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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
57. Jahrgang
Zweites Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. tons. Grunow
1898
(Die mit' bezeichneten Bücher sind tu grösicrn Anfsiihcn
behandelt worden)
n unserm demokratischen Zeitalter kommt es viele oft schwer an,
nicht dem häßlichen demokratischen Neide zu verfallen, der nicht
eher richt, als bis er alles Große weggekrittelt oder weggespottet
hat, um endlich zu dem ebenso erbärmlichen wie trostlosen Er¬
gebnisse zu gelangen: es giebt nichts, wovor der gewöhnliche
Durchschnittsmensch Hochachtung und Bewunderung empfinden müßte, auch die
sogenannten großen Männer sind eben doch nur Menschen wie wir und unsers-
gleichen gewesen, und sie hätten nichts vermocht ohne die Massenbewegung,
die sie getragen hat.
Das Umgekehrte ist richtig; ohne führende Geister ist eine Massenbewegung
noch niemals zum Ziele gelangt, und die Zukunft Deutschlands wie der Welt
beruht keineswegs auf der fortschreitenden Demokratisirung der Volker, sondern
darauf, daß trotz ihrer überall eine Geistesaristokratie die Leitung behauptet
oder in ihre Hände bringt. Denn je verwickelter die innern Verhältnisse
der Kulturstaaten werden, je mehr sie alle in die entferntesten Weltbeziehungen
verflochten werden, desto weniger ist die große hart arbeitende Masse trotz
aller sogenannten Bildung, die man ihr einzuflößen versucht, noch imstande,
sie zu übersehen oder gar zu leiten, und daher wird die Zukunft nicht den
Völkern gehören, die in der politischen Demokratisirung am weitesten gegangen
sind, sondern vielmehr denen, die sich von einer wirklichen Geistesaristokratic
leiten lassen.
Die „Aristokratie" ist nach der Bezeichnung der Griechen, die diesen Begriff so
gut wie fast alle politischen Grundbegriffe geschaffen haben, die Herrschaft der
«5>et?rot, der „Besten." Aber diese „Besten" sind zu verschiednen Zeiten sehr
verschiedne Leute gewesen. In mittelalterlichen Zeiten, d. h. in solchen, wo
der Grundbesitz bei weitem den wichtigsten Teil des Besitzes überhaupt bildete,
also auch allein wirtschaftliche und darüber politische Macht gab, wo der
Verkehr von Stadt zu Stadt, von Landschaft zu Landschaft noch sehr gering
war, wo daher der zwischen den einzelnen politischen Gruppen herrschende
Zustand nicht der Friede, sondern der Krieg war, da waren die „Besten" die
großen, zugleich waffentüchtigen Grundbesitzer, und die natürliche Form des
Staats war die Herrschaft eines ritterlichen Grundadels. Das sehen wir in
der altgriechischen Welt während der Zeit, die uns die homerischen Dichtungen
mit so lebensvoller Klarheit vor Augen führen, und während der ihnen folgenden
Jahrhunderte, als aus dem Kampfe der «'^50,. gegen die „Schlechten" die
leidenschaftlich zornige Lyrik des Theognis entsprang, und diese Zustände
erhielten sich auch später überall da, wo sich die Voraussetzungen erhielten, wie
im spartanischen Kriegerstaate, dem Staate eines militärischen Adels, der keinen
Verkehr und keinen Geldbesitz kannte. Wir sehen es in Rom, dessen Größe
von der grundbesitzenden Aristokratie der iwdilss begründet wurde und sich
erhielt, so lange diese „Herrschaft der Edeln" bestand; wir sehen es endlich
im abendländischen Mittelalter an der Herrschaft eines wehrhaften großen und
kleinen Grundadels in einer verkehrsarmen Zeit.
Doch selbst als seine militärische Bedeutung geschwunden war, da be¬
hauptete dieser Stand auch im deutschen ständisch-territorialen Staate des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts seine Herrschaft, weil er seinen
Grundbesitz festhielt; ja er verband mit ihm eine Reihe ursprünglich staatlicher
Hoheitsrechte, die Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt über seine Unterthanen
und das Kirchenpatronat. Als sich dann endlich über dieser Aristokratie der
Rittergutsbesitzer der absolute fürstliche Staat erhob, der sie im Interesse des
Ganzen unter sich beugte, da blieben ihre an den Grundbesitz geknüpften
Hoheitsrechte noch lange unangetastet, und dieser alte Adel wußte, vornehmlich
in Preußen, indem er auf seine ständischen Rechte wesentlich verzichtete, doch
seinen Anteil an der Verwaltung dadurch zu behaupten, daß er in den Dienst
des fürstlichen Staats trat, die wichtigsten Ämter und die Offiziersstellen
der neuen stehenden Söldnerheere an sich brachte. Also erwuchs vor allem
in Preußen der militärisch-politische Adel, der mit der Monarchie zusammen
in den Landratsstuben und auf den Schlachtfeldern die neue norddeutsche Gro߬
macht geschaffen hat.
Der größte Vorzug des Grundadels ist, daß er durch die Art seines Be¬
sitzes fest mit dem Staate und dem Lande verwachsen ist, daß dieser Besitz
fester in den Familien haftet, und daß sich durch dies alles in ihnen eine
Summe von Traditionen von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzt, sich zuweilen
jahrhundertelang erhält. Nicht umsonst hat man von der politischen Erb¬
weisheit der römischen Nobilitas und des englischen Parlamentsadels geredet;
der von der bürgerlichen wie von der sozialen Demokratie so oft in so thörichter
Weise geschmähte preußische Landadel hätte uns nicht den größten Staatsmann
des Jahrhunderts, den Baumeister des Reichs geschenkt, wenn in ihm nicht
die feste Königstreue und das Pflichtbewußtsein gegenüber dem Staate lebendig
gewesen wären; das moderne Frankreich krankt schwer daran, daß es seit der
großen Revolution einen politischen Adel nicht mehr hat. Die Stabilität des
Besitzes, der Anschauungen, der Thätigkeit ist es, die den grundbesitzenden
Adel charakterisirt, und die ihn zu einem so wertvollen Bestandteile jedes
Staats gemacht hat. Nichts hat mehr die innere Haltlosigkeit der orientalischen
Despotenreiche herbeigeführt, als der Mangel an jedem wirklichen Grundadel;
diesen Staatswesen fehlt das Rückgrat.
Was also diese älteste und ursprünglichste Aristokratie bezeichnet, das ist
nicht nur der lange vererbte Grundbesitz und nicht nur die Waffentüchtigkeit,
sondern es sind auch gewisse sittliche Eigenschaften, die zum Herrschen befähigen,
und die in einer gleichmäßigen Lebenslage und Lebensluft leichter erworben
werden, als in einer beständig wechselnden Umgebung. Die stolze Erinnerung
des römischen Nobilis, der schon als Knabe den Sitzungen des Senats hatte
beiwohnen dürfen, an eine lange Reihe erlauchter und bedeutender Vorfahren,
an Konsuln und Diktatoren und an die Ahnenbilder des väterlichen Atriums,
der eigentümliche Ehrbegriff des mittelalterlichen Ritters (Treue gegen Gott,
gegen den Lehnsherrn, gegen die „Frau"), der Rückblick auf Offiziere und Beamte,
Feldherren und Staatsmänner, die aus einem deutschen oder englischen Adels¬
geschlechte jahrhundertelang hervorgegangen sind, und der Umblick auf einen
Boden, der ihnen seit Jahrhunderten gehört hat, kurz, die Gesinnung, die dem
Worte der Goethischen Iphigenie zu Grunde liegt: „Wohl dem, der seiner
Väter gern gedenkt," oder dem Horazischen echt aristokratischen Satze: I'orws
vröMtur tortibus se bonis, die ist eine starke Stütze nicht nur des Selbst¬
bewußtseins, sondern auch des Pflichtgefühls gegenüber dem Ganzen, und da
der Wille die Geschicke des Einzelnen wie der Völker lenkt, nicht das Wissen,
so ist sie wichtiger als das. was wir sehr einseitig schlechtweg geistige Bildung
nennen. Gleichwohl hat auch diese alte Aristokratie in der Zeit, da sie allein
herrschte, gewöhnlich auch die geistige Bildung beherrscht. Für die und
/Jout^ec,', für die Fürsten und Herren der althellenischer Ritterzeit dichteten
und sangen die griechischen Epiker; die stolzen knnstgeschmückten Burgen, deren
Glanz frühern Geschlechtern nur aus der „golddurchblinkten Mykene" Homers
entgegenstrahlte, aber uns jetzt durch deutsche Forschungsarbeit wieder zur leib¬
haftigen Wahrheit geworden ist, waren die Werke ihres hohen Adels, und
aristokratischen Siegern an den griechischen Nationalfesten widmeten Pindar
und Simonides ihre Epinikien. An den fürstlichen und ritterlichen Höfen
Frankreichs und Deutschlands entstanden die Heldengedichte und die Lieder in
den jungen Volkssprachen des mittelalterlichen Abendlandes, und die nordischen
Statten sangen sür die kühnen Könige der wilden See. Wenn dann die
griechische Kunst und Litteratur ihren Siegeszug nach dem Westen antrat, so
war das in erster Linie ein Werk römischer nobiles.
Also ist es klar, daß ein herrschender Grundadel auch eine Geistesaristo¬
kratie sein muß. Er verliert seine Herrschaft, sobald er aufhört, eine Geistes¬
aristokratie oder, noch besser, eine sittliche Aristokratie zu sein. Dafür bietet
das Geschick der römischen Nobilitas das erschütterndste Beispiel. Als die
Sprößlinge dieser einst herrschgewaltigen Geschlechter nur uoch an die Aus¬
beutung der Provinzen und an den rücksichtslosen Genuß der Macht dachten,
verloren sie das sittliche Recht zur Herrschaft, und mit ihrer Aristokratie ging
die römische Republik zu Grunde, da sie als Demokratie nicht bestehen konnte.
Daß der polnische Adel in schrankenloser Selbstsucht die Souveränität, also
das Wesen des Staats dnrch die Souveränität des einzelnen Edelmanns auf¬
löste, hat den Untergang des polnischen Staats verschuldet.
Überall aber hört die Alleinherrschaft des Grundadels im Staate da auf,
wo neben dem Grundbesitz der bewegliche Besitz hervortritt, neben der Land¬
wirtschaft Handel und Gewerbe zu selbständiger Bedeutung gelangen, also mit
der Entstehung der Stadtgemeinden. Dann erhebt sich neben dem alten Grund¬
adel eine neue Form der Aristokratie, die Geldaristokratie, die städtische Aristo¬
kratie, und Ehre dem, der durch redliche Mittel und angestrengte Arbeit sich
selbst emporhebt zu reichem Besitz. Doch so oft diese neue Aristokratie den
alten Adel an Reichtum übertreffen mag, gerade die Eigenschaften, die diesen
zur Herrschaft berufen und befähigen, hat sie selten. Da ihre Grundlage,
Handel und Gewerbe, ihrer Natur nach viel wandelbarer sind als die Land¬
wirtschaft, also auch der Besitz rascher wechselt, so ist die Stetigkeit des Eigen¬
tums und der auf dieser beruhenden Anschauungen und Gesinnungen sehr viel
geringer, und länger als einige Generationen behauptet eine Familie dieser Art
selten ihre Stellung, wenn es ihr nicht gelingt, in die Reihen des Grundadels
einzutreten. So fiel das weltmüchtige Bankhaus der Welser schon am Anfange
des siebzehnten Jahrhunderts (1ö14); die gleichzeitig mit ihm emporgekommnen
Fugger bestehen noch heute, weil sie frühzeitig große Grundherren wurden.
Auch die Stellung solcher Geschlechter zum Staat ist anders. Da das Kapital
von Natur beweglich ist und mit jedem Fortschritt der Volkswirtschaft immer
beweglicher wird, so verfallen sie leicht der Gefahr, zu internationalen Geld¬
mächten zu entarten und nach dem schlechten alten Satze zu handeln: ubi bsiiö,
ibi xatrig., also in diesem Falle zu sagen: wo ich am meisten verdienen kaun,
da bin ich am liebsten, während der wahre Aristokrat sagen wird: ibi beug,
udi xatrig.. Auch persönlich widmen sich Angehörige solcher Familien nur
seltner dem bescheidnen und beständig Aufopferung fordernden Staatsdienste.
Daher ist die Geldaristokratie als der alleinherrschende oder wenigstens ma߬
gebende Stand die allerschlechteste Form der Aristokratie, weil ihr höchstes
Ideal in ihrer reinen Form das Verdienen, also ein durchaus selbstsüchtiges
ist, und Länder, wo sie, wenn auch unter demokratischen Formen verkappt,
herrscht, wie jetzt Nordamerika und Frankreich, haben die korrumpirteste Ver¬
waltung.
Diese Schwächen werden aufgehoben oder gemildert da, wo sich die Geld¬
aristokratie durch Tradition und Grundbesitz an eine bestimmte Stadt gebunden
fühlt. So war es vor allein der Fall in den italienischen und deutschen
Stadtstaaten des ausgehenden Mittelalters. Die Größe der deutschen Städte
dieser Zeit, von der noch heute vor allem ihre großartigen Kirchenbauten
zeugen, ist in erster Linie das Werk eines herrschkundigen und kunstsinnigen
Patriziats, und wer, der Florenz auch nur vom Hörensagen kennt, wüßte nicht
von dem fürstengleicheu Kaufhause der Medici und von den stolzen Palästen
ihrer Standesgenossen, der Strozzi, Ruccelai, Tornabnoni, Pitti; wer, der nur
einigen Sinn für historische Größe hat, würde nicht im Innersten ergriffen,
wenn er, den Canal grande in Venedig in sanft wiegender schwarzer Gondel
hinabgleitend, die verfallende» Paläste der einst großen Geschlechter der Markns-
repnblik, der Grimani, der Pesaro, der Cornaro, der Loredan, der Foscari,
der Giustiniani erblickt; welchem Gebildeten wäre unbekannt, wie die Renaissance
gar nicht denkbar ist ohne diese stolze Stadtaristokratie! Das war eine wahr¬
hafte Aristokratie nach Besitz, Herrschersiun, Charakter und Bildung, und auch
in unsern Tagen fehlt es, zumal in besonders selbständigen und selbstbewußten
Städten, nicht an solchen Erscheinungen, an gewissermaßen patrizischen Familien,^
die, ohne bevorrechtet zu sein, nach dem Satze handeln: noblss8ö odlig-ö, und
die nicht nur große Unternehmungen mit Hunderten von Untergebnen in vor-
nehmen Sinne leiten, sondern auch ihrer heimatlichen Stadt durch reiche Stif¬
tungen treue Anhänglichkeit erweisen.
Heute sind die Zeiten, wo Grundcidel oder Geldaristokratie allein oder^
zusammen den Staat beherrschen, bei uns vorüber, und die rechtliche Sonder¬
stellung geschlossener Stände ist verschwunden. Denn die Eigenschaften, die
beide einst zur Herrschaft befähigten, reichen heute in den unendlich verwickelten
Verhältnissen einer überaus reichen und mannigfaltigen Kulturwelt allein nicht
mehr aus. Noch viel weniger ist eine wirkliche Demokratie in großen Staaten
möglich. Vielmehr gebührt die Herrschaft einer geistigen Aristokratie, die aus
allen Ständen und Berufsklassen die besten Elemente in sich vereinigt und
nicht auf einer bestimmten Art oder einem bestimmten Maße des Besitzes be¬
ruht. Der Gedanke, einer solchen Aristokratie die Herrschaft eines Kulturvolks
zu übertragen, ist sehr alt; kein geringerer als Plato hat ihn zuerst gefaßt/
und theoretisch ausführlich entwickelt. Angewidert von der zunehmenden Ent-
artung der Demokratie seines attischen Heimatstaates, die nur groß gewesen
War, als sie thatsächlich keine Demokratie, sondern die verhüllte Alleinherrschaft
eines großen Mannes war, damals aber, zu Platos Zeit, die Herrschaft des
souveränen Unverstands bedeutete, wies der Philosoph die Herrschaft den
Philosophen, d. h. den Denkenden, den Wissenden zu, die zu ihrem Berufe
aufs sorgfältigste erzogen werden sollten. Seine Bemühungen, dies Ideal
mit seinem Schüler Dionysios von Syrakus zu verwirklichen — denn zwischen
einer Monarchie und Aristokratie dieser Art machte er keinen grundsätzlichen
Unterschied, da die Form der Regierung das Wesen des „Jdealstaats," der
x«^t?ro>>.de,' nicht ändert —, scheiterten bekanntlich, und das ganze Altertum
vermochte es nicht zu verwirklichen; seine erste und großartigste Verwirklichung
fand es während des Mittelalters in der Hierarchie der römischen Kirche, also
eben nicht für den Staat. Erst als seit der zweiten Hülste des siebzehnten
Jahrhunderts der neue fürstlich-absolute Staat sein monarchisches Heerwesen
und Beamtentum schuf, da entstand die zur Herrschaft berufne und befähigte
Geistesaristokratie. Denn wer in der Verwaltung oder im Heere ein ,,Amt" .
erhielt, dessen Name und Begriff ihrem Ursprünge nach deutsch sind, der diente
nicht einem persönlichen Interesse, sondern er diente dem Monarchen, dem
Staate, dem Ganzen; er diente nicht, weil er Grundbesitzer war oder
überhaupt zu den besitzenden Klassen zählte, sondern weil er das Maß von
Kenntnissen und Charaktereigenschaften inne hatte, das ihn dazu befähigte, sein
Amt auszufüllen; er diente endlich nicht auf Zeit im Ehrenamt, sondern lebens¬
länglich im Berufe. Damit kam etwas ganz neues in die Welt. Dies neue
Beamtentum erhielt seine begriffliche Vollendung, als Friedrich Wilhelm I.
von Preußen sich schlechtweg als Offizier seines Heeres fühlte, und als Friedrich
der Große bekannte, der König sei der erste Diener seines Staats, eine An¬
schauung, die schon sein Vater praktisch verwirklicht hatte, die aber in dem
Zeitalter der unumschränkten Fürstenmacht zunächst ebenso neu war, wie etwa
der Gedanke der persönlichen Glaubensfreiheit im sechzehnten Jahrhundert, und
die doch mit unwiderstehlicher Gewalt alle Staaten und alle Fürsten Europas
in ihre Kreise zwang. Dies Monarchische Beamtentum innerhalb und außer¬
halb Preußens hat die Grundlagen der neuen deutschen Größe geschaffen, den
Zollverein noch mit eingeschlossen.
Doch es kam die Zeit, wo das ganz unpolitisch gewordne und daher
politisch unmündige städtische.Bürgertum politisch und also mündig wurde.
Es schuf sich zunächst seine städtische Selbstverwaltung, die doch auch den
neuen Begriff des Beamtentums in sich aufnahm; sodann erlangte es in den
neuen Verfassungen einen Anteil auch an der Leitung des Staats, endlich
stellten sich nach dem Muster der Stadtverwaltung neben das berufsmäßige
Beamtentum für immer zahlreichere und weitere Kreise die Ehrenämter der
Selbstverwaltung in Stadt und Land. Darauf beruht auch die wahre, die
echte Freiheit. Denn unter der Freiheit verstehen wir Germanen nicht in erster
Linie die Berechtigung des Staatsbürgers, möglichst häufig irgend welchen
Wahlzettel in irgend welchen als „Urne" bezeichneten Kasten zu werfen, um
irgend einem dem Wähler persönlich meist unbekannten und gleichgiltigen Mit-
bürger irgend welches Mandat zu übertragen, auch nicht allein die möglichste
persönliche Unabhängigkeit, die in ihrer Entartung zu dem schönen Typus des
„Gleichheitsflegels" geführt hat, sondern vor allem die Teilnahme an der Ver¬
waltung kleinerer und größerer Kreise; denn nur dadurch wird der Mann der
alles besser wissenden Kritik entwöhnt und zur praktischen Mitarbeit am Staate,
also zum Verständnis des Staats und zur Staatsgesinnung erzogen. Dem¬
nach fallen Freiheit und Herrschaft der Geistesaristokratie für uns zusammen.
Daß zu dieser heute herrschenden Geistesaristokratie auch die gehören müssen,
die den idealsten Beruf vertreten, den nämlich, die Menschen für das Ideale
zu erziehen und auf das Ideale hinzuweisen, versteht sich von selbst; dem
christlichen Mittelalter war der Lehrstand und der geistig herrschende Stand
sogar dasselbe, und in den beiden ersten Jahrhunderten der Neuzeit bedeutete
Geistesaristokratie fast soviel wie Gelehrtenstand, was beides heute natürlich
nicht mehr zutrifft.
Was fordern wir nun von dieser geistigen Aristokratie, die hente herrscht
oder wenigstens herrschen sollte? Sie ist unabhängig von jeder Art des Gro߬
besitzes, obwohl sie sich auch ans den Elementen, die auf diesem beruhen, fort¬
während ergänzt und alle ihre Mitglieder so gestellt sein müssen, daß sie über
die gemeine Not des Lebens erhaben sind, weil sie sonst des freien Blickes
entbehren würden. Aber die Hauptsache ist doch eine Summe geistiger und
sittlicher Eigenschaften. Für die höhern Klaffen dieser Aristokratie verlangen
wir eine wissenschaftliche Bildung, für alle eine allgemeine Bildung, derart,
daß jeder imstande ist, über den engen Kreis seiner nächsten Beziehungen
hinauszusehen, den Blick auf das Ganze zu richten und sich in der Welt zu
orientiren. Wir fordern ferner Treue gegen die übernommne Pflicht, Ver¬
zicht auf persönliche Rücksichten und Interessen, warme Teilnahme für die
Mühseligen und Beladnen der Gesellschaft, Hingebung an das Ganze, wenn
es sein muß, bis in den Tod. Denn jede echte Aristokratie hat noch immer
dem Ganzen gedient, und eben deshalb ist sie volksfreundlich gewesen; der Geld¬
protz ist so wenig ein echter Aristokrat wie der Landjunker, der mit Verachtung
auf alles herabsieht, was außerhalb seiner engen Sphäre liegt, oder der Ge¬
lehrte, der einen wissenschaftlichen Gegner mit persönlichen Schmähungen über¬
häuft und nur seine eigne Große gelten lassen möchte, oder der Beamte, der
seine Aufgabe mechanisch wie ein Steinklopfer erledigt.
Diese Eigenschaften können wohl anerzogen, aber nicht eigentlich vererbt
werden, jeder Einzelne muß sie sich selbst erwerben, mag der auch vor andern
bevorzugt sein, dem Goethe das schöne Wort zuruft: ^ > " ./
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Also ist die Zugehörigkeit zu dieser Geistesaristokratie etwas höchst Person-.
liebes; sie öffnet sich weitherzig allen Elementen, die sich zu ihr emporarbeiten
können, sie stößt unbarmherzig alle die aus, die die ihr notwendigen Eigen¬
schaften verlieren. So trägt heute nicht mehr wie früher das Amt den Manu,
sondern der Mann das Amt; keiner, der ihm nicht innerlich gewachsen ist,
kann sich auf die Dauer in ihm behaupten, mögen seine äußern Verhältnisse
noch so günstig sein. Daher ist es allerdings heute äußerlich zwar viel leichter,
aber innerlich unendlich schwieriger, zu der Geistesaristokratie zu gehören, als
früher zum Landadel oder später zur Geldaristokratie; sie ist kein geschlossener
herrschender Stand, sondern eine leitende gesellschaftliche Schicht, die sich fort¬
gesetzt verändert und erneuert. Wir dürfen es ohne Überhebung sagen: sie ist
nirgends in solchem Maße und in so weitem Umfange vorhanden wie in
Deutschland, weil wir das Volk Luthers und Kants, Friedrichs des Großen
und Kaiser Wilhelms I. sind.
as habsburgisch-lothringische Kaisertum in der Ostmark hat nicht
erst seit dem ungarischen Dualismus den herrschenden Kultur¬
träger des Staats, das deutsche Volkstum, dem fremden Völker¬
gewimmel der Slawen, Ungarn und dem Häuflein Italiener preis¬
gegeben. Daß ein deutscher Staat, Preußen, überhaupt erst zur
Einheit ihres Staates verholfen hat, vergessen die Jtalianissimi der Jrredenta
gänzlich und lohnen dem Deutschtum diese befreiende That durch Verfolgung
unsrer Stammesgenossen ans uraltem deutschen Volksboden. Südtirol und
der Kanton Tessin in der Schweiz sind die Zeugen dieses Vorgangs, ohne
daß der Deutsche im Reiche aus seiner Gleichgiltigkeit aufgerüttelt worden wäre.
Wir sind gewohnt, gedankenlos von einer italienischen Schweiz zu sprechen,
und ahnen nicht, daß der Kamm der Alpen niemals die Volks- und Sprach¬
grenze zwischen Germanen und Romanen gebildet hat. Südwärts auf dem
rechten Ufer des Po wohnt der gemischte Menschenschlag, der viel germanisches
Blut in sich birgt. Nordwärts vom Po ist reines deutsches Blut. Nicht nur
Goten und Langobarden haben hier die keltisch-römischen Bewohner ersetzt,
sondern auch die deutschen Stämme des Reichs, Schwaben und Bayern, sind
langsam bis in die lombardische Ebne vorgedrungen. Die Römerzuge der
Kaiser brachten stets neue Blutauffrischung. Erst nach der Hohenstaufenzeit
versiegte diese Quelle der Vvlkserneuerung, und der Haß der lombardischen
Städte begünstigte eine fortschreitende Berwelschung dieses deutschen Gebiets
in Norditalien.
Allmählich ergoß sich auch ein Einwcindrerstrom aus dem armen und
zerrütteten Süden in das wohlangebaute Land. Die kleinen Rcmbfttrsten
stammten fast sämtlich aus Mittel- und Süditalien jenseits der Apenninen, so
die Sforzas in Mailand, übrigens von niedrigster Herkunft, so die Medici,
diese Florentiner Apotheker auf dem Herzogsstuhl, die auch dem alten deutschen
Lehnsadel Italiens nicht ebenbürtig waren. Rudolf, der erste Habsburger
unter der deutschen Krone, hat die unselige Römerpolitik mit Recht, wenn auch
notgedrungen, aufgegeben, aber verständnislos zugleich dem deutschen Volks-
tum jenseits der Alpen den machtvolle» Schutz des Reiches entzogen. Ein
andrer Herrscher dieses Hauses, Karl V., hat zwar die alte Römerpolitik
wieder aufgenommen, jedoch nicht als deutscher König, sondern als spanischer
Machthaber. Seine deutschen Söldner setzten spanische Vizekönige ein, und
sein Sohn übernahm als spanischer König das italienische Erbe ohne Rück¬
sicht darauf, daß das nördliche Oberitalien nur ein vorgeschobner Posten
unsrer alten Stammesherzogtümer Schwaben und Bayern war. Freilich war
Venedig stets ein Pfahl im deutschen Fleische dieses Gebietes. Aquileja war
ein deutsches Patriarchat trotz seines römischen Namens aus der Zeit vor der
germanischen Einwanderung. Venedig gehörte zu seinem Sprengel. Aber auch
in kirchlicher Hinsicht entwand sich diese aristokratische Kaufmannsrepnblik bald
der Gewalt der geistlichen deutschen Reichsfürsten, die auch stets geborne
Deutsche waren. Venedigs von Deutschland unabhängige Herrschaft bedeutete
aber zugleich ein Vordringen italienischen Wesens. Aus der Lombardei und
Friciul, Aquilejas Herrschaftsbereich, schnitt sich die Lagunenstadt in den end¬
losen Kämpfen der Ghibellinen schöne Stücke heraus, indem sie bald für die
kaiserliche, bald für die päpstlich-italienische Partei eintrat, um stets reichlichen
Lohn an Land und Leuten für ihre Unterstützung zu heischen und zu erhalten.
Auf diese Weise wurde das Deutschtum bis Verona zurückgedrängt, sodaß es
sich schließlich nur noch in den Alpenthülern des Südabhaugs hielt, freilich
auch unter venetianischen Machtgebot. Eben jene vom Reiche verlassenen
Deutschen jenseits des Alpenkammes lieferten Venedig die einheimischen Krieger.
Obwohl das Haus Österreich Aquileja bald zu seinem Erbbesitz zog, opferte es
das alte deutsche Volkstum gleichgiltig der italienischen Kultur. Das Deutsch¬
tum hielt sich nur noch in dem nördlichen Gebirgsland in der Grafschaft Görz,
diesem östlichen stammten von Aquileja.
Nach dem spanischen Erbfolgekriege trat Österreich in Oberitalien die
spanische Herrschaft an, und man sollte meinen, daß das unterdrückte Volks¬
tum von der neuen deutschen Regierung Förderung erfahren hätte. Aber die
Habsburger haben nie ein deutsches Gewissen gehabt, und zu Beginn des acht¬
zehnten Jahrhunderts gab es auch im übrigen Deutschland noch kein National-
gefühl, das in Frankreich und Italien schon längst mächtig war. Österreich
hatte aber nicht nur die alte Lombardei geerbt, sondern auch noch Landstriche,
die früher zum Herzogtum Schwaben gehört hatten und sodann beim Zerfall
der Stammesherzvgtümer von oberitalienischen Dynasten als herrenlose Beute
betrachtet worden waren. Schließlich hatte Mailand diese deutschen Alpen¬
thäler an sich gebracht. Nur der spätere Kanton Tessin blieb in deutscher
Hand, da die Eidgenossen als schwäbische Stammesgenossen das Tessinthal bis
zum Lcmgensee (I^g'o Ug.Mors) als Unterthanenlande besetzten. Noch zu
Beginn dieses Jahrhunderts kannte man bloß die drei Negierungsstädte Bellenz,
Lavis und Luggerns, während es jetzt amtlich nur Bellinzona, Lugano und
Locarno giebt, und auch die deutsche Sprache nicht mehr den Verkehr und
Umgang beherrscht.
Wie einst Mailand die habgierige Hand nach deutschen Alpenthülern ausge¬
streckt hatte, so war Piemont diesem Beispiel gefolgt. Da die Herzogtümer Mai¬
land und Savohen selbst Reichslehen waren, so erschienen diese deutschen Landes¬
teile dem Reiche durch den Besitzwechsel nicht entfremdet. Aber schon das
kaiserliche ErzHaus erkannte die Neichszugehörigkeit seiner italienischen Erdtaube
nicht mehr an, und der zwischen Frankreich und Deutschland territorial ein¬
gekeilte Herzog von Savohen entzog sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts
thatsächlich dem unförmlichen Staatskörper des deutschen Reichs, wenn er auch
noch den Reichstag beschickte, was schließlich Frankreich und Schweden als deutsche
Lehnsträger ebenfalls thaten, um desto sichrer das Reichsgefüge zu lockern.
Werfen wir einen Blick auf die Karte, so sehen wir, daß das Königreich
Italien an vier Seiten tief in das sonst deutsche Alpengebiet einschneidet; da¬
durch schon tritt der Einbruch des Welschtums in deutsches Land deutlich
hervor; mit der Thatsache müssen wir uns abfinden, daß die einstige Pogrenze
dem Deutschtum unwiederbringlich verloren ist. Die Ausläufer der Alpen-
thüler auf der Mittagsseite des Gebirgsgrates, der nur scheinbar Deutschland
und Italien trennt, sind noch heute deutsch, mag auch im Tessin und in Süd¬
tirol die Verwelschung stetig fortschreiten. Im Westen erklingt noch vereinzelt
deutscher Laut in Duden, dem heutige« Dono d'Ossola, die Weiler südlich
der Tosafülle send noch rein deutsch. Die deutsche Tosa hat sich freilich schon
in den italienischen Tone verwandeln müssen; aber ihr Flußgebiet ist vom
Simpelnpaß bis Duden deutsch, wenn man auch in Deutschland sogar diese
Bergstraße in ein französisches Sprachgewand gehüllt hat (Simplon), das an
Ort und Stelle glücklicherweise noch nicht den guten deutschen Namen des
Dorfes simpeln verdrängt hat. Es zeigt aber die drohende Verwelschung
der Schweizerseite.
Auf der Ostseite des Tessin breitet sich das Thalgebiet von Kleven aus,
das sich bis an den Comersee erstreckt, in dessen Höhe auch noch der Berg
Splügen (Monte Sxlugo) liegt. Der deutsche Reisende freilich fühlt sich in
Chiavenna (Kleven) italienisch angehaucht, da die Verkehrssprache nur uoch
wenige deutsche Heimstätten zeigt. Aber die Bevölkerung diesseits und jenseits
des Splügenpasses erkennt man auch bei oberflächlicher Prüfung als gleichen
Stammes; und das Thal des Hinterrheins wird wohl niemand für welsch halten,
obwohl es am Fuße der Splügenftraße liegt. Gleichfalls zur Provinz Sondrio
gehört die dritte Einbruchsstelle im obern Addathale, dem Veltlin, obschon hier
das ganze Flußgebiet, das die gedachte Provinz umfaßt, einst deutsch gewesen ist.
Aber das Land um Worms (Bormio) herum ist noch heute trotz italienischer
Kirche und Schule deutsch, während weiter thalwärts die Verwelschung leider
bester gelungen ist. Die ganze Provinz Sondrio ist eine alte mailändische
Eroberung auf altem deutschen Reichsgebiet, das freilich nach der Bildung der
Eidgenossenschaft herrenlos und verlassen dalag, ohne daß Kaiser und Reich
sich um diese Alpenbauern weiter kümmerten. Aus reichsunmittelbaren Land
wurde es kaiserliches Lehn uuter dem Mailändischen Herzogshut. Ob dabei
das angestammte Volkstum Schaden litt, war der Wiener Hofburg gleichgiltig.
Als sie diesen Landstrich Anfang des vorigen Jahrhunderts in eigne Ver¬
waltung übernahm, änderte sich in der nationalen Behandlung auch nicht das
geringste. An die Erhaltung des Deutschtums dachte der österreichische Vize¬
könig der Lombardei so wenig, wie früher sein spanischer Vorgänger. Im
habsburgischen Länderhandel galt das Volkstum wenig, gar nichts aber die
eigne Herkunft des Kaiserhauses aus der deutschen Ostmark, die einst auch
gegen Süden das Deutschtum hüten sollte. Kleven und Worms erhielten sich
aber trotz alledem deutsch bis in unser Jahrhundert.
Weiter ostwärts haben wir an vierter Stelle zwei verschiedenartige Be¬
standteile altdeutschen Volksbodens zu unterscheiden. Wir treffen sowohl an
der östlichen Tiroler Grenze wie südlich davon zunächst ein geschlossenes
Gebiet ursprünglicher gotischer Besiedlung, das sich selbst reiner erhalten hat
als die spätern deutschen Nachschübe bis zum Po, der Sprache nach mut¬
maßlich ostgotische Reste, wie ja auch Theodorich noch als Dietrich von Bern in
der Sage fortlebt, und Bern ist das italienische Verona, in dessen Nähe sich
auch die altgermanischen Niederlassungen befinden. Geschichtlich hat Venedig
erst verhältnismäßig spät das kaiserliche Verona zur Untertänigkeit gezwungen.
Das Stadt- und Lcmdgcbiet stand unter langobardischen Herren, aber später
treffen wir auch bayrische Edelinge in der Gegend als unabhängige Dynasten.
Nach sichern statistischen Berichten vom Jahre 1831 bestanden die sogenannten
sieben Gemeinden (86des (zomrauni) aus einer in einzelne Höfen und kleinen
Weilern zerstreuten deutschen Bevölkerung von 40000 Seelen und die so¬
genannten dreizehn Gemeinden (trsäiei ooirirnuni) aus mehr als 50000.
Da die Nachrichten italienischen Quellen entstammen, so darf um die genannte
Zeit die Volkszahl mindestens auf 100000 Einwohner veranschlagt werden. In
beiden Grenzstrichen wurde neben der Landwirtschaft starker Weinbau und das
Hausgewerbe (Strohhutflechterei) getrieben. Infolge dieser Verbindung ver-
schiedner Betriebe an gleicher Stelle ist eine verhältnismäßig dichte Bevölke¬
rung vorhanden. Die Nachkommenschaft dieser ältesten germanischen Siedler
ist gegenwärtig mindestens auf 170000 Seelen zu schützen, wenn man die
gleichzeitige Bewegung der übrigen Bevölkerung dieser Berechnung zu Grunde
legt. Die italienische Einwanderung in dieses Gebiet ist kaum nennenswert.
Die Jtalianisirung ist lediglich durch Kirche und Schule dank der nationalen
Gleichgiltigkeit der österreichischen Behörden erfolgt, die auch dort in der
fremden Sprache ihrer schlimmste» Widersacher, d. h. italienisch amtirte. Das
neuerstandne Königreich hatte 1866 nur noch wenig nachzuholen. Deutsche
hatten ihre eignen Volksgenossen einem fremden Stamme zur Unterdrückung
ihres bis dahin wunderbar erhaltnen Deutschtums überliefert.
Die andre Gruppe dieser vier Einbruchsstellen bildet Friaul. In
seiner ursprünglichen Ausdehnung und Beschränkung auf das Gebirgsland
nördlich von Udine ist das Land zunächst ein Bestandteil des Patriarchats
Aquileja gewesen und dann eine kärntische Markgrafschaft. Die venetianische
Herrschaft hat selten bis in diese Alpenthäler gereicht, sondern sich mit der
südlichern Provinz Udine des Patriarchats begnügt. Friaul ist daher sogar
als kärntisches Vorland altösterreichischer Besitz. Osterreich schlug 181^4 Friaul
zum lombardisch-venetianischen Königreich, sah es also selbst als italienischen
Besitz an, obwohl es nur wie Südtirol verwelscht war. Friaul ist mit dem
südlichern Küstenland alter deutscher Besitz gewesen; an letzterm hat sich
Venedig nach dem Verfall des deutschen Kaisertums nur zu schnell und un¬
geahndet vergriffen. Die gegenwärtige Jtalianisirung ist lediglich Folge der
venetianischen Verwaltung. Auch handelt es sich hier nicht um altgermanische
Überbleibsel, sondern um altbayrische Siedlungen. Das Patriarchat Aquileja
wäre trotz langvbardischer bäuerlicher Bevölkerung nicht so ins Deutsche Reich
hereingewachsen, wenn nicht die bayrische Besiedlung gefolgt wäre. Friaul
wurde gleich Körnten von Bayern aus bevölkert, dessen Südmark einst Tirol
bildete.
Es würde über den Rahmen dieser geschichtlich-politischen Darlegung
hinausführen, die sämtlichen deutschen Ortsnamen dieser jetzt verwelschten Ein¬
schnitte in das deutsche Alpenland zu behandeln. Teilweise geben schon die
Reisehandbücher dem Unkundigen Aufschluß. Österreich trat 1859 die Lombardei
und 1866 Venetien an Italien ab. Napoleon III. hatte Sardinien im Namen
der italienischen Nationalität unterstützt. Italien den Italienern! war die Losung.
Trotzdem fielen die drei ersten Thalgebiete rein deutscher Bevölkerung ein
Italien. Die Gegend von Duden (Dono d'Ossola) stößt freilich nicht an
österreichisches Gebiet, sondern an schweizerisches, und ein Austausch mit ost¬
schweizerischem Land wäre wohl möglich gewesen. Kleven (Chiavenna) und
Worms (Vormio) grenzen aber an Tirol, wie auch die übrigen verschiednen
Landgruppen der vierten Einbruchsstelle. Behielt Österreich noch 1866 Süd-
tirol, wo sich die Jtalianissimi dank der Fürsorge der österreichischen Regierung
selbst gewaltig regten, so war kein triftiger Grund vorhanden, die altdeutschen
Gemeindegebiete und Friaul dem Welschtum vollends zu überliefern. Napo¬
leon III. war jetzt sogar der heimliche Verbündete des in Italien siegreichen
Österreichs, und der Schutz der unterdrückten Nationalitäten war auch seitens
des neuen Königreichs der Vorwand zum Kriege.
Joseph II. hat freilich die deutsche Sprache in den Habsburgischen Erbländer
zur Staatssprache gemacht; aber seines Nachfolgers erste Maßnahme war, daß
er diese die Staatseinheit bedingende Negierungshandlung aufhob. So folgte
er nur der altüberlieferten nationalen Empfindungslosigkeit des Kaiserhauses,
dessen Hauspolitik das alte Reich zur gänzlichen Auflösung gebracht hatte.
Dieser Schaden wäre zu bessern gewesen, wenn nicht zugleich wesentliche
Glieder des Reichs vielleicht auf immer entfremdet worden wären. Belgien
und das noch jetzt französische Lothringen waren sogar eigne Erdtaube
der herrschenden Dynastie. Diese italienischen deutschen Überbleibsel wollen
dagegen territorial wenig bedeuten, aber immerhin stellen sie eine Bevölkerung
von ungefähr 600000 Seelen dar, die Österreich verständnislos verraten hat.
Italien hat es Österreich nicht gedankt, und die Chauvinisten verlangen mit
gleichem Recht Welschtirvl, mag auch Bogen (Arco) und Ruffried (Noveredo)
kaum recht italienisch klingen. Der von der Regierung unterstützte Priester
hat zum Lohne Südtirol mit Erfolg verwelscht, und äußerlich erscheint die
Anmaßung der Italiener kaum übertrieben. Die Regierung läßt ja selbst in
diesem Landesteil die Verwelschung unter ihrem Schutz in Kirche, Schule und
Verwaltung unaufhaltsam vordringen. Bozen ist schon halb überflutet von
dem armen italienischen Gesindel, das mit seiner Genügsamkeit jeden deutschen
Wettbewerb aus dem Felde schlüge. Den Tschechen in Böhmen folgen die
Italiener in Tirol und im Küstenland, das thatsächlich italienisch regiert wird.
Aber trotzdem scheint uns das geschilderte Gebiet des verlassenen Deutschtums
auf italienischem Boden, mag auch der Grenzstein es von dem Mutterlande
trennen, uoch nicht für immer verloren. Die Schwerter sitzen trotz aller Friedens¬
beteuerungen allzu lose in der Scheide, und der Dreibund soll doch Italien
Nizza wiederbringen. Eine Liebe ist der andern wert. Die Karte Europas
ist noch nicht endgiltig festgestellt. Man frage nur in Paris und Petersburg.
Unsre schwere Kriegsrüstuug tragen wir ja nicht, um uns lediglich Lorbeeren
Zu holen, es giebt vielmehr noch für unser Volkstum manche alte Schuld zu
sü
ii der letzten Zeit ist in den Tagesblättern wieder öfter über die
braunschweigische Thronfolgefrage geschrieben worden. Seit dem
Antritt der jetzigen Regentschaft ist diese Frage nicht mehr zur
Ruhe gekommen, und es hat den Anschein, daß sie noch öfter
die Öffentlichkeit beschäftigen werde. Die gegenwärtige Lage und
ihre Vorgeschichte dürfen als bekannt vorausgesetzt werden: Mit dem Herzog
Wilhelm, der uuvermühlt blieb, erlosch die ältere Linie Braunschweig. Nach
dem bestehenden Familieuvertrage sollte das Land an die jüngere Linie in Han¬
nover fallen. Da vorauszusehen war, daß infolge der Einverleibung Hannovers
die Thronbesteigung des ältesten Agnaten auf Schwierigkeiten stoßen würde,
wurde am 16. Februar 1879 ein Negentschaftsgesetz zwischen Regierung und
Landtag vereinbart; dieses bestimmte, es solle, falls der berechtigte Thronerbe
nach dem Tode des Herzogs am Regierungsantritt verhindert sei, ein Regent¬
schaftsrat aus den drei Stimmführenden Mitgliedern des Staatsministeriums
und den Präsidenten des Landtags und des Oberlandesgerichts gebildet werden.
Am 18. Oktober 1884, am Todestage des Herzogs, trat der Negentschaftsrat
die Negierung an. An demselben Tage nahm der Herzog von Cumberland,
das Haupt der hannöverschen Linie, durch Patent von dem Herzogtum Besitz,
wobei er zugleich in einem Rundschreiben an die deutschen Fürsten mitteilte,
daß er gesonnen sei, die Reichsverfassung ganz anzuerkennen. Das braun¬
schweigische Ministerium ließ sowohl das Patent, als auch die Aufforderung
des Herzogs, sich mit ihm in Beziehung zu setzen, unbeachtet. Am 2. Juli
1885 erklärte der Bundesrat auf Antrag Preußens, daß die Regierung des
Herzogs von Cumberland in Vraunschweig mit dem innern Frieden und der
Sicherheit des Reiches nicht verträglich sei. Der braunschweigische Landtag
gab hierzu seine Zustimmung nud erwählte auf Vorschlag des Regentschafts¬
rats am 21. Oktober 1885 den Prinzen Albrecht von Preußen zum Regenten.
Bei seinem Einzug in Braunschweig wurde der Regent mit großem Jubel
begrüßt. War doch die fernere Selbständigkeit des Landes gewährleistet, an
deren Fortbestand viele gezweifelt hatten. Aber bald wurde die Stimmung
kühler. Die häufige Abwesenheit des Regenten und seine wohl prinzipiell
geübte Zurückhaltung wurden bedauert, obwohl der verstorbne Herzog noch
viel seltener in den Mauern seiner Residenz zu weilen pflegte. Seit ungefähr
vier Jahren hat die welfische Bewegung an Starke bedeutend zugenommen.
