verschwindend kleine
Stück Land geschenkt, dessen sie zur Begründung ihrer Existenz bedürfen, hätte
die Negierung, wie ich wiederholt vorgeschlagen habe, diese Parzellen sür ihre zu¬
künftige landwirtschaftliche Bestimmung durch deportierte Sträflinge vorbereiten
lassen, so würde sie heute von den Erwerbsgesellschaften unabhängig sein und,
was nicht zu unterschätzen ist, auch bei den breiten Schichten der Bevölkerung
mehr Verständnis, Liebe, ja sogar Begeisterung für ihre kolonialen Bestrebungen
finden.
Mußte nicht die Thatsache, daß in den Nachbarstaaten reiche Mineral¬
schätze aufgedeckt wurden (wie die Goldfunde in Transvaal, die Diamantfelder
bei Kimberley) für die Regierung ein Beweggrund mehr sein, vor der Ver¬
gebung der Minengerechtigkeiten über das ganze ungeheure Land an einige
wenige englische Gesellschaften erst die weitere Entwicklung abzuwarten? Fehlte
es doch nie an Anzeichen für ein gleiches Vorkommen im Schutzgebiete. Und
welche Perspektive eröffnete sich dem Reich in finanzieller Hinsicht, wenn es
sich, belehrt durch die Entwicklung in Transvaal, die ausschließliche Förde¬
rung dieser Schätze vorbehalten hätte!
Nach jahrhundertelangem Warten ist die deutsche Nation jetzt zum
erstenmale in den Besitz eines Koloniallandes gelangt, das wie kein andres
in der Welt zum Ackerbau und zur Besiedelung mit kleinen Leuten geeignet
ist, und dabei hat dieses Land einen Umfang, der den des Deutschen Reichs
um drei Vierteile übertrifft, ein Land, das mithin viele Millionen Deutscher
aufzunehmen vermag. In Deutsch-Südwestafrika glaubten wir das ersehnte
Land gefunden zu haben, das bei weiser Ausnutzung noch nach Jahrhunderten
Raum für unsre überschüssige Bevölkerung zu bieten vermag. Dort könnten
sich alljährlich Tausende unsrer Stammesgenossen, für die unser Vaterland zu
eng ist, ein neues Heim gründen, statt daß sie wie bisher übers Meer ziehen
und dem Vaterlande völlig verloren gehen. Die deutschen Einwandrer in
Deutsch-Südwestafrika sollten Deutsche sein und Deutsche bleiben. In Deutsch-
Südwestafrika sollte ein Neu-Deutschlcind entstehen.
Und das alles sollte nur ein Traum gewesen sein! Wir hätten bisher
nur für England gearbeitet, und die Reichsregierung Hütte ohne einzuschreiten
eine solche Entwicklung zugelassen? Das ist schwer begreiflich, ja schier un¬
glaublich. Deutscher Michel, wann wirst du dich auf deine Kraft besinnen
und dich endlich einmal deiner ehrlichen Haut wehren?
le preußische Eisenbahnverwaltnng bereitet, wie die Zeitungen
melden, eine Reform des Personentarifs vor. Daß ein Bedürfnis
dazu vorhanden ist, wird niemand bestreikn; aber über die
Richtung, in der die Reform vor sich gehen muß, wenn eine
gesunde Entwicklung angebahnt werden soll, werden die Mei¬
nungen verschieden sein. Kürzlich wurde in einer Zeitung die Maßregel der
sächsischen Eisenbahnverwaltung zur Nachahmung empfohlen, die die Giltigkeit
der Rückfahrkarten auf die Dauer von zehn Tagen ausgedehnt hat. Wollte
die preußische Verwaltung diesem Beispiele folgen, so würde sie damit aller¬
dings ihrem alten System treu bleiben, dem System der Ausnahmen. Dieses
besteht in der fortgesetzten Erweiterung und Vermehrung der sogenannten
Erleichterungen des Reiseverkehrs in der Form von Preisermäßigungen unter
gewissen Voraussetzungen und Beschränkungen. Aber ein Weitergehen auf
diesem Wege würde die notwendige Reform für lange Zeit ausschließen.
Und es ist wahrlich an der Zeit, daß mit dem System der Ausnahmen
endlich gebrochen wird; denn die sogenannten Reiseerleichterungen haben in
dem Maße zugenommen, daß die Ausnahmen zur Regel geworden sind, sodaß
sich kein Mensch mehr in dem Wirrsal von Ausnahmen zurechtfindet. Klar¬
heit, Einfachheit, allgemeine Giltigkeit muß für die Reform des Personentarifs
die Parole sein.
Den Gedanken eines Einheitsfahrpreises für alle Fahrstrecken innerhalb
des preußischen Eisenbahnnetzes, der bei früherer Gelegenheit in Preßstimmen
einen schüchternen Ausdruck gefunden hat, wird man freilich für die nächsten
hundert Jahre noch zurückstellen müssen, so verlockend auch die Aussicht sein
mag, gegen Zahlung eines kleinen Betrags, etwa einer Mark, von Berlin nach
jedem Orte in den Provinzen und umgekehrt, und von Köln am Rhein nach
Königsberg am Pregel fahren zu können, etwa wie ein gewöhnlicher Brief mit
einer Zehnpfennigmarke durch ganz Deutschland befördert wird. Und anch der
andre Wunsch, der seinerzeit schon weniger schüchtern laut geworden ist, nach
der Einführung eines Zonentarifs nach österreichisch-ungarischen Muster wird
im Bereiche der preußischen Staatsbahnen fürs erste schwerlich auf Erfüllung
rechnen können. Einheitspreis und Zonentarif sind für den Eisenbahnbetrieb zu
neue Grundsätze, als daß eine Verwaltung wie die der preußischen Eisenbahnen,
die darauf angewiesen ist, durch eine ruhige und stetige Entwicklung ihres Be¬
triebs dem Staate die Einnahmequelle unversehrt zu erhalten, die er in seinen
Eisenbahnen hat, sie zur Richtschnur einer Reform nehmen könnte. Wir ver¬
langen daher einen Einheitsfahrpreis weder für das ganze Staatsgebiet, noch für
einzelne Zonen, aber wir verlangen ihn für das Kilometer mit keiner andern
Unterscheidung als der der Wagenklassen. Das würde dem Tarife die Einfachheit
und die Einheit geben, die wir jetzt vergeblich in ihm suchen. Man kann sich
nicht leicht etwas Komplizierteres oder, um einen deutschen Ausdruck zu ge¬
brauchen, etwas mehr Getüfteltes denken als den Personentarif der Eisenbahnen,
nicht bloß der preußischen; und die preußische Verwaltung könnte sich kein
größeres Verdienst um das gesamte Eisenbahnwesen erwerben, als wenn sie
mit einer gründlichen Vereinfachung des Persvnentarifs voranginge. Eine all¬
gemeine Verbilligung der Fahrpreise ist lange nicht so wünschenswert, als eine
Vereinfachung des Tarifs nach dem Grundsatze: Gleiches Recht für alle.
Sehen wir uns die Sache einmal näher an. Wohl giebt es einen Einheits¬
fahrpreis für das Kilometer, wie wir ihn verlangen. Er soll betragen in der
vierten Wagenklasse 2 Pfennige, in der dritten 4 Pfennige, in der zweiten
6 Pfennige, in der ersten 8 Pfennige. Aber von dieser Regel giebt es so viel
Ausnahmen, daß die Regel dahinter zurücktritt. Nur für die vierte Wagen¬
klasse ist das Prinzip streng durchgeführt, wenn man von den sogenannten
Arbeiterkarten und den Gesellschaftsreisen absieht, die gleich erwähnt werden
sollen. Für die andern Wagenklassen findet nach der einen Richtung eine Er¬
höhung der Normalfahrgeldsätze statt für alle Schnellzuge um 0,67 und um
einen Pfennig für das Kilometer, außerdem für die Durchgangszüge noch in
der Form der Platzkarten und für die Luxuszüge in der Form besondrer Zu¬
schlage. Auf der andern Seite giebt es aber schier zahllose Ermäßigungen
dieser Fahrpreise. Da sind zunächst die allgemein giltigen Rückfahrkarten mit
verschiedner Giltigkeitsdauer je nach der Entfernung des Reiseziels. Dann
kommen die sogenannten Sommerkarten, Rückfahrkarten von mehrtägiger oder
mehrwöchiger Giltigkeit zum Besuche von bestimmten Gegenden oder Kurorten
während der Sommermonate. Ihnen schließen sich an die sogenannten zu¬
sammenstellbaren Fahrscheinhefte mit einer Giltigkeitsdauer von 45 Tagen,
wenn wenigstens 600 Kilometer, von 60 Tagen, wenn wenigstens 1000 Kilo¬
meter zurückgelegt werden. Eine Abart davon sind die Rnndreischefte sür feste
Rundreisen. Dann folgen die verschiednen Arten von Zeitkarten, als Monats¬
karten und Nebenmonatskarten für jedermann, Schülerkarten zum Schulbesuche
und zum Besuche von Schwimmanstalten und Arbeiterkarten. Weitere Fahr¬
preisermäßigungen werden gewährt für Gesellschaftsfahrten, und zwar für
gemeinschaftliche Reisen von mindestens dreißig Personen, für akademische Aus ¬
finge, sowie für Schulfahrten und Ferienkolonien auch bei geringerer Teil-
nehmerzahl, und endlich können Ermäßigungen des Fahrpreises auch zu milden-
Zwecken aller Art bewilligt werden. Damit ist aber die Mannigfaltigkeit der
Ausnahmen noch nicht erschöpft. Nicht nur werden Kinder und Soldaten
allgemein zu billigern Sätzen befördert, fondern die Eisenbahnverwaltuug pflegt
auch aus besondern Anlässen, z. B. bei Ausstellungen und großen Versamm¬
lungen Rückfahrkarten mit verlängerter Giltigkeitsdauer zu ermäßigten Preiseir
auszugeben. Eine sehr wesentliche Vergünstigung darf schließlich nicht un¬
erwähnt bleiben, die sogenannten Sonntagskarten, die gegen Zahlung des Preises
für die Hinfahrt zur Hin- und Rückfahrt berechtigen. Sie sollen die sonntäg¬
lichen Ausflüge der Großstädter erleichtern.
Die Ermäßigung beträgt für die gewöhnlichen Rückfahrkarten, die Sommer¬
karten und die Fahrscheinhefte etwa 25 Prozent des vollen Preises. Für
Gesellschaftsreisen wird in der Regel ein Nachlaß von 50 Prozent gewährt,
für Schulfahrten und für Reisen Unbemittelter zu Ausbildungs- und HeilungS-
zwecken ist der Satz von einem Pfennige für das Kilometer in dritter Wagen¬
klasse gewöhnlich, derselbe Satz, zu dem Militärpersonen befördert werden. Für
Kinder bis zu zehn Jahren wird der halbe Fahrpreis gezahlt, Kinder unter
vier Jahren sind jedoch ganz frei, sofern für sie kein besondrer Platz beansprucht
wird. Alle Arten von Zeitkarten und die Arbeitersahrtarten werden zu noch
viel niedrigern Preisen ausgegeben. Zu dieser Verschiedenheit der Fahrpreise
treten nun noch die besondern Bestimmungen über die Gewährung von Frei-
gepück und über die Benutzung der Schnellzuge und der Wagenklassen, alles
in allem eine recht reichhaltige und bunte Speisekarte, in der sich zurechtzu¬
finden ein bedeutendes Maß von Findigkeit erfordert. Der Durchschnittsmensch
steht der Aufgabe, aus dem Vielerlei von sogenannten Reiseerleichterungen das
für seinen Fall Passende herauszufinden, meist ratlos gegenüber. Dieser Um¬
stand allein wäre Grund genug, eine Vereinfachung anzustreben, auch wenn in
dem bestehenden System nicht eine Quelle mannigfacher Unbilligkeit und Un¬
gerechtigkeit steckte.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist nun allerdings gegen eine ganze Reihe
der angeführten Ausnahmen von den Normalfahrgeldsätzen nichts einzuwenden.
Vor allem nicht gegen die erhöhten Fahrpreise für Schnellzuge und gegen die
besondern Zuschlage für die Benutzung der v- und 1,-Züge. Denn hier liegen
besondre Leistungen der Eisenbahn vor, die die Forderung einer besondern
Zahlung rechtfertigen. Wem daran gelegen ist, schneller zu reisen, als die auf
allen Stationen haltenden Personenzüge befördern können, wer Wert darauf
legt, auf einem numerierten Platze zu sitzen und sich während der Fahrt in
dem engen Gange hin und her zu bewegen, oder sich in seinem Abteil mit
Speise und Trank bewirten zu lassen, wer sich des Nachts zu entkleiden und
seine Glieder ans einem mehr oder minder bequemen Lager auszustrecken be¬
gehrt, wer während der Fahrt im Speisesalon die Freuden der Tnble d'böte
zu genießen wünscht, nun, der möge in den Beutel greifen und der Eisenbahn¬
verwaltung für ihre Mehrleistungen auch mehr zahlen. Die Inkonsequenz, daß
für die Benutzung der Schnellzuge die Zuschlage von 0,67 Pfennig in der
dritten und zweiten und von einem Pfennig für das Kilometer in der ersten
Wagenklasse nur bei einfachen, nur in einer Richtung geltenden Karten erhoben
werden, während bei Rückfahrkarten ein Preisunterschied in der Benutzung von
Personen- und Schnellzügen nicht gemacht wird, diese Inkonsequenz ist freilich
von dem Standpunkte des gleichen Rechts für alle und eines angemessenen Ver¬
hältnisses von Leistung und Gegenleistung nicht zu rechtfertigen; sie entspricht
aber durchaus der auch sonst in dem Personcntarife hervortretenden ungünstigen
und ungerechten Behandlung der Reisenden, die nicht in der Lage sind, Rück¬
fahrkarten oder Fahrscheinhefte zu benutzen. Gegen den Zuschlag für die Be¬
nutzung der gewöhnlichen Schnellzuge spricht nur der Umstand, daß der
Reisende, der nur einen Teil seiner Reise mit einem Schnellzuge machen kann,
doch sür die ganze Strecke den Schnellzugspreis zahlen muß, wenn er sich
nicht der Unbequemlichkeit eines wiederholten Kartenkaufs aussetzen will.
Was die vielerlei Fahrpreisermäßigungen betrifft, so sind die „zu milden
Zwecken," die nur auf besondern Antrag an unbemittelte Personen gewährt
werden, eben des milden Zweckes wegen am wenigsten zu beanstanden. Aus
ähnlichem Grunde mögen sich die billigen Arbeiterkarten rechtfertigen lassen.
Daß vom volkswirtschaftlichen Standpunkte gegen diese Vergünstigungen manche
Bedenken geltend gemacht werden können, ebenso wie gegen die Monatskarten,
die beispielsweise in großem Umfange von Arbeitgebern benutzt werden, die
ihren Familienwohnsitz nicht an dem Orte ihres Gewerbebetriebes haben, soll hier
nur beiläufig erwähnt werden. Bei diesen Fahrpreisermäßigungen, zu denen
auch die Schülerkarten zu zählen sind, mag für die Verwaltung auch der kauf¬
männische Grundsatz maßgebend sein, daß bei regelmäßiger und dauernder Be¬
nutzung der angebotnen Leistungen eine Preisermäßigung gewährt werden kann.
Ähnlich liegt die Sache bei den Gesellschafts- und Studienreisen, weil hier die
größere Zahl der Teilnehmer und die volle Ausnutzung der im voraus be¬
stellten Plätze der Eisenbahn eine angemessene Einnahme auch bei niedrigern
Preisen sichert. Bei den Studienreisen tritt außerdem noch das »odilv «Mowin,
des Staates hinzu, das Bildungsstreben nach Möglichkeit zu unterstütze«. Von
allen diesen Ausnahmen, auch von den Kinder- und Soldatenkarten, von den
Sonntagsausflugkarten, von den außerordentlichen Ermäßigungen zum Besuche
von Ausstellungen und „Tagen" aller Art soll hier nicht weiter die Rede sein.
Sie lassen sich alle mit diesem oder jenem Grunde rechtfertigen und spielen
auf dem Gebiete des eigentlichen Reiseverkehrs für einzelne Personen und Fa¬
milien keine besondre Rolle, haben anch mehr oder weniger Beziehung zu dem
Berufs- und Erwerbsleben und sind somit mehr als bloße Eigentümlichkeiten
hiervon und weniger als besondre Erscheinungen des gewöhnlichen Reise¬
verkehrs zu betrachten. Alle diese Ausnahmen von der Regel sind zu ertragen,
wenn nur im übrigen die Einfachheit und die allgemeine Giltigkeit des Tarifs
herbeigeführt wird, die in dem geltenden System fehlt.
Die gewöhnliche Rückfahrkarte hat Giltigkeit nur für drei Kalendertage,
sofern das Reiseziel von dem Ausgangspunkte nicht mehr als zweihundert
Kilometer entfernt ist. Weiß ich beim Beginn der Reise nicht gewiß, ob ich
die Rückreise vor dem Ablauf des dritten Tages antreten werde, so setzt mich
die Frage, ob ich eine Rückfahrkarte losen soll oder nicht, in Verlegenheit.
Nehme ich z. B. zur Reise nach einem fünfzig Kilometer entfernten Orte eine
einfache Karte zweiter Klasse für 3 Mark, und erlauben meine Geschäfte
nachher, daß ich die Rückfahrt vor Ablauf des dritten Kalendertages antreten
kann, so kostet mich die Reise, da ich für die Rückfahrt auch 3 Mark bezahlen
muß, 1,50 Mark mehr, als wenn ich eine Rückfahrkarte für 4.50 Mark ge¬
nommen hätte. Löhe ich dagegen bei Antritt der Reise eine Rückfahrkarte für
4,50 Mark, und nötigen mich meine Geschäfte länger als drei Tage wegzu¬
bleiben, so wird die Karte für die Rückfahrt uugiltig, und ich muß eine neue
Karte für 3 Mark lösen, die Reise kostet also 7,50 Mark, d. h. wieder
1,50 Mark mehr, als wenn ich für die Hinfahrt eine einfache Karte genommen
hätte. Die gleiche Schwierigkeit entsteht, wenn ich zwar sicher bin, die Reise
innerhalb dreier Tage vollenden zu können, aber nicht bestimmt weiß, ob ich
die Rückfahrt auf dem für die Rückfahrkarte zulässigen Wege werde ausführen
können. Die Verwaltung verlangt zwar nicht immer, daß die Rückfahrt auf
demselben Wege stattfinde wie die Hinfahrt, sondern sie erlaubt überall da,
wo mehr oder weniger parallel laufende Nebenstrecken vorhanden sind, die
Wahl zwischen diesen Strecken. Trotz dieser Vergünstigung kann es doch vor-
kommen, daß ich während der Reise genötigt werde, für die Rückfahrt irgend
eine andre Strecke zu nehmen, für die meine Rückfahrkarte nicht gilt. Eine
dritte Schwierigkeit bei der Entscheidung, ob Rückfahrkarte oder einfache Karte,
bereitet der Umstand, daß die Unterbrechung der Fahrt auf Zwischenstationen
nur je einmal bei der Hin- und Rückfahrt erlaubt ist. Muß ich mich unter¬
wegs entschließen, auf der Hin- oder auf der Rückfahrt mehr als einmal den
Zug zu verlassen, so wird meine Fahrkarte nach der zweiten Fahrtunterbrechung
für den Rest der Hin- oder Rückfahrt ungiltig.
Ich kann also eine Rückfahrkarte nur dann ohne die Gefahr einer Ver¬
teuerung benutzen, wenn vor dem Antritt der Reise feststeht: 1. daß die Rück¬
reise vor Ablauf des dritten Kalendertages angetreten wird, 2. daß die Rückreise
auf einer der hierfür zugelassenen Strecken stattfinden, 3. daß weder auf der
Hin- noch auf der Rückfahrt die Fahrt mehr als einmal unterbrochen werden
wird. Trifft eine dieser drei Voraussetzungen nicht zu, so liegt es in meinem
Vorteil, wenigstens insoweit Rückfahrkarten zu benutzen, als meine Reisedisposition
zuläßt. Zu diesem Zwecke muß ich an der Hand des Fahrplans und der
Karte mühsam zu ermitteln suchen, sür welche Strecken ich Rückfahrkarten, für
welche einfache lösen muß, wobei sorgfältig darauf zu achten ist, ob der Auf¬
enthalt auf den einzelnen Stationen zur Lösung neuer Fahrkarten Zeit läßt.
Nun kann es aber auch leicht vorkommen, daß ich vorteilhaft handle, wenn ich
eine Rückfahrkarte nach einem Orte löse, den ich gar nicht besuchen will, weil
sich von diesem Orte aus die Möglichkeit bietet, die Rückfahrt auf einer Strecke
zu nehmen, die zu benutzen ich Veranlassung habe. Voraussetzung ist dabei,
daß ich den Weg von dem Orte, wo ich auf der Hinfahrt den Zug verlasse,
zu dem Orte, von wo ich die Rückfahrt antrete, mit einem andern Verkehrs¬
mittel, z. B. der Straßenbahn oder einer Kleinbahn oder auch zu Fuß zurück¬
lege, wie das namentlich auf Vergnügungsreisen, aber auch auf Geschäftsreisen
leicht vorkommt. Auch darauf muß ich also bei der Reisevorbereitung mein
Augenmerk richten. Dabei ist nur der Übelstand zu beklagen, daß die Kurs¬
bücher leine erschöpfende Auskunft darüber geben, welche Rückfahrkarten zur
Fahrt auf verschiednen Strecken berechtigen. Es kann also vorkommen, daß
ich aus Unkenntnis der Bestimmungen von den Vorteilen, die die Eisenbahn
bietet, keinen Gebrauch mache.
Man sieht, es liegen auf den Wegen der Fahrpreisermäßigungen durch
Rückfahrkarten viele Fußangeln, in denen man gefangen werden und statt der
Ermäßigung eine Erhöhung der Ausgabe finden kann. Um diesen Fußangeln
zu entgehen, bedarf es eines mühevollen und zeitraubenden Überlegens und
Studierens der Fahrpläne und mancher Erkundigung an den Auskunftsstellen,
Umstände, die das Aufstellen des einfachsten Reiseplans sehr erschweren können.
Und doch will die Eisenbahnverwaltung durch die Rückfahrkarten das Reisen
nicht erschweren, sondern erleichtern! Zu dieser Erschwerung des Reiseplan-
entwurfs kommt dann noch oft der Verdruß darüber, daß man die Vorteile
der Rückfahrkarten nicht genießen kann, weil gewisse Voraussetzungen nicht zu¬
treffen, oder weil man die Möglichkeit ihrer Benutzung nicht vorher ge¬
kannt hat.
So viel über die gewöhnlichen Rückfahrkarten auf kürzern Strecken bis
zu 200 Kilometern. Beträgt die Entfernung 300 Kilometer, so gelten die
Karten vier Tage und für je 100 Kilometer weiterer Entfernung einen Tag
länger. Hierbei sei zunächst nur nebenher die Ausnahme gestreift, die für
Berlin gilt. Die Rückfahrkarten nach Berlin gelten von 50 Kilometern Ent¬
fernung an je einen Tag länger als nach andern Orten. Warum diese Be¬
vorzugung von Berlin, die doch mit der Forderung desselben Rechts für alle
nicht vereinbar ist? Den Rückfahrkarten mit viertägiger — und wenn sie
für Berlin gelten, mit fünftägiger Giltigkeit macht eine andre Einrichtung den
Rang streitig, die ebenfalls zur Erleichterung des Reiseverkehrs ersonnen ist,
aber, von dem zweifelhaften Vorteile der Preisermäßigung abgesehen, die ent¬
gegengesetzte Wirkung erzielt, die der „zusammenstellbaren Fahrscheinhefte."
Sie werden ausgegeben, wenn auf der Hin- und Rückreise, die über beliebige
Strecken erfolgen kann, zusammen wenigstens 600 Kilometer zurückgelegt werden.
Da gilt es nun, wenn man die Wahl hat zwischen Rückfahrkarte und Fahr¬
scheinheft, jedesmal Vor- und Nachteile der einen und der andern Art der
Verkehrserleichternng gegen einander abzuwägen.
Die Rückfahrkarte wird wie die gewöhnliche Fahrkarte am Kartenschalter
gelöst. Das Fahrscheinheft muß mindestens sechs Stunden vor der Abreise,
meistens aber schon einige Tage zuvor schriftlich bestellt und kann nicht
immer unmittelbar vor der Abreise in Empfang genommen werden. Die
Rückfahrkarte gilt nur eine beschränkte Zahl von Tagen, das Fahrschein¬
heft wenigstens 45 Tage. Die Rückfahrkarte berechtigt zur unentgeltlichen
Mitnahme von 25 Kilogramm Gepäck im Packwagen, das Fahrscheinheft ge¬
währt kein Freigepäck. Die Rückfahrkarte gestattet eine Unterbrechung der
Reise nur einmal bei der Hin- und einmal bei der Rückfahrt, das Fahrschein¬
heft ans jeder Station. Für das Heft spricht die längere Giltigkeitsdauer und
die Möglichkeit, an jedem beliebigen Orte, der auf der Reise berührt wird,
Aufenthalt zu nehmen; dagegen die Unbequemlichkeit der Lösung des Heftes
und die Nichtgewähr von Freigepäck. Und diese beiden Erwägungen geben
oft genug den Ausschlag für die Rückfahrkarte. Zu einer Reise von Köln
nach Berlin nimmst du, da die achttägige Giltigkeitsdauer zur Erledigung
deiner Geschäfte ausreichend Zeit gewährt, eine Rückfahrkarte. Nun braucht
in Berlin nur ein Ereignis einzutreten, das eine Verlängerung deines Auf¬
enthalts erwünscht macht, und du hast Gelegenheit und Anlaß zum Ärger
über die Buntscheckigkeit unsers Personentarifs, denn du begreifst nicht, warum
Rückfahrkarten nicht ebenso lange gelten wie Fahrscheinhefte, und weshalb
diese kein Freigepäck gewähren. Diese Thatsache ist noch befremdlicher, weil
man bei einer 45 tägigen Reisedauer an Kleidung, Wäsche und sonstigem Reise¬
bedarf mehr mitzuführen pflegt, als wenn man nur auf einige Tage von Hause
weggeht.
Ja, hinsichtlich der zusammenstellbaren Fahrscheinhefte ist manches unbe¬
greiflich. Vor allem der amtliche Name. Was ist zusammenstellbar, die
Fahrscheine oder die Hefte? Ich habe vor dem seit Jahren an den Tag ge¬
legten Streben der Eisenbahnverwaltung nach Sprachreinheit und Sprachrichtig¬
keit eine zu hohe Achtung, als daß ich ihr eine sprachliche Bildung nach dem
Muster der reitenden Artilleriekaserne und des baumwollner Regenschirmfabri¬
kanten zutrauen könnte. Ich kaun also nur annehmen, daß die Hefte als zu¬
sammenstellbar bezeichnet werden sollen. Dieser Ausdruck ist aber logisch
falsch. Er wäre richtig, wenn der Sinn wäre, daß die Fahrscheinhefte mit
einander zu größern Einheiten zusammengestellt werden können, aber nicht in
dem Sinne, daß das einzelne Heft aus Fahrscheinen zusammengestellt werden
kann. In diesem Sinne ist das Fahrscheinheft ebenso wenig zusammenstellbar,
wie ein Verein gründbar, ein Brot dankbar, ein Urteil fällbar ist. Das Heft
ist zusammengestellt, der Verein ist gegründet, das Brot ist gebacken, das
Urteil ist gefällt und kann es nicht noch einmal werden, so wenig wie ein
Ding zum zweitenmale entstehen kann. Die Verwaltung will durch die Be¬
zeichnung zusammenstellbar einen Unterschied machen zwischen den Fahrschein¬
heften, die erst auf Bestellung aus beliebigen Fahrscheinen zusammengestellt
werden, und denen, die aus bestimmten Fahrscheinen fertig zusammengestellt
sind und vorrätig gehalten werden. Aber diese letzten führen ja den amtlichen
Namen Rundreisehefte für feste Rundreisen. Warum genügt da für jene Art
nicht die Bezeichnung Fahrscheinheft?
Die Unterscheidung zwischen zusammenstellbaren Fahrscheinheften und fer¬
tigen Rundreiseheften hat aber auch eine sehr sachliche Bedeutung. Die fer¬
tigen Rundreisehefte berechtigen innerhalb des Gebiets der preußischen Staats-
eisenbahnverwaltuug nämlich zur Mitnahme von 25 Kilogramm Freigepäck und
sind somit eine neue Nuance in der bunten Mannigfaltigkeit der Reisegelegen¬
heiten und der Fahrtausweise — wie der Gattungsbegriff für alle Arten von
Fahrkarten, Fahrscheinheften und sonstigen ein Anrecht auf die Benutzung der
Bahn gebenden Papiere lautet — und damit eine neue Schwierigkeit für den
Entwurf des Reiseplans. Schwierigkeiten und lästige Umstände an allen
Ecken — und das alles „zur Erleichterung des Reiseverkehrs." Mit diesen
Worten werden nämlich die amtlichen Bestimmungen über die Ausgabe von
zusammenstellbaren Fahrscheinheften und von Rundreiseheften für feste Rund¬
reisen eingeleitet. Wer jemals in der Lage gewesen ist, an der Hand dieser
Bestimmungen einen Reiseplan zusammenzustellen und ein zusammeustellbares
Fahrscheinheft zu kaufen und zu benutzen, der muß in diesen Worten eine arge
Ironie finden. Denn die Erleichterung ist in Wirklichkeit eine Erschwerung.
Fiir den aber, der von der angeblichen Erleichterung des Reiseverkehrs noch
keinen Gebrauch gemacht hat, bedarf es noch eines längern Verweilens bei den
zusammenstellbaren Fahrscheinheften, um die mit ihrer Benutzung verbundnen
Schwierigkeiten in das rechte Licht zu stellen.
(Schluß folgt)
le wichtigste Frage für alle ehrlichen und ernsten Reformbestre-
bungen in der Türkei ist immer gewesen: Ist die muhammedanische
Religion schlechthin unvereinbar mit europäischer Zivilisation,
oder ist eine Anpassung und ein Zusammenwirken beider trotz
ihres anscheinenden Gegensatzes möglich? Daß die Zukunft der
Türkeuherrschaft und des Osmanentums in Europa von der Beantwortung
dieser Frage abhängt, ist ohne weiteres klar. Die Antwort kann sich nur aus
einem geschichtlichen Rückblick ergeben.
Da ist denn zunächst die Thatsache festzustellen, daß Christentum und
Islam nicht immer in feindlichem Gegensatz zu einander gestanden haben.
Nachdem der erste muhammedanische Fanatismus verflogen war, haben die
Beherrscher des Abendlandes und des Morgenlandes, Karl der Große und der
Kauf Harun, in freundlichem Verkehr miteinander gestanden, und der Kampf
ist erst wieder entbrannt, als das Papsttum daran ging, seine Ansprüche auf die
geistliche und weltliche Oberherrschaft über die bewohnte Erde zu verwirklichen.
Nicht der feindliche Gegensatz der Religionen ist die Ursache der Kreuzzüge
gewesen, sondern erst aus dem langjährigen blutigen Ringen um den Besitz
Palästinas und Syriens ist die Jahrhunderte überdauernde Feindschaft und der
bis heute unausgeglichnc Gegensatz hervorgegangen. Die Grenzregioncn der
drei alten Kontinente sind Gefilde, auf denen sich seit den ältesten Zeiten ent¬
scheidende Völkerkümpfe und in ihrem Gefolge der Ausgleich verschiedner Kul¬
turen vollzogen haben. Einbrüche und Wanderungen der Völker der Steppe
in die Kulturwelt des Westens haben auch ohne religiösen Gegensatz während
der ganzen ersten Hülste des Mittelalters stattgefunden; die eigentliche Ursache
der Kreuzzüge lag darin, daß der griechische Kaiser im Jahre 1095 durch den
Papst die Hilfe des Abendlandes gegen das Vordringen der seldschukischen
Türken anrief, und der Papst dieses Gesuch in der wirtschaftlichen, sozialen,
politischen und kirchlichen Krisis, in der Europa während des Investiturstreits
stand, zu einem Hebel seiner Weltherrschaftspläne zu machen dachte. Für den
griechischen Kaiser war der nun auf dem Kriegsschauplatz auftretende Bundes¬
genosse aber viel zu stark*) und damit eine größere Gefahr als die von Osten
drohende. Da auch die muhammedanische Welt in die sich feindlich gegenüber¬
stehenden Ägypter unter den Fatimiden und die Asiaten unter den Abbassiden
geschieden war, so ergab sich daraus eine wunderbar verworrne politische Lage.
Nachdem die verschiedensten Kombinationen versucht worden waren, alle sich als
unhaltbar erwiesen und die Kräfte sich in dem großen Ringen erschöpft hatten,
konnten die neu auftretenden osmanischen Türken als Sieger die Trümmerstätte
dieser Kämpfe behaupten. Den Deutschen hatte sich zeitweise eine große Aussicht
in diesen Völkerkämpfen eröffnet. Bei dem dritten Kreuzzuge waren die Serben,
Walcichen und Bulgaren bereit, sich dem deutschen Reiche anzuschließen, und
es hing nur von dem Kaiser Barbarossa ab, seineu Kreuzzug mit der Eroberung
Konstaminopels und damit des griechischen Kaiserreichs zu beginnen. „Es war
eine der größten Fragen, die jemals einem deutschen Kaiser vorgelegen haben.
Friedrich wies das Anerbieten ab, er wollte Jerusalem sehen. Er handelte
moralisch groß, aber politisch thöricht. Eine Herrschaft unter deutscher Ober¬
hoheit Hütte der Nation unendliche Aussichten eröffnet."**) Der Sohn und Nach¬
folger Barbarossas, Heinrich VI., hat den Gedanken der Eroberung Konstanti-
nopels ernstlich erwogen, aber sein Tod machte diesen Entwürfen und Deutsch¬
lands Größe 1197 ein Ende. Die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1204
dnrch die Kreuzfahrer unter venetianischer Leitung führte nicht mehr zu heilsamen
und dauernden Erfolgen, denn den Eroberern fehlte die Kraft zu lebensvollen
Neugestaltungen; 1261 wurde es durch die Griechen mit geringer Mühe zurück¬
erobert. Ein Jahrhundert später setzten die Osmanen über den Hellespont
und begründeten in den Ländern des durch und durch zerrütteten byzantinischen
Reiches die Türkenherrschaft in Europa, zunächst mit dem Sitz in Adrianopel.
Um die Fragen zu entscheiden, inwiefern und aus welchen Gründen der
Islam kulturfeindlich ist, müssen wir den Blick auf die Zeit vor den Kreuz¬
zügen richten. In dieser Zeit sind die muhammedanischen Völker ganz un¬
streitig die Träger höherer Zivilisation und religiöser Toleranz, während größere
Roheit und Neligionsfanatismus auf feiten der Christen sind. Insbesondre
die Deutschen sind bis zum Jahre 1050 ein reines Ackerbauvolk, erst seit 1100.
also seit dem Beginn der Kreuzzüge, scheidet sich der Krieger vom Bauern: die
erste große nationale Arbeitsteilung; wieder ein halbes Jahrhundert später ver¬
vollständigt der Stadtbürger in dem Beruf als Kaufmann oder Handwerker
die ursprüngliche ständische Gliederung. Hierarchischer Gehorsam und Askese
beherrschen die Geister bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts. Diesem Zu¬
stande gegenüber erscheint die Kultur des muhammedanischen Orients und des
maurischen Spaniens um das Jahr 1000 als viel höher. Die Völker des
Islam stehen zu dieser Zeit noch an der Spitze der Zivilisation: noch der Ge¬
schichtschreiber des Kreuzzuges von Richard Löwenherz bewundert die kriegerischen
Tugenden der Muhammedaner; er nennt diese reich an jeder Art von Tüchtigkeit
und meint, sie entbehrten nur des wahren Glaubens, um das erste Volk der
Welt zu sein. In der Religion lag damals also keinesfalls ein feindseliger
Gegensatz zur Kultur, und so entsteht die Frage: Woher stammte die frühe
Blüte, und wie kam es, daß sich das Verhältnis von Morgenland und Abend¬
land später völlig umkehrte?
Bei der Schilderung der arabischen Kultur folgen wir im wesentlichen
der Kulturgeschichte der Kreuzzüge von Prutz. Die Lehre Muhammeds ist vor
allen Dingen reiner Monotheismus und nur darin völlig originell, daß sie allein
von allen Religionen ursprünglich kein Wunder kennt. Dogmatisch ist der Islam
in der Hauptsache eine Mischung jüdischer und christlicher Lehren; namentlich
zeigt er eine große Verwandtschaft mit dem christlichen Arianismus. Peter,
der Abt von Cluny, bekennt in einem Briefe an Bernhard von Clairvaux, er
wisse nicht, ob er den Islam als eine christliche Häresie oder einen Götzendienst
bezeichnen solle, und giebt zu, daß er viel Wahres enthalte. Noch Dante faßt
Muhammed auf als den Urheber eines Schisma in der Christenheit und den
Islam als eine orientalische Sekte. Als der Arianismus im Abendlande dem
Bunde des römischen Bischofs mit den katholischen Franken erlag, erhob er
sich in morgenländischer Färbung unter der Fahne Muhammeds in verjüngter
Gestalt und eroberte in raschem Siegeszuge die halbe Welt.*) Merkwürdiger¬
weise ist von katholischen Heißspornen die Reformation häufig als eine Tochter
Muhammeds bezeichnet, die Prädestinationslehre mit dem Fatalismus, die
Bilderfeindlichkeit der Protestanten mit der des Islam verglichen worden.
Gegen Christentum und Judentum stellte sich der Muhammedanismus ver¬
söhnlich, auch Christus und Moses waren ihm wahre Propheten; gegen den
Polytheismus und den Pantheismus führte er überall einen Vernichtungskrieg.
In Damaskus, dem Sitze der Ommaijadischen Kalifen von 661 bis 750, blühte
gleichzeitig eine islamitische und eine christliche Theologenschule; die Verwandt¬
schaft mehrerer der zahlreiche» muhammedanischen und christlichen Sekten dieser
Zeit ist darauf zurückzuführen. Auch der Bilderstreit, der die morgenlündische
christliche Kirche ein Jahrhundert lang auf das tiefste bewegte, scheint aus diesen
Anregungen hervorgegangen zu sein und hat wahrscheinlich eine Vereinigung der
beiden Religionen zum Zweck gehabt. Die Duldung, die die Anhänger des
Propheten den Christen gewährten, und die Verwandtschaft der Lehre führten
viele Christen zur Annahme des Islam. Eine ganz irrige Vorstellung ist die,
daß sich der Islam allein auf dem Wege blutiger Eroberung so schnell über
die Welt verbreitet habe. Das griechische Reich war beim Auftreten des Mu-
hammedanismus schon in Verfall und Entartung. Seine Unterthanen unter¬
lagen zu Gunsten des Militärs, der Beamten, des Hofes und der Hauptstadt
einem entsetzlichen Steuerdruck; religiöse Sektierer wurden mit großer Härte
unterdrückt und verfolgt. So kam es, daß die Errichtung der muhammedanischen
Herrschaft meist als Erleichterung empfunden und dankbar begrüßt wurde. Die
arabische Herrschaft wurde der griechischen nicht selten geradezu vorgezogen,
ganze Provinzen drängten sich zu dem Wechsel der Herrschaft, dem häufig
genug die Annahme der neuen Religion folgte.
Gewiß kann die religiöse Leidenschaft auch bei den Muhammedanern nicht
geleugnet werden, denn Begeisterung wird nur allzuleicht zur Leidenschaft; alle
Eroberungszüge der Araber sind glühender religiöser Begeisterung entsprungen.
Aber man kann daraus den Bekennern des Islam gewiß keinen schwerern Vorwurf
machen, als denen andrer Religionen, und zumal katholische über Fanatismus
und Unduldsamkeit klagende Schriftsteller erinnern nur an die über Aufruhr
schreienden Gracchen. Wohl keine Religion hat so viel Blut vergossen und Grau¬
samkeiten verübt wie das Christentum, man denke an die Sachsenkriege Karls
des Großen und an den Kampf gegen die Slawen und Preußen in den deutschen
Ostmarken; man denke an Spanien und die Niederlande,*) an die Albigenser
und die Hugenotten. In Beziehung auf die Toleranz der jüdischen Religion sehe
man Jeremias 48, 10. In dem Kampf der beiden Religionen um die Welt¬
herrschaft eilten tausende und aber tausende von Muhammedanern und Christen
mit gleicher Freudigkeit im Namen Gottes in den Tod. Die großen und guten
Thaten, zu denen der Islam seine Gläubigen begeistert hat, legen Zeugnis ab,
daß auch diese Religion geeignet war, in den Seelen ihrer Bekenner die edelsten
Kräfte zu entfesseln, die Menschen von kleinlicher Selbstsucht zu befreien und
im Dienst einer großen Idee über sich selbst zu erhebeu. Das muhammedanische
Kriegsrecht war dem besiegten Feinde gegenüber menschlich und gerecht. Das
gegebne Wort soll auch dem Ungläubigen gegenüber gehalten, und im Kampfe
selbst sollen keine betrügerischen Mittel angewandt werden. Die Instruktion,
die der erste Kauf seinen Feldherren mitgab, besagt: „Kämpfet tapfer, aber gesetz¬
müßig, begeht keine Treulosigkeit gegen eure Feinde, verstümmelt die Besiegten
nicht, tötet weder Greise, noch Kinder, noch Frauen. Haut nicht fruchttragende
Bäume um, schont namentlich die Palmen und brennt die Ernte nicht nieder.
Erwürget auch kein Vieh, mit Ausnahme dessen, was ihr zu eurer Nahrung
bedürft. Ihr werdet auf euerm Marsche Menschen antreffen, die in der Ein¬
samkeit frommer Betrachtung leben, in die Anbetung Gottes versenkt; thut
ihnen nichts zu Leide. Dagegen werdet ihr auch solche finden, deren geschorner
Kopf einen Kranz von Haaren trägt — die schlagt nieder und gebt ihnen keine
Gnade."
Bis zu den Kreuzzügen haben im Morgenlande Christen und Muhamme-
daner friedlich neben einander gelebt; die Christen waren im Reiche der Kalifen
weder unterdrückt noch rechtlos, hatten selbst am Hofe Zutritt und nahmen
nicht selten hohe Ämter und wichtige Vertrauensposten ein. In den Gebieten,
in denen sich die Araber dauernd behaupten wollten, wurden die christlichen
Kirchen geschont und erhalten. Harun al Raschid erklärte aus Courtoisie sogar
Jerusalem für eine Karl dem Großen unterthcinige Stadt. Die Christen be¬
fanden sich nicht schlecht unter der maurischen Herrschaft, die sizilianischen weit
besser als z. V. die italischen Bewohner unter den Lombarden oder Franken.
Als die Normannen die Insel eroberten, fanden sie trotz der dreihundertjährigen
maurischen Herrschaft große Mengen von Christen, die unbedrückt und ruhig
ihrem Glauben lebten.
Sehr ungünstig sticht gegen diese Toleranz das Verhalten der Abendländer
ab. Zumal in den spätern Zeiten der Kreuzzüge waren die Christen grund¬
sätzlich der Meinung, daß ein Christ dem Ungläubigen sein Wort zu halten
nicht verbunden sei. Die Berichte besagen übereinstimmend, daß Wortbrüchig¬
keit, Habgier, Wollust, Spiel und schlechte Leidenschaften aller Art von ihnen
geübt worden seien, schon weil sie sich als anserwühlte Streiter Gottes gegen¬
über den Ungläubigen zu allem für befugt gehalten hätten; diese galten als
Verdammte für rechtlos. Die schlimmsten Frevel wurde» durch diese Auffassung
gedeckt; Nachbarn und Einheimischen kamen die Franken wie ein Volk von
Räubern vor, sodaß man nicht selten an das Verhalten der spanischen Kon¬
quistadoren in Amerika erinnert wird.
Wie die Ausgestaltung der muhammedanischen Dogmatik unter christlichem
Einfluß erfolgt ist, so sind namentlich auch die politischen und militärischen
Institutionen des Kalifats in Abhängigkeit von der byzantinischen Kultur ge¬
staltet worden, und das byzantinische Reich ist zweifellos als der Aufbewahrer
und Übermittler der antiken Kultur während der ersten Jahrhunderte des
Mittelalters anzusehen. Von den Byzantinern übernahmen die Araber zugleich
mit den eroberten Pro.vin.zen die politische Einteilung und die administrative
Ordnung. Byzantinisch war das Besteuerungssystem mit seiner Kopf- und
Grundsteuer. Byzantinisch war und blieb das Münzwesen. Außerordent¬
liche Ähnlichkeit mit den Einrichtungen des Abendlandes zeigt die Entwick¬
lung des Lehnswesens, sodaß die Franken von der Ähnlichkeit der Ver¬
hältnisse ihrer Heimat mit denen in Syrien überrascht waren. Der Sold
der Truppen, der Gehalt der Beamten wurde aus den Einkünften be¬
stimmter Grundstücke bestritten, die als Entschädigung für die zu leistenden
Dienste überwiesen wurden. Nach dem Koran stammt alles Eigentum von
Gott; der Kauf, sein irdischer Stellvertreter, ist daher der Grundherr, seine
Emire und Beamten gelten als seine Stellvertreter, nur der Nießbrauch wird
denen eingeräumt, die sie bebauen und besitzen. Das Kalifat war viele Menschen¬
alter hindurch der am zweckmüßigsten geordnete und am besten regierte Staat
des frühen Mittelalters. Die sizilianischen Sarazenen waren auch die Lehrmeister
Kaiser Friedrichs II. Erst im verfallenden Kalifat entartete die Verwaltung
und Besteuerung, besonders seit der Despotismus zunahm und unabhängige
Teilstaaten entstanden. Der Handelsverkehr zwischen Christen und Muhamme-
danern war bis zu den Kreuzzügen äußerst lebhaft, obgleich die Kirche heftig
dagegen eiferte. Auch in wirtschaftlicher, künstlerischer und wissenschaftlicher
Beziehung stand die arabische Kultur vor den Kreuzzügen zweifellos über der
christlichen. Von Spanien, von Sizilien und Unteritalien aus machten sich
vielfache Förderungen der Kultur, zumal auf das übrige Italien und auf das
südliche Frankreich geltend. Noch in die Gegenwart reichen die Spuren dieser
Wirkungen in gewissen Industriezweigen, in landwirtschaftlichen Gebräuchen, in
Maschinen zum Wasserschöpfen und zum Bewässern der Felder.
Ganz bedeutende Summen wurden auf die Errichtung milder Stiftungen
und Krankenhäuser, zur Gründung von Bibliotheken, Schulen und wissenschaft¬
lichen Akademien verwandt. Die frommen Stiftungen Nnreddins warfen noch
zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts jährlich die Summe von 120000
Franken ab. Dem Landbau haben die Araber da, wo sich der Anbau lohnte,
eine besondre Sorgfalt zugewandt; ihre Wasserleitungen sind allbekannt und
viel zweckmäßiger angelegt als die römischen. In der Weberei und Färberei,
in Metallarbeiten, namentlich der Goldschmiedekunst, waren sie früh als Meister
anerkannt. Als die Kreuzzüge begannen, war in der Entwicklung der arabischen
Kultur schon ein Stillstand eingetreten, aber noch waren kaum zwei Menschen-
alter vergangen, seit der Orient der Sitz der vollendetsten Kultur gewesen war,
die das Mittelalter gehabt hat. Bagdad war nicht nur die Hauptstadt des
großen Reichs der Abbassiden, sondern der Brennpunkt aller wissenschaftlichen
Bestrebungen. Während in den Klöstern des Abendlandes dürftige Gelehrsam¬
keit ein kümmerliches und unfruchtbares Dasein fristete, vertieften sich die Araber
in das Studium des Aristoteles, trieben im Anschluß an die Griechen Astro¬
nomie und Mathematik, entwickelten die Heilkunde in wissenschaftlichem Geiste
und begannen in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Auch die Juris-
prudenz und Politik wurden in Bagdad schon wissenschaftlich behandelt; die
Werke der dortigen Gelehrten zeigen humane und aufgeklärte Anschauungen,
die erst in spätern Jahrhunderten in das Abendland gedrungen sind; die Biblio¬
thek in Bagdad führte den Namen: Haus der Weisheit. Nach der Eroberung
Jerusalems 1187 war eine der ersten Maßregeln Saladins die Errichtung einer
Akademie in der heiligen Stadt; ebenso wurde in Accon im Jahre darauf der
Palast des Hospitaliterordens zu einer Akademie bestimmt.
Auch in Spanien bezeichnet das zehnte Jahrhundert die höchste Blüte der
arabischen Kultur, die Alhambra und die berühmte Bibliothek von Cordova
sprechen deutlich von ihrer Höhe. Cordova nennt die christliche Nonne Hros-
witha von Gandersheim: die helle Zierde der Welt, die junge herrliche Stadt,
stolz auf ihre Wehrkraft, berühmt durch die Wonnen, die sie umschließt,
strahlend im Vollbesitz aller Dinge. Nebenbei sei hier bemerkt, das; diese
Bibliothek auf Befehl des Kardinals Ximenez zur größern Ehre Gottes ver¬
brannt wurde, während die Erzählung von der Verbrennung der Bibliothek
von Alexandrien durch die Araber als unwahr nachgewiesen ist. Auf arabische
Wissenschaft gründeten sich die berühmten Universitäten Italiens. Die Summe
des Vergleichs bezeichnet Prutz: Im Morgenlande ordnete sich der Einzelne
weit mehr als im Abendlande der Gesamtheit unter. Die wirtschaftliche Kultur
ist ausgezeichnet durch Mannigfaltigkeit, verständige Arbeitsteilung und hohe
Technik. Das geistige Leben entwickelt sich ebenso vielseitig wie tief: unge¬
hindert durch kirchliche Rücksichten führt es zum erstenmale seit dem Untergang
der antiken Welt zu ernstem und erfolgreichem, wirklich wissenschaftlichem
Streben, das der Menschheit neue Gebiete erobert und einen ersten großen
Fortschritt im Leben herbeiführt. Und ein andrer Kenner (G. Diercks) zieht
die Summe: die Araber in ihrem Einfluß auf Europa gleichen der Frllhlings-
sonne, die überall die ersten Keime hervorlockt.*) Für den religiösen Geist ist
es bezeichnend, daß. als Saladin 1192 den christlichen Pilgern den unge¬
hinderten Besuch der heiligen Stätten erlaubte und ihnen sicheres Geleit ge¬
währte, der Erzbischof von Thrns unter Androhung des Bannes verbot, davon
Gebrauch zu machen: denn niemand solle unter dem Geleite der Ungläubigen
nach Jerusalem pilgern.
So lagen die Verhältnisse, als der große Kampf die mannigfachste Be¬
rührung und Wechselwirkung der beiden Kulturen herbeiführte. Und was war
das Resultat? Im Abendlande erlitt das Papsttum, dessen Machtstellung er
vollenden sollte, durch den Mißerfolg eine Erschütterung und Schwächung, von
der es sich nicht wieder erholt hat: die Vereinigung der geistlichen und welt-
lichen Macht erwies sich hier als unausführbar. Das eigentliche hierarchische
Mittelalter wurde durch die Ideen einer neuen Zeit und einer neuen Kultur
befruchtet und der Renaissance entgegengeführt. Im Laufe des Kampfes ent¬
sprang aber zwischen Islam und Christentum ein unversöhnlicher Haß und
eine wachsende Verbitterung, die um so tiefer und grimmiger wurde, als der
große Kampf, der immer mehr zum Neligionskampf wurde, ohne eine eigent¬
liche Entscheidung zu Ende ging. Im Gegensatz zu den friedlichen Beziehungen
der Vergangenheit schienen Christentum und Islam nicht mehr friedlich mit
einander leben zu können. Die Leidenschaften hatten sich auf beiden Seiten
entzündet, eine lange Reihe blutiger Thaten hatte einen unversöhnlichen Haß
erzeugt, der immer von neuem sein trauriges Recht gefordert, bis in unsre
Tage hinein die Entwicklung ganzer Nationen beherrscht und den Frieden
Europas gefährdet hat.
(Schluß folgt)
n dem alten Köln war viel Lesen nicht Sache des damaligen
Kölners, wie viele Schulen er auch besucht hatte. Hier und da
las man den „Kölnischen Diogenes," noch mehr die in Volks¬
kreisen beliebte „Pafeporzer Bibliothek, gedruckt in diesem Jahre."
Nur die Musik war die Lieblingskunst des Kölners damals, wie
heute. Auch das Theater war des Kölners Hochgenuß. Hatte schon in der
reichsstädtischen Zeit (1770 bis 1794) das Jcsnitenkollegium ein Theater,
das alljährlich seine a,e,t,lors8 aufführte, so erfreute sich Köln schon 1782
eines stehenden Theaters. Uns vorliegende Theaterzettel unter den Direk¬
toren von Kurz, Böhm, Klos und Koberwein melden u. a. von folgenden Auf¬
führungen — die Opern wollen wir hier übergehen: Am 13. Januar 1782
das Drama „Johann Faust," zweite Vorstellung; dann Lessings „Minna von
Varnhelm"; „Macbeth" von Shakespeare; „Die Jäger." „Der Spieler," „Ver¬
brechen aus Ehrsucht." „Die Mündel" von Iffland. Fiesko, Hamlet. Romeo
und Julie (Direktion Böhm). Am 19. Oktober 1786 wurde unter der Direktion
von Klos dem Andenken Lessings eine Trauerkantate gewidmet; die Bühne stellte
einen Hain mit Lessings Grabmal im Hintergrunde dar. Zwei Musen standen
klagend angelehnt, der Genius der Unsterblichkeit vollendete mit dem Griffel
die Inschrift: ^.et astra,. Im Jahre 1788 übernahm Karl August Dobler mit
der „hochfürstlich Fürstenbergischen Hofschauspielergesellschaft" das Kölner
Theater. Ihre erste Vorstellung war Lessings Miß Sara Sampson. Schon
zehn Jahre vorher machte die Metternichsche Buchhandlung*) bekannt, daß der
Theater-Kalender von Gotha bei ihr zu kaufen sei, ein Beweis, daß sich die
Bewohner Kölns für das Theater sehr interessiert haben, und das künstlerische
Leben dort nicht so trostlos gewesen sein muß, wie man bei den bewegten
politischen Zeiten vermuten sollte. Das ständige Schauspielrepertoire brachte
Stücke von Schiller, Goethe und Lessing. Es ist also damals in Köln so ganz
dunkel nicht gewesen.
Sehen wir uns nun auf dem Gebiete der schöpferischen litterarischen
Thätigkeit der Kölner um.
Unter den etwa 200 Schriften,**) die zwischen 1700 und 1750 in Köln
gedruckt wurden, waren in deutscher Sprache nur einige Gelegenheitsgedichte,
darunter der „Kölnische Diogenes." Nach 1753 finden wir die ersten in
deutscher Sprache geschriebnen Schulbücher, die erste biblische Geschichte, 1761
eine kleine Weltgeschichte usw. Im Jahre 1742 erschien bei G. A. Schauberg
der „Kölnische Diogenes" des Liederdichters und Satirikers Heinrich Linden¬
born,***) ein Buch, dem man bei objektiver Würdigung einen ehrenvollen
Platz in der deutschen Litteraturgeschichte nicht wird versagen können. Man
hatte sich damals in die Ansicht hineingelebt, daß der katholischen Welt jede
Berechtigung auf dem Gebiete der erwachenden deutschen Litteratur abgesprochen
werden müsse. Die Leipziger Messe hatte den ganzen Norden Deutschlands für
sich in Beschlag genommen und dadurch den Schriften Lindenborns die Ver¬
breitung im Norden abgeschnitten. Sein Name ist daher über die Mauern seiner
Vaterstadt hinaus unbekannt geblieben. Er steckt noch teilweise in dem Schmutze
der schlechten satirischen Schriften des siebzehnten Jahrhunderts, die Sprache
ist mitunter rauh und holprig. Wir müssen geradezu die große Belesenheit
dieses Schriftstellers in den griechischen und römischen Klassikern bewundern.
Seine Prosa gewann auf die damalige Schreibart großen Einfluß. Er war
ein Schriftsteller, der aus dem Stegreif schaffte; es wird von ihm berichtet,
daß er sonar nicht selten sein von ihm redigiertes Wochenblatt „Der Kölnische
Stacitsbote" bei seinem Verleger eigenhändig und aus dem Kopfe für den
folgenden Tag setzte. In Bonn gab er 1748 die erste Zeitschrift heraus unter
dem Titel: „Auszug europäischer Geschichten." Auch war er der Verfasser
eines Lustspiels, das der Kurfürst Clemens August im Schlosse zu Poppelsdorf
bei Bonn hatte aufführen lassen. Die besten Kapitel aus dem Kölnischen
Diogenes sind unstreitig: Über verliebte Narren, die Grabschriften, Madame
Friede, Altkölnische Leichenrede auf die verstorbene Jungfer Daphne. Ver¬
gleicht man damit die formlosen Arbeiten der meisten seiner Zeitgenosse»,
so kann man einen bedeutenden Vorsprung zum bessern nicht verkennen. Er
fühlte vor allen Dingen die Schmach seiner Zeit, in der man deutsche Sprache
und deutsche Sitte fast ganz vergessen hatte. Seine satirische Geißel hätte
allerdings mehr Einfluß auf die betreffenden Kreise gehabt, wenn er in der
glatten Sprache eines Rabener, Zachariä oder Gärtner geredet hätte. In
Beziehung auf innern Gehalt aber übertrifft er Rabener bei weitem. Er
züchtigte die Thorheiten der vornehmen Welt und des gewöhnlichen Bürgers
mit scharfer Satire und zog das ganze litterarische Leben der damaligen Zeit
vor das Forum seiner schonungsloser Kritik. Mit einer umfassenden Welt-
und Menschenkenntnis schlägt er scharf und kräftig nach allen Richtungen um
sich. Seine philisterhafte Vaterstadt ist ihm ein Dorn im Auge, und er greift
sie an, unbekümmert darum, ob er für seine Wahrheiten bittern Haß erntet.
Die Bestrebungen Liudenborns im Verein mit der damaligen Zeitungs¬
presse vermochten indes noch nicht der Stadt Köln eine ebenbürtige Stellung
unter den litterarisch thätigen Städten des protestantischen Nordens zu sichern.
Die Vorliebe des Kölners für das Fremde fand auch in der Schauspielkunst
seinen beredten Ausdruck, da sich der vornehme und gebildete Kölner lediglich
durch die französische Aunst angezogen fühlte und daher auch französische Schan-
spielertruppen ein leichtes Spiel hatten, einheimische Komödianten zu vertreiben.
Als aber die deutsche Litteratur ihre schönsten Blüten entfaltet hatte, wuchs
auch für Köln ein Mann heran, der sich von der Engherzigkeit und Abseits¬
stellung mit kühnem Wagemut losriß und seine Vaterstadt auf eine Stellung
erhob, die jeglichen Vorwurf des Obskurantismus verstummen machte; und
dieser echt deutsche, rheinische Mann war Ferdinand Franz Wallraf.*) In
seinen Reformbestrebungen kam es ihm vor allem darauf an, die deutsche
Sprache wieder in ihre Rechte einzusetzen; die deutsche Sprache wollte er um
ihrer selbst willen in sorgsame Pflege genommen wissen, sie sollte der niedrigen
Stellung entrückt werden, in der sie bis dahin nur Mägdedienste im Interesse
ihrer lateinischen Schwester verrichtet hatte.
In der „Denkschrift in Bezug auf die Gründung einer Rhein-Universität,"
die Wallraf im Jahre 1815 als «ratio pro clomo veröffentlichte, wird unter V be-
tont, „daß der Ruhm in Wissenschaften und Kunst bis ins achtzehnte Jahrhundert
in Köln fortgestrahlt habe und das meiste damals in Köln so Bewunderte auch
aus dem siebzehnten in das achtzehnte Jahrhundert übergegangen sei. Die Liebe
für Kunst und Wissenschaft war bei der bessern Klasse der Einwohner Kölns noch
gar nicht erloschen; denn nur nach dem Geist und Geschmack dieser Klasse, nicht
nach dem Pöbel im Wirtshause, nicht nach der Miene der Gassentreter, nicht
nach einem oder anderm an seinem gesetzmäßigen Pedantismus zu lange
klebenden Lehr- oder Ordenshause, muß der Verstand sein Gericht über Sitt¬
lichkeit, Schönheit und Geistesbildung einer großen Stadt aussprechen. Aber
es ward endlich auch Mode und ein Gewinnlos der Skribler, mit der Feder,
in Geifer getaucht, flugs über die Ehre oder Schande eines Ortes abzuurteilen.
Das Böse ward am liebsten gelesen und geglaubt. Aufgestreute Vorurteile
sind noch jetzt ein halber Triumph über die Wahrheit.") Mehr als fünfzig
Jahre lang hat sich nun die Schmähsucht an Köln gerieben. Vom reisenden
Franzosen an (man kennt sein Vaterland) bis zum französierenden Klebe und
zum französischen Lügner Camus,**) mit Einschluß einer ganzen Folge voir,
Nachschreibern und vielleicht auch gedungnen Verleumdern, deren viele keine
vernünftige Seele in Köln besucht haben, ist diese gute Stadt von mehr als
einer Seite her in jenes für das Los ihrer Zukunft sehr unvorteilhafte Licht
versetzt worden; Köln sei die abscheulichste Stadt von der Welt, ein Bettelort,
ein Asyl der Dummheit, des Betrugs, der Heuchelei, eine Bierschenke; es lohne
sich nicht, daß man sich langer als einen Tag darin aushalte. Man weiß
auch die Quellen, woher dergleichen Unrat schon in Tageblätter, in Flugschriften
und kritische Zeitungen des Auslands geflossen ist."
Kein Geringerer als Ernst Moritz Arndt war es, der damals diesem
leichthin gesprochnen Urteil über Kölns geistiges Leben entgegentrat. In seiner
bekannten Reisebeschreibung hatte er als Norddeutscher infolge gleicher Ein¬
gebung des vorhin angedeuteten Zeitgeistes gegen diese Stadt ebenso grimmig
ins Horn geblasen. Er ist indes bald von seinem Irrtum abgekommen und
hat in der Kölnischen Zeitung darüber eine Palinvdie bekannt gemacht, die
allen Geschichtsbaumeistern zu heilsamer Lehre dienen mag. Wallraf stand mit
den größten Gelehrten und Kunstkritikern der damaligen Zeit in lebhafter
geistiger Beziehung. Sein Briefwechsel mit Agricola in Erfurt, Beneke in
Heidelberg, Blumenbach in Göttingen, den Gebrüdern Boisseree, Chezy in
Berlin, Dalberg. Gercken, Arelim in München, Bleibtreu, Pick in Bonn, Fiedler
in Wesel, Fiorilla in Göttingen, Goethe, Humboldt, Hufeland, Dorothea
Schlegel zeugen von dem hohen Bildungsgrade, dem Kunst- und poetischen
Sinne des Verfassers.
Dr. Fr. Hubert Leonhard Euren, der Historiker und Kölner Stadtarchivar,
berichtet in seiner Biographie Wallrafs (S. 384), daß dieser bei den mannigfachen
zerstreuenden Beschäftigungen mit Gegenstünden der Kunst und schönen Litteratur
keinen Augenblick vergessen habe, daß er katholischer Priester sei. Diese Eigen¬
schaft hat ihn wenigstens nicht gehindert, auf dem Gebiete der Kunst Großes und
Unvergeßliches zu leisten und die deutsche Sprache in seiner Vaterstadt wieder
in ihre Rechte einzusetzen. Wallraf versammelte in Köln eine litterarische Ge¬
meinde um sich, deren schönwissenschaftliche Unterhaltungen in der sogenannten
„olympischen Gesellschaft" regelmäßig stattfanden.
Diese im Jahre 1766 gegründete Gesellschaft (bis 1813) war eine Art
von Sprachgesellschaft, wie sie das siebzehnte Jahrhundert kennt. Sie bestand
aus Gelehrten und Künstlern und solchen Bürgern, die Interesse an Kunst
und Litteratur und ein Herz für das Wohl ihrer Vaterstadt hatten. (Vgl.
Hubert Euren. Die Olympische Gesellschaft zu Köln. Würzburg. Studer. 1880.)
Das beste uns in der Wallrafschen Manuskriptensammlung im städtischen
Archiv zu Köln erhaltne volkstümliche Stück ist die Fastnachtsposse: „Der
Verlorne Sohn." die aus der Feder De Noels stammt.*) Diese Gesellschaft
war demnach der Ausdruck des kölnischen Litteraturlebens zur Belebung des
Witzes und der Satire. Aber auch sie vermochte die litterarische Unfruchtbar¬
keit der Kölner, die in der politischen Sonderstellung, in der peinlichen Über¬
wachung jeder litterarischen Bewegung, in dem Bestreben Napoleons, die
deutsche Sprache zu verdrängen, ihren Grund hatte, nicht zu beseitigen. Der
Stadt war es nur vorbehalten, das eigne individuelle litterarische Leben zu retten.
Im übrigen haben sich in Köln litterarisch hochgebildete Männer wie Schug,
Cassel, Du Mont, De Noel um die Pflege der schönen Künste unvergeßliche
Verdienste erworben. Namentlich hat der letztgenannte in unzähligen Epi¬
grammen, Sprüchen, Gedichten (teilweise in kölnischer Mundart), Lokalpossen,
Lustspielen usw. bewiesen, daß auch in dem finstern Köln die Musen nicht
ganz fremd waren.
Der damalige Eigentümer der Kölnischen Zeitung, Markus Theodor
Du Mont,**) stand von Jugend auf zu Wallraf und De Noel in den engsten
Beziehungen, und er hat es verstanden, seinem Blatte, dem Organe der in
Köln wirkenden Litterctturfreunde, auch in den weitesten Kreisen Anerkennung
und Achtung zu verschaffen. Der Kunstsinn, die Kunstkenntnis und die Kunst¬
kritik, die infolge Wallrafs Wirken mit Friedrich von Schlegel seit dem Anfang
dieses Jahrhunderts unstreitig von Köln ausgegangen ist, haben ihre Quelle
nicht zum wenigsten in den Bestrebungen der Väter dieser Zeit auf dem
Gebiete der schönen Litteratur gehabt.
Am Ende unsrer Untersuchung angelangt, wollen wir es nicht unterlassen,
zu erwähnen, daß gleich zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts lwahrschein-
lich 1620) die Stadt Köln eine wöchentliche Zeitung besaß, die ein gewisser
Bilrebeck herausgab, während die ältesten Nummern von Berliner Blättern,
die wir kennen, aus dem Jahre 1617 stammen. Die Stadt Wien erhielt erst
1623, Magdeburg 1626. Augsburg 1627, München 1628. Leipzig 1630.
Hamburg 1631. Königsberg 1648 eine Wochenzeitung. Man sieht, daß der
Rhein auch in dieser Beziehung den Vergleich mit andern Gegenden des
deutschen Vaterlands wohl aushalten kann. Heute hat die Rheinprovinz die
meisten Zeitungen in Preußen.
Wir stellen nun als Endergebnis unsrer Untersuchung folgendes fest:
1. Litterarische Bildung und litterarisches Leben, Sinn und Empfänglich¬
keit für die Litteratur kann nur nach dem Geiste und Geschmacke eines Zeit¬
alters beurteilt werden. Sie waren am Rhein zu keiner Zeit, auch nicht im
Mittelstande erloschen.
2. Da die rheinischen Städte zur Zeit der französischen Fremdherrschaft
von dem größten Teil ihrer gebildeten Bevölkerung verlassen waren, so trat
auch nur während dieser Zeit ein litterarischer Stillstand ein.
3. Im achtzehnten Jahrhundert ist in Stadt und Kurstaat Köln die deutsche
Sprache zu Gunsten der lateinischen Sprache und während der französischen
Fremdherrschaft zu Gunsten der französischen Sprache verdrängt worden.
4. In diesem Zeitalter ist wenigstens Bonn eine aufgeklärte Universität
im Gegensatz zu Köln gewesen.
5. Die litterarische Rückständigkeit der schönen Litteratur im katholischen
Deutschland ist zum Teil auf die mangelhafte Bildung und Erziehung auf
den damaligen Volksschulen, Lyceen und Gymnasien, zum Teil auf die damals
bestehende Zensur, zum Teil auf die Prüderie der Bevölkerung zurückzuführen.
Überall und zu allen Zeiten war die herbe Asketik eine geborne Gegnerin der
Poesie; zu dieser prüden Dame hat sich in unsern Tagen auch der süßliche
Pietist gesellt, der sich eine kräftige Sinnenwelt allenfalls gefallen lassen will,
aber aus Furcht vor der Sünde die Lust neutralisieren möchte.*)
6. Am Rhein war man im achtzehnten Jahrhundert sowohl in katholischen
wie in protestantischen Kreisen nur in beschränktem Maße in der schönen
Litteratur schöpferisch thätig. Dessen ungeachtet haben die Bewohner der
Städte am Rhein denselben offnen Sinn und dieselbe Empfänglichkeit für die
wiedererwachende deutsche Nationallitteratnr an den Tag gelegt, wie auch die
Bewohner andrer Gegenden unsers großen Vaterlandes.
7. Am Rhein hat sich ein reicher Schatz künstlerischer und litterarischer
Befähigung, besonders in den mittlern Stünden erhalten, der bei der Neu¬
gestaltung und Kräftigung unsers Vaterlands nicht gering bewertet werden
darf. Rheinische Männer, deren Wiege im vorigen Jahrhundert am Rhein
stand, waren es, die das schlummernde Feuer der deutschen Kunst und Poesie
treu bewacht und in diesem Jahrhundert zu der gewaltige« Flamme des
Wiedererwachens deutschen Nationalgefühls, deutschen Kunstsinnes und deutscher
Dichtkunst nach besten Kräften entfacht haben.
Wir haben im Verlaufe unsrer Untersuchung aber auch zu unserm Leid¬
wesen wahrnehmen müssen, wie Deutschland zum Tummelplatz der Fremden
geworden war und sich an dieses schmähliche Verhältnis geradezu gewöhnt
hatte. Schon der Westfälische Friede, der die Ordnung des alten Reichs fast
auflöste, beförderte das völlige Auseinanderfallen der Nation, die sich geistig
aufzugeben schien. Schon damals entstand und befestigte sich jene Herrschaft
Frankreichs über Deutschland, die nahezu zwei Jahrhunderte dauerte, und der
erst Lessing und Goethe. Scharnhorst und Blücher ein Ende machen sollten.
Auf dem Gebiete der Vernachlässigung der Sprache und Litteratur hat
daher das ganze Deutschland mit dem Rhein gesündigt. Dank der Gesundheit
und Kraft des deutschen Volkes ist es ihm gelungen, deutsches Wesen und
deutsche Empfinduugs- und Gestaltungskraft in der Litteratur wieder zur
Geltung zu bringen.
Wer mit unbefangnen Auge die Geschichte der litterarischen Bildung am
Rhein betrachtet, muß aber auch zu dem Ergebnis gelangen, daß erst die Ver¬
einigung der Rheinlande mit Preußen ihren Bewohnern das Beste gab, was
das Schicksal zur Hebung des geistigen Wohlstands zu verleihen vermochte.
Ohne Staat und unmittelbares Vaterland gilt auch der Beste wenig, durch
sie auch der Einfältige viel. Schatten und Licht waren im achtzehnten Jahr¬
hundert, wie wir gesehen haben, in allen Teilen unsers großen deutschen Bater¬
landes gleichmäßig verteilt gewesen. Die Sonne Goethes war nicht weit vom
Niederrhein aufgegangen, die Sonne Schillers war über Mannheim auch an
den Rhein gekommen, und beide Sonnen haben, wie wir gesehen haben, auf
die rheinischen Städte ihre Strahlen ergossen. Der Genius unsrer deutschen
Dichtkunst fand hier ebenso begeisterte als verständnisvolle Aufnahme. Wir
erinnern nur an Goethes Besuch bei den Gebrüdern Jacobi in Düsseldorf und
bei Jung-Stilling in Elbcrfelo (1774) und bei dem Kanonikus Pick in Bonn
(1815). Auch in der Heimat Schillers hatten die Ideen der religiösen Auf¬
klärung und politischen Freiheit später als anderswo Wurzel geschlagen, auch
dort huldigte der Illuminatenorden und der Wielandsche Kreis den durch die
französische Litteratur verbreiteten Ansichten, unter deren Eindrücken Schiller
aufwuchs.
Die rheinischen Städte Bonn und Düsseldorf waren zwar kein Weimar
und kein Jena; aber auch die andern deutschen Städte waren es zu damaliger
Zeit ebensowenig: es gab nur eiuen Schiller und einen Goethe. Selbst in
der preußischen Hauptstadt war das litterarische Leben sehr mangelhaft. Die
Akademie in Berlin hatte zwar das Glück, durch ihre Prcisaufgaben einige
vortreffliche Schriften Herders anzuregen, aber die deutsche Schriftstellerwelt
war nur durch Männer zweiten Ranges vertreten, die im Gefolge großer
Männer sehr wertvoll waren, aber die fehlenden großen Männer nicht er¬
setzen konnten. Mit den „Sulzer, Ramler, Engel, Gedike, Biester" war nicht
viel Staat zu machen.*) Die Stärke der deutschen Aufklärung ging nicht von
Berlin, sondern von Wolfenbüttel und Königsberg aus; und ihre bevorzugten
Träger hießen nicht Mendelssohn und Nicolai, sondern Lessing und Kant. An
deren Vermächtnis, an Herders, Goethes und Schillers Erbschaft ist mit
der ganzen deutschen Nation auch der Rhein beteiligt gewesen. Die nach¬
folgende Poetengeneration am Rhein hat seit dem Wiedererwachen des deutschen
Nationalgefühls nicht geruht, nach den nationalen Zielen zu fragen und ihnen
zuzustreben. Sie konnte mit berechtigtem Stolze von sich sagen, daß sie die
alte Spannkraft in der Entfaltung ihres freien Geistes und ihrer künstlerischen
Phantasie neu bewährt, und daß gerade das reine Licht und Leben des Rheines
die köstlichsten Blüten der deutschen Dichtkunst gezeitigt haben.
Die den verschiedensten Glaubensbekenntnissen entstammenden rheinischen
Dichter Heinrich Heine, Gottfried Kinkel, Karl Simrock, Gustav Pfarrius.
Christian Joseph Matzerath, Alexander Kaufmann, Wolfgang Müller von Königs¬
winter und Emil Nittershaus brauchen sich über die Rheinluft, die ihre Väter
und Großväter geatmet haben, nicht zu beklagen. Auch wir nicht. Was sie
ererbt von ihren Vätern haben — um mit Goethes Worten zu schließen
haben sie wirklich erworben, um es zu besitzen.
aß mich der neuen Freiheit genießen! Das war gewiß zuerst die
Losung aller, die 1848 und in den nächstfolgenden Jahren „von
des Zeitendranges Sturm" an die Kreideküste verschlagen worden
waren. Als sich 1840 die Festungsthore den „Demagogen" öffneten,
zogen aus Silberberg Studenten ins schlesische Gebirge, weil sie
das Bedürfnis hatten, sich auszutoben, bevor sie in die bürgerlichen
Verhältnisse zurückkehrten. Und in England mußte das Gefühl, nicht mehr verfolgt
oder doch auf Schritt und Tritt argwöhnisch beobachtet zu werden, um so mächtiger
wirken, als ebenso auf Schritt und Tritt die Verträglichkeit von Ordnung und
Freiheit beobachtet werden konnte. Polizei, damals auf dem ganzen Kontinent ein
verhaßter Begriff, zwang jedermann zur Achtung, ja Bewundrung. Der?otiesin^ii
in London kümmerte sich nicht um die politischen Ansichten seiner Nebenmenschen,
kümmerte sich nicht darum, ob die Sprache der Zeitungen der hohen Obrigkeit an¬
genehm oder unangenehm sei, glaubte nicht fortwährend den Staat retten zu müssen,
erfüllte dafür jedoch um so gewissenhafter seine Pflicht, in der volkreichen Stadt
Ordnung zu erhalten, ohne Anmaßung, ohne Ansehen der Person oder der galo-
nierten Livree, ohne Lärm. Die Ruhe, Umsicht, Höflichkeit der?olieömsu ist un-
zähligemal gerühmt worden, verdient dies aber immer aufs neue im Vergleich mit
den in manchen andern großen Städten beliebten Polizeimanieren. Namentlich
auch der Takt der englischen Konstabler im Verkehr mit Fremden ist mir bei jeder
Anwesenheit jenseits des Kanals angenehm aufgefallen. Auf die Erkundigung nach
der Grosvenor-Galerie beschrieb mir einer nicht allein den Weg, sondern machte
mich durch einfache Wiederholung dieses Namens darauf aufmerksam, daß das s
nicht ausgesprochen wird. Dergleichen Züge könnte ich in Menge erwähnen, z, B.
wie sich ein Wachmann, der mir den für mich passenden Omnibus genau bezeichnet
hatte, die Mühe nicht verdrießen ließ, den Kutscher zu instruieren, wo er mich
aussteigen lassen solle, oder wie Bettler, die ihre Jammermiene in Worte übersetzen
wollten, sogleich ruhig in ihre Schranken gewiesen wurden, und dergleichen mehr.
Diese Art der Wahrung der Freiheit des Verkehrs hat bekanntlich zur Folge, daß
man ohne Scheu mitten durch das Wagengedränge der City gehen kann, keine
Weitläufigkeiten mit Kutschern zu besorgen hat u. s. f. Als im Jahre 1386 im
Norden Londons verwegne Einbruchsdiebstähle versucht worden waren, und die
?0lieemM mit Schußwaffen ausgestattet werden sollten, lehnten die meisten dies
ab, da ihr Totschläger vollkommen genüge.
Natürlich glaubten manche Deutschen nicht allein die guten Einrichtungen,
sondern überhaupt alle englischen Gebräuche und Schrullen bewundern und nach¬
machen zu müssen. So erinnere ich mich, daß ein junger Kaufmann von seiner
Auglomanie erst geheilt wurde, als er am Eingange eines Theaters zurückgewiesen
wurde wegen der (damals modischen) Amarantstreifen in seinen übrigens tadellosen
schwarzen Beinkleidern. Andre fanden hingegen alles Englische philisterhaft, reaktionär,
insbesondre den Abscheu vor Vollbärten, der erst mit dem Krimkriege wich. Von
einem bekannten Revolutionsosfizier erzählte man, daß er von einer Woche zur
andern den schmerzlichen Entschluß, sich zu rasieren und eine bürgerliche Be¬
schäftigung zu suchen, verschöbe. Waren doch die meisten überzeugt, daß das Exil
unmöglich lauge Zeit währen könne, das befreite Vaterland sie vielmehr baldigst
zurückrufen werde. Solchen Täuschungen sind ja politische Flüchtlinge immer aus¬
gesetzt gewesen, und neben den Emigranten von Koblenz spielen die deutschen durch¬
aus keine schlechte Rolle. Sie lernten, schnitten sich die Bärte ab und lebten sich
in englische Verhältnisse ein, schriststellernd, in kaufmännischer oder Lehrthätigkeit,
ohne, wie so viele Italiener, ihre Landsleute in der Heimat zu kopflosen Unter¬
nehmungen aufzuhetzen.
Eine schlimme deutsche Eigenschaft freilich überwanden viele auch in der
Fremde nicht, die Parteileideuschaft. Die gemeinsame Bedrängnis brachte die
Fraktionen einander nicht näher, verwischte die kleinen Abweichungen der Programme
nicht. Hartnäckig wurde an unbedeutenden Zwisten festgehalten, jede Partei gab
der andern den traurigen Ausgnng der politischen Bewegung schuld, und je radi¬
kaler einer sich fühlte, desto gründlicher verachtete er alle Gemäßigten; vor allem
schürten die Kommunisten den Haß gegen die bürgerlichen Parteien, die „Klein¬
bürger," der dann bei den Arbeitern so unerfreulich gewundert hat.
Herrliches Frühlingswetter erlaubte die schönen Umgebungen stromauf- und
abwärts zu genießen und die Punkte aufzusuchen, die als geschichtliche Erinnerungen
auch uns Deutschen, vornehmlich durch Shakespeare, geläufig sind. Ich aber durste
nach einigen Wochen ein Hamburger Schiff besteigen, um nach Deutschland
heimzukehren, wo mich keine Schwierigkeiten mehr erwarteten, nachdem mein
Prozeß mit einem Freispruch geendet hatte. So stellte ich mir wenigstens
die Sache vor, die sich jedoch anders anließ, als ich wieder vaterländischen
Boden betreten hatte. Vermutlich war mein Erscheinen schon in Hamburg
nicht unbemerkt geblieben, denn in Leipzig, wohin ich mich zuerst wandte, wurde
ich schon erwartet und nach genauer Untersuchung meines Reisegepäcks aufgefordert,
das Königreich Sachsen noch an demselben Tage von meiner Gegenwart zu be¬
freien. Meine Frage, ob ich mich nicht an eine höhere Instanz wenden könne,
wurde bejaht, doch mit dem Zusatz, daß ich den Bescheid in Polizeihaft abzuwarten
hätte. Hierzu wenig geneigt, fuhr ich noch an demselben Abend dem nächsten
preußischen Orte, Schkeuditz, zu, nachdem Leipziger Polizeibeamte mich bis an das
Cvupee geleitet hatten. Hier konnte ich doch nicht mehr als Ausländer behandelt
werden. Doch erklärte der Bürgermeister von Schkeuditz, mich auch dort nicht
dulden zu können, weil sich die sächsische Negierung wiederholt beklagt habe, daß
ihr das ganze Ausweisungsvergnügen illusorisch gemacht werde, wenn sich die Aus¬
gewiesenen hart an der Grenze aushalten dürften. Die Thatsache war nicht
zu bestreiten, den» ein mäßiger Spaziergang konnte die Ausgewiesenen in das Herz
Leipzigs führen, wie ich denn selbst am nächsten Tage von einem gastlichen Land-
gute aus einige Bekannte in Leipzig zu besuchen imstande war.
Ich wich nun Schritt für Schritt von der sächsischen Grenze zurück, immer
auf preußischem Boden, jedoch überall als Fremder behandelt. Es schien die Ab¬
sicht vorzuliegen, mich in meiner Vaterstadt zu internieren. In Halle, Torgau
und verschiednen kleinern Orten wurde meine Anwesenheit überflüssig gefunden, weil
mein kurzer Aufenthalt in London mich aufs neue verdächtig gemacht hatte, bis
endlich der Bürgermeister von Luckenwcildc, wo Verwandte mir Aufnahme gewährten,
so mutig war, mich zu ignorieren. So gewann ich Zeit, Erkundigungen darüber ein¬
zuziehen, wo ich etwa ungestört meinen Geschäften nachgehen könne. Die Auskünfte
waren untröstlich genug, denn so wenig freundschaftliche Gesinnungen damals, nach
der Unterdrückung der preußischen Unionsbestrebungen, zwischen den verschiednen
Bundesstaaten bestanden, in dem einen Punkte hielten sie treu an der alten Buudes-
tradition, sich jeden in dem einen Staate Verdächtigten ebenfalls vom Halse zu
schaffen. Am ehesten sei noch zu erwarten, daß Dänemark und Osterreich in solche»
Fällen nur fragen würden, ob sich der Verdächtigte gegen die Regierungen dieser
Länder vergangen hätte. So machte ich denn einen Versuch mit Holstein.
Aber dahin zu gelangen war auch nicht so einfach. Über Berlin mußte ich
den Weg nehmen. Und als ich dort spät abends von einer befreundeten Familie
in den Gasthof zurückkehrte, empfing mich der Oberkellner mit besorgtem Gesicht
und den Worten: „Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie einer von denen
sind? Dann hätte ich Sie gar nicht gemeldet." Ein Schutzmann hatte wieder¬
holt ausgerichtet, daß ich mich auf die Polizcidirektion zu verfügen hätte. Um der
Sache ein Ende zu machen, hatte der gute Kellner mich für abgereist ausgegeben,
und zwar nach Dresden. Er mußte mit dem Schutzmann auf den Bahnhof, wo
er mich natürlich nicht auffinden konnte. Und nun war er überzeugt, daß ich am
nächsten Morgen ans irgend einem Bahnhof werde festgehalten werden, und daß er
selbst dann seine unwahren Aussagen zu büßen habe. Ich sicherte ihm zu, daß
ich ihn nicht bloßstellen, sondern angeben werde, ich hätte meinen Reiseplan nach¬
träglich geändert. Auf alles gefaßt kam ich ant nächsten Morgen um der Kasse
des Hamburger Bahnhofs um, vor der auch die bekannte Pickelhaube nicht fehlte.
Aber zu meinem Glücke wurde ihres Trägers Aufmerksamkeit ganz in Anspruch
genommen durch einige Auswandrer, und so konnte ich buchstäblich hinter seinem
Rücken den Bahnzug besteigen, der mich nach Altona brachte. Ein roter Dragoner
bewachte zwar die Grenze des dänischen Staates, schien jedoch nur die Stelle
eines Grenzpfahls einzunehmen.
Überhaupt habe ich die Bekanntschaft der holsteinischen Polizei nnr in einem
Falle gemacht und unter nicht lästigen Umständen. Ich fuhr für einige Tage nach
Kopenhagen, vorschriftsmäßig mit einer Legitimation, meinem Heimatsschein, ver¬
sehen. Auf dem Kieler Dampfboot wurde das Dokument genügend befunden, der
dänische Kapitän aber auf der Rückfahrt erklärte ziemlich barsch, das Papier sei
kein Paß, er werde es dem Polizeimeister in Kiel abliefern, und der möge weiter
verfügen. Ich mußte in der That froh sein, daß man mich nicht ans irgend einer
Insel ausschiffte. In Kiel nahm man die Sache weniger tragisch. Wozu ich denn
das Dokument dahin gegeben habe? Nach meiner Erklärung des Sachverhalts
brummte der Beamte etwas von Unsinn und warf mir meinen Heimatsschein hin.
In den holsteinischen Beamten lebte noch die Tradition von den Jahren der Un¬
abhängigkeit, und Dänemark nahm von Holstein, sür das der König Angehöriger
des Deutschen Bundes war, so wenig als möglich Notiz, während nördlich von der
Eider ein strenges Regiment über „Sild-Jütland" waltete. Den Begriff Schles¬
wig-Holstein hatte man niemals anerkannt, und die Postbeamten durchstriche-, die
Bezeichnung auf jedem Briefe. Im schleswigschen wurde auch konsequent das
Deutschtum in Schule und Kirche bedrängt, worüber es noch kurz vor dem 1864er
Kriege zu Erörterungen zwischen Dänemark und den deutscheu Mächten kam.
Längere Dauer konnte indessen mein Aufenthalt weder in Dänemark noch in
Holstein haben. Und da mir von Prag aus ein Anerbieten zuging, entschloß ich
mich, mein Heil in Österreich zu versuchen. Freunde und Gönner fanden das
sehr bedenklich, erinnerten mich daran, daß man in Osterreich mit ungebetnen
Gästen wenig Federlesens mache, an Robert Blum und andre. Aber ich wußte
mein Gewissen rein, was die österreichische Regierung anbetraf, und kam auch un¬
behelligt bis Dresden. Hier aber verweigerte man mir ans der österreichischen
Gesandtschaft das unentbehrliche Paßvisum. Als Preuße hätte ich es mir in
Berlin besorgen müssen, und daß ich Berlin nicht berührt hatte, gehe sie nichts
an. Nun war es zweifelhaft, ob ich die schwarzgelben Grenzschranken werde über¬
schreiten können. Ein Zufall entschied günstig. Ein Freund in Berlin, den ich
um Vermittlung anging, hatte in dienstlichen Verkehr die Bekanntschaft eines Beamten
der österreichischen Gesandtschaft gemacht, verbürgte sich ihm gegenüber für meine
Ungefährlichkeit und konnte mir schon nach wenigen Tagen den vervollständigten
Paß zuschicken.
Recht behaglich war die Fahrt selbst nach den Revisionen in Bodenbach nicht.
Weil Prag noch im Belagerungszustande war, wurden auf einer der letzten Stationen
alle Reisedokumente abverlangt und die Wagen verschlossen, damit nicht etwa jemand
den Zug heimlich verlassen und ans Landwegen die Hauptstadt erreichen könne. Auch
schien dem Beamten in Prag, von dem ich eine Aufenthnltskarte erhielt, meine
Biographie nicht gänzlich fremd zu sein. Die Karte galt nur für kurze Zeit, wurde
jedoch mehrmals sür immer längere Dauer erneuert, bis zu allgemeinem Staunen
Österreich mit der Aushebung der aus der französischen Revolutionszeit stammenden
Fremdenbeaufsichtigung voranging. Der Beamte, der mir meine Papiere wieder
einhändigte, war auch mit einer so revolutionären Maßregel durchaus nicht ein¬
verstanden. Als ob ich sie verschuldet hätte, knurrte er mich an: Wird bald wieder
eingeführt werden. Im allgemeinen jedoch kann ich bestätigen, daß die Beamten
der öffentlichen Sicherheit in Österreich ihre Verordnungen nicht so kleinlich bureau-
kratisch handhabten wie ihre preußischen Kollegen, wogegen sich das untere Per¬
sonal, meistens durch tschechisches Deutsch ausgezeichnet, einer Kurzcmgebundenheit
befleißigte, die gar nicht „zum Entzücken" war.
aß der alte Gottlieb mich einmal jung gewesen sei, dessen konnte sich
keiner erinnern mit Ausnahme der alten Brand-Rose, die ihn in
ihrer Jugend gut genug gekannt hat. Später geborne Geschlechter
kennen ihn nur unter dem Namen „der alte Gottlieb" und wissen von
ihm aus der Zeit, ehe er der alte Gottlieb wurde, soviel wie nichts.
Aber er ist auch einmal jung gewesen. Da war er ein hübscher rot¬
bäckiger Junge mit weißblondem, krausem Haar. Und sein Spielgenosse war Kuh¬
hirts Röschen. Die beiden Kinder pflegten neben einander auf dem alten Brunnen-
rvhre vor der Schmiede zu sitzen, sich Geschichten zu erzählen und Vater und Mutter
zu spielen. Gottlieb gab als ein guter Vater seinem Röschen die Hälfte seines
Wnrstbrotes, und es reichte ja für beide, denn Gottliebs Mutter pflegte ihren
Einzigen mit sehr großen Wurstbroten auszurüsten.
Du Dnmmerjcm, sagte seine Mutter, als sie einmal dazu kam, wie Gottlieb
die Hälfte seines Frühstücks weggab, das kannst du doch selber essen.
Gottlieb sah seiue Mutter verwundert an. Warum sollte er denn das ganze
Frühstück selber essen, wenn er satt war? Aber er hütete sich Wohl, es die Mutter
sehen zu lassen, wenn er seinem Röschen etwas abgab. Als die Mutter ihn doch
einmal bei seiner Mildherzigkeit überraschte, schlug sie Röschen das schöne Wurst¬
brot aus der Hand und rief zornig! Du Dummerjan, wer weggiebt, was er selber
essen kann, der wird ein Bettelmann. Das machte Eindruck. Nach einiger Zeit
machte er die Erfahrung, daß man immer noch etwas essen könne, wenn man mich
schon satt sei, und daraus ergab sich die Lebensregel, niemals etwas wegzugeben,
wenn man nicht ganz satt sei. Und darin hat es Gottlieb mit Hilfe seiner lieben
Mutter — sein Vater war eine alte Schlafmütze, die nicht weiter in Betracht
kam — zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht. Als er erst in die Schule
gekommen war, hat es sich nie wieder ereignet, daß er sein Frühstück weggegeben hätte.
Er war ein kleiner kluger Junge. Der Lehrer hat ihn immer vor den
andern gelobt, und er ist mehrere Jahre lang Erster in der Schule gewesen.
Rechnen war seine besondre Gabe, aber auch in Lesen und Religion leistete er
seine Sache. Als er konfirmiert und mit einem besonders schönen Spruche entlassen
wurde, sah sich Gottlieb den Thaler, den er für den Herrn Pastor auf den Teller
legen sollte, mit nachdenklicher Miene an. Er kam ihm vor wie eine Scheibe Leber¬
wurst, und die alte Lebensregel tauchte in seinem Gedächtnisse auf: Du Dummerjan,
das kannst du doch selber essen. Worauf er den Thaler in die Tasche steckte und ein
Fünfgroschenstück auf den Teller legte.
Als er erwachsen war, war er der schmuckste Bursche im Dorfe, er hatte die
dickste Pelzmütze, die schönste Pfeife und immer Geld in der Tasche, mit dem er
gern klimperte, das er aber auch nicht sparte, wenn er sich selbst etwas Gutes er¬
weisen wollte. Aber bei den Mädchen war er nicht wohl gelitten, wenigstens nicht
bei denen, an deren Wohlwollen ihm gelegen gewesen wäre. Und die andern, die
sich an ihn heranmachten des schönen Hofes wegen, die mochte er nicht. So dumm!
sagte er zu sich, die wollen doch bloß mit essen.
Die Freundschaft mit Kuhhirts Röschen war nicht gänzlich gelöst. Vielmehr
lebte sie, als Röschen ein hübsches, großes Mädchen geworden war, wieder auf,
nahm eine sehr ernste Gestalt an und hätte beinahe dahin geführt, daß Gottlieb
Röschen heiratete. Aber seine kluge Mutter wollte es durchaus nicht. Sie rechnete
ihrem Gottlieb vor, wenn er die Röse jetzt mit ein paar hundert Thalern abfinde, so
mache er immer noch ein gutes Geschäft, denn er bleibe frei und könne ganz gut
ein Mädchen mit fünfzig Morgen Land kriegen. Das leuchtete Göttlichen ein. Er
ließ sein Röschen sitzen, zahlte zweihundert Thaler und blieb frei. Röschen schrie
zum Erbarmen, aber ins Wasser ist sie nicht gegangen, sondern hat trotz alledem
noch einen braven Mann gekriegt. Und ihr Enkelsohn ist sogar Schulmeister ge¬
worden. Das sieht sie mit gerührtem Herzen als eine Entschädigung an, die ihr
der liebe Gott dafür zahlt, daß sie von ihrem Gottlieb so schlecht behandelt
worden ist.
Gottlieb also war frei geblieben und stolzierte, die Hände in den Taschen,
manches Jahr umher und beschaute sich die Mädchen, die gut genug für ihn sein
konnten, und machte mehr wie einmal Anstalt, einen Goldfisch für sich zu ergattern.
Aber die Sache kam nicht über die Anfänge hinaus, denn die Goldfische dachten
genau so wie er, und Gottliebs Hof mit dreißig Morgen Land war ihnen zu
wenig. Nun, er hatte es ja auch nicht eilig. Seine Mutter besorgte ihm die
Wirtschaft, er begnügte sich mit flüchtigen Neigungen, die keine Konsequenzen hatten,
und dünkte sich als Unverheirateter unmenschlich klug, wenn er sah, wie sich andre
für Weib und Kinder plagen mußten, während ihm nichts abging. Sein Nachbar,
der Rote-Hof-Bauer mit seinen sieben Kindern, was mußte der sich das ganze Jahr
hindurch abrackern, und wie viel blieb von seinem Verdienste für ihn selbst
übrig?
Du Dummerjan, sagte Gottlieb zu ihm, wenn du wärst wie ich, dann
könntest dn es gut haben. Was hast du nun mit deinen sieben Kindern?
Gottlieb, antwortete der Rote-Hof-Bauer, du redest, wie du es verstehst. Der
Herr Pastor, als er mein siebentes taufte, sagte, Otto, sagte er, der Mensch lebt
nicht von Brot allein.
Na ja, meinte Gottlieb, man will doch auch seinen Zacken Wurst dazu
haben.
So redest du, ich bin aber schon mit dem Brote allein zufrieden, Wenns nur
für die sieben reicht. Nicht wahr, Dörcher? Damit strich er seinem kleinen Mädchen,
das neben ihm stand, über das Strohdach.
Ma, sagte Dörcher und biß vergnügt in ihr Stück Salzbrot.
Na ja, meinte Gottlieb, als er über die Sache weiter nachdachte, jeder, wie
ers haben will. Da ist zum Beispiel Schlenker-Karl. Wie der seine Karoline
heiratete, da stellten sie sich alle um, als sollte jetzt das Paradies ans Erden los¬
gehn. Was hat er nun? Die Frnn krank, die Kinder krank, den Doktor im
Hanse das ganze Jahr lang, und die Base im Hanse, und außerdem noch die
Malern zur Pflege. Das kommt und geht, und keinen Tag ist Ruhe. Und was
kostet das alles! Bei mir geht kein Mensch aus und ein, und der Doktor und
der Apotheker könnten meinetwegen verhungern. Und Schwalber-August, wie weit
wird ders bringen? Den kennt man kaum uoch. Wenn die Kinder halbwegs ran
sind, dann ist er fertig. Dann sitzt er als alter Man hinter dem Ofen, oder sie
tragen ihn hinaus auf den Gottesacker. So dumm! Da habe ichs doch besser. —
Und wirklich, unserm Gottlieb ging nichts ub, er hatte immer einen Thaler Geld
in der Tasche, wofür er sich eine Güte thun konnte, er machte sich keine Sorgen,
that seine Arbeit und hatte abends die schönste Zeit, Bücher zu lesen und zu er¬
fahren, wie es in der Welt aussieht, und was sie in die Bücher schreiben.
So vergingen viele Jahre. Die Mutter war gestorben; Gottlieb wirtschaftete
mit fremden Leuten und erlebte manchen Ärger. Wo er die Augen nicht hatte, und
er konnte sie doch nicht überall haben, wurde gebummelt oder gestohlen. Es war
auf keinen Menschen Verlaß. So dumm! sagte Gottlieb zu sich selbst, was soll ich
mich denu ärgern? Ich verpachte meinen Acker, dann bringt er mir immer noch
so viel, daß ich davon leben kann, und ich brauche nichts zu thun, als was mir
Spaß macht.
Gut, Gottlieb verpachtete seinen Acker und wurde Rentier. Er trug von jetzt
an einen städtischen Hut und städtischen Rock, ging spazieren, wenn andre Leute
arbeiteten, und reiste in der Welt umher. Wo irgend etwas los war, ein Vieh¬
markt, eine Auktion, ein Schützenfest, da war auch Gottlieb zu sehen. Sogar in
Berlin und Hamburg ist er gewesen. Dabei wurde er immer klüger. Wenn er
des Abends in der Schenke uuter seinesgleichen saß, so langweilte es ihn, wenn
diese ihre endlosen Geschichten spannen, die darauf hinausliefen, daß dieser der
Vetter von jenem, und jener der Schwager von noch einem andern sei, und daß
dieses Paar Pferde so und so viel gekostet habe, und daß damals der Hammel oder
das Kalb so und so viel wert gewesen sei. Wenn er nun seinerseits von Berlin
oder Hamburg zu sprechen anfing, so ging niemand darauf ein, und es dauerte
nicht lauge, so war mau wieder bei dem bewußten Hammel. Und hinter seinem
Rücken sagten sie — er merkte es wohl —, bei Göttlichen sitzt eine Schraube
falsch; aber das kommt davon, wenn man nichts thut. Gottlieb suchte also gebildete
Unterhaltung beim Herrn Pastor und dem Herrn Kantor. Besonders mußte der
Herr Pastor herhalten. Gottlieb kam mit der langen Pfeife und setzte sich ein
paar Stunden hin, er hatte ja Zeit genug, und führte ein gebildetes Gespräch.
Wenn eins der Kinder kam und die Kunde brachte, Gottlieb stehe am Hofthore,
so entrüstete sich die Frau Pastorin über diesen gräßlichen Kerl von Gottlieb, der
dem lieben Gott reinweg die Zeit stehle, und die Kinder ließen die Ohren hängen,
denn jetzt galt es, ein paar Standen Ruhe halten, bis die gebildete Unterhaltung
vorüber war. Und der Herr Pastor schlag seufzend die Kirchenzeitung zu, in der
er gerade las. Hinterher war der Herr Pastor allemal halb tot vor Ungeduld
und Langerweile.
Gottlieb sagte sich, daß er, wenn er des Herrn Pastor Zeit so stark in An¬
spruch nehme, auch seinerseits etwas leisten müßte. Und so brachte er für die
Kinder kleine Geschenke mit, Figürchen aus Porzellan, Pfauen und Hirsche aus
Glas geblasen und sonstige Kuriositäten, die er ans seinen Reisen in den Nachbar¬
städten zusammengekauft hatte, oder er ging mit den Kindern in den Garten und
schüttelte die Bäume und ließ Bonbons und andre schöne Sachen herabfallen. Das
war denn doch etwas, und die Kinder lernten sich mit Vetter Gottlieb befreunden.
Nach einiger Zeit hörten die Spenden auf, sei es, daß Gottlieb vergessen hatte,
Geschenke mitzubringen, sei es, daß er mißtrauisch besorgte, es könnte aus den
Gaben eine Gerechtsame werden. Das nahm aber Pastors Jüngster sehr übel,,
und da er nicht gerade an Schüchternheit litt, so stellte er sich, als Vetter Gott»
lieb einmal wieder schon um Glocke drei angerückt kam, ihm breitbeinig gegenüber
und sagte: Du kannst wieder nach Hause gehn. Vater liegt ans dem Sofa und
ist für dich krank. Und Bäume geschüttelt Hofe du auch lange uicht. — Da keiner
dem Vetter Gottlieb zu Hilfe kam, so mußte er richtig wieder abzieht!, worauf
drei Kinderköpfe ihm triumphierend nachschauten. Gottlieb aber stand draußen vor
dem Hofthore, strich sich nachdenklich über die Bartstoppel und sagte zu sich: Es
ist doch merkwürdig, daß man nichts in der Welt ohne Bezahlung haben kann, nicht
einmal eine gebildete Unterhaltung. — Daß man das beste in der Welt überhaupt
nicht für Geld haben kann, zu dieser Erkenntnis war er Noch nicht gekommen, so>
klug er auch war.
Wieder verging eine Reihe von Jahren. Aus dem Vetter Gottlieb war der
alte Gottlieb geworden, und dabei war er immer noch klüger geworden. Er sagte-
sich, daß seine Pacht doch nur knapp zureiche, und wenn er stürbe, dann bliebe
das schöne Gut für andre übrig. Das wäre doch gerade so, als wenn er dit
Suppe löffle und das Fleisch weiter gebe. Das Fleisch könnte er doch auch bei
seinen Lebzeiten verzehren. Und das ließ sich ja ganz leicht machen. Er brauchte
ja nur seinen Hof wegzugeben und sich ein gutes Leibgedinge auszumachen, Wohnung,
Verpflegung und einen hübschen Thaler Geld, dann hatte er alles, was er braucht^,
er saß bis an sein Lebensende hübsch warm, und wenn er starb, so hatte er seinen
Besitz aufgezehrt, und war auch nicht ein Krümchen mehr übrig. Dieser letzte Ge¬
danke erfreute ihn ganz besonders. Wenn dann die lieben Verwandten kämen und
erben wollten, und es sei auch nicht ein Groschen mehr da, die Gesichter hätte er
sehen mögen. Diesen Gedanken also erwog er reichlich, sagte aber keinem Menschen
etwas davon, am wenigsten dem Herrn Pastor, denn er hatte das Gefühl, daß
man ihm abreden werde, und er wollte sich die Sache nicht abreden lassen. Nach
einiger Zeit hatte er mich jemand gefunden, der das Geschäft machen wollte, deu
Riedmüller, der seine Pacht aufgeben mußte Und so die Möglichkeit hatte, nicht
allein unterzukommen, sondern auch ein Eigentum zu erwerben. Man ging in die
Stadt zum Advokaten und aufs Gericht und machte die Sache richtig. Es wurde
aufs genauste festgestellt, was der Riedmüller bis zum achtzigsten Jahre Gottliebs-
zu leisten habe, und das wurde in aller Form als Last auf das Grundstück ein¬
getragen. Eines schönen Tags war alles fix und fertig, und das erstaunte Dorf
hatte sich mit der verblüffenden Thatsache abzufinden, daß Gottlieb in die Oberstnbe
und der Riedmüller mit seiner Familie und feinem Kram in Gottliebs Hof zog.
Beide Teile glaubten ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht zu haben. Gottlieb
konnte in aller Bequemlichkeit seinen Hof verzehren, und der Riedmüller, der freilich
eine schwere Last übernommen hatte, mehr als der Hof leisten konnte, sagte: Wie
lange wirds denn dauern, dann stirbt Gottlieb, und der Hof ist mein! Aber Goti-
lieb starb nicht, wenn er sich auch mit Vorliebe mit seinem Tode und seinem Be¬
gräbnis beschäftigte. Dieses Begräbnis sollte ein Ereignis werden. Die Träger
und alle Leidtragenden sollten einen Leichenschmaus erster Klasse haben. Den
Kostenanschlag brachte er zu Papier, und den Betrag legte er in der Sparkasse
an. Für den Sarg, die Leichenfrau, das Bahrtuch, den Totengräber, das Geläute,
den Herrn Pastor zu seiner Rede, für Kuchen, der im Dorfe verschickt werden
sollte, für das Denkmal wurden die Kosten erwogen und berechnet, und das Geld
wurde in der Sparkasse hinterlegt. Auch ein Lebensbaum sollte aufs Grab gepflanzt
werden. Er kaufte einen kleinen Lebensbaum und bat den Herrn Pastor, ob er
den Baum nicht einstweilen in seinen Garten pflanzen wollte. Wenn er tot sei,
sollte der Beinen auf sein Grab gepflanzt werden. Aber Gottlieb starb nicht, und
der Lebensbaum wurde ein mächtig großer Baum. Da der Baum nun nicht mehr
zu verpflanzen war, so mußte ein neuer angeschafft werden, aber auch der wuchs
in die Höhe, und Gottlieb starb nicht.
Inzwischen ging dem Riedmüller die Luft aus. Um seinen Verpflichtungen
nachzukommen, mußte er Schulden machen, denn der Hof brachte nicht soviel, als
der Riedmüller für sich und Gottlieb brauchte, und die Schulden wuchsen ihm über
den Kopf. Der Hof mußte verkauft werde», und da keiner aus dem Dorfe den Mut
hatte, gegen die Lebenskraft Gottliebs zu spekulieren, so kam ein wildfremder Mensch
hinein, ein gewisser Grashoff aus Ländern.
Zuerst war es eine wahre Herrlichkeit mit dem lieben Gottlieb. Man wollte
ihm alles zu Liebe thun und alles an den Augen absehen. Gottlieb ließ sichs ge¬
fallen, aber er starb nicht. Allmählich wurde» die Mienen Grashoffs und seiner
Frau, unfreundlich. Man leistete, was man mußte, aber unpünktlich und mürrisch,
zuletzt gönnte man ihm kein gutes Wort mehr. Gottlieb beklagte sich, es half
nichts. Wer hätte ihm auch helfen können? Gottlieb wurde fünfundsiebzig, er wurde
achtzig Jahre alt und starb nicht.
Was nun? Mit dein achtzigsten Jahre erlosch die Verpflichtung, ihn zu unter¬
halten. Der kluge Gottlieb hatte sehr klug gerechnet und doch einen Fehler ge¬
macht, der nnn nicht mehr zu bessern war; er hatte nicht daran gedacht, daß er
älter als achtzig Jahre werden könnte. Grashoff hätte ihn nun auf die Straße
setzen können, aber er hatte doch nicht den Mut dazu. Und außerdem hatte ja
Gottlieb noch ein Sparkassenbuch in Händen, dessen Inhalt vom Gerüchte weit
überschätzt wurde. Aus diesen Gründen behielt er Gottlieb im Hanse. Lange
konnte es ja nicht mehr dauern. Aber Gottlieb starb nicht; vielmehr fing er an,
sein Begräbnis zu verzehren, erst den Leichenstein, dann das Bahrtuch und dann
den Leichenschmaus. Nach Jahr und Tag war alles verbraucht, selbst die Rede des
Herrn Pastors, die Gottlieb in der Erwartung, daß sie besonders erhebend und
ehrend ausfallen werde, bis zuletzt aufgehoben hatte. Jetzt bekam Gottlieb nur
soviel vou Grashoff, daß er nicht verhungerte. Etwas viel besseres, als was die
Schweine erhielten, war es nicht. Um Licht, Heizung, Wohnung und Bett küm¬
merte sich keine Seele. Seine Stube wurde ihm genommen, er mußte in eine kalte
Kammer ziehen. Der Winter kam. Wenn Gottlieb nicht frieren wollte, mußte
er im Bette bleiben. Als es wieder Sommer wurde, und er aufstehen wollte, zeigte
sichs, daß die Mäuse seine Hosen zerfresjen hatten. Geld hatte er nicht, um sich
neue zu kaufen, Grashoff fiel es nicht ein, ihm ein Paar zu schenken, und im Dorfe
kümmerte sich kein Mensch um ihn. Es fiel nicht einmal auf. daß er mehr als ein
halbes Jahr nicht gesehen worden war. Nur der Herr Pastor, der sich damals
Pensionieren ließ und im Dorfe seine Abschiedsbesuche machte, erinnerte sich des
alten Gottlieb und stieg die Hühnerleiter zu seiner Kammer in die Höhe. Er fand
ihn im Bette liegend, nicht krank, aber stumpf. Ein Gespräch wollte nicht in Gang
kommen. Gottlieb schüttelte nur mit dem Kopfe und murmelte: So dumm! so
dumm! Alles aufgegessen, alles aufgegessen. Nur das kam noch zu Tage, daß
er nicht aufstehen könne, weil die Mäuse seine Hosen aufgefressen hätten. Der
Herr Pastor ging eiligst nach Hause und schickte dem alten Gottlieb eins von seinen
alten schwarzen Beinkleidern. Nun konnte Gottlieb in des Herrn Pastors Hosen
wenigstens in der Sonne sitzen und sich wärmen — solange als sie hielten, und
das dauerte nicht allzulange. Denn alte Pastorenhosen Pflegen einigermaßen lebens¬
müde zu sein.
Wieder vergingen Jahre. Der alte Gottlieb gehörte schon der Sage an, aber
er lebte noch immer. Da kam dem Schulzen, als er seine neue Bevölkerungs¬
liste aufstellte, der Gedanke: Du sollst doch einmal nach dem alten Gottlieb sehen.
Denn dem Grashosf traute er nicht viel Gutes zu. Das that deun auch der Schulze,
und er fand den alten Mann in einem furchtbaren Zustande, in einer übelriechenden,
gänzlich verwahrlosten Kammer, hungernd und frierend unter einem Hansen von
Lumpen. So hatte sich der kluge Gottlieb gebettet, der niemand etwas gegönnt
und zuletzt den Hof weggegeben hatte, um sich nur ja recht weich zu betten. Der
Schulze schlug Lärm. Das sei ja unmenschlich, das sei ja unverantwortlich, und wenn
er das dem Staatsanwalte anzeigte, so käme Grashoff ohne Gnade ins Zuchthaus.
Grashoff erwiderte, daß er gar nicht die Verpflichtung habe, den alten Gottlieb
zu unterhalten. Die Gemeinde müßte ihn übernehmen. Der Schulze antwortete:
Jawohl, wenn er es vor fünf Jahren beantragt hätte, aber jetzt müßte er Gött¬
lichen behalten. Und das bitte er sich aus, daß der alte Mann ordentlich besorgt
werde, daß er sein Essen und seine Reinlichkeit habe, sonst mache er Anzeige, und
dann sollte Grashoff einmal sehen, was komme. — Der Schulze hatte keineswegs
das Recht, die Pflege Gottliebs Grashoff aufzuladen, das wußte er auch ganz gut.
Aber welcher Schulze versuchte es nicht, seiner Gemeinde zu Recht oder zu Unrecht
eine Last abzuwälzen? Die Grashoffs räsonnierten furchtbar. Wenn sie das ge¬
wußt hätten, hätten sie sich mit dem alten Kerl nicht eingelassen. Was so ein
Mensch überhaupt noch auf der Erde wolle. Ein Strick sei für so einen das
allerbeste.
Acht Tage darauf hieß es, der alte Gottlieb habe sich aufgehängt. In der
Scheune hänge er an einem Balken. Sogleich lief die liebe Jugend herzu und be¬
lagerte das Scheunenthor. Die Mutigsten ließen sich von den andern in die Tenne
drängen und sahen da mit innerm Schauder im Dämmerlichte eine Leiter und die
unbestimmten Umrisse von zwei Beinen vor einer halb geschlossenen Luke. Ab und
zu kam der Genieindediener und jagte die Kinder weg, es dauerte aber nicht lange,
so waren sie alle wieder da. Im Hintergrunde standen die Nachbarinnen und
..weissagten." In der That, wenn es weibliche Prophetenschulen gäbe oder ge¬
geben hätte, so würde man diese Versammlung eine weibliche Prophetenschule haben
nennen können. An der Ecke standen die Nachbarn, schoben bedächtig die Pfeifen
aus einem Mundwinkel in den andern und sahen sich die Geschichte mit großem
Mißtrauen an. Von den Grashoffs war niemand zu erblicken.
Wie ist denn eigentlich der alte Gottlieb die Leiter in die Höhe gekommen?
fragte einer von den Nachbarn.
Dazu hatte er ja gar keine Kräfte mehr.
Er muß doch wohl. Ich habe sagen hören, wenn sich die Leute das Leben
nehmen wollten, dann setzten sie eine große Forsche dahinter.
Wenn der sich das Leben hätte nehmen wollen, meinte der erste, dann hätte
ers schon lange thun können.
Aber wer hätte ihn denn sonst auf die Leiter und an den Balken gebracht?
Achselzucken; bedeutsame Blicke nach dem Grashoffscheu Hofe, wo gerade der Herr
Gendarm eintrat. Sagen durfte man ja nichts. Die Sache ist auch nie aufgeklärt
worden. Aber der Gottliebshvf, der so lange ein totes Stück in der Gemeinde
gewesen war, kam nun in Verruf. Die Grashoffs wurden von jedermann ge¬
mieden. Später haben sie den Hof verkauft und sind weggezogen. Kein Mensch
weiß, wohin.
Gottlieb, der mit so vieler Liebe für sein Begräbnis gesorgt hatte, und der
es gar nicht großartig genug hatte kriegen können, wurde als Selbstmörder in aller
Stille beigescharrt. Kein Mensch geleitete den Sarg, keiner sprach ein Wort. Nur
die Träger schauten nach beendigtem Begräbnis in ihre Hüte, was das Vaterunser
vorstellen sollte. Auch seinen Lebensbaum würde er nicht aufs Grab bekommen haben,
wenn nicht die alte Rose an ihrem Krückstocke zum Herrn Pastor geschlichen wäre
und ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, der Lebensbaum im Pfarrgarten gehöre
Gottlieb und sei für sein Grab bestimmt. So wurde denn der Lebensbaum mit
einiger Mühe ausgegraben und auf Gottliebs Grab gepflanzt. Aber angegangen
ist er nicht. Er war schon viel zu alt.
er alte Städel schlief an diesem Svnnabendmorgen lange und gut;
nicht der leiseste Zweifel beunruhigte ihn. Das War alles wohl
berechnet und wohl ausgeführt: sein Ballon würde die Luft durch¬
kreuzen, so sicher wie die Schiffe das Meer.
Hatte er die Probe abgelegt, dann wollte ihn Städel an einen
verständigen Unternehmer verkaufen und mit dem Gelde das Neue
fördern, das sich in der letzten Zeit, wo die Arbeit am Luftschiff immer mehr
aus seinen Händen in die der Arbeiter geglitten war, in seinem Kopf eingenistet
hatte: das Flügelpaar, das dem einzelnen Erdenkind Heimatsrecht zwischen den
Wolken geben würde.
Dreimal schon war Karl in das Schlafzimmer gekommen und hatte sich nicht
entschließen können, des Vaters Kinderschlaf zu stören. Endlich mußte ers doch thun.
Herr Frisch brachte schon zum zweitenmal die Meldung, es seien Fremde in der
Apotheke.
Karl wußte, wer die Fremden waren: ein Offizier von der Luftschifferabteilung,
ein Erfinder, der schon ein paarmal um das Modell gehandelt hatte, und der
Redakteur einer technischen Zeitung — die drei Einzigen, die man zur Probefahrt
eingeladen hatte.
Städel blieb in seiner Heiterkeit, wie in einer schützenden Wolke; er ließ sich
von Karl helfen, trank stehend den gewärmten Kaffee und eilte über den Gang,
um die Fremden zur Besichtigung hinaus zu begleiten.
Karl ging nicht mit, er setzte sich sogar an die Arbeit, als er aber eben
mühsam seine Gedanken von der Wiese herein hatte zu dem gotischen Prachtbau
seines Architekturbildchens, tum Line und führte sie wieder hinauf in die Luft.
Sie sah blaß und erregt aus; die Liebe zum Vater, die im Laufe der Jahre
vou der Last ihrer Sorgen so zusammengedrückt worden war, daß sie manchmal
gar nichts mehr von ihr gemerkt hatte, wurde durch die Angst befreit, regte sich
und wuchs wieder empor.
Morgen soll euer goldner Engel steigen, sagte sie und stützte sich auf das
Fensterbrett, widersprich mir nicht, ich weiß es, und sag auch nichts dagegen,
nach allem was geopfert ist, muß es ja sein; aber, Karl, der Vater darf nicht
mit hinauf.
Karl, der sich an seiner Arbeit zu schaffen gemacht hatte, sah erstaunt in die
Höhe; der Gedanke wäre ihm nie gekommen. — Nicht hinauf? Aber Line, wie
sollte er sich das nehmen lassen?
Vater ist ein alter Mann; das Alter muß sich allerlei nehmen lassen.
Vater ist ebeu erst in die Fünfzig hinein, das ist kein Alter.
Nicht bei andern, aber das Gespenst hat ihn ausgesogen und für alles Leben¬
dige vertrocknet: er ist ein alter Mann. Wie sollte er uun etwas thun, was Kraft
und Gewandtheit verlangt und Jünglingstollkühnheit?
Das ist gar nicht so schlimm, Line, in solcher Gondel ists ganz behaglich, ich
Habs kürzlich mal versucht, weil ichs doch kennen wollte, unsers goldnen Engels
wegen. Und wie könnten die andern Zutrauen haben, wenn die Erfinder sich nicht
hinaufwagten?
So mag doch Nothnagel steigen. Vater gab den Geist, Vater gab das Geld,
der andre immer nur Worte und Queugeleieu — mag er jetzt sein Leben in die
Schanze schlagen.
Das wird er wohl auch.
Das wird er Wohl nicht. Als ob ich den Nothnagel nicht kennte! Immer
klug, wie der Fuchs. Im letzten Augenblick fällt ihm ein Grund ein, weshalb er
unten bleiben müsse, da verwett ich meine Seele. Karl, laß den Vater nicht
hinauf!
Karl sah die Schwester immer noch voller Staunen an; ihre Angst, die sich
doch eigentlich laut zu werden schämte, rührte ihn, obgleich er sie thöricht fand.
Er streckte ihr die Hand über den Tisch hinüber. Ja doch, Linchen, ich will ihn
zu bereden suchen, obgleich ich selber die Sache gar nicht für gefährlich halte; wenn
ich im geringsten damit umzugehen wüßte, würde ich —
Gott sei Dank, daß du nicht damit umzugehen weißt, sagte sie und eilte aus
der Werkstatt.
Es wurde heiß; Karl meinte, seine Hand gehorche ihm nicht wegen der Glut,
die selbst aus dem schattigen Hofe herauf stieg, und je weiter sich die Junisonne
über das Apothekendach erhob, desto weniger glückte ihm, was er begann.
Mittags kam der Vater von der Wiese zurück, heiß und müde, die klare
Freudigkeit des Morgens war verloren.
Er ging auch nicht in sein Allerheiligstes, um sich an seinen Helden zu freuen,
denen er sich heute an die Seite zu stellen hoffte — Professor Charles und Pilätre
de Rozier trugen Festtagskrttnze —, sondern geradewegs zu dem Sohne.
Als der aber aufsprang, um ihm einen Stuhl zu holen, wehrte er lebhaft ab;
er lehnte sich an dasselbe Fensterbrett, an dem vorhin Line gestanden hatte, und
da er schwieg, schien es Karl eine günstige Gelegenheit, der Schwester Wunsch und
Sorge vorzubringen.
Der Alte ließ ihn ausreden, schüttelte aber deu Kopf, sobald er merkte, worauf
Karls Rede hinauslief.
Das ist ganz gut gemeint, sagte er endlich, aber Unsinn ists natürlich auch.
Ich habe das stärkste Interesse daran, wer anders also sollte das Kommando über¬
nehmen? Gottlieb und der Mechaniker sind brav, sie werden ihren Mann stehn
und sicher ausführen, was ich befehle. Aber zum Befehlen branches einen, der die
ganze Sache im Kopf hat mit allen Schrcinbchen und Haken, mit allen Möglich¬
keiten und Hilfsmitteln. Das habe nur ich; das soll gar kein andrer haben.
Nothuagel, warf Karl ein.
Nothnagel?
Der Alte ging ein paar mal in der Werkstatt hiu und her. Nvthnagcl!
sagte er noch einmal mit verächtlicher Betonung, dann blieb er vor dem Sohne
stehen.
Ich will dir Bescheid sagen; besser, du weißt es, denn man kann auch im
Augenblicke des Sieges fallen; mit Nothnagel bin ich fertig, Nothnagel ist ein
Lump. Sieh mich nicht an, als sei ich verrückt, ich weiß es erst seit einer Stunde,
aber ich weiß es bestimmt; es hätte mir beinah die Freude am heutigen Tage ver¬
dorben. Das soll es nun nicht, ich hab mich schon so ziemlich wieder beisammen,
das aber steht fest bei mir, mit hinauf darf er nicht, der Verräter.
Nicht mit hinauf?
Nein. Es wäre Entweihung. Schwer kanns ja nicht halten, ihn abzubringen,
ich weiß, wie es im vorigen Jahre in L. war, wo wir zur Messe hinüberführen,
um wieder mal mit hinauf zu steigen — er blieb fein unten. Und so wird er
auch heute im letzten Augenblicke zurückzucken. Dann, Karl, mach keine Rederei,
dann machs ihm nicht sauer, dann bau ihm goldne Brücken.
Ich begreife nicht, Vater, was du gegen Nothuagel haben kannst. Bis gestern
noch —
Bis gestern, bis heute morgen noch hab ich ihn für einen ehrlichen Kerl ge¬
halten, obgleich ich schon lange gemerkt habe, daß seine geistigen Fähigkeiten ihn
ganz gewiß nicht in die Lüfte heben. Aber ich habe gemeint, wie er rede, so sei
seine Meinung, und er liebe unsern Lenkbaren, wie ich ihn liebe; hab gedacht, sein
Herz hänge an dem Versuch, wie meins. Hab gedacht, ich kenne seine Absichten und
Pläne so gut wie die eignen; und heute kommt da ein Mensch, ein sogenannter
Erfinder, der nichts erfinden kann und deshalb herumstreicht, wo andre mit ihrem
Herzblut Räderwerk lebendig machen, kommt, weil er sich aus allerlei Verlornen
Zeitungsanzeigen zusammengetüftelt hat, wir wären so weit, und überhäuft uns mit
Vorwürfen.
Vorwürfen?
Ja doch, ja doch; und hat nicht mal Unrecht. Nein, der Nothnagel darf
nicht mit hinauf, 's wär eine Entweihung. Also red ihm nicht zu, wenn die Angst
kommt und ihn am Rockschöße festhält.
Aber dann seid ihr nnr drei, Vater, dann mußt du mich mitnehmen.
Dich! rief Stadel heftig. Dich? Nein, du bleibst unten, du bist der Erbe.
Es könnte doch etwas geschehn. Und eben drum muß ich dir auch die häßliche
Geschichte erzählen, daß du dich mit ihrer Hilfe des Nothnagels erwehren kannst.
Also, dieser Aurel, ist in frühern Zeiten bei mir gewesen, seit geschnüffelt, geredet,
gefragt und gescheit gethan, bis ich grob wurde und ihm die Thüre wies. Was
sollt ich mit dergleichen Leuten? Zeit zum Schulmeistern hatt ich nicht, und seine
Paar windigen Einfälle braucht ich erst recht nicht, ich hab meine eignen. Nun
hör ich nichts wieder von ihm bis heute; da kommt er und wirft uns vor, wir
hätten falsch an ihm gehandelt, wir hätten ihm doch die Idee verkauft und hätten
dann trotzdem weiter gearbeitet, und falsch wäre die Idee noch überdem gewesen.
Ich denke, der Mensch redet irre, aber nichts da. Von mir war der Unglücks-
bnrsche damals zu Nothnagel gelaufen, und nachdem er da auch geraume Zeit das
Laboratorium unsicher gemacht hat, verkauft ihm der einen Einfall, den wir längst
als unausführbar erkannt haben, für sechstausend Mark. Pfui, pfui — der doppelte
Betrüger.
Und steckte das Geld ein?
Jus Wasser wird ers nicht geworfen haben; ich frag nicht danach, ich bin
fertig mit ihm. Er hat mir auf dem Heimweg eine lange Geschichte erzählt über
das Weshalb und Wozu — ich habe nicht drauf gehört, ich bin fertig mit ihm.
Und du bist mirs anch, falls mir etwas geschehn sollte. Seine Rechte am Luft¬
schiff sind gleich Null: mein sind die Gedanken, von meinem Geld ists ausgeführt,
mein sind die Schulden, die noch daran hängen. Was er etwa beigesteuert hat
im Laboratorium und um der Kost des Mechanikers, das ist mit dem Lügengeld
reichlich bezahlt. So — und nun bin ich auch mit dem Ärger fertig, Charles,
nun wollen wir uns wieder freuen.
Er war heiter bei Tisch und schlief am Nachmittag noch einmal seinen Kinder-
schlnf. Um vier Uhr weckte ihn Karl, und kurze Zeit darauf gingen sie zusammen
nach der Wiese. Aber sie gingen nicht durch den goldnen Engel, sondern zur
Schmiede hinaus, wo Ackermann mit dem Lehrjungen hantierte.
Ackermann nickte den beiden Städels zu. Gleich bin ich fertig, dann wasch
ich den Ruß ab, dieser junge Mann da versorgt mir die Kundschaft.
Der „junge Mann" lachte übers ganze Gesicht vor Vergnügen über diesen
neuen Titel, und Städels lachten mit. Draußen fragte der Alte plötzlich: Wo sind
denn die fünf Jungen? Werden die uns nicht nachlaufen?
Sind über Land. Von heute auf morgen bei einer Base in den Kirschen.
Es ist alles bedacht.
Schnell und schweigend gingen die beiden über das wellige Land, Sankt
Bcirthelmö. hatte noch nicht fünf geschlagen, da bogen sie um den kleinen Busch
und sahen die Schutzhülle vor sich liegen.
Die Ostseite war in ihrer ganzen Breite geöffnet, der Ballon war heraus¬
geschoben und gefüllt, er drängte und schob nach oben, unwillig an den angepflockten
Seilen zerrend: ich bin bereit.
Mechaniker und Schlosser kamen ihnen entgegen: Alles in Ordnung.
Die Soldaten, die auf Veranlassung des Herrn von der Luftschifferabteilung
zum Stricke halten kommandiert waren, standen bereit, die drei Fremden warteten
in der Schutzhülle.
Nur Herr Nothnagel fehlt noch. Er wird doch nicht erwarten, daß Sie ihn
nbhvlen?
Nein, das erwartet er nicht.
In so, von wegen, damit die guten Senkenberger nicht zu früh Witterung
bekommen. Na aber morgen, Herr Stcidel, morgen zum Sonntag darf ich ihnen
das Vergnügen machen? Die Füllung langt schon.
Stadel nickte dem Mechaniker freundlich zu. Warum nicht, wenn alles klappt?
Machen wir ihnen das Vergnügen. !
Einige Senkenberger haben auch schon heute ihre Nase gebraucht.
Der Alte schickte einen flüchtigen Blick hinüber nach dem Buschberg, wo sich
ein Trüppchen Neugieriger angesammelt hatte. Mochten sie doch, jetzt war er
seiner Sache so sicher, daß außer Limen und der klugen Frau Flörke die ganze
Welt hätte zuschauen können.
Aber heiß war ihm, dem der Himmel sonst nicht leicht warm genug machte —
nur daß er sich dessen kaum bewußt wurde, obgleich ihm der Schweiß auf der
Stirn stand, und er den Hut beiseite warf, ehe er an das Luftschiff trat, um nach
dem Rechten zu sehen.
Die drei Fremden traten inzwischen zu Karl heran, und der Offizier sagte:
Es droht ein Wetter, werden die Herren sich einem Gewittersturm aussetzen wollen?
Mir scheint, beim ersten Versuch sollte man diese Möglichkeit billig vermeiden.
In dem Augenblick trat Nothnagel mit seinem Provisor in den Schuppen,
heiß, atemlos und sehr eifrig. Er sah sich kurz nach dem alten Städel um, und
da der an der Gondel stand, antwortete er großartig: Wind stört uns nicht, im
Gegenteil, mit dem Wind wollen wir ja eben umspringen, wie mit dem Gewedel
eines Damenfächers.
Gewiß, pflichtete der Warner höflich bei, wenn Sie Ihrer Maschine sicher
sind, können Sie ja auch den Sturm versuchen, aber dies ist eine Probe, die
meines Ernchtens zunächst unter den günstigsten Umständen vorgenommen werden
sollte.
Nothnagel erklärte in starken Worten, der goldne Engel sei allem gewachsen.
Etwas ruhiger, aber um so bestimmter sagte Städel dasselbe; er hatte keinen Blick
für den Himmel.
Der Mechaniker fand jedes Wort überflüssig, er pflöckte Strick um Strick ab
und übergab sie den Soldaten. Der Schmiedegesell sah nach Westen, wo sich eine
dunkle Wand langsam, mit kaum sichtbarer Bewegung emporhob, und lachte.
Fürchten? Vor son bischen Wetter? Is schon mancher Ballon glatt durch
die Blitze gesegelt, ich freu mich auf den Lebtag.
Der goldne Engel hob sich schon, Mechaniker und Schlosser waren eingestiegen,
Städel wollte ihnen nach, da faßte ihn Nothnagel am Arm.
Höre, sagte er leise und strich sich über die Augen. Vielleicht ließest dus
doch heute noch. Ich glaube, ich kann nicht mit, ich hatte von früh an den
Schwindel; eben kommt er mir wieder — ich würde euch Ungelegenheiten
machen —
Schon gut, fiel ihm Städel in die Rede und strich seine Hand ab wie ein
ekles Jusekt. Vorwärts. Kinder!
Er war eben eingestiegen, der Mechaniker griff schon nach der Maschine, da
trat Ackermann heran: Soll ich den Nothnagel ersetzen?
Aber sie wollten keinen Trollgast; sie hätten überhaupt nur auf dreie gerechnet
und seien gerade genug, ihren Engel zu bedienen.
Lieber gar noch Ackermann, brummte Stttdel.
Anfangs hob der goldne Engel sich ruckweis, Sandsäcke flogen herab, die Sol¬
daten ließen Strick um Strick fahren, der Mechaniker bediente seine Maschine, die
Beobachter schraubten ihre Krimstecher auf.
Die Bewegung war tadellos. Jetzt schien er die rechte Höhe erreicht zu
haben und zu stehen, Städel faßte nach dem „Klingelzug," wie der Geselle die
Verbindung zwischen der Gondel und dem Reifenwerk nannte, durch die gesteuert
werden sollte; langsam schien der Gasball seine Form zu verändern, gleich darauf
bewegte er sich gerade aus durch die Luft.
Wie war das Programm? fragte Herr Frisch, der sich außerordentlich wichtig
vorkam.
Im Halbkreis bis zu dem Wasserkuren dort, und dann im entgegengesetzten
Halbkreis zurück.
Halte ich für unmöglich.
Scheint doch zu gelingen.
Natürlich gelingt es, knurrte Nothnagel, mein goldner Engel ist groß.
Der goldne Engel schoß in der dumpfen Gewitterschwüle stetig in einem
sanften Bogen am Himmel hin, dem Wassertnrme zu; er schien dem kleinen, ver¬
witterten Kapitän, der sich wie ein schwarzes Pünktchen von dem grellblauen Himmel
abhob, willenlos zu gehorchen. Jetzt war der Turm erreicht, langsam senkte sich
der Ballon bis zu der Fahne, die dort auf der Zinne emporragte, kam etwas zu
tief, hob sich wieder, schien zu steheu.
Der eine versucht sie zu fassen, sagte der Offizier, der das Glas nicht von
den Angen ließ.
Mein Geselle, bestätigte Ackermann, der nichts weiter mehr zu sehen vermochte,
als einen beweglichen Punkt.
Er reißt sie los.
Jetzt steigen sie wieder. Bravo! War das vorbereitet?
Die Fahne ist unsertwegen aufgezogen worden.
Allerliebst. Bis jetzt hatten wir vollständige Windstille, aber auch dafür fast
unglaublich.
Wie seltsam verändert sich eigentlich der Gasball — mal scheint er hoch, mal
breit, jetzt senkt er die eine Seite, sodaß er schief zur Gondel steht, jetzt sehlt ihm
die Kuppel, jetzt wölbt er sich wieder —
Das ist ja eben das Neue. Durch diesen Wechsel wird das Fahrzeug gelenkt,
durch Jneiuanderarbeiten der Ventile und der beweglichen Reifen, der Netze und
kleiner Neservebälle geschiehts. Wir arbeiten nun seit Jahr und Tag daran, so
recht im Kopfe hats aber glaub ich nur der Alte.
Hin. Die Rückfahrt wird schwieriger.
Die Vorläufer des Wetters sind da.
Aber er manövriert prächtig. Ist der alte Herr oft in der Luft gewesen?
In jungen Jahren, als er anfing sich mit dem Luftschiff zu beschäftigen, sehr
oft; jetzt kürzlich wieder einmal, um zu sehen, ob er noch gut zu Hause da oben sei.
Sehr gut. Hui, da faßt ihn ein Windstoß!
Mit scharfem Pratt fuhr der Gewitterwind dem goldnen Engel in die Seite,
aber die Fläche, die der breitgezogne Ballon dem Feinde bot, war gering: er
schwankte wohl, wurde aber nur wenig aus der Bahn gerissen. Wie sie oben dem
Anprall begegneten war von unten nicht mehr zu beobachten, Wolkenfetzen wurden
über ihn hingerissen, und den Zuschauern flogen Staub, Blätter und Astwerk in
die Augen. Noch einmal hielt der Wind den Atem an, langsam und grollend
kamen die Wolken und umringten deu tollkühnen Erfinder.
Sie sollten sich sofort herablassen, sagte der Redakteur unruhig, dort am Busch
ließe sich landen; ich dächte, einstweilen hätten sie genug von ihren Künsten
gezeigt.
Die oben aber verfolgten eigensinnig ihre Bahn. Seitwärts gedrängt, den
alten Weg zurückgewinnend, schwankend jetzt von der Gewalt des Kampfes zwischen
Wetterkraft und Menschenwillen, glatt vorwärts während der kurzen Frist, da der
Sturm Atem schöpfte zu neuem Stoß, so näherten sie sich ihrem Ausgangspunkt.
Da hätten wirs ja, sagte der Offizier und ließ das Glas sinken, sie setzen
es durch. Noch zwei Minuten, und wir haben sie unten. Achtung, Leute! greift
zu, wenn sie landen.
(Fortsetzung folgt)
Am 27. September
vorigen Jahres hat der Verband Deutscher Arbeitsnachweise in München seine erste
Versammlung abgehalten. Ans der Eröffnungsrede des Dr. stir. Freund aus Berlin
führen wir nur an, daß der Anspruch mancher Unternehmerverbände, den Arbeits¬
nachweis ohne Mitwirkung der Arbeiter und unparteiischer Behörden leiten und
beherrschen zu dürfen, mit dem Grundsätze der Unparteilichkeit unvereinbar sei, zu
dem sich der Verband bekenne. Zwei Punkte der Tagesordnung: Arbeitsnachweis¬
statistik und Gebührenfreiheit des Arbeitsnachweises, lassen wir als reine Fachan¬
gelegenheiten beiseite. Dagegen beansprucht der Gegenstand, der an erster Stelle
behandelt wurde, das allgemeine Interesse. Es wurde da die Frage beantwortet:
Wie können die Arbeitsnachweise dazu beitragen, der Landwirtschaft Arbeitskräfte
zu erhalten und zuzuführen? Der erste Referent, Rat Dr. Naumann aus Ham¬
burg, legte dar, wie die Arbeitsnachweise gerade durch die städtischen Verhältnisse
dazu gekommen seien, das Land in ihre Thätigkeit hineinzuziehen. Der Arbeits¬
nachweis könne natürlich keine neue Arbeit schaffen, sondern nnr Angebot und Nach¬
frage zusammenbringen. Man habe das zunächst dadurch versucht, daß mehrere
Städte mit einander in Verbindung getreten seien. Das habe hie und da etwas,
im ganzen aber wenig geholfen, denn in einem und demselben Gewerbe bestünden
meistens an verschiednen Orten dieselben Konjunkturen. Da sei es denn natürlich,
daß man ans Land gedacht habe, wo jetzt ständiger Arbeitermangel herrsche. Die
Arbeitsverfassung auf dem Lande werde durch drei Wanderzüge über den Haufen
geworfen. Der erste, die Snchsengängerei, sei von den Landwirten der Nübeu-
gegeuden hervorgerufen worden, und man könnte demnach sagen, die Landwirte des
Ostens möchten selbst und allein die Sache mit denen des Westens ausmachen,
wenn nur nicht dadurch die Arbeiterbevölkerung überhaupt in Bewegung geraten
wäre. Die Arbeiterschaft des Ostens habe mit der des Westens Fühlung gewonnen,
und so füllten sich jetzt auch die westlichen Judustriebezirke mit polnischen Arbeitern
aus dem Osten. Und ein großer Teil der in Bewegung geratnen Arbeitermassen
Ströme den Städten zu. Mit dieser dritten Bewegung habe es um der städtische
Arbeitsnachweis zu thun. Welche Beweggründe mich für die Landflucht der Ar¬
beiter angegeben werden möchten, die Hauptsache bleibe doch, daß die Industrie im
allgemeinen höhere Löhne zu zahlen in der Lage sei. Dagegen lasse sich nichts
thun, und man würde der Bewegung ihren Lauf lassen müssen, wenn die Industrie
der Landwirtschaft nicht mehr Leute entzöge, als sie braucht. Aber es wanderten
weit mehr Arbeiter in die Stadt, als diese beschäftigen könne. Die höhern Löhne
wirkten wie Lotteriegewinne; die Zuziehenden sähen nur die Treffer und nicht die
nieder. Er wisse das sehr genau, weil er an der Untersuchung teilgenommen
habe, die der Hamburger Hafenstreik veranlaßt hat. Bei der dortigen Hafenarbeit
fänden mindestens sechstausend und höchstens zehntausend Arbeiter Beschäftigung.
Wahrend des Streiks aber hätten zwölftausend Mann Arbeit gesucht. Daran sei
nun nicht zu denken, daß städtische Arbeiter aufs Land geschickt werden könnten.
Es gebe nur wenige landwirtschaftliche Arbeiten, für die städtische Arbeiter taugten.
Vielmehr müsse man sich darauf beschränkn, dem Zuzug vom Lande dadurch ent¬
gegenzuwirken, daß man so lange keine zugezvgnen Arbeiter anstelle, als noch ein¬
heimische Arbeit suchten. Die Vorliebe der Unternehmer für auswärtige und
namentlich ländliche Arbeiter sei ja in einzelnen Fällen berechtigt, aber im allgemeinen
müsse man sie bekämpfen. Um den Ausgleich zwischen Stadt und Land und zwischen
den verschiednen Gegenden herbeiführen zu können, müßten allerdings die Arbeits¬
nachweise bedeutend starker sein, als sie vorläufig sind: sie müßten zunächst den
städtischen Arbeitsmarkt wirtlich beherrschen. Vor allem müsse man nach genauer
Kenntnis des Arbeitsmarkts streben, damit die Lage um jedem Ort und in jedem
Gewerbe öffentlich bekannt gemacht werden könne. Wenn die Landleute erfuhren,
daß in der nächsten Stadt dreißig bis vierzig Bäckergesellen überschüssig seien, so
würden sie kaum ihre Kinder zu dortigen Bäckern in die Lehre geben. Freilich
hätten die Unternehmer ein Interesse daran, Arbeitermassen in die Stadt zu locken,
denn je stärker die Ware „Arbeit" angeboten werde, desto wohlfeiler sei sie. Sie
mochten aber auch daran denken, daß ein Überangebot Streiks nicht verhinore, und
daß gerade die Überschüssige« gegen die Wiederaufnahme der Arbeit stimmten, Leute,
die sich bei Streikunterstützung besser stehen als sonst, wo sie gar nichts haben.
Liege es also schon nicht im wohlverstandnen Interesse der Unternehmer, daß sich
in den Städten ein wirkliches Proletariat anhäufe, so noch weit weniger in dem
des Staates. Sollten aber die Bemühungen der städtischen Arbeitsnachweise den
Landwirten etwas nützen, so müßten sich diese in der Behandlung der Leute den
Anforderungen der Zeit anbequemen; ihm sei es vorgekommen, daß Leute, die
Landarbeit zu übernehmen bereit gewesen seien, bloß deshalb in die Stadt zurück¬
gekehrt seien, weil sie der Herr geduzt habe.
-
Der zweite Referent, Bürgermeister Ol, Thoma ans Freiburg i. Br., führt
unter anderm aus, daß sich der Mangel an ländlichen Arbeitern keineswegs auf
die Latifundiengegenden des Ostens beschränke, sondern sich dem bäuerlichen Klcin-
besitz im Südwesten ebenso fühlbar mache, und daß namentlich das weibliche Ge¬
schlecht auf dem Lande nicht festzuhalten sei. In Pforzheim und Freiburg habe
rinn die Erfahrung gemacht, daß auf hundert männliche Dienstboten, die der Arbeits¬
nachweis beim Bauer unterbringe, kaum zwei bis drei weibliche kommen, die sich
aufs Land schicken lassen, und dieses, trotzdem in Baden sogar der Nominallohn
auf dem Lande dem städtischen beinahe gleich stehe. Belehrung, nicht allein der
Arbeiter, sondern auch der Landwirte, hält er für das notwendigste und wirksamste
Mittel. Mit der Heranziehung italienischer Arbeiter sei in Baden den Landwirten
nicht geholfen; denn diese seien durchweg kleinere Bauern, die den Dienstboten oder
Arbeiter in die Familiengemeinschaft aufnehmen müßten, und das mit einem Aus¬
länder zu thun widerstrebe ihnen. fAus demselben Grunde finden die russisch-
Polnischen Arbeiter im Osten nur auf den Rittergütern, nicht beim Bauer Ver^
Wendung,)
Der Assessor Dr. Treuter aus Halle, Vertreter der Landwirtschaftskammer der
Provinz Sachsen, legt dar, daß die städtischen Arbeitsnachweise den Landwirten
nichts nützen können. Diese müßten ihre eignen Arbeitsnachweise haben. In der
Provinz Sachsen habe vor sieben Jahren der landwirtschaftliche Zentralverein einen
begründet, und die Rechtsnachfolgerin des Vereins, die Landwirtschaftskammer, habe
ihn vor drei Jahren übernommen und ausgebaut. Ein Arbeitsnachweis, der nicht
von Landwirten geleitet werde, könne die Landwirte nicht gut bedienen. Denn es
gehöre die genauste Sachkenntnis dazu, zu beurteilen, ob ein Arbeiter für eine be¬
stimmte Stelle geeignet sei. Zur Landarbeit werde weit größere Geschicklichkeit er¬
fordert, als zu den meisten industriellen Arbeiten, und außerdem größere Körper¬
kraft; städtische Arbeitslose seien, schon weil ihnen die Körperkraft fehle, auf dem
Lande schlechterdings gar nicht zu gebrauchen. Zudem seien die Erfordernisse für
die verschiednen Verrichtungen und für verschiedne Wirtschaften so verschieden, daß
manchmal ein Arbeiter, der sich in dem einen Dienste ganz gut bewährt habe, für
einen andern nichts tauge. Die Gründe, die in der Industrie gegen einen bloß
aus Unternehmern bestehenden Arbeitsnachweis sprächen, seien auf dem Lande nicht
vorhanden.
Aus der langen und interessanten Debatte können wir nur wenige Äußerungen
anführen. Der Gewerkvereinsanwalt, Dr. Max Hirsch, hebt hervor, daß das
Interesse der Landwirte mit dem der städtischen Arbeiter zusammenfalle, denen ja
daran liegen müsse, Lohndrücker fern zu halten, und empfiehlt Belehrung der
Jugend über das furchtbare Elend, das den städtischen Arbeitern in vielen In¬
dustriezweigen beschieden sei. Baron von Cetto, Vertreter des deutschen Land¬
wirtschaftsrats, meint, die Belehrung sei namentlich Aufgabe des Geistlichen, der
auch Herausfinden müsse, welche von seinen Feiertngsschülern fürs Gewerbe, welche
für die Landwirtschaft sich besser eigneten. Professor Dr. Poeschel berichtet über
die Sachsenstiftung als ihr Vertreter. Diese hat es sich zur Aufgabe gemacht, „ge¬
dienten Soldaten, die ohne Verschulden stellenlos geworden, und besonders den
alljährlich im Herbst nach vorwurfsfrei erfüllter Dienstpflicht zur Reserve entlassenen
Mannschaften unentgeltlich Arbeit zu vermitteln." Es kann die Thatsache nicht
verschwiegen werden, sagt Herr Poeschel, „daß der Landwirtschaft ein großer Teil
ihrer Arbeiter durch den Militärdienst nicht nur vorübergehend entzogen, sondern
dauernd entfremdet wird (Rufe: Sehr richtig!). Es liegt mir fern, hieraus gegen
die militärischen Einrichtungen selbst einen Vorwurf abzuleiten; aber da die Truppen
aus taktischen Gründen auf die Städte konzentriert sein müssen, so lernen die jungen
Leute das Leben in der Stadt mit seinen Genüssen und Verführungen kennen, und
das eben entfremdet sie dem Lande. Ich spreche da keine Theorie aus, denn ich
stehe seit vier Jcihreu in der Praxis und habe mir viel Mühe gegeben, dem ent¬
gegen zu wirken. Wer vom Pfluge und Stalle weg zum Militärdienst gekommen
ist und dort zwei bis drei Jahre gedient hat, mag in der Regel aus der Stadt
nicht wieder hinaus. Am auffallendsten zeigt sich dies bei den Reservisten der
Kavallerieregimenter. Wenn einer mehrere Jahre hoch zu Roß gesessen hat, so
wünscht er bei seiner Entlassung allenfalls eine Stelle als herrschaftlicher Diener,
am liebsten aber einen »Vertrauensposten«, ohne eine klare Vorstellung von einem
solchen zu haben, nur um keine schwere Arbeit mehr verrichten zu dürfen. Können
sie nicht gleich eine solche Stellung erhalten, so thun sie lieber monatelang gar
nichts, als daß sie eine der vielen freien landwirtschaftlichen Stellen annähmen."
Die Sachsenstiftuug arbeite nur darauf hin, die dem Lande entstammenden Burschen
wieder aufs Land zurückzuführen, und sie habe schon manchen Erfolg erzielt. Zwei
Arbeitersekretäre, Karl Schirmer und der Tischler Rand, teilen mit, daß sie vom
Lande seien und sehr gern auf dem Lande geblieben wären, daß aber ihre Eltern
in der Meinung, es sei in der Stadt leichter, sich eine Existenz zu begründen, sie
ein Gewerbe hätten lernen lassen, wie denn überhaupt die Bauern ihre Kinder in
die Stadt zu bringen pflegten, weil das schmale Erbe zur Versorgung der Kinder
auf dem Lande nicht hinreiche. Grcmdke, der Vertreter der Landwirtschaftskammer
für die Provinz Brandenburg, sprach das große Wort gelassen aus: „Einmal
haben wir den sich stetig verringernden Rest ständiger Arbeiter und ihnen gegen¬
über die immer zunehmende Summe von Wanderarbeitern, die der moderne land¬
wirtschaftliche Betrieb nicht mehr entbehren kann, und auf die er je länger je mehr
feine ganze Wirtschaftsführung zuzuschneiden gezwungen war, mit denen wir jetzt
als mit einem ständigen Bedürfnis zu rechnen haben." Wenn das der Fall ist,
dann muß auch der Staat neu zugeschnitten werden, denn Nomaden, namentlich
ausländische, sind in der bestehenden Staatsverfassung nicht vorgesehen. — Getöse
hat der Verbandstag die ländliche Arbeiterfrage freilich nicht, aber daß er sie von
allen Seiten beleuchtet hat, verdient immerhin einigen Dank.
Man hat heutzutage medizinische, chemische, technische Ver¬
suchsstationen aller Art, aber staatswirtschaftliche Versuchsstationen, wo die zahllosen
volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Vorschläge durchprobiert werden könnten,
werden wir leider niemals haben, denn auf diesem Gebiete gilt der Satz, daß sich
das, was im kleinen ganz gut möglich ist, im großen gewöhnlich als undurchführbar
erweist, und die modernen Staaten sind sehr groß. Zur Lösung der Brotfrage
schlägt der in den Zeitungen öfter genannte Freiherr Dr. Friedrich zu Weichs-
Glon,") ein warmherziger, menschenfreundlicher Tiroler, nicht die Verstaatlichung
des Getreidehaudels vor wie Kauitz, nicht die Verstaatlichung des Getreidchandels
und der Brotbereitung wie der Müller Till in Brück a. d. Mur, sondern die
Kvmmunalisiernng der Brotbereitung; die Gemeinden sollen — mit einer durch
eine große Anleihe anfzubriugenden Staatshilfe — die Brotbereitnng übernehmen
und sollen ausschließlich Mehl verwenden, das aus inländischen Getreide hergestellt
ist; dadurch sollen „stabile hohe Getreidepreise bei billigem Brote" gesichert werden.
Wir wollen uns nicht mit der agrarischen Einbildung herumschlagen, in der auch
der übrigens keineswegs einseitig agrarische Weichs-Giou befangen ist, daß „wuche¬
rische Spekulation" die Getreidepreise drücke und dadurch die Landwirtschaft zu
Grunde richte. Wir wolle» auch nicht bei dem ausführlichen Lobe der mittel¬
alterlichen Obrigkeiten verweilen, die sich mit Brottaxen und zahllosen andern Ma߬
regeln um die Versorgung des Volkes mit gutem Brote bemüht hätten; das Löb¬
liche an diesen Bemühungen sind der gute Wille, das Pflichtgefühl und die ge¬
sunden sozialen Grundsätze, die sich in solchen Maßregeln aussprechen, und wovon
man allerdings so mancher der modernen Regierungen ein gleich großes Maß
wünschen möchte; um den Erfolg ist es immer und überall recht schlecht bestellt
gewesen. Dagegen müssen wir hervorheben, daß die Brotfrage im ersten der drei
Sinne, die er ihr beilegt, gar nicht mehr vorhanden ist. Die Menschheit kann
heute jederzeit soviel Brot haben, wie sie braucht und haben will; dafür haben die
moderne Technik, die durch sie ins unbegrenzte gesteigerte Produktivität der Arbeit
und der Welthandel gesorgt. Weichs-Giou führt gegen die Wahrheit, daß diese
modernen Kräfte die Hungersnöte — wenigstens für die Kulturvölker — beseitigt
haben, die Sizilianer an, von denen ein großer Teil nur Gras und Wurzeln zur
Nahrung habe. Er hätte sich nicht auf Sizilien zu beschränken brauche», sondern die
ärmere Bevölkerung von ganz Italien anführen können. Zur Charakteristik von
deren Lage mag folgendes Geschichtchen dienen, das der dem jungen Königreich
sehr günstig gesinnte römische Korrespondent des Berliner Tageblatts vor ein paar
Jahren erzählt hat. Er berichtet über den Tod eines Pfarrers in der Lombardei.
Dieser vortreffliche Mann hatte, weil ihm das Volk leid that, eine Bäckerei er¬
richtet, und verkaufte das darin bereitete gute Brot zu dem nämlichen Preise, wie
das elende Brot verkauft wird, das die Leute dort gewöhnlich haben. Seine
Bäckerei ist nach kurzem Bestand eingegangen; sie verlor sehr bald alle ihre Kunden.
Warum? Die Leute erklärten: Dieses Brot schmeckt so gut, daß wir und unsre
Kinder zu viel davon essen; unser Tagelohn reicht nicht so weit, daß wir so viel
Brot kaufen könnten. Der Posthornkorrespondent würde dieses Geschichtchen wohl
nicht erzählt haben, wenn er seine jedem Denkenden einleuchtende Tragweite erkannt
hätte; man könnte ein ganzes Buch drüber schreiben. Und ähnlich stehts in Ru߬
land. Über die Hungersnot dieses Sommers hat Tolstoi in Ur. 217 und 218
der Wiener Zeit berichtet. Er hat die davon betroffnen Gegenden bereist und an
einigen Orten „Speisetische" eingerichtet, aber die Polizei hat seine Thätigkeit
unterbrochen, sodaß er sich genötigt gesehen hat, von dem für den Zweck gesam¬
melten Gelde über 3500 Rubel den Sperbern zurück zu geben. Ju Italien wie
in Rußland konnte das Brot bergehoch daliegen und halb so viel kosten wie im
wohlfeilsten der letzten Jahre, die Leute würden trotzdem hungern müssen. Dafür,
daß Brot vorhanden sei, hat die „wucherische Spekulation" im Verein mit dem
technischen Fortschritt gesorgt; woran es nun liegt, daß das Brot trotzdem nicht
zu den Hungernden gelangt, das können wir hier bei dieser Gelegenheit nicht noch
einmal breit treten.
Was Deutschland und wohl auch Österreich betrifft, so ist es da, wenigstens
in allen größern Städten, um die Luftbeschaffung weit schlechter bestellt als um
die Brotbeschaffung, und wenn anch in diesen Ländern hie und da zu wenig Geld
auf Brot übrig bleibt, so liegt es daran, daß die Luft zu viel kostet; für eine
Wohnung mit atcmbarer Luft muß mancher Arbeiter, mancher kleine Beamte,
mancher kleine Handwerker den vierten, den dritten Teil seines Einkommens opfern.
Ja dieses Opfer wird manchmal gebracht für eine Wohnung ohne Luft und Licht.
Haarsträubende Geschichte» erzählt Lieber, Oberinspektor des Vereins „Arbeiter-
Heim," aus Stettin (siehe Ur. 12 der Sozialen Praxis, Spalte 3l7). Und mit
abhängigen Personen macht man gar keine Umstände. Man stopft sie in luftlose
Löcher, und könne« sie darin nicht atmen, so mögen sie kr—. Damit kommen wir
auf den zweiten Sinn der Brotfrage: wie unser Brot ohne Schmutz und Menschen¬
schinderei hergestellt werden könnte, und in diesem Sinne ist die Brotfrage aller¬
dings vorhanden. Weichs-Giou entwirft teils nach den Berichten österreichischer
Gewerbeinspektoren, teils nach eignen Wahrnehmungen „Backstubenbilder," die noch
über die Bilder in der Schrift Bebels gehn. Das Ärgste erzählt er nicht, weil
sich das nach unsern Sitten nur in geschlossenen Gerichtsstuben und in medizinischen
Zeitschriften erzählen läßt. Besonders schön sind die „Wohnungen" der Gesellen
und Lehrlinge in Trieft. In zwei Bäckereien müssen die LehrÜnge, um in ihr
Schlafloch zu gelangen, auf einer Leiter in einen Bodenraum hinaufsteigen und
von dort dnrch eine Mciuerluke kriechen, die in dem einen Falle 1,2 Meter hoch
und 80 Centimeter breit, im andern 95 Centimeter hoch und 68 Centimeter breit
ist. Ju einer andern Bäckerei hatte die Sanitntskvmmission, um zu den drei
fensterlosen „Wohnräumen" zu gelangen, eine nicht bloß an sich, sondern auch
wegen der unmittelbaren Berührung mit dem Buckofen gefährliche Treppe hinauf¬
zuklettern; in einer dritten mußte mein, um die übrigen Betten zu erreiche», ent¬
weder über das vorderste Bett hinüberklettern, oder neben diesem Bett uns die
Brüstung des offnen Fensters treten, nnter dem ein ungedeckter Bruunenschlund
gähnte. An drei Orte» war ein Teil des Kohleuloches durch hineingelegte Stroh¬
säcke zur Schlafstelle hergerichtet. Daß, wo überhaupt Betten Porhanden sind, jedes
für zwei oder drei Leute dient, und daß sie von Schmutz starren, versteht sich von
selbst. Weichs-Giou ist der Ansicht, daß diesen Augiasstall auszuräumen weder die
Kirche noch die Polizei die Macht habe, und nachdem sich sogar der Magen der
vornehmen Leute ohnmächtig erwiesen hat — sie haben den ersten Ekel überwunden
und lesen nun nichts mehr von solchen Sachen, um sich den Appetit nicht zu ver¬
derben —, muß man ihm Wohl recht geben; es giebt nur ein Mittel dagegen: durch
Großbäckereien — mögen sie von Kapitalisten oder von Gemeinden oder von Ge¬
nossenschaften errichtet werden — die Sndelbäckcr entweder bankrott machen oder
sie durch Konkurreuzdruck zur Reinlichkeit und Ordnung zwingen. Indes einiges
vermag die Polizei schon, und was sie vermag, das soll sie auch leisten; bei uns
zunächst für strenge Durchführung der Bäckereivervrdnung sorgen, der hoffentlich bald
eine zweite, schärfere folgen wird. Weichs-Giou, der überhaupt viel nützliches
Material beibringt, stellt die Verordnungen andrer Staaten zusammen, die viel
weiter gehn. In der Schweiz z. B. ist die Nachtarbeit nur solchen Bäckereien er¬
laubt, die keine jungen Personen beschäftigen, und jedem erwachsenen Arbeiter muß
nach der Nachtarbeit eine uuunterbrvchne Ruhezeit von dreizehn Stunden gewährt
werden; in Norwegen aber ist die Nachtarbeit unbedingt und allgemein verboten,
und allen Bäckereiarbciteru ist der zwölfstündige Maximalarbeitstag und eine
dreißigstüudige Sonntagsruhe gesichert.
Noch einen dritten Sinn legt Weichs-Giou der Brotfrage bei; es soll die
Aufgabe gelöst werde», wie ein Brot hergestellt werden könne, das mit Wohl¬
geschmack und Leichwcrdaulichkeit den höchsten erreichbaren Nährwert verbindet.
Das dürfen wir, meine ich, der freien Thätigkeit der Wissenschaft, der Volksauf-
kläruugsvereiue und der großen Brotfabriken überlassen. Um noch einmal auf die
ewigen Klagen über unrechtmäßige Bäckergewinue zurückzukommen, so könnte
wenigstens der eine, auch von Weichs-Giou beklagte Übelstand gehoben werden, daß
bei der heutigen Art des Brotverknnfs, wo der Preis gleich bleibt und nur das
Gewicht sich ändert, jede Kontrolle unmöglich ist, wenn nicht für jede Stadt von
10 0^0 Einwohnern ein Dutzend Polizeibeamte expreß zum Berechnen des Brot¬
gewichts und zum täglichen Nachwiegen angestellt werden soll. Rezensent hat
wiederholt in den Grenzboten und anderwärts darauf hingewiesen, daß die allein
vernünftige, für alle andern Waren geltende Verkanfsweise auch für das Brot schon
durchgeführt worden ist,*) sich ganz leicht durchführen läßt und für den Bäcker,
sofern dieser nicht auf unrechtmäßigen Gewinn spekuliert, weit bequemer ist. Das
Brot wird immer gleich schwer verlauft (z. B. ein sechspfündiges oder fünfpfündiges
und ein drei- oder zweieiuhalbpfündiges Brot), der Preis aber wechselt täglich nach
dem Getreidemarktpreise; mit jeder Mark, die der Doppelzentner Roggen auf- oder
abschlägt, schlägt das Pfund Brot einen halben Pfennig auf oder ab. Die Dumm¬
heit, Gleichgiltigkeit und Schlamperei, mit der sich das beständig nörgelnde und
klagende Publikum die hergebrachte unvernünftige Verkaufsweise gefallen läßt, da
es doch, wenn es wollte, die Änderung augenblicklich erzwingen könnte, gehört zu
den Entschuldigungsgründen, die jede Regierung für sich anführen kann, wenn man
sie beschuldigt, daß sie etwas Unvernünftiges thue oder dulde oder etwas Vernünf¬
tiges unterlasse.
Die Ergebnisse der Statistik,
die Dr. Adolf Neumann-Hofer in seinem Schriftchen: „Die Entwicklung der
Sozialdemokratie bei deu Wahlen zum deutschen Reichstage" (zweite Ausgabe, Berlin,
Konrad Skopnik, 1393) aufgestellt hat, kennen die Leser aus den Zeitungen. Die
Zeitungen sind Fraktivnsorgane, und für die Fraktionspolitik kommt bei der Sache
nichts in Betracht als die Frage, wie der Sozialdemokratie Wähler abgewonnen
werden könnten zu Gunsten einer andern Fraktion. Man ist nun auf deu Ge¬
danken gekommen: da nur in zwei Wahlbezirken, Altona und Leipzig-Land, die Zahl
der sozialdemokratischen Wähler 50 Prozent der Wahlberechtigten um eine Kleinig¬
keit übersteigt (sie betrug in diesen beiden Kreisen 50,79 und 50,37 Prozent),
so sei es leicht, den Sozialdemokraten alle Mandate zu nehmen bis auf diese
zwei; man brauche ja bloß alle Philister, die bei den Wahlen daheim bleiben, durch
ein Gesetz zur Stimmabgabe zu zwingen. Wir lassen es dahingestellt sein, ob
die Rechnung stimmen, und welchen Parteien die Zwaugsvota zufallen würden.
Der Staatsmann hat andre Sorgen. Er fragt sich, wie es komme, daß die be¬
friedigten Parteien, wenn man das Zentrum dazu rechnet, nur 3 753 073, die un¬
befriedigten aber, von denen die Sozialdemokraten doch nur eine, wenn auch die
stärkste, siud, 4005072 Stimmen abgegeben haben, und daß die Zahl der Stimmen
der Unbefriedigter stetig wächst. Er fragt sich ferner, ob sich die Ursachen der
Unzufriedenheit nicht heben ließen. Er fragt sich drittens, ob es möglich sein würde,
mit dem Kartell allein ohne das Zentrum zu regieren, dessen Wähler also der
Partei der Unzufriednen zuwachsen würden, und ob es eine Verminderung der
Schwierigkeit bedeuten würde, wenn es gelänge, durch die Abschaffung des allgemeinen
Wahlrechts der Bekundung der Unzufriedenheit ein Ende zu machen. Und er fragt
sich viertens, ob die Kartellparteien wirklich als befriedigte und sozusagen als Re¬
gierungsparteien anzusehen seien, da doch die Agrarier dazu gehören, und wie es
unter diesen Umständen um die Einigkeit und innere Gleichförmigkeit der herrschenden
Partei stehen würde.
Der Berliner Magistrat hat
das Baronsche Vermächtnis abgelehnt, weil die ärztlichen Autoritäten erklären, es
sei bedenklich, Kinder bloß mit Brot, Gemüse, Obst, Milch und Eiern zu ernähre».
Ich werde mich hüten, als gänzlich Unsachverständiger in den Streit über den
Vegetarismus hineinzureden (der übrigens, wo Milch und Eier zugelassen werden,
gar keiner mehr ist). Aber ich finde, daß in der ganzen Debatte eine sehr wichtige
Frage nicht gestellt worden ist: Wie viel Fleisch, und was für Fleisch kriegen denn
die Ziehkinder, die vom Magistrat gegen ein paar Mark monatlich armen Familien
in Pflege gegeben werden; und kriegen diese Ziehkinder auch nur so viel Milch
und Eier, wie sie in dem von Baron geplanten Waisenhause bekommen würden?
In Schriften von Ärzten, die keine Naturärzte siud, habe ich wiederholt gelesen,
daß eine Butterschnitte mit Obst dazu eine bedeutend wertvollere Nahrung sei als
ein Stückchen ausgekochtes Rindfleisch, das nur aus unverdaulichen Fasern besteht.
s ist ein unausrottbarer Irrtum, daß sich jeder für das, was
ihm anscheinend am nächsten liegt, auch am stärksten interessieren
müsse; die tägliche Erfahrung beweist das Gegenteil. Wäre die
Meinung richtig, dann müßte es z. V. keine leidenschaftlichem
Alpentouristen geben als die Schweizer, aber die Liste ruhmvoll
abgestürzter „Kraxler" weist, von berufsmäßigen Führern natürlich abgesehen,
unerwartet wenig helvetische Namen ans. Über die Kunstschätze und sonstige»
Genüsse Berlins weiß der Eingeborne sicher weniger Bescheid, als der seit drei
Tagen anwesende Vetter ans Meseritz, und wer sich über fremde Länder unter¬
richten will, soll um Himmels willen keinen Seemann fragen — von dem erfährt
er zuverlässig nichts oder wenigstens nichts Gutes.
In der Politik ist es nicht anders. So oft die Flotte verstärkt oder eine
neue Kolonie mit der deutschen Flag-ge beglückt wurde, dachte der harmlose
Binnenländer: Wie werden sich die Küstenbewohner, wie Werdensich vor allem
die lieben Hansestädte freuen! Und wenn man ihm dann sagt, daß nirgends
der koloniale Gedanke kühler aufgenommen worden ist als in Hamburg und
Bremen, daß sich in beideu Städten lange Zeit nicht einmal die bescheidenste
Gruppe der Deutschen Kolvnialgesellschaft halten konnte, daß der Spott über
Kolonialbestrebungen dort fast zum gute» Ton gehörte, dann steht er vor einem
Rätsel, das ihm unlösbar scheint. Und doch handelt es sich zum guten Teil
um nichts andres als um die alltägliche Erfahrung, mit der ich diese kleine
Betrachtung eröffnet habe. Dem Hausenten mißfällt die Kolonialpolitik, gerade
weil sie ihm zu nahe gerückt ist, weil ihr der verlockende blaue Duft der Ferne
sehlt, und vielleicht auch, weil er ihre großen und hoffnungsvollen Züge über
den störenden Einzelheiten übersieht.
Das bedarf natürlich einer genauern Erklärung, und vielleicht ist gerade
jetzt, wo sich eine gewisse Wendung anzubahnen scheint, die Zeit dazu gekommen.
In Hamburg ist die Kolonialgesellschaft schon vor einiger Zeit geräuschvoll
wieder erstanden, in Bremen gegen Ende des vorigen Jahres ebenfalls. Lübeck,
die kleinste und vom großen Weltverkehr entlegenste der Hansestädte, hat sich,
charakteristisch genug, von Anfang an freundlicher zur Kolonialpolitik gestellt,
obwohl auch dort der Kaufmannsstand im allgemeinen eine abwartende Haltung
einnimmt. Was insbesondre Bremen anlangt, so hat hier die Besetzung von
Kiautschou eine starke Wirkung hervorgebracht und die Stimmung geändert.
Von wirklicher Kolonialbegeisterung ist deshalb aber noch lange keine Rede,
und die Ansprache, mit der Senator Unheils die neubegründete Abteilung der
Kolonialgesellschaft eröffnete, konnte kaum kühler und vorsichtiger gehalten sein.
Es ist eine Reihe verschiedner, aber eng miteinander zusammenhängender
Ursachen, die die abweisende Haltung der Hansestädte bewirkt hat. Man muß
sich zunächst erinnern, daß Hamburg und Bremen große Mittelpunkte des
Handels sind, in denen der Kaufmann mit seiner eignen kühl-praktischen
Lebensanschauung den Ton angiebt; alles, was an die Hanseaten herantritt,
muß sich wohl oder übel darauf ansehen lassen, ob es für die Geschäfte günstig
ist oder nicht, ob es sichern Ertrag verspricht, oder ob den unvermeidlichen
Kosten nur zweifelhafte Zukunftshoffnungen gegenüberstehen. Natürlich be¬
standen die neuermvrbnen Kolonien das Examen schlecht: ihr Nutzen war
vorerst gering, die Notwendigkeit, gerade in ihnen Handel zu treiben, lag nicht
vor, und zum Überfluß begann sich die Bureaukratie dort breit zu mache»,
die mit ihren Verordnungen und Schreibereien dem auf freie Bewegung an¬
gewiesenen Großkaufmann ein Greuel ist. Daß man aber die Vorteile des
Kolonialbesitzes für die Zukunft und den Einfluß des Reichsschutzes auf die
weitere Entwicklung wenig achtete, liegt abgesehen von der eben erwähnten
Scheu vor allem büreaukratischen Wesen in dem herkömmlichen Gedankengang
der ältern Generation hanseatischer Kaufleute begründet, die lange vor der
Errichtung des Reichs schon erfolgreich ihre Geschäfte im Auslande trieben.
Und hier liegt ein zweiter wichtiger Punkt: der Nutzen des bewaffneten
Schutzes, den die deutsche Flotte jetzt allen im Auslande lebenden Deutschen
angedeihen läßt, ist gerade in den Hansestädten nicht so lebhaft und dankbar
empfunden worden, wie sich erwarten ließe. Flotte und Kolonialpolitik aber
stehen ja neuerdings im engsten Zusammenhang.
Es ist von wohlmeinenden Enthusiasten der Gegensatz zwischen Einst und
Jetzt, zwischen der frühern völligen Schutzlosigkeit des Handels und dem heutigen
allgemeinen Respekt vor Deutschland so oft und so glühend geschildert worden,
daß man leicht übersehen konnte, ein wie geringes Echo diese Erörterungen in
den Hansestädten fanden, ja wie gelegentlich einmal von der hanseatischen
Presse ein kleiner Wasserstrahl gegen diese Begeisterung gerichtet wurde. In
Wahrheit erscheint dem Hamburger oder Bremer Kaufmann die schutzlose, die
schreckliche Zeit gar nicht in so grausigen Lichte, ja sie hatte neben manchem
Unerquicklichen ihre Vorzüge, an die er vielleicht mit einer gewissen Sehnsucht
zurückdenkt. Man kann seine damalige bescheidne, aber nicht unangenehme
Lage am besten mit der gegenwärtigen der zahlreichen Schweizer Kaufleute
vergleichen, die an allen möglichen Punkten des Erdballs ebenso munter und
erfolgreich ihre Geschäfte treiben wie ihre englischen oder deutschen Berufs¬
genossen. Die Schweiz hat keine Flotte und kann nie eine haben, und doch
hat es den Schweizern niemals an Schutz gefehlt, und gerade die Kleinheit
und Harmlosigkeit ihres Landes schafft ihnen Freunde. Ähnlich verhält es sich
mit Belgien. Solange Deutschland ein geographischer Begriff war, erfreuten
sich die kleinen, im ganzen wohlgelittneu hanseatischen Republiken gleich günstiger
Umstünde. Seit der Gründung des Reichs ist es natürlich damit aus — no-
blEssö odliZs —, aber in rein materieller Hinsicht ist der Tausch gar nicht
so unendlich vorteilhaft, und man darf es dem Kaufmann, der immer zunächst
mit materiellem Gewinn und Verlust zu rechnen hat, nicht ganz verdenken,
wenn er nicht sonderlich warm dabei wird. Er steht eben der Sache zu nahe.
Der Binnenländer dagegen neigt vielmehr zur Kolonial- und Flottenbegeisterung;
er wird sich vielleicht in tausend Einzelheiten irren und verrechnen, aber er
sieht klarer das große Ziel des Ganzen, das weit über den Bereich nüchterner
Rechenkunst hinausfällt.
Ein weiterer Umstand trägt dazu bei, den Hanseaten gegen die anfangs
etwas schülerhaften Versuche der deutschen Kolonialpolitik mißtrauisch und
kritisch zu macheu; das ist seine Bewunderung für England. Bei dem wilden
deutsch-englischen Zeitungskampfe nach dem Jamesonschen Einfalle war es auf¬
fällig, wie gerade von der hanseatischen Presse Müßigung und Versöhnung
gepredigt wurde, zuweilen und besonders in Bremen in einem Maße, das hart
ein die Grenze dessen ging, was mit nationalem Selbstgefühl vereinbar war.
Das war nicht einfach ein Ausfluß der Abneigung gegen kriegerische Wirren,
wie er allen Handelsstädten natürlich eigen ist, das beruhte auf einem tiefern
freundschaftlichen Gefühle gegen England, das in früherer Zeit so oft den
Schutz hanseatischer Interessen bereitwillig übernommen hatte. England ist
das Land des Großhandels, der als Herrscher auftritt und dem Volke und
allen staatlichen Einrichtungen seinen Stempel aufprägt; nirgends fühlt sich
denn auch der Kaufmann, mag er Brite sein oder nicht, so wohl und un¬
gestört wie in den englischen Besitzungen mit ihrem Freihandel, ihrer bürger¬
lichen Freiheit und ihrem Mangel an militärischen und büreaukratischen Ein¬
griffen. Wenn man sich in den unermeßlichen englischen Kolonien frei
bewegen und seine herkömmlichen Handelsbeziehungen pflegen konnte, wozu
brauchte man da auf ein paar vernachlässigten und anscheinend geringwertigen
Küstenstrecken Afrikas und Ozeaniens deutsche Grenzpfähle aufzustellen und eine
Anzahl Leutnants und Assessoren hinauszuschicken, die mit ihren schneidigen
Verordnungen das bischen Handel noch vollends zu zerstören drohten? Das
sind Anschauungen, die anch heute noch in den Hansestädten sehr mächtig sind.
Es kommt noch dazu, daß dem Kaufmann mit der großen Aufmerksamkeit,
die man ihm in den Kolonialgesellschaften zuwendet, gar nicht sehr gedient ist.
Das ist eine ganz natürliche Folge des Konkurrenzkampfs. Über Art und
Ertrag seiner Geschäfte Rechenschaft abzulegen, seine Handelsbeziehungen auf¬
zudecken, den Betrieb seiner Faktoreien zu schildern, dazu findet er sich sehr ungern
bereit, und von seinem Standpunkte mit Recht; es ist ihm manchmal lieber,
sich mit irgend einem Negerpotentaten schlecht und recht auseinanderzusetzen,
als sich von den deutschen Beamten in den Topf gucken und jeden ein- oder
ausgehenden Warmhalten sorgfältig zählen und aufzeichnen zu lassen. Daher
ist auch bei deu Firmen, die in deutschen Besitzungen arbeiten, die Begeisterung
sür die neue Lage nicht so groß und allgemein, wie sich erwarten ließe; wo
sie an der kolonialpolitischen Bewegung in der Heimat teilnehmen, geschieht
es mehr aus wohlverstandner Klugheit — es ist immer besser, mit der Re¬
gierung auf gutem Fuß zu bleiben, die schon über allerlei Mittel verfügt, den
Kaufleuten das Dasein zu erleichtern oder zu erschweren.
Das Verhältnis würde herzlicher sein, wenn sich das hanseatische Kapital
eifriger an dem aufblühenden Plantagenban beteiligen würde; aber auch in
diesem Falle sind es zuerst die industriellen Kreise des Binnenlandes gewesen,
die aus ihrer Zurückhaltung herausgetreten sind, abgesehen von einigen wenigen
Ausnahmen. Das hanseatische Kapital sucht eben nach alter Gewohnheit An¬
lage im Handelsverkehr, wie er nur in kultivierten Gebieten gedeihen kann,
und daher auch die Freude über den Erwerb von Kiautschou. Hier wird sich
eine wirkliche Handelskolonie entwickeln, wie sie die Hanseaten wünschen und
brauchen.
Das Verhalten der beiden Hansestädte an der Nordsee ist gegenüber der
Kolonialpolitik nicht ganz dasselbe gewesen. Hamburg hat unbedingt von
Anfang an mehr Verständnis für die Sache gezeigt und bethätigt, während
sich Bremen äußerst zugeknöpft verhielt; es ändert daran nichts, daß der erste
Anstoß zur Erwerbung von Kolonien von dem Bremer Kaufmann Lüderitz
ausging, denn Lüderitz nahm keine hervorragende Stellung ein und ist bis
zuletzt vereinzelt geblieben. Die Ursachen der Verschiedenheit liegen hauptsächlich
darin, daß in Hamburg der Ausfuhrhandel vorwaltet, in Bremen dagegen der
Import, und zwar der Import einiger weniger Güter, wie Tabak, Baumwolle,
Wolle, Reis. Petroleum usw. Der Bremer Handel hat also seine ganz be¬
stimmten Bahnen, an die er sich gewöhnt hat, und demnach wenig Interesse
für neue Produktionsgebiete; die Hamburger Ausfuhr dagegen muß mit der
beständigen Vermehrung der Absatzländer rechnen und läßt sich die Ausschließung
der deutschen Kolonien nicht ungern gefallen. Die deutsche Regierung fand
denn auch fast ausschließlich Hamburger Faktoreien in den nenerworbnen Ge¬
bieten vor. In Deutsch-Westafrika treibt nur eine größere Bremer Firma
Handel, und diese eine steht in enger Beziehung zur norddeutschen Mission,
was ihre Freude an der deutschen Besitzergreifung sicher nicht vermehrt hat.
Ist es doch der Leiter dieser Mission, der in der Bremer Presse oft in sehr
scharfer und einseitiger Weise die Pläne der Negierung, das Schutzgebiet von
Togo zu erweitern, bekämpft und verurteilt hat!
So ist es denn auch gekommen, daß die Wendung zu Gunsten der Ko-
lonialpolitik in Hamburg früher und stärker eingetreten ist als in Bremen,
wo die Kolonialfreudigkeit auch jetzt noch etwas Künstliches hat und mehr
dem Bestreben entspringt, nach obenhin guten Willen zu zeigen, als herzlicher
Teilnahme. Auch der schwerfälligere, obgleich zähe und gediegne Charakter
des Bremers kommt hier zur Geltung, daneben auch ein gut Stück berechtigten
hanseatischen Selbstgefühls, das sich nicht gern von andern ins Schlepptau
nehmen läßt. Man beginnt Wohl einzusehen, daß die lange ironische Zurück¬
haltung ein Fehler war, daß es hohe Zeit ist einzulenken, wenn man noch
am gedeckten Tische Platz finden will, aber ein gewisser Trotz hindert noch
daran, das offen einzugestehen. Übrigens werden die Hansestädte, wenn sie
einmal warm geworden sind, auch in andrer Weise eingreifen, als durch
Vereinsmeierei, die in solchen Fällen dem kaufmännischen Wesen nicht entspricht.
Was man in den Hansestädten zu sehr übersehen hat, ist die unermeßliche
ideale Bedeutung des machtvollen Hinausgreifens über den engen Raum der
Heimat. Das friedliche Bild des Welthandels mit der offenstehenden englischen
Thür kann sich einmal verhängnisvoll ändern, und wohl dem, der dann seinen
„Platz an der Sonne" hat! Die neue, für Deutschland ungünstige Zollpolitik
Kanadas ist das erste Grollen eines aufsteigenden Gewitters, das Einsichtige
längst prophezeit haben. Und auch die geistigen Interessen Deutschlands
fordern es, daß es nicht in seinen engen europäischen Grenzen verkümmert und
verknöchert. Das sind Anschauungen, die in der ältern Generation der
Hanseaten noch wenig Boden finden, für die aber in der Jugend das Ver¬
ständnis zu dämmern beginnt. Die Hansestädte müssen und werden sich mit
den Kolonien und der Weltpolitik befreunden, dafür bürgt die Gesinnung des
heranwachsenden Geschlechts.
Dann aber wird man in diesen Städten vielleicht auch einsehen, daß die
kalte Zurückhaltung ein schweres Unrecht gegen das übrige deutsche Volk und
gegen die Regierung gewesen ist. Es war freilich leicht, kinderleicht, über
mißlungne Verwaltungsmaßregeln und fragwürdige Beamtengestalten zu spotten,
der Bitte aber: Helft uns, daß wir es besser machen! ein kühles Achselzucken
entgegenzusetzen. Es genügt da wahrhaftig nicht, in der Frühstückspause vor
der Börse einige zerschmetternde Bemerkungen fallen zu lassen, oder durch die
Presse ein paar weise Lehren zu erteilen; hier handelt es sich um das gute
Beispiel, um ehrliche Mitarbeit an einer großen Aufgabe, mag sie auch nicht
gleich riesenhafte Gewinne verheißen. Daran aber hat es nur zu sehr gefehlt.
Das ist eine Schuld, und — alle Schuld rächt sich auf Erden. Wenn sich
jetzt der Hanseat den Kolonien zuwendet und sie nicht nach seinem Sinne ein¬
gerichtet findet, so lasse er nicht nur seinen Groll an denen aus, die dort ge¬
arbeitet und sich geopfert haben, sondern schlage auch einmal an seine eigne
Brust!
Aber die Zeit der Mißverständnisse ist im Schwinden und möge niemals
wiederkehren. Küstenbewohner und Binnenländer werden sich in Zukunft nicht
mehr bekämpfen, sondern sich, wie es den Söhnen einer gewaltigen Mutter
zukommt, gegenseitig fördern und ergänzen, beiden zum Heile und dem Reiche
zur Ehre!
er Jurist, dessen Berufung auf einen Lehrstuhl der National¬
ökonomie im Sommer 1897 so großes Aufsehen erregt hat, legt
uns in einem Bande von 632 und XVI klein gedruckten Seiten
groß 8° das Gesamtergebnis seiner bisherigen Studien vor unter
dem Titel: Die bewegenden Kräfte der Volkswirtschaft
(Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1898). Das Buch enthält außer Volkswirtschaft
auch Philosophie, Politik und verschiednes andre, ist also eine Art Encyklo¬
pädie. Da nicht viele die Geduld haben werden, sich durchzuarbeiten, könnte
man es unberücksichtigt lassen; aber der Verfasser ist Lehrer der akademischen
Jugend, und da halte ich es doch für eine Pflicht, auf die eigentümliche
Lebensweisheit, die Karl Theodor Reinhold jedenfalls auch seinen Studenten
verkündigt, hinzuweisen. Nicht in denunziatorischer Absicht; ich bin ganz ebenso
wie Reinhold (S. 443) davon überzeugt, daß es eine „große Verkehrtheit"
ist, „der Lehrfreiheit auf den Universitäten, der Wirksamkeit der Geistlichen und
Beamten Schranken anzuweisen und der vielleicht irrenden, aber redlichen Über¬
zeugung den Mund zu verbinden"; sondern weil eben doch der gebildete Teil
des Volkes ein Interesse daran hat, es zu erfahren, daß auf der Universität
Lehren vorgetragen werden, die gewissen, allgemein als selbstverständlich an-
genommnen Glaubensmeinungen und Grundsätzen widersprechen. Ich kann hier
natürlich nicht das ganze Buch kritisieren, sondern muß mich auf einige Haupt¬
punkte beschränken.
Die Grundlage seiner Lebensansicht hat Reinhold von Schopenhauer be¬
zogen. Der menschliche Wille ist ein Bruchteil des Weltwillens, und dieser
Weltwille ist nicht allein dumm, wie Schopenhauer und Hartmann wollen,
sondern böse. „Daß der Mensch in seinem Verhalten zu seinen Mitgeschöpfen
selbstsüchtig und böse ist von Jugend auf, steht an der Pforte jeder wahren
Erkenntnis" (S. V). „Der Mensch erscheint der wahren Selbsterkenntnis zwar
als bewundrungswürdiger Idealist im gebräuchlichen Sinne dieses Wortes,
zugleich aber als grausamer Egoist" (S. 24). So unablösbar haftet das Böse
dem Willen an, „daß wir den Willen selbst treffen, wenn wir seinen bösen
Dämon töten" (S. 89). Von einigen besondern Fällen abgesehen, „handelt
der Mensch als wirtschaftlicher Egoist mit einer Unbedenklichkeit und Bestimmt¬
heit, die sein Verfahren eben als einen praktischen Prozeß des Vernunftlebens,
also als notwendig zeigen. Kein Idealismus im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, keine Liebe, keine Blutsverwandtschaft, keine Freundschaft und An-
standspflicht — kurz, nichts auf der Welt wird in solchen Füllen, wo die An¬
eignung und Festhaltung von wirtschaftlichen Gütern als Existenzbedingung
in Betracht kommt und der sinnliche Lebensdrang unmittelbar wirkt, den
edelsten, »selbstlosesten« Menschen abhalten, als Selbstsüchtling sein eignes
Interesse, sein Selbst zu wahren" (S. 138). Daher sind alle Versuche einer
Sozialreform Thorheit. Da die Güter nicht für alle reichen, und da jederzeit
jedermann entschlossen ist. das Wohl des Nächsten seinem eignen Wohl zum
Opfer zu bringen, so muß die Mehrzahl elend sein. Daran läßt sich schlechter¬
dings nichts ändern; die Welt ist, wie sie ist, und bleibt so. In freien Ländern,
wie in England, hat ja das Volk die Gewalt; warum beseitigt es das Elend
nicht? Weil es nicht will. „Jeder hat gerade genug mit sich selbst zu thun;
das Mitleid mit dem Elend der Mitmenschen allein hat noch niemand dahin
gebracht, sein Vermögen mit den Armen zu teilen" (S. 317). Wenn die über
die Unvernunft des sozialen Zustands erstaunte und entrüstete Welt den bösen
Willen der Reichen und der Staatslenker dafür verantwortlich mache, so habe
sie zwar die Schuldigen richtig bezeichnet, aber nicht vollständig genannt, denn
alle Menschen, die Leidenden eingeschlossen, seien gleich böse und in gleichem
Grade schuldig. „Stahlhart ist das Herz, unbarmherzig vor der furchtbaren
Not und unerbittlich dem heißesten Flehen. Sein Besitz scheint ihm nie groß
genug oder gar zu groß. Der Mensch sieht absolut keinen Grund ein, wes¬
halb er etwas aufopfern soll, was er hat, wenn ihm nicht ein Gegenwert ge¬
boten wird; ehe er etwas opfert, ein Gut unentgeltlich abgiebt, zerstört er es
lieber" (S. 405 bis 406). Christentum und Kirche, meint er, griffen das
Problem an der rechten Stelle an, indem sie den sündigen Willen für den
Feind erklärten, der bekämpft werden müsse, aber leider lasse sich der Wille
nicht kreuzigen, und überdies — sei es sein gutes Recht, sich den Forderungen
des Christentums gegenüber zu behaupten (S. 422).
Rein hold kennt den Menschen nicht. Dieser ist kein so bösartiges Tier.
Du lieber Gott! Was doch der Mensch für ein armes, gutes Tier ist! ruft
Goethe einmal. Leute, die ohne Entgelt schenken und helfen (wenn man nicht
etwa schon die damit verbundne Befriedigung eines Herzensdranges als
Entgelt bezeichnen will), habe ich in meinem Leben genug kennen gelernt, und
wenn sie hente seltner geworden sein sollten, so ließe sich das aus gewissen
Umständen leicht erklären. Da es sich hier nicht bloß um eine, sondern um
die Kardinalfrage des Daseins handelt, so wird man mir wohl erlaube»,
meine Ansicht darüber noch einmal kurz auszusprechen.
Es sind bekanntlich die Schrecken erregenden und die dem Menschen Leid
zufügenden Naturerscheinungen gewesen, was die Vorstellung von bösen Göttern
erzeugt hat. Im Parsismus, den der Manichäismus beerbt hat, ist der
Versuch gemacht worden, die guten und die schlimmen Wirkungen in zwei
von einander gesonderte Kategorien zu bringen und jede dieser beiden Kate¬
gorien auf ein UrWesen zurückzuführen. Die kirchliche Teufelslehre ist zaghaft
abgeschwächter Manichäismus. Auf die Weisheit der Inder zurückgehend, hat
Schopenhauer einen neuen Versuch der Schematisierung unternommen, indem
er den Willen als die Quelle alles Übels, die Vorstellung oder Idee oder den
Intellekt als das Mittel der Erlösung vom Übel darstellt. Alle solche Sche-
matisierungsversuche scheitern an der täglichen Erfahrung, daß jedes Ding, es
mag heißen Geist oder Fleisch, Wille oder Verstand, Armut oder Reichtum
oder sonstwie, je nach Umständen bald Gutes und bald Böses wirkt. Was
sittlich gut und was sittlich böse sei, darüber gehn ja die Meinungen sehr
weit aus einander, aber darin dürften die meisten übereinstimmen, daß sie
Schädigungen des Nächsten aus Selbstsucht böse nennen. Nun bin ich mit
den Hellenen überzeugt, daß niemand von Natur die Neigung zu solchem
Bösen hat. Den Teufel oder sonst ein böses Wesen für den Urheber der Welt
halten, das kann uur ein Fieberkranker. Ist aber die Welt Geschöpf oder
Sclbstoffenbarung eines guten Gottes, dann ist auch der Weltwille gut, sowohl
in seinem Grunde wie in seinen einzelnen Äußerungen, und das Böse kann
nur eine Wirkung der Schranken und der Konflikte sein, die der Jndividua-
tionsprozeß mit sich bringt. Dieser Ansicht ist auch der große Augustinus
gewesen, ehe ihn der Kampf gegen Pelagius in die krasse Erbsündlehre hinein¬
trieb. So lange er den Manichäismus bekämpfte, war er überzeugt, daß der
Mensch nur das Gute wolle, das sittlich Böse daher nichts sei, als ein durch
täuschende Erscheinungen verschuldetes Vergreifen im Objekt. Und der Kirchen¬
vater Basilius, der Große genannt, schreibt (ein befreundeter Theologe hatte
mir zufallig gerade, ehe ich Reinhold zur Hand nahm, die Stelle in lateinischer
Übersetzung mitgeteilt): „So werden die Menschenseelen durch ihre eigne Natur
angetrieben, das Schöne zu begehren. Wahrhaft und im eigentlichen Sinne
schön, daher begehrens- und liebenswürdig, ist aber nur das Gute, und das
Gute ist Gott; da nun das Gute von allen begehrt wird, so streben alle zu
Gott hin."*)
Unter den Mächten aber, die den von Natur auf das Gute gerichteten
Willen irre führen, steht obenan der religiöse Aberglaube, der den Fana¬
tismus erzeugt. In der Christenheit hat die von Henkerphantasien ausgemalte
Hölle eine krankhafte Begier erzeugt, einmal durch Selbstpeinigung der ver¬
meintlichen ewigen Pein zu entgehn, andrerseits den Nächsten durch Peinigung
seines sterblichen Leibes der ewigen Qual zu entreißen. Dadurch hat man
sich an Grausamkeit gewöhnt, hat die ganze Justiz vergiftet und barbarisch
gemacht, und ist endlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert auf die
Stufe jener asiatischen Länder hinabgesunken, wohin der Lichtgott Apollo die
Furien verweisen will, dahin, wie Äschylus ihn sagen läßt, wo mörder-
köpfendes, augauswühlendcs Gericht wütet, wo Gemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung an der Tagesordnung sind, wo Aufgespießte jammer-
laut, Gesteinigte verröchelnd wimmern; auf eine Stufe, die das Griechenvolk
in der homerischen Zeit beinah, in der des Perikles vollständig überwunden
hatte, wofern es sich überhaupt einmal darauf befunden haben sollte. Poly-
bius erzählt in seinem ersten Buch die in dem Kriege der Karthager gegen
ihre aufständischen Mietsoldaten verübten Greuel mit dem bei einem Hellenen
selbstverständlichen Abscheu. Guichard aber, ein von Friedrich dem Großen
hochgeschätzter Militärschriftsteller, meint in einer seiner Abhandlungen zu dieser
Erzählung, die Anführer jener afrikanischen Horden seien nur Stümper in der
Grausamkeit gewesen, verglichen mit dem päpstlichen Feldherrn Serbelloni, wie
er sich bei der Einnahme von Orange bewiesen habe, und dem Kalvinisten-
führer Baron des Adrets, der für die Unthaten dieses Mannes Vergeltung
geübt habe. Und das ist nur ein Fall unter unzähligen andern, weit be¬
kanntem und weit ärgern Fällen. Nur ein geistiger Kampf, der das Christen¬
tum selbst in seinen Grundfesten erschütterte, war imstande, den Greueln ein
Ende zu machen, für die das gotteslästerlich gemißbrauchte Evangelium hatte
den Vorwand**) abgeben müssen, und die verschüttete Humanität wieder aus-
zugraben. Solchen Verirrungen gegenüber hat die sokratische Lehre recht, daß
das Böse aus Irrtümern des Verstandes hervorgehe und durch Belehrung ge¬
hoben werden könne. Natürlich gilt das nicht bloß von den großen weit-
geschichtlichen Verirrungen, sondern auch von den unzähligen kleinen Jndivi-
dualirrtümern, wie sie das Alltagsleben mit sich bringt.
Allerdings aber reicht der Sokratismus zur Bekämpfung der Übel nicht
hin, weil es außer Unwissenheit und Irrtum noch eine zweite große welt¬
historische UnHeilquelle giebt: die sozialen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte.
Daß jedes Wesen sich selbst zu erhalten streben muß, versteht sich von selbst;
das ist nichts Böses, das ist nur die immerwährende Offenbarung des Schöpfer-
Willens, der durch die allgemeine Verzichtleistung aufs Dasein, wie Schopen¬
hauer und Hartmann sie ihren Mitgeschöpfen gütigst empfehlen, aufgehoben
werden würde. Und dieser Wille der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung
bedeutet keineswegs, wie sich Reinhold einbildet, die Verneinung,^) sondern
gerade die Bejahung der andern. Stellen wir uns einmal vor, es wäre
möglich, daß ein Mensch allein auf Erden leben könnte, und fragen wir einen be¬
liebigen nicht gar zu Dummen, ob er dieser eine Mensch sein möchte, so wird
er ohne Zögern antworten, daß er lieber gar nicht als allein auf der Welt
sein wolle; ein jeder bejaht sich selbst nur unter der Bedingung, daß auch
andre da seien; und die Stärke und Weite des Bedürfnisses, an der Förderung
des Lebens andrer thätig zu sein, giebt eben einen der Maßstäbe für die
Moralität des Menschen ab. Selbstbejahung und Bejahung der andern
schließen einander gegenseitig so ein, daß sie gar nicht von einander getrennt
gedacht werden können, und der theoretische Egoismus ist eben solcher Unsinn
wie der theoretische Altruismus. Was Christus als Gebot ausspricht: Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ist nichts andres als der natür¬
liche Zustand und die natürliche Stimmung des Menschen und braucht gar
nicht geboten zu werden; jeder thuts, so gut oder so schlecht es die Umstünde
erlauben. Aber sie erlauben es leider meistens nur in sehr beschränktem Maße;
die Einheit von 6Zc> und alter wird dnrch die Interessenkonflikte vielfach gestört
und zuweilen ganz aufgelöst und in einen feindseligen Gegensatz verkehrt. Am
schärfsten tritt dieser Gegensatz hervor in einer Panik, wo sich auch die edelsten
und sanftmütigsten Menschen wie wilde Tiere benehmen. Nun giebt es soziale
und wirtschaftliche Zustände, die keine scharfen Interessenkonflikte hervorbringen,
ein solcher ist der des reinen Vauernstaats; in ihm kommt es gar nicht vor,
daß des einen Gedeihen oder gar des einen Dasein vom Untergange des
andern abhinge; dem Bauern schadet es gar nichts, wenn seines Nachbars
Weizen und Vieh gedeiht. Dagegen schadet es dem Krämer, dem Schuster
sehr viel, wenn seine Kunden zum Nachbar laufen, und seitdem sich alle Pro¬
duzenten in Warenverkäufer verwandelt haben, trägt der Konkurrenzkampf der
Kulturstaaten vielfach das Gepräge einer Panik, wo jeder der Pflicht der
Selbsterhaltung nur dadurch nachkommen kann, daß er den Nächsten zu Boden
trampelt. Da liegt es denn doch nahe zu fragen: Muß denn das so sein?