Es bildeten sich zwei Gruppen, die braunschweigische Landcsrechtspartei, die
die schärfere Tonart, und die Brunonici, die die mildere vertritt. Die Rechts¬
partei stellt sich auch den Bestrebungen der hannöverschen Welsen gegenüber
freundlich, während die Brunonia mit Abweisung aller ans die Wiederherstellung
des Königreichs Hannover gerichteten Bestrebungen lediglich die Thronbesteigung
des Herzogs von Cumberland betreibt. Beide Gruppen haben ihre eignen
wöchentlich erscheinenden Organe und verfügen über eine stetig wachsende Zahl
von Mitgliedern. Was speziell die Mitglieder der Brunonia betrifft, so betonen
sie stets ihre volle Anerkennung der Reichsverfassung — was bei der
Rechtspartei nicht der Fall ist, da sie die Rechtmäßigkeit der Einverleibung
Hannovers bestreitet —, neben ihrer tiefgehenden Ehrerbietung vor der
Person des Regenten, dessen Zurückhaltung sie gerade als einen Beweis auf¬
fassen, daß er seine Regierung als ein Provisorium betrachtet und auch den
leisesten Schein vermeiden wolle, als ob eine endgiltige Einrichtung bestehe.
Leute, die sich als Eingeweihte geberden, behaupten sogar, daß Prinz Albrecht
selbst nichts sehnlicher wünsche, als von der ihm vom Kaiser Wilhelm I. über¬
tragnen Pflicht befreit zu werden, ein Wunsch, der durch mancherlei Anzeichen
als glaubwürdig bestätigt wird.
Die Herausgabe des Welfenfonds und die Begrüßung, die bei der
Beerdigung des österreichischen Thronfolgers zwischen dem Kaiser und dem
Herzog von Cumberland stattfand, hatte alle die in ihrer Hoffnung auf eine
baldige endgiltige Lösung der Thronfvlgefrage bestärkt, die in dem gegenwärtigen
Zustande nur einen Notbehelf sahen, dessen baldige Änderung ihnen notwendig
erschien. Die Agitation der welsischen Vereine wurde umfassender, die Zahl
ihrer Mitglieder vermehrte sich zusehends, und die Redner forderten in den
Versammlungen nachdrücklich, daß „ihr Herzog" bald sein Erbteil übernähme.
Da kamen die Fälle von Hampe und von Damm. Der Assessor von Hampe
war als Reserveoffizier zu einer Übung einberufen wordeu und hatte gebeten,
sie Familienereignisse halber, die seine Anwesenheit in Braunschweig wünschens¬
wert machten, in Braunschweig abzudienen. Dieses Ersuchen wurde abgelehnt,
und von Hampe. zu einer zweiwöchigem Festungshaft verurteilt, weil er in
einem von ihm allerdings als Privatbrief bezeichneten Schreiben an seinen ihm
befreundeten militärischen Vorgesetzten erklärt hatte, daß er sich als Anhänger
des Herzogs von Cumberland in seinem Gewissen bedrängt fühle, dem Staate
als Offizier zu dienen, der den Herzog an der Besitzergreifung seines Erbteils
verhindrc. Wenn Herr von Hampe diese Überzeugung hegte, so hätte man
allerdings erwarten dürfen, daß er sie nicht erst dann zum Ausdruck brachte,
als er durch die Nichterfüllung eines an sich berechtigten Wunsches in eine
gewisse Erregung versetzt worden war. Anders lagen die Dinge bei dem Falle
von Damm. Herr von Damm war bis vor kurzem Stadtdirektor in Wolfen-
büttel und hat sich ins Privatleben zurückgezogen. Auch er ist Reserveoffizier
und gehörte der vaterländischen Vereinigung Brunonia an. In dieser Eigen¬
schaft wollte er am Geburtstage des Herzogs von Cumberland die Festrede
halten. Durch eine Indisposition wurde er an der Ausführung dieser Absicht
verhindert, er erhielt jedoch vom Bezirkskommando den Befehl, das Manuskript
der nicht gehaltenen Rede vorzulegen, und den weitern, sofort aus der Ver¬
einigung auszutreten. Indem von Damm dem Befehle nachkam, hat er zugleich
auf dem üblichen Instanzenwege Beschwerde erhoben und will, wie es heißt,
womöglich eine allerhöchste Entscheidung herbeiführen. Die welfische Agitation
machte sich natürlich diese beiden Fälle zu nutze. Noch höhere Wellen schlug
die Bewegung, als bekannt wurde, daß das Staatsministerium, das bisher
eine abwartende Stellung eingenommen hatte, die Beamten angewiesen habe,
aus den welfischen Vereinen auszutreten und den erfolgten Austritt der vor¬
gesetzten Behörde zu melden. In den Versammlungen der welfischen Vereine
wurden gegen dieses Vorgehen der Negierung scharfe Resolutionen gefaßt; es
wurde auch beschlossen, bei dem Regenten vorstellig zu werden. Der frühere
nativnalliberale Neichstagsabgeordnete Kulemann machte sogar in einem von
einem braunschweigischen Blatte veröffentlichten Artikel den Versuch, die Ver¬
fügung des Ministeriums als ungesetzlich hinzustellen.
Wohl infolge dieser scharfen Opposition nahm die Regierung Veranlassung,
in dem amtlichen Blatte in einer lungern offiziösen Erklärung die Berechtigung
der von ihr getrvffnen Maßregel zu verteidigen und zugleich ihre Stellung zu
der welfischen Agitation kundzugeben; daran war eine Erklärung über die
gegenwärtige Lage des Landes angeschlossen. Diese offiziöse Auslassung ist
für die Beurteilung der braunschweigischen Verhältnisse von so einschneidender
Bedeutung, daß wir nachstehend ihren Gedankengang im wesentlichen wieder¬
geben wollen.
Nachdem kurz die Vorgänge erwähnt sind, die zum Erlaß des Rcgent-
schciftgesctzes und des BnndeSratsbeschlnsses vom 2. Juli 1835 führten, wird
erklärt, daß in den thatsächlichen Verhältnissen, die der gegenwärtigen Ge¬
staltung der Negierung des Herzogtums zu Grunde liegen, soweit die Kenntnis
reiche, bisher keine Änderung eingetreten sei, und daß an der Herbeiführung
jener Verhältnisse das Herzogtum keinen Teil habe. Diese Verhältnisse ent¬
zögen sich dem Einflusse des Landes. Es wird dann weiter ausgeführt, daß
die Negierung es als ihre Aufgabe angesehen habe, die Staatsgeschäfte zu führen
auf dem Boden des Regentschaftsgesetzes und des Bundesratsbeschlusses. Über
die Rücknahme dieses Beschlusses zu entscheiden sei nicht Sache des Herzog¬
tums, sondern des Bundesstaates Preußen und der verbündeten Regierungen.
Eine deu Entschließungen dieser zuständigen Stellen vorgreifende, vom Herzog¬
tum ausgehende Anregung zur Entscheidung der Frage sei unter Umständen
geeignet, dem Lande bedenkliche Verwicklungen zu bringen. Geleitet durch diese
Erwägungen sei das Ministerium zu der Überzeugung gelangt, daß die Thätig¬
keit der welfischen Vereinigungen mit den Interessen des Herzogtums nicht im
Einklang stehe, wenn sie auch die Verfassungsmäßigkeit der gegenwärtigen
Regierung voll anerkennten. Ihre Thätigkeit in den Vereinen und der Presse
wird als agitatorisch und leidenschaftlich bezeichnet. Sie bezwecke, in der Be¬
völkerung die Meinung hervorzurufen, daß die Regentschaft, wenn sie auch
formell zu Recht bestehe, doch materiell ein Unrecht einschließe, wodurch die
öffentliche Ruhe und der Friede im Lande gefährdet würden. Bis jetzt sei
die Gefahr wegen der geringen Zahl der Staatsangehörigen, die den Ver¬
einigungen beigetreten sei, nicht groß gewesen, deshalb sei ein Einschreiten gegen
die Vereine selbst nicht geboten gewesen. Die Beteiligung der Beamten stehe
jedoch mit der Bcamtenstcllnng schon an sich nicht im Einklange, weil Beamte
selbst den Schein zu vermeiden hätten, als bewahrten sie nicht die nötige
Objektivität und Unbefangenheit, die zur Erledigung ihrer Amtsgeschäfte er¬
forderlich sei. In erhöhtem Maße aber widerspreche den Pflichten der Be¬
amten eine Beteiligung an solchen Agitationen, durch die der oberste Inhaber
der Regierungsgewalt in das falsche Licht gestellt werde, als ob er der Ver¬
treter eines materiell unrechtmäßigen Zustandes im Lande sei. Die Beteiligung
der Beamten müsse ferner in weitern Kreisen den Glauben erwecken, als seien
die Agitationen begründet, und als werde dies von der Regierung dadurch
schweigend anerkannt, daß sie keine Gegenmaßregeln treffe. Die formelle Be¬
rechtigung des Ministeriums zu der, Aufforderung an die Beamten, aus den
Vereinen aufzutreten, wird mit dem dem Ministerium zustehenden Rechte der
Aufsicht über alle Beamten begründet; dieses Aufsichtsrecht erstrecke sich sowohl
auf das amtliche als auch auf das außeramtliche Verhalten und komme unter
Umständen auch da in Ausübung, wo eine disziplinarisch strafbare Handlung
nicht oder noch nicht begangen worden sei. Eine mit den Verfassungs-
bestimmungen über die Thronfolge im Widerspruche stehende Stellungnahme
werde den Beamten durch ihren Austritt nicht zugemutet. Das Ministerium
gab ferner die bedeutsame Erklärung ab, daß die Voraussetzung bei der Er¬
richtung der Regentschaft sowohl wie bei dem Buudesratsbeschlusse das An¬
erkenntnis gewesen sei, daß nach dem Ableben des Herzogs der älteste Agnat
des Hauses Vraunschweig zur Thronfolge im Herzogtum« berufen sei. Das
sei auch heute noch unbestritten. Die offiziöse Auslassung schloß mit der
Erklärung, daß die Regierung an den bisher bewährten Grundsätzen in der
Stellungnahme zu der aus der letzten Throncrledigung hervorgegangnen Lage
des Herzogtums festhalte und nicht unberufen andre Wege einschlagen werde,
von denen niemand sagen könnte, wohin sie das Herzogtum schließlich führen
Würden.
Diese Ausführungen sind natürlich in der welfischen Presse auf lebhaften
Widerspruch gestoßen. Man erkannte dankbar an, daß das Ministerium die
unbestrittene Erbfolge des „ältesten Agnaten des Hauses Braunschweig" hervor¬
hob, womit zugleich die Nechtsgiltigkeit des Erbhuldigungseidcs auch mit
Bezug auf die hannöversche Linie anerkannt wird, aber man blieb dabei, daß
das Verbot an die Beamten ungesetzlich sei, und gelobte schärfste Opposition
anch für die Zukunft.
Das ist im Augenblick der Stand der Angelegenheit. Am interessantesten
in dem offiziösen Erlaß war die Feststellung der Thatsache, daß sich in den
Verhältnissen nichts geändert habe. Es ist somit wohl jegliche Möglichkeit
ausgeschlossen, daß in diesem Jahre, wo der älteste Sohn des Herzogs
von Cumberland volljährig wird, die Thronfolgefrage ihre Erledigung finden
werde. Das gegenwärtige Provisorium wird also weiter bestehen.
Das legt natürlich die Frage nahe: wie lange soll es überhaupt noch
dauern? Die Antwort lautet vielfach: bis der Herzog seinen Frieden mit der
preußischen Regierung macht und auf Hannover vollständig Verzicht leistet.
Wer mit der Stimmung in Preuße» vertraut zu sein vorgiebt, behauptet, daß
sich weder der Herzog noch einer seiner Söhne jemals zu diesem Verzicht ver¬
stehen würden. Sie mögen Recht haben. Sei es aus Gründen der Pietät
gegen den verstorbnen Vater, sei es aus sonstigen Erwägungen, jedenfalls ist
mit der Möglichkeit dieses Verzichts nicht zu rechnen. Aber ist dieser
Verzicht wirklich so unbedingt notwendig, wie es gewöhnlich hingestellt wird?
Wir stehen nicht an, diese Frage mit nein zu beantworten. Der Herzog hat
ü, seinem oben erwähnten Patent die Reichsverfassung anerkannt, er weiß,
daß er nach menschlicher Voraussicht niemals wieder in den Besitz von
Hannover kommen wird. Also lasse man ihn die Reichsverfassung feierlich
anerkennen, die in gewissen Sinne doch auch den Besitzstand Preußens ein¬
schließt, und lasse ihn das Erbe seiner Väter antreten. Die Besorgnisse, die
besonders in den Hamburger Nachrichten geäußert werden, als würde sich
mit der Thronbesteigung des Herzogs in Braunschweig ein Herd von welfischen
Umtrieben aufthun, sind wohl kaum ernst zu nehmen. Der Herzog hat aus¬
drücklich ausgesprochen, daß er sich durchaus als deutscher Fürst fühle und
nichts thun oder unterstützen werde, was irgendwie die Sicherheit des Reiches
gefährden könne. Da man an dem Worte eines deutschen Fürsten zu deuteln
kein Recht hat, so darf man alle dahin gehenden Befürchtungen wohl als
grundlos bezeichnen. Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß der
Herzog seit 1866 nichts, aber auch gar nichts gethan hat, was irgendwie
Anlaß zu Bedenken gegeben hätte. Die Begrüßungen seiner Anhänger be¬
antwortet er kurz und freundlich, streift aber selten oder nie die politischen
Tagesfragen. Das Dankschreiben, das er kürzlich dem hannöverschen Ritt¬
meister von Rheden sandte, war zwar um einen Ton herzlicher gehalten,
verdient aber beileibe nicht die Bedeutung, die ihm vielfach in der Presse bei¬
gelegt wird. Wir sehen in dem Herzog von Cumberland auf dem braun-
schweigischen Throne keine Gefahr für das Reich, umsoweniger, als wahr¬
scheinlich der Herzog sofort zu Gunsten seines Sohnes auf seine Anwartschaft
verzichten würde. Dieser aber hat die Ereignisse von 1866 nicht miterlebt,
er kennt sie nur aus der Geschichte. Nichts ist natürlicher, als daß er sie
nicht mit der Schärfe empfindet wie der Vater, und daß mit der Zeit der
letzte Stachel schwinden würde. Betrachtet man die Sache von diesem Gesichts¬
punkt aus, so erscheint die Nachgiebigkeit Preußens als ein Akt politischer
Klugheit, der die Quelle mancher Unzufriedenheit verstopfen würde.
Kann sich aber Preußen dazu nicht entschließen, so erledige man die
Thronfolge in einer andern Form. Es geht nicht an, daß das Provisorium
auf unbestimmte Zeit hinaus verlängert werde. Will man die formelle Ver¬
zichterklärung des Herzogs nicht missen, so führe man im Interesse des
Landes eine Entscheidung herbei, indem man den Herzog zu einer end-
giltigen Erklärung veranlaßt und ihn vor die Alternative stellt, entweder den
Verzicht auf Hannover auszusprechen oder seiner braunschweigischen Erbschaft
verlustig zu gehn. Dann mag sich das Land seinen Fürsten wählen. Den
Vertretern des starren Rechtsprinzips wird dieser Gedanke wahrscheinlich als
ein Frevel erscheinen, aber das Interesse des Landes verlangt gebieterisch
eine Lösung, und schließlich ist dieses Interesse doch mindestens ebenso be¬
rechtigt, als es die Bedenken des Thronfolgers bezüglich der Verzichtleistung
auf Hannover sind.
Es giebt übrigens auch in Braunschweig eine große Anzahl von Leuten,
die zwar unter allen Umstünden die Erhaltung der Selbständigkeit des Landes
^- Gegner davon giebts überhaupt nicht — wünschen, die aber den Mitgliedern
des hannöverschen Waisenhauses sehr ablehnend gegenüber stehn. Sie fürchten
von der Thronbesteigung des Herzogs zwar nicht eine welfische reichsfeindliche
Agitation, wohl aber eine Invasion des hannöverschen Adels und damit eine
Zurückdrängung des braunschweigischen Elements in Braunschweig. Wie weit
diese Befürchtungen berechtigt sind, vermögen wir nicht zu entscheiden. Jeden¬
falls sind sie vorhanden, und in einer Darstellung der gegenwärtigen Lage
durften sie nicht unerwähnt bleiben.
Je eher die braunschweigische Frage zum Abschluß gebracht wird, desto
besser ist es sür das Land und in weiteren Sinne auch für das Reich. Die
Gründe zur Unzufriedenheit sind gegenwärtig so zahlreich, daß die Ursachen, die
"ut etwas gutem Willen aus der Welt geschafft werden könnten, nicht länger
anz so trostlos steht es denn doch nicht auf dem deutschen
Büchermarkte aus, als man nach den Massenerzeugnissen der
„Modernen" glauben sollte. Freilich machen sie sich jetzt
in allen Schaufenstern breit und suchen schon durch ihre illu-
strirten Umschläge, die den wildesten Geschmacksverirrungen und
den frechsten Gemeinheiten der Franzosen nachgeäfft sind, selbst um den Preis
schamloser Erniedrigung die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu
ziehen. Aber es fehlt noch nicht an Schriftstellern und auch nicht an Ver¬
legern, die solche Reizmittel verschmähen und sich davon fern halten, nur auf die
gemeinen Instinkte des vornehmen und niedrigen Pöbels zu spekuliren. Wir
machen sogar die Beobachtung, daß ernsthafte Schriftsteller, die sich anfangs
von dem verführerischen Freiheitsdrange der „Modernen" hatten mitreißen
lassen, sehr bald dieser Klüngel- und Jnteressenwirtschaft überdrüssig und, ohne
das Gute und Wertvolle, das aus dieser Bewegung herausgewachsen ist,
preiszugeben, aus Marktschreiern und Charlatcinen zu Künstlern geworden sind.
Einer von ihnen ist Wilhelm von Potenz, der nach rascher Über¬
windung einiger naturalistischer Kinderkrankheiten breit angelegte Bilder aus
dem Leben unsrer Zeit entworfen hat, in denen anfangs das tendenziöse
Element das künstlerische stark überwucherte. Von dichterischer Ornamentik,
die die Lektüre eines sonst peinlichen oder doch verdrießlichen Buches angenehm
macht, war bei ihm überhaupt nichts zu spüren. Die Kampflust riß den
Verfasser so weit hin, daß er ganz vergaß, daß ein Romanschriftsteller auch
ein Künstler sein müßte. In dem „Pfarrer von Breitendorf" hat er die
Freiheit der geistlichen Seelsorge gegen die Tyrannei der Orthodoxie und in
dem „Büttnerbauer" deu kleinen Grundbesitzer gegen die allen Kleinbesitz auf¬
saugende Macht des Großkapitals verteidigt, die in ihren Folgen beinahe
ebenso verderblich ist wie die alles verneinende Zerstörungswut der Sozial¬
demokratie. Nach diesem Roman ist Wilhelm von Potenz von den politischen
Tageszeitungen, die. offen oder unter dem Mäntelchen einer Parteibezeichnung
versteckt, für die Interessen der Agrarier eintreten, als Vorkämpfer ihrer wirt¬
schaftlichen Politik gefeiert worden. Über dieser Bevormundung ist aber seine
dichterische Kraft erwacht. Er will sich in keine Parteifesseln schlagen lassen,
und das hat er denen, die ihn dazu pressen wollten, sehr deutlich in seinem
neuesten Roman Der Grabenhäger (zwei Bünde, Berlin, F. Fontane u. Comp.)
Zu verstehen gegeben. Er hat darin eigentlich alles zusammengefaßt, was ihn
in seinen frühern Arbeiten vereinzelt beschäftigt hatte. Hier sollte es zu mög¬
lichst kräftigem, vielseitigem Ausdruck kommen. Inzwischen hatte er aber auch
mehr Einzelstudien gemacht, und darnach hat er einzelne Figuren mehr ver¬
tiefen können, als es ihm früher gelungen war. Auch ist er künstlerisch ge¬
wachsen, soweit die Komposition in Betracht kommt, wenn man noch bei einem
Roman, bei einem Erzeugnis der Litteratur überhaupt, diesem veralteten Be¬
griff ein gewisses Recht einräumen will. Er hat gelernt, daß es sich in
dieser Welt nur leben läßt, wenn man sich zu Zugeständnissen versteht und
im Falle der höchsten Not sogar einen faulen Frieden schließt, nur um das
Nächste und Teuerste zu retten. Der Verfasser führt uns so viel Tempera¬
mentsmenschen und Charaktergestalten vor, daß man wohl glauben kann, ein
solcher Friede könne auch einmal zu ersprießlichem Zusammenwirken führen.
In dieser Vielseitigkeit liegt aber auch der Bruch der ganzen Verbindung von
Gestalten und Ideen. Wenn auch ein großer Grundbesitzer, der Grabenhäger,
durch das milde, stille Walten seiner Frau von dem verderblichen Einfluß
seiner Standesgenossen befreit und aus dem Standesbewußtsein zu einer freien
Menschlichkeit erhoben wird, so ist das mir ein dichterisches Gebilde, das
zwar in allen Einzelheiten mit überraschender Naturwahrheit glaubhaft gemacht
wird, das aber, wenn wir es zur Kontrolle der Wirklichkeit gebrauchen wollten,
die Prüfung auf typische Geltung durchaus nicht bestehen würde. Trotzdem
Möchten wir dem Verfasser raten, ans seinem Wege weiter zu gehen. Seine
Kunst ist bisweilen noch ungelenk, aber seine oft von tiefem Ingrimm erfüllten
Worte treffen meist wie Schwerthiebe auf dicke Schädel, deren Inhaber davon
Belehrung, vielleicht auch Nutzen ziehen können.'
Der Wunsch. den adlichen Grundbesitzern mehr die Augen für ihre Um¬
gebung und die Menschen, die nnter ihnen und für sie arbeiten, leben und
^'idem. zu öffnen, durchdringt auch den Roman Quitt! von Johannes
Richard zur Megede, einem Schriftsteller, der sich erst vor etwa anderthalb
Jahren durch eine Nvvellensammlung unter dem Titel „Kismet" und durch
einen Roman aus jener Schicht der Berliner Gesellschaft bekannt gemacht hat.
die aus Sportsleuten, Grundstücksspekulanten, wegen unlauterer Handlungen
verabschiedeten Offizieren und andern gescheiterten Existenzen, Schmarotzern
u»d litterarischen Winkelgrößen bunt genug zusammengesetzt ist (Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt). Dieser Roman. „Unter Zigeunern" betitelt, ließ
uns zwar in einen Sumpf sittlicher Fäulnis sehen; aber der Kenner dieser
Verhältnisse mußte zugeben, daß hier keineswegs die grellen Farben eines
Zola aufgetragen worden waren. Einen künstlerischen Zug hatte der Roman
jedoch nicht; es war nur eine wenig retouchirte Photographie der Wirklichkeit,
und unter den zahlreiche,: Einzelbildern, die der Verfasser an dem Leser vorüber¬
ziehen ließ, war auch nicht eins, das dem Leser den Wunsch rege gemacht
Hütte: „Dir wäre ich gern begegnet, um dich noch näher kennen zu lernen."
Sie waren es alle mit einander wert, daß sie elend zu Grunde gingen, mit
Ausnahme von ein paar gleichgiltigen Genußmenschen. In dem Romane
„Quitt!", dessen bewegte Handlung sich in einem verhältnismäßig engen Kreise
Ostpreußens abspielt, geht es anfangs nicht weniger bunt zu. Allmählich
treten aber aus der Menge der Erscheinungen zwei Personen heraus, die so¬
zusagen die Führerrolle übernehmen: ein Freiherr, der nach einem leichtsinnigen
Abenteuer in Europa sich ein neues Dasein als Arzt im holländischen Indien
gegründet hat, und eine Komtesse, die Tochter eines ehrenwerten Mannes, der
mit seinen agrarischen Kollegen in Ostpreußen nicht gern gemeinsame Sache
machen will, der den Begriff des Edelmanns überhaupt höher nimmt als
seine Standesgenossen, mehr im Sinne des alten Fendaladels, der auch sür
die Hörigen und Hintersassen sorgt. Der Freiherr und die Komtesse sind
zwei Herrscherncituren, die sich zuerst auf Tod und Leben bekämpfen, und es
dauert auch sehr lange, bis der anerzogne Stolz und die psychische Unbändigkeit
des Mädchens sich nnter den Willen des Mannes und damit unter das Joch
der reinen selbstlosen Menschenliebe beugen. Es wäre aber zu schön gewesen,
wenn sich die tragischen Konflikte, die der Verfasser mit großer litterarischer
Gewandtheit vorbereitet und langsam gesteigert hat, in einer ruhigen Harmonie
gelöst Hütten. Die Heldin geht an einer Krankheit zu Grunde, die sie sich im
Dienste der Menschenliebe geholt hat, und der Held verschwindet im Dunkel
der Nacht, man erführe nicht wie oder wo. Das liest sich alles sehr schön,
rührend und ergreifend. Aber wenn der erfahrne Leser den ersten Eindruck
überwunden hat, fragt er sich: „Wann habe ich doch zuerst etwas von diesem
Freiherrn von Loja, von diesem unerschrocken Ritter des Geistes, dem alles
glückt, bis der Krach kommt, und von der widerspenstigen Komtesse Marie, die
sich endlich doch dem Demokraten an den Hals wirft, gelesen?" Und dann
werden die Erinnerungen immer lebendiger, und zuletzt tauchen als Großvater
und Großmutter der schöne, Weiber und Barrikaden bezwingende Oswald und
seine bezwungne Melitta auf, die Spielhagen in seinen „Problematischen
Naturen" und in „Durch Nacht zum Licht" für die deutsche Litteratur un¬
sterblich gemacht zu haben scheint.
Für die Söhne und Töchter dieser Großväter hat nach Spielhagens Vor¬
gang Sudermann gesorgt, auch ein Ostpreuße wie zur Megede. Er hat in
seiner Heimat ebenfalls viele problematische Naturen kennen gelernt, aber er
hat sie aus ihrer sonstigen Lieblingsbeschäftigung, verheiratete Frauen, junge
Mädchen und Backfische zugleich zu bezaubern, etwas mehr herausgehoben und
sie zugleich zu Reformatoren der Landwirtschaft gemacht, die selbst den hoff-
nungslosesten Agrariern auf die Beine helfen. Der Verfasser des Romans
„Quitt!" steht auf den Schultern von Spielhagen und Sudermann. Wir
wollen ihm daraus keinen Vorwurf machen. Er mag im einzelnen Nachahmer
fein; aber seine Hauptfiguren hat er an demselben Urquell geschöpft wie seine
Vorgänger, mit denen er auch in der glänzenden Schilderungsweise, in der
Art, zu denken und zu empfinden, und in der schonungsloser Kritik des Adels
verwandt ist. Jener gemeinsame Urquell führt uns in den tiefen Schacht der
Heldensage, unmittelbar auf Siegfried und Brunhild, ans den Necken, der sich
die wehrhafte Maid durch seine überlegne Körperstürke unterthänig macht. In
unserm Zeitalter werden solche Kämpfe natürlich nur mit den Waffen des
Geistes und des Witzes ausgefochten, aber das letzte Ergebnis ist schließlich
dasselbe. Man kann über die rührende Geduld der deutschen Leser spotten,
die sich immer dieselbe Liebesgeschichte auftischen lassen, ohne ihrer überdrüssig
zu werden. Aber es ist immer leichter zu spotten als zu verstehen, ^chou
Tcicitus ist über die Stellung der germanischen Frauen in seiner Zeit
erstaunt gewesen. Im Gegensatz zu den leichtfertigen Römerinnen, deren
geistiger und sittlicher Gesichtskreis sich ungefähr mit dein der modernen
Pariserinnen deckte, waren sie den Männern, die sie nun einmal errungen
hatten, treue Gefährtinnen und Teilnehmerinnen an allen ihren Sorgen und
Gefahren. Im Mittelalter hat sich dieses Verhältnis zwischen dem germanischen
Manne und dem germanischen Weibe noch veredelt und verklärt, und es ist
so tief in das sittliche Bewußtsein unsers Volkes eingedrungen, daß eine Dich¬
tung, die im deutschen Volke Wurzeln fassen will, den Kampf zwischen Mann
"ut Weib bis zur völligen Abmessung ihrer Kräfte in den Vordergrund stellen
Muß. Es ist darum bezeichnend für den grundsätzlichen Unterschied zwischen
der französischen und der deutschen, vielleicht sogar zwischen der romanischen
und der germanischen Litteratur, daß in ersterer die Ehestands-, in letzterer
die Liebesromane überwiegen.
Der deutsche Leser und 'die deutsche Leserin, d. h. die echt deutschen, wie
wir sie uns vorstellen, die, die noch nicht durch die Lektüre der gallischen
Litteratur für Phryne und Genossinnen verdorben sind, sie haben immer einen
Hang zum Unerwartetem, zum Romantischen. Eine Liebesgeschichte ohne heftigen,
möglichst lang ausgesponnenen Kampf hat für sie nur ein müßiges Interesse.
Sie wollen ebenso gut dramatische Erregungen haben wie die Franzosen; aber
sie ziehen es vor, wenn aus den heftigsten Konflikten am Ende doch eine sanfte
Harmonie aufsteigt. Richard zur Megede ist — aber nur in diesem einen
Punkte — zu sehr Schüler seiner Meister, um von der Mode des Tages ab¬
zuweichen, die gerade einmal tragische Erregungen, bittere Schmerzgefühle statt
süßen Wohlbehagens braucht, nachdem Sudermann die Parole dazu aus¬
gegeben und in verschiednen Maskeraden vom Grafen Trask bis zu Johannes
dem Täufer wiederholt hat.
An ein psychologisches Problem der alten Heldensage erinnert auch der
Roman Antje Berg Holm von Hanns vonZobeltitz (Dresden, Karl Reißner).
Hier ist es der Siegfried, der zwischen zwei Mädchen steht und lange Zeit
braucht, ehe er seiner Sache sicher wird. Siegfried ist eigentlich dabei zu
viel gesagt. Es ist vielmehr ein Stück vom deutschen Michel, der in Gestalt
eines bayrischen Tiefbautechmkers nach der deutschen Nordmark berufen wird,
um seine Wissenschaft, mehr aber noch seine Rechtlichkeit an den Arbeiten am
Nordostseckanal zu erproben. Sehr bald gerät er in einen Konflikt zwischen
seiner Amtspflicht und seinem Herzen. Einer der Unternehmer, die für die
Ausführung und rechtzeitige Beendigung der Erdarbeiten zu sorgen haben,
einer von den rücksichtslosen Spekulanten aus der Schule Strousbergs, von
dem er aber nur seine schlechten Seiten, nicht aber auch die Weltgewandtheit
und den äußern Schliff angenommen hat, erregt zuerst die Kampflust des
Bajnvaren. Im Gegensatz zu vielen seiner süddeutschen Brüder, denen Gemüt¬
lichkeit und lässige Nachsicht beim behaglichen Genuß des Daseins unentbehrlich
sind, zeigt er norddeutsche, fast preußische Schneidigkeit. In seinem mensch¬
lichen Dasein, in den Gefühlen, die außeramtlich sein Herz bewegen, ist er
aber ein schwankendes, jedem Windhauche gefügiges Rohr. Bald führt ihn eine
Aufwallung edler Ritterlichkeit und innigen Mitgefühls zu Antje Bergholm,
der schuldlosen, unverdorbnen Tochter des durchtriebnen Bauunternehmers, bald
treiben ihn ästhetische Neigungen und selbstsüchtige Regungen zu der ehrgeizigen
Tochter eines Oberstleutnants, der in dem kleinen Kanalnest mit der großen
Zukunft die Stelle eines Varackeuinspektors bekleidet. Der Kampf zwischen
der naiven Bescheidenheit der jungen, kaum erblühten Mädchenknospe und dem
Selbstbewußtsein einer gereiften Weltdame wogt lange unentschieden hin und
her, bis sich endlich der Held aus seinem Traumleben wieder in die Wirklichkeit
zurückfindet und das Veilchen pflückt, dessen stillen Zauber ihm die berauschende
Pracht der Rose geraume Zeit entrückt hat.
In dem Roman geht natürlich alles nicht'so poetisch zu, wie unser
Gleichnis angedeutet hat. Es treten sogar die gemeinen Interessen des Tages
viel stärker in den Vordergrund, als es sich mit einer gewöhnlichen Liebes¬
geschichte zu vertragen scheint. Aber gerade in der Schilderung der Um¬
gebung, in der der Kampf der beiden Frauen um ihren Helden ausgefochten
wird, hat der Verfasser sein Bestes gegeben. Es ist keine einfache Schilderung
der Natur des nördlichen Holsteins, sondern die des Ringens der Menschen
mit der Natur. Es ist die Zeit, wo das Bett für den Kanal gegraben wurde,
der die Ostsee mit der Nordsee verbinden sollte, die Zeit, wo das Brausen
und Zischen der Maschinen, das rastlose Auf und Nieder der Dampfbagger, das
Krachen der Dampframmen die Totenstille der Moorgegenden unterbrach, und wo
von der Welt abgeschiedn? Flecken und Ansiedlungen plötzlich zu Mittelpunkten
lebhaften Verkehrs und regen Handels wurden. Die Einzelschilderungen dieses
gewaltigen Treibens von Baubeamten, Ingenieuren, Unternehmern, Aufsehern
und Arbeiterkolonnen erinnern an die Meisterschaft, mit der Zola solche Mafien
zu beherrschen, zu gliedern, zu individualisiren und dann wieder zu über¬
wältigender, fast sinnverwirrender Massenwirkung zusammenzubringen weiß.
Der deutsche Schriftsteller versteht aber die seltne Kunst, zu rechter Zeit seine
gestaltende Phantasie zu zügeln und wieder zu den Personen zurückzukehren,
für die er das Interesse seiner Leser vornehmlich gewonnen hat. Zuletzt steigert
er aber noch einmal seine Kraft zu einem Fortissimo bei der Schilderung der
Katastrophe, bei der der gewissenlose Unternehmer Bergholm, Antjes Vater,
bei einer That edler Menschenliebe selbst das Opfer feiner Entschlossenheit wird
und mit seinem Untergang sein irdisches Verschulden büßt-
Nicht minder gründlich als H. von Zobeltitz seine Nordmark, kennt
Schulte vom Brühl das Thüringer Land, in dem er mehrere Jahre seines
Lebens (als Journalist in Weimar) zugebracht hat. Er ist ein vielseitiger
Schriftsteller. Er hat anfangs über bildende Kunst geschrieben, dann hat er
sich als Lyriker hervorgethan, und vor etwa drei Jahren ist er auch mit einem
Roman „Der Marschallsstab" in die Öffentlichkeit getreten, einem figuren¬
reichen Lebensbilde aus den bergischen Industriebezirken, worin er mit keckem
Griff, aber mit gründlicher Kenntnis der Arbeiterverhültnisfe die soziale
Frage angeschnitten hat. Aber nicht etwa mit der Miene des Reformators
«der gar mit dem drohenden Stirnrunzeln des Agitators! Mit Gelassenheit
erzählt er nur, was er gesehen hat, und gruppirt seine Beobachtungen um
einige Personen, deren Geschicke sich absonderlich genug gestalten, um zu einer
Nomcmfabel auszuhalten. Eine Tendenz ist nicht zu erkennen, höchstens darin,
daß der Verfasser von dem Unterschied der Stände ziemlich gering denkt. Das
thun aber alle modernen Schriftsteller, die adlichen wie die bürgerlichen, und
wie ihm alle modernen Menschen, die nicht sogleich mit der Lakaienjacke zur
Welt gekommen find. Von derselben Gesinnung ist auch der zweite, jüngst
erschienene Roman des Verfassers: Gleich und ungleich (Stuttgart, Bonz
u- Comp.) durchdrungen. Das deutet schon zum Teil der Titel an. Ungleich
bezieht sich nämlich auf die Ungleichheit der Geburt und gleich auf die Gleich¬
heit der Welt- und Lebensanschauung, die zwischen den beiden Personen besteht
und allmählich heranwächst, die wir auf dem langen Wege von den Kinder¬
lehren bis zu voller Selbständigkeit und Reife von Mann und Weib begleiten.
Als Seitenstück zu seinem Roman von Fabrikherrn und Fabrikarbeitern giebt
Schulte vom Brühl hier einen Künstlerroman, der aber auch erst langsam deu
Lehrling einer Holzschnitzer- und Mvdellirschule in einem thüringischen Ge-
birgsdorfe zu einem Bildhauer heranreifen läßt, der es wagen darf, sich Künstler
SU nennen und mit frohem Bewußtsein seiner Kraft mit den Meistern seiner
Kunst zu wetteifern. Daß die Kunst adelt, weiß jeder längst, der seine Zeit
u» die Abwägung von Standesunterschieden verschwendet hat, und so wird
der Unterschied zwischen dem unehelichen Sohn einer thüringischen Bäuerin
und der verarmten Tochter eines Grafen, die sich zur Sicherung ihres Lebens¬
unterhalts selbst mit Energie des Kunsthandwerks befleißigt hat, leicht aus¬
geglichen, ohne daß einer dem andern seine Familiengcheimnisse abfragt.
Auch hier liegt die Stärke der künstlerischen Darstellung nicht in der
etwas breit ausgesponnenen Schilderung der mannigfachen Schwankungen in
den äußern Schicksalen und den innern Wandlungen des Liebespaares, sondern
in der liebevollen und doch nicht aufdringlichen Kleinmalerei, die uns die ein¬
samen, während des Winters tief im Schnee vergrabnen Dörfer des Thüringer
Waldes, ihre genügsamen Menschen, ihre harte Arbeit, ihre Mühsale, unter
denen der angeborne Kunsttrieb noch immer nicht erstarrt ist, und dann wieder
das reichere, aber im Grunde doch enge und engherzige Kunst- und Gesell¬
schaftsleben in der größten thüringischen Residenz vorführen. Man möchte
nicht gern an die Wahrheit dieser" Schilderungen glauben — aber von Jahr
zu Jahr mehren sich die Anzeichen, die auch den begeistertsten Verehrer der
in Ilm-Athen bewahrten litterarischen und künstlerischen Herrlichkeiten, soweit
es sich um ihr Nachwirken in unsrer Zeit handelt, stutzig machen müssen.
Der im Januar vorigen Jahres in Rom verstorbne Konrad Telmann
hat, obwohl er sein Leben nur auf dreiundvierzig Jahre gebracht und während
dieser Zeit fast stets mit schwerem Siechtum zu kämpfen gehabt hat, eine selbst
in unserm Zeitalter der litterarischen Produktion mit Dampf noch wahrhaft
unheimliche Thätigkeit entfaltet. Er hat von 1875 bis 1897 über achtzig
Bände Gedichte, Novellen, Skizzen und Romane veröffentlicht, und bei seinem
Tode wurde erzählt, daß sich noch in seinein Nachlaß einige unveröffentlichte
Manuskripte vorgefunden Hütten. Damals haben auch nachsichtige Freunde
dieses Übermaß von schriftstellerischen Schaffen aus seinem krankhaften Zu¬
stande erklärt. Den Tod vor Augen, hätte er sich gedrängt gefühlt, vor dem
Scheiden von dieser Erde noch alles herunterznschreiben, was er auf dem
Herzen hatte, was ihn bewegte, um der durch leibliche oder geistige Knecht¬
schaft leidenden Menschheit aufzuhelfen. Er hat auch wirklich durch seine von
wahrhaftem Mitgefühl erfüllten Schilderungen aus dem Leben der Landbevölke¬
rung in Sizilien, in Oberitalien und in Südtirol vielen die Augen über soziale
und geistige Schäden geöffnet, und namentlich war es sein Verdienst, durch
seinen Roman „Unter den Dolomiten" nach dem Einschlafen des Kulturkampfs
in Deutschland wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf die verderbliche
Pfafsenwirtschaft in den Ländern gelenkt zu haben, die dem Sommertvuristen
als ein Abglanz paradiesischer Herrlichkeit, dem denkenden Eingebornen als
die Hölle auf Erden erscheinen. Aber die Tendenzdichtung wiegt in dem litte¬
rarischen Nachlaß eines Dichters, den man nach seinem Tode streng auf seinen
wirklichen Gehalt prüft, ebenso leicht wie die in gewisse Romane eingestochene
Kritik an bekannten Menschen unsrer Zeit, mit der sich Telmann in einer An-
Wandlung übertriebnen Rechtsbewnßtseins die letzten Jahre seines Lebens getrübt
hat. Wenn man nach dem von seiner Gattin, Hermine von Preuschen, gemalten
Bilde urteilen darf, das ihn in seinem Arbeitszimmer darstellt, so muß er bei
seinem dichterischen Schaffen allerlei sinnliche Anregungen von außen gebraucht
haben: ein mit orientalischer Pracht ausgestattetes Zimmer, ein phantastisches
Ruhebett, auf dem er seinen Träumen nachhängen konnte, Dekorationen, wie
man sie häufiger bei Schauspielerinnen als bei ernsten Schriftstellern findet.
Aus dieser Umgebung kann man sich die bisweilen wie von Fieberwahn
diktirten Romane seiner letzten Zeit erklären; aber in diesem Zustand der
Ekstase verließ ihn auch die Erinnerung an das Leben, das er auf seinen
häufigen Reisen durch Italien, die Schweiz, Süd- und Norddeutschland
kennen gelernt hatte. Unter diesem Verhängnis seines Lebens haben besonders
seine letzten Romane gelitten, deren Handlung in Norddeutschland spielt. So
auch sein letzt erschienener Roman Gottbegnadet (Dresden, Karl Meißner),
der eigentlich nur in dem hastigen, aufgeregten, hie und da auch glänzenden
Stil die Hand Telmcmus verrät. Die Erfindung und die Charakteristik der
Personen geht aber nirgends über die Routine eines Erzählers hinaus, der,
ohne einen höhern künstlerischen Zweck vor Augen zu haben, nur zur Unter¬
haltung seiner Leser schreibt. Die Geschichte von der Liebschaft, der Ehe, der
Trennung und der schließlichen Wiederversöhnung eines verwöhnten Mutter-
fohnes, der als Gescmgsvirtuose im Winter in Berlin, im Sommer in den
Bädern sein Irrlicht leuchten läßt, und einer soliden Kaufmannstochter aus
Stettin ist nicht einmal spannend im Sinne sensationslüsterner Leser. Aber
sie liest sich leicht und nett, und mit diesem Erfolg begnügen sich viele Schrift¬
steller. Telmann war ehrgeiziger. Es muß ihm aber doch an Selbstkritik ge¬
suhlt haben, sonst Würde er, der in seinen italienischen, besonders in seinen
sizilianischen Novellen dicht an Paul Heyse herangerückt ist, nicht Romane zu
alltäglicher Unterhaltung geschrieben haben.
Dafür sorgt ein ganzes Heer von Schriftstellern und Schriftstellerinnen
w Berlin, die sich, nachdem einmal das Stichwort vom „Berliner Roman"
gefallen war — wohl zuerst von dem schnell vergessenen Paul Lindau —,
ort großer Fingerfertigkeit auf diese neue Romcmgattuug gestürzt haben. Dabei
handelte es sich natürlich nur um eine Veränderung des Stoffgebiets, nicht
UM eine Umwälzung der litterarischen Gattung, die sich die Wortführer und
Bahnbrecher für den „Berliner Roman" von ihrer großartigen Entdeckung ver¬
sprochen hatten. Zuerst kamen die mehr oder weniger witzigen Fabrikanten
und Spekulanten wie Paul Lindau, Hugo Lubliucr und Fritz Mcmthner, die
"lie zusammen keinen Funken dichterischer Gestaltungskraft haben, dann die
Naturalisten, die in dem Kote der vorstädtischen Gassen und Proletarier¬
wohnungen herumwühlten, und zuletzt die federgewandten Damen, die wirklich
"l Berlin ^V. und in Berlin 0. Bescheid wußten öder doch wenigstens so
thaten. Stoffe genug haben alle gehabt. In der That ist Berlin — diesen
Vorzug werden ihm selbst seine erbittertsten Feinde lassen müssen — der be¬
vorzugte Sammelplatz aller Leute geworden, die für Romanschriftsteller die
brauchbarsten und dankbarsten Modelle abgeben. Man kann sie zunächst in
zwei große Gruppen teilen: in solche, die ihr Glück, d. h. ihren auswärts be¬
gründeten Wohlstand mit vollen Zügen oder in ruhiger Behaglichkeit genießen
wollen, und in solche, die in Berlin ihr Glück machen wollen, weil andre
Orte Deutschlands für ihren Thatendurst zu klein geworden sind, oder nachdem
sie anderswo Schiffbruch erlitten haben. Dazwischen giebt es natürlich noch
einige Mittelgruppen, wie z. V. abgewirtschaftete Gutsbesitzer, pensionirte
Ofsizierte und Beamte, die verbitterten Gemüts im Strudel der Millionenstadt
untertauchen oder mit ihrer spärlichen Habe, die sie aus dem Zusammen¬
bruch gerettet haben, in einem stillen Winkel ein bescheidnes Leben führen
wollen.
In der Schilderung solcher Menschen, die entweder ganz untergehen oder
durch eigne Kraft oder mit Hilfe mutiger, anders denkender Söhne und Töchter
aus der Brandung wieder emportauchen, entfaltet Frau Ada von Gersdorff
seit Jahren eine bemerkenswerte Virtuosität. Sie ist, wie es das moderne
Nomadenleben so mit sich bringt, teils in Ostpreußen, teils in Berlin zu Hause,
und zwar dort wie hier gleich gut. Sie kennt die „Zigeuner der Großstadt"
ebenso genau wie die großen und doch auf mehr oder wenigen schwachen
Füßen stehenden Grundherren der Ostmark. Diese gründliche Kenntnis zweier
Welten hat sie zu einer Lebensanschauung gebracht, die man eher demokratisch
als aristokratisch nennen könnte. Für sie hat die Aristokratie nur baun ihren
vollen Wert, wenn sich die vornehme Geburt mit Adel des Herzens und Vor¬
nehmheit der Gesinnung verbindet, und der schlicht bürgerliche Mann ist, wenn
er die gleichen Eigenschaften des Geistes und Herzens hat und sie bewährt,
nach ihrer Meinung einem Grafen und Fürsten durchaus ebenbürtig. Diese
Anschauung hat sie mit großer Entschlossenheit in dem dreibändigen Romane
Hochgeboren! (Berlin, Otto Janke) vertreten, der zwar nicht zu ihren
künstlerisch vollendetsten, aber jedenfalls zu denen gehört, die den Gefühlen
der namenlosen Menge am meisten schmeicheln und darum sehr gern gelesen
werden. Wie die Standesgenossen der Verfasserin darüber denken, wissen wir
nicht. Aber gewisse Anzeichen deuten darauf hin, daß man in diesen Kreisen
bereits gelernt hat, wenn man dort überhaupt noch etwas liest, solche Tendenz¬
romane, die alle Standesunterschiede beseitigen wollen, mit Gleichgiltigkeit,
blasirten Achselzucken, vielleicht sogar mit einem gewissen Wohlwollen aufzu¬
nehmen. Man wird darum schwerlich daran Anstoß nehmen, daß in dem
Roman Hochgeboren eine Gräfin, deren Mutter ihr eine „geschlossene" Krone,
d. h. eine Fllrstenkrone zugedacht hat, wegen wirtschaftlicher Unglücksfälle dem
bürgerlichen Inspektor ihres Vaters, einem mit allen guten Gaben ausge-
statteten Prachtmenschen, mit herzlicher Freude die Hand reicht. Wieder einmal
hat männliches Heldentum ohne Ansehen der Geburt den Sieg über eine Welt
von Vorurteil gewonnen.
Trotz des etwas phantastischen und, wenn wir uns die Sache recht über¬
legen, zur Zeit noch wenig glaubwürdigen Grundzugs der Handlung hat die
Verfasserin doch in den Einzelschilderungen eine Menge feiner Beobachtungen
offenbart, namentlich in der Schilderung einer Gärtnerfamilie in Berlin 0.,
die jedem Kenner der Verhältnisse die eignen Erinnerungen auffrischen wird.
Es liegt vielleicht in der weiblichen Natur begründet, daß die Anschauung, die
Fähigkeit, schnell erfaßte Eindrücke mit allen für die meisten Beobachter un¬
sichtbaren oder gleichgiltigen Kleinigkeiten zu schildern, und die Kunst, sie an
rechter Stelle zu verwerten, noch in einem Mißverhältnis zu der Kraft steht,
große Handlungen zu erfinden, denen sich die Ornamentik der Detailmalerei
als etwas Beiläufiges und doch Unentbehrliebes angliedert. An diesem Mangel
leidet auch der Roman Sankt Georg von G. von Stokmans (Berlin,
Otto Janke). Die Verfasserin, eine Schlesierin. führt uns in eine der größern
Städte ihres Heimatlandes, in eine, deren mittelalterlicher Charakter sich noch
stolz und ehrfurchtgebietend neben moderner Lebensweise und neben modernen
Landhäusern behauptet hat. Den Titel des Romans hat das Wahrzeichen
einer alten Apotheke gegeben, auf der sich Wohlstand. Reichtum und Ehrbar¬
keit einer ganzen Familie aufgebaut haben, denen plötzlich von allen Seiten
Erschütterung droht. In die alte, verschnörkelte Welt, die nicht bloß durch
die geheiligten Überlieferungen eines Patriziergeschlechts, sondern auch durch
strenge religiöse Überzeugungen und moralische Anschauungen wie durch Eisen-
s-'leer abgeschlossen ist, dringt jugendlicher Frohsinn und jugendlicher Übermut.
Ausgelassene Künstler und Weltkinder rufen Irrungen und Verwirrungen
hervor, die beinahe den Seelenfrieden ehrenfester Menschen zu stören drohen.
Aber die kluge Verfasserin weiß den schnell heraufbeschwvrnen Spuk auch
ebenso schnell wieder zu bannen, und wenn auch hie und da noch eine Wunde
ewe Zeit lang nachblutet, so ist doch soviel Seelenstärke vorhanden, daß der
^ser um endliche Heilung nicht zu bangen braucht. Er wird vielleicht auch
"icht lange mehr an die Menschen zurückdenken, deren seelische Kämpfe für ein
paar Stunden seine Aufmerksamkeit gefesselt haben, länger vielleicht an die
kleine Welt von engen, winkligen Gassen, hochgiebligcn Häusern und halb¬
dunkeln Gotteshäusern, in der diese Kämpfe ausgerungen worden sind.
Immerhin halten sich in dieser Erzählung die phantastische Erfindung in
der wundersamen Führung von Menschenschicksalen und die Beobachtung wirk¬
lichen Lebens noch so die Wage, daß eine erträgliche Unterhaltung für an¬
spruchslose Leser daraus geworden ist. In voller Zügellosigkeit hat dagegen
Fou Ursula Zoege von Manteuffel ihre Phantasie in dem dreibändigen
Roman: Am langen See (Berlin, Otto Janke) hernmgaloppiren lassen. Es
mögen wohl vierzehn oder fünfzehn Jahre dahingegangen sein, als wir dem
Namen der Verfasserin im Feuilleton einer Berliner Tageszeitung zuerst
begegneten und in ihr ein frisches, lebendiges Talent entdeckten, von dem trotz
jugendlicher Unreife und drolliger Unkenntnis der Gesetze künstlerischen Schaffens
gutes zu hoffen war. Ihrem ersten Roman: Mark Albrecht sind dann auch
noch einige andre gefolgt, die einen Fortschritt in der Vertiefung ihrer Menschen¬
kenntnis wie auch in ihrer künstlerischen Reife erkennen ließen. Dann hat
man lange nichts von ihr gesehen, wenigstens nichts, was sich aus der Masse
des Lesefutters der Beachtung ernsthafter Leser aufgedrängt hätte. Um so
peinlicher ist die Überraschung, die uns das erste Lebenszeichen bereitet, das
wir jetzt von ihr erhalten haben. Es scheint, daß sie ihre schöpferische Phan¬
tasie nur noch mit Lebens- und Reiseerinnerungen befruchtet, die schon halb
verblaßt sind, und die sie nur noch durch Zeitungslektüre auffrischt. Davon
hat auch ihr Stil, der sonst von Leben und Bewegung strotzte, seine graue
Färbung augenommen. Es ist ein „papierner" Stil, und aus Papier und
Karton sind auch ihre Gestalten geschnitten, mit Ausnahme der Bewohner
des Jnselhofs, der allein noch mit seinen Insassen die Spuren der Zeichnung
nach dem Leben an sich trügt. Was sonst an Figuren und Szenerien um uns
vorüberhuscht, das sind wesenlose Schatten oder Typen, deren Bekanntschaft
wir in Hunderten von Romanen gemacht haben. Paris, die Riviera, Neapel,
eine deutsche Hauptstadt ohne nähere Charakteristik — es kann ebensogut
Stuttgart wie Berlin sein —, eine geographisch ebensowenig bestimmbare
Gegend an einem „langen See" und ein vernachlässigtes Gut in Ostpreußen —
das sind die Schauplätze, und reiche Emporkömmlinge mit ihren Familien und
ihrem schmarotzenden Anhang, Fürsten des Geldes und Fürsten von Geburt,
die letztern Sprößlinge eines verarmten Adelsgeschlechts, eine polnische Gräfin,
die sich von russischen Geheimpolizisten wegen revolutionärer Umtriebe aus
völlig unbegreiflichen Gründen zum Selbstmord gedrängt glaubt, ein junger
Afrikaforscher, der sich ihrer Tochter annimmt und sie sich nach vielen Fähr¬
nissen auf dem einsamen Jnselhvfe unter der Obhut seines Oheims zum Weibe
erzieht — das sind die Hauptfiguren, die die Verfasserin auf jenen Schau¬
plätzen durcheinander wirbelt. Wir zweifeln nicht, daß stoffhungrige Leser an
dieser abenteuerlichen Geschichte, die nach vielen bedrohlichen Zwischenfällen
doch noch so lieblich endet, ihre herzlichste Freude haben werden. Das ernst¬
haftere künstlerische Schaffen liegt aber von dieser Art von Geschichtenerzählerei
völlig abseits.
Eine Enttäuschung, wenn auch keine so große wie Frau von Manteuffel,
hat uus auch Karl Mauro mit dem dreibändigen Roman: Jugend¬
genossen (Berlin, Otto Janke) bereitet. Wenn wirs nicht schon längst aus
Kürschners Litteraturkalender gewußt hätten, so würden wir jetzt aus dem
Titel ersehen, daß Karl Mauro nur ein Deckname für den bekannten Kunst-
Historiker und Ästhetiker Karl Lemcke in Stuttgart ist. Ohne diesen doppelten
Verrat wären wir niemals auf den Gedanken gekommen, daß der Verfasser
der „Populären Ästhetik," der die Welt abstrakter Ideen mit der nüchternen
Wirklichkeit so eng verknüpft hat, wie keiner seiner Vorgänger, in der prak¬
tischen Ausübung seiner Lehren zu einem Phantasten werden könnte, der
über seinen Träumereien, seinen Rückblicken in die Vergangenheit, seinen
empfindsamen Regungen für versunkene Kuriositäten in Menschengestalt die
künstlerische Gestaltung eines dichterischen Werkes ganz aus den Augen verliert.
In dieser Erzählung von Menschenschicksalen, die mit der Schleswig-holsteinischen
Erhebung von 1848 beginnt und die dabei beteiligten Personen etwa bis zum
Jahre 1870 begleitet, hat der Verfasser eine Zickzacklinie gewählt. Von
Holländisch-Indien geht diese Linie über einige Hafenstädte und über Hamburg
wieder nach Schleswig-Holstein zurück. Aber länger als die Haltcstationen, die
der Held der Erzählung macht, sind die des Erzählers. Es ist nicht zu be¬
schreiben, wie er in eifriger Geschäftigkeit immer wieder den Strom der Schilde¬
rung unterbricht, um eine neue Geschichte in eine alte ciuzuschachtelu und
mit behäbiger Lust an der Kleinmalerei die Aufmerksamkeit des Lesers durch
immer neue Figuren zu fesseln, aber zuletzt auch zu verwirren. Es ist nicht
einmal etwas neues. Lemcke ist ein Schüler von Wilhelm Raabe, von dem
er aber nur das äußere Machwerk, das Einschachtelnngssystem gelernt hat.
Bis zu dem tiefen Schacht, aus dem Raabe seinen pessimistischen, mitunter
sogar bitterbösen Humor herausholt, ist Lemcke aber nicht gedrungen, und da
es ihm durchaus trotz seines Erfindungstalents nicht gelingt, etwas selbst¬
ständiges zu schaffen, so sollte er, wenn der dichterische Trieb stärker geworden
O als sein wissenschaftlicher, die Muster der Litteraturgeschichte beiseite lassen
Und eine eigne schriftstellerische Physiognomie zeigen, aus der wir erst ersehen
können, ob er etwas persönliches zu sagen hat oder nicht.
Mit Telmann verwandt ist Ernst Eckstein, nicht nur in gewissen Rich¬
tungen seines litterarischen Schaffens, sondern auch in der Unklarheit über
den Umfang seiner Fähigkeiten. Eckstein hat italienische Novellen und Romane
aus dem modernen Leben geschrieben, die sich mit den besten Telmcmns messen
können. Er hat sich auch, wie Telmann, in das Leben der norddeutschen Gro߬
städte gestürzt und sich noch mutiger als jener an die Lösung der sozialen
Trage herangemacht. Aber in seinem litterarischen Schuldbuch giebt es auch
Zwei dunkle Flecke, von denen Telmnnns Lebensgeschichte frei geblieben ist: das
sind die Schulhumoresken und die historischen Romane ans den Zeiten des
sinkenden Nömertums. Es ist bezeichnend für den Geschmack des urteilsloscn
^sepubliknms, daß gerade diese beiden Spezialitüten Ecksteinscher Vielseitigkeit
Und Fruchtbarkeit ihm die größten materiellen Erfolge eingebracht haben,
^lelleicht ist er selbst mit den Jahren aber weise genug geworden, den
glitzernden Schein der Mache von dem Wesen dichterischer Kunst unterscheide»
zu können. Denn in seiner letzten Veröffentlichung, einer Novellensammlung,
der er nach der umfang- und gehaltreichsten den Titel Adotja gegeben hat
(Berlin, G. Grote), ist er von der Gymnasialhumoreske bereits zu humoristischen
Erzählungen aus dem Leben von Universitütsprofessoren und Dozenten gediehen,
ohne damit freilich mehr zur Hebung dieses Standes in der öffentlichen
Meinung beizutragen. Mit dem wirklichen Leben haben diese Schilderungen,
die an und für sich sehr unterhaltend sind, nichts zu thun. Aber um so mehr
die erste, die der Sammlung den Namen gegeben hat. Hier wird Eckstein
zum Sittenprediger; er, der vor Jahren den Übermut der Schuljugend zu noch
kühnem Thaten angestachelt hat, zeigt die letzten Folgen der Emanzipation,
die Tragödie der freien Liebe, die ein edel geartetes Weib in den Armen eines
schwachen Mannes zu leiden hat. Die Lehre ist sehr eindringlich und wird
wohl viele Leser überzeugen, wie wir wünschen, am meisten die weiblichen.
Die freie Liebe ist und bleibt immer eine größere Fessel für das Weib als
für den Mann, und die Frauen können nichts unsinnigeres thun, als wenn
sie die Probe auf ihre Theorien an Masfenbcispielen machen wollten!
ir pflegen Italien das Land der Kunst zu nennen. Aber zu dem
Lande fehlt leider das Volk, womit nicht gerade das Volk der
Künstler gemeint ist, das ja auch in andern Ländern den Ver¬
gleich mit der Vergangenheit nicht aushält, sondern die Menschen,
die die Kunst ihrer Vorfahren schätzen, verstehen und verwerten.
Zwar sieht in Italien auch der Main? aus dem Volk in der Regel mit einem
gewissen Stolze auf die Kunstwerke seines Orts, und die Gebildeten wissen
auch in ihrer schönen, phrasenreichen Sprache von ihrer glänzenden Kunst und
ihrer prächtigen alten Kultur zu reden und zu schreiben, aber höher schützen
sie doch die Eintrittsgelder, die die fremden Reisenden zurücklassen, und den
vielfältigen Gewinn, den sonst der Fremdenverkehr mit sich bringt, und der sich
auf viele Millionen beläuft. Davon hat der praktische Italiener etwas. Die
Kunst überläßt er herzlich gern den Fremden, den Deutschen, Engländern und
Franzosen, zu denen neuerdings noch die Amerikaner gekommen sind. Die
mögen sie studiren und zu Büchern verarbeiten. So ist es in Italien mit
der antiken Archäologie gegangen, und so geht es mit dem Studium der ita¬
lienischen Kunst.
Die Italiener verhalten sich also hier in Bezug auf ihre Kunst wie die
Chinesen, die den Fremden die Verwertung ihrer ganzen Kultur überlassen,
anders als die Japaner, die das selbst übernommen und zu dem Zwecke von
weiter vorgeschrittenen modernen Völkern gelernt und angenommen haben.
Dafür gewinnen sie aber auch zum Staunen Enropas große Schlachten, die
die Chinesen verlieren! Wir wollen den Vergleich nicht auf die Italiener an¬
wenden, da wir von Kunst zu reden haben und nicht von Kriegskunst, obwohl
man ja auch sagen könnte, daß, wer sich nicht die Kultur seiner Vergangenheit
durch täglich neue Arbeit zu eigen macht, sie nicht erhalten kann und darüber
auch endlich seine nationale Kraft einbüßen muß. Spanien ist gerade jetzt nicht
weit von diesem Ende.
In Bezug auf die Kunst also haben die Italiener das Feld so gut wie
ganz den Fremden überlassen. Auf den Ruhm Vasaris ist nur enge Lokal-
forschung gefolgt, so nützlich sie auch oft gewesen sein mag. Die wenigen
hervorragenden Männer, die weiter ausgriffen, haben mit dem Widerstand und
der Trägheit, wenn nicht mit noch schlimmern Eigenschaften ihrer eignen
Landsleute zu kämpfen gehabt. Aus welcher Verwahrlosung mußten so viele
Kunstwerke erst in unsern Tagen gerettet und neu geborgen werden! Wie
mangelhaft ist noch jetzt, abgesehen von wenigen großen Sammlungen der
Hauptstädte, ihre Bewahrung, Aufstellung und Anordnung! In welch skanda¬
lösen Zustande verharren die Kataloge! Aber wie wenig Italiener sieht man
auch in den Galerien! Es giebt ferner kein einziges brauchbares kunstgeschicht¬
liches Handbuch eines Jtalieners, und als Lesebuch für höhere Schulen schleppt
ein Auszug aus Milauesis Vasari seine zahlreichen Irrtümer und Druckfehler
geduldig von einer Auflage in die andre. Und so ziemlich in der ganzen Ge¬
schichtswissenschaft ist es ja so gegangen: die brauchbarsten Arbeiten über ita¬
lienische Geschichte werden von Ausländern gemacht. Man wird sich darüber
kaum wundern, wenn man bedenkt, daß die Italiener nicht einmal eine ge¬
nügend ausführliche allgemeine Darstellung ihrer eignen politischen Geschichte
geliefert haben (wozu sie in den fünfundzwanzig Jahren seit der Einigung des
rc^no doch hinlänglich Zeit gehabt hätten), dergleichen doch z. B. wir Deutschen
für unsre Geschichte in mindestens einem Dutzend guter Schulbücher besitzen.
Wer von uns sich über italienische Geschichte unterrichten will, muß zunächst,
also bis er in die Spezial- oder Lvkallitteratur vordringen kann, wieder zu
Büchern Fremder greifen.
Kommen dann die Fremden und verarbeiten das Material zu ihren
Büchern nach ihren Grundsätzen und für ihre Zwecke, denn sie schreiben ja
nicht für Italiener: so hinken diese höchstens in ihren verschiednen Lokalblättern
>nit allerlei kritischen Nörgeleien und Nachträgen hinterher und wissen doch
aus eignen Mitteln kaum etwas dazu beizutragen als die immer wieder gehörten
Phrasen von ihrer herrlichen Kunst und ihrer unvergänglichen Kultur. Selbst
der vortreffliche Morelli war nicht ganz frei von dergleichen auf Eifersucht
zurückzuführenden kritischen Anwandlungen. In Hans Trogs eben erschienener
Biographie von Jakob Burckhardt, auf die wir demnächst zurückkommen werden
(Basel. Reich), kann mau es ja lesen, wie spät sich die Herren Akademiker von
San Luca, und die sich einst um ihres Scharfblicks willen als Luchse be¬
namsten, die Lincei, entschlossen, den zu ihrem Ehrenmitgliede zu machen,
durch den ihnen selbst erst das Verständnis ihrer eignen Kunst war erschlossen
worden. Oder sollten sie die vielen Wendungen einer rührenden litterarischen
Bescheidenheit, mit denen der feinfühlende Fremde sich gewissermaßen als Ein¬
dringling in das Besitztum der Berechtigten vorzustellen und zu entschuldigen
pflegt, sollten sie sich das wirklich dahin ausgelegt haben, als verstünden sie
das alles noch viel besser? Warum hat denn keiner von ihnen etwas ähn¬
liches geschrieben, und warum lebt man in Italien bis auf den heutigen Tag
von den übersetzten Handbüchern der Fremden? Cavaleaselle ist tot, Adolfo
Venturi ist ein weißer Rabe, die Kupferstichschätze der italienischen Samm¬
lungen muß ein junger deutscher Gelehrter ordnen. — So hart und unfreund¬
lich das klingt — aber man kann doch nicht jemand immer bloß deshalb
verehren, weil seine Väter ihm recht viel hinterlassen haben, womit er nicht
umzugehen weiß oder Lust hat!
Ein Buch, aus dem die Italiener aufs neue sehen können, wie man in
Deutschland die herrliche alte Kunst ihres Landes nicht nur zu schätzen, sondern
auch zu bearbeiten versteht, ist die kürzlich erschienene Festschrift zu Ehren
des kunsthistorischen Instituts in Florenz, dargebracht vom kunsthistorischen
Institut der Universität Leipzig, ein stattlicher, reich illustrirter Folioband
(Leipzig, Liebeskind) mit nicht weniger als neun Aufsätzen oder vielmehr
Bündeln von einzelnen Abhandlungen, die der Leipziger Professor der Kunst¬
geschichte, A. Schmarsow, aus seinen frühern Arbeiten ausgewählt und in
neuer Überarbeitung zusammengestellt hat. Schmarsow wird an Vielseitigkeit
nur von wenigen seiner deutschen Fachgenossen erreicht; er hat sich mit
nordischer sowohl wie italienischer Kunst, mit Architektur nicht minder als mit
Skulptur und Malerei sowie mit vielen Zweigen der Kunstdekoration ein¬
gehend und erfolgreich beschäftigt. Er kennt aber auch, wie wenige, die zeit¬
geschichtliche Litteratur und verwertet sie mit historischem Blick zur Erläuterung
des einzelnen Kunstwerks, und er weiß ebenso gut in dem heutigen Leben die
Fäden zu finden, durch die die Kunst mit Landes- und Volksart zusammenhängt.
So ordnet anstatt willkürlich üsthetisirender Betrachtung die wissenschaftliche,
historische Auffassung alle einzelnen Überbleibsel zu einem wieder lebendig ge-
wordnen Ganzen.
Um nur vou dem Wichtigsten des reichen Inhalts in einer kurzen Über¬
sicht eine Vorstellung zu geben, sei zunächst auf eine Charakteristik der Bild¬
hauer Niccolc» und Giovanni Pisano hingewiesen, in der der Versuch gemacht
Wird, das Gotische in seiner Bedeutung sür Giovannis Kunst schärfer zu er¬
kennen. Dann folgt eine Schilderung Andrea Pisanos namentlich auf Grund
der Thürreliefs am Baptisterium. Daß hier Giotto an den Entwürfen ge¬
holfen habe, weist Schmarsow mit Recht zurück, dagegen sucht er bei den
Reliefs am Kampcmile den Anteil Giottos in der mehr malerischen Haltung
einzelner Felder bestimmter zu umschreiben. Nach einer Beschreibung neu ent¬
deckter Fresken aus dem Leben der heiligen Katharina von Spinello Aretino
in einer Kapelle nahe bei Florenz werden eingehend die Skulpturen an Or
San Michele behandelt. In ihnen zeigt sich am deutlichsten, wie die Nenmfsance-
swlptur aus der Gotik hervvrwüchst, und auch wer sich über ihr Verhältnis
zur Antike klar werden will, kann nichts besseres thun, als die sehr ver¬
schiedenartigen Statuen dieser vierzehn Pfeilernischen des eigentümlichen kleinen
Bauwerks aufmerksam studiren. Hier sind sicher vertreten mit Werken Nanni
d'Antonio. Ghiberti und Donatello in je drei Nischen, Verrocchio in einer;
unbekannt ist der Meister des gvtisirenden Jakobus in einer weiter», und
wegen der übrig bleibenden drei Nischen ist man auf Mutmaßungen ange¬
wiesen. Als Ganzes ist dieser Aufsatz wohl der interessanteste, er enthält viele
feine Bemerkungen, die in dieser Form noch nicht ausgesprochen worden sind.
In dem folgenden wird das höchst merkwürdige Relief mit der Krönung eines
Kaisers dnrch einen Bischof im Museo Nazionale ausführlich gewürdigt. Man
wird mit Vergnügen der feinen Stilanalyse solgen und dem Verfasser das
Verdienst lassen, das Werk noch entschicdner aus dem Mittelalter heraus in
die Renaissance gerückt zu haben. Aber wenn er nun auch deu Meister er¬
mittelt zu haben meint, nämlich Luca della Nobbia, so ist das doch mehr
durch ein der exclusiv tertii der alten Logiker entsprechendes Verfahren zu
stunde gebracht: das Wert muß einen bedeutenden Urheber haben, andre be¬
kannte Bildhauer passen nicht, also bleibt nnr dieser übrig. So verführt man
ja oft. aber das Ergebnis befriedigt so wenig, wie sonst in solchen Fällen.
Ebenso ist es mit der bekannten Thonbüste des Museo Naziouale, die manche
Piero de Medici nennen, und die Schmarsow ebenfalls mit großer Entschieden¬
heit Luca della Nobbia zuweist. Im Porträt wird in der Regel ans dem
Stil allein der Meister noch schwerer zu ermitteln sein als in andern Gattungen,
Weil da das Modell des Dargestellten sich meistens etwas widerspenstiger zeigt
gegenüber der persönlichen Manier des Künstlers, wenigstens in der Plastck,
denn bei Malern wie Rubens, Van Dyck oder Frans Hals liegt die Sache
schon anders. Müssen wir also Schmarsows Attributionen ablehnen, so halten
wir doch gern die Gedanken fest, aus denen sie hervorgegangen zu sein scheinen.
Schmarsow hat nämlich das Gefühl, als wäre Luca della Nobbia eine noch
eigenartigere und kräftigere Persönlichkeit gewesen, als wie man ihn sich ge¬
wöhnlich, z. B. namentlich auch Donatello gegenüber, denkt.
Sehr gehaltvoll ist ein größerer Aufsatz über die Federzeichnungen, die
man das Venezianische Skizzenbuch Raffaels zu nennen Pflegt. Schmarsow
hat die Originale genau geprüft und ist überzeugt, daß sie dem jungen Naffael
gehören, ebenso urteilen andre Genossen seines Faches, und nicht viel anders
die Herausgeber der neuesten Auflage des Cicerone. Andre wieder können sich
nicht denken, daß alle diese Blätter, soweit sie unter einander zusammenhangen,
von Naffael gezeichnet worden seien, und wenn man aussondert, bleibt für den
Rest keine Berechtigung, gerade dem Naffael zugeschrieben zu werden. Mau
wird sagen dürfen, daß nicht nur die so Urteilenden an Zahl überwiegen,
sondern auch einzelne von ihnen ein großes Maß von Autorität für sich in
Anspruch nehmen können. Schmarsow hält eine Entscheidung der Frage nur
vor den Originalen für möglich, da sämtliche photographische Nachbildungen
die Feinheit des Duktus entstellt zeigten und irre führen müßten. Damit sind
die meisten vom Mitreden ausgeschlossen, und eine Vereinigung auf eine Meinung
wird niemals eintrete». Es muß aber doch möglich sein, aus mechanischen
Nachbildungen, wenn die Farbe wegfällt, wenigstens etwas pro oder contra
zu entnehmen, und zu etwas sollten doch auch die dem Aufsatze beigcgebneu
Autotypien dienen. Übrigens scheint auch hier wieder ein wenig die oben be¬
rührte Methode der sxolusio wrtii im Spiele zu sein. Schmarsow fragt: Ans
welche Weise soll denn sonst diese Sammlung von Zeichnungen entstanden
sein, da alle bisherigen Erklärungen unwahrscheinlich sind? Darauf können
die Gegner der Echtheit sagen: Das zu ermitteln sind wir uicht verpflichtet,
um Naffael ablehnen zu dürfen; iZnor-Maus! Diese Position ist nicht so un¬
haltbar, und wer sich nicht ganz ohne eigne Meinung dahin gestellt hat, wird
sich durch diesen Aufsatz nicht veranlaßt finden, sie aufzugeben.
Endlich hat der Verfasser mit seinen Schülern die wenig gekannte und für
ältere italienische Bilder außerordentlich wichtige Sammlung des 1854 ver¬
storbnen Ministers von Lindenau in Altenburg neu katalogisirt und giebt uns,
als eine damit zusammenhängende Grundlage, Abhandlungen über sieuesische
und florentinische Treceutisteu und hauptsächlich florentinische Quattrocentisten.
Hier mußte die „Bestimmung" von Grund auf neu gemacht werdeu, denn in
der Kenntnis dieser Schulen ist man doch in den letzten dreißig Jahren wirk¬
lich weiter gekommen. Den Fachmann wird die Art, wie Schmarsow hier
verfahren ist, lebhaft interessiren, und der Kunstfreund findet dazu einige recht
gute Gemälde abgebildet, an denen er sich schadlos halten kann, wenn er für
die Feinheiten der Bilderkcnnerschaft nicht die nötige Empfindung haben sollte.
Wir haben von dem mannigfachen Inhalt des Werkes nur einiges berührt
und möchten, anstatt die Übersicht zu vervollständigen, lieber noch einige Be¬
merkungen über den Eindruck des Ganzen machen und zwar gerade an diese
Mannigfaltigkeit anknüpfen. Der Verfasser giebt Sicheres und zum Teil Be¬
kanntes neben sehr viel Hypothetischem; beides wird verbunden durch eine die
Fugen vielfach verdeckende blühende, novellistisch angehauchte Sprache. Den
angehenden Fachgenossen, denen hier ja wohl in erster Linie ein Musterbuch
Ma Lernen in die Hand gelegt werden sollte, wird es eine nützliche Übung
sein, Gewisses von Ungewissen zu scheiden, sie sehen alle Kunstgriffe ihres
schönen Handwerks auf die anmutigste Weise gehandhabt und werden nicht
leicht ein Buch finden, das ihnen größere Lust zu ihrem Berufe einflößen
könnte. Es wäre schade, wenn der Eindruck des Subjektiven und Unsichern,
wie er namentlich aus den vielerlei „Bestimmungen" der Kunstwerke spricht,
dem Genusse im Wege stehen sollte, den sonst ein größeres kunstfreundliches
Publikum an derartigen Büchern zu haben pflegt. Deswegen und weil es
sogar schon einzelne Kunsthistoriker giebt, die von „Verseuchung" sprechen,
wenn ihre Fachgenossen die Kunstwerke als Produkte lebendiger und histo¬
rischer Kräfte auffassen und nicht nur Einwirkungen der Zeit im allgemeinen
M ihnen sehen, sondern auch Einflüsse von Schule zu Schule und sogar von
Person zu Person aus ihnen herauszulesen bemüht sind, mag hier noch em
Wort über diese Richtung und was davon in diesem Buche zum Vorschein
kommt, gesagt werden. Die Grundanschauung läßt sich geschichtlich stützen.
Alle großen Zeiten, in denen die Menschen etwas zum Beeinflussen in sich
hatten', bestätigen sie. in der Malerei z. B. das siebzehnte Jahrhundert. Nicht
nur die vielen kleinern holländischen Maler, sondern auch manche großen ge¬
horchen sichtlich diesem „Gesetz der Beeinflussung." Es ging eben in der
Kunst lebendiger her als heute, wo bei übrigens viel größerm und leichterm
Verkehr der Künstler froh ist. wenn er seine mühsam gewonnene Individualität
unbehelligt durch Experimente und Wandlungen durchs Leben bringt. Und
von jenem Leben möchte nun der Kunstforscher noch etwas in den Werken
der Zeit entdecken; er will den Mann hinter dem Bilde begreifen, oder er
sucht anch wohl einen andern Mann dahinter. Der Mißkredit dieser Methode
stammt nicht erst von gestern. Der alte Waagen war seiner Zelt in Berlin
namentlich unter den Künstlern, die sich sür alte Bilder interessirten, wegen
seiner Bestimmungen geradezu berüchtigt. Und doch hält mau jetzt, nachdem
die Zeit klärend gewirkt hat, die Mehrzahl seiner Bestimmungen für das
Fundament der Geschichte der Malerei und ihn selbst immer noch sür den
umfassendsten Bilderkenner, der je gelebt hat. Burckhardt hat. wie wir in dem
erwähnten Buche von Hans Trog lesen, über die „Attribuzler" gespottet, aber
als Mittel zum Zweck hat er die Sache nicht verachtet, wie sein Verhältnis
M Waagen zeigt. Und die „Attribution" ist doch auch für den Kunstforscher
nur der kürzeste Ausdruck einer Ansicht über den Charakter des Kunstwerks.
Anstatt umstündlicher Beschreibung sagt er: In der Art des N.. und seine
Fachgenossen verstehen ihn. In der Polemik der Kunsthistoriker klingt der¬
gleichen ja oft für den Laien lächerlich, aber in Wirklichkeit ist damit ke.ne
größere Unsicherheit des Wissens bezeichnet, als sie auch auf manchen andern
Gebieten herrscht, wo man nur eben eine derartige Terminologie Nicht ge-
braucht. Zuweisungen dieser Art finden sich bei Schmarsow durch das ganze
Buch hin.
Etwas andres ist es ja, wenn namenlosen Werken bestimmte Urheber ge¬
geben werden sollen. Hier sollte größte Vorsicht walten. Wir haben uns
Schmarsows Luca dellci Robbia als Meister solcher namenlosen Werke nicht
aneignen können. Ebenso wenig mögen wir ferner den Hieronymus der Samm¬
lung Lindenau, soweit der vortreffliche Lichtdruck ein Urteil erlaubt, dem
Filippo Lippi geben. Und ebenso wenig endlich das herrliche Profilbrustbild
einer jungen Frau dem Sandro Botticelli. Die Figur mit den zwei Durch¬
blicken in die Landschaft hat etwas so absonderlich bestimmtes, problemartiges,
an einen Plastiker erinnerndes, daß mau am besten sagen wird: Art, aber
keineswegs Werk, des Piero dei Frcmeeschi. Schmarsow hat sogar die Per¬
sönlichkeit der Dame bestimmt: Katharina Sforza Niario. Eine Medaille, die
nur freilich die Katharina viel nider vorstellt, scheint das zu bestätigen. Daß
der Verfasser erkannte, daß die gemalte Dame mit den Attributen einer heiligen
Katharina dargestellt sei, und er sich nun nach weltlichen, historischen Katha-
rinen umsah und auf die Sforza geriet, ist gewiß eine feine Kombination, und
daß beide Damen, die auf dem Bilde und die auf der Medaille, wirklich eine
auffallend gebogne Nase haben, könnte man als die Belohnung ansehen, die
das Glück solchem Verdienst zu teil werden läßt. Aber den Verfasser selbst
hat ein Zweifel beschlichen an der Nichtigkeit seiner Entdeckung, wie man aus
seiner Anmerkung über den laugen Hals der gemalten Dame sieht, und wir
bekennen offen, daß uns die gebognen Nasen die einzige Ähnlichkeit zu sein
scheinen, die zwischen den beiden Personen besteht.
Dr. W. Kovpmcmn in Kassel, der sich schon durch eine größere Veröffent¬
lichung über die Entwicklungsgeschichte Raffaels nach dessen Handzeichnungen
bekannt gemacht hat, bietet uns neuerdings ein vollständiges, systematisch ge¬
ordnetes Verzeichnis mit ausführlichen Bemerkungen über Echtheit, Wert und
Charakter, sowie Zugehörigkeit der einzelnen Zeichnungen, mit Hinweisen auf
die Ansichten andrer Forscher, also einen oAtnlognö raisoiuM unter dem Titel:
Raffaels Handzeichnungen in der Auffassung von W. Koopmcmu (Mar¬
burg, Elwert). Kovpmcmn ist ein Schüler von Morelli, aber ein selbständiger,
der namentlich in Bezug auf die Zeichnungen aus der Jugendzeit Raffaels
vielfach von der Ansicht seines Meisters abweicht. Morelli hat das große
Verdienst, mit Nachdruck eine Reihe von Kriterien für die echten Handzeich¬
nungen Raffaels hingestellt und dadurch das Feld für weitere Forschungen
geebnet zu haben; er ist trotz vielen einzelnen Mißgriffen doch zu den ersten
Kennern der Gattung zu rechnen. Das Gebiet umfaßt zwei große, deutlich
von einander unterschiedue Gruppen: Feder- oder Stiftzeichnuugeu zu den
frühern Werken, deu kleinern Tafelbildern, Madonnen usw., und mehr malerisch
angelegte Kreide- oder Nötelskizzen zu den römischen Fresken. Jene ersten,
Mit denen sich bis jetzt die Forschung am gründlichsten beschäftigt hat. ent¬
halten am meisten eigenhändige Arbeiten Raffaels; von den andern, denen man
erst neuerdings mit eindringlicher Sorgfalt nachgegangen ist, werden die meisten
als Arbeiten seiner Schüler angesehen und viele sogar als nachträgliche Kopien
der ausgeführten Werke ausgeschieden (Dollmayr). Diese Fragen sind von
großer Bedeutung für das Werk Raffaels, und bei der Unsicherheit, die da¬
durch einstweilen an einer Stelle, wo man früher die sichersten Fundamente
sub. Platzgegriffen hat, ist die verständnisvolle Arbeit Koopmanns ein will-
kommnes Hilfsmittel zu jeder ernstern Beschäftigung, vor allem für die Forscher.
Koopmann hat eine hohe Vorstellung von der selbständigen Kraft Raffaels.
Er kann sich ebenso wenig wie Morelli davon überzeugen, daß das oben er¬
wähnte Venezianische Skizzenbuch auf ihn zurückgehen soll. er spricht sich auch
gegen manche in neuerer Zeit angenommnen, rein äußerlichen Entlehnungen
Raffaels aus Werken des Quattrocento aus und meint, gerade das ernstliche
Studium seiner Handzeichnungen müsse den Blick sicher machen gegen solche
unzulässigen Vorurteile und vermeintlichen Entdeckungen. Auch den Kunstsinn
des weitern gebildeten Publikums und den reinen Geschmack in der Kunst selbst
müsse solches Studium befördern. Wir fürchten in dieser Hinsicht, daß unser
schnell lebendes Geschlecht sich kaum die Zeit lassen wird, den etwas müh¬
samen Umweg über die Handzeichnungen Raffaels „in der Auffassung von
W. Koopmann" einzuschlagen, und hätten in Anbetracht dessen eine viel
knappere Fassung der Bemerkungen zu den einzelnen Nummern wünschen
mögen. Dies ist aber die einzige Ausstellung, die wir machen, und die wir
auch mit Rücksicht auf die das Werk benutzenden Fachmänner nicht für über-
flüssig halten. Sonst halten wir das Buch in seiner Anordnung sowohl wie
w der Sorgfalt der Ausarbeitung für durchaus lobenswert.
Bruckmanns Klassischer Skulpturenschatz, dessen erste Hefte schon in
den Grenzboten besprochen worden sind, soll, nachdem der erste Jahrgang nun
vollendet vorliegt, noch einmal nachdrücklich mit dem Hinweis darauf empfohlen
werden, wieviel dieser eine Jahrgang allein für die italienische Renaissancekunst
schon gebracht hat. Die drei Pisaner (Niccolo, Giovanni. Andrea), Brunellesco,
Ghiberti. Donatello und Verrocchio sind schon durch ihre Hauptwerke auf
vielen Tafeln vertreten, und mit A. Pollnjuolo. Luca della Nvbbia und
Michelangelo (warum schreiben die Herausgeber beständig Buonarotti?) ist
der Anfang gemacht worden. Sämtliche Abbildungen sind gleich vorzüglich.
Der deutsche Kunstverlag hat ein Anschauungswerk geschaffen, dem keine andre
Nation etwas an Güte und Wohlfeilheit gleich empfehlenswertes an die Seite
SU stellen hat.
Auch von Burckhardts Cicerone ist nun endlich die siebente Auflage
^schienen, „unter Mitwirkung von C. von Fabriczy und andern Fachgenossen
bearbeitet von Wilhelm Vota" (Leipzig. Seemann). Das Altertum bildet
einen Band für sich, den zweiten die nachantike Skulptur und Architektur (in
dieser Reihenfolge aus technischen Gründen), den dritten die Malerei. Kleine
und große Zusätze zum Teil mit Rücksicht auf neue Entdeckungen finden sich
in kaum übersehbarer Menge, der Umfang ist bei knappster Fassung und sorg¬
fältiger Ausnutzung des Raums nicht unbedeutend gewachsen, und das Ganze
ist ein wirkliches kleines Denkmal deutschen Fleißes und deutscher Gründlich¬
keit. Es ist schon oft von Seiten der Freunde Burckhardts der Wunsch laut
geworden, man hätte, da der ursprüngliche Burckhardt aus diesen neuen Auf¬
lagen immer mehr verschwände, einfach zu einem Neudruck der ersten Auflage
zurückkehren sollen. Aber dafür würde kein Verleger zu haben gewesen sein,
da der Cicerone nun einmal als Hand- und Reisebuch gedacht und nur durch
fortwährende Erneuerung lebensfähig zu erhalten war. Auch die Klammern,
die früher die Zusätze kenntlich machten, konnten bei der zunehmenden Umge¬
staltung nicht beibehalten werden. Aber der alte Burckhardt ist in dieser neuen
Auflage vielfach wieder hergestellt worden, und für die wenigen, die noch
weiter auf ihn zurückgehen möchten, wird es ja nicht schwer sein, sich noch
ein Exemplar der ersten oder der zweiten Auflage zu verschaffen.
Kein Buch ist fehlerlos, und auch zu diesem ließe sich noch mancherlei
kleine Nachlese halten. So z. V. erkennt man Seite 586 nicht, wem die
Herausgeber das Leben der Einsiedler der Thebais im Camposcinto zugeschrieben
wissen wollen, wenn sie Pietro Lorenzetti verwerfen, und es war ganz über¬
flüssig, zu den Weltgerichtsbildern Seite 594 als Urheber den obskuren Fran¬
cesco Traini zu nennen nach einer neuesten italienischen Arbeit über den
Camposcinto. Es ist ferner gelegentlich der Schule von Athen von Nasfael
Seite 780 nicht richtig gesagt, daß Papst Julius II. nach einem Briefe vom
16. August 1511 den jungen Prinzen Federigo von Mantua „in diesem Ge¬
mach," d. h. in der Stanza della segnatura porträtirt zu sehen gewünscht
hätte. Vielmehr heißt es in dem Briefe, es solle geschehen „in dem Gemach,
wo der Papst selbst in natürlicher Größe gemalt sei," was uns also auch die
Wahl der zweiten Stanze (Heliodor) frei läßt. Aber solche und ähnliche Aus¬
stellungen bedeuten nichts gegenüber der gar nicht in Worten auszudrückenden
Arbeit nicht nur der Herausgeber, sondern auch des Verlags, die in diesen in
seiner Art einzigen kleinen Bänden niedergelegt ist. Hoffentlich werden das
auch unsre Schweizer Freunde erkennen und mit uns den gelehrten Heraus¬
gebern und dem verständnisvollen Verleger dafür dankbar sein.
Der russische Finanzminister hat
mehrfach und zuletzt in dem das Budget für 1898 begleitenden Bericht hervor¬
gehoben, wie das schnelle Steigen der Staatseinnahmen ein Kennzeichen und eine
unmittelbare Folge der allgemeinen Besserung der wirtschaftliche» Zustände des
russischen Reiches sei. Es ist unleugbar in der russischen Industrie ein Aufschwung ein¬
getreten, der, von ausländischen Kapital und fremder Intelligenz genährt, dem Reich zu
einer erwünschten Selbständigkeit auf vielen industriellen Gebieten und zu wachsenden
Steuerqnellen verholfen hat. Aber der Landbau ist bisher doch noch so vorwiegend
der Nährboden des russischen Volkes, daß von seinem Wohlbefinden das Wohl und
Wehe der Volksmasse und auch des Staatssäckels abhängt. Eine schlechte Ernte,
wie im verflossenen Jahr, macht sich alsbald auch in Zöllen nud Steuern fühlbar,
und man hört schon Klagen über Abflauen des Marktes fiir manche Waren, was
auf das Sinken der Kauskrnft hindeutet. Wenn das Budget eher ein Anwachsen
als ein Zurückgehen der direkten landwirtschaftlichen Abgaben und Zahlungen in
Aussicht nimmt, so kann man andrerseits auch die großen bäuerlichen Stcuer-
rückstände nicht außer acht lassen, die sich in vielen Gubernien des Reiches seit
Jahren ansammeln und der wachsenden Verschuldung des Großgrundbesitzes bei
den Banken parallel gehen. Beide Erscheinungen sind seit Jahren andauernd und
Mgen nicht eben von steigender Wohlfahrt. Daneben tauchen andre Symptome
auf. die unzweideutig auf krankhafte Zustände in der Masse der Bevölkerung hin¬
weisen.
Die „Nignsche Rundschau" entnimmt einer von dem Herrn Peschechodow ver¬
öffentlichten Untersuchung folgende Angaben, die sich ans Verhältnisse des frucht-
baren zentralen Guberniums Knluga beziehen. Der Herr fand, daß in 1313 bäuer¬
lichen Wirtschaften mit einem Landeigen von 3 bis zu 12 Hektar und darüber die
zur Ernährung jährlich übrig bleibende Kornmenge auf den Kopf der Esser 7,1 bis
8,2 Zentner betrug. Mit 2 bis 2^ Pfund Brot nährte sich also wesentlich eme
Bevölkerung der animalische Stoffe fast gar nicht. Gemüse in sehr beschränktem
Maße zu Gebote stehen. Es ist klar, daß bei solcher Nahrung auch die Arbeits¬
kraft sehr gering ist und die Sterblichkeit von 26 bis zu 50 pro Mille im Jahre
steigt. Es wird aber auch eine andre Erfahrung erklärlich, auf die das russische
Blatt „Nedclja" hinweist. Darnach macht sich bei den Rekruten immer stärker ein
Rückgang an Körperkraft erkennbar: sie werden immer kleiner und schwächer. Es
wird als Grund davon angeführt, daß der heutige russische Bauer uni 30 Prozent
weniger zu essen habe als die frühern Generationen. „Im Dorfe kommt zu Mittag
die gekochte Kartoffel und in Wasser getauchtes Brot auf den Tisch; abends wieder
Kartoffel; Gurken und Kohl sind selten..."; es werde als Luxus angesehen,
Wenn man an Feiertagen einen ..Heringskopf" erschwinge und davon eine Suppe
k°che. Geschweige denn, daß man es zu Fleisch. Milch. Käsen, dg . bringe.