Wenn es nie und nirgends anders gewesen wäre, dann könnte man es für den
natürlichen Zustand und für unvermeidlich halten. Aber da es zu Zeiten auch
anders gewesen ist und stellenweise heute noch ist, so erscheint die Möglichkeit
eines Zustandes nicht ausgeschlossen, wo nicht der Satz von Hobbes gilt:
uomo Iioiuini luxus, sondern der Satz von Spinoza: nomo domini nisus.
Der Konkurrenzkampf ist gut, soweit er die Völker vor Erschlaffung und Er¬
starrung bewahrt, den Fortschritt der Technik im Fluß erhält und dem Einzelnen
Gelegenheit bietet, durch Opfer seine sittliche Natur zu bewähren; dieser Kampf
wird ein Übel und verwerflich, sobald er zum Bösen zwingt und das Gute
unmöglich macht. Das mag noch an einem besondern Falle verdeutlicht werden.
Reinhold malt die Fabrikgrcuel, namentlich die englischen, nicht weniger schwarz
wie ich und hebt namentlich auch hervor, daß die Kinderausbeutung etwas
unsrer Zeit eigentümliches sei.*) Es wäre nun gewiß thöricht, zu glauben,
die Menschennatur habe eine Verschlechterung erlitten, und es sei namentlich
die natürliche Mutterliebe geschwunden. Die Wendung ist aus dem sehr ein¬
fachen Grunde eingetreten, weil in den ältern Wirtschaftssystemen und in denen
der Naturvölker die Verwendung der Kinder für den Erwerb weder notwendig
noch möglich war und ist, während in der heutigen Wirtschaftsordnung ganz
allgemein die Möglichkeit und vielfach auch die Notwendigkeit gegeben ist. Be¬
haupten, daß der Staat und die Gesellschaft das nicht zu ändern vermöchten,
das heißt, die materialistische Geschichtsauffassung proklamieren, derzufolge die
Technik allein ohne Mitwirkung der Vernunft den jeweiligen Zustand der Ge¬
sellschaft bestimmt.
Im vorstehenden hat man zugleich meine Ansicht von Erbsünde und Er¬
lösung. Allgemeine Irrtümer und gesellschaftliche Übelstände erzeugen schlechte
Gewohnheiten und böse Neigungen. Wenn religiöser Aberglaube blutige Opfer
vorschreibt, so wird dadurch dem ganzen Volke der Blutdurst anerzogen. Die
Wollust der Grausamkeit wird geweckt und treibt zu Verbrechen, die mit grau¬
samen Strafen bekämpft werden, und so vollendet die Justiz die „Volks¬
erziehung" nach dieser Seite hin. Kindermißhandlungen, die anfänglich bloß
zur Erzielung von Geldgewinn verübt werden,^) stumpfen die natürliche
Empfindung ab und verleiten zu andern Mißhandlungen, die nicht durch jenen
Zweck veranlaßt und einigermaßen entschuldigt werden; es bildet sich bei rohen
Eltern die Gewohnheit aus, an einem wehrlosen Kinde den Unmut über ihre
Leiden und Entbehrungen und den Zorn über sein als Last empfundnes Dasein
auszulassen, und wenn sich dann vollends die Grausamkeit mit der Wollust
verbindet, gebiert sie Ruchlosigkeiten, von denen die heidnischen Griechen nichts
gewußt haben. In einem Konkurrenzkampf endlich, der jeden in einen Interessen-
konflikt mit jedem verwickelt, entschwindet die Thatsache, daß die Menschen von
Natur eiuer des andern Ergänzung und Helfer und einander unentbehrlich sind,
mit der Zeit vollständig den Blicken; die Wahrheit, daß das höchste Glück in
der Sorge für andre besteht, wird vergessen, man gewöhnt sich daran, in allen
Menschen Feinde zu sehen, und die natürliche Sympathie, wofern sie nicht ganz
verloren geht, schrumpft dermaßen ein, daß sie nur die allernächsten Verwandten
umfaßt. Alle diese schlechten Gewohnheiten und Neigungen werden nun durch
Vererbung und Erziehung fortgepflanzt und durch Summierung verstärkt, und
eben darin besteht die Erbsünde.
Die Erlösung aber ist durch Christus gegeben, nicht im theologischen
Sinne und nicht als etwas Fertiges, sondern als eine Offenbarung, die das
Heilmittel aufweist und dazu treibt, es immer wieder aufs neue anzuwenden.
Gott ist als Kind erschienen, und der Mensch gewordne Gott hat in die Mitte
seiner Jünger ein Kind gestellt und gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie dieses
Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehn. Nicht ein getauftes Kind
war es, nicht ein Wunderkind, das schon in frühen Jahren die Weltweisheit
eingesogen Hütte, sondern ein ungetauftes, nach dem theologischen Sprachgebrauch
„unerlöstes" und ein durch keine Philosophie und keinen Drill „vergeistigtes"
Judeubüblein; ein Büblein, nicht besser und nicht schlechter als die übrigen
Büblein, die herumstanden, ein Büblein mit einem Worte, wie es Gott der
Herr geschaffen hat. Denn eben darauf kommt es an. Was aus den Händen
des Schöpfers hervorgegangen ist, das ist gut. Das Schlechte an der Gottes-
schöpfnng haben Unwissenheit, Irrtümer und gesellschaftliche Verhältnisse, hat
die Kultur verschuldet. Nicht daß ich die Kultur verachtete oder die Rückkehr
zur Natur im Sinne Rousseaus predigte. Aber jeder Kulturfortschritt erzeugt
Irrtümer, Verwicklungen und Übel, die seinen Wohlthaten das Gleichgewicht
halten, wenn der Mensch nicht aufpaßt, sie sogar überwiegen und die gesunde
Natur, das Göttliche im Menschen, verschütten. Darum bleibt es Aufgabe
jedes Zeitalters, jedes Volkes und jedes Einzelnen, dieses Göttliche, das immer¬
fort verschüttet wird, immerfort wieder auszugraben und dafür zu sorgen, daß
der Kulturfortschritt die Entfaltung und nicht die Verhunzung der Natur be¬
deute. Darin also besteht die Erlösung, von der selbstverständlich nicht die
Rede sein könnte, wenn der Wille, oder was dasselbe ist, die Natur böse
wäre.
Reinhold will aber nicht bloß seine Weltanschauung darlegen, sein Buch
hat eine polemische Tendenz; diese richtet sich, wie man sich denken kann, gegen
die Sozialisten und gegen die Sozialreformer, da diese ja etwas unternehmen,
was nach seiner Ansicht aussichtslos und thöricht ist. Von den Sozialisten
wollen wir nicht weiter reden; da die Zeit des Glaubens an Utopien vorüber
ist, und selbst Bebel vom großen Kladderadatsch und von dem daraus hervor¬
gehenden Zukunftsstaat nichts mehr wissen mag, so hat sich Reinhold mit der
Polemik gegen deren Phantasien eine ganz überflüssige Mühe gemacht. Etwas
anders steht es mit den Sozialreformern, die Reinhold nach einem schlechten
Brauch Kathedersozialisten nennt. Zwar sind diese Herren Manns genug, sich
selbst zu wehren, wenn sie es der Mühe für wert halten, und einer von ihnen.
Schaffte, hat schon den Kritiker gründlich abgefertigt; aber da auch mancher
andre Mann, der gar keinen Lehrstuhl inne hat und in keinem Sinne Sozialist
ist, dieser über die bekannten Professoren verhängten Verdammnis verfüllt, so
liegt es im allgemeinen Interesse, die Methode des gestrengen Richters ein
wenig zu beleuchten.
Zunächst ist es durchaus illoyal, daß er diese Männer Sozinlisten nennt.
Er zeigt selber, daß sie keine sind, daß sie weder das Privateigentum noch
die Vermögensungleichheit anfechten; aber weit entfernt davon, daraus den
Schluß zu zieh«, daß die Bezeichnung Kathedersozialisten unwahr und ungerecht
ist, macht er ihnen vielmehr einen Vorwurf daraus: sie seien inkonsequent;
wenn sie richtige Sozialisten sein wollten (was sie eben nicht wollen und niemals
gewollt haben), so müßten sie für alle das gleiche Einkommen fordern. Warum
sollen sie nun schlechterdings Sozialisten sein? Weil sie in der Kritik des
gegenwärtigen Gesellschaftszustandes mit den Sozialisten übereinstimmen. Das
ist geradeso, wie wenn einer, der das schlesische 120-MillionenProjekt für
Flußregulierung mißbilligt, die Hochwasserschäden leugnen und jedem, der davon
spricht, sagen wollte: Wenn du die Hochwasserschäden anerkennst, mußt du
auch die Ausführung dieses von mir für verwerflich erklärten Projekts fordern.
Übrigens leugnet Reinhold die wirtschaftlichen Übelstände keineswegs; er ent¬
wirft, wie schon erwähnt worden ist, die düstersten Schilderungen davon; aber
er fordert, daß man sich dadurch nicht rühren und zu Reformen bewegen lasse,
sondern das Elend als eine unabänderliche Notwendigkeit hinnehme.
Dann macht er den Professoren — man höre und staune — ihre Un¬
parteilichkeit zum Vorwurf. „Der Sozialismus der Gelehrten ist von seiner
räumlichen Stellungnahme aus von vornherein anfechtbar. Sein Standpunkt
liegt außerhalb des Kampffeldes und kann in einer gegebnen Welt nicht richtig
sein, weil er durch Interesselosigkeit unbefangen ist. In einem notwendigen
Kampf um die Weide ist jeder Unbeteiligte inkompetent, wenn er bestimmen
will, ob und wie dieser Kampf geführt werden soll." Es handle sich nicht
um ein Urteil darüber, was Rechtens sei; im wirtschaftlichen Kampfe sei die
Daseinsfrage gestellt. Die Männer des gelehrten Sozialismus „stehen abseits
vom Strom und schauen von der olympischen Höhe der Betrachtung den mit
den Fluten ringenden zu. Sie kennen weder den furchtbaren Ernst dieses
Kampfes, noch seine Technik. Die weit überwiegende Mehrheit der sozialistischen
Gelehrten ist mit einem auskömmlichen Gehalt angestellt und der Sorge um
das tägliche und weitere Brot entrückt. An festen Kalendertagen erhalten sie
aus öffentlichen Kassen eine namhafte Geldsumme, die gerade den an inner¬
lichem Leben reichen Angehörigen der Geistesrepublik genügt und einen be¬
ruhigenden Wirtschaftsplan für die ganze Lebenszeit ermöglicht. Staat und
Gemeinde, das ganze Volk erscheinen als Garanten ihres Lebens. Keine
Handels- und Gewerbekrisis, keine Konkurrenz, keine Bankrotte oder böswillige
Schuldner, keine Revolutionen in Technik, Ökonomie, Markt und Mode ge¬
fährden ihr Einkommen oder gar ihre Existenz, selbst ein Krieg wird sie selten
außer Brot setzen, alle die erwähnten Gefahren, die wie Nachtgespenster den
kämpfenden Fabrikanten, Kaufmann und Handwerker durchs Leben begleiten,
bleiben dem Gelehrten abstrakte Möglichkeiten für andre, die seinen Gedanken¬
kreis nicht stören. So mag er mit Behagen in dem sanften Strome seines
materiell anspruchslosen, aber gesicherten Lebens dahinschwimmen. Er hat die
Muße, die geistige Anregung und den amtlichen oder vermeintlichen Beruf, sich
der Schaffung einer Theorie hinzugeben, deren praktische Durchführung auf
seine eigne Rechnung er nie zu besorgen hat." Damit solle natürlich nicht
gesagt sein, daß die Aufstellung eines idealen Maßstabs für das richtige Ver¬
fahren im wirtschaftlichen Leben unzulässig und prinzipiell zu verwerfen sei.
Nur solle der Gesetzgeber eines solchen kategorischen Imperativs anerkennen,
daß sein Standpunkt theoretisch ist. Wie weit seine Forderungen durchzusetzen
seien, das habe nicht der Moralprediger zu bestimmen, der das Geld aus
fremden Taschen an die Armen verleite, sondern der das Opfer zu bringen
habe, müsse gefragt werden. Und ungezwungen werde dieser niemals ja sagen.
„Das Opfer muß also durch den vereinigten Willen der Ausgebeuteten er¬
zwungen werden. Auf das mögliche Maß aber wirkt der Gegenzwang auf der
andern Seite, der verzweifelte Widerstand der Besitzer, Unternehmer und Fabri¬
kanten, die jeden Zoll ihrer Herrschaft verteidigen" (S. 444 bis 446). Ent¬
scheidend für das Maß der möglichen Zugeständnisse sei allemal der Zwang
der Verhältnisse. „Kein Koalitionsrecht mit der Folge von Lohnsteigerung
und Freiheit, keine Erhöhung des swuäarä ok Ms mit und ohne Eingreifen der
Staatsgewalt kann die Wirkungen der Konjunktur und die Bewegung des
Weltmarkts ändern. Wie dauernd fallende Konjunkturen große Vermögen zer¬
stören können, so werden sie auch das Verderbe« der vom Lohnfonds Lebenden"
(S. 467). „So führt die Untersuchung immer wieder auf den allerdings
harten, ja trostlosen Satz zurück, daß der Kampf ums Dasein, der die orga¬
nische Welt beherrscht, auch vor der eingebildeten Herrlichkeit und der beau-
spruchten Unsterblichkeit des Menschen nicht Halt macht. Die Konkurrenz um
die beschränkte Weide erneuert sich immer wieder und wird eher heftiger als
schwächer. Der Wille übt daher hier nahezu mit der Gewalt eines physischen
Naturgesetzes seine ausschließliche Herrschaft, und die Vernunft, die Idee hat
gar nicht mitzureden. Sie wird in diesem entfesselten Willenskampf nur als
hausbackner, praktischer Verstand zugelassen, also nur als Werkzeug eben des
Willens, der bekämpft werden soll" (S. 473 bis 474).
Wenn die Regierung Herrn Bebel beauftragt hätte, den fraglichen Lehr¬
stuhl zu besetzen, die Wahl hätte nicht schöner ausfallen können. Denn was
wird denn ein sozialdemokratischer Arbeiter Herrn Reinhold antworten? Bravo!
wird er rufen, „das eben ists ja, was wir immer sagen! Ihr Professoren
und überhaupt ihr Staatsbeamten, Pfaffen und sonstige Pfründner habt uns
gar nicht drein zu reden und uns mit euerm überflüssigen bezahlten Kohl in
unserm harten Kampfe ums Dasein zu stören und zu beirren. Und darum
schweigen auch Sie gefülligst, verehrter Herr Reinhold! Wie kommen Sie
dazu, sich nicht allein in unsre Angelegenheiten einzumischen, sondern noch
dazu für die Unternehmer Partei zu nehmen? Empfangen nicht auch Sie
an jedem Ersten Ihr hübsches Sümmchen? Sind nicht auch Sie auf
Lebenszeit gesichert? Was wissen denn Sie von den Unternehmersorgen,
was wissen Sie gar erst vom Arbeiterelend? Das ists ja, was uns so er¬
bittert, wenn ihr Beamten gegen uns Partei nehmt, die ihr genau das habt,
was wir erstreben: eine auskömmliche Besoldung und Existenzsicherheit. Sind
etwa unsre Dienste weniger wert als die euern? Im Gegenteil! Ohne euer
Geschreibsel, mag es gelehrtes oder büreaukratisches sein, könnten Volk und
Vaterland ganz gut vier Jahre lang fortbestehn, ohne unsre Arbeit nicht vier
Wochen. Also lassen Sie uns gefälligst ungeschoren mit Ihrer Weisheit!
Was wir bei unserm Kampfe erreichen, das hängt, wie Sie ganz richtig sagen,
nicht vom Moralprediger ab und auch uicht vom Prediger der Jmmoral, wie
Sie einer sind, sondern allein vom Zwange der Verhältnisse. Wir wollen
mehr haben, die Unternehmer wollen festhalten, was sie haben. Lediglich
darauf kommt es an, wer von uns beiden auf die Dauer der Stärkere
sein wird. Und wenn wir unsre Stärke unverständig mißbrauchen und mit
den Unternehmern uns selbst zu Grunde richten, was geht das Sie an?
Einen — geht Sie das an! Wir tragen nicht Ihre, sondern unsre Haut zu
Markte. Lehren Sie ja doch selbst, daß die Vernunft in dem Kampf ums
Dasei», der nun einmal Alleinherrscher sei in der Gesellschaft, nichts zu sagen
habe. Und da nach Ihrer Ansicht das Elend unausrottbar ist, so kann es
Ihnen doch wahrhaftig gleichartig sein, ob wir auf diese oder auf jene Weise
elend sind. Und wenn wir außer uns selbst auch noch die Unternehmer elend
machen und uns damit den elenden Trost verschaffen, daß keiner mehr lebt,
den wir zu beneiden Hütten, was berechtigt Sie, dagegen Einspruch zu er-
heben? Einem Pessimisten kann es ja nur recht sein, wenn nichts mehr auf
Erden vorhanden ist, was seinen philosophischen Glauben zu widerlegen scheint.
Oder sollen wir etwa gar die zu Grunde gerichteten Unternehmer bemitleiden?
Fällt uns nicht ein! Das eine Stück Menschenfleisch ist auch nach Ihrer
Philosophie und gerade nach der Ihren nicht mehr wert als das andre! Alle
sind wir ja nur nichtige Blasen, die der dumme, böse Urwille zwecklos auf¬
wirft und zwecklos zerplatzen läßt. Übrigens lassen Sie sich sagen, daß Sie
von der Wissenschaft, die Sie angeblich zu lehren berufen sind, noch nicht einmal
die allerersten Anfangsgründe gelernt haben. Die Teilung des Einkommens
zwischen Unternehmern und Arbeitern ist keineswegs der hauptsächlichste von
den Gegenständen, die die Nationalökonomik zu behandeln hat, und noch
weniger der einzige, wie Sie zu glauben scheinen. Das Hauptverdienst der
Nationalökonomie unsrer Zeit ist, klar gemacht zu haben, daß es Zeiten gegeben
hat, wo die Gütererzeugung und Verteilung ohne Konkurrenzkampf vor sich
gegangen ist. woraus ganz von selbst folgt, daß auch in Zukunft wieder eine
Wirtschaftsordnung möglich ist, wo das wirtschaftliche Schicksal des Einzelnen
nicht von Konjunkturen und von einem Lohnfonds abhängt. Ein glänzendes
Zeugnis für Ihre Unwissenheit ist u. a. der Satz auf Seite 506, mit dem Sie eine
Ihrer Tiraden beginnen: »Wie der schlechteste Boden keine Rente abwirft usw.«
Sie wissen also nicht, daß Ricardos Grundrententheorie längst widerlegt ist.
Vielleicht haben Sie dieser Tage in den Zeitungen gelesen, wie der eben ver¬
storbne Schulz-Lupitz ganz schlechtem Boden hohen Ertrag abgewonnen hat.
Kaum noch aus Unwissenheit ist es zu erklären, wenn Sie den National¬
ökonomen, der Änderungsvorschläge macht, als Moralprediger verspotten.
Gerade der eine unter den Gelehrten der bürgerlichen Klasse, den Sie zu
kritisieren sich wohl gehütet haben, der zwar keine Kathedra eingenommen hat,
der aber dafür wirklicher und entschiedner Sozialist gewesen ist, Rodbertus,
hat die Moralpredigt auf das entschiedenste aus der Nationalökonomie ver¬
bannt. Die Vernunft freilich nicht, wie Sie es thun; von dieser hat er aller¬
dings gefordert, daß sie, wie in allen übrigen menschlichen Dingen, so auch
im Wirtschaftsleben herrschen solle. Und noch eins, Verehrtester! Wie kommen
denn Sie dazu, sich so oft über den demagogischen Ton zu beschweren, den
manche bürgerlichen Ökonomen anschlugen? Niemand hat jemals entschiedner
und unbedingter als Sie das Wirtschaftsleben als einen reinen Machtkampf
dargestellt, in einem solchen aber ist jedes Mittel nicht allein erlaubt, sondern
geboten, wie ja anch im Kriege alles, was den Zweck des Kriegführenden
fördert, für erlaubt und nur unnützes Wüsten und Morden sür unerlaubt gilt.
In einem politischen Kampfe aber — und eines solchen Gestalt nimmt jeder
wirtschaftliche und soziale Kampf mit Notwendigkeit an — kann der Endzweck
ohne Demagogie schlechterdings nicht erreicht werden; denn da jeder politische
Kampf ein Massenkampf ist, die Massen aber nicht, wie ein Kriegsheer, nach
dem Staatsgesetze von der Obrigkeit zusammengebracht und zusammengehalten
werden, so ist ihre Organisation anders als durch die Verwendung zugkräftiger
Schlagwörter und durch die Erregung von Leidenschaften nicht möglich. In
der That hat es denn auch noch nie eine erfolgreiche politische Partei gegeben,
der nicht von den Gegnern Demagogie vorgeworfen worden wäre. Mit Recht,
sofern sie in der That demagogisch verfährt; mit Unrecht, sofern es eben ein
Vorwurf sein soll; auf Demagogie verzichten, heißt auf die Teilnahme am
öffentlichen Leben verzichten und sich auf den Standpunkt des theoretischen
Beobachters zurückziehn, der, wenn er über politische Dinge schreibt und spricht,
nur der Wissenschaft wegen oder zum Zeitvertreib und nicht zu einem prak¬
tischen Zwecke schreibt und spricht. Ausdrücke wie »empörend« und »gehässig«,
die Sie Seite 474 bis 475 von einigen Wendungen Fr. Albert Langes ge¬
brauchen, haben in dem Munde eines grundsätzlichen »Struggleforlifeurs« gar
keinen Sinn und sind noch dazu im vorliegenden Falle illoyal, denn im Grunde
genommen sagt Lange mit seinen Ihnen so mißfälligen Ausführungen nichts
andres, als was Sie selbst 393 ff. und sonst öfter sagen, daß in England der
Sozialismus ungefährlich sei, weil sich dort die Arbeiter unbeschränkter Rede-
und Organisationsfreiheit erfreuen, daß er dagegen in Deutschland revolutionär
sei und gefährlich werden könne, weil diese Freiheit fehle."
So ungefähr würde in dem unwahrscheinlichen Falle, daß ein „Genosse"
Reinholds Buch läse, dieser Genosse sprechen. Dem habe ich nur noch weniges
beizufügen. Reinhold wirft den „Kathedersozialisten." namentlich aber Adolf
Wagner vor, daß sie Illusionen genährt und unerfüllbare Hoffnungen erregt
hätten. Bei wem denn? Bei den Arbeitern nicht; denn denen werden von
ihren Führern die „bürgerlichen" Ökonomen als unfähige Schwachköpfe, Fasel¬
hänse und Wirrköpfe dargestellt. Wenn sie aber bei Beamten, bei Geistlichen,
bei wohlwollenden Unternehmern die Hoffnung erregt haben, daß sich zur
Besserung der Lage der Lohnarbeiter, zur Ausgleichung der Gegensätze und
zur Herbeiführung einer gesundem Einkommenverteilung etwas thun lasse, so
verdienen sie hohes Lob. Hegt man eine übertriebne Vorstellung von dem
Erreichbaren, schadet das gar nichts. Reinhold weiß nicht, was er thut, wenn
er über die Geringfügigkeit des bisher, z. V. in der Bekämpfung der
Wohnungsnot, wirklich Erreichten spottet. Daß Illusionen notwendig sind,
übertriebne Erwartungen auf großartige Erfolge, wie sie der sanguinische
Optimismus erzeugt, wenn überhaupt etwas geschehen und auch nur ein
weniges erreicht werden soll, das wird denn doch schon seit langem von
allen Lebenserfahrnen anerkannt. Wohl treibt still auf geretteten Kahn in
den Hafen der Greis, aber hätte er als Jüngling nicht tausend Hoffnungs¬
masten aufzustecken gehabt, so würde er überhaupt nicht hinausgefahren sein.
Daß die Beschränkung auf das Erreichbare den Erfolg sichere, gilt nur vom
einzelnen Falle in der praktischen Politik; von einem Gesetzentwurf, einem
Eroberungskriege, nicht aber von allgemeinen Kulturbestrebungen; hier schon
darum nicht, weil niemand im voraus wissen kann, was in Zukunft möglich
sein wird. Der fatalistische Satz: Die Welt ist, wie sie ist, und kann nicht
geändert werden, mag er auf Allah oder auf den Pessimismus gestützt werden,
führt in türkische Wirtschaft hinein; wenn wir unsern Zustand mit dem
türkischen vergleichen, so erkennen wir, daß die vielen kleinen Verbesserungen
zusammen genommen doch eine große Wirkung darstellen. Einen Wegebau¬
meister hörte ich einmal entrüstet rufen: „Diese Menschen, er meinte einige
Kollegen, haben kein Herz für die Straße!" Das klang mir sehr lächerlich,
später aber sagte ich mir, daß es gut um Staat und Gesellschaft stehen
würde, wenn alle, vom Könige bis zum Maschinenpntzer und zum Kloakcn-
reiniger, ihr Amt so ernst nähmen und für das allerwichtigste hielten.
Ein Amt aber, zu dem es gehört, die ersprießlichsten Formen für das Ver¬
hältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern, für die Regelung des Geld- und
Kreditverkehrs, für die Bebauung städtischer Grundstücke, für die Verteilung
des ländlichen Grundbesitzes usw. ausfindig zu machen, scheint mir denn doch
noch wichtiger zu sein als das eines Wegebaumeisters. Wenn die Professoren
ihre Amtsthätigkeit nicht hoch anschlagen, meinetwegen überschützen, werden sie
nichts ordentliches leisten, und wenn sie nichts leisten, wird der Negierung im
entscheidenden Augenblick die Grundlage für ihre Entschließungen fehlen. Hätte
vielleicht die preußische Regierung nach 1806 auf das Ergebnis des Macht¬
kampfes warten, d. h. darauf warten sollen, daß die Bauern und Bürger die
Edelleute totschlagen würden wie in Frankreich? Und hätte sie Reformgesetze
ausarbeiten lassen können, wenn es keine Theoretiker gegeben hätte, die die
Agrarverhältnisse studiert hatten?
(Schluß folgt)
ni jemand, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, von
Geldern nach Berlin fahren und dort einige Wochen bleiben,
so darf er nicht glauben, er könne eine halbe Stunde vor Ab¬
gang seines Zuges an der Fahrkartenausgabe des Bahnhofs
Geldern ein Fahrscheinheft nach Berlin über Krefeld, Duisburg,
Hannover fordern. So einfach ist die Sache nicht. Es muß ein schriftlicheri^H/
Antrag, am besten nach vorgeschriebnen Formular, an die nächste Aus¬
gabestelle für Fahrscheinhefte gestellt werden. Diese ist nicht in Geldern,
sondern in Krefeld. Das ausgefüllte Formular muß enthalten: die Fahr¬
scheinstrecken des amtlichen Verzeichnisses, die auf der Reise befahren werden
sollen, ihre Ordnungsnummer in dem amtlichen Verzeichnisse, ferner die so¬
genannte Reihenzahl, die Kilometerzahl und das Fahrgeld, alles nach dem
amtlichen Verzeichnisse, das man sich zu diesem Zwecke für 60 Pfennige
— mit der unentbehrlichen Übersichtskarte für 75 Pfennige — kaufen muß.
Die Verwaltung gestattet zwar auch ein weniger förmliches Verfahren. Man
kann das Fahrscheinheft auch brieflich ohne Formular bestellen, aber in dem
Briefe muß der Reiseweg genau angegeben werden, und wer in dieser Be¬
ziehung sicher gehn will, der thut in seinem eignen Interesse gut, das For¬
mular zu benutzen und in allen Punkten genau auszufüllen. Dabei kann er
merkwürdige Entdeckungen machen. In unserm Falle z. B. die, daß der Name
Geldern in dem Fahrscheiiwerzeichnisse gar nicht vorkommt. Eine von Geldern
ausgehende Fahrscheinstrecke giebt es nicht. Der Reisende muß von Krefeld
ausgehn und hat folgende Strecken zu verzeichnen: Krefeld-Duisburg, Duis-
burg-Hamm, Hamm-Hannover, Hannover-Berlin, Berlin-Hannover. Hannover-
Hamm, Hamm-Duisburg, Duisburg-Krefeld. Von Geldern nach Krefeld und
von Krefeld nach Geldern muß er auf einfache Karte fahren. Die Zahl der
zusammenzustellenden Fahrscheine ist in diesem Falle noch verhältnismäßig
klein, weil zwischen Hannover und Berlin ein Fahrschein genügt.
Vergegenwärtigen wir uns nun, was man zu thun hat, um ein zusammen¬
stellbares Fahrscheinheft für eine Reise von Geldern nach Berlin zu erhalten.
Mindestens acht Tage vor dem Antritt der Reise besorgt man sich das amt¬
liche Verzeichnis der Fahrscheinstrecken mit der Übersichtskarte für 75 Pfennige.
Mau muß so zeitig daran gehn, weil die Station Geldern möglicherweise das
Verzeichnis nicht vorrätig hat, sondern erst kommen lassen muß. Ist mau im
Besitze des Verzeichnisses, so sucht man die oben angegebnen Fahrscheinstrecken
auf. trägt sie nebst Ordnungsnummer, Reihenzahl, Kilometerzahl und Fahr¬
preis in das Formular ein, summiert am Schlüsse die Zahlen und sendet oder
trägt das auch sonst säuberlich ausgefüllte Formular an die Fahrkartenausgabe
in Geldern. Diese kann zwar das Fahrscheinheft nicht zusammenstellen, sondern
muß den Antrag nach Krefeld weiter geben; aber die Ordnung will es so.
Da aber der Ausgabenstelle in Krefeld mindestens sechs Stunden Zeit gelassen
werden muß — sie wird ja das Heft in der Regel schneller zusammenstellen,
ist aber dazu uicht verpflichtet und bei großem Andrange vielleicht nicht im¬
stande —, so thut der Reiselustige gut, wenn er seine Reise am 10. Juli in
aller Frühe antreten will, den Antrag schon am 7. Juli der Fahrkarten¬
ausgabe Geldern einzureichen, denn nur dann kann er sicher sein, daß der
Antrag am 8. Juli nach Krefeld gelaugt, und daß das bestellte Fahrscheinheft
am 9. Juli in Geldern wieder eintrifft. Nachdem er es an diesem Tage in
Empfang genommen hat, versäume der Besteller ja nicht, seinen Namen eigen¬
händig mit Tinte darauf zu schreiben, sonst werden ihm am folgenden Tage
beim Betreten der Bahnsperre noch zeitraubende Weiterungen verursacht. Die
eigenhändige Namensunterschrift soll der Eiseubahnverwaltung eine Sicherheit
dafür bieten, daß das Heft nicht an eine andre Person weiter gegeben wird.
Wie Kinder über vier Jahr, die doch schon eigne Fahrscheinhefte brauchen,
eigenhändig ihren Namen darauf schreiben sollen, falls sie noch nicht schreiben
gelernt haben, darüber sagen die Bestimmungen nichts.
Und alle diese Umstände muß der Reisende sich gefallen lassen, weil die
zusammenstellbaren Fahrscheinhefte den Reiseverkehr erleichtern sollen. Wie
schon erwähnt, ist die Sache im vorliegenden Falle noch ziemlich einfach,
weil es sich um eine Reise nach Berlin handelt. Reisen nach Berlin werden
in den geltenden Bestimmungen ganz besonders begünstigt. Wehe aber dem
Reiselustigen, der in einer längern Reise eine Anzahl von Orten besuchen will,
die nicht an der großen Heerstraße des gewöhnlichen Vergnügungsreiseverkehrs
liegen. Der braucht ganze Tage, um seinen Plan zusammenzubringen, und
wird viel Anlaß zum Ärger darüber haben, daß manche dieser Orte in keiner
der in dem amtlichen Verzeichnis aufgeführten Fahrscheinstrecken vorkommen.
Er wird deshalb häufig entweder Strecken in sein Fahrscheinheft hereinziehen
müssen, die er gar nicht zu befahren beabsichtigt, oder einzelne Strecken, die
nicht hereingezogen werden können, aber doch befahren werden sollen, mit dem
vollen Preise bezahlen müssen. Und wenn schließlich die aufgenommnen Strecken
zusammen nicht ganz 600 Kilometer ausmachen, sondern nur 500 oder 550,
dann steht er vor der Frage, ob er, um die 600 Kilometer voll zu machen,
noch weitere Strecken aufnehmen, oder ans die Preisermäßigung verzichten und
einfache Fahrkarten lösen soll, und ob im letzten Falle soviel an Gepäckfracht
gespart, wie an Fahrgeld zugesetzt wird. Eine umständliche und mühsame
Überlegung und Berechnung ist in jedem Falle notwendig, und dazu kommt
das verdrießliche Nichtbegreifenkönnen, warum man gerade 600 Kilometer
fahren muß, um ein zusammenstellbares Fahrscheinheft zu erhalten.
Da es auf ein solches kein Freigepäck giebt, so sucht man seinen Bedarf
an Wäsche, Kleidungstücken und sonstigem Neisegut als Handgepäck zu ver¬
packen und hat dann seine liebe Not mit dessen Unterbringung, muß den Ärger
der Mitreisenden über die vielen Gepäckstücke ertragen und bei jedem Zugwechsel
im Schweiße seines Angesichts das Gepäck von einem Zuge zum andern schleppen,
oft durch Unterführungen treppab treppauf, oft von einem Ende des lang¬
gestreckten Bahnhofs zum andern, jeden Augenblick mit andern gepäcktragenden
Leidensgefährten karambolierend, oder man muß jedesmal die Dienste eines
Gepäckträgers in Anspruch nehmen und bezahlen, wenn man eines solchen
habhaft wird, was oft genug nicht gelingt. Will der Reisende von einer
Station aus einen Abstecher zu Fuß unternehmen oder einen Freund besuchen
und zu diesem Zwecke eine« Zug überspringen, so muß er die Handgepnckstücke
in Verwahrung geben, was wieder kleine Beträge kostet, die im Laufe der
Reise zu ganz erklecklichen Summen anwachsen, wahrend er aufgegebucs Frei-
gepäck ruhig bis an die Station voraus gehen lassen könnte, wo er Aufenthalt
nehmen will. Auch auf diese Ausgaben muß bei der Prüfung der Frage, ob
Fahrscheinheft oder nicht, Rücksicht genommen werden.
Besser daran ist mit der Gepäckbeförderung, wer auf ein „Rundrcischeft
für bestimmte feste Rundreisen" reist; dem kommt die gewöhnliche Gepäckfreiheit
zu gute. Warum nicht auch dem Inhaber eines zusammenstellbaren Fahrschein¬
heftes? Auch hinsichtlich der Lösung sind die Nundreisehefte etwas bequemer,
denn sie liegen bei gewissen Stationen zum Verkauf aus; aber ihr Fehler ist,
daß sie den Reiseweg von vornherein vorschreiben und deshalb uur in gewisser
Einschränkung benutzt werden können, nämlich nur von denen, denen gerade
mit einer der feststehenden Rundreisen gedient ist. Mit den zusammenstellbaren
Fahrscheinheften haben sie den Mangel gemein, daß eine Änderung des Reise¬
plans nicht erlaubt ist. Man trifft unterwegs irgendwo gute Bekannte,
die nahezu dieselbe Reise machen, nur in andrer Reihenfolge der einzelnen
Fahrscheinstrecken; man möchte, um ihre Gesellschaft zu genießen, seinen Reise-
plan ein wenig ändern, einen Ort vor dem andern aufsuchen — Freunde oder
Verwandte, bei denen man sich einige Tage aufhalte» will, schreiben einem,
daß sie in der angegebnen Zeit selber verreist sind oder andern Besuch haben,
und bitten, man möchte vierzehn Tage später kommen: es,geht nicht, dein
Reiseweg ist dir vorgeschrieben, und jede Abweichung macht wenigstens einen
deiner Fahrscheine ungiltig.
Am günstigsten ist noch die Benutzung der sogenannten Sommerkarten nach
Badeorten, die die Bedeutung von Rückfahrkarten mit mehrwöchiger Giltigkeit
haben und meistens zur Mitnahme von Freigepäck berechtigen. Auch verdient
Anerkennung, daß zu den Ausgangsstationen sowohl der festen Rundreisehefte
als auch der Sommerkarten sogenannte Anschlnßrückfahrkarten mit gleicher
Giltigkeitsdauer ausgegeben werden. Aber man sieht nicht ein, warum man
die Sommerkarten nicht von jeder Station aus erhalten kann, was für den
Reisenden unter allen Umständen bequemer wäre. Auch die zeitliche Be¬
schränkung der Giltigkeitsdauer der Svmmerkarten wie der Rundreise- und
der andern Fahrscheinhefte ist oft eine Quelle von Verdruß. Wie oft mögen
solche Fahrtausweise verfallen, weil unbesiegbare Hindernisse, z. B. schwere
Erkrankung, den Inhaber zwingen, den Reiseaufeuthalt über den Verfalltag
hinaus auszudehnen? Nun ist es mir wohl bekannt, daß die Eisenbahn¬
verwaltung für nicht benutzte Rückfahrkarten ausnahmsweise aus Billigkeits¬
gründen den Schaden vergütet. Ob auch für andre Karten und Hefte, weiß
ich nicht. Kann sie es auf Antrag ohne Schaden thun, warum dann überhaupt
die zeitliche Beschränkung der Giltigkeit? — Der Vollständigkeit wegen sei
übrigens noch erwähnt, daß es für gewisse Reisegebiete, z. B. den Harz, auch
Sommerkarten mit kürzerer Giltigkeit giebt, teils mit, teils ohne Frcigepück-
gewährung. Und wenn man in dem großen Kursbuche aus dem Verzeichnis
der Rundreisehefte und Sommerkarten eine passende Reisekombination heraus¬
suchen will, so hat man mit der Wahl eine unsägliche Qual, und man fragt
sich immer wieder: Warum denn alle diese Umstände? Wenn man von der
Regel der Normalfahrpreise so viele Ausnahmen macht, warum ändert man
da nicht lieber gleich die ganze Regel?
Ja, warum? Immer wieder drängt sich diese Frage auf. Warum giebt
es Fahrpreisermäßigungen nur bei Rückfahrten und Rundreisen? Warum
haben die Rückfahrkarten eine beschränkte Giltigkeitsdauer? Warum ist die
Giltigkeitsdauer verschieden? Warum giebt es bei zusammengestellten Fahr¬
scheinheften kein Freigepäck? Warum kann nicht jede beliebige Eisenbahnstrecke
als Teilstrecke in ein solches Heft aufgenommen werden? Warum dürfen die
Fahrscheine in zusammengestellten und in festen Rundreiseheften nur in der
gegebnen Reihenfolge vor- oder rückwärts abgefahren werde»? Warum giebt
es Sommerkarten mit verschiedner Giltigkeitsdauer, mit und ohne Freigepäck?
Warum werden Sommerkarten nur von bestimmten Stationen, nicht von jeder
Station aus ausgegeben? Warum sind Unterbrechungen der Fahrt bei Be¬
nutzung von Fahrscheinheften jeder Art auf jeder Station, bei andern Fahrt¬
ausweisen nur je einmal auf der Hin- und auf der Rückreise zulässig? Warum?
Warum? Warum? Ja, wer darauf zu antworte» wüßte! Ich meine, weil
bei der allmählichen Entwicklung der Bestimmungen über die Personenbeför¬
derung der weite Gesichtskreis gefehlt hat. Ein Eisenbahnsachverständiger
würde vielleicht betriebstechnische Gründe anführen, und sie mögen für viele
der angefochtnen Bestimmungen maßgebend sein; für alle sind sie es gewiß
nicht, und für das Prinzip, das all den zahlreichen Ausnahmebestimmungen
zu Grunde liegt, wenn ein Prinzip überhaupt vorhanden ist, am allerwenigste».
Ich sage, wenn ein solches überhaupt vorhanden ist, den» ich vermag in der
That trotz jahrelangen Nachdenkens kein Prinzip zu erkennen, wenigstens keins,
das auf einem vernünftigen Grunde ruhte.
Es scheint ja allerdings, daß Fahrpreisermäßigungen grundsätzlich ge¬
wahrt werden, wenn der Reisende innerhalb einer gewissen Frist an den Aus¬
gangsort der Reise zurückkehrt. Aber warum das? Giebt es dafür einen
betriebstechnischen Grund? Der Unistand, daß die Rückfahrkarte den Beamten
der Kartenausgabe nur einmal in Anspruch nimmt, während sonst mindestens
zwei, vielleicht auch mehr Fahrkarten gekauft werden müßten, kann doch un¬
möglich so schwer wiegen, daß man daraufhin 25 Prozent Rabatt gewährt.
Und Macht die Zusammenstellung der Fahrscheinhefte, das Herstellen und
Bereithalteu der verschiednen Rückfahrkarten, der Sommerkarten, die Kontrolle
der Giltigkeit der Karten durch die Schaffner, überhaupt das durch diese Ab¬
weichungen von der Regel verursachte Vielerlei den Beamten nicht mindestens
soviel Mehrarbeit, als durch die nur einmalige Kartenausgabe etwa er¬
spart wird? ^
Und warum erschwert sich die Verwaltung die Arbeit durch die Be¬
schränkung der Giltigkeitsdauer und durch die Festsetzung einer verschiednen
Giltigkeitsdauer der einzelnen Fahrtausweise? Man macht vielleicht geltend,
bei Rückfahrkarten werden die Transportmittel sicherer ausgenutzt, als wenn
die Reise nur in einer Richtung geschieht. Ja wenn für die Rückreise ein
bestimmter Zug, ein bestimmter Wagen vorgeschrieben wäre! Ich kann es mir
wohl erklären, wenn ein Fuhrwerkvermieter, mit dem ich über eine Fahrt von
A nach B verhandle, mir sagt: Die Fahrt kostet zehn Mark, wenn Sie aber
Mit dem Fuhrwerk zurückkommen, berechne ich für den Rückweg nur fünf Mark,
für Hin- und Rückfahrt zusammen also fünfzehn Mark. Der Fuhrwerkbesitzer
kann nicht darauf rechnen, in B für die Rückfahrt seines Wagens einen andern
Fahrgast zu bekommen. Anstatt den Wagen leer zurückgehn zu lassen, be¬
willigt er mir für die Rückfahrt einen Preisnachlaß. Dieser Gedanke mag
ursprünglich auch bei der Ausgabe billiger Rückfahrkarten für Eisenbahnfahrten
maßgebend gewesen sein und eine Berechtigung gehabt haben, als noch ver-
schiedne Eisenbahngesellschaften einander Konkurrenz machten. Aber heute liegt
die Sache doch ganz anders, die Konkurrenz hat aufgehört. Es kann der
Eisenbahnverwaltung gleichgiltig sein, auf welcher Strecke die Rückfahrt erfolgt,
sie erlaubt auch überall, wo zwei oder mehr Strecken nebeneinander herlaufen,
die Rückfahrt nach Wahl, ja bei den sogenannten Rundreisen ist anfänglich
sogar die Benutzung eines andern Weges für die Rückfahrt ausdrücklich ver¬
langt worden. Die Fahrpreisermäßigung kann auch nicht den Zweck haben,
zu verhüten, daß die Rückreise mit einem andern Verkehrsmittel (Wagen,
Schiff) oder zu Fuß bewirkt werde. Wird doch vielfach, wenigstens bei Rund¬
reisen die Benutzung von Dampfschiffahrtstrecken ausdrücklich erlaubt, und
daß jemand den Rückweg zu Fuß oder mit Fuhrwerk macht, kann doch nur
bei ganz kurzen Entfernungen vorkommen, die für die Eisenbahn finanziell
wenig ins Gewicht fallen.
Auch die Erwägung, wer denselben Weg zweimal mache, hin und zurück,
dem gebühre eine Preisermäßigung, weil er der Eisenbahn mehr zu verdienen
gebe, als wenn er den Weg nur in einer Richtung mache, kann als ein Grund
für die Fahrpreisermäßigungen bei Rückfahrkarten nicht anerkannt werden.
Denn damit würde es sich schlechterdings nicht vertragen, daß man in einer
Richtung noch so weit fahren kann, ohne eine Ermäßigung zu erhalten. Wer
1000 Kilometer fährt, giebt der Eisenbahn mehr zu verdienen, als wer nur
10 Kilometer zurücklegt; er erhält aber keinen Pfennig Nachlaß, sofern er den
Weg nur in einer Richtung macht, wogegen jemand, der eine Strecke von
5 Kilometern hin und zurück fährt, nur drei Viertel des normalen Fahrpreises
zu zahlen braucht. Wo bleibt da die Konsequenz und die Gerechtigkeit? Also
auch hier kein zureichender Grund.
Eine Möglichkeit ist noch vorhanden, aber nicht denkbar. Sollte die
Eisenbahnverwaltung grundsätzlich von denen höhere Preise nehmen, die nicht
aus freien Stücken, sondern nur unter einem gewissen Zwange reisen? Wer
seinen Wohnort auf Tage oder wenige Wochen verläßt, mit der Absicht wieder
zurückzukehren, der — so könnte man annehmen — hat es in der Hand, ob
er reisen will oder nicht. Er reist nur, wenn er die Mittel dazu hat, und
nur so lange und so weit als seine Mittel reichen. Wer aber seinen Wohnort
verläßt, um gar nicht oder erst nach langer Zeit zurückzukehren, der thut es
nicht zum Vergnügen, nicht um Erholung zu suchen, sondern einem gewissen
Zwange gehorchend, er ist in einer Notlage, die ihm keine Wahl läßt, er darf
nicht fragen, was es kostet, sondern er muß bezahlen, was man fordert. Aber
es ist nicht denkbar, daß sich die Eisenbahnverwaltung von dem Grundsatze
leiten ließe: Wir ermäßigen die Preise denen, die das Reisen nicht nötig
haben, damit sie uns kommen, wir fordern aber volle Preise von denen, die
unter allen Umständen reisen müssen, die uns also kommen müssen, sie mögen
wollen oder nicht. Dies wäre eine Ausbeutung der Notlage zur Gewinnung
eines Vermögensvorteils für den Eisenbahnfiskus, ein Grundsatz, der einer
Behörde, wie die staatliche Eisenbahnverwaltung, so unwürdig wäre, daß man
im Ernste nicht daran denken kann, in ihm das Prinzip der Fahrpreisermäßi¬
gungen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß das bestehende System die kon¬
sequente Anwendung dieses Grundsatzes vermissen lassen würde. Denn von
den Reisenden, die in der Ausübung ihres Berufs oder Gewerbes reisen, die
also der Eisenbahnverwaltung gegenüber ebenfalls in der Notlage sind, daß
sie sich allen Bedingungen fügen müssen, benutzen wohl die meisten die
Fahrpreisermäßigungen, die mit Rückfahrkarten oder Fahrscheinheften ver¬
bunden sind.
Wir sehen also, das einzige konsequent durchgeführte Prinzip für Fahr¬
preisermäßigungen ist: sie werden gewährt, wenn der Reisende innerhalb einer
bestimmten Frist an den Ausgangspunkt der Reise zurückkehrt. Aber ein ver¬
nünftiger Grund hierfür ist nicht zu entdecken, und in der Ausführung giebt
es eine Menge von Verschiedenheiten hinsichtlich der Giltigkeitsdauer der Fahrt¬
ausweise, der Vergünstigung des Freigepäcks u. a., für die wieder ein rechter
Grund nicht einzusehen ist. Die Sache hat, weil man sich immer vor neuen
Ausfassungen gescheut hat und immer in den alten Geleisen geblieben ist, nur
von Zeit zu Zeit hier und da etwas anflickend, eine Entwicklung genommen,
daß das, was jetzt als Personentarif gilt, als Ausfluß reiner Willkür erscheint,
und daß die Einzelheiten die ihnen ursprünglich vielleicht zukommende Berech¬
tigung verloren haben. Ist dies aber der Fall, so muß das ungerechte Prinzip
bei einer Reform der Tarife verschwinden und ein andres an seine Stelle
treten, das einzige, dem man unter allen Umstünden eine Berechtigung zuge¬
stehen kann, und das ist: Leistung und Gegenleistung müssen im richtigen Ver¬
hältnis zu einander stehn.
Mit diesem Grundsatz läßt sich wohl ohne Verletzung der Gleichheit des
Einzelnen vor dem Eisenbahnfiskus eine verschiedne Festsetzung der Grund-
Preise für Personen- und Schnellzuge und für die verschiednen Wagenklassen,
für Einzelreisen und für Gesellschaftsfahrten und vielleicht noch manches andre
rechtfertigen, aber nimmermehr die Bevorzugung der Rückfahrkarten vor den
„einfachen" Karten. Diese Bevorzugung muß also aufhören, und Gleichheit
der Fahrpreise für alle Reisen mit den anfangs genannten Ausnahmen muß
eintreten. Die Gleichheit braucht aber nicht dadurch hergestellt zu werden, daß
die Normalsätze von 2, 4, 6 und 8 Pfennigen für den Kilometer allgemein
angewandt werden. Das würde wohl auf allgemeinen Unwillen stoßen. Es
wird wahrscheinlich ohne großen Einnahmeausfall möglich sein, die bisher für
Rückfahrten üblichen Sätze auch auf einfache Fahrten auszudehnen, sodaß an
Stelle der Normalsütze von 4, 6 und 8 Pfennigen für die dritte, zweite und
erste Klasse die Sätze von 3, 4^ und 6 Pfennigen treten. Die vierte Klasse
hat bisher keinerlei Ermäßigungen bei Rückfahrten gekannt, weil die Eisenbahn,
wie die Verwaltung erklärt hat, in dieser Wagenklasse nicht zu billigern Sätzen
befördern kann. Leistung und Gegenleistung sollen in richtigem Verhältnisse
zu einander stehn. Ob das bisher bei den andern Wagenklassen der Fall
war, ob es in der bisherigen Behandlung der vierten Klasse wirklich zutrifft,
ob nicht die erste Klasse bei ihrer geringen Benutzung selbst bei 8 Pfennigen
für das Kilometer zu billig befördert wird, darüber erlaube ich mir kein Urteil.
Die Eisenbahnverwaltung selber dürfte kaum imstande sein, dies statistisch¬
rechnerisch genau zu ermitteln. Welche Einheitssätze sie für die einzelnen
Wagenklassen festsetzen muß, um auf die Kosten zu kommen und den zur Er¬
haltung des Gleichgewichts im Staatshaushalte erforderlichen Überschuß zu
erzielen, darüber muß sich die Verwaltung selbst klar werden. Aber die einmal
angenommnen Sätze müssen dann ohne Ausnahme festgehalten werden, die
Unterscheidung zwischen Rückfahrten, Rundreisen usw. und einfachen Fahrten
muß aufhören. Eine Reform, die dieser Forderung genügt, werden wir mit
Freuden begrüßen, auch wenn sie sonst nichts weiter bringt; eine Neuordnung,
die dieser Forderung nicht Rechnung trüge, würde keine Reform sein, sondern
den alten widersinnigen und ungerechten Zustand nur dauernd machen.
Mit der verschiedenartigen Behandlung der Rückfahrten fallen alle be¬
sondern Arten von Fahrtausweisen: Rückfahrkarten, Sommcrkarten, zusammen¬
stellbare Fahrscheinhefte, Rundreisehefte für feste Rundreisen. Damit fällt der
ganze Irrgarten von sogenannten Reiseerleichterungen, bei denen zwar die Fahr¬
preisermäßigung willkommen war, aber durch die damit zusammenhängenden
Erschwerungen aller Art aufgewogen wurde. Die Ermäßigung des Fahrpreises
kann bleiben; alles andre schwindet. Es giebt nur noch einfache Fahrkarten,
man löst immer nnr eine Karte bis zu dem nächsten Reiseziele, an dem man
die Eisenbahn zu verlassen beabsichtigt. Es giebt keine Rückfahrkarten mehr,
darum kann auch die nur bei diesen wichtige Nichtübertragbarkeit der Fahr¬
karten und die verschiedne Bemessung ihrer Giltigkeitsdauer wegfallen. Eine
beliebige Fahrkarte bedeutet die Verpflichtung der Eisenbahnverwaltung zur
Beförderung einer Person in der angegebnen Wagenklasse auf der angegebnen
Strecke. Welche Person diese Verpflichtung in Anspruch nimmt, und wann
sie es thut, kann der Verwaltung gleich sein. Da mit den Fahrkarten kein
Mißbrauch getrieben werden kann, so können sie unbeschränkte, oder wenn die
Verwaltung aus triftigen Gründen hiergegen Bedenken haben sollte, für eine
bestimmte lange Frist Gültigkeit behalten, etwa in der Weise, daß alle in einem
Kalenderjahre gekauften Karten bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres
in Kraft bleiben. Der Ausdruck der Jahreszahl, den jede Fahrkarte erhält,
würde zugleich die Giltigkeitsdauer kenntlich machen.
Fahrtunterbrechuugeu werdeu nur noch ausnahmsweise vorkommen und
können ohne weiteres und beliebig oft gestattet werden. Zur Bescheinigung
der Fahrtunterbrechung brauchte kein Beamter in Anspruch genommen zu
werden. Jeder Reisende könnte sie sich automatisch, umsonst oder durch Ein¬
Wurf eines Geldstücks, selber besorgen. Will jemand beim Antritt der Reise der
Kürze halber gleich die Karte zur Rückfahrt lösen, so nimmt er keine besondre
Rückfahrkarte — die Rückfahrkarten werden ganz abgeschafft —, sondern zwei
gleichlautende Karten, von denen die eine bei der Hinfahrt, die andre bei der
Rückfahrt gekocht wird — wenn man will, nachdem sie bei der Ankunft am
Reiseziele mit einem Stempel versehen ist, der sie als Rückfahrkarte bezeichnet.
Auch diese Abstemplung könnte durch einen Automaten geschehen. Gegen die
Erhebung einer Gebühr für solche Stempelungen in Form eines einzuwerfenden
Fünfers oder Zehners läßt sich kein Villigkeitsgrund geltend machen. Ebenso
wenig gegen die Erhebung einer kleinen Gebühr für jede Lösung einer Fahr¬
karte, falls die Verwaltung Wert darauf legt, einen Ersatz für den Ausfall
zu erhalte», der ihr aus der allgemeinen Preisherabsetzung um 25 Prozent
erwachsen würde. Aus demselben Grunde könnte auch für jedes Stück Gepäck,
das als Freigepäck aufgegeben wird, eine Expcditionsgebühr erhoben werden.
Die Verwaltung wird allerdings geneigt sein, die 25 Kilogramm Frei¬
gepäck für alle Reisen abzuschaffen; aber das Publikum wird sich diese Ver¬
günstigung nicht so leicht nehmen lassen. Wohl mag sie für die Eisenbahn¬
verwaltung eine große Last sein; aber welcher Zweig des Eisenbahnbetriebs
wäre dies nicht? Es kommt doch immer nur darauf an, ob die Leistungen
der Eisenbahn durch die Einnahmen bezahlt werden; ob aber die Gepäck¬
beförderung in dem Preise der Fahrkarte mitbezahlt, oder ob eine besondre
Gebühr dafür erhoben wird, das kann dem Eisenbahnfiskus im Grunde einerlei
sein. Nicht einerlei ist es aber dem Publikum. Wir haben uns an die
50 Pfund Freigepäck zu sehr gewöhnt, als daß wir sie leichten Kaufs auf¬
geben möchten, jedenfalls nicht ohne eine weitere Herabsetzung des Fahrpreises.
Aber mag die Entscheidung in diesem Punkte so oder so fallen: wenn nur
keine Ausnahmen zugelassen werden, wenn nur Gleichmäßigkeit auch in diesem
Punkte zur Herrschaft gelangt, dann soll es uns recht sein.
Und nun vergleiche man den jetzigen Zustand unsers Personentarifs mit
dem, den wir als Ziel der Reform empfehlen. Jetzt ein schier unübersehbares
und undurchdringliches Durcheinander von Bestimmungen von solcher Vunt-
scheckigkeit und Mannigfaltigkeit, daß kein Eisenbahnbeamter darin Bescheid
weiß. Künftig ein unveränderlicher Fahrpreis für alle Reisen, nur eine einzige
Form des Fahrtausweises, die gewöhnliche Fahrkarte mit langer Willigkeit,
auf jeden übertragbar, entweder Freigepäck für jede Fahrkarte, oder gar keins.
Keine Sorge mehr, ob eine Rückfahrkarte genommen werden kann oder nicht,
kein mühsames Zusammensuche» von Fahrscheiustrecken zur Bestellung eines
Fahrscheinheftes, kein Suchen in den endlosen Verzeichnissen der festen Rund¬
reisen oder der Sommerkarten. Man macht seinen Reiseplan an der Hand
der Übersichtskarte und des Fahrplans und löst Fahrkarten von Ort zu Ort,
wo man die Eisenbahn verlassen, oder wohin man sein Gepäck voraussendeu
will. Auf den Stationen, wo man zum Zwecke eines Abstechers oder Besuchs
die Fahrt unterbricht, während das Gepäck weiter geht, begiebt man sich zu
dem Automaten, der als Zeichen der Fahrtunterbrechung den Namen der
Station auf die Fahrkarte druckt oder eine Zusatzkarte mit dem Namen der
Station ausgiebt, die als Ausweis dient — alles einfach, klar, gleichmäßig,
eine wahre Idylle gegenüber dem jetzigen Chaos. Eine solche Reform würde
in der That eine Erleichterung des Reiseverkehrs bieten; die bisherigen Er¬
leichterungen bewirkten thatsächlich nur das Gegenteil.
ach dem glänzenden Bilde, das wir im vorigen Abschnitt von
der vergangnen Große arabischer Kultur gegeben haben, erscheint
ihr späterer dauernder Verfall um so rätselhafter; wir habe»
also um die Ursachen anzugeben, die diesen Verfall herbeigeführt
haben. Sie liegen neben der Einwirkung der barbarischen
Steppenvölker Asiens kurz gesagt darin, daß eine feste Thronfolgeordnung
fehlte, und daß alle weltliche und geistliche Macht in der Person des Kalifen,
des „Beherrschers der Gläubigen" vereinigt war.
Nachdem Muhammed die arabischen Stämme geeint hatte, besiegte schon
sein zweiter Nachfolger Omar (634 bis 644) Ostrom und Persien. Nach einem
Eroberungszuge, wie er seit Alexander nicht mehr gesehen worden war, dehnte
sich sein Reich vom Oxus bis zum afrikanischen Tripolis aus. Ihm folgen
in der Kalifenwürde die beiden Schwiegersöhne des Propheten, von denen der
ältere, Osman, durch den jüngern, Ali, ermordet wird. Moawija, der Statt¬
halter von Syrien, rächt den Ermordeten an dem Mörder und macht sich im
Jahre 661 selbst zum Kalifen. Er ist der Begründer der Omaijcidendynastie,
die nach ihrem Ursprung der Legitimität entbehrt. Wir haben erwähnt, daß
der Islam in seinem Wesen reiner Monotheismus ist. Natürlich vollzog sich
der Übergang zu einer geläuterten Religion hierbei ebenso wenig wie beim
Judentum und Christentum ohne heftige Kämpfe und mannigfache Rückschläge.
Von diesem Standpunkte aus kann man das Kalifat der Omaijaden als eine
Reaktion des heidnischen Arabertums gegen den Islam und seine asketische
Ausbildung ansehen, während zugleich in Persien durch die Beimischung per¬
sischer und indischer Neligionsvorstellungen die Sekte der Schiiten entsteht.
Der Weltsinn siegt über die strenge Frömmigkeit; am Hofe der Omaijaden
zu Damaskus ging es so ausgelassen zu, daß die altgläubige Richtung an
diesem Treiben ernsten Anstoß nahm. Die Eroberungen wurden fortgesetzt
— Spanien wurde 711 erobert —, aber Unordnungen und Bestechungen
nahmen zu, und um die Mitte des achte» Jahrhunderts war das Reich mit
Empörung. Bürgerkrieg und Abfall erfüllt.
Da trat als Wiederhersteller der beleidigten Religion und als Rächer des
verletzten Nationalgefühls Abul Abbas auf, der Nachkomme eines Oheims des
Propheten Namens Abbas, und bemächtigte sich 750 der Herrschaft. Sein
Beiname: As-Sassas, der Blutvergießer, zeigt, wie er gegen die Mitglieder
der gestürzten Dynastie verfuhr, und welcher Mittel er sich zur Befestigung
seiner Herrschaft bediente. Sein Bruder und Nachfolger, Al-Manssur (754
bis 775), ist als der Organisator des abbassidischen Reichs anzusehen. Er ver¬
legte die Residenz nach Bagdad, an den mächtigen Strom an der Grenze
Persiens und Arabiens; es ist die Stätte, von der aus Vorderasien im ältesten
Altertum regiert worden ist, an der Seleucia in der Diadochenzeit und später
Ktesiphon. die Hauptstadt der Sassaniden, standen, die Gegend, in „der sich
die wichtigsten Straßen der Vergangenheit kreuzten, wie sich dort einst wieder
die Straßen der Zukunft kreuzen werden."*) Die höchste Blüte erreicht das
Reich der Abbassiden unter den Kalifen Harun al Raschid, dem Zeitgenossen
Karls des Großen, und Mamun (814 bis 833). Dieser ist der Begründer der
großen Bibliothek von Bagdad. Hier vollzog sich die Verbindung zwischen
syrisch-christlicher Gelehrsamkeit, persischer Phantasie und arabischer Beobach¬
tungsschärfe, hier flössen die Einkünfte aller Provinzen zusammen. Aber nur
unter den ersten Abbassiden, die sich auf die Gemäßigten aller Parteien stützten,
scheint eine geordnete und gute Finanzverwaltung bestanden zu haben; bald
entwickelte sich das Regierungssystem zu einem großartigen Raubbau. Die
Einnahmen auch der reichsten Provinzen konnten auf die Dauer dem Übermut
der aus berberischen und türkischen Söldnern bestehenden Soldateska, der Ge¬
wissenlosigkeit und Raubsucht der Beamten und der Verschwendung des Hofes
nicht genügen. Da die Herrscher die fremden Söldnerscharcn zwar nicht ent¬
behren, ihnen aber auch nicht völlig vertrauen konnten, so suchte der dritte
Nachfolger Mamuns, Mutawakkil — um 850 —, in der orthodoxen Geistlich¬
keit und in den von dieser geleiteten Volksmassen seine Stütze und ging völlig
zur Orthodoxie über. Die bis dahin herrschende freisinnige Richtung ward
endgiltig verlasse», und der in der dialektischen Schule der Rationalisten auf¬
gewachsene Dogmatiker Al-Aschari ist es gewesen, der, wie A. Müller sagt,
das „scholastische Netz um die muhammedanischen Völker geknüpft hat, das bis
zum heutigen Tage jede selbständige Regung des Geistes hindert." Die Knebe¬
lung des geistigen Lebens eines Volkes hat aber bisher immer nur verderbliche
Folgen gehabt. Nur die islamitische Geistlichkeit hatte zunächst den Gewinn.
Die seldschukischen Soldtruppen wurden trotzdem bald zu Prätorianern und
Herren; Palast- und Militärrevolutionen folgten sich schnell aufeinander, und
seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts ist der Kauf nur noch ein Schatten-
Herrscher in den Händen des obersten Truppenbefehlshabers.
Zu diesem Zeitpunkt bestanden drei Kalifen neben einander. Der einzige
den Abbassiden entkvmmne Abkömmling der Omaijaden war 755 nach Spanien
gekommen und dort der Begründer einer neuen Dynastie geworden, die 929
den Kalifentitel annahm und die maurisch-spanische Große herbeiführte. Unter
den gequälten und ausgeraubten Unterthanen der Abbassiden hatte zu Beginn
des zehnten Jahrhunderts die atheistische und anarchistische Verbindung der
Jsmaeliten Verbreitung gefunden. Ein Jsmaelit, Namens Obeidallcch, kam
nach Tunis; indem er sich für einen Abkömmling von Ali (dem dritten Kalifen)
und Fatme, der Tochter des Propheten, ausgab, gelang es ihm im Jahre 910,
die Herrschaft an sich zu reißen und sich zum rechtmäßigen Kalifen zu erklären.
Von ihm stammt die sabinische Dynastie der Fatimiden, die noch im zehnten
Jahrhundert Ägypten und auch Syrien eroberte. Zwei Jahrhunderte herrschten
die Fatimiden im ganzen segensreich; die spätern Herrscher zeigten sich als
schwache Persönlichkeiten und kamen bei ihrer feindseligen Stellung zu den
Abbassiden ins Gedränge zwischen ihren Vezieren, den Kreuzfahrern und den
von Nordsyrien her vordringenden türkischen und kurdischen Emiren. Der letzte
mußte die Leitung des Staates dem kurdischen Heerführer Schirkuh als Vezier
überlassen. Der Neffe Schirkuhs und sein Nachfolger ist der große Saladin,
der 1171 den Kalifen beseitigte und sich selbst zum Herrn machte.
Bei dem fortschreitenden Verfall des abbcissidischen Kalifats machen sich die
asiatischen Gebiete mehr und mehr unabhängig; die Statthalter bemächtigen
sich der Herrschaft und erkennen den Kalifen nur noch nominell als Oberhaupt
an. Die Bujiden, eine der persischen Lokaldynastien, entkleideten den Kalifen
schließlich ganz der weltlichen Macht, ihre Häupter regierten als erbliche Fürsten
unter Annahme des Titels von Sultanen weiter, während den Kalifen nur die
Würde des geistlichen Oberhauptes blieb. In dieser Stellung lebten die Kalifen
drei Jahrhunderte hindurch unter der wechselnden Herrschaft persischer und tür¬
kischer Emire; als die Mongolen 1258 Bagdad eroberten, wurde der letzte Kauf
hingerichtet. Einige abbassidische Prinzen entkamen nach Ägypten, wo der
Mamelukensultan den einen zum Kalifen machte, um der eignen Herrschaft die
Weihe der Legitimität zu geben. Als dann 1517 die Osmanen Ägypten er¬
oberten, nahmen sie den Kalifen nach Konstantinopel mit. Seitdem führen die
türkischen Sultane den Kalifentitel und vereinen als solche die geistliche und
weltliche Macht wieder in ihrer Hand.
Dies ist in kürzesten Zügen die Geschichte des Kalifats — nicht nur einer
historischen Erscheinung, sondern einer Idee — bis zu seinem Übergang von
den Arabern zu den Türken; es bleiben noch einige Bemerkungen über die
Geschichte der Türken hinzuzufügen.
Wir haben sie schon erwähnt; im zehnten Jahrhundert treten sie in Bagdad
in der Rolle auf, wie die Prätorianer und die germanischen Söldnerscharen in der
spätesten Kaiserzeit zu Rom. Ihr Oberbefehlshaber — der Emir al Omara —
gewinnt mit der Zeit dem Kalifen gegenüber eine Stellung ähnlich der des
Hausmeiers im Reiche der Merowinger. Auf die Analogie mit dem Auftreten
der occidentalischen Normannen hat schon L. von Ranke aufmerksam gemacht.
Aber die Normannen gehen in den ältern Nationalitäten auf, während die
Türken schließlich die Herrschaft ergreifen und behaupten, wie die Germanen
in Rom. Im Jahre 1055 wird der seldschukische Oberbefehlshaber Thogrilbeg
von dem Kalifen zum König des Ostens und Westens ernannt und nennt sich
von da an Sultan; sein Reich erstreckt sich vom Euphrat bis zum Aralsee.
Unter ihm und seinen nächsten tüchtigen Nachfolgern machte sich in dem ver¬
fallenden Kalifate die frische und kriegerische Nationalität der türkischen Stämme
bald geltend und verlieh dem Islam Asiens die Kraft, dem griechischen Kaiser¬
tum und den ägyptischen Fatimiden angriffsweise entgegenzutreten. Im byzan¬
tinischen Reiche hatte im Jahre 1057 die feudale Aristokratie über das zentra¬
lisierende absolutistische Kaisertum gesiegt; unaufhörliche Thronstreitigkeiten haben
seitdem mehr als alles andre die Macht des Reiches untergraben und schließlich
zu seinem Untergange geführt. Das Jahr 1071 ist der Zeitpunkt der ent¬
scheidenden Umwälzung in Kleinasien und Syrien, die diese Länder unter die
Herrschaft der Seldschuken bringt, und von da an beginnt die Vernichtung
ihrer uralten Kulturblüte. Es ist die Schlacht bei Manzikert in der Gegend
des Wansees zwischen Seldschuken und Griechen, die die Völkergeschicke des
Orients entscheidet. Schon 1074 wird ein Vertrag zwischen dem Kaiser und
den Türken geschlossen, wonach diese die Regierung über die von ihnen besetzten
Provinzen behalten, dagegen dem Kaiser gegen die Normannen und gegen einen
Thronprätendenten Hilfe leisten sollen. In dieselbe Zeit fallen die norman¬
nischen Eroberungen in Sizilien und Unteritalien. So sehen wir, wie sich
Rom zu dem bevorstehenden Entscheidungskampfe die Normannen, Bagdad die
Türken fast gleichzeitig einverleibt. Der 1081 beginnende Angriff der Nor¬
mannen auf Byzanz bringt das griechische Reich nun in die mißlichste Lage
und zwingt es zum Lavieren zwischen den beiden großen Parteien, während
wiederum die Feindschaft zwischen den Kalifaten von Bagdad und Kairo es
den abendländischen Kreuzfahrern ermöglicht, in Syrien Fuß zu fassen.
Es ist hier nicht der Ort, auf die Kreuzzüge näher einzugehen, wir haben
es nur mit ihren Resultaten für die morgenländischen Entwicklungen zu thun.
Um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ist die Seldschukenherrschaft in
Kleinasien schon im Verfall: in Ägypten und Syrien herrschen die Nachkommen
Saladins, in sieben Zweige geteilt. Der ägyptische Sultan bricht 1244 mit
zahlreichen asiatischen Soldtruppen in Palästina ein und macht nach einem
Siege bei Askalon der christlichen Herrschaft ein Ende. Seitdem steht Syrien
unter ägyptischer Herrschaft. Ein furchtbares Unheil brach in demselben Jahre
mit den Mongolen über Vorderasien herein. Die Seldschuken wurden von
ihnen niedergeworfen und Bagdad 1258 erobert; seitdem bestehen in Kleinasien
nur noch eine Menge seldschukischer Kleinstaaten, und nach dem Ebben der
Mongoleuflnt ist Raum gegeben für das Emporkommen und Vordringen der
Osmanen. Der größte der Mongolenherrscher, Usbeck (ein Zeitgenosse Ludwigs
des Bayern), wendet sich mit seinem Volke dem Islam zu, und von nun an
erst nehmen Morgenland und Abendland entgegengesetzte Formen und Ent¬
wicklungen an. Im Morgenlande bleibt das Papstkönigtum als Prinzip be¬
stehen; im Abendlande ist das Papsttum zwar noch überwiegend, aber selbst
auf geistigem Gebiete zeigt sich innerhalb der Kirche beständig eine Opposition,
während die weltlichen Gewalten mehr und mehr erstarken und sich auf die
Nationalitäten zurückziehen. Die Mongolen zerstören den Islam an der Zentral¬
stelle zu Bagdad; so sammeln sich alle Kräfte in Syrien und Ägypten und
machen der dortigen Christenherrschaft ein Ende (Ptolemüis fällt 1291). In dem
Islam gewinnen seitdem die rohsten Elemente das Übergewicht, und es be¬
festigt sich eine fortschreitender Entwicklung äußerst ungünstige Herrschaftsform,
denn „es ist fast zu schwer für den Menschen, den Besitz der Gewaltfülle mit
der Anerkennung fremder Freiheit und Selbstbestimmung zu verbinden."") Nun
erst entfremdete sich der Islam völlig der Entwicklung der übrigen Welt.
Durch die mongolische Invasion sind auch die osmanischen Türken west¬
wärts in Bewegung gesetzt worden. Im Dienste der letzten Seldschukenfürsten
kommen sie zwischen Mongolen und Griechen in Kleinasien auf; ihr Führer
Ertoghrul gewinnt zunächst ein kleines Gelnet um Dorylüum. Sein Sohn
Osman, nach dem diese Türken benannt sind, ein eifriger Muhammedaner,
begründet um 1300 die türkische Herrschaft an den Grenzen Asiens, wo es
seiner Zeit eine geordnete Macht überhaupt nicht mehr gab. In zunehmender
Menge finden sich seitdem türkische Söldnerscharen in byzantinischen Diensten,
und bei den unaufhörlichen Thronstreitigkeiten und Bürgerkriegen wächst ihre
Bedeutung. Bei der Einfachheit ihrer Sitten und der Abhärtung des Feld¬
lebens gelingt es ihren klugen und thatkräftigen Führern bald, innerhalb des
verfallenden griechischen Reichs ihre Macht selbständig zu machen und weiter
auszudehnen. Im Jahre 1330 fällt Nicäa in ihre Hände, 1354 setzen sie sich
in den Besitz von Gallipoli auf dem europäischen Ufer. Türkische Massen
drängen als Ansiedler über den Hellespont nach, 1363 wird Philippvpel
erobert, 1365 Adrianopel, die Residenz des Osmanenreichs. Die griechischen
Kaiser erkennen diese Eroberungen an, ihre Macht ist seitdem auf Konstanti¬
nopel und seine Umgebung beschränkt. Sultan Orchan, der Schwiegersohn des
griechischen Kaisers, und sein Bruder Alaeddin — der erste Vezier — sind
in dieser Zeit als die Organisatoren des Osmanenreichs anzusehen. In die
Mitte des vierzehnten Jahrhunderts fällt auch die Errichtung der Janitscharen,
eines Söldnerfußvolks aus christlichen, in der muhammedanischen Religion auf-
erzognen Knaben. Gleichzeitig gewinnt auch im abendländischen Kriegswesen
das Fußvolk zunächst in den Schweizern seine erhöhte Bedeutung.
Auch in Europa werden die von den Osmanen eroberten Ländereien zu
Lehen ausgethan, deren Träger zu Kriegsdienst und Heeresfolge verpflichtet
sind. Gegen den zweiten Nachfolger Orchans, Bajazid I., erhebt sich das Abend¬
land und die Mongolenmacht. Sigismund, der König von Ungarn und spätere
deutsche Kaiser, unterstützt namentlich von der französischen und deutschen Ritter¬
schaft, erliegt 1396 bei Nikopolis; der Mongole Timur bricht 1400 von
Scimarkand her in Kleinasien ein und vernichtet 1402 das osmanische Heer in
der Schlacht von Angora. Nach seinem Tode 1405 zerfüllt das Reich schnell
wieder; die Söhne Bajcizids geraten in Krieg mit einander, aber schon 1413
gelingt es dem thatkräftigsten, Mohammed, das Reich mit Hilfe der Griechen
und Serben wieder zu vereinigen und innerlich zu befestigen. Noch einmal
erheben sich Ungarn und Polen, um die Osmanen aus Europa zu vertreiben.
Mit der Niederlage von Varna 1444 erlosch jede Aussicht hierzu, und nun
hatte die Todesstunde Ostroms geschlagen. 9000 Verteidiger widerstanden
länger als sieben Wochen den 165000 Angreifern; am 29. Mai 1453 fiel das
Bollwerk der Zivilisation des Westens, das die Nachfolger Konstantins ein
Jahrtausend lang gegen eine Welt von Feinden behauptet hatten.
Sultan Mohammed II., der Eroberer der Hauptstadt des Ostens, hat sein
Reich von der save bis zum Euphrat ausgedehnt und dessen Organisation
in den Grundzügen vollendet; auch als Gesetzgeber nimmt er eine ausgezeichnete
Stellung ein. In der politischen Verfassung wird vieles von den Griechen
einfach übernommen, nur daß sich die Osmanen durch ihre größere Schlichtheit
und Redlichkeit auszeichnen. Einteilung und Provinzialverwaltung hingen durch
das Lehnswesen eng mit den Kriegseinrichtungen zusammen; ursprünglich sind
die Lehen nicht erblich, vielmehr muß jeder Lehnsträger mit einem einfachen
Lehen seine Laufbahn beginnen. Über den Bevölkerungen der eroberten Länder
richten sich die Osmanen als eine wehrhafte Massenaristokratie ein, nicht un¬
ähnlich der sarmatischen Slachta in Polen. Bei der eigentümlichen Stellung
der muhammedanischen Ulemas, die geistliches und weltliches Recht sprechen,
lag die Auskunft nahe, auch der griechischen Geistlichkeit Regierung und Rechts¬
pflege ihrer Glaubensgenossen zu übertragen und nur die Besteuerung in
türkischen Händen zu lassen. Der Patriarch von Konstantinopel vertrat die
Stelle eines politischen Oberhauptes der Griechen. Freilich herrschten von Haus
aus schwere Übelstünde, unter denen die Verpachtung der Steuern und deren
Eintreibung durch die Pächter, sowie die ungemessenen und willkürlichen
Naturaldienste als hauptsächlichste zu nennen sind. Das ganze System zielt
weniger auf Verwaltung und Erziehung als auf Beherrschung und Ausbeutung,
steht indessen in all diesen Beziehungen noch nicht wesentlich hinter den gleich¬
zeitigen abendländischen Regierungssystemen zurück. Erst dadurch, daß die Re¬
formen im Orient unterblieben, ist das daraus entspringende Unheil mehr und
mehr unerträglich geworden. Ein religiöser Druck ist von den Osmanen nie¬
mals auf die Unterworfnen geübt worden, doch fand auch in Europa, namentlich
in Albanien und Bosnien, häufig der Übertritt zur Religion der politischen
Herrscher statt.
Unter Suleiman II. dem Großen,') 1520 bis 1566, erreicht die türkische
Macht ihren Höhepunkt mit der Einnahme von Man und Bagdad, mit der
Besiegung von Venedig und der Eroberung Ungarns, nachdem sein Vater Selim
1517 Ägypten erobert und die Kalifenwürde angenommen hatte. Es ist sehr
merkwürdig, wie mit der irdischen Allmacht dieser unheilvollen Doppelwürde
auch das Verhängnis über das Osmanenreich und seine Dynastie hereinbricht.
Der noch in andern Anschauungen erzogne Suleiman wird als eine groß an¬
gelegte, ursprünglich milde und liebenswürdige Natur geschildert, verliert sich
aber gegen Ende seiner Regierung in Willkür. Mißtrauen und Frevelthaten;
sein Nachfolger Selim II. ist der erste Schwächling auf dem Throne, mit ihm
beginnt der Niedergang. Die Sultane geben den unedeln Eingebungen nach
und lassen diese allmählich zu ihrer andern Natur werden; die nun in den
Vordergrund tretenden Veziere können nicht den Staatswagen im Geleise halten,
da sie von der Laune des Herrn zu abhängig sind. Aber die allmächtige Selbst¬
herrlichkeit der Sultane ist eine Täuschung; innerhalb der Mauern des Serails
bildet sich ein selbständiges Interesse, das weder mit dem des Staates noch
mit dem des Sultans oder gar des Veziers zusammenfällt: es ist das Interesse
der Günstlinge, der Weiber und der mit vielen andern Entartungen aus dem
griechischen Byzanz überkommnen Eunuchen- Nur zu häufig ist der allmächtige
Despot von diesem Einfluß beherrscht, und dieser zeigt sich bis heute als einer
der tiefsten Krebsschäden des türkischen Reichs.
Nur selten noch zieht ein Sultan an der Spitze des Heeres zu Felde,
immer mehr schließen sich die Großherren in ihrem Harem ab. Durch die
Verheiratung von Schwestern, Töchtern und Sklavinnen an die Großen des
Reichs dringen die Sitten und der Aufwand des Serails auch in die Privat-
hüuser. Die Gerechtigkeit und die Ämter werden käuflich; weil alles aber von
den Launen des Herrschers abhing und jederzeit verloren gehen konnte, so er¬
folgte allenthalben Tyrannei und Erpressung. Stambul wuchs an, aber es
wurde zum Wasserkopf des Reiches, wie es Konstantinopel im oströmischen,
Rom im weströmischen Reiche gewesen war, während die Provinzen verfielen.
Im ersten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts sind die Lehnseinrichtungen
in der Türkei wie im westlichen Europa gänzlich entartet; gleichzeitig bricht
der innere Kampf mit den zu zuchtlosen Prätoricmern gewordnen Janitscharen
um die höchste Gewalt im Staate aus. Dieser Kampf hat im osmanischen
Reiche mehr als zwei Jahrhunderte gedauert und ist erst 1826 durch die Ver¬
nichtung der Janitscharen beendet worden. Mehr als ein andrer Vorgang hat
dieser lange innere Kampf zum Niedergang des Reiches beigetragen. Während
des haben die Deutschen und die Perser von Westen und Osten her die An¬
griffskraft der Türken gebrochen. Nachdem 1622 und 1648 zwei Sultane den
Janitscharen zum Opfer gefallen waren, folgt die Zeit der mächtigsten Veziere.
Der Zug auf Wien 1683 und dessen Eroberung war bestimmt, die wichtigsten
innern Reformen einzuleiten; das Mißlingen der Unternehmung stürzte das
Vezierat in seiner Bedeutung und beschleunigte den Verfall. Nach weitern
dreizehnjährigen Kämpfen besiegelt die entscheidende Schlacht bei Zerda an der
Theiß die Niederlage der Türken. Infolge der Schlacht wird das türkische
Hauptlager von Belgrad nach Adrianopel zurückverlegt, der Diwan erkennt die
Notwendigkeit, Friede» zu schließen, und nimmt die Vermittlung Englands und
Hollands an.
Der Friede von Karlowitz 16W bezeichnet einen großen Wendepunkt der
Geschichte. Die Osmanen hören auf, von Tributen zu reden, unterwerfen sich
regelmäßiger Unterhandlung und erkennen zum erstenmale ein für alle gleich¬
müßiges Recht an. Die abendländische Gesittung beginnt in der Türkei ein-
zubringen. Zunächst freilich kommen nun erst alle Kräfte der Zersetzung und
des Unheils zur Geltung. Die Macht des Harems wächst, ebenso die Selbst-
Herrlichkeit und Willkür des Paschas. Die innere Verwaltung verfällt, die
Zivilisation stockt, der Wohlstand nimmt ab. Statt Strenge herrscht Willkür
und Erpressung. Janitscharen und Ulemas sind die eigentlichen Herren des
Staats. Sehr bezeichnend schildert Rankeden Zustand im achtzehnten Jahr¬
hundert: „Denn das war nun gleichsam die bewußte Verfassung des türkischen
Reichs, daß dem Sultan zur Seite ein unabhängiger, thronfähiger Sprosse
des Geschlechts erhalten ward; wenn der regierende Fürst den beiden Körper¬
schaften nicht mehr genügte, ward er vom Throne geworfen und durch seinen
nächsten Verwandten ersetzt. In dieser Monarchie, die als die absoluteste von
allen erschien, war doch die höchste Gewalt nur auf Zeit, mit Borbehalt der
Zurücknahme übertragen. Und auch in der Leitung der Staatsgeschäfte hatten
die Großherren keineswegs freie Hand. Bei der Unterhandlung über den
Frieden von Belgrad (1739) haben die osmanischen Gesandten ihr Festhalten
an den einmal ausgesprochnen Bedingungen damit motiviert, daß es andern
Fürsten eher freistehe, einen Schritt zurückzuthnn, als dem Großherrn, der an
das Dafürhalten seiner Ratsversammlungen geknüpft sei."
Österreich hat nach dem Tode des Prinzen Eugen dessen Orientpolitik
aufgegeben, seine äußere Politik ist in innern deutschen Fragen aufgegangen.
Anstatt seiner ist Rußland seit Peter dem Großen immer wieder angriffsweise
gegen die Türken vorgedrungen. Es war der Lieblingsplan Peters und der
zweiten Katharina, auf den Trümmern der Türkei das griechische Kaiserreich
unter dem Szepter eines russischen Prinzen wieder herzustellen mit der Haupt¬
stadt in Konstantinopel. Im Frieden von Kustschuk-Kainardsche erhielt Ru߬
land Kertsch, Jenikale, Asow und die freie Schiffahrt Angestanden. Von diesem
Frieden datiert der vorwiegende Einfluß Rußlands auf die Pforte.
Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist die Einführung der europäischen
Zivilisation in der Türkei ernstlich versucht worden; nachdem zwei reform¬
freundliche Sultane dem Fanatismus der Ulemas und der Janitscharen zum
Opfer gefallen waren, ist Mahmud II. der erste entscheidende Schritt gelungen.
Nach achtzehnjähriger stiller Vorbereitung konnte er im Bunde mit den Ulemas
1826 die Janitscharen vernichten und damit die Militärmacht der Staatsgewalt
wieder bedingungslos unterordnen. Den gegenwärtigen Stand der Dinge haben
wir kürzlich in einem andern Aufsatze an dieser Stelle geschildert. Wir begnügen
uns hier mit der Schlußbemerkung, daß die Frage über die Zukunft der Türkei
davon abhängt, ob es gelingt, die Osmanen zur wahren Teilnahme an dem
historischen Leben des Menschengeschlechts und an der europäischen Zivilisation
heranzuziehen. Daß die muhammedanische Religion an sich kein Hindernis
hierbei ist, glauben wir in Vorstehendem nachgewiesen zu haben. Einschrän¬
kung des Einflusses der Ulemas und des großherrlichen Serails scheinen in
erster Linie notwendig; nach dem Urteil von guten Beobachtern ist die Poly¬
gamie in der Türkei nur noch ein geduldeter Mißbrauch und im Verschwinden.
Der Prophet sagt: „Der ist zu loben, der nur ein Weib heiratet." Nur auf
diesem Wege ist eine Versöhnung der nationalen und religiösen Gegensätze in
der Türkei zu hoffen. Mißglückt die Reform, so ist die Liquidierung der Erb¬
schaft nicht zu vermeiden.
Ein ähnliches Schicksal wie das Polens hat im letzten halben Jahrhundert
schon mehrfach vernehmlich auch an die „hohe" Pforte gepocht. Seiner Voll¬
endung würde das Deutsche Reich ähnlich gegenüberstehen wie einst Friedrich
der Große der Teilung Polens. Das sür unsre Lebensinteressen Wichtige
können wir nicht den Händen einer fremden Großmacht überlassen.
erakles im Dienste des Eurystheus, der halbgöttliche Held
Knecht des viel schlechtem Mannes: das ist nicht einmal so
dagewesen oder so gedichtet worden. Die Menschengeschichte
hätte dasselbe Verhältnis tausendfach aufzuweisen, namentlich
die stille und versteckte Geschichte, die nicht geschrieben wird.
Doch hier soll nicht die Rede sein von all dem geheimen Elend unwürdiger per¬
sönlicher Dienstbarkeit, das keine Riesenfortschritte unsrer Kultur hinwegnehmen.
Es giebt auch eine ärgerliche Indienststellung der Sachen: in seinem Werke
noch kann man den edeln Menschengeist herabwürdigen. Dies geschieht noch
nicht dadurch, daß das vollendete Kunstmerk dem lernpflichtigen Stümper zur
Übung in der Form dient; denn das Kunstwerk verliert durch den von unten
zu ihm aufschauenden Blick nichts von seiner Höhe. Es giebt aber andre
Spielarten dieses Übeln Verhältnisses. Gemeine Betriebsamkeit findet hundert
Formen, das, was an sich hoch ist, zu niedern Zwecken zu nützen. Und auch
ein ehrenwerter Wille kann auf einen ähnlichen Weg geraten, kann zum Gegen¬
stande werktäglichen Gebrauchs machen, was für festliche Wirkung geschaffen ist.
Die Kärrner haben zu thun, wenn die Könige bauen, und wenn die Arbeit
der Kärrner sehr ehrlich und schätzbar sein kann, sofern sie eben irgendwie mit
zu der Ausführung des Königshaus gehört, so kann sie doch auch — und im
übertragnen Sinne tritt dieses Verhältnis oft ein, woran das dichterische Bild
nicht eigentlich denken läßt — den Königsbau durch Schutt verunzieren, ver¬
decken, verderben.
Sollte auch die Poesie im Dienste der Erziehung unter dieses Urteil
fallen können? Daran zu denken kann dem nicht nahe liegen, der von der einen
und der andern reine Begriffe hat und für beide die Schätzung, die ihnen gebührt.
Ist nicht vielmehr eine Wahlverwandtschaft da? Welche Aufgabe darf edler heißen,
als die Hinbildung des reifenden Geschlechts zu den höchsten Werten, die das
gereifte zu gewinnen und zu fühlen vermochte? und wo anders ist das reinste
Gold dieses Empfindens niedergelegt, als in der Poesie? Wir wollen es uns
nur von vornherein klar machen und es uns auch hinterher nicht ausreden
lassen, daß die beiden Begriffe (deren unerlüuterte Zusammenstellung in unserm
Thema immerhin ein wenig befremden mag) einander nicht innerlich fremd sind,
sondern viel mit einander zu thun haben, viel für einander bedeuten. Fühlen
wird das übrigens jeder, der sich überhaupt zum Fühlen der Dinge erhebt.
Aber eine andre Frage ist es, ob hier nicht oft die Wirklichkeit das Bild einer
mangelhaften Beziehung, einer bedauernswerten Art der Dienstbarmachung dar¬
bietet, ob sie nicht in allen vergangnen Zeiten reichlich oft dergleichen dargeboten
hat. Ju allen vergangnen Zeiten — das nun freilich nicht wörtlich. Sicher¬
lich lag ein Festgeber dieser Art nicht immer gleich nahe. Was aus einer
Begeisterung geboren ist, die nicht bloß den Einzelnen in gewissen Stunden
emporträgt, sondern die mit ihm viele erfüllt und durchdringt, sein Volk, die
Genossen seiner Sprache und die Teilnehmer seiner Gefühle, das wirkt auch
eine Zeit laug mindestens, vielleicht eine geraume Periode nationalen Lebens
hindurch, so unmittelbar und voll, daß keine klügelnde Beleuchtung und
bedachte Ausnutzung sich regt und aufkommt. Dem Zeitalter des thatensrohen
Heldentums folgt unmittelbar immer noch ein solches der vollen und unmittel¬
baren Resonanz. Homers Gesänge standen in Griechenland jahrhundertelang
im Mittelpunkt der gesamten Jugendbildung; jedes neu aufwachsende Geschlecht
nahm sie in sich auf, hörend oder lesend, einprägend, übend, rentierend. Seine
Dichtung wird mit Recht als Jungbruuueu bezeichnet, ans dem griechisches
Fühlen sich immer neu erzeugte. Auch anderswo tönt selbstverständlich der
Sang von Großthaten der Väter vor allem stark an die Sinne und Herzen
des jungen Geschlechts: hier muß die Empfänglichkeit am größten sein, hier
ist das Bedürfnis des Nachempsindens am lebendigsten. Das war so beim
germanischen Heldengesang wie bei denen so mancher andern Völker. Noch zur
ritterlichen und also nicht etwa naiven, sondern wohlbedachten und geregelten
Erziehung gehörte auch das Kennenlernen von allerlei Aventiuren; mit Saiten¬
spiel und Gesang selber auch dichten zu lernen war bekanntlich ein besonders
schönes Ziel. Von einem so allgemeinen aktiven Triebe hören wir bei den
Griechen kaum; wohl geht, wer sich zum Dichter berufen fühlt, hin zu trinken
an dem großen Urquell Homer, entnimmt dort Anregung oder Stoff, Bild,
Schilderung, Einzelgegenstand; aber im ganzen steht diese Dichtung zu hoch,
zu sehr geweiht und geheiligt da, man bleibt, das ganze große Volk bleibt ihr
gegenüber empfangend und empfänglich. Formgefühl und Jnhaltsfreude, Bildung
und Begeisterung werden in gleicher Weise daraus gewonnen. Den Begriff des
rechten „Lehrguts" (den unter den Pädagogen Otto Wittmann besonders
hervorhebt), eines Lehrguts, das seinen Wert in sich selber hat, von den
Erwachsenen in ihrer Lehrzeit empfangen und dann bewahrt wurde, um den
nachwachsenden immer wieder überliefert zu werden, diesen Begriff verwirklicht
jene Dichtung in idealer Weise.
Dennoch haben auch dort die Hände nicht unterlassen, das Gut vielfach hin
und her zu wenden, und kleine Geister wie auch größere haben schon zeitig daran
gedeutet, haben hineingedeutet, was ihre Weisheit war. So unmittelbar bleibt
das Empfinden einer lungern Reihe von Generationen nicht, daß nicht die
Reflexion sich zerteilend hineindrängte, die Wirkung sich abschwächte und auch
fremde und feindliche Strömungen ihre Kraft übten. Die großen Lehrer der
Weltweisheit haben nicht immer die großen Dichter gelten lassen, Plato hat nicht
nur für geringere Poeten, sondern auch für Homer schweren Tadel; Heraklit
muß ihm noch weniger freundlich gewesen sein. Und wo doziert und geschult
werden soll, sei das Ziel der Schulung und Bildung ein noch so schönes, da
wird allenthalben leicht geschulmeistert, es werden nicht bloß die Zöglinge
gemeistert, sondern irgendwie anch die Meister, an denen sie sich erheben und
bilden sollen. So wurde auch dort umschrieben und beurteilt, erläutert und
ausgenutzt, und eine alexandrinische Periode folgte der athenischen gewissermaßen
so notwendig oder doch so natürlich wie im Jahreslauf der Natur die Zeit
der Astern und Georginen auf die der Veilchen und Rosen folgt. In eine
Schule rhetorischer Kunst mündet vielfach das ein, was als Hinbildung zum
nachempfinden des Schönen begann. Aber daß solche Bildung eins der großen
Ziele griechischer Jugenderziehung war und lange blieb, das ist doch einer der
schönen und vorbildlichen Züge in dem Lebensbilde des hellenischen Volkes.
Insbesondre auch das nationale Drama mit vollem und feinem Verständnis
ausführen zu sehen, galt als ein Ziel der Erziehung, und das zuweilen zitierte
Wort Aristipps, daß der junge Grieche dahin kommen müsse, auf den Stein-
sitzen des Theaters — nicht selber ein Stein — zu sitzen, können auch andre
Zeiten sich zu eigen machen, auf deren hölzernen Schauspielhaussitzen Zuhörer
von Holz nicht weniger unerwünscht sind.
Rom nannte keinen Homer sein eigen, aber es durfte sich den griechischen
Homer zu eigen machen, und wiederum ist das Anschauen und Einprägen edler
griechischer Dichtung ein Stück der höhern Jugenderziehung in der Periode
römischer Humanität. Doch auch die Dichter der eignen Zunge werden zu
demselben Zweck ernstlich und bewußt herbeigezogen: Ennius mit seinen Vater-
Kindischen Annalen und schon sehr frühzeitig Vergil werden in den Schulen
gelesen; noch viel früher schon muß Einfacheres in poetischer Form allgemein
eingeprägt worden sein. Später durfte sich Horaz das schöne Schicksal aus¬
malen, dem kommenden Geschlecht wackre Thaten im Lied zu übermitteln und
ihm Sinn und Herz mit schön gestalteter Rede zu bildend) Zum Lernen kam
die Übung im Vortrag allerwürts hinzu, und weit in die spätern Jahrhunderte
hinein trägt die Überlieferung — zusammen mit der Sprache — die Ziele und
Künste römischer Schulen sort. Freilich eben auch die Künste, und daß diese
inmitten der andersartigen Welt des Mittelalters nur roher geübt und ver¬
waltet oder nur äußerlicher gehandhabt wurden, ist die natürliche Entwicklung
der Dinge.
Die Schulen des Mittelalters — von der nicht schulmäßigen und sich auf
ganz andern Linien bewegenden Ausbildung der jungen Sprossen des Ritter¬
standes ist vorhin schon die Rede gewesen — bieten uns kein Bild, an dem sich
ein pädagogisches Auge erfreuen könnte. Und so sehr die Freude an dem Stu¬
dium und der Eifer des Lehrens in der Humanistenzeit gestiegen ist, hier fast
ebenso wenig wie dort weiß man der edeln Dichtung gerecht zu werden. Selt¬
sam willkürliche Ausdeutung, einseitiges Aufmerken auf die äußere Form, unfrucht¬
bare Versuche in der Nachahmung: eins von diesen Dingen ist für uns nicht
anmutender als das andre. Daß es — bei uns Deutschen wenigstens — nur
fremde, ferne, jenseitige Poesie war, die man der Beschäftigung würdig fand,
mag als eine Art von Durchgangsstadium erträglich erscheinen, zumal da es
ja nicht beliebig fremde Dichtung war, sondern die aus ihrer Höhe hernieder-
lcuchtende der Alten. Aber bis man sie als Poesie eigentlich und voll empfinden
lernte, sie würdigen nach ihrem innersten Wesen, das währte lange, und bis
dieses innere Verständnis und Interesse in Schulen das sür die Form, für
Metrum und Versfüße, Tropen und Figuren, Normen und Lizenzen ablöste,
dauerte es noch länger, ja man wird wohl fragen dürfen, ob diese Periode
jetzt wirklich und allgemein eingetreten sei, ob nicht immer wieder der Geist der
kleinen Gelehrsamkeit siegreich ringe mit der warmen Nachempfindung und die
scholastische Routine mit der erzieherischen Kunst. Freilich, sofern es der Schule
nun einmal obliegt, zu Schulen, die Form zu deuten neben dem Inhalt, auch
begrifflich erkennen zu lassen, damit man weiterhin selbständig unterscheiden und
würdigen könne, Maßstäbe, Kategorien, Typen zu übermitteln, ist kein Zweifel,
daß das in leichterer und natürlicherer Weise an den Dichtungen in fremder
Sprache geschieht, seien sie auch die edelsten, als an denen der Muttersprache,
wo sich das Herz viel eher verstimmt sühlt, wenn sich das Auge beobachtend
der Form zuwenden soll, wenigstens bei solchen Naturen, die nicht vor allem
zur Verstandesfreude an Maß und Formel und Kategorie erzogen oder dafür
geboren sind. Darum aber sollen doch die Werke auch der fremden Dichter
minder ausdauernd unter das Objektiv des Mikroskops gelegt, denn als Sterne
durch eine Art von geistigem Teleskop angeschaut werden.
Die Wendung der Dinge, die sich mit Herders Predigt von der Poesie
als der Muttersprache des menschlichen Geschlechts vollzog, ist eine der tief¬
greifendsten für das geistige Leben unsrer deutschen — und nicht bloß unsrer
deutschen — Menschheit. Wer möchte jenseits dieser Entdeckung gelebt haben!
Wenn die Gedankenreihen Lessings im Laokoon bewirkten, daß es Goethe und
seinen Genossen wie Schuppen von den Augen fiel, so müssen Herders begeisterte
Zurufe bewirkt haben, daß es wie eine neue Sonne am Himmel aufging; man
muß sich mit einemmale außerordentlich viel jünger gefühlt haben, verjüngt
gewissermaßen für immer, kindlich zugleich und reif, beschenkt mit einer uuvergüng-
lichen Freude an dem, was früher nnr als freundliche Zierde guter Stunden
galt. Doch freilich, die neue Lehre an sich konnte es nicht thun; das Empor¬
quellen, das leuchtende Aufgehen der neuen Dichtung selbst war der unvergleich¬
liche Gewinn des neuen Geschlechts, der neuen und der kommenden Geschlechter!
Denn wie hoch der Montblanc eigentlich über den andern Bergen ist, dessen
wird man erst bei großer Raumentfernung inne, und zu unsern großen Dichter¬
fürsten wird sich nach weitern Jahrhunderten der Blick noch dankbarer zurück¬
lenken als der unsrige, wobei es gar nicht hinderlich ist, wenn mittlerweile
allerlei unruhige Wasserwellen andrer Art bergartig emporgeschlagen sind oder
auch sich solide Hügel von verschiedner Höhe vorgelagert haben. Aber bei
dem wertvollsten Neuen, das einem Volke geschenkt wird, dauert es meist eine
ganze Zeit lang, bis es sich recht darüber freuen lernt, und bis es heraus¬
gefunden hat, was es daran besitzt und daraus ziehen kann. In einer so um¬
fassenden Gemeinschaft — wie erregbar und wie einmütig in ihrem Empfinden
sie auch scheinen mag — bildet sich eine gesunde Schützung des Wertes meist
erst sehr allmählich; rasch kann nur die fruchtbare That gewürdigt werden.
Und die deutschen Schulen sind fürwahr nicht (es war das niemals ihre Art) eilig
gewesen, sich von dem neuen Lichte durchströmen zu lassen.
Zunächst war es ja schon gut und schön, daß inzwischen durch die Neu¬
humanisten für Universitäten und Schulen eine echtere und vollere Würdigung,
eine über die äußere Gestalt hinausstrebendc, dem Innern zugewandte Beleuch¬
tung der antiken Dichtung gewonnen wurde. Aber freilich, auch dieser Gewinn
war nur ein grundsätzlicher, ein gewissermaßen in der Höhe schwebender, der
immer wieder erst ergriffen werden mußte von der einzelnen sichern Hand, ein
Erbe, das sich den nachwachsenden nur überlieferte und ihr „Besitz" wurde,
menn es von ihnen „erworben" war. Daß helle Augen die Harmonie der
Farben geschaut hatten, verbürgte nicht, daß sie auch blöden Augen wirklich
erstrahlte. Immer wieder neigte auch in dieser Periode die große Menge der
Lehrenden dahin, zurückzusinken in verstandesmäßig-formalistische Behandlung
der lebensvollen antiken Poesie, immer wieder waren es mehr nur Einzelne,
die Begeisterung und Klarheit genug verbanden, daß sie zugleich erfreuen und
bilden konnten. Die Atmosphäre der Schule ist chemisch so geartet, daß darin
nur echtes Gold des Fühlens seinen Klang und Glanz behält, minderwertige
Substanz dagegen falsche Verbindungen eingeht und ihnen erliegt. Aber die
Erkenntnis dieser Gefahr wenigstens ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt allgemeiner
geworden, und viel größer doch wohl die Zahl derer, die über sich selbst wachen,
daß sie nicht im Kleinlichen aufgehn und im Formaten. Es ist so viel gescholten
worden auf das Handwerkertum, das da an Stelle der Kunst geübt werde,
gescholten von draußen her und glücklicherweise noch mehr von innen, aus dem
Kreise der Lehrenden selbst, daß die Gewissen denn doch wacher bleiben und
die Geister beweglicher, abgesehen davon, daß doch auch die wissenschaftliche
Vorbildung die jungen Fachleute über gewisse enge Wege der Vergangenheit
erhebt. Auch giebt wohl die Gefahr, die antike Litteratur ganz und gar aus
den höhern Bildungsanstalten hinausgedrängt zu sehen, doppelten Ernst der
Bemühung ein, ihre Lebenskraft fühlbar bleiben zu lassen.
Wie seltsam erscheint uns jetzt, was in vergangnen Zeiten so allgemein
war: daß fremde Dichtwerke zum Zweck der übenden Nachahmung geboten
wurden, der Beobachtung ihrer bloßen Kunstmittel, ihrer kleinen Linien und
äußern Eigentümlichkeiten, ihrer Wortwahl und Wortverbindungen, um ein
stümperndes und zusammenstöppelndes Versemachen daran zu schließen und
daraus eine ganz trügliche Selbstschätzung zu ziehen und eine unfruchtbare
Genugthuung! wie unzulänglich auch das emsig gepflegte Wissen von all jenen
Einzelnormen und wirklichen oder vermeintlichen Künsten in der Kunst! und
wie wenig schützbar das prunkende Zitieren auswendig gelernter Dichterstellen
als eine bloße Legitimation erhaltner Schulbildung, gcpflogner Beschäftigung
mit dem schwierig fremden Schrifttum, ohne die Gewißheit innerlichen Ver¬
ständnisses und anschaulicher Nachempfindung! wie unbefriedigend erscheint das
uns — oder sollte es uns erscheinen!
Doch immerhin — an aller fremdartigen Poesie bleibt die äußere Form
für uns bedeutender als an der nationalen. Wohl gelingt es den empfänglichsten
und geübtesten Geistern auch da, wenigstens gewissen Werken oder Dichtern
gegenüber, so in den Genuß des Innern, d. h. des Innern zugleich mit dem
Äußern, einzudringen, daß sie eine Liebe dafür hegen können wie sür das eigne,
muttersprachliche Gut, ja vielleicht mehr Liebe hegen, weil sie länger um die
Würdigung haben ringen müssen. Aber das ist Ausnahme, deu meisten kann
das nicht beschieden sein, sie täuschen sich, wenn sie es glauben, oder sie sind
eines ganz vollen Empfindens sür Dichtung überhaupt nicht fähig. Im allgemeinen
bleibt uns an der fremden Poesie die Schale fester und dicker, und so gewiß
es seinen Reiz hat, durch sie hindurchzudringen: daß die weichere und saftvollere
Frucht des heimischen Gartens uns lieber sei, ist das Natürliche, ist das Recht
der Natur.
Wie schon gesagt: es hat geraume Zeit gewährt, bis unsre gute und große
nationale Dichtung in den Schulen ihre Stätte und Pflege fand. Waren sie
doch so lange Zeit spröde geblieben, der deutschen Sprache Einlaß zu gewähren!
Waltete in ihnen doch so sehr die Besorgnis, sie möchten ihre Zöglinge nicht
streng genug arbeiten lehren, sie nicht ernstlich genug Schulen, auch nicht genug
über das Einheimische hinaus und hinweg führen, möchten mit dem Gelehrtcn-
charakter ihren eigentlichen Adel preisgeben! Und dazu kam freilich auch die
im ganzen geringe Fähigkeit, sich von der Überlieferung frei zu machen, mit
eignen Augen das Schöne zu sehen und es mit dem eignen Herzen zu finden. In
den Unterricht der höhern Schule also ist die deutsche Litteratur erst im Laufe
dieses Jahrhunderts allmählich eingedrungen, und es ist nicht viele Jahrzehnte
her, daß die Schüler zwar von dem Entwicklungsgang unsrer Litteratur nach
Leitfäden, Lehrbüchern und Tabellen Kenntnis erhielten, mit Zahlen, Namen und
Schlagwörtern, aber die großen Dramen unsrer Klassiker (der wirklichen großen
Klassiker, nicht der wieder aus einer gewissen gelehrten Sprödigkeit gegen sie
ausgespielten mittelhochdeutschen Dichter) doch nur zufällig sür sich zu Hause
lasen oder auch, weil mit zu reichlicher lateinischer Lernfracht belastet, ungelesen
ließen.
Jetzt ist es anders. Schiller hat nun seit Jahrzehnten in unsern Bildungs¬
anstalten eine so sichre Stellung, wie Homer sie nur je haben konnte; von
Goethe liest jeder einzelne Schüler mehr Dramen als von Sophokles; die
Lateiner alle werden den Unsrigen gegenüber doch nur noch als Dichter einer
subalternen Stufe empfunden; was an hoher Gedankenlyrik wie an guter
volkstümlicher Dichtung, an Liedern und Balladen, an frischer Jugendpoesie
wie auch an gesund Lehrhaftem, was an Epos und Drama in all den einander
folgenden Klaffen (aus dem Autor selbst oder durch sorgsam zusammengestellte
Lesebücher) geboten und zum Teil angeeignet wird, es ist — freilich immer
nur eine ganz mäßige Auswahl aus dem Gesamtschatz, aber doch eine schöne,
reiche, wirkliche Blutenlese, und mehr als das: es ist Anschauung unsrer
Dichtung selbst in einer Reihe ihre besten Erzeugnisse. Wer will noch klagen?
Geklagt wird dennoch. Von den einen, daß man ihnen die Zeit nicht
gönne, die sie sich wünschen, um in viel größerer Breite und Vollständigkeit
die nationale Dichtung zu behandeln, die vor allen andern den Vorrang haben
müsse in deutschen Schulen und, um ihre ganze Wirkung zu thun, eindringliche
Behandlung fordre. Aber das ist doch vielleicht nur ein Wunsch von der Art,
wie sie nie und nirgend verstummen werden: nie haben die eifrigen Fachlehrer
Lehrstunden genug, um ihrem Fach ganz Genüge zu thun, ebenso wenig wie
die rührigen Kaufleute je die Zeiten für ganz gut erklären und ihren Gewinn
für ganz befriedigend, oder die ehrgeizigen Beamten je an Auszeichnungen genug
erhalten: ebenso, aber in ehrenvollerer Gesinnung. Doch von andrer Seite
kommt andre Klage, gewissermaßen die entgegengesetzte: daß nun zu viel auch
über die deutschen Dichtungen geredet, an ihnen erklärt und erläutert und
experimentiert werde, während sie doch nicht als oorxus vns zum Experimentieren,
auch nicht zum geistigen, bestimmt sein könnten. So sprechen Erzieher vom
Fach ebensowohl wie gebildete Eltern und, worauf sicher nicht am wenigsten an¬
kommt, manche ehemaligen Schulzvglinge in der Erinnerung an die empfangner
Eindrücke. Wenn hier fehlgegangen wird (und auch ich bin allerdings der
Ansicht, daß ein solches Festgeber gegenwärtig ziemlich weit verbreitet ist), so
ist es ja irrender Eifer, aber darum doch Irrung und Schade. Es ist nicht
so sehr verirrte Gelehrsamkeit, die sich ehedem so gern auch auf Schul¬
kathedern in selbstgefälligen Behagen und pädagogischer Naivität erging, als
vielmehr das Bestreben, allzu pädagogisch zu sein, allzu bewußt zu bilden; es
ist die Gewohnheit, der Phantasie und dem Gefühl niemals viel Recht über
den Verstand zu lassen oder dem ästhetischen Empfinden gegenüber dem sach¬
lichen Wissen; es ist die Neigung, in Worte und Gedanken und vielleicht Formeln
auch das innerste Leben umzusetzen, der Wunsch, immer etwas recht sichres,
wenn auch nicht schwarz auf weiß in nachgeschricbnem Hefte, aber doch im
Kopfe wohl auseinandergelegt und lückenlos zusammengestellt nach Hause tragen
zu lassen. Es giebt eine Art von umgekehrter Midaswirkung: in gewissen
Schulstuben verwandelt man auch alles Gold in bloße Speise zum (geistigen)
Verdauen. Die Blüten sollen nicht bloß schon sein und duften, sondern sich
auch sogleich als Früchte verzehren lassen.
In Wahrheit stellt sich hier eine schwierige Aufgabe dar. Denn es ist
wahr, daß sich ein planvoller, ein geistig erziehender Unterricht nicht mit
dem Hintreten vor die Objekte, auch die edelsten, nicht mit einem vagen
Anschauen und einem unsichern Innewerden begnügen kann. Er soll deuten
und soll finden lassen, und die Klarheit der Aufnahme muß sich durch das
Wort bekunden. Es ist auch wahr, daß die wahrste Bildung die ist, bei der
sich überall Empfundnes oder Verstandnes durchdringt oder deckt, das klare
Verstehen einem starken Empfinden keinen Eintrag thut und ebensowenig das
Empfinden dem Verstehen, vielmehr das eine den Wert des andern erhöht.
Doch dieses Verhältnis ist ein Ideal, dem die Wirklichkeit nur bei den Aller¬
besten und Reifsten entspricht. Dann aber kommt erst für diese Reifen die
Schwierigkeit, daß es nicht genügt, für sich selbst einigermaßen jenes Gleich¬
gewicht erworben zu haben ; es zu nützen, namentlich aber Empfindung zu über¬
tragen, svdciß es nicht bloß unsichre Regung wird und halblebendiges Wort
bleibt, erfordert mehr als Geschick, erfordert Persönlichkeit. Es vollzieht und
zeigt sich mehr in einzelnen Momenten als im zusammenhängenden Ganzen,
in dem Berühren und Treffen der rechten Punkte, in dem Finden der rechten
Beziehungen, in dem Gefühl für die drüben vorhandne Empfänglichkeit, in dem
Anschlagen des rechten Tons, in Miene, Blick und Stimme, nicht zum wenigsten
auch in der Beschränkung, in dem Verschweigen von gar manchem, das heraus-
geredet werden könnte, in dem rechten Maß für das Nebensächliche und für
das Große. Es gehört dazu auch die Befähigung, lebendig wiederzugeben,
was in den gedruckten Buchstaben nur ein Halbtotes ist, nur in einer Art
Verpuppung vorliegt, die sich erst wieder lösen muß, eben durch das erklingende
Wort. Der gute Vortrag ist mehr als die beste Erklärung; ihn leisten zu
sollen, das adelt die gesamte Aufgabe des Sprachlehrers, giebt der Arbeits¬
prosa eine festliche Unterbrechung; es läßt den Vortragenden selbst und die
Hörer erst nacherleben, was der Dichter, in dem sich die Kraft vollem
Empfindens mit der Gabe edeln Ausdrucks kreuzt, in seinem Innern erlebt
hat. Nicht zum Dichter geboren zu sein, kann niemand bedrücken; aber
beschämend ist, nicht zum Verständnis des Dichters, zum Mitverständnis des
bewegter» Menschen befähigt zu sein, und nicht die verschiednen Töne in sich
wirklich wiederklingen zu lassen. Wenn beim schelmischen Gedicht die Ver¬
dolmetschung nichts vom schelmischen Ton zu wahren weiß und beim rührenden
oder tiefernsten oder schmerzvollen nichts von dem entsprechenden, wenn die
verschieden erklingende Weise immer mit demselben blechernen Saitenspiel des
schulmeisterlichen Verstandes begleitet werden soll, dann wird eben dem Ohre
nicht Wohl und dem Herzen noch weniger.
Vielleicht kann in diesem Sinne mehr noch gefehlt werden bei den kleinern
und einfachern Gedichten als bei den groß organisierten Dichtwerken. Daß
die letztern, den reifern Stufen vorbehalten, entsprechend ihrer reichern Aus¬
gestaltung, ihrem großen Plane, ihren bedeutendern Zielen mehr Analyse er¬
fordern, überhaupt Analyse und Betrachtung erfordern und noch gewisser er¬
möglichen, ohne darüber Schaden leiden zu müssen, ist ebenso außer Zweifel,
wie daß die größere Gedankenlyrik (an der wir Deutschen einen so edeln Besitz
haben) auch ein gedankenmäßiges Durchdringen erheischt und damit gerade
ein so besonders fruchtbares Gebiet für die Bildung der gereiften Jugend
bedeutet. Dennoch wird Besorgnis wach, wenn man die vielen und ein¬
gehenden Kommentare sieht, die auch für unsre klassischen Dramen seit einiger
Zeit in die Schule eingedrungen sind und noch immer mehr eindringen möchten,
und die, abgesehen davon, daß sie vielfach ein fertiges Wortwiffen über den
Gegenstand übermitteln, und daß sie dem zu lebendiger Behandlung berufnen
Lehrer die Freude nehmen können, leicht auch die innere Stellung des Lesers
zur Dichtung selbst, bei der ein gewisses Ahnen, Wundern und Träumen
bleiben darf und vielleicht bleiben soll, verschieben. Alles zerlegt und belegt,
benannt, gedeutet und in Beziehung gesetzt zu finden, das hilft nicht den
Besitz der Poesie als solchen schätzen. Schöner ist es, wenn Fragen geweckt und
in lebendigem Unterrichtsverkehr beantwortet werden. Aber ob die Heraus¬
geber der Erläuterungen mehr dem Wunsche dienen, ihren unmündiger« Fach¬
genossen Hilfe zu leisten und bei der deutschen Jugend das Verständnis zu
sichern, oder das von ihnen Erdachte und Zurechtgelegte vor die Augen der
Welt zu bringen, wird die sehr bedenkliche Frage bleiben.
Nun fehlt ja aber auch die Gefahr von der entgegengesetzten Seite nicht.
Gedankenlosigkeit gegenüber Worten liegt der Jugend überhaupt nahe. Die
rhythmisch geordneten Worte, der Klang des Reimes und die ganze eigen¬
tümliche Geschlossenheit im Gedicht wird der sinnesfreudigen und gedanken¬
scheuen Jugend gefährlich. Sich vom Wortklingklang und Rhythmus des
Kinderreigens einwiegen zu lassen oder sich selbst endlos darin zu wiegen,
das ist freilich nur einer frühen Stufe eigen; aber eine gewisse Fortsetzung
oder etwas dem Ähnliches findet sich doch auch in dem spätern Behagen nicht
nur am Herunterleiern von Versen, sondern anch an dem vollständig gedanken¬
losen Durchsingen gemeinschaftlicher Lieder, worin wir Deutschen es allerdings
weiter bringen als andre, und worin wir bekanntlich auch noch als Musen¬
söhne oder Männer beim Festmahle viel leisten, obwohl uns zu unsrer Ver¬
stimmung doch nach einigen Versen meist mit den Gedanken auch die Worte
auszugehen pflegen. Diese Unart mag hier harmlos heißen, aber im ganzen
ist die leere Wortfreude das nicht, die Erziehung muß ihr entgegenarbeiten.
Ein Mittel dazu ist es übrigens, wenn sich der in Schulen gepflegte Gesang
seinerseits nicht zu sehr am Technischen genügen läßt, sondern wenn eine
lebendige Betrachtung des Inhalts sich anschließt oder vielmehr vorangeht,
was wohl noch nicht an sehr vielen Orten geschieht, entsprechend der geringen
Schätzung, die unsre allgemeinen Bildungsanstalten eben bis jetzt dem Ge¬
sang (als einer bloß technischen Beschäftigung!) zuteil werden lassen. Im
ganzen aber bleibt es die große Aufgabe, die auch keine Instruktion lösen
kann und kein Lehrplan, die immer insofern ungelöst bleibt, als die einzelne
Persönlichkeit sie immer wieder ihrerseits anfassen und lösen muß: Aufhellung
des Gedankeninhalts und doch Meiden der verstandesmäßigen Zerlegung und
Zerpflückung, Pflege des Gefühls in enger Verbindung mit dem Denken und
des Denkens mit dem Gefühle, Öffnen der Augen für Form und Inhalt.
Nur der beiden: zugleich geöffnete Sinn erfaßt wirklich das Kunstwerk, von
dem man sagen kann, daß es, aus höherer Natur geboren, gleich der Natur
nach Goethes Wort „Kern und Schale mit einemmale" ist. Sich wesentlich
nur dem einen oder andern zu öffnen, dazu neigt immer die große Mehrzahl:
die Unbildung erfrent sich des bloßen Stoffes, die Bildung — d. h. das,
was man als Bildung und als Gebildete anzutreffen und anzusehen pflegt —
oft viel zu einseitig der künstlerischen Form, und sie glaubt eine recht hoch¬
gehende Bildung namentlich dann zu sein, wenn sie zu vielem Wissen von der
Form vorgedrungen ist und womöglich von der Mache, wenn sie nach tech¬
nischen Kategorien zu urteilen vermag. Daß auch durch unsern höhern
Jugendunterricht diese Strömung fühlbar hindurchgeht, ist kein Wunder. Unser
Thema aber heißt gerade darum „Poesie und Erziehung," damit jeder Ge¬
danke an jenes etwas unechte oder halbechte Ideal ausgeschlossen bleibe. Denn
wenn der Begriff der Erziehung ja freilich nur die schlichteste Tüchtigmachung
für den Bedarf des geordneten Gesellschaftslebens zu enthalten braucht, so
kann damit doch andrerseits sehr wohl gerade die entscheidende Einwirkung auf
den innersten Menschen bezeichnet werden und die sichere Gestaltung dieses
innern Menschen, sodaß das Ergebnis Wert vielmehr ist als Zierde, Kon¬
zentration noch mehr als feine Organisation.
Die Poesie soll für die Jugend vor allem das menschliche Seelenleben
schön durchleuchten, seine edelsten Kräfte und seine dunkeln Abgründe enthüllen,
ohne lehrhafte Rede anschauliches Verständnis geben und das in der eignen
Seele schlummernde wecken. Indem sie, und insbesondre die am höchsten
organisierte dramatische Poesie, das Innere der Menschen schauen läßt wie in
einem reinen Spiegel, indem sie nicht Muster, nicht Schablonen vorführt, aber
Typen und Typisches, einen Reichtum an Gestalten und Gefühlen, eine Mannig¬
faltigkeit von Lebenssphären, seelische Kämpfe und Entwicklungen, ringende,
Handelnde, leidende Menschen samt all dem wogenden Leben von Trotz und
Hingebung, von Haß und Liebe, Treue und Undank, Grimm und Reue, List
und Leidenschaft, bietet sie eine Art von unmittelbarer und praktischer Psycho¬
logie; sie läßt zum voraus, vor der Schwelle des vollen Lebens, die Menschen¬
welt in großen Linien schauen, nicht die alltägliche, kleine, die eben nur Ver¬
kümmerung und undurchsichtige Mischung ist; und in der wohlthuenden Har¬
monie des Kunstwerks wird die Sprache der Wahrheit volltönender. Poesie
soll womöglich — das ist das Höchste, was wir erhoffen — so in das Innere
dringen, daß es gewissermaßen selbst Poesie werde, ein Herd starken und klaren
und schwungvollen Fühlens, das die vorüberrauschende Zeit der Jugend und
der ihr immanenten Poesie ganz überdauert.
(Schluß folgt)
le Wetterschwere lag auch auf dem leeren Kegelschnb; hüben und
drüben, im steinernen Engel und in Ackermanns Schmiede war be¬
fremdliche Stille.
Fräulein Jenny bediente die Apotheke und begriff nicht, was das
heißen sollte, denn sie wußte nicht einmal, daß der goldne Engel,
den sie hatte taufen helfen, so nahe vorm Fliegen stand. nachgerade
war er ihr langweilig geworden, und mit ihm alles, was jenseits der Kannten-
bündel und Drogensäcke hauste. Herr Frisch war amüsanter, und der hübsche Karl
mußte sich sehr anstrengen, wenn er etwa daran dächte, sie an der Verabredung
der Väter zu halten. Zu dumm, daß Herr Frisch gerade heute nicht da war, sie
hätten Vaters Abwesenheit so schon benutzen können. Statt dessen stand sie herum
und beaufsichtigte den Lehrling. Die Männer waren allesamt über die Maßen
langweilig.
Frau Flörke brummte nicht minder. Gewitter! Natürlich heute, wo sie den
halben Anger voll Sonntagshemden hängen hatte und in der Hand den schönsten
Stahl von der Welt. Den mußte man nun wegstellen und hinausrennen, um ab¬
zunehmen. War sie nicht eine Närrin, die Hilfe der erwachsenen Tochter einer
Fremden zu überlassen? Sie hätte sich wenigstens das mit der Erbschaft schrift¬
lich geben lassen sollen.
Den leeren Tragkorb auf dem Rücken lief sie durchs Haus, gerade als
wispernd und kichernd Fräulein Lines Lehrmädchen davon gingen. Am Sonnabend
wurde beizeiten Schicht gemacht, sie trugen die fertige Arbeit zu deu Kunden
und freuten sich auf den Sonntag.
Line freute sich nicht, die Angst lag ihr in Herz und Gliedern; sie öffnete
das Fenster der Schneiderstube, aber die stille, heiße Luft der Schuhgasse wehte
nichts davon weg. Einmal so lachen können wie die Mädchen da unten, denen
eine verkümmerte Naht, ein finstrer Blick der Lehrmeisterin die einzige, schnell ab¬
geschüttelte Sorge war, einmal so recht gedankenlos vergnügt sein!
Line trat unwillig vom Fenster zurück. Wie kam ihr das nur, dieses unver¬
nünftige, kindische Sehnen? Früher war sie doch stolz darauf gewesen, daß ihr
der Tag nicht so gedankenlos und zwecklos hinlief wie anderen jungen Blut; stolz
selber darauf, daß sie Kummer hatte und mit schweren Zeiten fertig wurde, von
denen sie annahm, die Durchschnittsmädchen würden von ihnen zerdrückt worden
sein. Nun gab ihr das schone Selbstbewußtsein nicht mehr trotzige Kraft genug;
auf was sollte sie sich denn stützen, und was wars denn, was sie so ganz aus dem
Takte brachte?
Die Gewitterluft?
Es litt sie uicht im Zimmer; unruhig ging sie in die Küche und horchte von
da aus nach der Schmiede hinab: still. Sie öffnete die Gangthür und trat hinaus;
schwarz starrten ihr die Wolken entgegen, die hinter Sankt Barthelmä standen, und
der heiße Brodem schlug wie Backofenluft zu ihr herauf. Sie horchte hinab: still.
Sie lief den Gang entlang, durch die Fenster schauend: leer. Alles leer: Schlaf¬
stube, Werkstatt und Hexenküche.
Also auch Karl war wieder hinaufgelaufen. Vom Vater war sich nun schon
nicht anders gewöhnt, aber den Bruder hatte sie am Arbeitstisch zu finden gehofft,
er war nicht nötig bei den Vorbereitungen draußen, aber einer triebs wie der
andre. Gott sei Dank, morgen würde das ein Ende haben, morgen würden sie
fliegen.
Gott sei Dank? Limen wurde plötzlich eiskalt inmitten der Backofenluft, und
nun wußte sie auch, daß all die Unruhe, die sie umtrieb und nicht bei der Arbeit
ließ, Angst war, nichts andres als Angst; Angst vor dem Aufstieg, Angst vor der
Gefahr, in die sich der Vater wagte. Eine Angst, die auch mit dem morgenden
Tag nicht sterben konnte.
Denn wenn alles gut ausging, wenn alle Absichten vollauf glückten, was hatten
sie davon? Ein wenig Ruhm vor den Leuten, Zeitungslärm, allerlei ausländisches
Volk, dessen Neugier dem Vater Arbeitsstunden und Laune verdarb, neue Ausstiege
mit neuen Kosten und eine Schuldenlast, wachsend bis ins Ungeheuerliche hinauf.
Vielleicht zogen die stolzen Erfinder gar mit dem Gespenst von Ort zu Ort, zu
immer neuen Wagnissen, bis es sie eines Tages doch noch erwürgte.
Line sah den Holzengel seine kleinen, dicken Fäuste auf des alten Stadels
Kehle drücke» und wandte sich hastig vom Fenster ab, dem Hofe zu.
Still. — Mußten die Buben gerade heute zur Ktrschenmuhme gehen? Bei
diesem Wetter? Und die draußen hatten auch heim kommen können, wo das nun
schon seit einer Stunde drohte und immer siegesgewisser am Horizont empor¬
wuchs.
Da hatte es die Spitze des Turmes erreicht, mir die Wetterfahne streckte
ihre steifen Spitzen noch ins Blaue hinaus; jetzt waren auch die von den Fransen
der Wolkenwand verdunkelt.
Line starrte in die Wolke und dachte an Ackermanns Wiese. Sie war nicht
draußen gewesen seit die Schutzscheune dort stand, aber sie kannte den Ort von
lustigen Heueruten her. Sie sah auch die Scheune und all die neuen Anstalten
deutlich vor sich, Frau Flörke hatte ihr genug davon erzählt, mehr fast als wirklich
zu sehen war. Das Dach wollten sie abnehmen, oder eine Wand ausheben, sobald
es ans Füllen ginge — vielleicht war das schon geschehen, vielleicht stand die ganze
Herrlichkeit offen da, dem kommenden Unwetter preisgegeben. Wenn —
Das erstemal scheuten ihre Gedanken vor diesem Wenn zurück, dann gingen
sie mutig darauf los und scheuten am Ende doch wieder.
Wenn dem Ballon, noch ehe er zum Aufstieg kam, ein Unglück zustieß; wenn
der Sturm ihn zerriß, oder der Blitz ihn traf, wenn Wolkenbruch oder Hagel das
Zerstörungswerk vollendeten —
Sie sah starren Blicks auf die Wolkenwand, bis ihr die Augen schmerzten. Ab
und zu zuckte es drin von fernen Blitzen, denen ein Grollen folgte, das sich nicht
in einzelne Donnerschläge auflöste, weil der neue begann, ehe der alte ausgeredet
hatte. Die Randfetzen wurden größer, fahlgelbes Licht zog sich über die Wolke,
die in immer schnellerm Fluge zu steigen schien.
Wenn dieses Wetter dem Gespenst zur Vernichtung heraufzöge!
Line deckte die schmerzenden Augen mit beide» Händen, um bester zu denken.
Der Vater würde verzweifeln.
Der Vater würde von neuem beginnen.
Nein nein! Nicht das eine, nicht das andre. Verzweiflung hatte ihn nie
bedroht; wenn auch Enttäuschung auf Enttäuschung seinen Weg verödete, immer
wieder hatte er sich aufgerafft, als sei all die Elastizität, die das Stubenhocker
seinem Körper geraubt hatte, auf den Geist übergegangen. Eher, daß er wieder
von neuem begönne.
Wenn aber zugleich das Modell zu schaden käme, wenn des Vaters Berech¬
nungen vom Sturm verweht würden, wenn Karl ihn mit hinübernähme zu Meister
Wendelin, aus dem Schatten des Engels heraus ins Helle, wo neue Freude an
seinem Berufe aufblühen konnte, und wohin sie nachkam, sobald sie hier alles ge¬
ordnet und abbezahlt hatte?
Herrgott du, droben im Himmel, vernichte das Gespenst, der Blitz ruht in
deiner Hand, führ ihn, befreie uns!
Da fuhr der erste Stoß des Sturmes über das Apvthekendach in den Hof
hinein, die Kastanien wehrten sich ächzend gegen sein Ungestüm, Thüren krachten,
was nicht niet- und nagelfest war, stürzte zusammen. scheltend keuchte Frau Flörke
mit ihrer geretteten Wäsche heran, der Lehrling löschte das Schmiedefeuer und
prüfte den Verschluß der Fenster. Line stand noch an der Brüstung und ließ die
Stöße in Kleidern und Haaren wühlen. Herrgott, lenke den Blitz!
Ein Grau war der Himmel, wirbelnder Staub flog über die Mauer in ihre
Augen, die Küchenthür klappte — sie hörte es nicht. Blitz um Blitz flog von
Wolke zu Wolke, vom Himmel zur Erde, laug hingetragnes Rollen, kurz knatternde
Schläge lösten sich ab. Nun kam auch der Negen. Mit prasselnden Tropfen und
plätscherten Güssen stürzte er auf deu Holzgang los und trieb Limen ins Haus.
Die Flut, die ihr Stiru und Augen übersprühte, schien sie zu wecken, sie sah
nach Fenstern und Thüren, nach Herdfeuer und Bodenluken; aber es war nur ein
dunkles Pflichtbewußtsein, das in halbem Traum seine Arbeit that, ihre wache
Seele umkreiste Ackermanns Scheune und spielte in: Sturm und Wetter mit dem
sonnigen Zukunftsbild, an das sie glauben wollte um jeden Preis.
Jetzt stand Line wieder draußen vor der Küchenthür, sie hatte ein Tuch
um das Haar geknüpft und starrte hinaus in deu jähe» Wechsel von Licht und
Nacht.
Es mußte zu Grunde gehen, was da draußen im Freien stand! es war schon
vernichtet! nichts blieb noch als das Modell, das zu neuer Arbeit und neuem Un¬
heil rief. Aber da konnte man nachhelfen.
Mit fliegenden Schritten durchmaß Line den Gang, riß die Werkstatthür auf,
die der Wind mit Gewalt gegen den Nahmen preßte, schlüpfte hinein und wurde
von der scharf hinter ihr zuschlagenden Thür an der Ferse getroffen.
In der dunkeln Werkstatt blieb sie Atem schöpfend stehen, es brauste und
löste in ihr wie draußen in der Luft, sie lauschte und wußte nicht, welcher Sturm
ihre Ohren füllte.
Vernichtung, sagte sie vor sich hin, Vernichtung.
Dann nahm sie den Hammer aus der Ecke, wo das grobe Handwerkszeug
lag, und ging ohne Zögern in des Vaters Zimmer hinüber. Dort war es noch
dunkler, denn der Laden lag vor deu Scheiben; nur das schwache Dämmerlicht,
das durch die offne Seitenthür hereinfiel, zeigte ihr den Weg. Der Sturm fuhr
durch eine unsichtbare Klunse und bewegte die Modelle ans den Regalen und die
Bilder an den Wänden: leises Seufzen, verhuschendes Knistern, gespenstisches Rascheln
füllte den Raum; es trommelte gegen den Laden, als verlange das Wetter Einlaß,
und aus einer schadhaften Stelle der Dachrinne zischte ein bindfadenstarker Wasser¬
strahl vor der Thür auf die Gangbretter; in kurzen Sätzen stürzte ein Ziegel
übers Dach, schlug auf die Brüstung und zerschellte krachend im Hofe.
Line fühlte sich plötzlich ganz ruhig, ganz entschlossen. Sie sah nnn auch
deutlich in der Dämmerung: dort den Schreibtisch, hier den Glaskasten.
Das Geschriebne zuerst; sie trugs in den Ofen, legte ein Streichholz daran,
noch eins — eine ganze Schachtel — da zischte es auf — loderte und verglomm.
Sie stand auf und strich sich über die Stirn: nicht nachdenken — jetzt nicht. Nun
das Modell!
Sie nahm deu Glaskasten ab nud stellte ihn ans den Boden; ein Zittern
überkam sie, aber sie schalt sichs weg: Das nnunterbrochne Getöse zerreißt mir die
Sinne — wenn der draußen das Unwetter aushält, dann bleibt er ja und beherrscht
uns weiter, wenn aber deu das Wetter trifft, war es Gottes Wille.
Sie hob den Hammer, beide Hände fest um den Stil gefaltet. Herrgott, in
deiner Hand liegt das Schicksal, das Gute laß geschehen, Herrgott, ich bitte dich! —
Dann holte sie zum Schlage ans.
Da wurde es plötzlich hell, selbst in ihrer Dunkelheit. Blauweißer Blitz,
krachender Donner, kurz aufflackernder, rotgelber Feuerschein folgten sich mit der
Schnelle eines Herzschlags. Der Hammer entfiel Lineus Hand, sie stürzte vorn¬
über, stieß mit der Stirn gegen den Tisch, und das Modell klirrte herab.
Draußen flammte es noch einmal auf, dann wurde es dunkel und still, als
hätte dieser letzte Schlag die Kraft des Wetters verbraucht. Die älteste Kastanie
hinter der Stadtmauer lag gespalten am Boden, wie ein Halm, den Kinder zer¬
spielt und weggeworfen haben.
Als Line wieder zur Besinnung kam, erhellte drüben ein feiner Streifen
Abendsonnenschein Senefelders Bild, aber noch immer rührte sich nichts im Hause;
nur von den Dächern rann und tropfte es nieder. Und da kam Musik durch
die Luft, Jenny Nothnagel tröstete sich in ihrer Einsamkeit mit dem Schunkel¬
walzer.
Line griff nach der Stirn, sie konnte sich nicht besinnen, ein dumpfer Schmerz
und eine dumpfe Angst banden ihre Gedanken. schwankend stand sie auf, sie
konnte nichts unterscheiden, der Sonnenstreifen von drüben blendete sie nur; aber
sie wunderte sich über die Sonne. Wie lange wars doch her, daß die Sonne
nicht geschienen hatte? Monate, Jahre — sie meinte sich kaum noch darauf be¬
sinnen zu können.
Hilflos strich sie mit der Hand über die Stirn, die sich feucht und klebrig
anfühlte; so wie sie sich dessen bewußt wurde, empfand sie heftige Schmerzen.
Weshalb denn? Woher denn? — In einem Nu stand sie vor der Gangthür und
stieß sie auf.
Ein Schwarm vou Tropfen flog ihr ins Gesicht und verursachte ihr ein woh¬
liges Gefühl; jetzt kam die Erinnerung: du hast dich im Stürzen verwundet.
Aber auch das andre fiel ihr ein, und mit einem scheuen Blick sah sie nach
dem Modell, das sie hatte umbringen wollen.
Es lag am Boden. Langsam ging sie zurück; vorsichtig, als sei es ein wildes
Tier, das im Todeskampf auffahren und verwunden könne, beugte sie sich darüber.
Es schien nur wenig beschädigt zu sein; mit spitzen Fingern hob sie es auf und
stellte es an seinen Platz zurück, schob den Glaskasten darüber und that den Hammer
an seinen Platz —- scheu, wie man die Spuren eines Verbrechens verwischt.
Dann schloß sie die Gangthür wieder und ging nach dem Vorderzimmer. Ihre
Lippen zitterten, ihre Kniee bebten, sie achtete nicht darauf, sie wusch das Blut ab
und betrachtete die Stirnwuude im Spiegel.
Eine Schramme, sagte sie verächtlich, band aber einen Leineustreifen darüber,
weil die Schramme aufs neue bluten wollte.
Daun sah sie sich hilflos im Zimmer um und wußte nicht, was thun; es war
ihr, als sei sie plötzlich von ihren Pflichten, ihrer Arbeit, ihrem vergangnen Leben
und ihren Zukunftsträumen abgeschnitten und schwebe allein im Leeren. Hatte sie
etwas zu schaffen? Hatte sie etwas zu bedenken?
Sie stand noch mitten im Zimmer und konnte sich nicht zurecht finden, als
Frau Flörke an die Küchenthür donnerte. Fräueln Line! Fräueln Line! Du meine
Güte, is denn alles verwünschen? wo stecken denn alle? hilft denn keins, Wenns
Wasser in'n Keller läuft?
Das weckte sie auf. Ja so: der Haushalt, und die Schmiede, und die guten
Freunde und getreuen Nachbarn, und der Vater draußen, und Karl —
Aber wo blieben sie nur? Sie hätten doch nun zurück sein können. Wenn
man auch untertritt während des heftigsten Wetters, man bleibt danach doch nicht
stehen in Nässe und Verwüstung.
Sie ging in den Hof, half die Kellerfenster verstopfen und den Kcmalnbfluß
frei machen, nach zehn Minuten hatte sich das Wasser verlaufen. Während der
Arbeit rann ihr ein Schauer über den andern den Rücken hinunter, und das häm¬
mernde Blut fragte immer wieder: Wo sie nur bleiben? Sie hörte gar nicht, daß
Frau Flörke um das Ding jammerte und sich gut that in dem neuen Gedanken, daß
Kinder zu der Eltern Hilfe auf die Erde gekommen seien.
Wo sie nnr bleiben?
Aber da war ja Ackermann. Ackermanns Stimme klang gedämpft aus der
Hausflur herüber. Er sprach in die Schmiede hinein zu dem Lehrbuben; Line
konnte nicht verstehen, was, aber es war ja auch einerlei, was er sprach, daß da
einer stand, endlich einer, der doch Wohl von draußen kam, das war Erlösung.
Sie mußte dicht an ihn hintreten, ehe er sie gewahr wurde, und dann schrak
er zusammen.
Sie sehen schlecht aus, Fräulein Line, sagte er besorgt; gehen Sie mal in
meine Stube hinein; ja? nnr fürs erste. Das ist nichts für sie, so auf den An¬
prall; aber ich dachte, es wäre das richtige, wenn wir ihn hierher schafften, er ge¬
hört doch hierher.
Line starrte in des Freundes bekümmertes Gesicht und rang nach Luft und
nach Worten. Sie begriff, und begriff nicht; sie sah den Blitz wie einen feurigen
Hammer vom Himmel fallen und faltete unwillkürlich die Hände.
Fräulein Line, sagte Ackermann, ihre gefalteten Hände mit seiner Rechten
fest zusammendrückend, nicht so, Frnuleiu Line; er war eben sehr glücklich gewesen.
Wer? konnte sie endlich herausstoßen, wer?
Der Vater, antwortete er leise, da bringen sie ihn.
Vier Soldaten brachten ihn auf einer verhängten Trage, so wie der Blitz ihn
droben in seinem Wolkenschiff getroffen hatte. Der Sturz mit dem gespaltnen
Ballon war ihm kein Unheil mehr gewesen, gebrochne Glieder thaten dem toten
Manne nicht weh.
Ackermann nahm Line bei den Schultern und schob sie in die offne Schmiede
hinein; der Sohn, der neben dem Vater hergeschrittcn war, den ganzen Weg lang
durch Wiesen und Vorstadtgassen, der auch in der engen Hausflur nicht von seiner
Seite wich, sah die Schwester gar nicht, und als die Träger schon oben durch
die Küche hinaus auf den Gang tappten, vermochte sich Line noch immer nicht zu
rühren.
Erst Frau Flvrkes Jammerrufe rüttelten sie auf, sie schauerte zusammen und
sagte leise: Ich muß wohl helfen.
Da ließ Ackermann ihre Schultern los, aber nur, um ihr das Helfen zu
wehren.
Es sind ihrer genug oben, um ihn zu betten; kommen Sie einen Augenblick
mit da hinein. Er machte die Wohnstubenthür auf, schob sie wieder über die
Schwelle, drückte sie in den altväterischen Lehnstuhl, holte aus dem Wandschrank
Flasche und Gläschen und schenkte ein.
'S ist Wacholder, sagte er, trinken Sie. Nur schnell hinunter, Wenns auch
brennt. Das ist Ihnen jetzt gut.
Sie gehorchte willenlos, wie Feuer raun ihr der Branntwein durch die Adern.
Aber sie fühlte sich kräftiger danach, sie vermochte nachzudenken, und aus dem
Nachdenken wurde die bange Frage: Wie ist es geschehn?
Ackermann rieb die Hände verlegen gegen einander. Ja, Fräulein Line, wir
hatten Sie eben von wegen Ihrer Ängstlichkeit belogen. Der goldne Engel ist
heute gestiegen, und ich war schon mitten drin ini Ärger darüber, daß wir Sie
nicht draußen hatten, denn soweit Menschenhände dabei im Spiele waren, ging alles
wie am Schnürchen. Er stieg und segelte und kam zurück und war dicht vorm
Landen. Aber das Wetter war schneller, und schneller als unsre Sinne es fassen
konnten, kamen Blitz und Sturz. Ihres Vaters Augen schlössen sich im stolzesten
Augenblick seines Lebens. Er war sehr glücklich, als der Blitz ihn traf, Fräulein
Line. Gottes Hand hat es gethan, Fräulein Line. Es ist immer gut, was er thut,
Fräulein Line, wenn wirs auch nicht verstehn.
Sie saß still in dem Lehnstuhl und rührte sich nicht; sie hörte seine gute
Stimme, die ihr wohler that, als das, was er sich zu ihrem Troste von guten
Worten mühsam zusammenstoppelte, und am Ende hatte sie nur das eine ver¬
standen: Ihr Gebet war erhört worden, der feurige Hammer hatte ihn getroffen.
Sie drückte das Gesicht in die Hände und schluchzte auf.
Line! Liebes Fräulein Line! Sie sind doch sonst unsre Tapferste. Was
denken Sie wohl, wie meinem Gesellen zu Mute ist, dem armen Schlucker!
Sie sah auf und schluckte ihre Thränen hinab. Jaso, da waren anch noch
andre Menschen beteiligt. Der Mechaniker, der Geselle und Nothnagel —?
Ob sie die Namen ausgesprochen hatte, wußte sie nicht, aber wenn sie nur
Gedanken geblieben waren, so hatte Ackermann diese Gedanken erraten.
Der Mechaniker ist auch tot, antwortete er, den Gottlieb hatte der Blitz nicht
betäubt, er hielt sich beim Sturz in deu Seilen und ist mit Arm- und Beinbruch
davon gekommen. Der Arzt, den wir draußen hatten, meint, es werde gut heilen.
Nothnagel? Nothnagel ist nicht mit aufgestiegen.
Da lachte Line hell auf und hatte sich auf einmal wieder beisammen. Wenn
sich einer nur treu bleibt, Herr Ackermann, nicht wahr, dann bleibt ihm auch das
Glück treu. Und jetzt will ich hinausgehn und den Karl versorgen; so lange einer
lebendig ist, muß er schon mit seinem Körper haushalten.
Sie schluchzte noch einmal thränenlos auf, drückte Ackermann die Hand und
ging zu dem Bruder, der eben die Träger in der Küche verabschiedete.
Schön Dank auch, sagte der Älteste, und schön Dank auch sagte« die audern
hinterdrein, dann stapften sie mit ihrer Trage die Treppe hinunter, und die Ge¬
schwister standen sich allein gegenüber.
Du hast ihn hinausgelassen, wollte Line sagen und brachte es nicht über die
Lippen, dem blassen, bekümmerte» Gesicht gegenüber, das ihr nicht einmal vor der
Soldatenzeit so knabenhaft jung erschienen war, wie eben jetzt. Und da sie nicht
sagen wollte, was ihr auf den Lippen lag, schwieg sie still.
Auch Karl fand kein Wort, nnr immer blasser, immer kummervoller wurde
sein Gesicht; da überkam sie die Angst, sie könne den Bruder auch noch vertieren,
jets umfaßte sie seine Schulter, drückte ihren Kopf an seinen Hals und hielt
ihn fest.
Erst rührte er sich nicht, dann legte er leise seine Linke um ihren Kopf, und
endlich, da sie in dieser Stellung erstarrt schien, sagte er eintönig: Das ist nun so,
Line. Wenn ich ihn gehalten hätte, wenn ich einen Tag später gekommen wäre,
wenn sie eine Stunde früher aufgestiegen wären — über die hundert bittern
Wenn! Aber nun hat es keinen Zweck mehr, davon zu reden, nnn heißes die
Zähne zusammenbeißen und seine Pflicht thun. Wirklich, Line, alles Grübeln darüber,
wie es hatte kommen können, ist nutzlos. Sei gut. Sei still.
Er fühlte sie unter seiner Hand schaudern. Da war es wieder, was sie eben
in dieser Umarmung vergessen gehabt hatte: ihr Gebet um Vernichtung des goldnen
Engels, der feurige Hammer und das elende Schuldgefühl, das ihr im Herzen
brannte, trotz alles Wehreus von Vernunft und Glauben.
Gott thut, was gut ist, nicht wahr? Und wenn wir uns die Hände wund
flehen, er läßt uns nichts zu Willen geschehen, was gegen seinen Willen ist?
Karl ließ die Schwester los und sah sie zweifelnd an, er begriff nicht, was
sie meinte, noch weniger, was sie gerade jetzt damit wollte: er sah immer nnr
zwei Bilder vor Angen: den goldnen Engel oben in seinem Siegesslng, und den
toten Vater unter in dem Gewirre von Seilen und Fetzen,
Schwerfällig antwortete er: Gott thut, was gut ist — ja Line, wir wollen
uns Mühe geben, das zu glaube», es ist die beste Brücke, die man sich schlagen kann.
Sie hatte gefragt und hörte doch die Autwort uicht, ihre Gedanken sprangen
Plötzlich ab: sie fühlte die Nässe seines Rocks und erinnerte sich, weshalb sie von
Ackermann weggegangen war. Nur ein Wort brauchte sie, um deu Bruder willig
zu machen; todmüde von Anstrengung und Erregung ließ er sich von ihr helfen
und hegen wie ein kleines Kind. Er wurde sich kaum bewußt, daß sie ihn in
ihren Alkoven bettete, in den die erfrischte Luft durch deu leichten Vorhang ein¬
drang, er schlief, ehe sie noch mit ihrer Sorge für seine Bequemlichkeit zu Ende war.
Daun ging sie noch einmal hinunter zu dem Freunde.
Aber selbstverständlich, Frciuleiu Line, der Ackermann besorgt alles, was besorgt
werden muß. — Und nehmen Sie sich Frau Flörke mit hinauf!
Frau Flörke, die nicht schweigen kann, Frau Flörke, die ihre Nebenmenschen
mit weisen Anmerümgen peinigt?
Ackermann sah ein, daß einem Frau Flörke weher thun konnte als die Ein¬
samkeit.
(Fortsetzung folgt)
Unter dieser Spitzmarke machte kürzlich
die Tischrede eines nltpreußischen Landrath, von Kotze, die Runde durch die Zei¬
tungen, in der dieser höhere Verwaltungsbeamte an des Kaisers Geburtstag eine
Reihe ihm ans privatem Wege bekannt gewordne Äußerungen und Handlungen des
Monarchen aus dem letzten Jahre zum besten gegeben hat. Unter andern: soll
dabei Herr von Kotze auch bemerkt haben, daß nach seinen Informationen die Ans-
weisnngspolitik des Herrn von Köller, die straffe Haltung der Regierung gegenüber
den Anmaßungen des Polentums und die bisherige Nichtbestätigung des Berliner
Oberbürgermeisters auf die „eigne Initiative des Kaisers" zurückzuführen seien. In
letzter Sache — so soll der Landrat hinzugefügt haben — sei es überhaupt wahr¬
scheinlich, daß der neue Oberbürgermeister der Reichshauptstadt nicht bestätigt
werden würde, da die bekannten Beschlüsse der freisinnigen Stadtvertretnng über
die Ehrung der „Märzgefallnen" den Kaiser sehr verstimmt hätten und diese den
Hauptgrund für die verzögerte Bestätigung abgaben, — Wir gestehen ein, es von
vornherein für eine Ungeheuerlichkeit, ja für eine Unmöglichkeit gehalten zu haben,
daß ein höherer preußischer Verwaltungsbeamter so etwas einer aus allen mög¬
lichen Leuten zusammengesetzten Tischgesellschaft, d. h. öffentlich, zum besten gegeben
habe, selbst wenn er des Glaubens gewesen wäre, die Tischgenossen würden den
Takt haben, das Hinaustragen in eine weitere Öffentlichkeit durch die Presse >zu
verhindern. Eine Richtigstellung des Preßklatsches ist bisher nicht erfolgt. So
wenig wir geneigt sind, dem einzelnen Vorkommnis an sich den Wert einer Be¬
sprechung zuzubilligen, so giebt es uns doch Veranlassung zu einigen allgemeinern
ernsten Betrachtungen.
Es ist endlich einmal mit aller Schärfe auszusprechen, daß der Kaiser sowohl
in der preußischen Bevölkerung wie namentlich in den nichtpreußischen Teilen
des deutscheu Volkes die Liebe und Anerkennung nicht findet, die er verdient.
Wenn man nach den Gründen dieser bedauerlichen Erscheinung forscht, so stößt
man, zumal im Süden und Westen, durchweg auf die mit naiver Unkenntnis der
Verhältnisse vorgetragne Ansicht, daß er der eigentliche Träger der altpreußischen
junkerlichen Reaktion sei, wohl auch des Agrariertums, des schutzzöllnerischen Schlot¬
junkertums und nicht am wenigsten der starren, unduldsamen, protestantischen Ortho¬
doxie, die man alle mit einander in neuerer Zeit als in Preußen zu unumschränkter
Herrschaft gelangt betrachtet. Man geht in der naiven Geschichtsfälschung in Süd¬
deutschland sogar vielfach soweit, Bismarck als den Vorkämpfer des Fortschritts
und des Liberalismus im edelsten Sinne dem Kaiser als dem Vertreter des finstern,
illiberalen, selbst vor einem reaktionären Staatsstreich nicht zurückschreckenden Rück¬
schritts gegenüberzustellen.
So lächerlich dieser Kontrast der von der Person des Kaisers herrschenden
Vorstellungen mit der Person des Kaisers, wie sie wirklich ist, anch sein mag, so
drohen sie doch schon zu einer ernsten Gesnhr für die gedeihliche Entwicklung der poli¬
tischen Lage im Reiche zu werden. Sie bieten den partikularistischen wie den demo¬
kratischen Wühlereien das willkommenste Werkzeug und den fruchtbarsten Boden.
Die Freunde des Reichs, die in des Kaisers Person und in ihrem harmonischen
Zusammenwirken mit der Nation die Gewähr für die gesunde Weiterentwicklung
der jungen deutschen Reichspolitik sehen, die aufrichtigen Freunde des Kaisers,
namentlich die im besten Sinne konservativ und monarchisch gesinnten deutschen
Männer in Preußen haben dieser Gefahr gegenüber Stellung zu nehmen und
rücksichtslos ihre Ursachen und Urheber festzustellen und zu bekämpfen.
Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, wie schweres Unrecht dem Kaiser
widerfahren ist, und wie gewaltige Hindernisse seiner aufopfernden Pflichterfüllung
bereitet worden sind durch die an den Rücktritt Bismarcks anknüpfende, mit tausend
giftigen Angriffen gegen die Person Wilhelms II. gerichtete Fronde, dieses echte, böse,
altpreußische Junkertum mit Quitte und Harden im Bunde. Es liegt uns fern, darauf
zurückzukommen. Möge der Schleier der Vergessenheit recht bald diese schmachvolle
Episode verdecken. Wir wollen auch nicht zurückkommen auf den bösen Geist pas¬
siven Widerstands und hämischer Schadenfreude, der dem sogenannten „neuen Kurs"
in einzelnen Schichten des Preußischen Beamtentums unter dem Deckmantel einer
über dem Monarchen stehenden monarchischen Gesinnung nur zu oft begegnete, und
auf das Zetergeschrei der altpreußischen Büreaukratie über jede öffentliche persön¬
liche Meinungsäußerung des Kaisers, die geflissentlich im Übermaß aufgebauscht
wurde. Wir erinnern an diese preußische junkerliche Fremde und an die eng mit
ihr zusammenhängenden traurige» Erscheinungen im preußischen Beamtentume nur
deshalb, um ein für allemal außer Zweifel zu stellen, daß die Kreise, die daran
teil genommen haben und vielleicht noch teil nehmen möchten, am wenigsten ein
Recht haben, Unmut und Tadel über den Undank und die Antipathien, die in leider
sehr weiten Kreisen der deutschen Nation noch gegen den deutschen Kaiser herrschen,
laut werden zu lassen, daß sie vielmehr die Mitschuld, ja die Hauptschuld daran
tragen, daß es so ist. Sagen wir es offen: die Reaktion in Preußen hat den
Kaiser um die wohlverdiente Liebe, den gebührenden Dank und das notwendige
Vertrauen der deutschen Patrioten und damit des deutschen Volks betrogen. Hier
in Preußen ist die Schuld zu suchen, und in Preußen deshalb auch für die Sühne
und für die Abhilfe zu sorgen. Wenn Bismarck einmal gesagt hat, der weise
Staatsmann müsse zu Zeiten konservativ, zu Zeiten liberal zu regieren wissen, dann
ist es in Preußen hohe Zeit, daß wieder einmal liberaler oder weniger reaktionär
regiert wird. Das sollten die preußischen Konservativen sich endlich gesagt sein
lassen. Wollen sie es nicht beherzigen, so werden sie anch in Zukunft den deutschen
Kaiser um das Vertrauen und deu Dank des deutscheu Volks betrügen lassen und
damit leider die Regierung eines der pflichttreusten, begabtesten, im besten Sinne
liberalen Hohenzollern zu einer tragischen machen.
Und warum giebt uns die Tischrede des Herrn von Kotze zu diesen trüben
Betrachtungen Veranlassung?
Es geHorte zu den Gepflogenheiten der junkerlichen und büreaukratischen
Fronde, die persönliche Initiative des Kaisers in allen Sachen öffentlich vorzukehren,
obgleich mau, wo der Kaiser sich selbst zu ihr zu bekennen für gut fand, Zeter
darüber schrie. Es schien Methode geworden zu sein, daß die Verantwortlicher
hohen Beamten nicht den Monarchen deckten, sondern sich dnrch die Person des
Monarchen zu decken suchten. Wo uur immer eine reaktionäre Maßregel in Preußen
vorbereitet werdeu sollte, da suchte man die persönliche Initiative des Kaisers, durch
irgend eine beiläufige, intime Äußerung belegt, dafür ins Treffen zu führen und es
an die große Glocke zu hängen. Man wußte genau, daß man damit Öl ins Feuer
und Wasser auf die Mühle derer goß, die die leichtgläubigen Massen gegen den
Kaiser aufzuhetzen immer bereit waren. Man machte sich zum Mitschuldigen dieser
Hetze, und wie es zuweilen schien, nicht ohne Vorbedacht. Indem man Veranlassung
gab, den Kaiser im Volke als den Vertreter der schroffen Reaktion zu beschimpfen
— wer die Frage der Mnjestätsbeleidigungen unbefangen studiert, wird das ver¬
steh» —, um so mehr glaubte man den Kaiser zu isolieren und der Reaktion
wirklich in die Arme zu treiben, in die Arme der Fronde, die über und durch den
Monarchen herrschen wollte.
Wir sind weit entfernt, den Landrat von Kotze zu dieser Fronde zu rechnen,
aber wie konnte er nach privaten oder nichtöffentlichen amtlichen Informationen
- ohne daß der Kaiser sich selbst darüber öffentlich zu äußern für gut befunden
hatte — die Köllerschen Maßnahme» und nnn gar die noch nicht einmal erfolgte
Nichtbestätignng des zum ersten Bürgermeister von Berlin gewählten Bürgermeister
Kirschner. ja schließlich anch die auffallende Verschleppung der Entscheidung in dieser
Sache als der persönlichen Initiative des Kaisers entsprungen hinstellen? Wir
haben uns zu Genüge über die politischen Zustände in der Berliner Stadtverwal¬
tung ausgesprochen und namentlich auch das skandalöse Gebaren der von einer
Klique demokratischer und sozialdemokratischer Schreier und Streber schlimmster Art
terrorisierten Mehrheit der Stadtverordneten in Sachen der Gräber der „Miirz-
gefallnen" hinreichend gekennzeichnet. Aber es hieße jede Kenntnis der Anschauungen
und der Urteilsfähigkeit der Berliner Einwohnerschaft, ja der Natur der Volksseele
überhaupt verleugnen, wollten wir nicht die Nichtbestätigung eines so durch und
dnrch achtbaren, patriotische» und geschäftstüchtigen Mannes, als welcher Kirschner
in Berlin und in seinem frühern Wirkungskreise bekannt ist, für einen schweren Fehler
bezeichnen — besonders nachdem er seiner Zeit als zweiter Bürgermeister anstandslos
bestätigt worden war und nun »ach langen Verhandlungen u»d Bedenke» sich
hatte bereit finden lassen, die Wahl zu der wenig beneidenswerten Stellung als
Haupt einer politisch so verrotteten Stadtverwaltung anzunehmen. Und vor allem
hätte man das rechtzeitig sagen müssen, ja schon vor der Wahl sagen sollen. Nie¬
mand in Berlin hat in der Wahl Kirschners einen oppositionellen Alt gesehen, und
jetzt behandelt man die Gemeinde Berlin, wie ein Landrat das kleinste Dorf nicht
behandeln sollte, das verantwortliche Haupt eiuer so riesigen Verwaltung wie einen
Flurschützen, der froh sein muß, überhaupt vom Schreiber des gnädigen Herrn Land¬
rath einen Bescheid zu bekommen oder auch nicht.
Es ist unerhört, solche Fehler mit der persönlichen Initiative des Kaisers
decken zu wollen. Das steht mit allen guten Traditionen des preußischen Beamten¬
tums im schroffsten Widerspruch. Lächerlich geradezu ist es, dem Kaiser dafür die
Verantwortung aufzubürden. Und wenn er ohne Kenntnis der wahren Sachlage
und der sich aus ihr ergebenden Konsequenzen persönlich der Bestätigung Kirschners
abgeneigt wäre und sich dahin geäußert hätte, so wäre es seiner in dieser Sache
Verantwortlicher Berater verfluchte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, dem entgegen
zu treten und nicht etwa hinter der bekannten jämmerlichen Ausrede Deckung zu
suchen: Ja der Kaiser duldet keine» Widerspruch. Mögen die Zweifel gegen die
Fähigkeit Kirschners, den Augiasstall in der Stadtverwaltung auszuräumen, be¬
rechtigt sein oder nicht, wie jetzt die Sache in den Sumpf gefahren ist, be¬
deutet die Nichtbestätigung nichts weiter als einen ungeheuern Machtzuwachs der
demokratischen und sozialdemokratischen Hetzerei in Berlin und eine ungeheure För¬
derung der unberechtigten Antipathien gegen den Kaiser im Reiche. Wir hören
schon in Bayern, Württemberg, Bade», Hessen, Thüringen, ja auch in Sachsen die
Stimmen vieler guter Monarchisten nud Reichsfreunde: So etwas wäre bei uns
ganz unmöglich, und es wäre auch zu Bismarcks Zeiten in Preußen ganz unmög-
lich gewesen — und wir sind leider Gottes nicht in der Lage, sie Lügen zu
strafen. Wir sehen voraus, wie die gemäßigt liberalen Elemente in Berlin und
Preußen dadurch noch mehr jedes Einflusses beraubt und selbst immer mehr ver¬
bittert werden. Der Zwiespalt wird immer größer und unversöhnlicher, und wenn
die Reaktion darin auch momentan ihre Rechnung zu finden hofft, die konservative
Sache im guten Sinne, die Monarchie und vor allem der Kaiser selbst haben davon
nichts als Schaden. Mit dem größten Bedauern haben wir gehört, daß der preu¬
ßische Minister des Innern im Abgeordnetenhause die Bestätigung der Berliner
Bürgermeisterwahl als einen königlichen Akt hinstellte, der sich der Kritik der Volks¬
vertretung, d. h. also der Verantwortung des Ministers entziehe. Nackt und schroff
ist hier die falsche Gepflogenheit, den Monarchen persönlich vor dem Volke ver¬
antwortlich zu machen, zum Grundsatz erhoben. Freiherr von Kotze u»d Freiherr
von der Recke mögen es nach bestem Wissen gut mit dem Kaiser gemeint haben
bei ihren Reden, aber vor den Grundsätzen solcher Freunde möge Gott den Kaiser
schützen.
le wesentliche Grundlage des Staats ist „unabhängige Macht,"
seine Fähigkeit, sich in der Staatengesellschaft durch eigne Kraft
zu behaupten. Überall im Völkerleben kommt es darauf an,
welche Macht ein Staat den andern entgegensetzen kann. Der
Gang der geschichtlichen Entwicklung scheint aber darauf hin¬
zuweisen, daß in Zukunft nur die Staaten eine Rolle spielen werden, die sich
eine genügend große Herrschafts- und Wirtschaftssphäre auf der Erde gesichert
haben. Daher die gewaltigen kolonisatorischen Bestrebungen der Engländer,
Russen und Franzosen. Sie haben erkannt, daß in dem zukünftigen großen
wirtschaftspolitischen Kampfe der Völker ausschlaggebend sein wird, welchen
Anteil sich jedes bei der Verteilung der Welt zu verschaffen gewußt hat. Der
Besitz und die rationelle wirtschaftliche Ausnutzung von Kolonien wird in den
kommenden Zeiten eine wesentliche Bedingung für das Dasein der Staaten
sein. Nur so ist auch die Voraussetzung gegeben für die hohe sittliche Aufgabe
zivilisierter Staaten, den Völkern der Welt, die auf einer niedrigern Stufe
geistiger Entwicklung geblieben sind, die Kultur zu bringen. Ein Staat, der
sein Genügen findet an dem beschränkten Dasein innerhalb seiner Landes¬
grenzen, ein europäischer Staat, der seine Hauptaufgabe darin sieht, nur Fest¬
landspolitik zu treiben, muß notwendigerweise erstarren. Der Blick über das
weite Meer macht frei. Es ist sittliche Pflicht eines Kulturstaates, den Grad
geistiger Freiheit, den er erlangt hat, in der Welt zu verbreiten, sein eignes
Wesen unkultivierten und halbzivilisierten Völkern aufzuprägen. Hierzu ist die
Möglichkeit auf dem Wege kolonisatorischer Thätigkeit gegeben.
Große Völker haben immer, wie die Geschichte lehrt, auf dem Höhepunkte
ihrer Kultur eine bedeutende koloniale Thätigkeit entfaltet: im Altertume die
Phönikier, die Griechen und die Römer; gegen den Ausgang des Mittelalters
und zum Beginn der Neuzeit die Spanier und Portugiesen, dann die Holländer,
schließlich die Franzosen und die Engländer. Besonders lehrreich ist die
Kolonialgeschichte der Engländer. Von den fünf europäischen Westmächten,
die sich nach der Entdeckung Amerikas und nach der Auffindung des Seeweges
nach Ostindien in die neue Welt teilten, hat es England verstanden, sich zur
gewaltigsten weltbeherrschenden Kolonialmacht zu entwickeln. Dies ist ihm
nicht zum wenigsten dadurch gelungen, daß es sich ferngehalten hat von der
oft verhängnisvollen Politik der europäischen Festlandsstaaten, die sich in
Religionskümpfen und in Kriegen um kleine Fetzen Landes auf dem Kontinent
gegenseitig schwachem. Der wirtschaftliche Sinn englischer Staatsmänner hat
weitausschauend den Blick über die Grenzen Europas hinaus auf die Gründung
und Sicherung eines weitumfassenden Kolonialreichs gerichtet gehalten und
sich in die Festlandspolitik nur hineingemischt, wenn es galt, Gewinn für den
englischen Handel und die Kolonialpolitik herauszuschlagen. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus hat sich England an dem spanischen Erbfolgckriege beteiligt
und dadurch die Vereinigung der Kronen Spaniens und Frankreichs auf einem
Haupte und somit die Auslieferung der großen spanischen Besitzungen in
Amerika an Frankreich zu verhindern gewußt.
„Wäre diese Vereinigung, sagt Dr. Alexander Peez,") erfolgt, fo hätte
die durch Colberts weise Pflege mächtig emporgeblühte französische Industrie
einen gewaltigen, den andern Jndustrievölkern verschlossenen Markt in Amerika
und mit demselben die Superiorität gewonnen, und ebenso hätten die Nieder¬
lassungen Frankreichs in Nordamerika und Indien eine außerordentliche Stütze
und dadurch sicherlich deu Vorsprung vor den englischen erlangt. Daß dies
nicht geschah, war das Hauptergebnis der Siege .... Marlboronghs. Neben
diesem unendlich wichtigen negativen Erfolge, welcher das spätere Übergewicht
Englands in Amerika und Indien begründete, brachte der Friede von Utrecht
(1713) den Engländern einen beträchtlichen Teil Kanadas, Neufundland und
Neuschottland, sodann Gibraltar und Minorca von Spanien, sowie den so¬
genannten »Assiento-Vertrag«, welcher ihnen das Recht gab, in die spanischen
Kolonien jährlich eine gewisse Anzahl afrikanischer Neger einzuführen und den
Hafen von Portobello alljährlich mit einem Schiff zu besuchen, wodurch sie
Gelegenheit erhielten, Massen von englischen Fabrikaten in die spanischen
Kolonien einzuschmuggeln."
Im siebenjährigen Kriege von 1756 bis 1763 hatte England seinen be¬
sondern Grund. Friedrich den Großen mit Geld zu unterstützen. Es ließ auf
diese Weise preußische Grenadiere gegen Frankreich kämpfen, das sich thörichter¬
weise wieder in Festlandspolitik verfangen hatte und im Kriege gegen Preußen
seine Kräfte zersplitterte, während es diese gegen seineu Hauptgegncr England
ungeteilt hätte gebrauchen müssen. Indem aber England Friedrich den Großen
materiell unterstützte und so Frankreich auf dem Festlande beschäftigt hielt,
konzentrierte es seinerseits seine ganze Kraft auf das eine große Ziel: den
Seekampf gegen Frankreich und die Sicherung seiner eignen Kolonialmacht.
Das durch die verschiedenartigen Kämpfe arg mitgenommene Frankreich konnte
schließlich auch den Besitz Indiens nicht aufrecht erhalten. Auch hier siegte
die feste Politik Englands. Aus den Festlandskriegcn Napoleons I. zog Eng¬
land wieder den größten Gewinn. Durch sie „verlor Frankreich seine über¬
seeische Stellung an England. Großbritannien blickte wieder mit freien Armen
als Sieger auf die Schlachtfelder Europas herab. Der Pariser Frieden von
1815 brachte ihm das Kapland, Malta, Helgoland, Ceylon, und das ge¬
schwächte, mit den Kontinentalmächten verfeindete Frankreich mußte ruhig zu¬
sehen, wie England in Asien und Amerika die Vorherrschaft gewann, indem
es sein indisches Reich aufbaute und durch Unterstützung der Aufstände der
spanischen und portugiesischen Kolonien gegen das Mutterland diese Märkte
seinen: Handel und seiner Industrie botmäßig machte. ... So waren durch
die Napoleonischen Kriege mit Groß-Frankreich zugleich Groß-Syrmien und
Groß-Portugal in die Luft gesprengt. Nur Groß-England blieb übrig"
Mez).
Frankreich hat die verhängnisvollen Fehler seiner Politik, die das Land
durch die Verwicklung in eine schier ununterbrochne Kette von Festlandskriegcn
davon abgehalten hat, eine energische Kolonialpolitik zu verfolgen, neuerdings
nach Möglichkeit auszugleichen gesucht. Frankreich baut sich im nordwestlichen
und mittlern Afrika el» Kolonialreich ans, das jetzt beinahe so groß ist, wie
alle unsre deutscheu kolonialen Besitzungen zusammengenommen, und das ihm
einst seine völlige wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Auslande wird sichern
können. Ein drittes Reich mit gewaltiger kolonisatorischer Thätigkeit erhebt
sich im Osten Europas: Rußland. Alles Land zwischen Ural und Stillen
Ozean, zwischen nördlichen Eismeer und dem chinesischen Reiche und Persien
im Süden ist russisches Kolonialgebiet, ein ungeheures Landareal umfassend,
das vor dem Kolonialbesitze sämtlicher übrigen Mächte den großen Vorteil
eines völlig in sich zusammenhängenden, abgeschlossenen Territoriums vor¬
aus hat.
Wo bleibt gegenüber diesen gewaltigen Reichen und Koloniallündern
Deutschland? Es ist von Interesse, einmal die Größenverhältnisse Deutschlands
einschließlich seines kolonialen Besitzes den Ländergebieten Frankreichs, Bri¬
tanniens und Rußlands gegenüberzustellen.
Gegenüber den gewaltigen Zahlen Großbritanniens und Rußlands ver¬
schwindet Deutschlands Kolonialbesitz völlig; aber er verschwindet auch selbst hinter
dem französische» Besitze. Ausschlaggebend ist jedoch, daß unsre Besitzungen
in Afrika und in der Südsee wegen ihrer klimatischen Verhältnisse nicht recht
geeignet sind, unsern Vevölkerungsüberschnß aufzunehmen. Der auswandernde
Engländer findet im Kapland, in Australien oder Kanada, der Franzose in
Algier oder Tunis, der Nüsse in Sibirien oder Kaukasien und Transkaspien
Himmelsstriche, in deuen der Europäer ohne Nachteil für seine Gesundheit
leben kann, er findet aber außerdem auch sein altes Volkstum wieder: die
Sprache und die Gewohnheiten der Volksgenossen seines engern Heimatlandes.
Deutschlands Bevölkcruugsüberschuß muß jedoch nach wie vor größtenteils im
fremden Auslande Unterkunft suchen. Dort geht er nach Generationen für
unser Volkstum verloren. „Deutschland hat seit 1320 in den nordamerika¬
nischen Abgrund sechs Millionen Menschen geschüttet" (Reclus). Es muß aber
das Bestreben einer weitausschaucnden Politik sein, uns diesen Bevölkerungs-
nberschuß auch draußen in der weiten Welt zu erhalten. Treffend sagt
Treitschke: „Jene Kolonisation, die das einheitliche Volkstum erhält, ist für
die Zukunft der Welt ein Faktor von ungeheurer Bedeutung geworden. Von
ihr wird es abhängen, in welchem Maße jedes Volk an der Beherrschung der
Welt durch die Weiße Rasse teilnehmen wird. Es ist sehr gut denkbar, daß
einmal ein Land, das keine Kolonien hat, gar nicht mehr zu den europäischen
Großmächten zählen wird, so mächtig es auch sonst sein mag."
Deutschland ist, wie Dr. Paul Voigt in seiner Schrift „Deutschland und
der Weltmarkt" eingehend dargelegt hat. ein Industriestaat geworden. Von
seiner rund 54 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung gehören schon über
20 Millionen Menschen, rund 40 Prozent zur Jndnstriebevölkerung, dagegen
nur uoch etwa 35 Prozent zur agrarischen Bevölkerung. Die deutsche land-
und forstwirtschaftliche Produktion liefert nur uoch drei Viertel des Total-
bedarfs, ein Viertel muß vom Auslande bezogen werden. Der unumgänglich
notwendige Einsuhrbedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen beläuft sich schon
auf Milliarden Mark, er wird sich edel der ungeheuer rasch anwachsenden
Bevölkerungszahl Deutschlands (in den letzten Jahren durchschnittlich jährlich
drei Viertel Million) entsprechend steigern. Bei solchen Bedingungen wird' es
der deutschen Landwirtschaft je länger je mehr technisch unmöglich sein, selbst
bei intensivster Kultur den Fehlbetrag ihrer Produktion zu decken. Woher soll
aber Deutschland den notwendigen Einfuhrbedarf beschaffen und wohin die
Erzeugnisse der eiguen Industrie exportieren, um damit die eingeführten Waren
bezahlen zu können, wenn — um mit dem Grafen GoluchowSki zu reden —
das zwanzigste Jahrhundert das gewaltige Ringen um das Dasein ans handels¬
politischem Gebiete heraufbeschwört, wenn sich die großen Staatengrnppen,
deren Machtgebiet sich über mehrere Breitengrade und über verschiedne Zonen
ausdehnt, zu wirtschaftlich selbständige», gegen das Ausland zvllpolitisch fest¬
abgeschlossenen Einheiten ausbauen?
Schon begnügt sich Rußland nicht mehr damit, der völlig unabhängige
Agrarstaat zu sein, der jetzt an Getreide den siebenten Teil der Jahresernte
der ganzen Welt produziert, es macht auch die lebhaftesten Anstrengungen, um
seine Industrie auf die Höhe zu bringen, die es in den Stand setzt, das ganze
große Rnsfenrcich bis zum Stillen Ozean und zum Hochlande von Pamir mit
eignen Jndustrieerzeugnissen zu versehen. Wie fest und sicher die russische
Handelspolitik vorgeht, ergiebt sich daraus, daß Rußland zur Hebung seiner
Industrie die Einfuhr von Fabrikaten möglichst beschränkt, dagegen zur Ver¬
besserung seiner Finanzlage die Ausfuhr von Landesprodukten nach Kräften
fördert. Bezeichnend sind die Zahlen des Handelsverkehrs mit Deutschland in
den Jahren 1891 und 1892. In diesen beiden Jahren betrug die Einfuhr
Rußlands aus Deutschland 502 Millionen Mark, darunter Edelmetalle 228 Mil¬
lionen Mark, die Ausfuhr Rußlands nach Deutschland aber 964 Millionen
Mark, darunter Edelmetalle nur 3 Millionen Mark.
Wenn Rußlands Industrie mit der Westeuropas auf gleicher Höhe stehen
wird, werden die europäischen Staaten, die bisher ihre Jndustriewaren in
Nußland abgesetzt und dafür von dort Getreide bezogen haben, vergeblich an
seiue Thür pochen. Rußland wird dann, auf die auswärtige Industrie nicht
mehr augewiesen, sein Getreide, das es heutzutage breiten Volksschichten im
eignen Lande entzieht, um damit die auswärtigen Gläubiger und die Einfuhr
gewerblicher Erzeugnisse bezahlen zu können, zur eignen Volksernährung ver¬
wenden. Mit einem Schlage wird dann der russische Markt — sowohl Import
wie Export — verschlossen sein.
Frankreich hat sich schon zollpolitisch gegen das Ausland abgeschlossen
und ist andrerseits im Begriff, sich mit seinem afrikanischen Kolonialreich mehr
und mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zu verschmelzen- Aus dem Artikel 1?
des Frankfurter Friedensvertrages, worin sich Deutschland und Frankreich
gegenseitig das Recht der Meistbegünstigung eingeräumt haben, kann Deutsch¬
land keinen Nutzen mehr ziehen, da sämtliche Handelsverträge, die Frankreich
mit andern Staaten geschlossen hatte, von ihm gekündigt worden und 1892
abgelaufen sind. Frankreich verfolgt also mit Energie das Ziel, sich vom
Auslande gänzlich unabhängig zu machen. Dagegen knüpft es immer engere
Handelsbeziehungen mit seinen Kolonien an. Diese liefern ihm die erforder¬
lichen Rohstoffe, Tropenprodnkte usw. und sind dabei willige Abnehmer seiner
Jndnstrieerzengnisse. Besonders günstig werden Tunis und Algier behandelt.
Zwischen ihnen und dem Mutterlande wird ein völlig zollfreier Verkehr an¬
gebahnt. Er besteht schon im Warenaustausche mit Algerien, während der
französische Import nach Tunis zur Zeit noch mit einem geringen, allen
andern Ländern gegenüber differentiell begünstigten Zoll belegt ist. Tunesische
Waren genießen schon jetzt in Frankreich größtenteils Zollfreiheit. Unter solchen
Bedingungen ist es nicht wunderbar, wenn Frankreich, Algier und Tunis je
länger je mehr zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammenwachsen. An dem
Gesamtwerte der Wareneinfuhr in Tunis im Jahre 1896 (46 Millionen Franken)
nahmen Frankreich und Algier mit 60 Prozent teil, der Wert der tunesischen
Ausfuhr nach beiden Ländern belief sich auf 80 Prozent. Die Einfuhr Frank¬
reichs in Algier betrug in demselben Jahre 217.8 Millionen Franken oder
81 Prozent der gesamten Einfuhr, die Ausfuhr Algiers nach Frankreich
196,8 Millionen Franken oder 85 Prozent der Gesamtausfuhr. Ein bedeutender
Vorzug des französischen Kolonialreiches in Afrika ist seine außerordentlich
günstige Verbindung mit dem Mutterlande. Beide trennt nur das Mittel¬
ländische Meer, das bei der heutigen Entwicklung der Dampfschiffahrt nur
noch deu Charakter eines Binnensees hat. Von Marseille aus ist Algier in
sechsunddreißig Stunden und Tunis in vierzig Stunden zu erreichen. In der
Nähe der letzten Stadt, unweit des alten Karthago, wird von den Franzosen
in stiller Arbeit ein Kriegshafen angelegt, der Hafen von Bizerte. Im Verein
mit Toulon wird dieser Hafen — eine starke Kriegsflotte vorausgesetzt — den
Franzosen in Zukunft die unumschränkte Herrschaft im westlichen Mittelmeer
sichern und so mit der wirtschaftlichen Einheit Frankreichs und seines afrikanischen
Kolonialreiches die militärisch-maritim gesicherte politische Einheit verknüpfen.
Englands Bestrebungen gehen gleichfalls dahin, sich mit seinen Kolonien
zu einem großen Wirtschaftsverbande zusammenzuschließen. Die Grundzüge
der Hilltvä Livpirs Vincis I/Si^us sind: Großbritannien und die Kolonien
sind ein einheitliches Zollgebiet. Innerhalb dieses Gebiets besteht Freihandel,
dem Zollauslaud gegeuüber tritt eine differeutiell ungünstige Behandlung ein.
Dieses Britenreich, durch gemeinsame Bande des Blutes, der Sprache, Sitten
und Interessen zusammengehalten, würde seine Märkte dem Auslande ver¬
schlossen halten und in den weiten Landstrichen Kanadas und den fruchtbaren
Gefilden Indiens wie in den reichen Industriebezirken Englands und Australiens
unerschöpfliche Quellen zur Deckung seines Bedarfs an Nnhrmitteln und gewerb-
liehen Erzeugnissen finden. England geht aber noch weiter. Es sucht Fühlung
mit den Vereinigten Staaten Nordamerikas zu gewinnen, um ein freundschaft¬
liches Verhältnis anzubahnen und gegebnenfalls ein Bündnis abzuschließen.
„Staatsmänner wie Lord Nosebery, Parlamentarier wie Bright, hervorragende
politische Schriftsteller wie W. T. Stead haben in England diesem Gedanken
ihre Neigung zugewendet" (Peez). Und man findet in Amerika schon Gegen¬
liebe. Der bedeutende amerikanische Industrielle Carnegie schreibt: „So gewiß
die Sonne einst auf ein einheitliches England-Amerika schien, so gewiß wird
sie einst auf ein wiedervereinigtes ihre Strahlen herabsenden." Und ein andrer
Amerikaner, Mr. Procter, erklärt: „Zwischen England und den Vereinigten
Staaten besteht eine zunehmende Gemeinschaft von Interessen in Verkehr und
gesellschaftlichen Beziehungen. Ist nun die Erwartung unvernünftig, daß diese
Interessen zu einer Vereinigung aller englisch redenden Völker führen, die der
Welt Friede und Wohlstand bringen wird? Während das europäische Fest¬
land ein Feldlager ist, und Millionen Männer in der Blüte ihres Alters der
schaffenden Arbeit entzogen werden, um gegen eingebildete Übel zu schützen
oder um kleine und fragwürdige Vorteile zu erhaschen, und während die
wirkenden Kräfte der Völker durch Bevormundung aller Art niedergehalten
werden, mögen die angelsächsischen Stämme, wenn sie sich einmal vereinigen,
in eine Zeit von beispiellosem Wohlbefinden eintreten — sie, die die schönsten
und ergiebigsten Länder besitzen, die Meere beherrschen . . . und über die
kürzesten Heerstraßen des Welthandels verfügen." Bezeichnend sind auch die
Worte Lord Ncindolph Churchills: „In zukünftigen Ereignissen, bei denen
möglicherweise einige europäische Mächte vernichtet werden, sollte England in
den Vereinigten Staaten seinen besten und zuverlässigsten Bundesgenossen
finden."
Wenn auch, bevor der Gedanke eines Greater und Greatest Britain Wirk¬
lichkeit werden sollte, noch mancher Tropfen ins Weltmeer fließen mag — die
Thatsache liegt doch vor, daß die Bestrebungen, große selbständige Wirtschafts¬
einheiten zu schaffen, vorhanden find, und die Wahrscheinlichkeit, diese Pläne
in irgend einer Form zu verwirklichen, ist nicht ausgeschlossen. Es ist also
eine aus den Zeichen der Zeit, die die zukünftige geschichtliche Entwicklung an¬
deuten, abgeleitete Forderung, für die räumliche Ausdehnung und somit die
wirtschaftliche Sicherung des eignen Staates zu sorgen. Kurz und charakte¬
ristisch ist das Wort des russischen Admirals Baranow: „Der Raum ist die
Zukunft." Will Deutschland nicht seine führende Stellung im Rate der Völker
verlieren, so muß es sich auch seinen Anteil am Raum sichern. Seine Mission
auf dem Festlande: die Einigung der deutschen Stämme, ist erfüllt. Jetzt
gilt es, draußen in der Welt für deutschen Gcwerbefleiß, deutsche Sprache und
deutsche Art festen Boden zu gewinnen, Absatzgebiete für Deutschlands in¬
dustrielle Überproduktion zu schaffen und Quellgebiete zur Gewinnung land-
wirtschaftlicher und industrieller Rohstoffe zu erwerben, die nicht durch fremde
Willkür verschlossen werden können, sondern Deutschland die wirtschaftliche
Unabhängigkeit vom Auslande verbürgen.
In der Erwerbung von Kiautschou hat Deutschland nach dieser Richtung
hin einen Anfang gemacht. Aber der Anfang ist klein. Die Zukunft verlangt
mehr. Man wird fragen, wo in aller Welt Deutschland jetzt noch geeignete
koloniale Erwerbungen machen solle, da der Erdball aufgeteilt sei. Die Welt
war schon mehrmals verteilt. Und doch hat die energische Politik thatkräftiger
Völker die Teilung zu ändern gewußt. Auch Deutschland wird vor der Durch¬
führung solcher energischen Politik nicht zurückschrecken dürfen, da es sich hier
um eine Macht- und Lebensfrage handelt. „Für seine Macht zu sorgen ist
die höchste sittliche Pflicht des Staates." sagt Treitschke. Nicht ist damit
gemeint, blinde Eroberungspolitik zu treiben, aber die Existenz des Staates
zu sichern, ihm für die Zukunft die Möglichkeit zu gewähren, den anwachsenden
übermächtigen Reichen gegenüber sich selbständig zu behaupten. Während
Rußland in Asien immer mehr nach Süden drängt und sein begehrliches
Auge auf Persien gerichtet hält, während England nach Vorderasien, Syrien
und Mesopotamien blickt und auf afrikanischen Boden nach dem Sudan und
der Delagoabcii trachtet, während die Vereinigten Staaten von Nordamerika
die Hand nach Landgebieten ausstrecken, die ihnen die notwendigen Tropen¬
produkte zu liefern imstande sind, kann Deutschland nicht mit verschränkten
Armen auf dem Festlande stehen bleiben. Noch ist Afrika nicht ganz aufgeteilt.
Im Nordwesten zwischen Algier, der Sahara und dem Atlantischen Ozean
dehnt sich das bis jetzt noch unabhängige Sultanat Marokko aus. Der west¬
liche Teil zwischen dem Atlasgebirge und dem Atlantischen Ozean letwa
200000 Quadratkilometer umfassend) ist zur Ansiedlung von Europäern wie
geschaffen. Das Klima ist beständig und milde. Die durchschnittliche Jahres¬
temperatur beträgt z. V. in Mogador 19^ Grad. Es ist die Zone immer¬
grüner Gehölze. Der Boden ist fruchtbares Ackerland. Weizen, Mais, Gerste
wird angebaut. Südfrüchte, wie Datteln, Bananen, Feigen, Orangen und
Zitronen werden geerntet. Vortreffliches Weideland fordert zur Viehzucht auf.
Was könnte deutscher Fleiß und deutsche Ausdauer aus diesem Lande machen!
Von den Eingebornen wird Ackerbau und Viehzucht gegenwärtig nur lässig
betrieben. Der Mineralreichtnm des Landes bleibt fast gänzlich unausgenutzt,
da der Bergbau den Eingebornen verboten ist. Silber, Gold, Kupfererze,
Eisen, Blei, Bergkrhstall und Amethyst. Schwefel und Salpeter finden sich in
den Bergen. An dem Handel mit Marokko nehmen bis jetzt hauptsächlich
England und Frankreich teil. Erst an dritter Stelle erscheint Deutschland.
Während aber der englische und der französische Handel mit Marokko seit dem
Anfang der neunziger Jahre schnell abgenommen haben, ist der deutsche Handel
langsam gestiegen. Es betrug in Millionen Mark der Handel Marokkos
Möchte unser Kaufmannstand in diesem von der Natur so reich gesegneten
Lande immer mehr an Boden gewinnen, damit, wenn einmal die Zeit der
Aufteilung auch dieses Fleckes Erde herangekommen sein wird, Deutschland
einen starken Rechtstitel hat, zur Wahrung seiner Interessen ein ausschlag¬
gebendes Wort mitzusprechen.
Eine fernere Möglichkeit, die wirtschaftspolitische Grundlage Deutschlands
zu erweitern, wäre in einer freiwilligen Verbindung der schon früher einmal
dem alten Deutschen Reiche angeschlossen gewesenen Niederlande mit dem neuen
Deutschen Reiche unter vollster Wahrung ihrer Selbständigkeit gegeben. Ver¬
hältnismäßig kurz nur ist die Vereinigung mit dem Habsburgischen Weltreiche
gewesen, aber sie bedeutete namentlich unter Kaiser Karl V. eine Zeit der
Blüte für die Niederlande. Handel, Schiffahrt, Industrie, Künste und Wissen¬
schaften nahmen einen großen Aufschwung. Vielleicht dürften diese geschicht¬
lichen Reminiscenzen aus vergangnen Tagen und andrerseits ein kluges Voraus¬
schauen und Erwügeu der zukünftigen Entwicklung den Holländern den Ge¬
danken nahe bringen, sich an Deutschland anzuschließen. Es ist nur zu
wahrscheinlich, daß die Niederlande mit ihren nur 32 538 Quadratkilometern
und ihrer schwachen, mir laugsam zunehmenden Bevölkerung (1890: 4,5 Mil¬
lionen, 1896: 4,9 Millionen Menschen) gegenüber den drohenden großen
Wirtschaftseinheiten die Existenzmöglichkeit verlieren, zumal da sie aus die
Dauer nicht imstande sein werden, ihren Kolonialbesitz, dessen Flücheninhalt
sechsundsechzigmal so groß als das Mutterland ist, mit dem notwendigen
Bevölkeruugszuschuß ans der Heimat zu versehen. Ohne die Kolonien aber,
die Quellen von Hollands Reichtum, die ihm Gold und Genußmittel wie Reis,
Mais, Hülsenfrüchte, Zucker, Kaffee, Tabak usw. liefern, würde es zu einem
wesenlosen Schatten hinabsinken.
Durch die geographische Lage steht Holland zu Deutschland wie ein Vor¬
land zu seinem Hinterkante. Beide sind durch deu gemeinsamen Rheinstrom
in natürliche Verbindung gebracht. Beide haben denn anch in der That die
engsten Handelsbeziehungen zu einander. Im Handelsverkehr der Niederlande
steht Deutschland an erster Stelle. Es betrug im Jahre 1896 in Millionen
Gulden
Diese schon jetzt zwischen Deutschland und den Niederlanden bestehende
enge Handelsverbindung wird, wenn die großen, nach außen abgeschlossenen
Wirtschaftseinheiten geschaffen werden sollten, eine Lebensfrage für Holland,
um so mehr, als es dann — arm an Flächeninhalt und Bevölkerungszahl —
nicht bloß in seinem europäischen, sondern auch in seinem kolonialen Besitz¬
stände gefährdet werden dürfte. Wenn aber das Stamm- und glaubensvcrwandte
Deutsche Reich mit seiner starken Volkskraft, mit seinen militärischen und mari¬
timen Machtmitteln ergänzend und schützend ihm zur Seite tritt, werden beide
zusammengenommen den andern Weltreichen gegenüber eine gleichstarke poli¬
tische und wirtschaftliche Einheit darstellen, die zugleich die niederländische
Freiheit am besten zu schützen geeignet wäre. Denn es würde sich ja bei einer
Vereinigung Hollands mit Deutschland nicht um eine volksvernichtende An¬
nexion, sondern lediglich um eine frei vereinbarte völkerrechtliche Verbindung
handeln, die die Selbständigkeit, die Eigenart und Freiheit eines jeden Teils
unangetastet lassen würde.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Völker rollt Fragen auf, die für das
Sein oder Nichtsein der einzelnen Völker von entscheidender Bedeutung sein
werde». Es erscheint als eine wichtige Pflicht, das im alltäglichen Hasten
und Drängen nach Unterhalt und Erwerb befangne Volk von Zeit zu Zeit
auf die großen, das Staatsinteresse berührenden Fragen der Zukunft hinzu¬
weisen. Deutschlands Entwicklung ist, so hoffen wir, noch nicht abgeschlossen.
Es gilt nur, Deutschland in die richtigen Bahnen zu lenken. Ausschließlich
Festlandspolitik treiben bedeutet in Zukunft Erstarrung, Rückschritt, Vernichtung.
Das Welttheater liegt nicht bloß auf dem europäischen Kontinente, sondern
auf dem Meere und jenseits des Meeres. Es ist Zeit, unsern Blick zu
weiten und für das, was not thut in Gegenwart und Zukunft, zu schärfen.
Der Besitz von Kolonien wird künftig für die Machtstellung Deutschlands
ausschlaggebend sein. Ich schließe mit Heinrich von Treitschkes drastischen
Worten: „Bei der Verteilung der nichteurvpäischen Welt unter die europäischen
Mächte ist Dentschland bisher immer zu kurz gekommen, und es handelt sich
doch um unser Dasein als Großstaat bei der Frage, ob wir auch jenseits der
Meere eine Macht werden können. Sonst eröffnet sich die gräßliche Aussicht,
daß England und Rußland sich in die Welt teilen; und da weiß man wirklich
nicht, was unsittlicher und entsetzlicher wäre: die russische Kunde oder der
er Ostabhang des seit der Römerzeit deutschen Wasgenwalds ist
ein uraltes deutsches Kulturland, das auch thatsächlich zum
größten Teile bis zum Reichsdeputationshauptschluß von 1803
in deutscher Verwaltung, wenn auch unter französischer Oberlehns-
hoheit gestanden hat. Die süddeutschen Reichsstände hatten zahl¬
reiche Herrschaften im Oberelsaß, und deutsche Amtmänner regierten die Be¬
sitzungen. Das württembergische Herzogshans war im Sundgau ansässig, und
erst Mömpelgard bezeichnete die Grenze seines Besitzes im Süden. Württem¬
berg hätte allen Grund gehabt, diese alemannischen Lande zurückzufordern.
Aber die böse Rheinbundszeit scheint dort solche rühmlichen geschichtlichen Er¬
innerungen ausgetilgt zu haben. Freilich wäre es dann besser gewesen, Mömpel¬
gard als württembergisches Außenland dein Reiche einzuverleiben, als den fran¬
zösisch gebliebner Teil des Suudgaues zum Horte des mißvergnügten, vater¬
landslosen Elsässertnms zu macheu, das immer eine Bedrohung der Reichslande
sein wird. Ostheim war alter württembergischer und Nappoltsweiler pfälzischer
Fürstensitz. Hier wurde Ludwig I. von Bayern als Erbprinz von Zweibrücken
geboren. Mülhausen war die einzige freie Reichsstadt, die sich bis 1798 der
französischen Umgarnnng erwehrt hat, freilich nicht durch Neichshilfe, sondern
dank des Anschlusses an die Eidgenossenschaft, wie ja auch Basel. Nur die
Habsburgische Landgrafschaft im Elsaß ist schon durch den Westfälischen Frieden
1648 französisch geworden. Das morsche Reich konnte die elsässische Tochter
nicht wiedergewinnen. Die elende deutsche Kleinstaaterei unterlag dem Willen
des einheitlichen und ungeteilten Frankreich. Noch heute gilt diese Lehre der
Geschichte, da wir die französische Volkseinheit noch nicht erreicht haben. Auch
der schmale Brocken aus dem französischen Raub am Körper des alten Reichs,
das gegenwärtige Elsaß-Lothringen, ist zu einem deutschen Mittelstaat mit Ab¬
sonderungsgelüsten geworden. Weite Landstriche dieses alten Reichsbodens sind
noch französisch geblieben. Jetzt sind achtundzwanzig Jahre verflossen, seit der
deutsche Aar das entfremdete Land wieder unter seine schützenden Fittiche ge¬
nommen hat. Das Ende dieses Menschenalters, das ein neues Geschlecht hat
heranwachsen sehen, dürfte zu einem Rückblick mahnen, ob die deutsche Herr-
schaft ihre Pflicht erfüllt hat, und ob sich die einheimische Bevölkerung ihres
alemannischen Blutes wieder bewußt geworden ist.