Über die Armut des russischen Bauern bringen die russischen Blätter M lange
herbe Klagen. Vor zwei Jahren berief sich die „Nowoje Wremja" auf eme statistische
Arbeit des Herrn Tschugrow. wonach die jährliche Ausgabe des russischen Bauern
55 Rubel auf den Kopf beträgt (N. Wr. 1896. Ur. 7506). Von solchem Lohn
kann sich ein Mann freilich nicht ausreichend nähren, zumal in einem Lande, dessen
Klima schon eine kräftige Kost verlangt.
Bei solcher elenden Nahrung in normalen Jahren muß ein Volk nicht nur
geschwächt werden, sondern allmählich verhungern. Und wenn es die Mittel hätte,
sich genügend mit Brot zu versehen, so dürfte auch in guten Erntejahren wenig
Korn zur Ausfuhr übrig bleiben. Diese Ausfuhr ist also eine Folge nicht des
Reichtums, sondern der Armut des Volkes. Man meint oft, der russische Bauer
habe wenig zu essen, weil er zu viel trinke. Aber anch das ist nicht ganz richtig.
Der Engländer z. B. vertrinkt weit mehr als der Russe, und wenn der russische
Bauer genug zu essen hätte, so dürfte er sich den Branntwein, den er zu sich
nimmt, ohne Schaden gönnen. Der russische Landbau ist eben in einer äußerst
schlimmen Lage, woran der blühende Zustand der staatlichen Finanzen nichts ändert,
woran er vielmehr zum Teil selbst schuld ist. Es ist ein böser Widerspruch, der
darin liegt, daß hier der Minister von Erstarkung der Landwirtschaft und von
blühenden Finanzen redet, und dort die durch Nahrungsmangel hervorgebrachte
„physische Degeneration des russischen Volkes" beklagt wird.
Wir habe» wiederholt auf die Nationalökonomen
proudhonistischer Richtung hingewiesen, die den Fehler des bestehenden wirtschaft¬
lichen Zustands weder im Privaten Kapital- und Grundbesitz, noch in der allzu¬
großen Ungleichheit der Einkommen, noch in der „anarchistischen" Produktion,
noch in der relativen Übervölkerung und dem Bodenmangel sehen, sondern in der
ihrer Ansicht nach falschen Organisation des Handels, die eine Menge von
Schmarotzern schaffe und das Einkommen der übrigen Stände um 25 bis 50 Prozent
verkürze. Wir haben bei solchen Gelegenheiten immer bemerkt, daß wir gegen
solche einseitigen Auffassungen nichts einzuwenden hätten, wenn sie zu wirklichen
Reformen in einem bestimmten Gebiet führten, und das thue ja diese Bewegung
durch Förderung der Konsumvereine. Einer ihrer Vertreter nun, der Hamburger
Kaufmann Max Rieck, der vorm Jahre seine Gedanken über den Gegenstand in
dem Buche: „Deutscher Kaiser und deutsches Volksvermögen" ausgesprochen hat,
veröffentlicht jetzt in demselben Verlage (Freund und Wittig in Leipzig) das
Manuskript eines verstorbnen Freundes, der ebenfalls Kaufmann war: Der
Handel auf altruistischer Grundlage von P. Bleicken. Bleicken ist ent-
schiedner Gegner der Sozialdemokratie, obwohl er sie entschuldigt, und auch des
Staatssozialismus, obwohl er, wie Rieck, die Hoffnung hegt, daß der Kaiser die
von ihm geplante Reform fördern werde. Er hat einen förmlichen Plan aus¬
gearbeitet, nach dem sich die Konsumenten allerorten als „Herren des Marktes"
organisiren, den Zwischenhandel durch Voykott totmachen und sich in einem Welt¬
syndikat zusammenschließen sollen, das sich in „vier Systeme" gliedern würde:
West- und Mitteleuropa, das britische Weltreich, Amerika, Rußland (mit einem
Hafen am Weltmeer, etwa am Persischen Golf, bemerkt er dazu). Das europäische
System wird seinen Sitz natürlich in Hamburg haben, und Hamburg wird die
Königin aller Weltsysteme sein. Bleicken legt die großartige Weltstellung dar, die
Hamburg schon seit langem einnimmt, und erzählt, als er 1847 als Korrespondent
eines großen Hanfes in Hull gelebt habe, sei er von einem Lehrling gefragt
worden, was größer sei, Hamburg oder Deutschland. Es gebe kein Land, kein
Volk und keine Stadt, deren Namen in fremden Ländern und Weltteilen einen so
guten Klang habe. „Und nichts ist begreiflicher als dies. Alle andern Völker
haben als Kolonisatoren ihre Fahnen in das Blut der Volker getaucht, die sie auf
die unmenschlichste Weise bekämpft, auf die empörendste Weise unterdrückt und aus-
gedeutet haben. An der Hamburger Flagge klebt kein Tropfen fremden Blutes,
und die fremden Völker kennen den Hamburger Kaufmann nur als den friedlichen
Vermittler neuer Genüsse und Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Das Deutsche
Reich hat. indem es die Stellung Hamburgs im Weltverkehr gewissermaßen geerbt
hat, eine große ruhmreiche Erbschaft angetreten, und man möge es im Reiche wohl
beherzigen: die schwarz-weiß-rote Flagge hatte in den Weltverkehr nicht ehrenvoller
und erfolgreicher eingeführt werden können als am Top des Hamburger Kauffahrers."
Die Pläne des Verfassers und namentlich seine Absicht, den Altruismus zur Grund¬
lage des Verkehrs zu macheu. werden ja ziemlich allgemein für utopisch gehalten
werden, aber sie verdienen immerhin Beachtung, denn der Kleinhandel sieht sich
jetzt so wie so bedroht, und zwar nicht so sehr von den Konsumvereine», als von
den Riesenbazaren und Versandgeschäften, deren Gründer und Inhaber ihre Ge¬
schäfte nach nichts weniger als altruistischen Grundsätzen leiten, sodaß der Gedanke,
ob nicht lieber Genossenschaften die Sache in die Hand nehmen follten. der Er¬
wägung schon wert ist.
Der nationalliberale Neichstagsabgeordnete Pieschel hat in der Reichstags-
sitzuug vom 1. Februar 1898 angeregt, die Gerichte durch Beigabe von Assessoren
zu entlasten, um so den Richtern das gründliche Studium des bürgerlichen Gesetz¬
buchs zu ermöglichen. Diese sachgemäße Anregung wird ein frommer Wunsch bleiben.
Die Finanzminister der Einzelstaaten werden wohl ein Nein sprechen. Dringend zu
wünschen wäre freilich ein derartiger Ausweg; denn die Dienstgeschäfte der Richter
sind überall reichlich genug bemessen. Niemals stand der deutsche Richterstand vor
einer größern geistigen Aufgabe als jetzt in diesen Jahren drängender Gesetzgebung.
Das bürgerliche Gesetzbuch, das neue Hnudclsgesetzbuch. die Grundbuch- und Sub-
hastationsordnnng, die umfangreiche Novelle zur Zivilprozeßordnung und die Ab¬
änderungen der Konkursordnung erfordern eine außerordentliche geistige Anspannung,
wenn der Richter sie so beherrschen soll, daß er nicht am Worte kleben bleibt,
sondern aus dem Geiste der Gesetze Recht sprechen kann. Allein damit ist die
Reihe der neuen Gesetze noch nicht abgeschlossen. Ihnen reihen sich noch die landes¬
rechtlichen Einführuugsgesetze mit ihrer Summe von Vollziehungsinstrnttwnen an.
Nehmen wir z. B. Bayern mit feiner Nechtszersplitterung und Unzahl von Parti-
kulnrrechten. Hier wird das Einführnngsgesetz zum bürgerlichen Gesetzbuch nicht
bor Frühjahr 1899 fertiggestellt werden können, und nach seinem Umfange selbst
wird es ein kleines bürgerliches Gesetzbuch bilden. Wir wollen davon gar nicht
reden, daß die Richter durch die Anschaffung der zugehörigen, für das Studium
unerläßlichen Litteratur vermehrte Ausgaben haben. Die Gehalte der Richter sind
in keinem deutschen Bundesstaat übermäßig hoch, in Baden und Bayern am
niedrigsten. Was der Richterstand aber verlangen kann, das ist, daß ihm nach
dem Jahre 1900 reichlich Muße gegeben werde zum vollständigen Einleben in die
neuen Rechtsinstitutione». die in der Judikatnr erst ausgebaut werden müssen, und
daß auf geraume Zeit, vielleicht zehn bis fünfzehn Jahre, nur die allernotwendigsten
Gesetzentwürfe die Linie des Reichstags Passiren. Es geht jetzt wieder die ^ete
Von einem Neichsgesetz zur einheitliche» Regelung des Strafvollzugs und von einer
Reform des Strafgesetzbuchs. Auch die erwähnte Reichstagssitzm.g hat sich damit
beschäftigt. Allein diese legislatorischen Arbeiten sind nicht eilig. Die im ver¬
gangnen Jahre erlassene Verordnung des Bundesrates stellt allgemeine Grundsatze
für den Strafvollzug in den einzelnen Bundesstaate» auf und genügt fürs erste.
Die gesetzliche Regelung dieser Materie ist zudem nicht einfach; die verschiednen
Verhältnisse in den einzelnen Bundesstaaten werden hierfür manche Schwierigkeiten
bringen. Ebenso wenig eilt eine grundsätzliche Reform.unsers Strafgesetzbuchs, das
in der Hauptsache ein gutes, durchgearbeitetes Gesetz ist und auch jetzt noch den
Anforderungen entspricht. Die von einer Anzahl von Kriminalisten geforderte
Hinaufschiebuug der Strafmündigkeit von zwölf auf vierzehn Jahre kann in einer
kurzen Novelle erledigt werden. Die Frage aber, ob gefährliche Körperverletzungen
und deren wiederholte Begehung im Verhältnis zum Diebstahl nicht schärfer be¬
straft werde» sollen, muß unsers Erachtens ebenso grundlegend erörtert werden,
wie die Bestimmungen der sogenannten lox Heinze, die jetzt im Reichstag wieder
ans Tageslicht gebracht ist. Der Rechtsverkehr wird sich, wie bisher, noch auf
mehrere Jahre hinaus ohne die gesetzliche Regelung des Versicherungsrechts behelfen
können. Die Überlastung des Neichsjustizcunts wird ja hierin an und für sich einen
kleinen Hemmschuh abgeben. Also Verschönung des Nichterstands ans geraume Zeit
mit neuen Gesetzen; das wird die beste Kameel für eine gute Rechtsprechung sein.
Es sollte, wie in den Grenzboten einmal angeregt worden ist, ein Gesetz des
Inhalts erlassen werden: neue Gesetze über zivil- und strafrechtliche Materien dürfen
in den nächsten zehn Jahren nicht gemacht werden.
Ein glücklich gebildetes Wort für eine wichtige und schöne
Sache! Denn von einem kleinen Punkte aus die Wirkungen der allgemeinen Ge¬
schichte zu verfolgen und wahrzunehmen, durch wieviel Fäden das Einzelne mit
dem Ganzen zusammenhängt, hat nicht nur einen großen Reiz (wie mancher von
uus hat wohl in jungen Jahren den Gedanken gehabt, er müsse einmal seines
Dörfchens Geschichtschreiber werden!), es ist auch gut, wenn auf diese Art der
Sinn für das Geschichtliche im Volke lebendig erhalten wird. Denn der Sinn ist
da, und etwas Geschichte bietet schließlich jeder Ort. Die Belehrung kann also von
jedem ausgehen, so verschieden die Art der Überlieferung ist. Direkt und örtlich
angesehen, kann diese auch für größere Ortschaften ziemlich arm sein. Dann muß
der Geschichtschreiber die Quellen der Staats- und Proviuzialgeschichte durch Schlüsse
in das bescheidnere Bett herüberleitcn. Die Farbe» können nicht intim sein, aber
trotzdem die Zeichnung deutlich genug, der Ort wird behandelt etwa wie das Bei¬
spiel zu einer Regel. So ist es in der wohlgegliederten und gutgeschriebnen
Chronik der Stadt Schlichen, deren Berfasser, der dortige Amtsrichter
R. Krieg, anch einen Verein für Heimatskunde des Kreises (Schweiuitz) hat
gründen helfen. Das Buch (Schlieben, M. Urban) entspricht mit seiner klaren
Schilderung der dynastischen und rechtlichen Verhältnisse und mit der schlichten Er¬
zählung der nicht gerade sehr mannigfaltigen Thatsache» «.die Ermordung fünfund¬
fünfzig französischer Soldaten dnrch einen russischen Transport am 20. August 1813
dürste eine der merkwürdigste» sei») seiner nächsten Aufgabe sehr g»t, und wir
finden es natürlich, daß es am Orte seines Erscheinens gern aufgenommen worden
ist. Die eingeschaltete Biographie eines Ortswohlthäters, Kreisphysikus Wagiier
(1776 bis 1356), ist auch für nicht einheimische Leser eine wertvolle Zugabe. —
Viel mehr geschichtliche Überlieferung, insbesondre ein schon vor der Zeit des dreißig¬
jährigen Kriegs beginnendes Kirchenbuch mit vielen höchst originelle» Eintragungen
bot das Dörfchen Oberspier bei Sondershausen mit seinen nur siebenhundert Ein¬
wohnern dem Verfasser des Büchleins: Oberspier, ein Dorfbild aus alter und
neuer Zeit, Pfarrer O. Fleischhauer (Sondershausen, Druck von Eupel), Es
enthält viel mehr, als man hinter dem bescheidnen Titel erwarten wird, namentlich
aus der Zeit des dreißigjährigen und des siebenjährigen Kriegs, durch die beide
der Ort entsetzlich mitgenommen wurde. Sodann werden die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse sehr eingehend und bis auf alle einzelnen Zahlen genau, dabei aber höchst
anschaulich dargelegt. Wir erfahren, wie die Befreiung der Bauern und die Ein¬
führung neuer Landwirtschaftsarten, die Ablösungen, der Obstbau, die Vertopplung.
endlich der Anschluß an das Eisenbahnnetz auf den kleinen Ort gewirkt haben, und
«in Schluß zieht der Verfasser aus seinen Einzelheiten das Fazit für die haupt¬
sächlichsten sozialen Fragen. Er findet Mehrung des Wohlstandes, bessere Lebens¬
haltung gegen srllher und manchen Fortschritt im einzelnen zu verzeichnen. Die
einfache, an Daten sehr vollständige Darstellung scheint uns geradezu musterhaft
für solche kleinen Bilder der Heimatkunde zu sein. Was der Verfasser im Kleinen
beobachtet und beurteilt hat. läßt sich leicht weiter ausdehnen und durch Über¬
tragung und neue Anwendung nutzbar machen. Wir geben dafür eine Probe aus
vielen, indem wir die allgemeine Bemerkung, die dem Verzeichnis der Ortsvercme
vorausgeht, der Zustimmung unsrer Leser unterbreiten: „Eine Erscheinung, die wie
keine andre den Wohlstand der Bewohner kennzeichnet, ist das Vereinsleben in der
Gemeinde. Es muß ohne Zweifel ein Überschuß an materiellem Vermögen vor¬
handen sein, wenn die Einwohner Zeit und Geld darauf verwenden können, sich
"> Vereinen' zusammenzuthun, um in das Einerlei ihres arbeitsreichen Daseins
ewige Abwechslung zu bringen und dem Leben eine freundlichere Seite abzu¬
gewinnen." Ganz wie anderwärts und überall, wo mau über die Not der
Zeit klagt.
Mein Neffe hatte bei mir französischen Unterricht. An
einigen Dutzend ihm bekannten Fremdwörtern hatte ich ihm die annähernd richtige
französische Aussprache beigebracht — mein. sie ihm in das Gedächtnis zurück¬
gerufen. Dann war das erste leichte Lcsestück eines verbreiteten französischen Lehr¬
buchs gelesen worden, das nach den »euern Grundsätzen für den Unterricht >n
fremden Sprachen bearbeitet ist. Ich ließ den Schüler darin Wörter aufsuchen.
die er kannte. ließ einige andre aus der Ähnlichkeit mit lateinischen und denk,chen
Wörtern erschließen, ließ leichtere Fvrmwörter schlechtweg raten und gab schließlich
Von Satz zu Satz die Wörter und Ausdrücke a». die er nicht wissen, »och er¬
ließen und erraten konnte. Daun ging das zusammenhängende Übersetzen der
Geschichte vor sich usw. So waren einige Lektionen erledigt, als wir eines Tages
einen .wsvitantcu bekamen. Ein andrer Neffe, der Quintaner Walter von dem
Gymnasium zu H.. in dessen Qnartn Otto eintreten sollte, verlebte seine Ferien
bei uns.
Er war ein schwächliches Kerlchen, stark war entschieden die Brille, die er
^ug. Er hatte in seinem Wesen eine stetige Unruhe, in seinem Gesichtchen zuckte
«s jetzt hier, jetzt da — nach meiner Ansicht ein echter ..Überbürdeter. Walter
hatte dem Unterricht eine Zeit lang zugehört. Endlich machte er die schüchterne
Bemerkung: Onkel, die Vokabeln zu den Erzählungen stehen hinten, ^es erwiderte.
Ganz recht, aber ich weiß sie ja so. Und er daraus: Ja. aber Otto sollte eigent¬
lich Präpariren. Ihr also, ihr präparirt. forschte ich nun aus dem Nepras ntanten
der Quinta heraus ihr lernt die Wörter vor der Geschichte auswendig, mußt sie
Wohl gar an schreiben? Euer Lehrer hört sie ab? Wer riethe gu prapar.re ha.
schneidet schlecht ab, hat eine Strafarbeit zu erwarten und vielleicht e.ne schlechte
Zensur im Fleiß? Walter bestätigte im allgemeinen diese me.ne Ansichten vom
Wesen des Präparirens, worauf ich mit einer Frage, ans d.e ich nichts weiter als
ein verwundertes Gesicht erwartete, das Zwischengespräch beendete: Wenn in der
französischen Stunde euer französischer Lehrer zugegen ist, warum sagt er euch
dann beim Lesen die Wörter nicht, die euch unbekannt sind, und verwendet eure
Zeit statt auf den Inhalt der Geschichte auf den Inhalt des Vokabulariums?
Walter konnte und durfte nicht antworten, denn das Präpariren ist eine Ein¬
richtung der Lehrer und nicht der Schüler, und die Frage gilt also jenen: Warum
laßt ihr eure Schüler präpariren?
Habe ich recht, wenn ich sage: Eine hübsche Erzählung — erst recht, wenn
sie ein Teil eines interessanten Ganzen ist — ist ein lebendiger Baum für unsre
Jungen, ein Baum, der sich bewegt, der farbige Blüte» hat, Duft und Früchte
giebt, und der seinen wenn auch kleinen Teil zur Landschaft, zu einem Gesamtbild
beiträgt? Und habe ich ferner recht, wenn ich sage: Die Vokabeln der Erzählung
aber sind ein ständiges Gemengsel von Klötzen, Splittern, Wurzel- und Rinden-
stücken und dürren Blättern, in einem Spreukorb, genannt Vokabularium, den
Schülern dargeboten, damit sie mit solch leb- und blutlosen Wust ihr Gedächtnis
gewaltsam anfüllen? Man denke nicht an ein Mosaikbild! Denn die Vokabeln,
noch so scharfsinnig zusammengesetzt, geben die Geschichte nicht, und wem sollte es
einfallen, sie beim Einpauker irgendwie sinngemäß zu verbinden?
Von den zu erwartenden Nechtfertigungsgründen für den Gebrauch des Prä-
parireus will ich zuerst deu beleuchten: die Geschichte wird leichter erfaßt, fließender
übersetzt, wenn die Schüler die darin neu vorkommenden Wörter vorher gelernt
haben. Ich sage: Ganz im Gegenteil! Lernt der Schüler das fremde Wort mit
dem danebenstehenden deutschen vorher, so ist es in sehr vielen Fällen nicht nur
wahrscheinlich, sondern gewiß, daß sich mit dem äußerlichen hör- und sichtbaren
Wortbilde ein verschwommuer, ein schiefer, ja geradezu ein falscher Begriff ver¬
bindet, während in der Geschichte selbst ein lebhafter, deutlicher und richtiger Be¬
griff damit verschmilzt. Wer nun eine Ahnung davon hat, wieviel für das geistige
Leben, die innere Aktivität, von lebhaften, deutlichen nud richtigen Anschauungen
abhängt, der wird zugeben, daß eine unverantwortliche Verödung der geistigen
Frische die endliche Folge des reichlichen Lernens unverstandner Dinge sein muß. Ganz
anders ist es mit der „Vokabel a poswriori," sie hat ihren richtigen Inhalt, ihr
Gepräge, ein nachträgliches Einprägen in das Gedächtnis wäre nicht so bedenk¬
lich — aber vielleicht unnötig, denn da die Erzählung wohl öfter gelesen, abge¬
fragt, vielleicht auch »och eingeprägt und sicher in darauf folgenden Übersetzungs¬
beispielen angewandt wird, so muß sie ja schließlich festsitzen; nud was könnte es
vorteilhafteres und leichteres geben, als die Vokabel in dem Zusammenhange zu
befestigen, in dem sie Leben, Blut, eine Funktion, einen Zweck hat! Kommt eine
aber gar zu selten vor, sodaß sie durch den Gebrauch nicht im Gedächtnis be¬
festigt wird, so ist sie nicht würdig der geistigen Kraft, die ans sie verwandt
werden soll, noch auch des Platzes, den sie in dem engen Bewußtsein als immer
bereit beansprucht. Und wozu haben die Schüler alphabetische Wörterverzeichnisse?
Bleiben aber häufig angewandte Vokabeln nicht „festsitzen," so liegt wohl die Frage
nahe, ob der Schüler sich nicht eher sür ein Handwerk eignete, als für gelehrte
Studien.
Ein zweiter Grund für das Präpariren und ähnliche Eigentümlichkeiten des
höhern Unterrichts liegt in folgendem Gedankengange: Das oberste Ziel des Unter¬
richts ist Charakterbildung, und dazu ist eine Schulung des Willens dnrch eine
regelmäßig wiederkehrende Aufgabe unentbehrlich — eine regelmäßige Aufgabe,
deren nüchternen Ernst der Schüler immerhin fühlen möge. Das klingt so päda¬
gogisch, daß man kaum zu sagen wagt, wie falsch diese Meinung über Willens-
bildung ist. Und leider ist sie weit verbreitet! Man rechnet in der Regel bei
der Erziehung mit dem Willen als mit einer Größe, die stets vorhanden sei und
sich nur sträflicherweise manchmal nicht zeigen wolle oder auch in eine verkehrte
Richtung verrannt sei. Und man hätte doch alle Ursache, gerade bei der Willens¬
bildung, dieser wichtigen Angelegenheit, anzunehmen, daß wohl auch hier nichts
ohne zureichenden Grund dasein werde, daß ein Wille aufgebaut werden könne
und müsse nicht anders als auf seinen psychologisch natürlichen Voraussetzungen,
und daß also ein Wille nicht einfach kommandirt oder angeordnet werde. Wo
sich auf Kommando ein Wille bethätigt, ist dies allemal der des Komman-
direnden, während der Kommandirte vielleicht gar keinen hat oder ihn unter¬
drücke« muß. Es war ein guter, wohlmeinender Landlehrer, der seiner „Schul¬
ordnung" für die Schüler den Satz einverleibte: Liebe das Gute, hasse das Böse!
Hätte er uicht ebenso gut setzen dürfen „Habe einen moralischen Charakter" — ?
Es sind ebenso wohlmeinende Mahnungen: Sei fromm, sei gläubig, sei tapfer ser
ehrlich! Als ob wir mit unserm Willen unsern religiösen und moralischen Zustand
Händen hätten und nicht vielmehr umgekehrt unser Wille bedingungslos von
unserm religiösen und moralische» Zustand abhinge!
Es ist also die Frage, ob in der Erziehung solche innere Zustände, wie sie
^wünscht sind, bereitet werde» könne». U»d diese Frage muß allerdings denst
werden. Auf 'den einzuschlagenden Weg weist uus folgende Betrachtung. Brechen
wir in Gedanken von einer durchgeführten Handlung das änßere wahrnehmbar
gewordne Endglied, die Ausführung, ab, so stoßen wir auf den Willen als zweites
Mied u„d weiter zurück auf das Interesse. Bei keiner Handlung, die frei von
Zwang geschah, kann dieser Seelenzustand, eben das Interesse, gefehlt haben. ^n
°mer Richtung, in der ein Interesse nicht liegt, kann es keinen Willen, keine
Thaten geben. Wer also einen Charakter, einen Willen will, der pflege ein Inter¬
esse. Und so treten wir ans dem Gebiet theoretischer Erörterungen mit der Frage,
wie man das Interesse wecken und pflegen könne, wieder auf das Gebiet praktischer
^ethätiguua. vou dem wir ausgegangen waren. Jnteressirt bin ich in dreifacher
Weise, erstens. i»de.» mein materielles Wohl und Wehe mit einer Sache verknüpft
'se- zweitens indem der Schatz meines Wissens, mein geistiger Besitz. zur ^r-
ledigw.g der A»gelege»heit erfordert wird, und drittens, indem man meine geistigen
Kräfte dazu in Anspruch nimmt. Dem Interesse als einer höchst Aatzeuswerteu
Zugkraft steht der Druck gegenüber, den die Schule ohne und mit Willen ausübt,
"in den Schüler mechanisch durch Ausübung von Zwang in Bewegung zu setzen.
Wie sich die Weckung und Pflege des Interesses in der Praxis gestaltet konnte
"n diesem Ort nur angedeutet werden. Man wird es nicht leicht besser aus¬
einandergesetzt finden als in O. Willmanns Vorträgen „über die Hebung der
geistigen Thätigkeit durch deu Unterricht.» I» der Erweckung und Erhaltung des
Interesses liegt der Erfolg des Unterrichts; im Interesse liegt das Paradres e.ner
glücklichen, lebens- und strebeusvollen Jugend.
Bonaventura. der berühmte Mystiker war - so las ich
kürzch in der „Theologischen Realencyklopädie" - der Sohn armer^ aber
Sommer Eltern. Das ist eine von den Gedankenlosigkeiten, wozu.t das Wörtchen
»rin mißhandelt wird. Noch schlimmer ist freilich die: arm, aber ehrlich. Diese
Redensart ist uns von Jugend ans so geläufig. daß w.r gar acht mehr erroter,
ste zu gebrauchen; wahrscheinlich kennen wir sie schon aus der Fibel und ans den
Schullesebuch. Fühlt man gar nicht, was in diesem beschränkenden Bindewort „aber
mit dem verschwiegnen „obgleich" liegt? Ist bei der Armut die Unehrlichkeit
vorauszusetzen oder doch zu vermuten? Mancher ist doch deshalb arm, weil er
ehrlich ist, weil er nicht mit dem Ärmel das Zuchthaus streifen wollte, weil er
es verschmähte, seines Nächsten Geld und Gut mit einem Schein des Rechts an
sich zu bringen, wie sein reicher Nachbar (oder dessen Vater oder Schwiegervater),
der vielleicht nicht selber den Leuten das Geld aus der Tasche zog, aber es durch
andre Hände besorgen ließ und dabei nicht nur ein „ehrlicher," sondern sogar ein
angesehener Mann geblieben ist. Welche Verwirrung der Begriffe also! Was für
ein Geschrei würde entstehen, wenn jemand sagen wollte: reich, aber ehrlich! Und
doch wäre das nach dem Worte Jesu vom ungerechten Mammon viel berechtigter.
Nun wollen wir uns freilich hüten, Christi Worte selber gedankenlos zu gebrauchen
und etwa dieses vom „ungerechten Mammon" zu national-ökonomischen Zwecken
zu mißbrauchen oder jeden Reichen für einen schlechten Menschen anzusehen: auch
die Worte Christi sollen mit Verstand aufgefaßt und angewandt werden (obgleich
es seltsam ist, daß manche Leute, die im übrigen sehr streng in der Bibelausleguug
sind, gerade bei den Worten Jesu über den Reichtum erklärte Feinde jeder Buch-
stabenkuechtschaft werdeu und sich einer höchst liberalen Auffassung befleißigen!).
Soviel aber muß uus jener Ausdruck Jesu lehren, daß die Redensart „arm aber
<L. Br.
Da die Grenzboten öfters Ab¬
schnitte der englischen Wirtschaftsgeschichte beleuchtet haben, so wollen wir nicht
verfehlen, auf das 283. Heft der von Virchow herausgegebnen gemeinverständlichen
wissenschaftlichen Vorträge (Hamburger Verlagsnnstalt, vormals I. F. Richter) auf¬
merksam zu machen. Es enthält die Englische Wirtschaftsentwicklung im
Mittelalter mit Berücksichtigung der deutsche» Verhältnisse, dargestellt von Dr. Georg
Grupp, und bietet eine gute, kurzgefaßte Zusammenfassung der Hauptergebnisse
der Forschungen von Rogers und Ashley, ergänzt durch andre englische und deutsche
Werke, namentlich das von Schanz über Englands Handelspolitik. Die deutschen
Verhältnisse in den Kreis der Betrachtung zu ziehen war der Verfasser, der eine
gute Kulturgeschichte des Mittelalters geschrieben hat, durchaus befähigt.
Lornelio 1'g.cito nsllk storig. äella. eolturg, (Mailand,
Verlag von Ulrico Höpli) ist eine überaus interessante Darstellung der Geltung,
in der Tacitus in Altertum, Mittelalter und Neuzeit gestanden hat, sowie der
Einwirkung feiner Lektüre auf die politischen und moralischen Anschauungen der
Zeiten. Höchst bezeichnend, wenn auch manchmal von unfreiwilliger Komik, sind
die Urteile des ersten Napoleon über den Feind der Cäsaren, wenn sich auch nicht
verkennen läßt, daß Napoleon mit großem Scharfsinne die Eigenschaft des Taeitus
als eines Parteischriftstellers richtig erkannt hat.
in 28. März 1849 wählte die Nationalversammlung in Frank¬
furt kraft der Souveränität, die sie sich selbst zuschrieb, den
König Friedrich Wilhelm IV. zum „Kaiser der Deutschen." Er
lehnte die Krone ab und brachte damit die ganze so hoffnungs¬
reich begonnene Einheitsbewegung zum Scheitern. Fast fünfzig
Jahre später, am 28. März 1898, hat der verfassungsmäßige deutsche Reichstag
das ihm von der Negierung des Deutschen Kaisers vorgelegte Gesetz über die
Neugründuug der deutschen Kriegsflotte — denn eine solche ist es so gut,
wie die preußische Heeresreorganisatiou Wilhelms I. eine Neugründung des
Heeres war — in dritter Lesung endgiltig angenommen. Ein merkwürdiges
Zusammentreffen der Tage, und eine merkwürdige Parallele! Selbst der ver¬
härmtste Pessimist wird nicht leugnen können, daß das nationale Leben seit
1848 ungeheure Fortschritte gemacht hat. Vor fünfzig Jahren rang das
putsche Volk noch um die Grundlagen seiner nativnalstaatlichen Existenz, und
w dem Augenblicke, wo seiue Vertreter seit 57 Jahren zum erstenmale wieder
einen Kaiser kürten, waren sie thatsächlich weiter von der Erfüllung ihrer
Wünsche entfernt als am Anfange der ganzen Bewegung. Heikle ist nicht nur
der deutsche Nationalstaat unter dem Kaisertum der Hohenzollern fast seit drei
Jahrzehnten eine Thatsache, sondern das Reich ist auch in die Reihe der Welt-
Mächte eingetreten und schickt sich mit ruhiger Energie an, seinen Anteil an
der Weltherrschaft zu behaupten. Damals drohte England in frechem Hoch¬
mut, die schwarzrotgoldne Flagge der deutschen Kriegsschiffe als eine See-
räuberflagge zu behandeln; heilte begrüßen die rim«ZL Deutschland als eine
der Seegrvßmächte, und unsre Flagge, die in ihrem Schwarzweißrot die Farbe»
Preußens und der Hansestädte, der nationalen Monarchie und des seegewaltigen
mittelalterlichen Bürgertums bedeutungsvoll vereinigt, deckt die Schiffe der
zweiten Handelsmacht der Welt.
Doch nicht alles in diesem Vergleiche zwischen einst und jetzt fällt zu
Gunsten der Gegenwart ans. Mit dem Parlament von Frankfurt, das kühn
und hochsinnig einen Kaiser kürte, hält der deutsche Reichstag in dem Pracht¬
bau am Königsplatz in Berlin, der die Flotte bewilligte, leider gar keinen
Vergleich aus. Von dem Maße des lautersten Patriotismus und des idea¬
listischen Edelsinns, der den Kern der Volksvertreter in der Paulskirche be¬
seelte, ist in dem heutigen Reichstagspalaste wenig oder gar nichts zu finden,
und dieselbe bürgerliche Demokratie, die sich 1848 für eine deutsche Flotte be¬
geisterte, die erst zu schaffen war, hat sich jetzt zum Teil dem Ausbau eiuer
Kriegsmarine widersetzt, die schon eine rühmliche, wenn auch noch keine kriege¬
rische Geschichte hinter sich hat. Und so steht auch der heutige Reichstag in
der allgemeinen Schätzung ebenso tief, wie das Frankfurter Parlament hoch
stand. Wenn Eugen Richter letzthin beweglich klagte, daß die Regierung nichts
thue, um den „Respekt" vor dem Reichstage zu erhöhen, und ihr das
Gegenteil vorwarf, so richtete er diese freisinnige Elegie an eine ganz falsche
Adresse; er sah den Balken im eignen Ange nicht. Jedes Parlament genießt
soviel Ansehen, als es sich selbst verdient, und wenn der „Respekt" vor dem
Reichstage so tief gesunken ist, so trügt daran niemand anders Schuld, als
die gesinnungstüchtigen, unbelehrbarer Neinsager vom Schlage Richters und
die gewohnheitsmäßigen schwarzer aus alleu Parteien. Wie soll sich noch
jemand für die Wahrung der Rechte des Reichstags besonders begeistern oder
über ihre angebliche Verkürzung entrüsten, wenn die Mehrzahl der Volksver¬
treter so wenig Wert darauf legt, diese Rechte auszuüben!
So hat es denn auch eiuer sehr lebhaften Agitation bedurft, um die Stim-
mung des hohen Hauses soweit zu beeinflusse», daß sich schließlich eine anstündige
Mehrheit für das Flottengesetz zusammenfand. Die Agitation wurde begünstigt
durch die Ereignisse in China und in Haiti, die ein gütiges Geschick uns im
rechten Augenblicke sandte, um uns die Augen zu öffnen. Eugen Richter sah
freilich in der Agitation eine unerhörte Beeinflussung von oben, denn natürlich,
zu agitiren ist nur der Demokratie und der Opposition erlaubt; daß gewesene
Marineoffiziere mit und ohne Auftrag Flugschriften schrieben und herumreisten,
um Vorträge über die Flotte zu halten, das war ganz und gar unerlaubt,
denn am Ende mußte man sich doch sagen, daß sie von der Sache fast ebenso
viel verstünden, wie der unentwegte flottenscheue Vertreter von Hagen oder die
drei Sozialdemokraten, die Hamburg in den Reichstag schickte, daß also ihr
Auftreten auch nicht eines gewissen Eindrucks verfehlen werde, und es gelang
wirklich in überraschend kurzer Zeit, im deutschen Volke eine mächtige Strömung
zu Gunsten der Regierungsvorlage hervorzurufen; die Befürchtung, der große
Moment könne wieder einmal ein kleines Geschlecht treffen, erfüllte sich nicht.
Allerdings, als es zur Entscheidung kam. da fanden sich wieder Polen,
elsässische Protestier, Welsen und Sozialdemokraten zusammen, um dem Reiche
etwas zu verweigern, was es zu seiner Entwicklung notwendig braucht, und
um damit zu beweisen, daß die Negierung auf dem richtigen Wege war. Daß
mit diesen grundsätzlichen Reichsfeinden, die sich allerdings zuweilen darüber
entrüsten, wenn man sie rund heraus als solche bezeichnet, auch ein Teil des
bürgerlichen Freisinns stimmte, bewies wieder einmal, wie unglaublich unreif noch
viele Glieder dieses Bürgertums sind, das sich wenigstens früher gern geberdete,
als sei es die Nation selbst; unreif, weil es immer noch in den Banden des
Doktrinarismus liegt, unreif, weil es wieder einmal nicht begriffen hat, wie
sich eine Partei Macht und Einfluß auf die Regierung sichern kann. Da ist
das Zentrum denn doch sehr viel klüger gewesen. Zwar seine süddeutschen
Mitglieder haben meist gegen die Vorlage gestimmt, teils aus süßer Gewohnheit,
teils aus Rücksicht auf ihre Wähler, die noch in binnenländischen Stumpfsinn
gegenüber den Seeinteresfen der Nation beharren, weil ja allerdings der Neckar
oder die obere Donau nicht einmal ein Torpedoboot trügt, und es der Masse
auch der gebildeten Süddeutschen leider selten einfüllt, einmal ans Meer zu
reisen und sich dort davon zu überzeugen, was Welthandel ist, von dem sie
zu Hause nichts sehen; aber der Kern der Partei ist doch eben dafür eingetreten,
wenn nicht aus Patriotismus, so doch aus Klugheit, denn sie hat sich da¬
durch den Dank der Regierung verdient, und mehr als jemals gilt es jetzt,
daß Zentrum Trumpf ist. Wir sehen darin nun keineswegs ein Glück, aber ist
es ein Unglück, daß die deutschen Katholiken für die Lebensinteressen des Reichs
Verständnis gezeigt haben? Ein Unglück ist es nur. daß das freisinnige"
protestantische Bürgertum so wenig davon gezeigt hat. Nur dies hat dem
Zentrum seine unnatürliche Machtstellung verschafft, die jedenfalls auch den
künftigen Reichstag bezeichnen und damit auch auf die Politik des Reichs
einen stärkern Einfluß ausüben wird, als es jede andre Partei vermag.
Wie dem auch sein mag: die starke Kriegsflotte, die Deutschland braucht,
und für die daher die Grenzboten nicht erst in den letzten Monaten, sondern
schon seit Jahren eingetreten sind, ohne Auftrag von oben, ist nunmehr ge¬
sichert und wird gebaut. Damit ist der Wunsch, den wir vor einiger Zelt
hier aussprachen.'es möge dem Kaiser vergönnt sein, für die Flotte und die
Weltstellung der Nation das zu werden, was sein Großvater für das Heer
und Deutschlands Einigung gewesen ist. seiner Erfüllung nahe gerückt, oder
vielmehr, er ist schon halb erfüllt, und das darf der Kaiser auch als einen
ganz persönlichen Erfolg betrachten. Denn unermüdlich, nicht abgeschreckt durch
böswillige oder unverständige Kritik, ist er seit Jahren bemüht gewchll. WZ
Verständnis und die Sympathien für die Marine, deren bester Kenner er ist,
und die ihn mit begeisterter Hingebung verehrt, in immer weitere Kreise zu
tragen und die Vorlage vorzubereiten. Er darf deshalb von der Erneuerung
der Flotte sagen, was vor nunmehr fast vierzig Jahren Wilhelm I. von der
s ist bekannt, daß zwischen Friedrich dem Große» und seinem
Oheim Georg II. von England die persönlichen Beziehungen
niemals innig gewesen sind. Die englisch-preußische Allianz
während des siebenjährigen Krieges entsprang keinem Herzens¬
bedürfnis der beiden Monarchen, und ein irgendwie nahes per¬
sönliches Einverständnis hat sie nicht hervorgerufen. Friedrich schloß das
Bündnis nur aus politischer Berechnung; aber diese Berechnung, die ihn zur
Konvention von Westminster führte, war falsch. Auch war die Unterstützung
der Engländer während des Kriegs nie besonders lebhaft; die Sendung einer
Flotte in die Ostsee z. B. erfolgte trotz alles Drängens des Königs nicht. Aber
seine eignen Versprechungen hielt der König treulich. Das englische Volk
sah in dem Bündnis mit Preußen nie mehr als ein bloßes Geschäft; für den
nachträglich ausgesprochnen Gedanken von den gemeinsamen protestantischen
Interessen oder für die Blutsverwandtschaft der beiden Völker hatte der
nüchterne Engländer keinen Sinn. Sobald das Bündnis mehr zu kosten schien,
als es nützte, waren die Engländer keinen Augenblick darüber im unklaren,
daß sie sich baldmöglichst des unbequemen Bundesgenossen entledigen müßten.
Nur die gewaltige hinreißende Persönlichkeit William Pitts verschaffte dem
Preußenkönig und dem Bündnis mit ihm eine gewisse Popularität, und auch
Pitt mußte heiß kämpfen, um das Parlament bei dem Bündnis, das ein
wesentliches Stück seiner gesamten Politik bildete, festzuhalten. Mit dem
Sturze Pitts siel die preußische Allianz, das heißt, der That nach, der Form
nach bestand sie weiter. Wie sie aber eingehalten wurde, das bleibt für alle
Zeit eines der schmählichsten Kapitel der englischen Geschichte, die an derlei
Skrupellosikeiten gerade nicht arm ist.
Man hat neuerdings das Verhalten des Nachfolgers Pitts, des Carl of
Bude, in ein günstigeres Licht zu rücken versucht; man hat es aus den innern eng-
lischen Verhältnissen erklären wollen; man hat bestritten, daß Bude sich von
Animosität gegen König Friedrich habe leiten lassen. Ich will dahingestellt
sein lassen, wie weit sich diese Auffassung wirklich begründen läßt. Die That¬
sache, daß Bude insgeheim mit den Franzosen verhandelte, um sie zu ver¬
anlassen, die englischen Truppen und die ihres Bundesgenossen doch endlich
gründlich zu schlage«, damit der Krieg in Europa ein Ende habe, diese That¬
sache läßt sich ebenso wenig bestreikn, wie die, daß er sich hinter dem Rücken
des Bundesgenossen mit dessen eigentlichen Feinden, den Österreichern, zu
gleichem Zwecke, um den Krieg zu endigen, in Verbindung setzte. Auch daß
Bude den Versuch machte, Peter III. zur Fortsetzung des Krieges gegen Preußen
zu veranlassen, läßt sich — was auch dagegen gesagt worden ist — nicht
aus der Welt schassen. Das mag man damit zu entschuldigen suchen, daß
Bude dabei ganz als Engländer dachte, fühlte und handelte, aber auf ehrlich
deutsch nennt man das Verrat.
Als Verrat hat König Friedrich das Verhalten Englands beim Friedens¬
schluß immer angesehen, und es hat ihn keine Macht der Erde wieder dazu
bringen können, ein Bündnis mit England zu schließen. An Versuchen, ihn
zu einem solchen zu bewegen, hat es nicht gefehlt. Hier sei ein solcher Versuch
in den Jahren 1765/66, der bisher nicht sehr bekannt geworden ist, erzählt.
Die Art, wie Friedrich sich ihm entzog, scheint mir der allgemeinen Kennt¬
nis wert.
Nachdem in England Bude gezwungen worden war, sein Amt als Premier¬
minister niederzulegen, und er sich darauf beschränkt hatte, in seiner Eigenschast
als Günstling Georgs III. den Regisseur zu spielen und die Marionetten
tanzen zu lassen, ohne selbst die Bühne zu betreten, hatte sich doch schließlich
die Überzeugung Bahn gebrochen, daß nur ein energisches Zurückgreifen auf
die Richtung Pitts in der innern wie in der äußern Politik Heil bringen
könne. Im Sommer 1765 kam ein neues Ministerium ans Nuder, das aus
Anhängern Pitts bestand.
Die beiden neuen Staatssekretäre der auswärtigen Angelegenheiten, der
Herzog von Grafton und der General Conway — Grafton war Staatssekretär
der nördlichen, Conway der südlichen Angelegenheiten —, ließen sich bald nach
der Neugestaltung des Ministeriums allenthalben dahin vernehmen, daß ihre
Politik auf Anknüpfung von Bündnissen mit den Möchten des Kontinents ge¬
richtet sei. Es handelte sich dabei in erster Linie um ein Bündnis mit Ru߬
land und mit Preußen, und das berührte sich nahe mit dem Lieblingsgedanken
des rassischen Ministers des Auswärtige», des Grafen nitida Pcmin, der ein
Zusammenwirken der nordischen Mächte herbeisehnte, namentlich zu entschiednen
Vorgehen in Schweden. Dort war der gemeinsame Gegner Frankreich, und
ein wesentlicher Grund, der damals England zu Rußland und Rußland zu
England hintrieb, war die gemeinsame Gegnerschaft gegen Frankreich. Der
Gegensatz zwischen Nußland und Frankreich zeigte sich damals überall, wo ihre
Interessen auf einander stießen, wie in Schweden, so in Dänemark und namentlich
auch in der Türkei. Im Laufe eines Jahrhunderts hat sich die Sachlage
umgekehrt. Frankreich und Rußland finden sich in der Gegnerschaft zu
England, und der Interessengegensatz zwischen Rußland und England beherrscht
hente die Welt.
Verhandlungen zwischen England und Nußland über ein Bündnis be¬
standen schon vor dem neuen englischen Ministerium, nur hatte man beschlossen,
sich zunächst über einen Handelsvertrag zu einigen, und gerade dies führte zu
allerlei Weitläufigkeiten. Die schwierigere Aufgabe, den König von Preußen
zu gewinnen, wurde von den englischen Ministern sofort in Angriff genommen.