Das Oberelsaß ist trotz der frühern Besetzung der österreichischen Land¬
grafschaft im Dreißigjährigen Kriege thatsächlich erst nach der großen Revolution
in eine französische Provinz verwandelt worden, da die französischen Landvögte
im unmittelbaren Herrschaftsbereich des französischen Königs in althergebrachter
Weise, d. h. deutsch regierten; jedenfalls war die ganze Verwaltungseinrichtung
deutsch, und gerade der Oberelsüsser hing ausgesprochnermaßen an seinem an¬
gestammten Volkstum, was öfters den königlichen Zorn erregte. Aber schon
die Nachbarschaft der reichsständischen Gebiete unter französischer Oberhoheit
verhinderte die in Paris gewünschte Verwischung. Außerdem widerstrebte der
Freiheitsdrang der ehemaligen Reichsstädte und Dörfer dem französischen Ab¬
solutismus. Die trügerische Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit der franzö¬
sischen Revolution, die sich bald als plumpe Lockmittel der Unterdrücker er¬
wiesen, täuschten die harmlosen Nebbauern des Gebirges und der Rheinebne,
deren Begehrlichkeit sie zugleich weckten, da der Zusammenbruch des Feudal¬
systems sie nicht nur von thatsächlichen Lasten befreite, sondern ihnen auch
billigen Landzuwachs brachte. Der napoleonische Kriegsruhm fand vollends
begeisterten Wiederhall bei den tapfern Alemannen jenseits des Rheinstroms.
Im übrigen Süddeutschland war jn die Stimmung auch nicht anders, obschon
es nicht in französischer Gewalt war. Jetzt war der Bann gebrochen, der das
Oberelsaß von der Fremdherrschaft geschieden hatte. Aber erst Napoleon III.
vollendete geschickt das Werk der Angliedrung, indem er den gemeinen Erwerbs¬
sinn der Unternehmer stachelte. Wirtschaftlich hat sich dieser zweite Bonaparte
ein wirkliches Verdienst um das Oberelsaß erworben. Das Gebirgslcind ge¬
währte der dichten Bevölkerung nur eine magere Arbeitsgelegenheit. Die Vor¬
berge dienten zwar als Reblaub und zu Anlagen für Edelkastanien und zu
Eichenschälwaldungen, aber sie konnten nur wenig Besitzer ernähren. Während
der Kontinentalsperre hatte sich freilich schon eine schwache Industrie in den
Gebirgsthälern festgesetzt; aber erst Napoleon III- brachte diese Anfänge zur
Blüte, indem der Staat namhafte Beträge für die Landesmelioration gerade
dieses Landstrichs auswarf. Kanäle und die Regulierung der Gebirgswüsser,
Vorteile und Nachlasse in den Steuern, sowie Exportprämien hoben den ober-
elsässischen Gewerbfleiß zum ausgesprochnen Zwecke, durch den Geldbeutel auch
die Herzen zu gewinnen. Warum sollten auch die Fabrikanten nicht ihrem
Wohlthäter dankbar sein, dessen Fürsorge auch das Los der Arbeiter verbesserte
und die Unternehmer zu einer großartigen Arbeiterwohlfahrtspflege anregte.
Als der bonapartistische Traum auf den Schlachtfeldern Sedans verflog, hatte
das Franzosentum durch den gestürzten Kaiser ans deutscher Erde eine Zufluchts¬
stätte gefunden. Die vaterlandslose Fremdenliebe dieser emporgekoinmnen
Baumwollspinner überdauerte den Untergang des Kaiserreichs und besteht noch
in alter Stärke, obschon die Voraussetzung längst geschwunden ist, da der
Schutz der Industrie, den Deutschland gewährt, viel größer ist, wie es ja auch
im übrigen Reich die Forderungen der Gegenwart verlangten. Die neue deutsche
Regierung sah die Wirkungen der strammen, aber wohlthätigen boncipartischen
Verwaltuugsart und mußte daraus ihre Schlüsse für die Befestigung der eignen
Herrschaft ziehen. Für die nationale Politik war das Programm gegeben, daß
jede andre Maßnahme der Wiederverdeutschung unterzuordnen sei; aber niemals
ist dieser klare Weg öfters verlassen worden, als bei dem ewigen Systemwechsel
in den Neichslanden.
Bei der Betrachtung der Bodengestaltung sehen wir, daß die gegenwärtige
Grenze zwischen Deutschland und Frankreich nicht von der Natur gezogen ist,
daß vielmehr der Wasgenwald Elsaß und das alte Lothringen völlig erfüllt. Die
Diplomaten haben 1871 den Kamm des Gebirges ziemlich willkürlich als Grenze
angenommen und doch beim Elsässer Belchen, der höchsten Bodenerhebung,
plötzlich die Markscheidung verlassen. Die geschichtlich schon unberechtigte Sprach¬
grenze, da sie lediglich ein Werk französischer Vergewaltigung zum Teil erst
dieses Jahrhunderts ist, war nicht der Grund, da auch diesseits des Kamins
stark französierte Gemeinde» liegen. Die alte Landesgrenze ist aber der Kamin
thatsächlich nicht gewesen, da clsüssische Überslntnngen schon in früherer Zeit
hierbei ins fränkische Gebiet des alten Stammeshcrzogtums Lothringen vor¬
gekommen sind, während ursprünglich der Kamm, wie der Nennstieg des
Thüringer Waldes, die alte Völkerscheide gewesen ist. Gerade Ludwig XIV.
hat auf Kosten Lothringens durch die berüchtigten Neunivnen widerrecht¬
lich den Bereich der Landgrafschaft Elsaß über die Gebirgsmaner aus¬
gedehnt. Sicherlich hat keiner der deutschen Unterhändler jemals auf der
stolzen Höhe des landschaftlich großartigen Kammes gestanden, wo der Blick
bis zur gewaltigen Alpenkette nur altes deutsches Land umfaßt. Die Erd-
beschaffeuheit zeigt schon die Gleichheit des Landes westwärts vom Kamin,
wo sich die Berge sanft abdachen im Gegensatz zum östlichen steilen Abfall.
Diese westliche Hügellandschaft ist das Kennzeichen Lothringens, doch saßen am
Gcbirgsrcmd noch die Alemannen des Elsasses. Die Seenbilduugen bei
Gerardmcr und Longcmer — Gerhcirdsmcir und Lcmgenmcir, wie auch in der
Eifel diese vulkanischen Becken heißen — gleichen den elsässischen Stauweiheru
auf der Gebirgshöhe, und die Orte sind elsässische Siedlungen. So ist der
Vogesenkamm wohl Deutschlands westlichstes Gebirge, aber nicht seine Grenze,
so wenig wie der Rheinstrom, der zu seinen Füßen fließt und schon in der
Pfalz das Gebiet der fränkischen Stammesgenossen der Lothringer erreicht.
Erst wo das deutsche Mittelgebirge der Vogesen in der Ebne verläuft, beginnt
Frankreich. Bezeichnenderweise heißt daher auch die französische Greuzlaudschaft
die Champagne. Die Grenzlinie des Frankfurter Friedens hat trotz der Fran¬
zösierung des oberelsässischen Grenzstrichs noch einzelne deutsche Ortschaften
bei Frankreich gelassen, wie z. V. Weißenbach ^issemdkleu). Das Deutschtum
des französischen Lothringens innerhalb des Umkreises der Waldberge des
Wasgaues interessiert uns hier nicht und ist früher an andrer Stelle von mir
nachgewiesen worden.*)
Wenn wir daher bescheiden diesseits der neuen Reichsgrenze bleiben, die
zwei große Departements vom alten deutschen Mutterlands, dem sie erst hundert
Jahre entfremdet waren, auf ungewisse Zeit abgetrennt hat, so ist das Schau¬
spiel auch nicht erbaulicher. Als der lothringische Herzog Franz, der der
Stammvater der neuen Habsburger und schließlich deutscher Kaiser wurde,
volksverräterisch sein Stammland gegen Toskana eintauschte, war diese West¬
mark schon stark verwelscht, da die Herzoge sich mehr als französische Große,
denn als deutsche Neichsstünde fühlten und sich mit Vorliebe in französische
Händel mischten. Thatsächlich haben ja die Guisen auch trotz ihrer Abkunft
als alemannische Grafen des Elsasses im sechzehnten Jahrhundert eine große
Rolle in Frankreich gespielt und sind im Kriege der drei Heinriche die wirk¬
lichen Gebieter dieses Landes gewesen. Erst der überlebende Heinrich von
Navarrci, der spätere Heinrich IV., hat den übermächtigen lothringischen Ein¬
fluß gebrochen. Das Elsaß ist aber unberührt von wirklicher Frauzösterung
wieder aus Reich gefallen. Trotzdem gebärdet sich gerade der unverfälschte
deutsche Gebirgsteil des Oberelsasses als abgetrenntes Glied des Nachbarstaats.
Freilich ist man jenseits der Grenze in geflissentlicher Weise bestrebt, diesen
Irrwahn aufrecht zu erhalten, und stellt die deutsche Langmut auf eine be¬
denkliche Probe. Ein touristischer Glanzpunkt des Münsterthals ist die Schlucht
bei Kolmar. Dieser Gebirgsgrund dringt bis zum Greuzkamm vor, sodaß sich
am Ausgang beide Länder berühren. Trotzdem hat man das gute deutsche
Wort selbst auf französischer Seite nicht in gorgo verwandelt, sich aber für
die Rückforderung des französischen Raubes in desto frecherer Weise schriftlich
gerächt. Auf dem Damm stehen sich überall deutsche und französische Weg¬
weiser gegenüber, ja der Franzose hat sogar absichtlich und manchmal über¬
flüssig für besonders viele Wegezeichen gesorgt. Aber selbst diese harmlosen
Erleichterungsmittel für die Gebirgswanderung sind in den Dienst des Rache¬
gedankens gestellt. Überall wird das deutsche Gebiet als »rmex6 5
bezeichnet. Bei den Behörden hat man wohl die Ausdrucksweise xar
beanstandet, wie es früher geheißen haben foll. Niedlich ist aber folgende
Wegetafel:
^.vis imxorwnt.
Kontier xsrmsttant ä'irllor oansiiaiuwsnt
sur 1s torritoirs krany-ris.
Der patriotische Franzose soll bewogen werden, nicht den aussichtsreichen
deutschen Parallelweg, sondern den langweiligen Pfad zu benutzen, der auf
noch französischem Boden zum Hoheneck fortläuft. Die internationale Höflich¬
keit dürfte freilich kaum ganz korrekt beobachtet sein. Wie schaut aber dieser
altlothringisch-französische Grenzstrich aus? Überall deutsche Namen und
elsässer Deutsch bis hinunter nach solltet (DM^I) und Se. Didel (Le. vin).
Eigentlich ist das ävMrtöiriont ass VosZes erst nach dem Kriege wieder ver¬
deutscht worden, und zwar aus Deutschenhaß. Aus Elsaß ziehen alljährlich
Scharen von kräftigen, arbeitslustigen Männern und Frauen über die Grenze,
um sich in Lothringen Stellungen zu suchen. Vom Fabrikdirektor und Guts¬
verwalter bis zum Knecht und zur Kellnerin hinab wimmelt der französische
Vogesenteil von Elsässern. In den Gasthöfen und Wirtschaften wird man
manchmal gleich deutsch angesprochen, wenn man durch das deutsche Reisebuch
als Reichsangehöriger erkannt ist. Dafür hat freilich die französische Verwal¬
tung auch jede Spur der deutschen Ortsnamen Lothringens bis auf wenige
Überbleibsel sorgsam vernichtet oder vielmehr verhüllt. Der Deutschenhaß hat
auch nichts an Kraft seit dem Vergeltungskampf vor einem Menschenalter ein¬
gebüßt, wie ja die oben angeführten Aufschriften deutlich zeigen. Der Rück¬
gang der französischen Bevölkerung begünstigt diese Einwanderung, die im
Hinblick auf eine endgiltige Abrechnung mit Frankreich in territorialer Be¬
ziehung nur unsern Wünschen entspricht. Aber dann dürfen wir auch nicht
vergessen, daß der Frankfurter Frieden nur eine Stufe auf dem Wege der
Wiederherstellung des Reichs gewesen ist. Selbstverständlich werden wir
Deutschen nicht die kriegslustiger Angreifer sein; dafür sorgen schon unsre
Nachbarn, was man gerade in diesen Grenzstrichen am besten beobachten kann.
Die Auffrischung des französischen Blutes durch deutsche Zufuhr an der langen
Grenze von Dünkirchen bis Belfort fördert nur die einstige Grenzbcrichtigung,
wogegen sie im Innern des Landes zu unserm Schaden die geschwächte Lebens¬
fähigkeit Frankreichs mit unsrer eignen Kraft stärkt. Übrigens darf man die
französische Bevölkerung nicht nach dem Seinebabel beurteilen. Auf dem
Lande ist uoch keine Überkultur eingetreten und Frankreichs Gesundheit noch
unvermindert.
Im Oberelsaß tritt in nationaler Beziehung zunächst der Unterschied
zwischen Stadt und Land hervor. Zum Begriff der Stadt gehören auch die
Ortschaften mit starker Industrie, wogegen die Ackerbaustädtchen zum Lande zu
rechnen sind. Der elsässische Nebbauer ist nicht von der Liebäugelei mit dem
Franzoscntum angekränkelt. Das bischen Vornehmthun mit einigen französischen
Brocken hat er gemein mit den Pfälzern und Badenern, die sich auch in der
Redeweise gar zu gern der Tage der deutschen Schmach erinnern, indem sie nach
dem Vorbild des vorigen Jahrhunderts und der napoleonischen Zeit ein paar
französische Worte falsch gebrauchen. Besser kann ja der Elsüsser sein Deutsch-
tum gar nicht beweisen, als wenn er sich hübsch mit diesem Erbübel behaftet
zeigt. Aber die deutsche Bildung hat im Gegenteil zu dem elenden franzö¬
sischen Unterricht auch folgendes Kunststück fertig gebracht. Die wohlhabenden
Bauerntöchter lernen jetzt zwar auch hochdeutsch sprechen; aber zugleich fran¬
zösisch, das sich der Knabe mangels genügender Zeit kaum aneignen kaun.
So kommt es, daß erst die deutsche Schule dem ländlichen Mittelstande die
Fähigkeit gegeben hat, mit der Kenntnis der französischen Sprache zu glänzen.
Das schlechte Beispiel der obern Stunde verführt natürlich nur allzu häufig
zu dem Gebrauch dieser sonst sicherlich nicht schädlichen Sprachweisheit, und
auch im Familienverkehr wird das bis dahin kaum bekannte Französisch fleißig
angewandt. Deutsche Gründlichkeit ist somit volksverräterisch zum Vermittler
einer sonst erfreulichen Sprachkenntnis geworden. Dieser Vorgang findet sich
jetzt ni allen größern Weindörfern, wo der Wohlstand der Winzer eine bessere
Erziehung der Kinder erlaubt. Der Reisende ist ja überrascht, fern von der
großen Heerstraße ein mundartfreics Hochdeutsch zu hören, das aber nur allzu
gern mit dem geliebten Französisch vertauscht wird. Freilich berührt diese
Eitelkeit nicht die Gesinnung der elsüssischcn Bauern, die niemals für Frank¬
reich geschwärmt haben, wenn nicht der Kriegsruhm der eignen Landsleute
oder ein klingender Lohn seitens des Staats im Spiele gewesen ist. Wesentlich
anders liegen die Verhältnisse in den gewerbfleißigen Städten, besonders wo
der Reichtum erst nach der französischen Revolution entstanden, also ein Kind
der Fremdherrschaft ist. Kolmar und Mülhausen sind lehrreiche Beispiele
dieser vaterlandslosen Zwitterart. Beide Städte sind stolze Stätten altdeutschen
Bürgerfleißes und enthalten noch herrliche steinerne Zeugnisse der deutschen
Gotik und der deutschen Renaissance; ähnliche weltliche Bauten haben andre
Orte der großen Pfaffengasse des Rheins kaum noch aufzuweisen. Die Ver¬
gangenheit fußt lediglich auf dem Deutschtum. Alle Verbindungen führten
über den Rhein oder südwärts nach der Schweiz. Die Vogesen schieden that¬
sächlich diese Städte vom französischen Nachbarlande, wie auch jetzt noch die
Gebirgsmauer nicht wegsam für den Güterverkehr in größerm Maßstabe ist.
Der Glanz des Sonnenkönigs konnte die tapfern Bürgerherzen der alten Reichs¬
stadt Mülhausen und des Landvogteisitzes Kvlmcir nicht gewinnen. Aber
das Aufblühen der Industrie unter französischem Schutze in diesem Jahr¬
hundert änderte mit einem Schlage die Sachlage. Kolmar, Schongauers
Wohnort und die Stätte der altdeutschen Malerei, die kaiserliche Stadt der
Hohenstaufen, die der tapfre Schultheiß Nösselmann siegreich gegen den fran¬
zösischen Übermut beschirmt hat, wurde eine folgsame Dienerin des französischen
Prüfetten und errichtete nunmehr den französischen Feldherren zu Wasser und
zu Lande (Vruort und Rapp) als elsässischen Volks Helden auf kaiserliche An¬
regung geschmacklose Standbilder, die in unschöner Prahlerei von den übrigen
Denkmälern von Pfeffel, Nösselmann und Schongauer abstechen. Die franzö-
fische Sprache wurde Umgangssprache, da ja Handel und Verkehr ihre Kenntnis
erforderten, und der Gebildete sich dadurch vorteilhaft von einem Volke unter¬
schied, das nur die elsässische Mundart kannte. Diese Entwicklung war ganz
folgerichtig. Die deutsche Herrschaft hätte nunmehr in gleicher Weise nur um
so schneller auch ohne Behördezwang die Wiedereinsetzung der angestammten
Muttersprache bewirken müssen. Aber das echt deutsche Wesen der Elsässer
mit all seiner Querköpfigkeit that das Gegenteil und fühlte sich plötzlich als
gekränktes Franzosentum. ......
Kolmar weist keinen gebornen oder auch nur wirklichen Franzosen auf.
Trotzdem wird katholischer und protestantischer Gottesdienst regelmäßig in
beiden Sprachen gehalten, die französische Predigt ist sogar bevorzugt. Im
Seminar hört man bloß französische Laute, vielleicht ist sogar der Unterricht
französisch. Beim Spaziergang der Seminaristen reden jedenfalls diese elsäs-
sischen Bauernjungen, die zu Hause kein Wort französisch haben radebrechen
können, nur die Sprache des Erbfeinds. Die angesehenen Familien lassen sich
Besuchskarten mit Ur. und Ramis. drucken; französisch ergehen die Einladungen.
Französisch sind die am meisten besuchten öffentlichen Vortrüge. Die acht
französischen Vorstellungen des Stadttheaters sind überfüllt, natürlich fehlt der
Altdeutsche nicht. Offiziell finden nur Opern- und Operettenvorstellungen bei
großer städtischer Unterstützung statt. Deutsches Schauspiel ist verpönt und
nur zur Gaste. Achtundzwanzig Jahre nach der Befreiung vom französischen
Joch liest man im Münster auf dem Opferstock nur die französische Inschrift:
1ron<z xour 1a rsst^nratioll als ig. olls-veUs. Im Unterlindenkloster, das als
Museum für herrliche Stücke altdeutscher Kunst und altdeutschen Gewerbes
dient, geht die französische Bezeichnung der deutschen vor, oder diese fehlt
ganz. Niedlich ist die Tafel, die ein wertvolles Bild der oberelsässischen
Malerschule als Geschenk Sr. Majestät des Kaiser bezeichnet, während das
Französisch der Anschläge und sonstigen Bezeichnungen tadellos ist. Der
Kastellan betont hierbei übrigens, daß die Spende aus Landesmitteln gewährt
sei, während die Gaben Napoleons III. prahlerisch als Gnadenerweise erscheinen.
Freilich hat er sogar sein eignes Bildnis und das der Kaiserin Eugenie ge¬
schenkt, woraus man steht, wie er der Eitelkeit seiner vormaligen Unterthanen
Zu schmeicheln wußte. Sonst herrscht in Altdeutschland daheim ziemlich große
Freigebigkeit mit Bildern des Kaisers, warum ist man gerade an so geeigneter
Stelle, wie in Kolmar, knapp mit dergleichen kleinen Geschenken, die die
Freundschaft unterhalten? Das Napoleonische Beispiel ist so schlagend, daß
wir ihm bloß zu folgen brauchen. Die Äußerlichkeiten thun bei den traurigen
elsässischen Verhältnissen sehr viel, da eben alles nur französischer Firnis ist,
der aber doch so fest haftet, daß er der deutschen Herrschaft spottet. Was
soll in einer deutschen Stadt das übliche französische Marsfeld, das eben bei
uns der Exerzier- oder Übungsplatz heißt? Die Aufrechterhaltung solcher wider-
sinnigen Bezeichnungen auf deutschem Boden muß mit Recht den Anschein
erwecken, daß das Deutschtum der Reichslande doch auf schwachen Füßen steht.
Die Franzosen hätten längst deutsche Inschriften auf den Denkmälern zu Ehren
elsässischer Maler, Dichter und Krieger beseitigt und durch französische ersetzt,
wenn es umgekehrt läge, aber unser milder Sinn verbietet natürlich solche
Barbarei, und der Kolmarer Bürger schließt daraus, daß er eben ein Franzose
sei, leider mit deutschem Namen. Thatsächlich wird ja schon von der elsäs-
sischen Nationalität gesprochen. Freilich ist das „Lippische" Volk mit seiner
Handvoll westfälischer Bauern das würdige Gegenstück dazu.
(Schluß folgt)
er Plan, Handelshochschulen zu gründen, hat von beachteter Seite
die Entgegnung gefunden, daß die kaufmännischen Kreise davon
überrascht seien und eine zwingende Notwendigkeit derartiger In¬
stitute nicht zu erkennen vermöchten. Es sei besser, wenn die
Ausbildung unsrer jungen Kaufleute dadurch erweitert werde, daß
sie mehr über See gingen und sich damit einen weitern, praktischen Blick an¬
eigneten.
Dieser Bemerkung muß nach einer Seite zugestimmt werden. Denn den
kaufmännischen Beruf gut auszuüben erfordert vor allen Dingen persönliche
Erfahrung. Die absolut notwendigen Vorkenntnisse gehen thatsächlich nicht
über die elementare Schulbildung, Lesen, Schreiben, Rechnen, hinaus. Es
kommt jedoch dann sofort als wünschenswert hinzu die Beherrschung möglichst
vieler fremden Sprachen. Daß ein vollkommen abgeschlossenes Wissen hierin
aber nur durch einen Aufenthalt in den betreffenden Ländern erworben werden
kann, liegt auf der Hand. Um eine Sprache zu beherrschen, dazu gehört nicht
nur die Kenntnis des Wortschatzes, sondern auch ein gründliches Studium der
Gewohnheiten, der Sitten, des Charakters der fremden Nation. Wie gesagt
wird: Q'sse 1s <M kalt ig, rausiaue, so kann man sagen, erst der Ton, die
Redeweise macht die Sprache. Ein Engländer schreibt anders als der Deutsche,
ein Spanier anders als der Engländer. Streitigkeiten werden sachlicher zu
Ende geführt, Differenzen rascher beglichen, wenn man genau die Art des
Ausdrucks der fremden Nation kennt. Der Spanier wird die knappe Schreib¬
weise des Engländers oft als Grobheit, der Engländer die verzierte Sprache
des Spaniers oft als Unoffenheit empfinden, wenn er den Nationalcharakter
und dessen äußere Formen nicht an Ort und Stelle kennen gelernt hat. Es
kann vorkommen, daß nur die falsche Interpretation stilistischer Eigentümlich¬
keiten folgenschwere Zwistigkeiten entstehen läßt und zum Bruch von Verbin¬
dungen führt. Also schon in diesem Sinne wird es den internationalen Ver¬
kehr erleichtern, wenn unsre jungen Kaufleute fremde Länder kennen lernen.
Der Hauptgewinn eines Aufenthalts im Auslande liegt aber, abgesehen
von dem technischen Lernen, der Warenkenntnis, in den persönlichen Er¬
fahrungen, die man über die Geschäftsgrundsätze der verschiednen Nationen
sammelt. Weit mehr als in der Diplomatie gilt für die kaufmännische
Korrespondenz der Satz, daß die Sprache dazu da sei, die Gedanken zu ver¬
bergen, und einen Geschäftsbrief wird man nur dann richtig lesen, wenn
man den Schreiber erkennt. Das sichre Gefühl für die Glaubhaftigkeit
des Schreibenden und die für einen Kaufmann im höchsten Maße not¬
wendige Menschenkenntnis wollen aber erworben sein, das läßt sich nicht
hinterm Ofen lernen. Die Unterscheidung von zuverlässig und unzuverlässig
ist schon den eignen Landsleuten gegenüber schwierig; sie ist noch schwerer,
wenn es sich um fremde Nationen handelt, und wird fast zur Unmöglichkeit,
wenn man diese Nationen nicht in ihrem eignen Hause kennen gelernt hat.
Einem Kaufmann, der direkt mit fremden Ländern arbeitet, würde deshalb die
erste Voraussetzung für die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges fehlen, wenn er
seinen Kunden nicht selbst einmal hinter die Kulissen gesehen hätte, d. h. bei
ihnen gewesen wäre. Das ist eine so einfache Wahrheit, daß weitere Ausfüh¬
rungen füglich erspart werden können. Aber es kommt noch ein dritter,
wichtiger Grund hinzu, weshalb unsre Kaufleute über See gehen sollen. Die
Ängstlichkeit unsers Kapitals im Vergleich mit dem englischen ist noch auf¬
fallend groß, wenn es sich um überseeische Unternehmungen handelt. Das ist
um so mehr zu bedauern, als das deutsche Publikum den exotischen „Papieren"
gegenüber leider nicht die nötige Scheu zeigt oder wenigstens bis jetzt gezeigt
hat. Wenn ein Bankier relativ hochprozentige Anleihen irgend eines Raub-
ftaates anbietet, so findet er sein sichres Publikum. Dasselbe Publikum zieht
aber die Stirn in bedenkliche Falten und steckt beide Hände in die Taschen,
wenn ein deutscher, zuverlässiger Kaufmann Geld zu einem Handelsunternehmen
über See erbittet. Das muß sich ändern, wenn die Steigerung unsers Welt¬
handels nicht an einen toten Punkt kommen soll.
Das Prinzip der in die kleinsten Winkel hinein spähenden Gründlichkeit,
der (man gestatte das Wort) „Detailistenblick" des deutschen Kaufmanns und
Unternehmers sind nicht überall angebracht. Das Geschäft an überseeischen
Plätzen bewegt sich meistens in größern, gröbern Linien als bei uns zu Hause.
Ein Beispiel mag angeführt werden. Man erzählte sich vor einiger Zeit, daß
ein deutsches Konsortium die Absicht hatte, eine südamerikanische Eisenbahn¬
linie anzukaufen- Das Unternehmen soll daran gescheitert sein, daß die hinaus¬
gesandten deutschen Ingenieure den Unterbau des Bahnkörpers und die Qualität
der Schienenklammern als ungenügend bezeichneten. Darauf kaufte eine eng¬
lische Gesellschaft die Bahn, machte sich durch ein bekanntes Mittel Freunde
in der Negierung und erhielt Konzessionen, die ihr erlaubten, alle Mängel zu
beseitigen und trotzdem noch einen großen Prosit einzustecken. Ob sich die
Sache genau so verhält, bleibe dahingestellt, aber: hö non s vsro, ö Kor
tropf-w. Der Kaufmann muß die Dinge nehmen, wie sie liegen, und sich frei
zu machen verstehen von der heimatlichen Schablone. Der Mut dazu, die
Findigkeit, die zur Nutzbarmachung des Kapitals nach den richtigen Mitteln
greift, erwirbt sich nicht theoretisch, sondern nur durch Anschauung, durch Er¬
fahrung. Also müssen unsre jungen Kaufleute noch reiselustiger werden, sie
müssen unsre Kapitalisten zu überzeugen verstehe», daß sie als Kaufleute
draußen die Wege kennen, auf denen man Geld verdient; dann wird hoffent¬
lich das Kapital auch flüssiger. Hamburg geht darin mit gutem Beispiel
voran: seine jungen Leute und sein Geld haben die Scheu vor dem großen
Wasser schon stark abgestreift. Aber Hamburg kann nicht alles allein machen;
das übrige Deutschland muß ihm folgen.
Wenn man also der Ansicht gewisser Kreise der Kaufmannschaft über den be¬
schränkten Wert von Handelshochschulen zustimmen muß, so ergiebt sich daraus
keinesfalls die Folgerung, , daß die Errichtung solcher Anstalten ohne allen
Nutzen für die Kaufmannschaft sein würde. Denn erstens können nicht alle
über See gehen, und zweitens ist es nicht für alle notwendig. Wie bei allen
andern Berufen bilden sich auch im kaufmännischen die Spezialitäten immer
mehr aus. Die scharfe Konkurrenz steigert die Ansprüche an die Kenntnisse
und Ersahrungen eines Geschüftsleiters beständig; die sich fast täglich vervoll¬
kommnenden Verkehrsmittel zwingen einen Kaufmann, immer weitere Gebiete
zu überblicken und die Bewegung in seinen Artikeln aufmerksam in allen
Teilen der Welt zu verfolgen. Man unterschätzt oft die geistige Leistung, die
hierin liegt, und vergißt, daß auch der Kaufmann der Wahrheit des Sprich¬
worts unterliegt: Hui trox eiubrWS mal ötroiut. Es giebt Kaufleute, deren
außergewöhnlich hohe Intelligenz und Schaffenskraft es ihnen ermöglicht, die
verschiedenartigsten Betriebe gleichzeitig zu leiten, aber das sind Ausnahmen.
Die Arbeitsteilung schreitet im kaufmännischen Beruf eben so sehr vorwärts
wie in andern. So dienen auch die Erfahrungen und Kenntnisse, die in
fremden Ländern erworben werden, nur einer Spezialität, allerdings der heute
am weitesten im Vordergrund stehenden, dem Außenhandel. Für diesen wäre
es, um es zu wiederholen, außerordentlich zu wünschen, daß alle unsre Ex-
Porteure und Importeure die Absatz- und Bezugsgebiete persönlich genau
kennten, daß unsre Trassierungsbanken in ihrer Leitung Männer hätten, denen
eine große überseeische Erfahrung zur Seite steht, daß unsre für den Export
arbeitenden Fabriken ihren Technikern Gelegenheit gäben, die Bedürfnisse
fremder Märkte an Ort und Stelle zu studieren und die Arbeit der fremden
Konkurrenz an der Quelle zu beobachten. Aber neben diesen giebt es doch
eine ungeheure Masse kaufmännischer Arbeiter, die der direkten überseeischen
Erfahrungen entraten kann; es sind dies unter cinderm fast alle die Personen,
die mit den Waren selbst nichts zu thun haben. Nimmt man also auch an,
daß sich die erste Kategorie in ihrer Gesamtheit die überseeischen Erfahrungen
erwirbt, so wird sich die zweite doch scheuen, den Zickzackweg zeitweiliger Ent¬
fernung aus der Stellung im Heimatlande zu gehen, schon des Zeitverlustes
wegen. Und doch wäre es auch für diese wünschenswert, daß ihre Bildung
nicht mit dem Austritt aus der Schule, der bei jungen Kaufleuten ja meistens
früh, mit dem sechzehnten bis siebzehnten Jahre erfolgt, als abgeschlossen be¬
trachtet würde.
Das Wort Bildung darf hier nicht mißverstanden werden; Bildung im
Profesforensinne ist wahrlich nicht gemeint. Ein kaufmännischer Erfolg hängt
nicht davon ab. daß man alle Philosophen von dem sagenumwobnen Zarathustra
bis auf den kennt, der diesem Namen wieder neuen Glanz gegeben hat. Es
ist auch nicht nötig, daß der Kaufmann wisse, welche Note Goethe im Latein
hatte. Aber er wird gebildet sein müssen in geographischen, ethnologischen,
linguistischen und auch in juristischen Dingen. Die beiden ersten Gebiete sind
natürlich sehr umfassend gemeint. Die Kenntnis fremder Länder und Völker
muß sich erstrecken auf ihre Politik und Verwaltung, auf die Zollgesetze, die Ver¬
kehrsmittel, die Bodenproduktion und die Industrie mit Berücksichtigung ihrer
Einwirkung auf den Welthandel, die Wührnngs- und Rechtsverhältnisse, soweit
diese für den Handel in Betracht kommen. Die Unwissenheit in diesen Sachen
ist in einheimischen kaufmännischen Kreisen noch viel größer, als man voraus¬
setzen sollte; eine Besserung würde nur mit größter Freude zu begrüßen sein.
Man unterschätze den Nutzen, den materiellen Nutzen einer guten Schulbildung
für einen Kaufmann nicht. Wenn der deutsche Kommis heute über See größere
Chancen hat als der andrer Nationen, so verdankt er es der größern Zuver¬
lässigkeit seiner Arbeit, und wenn er mehr Nutzen aus seinem Aufenthalt zieht,
so verdankt er es seiner Gründlichkeit. Aber woher hat er diese guten Eigen¬
schaften? Man wird sagen, aus dem deutschen Charakter. Ach, der deutsche
Jüngling geht auch lieber im Sonnenschein spazieren, als daß er in der
dumpfen Stube arbeitet! In seinem innersten Herzen ist er nicht fleißiger
als die Altersgenossen der meisten andern Nationen. Er verdankt seine größere
Brauchbarkeit der bessern Vorschule, der anerzognen Gewöhnung, nachzudenken.
Das wird jeder bestätigen, der über See ein Geschäft leitet und Angestellte ver-
schiedner Nationalitüten hat.
Der geschultere Geist ist dem ungeschultern immer überlegen, weil er
rascher auffaßt, weiter vorausblickt und konsequenter handelt. Der deutsche
Kommis ist sich dieser Überlegenheit auch wohl bewußt und fürchtet sich in
dieser vor keinem, bis jetzt noch nicht; er ist durch sein jetziges Wissen be¬
friedigt. Wenn sich nun aber ein fühlbarer Prozentsatz seiner eignen Kame¬
raden ihm als überlegen zeigte? Würde er dann nicht seines persönlichen
Nutzens wegen diese einzuholen versuchen? Jetzt schon wird es, besonders in
Hamburg, sehr wenige Kaufmannslehrlinge geben (es kann hier selbstverständ¬
lich nur vom Großhandel die Rede sein), die nicht Privatstunden in fremden
Sprachen nehmen. Das war vor dreißig bis vierzig Jahren in diesem Um¬
fange wohl kaum der Fall. Diese Lehrlinge würden freiwillig noch mehr
lernen, wenn ein Teil ihrer Berufsgenossen ihnen voranginge; sie würden es
thun wegen des persönlichen Vorteils, wegen der größern Anwartschaft auf
die gutbezahlter Stellungen. Daß in diese der gebildete Kommis eher ein¬
rückt als der weniger gebildete, braucht kaum wiederholt zu werden.
Man achte nur darauf, wie die mit uns konkurrierenden Nationen immer
auf die größere Bildung unsrer jungen Kaufleute hinweisen und sie — fürchten.
Liegt nicht die Wahrscheinlichkeit vor, daß sie alles daran setzen werden, uns
einzuholen? Würde ein Stillstand für uns nicht einen Rückschritt bedeuten?
Die Bejahung dieser Fragen ist selbstverständlich, und als Folgerung ergiebt
sich daraus, daß jeder Versuch, den Gesichtskreis, die geistige Disziplin unsers
Kaufmannsstandes zu heben, nur im höchsten Maße willkommen zu heißen
ist — des gesamten Kaufmannsstandes, nicht nur des Teiles, der dem Außen¬
handel obliegt. Dieser rekrutiert sich aus der Gesamtheit, seine Eigenschaften
werden nie zu weit von denen des ganzen Standes abweichen, da ihm als
Beispiel für das Erstrebenswerte doch nur der deutsche reifere Kaufmann
dient.
Der Zweck der Handelshochschulen muß also sein, die Überlegenheit in
der Bildung des deutschen Kaufmanns zu wahren und nicht einzelne Indi¬
viduen für sogenannte „höhere Stellen" vorzubereiten. Die Wirkung kann
natürlich nur laugsam sein, da nur ein sehr kleiner Prozentsatz unsrer jungen
Kaufleute die Schule wird besuchen können. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß
diesem kleinen Teil eifrig nachgestrebt werden wird, ist oben ausgesprochen.
Es wird durch die fortlaufende, weitere Aufschließung der ganzen Erde von
Tag zu Tag notwendiger, daß der Kaufmann weiter sieht, als bis an die
Grenzen seines Landes. Wer über See gehen kann, soll es thun; für die
aber, die zu Hause bleiben müssen, sollen die Handelshochschulen einen Ersatz
bieten, soweit dies erreichbar ist. Dazu wird es allerdings notwendig sein,
ein Lehrpersonal heranzuziehen, das nicht nur aus Büchern gelernt hat,
sondern draußen in der Welt gelebt hat und eigne, gründliche Beobachtungen
fremder Nationen zum Vortrag bringen kann. Und wenn es das heute noch
nicht giebt, so muß es geschaffen werden. Stubenweisheit, Dozentenkram und
Universitätsnachäfferei sind auf den praktischen Handelshochschulen nicht zu
brauchen!
Über das Programm läßt sich streiten. Ein Stündchen National-, oder
Sozialökvnomie per Woche wird nichts schaden. Aber das Hauptgewicht wird
zu legen sein auf die Darstellung der lebendigen, jetzt wirkenden Kräfte im
Handelsleben der verschiednen Nationen. Es müssen Lehrer vorhanden sein,
die an der Quelle Studien gemacht haben, wie z. B. die vor kurzem von Ost¬
asien zurückgekehrte Kommission. Wie die Männer der Wissenschaft ihre inter¬
nationalen Kongresse abhalten, so muß auf den Handelshochschulen das Ge¬
schäftsverfahren, die den Handel beeinflussenden und fördernden Verhältnisse
der ganzen Welt nicht von buchgelehrten, sondern von praktischen sachkundigen
Männern dargestellt werden. Ein vollkommner Ersatz für eigne Erfahrung wird
damit den Hörern freilich nicht gegeben; eigne Erfahrung wird durch nichts
ersetzt. Aber ein Vergleich der heimischen Verhältnisse und Geschäftspraktiken
mit denen andrer Völker wird den Hörern die Augen über das Warum
der überlieferten Geschäftsgrundsätze öffnen und die Sicherheit, die Gewandtheit
des deutschen Kaufmanns fördern. Es muß wiederholt werden: die bestündig
zunehmende, internationale Konkurrenz, die Vervollkommnung der Verkehrs¬
mittel steigern die Ansprüche an die Fertigkeiten und Kenntnisse der deutschen
Kaufleute unausgesetzt. Begrüßen wir es daher mit Freuden, wenn der Staat
einen Versuch machen will, der Ausbildung des Kaufmanns weitere Ziele zu
stecken, dessen Gesichtskreis zu erweitern und ihn zu lehren, weiter zu denken,
als die vier Wände seiner Geschäftsstube reichen. Eine mit erhöhter Bildung
verbundne größere Schärfe und Sicherheit des Urteils wird zu seinem
höchsten Nutzen sein. Die Wirkung der Handelshochschulen braucht deswegen
nicht sogleich einzutreten; es genügt, wenn sie sich in den nächsten Generationen
äußert.
Als kurze Schlußbemerkung sei noch darauf hingewiesen, daß derartige
Institute auch für die Ausbildung unsrer Konsuln sehr nützlich sein würden.
Es bringen heute noch so viele den grünen Tisch und den Aktenkultus von
Berlin mit nach den überseeischen Ländern.
on Schaffte urteilt Reinhold, sein Hauptwerk laufe ja doch
nur auf eine Anerkennung des Bestehenden hinaus, indem er
die Ungleichheit der Einkommen nicht anfechte, sondern recht¬
fertige. „Wozu der Aufwand an Gelehrsamkeit, an Tempera¬
ment, an Bekämpfung des Bestehenden, wenn nichts weiter dabei
herauskommt, als was die historische Gesellschaft behauptet und zugiebt?"
nämlich daß dem Arbeiter das zum Leben Notwendige gesichert werden müsse.
Das giebt aber der malthusianisch gesinnte Teil der „historischen" Gesellschaft
eben nicht zu, und das gerade ist eine der Kernfragen, die theoretisch untersucht
werden müssen, wenn man nicht will, daß mit Dolch und Dynamik darum
gestritten werde. Und dann: wozu der Aufwand an Lesefrüchten, an Tem¬
perament und an Bekämpfung der nationalökonomischen Theorien, die auch
zum Bestehenden gehören, wenn dabei gar nichts herauskommt? Schciffles
Werk, das vor kurzem eine neue Auflage erlebt hat, wird immerhin noch ein
paar Jahrzehnte lang von etlichen tausend Männern und Jünglingen studiert
werden, ob aber Reinholds Buch auch nur einen einzigen Geduldigen findet,
der es Wort für Wort liest, das ist noch sehr die Frage. Ich wenigstens
habe so manche Zeile, so manche halbe Seite überschlagen, was ich mir bei
einem Buche, bei einem Aufsatze von Schcisfle niemals erlaube. Und endlich,
was kommt denn, grob praktisch verstanden, bei den Geisteswissenschaften — bei
den Naturwissenschaften ists ja anders — überhaupt heraus? Was kommt
denn z. B. bei Reinholds ursprünglicher Fachwissenschaft, bei der Jurisprudenz,
heraus? Vermindert sie die Verbrechen? Vermindert sie die Rechtshändel?
Macht sie, daß das Volk immer zufriedner wird mit der Rechtspflege? Sollte
Reinhold antworten: Sie macht der Selbsthilfe und dem Faustrecht ein Ende
und schafft eine gesetzliche Ordnung, so würde ich entgegnen: Nein, das thut
sie ganz und gar nicht, das thut die Staatsordnung, das thut die Rechtspflege,
und beide sind vorhanden gewesen und haben jene Leistungen vollbracht, ehe
es juristische Bücher und Professoren der Rechtswissenschaft gegeben hat. Nichts
gefährlicher für alle Fakultäten und Akademien, als wenn die Frage aufgeworfen
wird: Was leisten sie denn eigentlich in der Praxis? Wozu der Aufwand?
Reinhold thut, als wenn die Thätigkeit der „Kathedersozialisten" eine
ganz neue Erscheinung wäre. Aber es ist von Moses, Solon und dem Pro¬
pheten Jesajas an immer Brauch der Staatsweisen gewesen, das Bestehende
zu kritisieren und teilweise oder ganz verwerflich zu finden. Dagegen findet
man bei Reinhold manches, was wirklich ganz neu ist. So z. B. erklärt er
sS. 504) die großen Vermögensungleichheiten für „naturwüchsig" und hält
es für sehr unrecht, daß Leute wie Adolf Wagner darin ein Unheil sehen und
den großen Besitz auf seine Rechtmäßigkeit prüfen. Nun, die großen Staats¬
weisen aller Zeiten, von Lykurg und Moses bis auf den Kanzler Thomas
Morus und von Aristoteles bis auf Luther und Fichte haben ganz ebenso ge¬
dacht und gesprochen wie Wagner. Des Aristoteles Bedeutung ist durch den
Umstand hinlänglich erwiesen, daß seine Bücher heute noch, über zweitausend
Jahre nach seinem Tode, verehrt und studiert werden; wer wird nach zwei¬
hundert Jahren noch Reinholds Namen kennen und sein Buch lesen?
Reinhold mag nun wohl gefühlt haben, daß seine in den Nihilismus
auslaufende Polemik gegen die Sozialisten und Nationalökonomen ihm nicht
einmal von deren grimmigsten Feinden Dank eintragen würde, wenn er gar
nichts Positives zu bieten habe, und er hängt deshalb am Schluß allerlei
Redensarten daran, die positiv aussehen. Er empfiehlt von Seite 419 ab den
Staat, besonders den preußischen. Es gelte einen Kampf um die Freiheit.
„Und da die bessere Einsicht, die Sittlichkeit oder selbst die Religion allein
dem einzelnen Willen noch niemals seine Beute abgejagt hat, so kann nur die
Macht, d. h. der organisierte allgemeine Wille der Unterdrückung des fremden
Lebens vorbeugen. Der Staat allein vermag als übergeordneter, mit Voll¬
macht und Mitteln ausgestatteter Wille den ungezügelten Sonderwillen in seine
Schranken zu weisen." Das ist, aufs wirtschaftliche Leben angewandt, ent¬
weder eine Empfehlung des Staatssozialismus, oder es hat gar keinen Sinn.
Wenn es einmal feststeht, daß die Interessen der Einzelnen in unversöhnlichem
Gegensatz zu einander stehn, und daß jeder durch die Bejahung des eignen
Lebens das Leben aller andern oder wenigstens einiger andern verneint, dann
ist ein allgemeiner Wille nicht möglich. Höchstens kann es zum Gemeinwillen
einer herrschenden Kaste kommen. Die Mächtigsten im Staate können finden,
daß sie nicht einander gegenseitig, sondern nur die Masse der Armem zu unter¬
drücken brauchen, wenn sie sich selbst das Leben sichern wollen, das sie
wünschen; mit andern Worten: bei der Voraussetzung eines unversöhnlichen
Interessengegensatzes ist Wohl der Spartanerstaat möglich, dessen Bürger über
eine große Zahl von Zinsbauern und Heloten verfügen, aber uicht der mo¬
derne Rechtsstaat, der allen männlichen Einwohnern das Vollbürgerrecht zu¬
gesteht. Nämlich er ist nicht möglich, wenn er aus dem Gemeinwillen ruhen
soll. Einen solchen Geineinwillen giebt es nicht und kann es namentlich in
wirtschaftlichen Dingen nicht geben. Es kann einen solchen nur geben in Be¬
ziehung auf zwei Dinge. Die Mehrheit, nicht die Gesamtheit des Volkes kann
entschlossen sein, jeden feindlichen Einfall mit Waffengewalt abzuwehren, und
die Mehrheit kann jedem Versuch abgeneigt sein, den wirtschaftlichen und sozialen
Kampf mit körperlichen Gewaltmitteln auszufechten, indem sie der Ansicht ist,
daß die nun einmal bestehende bürgerliche Ordnung, so unvollkommen sie sein
mag, besser ist als gar keine Ordnung. Wenn wir trotz wütender Interessen-
t'ämpfe den Staat haben, und zwar einen recht festen Staat, so verdanken wir
das nicht dem Gemeinwillen, sondern den historisch gewordnen Gewalten:
Dynastie, Bureaukratie nud Heer, und dem Umstände, daß diese drei Gewalten,
wenn auch nicht ohne engere Beziehung zu gewissen Interessentengruppen, doch
nicht völlig von diesen abhängig sind und wenigstens grundsätzlich unparteiisch
zu sein sich bemühen. Und die Schule, in der die leitenden Männer zu dieser
Stellung über den Parteien erzogen worden sind, ist eben die Wissenschaft
jener Gelehrten, denen es Reinhold zum Vorwurf macht, daß sie, ohne Partei
zu sein, über den Parteikampf mitreden. Ein auch die wirtschaftliche!? An¬
gelegenheiten umfassender Gescimtwillc wäre nur dann möglich, wenn das Ideal
oder die Utopie der Sozialisten verwirklicht würde, d. h. wenn eine organisierte
und vou einer Zentralbehörde beherrschte Produktious- und Vcrtcilnngsordnung
alle ohne Ausnahme zufrieden stellte. Soll trotz bestehender Interessengegen¬
sätze ein verhältnismäßig umfassender Gesnmtwille zu stände kommen, so muß
die Mehrheit überzeugt sein, daß sie immer noch am besten fährt, wenn sie
einen Teil ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit opfert und sich eine weitgehende
Beaufsichtigung und Regelung durch den Staat, das ist deu Staatssozialismus,
gefallen läßt. Vorläufig bejahen die bürgerlichen Parteien den Staat in der
Weise, daß ihn jede von ihnen in ihre Gewalt zu bekommen und ihren Inter¬
essen dienstbar zu machen sucht; daß das keiner einzelnen von ihnen gelingen
kann, hat Reinhold selbst an den Agrariern sehr gut gezeigt. Wenn er es be¬
dauert, daß die Agrarier die Bildung eines Gesamtwillens oder Staatswillens
verhinderten, so bedauert er damit, daß die Welt ist, wie sie ist, diese selbe
Welt, von der er bewiesen hat, daß sie nicht anders sein könne, als sie ist.
Nicht ganz so harmlos wie diese Gedankenlosigkeit ist es, wenn er die
viel getadelten Gelehrten anklagt, daß sie einen Teil der Besitzenden im Ge¬
wissen irre gemacht und dadurch die Bildung des Staatswillens erschwert
hätten. Damit ist nämlich der Staatswille für den Willen der Besitzenden
und der Staat für die Gesamtheit der Besitzenden erklärt. Das ist ein Stand¬
punkt, den ich bekanntlich für durchaus berechtigt halte, nur daß ich, so oft
ich ihn erwähne, niemals daran zu erinnern versäume, daß, wer ihn einnimmt,
eine gründliche Änderung unsrer Verfassungen fordern müsse. Geradezu gefähr¬
lich aber wird die Sache dadurch, daß Reinhold mit dieser zwar nicht aus¬
drücklichen aber stillschweigend vorausgesetzte» Begriffserklcirnng vom Staat die
Lehre verbindet, das Eigentumsrecht beruhe nicht auf Arbeit, sondern lediglich
auf dem Willen zu besitzen. Daß legitimiertes Eigentum nicht angetastet
werden darf, auch wenn es auf offenbar unrechtmäßige Weise entstanden ist,
das leugnet kein vernünftiger Mensch. Wer aber leugnet, daß es ein ideales
Recht gebe, dem sich das positive anzupassen bemüht sein soll, und daß dieses
ideale Recht fordert, der Mensch solle nichts besitzen, was er nicht oder was
nicht wenigstens einer seiner Vorfahren durch Arbeit oder durch Dienste und
Leistungen erworben hat (wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen), wer das
leugnet, der verkündigt die Räubermoral und das Näuberrecht und rechtfertigt
sowohl den Einzclraub wie den Massenraub, auf den Proletarieraufstände ab¬
zielen. Das ^ suis, ^ r«Z8es der einen rechtfertigt das nes-toi, Wo ^jg in'/
wells der andern, und wenn vorlünfig die Besitzenden noch zu stark sind, als
daß die Besitzlosen einen Raubzug wagen könnten, so bleibt doch zu bedenken,
daß, was nicht ist, noch werden kann.
Das wäre das eine positive: es soll eine Staatsgewalt geben, die den
wilden Kampf ums Dasein zügelt, einige Ordnung ins Chaos bringt, und die
nach Grundsätzen, nicht nach dem Willen der Parteien verführt. Eine nicht
eben neue und ungewöhnliche Forderung, denn alle Staatsweisen stellen sie,
einschließlich der „Kathedcrsozialisten," sodaß man auch bei dieser Gelegenheit
wiederum fragen darf: Wozu der Aufwand, wenn Reinhold sonst nichts weiß?
Aber freilich, er erhebt sich zu höherm Fluge! Da er Schopenhauern den
Willen entnommen hat, kann er die Vorstellung nicht ganz beiseite lassen, nur
daß er sie lieber mit Hegel „Idee" nennt. Diese Idee ist nun aber bei ihm
mit dem raubtierartig fressenden und wühlenden Willen nur äußerlich zusammen¬
geleimt. Reinhold irrt sich, wenn er glaubt, weil man Bibliotheken zusammen¬
geschrieben hat, um klar zu machen, was Kant im Unklaren gelassen hat, z. B.
die Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit, so würden sich Kommentatoren
genug finden, die sich abmühen würden, herauszukriegen, was er, Reinhold,
eigentlich gemeint hat. Nein, nicht kommentieren, sondern liegen lassen wird
man ihn, sobald man auf Unverständliches stößt. Was soll es z. B. heißen,
wenn er auf Seite 413 bis 414 schreibt: „Vor allem hat ein richtiges Urteil
über Sozialismus und Sozialdemokratie sich von der Einsicht bestimmen zu
lassen, daß die Menschen, welche den materiellen Kampf um Brot und Besitz
führen, selbst geistige Wesen und umgeben sind von einer Welt geistiger Inter¬
essen, gegen die ihr Leben und ihre Forderungen nichts entscheidendes bedeuten.
In dem Augenblick, wenn jene Millionen begehrender Proletarier nur eben
ihre Lebensnotdurft erlangt haben, was für die meisten regelmäßig gelingt,
werden sie willig und lenksam für die bewegenden Kräfte der Idee, für die
geheimnisvolle Gewalt ihrer Vorstellung. Kirche, Vaterland und Freiheit,^)
der Götterfunken der kleinen und bunten Freuden ihres Daseins, hebt auch
jene Ärmsten aus ihrem Elend hinaus und zu einer ihnen lebenswert er¬
scheinenden Existenz empor. Über ihrer Masse aber lagert das majestätische
Gebände des menschlichen Gedankens, der alle Materie durchdringt und bewegt
und in der Kultur eine Schöpfung hervorgetrieben hat, die in ihrer unsicht¬
baren Größe den rohen Angriffen des Materialismus unzugänglich ist." Phrase,
nichts als Phrase! Der letzte Satz ist reine Phrase, die vorhergehenden Satze
aber sind es wenigstens im Munde eines Mannes, der den Menschen als ein
Gemisch von Bestie und Teufel charakterisiert hat. „Die geistige Anschauung
kann den Einzelnen wie ganze Völker mit überwältigenden Interesse ans ihren
Gegenstand gebannt halten, der materielle Kampf ums Dasein hat doch regel¬
mäßig seine Macht als erstes Naturgesetz anch aller Herrlichkeit des Geistes
gegenüber erwiesen. Da man erst leben muß und dann erst anfangen kann zu
denken, zu räsonnieren und zu streiten, so beginnt und endigt rin der gemeinsten
leiblichen Sorge jedes kleine und jedes große menschliche Dasein" (S. 332).
Wer das schreibt, der hat kein Recht, den Sozialdemokraten ihren Materialismus
vorzuwerfen.
Nur der „Idee" wegen will ich noch folgende Stelle anführen. „Sind
die unerreichbaren Grenzen ^soll wohl heißen: die Grenzen des Erreichbaren^
erkannt und die idealistischen Stürme titanischer Empörung gegen das Seiende
niedergekämpft, fo tritt die Resignation ein, die mit dem Gegebnen auszu¬
kommen sucht und das Fehlende nicht in den Wolken und in einer poetischen
Zukunft sucht. In dieser Erkenntnis dankt nun jeder, der eine feste Stelle
und ein Stück Nahrungsbodeu errungen hat, seinem Gott sür sein immer un¬
verdientes Glück und hält es ohne Skrupel sest. Jene Einsicht von der Natur
des Willens, der im eignen Busen nicht besser, aber anch nicht schlechter ist
als im fremden, und von der Selbstsucht der andern, die nicht schlechter, aber
auch nicht besser sind als man selbst, giebt dem Besitz die äußere und innere
Festigkeit, die auch den letzten Rest von Gewissensbedenken verschwinden läßt.
Nicht nur äußerlich wird die thatsächliche Macht zum Recht, sondern auch
innerlich begründet nud gerechtfertigt durch die Selbstbehauptung des Willens
auf dem Fleck, den die strenge Kausalität der Dinge ihm einmal angewiesen
hat" (S. 614 bis 615). Weist ihm aber „die strenge Kausalität der Dinge"
durch eine Revolution einen andern Fleck an, so hat er sich auch darein zu
fügen; und dann: was ist denn die Idee? In manchen Büchern ist sie eine
philosophische Redensart, hinter der sich Unwissenheit und Ratlosigkeit ver¬
bergen. In diesem Falle ist sie ein Nichts, und über ein Nichts verliert mau
keine Worte. In Wirklichkeit giebt es nicht eine Idee, sondern viele Ideen,
die den Inhalt des höhern Menschendaseins ausmachen, und unter diesen Ideen
sind die der Liebe und Gerechtigkeit die vornehmsten, und wo die herrschen,
da erklärt man die oben beschriebne Art Dank gegen Gott für gotteslästerlich.
Bei Hegel bedeutet die Idee den Weltgrund. Uns Christen gilt Gott als
Weltgrund, derselbe Gott, der beim Weltgericht sprechen wird: Weichet von mir,
ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt
mich nicht gespeist usw. Derselbe Gott, der den reichen Mann (Lukas 16) nur
aus dem Grunde in die Hölle stürzt, wirklich aus gar keinem andern Grnnde,
als weil er die von Reinhold empfohlne Gesinnung hegt. Man kann auch
einen andern Gott haben als den christlichen, aber wenn man diesen christlichen
Gott für eine leere und sogar schädliche Einbildung hält, dann muß man gegen
das Gerede vom christlichen Staat protestieren und darf nicht zugeben, daß
ein so verkehrtes und gefährliches Buch, wie das Neue Testament, in den
Schulen gebraucht wird.
Von der zuletzt augefllhrten Stelle ab bis zu Ende führen Wille und
Idee einen tollen Hexentanz auf. El» paar Proben! „Wer über den Stand¬
punkt seines jugendfroheu und jugeudzoruigen Idealismus sich emporgetampft
hat, wird die Untersuchung der deutscheu Philosophie über deu Willen als eine
Enthüllung über die uns sonst verschlossenen Tiefen des Lebens hinnehmen.
Die Grundlosigkeit des Willens, seine Souveränität und Subjektivität, sein im
philosophischen Sinne genommner „Idealismus" erklären jede irrationale, harte
und schreckliche Thatsächlichkeit, seine aus einander fahrende Besonderheit und
verständnislose Kälte für fremdes Leben, die unsre »ach Gründen fragende
Vernunft zu nie ablasfendem Widerspruch aufbringt" (S. 616). „Die Summe
des Willens läßt eine Welt erkennen, in der es nie einen Frieden und nie
eine Gerechtigkeit geben wird. Diese Erkenntnis ist zugleich ein Opfer und ein
Triumph des Intellekts. Sie ist eine sittliche That, weil sie die starke An¬
eignung der Wahrheit gegen deu Wunsch und Zug des Herzens ster, nebenbei
bemerkt, die Lehre vom bösen Willen Lügen straftj enthält, das mit Aufopfe¬
rung seiner edelsten Illusionen fast sei» Leben preisgiebt" (S. 617). „Die
Summe des Willens ließ ein düsteres Bild und eine im Sinne des Menschen¬
freundes hoffnungslose Suche zurück. Du blitzte in dieser Welt dunkler und
dämonischer Triebe das Licht der Idee, der Wille erfüllte seine Welt mit immer
reichern Bildern und brachte es bis zur Umkehrung und Verneinung seiner
selbst, bis zu dem unglaubhaften und doch wahren Zustande, wo die Vor¬
stellung den Dienst des Willens verläßt, wo der edle Sklave den Herrn über¬
windet" (S. 621). Das ist natürlich reiner Unsinn. Der Wrlle steht nicht
im Gegensatz oder Widerspruch zur Idee, und diese blitzt nicht in ihn hinein
(oder in ihm, wie Reinhold sagt), sondern der vernünftige Wille ist von Haus
aus mit Ideen erfüllt und nichts andres als der Trieb und Drang zur Ver¬
wirklichung der Ideen. Der Wille will nicht bloß essen und trinken, sondern
auch Schönes sehen, Nützliches schaffen, Liebe und Gerechtigkeit üben. Die
Konflikte entstehen nicht aus einem Gegensatz zwischen Idee und Willen, sondern
daraus, daß innerhalb der Schranken der Endlichkeit von je zwei gleichberech¬
tigten Willensstrebungen immer nur eine verwirklicht werden kann, also die
eine auf Kosten der andern. „Es überkommt in dem sinnlosen Weben der auch
die Menschenwelt beherrschenden blinden Natur mit ihrer selbstmörderischen
Lebensfülle und ihrer organischen Vernichtung den betrachtenden und sittlichen
Geist oft das Gefühl des den Pessimismus noch überbietende» Nihilismus.
Und zu dieser offnen Bankrotterklärung muß es erst kommen, diese Beichte der
Vernichtung muß allen weitern Schritten vorhergehen. Aber eine unbesiegbare
innere Überzeugung, eine sittliche und rein menschliche Notwendigkeit treibt
immer wieder ans den Glauben an die höhere Bestimmung des Menschen¬
geschlechts zurück" (S. 622). Seite 624 wird Colbert gerühmt, der im Gegen¬
satz zur grausamen Armengesetzgebung Englands ein Edikt zur Errichtung einer
niüison as roi'v.g'«z erwirkte, vo. 1v8 inckiKons clev-lieue 6t>rv rshus voulus
innmw'of vivsnts äiz ^««us-LIiriLt,, „Mit einer solchen Gesinnung ist das In¬
strument gewonnen, mit dem Wunder gewirkt werden." Diese Gesinnung erzeuge
einen neuen Gemeinschaftsgeist. „In richtiger Würdigung dieses schöpferischen
und versittlichenden, aber nur in geschichtlich konkreten und übersehbaren Kreisen
möglichen Gemeinschaftsgeistes haben die einsichtigsten und praktisch reform-
sreundlichen deutschen Nationalökonomen die eminente Bedeutung des nationalen
Staates stark betont" (S. 626). „Das älteste wie das neuste Problem ist:
ob die Idee der im nationalen Staat plastisch verkörperten eignen Volksper¬
sönlichkeit und die Ordnungsgewalt des Staatsgedankens eine der religiösen
Vorstellung ebenbürtige Kraft entwickeln können" (S. 627). „Die große und
schwere Aufgabe der Gegenwart besteht darin, auf dem Grunde des theore¬
tischen Pessimismus einen praktischen Optimismus zum Durchbruch zu bringen,
der sich zugleich mutig an die speziellen Probleme der Zeit heranmacht und
nie das Gefühl seiner Schranken verliert. Diese optimistische Auffassung hat
den entscheidenden Schritt zu thun, den Schwerpunkt des Daseins in die Inner¬
lichkeit zu verlegen" (S. 629 bis 630). Auf einen Pessimismus, der den
Willen für böse hält, läßt sich eben so wenig ein praktischer Optimismus
gründen, als ohne eine feste wirtschaftliche Grundlage inneres Leben zum Auf¬
blühn gebracht werden kann, was ja niemand kräftiger sagt, als Reinhold
selbst. Und wenn die Besitzenden den Schwerpunkt ihres Daseins in die
Innerlichkeit verlegen, daun werden sie nicht, wie Reinhold fordert, jeden
Versuch eines Angriffs auf ihren Besitz rücksichtslos unterdrücken, sondern von
ihrem Einkommen bereitwillig den Arbeitern soviel ablassen, als diese zum Auf¬
bau des innern Lebens brauchen. „Wir müssen es, damit man uns nicht des
Widerspruchs zeihe, immer wiederholen, daß die Wiedergeburt der Gesellschaft
wie die Erlösung des Menschen nie im Ökonomischen liegt, und daß sie haupt¬
sächlich, ja für die große Mehrheit der Sterblichen fast allein in der Religion
zu finden ist. Da die Menschheit, mit wenigen Ausnahmen starker Geister,
die volle Wahrheit nicht ertragen kann, so reicht man ihr mit Recht den
Schleier oder drückt, wie dem sterbenden katholischen Christen, in die sehnend
verlangende Hand das Krenz. Hier hat sie, was sie sucht": Trost. „Hier er¬
scheint zugleich das Gesetz und die Schranke der Freiheit: die Liebe." Die
Liebe aber, daran hat Herr Reinhold nicht gedacht, treibt dazu, den Leidenden
zu helfen, oder was dasselbe ist, die soziale Frage zu lösen, und die Sozial¬
demokraten werden ihm sehr dankbar sein für das Geständnis, daß die Religion
nur ein Schleier sei, der die trostlose Wahrheit verdenke, Pfaffentrug zu poli¬
tischen Zwecken, wie man das sonst weniger zart zu nennen Pflegt; giebt es
kein vollkommnes Glück, werden sie sagen, so wollen wir wenigstens so viel
Glück herausschlagen, als wir können, und selbst wenn wir gar nichts erreichen,
so befindet sich doch ein tüchtiger Kerl, wie der Deutsche nun einmal ist, besser
im Streben nach einem unerreichbaren Ziele, als im thaten- und widerstands¬
losen Leiden. Und so hat Herr Reinhold Schweiß und Petroleum umsonst
verschwendet: er will die Leute von der Arbeit an der Sozialreform zurück¬
rufen, nach dem aber, was sie von ihm vernommen haben, werden sie erst recht
daran gehn. Die Sozialdemokraten werden sagen: So dumm sind wir nicht,
daß wir den Besitzenden den Dank für das ihnen vom Schöpfer oder vom Ur-
willen geschenkte behagliche Plätzchen so leicht machen sollten; kommt sonst für
uns nichts heraus, so wollen wir sie wenigstens gründlich ärgern; die Christen
aber werden sagen: Was willst du denn eigentlich? Gestehst du doch selbst am
Schluß, daß die Liebe das höchste sei, und Liebe ist nicht Empfindelei, sondern
Arbeit für den Nächsten.
Man könnte Reinhold einen Prosa-Nietzsche nennen, nur daß Nietzsche die
krassesten seiner Widersprüche wenigstens auf verschiedne Schriften verteilt hat,
während sie Reinhold in einen Band zusammendrängt. Freilich steckt das
Leben voll von Widersprüchen, aber wer sie dem Publikum aufdeckt, der soll
zugleich auch die Lösung oder Deutung geben. Daß die soziale Frage unlös¬
bar ist, was zu beweisen die Hauptabsicht Reinholds zu sein scheint, das sage
ich auch, aber ich sage zugleich, daß das kein Unglück ist, und daß, so tragisch
das Leben sonst auch sein mag, darin seine Tragik nicht liegt. Die Grund¬
fragen des Lebens dürfen niemals gelöst werden, weil in der Arbeit an ihrer
Lösung der Inhalt des Menschenlebens besteht. Weit entfernt davon, aus der
Unlösbarkeit zu folgern, daß die Lösungsversuche Thorheit seien, folgere ich
daraus, daß man nicht ablassen dürfe, zu arbeiten und zu versuchen. Die
Arbeiten und Kämpfe um Freiheit und Glück sind in demselben Sinne ver¬
gebens, wie das Atmen und das Essen vergebliche Verrichtungen sind, sofern
man doch immer wieder aufs neue frische Luft braucht und immer wieder
hungert; in jener „vergeblichen" Arbeit verläuft der geistige Lebensprozeß der
Völker, wie in dieser der leibliche der Individuen.
Daß in einem dicken Buche immer auch gute und brauchbare Gedanken
vorkommen, versteht sich von selbst, und bei Reinhold findet man deren nicht
wenig. Höchst beachtenswert ist z. B., was er im neunten Kapitel über das
Geschlechtsleben sagt — er gelangt zur Empfehlung des Neumalthusianismus
und lobt sehr die klugen und, wie er behauptet, höchst sittlichen Franzosen —,
sowie die um verschiednen Stellen entwickelte Ansicht, daß die Sozialdemokratie
in dem Grade ungefährlich sei, als man sie frei gewähren läßt, und daß sie
erst durch Repressiv» wenigstens den Schein der Gefährlichkeit annehme. Und
da erlaube ich mir denn, ihm einen Vorschlag zu machen. Er legt so großes
Gewicht auf die praktische Wirkung. Sein Buch wird keine haben, weil es
wenig Leser finden wird, aber er kann mit leichter Mühe eine schlagende Wir¬
kung erzielen. Er braucht bloß die zwei Abschnitte: über das Geschlechtsleben
und über die falsche Behandlung der Sozialdemokratie, zu einer kurzen Denk¬
schrift zu verarbeiten und dieser die Form eines offnen Briefes an die Minister
des Innern und der Justiz zu geben; die beiden Minister mögen ihm bei¬
stimmen oder nicht, in jedem Fall wird eine deutlich wahrnehmbare praktische
Wirkung herauskommen.
rag, die schöne Stadt, heißt es nicht nur in dem alten Soldatenliede
von der Belagerung durch den General Schwerin. In vielen
Sprachen und Mundarten habe ich die Bewunderung sich nußern
hören, namentlich auf den Aussichtspunkten auf der Kleinen Seite,
und nur ein junger Mann, der nicht einmal „mit Spreewasser ge¬
tauft" war, faßte den Eindruck der türmereichen alten Stadt an der
muntern Moldau in die Worte zusammen: „Alters keen Berlin, weeß Gott!" In
der That hat Prag die verschiedensten Anziehungspunkte durch malerische Lage,
altertümliche und historisch denkwürdige Gebäude. Doch konnte und kann nun das
Urteil hören, das; in der Mischung der Bevölkerung ein starkes Element lieber ent¬
behrt werden würde. Die einen fanden zuviel Deutsche, die andern zuviel Tschechen
und noch andre zuviel Juden vor. Zu Anfang der fünfziger Jahre war von
Streitigkeiten zwischen Deutschen und Tschechen wohl kaum die Rede. Österreich
war noch ein vorwiegend deutscher Staat, die Unruhen im Jahre 1848 waren
von Tschechen ausgegangen, und diese hüteten sich wohl, an jene Ereignisse zu
mahnen. Im Gegenteil hatte das herrschende System in Österreich und in Ungarn
keine ergebnem Diener als sie. Bekannt ist, daß General Benedek als Gmivernenr
in Pest-Ofen einem deutschen Beamten gegenüber sein Erstaunen darüber nussprach,
daß dieser wahrend einer mehrjährigen Dienstzeit noch nicht tschechisch gelernt habe.
Dort sollen sie mit besondrer Hingebung „germanisiert" nud den Zentralismus
verhaßt gemacht, sich insbesondre auch als Spitzel oder Naderer verwendbar gezeigt
haben.
Daran wurde ich gleich bei meinem ersten Besuch des Hradschin gemahnt.
Als wir an das Fenster kamen, durch das die beiden Räte Martinitz und Slävata
gestürzt worden waren, machte der Führer mit verschmitztem Gesicht eine mir nur
halb verständliche Bemerkung, die anzudeuten schien, daß eine solche Justiz auch
»och heutzutage angewandt zu werden verdiene. Mein Begleiter warf mir einen
warnenden Blick zu und bestätigte nachher, daß er glaube, ich hätte zu einer un¬
vorsichtigen Äußerung verlockt werden sollen. Übrigens wurde damals in Prag
tschechisch mir in den untern Schichten gesprochen, fast jedermann bediente sich schlecht
und recht des Deutschen, und in den tschechischen Theatervorstellungen, die wöchent¬
lich einmal stattfanden, wirkten nur untergeordnete Mitglieder des deutschen
Theaters mit. Und daß die Furcht vor polizeilicher Überwachung beide Volks¬
stämme beherrschte, wurde mir deutlich, als ich mich um die Bethlehemskapelle er¬
kundigte, in der einst Huß gepredigt habe» soll. Die herumstehenden Leute thäte»
sämtlich, als ob sie von dem Gebäude nie gehört hätten. Vielleicht war mich die
Unkenntnis nicht erheuchelt, da, wie bekannt, nach der Schlacht am Weißen Berge
die Jesuiten tüchtige Arbeit geleistet und namentlich Hnsz durch den Johann von
Nepomuk so ziemlich aus deu Vorstellungen des Volkes verdrängt hatten. Im
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert lernten die Angehörigen beider Volks¬
stämme wieder friedlich mit einander leben, tauschten Nachbarsleute von verschiedner
Nationalität ihre Kiuder aus, um ihnen die Wohlthat der Erlernung beider Landes¬
sprachen zu verschaffen; ferner bediente man sich uoch der sogenannten deutschen,
vielmehr gotischen Lettern, und die eigne tschechische Orthographie war noch ebenso
wenig erfunden wie das sogenannte böhmische Staatsrecht und gewisse litterarische
und künstlerische Denkmale, die seinerzeit viel Lärm erregt haben und als unecht
bezeichnet worden sind. Gegen Osterreich war die Bewegung von 1843 nicht ge¬
richtet, die panslnwistischen Bestrebungen wurden zumeist von Russen, wie Michael
Bnknnin, geschürt; die inländischen Führer wehrten sich nur gegen die Zugehörig¬
keit Böhmens zum Deutschen Reiche, und daran knüpfte sich natürlich der Wunsch,
das Tschcchentnm zur Herrschaft in ganz Böhmen zu bringen. Diese Tendenz
schien mit der Unterdrückung der revolutionären Bewegung wieder zur Ruhe ge¬
kommen zu sein, während in der Stille dnrch die litterarische Thätigkeit Wenzel
Hcmkas und andrer der nationale Gedanke am Leben erhalten wurde. Im Ver¬
kehr spürte nun davou nichts. Verständige Tschechen nahmen sorgfältig darauf
Rücksicht, daß die Deutschen in ihrer großen Mehrheit keine slawischen Sprachen
verstanden, und von der frühern Liebäugelei mit Rußland sprachen sie selbst als
von einer argen Verirrung. Andrerseits kamen mich wir Deutschen dem andern
Volksstamme gern entgegen durch Erlernung und Gebrauch gewisser Ausdrücke im
täglichen Leben, Begrüßungsformen u. dergl. mehr. Dagegen mag wohl von der
Büreaukratie und auch von Lehrern durch verächtliche Behandlung des tschechischen
Idioms viel gesündigt worden sein, wie das Sander-Masons in seinem Buche „eine
galizische Geschichte" geschildert hat. Harmloser waren die Hänseleien, denen
Personen, die ihre Mundart verriet, in Wien ausgesetzt waren, und zu dieser
Gattung gehört auch die Erzählung, daß ein Rekrut ans Anstiften feiner Knmernde»
in der Beichte bekannt habe: „Ich bin ein Böhm" und Vom Geistlichen dahin
beschieden worden sei: „Eine Sünd ist das gerade nicht, aber schön ists auch nicht."
Daß in Österreich zu Anfang der fünfziger Jahre Zufriedenheit bestanden
habe, wäre zuviel gesagt. Nicht allein das Maß an Freiheit war wieder einge¬
schränkt, sondern zugleich die vernünftige Bethätigung der Selbstverwaltung un-
möglich gemacht. Die Verfassung war nußer .Kraft gesetzt, die Landtage ruhten,
sogar Gemeindewahlen wurden verhindert, und die Freiheit der Presse war nur
dem Namen nach vorhanden. Was den Bürgern eine Art von Entschädigung ge¬
währte, war das Ansehen der großen Politik im In- und Auslande. Die Ruhe
war überall wieder hergestellt, Ungarn und Italien waren unterworfen, Preußen in
Dresden und Olmütz derart gedemütigt, daß man es als Großmacht kaum noch in
Rechnung ziehen zu müssen meinte, während sich Österreich von deu andern Mächten
umworben sah. Diese Verhältnisse stärkten den allgemeinen Glmiben an den un¬
erschütterlichen Bestand, die unerschöpfliche Kraft des Kaiserstaats, der sich abermals,
wie nach dem Dreißigjährigen Kriege, den Revolutionskriegen usw. aus den furcht¬
barsten Bedrängnissen nen verjüngt emporgerungen hatte. Wäre man damals zu
dem Entschlüsse gekommen, den gut österreichisch gesinnten Kronländern ein be¬
scheidnes Maß von Freiheit zu gestatten, anstatt zu zögern und sich daun von den
Italienern schnöde Ablehnung zu holen, es würde allgemeiner Jubel geherrscht haben.
Und weshalb kam es zu dem Entschlüsse nicht? Das Publikum hatte von der
Macht des Ministers des Innern Alexander Bach eine so übertriebne Vorstellung,
daß es alle neuen Maßregeln, günstige wie ungünstige, seinem Einflüsse zuschrieb.
Entstand doch die Legende, daß er die Haltung Österreichs im Krimkriege veranlaßt
habe, weil sich Kaiser Nikolaus angeblich geweigert hatte, den „Barrikadeuminister"
zu empfangen. Dieser Beiname war ihm angehängt worden, weil er durch die
anfstäudischeu Bewegungen in Wien von Mai bis Juli 1848 emporgehoben worden
war. An dem Verhältnis zu Rußland war er jedoch unschuldig, da der Minister Buol
ausdrücklich verkündigt hulde, Österreich werde in dieser Beziehung ein überraschendes
Beispiel des Undanks (gegen Nußland) geben.
Mehr Begründung hatte vielleicht die Behauptung, daß Bach sich scheue, die
ständischen Versammlungen einzuberufen, weil vorauszusehen war, daß dort der
Haß gegen Bach zu sehr lebhaftem Ausdruck kommen werde. Verhaßt war dieser
in der That bei nlleu Parteien. Die Ungarn sahen in ihm den Vertreter des
zentralistischen Prinzips, der rücksichtslos ungarische Gesetze und Einrichtungen durch,
um es kurz auszudrücken, europäische ersetzte. Die Masse der Liberalen in Deutsch-
Österreich konnte es ihm nicht verzeihen, daß er in seiner Verantwortlicher Stellung
manchen Satz des radikalen Programms verletzte, und vollends als seiue Neigung
zur strengkatholischen Richtung deutlich vortrat, war er thuen der Jubegriff der
Gesinnungslosigkeit und Reaktion. Aber anch die wirklich reaktionären Parteien
benutzten ihn wohl, achteten ihn jedoch nur als bürgerlichen Überläufer und Empor¬
kömmling. Der spätere Graf Hübner, der mit dem nichts weniger als aristokra¬
tische» Namen Hafenbrädl (Schmorbraten) ans die Welt gekommen war, hat in
seinen Erinnerungen die aristokratische Nichtachtung des „Advokaten" sehr ergötzlich
zur Erscheinung gebracht. Und die üble Meinung von Bachs politischem Charakter,
so verschiednen Quellen entstammend, erhielt sich bei allen folgenden Systemwechseln
bis an seinen Tod. Er wurde Botschafter in Rom, zog sich dann in das Privat¬
leben zurück, aber nie glaubte man seiue hervorragende staatsmännische Kraft ver¬
wenden zu können, nicht einmal in das Herrenhaus wurde er berufen. Der Wider¬
stand der Ungarn mag zu mächtig gewesen sein, obwohl anch sie, und gerade sie
im Vertrauen sein bedeutendes Wirken anerkennen mußten.
Aus der Zeit der höchsten Spannung zwischen Österreich und Preußen, 1850,
wurde mir später eine interessante Episode erzählt. An dem Ministerrate, der über
Krieg oder Frieden entscheiden sollte, nahm auch Marschall Radetzky teil, und er
schloß, nachdem sich die meisten für den Krieg ausgesprochen hatten, mit den
Worten: „Nun gut, wenn geschehen muß, was nicht geschehen sollte, so rücken wir
ein, und in einigen Wochen sind wir in Berlin." Die Versammlung trennte sich,
nur der Vorsitzende, Fürst Felix Schwarzenberg, und der Protokollführer, Herr
von Lewinsky, blieben zurück. Als dieser seine Papiere ordnete, fragte ihn der
Minister, weshalb er so eigentümlich gelächelt habe? Da der Minister in ihn
drang, sich frei auszusprechen, sagte Lcwiusky: „Ich habe gedacht, wir schlage» die
Preußen, nehmen den Prinzen von Preußen gefangen, und was dann?" Fürst
Schwarzenberg stutzte einen Augenblick und entgegnete dann: „Das zu überlegen
wird später Zeit sein." Denselben Ausspruch habe ich im Laufe der Zeit öfter
gehört, wenn auch uicht von so hoher Stelle ans. Die Abneigung, auch ungünstige
Wendungen in der Politik rin in Berechnung zu ziehen, war namentlich für
Schmerling charakteristisch. Als im Jahre 1361 der widerhaarige ungarische Land¬
tag aufgelöst worden war, erklärte mir ein höherer Beamter, die Negierung werde
streng gesetzmäßig vorgehen, mithin auch in der vorgeschriebnen Frist den neuen
Landtag einberufen. Es vergingen Monate, ohne dnß Wahlen ausgeschrieben
worden wären, und als ich wieder anfragte, lautete der Bescheid, man müsse sich
die Entschließung vorbehalten, bis sich ein gutes Wahlergebnis erwarten lasse, und
das sei noch nicht der Fall. So wurde gezögert, bis Schmerling nicht mehr am
Ruder war. Und die Popularität dieser Lehrmeinung ließ sich beobachten an der
Art der Abfertigung jedes Zweiflers nu der Teilnahme Preußens um Frankfurter
Fürstentage. Sie — nämlich die Preußen — werden schon kommen, hieß es all¬
gemein. Wenn sie aber doch nicht kommen? Dann werden wir sie zwingen. —
Mit Waffengewalt also? — Darüber können wir später sprechen! — Und doch
war allen wohlbekannt, daß gegenüber nicht mehr der zaghafte Herr von Man-
teuffel, sondern der entschlossene Herr von Bismarck stand!
Sich in die verwickelten politischen Verhältnisse des Reichs einzuarbeiten, ver¬
suchte in den fünfziger Jahren wohl kaum ein Fremder. Aber von den Finnnz-
zustcinden lernte ein jeder bald einiges kennen, ob er wollte oder nicht. Dnß die
fabelhafte Phäakeuzeit, in der die Backhähndel gebraten in der Luft herumgeflogen
sein sollen, vorüber sei, das hatte auch ich längst gehört. Allein die Preise ans
der Karte des bescheidnen Speisehanses, in dem ich mein erstes Mittagsmahl ein¬
nahm, überstiegen doch weit meine Vorstellungen. Um so angenehmer die Über¬
raschung, als schließlich noch nicht die Hälfte der von mir berechneten Zeche ge¬
fordert wurde. Wie ging das zu? In dem kleinern Verkehr rechnete man eben
noch nach der Wiener Währung oder „Schein," die nur zwei Fünfteln der Kon-
ventionsmttnze oder schlechtweg „Münze" entsprach. Beide Münzrechnungeu gingen
neben einander her, die durch die Münzherabsetzuug im Jahre 1811 eingeführte
Wiener Währung und die Reichswährung, Gulden zu sechzig Kreuzern hatten beide,
und die Zahlungsmittel waren in beiden Fällen Papier, Banknoten, deren Einlösung
in Silber verbürgt war, was für die Vaukoscheine nicht galt. Silber war gar
nicht im Verkehr, und der Mangel um kleiner Münze zwang wiederholt zur Aus¬
gabe von Zetteln zu sechs oder zehn Kreuzern. Ans dergleichen Zetteln machte
man der Bequemlichkeit halber Päckchen in Gnldcnwert, die durch Papierstreifchen
zusammengehalten wurden, noch inniger jedoch oft durch den im Tagesverkehr an¬
gesammelten Schmutz. Die Existenz der Doppelwährung wurde in eigentümlicher
Weise benutzt von der Lvttoverwaltuug. Sie lud durch öffentliche Anschläge zum
Ankaufe von Staatslosen ein, die nur drei Gulden kosteten und sehr beträchtliche
Gewinstbeträge in Aussicht stellten. Daß hinter der Ankausssumme die Buchstaben
L. ÄI. standen, hinter der Gewinstsnmme aber >V. V., daß also die Gewinne in
Konventionsmünze nur den fünften Teil der angegebnen betrugen, mag wohl von
leidenschaftlichen Spielern nicht beachtet worden sein. Auch gab und vielleicht giebt
es uoch Leute, die das Lotto als eine höchst wohlthätige sozialpolitische Einrichtung
ansehen, weil es den kleinen Mann in Hoffnungen wiegt, die ihn bestimmen, seine
kleinen Ersparnisse nicht zu niedrigem Zinsfuß in eine Kasse zu legen, sondern an
das Lotto zu wenden, das ihn durch Estratto, Ambo, Tarro usw. gleich zum reichen
Manne machen könnte. Ob irgend jemand durch das Lotto Vermögen erworben
habe, ist mir nicht bekannt geworden; dagegen hörte man häufig, daß im Nachlaß
armer Leute ganze Stöße von Lottozetteln vorgefunden worden seien, daß namentlich
Frauen ihren ganzen Besitz nach und nach in die Lottokollektnr getragen hätten, und
nur zu oft auch fremdes Eigentum. Ein sicheres Geschäft wußte sich einst, wie in
Holstein erzählt wurde, ein dortiger Spieler auf originelle Weise zu verschaffen.
Die Ziehungen fanden in Altona statt, Einsätze jedoch wurde» in allen größern
Orten noch am Tage der Ziehung angenommen. Als nnn der elektrische Telegraph
eingeführt worden war, ließ sich der schlaue Mann aus Altona die gezognen Num¬
mer» telegraphisch melden und besetzte diese in Kiel, bevor die Ziehung amtlich be¬
kannt gemacht worden war. Gegen dieses Kunststück war gesetzlich nichts einzu¬
wenden, aber von da ab wurde der Wiederholung vorgebeugt.
Gewiustspiele sind bekanntlich immer mit Aberglauben verbunden, und der
gedieh beim Lotto besonders kräftig. Es gab eine ganze Litteratur von „ägyp¬
tischen Traumbüchern," in denen genau angegeben war, welche Nummer irgend ein
Traumbild bedeute; das „ägyptisch" bezog sich uatiirlich auf deu ägyptischen Joseph,
den Traumdenter und Getreidespelulauteu. Ferner wurden wichtige Staatsereignisse,
Gedenktage, Geburtstage im Herrscherhause u. a. in. in vollem Vertrauen „besetzt,"
und man wollte wissen, daß der angeblich blinde Zufall solches Vertrauen nicht
selten rechtfertige. Einen wirklich widerlichen Anblick bot es, wenn kleine Kiuder
angehalten wurden, die Hand auf irgend eine Nummernkombination vor der Kollektur
zu legen und so die dumme Mutter zum Spiel zu verlocken. Der Spiellust so¬
genannter höherer Schichten wurde durch eine große Zahl von verlosbaren Anleheu
genügt. Der Kurszettel nannte damals eine lange Reihe vornehmer Familien,
deuen erlaubt worden war, solche Auleheu auf den Markt zu bringen. Der Erlös
aus den Lösen befreite solche Familien aus vorübergehenden Verlegenheiten; Zinsen
wurden nicht gezahlt, vielmehr zu bestimmten Terminen Gewinne gezogen; als
Sicherheit diente Grundbesitz der betreffenden Familien, und der Ankauf von der¬
gleichen Lösen schien daher eine ganz sichere Kapitalanlage zu sein, sodaß nament¬
lich in bürgerliche» Häusern oft das ganze Vermögen in Lose verwandelt worden
sein soll. Die Sache erlitt indessen in deu sechziger Jahren eiuen schweren Stoß,
als sich allbekannte Familien nußer stände erklären mußten, die gezognen Gewinne
auszuzahlen. So verschwanden denn nicht wenige Privatanlchcn von der Börse,
wurden aber ersetzt durch Aulehen für öffentliche, Kommnnal- und Jndustrieuuter-
uehmuugeu, sodaß die Spiellust noch immer Befriedigung findet. Ihr wird wohl
wirksam entgegengearbeitet durch Spnrbankeu, namentlich die sehr bequemen Post¬
sparkassen, allein manche Finanzkünstler halten, wie es scheint, den umsichgreifenden
Sparsinn für schädlich, da sie ihn durch eigne Besteuerung zu mäßigen suchen.
curved war Limen bang und elend zu Mute, als sie unchher allein
oben in der Küchenthür stand. Nun mußte sie zum Vater, er mußte
auch ein Paar Kerzen haben, und sie wußte noch nicht einmal, wo
sie ihn hingelegt hatten.
Vorsichtig trat sie ans den Gang, klinkte die Küchenthür leise
hinter sich ein und duckte sich die zwei Schritte weit bis zum Schlaf¬
zimmer, um vor Frau Flvrkes Späherblick sicher zu sein.
Drinnen im Schlafzimmer atmete sie tief auf: da war alles unverändert, die
Betten zugedeckt, die Stühle unverrückt,
Sie nahm aus dem Wirtschaftsschrank, der hier seinen Stand hatte, zwei alter¬
tümliche eiserne Leuchter, steckte Kerzen darauf und faßte mit beiden Händen zu —
aber sie mußte die Last wieder hinsetzen, sie schien ihr zentnerschwer. Mit Plötz¬
lichen Entschluß stieß sie die Thür nach der Werkstatt auf und -blieb im Schlaf¬
zimmer stehen, den Kopf vorgebeugt, zum ersten scheuen Überblick.
Auch dieser Raum war leer, aber hier waren sie gewesen, feuchte Flecke»
zeigten, wo die Trage gestanden hatte; regellose Spuren, wie durcheinander tappende
und stehende Füße sie hervorbringen, beschmutzten den Weg von Thür zu Thür.
Der Mitteltisch, aus des Vaters Zimmer, stand schief gegen den Arbeitsschrant,
wie man etwas auf den ersten Anlauf aus der Hand und aus dem Weg stellt.
Dort also.
Line atmete wieder schwer. Aber nur nichts denken, nichts, gar nichts als
das Äußerliche! hier mußte Ordnung geschafft werden, er mußte es doch sauber
haben um sich her.
Leise glitt sie nach der Küche, Eimer und Lappen zu holen, wischte und Putzte
und stellte gerade, arbeitete sich heiß und besinnungslos. Nach einer Viertelstunde
war die Werkstatt blank wie ein Feiertagsraum, und Line fühlte sich stark und
mutig; sie griff zum zweitenmal nach den Leuchtern und stellte sie zum zweitenmal
wieder aus der Hand.
Es würde drüben auch Wetterspureu geben, sie mußte dort auch erst sauber
machen, so in der Unordnung dürfte er doch nicht liegen.
Schnell ging sie hinüber, nicht zögernd wie vorhin, und stand nun plötzlich
vor dem letzten Lager, das sie dem alten Städel inmitten seiner Modelle und seiner
Helden aufgebaut hatten. Sie sah nichts von den Schmntztrittcn um Boden, nichts
von dem Staub ringsum, der ihr Frauennuge sonst allzeit verletzte und ärgerte,
sie sah nnr das stille Gesicht, das in seiner leuchtenden Freude jung und schön
aussah, und die gefalteten Hände, auf deren eine der Blitz seine blaue Schrift ge¬
schrieben hatte.
Und endlich sah sie nur noch diese Schrift, das Todesmal: Du bist mein!
Und im Anblick dieser Schrift durchlebte sie noch einmal mit qualvoller Deutlichkeit
die Wetterstunde, die sie an eben dieser Stelle verbracht hatte: hier flehte ihre
Stimme zum Himmel empor um Vernichtung des Gespenstes, von dieser Werkstatt
flog der feurige Engel hinaus nach dem Buschholz als ihres Gebets Erfüller.
Nein nein! Gott hört nicht auf unsre Stimme. Was seine ewige Weisheit
beschlossen hat, das führt er aus, mögen wir Menschenkinder uns die Hände wund
ringen und die Seele zermartern im Gebet, durch zwanzig Jahre hab ichs erprobt.
Gott hat es gethan, und sie sagen, es sei gut, was er thue, und ich hab ihn ge¬
beten, zu thun, was uns gut sei!
Sie zwang ihre Augen von dem Blitzzeichen ab und schaute dem Toten wieder
ins Gesicht.
Sie sagen, es sei gut, was er thue. Dieser Tote sah aus, als sei ihm gutes
geschehen, glückselig sah er aus und ruhte uach schwerer Mühe. Vielleicht wäre
auf den heutigen Sieg Mißlingen gefolgt, und Enttäuschung und Undank, vielleicht
hatte er nun am Ziel die Alltagssorgen schwerer gespürt als jemals während des
leidenschaftlichen Laufs darauf zu. Ihm war doch wohl gutes geschehe«; dieser
Trost würde sich Limen sanft ins Herz geschmeichelt haben, wenn nur die Stunde
nicht gewesen wäre in Sturm und Wetternacht und Blitzesleuchten.
Aber sein glückliches Angesicht that Limen auch ohne diesen Glauben wohl.
Die alte Hängelampe warf einen sanften Schein durch ihre Glaskugel auf die hohe
Stirn und den lächelnden Mund — nichts andres erhellte er, die ganze Welt sank
neben diesem Antlitz ins Dunkel.
Langsam löste die Angst ihre Klammern von Lineus Herz, langsam fiel die
Schen vor dem Toten von ihr ab, der Abschiedsschmerz kam zu seinem Recht, und mit
ihm mischte sich die leise, leise Hoffnung, es möchte auch das Schuldgefühl von ihr ab¬
fallen wie die Schen. Ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie sah das klare
Angesicht nur noch undeutlich, wie von einem Strahlenglanz umflimmert und sank
aufschluchzend neben ihm nieder. Vater, Vater, hab ich dich umgebracht?
Kein Laut ringsum; selbst die Uhr schwieg, es war, als hielte alles im Hanse
den Atem an. Kein Ange in diesem Raum, die Knieende und den Toten zu sehen:
geschlossene Thüren, geschlossene Läden. Nur der kleine Holzengel, zu Häupten des
Modells, lächelte mit seinem unwissenden Kinderlächeln auf die beiden herunter.
Eine Antwort kam nicht, die Antwort ans ihre Frage mußte sich Line selber
erkämpfen.
Die beiden verunglückten Luftschiffer wurden unter der allgemeinen Teilnahme
Senkenbergs begraben: das war doch einmal ein Ereignis. Der Offizier und die
beiden Zivilisten vom Fach blieben auch bis zu dieser Beerdigung am Ort; sie
wollten noch mit den Erben über das Lnftschiff reden, mochten aber die Geschultster
nicht belästigen, so lange der Vater an seiner Arbeitsstätte aufgebahrt lag.
Aber das stand ihnen fest, vorbei durfte es mit diesem flugsichern goldnen
Engel nicht sein; fehlte es hier an Geld, so mußte sich das anderswo finden, nur
zuerst und vor allen Dingen wissen, wie es gelenkt worden war, und dann mit
vereinten Kräften an die Arbeit.
Das Wrack lag in der Scheune eingeschlossen, Ackermann ließ den Schlüssel
nicht aus der Tasche. Erst besinnen, meine Herren, erst zur Ruhe kommen lassen.
Die Städels spüren den Stoß noch, den ihnen das Schicksal vor den Kopf ge¬
geben hat.
Endlich ließ er sich doch bereden, die Neste des goldnen Engels zu zeigen:
mit gebrochnen Gliedern lag der Riese in dem spukhaften Dämmerlicht, ein unbe¬
greifliches Fabelwesen; aber auch als das Tageslicht durch Thüren und Luken
hereingelassen wurde, machte es das Geheimnis nicht Heller.
Gerade der „Klingelzug" war vom Strahl getroffen und geschmolzen worden,
und die Betrachtenden vermochten nicht herauszufinden, wie der alte Städel seinen
goldnen Engel mit diesem Klingelzuge regiert hatte.
Danach suchten die Herren den verwundeten Gesellen im Krankenhaus auf,
aber der durfte nur mit großer Vorsicht befragt werden, weil die Vernichtung
„seines" Luftschiffs ihn heftiger erregte als die gebrochnen Glieder. Trotzdem
wurde alles versucht, aber hatte der Gottlieb auch in diesen achtzehn heißen Arbeits-
monateu vielerlei Luftschifferweisheit aufgefangen, das, woraufs ankam, vermochte
er auf keine noch so geschickte Frage kund zu thun.
Ebenso scheiterten die Versuche, bei Nothnagel das Wesentliche zu erfahren.
Der alte Apotheker, der klapprig und erkältet im Lehnstuhle saß, that zwar, als
lasse ihn nur die Klugheit so karg mit seinen Aufklärungen Verfahren, den Sach¬
verständigen schien aber doch, als wisse er von dein, worauf es bei diesem wohl-
geleukten goldnen Engel angekommen war, am allerwenigsten; vom Laboratorium
und seinen Füllungsversuchen redete er mit selbstgefälliger Schwatzhnftigkeit. „Wir
Theoretiker/' begann er jeglichen Satz.
Die Herren standen auf. Sie kamen alle drei in demselben Augenblick zu der
Überzeugung, daß hier nichts zu holen sei, und Nothuagel lief auch ein häßlicher
Geschmack über die Zunge, als sie sich kühl empfahlen.
Verdammte Geschichte, widerwärtige Geschichte. Mußte das nun schief gehn?
Mußte der Eigensinn auffahren, ohne mich, gegen meinen Willen? Heute hätten
wir die schönste Windstille. Frisch! Herr Frisch! rief er durch das kleine Be-
vbachtungsfenster in den Laden hinüber. Sie sind mein Zeuge! Hab ich nicht
abgeraten?
Herr Frisch kam herüber, wohlfrisiert wie immer und sonntäglich beschlipst,
selbstgefälliger noch als sonst im Bewußtsein eines wohlbestandnen letzten Examens.
Beinah gönnerhaft klang, was er antwortete: Ja wohl, Herr Nothnagel, Sie haben!
Ich will Ihnen das recht gern jederzeit bezeugen.
Der alte Nothnagel ärgerte sich. Brauch ich nicht, brummte er, brauch ich
gar nicht; nur diese Narren gingen da eben fort, als ob ich den Mann auf dem
Gewissen hätte. Ich werde mir noch selber den Tod holen: auf die Erkältung den
Ärger.
Ich würde mich ein paar Tage zu Bett legen, Herr Nothnngel, und schwitzen.
Man soll mit einer Erkältung nicht spaßen, besonders wenn Gemütsbewegung dabei
war; Sie sind ein alter Herr.
Weiß ich allein, machen Sie, daß Sie an Ihre Arbeit kommen! Was? Ein
paar Tage? Muß ich etwa uicht morgen nachmittag mit zur Leiche? Muß ich
dem Eigensinn und dem armen Kerl von Mechaniker, den er mit hineingeritten
hat, uicht die Ehre geben? Mochte das liebe Scukeuberg klatschen hören, wenn
ich zu Hanse bliebe! Das Morgenblatt bringt schon spitzige Reden. Heute aber
könnte ich schwitzen.
Wenn Sie morgen ausgehn wollen, würde ich hente lieber uicht schwitzen,
sagte Herr Frisch in einem Ton, als beschenke er seinen Brodherrn mit einer großen,
glückbringenden Weisheit. Dann verschwand er eilig, mochte der Alte mit seiner
wohlbegreiflichen Verstimmung allein fertig werden.
Hart war es ja, so nahe vorm goldnen Ziel wieder ins Ungewisse zurückzu¬
fallen. Kein Geld mehr da, ein verdorbner Ballon, wahrscheinlich Schulden, die
beiden Fachmänner zum Teufel, und vielleicht bei den andern noch nicht mal das
rechte Zutraun.
Denn mochte unus drehen und wenden, wie man wollte — herabgestürzt
waren die kühnen Luftschiffer und elend zu Grunde gegangen; das mit dem Turm
und der Fahne konnte Zufall gewesen sein, schließlich hatte der Wind sie getrieben,
wie er die Seifenblasen der Kinder treibt. Es war wieder einmal die alte Ge¬
schichte. Eine Fülle von Zeit, Kraft und Geld auf das lustigste Schiff der Welt
geladen, um nur auch ganz gewiß alles in einem Anprall zu vergeuden.
Herr Frisch hatte deu goldnen Engel begraben, hoffentlich gab ihn Nothnagel
"und auf. Denn wer sollte nun, wo Stadel tot war, die Opfer bringen? Jennys
Erbteil etwa? Dafür war Ferdinand Frisch nicht. Oder der junge Lithograph?
Hin, ganz so weltverloren wie der Vater schaute der entschieden nicht ins Leben,
und wenn er schwach wurde, trat sicher die grimmige Karoline mit ihrem Einfluß
in die Bresche.
Nothnagel selbst dachte eben jetzt weder um das Modell, noch an das Wrack,
sondern einzig an seine Gesundheit: er legte sich nieder. Am nächsten Mittag stand
er scheltend und polternd ans. Sie läuteten schon zum Begräbnis, als Jenny ihm
in die schwnrzeu Kleider half.
Dn wirst dich verderben, Vater, bleib da, es ist kühl draußen und regnet am
Ende noch gar. Die drüben verargen dirs nicht: Herr Frisch und ich vertreten
die Apotheke.
Nothnagel ging aber doch. Ums Menschliche laß ich mich nicht bereden. Die
drüben? Pah! Aber die draußen, das Volk, das gemeine, das jeden nach seinen
eignen niedrigen Instinkten beurteilt! Fürchten that ich mich vor dem Stadel,
würden sie sagen, von wegen dem, daß ich nicht mit hinauf bin. Unsinn, ich und
fürchten! Die Hand will ich dem alten Querkopf schütteln! und da bleib ich und
erlebs noch mit Geduld und Ausdauer, daß der goldne Engel die Postverbindung
zwischen Hamburg und Island besorgt.
Wenn er sich auch nicht fürchtete, schlecht war ihm doch zu Mute, als er in
dem endlosen, schwarzen Zuge hinschritt; er fror und sah den Leuten mißtranisch
ans Lippen und Mienen.
Er hörte nichts Unangenehmes, und am Grabe hörte er überhaupt nicht „auf
das Gerede." Sie bedauerten den Mann natürlich und lobten ihn, was sonst?
Erst ans dem Heimweg, im Schatten Barthelmns, vernahm er eine Zwiesprache,
die ihm schlecht gefiel:
Ja ja, der alte Nothnagel. Übel sieht er schon aus, aber der Kluge ist er
doch wieder gewesen.
Freilich, der hat seinen heiligen Leichnam natürlich salviert.
Klug, das schmeckte. Aber das Nachfolgende verdarb den Wohlgeschmack
wieder, das hatte gewiß Jungfer Karoline uuter die Leute gebracht, der lag ja
immer Gift auf der Zunge.
Nothnagel murrte inwendig bis unter die Hausthür, murrte drinnen im Hause
laut flureutlaug und treppauf, schob sich nach seinem Schlafzimmer, warf Cylinder
und Handschuhe grob ans den Tisch, rief nach einem Grog und legte sich nieder.
Im Bett wurde ihm besser, mit Hilfe der Grogs wurde ihm beinahe be¬
haglich zu Mute. Die Wärme fing eben an, ihn wohlig zu durchströmen, da sah
er drüben Karl Städel mit den beiden Fremden den Gang entlang kommen und
in die Werkstatt treten.
Holla! jetzt beschnüffelten die das Modell. Das ging doch nicht nur so! ohne
ihn ging das überhaupt nicht! Die Geschwister würden natürlich bodenlose Dumm-
heiten machen.
Hastig stand er ans, rüttelte und schüttelte seine Glieder, um sich zu ermuntern,
und versuchte sich in Hast und Eile anzukleiden. Nur ging das alles laugsam,
qualvoll langsam mit den vor Alter und Krankheit ungeschickten Händen, inzwischen
konnten die drüben viel reden.
Allzuviel redeten sie nicht, sie kamen ans der Scheuer, wohin sie gleich nach
der Beerdigung gefahren waren, aber das Wrack hatte auch Karl nichts verraten,
obgleich er wieder und wieder sagte: Ich muß es doch wissen, Vater hat mir ja
alles gezeigt.
Sem Bemühen blieb hoffnungslos; wenn das Modell nicht mehr verriet als
das Wrack, war die Arbeit der drei letzten Halbjahre umsonst gethan, und es galt
wieder dn einzusetzen, wo Städel gestanden hatte, als er dem von deu Soldaten
heimkommenden Sohn anvertraute: Jetzt hab ichs! den Ballon muß man lenken,
nicht die Gondel.
Ackermann hatte sich bescheiden zurückziehen wollen, als sie die Schmiede be¬
traten, aber er mußte mit hinauf; vielleicht fiel ihm doch noch etwas Wichtiges ein.
Nun standen die vier in der Hexenküche, mis der sie vorhin den Herrn Humus-
getragen hatten, und Karl mußte sich eindringlich sagen, daß es nach Vaters Wunsch
und Willen geschähe, wenn sachverständige Männer seinem Luftschiff wieder zum
Fluge verhülfeu, sonst wärs ihm wie ein Unrecht erschienen, daß er den Glaskasten
vom Modell hob.
Hier, sagte er langsam. Ackermann machte sich an der Lampe zu schaffe«,
aber ihr Öl war in der letzten Nacht verbrannt worden; so zündete er die beiden
Totenkerzen an, die jetzt ans dem Arbeitstisch vor Pilatre de Rozier standen.
Hier, sagte auch er und hob die eine Kerze so hoch, daß sie dem Holzengcl
gegen das Kinn schien und dem Modell in all seine Geheimnisse leuchtete.
Alle vier neigten sich darüber und schauten. Endlich sagte Karl mühsam:
Nichts. Dies da zeigte mir der Vater damals vor zwei Jahren, aber der Motor
fehlt überhaupt, und eben diese Flügel verwarf er daun wieder, und was er mir
draußen ans der Wiese zeigte, war ein ganz andres Ding.
Dies vielleicht?
Der Fremde zeigte ans ein kleineres, etwas zurückgeschobnes Modell.
Karl sah zur Seite.
Dies? Das wäre möglich, antwortete er zögernd, aber es sieht so vernach¬
lässigt aus und als sei es verbogen —
Durch einen Sturz verletzt —
Sie nahmen das Modcllchen zur Hand und betrachteten es von allen Seite»;
unter der kleinen zerrissenen Ballonhülle spannte sich längsrund ein Reifen, ein
Halbreifen wölbte sich über ihm hin, beide waren beweglich und konnten sich er¬
weitern und verengern. Aber was diese Reifen bewegt hatte, wie sie sich mit der
Gondel verbinden mußten, und auf welche Weise sie die Richtung beeinflussen könnten,
war uicht mehr zu erkennen.
Verbogen.
Zerbrochen.
Zum Unglück verdorben.
Line Städel, die schon seit geraumer Zeit unbeachtet in der Thüre stand, kam
laugsnm näher.
Ja, sagte sie, ich stürzte gegen den Tisch, dabei fiel es herunter.
Sie sah so traurig aus, daß Ackermann sehr schnell sagte: Das war auch noch
nicht das letzte — nur der Motor ist derselbe geblieben, die Lenkvorrichtuug ist
erst draußen ausprobiert worden, von Tag zu Tag mit versuchen und verwerfen.
Dies hier war nur so ein Gcstümpre, wie bei der Schwalbe, die zum erstenmal
aus dem Neste schlüpft: erunt ihr keiner zu, daß sie mal übers Wasser fliegen
wird. Vielleicht steht mehr in dem Buch, er war ein großer Rechenmeister und
but alles Tag für Tag sorgfältig aufgeschrieben.
Das Buch! rief der Luftschiffer feurig. Wenn Sie mir das Buch, das Wrack
und dies verdorbne Modell verkauften?
Zunächst antwortete Karl gar nicht, sondern suchte nach dem Buch — Line
stand atemlos mit vorgeneigtem Kopfe da und folgte seinen Bewegungen.
Karl hatte das Tagebuch des Vaters nur flüchtig beachtet; als er ein altes
Heft fand mit allerlei vorläufigen Berechnungen, wo Falsches und Richtiges un¬
kritisch neben einander stand, meinte er das Gesuchte zu haben und schob es dein
Fremde» hin.
Der griff hastig danach, blätterte flüchtig und sagte: Ich denke mit Hilfe
dieser drei würde ich mich hineinfinden. Ich habe gesehen, wie der goldne Engel
sich oben bewegte, ich stecke mit all meinen Gedanken in diesem Problem — Sie
haben sich nicht selbst mit der Sache abgegeben, gegen Dilettanten verhalt sich
dergleichen spröde, und der da drüben scheint auch nicht viel davon zu ver¬
stehen —
Gar nichts, siel Karl mit schwerem Töne ein, er war dafür, daß Vater das
lenkbare Luftschiff erfände, und die Nothnagels Geld dran verdienten — weiter ver¬
stand er nichts davon.
Nun also, fuhr der Fremde fort, während Line den Bruder verwundert ansah,
verkaufen Sie's mir.
Verkauf es, Karl, bat die Schwester leise, ihr siel gar nicht ein, das; die Hälfte
Recht an dem Luftschiff ihr Recht war.
Ackermann riiusperte sich- Sogleich? So Hals über Kopf? Er meinte, die
Geschwister würden mehr Geld für den goldnen Engel bekommen, wenn sie zu
zeigen vermöchten, durch welche» Handgriff er gelenkt worden war. Karl mußte
es ja finden, es war ja so einfach gewesen. Opfer hatte der Engel wahrlich genug
gekostet, mochte er nun auch etwas einbringen.
Karl dachte nicht an die Städelschen Schulden, nicht an die Verpflichtungen
gegen Ackermann, nicht an das Geld, das ihnen der Goldne nach einem jahrzehntealten
Versprechen bringen sollte; er dachte um seines Vaters Ruhm und wünschte etwas
Fertiges aus der Hand zu geben, damit es den Namen Städel in die Welt hinaus¬
trüge, als den, dem es endlich gelungen war. Gab er jetzt die Bruchstücke her,
und der Mann, der mit gierigen Augen vor ihm stand, fand den Zusammenhang
wieder, so trug der Ehre und Erfolg als leichte Beute davon, den Vater aber
nannte höchstens ein wenig gelesenes Buch über die Geschichte der Luftschiffahrt
als einen von den Hunderten, die versucht hatten, die Luft zu überwinden, und
dabei gescheitert waren.
Nein.
Karl sprach dies Nein so laut und deutlich, daß Line zusammenschrak. Dann
fügte er ruhiger hinzin Sie müßten die Katze im Sack kaufen, oder ich müßte die
Arbeit eines Menschenlebens verschenken — das kann ich auch nicht. Lassen Sie
mich sehen, was ich aus dem Übriggebliebnen und meiner Erinnerung zusammen¬
bringe, und dann noch einmal darüber reden.
Line sah den Bruder entsetzt an. Karl! Du — du nullst —!
'
Ackermnuu legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. S ist recht so,
's ist gut so, Fräulein Linchen. Was für einen Preis soll einer machen, der nicht
weiß, was er verkauft? Erst mal besinnen.
Line dachte an die Schulden und an alles, was Ackermann für den Lenk¬
baren gethan hatte, und schwieg. Aber die Angst, die alte Angst vor dem Gespenst,
die sie heute unter stillen Thränen und heißen Gebeten mit in die Erde gebettet
zu haben meinte, war wieder da und packte sie noch rauher als vorher.
Wars jetzt nicht besser, wenn das Modell schadlos unter seinem Glaskasten
stünde?
Barmherziger Gott, und ich bat dich zu thun, was gut sei!
Es gab noch ein kurzes Hinundherreden, dann beschieden sich die Fremden.
Der Offizier sagte: Wenn Sie irgend Rat und Förderung brauchen, Herr Städel,
wenden Sie sich an uns. Ich werde den günstigsten Bericht erstatten und jederzeit
für Ihren goldnen Engel zu haben sein.
Der andre sagte noch weniger, dachte aber: ich komme wieder.
(Fortsetzung folgt)
Die Verhandlungen des deutschen
Reichstags vom 11. Februar haben ein glänzendes Zeugnis abgelegt für den Takt
und den Ernst, womit Regierung und Volksvertretung an die schwierige Aufgabe
herantreten, die handelspolitischen Beziehungen des Reichs zu den Vereinigten
Staaten von Amerika so zu ordnen, wie es den deutschen Interessen entspricht. Es
war zu dieser Aufgabe vor allem nötig, der politischen Voreingenommenheit und
Verhetzung, die schon anfing, deu Blick der Amerikaner in bedenklichem Grade auch
für die handelspolitische Lage zu trüben, den Boden zu entziehen. Man darf sagen,
daß nunmehr deutscherseits alles gethan ist, was in dieser Richtung geschehen kann.
Soweit sich übersehen läßt, wird das auch in alleu europäischen Kulturstnaten an¬
erkannt, und selbst die leitenden Staatsmänner in den Vereinigten Staaten sind,
wenn sie es nicht schon früher waren, jetzt davon überzeugt, daß die Hetzereien
und Mißstimmungen ihrer Landsleute gegen die deutsche Politik lediglich auf bösem
Willen oder Irrtum beruhen.
So erfreulich es ist, das aussprechen zu können, so ist damit die handels¬
politische Frage an sich noch nicht gelöst, ja kaum berührt. Deutschlands Industrie
und Handel dürfen sich nicht der Täuschung hingeben, daß ihnen harte Kampfe
und empfindliche Schwierigkeiten erspart bleiben werden, oder durch eine weise
Politik der Regierung erspart werden könnten. Noch weniger aber darf die Regie¬
rung bei dem Kampf um die Absatzgebiete, deu wir aufzunehmen gezwungen sind,
nußer acht lassen, welche Bedeutung gerade die Vereinigten Staaten als Gegner haben.
Zwei Dinge müssen scharf von einander getrennt werden: die Entwicklung
unsrer Ausfuhr nach deu Bereinigten Staaten selbst, und zweitens der Konkurrenz¬
kampf Deutschlands mit den Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt.
In Bezug auf die erste Frage — sie allein ist überhaupt am 11. Februar
im Reichstage berührt worden — hat unser Staatssekretär des Auswärtige» den
amerikanischen Geschäftsleuten, die ihren Vorteil im schroffsten Protektionismus sehen
und die .Winke der Gesetzgebung fest in der Hemd haben, das Dichterwort in Er¬
innerung gebracht: „Wenn du nehmen willst, so gieb!" Wer die Lage der Partei-,
Macht- nud Juteressenverhältuisse in deu Vereinigten Staaten keimt, wird aber
daran nicht zweifeln, daß die amerikanische Handelspolitik keine Gelegenheit, namentlich
keine Unklarheit, Strittigkeit und Lücke in der Vertragslage, unbenutzt lassen wird,
die Einfuhr deutscher Waren womöglich bis zur völligen Aussperrung zu unter¬
binden. Man ist nun einmal nirgends in der ganzen Welt so davou überzeugt,
nehmen zu können, ohne geben zu müssen, gerade uus gegenüber, als in deu Ber¬
einigten Staaten, und die Schuld, daß das so ist, liegt in der Hauptsache an uns
selbst. Das »»verständige Geschrei, die ganze deutsche Industrie sei verloren ohne
den bisherigen Export nach Nordamerika, und Deutschland gehe zu Grunde ohne
die bisherige Einfuhr von da, würde selbst bescheidnere Leute, als es die Ameri¬
kaner von heute siud, zu dem Glaube» bringen, im Verkehr mit Deutschland habe
das von Herr» von Bülow zitierte Goethische Wort keine Geltung.
Wir müssen mit einer wesentlichen Veränderung unsrer Warenausfuhr nach
deu Vereinigten Staaten, und zwar mit einem starken Rückgang rechnen lernen,
und wir müssen die Amerikaner unzweideutig darüber belehren, daß durch diesen
Rückgang unser wirtschaftliches Gedeihen und unsre fortschreitende Beteiligung am
Welthandel durchaus nicht gefährdet ist. Es gehört in das kürzlich hier behandelte
Kapitel von den Übertreibungen, die über die einseitige und übermäßige Entwick-
lung unsrer Expvrrindnstrie überhaupt zum Dogma geworden sind, komm mun unser
Wohl und Wehe so, wie es jetzt meist geschieht, als von dem bisherigen Export
nach den Vereinigten Staaten abhängig bezeichnet.
Wer in der Ansfuhrstatistik Position sür Position durchgeht, wird von dieser
Gespensterfurcht befreit werde», falls er eben die deutsche Gesaiutindustrie im Auge
hat und nicht einzelne Industriezweige, die noch besonders auf den amerikanischen
Markt zugeschnitten sind. iDen höchsten Posten vom Export nach Amerika nahm
1896 bekanntlich die Strumpfwarcnfabrikation mit nicht mehr als 24 Millionen Mark
in Anspruch.) Ein Unglück wäre es aber, wenn es diese bisher für den amerika¬
nischen Markt — direkt oder indirekt — mit einer gewissen Einseitigkeit arbeitenden
Industrien im Vertrauen ans die Wunderkraft des sogenannten „Schutzes der
nationalen Arbeit" im Deutschen Reiche an der nötigen Vorsicht fehlen ließen und
sich nicht beizeiten um andre Absatzgebiete, sei es auch mit entsprechend veränderter
Produktion, bemühten. Daß ihnen nicht plötzlich der amerikanische Markt versperrt
wird, dagegen bietet der praktische Sinn der Amerikaner genügende Sicherheit, wenn
diese nur nicht dnrch unsre eigne Henlmeierei darüber getäuscht werden, daß das
Deutsche Reich, wenn es auf Nctvrsiouen ankommt, die schnrferu Waffen in der
Hand hat. Die Einfuhr von Rohstoffen — von den Fabrikaten ist gar nicht zu
reden — aus Amerika besteht zu einem sehr beträchtlichen Teile ans Dingen, die
Deutschland ebenso gut wo anders her beziehen kann, und so frei wir von agra¬
rischen Tendenzen sind, so halten wir es doch für ganz selbstverständlich, daß Rück-
sichtslosigkeiten der amerikanischen Zollpolitik gegen die deutsche Exportindustrie mit
ebenso rücksichtsloser Aussperrung der für uns entbehrlichen Produkte der Ver¬
einigten Staaten beantwortet werden. Darüber darf den Amerikanern kein Zweifel
gelassen werden.
Aber von viel größerer Wichtigkeit als die Entwicklung unsrer Ausfuhr nach
den Vereinigten Staaten selbst ist die Frage, wie sich der Konkurrenzkampf zwischen
Deutschland und Nordamerika auf dem Weltmarkte gestalten wird. Die Fortschritte
Deutschlands und der Vereinigten Staaten in ihrer Produktionskraft während der
letzten beiden Jahrzehnte übertreffen die. aller übrigen am Welthandel beteiligten
Nationen bei weitem. Wir müssen, damit unser Volk nicht wirtschaftlich verkommt,
zu einer Exportpolitik in völlig neuem, gewaltigem Umfange übergehn, und wir
müssen deshalb verlangen, daß die noch uicht verschlossenen Thüren im Weltverkehr
offen bleiben. Die Vereinigten Staaten »vollen, obgleich dünn bevölkert, dem im
Interesse der herrschenden Großkapitalisten in ihrem Julnnde bis zum äußersten
gesteigerten protektivnistischen Raubbau durch eine neue Weltmachtspvlitik immer
weitere Ausbeutuugsgebiete sichern durch Einbeziehung in die Politik der geschlossenen
Thüren, und wo das nicht angeht, dnrch rücksichtslose Vergewaltigung der fremden
Konkurrenz ans andre Weise.
Die Vereinigten Staaten dürfen sich aber darüber nicht länger täuschen, daß
sie sich dnrch diesen Übergang zur ausbeutenden Kolonialpolitik im Dienst ihrer
Grvßkapilalisten zu gemeingefährlichen Störern des Weltfriedens und der Weltwirt¬
schaft machen, daß ihr „Imperialismus" mit einer dem heutigen Stande der Zivi¬
lisation schroff widersprechenden Frivolität der ganzen zivilisierten Welt den Fehde-
handschuh hinwirft. Zunächst aber wird Deutschland von dieser Friedensstörung
unmittelbar und unerträglich betroffen werden. Darüber können uus alle politischen
Höflichkeiten, die zwischen den Regierungen ausgetauscht werden, nicht hinweg¬
täuschen. Nur die Rückkehr des Volkes der Vereinigten Staaten zu gesunden, be¬
ständigen, freisinnigen Grundsätzen in seiner Handelspolitik kann den essn8 belli,
den der neumodische Imperialismus frivol an die Wand malt, beseitign. Bis
dahin kann in Deutschland nur ein Narr dem Frieden trauen.
Eine der charakteristischen und, unserm
Gefühle nach, unberechtigtsten Eigentümlichkeiten der Schweizer und ganz besonders
der Deutschschweizer ist ihre maßlose Empfindlichkeit gegenüber jeder Kritik —
namentlich von deutscher Seite. Die Thatsache, daß im allgemeinen der Kleinere
und Schwächere dem Größern gegenüber mißtrauisch und empfindlich ist, genügt
hier durchaus nicht als Erklärung, denn die Schweiz hat, mit vollem Rechte, so
viel Selbstschätzung und so viel Selbstbewußtsein, daß es einer hochgradigen Empfind¬
lichkeit nicht bedürfte, um der Anerkennung ihrer politischen Stellung nach jeder
Seite hin sicher sein zu können.
Ein auffallendes Beispiel für diese Empfindlichkeit bietet wieder einmal die
Aufnahme, die die kürzlich in den Grenzboten erschienenen „Politischen Reisebetrach¬
tungen aus dem deutschen Süden" in einem Teile der schweizerischen Presse ge¬
funden haben. Eine Besprechung dieser Betrachtungen, mit denen anch wir, namentlich
insoweit sie sich mit der Stellung der dentschen Einzelstaaten dem Reiche gegenüber
beschäftigt, durchaus nicht allenthalben übereinstimmen, erfolgte unsers Wissens
zuerst in der „Straßburger Post" und zwar durch einen schweizerischen Korrespon¬
denten in Bern. Er sprach sich in sehr maßvoller und von seinem schweizerischen
Standpunkte aus in sehr gerechtfertigter Weise gegen verschiedne Auslastungen des
Verfassers der Neisebetrachtnugen ans. Die Redaktion der Straßburger Post be¬
mühte sich aber in einer Nachschrift, nach beiden Seiten hin auszugleichen, und gab
zu, daß in Deutschland ebenso wie in der Schweiz die Presse ab und zu die freund-
nachbarlichen Gefühle verletze.
Wir hätten hiernach geglaubt, die Sache sei erledigt, und hätten keine Ver¬
anlassung gehabt, in der fragliche» Angelegenheit zur Feder zu greifen, wenn nicht
ein sehr angesehenes deutsch-schweizerisches Blatt, die „Basler Nachrichten," Ver-
aulnssuug genommen hätte, infolge dieses Artikels der Straßburger Post, nach¬
träglich die politischen Neisebetrachtnugen nnter ihr Seziermesser zu nehmen und
ihrer Empörung darüber Luft zu machen, daß die Deutschen es wagen, über
schweizerische Verhältnisse zu schreiben, sie zu kritisieren und namentlich von einer
in der Schweiz herrschenden Deutschfeindlichkeit zu sprechen. Unsers Erachtens
kann diese Verhältnisse ein in der Schweiz reisender oder sich nnr ab und zu
— wohl meist an Kurorten —> dort aufhaltender Deutscher, wie es jedenfalls der
uns persönlich unbekannte Verfasser der Neisebetrachtnugen ist, ebenso wenig richtig
und vorurteilslos beurteilen, wie vom entgegengesetzten Standpunkte aus ein ge-
borner Schweizer. Der erste sieht vielfach nur die Oberfläche und die rauhe Form,
der letzte ist Partei, und zwar im engsten Sinne des Worts. Wir glauben daher,
daß es nicht unangebracht ist, wenn ein Deutscher, der seit einer längern Reihe
von Jahren in der Schweiz lebt und viele Beziehungen in wissenschaftlichen und
geschäftlichen Kreisen mit Schweizern unterhält, und der insbesondre die deutsche
Schweiz sehr genau kennt, seine Ansicht über die fraglichen Verhältnisse hier aus¬
spricht.
Wir müssen da zunächst gestehen, daß der Vorwurf der Dentschfeindlichkeit,
den der Grenzbotenartikel gegen die Schweiz erhebt, in der Hauptsache als be¬
gründet anzusehen ist. Es ist oft Gegeustnnd unsers ernsten Nachdenkens gewesen,
woher es kommt, daß der Deutsche vo ip.W keinen Sympathien in der Schweiz be¬
gegnet; er wird im Volksmunde meist als „Schwob" bezeichnet, und ein unbefangen
freundschaftliches Verhältnis zwischen Schweizern und Dentschen — auch wenn
diese noch so lange in der Schweiz leben — wird sich mir in Ausnahmefällen gestalten.
Wer dies als Deutscher leugnet, der kennt die Verhältnisse nicht oder ist zu kurze
Zeit erst in der Schweiz, als daß er ein richtiges Urteil haben könnte. Der sprechendste
Beweis für die Wahrheit dieser unsrer Behauptung ist, daß, je länger ein Deutscher
oder eine deutsche Familie in einer der großen Städte der deutschen Schweiz leben,
sie sich um so vereinsamter den schweizerischen geselligen Kreisen gegenüber fühlen
werden. Dein Schweizer geht eine Eigenschaft ab, ans die in Deutschland großer
Wert gelegt wird — die Gastfreundschaft. Von dieser haben sie einfach keinen
Begriff. Wenn sie an und für sich schon keine übertriebnen höflichen und verbind¬
lichen Formen habe«, so schwinden sie mehr und mehr, je länger der Fremde in
der Schweiz weilt. Man kann jahrelang in einer Stadt der deutschen Schweiz
leben, ohne daß man mit den Schweizern in einen unbefangnen, geselligen Verkehr
käme, oder daß einem die Gastfreundschaft in schweizerischen Familien genährt
würde.
Wir wissen sehr wohl, daß die Schweizer eines gegen ihre eignen Landsleute
sehr zurückhaltend sind, und daß der Zürcher nicht gern mit dem Basler und dieser
nicht gern mit dem Berner usw. weder gesellschaftlich uoch geschäftlich verkehrt, aber
dem Fremden gegenüber ist die Gastfreundschaft ein Gebot, das von jeher und
überall gegolten hat, und das in der Republik, in der ein großer Teil der Be¬
völkerung von deu Fremden lebt, besonders hoch gehalten werden sollte. Da im
Volksmunde die Schweiz vielfach als besonders „gastfrei" bezeichnet wird, so möchten
wir bemerken, daß wir die Gastfreundschaft, die bezahlt wird, oder die auf dem
Asylrecht beruht, nicht als solche erachten. — Die Basler Nachrichten schreiben,
daß sich der Deutsche vielfach dadurch unbeliebt mache, daß er bei seinen, Aufent¬
halt in der Schweiz die dortigen Verhältnisse kritisiere und bemängle. Wir müssen
diesen Vorwurf, wenn er einer ist, für unberechtigt erklären. Wir sind jedes Jahr
mit zahlreichen, in der Schweiz reisenden Deutschen zusammen, haben aber von
einem Nörgeln oder davon, daß „der Durchschnittsdeutsche, kaum Schweizerboden
unter sich fühlend, seiner Kritik unaufhaltsamen Born fließen läßt und dabei selbst
heilige, schweizerische Gefühle nicht scheut," nie etwas bemerkt. Es ist ja möglich,
daß der Deutsche, wenn er in seine Heimat zurückgekehrt ist, diese oder jene schwei¬
zerischen Verhältnisse und Zustände abfällig kritisiert, auf Schweizer Boden aber
haben wir es, wenigstens in verletzender Weise, nie, mich nicht hinsichtlich des
schweizerischen Militärs, gehört. Solches Verhalten entspricht aber geuau dem, was
die Basler Nachrichten ihren Lnndsleuteu zuschreiben; sie sagen nämlich: „Der
Schweizer übt Kritik und läßt sich oft unverblümt über Deutschland und deutsche
Verhältnisse aus. Aber so lange er in Deutschland, so lauge er Gast ist, versteht
er den Mund zu halten." Diese Behauptung der genanuten Zeitung findet übrigens
auch ihre Ausnahmen; es ist uns selbst passiert, daß an einem Pensionstisch in
einem süddeutschen Badeorte bei Gelegenheit eines patriotischen Festtages ein Hoch
auf Bismarck ausgebracht wurde, und eine anwesende Schweizer Familie in schärfster
Tonart ihrer Empörung Luft machte, daß an einem Tisch, an dem Schweizer säßen,
Bismarck in solcher Weise gefeiert werde.
Wenn schließlich die Basler Nachrichten sagen, daß in der Schweiz ein „auf
historische Grundlage zurückzuleitendes Mißtrauen" gegen Deutschland herrsche, so
ist uus dies ganz unverständlich. Wir sollten denken, daß ein auf historischer
Grundlage beruhendes Mißtrauen sich nnr gegen Frankreich wenden könnte, nicht aber
gege« Deutschland! Davon merkt man aber nichts, sondern trotz aller gegenteiltgeu
Versicherungen herrscht mich in der deutschen Schweiz, namentlich in ihren west¬
lichen Teil — Bern, Basel usw. —, eine große, gerade jetzt kaum begreifliche
Borliebe für Frankreich, für die Franzosen und für ihre Sprache. Der Ton, den
die Bühler Nachrichten anschlagen, indem sie von „Anmaßung" usw. sprechen, ist
ganz unangebracht gegenüber dem Deutschen Reiche, dem die Schweiz viel zu danken
hat — nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Handel und
Verkehr, und von dem sie nichts zu fürchte» hat. Ob sich das ohne weiteres auch
vom westlichen Nachbar sagen läßt, bleibe dahingestellt. Wie gerechtfertigt der
Wunsch ist, daß die schweizerische Empfindlichkeit nicht gnr zu unverblümten Aus¬
druck in der Presse finden möchte, hat sich in den letzten Tagen wieder gezeigt, als
dasselbe Basler Blatt die Reichstagsrede or. Liebers besprach, der die Schweiz
als ein Land bezeichnet, „in dem Königs- und Frnnenmvrder frei umherlaufen."
Wir sind die ersten, die solchen Unsinn, der seine Erklärung nur in der augen¬
blicklichen Erregtheit des Jesuitenführers finden kann, ans das schärfste verurteilen,
und können die Empörung der Schweizer über diese taktlose Äußerung, die keine
Entgegnung fand, vollständig versteh», aber die Basler Nachrichten hätten wohl
besser gethan, den Nachsatz wegzulassen. Wir glauben, daß eine solche Drohung nach
keiner Seite hin Eindruck macht.
Wir können es uns nicht versagen, als Abschluß dieser kurzen Betrachtung ans
den Brief hinzuweisen, den Jnkob Burckhardt, der berühmte Basler Gelehrte, am
30. Dezember 1841 aus Berlin an Gottfried Kinkel richtete.») Er schreibt darin-
„. . . Ich weiß jetzt, wie alles gekommen ist; ich erkenne die Mntterarme unsers großen
gemeinsamen deutschen Vaterlandes, das ich erfolglos verspottete und zurückstieß, wie
fast alle meine schweizerischen Landsleute zu thun pflegen. Deutschland läßt sie auch
meist wieder laufen, ohne ihnen von seiner Eigentümlichkeit und seiner Erhabenheit
etwas mitgeteilt zu habe»; auf mich hat es seine Güter ausgeschüttet und mich an
sein warmes Mutterherz gezogen. Und daran will ich mein Leben setzen, den
Schweizern zu zeigen, daß sie Deutsche sind."
Obgleich dies beinahe sechzig Jahre her ist, so hat es heute noch seine volle
Berechtigung, und es wäre gut, wenn sich alle Schweizer dessen immer bewußt
wäre».
Am 1. April 1399 wird der ans
fünf Jahre berechnete Zeitraum abgelaufen sein, worin die zweijährige Dienstzeit
bei den Fußtruppen des deutschen Heeres erprobt werden sollte, und der Reichstag
wird noch einmal die Frage gründlich zu beurteilen haben, ob der Versuch als
gelungen zu betrachten ist und somit die kürzere Dienstzeit gesetzlich festgelegt
werden kann oder nicht. Gewiß giebt es wichtigere Dinge im öffentlichen Leben,
Fragen von tieferer Bedeutung, die der Lösung harren, aber da trotz aller
Abrüstungsvorschläge und Friedensversichernugcn im letzten Grunde doch auf der
Armee die Sicherheit unsers Staatswesens beruht, so lohnt es sich wohl, die Auf¬
merksamkeit auf diese für die Leistungsfähigkeit der Armee so folgenschwere Ange¬
legenheit zu richten, und es darf nicht wunder nehmen, daß sie schon jetzt in der
Tagespresse der Gegenstand eifriger Erörterung ist. Ein Fehler freilich ist es,
wenn dn, wie es meist geschieht, die Frage lediglich vom einseitigen Parteistand¬
punkt ans behandelt wird, während man doch vor allem sachlich urteilen und die
Vor- und die Nachteile der beiden Formen sorgsam gegen einander abwogen sollte.
Zu Gunsten der dreijährigen Dienstzeit sprechen vor allem die außerordent¬
lichen Erfolge, die wir in unsern drei großen Kriegen damit gehabt haben; man
weiß, daß der alte Kaiser lieber vorzeitig die Krone seinem Sohne übertragen als
ans die dreijährige Dienstzeit verzichten wollte, daß auch Bismarck mehr als einmal
seine gewichtige Stimme dafür erhoben hat. Daß die dreijährige Dienstzeit mit
Rücksicht ans die Disziplin und die militärische Ausbildung der Truppe unbedingt
den Vorzug verdient, wird auch heute niemand leugnen; es ist ganz selbstverständlich,
daß der moralische und technische Wert eines Heeres höher, die Leistungen zuver¬
lässiger sein werde», wenn der Mann drei Jahre gedient, als wenn er nur zwei
Jahre unter der Fahne gestanden hat. Es muß also ein sehr wichtiger Grund ge¬
wesen sein, der unsre Heeresverwaltung veranlaßt hat, diese altbewährte und durch
Tradition wie Autorität geheiligte Form zu verlassen, um mit einer neuen den
Versuch zu wagen. Dieser Grund liegt in dein Zahlenverhältnis, dessen Bedeutung
sich gegen früher sehr verschoben hat. So wenig nämlich Zahlen an sich beweisen,
so falsch wäre es in diesem Falle, wollte man sie ganz außer Rechnung stellen
und sich bei der Schätzung eines Heeres nur auf seine ideellen Eigenschaften be¬
schränken.
In Bezug auf Organisation und Bewaffnung, worin wir noch vor fünfund¬
zwanzig Jahren unsern mächtigen Nachbarstaaten weit voraus waren, besteht jetzt
kein nennenswerter Unterschied mehr, und ob wir in der Kunst der Führung und
der moralischen Tüchtigkeit der Truppe ein so starkes Übergewicht haben werden,
daß wir uns eine Verringerung der Zahl erlauben dürfen, erscheint doch mindestens
zweifelhaft, da wir auf beides zwar hoffen, aber nicht mit Sicherheit rechnen können.
Je gleichwertiger zwei feindliche Heere in ihrer Organisation, in ihrer technischen
und moralischen Leistungsfähigkeit sind, eine desto größere Rolle spielt die Zahl,
und es wäre ein schwerer Fehler unsrer Heeresleitung, wollte sie diesen wichtigen
und vou alleu modernen Autoritäten anerkannten Satz außer acht lassen.
Die zweijährige Dienstzeit ermöglicht in der Form, wie wir sie jetzt probeweise
eingeführt haben, die Erhöhung der jährlichen Rckrutenzahl fast um ein Drittel,
und in demselben Maße wächst natürlich die Zahl der ausgebildeten Soldaten; sie
erlaubt ferner, das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht wenigstens annähernd noch
aufrecht zu erhalten. Das sind Vorteile, deren Bedeutung nicht erwiesen zu werdeu
braucht. Es würde also ihrer endgiltigen Einführung nichts im Wege stehen, wenn
much dann noch ein ausreichend hoher Grad von sittlicher und soldatischer Tüchtig¬
keit erreicht werden könnte. Das ist der Kernpunkt der Sache, und diese Möglich¬
keit zu untersuchen der Zweck folgender Zeilen.
Die unbedingte» Anhänger der dreijährigen Dienstzeit haben die Behauptung
aufgestellt, die Disziplin der Armee sei in diesen fünf Jahren schon stark zurück¬
gegangen, und zwar besonders deshalb, weil die Entlassung nach zwei Jahren, die
früher den bessern Leute» als eine Belohnung für gute Führung und Leistungen
in Aussicht stand, jetzt allen gleichmäßig zukomme. Bei der geheimnisvollen Art,
mit der alle militärischen Angelegenheiten bei uns behandelt werden, dürfte sich der
Beweis für oder gegen diese Behauptung schwer bringe» lassen. Was aber die
Einrichtung der Dispvsitionsnrlauber angeht, so läßt sich nicht leugnen, daß sie
große Schwächen gehabt hat. Wenn die Leute sich auch anfangs mehr als jetzt
vor jeder Strafe in acht nahmen, die das Abdienen des dritten Jahres zur Folge
hatte, so siel doch für deu einmal Bestraften jede Rücksicht fort, und wer gedient
hat, der weiß, welche wenig schöne Rolle der sogenannte „alte Mann" damals in
der Kompagnie gespielt hat. Um dem Unteroffizier in der Ausbildung der Re-
kruten zur Hund zu gehen, dazu war er jedenfalls in den meisten Fällen un¬
geeignet.
Wenn man gesagt hat, ein zutreffendes Urteil über deu Wert der zweijährigen
Dienstzeit lasse sich deshalb noch nicht abgeben, weil noch kein Landwehrmann aus
ihr hervorgegangen sei, so laßt sich dagegen einwenden, daß bei den jetzigen Land-
wehrlentcn, unter denen doch auch eine große Zahl von Dispositivusurlaubern ist,
ein Unterschied zwischen dem Verhalten dieser Leute und dem der dreijährigen nicht
zu bemerken gewesen ist. Warum sollte es denn nur mit einemmale anders sein?
Ein wirklich abschließendes Urteil läßt sich übrigens aus solchen Erfahrungen auch
nicht fällen, weil es sich dabei doch immer nur um Proben, höchstens einmal um
eine Generalprobe handelt, während nnr die wirkliche Aufführung, der Krieg, über
Wert oder Unwert entscheiden kann.
Es ist kein Zweifel, daß sich die Anforderungen, die an die militärische Aus¬
bildung des Soldaten gestellt werden, in deu letzten Jahren immer mehr gesteigert
haben, und daß diese dadurch sehr erschwert worden ist. Während mau früher
mehr in der Masse arbeitete, wird jetzt auf die Schulung des einzelnen Mannes
der größte Wert gelegt, es ist eine Fülle neuer Ausbildnngszweige Hinzugekummen
und doch kein einziger dafür beseitigt worden. Der zersetzende Einfluß des mo¬
dernen Gefechts stellt die höchsten Anforderungen an die Selbstthätigkeit jedes ein¬
zelnen Schützen, der auch ohne den Befehl seines vielleicht gefallnen oder ihm aus
den Augen gekommnen Führers seinen Platz ausfüllen und den Kampf bis ans
Ende durchführen soll. Da dem gemeinen Mann in der Regel höhere Triebfedern
fehlen, da ihm der Begriff des Heldentums fremd ist, so muß er dann aus unbe¬
wußten Gehorsam handeln, eine Forderung, die uoch vor zwanzig Jahren jedem
Fachmann unerhört erschienen wäre.
Ob sich dieses Ideal insoweit erreichen läßt, daß die Feuerprobe bestanden
wird, kann hier nicht entschieden werden, wohl aber darf man behaupten, daß die
Frage der zwei- oder dreijährigen Dienstzeit darauf von sehr geringem Einfluß ist.
Nicht ob der Soldat seinen Ausbildungskursus zwei- oder dreimal durchmacht, ent¬
scheidet über seine Leistungsfähigkeit, sondern ans das Wie kommt es an. Wenn
die Methode falsch oder der Lehrer unfähig ist, dann kann auch eine fünfmalige
Wiederholung nichts nutzen, und wie viel wir in dieser Beziehung noch zu lernen
haben, darüber sollte man sich nicht täuschen. Nicht als wenn die Arbeitslust in
der Armee fehlte; im Gegenteil, es wird viel zu viel gearbeitet, durch ein plan¬
loses Beschäftigungsprinzip wird aber den meisten die Freudigkeit genommen. In
tausend Reinigkeiten und Kleinlichkeiten verbraucht sich der Eifer, der, in richtige
Bahnen gelenkt, den besten Nutzen bringen könnte. Bald nach dem Regierungs¬
antritt des jungen Kaisers erschien ein Befehl, der den Mißbrauch der allzu
häufigen Besichtigungen abstellen sollte, weil der ruhige Dienstbetrieb darunter
leide. Der Befehl mag damals einigen Erfolg gehabt haben, aber jetzt ist man
wieder so weit gekommen, daß immerzu besichtigt wird, und der ganze Dienst¬
betrieb sich um die Besichtignngstage dreht, es ist ein Arbeiten von Fall zu Fall.
Und was wird nicht alles besichtigt! Kein Unterschied zwischen Wichtigem
und Nebensächlichem, überall derselbe Übereifer, wie er so drastisch in den Worten
eines süddeutschen Kapitäns verurteilt wird, der auf die Frage, weshalb er denn
nicht länger in preußischen Diensten bleiben wolle, zur Antwort gab: „Dees kann
mer nimmer gefalle, bei dene Preiße is alles Hnnptsach!" Ja wenn auf diese
Weise nur etwas erreicht werden konnte! Aber ti/se lediglich für den Besichtignngs-
Zweck vorbereiteten Bilder streuen deu Vorgesetzten nur Sand in die Augen, sie
hinterlassen gar keinen bleibenden Wert und sind somit mich nichts weiter als Zeitver-
schwendung. Wenn man dem hier genügend gekennzeichneten Unwesen ein Ende
"'achte, wenn man sich dazu erschlösse, in den Zielen der Ausbildung eine weise
Beschränkung walten und sich von höhern Grundsätzen leiten zu lassen, so wäre
schon ein großer Gewinn erreicht. Den unglückseligen Parademarsch mag man
meinetwegen noch beibehalten, wenn es denn wirklich nicht ohne ihn geht, obwohl
zu seiner Einübung eine ganz unverhältnismäßig große Zeit erforderlich ist, aber
weshalb man alle die aus Urväterzeit herübergenommnen und heute höchstens noch
als Vorbereitung brauchbaren Dienstzweige „unentwegt" als Selbstzweck verherr¬
licht, weshalb mau noch nicht einmal das gänzlich zwecklose Bajvnettfcchten ausgeben
will, das laßt sich bei dem besten Willen nicht verstehen. Ließe man die militä¬
rischen Allotria fahren, so wäre Zeit genug vorhanden zur Ausbildung im Schieß-
und Gefechtsdieust wie auch zum Exerzieren, dessen stramme Formen auch nicht um
ein Tüttelchen verkümmert werden dürfen; man hätte auch Zeit übrig, den Fehler
zu verbessern, der den heutigen Dienst am empfindlichsten schädigt, die mangelhafte
Ausbildung des Lehrpersonals. Welcher Kvmpagnicchcf kann sich denn unter dein
Druck der Verhältnisse heute uoch die Mühe geben, seine Offiziere und Unteroffiziere
zu Lehrern der Mannschaft und zu brauchbaren Stützen heranzubilden? Muß er
nicht froh sein, wenn er sie für den nächstliegenden Zweck nur so mühsam zurecht¬
gestutzt hat, daß sie ihm da nicht völlig versagen? Und die Unteroffiziere selbst,
müssen sie nicht erlahmen, wenn sie sich immerfort vor Aufgaben gestellt sehen,
denen ihre Kräfte nicht gewachsen sind, müssen sie nicht aber auch in ihren An¬
schauungen wankend werden, wenn sie erleben, daß sie trotz ihrer mangelhaften
Leistungen immer noch günz gut durchkommen? Eine ernste, vielleicht nicht überall
hinlänglich geübte Pflicht der Vorgesetzten ist es, dafür zu sorgen, daß alle un-
nötigen Abkommandierungen der Mannschaften vermieden werden, den» ein großer
Teil all der Leute, die heute uoch als Burschen oder Ordonnanzen, als Hand¬
werker, in Kuchen, Kandiren oder Schreibstuben zur Verwendung kommen, könnte
und müßte zum Dienst herangezogen werden.
Das sind die Gründe, die nu einer Verschlechterung der Armee, soweit über¬
haupt davon die Rede sein kaun, Schuld siud. Die zweijährige Dienstzeit hat nicht
das mindeste damit zu thun. Früher, als die Anforderungen der Ausbildung noch
einfacher waren, traten die Mängel weniger deutlich hervor, heute, wo statt des
Drills, oder richtiger gesagt, zu dem Drill die Forderung der Erziehung hin¬
zugetreten ist, siud sie fühlbarer geworden. Das ist der einzige Unterschied, und
es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man darin eiuen Nachteil der kürzern
Dienstzeit sehen. Wenn mir jeder an seinem Platze seine Schuldigkeit thut und
unbeirrt durch Nebenwege und Eintagserfolge das große Ganze im Auge behält,
daun wird die Armee weder in ihrer sittlichen noch in ihrer militärischen Tüchtig¬
keit durch die zweijährige Dienstzeit Einbuße erleiden; sie wird im Gegenteil in
dem dadurch verursachten Zuwachs an Zahl auch eine Vermehrung an Kraft ge¬
winnen.
Unter dem Titel „Sozialpolitik und Moral"
hat kürzlich ein Dr. Franz Walter „mit Approbation des hochw. Herrn Erzbischofs
von Freiburg" ein Buch veröffentlicht, insbesondre zur Widerlegung der „von
Professor Werner Sombart neuestens geforderten Unabhängigkeit der Sozialpolitik
von der Moral." Der Verfasser benutzt dabei Svmbarts Kritik der sogenannten
„ethischen Schule" der Herren Schmoller, Schönberg und Genossen ganz geschickt,
um beide, den Kritiker und die Ethiker, abzuthun, und wenn sich nicht überall der
jesuitische Pferdefuß bemerkbar machte, um alles zu verwirren und alles zu trüben,
so könnte man fast wieder einmal zur Hoffnung verleitet werden, daß die moderne
katholische Soziologie zu der so dringend erwünschten Klärung der sozialen und
sozialpolitischen Anschauungen etwas beizutragen die Absicht und das Zeug hätte.
Wir wolle» auf die berechtigte Kritik, die Waller an der doktrinären Übertreibung
Smnbarts wie an der selbstgefälligen Halbheit der „ethischen Schule" übt, hier
nicht eingehn; neu ist davon nichts, wenn auch die Zusammenstellung von Meinung
und Gegenmeinung, die geboten wird, ihren Wert hat. Aber wie Walter die
„Stellung der katholischen Sozialpolitik" und damit die der herrschenden Partei
im Deutschen Reiche und der ganzen Gefolgschaft derer vom Zeichen 8, >7. darzu¬
legen sich berufen hält, darüber werden einige kurze Mitteilungen nicht ohne Inter¬
esse sein.
Der Verfasser beruft sich zunächst ans das Urteil Sombarts selbst, daß unter
allen Auffassungen von dem Zusammenhange der Sozialpolitik und Ethik „wohl
am einheitlichsten und verhältnismäßig klarsten der Standpunkt der Katholisch-
Sozialen" sei, die ihren Ausgangspunkt von einem „unwandelbaren Naturrecht"
nähmen. Ans diesem wollten sie — sage Sombart — „zum mindesten die
Prinzipien jeder sozialen Ordnung, meist auch die Gestaltung der sozialen Ordnung
selbst ableiten/' Aber dieser Standpunkt sei trotz seiner Klarheit nicht wissenschaft¬
lich diskutierbar, denn das katholischerseits vertretne Nutnrrecht sei als ein „geoffen¬
bartes, göttliches" nnr durch den „Glauben" erreichbar. Diese irrige Ansicht stütze
Sombart auf folgende Äußerungen zweier bedeuteuder katholischer Sozialpvlitikcr.
des bekannten Freiherrn von Hertling und des Herrn Theodor Mayer 8. -1. Der erste
sage, eine Sozialpolitik, der die scharfe Orientierung an den unveränderlichen Grund¬
sätzen der Sittlichkeit und des Rechts fehle, werde unausweislich in die Irre gehn;
es sei darum die Anerkennung „eines in der Natur begründeten und darum ein
für allemal gegebnen und jedem Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung entrückten
Rechts die Grundlage einer höhern und zielbewußter Sozialpolitik." „Der Inhalt
des Naturrechts aber stamme ans dem göttlichen Weltenplan." Herr Theodor
Mayer 8, ^ aber führe unter anderen aus, es sei die soziale Frage nnr gedeihlich
zu lösen ans Grund „der von Gott gesetzten und gewollten sittlich-religiösen Welt-
ordnung."
Aus diesen Äußerungen allein folgere Sombart — sagt Walter —, „daß die
Katholisch-Sozialen um den Glauben appellieren müßten, um ihre Sozialpolitik auf
das Naturrecht zu basieren/' Wo der Glaube mangle, versage deshalb — nach
Sombart — die katholisch-soziale Theorie vollständig. Der Glaube aber um die
Göttlichkeit jener natürlichen Gesellschaftsordnung entkleide die katholische Doktrin
des wissenschaftlichen Charakters.
Und wie erklären nun Walter und seine Gesinnungsgenossen ihr Naturrecht
ohne Glauben? „Dieses Naturgesetz, sagt Walter wörtlich, umfaßt alles, was wir
durch das Licht unsrer Vernunft, gerade abgesehen von allem Positiv offenbarten
Gesetz, als unsre Pflicht erkennen." Mit der vernünftigen Natur des Menschen
sei auch zugleich als ihre notwendige Ausstattung das in ihr „grundgelegte Natur¬
gesetz" gegeben. Es sei nichts andres als die von der vernünftigen Natur unzer¬
trennliche Befähigung, das Gute vom Bösen zu unterscheiden und zugleich das Gute,
soweit es zur rechten Ordnung notwendig sei, als geboten, das Böse aber immer
c>is verboten zu erkennen. Wie die vernunftlosen Wesen durch blinde Kräfte und
Instinkte geleitet würden, so solle der Mensch sich durch vernünftige Erkenntnis
selbst leiten und bestimmen. Die Vernunft des Menschen, soweit sie dem freien
Willen als Leuchte zu dienen bestimmt sei, trage in sich „allgemeine, jedem ver¬
nünftigen Denker von selbst klare und evidente Prinzipien, mittels deren wir zu¬
nächst allgemeine praktische Urteile uns bilden könnten über das, was wir thun und
lassen sollen. Von diesen aus ließen sich durch logische Schlußfolgerungen auf dem
Wege des Syllogismus die besondern Normen des menschlichen Handelns deduzieren,
um sie auf die einzelnen Fälle anzuwenden. Der logische Denkprozeß, der zur
praktischen Verwertung der Prinzipien erforderlich sei, vollziehe sich, wenigstens
bezüglich der näher liegenden und einfachen Deduktionen, gewöhnlich leicht und
gleichsam unbewußt, sodaß die Ergebnisse häufig wie eine unmittelbare Anschauung
der gesunden Vernunft erschienen (nach Th, Mayer 8. >?,).
Aber, heißt es dann doch weiter: Es frage sich noch, „ob die in der Ver¬
minst sich vollziehende Promulgation des Naturgesetzes mit genügender Klarheit
erkennbar sei." Schon bei den zunächst aus den allgemeinen Prinzipien abgeleiteten,
den sogenannten sekundären Geboten, durch die das primärste Gesetz, das Gute zu thun
und das Böse zu meiden, seine Anwendung auf die verschiednen Gebiete der sittlichen
Ordnung, auf das Verhältnis zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst
finde, wäre eine „zeitweilige Unkenntnis aus selbstverschuldeten Ursachen" möglich;
desto mehr bei den entfernter» Ableitungen in Bezug auf die einzelnen Praktischen
Fälle des Lebens. Diesen immerhin vorhandnen Mängeln der bloßen Vernunst-
erkenntnis habe der „höchste Gesetzgeber" begegnen wollen „durch die im Dekalog
vollzogn? Positive Kundgebung seines Willens." Wir besäßen darin die „Kodifi¬
kation der genannten sekundären Schlußfolgerungen des natürlichen Sittengesetzes."
Den Nationalökonomen wird der Vorwurf gemacht, sie hielten den Dekalog
„nicht für ein göttliches Gesetz, sondern für ein rein menschliches Gesetzbuch" —
aber trotzdem behauptet der, der diesen Vorwurf macht, immer noch, es sei eine
„Ungeheuerlichkeit" zu sagen, die katholische Sozialpolitik könne den „Glauben" als
Brücke nicht entbehren.
Von klassischer Feinheit aber ist es in der That, wenn Walter — immer
unter Aufrechterhaltung, ja zur Unterstützung jener Ableugnung des Glaubens als
Basis der katholischen Sozialpolitik — fortfährt: „Das Naturrecht also, eingegraben
nicht in steinerne Tafeln, sondern in die Vernunft und vor Irrtum geschützt durch
die Kodifikation des Dekalogs, bildet die feste Basis der katholischen Svzialpolitiker,"
um dann ohne Unterbrechen und Besinnen also fortzufahren: „Hier knüpft dann
die im Christentum erfolgte positive Offenbarung an. Denn auch der Dekalog
genügt noch nicht allein zur Durchführung der Sozialreform. Nur das ganze und
volle Christentum kann das Gedeihen des sozialen Lebens ermöglichen. So not¬
wendig der Dekalog auch ist, und so viel auch erreicht wäre, wenn er durchgehends
heilig gehalten würde, er bietet der Sozialpolitik zunächst nur den festen Stand¬
punkt, und zwar den wissenschaftlich vvllbegrüudeten Standpunkt. Die höchste
Förderung erfährt diese aber für die Gesamtheit der ihr obliegenden Aufgaben in
der positiven Offenbarung des Christentums."
Was in aller Welt bleibt nun in Wirklichkeit den Katholisch-Sozialen von
ihrem festen Standpunkt, dem von jedem Glauben unabhängigen, nur in der Ver¬
nunft begründeten „Naturrecht" übrig? Was ist damit gewonnen, wenn man an¬
geblich nachweist, dieses Naturrecht setzte keinerlei Glauben an eine positive Offen-
barung voraus, und in demselben Atem ausspricht, ohne die positive Offenbarung
wisse man von diesem berühmte» Standpunkt aus in der Sozialpolitik oder über¬
haupt im sozialen und sittlichen Leben so gut wie nichts anzufangen? Sombarts
Übertreibung und der Ethiker selbstgefällige Halbheit wird sich dadurch wenig er¬
schüttert fühlen, aber der eigentliche, in Wahrheit feste Standpunkt der Katholisch-
Sozialen ist damit gerettet, der „feste, einwandfreie Standpunkt," zu dem Röscher,
wie Walter sagt, nicht gelangen konnte, weil der „Mangel einer durchgebildeten
natürlichen Ethik sowie einer unfehlbaren Schriftauslegung durch eine oberste
Autorität" ihn daran hinderte.
Das sind die beiden unzertrennlichen Voraussetzungen der katholischen Sozial¬
politik, und Walter selbst hat uns darüber keinen Zweifel gelassen, was die soge¬
nannte natürliche Ethik ohne die unfehlbare Schriftauslegung durch den jeweiligen
Papst in Rom bedeutet. Sie ist praktisch gar nichts, der Papst alles. Huoä »rat,
ciomonstrauäum.
Es ist mit kluger Berechnung die katholische Sozialpolitik in den Dienst des
Papismus gestellt worden. Die moderne Sozialpolitik, indem sie in ihrer Einseitig¬
keit der Gesamtheit im Übermaß die Erfüllung sittlicher Pflichten, die man dem
Einzelnen nicht zumuten zu dürfen glaubte, aufbürdete und damit zu einer weit¬
gehenden Verstaatlichung von Moral und Christentum führte, chüele dem Papismus
nur zu sehr die Wege zur Wiedereroberung des Erdreichs durch den ausschlag¬
gebenden Einfluß auf die Politik oder doch den bei weitem wesentlichsten Teil der
innern Politik aller Staaten. Eine sozialpolitische Bulle folgte auf die andre, und
wer wagt es wohl heute in der herrschenden Partei im Deutschen Reiche an einem
Satze, ja einem Worte dieser Bullen Kritik zu üben oder nur für zulässig zu
halten?
Scharf und bestimmt zielt die Päpstliche oder wie man, wenn etwas dauerndes
bezeichnet werden soll, besser sagt! die jesuitische Sozialpolitik ab auf die mittel¬
alterliche Gebundenheit und Unfreiheit des ganzen sozialen und wirtschaftlichen
Lebens, auf die soziale und wirtschaftliche Reaktion bis hinter die Reformation
zurück. Walter liefert auch dafür in seinem Buch den unzweideutigen Beweis;
aber er nicht allein, sondern die ganze stattliche Streitmacht der jesuitischen Sozial¬
politiker in ihrer gewaltig ins Kraut schießenden Litteratur.
Es widerstrebt uns, auf die vou ebenso großer Oberflächlichkeit wie Gehässig¬
keit zeugenden Angriffe des Verfassers gegen den Protestantismus, der grundsätzlich
die Sittlichkeit nicht nur in der Sozialpolitik, sondern, was viel schlimmer wäre,
im sozialen und wirtschaftlichen Leben der Völker vernichtet, nicht nur die Freiheit
des Individuums, sondern anch den Mißbrauch dieser Freiheit verschuldet und
damit zum soziale» Elend, zum übermütigen, schrankenlosen Egoismus der Einzelnen
und zur Proletarisieruug der Massen geführt habe, näher einzugehn. Es wider¬
strebt uus. diese Gehässigkeiten gebührend abzufertigen, schon weil wir auch die Ge¬
hässigkeit tief beklagen, die vou Protestanten gegen die katholische Kirche vielfach
geübt worden ist, und weil wir willig anerkennen, daß die deutscheu katholischen
Geistlichen auf die sittliche Pflichterfüllung des Einzelnen vortrefflich hingewirkt und
damit zum besten gesunder sozialer Verhältnisse sehr viel geleistet haben und leisten.
Aber was die Sozialpolitik betrifft, da mllsseu wir den» doch ganz nachdrücklich
gegen die päpstlichen und jesuitischen Rezepte und Weisheitsregeln protestiere».
Was die Päpste und die Jesuiten damit in Italien und uicht weniger in den
Ländern spanischer Zunge diesseits und jenseits des Ozeans angerichtet haben,
schreit zum Himmel. Wo ist die Proletarisieruug der Massen durch die rücksichts¬
lose Habsucht der Mächtigen schroffer und unheilbarer vollzogen worden als da,
wo der Papst und die Jesuiten unmittelbar die Politik machten, wo sie selbst re¬
gierten in ihrem Patrimonium?
Es ist sehr bemerkenswert, daß auch die deutscheu katholischen Sozialpolitiker,
seitdem man es in Rom für gut befunden hat, den Papst nicht nur, wie es feine
Pflicht ist, dafür sorgen zu lasse», daß innerhalb der katholischen Kirche die Menschen
zur Erfüllung ihrer individuellen sozialen Christenpflicht angehalten werden — immer
nachdrücklicher und fürsorglicher, je „komplizierter" das wirtschaftliche Leben wird —,
sondern ihn auch auf die Sozialpolitik der Völker den ausschlaggebenden Einfluß be¬
anspruchen zu lassen, daß diese Sozialpolitiker ersichtlich in reaktionäre Bahnen eingelenkt
haben, statt, wie früher, der verkehrten und übermäßigen Entmündigung und Fesse¬
lung der Individuen entgegenzutreten. Man braucht uur an den Unfall Hertlings
in der Zunftpolitik zu erinnern. Es scheint so, als ob man eine Zeit lang in
Staatssozialismus machen zu dürfen glaubt, weil mau die Herrschaft im Staat in
Händen zu haben glaubt. Jedenfalls sind wieder einmal die Jesuiten und die
Feudalen auch im Deutschen Reiche getreue Bundesgenossen in der radikalen Reaktion
in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, mögen die Herren von der 8. ^. auch vor¬
läufig noch etwas demagogische Arbeiterfrenndlichkeit für am Platze halten.
Wir denken nicht daran, der Kirche, weder der protestantischen noch der katho¬
lischen, das Recht zu bestreikn, sich um die Sozialpolitik zu kümmern, wo diese
in Widerspruch gerät mit dem in der Religion begründeten Sittengesetz. Aber
wie heute die Dinge liegen, hat die Kirche weniger als jemals Grund, Sozialpolitik
zu treiben, und noch weniger in ihr zu treiben und zu drängen. Heut ist die
Gefahr, daß über der Sozialpolitik die soziale Pflichterfüllung der Individuen ver-
gessen wird, die größte soziale Gefahr. Da hat die Kirche aller Konfessionen nicht
in Politik zu machen, sondern ihres eigentlichen, ihres höchsten und heiligsten Amts
zu walten, d. h. ster die Kräftigung und Wiederbelebung jenes sogenannten Natur¬
rechts in den Seelen der Menschen zu sorgen und für den Glauben an die Heilig¬
keit dieses Rechts auf der ganzen Linie den Kampf aufzunehmen, statt um diejenigen
Glaubenssätze zu Streite», die mit der Sittlichkeit und der Nächstenliebe gar nichts
zu thun haben, aber unsre Bekenntnisschriften von Anfang bis zu Ende ausfüllen.
Die soziale Aufgabe der Kirche ist vor allem eine ethische und nur ausnahmsweise
eine politische. Dr, Walter hätte gut gethan, als obersten Grundsatz seiner Arbeit
die von ihm leider nur ganz beiläufig zitierten Ausführungen seines Glaubens¬
genossen Pater Cathrein anzuerkennen, in der es heißt: „Die Sittlichkeit oder das
Ethos ist etwas wesentlich Individuelles, Persönliches, oder mit andern Wortein
der eigentliche und »»mittelbare Träger der Sittlichkeit kann nicht die Gesellschaft,
fondern nur die Einzelpersönlichkeit sein. ... Es ist deshalb die Verschiebung des
Sittlichen vom Gebiete des Individuums aus das der Gesellschaft, die Erweiterung
der Jndividualethik zur Sozialethik, deren sich neuere Schriftsteller als eines gro߬
artigen Fortschritts rühme», eine gänzliche Verkemmug des wahren Charakters der
Sittlichkeit."
Dieses goldne Wort des Pater Cathrein wollen wir nicht vergessen angesichts
der Thatsache, daß der Jesuitismus schon durch die Pforte der katholischen Sozial¬
politik seinen Einzug ins Deutsche Reich gehalten hat. Ob man jetzt auch uoch
die Jesuiten körperlich einziehen läßt, ist herzlich gleichgiltig. Vielleicht wird gerade
die Beseitigung ihres Mcirtyrertums und der unmittelbare Augenschein die guten
Patrioten der herrschende» Partei am besten darüber aufklären, wie schlecht sich
Patriotismus und Jesuitismus vertragen. Vielleicht wird die Rückkehr der Jesuiten
ins Deutsche Reich der Anfang vom Eude ihrer Herrschaft über die herrschende
Partei im Reiche sein. Der deutsche Protestantismus, der auf dem Boden evan¬
gelischer Freiheit fußt, hat die Jesuiten uicht zu fürchten, und die protestantische
Orthodoxie hat kein Recht und keine Fähigkeit zum Fortbestehen neben dem Katho¬
lizismus.
riedrichsruh! welcher Klang liegt in diesem schlichten Namen!
Wie die muhammedanischen Gläubigen sehnsüchtig nach der
heiligen Stadt scheinen, so wenden sich die Herzen aller Patrioten
dem stillen Ort im Sachsenwalde zu, wo er, der größte Deutsche,
seine letzten Lebensjahre xroeul negotüs verbrachte! Das kleine
Walddörfchen mit seinem unscheinbaren Herrenhause war zu einem deutschen
Mekka geworden, und fernher aus allen Gauen des Reichs strömten die
Menschen herbei, um den Mann zu sehen, der uns das Reich gewonnen hatte.
Hier Sachsen, hier Bayern, hier Schwaben! so hieß es, wenn der greise Fürst,
freundlich mit seinem Schlapphut grüßend, durch die Reihen der vor dem Park¬
thor Wartenden schritt; und glücklich fühlte sich, wer ihm die Hand drücken
konnte, noch glücklicher aber alle, die als seine Güste tagelang mit ihm ver¬
kehren durften. Wer den Fürsten Bismarck nur nach seinem äußern Auftreten
beurteilen will, hat kein rechtes Bild von ihm, denn der Mann, der sich mit
ehernen Schritten rücksichtslos seinen Weg über die Weltbllhne bahnte, macht
den Eindruck eines eisernen Helden, mit vielem Verstand und weniger Herz.
Der wirkliche Bismarck hatte mich ein treuherziges deutsches Gemüt; aber Herz
und Gemüt haben mit der Politik nichts zu thun, und ein richtiges Bild kann
daher nur der von ihm haben, der ihn in seiner einfachen Häuslichkeit als
Privatmann kennen lernte. Nach dem Tode des Fürsten habe ich meine Er¬
lebnisse in Friedrichsruh niedergeschrieben, und wenn ich mich jetzt beim Durch-
lesen dieser Zeilen noch einmal' in die glückliche Zeit jener Besuche zurückver¬
setze, dann thut es mir fast weh. daß ich meine Erinnerungen der Öffentlichkeit
Preisgeben soll. Aber das deutsche Volk hat ein Anrecht darauf, von seinem
Bismarck zu hören und ihn so kennen zu lernen, wie er wirklich gewesen ist;
darum mögen denn auch meine einfachen Schilderungen hier einen Platz finden.
Im Herbst 1891 hatte mich Lothar Bucher nach Friedrichsruh eingeladen,
mit dem Bemerken, daß er mich in die fürstliche Familie einführen wolle; als
ich ihm daher während eines Berliner Aufenthalts im Winter von dort aus
schrieb, antwortete er umgehend, der Fürst freue sich, mich kennen zu lernen,
und ich möchte sobald als möglich kommen. Am 23. Januar 1892 nach¬
mittags traf ich in Friedrichsruh ein, schickte meine Karte in das Schloß und
wurde von Bucher sogleich in Empfang genommen, der nur bedauerte, daß ich
nicht eine Stunde früher gekommen sei, sodaß ich noch an dem gemeinschaft¬
lichen Frühstück der Familie hätte teilnehmen können; der Fürst habe übrigens
die Erwartung ausgesprochen, daß ich nicht nur für den einen Tag sein Gast
sein würde, und freue sich, mich noch vor dem Diner zu begrüßen. Der alte
Geheimrat war so heiter, wie ich ihn lange nicht gesehen hatte, und äußerte
wiederholt seine Freude, mich in Friedrichsruh zu haben; wir hatten mancher¬
lei zu besprechen, aber gegen ^4 Uhr erhob er sich und bat, ihn für eine
Stunde zu entschuldigen, da er jeden Nachmittag an der Ausfahrt des Fürsten
teilnehme, der auf seine Begleitung besondres Gewicht lege, weil sie sich während
der Fahrt am ungestörtesten über politische Tagesneuigkeiten aussprechen könnten.
Ich beobachtete also vom Fenster meines im ersten Stock gelegnen Gastzimmers
die Abfahrt der Herrschaften, mit Spannung und nicht ohne Herzklopfen, denn
ich sollte zum erstenmal den Fürsten Bismarck sehen. Es war ein herrlicher
Wintertag; stiller Friede lag über der Landschaft, Wald und Flur waren in
eine dichte Schneedecke gehüllt, und weithin glänzten die Bäume des Sachsen¬
waldes in ihrer winterlichen Pracht. Vor dem Portal des Hauses — Schloß
kann man es nicht nennen — hielt ein pommerscher Strohschlitten, mit plumpen,
langen Holzkufen und Brettersitzen, die mit zwei Kissen belegt waren; dann
erschien die gewaltige Gestalt des Fürsten Bismarck, der in seinem großen Pelz¬
mantel noch riesenhafter aussah, in Begleitung des Geheimrath, und nachdem
beide Platz genommen hatten, entfernte sich der Schlitten in schneller Fahrt
dem Sachsenwalde zu. Als ich später mein Erstaunen über das einfache Ge¬
fährt des Fürsten ausdrückte, sagte mir Bucher lachend: „Ja, der Fürst be¬
hauptet immer, die alten pommerschen Strohschlitten schlickerten am besten;
im Schuppen finden Sie kostbare Fuhrwerke aller Art, aber er benutzt sie uicht,
die einfachsten und bequemsten sind ihm die liebsten." Für die Zeit seiner
Abwesenheit hatte er mich mit einer interessanten Lektüre versehen, in der auch
Fürst Bismarck eifrig gelesen haben mußte, denn fast auf jeder Seite fanden
sich von seiner Hemd zahlreiche Randbemerkungen. Es handelte sich um die
sogenannte Bvrussenbroschüre, und bei dem Satz: „auch Fürst Bismarck
mußte nach Kanossa gehen," las ich die mit riesengroßer Schrift geschriebnen
Worte: „Jawohl! aber nur wegen Desertion der Liberalen." Die Schlitten¬
fahrt hatte 1^ Stunden gedauert, Bucher kam dann gleich auf mein Zimmer
und sagte mir, daß der Fürst sehr gut aufgelegt und gesprächig sei. „Zeigen
Sie sich ihm gegenüber uur ganz unbefangen und sprechen Sie frisch von der
Leber weg, nur unterbrechen Sie ihn nicht, wenn er eine Geschichte erzählt,
denn das kann er nicht vertragen." Gegen sechs Uhr betraten wir das an
den Speisesaal anstoßende Empfangszimmer, wo anßer uns noch zwei Herren
warteten, die aus der Nachbarschaft zum Diner geladen waren. Gleich darauf
erschien der Fürst, und niemals vergesse ich den ersten Eindruck dieses an
Körper und Geist so gewaltigen Mannes. Die ganze weit über das Mittel¬
maß emporragende Gestalt stramm aufgerichtet, den Kopf leicht vorgestreckt, so
sah ich ihn in Begleitung seiner beiden Hunde, Tiras nndMebeklu, in die
Thür des Nebenzimmers treten und mit kurzen, gewichtigen Schritten auf uns
zukommen. Er drückte jedem von uns die Hand und sah dann mich, den er
noch nicht kannte, einen Augenblick prüfend an, als wollte er mir in der Seele
lesen, wes Geistes Kind er vor sich habe. Meine vielleicht nicht ganz gewandte
Bemerkung, daß ich glücklich sei, jetzt den großen Kanzler sehen zu dürfen, den
ich früher trotz aller Mühe niemals zu Gesicht bekommen Hütte, wehrte er gut¬
mütig lächelnd mit dem Worten ab: „Nun, da haben Sie ja noch nichts ver¬
säumt, ich stehe Ihnen jetzt gern zu Diensten, und als mein Gast können Sie
mich betrachten, soviel Sie wünschen." Als wir uns zu Tisch gesetzt hatten,
wandte er sich gleich an mich, mit der Frage: „Sagen Sie einmal, gehören
Sie auch zu den groben Ärzten?" Auf meine Antwort, daß ich das nicht
wüßte, daß aber nach meiner Ansicht die groben Ärzte die bessern wären, sagte
er lebhaft: „Ja, da haben Sie Recht, ich habe auch immer mehr Vertrauen,
wenn mir jemand mit einer gewissen ehrlichen Derbheit als mit zu kriechender
Höflichkeit entgegenkommt." Die Fürstin bemerkt, daß man sich über allzu¬
große Höflichkeit ihres Arztes nicht beklagen könne, und erzählt eine Geschichte,
die an der Tafelrunde stürmische Heiterkeit hervorruft. „Ja, sagt der Fürst,
wenn einem von uns etwas fehlt, dann heißt es immer zuerst: Er hat sich
verfressen!" DaS Menü war reichhaltig, und abends, als sich die Gäste
der Nachbarschaft verabschiedet hatten, nahm die Hausfrau Gelegenheit, mir
gegenüber folgendes zu äußern: „Glauben Sie nicht, daß wir immer so opu¬
lent leben wie heute, aber einer der Herren ist ein reicher Junggesell, der sich
einen Weinkeller und eine Tafel hält, gegen die wir nur mit besondern An¬
strengungen konkurrieren können." Nach der Suppe gab es einen gebacknen
Fisch, und der Fürst, der mit großem Appetit davon speist, erkundigt sich nach
seinem Namen; als er hört, daß es eine Goldbutte sei, sagt er: „Der Fisch
ist wohlschmeckend, und soviel ich weiß, noch ziemlich preiswert, überhaupt
werden ja die Fische noch lange nicht nach ihrem wahren Wert gewürdigt."
Die Fürstin bejaht das und äußert, daß der Kaviar jetzt enorm im Preise
gestiegen sei, worauf ihr der Hausherr trocken erwidert: „Nun dann essen wir
keinen." Er erzählt dann folgende Geschichte: „Während ich in Petersburg als
Gesandter lebte, war dort einmal eine besonders kostbare Sendung Kaviar ein-
getroffen, wovon ich gleich ein Pud kaufte, um ihn meinem alten Herrn als
Präsent zu schicken. Als ich mich später in Berlin erkundigte, ob die Sen¬
dung richtig eingetroffen war, da erfuhr ich denn, daß mein alter Herr von
diesem guten Kaviar überhaupt nichts bekommen habe, den hatte die Hofgesell¬
schaft allein aufgefressen." Auf die Bemerkung eines Herrn, ob denn so etwas
möglich sei, antwortete der Fürst, lebhaft mit den Händen winkend: „O noch
viel mehr!"
Während des Diners liegen die Hunde Tircis und Rebekka zu beiden
Seiten hart neben dem Stuhl des Hausherrn, der ihnen von Zeit zu Zeit
einen Bissen zuwirft. Tiras bekommt dabei infolge seiner Trägheit und Un-
beholfenheit wenig ab, während die behende Rebekka, bekanntlich eine Tochter
des ersten Tiras, des eigentlichen Neichshundes, durch elegante Luftsprünge
fast alle Bissen auffängt. Das veranlaßt den Fürsten zu der folgenden schon
bekannten Erzählung, die ich hier nochmals mit allen den köstlichen drastischen
Bemerkungen wiedergeben möchte, die ich bei andern Erzählern vermisse: „Der
Tiras ist mir als Geschenk meines alten Herr» lieb und wert, aber seinem
Vorgänger gleicht er wenig. Als mir der ältere Tiras infolge eines Unglücks-
falles eingegangen war, beauftragte mein kaiserlicher Herr den Staatsminister
von B. einen ganz gleichen Hund zu besorgen, den er mir zum Geburtstag
schenken wollte. Herr von B. verstand zwar gar nichts von Hunden, aber
mit dem ihm eigne» Selbstvertrauen übernahm er den Auftrag und führte
eines Tages dem Kaiser diesen Tiras vor, obwohl er damals am ganzen
Körper mit Schwären bedeckt war und — wie mir später erzählt wurde —
vor Schwäche sein Hinterteil gar nicht vom Erdboden erheben konnte. Der
alte Herr verstand auch nichts davon, aber nachdem er das Tier von allen
Seiten mit seiner Lorgnette betrachtet hatte, erklärte er kopfschüttelnd: »Nein,
so können wir dem Fürsten den Hund nicht bringen, der ist ja krank und muß
erst kuriert werden!« Nachdem mein alter Herr schon 900 Mark für das
kranke Geschöpf bezahlt hatte, mußten für eine dreimonatige Pflege beim Tier¬
arzt noch einmal 600 Mark geblecht werden, sodciß also das kaiserliche Geschenk
schon 1500 Mark kostete. Als es mir nun durch einen Hofbeamten zum Ge¬
burtstag überbracht wurde, war ich zuerst ganz erstaunt über den zwar gut
herausgefütterten, aber noch immer kreuzlahmen Hund, und je länger ich ihn
betrachtete, um so mehr mußte ich lachen, und es kam mir der Gedanke: Du
möchtest wohl wissen, woher der Hund eigentlich stammt. Ich konnte nur er¬
fahren, daß er ans einer größern Handlung bezogen war; wo die ihn aber
her hatten, habe ich trotz aller Mühe und der mir zu Gebote stehenden Mittel
niemals herausbringen können, ich nehme also an, daß er gestohlen war. Na
Tiras — sagte er darauf, den Hund streichelnd —, du kannst ja nichts dafür,
daß du einen solchen Kalbskopf hast und wahrscheinlich beim Stehlen lahm-
gcprügelt worden bist; als Geschenk meines kaiserlichen Herrn habe ich dich
doch lieb."
Gerade in jenen Tagen hielt sich der Kaiser in Kiel auf, und einer der
anwesenden Gäste erzählte, daß in dieser Nacht die Rückreise über Hamburg-
Friedrichsrnh erfolgen würde, und daß eine sorgfältige Überwachung der Bahn¬
höfe angeordnet sei. Die Fürstin unterbricht diese Mitteilungen mit den Worten:
„Majestät wird uns doch nicht alarmieren?" worauf der Fürst unter großer
Heiterkeit bemerkte: „Uns Wohl nicht! Ich halte übrigens die Bewachung der
Bahnhöfe — so fuhr er fort — für durchaus überflüssig, denn wer sollte jetzt
dem jungen Kaiser etwas thun wollen; wenn man ihm aber etwas anhaben
will, dann kann das bischen Wache auf den Bahnhöfen auch nichts nützen."
Einer der Herren zog einen Vergleich zwischen den russischen und unsern
deutschen Zuständen und wies darauf hiu, daß die Kaiserin von Nußland aus
fortwährender Angst schwer leidend sei, und daß auch ihr Gemahl immer in
Sorgen leben müsse. „Glauben Sie ja nicht, daß der Zar vor lauter Angst ver¬
düstert ist, wenigstens habe ich ihm niemals etwas angemerkt, sagte darauf der
Fürst; man gewöhnt sich leicht an Gefahren aller Art, und schließlich denkt
man gar nicht mehr daran. Im Beginn meiner Ministerlaufbcchu, da hatte
ich allerdings immer so unangenehme Empfindungen, und an jeder Straßenecke
dachte ich: »Jetzt werden sie dir eins ausbrennen!« Sie sind ja Jäger, wandte
er sich zu mir, und wisse:,, wie scheu der Feisthirsch ist, wie er jede Blöße
meidet und immer wieder sichert; nun so bin ich damals auch an allen Gassen
vorbcigeschlichen und habe mich immer gewundert, wenn ich heilbcinig zu Hause
war. Später dachte ich an keine Gefahr mehr, ich war vollständig abgestumpft
und weiß nur, daß es mir zuerst sehr komisch vorkam, als die Menschen an¬
fingen, mich achtungsvoll zu grüßen." — „Ja, Ottchen, bemerkte die Fürstin
— sie redete den eisernen Kanzler immer nur „Ottchen" an und nannte ihn
„Bismarck," wenn sie von ihm, als dritter Person, irgend etwas erzählte —,
ich war aber damals immer halbtot vor Angst und habe manche Nacht deinet¬
wegen nicht schlafen können!"
Ich erwähnte schon, daß die Speisekarte aus Rücksicht aus einen ver¬
wöhnten Gast sehr mannigfaltig war; der Fürst speiste mit gutem Appetit und
trank dazu französischen Sekt, den er durch Beimischung von Aßmannshüuser
Mousseux möglichst herb zu macheu suchte. Als eine nur auf der einen Seite
vorgeschnittne pommersche Gänsebrust serviert wurde, schnitt er sich von der
ganzen Brust ein großes Stück ab, mit dem Bemerken, daß er auf kleine
homöopathische Dose» leider nicht eingerichtet sei. Als letzten Gang gab es
gebrattie Waldschnepfen, die durch einen Verehrer des großen Kanzlers von
der Insel Chpern ausgenommen und in einem Schlauch voll Cyperwein ge¬
schickt waren. Der Fürst kostete davon, verzog aber den Mund und behauptete,
sie schmeckten nach Medizin, worauf die Hausfrau bemerkte, sie würde die
Schnepfen nicht vorgesetzt haben, aber vormittags sei eine zur Probe gebraten
worden, und da habe sie den gerade vorbeigehenden Oberförster Lange kosten
lassen, der den Rraten als vorzüglich befunden hätte. „Na, sagte der Fürst.
wie er da nach Hause gekommen ist, hat er sicher gleich gesagt: »Frau, gieb
mal schnell eine Tasse Kaffee her, ich habe im Schlosse wieder ein Zeug fressen
müssen und kann den Geschmack nicht wieder los werden.«"
Der Kammerdiener kommt mit einem großen Bogen, der Fürst setzt sich
den Klemmer auf und sagt: „Meine Herren, wir sind heute unter uns und
können uns daher einen Extrawein leisten; ich werde vorlesen, was an be¬
sondern Sorten in meinem Keller liegt, und bitte, daß jeder der Herren un¬
geniert sagt, was er trinken möchte." Beim Vorlesen eines mehr als hundert¬
jährigen Boxbeutel macht er eine Pause, worauf Bucher bemerkt, daß seines
Wissens dies der beste und bekömmlichste alte Wein im Keller sei; der Bvx-
beutel wird also gebracht, und wir bleiben noch länger an der Tafel sitzen,
wahrend Fürst Vismarck in der ihm eignen bezaubernden Weise weiter plaudert.
Er kommt auf die damals in Preußen eingeführte Selbsteinschätzung zu sprechen
und äußert folgendes: „Dieser Arbeit habe ich mich selbst unterzogen, und
zwar schätzte ich mich höher ein, als meinem Einkommen entspricht, damit mir
nicht gute Freunde etwas am Zeuge flicken könnten; ich lasse jetzt sogar fest¬
stellen, wieviel Holz jährlich in meinem Haushalt verbrannt wird, um den
richtigen Wert desselben angeben zu können." Dann spricht er lange über
Waldkultur und bedauert, daß eine hart an der Straße stehende uralte Eiche
fallen müßte, weil sie nach Aussage seiner Beamten den Verkehr gefährde; er
kenne jeden Baum in seinen Wäldern, und es sei ihm immer schmerzlich, wenn
so ein alter Waldriese gefällt würde; übrigens habe er auch Befehl gegeben,
den Versuch zu machen, ob betreffende gänzlich hohle Eiche nicht durch inneres
Auszemeutieren noch einige Jahre erhalten werden könnte.
Gegen neun Uhr erheben wir uns von der Tafel und gehn in das
Zimmer der Fürstin, wo Kaffee und Cigarren gereicht werden. Der Fürst
brennt sich seine lange Pfeife an und macht es sich bequem, indem er, auf
einem Sessel sitzend, seine Füße auf eine mit Kissen bedeckte Fußbank legt.
Die Gäste aus der Nachbarschaft empfehlen sich bald, und das fürstliche Paar,
Bücher und ich bleibe» allein. Der Fürst hat zu den Zeitungen gegriffen und
passt mächtige Rauchwolken vor sich hin, indem er von Zeit zu Zeit mit dem
stumpfen Ende seines großen Bleistifts in den Pfeifenkopf führt; auch Bucher
und ich rauchen, sodaß das nicht große Zimmer bald in einen dichten Qualm
gehüllt ist. Der Geheimrat sitzt mit geschlossenen Angen auf dem Sofa, indem
er immerfort seine gichtischen Hände streichelt; die Fürstin hat vor sich auf
dem Tisch eine Spirituslampe und unterhält sich eifrig mit mir. Sie erzählt
von ihrer überstürzten Abreise aus Berlin, und daß nichts hätte richtig ver¬
packt werden können; das Gesuch um einige Tage Aufschub sei abschläglich
beschieden worden, mit der Motivierung, daß der Nachfolger die Wohnung
gleich benutzen müsse. Auf meine Frage nach dem Zweck der dicht vor ihrem
Gesicht aufgestellten Lampe sagt sie mir: „Sehen Sie, ich möchte doch gern
hören, was die Herren sich erzählen, aber ich kann den Rauch nicht vertragen,
wodurch meine asthmatischen Beschwerden schlimmer werden; da habe ich mir
denn diese Spirituslampe konstruieren lassen, die dicht vor meiner Nase auf¬
gestellt wird und mit ihren vielen Flammen dafür sorgt, daß wenigstens in
meiner nächsten Nachbarschaft der Tabaksgeruch weniger bemerkbar wird."
Der Fürst legt jetzt die Zeitungen beiseite und plaudert über Zollgesetzc,
Schulvorlage und schließlich auch wieder über die Hofgesellschaft, die immer
gegen ihn feindselig gewesen sei; das Schulgesetz kann nicht durchgehn, und
Zedlitz wird fallen. Ich sitze dicht vor ihm und höre zu, wie er, mit der
Pfeife in der Hand leicht gestikulierend, die Tagesfragen bespricht; er sieht
mich dabei immer scharf an, und ich habe das Gefühl, daß ich der Welt¬
geschichte in das Auge sehe. Die Fürstin ist vor ihrer Spirituslampe einge¬
schlafen; Bucher reibt sich noch immer seine Hände, aber hin und wieder wirft
er eine Bemerkung dazwischen, ohne die Augen zu offnen. Wie er mir ge¬
legentlich sagte, hört und arbeitet er in seinem Kopf am schärfsten, wenn die
Sehthätigkeit ausgeschaltet ist. Als der Fürst einmal eine Pause macht, be¬
merkt Bucher: „Gittermann ist mit einem Herrn von T befreundet," worauf
Fürst Bismarck dieses Thema wieder aufgreift und folgendes sagt: „Ich kenne
auch die ganze Familie ziemlich gut, und wenn Ihr Freund ein echter Sohn
derselben ist, dann muß er tüchtig kneipen können, denn sie saufen alle.
Während der Zeit des Erfurter Parlaments hatten wir unter unsrer konser¬
vativen Fraktion auch zwei Vettern dieses Namens, die aber niemals an den
Sitzungen teilnahmen, sondern immer in einem bestimmten Nestaurativnslotal
zu finden waren, wo sie Sekt soffen. Hatten wir ihre Stimmen nötig, dann
mußten wir sie von unserm Fraktionsdiener jedesmal abholen lassen, und da
kam es dann freilich vor, daß die Herren kaum noch ihre Pflicht thun konnten,
wenn sie mit Hilfe einiger handfester Packträger in den Sitzungssaal geschoben
waren. Ja, mit dem Trinken ist es solche Sache! Von meinem Großvater
— sehen Sie, das große Bild dort an der Wand, der alte Herr, der so wohl
und rosig aussieht — weiß ich auch, daß er furchtbar viel Rheinwein trinken
konnte. Nun passiert es mir seit einiger Zeit, daß mir die Augen so laufen,
und wenn ich in die frische Luft komme, dann muß ich immerfort mit dem
Taschentuch wischen. Ich weiß nicht, sind es manchmal wirkliche Thränen,
oder ist es mir Schwäche; aber wenn ich so recht von dem Übel geplagt werde,
dann muß ich immer an das alte Bibelwort denken, daß die Sünden der
Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied heimgesucht werden
sollen, und dann sage ich mir: Bismarck, das ist der Rheinwein, den dein
Großvater zuviel getrunken hat, der läuft jetzt dem Enkel zur Strafe aus den
Augen."
Nach elf Uhr erhebt sich Bücher und fordert mich ans, mit zu Bett zu
gehn, da der Fürst sich hinlegen müsse; dieser protestiert heftig dagegen, indem
er sagt: „Nein, noch nicht, ich bin heute bei Stimmung, mich noch weiter zu
unterhalten; Bucher will auch nur auf sein Zimmer, um dort wieder die halbe
Nacht zu arbeite», aber das soll er nicht." Der Geheimrat setzt sich also ge¬
lassen wieder auf sein Sofa; die Fürstin, die auch den Kopf erhoben hatte,
schlummert vor ihrer Spirituslampe weiter, und der Fürst führt sort über
alle möglichen Dinge zu plaudern. Die Handelsverträge bringen ihn auf
Österreich, dessen wirtschaftliche Verhältnisse er ungünstig beurteilt; schließlich
kommt er auf Rußland zu sprechen, das er ja aus eigner Erfahrung genügend
kennen gelernt hatte. Außer einigen pikanten Anekdoten über den Fürsten
Gortschakow erzählte er auch die in seinen Erinnerungen wiedergegebne Ge¬
schichte von dem Hirschtalg, der längere Zeit hindurch jährlich mit einem Pud
(etwa 33 Pfund) von der Kaiserlich russischen Hofküche in Rechnung gebracht
wurde, nachdem sich zu Zeiten Kaiser Nikolaus I. der damalige Prinz Wilhelm
von Preußen einmal ein erbsengroßes Stück zum Einreiben einer durchgerittncn
Hautstelle hatte geben lassen. Es mochte fast zwölf Uhr sein, als mir der
Geheimrat zuflüsterte: „Wenn wir ihn jetzt nicht in das Bett kriegen, dann
schläft er überhaupt nicht." Ich stand also trotz nochmaligen Widerspruchs
auf, um mich zu verabschieden, da ich am andern Morgen mit dem Schnell¬
zug abreisen müßte. Der Fürst gab Befehl, auf dem Bahnhof Bescheid zu
sagen, daß der Schnellzug angehalten würde. „Sehen Sie, sagte er dann mit
liebenswürdigem Lächeln, soviel von meiner frühern Macht hat man mir noch
gelassen, daß ich für meine Gäste die sonst hier dnrchfahrendcn Züge halten
lassen darf; vergessen Sie auch nicht, sich eine Flasche Wein mitzunehmen, ich
bin ein erfahrner Reisender und kann Ihnen sagen, daß es unterwegs nichts
besseres giebt als einen guten Trunk."
An diesem Abend dachte ich nicht an Schlafen, und da auch Bucher keine
Müdigkeit fühlte, so gingen wir auf sein Zimmer, um uus noch weiter zu
unterhalten. Der alte Herr war wieder sehr lebhaft und sagte, daß er den
Fürsten lange nicht so gut aufgelegt gesehen habe, wie diesen Abend. Auf
meine Frage nach dem Grund seiner eignen Schweigsamkeit antwortete er: „Ich
wollte nicht dazwischen reden, Sie sollten ihn allein genießen." Auf dem
Schreibtisch des gemütlichen und ganz für die Bequemlichkeit eingerichteten
Zimmers lagen ungeheure Aktenstöße, die mich veranlaßten, den Geheimrat zu
ernähren, er möge nicht zu viel arbeiten. Dadurch kamen wir auf seine
Thätigkeit überhaupt zu sprechen, und während er sonst jede Unterhaltung
über die sogenannten Bismarckischen Memoiren kurz abgebrochen hatte, erzählte
er mir an diesem Abend alles nähere über die Entstehung dieses Werks und
die Art und Weise der Bearbeitung. Was ich darüber erfahren habe, will ich
hier kurz folgen lassen, weil es vielleicht nach dem Erscheinen der „Gedanken
und Erinnerungen" für viele von Interesse sein wird.
Als sich im März 1890 die Krisis immer mehr zugespitzt hatte, bat der
Kanzler den schon seit vier Jahren im Ruhestand lebenden Bucher zu sich, um
mit ihm über die Lage zu beraten. Dieser riet sofortige Einreichung des Ent¬
lassungsgesuchs, und — wenn ich recht verstanden habe — er ist auch bei Ab¬
fassung dieses Schriftstücks mit behilflich gewesen.
Als der Fürst dann dauernd nach Friedrichsruh übersiedelte, wurde Bucher
eingeladen, als ständiger Gast dort Wohnung zu nehmen. Die Absicht, Er¬
innerungen zu schreiben, bestand damals noch nicht, und der Geheimrat ver¬
sicherte mir wiederholt, daß er nur nach Friedrichsruh eingeladen sei, um dem
Kanzler über die erste besonders empfindliche Zeit der Unthätigkeit hinweg¬
zuhelfen. Aber ein Mann wie Bucher konnte nicht ohne Arbeit sein, er machte
sich also darüber her, die vielen politischen Briefe und in Privatbesitz ver-
blichnen Aktenstücke zu ordnen. Je mehr er sich in diese Arbeit vertiefte,
umso größer wurde sein Interesse, und schließlich schlug er dem Fürsten vor,
der Welt ein gewissermaßen politisches Testament zu hinterlassen und Er¬
innerungen zu schreiben. Leicht ist es ihm nicht geworden, den Kanzler für
seinen Plan zu gewinnen, besonders da er auch den Widerstand einzelner
Familienmitglieder zu überwinden hatte, denen der Gedanke daran zuerst gar
nicht sympathisch war. Aber eine zähe Natur wie Lothar Bücher ließ sich
nicht so leicht zurückschrecken, und nachdem es ihm erst gelungen war, den
Fürsten für die Arbeit zu interessieren, wußte er ihn auch dabei festzuhalten.
Fast in derselben Weise wie früher zur Zeit der Amtsthätigkeit verlief auch
die letzte gemeinsame Arbeit der beiden Männer. Nachdem man sich durch
gegenseitige Aussprache über den allgemeinen Inhalt eines Kapitels verständigt
hatte, brachte der Geheimrat die Plaudereien seines Meisters stenographisch
auf das Papier, um spüler auf seinem Zimmer die vorhandnen Briefe und
Aktenstücke damit zu vergleichen; dann schrieb er den Abschnitt in druckreifer
Form nieder und übergab ihn nochmals dem Fürsten zur Durchsicht, bevor
Chryscmder oder ein andrer Herr die endgiltige Reinschrift besorgen durfte.
Geheimrat Bucher war die treibende Kraft, und ich hörte ihn nur darüber
klagen, daß die Arbeit nicht schnell genug fortschreite, und daß es manchmal
schwer sei, bei einem bestimmten Punkt die Gedanken des Fürsten festzuhalten,
der sich immer mit ihm lieber über die politischen Tagesneuigkeiten als über
die Vergangenheit unterhalten wollte. Dadurch kam es auch hin und wieder
zu kleinen sachlichen Streitigkeiten, die nicht selten damit endigten, daß der
Geheimrat seine Koffer packte und abreiste. Lange hielt es aber der Kanzler
ohne Bucher, der ihm jetzt ganz unentbehrlich geworden war, nicht aus; die
Mitteilung, daß er gern wieder mit ihm arbeiten wolle, oder daß sich neue
wertvolle Materialien vorgefunden hätten, war dann immer ausreichend, ihn
schnell wieder nach Friedrichsruh zurückzuführen.
Bucher liebte nichts weniger als den Aufenthalt in Varzin, dessen feuchtes
Herrenhaus er für die Entstehung seines gichtischen Leidens verantwortlich
machte. Ich besitze aber einen Brief von ihm, worin es heißt: „Soeben bin
ich im Begriff, eiligst nach Varzin abzureisen, nachdem man mir gemeldet hat,
daß dort eine große Kiste Briefe gefunden worden ist." Aus alledem geht
hervor, daß Lothar Buchers Verdienst um das Zustandekommen des Bis-
marckschen Werkes nicht gering ist; ja man darf sagen, daß es ohne ihn über¬
haupt nicht möglich gewesen sein würde!*)
Der wichtigste Teil, der die Zeit vom Regierungsantritt des jetzigen
Kaisers bis zur Entlassung des Fürsten behandelt, wurde zuerst bearbeitet
und war schon im Herbst 1891 mit 1800 engbeschriebnen Bogen vollständig
druckreif. Bucher nannte mir gegenüber diese Arbeit „ein streng historisches,
in sich abgeschlossenes Werk," das die Geschichte jener zwei denkwürdigen Jahre
ausführlich behandelt. Er war nicht ohne Sorge über ihr Schicksal und
sprach wiederholt die Befürchtung aus, daß sich möglicherweise Einflüsse gegen
die Veröffentlichung geltend machen könnten, und dann würden ihm seine
letzten Lebensjahre leid thun, die er geopfert hätte. Weniger Bedeutung legte
er den jetzt schon erschienenen Erinnerungen bei; noch einige Wochen vor seinem
Tode erzählte er mir, daß die zuletzt in Angriff genommene Arbeit nur aus
lose aneinander gereihten und im Plauderton geschriebnen Kapiteln bestünde.
Ohne diese ganz vollenden zu können, hatte er im Frühjahr 1892 Fnedrichsruh
für immer verlassen, nachdem infolge übermäßiger Anstrengung in seinem
Zustand eine bedenkliche Wendung eingetreten war. Fürst Bismarck sagte
mir später einmal, mit Thränen im Auge: „Bucher macht es wie das Edel¬
wild, als er den Tod kommen fühlte, sonderte er sich ab vom Rudel."
(Schluß folgt)
er deutsche Reichstag und der preußische Landtag sind fast gleich¬
zeitig in neue Legislaturperioden eingetreten. Als seiner Zeit die
Reichstagswahlen und die Wahlen zum preußischen Abgeordneten¬
hause vor der Thür standen, wurden verschiednen Parteien von
verschiedenster Seite Wahlniederlagen oder doch wesentliche Ver¬
ringerung ihrer Mitglieder prophezeit. Beide gesetzgebende Körperschaften sind
in der Hauptsache unverändert geblieben. Weder hat der Bund der Landwirte
äußerlich erkennbare Erfolge, geschweige die ausschlaggebende Bedeutung er¬
langt, die ihm nach seiner Vorstellung sicher schien, noch ist die nationalliberale
Fraktion trotz ihrer innern zweifellosen Auflösung oder doch Umwandlung zu¬
sammengebrochen, noch zeigt die konservative Fraktion deutliche äußere Spuren
ihrer innern Zerrissenheit. Gewonnen hat die Sozialdemokratie im Reich, dort
wie in Preußen steht das Zentrum fast als „regierende" Partei da in un¬
berührter, ungefährdeter Einheitlichkeit und Machtfülle. Gewiß aber haben
viele Nationalliberale nur durch Nachgiebigkeit gegen die landwirtsbündlerischen
Forderungen und Wünsche ihre Stellung behauptet, und geyade jetzt tritt im
Hannoverland, dem Hauptsitz der Nationalliberalen, eine konservative Ver¬
einigung auf den Kampfplatz, der man bei unbefangnen Urteil keinesfalls ein
ungünstiges Horoskop stellen kann. Bleibt sie ihrem Wahlspruch treu: alle
konservativen Bestrebungen zusammenzufassen und die berechtigten Eigentümlich¬
keiten und gewohnten und bewährten Eigentümlichkeiten des Hannoverlandes
zu schützen und zu verteidigen, weiß sie sich, mit andern Worten, der jetzt
vorzugsweise durch ostelbische Bestrebungen und Persönlichkeiten geleiteten
konservativen Fraktion als starker aber selbständiger, von Einseitigkeiten freier
Bundesgenosse zur Seite zu stellen und zu Zeiten, wenn rückschrittliche „junker¬
liche," der Neuzeit widerstreitende Ziele verfolgt werden, auch gegenüberzustellen
und zur Geltung zu bringen, so kann von ihr eine Wiedergeburt der konser¬
vativen Politik ausgehn, die zum Wohle der Gesamtheit förderlich, ja unent¬
behrlich ist.
Wer zweifelt noch an der Notwendigkeit einer solchen Wiedergeburt der
konservativen Politik und Fraktion? Wer daran, daß sich viele konservative
Wähler mit den wärmsten Empfindungen zu den Bestrebungen der Christlich-
Sozialen, Sozialreformer und verwandter Politiker hingezogen fühlen, bei denen
sie den wahren Konservatismus überzeugter, uneigennütziger gepflegt sehen? Wer
zweifelt daran, daß diese alle für die Kandidaten der konservativen Partei im
großen und ganzen wohl nur deswegen eintreten, weil die neuen Gedanken
uoch nicht zu einer genügend greifbaren Zusammenfassung ihrer Anhänger
geführt haben, oder weil die konservative Fraktion noch dieses oder jenes Ziel,
vor allem die Hebung der Landwirtschaft anstrebt und sich großer Erfolge,
mehr noch für die Zukunft als in der Vergangenheit, zu rühmen versteht!
Daß der konservative Gedanke, wie er sich in der Fraktion des Landtags wie
des Reichstags verkörpert, noch werbende Kraft hätte, kann kein Unbefangner
zugeben. Und doch gilt noch heute das Wort: „Es ist der Geist, der sich
den Körper baut!" Die Konservativen aber haben ihre Ideale, so scheint es,
vergessen oder sie zurücktreten lassen gegenüber den oft nicht mehr maßvoll
verfochtnen agrarischen Forderungen und Zielen, die von der Sozialpolitik
Kaiser Wilhelms I. und seines großen Kanzlers weit abliegen.
Schon vor einigen Jahren rief der Verfasser der geistvollen, immer noch
viel zu wenig gewürdigten Schrift „Reform oder Revolution" ihnen ins Ge¬
wissen. Ein Jahr vor seinem Tode sprach Fürst Bismarck von ihren Fehlern:
von ihrem blinden Nachlaufen hinter einzelnen Führern, von dem Nachbeten
der Meinungen einzelner weniger oft nur dem Anschein uach Unterrichteter in
wichtigen Fragen, von dem ungenügenden Kennen und Erforschen der auf der
Tagesordnung der Politik stehenden Fragen, von ihrer unnötigen Nachgiebig¬
keit gegen manchen Wunsch dieses oder jenes Ministers, ihrem Unklarsein
darüber, was sie denn eigentlich erhalten wollen usw. Und es gelang den
gegenwärtigen Führern der Partei nicht, diese gewichtigen Vorwürfe, die ja
auch in den „Gedanken und Erinnerungen" nicht fehlen, dadurch abzuschwächen,
daß man sie als aus die Vergangenheit gemünzt bezeichnete — es blieb kein
Zweifel, die heutige konservative Partei, der sich ja auch Fürst Herbert Bis¬
marck nicht hat anschließen wollen, unterlag dem abfälligen Urteil des großen
Staatsmanns, den sie so gern als ihren Gesinnungsgenossen, als ihren Mentor
darstellte. Als die Neuwahlen zum Abgeordnetenhause betrieben wurden,
erfolgte eine neue ernste Warnung, indem eine Anzahl bedeutender Müuuer
von unanfechtbarer konservativer Gesinnung ihre mahnende Stimme erhoben,
um einer unbedingten konservativen Mehrheit den Weg versperren zu helfen,
konservative Männer, die die besten Gedanken des Fürsten Bismarck, seine
großen sozialreformerischen Pläne in Übereinstimmung mit den bürgerlichen
konservativen Kreisen zu vertreten nie aufgehört hatten, die die berühmte
Novemberbotschaft Kaiser Wilhelms I. und die Februarerlasse des regierenden
Kaisers nicht in den Hintergrund gedrängt sehen wollen.
Wer eine große konservative Partei in der Volksvertretung für notwendig
hält, kann nur mit Besorgnis auf die Verhältnisse im preußischen Landtage
sehen. Ist nicht zu befürchten, daß die konservative Fraktion die innere
Wiedergeburt ablehnt, weil sie in alter Zahl aus dem Wahlkampf hervor¬
gegangen ist? Wenn sie aber alle wohlgemeinten Ratschläge in den Wind
schlüge, muß sie dann nicht nach abermals fünf Jahren vor gänzlichem innerm
Verfall stehn?
Die Leistungen und Erfolge der konservativen Fraktion im preußischen
Abgeordnetenhause, wo sie im Gegensatz zum Reichstage kraft ihrer großen
Mitgliederzahl imstande zu sein schien, bald mit dieser, bald mit jener andern
Fraktion eine Mehrheit zu bilden und ihre Pläne durchzusetzen, sind denn
doch in der lctztvergangnen fünfjährigen Legislaturperiode herzlich unbedentend
gewesen. Ihre Kraft hat sich, man ist versucht zu sagen, erschöpft in un¬
fruchtbaren Erörterungen und Anregungen wegen der Notlage der Landwirtschaft:
fast nirgends hat die Staatsregierung den Resolutionen (auf Einführung der
staatlichen Getreidepreisfestsetzung, der Schließung der Reichsgrenzen gegen aus¬
ländische Vieheiufuhr u. dergl.) Folge gegeben; nirgends hat die Staatsregierung
Maßregeln getroffen aus Nachgiebigkeit gegen die Konservativen. Umgekehrt
hat die Staatsregierung fest und sicher ihre Pläne und Maßregeln festgehalten,
auch wenn sie von ihnen bekämpft wurden: die Konservativen wollten zum
Beispiel auf dem bald dem Verkehr zu übergebenden Kanal von Dortmund
nach den Emshäfen hohe Schiffahrtsgebühren eingeführt sehen, um nicht der
Einfuhr ausländischen Getreides „ein neues Einfallsthor" zu verschaffen, die
Negierung blieb aber in gerechter Würdigung der Verhältnisse dabei, vorerst
nur solche Gebühren zu erheben, die zwar bei weitem nicht die Kosten der
Verwaltung und Unterhaltung, geschweige die Verzinsung des Anlagekapitals
zu decken vermögen, die aber die Entwicklung eines Kanalverßehrs überhaupt
ermöglichen. Das Schlagwort „neues Getreideeinfallsthor" schreckte die
Negierung nicht, es bewog sie nicht, den Kanal von vornherein zur Verkehrs-
losigkeit zu verdammen, die für die Emshäfen erhofften Vorteile kalten Herzens
aufzuopfern.
Agrarische Schlagworte wirken auf die konservative Fraktion in der Regel
wie das rote Tuch ans den Stier. So auch hier! Der Dortmunder Ems-
kanal vermag nicht neue Getreidemassen ins Herz Westfalens zu ziehen; besten¬
falls gelingt es ihm, in Konkurrenz mit den niederländischen Wasserstraßen
und den um billigste Tarife fahrenden niederländischen Eisenbahnen den jetzt in
Antwerpen ruhenden Getreidehandel nach den Emshäfen zurückzulenken, wo er
schon einmal — in den siebziger und achtziger Jahren — blühte, bis er durch
die Änderung der preußischen Eisenbahntarifsätze im Namen der agrarischen Be¬
strebungen unterbunden, ja unmöglich gemacht und nach Holland gedrängt
wurde, ohne daß dadurch, wie feststeht, die Einfuhr des ausländischen Ge¬
treides nach Westfalen im geringsten vermindert worden wäre. Gegen die
Ansichten der Agrarier hält die Staatsregierung fest an dem Plane des großen
Mittellandkanals, dessen Bewilligung trotz des Widerspruchs der Konser¬
vativen, zumal schlesischer Bedenken, hoffentlich erfolgen wird.
Noch weniger haben die Konservativen auf dem Gebiete der Schulgesetz¬
gebung erreicht. Gegen ihre früher häufig mit aller Entschiedenheit betonte
Absicht und Anschauung haben sie nolens volLns einem Lehrerbesolvungsgesetz
zugestimmt, das im Grunde genommen wenig befriedigend ist, das den Lehrern
kaum bietet, was sie fordern zu dürfen glauben, das die Gemeinden trotz
größerer Stacitsleistungeu schwer belastet, dem aber schließlich jeder zustimmen
mußte, der nicht Gefahr laufen wollte, in den Geruch der Feindschaft gegen
die Volksschullehrer zu kommen, deren Einfluß und Gefolgschaft namentlich
bei den Neichstagswahlen von Bedeutung ist. Der alten konservativen
Forderung aber, ein die gesamten Verhältnisse der Volksschule regelndes
sogenanntes organisches Volksschulgesetz auf der Grundlage zu stände zu
bringen, auf der die Vorlage des Grafen Zedlitz von 1892 aufgebaut war,
versagte sich die Fraktion. Sie ließ sich genügen an Resolutionen, durch die
die Staatsregierung aufgefordert wurde, einen ähnlichen Entwurf einzubringen.
Und doch hatte die Staatsregierung seit dem Rücktritt des Grafen Zedlitz und
dem Scheitern seiner Vorlage zu keiner Zeit einen Zweifel darüber gelassen, daß
sie ein solches Volksschulgesetz für absehbare Zeit weder sür notwendig, noch
nützlich, ja umgekehrt für gefährlich halte. Und doch wäre es der Fraktion
bei ernstem Willen ein Leichtes gewesen, einen ihr genehmen Entwurf ihrerseits
als sogenannten Initiativantrag einzubringen und seine Annahme in beiden
Häusern des Landtages herbeizuführen.
Da erhob sich denn doch für jeden, mochte er ein neues Gesetz nach
der Art der Zedlitzschen Vorlage erstreben oder abweisen, die Frage: Fehlt
den Konservativen der gute Wille oder der Fleiß, die Neigung, sich solcher
größern Aufgabe zu unterziehen, bei der kein materieller Gewinn zu holen,
sondern nur ideelle Güter zu fördern waren? ist ihr Rückgrat nicht steif genug,
ohne Rücksicht auf die (von ihr als verderblich angesehenen) Wünsche hoher
Stellen als „getreuste Opposition" vorzugehen?
Als 1897 das Lehrerbesoldungsgesetz durchgeführt wurde, geschah es
gegen den Ausspruch der Konservativen, daß nahezu alle Lehrerbesoldungs¬
ordnungen unter bedeutender Mehrbelastung der Schulunterhaltungspflichtigen
revidiert oder erneuert wurden. Sie erhoben zwar laute Klagen gegen die
Unterrichtsverwaltung, aber irgend einen Erfolg hatten sie damit nicht. Auch
hier ging die Regierung fest und sicher den Weg, den sie für richtig hielt, so
schwierig und dornenvoll er vielfach sein mochte. Es bewahrheitete sich das
geflügelte Wort (eines frühern Ministers): „Resolutionen thun nicht weh."
Zeigte sich in diesen Angelegenheiten der Volksschule bei den Konservativen
keine rechte Beständigkeit, keine „zielbewußte" Politik, so konnte man in der
That auch auf andern Gebieten fragen: Was wollt ihr eigentlich „konservieren"?
Wollt ihr die bestehenden Einrichtungen, die staatsbürgerliche Gleichheit, die
bürgerliche Freiheit, die Errungenschaften der von Stein und Hardenberg ein¬
geleiteten Reformen erhalten und fortführen, oder nehmt ihr keinen Anstand,
auf überlebte Einrichtungen, auf Klaffen- und Standesvorrechte und andre
ähnliche reaktionäre Dinge zurückzugreifen? Laßt ihr euch genügen, Mängel
zu beseitigen, die sich bei vielen im allgemeinen bewährten Sachen eingestellt
haben, oder wollt ihr nicht vielmehr Rückkehr zu überwundnen oder dem Ab¬
sterben verfallnen Nechtszustünden? Wollt ihr eignen materiellen Vorteilen
den Weg frei machen, oder seid ihr gewillt, die christlichen Grundsätze, die ihr
mit Worten so oft betont, in der That zur Geltung zu bringen?
Als staatsmännische That bezeichneten die Konservativen das Unternehmen
des Justizministers, durch den sogenannten Assessorenparagraphen zahlreiche
junge Männer trotz erlangter wissenschaftlicher Befähigung vom Staatsdienste
auszuschließen und zum Richteramte nur eine Auswahl Bevorzugter zuzulassen,
die der Justizverwaltung nach ihrem Ermessen geeigneter erschienen oder besser
empfohlen waren. Den Grundsatz des Allgemeinen Landrechts, daß allen in
genügender Weise für den Staatsdienst Vorbereiteten alle Ämter gleich zu¬
gänglich sein sollten, wollte man leichten Herzens fallen lassen; man trug kein
Bedenken, eine gesetzliche Bestimmung vorzuschlagen, die der Willkür Thür
und Thor zu öffnen und zu einer Bevorzugung nicht nur der Geburth- und
Geldaristokratie, sondern zu einer völligen Abschließung ganzer Volkskreise zu
führen geeignet war, die nur zu leicht zur Proletarisierung zahlreicher tüchtiger
Kräfte, zur Schulung von Unzufriedenheit und noch schlimmeren hätte aus¬
schlagen können. Und doch ist es gerade die Stärke des deutschen Beamten¬
tums, daß es sich, aus allen Schichten der Bevölkerung ergänzend, ohne
ausschließliche Verbindung mit einzelnen Berufskreisen des Nährstands allezeit
als unabhängig, als Vollstrecker ausgleichender Gerechtigkeit, als Hort des
über allen Partei- und Wirtschaftsinteressen waltenden Staatsgedankens be¬
währt hat.
Reaktionär im vollsten Sinne erschien die Stellung der konservativen
Fraktion zu den in erster Reihe auf ihr Betreiben zu stände gekommenen
neuen Gcmeindeverfassungsgesetzen für Hessen-Nassau: keine Spur von dem Be¬
streben, berechtigte Eigentümlichkeiten der Provinz zu Pflegen und zu schützen,
das sich die konservative Vereinigung der Provinz Hannover zur Hauptaufgabe
gesetzt hat. Den konservativen Abgeordneten aus dem Regierungsbezirk Kassel,
allerdings mit einer rühmlichen Ausnahme, erschien die mustergiltige Gemeinde¬
ordnung für Kurhessen von 1834, freilich das Kind einer politisch bewegten
Zeit, aber nächstverwandt mit der Steinschen preußischen Städteordnung, als
ein radikales, zumal den Großgrundbesitz nicht befriedigendes Gesetz; galt doch
nach ihr gleiches direktes Gemeindewahlrecht für alle Ortsbürger, ob Gro߬
grundbesitzer oder kleine Bauern — nur die Wählbarkeit war insofern weise
beschränkt, als ein beträchtlicher Teil der Gemeindevcrtreter (Vürgerausschuß)
aus den Höchstbesteuerten und die Mehrheit aus den Hausbesitzern genommen
werden mußte; führte man aber „das elendeste aller Wahlsysteme," das Drei¬
klassenwahlrecht ein, so gebot der Großgrundbesitzer auf dem Lande leicht über
ein Drittel der Stimmen, während er nach dem hessischen System nur als
Höchstbesteuerter in Frage kam und bestenfalls in der Gemeindevertretung nur
eine von vielen Stimmen hatte. Mit diesen Erwägungen war das Schicksal
des Gemeindewahlrechts entschieden, verlor die letzte hessische Eigentümlichkeit
für die Konservativen ihre Berechtigung.
An einen Widerspruch wurde umsoweniger gedacht, als ein Fraktions¬
genosse das Gesetz ausgearbeitet hatte, ein Umstand, der die sonst gerühmte
grundsätzliche Würdigung von Gesetzvorlagen ohne Haß und Gunst, ohne
Rücksicht auf die Persönlichkeit ihres Urhebers in ein seltsames Licht rückte.
Freilich, wenn von konservativer Seite offiziell immer betont wird, bei Be¬
urteilung der Regierungsvorlagen lasse man persönliche Rücksicht beiseite, so
erscheint diese Behauptung für den Eingeweihten vielleicht als eine xtg, triM8, als
eine Art Einbildung. Schon manchmal konnte man sich schwer der Empfindung
verschließen, als lasse sich die konservative Fraktion auch durch persönliche
Abneigung und bloße besondre Zuneigung in ihrer ganzen Haltung leiten oder
doch stark beeinflussen. Einem Minister, der allzu sozialpolitisch eifrig, zu
arbeiter- und arbciterfürsorgcfrcundlich, zu gleichgültig oder zu wenig rücksichts¬
voll gegen den Arbeitgeber zu sein schien (Frhr. von Berlepsch), dem zeigte
man Übelwollen bei jeder Gelegenheit, seine Gesetzesvorlagen wurden besouders
nachhaltig bekämpft; das war zum mindesten der Fall bei seiner Vorlage
wegen der Einführung obligatorischer Handelskammern, die man schon deshalb
ablehnte, weil man keine obligatorischen Landwirtschaftskammern bekommen
hatte, ohne den in die Augen fallenden Unterschied beider Einrichtungen zu
berücksichtigen. Umgekehrt kommt man den Planen des Finanzministers, der
agrarfrenndlicher erscheint, der die Grundsteuer mit den andern Nealsteuern
außer Hebung gesetzt hat, freundlicher entgegen. Als z. B. seiner Zeit durch
den Etat für zehn Regierungen neue (vierte) Oberregierungsräte für die
Leitung der Steuerangelegenhcitcn gefordert wurden, erhoben sich wie allgemein
bekannt lebhafte Besorgnisse und Bedenken: man fürchtete einen unliebsamen
büreaukratischen Einfluß auf die Einkommensteuerkommissionen und andre Nach¬
teile; aber der Widerspruch blieb im Hause unausgesprochen, die Stellen
wurden ohne weiteres bewilligt.
Doch wir kehren nach dieser Abschweifung zum eigentlichen Thema zurück.
Nachdem man 1890 das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialdemokratie hatte fallen lassen, wofür in erster Linie die Konservativen
die Verantwortung trugen, wäre es um so dringender gewesen, fortzuschreiten
auf dem Wege, den die berühmte Botschaft Kaiser Wilhelms I. vom 17. No¬
vember 1881 gewiesen hatte. Als sich aber trotz der Arbeiterfürsorgcgcsetze
(Kranken- und Unfall-, sowie Jnvaliditnts- und Altersversicherung) die sozial¬
demokratischen Stimmzettel bei den Reichstagswahlen immer vermehrten, als
man die Arbeiter immer unzufrieduer und begehrlicher werden sah, wandte man
sich von der Sozialreform ab, man verzichtete auf den Plan, die Arbeiter „in der
Form korporativer Genossenschaften" zusammenzufassen, man kehrte sich mehr
und mehr der Politik der Gewalt zu. Statt die sozialdemokratischen Ideen
zu bekämpfen, wollten die Konservativen die Arbeitermassen mundtot machen
durch die Vereinsgesetznovelle von 1897, die einen so schrillen Mißklang in
die Verhandlungen des preußischen Landtags brachte und zu einer Niederlage
des Ministeriums und seiner konservativen Gefolgschaft führte. Statt nur
sozialdemokratische, sozialistische und anarchistische, auf den Umsturz der Staats¬
und Gesellschaftsordnung gerichtete Unternehmungen zu bekämpfen, wollte man
durch „kautschukartige," der festen Begriffsbestimmung sich entziehende Bestim¬
mungen den Polizeiorganen Befugnisse einräumen, durch die schließlich in er-
regler Zeit jeder gegen die jeweilige Negierungspolitik gerichtete Kampf unter¬
drückt werden konnte.
Es schien, als ginge der reaktionäre Geist der Karlsbader Beschlüsse um.
War da noch im Ernst die Rede von jenem praktischen Christentum, das Fürst
Bismarck auf seine Fahne geschrieben hatte? Nicht mehr die Liebe zu den
(irregeleiteten) „Brüdern," der Kampf aufs Messer gegen die Sozialdemokratie
stand im Vordergrund. Als Sozialdemokrat von bösesten Willen, als be¬
wußter Vertreter des Umsturzes galt auch der Harmlose, der einen sozial¬
demokratischen Stimmzettel in die Wahlurne gelegt hatte, bloß im Vertrauen
auf die so erwünschte, vom Agitator versprochne Besserung feiner Lage, und
der im Grunde nichts weniger als Umsturz will und sich die „ungemauserte"
Sozialdemokratie gar nicht vorstellen kann. Wer „praktisches Christentum"
zu bethätigen behauptet, der soll vor allen Dingen selbst christliche Selbstver¬
leugnung üben, der muß selbst Opfer bringen können, zum Vorteil der Schwachen
auf eigne Vorteile verzichten, der muß das Wohlwollen üben, das die „Sozial¬
demokraten," d. h. die Mehrzahl der Arbeiter und kleinen Leute in erster Reihe
entbehren und auch fordern. Deshalb ist denn doch aber auch der Gedanke
nicht von der Hand zu weisen, daß eine Organisation der Arbeiter, kraft deren
diese erst dem Arbeitgeber gegenüber zu gleichwertigen und einigermaßen gleich¬
mächtigen Kontrahenten werden würden, zum Frieden oder wenigstens zum
Ausgleich schroffer Gegensätze führen kann. Auch den Arbeitern darf man ein
Verständnis für das zutrauen, was zur Erhaltung des Arbeitsbetriebs, zu
seiner Konkurrenzfähigkeit usw. nötig ist, kurz, ein Verständnis für die Grenzen
der für sie erreichbaren und gerechten Lohnbedingungen.
Auch hier gilt das Wort: „Nicht der Vernünftige regiert, sondern die
Vernunft." Im Gegensatz hierzu aber gilt bei den Konservativen eher jeder,
der für Arbeiterfachvereine und dergleichen eintritt, für einen halben Sozial¬
demokraten. Es fehlt eben weithin das Wohlwollen, das in jedem, auch dem
geringsten Arbeiter einen grundsätzlich gleichberechtigten „Bruder" sieht, wie
es dem christlichen Ideal entspricht. Derselbe Sinn, der die Söhne gewisser
Kreise für vorzugsweise berufen ansieht, die Staatsümter zu bekleiden, der gewisse
Kreise unter das Motto stellt: 1'6eg.t o'sse moi, der vermag in der Arbeiter¬
bevölkerung nur Menschen zweiter Klasse zu sehen, die zum Dienen be¬
rufen sind.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben."
der Spruch hat noch heute seine Geltung. Aber das entscheidende ist nicht
eine formale Gerechtigkeit, wie sie die Grundlage der Rechtsprechung der Ge¬
richte auf Grund des bestehenden sogenannten positiven Rechts ist, sondern
die Gerechtigkeit, die in höherm Sinne jedem das Seine geben, die in immer
weiteren Umfange die Staatsangehörigen an den Fortschritten der Kultur über¬
haupt und ihrer Kulturarbeit insbesondre teilnehmen lassen will, die nicht
müde wird, ein immer freundlicheres Verhältnis der sozialen Klassen unter sich
anzubahnen und auszugestalten. Die Sünde aber, die zum Verderben sührt,
ist nichts andres als die Überhebung, die L/?^>es der Griechen, die Zuversicht
auf ererbte Stellung und angeborne Vorzüge, das Trotzen auf Rechte, die
formell unantastbar sind, aber materiell doch immer von neuem erworben
werden, ihre Kraft und Berechtigung bewähren müßten.
Alles dies beweist, daß im Brennpunkt der konservativen Politik ideale
Ziele stehn sollten, nicht aber Forderungen, die fast ausschließlich materiellen
Besitz und Gewinn betreffen und sich im starren Festhalten gegenwärtiger Ver¬
hältnisse, gegenwärtiger Machtverteilung erschöpfen. Je mehr Freiheit für Ver¬
sammlungen und Vereine man gewährt, desto mehr Gelegenheit schafft man
einerseits zur Aufklärung und Versöhnung der Arbeitermassen, zur Bekämpfung
falscher Vorstellungen und Vorurteile, und andrerseits zur Abwirtschaftung der
Sozialdemokratie, die von der Agitation, von unhaltbaren Versprechungen,
vom Hinterslichtführen der Massen lebt und sich im vollen Glänze der Öffent¬
lichkeit notwendig zu einer bürgerlichen Partei mausern, sich von ihren unauf¬
richtigen oder unmögliche Ziele verfolgenden Führern lossagen muß. Man
darf die Sozialdemokratie und die von ihr drohenden Gefahren nicht unter¬
schätzen, aber ebenso verkehrt würde es sein, ihr mit blasser Furcht gegenüber
zu stehn, mit einer Furcht, die einerseits dem Feinde nur den Mut stählt und
seine Führer noch lauter ein unberechtigtes, aber nicht eindrucksloses Selbst¬
bewußtsein zur Schau trage» heißt, und die andrerseits zu reinen Unter¬
drückungsmaßregeln verleitet, die jedes Sicherheitsventil verstopfen und eine
Explosion nur fördern können, und die endlich das Vertrauen auf die eigne
Sache und die gewiß doch unumstößliche Überzeugung von der Aussichtslosigkeit
der Sozialdemokratie in eigentümlichem Lichte erscheinen läßt. Zur Bekämpfung
der Sozialdemokratie genügen nicht große Worte, nein, dazu bedarf es unver¬
drossener Kleinarbeit überall, die ohne Schlagworte, aber wirksam und un¬
merklich fortschreitet, „die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur
für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage,
Jahre streicht."
Nur die Furcht vor der Sozialdemokratie stützt das Dreiklassenwahlsystem,
wenigstens ist sie es gewesen, die ihm in den Verhandlungen des Provinzial-
lcmdtags in Kassel für das Gemeindewahlrecht in Hessen-Nassau zum Siege
verholfen hat. Sie allein, scheint es, hindert eine zeitgemäße Wahlrechtsreform
in Preußen. Und doch muß eine solche im Namen der Gerechtigkeit gefordert
werden. Nicht die Besorgnis, der konservative Einfluß könnte sich vorüber¬
gehend mindern, wenn die plutokratische Verschiebung des Dreiklassenwahl¬
systems gemildert oder aufgehoben würde, darf hier entscheiden. Das wäre
eine kurzsichtige Politik. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk."
Konservative Politik sollte sich Schlagworte fernhalten. Aber die Konser-
vativen, ihre Schwächen fühlend, streben, bewußt oder unbewußt, nach Volks¬
gunst. Man verspricht in Volksversammlungen und Wahlversammlungen Re¬
formen und bessere Zeiten, weiß aber auch bestimmte Mittel nicht anzugeben.
Verfolgt man im Parlament allgemeine Ziele wirtschaftlicher Art, so versagt
zuweilen die Kenntnis der Verhältnisse — auf die Forschungen des Vereins
für Sozialpolitik sieht man vornehm herab, mit Kathedersozialisten will man
nichts zu thun haben —, oder man folgt, wie Fürst Bismarck es etwa nannte,
blind dem Einzelnen, der sich als Wissenden ausgiebt. So kam der „Antrag
von Brockhausen" auf Beschränkung der großen Warenhäuser im Namen der
Förderung und Erhaltung des Mittelstands, und doch mußte man sich von
der Negierung belehren lassen und hätte nach den Erfahrungen Frankreichs
wissen müssen, daß eine Einschränkung der Warenhäuser heute unmöglich ist,
daß die Großbazare wohl hohe Steuern zu tragen vermögen, aber dadurch
nicht konkurrenzunfähig werden, daß sie im Gegenteil jede Erhöhung der Be¬
steuerung durch Vergrößerung ihres Umfangs und Umsatzes mehr als auszu¬
gleichen wissen. Natürliche Entwicklungen lassen sich nicht beseitigen, Um¬
wälzungen des wirtschaftlichen Lebens sind für manche verderblich, ohne des¬
halb der Gesamtheit auf die Dauer zu schaden. Wie der Antrag Kanitz, so
führte der Antrag von Brockhausen, sofern er sein Ziel verfehlte, zu einer
Niederlage der konservativen Partei. Ob sie daraus eine Lehre ziehn wird?
Hoffen wir es!
Ungerechtfertigt und bald aufgegeben war die abfällige Beurteilung der
Bcamtenbesoldungsaufbesserung von 1887 durch die Konservativen: bei der
ersten Lesung warfen sie der Regierungsvorlage „Systemlosigkeit" vor, und bei
der zweiten Lesung mußten sie bekennen, daß sie sich davon überzeugt hätten,
sie sei weder systemlos noch unrichtig.
Die gewaltige Zunahme der großen Städte zeitigt Zustünde, die in vieler
Beziehung bedauerlich sind. Niemand verdenke es den Konservativen, wenn
sie auf Mittel sinnen, ihr weiteres Anwachsen hintanzuhalten; niemand wird
im Ernst behaupten können, es habe die Abneigung der Konservativen ihren
Grund vorzugsweise darin, daß fast alle diese Städte liberal oder freisinnig,
ja sozialdemokratisch zu wählen Pflegen. Aber es war ungerecht, als man bei
der Neuregelung der Volksschullehrerbesvldung den größern Städten nicht nur
weniger gab als den kleinen Städten und den Landgemeinden, sondern daß
man ihnen auch Staatszuschüsse nahm, die sie auf Grund früherer Gesetze,
also von Rechts wegen bezogen hatten und als dauernd, unentziehbar angesehen
hatten. Aber nicht nur leisteten die Konservativen den fiskalischen Vorschlügen
der Gesctzesvorlage keinen Widerstand — sie hätten sicherlich durchschlagenden
Erfolg gehabt, wenn sie widerstanden hätten —, sie frohlockten, daß sich eine
Gelegenheit fand, die Städte von Staatswohlthaten auszuschließen; agrarische
Anschauungen feierten einen Triumph! Freilich, dieser Triumph währte nicht
lange, denn das Lehrerbesoldungsgesetz von 1897 brachte auch dem platten
Lande fast durchweg höhere Volksschullasten — und es ist ein schlechter Trost,
im Unglück Genossen zu haben.
Aus diesen Darlegungen, die nicht erschöpfend sein wollen, folgt, daß die
gegenwärtige konservative Partei nicht auf der Höhe steht, die sie einnehmen
muß, wenn sie ihrer Aufgabe im Staatsleben entsprechen soll. Auch in den
letzten Jahren hat sie sich wohl hier und da Verdienste erworben, aber im
allgemeinen hat sie sich weder als Stütze der Regierung, noch als getreuste
Opposition bewiesen. Was im Reich und in Preußen an Ersprießlichen ge¬
schehn ist, hat in der Hauptsache die Negierung nicht mit den Konservativen,
sondern ohne, wenn nicht gegen sie durchgeführt. Nirgends war ein wahrhaft
großer Gedanke zu spüren; mehr einseitige Interessen, die im Osten der Elbe
ihren Nährboden hatten, als die gerecht und vorurteilslos wägende Staats¬
gesinnung haben den Weg der konservativen Partei bestimmt, ihrer Kampfes¬
weise die Richtung gegeben. Möchte sie sich auf sich selbst besinnen, und indem
sie sich den konservativen Anschauungen des Westens nähert und ihnen nach¬
geht und nachgiebt, neue Kraft gewinnen und die Stelle einnehmen, die im
großen und ganzen das Beamtentum in den deutschen Staaten, zumal in
Preußen, eingenommen hat, das allen Berufskreisen gleich nahestehend ohne
Vorliebe und Vorurteile die Gesamtheit im Auge hatte, sich nicht einzelnen
Bestrebungen unterordnete, sondern dem Staate diente, als dessen erste Diener
sich die Fürsten ansehen. Dann wird sie wahrhaft volkstümlich werden, dann
wird sie mitarbeiten an der Hebung des ganzen Volks, zumal der Armen und
Notleidenden, die der Hilfe und der Hebung am meisten bedürftig sind.
in besondres Element tritt im Elsaß und namentlich in größern
Städten hinzu, das auch im übrigen Reiche eine wahre Plage
ist. Bekanntlich ist das reiche Frankreich von der jüdischen Ein¬
wanderung wenig heimgesucht worden; die großen Pariser Bank¬
herren dieses Stammes bedeuten ja als Judentum nicht viel.
Aber das Elsaß, als deutsche Landschaft, ist mit der jüdischen Zugabe reich¬
lich bedacht worden. Die deutschen Standesherren hatten ihre Leibjuden,
und der Bauer hatte seinen Viehjuden nach schlechter deutscher Sitte. Diese
heimatlosen Eindringlinge spielten aber, sobald die französische Revolution die
Gleichberechtigung gebracht hatte, dank ihrer angebornen Anmaßung und durch
ihre Befähigung, sich den gegebnen Verhältnissen anzupassen, eine große Rolle.
Der gutmütige Elsässer nahm diese fremde Gesellschaft, die durch Geld- und
Viehwucher reich geworden war, harmlos als gleichstehende Genossen im Er¬
werbsleben auf, und jetzt stehen die Juden überall an der Spitze der Protestler,
indem sie sich als wütende Franzosenfreunde und Stockelsässer gebärden. In
Frankreich sind die Elsässer, wie die Dreyfußangelegenheit sattsam dargethan
hat, mit Recht durch ihre jüdischen Genossen schon in Verruf gekommen, und
bezeichnenderweise wird in Schilderungen des französischen Lebens der Jude
jedesmal durch seinen deutschen Namen gekennzeichnet. Der feinere Jude, der
von Amsterdam nach Paris gewandert ist, trägt den vornehmern portugiesischen
Namen. Es darf deshalb nicht wunder nehmen, daß der altdeutsche Jude
seinen elsässischen Glaubensgenossen beneidet und sich flugs nach seiner Ein¬
wanderung aus dem Osten als geborner Franzose gebärdet. Das Geschäft ist
nicht schlecht, und die Kundschaft fordert diese Verwandlung aus dem schmutzigen
polnischen Juden in einen Pariser Gigerl. So ist ein reicher jüdischer Händler
in Kolmar noch barfuß aus Königsberg in Kolmar eingewandert, der jetzt als
„Walles" und Stütze des Protestlertnms auftritt. Diese jüdischen Schreier
sind einflußreicher und zahlreicher, als man ahnt. Übrigens wirkt das Ge¬
schäft auch bei gebornen Elscisfern in derselben Weise auf die politische Ge¬
sinnung ein. Es ist auffüllig, wie groß die Zahl der Rechtsanwälte ist, die
sich als französisch-demokratische Führer vorstellen. Diese Erscheinung ist
menschlich; die Kundschaft verlangt eben solche politischen Anschauungen, und
schließlich ist man selbst von deren Richtigkeit überzeugt. Aus solchen Leuten
setzt sich hauptsächlich die sogenannte elsässische Volkspartei zusammen, die das
besondre Wohlwollen der geistesverwandten Frankfurter Zeitung genießt. Man
wird nicht behaupten können, daß ein derartiges Gemisch von geschäftlichen
Interessen und politischem Radikalismus auf behutsame Schonung bei der
Regierung Anspruch habe. Diese Erkenntnis scheint aber an den zuständigen
Stellen noch nicht zur Richtschnur des Handelns geworden zu sein, obschon
diese Thatsachen allgemein bekannt sind.
Bedenkt man, daß Kolmar der Sitz des höchsten Gerichts und der Bezirks¬
verwaltung ist, so scheint der persönliche Einfluß der Behörden völlig wirkungs¬
los geblieben zu sein. Die aus örtlichen Gründen beabsichtigte Verlegung des
Oberlandesgerichts mehr in die Mitte des Landes ist deshalb auch gleichgiltig,
obschon gerade die Gerichtsrüte wohl imstande gewesen wären, den einheimischen
gebildeten Mittelstand an seine deutsche Pflicht zu erinnern. Sogar die Rechts¬
anwälte dieses Gerichtshofs sind Französlinge geworden, wie es der Reichstags¬
abgeordnete Preiß zeigt. Das altdeutsche Beamtentum hat eben vollständig
versagt, wo es galt, die verirrten Söhne Alemanniens über dem Rhein ihrem
Mutterlande wiederzugewinnen. Wie wenig ein wirkliches Bedürfnis für den
Gebrauch der französischen Sprache vorliegt, beweist die französische Zeitung
Kolmars, die bloß zweimal wöchentlich erscheint, während die zahlreichen andern
Zeitungen täglich ausgegeben werden. Dabei ist die Redeweise des Herausgebers,
des Geistlichen Wetterle, natürlich Wetterle geschrieben, der seine Mitbürger
verhetzt, so Volks- und landesverräterisch, daß eine scharfe Preßpolizei ihm leicht
an den Kragen könnte. Übrigens hat er schon selbst deutsche Anzeigen auf¬
nehmen müssen; also scheinen seine Leser die deutsche Sprache für ihre Ge¬
schäfte doch allmählich vorzuziehen.
Noch schlimmer liegen die Verhältnisse in Mülhausen, wo es auch eine täg¬
lich erscheinende französische Zeitung giebt, freilich mit einer deutschen Ausgabe,
die aber um die Hälfte schmächtiger ist als die französischen Spalten. Mülhausen
hat ganz vergessen, daß es noch vor hundert Jahren eine freie deutsche Reichs¬
stadt gewesen ist. Freilich ist der wirtschaftliche Aufschwung seiner Baumwoll¬
spinnereien ein Werk der beiden Bonapartes gewesen, und so war auch Frank¬
reich das hauptsächlichste Absatzgebiet der oberelsässischen Erzeugnisse. Die
neue Grenze hat aber den Fabrikanten zu dem französischen auch noch den
viel aufnahmefähigern deutschen Markt gewonnen. Als Dank dafür sind sie
nur um so französischer geworden und schicken ihre Sohne und Töchter zur
Erziehung in französische Schulen und Klöster. Die Blüte der deutschen In¬
dustrie ist ihnen ebenso wie Altdeutschland selbst zu gute gekommen, und die
deutsche Negierung ist in die Fußstapfen ihrer französischen Vorgängerin ge¬
treten. Aus Landesmitteln sind namhafte Beihilfen zur Anlage von Stau¬
weihern gewährt worden, die den Fabriken fast kostenlos die Triebkraft liefern.
Die soziale Gesetzgebung hat die Lebenshaltung der Arbeiter gehoben und
deren Zukunft gesichert. Der Auslandsmarkt erstreckt sich über den Erdball,
während zur französischen Zeit der auswärtige Absatz nur beschränkt war.
Die reichgewordnen biedern Mülhüuser können also jedenfalls nicht be¬
haupten, daß das Reich ihnen ihre nationalen Unarten für wirtschaftliche
Schädigungen nachsehen müsse. Vielmehr hat das Vaterland das Recht und
die Pflicht, ihnen ihre französische Vorliebe bei fortgesetzter Störrigkeit auch ge¬
waltsam auszutreiben. Es ist sogar für uns geboten, den außergeschäftlichen
Verkehr dieser Französlinge über die Grenze möglichst zu unterbinden. Diese
Leute, die ihren Wohlstand dem deutschen Boden verdanken, sollen ihr Geld
nicht in Paris ausgeben, nur weil ihnen ihr angestammtes Vaterland nicht
gut genug erscheint.
Es giebt Mittel genug, sie zur Vernunft zu bringen. Die Bevölkerung
ist nach Abstammung und Bildung deutsch gewesen, ehe wir das Land wieder
besetzt haben. Schon um ihrer Arbeiter und Dienstboten willen konnten die
mit Recht berüchtigten vaterlandslosen Notabeln ihre Muttersprache nicht ganz
vernachlässigen. Selbst die eleganteste Fabrikantenfrau von Mulhouse, die sich
nur in Paris kleidet, muß mit ihren Leuten das traute Alemannisch sprechen;
nur im Verkehr mit Altdeutschen leidet sie an Gedächtnisschwäche oder schämt
sich, daß sie sich bloß der Mundart der Bauern bedienen kann. Für die
Mädchen besteht eben leider keine Einjährigenprüfung, die für die besser ge¬
stellte männliche Jugend deutsche Bildung erzwingt. Also muß das VoUs-
schulgesetz Bestimmungen treffen, wodurch die elsüssischen Tochter dem Deutsch¬
tum erhalten werden und die französische Klostererziehung verhindert wird.
Die kleinern Industriestädte sind lediglich Abbilder ihrer eben geschilderten
Schwestern; nur daß hier die Rebbaucrn noch ein erfreuliches Gegengewicht
sind. In Gebweiler, wo in der Kirche der Unterstadt bloß für die paar Fa¬
milien der Industriellen, die natürlich Deutsche sind, ein französischer Gottes¬
dienst gehalten wird, wirkt es ergötzlich, das ausgebreitete Geschlecht der
Bourcart kennen zu lernen, das noch in diesem Jahrhundert den altfranzösischen
Namen Burkhardt führte. Auch hat sich der Fabrikant Müller als echter
Franzose in einen Mr. Müller verwandelt. In diesen Gebirgsstädtchen mit
immer wachsender Industrie ist die französische Strömung überhaupt erst nach
dem Kriege entstanden, da die Unternehmer erst mit zunehmendem Wohlstande
ihre französische Neigung als Zeichen ihrer steigenden sozialen Stellung ent¬
deckten. Ist dieses Frcmzosentum auch nur eine lächerliche Karikatur und ge¬
wissermaßen ein Mangel an wahrer Bildung, so ist der nationale Schaden
darum nicht weniger ernst zu nehmen, zumal da es sich um eine dauernde
Vermehrung dieser Elemente gerade unter der deutschen Herrschaft handelt.
Wie es scheint, schenkt aber die Regierung diesem Staats- und volksfeindlichen
Treiben leine genügende Beachtung. Bekanntlich hat Turenne den letzten Versuch
des alten Reiches, seine alemannische Mark zurückzugewinnen, bei Kolmar sieg¬
reich zurückgeschlagen. In Türkheim, wo sein Hauptquartier war, ist ein Platz
nach ihm benannt worden, wohl erst in diesem Jahrhundert, wie es in Geb¬
weiler eine Magentastraße giebt. Damals verbluteten im Reichsheer gerade
Elsässer unter den französischen Streichen, da ja die Reichsstädte erst zum Teil
in Ludwigs XIV. Hand gefallen waren. Bei Magenta waren es aber Elsasser,
die, wie immer in den napoleonischen Heeren, einen großen Teil der Streiter
ausmachten, die unter fremder Fahne fochten. Ist es der deutschen Gegenwart
der Reichslande würdig, solche Namen zu verewigen, deren einer sicherlich eine
deutsche Schande bedeutet? Nirgends finden sich Straßennamen, die auf die
Vefreiungsschlachten des letzten Krieges hinweisen. Nährt man nicht dadurch
den Glauben, als meine man durch die Erinnerung an diese stolzen Siege das
befreite Elsaß zu kränken, weil das Schicksal es so gefügt habe, daß die Landes-
kinder auf französischer Seite standen? Diese kleinen Züge sind zu lehrreich,
als daß man sie als scheinbar unbedeutende Äußerlichkeiten unberücksichtigt
lassen sollte. Das ganze Schauspiel des elsüssischen Franzosentums ist be-
rechnete Äußerlichkeit und geschäftliche Mache. Man erhält sich dadurch die
französische Kundschaft und läßt sich vom neuen Vaterland umschmeicheln, statt
daß man als unartiges Kind die verdiente Strafe erhält. Leider fehlt der
Verwaltung das Verständnis dafür, daß sich die elsässische Frage zu einer
Sprachenfrage zuspitzt, und daß die Vernichtung der fremden Sprache im Ver¬
kehr ein Gebot ist, wenn man nicht die nationale Schmach auf sich laden will,
zu scheitern. Wie gefährlich diese französische Sprachspielerei ist, erhellt aus
dem Umstände, daß die eingewanderten Altdeutschen der untern Stände mit
großer Gelehrigkeit die fremde Unterhaltung von ihren elsüssischen Volksgenossen
lernen und dann selbst mit dieser Kenntnis prunken. Hoch oben im Gebirge
haben wir altdeutsche Förster französisch mit Landeseinwohnern reden hören,
die sehr wohl „dütsch" verstanden. Altdeutsche Schaffner gingen bereitwilligst
auf französische Fragen von Elsässern ein, die bis dahin harmlos deutsch ge¬
sprochen hatten; ja sie begannen sogar das Gespräch mit Nonsisur, s'it ovo.8
xliM, los dillets. Die Sprachleistung ist ja nicht bedeutend, aber jedenfalls
bezeichnend.
Es ist ja ein Vorzug, daß die Sprachgewandtheit bei uns verbreiteter
ist als in Frankreich und England. Aber wir sollten unsre Kenntnisse nur
im Auslande zeigen, obschon Franzosen und Engländer mit ihrer sprich¬
wörtlichen Sprachunkenntnis in der Fremde nicht schlechter sondern besser als
wir behandelt werden. Die höhern Beamten und Offiziere sündigen im Elsaß
als sprachenkundige Männer nur gar zu gern gegen dieses selbstverständliche
Gesetz und sehen nicht, welche Folgen solche schlecht angewandte deutsche Bil¬
dung haben muß. Es ist nicht verwunderlich, wenn Beamte elsüssischer Her¬
kunft nun offen als Beschützer der fremden Sprache auftreten. Ein Metzer
Amtsgerichtsrat stellt bei der Bewerbung um die Wahl zum Landesausschuß
als Hauptpunkt seines Programms die Forderung auf, daß die Verwaltung
vor allem die Sprache des Volkes schützen müsse, womit natürlich nicht die
alemannische und die fränkische Mundart der Elsasser und Lothringer, sondern
das schlechte und mit deutschen Brocken durchsetzte lothringische Patois gemeint ist.
Ebenso schreibt der Präsident des reformierten Konsistoriums der Reichslande,
dessen Familie ihrem Namen nach fraglos niederdeutschen Ursprungs ist, seine
gelehrten Werke hauptsächlich in französischer Sprache. Können beide Herren
diese Handlungsweise mit ihrer deutschen Beamtenpflicht vereinen? Ja sogar
an leitender Stelle in Straßburg geht man in öffentlichen Ansprachen und Er¬
lassen der Sprachenfrage geflissentlich aus dem Wege, statt sie in den Mittel¬
punkt jeder amtlichen Thätigkeit zu rücken. Es wäre verständlich, wenn man
aus übertriebner Rücksicht diesen Grundsatz nur stillschweigend befolgte; aber
weder vermindert sich das offizielle französische Sprachgebiet, noch macht die
deutsche Sprache in Kirche und Schule Fortschritte, und wo thatsächlich eine
Verdeutschung eingetreten ist, nimmt die offizielle Statistik immer noch eine
französische Sprachinsel an. In den Südvogefen haben wir Gelegenheit gehabt,
den Irrtum der amtlichen Sprachenkarte aus eigner Erfahrung festzustellen.
Schnierlach, Diedelshausen und Nobers gelten als stockfranzösisch, weil die alten
Weiber nur ihr entsetzliches Patois reden, während sonst jedermann deutsch
versteht.
Man hat durch die elsaß-lothringische Statthalterei einen neuen Mittel¬
staat geschaffen, der sich mehr und mehr vom Reiche absondert und auf eine
Stufe mit den wirklichen Bundesstaaten tritt. Diese Entwicklung hätte man
seiner Zeit von Berlin aus voraussehen und rechtzeitig von Reichs wegen Ab¬
hilfe schaffen sollen. Die altdeutschen Beamten, die glücklich in gut bezahlte
Stellungen gekommen sind, haben natürlich nichts dagegen, daß sich die Reichs-
lande immer mehr vom übrigen Deutschland absperren, da ihnen dadurch ein
unliebsamer Wettbewerb frischerer und besserer Kräfte aus dem Reiche erspart
bleibt. Bekanntlich war der ursprüngliche Schub altdeutscher Beamten keines¬
wegs eine Auswahl vorzüglich begabter und für diesen Zweck ausgesuchter
Leute, sondern die Mehrzahl bestand aus Leuten, deren Fortkommen im hei¬
mischen Dienst fraglich erschien, und die gern die leichten Prüfungen der Reichs¬
lande dem geregelten Verfahren ihrer Heimat vorzogen. Häufig schenkte man
auch das Assessorexamen ganz; sogar ein früherer Straßburger Polizeidirektor
erhielt ohne diese lästige Förmlichkeit eine wichtige Stelle, dafür spielte er aber
sehr gut Geige. Freilich sah sich die Verwaltung schließlich gezwungen, eine
Säuberung vorzunehmen; aber noch blieben sonderbare Elemente zurück, die
man auch nicht ohne weiteres vor die Thür setzen konnte. Die Achtung vor
den elsaß-lothringischen Landesbeamten war deshalb im Reiche nicht allzu groß.
Allerdings war jetzt dank der Überfüllung eine Besserung eingetreten, da der
hohe Gehalt bei schlechten Aussichten doch nicht mehr reizte. Aber auch diese
Lösung der Schwierigkeiten wurde durch einen neuen Fehler verhindert, die
Versöhnungspolitik hielt es für gut, die Landeskinder mehr heranzuziehen.
Nachdem aber diese ungezognen Lieblinge auf vieles Zureden und dank unan¬
gebrachter Bevorzugungen den Schmollwinkel verlassen hatten, wurden sie an¬
maßend und stellten den Grundsatz auf, daß die Besetzung der Amtsstellen ihnen
allein gebühre. Die Gewähr einer unbedingten reichstreuen Gesinnung war
nicht gegeben, wenn die einheimischen Beamten ihren Eid auch nicht absichtlich
verletzen. Aber schon der oben erwähnte Fall, daß sich ein lothringischer Richter
nicht scheut, öffentlich für eine fremde Sprache als die Volkssprache einzutreten,
beweist, daß der eingeborne Richterstnnd nicht für den Kampf gegen das Fran-
zosentum zu haben ist. Es ist die Schuld der Kreisdirektoren und der von
der Negierung bestellten oder gewählten Bürgermeister der größern Städte,
daß sich die französische Sprache im Oberelsaß überhaupt noch an die Öffent¬
lichkeit wagt. Das scharfe und stramme Präfektursystem aus der französischen
Zeit giebt dem Verwaltungsbeamten solche Vollmachten und so viele Handhaben
zur Unterdrückung dieser lcindes- und volksverräterischen französischen Nei¬
gung, daß man es den sogenannten Notabeln nicht verargen kann, wenn sie
ihr nur äußerlich vvrgcbundnes Frcmzosentum immer unverschämter zur Schau
tragen. Das Wahlfürstentum des Statthalters, der gleich seinen Vorgängern
kein Berufsbeamter gewesen ist, fördert nur das gefährliche Treiben, da es den
Stellvertreter des Kaisers mit seinen landesherrlichen Ehren von der Volks¬
gunst abhängig macht. In den öffentlichen Reden der Statthalter Pflegen
darum absichtlich nationale Anklänge zu fehlen, obschon zur Wohlfahrt eines
dentschen Volksstamms zunächst die Erhaltung seines Volkstums gehört. Aller¬
dings redet jetzt der höchste Landesbcamte wenigstens nicht mehr grundsätzlich
jeden Elsässer französisch an, wie es der erste Statthalter that.
Die Folgen dieser amtlichen Begünstigung des französisch gesinnten Elsüsser-
tums sind auch nicht ausgeblieben. Das einheimische Beamtentum läßt es
aus erklärlichen Familien- und Gesellschaftsrücksichten an der erforderlichen
Strenge fehlen, und die altdeutschen Amtsgenossen müssen sich infolge dessen,
um unliebsame Vergleiche ihres Vorgehens mit dem Verhalten der Einheimischen
zu vermeiden, ebenfalls eine ungerechtfertigte Müßigung auferlegen. Übrigens
gedeiht das französische Kräutlein unter den Augen der höchsten Negiernngs-
stellcn selbst nicht weniger üppig. Während der Gebrauch der französischen
Sprache aus den öffentlichen Verhandlungen des Landesausschnsses, der Be¬
zirks- und Kreistage so ziemlich entfernt ist, wird in den geheimen Ansschuß-
sitznngen dieser Landesvertretuugen um so absichtlicher französisch gesprochen,
ohne daß die Vertreter der deutschen Staatsgewalt gegen diesen Unfug ein¬
schreiten, von den Gemeinderatssitzuiigcn in Kolmar und Mülhausen ganz zu
schweigen. Leider färbt diese bedauerliche Schwäche der Negierung anch auf
die militärischen Verhältnisse ab und bedroht dadurch die Sicherheit des
Landes.
Die Militärbehörden sind öfters gezwungen, sogenannte Waldwirtschaften,
wo die Protestlerischen Elsässer den Ton angeben, besonders zu übermachen
und wegen möglicher Zusammenstöße und Aufreizungen durch andre Gäste den
Soldaten den Besuch zu verbieten. In einer größern Stadt des Oberelsasses
war dies bei einer bessern Wirtschaft ans dem erschwerenden Grunde geschehen,
weil bei einem Raufhandel ein Soldat erstochen worden war, ohne daß der
Thäter festgestellt werden konnte. Die Walles und der Wirt hielten eben sogar
bei einem offenbaren Verbrechen zusammen und verhinderten, daß die Strnf-
rechtsvflege ihren Lauf nehmen konnte. Trotzdem wird diese Wirtschaft mit
Borliebe von frühern Einjährigen besucht, es erscheinen sogar gelegentlich im
Dienste stehende Einjährige, und die Unterhaltung wird demonstrativ französisch
geführt. In Altdeutschland Hütte die Polizei die zuständige Militärbehörde
sicher auf dieses Treiben aufmerksam gemacht, das der dortigen nicht entgangen
sein kann. Vielleicht fürchtet sie aber unerfreuliche Auseinandersetzungen im
Gemeinderate, wenn sie ihre Pflicht thäte, und nachdrücklicher Schutz der staat¬
lichen Aufsichtsbehörde erscheint bei den gegenwärtigen Verhältnissen und der
friedfertigen Stimmung in den Regierungskreisen auch höchst zweifelhaft. Dieses
Beispiel ist aber vorbildlich und findet seine Bestätigung in allen Garnison-
städten, wo sich die Truppen bei solchen Zuständen wie im Feindesland fühlen
müssen. Im Oberelsaß treffen sich daher auch die Osfiziersfanulien nicht
einmal am dritten Ort mit den Angehörige» der guten elsässischen Gesellschaft.
Diese Verhältnisse sind aber unhaltbar und für den Bestand des Reichs,
das schon genug unter den Sondergclüsten einzelner einflußreicher Kreise zu
leiden hat, geradezu gefährlich. Hier können aber nur energische Maßnahmen
helfen, die das falsche Franzosentum ins Mark treffen. In nationalen
Fragen weht ja jetzt im Reiche ein frischerer Wind. Es ist falsch, zu erwarten,
daß die altdeutsche Eiuwaudruug und der Abfluß der unznfriedneu Ein¬
heimischen die beste Verdeutschung seien, n»d anzunehmen, daß diese bisher für
das mäßige Ergebnis der bisherigen Germanisation von beträchtlicher Be¬
deutung gewesen seien. Man sollte vielmehr die widerhanrigen Deutschen, die
das Land verlassen, mit kräftiger Hand ihrem eignen Volkstum wieder zuführen.
Frankreich wimmelt schon von Elsässern, die jetzt selbst dem französischen Chau¬
vinismus lustig werden, da sie verhätschelt sein wollen und den gebornen
Franzosen die besten Erwerbsgelegenheiten wegnehmen. Man ist nachgerade
neidisch auf die elsässischen Verbannten geworden, die sehr praktisch die Schwäche
des alten Adoplivvaterlandes auszubeuten verstehn. Aber welche Volkskraft
ist uns dadurch verloren gegangen! Frankreich erneut sich thatsächlich mit
deutschem Blute, und diesem Vorgang sieht die Regierung ruhig zu. Frank¬
reichs Kolonialkriege führt der deutsche Krieger, da zwei Drittel der Fremden¬
legion ans Deutschen bestehn, darunter 7000 Elsässer, lind welchen Bedarf
an Menschenmaterial fordert alljährlich diese mörderische Fremdenlegion! Die
schlimmste Gewaltherrschaft im Elsaß hätte nicht solche Wirkung hervorbringen
können, wie diese schwächliche, wider Willen antinationale Haltung der Negie¬
rung. Der Umstand, daß das deutsche Heimatsgefühl einen beträchtlichen Teil
der Auswandrer im lothringischen Grenzlande festgehalten hat, ist kein Verdienst
der Negierung, ebenso wenig wenn wir in einem künftigen Kriege erfreulicher¬
weise damit rechnen dürfen, daß wir den noch bei Frankreich gebliebner Teil
Lothringens dank dieser elsässischen Verstärkung der ursprünglich deutschen und
nur oberflächlich französierten Bevölkerung schon wieder etwas verdeutscht vor¬
finden werden. Übrigens hat die altdeutsche Eiuwaudruug nicht einmal die
Lücken gefüllt, die der Auszug der Landeseingebornen verursacht hat. Der
italienische Sommerarbeiter, ein gefährliches Element der Unordnung, bleibt
schon häufig auch im Winter in dem schönen Lande und wird sich schließlich
seßhaft mache». Trotz der großen Industrie hat früher im Oberelsaß niemals
Arbeitermaiigel geherrscht, da der Kleiubetrieb der Landwirtschaft auch außer-
halb der Erntezeit viele Hände beschäftigt und somit die bedenkliche Saison¬
arbeit vermieden wird. Gegenwärtig wandern aber der junge Bursche und die
kräftige Magd mit Vorliebe in die französische Fremde, wo ja auch höhere
Löhne winken und nach den Schilderungen des gewissenlosen französisch ge¬
sinnten Pfarrers und des geistesverwandten Fabrikherrn das gelobte Land der
Freiheit ist. Thatsächlich hat diese elsässische Landflucht die Löhne der Ita¬
liener so gesteigert, daß der zur Auswandrung verführte Knecht in der Heimat
schließlich doch sein besseres Auskommen fände. Die Behörden sind diesem
Treiben mit wirkungslosen Warnungen vor dem Eintritt in die Fremdenlegion
und vor der Versäumnis der Wehrpflicht entgegen getreten. Freilich sind die
gesetzlichen Handhaben für die besondern Verhältnisse der Neichslmide unge¬
nügend und mehr auf das übrige Deutschland zugeschnitten, wo sie auch schon
anfangen, sich als mangelhaft zu erweisen.
Die Mittel zur Ausmerzung der französischen Sprache sind, soweit sie
nicht schon vorhanden sind, gesetzlich zu gewähren. Als ein in italienischer
Sprache in Nizza erscheinendes Blatt den Schutz der italienischen Nationalität
dieses durchaus nicht französischen Landstrichs forderte, wurde sofort ein
Sondergesetz erlassen, das die in fremder Zunge gedruckten Zeitungen den
ausländischen gleichstellte, und dadurch wurde das italienische Blatt einfach
auf dem Verwaltungswege unterdrückt. Der fast niemals angewandte Dik-
tatnrparagraph der französischen Zeit erlaubt aber ohne besondre gesetzliche
Bestimmung ein solches Verbot. Es ist eine nationale Pflicht der Regierung,
die französisch geschriebn? Presse des Landes einfach aus Grund dieses Gesetzes
zu beseitigen, da keinerlei Bedürfnis für eine französische Landeszeitung vor¬
liegt. Die ungebildeten Grenzer Lothringens lesen außerdem diese elsässischen
Hetzblätter gar nicht, sondern überall findet man die kleinen Provinzzeitnngen
des französischen Lothringens und die Pariser Sonblätter. Natürlich muß
man durch einfaches Polizeiverbot den französischen Blättern ebenfalls die
Grenze verschließen. Der deutsche Bilduugsphilister mag dies sehr grausam
und hart finden, ja vielleicht sogar als mittelalterliche, gewaltsame Verdum¬
mung brandmarken. Thatsächlich liegen in allen Wirtschaften des Oberelsasses,
auch in solchen, die nur von Altdeutschen besucht werden, die großen franzö¬
sischen Blätter aus. Ihre Kenntnis ist unbethvrten Gemütern sicherlich nicht
schädlich, aber der französisch gesinnte Elsüsser folgert nicht ohne eine gewisse
Berechtigung aus dieser Thatsache der allgemeinen Verbreitung der französischen
Presse, daß die Reichslande ein halbfranzösisches Zwitterland sind. Ist der
PostVertrieb der Zeitungen untersagt, so wird natürlich die Einschmuggelung der
französischen Zeitungen uuter Deckumschlag nicht aufhören, aber sie verschwinden
aus den Gasthöfen und Schankstcitten, und die Post kann die unerlaubte Ein¬
führung erheblich erschweren. Die französischen Bücher und die selbstverständ¬
lich unbehelligt zu lassenden wissenschastlichen Zeitschriften werden niemals
dieselbe Wirkung wie die politischen Revancheblätter haben; freilich ist auch
den technischen Fachblättern der Zutritt über die Grenze zu verwehren.
Auch Kirche und Schule müssen als öffentliche Anstalten der Erbauung
und des Unterrichts von der französischen Strömung gereinigt werden. Das
napoleonische Konkordat gewährt dem Staate ein Aufsichtsrecht, wie es leider
sonst nirgends in Deutschland besteht. Die christlichen Kirchen sind völlig der
Staatsgewalt unterworfen, und die Geistlichen sind Staatsbeamte, deren Ge¬
halt der Staat beliebig sperren kann. Das evangelische wie das katholische
Kirchentum sind trotzdem Hochburgen des Franzosentums, und die katholische
Kirche ist natürlich ein noch schlimmrer Feind des Deutschtums, obschon beide
bischöfliche Oberhirten Altdeutsche sind. Es ist Thatsache, daß der französische
Gottesdienst im sogenannten französischen Sprachgebiet zwar unwesentlich ab¬
genommen hat, während er jetzt ganz verschwunden sein müßte, daß aber in
den größern Städten des deutschen Sprachgebiets, wo überhaupt nie ein Be¬
dürfnis dasür vorgelegen hat, die bisherige französische Predigt nicht mir bei¬
behalten ist, sondern sogar noch weitere französische Messer eingeführt sind.
Wenn dabei vor allem die katholische Kirche ein Vorwurf trifft, deren Priester-
seminare französisch unterrichten, jedenfalls die französische Sprache in jeder
Weise begünstigen, so drängt doch auch das evangelische Bekenntnis die fremde
Sprache nicht zurück, wie ja schon das Beispiel des reformierten Konsistorial-
prästdenten beweist. Nun sind aber die christlichen Kirchen der Reichs¬
lande förmliche Staatskirchen, wo der Staatswille bedingungslos entscheidet
und daher auch zur entsprechenden Geltung gebracht werden kann; und doch
ist, trotz der beiden altdeutschen Bischöfe, die französische Gesinnung des ihnen
unterstellten Klerus so offenkundig, daß man das Verhalten der jungen Kle¬
riker als aufreizend bezeichnen muß. So ist anch die Redakteurstellnng des
antideutschen Abbes Wetterle vom ^onrinU as Lolirmr einfach unvereinbar mit
dem Konkordat, die Schuld für solche Dinge trifft aber allein die Regierung,
die eben von ihrer Macht keinen Gebrauch macht. Es muß jeder Priester
oder Pastor, der seine französische Neigung zur Schau trägt, seines Amtes
entsetzt werden. Jeder französische Gottesdienst außerhalb des immer mehr zu
beschränkenden amtlichen französischen Sprachgebiets in Lothringen — im Ober-
elsaß giebt es überhaupt keins — muß untersagt, und der französische Unter¬
richt und die französische Unterhaltung in den Priesterseminaren verboten
werden. Damit fällt die gefährlichste Pflanzstätte der geistlichen Französierung,
die, ohne daß sie es wissen, auch die evangelischen Geistlichen ansteckt. Denn
schon aus entschuldbarer Eitelkeit und aus erklärlicher Hascherei nach der Volks¬
gunst folgt der protestantische Pfarrer dem Übeln katholischen Beispiel. Daß
der staatliche Einfluß vor der Macht der Kirche, wie im Kulturkampf, zurück¬
weichen müßte, ist nicht zu befürchten, da die kirchliche Autorität gar nicht in
Frage kommt. Die Bischöfe sind gute Deutsche und von den besten Absichten
beseelt. Gerade ihre nationale Einwirkung muß mit den Machtmitteln des
Staates gestärkt werden. Selbst das Zentrum kann sich nicht als Schützer
der Franzosen aufspielen wollen, zumal da es im protestlcrischen Lager trotz
alles Liebeswerbens noch sehr kühl behandelt wird, wie der jüngste Versuch in
Straßburg gezeigt hat. Die Polen sind thatsächlich ein fremdes Volk, in
Elsaß-Lothringen handelt es sich aber um Deutsche, denen der französische
Teufel ausgetrieben werden soll.
Die deutsche Volksschule hätte längst das französische Sprachgebiet erobern
müssen, nachdem ein ganzes Geschlecht darin Unterricht genossen hat, und über¬
dies der Kriegsdienst geholfen hat und das vollenden konnte, was eben der
Schule noch nicht gelungen war. Aber hier hat der Irrwahn gewirkt, daß
der Religionsunterricht in dem fälschlich als Muttersprache angesehenen Fran¬
zösischen erteilt werden müsse. Der ganze Volksschnlunterricht beruht auf
religiöser Grundlage, und es ist deshalb nur eine Willkür, die besondre
Neligionsstunde als das religiöse Erziehungsmittel anzusehen. Die altdeutsche
Schulweisheit hat sich aber gar nicht ernstlich bemüht, mit diesem gefährlichen
Aberglauben zu brechen, und ist besonders dem französierenden Klerus mit
rührender Willfährigkeit entgegengekommen. Ist dabei die unterste Stufe der
staatlichen Unterrichtsanstalten ziemlich erfolglos mit dem Werk der Ver¬
deutschung gewesen, so hat befremdlichermeise die Mittelschule sogar indirekt
französiert. An sich ist es sicherlich erfreulich, daß gerade der französische
Unterricht in den elsässischen Schulen mustergiltig ist und sehr vou der mangel¬
haften Art in Altdeutschland absticht. Der altdeutsche Schüler lernt daher im
Reichslande sehr bald sich fließend französisch ausdrücken. In den Mädchen-
schulen ist das Ergebnis noch besser als in den Knabenschulen, wie ja auch
im übrigen Reiche die Mädchen viel sprachgewandter sind als die armen
Jungen, die vor allem die toten Sprachen zu bewältigen haben. Aber der
junge Elsässer und seine Schwester lernen häufig die fremde Sprache nnr, um
sich ihrer nachher als Umgangssprache wider die nationale Absicht des Unter¬
richts zu bedienen. Wir haben diesen betrübenden Erfolg an zahlreichen Bei¬
spielen selbst beobachtet, wie schon angedeutet worden ist. Die Schule arbeitet
dem Franzosentum in die Hände, indem sie den Kindern die französische Sprache
beibringt, die die Eltern vielleicht selbst nur unvollkommen beherrschen, wie
man es täglich auf den Straßen hören kann. Die Schulverwaltung hat auch
diesen Mißstand empfunden und den französischen Unterricht nicht unbedeutend
eingeschränkt, dann aber dieses nationale Gebot der Selbsterhaltung wieder
fallen lassen. Der unverständige Altdeutsche freut sich zu sehr über die be¬
queme Art der Aneignung der französischen Sprache, die leider Altdeutschland
nicht bietet. In dem stets gefährdeten Grenzlande müssen wir aber einen
andern pädagogischen Maßstab als sonst anlegen, und auch die Jugenderziehung
muß dem nationalen Gedanken untergeordnet werden. Unter Umstünden auf
Kosten der allgemeinen Bildung, so bedauerlich dieser Rückschritt auch wäre,
muß dem Franzosentum die Möglichkeit genommen werden, unsre gute deutsche
Schule seinen Zwecken dienstbar zu machen. Im öffentlichen Leben ist die
französische Sprache, gegen die ja kein Deutscher persönlichen Haß empfindet,
mit allen Mitteln zu unterdrücken. Gereicht der bisherige Unterricht der Lyceen
und höhern Fachschulen ihr zum Vorteil, so muß er so gestaltet werden, daß
die gerügte Ausartung vermieden wird. Die Elsässer haben es sich ja dann
auch selbst zuzuschreiben, wenn der Sprachunterricht unter die bisherige Höhe
sinkt. Selbstverständlich darf die Erfüllung der Schulpflicht im Auslande
überhaupt nicht mehr geduldet werdeu, und hier muß gesetzlich eingegriffen
werden, und zwar von Reichs wegen, da die Notabelnversammlung des Landes-
ausschusses mit ihrer französischen Vornehmthuerei natürlich versagen wird.
Die Berechtigung zum einjährigen Freiwilligendienst braucht nur an die Be¬
dingung des Besuchs eiuer reichsdentschen Anstalt geknüpft zu werden, um
diesen Zweck zu erreichen. Für die weibliche Erziehung bedarf es freilich einer
ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift über den Schulzwang auf deutschem Boden,
und zwar über die Zeit der Volksschulpflicht hinaus, damit nicht die höhern
Töchter noch in ein französisches Pensionat oder ein Kloster jenseits der Grenze
geschickt werden. Freilich darf sich dann der deutsche Schullehrer auch nicht
außerhalb der Schule mit seinen Pflegebefohlnen im scheußlichen Patois unter¬
halten, wie wir es in Pairis gehört haben, obschon dieser angeblich noch fran¬
zösische Weiler in das endlich auch amtlich deutsche Urbeis eingeschult ist.
Dem Manne soll kein Vorwurf gemacht werden, da ihm die Höhere Einsicht
nicht zugemutet werdeu kann, die nicht einmal seine vorgesetzte Behörde zeigt.
Fassen wir zum Schlüsse die Eindrücke zusammen, die die sast dreißig¬
jährige Zugehörigkeit des Oberelsnsses zu seinem Mutter- und Stammlande
gewährt, so versteht man nicht, wie die deutsche Verwaltung eine aufrichtige
Zufriedenheit über ihre Leistungen an den Tag legen kann. Auf Schritt und
Tritt sieht der unbefangne Beobachter, wie das vaterlandslose Elsässertum mit
französischem Anstrich in alter Stärke fortdauert und die innerliche Verdeutschung
völlig ausgeblieben ist. Der an eine harte Herrenfaust gewöhnte Elsässer, der
sich bis zur Wende des vorigen Jahrhunderts wacker gegen den welschen Be¬
drücker gewehrt hat, betrachtet mit Recht die zweckwidrige Milde seines Mutter¬
landes als Schwäche und posiert in echt deutscher Fremdenliebe als gekränkte
Unschuld. Die Zeit der fortgesetzten Mißgriffe und der allzu bescheidnen
Selbstgefälligkeit muß aber endlich aufhören, soll dem Reiche nicht eine dauernde
Gefahr aus 'dem Besitze dieses alten deutschen Volksbodens erwachsen, der nach
seiner Sprache nie französisch gewesen ist. Das Oberelsnß muß vor die un¬
zweideutige Wahl gestellt werden, entweder freiwillig das unechte französische
Gewand/ wie es der höhere Mittelstand zu tragen beliebt, fallen zu lassen,
oder die volle Schärfe eiuer wahrhaft nationaldeutschen Herrschaft am eignen
Leibe zu empfinden. Auch der Brotkorb der wirtschaftlichen Förderung muß
im zweiten Falle den störrischen Fabrikherren möglichst hoch gehängt werden.
Dann wird der Übermut schnell schwinden. Allerdings darf sich die Negierung
nicht als die Hüterin eines neuen Kleinstaats fühlen, was ihrer Selbstachtung
freilich sehr schmeichelt. Die Aufrechterhaltung des französischen Notariats,
das keine Eigentümlichkeit der Reichslande, sondern eine gemeinsame napoleo-
nische Rechtseinrichtung des deutschen linken Rheinufers ist, beweist aufs neue
die Sucht der Regierung, selbst veraltete Institute als elsaß-lothringische Sonder¬
barkeiten zu erhalten, auch wenn sich die altdeutschen Landschaften der neuen
Rechtseinheit fügen müssen.
oesie soll denn auch von mehr als einer Seite entgegenbringen
und fühlbar werden. Nicht bloß in dem Sinne von mehr als
einer Seite, daß dichterische Werke angeschaut werden aus den
verschiednen Sprachen, die zur Erlernung kommen, und auch aus
den verschiednen Zeiträumen, in denen die Dichtung der Mutter¬
sprache Blüten getrieben hat. Darüber gerade mögen aber doch
einige Erwägungen eingeschoben werden. Es ist viel schwerer, als die meisten
glauben, Poesie aus fremder Lebenssphäre ganz zu verstehen und verstehen zu
machen. Viel mehr und ganz andres stellt sich dazwischen als die Sprache
an sich. Man nimmt dabei im allgemeinen von den Linien der seelischen Be¬
wegung deutlich doch uur die höchstgeschwungnen Kurven wahr, und von dem
oft stillen und zarten Reiz der Form der Sprache muß vieles verloren gehn.
Was ein Wort, was eine Verbindung dem Einheimischen und von der Natur
selbst Eingeweihten sagt, in ihm wiederhallen läßt, kann von dem Fremden
kaum geahnt werden. Ein Vers aus Goethes Iphigenie, der für uns die
reinste seelische Musik ist, bedeutet dem unsrer Sprache kundigen Ausländer
doch oft nicht mehr als eine Sentenz, einen verständigen Gedanken, vielleicht
gar einen selbstverständlichen. Und so ist auch uns vieles an dem draußen
Gesungnen nur geordnetes Geräusch oder verständiger Sinn, aber noch nicht
hoher Klang. Erst das andauerndste, tiefste und sorgsamste Einleben vermag
all das Starre zu beseelen, und nur Einzelne gelangen dazu. Am ehesten wird
es denen, die selbst Dichter sind, gegeben, auch in die Poesie fremder Zungen
und Seelen unmittelbar hineinzubringen, selbst ohne etwas von philologischer
Meisterschaft über die Sprache; und das ist ja auch nicht wunderbar.
Selbst die antike Poesie, die nun allen Völkern gleichmäßig und voll zu
gehören scheint, oder für die wir Deutschen sogar — wenigstens wird das der
griechischen gegenüber nicht selten behauptet — eine besondre natürliche Re¬
sonanz zu haben glauben (obwohl freilich verschiedne andre Nationen für sich
ungefähr die gleiche Behauptung aufstellen), kann ja in uns nicht den Wieder¬
hall finden wie in den ursprünglichen Hörern, schon deshalb nicht, weil wir
uns das ganze System der Wvrtklänge nur sehr unvollkommen und unecht
zu reproduzieren vermögen, aber nicht bloß deshalb. Es bleibt eben in der
fremden Poesie immer nicht weniges Stoff, durch den keine feinen Adern der
Empfindung laufen, und es wird bei vielem die Form wahrgenommen, nicht
zugleich in ihrer innern Beseelung. Das nun ist für die geistige Erziehung
nicht so schlechthin vom Übel, da eben doch auch auf die Form als solche der
Blick einmal ernstlich gerichtet werden muß, und da sich diese Loslösung von
der bloßen Hingebung an den Stoff, wie schon vorhin berührt worden ist,
leichter gegenüber fremder Dichtung vollzieht als gegenüber der einheimischen.
Denn erst in dem Maße, wie die Form mit Ernst durchdrungen wird, reicht
man hier an deu Inhalt, während man sich bei der Dichtung der Mutter¬
sprache mehr vom Inhalt abwenden, ihn gewissermaßen verleugnen muß, um
die Form zu sehen, und die Fähigkeit, unmittelbar das eine in dem andern
zu lieben, erst das Ergebnis einer hohen Entwicklung ist.
Was die lebenden, d. h. die mit den unsrigen lebenden Sprachen betrifft,
so ist es dem Deutschen ja verhältnismäßig leicht, von der englischen eine
Wirkung zu empfangen und zu ihr eine Liebe zu gewinnen, wie zu der eignen.
Was innerste Natur in ihr ist. ist sächsisch, ist deutsch, das Romanische hat
nur eine Kulturbedeutung. Auch bei diesem anscheinend vollen Verständnis
lauft noch ein Maß von Selbsttäuschung unter, aber, wie gesagt, verhältnis¬
mäßig ist es erreichbar. Anders bei der romanischen Litteratur. Daß ein
Deutscher in die Freude an dem reichen Wohlklang eindringe, wie sie sür den
Romanen einen so wesentlichen Teil seiner Freude an der Poesie überhaupt
ausmacht, ist schwer und erfordert sicherlich eine andauernde Selbstbildung,
wenn nicht besondre günstige Verhältnisse. Eher könnte die psychologische
Klarheit und Durchsichtigkeit, die nicht selten bis zur Geradlinigkeit geht, diese
Poesie zur Verwendung bei der Jugendbildung zu empfehlen scheinen, auch
das Pathos, das der Jugend in einem gewissen Stadium so leicht zusagt.
Aber im ganzen bleibt doch das Empfindungsleben der Romanen wenigstens,
die im allgemeinen in unsre Jugendbildung eindringen, der Franzosen, und
bleibt auch deren ja so eigentümlicher und fein entwickelter Formensinn dem
jungen Sprossen germanischer Erde fremd, und einen wertvollen Beitrag zur
Bildung seines Innern wird ihre Poesie der Regel nach nicht liefern.
Selbst aus dem Gebiet der deutschen Dichtung erwarte man nicht tief¬
gehende Einwirkung von überall her. Die mittelhochdeutsche Lyrik, so sehr
wir uns ihrer Anmut und auch ihres Reichtums freuen dürfen (wir blicken
darauf ungefähr wie auf eine grüne Wiese mit zahlreichen anmutigen Blumen,
wenn auch ohne hohe Farbenglut, ohne starken Duft, ohne reichgefüllte, tiefe
Kelche oder üppiges Blätterwerk), sie bleibt den Menschen von heute doch im
allgemeinen fremder oder nach ihren innersten Reizen ferner, als ihre von
Fnchbegeisterung durchtränkten Freunde anzunehmen pflegen. Selbst das Ni¬
belungenlied hat meiner Überzeugung nach in Vilmars zusammenfassender
Prosaerzühlung bei der deutschen Jugend breitere und tiefere Wirkung gethan
als die mittelhochdeutsche Dichtung selbst, und um Walther oder gar Wolfram
eigentlich zu schätzen, muß man etwas von einer gottbegnadeter Einfalt oder
von der feinsinnigsten Empfänglichkeit und einer gewissen seelischen Spürkraft
haben, wie das doch eben nicht Allerweltsvorzug ist. >
Und die Gegenwart? die ganze Zeit seit Goethes Tod? Es ist sehr be¬
greiflich, daß sich immer wieder Stimmen erheben, die auch den Reichtum der
neuen deutschen Dichtung der zu bildenden Jugend eröffnet wissen wollen
und es für eine Art von Zopf oder Pedanterie erklären, daß man immer auf
derselben Stelle treten, immer nur „Klassiker" in einem engen Sinne hin und
her wenden wolle, deren Kunstgebiet doch auch seine Schranken habe und er¬
gänzt worden sei durch Sängerstimmen aus andern, aus frischern Regionen.
Es wäre in der That sehr unrecht, diesen Reichtum verschlossen zu halten,
statt ihn zu entfesseln und auszugießen. Das frühere Jugendalter zumal
kann ja fast nur aus diesem Börne trinken. Aber ablösen sollen alle die
Tüchtigen und Edeln und Anmutendeu doch unsre Großen nicht, und auch
nicht mit gleichen Ansprüchen an ihre Zeit und ihr geistiges Interesse vor
die Jugend hingestellt werden. Was aber die Allerneusten betrifft, so wird
es dem treuen Priester der Klassiker nicht leicht, ihrem seltsamen Saitenspiel
das Ohr zu leihen und ihre Stimmungen in seinem eignen Innern wieder¬
klingen zu lassen, und natürlich noch viel schwerer, ihre Wertmaßstäbe hin¬
zunehmen; sehr nahe liegt es vielen, auch gerade um die Jugenderziehung
Bemühten, ihrer nur spottend zu gedenken oder sie mit feierlichem Stolz ab¬
zuwehren. Man wird aber doch zusehen müssen, daß man sich darüber nicht
etwa innerlich von der Jugend zu sehr scheide. Die poetischen Ergießungen
der Gegenwart thun doch einem Bedürfnisse dieses jungen Geschlechts genug,
und wahrscheinlich einem rezeptiven ebenso sehr wie einem produktiven. Man
wird auf sie in den Kreisen der Jugend oder in solchen, mit denen sie in
Berührung kommt, schwören, sie preisen und rühmen und die Ablehnenden
als erstarrt, stumpf und unfähig hinstellen, als Zopftrüger etwa und Pedanten;
nichts aber möchte der junge Mensch sich weniger gern nachsagen lassen
oder sich selber gestehen, als daß er mit seinem Fühlen in solcher Abhängig¬
keit sei.
Nun darf ja freilich die Erziehung, wie sie nicht aufhören kann, den noch
leichten, von allen möglichen Winden ergriffnen und fvrtgetrcignen Willen
immer wieder in die Bahn der Ordnung zurückzurufen, so auch nicht ver¬
säumen, dem Interesse immer wieder das unzweifelhaft Große nahe zu
bringen. Die Schule soll eben auch immer die Schule der Klassiker bleibe«!
Aber ich würde doch raten, das Auge offen zu halten für das, was etwa
auf noch ganz ungewohnten Bahnen zu schätzbaren Ziele hinstrebt, auch der
Jugend alle Bereitwilligkeit zur Würdigung des Neuen, des Jungen und Kom¬
menden zeigen: das verbindet mit ihr, wie jenes entgegengesetzte Verhalten
von ihr scheidet. Und das wird denn auch die Möglichkeit gewähren, Grenzen
zu ziehen, Kritik zu üben, Verachtung zu zeigen dem Verächtlicher und Zorn
dem Frechen und Nichtswürdigen. Denn an diesen letztern Spielarten fehlt
es offenbar nicht. Und wie nervös die Künstler sich auch immer wieder ge¬
bärden mögen und die kongenial sein wollenden Kritiker mit ihnen, wenn man
auch nur den Schein erweckt, ihnen mit so etwas wie dem Maßstab der Tugend
nahen zu wollen, wie eifrig man auch immer wieder der Kunst Komplimente
macht, die nur Können ist: die wahrhaft große Kunst hat zu allen Zeiten
hohe Ziele gehabt, nicht bloß das Ziel, ungeklärte Stimmungen auszudrücken;
bei ihr galt es immer, sich durch des Künstlers Kraft über sich selbst empor¬
zuheben und mit sich die vielen rings umher.
Ich denke, die Zeit ist noch nicht gekommen (und wenn sie kommen sollte,
so müßte sie doch wieder vorübergehn), wo man Schillers so müde geworden
Ware oder so überweise auf ihn hinabzusehen sich gewöhnt Hütte, daß man ihn
nicht mehr als den großen Erzieher der deutschen Jugend schätzen und nützen
wollte, ihn. dem wir ein so gewaltiges Bruchteil von dem verdanken, was an
idealistischer Kraft in uns lebt oder in unserm Jahrhundert Bestand gehabt
hat, der der Dichter der Ringenden bleibt, wie unsre Jugend selbst sich des
innern Ringens nie begeben soll. Und auch Uhland würde man nur in
schnöder Anwandlung von seinem minder glänzenden Throne stoßen, ihn, der dem
deutschen Knaben- und Jünglingsgemüte solche Romantik bietet, wie sie ihm
Bedürfnis und in sich gesund ist. Doch wie könnte ich hier aller einzelnen
gedenken, deren gemeinsame Einwirknng den vielen Lernenden ein edles und
gleichartiges und innerlich verbindendes nationales Empfinden übermittelt, und
deren stets erneutes Anschauen auch beiträgt, den lehrenden Mann innerlich
jung zu erhalten (wenns ihm auch die große Menge draußen nicht an seinen
Mienen ansehen will)! Die Dichtersprache seines Volkes verstehen lernen, das
heißt in einem zweiten und höhern Sinne die Muttersprache selbst erlernen. Die
Menschen, die ihre heilige Stimme nicht vernehmen, können in der Nation nur
als füllende Masse mitzählen.
Daß an den Stätten, die der Nation verständnisvolle und selbständig
fühlende Mitglieder zuführen sollen, daß in den höhern Schulen gegenüber der
Vornehmheit der Aufgabe viel Ungleichheit des persönlichen Geschicks, der
Wärme, der Klarheit und der Kraft anzutreffen ist, wird als selbstverständlich
gelten müssen, und wenn oft genug wirkliche Unzulänglichkeit nicht über¬
wunden wird, so ist auch das nur ein natürlicher Zustand. Wie viel einzelnes
bleibt doch noch zu bedeuten und zu ordnen! Denn alle unsre vorstehenden
Betrachtungen waren fast nur ein Hinstreifen über die Gesamtfrage. So gilt
es. den Zeitpunkt der rechten Empfänglichkeit zu ermessen für die einzelne
Dichtung oder für die Arten und Gebiete, insbesondre auch der Verfrühung zu
widerstehen und zu wehren, zu der die Neigung nicht gering ist, zumal bei der
Erziehung der weiblichen Jugend. Es gilt, die natürliche Folge von epischer
und dramatischer Dichtung zu bewcchreu und dabei doch jedem einzelnen Werke
seine Stelle nach Maßgabe seines Wesens zu geben. Es gilt, von den Dich¬
tungen der einen Sprache Licht hinüberfallen zu lassen auf die der andern.
Es gilt die Verflechtung belebender Gedichte auch in den vaterländischen Ge¬
schichtsunterricht. Es gilt die Gewinnung nationalen Empfindens auch aus
dem sich nicht an vaterländische Stoffe bindenden Bereich der Dichtung. Es
gilt, durch die Pflege eines lebendigen und edeln Vortrags den poetischen Er¬
zeugnissen ein volleres Leben zu geben, oder vielmehr, ihnen ihr volles Leben
zu wahren. Dies alles und noch vieles andre, das an dieser Stelle nicht
zur Erörterung kommen soll.
Aber Poesie ist uns im Grunde doch nicht bloß, was von Dichtern ge¬
fühlt, gesagt, geformt ist. uns mit dem Gefühl des kunstvoll Geschlossener er¬
füllt und befriedigt. Das Wesen der Poesie vernehmen wir noch in den
großen Handlungen der Menschen, in all ihrem großen Sehnen und auch in
ihrem großen Leiden/ Ganz nahe verwandt ist der Poesie die Religion; und
wo sie aufhören will es zu sein, wo sie nicht von den freien, tiefen, ursprttng-
lichen Regungen des aufwärts ringenden Herzens getragen sein will, sondern
von außen gesetzt und eingeflößt, da ist sie immer in Gefahr, selbst zu zer¬
gehen, tot zu sein, während sie wähnt noch Leben zu haben. In der Bibel
ist — und nicht etwa ausdrücklich in dem, was man dort poetische Bücher
heißt — so viel höchste Poesie, daß sie niemals verdunkelt werden wird von
all dem Schönen, was dichterischer Menschengeist noch zu sagen wissen wird;
es giebt eben Gedanken, die durch sich selbst Poesie sind, ohne daß sie erst des
Hindurchgehens durch einen formenden Dichtergeist bedürften. Giebt es in der
Welt des Stoffes keine Edelsteine, die nicht erst geschliffen werden müßten, um
ihren vollen Glanz auszustrahlen, unter den geistigen Edelgütern ist es anders.
So bleibt jene biblische Poesie auch — nicht nach Satzung und Übereinkunft,
sondern unmittelbar durch sich selbst — immer hoch über dem, was als reli¬
giöse Dichtung, als Liederschatz der frommen Gemeinde daneben geschätzt und
gepflegt wird.
Ob von all dem Letzten auch für die Jugenderziehung so volle Wirkung
thatsächlich ausgeht, wie man wohl annimmt? Es ist sich habe meine Meinung
längst in anderm Zusammenhange ausgesprochen» in diesem breiten und weiten
Liederschatz auch viel Schwungloses, das nicht emporträgt, viel Wohlgemeintes,
das nicht wohlgelungen ist, viel bloß Verständiges, das nicht Lied ist, wenn
es auch von Hunderten zur Orgel gesungen wird, und die Neigung, sich am
Heruntersingen und Hersagen oder Herunterleiern der gereimten Worte genügen
zu lassen, ohne zu dem Inhalt ein eigentlich bewußtes Verhältnis zu erlangen,
ist hier wiederum groß und liegt nahe genug. Nur das Allerbeste auch aus
diesem Gebiete vermag noch als Poesie fortzuwirken dann, wenn die Jahr¬
hunderte die Sprache still gewandelt haben, und den gleichen Worten vielfach
ein andres Empfinden gegenübertritt. Reichtum an religiöser Dichtung ist
trotz alledem bei uns vorhanden, Reichtum bleibt auch, wenn man all das Un¬
lebendige, Dürre und Starre ausscheidet. Es fehlt nicht an klassischen Liedern
des heiligen Mutes, der zu innerm Siege führt, statt zu äußerm, nicht an
Liedern des heiligen Vangens, noch an solchen der heiligen Sehnsucht, die über
sich selbst und alles Irdische hinwegstrebt. Mystische Geistesrichtung hat zu den
verschiedensten Zeiten und in mannigfaltigen Ausdrucksformen Lieder von der
schönsten Poesie eingegeben. Klopstock und Novalis treten zu Scheffler,
Tersteegen, den Zinzendorff. Im ganzen ist die Zahl der dichterischen Er¬
gießungen groß genug, die noch etwas sind über das korrekte Gemeindelied
hinaus, in denen Religion und Poesie einander verklären. Möchten auch im
erziehenden Jugendunterricht diese Blüten immer mit zarter Hand berührt und
mit feinem Sinne wirksam gemacht werden!
Daß sich auch die großen Handlungen der Menschen, daß sich die Er¬
scheinung der auf höhern Bogenwege» über die Mitwelt einherschreitenden
Persönlichkeiten als Poesie unmittelbar fühlbar machen, ist schon mit ausge¬
sprochen worden. Und die großen Schicksale kommen hinzu. Die strenge
Miene der sinnenden Klio ist doch nicht unwandelbar, es leuchtet auch über
ihr Angesicht der Widerschein herrlicher Menschenthat und großer Erden¬
schmerzen. Dem Geschichtschreiber bedeutet die Wirklichkeit doch zugleich ge¬
wissermaßen ein Gebiet der Dichtung: er schaut das flach Reale plastisch und
läßt es andre so schauen, er hat doch auch — nicht unähnlich dem Dichter —
den Ereignissen eine Seele einzuhauchen. Und auch wer Geschichte nicht er¬
forscht und schreibt, sondern nur lehrt und übermittelt, hat etwas von diesem
Amte zu verwalten. Im Grunde ist es für den jungen Geist nicht so tief
verschieden, ob Gestalten und Handlungen und Schicksale im Gedächtnis der
Menschen aufbewahrt werden, oder ob sie aus der — von innerer An¬
schauung des Wirklichen befruchteten — Phantasie des Dichters stammen.
Thatsächlich erhöht die Empfänglichkeit für das eine die für das andre; und
so sind z. B. auch die jungen Leute, die, vom Fachunterricht ihrer Schule an¬
geregt, das Studium der Geschichte zu ihrer Lebensaufgabe machen wollen,
meist von der Poesie der Geschehnisse und Gestalten stärker ergriffen worden
als von dem Ziel der Wahrheitsprüfung, der Erkenntnis und Feststellung.
Übrigens kann man sagen, daß alle großen Ziele als Poesie wirken, und
daß ohne das große Ziele nicht gewählt werden würden, wie eben auch alle
großen, tiefen, mächtigen Empfindungen in sich selbst Poesie sind. Wem wäre
nicht Gneisenaus Brief an seinen König Friedrich Wilhelm unvergeßlich, der
ihn einmal gelesen hat: „Ew. Majestät werden mir .... abermals Poesie
schuld geben, und ich will mich gern hierzu bekennen. Religion, Gebet, Liebe
zum Regenten, zum Vaterland, zur Tugend sind nichts andres als Poesie;
keine Herzenserhebung ohne sie. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne ge¬
gründet." Und so weiter! Und zum Schlüsse, nach dem Preis der auf-
opferungsfreudigen Treue: „Das ist Poesie, und zwar von der edelsten Art;
an ihr will ich mich aufrichten mein Lebelang." So redete der Kriegsmann
in unsrer trüben und großen Zeit, damals, als unserm Volke die edelsten und
größten Männer auf allen Gebieten zugleich erstanden, von denen die Nach¬
welt erst ganz allmählich merkt, wieviel sie gewesen sind. Die Empfänglichkeit
der Herzen entwickeln, daß sie das alles empfinden, das heißt in der voll¬
kommensten Weise Poesie und Erziehung verbinden.
"
Zahllosen Mensche» ist die „Schule überhaupt das bestimmteste Gegen¬
teil von allem Poetischen, nicht bloß den werdenden jungen Menschen selbst,
denen Freiheit und Spiel Poesie ist. Freiheit der Glieder und der Gedanken,
Spiel im Freien und spielende Phantasie drinnen im Kopfe, sondern sehr viele
sehen auch nachher auf diese ganze Periode und die ganze Einrichtung mit
unüberwundnem Mißbehagen. Und in der That, wie viel Entsagung, wie
viel Zwang der Natur, wie viel Abhängigkeit und auch Eintönigkeit umfaßt
diese Reihe von Jahren! Es heißt eben durch eine dichte, dornige Hecke hin¬
durchkriechen, damit man dann auf freies Feld zu stehen komme; das bringt
unsre Kultur so mit sich. Daß gleichwohl auch in unsre höhere Schule viel
mehr Freiheit eingezogen ist als ehedem, daß die Pedanterie auf vielen Punkten
hat weichen müssen, der Zwang loser geworden ist, der Ton im allgemeinen
Persönlicher, das Urteil von größerm Verständnis für die Jugend getragen,
daß auch des erfrischenden Spiels mehr geworden ist und der guten Gelegen¬
heiten und Einrichtungen zum Spiel, daß selbst die Räume und ihre Aus¬
stattung immer allgemeiner aufhören, mit der ü^de von Gefängnissen Ähnlich¬
keit zu haben, daß die Schulfeste weniger trocken-gelehrt-abstrakt, daß sie
lebendiger, reicher, festlicher geworden sind, sollte man nicht verkennen — ob¬
wohl zum Anerkennen gegenüber der höhern Schule gegenwärtig wenig Bereit¬
schaft da ist, aber eine desto stetigere zum Anklagen. Und wie denn die Klagen
in ganz verschiedner Richtung der Windrose ergehn. so wird vielleicht schon
ganz bald die Beschwerde über das Ziileichtmachen, über das Fernhalten jeder
vollen und ernsten, strengen und selbständigen Geistesarbeit überwiegen, und
die Männer der vorgerückten Lebensjahre werden die eigne, mühereichere Aus-
bildungszeit poesievoller finden als die so wohlwollend geebnete Bahn ihrer
Söhne. Denn in der That, Kampf und Ringen sind eben doch auch Poesie,
sie sind es zumal, wenn sie zu Sieg und Höhe führen, und mancher würde
die Poesie des Erwachens am Morgen nach bestandnen schwerem Examen in
den Erinnerungen seines Lebens nicht missen wollen, wie er sich auch nicht
glücklich preisen würde, im Hanse des Luxus aufgewachsen zu sein.
Aber gedenken wir doch überhaupt auch noch des erziehenden Elternhauses,
nach all den Betrachtungen über die Schule. Nun ist ja wohl, wenn die
Schule als die Stätte des Zwanges und des Ernstes, des Müssens und der
Abhängigkeit dem natürlichen Menschen im Schüler im allgemeinen durchaus
als der Tod der Poesie erscheinen will, das Elternhaus im größten Gegensatz
dazu ein für allemal und für jeden Poesie, wird mindestens, wenn nicht immer
und unmittelbar, bei jeder Trennung und zeitweiligen oder endgiltigen Los-
lösung davon als solche gefühlt, und es macht dabei nichts aus, ob es schlichte
Hütte war oder prunkvolle Herrschaftswohuung oder waS sonst zwischen beiden!
Nichts, wirklich nichts?,. Die Unterschiede bleiben doch auch hier immer groß.
Oder könnte auch alle Öde, aller lähmende Druck, könnten Unfriede, Roheit
und Stumpfheit, an denen es — wiederum in Palast oder Hütte — so wenig
fehlt, ohne Bedeutung bleiben? Die Poesie der Jugend an sich, das Leben
in Hoffen und Erwarten und im Genuß des Augenblicks ist so stark, daß sie
wohl auch durch den Nebel so unerfreulicher Lebenssphäre hindurchdringt: aber
doch nicht immer. Es giebt doch auch Kindheit und Jugendleben, das um
seine Poesie betrogen wird, wie es Maimonate giebt, in denen zwar Blätter
und Blüten entfaltet dastehen, aber kein Sonnenstrahl auf sie scheint und nur
frostige Luft sie anhaucht. Doch dazu wirken ja stärkere Gewalten als der
Wille der Menschen zur Gestaltung des eignen Lebens.
Um aber aus diese Lebensgestaltung selbst zu kommen: welcher Unterschied
nun doch wieder in dem Maße von Poesie, das man dem eignen gemeinsamen
Leben zu geben weiß! Zwar ist die Zärtlichkeit kein so sichres Mittel, dieses
Leben zu verschönen, wie die weichen Seelen meinen, die sie spenden und aus¬
tauschen. Jeden Tag in irgend einer Weise neu erfreuen wollen, überraschen,
immer wieder beschenken, und die Poesie der Gabe erhöhen wollen durch Steige¬
rung der Maße, durch die Höhe des Marktwerts, durch Kunst der technischen
Ausführung, das sind keine Mittel — wie auch die Poesie des Weihnachts-
festes durchaus nicht dadurch gewonnen hat, daß man gegenwartig immer zahl¬
reichere und riesigere Christbäume mit immer mässigem und blendendem Lichtern
und sonstigen Festzuthaten den Monat Dezember hindurch nach einander auf¬
stellt; das ist nur der Zug der Zeit zum Äußerlichen, Ausgedehnten, durch
Masse Imponierenden und zum Rhetorischen (man kann auch in Handlungen
und Sachen rhetorisch sein); wenn das Weihnachtsfest diese Veräußerlichung
aushält und darüber seinen Zauber nicht verliert, so ist das der stärkste Beweis
von der tiefen Poesie, die ihm innewohnt. Und so wenig als Übertreibung
kann Verfrühung beglücken, Verfrühung der Genüsse, nicht bloß der feinern
oder gröber» sinnlichen, auch der seelischen: dem Kinde oder noch halben Kinde
schon alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit auf Reisen zu zeigen, ist wieder
so eine Gefährdung der Poesie des Jugendlebens, wenn nicht mehr als Ge¬
fährdung.
Aber Warmherzigkeit des Zusammenlebens, freie Entfaltung der persön¬
lichen Art und womöglich Mannigfaltigkeit der eignen Art und freundliche
Duldung und Liebe dafür, Offenheit des Sinnes für das Schöne in der
Welt, sich übertragend von den Reifen auf die Werdenden, von den Alternden
auf die Jugend, das ist die echte und wahre Poesie im Familienleben, im
Heimathause. Es muß nicht gerade sein, daß Lyriker in Goldschnitt eines
Kultus teilhaftig werden, bei der Frau des Hauses oder den erwachsenden
Töchtern; noch weniger wird es dies sein, daß man alle Neuheiten der Theater¬
dichtung verfolgt und mit intensivem Interesse von den Künstler» redet und
den Künstlerinnen, oder daß man auf viele elegante Zeitschriften viele gute
Tagesstunden verwendet, und noch weniger, daß man den Inhalt zahlreicher
Romanbände in sich schlingt oder vielmehr durch seine Phantasie und seine
cerebrale Sinnlichkeit hindurchschweben läßt, oder auch seinem Herzensleben
damit eine Art von Karussellvergnügen bereitet; selbst nicht, daß°man Musik
treibt und treiben läßt, die ja so gut wie Poesie zu sein scheint, sich wohl
als eine besondre Spielart der großen schönen Poesie ansehen ließe, aber doch
nicht so schlechthin statt ihrer herrschen sollte. Schade ist es schon, daß gegen¬
wärtig so oft bei Liedern der Komponist den Dichter ausmerzt, um seinen
Namen und seine Schätzung bringt, und bedenklich, daß man jetzt in der Kunst
so vielfach nur Stimmung sucht, Stimmungen sich nähren und ausleben läßt,
die gerade das an der Poesie oder der Kunst sind, was nach keiner Seite eine
erziehende Wirkung üben kann. Eine Kunst, die zum Gedankenleben gar keine
Beziehung sucht, kann nicht Wirkung thun wie solche, die diese Beziehung hat;
jene trägt ja wohl leicht durch alle Lüfte und auch zu allen Höhen, aber sie
stellt uns nicht auf Höhen, giebt unserm Fuße dort keinen Boden, und wir
flattern ebenso leicht zurück und hernieder.
Es mag zwecklos heißen, wenn man Rückkehr zu Zuständen predigen will,
die nnn einmal vergangen und abgelöst sind: aber die Pflege treulichen gemein¬
samen Gesanges in den Familien war gewiß in unserm Sinne fruchtbarer als
die Naserei der Liebe für die wogenden Tonmeere der Musikzaubercr unsrer
Periode. Und ein gern gepflegtes Vorlesen und Lauschen, gelte es edeln Versen
oder schöugestalteter und inhaltvoller Prosa, sollte und könnte wieder einen viel
breiten, Raum einnehmen in dem Gemeinschaftsleben der Familien.
Wir wollen gern alles als Poesie der Erziehung rechnen (denn wir dürfen
es), was geeignet ist, das Herz zu sammeln und zu weiten, Kunst und froh-
genosseue Natur, Heimat und weite Welt und großes Vaterland. Ist es nicht
die alleredelste Pflicht der reifen Generation, an die nachwachsende die eigne
innere Poesie zu übertragen? Wie vermochten das doch jene Männer aus
der Periode der Befreiungskriege, deren Auge noch nach vierzig Jahren still
von dem Feuer der damaligen Begeisterung glühte, und deren Herz geweiht
schien, um immer über dem Gemeinen zu bleiben! Solche Übertragung, solche
Sicherung eines schwungvollen Empfindens ist eine bessere Gabe an die Jugend,
als wenn man ihr die jungen Jahre möglichst schön zu machen bedacht ist,
reich an Reizen und Freuden und Vergnügungen, damit hinterher die Erinne¬
rung trösten könne über das. was die spätere Lebenszeit an Freuden vermissen
lasse. Man hört ja gerade diese Auffassung oft aussprechen und anempfehlen.
Besser als Erinnerungen sind Kräfte deS Herzens, besser als Trost ist Freudig¬
keit. Jene Übertragung aber ist natürlich nur denen möglich, die für sich
selbst Poesie der Gesinnung bis in die reifen und auch die späten Jahre hinein
bewahrt haben! Und das geht denn freilich im allgemeinen nicht — es giebt
ja glückliche Göttersöhne oder Naturkinder auch in dieser Beziehung, aber im
allgemeinen nicht ohne eine gewisse Selbsterziehung des Herzens, dessen freud¬
lose Anwandlungen zu bekämpfen nicht am wenigsten den rechten Mann macht.
Ein geistvoller ältlicher Franzose sprach den hübschen Gedanken aus: I/esxrit,,
o'sse la^sunössö ass visilwräs. Sicherlich kann der Besitz von Geist auch dem Al¬
ternden ein Gefühl der Selbstgewißheit, der heitern Freude an sich selbst geben
ähnlich wie das warme Blut und die königliche Phantasie den jungen Jahren.
Aber der beste Ersatz ist das doch nicht. Abgesehen davon, daß Geist nicht sür
jedermann ans den Wolken herniederregnet und man sich nicht bloß unter die
Traufe zu stellen braucht, um davon durchtränkt zu werden, und auch ab¬
gesehen davon, daß „Geist" mehr nur glühende Funken giebt, als daß er ein
stetes Feuer bedeutete: er ist eben nicht das Beste. Besser ist es, sich ein
Maß von Freudigkeit des Gemüts zu bewahren, von innerer Poesie also, die
das schönste Ergebnis der gesamten lebenslangen Erziehung ist und die vor¬
nehmste Gewähr zur Fähigkeit des Erziehers.
er Schäfer Heinrich Ricks stand auf seinen Stock gelehnt unter dem
alten wilden Birnbaum auf dem Franzosenberg in dem bischen
Schatten, den der Baum gab. Seine Schafe drängten sich zusammen
und suchten eins vom Schatten des andern zu profitieren, und seine
Hunde lagen zu seinen Füßen und zeigten der Welt mit keuchenden
Eifer ihre roten Zungen. Es war ein warmer Sommertag. Heinrich
Ricks philosophierte, wie das so Schäferart ist. Zu seinen Füßen lag die Dorf-
flnr, dort die großen Pläne des Ritterguts, und dort das in kleine Streifen zer¬
teilte Land, das aussah wie eine buntkcirrierte Schürze, die Ackerteilc der Bauern
und kleinen Leute. Da war auch nicht eine Hand breit Erde, die nicht jemand be¬
sessen hätte. Und wer etwas hatte, der hielt es fest; es wäre anch nicht mit Geld
möglich gewesen, in die Reihe zu kommen. Die ihr Teil Acker hatten, das waren
die Besitzer, und die kein Teil erwischt hatten, das waren die Arbeiter, die Tage¬
löhner, die Lumpen in der Welt. Die einen haben Land, arbeiten oder arbeiten
auch nicht und ernten; die andern haben kein Land, arbeiten und ernten nicht. Ist
das recht? Zum Beispiel da drüben liegen fünfzig Frauen und Kinder den ganze»
Tag auf den Knieen und ziehen Zuckerrüben, und der Herr von Großmann reitet
über den Acker und sieht zu, was sie machen. Hernach haben die Arbeiter jeder
eine Mark bis eine Mark fünfzig, und der Herr zweihundert Zentner Rüben auf
den Morgen, den Zentner zu einer Mark. Und was so ein Knecht ist, der muß
sich das ganze Jahr mit den Pferden plagen, muß sich alle Tage schicken und
kommandieren und anschnauzen lassen. Und Wenns Jahr herum ist, heißt es: Da
hast du deinen Lohn, nun sieh, wo du bleibst. Ist das recht? Und er, der
Schäfer Heinrich Ricks selber — na ja, er hatte es ja nicht schlecht. Er hatte sein
Auskommen, sein Haus und seinen Gartenfleck und vier Morgen Pachtland, und
sein Herr redete ihm nicht in die Schäferei hinein; aber er war doch im Dienste.
Den ganzen Tag mußte er hier draußen herumstehn, nud auch des Nachts war er
im Dienste, da mußte er in der engen Schäfcrkarre liegen. Was ist ein Mensch
schlecht daran, der „muß," und was ist ein Mensch zu beneiden, der „Herr" ist und
auf seinem eignen Lande steht. Aber was ist da zu machen, wie die Welt zerteilt
ist, so bleibt sie.
Ähnliche Herrschergelüste wie der Maun hatte die Frau des Schäfers auch.
Sie dachte dabei freilich weniger an Äcker, als an die uugeschriebne Rangliste des
Dorfes, an Kirchensitze, Kleider und Kette«. Auch sie hätte gar zu gern zu den
Großen gehört und andre Leute kommandiert, statt sich kommandieren zu lassen.
Während aber der Mnun philosophierte und die Gerechtigkeit der Weltordnung an¬
zweifelte, wanderte sie fleißig ins Nachbardorf, wo eine alte Base lebte, die von
Rechts wegen schon längst hätte tot sein müssen. Dahin trug sie manche Wurst
und manchen Topf voll Fett. Die Leute sagten, es sei ein Skandal, so offenbar
crbzuschleichen. Auch Ricks wollte nichts von den Gängen seiner Frau wissen, sie
bringe mir das bischen Hab und Gut aus dem Hanse, aber was wieder kriegen,
davon stünde kein Wort geschrieben. Die Frau Ricks ließ sich aber nicht irre
macheu, sie spielte ihr Spiel, und das Ende war, als die alte Base nicht umhin
konnte, das Zeitliche zu segnen, daß die Ricks und noch eine Base, die auch fleißig
nach dem Rechten gesehen hatte, erbten, die andre Base den Hof, und die Ricks
zwanzig Morgen Land, Staatsacker, gerade auf der Flurgrenze gelegen, man hätte
sichs nicht besser aussuchen können.
Herre, sagte Ricks, als der neue Miettermin kam, ich wollte Ihnen nur
sagen, daß Sie sich zu Martini nach einem andern Schäfer umsehen möchten. Ich
wollte mich selbständig machen.
Habe schon gehört, lieber Ricks, und wünsche Ihnen viel Glück. Eigentlich
aber thäten Sie besser, sich nicht zu übereilen, Ihre zwanzig Morgen laufen Ihnen
nicht davon. Die Zeiten sind schlecht, und wir können Wunderdinge mit den
Preisen erleben. Sie thun am besten, Sie warten das ab und bleiben inzwischen,
wo Sie sind.
Ricks greinte seinen Herrn an und sagte im stillen: O du alter Fuchs!
Du nullst bloß, daß ich bei dir bleibe und Schäfer spiele, denn so einen wie mich
kriegst du so bald nicht wieder, das weißt du ganz gut.
Überlegen Sie sichs, Ricks, ich habe es gut mit Ihnen gemeint.
Ja, Herr, ich will mirs überlegen. — Natürlich kam zuletzt heraus, was von
Anfang an fest stand, daß er selbst Herr werden wollte.
Jetzt war das erste, ein Paar starke Pferde kaufen, so schwer, wie sie kein
andrer im Dorfe hatte. Wenn er dann mit seinen Pferden aufs Feld zog, dann
sollten die Leute Auge» machen. Und für die Frau war das erste, ein schwarzes
Atlaskleid kaufen, so schwer wie der Frau Schulzen ihrs oder noch schwerer, und
ein Halstuch vou einer Farbe, die noch gar nicht dagewesen war. Ricks reiste
umher und hörte überall nach Rat und that zuletzt, wovon alle abgeraten hatten,
er kaufte seine Pferde von Salis Silberstein. Denn er war jn viel klüger als
"lie. und mit Scilly Silbcrstein wollte er schon fertig werden. Er wurde auch mit
ihm fertig, und als er für teures Geld zwei Staatspferde eingehandelt hatte, hatte
er zwei Gäule, von denen der eine nichts thun wollte, und der andre nichts thun
konnte. Desgleichen erhandelte seine Frau bei Jsidor Wolfsohn ein Atlaskleid, das
ganz unglaublich schwer, freilich nur künstlich in der Farbe mit Schwerspat be¬
lastet war. Wo hätte sie denn das Kleiderhandeln her wissen sollen, ihr Vater
war ja Nachtwächter gewesen, und wie hätte denn Ricks den Pferdehandel ver¬
stehen können, da er bis dahin höchstens Hammel gekauft hatte?
Hierauf mußte der Hof erweitert und eine Scheune ans deu Gartenfleck ge¬
baut werden. Nur groß, nur groß, sagte der Herr Maurermeister, was haben Sie
davon, wenn Sie im nächsten Jahre wieder einreißen und größer bauen müssen?
Also groß. Der Mann mußte es ja doch verstehn. Ricks hätte gar nicht gedacht,
daß Beinen eine so leichte Sache sei. Der Konsens, der Plan, die Steine, das
Holz, alles flog nur so herbei, und in acht Wochen stand die Scheune fix und
fertig da. Sie brauchte nur noch bezahlt zu werden. Und Korn war auch noch
nicht drin.
Zwanzig Morgen Feld war eigentlich etwas wenig, besonders nnter Berück¬
sichtigung der großen Scheune. Wenn man noch ein Dutzend Morgen dazu pachtete,
so konnte man Knecht und Magd halten und denn erst ordentlich den Herrn spielen.
Das leuchtete Ricks und seiner Frau ein. Man pachtete also. Freilich etwas
teuer; das half nun weiter nichts, denn das Pachtland mußte man haben, um
zwei Gespanne, ein Pferde- und ein Kuhgespann, beschäftigen zu können. Nun
mußten noch Pflüge, Wagen und andres Gerät, sowie Kühe und Kleinvieh ange¬
schafft werden. Man glaubt gar uicht, wie viel Geld das alles kostet. Als die
Wirtschaft fertig war, hatte sie schou eine ganz hübsche Schuldenlast zu tragen. Das
schadete nichts. Ricks verstand seine Sache — meinte er —, hatte er doch immer
auf seinem Pachtacker das beste Korn und die dicksten Rüben auf der ganzen Flur
gehabt.
Er wird sich schon umgucken, sagten die Leute, Herrn spielen ist nicht so leicht,
als sich mancher denkt.
Ricks ließ sich nicht irre machen. Er genoß das Bewußtsein, Herr zu sein,
mit vollen Zügen. Es ist auch keine Kleinigkeit, früh auf dem breiten Rücken
seines Sattelpferds auf seinen Acker hinaus zu reiten und den Knecht zu komman¬
dieren und ihn vor andrer Leute Ohren hcrunterzuhunzen. Und Frau Ricks, der
früher der Kirchgang unbequem gewesen war, ging jetzt fleißig in die Kirche, auf
ihren neuen Platz auf der Taufsteiuseite, wo die Plätze der Großen waren, und
angethan mit ihrem schweren schwarzseidnen Kleide. Zu Hans freilich war das
Herrschen nicht ohne bittern Beigeschmack. Der Knecht entstammte derselben Philo¬
sophenschule, der Ricks selbst früher angehört hatte, das heißt, er hielt es für ein
schreiendes Unrecht, daß er Knecht spielen und für seinen Lohn auch etwas thun
müsse. Er that denn auch nur, was unvermeidlich war, und wozu er ausdrücklich
befohlen und angestellt wurde. Nach Feierabend that er überhaupt nichts mehr,
es mochte dringend oder nicht dringend sein. Da aber der Herr wußte, daß es
ihm nichts helfen würde, den Knecht wegzuschicken und einen andern zu mieten, so
mußte er selbst zugreifen und den Knecht zuschauen lassen. Und die Magd hatte
ein böses Maul und ärgerte die Frau aus Herzensgrunde.
Dafür stimmten sowohl er als auch sie bei gegebnen Gelegenheiten endlose
Klagelieder über die Dienstboten an. Seht ihrs, sagten die Leute, die spüren es
schon, was es heißt, Herrschaft sein.
Noch größer aber war die Not mit den Pferden. Ricks merkte bald, daß er
von dem Pferdejuden gründlich angeführt worden war. Das Handpferd war einfach
nicht zu brauchen und mußte umgetauscht werden, wobei noch ein ansehnliches Geld¬
stück zugelegt werden mußte. Und das Sattelpferd hatte seine Mucken und schlug
im Stalle alles kurz und klein. Zuletzt kriegte es die Kolik. Das gab eine angst¬
volle Nacht. An Schlafen war natürlich nicht zu denken, und dazu dieser Ärger
mit dein Knechte, der behauptete, zum Nachtwächter nicht gemietet zu sein, und der
nicht einmal dazu zu bringen war, einen Eimer Wasser zu holen. Am andern Tage
war das Pferd tot und der Knecht aus dem Hause gejagt. Der Verdienst des
ganzen Jahres, wenn nicht mehr, war dahin. Und dazu die Sorge um ein andres
Pferd und einen andern Knecht. Nun, ein andres Pferd fand sich schon, aber es
war derer, auch ein andrer Knecht, aber der taugte noch weniger als der vorige.
Von da an wars mit dem gute» Nachtschlafe vorbei. Wie schön hatte Ricks einst
in seinem Schäferkarren geschlafen, wenn der Wind über den Acker wehte und die
Schafe murksten und husteten, und die Hunde Wache hielte». Jetzt lag er wachend
im Bette und merkte auf, ob im Stalle auch alles still sei. Und wenn die Pferde
im Stalle lant wurden, so fuhr er aus dem Bette und mit dem Kopfe aus dem
Fenster hinaus und lauschte, ob nicht ein Pferd in der Halfterkette hängen geblieben
oder sonst etwas nicht in Ordnung war. Es war auch keine Kleinigkeit. Diese
acht Pferdebeiue waren ein guter Teil seines Vermögens, und wie leicht konnte
eins von ihnen gebrochen werden. Auf deu Knecht war doch nicht der geringste
Verlaß.
Ricks hatte sich auf seine Tüchtigkeit in der Landwirtschaft von jeher etwas
zu gute gethan, und er konnte auch wirklich den Beweis liefern, daß er auf seinen
vier Morgen Pachtland immer das beste Korn und die dicksten Rüben geerntet
hatte. Das hatte aber seine guten Gründe gehabt. So lange er Schäfer gewesen
war, hatte er seine Schafe immer einmal über seinen eignen Acker geführt oder
hatte sie über Mittag dort stehn lassen. Das kam seinem Acker zu gute und gab
fette Ernten. Er hatte früher von seinem Lande einen schönen Thaler Geld ver¬
dient. Das wollte um nicht mehr gelingen, denn er hatte nun keine Schafherde
mehr an der Hand und war auf den magern Düngerhaufen seines Hofes ange¬
wiesen. Früher hatte er sich seinen Acker von einem Bauern pflügen lassen und
sehr darüber geklagt, wie teuer das sei, jetzt merkte er, daß er die Arbeit halb ge¬
schenkt erhalten hatte. Denn jetzt mußte er selbst die Pferde halten und den
Wagen und den Schmied bezahlen und den Knecht ernähren. Er hätte nicht ge¬
dacht, daß Pferde besitzen ein so teures Vergnügen sei. Seine Scheune und seine
ganze Rechnung war darauf zugeschnitten, daß er gute Ernten, wie bisher, machen
und gute Preise erzielen würde. Nun gab es eine magere Ernte und schlechte
Preise. Das Futter mißriet gänzlich. Und damit zog die hohläugige Sorge auf
dem Riekshofe ein. Geldsorgen sind schlimm, Futtersorgen sind noch schlimmer.
Denn Geld kann man zur Not immer noch beschaffen, Futter aber ist auch nicht
einmal für Geld zu haben, Wenns im Lande mangelt. So oft er ans den Futter¬
boden kam, überschlug er, wie lange der Vorrat reichen werde, aber alles Rechnen
suis nichts. Der Fußboden sah hier und da schon bedenklich hervor. Und was
dann, wenn der Vorrat verbraucht war? Jedes Bund Heu, das der Knecht über
den Hof schleppte und achtlos seinen Pferden vorwarf, that ihm weh. Früher hatte
er es gerade so gemacht wie der Knecht. Er hatte das Futter vom Boden achtlos
herunter geworfen, das Futter mußte da sein; wie es auf den Boden hinauf kam,
ging ihn nichts an, das war des Herrn Sache. Nun war er selbst Herr ge¬
worden und merkte wohl, daß dieses Selbstverständliche schwere Sorgen machen
konnte.
Ricks schleppte sich ein Jahr durch. Daß er nichts in diesem Jahre verdient
hatte, war ihn: nicht verborgen, wie viel er zugesetzt hatte, das wußte er nicht, er
merkte nur, daß der Zins, den er vierteljährlich in der Stadt an seinen Finanz¬
freund, Herrn Salomon Hamburger, zu zahlen hatte, merklich höher geworden war.
Das nächste Jahr war die Ernte besser, aber es hatte Maul- und Klauenseuche ge¬
geben. Dann krepierten zwei Schweine. Dann gab es ganz schlechte Preise und
Kartoffelkrankheit und neue Gesetze, die die Steuerlast vermehrten, und Einquartie¬
rung, Ricks kam nicht aus der Not heraus. Und dabei fühlte er, wie die Last,
die er zu tragen hatte, alle Jahre schwerer wurde. Das waren Freuden, die er,
so lange er als Schäfer diente, nicht gekannt hatte.
Daß mit dem Pachtacker nicht viel zu verdiene» war, merkte er bald, ober er
konnte ihn nicht abschaffen, da er Beschäftigung für feine Pferde brauchte, die sonst
zu teuer geworden wären. Aber den Knecht, der seinem Herrn bald die Haare
vom Kopfe fraß, der konnte abgeschafft werden. Und das geschah denn auch. Ricks
arbeitete also für zwei, oder wenigstens für anderthalb, denn der Knecht hatte nur
halbe Arbeit gethan. Früher war er Knecht auf dem Gutshöfe gewesen und hatte
es gut dabei gehabt und war dick und fett geworden, jetzt war er Knecht seines
eignen Hofes geworden, mußte sich früh und abends schinden, wie es niemals ein
Knecht thun würde, und kam dabei an Humor und Fett sehr herunter. Früher
als Knecht hatte er „sein Gewisses." Sobald das Jahr herum war, lag der Lohn
auf dem Tische, während er jetzt nicht wußte, wo er zu Ende des Jahres das
Geld für den Schmied und den Schuhmacher und den Dünger, und was sonst die
Wirtschaft brauchte, hernehmen sollte. Und die Zinsen, die Zinsen! Sie hingen
ihm wie eine Kette am Fuße. Sonst waren ihm die vier Quartal-Ersten Tage ge¬
wesen Wie andre mich, jetzt wurden sie ihm vier dunkle Punkte im Jahre. Und
die langen Nächte, in denen ihn seine Sorgen und das liebliche Antlitz von Sa-
lomon Hamburger nicht schlafen ließen. In diesen Nächten ging ihm die Er¬
kenntnis auf, daß Herr sein nicht eitel Wonne bedeute, und daß mancher, der stolz
in seinem Landauer fährt, nicht beneidet werden würde, wenn man wüßte, wie es
bei ihm inwendig aussieht. Ach wie schön hatte sichs in seinem Schäferkarren ge¬
schlafen, obwohl er damals nur Stroh hatte, während er jetzt unter einer zehn-
pfnndigen Bettdecke nicht schlafen konnte.
Dazu kam nun auch noch häuslicher Unfriede. In die Frau Ricks waren der
Hochmutsteufel und der Kcifeteufel zugleich gefahren. Sie liebte es nicht zu ar¬
beiten, dagegen ihrem Manne Vorwürfe zu macheu, daß er sei» Geschäft nicht ver¬
stehe und alles verwirtschafte. Das mußte er sich gefallen lassen, denn Thatsache
wars ja, daß es weniger wurde, und zwar in unheimlicher Eile. Als aber seine
Fran, um vor den Leuten den Schein zu wahren, sich immer hoffärtiger kleidete
und auch ihre Mädchen herausputzte, als wären sie Kinder großer Bauern, und
als sie eines Tags, natürlich nur, um den Ruf des Riekshofes zu wahren, mit
einem neuen schönen Wintermantel ankam, um den selbst die Frau Schulze neidisch
werden mußte, folgte eine böse Auseinandersetzung, die damit endete, daß Frau Ricks
mit einem Scheit Holz ihre Tracht Prügel bekam. Das gab eine schauerliche Szene,
der Mann wütend, die Frau außer sich, und die Kinder heulend und schreiend in
den Ecken. Und daraus wurde ein großer Skandal, der durch das ganze Dorf
getragen wurde. Ach, wie hatte es Ricks gut gehabt, als er einst allein in seiner
Schäferkarre hauste.
Wir wollen die Geschichte nicht weiter erzählen, sie verlief, wie sie in ähn¬
lichen Fällen schon tausendmal verlaufen ist. Die lieben Geschäftsfreunde in der
Stcidt hielten ihren Ricks in der Schlinge und ließen ihn so lcinge stmmpeln und
sich abarbeiten, als von ihm noch weis zu verdienen war, und dann wurde die
Schlinge nach den Regeln der Kunst zugezogen. Der Acker wurde verkauft, mit
Mühe rettete Ricks sein Hans und seine große Scheune, mit der er jetzt freilich
uicht viel anzufangen wußte. Aus wars mit dem Herrn spielen.
Was aber um? Frau Ricks hätte es gern gesehen, wenn ihr Mann alles
verkauft hätte und fortgezogen wäre, um Restaurateur oder Agent oder sonst- so
etwas schönes zu werdeu. Sie hätte denn in der Stadt immer uoch die Dame
spielen können. Aber Ricks hatte kein Vertrauen dazu, er dachte im stillen an
seine schöne Schäferkarre.
Sie stand wieder einmal auf dem Franzosenberge. Und Ricks stand daneben
unter dem alten Birnbäume. Deu Schatte« aufzusuchen brauchte er uicht, es war
trübe genug, und dem Herrn ohne Land war es auch trüb genng zu Sinnen.
Da drüben lagen seine schönen zwanzig Morgen. Wie lange wirds dauern, da
hatte sie der Jude parzelliert, und sie sahen kleinkarriert ans wie eine bunte Schürze.
Meinetwegen, sagte Ricks, ich habe wenig Frende daran gehabt.
Herr von Großmann, sein einstiger Herr, kam auf seinem Schimmel über das
Feld geritten, hielt still und redete rin Ricks von diesem und jenen: und sagte
zum Schlüsse: Mein Schäfer geht nächsten Monat ab, wenn Sie wieder eintreten
wollen, soll mirs recht sein.
Ja, Herre, erwiderte Ricks, das thue ich gern. Ich hätte damals auf Sie
hören sollen, aber das Herrnspielen stak mir im Kopfe. Das ist nun aus.
Lassen Sie sichs uicht leid sein. Die Lektion war etwas teuer, aber gelernt
haben Sie wohl was? Nicht?
Das weiß Gott, ja! Wenn mir jetzt der Teufel wieder so eine Erbschaft in
die Hand spielt, so haue ich sie ihm um die Ohren.
Na na, Ricks!
in Gehen stießen die Herren auf den alten Nothnagel. Atemlos und
schwindlig lehnte er am Thürpfosten und bereute, daß er sich hatte
aus dem Bette jagen lassen. Es ging ja auch ohne ihn alles nach
Wunsch, die Neugierigen, die bequem zum Erfolg kommen wollten,
zogen mit leeren Händen ab, und er behielt die Fäden beisammen.
Aber da er nun einmal hier stand, hätte es doch seltsam aus¬
gesehen, wenn er in der Thür umgekehrt wäre, und er trat ein, um den Stadels
ein gutes Wort zu sagen.
Wunderlich, daß ihm dieses Wort nicht einfiel, daß er nach dem goldnen
Engel an der Wand schielen mußte, wie ein vom schlechten Gewissen Geplagter,
daß ihm Ackermann, der Schmiedemeister, mit seinem gelassenen Blick jede Über¬
legung davonjagte.
Endlich, da Ackermann nicht ging, und keines daran dachte, die Kerzen zu
löschen oder das Zimmer zu verlassen, setzte er sich schwer auf den nächsten Holz¬
stuhl und sagte: Ich bin krank; aber ich sah die beiden heraufkommen und dachte,
ihr könntet Dummheiten machen; da stand ich wieder ans, um euch zu Hilfe zu
kommen. Ich bin sehr krank — er hustete heftig —, und 's wär gar nicht nötig
gewesen, ihr wart schon alleine klug.
Einen Augenblick lang dachte Karl daran, das Zimmer zu verlassen, ohne
Antwort, denn es widerstrebte ihm, heute schou abzurechnen, wo uoch der Duft der
Totenkränze in der Luft lag. Aber dann besann er sich anders. Gerade heute,
wo dieser Duft ihn noch wie der lebendige Atem des Vaters umschwebte, würden
ihm die rechten Worte am sichersten kommen.
Ob das, was wir gethan haben, klug ist, Herr Nothnagel, weiß ich nicht, ich
weiß nur, daß ich im Sinne des Vaters gehandelt habe, und klug nach Ihren
Begriffen ist der nie gewesen.
Nothnagel rciusverte sich wenigstens, ganz still konnte er das nicht hinnehmen,
aber was er dazu sagen sollte, wußte er nicht, und Karl sprach weiter.
Vor allem aber dürfen Sie mir hier nicht mehr dreinreden; was noch zu
thun blieb, thue ich, ich allein, dem Andenken des Vaters zu Ehren. Sie werden
keinen Teil mehr daran haben.
Jetzt bekam der Apotheker die Sprache wieder. So? Keinen Teil? Und mein
Recht? meine Arbeit? meine Unkosten?
Karl gab knappe Autwort. Wenn Sie ein Recht an dem Ballon hatten, so
wüßten Sie Bescheid und könnten Ihre Erfindung über uusern Kopf weg aus¬
führen oder verkaufen. Ihre Arbeit daran ist wahrlich nicht groß gewesen, und
die Unkosten, die Sie etwa gehabt haben, sind reichlich bezahlt, Sie wissen am
besten durch welches saubre Geschäft.
Zornig fuhr der Alte auf, aber er mochte reden, so viel er wollte, und wie
er wollte, spitz oder ölglatt, die Antwort blieb: Ich handle in meines Vaters
Auftrag.
Und die eine Antwort bewältigte hundert Gegenreden, man kam nicht um sie
herum. Nothungel sah ein, hier war ein Wille stärker als seine Überredungskunst,
und zorniger Ärger riß ihm die kluge Mäßigung über den Haufen, mit der er
sein Leben lang so vorteilhaft gewirtschnftet hatte. Gut, brach er zitternd und
glühend los, gut! versucht euch als Räuber; gegen Wilder giebt es Gesetze: wir
prozessieren.
Danach wollte er hinaus, auf der Schwelle aber stand Ackermann, breit und
gemütlich, nur die Hand wiegte er, als schwinge er seinen Hammer zu schwerem
Schlage ein.
Nun möcht ich auch uoch ein Wörtchen reden, Herr Nachbar, da wir einmal
bei der Sache sind, nichts für ungut. Wenn Sie halbpart an dem Ding haben,
da könnt ich wohl meine Rechnung drüben in der Apotheke einreichen. Die
hüben haben ihr Teil reichlich bezahlt, aber Außenstände giebts auch noch genug —
als da sind:
Und nun begann Ackermann eine lange Rechnung herzuzählen, die Nothnagel
vergeblich mit nervöser Heftigkeit zu unterbrechen suchte.
Was war da noch alles unbeglichen! — Wann sollte das jemals bezahlt
werden?
Line wurde immer mutloser. Müde saß sie in des Vaters Sessel, scheu sah
sie nach dem Bruder hinüber, dem armen Jungen, dem das Leben solch eine Last
ans die jungen Schultern packte, aber Karl stand gleichmütig da und machte sich
während Ackermanns Reden kurze Anmerkungen.
Nothnagel wußte am wenigsten, wie er sich mit dem Unerhörten abfinden
sollte; wohlweislich hatte er den alten Sta'del nie nach dem „Vermögen" des Luft¬
schiffs gefragt, selbst wenn ihm Bedenken über seine Dauer kamen, und auch jetzt
fiel ihm diese einzige Klugheit ein: Aber der Lotteriegewinn, die hunderttausend!
Längst in den Wind.
Ganner! schrie Nothnagel Ackermann an, goldschlingender Gauner.
Ackermann schob die Beleidigung gemütsruhig zu Nothnagels andern Schulden
und versuchte den Geschwistern zuzublinzeln: Versteht mich recht, wie ichs meine!
Aber keins sah ihn an, Nothnagel sprach eben jetzt wieder heftig ans sie ein.
Besinnt euch, besinnt euch! Ich bin die rechte Hand euers Vaters gewesen,
ich bin der Mann, Ordnung in das Durcheinander zu bringen; mit meiner Hilfe
allein könnt ihr hoffen, eure Schulden los zu werden. Denn wenn ihr ans euerm
Eigensinn bestündet, so müßt ich eben auch meine Rechnung aufstellen. Hat mich
die Geschichte etwa nichts gekostet? Was ist da alles im Laboratorium ver¬
probiert worden, und was hat der Mechaniker in den anderthalb Jahren so bei
kleinem verzehrt!
Line schlug die Hände zusammen. Karl! Karl! sei klug! schneid dir die Kette
vom Fuß.
Bange machen gilt nicht! schmetterte Ackermann von der Schwelle herüber, die
er immer noch bewachte, und Karl winkte der Schwester zu schweigen. Dann sagte
er langsam: Sie, Herr Nothnagel, haben sich schon bezahlt gemacht. Oder wie
wollen Sie die sechstausend Mark sonst nennen, die Sie sich von dem Aurel haben
bezahlen lassen? Versuchen Sie keine Gegenrede, ich besitze die Beglaubigung, und
eben deshalb: prozessieren Sie lieber nicht!
Diese Wissenschaft Karls verwirrte den Alten. Das? murmelte er, das ist ja
Unsinn, so ne alte Geschichte — und dann polterte er plötzlich los: Den Tod holt
Man sich hier vor Ärger und vor Angst darüber, daß ihr die Menschheit um unsre
kostbare Erfindung bringen wollt. Lassen Sie mich hinaus, Sie, Sie, Grobschmied
Sie! Ich will zu Bette gehn.
Bereitwillig, mit freundlichem Lächeln trat Ackermann einen Schritt zurück in
die Werkstatt und ließ Nvthnagel vorüber. Draußen auf dem Gang blieb der
Alte stehn, hustete heftig, zum kleinern Teil wegen seiner Erkältung, zum größern
aus Wut darüber, daß ihm sein billiges Steckenpferd aus den Händen gleiten wollte,
dann schlürfte er laugsam seineu Kamillenbüudeln zu.
Als er um die Holztreppe kam, die Reeks leichte Füße sonst so flink auf und
«b gehuscht waren, blieb er wieder stehn. Im Hof schwatzten die fünf Schmiede¬
jungen in den gedämpften Tönen, die man nach der Parole des Ältesten dem
Begräbnistag schuldig war; auch Frau Flörke kam noch schwarz und feierlich daher,
wie sie vom Gottesacker aus bei einer guten Freundin Kaffee getrunken hatte.
Nothnagel bekam wieder deu Husten: die schwatzhafte Person sollte ja am
Sonnabend aufs wütendste gegen ihn gehetzt haben.
Dieser ganze Schiniedehof barg eine Bande von Verleumdern, Lärmmachern,
Räubern und Gaunern; eine Thür mußte auf den Gang, eine feste, ordentliche
Thür mit schweren Angeln und einem Schnappschloß. Gleich morgen, gleich nachher
sollte der Tischler sie abmessen. Und der Prozeß? Hin — wenn man von Acker-
manis Rechnung abstreichen könnte? Aber jetzt wollte er zu Bette gehn, ein ge¬
sunder Mann überlegte besser. >
Nothnagel schlürfte weiter, ins Bett aber kam er nicht, es wartete schon einer
drüben auf ihn, einer, den er durchaus nicht gerne sah.
Herr Frisch hatte den Fremden abweisen wollen, Fräulein Jennys Vater gefiel
ihm nicht: er sah schlecht aus und hatte sich nicht am Bärbel, ganz und' gnr nicht.
Wenn der Alte ini Gleichgewicht war, hielt er sich Widerwärtiges mit Ironie vom
Leibe, die freilich, je mehr er sich ärgerte, um so stärker ius hämische hinüber
schillerte; kam ihm aber heute etwas in den Weg, so wurde er grob, hanebüchen
grob, ohne jedes Mäntelchen. Und der Fremde, der da eigensinnig auf der
Apothekenbank saß, ohne daß ihm ein Rezept das Recht dazu gegeben hätte, hatte
schon einmal in diesen Tagen des Hausherrn übelste Lanne geweckt.
Ich warte, wehrte er freundlich ab, ich habe Zeit! Frisch mochte sagen und
vorschlagen, was er wollte.
Als Nothnagel keuchend zurückkam, wurde er von der Botschaft empfangen,
draußen säße eiuer und wäre nicht fortzubringen. Er stöhnte, ging aber in seine
Arbeitsstube. Jetzt im Bett liegen als Beute all der häßlichen Gedanken, die dieser
Tag in ihm aufgescheucht hatte, war auch kein Feierabend. Vielleicht löste ein
leichter Ärger den schlimmern ab.
Dabei schalt er aber doch: Man ist immer ein Opfer eurer Ungeschicklichkeit.
Dn habt ihr einen nobeln Bettler nicht zur Thür hinaufgebracht, nnn kann ich so
gut sein. Sagen Sie kein Wort, Frisch, es ist so. Lassen Sie ihn herein und bleiben
Sie drüben zur Hand, damit man im Nothfall doppelt die Thür weisen kann.
Also ließ der junge Mann den Fremden ein und horchte nach seines Herrn
Stube, soweit ihm das die Rezepte und die altmodisch starke Mauer erlaubte».
Zunächst ging es drüben sehr lebhaft zu: Vorwürfe, Abwehr und Meinungs¬
verschiedenheit. Der Fremde schien noch gröber zu sein als der Hausherr, dessen
Rede eher so klang, als wolle er sich mit neun heiligen Eiden gegen die Vorwürfe
des Fremden verwahren.
Später verstummte Nothnagel völlig, der andre redete allein weiter, viel
ruhiger und sehr lange, als halte er eine Parlamentsrede, von deren Erfolg er im
tiefsten Innern überzeugt sei.
Doch wohl nur vornehme Bettelei, dachte Herr Frisch, ich hoffe, der Herr ist
zäh; es wäre schade, wenn er seinen hübschen Besitz unnötig verkürzte. Er über¬
legte eben, ob er nicht geradezu horchen und im kritischen Augenblick dazwischen
treten solle — der letzte Kunde stieg endlich die Treppe hinab. Aber diese behag¬
liche Leere lockte auch Fräulein Jenny an. Erst steckte sie ihren lockigen Scheitel
durch die Thür, dann kam sie lächelnd und zögernd bis zur Wage, um die es nach
Nelkenöl duftete.
Wer ist eigentlich drin? Vater müßte wieder ins Bett.
Herr Frisch kam viel näher an die hübsche Jennh heran, als zum Antworten
nötig war, ganz dicht an ihrem Ohr flüsterte er: Der Vater nannte ihn Aurel.
Aurel? Jenny trat ein paar Schritte seitwärts, aus Herrn Frischs nächster
Nähe heraus. Ach ja, ich entsinne mich: das ist auch ein Luftschiffer.
O weh! wissen Sie was, Fräulein Jenny? Ich wollte, wir wären das
Luftschiff los, sagte der Provisor, drei Schritte von ihr entfernt, wie sie es ange¬
ordnet hatte.
Wir? Ein spitzbübisches Mttdchengesicht wandte sich mit Hellem Staunen zu
ihm hin.
Er rückte wieder einen Schritt näher. Ja, wir! Im Hause, in der Apo¬
theke und im Herzen.
Als ob Sie das Luftschiff im Herzen trügen.
Mit Eifersucht, jawohl, Fräulein Jenny. Einesteils, weil es dem Herrn Papa
wichtiger ist als die Apotheke, und zum andern, weil Sie — Sie —
Ich? fragte sie, als er zu stottern begann, und sah ihm keck gerade in die
Augen. Er aber ließ die seinen seitwärts gehn; ganz sicher war er seiner Sache
doch noch nicht, und wenn er sich jetzt einen Korb holte, so flog ihm der goldne
Engel vor der Nase ins Blaue hinein auf Nimmerwiedersehen, trotz seines Stein¬
gewichts.
Ich? fragte sie noch einmal mit leisem Lachen, als er nicht anwortete. Da
nahm er sich zusammen, sah ihr wieder ins Gesicht und antwortete: Sie, freilich!
Weil Sie uns bei dem vielen in die Luft gucken die Suppe versalzen könnten.
Abscheulicher Mensch! rief sie, halb lachend, halb ärgerlich, und lief hinunter.
So wie der Fremde weg war, mußte Vater seine Wassersuppe haben.
Es dauerte aber noch eine gute Stunde, ehe der Fremde ging, und dann
blieb er zufriedner Gesichts noch einmal in der Thür stehn und sprach zurück:
Also überlegen Sie sichs. Sie werden einsehen, daß ich recht habe. Nur Mut —
in einem Vierteljahr fliegt er wieder.
Nothnagel aber stöhnte und mantle hinter dem siegesgewisser drein. Tausend
schwere Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, und da ihm ohnehin irgend etwas
Widerwärtiges, das sich nicht abschütteln ließ, auf deu Schultern hing, glaubte er
überhaupt nicht mehr aus dem Lehnstuhl in die Höhe zu kommen.
Er nannte sich dreimal in der Minute einen schlecht versorgten Mann, um
deu sich kein Teufel kümmre, obgleich ihm Jennys Wassersuppe recht Wohl that,
und als er danach im Bette lag, hoffte er sogar schlafen zu köunen.
Das war aber nur ein paar Minuten lang; dann kam die Hitze und die
Atemlosigkeit, und endlich wachten die mühsam eingeschläferten Gedanken wieder auf
und begannen zu reden, zu schelten und zu quäle«.
In dem einen hatte Aurel sicher recht: wenn nichts an Stadels Engel ge¬
wesen wäre, so würde sich weder der Offizier dafür verwende» wollen, noch der
Nebenbuhler so eilig zum Erwerb drängen. Daß er drohte, das leidige Geld¬
geschäft unter die Leute zu bringen, kümmerte Nothnagel wenig: mit dem Mensch¬
lichen ja, da wollte er gern allzeit reinen Tisch und reinen Leumund haben. Dies
aber war eine Luftschisfgeschichte, und über die Lnftschifferei hatte er die Senken-
berger lebenslang lachen und reden lassen, wies ihnen beliebte — eine Handvoll
Erfolg, so lag ihm die ganze Bande zu Füßen und fand alles, was er gethan hatte
und noch thun würde, vortrefflich.
Aber das Geld, das Geld! Die unseligen Schulden und die Unkosten, die
noch kommen würden. Sonst hatte er dabei gestanden und, die Hände auf den
Tasche», den Nachbar angefeuert. Goldstück auf Goldstück in den unergründlichen
Brunnen zu werfen, würde es um mit dem neuen Gefährten nicht etwa umge¬
kehrt gehn?
Wäre er nur der Geschicklichkeit dieses Aurel sicher gewesen! In einem
Vierteljahr wollte er fertig sein? Ja doch, vielleicht! — und wenn schon! Noth¬
nagel wußte am besten, was der luftige goldne Engel in einem Vierteljahr zu
verschwenden gewußt hatte, so viel verdiente ihm der steinerne noch lange nicht.
Wie konnte man den Gewinn haben ohne das Wagnis? Wie stellte man
das an?
Nothnagel richtete sich im Bett auf und starrte nach dem verhängten Fenster,
das einen blassen Schein der Abenddämmruug durchließ.
Aufgeben die ganze Geschichte, aus der doch nie etwas werden würde! Aber
wenn einer ein Vierteljahrhundert lang mit einer Puppe gespielt hat, wie soll er
sie von heute auf morgen missen?
Es stieg dem alten Apotheker heiß in die Augen und würgte ihn in der
Kehle, seine aufgescheuchte Einbildungskrast sah helläugig durch den fahlen Vorhang,
sah den Gang, über den das Unheil freien Fußes hatte herüber und hinüber laufen
können, sah den toten Gefährten am Geländer stehn, wie er die Arbeiten im Hofe
beaufsichtigte, sah Limen neben dem zweiten Tragbalken, dort wo sie ihm damals,
nach dem Lotteriegewinn, die unangenehmen Dinge gesagt hatte. Stöhnend kroch
er wieder unter die Decke: ihn fror — die verdammte Erkältung!
Und dann sah er den goldnen Engel aufs neue steigen, die Geschwister Städel
saßen mit dem Schmiedemeister in der Gondel, und er wollte mich hinein, aber er
konnte nicht. Mauerdick standen die gaffenden Leute zwischen ihm und seinem Luft¬
schiff; sie lachten ihn aus, rechts, links, überall — die oben in der Luft am meisten.
Sie streuten Gold unter die Menschen, und je mehr die oben streuten, desto lauter
jubelten die unten, und je mehr Menschen jubelten, desto schmerzhafter zog es dem
Alten das Herz zusammen, daß er nicht dabei war: weder unter denen, die streuten,
noch unter denen, die auffingen.
Jählings richtete Nvthnagel sich wieder auf und klingelte, klingelte, als läge
er in Todesnot. Blassen Gesichts kam Jenny gelaufen, die Magd schlürfte langsam
mit schlotternden Knieen hinterdrein. Herr Frisch war auch gleich zur Hand, hielt
sich aber bescheiden auf dem Vorsaal.
Die Lampe! schrie Nothnagel, und Rechtsanwalt Petri, schnell! schnell!
Jenny schluchzte auf. Ach Gott, Vater, ist dir so schlecht? Willst du nicht
lieber den Doktor? Das Testament hat doch noch Zeit.
Doktor? Testament? fragte er verblüfft; dann begriff er plötzlich ihren Ge-
dankengnng und warf die Klingel, die er noch in der Hand hielt, zornig zu Boden.
Albernes Ding! Doktor? Quacksalber; den kann ich nur brauchen, wenn er andern
Leuten Rezepte verschreibt, und sein Testament mache der Teufel. Einen Prozeß
will ich den Stadels an den Hals hängen, koste es, was es wolle.
Auch jenseits des Holzgangs waren sie mit Worten und Gedanken bei dem
Wrack, das leider da war, und bei dem Geld, das leider weg war.
Kaum hatte Nothnagel die Werkstatt verlassen, so faltete Line die Hände ver¬
zweifelt zusammen und sagte leise: Nicht ansehen kann ich Sie, Meister Ackermann,
gar nicht ansehen. Ich bins gewesen, die Ihnen zugeredet hat zu der unseligen
Arbeit, und nun weiß Gott, wann wir imstande sein werden, Ihnen den Schaden
zu vergüten.
Ackermann lachte fröhlich auf. Aber Fräulein Line, da muß ich schön bitten,
das war doch nur eine Abschreckungsrechnung! Denken Sie, ich hätte für Städels
ebenso hohe Preise wie für den bösen Nachbar? Wär mir 'ne Sorte Freundschaft.
Nein nein, da ist nur ganz wenig noch zu bedenken: ein Paar Rnhauslagcn, und
was wir dann etwa genieinsam thun wollen für den armen Teufel, den Gottlteb,
falls er nach dem Krankenhaus noch was für seine Gesundheit aufwenden müßte.
Limen gab das wenig Trost. Sie schenkens uns, Meister, sagte sie kummer¬
voll; ein Almosen ists! und ehe Ackermann aufbegehren konnte, rief sie: Karl, Karl!
se>g doch ein Wort! Wir sind einmal dcibei, wollen wir nicht gleich alles dnrch-
reden, dciinit man sieht, was für Berge noch abzutragen sind? Nun, zu zweit,
und wo das Gespenst nicht mehr frißt, werden wir schneller zum Ziel kommen.
Karl, Karl! Nicht wahr, es darf nicht mehr fressen? Du verkaufst es, Karl!
Den ersten Ruf hatte Karl gar nicht gehört, beim zweiten fuhr er zusammen
und strich mit der Hand über die Stirn. Er stand vor dem verbognen Modell
und starrte die Reifen an und erschrak, als würde er über einem Unrecht ertappt.
Als er aufblickte, sah er gerade in Lineus angstvoll forschende Angen hinein. So
hatte sie ihn angeschaut in Kindheitstngen, wenn eine Krankheit im Anzüge ge¬
wesen war, oder in der Schule irgend etwas nicht geklappt hatte.
Er lächelte und schüttelte den Kopf. Aber Line, behüte Line, ich bin ganz
gesund, alles in Ordnung. Was wollt ihr von mir?
Dann war er auch nüchtern bei der Sache, als sie drüben in der Werkstatt
ihr Soll und Haben aufstellten und ihren Plan machten, wie dem stärkern Soll
bald und sicher der Garaus zu machen sei.
Bei ruhiger Überlegung sah das gar nicht so schlimm ans. Ackermann rechnete
recht als Freund und Liebhaber, und ein frischer Schaffensmnt kam den Geschwistern
mit der Überzeugung, daß zwei Jahre — zwei kurze Jahre —, wenn sich nur
ein wenig gut mit ihrer Arbeit meinten, ihnen alle Berge glatt machen konnten.
Karl setzte sich gleich an den Zeichentisch — die Sonne stand noch über der
Stadtmauer —, packte aus und legte sich Blätter zurecht; fliegen sollte das uun.
Ebenso mutig ging Line hinaus, um zuzuschneiden und vorzubereiten, denn
morgen käme» ja die Mädchen wieder. Vor einer Stunde hatte sie noch gemeint,
ein Leibesenden nicht von einem Nvckzwickel unterscheiden zu können.
Ackermann schritt hinter ihr drein mit einem Gesicht, dem man die helle Freude
über den Erfolg der letzten Stunde ansah. In der Küchenthür blieb er stehn,
streckte ihr die Hand hiu und sagte: Ich will hente nichts von dem einen sagen,
Fräulein Line, was immer mit mir herumgeht, es schickt sich schlecht und ist Ihnen
natürlich auch nicht so uns Herze. Aber das andre möcht ich doch auch nicht un¬
gesagt mit hinunter nehmen: Ihre Hälfte oder Schuld, die ist mein Heiratsgut —
die vornehmen Leute sagen dazu Morgengnbe; als was andres giebts so etwas
wie eine Schuld von Ihnen gegen mich überhaupt nicht.
Limen stieg das Blut in die Wangen, und Thränen stiegen ihr in die Augen.
Sie nahm die ausgestreckte Hand und hielt sie fest. Herr Ackermann, sagte sie
leise, wie dankbar ich Ihnen bin, das müssen Sie fühlen, sagen kann unus nicht —
so dankbar für alles. Aber das letzte dürfen Sie nicht von mir verlangen. Schlimm
genug, wenn ich Ihnen ohne Mitgift ins Haus komme, nnn gar noch mit Schulden.
Sagen Sie nur nichts dagegen, ich kann nicht. Und jetzt gehen Sie hinunter,
denn ich will zu meinen Kleidern, damit — damit ich keine Zeit verliere.
Sie ließ seiue Hand los und ging schnellen Schritts nach dem Vorderzimmer.
Er stand noch einen Augenblick in der Küche und sah ihr nach, ein leiser Groll
wollte sich regen, aber der Schlußsatz brachte ihn um, ehe er recht zum Leben kam:
sie will keine Zeit verlieren — ja ja — und ich will helfen, soviel ich kann.
(Fortsetzung folgt)
Die preußische Regierung und der ländliche Arbeitermangel. Die
von den Vertretern der preußischen Regierung bei den Verhandlungen des Ab¬
geordnetenhauses über die Antrüge Szmula und Gmnp über deu Arbeitermangel
auf dem Lande am 10. und 11. Februar abgegebnen Erklärungen sind in der
Tagespresse je nach dem Standpunkte der verschiednen Parteien besprochen worden.
Bei der Wichtigkeit der Sache und der Stellung der preußischen Regierung zu ihr
erscheint es nützlich, sie hier nochmals zusammenfassend zu betrachten. Wir behalten
uns dabei bor, den Thatbestand des Arbeitermangcls selbst an der Hand der vorläufig
allein vorhandnen zuverlässigen Aufschlüsse, der Berufsstatistik, besonders zu be¬
leuchten, und begnügen uus wegen dieser doch vor allem wichtigen Vorfrage heute
mit dem Hinweis auf die in hohem Grade befremdliche Erscheinung, daß es weder
von den Antragstellern noch vou den Regierungsvertretern für der Mühe wert ge¬
halten worden ist, die Ergebnisse der mit so großen Kosten durchgeführten Berufs¬
zählungen von 1832 und 1895 — die von 1895 hat etwa drei und eine halbe
Million Mark verschlungen — auch nur mit einem Blick zu streifen. Dabei sind
doch diese Zahlungen gerade dazu bestimmt, für die Beantwortung von Fragen, wie
der hier vorliegenden, die ersten und unerläßlichsten Unterlagen zu schaffen, und wenn
irgendwo, so mahnen ihre Ergebnisse gerade hinsichtlich der Landflucht zur Vorsicht
im Urteil. Es genügt hier hervorzuheben, daß sich in ganz Preußen die Zahl der
mit ihrem Hauptberuf in der Landwirtschaft erwerbsthätigen Personen, auf 100 Hektar
landwirtschaftlich benutzter Fläche berechnet, von 1383 bis 1395 von 19,36 auf
20,05, das ist um 0,19 gehoben hat, und daß selbst die Zahl der männlichen
Personen dieser Art, z. B. in Pommern, nur um 0,23, in Brandenburg und West¬
preußen um 0,55, freilich in Ostpreußen um 1,45 zurückgegangen ist,") Wenn nichts
andres, so beweisen diese Zahlen wenigstens das eine, daß die Leutenot unter keinen
Umständen allein auf die Behauptungen der agrarischen Jnteresseuvcrtreter hin all¬
gemein als erwiesen angesehen werden darf, sondern daß die Regierung gerade in
dieser Frage, über den Interessen stehend, dort die Wahrheit zu suchen hat, wo
sie gesagt wird.
Herr von Miquel hat sich als Vertreter der Gesmntregiernng namentlich um
1V. Februar in längerer Rede zur Sache geäußert, und zwar in sehr charakte¬
ristischer Weise, sowohl in Bezug auf das, was er gesagt, wie was er nicht gesagt
hat. Er begann mit dem an sich durchaus berechtigten Hinweise darauf, daß der
behauptete Notstand, wenigstens in der heute zu beklagenden Schärfe, voraussichtlich
nnr vorübergehend sein werde. Was die von ihm dabei hervorgehobne Annahme,
der intensivere Betrieb vergrößere für die Landwirtschaft den Bedarf an Arbeitern
überhaupt, und insbesondre den an Saisonarbeitern, mit der Hoffnung, die Leute¬
not werde sich mildern, zu thun hat, ist freilich nicht zu sehen. Um so mehr wäre
es angezeigt, die vom Redner in zweiter Linie erwähnten Eisenbahnbauten — aber
doch wohl namentlich die im Osten, die ohne Aussicht auf irgend welche Verzinsung
lediglich in agrarischen Interesse und auf agrarisches Drängen hin unternommen
worden sind — so lange zu vertagen, bis ein wirkliches Verkehrsbedürfnis vorliegt.
Allein gerade diese an sich sehr wohl mögliche Linderung der augenblicklichen Leute-
not erklärte Herr von Miquel in der Hauptsache für unthunlich. Dem Drängen
auf schnelle Herstellung der Eisenbahnen könne die Regierung nicht widerstehen.
Daß dieses Drängen im Osten ganz wesentlich von Agrariern ausgeht und an sich
nicht dringliche Bauten betrifft, sagte er nicht, und daß dieses Drängen in engem
Zusammenhange steht mit der leider Gottes sich seit Jahr und Tag wieder kräftig
regenden unglückseligen Güterspekulntion und Bodenpreistreiberei, das sagt er
erst recht nicht. Es ist gar keine Frage, daß man dnrch die agrarischen Eisen-
bahnbauten in den Ostprovinzen den Arbeitermangel ganz unnötig und sehr zur
Unzeit verschärft. Die Rittergutsbesitzer und Großbauern, die von den neuen Eisen¬
bahnen eine Steigerung des Verkaufspreises ihrer Güter mit Recht erwarten
können — die bekannten „Dümmern," auf die man hier beim Güterhandel speku¬
liert, fallen auf nichts leichter hinein als auf den „direkten Bahnanschluß," wenn
sie auch für die Dauer nichts davon haben —, verschmerzen die Steigerung der
Leutenot leicht und kümmern sich wenig um die Dörfer, denen die neuen Bahnen
keinen Vorteil bringen, aber die Arbeiter entziehen.
Ganz besonders aber hätte Herr von Miqnel hervorheben können, daß voraussicht¬
lich das Tempo, worin bisher von der Industrie die Arbeitskräfte vermehrt worden
sind, bald langsamer werden, und damit, wenn auch nicht ein Rückstrom der Arbeiter
von der Industrie zur Landwirtschaft, der auch gar nicht erwünscht wäre, eintreten,
so doch ganz von selbst allen vernünftigen Bestrebungen, die Arbeiter an die ländliche
Heimat und Arbeit zu „fesseln," die wirksamste Förderung zu teil werden wird. Wir
haben mit einer Pause im Fortschritt der industriellen Produktion und nicht minder in
der Entwicklung von Handel und Verkehr in naher Zukunft sicher zu rechnen; gebe
der Himmel, daß sie nicht zum ausgesprochnen Rückschritt wird. Die Regierung aber
hat die Pflicht, darauf Bedacht zu nehmen, gerade bei der Beurteilung der gegen
den angeblich allgemeinen Arbeiterinangel verlangten Abhilfemaßregeln, unter denen
die vermehrte und dauernde Heranziehung ausländischer Arbeitskräfte eine hervor¬
ragende Rolle spielt.
Die von Herrn von Miquel sodann besprochne Schwierigkeit, in den Gro߬
städten — denn nur um diese kann es sich dabei handeln — Mädchen aus Arbeiter¬
familien von vierzehn bis sechzehn Jahren im Gesindedienst statt in der Industrie
zu beschäftigen, hatte mit der zur Debatte stehenden Frage nichts zu thun. Es wäre
gerade bei diesem Redner von Interesse, zu untersuchen, was er damit wollte. Hier
müssen wir das beiseite lassen. Nur dazu möchten wir unter Hinweis auf unsre
wiederholt in den Grenzboten dargelegte Überzeugung die vollste Zustimmung aus-
sprechen, daß es hohe Zeit ist, der weitern Überhandnähme einer thatsächlich schon
übermäßigen Ungebundenheit der jugendlichen Arbeiter männlichen und weiblichen
Geschlechts mit Einschluß der Dienstboten energisch entgegenzutreten. Die Vereins¬
thätigkeit reicht nicht aus, die von den Eltern vielfach leichtfertig und gewissenlos
cmfgegebue Aufsicht und Fürsorge zu ersetzen. Aber auch das ist eine vorwiegend
städtische Frage.
Über die unverantwortliche Verwahrlosung der jugendlichen Arbeiter in der
vstelbischen Landwirtschaft hat Herr von Miquel kein Wort gesagt. Wenn er die
Verhältnisse kennt, hat er sich damit einer unverantwortlichen Unterlassungssünde
schuldig gemacht. Die Behandlung der Kinder und jungen Leute von vierzehn bis
sechzehn Jahren und darüber hinaus in der Landwirtschaft ist in unsern Ostprovinzen
heute so, daß in ihr allein eine hinreichende Erklärung der eigentlichen Land¬
flucht liegt. Die Schuld trifft hier, wo sie alle Macht haben, allein die Besitzer,
ihre Angehörigen, ihre Vertreter, und Gott seis geklagt, zum Teil much „ihre"
Pastoren. Nicht Menschenliebe und Patriarchalisches Pflichtgefühl beseelt die Herren,
sondern cmsgesprochne Gleichgiltigkeit, kaufmännische Berechnung, unchristliche Über¬
hebung und vielfach rohe Lieblosigkeit. Die erfreulich zahlreichen Ausnahmen, wo
sich die „gnädige" Gutsherrschaft mit vom Herzen kommender und die Herzen ge¬
winnender, wahrer, uneigennütziger Liebe der jugendlichen Arbeiter und der „Hofe-
kinder" annimmt, beweisen um besten die Berechtigung des schweren sozialen Vor-
wurfs, den wir soeben ausgesprochen haben. Die Provinzen stehen sich much nicht
gleich. Die Verhältnisse in Pommern, anch wohl in der Mark, sind im allgemeinen
besser als in den übrigen Ostprvvinzen. Die agrarische Agitation hat auch in
dieser Beziehung die Gewissen verhärtet, die Gemüter verroht. Das möge sich
auch Herr von Wcingenhcim gesagt sein lassen, wenn wir ihm auch gern glauben,
daß es ein wahrhaft christliches Liebeswerk ist, daß seine Angehörigen Sonntags
mit den „Dorfjören," wie er sagte, spielen. Wir haben solche Veranstaltungen
leider auch in nicht geringer Zahl kennen gelernt, bei denen die rechte Menschen¬
liebe fehlte, und die deshalb mehr schadeten als nützten. Oft ist anch Mangel an
persönlicher Veranlagung für dergleichen Spiele der Grund, daß sie keinen guten
Erfolg hoben. Sie sollen dann besser unterbleiben. Eine Schablone giebts hier
nicht, und anch nicht Rezepte für Wohlfahrtspflege ans dem Lande wie Rezepte im
Kochbuch. Es kommt alles auf den Geist und den guten Willen an, und an dem
fehlt es, der ist heute verderbt und verkommen, wie er es seit Generationen nicht
war. Jeder Gedanke an eignes Verschulden und an eigne Pflicht liegt den
„herrschenden Klassen" im Osten ferner als jemals, obgleich die Fehler und Sünden
zum Himmel schreien. Wir wollten gern die Probe aufs Exempel machen. Möge jeder
landwirtschaftliche Kreisverein in Altpreußen die Pflichten der Gntsherrschaften gegen
die jugendlichen Arbeiter und überhaupt gegen den Arbeiternachwnchs ans die Tages¬
ordnung der nächsten Versammlung setzen. Kann Herr von Miguel auch nur einen
Augenblick daran zweifeln, welche Anschauungen — wenn die wirklichen, wahren
Anschauungen der Vereinsmitglieder ausgesprochen würden — dabei nur zum Vor¬
schein kommen könnten? Der schroffe manchesterliche Egoismus, die unduldsame
Selbstgerechtigkeit, die heute die große Mehrheit gerade in dieser Frage beherrscht,
gab ja auch den Debatten des Abgeordnetenhauses über sie ihr charakteristisches
Gepräge.
Die Herren wollen von ihrer eignen Schuld nichts wissen, ja sie wissen wirklich
nichts mehr davon. Dem Einzelnen kann das unter Umständen zur moralischen Ent¬
lastung gereichen, und wir sind weit entfernt, das nicht in weitem Umfange anzu¬
nehmen. Aber wo eine solche Entartung der sozialen Gesinnung eingerissen ist, da
hat doch die Regierung vor allem die Pflicht, die Entarteten wieder zur Besinnung
und Vernunft zu bringen, zumal wenn, wie das hier der Fall ist, sie selbst dnrch
ihr Verhalten dazu beigetragen hat, daß die Entartung diesen Grad erreicht hat.
Herr von Miqnel hat aber zum Schluß seiner großen Rede am 10. Februar deu
ostelbischen Landwirten wiederum als das, worauf doch alles ankomme, den starken
Schutz gegen das billiger produzierende Ausland, d. h. höhere Agrarzölle, bezeichnet.
Die ehrliche Geschichtschreibung der altpreußischen Landwirtschaft wird ihm dereinst
dafür das verdiente Urteil sprechen, mögen ihm auch heute die in Selbstgerechtigkeit
und manchesterlicher Lieblosigkeit befangnen Agrarier, wie es ja gar nicht anders
sein kann, mit frenetischem Beifall zujubeln.
Was die einzelnen Vorschläge der agrarischen Anträge betrifft, so hat Herr
von Miquel, was wir mit Genugthuung begrüßen, die Einführung der Kouzessivns-
Pflicht für die Gesiudemakler in Aussicht gestellt. Von der weiter verlangten Be-
strafung des Kontraktbrnchs erwarten wir nnter den heutigen Verhältnissen auf dem
Lande keine den Frieden und die Seßhaftigkeit fordernde Wirkung, auch nicht wenn
er auf die Erntearbeit eingeschränkt würde, was Herrn von Miquel annehmbar zu
sein schien. Nur eine über den Interessen stehende, von Liebe zu den Arbeitern
beseelte Macht könnte dieses zweischneidige Schwert ohne Schaden führen. Wo ist die
aber in der Verwaltung und der Selbstverwaltung der Ostprovinzen heute zu finden?
Man sorge nur dafür, daß die Streikfreuude und Koalitionsschwärmer nicht auch in
Deutschland bei den Erntearbeitern die Hebel ansetzen, um die Segnungen ihrer
Theorien auch dem Platten Lande zu teil werden zu lassen. Strafen sind gegen
die sozialistische Versuchung ein schlechtes Desiufeltious- und Jmmunisieruugsmittel,
zumal in der Hemd der Agrarier. Die Sozialdemokratie ist von der Landwirtschaft
im Osten nur fern zu halte« durch die Hebung der sozialen Gesinnung der Arbeit¬
geber, die hier auch die Handhabung der staatlichen Zwangsmittel beherrschen. Die
innere Kolonisation hat Herr von Miquel, wie nicht anders zu erwarten war,
warm befürwortet, aber in seiner Weise. Einmal hat er sich ans das allereut-
schiedenste dagegen verwahrt, daß Staatsmittel für diesen Zweck aufgewendet würden.
Wenn ihn hier der Finanzminister in den Nacken schlug, so war das wohl nicht
allzu ernst zu nehmen. Viel ernster und im höchsten Grade zu beklagen dagegen
ist es, daß er immer noch an der Möserschen Phantasie festhält, nur dnrch Renten¬
güter und gebuudneu Grundbesitz eine seßhafte Landarbeiterschaft im Osten schaffen
und „fesseln" zu können. Wir halten keineswegs eine unbeschränkte Parzelliernngs-
freiheit für wünschenswert und schwärmen am wenigsten für die Zwergwirtschaften,
wie sie in einigen Teilen, namentlich Württembergs, der landwirtschaftlichen Be¬
völkerung zum Fluch geworden sind. Man möge es bei der Besiedlung der Ost¬
provinzen, wo diese überhaupt angebracht ist, doch auch einmal mit dem sächsischen
System versuchen oder mit sonst welchen Maßregeln gegen übertriebne Parzellie¬
rungen. Nur sorge mau vor allem nicht nur für recht viele kleine freie „Stellen,"
sondern auch für die nötigen, „wälzenden, d. h. bewegliche, kleine, frei teilbare Grund¬
stücke in jeder Gemarkung, damit die an die Heimat gefesselten Arbeiter die Möglichkeit
haben, durch Fleiß, Sparsamkeit und Intelligenz zu selbständigen Wirten zu werden,
d. h. sich den Fesseln des „Hofedienstes" zu entziehen. Nur so wird mau zum
rechten Ziel gelangen, aber wenn die Fesselung an den Hofedienst vom Vater anf
den Sohn der Hauptzweck ist, dann werden wir trotz aller Liebe zu unsrer ost-
elbischen deutschen Heimat auf dem platten Lande die ersten sein, die den deutschen
Arbeitern abraten, auf den Leim zu gehn. Es ist wahrhaftig zum ärgern, wenn
man sieht, daß die so erwünschte innere Kolonisation im Osten an einer Miqnelschen
Liebhaberei zu scheitern droht.
Zu etwas wunderlichen Äußerungen hat bekanntlich die Abneigung der Agrarier
gegen eine Hebung des Vvlksschulimterrichts den preußischen Landwirtschaftsminister
verleitet. Wir wollen sie schon deshalb gern mit dem Mantel der Vergessenheit
bedecken, weil sie den einzigen Lichtblick in der trostlosen Finsternis der ganzen
Debatte hervorgerufen haben: den scharfen Protest des Vertreters des Unterrichts¬
ministeriums gegen die gewaltig ins Kraut schießende Anmaßung der nltpreußischen
Reaktion auf dem Gebiete des Volksschulweseus. Herrn von Hammerstein identi¬
fizieren wir mit dieser keineswegs. Wir kennen sie besser als er, wir kennen auch
die Leute, die ihm am 9. Februar so laut zugejubelt habe», in dieser Beziehung besser
als er. Die preußische Unterrichtsverwaltung, so sagte ihr Vertreter, habe alles
gethan, die Volksschule zu heben, aber man solle nicht glauben, daß man die Kinder
mit Scheuklappen erziehen könne. Wenn man vorschlage, die Lehrer sollten den
Kindern erzählen, die Löhne seien auf dem Lande ebenso hoch wie in der Stadt,
so vergesse man, daß die oberste Pflicht des Lehrers sei, den Kindern gegenüber
die Wahrheit zu sagen.
Möge die preußische Unterrichtsverwaltung die Landschullehrer in der Aus¬
übung dieser Pflicht auch fernerhin und noch viel nachdrücklicher vertreten. Das
hinreichend zu thun ist sie im Osten heute noch, ja gerade gegenwärtig leider erst
recht, gar nicht imstande. Wir wollen auf das Kapitel der altpreußischen Dorfschul¬
meister hier nicht näher eingehn. Es wird sich vielleicht später einmal dazu Ge¬
legenheit finden. Daß das, was ein „Geheimrat" aus dem Kultusministerium
gegen agrarische Äußerungen sagt, bei den Agrariern nur die lebhafteste Empfindung
des guten Rechts, seine Entfernung zu fordern, hervorrufen kann, weiß jedermann.
Eine andre Wirkung ist gar nicht zu erwarten, und damit ist der ganze Erfolg
der Verhandlungen hinreichend gekennzeichnet.
Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, herausgegeben von Prof. Dr. Ludwig
Elster. Zweiter Band. Jagd — Zwangsvollstreckung. Nachträge. Sachregister. Jena,
Gustav Fischer, 1898. — Preis für das vollständige Werk broschiert M Mark, elegant gebunden
W Mark
Die Rezension des ersten Bandes im vorjährigen 34. Heft der Grenzboten
kam zu dem Ergebnis, daß dieses Werk zwar nicht gerade Wörterbuch der Volks¬
wirtschaft zu heißen brauchte, daß es aber eine Menge sehr tüchtiger Abhandlungen
über alle möglichen Gegenstände aus dem Gebiet der Staats- und Gesellschafts¬
wissenschaften enthält und als ein brauchbares, dabei spottwohlfeiles Nachschlagcbuch
zur Ergänzung wie zum Ersatz des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften em¬
pfohlen werden kann. Besondrer Beachtung empfohlen sei der ganz kurze (noch
nicht anderthalb Spalten lange) Artikel „Kathedersozialismus" auf Seite 41. Pro¬
fessor Lexis zeigt darin durch eine ganz trockne Aneinanderreihung von Thatsachen,
daß der von Oppenheim erfundne Spottname „Kathedersozialisten" ebenso sinnlos
und unberechtigt ist wie das seit einiger Zeit Mode gewordne Geleise gegen die
Männer, die mit jenem Spottnamen zu diskreditieren für eine That Polnischer
W
reizehn Monate später, am 26. Februar 1893, kam ich wieder
nach Friedrichsruh; Bucher war am 12. Oktober in Glion am
Genfer See gestorben, und Fürst Bismnrck hatte mich durch einen
liebenswürdigen Brief eingeladen, um sich mit mir über seinen
toten Freund unterhalten zu können. Er empfing mich mit den
Worten: „Sie haben meinem besten Freunde nahe gestanden, ich fühlte das
Bedürfnis, Sie zu sehen." Beim Frühstück und den übrigen Mahlzeiten er¬
halte ich immer meinen Platz an seiner Seite; als wir uns gesetzt haben,
springt Rebekka wie toll um den Tisch herum, während Tiras nicht zu sehen
ist; schließlich kommt er aber schwerfällig angehumpelt und legt sich teilnahmlos
zu den Füßen seines Herrn nieder. Auf meine Bemerkung, daß der Hund
Wohl krank sei, sagt der Fürst: „Ja, sehen Sie, das ist auch so ein merk¬
würdiges Verhältnis, wie es im Leben öfter vorkommt, zwischen zwei Krea¬
turen, die nicht zu einander Passen; die Rebekka ist eine liebenswürdige feurige
Dame, aber — wie oft in solchem Falle — ein Satan; der Tiras ist ein
höchst braver, aber etwas tölpliger Kerl, ohne Leidenschaften; in letzter Zeit
ist er nun ganz phlegmatisch geworden, und als alle Liebkosungen nicht helfen
wollten, ihn an seine ehelichen Pflichten zu erinnern, da hat sich die Liebe in
Haß verwandelt, die Rebekka hat ihn schließlich vor Verachtung in das Bein
gebissen, und davon lahmt er." Es wird ein soeben mit der Post angelangtes
Paket gebracht. Es enthalt eine sogenannte elektrische Gichtkette und das
Schreiben einer unbekannten Dame, die um Mitteilung bittet, ob dem Fürsten
diese Kette wirklich geholfen habe, da sein Name an erster Stelle als Referenz
angegeben sei. Der Fürst liest den beiliegenden Prospekt, der unter zahlreichen
andern Adressen auch seine eigne angiebt, und sagt: O weh, wie ich sehe, be¬
finde ich mich da in höchst zweifelhafter Gesellschaft; aber ich bin ohne Schuld
hineingeraten, denn ich kenne das Instrument gar nicht." Die Fürstin gesteht
dann ein, daß sie die Kette allerdings vor einigen Jahren heimlich habe schicken
lassen. Das Gespräch kommt auf Bucher, den Bismarck als den einzigen wirk¬
lichen Gentleman unter seinen Freunden bezeichnet; auch der kurz vorher er¬
schienene Schorerartikel wird besprochen, und auf die Frage, was doch darin
alles behauptet worden sei, antworte ich: „Der Geheimrat soll auf seinen
Einfluß eifersüchtig gewesen sein und sich durch Beförderung andrer zurück¬
gesetzt gefühlt haben." Darauf sagte der Fürst laut lachend: „Bucher und
eifersüchtig! Wenn er doch seinen Einfluß auf mich mehr geltend gemacht hätte,
von ihm hätte ich mich gern noch mehr beeinflussen lassen, aber er wollte ja
nicht, er war eine zu vornehme Natur!" Auch über Moritz Busch sprechen
wir, und ich ärgere mich, daß dieser den Verstorbnen in einem Nekrolog als
frühern Jakobiner bezeichnet; darauf der Fürst: „Das ist er niemals gewesen!
Als ich ihn zum erstenmal im Parlament hörte, machte er auf mich den Ein¬
druck eines Nordamerikaners; aber der Busch hat sich bei dieser Äußerung
nichts böses gedacht." Ein Herr erzählt, daß Busch nach Leipzig übergesiedelt
sei, weil er in Berlin eine Beschlagnahme seiner Papiere habe befürchten
müssen. Der Fürst: „Das glaube ich nicht, denn soweit sind wir noch nicht
gekommen." „Ich möchte nur wissen — sagt die Fürstin —, was die Zei¬
tungen immer zwischen Bucher und meinen Sohn Herbert bringen wollen; die
waren wirklich recht befreundet, und mein Sohn hat sich noch die denkbar
größte Mühe gegeben, ihn als Hochzeitsgast in Wien zu haben; später bekam
er von ihm noch ein kostbares Hochzeitsgeschenk, einen so prachtvollen silbernen
Tafelaufsatz, daß wir alle ganz erstaunt waren. Aber der Geheimrat konnte
größere Gesellschaften nicht ausstehn, und deshalb war er nicht nach Wien zu
bringen."
Wie ich bei dieser Gelegenheit bemerken will, traf das in Wien stehn ge-
bliebne Hochzeitsgeschenk durch einen Zufall gerade einige Tage nach Buchers
Tode ein; findige Reporter verbreiteten dann gleich die Nachricht, daß in einer
mächtig großen Kiste sein gesamter litterarischer Nachlaß in Friedrichsruh ab¬
geliefert worden sei. Fürst Bismarck hat aber nichts derartiges erhalten, und
Bucher hinterließ auch weder Aufzeichnungen noch sonstige Papiere von poli¬
tischer Wichtigkeit. Was von Memoiren gefaselt wird, ist Täuschung; die
geringe schriftliche Hinterlassenschaft ist in den Händen des Bruders.
Ich frage den Fürsten, ob die in der Presse verbreitete Notiz, daß Bucher
die ganze Reichsverfassung in vierundzwanzig Stunden niedergeschrieben habe,
wahr sei, worauf er mir folgendes erwidert: „Bucher hat so schnell gearbeitet,
daß ihm vieles möglich war, was man für unmöglich halten sollte; er hat
auch die Reichsverfassung — ich weiß nicht, in wie langer Zeit — bearbeitet,
aber eine besondre Leistung von ihm war es, daß er mir in wenigen Stunden
die Verfassung des Norddeutschen Bundes niederschreiben konnte, während ich
einen von Savigny mit Muße ausgearbeiteten Entwurf als unbrauchbar zurück¬
weisen mußte." Wieder kommen wir auf den Schorerartikel zu sprechen und
unterhalten uns über den mutmaßlichen Verfasser, der es auch bis jetzt noch
nicht sür gut befunden hat, aus seiner Anonymität hervorzutreten; die Fürstin
weist auf eine einflußreiche, intrigante Persönlichkeit hin, die sowohl der heim¬
liche Feind ihres Mannes wie auch Buchers gewesen sei. Der Fürst wehrt
ab und sagt: „Ich mag den Namen des Mannes nicht kennen, jedenfalls hat
er mich schwerer getroffen als andre."
Ich erzähle von einer Begegnung, die Geheimrat Bucher einige Wochen
vor seinem Tode mit Herrn Göring, dem damaligen Chef der Reichskanzlei,
hatte. Wir gingen auf der Promenade eines Badeorts spazieren, als er von
einem Herrn angeredet wurde; nachdem sich dieser verabschiedet hatte, machte
der Geheimrat ein merkwürdig lächelndes Gesicht und sagte mir schließlich:
„Wissen Sie, wer der Herr war? Herr Göring, der Schulfreund und Ver¬
traute Caprivis, der ihn sich hervorgezogen hat!" Fürst Bismarck lacht herz¬
lich, als ich ihm sage, daß sich in den beiden Männern doch eigentlich recht
prägnant der alte und der neue Kurs gegenüber gestanden Hütten, „Ja
— meint er —, Bucher war ungefähr das bei mir, was der andre Herr bei
Caprivi ist; mein alter Mitarbeiter war auch überzeugter Schutzzöllner, während
Herr Göring zu den wütenden Freihändlern gehört, denen wir die Handels¬
verträge zu danken haben."
Das Gespräch dreht sich jetzt um den Bund der Landwirte, der gerade
in Berlin eine Hauptversammlung abgehalten hatte, und der Fürst äußert, er
möchte wohl wissen, ob die Herren wirklich dort in der Hauptstadt, trotz not¬
leidender Landwirtschaft, so opulent gelebt hätten, wie die Zeitungen berichteten;
nun, zuzutrauen wäre es ihnen schon! Dann animiert er mich zum Trinken
mit folgenden Worten: „Sie sind wohl auch so vorsichtig im Essen und Trinken
wie Bucher, der sich immer lasten hat; ich bin überzeugt, er wäre älter ge¬
worden, wenn er weniger mäßig gelebt hätte, denn ich habe immer gefunden,
daß diejenigen Menschen das höchste Alter erreichen, die tüchtig essen und
trinken."
Zum zweiten Frühstück giebt es ein warmes Gericht und kalte Platten,
eine Sorte Wein, Münchner Bier und Kognak oder alten Kornbranntwein.
Der Fürst schenkt mir eigenhändig ein Glas von letzterm ein und fordert mich
auf, zu sagen, was es für eine Sorte ist; als ich das nicht weiß, erzählt er:
»In einer Festung — wenn ich nicht irre, war es Wesel — hatte man einige
Flaschen Branntwein tief in den Kasematten vermauert und gerade hundert
Jahre liegen lassen; als der Schatz dann gehoben wurde, bekam ich auch einige
Flaschen zum Präsent. Das Getränk ist vorzüglich, und da haben Sie ein
Beispiel dafür, daß auch die Kasematten einer Festung unter Umständen ver¬
edelnd wirken können." Ich frage nach einer Anekdote, die ich einmal irgendwo
gelesen habe, worauf er mir erwidert: „Ja, die Geschichte ist wahr, aber sie
hat sich etwas anders zugetragen. Ich war während meines Frankfurter Auf¬
enthalts häufig im Taunus auf der Jagd und befand mich eines Tages mit
einem befreundeten Herrn, dem dicken ..... auf einem Berge, wo wir uns
gelagert hatten, um unser Frühstück zu verzehren. Ich hatte schon alles auf¬
gegessen, fühlte aber noch einen furchtbaren Hunger und überlegte, wie ich dem
dicken X wohl zwei prachtvolle Würste abnehmen könnte, die er neben sich
liegen hatte. Da sah ich vor uns in einiger Entfernung den Friedhof eines
Dörfchens, und weil ich wußte, daß der Dicke nichts sehen oder hören konnte,
was ihn an Sterben erinnerte, so blickte ich starr nach der Gegend des Kirch¬
hofs, bis mein Gefährte aufmerksam wurde und mich fragte. Als ich ihm
sagte: »Sehen Sie mal den schönen Kirchhof, er liegt so idyllisch, daß ich dort
wirklich einmal begraben sein möchte«, da warf er hastig sein Essen beiseite,
indem er mich wutschnaubend anschrie: »Da habe Se mir mit Ihrer Quatscherei
den ganzen Appetit verdorbe, denn ich kann keinen Happe mehr esse!« Nun
ich hatte meinen Willen und verzehrte seelenvergnügt die beiden Würste, unter
fortwährendem Schimpfen des Dicken." Diese schöne Anekdote bringt uns auf
Jagdgeschichten, der Fürst erzählt Abenteuer aus Nußland und kommt auf
Sonntagsjäger zu spreche», die wohl selten Wild, aber mit großer Sicherheit
Menschen zu treffen verstünde»; auch Herr vou Stephan sei früher ein Nimrod
gewesen, vor dem man seine Beine habe in acht nehmen müssen, später Hütte
er freilich mit zunehmender Vornehmheit auch die Jagd besser erlernt. Er
fragt mich nach den Jagdverhältnissen meines Wohnorts, und ob ich im Winter
viel erlegt hätte. Auf meine Bemerkung, daß mir zwar einige Stück Rotwild
freigegeben worden seien, daß ich aber nicht geschossen hätte, weil das Wild
bei dem hohen Schnee immer vertraut an den Futterplützen gestanden hätte,
sieht er mich scharf an und sagt: „Bravo, das war recht, denn auch die Tiere
sind unsre Gäste, wenn wir sie bewirten, und ich kenne kein Gesetz, das mir
so heilig ist, wie das Gastrecht! Einst gab es einen Markgrafen Gero, der
sich um die Germanisierung der Mark große Verdienste erworben hatte; er soll
auch ein tapfrer Mann gewesen sein, aber ich habe ihn immer verabscheut,
denn er lud die wendischen Fürsten zu einem Gastmahl, um sie dann in seinem
eignen Hause zu erschlagen. Als es uns in Versailles einige Schwierigkeiten
machte, das Deutsche Reich zusammen zu bringen, da war ein hoher Herr,
der wollte von langen Verhandlungen nichts wissen und meinte: »Wir haben
ja die Macht.« Aber da ging ich zu meinem alten Herrn und stellte ihm
vor, daß die deutschen Fürsten mit ihren Mannen unsre Gäste seien, die wir
gewissermaßen zum Kampf gegen den Erbfeind eingeladen hatten, und daß man
Gästen gegenüber auch den leisesten Zwang vermeiden müsse; er war meiner
Ansicht, und wir verstanden uns lieber zu Konzessionen."
Immer wieder kommt das Gespräch ans den verstorbnen Freund zurück,
und der Fürst erzählt die schon von Poschinger berichtete Thatsache, daß er
mit seinem spätern Mitarbeiter zum erstenmal nach Auflösung der Kammer
am Büffet des Hauses einige Worte gewechselt habe; das darauf folgende Exil
sei für Bucher eine schlimme, aber auch lehrreiche Zeit gewesen, denn er habe
mit Sorgen kleinlichster Art zu kämpfen gehabt, und es seien ihm bittere Ent¬
täuschungen nicht erspart geblieben. „Ja — fährt er dann fort —, es ist
wunderbar, wie viele Leute sich jetzt noch an Wuchers Rockschöße hängen
möchten, wo er sie nicht mehr abschütteln kann; ich habe erst vor einigen
Tagen hier wieder ein anonymes Manuskript von einer Redaktion zur Durch¬
sicht zugeschickt bekommen, das angeblich Gespräche und Aufzeichnungen Buchers
enthalten soll, und es wäre mir angenehm, wenn Sie dasselbe einmal mit
durchsehen und Ihre Ansicht darüber äußern wollten."
Das ziemlich umfangreiche Schriftstück war mit zahlreichen Anmerkungen
des Fürsten versehen, der wenigstens einmal auf jeder Seite sein Lieblingswort
„Blech" an den Rand geschrieben hatte. Auch ich fand bei sorgfältigster Durch¬
sicht, daß die Gespräche und Aufzeichnungen keinesfalls echt sein konnten, und
da auch von Friedrichsruh aus dieser Standpunkt energisch geltend gemacht
wurde. so unterblieb damals die Veröffentlichung. Es drängt sich mir nun
die Frage auf, ob die jetzt anonym erschienenen Gespräche und sogenannten
Memoiren Buchers nicht von demselben Verfasser herrühren, der sich zu Leb¬
zeiten Bismarcks mit seinen Enthüllungen nicht hervorwagte. Die Artikel des
mir unbekannten Kölner Blattes habe ich nur in kurzen Auszügen gelesen, aber
auch das Wenige genügte schon, mir die Überzeugung beizubringen, daß sie ein
Kunstprodukt sein müssen. Wer den Verstorbnen näher gekannt hat, weiß,
wie vorsichtig er Zeit seines Lebens in allen seinen Äußerungen gewesen ist,
und Fürst Bismarck sagte einmal, daß das verschwiegenste Grab gegen Bucher
noch eine alte Klatschschwester zu nennen sei; aber es ist ja so leicht, einem toten
Manne etwas anzuhängen!
Abends hat sich Gesellschaft aus der Nachbarschaft eingefunden; das Diner
beginnt ohne Suppe, um den Fürsten nicht zu verführen. Bekanntlich stand
in einer Ecke seines Schlafzimmers eine einfache Dezimalwage, auf der er jeden
Morgen durch den Kammerdiener gewogen wurde; die einzelnen Zahlen wurden
notiert und später von Schweninger durchgesehen, der bei einer Steigerung
des Körpergewichts dann jedesmal besondre Diütvorschriften erließ, die Giltig-
keit hatten, bis das Plus wieder verschwunden war. Der Fürst befand sich
damals gerade in einer solchen Periode schürferer Beaufsichtigung, er durfte
daher keine Suppe genießen und bekam Bier nur in einem Weinglase gereicht.
Ich besinne mich, daß er einmal an der Frühstückstafel recht ungehalten wurde,
als ihm das vielgeliebte Münchner in so homöopathischer Dosis kredenzt wurde;
knurrend fuhr er den Kammerdiener an: „Wenn Sie denn nicht mehr ein¬
schenken dürfen, dann stellen Sie wenigstens die Flasche her, damit ich mir
helfen kann." Die Fürstin erzählt, daß Bucher während des Diners, das immer
in animiertester Unterhaltung verläuft, oft kein Wort gesprochen und mit so
abweisendem Gesicht dagesessen hätte, daß niemand ihn durch eine Frage zu stören
gewagt hätte; wenn aber die auch jetzt anwesende Baronin von M. an der
Mahlzeit teilgenommen Hütte, dann sei der alte Herr für seine Nachbarin und die
ganze Tafelrunde ein geistsprühendcr Unterhalter gewesen. Das Gespräch kommt
auf England, auf die Homsruls Lili und Gladstone; ich erwähne, daß Bücher diesen
gering geschätzt und spöttischerweise immer „Herr Freudenstein" genannt habe.
Der Fürst sagt darauf: „Ich bin niemals Gladstones Freund gewesen und
habe nach allem, was über ihn von gut unterrichteter Seite erzählt wird, den
Eindruck, daß er auf einer niedrigen sittlichen Stufe stehn muß; aber als
Staatsmann kann ich ihn so gering nicht achten, denn er hat doch erst kürzlich
mit seiner Rede einen großen Erfolg errungen." Man spricht darauf von
einem andern ausländischen Diplomaten; der Hausherr hat eine Zeit lang
schweigend zugehört, schließlich mischt er sich mit folgenden Worten in das
Gespräch: „Ich will dem Herrn gar nicht zu nahe treten, aber er ist das, was
man in unsrer guten deutschen Sprache einen Ochsen nennt; in Berlin traf er
mich einmal unter den Linden und hielt mir dort auf offner Straße eine lange
Rede, die ich geduldig, ohne eine Miene zu verziehn, anhörte. Als er fertig
war, sagte ich ihm: »Ihre Rede wäre sehr schön gewesen, wenn Sie dieselbe vor
einem Parlament gehalten hätten.« Er bedankte sich noch erfreut für dieses
Urteil, ohne meine Ironie zu versteh»."
Eine Dame erkundigt sich nach dem Ursprung der kleinen Teufelsfigur
auf dein Schreibtisch des Arbeitszimmers; der Fürst erzählt die bekannte Ge¬
schichte und kommt dadurch auf seinen Aufenthalt in Versailles zu sprechen.
Die Franzosen Hütten sich ihm gegenüber immer höflich gezeigt, und nach der
Einnahme von Paris sei er unbehindert ziemlich weit in den von deutschen
Truppen nicht besetzten Stadtteil geritten; einmal freilich Hütte sich ihm das
Gefühl einer drohenden Gefahr aufgedrängt. In Versailles habe er nämlich
die Gewohnheit gehabt, täglich allein weite Spazierritte zu unternehmen; auf
einem solchen Ritt, der ihn fast zwei Stunden von den deutschen Truppen
entfernt hatte, sei ihm ein mit vierzehn Bauern besetzter Leiterwagen entgegen¬
gekommen, die auf ihn den Eindruck von Franctircurs gemacht hätten. Er habe
also schon mit der einen Hand seinen Revolver gelockert und bei sich gedacht:
„Na. was werden meine Landsleute denken, wenn ihr Kanzler plötzlich spur¬
los verschwunden ist!" Ausweichen war nicht möglich; der Wagen hielt still,
und einer der Insassen habe sich mit der Frage erhoben: Zevs-vous monsieur
LisiliÄrc-Je? Auf seiue Antwort: 0ni, inizssisurs! sei die ganze Gesellschaft
aufgestanden und habe ihn durch Abnehmen der Kopfbedeckung mit den Worten
gegrüßt: ^n, monsisur Li8lliÄroIi! Noch lange habe er sich bittre Vorwürfe
gemacht und den braven Leuten im stillen wegen des schmählichen Verdachts
Abbitte geleistet!
Abends sitzt die Gesellschaft wieder im Salon der Fürstin bei Kaffee und
Cigarren; der Fürst qualmt aus seiner Pfeife und liest die Tageszeitungen,
aber von Zeit zu Zeit wirft er einige Worte in die Unterhaltung, ein Zeichen,
daß ihm auch diese nicht ganz entgeht. Nachdem er dann einem Herrn gegen¬
über einige Daten aus seinem Leben berichtigt hat, bringe ich ihn auf den
König von Holland und dessen Verhalten während des deutsch-französischen
Krieges, indem ich folgende Geschichte erzähle, die mir von gut unterrichteter
und zuverlässiger Seite mitgeteilt worden war: „Eines Tags kam der hol¬
ländische Minister Thorbecke zu seinem königlichen Herrn und wurde mit den
Worten empfangen: »Nun, was erzählen sich denn jetzt die Amsterdamer von
mir?« Als der Minister mit einem gewissen Ernst antwortete: »Majestät, das
wage ich gar nicht zu sagen,« da wurde der König aufmerksam und verlangte
erst recht die Beantwortung seiner Frage. Ans vieles Drängen antwortete
Thorbecke schließlich trocken: »Die Amsterdamer erzählen sich, Majestät wären
verrückt geworden!« Als hierauf der König das Tintenfaß ergriff, um es
seinem Minister an den Kopf zu werfen, fiel ihm dieser in den Arm, mit den
Worten: »Wenn Majestät das thun, dann haben die Amsterdamer Recht.«
Zugleich holte er eine von dem König eigenhändig niedergeschriebne, nach Berlin
geschickte Kriegserklärung aus der Tasche und hielt sie dem König mit den
Worten vor: »Wenn Majestät nicht sogleich diese Erklärung widerrufen, dann
werden Sie in zwei Stunden nicht mehr regieren, denn das Volk und seine
Vertretung wollen keinen Krieg mit Preußen.«" Fürst Bismnrck lachte herzlich,
fragte mich, woher ich die Geschichte wüßte, und erklärte sie dann für durch¬
aus wahr, bis auf die Kriegserklärung; um eine solche hätte es sich denn doch
noch nicht gehandelt, wohl aber um einen höchst lamentabeln Brief mit deut¬
lichen Drohungen, den er dann zur Kenntnisnahme an den verantwortlichen
holländischen Minister zurückgesandt hatte. „Ja — so fuhr er fort —, der
alte Thorbecke verstand es ganz gut, mit seinem etwas schwierigen Herrn um-
zugehn; als früherer Universitätsprofessor sprach er mit ihm stets in dozie¬
rendem Tone, was allerdings den König oft wütend machte, den es schon ver¬
droß, daß er als kleiner dicker Mann zu seinem sehr langen Minister immer
emporheben mußte. Wollte dieser für irgend ein Schriftstück die Unterschrift
haben, dann kam es häufig vor, daß es gleich zerrissen und auf die Erde ge¬
worfen wurde. Thorbecke war aber für solche Späße des Königs eingerichtet,
denn er hatte immer verschiedne Duplikate in der Tasche. War das erste zer¬
rissen, dann präsentierte er das zweite, das auch nicht glimpflicher behandelt
wurde; wenn er aber auch ganz gelassen das dritte aus der Tasche holte, mit
dem Bemerken, daß er noch eine Anzahl solcher Exemplare bei sich habe, dann
bekam er die Unterschrift."