Der englische Geschäftsträger in Berlin, Burnet, teilte am 22. Juli 1765
dem Minister Finckenstein einen Brief des bisherigen Gesandten Mitchell mit,
worin die Veränderung im englischen Ministerium besprochen wurde und hin¬
zugefügt war, die beiden Staatssekretäre, insbesondre der Herzog von Grafton,
hätten sich stets durch Anhänglichkeit an den König von Preußen hervorgethan,
er, Mitchell, zweifle nicht, daß sie die Dinge auf den Standpunkt bringen würden,
auf dem sie eigentlich sein müßten, und daß die frühern Beziehungen wieder¬
hergestellt werden würden. Wie sich König Friedrich zu verhalten gedachte, das
spricht er ein Paar Tage darauf in einem Erlaß an seinen Petersburger Gesandten
Solms aus, offenbar, um dem Gedanken Paulus an einen Dreibund gleich
vorzubeugen: die Engländer Hütten ihn am Ende des letzten Krieges auf un¬
würdige Weise sitzen lassen (inäiAU6in<zue> Mut«), und er würde sich nur in
große Gefahr begeben, wenn er sich mit ihnen verbände; ein furchtbarer Krieg
mit Österreich würde für ihn die Folge sein, und zwar um Portugals und
um Brasiliens willen, was ihn und seine Staaten ganz und gar nichts anginge.
Eins wolle er den Engländern zugestehen: Auswechslung von Gesandten; im
übrigen wolle er sich auf nichts einlassen. Von diesem Standpunkt ist Friedrich
denn auch nicht abgegangen, als die Engländer in der Folge deutlicher
wurden.
Die offiziellen Beziehungen zwischen England und Preußen waren in
jenem Augenblick auf das geringste Maß beschränkt; die Kühle, die zwischen
den beiden Staaten herrschte, kam dadurch ganz richtig zum Ausdruck. Während
der Zeit des Bündnisses, solange Pitt am Ruder war, hatte neben dem preu¬
ßischen bevollmächtigten Minister Michell (nicht zu verwechseln mit Mitchell)
der Baron Dodo Knyphausen als außerordentlicher Gesandter in London ge¬
wirkt. Das entsprach natürlich nicht mehr den thatsächlichen Verhältnissen,
als Bude einen andern Weg zu gehen begann. Dieser legte Friedrich die Ab¬
berufung Knyphansens nahe, Michell blieb allein zurück. Aber auch er wurde
den englischen Machthabern bald unbequem. Im Mai 1764 erhielt der eng¬
lische Gesandte in Berlin, Mitchell, ein warmer und ergebner Bewundrer
Friedrichs, ein Anhänger der Pittschcn Politik, den delikaten Auftrag, den
König um die Abberufung Michelis zu ersuchen. Der König war in hohem
Grade ungehalten. Er werde, so sagte er dem Minister Finckenstein, niemand
an Michelis Stelle schicken, mit England sei? doch nichts anzufangen. Mit
Mühe überredete ihn Finckenstein, wenigstens einen Sekretär als OnÄrAv
ä'MÄi'W zu schicken. Dem englischen Gesandten, der sich übrigens selbst über
die Geduld wunderte, mit der ihn der König anhörte, verbarg er seineu
Ärger nicht: Nicht meines Gesandten, rief er ihm zu, ich bin es, dessen ihr
müde seid!
Als Geschäftsträger schickte Friedrich nun einen jungen Mann, Namens
Vaudouin, nach London, den frühern Vorleser der Markgräfin von Bayreuth,
eine Wahl, die sich nicht als glücklich erweisen sollte. Die Berichte Baudonins
waren selbst für das geringe Interesse, das der König den englischen An¬
gelegenheiten entgegen brachte, zu kärglich. England ließ Mitchell mit seinem
bisherigen Charakter als ilüinstrs Mnixotönti-ürs noch fast ein Jahr laug
in Berlin, ein Umstand, den die Engländer späterhin als besondre Freundlich¬
keit hervorzuheben nicht unterließen. Im Frühjahr 1765 wurde Mitchell, kurz
vor dem Umschwung in England, von Berlin abberufen, vom Könige in huld¬
vollster Weise verabschiedet und beschenkt. Zu dem Zeitpunkt also, wo eng-
lischerseits eine neue Annäherung in Szene gesetzt wurde, fungirte nur ein
Legationssekretär, Burnet, als Geschäftsträger in Berlin, während, wie gesagt,
Baudouin als solcher in London Preußen vertrat. Schon aus diesem Grunde
empfahl es sich für die Engländer nicht, auf direktem Wege eine Anknüpfung
zu suchen; außerdem kannte man die gereizte Stimmung des preußischen Königs
zur Genüge, man mußte ihn erst unter der Hand sondiren, denn die Gefahr,
sich einen Korb zu holen, lag sehr nahe.
Man wählte für diesen Auftrag den Prinzen Ferdinand von Braunschweig,
den Feldherrn des letzten Kriegs. Prinz Ferdinand verzichtete darauf, den
Antrag der Engländer mit einer diplomatischen Hülle zu umgeben, er sandte
das Schreiben Conways an ihn (vom 13. August 1765) im Original an König
Friedrich und fügte nur hinzu, er wisse, daß Conway aufrichtig die Verbindung
rin Preußen wünsche. Conway hatte unter dem Prinzen Ferdinand in der
Verbündeten Armee gestanden und ihm geschrieben, die natürlichen Bande des
Blutes und das gemeinsame Interesse wiesen auf die Allianz der beiden
Könige hin; ehe man aber Georg III. raten könne, bestimmte Schritte zu
thu«, wolle man die Stimmung am Berliner Hofe kennen lernen, darüber möge
ihn der Prinz aufklären.
König Friedrich entwarf eigenhändig den Brief an Prinz Ferdinand am
8. September 1765. „Haben Sie die Güte, schreibt er, Herrn Conway ein
die ungehörige Haltung der Engländer (irrvssnwit» Ä«z ig, ocmcwitö) gegen
Preußen während unsers letzten Bündnisses zu erinnern und ihm zu bemerke»,
daß man, wenn man nicht eine sehr große Unklugheit begehen will, nur dann
mit England in Verbindung treten kann, wenn man sich mindestens auf alle
Weise gegen die gleichen Unzutrüglichkeiten vorgesehen hat." Der König er¬
innert dann an die von den Engländern geforderte Abberufung Knyphauseus
und Michelis; er wolle einen Gesandten ernennen, aber nur, wenn England
einen solchen am gleichen Tage ernenne. Auf die Worte Conways anspielend
schließt der Brief: „Die Bande des Bluts und die protestantische Sache sind
ein schönes Feldgeschrei (as böemx oris as raIll«znrEnr), sie machen aber gar
keinen Eindruck, wenn man gesehen hat, daß einen die Bundesgenossen beim
Frieden feige (1S.oll6in.ent) im Stich gelassen haben, und wenn man gesehen
hat, daß einen die Minister dieses Hofes fremden Höfen gegenüber verraten
haben."
Die Antwort läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig; ob sie Prinz
Ferdinand auch nur einfach an Conway geschickt hat, weiß ich nicht. Jeden¬
falls hält sich Conwah in einem Schreiben an den Prinzen vom 7. Oktober
an das vom König gemachte Zugeständnis: den gegenseitigen Austausch der
Gesandten. In der Antwort an Prinz Ferdinand vom 29. Oktober setzt der
König den 1. Dezember für die Ernennung der Gesandten an. Noch einmal
aber lehnt er eine Allianz ab, er sehe dafür keinen zwingenden Grund. Er
führt dann, ähnlich wie in dem oben zitirten Erlaß an Solms, aus, daß
ihn und ganz Europa die Allianz nnr in gefährliche Verwicklungen führen
würde.
Die hier festgesetzte Ernennung der Gesandten ist dann mehrfach hinaus¬
geschoben worden, die beiderseitigen Gesandten sind erst im Juni 1766 in
Berlin und London eingetroffen, in Berlin der frühere Gesandte Mitchell, in
London der Graf Maltzan, ein schlesischer Magnat, der auch in Hannover Be¬
sitzungen hatte. Die Gründe, die den König von Preußen bei der Wahl
Maltzcms leiteten, sind für die Situation und ihre Auffassung durch Friedrich
bezeichnend: der Kabinetsrat Eichel schreibt darüber an Finckenstein, offenbar
nach des Königs eignen Ausdrücken, der König wolle nach London einen
Minister senden, „der zwar von MisLMos und Hrmlitv, jedoch so sei, daß
er eben kein sonderliches ?snellant habe, vor sich zu großen Negotiationen
Gelegenheit zu geben."
Ehe die Korrespondenz mit dem Prinzen Ferdinand von Vraunschweig
aber noch zu diesem Resultat, dem Austausch der Gesandten, gelangt war^
hatte die englische Regierung verschiedne andre Hebel in Bewegung gesetzt, um
König Friedrich in die Richtung auf eine Allianz mit England zu drängen.
Da erhielt der König zunächst einen Bericht seines Gesandten Thulemeier im
Haag, daß der dortige englische Gesandte, der General Jorke, sich im Sinne
eines englisch-preußischen Bündnisses ausgesprochen habe. Jorke war im
Jahre 1758 als Gesandter beim König im Feldlager in Schlesien, als man
in England gegen Friedrichs Wunsch eine Abberufung Mitchells für nötig ge¬
halten hatte; Jorkes Wirksamkeit war aber von kurzer Dauer, Mitchell kehrte
»och in demselben Jahre auf seinen Posten zurück. Friedrich kannte Uorles Ehr¬
geiz und seine manchmal hitzige Art aus jeuer Zeit. Auch die Andeutungen
Jorkes ließ der König jetzt, am 2>'!. September 1765, durch Thulemeier in
dem Sinne beantworten, wie er den Prinzen Ferdinand beschieden hatte, mit
dem Hinweis auf das Verhalten der Engländer beim letzten Friedensschluß.
Er ließ ihm weiter sagen: Man könne zwar mit einem englischen Ministerium
eine Allianz schließe», aber nicht mit der englischen Nation; denn sobald das
Ministerium eine Änderung erleide, würden die von ihm eingegangnen Ver¬
pflichtungen als nichtig und nicht geschehen angesehen, falls sie dein neuen
Ministerium nicht paßten. Und als Uorke, Thulemeier gegenüber, wieder auf
die Angelegenheit zurückkam, ließ ihm der König erwidern, am 10. Oktober
1765: Korne man denn ans die Beständigkeit des jetzigen Ministeriums rechnen?
Was während des letzten Krieges geschehen sei, könne sich wiederholen, das
gute System könne gestürzt werden.
Dorre hatte aber noch ein besonders feines Argument in pstto gehabt —
wir werden diesem Argument noch weiter begegnen. Er ließ nämlich durch¬
blicken, daß England sich ja wieder mit Osterreich verbünden könne. Es ging
Doree, wie es so vielen geschickten Diplomaten Friedrich gegenüber — nebenbei
gesagt, auch Bismarck gegenüber — gegangen ist: sie glaubten seine Schwäche
zu kennen, seine sanguinische Art wie seine Neigung zum Argwohn, darum
nahmen sie an, wenn man nur recht geschickt operire, dann sei auch er schlie߬
lich nur ein Mensch und lasse sich fangen. Die Schwäche Friedrichs sahen
seine Zeitgenossen in seinem schlechten Gewissen gegen Österreich; es gelte nur
seinen Argwohn gegen diesen seinen intimen Gegner zu erwecke», so müßte er
aus Vorsicht gegen den Feind thun, was er aus Neigung für den Freund
nicht thun wollte. Das mochte etwa auch der Gedankengang Dortes und der
englischen Minister gewesen sein. Aber Friedrich that ihnen nicht den Gefallen.
Die Annäherung Englands an Osterreich, so schrieb er kurz und bündig an
Thulemeier, ist unmöglich, denn die beiden Staaten haben im Augenblick gänzlich
entgegengesetzte Interessen.
Dorre hat offenbar die Sache nun noch schlauer ansaugen wollen. War
es mit der Furcht vor Österreich allein nicht gethan, so gab es ja für Preußen
noch eine zarte Stelle, die Treue und Aufrichtigkeit Rußlands, des jetzigen
Bundesgenossen. Daß man die Russen immerzu streicheln mußte, um sie bei
guter Laune zu erhalten, hatte ja Friedrich in den anderthalb Jahren seines
Bündnisses mit ihnen schon genügend selbst erfahren; auch daß bei ihnen el»
leitender Grundsatz lautete: kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Und
so wußten die Zuschauer natürlich anch, wie ängstlich und eifersüchtig Friedrich
darüber wachte, daß ihm niemand die Gunst der nordischen Semiramis stehle.
Aorke kannte die Intimität der russischen und der preußischen Diplomaten,
er wußte, daß sie sich nach ihrer Instruktion alle wichtigen Dinge gegenseitig
mitteilten. Es war also offenbar seine Absicht, als er sich über die in der
Luft schwebenden Bündnisfragen in ein Gespräch mit dem russischen Gesandten.
Grafen Woronzow, einließ, daß dies Gespräch Thulemeier und seinem Herrn
zu Ohren käme. Am 22. Oktober berichtet Thulemeier über das Gespräch
Dortes mit Woronzow, wie dieser es ihm mitgeteilt hatte. Jorke hatte die
Hoffnung ausgesprochen, daß der vorläufige Abschluß des Handelsvertrags
zwischen Rußland und England bald zu einer engen Verbindung führen werde.
England habe mich bei Preußen angefragt, aber bisher vergebens; es sei aber
auch ganz gleichgiltig, ob das russisch-englische Bündnis durch Preußen oder
durch Österreich verstärkt werde. Er sei überzeugt, der Petersburger Hof
werde sich den Anschauungen des britischen Ministeriums anschließen; übrigens
sei die Harmonie zwischen dem preußischen König und Kaiserin Katharina
nicht mehr so wohl gegründet, wie man glaube. Aber auch diesmal irrte sich
Aorke, wenn er glaubte, den König ins Schwanken zu bringen. „Ich erkenne
an dieser Unterredung, schrieb er an Thulemeier, den lebhaften Charakter
Uorkes, der sich leicht auf Abwege führen läßt, wenn er sich etwas in den
Kopf gesetzt hat, dem aber im übrigen jede böse Absicht fernliegt. Wenn er
sich wieder beruhigt hat und über die Sache nachdenken wird, wird er meine
Gründe — gegen die Allianz mit England — gelten lasten. Abgesehen von
der Frage der Allianz habe ich gar nichts gegen England, ich habe mich jn
auch zur Ernennung von Gesandten bereit erklärt."
In ähnlicher Weise wie sich hier Jorke des Grafen Woronzow, bediente
sich kurz darauf der Herzog von Grafton selbst des russischen Gesandten Varou
Groß in London. Auf Baudouins Bericht über die Unterredung der beiden
antwortet der König ironisch, Baudouin möchte ihm doch die großen Vorteile
auseinandersetzen, die ein Bündnis mit England in diesen: Augenblick für ihn
haben sollte.
Es ist kein Zufall, wenn die Frage dieser Allianz gerade um diese Zeit
auch von einer andern Seite wieder angeregt wird, von Rußland. Ich habe
erwähnt, daß Pcmin sich mit dem Gedanken einer Tripelallianz Rußland,
Preußen, England trug. Schon im Verlaufe der sehr langwierigen Verhand¬
lungen über den englisch-russischen Handelsvertrag hatte Pcmin einmal bei
Friedrich daraufhin angeklopft. Mit denselben Gründen, die wir schon kennen,
hatte der König, am 19. Februar 1765, ein Bündnis mit England abgelehnt.
Alle Welt kenne die unwürdige Behandlung, die ihm England habe widerfahren
lassen, es sei nur natürlich, daß er mit den Leuten nichts zu thun haben
wolle, und daß er mit ihnen nicht in eine neue Verbindung treten könne,
ohne sich vor den Augen von ganz Enropa zu prostituiren. Er freue sich
seines Bundes mit Rußland so sehr, daß er sich mit ihm begnügen wolle, und
in keiner Weise andre Verbündete suche. Er wünsche nichts weiter als den
Frieden zu erhalten, so weit das von ihm abhänge, zum Heil für seine Staaten
und für Deutschland. Daher wäre ein Bund mit England für ihn eine große
Thorheit, da England ihn voraussichtlich in einen Krieg hineinziehen werde,
der ihn nichts angehe; für ihn wie für Rußland könne es gleichgiltig sein,
ob die Franzosen oder die Engländer die Herren in Kanada oder Se. Do-
mingo seien.
Bei der Nachricht von dem vorläufigen Abschluß des erwähnten Handels¬
vertrags hatte sich Friedrich beeilt, einer neuen Anfrage Paulus vorzubeugen,
in einer Ordre an Solms vom 5. September 1765, die seine Gründe kurz
wiederholt. Trotzdem machte Pcmin, wie gesagt, jetzt, im Oktober 1765, einen
neuen Versuch, deu König umzustimmen, natürlich ohne Erfolg: er wolle, läßt
ihm Friedrich erwidern, der Kaiserin alles mögliche zu Gefallen thun, ebenso
Parm, aber in dieser Sache müsse er bitten, ihn aus dem Spiele zu lassen;
sie sei ihm zu gefährlich, sie könne ihn in große Verlegenheit bringen, um
nicht zu sagen, daß sie der Würde seiner Krone widerstrebe (pour ruz pas eure
^u'vllo Lsrii.it vvlltriüi'g ü, in, äiMits as UM ocmronns).
Den preußischen Gesandten, den Grafen Solms, hatte Parm vollständig
für seine Ideen gewonnen. Es steht mit den hier geschilderten Dingen in
engem Zusammenhang, daß Solms in einem ausführlichen Bericht vom
7. März 1766 deu König aus eigner Initiative für das „nordische System"
zu gewinnen sucht. Was er vorbringt, sind genau die Gedanken Paulus, nur
macht er noch darauf aufmerksam, daß es immerhin fraglich sei, ob Rußland,
namentlich im Fall eines Thronwechsels, völlig zuverlässig sei. Der König
liebte solche Ratschläge von Seiten seiner Gesandten überhaupt nicht sehr.
Die Antwort, die er eigenhändig entworfen hat — ein Zeichen, daß ihm die
Sache doch wichtig erschien ^, zeigt seinen Unwillen; sie ist vom 25. März
1766 datirt. „Ich merke, schreibt er. daß Sie den Plan meiner Politik nicht
ganz verstehen. Ich sehe die Notwendigkeit, Sie zu unterrichten, was jetzt in
Bezug auf die Russen und die Engländer, so weit es Allianzen anbelangt,
möglich ist. Die Allianz mit den Russen genügt mir. Denn selbst wenn ich
von ihnen im Fall eines Kriegs keine Hilfe zu erwarten hätte, so ist es doch
auf alle Fälle ein Gewinn, daß diese Nation, im Bündnis mit mir, sich nicht
gegen mich erklären wird. Das genügt mir. Was die Engländer angeht, so
haben die jetzt alles von den Franzosen und Spaniern zu fürchten; mit ihnen
Bündnis in dieser Lage zu schließen, das heißt: sich leichten Herzens (as g'-üsts
do oosur) in einen neuen Krieg stürzen, an dem im Grunde Preußen keinerlei
Interesse hat; während, wenn ich mit Rußland vereint bleibe, mich alle Welt
in Ruhe lassen wird und ich den Friede» erhalte. Das sind die allgemeinen
Ideen, von denen mich zu entfernen ich durchaus keine Lust habe; und ich
könnte mir unter der Bedingung in ein Bündnis mit England willigen, daß
diese Verbindung mich zu nichts verpflichtete, was die Ruhe Deutschlands
stören könnte." Damit aber, das ist wieder der Gedankengang Friedrichs, ist
den Engländern nicht genützt.
Die Engländer selbst hatten sich mit den Abweisungen, die sie erfahren
hatten, nicht begnügt. Am Hofe Georgs III. lebte damals sein Schwager,
der Erbprinz Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, der Gemahl der
Prinzessin Angusta von England. Später als Herzog war er bekanntlich
preußischer Generalfeldmarschall, befehligte bei Auerstädt die preußische Armee
und wurde dort durch beide Augen geschossen. Karl Wilhelm Ferdinand erfreute
sich der besondern Huld und Zuneigung seines Oheims Friedrich (seine Mutter
Charlotte vou Braunschweig war des Königs Schwester); er hatte auch des
Königs vollstes Vertrauen, ja dieser versprach sich für die Zukunft sehr viel
von seinem Neffen. Im Sommer war der Erbprinz mit seiner Gemahlin zum
Besuch in Verliu gewesen bei der Vermählung des Prinzen von Preußen mit
seiner Schwester Prinzessin Elisabeth von Vraunschweig. Es war also jeden¬
falls nicht ungeschickt von der englischen Regierung, sich des Erbprinzen von
Braunschweig zu bedienen zu einer erneuten Werbung um Friedrichs Freund¬
schaft.
In einem ausführlichen Schreiben, London, den 13. Oktober 1765, schil¬
derte der Erbprinz dem Könige die innerpolitische Lage in England. Er stellte
es so dar, als hinge geradezu das Schicksal des neuen Ministeriums von
Friedrichs gutem Willen ab: das Ministerium getraue sich nicht mit leeren
Händen vor das Parlament zu treten, das eben eröffnet werden solle, und
Pitt warte nur auf den Entschluß Friedrichs, die Allianz zu erneuern, um
selbst in das Kabinett einzutreten. Ein Argument, das geeignet schien, ans
den König Eindruck zu machen: man kannte seine Bewunderung für Pitt und
sein Vertrauen zu ihm. Wie der Erbprinz später einmal (8. Januar 1766)
schreibt, hat ihm das Pitt persönlich bestätigt. Der Zusammenhang war
übrigens der: Pitt machte seinen Eintritt von dem Bund mit Preußen ab¬
hängig, Grafton aber war nur unter der Bedingung in das Kabinett ein¬
getreten, daß Pitt Mitglied werde. So kam es, daß Grafton im Frühjahr
1766 auftrat. Die Allianz mit Preußen wurde in dem Schreiben des Erb¬
prinzen als ein Glied in der Kette von Bündnissen hingestellt, die die von
dem Bourbonischen Familienpakt drohenden Gefahren abwenden sollten.
Die eigenhändige Antwort des Königs vom 26. Oktober ist wieder eine
kühle Ablehnung, Wenn England jetzt einen Angriff Frankreichs und Spaniens
befürchte, so habe es das seiner eignen frühern Haltung zuzuschreiben. Friedrich
erinnert dann an die beleidigende Art, wie man ihn zur Abberufung zweier
Gesandten genötigt habe; solche Affronts ließen sich nicht mit schönen Worten
abwaschen. Für ein Bündnis mit England sei keine Aussicht und keine
Möglichkeit vorhanden. Preußen bedürfe vor allem der Ruhe. Der Eintritt
Pitts ins Ministerium könne seine Meinung nicht ändern, obgleich er ihn für
einen der größten Staatsmänner des Jahrhunderts halte. Man könne sich
in England auf kein Ministerium, welcher Art es auch sei, verlassen!
Ebenso ablehnend ist die Antwort auf einen weitern Brief des Erbprinzen,
die am 18. November erging: er glaube ja, daß das jetzige Ministerium auf
soliden Grundlagen ruhe, es werde sich, solange Frieden sei, wohl auch halten.
Aber könne man garantiren, daß es beim Ausbruch eines Kriegs nicht gestürzt
werde?
In einem eigenhändige» Schreiben vom 28. November beantwortet der
König ausführlicher das des Prinzen vom 16. November. Durch das Bündnis
mit Rußland sei seine Lage gesichert, von seinen Feinden habe er nichts zu
fürchten, mit Frankreich habe er nichts auszufechten, er brauche keiner Garantien,
um sich zu befestigen. Anders stehe es mit England: das habe Freund und
Feind verletzt, habe einen lächerlichen Frieden geschlossen, sich den Haß Frank¬
reichs und Spaniens zugezogen. Wer sein Schicksal also an das dieser Leute
kelte, laufe Gefahr, sich mit ihnen in einen Krieg zu stürzen, der lediglich
die Interessen Englands betreffe. Wörtlich fährt der König dann fort —
und diese Worte haben eine Bedeutung nicht bloß für die damalige Lage:
„Wenn ich ferner die Form der englischen Verfassung in Erwägung ziehe, die
dem Parteiwesen, den Kabalen und völlig unerwarteten Revolutionen ausgesetzt
ist, so überzeuge ich mich, daß man sich niemals solchen Verbündeten anvertrauen
darf, weil auf sie keinerlei Verlaß ist." Vute könne eines schönen Tags
wieder ans Ruder kommen: „Dem, mein lieber Neffe, will ich mich auf keinen
Fall aussetzen. Mein Alter und das bischen Welterfahrung, was ich habe,
müßte mich doch zum mindesten klug gemacht haben; und würde ich für mein
Verhalten nicht Vorwarf und Verurteilung verdienen, wenn ich mich nach dem,
was mir mit den Engländern geschehen ist, wie sinnlos, durch denselben Köder
fangen ließe, den sie mir vor zehn Jahren vorgehalten haben, und wenn ich
mich von ihnen zum zweitenmale narren ließe? Jeder Mensch kann in die
Lage kommen, daß ihn ein andrer betrügt; aber nur die Dummen lassen sich
immer auf dieselbe Weise übertölpeln." Die Korrespondenz dauerte uoch eine
Weile fort; der König antwortete aber meist nnr höflich, ohne auf näheres
einzugehen.
Am 7. Januar 1766 antwortet der König auf ein Schreiben des Erb¬
prinzen, worin dieser nun auch das uns schon bekannte Argument ins Treffen
führt: England wird sich über kurz oder lang Österreich in die Arme werfen
müssen, wenn es bei Preußen keine Aussichten hat; dabei spielt der Erbprinz
auf die Lage der dentschen protestantischen Fürsten zweiten Ranges an, wenn
die beiden Staaten, die ihren Schutz bilden, also England und Preußen, un-
eins sind. „Handelt es sich um das Land der Verheißung, um das gelobte
Land Hannover?" fragt der König. Die preußischen Gebiete um Rhein seien den
Feindseligkeiten doch zu allererst ausgesetzt. Der Appell an den Protestantismus
verfehlte beim Könige, wie man sich denken kann, seinen Zweck vollständig.
Was aber Österreich angehe — der Beitritt zum Familienpakt mache ihm den
Übergang zu England unmöglich, und dann sei Maria Theresia deshalb nicht
für England zu haben, weil es die Behandlung, die Österreich im Utrechter
Frieden erfahren habe, nicht vergessen könne. Kaunitz sage das jedem, der es
hören wolle: „Diese Engländer zahlen, aber sie verlangen grausame Opfer für
ihr Geld!" „Das, mein lieber Neffe, fährt der König fort, ist die Reputation,
die sich Ihre Engländer verschafft haben. Sie wissen, was mir geschehen ist,
und daß ich meine Existenz nur einem glücklichen Zufall verdanke, der mich
aufrecht hielt, als man mich verraten hatte. Wenn man in England verständig
denkt, so soll man zufrieden sein, wenn ein tief beleidigter Freund lorusllkinöiit,
1ö8(y seinen Groll unterdrückt, und das ist viel; sich aber einzubilden, daß es
genüge, betrügen zu wollen und gleich Dumme zu finden, dabei könnte man
doch schlechte Erfahrungen machen. Soviel von Politik, mein lieber Neffe. Sie
ist nicht nach der Art des Macchiavell; der würde die Dinge dahin getrieben
haben, sich mit Glanz zu rächen: dazu bin ich nicht imstande. Ich begnüge
mich, auf meine eignen Kosten weise geworden zu sein und in meinem Alter
keine dummen Streiche (sottisss) mehr zu machen."
Das letzte der Schreiben Friedrichs an Karl Wilhelm Ferdinand in dieser
Angelegenheit scheint mir ganz besondrer Aufmerksamkeit wert. Es ist datirt vom
10. Februar 1766. Der Erbprinz hatte bei seiner Erwiderung auf einen der
ablehnenden Briefe des Königs diesem die Verwirrung der englischen innern
Zustände geschildert — es war die Zeit, in der die Aufhebung der Stempel¬
akte durchgesetzt wurde, wo England zum erstenmal in Konflikt mit seinen
„westindischen Kolonien," d. h. mit Amerika kam. Er hatte dabei von dem
Wortschwall der Parlamentsredner gesprochen und als charakteristisch „eine
Menge harter Ausdrücke, jeden, der nicht zur Nation gehört, beleidigend" er¬
wähnt. Im übrigen hatte der Erbprinz die äußerst schwierige Lage der englischen
Regierung gegenüber seinen Kolonien geschildert, die Unmöglichkeit, auf diese
einen Zwang auszuüben: die englischen Truppen in Amerika seien schwach und
über weite Gebiete zerstreut, die Truppen in England selbst schlecht disziplinirt,
während die Bewohner der Kolonien durch den letzten Krieg militärisch geschult
seien.
Bei dieser Sachlage — und sie war, wie später der Unabhängigkeitskrieg
genügend offenbaren sollte, in der That für England höchst kritisch — fiel es
König Friedrich nicht schwer, den Großmütigen zu spielen. In seiner Antwort
geht er denn auch zunächst auf die mißliche Lage der englischen Negierung
ein. Was ihn betreffe, so werde er abwarten, ob sich das Ministerium in den
jetzigen Wirren halten werde, und was Spanien in dem Konflikt über Manilla
(der damals einer Krisis zutrieb) thun werde; er erwarte ferner, daß die Partei
Butes völlig ausgetrieben werde lsxxulsö). Nachdem er sich so verklausulirt
hat, führt der König fort: „Wenn sich dann ein festes und gesichertes Mi¬
nisterium vorfindet, kann man daran denken, was man zu thun hat; unter allen
Umständen aber muß man eine feste Grenze ziehen und Vorsichtsmaßregeln
treffen, damit man sich nicht zu mehr verpflichte, als man zu gehen Lust hat.
Das, mein lieber Neffe, ist mein letztes Wort, das ich zurückhalte bis zu der
Zeit, wo die Verhältnisse günstig erscheinen sollten." Sehr aufmunternd klingt
das nicht. Dann fährt der König fort: „Das Urteil, das Sie über die
englische Beredsamkeit abgeben, läßt in mir kein Bedauern darüber auf¬
kommen, daß ich diese Sprache nicht verstehe. . . . Welche Ungehörigkeit,
Beleidigungen auszustoßen in einem Palast, in dem die Repräsentanten
eines Volkes als Körperschaft versammelt sind! Welch schlechter Geschmack
der Beredsamkeit, sich nur über augenblicklich wichtige Gegenstände zu er¬
gehen, um neue Debatten zu veranlassen! Sie sehen da, mein lieber Neffe,
alle Übertreibungen der Freiheit, verbunden mit Übertreibungen des Sieges
und des Glücks. Die Freiheit erzeugt Parteien, die das Reich zerfleischen.
Die letzten Siege der Engländer machen sie stolz und unverschämt, und ihre
Reichtümer flößen ihnen Verachtung ein sür alle Völker, die nicht so im Über¬
fluß schwimmen wie das ihre. Glücklich unser Vaterland, wo sich alle Welt
einer anständigen Freiheit erfreut, wo der Sieg menschlich und bescheiden ist,
wo die Moral noch den Glücksgütern vorgezogen wird, wo der Titel eines
Ehrenmannes ruhmvoller ist als der eines Millionärs. Man muß die Wahr¬
heit sagen und loben, was zu loben ist: unsre Germanen sind mehr wert als
die Engländer, und jene Sachsen, ihre Eroberer, haben ihnen zweifellos jene
Kraft gegeben, die ihnen so viel Siege über die Franzosen verschafft hat."
(Das französische Wortspiel läßt sich nicht gut übersetzen: Nos Oörmains valent
bien les ^n^lais; se v<zö Laxons, Isnrs eouciuerg-mes, lsur oral sg-us clouds «tomi^
poles valsur cM Isur 3. vslu taut ä'avimtgMs sur les?rg.in)g.i8.)
Damit schließt die Korrespondenz mit dem Erbprinzen über diesen Punkt.
Im Sommer 1766 verließ der Erbprinz England und machte eine Tour durch
Europa.
Nachdem auch der Versuch, den König mit Hilfe des Erbprinzen zu ge¬
winnen, gescheitert war, ließ man zunächst den König in Ruhe. Die Eng¬
länder hatten allerdings während der nächsten Zeit im eignen Hause genug zu
thun. Die Russen aber haben noch lange Zeit hindurch den König immer
wieder gedrängt, sich England zu nähern, aber Friedrich blieb auf seinem
Standpunkt. „Der Mufti — so schrieb der englische Gesandte in Petersburg
im Jahre 1767 nach Hause —. der Mufti kann mit größerer Wahrscheinlichkeit
den Segen des Papstes erwarten, als Großbritannien sich schmeicheln darf,
daß der Berliner Hof bei irgend einer Unterhandlung mit Rußland Hilfe
leisten wird."
Als im Jahre 1773 Graf Tschernyschew, der in der Danziger Angelegen¬
heit zum .Könige gesandt worden war, ihn wieder einmal zu dein Bündnis mit
England bereden wollte, da lehnte er das genau mit denselben Gründen ab,
die wir kennen gelernt haben. Er legte sie Tschernyschew ausführlich dar, und
dieser hat einen sehr genauen Bericht über die Unterredung an Katharina ge¬
sandt. Wieder war sein Gedankengang: die Engländer haben mich beim Frieden
im Stich gelassen; sie haben damals mit Österreich und Rußland gegen mich
konspiriren wollen; ich brauche sie nicht, solange ich Rußland habe; sie sind
unzuverlässige Bundesgenossen, wie das auch die Österreicher früher erfahren
haben — mich würden sie nur in einen unnützen Krieg stürzen. „Es war mir
nicht möglich, so große Vorurteile zu besiegen," berichtete Tschernyschew.
Vorurteile, so scheint mir nach allem, was ich hier erzählt habe, waren
es wirklich nicht, die Friedrich in seiner Haltung gegen England leiteten. Es
war nur die klare Erkenntnis, daß England für Preußen kein geeigneter Bundes¬
genosse sei.
Vorbilder in der Politik auch in ähnlicher Lage einfach zu kopiren, würde
Thorheit sein. Aus der Erfahrung, die Friedrich der Große gemacht hat, für
alle Zeiten den Grundsatz abzuleiten, daß wir nicht an Englands Seite stehe»
dürfen, wäre sicherlich falsch. Dem gewaltigen gemeinsamen Gegner gegenüber
haben sich England und Preußen in den Befreiungskriege» zusammengefunden.
Damals lag ein solches Bündnis durchaus in Preußens Interesse. Eine
Lehre aber können wir ganz sicher aus der Politik des großen Königs gegen
England ziehen, nämlich: daß England gegenüber die größte Vorsicht am Platze
ist, größere Vorsicht als andern Staaten gegenüber. Englands Verfassung
ist in ihren Grundlagen dieselbe geblieben, wie in den Zeiten Friedrichs; die
Natur des englischen Volkes auch. Liegen die Dinge so oder doch ähnlich
wie bei Friedrich nach dem siebenjährigen Kriege, haben wir die Wahl, uns
England oder einem andern Staate, z. B. Rußland, anschließen zu können,
dann wird es sicherlich heilsam sein, in unsern Erwägungen auch der Erfahrung
zu gedenken, die Friedrich der Große zu seinem Schaden gemacht hat, und die
Gründe zu beachten, mit denen er es abgelehnt hat, England zum zweitenmal
die Hand zu reichen.
le Orientfrage ist freilich das Steckenpferd der enropüischen
hohen Politik, aber Deutschland ist daran bloß als Mitglied des
europäischen Konzerts um seiner Großmachtstellung willen beteiligt.
Unmittelbare deutsche Interessen stehen dort nicht ans dem Spiele.
Auch etwaige Kolonisationsbestrelmngen auf türkischem Boden
kommen wohl nicht in Frage, solange es noch gilt, bestehende deutsche Siedlungen
im Auslande zu schützen und altgeschichtlichen deutschen Boden und deutsches
Volkstum gegen fremde Aufsaugung thatkräftiger als bisher zu schirmen. Die
Erinnerungsfeiern der letzten Jahre haben uns aufs neue an den fränkischen
Erbfeind gemahnt; aber diese ernste geschichtliche Warnung hat uns bisher
nicht veranlaßt, in den noch tobenden Kampf einzutreten, wo thatsächlich dieser
Erbfeind noch unser Volkstum außerhalb seiner eignen Staatsgrenzen in un¬
erhörter Weise bedrängt und unterdrückt. Wir wollen zunächst ganz von dem Klein¬
staat Luxemburg schweigen, der noch vor einunddreißig Jahren deutsches Bundes¬
land gewesen ist. Fürsten aus dem deutscheu Hause Nassau haben dies Lündchen
aus Angst vor der preußischen Augliederung absichtlich französirt, obgleich es
1870 für das Reich zu kaufen gewesen wäre. Schon 1867 wollte es sein
damaliger Gebieter an Napoleon verschachern. Damals hat nicht Preußen,
sondern das erwachte deutsche Nationalgefühl den schmählichen Handel hinter-
trieben. Moltke hielt damals den Zeitpunkt für die Abrechnung mit Frank¬
reich für gekommen und günstig. Bismarck zog jedoch den Aufschub vor, um
erst Süddeutschland ganz zu gewinnen. So blieb der Zwergstaat bestehen.
Der altere nassanische Zweig wird hoffentlich den französischen Firnis Luxem¬
burgs endlich entfernen, da Deutschland auf die Dauer diese künstliche Ver¬
wischung alten deutschen Landes wohl nicht dulden kann. Die größere Hälfte
des alten Herzogtums Ltttzelburg fiel 1833 an den neuen Staat Belgien, das
Werk Frankreichs, das Friedrich Wilhelm III. in seiner unentschlossenen Zauder¬
politik trotz der oranischen Freundschaft zu hindern unterließ, obwohl es in
seiner Macht stand. Belgien wäre damit vielleicht dem alten Mutterlande,
jedenfalls aber dem angestammten Volkstum zu erhalten gewesen. Die Vor¬
gänger Kaiser Wilhelms I. kannten aber Bismarcks Leitspruch nicht: „Die
beste Parade ist der Hieb." Im Jahre 1870 waren die alten Scharten in
den südlichen Niederlanden nicht mehr auszuwetzen. Man mußte froh sein,
daß durch die deutschen Siege das französische Gebilde mit dem keltischen und
gänzlich ungeschichtlichen Namen „Belgien" vor der französischen Eroberung
bewahrt blieb.
Leider beharrte Deutschland auf dem national bedauerlichen Standpunkt
unbedingter Zurückhaltung gegenüber dem alten und urgermanischen Reichs¬
lande, wo französirte niederdeutsche als Wallonen eine französische Herrschaft
aufgerichtet hatten. Das uneigennützige französische Nachbarreich wühlte viel¬
leicht weniger offen, aber mit ungeschwächter Ausdauer munter in Belgien
weiter und betrachtete nicht mit Unrecht Brüssel als eine Vorstadt von Paris.
Die moralische Wirkung der Gründung des neuen Deutschen Reichs blieb jedoch
trotz dessen offizieller Gleichgiltigkeit für das vergewaltigte altdeutsche Land
nicht ohne nachhaltige Wirkung auf das Volksbewußtsein in Belgien. Der
Vlame erinnerte sich seiner niederdeutschen Abkunft und lockte wider den Stachel
der wallonischen Willkür, die, wie alles Renegatentum, um so rücksichtsloser
schaltete. Doch schrittweise siegte die vlämische Mehrheit, um nicht zu sagen,
die sich ihrer deutschen Abkunft bewußte ganze Bevölkerung Belgiens. Der
Widerstand der antinationalen, wallonischen Minderheit, die das Heft in der
Hand hielt, machte die vlämischen Vorstöße um so nachhaltiger und sicherte
ihnen deu Erfolg. Aber das Ergebnis ist doch nur bescheiden. Noch
nicht einmal die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkstums mit den
deutschen Abtrünnigen, die sich in nationaler Selbstentwürdigung Wallonen,
d. h. Welsche, nennen, ist errungen worden. Frankreich unterstützt die Wallonen
ganz offen mit materiellen Mitteln, weil mit deren Niederlage die Hoffnung
auf die Einverleibung Belgiens natürlich schwinden müßte und die Anlehnung
an das deutsche Mutterland mit Sicherheit erfolgen würde. Die Franzosen
handeln also durchaus politisch, zumal da noch ein weiter Streifen nieder¬
ländischen Bodens unmittelbar zu Frankreich gehört und die niederdeutsche
Sprache in dem Küstenstrich um Dünkirchen, Iivt, vllo l^nel, trotz aller Fran-
zvsirungsversuche ans dem Boden der AiMcls nMcm selbst ertönt. Boulanger
ließ daher seine Wahlkundgebuugen im ganzen äöxs.re,on,fret co Uorc! zugleich
in vlümischer Sprache verbreiten, und bei Beratung des Kriegsbudgets in der
französischen Kammer begründete noch kürzlich ein Abgeordneter die Regie¬
rungsvorlage mit der freilich gerechtfertigten Befürchtung, daß im Kriegsfall
Deutschland diese niederländischen, bis in dieses Jahrhundert, und die übrigen
lothringischen, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts deutsch gewesenen
Departements als Siegespreis zurückfordern würde. Die Franzosen glauben
daher nicht an die Selbstgenügsamkeit Deutschlands im Falle eines uns auf¬
gezwungnen Krieges, sodaß wohl auch Bismarcks Wort vom satten deutschen
Reiche nur dahin zu verstehen ist, daß wir nicht selbst um dieses nationalen
Zweckes willen angreifen werden. Frankreich wird ja auch schon für die Ge¬
legenheit sorgen.
Wir sind daher in hervorragendem Maße an der Lösung der vlämischen
Frage im deutsch-nationalen Sinne beteiligt und haben unzweifelhaft die Ver¬
pflichtung, dieser nationalen Interessengemeinschaft auch an den politischen
Stellen unverstellten Ausdruck zu geben. Das kaiserliche Wort vom „größern
Deutschland" in Anlehnung an die gleiche und erfolgreiche Volksstrvmung in
England hat wohl in den national empfindenden Kreisen, aber nicht in der
amtlichen und parlamentarischen Vertretung des Reiches nachhaltigen Widerhall
hervorgerufen. Im monarchischen Deutschland ist aber die öffentliche Meinung
feit der äußerlichen Erreichung der Staatseinheit nicht mehr die allgewaltige,
ausschlaggebende Macht. Ohne Bismarcks Zustimmung und geniale Initiative
hätte sich auch keine Kolonialpolitik entwickelt. Die offizielle auswärtige
Politik des Reiches ist aber immer noch von rührender Bescheidenheit. Bei
der Wahrung dieses eignen Volkstums, das in Belgien nur durch deutsche
Schwäche und Ungeschicklichkeit unter die geistige und thatsächliche Zwing¬
herrschaft Frankreichs gekommen ist, bedarf es aber kräftigerer Mittel zur
Anerkennung unsrer berechtigten Ansprüche. Die belgische Neutralität wird
das Land nicht vor der französischen Habgier schlitzen, die sich doch offen
genug seit Jahrunderten bethätigt hat. In der höchsten Lebensfrage eines
Volkes darf die Parteigesinnung nicht entscheiden. Dieselben Klerikalen, die,
ohne zu erröten, Polen und Franzosen unterstützen, was wohl auch bloß
in dieser vaterlandslosen Gruppe unsers Volks vorkommen kann, sind in
Belgien die rühmlichen Vorkämpfer ihres und unsers gemeinsame» Volkstums,
während die nach Frankreich schielenden Liberalen unter dem kläglichen Wort¬
schwall hochtönender Phrasen von Völkerfreiheit, zu deutsch: französischer Unter¬
drückung, ihr Stammesbewußtsein verrate» und ihr deutsches Blut verleugnen.
Es ist erfreulich, daß sich bei uns die rechts stehenden Liberalen gerade
in nationalen Fragen den Dank des Vaterlandes und der andern Parteien
verdient haben. Leider hat die nationale Frage, die sonst gerade gegenwärtig
nicht uur die europäischen Völker bewegt (selbst das buntgemischte Nord¬
amerika fühlt sich als einheitliche Nation), bei uns der sozialen weichen müssen
und unsre Aufmerksamkeit von der Bewahrung unsers eignen Volkstums, also
unsrer eignen Existenz abgelenkt. Die grüblerische deutsche Neigung, die
sich in unfruchtbarer Erörterung wirtschaftlicher Probleme gefällt, leistet dieser
Verrückung unsers politischen Lebens leider nur allzu sehr Vorschub, wie
wichtig auch die Lösung der thatsächlich bestehenden gesellschaftlichen und wirt¬
schaftlichen Krisis ist. Für Frankreich ist die belgische Frage eine Daseins-
forderuug. Belgien liefert mit Elsaß-Lothringen dem erschöpften Lande das
frische deutsche Blut, um es kampffähig für die Entscheidungsschlacht zu er¬
halten, die es mit glühender Sehnsucht herbeiwünscht. Unsre eignen Volks-
genossen werden die besten Streiter auf feindlicher Seite sein, wie ja stets
in den endlosen Eroberungskriegen französischen Übermuts. Ein vlämisches
Belgien bedeutet das unangreifbare Übergewicht Deutschlands, dessen natür¬
licher Bundesgenosse es sein wird, ohne seine Selbständigkeit aufgeben zu
müssen, für deren Erhaltung schon die bundesstaatliche Verfassung des
Reichs die erforderliche Gewähr bietet. Unsre auswärtige Politik würde
sich daher einer schweren Unterlassungssünde schuldig machen, wenn sie der
Entwicklung der vlämischen Verhältnisse gegenüber gleichgiltig bliebe.