Auf meine Bemerkung, daß auch die Adjutanten unter der Laune ihres
Herrschers viel hätten leiden müssen, antwortete Bismcirck: „Der König von
Holland war eine gewaltthätige Natur und litt an großem Durst — wahr¬
scheinlich ein russisches Erbstück; aber die armen, vielbeneideten Adjutanten
hatten nicht nur am holländischen Hofe mancherlei zu leiden, das kommt anderswo
auch vor. Selbst Friedrich Wilhelm III., sonst ein so leutseliger, milder
Herr, konnte gegen seine Umgebung ungerecht sein. Einst fuhr er mit einem
seiner Adjutanten — der Name wurde genannt — im Tiergarten spazieren;
da er sehr nachdenklich war und während der schon länger als eine Stunde
dauernden Fahrt kein Wort gesagt hatte, hielt es der Offizier für angebracht,
seinen Herrn durch ein Gespräch zu zerstreuen, und erlaubte sich eine Be¬
merkung über das prachtvolle Wetter. Da kam er aber schön an, denn als
Antwort hörte er nur die Worte: »Mundhalten, abwarten, bis gefragt werden.«
Am folgenden Morgen wurde derselbe Herr zur Ausfahrt beföhle», saß aber
nun während der ganzen Fahrt mit zusammengebissenen Zähnen da, wie wenn
ihm ein Schloß vor den Mund gehängt wäre. Der König war diesesmal
guter Laune, wollte sich gern unterhalten und ärgerte sich über das Schweigen
seines Begleiters. Schließlich fuhr er ihn an: »Na, haben wohl ganze Nacht
gekneipt, Katzenjammer heute, können daher Ihren König nicht unterhalten, wie
sichs gehört!«"
Fürst Bismcirck litt an neuralgischen Schmerzen und zog sich ziemlich früh
zurück, nachdem die Herrschaften aus der Nachbarschaft abgefahren waren; ich
blieb noch bis tief in die Nacht hinein mit einigen Herren zusammensitzen, die
ebenfalls Gastfreundschaft im Schlosse genossen. Natürlich drehte sich das
Gespräch um die Erlebnisse des Tages, und wir alle standen ganz unter dem
Eindruck von Bismarcks überwältigender Persönlichkeit. Die Herren, die zu
den nähern Freunden der fürstlichen Familie gehörten, konnten natürlich
mancherlei interessante Dinge erzählen und sprachen auch von der großen
Menge der täglich einlaufenden Zuschriften, die teilweise ganz wunderbare Zu¬
mutungen enthielten. Als Kuriosa wurden mir einige dieser Briefe vorgelegt,
von denen ich nur folgende erwähnen möchte: Die Witwe eines Tischlers, der
einen Apparat sür Verhütung des Lebendigbegrabenwerdens erfunden hat, bittet
um Unterstützung, damit sie auf diese Erfindung ein Patent erwerben kann;
ein Kurpfuscher, der irgend ein Mittel gegen Krankheiten geschickt hat, bittet
um Bestätigung, daß es mit Nutzen gebraucht ist. Ferner las ich einen Droh¬
brief aus München, etwa folgenden Inhalts:
Sie haben gewagt, sich einige Tage in München aufzuhalten, und er¬
dreisteten sich sogar, unser Hofbrüuhaus zu besuchen! Wenn ich nicht Achtung
vor Ihrem hohen Alter gehabt hätte, dann würde ich Ihnen dort entgegen¬
getreten sein und Sie hinausgeworfen haben. Lassen Sie es sich aber nicht
einfallen, noch einmal nach München zu kommen, denn in diesem Fall nehme
ich keine Rücksichten mehr!
Auf meine Frage, ob man dem Fürsten einen solchen wahnwitzigen Brief über¬
haupt vorgelegt hätte, wurde mir gesagt: „Nun natürlich, so etwas erheitert
ihn am meisten, und er hat sich gerade über dieses Schreiben köstlich amüsiert."
Am andern Morgen ist vornehmer Besuch eingetroffen; die Unterhaltung
beim Frühstück dreht sich denn auch zumeist um Nachrichten aus Berlin, Er¬
zählung von Hofgeschichten, die der Fürst mit einem gewissen Behagen anhört.
Man spricht auch von dem jüngst verstorbnen Bleichröder und über die Feier¬
lichkeiten bei der Vermählung der Schwester des Kaisers mit dem Prinzen
von Hessen, die kürzlich stattgefunden hat. Die Schilderung dieses Festes bringt
den Fürsten auf die Heiratsmacherei der Königin von England, auf die frühern
Pläne mit dem Battenberger und schließlich auf den jetzigen Fürsten Ferdinand
von Bulgarien, von dem er folgendes erzählt: „Während meines letzten Auf¬
enthalts in Wien erhielt ich von dem Prinzen Ferdinand aus Koburg eine
Anfrage, ob er mich besuchen dürfe; ich teilte ihm mit, daß ich im Begriff sei,
abzureisen, daß ich mich aber zwei Tage in München aufhalten und ihn dort
gern empfangen wolle. Er kam also zu mir, um mit mir über seine Lage zu
sprechen, und wie er sich wohl Verhalten solle. Ich sagte ihm etwa folgendes:
»Thun Sie nichts, wodurch Sie nach irgend einer Seite hin Anstoß erregen
können; seien Sie vorsichtig in Ihrer Politik, und hüten Sie sich vor jedem
Zündhölzchen, denn es könnte ein Brand daraus werden! Sie haben ja ge¬
zeigt, daß Sie schwimmen können; aber gehn Sie vorläufig nicht gegen den
Strom, lassen Sie sich ruhig treiben, und halten Sie sich, wie bisher, gut über
Wasser. Ihr größter Bundesgenosse ist das Gewohnheitsrecht; vermeiden Sie
alles, was Ihre Feinde reizen könnte; ohne Anstoß von Ihrer Seite kann man
Ihnen nichts thun, und mit den Jahren wird man sich daran gewöhnen müssen,
Sie auf dem Throne Bulgariens zu sehen.«"
Mir ist die Cigarre ausgegangen, und der Fürst, der es liebt, daß nach
Beendigung des Frühstücks an der Tafel tüchtig geraucht wird, fordert mich
auf, eine neue anzubrennen; als sich herausstellt, daß das kleine Kistchen auf
dem Tische leer ist, springt die Fürstin aus, um aus einem andern Zimmer
ein neues zu holen. Ich will ihr den Weg abnehmen, aber Bismarck hält
mich zurück mit den Worten: „Bitte, lassen Sie meine Frau gewähren, sie sitzt
nämlich bei ihrer Kurzatmigkeit den ganzen Tag auf einer Stelle, und es be¬
darf schon eines starken Anstoßes, sie in Bewegung zu bringen, weil sie von
Atembeschwerden zu leiden hat; sie zwingt sich auch nur, wenn meinen Gästen
oder mir etwas abgeht, und ich freue mich immer, wenn sie aus solcher Ver¬
anlassung einmal aufspringt, weil ihr das nur gut sein kann."
Auch abends beim Diner werden sast nur Neuigkeiten aus Berlin be-
sprochen. die dem Fürsten höchstens zu kurzen Bemerkungen Veranlassung geben.
Als er hört, daß ich mit der Fürstin über einen Bibelspruch Streite, droht er
mir mit den Worten: „Lassen Sie sich nicht mit meiner Frau in solchen Streit
ein, sonst ziehn Sie den kürzern; die Bibel und den Gothaischen Hofkalender
kennt sie auswendig!" Dann erzählt er von seiner letzten Reise anläßlich der
Hochzeitsfeier seines Sohnes und bedauert besonders, daß er auch den ihm
wohlgeneigten König von Sachsen nicht besuchen durfte, für den er eine
wirklich von Herzen kommende Verehrung empfände; eine Genugthuung sei es
ihm gewesen, zu erfahren, daß gerade der König über den ihm durch die
Dresdner Bevölkerung bereiteten enthusiastischen Empfang die größte Freude
empfunden hätte.
Abends sitzen wir wieder im Zimmer der Hausfrau. Der Fürst spricht
mit Bedauern davon, daß es ihm auch an seinem Lebensabende nicht vergönnt
sei, als einfacher Privatmann zu leben; er würde gern öfter nach Hamburg
ins Theater fahren, wenn das nur ohne Aufsehen geschehen könnte. Dann
greift er zu den Zeitungen und vertieft sich ganz in die Lektüre; nachdem er
sich längere Zeit mit keinem Wort an der Unterhaltung beteiligt hat, legt er
das zuletzt gelesene Berliner Tageblatt mit einer raschen Handbewegung bei¬
seite und sagt: „Ich möchte wohl wissen, ob der Dualismus, der durch unser
ganzes Erdendasein geht, sich auch bis auf das höchste Wesen erstreckt; bei uns
ist ja alles zweiteilig, der Mensch besteht aus Geist und Körper, der Staat
aus Regierung und Volksvertretung, und die Existenz des ganzen Menschen¬
geschlechts basiert auf dem gegenseitigen Verhältnis von Mann und Frau; ja
dieser Dualismus erstreckt sich bis auf ganze Völkerschaften, die sich gewisser¬
maßen in ihren Eigenschaften ergänzen — wie der körperlich starke, sittliche,
aber etwas steife Germane und der elegante, leichter bewegliche, aber weniger
kräftige Slawe. Ohne mich einer Gotteslästerung schuldig zu machen, möchte
ich daher wohl wissen, ob nicht auch unser Gott ein Wesen zur Seite hat,
das ihn so ergänzt, wie uns die Frau."
Man erinnert den Fürsten an die heilige Dreieinigkeit, worauf er aber,
als etwas unfaßbares, nicht eingeht. „Dann habe ich schon oft darüber nach¬
gedacht — so fährt er fort —, ob es zwischen uns unvollkommnen Menschen
und der höchsten Gottheit nicht noch Zwischenstufen giebt, und ob der große
Gott, bei all seiner Allmächtigkeit, nicht noch Wesen zur Verfügung hat, auf
die er sich bei der Verwaltung des unermeßlichen Weltsystems stützen kann.
Wenn ich zum Beispiel hier in den Zeitungen immer wieder lesen muß, wie
unvollkommen unser ganzes Dasein ist, wie erbärmlich es bei uns zugeht, und
wie ungerecht Glück und Unglück verteilt sind, dann muß ich immer daran
denken, ob wir für unsre kleine Erde nicht gerade einen Oberpräsidenten er¬
wischt haben, der den Willen unsers großen, allgütigen Gottes nicht immer
erfüllt und uns manchmal etwas stiefmütterlich behandelt!"
Diese in ernstem Tone gesprochnen Worte machten auf uns einen er¬
greifenden Eindruck; die vorher heitre Unterhaltung wurde nicht wieder auf¬
genommen, und wir kamen auf Religion, auf die verschiednen Dogmen, auf
Christus und die Bibel zu sprechen. Der Fürst sagt dazu folgendes: „Ich
bemühe mich, ein gläubiger Christ zu sein, und bekenne überall gern mein
Christentum; ich halte es auch für notwendig, daß dem Volke die christliche
Religion erhalten wird, aber religiöse Unduldsamkeit ist mir verhaßt, und ich
würde unter meiner Amtsführung keinerlei Glaubenszwang geduldet haben."
Nach der Ansicht eines anwesenden Herrn müßte in der Bibel durch exakte
Forschung noch vieles klar gestellt und manches ausgeschieden werden; als ich
darauf hinweise, daß man an der Bibel ohne Gefahr für den Glauben des
Volkes nicht rühren dürfe, stimmt mir der Fürst zu und sagt mit warnend
erhobnen Finger: (juistg, non inovsrs.
in 36. Heft des vorigen Jahrgangs haben wir die Theorie des
Grafen Gobineau und unsre Stellung zu ihr dargelegt. Der
Kern dieser Theorie läßt sich in den Sätzen ausdrücken: die
Menschenrassen sind an sich unveränderlich; nur durch Blut-
mischung kann ein Rassentypus abgeändert werden; auch alle
großen politischen, überhaupt alle historischen Veränderungen sind auf Nassen-
mischnngen zurückzuführen; nur die weiße Nasse ist fähig. Kultur zu erzeugen,
und da deren Blut, ohnehin nirgends mehr rein vorhanden, durch fortgesetzte
Mischungen immer mehr verschlechtert wird, so entartet der Typus des Kultur¬
menschen immer mehr. Diese Sätze werden im ersten Bande der im From-
mannschen Verlage (Stuttgart) erschienenen und von Ludwig Schemann ver¬
faßten deutschen Übersetzung entwickelt. Die übrigen drei Bände sollen den histo¬
rischen Beweis für die Theorie erbringen. Nach dem vorliegenden zweiten Bande
zu urteilen, der soeben erschienen ist. handelt es sich aber mehr um eine Geschichts¬
konstruktion nach der Theorie als um eine Sammlung von Beweismaterial
für die Theorie. Wir behaupten nicht, daß die Theorie durchaus falsch sei.
Eines der Elemente der historischen Wandlungen und Ereignisse liegt ganz
gewiß in der Beharrlichkeit der ursprünglichen Rasscneigentümlichkeiten und in
den Rassenmischungen. Aber es tragen eben noch andre Umstünde und Kräfte
zur Gestaltung der Völker und Staaten und ihrer Geschicke bei, und wenn
man diese andern Ursachen alle übersieht und den ganzen welthistorischen
Prozeß auf eine einzige Ursache zurückführt, so muß das Geschichtskonstruktion
genannt werden. Der vorliegende Band behandelt die Völker Asiens und des
nordöstlichen Afrikas. Um diese Geschichte der Ethnologie kritisieren zu können,
müßte man nicht allein durchgebildeter Ethnologe, sondern auch Archäologe,
Orientalist und verschiednes andre sein. Was die Männer von Fach zu den
einzelnen Aufstellungen sagen werden, darauf sind wir schon darum neugierig,
weil unsre heutigen Fachleute in dem vor sechsundvierzig Jahren geschriebnen
Werke gar nicht vorkommen, der Verfasser vielmehr sich nur auf die zu seiner
Zeit geltenden Autoritäten wie A. von Humboldt, Lassen, Ewald, Movers,
Prichard stützen konnte. Was an der Theorie wahr ist, das wird natürlich
durch den zu erwartenden Nachweis zahlreicher Irrtümer im einzelnen nicht
umgestoßen, aber da wir diesen Nachweis nicht selbst führen können, so müssen
wir uns auf die objektive Wiedergabe der Grundzüge dieser originellen Ge¬
schichte Asiens beschränken. Wenn wir dann noch eine Kritik einzelner Auf¬
stellungen Gobineans anfügen, so bezieht sich diese auf Punkte, über die auch
der historisch gebildete Laie mitsprechen kann; denn auch ein solcher vermag
hie und da zu erkennen, daß zu Gunsten der Rassentheorie ganz augenfällig
einwirkende Mitursachen vernachlässigt worden sind. Wir berichten also zu¬
nächst nur.
Afrika ist die Urheimat der schwarzen Rasse. Deren Eigentümliches ist
körperliche und seelische Häßlichkeit. Fratzen sind ihre Götter, Menschenfresserei
ist ihre Moral; unfähig, Kultur zu erzeugen, schweifen sie gleich wilden Tieren
ruhelos umher, sich blindlings ihren ungebändigten Trieben überlassend. Aus
Afrika haben sie sich über den ganzen Süden Asiens und über die asiatische
Inselwelt ergossen. Den edlern Stämmen erschienen sie als böse Dämonen
oder als Affen. spätestens fünftausend Jahre vor Christus stiegen von der
kalten Hochebne Mittelasiens die ersten Weißen in die Euphratebne hinab und
verbreiteten sich von da bis ans Mittelmeer. Die Urheimat dieser Arier läßt
sich nach den Angaben chinesischer Urkunden, die von Weißen Stämmen an den
Nordwestgrenzen Chinas berichten, und nach den im südlichen Sibirien ge-
fundnen taurischen Altertümern, die Erzeugnisse arischer Kultur sind, ziemlich
genau bestimmen; sie reichte im Norden bis an den Baikalsee und den Ober¬
lauf des Jenisei, im Osten bis zum Altai, wurde im Süden vom Kner-Lüu,
im Westen vom Ural begrenzt. Sie verstanden die Kunst der Metallförderung
und Bearbeitung; sie waren Hirten und beschäftigten sich wenig mit Ackerbau.
(So Seite 10; damit scheint einigermaßen im Widerspruch zu stehn, was
Seite 296 gesagt wird: „Es ist eine Thatsache, die nicht bewiesen zu werden
braucht, denn sie ist es übergenug, daß die weißen Völker immer seßhaft ge¬
wesen sind und ihre Wohnsitze stets nur zwangsweise verlassen haben"; Hirten¬
völker Pflegen nicht eben sehr seßhaft zu sein.) Nie haben sich die Weißen im
Zustande der Wildheit befunden. Das stimmt mit dem Zeugnisse der Bibel,
die das Menschengeschlecht nicht mit Wildheit beginnen läßt. Die Menschen
der Bibel, insbesondre die Noachiden, sind nämlich allesamt Weiße; die
schwarzen und die gelben Menschen stehn außerhalb des Gesichtskreises der
biblischen Überlieferung, nur Neste von einer schwarzen Urbevölkerung, die
nicht zum Noachidenstcimme gehört, werden hie und da erwähnt. Die Hannen
waren jener erste Weiße Stamm, der in die Euphratebne hinabstieg. Sie unter¬
jochten deren schwarze Bevölkerung, von der sie als Götter angebetet wurden,
und richteten eine Herrschaft auf, die bei der Beschaffenheit des zu bändigenden
Gestndels nicht anders als despotisch ausfallen konnte. Allmählich vermischten
sie sich mit den Schwarzen, und da diese die Mehrheit waren, so verschwand
die weiße Farbe allmählich ganz, und die Bewohner des Euphratgebiets wurden
allmählich schwarz. Diese Mulattenbevölkerung erzeugte nun eine Kultur, deren
Gemisch von wüster Phantasie und ordnenden Verstände, von scheußlichem
Götzendienst und nützlichen Künsten, von sinnlicher Pracht und auf der Unter¬
würfigkeit der Massen beruhender stolzer Würde auf die spätern Weißen An¬
kömmlinge einen überwältigenden Eindruck machte. Dieser zweite Einwandrer¬
strom bestand aus den Semiten,*) von denen sich ein Teil über Armenien nach
Kleinasien ergoß. „Die Lycier, die Lyder, die Karier gehören dieser Völker¬
familie an. Ihre Kolonisten bemächtigten sich Kretas, von wo sie später zurück¬
kamen und unter dem Namen Philister die Cykladen, Thera, Melos, Cythera
und Thracien besetzten. Sie breiteten sich im gesamten Umkreise der Propontis,
in Troas, längs des griechischen Küstenlandes aus und gelangten nach Malta,
den liparischen Inseln und Sizilien." Die Semiten unterjochten die un¬
kriegerisch gewordnen Hannen und nahmen deren Kultur an, die ihnen so
stark imponierte. Dem phönizischen Zweige der Hannen dienten die semitischen
Karier, Pisidier, Cilicier, Philister als Söldner. Die Semiten regenerierten
die Mulattenbevölkerung einigermaßen und gingen nicht so vollständig wie die
Hannen im schwarzen Blute unter. Es stimmt nicht recht zur Grundansicht
Gobineaus, daß er die demokratische Bewegung der phönizischen Handelsstädte,
deren sich die „hamitischen" Aristokraten durch Aussendung von Kolonisten zu
erwehren suchte, auf semitische Einwanderung zurückführt. Schließlich mußte
die Aristokratie das Feld räumen und sich eine neue Heimat gründen; in
Karthago hat nach Gobineau das echte Hamitentum fortgelebt. Eine dritte
Welle der weißen Völkerflut brach um 1800 v. Chr. in das Thal des Tigris
ein. Sie bestand in den Mediern, die man als die letzten der Semiten oder
als die ersten auf dem Schauplatze der Geschichte erscheinenden Arier bezeichnen
kann. Sie unterjochten vorübergehend Assyrien, waren aber wegen ihrer ge¬
ringen Zahl nicht stark genug, die Herrschaft zu behaupten. Doch hat diese
neue Auffrischung mit weißem Blut den Assyriern neue Kraft verliehen, sodaß
sie noch längere Zeit hindurch Vorderasien zu beherrschen vermochten.
Mittlerweile fuhren die Weißen Stämme, die noch auf der innerasiatischen
Hochebne zurückgeblieben waren, und denen ihre Heimat zu eng wurde, unauf¬
hörlich fort, einander zu drangen und zu bekämpfen. Den schwächer» Stämmen
blieb nur die Wahl, ob sie sich unter das Joch beugen oder fliehen wollten.
„Die Hellenen ergriffen den zweiten Ausweg, sagten dem Lande, das sie gegen
ungestüme Brüder nicht mehr verteidigen konnten, Lebewohl, bestiegen ihre
Kriegswagen und schlugen, den Bogen in der Hand, den Weg durch die west¬
lichen Berge ein" (S. 200). Einen Vorgang, von dem kein Mensch weiß,
wo, wann, und unter welchen Umstünden er sich zugetragen hat, mit Worten
schildern, wie sie nur ein Augenzeuge gebrauchen darf, das erweckt kein Zu¬
trauen in die wissenschaftliche Zuverlässigkeit des Historikers. Überhaupt ver¬
fällt Gobineau öfters in jene modern-französische, poetisch-rhetorische Prosa, die
von der strengen Einfachheit und Klarheit des Stils der französischen Klassiker
so unvorteilhaft absticht, und die in wissenschaftlichen Werken schon darum stört,
weil sie die Darstellung stellenweise undeutlich macht. Die Arier im engern
Sinne läßt er sich im Pendschab niederlassen, und erst von dort einen Zweig,
die „Zoroastrier," Persien bevölkern, während der andre Zweig, die Hindu,
die indische Kultur schafft. Deren Erhabenheit, Schönheit, Vollkommenheit
und Dauerhaftigkeit feiert er in einem Grade, der uns durch den gegenwärtigen
Zustand der Völker Indiens wenig gerechtfertigt erscheint; was ihm am Brah-
manentum nicht zusagt, z. B. die Lehre von der Seelenwanderung, führt er
auf das den Hindu beigemischte schwarze Blut zurück. Dagegen denkt er vom
Buddhismus sehr gering. Eine allein auf Moral und Vernunft gegründete
Religion habe keine Schöpferkraft; die Moral müsse aus der Ontologie fließen,
nicht umgekehrt. Der Buddhismus habe schon darum besiegt zu werden ver¬
dient, weil er vor seinen Konsequenzen zurückgewichen sei. „Empfindlich gegen
den offenbar sehr verdienten Vorwurf, er strafe seine Ansprüche auf sittliche
Vollkommenheit dadurch Lügen, daß er sich aus verworfnem Gesindel rekrutiere,
hatte er sich zur Zulassung physischer und moralischer Ausschließungsgründe
bestimmen lassen. Damit aber war er nicht mehr die allgemeine Religion und
brachte sich um die zahlreichsten, wenn auch nicht gerade ehrenvollsten Bereiche¬
rungen." Von Indien aus wurden die Schwarzen Ägyptens zivilisiert; von
Südosten, nicht von Nordosten, behauptet Gobineau, ist nach diesem Lande
die weiße Einwanderung gekommen. Das gemeine Volk Ägyptens hat zwar
unter hartem Druck gelebt, wie sich das von selbst versteht, aber die Beherrscher
des Landes sind mehr sanft als grausam gewesen und eher verweichlicht als
kriegerisch; an die großen Eroberungskriege, deren Legende sich ehemals an den
Namen Sesostris knüpfte, glaubt Gobineau nicht. Das Absurde in der ägyp¬
tischen Religion, der Tierdienst, entstammt natürlich dem schwarzen Blute.
Die Auswanderung der Weißen aus ihrer Urheimat, die um das Jahr
5000 v. Chr. beginnt, ist verursacht worden durch den Druck der gelben
Menschen, die sich, aus ihrer Heimat, Amerika, kommend, über Ostasien aus¬
breiteten und dieses in solchen Massen ausfüllten, daß sie sich trotz ihrer Un-
tüchtigkeit durch bloße Überzahl behaupteten. Durch Mischung mit Schwarzen
bildeten sie im Südosten die malaiische Rasse. Ihre Kultur haben die gelben
Menschen von Kschatrias empfangen, die, unzufrieden mit dem Brahmanismus,
ihr indisches Vaterland verließen und aus Opposition gegen das brahmanische
Kastenwesen in China eine Demokratie verbunden mit einem patriarchalischen
Kaisertum begründeten. Die Charakteristik dieser chinesischen Kultur (S. 322
bis 341) gehört zu den besten Partien des zweiten Bandes und hat in mehr
als einer Beziehung aktuellen Wert; wir geben daher einen Auszug daraus^
möglichst mit den Worten des Verfassers oder vielmehr seines Übersetzers.
Gewiß verlieh das arische Element den Chinesen nicht seine Biegsamkeit, seine
edle Kraft, seinen Hang zur Freiheit, doch befestigte es ihre angeborne Liebe
zur Regel, zur Ordnung, ihren Widerwillen gegen die Ausschweifungen der
Phantasie. Wenn sich ein Herrscher Assyriens zu unerhörter Grausamkeit ver¬
stieg, so litt dadurch freilich das Volk; aber wie erhitzten sich die Köpfe vor
den Bildern seiner Unthaten! Wie gut begriff der semit die leidenschaftlichen
Übertreibungen der Fürstenallmacht, und wie vergrößerte seine verderbte Wild¬
heit in seinen Augen noch deren gigantisches Bild! Ein sanfter und ruhiger
Fürst lief bei ihnen Gefahr, ein Gegenstand der Verachtung zu werden. Nicht
so faßten die Chinesen die Dinge auf. Als höchst prosaischen Geistern war
ihnen alles Übermaß ein Greuel, das öffentliche Gefühl empörte sich dagegen,
und der Monarch, der sich dessen schuldig machte, verlor seinen Nimbus und
vernichtete die Achtung vor seiner Autorität. Man nahm als Grundsatz für
ewige Zeiten an, es müßten, wenn sich der Staat im Normalzustande befinden
solle, vor allem reichliche Lebensmittel vorhanden seien, und jeder sich mit
Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgen können; Ackerbau und Industrie
müßten daher unablässig gefördert werden; dazu aber sei eine festgegründete
tiefe Ruhe nötig; daher bedürfe es peinlicher Vorsichtsmaßregeln gegen alles,
was die Bevölkerung aufregen oder die Ordnung stören könnte. Hätte die
schwarze Rasse irgend welchen Einfluß ausgeübt, so würde keine dieser Ord¬
nungen lange vorgehalten haben. Die gelben Völker dagegen begriffen die
Nützlichkeit der Staatsordnung und schützten lebhaft das materielle Glück,
worin man sie begraben wollte. In China war also in Beziehung auf die
Organisation für den materiellen Nutzen der Höhepunkt erreicht, und wenn
wir die Verschiedenheit der Rassen in Anschlag bringen, die ein verschiednes
Verfahren notwendig macht, so kann man, scheint mir, zugeben, daß in dieser
Beziehung das himmlische Reich Resultate erzielt hat, die weit vollkommner
und namentlich weit dauernder sind, als wir sie in den Ländern des modernen
Europa sehen, seit sich die Regierungen besonders auf diesen Zweig der Politik
verlegt haben. Jedenfalls läßt sich das römische Reich nicht damit ver¬
gleichen. Indes muß man auch gestehn, es ist ein Schauspiel ohne Schönheit
und ohne Würde. Wenn diese gelbe Menge friedlich und unterwürfig ist, so
ist sie es unter der Bedingung, daß ihr in alle Ewigkeit die Gefühle, die nicht
eben den allerniedrigsten Interessen der leiblichen Wohlfahrt gelten, versagt
bleiben. Ihre Religion ist ein Abriß von Übungen und Maximen, die durch¬
aus an das erinnern, was die Genfer Moralisten") und ihre Erziehungsbücher
gern als das uso plus ultra des Guten empfehlen: die Sparsamkeit, die Zurück¬
haltung, die Klugheit, die Kunst zu gewinnen und nie zu verlieren. Die
chinesische Höflichkeit ist nur eine Anwendung dieser Grundsätze. Sie ist, um
mich eines englischen Wortes zu bedienen, ein beständiger o-me, der zum
Daseinsgrund keineswegs, wie die Courtoisie unsers Mittelalters, das Wohl¬
wollen des freien Mannes gegen seinesgleichen, die würdevolle Ehrerbietung
gegen die Höhergestellten, die liebevolle Herablassung zu den Niedern hat.
Die chinesische Regierung zeigt sich als große Freundin der Aufklärung; nur
muß man wissen, was sie und die öffentliche Meinung darunter versteht.
Unter den mehr als 300 Millionen Seelen des Reichs der Mitte giebt es sehr
wenige, die nicht für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens ausreichend
lesen und schreiben können. Die Fürsorge der Machthaber geht noch weiter.
Sie wollen, daß jeder Unterthan das Gesetz kenne; die Gesetzbücher werden
jedermann zugänglich gemacht, und außerdem werden an jedem Neumond in
öffentlichen Vorlesungen den Unterthanen die Hauptvorschriften eingeprägt.
So ist denn das chinesische Volk ganz gewiß fortgeschrittner als wir Europäer,
was man in manchen Kreisen fortgeschritten nennt. Strenges Gesetz aber ist,
daß nur das Nützliche, und daß nichts Neues gelernt werde. Der Anspruch
eines Studierenden, etwas Neues wissen zu wollen, würde zur Folge haben,
daß er vom Examen zurückgewiesen, und daß ihm, wenn er hartnäckig dabei
bliebe, ein Hochverratsprozeß gemacht würde. Die Liebe zum Mittelmäßigen
ist zum Prinzip erhoben. Das Volk, spricht ein Minister, „ist geeint auf der
goldnen Mittelstraße; diese innezuhalten werden die Menschen durch Züchti¬
gungen gelehrt." Es giebt keinen Studenten, der sich nicht hütete, mehr Geist
zu haben, als sich gehört. Eine Philosophie ist dort nicht möglich, wo die
Gesetze das ganze Leben bis auf die kleinsten Einzelheiten im voraus geregelt
haben, und wo alle materiellen Interessen zusammenwirken, das Denken zu
ersticken. Ihre ganze Litteratur ssoweit sie nicht in leerem Wortkram besteht^
ist Nützlichkeitslitteratur; unter anderm schätzen sie die Statistik. Monumentale
Bauwerke haben sie nicht; sie sind zu gute Rechner, um auf die Errichtung
eines Gebäudes mehr Kapitalien zu verwenden, als nötig ist. Gobineau
schließt mit der Bemerkung, daß das, was die Sozialisten anstreben, nichts
andres sei als der Chinesenstaat, daß der Sozialismus bei folgerichtiger Durch¬
führung auch die despotische Zentralbehörde nicht entbehren könne, und daß
seinem, Gobineaus, Geschmack nach selbst der höchste Grad allgemeinen mate¬
riellen Wohlbefindens mit dem Opfer der Persönlichkeit und aller höhern, aller
geistigen, sittlichen und ästhetischen Güter zu teuer erkauft sein würde.
Ähnlich wie Gobineau haben ja seitdem Unzählige das Chinesentum charak¬
terisiert. Aber es schien uns zeitgemäß, von dieser vor fünfundvierzig Jahren
entworfnen. ziemlich erschöpfenden Charakteristik wenigstens die Umrisse wieder¬
zugeben, weil wir in neuster Zeit dem Chinesentum auf doppelte Weise: durch
äußere Berührung und durch unsre innere Entwicklung, soviel näher gekommen
sind. Nur muß man Gobineaus Schlußwendung durch die beiden Bemerkungen
ergänzen, daß der Sozialismus nur einer der Wege ist, auf denen die Kultur¬
völker dem Chinesentum zusteuern, und daß sich die deutscheu Sozialisten, die
Gobineau gar nicht gekannt hat, um die Wissenschaft der Nationalökonomie
Verdienste erworben haben, die auch von solchen anerkannt werden, die vom
utopischen Zukunftsstaat nichts wissen wollen. Wie schlecht übrigens Gobineau
die französischen Sozialisten seiner Zeit gekannt hat, geht aus seiner Bemerkung
hervor, Fourier und Proudhon würden als Oberhäupter ihres Sozialstaats
die Ehren nicht ablehnen können, die dem chinesischen Kaiser gespendet werden.
Proudhon hat bekanntlich die wirtschaftliche Freiheit in dem Grade verfochten,
daß er als der Schöpfer des wissenschaftlichen Anarchismus bezeichnet werden darf.
(Schluß folgt)
ach den Artikeln 75 und 76 des Einführungsgesetzes zum Bürger¬
lichen Gesetzbuch bleiben unberührt die landesgesetzlichen Vor¬
schriften, die dem Versicherungsrecht und die dem Verlagsrecht
angehören. Die Zusammenstellung dieser beiden Rechtsgebiete
erinnert an die Behauptung des verstorbnen Reichsgerichtsrats
Bühr. daß Gesetze und Frauen mit einander eine große Ähnlichkeit haben: wie
nämlich die beste Frau die ist, über die man am wenigsten spricht, so ist auch
das Gesetz das beste, über das man am wenigsten (bei Gericht Recht) spricht;
ein gutes Gesetz trägt eben zur Verminderung, ein schlechtes zur Vermehrung
der Streitigkeiten bei. In dieser Richtung zeigen die genannten beiden Rechts-
gebiete eine auffallende Verschiedenheit von einander. Man kann nämlich sämt¬
liche Bände der Entscheidungen des Reichsgerichts und sonstiger höchster Ge¬
richtshöfe durchblättern und findet in diesen ganzen Sammlungen nur äußerst
selten einen Rechtsspruch aus dem Gebiet des Verlagsrechts; hier waltet „stille
Gesctzesruh." Dagegen findet man schwerlich einen einzigen Band der Ent¬
scheidungen, worin nicht mehrere, und zwar meist recht verwickelte Rechtsfragen
aus dem Gebiet des Versicherungsrechts entschieden werden. Nach dem er¬
wähnten Grundsatze müssen also die jetzt bestehenden Vorschriften über das
Verlagsrecht ein vorzügliches, die über das Versicherungsrecht dagegen ein sehr
mangelhaftes Gesetz sein. Nun haben aber die Vorschriften des Einführungs¬
gesetzes nur eine vorübergehende Bedeutung, da die reichsgesetzliche Regelung
der genannten Gebiete beabsichtigt ist, und wir voraussichtlich in wenigen
Jahren ein einheitliches Verlags- und Versicherungsrecht haben werden. Das
neue Recht wird aber selbstverständlich kein neu gemachtes sein, sondern teil¬
weise nur das bestehende Recht wiedergeben oder auf einer Fortbildung des
letzten beruhen. Einige Bemerkungen über die jetzt bestehenden Vorschriften
sind daher am Platze.
Versicherungsverträge unterscheiden sich von andern Verträgen in einem
sehr wichtigen Punkte, nämlich darin, daß die Vertragschließenden einander
nicht als gleich starke und gleich einsichtige Rechtssubjekte gegenüberstehen,
vielmehr der Versicherte wohl ausnahmslos der wirtschaftlich Schwächere und
minder Einsichtige ist, der keinerlei Bedingungen zu stellen, sondern nur die
feststehenden Bedingungen des Versicherers anzunehmen hat. Der Verhinderer
ist nicht eine Einzelperson, sondern ein Verein, eine Anstalt oder meistens eine
Aktiengesellschaft; die privatrechtlichen Beziehungen zwischen den Versicherten
und dem Verhinderer werden gegenwärtig nicht durch das Gesetz, auch nicht
durch jedesmalige Sonderverträge geregelt, sondern durch die „allgemeinen Be¬
dingungen" und „Statuten" der Versicherungsgesellschaften, Anstalten usw., diese
sind nicht bloß Vertragspartei, sondern in einer Person Gesetzgeber und Ver¬
tragspartei. Selbstverständlich haben die eignen Interessen der Gesellschaften
(im folgenden sollen der Kürze halber immer nur die Aktiengesellschaften er¬
wähnt werden) in den als „allgemeine Bedingungen" und „Statuten" bezeich¬
neten Sondergesetzen vorzugsweise Berücksichtigung gefunden, und dies schlie߬
lich in einem Maße, daß das dadurch geschaffne formelle Recht von den Ver¬
sicherten als eine Verletzung von Recht und Billigkeit empfunden wird. Denn
die Gesellschaften haben die Vertragsfreiheit benutzt, um die Versicherungs¬
nehmer zur Unterwerfung unter die „allgemeinen Bedingungen" zu bringen;
der freie Wettbewerb ist auf dem Gebiete des Versicherungsrechts bedeutungs-
los, da die Gesellschaften trotz aller Konkurrenz, die sie einander machen, in
einer gewissen Verbindung gegen die eine Versicherung suchende Person stehen,
sodaß man bei sämtlichen Gesellschaften im wesentlichen dieselben Bedingungen
findet, von denen sie nicht abgehen, und denen man sich fügen muß, wenn
man überhaupt versichert sein will. Eine solche Ausbeutung der Vertrags¬
freiheit widerspricht aber dem die heutige Gesetzgebung beherrschenden „sozialen
Zuge."
Derselbe Gedanke, der insbesondre den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuchs und des Handelsgesetzbuchs über den Dienstvertrag und über die
Handlungsgehilfen zu Grunde liegt, daß nämlich überall, wo die Vertrag¬
schließenden einander nicht gleich stark und gleich einsichtig gegenüberstehen, die
Regelung ihrer Angelegenheiten nicht ihrer freien Vereinbarung zu überlassen
ist, daß vielmehr der Gesetzgeber für den minder Starken und minder Ein¬
sichtigen zu sorgen hat, derselbe Gedanke muß auch ganz besonders auf dem
Gebiete des Versicherungswesens maßgebend sein. Wenn, wie die folgenden
Erörterungen ergeben werden, die Gesellschaften die durch den fortgesetzten
Betrieb des Versichcrungsgeschäfts erworbnen Kenntnisse aller Fragen, die zu
Zweifeln Anlaß bieten, dazu benutzt haben und immer wieder benutzen können,
um allmählich alle Schwierigkeiten in ihren „allgemeinen Bedingungen" zu
Ungunsten der Versicherten zu regeln, so muß verlangt werden, daß hier die
Vertragsfreiheit gänzlich oder doch in weitesten Umfang beseitigt werde, und
daß Versicherungsverträge lediglich nach Maßgabe des Gesetzes geschlossen
werden. Es ist wirklich nicht abzusehen, warum nicht der Feuerversicherungs¬
vertrag kurz dahin lautet: „Die Aktiengesellschaft A zu B versichert die in
der Anlage bezeichnete, im Hause N X zu A befindliche Habe des C auf
die Zeit vom 1. Januar 1900 bis 1. Januar 1905 gegen Feuersgefahr gegen
eine Vergütung von jährlich zwanzig Mark." Welche Rechte und Pflichten
dem einen wie dem andern Teil entstehen, wie sich der Versicherte beim Ver¬
tragsschluß und im Lauf des Vertrags, insbesondre bei Brandschäden zu ver¬
halten hat, an wen, wann und nach welchem Maßstab jeder Teil Zahlungen
zu leisten hat, unter welchen Voraussetzungen ein Rücktritt vom Vertrag oder
eine VerWirkung der Vertragsrechte eintritt: das alles muß sich ausschließlich
durch das Gesetz bestimmen, dessen zwingende Vorschriften nicht beseitigt werden
können durch die gegenwärtig beliebten fünfzig und mehr klein gedruckten Para¬
graphen, die der Versicherte nicht liest oder sich doch wenigstens nicht in allen
Einzelheiten klar macht, selbst wenn er geschäftsgewandt ist, am wenigsten aber,
wenn er zu der großen Menge der minder Gewandten und minder Gebildeten
gehört. Jene klein gedruckten Bestimmungen erwecken thatsächlich oft den Ein¬
druck, als handle es sich um Fußangeln, die dem Versicherten gelegt werden,
damit sich die Gesellschaft durch sie ihrer Zahlungspflicht entziehen kann. Dies
soll an einigen Fragen gezeigt werden, deren Regelung durch das Gesetz in
einem die Interessen der Versicherten berücksichtigenden Sinne dringend not¬
wendig ist.
1. Die Aktiengesellschaften werden nach dem Gesetz vertreten durch ihren
Vorstand; nur die von diesem oder diesem gegenüber abgegebnen Willenserklä¬
rungen sind sür die Gesellschaft verbindlich. Andrerseits kommen thatsächlich
die Vorstandsmitglieder mit den Versicherten weder beim Abschluß, noch während
der Dauer des Versicherungsvertrags in irgend welche direkte Berührung; der
Versicherungslustige verhandelt nicht mit dem Vorstande, auch nicht mit dem
von diesem (für die Provinz oder den Bundesstaat) mit weitgehenden Ver¬
tretungsbefugnissen bestellten sogenannten Generalagenten; der Versicherungs¬
lustige hat vielmehr lediglich mit dem „Agenten" der Gesellschaft zu verhandeln,
den diese in jeder Kleinstadt hat. Bei diesem Agenten werden die Versiche¬
rungsanträge eingebracht, mit ihm allein werden die Einzelheiten der beabsich¬
tigten Versicherung besprochen, vor ihm oder — was das gewöhnliche ist —
sogar von ihm werden die von der Gesellschaft vorgelegten Fragebogen aus¬
gefüllt; nur durch ihn bändigt die Gesellschaft dem Versicherten die Versiche¬
rungsurkunde aus; an ihn werden die Zahlungen geleistet, und er nimmt alle
während der Dauer der Versicherung zu erstattenden Anzeigen entgegen, schreitet
auch für die Gesellschaft bei dem Eintritt des Brandschadens ein; kurz in den
Augen des Versicherten ist dieser Agent der Vertreter der Gesellschaft, und er
gebärdet sich auch als solcher. Das zeigt sich, wie erwähnt, schon beim Ab¬
schluß des Vertrags: der Agent legt dem Versicherungslustigen die bekannten
Fragen vor und nimmt die Beantwortung der Fragen (nach dem Lebensalter
der Großeltern und dem Gesundheitszustand aller Vettern und Basen, früher
erlittnen Brandschäden usw.) entgegen; gewöhnlich — namentlich gegenüber
minder Geschäftsgewandten — trägt er die ihm vom Versicherungslustigen ge¬
gebnen Antworten in das Formular ein; ja oft genug überläßt der letzte das
von ihm unausgefüllt unterschriebne Formular dem Agenten mit dem Auftrage,
es nachträglich nach den wahrheitsgemäß abgegebnen Antworten auszufüllen.
Nun hat aber der Agent — seiner Provision wegen — das höchste
Interesse an dem Zustandekommen der Versicherung; er ist daher geneigt, die
vom Versicherungslustigen gegebnen Antworten und die von ihm gewünschte
Auskunft über den Sinn und die Tragweite der im Fragebogen und in den
zugleich mitgeteilten „allgemeinen Bedingungen" enthaltnen Vorschriften mög¬
lichst so zu erledigen, daß nur ja die Gesellschaft den Antrag nicht ablehnt;
die vom Versicherungslustigen wahrheitsgemäß gegebne Auskunft, daß seine
Großmutter oder zwei seiner Nichten an „Auszehrung" gestorben seien, oder
daß er schon vor sieben Jahren in einem benachbarten Bundesstaat Brand¬
schäden erlitten habe, und die dieserhalb etwa vom Versicherungslustigen ge¬
äußerten Bedenken weist der Agent als unbeachtlich zurück, weil wohl der Tod
andrer Familienmitglieder an „Schwindsucht," nicht aber an „Auszehrung,"
und Brandschäden im „Ausland" überhaupt nicht in Betracht komme; auch
Vergeßlichkeit und Mißverständnis des Agenten hindern oft die Aufnahme der
wahrheitsgemäß vom Versicherten erteilten Auskunft in das Antragsformular;
und schließlich gehören zuweilen auch manche Agenten der Versicherungsgesell¬
schaften zu den Leuten, von denen das (in der Provinz Schlesien noch jetzt
giltige) Patent vom 26, November 1704 sagt, daß sie „durch verbotene Kniffen
ungewißenhaften Gewinn" suchen.
Das Rechtsgefühl erfordert nun, daß die Gesellschaft die gegenüber dem
Agenten und die vom Agenten abgegebnen Erklärungen als von ihr und ihr
gegenüber abgegeben und die vom Agenten gemachten Wahrnehmungen als von
ihr selbst gemacht anerkennt; denn der Agent ist thatsächlich das Organ der
Gesellschaft, und zwar das Organ, mit dem der Versicherungslustige allein in
Berührung kommt; die Gesellschaft bedient sich des Agenten als ihres Gehilfen
und hat daher nach gesundem Rechtsgefühl und allgemeinen Rechtsgrundsützen
die Maßnahmen und Wahrnehmungen des Agenten als verpflichtend gelten
zu lassen; der Versicherungslustige kann, nachdem er dem Agenten die erforderte
Auskunft wahrheitsgemäß erteilt hat, darauf vertrauen, daß dieser Angestellte
der Gesellschaft das Antragsformular wahrheitsmüßig ausfüllen werde, und es
trifft den ersten kein Verschulden, wenn er unter solchen Umständen die Nach¬
prüfung des Formulars unterläßt. In der That neigte die Rechtsprechung lange
Zeit zu dieser Auffassung; alsbald aber trat der oben hervorgehobne Mißstand
ein, daß die Gesellschaften eine derartige dem Recht und der Billigkeit ent¬
sprechende Auslegung durch besondre Bestimmungen der „allgemeinen Be¬
dingungen" und der Antragsformulare unmöglich machten. In die letzten
wurde, um diese Folgerung zu beseitigen, die Bestimmung aufgenommen: „Die
Fragen sind wahrheitsgemäß durch den Antragsteller zu beantworten, und bleibt
der letztere für die Richtigkeit der Antworten und deren Vollständigkeit ver¬
antwortlich, auch wenn ein andrer deren Niederschrift für ihn bewirkt"; sowie
ferner: „Ich erkläre zugleich, daß mir die allgemeinen Bedingungen der Gesell¬
schaft für die von mir beantragte Versicherung bekannt sind und unterwerfe
mich denselben." Und diese „allgemeinen Bedingungen" bestimmen nun gleich¬
falls: „Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der gemachten Angaben ist der
Versicherungsnehmer allein verantwortlich, auch wenn dieselben von einem
Vertreter der Gesellschaft oder sonst einem Dritten niedergeschrieben sind."
Zu welchen unbilligen Folgerungen diese Bestimmungen führen, zeigt ein
neuerdings veröffentlichtes Urteil des Reichsgerichts: Der Versicherungslustige
hatte dem Agenten der Versicherungsgesellschaft wahrheitsgemäß mitgeteilt, daß
er einen Bruch habe, schon früher körperliche Verletzungen erlitten und bei
einer andern Gesellschaft auch eine Unfallversicherung genommen habe; er unter¬
schrieb sodann den unausgefüllten Fragebogen und übertrug dem Agenten die
Ausfüllung; der Agent füllte die in den gedachten Richtungen gestellten Fragen
verneinend, also wahrheits- und ciuftragswidrig, aus. Als der Versicherte,
nachdem er Jahre lang seine Beiträge bezahlt hatte, verunglückt war und die
Versicherungssumme verlangte, wurde seine Klage vom Reichsgerichte abgewiesen,
weil, wie die Gesellschaft mit Erfolg einwandte, die Beantwortung jener Fragen
in dem der Gesellschaft vorgelegten Fragebogen wahrheitswidrig erfolgt sei, der
Versicherte sich aber auf die dem Agenten selbst wahrheitsgemäß erfolgte Be¬
antwortung nicht berufen könne, weil der Agent nicht Vertreter der Gesellschaft,
sondern nur Vermittler zwischen ihr und den Versicherungsnehmern sei, seine
Wahrnehmungen und Maßnahmen daher für die Gesellschaft unverbindlich seien;
dies folge aus dem (oben mitgeteilten) Inhalt der „allgemeinen Bedingungen"
und des Antragsformulars.
Zur Vermeidung derartiger Folgerungen muß in dem zukünftigen Neichs-
gcsetz die Rechtsstellung der Agenten, deren sich die Gesellschaft im Verkehr mit
den Versicherungsnehmern bedient, gesetzlich dahin festgelegt werden, daß dem
Agenten eine der Beschränkung durch die Gesellschaft entzogne gesetzliche Ver¬
tretungsbefugnis (ähnlich wie die der Prokuristen und Handlungsbevollmäch¬
tigten) beigelegt wird, dergestalt, daß Handlungen und Wahrnehmungen des
Agenten als die der Gesellschaft gelten. Freilich kann dann die Gesellschaft
durch leichtsinnige und böswillige Agenten schwer geschädigt werden; allein
es ist gerechter und allgemeinen Rechtsgrundsätzen entsprechend, daß nicht der
Versicherte, sondern daß die Gesellschaft diesen Schaden trügt, da sie sich des
Agenten als ihrer Hilfskraft bedient; der Versicherte hat auf die Ausmahl des
Agenten keinen Einfluß, während für die Gesellschaft hierin ein Sporn zu
größerer Sorgfalt bei der Auswahl dieser ihrer Angestellten liegt. Zur Be¬
leuchtung des gegenwärtigen Rechtszustandes diene noch der einem andern Ur¬
teil des Reichsgerichts zu Grunde liegende Sachverhalt: Der Versicherungs¬
lustige überließ wie gewöhnlich dem Agenten die Ausfüllung des Antrags¬
formulars, und obwohl sich der Agent an Ort und Stelle überzeugt hatte, daß
das zu versichernde Gebände nur einen Meter vom Nachbargrundstück entfernt
lag und von diesem durch keine Brandmauer geschieden wurde, trug er wahr¬
heitswidrig bei der Ausfüllung des Formulars ein, daß die Entfernung vier
Meter betrage und eine Brandmauer da sei. Demnach verweigerte die Gesell¬
schaft die Auszahlung der Brandentschädigung, weil die Beantwortung der
Fragen in dem vom Versicherten unterzeichneten Fragebogen wahrhcitswidrig
erfolgt sei! Das Reichsgericht hat in diesem Fall den Einwand der Gesell¬
schaft verworfen; allein gerade das Schwanken der Rechtsprechung weist darauf
hin, wie notwendig hier eine gesetzliche Regelung der Verhältnisse ist. Da
ferner die vom Versichcrungslustigen zu beantwortenden Fragen sehr aus¬
gedehnter Art sind, sodaß ein Versehen leicht unterläuft, und der Agent sie
wegen seiner größern Erfahrung in ihrer Bedeutung besser würdigt als der
Versicherungsnehmer, so wäre eine gesetzliche Vorschrift wünschenswert, daß
die Ausfüllung der Fragebogen nicht durch den Versichernngsnehmer, sondern
durch den Agenten zu erfolgen hat, und daß ferner eine von jenem dem
Agenten erteilte unrichtige Auskunft keine Rechtsnachteile zur Folge hat, wenn
sie eine unwesentliche Frage betrifft, oder wenn der Agent die Unrichtigkeit
der erteilten Auskunft bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte erkennen können.
2. Eine besondre Form ist für den Versicherungsvertrag, da er fast immer
Handelsgeschäft ist, nicht vorgeschrieben; es liegt aber in der Natur der Sache,
daß die Schriftform das Vcrsicherungsgeschcift beherrscht, die gegenseitigen
Rechte und Pflichten sich also nach der für jeden Vertrag ausgestellten Ver¬
sicherungsurkunde (Police) und den darin angezognen Vorschriften bestimmen.
Nach allgemeinen Nechtsgrundsützen wäre hierdurch der Versicherte nicht ge¬
hindert, sich auch auf die der Ausstellung der Police vorangegangnen münd¬
lichen Abmachungen zu berufen, die er mit dem Agenten getroffen hat; denn
wenn die zur Ausstellung dieser Urkunde zustündige Stelle der Gesellschaft die
mündlichen Abmachungen nicht in die Urkunde aufnimmt, obwohl sie nach der
Absicht des Versicherungsnehmers wie des Agenten verbindlich sein sollten, so
widerspricht die Urkunde eben insofern dem wahren Willen der Vertrag¬
schließenden; und uach allgemeinen Nechtsgruudsützen ist nicht der unvollständig
niedergeschrieene, sondern der — sei es auch nur mündlich vereinbarte —
wahre Wille entscheidend. Weiter lautet ein feststehender Rechtssatz dahin, daß
in einem längere Zeit geübten thatsächlichen Verhalten der Vertragschließenden,
das den Festsetzungen des Vertrags widerstreitet, die stillschweigende Änderung
des Vertrags gefunden werden kann. Diese völlig unbestrittnen Rechtssätze
brachte die Rechtsprechung ursprünglich auch auf dem Gebiet des Versicherungs¬
rechts zur Anwendung. Hatte also der Agent dem Versicherten vor dem Ab¬
schluß des Versicherungsvertrages Zusagen gemacht, die der Vorstand sodann
(weil der Agent sie ihm nicht mitgeteilt) in die Versicherungsurkunde nicht auf¬
genommen hatte, so verneinten die Gerichte die Nechtsgiltigkeit des ganzen Ver¬
trages und hiermit die Verpflichtung des Versicherten zur Prämienzahlung,
wenn die Gesellschaft sich durch jene mündlichen Zusagen ihres Agenten nicht
für gebunden erachtete; und enthielten die in der Versicherungsurkunde ange¬
zognen „allgemeinen Bedingungen" die Vorschrift, daß der Versicherte die
„Prämien" zur Verfallzeit dem Agenten in dessen Behausung zu bringen habe,
während der Agent thatsächlich Jahre hindurch die fälligen Prämien vom Ver¬
sicherten abholte, so nahmen die Gerichte an, daß durch ein solches Verhalten
des Agenten das Recht der Gesellschaft auf das Bringen der Prämie beseitigt
und die Bringschuld in eine Holschuld verwandelt sei; daß aber allermindestens
ein schuldbarer Verzug des Versicherten ausgeschlossen sei, wenn dieser durch
jenes Verhalten des Agenten in den Glauben versetzt ist, er werde auch weiter
die Prämien abholen, und deshalb davon absah, sie ferner dem Agenten in das
Haus zu bringen.
Auch hier trat indes bald jener oben hervorgehobne Mißstand ein: Zur
Beseitigung der dem Gesetz und der Billigkeit entsprechenden Folgerungen
nahmen die Gesellschaften in ihre Antragsformulare und in die „allgemeinen
Bedingungen" Bestimmungen dahin auf: daß sich die Verpflichtung der Gesell¬
schaft lediglich nach dem Inhalt der Versicherungsurkunde bestimme, und daß sich
der Versicherte diesem gegenüber auf mündliche Abmachungen mit dem Agenten
so wenig berufen könne, wie auf thatsächliche Abweichungen des Agenten von
dem Inhalt der allgemeinen Bedingungen; das heißt mit andern Worten: nicht
der wahre Wille, wie er mündlich oder schriftlich vor dem Vertragsschluß zum
Ausdruck gekommen ist, soll entscheidend sein, sondern der unvollständig zum
Vorteil der Gesellschaft zum Ausdruck gebrachte Wille, und dies selbst dann,
wenn nachträglich zweifellos ein entgegengesetzter Wille bethätigt ist, sodaß der
Versicherte verständigerweise glauben mußte, der Vertrag sei nachträglich ge¬
ändert. Ob auch unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das wieder¬
holt hervorhebt, daß die Auslegung von Verträgen und die Erfüllung von
Verbindlichkeiten so zu erfolgen habe, wie Treu und Glauben mit Rücksicht
auf die Verkehrssitte es erfordern, derartige Festsetzungen der „allgemeinen
Bedingungen" für giltig werden erachtet werden, kann wirklich zweifelhaft sein;
eben deshalb empfiehlt es sich, die Zulässigkeit dieser „allgemeinen Bedingungen"
schlechthin auszuschließen, um jeder Möglichkeit einer solchen „exorbitanten
Jurisprudenz" entgegenzutreten.
Z. Nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann die Person, die einen be¬
stimmten Schuldbetrag anerkennt, die Zahlung nicht deshalb verweigern, weil
der Gläubiger außer diesem unstreitigen Betrag noch einen höhern Betrag ver¬
langt; thut der Schuldner dies dennoch, so gerät er in Zahlungsverzug, sodaß
er den anerkannten Betrag sofort zu verzinsen hat; und klagt der Gläubiger
nun den gesamten Betrag ein, so wird der Schuldner zur sofortigen Zahlung
des von ihm anerkannten, also unstreitigen Betrags durch vollstreckbares Teil¬
urteil verurteilt, sodaß Gegenstand des Rechtsstreits dann nur noch der be-
strittne Teil der Forderung ist, die dem Gläubiger mit Zinsen vom Tage des
Verzugs zugesprochen wird; denn dadurch, daß der Schuldner die Zahlung
rechtswidrig verzögert, darf er keinen Vorteil, der Gläubiger keinen Nachteil
haben. Diese so überaus klaren und selbstverständlichen Rechtssätze wurden
auch gegen die Versicherungsgesellschaften angewandt, und es ist interessant zu
beobachten, daß diese selbst hier die berechtigten Interessen der Versicherten
durch jene klein gedruckten „allgemeinen Bedingungen" zu schmälern unter¬
nahmen. In den letzten findet man nämlich gewöhnlich eine Bestimmung des
Inhalts: „Die Entschädigungssumme ist dem Versicherten binnen Monatsfrist,
nachdem ihr gesamter Betrag und die Zahlungspflicht der Gesellschaft durch
Anerkenntnis beider Teile, Vergleich oder rechtskräftiges Urteil festgestellt ist,
zu zahlen." Der Versicherungslustige findet, selbst wenn er noch so geschüfts-
kundig ist, in dieser unscheinbaren Bestimmung nichts auffälliges; und die
Gesellschaft bezeichnet als Zweck: der Versicherte solle dadurch angehalten
werden, seinen gesamten Schaden auf einmal zu berechnen und der Feststellung
keine Hindernisse noch Verzögerungen in den Weg zu legen. In Wahrheit
erhält die Gesellschaft hierdurch ein Mittel, die Zeit der Erfüllung ihrer Ver¬
bindlichkeit beliebig hinauszuschieben und sich auf Kosten des Versicherten zu
bereichern; und die Gesellschaften haben von diesem Mittel oft in so frivoler
Weise Gebrauch gemacht, daß das Reichsgericht mehrfach diese Vorschriften
der „allgemeinen Bedingungen" als den guten Sitten widersprechend und darum
für nichtig erklärt hat.
In einem Falle klagte der gänzlich abgebrannte Versicherte die Brand¬
schadensumme mit rund 130000 Mark ein; die Gesellschaft erkannte nur den
Betrag von 80000 Mark an, während sie den Mehrbetrag bestritt. Das Land¬
gericht erließ gemäß den oben gedachten gesetzlichen Bestimmungen ein vollstreck¬
bares Teilurteil, durch das die Gesellschaft zunächst zur sofortigen Zahlung
der anerkannten 80000 Mark verurteilt wurde; und gegen dieses Teilurteil
legte die Gesellschaft Berufung und schließlich Revision an das Reichsgericht
ein, weil sie durch die oben wörtlich wiedergegebne Bestimmung der „allge¬
meinen Bedingungen" zur Zahlung selbst des anerkannten Betrags nicht ver¬
pflichtet sei, bevor der Gesamtbetrag der Entschädigung durch Vergleich oder
rechtskräftiges Urteil endgiltig festgestellt sei. In würdiger Weise hat das
Reichsgericht unter Verwerfung der Revision darauf hingewiesen, daß die von
der Gesellschaft beliebte Auslegung der allgemeinen Bedingungen nicht dazu
führen dürfe, „daß es in die Hand der Gesellschaft gelegt wird, durch Führung
von Prozessen über einen Teil der Entschädigung und möglichste Ausdehnung
der Prozesse sich auf Kosten der Versicherten erheblich zu bereichern und die
bei völligen oder fast völligen Brandschäden meist gegebne Notlage des Ver¬
sicherten zu einer Verkürzung desselben mittels Hinwirkung auf weitgehende,
sonst nicht gerechtfertigte Verzichte auszubeuten." Das Reichsgericht erachtete
eine solche Ausnützung von Vorschriften der allgemeinen Bedingungen als den
guten Sitten widerstreitend, weil die Gesellschaft die Notlage des abgebrannten
Versicherten als Druckmittel benütze, um ihn dnrch Verweigerung des aner¬
kannten Betrages zur Aufgabe der weitern, von ihr bestrittnen Ansprüche zu
nötigen.
In einem andern dem Reichsgericht vorgelegten Fall hatte der Versicherte
eine Vrandschadensummc von 11527 Mark 10 Pfennigen verlangt; die Gesell¬
schaft hatte den Betrag auf 11006 Mark 61 Pfennige anerkannt, verweigerte
aber wegen des geringfügigen Unterschieds von 521 Mark 49 Pfennigen die
Auszahlung der anerkannten 11006 Mark 61 Pfennige und nötigte den Ver¬
sicherten zu einem Prozeß, der mehrere Jahre dauerte; sie wurde zur Zahlung
des ganzen eingeklagten Betrags mit Zinsen vom Tage der Zahlungsweigerung
verurteilt, obwohl sie jede Zinszahlungspflicht unter Hinweis auf jene oben
wiedergegebne Vorschrift der „allgemeinen Bedingungen" bestritt, wonach sie
zur Zahlung des Brandschadens nicht früher verpflichtet sei, bevor er in ganzer
Höhe rechtskräftig festgestellt ist, sodaß sie bis dahin nicht im Zahlungsverzug,
folglich auch zur Zahlung von Zinsen nicht verpflichtet sei. Auch hier hat das
Reichsgericht jene Bestimmung der „allgemeinen Bedingungen" als den guten
Sitten widerstreitend und darum nichtig erklärt. Wie oben gezeigt, erhält die
Gesellschaft durch diese Bestimmung ein Mittel, die Zeit der Erfüllung ihrer
Verbindlichkeit beliebig hinauszuschieben, indem sie in frivoler Weise das Zu¬
standekommen einer Vereinbarung über die Schadenshöhe verhindert, den Ver¬
sicherten zur Klage nötigt und die Beendigung des Rechtsstreits verzögert.
Der Versicherte ist aber, wie das Reichsgericht hervorhebt, eben weil ihm selbst
der anerkannte Teilbetrag vorenthalten wird, oft gar nicht in der Lage, den
Rechtsschutz anzurufen und so genötigt, sich willkürliche Abzüge gefallen zu
lassen. Übrigens zeigt auch in dieser Frage die Rechtsprechung Schwankungen,
und gerade der Umstand, daß die Gesellschaften in ihren „allgemeinen Be¬
dingungen" zu so bedenklichen Mitteln greifen, um zu ihrem Vorteil die An¬
wendung klarer Rechtssätze zu vereiteln, läßt den Wunsch berechtigt erscheinen,
jede Abweichung der Gesellschaften von den Bestimmungen des allgemeinen
Rechts für unzulässig zu erklären.
(Schluß folgt)
um zweitenmal ist Gerhart Hauptmann der Grillparzerpreis zu¬
erkannt worden. Die Ehrung ist umso bedeutsamer, als die
Preisrichter von der philosophisch-historischen Sektion der Kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften in Wien ernannt werden.
Der Dichter hatte allen Grund zu gestehen: „Was mich bei
dieser Ehrung hochgestimmt hat, liegt darin, daß sie von einer wissenschaftlichen
Körperschaft vom Range und dem Ansehen der Wiener Akademie ausgeht.
Derartige Kreise gelten im allgemeinen mit Recht oder Unrecht in Kunstdingen
für etwas zopfig und reaktionär."
Man könnte einwenden, daß die Preisrichter zum größten Teil nicht selbst
der Akademie der Wissenschaften angehören, sondern nur von ihr mit dem
Auftrag betraut sind, ein dramaturgisches Urteil zu füllen; dennoch bleibt ein
akademischer Anstrich mittelbar dem Preisgericht erhalten. Damit hat der
Naturalismus also die akademischen Weihen empfangen. Die Maßnahme wirkt
umso herausfordernder, als sie gegen den Geist der Grillparzerstiftung offen¬
kundig verstößt: denn konnte man Hauptmanns „Hannele" noch möglicherweise
eine gewisse Berührung mit Grillparzers Geist zugestehen, so werden selbst die
Hauptmannschwärmer sans xurasg nicht die Behauptung wagen, der jetzt preis¬
gekrönte „Fuhrmann Henschel" entspreche den Anforderungen, die Grillparzer
an die dramatische Dichtkunst stellte.
Noch ungewöhnlicher wird die akademische Gönnerschaft für den äußersten
Naturalismus durch das „Bankett," das angeblich die philosophisch-historische
Sektion der Wiener Akademie zu Ehren des Dichters veranstaltete. Zwar
blieb in den über dieses Ereignis in alle Welt gesandten Drahtmeldungen ein
Widerspruch bestehen, indem bald von einer ausdrücklichen Veranstaltung der
Akademie, bald von einer persönlichen Einladung durch den Präsidenten die
Rede war. Wir halten den Unterschied für sehr bedeutsam und sähen gern
amtlich festgestellt, ob die Akademie der Wissenschaften oder ihre philosophisch¬
historische Sektion wirklich als solche den Festabend veranlaßt hat, oder ob
diese Behauptung nur der lebhaften Phantasie von Hauptmanns guten Freunden
entsprungen ist. Was nämlich als persönlicher, privater Schritt des Akademie¬
präsidenten eine begreifliche, rein familiäre Liebenswürdigkeit wäre, das würde
als Maßnahme der Akademie wenigstens in der Geschichte der deutschen
wissenschaftlichen Akademien ohne gleichen dastehen und, im Fall die Litteratur¬
geschichte über den „Fuhrmann Henschel" erheblich weniger günstig urteilen
sollte als Hauptmanns Wortführer, eine unsterbliche Bloßstellung der gelehrten
Körperschaft bedeuten.
Weit genug hat sich jedenfalls ein bestimmter wissenschaftlicher Kreis für
Gerhart Hauptmann vorgewagt. Im Wiener Grillparzerpreisgericht sitzt auch
ein Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften; dieses hat seiner Zeit
auch der Berliner Schillerpreiskvmmission angehört, die sich bekanntlich das
letztem»! gleichfalls, wennschon vergeblich, für die Preiskrönung Hauptmanns
aussprach. Wir zweifeln nicht, daß sich diese Versuche im laufenden Jahre
wiederholen werden. Wir müssen uns ferner erinnern, daß zum Grillparzer¬
preisgericht auch der neue Burgtheaterdirektor gehört hat, der früher als
eifrigster Verfechter der Hauptmannschcn Sache in der Berliner Kritik wirkte.
Er war auch unter den Rednern auf dem angeblich akademischen Hauptmann-o
häutete und hob — nach einer Zeitungsmeldung — hervor, „welch großen
Einfluß der von Wien ausgegangne deutsche Sprachforscher Wilhelm Scherer
auf Gerhart Hauptmann ausgeübt habe." Gleichzeitig stattete er seinen Dank
dafür ab, daß Hauptmann ihm zum „ersten großen litterarischen Sieg als
Direktor des Burgtheaters verholfen habe."
Wir glauben nicht, daß der Redner so kühn war, wirklich von einem
»Einfluß" Scherers auf Hauptmann zu sprechen; aber wenn er offenbar die
beiden Namen in irgend eine Beziehung zu einander gesetzt hat, so werden
wir damit an die hervorstechende Thatsache erinnert, daß es die Scherersche
Schule in Wien und Berlin ist, die die Leibgarde Hciuptmauns im Theater,
in der Presse, in wissenschaftlichen und akademischen Kreisen wie in den Preis¬
gerichten darstellt. Ist doch auch gerade der eigentliche Mittelpunkt der heutigen
„Hauptmanubeweguug," der Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, aus
der unmittelbaren Schule Scherers hervorgegangen. Und in der That begegnen
wir immer demselben Kreise, im wesentlichen sogar denselben Personen. Die
ersten Bühnen von Berlin und Wien schlagen in Hauptmanns Namen ihre
Entscheidungsschlachten: ihre Leiter sind vertraute Schüler Scherers. Ein
gewisser Teil der Berliner Presse hat, begünstigt durch die materialistische
Zeitströmung. Hauptmann in Mode gebracht. Von wem ging innerhalb der
Presse diese Wirkung aus? Von denselben beiden Angehörigen der kleinen,
aber einflußreichen Schule! Wie keine poetische Richtung nach Gottscheds
Tagen genießt Hauptmanns Dichtweise den Schutz bestimmter wissenschaft¬
licher Kreise: der Nachfolger Schercrs, der dritte Freund im engern Berliner
„Schererkreis," hat vor allem der Schwärmerei für Hauptmann einen wissen¬
schaftlichen Anstrich gegeben. Ihm find wir auch schou in den Preisgerichten
sowohl in Berlin wie in Wien begegnet, hier sogar neben einem zweiten aus
dem Kleeblatt. Man könnte in gewissem Sinne an Potemkins Dörfer denken:
der Uneingeweihte glaubt immer neue Scharen huldigenden Volks zu sehen,
während es in Wirklichkeit an jeder Station dieselben Arrangeure, dieselben
Statisten sind.
Unter solchen Umständen wird es gerade für unabhängige Vertreter der
Litteraturwissenschaft doppelt Pflicht, unbeirrt von der Parteien Gunst und
Haß, zum Modenaturalismus Stellung zu nehmen. Ist doch auch von dieser
Seite am ehesten eine Klärung der trüben Tagcsmeinung zu erwarten. Auf
den andern in Betracht kommenden Gebieten hat das Faustrecht zu weiten
Boden gewonnen: im Theater thun es ein paar Dutzend jugendkräftige Fäuste
des jüngstdeutschen Gefolges mit ihrem Beifallstosen, auch in der Presse
werden die zurückhaltender Äußerungen der wenigen selbständigen Kritiker durch
das faustdick aufgetragne Lob übertönt. Allerorten werden durch dieses große
Lärmen der Gleichgiltige und der Unselbständige hypnotisiert und terrorisiert;
andrerseits stehn rücksichtslosen Vorkämpfern gar manche Mittel zu Gebote,
den unbequemen Gegner nach den Regeln des Faustrechts niederzuschmettern.
Nur die geschichtliche Wahrheit läßt sich weder überschreien noch aus der Welt
schaffen.
Da helfen nichts manche seit Jahr und Tag ausgestreuten, vorbereitenden
Notizen, nichts die überschwünglichen Berichte über den Eindruck der Vorlesung
im Freundeskreis, nichts die erstaunlichen Kraftleistungen der freiwilligen Partei-
kiaque, die mit ebenso viel Lungen- und Händekraft ihren Abgott — unter
Zerstörung jeder innern, künstlerischen Wirkung — hervordonnert, wie sie die
unbequemen Mitbewerber niederzischt oder niederrezensiert. Da helfen nichts
die geschickten Auffrischungen des Interesses durch Erzählungen über die
Modelle des Dichters oder über rein persönliche Verhältnisse. Einstweilen hat
freilich eine derartige Mache ihre Schuldigkeit gethan, aber leise und schüchtern
verbreitet sich schon die Kunde, daß „Fuhrmann Henschel" dem Wiener
Publikum nicht gefallen hat! Und doch konnte kein Regisseur der Erde dem
Stücke eine glänzendere „Jnszenesetznng" bereiten, als sie ihm — sagen wir:
ein Zusammentreffen glücklicher Zufälle bescherte. Aber die Macher sind auch
hier geschickt gewesen. Kaum sind die Viktoriaschüsse über den Berliner „Sen¬
sationserfolg" verklungen, als — wenige Tage vor der Aufführung am Wiener
Burgtheater — dem Fuhrmannsdrama der Grillparzerpreis — unter Mit¬
wirkung des Burgtheaterdirektors — verliehen wird. Dann am Vorabend der
Aufführung die wie Lauffeuer verbreitete Kunde von der Einladung des Dichters
zu einer angeblich von der Akademie veranstalteten Begrüßungsfeier. Kaum
liegen die ersten kurzen Nachrichten über den Eindruck der Aufführung vor,
als auch schon die Festberichte über das angeblich akademische Bankett alle
Kritik in den Hintergrund drängen, zumal da ja der Direktor des Burgtheaters
in seiner Bankettrede bescheiden genug war, Hauptmann für den ersten, angeblich
großen litterarischen Sieg zu danken, zu dem der Dichter ihm als Direktor
verholfen habe.
Inzwischen erschien auch die Gedächtnisrede im Druck, die der Direktor
des Deutschen Theaters in Berlin auf Theodor Fontane gehalten hat — mehr
als auf diesen eigentlich eine Lobrede auf die Autoren des Deutschen Theaters.
Daß die Briefsteller, die Fontane als einen Mitstreiter der Hauptmann-
kompagnie und gar als einen Verehrer Sudermanns hinstellen sollen, in ihrer
Liebenswürdigkeit gegen den als entschiedensten Vorkämpfer Hauptmanns be¬
kannten Adressaten nur ein einseitiges Bild von Theodor Fontanes Meinung
geben, kann der Schreiber dieser Zeilen selbst beweisen: denn Fontane hat
sich wiederholt — mündlich wie brieflich — dahin ausgesprochen, daß ihm
Hauptmanns Naturalismus — bei aller Anerkennung und allem Interesse für
des Dichters Talent —- zuwider sei, noch unsympathischer freilich die im
„Hcmnele" ausgeprägte jüngste Romantik. Nur das Verdienst technischer Ver¬
vollkommnung gestand er dem Naturalismus zu.
Doch haben die unbedingten Vorkämpfer Hauptmanns, die wahllos seinen
Naturalismus wie seinen Symbolismus als Offenbarung der neuen Kunst
ausschreien, wirklich noch nötig, sich auf Autoritäten zu berufen? Von Zeit
zu Zeit sieht die Menge freilich einen solchen Alten gern als Autorität ins
Feld geführt, um im Glauben an den Modegötzen eine Rückendeckung zu finden.
Beweisen aber nicht die vierundvierzig Auflagen, die die „Versunkene Glocke"
in zwei Jahren, die sechzehn Auflagen, die „Fuhrmann Henschel" in acht
Wochen gefunden hat, daß Gerhart Hauptmann der Auserkorne des ganzen
deutschen Volkes ist? Es gab eine Zeit, wo Stücke von Paul Lindau, Romane
von Georg Ebers, Epen von Julius Wolff ähnlich Mode wciren — und heute?
Jffland und Kotzebue herrschten auf der Bühne, als sich Schiller, Goethe und
Kleist mühsam ein bescheidnes Plätzchen erobern mußten. Die geschichtliche
Erfahrung spricht nicht dafür, den schwindelerregenden Tageserfolg als Wert¬
maß eines Kunstwerks gelten zu lassen. Im allgemeinen haben die Modewcrke
ihren Lohn dahin.
Für die ruhige Fortentwicklung des künstlerischen Realismus erwächst
sogar aus diesem einseitigen Vorschieben des einen Modenaturalisten eine ernste
Gefahr, wie denn auch die Entwicklung fast aller andern jüngern Realisten
durch die Erfolgsmache für den einen Modegötzen gehemmt erscheint. Der
Realismus gerät aus der künstlerischen, geistvollen Spiegelung der Wirklichkeit
in eine mechanische, geistlose Nachzeichnung, die die Äußerlichkeiten als Selbst¬
zweck, die innern Voraussetzungen und Wirkungen als gleichgiltig oder doch
nebensächlich behandelt. Und die realistischen Dramatiker, die auf eignen
Wegen zu der Linie vordringen, wo sich Natur und Kunst aufs innigste be¬
rühren, werden von der Modeströmung beiseite geschoben: z. B. Halbe, Hart¬
leben u. a., die ja vielleicht im Gegensatz zu Hauptmann bisweilen mehr
wagen, als sie können, aber sogar ein gut Stück Naturfrische und Humor vor
ihm voraus haben. Gilt doch die ausschließliche Hauptmannschwärmerei nicht
sowohl einer bestimmten künstlerischen Überzeugung als vielmehr einer be¬
stimmten Person, die von einem die öffentliche Meinung vergewaltigenden
oder mindestens einschüchternden Konventikel in Gencralvertrieb genommen ist.
Der Verfasser dieser Zeilen glaubt zu solchen Erwägungen ein Recht zu
haben, denn er hat zuerst als Litterarhistoriker auf gewisse fruchtbare Keime
in der jüngstdeutschcn Litteraturbewegung zu einer Zeit hingewiesen, wo die
heutigen wissenschaftlichen Vorkämpfer Hauptmanns noch höhnisch beiseite
standen und sogar in ihrem wissenschaftlichen Hauptorgan diese bedingte Sym¬
pathie mit den Jüngsten ausdrücklich getadelt wurde. So liegt denn auch
unserm Protest gegen die rücksichtslose Großsprecherei dieser den Hauptmann¬
kultus betreibenden Klique alles eher als eine Voreingenommenheit gegen
Hauptmann zu Grunde: im Gegenteil bewahrt der Verfasser nur angenehme
Erinnerungen an seinen kurzen persönlichen Verkehr mit dem damals noch vor
Sonnenaufgang seines Ruhmes stehenden Dichter. Wodurch werden wir also
abgehalten, an der kritiklosen Huldigung vor Hauptmanns Werken und ins¬
besondre dem „Fuhrmann Herschel" teilzunehmen?
Mit diesem Stück soll die Naturtreue der Kunst ihren Gipfel erreicht
haben. Nun ja, es ist eine Art naturgetreuer Kopie des Menschen:
Mit vollendeter Virtuosität sind nur die äußern Begleiterscheinungen und Zu¬
thaten der Handlung wiedergegeben: nicht einmal die wesentlichen Geschehnisse
selbst gelangen zu dramatischer Gestaltung, meist werden sie als geschehen er¬
zählt. Jedenfalls ist alles als äußeres Geschehnis hingenommen: es fehlt
jeder Versuch einer tiefern Motivierung aus den Charakteren, es fehlt jeder
Versuch einer eigentlichen Charakterzeichnung. Wir sehen allenfalls die energie¬
lose Gutmütigkeit auf der einen, die energische Böswilligkeit auf der andern
Seite; auch öder Aberglaube zuckt ein paarmal auf: aber nirgends werden
uns tiefere Blicke in das menschliche Gemüt gewährt, nirgends neue Provinzen
des menschlichen Herzens entdeckt. Hauptmann führt uns zu den geistig Armen,
aber nicht zu denen, die das Himmelreich erben sollen: für die Geistlosigkeit
entschädigt keine Gemütsfülle, in trostloser Dumpfheit brüten die Haupt-
gestalten dahin.
Für das Ärmliche der Handlung wie der Charaktere soll nun vielleicht
im Sinne des Zolaischen Stils eine breite Schilderung des Milieus ent¬
schädigen? Allerdings wird sehr ausgiebig die Umgebung und der ganze
Lebenskreis des Fuhrmanns gekennzeichnet: indes nach keiner Richtung in dem
Sinne, der eine Milieuschilderung künstlerisch berechtigt und notwendig er¬
scheinen läßt, in dem Sinne einer Motivierung der Handlung, einer Erklärung
der Charaktere. Wird durch irgend eine Person des Vorderhauses: durch den
Gasthofbesitzer, den Schankwirt oder dessen leichtfertige Tochter, in irgend einer
Weise der Gang der Handlung beeinflußt, die Entwicklung der Charaktere, ihr
Wesen oder ihr Treiben bestimmt oder wenigstens verständlicher gemacht? Und
was haben selbst die dem Kreise des Fuhrmanns näherstehenden Gestalten: der
Pferdehändler, der Tierarzt mit der Handlung selbst zu schaffen? Gewiß, ein
Fuhrmann kauft auch Pferde, und es wird ihm auch zu Zeiten ein Pferd
krank: die Aufgabe des Künstlers besteht aber darin, solche nur äußerlich in
den Bereich des Helden hineinragende Gestalten entweder als belanglos aus¬
zuscheiden, oder sie seinerseits irgendwie organisch mit der Handlung zu ver¬
knüpfen, ihnen irgend ein bestimmendes oder innerlich erklärendes Eingreifen
zuzuschreiben. Anders im „Fuhrmann Henschel," wo alle äußerlich hinein¬
ragenden Gestalten, alle äußern Alltagsvorgänge, alle zufälligen Gespräche
bunt durch einander wirbeln, ja mit pedantischer Genauigkeit breit entfaltet
werden, die eigentliche Handlung aber ohne innern Zusammenhang mit alledem
nur zwischendurchgeht. Dieses gänzliche Verfehlen des eigentlichen Zwecks der
Zeichnung des Milieus zeugt am lebendigsten dafür, daß Hauptmann wenigstens
nach einer bestimmten Richtung über Zolas Naturalismus hinausgeschritten
ist: an bequemer Veräußerlichung.
Sehr bequem hat es sich Hauptmann auch mit dem Dialog gemacht. Wo
ist denn die vom Realismus erstrebte Zusammendrängung auf den kurzen,
springenden Ton des Lebens geblieben? In allen Akten des „Fuhrmann
Henschel" begegnet man einer Fülle Reden von der Länge einer drittel und
halben Druckseite. Die hochdeutschen Reden derer vom Vorderhause klingen
fast durchweg unlebendig, ausstudiert. Auch das darf sich Hauptmann er¬
lauben — aber was darf er sich im Schutze seiner Potemkinschen Gestalten
nicht erlauben?
Auch hier herrscht der schlesische Dialekt wieder in der rein äußerlichen
Art vor, die an den bloßen Worten haftet, nicht aber den Charakter ausprägt.
Als Ausdruck des Stammescharakters oder als äußere Bekundung einer im
Kunstwerk innerlich zur Geltung kommenden Stammesart verwenden Hebel,
Klaus Groth und Reuter den Dialekt. Noch niemand hat an Hauptmanns
Gestalten spezifisch schlesische Charaktere entdeckt; hier weht nichts von schle-
sischen Erdgeruch: wiederum nur das äußere Wort. Dürften wir an dieser
Thatsache noch zweifeln, so hat sich der als Vertrauter Hauptmanns bekannte
Direktor des Burgtheaters beeilt, den Beweis für sie zu erbringen, indem er das
Stück aus dem Schlesischen unverzagt ins — Niederösterreichische umsetzen ließ!
Auch ist es zur Genüge aufschlußreich, daß der Kellner George als Sachse
vorgeführt ist, einfach indem er sächsisch spricht. Ebenso gut könnte er
wienerisch oder mecklenburgisch reden: offenbar reicht des Dichters Kenntnis
des sächsischen Stammes nicht über die „Fliegenden Blätter" hinaus.
Wir brauchen kaum fortzufahren, kaum noch auseinanderzusetzen, wie sich
aus dem Mangel an Charakterzeichnung und innerer Motivierung mit Not¬
wendigkeit das Ausbleiben einer tragisch erschütternden und erhebenden Wirkung
der traurigen Handlung, die Verzweiflung einer Philosophie des Strickes er¬
giebt. Schon haben einige unabhängige Kritiker neben der Geistlosigkeit des
Ganzen diese Verflachung des Schlußeindrucks hervorgehoben, aber sofort wird
der auf die Gedankenlosigkeit berechnete Scheingrund entgegengehalten: Haupt¬
mann erkennt ja aber die alten Kunstgesetze nicht an; was nach ihnen als
Mangel erscheint, ist eben das Wesen des neuen Stils! Nun, so wissen wir
wenigstens, worin der „neue Stil" besteht: in der Verflachung der Charakte¬
ristik, in der Geistlosigkeit der Handlung, in der Veräußerlichung der Milieu¬
schilderung, in der pedantischen Wiedergabe der Sprechweise und des äußern
Benehmens, in der geflissentlich prosaischen Nüchternheit. Überall das Wams,
aber nicht das Herz. Wer uns diese tiefgreifenden Mängel des Dichters
— und sei es in ehrlichster Verbohrtheit — als bewußte Äußerung einer
neuen Kunst anpreist, der erinnert wohl noch in andrer Weise an Potemkin:
denn was man uns als Leben vortäuscht, ist auch hier nur Pappe.
le Grenzboten haben in Sachen der Fürsorge für die entlassenen
Strafgefangnen einem Berichterstatter das Wort erteilt, der haupt¬
sächlich oder einzig die Berliner Verhältnisse und den Berliner
Verein im Ange gehabt zu haben scheint und auf Grund seiner Be¬
obachtungen leider zu einer sehr ungünstigen Beurteilung des Für-
svrgewesens gelaugt ist, die er dann mich in außergewöhnlicher
Scharfe zum Ausdruck gebracht hat. Ich könnte es also dem angegriffnen Verein
überlassen, selber das Wort zu ergreifen. Weil sich aber die Gegnerschaft des Ver¬
fassers wider alle Fürsorgevercine und das Fürsorgcwesen überhaupt richtet, so
benutze ich gern die Gelegenheit, mich über eine Sache auszusprechen, die ich infolge
meiner eignen Erfahrungen und auf das Zeugnis von Männern hin, denen man
das Verständnis für die Zustände des Lebens nicht ohne weiteres absprechen kann,
nun einmal für höchst wichtig und des allgemeinen Interesses würdig halten muß.
Ju welchem Zirkel bewegen wir uns aber doch! Vor etwa hundert Jahren, im
Jahre 1776 wurde der erste Verein zur Unterstützung von entlassenen Gefangnen
gegründet durch Thomas Whister, einen edeln Samariter, dem der Zustand der
entlassenen Gefangnen das Herz bewegte. In Deutschland war es Theodor Fliedner,
dem der Schmerz über die Verlornen, der Sünde und Schande verfallnen Kinder
seines Volks durch die Seele ging. Er gründete die Rheinisch-Westfälische Ge-
fängnisgesellschaft (1826), bald darauf entstand der Berliner Verein, und seitdem
haben sich in Deutschland eine Menge von Ortsvereinen gebildet, die mit größerer
oder geringerer Lebhaftigkeit ihre Aufgabe zu erfüllen snchien, je nachdem in ihnen
lebensvolle Persönlichkeiten wirkten oder nicht. Ursprünglich bekümmerten sich die
Vereine auch um die innere Einrichtung der Strafhnuser, sie sorgten namentlich
für die Belehrung und Erbauung der Gefangnen. Nachdem aber der Staat in
den Strafhänsern Zustände geschaffen hatte, unter deuen eine bessernde Einwirkung
c>uf die Gefangnen erst möglich wurde, konnten sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe
zuwenden. Über die Notwendigkeit der Entlassencnpflege sind Bände znsammcn-
gesprvchen und geschrieben worden, in einigen Ländern hat sich das Schutzwesen
anch in einer großartigen Weise entfaltet und hat Ergebnisse erzielt, die sich bei
der Aufstellung der kriminalstatistischen Tabellen angeblich deutlich bemerkbar gemacht
haben. Bei uns in Deutschland blieb die Fürsorge um vielen Orten eine ziemlich
tote Sache, bis, was Preußen betrifft, durch den Erlaß der Minister des Innern
und der Justiz vom Jahre 189S und die entsprechenden Verfügungen der Kirchen-
bchörden das Feuer wieder angeschürt wurde. Und jetzt, wo man hoffen darf, daß
die Sache in bessern Fluß kommen werde, geben die grünen Hefte, die so manchen
heilsamen Gedanken in die Welt hinausgetragen haben, einem Artikel Raum, der
der guten Sache verhängnisvoll werden kann. Um nicht mißverstanden z» werden:
ich verdenke es keinem, wenn er gegen eine Sache blank zieht, die er für einen
Unsinn, für eine vielleicht liebenswürdige, aber kostspielige Schrulle, oder gar, wie
es der Verfasser jeues Aufsatzes thut, für das häßliche Zerrbild einer Wohlthätig-
keitseiurichtung ansieht. Ich weiß sehr wohl, daß es mancherlei Standpunkte im
Leben giebt, Land und Leute nehmen eine andre Gestalt an, je nachdem man
seinen Beobachtungsposten ans Bergeshöh oder unten im Thale wählt. Auch
wenn man die Sache vollkommen billigt, kann man über die Art, wie sie an¬
gefaßt wird, und über ihre Erfolge noch immer seine eignen Gedanken haben
und auch dem Liebeswerben der Vereine gegenüber seine zugeknöpfte Haltung
bewahren. Die Sache selber freilich, meine ich, müßte jeder warmfühlende und
christlichdenkendc Mensch von Herzen billigen. Ich will nun versuchen, die Für¬
sorge für die entlassenen Strafgefangnen in einer andern Beleuchtung zu zeigen,
und zwar werde ich mich absichtlich, um nicht beschuldigt zu werden, andrer
Leute Märchen nacherzählt zu haben, auf das beschränken, was ich meine eigne
Erfahrung von der Sache nennen kann, und es dem Leser überlassen, daraus
seine» Schluß auf das Wirken der mit zahlreichen Kräften und größern Mitteln
arbeitenden bedeutendem Vereine selbst zu machen. Von vornherein versichere ich
aber, daß mir jede Art von Schönfärberei völlig fern liegt, wenn ich auch bei der
Absicht meines Aufsatzes die ermutigenden Erlebnisse bevorzugen muß. ^inieus I^Jao,
mung'is iumoa, vern^s.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Lage des Entlassener. Er ist wieder
ein freier Mensch geworden. Der Tag ist endlich gekommen, auf deu er sich schon
so lauge gefreut hatte. Ohne Zweifel giebt es auch Gefangne, denen es einerlei
ist, wo sie sich befinden, oder die gar lieber hinter Schloß und Riegel blieben,
aber welch erbärmliches, menschenunwürdiges Dasein müssen sie geführt haben, daß
sie nicht einmal die Freiheit, die uns allen so teuer ist, zu schätzen wissen. Auch
der Gewohnheitsverbrecher nimmt die Sache bedeutend kaltblütiger, denn mag auch
die verschönernde Phantasie ihn manches früher erlebte vergessen lassen, so weiß er
doch ungefähr, was seiner draußen wartet, und kennt auch so ziemlich deu Weg,
den er demnächst einschlagen wird. Von den gewohnheitsmäßigen und gewerbs¬
mäßigen Verbrechern, den Leuten mit dem toten Gewissen, die ihre Sache auf nichts
gestellt und vielleicht schou in der Anstalt neue Ränke geschmiedet haben, rede ich
in folgendem nicht, sie können für die Fürsorge wenigstens solange nicht in Betracht
kommen, bis sie sich eines bessern besinnen. Niemand kann gegen seinen Willen
gebessert werden, weder durch Prügel noch durch Liebe. Nun, diese Meuscheu gehn
den Vereinen auch meist gern aus dem Wege; wie ich von dem Verfasser des
gegnerischen Aufsatzes höre, spuckt das gewerbsmäßige Gaunertum auf die Vereine;
mutmaßlich deshalb, weil der Gauner das nicht leisten will, was man von ihm
verlangt, und weil er recht gut weiß, daß die Vereiusvvrstände in der Regel doch
nicht solche thörichten und unerfahrnen Männerchen sind, daß man sie ohne weiteres
begaunern kann. Nur etwa bittre Not treibt ihn noch in die Hände der Fürsorge¬
vereine. Wenn sich solch ein alter Gewohnheitsverbrecher bei den Vereinen an¬
melden läßt, kann man fast immer voraussetzen, daß er irgendwie zu Schaden ge¬
kommen ist, daß er bald genötigt sein wird, ein Krankenhaus aufzusuchen, daß die
alten Beine klapperig werden und er als kluger Maun sich beizeiten noch ein
warmes Ofenplätzchcn sichern möchte. Mit solchen Leuten haben die Vereine ja
nicht selten ihre schwere Last, sie kosten ihnen Zeit und Geld, verderben ihnen die
schönsten Statistiker, sind aber in der Regel nicht Gegenstand der Fürsorge, sondern
der Armenpflege, oder der polizeilichen Überwachung. Gegen diese Gesellschaft
kämpft ein Verein, der freie Liebesthätigkeit treibt, umsonst, hier muß der Staat
einschreiten. Bekanntlich empfiehlt mein die dauernde Einsperrung der sogenannten
Unverbesserlichen, um das Land von ihnen zu befreien und zu verhüten, daß diese
Art sich im Lande weiter vermehrt.
Ich rede im folgenden also von solchen Gefangnen, die die Anstalt mit der
mehr oder weniger deutlichen Erkenntnis verlassen: So kaun es uicht weitergehn,
ich muß mich ändern, muß den berühmten Strich unter mein Leben machen und
alle meine Kräfte zusammennehmen, wenn ich noch einen Zipfel menschlichen Glücks
erfassen will. Die Empfindung der Reue, die Vorsätze der Besserung sind doch
häufiger, als mau gewöhnlich annimmt, sie sind auch dann noch nicht immer als
Heuchelei aufzufassen, wenn sie nachher bald wieder vergessen worden sind. Jeden¬
falls haben die bessern unter den Entlassener das Herz voll Hoffnung, und nament¬
lich die zum erstenmal Bestraften haben mir ein unklares Bewußtsein davon, daß
jetzt ein neuer Teil ihrer Strafe beginnt. Wie viel hat sich inzwischen daheim
verändert, ihr Hauswesen ist zurückgegangen, vielleicht wirtschaftlich völlig vernichtet
worden. Frau und Kinder haben schwere Leiden durchmachen müssen, vielleicht ist
die Ehe gelöst worden und der andre Ehegatte seines Wegs gezogen. Es giebt
nichts Schrecklicheres, als nicht in der eignen Sphäre zu leben, sagt Dostojewski,
und das eben erwartet viele Entlassene; wenn es zuweilen auch uicht schreiend zu
Tage tritt, so müssen sie es doch bald merken, daß sich unsichtbare Schranken
zwischen ihnen und ihren frühern Bekannten aufgebaut haben. Der frühere Arbeits¬
platz ist verloren, das Streben, ihn oder einen andern zu finden, ist mit Demüti¬
gungen verbunden, die der unbescholtne arbeitslose Mensch nicht annähernd zu be¬
fürchten hat, die der Entlassene aber, der wie ein kranker Mensch alles widrige
härter als nötig nimmt, oft so bitter empfindet, daß er völlig mutlos wird. Zieht
sich die gute bürgerliche Gesellschaft also leise von ihm zurück, so umdrängen ihn
dagegen Personen, deren Nähe ihm nur Unheil bringen kann. Mir ist der Zu¬
sammenhang zwischen den Bestraften immer merkwürdig gewesen, es ist seltsam, wie
sich da die Lebensfaden ineinander schlingen. Nur feste Entschlossenheit kann deu
Entlassener vor den Verlockungen „der alten bösen Bekannten" bewahren, und diese
Entschlossenheit fehlt gerade den meisten. Das Herandrängen des Gesindels an die
Entlassener ist eine Thatsache, die man schwerlich leugnen kann, jeder erfahrne
Strafanstaltsbeamte weiß davon zu erzählen. Hiernach ergiebt sich als Aufgabe
der Fürsorge: Arbeitsvermittlung, Beeinflussung durch wohlgesinnte, erzieherisch ge¬
richtete Menschen und Überwachung der Familie des Gefangnen.
Wenn ich jedoch den Verfasser des gegnerischen Aufsatzes recht verstehe, wird
er für die Schilderung, die ich eben entworfen habe, nnr ein Lächeln haben, er
wird darin eins der hübschen Phantasiestückchen sehen, mit deren Hilfe die Fürsorge-
vereiue edeln Menschen den Kopf scheu macheu und die Taschen erleichter». Leider
ist die Schilderung aber bittre Wahrheit, wenngleich ich gern zugebe, daß sie nicht
ans jeden Entlasseneu zutrifft, vielmehr meist nur in einigen Zügen wahr sein wird.
Sicherlich aber steht jeder Entlassene, der wieder emporstreben will, vor schweren
Kämpfen. Der Verfasser meint nun: der kenne das praktische Leben nur sehr
wenig, wer wirklich an das alberne Märchen glaube, daß die Bestrafung.eines
Menschen ein unüberwindliches Hindernis sei, wieder ehrliche Arbeit zu bekommen.
Der Arbeitgeber kümmere sich in den meisten Fällen gar uicht um die Vergangen¬
heit der Entlassener, ihre Arbeitskollegen noch weniger. Für die Vereine zur Für¬
sorge für entlassene Strafgefnngue sei es aber Voraussetzung, daß ein bestrafter
Mensch gar nicht in der Lage sei, durch eigne Kraft wieder ehrliche Arbeit zu
finden, sondern hier zumeist der thätigen Hilfe edler Menschenfreunde bedürfe.
Wer also den Nachweis liefere, daß dies eine haltlose Phrase sei, der versetze den
Vereinen den Todesstoß. Da mir nnn sehr viel daran liegt, diesen Todesstoß wo¬
möglich »och abzuwenden, so will ich prüfen, ob die Behauptung unsers Gegners,
die er allerdings anch durch einige Beispiele stützt, als zweifellose Wahrheit hin¬
genommen werden muß.
Zunächst, wer in aller Welt behauptet denn, daß die Bestrafung eines Menschen
ein unüberwindliches Hindernis sei, wieder ehrliche Arbeit zu bekommen? Vielleicht
hat jemand in der Hitze der Rede einmal den Mund zu voll genommen, wie man
zu sagen pflegt, bei ruhiger Überlegung aber wird niemand wagen, eine derartige
Behauptung nuszusprechen. Wenn man daran denkt, daß z. B. im Jahre 1392
— wie die Zahlen heute stehen, konnte ich leider nicht erfahren — die Zahl der
wegen Vergehens und Verbrechens gegen die Reichsgesetze Verurteilten 10 Prozent
der strafmüudigeu Bevölkerung unsers Landes betrug, daß sich allein die Zahl der
in den preußischen Zuchthäusern verwahrten Gefangnen im Durchschnitt auf 25 000
beläuft, dann müßte es ja grauenvoll bei uns aussehen, falls wirklich jede Be¬
strafung es dem Entlassener gänzlich unmöglich machte, ohne die Hilfe wohlthätiger
Vereine oder edler Menschenfreunde wieder eine rechtschaffne Arbeit zu erlangen.
So thöricht sind wir nicht, um etwas derartiges zu behaupten, daß aber die Be¬
strafung ein schweres Hindernis für viele ist, ein unüberwindliches für manchen,
das wissen wir uicht nur auf die unzuverlässigen Angaben der Gefangnen hin,
sondern ans Grund unsrer eignen Beobachtungen, und wer anch dies für ein
albernes Märchen ansieht, dem müßte ich leider auch den Rat geben, sich etwas
mehr im praktischen Leben umzusehen. Es kommt hierbei zunächst die Art der
Arbeit, die sich bietet, in Betracht. Wenn Häuser abgerissen werden oder Steine
geschleppt werden sollen, dann allerdings wird nicht nach den sittlichen Eigenschaften
des Arbeiters gefragt, sondern nach den physischen, denn Schutt und Steine sind
keine augreifliche Ware. Doch eignet sich anch nicht jeder Entlassene für diese Be¬
schäftigung, er muß wenigstens Kräfte haben. Auch bei den ländlichen Beschäf¬
tigungen läßt man infolge des großen Arbeitermangels in den landwirtschaftlichen
Betrieben ja wohl füufe gerade sein, aber auch nur in den Arbeitsmonatcn; im
Winter, während dessen doch auch Gefangne entlassen werden, liegt die Sache
schon bedeutend anders. Aber im allgemeinen wünschen die Landwirte auch im
Sommer solche Arbeiter, die wenigstens eine leise Ahnung von der Landarbeit
haben, sür einen großstädtischen Uhrmacher oder Schneider, der vielleicht ein rich¬
tiges Rübenfeld noch nie in der Nähe gesehen hat, sind sie weniger empfänglich.
Doch mag das sein, das Kartvffelhacken lernt sich leicht; wo es sich jedoch um den
Platz eines Knechts oder Kutschers handelt, da stellen sie schon einige Ansprüche,
auch an die sittlichen Qualitäten des Entlassener. Jedenfalls sollen sich auf die
Ankündigung: »Fünfzig Knechte werden gesucht" nur Knechte melden, nicht Tapezierer
und Konfektionsarbeiter. Auch kleine Handwerker machen nicht viel Umstände, wenn
ihnen die Arbeit auf deu Nägeln brennt, aber schon der Schlosser sieht sich die
Papiere und die Klebekarten des Arbeitheischenden recht deutlich an. Und nun
gar der Fabrikant und der Kaufmann! Ich befragte gestern einen Fabrikanten
aus Berlin über die Sache. Er antwortete mir: Wenn der Mensch mir Kies
schaufeln soll, dann mache ich nicht viel Federlesens» wenn er aber in meine Fabrik
will, dann muß ich wissen, wer er ist, und wie es mit ihm steht. So leicht also
kommt der Entlassene doch nicht über die Folgen seiner Bestrafung hinweg, das
Zuchthaus jedenfalls hängt manchem wie ein Klotz am Fuße.
Häufig braucht der Arbeitgeber auch gar uicht in die Papiere des Entlassener
hineinzusehen, ein Blick auf seine äußere Erscheinung genügt vollkommen. Da kommt
ein junger Kaufmann daher. Im Zuchthaus ist er nicht gewesen, haist hätte er
sich vielleicht einen bessern Anzug verdienen können. Er war nur kurze Zeit im
Gefängnis. Schon eine Weile bummelt er stellenlos im Lande herum, Eltern hat
er nicht mehr, oder er wagt sich nicht mehr nach Hnnse. Und nun steht er da:
Schuh und Stiefel sind zerrissen, durch die Hosen pfeift der Wind. Freilich nicht
durch unverschuldete Not ist er in diesen Zustand geraten, sondern durch seineu
Leichtsinn, aber nur steckt er jedenfalls tief in der Not. Wer wird ihn aufnehmen,
wenn sich der Fürsorgeverein nicht seiner erbarmt? Die Polizei gewiß, aber damit
ist ihm nicht gedient, der Polizei im Grunde auch nicht. Ans diese Weise haben
die Vereine schon manches junge Leben, das eben ans die Landstraße hinaus wollte,
noch in der letzten Stunde zurückgehalten und wieder auf andre Bahnen gewiesen.
Zum Hciuserabreißcn und zu Erdarbeiten wäre der Mann zweifellos noch gut genug
gewesen, aber mau reißt nicht fortwährend Häuser nieder, den Maurer spielen kann
er nicht, und zum Steine schleppen ist er zu schwach. Erdarbeiten aber im großen
Stil kommen nicht überall vor, und wenn sie vorkommen, wenn zweihundert Erd¬
arbeiter verlangt werden, dann giebt der Schachtmeistcr nicht einfach, wie es im
Aufsatz heißt, jedem, der sich meldet, eine Schippe und laßt ihn in Gottes Namen
buddeln, sondern nach meiner Erfahrung sagt er: Eine Schippe mußt du mitbringen,
dann kennst du meinetwegen ansaugen. Und diese Schippe hat der Fürsorgeverein
schon manchmal kaufen müssen, wenn er wollte, daß der Entlassene von der Straße
wegkam. Ebenso verlangen auch einzelne Handwerker, daß das Werkzeug mit¬
gebracht werde.
Bei der Arbeitsfrage spricht aber auch ferner das Alter und das Vergehen mit.
Einem bejahrten Manne wird es oft blutsauer, ein Pvstchen zu bekommen, junge
Leute werden ihm meistens vorgezogen. Vor einigen Jahren wurde ein wegen
Mordes bestrafter Mann begnadigt, nachdem er, wenn ich mich recht erinnere, fünf¬
undzwanzig Jahre im Zuchthaus gearbeitet hatte, meistens Cigarren. Das Cigarren¬
machen verstand er aus dem Fundament, gut gekleidet war er auch, und sein Ge¬
sicht war freundlich und sympathisch. Aber wie ist der Mann hernmgepilgert! Die
Cigarrenfabrikanten fragten alle, woher und warum, und wenn sie es gehört hatten,
dann brachen sie die Verhandlungen schnell ab. Nur mit Hilfe eines der „Menschen¬
freunde," die ein warmes Herz für die Fürsorge entlassener Strafgefangnen haben,
hat er eine Stellung gefunden, in der er zeigt, was es heißt, sich von Herzen bessern.
Selbstverständlich konnte sich der Entlassene auch selbst Arbeit suchen, denn
irgendwo würde man ihn vielleicht mit tausend Freuden aufnehmen, nur muß er
erst wissen, wo dieses irgendwo liegt. Nun belehrt uns aber eine alte Erfahrung,
daß die ersten Freiheitstage für den Entlassener eine ganz besonders kritische Be¬
deutung haben, und daß er gerade in dieser Zeit ebenso dem Rückfcill ausgesetzt
ist wie ein Rekonvaleszent, der eben das Bett verlassen hat. Ans diesem Grunde,
nicht um es ihm bequem zu machen, laufen andre für ihn Wege und legen für ihn
Fürsprache ein. Namentlich sind die weiblichen Gefangnen offenbar den größten
Gefahren ausgesetzt, wenn sie nicht schon beim Verlassen des Strafhanses wissen,
wohin sie gehen sollen. Und das wissen sie sehr häufig nicht, selbst dann nicht,
wenn noch ein Elternhaus vorhanden ist. Ich habe mit dem Vater eines solchen
Mädchens lange verhandeln müssen, ehe er sich entschloß, die Hand zur Versöhnung
Zu reichen. Erst einen Tag vor der Entlassung, nachdem ich schon für alle Falle
Vorsorge getroffen hatte, kam die Erlaubnis zur Heimkehr. Wenn nun keine Für¬
sorge geübt würde, dann würde ein solches Mädchen im besten Falle zu einer Ver¬
mieterin gehn, durch deren Vermittlung es dann nach einiger Zeit, oder wenn das
Glück günstig ist, bald einen Dienst findet. Zuweilen dauert aber die Geschichte
auch recht lange, sodnsz das Mädchen tief in Schulden kommt, denn die Hausfrauen
sehen sich die Dienstbücher doch ziemlich genau an, und wenn da am Ende eine
große Lücke darin ist, so werden sie sehr nachdenklich. In den Großstädten, in
denen vielfach Dienstbotenmangel herrscht, wird die Sache vielleicht günstiger liegen,
aber die sittlichen Gefahren sind auch viel größer. Es giebt freilich Herrschaften,
die unbedenklich jedes Mädchen annehmen, solche nämlich, die keinen ordentlichen
Dienstboten mehr bekommen. Diese also würden gierig zugreifen, und die Ver¬
mieterin Hütte kein Interesse, es zu verhindern. Der Fürsvrgeverein aber hat dieses
Interesse. Wir achten darauf, daß unsre Pfleglinge in gesunde, wenn auch strenge
Verhältnisse kommen, und lehnen den Vorwurf entschieden ab, Entlassene jemals
gegen einen Süudenlohn an irgend wen und gar an gewissenlose Blutsauger und
Halsabschneider verkuppelt zu haben. Auch die andern Vereine werden diese An¬
schuldigung mit Entrüstung zurückweisen.
Zugestanden soll es werden, daß die Entlassener auch ohne unsre Hilfe
oft schnell und leicht eine Arbeitsstelle finden, zumal wo sich Verwandte oder
Freunde um sie kümmern, denn da diese der Sphäre angehören, der der Gefangne
entstammt, und die der Entlassene wieder aufsuchen will, so ist es ganz natürlich,
daß sie über die jeweiligen Arbeitsgelegenheiten besser unterrichtet sind als wir.
Was uns viele Mühe und manche Schererei kosten würde, machen sie, wenn sie
rin dem Arbeitgeber oder Werkmeister gut stehn, oft unter der Hand und mit
einem Worte ab. Das giebt uns nun nicht einen Augenblick das Gefühl, über¬
flüssig auf Erden zu sein; wir wären ja Thoren, wenn wir uns Mühe und Sorge
auflasten wollten, die von andern leichter getragen wird und sie auch zunächst an¬
geht. Jeder, der uus hilft, ist unser Freund, mag er nun Hinz oder Kunz heißen,
ein Monopol beanspruchen wir wahrlich nicht. Doch will ich es der Vollständigkeit
wegen noch anführen, daß wir zuweilen die lieben Verwandten erst zur Erfüllung
ihrer verwandtschaftliche» und reinmenschlichen Pflichten anstacheln, hänfig zuguder-
letzt anch noch mit unserm Einfluß und unsrer Fürsprache einspringen müssen, damit
das gute Werk gelingt.
(Schluß folgt)
is die Geschwister einander beim Abendbrot gegenüber saßen, sagte
Line: Ich hab mirs uun tausendfältig überlegt, Karl, meinst du
denn nicht auch, man solle den Herren vom Fach alles verkaufen,
was da ist? Den Nvthnagel sind wir damit los, und vielleicht —
vielleicht langes sür Meister Ackermann — Karl —!
Karl sah nachdenklich vor sich ans den Teller und löffelte an dem
Snppenrest herum, der zu klein war, um noch gefaßt zu werden. Die Lampe,
die zwischen den Geschwistern stand, war die bescheidenste der bescheidnen Wirt¬
schaft, und sie verriet wenig vom Ausdruck seines Gesichts, so forschend Line auch
hinübersah. Matt brannte sie und flackerte in dem leisen Luftzug, der durch die
offne Gaugthür kam.
Ob sie zumachte? Aber da legte Karl den Löffel beiseite und antwortete.
Er brachte noch einmal breit und ausführlich dieselben Gründe wie vorhin: um
des Vaters und seiner Ehre willen dürfe kein halbfertiges Luftschiff aus dem
Hause.
Dann schöpfte er Atem, um dasselbe noch einmal vorzutragen. Unnötiger¬
weise; er glaubte stark an Lineus Güte, daß sie aber so schnell ihren Widerpart
aufgab, wunderte ihn doch. Eigentümlich still und in sich zusammengesunken saß
sie da, und Karl schraubte die Lampe heraus, um sie besser betrachten zu können.
Sie merkte es nicht, regungslos starrte sie auf ihren Teller, der noch nicht
zur Hälfte geleert war; blaß, elend und vergrämt sah sie aus, wie der Bruder sie
Weder in den sorgeuvollsteu Jahren ihrer Jugend, noch in den letzten traurigen
Tagen gesehen hatte.
War er die Ursache dieses Jammers? — Wirklich, Line, sagte er in halber
Verlegenheit, es geht nicht anders, ich muß. Es giebt Pflichten, die einen fest
nehmen gegen Wunsch und Willen. Am besten, ich mache mich sofort daran, ich
werde es ja gleich wieder haben.
Line starrte noch immer vor sich hin, sie wußte nichts zu antworten, es siel
ihr gar nichts ein, sie sagte sich nur immer vor: Du bist Schuld daran, daß er
nun auch versinkt, du hast das Modell verdorben!
Endlich raffte sie sich zusammen und sah den Bruder an. Dies liebe, frische,
lebensfrohe Gesicht sollte nun auch welk und müde werden, verarbeitet von dem
Unhold, der die Städels nicht aus dem Garn ließ? Und es hätte doch jetzt endlich
so gut sein können!
Karl, sagte sie leise, bittend, schmeichelnd, laß dich nicht fassen! Denk an den
Vater, an das graue Leben hier, an die Helle draußen, die dir so wohl gefiel.
Bis jetzt weißt du uoch gnr uicht, was in Freude daheim sein heißt — ich weiß
es, ich hab noch eine lichte Erinnerung an die ersten Kinderjahre, wo wir draußen
vorm Thore wohnten, und Vater von Feierabend an der Mutter und mir gehörte.
Mir ist, als habe damals immer die Sonne geschienen, oder der Bratapfel im Ofen
gesummt- alles hell, warm und traulich vom Morgen bis zum Abend. Und so
eine Erinnerung, Karl, die verliert man nicht, die ist wie ein unversiegbarer Kraft¬
quell im Herzen. Was auch nachher kam an Elend und Jammer, als der alte
Nothnagel uns faßte, und wir hierher zogen in sein Bereich, einmal war ich doch
in meinem Märchenland zu Hause gewesen. Dir, Karl, hat von klein auf das
Leben schwer auf den Schultern gelegen, du hast es zu Hause immer dunkel ge¬
habt, du mußt deine Sonnenzeit erst noch erleben.
Unwillkürlich lauschte Karl hinunter nach dem klappernden Plätteisen in Frau
Flvrkes Küche, ganz deutlich meinte er zwischendurch eine junge Stimme das Tam-
bourliedchen trällern zu hören.
Gleich darauf gestand er sich mit einem Seufzer den Irrtum ein, das Lächeln
"ber, das kaum merklich sein Gesicht erhellt hatte, wurde von Limen anders ge¬
deutet. Eifrig redete sie weiter: Nicht wahr, du fühlst, daß ich recht habe? Laß
uns still und thätig noch ein Weilchen zusammen Hausen und an nichts denken,
als wie wir die Schuld abtragen. Dann, wenn wir frei sind, wanderst du in die
Welt, siehst alle Schönheit, zeichnest, wonach dir das Herz steht, suchst dir ein
liebes Weib und wirst vielleicht gar noch ein Künstler, wenn dir die Sonne so
recht voll und warm ins Herz hinein scheint.
Sein Lächeln war noch Heller geworden. Gutes Mädchen, dachte er, aber
sein Mund sagte nur: Wenn ich soweit bin, Line, ists ein guter Plan, aber erst
muß ich mit dem Erbe zurechtkommen.
Karl! rief sie in hellaufflammender Verzweiflung, nun hat es dich auch!
Aber Linchen! Da ist ja gar keine Gefahr; im Innersten ist mir dein Ge¬
spenst noch genau so gleichgiltig wie all mein Tage. Auch hat mich der brave
Wendelin reichlich mit Arbeit versehen, die allem vorgeht. Nur was man so
Feierabend nennt, soll dem goldne» Engel gehören.
Die Feierabendszeit! Hatte es nicht ganz ebenso beim Vater begonnen? Sieht
Line nicht plötzlich die Laube vor sich, am kleinen Haus ihres Glücks? Riecht sie
nicht den Flieder, der aus blauen Dolden duftet, wie sie ihn damals rin ihrem
Kindernnschen gerochen hat, als die Eltern das gleiche, unverstandne und doch
nie vergessene Gespräch führten?
Die Feierabendzeit des Vaters übcrwuchs schließlich seinen ganzen Tag, und
„die ganz kleine Liebhaberei" nahm sein Herz so gefangen, daß er seine lebendige
Habe an Menschenkindern völlig darüber vergaß.
Lineus Angen umflorten sich; Karl aber fuhr heiter fort, als sei er mit seinem
Programm recht zufrieden: Altes Mädel, sind wir abergläubische Kinder? Kein
Ding kann mehr Gewalt über uus bekommen, als wir ihm einräumen wollen.
Und jetzt laß uns schlafen gehn, wir haben einen Tag hinter uns, der so viel ge¬
bracht hat, wie manches Jahr nicht ans seinem Rücken trägt. Ich bin todmüde.
Der nächste Morgen fand Karl Städel zwischen den Luftschiffer. Zunächst
wollte er einmal Ordnung und Raum schaffen, vor allem das helle Fenster für
seine Zeichnungen benutzen. Er schloß und riegelte die Thür, die von der Hexen¬
küche zum Gang führte, und hob den Arbeitstisch des Vaters davor. Pilntre
de Roziers Bild schwankte, aber es fiel nicht um. Daun trug er seinen eignen
Tisch herüber vors Fenster; Senefelder stand so im hellsten Lichte.
Er breitete seine Skizzen aus und machte sich an die Arbeit: das Plakat zu
einer Landwirtschaftlichen Ausstellung drängte am meisten, und Karl hatte schon
allerlei entworfen, was ihm halb oder gar nicht gefiel. Die Sonne mußte darauf
sein: ohne Sonne kein Segen. Er hob den Kopf und sah hinaus, sie war jetzt
hinter der Schmiede in die Höhe gekommen und grüßte über die Dächer die obersten
Wipfel der Kastanien, in die der Blitz die große Lücke gerissen hatte; über Hof,
Stadtmauer und Gang lag noch ein lichtes Morgcngrau.
Früher war um diese Stunde hier schon das Dingelchen mit leichten Füßen
umher gelaufen, Kragen, Manschetten und Spitzenkram zum Trocknen aufzuhängen.
Nie vor Vater Stadels Fenster, aber links das Hoftreppchen herauf bis zum
Pfosten und rechts ebenso „mit Erlaubnis" durch Fräulein Lines Küche. Nur
wenn sichs einmal gar nicht ändern ließ, huschte sie an dem Respektfenster vorbei;
tripp trapp, hatte das geklungen: zierlich und traulich.
Jetzt huschte nichts mehr. Frau Flörke hängte lieber unten auf, wenns auch
eine Stunde länger naß blieb, und lobte sich dabei von wegen dem Opfer, das sie
für ihrer Tochter Bildung und Zukunft brächte.
Gut, daß diefes Husche» vorbei war; nur eine Arbeitsstörnng wär es gewesen,
wo es galt, dem goldne» Engel in die Wolken zu helfe« und sich selbst einen tüch¬
tigen Handwerks- und Künstlernamen zu schaffen.
Die Sonne des bestellten Plakats wuchs freundlich nnter dem geschickten Stift,
aber während sich Karl mit Ernst und Eifer eine dreifache Menschenarbeit für die
paar künftigen Lebensjahre zurecht legte, lauschten ein paar eigensinnige Neben¬
gedanken immer auf das Tripptrnpp der kleinen Mädchenfüße und meinten dnrch
das Lärmen der Vögel ein Liebesliedchen klingen zu hören.
Karls Arbeit schritt dabei rüstig vorwärts, die leise Melodie gab ihr Schwung
und Leichtigkeit. Als Line ihm den Kaffee brachte, konnte er ihr den fertigen
Entwurf zeigen, und der warme Glücksscheiu, den die Arbeit in ihren Augen ent¬
zündete, erfrischte ihn rechtzeitig im Augenblick der Ermüdung. Er griff nach dem
zweiten Auftrag, und der Einfall ließ nicht auf sich warten.
So arbeitete er weiter, bis etwa um die zwölfte Stunde Rechtsanwalt Petris
Schreiber durch den Hof herauf in die Werkstatt kam und ihm den Brief brachte,
den der Anwalt und Nothnagel am Abend vorher zusammen aufgesetzt hatten.
Karl mußte den Empfang des Briefs bescheinigen; er meinte den Inhalt ganz
genau zu kennen, legte ihn ungelesen beiseite und wollte weiter zeichnen. Das ließ
sich nnn aber doch nicht erzwingen, die Gedanken hafteten eigensinnig an dem Briefe,
und nachdem sich Karl zehn Minuten lang zwecklos mit dem Stifte gequält hatte,
nahm er das Schreiben und las.
Also wirklich ein Prozeß: das war das letzte Gnadcnstück, das der Goldne
ihnen aufzuführen dachte. Entweder Auslieferung alles Vorhandnen, worauf dann
am Tage des Erfolgs den Erben Städels ihr Drittel gewissenhaft zugerechnet
werden würde, oder der Prozeß, den die Geschwister verlieren müßten, wenn
irgend Recht und Gerechtigkeit eine Stimme hätten im Deutschen Reich.
Petri war ein tüchtiger Anwalt und galt für einen ehrlichen Mann, er glaubte
also an Nothnagels Recht.
Langsam faltete Karl das Schreiben wieder zusammen und stand auf. Gerade
heute morgen hatte er einen so tiefen Zug am Quell erfolgreicher Arbeit gethan,
daß ihm jede andre Beschäftigung Quälerei und ein Raub kostbarer Kräfte schien.
Er schritt nachdenklich die Reihen der Sammlung ab, die so viel Geld, Zeit und
Mühe gekostet hatte, die immer aufs neue die hohe Versichrung verschlang, und blieb
am Ende des Wegs vor dem verbognen Modell stehn.
Hatte Line nicht doch Recht? Fort geben, los werden. Aber selbst jetzt dachte
er das nnr mit Worten, aus der Tiefe seines Herzens herauf klang ihm des Vaters
Stimme: Halt fest, sei treu, du wirst finden, dn bist mein Erbe, du wirst meinem
Namen den Flecken des Mißlingens abwaschen, wirst über das kleine Ungefähr des
feindlichen Blitzes triumphieren.
Nachdem Karl eine Weile geschaut hatte, hörte er nichts weiter als diese
Stimme. Er hob den Glasdeckel ab und nahm das Modell auf den Mitteltisch:
er mußte es ja gleich haben, er hatte ja ganz deutlich gesehen, wie der Vater han¬
tierte, erst unten beim Zeigen und dann oben beim Flug.
Wie wars doch gewesen? mal eng, mal weit, mal hoch, mal flach, mal nach
rechts geneigt, mal nach links gegen die Gondel, recht wie ein schwebender Vogel
gegen den Wind arbeitet. Und das war erreicht worden durch jenen von Gott¬
lieb Klingelzug getauften Metallschieber und etwas leichtbeweglichen Ballast; einfach,
ganz einfach. Wenn sich nur das Einfachste nicht am allerschwersteu wiederfände,
wenn er nur nicht in der Erregung über die Heimkehr, die ihn nur halb freute,
und über den Aufstieg, mit seinem Gefolge von hellen und dunkeln Möglichkeiten,
allzuschlecht acht gegeben hätte auf die Kniffe der Mechanik. Bewegliche Reifen,
ein unterjochter Gassack, im Nu zu regierender Ballast — jawohl, aber — ?
Da stand nun Karl und sann und sann und konnte sich nicht besinnen, die
Hciare fielen ihm ins Gesicht, quälende Hitze stieg ihm in Augen und Ohren, und
die Kehle wurde trocken, als müsse er in kürzester Frist auf Leben und Tod ein
Zauberwort sprechen, das er vergessen hatte.
Aber was drängte ihn denn? War der Tag nicht lang, viel langer, als seine
Zeichenarbeit verlangte? Er würde es finden! wenn es nötig war mit Geduld
und Ausdauer. Er nahm die Fehde mit Nothnagel auf, koste es, was es wolle;
sein Vater durfte nicht im Grabe gekränkt werden.
Als Line kam, um den Bruder zu Tische zu rufen, saß er am Mitteltisch und
machte kindliche Versuche mit den beweglichen Reifen. Bei ihrem Anblick sprang
er auf und gab ihr Nvthnagels Fehdebrief.
Line las ohne Überraschung und nickte ernsthaft dazu. Recht so, nun haben
wir neben dem Gespenst auch noch einen Prozeß im Hans.
Tiefe Stille lag über dem Kegelschnb, obwohl mir der schweigsamste seiner
Bewohner davon gegangen war; noch hielt der Abschied den Lebendigen den Mund
zu, und die Krankheit drüben in der Apotheke, deren Hoffenster allnächtlich hell
blieben, dämpfte die notwendige Rede zum Flüstern.
Nothnngel geht drauf, sagten die alten Weiber der Nachbarschaft. Städel
holt ihn nach. Und die freien Geister von Senkenberg setzten hinzu: Er hat sich
beim Gewitter und beim Begräbnis den Kraals geholt; seht, Kinder, das kommt
davon! Laßt eure Heerde vou thörichten Erfindungen. Die Alten haben sich nicht
umsonst das Märchen vom Ikarus ausgedacht. Allemal schmelzen dem Tollkühnen,
der zu hoch hinauf will, die wächsernen Flügel.
Wenigstens die Sorge um den Prozeß wurde Line bald los; ehe noch die
Ernte begann, ließ der alte Nothnngel die Hand vou beiden goldnen Engeln, und
Fräulein Jenny, die „Gott sei Dank" mündig war, warf ihr Geld nicht für ein
Luftschiff auf die Gasse.
Aber sie kam am Tage nach dem Begräbnis durch die neue Gangthür, die
von Ackermanns Seite keiner verschlossen hatte, und trat in einem Trauerkleide
nach dem neusten Modenblatt bei dem hübschen Menschen, dem dummen Menschen ein.
Sein erstaunter Blick verwirrte sie ein wenig, in halber Verlegenheit begann
sie: Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Charles, daß ich nicht daran denke, um
den goldnen Engel zu prozessieren. Ich trete Ihnen alle Rechte ab und wünsche
Ihnen, daß er recht bald wieder fliegt. Dann nehmen Sie mich einmal mit hinauf,
nicht wahr? Ja! und was ich noch sagen wollte: wir sind doch nun beide ver¬
waist, sollten wir nicht wieder gute Nachbarschaft halte»?
Sie hatte Karl Städel mit mancher Pause Gelegenheit zur Einrede gegeben,
ohne daß er sie benutzt hätte, jetzt mußte er nnn aber doch wohl antworten.
Ich danke schön, Fräulein Nothnagel, begann er schwerfällig, ich nehme das
mit dem Luftschiff an, denn ich halte es für unser Recht, aber im übrigen wird
wohl alles beim alten bleiben. Wir zwei Geschwister brauchen unsern ganzen Tag,
wenn wir über das Erbteil Herr werden wollen, das uns geblieben ist: Schulden
und ein flügellahmer Engel. Ihr Goldner steht fest und sieht behaglich auf den
Marktplatz hinab mit runden, satten Bäckchen — wir passen schlecht zusammen.
Du dummer Mensch, ich hätte dich zehnmal satt gemacht, dachte die hübsche
Jenny, als sie die neue Gcmgthür zweimal hinter sich abschloß und obendrein
riegelte. Mit diesen Städels war sie nun fertig.
Herr Ferdinand Frisch stand auf dem Kräuterboden noch an derselben Stelle
Wie vorhin, als das Knarren der neuen Thür ihn von den Orangenblättern an
die schmale Ganglnle gelockt hatte.
So schlecht ihm ihr Hiuübergehn gefiel, so angenehm war der Anblick, den
ihm die Zurückkehrende bereitete. Die Schwäche war überwunden. Das Naschen
hochmütig gekraust, das Köpfchen ein wenig in den Nacken geschoben, als wolle sie
sagen: Ich habe mir durchaus nichts vergeben! so kam Jenny zurück, und Herr
Frisch hütete sich Wohl, ihr jetzt in den Weg zu treten; lieber nachher und desto
öfter. Blieb er doch da, war ihm doch geglückt, bei der jungen Apothekerin den
ersten Dienst zu erhalten; daß daraus Herrschaft werde, dafür wollte er schon sorgen.
Die ältliche Muhme, die Jeunh sich „einstweilen zum Anstand" ins Hans lud,
erobert ein gewandter junger Mann mit ein paar Verbeugungen und Redensarten
leicht von heute auf morgen, die gab dann wohl gnr einen eifrigen Fürsprecher ab.
Ferdinand Frisch war ein guter Rechenmeister fürs tägliche Leben; noch lag
der erste Schnee nicht auf der Stadtmauer fest, da hatte er sich mit der hübschen
Jenny verlobt, und die Muhme sagte, wenn sie im Hans bleiben könne, seis ein
kluger Gedanke. Warum sollte eine arbeitsame Verwandte nicht im Hans bleiben?
Jenny wollte ihr Leben genießen, und um einer lustigen Hochzeit willen mußte sich
der Bräutigam bis Ostern gedulden. Aber mit Frühlingsgcfnhlen sahen sie schon
jetzt in den abnehmenden Tag hinaus, sie waren das Gespenst völlig los, das
drüben seine Fledermausflügel wieder ausbreitete, so mächtig wie nur je in den
dreiundzwanzig Jahren seines Daseins und Wachsens.
Line nähte und nähte, nährte Empörung und Verzweiflung stumm in ihrem
Herzen und trug mit Traum und Halbtraum ihr bittres Schuldgefühl bis in die
Nacht hinein.
Karl sah ihr vergrämtes Gesicht nicht, auch wenn er ihr gegenüber saß, wozu
er sich bald nur ebenso kurze Zeit gönnte, wie ehedem der Vater. Mühsam be¬
zwang er sich so weit, die versprochncn Bilder zu liefern und die kargen Bestellungen
auszuführen, die ab und zu für den Lithographen kamen; den längsten Teil des
Tages lagen Rädchen, Reifen und Berechnungen in dem guten Licht, das den Kunst¬
werken und dem tüchtigen Handwerk dienen sollte.
Daß es mit ein wenig probieren nicht zu finden sei, sah Karl nach ein paar
verspielten Wochen el», dem Sachverständigen aber, ebenso wie dem Aurel, die nach
Nothnngels Tod aufs neue kamen, ihm die Bürde abzunehmen, antwortete er mit
einem eigensinnigen: Nein! — Das war Städtische Arbeit.
Beide gingen mit der Versicherung, sie würden nun auf eigne Hand in der
gegebnen Richtung Versuche macheu. Mochten sie doch! Karl war seines Erbes
sicher und begann nur, sich Planmäßig in die Bücher und Schriften des Vaters
einzubohren. Wochen vergingen, ehe sein Verständnis auch uur die Schale der
Berechnungen durchdrungen hatte; alles war ihm fremd und uugeläufig. Aber je
spröder sich das Geheimnis des goldnen Engels erwies, desto leidenschaftlicher wurde
sei» Verlangen, es zu bezwingen.
Allsonntäglich ging er hinaus nach der Buschwiese, schloß Ackermanns Schuppen
auf und besuchte das Wrack. Da putzte er und wirtschaftete und hoffte jedesmal
dem Getrümmer abzulocken, ums es den zünftigen Männern doch so sicher ver¬
schwiegen hatte, und jedesmal kam er mit der Dämmerung müde und enttäuscht in
den heimischen Schatten zurück.
An einem milden Novembertag, der den kümmerlichen Oktober beschämte, kam
er früher nach Hause als sonst. Das letzte Tageslicht schimmerte noch in dem Hofe;
wie ein Helles Bildchen lag der Thürausschnitt vor ihm, als er von der Straße
in Ackermanns Hausflur trat, und auf dem hellen Bildchen schien das ganze Hans
versammelt zu sein: Fran Flörke und die fünf Buben, Ackermann, Line sogar und
der alte Professur umringten ein schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Anblick ihm
an dem müden Herzen rüttelte.
nett! Nanette Flörke war wieder da!
Kein Ding mehr, eine Augenweide, hatte Professor Kilburg eben gesagt.
Die kleine nett! Gewächsen; und dazu Gestalt und Gesicht von jenem ruhigen
Ebenmaß, das einem zuerst gar nicht verrät, wie schon sie sind.
Vor einer halben Stunde war sie gekommen und stand nun im Kreis ihrer
Hausgenossen zur Berichterstattung, die immer Wieder durch das Weh und Ach der
denkenden Mutter unterbrochen wurde.
Aber auch so was! Da gab man sein Kind hin an andre Leute, die es da¬
durch gut hatten, während man sich plagte wie ein Lasttier, und dann starben diese
Leute knall und fall von heute auf morgen weg, und von Erbschaft war nicht die
Rede. Nein, nett solle das nur nicht beschönigen, die dreitausend seien rein gar
nichts für das Opfer, während der Mensch, der Vetter, der Erbschleicher, deu Laden
und die ganze Prostemahlzeit eingeschluckt habe.
Daß in diesem Testamente stand, der Vetter und nett möchten einander
heiraten, und daß nur Reeks Nein zu diesem Vorschlag sie auf die kleine Erbsumme
gehest hatte, erfuhr Mutter Flörke erst durch einen Brief der „hingezognen Senken-
bergerin"; nach welchem Briefe nett die Vorwürfe schmecken mußte, die einstweilen
der toten Muhme nicht wehthaten.
Karl Stadel trat nicht hinaus in den Hof zu den andern, deren jedes ein
freudiges Willkommwort für nett hatte, ihm legte sich grau und nächtig das Ge¬
spenst vor die Sonne: erst schaffe mich beiseite, dnrch mich hindurch giebts keinen
Weg zu der Freundin.
Müde ging er die Treppe hinauf, durch die Küche, über den Gang der Werk¬
statt zu.
nett sah ihn sofort, unverwandt folgten ihm ihre Angen, als müsse dieser stete
Blick ihn zum Herabschauen zwingen; Karl aber hielt seinen Kopf mit Gewalt
geradeaus gerichtet und ließ die Stimmen im Hofe summen und klagen. —
Nun schaltete nett wieder im alten Kegelschnb, hängte Wäsche ans, ging nach
der Bleiche, plättete in der Küche feinen Krimskrams, saß anch wohl hinter dem
kleinen Fenster des Hofzimmcrs und machte Putz für die Nachbarschaft, wenn ihr
einer etwas zutraute — was nicht cillzn flink kam, denn ihr Geschmack war besser,
als es die Bewohner der Schnhgasse vertrugen. War Zeit, half sie Limen bei den
Ballkleidern, deren duftige Rüschenpracht so beliebt wurde, daß es beinah zuviel
Arbeit für die Mädchen in Ackermanns Schmiede gab.
Vor Karl Stadel hatte nett anfangs eine ähnliche Scheu empfunden, wie als
Kind vor dem alten Mann in der Hexenküche; das Große und Unbegreifliche, was
er schaffen wollte, hob ihn in eine Höhe hinauf, in der sie nicht mehr deutlich zu
sehen vermochte.
Als sie aber erst in dem veränderten Menschen den Jugendfreund wieder
zusammengefunden hatte, da wandelte sich die Scheu unmerklich in tiefes Mitleid.
Und die Liebe, von der sie selber nicht recht wußte, lag unverletzt im Grunde ihres
Herzens als Wurzel der Scheu so gut, wie als Wurzel des Mitleids.
Sie betrat nun den lieben alten Gang wieder, sie hängte das leichte Wasch¬
zeug wieder hinauf wie ehedem, nur mied sie das Lichtfenster nicht mehr. Husch
husch, glitt sie daran vorüber: dem Karl war gut, wenn ihn etwas Lebendiges
von draußen eins der Welt aufweckte. Sie summte wohl auch einmal ein Liedchen
bei ihrer Arbeit.
Ob ihm dabei nicht Vogelsang und Früblingstreiben einfiel? Es mußte ihm
ja gut thun.
Manchmal, wenn sie so recht unverhofft an ihm vorüberkam, sah sie, wie ein
Heller Freudenschein über sein Gesicht flog, dann blieb sie stehn und nickte ihm zu
oder sagte wohl auch ein Wort, und antwortete er gar, so wurde ihr warm und
froh bis ins innerste Herz hinein.
Den ganzen Tag lang schien ihr dann die Sonne; mochte es stürmen, mochte
die Mutter über die Erbschaft schelten, Reeks Sonne schien. Und ihm, meinte sie,
müsse es gerade so gehn.
Karln aber waren solche Tage trübe, quälerische, unholde Gesellen! das Huschen
und Summen bereitete ihm Unrnhe, und die Unruhe schuf ihm Pein, denn sie
hinderte ihn am Versinken in sein Problem.
Nur deshalb! Das dumpfe Gefühl, als ob er sich eigentlich nach etwas andern,
sehne als nach Beflüglnng des goldnen Engels, war Spuk; das kam ihm nur in
Stunden der Ermattung, dann spielte die Phantasie und lief auf thörichte» Wegen,
um deren Rändern Blumen blühten zu verliebten Sträußen, und Bäume Duft und
Schatten über Stelldicheinbänke schütteten.
Gut, daß draußen der Schnee lag, hoch und dauerhaft genug, jeder Frühlings-
hoffuuug den Garaus zu macheu; was an ihm war, wollte Karl das Seine thun,
um bei Vernunft zu bleiben.
Er gab sich ehrliche Mühe, er versuchte deu Kopf gesenkt zu halten, wenn es
huschte, und sah er doch auf, machte er ein grämliches Gesicht.
Armer Mensch, dachte nett, nun hat ihn der Unhold ganz fest im Garn.
Sie zersann sich den Kopf, wie sie ihm helfen könnte, sie dachte Tag und
Nacht nichts andres; endlich fiel ihr etwas ein, und eines Mittags trat sie in die
Werkstatt, ein knospenbedecktes Azaleenbänmchen in der Hand. Nicht halb kokett,
halb verlegen, wie Jenny damals im Sommer, sondern still und sicher, wie eine
Pflegerin zum Kranken geht, trug nett die Blumen in die Hexenküche hinein.
Da, sagte sie und stellte deu Topf mit einem saubern Untersetzer ins helle
Fenster.
Karl lächelte nachsichtig, wie man zur Spielerei eiues Kindes lächelt; nett
nahm ihren Blumentopf so ernst, wie der junge Arzt das erste Rezept, das er
schreibt.
Und Sie versorgen ihn auch, Herr Städel, und lassen ihn hier stehn nnter
den Spnkräderchen, nicht wahr? Damit doch etwas Lebendiges um Sie ist.
Etwas Lebendiges! Das traf ihn und bohrte weiter, als sie nach kurzer
Wechselrede wieder gegangen war. Er betrachtete die Knospen: unscheinbare grüne
Dinger, kaum zu bemerken, aber sie trugen ihre leuchtende Zukunft sicher nnter den
winzigen Kelchblättern.
Karl stand wohl eine Viertelstunde lang an dem Fenster und wußte kaum,
was er dachte; wenigstens kam ihm keine Nutzanwendung davon auf sich selber,
und als er der verträumten Zeit inne ward, wandte er der Verführerin den
Rücken und trat an den Mitteltisch, an dem in dieser düstern Zeit die ewige Lampe
brannte.
Er stellte sich nicht wieder betrachtend vor die Azaleen, und das Begießen be¬
sorgte er wohl, um nett nicht zu kränken, aber sehr unregelmäßig; es war gut, daß
sie nachhalf. So wie Lineus helle Stimme zur Küchenthür hinaus über den Gang
rief: Mittag ist fertig! machte sich nett unten bereit, und knarrten die Bretter
unter Karls Tritt, dann stieg sie hinauf und schlich sich mit einem Töpfchen lauen
Wassers durch die Werkstatt in die Hexenküche, Sie sah nicht rechts, nicht links,
nur nach der Blume und wurde von Tag zu Tag ernsthafter, denn ihr Wunder
half uicht, obwohl Knospe um Knospe sich rundete und färbte.
Eines Morgens endlich — die Märzsonne lockte schon an den glänzenden
Kastanienzweigen —, als Karl, von einem neuen Einfall besessen in die Werkstatt
trat, war sie aufgeblüht. Das bemerkte er doch, lichtrosa leuchteten ihm vier volle
Blumenkelche entgegen.
Er ging ans Fenster und sah in sie hinein. Makellos — vollkommen —
nicht wie sein Werk mühsam berechnet und doch ewig unvollendet, sondern ein Ge¬
schenk ans der Hand der Natur, angeblasen vom Hauche des Lebens, und das
Wunder wuchs und vollendete sich aus eingeborner Kraft.
Seine Räderchen und Reifen, seine Schieber und Haspen waren ihm noch nie
so hoffmmgslos tot erschienen, wie in diesem Augenblick; angesichts dieser Blüten
sagte er sich: Du wirst den goldnen Engel nie beleben, Verlorne Kraft ist dein Thun
und Verlorne Mühe.
Er sah die Blüten an und lauschte hinaus, wo Reeks Stimme erklang. Auch
in ihm war ein Keim Vom Lebenshauch berührt worden und wuchs stetig mit den
Azaleeublüten dem Lichte entgegen.
(Fortsetzung folgt)
Es ist kaum glaublich, wie
liebenswürdig die englischen Zeitungen plötzlich für Deutschland werden. Man er¬
teilt uns von England aus die schönsten Ratschläge, unsre Kolonien aufzugeben,
überhaupt keine eignen Kolonien mehr zu gründen, da wir uns weit besser stehn
würden, wenn wir unsre überseeischen Interessen lediglich dnrch freundschaftliche
Haltung zu England schützten. England verlange ja weiter nichts, als daß Deutsch¬
land ihm weder in Europa uoch anderswo in den Weg trete. Daß England uns
und allen andern Völkern in den außereuropäischen Erdteilen in den Weg zu treten
sucht oder wirklich in den Weg tritt, haben wir in Kiautschou und in Faschoda zur
Genüge gesehen und sehen es täglich in Englands Verhältnis zu Rußland. Ru߬
land ist jetzt in Zentralasien mit dem Bau seiner transkaspischen Bahn bis Knschk
vorgedrungen. In wenigen Tagen können russische Truppen vor Herat, der Grenz-
festung von Afghanistan stehn. Fällt den Russen Herat in die Hände, dann hindert
sie so leicht niemand, bis an die jenseitige Grenze, nnmlich bis an das Thor Indiens
vorzudringen, und dann wird ein Kampf zu Lande beginnen, bei dein den Eng¬
ländern ihre Flotte wenig helfen kann, namentlich in dem Falle, wo die euro¬
päischen Festlandstaaten zu Rußland stehn. Das russische Heer, an Zahl und Aus¬
bildung dem englischen überlegen, würde wohl zweifellos in einem solchen Falle
den Sieg davon tragen.
Deshalb redet man heute in England so viel von der Naturnotwendigkeit einer
Verbindung der germanischen Stämme, d. h, der Vereinigten Staaten, England
und Deutschland, von einer großen teutonischen Allianz, Das klingt sehr schön,
und der englische Minister Chnmberlaiu wird nicht müde, die Notwendigkeit dieser
Allianz zu betonen. Aber daß gerade Verwandte sich nicht immer, selbst im Fa¬
milienverkehr, uneigennützig gegen einander betragen, kann man alle Tage im ge¬
wöhnlichen Leben sehn. Überall tritt das persönliche Interesse in den Vorder¬
grund. Und wenn wir in die Geschichte der Neuzeit zurückblicken, fehlt es nicht
an Beispielen, daß eben die Engländer, trotz ihrer teutonischen Verwandtschaft,
gerade die deutsche Hanse und die Holländer seinerzeit nicht geschont haben, als es
zu Elisabeths und zu Cromwells Zeiten galt, die Herrschaft zur See zu gewinnen.
Auch die Verwandtschaft mit den eignen Landsleuten in Nordamerika hinderte
England nicht, im vorigen Jahrhundert einen heftigen Krieg — mit viel deutschem
Blute natürlich — durchzufechten, ans dem aber die angelsächsischen Kolonialstnaten
als Sieger hervorgingen, und der die Gründung der Vereinigten Staaten zur
Folge hatte. Länger als ein ganzes Jahrhundert hat es gedauert, bis man sich
in England und Amerika der Verwandtschaft wieder erinnert und nun anch den
guten deutschen Vetter, der ja immer für wenig Geld seine Haut zu Markte trug,
gern an dieser Verbrüderung teilnehmen lassen möchte.
Natürlich! Der Kampf zwischen England und Rußland in Asien muß mit
Notwendigkeit kommen, und was wäre da eine wirksamere, ja entscheidendere Hilfe
für England, als wenn das erste Heer der Erde an Zahl und Kriegstüchtigkeit,
das deutsche Heer, auf englischer Seite stünde, mit Rußland in Europa Krieg an¬
finge, Rußlands beste Truppen in Schach hielte und so den Engländern in Asien
zum Siege VerHülfe! Frankreich würde natürlich auch gegen Deutschland den Kampf
beginnen, um Elsaß-Lothringen und das ganze linke Rheinufer bei dieser Gelegen¬
heit zu nehmen; wer weiß, wozu sich Österreich und Italien, ja selbst die Türkei
entschließen würden — kurz, für England wäre wieder die schöne Zeit angebrochen, wo
ganz Europa im Kampfe läge und England auf der See kaperte, was ihm beliebte,
und wo es in deu außereuropäischen Erdteilen nach Herzenslust Flaggen hißte.
Was würde Deutschlands Lohn für eine solche Politik sein? Das können wir
in der deutschen Geschichte ausführlich lesen. Für unsre Unterstützung der Eng¬
länder in Nordamerika im vorigen Jahrhundert erhielten wir Geld, sonst nichts.
Ohne Blüchers Eingreifen bei Waterloo 1815 war Wellington verloren. Die
Äußerung Wellingtons in der Schlacht ist ja bekannt: „Ich wollte, es wäre Abend,
oder die Preußen wären da!" Ob diese Äußerung geschichtlich feststeht, weiß ich
nicht, Wohl aber erinnre ich mich aus meiner Jugend an ein Bild, das damals
viel verbreitet war. Auf diesem umarmen sich Blücher und Wellington während
der Schlacht. Und das steht fest, daß man der Schlacht auch den Namen der
Schlacht bei La Belle Alliance gegeben hat, weil beide Feldherren sich bei dem
Pnchthofe dieses Namens begegneten und man diesen Namen, der heute noch bei
uns für die Schlacht am 18. Juni 1815 besteht, als durchaus passend für die
ganze politische Lage ansah. Wellington selbst sagt in seinem Berichte an den
König der Niederlande, und das steht auch geschichtlich fest: „Ich müßte mein
eignes Gefühl verleugnen, wenn ich den glücklichen Ausgang dieses gefahrvollen
Streits nicht der treuen und zur rechten Zeit verliehenen Hilfe des Marschalls
Blücher und der preußischen Armee beimessen würde." Trotzdem ist es haupt¬
sächlich Englands und Wellingtons Einfluß zuzuschreiben, daß Frankreich im zweiten
Pariser Frieden vom 20. November 181S „fast unversehrt an Gebiet und kaum
anderweitig durch Geldzahlung geschwächt" davon kam.
Gneisenau hatte also ganz Recht, als er am 17. August 18 is an E. M. Arndt
schrieb: „Wir sind in Gefahr, einen neuen Utrechter Frieden zu schliche», und die
hauptsächlichste Gefahr kommt abermals aus derselben Gegend, wie damals. Eng¬
land ist nämlich von unbegreiflich schlechten Gesinnungen, und mit seinem Willen
soll Frankreich kein Leid geschehn. Während England nicht will, daß hier Erobe-
rungen gemacht werden, sorgt es ganz artig sür sich. Am schlechtesten benimmt
sich Wellington, der ohne uns zertrümmert worden wäre." Denselben Lohn, den
Preußen damals für seine über alles Lob erhabne Aufopferung an der Seite Eng¬
lands von diesem erhielt, würden wir mich jetzt erhalten. Man wird sich also
keineswegs mit Herrn C. Peters einverstanden erklären können, der in einem Aufsatz
in der Finanzchronik, Wochenschrift für finanzielle und wirtschaftliche Interessen,
3. Jahrgang, Ur. 51, London, 17. Dezember 1898, sehr warm für eine teutonische
Allianz zwischen Amerika, Deutschland und Großbritannien, für eine panangel¬
sächsische Verbindung eintritt und sich ganz auf des oben erwähnten Ministers
Chamberlain Seite stellt. Er rühmt die große politische Befähigung Chamberlains,
der die große Zahl der Reibungspnnkte der englischen Politik mit der der andern
Machte erkannt habe. Die chinesische Frage habe das drohende Gespenst einer
kontinentalen Allianz gegen England gezeigt. Deshalb wolle man die „glorreiche
Isolierung" aufgeben und wünsche zum Shstem der Allianzen zurückzukehren. Das
gesunde Prinzip des av ut clss solle anerkannt werden. Das ist alles sehr schön
gesagt. Es fragt sich England gegenüber nur immer, was England giebt, und was
eS für seine Gabe als Gegengabe in Anspruch nimmt.
Peters macht in seinem, übrigens recht interessanten Aufsatze auch darauf auf¬
merksam, daß der in Aussicht genommne neue Dreibnnd — Deutschland, England,
Amerika — dem Wesen nach protestantisch sei, und daß ihm die Herrschaft über
die Erde sicher sei.
Das fehlte nun gerade noch, daß wir unsre politischen und handelspolitischen
Kämpfe auch noch mit Religionskämpfen verknüpften. Wir wären dann auf dem
besten Wege zu einer Wiederholung des Dreißigjährigen Krieges, der wegen Neligions-
streitigkeit anfing, sich sehr bald auf das politische Gebiet hinüberspielte und das
blühende Deutschland in eine Wüste verwandelte. Und wunderbarerweise rissen
gerade die Mächte, die auf Seiten der Protestanten gestanden hatten, die größten
Stücke vom Deutschen Reiche für sich ab. Denn Pommern fiel an Schweden, Elsaß
an Frankreich, das noch dazu im eignen Lande die Protestanten mit Feuer und
Schwert verfolgt hatte, die Niederlande und die Schweiz traten aus dem Deutschen
Reiche aus, und das vorher blühende mächtige Deutsche Reich kam in die ohnmächtige
Lage, ans der es erst Kaiser Wilhelm I. und sein großer Kanzler Bismarck in
unsern Tagen wieder herausgehoben haben. Die Blüte des Deutschen Reichs vor
dem Dreißigjährigen Kriege ist bekanntlich heute noch nicht wieder erreicht.
Zum Schlüsse seines Aufsatzes meint Dr. Peters, der Welthandel und damit
der Fortschritt der Kultur würde gewinnen auf dem ganzen Planeten. Diese
Kombination, die teutonische Allianz, würde die lebenskräftigen und fortschreitenden
Nationen umspannen zu gemeinsamer friedlicher Arbeit. Den Völkern der germa¬
nischen Welt gehöre die Zukunft. „Keine der brutalen auf bloßer Gewalt be¬
gründeten Gruppierungen, welche die Außenstehenden mit Vernichtung und wirt¬
schaftlicher Schädigung bedroht, sondern ein Shstem, dem sich jedes Volk, das fried¬
liche Arbeit verrichten will, anschließen kau», der mäßigste Schritt zur Gestaltung
eines einheitlichen Wirtschaftssystems, welchen die Geschichte der Menschheit kennt.
Die teutonische Lutcmte — sie! —, welche militärisch die Geschicke der Erde be-
herrscht, ist gleichzeitig die sicherste Grundlage für den auf Fortschritt und wirt¬
schaftlicher Arbeit beruhenden Weltfrieden. Wenn sich Chamberlciin zum klaren und
erfolgreichen Träger dieser Idee in der englischen Welt macht, wird er den größten
Staatsmännern dieses Landes an die Seite gestellt werden müssen."
Sehr schöne Worte! Aber in Ägypten sieht man nichts von friedlicher Arbeit
der Engländer, und die Nachrichten, die allmählich über den ganzen Hergang in
und nach der Schlacht bei Ondurman in die Öffentlichkeit gelangen, erinnern an
das Wort: Ein Schlachten wars, nicht eine Schlacht zu nennen. Und wie Eng¬
land die Anerbietungen friedlicher Hnndelsbeziehnngen für uns auffaßt, beweist die
Ankündigung englischer Zeitungen aus neuster Zeit über eine in Schankung be¬
stehende Gärung gegen die Erwerbung von Kiautschou durch Deutschland. In
Wirklichkeit sei nichts hinter dieser Nachricht, als der Wunsch englischer Interessenten,
die deutschen Unternehmungen im Innern von Schankung, so lange es angeht, oder
womöglich vollkommen, hintanzuhalten. Dabei gehn die englischen Rüstungen immer
weiter, nnter anderm würden in Gibraltar die Arbeiten zum Jnstandsetzen der Be¬
festigungen unermüdlich fortgesetzt. Nach Südafrika sind außerdem 300 Offiziere
und 130V Mann englische Truppen abgegangen. Kaufmännische Kreise in London
behaupten, man wolle Transvaal in England einverleiben.
Peters schließt aus einer der letzten Reden unsers Staatssekretärs von Bülow
im Reichstage auf eine nüchterne und kühle Beurteilung der auswärtigen Politik,
auf ein Handeln von Fall zu Fall und die Absicht, sich nicht ins Schlepptnn nehmen
zu lassen und nicht die Kastanien für andre aus dem Feuer zu holen. Wir wollen
hoffen, daß Deutschland dieser Politik treu bleibt und in Bismarcks Sinne die Be¬
ziehungen zu Rußland pflegt. Nußland hat uns bei unserm Fußfassen in China
nicht im Wege gestanden. Englands Streben trifft in Asien auf Nußland, in Süd¬
afrika auf Deutschland, in Nordnfrika auf Frankreich. England hat genug von dem
Erdball in seinem Besitz, gehn wir deshalb mit Rußland und Frankreich zusammen
und treten wir England fest gegenüber. So werden sich die im kommenden Jahr¬
hundert ganz sicher entstehenden Schwierigkeiten in den Kolonialbestrcbnngen der
europäischen Großstnaten am besten und friedlichsten lösen. Also vor allem keine
Wenn man selbst
weder Ruhe noch Ruhegehalt zu erwarten hat, so ist es einem ziemlich gleichgiltig,
ob ein Kreisschulinspektvr 3000 oder 4000 Mark Pension bekommt. Wenn aber
in einem Streit über die Hohe der Pension kuriose Urteile und Entscheidungen von
Behörden und Gerichtshöfen ergehen, so gehört die Sache zu den „Belustigungen
des Verstandes und Witzes," wie man das vor hundert Jahren nannte, und außer¬
dem hat auch die Allgemeinheit ein Interesse daran, jeden einzelnen Fall zu er¬
fahre», wo die Gesetze in einer Weise angewandt werden, auf die ein gewöhnlicher
Menschenverstand nicht verfallen sein würde. Durch den Z 13 der Verordnung
vom 26. Mai 1846 und den Z 6 des Gesetzes vom 27. März 1872 wird be¬
stimmt, daß bei der Pensionierung der Lehrer aller Arten, die Universitätslehrer
allein ausgenommen Stiche werden nämlich überhaupt nicht pensioniertj, alle im
Schuldienst zugebrachte» Jahre angerechnet werden, sogar die im Auslande ab¬
gedienten. Dagegen haben die Schulaufsichtsbeamten: Kreisschnlinspektoren und
Schulräte, die bei Übernahme eines solchen Amtes aus dem Kommnnaldienst in den
Staatsdienst treten, keinen Anspruch auf Anrechnung der in Kommunalschulen zu¬
gebrachten Jahre. Nur auf dem Gnadenwege kann ihnen die vor Eintritt in den
Staatsdienst abgeleistete Dienstzeit ganz oder zum Teil angerechnet werden, der
Unterrichtsnnnister hat in jedem einzelnen Falle, wo darum gebeten wird, die Ge¬
nehmigung des Königs nachzusuchen, nachdem er sich vorher der Zustimmung des
Finanzministers versichert hat, von dem also die Entscheidung abhängt. Diese gesetz¬
liche Ausnahme zu Ungunsten der Schulaufsichtsbeamten ist höchst wunderlich, aber
so lauge sie ebeu Gesetz ist, müssen sich ihr die Betroffnen natürlich fügen.
Da nun aber jeder Lehrer einer königlichen Lehranstalt durch den Eintritt in
den unmittelbaren Staatsdienst den Anspruch auf Anrechnung aller außerhalb des
Staatsdienstes oder im mittelbaren Staatsdienst zugebrachten Dienstjahre erwirbt,
so hatte bis vor kurzem in den beteiligten Kreisen jedermann geglaubt, daß von
der oben erwähnten Ausnahme solche Schulaufsichtsbeamten nicht betroffen würden,
die schon unmittelbare Staatsbeamte waren, als sie zu Schuliuspektoreu befördert
wurden. Dieser Glaube ist nun durch folgenden Fall zu nichte gemacht worden.
Am 1. November 1896 wurde der Kreisschulinspektor Jeron in Karlsruhe in Ober¬
schlesien nnter Verleihung des Charakters als Schulrat pensioniert. Vor seiner
Ernennung zum Kreisschuliusvektor war er Seminarlehrer, also unmittelbarer Staats¬
beamter gewesen, vor diesem hatte er einundzwanzig Jahre als Volksschullehrer ge¬
dient. Von diesen einundzwanzig Jahren wurden ihm aber nur sechs angerechnet,
und er erhielt statt der 4194 Mark, die er erwartete, nur 3078 Mark Pension.
Mit seiner Beschwerde dagegen von der Ovvelner Regierung zurückgewiesen, beschritt
er den Rechtsweg. Die erste Instanz entschied gegen ihn. Der Schluß der
Entscheidung ist interessant: „Was endlich die Verfügung des Kultusministers vom
10. Oktober 1872 betrifft, wonach bei Pensionierung vou mittelbaren Staatsbeamten
die Verordnung vom 28. Mai 1346 als durch § 38 des Peusionsgesetzcs vom
27. März 1872 nicht außer Kraft gesetzt zu betrachten sei, und es demgemäß zur
Anrechnung der frühern Dienstzeit der Königlichen Genehmigung nicht bedürfe, so
kann dieser Erlaß im vorliegenden Falle keine Anwendung finden, da Kläger nicht
mittelbarer, sondern unmittelbarer Staatsbeamter ist." Der angeführte Erlaß handelt
nämlich, wie sich jedermann im voraus denken kann, gar nicht von der Pensionie¬
rung mittelbarer Staatsbeamter, sondern von der Anrechnung der im mittelbaren
Staatsdienst zugebrachten Zeit bei der Pensionierung von unmittelbaren Staats¬
beamten. Die Herren haben sich also gar nicht einmal die Mühe genommen, den
Erlaß nachzuschlagen, dessen Anwendung sie für unzulässig erklären. Interessant
ist ferner, daß der Vertreter der beklagten Regierung im weitern Verlauf des
Prozesses behauptete: „Der Z 13 der Verordnung vom 23. Mai 1846 ist nach
§ 38 des Gesetzes vom 27. Mai 1872 für aufgehoben zu erachten. Wenn einzelne
Minister zu gewissen Zeiten eine andre Ansicht gehabt haben, so war dieselbe eine
irrtümliche." Also wenn der Kultusminister über die Anwendung des Pensions¬
gesetzes eine Verfügung erläßt, so erklärt die Regierung zu Oppeln, er habe sich
geirrt! Noch dazu fußt ein zweiter Ministerialerlaß, der den Seminarlehrern die
Wohlthat des Von der Negierung angefochtuen § 13 zuspricht, auf jenem Erlaß
vom 10. Oktober 1372. Dieser Erlaß hatte eben die Meinung einzelner, der
Z 13 stehe in Widerspruch mit einzelnen Bestimmungen des Pensionsgesetzes von
1372, ausdrücklich zurückgewiesen. Die zweite Instanz gab Jeron Recht. Der
vierte Zivilsenat des Reichsgerichts dagegen hat endgiltig zu seinen Ungunsten ent¬
schieden. Diese Entscheidung ist nun das dritte Kuriosum. Der hohe Gerichtshof
erklärt, der mehrerwähnte § 13 stehe noch in Kraft, und Jeron habe demnach
durch seine Anstellung als Seminarlehrer das Recht auf Anrechnung aller im Volks-
schuldicnst zugebrachten Jahre erworben; aber — durch seiue Ernennung zum Kreis-
Schulinspektor, also durch seine Beförderung zu einem höhern Stantsamte, habe er
die mit dem vorigen Amte erworbnen Rechte verloren. Gewiß interessant! Ja,
werden die Herren Juristen sagen, wenn wir die Gesetze so verstehen wollten, wie
es der einfache Wortlaut nahe legt, wozu wäre denn da das juristische Studium
notwendig? Da könnte ja jeder Bauer Richter sein! Wer die Sache genauer
studieren will, findet die ausführliche Darstellung im 27. Bande der Pädagogischen
Blätter S. 643 bis 663.
Das erste ist für Katholiken geschrieben und zwar für
vornehme. Es bewegt sich um die höchsten Spitzen der irdischen Gesellschaft, es
giebt eine Kombination von Geist, Weltförmigkeit und Religiosität, so pikant, ver¬
führerisch, suggestiv, möchte man sagen, wie ich mich nicht erinnere, sie in irgend
einem ähnlichen Buche gefunden zu haben. Das andre, für evangelische Leser, be¬
schäftigt sich mit dem Gemütsleben eines engen und kleinen, beinahe ärmlichen
Familienkreises und ist von einer Einfachheit des Gegenstands und der künstlerischen
Bearbeitung, daß man sie bei einem doch unterhaltenden Buche von vornherein nicht
für möglich halten wird: die Natur selbst hat hier die ganze Wirkung übernommen.
Dort agieren Franzosen, Italiener, Engländer, vom Fürsten bis zum einfachen Baron,
durcheinander in verschiednen Ländern und in den europäische» Hauptstädten. Hier
sitzt eine alte Handwerkersfran, umgeben von ihren Kindern, zeitlebens auf ihrem ein¬
samen schottischen Dorfe und bildet den Mittelpunkt ihres Kreises, wie die Welt¬
dame es in dem vornehmern Buche für den ihren thut. Beide Bücher find ius
Deutsche übersetzt. Beginnen wir mit dem ersten.
Pauline Craven, die 1891 im Alter vou zweiuudachtzig Jahren in Paris
starb, war die Tochter eines alten legitimistischen Grafenhnuses, ihr Vater war Ge¬
sandter Karls X. am Hofe von Neapel. Dort heiratete sie 1334 Augustas Craven,
den Sohn des bekannten, unmenschlich reichen Lords. Weil aber Augustus aus
Liebe zu seiner Gattin zu ihrem Glauben übertrat, so entging ihm nicht nur ein
Teil der väterlichen Erbschaft, sondern seine Laufbahn als englischer Diplomat
wurde dadurch zerstört, und der an Thätigkeit gewöhnte Mann fiel von einem
Projekt ans das andre. Er wechselt seinen Aufenthalt (Neapel, London, Rom,
Paris), verliert sein Vermögen und stirbt 1884. Das war der schwere Preis, mit
dem Pauline die Erfüllung ihres Herzenswunsches zu zahlen hatte. Sie selbst
überlebte dann ihren Gatten nur noch wenige Jahre und starb halbseitig gelähmt
und seit elf Monaten sprachlos. Paulinens Freundin war eine Herzogin Fieschi,
die sie seit 1840 kannte — die Frauen wechselten Briefe, wenn Pauline abwesend
war —, und diese Freundin hat, zum Teil mit den Worten der Briefe, ein kurzes,
sehr eindruckvolles Lebensbild Paulinens geschrieben, das von Marie von Kraut
übersetzt worden ist und nach zwei Jahren schon in zweiter Auflage erscheint
(Berlin, Mittler und Sohn). Es hat also seinen Leserkreis gefunden.
Pauline und ihre sechs Geschwister waren regsamen Geistes und warmblütige
Menschen, sie selbst galt unbestritten als die am reichsten begabte, sie war auch
körperlich verhältnismäßig kräftig, während die andern an organischen Krankheiten
Vor ihr und zum Teil sehr früh dahinstarben. Eine Schwester war an den Grafen
Mur, den bekannten Legitimisten, verheiratet. Ein Bruder, bereits totkrank,
heiratete eine russische Gräfin, die kurz vor seinem Tode zu seinem Glauben über¬
trat. Diesen großen Verwandtenkreis umschloß die Liebe zu Frankreich, das heißt
dem alten, bourbonischen und ein religiöses Leben, das bei den einzelnen Gliedern
oder auch Zweigen der Familie verschiedne Formen angenommen hatte. Am strengsten
waren die Muns, treue Anhänger des Shllabus. Pauline galt bei ihnen für liberal.
Ernste Schicksale in der Familie und die großen Wechselfälle des französischen Staats¬
lebens gaben nun ihnen allen eine wenigstens sehr ähnliche Richtung. Sie wollten
nicht bloß ihre äußern Güter genießen, wovon auch die unter ihnen, die sich ganz
verarmt vorkamen, nach unsern und der meisten Menschen Begriffen immer noch
genng hatten, sondern sie wollten für andre leben oder für eine Idee, ob dies nun
der Graf von Chambord war, oder die Stärkung Frankreichs nach den Ereignissen
von 1870, oder das Verhältnis des Papstes zu Garibaldi, oder die Not der Armen
in Neapel, oder endlich die Ausbreitung einer Religion der Liebe, deren Voraus¬
setzung ein zartes Nervensystem und ein aufs äußerste verfeinertes Gedankenleben
war. Es scheint, als kümmerten sich die weichgeschaffnen Seelen um manches, was
auch ohne sie weiter kommen würde, und während der Kummer sorgsame Pflege
erfährt, möchte doch auch der Weltsinn sein Recht haben, und in diesem sichern
Zuschnitt fällt für jeden ein gewisses Maß von Wohlstand und Wohlbefinden ab.
Wenigstens wäre es doch etwas ganz andres, wenn diese zum Teil freiwilligen
Sorgen noch mit eigner Not und Armut getragen werden müßten! Traurige Er¬
innerungen lassen sich erzählen und manchmal auch litterarisch verarbeite»; das ganz
große Unglück macht stumm.
Pauline Craven zeigte im persönlichen Verkehr neben sehr viel Geist eine
ungewöhnliche Anmut, die auch in großen und steifen Gesellschaften ihren Weg in
die Herzen solcher Teilnehmer fand, die Empfindung dafür haben. In der Gabe
der Unterhaltung that sie es allen zuvor. Nun machte das Leben sie auch zur
Schriftstellerin. Sie erzählte die Geschicke und die innern Erlebnisse ihrer Ge¬
schwister, die sie alle überlebt hatte, in einem Buche Loeit Anno Lveur, das 1666
in Paris herauskam und einen großen Erfolg hatte. Es sei einmal, so fanden die
Kritiker, etwas ganz andres und so ziemlich das Gegenteil von allem, was heut¬
zutage gedacht, empfunden und geschrieben werde, und dieses andre riß die Leser
hin. Die Akademie erteilte „diesen wahren Empfindungen und dieser ergreifenden
Sprache" ihren ersten Preis, und kein geringerer als Villemain erklärte dabei als
ihr Sekretär, es sei vielleicht kein Kunstwerk, aber sein Wert sei darum nur um
so größer; es sei ein Testament der Vergangenheit, das in der Zukunft gelesen
werden würde. Im Jahre ihres Todes 1891 hatte das Buch dreiundvierzig Auf¬
lagen hinter sich. Pauline veröffentlichte noch viele ähnliche Werke, Memoiren,
Betrachtungen, Biographien, einen Roman, der wiederum von der Akademie ge¬
krönt wurde, und alle diese Bücher wurden viel gelesen.
Was der neuen Schriftstellerin eine ganz besondre Anziehung gab, war die
echt weibliche, jeder Bvhemerie abgeneigte Natur dieses vornehmen Wesens, das
vielmehr bei klugen Männern Anlehnung suchte. Die Interessen ihres Glaubens
führten sie zu den geistlichen Herren hin, und zur Zeit des Vatikanischen Konzils
sah man jederzeit die französischen Bischöfe in ihren kleinen Abendgesellschaften. Ihre
nächsten Freunde waren Pere Lacordaire und der Graf Montalembert. Für das
zu einigende Italien hatte sie aufrichtige Wünsche, 1360 hielt sie es noch für
möglich, daß dem Papst die Stadt Rom verbliebe, und die Besetzung der Stadt
durch die Italiener zehn Jahre später erklärte sie für ihren größten Schmerz. Es
wurde ihr schwer, ihre Gefühle für die Freiheit Italiens mit ihrer ganzen Ergeben¬
heit für die Person Pius IX. in Einklang zu bringen. Sie fragt brieflich bei
Lacordaire an (Anfang 1361), ob sie wohl um des Papstes und der Bourbonen
willen die Vereinigung Italiens wünschen dürfe. Er antwortete, lieber wäre es
ja ihm gewesen, wenn Karl X., Ludwig Philipp oder gar die Republik die Be¬
freiung Italiens unternommen hätte anstatt Napoleons, aber man solle auch von
dieser Seite das Gute nehmen, und dieser Brief „giebt ihr den Frieden ihrer
Seele zurück."
Ein sachverständiges Geleitwort zu dem anziehenden kleinen Buche empfiehlt
Pnuliue Cravens christlich vertiefte und dabei klassisch geschriebne Romane der
deutschen Mädchenwelt. Wir möchten dann wenigstens, daß diese nicht unterließe,
sich dabei die Frage zu stellen, welche Rolle Wohl ein Deutscher oder eine Deutsche
in diesem eigentümlichen internationalen Milieu hätte übernehmen können. Von
der Herzogin von Hamilton, bei der Pauline Ende 1870 in Baden-Baden zu
Besuch ist, heißt es in einem ihrer Briefe: „Sie hat ein Herz für jeden, aber ihre
persönlichen Sympathien rufen sie natürlich besonders an die Betten der armen
Franzosen." Die Verfasserin bemerkt dazu, daß sie eine Cousine Napoleons III. sei,
vielleicht hätte die Übersetzerin hinzufügen können, daß sie einst Prinzeß Marie von
Baden genannt wurde. Als Ersatz für den Defekt mag wenigstens eine Stelle aus
Paulinens Briefe vom 11. März 1371 mitgeteilt werden: „Mit stillem Neide be¬
wunderte ich die Ordnung und ruhige Freude, mit der hier in Baden das Friedens¬
fest gefeiert wurde. Kein ausgelassener Jubel. Heiliger Ernst erfüllte die Gemüter
und gestattete die Feier zu einer würdigen und erhebenden. Nachmittags sang die
Menge uuter dem mächtigen Läuten der großen Glocke mit tief ergreifender Innig¬
keit den alten herrlichen ambrosinnischen Lobgesang: Herr Gott, dich loben wir.
Am Abend wurden bei Fackelschein und bengalischer Beleuchtung im Chor von gut-
geschulten Stimmen alte und neue Volkslieder gesungen, darunter ein die Versam¬
melten besonders begeisterndes Lied, von dem jede Strophe mit den Worten endet:
Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht, die Wacht am
Rhein."
von ihrem Sohne I. M. Barrie, übersetzt von
Ina Bock (Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht) ist der Titel des zweiten Buchs.
Der Verfasser ist ein in England beliebter Novellenschreiber, und sein Verhältnis
zu seiner Mutter erinnert uns etwas an den Verkehr Carlyles mit der seinen, doch
war Frau Carlyle körperlich kräftiger und auch geistig noch stärker als Margaret
Ogilvy, wie sie der Sohn nach schottischer Sitte mit ihrem Mädchennamen nennt.
Margaret ist stolz auf ihren Sohn, den Schriftsteller, er muß ihr den frühver-
storbncn Bruder, den Liebling ihres Herzens, ersetzen. Er hilft ihr im Hause bei
der Arbeit, und sie liest seine Bücher. Aber sie ist eine ganz eigne Frau. So
fest sie in ihren Ansichten ist, so läßt sie sich doch ihre Gedanken gewöhnlich einzeln
abfragen, als ob niemand ihre Meinung zu wissen brauche. So sagt sie auch dem
Sohne nicht, wie hoch sie ihn stellt, und wenn sie in den Figuren seiner Erzäh¬
lungen ihr Urbild zu erkennen meint, so giebt sie ihm keine genügende Veranlassung,
ihre Meinung zu widerlegen, weil sie ihre Meinung behalten will. Auf diese Weise
bewegt sich der Verkehr der beiden Menschen in seltsamen Umschweifen. Der Sohn
meint, der Mutter größerer Liebling sei eine Tochter gewesen, die ganz für sie
gelebt und nach festem Vorsatz sich niemals von ihr getrennt habe. Schwester und
Bruder sind einig in der Aufgabe, für die alte Mutter zu sorgen, aber die Auf-
gäbe ist nicht leicht, denn diese Bäuerin hat etwas in sich von einem Selbstherrscher
und etwas von einem Diplomaten. Man muß es eigen anfangen, wenn man
möchte, daß sie etwas bestimmtes thun oder lassen soll. Was in der kleinen Haus¬
genossenschaft vorgeht, ist kaum zu erzählen, und doch ist es der Inhalt des Lebens
dieser Menschen, und wir folgen ihm, als wäre es ein Stück Weltgeschichte, das
uns angeht. Man nennt ja diese Detailmalerei Humor, und die schottische Abart
davon hat noch etwas ernsteres, tieferes oder auch rauheres als die eigentliche
englische.
Frau Margaret stirbt und wird an ihrem sechsnndsiebzigsten Geburtstage be¬
graben. Es war immer der Schwester Sorge gewesen, wie sie, was doch einmal
sein mußte, ein Leben ohne die Mutter ertragen sollte, und doch durste sie nicht
wünschen vorher zu sterben, denn sie hat sich ja gelobt, die Mutter nie zu ver¬
lassen, und die Mutter weiß das. Nun liegt die Mutter auf den Tod. Und ganz
plötzlich stirbt da die Tochter vor ihr. „Meine ängstliche Mutter sah die, welche
sie nie verlassen wollte, bewußtlos ans dem Zimmer bringen und brach nicht zu¬
sammen." Sie fragte nicht mehr nach ihr, man vermied es, ihren Namen zu
nennen, aber man hätte uicht so ängstlich zu sein brauchen. „Es giebt Geheimnisse
zwischen Leben und Tod, aber dies war keins. Ein Kind kann verstehn, was
geschah. Gott sagte, daß meine Schwester zuerst kommen mußte, aber in dem
Augenblick legte er die Hand über die Augen meiner Mutter, und sie war ver¬
ändert." Und nun folgt die schlichte Erzählung ihres Sterbens, wie sie noch einmal
am letzten Tage sich dnrch alle Räume des Hauses tragen läßt, dann wieder ins
Bett gebracht das Taufkleid fordert, in dem alle ihre Kinder einst getauft worden,
wie sie aller Namen nennt, nur einen, den dritten der Reihenfolge, läßt sie aus,
es ist der der toten Schwester im Nebenzimmer, dann aber nach einer Pause nennt
sie diesen und wiederholt ihn immer wieder, als ob er die herrlichste Musik wäre.
Darauf nahm sie von allen Abschied und wandte sich zum Sterben auf die Seite.
Hin und wieder hörte man Worte des Gebets, die letzten, die gehört wurden,
waren Gott und Liebe. „Ich sah sie im Tode; ihr Antlitz war schön und fried¬
lich. Meine Schwester hatte den Mund fest geschlossen, als ob sie ihren Willen
aus dem Nachlaß herausgegeben vou Georg Witkowski (dritter Band der Schriften
zur Kritik und Litteraturgeschichte von M. B. Leipzig, Göschen). Michael Bernays
hat nach mühevollen Jugendjahren ein an äußern Erfolgen reiches Leben gehabt.
Er hatte das Glück, ein neues Fach mit in den Betrieb des öffentlichen Unterrichts
einführen zu können, für das er wie keiner sich zuvor gerüstet hatte, und auf
seinem dann nicht mehr schweren Wege begleitete ihn die Teilnahme zahlreicher
Menschen und die Gunst ganzer Kreise. Außer umfassenden Kenntnissen hatte er
die Gabe der Rede und ein geradezu unglaubliches Gedächtnis, das ihm bei seinem
Rezitieren von Dichterstellen und ganzen Dichtungen zu statten kam. Es hat manchen
gegeben, der eine einzelne Sache ebenfalls ans dem Gedächtnis ergreifender, natür¬
licher und seelenvoller vortrug als er, aber keinen zu seiner Zeit, der über einen
solchen Umfang der Gegenstände in ganz freier Rezitation verfügt hätte. Das kam
seinen Vorlesungen zu gute, es machte sie zu öffentlichen Vortragen, und so hatte
er auch als Dozent einen ganz ungewöhnlichen Erfolg. Wenn man erwägt, was
dieser reichbegabte Mann in seiner Wissenschaft wußte und kannte, und daß er über
zwanzig Jahre lang in einer gesicherten und für litterarische Arbeit günstigen
Stellung gelebt hat, so ist es ja nicht gerade viel, was veröffentlicht von ihm zurück-
bleibt, und mancher wird denken: hätte er doch etwas weniger gesprochen und dafür
etwas mehr geschrieben. Den ersten Band seiner gesammelten kleinern Schriften
gab er selbst 1895 heraus, nachdem er sich 1890 von seinem akademischen Berufe
zurückgezogen hatte. Darauf folgte uach seinem Tode (1897) ein zweiter Band,
womit die Sammlung nach der Absicht der Herausgeber abgeschlossen sein sollte.
Aber ein 1899 erschienener dritter, in dessen Vorrede mit warmen Worten von dem
lebhaften Verlangen vieler nach einer Fortsetzung berichtet wird, bringt noch weitere
fünfzehn Aufsätze unter drei Abteilungen: Zu Shakespeare; Zur dentschen Litteratur
(Lessing, Goethe, Schiller, Friedrich Schlegel); Charakteristiken (Loebell, Welcker,
Uhland, Scheffel). Diese recht zusammengesuchten Sachen geben doch außer zwei
Artikeln zu Shakespeare, dem über Delius Ausgabe und dem vierten, keinen Beleg
zu den hohen Eigenschaften des Verfassers, die die Vorrede mit Recht hervorhebt,
und um derenwillen man es beklagt, daß nichts besseres von ihm zurückgeblieben
ist. Die Aufsätze sind vor dreißig Jahren und länger geschrieben. „Zimmermanns
Merck, ein Beispiel dilettantischer Bücherfabrik," lautet z. B. eine Überschrift.
Zimmermann war eine brave, etwas verworrene Seele, ein ehemaliger Gymnasial-
professor, der im Drange, sich nützlich zu erweisen, 1871 zu einem Buche ge¬
trieben wurde, das jedenfalls niemand geschadet hat. Bernays schlachtete es da¬
zumal ab im vollen Gefühl seiner Überlegenheit, feierlich und pathetisch, mit dem
Ritual eines berufnen und bestellten Opferpriesters. Und nun druckt man diese
Predigt hier wieder ab, aus der man heute gar nichts mehr lernt, und die doch
auch zu dem Ruhme dessen, der sie hielt, nicht viel beigetragen hat. Wie furchtbar
arm um Gedanken, ganz ohne einfache Herzenstöne ist ferner die bei der Enthüllung
des Scheffeldenkmals in Karlsruhe 1892 gehaltne Rede! Wieder eine Predigt
in reichen und runden Perioden! Nur Michael Bernays mit seinem sichern Ge¬
dächtnis konnte solche dem Wagnis eines freien Vortrages aussetzen. Eine große
Schwäche an dem sonst so stark gerüsteten Manne war dieser Predigerton schon in
seiner mündlichen Rede. Im Geschriebuen aber, ohne Wechsel angewandt, wirkt
er geradezu einschläfernd. Wir sind heute in der Behandlung von Litteratur
und Kunst an einen kürzern und temperamentvollern Ausdruck gewöhnt. Am besten
schreibt Bernahs, wenn er als Philolog schreibt, das heißt über Einzelheiten, und
dann tritt auch sein entlegnes Wissen ans Licht. Der hohe Stil der zusammen¬
hängenden Rede führt bei ihm, abgesehen von der langweilenden Form, immer
auch recht viele sachliche Trivialitäten mit sich. Es scheint, als ob der vierte Band,
der uns nicht bekannt ist, besseres enthalte. Man sollte mit dem Nachruhm eines
berühmten Mannes doch immer recht vorsichtig umgehn!
In der allgemeinen Kunstgeschichte werden aus Tirol
die weltlichen Freskobilder des Schlosses Runkelstein, das Grabmal Kaiser Maxi¬
milians in der Hofkirche zu Innsbruck und allenfalls noch die Schnitzaltäre Michael
Pachers erwähnt, dem man übrigens jetzt nnr noch die Gemälde, nicht mehr das
Schnitzwerk zuschreibt. Es giebt noch außerdem eine uicht bedeutende, aber tief bis
ins Volksleben hineingehende Provinzialkunst, die sich dann bisweilen zu stattlichen
Äußerungen, Kirchen rin Kreuzgängen, Bürgen, Schlössern und palastartigen Wohn¬
häusern erhebt. Auch Wandgemälde (z. B. in Brixen) und einzelne bessere Grab-
skulptnren finden sich. Den Forscher interessiert das Zusammentreffen deutscher und
italienischer Einflüsse. Jedes tiefere Eindringen zeigt, daß Tirol deutsches Land
war, auch in der Kunst, sowohl im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert als
spater. Zwar nahmen im siebzehnten Jahrhundert, wie überall im südlichen Deutsch¬
land, die italienischen Einflüsse zu, aber dann kommt im achtzehnten von Augsburg,
München und Salzburg das Rokoko herein, und ein einheimischer Deckenmaler,
Martin Knoller, übertrifft alle von außen gerufnen Künstler.
Berthold nicht, ein gründlicher Kenner des Gegenstands, hat in einem
hübschen, reichillustrierten kleinen Buche diese Tiroler Kunst vom Norden beginnend
bis nach Trient beschrieben: Die Kunst an der Brennerstraße «.Leipzig, Breit¬
kopf und Härtel). Es wird dein Reisenden ebenso nützlich sein, wie dem, der sich
für die Kunst überhaupt interessiert, es ist leicht geschrieben und giebt doch sehr
viel wissenschaftlich verarbeitetes Detail, sodaß es auch als Nachschlagebuch seine
Dienste thun kann.
Der Verlag von Gerlach und Schenk
in Wien hat jüngst den dritten Band der im ganzen auf zehn Bände berechneten
Publikation der Handzeichnungen alter Meister aus der Albertina und
andern Sammlungen (Preis des Bandes 42 Mark) herausgegeben. Diese in
der t»chnischen Wiedergabe bisher unerreichten „faksimilierten Handschriften" unsrer
alten Meister (darunter die meisten Blatter von Türer, den beiden Holbein, Grüne¬
wald, Rembrandt, Rubens, Lionardo u. a. in.) können jedem Kunstfreund warm
empfohlen werden. Sie sind mustergiltig. Wer sich Klarheit darüber verschaffen
möchte, was an unsrer modernen Kunst echt und was Talmi ist — im Kampf
der Meinungen wird das dem Wohlmeinenden oft recht schwer gemacht —, der
studiere diese Blätter. Sie sind der kürzeste und sicherste Richtweg zur Erkenntnis
der Kunst, die über den Tageslaunen steht und doch aus der Zeit geboren wird,
in der sie lebt! Die deutschen Meister sind in erster Reihe berücksichtigt worden,
aber auch Frankreich, die Niederlande und Italien liefern reiche Schätze an Studien¬
Die Verfasser bieten ein in bequemer Form abgefaßtes Nachschlagebuch über die
kriegstechnischen, organisatorischen und personellen Verhältnisse unsrer Marine. Die sehr
fleißig und ausführlich bearbeitete Zusammenstellung wird namentlich allen denen
willkommen sein, die in bestimmten Einzelfragen, z. B. über die Ausnahme¬
bedingungen von Seekadetten, Schiffsjungen oder von Marinebeamten jedes Dienst-
zweigcs Auskunft suchen. Zugleich soll es den Marinemannschaften als Ergänzung
ihres Dienstinstrnktionsbuchs dienen. Das Buch ist, wie das Vorwort auch aus¬
drücklich betont, frei von allem „belletristischen Beiwerk"; es beschränkt sich ans
die Zusammenstellung von Thatsächlichen, wobei natürlich die Wiedergabe von Be¬
stimmungen verschiedner Art, z. B. über Uniformen, Gebührnisse, Dienst an Bord
und dergleichen einen beträchtlichen Teil des Buches füllt. Ein Vorzug des Buches
ist die verständliche Ausdrucksweise, die es möglich macht, daß jeder Laie auch die
technischen Erläuterungen überall verstehen kann.
Das kleine Werk ist reich mit Porträts, Schiffsbildern, Schisfsplänen, An¬
sichten von Werftanlagen usw. ausgestattet, die allerdings manchmal besser gedruckt
sein könnten. Doch kann man in Anbetracht des billigen Preises (von 2 Mary
icht eine ins einzelne gehende Darstellung der Schlacht bei
Khartum soll hier geboten werden; dazu gehören Karten, Stärke¬
übersichten, Truppenlisten usw., ein Rüstzeug, das den nicht-
militärischeu Leser begreiflicherweise abschreckt. Es handelt sich
hier um eine kritische Würdigung der englisch-ägyptischen Waffen¬
that, wobei natürlich die Zeichnung des Kampfes in großen Zügen nicht zu
vermeiden ist. Dem Verständnis kommt dabei zu statten, daß sich die Schlacht
in recht einfachen Formen abspielte. Selbstverständlich faßt die folgende Studie
ein ganz bestimmtes Ziel ins Auge: sie will die übertriebne Wertschätzung des
Sieges bei Khartum, wie sie in England gnug und gäbe und vom Auslande
ziemlich kritiklos übernommen ist, auf das richtige Maß zurückführen. Dabei
beschäftigt sie sich nur mit der rein militärischen Leistung, auf die man sich jen¬
seits des Kanals nicht wenig zu gute thut. Giebt es doch Leute dort, die in
dem Waffenerfolge gegen die Mahdisten einen Triumph des überlebten, in jedem
nationalen Kampfe mit Notwendigkeit zusammenbrechenden Werbesystems sehen
wollen und der Ansicht sind, daß die englischen Jnfanteristen und Artilleristen
mit europäischen Soldaten ebenso bequem fertig werden würden, wie mit den
dunkelhüutigen Streitern des Kalifen. Solchen Schwärmern dürfte, wenn es
einmal zum Zusammenstoß zwischen englischen und kontinentalen Truppen
kommen sollte, eine grausame Enttäuschung beschieden sein.
Wir müssen eingestehn, daß die Engländer auf Grund ihrer reichen Er¬
sahrungen in kolonialen Kämpfen Meister in der Vorbereitung kleinerer wie
größerer Expeditionen sind. Eine gute Vorbereitung bedeutet aber, ganz be¬
sonders für innerafrikanische Unternehmungen, den halben Erfolg. Das haben
die Italiener sehr zu ihrem Schaden 1895/96 erfahren. Eine gewisse Üppigkeit
in der Vorbereitung lohnt sich nicht selten im Verlauf der Operationen
dadurch, daß sie die ungleich kostspieligere Ausrüstung einer zweiten oder gar
dritten Expedition unnötig macht. Weiter soll nicht bestritten werden, daß
der Sirdar Kitchener wieöernm unter seinen Landsleuten durch ein ganz be¬
sondres Organisationstalent hervorragt. Die Hauptsache haben aber doch sein
zäher Wille und seine Rücksichtslosigkeit gethan: goldne Eigenschaften in seiner
Lage.
Vorbereitungen zu einem innerafrikanischen Kriegszuge verlangen dreierlei:
Zeit, Geld und Sicherheit gegen durchkreuzende Maßnahmen des Gegners.
An Zeit mangelte es nun den Engländern nicht. Zwischen der Schlacht am
Atbara (am 8. April 1898) und dem beabsichtigte» Vormarsch (Mitte August)
— so beabsichtigt mit Rücksicht auf die Wasserverhältnisse des Nils — lagen
volle fünf Monate. Und diese fünf Monate hatten nur zur Krönung des seit
zwei Jahren aufgeführten Gebäudes zu dienen. Mit Geld brauchte der Sirdar
uicht zu knauseru. Der Feind hatte sich nach der Niederlage am Atbara bis
hinter den sechsten Katarakt zurückgezogen. Nun ist in englischen Blättern mit
Stolz hervorgehoben und in deutscheu ist es wiederholt worden: welche Leistung,
eine Operationslinie von 214.0 Kilometern bis Khartum! Ja, wo setzen denn
die so schreibenden Strategen den Zirkel an? Im Mittelmeerhafen bei Alexandria!
Operationslinien aber beginnen doch erst an der dem Feinde zugekehrten Grenze
des eignen Landes, oder allenfalls bei den Magazinen im eignen Lande, die
für die Nachfuhr des in Frage kommenden Heeres hauptsächlich zu sorgen
haben. In den fünf Monaten der Ruhe war von Kitchener beim Atbarafvrt
(dort gelegen, wo der Atbara in den Nil mündet) Verpflegnngsmaterial auf
ein volles Vierteljahr für 25000 Manu und 3500 Pferde — das Operations¬
korps war nicht ganz so stark — zusammengebracht worden. Unsers Erachtens
ist daher das Atbarafvrt als die Basis der Unternehmung gegen Khartum an¬
zusehen. Dann aber schrumpft die Operationslinie etwa auf 250 Kilometer
zusammen. Um so eher darf dem Atbarafvrt diese Bedeutung beigemessen
werden, als von dort die Eisenbahn nach Wadi Halfa führte, zwischen Wadi
Halfa und Assuan eine regelmäßige Dampfschiffverbiudung bestand und von
Assuan nordwärts wieder die Eisenbahn für ergänzende Nachhilfe brauchbar
war. Dabei war die ganze Linie unbedingt sicher vor dem Feinde!
Ferner wurden die Operationen Kitcheners ganz besonders dadurch er¬
leichtert, daß der Nil sie begleitete: er lieferte Wasser und diente als Straße.
Auch der Landweg längs des Nils bot keine großen Schwierigkeiten. Wir
wüßten uns keiner innerafrikanischen Expedition zu erinnern, die — namentlich
in Bezug auf die so wichtige Wasserversorgung — unter gleichgünstigen Vor¬
bedingungen ausgeführt worden wäre. Aber die entsetzlichen Strapazen des
Vormarsches, von denen die englischen Blätter so Ergreifendes zu berichten
wußten? fragt der ungeduldige Leser. Gemach! Am 15. August 1898 erfolgte
der Aufbruch aus dem Lager an der Atbaramündnng, aber in der Weise, daß
die gesamte Infanterie und das ganze Artilleriematerial in Boote verladen
und von den zehn Kanonenbooten und vier Dampfpinassen bis Wad Hamed,
das ist fast bis zum sechsten Katarakt, nilaufwärts geschleppt wurde. So
waren von den 256 Kilometern vom Atbarafort bis Omdurman für die
Hauptmasse des Expeditionskorps 160 Kilometer in der denkbar bequemsten
Weise zurückgelegt. Nur die berittnen Truppen und die Saumtierparks
schlugen den Landweg — auf dem linken Nilufer — ein und langten am
22. August bei Wad Hamed an.
Man hätte in derselben Weise noch näher an Omdurman herangehn
können, denn die Annahme, daß die Derwische die bei Schabluka (am sechsten
Katarakt) gelegnen, mit Geschützen versehenen Forts zu halten versuchen würden,
erwies sich als irrtümlich. Nicht einmal die kümmerlichen, aber für den Be¬
trieb der englischen Kanonenboote unentbehrlichen Holzvorräte in der Nähe des
Nils hatten sie zerstört. Vom Feinde ungehindert wurde der Vormarsch, jetzt
wirklich ein „Marsch," am 24. August von Wad Hamed aus fortgesetzt. Wir
müssen nun der Wahrheit die Ehre geben, daß die englisch-ägyptischen Truppen
bei dieser Vorbewegnng schwer unter der Ungunst der Witterung zu leiden
hatten: an einzelnen Tagen eine entsetzliche Hitze, an andern (28., 29. August)
endlose Regengüsse. Aber — die ganze Strecke von Wad Hamed bis Egeiga
am Nil (9 Kilometer unterhalb Omdurman) beträgt 87 Kilometer, und zu ihrer
Bewältigung gebrauchten die Engländer neun Tage (einschließlich einen Ruhe¬
tag). Auf den einzelnen Marsch entfallen also ungefähr 11 Kilometer. Das
ist selbst unter den angedeuteten Witterungsschwierigkeiten keine außergewöhn¬
liche Leistung. Außer diesen Märschen hat z. B. das erste Bataillon der
Grenadierguards bei neunnndsünfzigtägigem Aufenthalt in Ägypten nicht einen
einzigen Marsch ausgeführt. Und wie wurde der englische Soldat dabei ver¬
pflegt: täglich ein englisches Pfund Fleisch, ein viertel Pfund Speck, andert¬
halb Pfund Brot oder ein Pfund Zwieback, ein Pfund frisches oder Pfund
konserviertes Gemüse oder ^ Pfund Bohnen, Pfund Thee, Vss Pfund
Kaffee. ^ Pfund Zucker, V»- Pfund Salz. V57« Pfund Pfeffer. V« Pfund
Reis, Vn! Pfund Linsen. Ferner wöchentlich '/^ Pfund Fruchtkonserven und
nach Bedarf täglich V»ä Gallone Rum und Gallone Zitronensaft. Wir
haben diese ganze Liste hierher gesetzt, um die Üppigkeit der Ration, der
Kitchener zu einem guten Teile den günstigen Gesundheitszustand glaubt bei¬
messen zu sollen, einmal deutlich vor Augen zu führen. Not haben die eng¬
lischen Soldaten im Sudan nicht gelitten. Die Ration der Fellahs und
Sudanesen in ägyptischen Diensten war natürlich viel einfacher zusammengesetzt.
Am 1. September mittags erreichte das Expeditionskorps, vom Feinde
ganz und gar unbelüstigt, das Dorf Egeiga, 9 Kilometer nördlich von Om¬
durman hart am Nil gelegen. Es wurde dort mit dem Rücken und den
beiden Flanken am Wasser — in der Breite etwas über 1000 Meter — ein
Lager bezogen, dessen bogenförmige Front nach Nordwesten, Westen und Süd¬
westen zeigte. Kitchener ritt alsbald auf eine gegen drei Kilometer vor dem
südwestlichen Flügel gelegne Höhe, den Dschebel Surgham, und sah die
Streiter des Kalifen in hellen Haufen aus Omdurman herauskommen. Ein
paar Kilometer nördlich der Stadt hielten sie und bezogen ein Lager zum
Abkochen. Der Sirdar schätzte ihre Zahl auf etwa 35000; es stellte sich
später indes heraus, daß sie 45 bis 50000 Mann stark waren. Aber es
waren nicht mehr die Gegner von 1882 bis 1885. Die treibende Kraft des
ganzen Mahdismus, der religiöse Fanatismus, der vordem die Mängel in
der Organisation und Bewaffnung ausgeglichen hatte, war bedenklich ge¬
schwunden.
Die seßhafte Bevölkerung, namentlich des Nordostens und Ostens, em¬
pfand die Herrschaft des Kalifen längst schon als das ausbeutende Schreckens¬
regiment eines bevorzugten Volksstammes, der Baggara, denen der Kauf selbst
entstammte, und die seine besten Krieger abgaben. Auch getreue Anhänger
waren im Glauben an die höhere Sendung des „Stellvertreters" des „gott-
begnadeter Erlösers" Wahdi) irre geworden. Und was nicht minder in Be¬
tracht kommt: auch Allah hält es mit dem starken, gut bewaffneten Schlacht¬
haufen. Mit den Waffen aber stand es schlecht. Nach dein von Major (heute
Oberst) Wingate 1890 veröffentlichten Generalbericht über den ägyptischen
Sudan — nebenbei bemerkt ist dieser starke Band trotz Ohrwalder lind stallr
noch immer die beste Quelle für die einschlägigen Verhältnisse — besaß die
Mahdia etwa 30000 den Ägyptern genommne Nemingtons und 68 Ge¬
schütze der verschiedensten Muster und Kaliber, darunter auch vier Krupps.
Was die Gewehre anbetrifft, so waren sie, vielfach zu kriegerischen Unter¬
nehmungen gebraucht, von Jahr zu Jahr weniger zahlreich und schlechter ge¬
worden. Es sollen zu der Zeit des Zuges nach Khartum noch 20000 vor¬
handen gewesen sein. Aber wie sahen sie ans? Visiereinrichtung und Korn
hatten die Derwische, als gänzlich überflüssig, einfach von den Läufen ge¬
brochen; diese Thatsache beweist allein schon, was man von ihrer Schießfertig¬
keit zu erwarten hatte. Am schlimmsten aber stand es mit der Munition.
Bis zum Auseinanderfallen waren die Metallhülsen immer wieder von neue»:
gebraucht worden, und als Treibmittel hatte man ein Pulver verwandt, das
unter dem Zwange des Kalifen von europäischen Gefangnen in Omdurman
hergestellt war. Ebenso verhielt es sich mit der Munition für die Geschütze,
ganz abgesehen davon, daß es an halbwegs geübten Bedienungsmannschaften
mangelte.
Von der Waffen- und Munitionszufuhr aus dem Auslande waren die
Derwische ganz abgeschnitten. Zwar hieß es, der geschäftskundige Menelik
habe ihnen zu hohen Preisen die Ausschußgewehre seines Heeres angehängt,
und aus Ghedaref berichtete man, die dort kämpfenden Derwische seien mit Ge-
wehren versehen, die nachgewiesenermcißen aus der abessinischen Bente bei
Ätna stammten. Doch verdienen solche Nachrichten wenig Glauben: Menelik
hat sich im Vertrage mit England vom 14, Mai 1897 ausdrücklich verpflichtet,
den Derwischen keine Gewehre zu liefern, und außerdem sind die italienischen
Vetterli-Magazingewehre noch recht brauchbar für ihn selbst. Daß die mili¬
tärische Kraft der Mahdisten gebrochen war, erhellt schon daraus, daß sie
während der letzten fünf Jahre trotz bedeutender Übermacht regelmäßig unter¬
lagen, wo sie mit den Italienern zu thun bekamen. So bei Agvrdat am
21. Dezember 1893, vor Kasfala am 17. Juli 1804 und in der Nähe von
Kasfala am 2. und 3. April 1896.
Diese soldatische Minderwertigkeit hat Kitchener ohne Zweifel genau ge¬
kannt, denn sonst wäre die Beziehung des Lagers bei Egeiga mehr als sträf¬
licher Leichtsinn gewesen. Auf zwei- bis dreitausend Meter südwestlich wie
nordwestlich Hügelreihen, vou denen eine mich nnr wenig leistnngsfähige feind¬
liche Artillerie die auf engem Raum versammelten Anglvägypter mit Leichtig¬
keit hatte in Grund und Boden schießen können, ohne daß diesen ein Aus¬
weichen möglich gewesen wäre; im Rücken ein breiter Fluß, sodaß es bei einem
Mißerfolg zu einer entsetzlichen Katastrophe für das Operationskorps hätte
kommen müssen, woran anch die neun Nilkanonenbvvte — eines war bei der
Fahrt voni Atbarafort bis zum sechsten Katarakt gestrandet — nichts Hütten
ändern können; völlige Preisgabe der Rückzugslinie. Unwillkürlich drängt
sich angesichts dieser Lage beim Studium der Schlacht der Gedanke auf:
Was würde geworden sein, wenn der Kauf sich mit seinen todesmutigen
Scharen bei Nachtzeit auf Kitcheners Lager gestürzt Hütte? Die Finsternis
hätte die gewaltige Feuerüberlegenheit der Anglvägypter zu einem sehr großen
Teile aufgehoben, und die Überzahl der mahdistischen Streiter wäre zur Gel¬
tung gekommen. Im Hinblick auf diese Möglichkeit kann man nicht umhin,
die Lagerstellung bei Egeiga für unbesonnen und äußerst gefährlich zu erklären.