Es handelt sich um keine politische Einmischung in die innere Verwaltung
eines fremden Staates. Aber wir dürfen die Anbiederungsversuche, wenn sie
jetzt auch nur versteckt und als moralische Eroberung auftreten, wie sie Frank¬
reich und sein wallonischer Anhang betreiben, nicht mit falscher Gelassenheit
unbeachtet lassen. Das belgische Königtum hat trotz seiner deutscheu Ab¬
stammung nie national empfunden, sondern den Mantel nach dem Winde
gehängt, da der Grund seiner Herrschaft in diesem Musterstaate der Verfassung
nur schwankend ist. Es muß Partei für das niederdeutsche Volkstum er¬
greisen, sobald es dessen Stärke erkennt, die es vor den Fährnissen einer so¬
zialen Umwälzung bewahrt, die gerade von Frankreich eifrig geschürt wird.
Aus dieser Erwägung erscheint auch der deutschen Politik die Erhaltung des
belgischen Scheinkönigtums wünschenswert, da die sozialistische batavische Re¬
publik sofort Anschluß an die größere französische Schwester suchen müßte und
finden würde. Aber es ist ein ehrendes Zeichen für das nationale Empfinden
belgischer Sozialisier,, das bei unsern Gesinnungsgenossen freilich gänzlich fehlt,
daß einer ihrer Abgeordneten in der Kammer für sein angestammtes Volks-
tum eintrat, obwohl das wesentlich liberale Wallonentum der sozialistischen
Parteigesinnung mehr entspricht, und die französischen „Genossen" nur allzu
absichtlich den belgischen ihre gefährliche Freundschaft aufdrängen. Aber die
vatcrlandslose Feindschaft der höhern und besitzenden Stände in diesem Lande
der Plutokratie hat bisher stets die endliche Forderung der Gleichberechtigung
beider Sprachen trotz des unbestreitbaren und geschichtlichen Vorrechts der
niederdeutschen Mundart geschickt zu vertagen verstanden.
Auch die neuste Entwicklung dieses Sprachenstreites hat die ungerecht¬
fertigte Gegnerschaft des wallonischen Renegatentums in seiner ganzen Stärke
dargethan. Die Kammer hatte die Notwendigkeit des Gebrauchs beider
Sprachen im dienstlichen Verkehr des Staates, also die Anerkennung der
niederdeutschen als Amtssprache neben der so lauge allein herrschenden fran¬
zösischen durch Annahme eines entsprechenden vlänüschen Gesetzentwurfes zu¬
gestanden. Der Senat wollte bloß die Übersetzung des französischen Textes
jeder amtlichen Kundgebung zulassen. Diese Abstimmung war lediglich durch
den Verrat vlämischer Senatoren an der nationalen Sache möglich; aber in¬
zwischen spann ein feines Ränkespiel geschäftig auch sinnverwirrende Fäden um
die Häupter der Abgeordneten, die nach alter schlechter deutscher Sitte die
Ausländerei besonders im zierlichen französischen Gewände so inniglich lieben.
Siehe da, auch die vlcimische Mehrheit in der Kammer fiel um, und der be¬
deutungsvolle Schritt auf der Leidcnsbahn des niederdeutschen Volkstums in
Belgien wurde verschoben. Freilich standen Hof und Regierung diesem Treiben
nicht fern. Der amtliche Zuschnitt ist in Belgien noch französisch. Die Be¬
amten und Anwälte fürchten für ihre Stellung, wenn sie plötzlich in der alten
Volkssprache ihren Gedanken Ausdruck geben sollen, was sie leider trotz
ihrer deutschen Abstammung mit der dem Deutschtum eignen Schnelligkeit
verlernt haben.
Da man von seinen Feinden am besten lernen kann, so ist ein Hinweis
auf Ungarn für die Vlamen nicht nutzlos. Dort hat auch eine absolute
Minderheit durch eiserne Thatkraft und Rücksichtslosigkeit aus der rohen
Sprache der Pferdehirten der Pußta in einem Menschenalter eine Amts- und
Litteratursprache geschaffen. Die deutsche Kultursprache hat die Kosten tragen
müssen. In Belgien ist die niederdeutsche Sprache aber die Mundart
der Mehrheit und der französischen ebenbürtig. Am Ausgang des Mittel¬
alters standen die Niederlande auf der höchsten Bildungsstufe in Deutschland,
und doch war der heimatliche Laut das jetzige Vlämisch. Im Norden hat
sich die niederdeutsche Sprache als Alleinherrscherin erhalten, und Holländisch
und Vlämisch sind nur verschiedne Bezeichnungen sür die gleiche Schriftsprache.
Die mundartliche Abweichung ist geringer als in den hochdeutschen Idiomen.
Unsre belgischen Volksgenossen haben ein Recht, unsre werkthätige Teilnahme
an ihrem Geschick zu verlangen, die sich bisher nur in platonischer Liebe
geäußert hat. Ihr Führer Coremans hat dem Unterzeichneten vor Jahren
seine Dankbarkeit für die deutschen Shmpathiebezeugungen ausgesprochen. Aber
wir können von den deutscheu Belgiern das lebendige Gefühl des gemein¬
samen größern Vaterlandes nicht erwarten, wenn sie nicht ein machtvolles
Eintreten für das Daseinsrecht ihres Volksstammes durch ihre Brüder jenseits
des Rheins sehen. Einst hat sie das Habsburgische Österreich verlassen.
Wollen wir diesem Beispiel folgen, um den Verlust eines weitern Gliedes
des alten Reiches zu betrauern, das deutscher ist als die Lande jenseits der
Elbe? An der Schelde ist uralter deutscher Volksboden; Preußen ist vor¬
wiegend Siedlungsbvden, wo der deutsche Einwandrer den vormals germanischen
Grund erst wieder dem Deutschtum gewonnen hat. Schließlich dürfte auch
noch der Umstand deutscherseits nicht außer acht zu lassen sein, daß im bel¬
gischen Luxemburg und Lüttich die Volkssprache noch gegenwärtig hochdeutsch ist
und als Dienstsprache gefordert wird, obwohl das amtliche Französisch reißende
Fortschritte macht.
Als die Mißgunst der Großmächte den Oraniern ohne jeden Grund die
österreichischen Niederlande schenkte, um sie dauernd aus dem alten Reichs- und
neuen Bundesverbände zu reißen, und als Preußen nicht den Mut hatte, auf
die Gefahr eines neuen Krieges hin die Wahrung der alten Reichsgrenzen zu
fordern, da die preußischen Diplomaten den schlauen Künsten des prvteus-
artigen Talleyrand nicht gewachsen waren, und des Reiches Eckstein, der
Neichsfreiherr vom Stein, nicht mehr in amtlicher Stellung war, da waren
die kleinen deutschen Kabinette mehr um die Erhaltung und größtenteils
widerrechtliche Vergrößerung ihres Besitzstandes besorgt, als um das Vater¬
land selbst, das doch ihr Nährboden war und dank der äußern Einheit die
Dynastien trotz all ihrer schweren Fehler um des Reiches Wohlfahrt willen auch
weiter geschützt hat und schirmen wird. Aber es ist noch eine große Dankes¬
schuld an dieses verstümmelte Vaterland abzutragen, nicht im Sinne der
französischen Chauvinisten und der Reunionskammern des Sonnenkönigs,
sondern auf Grund der unverwischbaren nationalen Gemeinschaft, die in
Europa trotz aller sozialen und wirtschaftlichen Wirren die Voraussetzung
aller Staatsbildungen der Gegenwart geworden ist und auch bleiben wird.
Selbst das Ländergemengsel der österreichischen Monarchie empfindet schwer
diesen Zustand, wo die nationale Gleichgiltigkeit des Deutschtums verabsäumt
hat, sich wie das übrige Reich die kleinen slawischen Volkssplitter dauernd
anzugliedern und mit seinem Wesen zu erfüllen. Dasselbe Habsburg hat
auch Belgien seinem Mutterlande entfremdet. An dem neuen Geschlecht ist
es, die alte Unterlassungssünde durch neue Thatkraft auf nationalem Gebiete
zu sühnen. Die Knochen des pommerschen Grenadiers dürfen auf keinem
türkischen Schlachtfelde bleichen. Aber auf Waterlvvs Gefilden siegte er
über den französischen Erbfeind und rettete Belgien wenigstens vor der
unmittelbaren Einverleibung in den französischen Staat. Bekanntlich standen
damals in den englischen Regimentern auch hannöversche Bauern und
sonstige deutsche Freiwillige. Das deutsche Mutterland hat damals seine
lange vernachlässigte Tochter, die österreichischen Niederlande, das heutige
Belgien, vor der welschen Vergewaltigung bewahrt.
Das verrottete kleine Griechenland schreit trotz seiner schlechten euro¬
päischen Aufführung nach nationaler Befreiung und Einheit; Wünsche, deren
Erfüllung ihm auch bei etwas größerer Bescheidenheit ebenso gewiß ist, wie
Europa die künftige Angliederung Kretas an Hellas weder hindern wird
noch kann- Aber Deutschland soll die Sammlung seiner Volksgenossen bei
Wahrung aller Stammesselbständigkeit, die freilich auch stets unsre verhäng¬
nisvolle Schwäche bleiben wird, versagt sein? Die Thaten eines Kaisers
Wilhelm, Bismarcks und Moltkes sind nicht der Abschluß der deutschen Einheit,
sondern der Beginn der nationalen Wiedergeburt. Möge uns die Zukunft
gleiche Männer schenken; wir dürfen nicht auf unsern Lorbeern ruhen, wie in
der unseligen Schlummer- und Schlemmerzeit nach des großen Friedrichs Ne¬
gierung. Stillstand ist Rückschritt. Der nationale Bestand unsers Volkstums
ist thatsächlich auch seit der Gründung des neuen Reichs noch zurückgewichen,
und die welschen, slawischen und magyarischen Wogen bröckeln weiter an der losen
deutschen Sprachküste. Ahnen wir das Beispiel unsrer kühnen Volksgesippen
in den Niederlanden nach, die ihre Deiche weit ins feindliche Meer hinaus¬
bauten und dem tückischen Elemente neue Landstriche abgewannen. Poltern
auch wir das schutzlose deutsche Land in der französischen Umarmung mit unsrer
waffengewaltigen Kraft ein und vollenden wir Bismarcks Werk der begonnenen
Einigung aller deutschen Stämme. Auf dem alten Tummelplatz der franzö¬
sischen Waffen, den belgischen Blachfeldern, wird auch künftig entschieden werden,
ob das Deutschtum oder die Franzosen die Vorherrschaft behaupten sollen. Ein
Gleichgewicht kann es für Frankreich nicht geben, wohl aber für uns; dann
jedoch müssen wir auch die nationalen Sieger sein, die ihre Übermacht nie¬
mals gemißbraucht haben.
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M ^I^!?«^r>
'M^n der Novembernummer des ärztlichen Vereinsblattes vom
vorigen Jahre find von der Redaktion über das wahrscheinliche
Nichtzustandekommen ärztlicher Ehrengerichte Betrachtungen ver¬
öffentlicht worden, die ich weder für richtig, noch im Interesse
des ärztlichen Standes für angebracht halte und deshalb nicht
unwiderlegt lassen will.
In dem Artikel heißt es: „Man verschmäht es, einen Einfluß zu ge¬
winnen auf diejenigen Elemente des Standes, die, außerhalb der Vereins-
organisatiou stehend, sich über die Regeln des Auslands, der Kollegialität frei
hinwegsetzen; man stößt das Recht der Besteuerung von sich, mit welchem man
Einrichtungen zur Linderung materieller Not der Ärzte und ihrer Familie»
treffen konnte. Und weshalb? Weil nicht alles so geboten wird, wie dieser
und jener sich das gedacht hat. weil man ängstlich besorgt ist, den Männern,
die sich der von uns selbst geschaffnen Ordnung nicht fügen wollen, einen weit
über das sonst übliche Maß hinausgehenden Schutz zu gewähren, weil man
Befürchtungen hegt wegen mißbräuchlicher Anwendung von Gesetzesvorschriften,
die in keiner Weise möglich ist." Zum Schluß heißt es noch: „Es ließe sich
über das Thema noch gar vieles sage», aber es nützt ja nichts, und die Be¬
schäftigung mit dem Thema ist uns verleidet."
Es ist demnach die Meinung der Redaktion, daß die Mehrzahl der Ärzte
das Ehrengericht ablehnt, weil es nicht nach jedermanns Kopf eingerichtet ist,
oder weil man allzu zarte, nicht angebrachte Rücksichten auf die unlautern
Elemente des Standes nimmt. Als Erwiderung darauf will ich nur den Tenor
der Schriftsätze Cnyrims und Landsbergers aus der Oktobernummer der Vereins-
zeituug hier vorführen. So sagt Cuyrim: „Alle Errungenschaften, welche uns
durch die Gewerbeordnung verbürgt sind, sollen den Unsicherheiten einer Ärzte¬
ordnung preisgegeben werden, deren Gestaltung in den Händen einer zu
Freiheitsbeschränkungen geneigten Negierung liegt — so wichtige Fundamente
auf das Spiel gesetzt für ein Phantom!" Und weiter unten: „Als wesentliches
Ergebnis der Ehrengerichte werden wir dabei nur den Verlust der Unabhängigkeit
des Arztes ernten. Ich mochte nicht an der Stelle der Ärzte sein, welche
dafür die Verantwortung zu tragen haben." Landsberger schreibt: „Was sie
(die Ärzte) erstreben, läßt sich durch eine geringe Erweiterung des bestehenden
und mit Gesetzeskraft ausgestatteten § 5 der Kabinettsordre vom 25. Mai 1887
erreichen. Jedes Mehr aber ist vom Übel, ist eine Gefahr für unsern freien
Stand, ist ein Joch, das wir uns ohne alle Notwendigkeit auflegen."
Das lautet doch etwas anders, als die Redaktion meint! Glaublicher ist
ihre Annahme, daß Befürchtungen wegen mißbräuchlicher Anwendung des
Gesetzes entstanden sind. Wenn nun aber von der Redaktion die kühne Be¬
hauptung aufgestellt wird, daß solche in keiner Weise möglich sei, so weiß ich
nicht, wie das zu begründen ist. Doch auch in diesen Befürchtungen liegt
offenbar nicht der Beweggrund, daß sich die Mehrzahl der Ärzte gegen den
Gesetzentwurf wendet; der Grund wurzelt vielmehr in der Unbestimmtheit des
Z 13. Alle übrigen Paragraphen des Entwurfs sind dem Z 13 gegenüber
unwesentlich und des Streites nicht wert, den mau um sie geführt hat. Was
kann daran liegen, ob beamtete Ärzte dem Ehrengerichte unterworfen sind oder
nicht, ob der König zwei oder mehr Mitglieder der höchsten Instanz zu er¬
nennen hat? Bei der Form können wohl ehrliche Leute jedweden Standes
mitwirken, aber was den Inhalt der Sache angeht, den Grund, wann und
weshalb das Ehrengericht eintreten soll, das darf nicht dem Laienurteil über¬
lassen bleiben, dazu dürfen nur Sachverständige, nur Mediziner spreche«. Im
13 heißt es: „Ein Arzt, der die Pflichten seines Berufs (Berufsthätigkeit?)
verletzt, oder sich durch sein Verhalten der Achtung und des Vertrauens un¬
würdig zeigt, welche der ärztliche Beruf (Stand?) erfordert, hat ehrengericht¬
liche Bestrafung verwirkt." Welche andern Berufspflichten hat denn der Arzt noch
als das Heilen kranker Menschen, das Lindern ihrer Not, das Spenden von
Trost, wenn das eine oder das andre nicht möglich ist? Verstöße er gegen
diesen seinen Beruf in der Art, daß er mit dem Strafgesetze in Konflikt gerät,
so hat er sich auf einen Prozeß gefaßt zu machen — und eine Thatsache ist
es, daß dies bisweilen vorkommt. Ist der Arzt aber ein nachlässiger Mensch,
dann schadet er sich selbst an seiner Praxis. Sollte in den genannten Fällen
auch noch ein Ehrengericht vonnöten sein?
Legt der Beruf aber noch andre Pflichten auf, als die oben aufgezählten,
dann ist es vor der Einführung eines Ehrengerichts, durch das Verstöße da¬
gegen geahndet werden sollen, die allerhöchste Zeit, sie zu nennen, und es
nicht dem Gutdünken irgend eines Juristen zu überlasse», auszuführen, worin
jene Pflichten bestehen. Hier hatte die Thätigkeit des Ärztekammerausschusses
einzusetzen, nicht aber bei der Ausarbeitung der Form des Gesetzes, einer rein
technisch-juristischen Sache. Und was hat der Ausschuß gethan? Nach einem
Antrag Dr. K.s hat er beschlossen, den Minister zu ersuchen, eine ärztliche
Standesordnung auszuarbeiten. Hat man bei diesem Beschluß vielleicht etwas
von dein bekannten beschränkten Unterthanenverstcmde verspürt? Hinsichtlich
des Privatlebens der Berufsgenossen ist man schwankend gewesen. Merk¬
würdigerweise soll es den ehrengerichtlichen Satzungen nicht unterliegen. Will
man aber die Ehre des Standes heben, den Stand verbessern, so sollte man
genau genommen den Hebel überall ansetzen, an das Privatleben sowohl als
an die Berufsthätigkeit.
An und für sich sollte es scheinen, daß Gesetze keinen andern Zweck hätten,
als allgemein giltige, gute Gewohnheiten in rechtliche, d. h. für alle verbind¬
liche Formen zu bringen. Aus einem guten Stück der neuern Gesetzgebung
geht aber hervor, daß sie auch erzieherisch wirken sollen. Der Gedanke, die
Menschen durch die aufs Papier gebrachte» Paragraphen zu bessern, ist eben
zu verlockend. Wenn die Menschen einmal anders organisirt sein werden, und
die nötigen Nechtsbelehrungen der Richter dabei nicht ausbleiben, so ist es
vielleicht zu erwarten, daß die Menschen auf diese Weise zum Guten erzogen
werden und die Zustände dieser Welt sich in paradiesische umwandeln. Bis
dahin aber sollte man als Koeffizienten der Erziehung Elternhaus, Schule,
Kirche und ähnliche Größen walten lassen, Gesetze aber nur für die Wahrung
bestimmter guter Gewohnheiten und gegen ihre Übertretung in gewissen Fällen
aufstellen! Wie das auf unsern Fall anzuwenden ist, möge seine Erörterung
weiter unten finden. Hier mag noch ein Beispiel folgen, wie weit verbreitet
die Meinung ist, daß die Menschen durch den Strafrichter zum Besser» er¬
zogen werden müssen. Ein Artikel der „Deutschen Tageszeitung," der im
November vorigen Jahres erschienen ist, schreibt in diesem Sinne: „Daß man
kurzerhand fast allgemein gefordert hat, das Versälle» außerhalb des Berufs
müsse dem Ehrengericht grundsätzlich entzogen werden, das ist bedenklich und
bedauerlich. Kein Beruf muß so vom Vertrauen der Bevölkerung getragen
werden wie der ärztliche; keinem Beruf wird so viel anvertraut wie dem ärzt¬
lichen. Wenn ein Arzt sein schweres Amt in gewissenhafter Weise ausüben
will, dann muß er ein sittlich einwandfreier Mensch sein, dan» darf auch fein
anßeramtliches Verhalten keine schwere Verfehlung aufweisen, sonst wird das
Vertrauen gemindert und damit der Erfolg seines Wirkens beeinträchtigt.
Unsers Erachtens wird sich die Negierung nicht abhalten lassen dürfen, in
den Entwurf, der dem Landtage vorgelegt werden soll, die Bestimmungen
aufzunehmen, daß die Ehrengerichte auch über das Verhalten der Ärzte außer¬
halb des Berufs zu entscheiden haben. Sie möge diese Bestimmung scharf
abgrenzen, peinlichst sorgfältig fassen, daß sie nicht mißdeutet und mißbraucht
werden kann; aber darauf verzichten darf sie nicht." Sehr ehrenvoll diese
Ansicht der Deutschen Tageszeitung für den ärztlichen Stand! Da ist der
Stand der Lehrer, der Religionslehrer, der Richter gar nichts gegen den
Stand der Ärzte, wenigstens nichts, soweit es Strafbestimmungen angeht,
denn der nichtamtliche Arzt soll sogar über sein außeramtliches Verhalten
kvntrollirt werden. So ehrenvoll diese Ansichten für den ärztlichen Stand
aber auch sein mögen, ihnen zu folgen halten wir für höchst bedenklich, denn
was Standesehre und Berufspflichten sind, soll er von der Staatsregierung
erfahren, und Laien sollen das Recht haben, Anklagen zu erheben, wenn sie
glauben, daß ein Arzt seinen Beruf verletzt, oder durch sein Verhalten sich
des Vertrauens unwürdig zeigt, das der ärztliche Beruf erfordert! Die Ärzte,
die ihren Standesgenossen die Zumutung machen, sich derartigen ehrengericht¬
lichen Bestimmungen zu unterwerfen, laden sich in der That eine große Ver¬
antwortung auf, und jene Ärzte, die sich gegen solche Bestimmungen nicht mit
Entschiedenheit verwahren, zeigen wenig Interesse für das Wohlergehen ihres
Standes.
Soll damit aber vielleicht gesagt sein, daß der ärztliche Stand kein Ehren¬
gericht brauche, oder daß es unzweckmäßig sei, ehrengerichtliche Bestimmungen
bei ihm einzuführen? Keineswegs! Ehrengerichte können für den ärztlichen
Stand wohl etwas gutes schaffen, aber man muß wissen, was man damit er¬
reichen will, und muß genau zusehen, was man damit erreichen kann. Damit,
daß man sagt: Wer gegen die Pflichten des Vernfs (soll doch wohl Standes
heißen?) verstößt, hat ehrengerichtliche Bestrafung verwirkt, hat man zwar alles,
aber auch nichts gesagt. Der Begriff Berufspflicht ist ein durchaus unbe¬
stimmter, nnter den alles mögliche zusammengefaßt werden kann. Hofft man
so den Stand vielleicht von seinen unlautern Elementen zu reinigen, ihn zu
einem idealen zu machen, so wird dies ebenso vergeblich sein, wie es bei
andern Ständen mit und ohne ehrengerichtliche Satzungen ist. Sucht man
aber einen Schutz zu schaffen gegen verleumderische Beleidigungen, unehrenhafte
und schädigende Handlungen der Berufsgenossen selbst, dann ist die Aufstellung
von Satzungen sowohl für ein Ehrengericht, als auch für eine Standesordnung
leicht und wirksam zu gestalten, denn dann braucht man nur den 3 fol¬
gendermaßen zu fassen: Das gegenseitige Verhalten der Ärzte zu einander
unterliegt ehrengerichtlichen Bestimmungen, und den § 13: Ein Arzt, der
durch Wort oder That in nicht zu rechtfertigender Weise einen Berufsgenossen
kränkt oder schädigt, hat ehrengerichtliche Bestrafung verwirkt.
Was mittelst eines auf solchen Grundsätzen aufgebauten Ehrengerichts
erreicht werden kann, wird jeder Berufsgenosse ohne weiteres einsehen. Sollte
die Wirksamkeit manchem zu gering erscheinen, z. V. weil man einem Voll-
beding damit kaum etwas anhaben könnte, so möge man doch bedenken, daß
nicht für jeden einzelnen Fall auch ein Gesetz erlassen werden kann, daß aber
ein Gesetz, das sich auf dem bewährten Grundsatze unsers Sittengesetzes auf¬
baut: Was du nicht willst, daß man dir thu, das füge auch keinem andern
zu, sicherlich wie kein andres den Stand der Arzte sittlich zu heben vermag.
Ebenso wie ich es für unrichtig halte, daß die Redaktion für ein Ehrengericht
von der zur Abstimmung gelangten Art eintritt, so muß ich auch ihre Be¬
merkungen für befremdlich erklären, daß die Ärzte mit der Nichtannahme auch
das Recht der Besteuerung von sich gewiesen hätten. Was haben denn Unter-
stützungskassen mit einem Ehrengerichte gemein? Bis jetzt ist es im Staate
so gewesen, daß man es nicht allein gern gesehen, sondern auch darauf ge¬
drungen hat, daß Berufsgenossen ihre Berufsangehörigen in Füllen der Not
unterstützten — und bei dem Stande der Ärzte sollte dies anders sein?
Sollten die Ärzte ihre notleidenden Verufsgenossen oder deren Angehörige
einer des Standes unwürdigen und das Gefühl verletzenden Bettelei verfallen
lassen, weil sie ein Ehrengerichtswesen nicht wollen? Ich halte dies für so
lange unwahrscheinlich, bis ich die Gründe hierfür von berufnen Leuten höre,
und diese sind der Minister und die Abgeordneten. Dazu kommt noch, daß
ein Umlagerecht, wie es der Ehrengerichtsentwurf vorgesehen hat, für Unter¬
stützung hilfsbedürftiger Ärzte und ihrer Hinterlassenen gar keinen Wert hat.
Nach dem ebenfalls von Dr. K. gestellten und vom Ausschuß angenommnen
Antrag soll die Bitte vorgebracht werden, daß, wenn der erste und zweite
Abschnitt des Entwurfs überhaupt nicht Gesetzeskraft erlangte, doch der dritte
Abschnitt — das Umlagerecht betreffend — als besondrer Gesetzentwurf dem
Landtage vorgelegt werde — aber weshalb? weil sonst die finanzielle Existenz
der Ärztekammer in Frage gestellt wird!
Haben sich denn die Ärztekammern so um den ärztlichen Stand verdient
gemacht, daß man ihrer Existenz zuliebe einen besondern Gesetzentwurf be¬
antragt? Was die Ärzte den Ärztekammern bis jetzt besondres zu verdanken
haben, ist mir nicht bekannt; ich bezweifle aber, daß ihnen bei ihrem etwaigen
Verschwinden aus ärztlichem Lager viel Thränen nachgeweint werden würden,
denn weder die materielle noch die virtuelle Notlage des Standes hat durch
mwoben von den Strahlen des Ideals erscheint die Kunst wie
losgelöst von Erdenschwere, als Schöpferin allgewaltig. Und
in der That zum wahren Künstler gesellt sich, um mit dem
Dichter zu sprechen, der „Weltgeist." Die Edelsten unter den
Menschen haben dies auch stets begriffen. Nie war ihnen die
Kunst bloß ein Luxus. Im Schönen einzig und allein verbindet sich harmo¬
nisch das ganz sinnliche und das ganz seelische, wie Fr. Th. Bischer kurz und
erschöpfend sagt. Die Künstler sind deshalb immer als die Dolmetscher des
tiefsten Sinnens und Fühlens der Völker betrachtet worden, deren materieller
Reichtum nur ein armer Sockel ist, auf dem die Gebilde der Meister, auf dem
die Kunst steht. So war es, und so ist es noch heute. Aber so hoch sich
auch der Flug des Menschen zum Unendlichen erheben mag, er ist doch nur
als Geist ein Schöpfer, als Geschöpf bleibt er auf die Erde gebannt. So
auch die Kunst. Selbst sie, die uns schwerefrei dünkt, sie wurde geboren aus
dem vom Geiste des Ewigen befruchteten Schoße der Erde. Und zwar aus der
Erde im eigentlichen Sinne des Ausdrucks, d. h. aus deu natürlichen Boden¬
verhältnissen.
Wenn wir von den natürlichen Bodenverhältnissen sprechen, so haben
wir in erster Linie an die „Erde" (sumpfiges Gelände, vulkanischen Boden)
zu denken und an das, was sie an den sür künstlerische Zwecke nützlichen
Materialien in sich birgt, z. B. Stein, Thon. In zweiter Linie sind die Ver¬
hältnisse zu beachten, die sich aus der Stellung der Sonne zur Erde und aus
den Eigenschaften der Erdoberfläche ergeben, d. h. das Klima. Wir sind ge¬
wohnt, die bildenden Künste in drei große Kategorien zu zerlegen, in die
Architektur, die Plastik und die Malerei. Wir werden gut thun, diese Ein-
teilung auch hier beizubehalten. Sie gestattet uns, vom niedern zum höhern,
von dem erdeuschweren Stoffe zum leichtbeschwingten Lichte emporzustreben.
Die Erdoberfläche wird zunächst der Baukunst einige allgemeine Gesetze
aufzwingen. Wenn wir z. B. sehen, daß die ägyptische Architektur, nach
Götter, vorwiegend mit Ebenen und geraden Kanten und Linien, mit scharfen
Kontrasten der Beleuchtung arbeitet, so steht dies in Übereinstimmung mit der
natürlichen Umgebung, dem reinen Himmel und den großen Linien der Land¬
schaft. Wenn wir in Gebirgsthälern so oft nadelspitzen Türmen begegnen,
so sind es die ragenden Spitzen der Berge, die zum Wettstreite reizten. Wenn
wir ferner in vulkanischen Gebieten, z. B. in Santiago, großartige langgestreckte
Paläste erblicken, die aber alle einstöckig sind, so spricht hier die Unsicherheit
der natürlichen Bodenverhältnisse mit. Ebenso wenig wie ein vom Erdbeben
oft heimgesuchtes Land einer aufstrebenden monumentalen Architektur förderlich
ist, vermag ein sumpfiger Boden diese hervorzurufen. Auf einem Roste wird
niemals eine künstlerisch durchgebildete, im künstlerischen Sinne strebende
Architektur autochthon entstehen können. Die Notwendigkeit, einen Baugrund
erst durch eingeräumte Pfühle beschaffen zu müssen, ist für das Entstehen
einer selbständigen Baukunst ein zu großes Hindernis. Wie schwerwiegend
dieses ist, beweisen die Perioden am besten, in denen der Mensch, ausgestattet
mit reichen technischen und materiellen Mitteln, an die baukünstlerischen Auf¬
gaben herangetreten ist. In Venedig hat sich, um ein Beispiel anzuführen, in
keiner Zeit eine eigenständige monumentale Architektur entwickelt. Allerdings
sind eine Anzahl glänzender Paläste und Kirchen erbaut worden; aber gerade
diese beweisen, wie sehr der sumpfige Untergrund die Baumeister behindert
hat. Die Bauten sind schmal und tief, aber nicht breit angelegt. Denn der
breite Grundriß verlangt eine vielfach gestaltete Durchbildung, die mehr belastet
als der schmale. Die Gebäude sind serner in leichterm Material errichtet und
wenigstens der weit überwiegenden Mehrzahl nach nicht durch massige Bau¬
glieder belebt, sondern mit bunten Gestein und glänzendem Goldschmuck heraus¬
geputzt, wie man wohl sagen darf. Es war also in erster Hinsicht der un¬
sichere Baugrund, der diese eigentümliche Anlage der Bauten forderte; erst an
zweiter Stelle kam ihre Kostbarkeit in Frage. Dieselben Verhältnisse und
Ergebnisse beobachten wir in den Niederlanden. Der Situationsplan eines
Hauses wird weiterhin besonders im Gebirge durch die Beschaffenheit des
natürlichen Bodens bestimmt werden. Hier wird ein kompakter Grundriß, der
möglichst wenig Raum verlangt, unbedingt notwendig sein.
Nachdem wir die hauptsächlichsten Formen der „natürlichen Bodenver¬
hältnisse" untersucht haben, müssen wir die Frage aufwerfen: Welche Be¬
dingungen sind die günstigsten, unter denen eine monumentale Architektur er¬
stehen kann? Die Antwort müßte heißen: Die geeignetsten Vorbedingungen
treffen wir in der nichtvulkanischen Ebene an. Denn in dieser steht der
Durchbildung des Grundrisses und dem Hochbau nichts entgegen. Nun giebt
es aber in der Ebene im allgemeinen keinen „gewachsenen" Stein, und fehlt
dieser, so ist die große Architektur in ihren Bewegungen nicht völlig frei. Ein
Gelände gemischter Art, z. B, Attika, die Rheingegend, die Normandie, Burgund,
das florentinische, das römische Gebiet, wird demzufolge durch die natürlichen
Bodenverhältnisse für die erste Entfaltung einer monumentalen Baukunst am
passendsten sein. Wir haben soeben die natürlichen Steine erwähnt, also das
im Innern der Erde entstandne oder liegende Baumaterial. Es liegt auf der
Hand, daß dieses auf die Ausgestaltung der baukünstlerischen Gedanken einen
weitgehenden Einfluß ausübt. Der Baustil wie die Bauformen hängen mit
in erster Linie von dem benutzten Material ab. Wir sprechen deshalb von
einem Steinhaufen, von einem Ziegelbau-, von einem Holzbaustile.
Wie sehr das natürliche Baumaterial hierbei seine Rechte geltend macht,
beweist die Entstehung der Säule. Götter bemerkt in seinem Buche über das
Werden der Stilformen: „Das wertvollste Motiv, das der ägyptische Stil in
dieser Hinsicht — der Erschaffung von Werkformen — geschaffen hat, ist das¬
jenige der Pfeiler- oder Säulenreihe mit dem darauf ruhenden Steinbalken.
Es wurde in den Felsengrabkammern entwickelt, indem man die ursprüng¬
lichen Scheidewände benachbarter Räume, die die wagrechte Decke trugen, mit
hohen rechteckigen Thüren durchbrach und zum Zweck der Bildung eines ein¬
zigen, größern Raumes mehrere solche Thüren einander nahe rückte. In vielen
Beispielen ist die Werkform in dieser Gestalt ohne jede Schmuckform sichtbar.
Später wurde zu Gunsten besserer Tagesbeleuchtung der Felsräume der qua¬
dratische Querschnitt der Pfeiler bis nahe an die Horizontalkante jener Thüren
durch einen achtseitigen und sechzehnseitigen ersetzt und damit die Werkform der
Säule gewonnen: zur Übertragung des gewonnenen Motivs auf Freibanten
war es dann nicht mehr weit." Dieser Sänlenfreibau ist übrigens, weiter
durchdacht, ein durchschlagender Beweis für die Einflüsse des Materials und
der „natürlichen Bodenverhältnisse." Einzig der gewachsene Stein schenkt uns
sänlengetragne Bauten; der Ziegel läßt genau genommen nur den Pfeilerbau¬
stil zu. Um spätere Ausnahmen, so zahlreich sie auch sind, brauchen wir uns
nicht zu kümmern, da uns uur die Frage nach der eingebornen Bankunst
und ihre Beziehungen zu den natürlichen Bodenverhältnissen zu interessiren
hat. Die Verwendung von Ziegeln wird ferner eher zur EinWölbung führen
als die des gewachsenen Steins. Denn der Stein- oder Keilschnitt der Quadern,
die sich einzig dnrch die eigne Schwere und den Gegendruck im Gleichgewicht
halten, ist an und für sich weit komplizirter als die Aufgabe, kleine durch
Mörtel fest aneinander gebundne Ziegelsteine zu einem Bogen oder einem Ge¬
wölbe zu vereinigen. Nichtsdestoweniger hat nur die mit echtem Gesteine
geschaffne EinWölbung einen Baustil wie die Gotik hervorzurufen vermocht.
Essenwein schreibt einmal in einem andern Zusammenhange: „Vorzugsweise
ist die — die gotische — Baukunst ein Resultat der Eigenschaft des Mate¬
rials; sie ist eine Folge des Steinbaues. Der Quader wirkte in der Kon¬
struktion hauptsächlich durch sein Gewicht und seine Festigkeit. Der Quader¬
bau allein kann also die Aufgabe lösen, die Masse vollständig auf einzelne
tragende Punkte zurückzuführen." Darin liegt aber bekanntermaßen das
xunvwm Lg.UsnL der gotischen Bankunst. Daß dann in entwickelterer Bau¬
periode gerade leichte Gewölbe, wie das Fächergewölbe im Lande des Ziegel¬
baues die vollkommenste Ausbildung erhielten, kann uns in diesem Zusammen¬
hange gleichgiltig lassen.
Gleichwie sür die stilistischen Grundgedanken das Material maßgebend ist,
so auch sür die einzelnen Formen. Der sogenannte Rustikabau ist, um einen
Beleg zu geben, in Toskana wie nie zuvor entwickelt worden; in Oberitalien,
dem Lande der Ziegelbauten, wäre eine solche Architektur unmöglich. Der
Ziegelbau wird unter den für uns obwaltenden Verhältnissen die eintönigen
Mauerflächen nicht durch energische, wuchtige Bauglieder beleben — trotz
Palladio —, sondern durch kleinere, mehr oder weniger ornamentale Motive,
wie durch Ziegelstellung, durch Medaillons, Lisenen, Blendbogen usw. Diese
Bemerkung sührt uns zu dem Einfluß des natürlichen Materials, den es auf
die Formenbildung der einzelnen Teile und Glieder des Baues ausübt. Ein
und dasselbe Motiv sieht nämlich in Sand- oder hartem Kalkstein ausgeführt
ganz anders aus als in gebranntem Thon. Ein Architekt, der z. B. eine
Konsole für den Thon ebenso bilden wollte wie für den festgefügten, echten
Stein, würde ganz gewaltig irre gehen. Der durchbrochne gotische Kirch¬
turm würde niemals in einer Gegend erfunden worden sein, die nur über
Thonerde verfügt. Daß die Formensprache der Renaissance in Florenz so ganz
anders tönt als die der Lombardei und der Niederlande, beruht in erster Linie
auf dem benutzten Stoffe.
Noch ein andrer Einfluß muß hervorgehoben werden, der allgemein für
die nordischen wie für die südlichen Landschaften als bestimmend gilt: das
Licht. Die Sonne und deren Kraft, die dickere und dünnere Atmosphäre
sprechen bedeutsam mit. Die scharfe Beleuchtung des Südens erlaubt und
fordert eine viel zartere Behandlung aller Einzelheiten. Diese atmosphärischen
Verhältnisse, die zum Teil doch auch durch die natürlichen Bodenverhältnisse
hervorgerufen werden, gestalten die Architektur ihrerseits noch in einer andern
Hinsicht. Ein Land, das wie die Niederlande reiche Niederschlüge hat, das
wie Skandinavien von mächtigen Schneemassen bedeckt wird, muß und wird
seine Baukunst ganz anders entwickeln als etwa Rom oder Südspanien. Der
luftige Hallen- und Gewölbebau der Alhambra ist ein echtes Kind des Klimas,
der natürlichen Bodenverhältnisse im weitern Wortsinn. Die Araber ver¬
wandten den Spitzbogen ohne seinen architektonischen Wert zu erkennen; sie
schätzten ihn vielleicht nur rechnerisch als Mathematiker. Ebenso begreiflich
ist es, daß sich die Gotik in Italien kein Heimatrecht erwerben konnte. Dieser
Stil löst das Gebäude in einzelne tragende Glieder auf und betrachtet die
durch mächtige Fenster durchbrochnen Mauern lediglich als raumabschließend.
Der Südländer sucht Kühle und gebrochnes Licht, der Nordländer dagegen
liebt, die Sonue, d. h. Wärme und Licht, auf jede Weise in seine Gebäude
hineinzulocken. Aus denselben Gründen hat der Kuppelbau seine hervor¬
ragendsten Vertreter im regenarmen Süden; das spitze Dach seine begeistertsten
Verehrer in den mit Regen „reichgcsegneten" nordischen Ländern; das stark
vorspringende Dach in besonders schneereichen Gebieten, wie in allen Gebirgs¬
gegenden, in Skandinavien, dem Lande des Holzbaues. Dies Holzhaus ist,
wie nebenbei bemerkt sei, überhaupt so innig mit den natürlichen Bodenver¬
hältnissen verwachsen, daß man an ihm die ganze Theorie bis in alle Einzel¬
heiten, vom Grundriß bis zum Hochbau und den phantastischen, grell bemalten
Ornamenten nachweisen könnte.
Es giebt Leute, und unter ihnen feinfühlige Kunstfreunde, die die Archi¬
tektur nicht als eine Kunst im edelsten Sinne des Ausdrucks anerkennen wollen.
Sie sagen, es klebe ihr zu viel Banausisches an. Man spürt eben bei der
Baukunst sehr stark die engen Beziehungen zu den natürlichen Bodenverhält¬
nissen. Bei der Plastik zeigt sich eine ähnliche Beeinflussung. Als die Väter
der Bildhauerkunst verehren wir die Griechen. Man versetze nun einmal die¬
selben Griechen in die norddeutsche Tiefebene, raube ihnen die weiche balsamische
Luft, den feingekörnten, festgefügten, wie vom Leben durchatmeten Marmor —
was würde aus ihnen geworden sein?
Die natürlichen Bodenverhältnisse sind in der That auch für die Plastik
uach Form wie nach Inhalt bestimmend. Das milde Klima erlaubte den
Griechen, sich im Freien aufzuhalten, ohne zuviel lästige Hülle tragen zu
müssen. Das Auge wurde an die nackten Formen des menschlichen Körpers
gewöhnt; sie wurden ihm natürlich, wie dem unsrigen das Spiel der Wolken¬
schatten. Die leiseste Anregung löste das so oft gesehne Bild in ihrer An¬
schauung aus, sodaß die Griechen, mechanisch möchte man fast sagen, die
schönen körperlichen Gebilde unter ihrem Meißel erstehen ließen. Niemals wären
sie aber dazu gelangt, ihre Trünme in greifbare Schöpfungen umzusetzen, wenn
sie durch die natürlichen Bodenverhältnisse nicht so außerordentlich begünstigt
worden wären. Dieser wunderbare parische Marmor mit der, wie die Griechen
sagten, von den Göttern selbst erwählten goldnen Mitte zwischen Härte und
Weichheit, zwischen: festem und lockeren Gefüge, das das Licht so unbeschreibbar
schön in sich aufsaugt, sich von ihm durchleuchten und es wieder ausstrahlen
läßt — erst dieses Geschenk des Erdbodens gab dem Künstler die Freiheit des
Schaffens. Niemand wird dies bezweifeln. Man denke sich jedoch, in Griechen¬
lands Boden hätte der harte Granit Ägyptens gelegen, und man wird den
Rückschluß leicht machen können. Die Ägypter haben uns vor nicht gar zu
langer Zeit in Verwunderung gesetzt durch die klcingestalteten, sehr realistisch
und lebendig erfaßten Figürchen aus Holz und Kalkstein, denen die spätere in
ihren Dimensionen so gewaltige Steinplastik nichts entsprechendes an die Seite
stellen kann. Woran lag es, daß das also doch vorhandne künstlerische Ver¬
mögen sich nicht in der höhern Plastik sein Recht verschaffen konnte? Vor¬
nehmlich am Materiale. Die am hüufigsteu vorkommenden Steinsorten wie
Syenit, Diorit, Vasall, Porphyr und besonders der Granit stellten der gro߬
geformten Plastik außergewöhnliche Hindernisse in den Weg.
Es wird ja auch niemand glauben, daß nur der Zufall die besten
Bildhauer von den Römerzeiten an bis zu Michelangelo hinab aus dem den
marmorreichen Gebieten so nahen Toskana, dem alten Etrurien hervorgehen
ließ; daß es ein Spiel blinder Mächte sei, wenn wir im Becken der Scheide,
in Tournai, wo eine feingefügte Marmorsorte gebrochen wird, die Skulptur
eine so hohe Blüte erreichen sehen; wenn gerade in Wechselburg, in Naum-
burg, Bamberg, Straßburg, Arles, Chartres usw. die glänzendsten Schulen
der Bildhauerkunst entstanden! Wo immer man den Finger hinlegt, da war
es der im Boden gefundne, gewachsene Stein, der dein künstlerischen Streben
die Möglichkeit zur plastischen Kunst gab. In wie hohem Maße der nach
unsrer Auffassung autodidaktisch schaffende Plastiker wie mit unlösbsreu
Ketten an das Material seines Gebiets gebunden ist, beweisen auch die Worte, die
der berühmte französische Kunsthistoriker Viollet-le-Duc über die burgundische
Skulptur schrieb: I-a, na-durs rv8istg,mes et<zö oalLS-irss as eetts provinos
Mtorisö ass Karcliössös <zu'ein us xonv-ut, 86 pörnrettis cians l'Isis ä<z Kranes,
1a (ülnurrpÄMS <ze la. UornisiMs vo. los inatöriliux sont, ALirÄ'alöiQönt, ä'uns
imwrv moins tsrnrs. Die Gegenden am Comersee, um ein weiteres Beispiel
zu geben, liefern einen vortrefflichen Stein zu Steinmetzarbeiteu. Und wer
hätte noch nicht von den Comasker Steinmetzen gehört, die seit vielen Jahr¬
hunderten als gesuchte Steiucirbeiter aus ihren Dörfern in die weite Welt
zogen und ziehen?
Es giebt nun allerdings Materialien für den Plastiker, die sozusagen in
aller Welt heimisch sind: Thon, Holz, Erz. Man könnte sich ernstlich versucht
fühlen, dem Thon einen ganz besondern Wert einzuräumen, insofern, als er der
Stoff ist, in dem der Bildhauer seit langem zuerst arbeiten lernt. Er ist auch
thatsächlich sür weite Gebiete bestimmend geworden. Dennoch wird man dem
Thone nicht eine Kraft zutrauen dürfen, die in demselben Maße den schlum¬
mernden künstlerischen Genius zum Leben ruft, wie ein bildungsfähiger ge¬
wachsener Stein. Soll das in Thon geformte Werk Bestand erhalten — und
das muß es, denn Kinder des Augenblicks wirken nicht erziehend —, so muß
es gebrannt werden. Ein Volk aber, das in Thon gebildete Kunstwerke zu
brennen imstande ist, muß die Kinderschuhe als Künstler schon ausgetreten
haben. Wir haben also eine Kulturstufe erreicht, die uns von den Bedingungen
der natürlichen Bodenverhältnisse etwas entfernt. Sehen wir aber auch davon
ab, selbst dann wird dem Thone keine führende Rolle zugewiesen werden
dürfen. Er ist einerseits zu bildsam, andrerseits — wenn er nicht ganz
raffinirt behandelt wird — zu wenig formfähig, formbildend. Er wird durch
die zu große Leichtigkeit der Bearbeitung einem erst zum glückhaften Gestirn
der Kunst emporstrebenden Volke die wachsende Kraft mindern, die im Feuer
des Widerstands, des Ringens erstarken soll, und aus der andern Seite ist
die Formengebung nicht scharf genug, sodaß die Formenanschauung nicht ge¬
nügend gekräftigt wird.