Wir gründen dieses herbe Urteil über die Kriegführung Kitcheners nicht auf
blasse Theorie. Noch am Nachmittag des 1. September ging nämlich dein
Sirdar die Nachricht zu — an der Spitze des Nachrichtenwesens standen der
oben schon genannte Oberst Wingate und stallr Pascha —, der Kauf beab¬
sichtige thatsächlich einen Nachtangriff! Alsbald ließ Kitchener durch die aus
dem Lager Vertriebnen Einwohner von Egeiga verbreiten: die Engländer
wollten ihrerseits in der Nacht des Kalifen Lager anfallen. Dieser war thöricht
genug, sich von der Kriegslist des Gegners fangen zu lassen, und verhielt sich
bis zum nächsten Morgen abwartend. Wie, wenn er angegriffen hätte? Das
Glück war mit den Briten.
Dem Sirdar scheint die Preisgabe seiner Rückzngslinie längs des Nils
doch einigermaßen unbehaglich gewesen zu sein, denn er entsandte am früher
Morgen des 2. September die ägyptische Kavallerie (neun Schwadronen) und
das Kamelkorps lacht Kompagnien) nebst zwei reitenden Batterien ans die
Höhen von Kerreri, drei Kilometer südlich von diesem, anch auf den meisten
Übersichtskarten verzeichneten Orte gelegen. Wie vom Sturm wurden diese
2000 Mann weggefegt, als kurz uach sechs Uhr früh der allgemeine Angriff der
Derwische einsetzte. Die Seitenabteilung wäre vielleicht bis auf den letzten Mann
aufgerieben worden, wenn nicht der auf das englische Lager zurückgehende Teil
durch das Feuer von drei Nilkanvnenbooten gedeckt worden wäre und ein andrer
Teil in schleunigster Flucht — bis acht Kilometer nördlich Kerreri! — sein
Heil gesucht hätte. Drei Geschütze fielen in die Hände der Derwische, wurden
aber später wiedergefunden, nicht wiedererobert. Über diese Episode gehn die
englischen Berichte meist glatt hinweg.
Während dessen thun die guten Derwische genau das, was die Engländer
von ihnen erwarten. Zwischen sechs und acht stürmen sie in breiter Front
und in diesen Hansen in der Lücke zwischen den beiden erwähnten Gelände¬
erhebungen (Kerrerihügel im Nordwesten und Dschebel Surgham im Süd¬
westen) vor — ein sicheres Futter sür die Lydditegranaten, Maschinengewehr¬
lagen, nud die an Grausamkeit dein verrufnen Dum-Dum um nichts nach¬
stehenden Lee-Metfordgeschvsse neusten Musters (Hohlspitzengeschosse). Sie sind
eben übel beraten. Vom Dschebel Snrgham zieht sich eine Geländewelle bis
fast an den Nil heran und nähert sich dem englisch-ägyptischen Flügel bis auf
etwa 1000 Meter. So nahe hätten die Derwische dort gedeckt an den Gegner
herankommen können. Jetzt schickt die Artillerie — wir versteh» darunter Ge¬
schütze und Maschinengewehre — Schuß auf Schuß in die Reihen der von
Westen Angreifenden. Gleich die erste Granate — auf 3000 Meter ^- sitzt
im Vollen, denn die Angloügypter haben am Nachmittag zuvor die Entfer-
nungen genau abgesteckt und durch Zeichen kenntlich gemacht. Bon 1650 Meter
an greift ihre Infanterie mit ein, und ihre tückischen Geschosse zischen in die
Reihen der todesmutig Vorrückenden. Von des Sirdars Truppen stehn die
Engländer links, die Ägypter rechts; die ersten haben nur die Zeriba, d. h.
eine Schutzwehr aus Feldsteinen und Dornengestrüpp, die andern außerdem
noch einen Schützengraben vor sich. Unnötige Mühe. Unter dem Gescho߬
hagel schrumpfen die Derwischschwärme zusammen wie dichte Schneeflocken vor
der Frühlingssonne.
Auf 1200 Meter kommt der Angriff des Vortreffens zum Stocken, das
Haupttreffen ist bis auf 1600 Meter herangekommen. Die Derwische ver¬
schwinden hinter Deckungen, aber nur, um sich zu ordnen und dann in der¬
selben unvernünftigen Weise den Stier von neuem bei den Hörnern zu fasse».
Mit unerhörter Bravour brechen sie vor; ein Reiterangriff läßt den letzten
Mann auf 300 Meter vor der englischen Front liegen, die Hauptkolounen ge¬
langen unter dem verheerenden Feuer der Gegner bis auf etwas näher als
1000 Meter heran: dann allgemeine Flucht. Nur einzelne Schützen waren
— schon beim ersten Angriff — etwas näher (bis auf 700 Meter) hereinge-
krochen, und diese brachten den Augloäghptern spärliche Verluste bei. Ein
paar auf den Dschebel Surghcnn gebrachte Geschütze blieben ganz ohne Wirkung.
Im übrigen war der Ansturm der Mahdisten abgeschlagen, und das Schicksal
des Tages anscheinend entschieden, ohne daß die Gegner gegenseitig das Weiße
im Auge Hütten erkennen können-
Was war nun zu thun? Jeder deutsche Unteroffizier würde auf diese
im Dienstuuterricht ihm etwa vorgelegte Frage antworten: „Es mußte durch
nachgesandte kleine Abteilungen, vornehmlich dnrch Kavalleriepatrouillen, fest¬
gestellt werden, wo der geschlagne Gegner blieb." Weitere Frage: Warum
war dies in dem vorliegenden Falle ganz besonders notwendig? „Weil so¬
wohl halb rechts wie halb links Hügelketten die Sicht auf ein paar Tausend
Meter beschränkten."
Was aber that der „Feldherr" Kitchener? Den Feind nun wirtlich unter¬
schätzend, ließ er, ohne vorherige Aufklärung nach halbrechts und halblinks, um
8 Uhr 30 Minnten morgens seine Brigaden staffelförmig, den rechten Flügel
vorgenommen, d. i. mit einer Front gegen Südwesten, vorrücken. Gleichzeitig
erhielt das auf dem linken Flügel stehende 21. Ulanenregünent den Auftrag,
in südwestlicher Richtung vorzustoßen, um dort etwaige Derwischabteilunge»
zu zersprengen und die flüchtigen Haufen von Omdnrman abzuschneiden. Diesem
Auftrag lag die — irrige — Annahme zu Grunde, daß Widerstand von feiten
der Derwische nicht mehr zu erwarten sei. Es wäre nun geboten gewesen,
wenigstens erst durch das Ulanenregiment Patrouillen vorzuseuden. Aber nein,
das ganze Regiment reitet an, obgleich es ans 1000 bis 1500 Meter eine die
Aussicht gänzlich sperrende Sandwelle, den schon erwähnten Ausläufer des
Dschebel Surghcnn zum Nil hin, vor sich hat. Es überschreitet diese Sand-
welle und sieht etwa 200 bis 300 Derwische vor sich, mit denen es leichte
Arbeit zu haben glaubt. Es reitet an, und zwar, wie man aus den Schlachten-
berichten schließen darf, ohne daß Eclaireurs vorgenommen worden wären, ohne
daß sich der Kommandeur, wie das deutsche Reglement vorschreibt, weit vor
sein Regiment begeben hätte. Der schlimme Erfolg einer so strafwürdiger
Sorglosigkeit — als Mangel an Mut sind diese Unterlassungen keineswegs
auszulegen — bleibt uicht aus. Als die vier Schwadronen (320 Säbel) schon
in rascher Gangart sind, sehen sie sich plötzlich am Rande einer weiten Boden¬
senkung mit drei bis sechs Fuß tiefen, steilen Rändern. In dieser Senkung
2000 bis 3000 Derwische; eine Art Reserve. An Halten ist nicht mehr zu
denken: also hinunter, durch und wieder den Rand hinauf. Ein kavalleristisches
Bravourstückchen, aber ein unnützes Opfer von 1 Offizier, 20 Mann und
119 Pferden, die getötet, von 4 Offizieren, 40 Mann und vielen Pferden, die
verwundet wurden. Zur Entscheidung des Tages trug diese That nicht bei;
trotzdem wurden die 21. Laneers in England geradezu vergöttert. Sie er-
hielten den Ehrennamen „Ulanenregiment Kaiserin von Indien," und man
pries ihre tapfre Haltung in klangvollen Versen, in schwungvollen Tischreden;
man beflaumte ihre „ungeheuern" Verluste. Hier sei nur bemerkt, daß die
Brigade Bredow auf ihrem Todesritt am 16. August 1870 über die Hälfte
ihres Bestandes ans dem Felde ließ.
Höhere Anerkennung scheint uns die ägyptische Brigade") Macdonald zu
verdienen, die bei der staffelförmigen Vvrbewegnng des Operationskorps auf
dem rechten Flügel, also am weitesten nach Westen stand. Sie sah sich plötzlich
von Südwesten durch die vom Kalifen persönlich geführten Scharen angefallen,
die sich, vom Dschebel Surgham gedeckt, wieder zum Kampfe geordnet hatten.
Die Kaltblütigkeit des Oberstleutnants Macdonald und seiner Leute ermöglichten
die volle Entwicklung der Feuerkraft der Brigade, und hieran, wie an der rasch
gebrachten Unterstützung durch die linken Nachbarbrigaden, zerschellte die todes¬
verachtende Tapferkeit der Mahdisten. Kaum ist das besorgt, da kommt von
Nordwesten ein zweiter gewaltiger Derwischhaufe, geführt von dem Sohn des
Kalifen, dem Scheck ed Din. Macdonald biegt seinen rechten Flügel rückwärts,
und dem neuen Angreifer wird dasselbe Schicksal bereitet wie dem eben ab¬
geschlagnen. Doch kommt ein Teil seiner Schützen bis auf 150 Meter heran;
einzelne Derwische drängen gar bis auf Wurfspeerweite vor. Welch ein Glück
für die Engländer, daß die Derwischangriffe von Südwesten und Nordwesten,
dank der höchst mangelhaften Führung auf der Seite des Kalifen nicht gleich¬
zeitig erfolgten. Ein gewisser Erfolg der Derwische wäre dann wohl unver¬
meidlich gewesen, und es hätte sich gestraft, daß sich die Engländer um den
Verbleib der starken Derwischkolvnne, durch die die ägyptische Reiterei und das
.Kamelkorps von den Kerrerihügeln vertrieben worden waren, in unverzeih¬
lichem Leichtsinn gar nicht weiter gekümmert hatten.
Die Führung griff bei dem überraschenden Stoß des Gegners in der
Weise ein, daß sie die englische Brigade Wauchope von dem linken ungefähr¬
lichen Flügel nach dem rechten beorderte: eine einfache, gegebne Maßregel, die
zum Beweise für das Feldherrntalent Kitcheners nicht ausreicht. Warum nnn
Macdonalds überaus anerkennenswertes Verhalten in England weniger gefeiert
worden ist, als der Angriff der 21. Lancers, obwohl jenes, rein militärisch
betrachtet, viel höher wertet? Wir hätten wohl eine Erklärung. Die Lancers
waren Engländer, Macdonalds Leute aber — Ägypter. Außerdem war der
Oberstleutnant Macdonald ein Milna,äLM5ni, aus dem Unterofsizierstcmde und
nicht aus den gelehrten Schulen hervorgegangen.
Sehen wir von Macdonalds Gefechtsleitung ab, so wüßten wir nicht,
was die Schlacht in ihrem ganzen Verlaufe Rühmenswertes böte: weder in der
Führung, noch in der Haltung der englischen und ägyptischen Truppen. Das
war kein Kampf mit ebenbürtigen Waffen, sondern nur ein gefechtsmäßiges
Abteilungsschießen nach lebenden Zielen. Wie würden des Gegners Feuer¬
waffen in der englischen Aufstellung, Schulter an Schulter, die ausgeschiednen
Reservekompaguien und die Neservebrignde dicht dahinter, aufgeräumt haben,
wenn sie das Ziel hätten erreichen können. Der ganze Vorgang erinnert leb¬
haft an Deweys leichten Sieg vor Manila. Der englische Erfolg bei Khartum
ist der Triumph der modernen Wasfentechnik über Barbarenhorden und bietet
als solcher nichts überraschendes. Es konnte gar nicht anders kommen. Wenn
irgendwo, dann ist hier der viel mißbrauchte Vers am Platze: „Nicht eine
Schlacht, ein Schlachten wars zu nennen." Das erhellt ohne weiteres aus
den Verlusten auf beiden Seiten: Es verlor die englische Division: 3 Offiziere,
25 Mann als Tote, 11 Offiziere, 136 Mann als Verwundete. Die ägyptische
Division 1 Offizier, 20 Mann tot, 5 englische und 8 eingeborne Offiziere,
1 englischer Unteroffizier und 221 Mann verwundet. Summa Summarum:
431 Kopfe. Dagegen wird der Verlust der Derwische — ungerechnet ein Paar
tausend Gefangner — auf mehr als 27000 Mann angegeben, darunter allein
10800 Tote auf dem Schlachtfelde. Das ergiebt für die Engländer 1,8 Prozent
Verlust, für die Derwische dagegen 50 Prozent! Zum Vergleich diene, daß
die deutschen Verluste bei Mars la Tour-Vionville 23,9 Prozent, die Ver¬
luste der Deutschen sowohl wie der Franzosen bei Gravelotte-Se. Privat aber
nur 10,3 Prozent betrugen. Da hatte der Tag am Atbara (8. April) von
den damals nur 13000 Mann starken Anglocigyptern doch schwerere Opfer
gefordert: 507 an Toten und Verwundeten, also 3,8 auf Hundert.
Auf die Verluste bei Omdnrman fällt noch ein besondres Streiflicht,
wenn man die Truppenteile, die nennenswerte Verluste erlitten, vorweg in
Abzug bringt, und zwar die ägyptische Reiterei und das Kamelkorps mit
70, die 21. Laueers mit 71 und die Brigade Macdonald mit 168 Köpfen.
Das sind zusammen 309, sodaß sich für alle übrigen Truppenteile die Verluste
nur auf 122 Köpfe belaufen. Obendrein noch wären auch diese fast ganz ver¬
mieden worden, hätten nicht die Engländer der Zeriba wegen, die selbst¬
verständlich keine Deckung bot, stehend feuern müssen. So boten sie dem
Gegner die ganze Figur als Trefffläche. Das erste Bataillon der Grenadier-
guards, bei der Heimkehr als Sieger von Khartnm überschwänglich gefeiert,
verlor einen Offizier und vier Verwundete; das erste Bataillon Northnmberland-
füsiliere hatte zwei Verwundete, die gesamte Artillerie, die doch dem Gegner die
schwersten Verluste beigebracht hatte, verlor nicht einen Mann! Diese Thatsachen
sprechen Bände und überheben uns der Mühe, noch weiter nachzuweisen, daß
die berühmte Schlacht bei Khartum, was die Anforderungen an die Gefechts¬
kraft der Truppen betrifft, doch nur eine Spielerei war. Billige afrikanische
Lorbeern.
Was späterhin folgte: die angebliche grausame Niedermachung verwundeter
Derwische auf dem Schlachtfelde, die Plünderung Omdnrmans, das Unterlassen
einer energischen Verfolgung (die 21. Ulanen waren natürlich nicht mehr dazu
in gebrauchen), übergehn wir hier. Desgleichen auch, wie der Erfolg der
Schlacht anfänglich übertrieben dargestellt wurde. Es bedürfte noch ernster
Kämpfe, um Ghedaref und die Gebiete am Blauen Nil vom Feinde zu säubern;
der Kauf hat am Scherkelasee (Kordofan) wieder Leute um sich versammelt,
und des Sirdars Bruder, mit ein paar tausend Manu ausgeschickt, um ihn zu
fangen, ist nicht nur unverrichteter Dinge wieder heimgekommen, sondern der
Kauf ist sogar neuerdings angriffsweise vorgegangen, sodaß wohl ein neuer
Nilfeldzug nötig werden wird. In Faschoda sperrte Marchand den Weißen
Nil, und ohne gewaltige Rüstungen und Kriegsdrohungen Englands wäre
Frankreich nicht von dort fortgegangen. Erst die Überlegenheit der englischen
Kriegsflotte räumte dieses Hindernis aus dem Wege. Was Abessinien in Bezug
auf den obern Nil im Schilde führt, ist noch ungewiß.
ins der interessantesten Kapitel in Fürst Bismarcks „Gedanken
und Erinnerungen" ist das neunnndzwanzigstc über den „Drei¬
bund" zwischen Deutschland. Österreich und Italien. Es zieht
allerdings wie die meisten Teile des merkwürdigen Buches nur
die Grundlinien der Ereignisse und läßt für Ergänzungen und
Erklärungen reichlich Raum. Solche hat Horst Kohl in seinem soeben er¬
schienenen „Wegweiser durch Bismarcks Gedanken und Erinnerungen" (Leipzig,
Göschen, 1899) geboten; weit umfänglichere und interessantere lassen sich aus
den Schriftstücken gewinnen, die uns die vielangefochtne englische Ausgabe der
Tagebuchblätter von M. Busch im dritten Bande gebracht hat. Diese Stücke
selbst nach den Abschriften der deutschen Originale im vollen Wortlaute zu
veröffentlichen, halten wir uns jetzt noch nicht für berechtigt, aber es kaun
selbstverständlich niemandem verwehrt werden, das, was die englische Über¬
setzung allgemein zugänglich gemacht hat, für die historische Erkenntnis zu ver¬
werten. Wir thun dies umso lieber, je lebendiger uns daraus das Bild
Kaiser Wilhelms I. entgegentritt, in der einfach menschlichen Charaktergröße
des greisen Herrschers wie in der oft beinahe starren Selbständigkeit seines
Willens, die nur zu häufig unterschätzt worden sind und unterschätzt werden.
Der Gedanke, ein enges völkerrechtliches Vnndesverhältnis zwischen dem
unter Preußens Führung geeinten Deutschland und Osterreich auf der Grund¬
lage völliger Gleichberechtigung herzustellen, geht bekanntlich bis in die erste
Zeit von Bismarcks politischem Wirken zurück und wurde, man kann sagen,
noch auf dem Schlachtfelde vou Königgrätz wieder aufgenommen, als der
Streit um die Führerschaft Deutschlands entschieden war; er bestimmte daher
auch Bismarcks Haltung bei den Verhandlungen von Nikolsburg. Im ge¬
wissen Sinne kam er dann nach dem Rücktritte Beusts,") des Hauptträgers
einer gegen die werdende deutsche Einheit gerichteten Kvalitionspolitik, unter
dessen Nachfolger Graf Julius Andrassy im Dreikaiserbündnis von 1872 zur
Ausführung. Eine ganz neue Wendung trat ein, als nach dem Berliner
Kongresse von 1878 in Nußland die panslawistischen Strömungen, die den
Kaiser Alexander II. wider seinen Willen schon in den türkischen Krieg hinein¬
gedrängt hatten, anch die Haltung des Zaren gegenüber Deutschland zu be¬
stimmen anfingen und die Gescchr einer russisch-französische!? Koalition näher
rückten. Den Antrieb zu einem entscheidenden Schritte gab endlich der von
Gortschcckow redigierte fast drohende Brief Alexanders 11. an Kaiser Wilhelm 1.
aus Zarskoje Scio vom 3./15. August 1879, worin sich der Zar über die
den russischen Interessen angeblich feindliche Haltung der deutschen Kommissare
in den Verhandlungen über die Ausführung des Berliner Vertrages beschwerte,
sie auf den persönlichen Groll des Fürsten Gortschcckow zurückführte und vor
den „verhängnisvollen Konsequenzen" warnte, die dieses Verhalten für beide
Länder haben könne, und die schon in der Haltung der Presse zu Tage träte.**)
Außerdem wußte man, daß Rußland in Frankreich ein Bündnis gegen Deutsch¬
land vorgeschlagen habe, allerdings abschlügig beschieden worden sei. Beun¬
ruhigt dadurch griff Fürst Bismarck, der am 21. August von Kissingen in
Gastein eingetroffen war, den Gedanken eines Verteidigungsbündnisses zwischen
Deutschland und Österreich um so energischer auf, als der nahe bevorstehende
Rücktritt Andrassys zur Eile mahnte, da das diesem gewidmete Vertrauen sich
nicht ohne weiteres auf den Nachfolger übertragen konnte. Für einen be¬
sonders sichern Bundesgenossen hielt er allerdings Österreich nach dessen ganzer
Znsammensetzung und seinen katholischen Traditionen keineswegs, aber für den
erreichbarsten und willigsten, da es von der russischen Politik mehr bedroht
wurde als Deutschland. So verabredete er mit Graf Andrassy persönlich am
27. und 28. August die Grundlagen eines „Defensivabkommens," „jeden An¬
griff auf eins von den beiden Reichen gemeinsam abzuweisen," auch dann,
»wenn eines von einer dritten Macht angegriffen und Rußland mit dieser
kooperieren würde." Andrassy meldete dieses Ergebnis der Besprechungen dem
Kaiser Franz Joseph nach Prag und wurde von diesem am 30. August im
Lager bei Brück an der Leitha empfangen. Sobald auch Kaiser Wilhelm zu¬
gestimmt hatte, sollte der Wortlaut des Vertrags festgestellt werden, von dessen
„Nützlichkeit, ja Notwendigkeit" Andrassy um so mehr durchdrungen war, je be¬
drohlicher ihm die Haltung Rußlands erschien, so lauge er den Friedel! Europas
in den Händen Miljutins, Jvminis und wohl gar Jgnatjews sah, obwohl er
überzeugt war, daß Alexander II. persönlich den Krieg nicht wollte. Ans diese
Mitteilungen Andrassys in einem Schreiben aus Schönbrunn vom 1. September
antwortete Fürst Bismarck am 3. September mit dem Ausdrucke des Dankes
für Kaiser Franz Joseph und der Hoffnung, daß es gelingen werde, auch den
Kaiser Wilhelm zu gewinnen. Freilich sei das nicht so leicht, da ihm bei der
örtlichen Entfernung jede Möglichkeit einer persönlichen Einwirkung auf seinen
Herrn fehle und es diesem „außerordentlich schwer" werde, „zwischen den
beiden Nachbarreichen optieren zu sollen." Bisher habe der Kaiser nur zu¬
gegeben, daß er in Wien seine Besprechungen mit Andrassh wieder aufnehme,
aber nicht seine Genehmigung zu irgend welcher Abmachung erteilt, während
er früher nicht einmal seine Reise über Wien habe zugeben wollen. Am
2. September habe er dem Kaiser Bericht erstattet, aber eine wirkliche Ant¬
wort darauf könne er nicht eher erwarten, als bis dessen beabsichtigte Zusammen¬
kunft mit Alexander II. vorüber sei.
Denn während die beiden Staatsmänner an einem deutsch-österreichischen
Bündnis arbeiteten, das seine Spitze gegen Rußland kehren mußte, hatte
Kaiser Wilhelm, von der alten Tradition und seinen Empfindungen für Ale¬
xander II., seinen Neffen, bestimmt, einen ganz andern Weg eingeschlagen, um
die Spannung mit Rußland zu lösen. Zunächst tief betroffen von jenem
drohenden Briefe und den Rüstungen Rußlands war er doch durch eine freund¬
liche Einladung, Offiziere zu den Manövern nach Warschau zu schicken, und
durch die gnädige Aufnahme des daraufhin entsandten Generals von Man-
teuffel wieder halb versöhnt worden und versuchte, sei es selbständig, sei es
auf eine russische Anregung hin, sich persönlich mit Alexander II. zu ver¬
ständigen, obwohl ihm Fürst Bismarck entschieden abriet. Am 3. September
traf er mit ihm in Alexandrowo (unweit von Thorn) zusammen. Der Zar
bedauerte seinen Brief, von dem niemand gewußt habe, kam aber dann auf
seine Beschwerden über die Haltung der deutschen Presse und der deutschen
Kommissare im Orient zurück, durch die die Türkei immer hartnäckiger ge¬
worden sei, nud meinte, Bismarck habe, verletzt durch das „dumme" Zirkular
Gvrtschakows vou 1875, diese Stimmung auf Rußland übertragen, mit Un¬
recht, denn Gortschakow sei ein überlebter Mann, den er fast gar nicht mehr
konsultiere. Kaiser Wilhelm wies diese Beschwerden als unbegründet zurück, ver¬
sicherte namentlich, Bismarck denke über Rußland wie früher, in Erinnerung an die
Haltung Rußlands 1870, habe deshalb 1876/77 eine Koalition der Westmächte
und Österreichs verhindert. Als der Zar sich am 4. September von seinem Oheim
verabschiedete, beteuerte er, Graf Adlerberg, Miljntin und Giers Hütten sich sehr
erfreut darüber ausgesprochen, daß nun die Mißverständnisse aufgeklärt seien;
nur über Österreichs Haltung 1877/78 war er unzufrieden, da die Abkunft von
Reichstadt die Besetzung Bosniens nur unter der Voraussetzung zugelassen habe,
daß Österreich sich irgendwie am Kriege beteilige, was dann ja unterblieb. An
demselben Morgen hatte .Kaiser Wilhelm noch Besprechungen mit Adlcrberg,
Giers und Miljutin (dem Kriegsminister). Auch hier hob er einerseits „sehr
bestimmt" die feindselige Haltung der russischen Presse hervor, die sich hoffent¬
lich nach den neuen strengen Erlassen bessern werde, da sonst „Zerwürfnisse"
zu besorgen seien, andrerseits (gegenüber Miljutin) die russischen Rüstungen,
die ganz Europa alarmiert hatten. Miljutiu suchte diese Aufstellungen damit
zu begründen, daß die russische Armee, die sehr verzettelt sei, einen „Kern"
brauche, der den europäischen Verhältnissen gewachsen sei. Zudem habe man
Nachrichten, „daß sich eine Koalition zwischen Österreich, England und vielleicht
Frankreich bilde"; England wühle in Kleinasien, und ein Konflikt im Orient
sei nahe. Kaiser Wilhelm widersprach diesen Befürchtungen; sobald nur erst
die Kongreßbeschlüsse vollständig durchgeführt wären, sei kein neuer Krieg dort
zu besorgen, denn vor allem bedürfe die Türkei des Friedens.
Die ausführliche Darlegung dieser Unterredungen, die während der Manöver¬
reisen in Ostpreußen und Pommern aufgezeichnet wurden, begleitete Kaiser
Wilhelm, der inzwischen Bismarcks Denkschrift vom 2. September erhalten hatte,
am 10. September mit einem ausführlichen Schreiben an Fürst Bismarck, das
er erst am 12. in Stettin beendete. Nach dem, was in Alexandrvwv besprochen
worden, bestünde eine Gefahr von russischer Seite her nicht; da somit die
Prämissen Bismarcks wegfielen, so könne er zu dessen Projekte die Hand nicht
bieten, nachdem er sich soeben mit seinem persönlichen Freunde, nächsten Ver¬
wandten und Bundesgenossen in guten und bösen Zeiten freundschaftlich aus¬
gesprochen habe. Und doch habe Bismarck schon mit Andrassy davon ge¬
sprochen und sogar dem Kaiser Franz Joseph Mitteilung machen lassen! Ge¬
fahren möchten von Rußland vielleicht bei einem Thronwechsel drohen, aber
ein solcher sei doch nicht so nahe, und Bismarck selbst habe immer vor Ver¬
trägen wegen bloßer Eventualitäten gewarnt. Bismarck möge nach Wien gehn
und dort in xourxMois über die gegen eine etwaige feindliche Haltung Rußlands
zu ergreifenden Maßregeln eintreten, aber zu irgend einem Abschluß einer Konven¬
tion oder gar Allianz autorisiere er, der Kaiser, seinem Gewissen nach ihn
nicht. Es sei ihm sehr schmerzlich, daß es scheine, als ob sie zum erstenmale
seit siebzehn Jahren sich nicht verstünden, aber er sei überzeugt, daß ein Verständ¬
nis zwischen ihnen wieder eintreten werde. Dieser Hoffnung gab der Kaiser auch
in einem zweiten Schreiben aus Stettin vom 15. September Ausdruck, nach¬
dem er ein Telegramm Bismarcks vom 7. September und einen weiter» Be-
richt von ihm erhalten hatte. Bedenken machte ihm nur die (geheime) Konven¬
tion mit Nußland, die in Petersburg während des von ihm in Begleitung
von Bismarck und Moltke dort abschatteten Besuchs (27. April bis 8. Mai)
1873 von Moltke und Barjatinsky abgeschlossen und von beiden Kaisern, aber
ohne Bismarcks Gegenzeichnung, unterschrieben war und beide Mächte zur gegen¬
seitigen Unterstützung gegen Angriffe verpflichtete. Ohne dieses Petersburger
Abkommen zu kündigen, meinte Kaiser Wilhelm jetzt einen Vertrag mit
Österreich nicht abschließen zu können; andernfalls war er geneigt, Rußland
den Beitritt zu einem solchen offen zu lassen.
Mit großer Mühe gelang es dem Grafen Stolberg, Bismarcks Vertreter,
den Kaiser zur Genehmigung des beabsichtigten Vertrages mit Österreich zu
bewegen, aber auch jetzt verlangte der alte Herr, daß dabei jede Möglichkeit
ausgeschlossen bleibe, Österreich gegen Rußland zu unterstützen (was doch der
Kern des Bündnisses war), indem er sich aus jene Konvention von 1873 be¬
rief. Er nahm Stolberg den Handschlag darauf ab, daß er mit niemand
als mit Bismarck darüber sprechen wolle. Auch nach der Genehmigung war
er sehr bewegt, sagte, dieser Entschluß sei ihm äußerst schwer geworden, aber er
habe doch geglaubt, Fürst Bismarcks bewährten Rate folgen zu sollen. Nach
dem Vorschlage Stolbergs, der darüber dem Reichskanzler aus Berlin am
17. September berichtete, sollte daher bei dem Abkommen ein Zusatz gemacht
werden, wonach der Kaiser an Alexander II. wolle schreiben können, er sei von
den friedlichen Eröffnungen Saburows (der zum russischen Botschafter in Berlin
bestimmt war) befriedigt und wolle als Beweis seiner Solidarität und Offen¬
heit mitteilen, daß er im Begriffe stünde, mit Österreich einen Vertrag abzu¬
schließen, durch den die sorgsame Pflege guter Beziehungen versprochen und
nnr für Angriffsfälle gegenseitige Hilfe zugesagt würde.
Inzwischen hatte Fürst Bismarck auch dem Könige von Bayern am 10. Sep¬
tember Mitteilung von seiner Absicht gemacht und von diesem unter dein
16. September die Versicherung vollster Zustimmung erhalten, worauf er am 19.
dankend erwiderte.") Im Besitz auch der Mitteilungen Stolbergs schrieb er am
20. September an Andrassy, der Kaiser habe sein prinzipielles Einverständnis
mit einer Konvention erklärt, vermöge deren sich beide Mächte gegenseitig ver¬
sprechen würden, auch serner für die Erhaltung des Friedens und namentlich
für die Pflege ihrer gegenseitigen friedlichen Beziehungen mit Rußland einzu¬
treten, in dem Falle aber, daß eine von ihnen von einer oder mehreren Mächten
angegriffen werden sollte, diesen Angriff mit ganzer Macht gemeinsam abzu¬
wehren. Er sei also ermächtigt, eine Defensivallianz bedingungslos und mit
oder ohne bestimmte Zeitdauer vorzuschlagen und bäte um eine mündliche Be¬
sprechung. An demselben Tage reiste er nach Salzburg, am 21. September
abends traf er, unterwegs auf allen Stationen mit stürmischem Jubel em¬
pfangen, in Wien ein") und hatte hier in den nächsten Tagen mit allen ma߬
gebenden Persönlichkeiten, dem Kaiser Franz Joseph, Andrassy, Haymerle (dem
schon bezeichneten Nachfolger Andrassys), Tisza u. a. mehr ausführliche Be¬
sprechungen.
Am 24. September konnte der Vertragsentwurf in Schönbrunn unter¬
zeichnet werden, am Abend desselben Tages verließ Vismarck Wien, um nach
Berlin zurückzukehren, wo er am Mittag des 25. eintraf.
Inzwischen hatte sich Kaiser Wilhelm zum Herbstaufenthalt nach Baden-
Baden begeben. Da dem Reichskanzler die Rücksicht auf seine Gesundheit nach
der angreifenden Gasteiner Kur verbot, persönlich dorthin zu gehen, so entsandte
er am 29. September den Grafen Stolberg, um die Zustimmung des Monarchen
zu dem Vertrage zu erlangen, dessen Text er ihm mit den Protokollen schon
am 24. von Wien aus zugestellt hattet) Der Kaiser wollte davon zunächst
nichts hören. Er nannte in einem Briefe an Bismarck vom 2. Oktober den
Abschluß einer Allianz, die sich ausdrücklich gegen Rußland richte, nach den
Besprechungen von Alcxandrowo und ohne Mitteilung in Petersburg eine
„Illoyalität," verweigerte die sofortige Ratifikation des Vertrages und bezeichnete
es als den einzigen Ausweg aus dem „Dilemma," in dem er sich mit seinem
Gewissen und seiner Ehrlichkeit gegen Rußland befinde, daß man diesem sofort
Mitteilung mache und es zum Veitritt auffordere, sobald es nämlich auf die
Frage, ob es sich auf eine defensive Politik gemäß dem Berliner Vertrage auch
gegenüber Deutschland und Osterreich beschränken wolle, eine bejahende Antwort
gegeben habe. Demgemäß wollte er manche wesentliche Abänderungen des
Vertrages; namentlich sollte Österreich sein Versprechen zum Beistande auch
auf Frankreich ausdehnen. Auch ein langes Telegramm Bismarcks vermochte
den Monarchen in dieser seiner abweichenden Auffassung nicht zu erschüttern.
Um dem Kaiser entgegenzukommen, hatte Fürst Bismarck schon um
29. September einen Vorschlag an Andrassy gerichtet, in welcher Weise etwa
eine Mitteilung an Rußland möglich sei, ohne den Zweck des Vertrages zu
gefährden. Andrassy verwarf jedoch (aus Schönbrunn vom 3. Oktober) jede
Mitteilung vor der Unterzeichnung des Vertrages als bedenklich. Nachher
könne ein vereinbartes Memorandum mitgeteilt werden mit der Erläuterung,
daraus ergebe sich der rein defensive Zweck des Vertrages, dem Nußland jede
Spitze abbrechen könne. Eine Notwendigkeit, auch den Text mitzuteilen, werde
dann vermieden und müsse vermieden werden. Ehe er irgend eine Mitteilung
vor der Unterzeichnung der Abmachung zugebe, wolle er lieber gar keinen
Vertrag. Im letzten Augenblicke drohte dieser also noch zu scheitern. Es
kostete noch eine» harten Kampf in Baden-Baden, ja Bismarck mußte sogar im
Einvernehmen mit den: Staatsministerium wiederholt die Kabinettsfrage stellen,
um den Widerstand des Kaisers zu besiegen/") Auch als dieser seine Ein¬
willigung gegeben hatte, fühlte er sich, wie der in Baden verweilende Kron¬
prinz, der mit dem Vertrage ganz einverstanden war, aber auf seinen Vater
keinen Einfluß hatte, dem Reichskanzler am 4. Oktober vertraulich mitteilte,
„kreuzunglücklich" und wiederholte fortwährend, er habe sich durch seine Ent¬
scheidung entehrt und sei treulos seinem Freunde, dem Zaren, gegenüber ge¬
worden. Am 4. Oktober kehrte Graf Stolberg mit der Unterschrift des
Monarchen nach Berlin zurück, am 5. hielt das Staatsministerium unter dein
Borsitze des Reichskanzlers in dieser Angelegenheit eine Sitzung, am 7. wurde
das Bündnis von Andrassh und dem deutschen Botschafter Prinzen Reuß in
Wien unterzeichnet, am 15. Oktober 1879 auch von den beiden Kaisern voll¬
zogen. Die Lage war in diesem Augenblicke so gespannt, daß man sich in
Berlin auf deu Krieg mit Rußland gefaßt machte, und Ende Oktober der
Feldmarschall Moltke in Dresden erschien, um dem König Albert von Sachsen,
dem erprobten Führer der Maasarmee 1870/71, den Oberbefehl gegen Ru߬
land anzubieten."") Um so berechtigter und notwendiger erschien es, wenn
Kaiser Wilhelm dem Drange seines Herzens Genüge leistete, indem er am
4. November an Alexander II. ein ausführliches Schreiben als Begleitung
einer Denkschrift richtete, um ihn über die Entstehung und die durchaus
defeusive Absicht des deutsch-österreichischen Bündnisses aufzuklären. Er verbarg
ihm dabei aber keineswegs, daß die Haltung der russischen Presse und die
auffällige Verstärkung des russischen Heeres Europa noch immer in Unsicherheit
halte, weil sie die Befürchtung erwecke, es könne den Nihilisten und Panslawisteu
doch noch gelingen, die russische Regierung für ihre revolutionären Pläne mit
fortzureißen. In diesem Falle werde sie allerdings dem gemeinschaftlichen
Widerstande ihrer Nachbarn begegnen.""*) Um das deutsch-österreichische
Bündnis als eine völkerrechtliche Wiederherstellung des alten Deutschen Bundes
zum Zwecke gemeinsamer Verteidigung zu motivieren, hatte Fürst Bismarck
in Varzin am 30. Oktober einen Entwurf aufgesetzt, den der Kaiser für sein
Schreiben wenigstens in seineu Hauptgedanken benutzte. Alexander II. ant¬
wortete aus Livadia am 2./14. November mit dem Ausdrucke des Dankes für die
Offenheit seines Oheims und der Freude darüber, daß nun die vollkommne
Verständigung der drei Kaiser wieder hergestellt sei. Zugleich versicherte er
nochmals, daß die russischen Rüstungen keine Drohung sein sollten, und be¬
teuerte, daß die panslawistischen Bestrebungen keinen Einfluß auf die Regierung
ausübten, der Nihilismus aber mit allen Mitteln bekämpft werde.") Damit
war die Spannung, die zum Kriege zu fuhren drohte, zunächst gelöst.
So hatte Fürst Bismarck sachlich seinen Willen durchgesetzt, Kaiser
Wilhelm aber es erreicht, daß den Traditionen, an denen sein Herz hing, und den
freundschaftlichen Empfindungen für seinen Neffen insofern Rücksicht getragen
wurde, als er die in dem Bündnis liegende Spitze gegen Rußland möglichst
verhüllte und es ganz von Rußlands Haltung abhängig machte, ob sie jemals
hervortreten sollte oder nicht. Für das Verhältnis zwischen Kaiser und
Kanzler, zweier in ihrer Art gleich charakterstarken Naturen, das sich in fort¬
währenden Konflikten und Ausgleichungen bewegte und bewegen mußte, kann
nichts bezeichnender, für die Empfindungen des unbefangnen Betrachters nichts
ergreifender sein, als diese Vorgeschichte des deutsch-österreichischen Bündnisses
von 1879.""°)
Die Ausgestaltung des Zmeibundes zum mitteleuropäischen Dreibunde
kam erst mehrere Jahre nachher durch den Veitritt Italiens am 2. Januar
1883 zu stände. Denn zu der Zeit, als der deutsch-österreichische Vertrag
abgeschlossen wurde, und noch später hatte Fürst Bismarck zwar wohl den
Wunsch, das Königreich als Bundesgenossen zu gewinnen und in Gastein 1879
dem italienischen Ministerpräsidenten Cairoli auch wohl angedeutet, daß Italien
als dritter im Vnnde willkommen sei, aber unter diesem radikalen Ministerium,""")
dem ersten König Hunderts (seit 1878), an dessen Stelle erst am 17. Mai
1881 das Kabinett Depretis-Maneini trat, erschien Italien dem deutscheu
Reichskanzler keineswegs als eine friedliebende und konservative Macht. In
einem Briefe, an den Prinzen Reuß aus Varzin vom 28. Jcninar 1880 sprach
er die Meinung aus, von der der Botschafter in Wien gelegentlich und vor¬
sichtig Gebrauch machen sollte, die österreichische Regierung möge, da die
italienische Regierung die Jrredeuta zwar nicht gerade fördere, aber doch ge¬
währen lasse, die Vereine und die Presse in Österreich, die ein Interesse an
der Wiederherstellung des Kirchenstaats und des Königreichs Neapel hätten,
etwas mehr zu Wort kommen lassen, um Italien gewissermaßen in die Ver¬
teidigung zu drängen, auch im deutschen Juteresse. Denn die gegenwärtige
Haltung Italiens erschien ihm als eine konstante Ermutigung für die Kriegs¬
partei in Rußland. Seit Jahr und Tag habe er den Eindruck, daß Italien
geneigt sei, sich einer russischen Kriegspolitik zur Verfügung zu stellen, wenn
ihm Lcmdgewin» und adriatische Küste dafür geboten würden. Die Be-
ziehungen, die man zwischen den beiden Armeen, der italienischen und der
russischen, anzuknüpfen suche, und die Verschiebung des Schwerpunktes der
italienischen Armee nach Norden unterstützten diesen Eindruck nicht minder, wie
die Wahrnehmungen bei Abstimmungen der Großmächte unter sich.") Die
Mächte, die den Frieden wollten, würden also ihre Rechnung in diesem Sinne
machen müssen. Interessant wäre es auch, etwa vom päpstlichen Nuntius
(Jacobiui) in Wien zu erfahren, wie die italienische Prälatur über derartige
Schachzüge denke.
Die entscheidende Wendung zu den mitteleuropäischen Mächten hin machte
Italien, als die Entrüstung über die französische Besetzung Tuuesieus im Mai
1881 das Ministerium Cairoli zu Falle brachte und eine tiefe Kluft zwischen
Italien und Frankreich aufriß. Im Oktober desselben Jahres erschien das
italienische Königspaar in Wien, und am 2. Januar 1883 vollzog Italien
seinen formellen Anschluß an das deutsch-europäische Bündnis, das es von
Rußland abrückte und es gegen einen Angriff von Frankreich her sicher stellte.
Das Feld für deutsch-feindliche Koalitionen, das Fürst Bismarck immer weiter
einzuengen strebte, war wieder um einen ansehnlichen Raum verkleinert.
MMir haben gesagt, daß wir uns die historische Kritik der Auf¬
stellungen Gobineaus, die deu Gelehrten von Fach vorbehalten
bleiben muß, nicht anmaßen wollen. Freilich bietet er Angriffs¬
punkte, die selbst dem Laien nicht verborgen bleiben können. So
z. B. läßt er die Kämpfe der Arier um das Gangesgebiet, die
in den indischen Heldengedichten gefeiert werden, im Jahre 2448 v. Chr.
vorüber sein- Noch weiter, meint er Seite 223, könne man nicht herabgehn,
wenn man nicht alle ägyptische Chronologie unmöglich machen wolle. Nun
nimmt aber Otterberg an, daß die indischen Arier in der Zeit von 1200 bis
1000 v. Chr. noch am Indus saßen („Die Religion des Veda" S. 1). Anstatt
also um der ägyptischen Chronologie willen, die auch noch nicht so ganz
zweifellos ist, ein vieltausendjühriges Alter der indischen Kultur für not¬
wendig zu halten, muß man vielmehr, wie ja heute allgemein geschieht, die
Annahme für falsch erklären, daß die ägyptische Kultur aus Indien stamme,
womit zugleich der überschwänglichen Bewunderung, die Gobineau dem Brcch-
manentum und seiner Lebenskraft spendet, der Boden entzogen wird. Und
dergleichen auch dem Laien bemerkbare Gewaltschlüsse finden sich mehrere. Aber
wie gesagt, wir verzichten auf Eingriffe in die Rechte der Fachwissenschaft und
beschränken uns mit unsrer Kritik auf einige Punkte, an denen die Einseitigkeit
der Gobineauschen Geschichtstonstrnktion besonders auffällig hervortritt-
Nach eiuer Charakteristik der ganz sinnlichen altägyptischen und der assy¬
rischen Kunst, der man im allgemeinen zustimmen kann, fährt er Seite 172
fort: „Wenn wir mit den Griechen und den in dieser Sache kompetentesten
Beurteilern annehmen, daß Exaltation und Enthusiasmus das eigentliche Leben
des künstlerischen Genies sind, und daß dieses Genie selbst, wenn es vollkommen
ist, an Wahnsinn grenzt, so werden wir seine schöpferische Ursache in keiner
der organisierend-weisen Regungen unsers Wesens, sondern vielmehr in den
Aufwallungen der Sinne suchen, in dem eifernden Drange, der sie treibt, Geist
und Erscheinung zu vermählen, um ihnen ein etwas abzugewinnen, das besser
gefällt als die Wirklichkeit. Nun haben wir aber gesehen, daß bei den beiden
Urzivilisativnen das organisierende, disziplinierende, Gesetze erfindende, mit Hilfe
dieser Gesetze regierende, mit einem Worte, das vernünftig zu Werte gehende
das weiße (hamitische, arische und semitische) Element war. Damit ergiebt
sich uns dann der ganz unwiderlegliche Schluß, daß die Quelle, aus der die
Künste entsprungen sind, den zivilisatorischer Instinkten fern liegt. Sie liegt
im Blute der Schwarzen verborgen. Jene Allgewalt der Phantasie, welche
wir die Urzivilisation umfangen und durchdringen sehen, hat keine andre Ur¬
sache als den stets wachsenden Einfluß des schwarzen Elements." Demnach
werde die Gewalt der Kunst über die Massen immer im geraden Verhältnis
stehen zur Menge des schwarzen Blutes, das sie enthalten. An der Spitze
stehen in dieser Hinsicht nach Gobineau die Ägypter und Assyrier; ihnen folgten
die Inder, dann die Griechen; auf einer niedern Stufe zuerst die Italiener des
Mittelalters. „Weiter unten die Spanier, noch weiter unten die Franzosen
der Neuzeit. Nach diesen ziehen wir einen Strich und lassen nichts mehr
gelten, als Eingebungen aus zweiter Hand und Erzeugnisse einer gelehrten
Nachahmung, die für die Massen des Volkes nicht vorhanden sind." Das
heißt also, die Kunst der Germanen läßt er nicht als wahr und echt, sondern
mir als Nachahmung gelten. Weiterhin führt er dann noch aus, daß die
Schwarze», obwohl ihr Blut und ihre Phantasie die Quellen der Künste sind,
für sich allein, ohne die eingreifende organisatorische Kraft der Weißen, die
Künste nicht hätten schaffen können, und daß nur die Weißen seelische Zustände
und Ereignisse darzustellen und damit den Gipfel der Kunst zu erklimmen ver¬
mögen.
Es würde die Mühe lohnen, wenn ein Ästhetiker dieser Kunstlehre eine
eigne Abhandlung widmen und nachweisen wollte, was und wie viel in der
Kunst dem Blute auf Rechnung zusetzen ist, denn etwas wird das allerdings
schon sein. Aber die Sache nur oberflächlich im groben angesehen, muß man
doch sagen: falscher kann man gar nicht schließen als Gobineau. Seinem
Schluß liegt die unsinnige Voraussetzung zu Grunde, daß die weißen Wesen
ohne Sinnlichkeit seien. Wären sie das, so wären sie längst verschwunden,
denn sie würden sich nicht fortgepflanzt haben. Die Weißen verdienen eben
deswegen als die vollkommenste Nasse bezeichnet zu werden, weil sie alle Eigen¬
schaften und Kräfte des Menschenwesens im höchsten Grade haben, und zu denen
gehören auch Sinnlichkeit und Phantasie. Der Unterschied zwischen ihnen und
deu Schwarzen besteht nicht darin, daß es ihnen an Sinnlichkeit, sondern daß
es den Schwarzen an Vernunft fehlt, die Sinnlichkeit zu beherrschen, und den
Weißen ist dann allerdings bei der Beherrschung der Sinnlichkeit durch die
Vernunft uoch das kalte Klima und der harte Kampf mit einem wenig er¬
giebigen Boden zu Hilfe gekommen. Gobineau hat eben, in seine einseitige
Bluttheorie verrannt, das Naturmilieu ganz außer acht gelassen. Daß die
Reinheit, Klarheit und Einfachheit der Formen in der griechischen Kunst mit
den Umrissen der südlichen Landschaftsbilder, ihrer hellen Beleuchtung und der
Vegetation Griechenlands ebenso zusammenhängt, wie die Monstrosität der
indischen Götzenbilder mit dem üppigen Gestrüpp des tropischen Urwalds und
der Unübersichtlichkeit endloser Ebnen und ungeheurer, unzugänglicher Berg¬
massen, darüber dürften Wohl heute alle Ästhetiker einig sein. Und daß die
Griechen schöne Leiber und schöne Gesichter gebildet haben, während es die
dunkelfarbigen Naturvölker nur zu Fratzen bringen, dafür liegt doch ein hin¬
reichender ErMrungsgrnnd schon in dem Umstände, daß der griechische Künstler
schöne Gestalten und schöne Antlitze um sich hatte, während der braune oder
schwarze Künstler meist nur häßliche Gesichter und schlecht gebaute Leiber zu
sehen bekommt. Nicht schwarzes Blut braucht der nordische Mensch, wenn ihm
das Reich der Schönheit aufgehn und er selbst Künstler werden soll, wohl aber
den Anblick südlicher Landschaften und ein Maß sinnlicher Behaglichkeit, das
vor Erfindung der Glasfenster und der Öfen nur ein wärmeres Klima zu ge¬
währen vermochte. Die Erfahrung, die nach dem schönen Aufsatze im vor¬
jährigen 51. Heft der Grenzboten Ludwig Richter gemacht hat, dürfte auf
einem allgemeinen Gesetze beruhen; erst im Anblick der Linienschönheit und
Farbenpracht der italienischen Landschaft — einer Farbenpracht, die größten¬
teils auf der Zurückwerfung der Sonnenstrahlen von toten Felswänden beruht —
ist ihm die bescheidnere aber gemütlichere Schönheit der deutschen Landschaft
aufgegangen. Wahrscheinlich sind auffällige Formen und starke Farbeneffekte
dazu erforderlich, im nordischen Gemüte den Sinn für das Schöne zu wecken.
Rechnet man nun noch den frühern gänzlichen Mangel an Komfort hinzu, der
den Gedanken an Luxus gar nicht aufkommen ließ, so ist damit schon erklärt,
daß die Nordländer nur als Schüler der Südländer zur Kunst gelangen konnten;
l>aben sie doch auch die Wissenschaften von diesen erlernt. Die Anlage hat
ihnen zu jener so wenig gefehlt wie zu diesen, und mit nicht minder ehr¬
fürchtiger Bewunderung, wie die Assyrier die Pracht ihrer Kvnigspalnste, haben
die Germanen die Bauten und Kunstwerke der Römerwelt angeschaut. Nicht
die orientalischen Kulturvölker endlich sind es, bei denen die Kunst am meisten
Macht gehabt hat über die Gemüter der Masse — weit mächtiger waren hier
der grobsinnliche Genuß und ein furchtbarer religiöser Aberglaube —, sondern,
wie wohl alle Welt heute zugiebt, die Hellenen, und in deren Kunstwerken
steckt schlechterdings nichts schwarzes; zeichnen, den Stein bearbeiten, Farben
gewinnen und mischen, das haben sie freilich von Hcuniten und Semiten lernen
müssen, weil diese eben, wie immer auch ihr Blut und ihre Hautfarbe be¬
schaffen gewesen sein mag, früher zur Kultur, d. h. hier zur Ausbildung tech¬
nischer Fertigkeiten gelangt waren.
Noch auffälliger als diese Verwendung der Bluthypothese für die Ästhetik
ist die für Kulturgeschichte und Politik. Wenn Gobineau von den Ägyptern
sagt, ihre „geheimnisvolle Schlafsucht," die Unveränderlichkeit ihrer Kultur,
habe zu allen Zeiten Befremden erregt, und die Griechen und Römer seien so
gut darüber erstaunt gewesen wie wir, so ist darauf zu erwidern, daß „wir"
gar nicht erstaunt darüber sind; es hieße Lehrbücher für Knaben abschreiben,
wenn wir hier darlegen wollten, warum jedermann die Eigentümlichkeit wie
die Beharrlichkeit der ägyptischen Kultur ganz natürlich findet. Beides erklärt
sich daraus, daß die schmale Thalspalte des Nils ein Land ist, wie es kein
zweites mehr giebt und seinen Bewohnern Lebensbedingungen darbietet, die
nirgends auf der Erde mehr vorkommen, und daß es sich in den Zeiten der
unvollkommnen Verkehrsmittel einer Abgeschlossenheit erfreute, die es vor
fremden Einflüssen schützte. Von der Bedeutung dieser geographischen Be¬
dingungen weiß Gobineau nichts. Man habe die Priester als Verhinderer des
Fortschritts angeklagt, meint er; aber die Semiten, die Hannen, die Inder
hätten doch auch mächtige und herrschsüchtige Priester gehabt. Woher komme
es denn, „daß in diesen Ländern die Zivilisation regsam gewesen, vorwärts
gekommen, durch vielfache Phase» hindurchgegangen ist, daß die Künste Fort¬
schritte gemacht haben, die Schrift die Formen gewechselt und es zur Voll¬
endung gebracht hat?") Ganz einfach daher, daß in diesen verschiednen
Gegenden die Macht des Priestertums, so ungeheuer sie auch sein mochte, doch
nichts war gegen den Einfluß, welchem die Bestände des Blutes der Weißen,
dieser unversieglichen Quelle von Leben und Kraft, in nnunterbrvchner Folge
ausübten. ... Die ägyptische Gesellschaft, die nnr sehr wenige neue weiße
Zuflüsse in sich aufgenommen, hatte keinen Anlaß, sich von dem loszusagen,
was sie ursprünglich gut und vollkommen gefunden hatte, und was ihr auch
fernerhin so schien." Zuflüsse sind es freilich, die die Veränderungen erzeugen,
und nicht bloß die Zuflüsse, sondern schon die Berührungen in Krieg und
Handelsverkehr ohne Blutvermischung, aber auf die Farbe des Blutes oder
vielmehr der Haut kommt es dabei nicht an, kommt es höchstens insofern
an, als weiße Menschen reichere und kräftigere Anregungen zu bringen Pflegen
als gelbe und schwarze. Am Euphrat, in Syrien und Kleinasien, löste immer
ein eroberndes Volk das andre ab und zwang den Unterworfnen seine Kultur
auf, daher der Wechsel; jede dieser Kulturen für sich allein würde nicht beweg¬
licher und fortschrittlicher gewesen sein als die ägyptische, sondern würde,
nachdem sie ihre Eigentümlichkeiten entfaltet und damit ihre Schaffenskraft
erschöpft hatte, stehn geblieben sein. Im fünften Jahrhundert vor Christus
war die Kultur der Assyrier und Babylonier eben gar nicht mehr die assyrisch-
babylonische, sondern die medisch-persische, und um die Zeit von Christi Geburt
war die Kultur Syriens nicht mehr die semitische, sondern die griechisch¬
römische. Nicht weil ihr Blut aufgefrischt wurde, sondern weil sie andre
Herren und Vorbilder und Moden bekamen und von außen zu Neuerungen
gezwungen wurden, haben sich die Völker Vorderasiens so vielfach geändert.
Wo die von außen kommenden Einflüsse nicht hingelangt sind, da haben sich
auch die Semiten unveränderlich gezeigt; die Beduinen leben heute nicht
wesentlich anders als Abraham und Lot gelebt haben. Und reine Arier er¬
weisen sich, wenn sie in unzugängliche Gebirgsthäler eingesperrt leben, ganz
ebenso unveränderlich wie die alten Ägypter. Auch die Bauer» Norwegens,
der Sudeten und des Schwarzwaldes, ja sogar die der wenig von Fremden
besuchten ebnen Gegenden der Mark, Ostpreußens, Hannovers haben bis in
die neuere Zeit „keinen Anlaß gehabt, sich von dem loszusagen, was sie ur¬
sprünglich gut und vollkommen gefunden hatten"; und bis auf den heutigen
Tag hört man den konservativen Sinn unsrer Bauernschaft preisen. Wenn
dieses Lob oder dieser Tadel nur noch in sehr beschränktem Maße zutrifft, so
kommt das nicht von einem neuen Zufluß arischen Blutes, sondern vom
modernen Verkehr, den Umwälzungen des Wirtschaftslebens und dem modernen
Staate, die im Verein das Unterste zu oberst kehren, die entlegensten Thäler
wie die wüstesten Einöden zugänglich machen, einen jeden aus seiner Sippe
und seiner Heimat, mit der er polypenartig verwachsen ist, herausreißen und
in den sozialen Wirbel hineinziehen.
Und diese wilde Hetze des modernen Lebens ist, so ungemütlich sie sein
mag, als Schutz gegen das uns drohende Chinesentum und daher als eine
wohlthätige Fügung der Vorsehung zu preisen. Gobineau führt selbstver¬
ständlich auch das Chiuesentum aufs Blut zurück. Die politische Seite dieses
Chiuesentums besteht darin, daß China eine demokratische Despotie ist. Nun
spielt ja dabei das Blut eine Rolle, wie in allen übrigen Lebenserscheinungen
der Rassen und Völker. Da dem schwarzen, dem gelben Menschen, wenigstens
solange er in der ihm eigentümlichen Kultur oder Kulturlosigkeit*) verharrt, die
Entfaltung zur vollen Persönlichkeit und damit die Subjektivität und das
Selbständigkeitsgefühl versagt bleiben, so ist er von Natur Demokrat im
schlechten Sinne des Worts, d. h. er kennt keine bedeutenden Abstufungen und
Unterschiede der Begabung, die geeignet wären, soziale Unterschiede zu be¬
gründen, und er giebt zugleich, weil ihm Abhängigkeit eher Bedürfnis ist als
daß sie ihm widerstrebte, ein geeignetes Material für die Begründung von
Despotien ab. Nach dieser Seite hin hat also die Bluttheorie recht; nach der
andern hin aber übertreibt sie. Geborne Individualisten und Selbstherrscher
sind die Weißen, namentlich die Arier, ganz gewiß; aber daraus folgt durch¬
aus uicht, daß sie unfähig wären, Demokraten im oben bezeichneten Sinne
und damit Despotenkncchte zu werden. Geographische und soziale Verhältnisse
überwinden die Anlage des Bluts, wenn sie jahrhundertelang einwirken. Wie
erst die geographische Gestalt Europas die volle Entfaltung der arischen Anlage
möglich gemacht hat, während in Asien auch arische Stämme und zwar auch
ohne Blutmischung dem Despotismus verfallen mußten, das ist wiederum eine
Trivialität, die heute jeder sekundärer kennt. Nur das politische Vorurteil
hindert es noch, daß diese Erfahrungsthatsache auf allen Gebieten anerkannt
werde. So z. B. sträuben sich manche Historiker heftig gegen ihre Anwendung
auf die deutsche Geschichte; sie schreiben den Untergang des alten Deutschen
Reichs beharrlich einer im Blute der Deutschen liegenden Insubordination,
Streitsucht und Anslünderei zu, während lediglich die Bodengestalt des nach
zwei Seiten hin der natürlichen Grenzen entbehrenden Wohnplatzes der Deutschen
daran schuld gewesen ist. Nachdem diese geographische Ursache das Entstehen
einer Vielheit von Dynastien begünstigt hatte, griffen diese Dynastien, die, auf
Machterweiterung bedacht, nach verschiednen Seiten aus einander strebten, als
zweite Ursache ein, und als dritte und vierte kamen dann die durch Gewohn¬
heit erzeugte Anhänglichkeit der Stämme an ihre Dynastien hinzu, und daß
die weit entfernt von einander wohnenden in einer Zeit schwer übersteiglicher
Verkehrshindernisse einander fremd wurden. Wo die Weißen unter asiatischen
statt unter europäischen Bodenbedingungen gelebt haben, da sind sie ebenfalls
l>on Despoten regierte Demokraten geworden, z. V. in der sarmatischen Ebne,
Wo sie, über ein grenzenloses, gleichförmiges Land zerstreut, in einer ganz
gleichförmigen Lebensweise keine Unterschiede der Personen, der Sitten, der
Kultur entwickeln konnten, wo anch kein geschlossenes kleines Gebiet seine Be-
wohner zur Wahrung ihrer eigentümlichen Kultur einlud und bei deren Ver¬
teidigung natürlichen Schutz geboten haben würde.
Indem nun aber die moderne Technik den Wert natürlicher Schutzwälle
auf Null herabsetzt, die Grenzen überspringt, die Verkehrshindernisse und die
räumlichen Entfernungen aufhebt, jeden mit jedem in unmittelbare Berührung
bringt, durch die mechanischen Hilfsmittel, die sie jedem zur Verfügung stellt,
die Unterschiede der Begabung aufhebt (ein feiger Dummkopf richtet mit einem
modernen Geschoß mehr aus als der tapferste Held des Altertums; der
Amateurphotograph bildet sich wenigstens ein, besser porträtieren zu können
als Rembrandt), indem sie das alles thut, stellt sie auch die Mittel- und west¬
europäische» Weißen unter die asiatisch-russischen Lebensbedingungen. Sie schafft
ungeheure Großstaaten mit Bevölkerungen von vielen Millionen; der Gro߬
staat zwingt alle seine Angehörigen unter dieselben Gesetze, deren Ausführung
ihm die Technik ermöglicht; so werden alle Europäer einander gleichförmig
gemacht und je vierzig, fünfzig, hundert Millionen zum Gehorsam gegen einen
gezwungen (wobei nichts darauf ankommt, ob dieser eine König, Präsident oder
Diktator heißt). Wie vollständig das weiße Blut der Wucht solcher Massen-
wirkungen schou erlegen ist, ergiebt sich u. a. aus der Thatsache, daß der
Niedergang der kaum wiederhergestellten politischen Freiheit nicht allein vor
den Mehrheiten der modernen Volker mit Gleichmut ertragen, sondern von
sehr einflußreichen Minderheiten als ein Fortschritt gepriesen wird. Es war
dies die dritte Wiederherstellung, die Europa erlebt hatte, denn der Großstaat
mit seinen Massenwirkungen hatte schon dreimal über die Individualitäten
gesiegt, ehe noch die technischen Bedingungen seiner Vollendung vorhanden
warein im mazedonischen und dem dieses ablösenden römischen Reiche, in den
mittelalterlichen Reichen, im absoluten Königtum. Die erste Wiederherstellung
der Freiheit bestand in dem Sturz des Römerreichs durch die Germanen. Die
zweite folgte dem Großstaat nicht chronologisch nach, sondern entwickelte sich
als ständische und Munizipalsreiheit in seinen Eingeweiden. Die dritte begann
mit der französischen Revolution und schloß mit Achlundvierzig. Heut jubelt
das Bürgertum schou darüber, daß die Parlamente, d. h. also die Volksver¬
tretungen, abgewirtschaftet haben, und liest die Witze des Kladderadatsch über
das Parlameutseleud mit wollüstigen Behagen. Die Volksvertretungen habe»
abgewirtschaftet wegen ihrer Unbehilflichkeit und wegen der Unübersichtlichkeit
der ungeheuern und verwickelten Staatskörper, die sie regieren oder wenigstens
mit gesetzlichen Ordnungen versorgen sollen. Freiheit ist eben (im Sinne von
Selbstregierung), wie wir schon unzähligemal gesagt haben, nur in kleinen
Gemeinwesen möglich; je größer ein Gemeinwesen ist, desto unabweisbarer
werdeu absolutistische Einrichtungen. Indes auch dieses Übel trägt sein Heil¬
mittel in sich selbst. Indem sich die entfesselte Technik mit rasender Schnellig¬
keit automatisch fortentwickelt, bringt sie vier große Wirkungen hervor. Erstens
zwingt sie die Geister, immer neues zu ersinnen, neues zu lernen und sich auf neues
einzurichten, wälzt unaufhörlich die Arbeitsweisen, den Verkehr, die Volkswirt¬
schaft, die Sitten um, ändert die äußern Lebensformen und erhält dadurch das
ganze Leben in einer vor Erstarrung schützenden Bewegung. Zweitens erzeugt
sie große Vermögensunterschiede, ballt die Masse der Armen zu einer fest organi¬
sierten Klasse zusammen, die den Reichen in Todfeindschaft gegenübersteht, und
entflammt so einen innern Krieg, der für die ehedem unaufhörlichen leben¬
weckenden Kriege zwischen Völkern Ersatz bietet. Drittens zwingt sie zu aus¬
wärtigen Unternehmungen, die mit der Zeit den Druck im Innern vermindern
werden; endlich erschüttern alle diese äußerlichen Veränderungen zusammen¬
genommen auch das Gebäude der Glaubensmeinungen, das sich die Seelen
geschaffen haben, um darin zu ruhen. So also wirkt die Technik selbst dem
Chinesentum entgegen, mit dem sie uns bedroht, und vor dem uns keine noch
so weiße Haut schützen könnte.
Gobineau hat sich durch die kräftige Mahnung an die Wichtigkeit des
Blutes und durch die Beleuchtung von Füllen, wo die Wirkungen des Blutes
hervortreten, zweifellos ein bedeutendes Verdienst erworben, das aber überall
dort in Mißverdienst umschlägt, wo seine einseitige Theorie unkritisch in Bausch
und Bogen angenommen wird. Zum Schluß fassen wir unsre eigne Ansicht,
die wir bei andrer Gelegenheit ausführlich dargestellt haben, noch einmal kurz
zusammen. Die weiße Rasse ist die einzige von allseitiger und von der höchsten
Begabung und allein fähig, Kultur im höchsten Sinne des Worts zu er¬
zeugen. Die Rassencharaktere sind sehr beharrlich, aber keineswegs unver¬
änderlich, und Veränderungen werden nicht allein durch Blutmischungen,
sondern auch durch klimatische und geographische Verhältnisse, durch Beschäfti¬
gung und Lebensgewohnheite», durch soziale und politische Zustände hervor¬
gebracht. Und zwar gilt das sowohl für die drei Urrcisfen wie für die Rassen
zweiter und dritter Ordnung, d. h. für die teils durch Mischung, teils durch
klimatische und andre Einflüsse entstandnen Verzweigungen der Urrassen.
Können ja doch auch diese selbst auf keine andre Weise als durch klimatische
Einwirkungen entstanden gedacht werden. Ohne Zweifel ist die Nassenver-
schiedenheit eine der Ursachen historischer Veränderungen, und zwar eine der
wichtigsten, aber die einzige ist sie nicht, und Gobineau irrt, wenn er glaubt,
er erst habe den Grund gelegt zur wahren Weltgeschichte.
ehr richtig deutet der Verfasser des gegnerischen Aufsatzes an, daß
uns auch unsre Ehrlichkeit zuweilen hinderlich ist. Wer wirklich
ehrliche Arbeit sucht, sagt er, wird doch uicht so dumm sein, sich
an einen Verein zu wenden, dessen Vermittlung seine Vergangenheit
an die große Glocke hängt, wahrend er sie andrerseits weder seinem
Arbeitgeber noch seinen Kollegen auf die Nase zu binden braucht.
Nun muß ich zunächst sagen, auch in dieser Beziehung sterben die Dummen nicht
aus. Die Leute wissen jedoch, daß bei der Vermittlung durch die Vereine ihre
Bestrafung noch nicht in alle Welt hinausgcläutet zu werdeu braucht, daß die
Vereinsorgane aber am allerwenigsten den Arbeitskollege» der Entlassener darüber
Vortrag halten. Dem Arbeitgeber selber schenken nur allerdings reinen Wein ein
und zwar seinetwegen, aber auch im eigensten Interesse des Entlassener, und ich
kann Wohl sagen, nicht wenige Entlassene wollen es anch gar nicht anders, weil sie
wissen, daß Unwahrheit und Täuschung ihnen uicht helfen kann, vielmehr die Strafe
hinterher kommt, sobald einmal durch einen Zufall der Schleier gelüftet wird.
Darüber habe ich auch meine Erfahrungen gesammelt, statt der gewöhnlichen Fälle
will ich aber lieber einen erzählen, der freilich besonders liegt und anders, als die
übrigen beurteilt werdeu will. Ein achtzehnjähriger Mensch hatte sich eines Eigen¬
tumsvergehens schuldig gemacht und war mit einigen Monaten Gefängnis bestraft
worden. Bei seinem Abgang hatte er dein Austnltsgeistlichen in die Hand ver¬
sprochen, ein ehrlicher Mensch zu werdeu, und er hat dieses Versprechen gehalten.
Nach Ableistung seiner Militärpflicht, und nachdem er die erforderlichen Prüfungen
abgelegt hatte, wurde er Weichensteller zweiter Klasse, erster Klasse und schließlich
Verwalter einer Haltestelle, nebenbei auch Vater einer zahlreichen Familie. Über seine
Bestrafung hatte er nichts verlauten lassen; er hätte sie nicht verleugnet, da man
ihn aber nicht darum befragte, hatte er auch nicht geglaubt, Veranlassung zu habe»,
sie aus freien Stücken bekannt zu machen. Da, nach zwölf Jahren, fand sich ein
Bube, der den Denunzianten spielte, und nun kam die Strafe nach. Obwohl seine
Vorgesetzten tiefes Mitleid mit ihm fühlten, konnten sie ihm doch nicht helfen: ans
dein Staatsdienst mußte er heraus. Man könnte freilich sagen, wenn der Manu
gleich im Anfang ehrlich gewesen wäre, dann wäre er gar nicht angestellt worden,
jetzt hatte er doch wenigstens zwölf Jahre zu leben gehabt. Ohne Zweifel, aber bei
seineu tüchtigen Eigenschaften würde er sich inzwischen eine andre Stellung er¬
rungen habe», die ihn nährte. So aber erlebte er einen großen Schmerz und
geriet, wenn wir es recht bedenken, eigentlich in eine Lage, in der mancher
andre ein Lump geworden wäre. Wir halten es für unsre Pflicht, immer offen vor-
zugehn, weil wir nur auf diese Weise gute und dauernde Erfolge erwarten können.
Daß mancher gerade deshalb einen Entlassener zurückweist, weil man ihn über
dessen Vorleben unterrichtet hat, und sich häufig lieber mit Gesindel von der Straße
behilft, als einmal mit offnen Angen ein gutes Werk zu thun, das muß eben er¬
tragen werde». Man erlebt in dieser Beziehung lustige Dinge. Bei einem Ge¬
schäftsmanne wollte ich einmal einen wegen Körperverletzung vorbestraften, sehr
brauchbaren jungen Menschen als Hausdiener unterbringen, mir wurde jedoch die
Antwort: Um Gottes willen keinen aus dem Gefängnis, ich muß ehrliche Leute
haben. Einige Zeit später fand ich bei ihm einen Hausdiener, der mir wohl be¬
kannt war, es war ein Schlosser von Beruf, ein Einbrecher aus Neigung. Gar
manchem mangelt jegliches Verständnis für die alte gute Christenpflicht, einem armen
Sünder wieder emporzuhelfen. Höchstens bekommt man zu hören: Es ist jn sehr
edel, was Sie treiben, aber ich danke. Der Verfasser des Aufsatzes macht den Vor¬
ständen der Vereine den Vorwurf, sie wollten andern Arbeitskräfte nnfnötigen,
hüteten sich aber sehr wohl, das eigne Fell naß zu machen. Ich kann ihn darüber
beruhigen, auch die Vereinsvorstände bedienen sich der dargebotnen Arbeitskräfte,
wenn es sich so fügt; daß sie ihre Dienstboten darum entlassen sollen, um immer mit
einem guten Beispiel vornnzngehn, wird kein vernünftiger Mensch verlangen. So
anmaßend sind wir auch nicht, daß wir es jemand mundeten, nun gleich sein ge¬
samtes Personal aus dem Zuchthaus zu beziehn. Das wäre ja für uns bequem,
aber recht wäre es uns doch nicht. Die Entlassener muß mau dünn aussäen, da
>vo sie gleich haufenweise zusammenkommen, verdirbt einer den andern. Unsre
Offenheit hat übrigens «och nie zur Folge gehabt, daß die Notlage der Entlassener
von den Arbeitgebern und Herrschaften zur Lvhndrückerei benutzt wurde. Die Löhne
hielten immer die ortsübliche Höhe ein und waren häufig über Erwarten anständig.
Wo in einzelnen Fällen der Arbeitgeber wegen der mangelnden Fertigkeit des Ent¬
lassener zunächst nur ein geringes Entgelt zahlen konnte, haben wir eine Zeit lang
einen Zuschuß gewährt, bis der Lohn eine genügende Höhe erreicht hatte. Das ist,
glaube ich, ein oder zwei mal geschehn. Die übrigen Vereine Verfahren meines
Wissens ebenso. Was insbesondre den Berliner Verein angeht, so schickt er die
allergeringsten Arbeiter — Hofgänger —, die die Landarbeit erst erlernen müssen,
nur dann ans, wenn ihnen bei freier Station und Wäsche mindestens 72 Mark
Jahreslohn zugesichert wird. Hat der Hofgänger sich einige Kenntnisse in den
landwirtschaftlichen Arbeiten angeeignet, so erhält er als Kleinknecht oder Vieh¬
wärter einen höhern Lohn (120 bis 150 Mary. Wirkliche Knechte erhalten nach
den Angaben des Vereins, die auch durch meine eignen Erfahrungen bestätigt
werden, bei freier Station 130 bis 300 Mark. Die Behauptung, daß der Ber¬
liner Verein einen seiner Schützlinge gegen einen Wochenlohn von 3 Mark ver¬
kuppelt habe, wird mir von dem Dirigenten des Vereins als unwahr erklärt. Ich
vermute, daß der betreffende Bursche ueben freier Kost und Wohnung einen baren
Lohn von 3 Mark erhalten hatte, dies aber, um eine mildere Beurteilung zu er¬
langen, klüglich verschwieg. Der Berliner Verein schickt auch Revisoren ans, die
sich schon über die Beschaffenheit des Arbeitsplatzes und die Eigenschaften des
Arbeitgebers unterrichten werden. Wie blinde Leute laufen doch auch die Berliner
uicht in der Welt herum. Es kau» ja aber auch einmal passieren, daß man an
einen faulen und gewissenlosen Arbeitgeber gerät. Mau wird es bedauern und sich
das nächste mal besser in acht nehmen. Wir irren alle.
Beschäftigen wir uns nun noch einen Augenblick mit den Arbeitsgenossen des
Entlassener, Es soll ja auch eine tendenziöse Erzählung der für ihre Kasse Propa¬
ganda machenden Vereine sein, das; menschenfreundliche Fabrikanten zuweilen gern
die Hand bieten wollten, aber die bösen Arbeiter ließen es nicht zu. Ich könnte
auch davon einige Stückchen erzählen, aber mir eins möge hier seinen Platz finden,
das den Vorzug hat, die Menschenfreundlichkeit eines Arbeitgebers ganz besonders
deutlich zu zeigen. Vor Jahren wollte ich einen mehrfach bestraften Maschinisten auf
seinen Wunsch bei einer Dampfschiffahrtgesellschaft unterbringen. Auf meine warme
Empfehlung hin nahm der Direktor der Gesellschaft ihn auch an, aber mit dem
Bedeuten, seine Bestrafung dürfe der übrigen Arbeiter wegen nicht bekannt werden.
Leider verlautete doch darüber etwas, und um sandte der Direktor, der wirklich
ein menschenfreundlicher Mann war und sein Wort gern halten wollte, unsern
Pflegling zuerst nach London und ließ ihn dort vorläufig unterbringen, von Eng¬
land ans berief er ihn dann später in den Dienst der Gesellschaft, und ich hoffe,
daß der Mann diese Weitläufigkeiten gelohnt hat. Aus der Luft gegriffen sind
also diese Erzählungen nicht, ich lege ihnen aber gleichfalls nicht viel Bedeutung bei,
trotzdem daß mir zufälligerweise in den letzten Wochen mehrere male von Arbeit¬
gebern gesagt wordeu ist: Der Mann muß aber still sein, die andern Arbeiter
dürfen von seiner Bestrafung nichts wissen! In den Großstädten verschwindet ein
einzelner trüber Tropfen unter den übrigen Tropfen sehr schnell, in den kleinen
Städten bleibt er länger erkennbar, aber wenn nicht Politische Verhältnisse mit¬
wirken, werden die Arbeiter nicht so leicht auf die Verabschiedung des entlassenen
Gefangnen dringen, höchstens ärgern sie ihn hinaus. Ein braver Arbeiter sagte
mir einmal: Es ist mir durchaus nicht einerlei, wer neben mir arbeitet, ebenso
wenig wie es Ihnen oder einem andern gleichgiltig sein kann. Ich würde nie
etwas darüber sagen, aber angenehm ist es mir nicht, wenn ein entlassener Straf¬
gefangner an meiner Seite arbeitet.
An und für sich sehe ich in der Ablehnung des verbrecherischen Menschen auch
durchaus nichts beklagenswertes, es wäre im Gegenteil betrübend, wenn es anders
wäre. Dadurch eben giebt sich die Mißbilligung der bösen That zu erkennen,
und es ist für den Rechtsbrecher sehr heilsam, wenn er sieht, daß er sich durch
schlechtes Handeln zu einem einsamen, von allen Guten gemieduen Menschen macht,
aber er soll auch sehen, daß er durch ein ernstes und gewisfenhaftes Lebe« wieder
die Scharte auswetzen kann. Natürlich ist der Grund der Ablehnung keineswegs
immer in einem idealen Gefühl zu suchen, es mögen sich hinter der angeblichen
moralischen Entrüstung sehr irdische Motive verbergen, oder es mag der Umstand
mitwirken, daß die entlassenen Sträflinge zuweilen sehr unangenehme Genossen sind.
Ich gestehe es sogar bereitwillig zu, daß durch die heutige Anwendung der kurzen
Freiheitsstrafe und ihre Androhung auch bei Handlungen, die in keiner Weise eine
sittliche Verirrung voraussetzen, in der That eine Abstumpfung des feinen Gefühls
erfolgt ist, aber daß es so weit gekommen ist, wie der Verfasser in seinem Aufsatz
erzählt, daß oftmals Taschendiebe und Paletvtmarder, weil sie zufällig gleichzeitig mit
einem „Genossen" entlassen wurden, von Hunderten ganz rechtlicher Arbeiter gefeiert
worden wären, als wären sie die edelsten Märtyrer der Freiheit, das ist mir neu.
Daß man im Volke die einzelnen Vergehen verschieden wertet und nicht alles in einen
Topf wirft, habe ich bemerkt. Körperverletzungen werden in einzelnen Gegenden
als ein harmloses Vergnügen angesehen, wenigstens so lange nicht die eigne Haut
in Mitleidenschaft gezogen ist, man denkt auch über die deswegen verhängte Strafe
Milder, aber, wie es mir scheint, macht man noch immer einen großen Unterschied
zwischen einem Taschendiebe und einem Genossen, der sich ein den Arbeiteridealen
die Flügel verbrannt hat, zwischen einem Paletotmnrder und einem Manne, der
ein Opfer seines leidenschaftlichen Temperaments oder schwerer Unglücksfnlle ge¬
worden ist.
Hoffentlich ist es mir gelungen, zu zeigen, daß die Fürsorge für entlassene
Strafgefangne in sehr vielen Fällen keineswegs ein überflüssiges Prunkstück unter
den vielen „fragwürdigen Wohlthätigkeitsanstalten" unsrer Zeit ist, sondern daß sie
recht gute Dienste im Kampfe gegen das Verbrechertum zu leisten vermag, wenn
sie nur ihre Schuldigkeit thut. Aber entsprechen ihre Thaten der guten Absicht?
Unser Gegner hat leider eine sehr schlechte Meinung darüber, denn er sagt: Etwas
andres als Absonderlichkeiten haben die Vereine für entlassene Strafgefangne über¬
haupt uoch nicht zu Tage gefördert und werden es wohl auch in Zukunft nicht
thun. Er weist dann darauf hin, daß nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Ent¬
lassener die Hilfe der Vereine in Anspruch nähme, eben weil die Stellen, über
die die Bereine gewöhnlich verfügen, für einen tüchtigen Arbeiter nichts Verlockendes
hätten, daß gerade unter denen, die die Hilfe der Fürsvrgevereine in Anspruch
nehme», der Prozentsatz der Rückfälligen um größten wäre, und läßt schließlich
seine Vorwürfe in der eigentlich ungeheuerlicuen Behauptung gipfeln, daß die Vereine,
statt das Verbrechertum einzudämmen, es immer neu züchteten. Ich habe darauf
folgendes zu erwidern: Wenn sich wirklich nur ein kleiner Prozentsatz der Ent¬
lassener an die Fürsorgevcreiue wendet, so würde ich annehmen müssen, daß dieser
Prozentsatz die allernntüchtigsten und haltlosesten Personen umfaßt, und dann weiter
schließen, daß es in diesem Falle gar nicht zu verwundern wäre, wenn unter den
Pfleglingen der Vereine so viele rückfällig werden. Niemals aber würde ich dies
den Vereinen zur Last legen, so wenig, wie es mir einfallen konnte, von einem
Heilort, der nachweislich die Zuflucht der allerhoffnnngsloscsten Kranken ist, zu
sagen: In diesem Heilort wird das Siechtum und das Hinsterben geradezu gezüchtet.
Aber ich glaube auch nicht einmal, daß die Behauptung unsers Gegners ganz all¬
gemein giltig ist. In der That mag ja ein großer Teil der Entlassener an den
Vereinen vorbeischwimmen, immerhin haben die Vereine noch genug zu thun. In
den Jnhreu 1383 bis 1395 haben sich beim Berliner Verein 43309 Entlassene
gemeldet, von denen 33 632 untergebracht worden sind. Häufig haben die Ge¬
fangnen zunächst keine rechte Vorstellung davon, was ihnen ein Fürsorgeverein etwa
helfen könne, und sie melden sich erst nachträglich, nachdem sie ihr Glück auf eigue
Faust vergeblich gesucht und ihren Arbeitsverdienst verzehrt haben. Wo jedoch die
Anstalt in enger Beziehung zu dem Verein steht, da ist der Prozentsatz der Arbeit¬
suchenden gar uicht gering. Beispielsweise haben von den im Jahre 1896/97 aus
dem Gefängnis in Cottbus dem Fürsorgeverein überwiesen«« 93 Entlassener*) ihrer 37
um Arbeitsvermittlung gebeten, im Jahre 1897/98 thaten dies von 11ö Entlassener 42,
das sind also, wenn ich richtig gerechnet habe, etwa 36 und 46 Prozent der Ent¬
lassener. Einige, die anfangs ans die Hilfe des Vereins verzichteten, haben außer¬
dem noch nachträglich darum gebeten. Um nnn mich hinsichtlich der Rückfnllsziffer
nicht ganz ins Blaue hinein zu behaupten — sichere Zahlen lassen sich ja nicht
leicht geben —, habe ich mir das Verzeichnis der während der drei letzten Jahre
aus derselben Anstalt überwiesenen Leute angesehen und allerdings unter den Ent¬
lassener, die sich bei dem Verein nnr ihr Arbeitsgeschenk abgeholt, für weitere Für-
sorge aber gedankt haben, eine ganze Anzahl rückfälliger Personen entdeckt. Bei
den übrigen, die allein als Pfleglinge des Vereins anzusehen sind, konnte ich die
Rückfälligkeit nnr in sehr wenigen (zehn) Fällen feststellen. Die Zahl wird aber
in Wirklichkeit größer sein, da wir eine Anzahl Leute aus den Augen verloren
haben. Von einem Teil der übrigen, die noch vor unsern Angen herumlaufen,
läßt sich freilich nur sagen, daß sie nicht wieder bestraft worden sind, sonst lassen sie
viel zu wünschen übrig. Von etwa zwanzig der Vereinspfleglingc glaube ich jedoch
mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß sie, und zwar mit Hilfe des Vereins,
für immer als gerettet gelten können. An einigen würde der geehrte Leser seine
helle Freude habe«, zumal wenn er sie in ihrem frühern Zustande gesehen hätte.
Das sind allerdings nur ungefähr fünf Prozent. Mit großen Ziffern können nicht
alle Vereine arbeiten, dazu verfügen sie teilweise über allzu wenig Hilfskräfte.
Wenn aber die Zahlen auch noch kleiner wären, so würde ich nicht glauben, daß Zeit,
Geld und Mühe vergeblich angewandt worden wären. Die Arbeitsstellen, über die
die Vereine gewöhnlich verfügen, sind allerdings im großen und ganzen sehr ein¬
facher Art, und sie haben, wie ich gern zugestehen will, für den tüchtigen Arbeiter,
insbesondre den Mann aus bessern Ständen, vielfach nichts verlockendes. Wäre es
aber anders, dann würde man uns ja den arbeitslosen unbescholtenen Arbeiter, der
von unverständigen Philanthropen einem Zuchthäusler aufgeopfert wird, noch deut¬
licher vor Augen rücken. Wir haben unsre Entlassener hauptsächlich in die landwirt¬
schaftlichen Betriebe, in die Kohlengruben, zum Straßen- und Kanalbau, zu Hand¬
werkern, einige wenige auch in die Fabriken und in kaufmännische Geschäfte weisen
können. Knechte und Mägde fanden ausnahmslos Stellen, wie man sie sich nicht
besser wünschen kann, die übrigen hatten Gelegenheit, sich ehrlich ihr Brot zu ver¬
dienen und sich auch ein Zeugnis zu erwerben, das ihnen den Weg in eine bessere
Stellung bahnte. Die Fabrikation falscher Nrbeitsatteste scheint aber in der Provinz
noch nicht so schwungvoll betrieben zu werden, sonst hätten sichs einige Entlassene,
die entschieden nicht skrupulös waren, viel leichter gemacht.
Wenn behauptet würde- die Vereine seien trotz redlicher Bemühung häufig uicht
imstande, das zu leisten, was man von ihnen fordern könne, und was sie selber in
ihren Satzungen zu leisten versprachen, so hätte ich nichts dagegen einzuwenden.
Aber daß sie in zahlreichen Fällen mit Erfolg eingreifen, kann nicht bestritten
werden. In einer Beziehung wird, wie ich glaube, mitunter großes geleistet, nämlich
in der Pflege der Familien, deren Ernährer in Strafhaft sind. Oder rechnet man
auch diese Liebesarbeit für eine Absonderlichkeit? Manchem kommt es freilich sonder¬
bar vor, daß die fleißigen und sparsamen die faulen und nichtsnutzigen unter ihren
menschlichen Brüdern ernähren müssen, aber über diese Notwendigkeit werden wir
nnn einmal nicht hinwegkommen. Manchmal läuft einem selber die Galle über,
wenn man sieht, wie der Mann herumstrolcht und seine Kinder andern überläßt,
und wenn es ihm selber weh thäte, möchte man die Kinder hungern und frieren
lasse», aber es thut nicht ihm wehe, sondern den kleinen unschuldigen Wesen, die
lediglich Mitleid verdienen und Erbarmen. Hier muß die Armenpflege das meiste
thun und die Polizei. Wie ich höre, wird auch das neue Bürgerliche Gesetzbuch
eine Handhabe bieten, gegen unverbesserliche Trunkenbolde mit größerer Schärfe
vorzugehen. Es sieht jedoch nicht immer so traurig aus, zuweilen blutet dem
Vater oder der Mutter das Herz über das, was sie angerichtet haben. Dann wieder
finden wir, daß der bestrafte Teil der Ehegatten' doch nicht allein schuldig ist,
souderu daß auch der andre Teil, zum Beispiel die Fran, durch Faulheit, schlechte
Lebensführung und Unsauberkeit zu dem Unglück des Hauses sehr viel beigetragen hat.
Ich habe da gesehen, was eine Pflegerin »der ein Pfleger, die das Herz auf dein
rechten Fleck haben, alles auszurichten vermögen, nicht »ur durch das Geld, das sie
bringen, sondern durch Rue, Mahnung und Unterweisung, Und nun denke man noch
an die Familien, bei denen gerade noch soviel Schimmer frühern Wohlstands vor¬
handen ist, daß die Armenpflege nicht einzutreten braucht. Wie viel Kummer und
heimliche Not wird da still getragen, welcher Heldenmut im Dulden offenbart sich
aber auch in mancher Frauenseele! Und wie manche Thräne wird da auch durch
die Liebesgaben des Vereins getrocknet, wie manches bekümmerte Herz immer
wieder ermutigt. Hier kaun ich nicht mit Zahlen kommen, man muß mir so
glauben. Wer aber auch in dieser Art von Liebesthätigkeit nur ein krankhaftes
Humanitätsgefühl — um das abscheuliche Wort Humanitätsdusel zu vermeiden -
zu sehen vermag, der bedenke, daß jede Gefangnenfnmilie, die wir wirtschaftlich
und moralisch verkommen lassen, der geeignete Boden ist, auf dein eine Brut neuer
Verbrecher heranwächst, die sich später an uns rächen werden für das, was an
ihnen versäumt worden ist. Und wer eine Neigung für die Herstellung von
Bilanzen hat, kann sich, wie ich glaube, bald ausrechnen, daß da, wo ein ver¬
ständiger Fürsorgeverein arbeitet, dem Gemeinwesen aus den beigesteuerten Scherf-
lein ein sehr anständiger Nutzen erwächst. Die großgewordnen Verbrecher kosten
viel mehr!
Ist diese Art der Fürsorge häufig eine Quelle der reinsten und schönste»
Freuden, so wird die Arbeitsvermittlung immer eine schwere Sorge der Vereine
bleiben, weil die Arbeitslast auf sehr wenigen Personen ruht. Hätte der Gegner
des Schutzwesens, statt den Mitgliedern der Vereine auch uoch das Hingebe» eines
mehr oder weniger großen Scherfleins zu verleiden, ein kräftiges Wörtchen darüber
geredet, daß sie sich nicht damit begnügen möchten, ihren Obolus alljährlich zu
opfern, sondern daß sie mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung, ihrem Einfluß und dem
ungeprngten Gold ihres Herzens helfen sollten, so würde ich ihm alle seine übrigen
bittern Worte vergeben haben. Ich möchte die Bereine bei dieser Gelegenheit noch
gegen den doppelten Vorwurf der Hartherzigkeit und der Dummheit in Schutz
nehmen. Es wäre allerdings sehr hartherzig, wenn man einen unbescholtnen
Arbeiter deshalb abweisen wollte, weil er noch nicht bestraft ist. Obwohl wir nus
nach unsern Satzungen selbstverständlich bestimmte Grenzen stecken und auch rudern
ihr Teil Arbeit überlasse» müsse«, würden wir doch einen solchen nnbescholtueu
Menschen, den die Not an die Thür des Fürsorgevereius treibt, nicht zurückweisen,
sondern uns seiner redlich annehmen. Auch der Berliner Verein erklärt mir, daß
er einem solchen Menschen schon deshalb, weil er durch Arbeitsmangel der Be¬
strafung und Schunde verfalle» könnte, ohne weiteres Hilfe gewähren würde. Im
allgemeinen aber — das wird jeder einsehen — müssen sich solche Leute anders¬
wohin wenden, wir haben ja 'unsre bestimmte Aufgabe. Ein Zeichen von hervor¬
ragender Dummheit wäre es aber, wenn wir irgend einem nichtsnutzigen Burschen,
der sich vor des Winters Tücken zunächst ins Gefängnis geflüchtet hätte und nach
seiner Entlassung mit einer Empfehlung des Anstaltsgeistlichen, die übrigens uicht
blindlings erteilt wird, zu uus käme, nun gleich auf einen Monat Schlafstelle und
Kaffee gäben. Das hieße allerdings die Faulheit stärken, ich kaun es aber uicht
glauben, daß die Vereinsvvrstände solche Thorheiten begehn. Der Berliner Verein
erklärt mir, daß er derartige Wohlthaten nur vorübergehend gewähre, auf mehrere
Wochen nnr dann, wenn der betreffende Schützling in Berlin selbst Stellung erhalten
solle, aber seinen Dienst erst später antreten könne, oder wenn er seinen Gehalt erst
später empfinge, also nnr in solchen Fällen, wo es gilt, eiuen Entlassene» für einige
Wochen über Wasser zu halten. Es sind ja doch bei jedem Verein Leute mit Praktischer
Lebenserfahrung, die einen vollendeten Unsinn gewiß nicht mitmachen würden. Wie
ich glaube, wäre es aber überhaupt am besten, wenn die Arbeitsvermittlung für die
Entlassener der Zweig eines wenigstens in den großen Städten zu schaffenden all¬
gemeinen Arbeitsnachweises werden würde. Dann würden manche Dinge viel leichter
und geschäftsmäßiger erledigt werden können, und jedenfalls würden die Klagen über
die Bevorzugung der Sträflinge endlich einmal aufhören. Die Vereine hätten aber
immer uoch genug Arbeit, ihre Thätigkeit vollzöge sich jedoch mehr auf sittlichem
Gebiete, ohne allen büreaukratischen Schematismus. Howard sagt- Mache die Leute
fleißig, und du wirst sie ehrlich machen. Das ist ein sehr schöner Ausspruch, aber er
ist, wie alle Weisheitssprüche, auch nur euw gra.no s-rliZ zu nehmen. Es giebt auch
sehr fleißige Halunken! Der Jurist wird als Hauptkmnpfmittel gegen das Verbrechen
die Strafe ansehen, der Arzt wird daneben hygienische Maßregeln empfehlen, der
Volkswirt wird sich von der Regelung der Arbeitsverhältnisse und Abstellung gewisser
sozialer Mißstände den größten Nutze» versprechen. Der Pädagoge und Theologe wird
die Erziehung von Charakteren und zwar religiösen Charakteren betonen. Obwohl um
Reinkulturen von Juristen, Medizinern, Politikern, Theologen und Pädagogen heut¬
zutage kaum uoch vorkommen, vielmehr jeder über seinen Zaun hinwegsieht und bei
dem andern zu lernen sucht, so wird man doch in der Regel das am meisten schätzen,
was der eignen Berufsthätigkeit am nächsten liegt, und so möchte ich auch, ein altes
Wort entsprechend verändernd, sagen: Die Seele der Fürsorge ist die Fürsorge für
die Seele. Deal das ist mich ganz meine Meinung, und darin stimme ich dem Ver¬
fasser des von mir augefochtnen Aufsatzes vollkommen bei, daß wirkliche Nut mir
selten die Ursache der Verschuldung des Gefangnen gewesen ist, wenigstens bei
weitem nicht die einzige Ursache, man wird sogar da, wo die Not zweifellos des
Menschen besseres Ich überwältigt hatte, fast immer finden, daß die eigentliche Ur¬
sache in dem Leichtsinn, der Glaubenslosigkeit, im mangelnden Rechtsgefühl des
Gefangnen zu suchen ist. Es giebt sehr arme Menschen, die sich eher den kleine«
Finger abbissen, als daß sie unredlich handelten, ihre Religion, ihr Ehrgefühl, ihr
Rechtsbewußtsein hindert sie daran. Darum möchte ich es als eine Hauptaufgabe
der Fürsorge ansehen, dem Entlassener wieder zu einem religiösen und sittlichen
Halt zu verhelfen. Vielleicht haben ähnliche Gedanken es veranlaßt, daß die Geist¬
lichen und Gemeindekircheiiräte für die Fürsorge mobil gemacht worden sind; einmal
bedeutet das eine starke Vermehrung der Arbeitskräfte, zumal an Orten, wo ein
Verein mehr als überflüssig wäre, dann aber kann man es auch vou der Kirche
und ihre» Organen wohl erwarten, daß sie ihre Aufgabe uicht lediglich materiell
auffassen. Für außerordentlich heilsam würde ich es ferner ansehen, wenn die Ent¬
lassener, falls nicht andre Gründe dagegen sprechen, gezwungen werden könnten, in
ihre Heimat zurückzukehren. Davor hoben sie freilich vielfach eine heillose Scheu,
sie möchten nicht als räudige Schafe heimziehen, und doch habe ich gefunden, daß
die, die sich freiwillig dazu bewege» ließen, es nur selten bereut haben. Die heimat¬
liche Luft enthält wundersame Heilkräfte, die nur nicht unbenutzt lassen dürfe«,
dort ist auch die Einwirkung von Mensch zu Menschen noch am vollkommensten
zu erreichen. Freilich steht dem das Freizügigkeitsgesetz entgegen, an das niemand
gern rührt, aus Furcht, an die Wand gemalt zu werden. Wenn es aber geht,
gewisse Orden in ihrem Wohnsitz zu beschränken, so müßte es anch bei Verbrechern
möglich sein, da sie ja mindestens keine geringere Gefahr für die Sicherheit des
Landes vorstellen.
An Stelle der Fürsorgevereiue werden in dem Aufsatze die Arbeiterkolouien
dem allgemeinen Wohlwollen empfohlen, ja der Verfasser möchte ihnen sogar den
Goldstrom zufließen lassen, der bisher die Kaisser der Fürsvrgevereiue füllte, denn
von ihnen glaubt er, daß sie bessere Früchte hervorbringen würden. Ich gönne
den Arbeiterkolonien von Herzen dieses Lob, glaube aber doch, daß sie das nicht
leisten können, was von ihnen für den Kampf gegen das Verbrechertum gefordert
wird. So mancher Vorwurf, der uns gemacht worden ist, trifft die Kolonien in
derselben Weise. Die Beschäftigungsarten, über die sie verfügen, gleichen den
unsrigen wie ein El dem andern, oder vielmehr, sie sind noch bedeutend eintöniger
und noch weniger geeignet, einen tüchtigen Arbeiter anzulocken. Die eine Kolonie
hat landwirtschaftlichen Betrieb, eine andre beschäftigt die Leute mit Tischlerei,
Bürstenbinderei, Strohhülsenfabrikation, Holzzerkleinern und Forstarbeiten, wobei
zu bedenken ist, daß zu den Tischlerarbeiten wohl nicht ohne weiteres jeder kommen
wird. Und daß zu den Arbeiterkolvuien nnr ein sehr kleiner Prozentsatz der Ent¬
lassener hinstrebt, ist jedem Strafanstaltsbeamten bekannt. So lange der Gefangne
noch einen Funken von Mut und Kraft in sich spürt, denkt er nicht an die Kolonie,
erst wenn er nach seiner Entlassung mit seinen« bischen Mut und Kraft zu Ende
ist, mag er sich dazu entschließe», dort anzuklopfen. Nur die allerherunter-
gekommensten Gefangnen wollen unmittelbar von der Anstalt dahin übersiedeln.
Ich glaube übrigens, daß den Vorständen der Arbeiterkolonien an dem massenhaften
Zuwandern der Sträflinge gar nicht viel liegt, denn soviel ich weiß, ist es gar
nicht die eigentliche Bestimmung der Kolonien, die bestraften aufzunehmen, sondern
sie wollen für den unbescholtnen Arbeiter und Handwerker eine Zuflucht in drang¬
vollen Zeiten sein und es verhindern, daß der Wandrer zum Strolch und Ver¬
brecher wird. Ich weiß sehr wohl, daß heute die Arbeiterkolonien in der That
eine Unmenge Bestrafter aufnehmen, befürchte aber, daß das Zusammenleben so
vieler brüchig gewordner Existenzen eine schwere Gefahr für die bessern unter den
Kolonisten bedeutet. Ähnlich steht es mit den Ashlen für weibliche Entlassene.
Grundsätzlich ist es, glaube ich, vorzuziehen, diese in den Dienst einer Herrschaft
zu bringen. Da dies jedoch bei einer Reihe weiblicher Entlassener, besonders
bei den der Prostitution verfallnen nicht immer angeht, so bieten die Asyle
eine willkommne Hilfe, namentlich auch deswegen, weil sie solche Mädchen, die der
Hausarbeit entwöhnt sind oder gar nichts davon verstehn, zum Eintritt in einen
Dienst vorbereiten. Arbeiterkolvnien, Asyle und Fürsorgevereine sind keine Kon¬
kurrenten, sondern Bundesgenossen. Die Vereine sichern sich anch häufig durch
einen Geldbeitrag das Recht, Entlassene, denen sie sonst nichts bieten können, dahin
zu überweisen.
Immermann erzählt im Münchhausen eine sehr drollige Geschichte von den
Ziegen ans dem Helikon, die einen Mistkäfer und eine Schmeißfliege zu anständigen
Leuten machen wollten. Das Widersinnige der Geschichte, das, was einem etwa
das Recht geben könnte, von Humcmittttsdusel zu reden, liegt darin, daß sich die
guten Ziegen bemühen, die beiden Geschöpfe aus dem Schmutze herauszuziehen,
ans den sie nnn einmal die Natur hingewiesen hat, und in dem sie in ihrer Art
nützliche Zwecke erfüllen. Bei der Pflege der Entlassener handelt es sich aber
nicht darum, daß Menschen ihrem eigentlichen Lebenszweck entfremdet, sondern daß
sie wieder auf das Ziel hingelenkt werden sollen, das die Bestimmung unsterblicher
Seelen ist. Wenn etwa die Fürsorgevereine nun unzureichendes leisten, oder gar
fehlerhaft verfahren, so sollte man sie anspornen, zurechtweisen, aber ihre reinen
und edeln Absichten sollte man wenigstens anerkennen. Orden und Ehrenzeichen,
Lob und Anerkennung haben die Männer und Frauen, die einen Teil ihrer Zeit
und Kraft für diese Aufgabe opfern, nicht zu erwarten, dos, was man eine dank-
bare Aufgabe nennt, ist die Fürsorge nun einmal uicht. Wenn sich dennoch Leute
aus allen Ständen in den Dienst dieser Sache stellen, so kauu man überzeugt
sein, es handelt sich nicht um eine Schrulle, sondern um eine eruste Pflicht.
Im Kampf der Meinungen verliert man leicht deu Blick ins Große und
Weite und klammert sich an allerlei kleine Dinge an. Es möge darum zum
Schluß noch einmal der Blick auf deu gewitterschwereu Hintergrund des Fürsorge-
Wesens hingerichtet werden. Das Verbrechertum schwillt zusehends an, auch die
deutsche Jugend ist in steigendem Maße an der Kriminalität des Laudes beteiligt.
Das fordert jeden, der menschlich, vaterländisch und christlich denkt, auf, sich an der
Abwehr des Verbrechertums zu beteiligen und verhüten zu helfen, daß immer
mehr von dem gefunden Leben des Volks abbröckelt und verloren geht. Dazu
hilft auch die Fürsorge für die entlassenen Strafgefauguen, und sie wird viel helfen,
wenn wir nicht schmollend und zweifelsüchtig zur Seite treten, sondern fröhliche»
Herzens Hand anlegen, was gut ist stützen, was fehlerhaft ist bessern.
s giebt Zeiten, in denen gewisse Wahrheiten epidemisch werden; sie
beherrschen das Menscheugemut, sie werden in Prosa und Poesie
ausgesproche», sie verdichten sich zu Thatsachen. Dies sind die
Zeiten, in denen große Dinge, Staaten, Verfassungen, Erfindungen
geboren werden. In eine solche Zeit fällt mich die Gründung des
musikalischen Kränzchens für Protzkau und Umgegend. Nebenbei
möge bemerkt werden, daß Protzkau ein kleines Landstädtchen ist, in dem außer der
Apotheke, dein Schwan, der Geistlichkeit und dem Amtsgericht nicht viel los ist.
Aber die Umgegend ist wohlhabend. Dort giebt es nicht allein eine Zuckerfabrik,
sondern auch die „Schlösser" derer von Zeschwitz, sowie die „Herrschaft" des Barons
von Kreuz und auch mehrere Domänen und sonstige Großgrundbesitze.
Es hat sich uicht feststelle» lasse», vo» wem eigentlich der Vorschlag gemacht
worden ist, man solle sich jeden Monat einmal im Schwan z» Prvtzkau zu eine,»
musikalischen Kränzchen zusammenfinden. Daß es ein musikalisches Kränzchen sein
sollte und müßte, stand als selbstverständlich von vornherein fest. Man hätte ja
auch so zusammenkommen könne», aber das hat doch keine Art. Es muß ein
Mittelpunkt da sein, um deu man sich gruppiert. Zum Beispiel Musik. Musik ist
das bequemste; sie ist am leichteste» z» habe» »»d am billigsten, wemgstens die
Musik, die mau selbst macht. Dies war die Überzeugung, die in Protzkau und
Umgegend latent war. Es bedürfte »ur eines glücklichen Augenblicks, in dem sie
ausgesprochen wurde, und das Kränzchen entstand. Anders, sagte Herr Gvrgaß,
als man später über den Gegenstand philosophierte, ist die Reformation und der
Befreiungskrieg auch nicht zu stände gekommen.
In dieser Vorbereitungszeit war Frau Professor Meyrau mit ihrer Amalie
bei Doktors zu Besuch. Frau Professor Meyrau war die Witwe eines Gymnasial¬
lehrers und hatte der Billigkeit wegen ihren Witwenstuhl nach Protzkau gesetzt, und
Doktors waren — eben Doktors, das heißt, er war immer auf Laudpraxis aus¬
wärts, und sie regierte das Haus und ihre beiden etwas eingeschüchterten Töchter
Marie und Lene, sie war auch im übrigen Wege» der Deutlichkeit ihrer Sprechweise
etwas gefürchtet.
Haben Sie schon gehört, meine liebe Frau Doktor, sagte Frau Professor
Meyrau, daß wir die Freude haben werden, in Protzkau ein musikalisches Kränzchen
ins Leben treten zu sehen?
Ein musikalisches Kränzchen finde ich entzückend, fügte Fräulein Amalie hinzu.
Die Frau Doktor hatte allerdings davon gehört. Bei superintendents hatte
man davon gesprochen. Und Mariechen wußte aus bester Quelle, daß sich auch
Barons beteiligen würden. — So? Das sei ja höchst interessant, sei es aber auch
gewiß? — Ja, ganz sicher, deun der Herr Baron habe sein Cello nach B. zur
Reparatur geschickt.
Ein Cello ist himmlisch, sagte Fräulein Amalie, einen Menschen, der Cello spielt,
finde ich einfach entzückend.
Nehmen Sie mirs nicht übel, Fräulein Amalie, erwiderte die Frau Doktor,
aber so eine» alten langweiligen Junggesellen, wie den Baron, finde ich noch lange
nicht entzückend. Und Sie nimmt er auch gar nicht, darauf können Sie Gift nehmen.
Aber mein! sagte Fräulein Amalie und versuchte zu schmollen.
Am Abend, als der Herr Doktor von seiner Praxis zurückgekehrt war, brachte
die Frau Doktor die Rede auf das musikalische Kränzchen. Der Herr Doktor hatte
keine rechte Meinung zur Sache. Er war, wenn er aus seinem Doktorwngeu heraus
war, froh, zu Haus bleiben zu können.
Ach was, sagte die Frau Doktor, natürlich machen wir mit, und das feste!
Denkst dn denn, daß die Männer für deine Töchter nur so ins Haus geflogen
kommen? Und ihr — wandte sie sich an ihre beiden Töchter, ihr seid nicht so
schüchtern, sondern thut das Maul auf. Du, Marie, singst deine neuen Lieder, und
du, Leue, spielst deinen Walzer von Schvppängen. Und nun fix, die Kleider nach¬
gesehen, daß ihr was ordentliches zum Anziehen habt.
Der Herr Steuerinspektor a. D. Neugebauer und der Herr Kantor Schmehliug
siud Pomologen — „Boomelogen" sagt der Volksmund und versteht darunter Leute,
von denen über „Bone gelogen" wird. Ob das auch auf die beiden oben genannten
Pomologen zutrifft, mag unerörtert bleiben. Jedenfalls hielten sie beim Wirte in
Pvlkau alle Mittwoch ihre pomologische Konferenz, wobei sie die Besonderheit der
verschiednen Obstsorten ausführlich erörterten und sich die Feinheiten der verschiednen
Geschmäcke vorschmeckten, denn mitgebracht wurde nichts, darüber war man hinaus. —
Sehen Sie, so schloß eines Tages Herr Neugebauer eine längere Rede, das ist
meine Grnmbkower Butterbirne. Die Frau Amtsrat hat dieselben Butterbirnen, aber
sie schmeckten nicht. „Ich weiß doch nicht, warum meine Butterbirnen nicht so
schmecken wie Ihre," sagte sie zu mir, „Sie haben doch dieselbe Sorte." Das will
ich Ihnen sagen, Frau Amtsrat, sagte ich, nicht vorm 15. Oktober abnehmen! Aber
hernach — »uns ganz ausgezeichnetes.
In der Thür stand der Herr Wirt, der die Höflichkeit des Wirts mit der
Knlanz des Kaufmanns verband, wusch sich die Hände in der Luft und sagte: Mit
Verlaub, meine Herren, huben Sie schon gehört, daß in Prvtzkan ein musikalisches
Kränzchen gegründet werden soll. Der Herr Bnron von Kranz ist auch mit dabei.
Es soll etwas ganz feines werden.
Der Herr Steuerinspektor hatte es noch nicht gehört, aber es interessierte ihn
sehr. Von Musik verstand er nichts. Aber es gab, wenn man sich an dem Kränzchen
beteiligte, jedenfalls Gelegenheit, mit dem Baron Kranz, der ein ausgezeichnetes
Sortiment von französischem nud amerikanischem Obste hatte, ins Gespräch zu
kommen, was ohne Zweifel lohnender und ehrenvoller war als die Konferenzen mit
dem Herrn Kantor. Er beschloß also im stillen, den Herrn Kantor im Stich zu
lassen und in Protzkau Anschluß zu suchen.
Bei Amtsrat Penkerts war über die Aussicht auf das musikalische Kränzchen
in Protzkau große Freude. Man wohnte etwas entlegen, und um jeden Ball nach
B. zu fahren und dort Nachtquartier zu nehmen, war doch sehr umständlich. Und
was hatte man sonst auf dem Lande? Lauter alte Herren, denn mit den Ver¬
walter» oder Volontärs konnte man sich doch nicht einlassen. Mit Leutnants und
Referendaren würde man auch in Protzkan freilich nicht nnfwartcu können, und
die Aussichten auf ein Tänzchen waren nur schwach, aber es war doch besser als
nichts. Man sieht doch einmal Menschen. Und Oberamtmauus aus Schottern
kommen jedenfalls auch hin.
Also schon, sagte Papa Peukert. Machen wir! Nehmen wir den großen
Landauer.
Du willst auch mit, Papa?
Natürlich.
Aber du sagst doch immer, daß Musik für dich ein unangenehmes Geräusch sei.
Man braucht ja uicht hinzuhören.
Laßt ihn nur, Kinder, sagte die Frau Amtsrat, er wittert irgendwo eine Partie
Whist.
Und so war es auch.
Wir würden aber ein falsches Bild von der Gesellschaft zeichnen, die berufen
war, das musikalische Kränzchen zu bilden, wenn wir verschweigen, daß es auch
leidenschaftliche Musikfreunde in der Gegend gab. In Büdicke wohnten gleich zwei,
der Herr Pastor Lnugbein und Herr Gorgnß, ein reicher Gutsbesitzer, der sein Gut
verpachtet hatte und als Rentier lebte. Herr Pastor Langbein spielte gut Klavier —
alles hübsch deutlich und darum lieber etwas zu langsam als zu schnell. Er ver¬
ehrte die klassische Musik, besonders Schubert, und hatte ein großes Mißtrauen
gegen alle Musik, die uicht in der Editio Peters zu haben war. Gorgaß musika¬
lische Leistungen waren nicht bedeutend. Er hatte es in seinen« Leben über „Lott
ist tot" uicht hinaufgebracht. Dagegen schwärmte er für Musik in jeglicher Form,
besonders jedoch für weibliche Musik. In jedem seiner Zimmer stand ein Klavier,
das freilich nie gespielt worden wäre, wenn es nicht der Herr Pastor ab und zu
in Bewegung gesetzt hätte. In den Künstlerkonzerten in B. war er immer zu
sehe«, wenn etwas besondres los war. Herr Gorgaß stand eigentlich ans der Grenze
der bäuerlichen und der „guten" Gesellschaft; in Anbetracht jedoch seines tadellosen
Anzuges und seiner respektvollen Haltung wurde ihm erlaubt, auch in der guten
Gesellschaft zu Verkehren.
Als es bekannt wurde, was mau in Prvtzkau plane, war der Herr Pastor
Feuer und Flamme. Litt er doch schwer darunter, daß seine liebe Frau für seine
musikalischen Ideale und besonders für die „himmlischen Langen" Schuberts so gnr
kein Verständnis hatte. Sogleich kramte er seineu Noteuschrank aus und suchte einen
großen Haufen Noten zusammen von Stücken, die sich in Protzkau zum Vorspielen
eignen würden. Diese nahm er unter deu Arm, um sie Gorgaß vorzulegen und
womöglich vorzuspielen, und es würde eine lange musikalische .Konferenz geworden,
sei», wenn nicht die Leichenfrau gleich hinterher gekommen wäre und den Herrn
Pastor abgerufen hätte.
Ferner bewiesen großes Interesse für das musikalische Kränzchen die Zesch-
witzens, die doch nicht fehlen durften, wo die Kranzens mitmachten, sowie Familien,
die Wert darauf legten, mit Bnrvu Krnuzeus oder mit deu Zeschwitzens in gesell¬
schaftliche Beziehungen zu kommen. Willkommen waren auch die Pastoren der Um¬
gegend mit ihre» Familie»; diese stellten das Bindeglied zwischen den verschiednen
Kreiselt der Gesellschaft dar. Man war höchst gespannt auf die Einladungen. Deal
nicht eingeladen zu sein bedeutete fast soviel wie hinausgeworfen zu sein. Wer hätte
sich auch hinterher zum Beitritte melden können, wenn man nicht für gut genug
befunden worden war, eingeladen zu werden?
Nachdem alles in engerm Kreise und unter dem Vorsitz des Herr« Baron
fertig gemacht war, ritt ein herrschaftlicher Bedienter, denn fein sollte doch die Sache
gemacht werden, mit einem Zirkuläre von Ort zu Ort und fand überall freudigste
Aufnahme. Aber Sensation erregte es, als man erfuhr, wer nicht eingeladen
worden war. Nicht eingeladen waren Apothekers, obwohl die Frau Apotheker, eine
ungewöhnlich hübsche junge Frau war, die ausgezeichnet sang, geradezu wie eine
Künstlerin. Sie soll auch auf der Sternsehen Musikschule ihre Ausbildung erfahren
haben. Und warum ist sie nicht eingeladen worden? Darüber gingen die Mei¬
nungen aus einander. Die einen sagten, man könne doch Barons nicht zumuten,
mit Apothekers zu Verkehre«, und die andern meinten, die Fran Apotheker sänge
den Müttern, die singende Töchter hätten, zu gut. Nicht eingeladen wurde der
Amtsrichter, was keinen Wunder nahm, da dieser kränklich und halb taub war.
Das letzte wäre übrigens in den Augen des Herrn Amtsrat kein Grund gewesen.
Nicht eingeladen wurde der Direktor der Zuckerfabrik, natürlich, weil seine Fran
eine geborne Goldstein war. Ebenso wenig erhielten die Honoratioren in Protzknn
Einladungen, was diese sehr verdroß. Sie beschlossen also ihrerseits das musikalische
Kränzchen zu ignorieren, was aber nicht hinderte, daß die Frau Bürgermeister, die
„natürlich" dem Schwan gegenüber wohnte (denn wo hätte der Schwan und das
Rathaus anders liegen können, als am Markte) am Tage der ersten musikalischen
Zusammenkunft einen großen Kaffee gab. Sie hat von keiner Seite eine Absage
erhalten, und es soll ein sehr genußreicher Nachmittag gewesen sein.
Die Sache machte sich auch höchst feierlich. Zuerst kennen ein paar ländliche
Familien in hellen Haufen an. Dann erschien Herr Gorgaß mit dem Herrn Pastor
Langbein im funkelnagelneuen Break, dann der Herr Amtsrat mit Familie im
großen Landauer, dann uoch viele andre Wagen, Jagdwagen, Landauer, Pastoren-
kutschen, elegante und nicht elegante Gefährte, und zuletzt der Herr Baron in der
bnrönlichen Karosse mit einem stolz-langweiligen Kutscher auf dem Bocke und neben
ihm das Cello im Futterale. Sogleich stürzte der Wirt nebst Personal ans der
Thür, um der alten gnädigen Fran, ihrer Gesellschafterin und dem Herrn Baron
beim Aufsteigen behilflich zu sein. Hierauf bildete sich eine Art Festzug. Voraus
die alte gnädige Frau und die Gesellschafterin, dann der Herr Baron, dann das
Cello, dann die Noten, dann die Decken und dann die Fußsäcke. Das war der
Höhepunkt dieses Tages.
Wir wollen nicht den erstell Vereinstag schildern. Dieser Tag hatte »och
etwas Unfertiges an sich. Wir wollen auch mit schonenden Stillschweigen über
die musikalischen Leistungen dieses Tages hinweggehn. Man war sich noch zu fremd,
man getraute sich noch nicht heraus.
Und auf so einem elenden Klapperkasten kann meine Lene anch überhaupt gar
uicht spielen, sagte die Frnn Doktor — Lene war nnmlich mit ihrem Walzer von
Schoppängen stecken geblieben —, auf einem so miserabeln Kasten zu spielen sollte
einem gebildeten Menschen überhaupt nicht zugemutet werden.
In der That, das Klavier, das eine lange Reihe von Tanzkränzchen und
Liedertafel-Übungsabendeu hinter sich hatte, war sehr heruntergekommen. Wenn es
wenigstens ordentlich gestimmt gewesen wäre! Wir geben Bericht vou einem spätern
Kränzchentage, an dem schon alles in Fluß und Ordnung war.
Herr Pastor Langbein mit seinem großen Notenpakete und Herr Gvrgaß
waren wie immer die ersten. Um vier Uhr sollte das Kränzchen beginnen. Um
fünf Uhr fing mau an zu kommeu. Der Saal war aufs feinste hergerichtet. Alle
Petroleumlampen des Kronleuchters waren angesteckt, nicht bloß eine um die andre,
wie bei Bürgerverguiigungen gebräuchlich war, die Öfen waren überheizt, und da
es geraucht hatte, hatte der aufmerksame Wirt Räucherpulver ausgestreut. Der
Flügel war auf die Gefahr, seine altersschwachen Beine zu brechen, konzertmäßig
vorgeschoben. Man hatte einen verblichnen Teppich ausgebreitet und Notenpulte auf¬
gestellt, an denen die Sängerinnen hernach mit ihren Kleidern hängen zu bleiben
pflegten. Auch ein Nebenzimmer war eingerichtet worden. Hier pflegten die Herren
ihre Überzieher aufzuhängen, hier durfte geraucht werden, und hier hatte der Herr
Amtsrat seine» Whisttisch aufgeschlagen. Das zuhörende Publikum nahm im Saale
in einem großen zwanglosen Halbkreise Platz. Die Mitte war zu einer Art Hofloge
eingerichtet. Daselbst wurden Plätze für Frau vou Kranz, für Frau von Zeschwitz
und andre hervorragende Damen der Gesellschaft aufbewahrt. In dieser Loge hielt
Frau von Kranz, die als langjährige Freundin der Prinzessin Thekla am Hofe zu B.
verkehrte, selbst eine Art von Hof. Auch die Frau Suveriuteudentin hielt sich für
berechtigt, in der Hofloge Platz zu nehmen, einesteils, weil sie das weibliche geist¬
liche Oberhaupt war, andernteils, weil ihr Großvater Silberdiener und ihr Vater
geheimer Hofsekretär in B. gewesen war. Dem Hofgebrauche entsprechend dämpfte
sie ihre Stimme zu einem diskreten Flüsterton. Die eine Seite des Halbkreises
nahm das junge Volk ein, die andre die ältern- Herren, sofern sie nicht im Rauch¬
zimmer weilten. An der Herrnecke wurde mit großem Eifer und eben solcher Ans-
dauer diskutiert — über die Aussichten der Kornpreise, über Ablösuugsfragen,
Sozial- und andre Politik. Der Herr Superintendent pflegte zu spät zu kommen
und sich dann überall mit der Last seiner Arbeit zu entschuldigen. Der Herr
Kandidat pflegte am Thürpfosten zu lehnen und zu schweigen, und in der Mitte
des Saals pflegten sich die Kenner und Musikfreunde, Herr Gvrgaß, Herr Lauter
und andre aufzuhalten. Herr Pastor Langbein zog mit seinen Notenbüchern im
Hintergrunde umher.
Der Kaffeefrage wurde zunächst ausführliche und gründliche Behandlung zu
teil, darauf hieß es: Ach, Fräulein Lene, spielen Sie doch mit Ihrer Schwester
Marie etwas. Sie können ja das so schön.
Himmlisch, sagte Fräulein Amalie.
Ach Gott nein, erwiderte Fräulein Lene, wir könne» nichts, wir getrauen uns
nicht, und wir haben auch keine Noten mit.
Ach was, dummes Zeug, sagte die Frau Doktorin, hier wird sich nicht geziert!
Spielt doch euern Kalifen, den könnt ihr. Die Noten liegen draußen auf dem
Büffet.
Dagegen war nun nichts zu machen. Und sogleich stürmte der junge Penkert
davon, um die Noten zu holen. Eigentlich wäre das etwas für den .Kandidaten
gewesen. Ehe dieser jedoch die Lage der Dinge begriffen und einen Entschluß ge¬
faßt hatte, war der Augenblick längst vorüber.
Die beiden Doktortöchter nahmen also die Noten in Empfang, blätterten ewig
lange und spielten ihren Kalifen von Bagdad, den sie sich eingeübt hatten, hübsch
bequem im Trotteltrabe und mittlerem Forte, Jedesmal wenn umgewandt wurde,
machte mau eine Pause zum Aufatmen. Um das Klavier stellte sich der Kreis
der engern Musikfreunde, Herr Gorgnß, Herr Lauter und andre.
Während dessen kamen noch Teilnehmer des Kränzchens an, die begrüßt werden
mußten. Und zuletzt verursachte die Frau Baronin, die — ganz wie Prinzeß Thekla - -
hereinschwebte, einen großen Aufstand, Alles erhob sich. Es fehlte nicht viel, so
hätte es Handkusse gegeben. Die Frau Baronin hielt einen regelregten Cerele ab
und war von tadelloser Leutseligkeit — ganz wie Prinzessin Thekla, Endlich feste
man sich. Frau Superintendeutin nahm mit holdseligem Flüstern Beschlag von der
Frau Baronin; und Frau von Zeschwitz, die gern etwas den Naturburschen spielte,
ritt, fuhr, schoß und die Kranz nicht leiden konnte, ging ab, um sich unter die
Jugend zu setzen.
Darüber war nun das Quatremains ungehört zu Ende gegangen. Die Frau
Doktor warf vergeblich einen Beifall heischenden Blick ans das Auditorium, das
nichts gehört hatte. Dagegen geleitete Herr Gvrgaß die jungen Mädchen zu ihren
Plätzen und erzählte, daß er einmal „die Entführung aus dem Serail" gesehen habe.
Das sei genau dasselbe wie der Kauf, klinge aber etwas anders. Herr Gorgaß hatte
nämlich, um sich nützlich zu machen, das Amt des „Bärenführers" übernommen,
wozu seine musikalischen Fähigkeiten ausreichten, und er wurde darin durch Herr»
Lauter unterstützt, der, was die andern sagten, durch schöne Zitate bereicherte.
Was nun? Herr Pastor Langbein lauerte mit einer Schubertschen Sonate
im Hintergründe. Aber für den war es noch zu zeitig. Denn man wußte schon,
wenn der angefangen hatte, so horte er sobald nicht wieder auf. Ah! der Herr
Baron mit dem Cello. Sogleich wurde das Cello feierlich auf bewußten Teppich
getragen und ausgepackt. Aber wo war der Herr Baron? Er war von Herrn
Neugebaner eingesungen und in eine verborgne Ecke geschleppt worden, wo sich
beide in die Pomologie vertieft hatten.
Ach, Herr Baron, flötete die Frau Superintendeutin, würden Sie die große
Freundlichkeit haben, uns etwas auf Ihrem herrlichen Instrumente vorzuspielen.
Der Herr Bnron winkte Gewährung und fuhr fort: Also die Kanada-Reinette,
der Pigeon rouge, die Calville blnnche und besonders der gelbe Belle-fleur siud
nur für geschützte Lage —
Und guten lehmigen Boden, fügte Herr Neugebaner hinzu.
Jawohl, mich Sand kann der Boden haben, aber keinen Thon —
Herr Baron — Pardon, wenn ich unterbreche, sagte Herr Gvrgaß, es ist
alles bereit.
„Bereit zur heiligen Handlung," zitierte Herr Lauter im Hintergrunde.
Danke, danke, ja gewiß, im Augenblick. Aber der Kaiser Alexander kann
schon eher etwas vertragen. Und die englische Spitalreiuette kommt überall fort.
Aber vor Wind muß sie geschützt werden, fügte Herr Neugebaner hinzu,
Herr Baron, die Damen küssen herzlich bitten, ob Sie jetzt spielen möchten,
„Jetzt oder nie," zitierte Herr Lauter im Hintergrunde,
Der .sserr Baron ließ sich erbitten und machte sich an sein Cello, das, wie
es bei Musikanten der Brauch ist, mit Umständlichkeit gestimmt wurde. Aber wer
sollte den Klavierpart übernehmen? Am liebsten spielte er mit der Gesellschafterin,
die seine Art schon kannte und nachzugeben verstand, wenn der Herr Baron einen
halben Takt unter den Tisch warf. Aber die Gesellschafterin hatte Migräne und
war nicht mitgekommen. Das gab wieder eine lange Unterhandlung. Niemand
getraute sich herau. Endlich zog man den Herrn Pastor Langbein herzu, der
sich mich sträubte, weil er eigentlich moderne Sachen überhaupt nicht spiele.
Ach, Sie werden es schou spielen können, sagte man, es ist ja fast zu leicht.
„Gewogen, gewogen, zu leicht erfunden," sagte dumpf Herr Lauter.
Man spielte, und es ging anch, wenigstens kam man immer wieder zusammen,
wen» man auseinander gekommen war. Im Anfang hörte die Gesellschaft mit ge¬
spannter Aufmerksamkeit zu, aber die lamentabel» Töne des Eello, die der Spieler
auch mit dein nötigem Zittern versah, waren zu verführerisch und forderten förm¬
lich dazu auf, etwas dazu zu sagen. Und so kam die Unterhaltung wieder in Gang.
Der Wahrheit die Ehre, die lautesten waren die Herren am linken Flügel, die ein
sozialpolitisches Thema vorhatten. Aber die Musik war sehr schön gewesen, man
applaudierte lebhast und bat dringend um eine Zugabe.
Etwas vou Beethoven, sagte Herr Pastor Langbein.
Ach ja, Beethoven, meinte Fräulein Amalie. Beethoven ist entzückend. Die
Schollen Augen und die wilden Künstlerhaare, himmlisch!
Spielen Sie den „Husarenritt," Fräulein Aninlie? fragte die Lene.
Nein, aber ich finde die Husaren reizend. Bei uns in C. standen hinne Husaren.
Diese Uniform! — entzückend! Nein sie find zu nett. Finden Sie nicht auch,
Fräulein Rosa?
Fräulein Rohr ist die Tochter des Amtsrats und ein Goldfisch. Sie hat schon
mit manchem Husarenleutnant getanzt und schon manchen Korb ausgeteilt und findet
an ihnen nichts besondres zu loben.
Aber mein! Warum denn nicht?
Sie heiraten ja doch nur ucich Geld, und sie siud mir auch zu unsolide.
Wieso unsolide? Ist nach Geld heiraten unsolide?
Amalie, Sie sind ein Bähschäfchen, sagte die Frau Doktor. Aber wer spielt
denn um mit der Lene den Husareuritt? Herr Kandidat, kommen Sie doch einmal
herüber. Leue, rücke zu. Sie spielen doch auch Klavier. Sie müssen mit der Lene
den Husarenritt spielen.
Der Herr Kandidat machte erschrocken Einwendungen, aber es half nichts. Er
und die Leue mußten ans Klavier. Aber sie kamen nicht über die erste Seite
hinaus. Wiewohl die Leue mir eine» sehr milden Galopp eingeschlagen hatte, so
kam doch der Herr Kandidat bei den vielen Noten nicht mit.
Na, es schadet nichts, sagte die Frau Doktor, es wird schon gehn lernen. Sie
müssen nur mit der Lene üben. Besuchen Sie uns doch des Abends, wir sind
immer zu Haus. Damit sah sie sich selbstbewußt im Kreise um, als wollte sie
sage«, seht ihr, so wirds gemacht.
Jede kamen ein paar junge Dämchen daran, die ein Paar Liederchen sangen.
Die zugehörigen Mütter waren gerührt, aber die Neidhammel, und denen nichts
gut genug war, flüsterten sich zu: Wenn man nicht mehr könne, sollte man lieber
still sein und nicht andern in den Weg treten.
Darauf kam die wirkliche Kunst zum Durchbruch. Ein Fräulein Koch, daS
bei Peukerts zu Besuch war, spielte Mozarts Phantasiesonnte: großartig und mit
Verständnis. Alles anders, wie es da stand oder wie es el» harmloses Menschlein
gespielt haben würde; sie spielte mit Betonungen und Ausdruck, nun laut und nun
leise, ganz so, wie sie es Takt für Takt bei ihrem Klavierlehrer in B. (die Stunde
zu drei Mark) gelernt hatte. Herr Gorgas; war ganz weg. Nein, mein Fräulein,
sagte er, Sie spielen gottvoll, großartig! Wie Sie so in die Tasten hinein¬
greifen —
„Greift nur hinein ins volle Menschenleben," zitierte Herr Lauter,
Das Fräulein war hochbeglückt.
Jetzt bemächtigte sich Frau von Zeschwitz des Klaviers, Ach, Fran von Zeschwitz,
bitte, bitte, das Frühlingslied von Gounot, bat man.
Ach ja, das Frühlingslied, sagte Fräulein Amalie, Frühlingslieder liebe ich
gräßlich,
Frau von Zeschwitz räusperte sich und meinte, es sei ihr nicht besonders früh¬
lingsmäßig zu Mute, sie habe einen greulichen Katarrh und habe sich auch gestern
die Hand beim Fahren vergriffen. Sie wollte aber einmal sehen, Begleitung
lehnte sie ub, sie könne nur singen, wenn sie selbst spiele. Und das hatte auch
seine Gründe, denn sie band sich weder an Takt noch Tempo, Sie begann ihren
Bortrag, indem sie über die Taste» etwas hinwischte, was die Gounodsche Beglei¬
tung markieren sollte, und dann legte sie los, mit einer Riesenstimme und einem
Schwunge, der zwei dramatischen Sängerinnen Ehre gemacht hätte, denn für eine
wars zu viel.
Darauf gab sie noch ihre zwei andern Lieder zum besten: „Lehn deine
Wang an meine Wang" und „Ich grolle nicht" und erntete großen Beifall. Denn
die Starke einer Stimme kann jeder beurteilen, darin irrt man sich nie. Großartig!
Diese Stimme! Nein, einzig!
Pastor Langbein befand sich mit seinem Notenbuche noch immer im Hinter¬
grunde, Jetzt strebte er aber ernsthaft dem Klaviere zu. Ehe er es jedoch er¬
reicht hatte, erhob sich ein froher Tumult unter der Jngend. Das ist jn reizend,
entzückend, himmlisch! Nein, daß Sie auch spielen, Fräulein Rohr!
Aber Kinder, ich kann ja nichts.
O doch, Sie spielen Akkordzither, und Ihr Herr Bruder spielt Oknriua.
Bitte! bitte s
Der Herr Pastor mußte mit seinem Schubert zurücktrete», nud es gab wieder
eiuen große» Umstand, ehe ein Tisch gestellt und die Instrumente geholt und ge¬
stimmt waren. Und darauf spielte man: „Mein Herz ist wie ein Bienenhaus" und
andre schone und neue Dinge. Der Erfolg war ein durchschlagender, das junge
Volk war außer sich vor Vergnügen. Schon dachte man daran, die Tische zu¬
sammenzurücken, aber es kam nicht dazu. Der Herr Pastor erreichte endlich seinen
Stuhl und seinen Zweck und trug seine lange Schnbertsche Sonate mit allen ihren
himmlischen Längen vor.
Man bezahlte den Kellner, man brach auf, man hielt mehrere Abschiedsständer,
Pnstor Langbein war immer noch nicht fertig. Auch der engere Kreis der Zu¬
hörer verlief sich, selbst Herr Gorgaß bestellte das Anspannen. Da aber wartende
Pferde keinen Spaß versteh«, so kam der Herr Pastor zum Schluß und fuhr mit
Herrn Gorgaß davou.
„Und Roß und Reiter sah man niemals wieder," deklamierte Herr Lauter hinter
den Abfahrenden her.
Es war sehr schön gewesen, man war allerseits hochbefriedigt. Und die Frau
Doktor sagte zu ihren Mädchen: Seht ihrs deun el», daß ihr eine Mutter habt,
für die ihr dem lieben Gott auf den Knieen danke» müßtet?
Die Protzkauer Kreise, die dem musikalischen Kränzchen nicht wohl gesinnt
waren, sprachen die Vermutung aus, daß es sich binnen kurzem wieder auflöse»
werde. Das geschah aber uicht, wenn anch der Besuch kein so reger blieb wie im
Anfange. Ja, es erlebte die Zeit eines neuen Aufschwunges, Dies bewirkte der
neue Amtsrichter, der nach Protzkau kam. Mnu erwäge aber auch, was das sagt,
ein Amtsrichter, unverheiratet, jung, stattlich und mit Hiebnarbeu auf der Backe.
Und dieser Amtsrichter meldete sich ohne weiteres zum Kränzchen an nud wurde
mit offnen Armen aufgenommen. Und hinterher kam anch noch heraus, daß er
musikalisch sei, hochmusiknlisch!
Das ist ja rein unglaublich, sagte die Frau Professor.
„Unglaublich, aber wahr," fügte Herr Lauter hinzu.
Ach was, sagte die Frau Doktor, erst abwarten! Ich wenigstens habe noch
keinen Rechtsverdreher gefunden, der was gescheites gekonnt hätte. Na jn, mil
dem Munde versteh« sie alles, anch Musik. Wenn sie jung sind, tapezieren sie die
Wände, und wenn sie alt sind, gehen sie mit Frau und Tochter ins Konzert ans
den ersten Platz und reden klug, aber das ist anch alles. Mir machen sie nichts
vor, ich weiß das.
Die Frau Doktor war offenbar gegen den Herrn Amtsrichter in etwas ge¬
reizter Stimmung, und zwar mit Recht, denn er hatte bei Doktors noch immer
keinen Besuch gemacht.
Aber der Herr Amtsrichter konnte wirklich etwas. Er spielte nicht allein
meisterhaft Klavier, er hatte auch eine schöne Stimme und war ein wirklich musi¬
kalischer Mensch. Hier in diesem Protzkau, wo er sich wie verbannt vorkam,
wenigstens ein musikalisches Kränzchen zu finden, gewährte ihm einigen Trost. Als
er das erstemal im Kränzchen erschien, wurde er mit großer Zuvorkommenheit em¬
pfangen. Das junge Volk war vollzählig erschienen, und die zugehörige» Mütter
stimmten die höchste» Töne der Liebenswürdigkeit an. Als er aber zu spielen an¬
fing, herrschte große Aufmerksamkeit, und alles schaute gespannt auf seine Hände —
ob dort wohl ein Ring zu sehen sei. Es war keiner zu sehen. Der Applaus
entsprach dieser Thatsache. Als er aber gar zu singen anfing und „Wenn zwei
sich nur gut sind" vortrug, da war es nicht bloß Fräulein Amalie, die das ent¬
zückend fand.
Mit dem Herrn Amtsrichter war also das Kränzchen sehr zufrieden, nicht so
der Herr Amtsrichter mit dem Kränzchen. Diese Art, Musik zu machen, schien ihm
denn doch etwas zu harmlos zu sei«. Und dann, daß man so ungeniert während
des Musizierens schwatzte, das verdroß ihn. Es war doch keine Biermusik, die
man machte. Er brachte denn anch bei Gelegenheit diese Dinge zur Sprache, fand
aber keine rechte Gegenliebe für seine Wünsche. Die jungen Mädchen über¬
wanden sich und schwiegen, wenigstens solange, als der Herr Amtsrichter spielte.
Ja sie suchten sogar die ältern Damen, die ihr Kaffeegespräch aller Mahnung zum
Trotze fortsetzten, durch mißbilligende Blicke zu beeinflussen, aber nur mit mäßigem
Erfolge. Weniger Rücksicht nahmen die Herren im Saale und die Herren im Rauch¬
zimmer gar keine. Dazu hatte der Herr Amtsrat die schlechte Gewohnheit, beim
Whist gewaltig auf den Tisch zu pauken, wenn er die Force in der Hand hatte.
Das gab deun zur Musik die Paukenbegleitung, aber im falschen Rhythmus. Die
Thür zuzuschließen war nicht durchführbar, da fortwährend ans- und eingegangen
wurde. Also blieb nichts andres übrig, als die Frage aufzuwerfen, ob man nicht
im Kränzchen auf das Kartenspiel verzichten »volle. Damit waren die Herren
Pastoren, denen das Kartenspielen von Anfang an sehr zuwider gewesen war/ sehr
einverstanden. Man brachte die Sache in einer Vvrstandssitzung zur Sprache, und
man beschloß, Herrn Amtsrat die Bitte nnszusprechen, auf seinen Whist zu verzichten.
So, sagte der, das ist ja recht nett. Da soll ich mich Wohl hinsetzen und
euerm Geklimper zuhören? Sagt nur euerm Vorstande, wenn ich meinen Whist
nicht haben könnte, so dankte ich für das übrige, — Und er blieb weg, und der
große Landauer war von da an nnr schwierig zu haben.
Der Herr Amtsrichter fand, daß es nötig sei, den Wert der musikalischen
Leistungen zu erhöhen. Immer wieder die paar Liederchen oder eine geniale
Leistung von Frau von Zeschwitz, das wurde doch langweilig. Warum man nicht
versuche, ein Quartett zusammen zu bringen? Dieser Gedanke fand bei den jungen
Damen begeisterte Zustimmung. Alles drängte herau. Es war schwierig, den
Sopran vom Alt zu scheiden. Herr Gorgaß, Herr Lauter, der Herr Kandidat und
einige andre wurden in den Tenor und Baß gesteckt. Noten waren da. Zu An¬
fang etwas leichtes: Mendelssohns „Entflieh mit mir und sei mein Weib." Der
Herr Amtsrichter dirigierte. — Also bitte, jetzt. H Kis V, Vier! Fünf! Ent¬
flieh mit mir.... Ach du lieber Gott, auch die Solosängerinnen hatten vorbei
gesungen, und Fräulein Amalie, die sich, in Entzücken schwimmend, in die erste
Reihe gepflanzt hatte, war gar nicht hineingekommen. — So ging das also nicht.
Man mußte die Stücke einübe», und man beschloß, die Übung eine Stunde vor
Beginn des Kränzchens zu beginnen. — Aber bitte, meine Damen, sagte der Herr
Amtsrichter, pünktlich. — Jawohl, jawohl. — Die Damen kamen auch leidlich
pünktlich, aber die Herren so unpünktlich, daß nichts aus der Übung wurde.
Der Herr Amtsrichter ließ den Chorgesang fallen. Die musikalischen Kräfte
überschauend fand er, daß mit den vorhandnen, außer mit Herrn Pastor Langbein,
wenig anzufangen war. Wenn aus dem musikalischen Kränzchen etwas werden
sollte, so mußten neue musikalische Kräfte herangezogen werden. Sollte es nicht
solche Kräfte in der Gegend geben? Ah, die Fran Apotheker!
Sagen Sie mal, meine Herren, sagte der Herr Amtsrichter, warum ist eigent¬
lich die Fran Apotheker dem Vereine nicht beigetreten? Es ist doch eine musika-
lische .Kraft ersten Ranges.
Verlegnes Schweigen.
„Schweigend in der Abenddttmmruug Schleier ruht die Flur," deklamierte
Herr Lauter im Hintergründe.
In allem Ernst, meine Herren, fuhr der Herr Amtsrichter fort, hat man etwas
gegen die Dame? Liegt etwas vor? Wird sie nicht gern gesehen?
O nein, o nein, durchaus nicht. — Man konnte doch nicht sagen, daß »mir
einen Apotheker nicht für hoffähig halte, und daß man die Frau Apotheker nicht
eingeladen habe, um zu verhüten, daß die Leistungen der verehrten Töchter in den
Schatten gedrängt würden. Der Herr Amtsrichter übernahm es, die Sache zu
arrangieren. Das geschah, und am nächsten Kräuzchentage erschien die Fran Apo¬
theker, einfach aber nett angezogen, unbefangen, liebenswürdig und gar nicht klein¬
städtisch. Sie stammte ja auch nicht aus Protzkau. Frau Baronin war unnahbar,
»ut die übrigen Damen verhielten sich kühl und zurückhaltend, sodnß Frau Apo¬
theker vereinsamt gewesen wäre, wenn sich nicht schnell ein Kreis von Herren um
sie gesammelt hätte. Darauf sang sie, ohne sich zu zieren oder etwas vorstellen
wollend, von dem Herrn Amtsrichter meisterhaft begleitet, ausgezeichnet. Sie hätte
ohne weiteres als Konzertsängerin auftreten können. Man nahm die Leistung mit
einiger Verlegenheit entgegen. Der Beifall der Damen war matt, der der Herren
desto herzlicher und lauter. Man wird ihnen Wohl hinterher klar gemacht haben,
daß es gestattet sei, sein Wohlgefallen zu äußern, wenn sich die Damen der guten
Gesellschaft produzieren, aber nicht bei dieser Frau Apotheker, die nicht gesellschafts¬
fähig sei, und deren Vergangenheit niemand kenne.
Auch das Klavier mißfiel dem Herrn Amtsrichter. Man müsse durchaus für
ein besseres sorgen, auf diesem alten Kasten breche man ja die Finger. Es war
richtig, das Klavier war heillos, »ut Stimmung hielt es auch nicht. Es wurde
vorgeschlagen, Herr Gorgaß, der ein halbes Dutzend Klaviere besitze, könne jn eins
dein Kränzchen borgen. Aber davon wollte Herr Gorgnß nichts hören. Er ver¬
sicherte unter höflichsten Hackenzusammenschlngen, daß er zu allen Diensten bereit
sei, aber seine kostbaren Instrumente weggeben —
„Ja, Bauer, das ist etwas andres," zitierte Herr Lauter, worauf Herr Gorgaß
böse wurde und sagte, er verbitte sich anzügliche Redensarten. Worauf Herr Lauter,
der sich nichts schlimmes gedacht hatte, erschrak und verstummte. Später hat er
immer Vorsichtig um sich geschaut, ob nicht Herr Gorgaß in Hörweite sei, ehe er
sich wieder ein Zitat leistete.
Mit Herrn Pastor Langbein hatte sich der Herr Amtsrichter bald befreundet,
und es kam ein ganz erfreuliches vicrhändiges Spiel zu stände. Aber mit dein
Herrn Baron hatte es seine Schwierigkeiten. Der Herr Baron redete zwar über
Musik sehr klug, kannte auch alle berühmten Celli aller berühmten Cellisten, aber
er war nicht in Takt zu bringen und nahm es übel, wen» er nu seine Pflicht er¬
innert wurde, nicht bloß seine eignen Wege zu wandeln.
Der nächste Kränzchentag war wieder schwächer besucht als der vorige. Mehrere
der ältern Damen fehlten. Auch die Frau Baronin. Sie soll gesagt haben, die
Gesellschaft in Protzkan werde ihr jetzt zu gemischt. Auch die Iran Doktor erklärte
von vornherein, daß sie daran denke, aufzutreten. Sie habe jetzt, seit der Herr
Kandidat abends zum Musizieren komme, genug Musik im Hanse. — Und daß ihrs
nnr wißt, fuhr sie fort, der Herr Amtsrichter ist verlobt mit eiuer Fabrikantentochter
aus Elberfeld — schon seit einem halben Jahre.
O Pfui! sagte Fräulein Amalie.
Aber man habe doch keinen Verlobungsring gesehen. — O doch, das alte
Ding, das er trage, sei der Verlobungsring, ein altes Erbstück, das schon seine Ur¬
großmutter getragen habe.
Wie gräßlich!
Na, gräßlich ist es gerade nicht, Frnuleiu Amalie.'
Ich hasse Erbstücke.
Machen Sie sich doch nicht! Wenn Sie nur solch ein Erbstück um Finger
hätten!
Darauf hielt die Frau Doktor dem Herrn Kandidaten eiuen Vortrag über
die Erziehung der Töchter. Die Frau Professor Mehrau sei eine herzensgute Frau,
aber ganz erschrecklich schwache Mutter. Was sie an ihrer Amalie zusammenerzogcn
habe, sei haarsträubend. Diese Amalie könne auf der ganzen Welt nichts weiter,
als zu allem ihren dummen Schnack machen! aber zufassen gebe es nicht. Sie habe
es mit ihren Töchtern anders gehalten, die wären Wohl erzogen, arbeitsam, geschickt,
anspruchslos. Und die Leue könne mau unbesehens nehmen, mit der sei kein Mann
betrogen. Man kann sich denken, daß, als es bekannt wurde, der Herr Amtsrichter
sei verlobt, der Eifer für die Musik bei vielen erkaltete.
Der Herr Amtsrichter hatte von nlledem keine Ahnung. Er hatte sich zur
Aufgabe gemacht, die musikalischen Leistungen des Kränzchens zu heben und setzte
es durch — andre sagten, er habe einigermaßen eigenmächtig gehandelt —, daß
ein Pianino gemietet und im Saale aufgestellt wurde. Nun aber fehlte noch ein
Geiger, um wenigstens ein Trio besetzen zu können. Man dachte an den ersten
Geiger der Stadtkapellc. Man giebt ihm jedesmal drei Mark, so kommt er mit
Vergnügen. Er thuts auch mit zwei Mark. Dies wurde denn auch versucht, aber
es ging nicht. Der Herr „Kapellmeister" kratzte auf seinein schauerlichen Instru¬
mente herum, daß es erbärmlich war anzuhören. War denn niemand in der ganzen
Gegend, der einigermaßen Geige streichen konnte? El freilich, der Herr Zucker¬
fabrikdirektor spielte sehr hübsch Bioline und hatte kaum eine halbe Stunde bis
Prvtzkan. Warum beteiligt sich denn der nicht am Kränzchen. — Er ist nicht ein-
geladen worden. — Aber warum denn nicht? — Seine Frau ist eine geborne —
Goldstein, wurde unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt. — Aber ich
bitte Sie, erwiderte der Herr Amtsrichter, über solche Vorurteile sollte man doch
hinweg sein. Nein, meine Herren, lassen Sie uns ruhig deu Direktor auffordern.
Wir »vollen doch Musik hören, was kommt es auf deu an, der sie macht. Und
wenn wir solche Kräfte ungenützt lassen, kann ans unserm Kränzchen niemals etwas
ordentliches werden. — Die Herren hatten doch ihre Bedenke», aber sie kamen
gegen den Herrn Amtsrichter nicht auf. Dieser setzte es durch — einige behaup¬
teten, daß er eigenmächtig gehandelt habe —, daß der Herr Direktor eingeladen
werde. Der Herr Direktor kam auch, und zwar zunächst allein. Jetzt fehlte der
Herr Baron. Als man aber zum darauffolgenden Kränzchen ein hervorragendes
Programm zusammengebracht hatte, Beethovens Kreutzersonate, Schumanns Franen-
lieb und -Leben, Mendelssohns Sommernachtstraum und andre schöne Sachen, und
als die Fran Direktor, geborne Goldstein, mit ihren Fräulein Schwestern Sally,
Fanny und Sarah in bunter Seide ankamen, war anßer den Mitwirkenden und
ihre» Angehörigen, sowie deu Herren Gorgaß und Lauter niemand da.
Auch gut, sagte der Herr Amtsrichter. Kommen Sie, meine Herrschaften,
jetzt »neben wir Musik unter uns, dabei kommen wir besser auf unsre Rechnung.
„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, fort mußt du, deine Uhr ist
abgelaufen," sagte Herr Lauter und zog in tragischer Haltung hinter der abziehenden
Musikanteugesellschcift her.
Das war das Ende des Kränzchens.
in Ostermontag ging es lebhaft zu im alten Kegelschub hube» und
drüben. Im goldnen Engel war Polterabend, in der Schmiede
feierten sie das älteste der fünf Räder. Der Franz war eingesegnet
worden und sollte morgen auf ein Jahr fort in fremde Lehre. Ein
Schmied mußte natürlich draus werden, aber Vaters Hand ist zu
hart oder zu weich, die ersten Hörner müssen anderswo herunter.
Da gabs Abschiedsfest mit ein paar Gästen, und „Ackermanns Line" kochte für die
halbwüchsigen Herrchen.
Außerdem ging Fräulein Flörke zum erstenmal zu Tanze. Mau muß nun
dran denken, hatte die Mutter gesagt und damit jedes Widerstreben der Tochter in
Grund und Bode» geredet.
nett sah aus wie Kraft und Jugend selber, keiner dachte bei ihrem Anblick
daran, ob sie reich oder schlicht gekleidet sei, und Karl stand oben an der Brüstung
und sah unverwandt auf das Mädchen hinab, das, ans die Mutter wartend, zwischeu
zwei Schmiedebnben im Hof stand.
Line sah den Bruder von Ackermaus Küche ans auf dem Bevbachtmigsposten
und lief, von einer plötzlichen Hoffnung berührt, hinauf.
Karl, sagte sie atemlos, aber nicht vom Laufen, geh mit zu Tanze!
Mir Ware wie tanze».
Sieh zu, wenn du dich nicht drehen magst.
Das nun schon gar nicht! Laß mich in Frieden.
Sie wollte weiter drängen, aber da kam Mutter Flörke augerauscht im höchsten
Staat, und die beiden Frauen gingen, nach allen Hoffenstern grüßend, zum Hanse
hinaus.
Zu spät. Nachlaufen würde er ihnen sicher nicht, es war ihm eben mit
nichts Vernünftigem beizukommen. Auch Line ging verstimmt wieder in die
Küche hinab.
Nur Karl und Professor Kilbnrg schauten noch uach dem Fleck, um nett ge¬
standen hatte. Dann hob Kilbnrg den Kopf, nickte Karl freundlich zu und sagte:
Karl sah verwirrt hinüber nach dem knarrende» Fenster. War er so leicht
zu durchschauen, oder brachte der alte Herr nnr eine allgemeine Weisheit an, die
ihm die schöne Jugend da unten in Erinnerung gebracht hatte?
Die Frage quälte den jungen Luftschiffer den ganzen Nachmittag, aber unter¬
kriegen lassen wollte er sich nicht, ini Gegenteil, um gabs einen guten Kampf, den»
der Feind war erkannt. Jetzt wußte er, was ihn ans den Versuchergedanken ge¬
bracht hatte, er werde den goldnen Engel nie flügge bekommen: die Liebe zu nett
wurf gewesen, die ihn frei haben wollte und untreu gegen seine Pflichten. Nichts
dn! jetzt war der Verstand wieder obenauf.
Kurz entschlossen trug er das Azaleenbäumchen, an dem die letzten Blüten
standen, in die Werkstatt hinüber, die jetzt nicht viel mehr war als Durchgang, und
begab sich wieder an seine „Feierabendarbeit."
Die Haspen und Reisen waren nicht mehr tot, Kobolde waren sie, die ihn in
die Irre lockten, und mit heißem Kopfe quälte er sich durch eine endlose Frühlings¬
nacht dem Morgen entgegen.
Line rief zum Abendbrot, er kam nicht; die Schmiedegäste lachten im Hofe,
aus der Apotheke klang Polternbeudlärm herüber, der alte Professor versuchte sich
auf Ackermanns Flöte, Leierkasten und Harmonika sangen hinter der Stadtmauer
dem ersten warmen Abend ihr Loblied, Karl blieb in seiner Höhle.
Um die zehnte Stunde kamen Flörkes zurück, die Mutter erzählte laut und stolz
von den Erfolgen der Tochter, Karl deckte die Hände über die Ohren und starrte
auf den widerspenstigen Reifen: du mußt, du mußt!
Die Reden verklangen die feiertagsmüden Leute ginge» schlafen, mich Jenny
Nothnngel träumte ihrem Hochzeitstag entgegen, Kurt saß unter seiner Lcunpe und
genoß die Stille.
Ein kurzer Friede. Begann da nicht schon das Schwatzen der Stare?
Zirpten da nicht die Finken, noch halb im Traum? Freilich, und jetzt lärmte gar
Langschläfer Spatz, als gehöre ihm die Welt allein.
Schon Morgen? Schon die Sonne?
Mit schwankenden Knieen trat Karl ans Fenster. Ein neuer Tag zu neuer
Pein war der einzige Gedanke, der ihm tum, immer wieder dieselben Worte im
mechanischen Rhythmus kreisender Räder. schwindlig wurde ihm davon; er Ver¬
suchte der Qual zu entlaufen, ging ins Schlafzimmer und legte sich in den Kleidern
aufs Bett. Aber er konnte nicht schlafen, im Hofe lachten und schwatzten die Buben,
Franz nahm reihum Abschied, Kilburg und die Flvrke redeten drein.
Karl sah sich selber, wie er damals Abschied genommen hatte, um sein eignes
Leben zu beginnen. Lebte ers denn? Verstand ers nicht immer noch allznschlecht?
Wars ihm nicht wieder aus den Händen geglitten?
Von seinen letzten Bildern hatte Meister Wendelin ihm zwei beanstandet, das
verschuldete auch einzig der goldne Engel: das Fremde gelang ihm nicht, und das
Eigne verlernte er.
Unten verhallte der Lärm, Frau Flörke rief noch: Häng das bischen Zeug auf
deu Gang, damit der Hof feiertägig bleibt! Dann wurde es still.
Und uun sang nett; erst wurf irgend ein Trällern, bald aber wurde das
Tambvurliedcheu daraus. Das liebe alte Ding.
Bin der kleine Tambour Veit,
Meine Trommel kann ich rühren —
Karl sah nett als halbwüchsiges Ding, Ackermanns Jüngsten, an dem die
Mutter gestorben war, auf dem Arm durch deu Hof wandern: hin und her, her
und hin, unermüdlich, bis der Bub die Thränen vergaß, die ihm schon dicht unter
den Angen saßen.
Und die Grenadiere führen
Zur Pnrnde wie zum Streit.
Wie lange hatte Kurt das mir in Augenblicken traumhafter Erinnerung gehört,
wie lange hatte nett das nicht gesungen! Wenn einer der Buben sie nach ihrer
Einsegnung um das Liedchen Plagte, antwortete sie so feierlich, daß alle fünf
Räder es für Ernst nahmen: Erwachsene Mädchen singen keine Soldatenlieder.
Und heilte erklang es wieder und weckte alle Stimmungen, die je im Takte
dieses Liedes lebendig gewesen waren. Altmodisch und traulich klnngs. Zuerst ein
frischer Marsch hinein ins Leben: Märzwind und Aprilneckerei; dünn lösten sich die
Fliederblütengefühle los: weich und leise wiegte die Melodie die Worte des nider
Liedes. So schmeichelnd hatte nett sonst nicht gesungen.
Näher und näher tum der Gesang, Kurt meinte nett zu sehen, wie sie die
Leine entlang ihre Wäschestücke auf den Gang hängte, dn bruns dus Lied mitten
in der Zeile mit einem leisen Wehruf ub.
Heiß stieg ihm dus Blut ins Gesicht, er wußte ganz genau, weshalb nett
jetzt erschrak, sie stand vor der verbannten Azalee, und hastig sprang er ans, um
ihr zu sagen, daß —
Aber seine Glieder waren schwer und sein Kopf heiß und wirr, laugsam uur
kam er mit deu Dingen seiner Umgebung zurecht, und ehe er sich Stiru und Nacken
mit kaltem Wasser erfrischt, ehe er seine Kleider abgebürstet hatte, saß nett längst
wieder unten an ihrem Fenster bei der Arbeit.
Ja, was hatte er ihr denn auch sagen Wollen? Er stand auf dem leeren
Gange, betrachtete die Azalee, die aus diesem Fenster gerade so freundlich heraus¬
schaute, wie vorher aus dem andern, und wußte kein Wort. Gut, daß nett nicht
mehr da war.
Nachdem er lange genug geschaut hatte, ohne klüger zu werden, ging er in
die Küche zum Kaffee. Während er dort stumm nud maschinenmäßig trank, hantierte
Line am Herd und beobachtete ihn verstohlen.
Wahrhaftig, er sah schlimmer ans, als der Vater jemals ausgesehen halte.
Das Herz that ihr weh. Aber sie seufzte schou uicht mehr, uur schaffen, atemlos
schaffen, damit die stumpfe Ergebenheit nicht wieder zu lebendiger Pein aufwachen
konnte.
Sie wartete sein Fertigwerden garnicht ab, sondern ging hinüber ins Border-
ziinmcr. Karl horte sie mit den Mädchen rede», denen sie keinen dritten Feiertag
gewährte, hörte sie anstellen, loben, tadeln — ganz fremd kam ihm die Schwester
vor. Gingen sie sich überhaupt etwas an? Hing er noch mit irgend einem Menschen
lebendig zusammen? Rings um sich her meinte er nur Schrauben und Räder zu
scheu und schwankende Gassäcke, die ihm den Weg ins Leben verdanken.
Endlich stand er ans, obgleich die Tasse noch voll war, und ging an seine
Arbeit. Er sah sich die zurückgekommueu Bilder an. Meister Wendelin hatte
tausendmal Recht! platt war das eine, gequält dus andre. Er zog einen dicken
Strich darüber hiu, von Ecke zu Ecke, aber etwas besseres fiel ihm nicht ein. Nach
einer Viertelstunde starrte er immer »och auf die durchstrahlten Blätter und merkte
gar nicht, daß seine Gedanken irgendwo in der Luft waren, und in einem ganz
bestimmten Nhhthmus von Wolke zu Wolke getragen wurden:
Liebchen denket mein im Traume.
Erst als dieser Rhhthmus sich zu Worten verdichtete, wachte er wieder ans,
strich sich ein paar mal über die schmerzende Stiru und ging dann hinüber an das
Blumenfenster, um sich dort die Notbehelfsarbeit für den heutigen Tag zu holen.
Er hatte eine Verlobnngsanzeige zu schreibe», und wie er mit seinem Stichel
darüber saß, sah er ganz deutlich Reeks Namen und seinen eignen auf dem Steine
stehn, so deutlich, daß er sich zweimal verschrieb und von neuem beginnen mußte.
Als endlich die richtigen Verlobten dastanden, und der erste Probetrunk ge¬
rate» war, atmete er tief mif.
„Nanette Flörke und Karl Stiidel," das mußte er so bald als möglich neben
einander lesen, das war ihnen von Anbeginn so bestimmt, und alle Pein, alles
Mißraten kam einzig von dem unnützen Zögern.
Er trat vor den Azaleenbaum und strich vorsichtig zärtlich über die letzten
Blüten. Die letzten ja, aber es gab ihrer doch noch, es war «och Zeit. nett,
sagte er leise und wiederholte die Bewegung, liebe nett.
Dabei sah er künftige Tage, oder versuchte sie zu sehen, denn die Bilder
wurden uicht klar. Immer verschwammen zwei sich widerstrebende in einander zu
einem undeutlichen Grau. Mochte er sich eben mit nett zusammen sehen in der
Bohnenlaube, oder beim traulichen Lampenschein, in Feierabendgeplaudcr oder in
gciueiusamem Fleiß, gleich darauf schob sich die Hexenküche mit allen ihren Maschinen
und ihrem Staub über das Bildchen, oder ein mächtiges Luftschiff schwebte ver¬
düsternd über Lampenlicht und Sonnenschein.
Und endlich begriff er mit hellen, wachen Gedanke», daß der goldne Engel
Mutter und Schwester und ihn unglücklich gemacht hatte, und daß er nett nicht
in dieselbe Gefahr bringen durfte.
Entweder — oder.
Wenn sich die beiden im Leben nur so leicht geschieden hätten, wie in der
Sprache.
Entweder — oder.
Karl Stadel ging zu seiner Handpresse zurück und begann zu drucken. Blatt
um Blatt empfahlen sich die Verlobten den guten Wünschen ihrer Freunde. Karl
sah nicht mehr seinen eignen und Reeks Namen auf deu Blättern, er war schon
dick weiter: sie stand als sein Weib mitten in seinem Leben und wehrte sich gegen
den Schatten, der Lineus kräftigen Händen allezeit zu mächtig gewesen war, arme
nett. Nicht doch, er wollte ihr ja in diesem Kampfe helfen, er wollte ja die
Schatten verscheuchen, ehe er sie sich herauf holte. Damit strich er freilich des
Vaters ganzes Leben aus und that vielleicht noch überdem ein Unrecht an der
Menschheit.
Die Menschheit? Wenn die ihm nnr etwas weniges mehr als ein leeres
Wort gewesen wäre! Keinen Hauch schneller schlug sein Puls, wenn er an die
Menschheit dachte.
Und sie kümmerte sich auch nicht im geringsten mehr um die Stadels und
ihren goldnen Engel. Der Zeitnngsliirm, der anfangs mächtige Wellen ob dem
Aufstieg und den Fähigkeiten des Senkenberger Luftschiffs geschlagen hatte, war
längst abgeebbt, neue Versuche bewegten das Wasser — vielleicht fand inzwischen
ein andrer, ohne Städels Hilfe, was Städels Namen bis zum Himmel tragen sollte.
Plötzlich ließ Karl die Arbeit stehn und eilte an den Schreibtisch. Dort
schrieb er kurzweg an den Offizier, der deu Aufstieg gesehen hatte, bekannte in
schlichten Worten sein Unvermögen und erbat die Hilfe der Sachverständigen.
Ans den Umschlag dieses Briefs schrieb er seinen Namen, dann siegelte er ihn,
trug ihn selbst ans die Post, ließ ihn einschreiben und kam zurück mit dem Gefühl,
"is sei er nun eigentlich schon ein freier Mann.
Zu Hause stellte er die Blumen wieder in sein Arbeitsfenster, nett aber ver¬
mied er. Die Antwort des Offiziers wollte er erst noch abwarten, die Antwort
wollte er ihr gleich mit in die Hand drücken, wenn er sie bat: Komm herauf zu
mir, damit ich meine Blume immer vor Augen habe.
Zwei Tage darauf kam sein Brief als unbestellbar zurück, zugleich erhielt er
in einem kurzen Schreiben aus Tempelhof die Nachricht, besagter Herr sei nicht
mehr bei der Luftschifferabteiluug, sondern in China. Falls der Brief uicht ihm
persönlich, vielmehr der Sache des lenkbarem Luftschiffs gelte, stelle man dem Schreiber
rüselen, ihn an die Abteilung selbst zurückzuschicken.
Karl wog seinen heimkehrenden Brief zweifelnd in der Hand und ließ ihn
dann auf den Tisch fallen.
Also nichts. Eine unpersönliche Abteilung würde sich nicht um seinen goldnen
Engel kümmern; ihr war sein Engel nnr ein Versuch mehr in der Fülle der Ver¬
suche. Weg damit! Er nahm deu Brief wieder auf und zerriß ihn in kleine
Stücke, dann trat er an das Modell.
Dein Todesurteil, sagte er langsam; das war die Probe — eine Schicksals¬
frage. Nein, lautet die Autwort; es ist nichts mit dir, wie es mit all den andern
nichts gewesen ist, wie es nie etwas werden wird. Du versprichst unmögliches, du
hast des Vaters Leben aufgefressen, du willst auch meines verschlingen, aber ich
lasse dich nicht Herr werden, dn bist abgethan, verstände.
Aber während er seinen Entschluß so feierlich vor sich hinsprach, flüsterte un¬
deutlich auf dem Grunde seiner Seele die Besorgnis und warnte vor allen Möglich¬
keiten, mit denen das gefährliche Erbe wieder Besitz von ihm ergreifen konnte.
Ich werde den Glaskasten abschließen und den Schlüssel in den Teich werfen.
Er hielt lauschend inne, die Warnungsstimme wurde deutlicher: Glas konnte
man zerbrechen, und Glas war durchsichtig. Würde ihn das ungelöste Rätsel nicht
allzeit betranen wie ein großes Fragezeichen?
Ich will es dem Gewerbeiuuseum schenken mitsamt der ganzen Sammlung, dort
ruht schou mehr solch mühselige, nicht fertig gewordne Lebensarbeit.
Aber dumme Jungen werden davor stehn und über die vergeudete Zeit lache»
und über den Größenwahn der Erfinder moralisieren und — ich konnte auch dort¬
hin gehn und Gedanken und Sehnsucht an das Gespenst verlieren.
Anbringen, sagte er plötzlich sehr laut.
Aber schou beim Überlegen des Wie überlief ihn ein kalter Schweiß, als ginge
er gegen Lebendiges an. Hastig verschloß er den Kasten, riß seinen Hut vom Nagel
und lief hinaus nach der Buschwiese,
Barbar, sagte er vor sich hin, Barbar! Was dir zu schaffen macht, schlägst
du tot, was du nicht überwinde» kannst, bringst du um, weil dem Geist schwach
ist und dein Wille lahm, soll die Hand brutal sein. Necht so, Feigling, erbärm¬
licher Feigling.
Erst draußen im Schuppen wurde er ruhiger, er machte die Luken nicht auf,
wie er des Sonntags zu thun pflegte, er sah nur still und regungslos ans die
schattenhaften llmrisse, die durch deu schmale» Lichtstreife», der zum Pförtchen herein¬
brach, aus dein Dunkel aufdämmerten.
Ich will nicht mehr, sagte er endlich, fester Wille ist das einzige, was du
nicht zu betrügen vermagst. Jetzt bist du begraben.
Zu Hause setzte sich Karl sogleich an das Zeichenbrett; auf dem Heimwege war
ihm ein guter Gedanke für seine Arbeit gekommen. Frischweg entwarf er die
beiden beanstandeten Blätter aufs neue und schrieb danach glatt hinter einander die
kleinen Bestellungen, die er seit ein paar Wochen hatte aufwachsen lassen.
Wohl versuchte das Modell seine alte Lockkraft, aber es gelang ihm nicht, den
Entschlossenen irre zu machen.
Ein wohliges Gefühl des Behagens durchströmte Karl, als er sich dessen be¬
wußt wurde. Frei! sein eigner Herr! Und nett verdankte er das, er machte sich
dnrchnns nichts vor über die eigne Stärke.
nett, sagte er zärtlich, kein Ding mehr, eine Augenweide.
Er hatte sie seit dem Ostennontag nicht gesehen, aber er brauchte uur die
Augen zu schließe», so stund sie vor ihm, lichtgrau, im Glanz ihrer vollkommne»
Jugend.
Es drängte ihn hinunter zu ihr, er wußte immer, wenn sie im Hofe war.
Irgend jemand rief sie dann, oder er horte einen Ton ihrer klaren Stimme. Die
deuchte ihm freilich leiser als sonst, und gesungen hatte sie seit dem Tambour-
liedchen am dritten Feiertag uicht ein einziges mal wieder, aber er hörte es, wenn
sie unter war, und mußte sich dann mit aller Kraft festhalten, deu» »»» hatte er
sich vorgesetzt, auf Meister Wendelins Antwort zu warten. Aus ihr wollte er
entnehmen, ob er sich trotz der Schulden >ab der spärlichen Wirtschaft eine Haus¬
frau hole» dürfe.
Endlich eines Abends mit der letzten Post kam die Antwort. Ganz die rechte
für einen, der ein Herdfeuer anzünden mochte: Beifall und neue Aufgaben.
Karl saß vor seinem Arbeitszettel, und Gedanken und Bilder schössen ihm
zu — er griff gleich nach dem Stift, um ihrer einige in rohen Strichen festzuhalten.
Darüber kam die Dämmerung, und Line rief zum Essen. Die Werkstatt betrat
sie nicht mehr, wenn der Bruder darin war; es that ihr zu weh, ihn bei der Räder¬
arbeit zu sehen.
Wie er nun aber heute durchaus nicht herauskam und endlich gar nach ihr
rief, mochte sie sich nicht taub stellen, überwand ihren Widerwillen und ging hinein.
Da stand der Bruder in der Thür zwischen den beiden Zimmern und sagte:
Meinst du nicht, Line, man könnte dies alles noch mit hier herüber bringen?
Dort hinüber? Sie sah ihn an, ohne zu begreifen.
Ja, damit die alte Hexenküche eine ordentliche Werkstatt wird, und hier Raum
für die Wohnstube. Wenn ich mir doch am Ende eine Frau nähme —
Karl! rief Line, und die Hoffnung trieb ihr das Blut in die Wangen. Aber
sie sagte nichts weiter und wurde auch gleich wieder blaß; sie preßte die Lippen
zusammen und preßte die Hände aufs Herz, als könne sie die Freude so erwürgen.
Nur nicht wieder hoffen, nicht wieder begehrlich auf die Zukunft vertrauen und
dann abermals alle Knospen verdorren sehen.
Meinst du nicht, das ginge? fragte Karl, ganz bei seiner Sache. Ich denke
doch. Wenn man die Modelle alle auf eine Seite brächte und deu Glaskaste» in
die Ecke schöbe, würde dort Platz für Schrank und Presse.
Line war nun auch in die Thür getreten und sah Karl über die Schulter.
Wenn du schon ernstlich alles in die Ecke zu schieben denkst, dann besser ganz weg
damit.
Jetzt begriff Karl ihr Zögern; er drückte ihren Arm an sich und zog sie über
die Schwelle. Ohne Sorge, Line, die Ecke genügt, jetzt hab ichs durchgekämpft.
Ob es da steht oder wo anders: ich bleibe fest; inwendig los sein, das ist die Sache.
Komm, fasse mit an, wir wollen gleich mal versuchen.
Sie schoben und rückten und räumten; Line half stumm und ließ Karl an¬
stellen: die Werkstattordnuug mußte er doch Wohl verstehn. Ob sie ihm glaubte
oder noch sorgte, blieb unausgesprochen.
Als die alte Werkstatt leer war, schickte sie den Bruder zum Essen in die Küche,
sie selber fegte und scheuerte noch den leeren Raum und überlegte sich, was vorn
bei ihr entbehrlich sei, zum Wohnlichmachen dieser kahlen vier Wände. Nicht ein
einziges mal kam ihr der Gedanke: Der Knabe heiratet nun, wo ich um der Schulden
willen, von denen er mich befreien könnte, warten muß; aber die rechte Freudigkeit
hatte sie auch nicht an seinem Entschluß, deun der Knabe heiratete, ohne einen festen
Strich durch das alte Unheil zu machen.
Die Stube war sauber, und die Geschwister hatten sich gute Nacht gesagt.
Nun wäre Karl gern noch hinuntergegangen, um Bräutigam zu werden, aber Mutter
Flörkes Stimme hallte über den Kegelschnb hin, und die vier Buben lärmten, als
gälte es, den Bruder in der Fremde gleich viermal zu ersetzen.
Auch war ihm, seit er seine Absicht ausgesprochen hatte, zum erstenmal das
Bedenken gekommen, ob sie ihn auch möge. Er verbrachte eiuen leidigen Abend
und eine häßliche Nacht. Mit dem ersten Mvrgeuschei» stand er auf, nahm seinen
Mut zusammen und trat auf den Gang hinaus, um so oder so ein schnelles Ende
zu machen.
Noch war tiefe Stille in Haus und Hof, wie er aber das Gcmgtreppchen
hinunterstieg, sah er nett an der Laube stehn: sie begoß ihre Bohnensaat.
Als sie seiner ansichtig wurde, setzte sie die Gießkanne zu Boden und ging
ihm zwei Schritte entgegen.
Ich wollt es schon immer sagen, Herr Städel, nur daß ich Sie nicht zu sehen
bekam: der Blumentopf steht Ihnen oben im Wege. Geben Sie ihn mir getrost
wieder, Sie kränken mich nicht damit.
Trotz alles tapfern Willens, es nicht zu zeigen, sah sie dabei doch aus, als
sei ihr weh gethan worden, und Karl wars, als löge er wieder todmüde nach der
durchwachten Nacht auf seinem Bett und höre das Tambvurliedcheu, und höre es
mit einem Klagerufe abbrechen. Das gab ihm mit einem Schlag guten Mut.
Nein, sagte er, die Blumen kann ich nicht wieder hergeben, nett. Sie haben
mich nur an Blume» gewöhnt. Ich wollte mir lieber noch eine Blume erbitten,
nett, fürs ganze Leben — verstehst du mich, nett? Annette Flörke und Karl
Städel auf einem Stein. Willst dn, nett? Wagst dus mit mir, nett?
Sie antwortete nicht, sie sah ihn mir an, mit einem stillen, frohen Blick, der
immer leuchtender wurde. Dabei dachte sie: Daß er fragt! Daß er noch fragt,
daß ers nicht lange weiß, daß er mich nicht einfach nimmt wie sein Eigentum, dus
nur nus Versehen bis jetzt auf einem falschen Platz gestanden hat!
Er aber war noch immer zaghaft, und keins wußte nachher, wer das andre
zuerst ans Herz genommen hatte. Als Mutter Flörke aus dem Wnschhnus true,
hielten sie sich umfaßt und ließen sich durch das Schelten der klugen Frau nicht
von einander treiben.
Freilich gabs nachher noch einen langen Kampf drinnen im Stübchen.
Ihre Tochter diesen Ausbund — dem Habenichts, dem Alschemüsten, der
geradewegs auf die Verrücktheit seines Vaters losmarschierte? Nicht um die Welt!
Da ihr aber keiner die Welt anbot, und nett auf ihre ruhige Art immer
von neuem sagte: Ich weise jeden andern ab, Mutter, wie ich den Erbvetter ab¬
gewiesen habe, so gab sich Frau Flörke am Ende doch zufrieden, Die übrigen Be¬
wohner der Schmiede fanden diese Verlobung „ganz gerade das Rechte."
Line nur, Line war nicht so froh, wie Karl gehofft, Ackermann gewünscht und
Frau Flörke vorausgesetzt hatte.
Ich glaube, sagte die Brautmutter zur Nachbarin Grunert, die Line kommt
sachte in die Jahre, wo eine sich über jede Verlobung ärgert, weils nicht ihre eigne
ist. Ja warum nimmt sie den Ackermann nicht? Mir scheint doch, sie könnte ihn
kriegen.
Line hatte andre Sorgen, obgleich durch diese Hochzeit ihre eigne wieder an
ein halbes Jahr weiter hinnusgeschoben wurde. Der Glaskasten in der Ecke ließ
ihr keine Ruhe, sie sah ihn im Geiste wieder vorrücken, sie sah das Gespenst muss
neue Macht gewinnen und litt in dieser Voraussicht all die Pein, die eine künftige
Wirklichkeit ihr nur irgend bereiten konnte. Wie Dorngestrüpp wucherten Sorge
und Verstimmung ans und überwnchsen die Liebe zu Bruder und Schwägerin,
sodaß diese Liebe manchmal gar nicht mehr da zu sein schien.
Dabei schaffte Line eifrig für den künftigen Haushalt und richtete ihn ein,
wie es ihr recht und vernünftig schien — ganz eigenwillige Thatkraft: die zwei
Menschen sollten endlich einmal glücklich werden, im Notfall mußte man sie dazu
zwingen.
So, nett! Der Raum ein der Küche ist gut zum Wohnen, die Schlafkammer
lege» wir zwischen Werkstatt und Wohnstube, damit ihr euch uicht Thür an Thür
aller Minuten Ma der Arbeit abhalten könnt. Die Küche übergebe ich dir, du
bist die Hausfrau, und ich miete mich mit Kostgeld bei euch ein. Wehre dich nicht,
nett, und vergiß nicht immer, daß du eine arme Frau wirst.
nett lächelte, sie fühlte sich sehr reich.
Du solltest nicht ungläubig lächeln, nett, du wirst erst noch sehen, was es
auf sich hat mit dem Leben; bis jetzt hast du nur in der Spielschnle gesteckt, aber
eine Frau muß feste Schultern haben, es kommt vor, daß sie das ganze Haus allein
zu tragen hat.
nett saß auf dem kleinen Sofa, das sie für die neue Wohnstube gekauft hatte,
faßte die Schwägerin bei der Hand und zog sie an ihre Seite. Ich weiß, Line,
deine Schultern! und dn bist mir auch immer ein Vorbild gewesen.
Unsinn! fuhr Line unwirsch dazwischen, was fällt dir ein! Aber wenn du
es weißt, dann laß uns gleich von dem Wichtigsten reden: der goldne Engel muß
ans dem Haus mit all seinen Trabanten.
Mutter hat schon darum geredet, antwortete nett ruhig, aber Karl sagt, es
gehe nicht, des Vaters Geist lebe in diesen Dingen.
Des Vaters Geist? O nein, ein fremder, unseliger Geist, des Vaters Ver¬
nichter lebt darin. Verrichte du ihn wieder, das ist eine gerechte Sache. Ernstlich,
nett, du mußt Karl dazu bringen. Wenn du es jetzt nicht vermagst, vermagst
du es nie, und das Gespenst wird euch verderben, wie es unsre Eltern ver¬
dorben hat.
Du mußt ihn dazu bringen — so lange Line sprach, meinte nett, das sei
leicht und notwendig, wenn sie aber Karl gegenüberstand, verflog der Same wieder,
deu die grämliche Schwägerin ausgestreut hatte.
nett liebte mit einer vollen, altmodischen Liebe, ohne Wenn und Aber, ohne
Bruch und Riß. Wie konnte sie anders denken, als er dachte, anders fühlen, als
er fühlte, anders urteilen, als er urteilte? Sie begriff nur noch durch ihn, sie sah
»ur noch und seinen Allgen, sie wollte nnr noch mit seinem Willen.
So wanderten die beiden in einer goldnen Wolke der Hochzeit zu und fühlte»
nichts von den Sorgen der andern, die draußen am nüchternen Tageslicht stand
und trotz aller Liebe gar zu gern das trügerische Gewölk zerblasen hätte.
(Fortsetzung folgt)
Bei den Nationalökonomen von Fach
ist es gebräuchlich, Rodbertus als den Fortsetzer oder Vollender der Lehre Ricardos
darzustellen. Aber wer das, was der geniale, warmherzige und mit philosophischem
Blick die Welt umspannende Rodbertus dem blutlose» Rechenmeister Ricardo
entnommen hat. seine Tnuschwerttheorie, für die Hauptsache hält, der begeht nu
Rodbertus ein noch größeres Unrecht, als die Theoretiker der Sozialdemokratie an
ihrem Marx begehen, indem sie ihn vorzugsweise als den Entdecker der Mehrwert-
thcorie feiern. Viel näher als Ricardo steht unserm Rodbertus der ans dem
Prozeß gegen Warren Hastings bekannte Lord Lauderdale, oder, was dasselbe
ist, der Oberpräsident Theodor von Schön, der 1808 eine kurze Bearbeitung
des Werkes von Lauderdale*) herausgegeben hat, die man auch im zweiten Baude
von Schöns „Papieren" Seite 135 bis 218 findet. Schön hat die Arbeit, die
er ein Schmerzenskind nennt, unternommen, um sich über die Verzweiflung hinweg¬
zuhelfen, in die ihn der Tod seiner ersten Frau gestürzt hatte. Wir wissen nicht,
ob Rodbertus dieses Werkchen Schöns gelesen hat, aber zweifellos hat er die darin
vorgetragnen Lehren gekannt, denn bei dem lebhaften Gedankenaustausch über national-
ökonomische Gegenstände, der in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts unter den
norddeutschen Landedelleuten stattfand, müssen Schöns Ansichten rasch Gemeingut
geworden sein.
Es sind besonders zwei der später von Rodbertus vollendeten Grundlehren,
die Lauderdale-Schön entwickelt: daß, da ja die Produktion vom Konsum abhängt,
Sparen den Nationalwohlstand nicht vermehren könne, und daß das Interesse des
Privatbesitzers im Widerspruch steht zum Interesse der Nation. In Beziehung auf
das erste heißt es u. a. in § 9: „Hat ^ein Landwirth so viel Kapital, als er seiner
Kenntnis nach anwenden kann, so ist es weder ihm noch dem Publiko nützlich,
wenn er von seiner Nahrung oder Kleidung, überhaupt vou seinem Wohlleben, in
der Absicht etwas abkürzt, um dadurch sein Kapital mehr zu vergrößern, als
möglicherweise zur Ersparung von Arbeit angewendet werden kaun. Wenn ein
Landwirt mehr Arbeitsvieh hält, als er braucht, mehr Pflüge, Spaten usw. hat,
so gewinnt niemand dabei; ini Gegenteil verliert seine Familie den Genuß dessen,
was dies kostet. Das Publikum verliert noch mehr dabei, denn der Gewerbfleiß
gerät durch solche Sparer aus nützlichen in unnütze Bahnen." Heute wird man
als Beispiel nicht einen Landwirt wählen, der zu viel Ackerpferdc hält und zu viel
Pflüge kauft, sondern einen Geldbesitzer, der zu wenig verbraucht und zu viel kapi¬
talisiert und dadurch zu unreellen oder überflüssigen Gründungen drängt. Was
das andre anlangt, so führt Lauderdale aus, daß der Reichtum des einzelnen
Privatmanns mit dem Preise der Waren steigt, die er zu verkaufen hat, der Waren¬
preis aber mit der Seltenheit der Ware steigt, während der Nationalreichtum gerade
im Überfluß an Gütern besteht. „Mangel erzeugt höhern Wert, und man würde
z. B. den Jndividualreichtum vieler erhöhen, wenn man die vorhandne Wasser-
menge verminderte, dadurch dem Wasser einen Tauschwert verliehe, und so jeden
Eigentümer einer Wasserguelle zum Besitzer einer Nentenqnelle machte. Wenn da¬
gegen die Nahrungsmittel so wohlfeil wie Wasser werden sollten, so würde der
Jndividualreichtnm der Landwirte in dem Grade verringert, als die Nahrungs¬
mittel an ihrem Tauschwert einbüßen. Der Nationalwohlstand dagegen würde sich
entgegengesetzt Verhalten, er würde im ersten Falle abnehmen, im zweiten steigen."
Daß, wie später Rodbertns gezeigt hat, das Privateigentum an den Produk¬
tionsmitteln die Ursache dieses Widerspruchs ist, scheint Lauderdale noch nicht be¬
merkt zu haben; er kommt aber dieser Wahrheit ganz nahe, indem er ausführlich
eine dritte Thatsache behandelt, die ebenfalls bei Rodbertus eine bedeutende Rolle
spielt! deu Einfluß der Einkommensverteilnng auf die Produktion. Da es der
Konsum allein ist, der die Produktion im Gange erhalt und ihre Art bestimmt, so
überwiegt bei gleichmäßig verteiltem Einkommen die Produktion nützlicher Güter
zur Befriedigung wirklicher Bedürfnisse, bei ungleichmäßiger Verteilung die Pro¬
duktion von Luxuswaren. Wäre, sagt Lauderdale, das englische Nationaleinkommen
in der Weise verteilt, daß jede Familie 100 Pfund bezöge, so könnte keine Macht
der Erde das Eingehen der Prachtkutschenmannfciktur verhindern, denn eine Pracht-
kntsche kostet viermal so viel, als bei dieser Annahme jede englische Familie zu ver¬
zehren hätte. Dieser Zustand wurde aber einem andern bedeutend vorzuziehen sein,
wo auf eine Familie, die 10 000 Pfund Einkomme» hätte, 99 Familien kämen,
die jede bloß ein Pfund hätten, denn in diesem Falle würden eine ganze Menge
Gewerbe eingehen, die nützlicher und wertvoller sind als die Prachtkutscheufabrikatiou,
und außerdem die Landwirtschaft, weil weniger Nahrungsmittel und Rohstoffe ge¬
kauft würden. Aus dem Export, der nach einem gewissen Lande geht, kann man
auf dessen soziale Zustände schließen. Nach Indien, dem Lande der Nabobs und
der Hungersnöte, gehen ganz schlechte und sehr prächtige Sachen; „nach den Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika, wo das Eigentum sehr gleichmäßig verteilt ist
jun Jahre 1304 war das noch der Fall^, gehen Sachen, die das Leben angenehm
machen, aber keine Bewunderung erregen." Wenn er England lobt, daß auch da
das Einkommen weit gleichmäßiger verteilt sei als z. B. in Frankreich, so trifft
das für die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch zu; die französischen
Bauern waren vor der Revolution ärmer und lebten elender als die englischen
Lohnarbeiter; die Fabrik- und Grubeugreuel waren um das Jahr 1800 eben erst
im Entstehen begriffen, und da sich die Philanthropen und Parlameutskommissionen
damit noch uicht beschäftigt hatten, so ist es sehr möglich, daß ein Mann, der mit
den untern Ständen nicht in Berührung kam, gnr nichts davon wußte. Freilich
hätten ihn die berühmte Schrift seines Landsmann Malthus, die sechs Jahre vor
seinem Buche erschienen war, und die gleichzeitigen Parlamentsdebatten über die
Armenpflege einigermaßen aufklären können. Auch täuscht er sich, wenn er den
Umstand, daß in Frankreich mehr Luxuswaren, in England mehr grobe Waren
fabriziert werden, ausschließlich auf die verschiedne Einkommensverteilung zurückführt;
hier übt die ästhetische Anlage der Romanen, die den Engländern abgeht, einen
bedeutenden Einfluß. Dagegen ist es wieder richtig, daß der gemeine Maun in
England mehr ißt als der Franzose, namentlich mehr Fleisch, und daß in der frag¬
lichen Zeit immerhin der englische Arbeiterstand im ganzen noch genug Einkommen
bezog, daß er bei starker Vermehrung die Fleischproduktion begünstigen konnte.
Darauf führt er den Getreidemangel zurück, der damals schon in England die
Getreidezollfrage brennend machte. England, meint Lauderdale, sei das einzige
Land in Europa, wo der Fabrikarbeiter Fleisch essen könne. Schön erläutert die
Wirkung dieses Fleischkonsums in folgender Weise. Bei vegetabilischer Ernährung
können 750 Morgen Acker 1977 Menschen erhalten. Wird dieselbe Fläche als
Wiese zur Fleischprodnktion für Flcischesser verwandt, deren jeder (bei ausschlie߬
licher Fleischnahrung) täglich 2^ Pfund nötig hat, so ernähren diese 750 Morgen
nur 103 Menschen. Der zunehmende Fleischverbrauch sei schuld, daß England,
das bis 1765 Getreide exportiert habe, am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts
trotz bedeutender Verbesserung seiner Landwirtschaft den eignen Bedarf uicht mehr
habe decken können. — Wie ist doch seit Schöns und Thurms Zeiten der nord¬
deutsche Landadel geistig zurückgekommen! Damals forschte er selbständig, heute
läßt er sich seine nntivnalötonvmischcn Kenntnisse von Leuten wie Rusland und
Arendt liefern!
Wer sich bei uns mit Lehrlingen oder
Handwerksgesellen beschäftigt, der erfährt zu seinem schmerzlichen Erstaunen, in
welchem Grade unsre wackern Volksschullehrer pro iribilo arbeiten. Drei Jahre
nach der Entlassung aus der Schule können die Burschen zwar alle noch lesen und
die meisten auch wohl noch schreiben — was man so schreiben nennt —, aber alles
übrige haben sie vergesse». Ein Geheimrat, der sich vor dreißig Jahren des Fort¬
bildungsschulwesens sehr eifrig annahm, Pflegte zu sagen- Unsre Volksschüler verlassen
die Schule in dem Augenblick, wo sie ansaugen zu verstehn, was sie gelernt haben.
Eben weil das meiste nur eingepaukt ist, schwindet es so rasch und spurlos; wird
doch in den militärischen Kapitulantenschuleu, deren Zöglinge junge Männer sind,
der Hauptsache nach nur Vvlksschnlnnterricht erteilt. Man darf also bezweifeln, ob
unser Volksschulwesen den Vorzug vor dem englischen verdient, wo die Schüler
bedeutend weniger lernen, dafür aber auch bedeutend weniger zu vergessen haben.
Darin freilich haben die Engländer unbedingt Recht, daß sie uns um unsre Mittel¬
schulen beneiden, die unsern jungeu Kaufleuten, Fabrikanten und Techniker» den
Sieg im internationalen Wettbewerb sichern. Was dagegen die Bildung des
Arbeiterstands anbetrifft, so dürfte die englische Einrichtung den Vorzug ver¬
dienen, die Kinder nicht mit vielem unverdautem Wissen zu plagen, dagegen die
Bildungsfähigen und Bilduugshuugrigen unter den Erwachsenen mit reichlichen
Bildungsmitteln und Bildungsgelegenheiten zu versorge«. Es geschieht dies durch
die mit Lesesälen verbundnen Volksbibliotheken, deren großartige Entwicklung
or. Ernst Schultz in einem Schriftchen erzählt, das voriges Jahr im Verlag der
Abegg-Stiftung, der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (Berlin NV,
Lübeckerstraße 6), erschienen ist. Diese Entwicklung ist noch sehr jung, denn natür¬
lich ist die allgemeine Verbreitung wenigstens der Kunst des Lesens die Voraus¬
setzung für Volksbibliotheken; sie haben daher erst seit dem Erlaß der Womollwry
l^lneation ^e-t vou 1870 eiuen großer» Umfang gewonnen. Jetzt bestehen 600
bis 700 Gemeindebibliotheken mit 5 000 000 Bänden; die Zahl der jährlichen Ans-
leihnngen beträgt 25 bis 30 Millionen. Außer diesen Büchern werden aber auch
Zeitungen und Zeitschriften in großer Anzahl gelesen (in den größern Bibliotheken
findet man 30 bis 40 Zeitungen und alle großen Revuen) und die Nachschlage¬
werke fleißig benutzt; die diese umfassende Reckgrcmcie, Iibra.r^ (so genannt zum Unter¬
schied von der loiräillA liliiAr?) enthält in den größern Städten tausende von
wissenschaftlichen Werken. So ist in England den Strebsamen und Jähigen nnter
den Arbeitern der ganze Bilduugsschatz der Nation geöffnet; bei uns kann an den
meisten Orten — die Reichshauptstadt und noch einige große Städte ausgenommen —
der strebsame Arbeiter die in der Volksschule erworbne Lesekunst zu nichts
anderm verwenden, als zum Lesen seines sozialdemokratischen Tageblatts und hier
und da einer sozialdemokratischen Flugschrift, während die Mitglieder der „staats¬
treuen" Arbeitervereine vielfach mit fronnueu Traktätchen gespeist werden, die einem
gesunden Magen widerstreben, oder anch mit patriotischen Erzeugnissen, die nicht
dem Genius entflossen, sondern ans Bestellung fabriziert sind, und an denen im
günstigsten Falle der gute Wille oder die löbliche Tendenz das beste ist.
u dem Erlaß vom 3. August 1898 hat unser Kaiser dem Fürsten
Bismarck als „dem Meister der Staatskunst, dem furchtlosen
Kämpfer im Kriege wie im Frieden, als dem hingehendsten Sohne
seines Vaterlands und dein treuesten Diener seines Kaisers und
Königs" ein Denkmal schöner Pietät gesetzt. Dieser Bismarck
hat in seinen „Gedanken und Erinnerungen," die seit Monaten im Vorder¬
grunde des Interesses stehn, seine großen, weltumspannenden Ideen und
Kämpfe selbst geschildert, diesen Bismarck wollen auch die „Tagebuchblütter" in
einem Zeitraume von mehr als zwanzig Jahren schildern. Sie sind wesentlich
verschieden von der überhasteten und ungesichteten englischen Ausgabe, die sich,
für große Teile nicht zutreffend, als ein „Tagebuch (cllar/)" bezeichnet. Sie
bringen vieles, was in dem arg verstümmelten englischen Texte fehlt, sie ent¬
halten manches nicht, was dort unbedacht abgedruckt worden ist, Dinge, deren
Veröffentlichung mau nur beklagen kann, weil sie entweder unbedeutend oder
Äußerungen persönlicher Gereiztheit in der Umgebung des Fürsten sind. Den
Reichskanzler vor allem sollen diese Blätter zeigen, die Parteiungen unter seinen
Leuten nur nebenher. Sie zerfallen in zwei wesentlich von einander verschiedne
Teilen Etwa die Hülste bildet das stark ergänzte Tagebuch, das Moritz Busch
während des Feldzugs von 1870/71 geführt hat, und das unter dem Titel
»Graf Bismarck und seine Leute" seit 1878 schon in sieben starken Auflagen
zu einem deutschen Haus- und Volksbuche geworden ist. Diesem Teile folgen,
unterbrochen durch ausführliche Schilderungen des alten Reichskanzleramts und
der Landsitze des Fürsten Varzin, Schönhausen und Friedrichsruh, teils einzelne
Tagebuchblätter, teils ganze zusammenhängende Reihen solcher aus den Jahren
1871 bis 1893, aus der Zeit, in der Busch im Interesse und im Auftrage
des Reichskanzlers für die Presse thätig und mit der Ordnung des Stoffes
für die „Gedanken und Erinnerungen" beschäftigt war, zu denen der erste
Vorsatz mindestens schon 1877 gefaßt worden ist (s. Bd. II, 487), beides in
engster Gemeinschaft mit Lothar Bücher, dem der Fürst wie keinem andern in
seiner Umgebung vertraut hat, und dessen Verlust er aufs schmerzlichste empfand.
Aus Buchers eignen seinem Freunde Busch anvertrauten Aufzeichnungen wurden
solche Stücke gegeben, deren Neröffeutlichuug jetzt möglich ist. Anhangs- und
anmerkungsweise sind im dritten Bande einige ergänzende Darstellungen auf
Grund des in der englischen Ausgabe abgedruckten Briefmaterials beigefügt,
weil sich die Herausgeber noch nicht für berechtigt hielten, diese Schriftstücke
nach den Abschriften der deutscheu Originale im Wortlaute zu veröffentlichen.
Endlich folgen Tagebuchblätter, die Busch 1864 vor und während dem dänischen
Kriege im Lande selbst und während der Kriegswochen von 1866 in Leipzig
aufgezeichnet und schon in seinen „Neuen Tagebuchblätteru" 1879 veröffent¬
licht hat, die aber um so willkommner sein werden, als die damaligen Er¬
eignisse an vielen Stellen der vorliegenden Bände erwähnt werden.
Die Tagebuchblätter geben eine Reihe von kleinen Bildern auf dem großen
weltgeschichtlichen Hintergrunde dieser Zeit. Es sind viele Stimmungsbilder
darunter, aber eben Bilder von Bismarcks Stimmungen; zugleich sehen wir
in einer Weise, wie es bisher noch nicht möglich gewesen ist, in die Art
hinein, wie der Reichskanzler für seine Zwecke die Presse benutzte, deren
Wichtigkeit für diese er ebenso zu schätzen wußte, wie er gewöhnliche Zeitungs¬
artikel als „Druckerschwärze" mißachtete. Die Aufgabe, Bilder vou photo-
graphischer Treue zu liefern, wird selten ein Mensch so vollkommen gelöst
haben wie Busch. Welche Anspannung und Ausdauer dazu gehört hat, das
tritt vor altem in dem Tagebuche aus dem Kriege 1870/71 hervor. Kein
andrer in der Umgebung des Kanzlers hat es so vermocht, Bilder dieser Art
von seinem Leben in dieser großen Zeit festzuhalten, auch Abeken nicht; wie
wenig würden wir also ohne Busch von all den Dingen wissen, die uns aus
seinen Blättern so lebendig entgegentreten! Einzelne Irrtümer und falsche Auf-
fassungen sind bei solchen Aufzeichnungen ja ganz unvermeidlich, aber sie fallen
oft nicht einmal dem Verfasser zur Last, sondern dem, dessen Äußerungen er
wiedergiebt, und den Ton der Stimme, den Ausdruck des Sprechenden, die ganze
Situation kann ohnehin niemand in der Schrift festhalten, die können nur in der
Phantasie einigermaßen wiederhergestellt werden. Wer niemals ähnliches selbst
versucht hat, der hat über Aufzeichnungen dieser Art gar kein Urteil; wer sie
überhaupt verwirft, der muß auf das Eigentümlichste und Lebendigste verzichten,
der müßte auch Luthers Tischreden verwerfen. Und welches Recht hatten dann
die zahllosen Leute, mit denen Fürst Vismarck vor und nach 1890 zusammen¬
kam, ihre Eindrücke mitzuteilen, ohne daß sie der Kanzler kontrollierte, was er
anch bei Aufforderungen derart gewöhnlich abzulehnen pflegte? Steht aber die
subjektive Zuverlässigkeit des Tagebuchschrcibers außer Zweifel, so ist es jetzt,
nachdem wir eine reiche Memoirenlitteratur erhalten haben, auch möglich, seinen
Aufzeichnungen oft bis ins einzelne hinein nachzugehn. Es ist eine Aufgabe
der Redaktion gewesen, in den Anmerkungen diese Belege beizubringen, ohne
daß Vollständigkeit der Nachweise erstrebt worden wäre. Sie sind reichlicher
in der ersten Hälfte, wo die großen Thatsachen sich drängen, sparsamer in
der zweiten, wo es meist mir darauf ankam, auf die im Texte oft nur ge¬
streiften Thatsachen mit kurzen Erläuterungen hinzuweisen.
Auf hohem Kothurn erscheint Fürst Bismcirck in diesen Blättern freilich
nicht, sondern im Hausrock, nicht im Parlament und im Kabinett, sondern im
Arbeitszimmer und im vertrauten Verkehr mit seinen Getreuen zu Hause bei
sich, kurz in einer Umgebung, wo er wie jeder sich frei und ungezwungen äußerte,
wo er rückhaltlos und wohl auch rücksichtslos feiner Stimmung und Ver¬
stimmung, seinem Verdruß und Zorn Ausdruck gab, wo er über Personen und
Dinge mit schneidender Schürfe, oft einmal wohl auch ungerecht urteilte.
Niemand wird ein solches Urteil als objektive historische Wahrheit auffassen,
niemand wird in jedem rasch hingeworfnen Satze ein Dogma sehen. Und wollten
wir den Fürsten Bismcirck uns immer uur als den großen Streitredner und den
genialen Staatsmann vorstellen, so würden wir ein höchst einseitiges, also ein
falsches Bild von ihm gewinnen; erst wenn wir ihn auch als Meuschen in
seiner alltäglichen Arbeit und Umgebung kennen lernen, haben wir ein voll¬
ständiges, also ein richtiges Bild des gewaltigen Mannes. Und wer wollte
sie missen, die Blicke in diese Seele voll genialer Gedanken, voll Stolz, Zorn,
Leidenschaft und Haß, aber auch voll guter Laune, voll heißer Vaterlandsliebe,
altgermanischer Königstreue und tiefer, ehrlicher Frömmigkeit! Wie er da immer
wieder scherzt und spottet oder klagt und zürnt und doch trotz aller Ermüdung
niemals die Hand vom Nuder läßt, weil er es für sündhaft hält, seinen greisen
König zu verlassen! Er selbst, der immer alle Pose haßte und eifrig bemüht war,
Legenden um seineDersvn zu zerstören, er hat niemals seine Gestalt nur von
der einen Seite zeigen wollen, weder in seinen „Gedanken und Erinnerungen,"
»och in dem, was er andre von sich veröffentliche» ließ, ohne seine Verant¬
wortung, aber meist anch ohne Widerspruch. Verkleinert wird sein Bild durch
solche Züge wahrhaftig nicht, sondern uns nur menschlich näher gerückt: er wird
»us so erst verständlich und nur noch teurer. Denn die wahre Größe gewinnt
in der Nähe, nur die falsche Größe verliert. Ähnlich ist es mit seiner Sprache.
Er konnte sich je nach den Umstünden vornehm und gewählt oder drastisch und
Populär ausdrücken, gerade wie sein Lieblingsdichter Shakespeare; beides gehörte
zu seiner Natur, und er handhabte beiderlei Ausdrucksweisen mit gleicher Voll¬
kommenheit. Das Bemühen, nnr die erste bei ihm zu finden, würde er selbst
als eine Fälschung verächtlich zurückgewiesen haben.
Die Frage, inwieweit es taktvoll oder taktlos, diskret oder indiskret sei,
dies oder jenes von dem Gehörten und Gesehenen öffentlich zu erzählen, wird
je uach der Empfindung des Einzelnen immer verschieden beantwortet werden.
Hier sei nur darauf hingewiesen, daß es ein großer Unterschied ist, ob ein
Buch derart während der Lebens- und Amtszeit des Helden oder nach seinem
Tode, ob es 1878 oder 1899 erscheint. Auch vieles, was 1878 noch un¬
bekannt und daher bis zu einem gewissen Grade Geheimnis war, ist jetzt in
andern Denkwürdigkeiten oder aus andern Quellen längst veröffentlicht, und
Fürst Bismarck selbst hat auch in dieser Beziehung einer neuen, weitherzigern
Auffassung theoretisch und praktisch gehuldigt. Eine Eigenschaft muß von dem,
der solche Aufzeichnungen unternimmt und herausgiebt, allerdings gefordert
werden, das ist die Liebe und Verehrung für seinen Helden. Diese empfand Busch
in ebenso hohem Grade wie sein Freund Bucher; kritisch, sarkastisch gestimmt, wie
sie beide waren, haben sie doch dem Fürsten die treuste Anhänglichkeit gewidmet
und sich seines Vertrauens erfreuen dürfen, und das jahrzehntelang in der
Zeit seiner Vollkraft und Macht, nicht erst in seinen letzten Jahren nach seiner
Entlassung, wie andre, die diese Verabschiedung mit einer Bitterkeit empfanden
und zum Ausdruck brachten, wie er selbst sie niemals oder doch nur in der
ersten Zeit danach empfunden hat. Was wollen den zahlreichen Äußerungen
solchen Vertrauens gegenüber einige verdrießliche Bemerkungen sagen, die in
einer vorübergehenden Verstimmung gefallen sind! Es ist ein schlechtes Kom¬
pliment für den Menschenkenner Bismarck, wenn man glaubt oder zu glauben
vorgiebt, daß er sich durch Jahrzehnte trotz eines lange Zeit fast täglichen Um¬
gangs über einen Menschen so getäuscht habe, wie er sich über Busch getäuscht
haben müßte, wenn solche Bemerkungen sein Schlußurteil enthielten.
Man versucht jetzt zuweilen, diese Zeugen seiner großen Zeit herabzusetzen,
und viele Organe der deutschen Presse haben, merkwürdigerweise bestimmt durch
ein Blatt von untergeordneter Bedeutung, das erst in den allerletzten Jahren
einige Beziehungen zu Friedrichsruh hatte, nach dem Erscheinen der englischen
Ausgabe über Busch als einen taktlosen, geldgierigen Menschen, einen Lügner
und Fälscher, einen Herostratus kurzer Hand den Stab gebrochen, ohne sich mit
dem Buche überhaupt nur ernsthaft zu beschäftigen, und ohne darauf zu achten,
daß die einzige wissenschaftliche Besprechung, die überhaupt erschienen ist, die von
Professor Georg Kaufmann in Breslau im Litterarischen Centralblatt ein durch¬
aus günstiges Urteil über die „Tagebuchblätter" gefällt hat. Wir dürfen jetzt von
der Ehrenhaftigkeit der deutschen Presse erwarten, daß sie die deutsche Ausgabe
ohne Voreingenommenheit prüfen wird. Sie wird jeder ernsten, unbefangnen
Kritik stand halten. Entschieden verwahren aber müssen wir uns dagegen,
daß Dinge und Ausdrücke, die Busch berichtet, nur deshalb Erfindungen und
Irrtümer gescholten werden, weil gerade der Kritiker sie nicht beim Fürsten
gehört hat, und daß eine kleine Gruppe von Anhängern des Fürsten das An¬
denken des gewaltigen Mannes gewissermaßen monopolisiert und von ihrem
Urteile die Berechtigung jedes Urteils andrer und jeder Publikation aus andern
Kreisen abhängig macht. Wir zweifeln gar nicht an der ehrlichen Anhänglich¬
keit dieser Leute, aber Fürst Bismarck hat nicht einer kleinen Gruppe gehört,
sondern dem Vciterlcmde, der Welt, und die, die sich jetzt zur Herausgabe dieser
Tagebuchblätter vereinigt haben, trotz der ans Busch gehäuften Schmähungen,
die sind sich bewußt, in treuer Verehrung für den großen Kanzler niemand
nachzustehn.
Zum Schlüsse bedarf es noch eines Worts der Erklärung, wie es kommt,
daß diese Bände jetzt von andrer Hand herausgegeben werden. Dr. Busch
hat zu einer Zeit, wo es ihm nützlich schien, sein Manuskript mit allen Rechten
»ach England verkauft, um das Erscheinen nach dem Tode des Fürsten zu
sichern für den Fall, daß er selbst nicht mehr für die Herausgabe sorgen
könnte. Das Autorrecht für Deutschland mußte und konnte deshalb von dem
Verleger erworben werden, der es für den ersten Teil schon besaß, nun aber
in den Stand gesetzt wurde, das ganze Buch in einer Form zu bringen, die,
ohne seinen Wert zu schmälern, manches Anstößige entfernte. Dr. Busch selbst
ist wegen seines gegenwärtigen Gesundheitszustands und bei seinem hohen Alter
zu einer umfassenden redaktionellen Arbeit nicht mehr imstande, hat aber den
Herausgebern zu dieser Arbeit freie Hand gelassen.
So übergeben wir in der Überzeugung, etwas Nützliches und Gutes zu
thun, dieses Buch, das treue Spiegelbild einer großen Zeit, nicht nur den
deutschen Historikern, denen es nur einzelnes Neue bieten kann, sondern vor
allem auch dem deutschen Volke, dem es seinen größten und volkstümlichsten
Helden in lebendigen Bildern vergegenwärtigen soll.
aiser Joseph it. war ein Fürst von so hoher Begabung, wie sie
nur selten den Trägern von Kronen verliehen ist, und stellte
seine Gaben mit einem idealen Schwung, einer Energie, einer
Hingebung in den Dienst seines Reichs, deren gute Wirkungen
bis heute in Österreich nicht vergessen sind. Aber er war durch
und durch Büreaukrat, und indem er von diesem Standpunkte aus sein Reich
zu reformieren unternahm, trieb er seine Völker in die Revolution oder bis
dicht an die Revolution. Mit büreaukratischer Gewaltsamkeit wollte er, die
Versäumnis seiner Vorfahren nachholend, aus seinen Erbländern einen deutschen
nationalen Staat machen, und er scheiterte durch die Gewaltsamkeit seiner
Mittel. Trotzdem hatte er eine Saat ausgestreut, die unter dem mildern
Regiment seiner Nachfolger ohne staatlichen Zwang an vielen Orten aufging
und gedieh, sodaß der erste österreichische Bevollmächtigte beim neuen Bundes¬
tage, Graf Buol, im Jahre 1316 zur Legitimierung des österreichischen Deutsch¬
tums die Behauptung wagte, „die Böhmen hätten sich originell und gediegen
zu einem deutschen Volksstamm ausgebildet; zwei Millionen Deutsche und eine
durchaus deutsche Bildung besäße Ungarn." Graf Buol hat nun den Mund
wohl etwas voll genommen; aber was ist von dem originellen und gediegnen
deutschen Volksstamm der Tscheche» und von der germanischen Bildung der Ungarn
heute noch übrig? Was von den nationalen Zwangsordnungen Josephs II,?
Und hätte damals eine geschlossene deutsche Nation hinter Joseph und seinen
Nachfolgern gestanden, so wäre uns das auch ohne büreaukratische Gewalt
wahrscheinlich erspart geblieben, was wir heute dort leider mit Sorge be¬
obachte». Der Staat kau» ehe» den Mangel an eigner nationaler Kraft seines
Volks nur in sehr geringem Maße ersetzen. Zu Josephs Zeiten aber gab es
keine geschlossene deutsche Nation, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit
war erloschen, das Volk glich einem Kometen, dessen Haupt der Kaiser, dessen
Schweif ein Haufe größerer und kleinerer Körper war.
Man müßte um viele Jahrhunderte, etwa in die Stauferzeit, zurückgehn,
um die Spuren eines alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsinns zu ent¬
decken, in die Zeit, wo sich in unaufhörlichen Kämpfen nach anßen die Gegen¬
sätze der alten großen Stämme, in die das Volk zerfiel, allmählich auszugleichen
begannen, und wo Heinrich VI. den Versuch machte, ein Erbkaisertum zu er¬
richten. Wenn sich damals die Deutschen den Welschen und Slawen gegenüber
als einiges, und zwar als Herrenvolk fühlten, so ging dieses Bewußtsein wieder
unter in dein innern Zwist, der unter dem schlaffen Regiment der Luxemburger
zu der Goldner Bulle der Kleinstaaterei führte. Vollends auflösend wirkte der
Übergang der Kaiserkrone an das Haus Habsburg im Jahre 1438. Seit die
Ostmark von Bayern abgetrennt und später dnrch Kaiser Rudolf zum Stammsitz
seiner Hausmacht gewählt worden war, gewann dieses undeutsche Land eine
übermäßige und unheilvolle Bedeutung für Deutschland. So wenig Herrscher¬
tugenden in den Kaisern hnbsbnrgische» Bluts auch zu finden waren, so hätte»
ihre persönlichen Mängel schwerlich das Verderben über Deutschland gebracht
ohne den Umstand, daß Wien auf frischem Kolonialbvden lag und zugleich durch
die österreichischen Heiraten die Hauptstadt von Ungarn und Böhmen wurde.
Einen Augenblick schien es, als sollte Prag die Hauptstadt Deutschlands
werden; ja eiuer der luxemburgisch-böhmischen Kaiser, Karl IV., zog sogar
die Elbe abwärts und richtete sich in Tangermünde häuslich ein. Welche
andern Aussichten Hütten sich eröffnet, wenn Karl dort auf rein sächsischem
Boden die Kaisermacht befestigt und wenn seine Großtochter nicht einen Habs-
burger geheiratet hätte. Vielleicht wäre Tangermündc längst das für Deutsch¬
land geworden, was Berlin später wurde, vielleicht hätte die Einheit von
Deutschland längst ohne den siebenjährigen und ohne den Krieg vou 1866 her¬
gestellt werden können. Selbst Prag, wenn auch unter einer luxemburgischen
Dynastie, wäre eine bessere Hauptstadt für Deutschland geworden als Wien,
dessen Blick immer mehr nach Italien und nach den Ländern abwärts der
Donau, als nach Deutschland gerichtet gewesen ist. Was Preußen zum Retter
der Nation gemacht hat, ist zum großen Teil seine geographische Lage, zu
einem gewissen Teil freilich auch die slawische Beimischung seiner Bevölkerung
gewesen, die dadurch von dem zentrifugalen Charakter der rein germanischen
Stämme verloren hatte. Weil Preußen, vom Meere begrenzt, fast ganz auf
Deutschland angewiesen war, versplitterteu sich seine nationalen Kräfte und
Interessen uicht wie in Österreich nach anßen hin; sie hatten sich in Deutsch¬
land zu fest gesetzt, als daß sie erschüttert werden konnten, als die Lothringer
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den verspäteten Versuch machten, sich
durch den bayrischen Lnndertansch in Deutschland territorial auszudehnen.
Wäre es dem Großen Kurfürsten gelungen, weit nach Litauen hinein Fuß zu
fassen, wer weiß, ob Preußen dann mit solcher Zähigkeit im Kampf gegen
Österreich und im Fürstenbunde das Anwachsen der österreichischen Macht auf
deutschem Boden zurückgewiesen hätte. Nicht das nationale Bewußtsein,
sondern die geographische Lage und staatliche Notwendigkeit haben Preußen an
die Spitze der Nation gebracht.
Noch eins war zum Vorteil Preußens: es war frei von den römisch-
italienischen Traditionen des alten römischen Kaisertums. Diese Traditionen
zehrten an der Kraft des Hanfes Habsburg, auch nachdem die regelmäßigen
Römerzuge aufgehört hatten. Zwar setzte nicht mehr ganz Deutschland seine
Kraft ein für die päpstliche Krönung und die kaiserliche Herrschaft in Ober¬
italien; aber das Kaiserhaus und seine Erdtaube nahmen doch einen Teil der
Last auf sich und erweckten damit endlose äußere Kriege mit Italien, Frank¬
reich, Spanien, die nichts mit den Interessen der Nation zu thun hatten, außer
daß sie durch die Vernachlässigung der innerdeutschen Angelegenheiten das
nationale Gesamtgefühl weiter schwachem.
War Friedrich III- der letzte in Rom gekrönte Kaiser, hatte Italien auf¬
gehört, seineu unmittelbar zersetzenden Einfluß auf die staatlichen und natio¬
nalen Zustände Deutschlands auszuüben, so wurde dieser Vorteil aufgewogen
durch den Schaden, den die weit engere Verbindung der Kaiserkrone mit den
slawisch-ungarischen Erdtauben und später mit Spanien brachte. Die Erb-
nwnarchie war endlich, wenn nicht gesetzlich, so thatsächlich da, und die Dynastie
war der Nation ferner und fremder als jemals feit den Zeiten der Karolinger.
Der Kaiser undeutsch, die zahllosen Fürsten und Herren jeder nationalen Eini¬
gung feindlich, die Nation in religiösem dauerndem Kampf zerrissen — das
war ein Zustand, der gewiß kein nationales Bewußtsein im Volke fördern konnte.
Wohl flammte hie und da in Einzelnen dieses Bewußtsein auf. Aber ein
Luther hatte vor allem mit Rom zu kämpfen und vermochte zuletzt doch nicht,
auch nur auf dem religiösen Boden das Volk zu einigen. Ein Wallenstein
wagte den Versuch, gegen Kaiser und Fürsten, Welsche und Schweden einen
fest geschlossenen Staat auf deutschem Boden zusammen zu hämmern. Aber
er stand mit seinen heldenhaften, weitblickenden Plänen allein, und er und seine
wahrhaft nationalen Unternehmungen sielen durch die der Nation feindlichen
Mächte zu Wien. Und von diesem heillosesten aller Bürgerkriege an gab es,
wenn man die rein österreichischen Kriege ausscheidet, in den mehr als zwei¬
hundert Jahren bis zu den Einigungskümpfen von 1870 keinen deutschen Krieg,
der nicht ganz oder zu einem Teil ein Bürgerkrieg gewesen wäre. Ein Bürger¬
krieg, wenn man die Bestandteile des Deutschen Reichs als zu einer staatlichen
Einheit gehörend will gelten lassen. Und doch waren diese drei Jahrhunderte
wahrlich nicht arm an Kriegen. Waren es nicht Österreicher, Bayern, Sachsen,
Preußen usw., die gegen einander fochten, so sah man Pommern im schwedischen
Heere oder Hannoveraner im englischen, oder Rheinländer, Westfalen, Bayern
im französischen Heere gegen Deutsche kämpfen, bis zuletzt im Rheinbunde der
größte Teil der alten reindeutschen Stämme den Franzosen bei der Nieder¬
werfung der beiden Ostmarken, Österreichs und Preußens, half.
Nichts in der deutschen Geschichte ist vom nationalen Gesichtspunkte ans
so erschütternd, als dieser Kampf der alten echten Stämme gegen die Staaten,
die nun auf ihrem ehemals kolonialen Boden am festesten für die Existenz der
Nation eintraten. Freilich weniger mit dem idealen Ziele der Verfechtung
nationaler Interessen, als mit der Absicht, ihre staatlichen Interessen, sei es
auch auf Kosten der Nation, zu fördern. Denn erst die plötzlich erwachte Be¬
geisterung des Volkes im Befreiungskriege von 1813, die aus nationaler Quelle
entsprang, entzündete auch die Regierungen zum Bewußtsein nationaler Auf¬
gaben. Bis dahin waren ihre Ziele auch in Wien und Berlin ebenso bloß
staatlicher Natur wie in den kleinern Staaten. Bis dahin standen auch sie
noch immer auf dem rein staatlichen Boden, den sie in diesen Kriegen seit 1792
eingenommen hatten.
Beide überließen zu Basel und Campo Formio, zu Rastatt und Lüneville
sehr bereitwillig den letzten Rest des einst so großen linksrheinischen Besitzes
von Deutschland den Franzosen. Dagegen wirkte Paul von Rußland, der in
Deutschland nichts besaß als die Herrschaft Jever, jahrelang mit weit größerm
Eifer für die Erhaltung der Reichsgrenzen als irgend ein deutscher Staat.
Während beide deutsche Vormächte gierig nach Beute an deutschem Boden
spähten; während beide kein Bedenken trugen, jeden Schaden, den deutsche,
selbst nichtdeutschc Fürsten, wie Orcinien, Sardinien, Toskana, Modena, von
Franzosen erlitten hatten, mit deutschem Lande zu bezahlen, und zuletzt aus
rein staatlicher Eifersucht gegen einander es Frankreich im Verein mit Ru߬
land überließen, im Neichsdeputationshauptschluß die deutschen Kernlande nach
Gunst zu verteilen, waren die beiden Ostmarken doch, wenn auch nicht aus
nationalen Motiven, so durch ihre staatliche Stellung die Schützer des deutschen
Mutterlandes.
Von den preußische» und österreichischen Truppen, die bei Leipzig kämpften,
hatte nur ein geringer Teil seine Heimat auf altem deutschem Boden, der weit¬
aus größte Teil war aus deutschen Kolonialgcbieten oder aus undeutschen
Ländern der österreichischen Krone. Die Hauptkraft sowohl Österreichs als
Preußens lag 1813 in Ländern, die auch staatlich gar nicht zum Deutschen
Reiche gehörten, die mir durch Heirat, Erbgang oder Eroberung an die Häuser
Habsburg und Hohenzollern gekommen waren. Denn Preußen war seit 1807
auf seinen ostelbischen Besitz beschränkt und zog seine beste Kraft aus dem Erbe
der Deutschherren und den polnischen Erwerbungen, Gebieten, die alle außer¬
halb des Bundesgebietes lagen. Auf slawischen, von Deutschen kolonisiertem
Boden ist die einheitliche Kraft erwachsen, die die Nation rettete, und so wurde
ein Teil der Schuld getilgt, die das undeutsche Österreich seit Jahrhunderten
dem Reiche gegenüber auf sich geladen hatte. Das eigentliche Deutsche Reich
stand fast ganz unter der Fahne Napoleons. Und fünfzig Jahre später war
es wieder nicht das deutsche Kernland, das über die Zukunft des Volkes ent¬
schied, sondern der Entscheidungskampf wurde in der Hauptsache zwischen den
beiden kolonialen Ostmarken ausgesuchten.
Der Grund hiervon war, daß sich nur die Ostmarken noch ein staat¬
liches Bewußtsein gewahrt und staatliche Mittel zur Verteidigung bereit hatten.
Die Kernlande hatten nicht nur das nationale, sondern zuletzt auch das
staatliche Bewußtsein verloren. Alle die zahllosen kleinen Herren waren
allmählich dem Stande patriarchalischer Grundherren nahe gekommen, fühlten
sich als Herren von Gottes Gnaden bis hinab zu einem Wallerstein oder
Erbach und regierten ihre Länder wie Rittergüter, der eine gut und zum
Gedeihen seiner Unterthanen, der andre als wüster Verschwender, der dritte
als Despot. Es fehlte wenig, so konnte man diesen Fürstenstand von den
Polnischen Magnaten des vorigen Jahrhunderts kaum mehr unterscheiden.
Dort wie hier die Willkür des Privatherrn, nicht die Staatsordnung des
Gesetzes; hier schloß Bayern ein Offensiv- und Defensivbündnis mit Ru߬
land und stellte ihm seine 20000 Mann Truppen zur Verfügung, und dort
that ein Potocki oder Radzwill mit gleicher Heeresmacht dasselbe. Der eine
verhandelte seine Soldaten an auswärtige Mächte, der andre sparte die Aus¬
gaben für irgend welche Soldaten, um eine Reise nach Italien zu machen.
Von staatlichen Pflichten war bei diesen Herren selten die Rede: sie wurden
bestenfalls ersetzt durch die Pflichten privater Art, die sich ein redlicher und
wohlgesinnter Manu selbst auferlegt. Was diese Fürsten von den polnischen
Magnaten unterschied, war der in dem deutschen Charakter fester wurzelnde
Sinn für Recht und Ordnung, waren die Formen staatlichen Wesens, die, so
leer sie oft waren, dennoch im Volke nicht gänzlich das staatliche Bewußtsein
erlöschen ließen. Man hatte wenigstens überall und oft sehr dicht vor Augen
einen Fürstenhof mit seinen Schranzen und Ministern, man sah im Lande, so
klein es war, Beamte, Richter, Zöllner und auch Soldaten; man sah kleine
Musterstaaten, wenn man sich weiter umthat, oder hörte von solchen, in denen
es ordentlich und rechtlich zuging, in denen sür Wege oder Schulen oder für
eine andre Liebhaberei des Fürsten von allgemeinem Nutzen gut gesorgt wurde.
Denn bei aller Willkür vieler der Herren war dieser südliche und westliche
Boden doch uralter deutscher Kulturboden, auf dem sich ein reges geistiges
Leben erhalten hatte und in Verbindung stand mit der Geistesarbeit in Frank¬
reich, der Schweiz, Holland, Italien; ein Kulturboden, auf dem noch eben die
meisten der großen Dichter und Denker erwachsei? waren, die unsre Litteratur
zu einer der französischen, englischen, italienischen ebenbürtigen erhoben hatten.
Aber im ganzen freilich war in diesem Reichstrümmerhaufen wenig zu
sehen, was den Begriff des Staats im Bewußtsein der Bürger festigen konnte.
An der Stelle des Staatsbewußtseins stand allenfalls ein enges Kommunal¬
bewußtsein; der Württemberger war darin nicht anders als der Nürnberger
oder Rothenburger und konnte in der That auch kaum mrders sein. Denn
in der Zeit von 1800 bis 1815 und noch später wurde mit den deutschen
Ländern und Staaten ein Handel und Tauschgeschäft getrieben, wie auf der
Leipziger Messe mit Tuchballen. Niemand konnte sicher sein, daß er sich über
Nacht nicht aus einem Bayern in einen Preußen, aus einem Gothaer in einen
Koburger, aus einem Kurmainzer in einen Franzosen oder Hessen verwandelte.
Endlos schleppten sich die Grenzausführungen zwischen den verhandelten Land¬
fetzen hin, und war endlich eine Grenze gesetzt, dann kam oft bald ein neuer
Tausch, der sie unnütz machte.
Seit Napoleon den in Rastatt versammelten deutschen Fürsten kurzweg
erklärt hatte, die gesamten geistlichen Stifter seien zu säkularisieren und ihre
Ländereien zur Entschädigung der durch die französischen Eroberungen Ver¬
triebnen Fürsten und Herren zu verwenden, war bei den geistlichen Ständen
zwar des Jammers genug, aber um so größeres Wohlgefallen bei denen, die
sich nun auf die großen und reichen Gebiete der Erzstifte, Bistümer, Abteien
und Klöster stürzten. Daß es bei diesem Plündern und Handeln nicht fein
säuberlich herging, vielmehr allmählich alle Scham dahin schwand, ist bekannt
genug. Was die Herren zur Bestechung Napoleons und seiner Diener heraus¬
geben mußten, das holten sie oft von ihren neu eingehandelten Unterthanen
wieder zurück, und wie die Herren, so dachten ihre Diener: vielleicht hat
Deutschland nie vorher oder nachher eine solche Entwürdigung der Regierungen
und des Beamtentums gesehen wie damals zur Zeit des napoleonischen Länder¬
schachers.
Entsetzliche Schilderungen, die zugleich des Ergötzlichen nicht ermangeln,
entwirft uns ein bayrischer Beamter, Ritter von Lang,*) aus dem neuen
napoleonischen Königreich Bayern, Mögen diese Auszeichnungen auch an Ge¬
hässigkeit Einzelnen gegenüber leiden, so dürfen sie doch als bezeichnend gelten
für Zustande jener Zeit. „Der Angeklagte, sagt er, wenn er ein Beamter,
Adlicher, Geistlicher oder ein reicher Jude war, kam jederzeit durch, Kläger
oder Richter aber wurden von der Rache erreicht. Ob ich gleich in jedem
Stande die rechtschaffensten und tüchtigsten Männer gefunden habe und über¬
zeugt bin, daß dergleichen neben den geschilderten unglückseligen Subjekten
überall zu finden sind; so fragt sichs doch, wie es kommt, daß gerade in der
Beamtenwelt eine solche erschreckliche Verworfenheit habe stattfinden können?
Ich weiß darauf keine andre Lösung als: durch eine unglaubliche Schwäche
der Regierung, eine schlechte Justiz, ein seit Jahrhunderten dnrch die vielen
welschen Tonangeber und Emporkömmlinge, die Maitressen- und Pfaffenrcgie-
rnng und die allerliederlichste Staatswirtschaft verdorbner Charakter und einen
den Freunden des Guten überall auflauernden heimtückischen Nachegeist."
Man muß sich diese Zustände vergegenwärtigen, um zu begreifen, mit
welcher Gleichgiltigkeit man im südlichen und westlichen Deutschland den Zu¬
sammenbruch des alten Staatswesens und den Einbruch welschen Geistes und
welscher Staatsmacht im Volke ansah. Der Staat, wie er sich dem Unterthan
von Bamberg oder Würzburg oder Kurmainz oder Kurköln oder all der welt¬
lichen Herren zeigte, konnte ebenso wellig ein staatliches Bewußtsein nähren
und erhalten, wie die Komödie, die auf der Bühne des Reichs aufgeführt
wurde, dem seit lange erschlafften Neichsbewußtsein aufhelfen konnte. Welche
Achtung vermochte man einem „allerhöchsten Reichsoberhaupte," wie man
es damals nannte, zu bewahren, das den Kongreß zu Rastatt mit der freilich
unerwarteten Erklärung eröffnete, daß die Integrität des Reichs als anerkanntes
Prinzip der Verhandlungen zu gelten habe, und drei Wochen darauf Mainz
den Franzosen ohne Schwertstreich übergab, die dann auch sofort mitten im
Frieden die Rheinschanze bei Mannheim mit dazu nahmen? Und als dann
ein allgemeines Wehklagen begann, da kam, wie Lang erzählt, die andre be¬
schwichtigende Erklärung des kaiserlichen Gesandten: „Die Integrität des Reichs
sei keine rohe, sinnlich-körperliche, sondern eine symbolisch-idealische, nach welcher,
Rheingrenze hin oder her, doch noch dieselbe Verbindung des allerhöchsten
Reichsoberhaupts und dessen allergetreuesten Kurfürsten, Fürsten und Ständen
des Reichs fortbestehen sollte."
Die „symbolische Integrität" des Reiches! Eine Symbolik, die nicht nur
in der realen staatlichen Verlumptheit, sondern auch in der Fratzenhaftigkeit
zu Tage trat, der das äußere Erscheinen von Staat und Reich verfallen war.
Wenn heute bei uns manchenorts die nationale Triebkraft noch nicht stark
genug ist, alle geringern Bedenken zurückdrängend sich der ungetrübten Freude
an dem neuen Phönix hinzugeben, so dürfte es von Nutzen sein, von Zeit
zu Zeit die Asche etwas aufzurühren, aus der er erstanden ist, und sich das
Aussehen des alten Phönix deutscher Nation, der darin unterging, zu ver¬
gegenwärtigen. Der realistische und sarkastische Ritter von Lang hat zwar beim
Krönungsfest Kaiser Leopolds im Jahre 1790 vielfach andre Dinge zu Frank¬
furt gesehen als Goethe 26 Jahre vorher bei der Königskrönung Josephs sah;
aber wenn jener seiner Spottlust zu sehr die Zügel schießen ließ, so mag dem
fünfzehnjährigen Dichterknaben vieles Glänzende als echtes Gold erschiene!,
sein, was es nicht war, was man denn auch aus der Erzählung des alten
Goethe unschwer zwischen den Zeilen herauslesen kann. So entnehme ich
denn den Memoiren Längs einige Zeichnungen des burlesken Norgangs, der
hundert Jahre vor dem Antritt der Regierung Kaiser Wilhelms II. zum
letztenmal in der Krönungsstadt Frankfurt einen deutschen Kaiser alter Art
erstehn ließ.*)
Der Ritter von Lang war als Abgesandter des Direktors des schwäbischen
Grafenbundes, Fürsten von Wallerstein, nach Frankfurt gekommen und im
Interesse dieser Grafen thätig. Die erste hochwichtige Angelegenheit nun, die
ihm in diesem Interesse dort unter die Hände kam, war, so erzählt er, „ein
Gesuch des Reichserbmarschalls Grafen von Pappenheim, daß unter denjenigen
jungen Grafen, welche die Ehre haben, nach dem bestehenden Neichszeremonial
die Speisen auf die kaiserliche Krönungstafel zu tragen, auch die jungen Herren
Grafen von Pappenheim möchten zugelassen werden. Die gesamten deutschen
Neichsgrafenlande aber, wohin man Kuriere und Stafetten laufen ließ, kamen
darüber in nicht geringen Aufruhr und Bestürzung, sintemal, unbeschadet der
persönlichen Würde der Herren Grafen von Pappenheim, ihre Herrschaft selbst
keine wirkliche Neichsgrasschaft, sondern nur eine unmittelbare reichsritterschaft-
liche Besitzung war."
„Ich erhielt also, fährt Lang fort, den Auftrag, eine Antwort an den
alten Erbmarschall aufzusetzen, welche ungefähr dahin ging: So erfreut und
diensterbötig die gesamten Grafen des heiligen römischen Reichs selbst in dem
Fall sein würden, daß der Herr Erbmarschall zum römischen Kaiser und König
von Germanien gewählt werden wollte, so wenig könnten sie jedoch auf dessen
exorbitantes, unübersehliches, unberechenbares und folgenschweres Begehren, die
Herren Söhne und Vettern beim Schüsseltragen und Aufwarten zuzulassen,
weder für jetzt, noch in alle ewige Zeiten eingehn.
„Ich hatte mich aber sehr geirrt, wenn ich hoffte, unter diesen hochgräf-
lichen Segeln die kommende Frankfurter Pracht nunmehr ruhig mit ansehen
zu können. Mitten in der Nacht brach neuerdings ein so gräßlicher Sturm
aus, daß ich schleunigst aus Frankfurt heraus nach Offenbach, als dem Ver-
deck der deutschen Reichsgrafendeputation, einberufen wurde. Das kaiserliche
Hofküchenmeisteramt hatte ein Verzeichnis sämtlicher Schüsseln, wenn ich nicht
irre, stebenunddreißig an der Zahl, mitgeteilt, um sie zur Auflegung auf die
Tafel an die hierzu bestimmten Reichsgrasen zu verteilen. Nun war aber seit
Carolo Magno, oder auch etwas später, das reichsgcsetzmäßige Herkommen,
daß jederzeit die erste Schüssel von einem Schwaben, die zweite von einem
Wetterauer, die dritte vou einem Franken und die vierte, und so allemal die
letzte von einem westfälinger Grafen getragen werden mußte. Allein nach
diesem Turnus Hütte es sich getroffen, daß die siebenunddreißigste Schüssel, als
die allerletzte, wieder auf einen schwäbischen Grafen gekommen wäre, worüber
alle anwesenden Schwaben . , . in den heftigsten Unwillen ausbrachen, während
gleichwohl auch keiner der andern Stände des Reichs dieser siebenunddreißigsten
Schüssel sich annehmen wollte. Es schien nnr wenig zu fehlen, daß es nicht
gar zu einem bürgerlichen Reichsgrafenkrieg gekommen wäre. Die kaiserliche
Hofküche schlug es geradezu ab, diese verwünschte siebenunddreißigste Schüssel
etwa wegzulassen, welches ihr auch nicht zu verdenken war, weil sie sich darüber
mit allen Küchenzetteln von Kaiser Rudolfus her auszuweisen vermochte.
Endlich doch kam, gleichsam wie vom Himmel her, der geistreiche Einfall, aus
dieser großen Schüssel vier kleinere zu machen, worauf dann die letzte richtig
wieder auf einen Westfälinger traf/")
„Als Gentilhomme des Reichserztruchsesfen hatte ich dem Kronungszug
mit beizuwohnen und konnte also diese alttestamentliche Jndenpracht gemäch¬
lichst in der Nähe schauen. Der Kaiserornat sah aus, als wär er auf dem
Trödelmarkt zusammengekauft, die kaiserliche .Krone aber, als hätte sie der
allerungeschickteste Kupferschmied zusammengeschmiedet und mit Kieselsteinen und
Glasscherben besetzt; auf dem angeblichen Schwert Karls des Großen war ein
Löwe mit dem böhmischen Wappen. Die herabwürdigenden Zeremonien, nach
welchen der Kaiser alle Augenblicke vom Stuhle herab und hinauf, hinauf und
herab sich ankleiden und auskleiden, einschmieren und wieder abwischen lassen,
sich vor den Bischofsmützen mit Händen und Füßen ausgestreckt auf die Erde
werfen und liegen bleiben mußte, waren in der Hauptsache ganz dieselben,
womit der gemeinste Mönch in jedem Bettelkloster eingekleidet wird. Am
Possierlichsten war es, als eine Bischofsmütze im lieblichsten Nasentone und
lateinisch zur Orgel hinauf intonierte, ob sie da oben nun wirklich den 8sro-
wssiumin vonrmuin, DomivuiQ ^sopoläuirr wollten rsgöin suum naosrs,
worauf der bejahende Chvrregent gewaltig mit dem Kopfe schüttelte, seinen
Fiedelbogen greulich auf und nieder schwenkte, die Chorjungfern und Sing¬
knaben aber im höchsten Diskant herunter riefen: tut! eine,! eine!
„Sowie also von feiten dieser kleinen Herrschaft nichts mehr entgegen zu
stehn schien, gings nun mit der Krone eilends auf das kaiserliche Haupt, vom
Empor aber mit Heerpauken und Trompeten donnernd herab: Haderipump!
Haderipump! Pump! Pump! Es hätte wenig gefehlt, so wäre mir, ohne
zu wissen wie, die erste kaiserliche Gnade widerfahren. Um alles noch gemäch¬
licher mit anzuschaun, stieg ich auf etlichen Latten auf einen Platz in der Kirche,
der bei weitem minder stark besetzt und gedrängt war, bis ich dann endlich
von einem Bekannten, der mir seine Glückwünsche bringen wollte, erfuhr, daß
dieses die Bühne für diejenigen sei, welche der Kaiser zu Rittern schlagen
wollte; ich machte mich also mit einem Sprung über diese bevorgestandne
Ritterschaft wieder hinweg. Nachdem nun dem Kaiser auf einem kahlen Throne,
der aussah wie eine Hennensteige, von den Bischöfen die Glückwünsche und
Huldigungen nnter allen möglichen Arten von Knie- und Buckelbeugungen ab¬
gestattet und durch die bis unter seine Nase geschwungnen Rauchfässer ein
Wolkenhimmel um ihn her gebildet war, wurden die Kandidaten zum Ritter¬
schlag und unter diesen zuerst und namentlich ein im theatralischen Kostüm
schon bereitstehender Dalberg aufgerufen. . . . Von der Kirche aus nahm der
Kaiser mit seinem abgeschabten Mantel in langer, aber etwas eilig drängender,
daher auch krummer und verwirrter Prozession seinen Zug auf das Rathaus
zurück. Er ging in seinen Kaiserpantosfeln über gelegte Bretter, die man mit
rotem Tuche bedeckte, welches aber die gemeinen Leute, auf dem Boden knieend
und mit Messern in den Händen, hart hinter seinen Fersen herunterschnitten
und zum Teil so gewaltsam in Fetzen herunterrissen, daß sie den vorn laufenden
Kaiser beinahe damit niederwarfen. ..."
Diese Staats- und Reichskomödie hatte aber ihre tragische Seite darin,
daß unter der Mißwirtschaft der meisten dieser allergetreusteu Kurfürsten,
Fürsten und Stände das Volk nicht nur Glauben und Vertrauen zum Staat
und zum Reich, sondern oft auch den moralischen Halt und materiellen Wohl¬
stand eingebüßt hatte. Von Köln, wie es um 1790 aussah, als noch kein
Franzose seinen Frieden gestört hatte, erzählt Lang, der eben aus dem ge¬
ordneten und reichen Holland dorthin kam, folgendes: „Desto kärglicher sah
es dafür in dem frommen Köln aus; die Häuser eingefallen, ganze Straßen
leer, der Dom von Haus aus unvollendet; hungernde, stehende Jammer¬
gestalten in abgenutzten Mänteln an den Thüren, und lauernde, schmutzige,
weibliche Gestalten. Dazu dann ein ewiges Schellen und Klingeln in den
Z65 Kirchen, und ein Rennen zu den 11000 Jungfrauen und den heiligen
drei Königen." Und wie hier, so sah es in vielen der von Natur minder
reich ausgestatteten Länder aus, wo die Herren nach dem Vorbilde von
Versailles das Geld zum Fenster hinaus oder doch zahllosen Nichtsthuern und
Juden in den Schoß warfen und dafür dem Bauer« das Brot gelegentlich vor
dem Munde wegnahmen.
Dieser oft geschilderten Zustünde muß man gedenken, wenn man dem
Geiste nachforscht, der damals gerade in den alten deutschen Kernlanden lebte.
Das Gefühl staatlicher oder nationaler Würde war völlig zerfetzt, zerrieben,
verloren, Recht und Ordnung waren gebrochen, der Druck der Armut an vielen
Orten groß, und wo noch freiere Bewegung, Sicherheit der Arbeit und des
Besitzes vorhanden waren, da fühlte man sich von allen Seiten durch Beamte
und Zunftordnungen, durch den Zollbeamten rechts, den Steuereinnehmer links,
die Tcixissche Reichspost hier, die Lasten auf Handel und Verkehr dort so
eingeschnürt, daß, als von Paris her der Ruf nach Freiheit herübertönte, nicht
nur junge Schwärmer, sondern auch verständige Leute alsbald gewonnen
wurden.
Um 1790 war man links des Rheins zum großen Teil französisch ge¬
sinnt und ebenso in Frankfurt; und als das linke Rheinland an Frankreich
kam, freute man sich, aus der alten unerträglich drückenden Atmosphäre heraus¬
gekommen zu sein; der nationale Gegensatz blieb vorläufig verdeckt unter der
Freiheit vom alten Zwacken und Planken der Kleinstaaterei. So sehr verdeckt,
daß man links des Rheins trotz der dann drüber weg gehenden Kriege auch
1815 noch mit sehr geteilten Empfindungen die Vereinigung mit den deutschen
Staaten aufnahm. Auch weiter hinein ins Reich verflog der Rest nationaler
Gesinnung vielfach vor der Aussicht, durch die Franzosen zu bessern staatlichen
Zuständen zu gelangen. Die Freiheitskämpfe ließen den nationalen Geist zwar
Plötzlich aufflammen. Aber kaum war der Friede geschlossen, so begingen die
deutschen Regierungen den Frevel, vor diesem nationalen Geist in Furcht ge¬
ratend, ihn durch Wiederherstellung eines großen Teils der alten staatlichen
Zwangsanstalten zu bekämpfen.
Im preußisch gewordnen Rheinlande wurde zwar nicht alles, was die
französische Herrschaft gebracht hatte, urteilslos wieder hinausgefegt; vor allem
blieb der französische Kodex des Rechts in Kraft; aber man erinnerte sich dort
doch noch lange, woher diese Wohlthaten gekommen waren, und sah mißmutig
auf die strenge Beamtenfaust Preußens und die Karlsbader Beschlüsse hin.
Im Süden legten sich die Kleinen, die von Napoleons Gnaden größer ge¬
worden waren, keinen Zwang an, als die beiden deutschen Vormächte sie auf¬
forderten, die gute alte Zeit wieder herzustellen und den gefährlichen natio¬
nalen Geist in Banden zu schlagen, „und so ist sie nun, seufzte Ritter
von Lang, mit Gottes Hilfe und um den Preis unsers vielen Blutes wieder
°a, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landessperren, der Siegel¬
mäßigkeit und Steuerprivilegien, der neuen Fideikommisse der wieder befestigten
leibeignen Gütergcbundenheit, der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wall¬
fahrten, des Kapuzinerbettels."
Was anders denn war es, als die Idee von Staat und Nation, wo¬
gegen Österreich zu Karlsbad und auf den Kongressen von Aachen bis Verona
focht? In ganz Europa wurde deu Nationen, die sich auf sich selbst besannen,
der Mund gestopft, und in Deutschland außerdem noch das Begehren, aus
den kleinstaatlichen Fesseln zu lebendigem Staatcntum zu gelangen, nieder¬
gezwungen. Das war nicht eben schwer, weil im Volk selbst Staat und Nation
mehr von jenseits des Rheins heröbergeslogne Ideen, als im Volke gereifte,
feste Begriffe waren. Zu lange war man gewohnt gewesen, sich als Glied
der Hennebergischen oder Zweibrückenschen oder Hvhenlohischen oder Öttingensche»
Nation zu fühlen, als daß man sich von einer deutschen Nation einen rechten
Begriff hätte machen können. Die französische Revolution selbst war nicht
national gewesen; erst der lange Druck gallischer Fremdherrschaft hatte deu
nationalen Gegensatz in Spanien, in Italien, in Deutschland hervortreten lassen.
Auch hätten die Regierungen das Erstarken des nationalen Geistes nach 1813
schwerlich gefürchtet, wenn er sie nicht in ihrem staatlichen Besitzstände bedroht
Hütte. Denn dieser nationale Geist von 1813 war kaum mehr als ein Schatten¬
bild, das bald verschwand; was blieb, war der Staatsbegriff als Gegensatz zu
der halb in privaten Rechts- und Verwaltuugsformen stecken gebliebner kleinen
Herrschaften. Die Deutschen haben auch seit 1813, und besonders seit 1815,
immer nur mit der Sehnsucht nach einem bessern Staatsleben gerungen: gesetz¬
liche Ordnung, freie Bewegung innerhalb erweiterter staatlicher Grenzen, das
Volkswohl als Staatszweck — das waren die durch die Zustände gegebnen
nächsten Bedürfnisse; sich als Nation zu sühlen, dazu hatte man noch keine
Zeit gehabt außer in den engen Kreisen von Gelehrten, Poeten und Studenten.
Das nationale Elend von 17!>8 bis 1813 war alsbald von dem staatlichen
Elend des Deutschen Bundes verdrängt worden.
Der Staat nun, der jene Bedürfnisse am besten befriedigte, war Preußen.
Hier hatte sich unter einem König der Paraden und einem König der Schlachten
die straffe Disziplin ausgebildet, die uicht nur das Heer, sondern anch das
Beamtentum bis auf den heutigen Tag traditionell durchdringt, diese Disziplin,
die die Grundlage von Ordnung und Gesetzmäßigkeit ist. und die so gut die
Soldaten wie die Beamten, wie den König selbst beherrschte, diese Disziplin, die
von roher Äußerlichkeit des Kasernendienstes ausgehend den Begriff der Pflicht
großzog und in dem Volkskörper dnrch alle Adern verbreitete, bis hinauf zum
ersten Diener des Staats. Die Schule dieser Disziplin, die Preußen durch¬
gemacht hatte, war hart genug gewesen unter Friedrich Wilhelm I. und seinem
Sohne; aber sie war so nachhaltig wirksam, daß sie die zersetzende Zeit
Friedrich Wilhelms II. überdauerte und den Staat anch unter deu äußern
Stürmen und dem engen Geiste Friedrich Wilhelms III. rettete.
Hier war ein Staat, der das hatte, was dem übrigen Deutschland, was
auch Osterreich fehlte, und wonach sich die Leute sehnten, die ein Ende der
Kleinstaaterei herbeiwünschten. Wo in dem Länderhandel seit 1801 die preu¬
ßische Hand in kleinstaatlichc Zustände hineingriff, da spürte man sofort den
Unterschied gegen früher: es kam Ordnung, Redlichkeit, Gesetzlichkeit in die
Verwaltung. Diese Zustände verschwanden wieder, wenn ein Land, wie z. B.
Ansbach, an einen Kleinstaat zurückfiel. Je deutlicher sich seit 1815 und 1820
herausstellte, wie unfähig der neue Deutsche Bund war, dem allgemeinen Be¬
dürfnis nach staatlicher Ordnung und zugleich gesetzlicher Freiheit zu genügen,
um so mehr wandten sich die Blicke nach Preußen hin; aber nicht weil man
dort den Kern der Nation, sondern weil man einen wohlregierten Staat sah.
Man war viel eher geneigt, Preußen kaum als deutschen Staat gelten zu
lassen. In Preußen selbst war man weit entfernt, sich zum Bannerträger der
Nation zu machen; dort hatte auch Friedrich II. nicht für die Nation, sondern
für seinen Staat gekämpft, und sein Volk fühlte sich noch 1820 ebenso als
Preußische Nation wie die Nassauer als nassauische. Deutsches Volksbewußtsein
war den Preußen so wenig eigen, daß sich während der napoleonischen Fremd¬
herrschaft eine starke französisch gesinnte Partei in Berlin bildete, daß um
1841 Perthes von dem „alten Berliner Haß gegen die deutsche Nation" reden
konnte, und daß ihm um dieselbe Zeit ein Freund aus Berlin schrieb, jeder
Preuße empfinde einen instinktmäßiger Ekel gegen das Deutsche Reich.
Ekel und Haß wurzelten in der Verachtung des unstaatlichen, zerfahrneu
Wesens im Reich, in dem fest ausgeprägten staatlichen Bewußtsein des Preußen,
das von keinem nationalen Empfinden in der Beurteilung des Reichs aufge¬
halten wurde. Ja das preußische Bewußtsein war gerade in dem maßgebendsten
und wichtigsten Teil der Bevölkerung, im Adel und unter den Bauern, gar
nicht einmal ein wirklich rein staatliches: es war wesentlich ein königliches,
das mittelalterliche Treuebewußtsein des Lehnsmanns gegen seinen Herrn.
Der König war der Staat für den richtigen Preußen, freilich in anderen
Sinne, als es zu Versailles festgestellt worden war, und weit mehr dem Papst
zu vergleichen, der dem ultramontanen Katholiken heute über der Kirche steht.
Erst König, dann Staat, dann in weiter Ferne vielleicht die Nation — das
war die preußische Rangordnung. Und wie wenig man sich in Preußen um
nationale Interessen kümmerte, zeigte bis in die neuste Zeit die königtreuste
Partei in ihrem Widerstreben, so 1849 wie 1866, gegen die Verschmelzung
Preußens mit Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. fühlte sich noch als Lehus-
träger des Hauses Österreich, und nicht ihr nationalbewußter Wille, sondern
der Zwang der Verhältnisse hob die preußischen Könige allmählich über die
staatliche zur nationalen Stellung empor.
Die Anerkennung, die man im übrigen Deutschland dem preußischen Wesen
zollte, war durch die Verhältnisse erzwungen und wurde daher nur wider¬
strebend gewährt. Man sah seit 1820 immer klarer, daß nur Preußen die
staatliche Kraft hatte, der Nation aufzuhelfen. Aber der alte Widerwille gegen
das preußische Wesen sträubte sich gegen diese Anerkennung, und dieser Wider¬
wille entsprang hauptsächlich aus derselben Quelle wie die Anerkennung. schuf
die preußische Disziplin Ordnung, so that sie das doch in einer rauhen, her-
rischcn Form, die dem Rheinländer und Südländer höchst unangenehm war.
nordisches Temperament und soldatische Disziplin waren und sind vielleicht
noch heute Dinge, die einen tüchtigen, aber nicht immer einen angenehmen
Soldaten und Beamten machen, besonders für Leute, die von jeher gelegentlich
an Willkür, aber immer an bequemes Gehenlassen und gemütliche Nachsicht
gewöhnt waren. Noch heute spürt man dieses vielleicht zu wenig beachtete,
aber vielbedeutende Verhältnis, daß der Preuße, auf seine Tüchtigkeit pochend,
oft den Süddeutschen verletzt, der ihm seine Schärfe doppelt anrechnet, weil
er seine Tüchtigkeit nicht angreifen kann. Die stahlharte preußische Beamten¬
disziplin ist nicht dazu gemacht, anderwärts und am wenigsten in den alten
deutschen Kernlanden „moralische Eroberungen" zu machen, wie man es in
der vorbismarckischen Zeit nannte.
So hat der nationale Gedanke in den staatlichen Bewegungen seit 1813
nirgends in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt. Und als er 1840 und
dann stärker 1848 hervortrat, da wurde er sowohl von Preußen wie von
Österreich aus staatlichem Interesse bekämpft und niedergeworfen. Preußen
fehlte der Ehrgeiz, fehlte der Mut und vielleicht auch die Kraft, an der Spitze
stehend die Nation staatlich zu organisieren; für Osterreich war der nationale,
der deutsche Einheitsgedanke damals wie später ein feindlicher Gedanke: das
nationale Prinzip treibt und trieb Osterreich aus einander. Denn Österreich
war und ist vor allem das Osterreich der Habsburgischen Hausmacht, das
Österreich nach 1866. Wenn Erzherzog Johann nach Frankfurt ging und
Reichsverweser wurde, so hieß das nicht, daß Österreich ein einiges Deutsch¬
land wollte, sondern genan das Gegenteil davon.
Nicht im praktischen Staatsleben, wohl aber in der idealen Atmosphäre
von Wissenschaft und Kunst erhielt und kräftigte sich nach 1813 der nationale
Gedanke. Von Fichte und .Körner und Arndt her wurde er in diesen Kreisen
gepflegt; seit etwa 1840 wußte und sah man wenigstens in der Litteratur und
im Buchhandel, daß die Deutschen eine abgeschlossene Nation seien. Noch ehe
durch die Freiheitskriege das Bewußtsein der nationalen Einheit in die Litte¬
ratur drang, hatten unsre großen Dichter und Denker durch den Wert ihrer
Werke selbst die Emanzipation von dem bis dahin herrschenden fremden, be¬
sonders französischen Geiste wenn nicht vollendet, so begründet. Wer heute
von Vater oder Großvater eine ob große ob kleine Bücherei geerbt hat, findet
darin vorwiegend französische, zu geriiigem Teil deutsche Bücher etwa bis aus
dem ersten Viertel unsers Jahrhunderts. Die gebildeten Schichten lasen meist
französische Werke, schrieben und sprachen viel französisch, die Bildung holte
man sich aus der Fremde. In diesen Schichten konnte sich wohl nationales
Empfinden wie beim niedern Volke erhalten, nicht aber das stolze Selbstgenttgen
erwachsen, das ein großes und einiges Volk charakterisiert.
Das nationale Bewußtsein war durch Jahrzehnte hauptsächlich bei Sängern
und Dichtern heimisch. Endlich fand sich der Mann, der die realen Verhält¬
nisse real zu behandeln verstand. staatlich und preußisch durch und durch
erhob sich Bismarck zu nationaler Große. Mit den staatlichen Mitteln der
Gewalt zwang er das Staatentum des alten Reichs in neue, nationale, ein¬
heitliche Formen. Keiner unsrer großen Kontinentalmächte ist dieser Bruder¬
krieg erspart geblieben; alle haben sie auf dem Wege von Blut und Eisen ihre
Größe, ihre nationale Einheit errangen, mit einer Ausnahme: Osterreich, das
jetzt den verzweifelten Versuch macht, die nationale Grundlage zu finden, die
es für Deutschland nicht zu finden verstand. Welche geschichtliche Tragik liegt
in diesem Ringen Österreichs um das nationale Prinzip, das es jahrhunderte¬
lang immer von sich gewiesen, mißachtet, endlich bekämpft hat! Wie tief und
weit liegen die Anfänge der Schäden, an denen es heute krankt! Das Welt¬
reich Karls V., durch Heiraten geschaffen, durch Jesuiten geleitet und ver¬
dorben! Sind nicht diese wilden nationalen Kämpfe in Böhmen wie eine
Rache für den Mord von Eger und die Missethaten pfäffischer Herrschsucht?
Hat Österreich nicht bis zuletzt die nationale Kraft, nach der es jetzt auf sla¬
wischen Boden grübe, in Deutschland verleugnet?
In Wien wie an den meisten deutschen Fürstenhöfen war man noch 1866
so wenig von der Bedeutung des nationalen Gedankens überzeugt, wie zur
Zeit Metternichs. Man rief in Bayern um französische Hilfe; ein kleinstaat¬
licher Minister erniedrigte sich soweit, daß er dein russischen Zaren vorspiegelte,
die livländischen Provinzen seien nicht vor Bismarck sicher, und ihre Treue sei
verdächtig. Um in Rußland gegen Bismarck Mißtrauen zu erregen, wurden
die Deutschen verdächtigt und ins Verderben gestürzt. Im Volk war man so
wenig auf die nationale Einigung vorbereitet, daß Bismarck zu dem gewagten
Mittel der Verheißung des allgemeinen Stimmrechts greifen mußte, um die
Massen fortzureißen. Wenn wir uns alles dessen heute erinnern, so bemerken
wir die bedeutende Strecke, die wir seit jener Zeit ans dem Wege innerer natio¬
naler Einigung zurückgelegt haben. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß na¬
tionale Einheit dem deutschen Volkscharakter widerspricht, daß wir von Natur
verdammt seien, partikularistisch und uneinig zu sein bis zur Gefährdung der
äußern Einheit. Dreißig Jahre einer ruhmvollen, gebietenden Stellung Deutsch¬
lands im europäischen Staatensystem haben in den führenden Volksschichten
das nationale Bewußtsein gestärkt und auch in die breiten untern Volksschichten
dringen lassen. Aber lange noch wird der Vorsprung nicht eingeholt werden,
den Völker, die seit Jahrhunderten in großen staatlichen Verhältnissen national
zusammenwachsen und leben konnten, vor uns voraus haben. Die Geschlossen¬
heit, zu der Rußland im sechzehnten Jahrhundert gelangte, die in Frankreich
Ludwig XI. zu erzwinge» begann und Richelieu vollendete, die in beiden
Reichen mit Blut und Eisen, nicht gegen Fremde, sondern gegen die Landes¬
genossen geschaffen wurde, ist in Deutschland nicht dnrch einen siegreichen
Krieg und ein Blatt Papier schon erlangt worden. Auch sind wir nicht
Slawen noch Gallier. Separatismus, Sonderbündelei scheinen uns im Blute
zu liegen. Bei Slawen und Galliern sind die Staatensplitter weggefegt worden i
bei uns sind sie geblieben. Zeit, gemeinsame Arbeit, gemeinsame Geschicke
müssen das übrige thun, um in uns die nationale Kraft zu stählen, die heute
nötig ist im Daseinskampf der Völker.
(Schluß folgt)
n seiner vor anderthalb Jahrzehnten erschienenen Abhandlung
über „Die Unfallversicherung in den europäischen Staaten" hat
Bödiker, der frühere Präsident des Neichsversicherungsamts, darauf
hingewiesen, wie schwer es unter der Geltung des Haftpflichtgesetzes
dem einzelnen Arbeiter bei seinem Vermögens- und Bildungsstande
gemacht war, einen Entschädigungsanspruch für einen Betriebsunfall durch
einen Prozeß gegen seinen Arbeitgeber oder gegen die mit den reichsten Mitteln
ausgestatteten privaten Versicherungsgesellschaften durchzufechten. Das Haft¬
pflichtgesetz mit seinen offenkundiger Mängeln gehört zum Glück längst der
Vergangenheit an, und seitdem ist mit der Durchführung der sozialpolitischen
Gesetzgebung bei uns in Deutschland ein großer Teil der sozialen Frage gelöst
worden. Heute erhält jeder Lohnarbeiter im Falle der Erkrankung zum min¬
desten dreizehn Wochen hindurch eine ausreichende Krankenunterstützung, und
seit dem Bestehen der Arbeiterversicherungsgesetze sind bis zum Schluß des
Jahres 1897 an Unfall-, Invaliden- und Altersrenten und sonstigen Ent¬
schädigungsbeträgen zusammen schon über sechshundert Millionen Mark aus¬
gezahlt worden. Im Jahre 1897 allein haben die Ausgaben 122 Millionen
Mark betragen für 485732 Unfall-. 452300 Invaliden- und Altersrentner.
während außerdem bei der Unfallversicherung 29599, bei der Jnvaliditäts- und
Altersversicherung 212983 Personen vorübergehende Unterstützungen oder Bei¬
tragserstattungen bei der Verheiratung und im Todesfalle erhalten haben.
Wenn diese Zahlen auch keines weitern Kommentars bedürfen, wenn man
auch bemüht gewesen ist, in der sozialpolitischen Gesetzgebung etwas brauch¬
bares zu schaffen und den Arbeiter nach Möglichkeit gegen die wirtschaftlichen
Folgen des Alters und der unverschuldeten Erwerbsunfähigkeit sicher zu stellen,
so ist doch die Lage des einzelnen Arbeiters, sobald sich nur Zweifel über die
Berechtigung seiner Entschädigungsansprüche ergeben, gegenüber den Berufs¬
genossenschaften und Versicherungsanstalten genau dieselbe geblieben, wie unter
dem Haftpflichtgesetz gegenüber den privaten Versicherungsgesellschaften. Der
Arbeiter hat nicht die Bildung, um seine Rechte mit Nachdruck selbst verteidigen
zu können, und nicht die Geldmittel, um sich durch tüchtige, bezahlte Anwälte
vertreten zu lassen, und so gehen ihm ohne sonstige Unterstützung sehr häufig
seine berechtigten Ansprüche verloren.
Will man sich davon überzeugen, wie der geringe Bildungsgrad es den
Rentenanwärtern oft ganz unmöglich macht, ohne fremde Hilfe ihre Ansprüche
durchzufechten, so braucht man nur die Handweberbezirke in den schlesischen
Gebirgen aufzusuchen. Die Leute können vielfach gar nicht schreiben, höchstens
zur Not ihren Namen. Es ist ihnen gesagt, daß sie als Weber, als
Spuler, als Tagearbeiter ihre Reute bekommen können, sie wissen aber nicht,
daß sie eine Wartezeit zu erfüllen haben, daß sie eine gewisse Beschäftigungs¬
zeit nachweisen müssen. Sie besorgen sich von einem beliebigen Arbeitgeber,
bei dem sie vielleicht sechs Monate hindurch beschäftigt gewesen sind, eine
Arbeitsbescheinigung und wundern sich hernach darüber, daß sie mit ihren
Rentenansprücheu abgewiesen werden, während sie eben noch weitere Arbeits¬
bescheinigungen beibringen mußten und sie auch unter Umständen ganz leicht
erhalten hätten. Unter Umständen freilich; nicht immer. Oft haben die Arbeit¬
geber keine Versicherungsmarken geklebt und keine Bücher geführt, sie sind wo¬
möglich verzogen oder gar gestorben, und der Nentenanwärter, der krank da¬
niederliegt, ist nicht in der Lage, die betreffenden Meister oder ihre Familien
aufzusuchen und mit ihnen persönlich zu verhandeln, er kann sich im Augen¬
blick auch wohl nicht darauf besinnen, wo und wie lange er überall beschäftigt
gewesen ist. Nun kommt der Bescheid mit der Abweisung von der Versiche¬
rungsanstalt, und ist der Weber imstande sie zu lesen, so geht ihm doch das
tiefere Verständnis dafür ab, er ist sich nicht recht klar über die entscheidenden
Punkte und deshalb anch nicht befähigt dazu, die fehlenden Unterlagen zu er¬
gänzen, etwaige Widersprüche an den bisherigen Ermittlungen zu beseitigen,
wichtige Momente, die zu seinen Gunsten sprechen, besonders hervorzuheben.
Überall sind in Nentensachen die weniger intelligenten Arbeiterklassen auf fremde
Hilfe angewiesen, und wo finden sie die? Die kleinen Arbeitgeber, die keine
Bücher führen und das Kleben der Versicherungsmarken unterlassen, sind mit
den gesetzlichen Bestimmungen zu wenig vertraut, um deu Arbeitern wirklich
Rat und Hilfe angedeihen lassen zu können. Die mit Arbeit überlasteten
Polizeiverwaltungen in den größern Städten müssen sich auf die allernot-
wendigste mündliche Auskunft beschränken, mit den Gemeindevertretern auf dem
Platten Laude ist es oft nicht besser bestellt als mit den kleinen Arbeitgebern.
Die Rechtsanwälte sind für die Arbeiterbevölkerung zu teuer, die Winkel-
kvnsulenten aber betrachten die Streitfälle in Versichermigsangelegenheiten zu
sehr als wenig einträgliche Nebeneinnahme; und sind sie auch sonst befähigt
und zuverlässig, so haben sie doch auf diesem Gebiete zu wenig Erfahrung.
Wenn man hier einwirft, daß es sich im Vorstehenden um einen durch
lange Arbeitszeit, eintönige Beschäftigung, schlechte Ernährung körperlich und
geistig zuriickgekommuen, geringen Bruchteil der Arbeiterbevölkerung handelt,
daß die Arbeiter in den großen Industriezentren vorgeschrittner und intelli¬
genter sind, so muß dem entgegengehalten werden, daß in den Fabrikstädten
auch die Verhältnisse schwieriger sind, daß sür die Fabrikarbeiter in erster Linie
die verwickelter? Unfallversicherung in Betracht kommt, während die Hausweber
es nur mit der einfach liegenden Jnvaliditäts- und Altersversicherung zu thun
haben. Bei diesen handelt es sich nur darum, ob jemand schon völlig arbeits¬
unfähig ist oder nicht, und ob er die Wartezeit erfüllt hat, Fragen, die sich
in jedem einzelnen Falle verhältnismäßig leicht entscheiden lassen. Bei der
Unfallversicherung kommt es auf den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit
an, die Renten können in allen Abstufungen von 5 bis 100 Prozent der Rente für
völlige Erwerbsunfähigkeit bewilligt werden. Da ist es nicht immer leicht,
das Richtige zu treffen, da giebt es viel Anlaß zu Streitigkeiten. Und dann
handelt es sich vorerst auch immer noch darum, ob überhaupt ein Betriebs¬
unfall als Ursache sür die Erwerbsunfähigkeit anzusehen ist oder nicht. Ein
Arbeiter kann eine Verletzung erlitten haben, die er anfangs garnicht beachtet,
und die erst später bedenkliche Folgen gezeitigt hat, oder aber ein kleiner un¬
bedeutender Riß an der Hand, den er sich sonst irgendwo zugezogen hat, ist
durch Berührung mit giftigen Stoffen die Ursache zu einer Blutvergiftung
geworden. In einem andern Falle ist er vielleicht schon lange leidend gewesen,
er wird von einem Betriebsunfall betroffen, und gerade jetzt nimmt es mit
der Krankheit eine schlimme Wendung. Oder aber er ist bettlägerig bei sich
zu Hause untergebracht, verläßt im Fieberwahn das Bett, holt sich durch eine
Erkältung den Tod, und dann ist es zweifelhaft, ob die Krankheit an sich die
unmittelbare Ursache des Todes gewesen ist, oder etwa gar die Trunksucht,
der er in einem unbewachten Augenblick wieder gefrönt hat. Der Beweis
für die Berechtigung der Entschädigungsansprüche wird in solchen Fällen
immer nicht leicht zu führen sein, es bedarf umfangreicher Zeugenvernehmungen,
eingehender ärztlicher Untersuchungen, um in die dunkle Angelegenheit all¬
mählich Licht zu bringen. Jemand aber, der den Fall nicht vollständig zu
übersehen vermag, wird sich auch selten über die Bedeutung einer an sich un¬
bedeutenden Einzelheit bewußt sein, die, genügend hervorgehoben, die ganze
Sache vielleicht zu seinen Gunsten gestalten kann. Und ist der Arbeiter nach
langem Warten endlich in den Besitz seiner Reute gelangt, so beginnen die
ärztlichen Untersuchungen von neuem. Die verletzten Glieder schmerzen noch
und sind zur Arbeit noch untauglich, der Arbeitsverdienst hat sich auch seit
der letzte» Untersuchung noch nicht gehoben, aber doch ist im Zustande des
Rentenempfängers nach dem Zeugnis des Vertrauensarztes eine wesentliche
Besserung zu verzeichnen, und die Rente wird herabgesetzt. Der Arbeiter kann
ein zweites ärztliches Gutachten von einem andern Arzte einholen, wenn er
soviel Überlegung und dazu die nötigen Geldmittel besitzt. Aber dieser andre
Arzt kann in Unfallsachen keine Erfahrung haben und in Gradabschätzungen
bei Arbeitsinvaliden nicht bewandert sein. Dann nützt das zweite ärztliche
Gutachten auch nichts.
Mau sieht, an wie viel Klippen der Arbeiter scheitern kaun, und wie
er sehr wohl eines tüchtigen Steuermanns bedarf, um ungefährdet durch sie
hiudurchzusegelu. Und doch muß sich der Steuermann noch dazu der aller-
uvtdürftigsten Hilfsmittel zur Steuerung bedienen, während die Verufsgenossen-
schaften und Versicheruugsanstalten, die ihn nicht aufkommen lasse» wolle»,
mit dem ganzen Rüstzeug ihrer Wissenschaft in deu Kampf treten. Sie haben
ein Heer geschulter Beamten und gewiegter Anwälte, eine Schar sachverständiger
Vertrauensärzte, sie brauche» keine anch noch so großen Kosten zu scheuen,
um sich jedes gewünschte Beweismnterial zu verschaffen, ihnen stehen in jedem
Augenblick die Akten zur Verfügung, die sie in deu Stand setzen, sich deu
ganzen Sachverhalt mit leichter Mühe immer wieder vou neuem vor Augen
zu führen und die Schwachen der Gegner herauszufinden. Das Aktenmaterial
ist das Wertvollste, und dieses gerade ist sich der klägerische Arbeiter voll¬
ständig zu beschaffen kaum imstande. Was er in den Bescheiden und Vor¬
bescheiden von den Auskünften der Arbeitgeber, den Zeugnissen der Ärzte zu
erfahren bekommt, sind zumeist nur kurze, aus dem Zusammenhang heraus-
gegriffue Einzelheiten oder von den Berufsgenossenschaften und Versicheruugs-
anstalteu selbst zusammengestellte Endergebnisse. Selten, daß er wortgetreue
Abschriften der ärztlichen Gutachten gegen Bezahlung erlangen kann, und auch
von den eignen Eingaben behält er sich des Kostenpunktes wegen nicht immer
une Abschrift zurück, da die Eingaben sowieso schon immer in zwei Exemplaren
bei den Schiedsgerichten und beim Reichsversicheruugsamt einzureichen sind.
So muß sich der Arbeiter bei jedem Schritt vorwärts mühsam immer wieder
von neuem das alte Material zusammensuchen, um festen Boden uuter den
Füßen zu haben, so viel er sich auch müht, er kämpft immer gegen einen
halb verdeckten Feind an und wird deshalb ihm gegenüber auch immer im
Nachteil sein.
Die Sache wäre an sich nicht böse, wenn Versicherungsanstalten und Be¬
rufsgenossenschaften im Bewußtsein der Verantwortlichkeit ihrer sozialen Auf¬
gabe dahin streben würden, jeden Einzelfall, soweit es irgend geht, aufzuklären
und so dem Arbeiter nach Möglichkeit zu seinem Rechte zu verhelfen. Das
geschieht aber schon bei den Versicheruugsaustalteu nicht immer. Sieht man
sich die Bescheide durch, die die Antragsteller auf ihre Eingaben erhalten, so
kann man oftmals den Eindruck nicht los werden, als ob die Versicherungs¬
anstalten froh gewesen wären, sich wieder einmal eine Sache vom Halse ge¬
schafft zu haben. Auf Grund des vorgelegten Beweismaterials muß die Reute
abgelehnt werden, das ist die Quintessenz des Bescheides. Daß aber der An¬
tragsteller, wenn sein Rentenanspruch im übrigen unter Umständen gerecht¬
fertigt erscheinen könnte, in irgend einer Weise beraten wird, daß man ihn
daraus aufmerksam macht, er solle seinen Antrag nach einigen Monaten
erneuern, er solle statt der Altersrente die Invalidenrente beantragen, er solle
den Nachweis dafür bringen, daß er die Hauptperson im Hausgewerbebetriebe
gewesen ist, geschieht in keiner Weise. Und wenn dann die Berufung beim
Schiedsgericht eingelegt wird, so kommt es selten vor, daß die Versicherungs¬
anstalt aus eignem Antriebe die Prüfung des neuerbrachten Beweismaterials
beantragt. In der Regel stellt sie sich auf einen völlig verneinenden Stand¬
punkt, und Schritt für Schritt muß man unter großem Zeitverlust den Boden
erkämpfen, wenn das Schiedsgericht nicht freiwillig die neu vorgebrachten
Thatsachen auf ihre Richtigkeit hin untersuchen lassen will. Wie schon er¬
wähnt, wäre es Pflicht der Versicherungsanstalten, allen Sachen, in denen sie
in Anspruch genommen werden, auf den Grund zu gehen. Sie müßten sich
immer vorhalten, daß sie an einem sozialen Friedenswerk mitarbeiteten, daß
dieses Friedenswerk nur mit Erfolg gekrönt werden könnte, wenn man den
Schwachen Wohlwollen und Geduld entgegenbrächte, und daß sie selbst als
die stärkere Partei lieber einmal eine Rente zu Unrecht zahlen könnten, als
daß ein berechtigter Nentencmspruch wegen nicht genügender Klarstellung des
Falles abgewiesen wird. Die Gesetzgeber haben eigentlich auch alle Garantien
dafür geboten, daß die Rechtsprechung von der Versicherungsanstalt vollständig
unparteiisch und den Arbeitern gegenüber wohlwollend gehandhabt werde.
Den Vorstand bilden nach Z 47 des Jnvaliditäts- und Altersversicherungs¬
gesetzes vom 22. Juni 1889 in erster Linie öffentliche Beamte, und ob in
einem Jahre ein paar Renten mehr oder weniger bewilligt werden, hat für
die Hauptträger der Versicherung, Arbeitgeber und Arbeiter, auch keine große
augenblickliche Bedeutung, da bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherung
feste Prämien erhoben werden und somit die Höhe der Überschüsse nur auf
die Zurücklegung größerer oder kleinerer Reserven von Einfluß ist. Wenn
trotzdem auch bei den Versicherungsanstalten die Erledigung der Rentensachen
mehr geschäftsmäßig nach Art des Verfahrens bei den Privat-Versicherungs-
gesellschaften erfolgt, so ist der Grund der, daß die Renten an einer Zentral¬
stelle zumeist ohne Vorladung des Antragstellers festgesetzt werden, und daß
die Verwaltungen, deren Wirkungskreis ganze Provinzen umfaßt, mit Arbeit
überlastet sind. Wo man den invaliden Arbeiter, sein Vorleben, seine Ver¬
trauenswürdigkeit nicht kennt, da wird man seiner Sache im Einzelfalle
natürlich kein besondres Interesse entgegenbringen, man wird aus scheinbaren
Widersprüchen nur zu sehr auf dessen ganze Unzuverlässigkeit zu schließen ge¬
neigt sein, und man wird oft auch gar nicht wissen, wo man die Hebel an¬
setzen könnte, um dem Manne zu seinein Rechte zu verhelfen. Und wenn
andrerseits allein bei der Jnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt für die
Provinz Schlesien im Jahre 1897 nicht weniger als 2800 Alters- und 8400
Invalidenrenten, 4450 Beitragserstattungen bei Verheiratung, 1800 Beitrags¬
erstattungen in Todesfällen zu bewilligen waren, wenn bei ihr Monate dazu
nötig sind, ganz einfach liegende Nentensachen zu erledigen, so wird man den
Eindruck nicht los werden, daß sich die Beamten der Versicherungsanstalt vor
Arbeit nicht zu lassen wisse», und daß sie zu einer mehr summarischen Arbeits¬
weise hingedrängt werden. Entschuldige sind damit die Vorstände der Ver¬
sicherungsanstalten nicht. Genügt das vorhandne Personal nicht, so muß es
vermehrt werden. Man denke daran, daß es sich alljährlich um das Wohl
und Wehe Tausender und aber Tausender Arbeitsinvaliden handelt, und daß die
31 Versicherungsanstalten des Deutschen Reichs zu Ende des Jahres 1897
schon ein Vermögen von mehr als 460 Millionen Mark besaßen.
Bei den Berufsgenossenschaften sind die hier besprochnen Mängel zumeist
durch die Einteilung in Sektionen abgeschwächt, bei allen aber tritt als er¬
schwerender Übelstand noch die fehlerhafte Organisation hinzu, durch die die
erste Entscheidung über die Bewilligung oder Nichtbewilligung der Renten
geradezu in die Hände der Personen gelegt ist, die die Kosten zu tragen haben.
Habe ich die Renten, die ich bewillige, aus eigner Tasche zu bezahlen, so suche
ich natürlich in jeder Beziehung zu sparen; d. h. ich bewillige nach Möglichkeit
nichts oder so wenig als angänglich, und wenn ich eine Rente bewilligt habe,
suche ich sie sobald wie möglich herabzusetzen. Wer mit dem, was ihm zu¬
gesprochen ist, nicht zufrieden ist, kann ja klagen. Das ist mehr oder weniger der
Standpunkt, der, von Ausnahmen abgesehen, ans Grund der heutigen Gesetzgebung
von den Vorstünden der Berufsgenossenschaften eingenommen wird. Viele der
Herren Fabrikanten würden ja auch, wenn es auf sie allein ankäme, hier und da
>mehr zu bewilligen geneigt sein. Aber sie haben das Interesse ihrer Herren
Berufsgenossen wahrzunehmen, und sie haften diesen nach § 26 des Unfall¬
versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 für getreue Geschäftsführung, wie
Vormünder ihren Mündeln. Freilich die Gesetzgeber hatten mit dieser Be¬
stimmung wohl kaum etwas andres als die getreue Verwaltung des ange¬
sammelten Vermögens der Berufsgenossenschaft im Auge. Aber mit der Zeit
gewann die andre Anschauung an Boden, daß treue Geschäftsführung daneben
jede Rentenbewilligung ausschlösse, zu der die Berufsgenossenschaft nicht nach
dem Buchstaben des Gesetzes verpflichtet sei. Und in dieses wenig arbeiter¬
freundliche Fahrwasser sind die Berufsgenossenschaften mehr und mehr auch
durch ehrgeizige Geschäftsführer gedrängt worden, die ihrerseits wieder glaubten,
sich bei ihren Vorgesetzten in ein gutes Licht zu setzen, wenn sie darauf aus-
gingen, Ersparnisse zu machen und sich in zweifelhaften Prozessen als geschickte
Sachwalter zu erweisen. Der Einfluß dieser Geschäftsführer war hier und da
um so größer, als die Herren Fabrikanten zumeist durch ihre eignen Geschäfts¬
angelegenheiten völlig in Anspruch genommen und daher froh waren, die fort¬
laufenden Verwaltungsangelegenheiten der Berufsgenossenschaft, wo es anging,
bezahlten Beamten überlasse» zu können. Freilich giebt es sowohl unter den
Borstandsmitgliedern als unter den Geschäftsführern rühmliche Ausnahmen,
die die Plusmacherei bei ihren Kollegen aufs ärgste verdammen und ganz in
dem Geiste arbeiten, in dem seiner Zeit die sozialpolitische Gesetzgebung von
unserm seligen Kaiser Wilhelm I. und seinem großen Kanzler zum Schutze
der Mühseligen und Beladnen ins Leben gerufen war. Aber, wie gesagt, es
sind das Ausnahmen, die an der Regel nichts ändern, daß sich die durch
einen Unfall Verletzten im großen und ganzen ihr gutes Recht erst mühsam
erkämpfen müssen.
(Schluß folgt)
elbstverständlich ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, alle
Umstände, die für den Entschluß der Gesellschaft, die Ver¬
sicherung zu übernehmen, irgendwie wesentlich sind, vor Ab¬
schluß des Vertrags mitzuteilen, wenn er nicht jeden Anspruch
an die Gesellschaft verlieren will; hierin stimmen alle Gesetze
überein. Welche Umstände aber hiernach in jedem Fall mitzuteilen sind, läßt
sich nicht allgemein bestimmen und muß der verständigen Würdigung des
Einzelfalles überlassen bleiben. Auch hier greifen die „allgemeinen Bedingungen"
dem Versicherungslustigen unter die Arme, indem sie eine Reihe von Dingen
einzeln aufführen, über die er der Gesellschaft Mitteilung zu machen hat; hänfig
enthalten sie eine Bestimmung des Inhalts: „Der Versicherungsnehmer ist ver¬
pflichtet, im Versicherungsantrage die zu verhindernden Gegenstände und deren
Eigeutumsverhältnis anzuzeigen. Ist diese Verpflichtung nicht erfüllt, so hat
die Gesellschaft leine Entschädigungspflicht." Auch diese Bestimmung giebt der
Gesellschaft ein Mittel zur Chikane gegen den Versicherten. Obwohl nämlich
nach den meisten der vorhandnen ehelichen Güterrechte und ebenso auch nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch die Frau das Alleineigentum an dem von ihr in
die Ehe gebrachten Vermögen behält, gilt im Volksbewußtsein noch der Grund¬
satz des alten deutschen Rechts: „Mann und Weib haben kein gezweiet Gut
zu ihrem Leib"; demnach unterscheidet auch der vorsichtige und geschäftserfahrnc
Mann bei der Feuerversicherung nicht die ihm gehörigen Bestandteile der ehe¬
lichen Habe von denen seiner Frau; und am wenigsten bezeichnet er nach dem
Tode der Frau die Nachlaßstücke als ihm und seinen Kindern gehörig. Das
Zusammenleben der Familienmitglieder in einem Hausstande läßt die gesonderten
Eigentumsrechte der einzelnen Familienmitglieder nicht zur scharfen Vorstellung
gelangen; das ganze Familienvermögen erscheint als eine einheitliche Masse,
die dein Familienvater gehört, sodaß er bei der Feuerversicherung wohl nie
erwähnt, daß auch die Vermögensstücke seiner Angehörigen versichert sein sollen.
Nichtsdestoweniger haben wiederholt die Versicherungsgesellschaften wegen der¬
artiger unrichtiger Angaben die Bezahlung der Brandschadensumme unter Be¬
rufung auf jene oben angezogne Bestimmung der „allgemeinen Bedingungen"
verweigert und dein versicherten Familienhaupt Entschädigung nur für Stücke
bewilligt, die im strengen Sinn sein Eigentum sind; die Rechtsprechung schwankt
anch hier auffallend.
Thatsächlich ist indes gar kein Grund abzusehen, wieso der Versicherungs¬
lustige verpflichtet sein soll, der Gesellschaft darüber Mitteilung zu machen, ob
die versicherten Gegenstände sein oder eines dritten Eigentum sind; wenn jemand
in der Absicht, seine Gläubiger zu benachteiligen, seine Habe einem dritten
verkauft und sie von ihm wieder mietet, so beweist dies wohl, daß er in zer¬
rütteten Verhältnissen lebt und in gewisser Richtung nicht ganz lauter ist, nicht
aber daß er zu Brandstiftung oder Überversicherung neigt; die Gesellschaft, bei
der er seinen Mietbesitz versichern will, hat an diesem Sachverhalt ein viel ge¬
ringeres Interesse als der, der mit diesem Versicherungslustigen ein sonstiges
Geschäft, z. B. einen Mietvertrag, einen Kreditkauf, schließen will; es ist also
ungerechtfertigt, daß die Gesellschaft ihrer Zahlungspflicht enthoben sein soll,
weil der Versicherte ihr jenen Sachverhalt verschwiegen und die versicherten
Gegenstände demnach als sein Eigentum ausgegeben hat. Mau kann indes
gerade über diesen Fall andrer Ansicht sein, und die Gerichte können dann
auch ohne die besondre Vorschrift der „allgemeinen Bedingungen" die Zahlungs-,
Pflicht der Gesellschaft verneinen, weil der Versicherte auf Grund der allge¬
meinen Verpflichtung, alle für die Entschließung der Gesellschaft wichtigen Um¬
stände dieser mitzuteilen, einen so eigentümlichen Sachverhalt der Gesellschaft
uicht Hütte verheimlichen sollen. Dazu bedarf es also nicht ausdrücklicher
Sondervorschrifteu des Inhalts, wonach der Versicherungslustige in jedem Fall
Angaben über die Eigentumsverhäluiisse der zu verhindernden Habe zu machen
hat, Vorschriften, die das Familienhaupt der Gefahr aussetzen, der Brand-
schadensumme für die versicherte Habe seiner Frau und Kinder verlustig zu
gehn. Daher empfiehlt es sich, die Zulässtgkeit derartiger allgemeiner Be¬
dingungen auszuschließen und die Frage, inwieweit die Angabe der Eigentums¬
verhältnisse notwendig ist, der Entscheidung nach dem Grundsatz des allge¬
meinen Rechts zu überlassen. Dabei mag noch bemerkt werden, daß das
Preußische Landrecht, das in seiner bekannten redseligen Weise dem Versiche¬
rungsvertrag volle 424 Paragraphen widmet und hierbei alle dem Versiche¬
rungslustigen obliegenden Pflichten höchst genau aufzählt, diesem eine Angabe
über die Eigentumsverhältnisse der zu verhindernden Habe nicht aufbürdet.
Ein ähnlicher Mißstand ergiebt sich aus der Gepflogenheit der Gesell¬
schaften, die Räumlichkeiten zu bezeichnen, in denen sich versicherte Gegenstände
finden. Ist der Wagen, der gewöhnlich in einer abseits des Hofes gelegnen
Scheune steht, bei der Ausfüllung des Antragsformulars durch den Agenten
gerade in einem Stall und brennt später die Scheune, in die der Wagen
wieder zurückgebracht ist, ab, so erhält der Bauer für den in der Scheune
mitverbrannten Wagen keine Brandentschädignng, weil ein solcher Inhalt der
Scheune nicht unverhindert ist. Wünschenswert wäre daher eine gesetzliche
Vorschrift, daß die Veränderung des Lagcrorts innerhalb desselben Grundstücks
bedeutungslos ist, ferner aber, daß die versicherten Gegenstände anch außerhalb
des Grundstücks als versichert gelten, sofern die Veränderung des Lagerorts
veranlaßt ist durch den gewöhnlichen Gebrauch und die gewöhnliche Verfügung,
die dem Versicherten über seine Habe zusteht. Macht der Versicherte mit seinem
Pelz bekleidet auf seinem Fuhrwerk eine Ausfahrt und verbrennen diese Gegen¬
stände im Gasthaus oder im Nachbargrundstück, wo er einkehrt, so zahlt die
Gesellschaft nicht den Brandverlust, obwohl es doch selbstverständlich ist, daß
der Pelz und das Fuhrwerk gerade außerhalb des Grundstücks zur Verwendung
kommen, überhaupt, daß der Versicherte nicht an dem gewöhnlichen Gebrauch
seines Eigentums durch den Versicherungsvertrag gehindert sein soll. Obgleich
eine Verfügung der geschilderten gewöhnlichen Art (nur diese steht hier in
Frage) keinesfalls die von der Gesellschaft übernommne Gefahr vergrößert,
muß gegenwärtig der Versicherte auf Grund besondrer Verabredung an die
Gesellschaft eine höhere Vergütung zahlen, wenn er auch gegen derartige
Schäden gesichert sein will, deren Möglichkeit beide Teile von vornherein vor¬
hergesehen haben; man denke z. B. an den Fall, daß die Pferde nicht im Stall,
sondern auf der Sommerweide vom Blitz erschlagen werden.
5. Durch die „allgemeinen Bedingungen" sind überall die Fälle ausführlich
geregelt, wo wegen Verletzung der dem Versicherten obliegenden Verpflichtungen
die Ansprüche an die Gesellschaft erlöschen, so wenn er die Prämie (nach vor¬
heriger Aufforderung) nicht rechtzeitig zahlt, wenn er erlittnen Brandschäden
nicht sofort der Gesellschaft und der Polizei anzeigt, nicht binnen der be-
stimmten Frist die Klage auf Zahlung des Brandschadens erhebt oder das
Verzeichnis der vor dem Brande vorhanden gewesenen und Verlornen Gegen¬
stände nicht rechtzeitig einreicht usw. Sicherlich wäre es sachgemäßer, derartige
Gründe ein für alle mal durch das Gesetz festzulegen, anstatt sie den in Einzel¬
heiten schwankenden und jederzeit abänderlichen klein gedruckten „allgemeinen
Bedingungen" zu überlassen, und bei dieser gesetzlichen Festlegung wären auf
Grund der Erfahrungen der Rechtsprechung die Mängel und Mißstände zu
beseitigen, die sich auch hier aus der von den Gesellschaften einseitig erfolgten
Regelung zum Nachteil der Versicherten ergeben. Insbesondre wäre zu be¬
stimmen, daß dieses Erlöschen der Rechte des Versicherten nach den allgemeinen
Grundsätzen des bürgerlichen Rechts ein Verschulden des Versicherten zur
Voraussetzung hat; die „allgemeinen Bedingungen" der Gesellschaften bringen
das letzte nicht zum Ausdruck oder stehn hier gar auf dem entgegengesetzten
Standpunkt. Es widerspricht aber dem Rechtsgefühl, daß der Versicherte den
Anspruch auf die Versicherungseutschädigung verliert, obwohl er durch höhere
Gewalt, z. B. Krankheit, oder durch Verschulden des Agenten ganze Zeiträume
hindurch an der Zahlung der Prämie oder an der vorgeschriebnen sofortigen
Anzeige des Brandnnglücks verhindert war, zu den genannten Maßnahmen
vielleicht überhaupt noch keine Gelegenheit hatte; ebenso ist es ungerecht, den
Anspruch erlöschen zu lassen, wenn der Versicherte die vorgeschriebne Anzeige
deshalb unterließ, weil dem Agenten und der Polizei das Brandunglück schon
anderweit bekannt war, sodaß der Versicherte verständigerweise von einer be¬
sondern Anzeige absehen zu können glaubte; es widerspricht endlich dem Rechts-
gefühl, daß der Versicherte den Anspruch wegen nicht rechtzeitiger Einreichung
des Verzeichnisses oder wegen verspäteter Klageerhebung verlieren soll, wenn
er sofort nach dein Brandunglück verhaftet wurde, oder wenn er von der recht¬
zeitigen Einreichung der Klage deshalb absah, weil der Brandinspektor der
Gesellschaft als angeblich berechtigter Vertreter die Zahlung des von ihm fest¬
gestellten Schadenbetrags in sichre Aussicht gestellt hatte.
Im wesentlichen stehen diese hier dargelegten Forderungen mit der Recht¬
sprechung im Einklang, und eine gesetzliche Festlegung dieser Grundsätze ist
daher zur Vermeidung neuer Zweifel bei der Einführung des zukünftigen Rechts
dringend erwünscht; ebenso wünschenswert wäre eine gesetzliche Feststellung, daß
die Entschüdignngspflicht der Gesellschaft nur wegfällt, wenn der Brand durch
Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Versicherten selbst verursacht worden ist,
während gegenwärtig nach den „allgemeinen Bedingungen" und „Statuten"
(namentlich der öffentlichen VersicherlNigsanstalteu) dieser Wegfall häufig schon
eintritt, wenn der Brand verursacht worden ist durch müßiges Versehen des
Versicherten oder gar durch Verschulden seiner Kinder und sonstigen Haus¬
genossen. Bestimmungen solcher Art gefährden ohne rechtfertigenden Grund
den Zweck der Versicherung; müßige Versehen sind eben im Leben nicht zu
vermeiden, und auch die Gefahr des Verlustes des Verstcheruugsanspruchs ist
nicht imstande, den Versicherten beständig bei voller Aufmerksamkeit zu er¬
halten. Wenn ferner der Versicherte für das Thun seiner Familienglieder und
Hausgenossen verantwortlich gemacht wird, so ist dies ungerecht, weil erfah¬
rungsgemäß zahlreiche Brände von Kindern und Hausgenossen des Versicherten
verursacht werden, wo dieser völlig frei von Schuld ist, eine Verhütung des
Unglücks gar nicht möglich war. Das Bürgerliche Gesetzbuch setzt eine Haf¬
tung der Eltern, des Dienstherr» usw. für unerlaubte Handlungen der Kinder
und der Angestellten fest, und die Gesellschaften werden, selbst wenn gesetzlich
die Ersatzvslicht nur bei einem dem Versicherten selbst zur Last fallenden Ver¬
schulden wegfüllt, versuchen, dem Versicherten die gesetzlich zustehende Ent¬
schädigung auf dem Umwege wieder zu entziehen, indem sie aus dieser gesetz¬
lichen Bestimmung eine Haftung des Versicherten für den von Kindern und
von Angestellten verursachten Brand herleiten. Diesem Versuch, dem das
Reichsgericht (im Gebiet des rheinischen Rechts) entgegengetreten ist, muß auch
durch eine entsprechende gesetzliche Bestimmung vorgebeugt werden.
6. Oft findet sich in den „allgemeinen Bedingungen" die Bestimmung,
daß, wenn der Versicherte im Laufe der Versicherung eine Vermehrung der
Feuergefährlichkeit herbeiführt oder zuläßt, die Versicherung bis zur schrift¬
lichen Genehmigung dieser Veränderung durch die Gesellschaft „ruht"; daß ein
solches „Ruhen" ferner eintritt, wenn der Versicherte von Umständen, die un¬
abhängig von seinem Willen eintreten und die Feuergeführlichkeit vermehren,
nicht sofort der Gesellschaft Anzeige macht, daß aber im letzten Fall die
Gesellschaft berechtigt ist, die Versicherung durch schriftliche Anzeige mit
Ablauf von zwei Wochen aufzuheben. Durch derartige Bestimmungen werden
dein Versicherten Pflichten auferlegt, denen er selbst bei größter Aufmerk¬
samkeit kaum gewachsen ist. Eine auf bösliche Absicht oder grobes Ver¬
schulden des Versicherten zurückzuführende Vermehrung der Feuersgefahr ver¬
dient keinen Schutz; dagegen ist das bloße „Zulassen" der Vermehrung ein
ganz unbestimmter Begriff; der Versicherte, der seinen Berufsgeschäften nach¬
zugehen hat, kann nicht auf der Lauer liegen, um zu beobachten, ob seine
Hausgenossen oder Mieter Dinge zu treiben beginnen, die die Feuergefährlich¬
keit vermehren, noch weniger kann man ihm zumuten, mit der Gesellschaft in
jeweiligen Briefwechsel zu treten, wenn als Mitmieter in das Haus ein Feuer¬
werkskünstler einzieht oder in dem Nachbarhause eine Schmiede angelegt wird;
der Versicherte wird sich beim besten Willen nicht darüber bewußt, daß in
diesen unabhängig von seinem Willen eintretenden, aber von ihm beobachteten
Vorgängen eine Vermehrung der Feuersgefahr liegt, zumal da thatsächlich
uicht im entferntesten feststeht, daß sich bei Beschäftigungen der gedachten Art
Feuersbrünste häufiger ereignen als bei andern Leuten. Den Versicherten trifft
also darin, daß er der Gesellschaft von den gedachten Vorgängen keine Anzeige
macht, gar keine Schuld. Wird nun der Versicherte vom Blitzschlag betroffen,
so ist die Gesellschaft berechtigt, die Brandentschüdigung zu verweigern; denn
weil der Versicherte die Anzeige vom Einzug des Feuerwerkskünstlers oder vom
Bau der Schmiede unterließ, „ruht" die Versicherung, und dies hat zur Folge,
daß die Gesellschaft auch von der Tragung der Gefahr befreit ist, die schon
bei Abschluß des Vertrags bestanden hat! Und diese Folge tritt ein, obwohl
der Agent der Gesellschaft von jenen Veränderungen, die der Versicherte hatte
anzeigen sollen, Kenntnis hat!
Die Gerechtigkeit verlangt, daß die Gesellschaft, die den Vorteil der Ge-
sahrvermindernng genießt, auch die Nachteile zufälliger Gefahrerhöhung trägt;
die Gesellschaft mag sich durch ihre Agenten von den für sie erheblichen Ver¬
änderungen überzeugen, und es mag für die Fälle nachträglich eingetretner
Gefahrserhöhung gesetzlich der Gesellschaft das Recht beigelegt werden, die
Versicherung zu kündigen, dies jedoch nur mit einer Frist von etwa zwei Mo¬
naten. Das in den „allgemeinen Bedingungen," wie oben erwähnt, der Gesell¬
schaft beigelegte Kündiguugsrecht mit einer Frist von zwei Wochen hat zur
Folge, daß sich der Versicherte entweder den von der Gesellschaft nunmehr
gestellten härtern Bedingungen fügen muß, oder daß er eine Zeit lang unver¬
hindert bleibt; denn in zwei Wochen kann er eine andre Versicherung nicht be¬
sorgen. Die oben erwähnte Bestimmung der „allgemeinen Bedingungen" ent¬
hält also in mehrfacher Beziehung eine ungerechtfertigte Benachteiligung der
Versicherte!?. Dasselbe gilt vou der Bestimmung in den „allgemeinen Be¬
dingungen," daß wenn die versicherten Gegenstände (abgesehen vom Erbgang)
ihren Eigentümer wechseln, die Versicherung gleichfalls ruht, bis die Gesell¬
schaft den ihr angezeigten Eigentumswechscl schriftlich genehmigt, und daß sie,
wenn sie dies nicht will, wieder mit zweiwöchiger Frist vom Vertrage zurück¬
treten kaun. Die Gesellschaft hat doch aber an der Person des Eigentümers
im allgemeine» gar kein Interesse; der Eigentumswechsel müßte also ein
,.Ruhen" der Versicherung keinesfalls herbeiführen, sondern der Gesellschaft
allenfalls ein gesetzliches Kündigungsrecht geben, und zwar aus den oben an¬
gegebnen Gründen mit einer Frist von zwei Monaten. — Endlich ist in den
„allgemeinen Bedingungen" überall bestimmt, daß nach jedem Brande die
Gesellschaft berechtigt ist, den Vertrag gleichfalls mit zweiwöchiger Frist auf¬
zuheben. Auch hier müßte aus den angegebnen Gründen mindestens eine weil
geräumigere Frist gesetzlich festgesetzt werden; richtiger noch wäre es, das
Kündigungsrecht für diesen Fall überhaupt auszuschließen oder doch wesentlich
zu beschränken. Denn macht die Gesellschaft von diesem Kündignngsrecht Ge¬
brauch, so wirft sie hiermit auf den Versicherten den gehässigen Verdacht, daß
er zu dieser Kündigung durch eine ihm anläßlich des Brandes zur Last fallende
(aber nicht nachweisbare) Unlauterkeit Anlaß gegeben habe, wodurch sie ihm
eine andre Versicherung erschwert oder gar unmöglich macht. Die Interessen
der Gesellschaft sind zur Genüge gewahrt, wenn ihr gesetzlich das Recht bei¬
gelegt wird, den Vertrag ohne Kündigung aufzuheben, falls der Versicherte
rechtskräftig wegen (auch nur fahrlässiger) Brandstiftung verurteilt ist.
Hiermit ist die Zahl der Wünsche, die man an das bevorstehende Neichs-
gesetz über das Versicherungswesen knüpfen muß, auch uicht annähernd er¬
schöpft; sie wären vielmehr mit Leichtigkeit zu verdoppeln, und zwar immer
auf Grund der unbilligen Ergebnisse, zu deuen die Rechtsprechung bei dein
gegenwärtige» Zustande geführt hat. Das Vorgetragne genügt aber, um den
Wunsch zu begründen, daß das zukünftige Reichsgesetz seine Vorschriften als
zwingend fasse, d. h. jede Abänderung oder Ergänzung der aufgestellten Rechts-
sätze verbiete, sodaß also in Zukunft Versicherungsanträge nur uach Maßgabe
der gesetzlichen Bestimmungen geschlossen werden, deren Ergänzung durch „all¬
gemeine Bedingungen" oder Sonderverträge nur in den Punkten zulässig ist,
für die das Gesetz dies ausdrücklich gestattet. Berechtigte Interessen der
Gesellschaften stehen dem nicht entgegen. Daß gegenwärtig das Versicherungs¬
recht nicht durch die bestehenden Gesetze, sondern durch die oben zur Genüge
gekennzeichneten „allgemeinen Bedingungen" geregelt wird, erklärt sich zum
Teil daraus, daß die Gesetze vielfach ganz veraltet sind, daher den Anforde¬
rungen des heutigen Verkehrs uicht entsprechen. Dieser Grund fällt weg,
wenn das Versicherungsrecht neu geregelt wird; vor der Gesahr, daß das
neue Neichsgesetz „am grünen Tisch" gefertigt wird und daher unpraktisch ist,
sind die Gesellschaften genügend geschützt.
Der Entwurf des neuen Gesetzes wird im Neichsjustizamt gemacht und
zunächst im Reichsanzeiger zur allgemeinen Kenntnisnahme, sowie ferner den
Behörden und andern Körperschaften zur gutachtlichen Äußerung mitgeteilt.
Schon hier haben die Versicherungsgesellschaften Gelegenheit, ihre Einwendungen
gegen die vorgeschlagne Neuregelung an zuständiger Stelle und in der Öffent¬
lichkeit vorzutragen. Der auf Grund der eingegangnen Einwendungen und
Gutachten einer nochmaligen Prüfung und Änderung im Neichsjustizamt unter¬
zogn« Entwurf wird sodann vom Bundesrat, also von den Vertretern sämt¬
licher deutscheu Regierungen geprüft und nötigenfalls auch geändert. Dann
gelangt der Entwurf an den Reichstag und unterliegt hier zunächst einer all¬
gemeinen Prüfung durch mehrere hundert Abgeordnete der allerverschiedensten
Berufsstände und Lebensanschauungen; hierauf wird er in einem Ausschuß von
(gewöhnlich einundzwanzig) zur Prüfung besonders befähigten Abgeordneten
einer sehr eingehenden Besprechung unterzogen. Wenn der Entwurf nach so
eingehenden Beratungen schließlich Gesetz wird, so kann man ruhig sage», daß
die einzelnen Bestimmungen auf einer gerechten Würdigung und Abwägung
der Interessen der Verhinderer wie auch der Versicherten beruhen. Die Gesell¬
schaften haben dann also keinen Anlaß, von den Bestimmungen des Gesetzes
abzuweichen; daher kann der Gesetzgeber sie zu zwingenden, jeder Abänderung
und Ergänzung entzognen machen. Thut er dies nicht, so ist das neue Recht
der Gefahr ausgesetzt, daß die Gesellschaften im Bunde gegen die Versicherten
die für diese wohlthätigen Vorschriften des Gesetzes durch ihre „allgemeinen
Bedingungen" und Statuten aufheben, daß sie aber allermindestens alle sich
aus der Anwendung des neuen Rechts ergebenden Zweifel und Rechtsfragen
durch die „allgemeinen Bedingungen" zu Ungunsten der Versicherten entscheiden
werden.
Ein lehrreiches Beispiel hierfür bietet der Ansturm der „Hausagrarier"
gegen das neue Mietrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Bei der Beratung
des in sozialer Beziehung so überaus wichtigen Mietvertrags war man sich
darüber einig, daß der Mietzins begrifflich zu unterscheiden sei vom Darlehns-
zins; während also der Darlehnsgeber seiner Verpflichtung genügt durch die
Auslieferung des Darlehnskapitals, soll der Vermieter dem Mieter die Woh¬
nung nicht bloß zum Gebrauch übergeben, sondern auch verpflichtet sein, sie
während der Mietzeit in brauchbarem Zustande zu erhalten; der Mietvertrag
erzeugt eben für den Vermieter nicht bloß eine Rente, sondern auch dauernde
Verbindlichkeiten. Mau war sich ferner darüber einig, daß die Dauer der
Mietzeit nicht der Willkür des Vermieters ausgesetzt sein dürfe, daß daher der
Verkauf des Miethauses dem Vermieter und dem Käufer kein Recht geben
dürfe, den Mietvertrag vorzeitig aufzulösen. Man hielt es endlich gerade mit
Rücksicht auf die Interessen des Mittelstandes für geboten, daß der Tod des
Familienhaupts den Hiuterbliebnen ein Recht geben müsse, den Mietvertrag
vorzeitig zu kündigen. Noch sind diese Bestimmungen nicht in Kraft getreten,
und schon haben sich die „Vereine deutscher Hausbesitzer" zusammengethan,
um diese dem Mieter wohlthätigen Bestimmungen durch einen „Normalmiet¬
vertrag" zu beseitigen. In diesem soll bestimmt werden, daß der Mieter die
„kleinen Reparaturen" trägt, die Erhaltung der Wohnung also vom Vermieter
auf den Mieter abgewälzt wird, daß ferner „Kauf Miete bricht," der Mieter
sich also beim Verkauf des Hauses die vorzeitige Aushebung des Mietrechts
gefallen lassen muß; daß endlich die Ehefrau des Mieters den Mietvertrag
als „Mitkontrahentin" unterschreiben soll, sodaß sie des ihr gesetzlich gewähr¬
leisteten Rechts, beim Tode des Ernährers zu kündigen, verlustig wird. Es
fehlt in diesem „Normalmietvertrag" nur noch die Vorschrift, daß dem Mieter
die Vergrößerung der Familie verboten ist, und dieser „Normalmietvertrag"
hat mit den „allgemeinen Bedingungen" der Versicherungsgesellschaften eine
verzweifelte Ähnlichkeit.
Das Bürgerliche Gesetzbuch konnte freilich die Vorschriften über den Miet¬
vertrag nicht als zwingend und unabänderlich aufstellen; das zukünftige Reichs¬
gesetz über den Versicherungsvertrag kann diesen Schritt aber thun und wird
ihn thun müssen. Denn der Gedanke, daß die Beteiligten durch freie Verein¬
barung für ihre Angelegenheiten am besten sorgen, ist nur dann am Platz,
wenn die Vertragschließenden sich gleich stark und gleich einsichtig gegenüber¬
stehn. Daß dies beim Versicherungsvertrag nicht der Fall ist, ist oben gezeigt;
die Gesellschaften aber können sich auch später wie jetzt Konkurrenz macheu
bezüglich der Höhe der Prämien und durch die so viel gerühmte „Kulauz bei
der Regulierung."
Dringend wünschenswert wäre schließlich eine reichsgesetzliche Bestimmung,
wonach auf Anrufen des einen wie des andern Teils bei Streitigkeiten über
die Zahlungspflicht der Gesellschaft zunächst eine öffentliche Behörde mit allen
Befugnissen eines gesetzlichen Schiedsgerichts eine Vorentscheidung erläßt, gegen
die die Berufung auf den Rechtsweg stattfindet, in derselben Weise, wie dies
z. B. bei Streitigkeiten über die Entschädigung bei Enteignungen und sonst
vielfach gesetzlich vorgeschrieben ist; diese Vorentscheidung könnte bei geringern
Streitigkeiten den Polizei- oder Gemeindebehörden, bei größern Streitwerten
einer aus einem Rechtsverständiger und zwei anders befähigten Beisitzern ge¬
bildeten Behörde obliegen. Durch diese Regelung würden zahlreiche Prozesse
über Ansprüche aus Versicherungen vermieden, und dies ist aus dem besondern
Grunde wünschenswert, weil die Führung eines Prozesses für den Versicherten
etwas ganz andres ist als für die Gesellschaft. Für diese sind die Kosten
eines Prozesses kein irgendwie bedeutender Aufwand; anders für den Ver¬
sicherten, wenn man erwägt, daß gegenwärtig die Kosten eines Prozesses über
300, 3000, 30000 Mark, der durch die Instanzen geht, mit Leichtigkeit 150,
1500, 5000 Mark betragen, also zur Zerrüttung kleiner Vermögen führen
können, daß der Versicherte aber sowie seine Hinterbliebnen gerade beim
Eintritt des Versicherungsfalls oft in einer durch diesen hervvrgerufnen Not¬
lage sind.
s ist nun schon länger als drei Jahre her, daß Andreas Oppermann,
der talentvolle und lebensfrohe, dem Kreise, in dem er wirkte, und
den Menschen, denen er lieb und unersetzlich war, durch den Tod ent¬
rückt wurde. Erdrückt, nicht entrissen. Denn wer der ursprünglichen
und besondern Natur und Persönlichkeit des geistvollen Mannes, des
liebenswürdigen Menschen jemals näher gekommen war, der hatte
von ihr Eindrücke empfangen, die sich merklich von den Eindrücken andrer Begeg¬
nungen unterschieden und etwas von den wirksamen und unvergänglichen Eindrücken
guter Gestalten der Dichtung in sich trugen.
Der einfache Rechtsanwalt in einer Provinzialstadt der sächsischen Oberlausitz
war in Lebensschicksal, Charakteranlage, Erscheinung, Bildung und Neigung eine ver¬
körperte Bürgschaft dafür, daß auch solche Gestalten unsrer großen Erzähler, die
über den Realismus des Alltags hinausragen, der lebendigen Wirklichkeit ent¬
stammen. Eine merkwürdig bewegte, wechselvolle Jugend, manche Gunst der Um¬
stände, eine über die Berufsbildung nud die übliche allgemeine Durchschnittsbildung
hinausgehende tiefere Teilnahme an allem geistigen Leben und ein nahezu schöpfe¬
risches Verständnis für Werke der Dichtung und der bildenden Kunst, vor allem
aber die Stärke seines frischen Gefühls, die Entschiedenheit und Kraft seines Aus¬
drucks, der unerklnrbnre Zauber eines überaus glücklichen Naturells hoben ihn weit
über die äußere Stellung hinaus, die er im spätern Leben einnahm, übrigens mit
gesunder Selbstbescheidung und ernstem Pflichtbewußtsein vortrefflich ausfüllte. Zum
Lebensbilde Andreas Oppermanns gehört es freilich, daß sich der in vielen Sätteln
gerechte Mann anch auf litterarischem Gebiete bethätigte, daß seine vorzügliche
Lebensgeschichte Ernst Rietschels unvergänglich unsrer biographischen und kunst¬
historischen Litteratur eingereiht ist, daß seine frischen Wanderbilder „Aus dem
Bregenzer Wald" ein ähnliches Schicksal mindestens verdient hätte», daß mancher
vortreffliche Aufsah und Vortrng ans seiner Feder bei guter Gelegenheit mit und
ohne seinen Namen wieder aufersteh» wird.
Aber sein Anspruch, im Gedächtnis nicht nur derer, die ihn gelaunt haben,
fortzuleben, beruht, wenn mich nicht alles trügt, noch auf andern Grundlagen, als
seinen litterarische» Arbeiten. Der Mensch selbst mit seiner Lebensfülle, seiner aus¬
geprägten Eigentümlichkeit, seinem innern Reichtum, seiner unmittelbaren Wirkung
verdient erhalten zu bleiben. Und des Versuchs wenigstens ist es wert, ihm dnrch
eine treue Charakteristik anch da teilnehmende Freunde zu gewinnen, wohin seine
persönlichen Wirkungen nicht gereicht haben.
Über ein Vierteljnhrhundert habe ich in vertrauter Freundschaft mit Andreas
Ovpermnnn gelebt und ihm in gewissen Lagen seines Lebens und an unvergeßlich
reiche» und frohen Tagen näher gestanden, als jeder andre seiner Freunde. Als
ich den jungen Mann mit dem schöne» Kopf und der kräftig gedrungne» Gestalt
im Sommer 1858 zuerst keimen lernte, war er eben als Assessor an, königlich
sächsische» Amtsgericht in der alten Prächtig gelegnen Oberlausitzer Sechsstadt Zittau,
die sein bleibender Wohnsitz, seine andre Heimat werden sollte, eingetroffen. Damals
lag noch der volle Abglanz seiner Lehr-und Wanderjahre über ihm; el» geflügeltes
Wort Berthold Auerbachs, der rin dem lebensfroher, geistig blitzenden jungen Manne
im Hause von Oppermanns Schwager Er»se Rietschel häufig zusammentraf! „dieser
letzte Jünglittg eriimcre, in mehr als einem Betracht, an den jugendlichen Goethe"
fand seinen Weg auch nach der Lausitz und wurde vou uns, den neue» Freunde»
des Gepriesene», ont-zUs mutanäi.-j gebilligt.
Als da»» im Laufe der Woche» und Monate, die der ersten Befreundung folgten,
die grundverschiedne» Erlebnisse ausgetauscht wurden, stellte sich, zu beiderseitiger
Überraschung, heraus, daß ich wenigstens Freund Andreas schon einmal zuvor, zehn
Jahre vor unsrer wirkliche» erste» Begegnung in den Ruinen des Klosters ans
dem Odhin, unter eigentümliche» Umstanden gesehen hatte. Im Sommer des
Sturmjahres 1848 nämlich Ware» wir Leipziger Schulknabe» eiues gute» Nach¬
mittags bei». Verlasse» der Klasse mit der Nachricht erfreut worde», daß auf dem
uahgeleaue» Angustusplatze wieder „was los sei." Es war damals öfter etwas los,
und wir Junge» waren dumm genug, unbekümmert um die mögliche Gefahr und
ohne Ahnung unsrer vollkommnen Überflüssigkeit, den Exzessen, Straßenaufzügen
und andern Herrlichkeiten des großen Jahres zuzulaufen. Diesmal spielte der
Auftritt in der nächsten Nähe des Cnft freue-ais. Eine Gruppe ivütender Bau-
hnndwerker und Proletarier von unbestimmter Beschäftigung drang auf vier oder
fünf Studenten mit farbigen Bändern über der Brust ein und schien hauptsächlich
einen von ihnen, einen braunlockigen Jüngling anzugreifen, dem die Stndentenmütze
von den Gegnern vom Kopfe geschlagen war, und der jetzt mit vorgehaltnem linken
Arm Stirn und Augen gegen die Steine zu schützen suchte, die ans den hintern
Reihen des Arbeitertrupps nach ihm hinflogen, während er, im Verein mit den
Kommilitonen, die Angreifer znrückschleuderte, die zupacken wollten,
Wir Gaffer verstanden augenblicklich, daß sich der Rückzug der angegriffneu
kleinen Stundeuteuschar gegen das Cafe frnnyais richtete, dessen Besitzer, Falsche, als
Konservativer bekannt war. Hinter der kämpfenden Gruppe lärmte ein buckliger
Kokardeuverkäufer, der eben sein umgestürztes Tischchen wieder aufgerichtet hatte
und mit schäumendem Munde und geballten Fünften einem teilnehmenden Hansen
von Weibern, alten Eckenstehern und jungen Gassenmädchen erläuterte, daß ihm
der freche Student dort seine gut republikanischen roten Kokarden in den Dreck ge¬
schleudert habe. Mit einem Auge schielte er nach den Prügeln, die der Übelthäter
erhalten sollte, mit dem andern nach den roten Abzeichen, die wohl alle hilfreich
aufgelesen, aber keineswegs alle wieder ans den Tisch geliefert wurden. Uns
Jungen kümmerten nur die bedrohten Studenten, vor allem der dnnkellockige, und
wir brachen, als er mit geschickter Deckung und einem gewaltigen Sprunge die
Thür des Cafe" frcmyais gewann, die sich vor ihm und seinen Freunden öffnete
und schützend rasch wieder schloß, in ein jauchzendes Vivat aus. Daß die für deu
kleinen Studententrupp bestimmten Steine und Erdklöße aus den Fäusten der
Widersacher sofort klirrend durch ein halb Dutzend Fenster des Cafe franems
fuhren, gehörte einmal zur Musik der glorreichen Zeit und fiel wahrscheinlich Herrn
Wilhelm Felsche, jedenfalls aber uns Buben nicht besonders auf. Wir zogen mit
der Gewißheit ab, daß sich der Haufen verlaufen würde, da vom andern Ende der
Grimmischen Straße her ein Dutzend blaue Kommnnalgardenröcke auftauchten. Auch
deu Verkäufer der roten Kokarden sahen wir noch fluchend und scheltend über die
„Hunde von der Reaktion" seine gefährliche Ware einpacken.
Der braunlockige und heißblutige Student aber, der sich an jenem Sommertag
durch eine freche Prahlerei des roten Händlers zu dem verächtlichen Stoß wider
dessen Krüppeltischchen hatte reizen lassen und danach mit Mut und Gewandtheit
die schnöden Mißhandlungen der auf ihn eindringenden Rotte abgewehrt hatte,
war kein andrer als mein nachmaliger Freund Andreas Septimus Oppermann,
damals Student der Rechte an der Universität Leipzig. Die spätere Entdeckung,
daß ich ihn in so eigentümlicher Lage erblickt hatte, ohne jede Ahnung, wie nahe
mir später der kecke Jüngling treten sollte, dessen trotzige Entschlossenheit den,
Knaben Bewunderung abzwang, machte uns große Freude und galt uns als ein
Zeichen, nicht wie klein die Welt sei, sondern wie wundersam sich die Anziehungs¬
kraft des Zusammengehörigen äußere.
Wie viele Monate zwischen unsrer eigentlichen ersten Bekanntschaft bei einem
Nachmittags- und Abendausflug einer Zittaner Gesellschaft — erinnere ich mich recht,
des Gesangvereins Orpheus — zum Oybin und der spätern Erzählung Oppermanns
von seinem Leipziger Abenteuer verstrichen sind, wüßte ich nicht mehr zu sage»!
nur das weiß ich, daß wir inzwischen herzlich vertraut geworden waren, und daß
der „neue Assessor" nach wie vor das Wunder der kleinen Stadt war, in die ihn
sein Schicksal geführt hatte. Er sah wahrhaftig auch nicht aus wie die Assessoren,
die seither zum königlichen Gerichtsamt gesandt worden waren. Der schöne und
mächtige Kopf mit dem dichten dunkelbraunen Haar, der Prachtdollen Stirn, den
strahlenden Augen und den- übermütig lachenden Munde saß freilich auf einer etwas
zu gedrungnen Gestalt, aber diese war wunderbar kräftig elastisch und beweglich,
den stärksten Anstrengungen beim Laufen und Bergsteigen gewachsen, dabei von
einer Geschmeidigkeit, die verriet, daß der junge Mann seinen Körper mit allen er¬
denklichen Übungen geschult hatte. Daß er sich nach und nach als ein kühner
Reiter, als ein unermüdlicher Tänzer zeigte, daß er ein froher Sänger und ein
glänzender Darsteller kleiner Sologenrestücke war (wer ihn jemals den Münchner
Schnstergesellen hat machen sehen, der beim Maßkrug und Pechdraht „Prinz Eugen
der edle Ritter" für sich singt, der lacht heute noch), das überraschte bald keinen
mehr. Ja als er eines schonen Sommernachmittags im Garten seines Kollegen
Moritz Horn, des Dichters von Schumanns „Pilgerfahrt der Rose," eine Wasch¬
leine zwischen zwei Pflaumenbäumen straff zog, nach einem Stück Kreide für die
Schuhsohlen rief, eine Bohnenstange zur Hand nahm und zierlich ans dem Seile
auf und ab zu gehn begann, wobei er uns erzählte, er sei einmal in eine Seiltänzerin
verliebt gewesen, sei ihr auf ein paar Jahrmärkte nachgezogen und habe schließlich,
weil sein Geld alle geworden sei, mit „arbeiten" müssen, dn hatte ers schon soweit,
daß ihm alle solche Geschichten nur halb geglaubt wurden. Und es machte ihm
offenbar Vergnügen, die Leute über das im Zweifel zu lassen, was er erlebt und
was er erfunden hatte."
Wie oft habe ich ihn im „jüngern Künstlerverein in Dresden, dessen beliebtes
außerordentliches Mitglied er war, gegen Mitternacht anrufen hören: „Sohl einmal
eins, Andreas!" und, wie ein Italiener der Renaissance, hub er an, eine vollständige
Novelle zu erzählen, in deren Mittelpunkt bald er selbst, bald ein andrer stand.
Der Ton, in dem sie erzählt wurde, ließ immer ein Spiel der Phantasie vermuten,
aber oft hatte ich hinterdrein, wenn wir in Oppermanns Papieren kramten, Ge¬
legenheit, an alten Karten, Pvstscheinen und Briefen zu erkennen, daß die ver¬
meinten Erfindungen auf guter und wohl auch auf schlimmer Wirklichkeit beruhten.
Nicht in seiner anziehenden äußern Persönlichkeit, nicht in den geselligen Talenten
und den brausenden Lebensgeistern, nicht in der Stärke seiner regen Phantasie, die
er unbedenklich für den fröhlichen Tag und die gute Stunde ausgab, auch uoch
nicht einmal in der Fülle mannigfacher Erlebnisse und Erinnerungen und in dem
warmen Anteil um allem Großen und Schönen der Geschichte und der Kunst lag
die Wirkung, die der junge Justizbeamte auf seinen neuen, wie auf manchen frühern
Lebenskreis ausübte. Die eigentümliche Mischung von genußfroher sieghafter Heiter¬
keit und unverkennbarem Ernst, von Wohlmeinung, die ihm aus den blitzenden
Augen sah, von süddeutscher bequemer Art und von norddeutscher ritterlicher Hal¬
tung gewann ihm unwiderstehlich nicht bloß, wie etliche Neider behaupteten, die
Herzen der Frauen und Mädchen, sondern much älterer wie jüngerer Männer.
Jeder fühlte, noch ehe er etwas von dem eigentümlichen Entwicklungsgange des
jenigen Mannes erfahren hatte, daß er einem ungewöhnlichen Naturell und einem
schier unverwüstlichen Lebensbehagen gegenüberstand. Schon an jenem ersten Abend,
als er, den meisten von uns unerwartet, in den frohen Kreis auf dem Oybin trat,
beim improvisierten Tanz in Lust und Ausdauer alle hinter sich ließ und lange
nach Mitternacht auf dem zweistündigen Heimweg zur Stadt die ganze Gesellschaft
mit seinen Liedern „Vom Pfäfflein Bin ein lustger Jägersknecht" in Atem hielt
und sein Lachen erschallen ließ, wußten wir alle, daß diese Ausdauer und dieser
Humor, trotz des königlich sächsischen Assessors, nicht auf sächsischem Boden gewachsen
waren.
In der That hatte Andreas Oppermcmns Wiege an der Dorn», in der alten
Reichsstadt Regensburg gestanden. Sein Großvater, Johann Septimus Oppermann,
war dort ein angesehener Rechtsgelehrter und hatte nach der Weise der damaligen
Regensburger Prokuratoren auch einige kleinfürstliche Häuser als Bevollmächtigter
und diplomatischer Agent beim immerwährenden deutschen Reichstage zu Regensburg
in dessen letzten Zeiten vertreten. Viele Jahre später sand ich in mehr als einem
der „hochfürstlich Sachsen-Weimnrischen und Eisenachschen Adreßknlender" der Jahre
1770 bis 1790, daß Oppermanns Großvater auch Karl Augusts Bevollmächtigter
gewesen war, was dem Enkel ganz besondre Freude bereitete. Dieser Großvater
muß schon zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gestorben sein. Oppermanns
Vater, Johann (Jeannvt) Oppermann, hatte gleichfalls die Rechte zu Jena und
Erlangen studiert, nachdem er schon in Regensburg an den Vorlesungen der privaten
Rechtsschule teilgenommen hatte, die zu Reichstagszciten und auch unter der kurzen
Regierung des rheinbündischen Fürstprimas (Karl von Dalberg) noch fortbestand.
Einer alten vergilbten Handschrift, der Selbstbiographie eines Schwagers von Opper¬
manns Vater, der in den Tagen, wo der deutsche Reichstag samt dem Reiche schon
in Sterbensnöten lag, als Amanuensis des kurfürstlich württembergischen Gesandten,
von Seckendorff, nach Regensburg kam (1804), entnehme ich eine Schilderung des
damaligen Bestandes der Oppermannschen Familie und der letzten Glanzmonate von
Regensburg.
Der damalige Botschafterlehrling erzählt! „Dienstag, den 21. Februar, hörte
ich das erste Kollegium bei Grimm, und an der Hausthüre begegnete mir meine
junge Bekanntschaft, Jeannette Oppermann, die mich flüchtig, aber freundlich grüßte.
Auf eingezogne Erkundigung bei dem Sohne Grimms erfuhr ich, daß die Familie
Oppermann in demselben Hause, eine Treppe höher, wohne. Da der eine der Zu¬
hörer ohne Hut eintrat und ich auf Befragen erfuhr, daß er ein Bruder von
Jeannette sei, mir Grimm, der Sohn meines Lehrers, auch erzählte, daß »sie« von
mir gesprochen habe, so beschloß ich, Bekanntschaft in dieser Familie zu machen.
Mit einer mir noch jetzt unerklärlichen Cvnrnge holte ich des andern Tags den
jungen Oppermann ab, der zum Glück so schüchtern war, daß ich leicht durchkam.
Ich sah da die ganze Familie, eine freundliche Matrone als Mutter, eine wunder¬
liche ältere Schwester, eine wilde jüngere und die Jeannette, bei deren erstem Er¬
blicken im Hause des Herrn von Selpert ich flüchtig gedacht hatte: dies wird einst
deine Frau. Ich wiederholte nun meine Besuche fast täglich, faud die Fräulein
Oppermann wieder in der Freitagsgesellschaft bei Selperts und konnte mich bald
auch in besserm Kostüme zeigen, denn mein Pflegevater (von Seckendorff) ließ
mir aus einem alten blauen Frack einen neuen machen, der nach meiner Meinung
prachtvoll war, obwohl zu vornehm, denn auf der rechten Brustseite des gewendeten
sah man deutlich den großen Stern, den Seckendorff ans der linken Brust trug, und
der in das Tuch gestickt gewesen war und daher unvertilgbare Spuren zurück¬
gelassen hatte."
In der geselligen Welt von Regensburg fand es der junge Liebhaber von
Jeannette Oppermann (einer Tante meines Andreas) leicht, sich der Neigung seines
Mädchens zu versichern und eine der in jenen Tagen beliebten Verlobungen ans
lange Sicht zu improvisieren. „Das Leben in Regensburg war übrigens damals
interessant genug. Die vielen Gesandten mit ihrem großen Personal und zwei fürst¬
liche Höfe (gemeint ist der des Kurfürsten Neichserzkauzlers und nachmaligen Fürst¬
primas Karl von Dalberg, und der des Fürsten von Thurm und Taxis) samt der
hohen und zahlreichen Geistlichkeit brachten Geld und Bewegung hervor. In den
hohem Zirkeln herrschte eine feine Bildung, die durch die große Mischung der
Nationalitäten nur gewann. Die Regensburger Bürger aber genossen das Leben
ohne viele Ansprüche und Sorgen."
Oppermanns Vater, der im Frühling 1S06 die Universität Jena bezog, hatte
also nur noch im Morgen seiner Tage den Abendglanz seiner Vaterstadt gesehen.
Als Regensburg im Jahre 1S09 eine bayrische Provinzial- und Kreisstadt ge¬
worden war, blieben von der alten Herrlichkeit beinahe nur die stattlichen Bauten
und die Erinnerungen zurück. Nichtsdestoweniger erhielten sich die letzten beinahe
so gut wie die ersten. Jeannot Oppermann stand im Verwaltungsdienst des fürst¬
lichen Hauses Thurn und Taxis und in regem Verkehr mit dein städtischen Patriziat,
das die alte Reichsstadt noch aufwies. Obschon dessen Sohn Andreas seine Vaterstadt
als Knabe verlassen hatte und in späterer Zeit höchstens auf Wochen, meist nur auf
Tage dahin zurückkehrte, bewahrte er ihr und den Familien von Zcrzog, von Thon-
Dittmer und andern, die mit seinen Kindheitserinnerungen zusammenhingen, die ent¬
schiedenste Anhänglichkeit. Sein Vater war Protestant, seine Mutter Katholikin,
von den vier Kindern, die dieser Ehe entsprossen, folgten die Töchter Pauline
(nachmals Gattin des Physikers und Direktors der damaligen polytechnischen Schule
in Dresden, Dr. A. Seebeck) und Frieden!? (nachmals Gattin des Bildhauers
Ernst Rietschel) der Konfession ihrer Mutter, die Sohne Heinrich (gestorben als
protestantischer Pfarrer) und Andreas der des Vaters. Beide Eltern dieser Kinder
starben früh, und dadurch und durch die Heirat der ältesten Tochter wurden die
Schwestern und der junge Andreas Oppermann nach Sachsen und Dresden geführt.
Aber in seiner Erscheinung, seiner Sprache, seiner ganzen impulsiver Natur ver¬
leugnete er den süddeutschen Ursprung nicht, und beim Becher überkam ihn die
volle Trinklust des bayrischen Stammes. Im ganzen freute er sich der alten
Heimat, zwischen der und der neuen er manch langes Jahr hindurch hin- und Her¬
getrieben worden war.
Gelegentlich übte er dann auch einmal an dieser Heimat Kritik, niemals berech¬
tigter und mit verblüffenderer Wirkung als 137ti ans der Fahrt zur ersten Aufführung
des Wngnerschen Nibelungenrings in Bnyreuth. Auf dem Bahnhof Nemuarkt waren
zahllose norddeutsche Reisende zusammengedrängt, die Beamten der Zweigbahn nach
Bayreuth hatten gegenüber dem ungewohnten Massenandrang in der lächerlichsten
Weise den Kopf verloren, begegneten dem Ansturm von Fragenden, Bittenden,
scheltenden und Lärmenden mit bayrischer Grobheit und bierseligem Stumpfsinn.
Es drohte zu Wutausbrüchen und Thätlichkeiten zu kommen, als mit einemmale Andreas
Oppermann inmitten der Erbitterten auf eine Erhöhung, eine leere Tonne glaub
ich, sprang und mit aller Macht seines Organs rief: „Vergessen Sie nicht, meine
Herren, daß wir zu einen, Kunstfest wollen, und lassen Sie sich durch diese bayrische
Schandwirtschaft zu keinen UnWürdigkeiten hinreißen!" Die erregten Passagiere
stutzten, lachten, aber aus der Gruppe der Bahnbeamtcn scholl es nun drohend
heraus: „Wer spricht von Schandwirtschaft!" „Ich! rief Oppermann, ich sags noch
einmal: bayrische scheint- und Lotterwirtschaft!" „Ich darf das sagen, ich bin ein
Bayer!" Die Gereizten hatten doch noch Augen und Ohren genng, um die volle
Wahrheit des Ausrufs zu erkennen, und nahmen von dem Landsmann hin, was
sie vermutlich von einem andern nicht ertragen hätten.
Oppermanns Gymnasialjnhre ans der Dresdner Krenzschule entschieden schlie߬
lich, aber nicht sogleich über seine Zukunft. Die Familie muß im Zweifel gewesen
sein, ob es nicht besser sei, daß er gleich dem ältern Bruder auf bayrischen Hoch¬
schulen studiere, und so kam es, daß er nacheinander die Universitäten Erlangen,
Leipzig, München, Göttingen und wiederum Leipzig besuchte, ehe es durch die Ein¬
wirkung inzwischen eingetretner andrer Verhältnisse denn doch dazu kam, daß der
Nechtsstudent seine juristischen Prüfungen schließlich in Sachsen und nicht in Bayern
bestand. Aber zwischen Beginn und Abschluß seiner Universitätsstudien lagen viele
Erlebnisse und eigentümliche Schicksalswechsel. Die Doppelbezichungcn Oppermcmns
zu der Dresdner und der bayrischen Verwandtschaft, mehr uoch sein eignes glück¬
liches Naturell, die helle jugendliche Heiterkeit hatten dem Studenten Eintritt in
manche Lebenskreise und Familien vermittelt, die sonst von Studenten selten auf¬
gesucht werden. Dazu kamen früh hervortretende Neigungen des jungen Mannes,
seine leidenschaftliche Freude an den Schöpfungen der bildenden Kunst, die haupt¬
sächlich durch seinen Aufenthalt in München genährt wurde, die Wanderlust, ein
starker Zug zur Gesellschaft von Frauen, die ihn hinderten, jemals ganz in seinen
Rechtsstudien und den Interessen seiner Verbindung aufzugehn. Er war bei seinen
Anlagen natürlich ein prächtiger, lebensfroher Student, ein zuverlässiger Freund
und der Liebling seiner ihm nahestehenden Kommilitonen, er nahm auch an rein
studentischen Angelegenheiten, Festen und Fahrten, selbst an der Wartburgversamm¬
lung des Jahres 1848 beherzter und heitern Anteil. Aber er ging in diesen
Dingen nicht auf.
Daß mehr als einmal die Versuchung an ihn herantrat, „umzusatteln," war
bei der Vielseitigkeit seines Wesens ganz natürlich, es hätte zu gewisser Zeit viel¬
leicht nur der Anregung eines geistvollen akademischen Lehrers bedurft, den jungen
Oppermann von der Rechtswissenschaft zur Kunstgeschichte hinüberznführen. In in
seinem vierten Universitätsjahre trat eine längere Unterbrechung seiner juristischen
Studien durch ein Erlebnis ein, das ihn wie von selbst auf die andre immer mit
einer gewissen Sehnsucht betrachtete Bahn zu weisen schien. Im Winter von 1850
zu 1851 Verlobte sich die jüngere seiner beiden Schwestern, Friederike, mit dem
Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel, der um seiner selbst, wie um seiner Kinder
willen eine neue Ehe schloß. Alsbald nach der Verlobung stellte sich heraus, daß
Rietschels leidender Zustand einen langem Aufenthalt im Süden notwendig machen
werde. Wenn der Künstler trotzdem am 30. April 1851 auf dem Schlosse Nischwitz
bei Wurzen, einer Besitzung der ihm wie seiner Braut befreundeten Frau von
Ritzenberg, seine Hochzeit feierte, so dachte er nicht, die junge Gattin mit sich nach
Italien zu nehmen, sondern er wollte ihr nur das Recht geben, sich während seiner
Abwesenheit als Herrin seines Hauses seiner verwaisten Kinder anzunehmen. Er
trennte sich mit freiem, würdigem, wenn auch schwerem Entschluß von ihr und trat
die Reise nach Sizilien — die Ärzte hatten ihm einen Winteraufenthalt in Palermo
angeraten — in Begleitung des lebensfrischen, ihm dnrch sein heitres Naturell
und seine treue Hingebung doppelt lieben jungen Bruders seiner Frau an. Für
Andreas Oppermann war diese Fahrt nach Welschland die berauschende Erfüllung
oft gehegter Träume, ein Genuß und eine Erfahrung tief eingreifender Art. Er
war noch voll gewöhnt, im Augenblick zu leben und entschlug sich umso mehr aller
Besorgnisse um die Zukunft, als ihm auch der Tag trotz der herrlichen und
wechselnden Eindrücke, Pflichten und Sorgen genug brachte. Deal gleich im Beginn
der Reise, die im September 1851 angetreten wurde, zeigte sich, daß Rietschel
schon zu lange gezögert hatte, während des Aufenthalts in Meran hatte er am
19. Oktober einen heftigen Anfall von Bluthusten.
„Es war eine traurige Situation!" schrieb Oppermann in das kleine Notiz¬
buch, das er auf dieser Reise führte, und das sich erhalten hat. „Mitternacht
vorüber und der Schreck Rietschels, der Anblick reinen Herzblutes hat so etwas
Ergreifendes, Ich habe recht gesehen, wie man sich bei solchen Dingen zusammen
nehmen kann, man muß nur nicht sich seiner Lage zu sehr hingeben und sich in
ihr versenken, eine Schwäche, die die Leute Gefühl nennen, während einer, der
ruhig das Wesen der Sache im Auge, sich nicht jedem Eindruck, den die Außen¬
dinge auf ihn machen, hingiebt, in ihren Augen schlecht wegkommt." Die fort¬
gesetzte Sorge um den leidenden Schwager, die sich auch auf die Besorgung aller
äußern Dinge, die Einrichtung der später in Palermo gemieteten Wohnung zu er¬
strecken hatte, die tägliche Bekämpfung von Nietschels hypochondrischen Stmnnnngen
wirkte erziehend auf ihn ein. Der Gesundheitszustand seines Pflcgebefohlnen blieb
lange schwankend, noch im Anfang März mußte Oppermann wieder in sein Notiz¬
buch einzeichnen „der Bluthusten! Seitdem keine frohe Stunde!" Aber mit dem
prachtvoll aufgehenden sizilianischen Frühling besserte sich das Befinden des Künstlers
rasch, die Genesung wurde sichtbar und fühlbar, und die Rückreise über Neapel,
Rom, Bologna, Mailand und Brescia, den Gardasee wieder nach dem Ausgangs¬
punkt Meran, wo Oppermcmns Schwester und Nietschels Frau Ende Mai die
Reisenden erwartete, legte der junge Mann leichtern Herzens, freiern Mutes zurück,
als die Hinreise nach Palermo, die über Meran, Brescia, Mailand, Genua, zu
Schiff nach Livorno, mit Abstecher nach Pisa, über Civita Vecchia und Neapel bis
Sizilien geführt hatte.
Daß alle Pflichten und Sorgen den geistvollen, warm enthusiastischen Studenten
mit dem Poetenherzen und der Ki'mstlerphantasie nicht am Genuß der reichen Eindrücke
hinderten, die ihm so besondre Umstände in der glücklichsten Zeit des Lebens gönnten,
bedarf keiner Versicherung. Seine Aufzeichnungen, nur zur Erinnerung für sich selbst
festgehalten, für keines Zweiten Auge bestimmt, verraten fast noch besser als das
später aus der Erinnerung geschriebn«! Skizzenbuch „Palermo," wie offen sein Auge
war, mit wie durstiger Empfänglichkeit er all den fremdartigen Reiz der Landschaft,
der alten historisch berühmten Städte, des bunten Treibens und die Fülle des Lichts
und der Farben in sich sog. Wie tief sich ihm das Neue einprägte, wie rasch er das
Echteste und Beste vom minder Wesentlichen zu unterscheiden wußte, wie gut er
empfand, daß ihm das Schicksal bei aller Gunst doch auch vieles versagte, nach dem
die Sehnsucht inmitten der Herrlichkeit erst geweckt wurde, das mögen ein paar seiner
Notizen bezeugen. In der ersten Nacht in Genua erwacht er plötzlich. „Der Mond
scheint durch die Gardinen. Unten ist Musik. Es ist eine Gassenmnsik, aber sie hat
so feurigen Ausdruck, die Harfe» und Geigen spielen mit solchem Ausdruck, daß die
einfache Melodie doch Eindruck macht. Ich stehe auf. Der Mond scheint in vollem
Glänze auf den Marmorwall, der vor unserm Fenster um einen Teil der Stadt
geht. Hinter dem Wall ist der Hafen, und der Mastenwald ragt dunkel in den
mondhellen Himmel. Zwischen den Schiffen spielt das schwarze Gewässer mit dem
Mondlicht, das in Silberflammen an die Schiffe schlägt. Hinter den Masten sieht
man die hohe Meereslinie, die mit schönem Silberglanze aus fernem Nebelduft sich
vom Himmel abgrenzt. Es ist noch lebendig auf den Straßen, und die Paläste stehen
in Prachtvollem Glanz einsam und groß." Und wenige Tage später, nach allem Glanz
und allem rauschenden Treiben der vsnova, suxoiba, faßt ihn der Zauber des stillen
Pisa: „Eine ruhige Stadt. Reinlich wie keine andre, die ich gesehen. Eine Stadt
für Philosophen. Zeichen ehemaliger Macht. Sie besteht eigentlich nur aus dem
^unA ^i'tlo und ein paar lebendigen Nebenstraßen. Der Domplatz am einsamsten
und entferntesten Ende der Stadt. Eigentümlicher Eindruck davon. Der schiefe
Turm — das Baptisterium, der Lampo Wuto, das ergreifendste, was ich noch in
Italien gesehen. Die alten tiefernsten Bilder (vielfache Erinnerung um den alten
lieben Wagner!*), das Leben der Einsiedler, das Weltgericht, Der Ernst des mensch¬
lichen Lebens auf diesem Platze vereint." Und wiederum viele, viele Monate spater,
als der Abschied von Palermo bevorstand, schrieb er! „Mittwoch, 25. März. Ritt
nach Belmonte. Wie wird mir das Herz so schwer, all dies Glück der Schönheit
Siziliens in ein paar Tagen zu verlassen, an der Pforte der Kenntnis dieses
Landes zu stehen und nicht weitergehen zu dürfen. Es ist in der That schwer!"
Dazwischen lag denu freilich eine Reihe köstlicher Erlebnisse und Eindrücke, für
die er mit der Warmherzigkeit und der Frömmigkeit seines Wesens innig dankbar
war. Die Ahnung, daß die Monate auf Sizilien der Glanzpunkt aller seiner
Erinnerungen bleiben werde, hatte ihn schon im November überkommen („Spät am
Nachmittag ging ich an die Marine. Diese Schönheit des Tages, des grandiosen
Meeresanblicks, des herrlichen Monte Pellegrino im Sonnenglanz, der glänzenden
Marine und der herrlichen Küste ist nicht mit Worten wiederzugeben. O herrliches
Bild, hafte in meiner Seele, und wenn mein Leben noch so dunkel werden sollte,
und du steigst vor mir auf, so müßte alles vergessen sein"), diese Ahnung erneuerte
sich, so oft er die Porta felice durchschritt. Der Vollgenuß des Augenblicks konnte
doch die Gedanken an die Zukunft nicht völlig ausschließen. Daß er sich mit ehr¬
licher und unbestechlicher Selbstkritik «och vielfach unfertig finden, mußte — auch
davon enthalten seine Notizbücher fast rührende Zeugnisse —, brauchte den Zwei-
nndzwanzigjahrigen nicht zu bekümmern.
Aber gerade während dieses italienischen Aufenthalts, wo die Verlockung, dem
innersten Zuge seiner Natur zu folgen und sich ganz in die Geschichte und Ästhetik
der bildenden Künste zu vertiefen, stärker und berechtigter als je zuvor war, wo
Freund Andreas die Fortschritte seines Zeichentalents tagtäglich vor Augen sah, wo
er zugleich zu empfinden meinte, daß er „keinen Begriff vom juristischen Leben
habe," merkte er, mit wie schweren Bedenken alle seine Verwandten einem Wechsel
des Studiums gegenüberstanden. Sollten nahezu vier Universitätsjahre verloren
sein? Lag in dem Drang des jungen Mannes schon eine Bürgschaft für hervor¬
ragende Leistungen auf dem neuerwählten Gebiete? Ließ sich damals, im Jahre
1852, wo der äußern Lebensstellungen für Kunsthistoriker noch so blutwenig waren,
wo sich eben Anton Springer mit seiner Habilitation in Bonn zu zehnjährigen
Privatdozententum verurteilte, anch nnr ahnen, wie rasch gerade von 1660 an die
Zahl der Museen, der Lehrstühle für Kunstgeschichte zunehmen würde? Alle diese
Fragen wurden von Oppermanns Verwandten, von besorgten und wohlmeinenden
Freunden, von väterlichen Beratern und leider auch von ihm selbst gethan. Sein
Selbstbewußtsein war nicht entwickelt genug, seine Anhänglichkeit an die Menschen,
mit denen er lebte, zu groß, als daß er eben jetzt, trotz einer mahnenden innern
Stimme, einen entschiednen Bruch mit der Vergangenheit gewagt hätte. Schrieb
er doch damals mit allem Recht über sich selbst: „Mehrfacher Ärger, wobei ich
immer wieder von neuem die Erfahrung mache, daß trotz meines ritterlichen Sinnes,
den ich habe, oder den mir wenigstens die beilegen, die mich kennen (was der
Student einen forschen Kerl nennt), ich doch eine Gutmütigkeit besitze wie ein Kind,
eine Bescheidenheit und Schüchternheit, die jedem ein Recht zum Nichtachten und
zur Beleidigung zu geben scheint. Und von wie vielen Menschen ertrage ich das?
Es mag vielleicht kein Fehler gerade sein, aber es hindert im Beherrschen der
Menschen und am leichten und bequemen Lebensgang. Ich werde mich gewöhne»
müssen, mehr und mehr die gewöhnliche Masse der Menschen mit weniger Humanität
und Bescheidenheit zu traktieren." Vorsätze, die bekanntlich leichter gefaßt als
durchgeführt sind, wenn das Naturell einmal nach andrer Richtung hinweist. Auch
mein Freund Oppermann mußte noch schwere Erfahrungen bestehn, bevor er lernte,
die kindliche Gutmütigkeit seiner Natur wenigstens soweit zu besiegen, als sie nicht —
unbesieglich war.
Eines aber ward bald nach der italienische» Reise entschieden, deren Nachgcnnß
ihm manches Jahr durch glänzte. Er entschloß sich, seine juristischen Prüfungen
in Sachsen und nicht in Bayern zu bestehen. Sein älterer Bruder Heinrich, der
Theolog, war nach harten innern Kämpfen in die Welt hinausgegangen, und das
Geschick hatte ihn schließlich mit der von England gewordnen deutschen Legion unter
General Stutterheim nach Kaffraria hinausgeführt. An die Schwestern und deren
Kiuder, an den berühmten Schwager, die alle in Dresden lebten, war er jetzt fester
geknüpft, als an die entfernter» Verwandten, die alten Freunde in seiner Familie
in Bayer». U»d das Lebe«, wie er es erlernte, den guten Tag rasch erfassend,
vielseitig, immer von geistigen Interessen getragen, immer zum Höher» strebe»d,
ließ sich mich auf dem neue» Heimatboden leben. Er bezog »och einmal die
Leipziger Universität, er bereitete sich dann, während eines längern Aufenthalts
in Dresden, für die Prüfungen vor und bestand sie vortrefflich. Er arbeitete als
Nechtskandidat bei einem Dresdner Anwalt, trat in den juristischen Staatsdienst
und wurde endlich nach etlichen kleinern Verwendungen, die ihn in Dresden
selbst und in der Nähe von Dresden festhielten, als Assessor zum Gerichtsnmt
Zittau versetzt. Als er dort eintraf, sprühte er von Jugend und Leben. Über
die innern Kämpfe, die seinem Entschluß vvraugegauge» Ware», äußerte er sich
selten und ungern, nnr einmal gestand er mir ein, daß er drauf und dran ge¬
wesen sei, durch Vermittlung einer seiner Bekanntschafte» von der italienischen
Reise her als Offizier in ein österreichisches Reiterregiment einzutreten. Jeden¬
falls ahnte er, als er nach der Lausitzer Provinzstadt kam, »icht, daß er damit
die Stätte seiner dauernden Wirksamkeit und seines fernern Lebens betrat.
(Schluß folgt)
er Hochzeitstag war erfüllt von Sonnenlicht und Rosenduft. Frau
Grunert beklagte das Fehlen jeglichen Wölkchens von wegen dem in
den Kranz regnen, aber das junge Paar einPfand nur wohlig die
Übereinstimmung der Welt draußen mit der Welt in seinein Herzen.
Sie schritte» »eben einander hin dnrch die enge Schmiedehaus¬
flur, schritte» ans der Schnhgasse hinaus, unter den Knstamenschatte»
hinter der Stadtmauer, schritte» die gute dicke Mauer entlang, an der Apotheken¬
seite vorbei, über das obere Marktende hin und i» das weitoffne Thor der alten
Nachbarin Se. Bartholomä hinein. in <Z O klangen die Glocken dazu, und Line kam
nicht von dem Gedanken weg, daß dies ihr eignes Hochzeitsgeläute hätte sein sollen.
Sie hatte den Brautkranz gewunden mit tausend Segenswünschen, aller Sorgen
hatte sie trotz alles guten Willens mit hineingebunden in das feste, feine Myrten¬
grün, und das grauseidue Kleid, dessen Saum sie sorglich vor dem Straßenstaub
hütete, hatte sie auch uicht gern gekauft, ging es doch von dem Spargroschen ab,
der sie schuldenfrei machen sollte.
Aber was sein mußte hatte Line Städel immer gethan, und sie würde es
mich künftig thun, und wenn es zehnmal die Wolken festhalten half, die vor ihrer
Sonne standen.
Sie stieg gleich hinter dem Brautpaar, neben Mutter Flörke, die Stufe»
hinauf, die beiden jüngsten Schmiedejungen streuten Blumen, und der ganze Hof
Wanderte feierlich hinter ihnen drein.
Meister Wendelin, der einzige Gast von auswärts, ging an Professor Kilburgs
Seite, sehr zufrieden damit, daß eine Heirat den jungen Städel an die Kette legte;
die Nachbarin Grunert mit Gottlieb, dem Gesellen, der nun wieder fest auf den
Beinen stand, schloß den Zug.
Jenny Frisch, die junge Frau Apvthekerin, bog sich so weit aus dem Fenster
hinaus, als sie ohne Lebensgefahr wagen konnte. Ein wunderliches Gefühl griff
ihr ans Herz, als sie Karl Städel neben Nanette Flörke hinter der Mauer vor¬
kommen sah: Karl mit dem hübschen, guten Gesicht, und nett mit all ihrer Jugend¬
schöne, in Kranz und Schleier erst recht eine Augenweide.
Aber das währte nur eine kurze Minute, dann traten auch die andern auf
den hellen Markt heraus, die eigentliche Jenny kam wieder oben auf und jagte
das wunderliche Gefühl zum Herzen hinaus. Sie lachte über Frau Flörkes grell¬
lilafarbnen Seidenstaat und über Frau Grunerts Grünwollnes erst recht; da hatten
sich ihre Hochzeitsgäste freilich besser ausgenommen. Gut, daß sie sich nicht mit
dem Kegelschub verheiratet hatte, es wäre doch immer Hintenhinaus gewesen, und
überhaupt, der Mann, dem ein Wäschermädchen gut genug war, mußte die Finger
natürlich von der Apothekertöchter lassen.
Ferdinand, sieh mal! Da gehen sie durchs Thor — eine erbärmliche Hochzeit.
Das Thor schloß sich, und die Neugier blieb draußen; leise schwebte der
Orgelklang dem Brautzug entgegen, und der Gesangverein, dem Lineus Lehr¬
mädchen zugehörten, sang das alte Hochzeitslied: Ich und mein Hans, wir sind
bereit, dir, Herr, zu dienen.
Line erkannte im Solo die Stimme des lustigen Dings, dem sie so oft das
Singen bei der Arbeit verboten hatte, und empfand ein Gemisch von Scham und
Rührung.
Sie saß gerade hinter nett und sah in die Schleierwvlken hinein , bis zu
dem Kranz hob sie die Augen nicht; auch hörte sie, was der Geistliche sprach, an¬
fangs nur halb, wie einer hört, dem eigne Sorgengedanken den Kopf einnehmen,
endlich aber mit ganzer weitoffner Seele, wie ein Baum seine dürstenden Zweige
der lang entbehrten Segensflut entgegen streckt.
Der alte Pfarrer von Sankt Barthelmn hatte schon viele Traureden gehalten;
hundert und aberhundertmal hatte leuchtende Hoffnung und zärtliche Glückseligkeit
in Kranz und Schleier vor ihm gestanden, und wieder hundertmal sah er die
holde Hoffnung verkümmern in Sorge, Alltagsstaub, Kleinkram und Herzensträgheit.
„Auch die Hochzeitsmyrte will gepflegt sein, wenn sie ein Leben lang
blühen soll."
Er that sich eine Güte mit seinem Myrtenbild, führte es much allen Seiten
ans und zauberte Frühlingswonne vor die Augen des jungen Paares, das statt der
Hochzeitsmyrte seines Azaleeubaums dachte.
Noch hörte Line mit halbem Ohr.
Dann wurde der alte Herr vorm Altare praktisch und sachlich. Er sprach
von den Pflichten des Zueinandergehörens, von der Treue, die des andern Wohl
demi eignen voranstellt, von der Kraft, die in Tagen des Schwankens zusammenhält,
weil sie sich nicht in Jammer verzettelt.
Line hörte und dachte: Ja, so muß es sein, so hab ichs allzeit gehalten.
Der alte Mann redete weiter, von der nüchternen Bravheit, die thut, was
ihre Pflicht ist, und sich mit dem Bewußtsein dieses Thuns hoffärtig zufrieden
giebt, ihre Lasten trägt, aber dabei grollt und murrt, die ihre Kartoffeln baut im
Lebensgarten, damit keiner hungre, aber den harten Weg nicht mit Blumen schmücken
mag, noch heißer Straße deu Schatten freundlicher Geduld gönnt.
Meine Lieben in dem Herrn, nicht das rechte Thun allein genügt, um euch
das Glück zu schaffen, zu dem ihr heute Gottes Segen erbittet, sondern es steht
geschrieben: Auf daß ihr das mit Freuden thut und nicht mit Seufzen.
Das wohlbekannte, nie bedachte Wort hakte sich in Lineus Herz ein, sie hörte
nichts weiter: Auf daß ihr das mit Freude» thut. Mit Freuden hatte sie ihre
Pflicht nie gethan, als harte Last hatte sie ihr Lebensbündel geschleppt und reichlich
dabei gestöhnt in ihrem Herzen. Grämlich hatte sie Bruder und Vater auf den
Weg zu ziehen gesucht, der sie der rechte deuchte, dem harten Schicksal zur Last
legend, daß es diesem Wege um Blumen fehlte. Warum hatte sie keine zu hegen
versucht? Dürres Land muß man besamen und begießen, wenn ein Garten draus
werden soll.
Ein weiches Reuegefühl überkam sie, das nichts bitteres hatte, die weihevolle
Kirchenruhe gönnte ihm Zeit, sie ganz zu erfüllen.
Nun wußte sie ja, worin der Fehler lag, nun konnte alles gut werden. Auf
daß ihr das mit Freuden thut!
Line sah jetzt furchtlos gerade in die Myrte hinein und danach, als das
Brautpaar zum Ningwechsel aufstand, in Reeks schönes, stilles Gesicht. Sie meinte,
ihr Herz sei noch nie so weit und so voll Liebe gewesen.
Ihre hellen Angen und ihr warmer Ton waren auch dann bei dem kleinen
Hochzeitsmahl, das Mutter Flörke im Gasthof ausrichtete, die Freudeuquelle. Acker¬
manns Buben empfanden heute nicht mir jene Hochachtung für sie, die man sich
in Übermutslaune ganz gern hundert Schritt weit vom Halse hält, und als der
Pastor seinen Toast auf sie ausgebracht hatte, die dem Bräutigam Mutter und
Schwester zugleich gewesen sei, da sagte sogar die Grunerten: Ja, so ne Schwester,
die kann einer suchen.
Kilburg aber, als er behaglich schmauchend am Abend mit Ackermann nach
Hanse ging, sagte: Eigentlich sah Fräulein Line selber aus wie eine Braut. Was
meinen'Sie. Meister? Und Ackermann strich sich den Hut, deu er der Warme
wegen in der Hand trug, einmal rechts nun glatt, einmal links rum rauh, während
er mit fröhlichem Lächeln antwortete: Ich denke, Herr Professor, so über Jahr
und Tag. Könnte schon eher sein, wenn aber die Frauenzimmer was taugen, soll
man ihnen doch wohl auch mal nachgeben, wo sie wunderlich sind. Und dann,
Herr Professor, müssen Sie die Rede auf uns halten.
Sommertage: Licht, Duft, Blüten! Sonne überall, Sonne auf Sankt
Barthelmäs Dach, Sonne im Schmiedehof, Sonne in Städels Gangwohnung.
, , nett sang den ganzen Tag laug, und Karls Arbeit flog bei dem Gesänge,
den er wie ein gedämpftes Zwitschern in seiner Werkstatt vernahm. Trotz aller
über einander gebauten Modelle war sie keine Hexenküche mehr. Das Gespenst
kauerte in seinem Glaskasten nud rührte sich nicht, Gottfried, der Geselle, kam
Sonntag nachmittags, nahm den Schuppeuschlüssel vom Pfosten und ging hinaus,
das Wrack zu sten und zu pflegen — „anderthalb Jahre Arbeit!" — Karl gab
nicht acht, ob er den Schlüssel am Abend zurückbrachte; was kümmerte das den
Glücklichen?
Die jungen Eheleute fragten sich manchmal neckend, ob der Scwueuscheiu von
dem Blumeubusch im Fenster komme, in dessen wechselnder Pracht sich die Jahres¬
zeit spiegelte, oder davon, daß so helle Augen in das helle Zimmer hineinschauten.
Der Sommer verging, und die Sonne duckte sich hinter dem Apothekendach;
in Stadels Hof und Heim blieb ihr goldner Schein zurück. Das junge Paar
hatte Arbeit, hatte Verdienst, hatte seine Herzensfreude an einander und trug eine
Hoffnung ins neue Jahr hinüber, die ihm das tiefste Dunkel verklärt haben würde.
Sie machte» es Liuen leicht, die Hochzeitsstimmung fest zu halten, lautes und
heimliches Seufzen auf Urlaub zu schicken, und die Freude verdoppelte auch Lineus
Kraft.
Ackermanns Wirtschaft, ihre Schneiderarbeit, und als das kleine Menschenkind
die Welt anlachte, auch des Bruders Haushalt spann sie zu einem feinen, glatten
Faden zusammen.
Daß der kleine Städel die Welt nicht angeschrieen, sondern augelacht habe,
wurde so leidenschaftlich behauptet, daß es am Ende sogar die Grnnerten glaubte
und für ein absonderliches Merkzeichen hielt. Daß aber trotz aller Freude über
sein Dasei» mit diesem kleinen Menschlein Wolken über Stadels Sonne zogen,
merkte zunächst keiner, und am leidenschaftlichsten würde der junge Vater eine solche
Möglichkeit abgestritten haben.
In der ersten Nacht aber, während der sein Sohn in der kleinen Gang-
wvhnung schlief, stand Karl am Werkstattfenster, das Herz erfüllt von heißen, glück¬
lichen Gedanken, von Pflichtbewußtsein und heiligen Versprechungen für dieses Sohnes
Zukunft.
Er sah hinaus nach dem Kastaniendnnkel hinter der Stadtmauer und der
Handvoll Sterne, die durch die Lücke schien, die der Blitz gerissen hatte, und dachte
tiiuftiger Zeitein was er dem Sohne sein wollte, und was der ihm dagegen sein
würde. Ganz sachte schob sich dabei der eigne Vater in seine Gedanken hinein,
und Karl fühlte mit einer nie gekannten Heftigkeit alles das, was er diesem ein¬
samen Vater je im Leben schuldig geblieben war, und liebte ihn plötzlich heißer
und inniger als je vorher: Sohn und Vater schmolzen zu Einem zusammen.
Er wandte die Augen von den Sternen ins Zimmer zurück; nur eine kleine
Lampe brannte da, aber der Holzengel lächelte deutlich vou seiner Wand herab.
schickte er nicht hinüber nach dem in die Ecke geschobnen Modell?
Schade, schade, sagte Karl, wie gern hätte ich des Vaters Arbeit abgeschlossen,
wie schön wcirs, wenn ich meinem Bübchen mit dem Luftschiff eine leichte Fahrt
durchs Leben bereiten könnte.
Da schrie dieses Bübchen, und der junge Vater schlich sich lauschend nach
der Thür.
Alles in Ordnung.
Er ging zurück, sah noch einmal nach dem goldnen Engel hinauf und schüttelte
den Kopf.
Dann legte er sich nieder und träumte vou nett und einem spielenden Kinde.
Nur ein ganz leichter Hauch wars gewesen, aber wie schnell wächst sich ein
Hnuch zur Wetterwolke aus, wenn Wind und Wasser dem Wachstum günstig sind.
Karl Städel, den sie aus der Wuchenstnbe hinansschickten, hatte zu viel Zeit,
und es gab keiner acht, was er mit seinein Feierabend begönne. Kam er nach
Hause, eilte es ihm nicht mehr, ans seinen Gang zu kommen, er lehnte ein Viertel-
stündchen in der Schmiedethür und redete mit Gottlieb von Stieg und Sturz und
dem Wrack auf der Buschwiese; und Gottlieb sagte jedesmal, daß es ein Jammer
sei, und daß es den alten Herrn im Grabe beunruhigen müsse.
Wollte Karl in das Schlafzimmer, so trieb ihn Line fort: nett schläft, nett
braucht Ruhe. Oder nett scheuchte ihn: sah, sah! Denk an das Bübchen! — Das
Kneipengehu hatte er nie gelernt.
In diesen leeren Stunden kam es wieder. Er griff nicht gleich an, aber er
stand vor dem Modell und betrachtete das Räderwerk mit scheuer Zärtlichkeit, wie
jemand, dem mau Unrecht gethan hat, dem man abbitten möchte, wenn ers nur
annehmen wollte.
Dann, kam eine Nacht, dn flog ihm ein Gedanke dnrch den Kopf: Das mußte
der richtige Gedanke sein! Das einzige Zwischenglied, das ihm noch fehlte.
Sie hatten sein Bett uns dem Wohnstnbensofa aufgeschlagen, unbemerkt konnte
er aufstehn und in die Werkstatt schleichen. Es klappte nicht gleich mit dem
„Zwischenglied." Natürlich, da hemmten Rost und verstocktes Öl. Richtig war
es! Nur uoch ein wenig Arbeit. Und er arbeitete für seinen Jungen, der eben
drüben das helle Stimmchen erhob.
Jetzt fühlte er erst deu rechten Sporn zur Luftschifferei; vorher war seine
Arbeit eigentlich nur Eigensinn gewesen, jetzt trieb ihn die Liebe an die Räder;
er wollte am Vater handeln, wie er wünschte, daß sein Sohn einst an ihm handeln
möge, und für den Sohn wollte er die goldnen Schuhe schaffen, in denen jeder
Weg zum Ziele führt. Sein Junge, das war ihm die rechte Menschheit.
Karl redete sich tausenderlei schöne Dinge vor und glaubte sie alle, so oft sie
auch schon vom Lebe» widerlegt worden waren.
Er begann mit bescheidner Nachtarbeit, aber die Nachtarbeit machte ihn müde,
das stete Mißlingen schaffte ihm Pein; den häßlichen Zustand schneller los zu
werden, hob er bald auch zu Arbeitszeiten den Glaskasten. Verschämt zuerst, gleich-
giltig nach ein paar weitern Tagen, und so glitt er unaufhaltsam wieder hinein
in den Abgrund, der alle Gedanken, die nicht dem Modelle galten, zu verschlinge»
drohte.
Gottlieb, der Schlossergesell, freute sich dran und putzte das Wrack.
Als Line den Bruder an einem milden Frühlingssonntag auf deu Gang rief,
damit er sein Bübchen ein wenig genieße, legte er sichs wohl behaglich auf den
Knieen zurecht und strich ihm zaghaft zärtlich über die flimmernden Härchen, aber
daß er dabei sagte: Dn kleiner goldner Engel! Das fuhr der Schwester wie ein
Messer ins Herz.
Frevel an und für sich, das unschuldige Kind so zu nennen. Und wie kam
er überhaupt auf den Namen? Seit Jahr und Tag hatte ihn keiner gehört auf
dem Gange, sogar „die Apotheke" wurde in aller Vorsicht gesagt. Gleich einer
Erinnerung aus grauer Vorzeit mutete es Limen ein -— wie kam Karln angesichts
dieses lebendigen kleinen Wunders das böse Wort?
Sie brauchte die ganze Kraft ihres guten Willens, um nicht herb und grämlich
— die alte Line — über dieses Wort herzufallen. Aber sie bezwang sich, strich
dem Kinde mit zitternder Hand über das Stirnader, als könne sie damit etwas
Schlimmes wegwischen, und flüchtete dann mit ihren unausgesprochnen Vorwürfen
in die Küche.
Und als nett wieder fest auf den Füßen stand und, den Knaben ans dem
Arm, zum erstenmal in die Werkstatt trat, fehlte der Blütenbusch im Fenster, ob¬
wohl die Kastanien ihre bekerzten Zweige freigebig über die Stadtmauer reckten,
der Glaskasten lehnte am Boden, und der Modelltisch stand nicht mehr in der
Ecke — die Zeit der verschämten Bästelei war völlig überwunden.
Arbeitest du wieder? fragte nett, das Bübchen zu dem Drachenflieger empor¬
hebend, der an der Decke hing wie die Eule in der altherkömmlichen Zauber¬
werkstatt.
Da brachte ihn die Verlegenheit doch zum Lügen. Ich mache es rein, es ver¬
stockt und verstaubt, sagte er und richtete die Augen auf das Kind, das durchaus
noch keinen Blick für das Höhere hatte.
El Karl — gieb mir das! reinmachen ist Frauenhände, antwortete sie ruhig.
Da er ihr aber eifrig auseinandersetzte, zu dieser Art Reinmachen gehöre Kenntnis
des Gefüges, drang sie nicht weiter ihn ihn, sondern redete nur noch von dem
Kinde.
Line stand ans dem Gange, als nett in die Werkstatt ging, und stand noch,
als die junge Frau wieder herauskam. Aufmerksam prüfte sie das schöne, friedliche
Gesicht. Bange hatte sie die Wöchnerin nicht machen wollen, nun aber mußte sie
drinnen doch selber gesehen haben, was sie bedrohte.
Um einen Schatten ernster schien das glückliche Gesicht, aber das mochte auch
bloß demi Klagen des durstigen Kindes gelten. Nein, begriffen hatte nett nicht,
welch düstrer Gast sich im Gefolge des Bübchens in seine alte Freistatt ge¬
drängt hatte.
In Limen fieberte die Unentschlossenst. Ob sie der jungen Mutter den un¬
getrübten Sonnenschein lassen durfte, oder nicht gerade diesen besten Helfer gegen den
Feind rufen mußte? Ob sie zuwartend beiseite stehn bliebe, oder den Kampf
allein aufnähme, noch einmal, auf bessere Art wie ehedem, mit Freuden statt mit
Seufzen? Wenn sie nur nicht schon zweimal gegen das Gespenst unterlegen wäre!
Sie ging voller Zweifel neben nett nach dem Wohnzimmer; die junge Fran
nickte ihr nur zu, die Augen hatte sie fest auf das unruhige Bübchen gerichtet.
Lines Blick wanderte von der Mutter zum Kind und vom Kind zur Mutter. Als
das Bübchen wieder lachte, legte sichs nett auf den Armen zurecht, hielt es sich
ganz sanft gegen das Herz gedrückt und sah zu Limen hinüber.
Wie es lacht, wie die Härchen flimmern, und die Bäckchen frisch und rot sind!
Ein rechtes Frühlingskind ist unser Bübchen!
Ja, antwortete Line und stockte noch einmal, ehe sie hinzufügte: Halt ihm
den Frühling nur fest.
nett drückte ihr Kind, das in Schlaf kam, noch ein wenig fester um sich und
sagte leise: Das ist meine einzige Pflicht.
Ein häßliches Gefühl lief Limen über den Rücken. „Die Einzige?" Mehr
als die Worte noch wars der Ton, die Innigkeit, die alles ausschließend, uur den
Knaben ans Herz nahm. Ich und mein Kind; das andre mag sich behelfen.
Line versuchte ihr Unbehagen abzuschütteln. Es war ja recht so, gut wars.
Wenn nett und das Kind sich sonnten, konnte doch auch der Mann nicht ini
Schatten stehn. Aber die in Sorgen geübte Line wurde die Angst nicht los, nett
möchte, mit diesem auf das Kind gerichteten Blick, heraufziehende Wolken nicht eher
sehen, als bis sie schwarz, schwer und unverscheuchbnr über ihren Häuptern standen.
Sie mußte doch reden.
nett! Um des Kindes willen! leide nicht, daß Karl wieder zu basteln
anfängt.
Verständnislos sah nett zu der Schwägerin auf. Sie machte sich jetzt erst
klar, daß es das verrufne Modell war, mit dem Karl hantierte. Aber mußte der
Mensch nicht eine Feierabendfreude haben? War dieses Basteln nicht besser als
Wirtshauslaufen? War es nicht gut, wenn Karl seine Unterhaltung hatte, jetzt,
wo ihr selber keine Zeit für ihn blieb? Nur einstweilen natürlich, denn eine schwache
Erinnerung daran war doch noch da, wie es vor der Azaleenblüte um deu Karl
gestanden hatte. Flüchtig ging ihr die Frage durch deu Sinn: Wenn es wieder
so würde? Sie liebte ihren Mann ja noch ebenso wie damals, aber nicht mehr
ihn allein, sie dachte, wollte, sah um sich mit einem Mutterherzen, fühlte ihr Kind
in den Arme», und alle Sorgen flogen davon.
Unmöglich, ein Mann, dem ein junges Weib mit solchem Kinde zur Seite
stand, konnte nicht in Gespensternebel versinken, wie vorher der einsame Junggesell.
Wir find ja da, Line, antwortete sie heiter.
Line sah die Schwägerin starr an: das sonnige Gesicht, das rosige, lebendige
Schlafpüppchen in ihrem Arm. Ja ja, sagte sie endlich, seid nur auch immer da.
Aber sie waren fast niemals da. Ein Kindchen, das noch im dummen Viertel¬
jahr steckt, hält seinen Vater schwerlich von Problemen ab, und die Mutter ging
ganz und gar in den Pflichten dieses dummen Vierteljahrs auf. Wie das trank
und schlief und gebadet werden mußte, darein teilte sich Tag und Nacht; Karl
Städel konnte Bilder entwerfen, Steine beschreiben oder Steckenpferde reiten, es
fragte keiner danach, und der goldne Engel machte sich immer breiter in der
Werkstatt.
Um des Kindes willen mußt du reden, nett, mahnte Line endlich aufs neue,
um des Kindes willen, wenn dir selbst gleichgiltig ist, daß er wieder versinkt. Soll
das Kind leben und leiden, wie wir gelitten haben?
Leiden? Das Kind? nett sah Limen an wie eins, das aus tiefem Schlafe
geweckt wird und nicht weiß, was ihm geschieht. Als sie sich ein wenig zurecht
gefunden hatte, antwortete sie: Karl Will unser Buhl zum reichen Mann und
großen Herrn machen.
nett, wo ist deine Klugheit, nett, wo ist deine Liebe? Reicher Mann und
großer Herr! Was ist denn das? Zwei Kleider sinds, in die ein Menschenkind
hineingehört. Was sollen sie einem helfen, der das Glücklichsein nicht als Kind
gelernt hat! Später terres keiner nach. Kann ichs etwa? Ich gebe mir Mühe
für mich und andre, aber es bleibt immer Mühe. Und Karl? Müßte ers nicht
überschwenglich sein mit euch beiden, Wenn ers nur verstünde? Aber was bringt
er fertig? Räderwerk. Mit Schrauben und Reifen quält er euer Glück zu
schänden.
nett wehrte sich nicht, sie wollte begreifen; sie fühlte, daß da etwas begriffen
werden mußte. Dennoch lief alles Gesagte wirkungslos von ihr ab, es konnte nicht
eindringen, zu fest umgab sie und ihr Kind die starke ausschließende Liebe, an der
niemand teil haben konnte. Und im undeutlichen Gefühl dieser Ohnmacht sagte sie
bittend: Hilf mir, Line.
Das war das Letzte, was Line erwartet hatte, das klang, als sei alles verloren.
Sie setzte sich auf dus kleine Bänkchen am Herde und fnltete die Hände; ihre
Gedanken arbeiteten hastig, sie spann Pläne und zerriß sie wieder, sie sah nach
Helfern aus und mußte jeden verwerfen.
Wir drei, sagte sie endlich, wären wir drei denn so schwach, daß wir den
einen Manu, den wir lieb haben, nicht aus dem Netz befreien könnten? Komm,
wir wollen gleich einmal hinübergehn und ihn aufscheuche«.
Sie gingen und nahmen das Kind mit. Karl, sagte nett, nur müssen hier
fegen, du erstickst uns im Staub, traits aber flink gehe, nimm du einstweilen das
Bübchen auf den Arm, dann können wir beide zugreifen.
Karl wehrte sich zunächst: der goldne Engel lag in hundert Stücken umher,
aber die Frauen gaben nicht nach.
Zeig es mir gleich einmal beim Zusammensetzen.
Seufzend that er nett den Willen, und sie sah mit ihrem lieben, schöne»
Gesicht nachdenklich zu. Er aber blickte nicht ein einzigesmal zu ihr auf, er wurde
eifrig überm Erklären, und Line deckte dem Kind Augen und Ohren mit der Hand,
als könnte es jetzt schon Unheil aus dieser Beschreibung heraushören.
Erst als Karl fertig war und den Glaskasten übers Modell deckte, sah er seine
Frau an. Nun? Was meinst dir? Wenn ich heut oder morgen dahinter komme,
branches nnr ein oder zwei Monate, das Wrack wieder schiffbar zu machen, und
im Herbst können wir hinauf.
Hinauf? Ihres Bübchens Vater wollte hinauf? Das faßte nett doch heftig
an. Sie sah Flug und Sturz des goldnen Engels, wie er ihr hundertmal be-
schrieben worden war, und sah Karln mit zerschmetterten Gliedern am Boden liegen.
Aber das würde sie ja nie leiden. Und als er seine Frage wiederholte, ant¬
wortete sie gelassen: Die Muhme hatte auch ein altes Modell, von einem Schiff
wars, das unter Wasser gehn sollte. Dus hat der Erbvetter an einen Sammler
verkauft und ganz hübsch bezahlt bekommen — Liebhaberpreis —, warum verkaufen
wir eigentlich nicht all die Staubfänger?
Der Unwille, der sich in Karln regen wollte, wurde schnell unterdrückt. Man
darf von den Frauen keinen Sinn fürs große Ganze verlangen, Pflegte der Vater
zu sagen, wenn er Limen vor sich selber entschuldigen wollte, das schlug auch Karls
Unwillen aus dem Felde. Er lächelte nett an. Von dem Erbvetter mag der
Verkauf ganz praktisch gewesen sein, denn sein Modell war so wie so tot oder
überholt vom Torpedo. Dies aber ist nur krank; wie sollten wirs lebendig in
einem Museum begraben?
Als Karl nachher das Kind ans dem Gange spazieren trug, fragte Line nach
dem Liebhaber, der dem Erbvetter das Schiffsmodell in Geld verwandelt hatte.
nett wußte nichts Genaues und hatte eben jetzt nur deu einen Gedanken,
schnell fertig zu werden, damit der Vater nichts bei dem Kinde versäume. Sie war
ebeu doch zuerst und zuletzt Mutter, alles andre mußte und konnte sich allein durch
die Welt bringen, nnr ihr Bübchen nicht, das lebte von ihrem Herzen und war
ohne dieses Herz verloren.
nett, klopfte Lineus sorgenvolle Stimme noch einmal an, wenn wir dem Manne
schreiben könnten, wenn wir ihn herlvcken könnten —
Welchen Mann? fragte nett aus zärtlichen Muttergedanken heraus.
Line nahm sich und ihre Geduld zusammen. Den Mann mit der Modell¬
liebhaberei.
Ach ja; aber ich weiß wirklich weder Namen noch sonst etwas, Line. Ich
freute mich beim damals und hab mich gar nicht um die Erbschaftssachen ge-
kümmert. Nur weil die Verwandten Lärm schlugen über dies neue Glück des
Vetters, das sogar Trödel zu Geld machte, ist mir die Sache hängen geblieben.
Line gab die Schwägerin uns. Am Abend aber, als Karl längst wieder seinen
luftigen Einfällen nachjagte, und nett den Knaben in Schlaf saug, trug sie ihren
Flickkorb, und den zerrissenen Socken der Ackermannschen Buben, zu Mutter Flörke
hinunter.
Die spitzen Reden, die eine Plnuderstunde mit der Wäscheritt jetzt allzeit ein¬
leiteten, lies; sie ohne Unterbrechung hinlaufen. Als die mißvergnügte Schwieger¬
mutter erst einmal vom Herzen hatte, daß man sie vernachlässige, und daß Line
das nicht leiden dürfe, denn wenn die jungen Leute das einmal gewöhnt würden,
käm nach der Mutter auch die Schwester an die Reihe — wurde sie gemütlich,
holte Kaffee und Kuchen, von denen sie zu allen Tagesstunden vorrätig hatte, und
vertiefte sich mit Genuß in einen kleinen schwatz.
Leicht konnte Line die Rede von den Pfanengebärden der jungen Frau Apo¬
theken» und der wohlgenährten Dummheit der Nachbarin Grunert zur Erbpate
und dem bevorzugten Vetter lenken. Mutter Flörke erging sich zum hundertsten
male in Klagen über das entwischte Geld, als aber Line wieder treppauf stieg,
wußte sie Namen und Wohnung des begünstigten Vetters und schrieb noch in
dieser selben Nacht um die Adresse des Mannes, der verständigen Leuten Trödel
in Geld verwandelte.
(Schluß folgt)
Eine Totenliste, die ans nackten Namen besteht,
hat wohl etwas trübseliges, aber der Tod ist kein Übel, wenn er ein tüchtiges
Leben rechtzeitig abschließt, und eine Sammlung von Nekrologen, die, wo es der
Mühe wert war, zu Biographien erweitert worden sind, kann uns eine solche
Summe herrlichsten Lebens vor Augen stellen, daß wir freudig dabei verweile» und
den Tod, den Veranlasse^ darüber beinahe vergessen mögen. Der zweite Jahrgang
des von Anton Bettelheim glücklich eingeführte» Unternehmens: Biographisches
Jahrbuch »ut Deutscher Nekrolog (Berlin, Georg Reimer, 1398), ist ein schönes
Buch geworden, 468 Seiten groß Oktav mit rund 250 Artikeln, wozu noch Nach¬
träge über die 1896 Verstorbnen kommen. Die Organisation des Werkes war für
den Leiter ein großes Stück Arbeit, und nicht minder ist es die Fortführung: die
Artikel sind meistens von Provinzialreferenten verfaßt worden, bei hervorragenden
Verstorbnen sind besondre Verfasser eingetreten. Im ganzen und großen ist hier
nach so kurzer Zeit schon soviel geleistet, daß wir uns zu kritischen Ratschlägen,
wie sie die Vorrede erbittet, nicht berufe» fühlen und lieber zeigen wollen, wie
ein solches Buch mit Nutzen gelesen werden mag.
Zwei unsrer Verstorbnen sind in Heliographie abgebildet, Jakob Burckhardt
und Johannes Brnhins. Sie werde» unter alle» die berühmtesten sein. Als
Kork»rre»te» könnte» wohl »ur noch zwei andre in Frage kommen, mit sehr ver-
schiedencirtigen Ansprüchen freilich: Exzellenz von Stephan und Pfarrer Kneipp.
Wenn es sich aber um Aufwand von „reinem" Geist handelte, so ginge der Mathe¬
matiker Weierstraß allen voran. Daß die Nachwelt den Mimen keine Kranze mehr
flicht, erweist sich gegenüber den laugen Biographien unsers Nekrologs (Mitterwurzer,
Marie Seebach) nicht als richtig; bei Charlotte Wolter heißt es sogar am Schluß
ein wenig gewagt, durch Jahrhunderte werde ihr Name ein Leitstern sein für alle,
die in der Schauspielkunst das höchste anstreben. — Es ist ein Trost für solche, die
sich im Leben, oftmals freudlos, mit Schreibwerk plagen, daß sie jedenfalls am
sichersten dereinst dadurch Aufnahme unter die nicht ganz ruhmlosen erlangen. Sehr
groß ist in unserm Nekrolog die Zahl derer, die nur deswegen hineingekommen
sind, weil sie etwas „geschrieben" haben — nicht bloß eigentliche Schriftsteller und
Journalisten, sondern namentlich auch Lehrer an Mittelschulen und Volksschulen —,
wobei der Wert des Geschriebnen sicherlich oft nicht von ferne heranreicht an den
Inhalt so manches thätigen Lebens, zu demi sich nachträglich kein Homer einfindet.
Nicht so leicht wie das Schreiben führt das Drucken zur Berühmtheit. Im Leben
bedeutet der Verleger gesellschaftlich und materiell fast immer mehr als sein Autor,
geistig im allgemeinen oft auch, und nicht selten sogar in Bezug auf ein einzelnes
bestimmtes Werk mindestens ebenso viel wie er. Wie wenig weiß aber doch hinter¬
her der Nekrolog über die Buchhändler zu sagen im Verhältnis zu der langen
Lebensbeschreibung so manches unbedeutenden Autors! Nicht weniger als vierzehn
Buchhändler sind 1897 gestorben, darunter Namen von weitem Klang (Alexander
Duncker, Ernst Reimer, der Inhaber der Firma unsers Nekrologs, Ernst Wasmuth,
Bruno Klinkhardt, Franz Koester, August Klasing). Musiker, Sänger, Kompo¬
nisten, Dichter haben es alle leicht, zu irgend einer Art von Totenfeier zu kommen,
keiner von ihnen geht ganz klanglos aus dem Leben, aber die Berühmtheit wird
meist nicht von Dauer sein. Von den zahlreichen, die unser Nekrolog unter seine
Auserwählten aufgenommen hat, wird außer Brahms kaum ein Musiker weiterleben,
und Emil Rittershaus ist jedenfalls der einzige Dichter, an den man noch länger
zurückdenken wird. Wie den Musikern, so ergeht es den bildenden Künstlern.
Gezählt habe ich die Bildhauer und Maler nicht, über die der Nekrolog handelt, es
sind aber sehr viele, und der einzige darunter, dessen Name weiterleben wird, ist
der Meister der Holzschneidekunst Hugo Bürtner. Militärs gelten in unserm Leben
bekanntlich sehr viel, aber um so schwieriger scheint es für die einzelnen, Nachruhm
zu erlangen und nicht ganz zu Grunde zu gehn. Zur Aufnahme in einen Nekrolog
von der Art des unsrigen ist, von sehr individuellen Ausnahmen abgesehen, schon
Generalsrang erforderlich, und nnter den einundzwanzig Namen, die wir verzeichnet
finden, dürften nur etwa folgende einen Platz in der Erinnerung unsrer meisten
Leser haben - die preußischen Generale von Albedyll, Hans von Bülow (Artillerist)
und von Schachtmeyer, Admiral von Sterneck, der Sieger von Lissa, endlich der
eidgenössische Oberst Nothpletz, und zwar dieser weniger als Offizier, wie als Ge¬
lehrter und feiner Kunstkenner und Sammler. Auch eine vornehme und selbst hohe
Lebensstellung verbürgt ja kein Andenken in weitermKreise über dasGrab hinaus. Prinz
Wilhelm von Baden und die Großherzogin Sophie von Weimar haben ohne Frage
einen persönlichen Lebensinhalt gehabt, der sie der Teilnahme wert macht, aber die
Berühmtheit des edeln und sympathischen Fürsten Otto von Stolberg-Wernigerode
ist doch noch tiefer begründet, wie eine treffliche Biographie des 1896 gestorbnen
in den Nachträgen jedem Leser zum Bewußtsein bringen wird. Gegenüber den aus¬
führlichen Biographien so vieler Universitätsprofessoren, die zugleich Schriftsteller
waren, und die nnn nach der Rangordnung des Nekrologs ohne Widerspruch als
die Erlesenen des Nachruhms hinzunehmen sind (Jakob Burckhardt, Michael Bernays,
der Botaniker von Sachs, Weierstraß u. s. W.), haben wir wenige Namen von
Männern der hohen Verwaltung und alle mit kurzen Nekrologen! von Ahlefeld,
Landesdirektor von Schleswig-Holstein, Graf Konrad von Holstein — erst wenn
Schriftstellerei als Lebensarbeit hinzutritt, wird die Wärme des Nachrufs beredter -
Friedrich von Reitzenstein, Sozialpvlitiker, früher Bezirksprüsident von Lothringen,
Große Industrielle gar müssen schon sehr „groß" sein, um für den Nekrolog in
Betracht zu kommen: Generaldirektor Baare in Bochum, Spinnereibesitzer ten Brüll
in Arten bei Singen (Baden), Großindustrieller von Knosp in Stuttgart (Anilin
und Soda), Generaldirektor des „Phönix" in Laar bei Ruhrvrt, Alexander Thielen,
oder doch mindestens „schwer," wie der vielgenannte Generalkonsul Schönlank in
Berlin. Die Besitzer von Geld und Gut haben meistens ihren Lohn schon im
Leben dahin. Zuweilen aber auch nicht, und dann thut sich Wohl durch die knappe»
Zeilen eines kurzen Nekrologs hindurch einmal bewegender Glückswechsel kund:
Kommerzienrat Spiegelberg, Begründer der deutschen Juteindustrie (Braunschweig).
Eine Berühmtheit ganz eigner Art hat sich jemand erworben, wenn er einmal als
Abgeordneter in den Kulturkampfdebatten versehentlich Felix Dahn für Walther von
der Vogelweide genommen hat und er sich dann den impertinent modernen Vers
bis ans Grab muß nachrufen lassen: Senatspräsident Petri in Kassel. Und einem
Manne, der mehr Ruhm und mehr Glück verdient hätte, als ihm zu teil ge¬
worden ist, deu sogar die meisten, die von ihm gewußt haben, ohne Zweifel für
längst gestorben wähnten, hat erst jetzt nach einem neunzigjährigen Leben der
Deutsche Nekrolog von 1397 das wohlverdiente Denkmal setzen können, dem Archi¬
tekten Franz Mertens in Berlin, der zuerst in Deutschland und schon in den
dreißiger Jahren das Richtige über den französischen Ursprung der Gotik gefunden
und gesagt hat.
Wenn die Nekrologe in der äußern Ausdehnung und in ihrer Tonart den
einzelnen Personen genan angemessen sein sollten, so müßte nicht nur ihr Heraus¬
geber, sondern schon seine Mitarbeiter die Weisheit der alten Unterweltsrichter
haben. Der Leser wird nicht so anspruchsvoll sein, das zu verlangen, andrerseits
wird er nicht auf das Recht verzichte», Ungleichheiten, wo sie ihm auffallen, auch
wahrzunehmen nud sich auf menschliche Weise zu erklären. Manche Artikel er¬
scheinen über Gebühr lang, so durchweg die schweizerische« und schwäbischen, weil
sich dort die Provinzialreferenten mit besondrer Liebe in solche Aufgaben zu ver¬
senken pflegen. Auf diese Weise wird daun auch bisweilen die Schätzung der Per¬
sonen recht überschwänglich ausfallen: man vergleiche dafür unter andern den
Germanisten Jakob Baechtold in Zürich oder den Dichter I. G. Fischer in Stutt¬
gart. In andern „Provinzen" ist der Eindruck eines Artikels hier und da unter
Verdienst ungünstig, so des über deu Schulmann und Sprachforscher Deecke in
Straßburg und vielleicht auch des über den Jenaer Physiologen Preyer. Auch
die Fachreferenten schätzen verschieden: Karl von Lützow in Wien ist doch wohl
etwas zu leicht befunden worden, während Michael Bernays in allen erfindlichen
Tonarten gepriesen wird und zu diesem Lobgesang mindestens noch eine Helio¬
graphie, eigentlich sogar zwei, hätte haben müssen.
Der Tod, der ja zu keiner Zeit ein ganz erwünschter Gast sein soll, kommt
den Menschen entweder zu früh oder zu spät. Besser wäre Wohl noch das erste.
Denn wenn uns auch nicht wie den Griechen das Alter ein für allemal als traurig
gilt, so ist doch leider zu wahr, daß diese letzte Stufe des Lebens leicht allerlei
Schweres zu tragen hat, dem mancher gern entginge, wenn er könnte und dürfte.
Zu früh gestorben, das klingt sehr traurig, und wenn wir es nachsprechen, so em¬
pfinden wir wie die hinterbliebnen Angehörigen eines Toten, aber für den Menschen
selbst ist es ungleich schlimmer, wenn er zu spät stirbt. Hilty in seinem Buche
„Glück" sagt einmal, jedes Leben bestehe meistens aus drei Abschnitten. Wer eine
schwere Jugend gehabt habe, bekomme leichter ein günstiges und erfolgreiches
Mannesalter, schwerlich aber ein wolkenloses Ende. Eine goldne Jugendzeit sei
umgekehrt fast immer der Vorbote von Stürmen des mittlern Lebens, dem dann
ein ruhiger Abend zu folgen pflege. Unser deutscher Nekrolog giebt uns Lebens¬
bilder mit Stufen von beiderlei Art. Der Umschlag zum Schlimmen am Ende
tritt z. B. deutlich hervor bei dem Botaniker von Sachs oder bei dem Hnndels-
rechtslehrer Goldschmidt; hier, möchte man meinen, sei er dem freiwilligen Wechsel
des Wirkungskreises (Berlin für Leipzig) gefolgt. Aber wir haben auch Lebens¬
läufe von einem ganz merkwürdigen, bis ins höchste Alter kaum gestörten Glücke
bei Männern von sehr verschiedner Natur und Arbeitsart: dem Maler Engerth und
dem Historiker von Arneth in Wien, dem Chemiker Fresenius in Wiesbaden oder
dem juristischen Parlamentarier von Marquardsen in Erlangen.
Man will beobachtet haben, daß bei Männern gebildeten Standes die erste»
sechziger Jahre vorzugsweise kritisch seien. Von den 250 Personen unsers Nekro¬
logs find gerade 25, also ein Zehntel, im Alter von 62 bis 64 Jahren gestorben.
Wir brauchen bei der emsigen Kritik der Fachleute
diesem Gebiete keinen großen Raum zu widmen und weisen nur auf einzelne Bücher,
die uns beachtenswert scheinen, hin. Karl Volkmar Stoys kleinere Schriften
und Aufsätze mit einer Einleitung von Karl Andrea, herausgegeben von Heinrich
Stop, erster Band (Leipzig, Engelmann) enthält Schulreden und ähnliche Gelegenheits-
äuszernngen, dazu Bücherbesprechungen und wird nicht nur den Anhängern und
Verehrern wertvoll, sondern für alle von Interesse sein, die einen Einblick in die
Stoysche Erziehungsanstalt in Jena nehmen möchten. Wenn das Institut nur halb¬
wegs das ist, als was es sich hier in deu Gedanken seines Gründers darstellt, so
muß es etwas schönes und beinahe einziges sein. — Theodor Waitz aus Gotha
starb als Professor der Philosophie 1864 in Marburg, erst 43 Jahre alt. Er
zeichnete sich durch ein sehr ausgebreitetes Wissen aus und hat verschiedne größere
Werke (über Aristoteles, zur philosophischen Psychologie, Anthropologie der Natur¬
völker) veröffentlicht. Seine „Allgemeine Pädagogik," herausgegeben von Otto
Wittmann, liegt jetzt in vierter Auflage vor (Braunschweig, Vieweg und Sohn),
bald fünfzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, ein Beweis, daß sie nützlich ge¬
wesen und noch heute gut sein muß. Verglichen mit der mehr technischen, ange¬
wandten, aktuellen Art der heutige» pädagogischen Schreibweise, ist sie auffallend
ruhig und gemessen gehalten. — Ein sehr lebhaftes Tempo herrscht in dem Buche:
„Auf der Schwelle zweier Jahrhunderte, die höhere Schule und das gebildete
Hans gegenüber den Jngendgefahren der Gegenwart, eine Pädagogik des Kampfes,
Fnchgenossen, Eltern und Erziehern, Jugend- und Schulfreunden vorgelegt von
M. Evers, Ghmnasinldirektor in Barmer" (Berlin, Weidmann). Der lange Titel,
der für drei bis vier Bücher ausgereicht hätte, überhebt uns des weitern. Das
Buch, aus Berichten für eine Direktorenkonferenz entstanden und bis in die kleiusten
Unterabteilungen durchdisponiert, ist kein Kunstwerk oder angenehmes Lesebuch, aber
es ist, nach unsrer Meinung wenigstens, durchaus verständig, es übertreibt nicht,
sieht nicht schwarz, sondern mit Zufriedenheit ans die Gegenwart und und Hoffnung in
die Zukunft. Der Verfasser erkennt z. B, die Gefahren der Überbürdung nicht an,
weil er sich noch an Zeiten erinnern kaun, wo man mehr gefordert hat als hente.
Uns geht es ebenso, aber uns fragt keiner. Der Verfasser ist jedenfalls ein liberal
denkender und weit Sehender Schulmann, was ausdrücklich hervorgehoben werden
mag, weil nach der feierlichen Fassung des Titels sich jemand eher ans einen engen
und strengen Sittenprediger gefaßt machen wird. — Ernst Clausen, Freimütige
Bekenntnisse, Mahnwort und Warnungsruf für das gebildete Deutschland (Berlin,
Fontane und Komp.), klingt ebenso feierlich und dringend, und dem entspricht auch
der Ton des Inhalts. Der Verfasser wendet sich gegen unsre heutige Religions¬
übung und mancherlei, was damit zusammenhängt. Wir haben darin nichts be¬
sonders wichtiges finden können und meinen höchstens: man kann über manches
einzelne so denken wie er, aber auch gerade so gut ganz anders, und eine Meinung
gewinnt nicht dadurch an Überzeugung, daß man sie bestimmt oder taut vorträgt.