Die Nachteile der Thonplastik sind ja auch neuerdings von einem unsrer
besten lebenden Bildhauer, Hildebrandt, der gerade für die Form sehr empfindlich
ist, hervorgehoben worden. Er schreibt: „Das Modelliren in Thon hat seinen
Wert beim Studium der Natur, um Bewegungsvorstellungen zu gewinnen und
alle Erkenntnis der Form zu fördern, entwickelt aber nicht die künstlerische
Einigung des Ganzen als Bildvorstellung." Wenn also sogar ein angehender
Künstler der Gegenwart durch dies Material so schwer geschädigt werden kann,
um wie viel mehr Menschen, die am Beginn der Entwicklung der Kunst stehen!
Daß die Thonplastik nichts desto weniger bewundrungswerte Werke hervor¬
gebracht hat, wissen wir alle, denn wer kennt nicht die Tanagrasiguren, die
etruskischen Porträts, die Büsten im steinarmen Gebiet von Bologna, die herr¬
lichen Gebilde eines Donatello, eines Begarelli, die Nobbiaarbeiten? Ähnliche
Schwierigkeiten bietet das Holz als plastisches Material. Und doch könnte
man fragen: Ist ein Eichen-, ein Virkenstamm nicht fest gefügt und doch bild¬
sam, ist das Holz nicht widerstandsfähig gegen Wind und Wetter, steht es
nicht in großen Stücken und in kleinen zur Verfügung, kann man es nicht
bemalen, damit es der Natur täuschend ähnele, das Auge erfreue und befriedige?
Haben wir nicht hervorragende in Holz geschnittne Meisterwerke, wissen wir
nicht, daß die ältesten Werke thatsächlich aus Holz geschnitzt waren? — Gewiß,
und doch darf man dem Holze unter den Materialien, die die natürlichen
Bodenverhältnisse darbieten, nnr eine zweite Stelle einräumen, obgleich wir
sogar bereit sind, zuzugestehen, daß das Holz dein Menschen vielleicht die erste
Anregung zur Bethätigung seines plastischen Triebes gegeben hat. Das Holz
mußte seiner Natur wegen schnell vom echten Stein verdrängt werden. Es
hat durch seine Faserung, durch seine verschiednen Schnittflächen, durch die
Unfähigkeit, gleich dem Marmor durch technische Behandlung eine „Epidermis"
anzunehmen, das Licht einzusaugen und wieder ausgehe» zu lassen, mit einem
Worte, durch seine Leblosigkeit die köstliche Himmelsgabe des festen Marmor¬
steines nicht erhalten, von der Michelangelo singt: „Des besten Künstlers
herrlichsten Gedanken — ein einzger Marmor kann ihn ganz enthalten." Die
spätern Zeiten haben dem Holze Leben zu geben versucht durch Bemalung,
durch Tönung, durch Einsetzen von andern Stücken, sodaß die Faserung gleich-
läuft — jedoch trotz solcher Kunstwerke wie die Nürnberger Madonna, der
Christus zu Freiberg i. S., der Altäre zu Cnlear und Schleswig, der
modernen Werke eines Volkmann usw.; trotz derartiger Monumente aus
Perioden, die von unsrer in Frage stehenden Zeit unendlich weit entfernt sind,
dürfen wir sagen: das Holz kann auf keinen Fall mit dem Stein und dem
Erz konkurriren.
Das Erz ist in gewisser Hinsicht das vorzüglichste Material, das der
natürliche Boden dem bildenden Künstler schenken kann. Die Untersuchung, in¬
wieweit es auf die ursprüngliche Entwicklung der Plastik eingewirkt hat, ist
sehr schwer, fast nur auf mittelbarem Wege zu machen. Denn das Erz wird
zu größern künstlerischen Arbeiten erst verhältnismäßig spät verwandt werden
können, da das Treiben und Gießen eine große mechanische und künstlerische
Ausbildung voraussetzt. Immerhin können wir auch in diesem Falle die Ein¬
wirkung der natürlichen Bodenverhältnisse einigermaßen für die deutsche Plastik
feststellen. Um das Jahr 1000 entstanden in Deutschland die ersten großen
plastischen Werke in Erz, und zwar in Hildesheim. Diese Stadt liegt aber in
der Nähe des Harzes, wo seit dem zehnten Jahrhundert der Bergbau reiche
Schätze an Metall zu Tage förderte. Auch Griechenland, z. B. Attika und
Euböa (Chalcis), war reich an Kupfer, und welchen bildenden Einfluß diese
natürlichen Bodenverhältnisse ausgeübt haben müssen, können wir selbst noch
aus relativ späten Arbeiten, z. B. den Gruppen von Ägiua, ersehen. Das
Erz wird dem Marmor erst die volle Freiheit gebracht haben.
Wir dürfen daher die Wichtigkeit der durch den Boden dem „auto-
chthonen" Plastiker geschenkten Stoffe etwa so bestimmen: Holz und Thon sind
die ältesten, aber weniger wertvoll, das Erz ist jünger, aber vornehmer, der
Marmor endlich ist weniger edel, aber von allgemeinerer Bedeutung für die
ganze Entwicklung der Plastik.
Die natürlichen Bodenverhältnisse bestimmen auch, wie wir schon hervor¬
gehoben haben, wenigstens teilweise das Klima. Dieses beeinflußt wiederum
die Kunst, also auch die Plastik. Von dem Klima hängt auch die Scheidung
ab in eine Außen- und eine Jnnenplastik. Die Griechen sind die Bildhauer, die
für die Aufstellung im Freien meißelten und gössen; die Nordländer bildeten in
der Zeit ihrer einheimischen Bildhauerkunst nur für geschlossene Räume, oder
für solche Räume, die mit der Architektur in derartiger Beziehung standen,
daß sie, z. B. die Kirchenportale, als geschlossene gelten können. Die Italiener
nehmen in der Renaissamezeit eine vermittelnde Stelle ein. Wie sehr das
Klima mitspricht — und nur von diesem ist die Rede, nicht von den Wechsel¬
wirkungen der gesteigerten Kultur, die z. B. den Norden mit zahlreichen
unter freiem Himmel aufgestellten Statuen beschenkt hat —, das ergiebt sich
sofort aus einem Vergleiche zwischen der Formensprache der griechischen Skulp¬
turen, denen Michelangelos und denen in Naumburg. Der Grieche hat, all-
gemein gesprochen, sein Formengefühl an dem lebenden Körper erzogen; Michel¬
angelo hat sich die Auffassung der Formen besonders am Sezirtische erworben,
und die deutschen Meister haben die Linien und die Teile des menschlichen
Leibes fast nur an den von Gewändern verhüllten Körpern zu studiren Ge¬
legenheit gehabt. Die Folge davon war, daß die Alten den einfachen mensch¬
lichen Körper in all seiner göttlichen und unmittelbaren Frische geschaffen
haben; daß Michelangelo richtige, aber studirte Leiber bietet, und daß die großen,
dem Namen nach unbekannten nordischen Plastiker die Einzelheiten der Gestalt
unter meisterhaft behandelten Gewändern nur ahnen lassen.
Wie das Klima die Form umbildet, so greift es auch in die Komposition
der einzelnen Figur und der Gruppe bestimmend ein. Der Grieche baut in
seiner besten Zeit leicht übersichtliche, freigeschlossene, durchsichtige Gruppen, da
er die Silhouette für die Aufstellung im Lichte der Sonne erfand; Michelangelo
drängt die einzelnen Figuren so dicht, wie nnr irgend möglich, zusammen,
weil er vor allem für den Innenraum meißelte; die nordischen Plastiker sind
fast unfähig, eine Komposition dieser Art in befriedigender Weise zusammen¬
zustellen. Die Gruppen fallen auseinander. Die Meister biete» „Gemälde,"
da ihre Ausdrucksweise durch das ausschließliche Angewiesensein auf das
Haus episch geworden war. Dies führt auf den geistigen Gehalt des Kunst¬
werks, der ja auch durch das Klima mittelbar und stark beeinflußt wird.
Die Behandlung der Frage nach dieser Einwirkung kann natürlich nur ganz
allgemein gehalten sein. Man wird aber wohl sagen dürfen, daß in einem
Lande, das Kunst ausübt, über bildsame Materialien verfügt und mit einem
heitern, warmen Klima begnadet ist, die schöne Form den Vorrang vor dem
reichen Inhalt haben wird. So war es in den großen Kuustländern, dem
alten Griechenland, dem neu erstanduen Italien. Anders geartet ist der
Sinn der Nordländer. Ihnen fehlt die Gelegenheit, die schöne Linie, die
feinsten Bildungen des menschlichen Körpers zu studiren. Das südliche Klima
gestattet, ja verlangt vom Menschen, sich frei von der entstellenden, häßlichen
Kleidung zu bewegen, und begünstigt so flüssige Konturen, runde Bewegungen;
es legt dem Meuscheu keine schweren, die körperlichen Formen entstellenden
Arbeiten auf und ruft feingliedrige, elastisch kräftige, weichmodellirte Gestalten
ins Leben. Das alles gedeiht unter dem blaßblauen Himmel in mehliger
Atmosphäre nicht. In schwere wärmende Gewänder verbirgt man hier den
verarbeiteten Leib, und nur selten sieht der Künstler ihn in keuscher Schönheit —
sein Auge schaut auch vornehmlich nach innen, gleich denen, unter denen er heran¬
wuchs. Das charakteristische Gepräge des Antlitzes, das von innerm Leben
spricht, der gedankenschwere Gehalt der Entwürfe: das ist es, was ihn vor
allem reizen muß. Es gilt dies natürlich nur (Zum ^iMo salis — bestreiten
aber darf sx tllöorig, niemand den Satz. Jeden Nachdenkenden wird ein Blick
auf eins der modernsten Werke, etwa auf Klingers Salome, davon abhalten.
Immerhin müssen wir hinzufügen, daß die Frage nach dem Inhalt selbst
in unsern Landen weit mehr die Malerei als die Bildhauerkunst interessirt.
Aber die Malerei und die natürlichen Bodenverhältnisse — was kümmert sie,
die frei über alle Lande schwebende, ewig jungfräuliche Göttin, Erdbeben, ge¬
wachsener oder nicht gewachsener Stein oder das Klima? Und doch ist gerade
sie, die scheinbar ungebundenste, am meisten von natürlichen Einflüssen ab¬
hängig. Sie hat sich freilich um die im Boden ruhenden Materialien nicht
zu kümmern. Denn überall sind am Ende einige farbige Erdsorten, einige
Dachs- oder Marderhaare, ein paar Eier, etwas Bier oder Öl aufzutreiben —
aber die Sonne, deren dies Kind des Lichtes vor allen andern Künsten bedarf,
die ist nicht allerorten gleich. Es ist gewiß nicht zufällig, daß sich gerade
in den Niederlanden, in Venedig, in England, in Sevilla die großen Kolv-
risteu finden. Denn in der von Feuchtigkeit erfüllten Atmosphäre zerstäubt
die Sonne viel tausendfacher ihre Strahlen, läßt sie viel farbenreicher reflek-
tiren, durchsättigt die Luft mit fein zerstreuten, das Auge unsagbar anlockenden
Lichte, das nicht blendet, nicht brennt, jedoch warm leuchtet, wenn auch in
geminderter Glut. Im Süden, in Venedig ist natürlich der Gesamteffekt
anders als im Norden; er ist dort kräftiger, wärmer, goldiger, hier etwas
blasser, kühler, silberner; trotzdem noch so verwandt, daß ein lichthungriges
Auge, wie das des größten nordischen Koloristen, die höchste Schönheit, die
diese Atmosphäre bieten kann, ahnend sehen konnte. Rembrandt hat in der
That die ganze bestrickende, glutvolle Lichtherrlichkeit des Südens mit intuitivem
Geiste wahrzunehmen und zu schildern vermocht, als er das Gold der sinkenden,
in der kühlen, nebligen Luft der Niederlande tief erglühenden Sonne auf seine
Palette bannte. Es ist demnach nur durchaus natürlich, wenn wir in den
Niederlanden, in Brügge, dem Erfinder der sogenannten Ölmalerei begegnen.
Der Nordländer braucht mit derselben Naturnotwendigkeit, unter dem Zwange
der natürlichen Bodenverhältnisse stehend, die Ölmalerei wie der Südländer
das Fresko. Dieses gestaltet, wie ja bekannt genug ist, kein intimes Eingehn
auf die Einzelheiten jeder Art. Die damals gebräuchliche Temperatechnik
brachte ihrerseits, ganz abgesehn von anderweitigen Übelstünden, dem Maler
im feuchten Nordlande mit den langen Wintern durch das langsame Trocknen
viele Unbequemlichkeiten. Dazu kam noch, daß die zähe Paste, mit der man
arbeiten mußte, der geforderten peinlichen Wiedergabe aller Details nicht
günstig war. Weil sich nun aber der Cisalpiner, wie wir schon bei den Er¬
örterungen über die Plastik gesehn haben, durch die natürlichen Boden¬
verhältnisse im weitern Wortsinne veranlaßt sah, von dem gefällige» Äußern
etwas mehr abzusehen und aus das Innenleben das Hauptaugenmerk zu
richten, so mußte er sich ein Mittel verschaffen, das Innenleben auszudrücken.
Dazu brauchte er die Ölmalerei. Und wenn wir endlich sehen, daß diese
Technik am Beginne des fünfzehnten Jahrhunderts entdeckt wurde, so finden
wir darin ein einfaches Ergebnis der ganzen geistigen Entwicklung, die jetzt erst
die hinreichende Schärfe der Beobachtung gebracht hatte.
Man wird nun vielleicht den soeben gemachten Ausführungen entgegen¬
halten, daß wir eine reiche Wandmalerei in der romanischen Periode auch dies¬
seits der Alpen gehabt hätten, daß die Gotik durch die Vernichtung der
Mauerflächen jener Kunstweise den Boden entzogen habe. Dieser EinWurf
ist an und für sich richtig, aber doch nicht ganz zutreffend. Die Fresko¬
malerei würde sich uoch länger gehalten haben, wenn die neue Bauart ihr
nicht den Platz geraubt hätte; das Fresko ist sogar noch lange Zeit in ein¬
zelnen Gegenden zum Schmuck der Hausfassaden benutzt worden. Trotz alledem
dürfen wir behaupten, die letzte Stunde für die Freskomalerei großen Stils
hatte im Norden schon im vierzehnten Jahrhundert geschlagen. Das Fresko
erlaubt, wie niemand leugnen wird, nicht die feinfühlige, eindringende Schil¬
derung des geistigen Lebens, des tiefern Empfindens. Und dieses hatte sich
ja seit dem vierzehnten Jahrhundert so stark ausgebildet. Der realistische Sinn
des Nordländers, sein Formengefühl war zunächst befriedigt. Es war dies
geschehen durch die wunderbar schönen Steingebilde zu Chartres, Amiens,
Naumburg, Braunschweig — nun verlangte das Gefühlsleben sein Recht. Die
Malerei löste einfach die Plastik ab, wie im achtzehnten und im neunzehnten
Jahrhundert die Musik jener die Palme aus der Hand nahm.
Dem Fresko mit seiner schlichten, lapidaren Große der Schilderung gehört
der weite Süden. Ägypten, Griechenland, Rom, Italien — in diesen Ländern
hat sich die Wassermalerei auf der Mauer besonders entwickelt. Die trockne
Luft dieser Länder verbürgte dem Kunstwerke die Beständigkeit. Der Mensch
hatte zudem gelernt, durch die sonnendurchglühte Luft, die ihm die Möglich¬
keit bot, sich ungehindert im Freien zu bewegen, den Hauptnachdruck zu legen
auf die so oft und in so vollendeter Durchmodellirung gesehene Form, die
schönheitsvolle Kontur. Das Innenleben ist hier nicht dem Künstler das
interessanteste Objekt, sondern die That, die Handlung. Für eine solche Auf¬
fassung ist das Fresko das gegebne technische Mittel. Es erlaubt durch seine
grellem Töne, die sich so gut mit dem scharfen Sonnenlicht vereinen, eine
gewisse Farbenfreudigkeit; es verlangt flotte, energische Schilderung und giebt
die allgemeine Formenerscheinung genügend wieder. Der Beweis ist ja auch
leicht dafür erbracht, daß das Fresko für diese Seite des künstlerischen Schaffens,
die Ölmalerei für jene zuvor angedeutete die passendste Technik ist. Alle
Italiener, denen die Ausbildung der großen Form, das Schildern der Hand¬
lungen am meisten am Herzen lag, z. B. Signorelli, Michelangelo, sind nur
als Freskisten ganz sie selbst- Die Maler hingegen, denen eine intime Aus¬
gestaltung der Erscheinungsformen und das Innenleben besonders im Sinne
lag. wie Perugino, teilweise auch Raffael, Giorgione, Tizian, zeigen ihre ganze
Meisterschaft als Ölmaler.
Solange wir von der Malerei sprachen, waren wir genötigt, von den
natürlichen Bodenverhältnissen im engsten Sinne des Begriffes abzusehen und
zu einer weitern Auffassung überzugehen. Wir werden dies auch künftighin
mehr oder weniger thun müssen. Die Betrachtung der einzelnen Gebiete der
Malerei hängt eben nur mittelbar mit jener festem Umschreibung der „natür¬
lichen Bodenverhältnisse" zusammen. Nur die Landschaftsmalerei wird von
diesen inniger berührt. Sie mag uns noch einmal vor die Seele treten lassen,
wie die Künste, die nur über den Sternen zu wohnen scheinen, mit den
Füßen aber sest auf der realen Erde stehen.
Die Landschaftsmalerei ist, schlechthin gesprochen, ein Kind des Nordens.
Wir wissen zwar, daß der ältere Plinius ein tiefes Naturgefühl hatte, daß
ein Augustinus, ein Äneas Sylvius, ein Petrarca — um nur einige Größen
zu nennen — ein feinsinniges Empfinden für die schöne, weite Welt hatten,
aber diese Männer und die, die ähnlich empfanden, sind eigentlich Aus¬
nahmen wie die Landschaftsmaler in Griechenland, sofern es dort wirklich
solche von echtem Schrot und Korn gegeben hat, und im alten Italien. Der
Landschafter, der in der „Landschaft" eingewurzelt ist, wie der Baum im
Schoße der Erde — das ist doch der nordische Maler.
Historisch betrachtet blüht die Landschaftsmalerei zuerst in den Nieder¬
landen, dann in Deutschland, in Umbricn, in Venedig und in Rom (Annibale
Carracci). Italiens landschaftliche Schönheiten, sowohl die der Formenwelt
wie die des Lichtes, hat ihrem vollen Werte nach erst das Auge des Nord¬
länders entdeckt, das durch den Wechsel ebenso geschärft worden war, wie
das des Südländers durch die Gleichmäßigkeit ungeübt geblieben war. Hier
liegt der eigentliche Kernpunkt der Frage, warum der nordische Maler der
geborne Landschafter ist. Denn nur der Wechsel, der Kampf hält wach. Wer
mit den Unbilden der Witterung, des Klimas, mit Sturm und Regen, mit
Schnee und Nebel zu kämpfen hat, der hat das Auge offen, der hat Sinn fiir
den Glanz der Sonne, für die Großartigkeit der Natur, der lernt sie lieben,
spiegelt sich in ihr, weiß zu malen, was ihr tief verborgen im Innern ruht.
Und darum, weil der nordische Künstler so innig verwachsen ist mit der Natur,
deshalb wurde er der große Entdecker in fremden Landen, erschloß deren
Schätze zum Staunen derer, die Jahrhunderte hindurch mit halbblinden Auge
ihre Hüter gewesen waren. Und die Ursache, warum in den Gebirgen An-
dricus zuerst der italienischen Malerei eine Ahnung von der Schönheit der
Landschaft aufging; warum sich an den Abhängen der Alpen in Castelfraneo,
im wilden Friaul die Seele der Maler öffnete, um das Wehen des Natur¬
geistes zu vernehmen; warum S. Rosa in den klüftereichen Abruzzen seine
Seele in das Wesen der Natur versenkte — die Ursache ist überall dieselbe:
die natürlichen Bodenverhältnisse sind es, die hier bestimmend einwirkten.
Die Verbindung der Genremalerei mit ihrem mütterlichen Boden ist etwas
lockerer. Auch diese machte sich zuerst diesseits der Berge selbständig. Das
enge Beieinanderwohnen, das fast ausschließliche Leben im Hause ließ dies
wertvoll, eine Hauptguelle des Behagens werden — was Wunder, wenn die
Maler ihren Blick mit liebevoller Beobachtung auf dem vielen Kleinen und doch
so wunderlich Wertvollen des alltäglichen Daseins ruhen ließen und es mit
Farbe und Pinsel gestalteten? Von hier, vom Norden, wo das Klima seinen
Zwang ausübte, begann das Genre seinen Siegeszug; und heute herrscht es
fast überall, nachdem auch auf diesem Felde der Südländer von dem Kollegen
aus dem rauhen Schneelande gelernt hat. Denn das Gebiet des Südländers
ist das Schildern panathenäischer Festzuge, der Triumphe vou Feldherrn oder
von Dichtern, das Malen der großen historischen Ereignisse. Dann ist der
südländische Maler auf seinen von den natürlichen Bodenverhältnissen be-
günstigtstcn Gebieten. Auf dem Markte, auf dem Kapitol, inmitten seiner
Mitbürger unter freiem Himmel, vor Aller Augen zu sprechen, zu Handel»,
mit einem Worte „zu leben": das ist seine Welt. Deshalb ist das religiöse
und profane Historienbild, frisch und flott in mächtigen Dimensionen auf die
Wand gezaubert, der natürliche Tummelplatz des südlichen Meisters, wie der
vom Halbdunkel märchenhaft umdämmerte Wald und das von tiefer Herzens¬
religion, von zartem, weichem Liebesleben durchzitterte Alltagsdasein das
eigentliche Stoffgebiet des nordischen Künstlers ist.
So sicher wir überzeugt sind, daß die natürlichen Bodenverhältnisse im
engern Sinn auf die Entstehung und Entwicklung der bildenden Künste intensiv
eingewirkt haben und noch einwirken, so wollen wir doch am Schluß unsrer
Betrachtung betonen, daß ihr Einfluß nur mitbestimmend ist. Ihnen zur
Seite stehen der Mensch, der Staat, die Kultur. Die Thätigkeit, die der
Staat hinsichtlich der Kunst auszuüben hat, ist niemals hurtiger und treffender
formulirt worden als von Treitschke, dessen Worte unsre Abhandlung ab¬
schließen mögen. „Es ist auch eine rohe und barbarische Anschauung, wenn
man die Kunstpflege des Staates als Luxus auffaßt. Die Kunst ist dem
Menschen so nötig wie das tägliche Brot. Wir würden aufhören das Volk
zu sein, das wir sind, ohne diese Geistesthätigkeit; und der Staat ist da, um
der Kunst große, monumentale Ausgaben zu setzen."
in 22. März sind die drei ersten der zweiunddreißig Denkmäler
brandenburgisch-preußischer Herrscher, mit denen der Kaiser, wie
er in einem Erlaß vom 27. Januar 1895 erklärt hat, der Stadt
Berlin ein Geschenk macheu will, am Nordende der westlichen Seite
der Siegesallee enthüllt wurden. Wie alle Regierungshandlungen,
Reden und Entschlüsse des Kaisers, der am 15. Juni auf das erste Jahrzehnt
seiner Regierung zurückblicke« kann, also eigentlich nicht mehr mit dem Bei¬
namen „der junge" geschmückt zu werden braucht, hat auch dieser Entschluß
des Monarchen, seiner Haupt- und Residenzstadt aus eignen Mitteln ein wahr¬
haft kaiserliches Geschenk zu machen, hie und da eine abfällige Kritik erfahren
und auch sonst nicht die freudige Aufnahme gefunden, die sich der kaiserliche
Mäcen vielleicht versprochen hatte. Was die Menschen doch wunderlich sind,
und wie schwer insbesondre der normale deutsche Staatsbürger, zumal wenn
er in Berlin wohnt, zu befriedigen ist! Jahrzehntelang ist über die spartanische
Sparsamkeit des preußischen Staats mit scharfem Hinweis auf den alles ver¬
schlingenden Militürmoloch geschimpft worden, und wenn endlich einmal etwas
Verheißungsvolles aus weitern und engern Konkurrenzen herauszuwachsen
schien, und dann das Vollendete alle Hoffnungen enttäuschte, daun wurde
wieder auf das Konkurrenzunweseu, auf die Einmischung der Bureaukratie, auf
das Bevvrmunduugssystem des Staats weidlich gescholten. Allen diesen Be¬
schwerden hat Kaiser Wilhelm II. durch die Schnelligkeit seiner Entschlüsse ab¬
zuhelfen gesucht; aber auch damit soll er wieder nicht das Richtige getroffen
haben. Wenn wir ihn recht verstehen, ist er ein Feind des Konkurrenzwesens,
das die Ausführung eines Kunstwerks nach seiner Meinung nur verschleppt.
Eine energische, impulsive Natur, will er auch von andern nicht Verheißungen,
sondern Thaten sehen. Man kann ihn Zerstörer, Erbauer und Erhalter zu¬
gleich nennen. Was er zerstört, ist der Erhaltung nicht wert. Aber derselbe
Philister, der früher über die Sparsamkeit der preußischen Regierung in Kunst¬
sachen Wehe geschrieen hat, ereifert sich jetzt über die Durchführung eines
wohlerwognen künstlerischen Plans. Früher ging es nicht rasch genug, und
jetzt, wo vieles zugleich unternommen wird, klagt man über Planlosigkeit und
Überhastuug.
Kaiser Wilhelm II. hat die Regierung in der Absicht angetreten, die Erb¬
schaft seiner Vorfahren nicht thatenlos zu genießen, sondern sie zu vergrößern.
Nicht bloß in politischen Dingen, die uns hier nichts angehen, sondern auch
in allen Sachen, die die geistige Kultur in ihren vielen Erscheinungsformen
betreffen. Unmittelbar nach der Beendigung der Befreiungskriege tauchte die
Idee eines protestantischen Doms auf, der in Berlin, der Hauptstadt des
deutschen Protestantismus, zugleich als Erinnernngsdenkmal an die Abschütte-
lung des französischen Jochs errichtet werden sollte. Friedrich Wilhelm III.
und Friedrich Wilhelm IV. haben sich mit Eifer um die Verwirklichung dieses
Gedankens bemüht, aber ohne greifbaren Erfolg. Unter Wilhelm I. nahm der
Gedanke durch eine große Konkurrenz wieder eine festere Gestalt an. Die
Ausführung wurde jedoch wieder auf unbestimmte Zeit verschoben. Insgeheim
arbeitete Kronprinz Friedrich Wilhelm daran weiter; aber erst der Entschlossen¬
heit seines Sohnes haben wir es zu verdanken, daß der Dom jetzt, im Äußern
fast vollendet, vor uns steht, ohne daß die Ausführung dnrch abermalige Kon¬
kurrenzen aufgehalten worden ist.
Ein Herrscher, der so rücksichtslos durchgreift und zu schneller Verwirk¬
lichung lange hingezogner Unternehmungen drängt, muß freilich Geschmack und
Urteilskraft genug haben, allen spätern kritischen Einwänden begegnen zu
können. Diese Fähigkeiten oder Eigenschaften sind Kaiser Wilhelm II. bis¬
weilen abgesprochen worden. Besonders von denen, die von gründlich nach
allen Richtungen ausgefochtnen Konkurrenzen die erspießlichste Förderung der
Kunst erwarten. Es soll nicht verkannt werden, daß allgemeine Konkurrenzen
wenigstens den Vorteil haben, daß sie jungen Talenten die Möglichkeit ge¬
währen, schneller bekannt zu werden und rascher durchzudringen, es soll auch
nicht verschwiegen werden, daß ein geringeres Maß von Beschleunigung z.B.
der Ausführung des Kaiser Wilhelmdenkmals vielleicht vorteilhafter gewesen
wäre. Auf der andern Seite beflügelt aber auch das Vertrauen des Auftrag¬
gebers die Kraft des Künstlers, die in vielen fruchtlosen Konkurrenzen endlich
erlahmen würde, und diese Taktik des Kaisers hat gerade bei den Herrschcr-
standbildern in der Siegesallee, zu deren Ausführung er sich selbst die einzelnen
Künstler ausgewühlt und sozusagen herangebildet hat, einen glänzenden Sieg
gefeiert, den auch die Leute, denen der ganze Gedanke als unkünstlerisch wider¬
strebt hat, anerkennen werden.
Zweiunddreißig Standbilder, zu je sechzehn auf jeder Seite einer breiten
Allee verteilt, die den vorder« Teil des Tiergartens von Norden nach Süden
durchschneidet! Nicht allein zweiunddreißig ganze Figuren, sondern noch dazu
als Einfassung halbrunde Marmorbänke, aus deren Rückenlehnen je zwei
hermenartige Halbfiguren, also im ganzen vierundsechzig, herauswachsen! Auf
dem Papier nimmt sich ein solcher Plan allerdings sehr trocken und langweilig
aus, wenn auch bei weiten: nicht so langweilig, wie die langen Reihen von
mythologischen Figuren und Büsten römischer Kaiser, Feldherrn und Weisen
auf gleichförmigen Postamenten, die die regelrecht geschulteren Hecken der Park¬
anlagen in Versailles, in Sanssouci, in Charlottenburg, Nymphenburg und
andre Schöpfungen des Rokokozeitalters begleiten. Aber schon die Aus¬
führung der drei ersten Gruppen hat die Bedenken, die anfangs wohl be¬
rechtigt erschienen, widerlegt, wenn auch vorläufig nur die künstlerischen.
Sachlich wird sich auch jetzt noch manches einwenden lassen, zunächst das eine,
daß die Manischen Markgrafen, mit denen die Reihen der Fürstenstandbilder
eröffnet worden sind, dem lebenden Geschlecht völlig fremd geworden sind. Wer
sich mit Gelehrsamkeit beschwert hat, der weiß aus der, wenn auch spärlichen,
Überlieferung wenigstens soviel, daß diese Markgrafen niemals tiefe Wurzeln
in den Herzen ihrer Unterthanen gefaßt haben, und daß diese Unterthanen auch
meist wenig Ursache gehabt haben, sie tief in ihre Herzen zu schließen. Wer aber
aus den alten Chroniken nichts erfahren hat, oder wer sich auf die dürftigen
Daten beschränken muß, die er in einer preußischen Volksschule oder selbst auf
einem Gymnasium auswendig gelernt hat, dem sind die Namen dieser Herrscher
nichts als Namen, mit denen er nicht einmal mehr sein Gedächtnis beschweren
mag. Aber Kaiser Wilhelm II. hat sich neben vielen andern Aufgaben auch
die gestellt, den geschichtlichen Sinn im Volke wieder zu erwecken und zu
kräftigen. Als ein wirksames Mittel dazu erscheint ihm die bildende Kunst.
Nachdem der pietätlose Sinn der neuen Berliner mit allen geschichtlichen
Erinnerungen von Alt-Berlin im Herzen der Stadt von Grund aus aufgeräumt
hat, um Platz für große Geschäftshäuser und Warenlager im Stile von New-
York und Chicago zu schaffen, sucht der Kaiser zu erhalten und auszubauen,
wo ihm das Recht dazu zusteht. Aus dieser Absicht ist die Niederlegung der
Schloßfreiheit und die Errichtung des Kaiser Wilhelmdenkmals und der es
umschließenden Halle auf dem freigewordnen Platze hervorgegangen, und jetzt
gewinnt auch die dem Schlosse zugekehrte Front des Marstallgebäudes eine neue
Gestalt, deren künstlerische Ausbildung mit der Architektur des Schlosses in
Einklang gebracht wird. Die Absicht des Kaisers geht, wie es scheint, dahin,
allmählich die ganze Umgebung des Schlosses so auszugestalten, daß dieses wie
eine Insel abgeschlossen wird, als einsames Denkmal, das zwar nicht den
Ruhm hohen Alters, aber doch den hoher Kunst hat. Vielleicht gelingt es
doch noch, den großen Gedanken Schlüters, der an dieser Stelle vor gerade
zweihundert Jahren eine der alten Römer würdige Prachtanlage plante und
entwarf, lebendig zu machen.
Eine weitere Kräftigung des geschichtlichen Sinns, der im Mittelpunkt
der Stadt keinen Stoff und Halt mehr findet, hat der Kaiser jetzt mit den
Standbildern im Tiergarten versucht. Hier darf ihm kein Mensch dreinreden,
weil der Tiergarten königliches Eigentum ist. Sein Plan geht offenbar dahin,
die brandcnburgisch-preußische Geschichte in Denkmälern, also recht eigene-
lich im Lapidarstil, schreiben zu lassen. Es soll gewiß mit strengster Objek¬
tivität geschehen. Aber damit verträgt sich nicht das künstlerische Temperament,
das doch immer, auch wenn es noch so schwerfällig ist, nach einer Aufgabe
verlangt, an der es sich erheben, vielleicht auch begeistern kann. So sind
denn die drei ersten Markgrafenbilder sehr wahrscheinlich nicht geschichtlich
treu, aber künstlerisch hervorragend ausgefallen, und daß die künstlerische
Kraft unzweifelhaft den Sieg über die geschichtliche Bedeutung der drei Mark¬
grafen Otto I., Otto II. und Albrecht II. errungen hat, kann nur dazu bei¬
tragen, diese Fürsten unserm Geschlecht verständlich, mit der Zeit sogar
vielleicht auch angenehm zu machen. Die Bildhauer Max Unger, Joseph
Uphues und Johannes Böse haben wirkungsvolle, leibhaftige Persönlichkeiten
hingestellt, die durch sich selbst das Interesse des Beschauers wachrufen. Es
sind schöne, prächtige, in ihren Rüstungen fremdartig und phantastisch wirkende
Menschen — das ist der erste Eindruck, der noch durch die sie umgebenden
Halbfiguren von kriegerisch oder geistig hervorragenden Männern ihrer Zeit
vertieft wird. Und da die künstlerische Wirkung groß, kräftig und einheitlich
ist, wird vielleicht auch der Trieb wieder lebendig werden, dem rätselhaft
schwankenden Wollen und Vollbringen dieser Fürsten, die nach unsern heutigen
Begriffen doch nur kleine Dynasten mit großen Herrschergelüsten sind, tiefer
nachzuspüren.
Zunächst ist aber die romantische Neigung in unserm Volke durch diese
Marmorbilder wieder erweckt worden, und das halten wir für einen hohen
Gewinn. Der deutsche Idealismus wurzelt nur in starken Seelen fest; aber
diese sind in der Minderzahl. Die vielen schwachen Seelen, die noch zum
Idealismus neigen, bedürfen von Zeit zu Zeit einer sichtbaren Erhebung, und
diese hat ihnen die Errichtung dieser Denkmäler gewährt. Man spricht heute
so viel von Volkskunst und man schlägt so viele Mittel zu ihrer Förderung
vor, daß es Thorheit wäre, auch nur eines dieser Mittel ernsthaft zu nehmen.
Das meiste hat man sich von der Plakatmalerei, von der „Monumental¬
malerei des armen Mannes" versprochen. Wie schnell ist diese Malerei von
Reklamen von dem „armen Manne" als ein trügerisches Lockmittel durchschaut
worden! Wie anders wirkt die monumentale Plastik! Der Berliner Tiergarten
ist der klassische Zeuge dafür seit mehr als fünfzig Jahren, und die Erfahrung
eines halben Jahrhunderts berechtigt uns zu der Hoffnung, daß auch die neuen
Standbilder zu dem sittlichen und künstlerischen Erziehungswerk der Hohen-
Ein wunderschönes Buch, worin uns ein knapp, lebendig und fesselnd schrei¬
bender, mit dem Verstorbnen eng vertrauter Schriftsteller alles mitteilt, was uus
an dein berühmten Manne interessiren kann. Außerdem werden die in ihren Eigen¬
tümlichkeiten von den unsern so sehr verschiednen schweizerischen Lebensverhältnisse
geschickt für die Lösung der biographischen Aufgabe mit herangezogen. Die Grenz-
boten haben schon früher eine Würdigung Jakob Burckhardts gebracht und empfehlen
heute das neue Buch auf das wärmste.
Was seinen Inhalt betrifft, so wird uus in Deutschland wohl um meisten mit
Verwunderung und hoffentlich auch mit einiger Bewunderung erfüllen, um einen
wie unglaublich geringe» äußern Lohn dieser reiche Geist seine Gaben in den
Dienst seiner Vaterstadt gestellt hat. Bei uns gelingt es zahlreichen vom Glück
begünstigten Professoren, auf der Grundlage ihres wissenschaftlichen Berufs mehr
als ein vorteilhaftes Handelsgeschäft abzuschließen. Nicht zur Nachachtung, Wohl
aber zur Unterhaltung und Belustigung für unsre wissenschaftlichen Kommerzienräte
sei hier kurz mitgeteilt, wie ein Großkrenzritter vom Orden des Geistes in Geld¬
sachen zu handeln pflegte.
Als Burckhardt 1858 vou Zürich nach Basel zurückberufen wurde, und zwar
als Professor der Geschichte (er war vierzig Jahre alt und, hatte schon seinen
Konstantin und seineu Cicerone geschrieben), hatte er außer seinen Nuiversitätsvor-
lcsttngen »och i» zwei Klasse» des Pädagogiums Geschichtsstunden zu gebe», und
vou dem Gehalt »>»ßte die Freiwillige akademische Gesellschaft einen erheblichen
Teil übernehmen. 1867 erhielt er einen Ruf »ach Tübingen. Er benutzte ihn
zur Erlangung des Rechts, sich fortan einmal im Jahre oder auch mir aller zwei
Jahre vo» der regelmäßige» Schlußvrüfuug am Pädagogimn dispensiren zu lassen
und zwar „zum Behufe wissenschaftlicher Reise», ohne welche mir »ameutlich die
Kenntnis der Kuustdenkiuäler allmählich verloren geht. In der Zeit der Sommer-
ferien sind nämlich die größern Städte äußerst ungesund nud das Studium daselbst
beschwerlich. Gerne bin ich erbötig, so oft ich anwesend bin, die beiden Klassen,
wo ich Unterricht gebe, zu examiniren, statt bloß eine." Im Eingange dieses
Schreibens an den Erziehnugspräsidenten heißt es, es seien ihm schon seit einer
Reihe von Jahren von vielen Seiten entferntere und auch sehr nahe Aussichten
ans Berufung eröffnet, auch unmittelbar Anträge gemacht worden. Er hätte alles
zurückgewiesen, diesesmal aber wende er sich an die Behörde, weil er etwas bestimmtes
wünsche, nämlich jenes Recht der Dispcnsirung. „Weder ein öffentliches Bekannt¬
werden der Thatsache, noch eine Erhöhung meiner Besoldung ist für mich irgend¬
wie wünschbar, »ut letztere würde ich sogar unbedingt ausschlage». Wohl aber
darf es mir erwünscht sein, daß die Behörde in ihrem Protokoll Notiz nehmen
mag von dem redlichen Willen für unsre Anstalt, welcher mich zu meiner Hand¬
lungsweise bewogen hat." 1872 überbrachte ihm Ernst Curtius aus Berlin einen
ganz besonders ehrenvollen Ruf, er sollte Rankes Nachfolger in Berlin werden.
Ein Jahr darauf erbot er sich in einem Bericht an die Kuratel der Basler Uni¬
versität, zu den Geschichtsvorlcsunge» »och solche über Kunstgeschichte zu übernehmen,
„nicht ohne schweres Bedenken," provisorisch, bis ein geeigneter Man» für die ge¬
samte Kunstgeschichte gewonnen werden könne. „Die Besoldung bleibt die bis¬
herige," fügt er hinzu. Als er dann 1886 seines zunehmende» Alters wegen eine
Verminderung seiner Pflichten wünschte, fügte es sich so, daß er die Geschichts-
vorlefnngen aufgab und uur uoch Kunstgeschichte las — „für die Hälfte seiner
bisherigen Besoldung."
Die Grenzboten haben
immer der volkstümlichen Erzählungslitteratur, in der die landschaftliche Besonder¬
heit nach Stoff und Ausdrucksform zur Geltung kommt, ihre Aufmerksamkeit
zugewandt. Diese Litteratur ist das beste Gegengift gegen den ans Frankreich
und Norwegen hereingebrachten Roman, der in der ungesunden Luft der Gro߬
städte blüht und gedeiht. Unter diesem Gesichtspunkt seien über eine Anzahl
derartiger Bücher geringern Umfangs einige Anmerkungen zusammengestellt. —
Münsterländische Märchen, Sagen, Lieder und Gebräuche gesammelt und
herausgegeben vou Dr. G. Bahlmann (Münster, Seiling) enthalten zuerst die
dieser Landschaft angehörigen Grimmscheu Märchen mit Abänderungen und An¬
merkungen, sodann erzählende Gedichte sehr verschiedner neuerer Dichter aus dem
Gebiet der münsterlündischen Sage und Geschichte, deren poetischer Wert allerdings
durchweg weit zurücksteht hinter dem stofflichen Interesse, das sie ja für die ein-
gebornen Leser haben werden, ferner Volkslieder und Reime von größerer Be¬
deutung, darunter auch einiges nach mündlicher Überlieferung, endlich Aufsätze über
einheimische Gebräuche, worunter die über das „Vorgesicht" und das noch in der
ersten Hälfte unsers Jahrhunderts gebräuchliche „Kerbholz" am meisten interessiren
werden. — Ein in seiner Art ganz ausgezeichnetes Buch ist der zweite Jahrgang
der Landjugend von Heinrich Sohnrey (Berlin, Schoenfeldt, 1897). Es ent¬
hält belehrende Aufsätze der mannigfachsten Art und reizende kleine Gedichte sehr
verschiedner Schriftsteller. Aber den Preis müssen doch die gemütvollen Dorf¬
geschichten des Herausgebers erhalten; sie sind wahr und gehaltvoll und in der
Form so recht geeignet für einfache Leute. Sie müssen der norddeutschen Land¬
jugend, für die sie bestimmt sind, wohlthun; hoffentlich ist diese noch nicht zu
blasirt dafür. — Auf demselben Programm beruhen drei ähnlich ausgestattete kleine
Bücher (sämtlich Leipzig, Geo. Heinr. Meyer), von denen Der Bruderhof von
Sohnrey ohne Frage das beste ist. Sohnrey setzt uus in einer hübschen Einleitung
aus einander, wcirnm der Bauer die Zerstörung der dörflichen Landschaft infolge
der Verkopplung nicht bedaure und die poetischen Empfindungen, und denen sich der
Kulturhistoriker oder der gebildete Tourist in die Vergangenheit des ländlichen
Lebens zu versenken Pflegt, nicht teilen könne. Den Bauern hat die neuere Gesetz¬
gebung Vorteile gebracht; an den frühern Zustand dagegen bewahren die ältern
Leute nur bittre Erinnerungen. Das wird nun in Bezug auf die erst 1848 ab¬
geschaffte Meierpflichtigkeit der Höfe im Hildesheimischen in einer sehr schönen er¬
greifenden Geschichte gezeigt, die ins norddeutsche übertragen etwa dasselbe sagt
und bedeutet, wie Berthold Auerbachs Lehnhold für die Schwarzwaldlente. Sohnrey
hat sodann ein Buch: Schleswig-Holsteiner Landleute, Bilder aus dem
Volksleben von Helene Voigt, einer jungen Schleswigholsteinerin. mit einem em¬
pfehlenden Vorworte eingeführt. Es sind neun Geschichten, recht hübsch, natürlich
und gewandt geschildert (der Dialog Plattdeutsch), die Verfasserin hat ohne Frage
Beobachtung und Sprachgefühl, aber den meisten Stücken sieht man doch noch die
Anfängerin an, sodaß das Lob der Vorrede etwas gar reichlich gemessen scheint.
Das dritte Buch hat den Titel: Neue Spreewaldgeschichten von Max
Bittrich. In dem Anhange werden „Stimmen der Presse" mitgeteilt, darunter
Sohnreys eignes Urteil, der den jungen Dichter ein großes Talent nennt und ihn
mit Rosegger vergleicht, sowie das von H. Allmers, der vou „echten Idyllen"
spricht und sich bis zu dem Worte: „Er ist ein Dichter, nehmt alles nur in allem"
versteigt. Gegen soviel Paukenschall können wir nicht aufkommen; wollten wir
auch nach Kräften etwas anerkennendes zu sagen uns bemühen, der Verfasser würde
mit unserm Lobe nicht mehr zufrieden sein. Für unsern Geschmack sind diese Ge-
schichten teils zu philologisch studirt, teils zu derb und geradezu unanständig. Für
Sohureys „Landjugend" wären sie jedenfalls nicht geeignet. — Wenn Fräulein
Voigt daran läge, zu wissen, inwiefern wir sie bei aller Anerkennung doch als
Anfängerin bezeichnen zu müssen glauben, so würden wir ihr empfehlen, die Er¬
zählung einer Meisterin zu lesen: Freund Vorwärts von P. Stnrsberg
(Eduard Moos, Leipzig, Erfurt, Zürich).