Die Formulierungen sind zu wenig konkret, um zu einzelnen Erörterungen einzu¬
laden. — Das ist anders bei der „Plastischen Kraft in Kunst. Wissenschaft und
Leben von Heinrich Driesmans" (Leipzig, Naumann). Der Verfasser ist ein
Anhänger Nietzsches, aber mit Maß, er hat vieles wahrgenommen und gelesen und
schreibt nicht nur lebendig, sondern auch gut, beinahe formvollendet. Unter plastischer
Kraft versteht er Originalität im Schaffen, und seine Generalthese ist, daß er diese
Originalität vermißt, wo das größere Publikum sie noch zu finden glaubt, und das
wird in drei Abteilungen ausgeführt! Kunst, Wissenschaft und Leben. Der erste
Abschnitt enthält viele Gedanken, mit denen wir übereinstimme» können. Der Ver¬
fasser klagt zum Teil mit Anlehnung um Nietzschische Formeln über die Verödung
moderner Poeten und Maler, die innerlich degenerieren, weil sie ganz von der
Beobachtung der unbedeutendsten und nichtigste» Äußerlichkeiten in Anspruch ge¬
nommen werden, über eine Darstellungsweise, der ein um der Kontrastwirkung
willen notwendiges, also „naturgesetzlich begründetes" Minimum von „sittlicher
Idee" schon zuviel sei, über die Unfähigkeit zu einer tiefen, den ganzen Menschen
fordernden Empfindung — „unsre Kultur ist total verwitzelt, das Schlimmste, was
einer Kultur passiere» kann" —, unsre Kunst nähre uns nicht mit frischer Kraft,
sie ziehe »ur ab vom Leben, zerstreue und zehre wie der Vampyr. Ja gewiß, aber
ist das zum Verwundern? Die Geister, denen der Übermensch als Gespielen seiner
Langeweile Audienz zu geben meinte, haben sich nun zum bleiben eingerichtet. Der
Verfasser möchte nun diese lästige» Gesellen zähmen und für das allgemeine Beste
brauchbar machen. Aber zu dieser Knnstausoehnungsbewegung, einer „Fortsetzung
des ästhetischen Gefühls vou Mensch zu Mensch," um die er alle toten Kunstwerke der
Welt freudig hingeben würde, haben wir kein großes Zutrauen. Kunstausstellungen für
das Volk und künstlerischer Vortrag guter Dichtungen solle» die Tiiigeltaugelanf-
führnngen tot machen, aber praktisch wirds wohl heißen: das eine thun, und das
andre nicht lassen, und bei dieser „großen ästhetischen Erziehung und Bildung
des Menschengeschlechts" fällt uns immer wieder das Wort von der Muse ein,
die nur zu begleiten versteht. Merkwürdig ist es übrigens, und das ist wohl anch
ein Zeichen der Zeit, daß sich jetzt fast alle derartigen Bücher über Fragen der
Gesellschaft und der höhern Kultur nicht mit Betrachtungen begnügen, die ja, auch
wenn man andrer Meinung ist, interessieren können, sondern daß sie in Praktische
Ratschläge ausmünden, die dann von ihren Verfassern für sehr wichtig gehalten
werden. Hat sich wohl einer dieser Männer die Frage vorgelegt, der wievielte
er in der Reihe der Ratschlagenden in dieser oder jener Sache ist, und was von
der Welt noch übrig bleiben würde, wenn jeder die Berücksichtigung fände, die er
selbst zu verdiene» glaubt? Wem? es aber richtig wäre, was ganz im Anfang zu
lesen steht: die großartigsten geistreichsten Kulturen, die die Welt gesehen, wären
die ursprünglichsten, und die Urkulturvölker der Chinesen, Inder, Ägypter hätten
die gesamte menschliche und menschenmögliche Lebensweisheit allen nachfolgenden
Völkern und ihren geistigen Heroen vorweggenommen, und wenn ferner alle
„plastische Kraft" immer mehr schwindet, also mit Sicherheit abnimmt, woher ge¬
winnt jemand dann den Mut, überhaupt noch Ratschläge zu machen?
Driesmans Abschnitt von der Wissenschaft zeigt eine große Belesenheit, und
man folgt ihm mit Teilnahme. Gute geschichtliche Betrachtungen über die Jugend
unsrer deutschen Kultur und über die nicht sehr weit zurückreichenden Etappen
unsrer Ausbildung (Friedrich Wilhelms I. militärisches System, das preußische
Unterrichtsministerium usw.) führen uns ans den heutigen Zustand unsrer Bil-
dungsanstalten. Der Verfasser gehört zu den vielen, die das Übermaß des Wissens
gegenüber dem natürlichen Gefühl drückt, er führt die Sache des freien Geistes
und des gesunden Willens gegen vorgeschriebne Kenntnisse und staatlich angeordnete
Laufbahnen. Sein Ideal ist der begabte Autodidakt, und als Vogelscheuche dient
ihm der mit Kenntnissen ausgestopfte Staatsdiener. Er wendet sich nun gegen
unsre Schulen und Universitäten, findet überall Fehler und Rückstand (zu einer
Vortragsweise, wie er sie für richtig hält, ist noch nirgends der Anfang gemacht
S. 114) und langt endlich bei Volkshochschulen an als künftigen Stätten einer
wahren Bildung, die über dem Wissen stehen. Sie werden alles leisten, was heute
vermißt wird, Schnluuq des Gefühls und Vermittlung eines erlebten, höhern
„künstlerischen" Wissens/ Der Verfasser ist ein starker Idealist. Hinsichtlich der
Medizin hält er es z. B. für eine zwar noch offne, aber von gebildeten Ärzten zu¬
gelassene Frage, ob nicht „die Kräftigung und Schulung des Gesundheitsgefühls,
des energischen Gesuudseiuwolleus, des Willens zur Gesundheit mehr wert sei als
alle medikamentale und selbst chirurgische Krankheitsbehandlnng." Uns scheinen Ärzte
von dieser Bildung und Volkshochschulen von jener Leistungsfähigkeit ungefähr das¬
selbe zu sein, was der Bvckhirsch in der Logik des Aristoteles sein sollte.
Der dritte Abschnitt, Leben benannt, ist eine so wüste Schweinerei, daß wir
nicht einmal die einzelnen Überschriften wiedergeben möchten. So etwas nieder¬
zuschreiben scheint nur im Stande der Selbstanalyse möglich, deren Erfindung das
Verdienst einer gewissen Pariser Litteratur ist. Es aber gedruckt wiederzusehen,
zu korrigieren und dennoch nicht zu zerreißen, sondern Hinausgehen zu lassen, setzt
außerdem Wohl auch eine Unverfrorenheit voraus, die ja zu den germanischen
Eigenschaften gehören soll. Oder aber: was sich französisch zur Not noch sagen
ind wir aus dem Rationalismus des vorigen Jahrhunderts
heraus? So ganz wohl noch nicht. Die „Aufgeklärten" stecken
noch teils mit einem Fuße, teils mit beiden darin, die Denkenden
mühen sich mit mancher der Fragen, die der Rationalismus
gelöst zu haben glaubte, heute noch vergebens ab, und jedenfalls
geht uns die Aufräumearbeit, die das vorige Jahrhundert vollbracht hat, schon
deswegen sehr nahe an, weil ohne sie unsre tiefere Philosophie nicht hätte
Wurzel fassen können. Auch muß man doch von Zeit zu Zeit die Bilanz der
„Denkerei" ziehn und nachsehen, was man aus einem verflossenen Wirtschafts¬
abschnitt als sichern Reingewinn herübernehmen kann. Es war daher ein ganz
guter Gedanke von Johann Umminger, dem heutigen Publikum einen Kory¬
phäen der Aufklärungszeit vorzuführen, und zwar gerade Holbach, der mit
dem französischen Radikalismus und Atheismus deutschen Ernst und deutsche
Ehrlichkeit vereinigt. Auch die Wahl des Werkes muß als glücklich bezeichnet
werden, denn sein Inhalt steht dem, was uns heute bewegt, näher als das
System der Natur. "1 Nur leider war der Übersetzer seiner Aufgabe nicht ge¬
Wachse». Wir würden die Übersetzung quartanerhaft nennen, wenn sie nicht
den Eindruck machte, als ob der Übersetzer ein Ausländer wäre, der eben erst
im Begriff steht, das Deutsche zu erlernen. Man lese die folgenden Proben
und urteile, ob es nicht ein Skandal ist, dem deutschen Publikum ein solches
Buch anzubieten, noch dazu dem gebildeten Publikum, ans das es doch be-
rechnet ist, und dem es sich auch durch gute Ausstattung zu empfehlen sucht.
„Die Menschen haben in Ermangelung, die Wahrheit zu erkennen, die Lüge
und die Unwissenheit in ein System gebracht" (I, S. 29). „Aus Mangel, den
Menschen gesehen zu haben, wie er ist, sagen uns die Moralisten usw." (I,
S. 58). Diese Konstruktion mit „aus Mangel" kehrt öfter wieder. „Es war
gewöhnlich beim die Moscheen verlassen, wo er seine Exekutionen vollbrachte,
deren seine eignen Kinder oft die Opfer waren" (II, S. 102). „Eine schlechte
Regierung findet ihre Rechnung im ihre Gesetze verdunkeln und vervielfachen"
(III, S. 30). „Die Erde liefert einer Nation, womit ihre wahren Bedürfnisse
befriedigen" (III, S. 83). Folgenden Satz könnte man nur versteh«, wenn
man das Original zur Hand Hütte: „. . . woraus man sieht, daß die wahre
christliche Demut ein Vernunftwesen ^vielleicht ein abstrakter Begriff?^ ist und
daß, wenn sie möglich wäre, sie sowohl ungerecht als absurd sein würde"
(I, S. 148). Mnistrs in Verbindung mit „Gott" oder „Kirche" wird regel¬
mäßig „Minister" übersetzt. Die Eigennamenformen Lucret und Element er¬
wecken den Zweifel, ob der Verfasser lateinisch kann, und ob parÄMin rg.mein
für xei'ÄAiun, tAuiM (II, S. 164) ihm oder dem Setzer auf Rechnung zu setzen
ist. Wir wollen das zweite annehmen, da III, S. 26 und 27 das eine mal
Tartullian und das andre mal Tertullian steht und das rscM für rs^ni (II,
S. 171) im Druckfehlerverzeichnis berichtigt wird. Doch wenden wir uns
endlich vom Übersetzer zum Verfasser!
Die Lebensansicht Holbachs, soweit sie im vorliegenden Buche entwickelt
wird, läßt sich kurz in folgenden Sätzen darstellen. Die gesamte Menschheit
erscheint in dem Grade verderbt und lasterhaft, daß die einen dadurch zu dem
Glanben verleitet werden, der Mensch sei von Natur böse, während andre
daran verzweifeln, die Widersprüche der Ansichten im Gebiete der Moral lösen
zu können, und daher meinen, es gäbe gar keinen Unterschied zwischen Gut
und Böse. Aber gerade die verkehrten Moralsysteme sind schuld an der Ver¬
wirrung und der Verderbnis. Diese Moralsysteme sind ein Erzeugnis der
Priester, die ihrerseits die Werkzeuge von Despoten waren. Die meisten
Staaten sind von Eroberern durch Unterjochung, also durch Ungerechtigkeit
gegründet worden, und nur durch fortdauernde Ungerechtigkeit vermochten die
Fürsten ihre Gewaltherrschaft aufrecht zu erhalten. Dazu bedurfreu sie eines
religiösen Aberglaubens, einmal um ihr eignes Gewissen zu beschwichtigen, indem
sie sich von den Priestern Vorreden ließen, ihre Schandthaten könnten dnrch
leicht zu vollbringende und oft genug nicht weniger schändliche Opfer gesühnt
werden, dann aber zur Zügelung ihrer Unterthanen. Diese Zügelung wurde
in der Weise bewirkt, daß alles, was für die Despoten nützlich war, den
Unterthanen zur religiösen Pflicht gemacht wurde, und daß man den Unter¬
thanen unverständliche Glaubenssätze einprägte, während man sie über den
natürlichen Zusammenhang der Dinge in Unwissenheit ließ.
Dieser natürliche Zusammenhang besteht nun auf dem moralischen Gebiet
in folgendem. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse. Dasselbe
gilt von seinen Begierden, die bei einem gewissen Stärkegrade Leidenschaften
genannt werden. Diese Begierden sind notwendig, denn sie sind die Triebfedern,
die den Menschen zwingen, alles zu thun, was zur Erhaltung seines Lebens
und seines Geschlechts, zur Entfaltung seiner Anlagen und zur Erzeugung von
Kultur notwendig ist. Ohne sie würde er nicht allein auf der Stufe der
Tierheit zurückbleiben, sondern zu Grunde gehn. Jede Leidenschaft wird mit
der Zeit gut oder böse, je nachdem ihre Befriedigung von der Vernunft ge¬
leitet wird oder dieser Leitung entbehrt. Bisher ist in der Regel das zweite
der Fall gewesen, weil sich die Vernunft bei der hergebrachten schlechten Er-
ziehungsweise. unter dem Wust von Aberglauben und Vorurteilen und in einer
sittlich verderbten Umgebung uicht zu entfalten vermochte. Dennoch darf man
nicht verzweifeln. So langsam die Vernunft fortschreiten mag, einige Fort¬
schritte hat sie doch schon gemacht; die Stufe barbarischer Wildheit ist über¬
wunden, die gröbsten Verbrechen und Laster werden wenigstens als solche
anerkannt und verurteilt, die Sitten sind ein wenig milder geworden. Schlimm
genug steht es allerdings immer noch; der gemeine Mann ist im ganzen noch
ein Wilder, und die Regierungen, deren Aufgabe es wäre, ihn zu erziehen,
bestehen meistens aus lasterhaften Menschen — wird doch das Laster gerade
an den Höfen gepflegt und verpestet von da aus das Volk —, teils hegen sie
immer noch den Glauben, es liege in ihrem Interesse, die Menge in Unwissen¬
heit zu erhalten. Revolutionen würden mehr schaden als nützen- Man muß
auf allmähliche Beseitigung der sittlichen Übel bedacht sein. Man muß den
Fürsten klar machen, daß die Tugend das beste Mittel ist, ihre Herrschaft zu
festigen, und daß es für sie kein andres Mittel giebt, sich selbst wahres und
dauerndes Glück zu verschaffen, als die Beglückung ihrer Völker.
Diese Beglückung kann aber in nichts andern: bestehn, als darin, daß sie
ihre Unterthanen tugendhaft machen, und Tugend kann nnr erzeugt werden
durch die Verbreitung von Vernunft. Die Tugend ist hauptsächlich darum
so selten, weil man die vernünftigen Beweggründe, die zum Wohlverhalten
treiben, nicht kannte. Die Priester und Philosophen kannten nur übernatürliche
Beweggründe, die sich als gänzlich wirkungslos erwiesen haben. Der einzige
wahre und zugleich unbedingt wirksame Beweggrund ist ein ganz natürlicher:
daß wir durch nichts andres als durch Tugend glücklich werden können. Das
einzige, was der Mensch erstrebt, mit allen Kräften sein ganzes Lebe» lang
erstrebt, ist Glück, das einzige, was er liebt, ist er selbst, seine eigne Person;
in allem andern, was er liebt, liebt er nur sich selbst. Die Vernunft nun
lehrt ihn, daß er ein soziales Wesen ist, das ohne die andern überhaupt nicht,
geschweige denn glücklich zu leben vermag, daß er sein eignes Glück nur durch
die Förderung des Glücks der andern zu begründen vermag; diese Erwägung
ist das einzige, was den Menschen bestimmen kann, tugendhaft zu leben, und
sie reicht sür sich allein vollständig hin für diesen Zweck. Das Böse an sich
will kein Mensch; thut einer Böses, so thut er es in der irrigen Meinung,
daß er damit sein Glück fördere.
Das ist der Hauptsache nach Holbachs soziales System. Seine Grund-
legung der Moral erkennen wir als richtig an, erklären sie aber für unvoll¬
ständig und die auf ihre Anerkennung gesetzten Erwartungen für übertrieben.
Doch ehe wir darauf eingehn, müssen wir ein paar Worte über das Negative
in Holbachs Buche sagen. Wenn wir bemerken, was ja ohnehin bekannt ist,
daß er in dieser Beziehung auf dem Standpunkt seiner encyklopüdistischen
Freunde und Voltaires steht — ohne eine Spur von dessen Frivolität in
seinen Adern zu haben —, so wissen die Leser genug. Am Christentum, an
der Kirche, an den Regierungen läßt er keinen guten Fetzen. Wir sind aber
weit entfernt davon, ihn deshalb zu tadeln. Konnte ein Mann von Ver¬
stand und Herz über das Bestehende anders urteilen in einer Zeit, wo die
Scheiterhaufen der Inquisition und der Hexenbrande noch rauchten, wo Scharen
von braven Menschen, die um des Glaubens willen vertrieben waren, durch
Europa irrten oder über den Ozean fliehen mußten, wo die Ackerfluren durch
unvernünftige Eroberungskriege in Wüsten verwandelt waren, die französischen
Bauern, um dem Steuerdruck zu entgehn, ihre Hufen verließen und Räuber
wurden, wo endlich die Negierung nur noch ein Pumpwerk war zu dem Zwecke,
den Maitressen und Lotterbuben des Hoff die Mittel zu unsinniger Verschwen¬
dung zu liefern? Es war also zu entschuldigen, daß die Ritter des Geistes
über dieser Numcisse von Schlechtigkeit und Unvernunft das Gute, das noch
darin stecken mochte, übersahen, und daß sie den Gerechten mit den Ungerechten
verdammten. Mehr noch, es war nicht bloß zu entschuldigen, es war not¬
wendig; ohne ein gründliches weltgeschichtliches Strafgericht Hütte die gründ¬
liche Besserung, die seit 1789 doch wirklich eingetreten ist, nimmermehr herbei¬
geführt werden können. Um nur eins hervorzuheben: was Holbach über die
Gefahren sagt, die das Staatsoberhaupt durch seine UnVerantwortlichkeit und
Allgewalt über sich selbst heraufbeschwört, ist heute so allgemein anerkannt,
daß niemand eifriger darauf bedacht ist, sich der Verantwortung für die Re-
gierungshandlungen zu entledigen, als eben die Staatsoberhäupter. Andrer¬
seits ist Holbach, nüchterner als Montesquieu, auch von der englischen Ver¬
fassung keineswegs entzückt; er findet, daß der Parlamentarismus der Haupt¬
sache nach ein Mittel der Bereicherung für die einflußreiche Minderheit sei,
und daß es unvernünftig sei, einem besitzlosen Pöbel das Stimmrecht und
damit Einfluß auf die Staatsangelegenheiten einzuräumen. Überhaupt ist er
kein Demokrat; er erkennt die natürlichen Ungleichheiten an und will sie im
Staate berücksichtigt wissen. Das Bekenntnis zum Atheismus bricht in diesem
Buche nur gelegentlich durch. Wie es Darwin schwer fiel, an einen Gott zu
glauben, der Raupen geschaffen habe bloß zu dem Zweck, daß sie bei leben¬
digem Leibe von den Maden der Schlupfwespe aufgefressen würden, so meint
Holbach, wenn es einen Gott gäbe, so würde er doch vor allem unter den
Menschen eine vernünftige soziale Harmonie hergestellt haben, anstatt die be¬
stehende gottlose Wirtschaft zuzulassen. Der Gott, den die Theologen lehrten,
dieses harte und rachgierige Wesen, sei doch nun einmal kein Gott, wie sich
ihn die Vernunft denken müsse; wie könne z. B. ein Gott, der seine eignen
Feinde oder die, die er um geringer Übertretungen willen für seine Feinde
erklärt, zu ewigen Höllenqualen verurteilt, wie könne ein solcher Gott den
Menschen Versöhnlichkeit gebieten?
Eben dieser Radikalismus, den die Zeit erklärt und entschuldigt, zeigt uns
recht deutlich, wie die Irrtümer des Holbachschen Systems aus mangelhafter
Erfahrung, aus unvollständiger Geschichts- und Weltkenntnis entsprungen sind.
Was er vor Augen hatte, war ja leider ein recht breites Stück Welt, aber
doch zum Glück nicht die ganze Menschenwelt. Wenn er die heidnische Philo¬
sophie und das Christentum in den Quellen studiert und nicht bloß ans ober-
flüchlichen Lehrbüchern kennen gelernt hätte, so würde er gewußt haben, daß
die meisten seiner Sätze nicht neu waren, sondern alten Weisheitsschätzen ent¬
stammten. Und wenn er die Menschen selbst mehr studiert hätte, so würde
er um so manchem seiner Lehrsätze irre geworden sein. Er bildet sich ein, daß
man nur die Menschen vernünftig zu machen brauche, um eine vollkommne
soziale Ordnung herzustellen, ja er glaubt, wie unsre heutigen „Edelanarchisten,"
daß, wenn alle Menschen vernünftig wären, gar keine Negierung notwendig
sein würde. Sem Irrtum würde ihm vielleicht klar geworden sein, wenn er
Gelegenheit gehabt hätte, die Thätigkeit einer heutigen Feuerwehr mit der
Verwirrung zu vergleichen, die zu seiner Zeit bei Bränden geherrscht hat.
Der Unterschied beruht uicht darauf, daß die heutigen Feuerwehrmänner jeder
einzeln vernünftiger wären als die Leute, die ehedem bei Bränden löschten oder
unthätig herumstanden oder durch unzweckmäßiges Eingreifen Verwirrung an¬
richteten. Die Sache geht heute anch dann ganz glatt, wenn zufällig einmal
sämtliche Feuerwehrmänner beschränkte Menschen sind, die in ihrem sonstigen
Leben wenig Vernunft offenbaren, während bei einem Brande vor hundert
Jahren die Konfusion nicht kleiner, sondern noch ein wenig größer gewesen
sein würde, wenn die Löschmannschaft zufällig aus lauter großen Philosophen
bestanden hätte. Der Unterschied besteht darin, daß wir heute Löschmann¬
schaften haben, die für den Zweck gedrillt sind, und daß ein Brandmeister die
Löscharbeit leitet, dessen Kommando alle pünktlich gehorchen, während die Mit¬
wirkung Unberufner vollständig ausgeschlossen ist. Ein großer hochzivilisierter
Staat umfaßt nun eine große Anzahl mit einander verflochtner Gemeinschaften,
deren jede aus vielen Mitgliedern besteht, die gewisse Thätigkeiten gemein¬
schaftlich auszuüben haben. Sollen sich diese Thätigkeiten ohne Reibung und
ohne Störung vollzieht,, so muß je eine solche Gemeinschaft für ihren be¬
sondern Zweck gedrillt sein und einem Kommando gehorchen, und sollen die
verschiednen Gemeinschaften einander gegenseitig nicht stören, so muß es eine
Oberleitung geben, die ihr geordnetes Zusammenwirken und Ineinandergreifen
verbürgt, das heißt eine Negierung. Die kann also durch keine Vernunft der
Einzelnen ersetzt werden. Gewiß kann diese auch uicht entbehrt werden. Gewiß
geht auf die Dauer jeder Staatsorganismus zu Grunde, der durch die Unter¬
drückung der Vernunft in den Einzelnen zum bloßen Mechanismus geworden
ist. Gewiß bleibt auch ini vollkommensten Staatsgetriebe dessen, was die Ver¬
nunft der Einzelnen zu leisten hat, unendlich viel mehr, als was die gleich¬
mäßig klappernde und gut klappende militürisch-bureaukratisch-polizeiliche Ma¬
schine leistet, aber entbehrt werden könnte diese nur in einem sehr kleinen und
ganz einfachen Gemeinwesen, z. B. in einer 10000 Seelen zählenden und vor
jedem Konflikt mit der Außenwelt geschützten, d. h. von jedem Verkehr mit
ihr abgeschnittnen Bauernrepublik. Eine solche könnte thatsächlich mit der
Vernunft ihrer Mitglieder auskommen. Nur leider könnte ein solches Gemein¬
wesen keine Kultur erzeugen, und hätten seine Mitglieder die Kultur nicht von
anders woher mitgebracht — etwa als Flüchtlinge aus unsrer Kulturwelt —,
so würde ihre Vernunft nicht sonderlich erleuchtet sein, sie würden beschränkt,
unwissend und abergläubisch sein.
Holbach hat, wie alle Nationalisten, nur immer den Menschen in abstraoto
vor Augen und übersieht die Verwicklungen der Gesellschaft; er denkt sich diese
zu einfach. Ist es nicht rührend kindlich, wenn er I, 186 schreibt: „Wenn
ich König wäre (vorausgesetzt, daß die Krone nicht die Eigenschaften meines
Herzens verwandelte), ich vermute, ich würde glücklicher sein jais die Könige
gewöhnlich sind^. Voll Liebe für die Völker, denke ich, würde ich von ihnen
geliebt werden. Statt ans eine unumschränkte Herrschaft über verächtliche
Sklaven stolz zu sein, würde ich sie der Freiheit sich erfreuen lassen, auf die
ihnen ihre Natur ein Anrecht giebt. Das Vertrauen meiner Unterthanen
würde mich in den Stand setzen, ohne Anwendung von Gewalt eine unum¬
schränkte Herrschaft auszuüben, und diese Herrschaft würde fester gegründet
sein als eine, die sich auf Söldnerheere stützt" und so sort anderthalb Seiten
lang. Welches Glück für Holbach, daß er 1789 gestorben ist, denn er war
ein edler Mann und hat es ehrlich gemeint; wie unglücklich würde es ihn ge¬
macht haben, die in Robespierre verkörperte Herrschaft der Vernunft, Gerechtig¬
keit und Menschenliebe ansehen zu müssen!
Dieses naive: „wenn ich König wäre" beleuchtet übrigens sehr hübsch den
Umschlag des politischen Nationalismus in sein Gegenteil. Seine Aufgabe
war es, die Völker davon zu überzeugen, daß ihnen weder die Priesterherrschaft
noch die absolute Monarchie „von Gottes Gnaden" zum Heile gereiche. Diese
Aufgabe hat er erfüllt, denn giebt es auch heute noch Millionen kindliche
Seelen, die da glauben, daß der Papst oder der König, oder Papst und König
im Verein, alle Übel zu heilen und jedem Bedrängten zu helfen vermöchten,
wenn sie nur nicht von dem bösen Liberalismus, von den Freimaurern und
den Juden gehindert würden, so giebt es doch thatsächlich kein zivilisiertes
Volk mehr, das seine Geschicke einer absoluten Priester- oder Königsherrschaft
anvertraute. Aber der Nationalismus täuschte sich über die Ursache des Mi߬
erfolgs der Kirche und der Monarchie. Die Ursache ist die Beschränktheit der
menschlichen Vernunft im allgemeinen und der Macht der Regierungen. Wie
kein andrer Mensch, so vermag auch kein Papst und kein Monarch genau und
vollständig zu erkennen, was seinen Unterthanen zum Heile gereicht, und ver¬
möchte er es zu erkennen, so würden ihm die Mittel fehlen, alle seine Unter¬
thanen zu dem ihnen Heilsamen anzuhalten. Die Rationalisten aber sahen die
Ursache nicht in dieser ganz allgemeinen menschlichen Beschränktheit und in der
Schrankenlosigkeit der obersten Gewalt, die jedem Irrtum ihres Inhabers eine
gefährliche Tragweite verleiht, sondern in einer besondern Unvernunft der
Priester und Könige und in deren Selbstsucht, und sie glaubten, man brauche
die Könige bloß vernünftig zu machen und ihre blinde Selbstsucht durch er¬
leuchtete Selbstliebe zu ersetzen, um das Glück der Völker zu sichern. Indem
nun natürlich jeder der Herren sich selbst für vernünftig hielt, wurden sie selbst
Despoten, wo immer sie in einer von ihnen geschaffnen Republik oder als
Berater von Monarchen Einfluß gewannen. Auf diesem Wege hat sich der
politische Vertreter des Nationalismus, der Liberalismus, bis heute so oft
bloßgestellt, so viel höhnische Kritiken zugezogen und so viel Niederlagen be¬
reitet. Aber der dauernde Vorteil bleibt doch, daß durch die Volksvertretungen
und durch andre Einrichtungen die Einheitlichkeit der absoluten Regierungs¬
gewalt gebrochen und im Staate ein ähnlicher Zustand hergestellt worden ist
wie im protestantischen Kirchenwesen, wo sich zwar auch jedes Kirchenregimentlein
als Papst aufspielen möchte, die Vielheit der mit einander konkurrierenden
Päpstlein aber die Gefahr abwendet. Und auch noch eine andre Errungen-
schaft des Nationalismus bleibt bestehn; niemand wagt heute mehr zu leugnen,
daß richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge von der größten Wichtig¬
keit fürs Gemeinwohl ist, und daß, wer regieren will, etwas gelernt haben
muß; daher wird es kaum noch einmal vorkommen, daß ein notorisch un¬
wissender Mensch, wie Ludwig XIV., ein großes Land unumschränkt beherrschen
dürfte, oder daß sich die Völker ein Gesetzbuch gefallen ließen, das, wie der
Hexenhammer, vom rohesten Aberglauben diktiert wäre.
Wie auf dem politischen Gebiete, so ist es auch auf dem moralischen der
Mangel an Welt- und Lebenskenntnis, was Holbach von richtigen Ausgangs¬
punkten zu falschen Folgerungen führt. Gewiß ist die Glückseligkeit der Ge-'
schöpfe das Endziel der Schöpfung, und gewiß steht die Tugend mit der
Glückseligkeit im innigsten Zusammenhange. Aber dieser Zusammenhang ist
nicht so einfach, wie sich ihn Holbach vorstellt; es geht daher nicht an, die
Nützlichkeit zum einzigen Kriterium des sittlich Guten zu machen. Verschließe
er sich doch selbst nicht der Erkenntnis, daß Ungerechtigkeit und Selbstsucht
oft nützlicher sind als Gerechtigkeit und Menschenliebe, und wenn er meint,
das sei doch immer nur vorübergehend der Fall, so ist darauf zu erwidern,
daß der Nutzen der Ungerechtigkeit für manchen Menschen sein ganzes Leben
lang anhält, und daß dies für ihn ein hinlängliches Motiv ist, ungerecht
zu bleiben. Mit dem individuellen Nutzen kommen wir also auf keinen Fall
aus, mit dem Gemeinnutzen aber auch nicht, weil der individuelle und der
Gemeinnutzen sehr oft in Widerstreit miteinander geraten, und es nicht
wenige» gelingt, ihren eignen Nutzen auf Kosten des Gemeinwesens zu wahren.
Aus diesem Grunde brauchen wir einen Quell der Moralität, der jenseits der
irdischen Interessenkonflikte liegt, und diesen finden wir in dem Gott, der sich
in unsern sittlichen Ideen offenbart; diese zu verwirklichen müssen wir uns
verpflichtet fühlen, ohne Rücksicht auf den Nutzen oder Schaden, der daraus
entspringt. Natürlicherweise wird für gewöhnlich Nutzen daraus entspringen,
weil ja immer irgend jemand genützt wird, wenn wir Liebe und Gerechtigkeit
üben, unsre Triebe beherrschen und unsre Zeit gut anwenden; aber weil der
Nutzen nicht immer augenblicklich eintritt, nicht immer sichtbar ist, weil zu¬
weilen aus einer für Pflicht gehaltnen Handlung zunächst nur Unheil zu ent¬
stehen scheint, vor allem weil niemand genau zu sagen vermag, worin der all¬
gemeine Nutzen bestehe, so dürfen wir nicht den Nutzen, sondern müssen wir
die sittlichen Ideen zum Kriterium des Guten machen. Wenn Holbach einen
Menschen, der auf das Jenseits schaut, einem Wandrer vergleicht, der gen
Himmel blickt, statt ans seine Füße und auf den Weg zu sehen, so vergißt er,
daß der im Walde Verirrte sich nach dem Stande der Sonne richtet und in
der Nacht sich glücklich schätzt, wenn Sterne blinken, an denen er sich zurecht¬
finden kann. Ist also der Nutzen nicht einziges Kriterium der Moralität, so
darf er doch bei der Beurteilung der menschlichen Handlungen nicht aus¬
geschlossen werden. Eine Morallehre, die auf das Streben des Menschen nach
Glückseligkeit keine Rücksicht nimmt, oder wohl gar das sittlich Gute in der
Verneinung dieses Strebens findet, die taugt nichts; sie ist unvernünftig und
unwirksam. Diese Wahrheit festgestellt zu haben, ist wiederum ein bleibendes
Verdienst des Rationalismus.
Kann demnach die Gottesidee für die Begründung der Moral nicht ent¬
behrt werden, so wird sie auch durch den Hinweis auf die UnVollkommenheiten
der Gesellschaft und auf das menschliche Elend nicht widerlegt; das wäre nur
der Fall, wenn die Pessimisten mit ihrer negativen Bilanz recht hätten; diese
Bilanz hat aber Holbach selbst, lange vor Schopenhauer, für falsch erklärt.
Wenn Gott die Wahl hatte, ob er gar keine Welt schaffen wollte, oder eine,
über die der Herr Mensch zwar schimpft, in der dieser Mensch aber doch lieber
sein als nicht sein will, so ist hierdurch allein schon anerkannt, daß sich Gott
um eben dieses Menschen willen für das zweite entscheiden mußte. Wäre
Holbach in seinem Leben auch nur einmal Dorfschulze gewesen, so würde er
nicht mehr so kühn gewesen sein, das „wenn ich König wäre" auszusprechen.
Und wenn nun ein so kluger Mann wie er nicht einmal ein Dorf zu be¬
glücken versteht, so muß er zugestehn, daß es selbst für einen Gott keine so
ganz leichte und einfache Sache gewesen sein kann, eine Welt zu schaffen, die
den Beifall aller ihrer Bewohner Hütte.
u allen Zeiten haben die Staaten einen mehr oder minder starken
Trieb nach Ausdehnung und Eroberung gehabt. Aber die trei¬
benden Kräfte ändern sich. Früher suchten ehrgeizige Fürsten
durch Heiraten, durch Kriege ihre Gebiete zu mehren, sich fremde
Länder zu unterwerfen. Seit die Völker als mitbestimmende
Gewalten neben den Willen des Fürsten getreten sind, haben sie auf die äußere
Politik auch dort Einfluß gewonnen, wo sie dazu nicht ausdrücklich durch eine
Verfassung berufen sind. Wenn sie auf neue Landerwerbungen aus sind, so
treibt sie oft das materielle, wirtschaftliche Bedürfnis, wie bei den ungeheuern
kolonialen Unternehmungen unsrer Zeit. Oft aber werden sie anch von idealen
Zielen gelockt, unter denen der Ruhm eine zwar weniger große Rolle als
zur Zeit des fürstlichen Absolutismus, aber doch eine beachtenswerte Rolle
spielt. Ein stärkeres ideales Motiv ist das sogenannte Nationalitätsprinzip.
Soweit sich die Bedeutung dieses Prinzips praktisch aus der politischen
Geschichte unsers Jahrhunderts erkennen läßt, liegt sie in der Anerkennung
des Anspruchs der Nationen auf selbständiges und einheitliches Staatsleben.
Die Erfahrung lehrt uns freilich auch, daß Staaten, die sich, wie Frankreich
unter Napoleon III., auf dieses Prinzip beriefen, es mehr als politisches
Agitationsmittel, denn als feste Richtschnur ihres Handelns benutzten; und
wie unsicher es in seinem Wesen ist, geht aus der Unmöglichkeit hervor, die
Frage zu lösen, was man unter einer Nation zu versteh« habe, die zu jenem
Anspruch berechtigt wäre. Gleichwohl hat diese Idee die Völker seit hundert
Jahren erfaßt und dahin gedrängt, die kleinen unter einander verwandten
Volksteile in möglichst große Staaten zusammen zu fassen. Die Nationen
wollen sich, indem sie alle ihre Teile an sich ziehen, mit der gesteigerten
Kraft nach außen schützen, im Innern ihre nationale Art ausgestalten
und ihre Kultur entwickeln. Dies sind gesunde Triebe und große Zwecke,
die auch schwere, für die Sammlung zerstreuter Volksteile gebrachte Opfer
wohl rechtfertigen können. Da jedoch das Nationalitätsprinzip thatsächlich
von Fürsten und Völkern bisher so wenig befolgt wird, daß kein Staat ohne
Nötigung ein Gebiet aufzugeben pflegt, bloß weil es national zu einem andern
Staate gehört, und da es manche Völkersplitter auch in Europa giebt, die
außer stände sind, einen eignen nationalen Staat zu bilden, so birgt das
scheinbar friedliche Nationalprinzip von Hause aus eine schwere Gefahr der Ver¬
gewaltigung in sich. Um so mehr als es begleitet ist von dem Streben der
nationalen Staaten, sich die in seinen Grenzen wohnenden volksfremden Elemente
ans alle Weise national zu assimilieren. Hieraus ist allmählich ein nationaler
Kampf entbrannt, der durch ganz Europa hin immer eifriger und schonungs¬
loser geführt wird, und der keineswegs mit den friedfertigen Gesinnungen über¬
einstimmt, deren Beteuerungen, wie die Kirchenglocke vor der Predigt, uns
gewohnheitsmäßig aus den Parlamenten aller Staaten fortwährend ins Ohr tönt.
Das berechtigte nationale Streben nach Einigung hat sich mit dem Streben
nach gewaltsamer oder friedlicher Verschmelzung fremder im Bereich der Macht
einer stärkern Nation liegender nationaler Splitter vermischt; das nationale
Einheitsbedürfnis ist vergiftet worden durch das staatliche Bedürfnis, alles
nationale Fremde innerhalb der Staatsgrenzen zu entfernen. Territorium und
Nation sollen zusammenfallen, sei es auch auf gewaltsamen Wege. Denn mit
so schönen Namen man es auch verdecken mag, es ist Kampf und Gewalt, was
hier bald in sanfterer, bald in härterer Form von Mehrheiten gegen Minder¬
heiten angewandt wird. Es ist der Eroberungskampf von Nation gegen Nation.
Seitdem Deutschland sich national zusammengeschlossen hat, sehen wir rund
umher unsre Volksgenossen einer Verfolgung und Bedrückung ausgesetzt, die
nicht unmittelbar dem Deutschen Reich, aber doch der Nation mit schweren
Verlusten drohen. Wir selbst sind in die Lage gekommen, solche staatliche Be¬
drückung gegen fremde Volksteile, die in unsern Grenzen wohnen, anzuwenden.
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, können wir uns von diesem Kampf
nicht ganz fern halten. Allein der Kampf ist zu ernst, als daß er uns nicht die
Pflicht auferlegen sollte, seine Natur und Berechtigung, die angewandten Mittel
und die gebotuen Grenzen in jedem Falle möglichst genan abzuwägen.
Worin liegt der Maßstab für die verletzende Härte dieser nationalen Unter-
jochnngskämpfe? Er liegt in der Schätzung der nationalen Art und der
nationalen Kulturgüter. So lange ein Volk noch nicht zu nationalem Selbst¬
gefühl erwacht ist, wird es sich ohne vielen Widerstand einem stärkern, mit
höher entwickelten Kulturmitteln ausgestatteten Volke anschließen, mit ihm ver-
schmelzen. Unsre germanischen Voreltern eroberten Europa von der Ostsee
bis Gibraltar hin und gingen zum größern Teil unter in den unterworfnen
fremden Völkern, soweit diese über große Kulturmittel und nationale Kraft
geboten. Jahrhundertelang strömten deutsche Scharen nach Italien und wurden
dort national verschlungen, während wir mit geringern Mitteln von Weser
und Elbe an bis an den Peipussee unser nationales Gebiet ausdehnten, das
sich bis heute fast ungeschmälert erhalten hat. Trotz der staatlichen Ohnmacht
war Italien als Nation stark genug, Longobarden und Normannen, Sara¬
zenen und eine jahrhundertelange deutsche Herrschaft zu überwinden, während
aus den slawischen und litauischen Stämmen im Osten ein wertvoller Mischteil
unsers heutigen Volkstums geworden ist.
In allen diesen Fällen ging die Entnationalisierung mit geringen Leiden
vor sich, weil Germanen dort, Slawen und Litauer hier ihre Nation gering
schätzten; die Leiden , die damit Hand in Hand gingen, waren solche, wie sie
der Starke, der gewaltsam Rohe dem Schwachen oder der Räuber materiellen
Besitzes dem Beraubte» zufügt; in seiner Nationalität wurde der Unter¬
liegende nur wenig gekränkt, weil er sie wenig schätzte. Noch vor hundert
Jahren stand es in dem sehr bureaukratisch-genan regierten Preußen jeder¬
mann frei, nicht nur nach seiner Fayon selig zu werden, sondern anch nach
seiner Nation zu reden, zu schreiben und zu denken; und doch fügten sich
Litaner und Polen leicht dem deutschen Wesen. Heute hat man sich bemüht,
in dem polnischen und titanischen Bauer das Bewußtsein von dem Wert
seiner eignen nationalen Art zu wecken, und in dem Maße, als sich dieses
Bewußtsein kräftigt, wächst auch der Schmerz, den der ans die Nationalität
geübte Druck ausübt. Je höher ein Volk in der Art seines Charakters und
seiner Kultur steht, um so schwerer empfindet es jede gewaltsame Verletzung
seiner Nationalität. Und das gilt nicht nur von einem großen Volke, sondern
ebenso von jedem noch so geringen Bruchteil, ob er nun die Bevölkerung einer
Provinz oder eines Dorfes ausmacht, ob er geschlossen ein Gebiet erfüllt oder
darin nur einen Stand oder eine Klasse darstellt. Am schwersten duldet das
Kulturvolk, dem seine nationalen Güter von der Hand eines Volkes niederer
Kultur dauernd zerstört werden, denn mit ihnen geht eine Kultur zu Grunde.
Wessen das Land, des der Glaube, sagte man früher. Der Glaube war
damals das höchste unter den idealen Gütern der europäischen Völker. Mit
jenem Satze wurden die Hugenotten gemordet, wurden die Protestanten aus
Frankreich, die Salzburger von ihren Bergen Vertrieben; dafür haben Millionen
geblutet in allen Ländern, unter der Folter und auf dem Holzstoß. Soll es
heute dahin kommen, daß der Satz ans andern: Boden wieder aufgerichtet
wird? Wollen die Nationen wiederholen, was Kirche und Fürsten verbrachen?
Der Fanatismus bleibt sich ziemlich ähnlich, ob er nun aus religiöser oder
ans nationaler Quelle fließe. nationaler Fanatismus ist nur.der Stiefbruder
des religiösen Fanatismus. Soll auf diesem Boden des nationalen Staates,
vorläufig zwar nicht mit Folter und Holzstoß, aber doch mit Marterwerkzeugen
gearbeitet werden, die, den Nerven des modernen Menschen angepaßt, nicht
viel weniger grausam sind, als die von der fanatischen Kunst des Großinqui¬
sitors erfunden wurden? Denn was damals Glaube war, ist heute Nationalität:
in ihrer subjektiven Wertschätzung stehen uns heute die idealen Güter, die die
Nationalität eines Kulturvolks ausmachen, ebenso hoch wie Glaube und Kirche.
Wer mir heute meine nationale Schule schließt, trifft mich ebenso hart, wie
wer mir meine Kirche schließt. Was steht heute dem Genossen eines Kultur¬
volks höher, als Sitte, Tradition, Recht, Sprache, all die mannigfachen Lebens¬
erscheinungen, an deren Entwicklung er und Generationen vor ihm gearbeitet
haben? In ihnen findet die nationale Kultur ihren Ausdruck. Dem gemeinen
Mann steht vielleicht sein religiöser Glaube, vielleicht seine Kirche gleich hoch,
dem Gebildeten kaum mehr. Ihm sind jene Dinge die höchsten idealen Güter
und steigen im Wert, je weiter sich die nationale Kultur ausgestaltet, und je
mehr er sich dessen bewußt wird.
Erkennen wir denn das nicht etwa selbst an? Achten wir denn nicht den
hoch, der in der Fremde fest an deutscher Art hält, und sind es nicht nationale
Lumpe, die sich in Polen oder Ungarn flugs national häuten, weil es Geld oder
Ehre einbringt? Dürfen wir solche nationale Verlumptheit bei unsern Volks¬
genossen verdammen, aber von Dünen oder Polen oder Franzosen staatlich
fordern? Ist es nicht ein landläufiges Gebot, man solle seine idealen Güter
bis in den Tod verteidigen? Nun, käme es dazu, dann wären Henker und
Beil auch nicht mehr sern in diesem Nationalkampfe. Aber der Staat hält
sich heute noch für berechtigt, auch ohne die äußerste Not eines dieser Güter
nach dem andern den Unterthanen zu entreißen, denn: wessen das Land, dessen
die Nationalität. Der Staat hat sich heute der Nation ergeben wie ehemals
der Kirche.
Der nationale Staat kann freilich in Lagen geraten, wo er mit staatlichen
Mitteln den Kampf gegen fremde Volkssplitter in seinen Grenzen sichren muß.
Posen ist für Deutschland unentbehrlich; die Polen zeigen mit That und Wort,
daß sie, nicht zufrieden mit dem nationalen Besitz, gesonnen sind, diese Provinz,
sobald sie einmal stark genug dazu siud, auch staatlich zurückzufordern. Sie
sind sogar so unklug, Gebiete, die sie vorübergehend in Deutschland besessen
haben, gleich mit zu fordern. In solcher Lage der Notwehr hat der Staat
die Pflicht, sich zu sichern. Vor allem fragt sich, woher die Gefahr kommt?
Sie kommt nicht vom Bauern, sondern von Adel, Bürgertum, Geistlichkeit,
und mit diesen muß gekämpft werden. In Nordschleswig ist der Staat eben¬
falls, so scheint es, gezwungen worden zu offnen Gewaltmitteln. Die Ereig¬
nisse, deren genauere Darlegung leider etwas spät den weitern Kreisen zuge¬
gangen ist, zeige» einen nationalen Angriff der Dänen gegen die Deutschen,
der über das Maß friedlicher Verteidigung deS eignen Volkstums hinausgeht,
zu der jeder national Fremde in einem Kulturstaat berechtigt ist. Soweit
eine solche Überschreitung stattfindet, soweit nicht bloß Verteidigung, sondern
ein Angriff im Werke ist, der den äußern Frieden gefährden könnte oder offen¬
bar gegen die Integrität des Staatsgebiets gerichtet ist, hat der Staat die
Pflicht, einzuschreiten. Aber es ist gleicherweise die Pflicht des Staats, sehr
sorgfältig die Grenze zwischen jener berechtigten Selbstverteidigung und dem
Gebrauch unzulässiger Mittel des Angriffs zu prüfen, ehe er in den nationalen
Kampf mit staatlicher Gewalt eingreift. Die Grenze zu finden und die rechten
staatlichen Mittel zu ergreifen, beides ist schwer und erfordert großen politischen
und administrativen Takt, um Roheiten zu vermeiden.
Handelte es sich bloß darum, zu wissen, wie eine nationale Minderheit
staatlich zu vernichten oder doch zu vergewaltigen sei, so fänden sich dazu
Muster genug und ganz in unsrer Nähe. Aber wir wollen ein Kulturstnat
sein und nnr Mittel anwenden, die unser würdig sind. Jeder staatliche Druck
auf eine nationale Minderheit weckt den Widerstand und die Leidenschaft; wo
der nationale Kampf ohne staatliche Einmischung geführt wird, da ist es
möglich, die Gewaltsamkeit fern und die Leidenschaft in Grenzen zu halten.
In der Schweiz leben Bruchteile dreier großer Nationen neben einander; sie
kämpfen fortwährend unter einander, die eine rückt vor, die andre muß zurück.
Das gewerbliche Leben ist die Hauptwaffe, mit der hier Boden gewonnen, dort
verloren wird; wo eine Nation in die Minderheit gerät, verliert sie die Leitung
in der Kommune, aber sie läuft nicht Gefahr, von der siegenden Mehrheit
durch kommunale oder kantonale Gewaltmittel bedrängt zu werden; sie kann
dnrch Zuzug ihrer Volksgenossen, den niemand hindert, das Verlorne zurück¬
gewinnen, die Zweisprachigkeit in den nationalen Grenzgebieten glättet den
Verkehr, jede Minderheit hat ihre Schulen, behält das Recht ihrer Sprache
vor Gericht und Verwaltung; nirgends nationaler Haß, nirgends das Be¬
dürfnis, das Ringen um die nationale Herrschaft in den Vordergrund zu
stellen, die Leidenschaft zu entfachen. Die welsche Schweiz sympathisiert mit
den Franzosen, aber obwohl ihre Bevölkerung weitaus in der Minderheit ist,
hält sie treu zum Staat, denn sie lebt in ihm vollkommen frei in ihrer
nationalen Art.
In allen nationalen Grenzgebieten ist Zweisprachigkeit der natürliche Zu¬
stand, dem man immer Rechnung tragen sollte. Wenn man einer nationalen
Minderheit ihre Schulen nimmt, wenn man ihr verbietet, in eignen Schulen
ihre nationale Erziehung und Kultur zu pflegen, so ist das ein staatlicher
Eingriff, der zu berechtigtem Widerstande herausfordert. Berechtigt besonders
bei einer Minderheit, deren nationale Kultur gleich hoch steht, wie die der
Mehrheit. Wenn wir in Ostafrika Neger verdeutschen, so thun wir ihnen wohl;
wenn wir uns staatlich weigern, den Litauern litauische Schulen herzurichten,
so thun wir ihnen kaum einen Zwang an. Dasselbe gegen Dänen oder Fran¬
zosen angewandt ist verletzend und muß als schwerer Druck empfunden werden.
Und es fragt sich, ob diese Maßregel nötig, ob sie politisch vorteilhaft ist.
Der national einheitliche Staat hat ohne Zweifel, und besonders seit das
Nationalprinzip aufgestellt und fast gleichzeitig auch gefälscht wurde, einen
sehr großen Vorzug vor dem national gemischten Staat. Er gewinnt an
Kraft dadurch, daß nicht nur die materiellen Interessen in gemeinsamer
Arbeit und unter gemeinsamem Schutz besser gedeihen, sondern auch die im¬
materiellen Güter nationaler Kultur mit einheitlicher Kraft besser gefordert oder
gewahrt werden können. Solange aber das öffentliche Wohl Inhalt und Zweck
jedes Staats ist, wird jede Gewalt, die dem Wohl, dem Glück und der Zufrieden¬
heit einer Minderheit angethan wird, nur so weit dem Staatszweck entsprechen, als
sie für das Wohl der Gesamtheit notwendig ist. Es scheint nicht für das
Wohl Deutschlands notwendig, daß die wendische Sprache in der Lausitz aus¬
gerottet werde; es ist nicht bewiesen, daß das Dänische in Nordschleswig, das
Französische in Lothringen mit dem Wohle des Reichs unvereinbar seien. So
lange die Notwendigkeit nicht feststeht, verlangt der Staatszweck nur, daß Dänen
und Franzosen ruhige Bürger bleiben, nicht allzu lästig fallen, und daß um¬
gekehrt der Staat sie in solchem Verhalten nicht durch nationale Zwangs-
maßregeln störe.
Der national einheitliche Staat hat außer diesem politischen Vorzüge den
andern, daß seine Verwaltung bequemer ist als im national gemischten Staat.
Wo in einem Staate dieselbe Sprache, dieselben auf nationale Sitten und Ge¬
wohnheiten gegründeten Lebensformen und bürgerlichen Einrichtungen bestehn,
ist die administrative Technik in Schule, Gericht, Polizei, in Handel und
Wandel weit einfacher, als wo jede Verordnung verschiednen Mundarten und
Bedürfnissen angepaßt werden muß. Hier reicht das Streben nach nationaler
Herrschaft dem Streben nach administrativer Unisormitüt, nach bürokratischer
Herrschaft die Hand. Hier heißt es zugleich: wir wollen, daß alles bei uns
deutsch sei, und wir wollen, daß alle staatlichen Einrichtungen dieselben seien:
kein Separatismus, keine Sonderrechte, keine Erschwerungen der Verwaltung
durch nationale oder territoriale oder lokale Ungleichheit.
Diese beiden Tendenzen sehen wir am stärksten und vollkommensten aus¬
gebildet zu festem System in den Lüuderu, wo das büreaukratische Regiment
am unumschränktesten gebietet, wie z. B. in Nußland. Seine Wirkung können
wir dort klar beobachten; sie ist unzweifelhaft kulturfeindlich. Aber dieses
System ist bequem für eine roh gearbeitete Staatsmaschine, es ist das System
politischer Mittelmäßigkeit, ein geistloser Mechanismus, dessen Hauptziel Herr¬
schaft, uicht Volkswohl ist. Diesem System der Uniformität gegenüber sehen
wir in Vergangenheit und Gegenwart die Staaten, Völker, selbst Nassen immer
durch ihre Tüchtigkeit hervorrage«, die in ihrem Charakter oder durch ihre
Geschichte in sich differenziert waren, die nicht Uniformitcit, sondern Mannig¬
faltigkeit in den sozialen wie den staatlichen Lebensformen anstrebten und aus¬
gestalteten. Das Nomadentum ist uniform, das Kulturvolk differenziert. Auf
Uniformitcit baut sich am leichtesten der Despotismus, Kriegsmacht, Eroberungs¬
politik auf; Differenzierung fördert Verfeinerung, Geschmeidigkeit, Mehrung
der innern, der Kulturkraft, denn sie ermöglicht Freiheit, individuelle, terri¬
toriale, soziale Selbständigkeit.
In dieser Differenzierung ruht die Stärke der germanischen Nasse, ihre
Überlegenheit über die zur Uniformitcit neigenden Raffen. Darum ist der
Germane schwerer zu regieren, darum verträgt er besser die Freiheit in den
staatlichen Institutionen, darum ist er der geschickteste und sicherste Trüger
unsrer europäischen Kultur. Die Uniformitcit lahmt, die Mannigfaltigkeit
belebt. Kann man für diesen Satz ein schlagenderes Beispiel finden, als in
dem Verhältnis der beiden größten der europäischen Kulturwelt angehörenden
kontinentalen Reiche? Die gewaltige Überlegenheit der nordamerikanischen
Union über Rußland wurde im Verlauf eines Jahrhunderts errungen haupt¬
sächlich durch die Mannigfaltigkeit der nationalen, sozialen, staatlichen Elemente
und Einrichtungen. Für die Kultur, für das Volkswohl fagt es durchaus
gar nichts, daß Rußland eine Million Soldaten, die Union bisher nur dreißig¬
tausend Mann hatte.
Je großer ein Staat ist, um so verderblicher wirkt die Uniformitcit, und
um so stärker wird die natürliche Neigung, sich durch sie die Mühe des Re-
gierens zu erleichtern. Wenn 1866, wie viele wünschten, Preußen alle übrigen
Staaten in Deutschland weggefegt Hütte, so wäre es dennoch unmöglich ge¬
wesen, eine preußische Uniformitcit durchzuführen, ohne die Lebenskraft des
ganzen Volkes zu zerstören. In der instinktiven Furcht vor solchen Versuchen
wurzelt zu einem Teil die Abneigung, die noch heute im übrigen Deutschland
vielfach gegen Preußen fortlebt. Die preußische Staatsmaschine erscheint dem
Süddeutschen außerdem zu kalt, zu uniform, zu hart; berechtigte Eigentümlich¬
keiten, wie man das früher nannte, haben, wie man dort glaubt, unter ihr
zu wenig Spielraum, die ünßere Disziplin ist ihm zu scharf und rauh. Und
dieser instinktive Widerwille*) gegen staatliche Uniformitcit ist nicht nur be¬
rechtigt, sondern ein natürlicher Vorzug unsers Volkes, der sehr hoch zu schützen
ist, und der das Reich nicht hindert, die Aufgaben eines großen Staats zu
erfüllen. „Die wirkliche Freiheit, sagt ein französischer Historiker, ist nur vor¬
handen in dem örtlichen und provinziellen Geist, in der Ungleichheit der
Klassen, der Aufsichtsämter und selbst der staatlichen Gewalten. Einheitlichkeit
ist der mehr oder minder glänzend gekleidete Despotismus."
Das heutige Kulturleben fordert in einem großen Staat einheitliche Formen
für gewisse Zweige des öffentlichen Wirkens. Strafrecht, einige Teile des
bürgerlichen Rechts, Prozeß und Justizverfassung, Geldwesen, Anstalten des
Verkehrs werden nur dann die modernen Bedürfnisse befriedigen tonnen,
wenn sie in Form und Verwaltung einheitlich sind. Wir finden in Deutschland
keinen Landesteil, in dem alle diese Dinge nicht zugleich der Wohlthat einer
einheitlichen, also einer einzigen Sprache genießen konnten. Wir finden geringe
Landesteile, in denen die deutsche Sprache im Schulwesen den Forderungen
der Bevölkerung widersteht. Es giebt gewiß nichts wesentlicheres für eine
Nation als die Sprache. Dennoch ist für den Staat die Einheitlichkeit der
Sprache keineswegs ein Lebensbedürfnis. Die Einheitlichkeit der Sprache
indessen ist eine Erleichterung für die Verwaltung und daher wünschenswert.
Ihre Verbreitung durch die Schule ist ein Mittel, um fremde Volksteilc
national aufzusaugen, und um fremde, in der Kultur niedriger stehende
Volksteile in der Kultur zu heben. Wo aber eine der unsrigen ebenbürtige
Kultur, oder wo ein starkes nationales Selbstgefühl der deutschen Schule ent¬
gegentritt, wo die deutsche Schule uur verbunden mit starkem staatlichem
Zwang arbeiten kann, da wird das Gute, das sie bringen soll, oft verschüttet
durch das Übel, das der Zwang hervorruft.
Mit der Sprache giebt man seine Nationalität ans. Das mag dein pol¬
nischen Bauern, der in die deutsche Schule gezwungen wird, nicht allzu schwer
fallen; es muß den Haß des gebildeten Polen, des Dänen erwecken, der leiden¬
schaftlich an seiner Nationalität hängt, und der sich in seiner persönlichen Frei¬
heit verletzt sühlt. Warum sollte es notwendig sein, ihnen ihre polnischen,
dänischen, französischen Schulen zu verbieten? Lehrt die Geschichte nicht, daß
verschiedne Nationalität den festen Zusammenhang, die Einigkeit der Staats¬
angehörigen keineswegs zu störe» braucht? In der nordamerikanischen Union,
in der Schweiz mag jeder Volksstamm in seiner Sprache Schulen errichten,
und sie bleiben doch alle gleich gute Schweizer oder Amerikaner. In Deutsch¬
land sind die nationalen Schwierigkeiten so gering, daß mau ohne Gefahr nicht
nur den Dänen, sondern auch den Polen und Franzosen erlauben dürfte, sich
ihre nationalen Schulen zu errichten. Soviel deutsch, als für den allgemeinen
Verkehr wünschenswert ist, würden sie freiwillig in dem heutigen regen Ver¬
kehrsleben selbst erlernen, und eine Nachhilfe bietet die Wehrpflicht. Aber
gerade diese, so sagt man, fordre die deutsche Schulung.
Die allgemeine Wehrpflicht hat einen großen Einfluß auf die nationalen
Verhältnisse gewonnen. In den Heeren alter Zeit kämpften Männer ver-
schiedner Nationalität neben einander, die einander oft sprachlich nicht ver¬
standen; der Deutsche, der Schweizer war überall in Enropa zu finden als
Soldat in fremden Heeren und schlug sich tapfer, ohne französisch, italienisch,
spanisch zu verstehn; die österreichischen Heere sind bis auf den heutigen Tag
so Vielsprachig wie die Babylonier des Turmbaues und laufen doch in der
Schlacht nicht aus einander wie jene Himmelsstürmer. ^) Die preußische Wehr¬
pflicht warf nicht allein das alte Kriegswesen um, sondern gewann auch einen
Einfluß auf das gesamte Volksleben, der in seiner ganzen Ausdehnung erst in
der neuern Zeit gewürdigt werden konnte. Die materielle Macht, die das
preußische System den Staaten zugeführt hat, ist sehr groß. Dieser Macht¬
zuwachs aber, sowie der erzieherische Nutzen, den die allgemeine Wehrpflicht
dem Volke bringt, sind nicht ganz ohne Opfer erkauft worden. Eine Schatten¬
seite ist die verstärkte Neigung des Staats, die für den Kriegsdienst not¬
wendige Kenntnis der deutschen Sprache schon durch den Schulzwang in
den undeutschen Gebieten zu verbreiten. Die einzigen Länder, wo noch der
nationale Kampf nicht tobt, sind Amerika, die Schweiz, England, die Staaten
ohne allgemeine Wehrpflicht preußischen Musters. In der Schweizer Miliz sind
die verschiednen Sprachen gleichberechtigt.^) In England quillt der irische
Streit aus uralten Quellen, die wenig mit dem modernen Nationalfanatis¬
mus zu thun haben. Wenn für den deutschen Soldaten die Kenntnis der
deutschen Sprache bis zu einem gewissen Grade nötig ist, so soll sie verlangt
werden für diesen Zweck. Der Pole oder Lothringer, der sie beim Eintritt in
den Dienst nicht hat und sie im Laufe der zwei Dienstjahre nicht erwirbt,
möge ein Jahr länger im Dienst behalten werden. Ein Gesetz dieses Inhalts
würde überall als gerecht anerkannt werden, wenn zugleich Polen, Dänen,
Lothringern freigelassen würde, ihre Kinder in eignen undeutschen Schulen zu
erziehn. Sie würden selbst dafür sorgen, daß ihre Söhne soweit deutsch lernen,
um ein drittes Dienstjahr zu ersparen.
Wo der Staat nicht in das Ringen der Nationen eingreift, da fehlt das
Gewaltsame, Gehässige dieses Ringens. Niemand empfindet es als Zwang,
wenn im Rhonethal in der alten deutschen Stadt Sitten jährlich ein Haus
nach dem andern an französische Besitzer fällt, wenn die Deutschen, in franzö¬
sischer Schule erzogen, Franzosen werden, wenn endlich die Mehrheit der Be¬
wohner französisch geworden ist, die öffentlichen Anstalten demgemäß der
herrschenden Nationalität folgen, und in einigen Jahren aus der uralten
Bischofsstadt Sitten ein französisches Sion geworden ist. Ebenso friedlich
dringt das Deutschtum im Südosten, in Graubünden vor gegen das romanische
und italienische Element. Das ist der natürliche Gang des Ringens, der
friedliche, in dem das Volk siegt, das ein stärkeres nationales Selbstgefühl,
überlegne Kultur, tüchtigere Arbeitskraft, feinere, vornehmere Formen des Um¬
gangs, größere Energie des Charakters hat. Der Franzose wird gegenüber
dem Deutschen unterstützt durch seine feinern, geschmeidigern Formen in Sprache
und Umgang; der Deutsche hat sür sich größere Unternehmungskraft, festern
Charakter, mehr Sinn für Ordnung und Recht. Mischte sich heute die Zentral¬
gewalt da hinein, so wäre es aus mit dem Frieden.
In Deutschland liegen die Verhältnisse großeuteil anders als in der
Schweiz. In Posen und Nordschleswig ist mit der Eroberung der Kampf ge¬
geben gewesen. Nicht der Einzelne drängt den Einzelnen im friedlichen Ge¬
triebe des Erwerbs und Verkehrs hinaus, sondern Polentum und Dänentum
stehn als geschlossene, organisierte Macht dem Deutschtum gegenüber, zum
Kampf bereit mit Mitteln nicht staatlicher Art, aber doch Gewaltmitteln, denen
der Einzelne nicht widerstehn kann. Mit dieser bedauernswerten Thatsache
haben wir heute zu rechnen, und wir dürfen kaum hoffen, den einmal ent¬
brannten Kampf zurückzuführen auf das friedliche Ringen, wie es in der
Schweiz oder Nordamerika vor sich geht. Polen und Dänen verteidigen den
nationalen Besitz und sind schon dadurch stärker als der Gegner; denn wer
sich in Posen in irgend einem Beruf niederläßt, hat nicht nur die überall vvr-
hcmdne Konkurrenz des Erwerbs zu bekämpfen, sondern außerdem die Schwierig¬
keiten, die ihm die nationale Feindschaft der Polen bereitet. Er ist den An¬
griffen organisierter Gruppen der Bevölkerung ausgesetzt. In solchem ungleichen
Kampf stellt sich der Staat mit Recht auf die Seite der Deutschen. Er unter¬
stützt den Deutschen durch Schulen, Förderung seines Erwerbs, seiner Kirche,
durch Herbeiziehung von Ansiedlern, durch Ankauf polnischer Güter. Er sollte
sich besonders auch angelegen sein lassen, durch gute deutsche Mädchenschulen auf
das weibliche Geschlecht zu wirken. Aber der Staat sollte sich darauf beschränken,
das deutsche Element zu unterstützen im Kampf, nicht selbst an die Stelle der
Kämpfer treten.*) Sowie der Staat direkt eingreift, ist der Zwang da, der den
Kampf immer vergiftet. Der Kampf soll national und auf dem Boden des
privaten und gesellschaftlichen Lebens ausgefochten werden, der Einzelne wie
die Gesamtheit der Deutschen sollen geschützt und gestärkt werden: direkte
Zwangsmittel, Entwaffnung, Knebelung des Gegners durch den Staat, das
sollte in Deutschland verschmäht werden, das sollte man — andern überlassen.
Der erste Schritt, den der Staat auf diesem Kampfboden thut, zieht immer
neue Schritte nach sich. Wenn man Dänen oder Franzosen die Möglichkeit
nimmt, ihre Kinder in dänischen oder französischen Schulen auf deutschem
Boden zu erziehn, so ist es nur natürlich, daß sie ihre Kinder außer Landes
schicken. Es wären nationale Lumpe, wenn sie es nicht thäten, soweit ihre
Mittel es ihnen erlauben. Das hat dann weiter geführt, bis man von Staats
wegen, wenn man den Berichten der Presse Glauben schenken darf, in das
Familienleben eingriff und den Eltern sogar das Recht nahm, ihre Kinder
selbst zu erziehn. Man hat Eltern ihre Kinder, wie es scheint, wirklich weg¬
genommen, um sie von staatlichen Vormündern erziehn zu lassen. Das sind
offenbar unhaltbare Zustände. Aber der erste Schritt auf dem Wege staat¬
lichen Zwangs ist verhängnisvoll auch gegenüber deutschen Reichsgenossen.
In Rußland ist dafür eine fertige Schablone vorhanden, die eben in Finn¬
land wieder zur Anwendung kommen soll. Man packt irgendwo die zur Er¬
wägung bestimmte Nation oder Provinz an einer schmerzhaften Stelle: man
nimmt das Recht der Wahl einiger Beamten, man fordert die russische Sprache
bei einigen Behörden, die bisher schwedisch und finnisch verhandelten. Die
Verletzten sträuben sich, da packt man fester zu und verstopft zugleich den
Mund der Presse mit einem Knebel; sie flehen um ihr Recht, ihre Sprache,
da heißt es: Separatismus, Haß gegen Rußland! Es sei klar, daß solche
Gesinnung höchst gefährlich sei, weshalb man stärker zugreifen müsse. Nun
werden Schulen russisch gemacht, und da die Unzufriedenheit in Finnland
wächst und sich zeigt, so ist das ein immer klarer werdender Beweis ihrer
staatsfeindlichen Gesinnung. Man drückt weiter auf das nationale Bewußtsein,
auf Freiheit. Stolz, Ehrgefühl des Finnlünders, und treibt die entflammte
Leidenschaft irgendwo einige Hitzköpfe zu offnem Widerstande gegen die Staats¬
gewalt, dann ist es Aufruhr, der Beweis ist erbracht, daß nur die Vernichtung
finnländischen Rechts, finnländischer Selbstverwaltung, Sprache, Kultur zur
wahren Verschmelzung des Landes mit Rußland sühren können. Das ist die
erprobte Schablone, und Finnland, ein kleiner Musterstaat wie kaum ein zweiter
in der Welt, wird im Namen des Nationalstaats zu Grunde gerichtet werden
wie Livland vor ihm. Rußland hätte sich größeres Verdienst um Europa er¬
worben durch einen Aufruf zur Niederlegung der staatlichen Waffen im Kampfe
der Nationalitäten, als durch sein Manifest sür Einschränkung der Kriegs¬
rüstungen. Und wir werden in Deutschland sicher nicht dieser russischen
Schablone folgen wollen. Rußland ist eine Despotie, die keinerlei Recht des
Unterthans gegenüber dem Fürsten anerkennt. Deutschland steht nicht auf
diesem Boden des einseitigen Rechts.
Man hat längst die Erfahrung gemacht, daß Nationen eben solche Tyrannen
sein können wie Fürsten. Wir sind stolz, daß die Zeit des Absolutismus und
der Despotie vorüber ist. Ja, der Despotie der Fürsten, und an ihre Stelle
treten die Nationen, eine traurige Abwechslung! Und wie viele Leute immer
bereit wären, den Fürsten zu bewundern, wenn er seine Macht mißbrauchte,
so giebt es jetzt viele, die es weichlich nennen, wenn die Warnung laut wird,
daß die Nationen Tyrannen werden. Fürsten wie Nationen haben ihre
Schmeichler.
Man hört bei uns nicht selten vor deutschem Chauvinismus warnen.
Ich meine, die Gefahr liegt uus bisher fern. Vielmehr ist gerade unsre
nationale Schwäche eine der Ursachen, weshalb wir nicht ohne staatliche Hilfe
den Kampf mit Polen, Dänen, Franzosen durchfechten können. Wären wir
Engländer, so brauchte uns kein Landrat in Nordschleswig zu helfen, und wir
wären in Posen weiter, als wir sind. Hätten wir etwas von russischem oder
amerikanischem Jingo im Leibe, so hätten nach den Siegen von 1870 die Be¬
drückungen, denen unsre Volksgenossen seitdem von unsern Nachbarn ausgesetzt
sind, Gelegenheit genng gegeben, ihn zu zeigen; statt dessen haben wir kaum
gewagt, uns darüber zu beklagen; der nach Wien gerichtete Protest der Pro¬
fessoren hat bei uns nichts von Jingo oder Chauvinismus entflammt. Seit
1870 ist unser nationales Bewußtsein allerdings gewachsen; aber es steckt doch
noch in der Kindheit. Ich sehe viele, die es noch kaum zu einem nationalen
Selbstgefühl gebracht haben; ich sehe manche, die in der Fremde ihre nationale
Besonderheit durch eine laute, plumpe Vrcitspurigkeit erkenntlich machen, andre,
die überall, und so auch mit Königgrätz und Sedan gern renommieren; andre,
die rauhe Schneidigkeit für Männlichkeit halten. Aber das ist Geschmack¬
losigkeit, nicht Chauvinismus. Unter Chauvinismus verstehe ich das Übermaß
des Volksbewußtseins, das, wo es in rechtem Maße vorhanden ist, das Zeichen
der innern reifen Kraft eines Volkes ist. Von diesem Bewußtsein unsrer
Volkskraft sind wir noch weit entfernt; wir wissen wohl, daß wir einen mäch¬
tigen Staat, eine große Kriegskraft haben, im übrigen aber sieht man uns im
ganzen noch recht deutlich die Jahrhunderte nationalen Elends an. Wer heute
beobachtet, mit welcher Leichtigkeit der Deutsche noch jetzt in der Fremde,
einem kräftigen fremden Nationalbewußtsein gegenüber gestellt, sich duckt, mit
welcher selbstgefälligen Lust er gegenüber Engländern in eine englische Haut
zu kriechen eilt, dem Franzosen seine Sympathie aufdrängt, den Russen für
den Herren der Zukunft erklärt — der könnte oft verzweifeln an der Zukunft.
Wie oft erlebt man es, daß man verständigen, gebildeten Leuten gegenüber steht,
in ihnen nach nationalem Selbstbewußtsein, nach dem sichern und stolzen Ver¬
trauen in die Nation, nicht bloß in den Staat sucht, und in der deutschen
Brust immer nur Asche und wieder Asche findet; daß man vergeblich nach dem
heiligen Funken darin umherstöbert und endlich enttäuscht seines Wegs geht.
Uns steckt noch z» sehr sächsisches, preußisches, bayrisches, hcmnoversches Staats¬
bewußtsein in den Gliedern und nur wenig nationales Bewußtsein.
Andrerseits klagen wir immer darüber, daß der Deutsche in der Fremde
so leicht sein Volkstum aufgiebt. Was haben wir denn bisher dafür gethan,
um in ihm den nationalen Stolz des vivis roirmnus zu wecken? Würden die
Bosnier so behandelt wie in Ungarn die Deutschen, so geriete der Russe bis an
die Wolga hin in Erregung; wir empfinden die Verletzung wenig. Wir haben
bisher auch von Reichs wegen den in fremde Länder Auswandernden im Grunde
wie einen Abtrünnigen angesehen; wir haben seit 1870 leider zusehen müssen,
wie man rund umher gegen unsre Volksgenossen verfuhr. Konnten wirs nicht
ändern, so konnte diese unglückliche Thatsache doch auch das nationale Bewußt-
sein nicht heben. Für all zu viele Leute bei uns hört das Deutschtum an der
deutschen Grenze auf; sie versteh« kaum, wie Deutsche in fremden Staaten den
Anspruch erheben können, deutsch zu bleiben. Es giebt Leute, die bereit sind,
sofort Engländer oder Russen zu werden, sobald sie sich entschlossen haben, in
England, Amerika, Rußland ihr Glück zu suchen, und die solchen, die das
nicht wollen oder billigen, daraus einen Vorwurf machen. Es giebt Leute,
die sich, wenn sie in die Fremde gehn, vorher mit deutschem Reichsstempel
sollten abstempeln lassen, um wenigstens die Erinnerung zu behalten, welchem
Volke sie zuerst angehörten. Solche Leute können es natürlich nicht versteh»,
warum sich der Pole oder der Däne so anstrengt, polnisch, dünisch zu bleiben.
Weshalb wechselt der Murr denn nicht seine Nationalität, nachdem er die Ne¬
gierung gewechselt hat? Fort mit dem alten dänischen Rock, und heran mit
dem neuen deutschen! Wenn nicht, dann auswandern! Und der Ruf erschallt
dann: Landgraf, werde hart!
Auswandern! Ja, wäre das so leicht, wäre da nicht Haus und Hof,
Freunde und Gewohnheiten, Broterwerb und alles das, was mau von den
Vätern an materiellen und immateriellen Gütern ererbte! Wäre da nicht die
Heimat, und bliebe der Ausruf Dantons nicht wahr, mit dem er den Tod der
Auswanderung vorzog: 0n n'smxorts xg.s ig, xg,tris g,n höret ctss Lömellss.
Wäre das alles nicht, wäre man wie der Hausierer oder Zigeuner überall zu
Hause, wo es was zu verdienen giebt — dann wäre mancher Undeutsche wohl
von selbst weiter gewandert, ohne Nachhilfe der Staatsgewalt. Wer hierfür
kein Verständnis hat, für den ist die Heimat der Staat, er ist zu Hause, wo
des Königs Flagge weht, er wäre der rechte Mann gewesen, mit einem dänischen
Seekönige vor tausend Jahren nach Sizilien zu segeln oder mit einem Gotcn-
sürsten über den Balkan zu gehn. Wer das Nomadentum ganz abgestreift hat
und tief national fühlt, wird wissen, daß Volkstum und heimische Scholle
ideale Werte sind, die an Heiligkeit von nichts, auch vom religiösen Glauben
nicht, übertroffen werden.
Das junge Deutsche Reich hat sich bisher nicht zu der harten Mißhand¬
lung fremder Nationalitäten hinreißen lassen, zu denen der wilde Nationalitäten¬
kampf es in andern Staaten gebracht hat; und dem Deutschen Reiche möge das
auch künftig erspart bleiben, selbst wenn es mehr fremde Elemente aufnehmen
sollte, als es bisher umschließt. Hat denn ein Stamm, weil er Herr des
Landes ist, das Recht, schwächere Stämme daraus zu vertreiben oder national
zu vergewaltigen?*) Eine wenig zeitgemäße Anschauung heute, wo alle Staaten
Europas nach Ausdehnung streben, wo die großen Mächte dabei sind, vier¬
hundert Millionen Chinesen davon zu überzeugen, daß sie kein Recht haben,
ihr Haus gegen fremde Eindringlinge zu schließen, und daß der Fremdenhaß
ein untrügliches Merkmal wildester Barbarei sei! Hat das herrschende Volk
eine sittliche Begründung für das angemaßte staatliche Recht, den Genossen
fremden Stammes um die ihm heiligsten Güter zu bringen? Vor Zeiten
pflegte man wohl eroberte Länder zu sichern, indem man die Eingebornen um¬
brachte. Das gilt heute für barbarisch; aber für erlaubt gilt es, sie durch
Generationen langsam am nationalen Rost zu braten: diese Schmerzen achtet
man wenig, dafür hat der physisch-humane Nationalstaat unsrer Zeit keinen
Sinu. Die Griechen, Römer und andre Völker haben es vor dreitausend
Jahren, und die Südseeinsulaner haben es heute für Recht gehalten, jeden
Fremden als Feind umzubringen. Die Kulturstufe zwischen solcher Anschauung
und dem Nationalstaat, der jede fremde Nationalität für feindlich hält, ist
geringer, als die Stufe, die diesen Nationalstaat von einem freien internationalen
Zusammenwohnen trennt.
Ich rede nicht einem Weltbürgertum das Wort, mit dem heute heimat¬
lose Weltbummler prunken. Vielmehr steht dieses Weltbürgertum in scharfem
Gegensatz zu einem gesunden Volkstum, das der ethische Boden ist, in dem die
besten sittlichen Kräfte des Einzelnen ihre natürlichen Wurzeln haben. Ist es
wohl wahrscheinlich, daß in einer Zeit, wo mit jedem Tage die Völker ein¬
ander näher gerückt werden durch die Erleichterung des Verkehrs, wo die
tausend immer neu anschwellenden Adern des materiellen und immateriellen
Verkehrs, keines nationalen Unterschieds achtend, die Menschen dnrch einander
werfen, wo die Teilung der Arbeit dem einen Stamme, nach seiner besondern
Anlage und Schulung, diese Bethätigung, dem andern jene zuweist, daß in
solcher Zeit der Staat dauernd auf seiner Forderung nationaler Einheitlichkeit seiner
Angehörigen werde bestehn können? Es ist ein kurzsichtiges Bemühen, slawischen
Arbeitern die Einwanderung über unsre deutsche Grenze erschweren zu wollen.
So beängstigend es für ängstliche Gemüter sein mag, wahrzunehmen, wie sich der
Pole oder Tscheche in die leer werdenden Kellerräume unsers Hauses einschiebt,
so wird man es schwer finden, unsern deutschen Arbeiter zu bewegen, sür einen
Lohn zu arbeiten, der den Slawen am Eindringen verhindert. Wenigstens für
so lange schwer, als das wirtschaftliche Vorschreiten anhält und dem Arbeit¬
geber die Mittel gewährt, die bessere Arbeit des Deutschen höher zu bezahlen,
als der Lohn ist, den die Arbeit des Tschechen wert ist. Was macht denn
den tschechischen Arbeiter national gefährlich? Es ist hauptsächlich die Er¬
fahrung, daß der deutsche Herr national leicht zu dem Tschechen hinabsteigt,
statt diesen zu sich empor zu heben. Da nimmt man tschechische Dienstboten
und ist sofort bemüht, mit ihnen tschechisch zu radebrechen, statt von ihnen zu
verlangen, daß sie deutsch lernen — was sie sehr schnell können. Und dann
wachsen die Kinder in tschechischer Sprache auf, und die gute Mutter terres
endlich auch, und die nächste Generation weiß schon nicht mehr, wohin sie
gehört, hat auch Wohl schon einige wilde junge Tschechenhelden mit Namen
Müller oder Schulze ausgebrütet. Wer könnte Herrn Müller zumuten, zehn
Thaler jährlich zu opfern, um sich eine deutsche Kinderfrau kommen zu lassen!
Da müßte er ja wöchentlich ein paar Glas Bier weniger trinken! Und nun
gar jenseits der Leitha gegenüber den stolzen Magyaren, die gleich den Russen
den ehemaligen Hauslehrer, da sie ihn nicht mehr nötig haben, zur Thür
hinauswerfen, wenn er sich nicht umlaufen lassen will. Der gute Michel läßt
sich so leicht imponieren!
Wir wollen hoffen, daß eine Periode des Niedergangs unsrer Arbeit
fern sein möge, in der unser deutscher Arbeiter gezwungen wäre, sich mit dem
zu begnügen, was der Slawe braucht zum Leben, und wo er dadurch die
Kellerräume so füllen würde, daß kein Fremdling darin Platz fände. Der Pole
in Westfalen, der Tscheche in Schlesien oder Sachsen, sie arbeiten mit an unserm
deutschen nationalen Webstuhl, sie nützen uus, und wir sollten getrost der Zu¬
kunft überlassen, wie unser Volkstum sich mit ihnen abfindet. Ich meine, wir
dürfen unsrer nationalen Kraft auch ohne gewaltsame Hilfe des Staats zu¬
trauen, daß sie sich die fremden Bestandteile assimilieren oder in Frieden neben
ihnen bestehn und arbeiten werde.
Ein fremdes Element giebt es leider, auf das die obigen Argumente nicht
ganz anwendbar sind. Man darf zweifeln, ob die über unsre östliche Grenze
kommenden Juden ein nützlicher Zuwachs unsrer Bevölkerung sind. Für die
Art von Arbeit, die sie verrichten, haben wir selber Mannschaft übergenug,
und die Mittel, mit denen sie arbeiten, greifen weit tiefer in unser Volksleben
ein und weit empfindlicher, fremdartiger, als was alle Dänen, Polen und
Tschechen zusammen bewirken. Dabei erfüllen diese einwandernden Juden die
Forderungen, die der Staat, oder mancher Staat, im Namen der nationalen
Einheitlichkeit stellt: sie verwandeln sich flugs in den besten Sollpreußeu. Und
doch bleiben diese modernen Nomaden unserm Volkstum innerlich fremder als
Polen, Dänen oder Tschechen.
Gerade wir Deutschen haben allen Grund, diesen mit staatlichen Mitteln
geführten Kampf der Nationalitäten in der europäischen Kulturwelt zu ver¬
dammen. Was wollen die Polen, Dänen, Franzosen bei uns sagen gegenüber
den Millionen Deutscher, die außerhalb des Deutschen Reichs leben? Wir
sind ein Volk, das mehr als andre auf Auswanderung angewiesen ist, und
wir besitzen keine eignen Kolonien, die diese Auswandrer in Menge aufnehmen
könnten; unsre Industrie treibt Scharen von Deutschen hinaus, die nicht alle
eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, noch weniger ihre Nation verleugnen
wollen. In Rußland sitzen Hunderttausende unsrer Landsleute, die unsre Aus¬
fuhr dorthin leiten: was würde aus unserm Handel dorthin werden, wenn der
nationale Kampf dahin führte, daß Rußland diese Leute als lästig aufwiese,
wie man in der russischen Presse sie schon oft als lästig gebrandmarkt hat?
Gerade wir brauchen nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, fondern auch im
nationalen die Politik der offnen Thür. Ohne Auswanderung an Waren und
Menschen müßten wir daheim ersticken oder uns mit den Waffen Raum
schaffen. Wir sind auf staatliche Gastfreiheit augewiesen. Wir haben neben
uns zehn Millionen Deutsche, die in ihrem nationalen Kampf mit Slawen
und Ungarn die staatliche Macht nicht mehr wie vor hundert Jahren für sich
haben. In Ungarn hat sich der Staat offen an die Spitze der nationalen
Kämpfer gegen die Deutschen gestellt und droht diese niederzuwerfen. In Ru߬
land, selbst in Italien bedrängt der Staat das deutsche Element. Wenn wir
diese Lage erwägen, kann der Nationalitätenkampf mit staatlichen Waffen für
uns nichts verlockendes haben.
Man redet heute viel von Völkerfrieden nach außen hin, ist aber schnell
bei der Hand, die staatliche Macht für den Volkskrieg im Innern zu ver¬
wenden. Wir wollen Weltpolitik treiben, halten uns aber national noch für
zu schwach, um der Nation den Hauptanteil an dem Ringen mit den fremden
Volkssplittern zu überlasten, die ihre nationale Haut nicht gleich wechseln
wollen. Wäre es wahr, daß der moderne Staat keine fremden Volkssplitter
in seinem nationalen Körper zu dulden vermag, dann Hütten wir im Staats¬
leben einen bedauernswerten Rückschritt gemacht. Es liegt heute in der Tendenz
staatlicher Entwicklung, daß sich Großstaaten zusammen ballen. Wohin soll es
führen, wenn diese Großstaaten, nachdem sie fremde Länder verschluckt haben,
überall das fremde Volkstum vernichten wollten? Und wir sehen in der nord-
ameriknnischen Union, daß nicht nur ein kleiner Staat wie die Schweiz, sondern
ein gewaltiges Reich trotz der größten Mannigfaltigkeit in den nationalen
Bestandteilen seiner Bevölkerung ohne jeden staatlichen direkten Zwang zu einer
nationalen Einheitlichkeit zusammenwachsen kann, die allen Aufgaben eines
Großstaats gerecht wird.*) Auch dort ist nationaler Kampf; aber ohne staatliche
gewaltsame Einmischung geführt, verläuft er in den friedlichen Formen, die
im Sinne und Interesse von zivilisierten Nationen liegen. Wäre es wirklich
ein Bedürfnis der europäischen Großmächte, den einheitlichen Nationalstaat mit
Gewaltmitteln zu erzwingen, dann wäre die fürstliche Eroberungspolitik der
alten Zeit bei weitem einer solchen nationalen Eroberungspolitik vorzuziehen.
Dort wechselte man nur die äußern Formen des Staatslebens, hier wird man
in seinem tiefsten Innern vergewaltigt; dort wechselte man nur den Fürsten,
hier das Volk. Und wahrlich, welcher Genosse einer großen und zivilisierten
Nation gäbe nicht den Fürsten lieber hin als sein Volkstum!
On a äsoouvert, as nos ^jours, <zu'i1 avs.it>, äans 1s inonäs 6s8 tvrlmnis,?
Is^itiiQss et as sgintss iiMstissZ, pourvu <zu'on Iss exeroat la vorn, an psuvls
(Pocqueville, Os ig. Osmoorg-dis su ^.msri^us, II, S. 405).
Überall in den staatlichen Grenzgebieten werden sich einzelne Fremde
finden, die sich gelegentlich lustig machen und polizeilich ausgewiesen werden
müssen. Sobald aber solche Ausweisungen einen politischen Umfang und
Charakter annehmen, greifen sie offenbar auf ein Gebiet hinüber, das wenigstens
bei uns in Deutschland zur Kompetenz weder eines Landrath, noch eines Re¬
gierungspräsidenten, noch selbst der Regierung eines einzelnen Bundesstaats
gehören sollte. Dieses Gebiet gehört zu der Vertretung des Reichs nach
außen hin. So berechtigt ein staatliches Einschreiten gegen dänische Gewalt¬
samkeiten in Nordschleswig gewesen sein mag, so hat es doch eine sehr reale
Wirkung auf das Verhältnis des Reichs zu einem benachbarten Staat, oder
kann diese Wirkung wenigstens haben. Wie Preußen gegen die Dünen ge¬
handelt hat, so kann man in andern Staaten gegen Österreicher, Schweizer,
Franzosen, Niederländer vorgehn, und vielleicht mit weniger Berechtigung.
Büreaukratischer Eifer ist oft geneigt zu gordischer Schneidigkeit, wo die größte
Behutsamkeit am Platze wäre. Daraus können internationale Spannungen
und Verwicklungen entstehn, die dem ganzen Reiche zur Last fallen. Daher
sollte dem Reichskanzler verfassungsmäßig die Entscheidung in Fällen zustehn,
wo es sich um notwendige Anwendung von Zwangsmitteln gegen fremde
Staatsangehörige handelt, die über die gewöhnlichen polizeilichen Maßregeln
gegen einzelne Personen hinausgehn.
Wir haben dem Verfasser, einem baltischen
Deutschen, der als solcher die Vergewaltigung nationaler Minderheiten besonders
schmerzlich empfindet, das Wort hier gegeben, weil sein Aufsatz vieles Gute
und Nichtige enthält, aber wir sind keineswegs durchweg mit ihm einverstanden.
s ist kaum mehr eine friedliche Lösung der sozialen Frage für
die Invaliden der Arbeit, es ist ein Kampf auf der ganzen Linie.
Das erhellt am besten aus den alljährlichen Veröffentlichungen
des Reichsversicherungsamts über die Wirksamkeit der Schieds¬
gerichte und die Rechtsprechung beim Amte selbst. Die Zahl der
Fälle, in denen in Nentensachen gegen die Entscheidungen der Ver¬
sicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften die höhern Instanzen, also in
zweiter Instanz die Schiedsgerichte, in dritter und letzter Instanz das Reichs-
Versicherungsamt angerufen wurden, ist ganz unverhältnismäßig groß. Wie
viele Bescheide von den Versicherungsanstalten im ganzen einschließlich der Ab-
lehnungsbescheide alljährlich erlassen werden, darüber waren bis zum Ablauf
des vergangnen Jahres Zcchlcncmgaben nicht bekannt gemacht. Doch sind im
Jahre 1897 von ihnen 93421 neue Renten und 119877 Beitragserstattungen
bewilligt, und während desselben Zeitraums von den mit ihren Anträgen
abgewiesenen Personen 19607 Berufungen bei den Schiedsgerichten und
3268 Revisionen beim Reichsversicherungsamt eingelegt worden. In der
Unfallversicherung entfallen für 1897 auf 184162 Bescheide der Berufs¬
genossenschaften und Aufsichtsbehörden nicht weniger als 42111 Berufungen
bei den Schiedsgerichten und 8095 von den Versicherten eingelegte Rekurse
beim Reichsversicherungsamt. Das heißt, wollte man die Berufungskläger in
Jnvaliditäts-, Alters- und Unfallsachen aus dem Jahre 1897 zusammen in
einem neuen Gemeinwesen ansiedeln, so erhielte man schon eine hübsche deutsche
Mittelstadt, größer als Liegnitz, und die Nevisions- und Nekurskläger beim
Reichsversicherungsamt würden nahezu das Städtchen Lauban füllen. Auf je
fünf Nentenbewilligungen der Jnvaliditäts- und Altersversicherung kommt eine
Klagesache, und von vier berufsgenossenschaftlichen Bescheiden giebt immer
wieder einer Anlaß zu einer Klage.
Man soll uns nicht entgegenhalten, daß der größte Teil der Beschwerden
bloß aus Unkenntnis oder gar aus Böswilligkeit eingelegt ist. Im Gegenteil.
In einem erheblichen Prozentsatz der Fälle hat den Beschwerdeführern Recht
gegeben werden müssen.
Von den erledigten 20264 Berufungen und 4122 Revisionen des Jahres
1897 in Jnvaliditäts- und Alterssacheu sind mehr als 3553 Berufungen und
mehr als 630 Revisionen zu Gunsten der Versicherten entschieden worden.
Und auf 41356 erledigte Berufungen und 9183 erledigte Rekurse des Jahres
1897 in Unfallsachen entfallen wieder 11571 und mehr als 2316 günstige
Urteile für die Versicherten. Die Zahlen stellen sich in Wirklichkeit noch höher,
weil bei den Schiedsgerichten für die Jnvaliditäts- und Altersversicherung
3027 Berufungen, beim Neichsversicherungsamt 215 Revisionen und 468 Re¬
kurse durch Vergleich oder Zurücknahme der Klage erledigt wurden, ohne daß
Vergleich und Zurücknahme, also die für die Versicherten günstigen und un¬
günstigen Fälle in dem zur Veröffentlichung gelangten Geschäftsberichte des
Neichsversicherungsamts aus einander gehalten sind. Jedenfalls wird auch
abgesehen von weitern 5443 Fällen, die von den Schiedsgerichten und dem
Reichsversicherungsamt wegen Fristversüumnis abgelehnt wurden oder sür die
die Art der Erledigung gleichfalls nicht in den Bericht aufgenommen ist, von
den Klagesachen vor den Schiedsgerichten bei der Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherung mindestens jede sechste, bei der Unfallversicherung mindestens jede
vierte zu Gunsten der Arbeiter entschieden, während die für diese günstigen
Entscheidungen beim Neichsversicherungsamte mehr als den siebenten und vierten
Teil aller dieser Behörde vorliegenden Beschwerden ausmachen.
Berücksichtigt man, daß den Versicherungsanstalten und Berufsgenossen¬
schaften die Rechtsprechung des Neichsversicherungsamts genan bekannt ist,
so gereichen ihnen die verhältnismäßig zahlreichen Verurteilungen durch die
höhern Instanzen nicht gerade zum Ruhme. Entweder, die Versicherungs¬
anstalten und Berufsgenossenschaften beabsichtigen, die Rechtsprechung in ihrem
Sinne umzugestalten, oder die Unterlagen für die Reutenfestsetzung sind an-
fänglich unvollständig gewesen und erst im weitern Verfahren vor der Be-
rnfungsiustanz ergänzt worden. Immerhin ist der Schluß nicht ganz ungerecht¬
fertigt, daß die Arbeiter bei genügender sachkundiger Unterstützung gegen eine
weit größere Zahl für sie ungünstiger Bescheide der ersten Instanz mit Aus¬
sicht auf Erfolg hätten Berufung einlegen können und, richtig beraten, bei
Schiedsgerichten und Reichsversichcruugsamt weit mehr günstige Entscheidungen
erstritten hätten. Die kleine Stadt Schönberg im Riesengebirge bietet dafür
ein sprechendes Beispiel dar.
Im November 1895, als der gegenwärtige, sehr rührige Bürgermeister
sein Amt antrat, zählte das Städtchen im ganzen 19 Unfall-, Alters- und
Jnvalidenrentner, und bis zum August 1898, also in weitern 2^ Jahren,
ist die Zahl der Rentner auf 89 angewachsen, während außerdem 6 Rentner
inzwischen wieder gestorben sind. Allerdings ist Schönbergs Haupterwerbs¬
zweig die Hausweberei, und auf die Hansweberbevölkerung ist die Jnvaliditäts-
uud Altersversicherung erst am 1. Juli 1894 ausgedehnt worden. Daß aber
die Zahl der Rentenempfänger vor und nach November 1895 doch zum Ver¬
gleich für die Regsamkeit der jeweiligen Behörden herangezogen werden kann,
dafür dient als Beweis, daß auch heute noch immer wieder Fälle behandelt
werden, die schon in der ersten Zeit nach Ausdehnung der Versicherung auf
die Hnusweber aufgenommen werden mußten, und daß uuter den 19 Rentnern,
die im November 1895 übernommen wurden, nur 7 Weber mit Altersrente
waren, während die Zahl der über siebzig Jahre alten und noch erwerbsfähigen
in der Weberei beschäftigten Personen am 1. Juli 1894 ohne jeden Zweifel
viel größer gewesen ist, wie auch heute unter den 89 Rentenempfängern
(Schönbergs 26 Altersrentner sind. Daß in der kleinen Stadt von noch nicht
ganz 2000 Einwohnern bisher schon 95 Personen die Wohlthaten der sozial¬
politischen Gesetzgebung zu teil geworden sind, ist anerkanntermaßen das Ver¬
dienst des jetzigen Stadtoberhaupts. Von den 76 unter ihm zur Erledigung
gelangten Fällen lagen 63 verhältnismäßig einfach; hier gehörte nicht viel
dazu, den alten Leuten die ihnen zukommende Rente zu verschaffen, aber ohne
die ihnen zu teil gewordne Unterstützung wäre sicher eine große Zahl unter
ihnen ohne Rente geblieben. Weitere 13 Personen, bei denen schwierige Er¬
mittlungen zur Feststellung des Thatbestands vorzunehmen waren und der
Erinnerung nach mindestens in 8 Fällen Berufung beim Schiedsgericht ein¬
gelegt wurde, hätten die Rente nie erlangt.
Der Fall vou Schönberg zeigt so recht, wie die Arbeiter in der That
in Ncntensachcn einer sachkundigen Vertretung bedürfen, und was für Erfolge
dnrch solche Vertretung erzielt werden können. Man ist darauf auch schon in
der Arbeiterpartei selbst aufmerksam geworden. Die aus dem Arbeiterstande
gewühlten Beisitzer bei den Schiedsgerichten und beim Neichsverstcherungsamte
haben sich in größern Städten zu Arbeitervertretervereinen zusammengethan,
die unter anderm den verletzten und invaliden Arbeitsgenossen unentgeltlich
Rat in Ncntensachen erteilen. Aber diese Unterstützung ist nicht ganz aus¬
reichend. Da die Arbeitervertreter durch ihren Beruf schon genügend in An¬
spruch genommen sind und nur wenige Freistunden zur Verfügung haben,
müssen sie sich zumeist auf mündliche Auskunftserteilung beschränken, mit der
allein den in der Abfassung von Schriftsätzen ungewandten Arbeitern wenig
gedient ist. Mittel zur Unterhaltung bezahlter Hilfskräfte sind einstweilen nicht
vorhanden, und für den Fall, daß die organisierten Arbeiter, die zumeist der
sozialdemokratischen Partei angehören, Mittel für die Errichtung solcher
größern Nechtsbüreaus hergeben wollten, würden diese Bureaus natürlich auch
mehr oder weniger von der Partei abhängig sein. Hiermit aber würde in den
Streitsachen vor den Schiedsgerichten und dem Reichsversicherungsamt mehr,
als bisher, der Parteistandpunkt hervortreten, bei vielen der Herren Richter
würde die Mitwirkung der Sozialdemokraten Voreingenommenheit zur Folge
haben, und die Arbeiterversicherungsgesetze würden, anstatt das Friedenswerk
zu fördern, den Klassenhaß vermehren helfen.
Nein, sollen die Arbeiter in ihren Rentensachen Unterstützung erhalten, so
muß die Unterstützung von einer Seite aus erfolgen, die auch ein Interesse
daran nimmt, daß den Arbeitern ihr Recht wird, die aber andrerseits die Ge¬
währ dafür bietet, daß die Gerichtshöfe gänzlich unbefangen mit ihr verkehren.
Wir denken an die Stadtverwaltungen und größern Gemeindevertretungen,
deren Armenlasten durch die Arbeiterversicherung herabgemindert werden.
In dem schon erwähnten Schönberg hatten unter den 76 seit November
1895 neu hinzugekommnen Rentenempfängern vor dem Genuß der Rente 17 schon
Armenunterstützung erhalten, 7 weitere diese beantragt, und nur 7 konnten
als so gut situiert betrachtet werden, daß sie der Stadt nach menschlicher
Voraussicht überhaupt nicht zur Last gefallen wären. Man wird ermessen
können, wie groß die Ersparnisse für die kleine Stadt durch die Rentenbewilli¬
gungen gewesen sind, und wie sich die Mühe, die den alten und invaliden
Leuten zu teil geworden ist, bezahlt gemacht hat. Die Zahl der Armenpfleg¬
linge ist auch von 37 im Jahre 1896 auf 18 im Jahre 1898 zurückgegangen.
Zwar liegen in Schönberg die Verhältnisse insofern eigentümlich, als das
kleine Landstädtchen bei augenblicklich schlechten Erwerbsbedingungen einen
großen Prozentsatz alter Leute auszuweisen hat, und bei der schweren Arbeit
am Handstuhle die Erwerbsunfähigkeit bei den Webern vielfach schon im Alter
von 40 und 45 Jahren eintritt. Immerhin ist die Zahl der Rentenempfänger
in unsern Industriezentren, absolut genommen, bedeutend größer, und wenn
in Schönberg die Ersparnis im Armenetat, die durch die Unterstützung der
Arbeitsinvaliden herbeigeführt ist, nur in die Hunderte geht, kann sie in größern
Orten bei höherm Armengelde viele Tausende betragen. Ein Versuch, in
Berlin, in Vreslau, in Hamburg, in München ein städtisches Nechtsschutz-
büreau für Arbeiterrentensachen zu errichten, in Mittelstädten eine geeignete
Kraft mit der Vertretung der Nentenanwärter zu beauftragen, würde sich ent¬
schieden bezahlt machen. Vielleicht finden sich auch pensionierte Staatsbeamte
und Offiziere, Lehrer und Rentiers, die den Stadtverwaltungen ihre Zeit für
diese Zwecke unentgeltlich oder gegen geringen Entgelt zur Verfügung stellen.
Die Nechtsbüreaus aber müßten so recht die Berater des Volkes sein.
Sie würden nicht nur die Vertretung der Nentenanwärter vor den Schieds¬
gerichten und dem Reichsversicherungsamt zu übernehmen, alle für die Klar¬
stellung des Sachverhalts nötigen Ermittlungen anzustellen, alle Klageschriften
und sonstigen Eingaben anzufertigen haben, sie müßten auch die Leitung der
bei den größern Magistraten schon bestehenden Abteilungen für die Arbeiter¬
versicherung und vor allem die Aufnahme der erstmaligen Nentencintrnge zu¬
gewiesen erhalten. Nicht nur daß auf diese Art möglichst alle Arbeiter die
Renten, auf die sie Anspruch haben, auch erhalten würden, bei sorgfältiger
Prüfung und Vorbereitung aller Anträge gleich in der ersten Instanz würden
die Rentenberechtigten auch früher als heute in den Besitz ihrer Rente gelangen.
und die Zahl der Prozesse ebenso eine Verminderung erfahren, wie durch
Abraten von allen unbegründeten Beschwerden.
Eine sachgemäße Vertretung der Arbeiter hätte aber auch noch einen andern
Vorteil. Man hat von jeher und mit Recht hervorgehoben, daß sich die
Schiedsgerichte und namentlich das Reichsversicherungsamt bemühen, den Ar¬
beitern in ihren Streitsachen das weitgehendste Wohlwollen entgegenzubringen.
Daß damit allein den Arbeitern nicht gedient ist, haben wir schon hervor¬
gehoben. Der Sachverhalt muß vor allem klar gestellt werden, und die Ge¬
richte können nur das klarstellen, wozu sie die Anregung schon erhalten haben.
Nun giebt es aber, abgesehen davon, eine ganze Anzahl von Streitsachen mit
prinzipieller Bedeutung, in denen es auf die Auslegung des Gesetzes ankommt,
und hier ist zu beachten, daß die Versicherungsanstalten und Berufsgenossen¬
schaften ihren Standpunkt immer aufs äußerste zu verteidigen bemüht sind,
während die Abfassung der gegnerischen Revisions- und Rekursschriften fast
immer zu wünschen übrig läßt. Wenn dem obersten Gerichte aber immer nur
der Standpunkt der einen Partei vorgetragen wird, geht — auch die Mit¬
glieder des Reichsgerichts sind nur Menschen — mit der Zeit etwas von
diesem Standpunkte schließlich in die Rechtsprechung über, die Urteile werden
den Wünschen der Versicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften angepaßt,
und eine auch noch so kleine Verschiebung der Rechtsauffassung giebt dann zu
neuen Meinungsverschiedenheiten und Streitfällen Anlaß. Schon hat das
Neichsversicherungscimt in der Frage der Leistenbrüche, in der jetzt nur noch
eine Rentenbewilligung erfolgt, wenn die Körperanstrengung, die zum Bruche
führte, über das Maß der sonstigen beruflichen Arbeitsleistungen hinausging,
einen andern Standpunkt eingenommen als in den ersten Jahren seiner Wirk¬
samkeit, und während früher ein Unfall im Bereiche der Fabrik fast immer
als ein Betriebsunfall behandelt wurde, wird jetzt häufiger als ehedem danach
gefragt, ob ein Arbeiter an einem Pferde, das ihn gebissen hat, an einer
Maschine, von der er erfaßt wurde, gerade vorbeigehn mußte. Es sind das
Kleinigkeiten. Aber sie gewinnen an Bedeutung, wenn sie nur die Vorstufen
zu andern für die Arbeiter ungünstigen Entscheidungen sein sollten. Nach dem
Unfallversicherungsgesetz sind nur die Fülle nicht entschädigungspflichtig, in
denen der Unfall durch den Arbeiter vorsätzlich herbeigeführt ist. Auch Mangel
an Vorsicht, ja Leichtsinn geben noch keinen Grund zur Vorenthaltung der
Rente. Gewiß wird man in manchen Fällen anführen können, daß der ver¬
letzte Arbeiter seinen Unfall selbst verschuldet hat, und daß er also eigentlich
selbst für den Unfall aufkommen müßte. Aber der Gesetzgeber hat sich zu
diesem Entgegenkommen den Versicherten gegenüber entschlossen, um alle
Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu vermeiden. Er hatte
sich gesagt, daß es besser sei, wenn die stärkere Partei zehnmal eine Rente
zahle, ohne moralisch zu ihrer Zahlung verpflichtet zu sein, als wenn dem
versicherten Arbeiter einmal seine wohlverdiente Rente vorenthalten würde.
Man muß sagen, daß sich dieser Standpunkt bis jetzt bewährt hat. Es wäre
nicht gut, wenn er verlassen würde.
le beiden Sommer und Winter, die ich mit Andreas Oppermmm
gemeinsam in Zitten verlebte, stehn mit allen Einzelheiten, mit der
überschäumenden Lust und dem leidenschaftlichen Eifer, uns gegen¬
seitig zu fördern, lebendig in meiner Erinnerung. Und nicht nur in
meiner. Der Zufall hatte es gefügt, daß sich ein paar interessante
Menschen, die gerade nicht zur kleinstädtischen Bevölkerung zählten,
nnserm engern Kreis anschlössen, daß auch diese Gesellschaft abwechslungshalber
auf deu phantasiereichen Zug, den wir den gewohnten Vergnügungen zu geben
suchten, wobei Freund Andreas uns andern immer dreimal voraus war, eine Zeit
lang mit einging. Gar manche sehr würdige Herren und stattliche Damen ge¬
dachten noch Jahrzehnte nachher der Periode, wo wir die „Luftiger von Zitten"
agierten, mit umso behaglicheren Wohlgefallen, als ja Freund Andreas als klassischer
Zeuge so bunt bewegter Tage unter ihnen wohnen blieb. Über den Rahmen klein¬
städtischer Geselligkeit ließ sich nur bei ein paar besondern Anlässen hinnusgehn,
z. B. bei der großen Schillerfeier des Jahres 1359, wo wir in der That mit
unsern Veranstaltungen in Wettbewerb mit großen Städten treten konnten, und wo
sich Oppermann, nachdem er nenn erlesene Schönheiten der Stadt als die nenn
Musen geworben hatte, von Moritz Horn ein Festspiel schreiben ließ, in dem er
selbst als Apoll auftrat, oder bei einer Aufführung von „Zopf und Schwert," die
für irgend einen wohlthätigen Zweck unternommen wurde. Aber innerhalb des
gegebnen Nahmens, welche Flut von lustigen Einfällen, die fast alle aus Opper-
manns Phantasie hervorgingen, belebte und erfrischte die Ausflüge in die Wald¬
berge bei Zitten und über die nahe böhmische Grenze, die kleinen Haushalte, bei
denen er sich die Mühe nicht verdrießen ließ, eine Menuett oder Sarabande ein-
znstndieren, nur uni die Langeweile der abgetanzten Rundtänze etwas zu unter¬
brechen, die vergnügten Picknicks ans dem Töpfer und andern Höhen, ans denen
damals noch keine Kneipen standen, die tollen Schlittenfahrten nach Gabel und
Böhmisch-Zwickau, uach Friedland und Liebwerdci. Er, als Löwe dieser klein¬
städtischen Gesellschaft, immer mitten drin, immer bei der Sache, übersprudelnd
von guter Lanne und doch innerlich ein ganz andrer als der, über den sich die
wohlbeleibten Kauf- und Fabrikherren der reichen Handelsstadt vor Lachen aus¬
schütten wollten, und mit dem die jungen Mädchen schön thaten! Sie kümmerten
sich weder um die ernsten Studien und Bildungsbestrebungen ihres Lieblings, noch
würden sie an die Stunden voll innerer Selbstprüfung, voll harter Kämpfe, voll
stiller Sehnsucht nach dem ans tiefer religiöser Empfindung erwachsenden Seelen¬
frieden geglaubt haben, die der lebensfrische und noch so jugendlich übermütige
Mann damals wie später durchlebte.
Mit dem älteren Freunde teilte ich die historischen und kunsthistorischen Studien.
Wir hatten Nachmittage festgesetzt, in denen wir fortlaufend englische Geschicht¬
schreiber vou Hume bis zu Maeanlays eben die Welt erfüllenden Werke dnrch-
nahmen; wir lasen miteinander Cnrlyles Schriften, die uus Oppcrmcmns Bruder
Heinrich von Kaffraria her dringend empfahl, wir begannen gemeinsam Vasaris
Leben der Maler durchzuarbeiten und mit den neuern biographischen und kunst-
geschichtlichen Arbeiten zu vergleichen, woraus nach und nach, unter eifrigem Zu¬
reden unsrer Dresdner Künstlerfreunde das kompilatorische Buch „Das Leben der
Maler" hervorging, das, vollständig vergriffen, von uns beiden später nicht neu-
bearbeitet werden konnte, weil wir, jeder in andrer Richtung, diesen Studien ent¬
wachsen waren. Aber auch das geheimste Seelenleben des Freundes mit seinem ernsten
Ringen, mit Hoffnungen, Zweifeln und Wünschen wurde mir erschlossen. Das war
für mich von einer Wichtigkeit, die ich heute besser abzuschätzen weiß, als damals
in der grünen Zuversicht meiner zwanzig Jahre. Und ich wars ja nicht allein,
dem Freund Andreas so viel zu sein vermochte. Ans dem Reichtum, dem frischen
Anteil seines Naturells heraus begleitete und förderte er die Entwicklung mehr
als eines Strebenden; ein paar jüngere Schiller seines Schwagers Rietschel erfuhren
dieselbe Wohlthat, die herzliche Wärme, die er für ihr menschliches und künstle¬
risches Wachsen hegte, ist ihnen wie mir zu gut gekommen, und einer und der
andre von ihnen lebt wohl noch und gedenkt der Freundschaft Oppermcmns mit
ernstem Dank.
Von alledem, mich von den litterarischen Arbeiten, mit denen sich Oppermann
damals beschäftigte, erfuhren die Vergnügten, die in ihm mir einen Manu sahen,
der ihnen im Vergnügen „über" war, so gut wie nichts, und selbst als in dem
hübschen Wanderbuch „Ans dem Vregenzer Wald" ein gedrucktes Zeugnis für die
stillen Stunden des Freundes vorlag, erstanden sie zunächst nur, daß er sich der¬
gleichen Stunden abgemüßigt habe. Sich aber klar zu machen, dnß in dem präch¬
tigen, lustigen und allezeit bereitwilligen Gesellschafter ein sehr ernster Mensch mit
hohem Schwung der Seele und tiefreichenden geistigen Bedürfnissen steckte, siel
den behaglichen Lebensgenießern gar nicht ein, und ich fürchte, manche von ihnen
haben noch dreißig Jahre lang mit Andreas Oppermann fortgelebt, ohne es je zu
merken.
Um diese Zeit und bis in die ersten sechziger Jahre war der Freund über-
zeugt, daß es ihm über kurz oder lang gelingen werde, in Dresden oder ander¬
wärts eine seinen besondern Kräften und Neigungen entsprechende Thätigkeit zu
finden. Er wäre gern in bescheidner Stellung in den Verwaltungsdienst eingetreten,
wenn er damit einen Zugang zum Sekretariat der Kunstakademie, eine Beteiligung
an der Verwaltung der Dresdner Kunstsammlungen hätte gewinnen können. Mög¬
lich, daß bei längerm Leben Rietschels hiervon die Rede gewesen wäre.
Doch die Tage des großen Künstlers waren gezählt. Er starb im Februar
1361 angesichts seiner kurz vorher vollendeten Lutherstatue und des großentwvrfucn,
in der Hauptsache noch unausgeführten Reformationsdenkmals für Worms. In den
ersten Jahren nach seinem Tode wurde Oppermann tiefer als je vorher und nachher
in künstlerische Interessen hineingezogen. Er hatte in den Verhandlungen mit dem
Wormser Denkmalkomitee die Rechte der Familie Rietschels zu vertreten; er wirkte
mit dem ganzen Feuer seines Wesens und der vollen Ehrlichkeit seiner Über-
zeugung für die weitere Ausführung des Denkmals durch Rietschels letzte Haupt¬
schüler Gustav Kietz und Adolf Donndorf und war so glücklich, entgegenstehende
Bestrebungen, die mit der Hereinziehung andrer Kräfte auch Rietschels Entwurf zu
Fall zu bringen hofften, entscheidend zu besiegen. Er ordnete die Papiere seines
Schwagers und begann uoch im Jahre 1861 die Ausarbeitung seines Lebensbilds,
für das ihm in Rietschels eigenhändigen Jugend erinnerungen eine köstliche Vor¬
arbeit zu Gebote stand. Er blieb der unermüdliche Ratgeber und litterarische Beistand
der an der Vollendung des Denkmals beteiligten. Seine Thätigkeit in diesen Dingen
gipfelte schließlich in der Übernahme der Festrede bei der Enthüllung des Wormser
Lutherdenkmals. Die lautere Begeisterung, die der gläubige evangelische Mensch, der
treue Freund des eigentlichen Schöpfers dieses Kunstwerks an dem Weihetag empfand,
strömte aus seiner ergreifenden Rede auf die große Versammlung über; es war
einer von den Tagen, an denen Andreas Oppermann erwies, daß das Zeug zu
einer führenden Rolle in ihm vorhanden sei, obschon er nicht danach strebte.
Denn der Ehrgeiz, der sich selbst ans die Karte des Erfolges setzt, war seiner glück¬
lich gearteten Natur vollkommen fremd. Bezeichnend schrieb er mir, als im Januar1365
die traurige Nachricht von dem Selbstmordversuch Gutzkows durch die Zeitungen ging:
„Inzwischen hat Gutzkows bejammernswerter Selbstmordversuch und sein Zustand
alle Sinne so eingenommen, daß ich effektiv an nichts andres zu denken vermag.
Welche Verirrung eines solchen Mannes, und wie ist sein Schicksal eine ernste,
ernste Mahnung, sich von der Welt mit ihren Ängsten und Nöten nicht so anfechten
zu lassen, wie es Gutzkow jederzeit gethan hat. Ruhe im Gemüt hat er bei der
Arbeitshetze, der er vollkommen unterworfen war, niemals finden können, und so
mußte er bei seinem Mangel an Naturell wohl aus Thor und Angeln gehen. Mich
wirft das Ereignis geradezu nieder."
Inzwischen hatten sich in den Jahren 1863 und 1864 Oppermanns weitere
Lcbensgeschicke entschieden. Eine Biographie Rauchs, des Lehrers Rietschels, an
die er dachte, blieb unter der Einwirkung unerfreulicher Schachzüge von Mitwerbern
ungeschrieben, doch war er später an der Herausgabe des bedeutenden Briefwechsels
von Rauch und Rietschel beteiligt. Auch andre litterarische Wünsche und Pläne
mußten zurücktreten, seit er sich nach mancherlei Zweifeln und ernsten Erwägungen
entschlossen hatte, sich als Rechtsanwalt in der Stadt dauernd niederzulassen, die er
bisher als vorübergehenden Aufenthalt angesehen hatte. Das Bedürfnis, eine unab¬
hängige Lebensstellung einzunehmen, war mit der Schärfe seiner Selbstprüfung ge¬
wachsen, er war kein weichlicher oder raffinierter Genußmensch, aber er sagte sich
und andern offen, daß er „nicht wie ein Leineweber leben könne und wolle," die
Aussicht, über die Stufe des Gerichtsrath zum Gerichtsamtmann in einem noch
kleinern sächsischen Nest befördert zu werden, erschreckte ihn eher, als daß sie ihn
reizte. So beschloß er zur Advokatur überzugehn. Er durfte der Klarheit und
Schärfe seines Blicks vertrauen, die ihn in jedem dunkeln, strittigen und zweifel¬
haften Fall immer den Hauptpunkt erkennen ließen, er hatte ein seltnes Talent der
Menschenbehandlung und bedeutende rednerische Kraft, ohne eine Spur von Zungen-
drescherei oder Schönrednerei. Die Aussicht, als Anwalt verhältnismäßig rasch zu
einer sichern Unabhängigkeit zu gelangen, wog manches Opfer auf, das gebracht
werden mußte, und wenn ihm anfänglich auch „eigen zu Mute war, nun für immer
in Zittnu festgebannt zu sein," so überwand er sich um so tapfrer, als er gleich
zu Anfang der neuen Laufbahn großem, beständig wachsendem Vertrauen begegnete.
Der Beginn seiner Nechtsanwaltschaft fiel mit einigen Abschlüssen in seinem
innern Leben zusammen. Warmen Herzens und heißen Blutes, von höchster Em-
pfäuglichkeit für weibliche Anmut und Liebenswürdigkeit hatte er sein fünfunddrei¬
ßigstes Lebensjahr nicht erreicht, ohne durch mancherlei Herzenserlebnisse hindurch¬
gegangen zu sein. Auch hier waren die im gründlichen Irrtum, die ihn auf ein
paar Äußerlichkeiten hin leichtherziger Empfindung ziehen. Ganz im Gegenteil
erwuchsen ihm aus der zähen Treue seiner Natur die bittersten Kämpfe. Er riß
sich schwer auch da los, wo er geirrt hatte, und fand die furchtbarste Erfahrung
des Lebens darin, daß „da eine leere Stelle sein könne, wo Liebe gewesen ist." —
Auch als er in Zittau, auf Grund einer herzlichen Neigung, sein Haus gegründet
hatte und wohlgedeiheude Kinder um sich aufwachsen sah, blieb ihm immer die alte
ritterliche Weise der Frnnenverehrnng, das Wohlgefallen an allen schönen, an¬
mutigen Erscheinungen. Die Anwesenheit von Frauen, die er verehrte, oder deren
Geist und Naturell er schätzte, belebte ihn jederzeit, die Abneigung großer Gruppen
Philiströser Männer gegen Frauengesellschaft war ihm schlechthin unbegreiflich, auch
der schlichtesten Frau gegenüber zeigte er gern huldigende Aufmerksamkeit. Ju
spätern Jahren beglückte es ihn, seinen schön erblühenden Töchtern allsommerlich
ein Stück Welt zu zeigen und und ihnen namentlich Regensburg, München, das
bayrische Hochland oder die Rheinlandschaften, die Stätten der eignen Erinnerungen,
aufzusuchen. In der Mischung von jugendlich bleibender Beweglichkeit und einem
behaglich-hausväterlicheu BeHaben seines spätern Lebens lag ein großer Reiz und
die Bürgschaft der tief innersten Gesundheit seines Wesens.
Durch und durch kernhaft und erfreulich zeigte sich mich die Art und Weise,
wie er seinem Beruf oblag, ans einem geachteten ein einflußreicher, vielgesuchter
Anwalt wurde, den erweiterten Kreis seiner Pflichten erfüllte und dabei doch blieb,
der er war, und sich die armselige Klugheit, die Götter seiner Jugend zu verleugnen,
weit vom Leibe hielt. Er lächelte, wenn ihm ein Bedauern ausgesprochen wurde,
daß er sein Pfund in der Provinzialstadt vergraben müsse, und meinte wohl: Gerade
die kleine Stadt kann mich brauchen, jede deutsche Stadt sollte einen Kerl wie mich
haben. Er lebte gern in den gewohnt gewordnen Verhältnissen, aber drei Jahr¬
zehnte seines Aufenthalts hatten keine einzige Eigenschaft eines Kleinstädters in ihm
gezeitigt. Nicht eine Begeisterung, von der er je erfüllt war, hatte er über Bord
geworfen, an allem, was er je mit innerlicher Teilnahme aufgenommen hatte, hielt
er fest, das Landhaus, das er sich am Waldsaum des Oybinthals erbauen ließ,
zeugte von seinem malerischen Sinn und seinem feinen, unaufdringlichen Stilgefühl.
In seiner Stadtwohnung sammelte er in Buch und Bild, in Abguß und Kupfer¬
stich seine Lieblinge um sich; auf allen Gebieten blieb er dem Großen, Echten und
Eigenartigen dauernd zugewandt. Nichts schrumpfte in ihm ein, und immer blieb
er bereit, an seinem Verständnis, an seiner Empfänglichkeit für die Kunst in jeder
Form, für so vieles geistig Mächtige auch andre teilnehmen zu lassen. Bei Auf¬
führungen, in der Gründung und Erhaltung eines Konzertvereins, in der Ver¬
mittlung von Vortragen und ähnlichen Anregungen hatte er vielleicht in jeder
deutscheu Stadt vou gleicher Größe und Wohlhabenheit einen oder auch etliche
Rivalen. Aber in der Art, wie er im geistigen Zusammenhang mit den großen
Vorgängen und Entwicklungen der Welt blieb, in der Sinnesweise und persönlichen
Haltung, mit der er eine Säule seiner Kleinstadt war und doch nie ein Klein¬
städter wurde, blieb er eine beinahe einzige und jedenfalls höchst vorbildliche
Gestalt.
Die Freundschaft, die mich in früher Jugend mit Andreas Oppermann ver¬
knüpft hatte, wurde durch seinen fortgesetzten, nie erlahmenden Anteil an meinen
Lebensschicksalen und Arbeiten, durch häufige persönliche Begegnungen, die leider
meist nur nuf einige Tage beschränkt blieben, durch einen ziemlich regelmäßigen
Briefwechsel, durch mancherlei gemeinsame Beziehungen über die Jahre und Jahr¬
zehnte frisch erhalten. Seine Briefe wären im größern Umfang mitteileuswert, sie
würden nicht minder als seine veröffentlichten Aufsätze für die Freiheit, den un¬
bestechlichen Gradsinn seines Urteils, aber auch für die warme Empfindung zeugen,
die er für ernstes Ringen um den Tag legte. Die tiefe warme Teilnahme für
mich persönlich und für mein Streben blieb sich durch die Jahre und Jahrzehnte
immer gleich. Von dem Briefe, den er mir am 13. Dezember 1363, nach Friedrich
Hebbels Tode, schrieb: „Die betrübende Nachricht von Hebbels Tode hat mich sehr
bewegt, und ich fühle mich gedrungen, dir wenigstens mit wenigen Worten zu
sagen, daß sie mich zunächst auch um deinetwillen tief geschmerzt hat. Du hast
manche Hoffnung für Gestaltung deiner Zukunft an den edeln und großen Mann
geknüpft, dies ist verschwunden. Und doch sein Vermächtnis lebt. Laß dich nicht
zu sehr bewegen. Laß, wenn der Schmerz seinen heftigsten Stachel verloren hat,
sein Beispiel dir eine kräftige Mahnung sein, ans eignen Füßen und mit den eignen
Kräften nach den höchsten Zielen zu streben. — Sein Vermächtnis an dich ist sein
Vertrauen, das er in dich gesetzt hat!" bis zu den letzten Zeilen, die ich acht Tage
vor seinem Tode von ihm empfing: „Zwischen uns, liebster Freund, steht nichts
und wird auch nichts stehen, außer meinem Alter und das mich wnrmende Gefühl,
daß du immer und immer wieder nnr als tüchtiger Geschichtschreiber und als Dichter
schöpferischer, schöner Gebilde nur in zweiter Linie aufgeführt wirst. Das ärgert
mich und macht mich verdrossen, ach! wäre ich zwanzig Jahre jünger, wie wollte
ich diesen Ärger zerfetzen!" äußerte sich seine Teilnahme hundertfältig, oft scharf
kritisch, oft lebhaft anerkennend, immer fördernd, warm und eranicklich, immer
empfänglich und doch immer fordernd und anspornend. Seine Briefe über alles,
was ich gethan und versucht, darf ich uicht hier anführen, aber ans den Gewinn
so innerlicher und nie wankender Teilnahme wohl ein wenig stolz sein. Der
einzige Mangel, der ihn in Zittau drückte, war das Fehlen von einem oder zwei
Menschen, an deren geistigem Gedeihen er Anteil nehmen und gleichsam persönlich
eine Entwicklung erleben konnte. „Wollte mir der Himmel unter den Herren
Oberlehrern doch einen latenten Lhriker ('s müßte aber ein wirklicher sein!), den
ich fördern könnte, oder noch lieber eine» von den tausend kleinen Landschafts¬
malern schicken, die das Auge haben, was Gescheites zu sehen, wenn ihnen nur
einer den Star flache! Ich glaube, ich käme noch auf meinen alten Plan, einer
Geschichte der Landschaftsmaler« zurück, der längst versungen und verthan ist,
zurück, wenn ich einen Maler hätte!" Jedem Menschen seiner Umgebung, bei
dem er einen Hauch geistigen Lebens spürte, kam er „frisch und aufgeknöpft,"
wie er sagte, entgegen. Einige Jahre hindurch wurde ihm das Glück zu teil, daß
sein Neffe, der Theolog Georg Rietschel, der gegenwärtige Leipziger Professor,
als Oberpfarrer in Zittau lebte; er that sich im Familienverkehr wie im ernsten
geistigen Austausch mit diesem weidlich genug — Rietschels baldiger Wegzug
nach Wittenberg war für ihn ein harter Schlag. Obschon Oppermann gar nicht
danach angethan war je einzurosten, seine große und immer bedeutendere Praxis
als Rechtsanwalt ihn an sich zu zahlreichen Reisen nötigte, er darüber hinaus in
jedem Jahre ein größeres Stück Welt sah und nach seiner Weise genoß, so blieb
ihm die Entbehrung eines täglichen Verkehrs, wie er ihn in jungen Jahren gehabt
hatte, immer empfindlich. Der Mann der Klagen über unabänderliche Dinge war
er «um freilich nicht, und eine Thätigkeit, die ihm unabhängiges Behagen und
seinen Kindern eine gesicherte Zukunft schuf, konnte er nie geringschätzig ansehen;
aber daß er in Stunden des Unmuts gelegentlich einmal über den Kleinkram und
die öden Geschäfte wetterte, war ihm auch nicht zu verargen.
Die Kunst in jeder Gestalt blieb ihm immer gleich teuer, und in seinem .Kunst¬
urteil sprachen wohl wie bei nlleu etwas isolierten Menschen Jugendeindrücke und
frühe Gewöhnungen ein wenig mit. Aber seine Aufnahmefähigkeit erschien doch
als eine selten mächtige. Unüberwindlich blieb ihm, dein energischen Realisten, die
rohe Frechheit und noch unüberwindlicher die zu größerer Glorie des Protzentums
in Szene gesetzte Elendskunst. Er schäumte geradezu nicht über Hauptmanns
„Weber," aber über das Publikum, das sie im Berliner Deutschen Theater be-
jauchzte. Die geistige Öde des bloßen Könnens bei einer Anzahl von Halb- und
Viertelstalenten erschreckte ihn schou lauge vor dem Beginn der modernen Bewegung.
Ende 1869 hieß es in einem seiner Briefe: „In München habe ich wenig Genuß
gefunden. Das Nest hatte sein schlechtestes Kleid und ist dann fürchterlich, und die
Ausstellung (Kunstausstellung) war sehr ermüdend, aber desto weniger erquicklich,
ein babylonischer Turmbau von allem möglichen Können, ich bin förmlich geflohen,
um wieder fortzukommen." Ihm schwebte damals noch immer die große historische
Kunstausstellung von 13S8 vor, wo er in Fr. Prellers (des Vaters) Odyssccland-
schaften, in Schwinds „Sieben Raben" und Nethels Hannibalzug förmlich ge¬
schwelgt hatte.
Völlig beglückende Kunsteindrücke brachte er Von zwei Reisen nach Belgien
nud Holland heim, er wurde nicht müde, stundenlang davon zu erzählen und seine
Hörer bei der Gelegenheit zu überzeugen, daß ihm die glänzende Gabe mündlicher
Erzählung und Schilderung, die vordem seine Kommilitonen und jüngern Küustler-
freuude entzückt hatte, auch für spätere Tage treu geblieben war. Die Kunstein-
drücke, die Oppermann in spätern Lebensjahren zu teil wurden, erschienen, im Ver¬
gleich mit der Regelmäßigkeit der frühern, mehr sporadisch. Dann überraschte doch
wieder die Entdeckung, nicht nur wie gut er gesehen, sondern auch was er alles
gesehen hatte. Er war eben blitzschnell einmal in Dresden, Berlin und München,
er verstand es, ein Paar Stunden, die ihm zwischen zwei Geschäften oder Amts¬
pflichten blieben, rasch für sein nie rastendes Bedürfnis nach geistigen Anregungen
zu benutzen. So war und blieb er denn auch ein unermüdlicher Leser. Durch
die lange Reihe seiner Briefe um mich, und ich mutmaße anch an andre, ziehen sich
motivierte Urteile und gelegentliche Bemerkungen hindurch, die von seinem immer
regen Interesse für die neuere und neuste Litteratur zeugen. Freilich die schlechte
Modernität, die uur am Neusten Anteil nimmt, war einem Menschen wie ihm
fremd. Er griff bei jedem Anlaß zum längst Vorhandnen zurück, ein Aufsatz über
Hölderlin, den ich ihm sandte, regte ihn an, sich einmal wieder tief in die elegische
Hoheit von Hölderlins Lyrik hineinzulesen.
Wurde er vou der dünkelhaften Willkür fremder Urteile gereizt, so konnte er
eine natürliche Neigung zu Paradoxen nie völlig besiegen. Wenn die jüngsten
Stürmer und Dränger die Jugenddichtungen Goethes zum Spiegel ihres Selbst
mißbrauchte», nahm er wohl die Miene an, sich am Werther und dem Urfanst
nicht mehr entzücken zu können und erklärte trotzig, der alte Goethe komme gleich
nach der Bibel und stehe hoch über dem jungen. Wenn ihm leblose und manierierte
Dichtungen durch Anlvritntsurteile aufgedrängt werden sollten, so bemerkte er nur,
daß sich „die dijfizilsten Burschen, die sich allem Bedeutenden gegenüber, das in
unsrer Zeit geschaffen wird, abweisend verhalten, sehr oft durch die gespreizteste
Gesnchtheit düpieren lassen." Er warf gelegentlich hin, er sei kein Kritiker und
ihm gefalle eigentlich alles — in Wahrheit war er eine so feinkritische als lebhaft
empfängliche Natur, und selbst seine gewagtesten oder wunderlichsten Aussprüche
gingen nie ans bloßer Laune hervor, sondern bargen regelmäßig einen Kern, über
den nachzudenken sich lohnte. Wertvoll für ihn war es, daß er immer das Ganze
aller Kunst im Auge behielt; da er fern von allen Kuustkliquen, Litteraturringen
und Lobhudelassekuranzen lebte, ließ er sich durch die bei diesen gebräuchlichen
Schlagworte keinen Augenblick verblüffen. Wer ihm mit großstädtischen Ansprüchen
von oben herunter imponieren wollte, fuhr in der Regel übel. Da Oppermann
das Vollbewnßtsein in sich trug, bedeutend freier und von größern Anschauungen
beseelt zu sein, als der Normalberliner oder der Dnrchschnittshamburger, so erschien
ihm jeder großstädtische Dünkel als eine Überhebung und Lächerlichkeit, obwohl er
natürlich recht gut die Vorzüge des Lebens in einer Großstadt zu würdigen wußte.
Lokalen Einwirkungen war weder seine Natur noch im allgemeinen seine geistige
Anschauung leicht zugänglich. Nur in seinem politischen Verhalten waren vorüber¬
gehend solche Einwirkungen zu spüren. Im Entscheidungsjahre 1866 hatte Andreas
Oppermann, trotz seiner im innersten Kern konservativen Überzeugungen, die Wand¬
lung der deutschen Dinge mit Heller Freudigkeit begrüßt. Den Brief, den er mir
lZittau, 9. August 1366) in dieser Zeit schrieb, ist nicht nur höchst bezeichnend für
seine feste Parteinahme, sondern auch für den Schwung, die rüstige Thatkraft seines
Wesens, der auf hoher Woge besonders wohl war. „Mir ist es im ganzen sehr
gut in dieser Zeit ergangen. Die ersten Tage der Kriegserhebuug — ich Ware
in Ostritz beinahe von preußischen Truppen abgeschnitten worden — hatten etwas
Beunruhigendes. Großartig war der Übergang des vierten Armeekorps über unsre
Berge. Ich kann wohl sagen, ich war von banger Erwartung für das preußische
Heer erfüllt, und mehr als einmal hatte ich an dem düstern regenvollen 25. Juni
die schwere Befürchtung, es möchten diese trefflichen Truppen in unsern Bergen
alle vernichtet werden. Zeit genug hatten die Österreicher, sie zu besetzen. Gott
sei Dank trat dieser Fall nicht ein, und mit Jubel empfingen wir die Nachrichten
vom nahen Kriegsschauplatz. Es war in diesen Tagen ein bewegtes Leben hier.
Truppendurchmärsche, Einquartierungen, Proviantkolonnen hin und her, Lieferungen,
Durchfahrt von Hunderten und Tausenden vou Fouragewageu. Im Anfang kam das
alles etwas erdrückend einem auf den Hals und konnte nicht genügend allen An¬
forderungen Folge geleistet werden. Ich war Tag und Nacht auf den Beinen
und hatte namentlich mit dem Einqnartierungsgeschnft viel zu thun. Das vom
Stadtrat organisierte Einquartiernngsbüreau erwies sich als untauglich und wurde
völlig anders gestaltet. Erleichtert wurde die Last durch die ganz vortreffliche Hal¬
tung der braven Preußischen Truppen. Offiziere und Mannschaften sind über allen
Tadel erhaben. Man empfand, daß der Kern des deutschen gebildeten Volks in
diesen an sich traurigen, doch endlich notwendigen Krieg ging. — Nachdem der
Kanonendonner verhallt war, den wir hier noch hörten, kam das menschliche Elend
in seiner grausigsten Erscheinung uns zu Gesicht. Tausende von Verwundeten zogen
Tag und Nacht vor unsern Augen vorüber. Da galts zu Pflegen und zu sorge»
und manche Not zu lindern. Ich errichtete mit andern hier einen Verein zur
Pflege, der um, leidlich organisiert, gute Dienste thut. Namentlich sind wir im¬
stande, unser Lazarett, das durchschnittlich zweihundert Schwerverwundete birgt, aufs
beste mit allem zu versorgen. Der einzige Lohn ist für alles das der Dank der
armen Menschen, die sich hier, soweit es die Umstände gestatten, wohl fühlen. Ich
bin jetzt mehr Lieferant als Advokat, ich mache alle Einkäufe an Wein, Cigarren,
Tabak, Fleischextrakt, Braten, Leinewand, unterhandle mit Schneidern, lasse Jacken
und Hosen machen, schreibe da und dorthin nach Schuhen, Stiefeln, Gummikissen,
Citronen, Apfelsinen, kaufe Zucker, Kaffee, Tabakpfeifen usw.
„Ich sage dir, manchmal war mir etwas wirr zu Mute, zumal ich im Anfang
keine Nacht ordentlich schlief, indem ich eine Nacht um die andre von sechs bis
zwölf oder zwölf bis sechs Nachtdienst und erst die dritte Nacht frei hatte, die
man aber womöglich und Offizieren verschwärmte. Dabei zu Hause Einquartierung,
bis jetzt vierundsechzig Köpfe, die gute Verpflegung bedurften. Jetzt habe ich im
Quartier den Oberstabsarzt unsers Lazaretts, einen prächtigen Kerl aus Schleswig.
Der Kommandant unsrer Stadt, ein Herr von Scvpnick, war lange Zeit in Afrika,
mit meinem Bruder Heinrich befreundet, und ein lieber, braver Geselle, Gentleman
durch und durch, aber leider ein Kneiper. Wir kneipen da nun täglich sehr viel
und lustig. Trotz mancher angenehmen Stunde, trotz des erfrischenden Lebens, das
der Krieg in unsre Stadt gebracht hat, habe ich mich sehr hinausgesehnt und be¬
neide dich, daß du zwischen den grünen Almen sitzest. Nun noch ein Wort. Ich
gehöre zu denen, die sich unbedingt über den Sieg der preußischen Waffen freuen.
Das langgekränkte, an der Nase herumgeführte Preußen, dessen Rechte seit 1815
verkümmert und verjammert waren, hat trotz dieses Drucks sich als ein zur Herr¬
schaft allein berechtigter Staat gezeigt. Es ist fünfzig Jahre lang gesungen und
gebrüllt wordein Was ist des Deutschen Vaterland? — wir wissen es jetzt —
Preußen! Unsre Verkümmerung war so groß, daß wir aus Faulheit uns in die
schwarzrvtgvldnen Träume einwebten, die eigentlich nichts waren, als die Permanenz-
erklärung deutscher Kleinstaaterei. Dem allen ist hoffentlich jetzt der erste Hieb an
die Wurzel gesetzt!"
Man muß sich eingestehn, daß der Schreiber dieses Briefs nach der Wieder-
aufrichtung des Reichs schwerlich in den Reihen der Opposition gegen die neuen
Zustände gesucht werden konnte. Nichtsdestoweniger gesellte sich Oppermann bei
spätern Reichstags- und Landtagswahlen zu den Anhängern der Fortschrittspartei.
Hier müssen lokale Einflüsse und Zufälligkeiten, die sich meinem Urteile entziehen,
mitgespielt haben. Sicher aber war es noch ein andres Motiv, das die Haltung des
Freundes bestimmte. Der stärkste Grundzug seiner Natur blieb die unüberwindliche
tödliche Abneigung gegen jede Form der Heuchelei. Nun kann anch der uner¬
schütterlichste Konservative nicht leugnen, daß es Verhängnis just seiner Partei ist,
eine schlimme Summe von heuchlerischer Streberei, von einer mit frommen Phrasen
aufgeputzten Selbstsucht mitzutragen. Wahrnehmungen dieser Art reizten auch Opper-
mann. Die Ähnlichkeit seiner Entwicklung mit der gleichzeitigen Theodor Fontanes
ist mir bei der Lesung der Fontaneschen Autobiographie uoch in letzter Zeit stark
aufgefallen.
Doch, wie das auch immer sei, der Vorstellung und dem Dogma, daß die
Politik deu Menschen der Gegenwart ganz erfülle und womöglich aufzehre, war
Andreas Oppermann um so weniger Unterthan, als seine nngeschminkte Frömmig¬
keit, seine aus allen Zweifeln sich immer wieder emporringende gläubige Natur der
irdischen Angst und Not kein so ausschließliches Gewicht beilegen konnte. Daß
gleichwohl über allen Parteihader hinaus Größe, Ehre und Zukunft des deutschen
Volkes die leidenschaftliche Sehnsucht wie des jungen Studenten so des mählich
alternden, aber immer noch jugendlich empfindenden Mannes blieb, gehört zum
Bilde seines ganzen Wesens. Politisch kauuegießeru war ihm dabei immer verhaßt,
das Wort seines Lieblings Gottfried Keller ans den Seldwhleru, daß ein gutes
Glas Wein der Lohn und die Frucht gethaner politischer Arbeit sei und nicht mit
schlechtem Geschwätz verdorben werden dürfe, war ihm ans der Seele geschrieben.
In einer humoristischen Auseinandersetzung, wie sie der Freund liebte, bewies
er uus einmal, daß die Natur des echten Philisters daran erkannt werde, daß er
Zu erzählen liebe, was er vor dreißig und mehr Jahren für ein Teufelskerl ge¬
wesen sei, und welche Streiche er vollbracht habe, während der rechte Kerl sich
darin bewähre, daß er nie von alten Streichen rede, aber gelegentlich mit einem
neuen überrasche. Dies traf auf ihn zu, als er längst in Ehren und Würden stand
und ernsthafte Dinge ernsthaft erledigte. Denn auf sein Philisterium und die kläg¬
liche Scheu vor dein, was die Leute sagen, ließ er andre nicht gern sündigen. Er
war den Fünfzig näher als den Vierzig, als eines Abends in einer Zittauer Bier¬
stube die Rede ans Scheinwvhlthtttigkeit und echte Opferwilligkeit siel, und Opper-
mann sich ereiferte und schließlich den heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem
Armen teilt, ins Gefecht führte. Darob großes Hallo unter den Leuten, die sich
nicht gern an ihre enge und kalte Auffassung erinnert sehen. Es ist von einer
armen Familie die Rede, die Oppermann mehrfach unterstützt hat, und einer von
seinen Widersachern kommt auf den Einfall zu näseln: „Na, Herr Rechtsanwalt,
der heilige Martin sind Sie noch lange nicht. Würden Sie für die arme Familie,
ich sage nicht den Rock, sondern nnr Ihre schönen Hosen hergeben?" Oppermann
springt ans: „Ich versteigre sie auf dein Platz zum besten der armen Familie!"
Helles Gelächter, als er ans ein paar besonders stattliche, ziemlich neue Winterbein¬
kleider zeigend ausruft: „Zehn Mark zum ersten!" Rasch nacheinander folgen die
Gebote, je mehr die Herren überzeugt sind, daß das Ganze auf einen Hauptspaß
hinauslaufen werde, und kein wohlbestallter Rechtsanwalt und Hausbesitzer daran
denken dürfe, die Unaussprechlichen vom Leibe zu veräußern. Die ganze Kneipe
gerät in Aufruhr, die höhern Gebote hageln nnr so, Oppermann ruft dazwischen:
„Zahlung sofort!" „Zahlung und Abnahme sofort!" klingts ihm entgegen. Acht¬
undzwanzig zum ersten! neunundzwanzig! neunundzwanzig zum ersten — zum
zweiten — Einunddreißig! — Zweiunddreißig! Zweiunddreißig zum ersten, zum
andern, zum dritten und letzte!?!" Der Versteigrer läßt seinen Hausschlüssel auf
den Tisch ausklingen, der glückliche Ersteher zieht mit sauersüßer Miene und der
Erwartung das Geldtäschchen, daß sei» unerschütterlich ernstbleibendcs Gegenüber
in das tolle Lachen der andern einstimmen, und das Ganze ein guter Witz ohne
Folge werden wird. „Bäre Bezahlung gegen Lieferung." „Gegen Lieferung!"
bestätigt Oppermann; „Kellner, meinen Überzieher!" Er streift die Beinkleider ab,
legt sie zierlich zusammen, streicht von dem verdutzten Nenbesitzer die inzwischen auf¬
gezählten zweiunddreißig Mark ein, grüßt verbindlich: „Guten Abend, meine Herren!"
und geht, während die hinter ihm Dreinlärmenden einig werden, daß er doch ein
ewiger Student, ein toller, ja beinahe ein gefährlicher Kerl bleibe, in Überzieher
und Unterhosen aus der Kneipe nach seiner glücklicherweise nahegelegnen Wohnung
zurück. Nachdem er das Entsetzen seiner Frau über diese Art Heimkunft lachend
beschwichtigt hat, schickt er noch an demselben Abend nach der Mutter der armen
Familie, zu deren Besten er den heiligen Martin gespielt, und bändigt ihr andern
Morgens in seiner Expedition die Steigeruugssumme ruhig als die Gabe "wer
lustige» Herrengesellschaft ein.
Daß seitdem in gewissen Kreisen eine gewisse Scheu herrschte, an den Unbe¬
rechenbaren die Maßstäbe der eignen Solidität und Wohlweisheit anzulegen, kann
ich meinen Gewährsmännern aufs Wort glauben. Als ich Andreas einmal mit der
Geschichte neckte, sagte er halb ernst, halb vergnügt: „Man muß den Leuten da
und dort mal zeigen, daß man anders ist, als es ihnen paßt." — Da er natürlich
im gewöhnlichen Verlauf der Dinge es an sich und der strengsten Pflichterfüllung
nicht fehlen ließ, so beruhigte man sich bald wieder und blieb nur neugierig, wo
die Flamme, die er in sich trug, einmal wieder hervorschlngen werde.
Bis in die ersten neunziger Jahre hinein blieb wie seine Arbeitskraft, so auch
sein Lebensmut, seine Lust am fröhlichen Wechsel der Dinge ganz ungemindert.
Bei drei Anlässen sah ich ihn gerade in diesen Jahren mit dem ganzen alten
Schwung seines Wesens, dem glücklichen Naturell, sich jeder guten Gesellschaft und
jeder guten Stunde mit ganzer Hingebung aupnsseu zu können. Als im Sommer
1891 das Standbild Ernst Rietschels in dessen Vaterstadt Pulsnih enthüllt wurde,
und die kleine Stadt vom fröhlichsten Getümmel erfüllt war, stand er unter den
Festgästeu in frischer Teilnahme allen voran; wie ein Clanshäuptling hatte er alle
Oppermcmns und Rietschels und Zahns, und wer sonst zum Stamme zählte, um
sich versammelt, belebte alle und fühlte sich glücklich, wie es wenige Menschen heut¬
zutage vermögen. Wieder anders, nicht minder liebenswürdig, frisch wie dreißig
Jahre zuvor, als wir uns zuerst begegneten, zeigte er sich, als wir im Herbst 1892
auf der Brühlschen Terrasse in Dresden seine silberne Hochzeit feierten, und seine
Kinder und Nichten ein von mir für den Abend gedichtetes Festspiel „Am Oybin"
vor ihm aufführten. Ein dritter unvergeßlicher Abend vereinigte uns ein Jahr später,
an einem Konzertabend, den meine Fran und Hofkonzertmeister Petri von Dresden
mit ihrem Trio im Zittaner Konzertvcrein und Stadttheater veranstalteten. Ans
all dieser Zeit, auch wenn er auf den monatlichen Reisen zu den Sitzungen der
Dresdner Anwaltskammer, deren hochgeachtetes Mitglied er durch viele Jahre war,
unerwartet auf eine Abendstunde bei uns vorsprach, habe ich nnr den Eindruck be¬
halten, daß er noch ein paar Jahrzehnte es mit jedem ans der kleinen Menschen¬
gruppe aufnehmen könne, die die Jugend in die spätern Jahre hinübergerettet hat.
Leider untergrub schon damals ein Leberleiden seine ehedem so unverwüstliche Ge¬
sundheit und nötigte zu wiederholten Badekuren in Marienbad und zu längern
Arbeitspausen in seinem geliebten Oybin. Aber jede Besserung, die infolge dessen
eintrat, schien ihm auch auf der Stelle die volle Elastizität und die fröhliche Sicher¬
heit andrer Tage zurückzugeben, sodaß bis in die letzte Zeit selbst seine nächsten
Angehörigen keine ernste Sorge hegten. Das gute Gestirn, das über seinem
Leben geleuchtet hatte, gönnte ihm im Januar 1896 einen raschen, beinahe schmerz¬
losen Tod.
Menschen seiner Mischung und seines Gepräges sind zu aller Zeit selten ge¬
wesen, sie werden es heute immer mehr, weil, was sie äußerlich erreichen können,
für Leute andern Schlags eben auch erreichbar scheint, und weil die meisten, die
sich etwa seines Geists dünken, ganz andre Ansprüche an Genuß, an Ruhm, an
Geltung stellen wie er. Was er innerlich besessen, in seinem Sinne genossen hat,
sich selbst und andern gewesen ist, danach fragen immer nnr etliche, die die Frage:
„Was ist Glück?" zumeist in anderm Sinne beantworten, als die Durchschnitts-
und vollends als die Übermenschen der jüngsten Generation. Daß ein Mann wie
Andreas Oppermann in der zweiten Hälfte des ablaufenden Jahrhunderts seine
Besonderheit bewahren, in mäßigen Zuständen gedeihen, sich voll ausleben konnte,
wird der vielgeschmähten Periode immer zum Lobe gereichen. Er war eine Indi¬
vidualität und eine Natur im Sinne einer Kultur, die mit der schärfsten Selb¬
ständigkeit sowohl die Achtung vor dem Recht der andern, als das Mitleid mit
der menschlichen Bedürftigkeit für vereinbar hielt, die sich selbst im lachenden Über-
mut und dem Kraftgefichl ein Malß setzte. Bis zuletzt flößte ihm die Verherrlichung
des gebrochnen Menschen in der litterarischen Decadence einen entschiednen Wider¬
willen ein, er forderte, wo nicht Krankheit den Willen beugte und zerrieb, vom
Einzelnen die seinen Verhältnissen entsprechende Wiedercinfrichtuug und höchste
Widerstandskraft. In eine Zeit, die keine Individuen mehr kennt, sondern nur
Typen und Massen, hätte er nicht hineingepaßt; aber er mochte auch niemals glmibeu,
daß solche Zeiten kamen, und meinte lachend, daß ein einziger genialer Satiriker
hinreichen würde, ihren ganzen Druck abzuschütteln.
Es ist möglich und würde nur zu billigen sein, daß aus seinem Nachlaß eine
Anzahl vortrefflicher zerstreuter Aufsätze und Reden gesammelt und veröffentlicht
wird. Viel willkommner lind wertvoller wäre es dennoch, wenn einige derer, die
ihn gekannt haben, ihre Eindrücke und Erinnerungen an die lichte, lebensvolle
Gestalt festhalten wollten, wie es hier versucht ist. Denn ich sage noch einmal,
ich denke nicht gering von seinen litterarischen Arbeiten und freue mich, daß sich
das Buch „Ernst Rietschel" fort und fort behauptet. Aber daß der Mensch über
dem Rechtsgelehrten, dem Anwalt, dem Schriftsteller und Kunstkritiker stand, ist
nicht mir meine, sondern die Überzeugung eines jeden, der das Glück gehabt, ihn
zu kennen, zu lieben und ein unvergeßliches, wertvolles Stück Leben mit ihm
zu teilen.
le Adresse kam; nach zwei Tagen voll Zögerns und Überlegens, ob
hier eine Pflicht zu thun sei, oder nur ihre alte Überschätzung sich
in Dinge mischen wolle, an die sie nur ein sehr bescheidnes Recht
habe, schrieb Line dem Sammler und wartete mit heißem Herz¬
klopfen acht, vierzehn Tage vergeblich auf Antwort.
Dann stand der Mann plötzlich in ihrer Stube, mitten nnter den
Lehrmädchen, die sich mit Tuscheln und Kichern noch tagelang über den Stutzbart,
das weiße Haar und das rosig frische Gesicht des Fremden verwunderten, der mit
übersprudelnder Rede zwischen Plättbrett und Rohrpuppe vordrang und dann Fräulein
Line entzückenderweise beinah drei Stunden lang ihrer Aufsichtspflicht entzog.
Sie haben mir geschrieben? Fräulein Städel, nicht wahr? — Schön! —
Sie selber? — Schön! Ich danke. Ein Brief ist immerhin etwas, aber eigentlich
gar nichts. Sehen, sehen ist Hauptsache, Alles, Einziges. — Zeigen Sie mir! —
Modell? Vielerlei? — Hin. — Ich habe noch nichts derart, aber man muß alles
sehen, was man sehen kann. Je vollständiger ich zusammenbringe, wie oft sich die
Menschen in allen Stücken irren mußten, ehe sie das Rechte fanden, desto lehrreicher
für die Mutlosen und die Spötter. Schließlich vermache ich meiner Vaterstadt die
Sammlung, und die Vergnügnngsreisenden werden sie anglotzen und sich wundern
über die Unsumme von Zeit, Kraft, Phantasie und Illusion, die Menschen so im
großen und ganzen zu vergeuden haben. Oder sie werden sich nicht wundern,
was das Wahrscheinlichere ist, denn der Mensch so gemeinhin ist stumpf. Die sich
aber wundern, das sind entweder Pharisäer, die sich klug dünken, weil sie sich das
Butterbrot fetter streichen konnten, als die Jllusionsverschwender und Wolkenschieber
oder die braven Leute, denen nichts einfällt, so viel Hochachtung sie auch vor
allerlei Einfällen haben; oder die großen Gehirne, die ein kleines Herz bewacht,
mit dem man für seine besten Ideen kein Opfer zu bringen vermag. Ich habe
Lust zum Kauf, Fräulein Stadel, mich freut die Verschwendung. Aber zeigen,
zeigen! Sehe» ist alles.
Daun sah er und war entzückt über die Stufenleiter, die so lückenlos von der
ersten schüchternen Lnftgondel bis zum goldnen Engel hinauf führte. Unbedingt
wollte er kaufe»: er bot und bot, denn er hielt Karls zurückhaltende Miene für
Geschäftsklugheit.
Line bekam heiße Wangen infolge dieser Gebote, nett, die zuerst über deu
Mann erschrocken war, sah ein Helles, warmes Licht über ihres Bübchens Haupt
aufgehn: sorglose Jugend, Eltern, die ausgiebig Zeit für ihn hatten, erfüllte
Knabenwünsche und glatte Bahn zu einer ehrenvollen Zukunft.
Ihr betroffnes Schweigen verwandelte sich in Zureden. Erst ein bittender
Blick, dann ein leises Streicheln der Hand, endlich ein geflüstertes Wort. Das
Wort wiederholte sie jedesmal, wenn der Fremde mit einem neuen Beweisgrund
für den Verkauf gegen Karl Stadel angestürmt war.
Thu es, ich bitte dich.
Line sagte nichts, obgleich ihr die Hälfte zu recht gehörte, und sie ihren Teil
dem Fremden einfach hätte übergeben können. Aber eben weil sie ein Recht hatte,
fehlte ihr der Mut. Zwingen durfte sie den Bruder nicht, das Zureden verstand
nett besser als sie, und zeigte sie ihren Willen nicht schon kräftig genug dadurch,
daß sie deu Fremden gerufen hatte?
Aber weder ihre Mahnung, noch Reeks geflüsterte Bitte, noch des Fremden
wachsendes Gebot vermochten Karl Städel das schlimme Erbe zu entwinden.
Diese Sammlung war meines Vaters Stolz, und ich bedarf ihrer zu meiner
Arbeit. Nur wenn Weib und Kind hungerten, würde ich mich zum Verkauf be¬
rechtigt fühlen. Aber ich bin Manus genug, dieses Äußerste zu verhindern.
Was der Fremde auch vorbrachte, Karls Antwort blieb sich gleich, und in ihrer
UnVeränderlichkeit wirkte diese Antwort überzeugender als eine Schar wechselnder
Gründe. Gebot und Zureden erlahmten, und sowie der Sammler die Hoffnung
aufgegeben hatte, eilte er mich, davon zu kommen; was er nicht erwerben konnte,
machte, ihm Herzschmerzen.
Draußen legte er die Hand auf Lineus Arm. Fräulein, das versprechen Sie
mir, sowie der Bruder Lust zeigt, sowie ein andrer kommt mit Knnfgelüsten, oder
sonst etwas geschieht, was ihn mürbe machen könnte, dann schreiben Sie! Können
auch telegraphieren — solange ich das Leben hab, komme ich wieder.
Drinnen in der Werkstatt aber sah nett bekümmert in Karls finstres Gesicht.
Wußte er wirklich nicht, daß sie neben ihm stand, oder wollte er sie nicht sehen in
seinen zornigen Gedanken? Darauf kam sie nicht, daß dieses finstre Gesicht der
Widerschein des Kampfes war, den er noch nicht völlig ausgefochten hatte: Pflicht
gegen Pflicht, des Vaters Erbe gegen den Lebenshansrat von Weib und Kind, ein
kaltes Stück Ehre gegen das warme Glück eines sonnigen Znhanse.
Eins mußte zu kurz kommen, das fühlte er wohl, aber er beschwichtigte sich
mit dem Nacheinander. Erst der alten Pflicht genügen, die doch immer wieder
vernehmlich anklopfen würde, und dann mit voller Kraft der neuen leben. Nach¬
holen — es ließ sich alles nachholen. Jetzt vor allem das, was er in diesem Jahre
voll Liebesüberschwang versäumt hatte.
Bist du nur böse? fragte nett leise.
Er wandte sich schnell um und sah ihr freundlich in die Augen. Wie sollte
ich, nett! Von euerm Herdplatze aus habt ihr ja recht; gut genieint ist es mich,
und dn hast nicht einmal selber geschrieben.
Aber ich habe Line» auf den Gedanken gebracht, und du hast Unruhe davon
gehabt.
Ein bischen Mühe und Kampf ist gar nicht so übel, man wird dnrch Wider¬
stand erst recht fest und sicher.
Aber ich habe dir deu Kampf mit Zureden schwer gemacht, sagte sie, in der
leisen, halb unbewußten Hoffnung, daß ihm das doch nicht so ganz glatt und be¬
quem gewesen sei.
Jetzt wurde der freundliche Ausdruck seines Mundes zum schalkhaften Lächeln.
Zureden, nett? Was wäre das für ein Mann, der nicht mit Zureden fertig würde.
Dabei streichelte er ihr übers Haar, wie einem guten Kinde, dem man gern
eine Thorheit verzeiht, weil sie keine Unart gewesen ist. Sie ließ das Streicheln
über sich ergehn; als er es aber wiederholen wollte, duckte sie sich, entschlüpfte seiner
gedankenlosen Liebkosung und war erst in der Thür fähig zu der kurzen Antwort:
Dann ist es ja gut.
Er merkte nicht, daß ihre Stimme keinen Klang hatte.
Mit der kurzen Aussprache war sein Kampf beendet; sie aber stand drüben
hinter der geschlossenen Thür und suchte mit ihrem Schrecken fertig zu werden.
Warum deun jetzt die Angst, die sie um der Kehle faßte, warum der stockende
Herzschlag, warum der Schwindel hinter ihm drein?
Was für ein Mann wäre das, der nicht mit Zureden fertig würde.
schreckte sie das? Nein; festen Mannessinn bewunderte sie so gut wie jedes
Frauenherz. Aber die gelassene Ruhe, die ihre Bitten und Reden nur wie ein
Vögelchen in: Bauer schätzte, dessen Zwitschern man zuhört, so lange es einen freut,
und dem man ein Tuch überhängt, wenn einem Schweigen bequemer ist, die zer¬
brach ihr den Boden unter den Füßen. Und daß sie sich so überflüssig fand, wo
sie gemeint hatte, sie sei sein Glück, seine Sonne, die Blüte seines Lebens! Er
nannte sie so, aber ach, er brauchte keine Blüten, er hatte sie schon einmal unge-
duldig beiseite geschoben. Nicht ihre Hand vermochte die Azalee drüben im Fenster
zu erhalten, erst als ihm selber nach Blumen zu Mute war, holte er sich die Freude
ins Haus. Und sie verschwendete diese gute Zeit. Hätten sie nicht eben jetzt
müssen im wärmsten Sonnenschein junger Liebe beisammenstehn? Sie selber war
zur Seite getreten und hatte ihn losgelassen.
Jetzt war ihr, als läge an dem Verkauf der Sammlung ihr Glück und des
Kindes Leben, tausenderlei siel ihr ein, was sie zu Gunsten dieses Verkaufs hätte
anführen können — und alles zu spät.
nett war keine Frau, die mit Schmollen, Betteln, Liebeslist und kleinen Künsten
ihr Ziel zu erreichen vermochte, ein großes Gefühl füllte sie völlig ans, und dieses
Gefühl, das jetzt mit Sturmesgewalt von ihr Besitz nahm, hätte sich nur in einem
geraden Strom leidenschaftlicher Bitten ergießen können.
Und damit meinte sie, den arbeitenden Mann am wenigsten quälen zu dürfen.
Sie faltete die Hände mit schmerzhafter Heftigkeit, sie rang mit aller Kraft um
Schweige» und erzwang es. Aber der Sturm wurf sie am Bette des Kindes auf
die Kniee, und in lautlosem Schluchzen drückte sie den Kopf in die Kissen des
kleinen Schläfers, der ihr die Augen gegen den Feind ihres Glücks zu lange ver¬
schlossen hatte.
Jetzt wußte sie, daß sie ihrem Manne die Räderarbeit nicht einfach aus der
Hand nehmen konnte, sobald sie mir wollte, jetzt gestand sie sich ein, daß der Gatte
um des Kindes willen vernachlässigt worden war. Aber nun hatte er sie auch wieder,
in dieser Stunde der Angst wurde sie aufs neue sein Weib. Sie drückte das er¬
wachende Kind mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit ans Herz und meinte mit ihm den
Vater zu umfassen.
Mein, mein! ich lasse dich nicht. —
Nach dem vergeblichen Besuch des Sammlers verdoppelten Stadels ihre
Thätigkeit noch, als wenn sie das tote Kapital an der Werkstattwnnd durch Über¬
arbeit ersetzen könnten.
Nur nicht fieberhaft, Fräulein Line, sagte der alte Kilburg, Fieber ist allemal
ein Krankheitszeichen. Ich sehe zuviel helle Feuster des Nachts, das thut uicht gut.
Dann lächelte Line mit gesenkten Mundwinkeln und gab ihm recht, aber besser
wurde es nicht. Sie kämpfte einen tapfern Kampf gegen den wachsenden Groll
und einen verzweifelten gegen die Reue um das verdorbne Modell, was beides ihr
leichter wurde bei Lampenlicht mit der Nadel in der Hand, als im Dunkel schlaf¬
loser Nächte.
Auch nett schlief wenig, aber sie lag still und lauschte mich der Werkstatt
hinüber, aus der in gedämpften Tönen das Handierer des ruhelosen Mannes
herüberklang.
Ich verkaufe sie uicht, es müßten denn Weib und Kind hungern. Das hörte
Karl, seit der Fremde dagewesen war, immer wieder, als sei der Schall seiner Worte
im Netzwerk der Modelle hängen geblieben.
Und damit es ganz sicher nie so weit komme, schaffte er mit nnlnstigem Fleiß
über Tag an seiner Brotarbeit und versäumte das Schlafengehn um seiner erfolg¬
losen Nachtarbeit mulier.
nett lag und lauschte und grämte sich. Nun glichen sich ihre Tage doch Woche
um Woche, obwohl sie den Mann nicht mehr um des Kindes willen darben ließ;
er merkte es gar nicht, ihre Besserung kam zu spät.
Eine Frau, die ihren Manu nicht beeinflussen kann, ist allemal verloren, sprach
Lineus Stimme durch die Nacht auf sie ein.
Ein Mann, dem sein Steckenpferd höher steht als sein Beruf, richtet die Wirt¬
schaft allemal zu Grunde, schalt die Mutter ans sie los.
Ein Vater, dem das Kind nicht die Krone seines Lebens ist, wird auch seine
Pflicht gegen dieses Kind versäumen, flüsterte ihr eignes Herz in die Anklagen der
andern hinein.
Und sie konnte nicht helfen, sie konnte sich nur grämen und zugeben: ja, es
ist wirklich ein Gespenst, was der Glaskasten deckt, stärker als ich, stärker als
das Kind.
Leise tastete ihre Hand nach dem Knaben, der sogleich im Traum ihre Finger
faßte und festhielt. Sie schob die freie Rechte unter das Kissen, hob ihn zu sich
herauf, legte ihn dicht neben sich und schloß die Arme um ihren Reichtum. — Vater
im Himmel, hilf du ihm, ich kaun ihm nicht helfen.
Und als hätte sie ihre Last mit dem Gebet ans stärkere Schultern geschoben,
schloß sie die Augen und schlief, das Kind am Herzen, bis in den Morgen hinein.-
Der Sommer war heiß; alle Kreatur lechzte nach Regen, aber er fiel nur
spärlich. Die Kastanien wurden vor der Zeit gelb, Frau Flörke schwitzte und
stöhnte wegen des Wassermangels und der unmäßigen Schlepperei, und die junge
Frau Apothekeriu erklärte, wenn sie jetzt nicht noch eine Sommerfrische habe, komme
sie todsterbenskrank in den Winter.
Das hätte sich der znfriedne Herr des goldnen Engels niemals verziehen.
Muhme, Provisor lind Lehrling bekamen acht Tage lang Frühstück, Mittag- und
Abendbrot mit guten Lehren gewürzt, und am nennten, dem letzten Sonntag im
August, machten sich Apothekers auf die Reise ius Seebad.
Nein so was! sie platzen wohl noch, die jungen Leute! schalt Frau Grunert,
und die denkende Schwiegermutter setzte hinzu: Jaja, Frau Nachbarin, wer was
hat, kann was ausgeben.
Ju der Schmiede ließ der Fleiß nicht nach, weder die Hitze noch die Be¬
gebenheiten bei der Nachbarschaft brachten dort ein Aussetzen und Atemholen.
Auch Vater Ackermann machte von Tag zu Tag später Feierabend: er besserte die
Wohnung auf, denn zur Zeit der Weinernte würde er ja nnn wohl die Hochzeit
durchsetzen.
Er hatte sich heimlich eine Berechnung gemacht über jedes geflickte Kleid, jede
gestopfte Socte, jedes geplättete Hemd, jeden gcbnckueu Kuchen, damit würde er
der Line an ihrem Geburtstag unter die Augen rücken. Läßt du dir nichts
schenken, laß ich mir auch nichts schenken! Er würde seine Rechnung von ihrer
Schuld abziehen, und dann konnten sie in Gottes Namen das Aufgebot bestellen.
Ein spitzbübisches Lächeln setzte sich in seinen Mundwinkeln fest, er schaffte
allerlei an zur Wirtschaftsverjüngnng und freute sich auf den Geburtstag wie ein
Kind auf Weihnachten.
Inzwischen schlug sich Line mit ihren Sorgen herum, zürnte dem Bruder in
ihrem Herzen und redete ihm da anch wieder zum Guten. Auf das eigne Glück
hatte f!e verzichtet, seit der Sammler vergeblich dagewesen war. Sie würden ja
nie aus der Not herauskommen, nett konnte ja gar nicht mit dem Unheil fertig
werden, nett würde sie ja immer brauchen; und es war nnr gerecht, daß ihr Glück
in Scherbe» ging, den« sie hatte das unselige Modell verdorben.
Besser sie täuschte sich nichts mehr vor, Hoffnung macht unruhig und begehrlich;
besser sie ertötete jeden Wunsch und kam mit dem einen ans, was ihr dann noch
übrig blieb: der Pflicht.
Nur mit Ackermann zu rede» wurde ihr schwer, aber es mußte geschehn; er
durste nicht länger auf sie wurden, er brauchte eine Fran, höchste Zeit wars, daß
sie ihn freigab.
Höchste Zeit.
Sie mahnte sich hundertmal tngüber nnter der Arbeit, allnächtlich redete sie
sich ins Gewissen, nllmorgeudlich versprach sie sich: Heute soll es geschehn. Und
immer wieder ließ sie den Tag verstreichen, immer wieder zögerte sie, das letzte
Licht aufzublasen, mit dem ihr die Hoffnung in die Zukunft hineinleuchtete.
Heute aber, heute gewiß! Ihr Schweigen that ein Unrecht an dem trefflichen
Manne.
Line stand, Kopf und Herz erfüllt von Gedanken an Atom Ackermann, in
frühster Morgenfrühe unten in der Flörleschen Waschküche und stauchte Bettzeug
in die Wanne; nett und Frau Flörke arbeiteten draußen auf dem Bleichplan. Die
ganze Angustwcische der Schmiede steckte im Wusser, und um dieses wichtigen Falles
willen waren die Frauenzimmer schon lange vor Morgengrauen bei der Hand.
Line stauchte und rang, redete sich ins Gewissen und lauschte von Zeit zu
Zeit hinauf, wo das Bübchen schlief.
Nun oben, Wand an Wand mit dem Jungen, stand ja der Vater an der
Arbeit, aber daß der Vater eiuen Ruf seines Kindes hören würde, das bezweifelte
Line, die die Stadels gar so genau kannte. Besser schon, sie gab selber acht.
Also neigte sie von Zeit zu Zeit den Kopf gegen das Waschhausfenster, oder
lief einmal hinaus, die Holztreppe halb hinauf nach dem Gange. Da sah sie das
helle Viereck des Werkstattfensters leuchten wie zu Vaters Zeiten und dahinter den
Bruder am Glaskasten hantieren.
Das Kind schlief seinen gesegneten Schlaf, und Line lief wieder hinunter und
rang die Wäsche, die nett nachher hinaus nach dem Anger holen wollte.
Heute sag ichs Ackermann, heute gewiß, ich bin es ihm schuldig. — Stück um
Stück rang sie aus der Wanne und warfs in den Korb.
Ein böser Notbehelf ists, so wie es jetzt ist. — Der Korb war voll, die Wanne
war leer, Line trat an die zweite.
Mit mir kann keiner mehr Freude haben, ich kaun das Freuen nicht mehr,
nicht mal das Bübchen macht mir das Herz so recht warm.
Als sie an das Bübchen dachte, hob sie lauschend den Kopf, und wie sie
dabei die Nase gegen die Thür richtete, kam ihr ein häßlicher Dunst zum Be¬
wußtsein.
Wir haben widrigen Wind, dachte sie, der Qualm vom Bäcker drüben schlägt
in deu Hof.
Aber der Wind kam nicht vom Bäcker. Über das hohe Dach des goldnen
Engels strich er herüber, und der Qualm drängte sich durch Läden und Sparren
dieses Dachs und suchte sich eiuen Ausweg nach dem Seitengebäude, wo die guten
Gaben des Sommers nützlicher Verwendung entgegen trockneten.
Seltsam, dachte Line, so arg war das doch noch nie? Sie stauchte das Hemd
ius Wasser zurück und trat auf den Hof.
Der schwache Dämmerungsschein über des Bäckers Hans war ungetrübt, nicht
das kleinste Rauchwölkchen lag auf der Esse. Line wandte den Kopf.
Da! Da wars! Ein, zwei brandrote Angen stierten vom Drogenspeicher zu
ihr herab, jetzt schon das dritte, und unter dem festen Schieferdach der alten Apo¬
theke hatte das Unwesen anch einen Ausweg gefunden, dick und braun quoll es
empor, von ausstoßenden, znrnckzuckeudeu Flammenzungen erhellt: der goldne Engel
streckte feurige Arme aus, uni Ackermanns Schmiede zu erwürgen.
Einen Augenblick lang erstarrte Line im ersten jähen Schrecken, dann rief sie:
Feuer.
Aber die Stimme klang heiser und hilflos dünn, trotz der Morgenstille
ringsnm.
Feuer! rief sie noch einmal, rannte die Treppe hinauf und schlug an des
Bruders Fenster, rannte an Ackermanns Schlafzimmer und donnerte gegen die
Laden, riß Professor Kilbnrgs Klingel entzwei, lief zur Wäsche zurück, stopfte sie
in die Körbe und trug sie hinaus ins Freie.
Ackermann und seine Jungen waren schnell wach und bei Sinnen, im Nu
war Leben auf dem Hof an der Stadtmauer. Aber da war er auch schon taghell
von der prasselnden Lohe erleuchtet, die mit einer großen Stichflamme Besitz von
dem Kräuterboden ergriffen hatte.
Ackermann jagte einen Jungen nach der Feuerwache, einen zweiten nach dem
Bleichplan, dann trat er zu Limen, die ihn fassungslos ansah: was nun?
Nichts, Line, da ist keine Hilfe, der goldne Engel frißt uns auf, und mit Ihnen
fängt er an. Holen Sie sich heraus, was unersetzlich ist, aber machen sich kurz.
Da stand sie schon wieder allein.
Unersetzlich?
Das Kind! Barmherziger Gott, das Kind! Schon war das Dach über des
Bruders Wohnung Flamme, schon brannte der Bretterweg, über den das Unheil
in so vielerlei Gestalt gelaufen war. Die neue Thür wehrte sich uoch, ihr'Holz
hatte noch Leben, aber rechts und links fraßen sich die Flamme» mit unheimlicher
Schnelle durch das morsche Faserwerk.
Das Kind! — Karl stand bei seinem Modell, als sie ihn rief — hatten nicht
allezeit die Stadels Weib und Kind über ihrem Luftschiff bergessen?
Eine sinnlose Angst packte sie: ersticken konnte es, verbrennen — sie flog den
Hof entlang bis zu der kleinen Treppe, strauchelte auf der untersten Stufe, raffte
sich auf, stürzte weiter hinauf, fiel in die Kniee und mußte sich an dem glühenden
Pfosten halten.
Thränen traten ihr in die Augen, sie hatte dem Bruder Unrecht gethan, Gott
sei gelobt! Was er dort in seinen Armen zur Wohnzimmerthür hinaus nach der
Küche trug, war uicht das Modell: das Kind wars, dessen goldige Löckchen, dessen
schlafrotes Gesichtchen grell von den zuckenden Flammen angestrahlt wurden.
Gott sei gelobt, sagte Line noch einmal, dann stand sie auf, ruhig, Herr ihrer
Glieder und ihrer Gedanken: das Feuer hatte seinen Schrecken für sie verloren.
Nun das Kind geborgen war, schienen ihr Karls Arbeiten das Nötigste —
das blieb wenigstens sicherer Geldwert. Sie ging in die Werkstatt, packte schnell
in einen alten Handkoffer, was an Fertigen, an Entworfnem, an Skizzen, Papieren
und Handwerkszeug um sie her stand, und trug ihn hinaus.
nett kam eben atemlos nach Hause und wollte herauf.
Bleib unten! rief Line, Karl und das Kind sind hinaus — hier brennt schon
alles! Da hast du Karls Arbeiten! — Der Koffer flog hinunter. — Pack nnr vorn
die Schneidersachen der fremden Leute zusammen, und das Blechküstchen oben ans
der Kommode — ich bin einmal hier.
Ein paar Kleider für Buhl! schrie nett hinauf durch den Lurn der hernn-
rasselndeu Spritzen, raffte den Koffer auf und lief ins Vorderhaus.
Line packte im Schlafzimmer zusammen, was sie in den Deckelkorb zwangen
konnte, und warf ihn dem Koffer nach, der zeternden Frau Flörke beinah uns den
Kopf. Dann lief sie zurück; die kleine Hnnsknsse Reeks steckte sie in die Tasche.
Halt! — hatte nicht Karl seine Uhr und etwas Geld zumeist in der Werkstatt?
Sie lief noch einmal hinüber.
Vorm ersten Anblick schrak sie in der Thür zurück: das Feuer war in den:
Raum, der nun wahrlich einer Hexenküche glich; die Modelle zitterten und seufzten
in dem glühenden Hauch, der in der einen durchgebrannten Ecke von der Decke
herabkam, spukhafte Schatten flackerten an der Wand hin und wieder.
Line flog nach dem Zeichentisch, nahm Geld und Uhr und flog zurück; auf
der Schwelle aber mußte sie sich noch einmal wenden.
Eine wilde, triumphierende Freude erstickte in diesem Augenblick jedes andre
Gefühl: dort stand der Feind ihres Lebens, der Glasdeckel lag am Boden, Kranz
und Gondel, Propeller und Steuerreifen leuchteten deutlich zu ihr herüber.
Die wvhlgeputzten Wderchen und Haspen flimmerten fröhlich im Lichte des
Feuers, das ihnen ans Leben wollte, und Line stand, erfüllt von Grauen und Ent¬
zücken, und konnte sich von dem Anblick nicht trennen.
Nun waren sie frei, nun waren sie erlöst, Gottes Hand faßte zu und zer¬
drückte den Unhold — Gott vergab ihre Schuld.
Wie sie aber so stand und die Flammen näher und näher herankommen sah,
schwand ihre Freude; dasselbe Gefühl beklemmte ihr Herz, das sie vorhin auf der
Treppe straucheln ließ, als sie das Kind in Gefahr wähnte. Nicht mehr der Feind
ihres Glücks, des Vaters Liebling und Vermächtnis wurde bedroht, sie meinte den
Schatten des alten Mannes klagend um das Modell irren zu sehen, sie meinte
seine Augen aus den Flammen herabglühen zu sehen, sie hörte das Krachen jenes
Donners wieder, unter dem er den Todessturz gethan hatte, und als die Flamme
jetzt auch die Wand durchbrach, sofort mit weitausgestrecktem, glühendem Finger an
den Holzengel zu Häupten des Modells rührend, entfuhr ihr ein Angstschrei, als
habe sie lebendiges getroffen.
Sie faßte deu Deckel, stülpte ihn über das Räderwerk, umfaßte es mit beiden
Armen und trug es fliehenden Fußes hinaus.
Ju der Außenthür prallte sie zurück. Der Gang in seiner ganzen Länge
war von den Flammen ergriffen, wie Feuerholz brannten Geländer und Dielen¬
bretter, allzu gut von der Augustsonne ausgedörrt.
Line lies durch Schlaf- und Wohnzimmer; dort war ein Fensterchen nach der
Küche hinüber, die im festern Vorderhaus lag. Mit prüfendem Blick maß sie die
Weite — sie allein hätte vielleicht hindurch gekonnt, das Modell aber unmöglich.
Lieber wollte sie versuchen, von der Gnngthür aus hinüber auf die Küchen¬
schwelle zu springen. Sie hatte das als Kind oft im Spiel fertig bekommen:
schiefhiu, von Schwelle zu Schwelle, ohne den Gang zu berühren. Nur daß da¬
mals der Gang keine Flammenstraße gewesen war, und die freien Arme dem
schwingenden Kinderkörper als Flügel gedient hatten.
Das Modell gegen die Brust gedrückt, die Augen starr auf die offne, grell¬
beleuchtete Küche gerichtet, wagte Line den Sprung. Nur um ein weniges geriet
er zu kurz, aber der Fuß glitt ab von der Schwelle, und der scharfe Stoß dieses
abgleitenden Fußes brach die Gangbretter durch. Line stürzte ohne einen Laut in
den Hof hinab.
Bei dem Klirren des zerbrechenden Glases wandte der Fenerwehrmnnn, der
von der Stadtmauer ans den Schlauch nach den Flammen richtete, den Kopf und
sah herüber; mit kurzem Strahl löschte er die brennenden Kleider. Ein zweiter
von der Bergnngsmannschaft kam aus der Schmiede heraus, um der Gestürzten
aufzuhelfen. Aber helfen konnte da keiner mehr, Line Stadel war tot: den goldnen
Engel im Arm, hatte sie sich zu Tode gestürzt.
Vorsichtig hoben sie sie auf und trugen sie zur Witwe Grunert hinüber, wo
anch das Kind seine Zuflucht gefunden hatte; um den Haufen Glasscherben und
verbogner Drähte kümmerte sich keiner, der lag und blieb liegen; die glühenden
Bretter des Ganges brachen über ihm zusammen, Dachziegel schlugen ans ihn
herunter, Wasserströme verschwemmten ihn mit Asche und Erde zu einem unentwirr¬
baren Klumpen. Diesmal blieb nichts von dem Modell übrig, woran sich tastendes
Ungeschick hätte anklammern können.
Als die Sonne über des Bäckers Dach emporstieg, um zu sehen, was ihr da
unten so verderblich ins Handwerk Psusche, war das Feuer bewältigt. Grundstock
von Apotheke und Schmiede standen noch, verrußt, durchweicht, zerzaust und trutzig,
wie zwei Gegner nach einer Rauferei; was dazwischen gelegen hatte von Gängen
und Schuppen, Werkstätten und Böden, von Lauben, Schaukeln, Kindheitserinne-
rungen und Gespeustergraucn war verbrannt: Asche und Rauch war der Rest.
Die Menschen, denen das Feuer die Wohnstätten geraubt hatte, suchten sich
eine Unterkunft und fingen mit unverwüstlichem Mute an, sich die Zukunft zurecht
zu legen. Nur denen aus der Schmiede wollten die Gedanken nicht vorwärts, sie
blieben bei dem Totenbett stehn.
Aber das Leben läßt keinen still stehn und sich besinnen, es ruft und treibt
weiter. Karl Städel gönnte es am wenigsten Ruhe, das Feuer trieb ihn aus
seinem stillen Winkel ins helle Leben hinaus. Und er wehrte sich nicht mehr.
Seit anch die Schwester dem unersättlichen Luftschiff zum Opfer gefallen war, meinte
er, es stehe schon wieder dn, nach neuem greifend; aber nun war es übergenug,
Weib und Kind durfte es nicht auch noch packen. Das Grauen brachte ihn zum
Entschluß. Ohne Zögern verkaufte er das Wrack und die Berechnungen, die sich
unter den geretteten Entwürfen fanden, beschämt strich er die Versicherung für die
verbrannte Sammlung seines Vaters ein und bezahlte damit Ackermnuu den Rest
der Schuld; eilfertig verschrieb er sich Meister Wendelin, der mit beiden Händen
Zugriff.
' , Drauf sah er sich im Leben um und erschrak vor den leuchtenden Farben, in
die sich seine Zukunftshoffnungen kleiden wollten — und duckte sich wieder.
Noch wußte er sich nicht zu bewegen in dem Gefühl uneingestandner Erleichte¬
rung, noch fühlte er die Stellen, wo ihm die abgefallnen Ketten an den Armen
gesessen hatten. Als er aber die drei Hände Erde ans Lineus Sarg fallen ließ,
wußte er, daß das Feuer ihm eine Last von Schultern und Herzen genommen
hatte, der er uicht gewachsen gewesen war, und seiner ruhigen Dankbarkeit schien
es, als habe die Schwestertreuc alle Schatten seines Lebens mit hinunter genommen,
und seine Sonne schickte sich eben zum nufgehn an für einen klaren, goldnen Tag.
Ackermann deckten die rollenden Schollen Licht und Freude zu; so lange sie
neben ihm stand, fühlte nett den Verlust der Schwägerin mit seinem Herzen, und
als er sich endlich vom Grabe wegfand, blieb sie an seiner Seite und ging mit
ihm durch Gassen und Gäßchen, bis er in den alten Hof hineintrat und dort tief¬
aufatmend stehn blieb.
Da standen sie neben einander und sahen sich um: schwarz war die Stadt¬
mauer, schwarz das leergebrannte Geviert, hie und da stieg noch eine kurze Rauch¬
wolke aus dem Schutt auf, und eine Feuerwache stand dort, wo ein Menschenleben
lang der verbrannte Holzengel auf die Luftschifferwerkstatt herabgelächelt hatte.
nett sah unverwandt auf den Platz, der noch vor wenigen Tagen den ganzen
Inhalt ihres Lebens umschloß; hier fühlte sie am innigsten, daß Line allzeit an
ihrem Glück gehalten und gestützt hatte, aber siegreich über aller Betrübnis blieb
das Bewußtsein: Mir hat die Flamme goldne Früchte gereift. Und als Ackermann
inmitten seiner Brandstätte wehmütig sagte: Ja, Frau nett, aufbauen werden wir
das schon, aber was tot ist, wird nicht wieder lebendig; da dachte nett ebenso sehr
an das Modell wie um die Schwägerin.
Das vor allem war tot und würde nie wieder lebendig werden. Seit Karl
sein Bübchen aus dem brennenden Hause getragen hatte, hielt es den Vater ganz
fest mit kleinen, lebendigen Händen.
Als nett hinüber zu ihnen kam, saß ihm das Kind schon wieder auf dem
Knie; nun sprang er auf und umschloß mit dem freien Arm auch sein Weib.
Arme Line! sagte er dabei. An sich selbst dachte sie immer zuletzt.
Aber warum sie das gehaßte Modell hatte retten »vollen, das begriff er doch
uicht so recht. Der Feuerschreck mußte sie rein verwirrt haben.
Ackermann verstand es besser. Er sagte nicht: Arme Line; ihren Namen brachte
er noch nicht wieder heil über die Lippen.
Das hatt ich mir nun anders gedacht, sagte er nur und meinte, in jedem Sparren
und jedem Brette des Seitengebäudes sei eine Erinnerung an sie mitgestorben.
Am liebsten hätte er das ganze Gewinkel wieder aufgeführt, genau so, wie
es seit alters dagestanden hatte, so recht der wohlbereitete Herd für einen Schicksals¬
funken. Aber da standen die fünf Jungen um thu her, die nichts von gestern
wissen wollten, sondern seine Sorge für morgen verlangten.
Ja ja, sagte er, dem Jüngsten über den Kopf streichend, ich bin da, ihr sollt
nicht zu kurz kommen. Wenn auch der Gaug, über den das Unheil so gern lief,
in meiner Erinnerung feststeht mit jeder Bohle und jedem Nagel, in Wirklichkeit
will ich euch ein ordentliches, nutzbares Haus hinsetze», einen Schutzwall gegen den,
goldnen Engel.
Jakob Burckhnrdt und Gottfried Kinkel. Ist man nach dem Tode
schutzlos der Gefahr preisgegeben, daß vertraute Briefe, die man vor lauger Zeit
geschrieben hat, ohne Schonung an die Öffentlichkeit gebracht werden?
Jakob Burckhardt schrieb in seinen letztwilligen Verfügungen wörtlich: „Man
soll vor allem auf keine Weise die Hand bieten zur Abfassung und vollends zur
Veröffentlichung einer Biographie, dergleichen sehr bald zu Makulatur zu werden
pflegt. Mau soll nicht Litteraten in meinem Nachlasse wühlen lassen, wie dies schon
Erben aus übel verstandner Pietät gethan haben. Dasjenige Andenken an mich,
welches mir erwünscht ist, mag allmählich aussterben mit denjenigen, welche sich
meiner noch unmittelbar erinnern."
Wie er ferner von der Veröffentlichung von Briefen dachte, sagt er selbst in
der „Kultur der Renaissance" bei Gelegenheit Petrarcas: „ . . . übrigens mag sich
der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten von Briefwechseln be¬
rühmter Männer noch fünfzig Jahre so fortgeht, so wird die Armesünderbank, auf
welcher er sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft erhalten."
Demgemäß sahen sich Burckhardts Hinterlassene nußer stände, Herrn Dr. Hans
Trog sür seine treffliche biographische Skizze Material aus der vorhandnen Korre¬
spondenz zu geben, obwohl die Arbeit in erster Linie für die bestimmt war, die
sich des Verstorbnen noch unmittelbar erinnerten.*)
Aber man entgeht seinem Schicksal nicht. In der „Deutschen Revue"
(Januar 1S99) publiziert Herr R. Meder-Krämer unter der Überschrift „Un¬
gedruckte Briefe" (gerade als ob Briefe unter der Voraussetzung des Druckes ge-
schrieben würden) eben die Briefe Burckhardts, deren Vernichtung dieser am
dringendsten würde gewünscht haben, die an Kinkel; und er thut dies nicht mit
diskreter Auswahl dessen, was wirklich allgemeines Interesse haben könnte, sondern
mit philologischer Akribie, und zwar einer solchen, die ihn sogar nötigt, ein sie
beizufügen, wenn der junge Bnrckhnrdt das Verbum „spuken" der oberdeutschen
Aussprache entsprechend schreibt oder sonst ein Versehen begeht, das man still¬
schweigend hätte korrigieren können.
Und nun muß die Welt wirklich im Vertrauen gethane, unmutige Äußerungen
über eine Dame lesen, in deren Haus Burckhardt im Jahre 1342 angestellt war,
und vou der vielleicht noch nahe Descendenten am Leben sind, sie muß über eine
Familienangelegenheit des Schreibers unterrichtet werden, sie muß Zeuge sein, daß
er in burschikosen Tone über Ranke, der einen für eine Zeitschrift gewünschten
Artikel nicht liefert, das Wort „Halunke" braucht und von seinem wahrhaftig innig
geliebten Basel in einem nur aus Rücksichten des Augenblicks verständlichen gering¬
schätzigen Tone spricht, und bekommt eine ganze Anzahl von jugendlichen Urteilen
in den Kauf, die Burckhardt wenig Jahre nach jener Zeit nicht mehr so würde
ausgesprochen haben. Wer Vnrckhardts feine Empfindung für das Schickliche, wer
sein Grauen vor litterarischen Taktlosigkeiten kannte, mag sich einen Begriff davon
machen, welcher Gefallen ihm mit diesem Abdruck gethan wird.^) Wahrhaftig dn
steht es Seite 89 für alle Welt zu lesen: Burckhardt nennt Ranke einen Halunken!
Vernünftige Leute wissen schon, wies gemeint ist. Aber verstehen alle Spaß, und
wollen ihn alle verstehn?
Das Ärgste aber wäre für Burckhardt, daß seine naive jugendliche Begeisterung
für einen Mann der Welt preisgegeben wird, dem sie durch einen Irrtum gehört
hatte. Woher weiß Herr Meyer-Krämer, daß er Kinkel nur in „wachsendem Mi߬
verständnisse durch die grundverschiedue Auffassung politischer Dinge und Pflichten"
entfremdet worden sei? Burckhardt wenigstens wußte es anders, und die flagrante
Taktlosigkeit, die man gegen ihn begangen hat, nötigt uns mit der Aufzeichnung
hervorzutreten, die er selbst über sein Verhältnis zu Kinkel gemacht hat, als nach
dessen Tode erst F. Althaus in „Nord und Süd" (Februarheft 1883, S. 242 f.)
und später noch einmal der Sohn G. Kinkels (Berliner Tageblatt, 30. Mai 1337)
durch Veröffentlichung eines Kinkelschen Briefes diese Sache in unzarter Weise be¬
rührt hatten. Zum Verständnis von Burckhardts Abwehr sind wir genötigt, diesen
auch zu reproduzieren. Er ist aus der Spandnuer Gefangenschaft an Fräulein
Auguste Heinrich gerichtet, die in Basel gewesen war und dort Burckhardt nicht
aufgesucht hatte, aber in gewisse» deutschen Kreisen neben allerlei Klatsch sein Ur¬
teil über .Kinkel muß vernommen und diesem dann weiter gemeldet haben. Kinkel
schrieb darauf wörtlich:
„Was Sie mir über Burckhardt erzählen, hat mich gar nicht frappiert. Er
ist guancl mßmo der liebenswürdigste Mann, den ich je gekannt habe. Absolut
Historiker, sieht er in allem das Positive, ganz wie sein großer Lehrer Ranke.
Auf diesem Standpunkt kann man nicht Partei nehmen, nicht hassen, nicht sich be¬
geistern, denn ein Recht haben alle Parteien, sonst bestünden sie nicht. Nun ist
Burckhardt daneben ein Virtuos des Genusses, ein feinster Kenner des Ästhetischen;
er beutet die ganze moderne Kulturwelt zu seiner geistigen Bereicherung ans, ohne
je von ihr geniert zu werden — wie ich z. B, nicht glaube, daß er je die Sorgen
einer Ehe auf sich nehmen wird. Eigentlich stellt er sich zu aller Kultur gerade
so nonchalant wie nach Ihrem Briefe zur Basler Gesellschaft: aber Stolz ist das
nicht, sondern nur die Kühle einer am Ariadnefaden der Geschichte jedes Labyrinth
moderner Verhältnisse lächelnd durchschreitenden, ganz reifen, ganz ruhigen Bildung.
„Denn Burckhardt weiß alles; er weiß, wo am Comersee die süßesten Trauben
reifen und sagt Ihnen zugleich aus dem Kopfe, welches die Hauptquellen für das
Leben des Nostradamus sind. Er schreibt eine lateinische Abhandlung über Kriegs¬
züge des Karl Martel in der Eifel, von denen bisher keine sterbliche Seele etwas
wußte; dann legt er sich aufs Svfn, raucht ein Dutzend feiner Manillaeigarren
und schreibt, gleich ins Reine, eine poetisch-phantastische Erznhlnng von der Lieb¬
schaft eines Kölner Kurfürsten mit der Tochter eines Alchymisten. Wer kann ver¬
langen, daß solch ein reiches, genußvolles Leben sich enthusiastisch zwischen die
Bajonette der modernen Geschichte werfe? Er haßt schon im Frenndcslebcn jeden
Streit, geht in der Wissenschaft den Kontroversen ans dein Wege und hat seiner
Zeit in seinem Blatte Jesuiten und Sonderbund verteidigt, bloß damit es von
Bern her nicht zum Klappen käme, wie es denn freilich doch trotz allen Burck-
hardts gekommen ist. Ich kann seine Freundschaft, ^) so lange er sie mir nicht
aufkündigt (und dazu hat er die Seelenstärke niemals), nimmermehr aufgeben, denn
ein Mensch, der alles kann, ist allzu unschätzbar, und die Stunden, bei ihm ver¬
bracht, sind unter den köstlichsten meines Lebens. Daß er Sie nicht besuchte, lag
einfach darin, daß er mit Ihnen über mich jetzt nicht sprechen wollte — und ich
bin so wenig Fanatiker, daß ich ihm, wie nnn einmal seine Natur ist, das nicht
verdenke..."
Wie schief hier der Mensch und der Historiker Burckhardt beleuchtet ist, der,
wenn eiuer, Liebe und Haß kannte, nur freilich ohne sie sich durch Richtungen der
Gegenwart diktieren zu lassen, darüber sprechen wir nicht und wollen anch kein
Wort über die feinen Manillaeigarren verlieren, die der spartanisch eiufciche Burck¬
hardt soll zu genießen gepflegt haben. Wir wollen nnr ihn selber sprechen lassen;
er schrieb darauf hin:
„Es giebt Leute, die jemanden, der mit ihnen gesellschaftlich heiter nud ge¬
mütlich verkehrt hat, sich völlig verfallen glauben. Ein solcher soll dann in allen
Dingen zu ihnen gehören und namentlich sich zu ihnen bekennen.
„Kommt hierzu noch eine ins bedenkliche gesteigerte Eitelkeit, so wird man zum
Anhänger, zur Seitenkulisse, zum Adjutanten deklariert. Ich bin aber hierin
immer sehr viel demokratischer gesinnt gewesen als der Professor Kinkel und habe
nie eine andre Geselligkeit geschätzt als die, die ans vollkommner Gleichheit beruht.
Allen Verkehr, der mir dies nicht gewährte, habe ich von jeher gemieden, oder,
wenn man mir ihn aufdringen wollte, abgelehnt.
„In der Jugend läßt man fünf gerade sein, später nicht mehr.
„Nun zählt mich Professor Kinkel auch noch samt Lübke und Riehl zu seinen
Schülern. Die beiden verehrten Herren mögen sich ihrerseits hierzu verhalte» »ach
ihren Überzeugungen; ich für mich erkläre, daß ich wenigstens in der Kunstgeschichte
ungefähr so viel wußte als er, als ich ihn 1841 kennen lernte. Daß ich über¬
haupt Anregungen von ihm empfangen, leugne ich nicht; in seinen freien Stunden
war er ein Mensch vo» vielem und angenehmem Geist.
„Vollends ungehörig und komisch aber war seine Meinung, als Hnupt- und
Mittelpunkt einer rheinischen Dichterschule zu leben. Es ist möglich, daß die schrift¬
liche Sammlung des »Maikäfers«, die unsre damaligen Produkte enthält, noch vor¬
handen ist, und bei dem absolut rücksichtslose» Drnckcnlnssen der heutigen Zeit noch
einmal hervorgezogen werden soll. Für diesen Fall erkläre ich die von mir
stammenden Beiträge öffentlich für Schund und protestiere auf alle Zeiten gegen
Veröffentlichung derselben, ersuche much die Meinigen in diesem Falle einen Prozeß
anzustrengen.
„Der soll sich melden, dem ich etwas versprochen und nicht gehalten habe.
Professor Kinkel freilich nahm an, daß ich und andre ihm ins Unbestimmte hinein
verpflichtet seien. Schon lauge vor seiner Katastrophe hat sich mehr als einer von
ihm abgewandt. Er behauptet, ich hätte nicht den Mut ihm abzusagen, legt aber
hierbei eine erstaunliche Vergeßlichkeit an den Tag, da ich ihm im Frühjahr 1847
zu Berlin mit den deutlichsten Worten gekündet habe: »Du gehst auf Wegen, dahin
ich dir nicht folge» will.«
„Seine politischen Sachen beurteile ich hier nicht. Wer den Manu kannte,
mußte aus seiner sonstigen Richtung ans Anfnhrerschaft und aus der allmählichen
Unmöglichkeit, auf andern Gebieten eine solche z» erreichen, das Schicksal voraus
erraten.
„Deshalb, weil ein Brief in der Gefangenschaft geschrieben ist, hat er noch
keinen besondern Anspruch auf Geltung und thatsächliche Genauigkeit. Die geheime
Erbitterung über mich, womit derselbe abgefaßt ist, hängt, ohne daß Professor
Kinkel vielleicht sich dessen genau bewußt ist, gerade an dem Gefühl, daß ich mich
völlig richtig gegen ihn benommen hatte. Wenn man aber einen solchen Brief
geschrieben hat, der noch in dritter Hand ist, sucht man sich in spätern Zeiten
dem Opfer nicht mehr so angelegentlich zu nähern, wie Professor Kinkel bei seiner
Rückkehr ans England l3K5 oder 13V6 gethan hat. Er besuchte mich und wünschte
auf alle Weise das alte Verhältnis zu erneuern. Ich empfing ihn damals und bei
spätern Besuchen vou Zürich aus freundlich, aber vorsichtig. Da ich ihn nie in
Zürich besuchte, trotz mehrfach geäußerten Wunsche, ließ er mich links stehen.
Dafür mag sich meinetwegen ein neuer Groll über mich gesammelt haben. Wer
über einen andern einen solchen Brief geschrieben hat, soll nicht mehr mit dem¬
selben wieder anknüpfen wollen!"
Auf dies hin wird man hoffentlich wenigstens den Abdruck von Burckhardts
„sechzehn Nummern Lyrik" unterlassen, wenn man einmal auch den „Maikäfer"
der Welt mitteilt, wie man ja nicht anders können wird.
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das '2. Werteljnhr ihres S8. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postnnstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr !> Mark. Mir bitten, die Gestellung schleunig zu
rrucurru. Unsre Freunde und Zescr bitten wir, sich die Verbreitung der Grenzboten
angelegen sein zu lassen.
Zrivzig, im März I8WDie Verlagshandwng