Vielleicht erinnern sich noch einige Leser des sehr anziehenden Romans
„Jan de Ritter" derselben Verfasserin (wir hielten sie damals aus Unkunde
für einen Mann). Auch dieser neue, „Freund Vorwärts" führt uns in ein
kleines holländisches Dorf nicht weit von der deutschen Grenze, und die Ver¬
hältnisse sind von den deutschen nicht sehr verschieden. Hinter der sehr leben¬
digen Erzählung und deu durchweg sympathischen handelnden Personen steht
wieder, wie schon in Jan de Ritter, ein soziales Problem, nämlich wie die Ver¬
feinerung der Lebensverhältnisse auf dem Dorfe wirkt. Das wird uns in dem
Geschäfte und in der Familie eines kleinen Handelsmanns sehr hübsch vorgestellt.
Die Schilderung hat einen hohen Grad von Vollendung: im Äußerlichen anstatt
der anfängerhaften Beschreibung nur wenig Striche, die aber genügend deutlich
sind, erst mit der Vertiefung des psychologischen Gebiets wird die Zeichnung aus¬
führlicher, aber auch denn ist nichts überflüssiges dabei, was nachschleppt, wir werden
immer in Aufmerksamkeit erhalten. Die Verfasserin hat ein ungewöhnliches Talent,
aus einfachen Gegenständen etwas ganz besondres zu machen. — Und nun noch das
Beste zuletzt: Agricola, Bauerugeschichten, erzählt von Dr. Ludwig Thoma
(Passau, Waldbauer) in einer sehr originellen Ausstattung mit scharf skizzirenden
Abbildungen und vorzüglichem Druck. Diese Geschichten aus drei benachbarten
Bauerudörfern in der Nähe von München sind einfach brillant! So sind die
Menschen, alles daran leibt und lebt, wir werden anschaulich belehrt, gut unter¬
halten und von Herzen erheitert. Der Dialekt der Unterhaltung ist echt, aber all¬
gemein verständlich, die Sprache der Erztthluug dem Dialekt leise angenähert, die
Diktion also einheitlich abgetönt, und das Ganze darum ein kleines litterarisches
Kunstwerk. Nebenbei gesagt, diese libet berufnen bayrischen Bauern kommen einem
im Grnnde ihres Herzens ein ganzes Teil anständiger vor, als z. B. die Spree-
wäldler Vittrichs. Aber nnn noch ein weiter ausgreifendes Urteil. Künstlerisch
übertreffen diese Erzählungen von Thoma nicht nur die Bauerngeschichten von
Bittrich, Helene Voigt und selbst Sohnrey, sondern die gesamte norddeutsche Dorf-
geschichteulitteratur hat kaum etwas hervorgebracht, was sich ihnen an die Seite
stellen ließe. Und dies Verhältnis hat zweierlei Ursachen. Einmal hat die Technik
der süddeutschen Dorfgeschichten eine lange litterarische Vergangenheit, in der bereits
alle möglichen Kunstgriffe und Feinheiten erprobt werden konnten. Sodann aber
ist auch der Rohstoff schou dankbarer als im Norden. In den süddeutschen
Stämmen pulsirt uun einmal das Blut munterer, also werden auch die Äußerungen
dieser Gefühle origineller sein müssen, die Natur kommt der Poetik des Schrift¬
stellers schon entgegen, und nachher in dem Ergebnis stimmt dann meistens alles
so wohl zu einander, daß man Natur und Dichtung nicht mehr zu unterscheiden
wüßte, während in fast allen norddeutschen Geschichten dieser Art die Bemühungen
des Schriftstellers an dem ungefügen Stoff ihre Spuren zurückgelassen haben. Je
tiefer sie hinabsteigen, desto unästhetischer werden sie.
Die Cvttasche Buchhandlung fühlt sich durch die Bemerkung
unsers Aufsatzes über Sudermanns „Johannes" in Heft 10 d. I. gekränkt, es
gehöre zu den Begleiterscheinungen, mit denen die „Sensationen" — d. h. also
die Scnsationsstücke — auch bei uns aufzutreten gelernt hätten, daß schon die
ersten Exemplare, die in irgend jemands Hände gelangten, die Bezeichnung zehnte
und elfte Auflage trügen: und sie erwartet von uns eine Berichtigung des Inhalts,
daß laut Verlagsvertrag von allen Sudermauuscheu Büchern jede Auflage elfhundert
Exemplare betragen solle. Nachdem nun vom „Johannes" schon vor dem Erscheinen
15 000 Exemplare bestellt gewesen seien, habe die Cvttasche Buchhandlung zwanzig
Auflagen, also 22 000 Exemplare auf einmal gedruckt und selbstverständlich sofort
und gleichzeitig die ersten fünfzehn Auflagen ausgeliefert.
Wir geben diese Mitteilung, ohne zu verstehen, worin die „falsche Behaup¬
tung," die uus die Cottaschc Buchhandlung vorwirft, und ein „Augriff auf ihr ge¬
schäftliches Gebahren" liegen sollen. Daß das Sudermannsche Stück eine „Sensation"
genannt wird, ist wohl uicht beleidigend für die Verlagsbuchhandlung, und sie wird
es selbst sür eine gehalten haben. Das Auftrete» von Büchern in mehrfacher Anf¬
löge auf einmal ist aber nicht als eine unstatthafte Reklame bezeichnet worden,
sondern als eine Begleiterscheinung von „Sensationen," die doch hier eben vorliegt!
Unzweifelhaft kommen wenig andre Bücher dazu, sofort in mehrfacher Auflage zu
erscheinen. Ebenso unzweifelhaft ist es aber jetzt ein übliches Reklamemittel, größere
Auflagen (das Kunststück wird übrigens anch bei kleinen gemacht) in eine Reihe
fingirter Einzelauflagen zu zerlegen, um damit dem Publikum zu imponiren. Das
werden viele Leute gar nicht für anfechtbar halten, auch im Publikum nicht, und die
Juristen werden über die Sache im Unklaren sein, wie über buchhändlerische Dinge
im allgemeinen. Aber die Cottaische Buchhandluug scheint es sür anfechtbar zu halten,
denu das Gefühl des Gekränktseins kann bei ihr wohl nnr darauf beruhen, daß sie
einen auf anfechtbare Reklame hinausgehenden Gedankengang bei unserm Mitarbeiter
vorausgesetzt hat. Sie ist aber, wie aus ihrer Mitteilung hervorgeht, in einer
gewissen Notlage gewesen, da Sudermanns Vorschrift schuld ist an der — auch
nach unsrer Meinung — wenn nicht reklamchafteu so doch jedenfalls abgeschmackten
Auflagebezeichnuug, die er so wenig nötig hat wie die Cottasche Buchhandlung.
Abgeschmackt ist sie deshalb, weil „Anfluge" gar nichts sagt, was Zahlen anbetrifft
(wie es bei Silbermann ja also immer nnr elfhundert bedeutet), und auf der ander»
Seite das Wort eben das bezeichnet, was ans einmal aufgelegt wird, sich also nicht
in eine Vielheit zerlegen läßt. Dies sollte allgemeine Übung werden. Die Cottasche
Buchhandluug hat vou „Johannes" sofort eine Auflage vou 22 000 Exemplaren
und gleich darauf eine weitere vou 5500 drucken müssen. Macht sie das bekannt,
so ist es unzweifelhaft an sich eine berechtigte Reklame. Es kann selbstverständlich
wirksam für die Verbreitung eines Buchs sein, wenn man die Zahlen seiner Ver¬
breitung angiebt, wie es der Verleger dieser Zeitschrift z. B. bei Wustmanns „Sprach-
dnmmheiten" selbst gethan hat, als er die Neudrucke der ersten Auflage mit erstes
bis zehntes, elftes bis zwanzigstes Tausend usw. bezeichnete. Hierbei konnte höchstens
strittig sein, ob Neudrucke nicht immer als neue Auflage bezeichnet werden müßten,
auch wenn sie unverändert bleiben.
Das Bibliographische Institut soll von der vierten Auslage von Meyers Kon¬
versationslexikon 125 000 gedruckt und dann noch einmal 25 000 nachgedruckt haben.
Es steht aber auf der gesamten Auflage nnr „vierte Anfluge." Bei Dudens in
demselben Verlag erschienenen Orthographischen Wörterbuch steht auf dem Titelblatt
des uns vorliegenden Exemplars „vierte Auflage, zweiter Abdruck." Dahinter ver¬
bergen sich huudcrtiausende von Exemplaren. Das scheint uns vornehm zu sein.
in König zu sein, ein deutscher Reichsfürst, ist heute keine leichte
Aufgabe; wir dürfen vielmehr sagen: sie ist schwerer als in jeder
andern Zeit. Es ist heute eine Stellung, die nicht mehr wie
im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert getragen wird von
dem naiven Glauben des Volkes an die von Gott geordnete
Obrigkeit, die nicht mehr in dem ebenso naiven Genusse der Macht von Gottes
Gnaden beruht; das ist vorüber. Sie ist vielmehr aller Kritik ausgesetzt, einer
Kritik, die oft nach dem äußerlichsten Scheine urteilt, die sich gar nicht sagt,
daß sich die Dinge von oben ganz anders ansehen als von unter, und daß man
von den Beweggründen, die einen Herrscher bestimmen, gewöhnlich nur eine sehr
unvollkommne Kenntnis haben kaun, von der aus man sich in jedem ernstern
Falle des bürgerlichen Lebens scheuen würde, überhaupt eine Kritik zu wagen.
Aber dies ist doch mir die Kehrseite der Entwicklung, die die moderne und
namentlich die deutsche Monarchie genommen hat. Wenn ihre Stellung heute
unendlich schwieriger ist als früher, so ist das doch uur die Folge davon, daß
die Aufgabe schwieriger ist als früher, und dies ergiebt sich wieder aus der
Entwicklung unsrer ganzen Kultur zu immer größerer Mannigfaltigkeit, zu
immer dichterer Verflechtung des Einzelnen mit seinem Volke, des einzelnen
Volkes mit der Welt. Wenn jeder von uns das empfindet, wenn jeder Ge¬
bildete jeden Tag die allerverschiedenartigsten Eindrücke in sich aufnehmen muß.
um wieviel mehr muß sich das steigern bei einem regierenden Fürsten! Dieser
Tag gehört dem König. Aber gerade deshalb dürfte es heute am Platze sein,
in großen Zügen zu zeigen, wie denn das deutsche Reichsfürstentum zu dem
geworden ist, was es heute ist, und wie König Albert in diese Aufgaben
hineingewachsen ist.
Bekanntlich ist die thatsächliche und rechtliche Grundlage des deutschen
Fürstentums die Stellung des Reichsbeamten, ein bedeutsamer Ursprung, denn
er wies den damit betrauten Edeln von Anfang an sehr entschieden darauf
hin, daß er für das Ganze zu sorgen habe und um des Ganzen willen da sei.
Nirgends war diese Amtsgewalt starker, trat diese ihre Bestimmung scharfer
hervor als in den Marken des Reichs, denn eine Mark war thatsächlich und
rechtlich erobertes Feindesland unter der militärischen Diktatur des Markgrafen
als Neichsbeamten. Bei der in den Kultur- und Wirtschaftsverhältnissen des
frühern deutschen Mittelalters unvermeidlichen Neigung aller Reichsämter,
mit dem Boden, auf den sie sich bezogen, durch Eigen- und Lehnsbcsitz, die
einzige in diesem Zeitalter der Naturalwirtschaft mögliche Form der Besoldung,
zu verwachsen, dadurch erblich in dem Geschlecht zu werden, und damit
wiederum den Amtschnrakter mehr und mehr abzustreifen, trat diese Umwand¬
lung des Amts in ein Fürstentum eignen Rechts am frühesten in den am
meisten sich selbst überlassenen Marken ein, war daher anch in der Mark
Meißen der Hauptsache nach schon eingetreten, als die Wettiner 1089 die
Markgrafschaft erhielten. Wenn diese allmählich alle Reichsämter, zuletzt
auch die Herzogtümer, die freilich längst nicht mehr den alten Stammesgebieten
entsprachen, ergreifende Verwandlung des Amts in eine Herrschaft eignen
Rechts das Reich thatsächlich zerstörte, es auflöste in eine Gruppe von erblichen
Fürstentümern unter einem gewühlten Kaiser, der seine Wahl jedesmal mit neuen
Zugeständnissen erkaufe» mußte, so knüpfte sie doch andrerseits ein festes Band
zwischen der einzelnen Landschaft und dem Fürstenhause, das in dieser Zeit,
wo die zentralisirte Verwaltung eines großen Reichs ganz unmöglich war,
allein eine Stetigkeit der Zustände wenigstens in den Teilen verbürgte. Diese
lange, rein thatsächliche Entwicklung erhielt eine allgemein rechtliche Grundlage
durch die Zugestündnisse Kaiser Friedrichs II., der, um sich den Beistand der
deutschen Fürsten in seinen italienischen Machtkämpfen zu sichern, 1213 und
1220 zunächst den geistlichen Fürsten als den damals wichtigsten eine Reihe
landesherrlicher Rechte einräumte und sie auch zuerst als „Landesherren"
bezeichnete; dann gewährte 1356 die Goldne Bulle Karls IV. den sieben Kur¬
fürsten die volle Landeshoheit, und der Westfälische Friede dehnte sie 1648
auf alle Fürsten des Reiches aus.
Doch dieser thatsächlichen und rechtlichen Begründung des deutschen Neichs-
fürstentums ging eine sittliche zur Seite, die ihr erst einen tiefern Inhalt,
eine neue Rechtfertigung verlieh: die Reichsfürsten übernahmen selbständig eine
Reihe von Aufgaben des Reichs, sie traten ein für große Interessen der Nation.
Diese entscheidende Wendung begann, als die deutsche Kaiserkrone, das Werk
eines norddeutsche» Geschlechts, der sächsischen Ludolfiuger, dauernd in die'
Hände süddeutscher, fränkischer und schwäbischer Herrscher überging. Denn
diese vermochten zwar die eine der großen nationalen Aufgaben, die Herrschaft
über Italien und die Behauptung der Kaiserkrone, zu lösen, aber nicht die
zweite, die für die Zukunft des deutscheu Volkstums besonders wichtig war,
seine Ausbreitung und Herrschaft über die Slawenlande im Osten. Diese blieb
vielmehr seit dem Anfange des elften Jahrhunderts völlig den geistlichen und
weltlichen Herren an der Grenze überlassen, den Welsen und Askaniern, den
Wettinern und Vabenbergern, später auch dein deutschen Ritterorden. In
dem großen tragischen Gegensatze Friedrich Barbarossas und Heinrichs des
Löwen tritt diese Doppelseitigkeit der großen deutschen Politik besonders scharf
hervor. Für die Interessen des Deutschtums im Nordosten war die Zer¬
trümmerung der welfischen Macht, die für das Neichsinteresfe notwendig war,
em Unheil, und nur die Thatkraft selbständig vorgehender norddeutscher Fürsten
wehrte eine ihrer schlimmsten Folgen ab, die Auslieferung der deutschen Ostsee¬
küste an die Dünen. Für den ganzen deutschen Norden war seitdem das
Kaisertum tot; die deutsche Herrschaft über die Nord- und die Ostsee und die
Handelsherrschaft über deu germanischen und slawischen Norden war das
Werk eines niederdeutschen Städtebnndes, der zur Reichsgewalt gar keine Be¬
ziehungen hatte.
In den beiden letzten Jahrhunderten des Mittelalters ging nun freilich den
deutschen Fürstengeschlechtern das Bewußtsein, daß sie auch für die Interessen
der Nation zu sorgen hatten, mit dem Nationalbewußtsein selbst fast ganz ver¬
loren. Ihren Besitz durch Kauf, Tausch, Eroberung und Heirat möglichst zu
vermehren, ihre Söhne gut zu versorge», darauf wandten sie alle ihre Arbeit.
So wenig politisch dachten sie, so ganz und gar überwogen privatrechtliche
Gründe, daß sie unbedenklich ihren in der That durch tausend Zufälligkeiten
zusammengebrachten Besitz immer wieder teilten und oft zukunftsreiche
Machtbildungen im Keime vernichteten, so Karl IV. 1378, so die Wettiner
1263 und 1485. Erst als neben der landesfürstlichen Gewalt die Vasallen
und die Städte des Gebiets zu Ständen, zu Landtagen zusammenwuchsen,
begann sich das Gefühl einer gewissen dauernden Einheit durchzusetzen, und
mehr und mehr griffen seit dem fünfzehnten Jahrhundert Bestimmungen um
sich, die neue Teilungen verboten und somit die staatsrechtliche Einheit des
Territoriums für die Zukunft sicherten.
Also war das deutsche Reichsfürsteutmn zu größerer Festigkeit gelangt,
als die entscheidende Schicksalswendung eintrat, die wir mit dem Namen der
Reformation bezeichnen. In dieser gewaltigsten Krisis des deutschen Volkslebens
versagte sich das Habsburgische Kaisertum, von internationalen Beziehungen
beherrscht und von einem fremden Herrscher vertreten, der Deutschland gar nicht
kannte, dem Drängen der Nation nach einer nationalen Kirchenreform; ja Karl V.
bekämpfte sie mit allen Mitteln, die ihm Reich und Kirche an die Hand gaben.
Da traten die Reichsfttrsten für sie ein, sie führten sie durch trotz Kaiser und
Reich, sie erhoben schließlich, als loyale Vasallen zögernd und widerwillig, die
Waffen gegen die hispanisch-päpstliche Fremdherrschaft und sicherten der pro¬
testantisch gewordnen Hauptmasse der Nation grundsätzlich die Bedingungen
ihrer selbständigen Entwicklung, die Denk- und Glaubensfreiheit. Damit löste
das deutsche Fürstentum eine weltgeschichtliche Aufgabe, und es ist der größte
Ruhmestitel des Hauses Wettin nächst seiner entscheidenden Teilnahme an der
Erneuerung des Reichs, daß Kurfürst Moritz als ein Rebell gegen den hispa¬
nischen Kaiser die Zukunft Deutschlands vertrat. Aber noch mehr. Indem der
protestantische Landesherr als „Notbischof" den Schutz und das Regiment der
Kirche übernahm, erweiterte das Fürstentum den Kreis seiner Aufgaben, die
sich bisher auf den Rechts- und Waffeuschutz beschränkt und erst seit dem fünf¬
zehnten Jahrhundert anch die Forderung der Volkswohlfahrt durch ein aus¬
gedehntes Gesetzgebuugs- und Verordnungsrecht hinzugeuommen hatten, durch
die Pflege der großen Volkserziehungsanstalten, der Kirche und der Schule.
Zugleich wurde der Staat, nach mittelalterlich-kirchlicher Auffassung eine
untergeordnete Institution für vergängliche irdische Zwecke, die ein Recht auf
das Dasein uur darum hatte, weil sie der höhern Ordnung, der Kirche, den
weltlichen Arm lieh, durch Luther eine der Kirche sittlich ebenbürtige, ihr
Recht wie diese unmittelbar von Gott herleitende Macht.
Wir wissen alle, daß Deutschland die Geistesfreiheit, die es für sich und
die Welt errang, mit einem furchtbaren Preise, mit dem Verluste seiner Welt¬
stellung und mit einer beispiellosen Verwüstung bezahlt hat, die schließlich
das Reich den Fremden unter die Füße warf und eine reiche Kultur größten¬
teils zerstörte. Wenn sich die Nation doch wieder erhob, so war dies im
wesentlichen das Verdienst der landesherrlichen Gewalten, deren Staats- und
völkerrechtliche Selbständigkeit der Westfälische Friede 1648 sicherte. Mit dein
Aufsteigen des fürstlich-absoluten Staats zog sich das ganze Leben des deutschen
Volks in den größern weltlichen Staaten zusammen, und der Staat unter¬
nahm es, mit seinem neuen Beamtentum alle Interessen des Volks zu pflegen,
seine Arbeit herrisch zu leiten, es in jeder Richtung zu bevormunden, aller¬
dings zu seinem Heile. Je stärker diese fürstliche Gewalt wurde, desto mehr
schwand freilich die männliche Selbständigkeit und jedes eigentliche National-
gefühl im Volk, und desto rücksichtsloser verfocht jeder Staat seine besondern
Interessen, ohne sich um das Reich oder gar um nationale Pflichten zu
kümmern. Die letzte Folge war die Unterwerfung unter die Fremdherrschaft
und die Auflösung des alten Reichs. Und doch, wenn Deutschland uach kurzen
sieben Jahren das französische Joch wieder abwarf, wem anders verdankte es
in erster Linie die Befreiung und die Rettung seiner Eigenart vor neuer Ver-
welschung als dem stärksten der Einzelstaaten, Preußen und seinem absoluten
Königtum, während Österreich, das jahrhundertelang der Trüger der erloschnen
Kaiserkrone gewesen war, nur zögernd hinzutrat, und die Staaten des gesamten
Westens sast alle bis nach Leipzig auf französischer Seite fochten? So zog nun
die deutsche Bundesverfassung von 1815 ebenso die Konsequenzen aus der
politischen Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte wie der Westfälische
Friede aus der vorhergehenden Zeit: sie gewährte den der Zahl nach durch die
Napoleonische Umwälzung sehr verringerten aber innerlich erstarkten Einzel-
staaten die formelle Souveränität, dem Gesamtstaat deutscher Nation die Gestalt
eines lockern Staatenbundes.
Aber während nun die thatsächliche und rechtliche Selbständigkeit des
deutschen Reichsfllrstentums vollendet wurde, war die sittliche Berechtigung
dieser Selbständigkeit im Schwinden begriffen. Denn so Tüchtiges die Einzel¬
staaten in ihrer Verwaltung leisteten, im nationalen Interesse lag das zuletzt
errungne Maß von Selbständigkeit nicht nur nicht, sondern es stand ihm
geradezu entgegen, da die Zeit unerbittlich eine stärkere Zusammenfassung der
nationalen Kräfte forderte, wenn das deutsche Volk seine Existenz behaupten,
seine Weltstellung sichern, also überhaupt eine Zukunft haben sollte. Um dieser
Zukunft willen mußte ein Ausgleich zwischen dem nationalen Bedürfnis und
der geschichtlich gewordnen Selbständigkeit der Einzelstaaten gefunden werden.
Daß dieses Ziel nicht ohne schwere Kämpfe zu erreichen war, versteht sich von
selbst; erst mußte Preußen seine überlegne Kraft, mußten die Mittelstaaten ihre
Lebens- und Leistungsfähigkeit anch auf dem Schlachtfelde erwiesen haben, ehe
der Ausgleich gefunden werden konnte. In der Verfassung des Norddeutschen
Bundes und in der auf ihr beruhenden Verfassung des Deutschen Reichs sehen
wir ihn verwirklicht. Sie hat die berechtigte innere Selbständigkeit der Einzel¬
staaten gesichert und ihren Fürsten im Bundesrate die Möglichkeit gegeben,
die Gesamtleitung der Nation wirkungsvoll zu führen, aber sie hat das Reich
als ein machtvolles, nach außen einheitliches und auch das innere Leben der
Nation immer stärker und vielseitiger beeinflussendes Ganze hingestellt.
Wie die ältern von uns diese Umwandlung der ganzen Nation in sich
selbst innerlich durchgemacht haben, so ist sie auch unsern Fürsten nicht er¬
spart geblieben, und sie ist ihnen schwerer geworden als andern, weil der ihnen
zugemutete Verzicht auf altererbte, tiefgewurzelte Anschauungen am größten
war. Unter denen, die diese Umwandlung bis zum völligen restlosen Ausgleich
in sich durchgemacht haben, steht König Albert in erster Reihe; er ist, so
rühmen wir es mit freudigem Stolze, darin geradezu vorbildlich. Geboren am
23. April 1828, kaum ein Jahr nach dem Tode des wie ein Patriarch verehrten
greisen Königs Friedrich August des Gerechten, wuchs er auf einerseits unter
dem noch frischen Eindrucke der schmerzlichen Erinnerungen an die Napoleonische
Zeit, andrerseits unter dem der völligen innern Neugestaltung Sachsens
seit dem Erlaß der Verfassung von 1831 und dem Eintritt Sachsens in die
werdende nationale Wirtschaftsgenossenschaft des Zollvereins mit dem 1. Januar
1834, in einer Zeit, die an freiheitlichen Bestrebungen und Phrasen sehr reich,
an nationalem Gemeingefühl und nationalem Stolze sehr arm war. Wie hätte
damals ein sächsischer Prinz anders als streng sächsisch empfinden sollen! Sein
politischer Gesichtskreis erfuhr wohl die erste grundsätzliche Erweiterung, als
er, der erste sächsische Prinz, der eine Universität bezog, in Bonn zu Dcchl-
manns Fußen saß, des charaktervoller Propheten der deutschen Einheit unter
preußischer Führung, und als er dann im Frühjahr 1849 mit den Waffen
hinauszog, um in Schleswig die deutsche Sache gegen die Dänen zu schützen.
Ein gütiges Geschick vergönnte ihm, für eine nationale Sache zum erstenmale
im Feuer zu stehen, und ersparte ihm den traurigen Anblick des heimischen
Bürgerkriegs. Die nachfolgenden Jahre waren freilich nicht geeignet, den
Stolz auf deutsche Erfolge zu fördern, und niemand ahnte, Prinz Albert, der
seit 1854 Thronfolger war, am wenigsten, daß die militärische Thätigkeit, der
er sich mit voller Neigung hingab, die Vorbereitung zu so großen Thaten sein
würde. Erst als mit dem Anfange der sechziger Jahre die Aussichten auf
schwere Verwicklungen aufstiegen, da faßte er früh mit klarer Entschlossenheit
die Möglichkeit einer Waffenentscheidung ins Auge und befürwortete 1864 die
von der Regierung beim Landtage beantragte Vermehrung der Armee als
Mitglied der ersten Kammer mit den charakteristischen Worten: „Die Zeit kann
kommen, wo man nicht nach der Industrie und dem Handel Sachsens, nicht
nach seiner Kunst und Wissenschaft fragen wird, sondern wo man fragen wird:
Wie haben sich unsre Sachsen geschlagen?" und alles, was er in seinen ver-
schiedne» militärischen Stellungen, zuletzt als Oberbefehlshaber, im alltäglichen
Dienst und bei den regelmäßigen Manöver» thun konnte, um die sächsischen
Truppen kriegstüchtig zu machen und um selbst zu lernen, das that er mit ganzem
Eifer, stets bei der Sache, streng im Dienst und doch vou der Mannschaft
schon mit warmer Anhänglichkeit und vollem Vertrauen betrachtet. So stark
trat diese militärische Neigung hervor, daß man damals kaum beachtete, wie
der Kronprinz ein sehr vielseitiges Interesse hatte und an den Staatsange¬
legenheiten, vor allem in der ersten Kammer, regen Anteil nahm.
Die Zeit, die er geahnt hatte, kam; der Entscheidungskampf von 1866
brach aus. Es war mit sein Verdienst, wenn allein von allen deutschen
Mittelstaaten Sachsen militärisch gerüstet war, und wenn die Armee, da sie
das Land nicht decken konnte, in bester Ordnung nach Böhmen zurückging.
Wie sie sich dort schlug, immer kaltblütig und ausdauernd, wie dort Kronprinz
Albert auf dem Schlachtfelde znerst seinen Feldherrnblick und seine sichere
Führung bewährte, wie beide, der Führer und die Truppe», in der schwerste»
Prüfung, inmitten von Niederlage und Rückzug, glänzend die Probe bestanden,
ist hier nicht zu schildern. Wenn aber Sachsen aus der ganzen Krisis un¬
geschmälert hervorging, so verdankte es das der Achtung, die seine Armee dem
Sieger eingeflößt hatte, und dem festen Vertrauen, das er in die Zuverlässig¬
keit und Ehrlichkeit des Königs Johann und des Kronprinzen Albert setzte.
Mannhaft, mit offnem Visier waren sie für das eingetreten, was nach ihrer
Überzeugung ihre Pflicht forderte; von dem Augenblick an, wo sie Sachsen
dem neuen Norddeutschen Bundesstaate einfügten, waren sie ebenso ehrliche
Bundesgenossen Preußens, wie sie vorher seine Gegner gewesen waren.
Pünktlich wurde vor allem unter den Augen des Kronprinzen die Neugestaltung
des nunmehrigen zwölften Armeekorps durchgeführt, und schon am 9. Sep¬
tember 1868 konnte König Johann seine Truppen dem erlauchten Bundes¬
feldherrn König Wilhelm von Preußen vorführen, der ihnen fortan als Chef
des zweiten Grenadierregiments Ur. 101 angehörte.
Was zunächst äußerlich verbunden worden, das verschmolz innerlich im
Feuer der Schlachten, als sich Frankreich nochmals erdreistete, der deutscheu
Entwicklung Halt zu gebieten. Inmitten einer ungeheuern begeisterten Er¬
regung, die alles unwiderstehlich mit sich fortriß, bestieg Kronprinz Albert
am 29. Juli 1870 auf dem Leipziger Bahnhöfe in Dresden den Zug, der
ihn nach Mainz ins Hauptquartier seines Armeekorps führte. Der tiefe Ernst
in seinen Zügen bewies denen, die dem scheidenden Feldherrn bewegten Herzens
den Abschiedsgruß brachten^ wie schwer das Gefühl einer großen Verantwort¬
lichkeit auf ihm lastete. Welch ein Eindruck daher, als nun rasch Sieg auf
Sieg folgte, als der Kronprinz bei Se. Privat die Entscheidung gab, und als
er dann, an die Spitze einer neugebildeten Armee gestellt, den Siegeszug über
Sedan nach Paris antrat! In diesen schweren Wochen und Monaten schloß
sich das feste Vertrauensverhältnis zwischen dem Kronprinzen Albert und dem
König Wilhelm, und der Kronprinz erwarb Moltkes gewichtiges Lob, er sei
der einzige Prinz, der zu gehorchen verstehe. Als nun die frohe Zeit der
Erfüllung kam, da war er am 18. Januar 1871 mit unter der stolzen Schar
der deutschen Fürsten, die den König Wilhelm als Kaiser begrüßten, er ritt
am 16. Juni unter den Führern selbständiger Armeen den siegreichen Truppen
voran in der Reichshauptstadt ein und hielt am 11. Juli, den Marschallsstab
in der Rechten, den ihm des Kaisers Majestät verliehen, seinen Siegeseinzug
in Dresden. Welch eine wahrhaft versöhnende Fügung in dem allen lag,
bedarf keiner Worte. Es war mehr als eine gewöhnliche Auszeichnung, wenn
ihm der Kaiser nach dem Kriege die erste Armeeinspektion über drei ostdeutsche
Armeekorps, das erste, fünfte und sechste übertrug; es war der Ausdruck
unbedingten Vertrauens in seine glänzend erprobte militärische Befähigung.
Wie er dann als König eine der festesten Stützen des Reichs geworden
ist, das weiß die Welt. Er war es auch, der nach dem erschütternden Trauerspiel
der neunundneunzig Tage, als Deutschland binnen drei Monaten zwei Kaiser
verloren hatte, sagte: „Wenn das Ausland meint, das Reich sei erschüttert, so
irrt es sich; niemals ist unser Zusammenhang fester gewesen"; er war es, der die
Veranlassung gab, daß sich alle Fürsten des Reichs um den jungen Kaiser
scharten, als dieser am 25. Juni 1888 zum erstenmale den Reichstag eröffnete!
Seitdem hat er keine Gelegenheit vorübergehe» lassen, ohne seine Treue zu
Kaiser und Reich zu betonen. Und derselbe Fürst, der seiner ganzen Neigung
nach vor allem Soldat war, ist zu einem fürsorglichen Landesvater, zum Muster
eines deutschen Regenten geworden, wie ihn diese Zeit verlangt: von allum¬
fassendem Interesse, von sicherm Blick für das Wesentliche, von bedächtigem,
festem Entschluß, von unermüdlicher Pflichttreue. Und mit tiefer Genugthuung
darf er sehen, wie unter seiner sichern, stetigen, wohlwollenden Herrschaft trotz
mannigfach schwieriger Verhältnisse, trotz wachsender Konkurrenz auf dem
Weltmarkte, trotz sozialdemokratischer Verhetzung sein Land aufblühe, wie neue
Verkehrslinien Jahr für Jahr auch entlegnere Landesteile in den großen Ver¬
kehr hereinziehen, wie der sächsische Gewerbfleiß sich immer weitere Absatz¬
gebiete erobert, wie Kunst und Kunstgewerbe den alten Ruhm des Landes
herrlich erneuern, wie das Unterrichtswesen in besonnenen Reformen doch die
alten guten Grundlagen behauptet, wie endlich nach seinem Vorbilde bei seinem
Volke die Anhänglichkeit an das Heimatland und die Treue gegen Kaiser und
Reich zu einer einzigen Empfindung zusammengeflossen sind. Niemals ist einem
Beherrscher Sachsens ein schöneres Los zugefallen, niemals hat ein Wettiner
im ganzen Reich eine so allgemein und neidlos anerkannte Stellung ein¬
genommen, als König Albert. Und so rufen ihm auch die Grenzboten an
seinem doppelten Ehrentage einen herzlichen Glückwunsch zu.
nfangs Mai vorigen Jahres traf ich mit dem Berichterstatter
der „Kölnischen Zeitung" sür den türkisch-griechischen Krieg in
Larissa zusammen. Vier Tage nach Ausbruch des Krieges war
er durch Salonik gereist, und er bestätigte mir, was ich vor
meinem Weggang zu Anfang April dort selbst gefunden hatte, daß
die Stadt erfüllt sei von Furcht vor einem Angriff der griechischen Flotte.
Wenige Tage nachher sollte ich wenigstens einige griechische Schiffe mit Augen
sehen. Es war am 7. Mai. Die Schlacht bei Pharsalus am 5. Mai hatten
wir mit angesehen, aber wir hatten noch keine Nachricht über den Ausgang
der zweiten Schlacht vou Velestino am 5. und 6. Mai. Wir, der Standard¬
korrespondent Montgomery und ich, machten uns deshalb in der Richtung auf
Velestino auf den Weg, waren aber mittags über die ottomanischen Truppen
hinausgeraten und auf dem Höhenzug südöstlich von Velestino angelangt. Vor
uns lag die blaue Bucht von Volo, und in ihr ankerten neben drei euro¬
päischen drei schöne griechische Kriegsschiffe, die Psara, Hydra und Spetsai.
Aber weit und breit keine griechischen Truppen. So entschlossen >vir uns,
den gefährlichen Ritt nach Volo hinunter zu machen, um wenn möglich eine
geordnete Übergabe der Stadt an die Türken und damit ihre Rettung ins
Werk zu setzen, was uns dann auch wirklich gelang, und zwar mit Hilfe der
.Konsuln, die die Behörden zum Bleiben und zur Entwaffnung der zahlreichen
Freischcirler in Volo nötigten. Die Behörden erreichten anch. daß der Admiral
auf der Psara, wenn auch unter Thränen, sein Geschwader von der Stube
zurücknahm, die er nach dem Abzug der Truppen Smolenskis allein ja nicht
mehr schützen konnte.
Am 11. Mai sah ich dann vom Kap Angistri aus dieses Geschwader
noch einmal, verstärkt um zwei armirte griechische Schiffe, bei Nea Minzela,
wo es zur Deckung der rechten Flanke des bei Halmyros stehenden Generals
Smolenski Stellung genommen hatte und dadurch die Türken vom weitern
Vormarsch die Meeresküste entlang abhielt. Nach der Schlacht von Dhomoko
machte sich dieses Geschwader noch einmal nützlich, indem es die 9000 Mann
Smolenskis von Nea Minzela nach Sthlida in der Nähe von Lamia über¬
führte. Außerdem hatte es nach der zweiten Schlacht von Belestino auch die
Flucht der aus Thessalien über Volo zurückgefluteten Bevölkerung nach den
Inseln und der Ostseite des Pelion ermöglicht.
Von den Leistungen des griechischen Westgeschwaders im Golf von Area
habe ich nichts gesehen; es ist aber zur Genüge bekannt, daß dieses gar nichts
erreicht hat, nicht einmal die Vernichtung des Forts Prevesa. Gesehen habe
ich nur das von diesem Geschwader nutzlos zusammengeschossene Hcigii Ssaranta
gegenüber Korfu an der Küste von Epirus, auf meiner Rückfahrt von Patras
nach Brindisi, Ende Juli. Fast ebenso wertlos war die Beschießung von
Platamona durch das griechische Ostgeschwader zu Beginn des thessalischen
Feldzugs. Von den Erfolgen einer dritten griechischen Flottenabteilnug, die
man gebildet haben soll, ist überhaupt nichts bekannt geworden. Denn die
im türkischen Hauptquartier in Larissa zu Anfang Mai umlaufende Sage von
einem Angriff der Griechen ans Smyrna, ja auf die Dardanellen stellte sich
als ein blinder Lärm heraus.
So könnte man vielleicht glauben, der türkisch-griechische Krieg des Früh¬
jahrs 1897 sei ein schlagender Beweis für den geringen Wert, den eine Flotte
im Kriegsfalle habe. In Wirklichkeit aber ist der Verlauf dieses Krieges nur
der Beweis für die allgemeine Erfahrung, daß auch mit den besten Mitteln
bei thörichter Verwendung nichts zu erreiche» ist. Thatsächlich hätte eine ein¬
sichtsvolle Benutzung der Flotte und der Aufbau des ganzen Kriegsplans auf
der Überlegenheit zur See, oder vielmehr auf der vollkommnen Wehrlostgkeit
der Türkei zu Wasser, Griechenland zum mindesten vor solcher Niederlage
schützen müssen, wie es sie erlebt hat. Die Flotte hätte den Griechen Erfolge
verschaffen können, die das schwankende Frankreich und Italien, vor allein aber
das ungemein interessirte England wahrscheinlich zur Parteinahme für Griechen¬
land mit fortgerissen hätten. Es dürfte sich verlohnen, in einem Augenblick,
wo einerseits in Deutschland der Kampf um die Wehrhaftigkeit des Reichs zur
See ausgefochten worden ist, und andrerseits der Wiederausbruch der Kämpfe
zwischen Dardanellen und Suezkanal nur eine Frage der Zeit zu sein scheint,
etwas genauer auf diese Flottenfrage einzugehen.
Der bloße Besitz einer auch nur einigermaßen Achtung gebietenden Flotte
Hütte der Türkei von vornherein den Verlust von Kreta erspart, das es dann
selbst blockirt Hütte, anstatt dies den Europäern überlassen zu müssen. Ja, die
Demonstration einer hinlänglich starken türkischen Flotte vor dem Pirüus würde
im Frühjahr 1897 Delyannis und die Ethniki Hetüria ebenso zweifellos zur Ver¬
nunft gebracht haben, wie dies im Jahre 1886 die europüische Flotte erreichte.
Bei dem Mangel an jedem Schienenwege von Athen nach Thessalien war die
ganze Zufuhr von Proviant, Munition und Mannschaften nach dieser Provinz
für die Griechen auf das Meer angewiesen. Wäre eine türkische Flotte dagewesen,
so hätte deren Ausstellung vor dem Golf von Volo völlig ausgereicht, alle
Streitigkeiten im voraus endgiltig zu erledigen. In Wirklichkeit hat aber die
Türkei gar keine Flotte mehr; wie mir der deutsch-türkische Admiral Kalau
vom Hofe Pascha mitteilte, sind an see- und gefechtstüchtigen Schiffen nur
einige Torpedoboote vorhanden; alles andre ist gänzlich wertlos. Um zu
wissen, wer diese Entwaffnung der Türkei zur See bewirkt hat, braucht man
sich nur zu fragen: Lüi donc>? wem zu nutze? Infolge dieser Ohnmacht ist die
Türkei vielleicht nicht viel mehr als ein Vasallenstaat von Rußland, und wie
Rußland dies erreicht hat, ist bei seinem Reichtum und seiner Freigebigkeit und
dem ungeheuern Vermögen, das der türkische Marineminister erworben hat,
nicht schwer zu erraten; so meint man wenigstens in Konstantinopel.
Wollte Griechenland aber im vorigen Frühjahr doch einmal den Stein ins
Rollen bringen, so mußte dies durch einen auf die Flotte gestützten Angriff
schon aus politischen Rücksichten geschehen. Griechische Erfolge an den Küsten
des Ägäischen Meeres hätten England eine Basis geschaffen, wenn nicht zum
Angriff auf die Dardanellen, fo wenigstens zur vorgeschobnen Verteidigung der
Linie durchs Mittelmeer nach Südasien; und so wäre mit Sicherheit auf den
Schutz Englands in den gewonnenen Positionen am Gestade des Meeres, zum
allermindesten aber auf starke englische Subsidien zu zählen gewesen. Mit
diesen hätte dann auch die Befriedigung der unbezahlten Gläubiger in Europa
und damit ein Umschwung der gesamten Stimmung gegen Griechenland erzielt
werden können.
Aber auch aus rein militärischen Gründen bot nur ein auf die
Flotte gestützter Feldzugsplan Griechenland Aussicht auf Erfolge. Nur die
tollste Verblendung konnte an den Angriff eines im Lande operirenden
Heeres denken, statt dessen Kraft mit der der Flotte an der Küste zusammen-
zuhalten. Schon die Truppe, die seit undenklicher Zeit keinen Krieg mehr
gesehen hatte und seit Jahren zum Polizeidienst verwendet worden war, war
ungeeignet. Ihre Ober- und Unterführer kannten seit langer Zeit den Begriff
von Manövern nur noch vom Hörensagen her; dazu waren die deutlichsten
Zeichen von Disziplinlosigkeit unter den Mannschaften und noch mehr unter
den Offizieren hervorgetreten, die selbst gegen den Kronprinzen revoltirten —
alle diese Übelstände mußten gänzlich davon abhalten, mit diesem Heere irgend
etwas zu unternehmen, ehe es durch den Krieg selbst zu einem brauchbaren
Werkzeuge ausgebildet worden war. Den Griechen gegenüber standen türkische
Truppen, deren Offiziere zum Teil noch den großen russischen Feldzug von
1877 — 78 mitgemacht hatten, und deren Mannschaften großenteils gestählt
waren durch die Kämpfe im Hauran, gegen Zeitun und in Armenien. Rechnet
man nun dazu, daß die Türkei schon Ende März 1897 etwa 100000 Mann
an der griechischen Grenze stehen hatte, während Griechenland bis dahin kaum
50000 Mann aufstellen konnte, so wird es vollkommen unbegreiflich, wie man
griechischerseits damals an einen Angriff des Landheeres noch denken konnte,
ja selbst nur an eine Verteidigung des ganzen eignen Gebietes. Und doch
stellten die Griechen ihre Truppen in Thessalien mit dem Hauptquartier in
Larissa derartig auf, daß an dieser ihrer Absicht nicht zu zweifeln war.
Ein einziger Blick in die jüngste Kriegsgeschichte hätte die Griechen be¬
lehren können, was bei einer derartigen Sachlage Hütte geschehe» müssen. Bei
der Überlegenheit an Zahl und Güte der Truppen war den Türken unbedingt
die Offensive zu Land zu überlassen. „Jede Offensive, sagt Goltz, hat im Gegen¬
satz zur Defensive einen Kulminationspunkt, wo die anfängliche Überlegenheit
durch die natürliche Schwächung auf einen Stand geraten ist, daß sie zum
Siege eben noch ausgereicht hat, aber künftig keinen Erfolg mehr verbürgt.
Tritt der Kulminationspunkt zu früh, d. h. vor Sicherstellung des gewünschten
Friedens ein, so erfolgt der Rückschlag, der dann weit heftiger wird als die
Wirkuug einer Niederlage in der Verteidigung." Von 160000 Mann brachte
Rußland 1829 bis nach Adrianopel 20000; von 400000 brachte es 1878
kaum 100000 bis vor die Thore von Konstantinopel. Wieviel hätte also
wohl Ebben Pascha von seinen 100000 Mann durch das fürchterliche Gebirgs-
land von Griechenland ans Makedonien bis nach Athen gebracht; vielleicht
12 bis 25000 Mann. Wenn aber die Griechen in neuerer Kriegsgeschichte
minder bewandert zu sein scheinen, so durften sie ja nur sich ihrer glorreichen
alten Geschichte erinnern, in der sie so gern schwelgen, jedoch, wie es scheint,
ohne aus ihr zu lernen. Wie außerordentlich mußte das von Darms entsandte
mächtige Heer zusammengeschmolzen sein, bis es nach Attika kam, um von
Miltiades bei Marathon geschlagen werden zu können! Und was blieb denn
von dem Heere des Xerxes in Griechenland noch übrig nach der Vernichtung
seiner Flotte bei Salamis? Und was folgte nach? Der Übergang der Griechen
zum Angriff über See auf die Küsten des persischen Reiches, nach der Ver¬
nichtung der gegnerischen Flotte, die das Meer beherrscht hatte.
Wie unvergleichlich viel günstiger war die Lage der Griechen im Früh¬
jahr 1897. Die Türkei, die an die Stelle des antiken persischen Reiches ge¬
treten ist, besaß überhaupt gar keine Flotte. Man brauchte also nicht erst
das eigne Ermatten ihres Offensivstoßes mit ihrem Landheer abzuwarten,
sondern konnte selber dieses Ermatten viel früher herbeiführen durch Aufstellung
des Landheeres an der griechischen Küste nahe dem Schutze der Flotte;
man konnte, wenn möglich, gleichzeitig mit dem noch verfügbaren Teile der
Flotte und der Truppen übers Meer zum Angriff, ja zum „Stoß ins Herz"
vorgehen.
Trotz der Überlegenheit an Zahl und Güte ihres Heeres griff die Türkei
Griechenland nicht an, sondern ließ sich nur mit Gewalt von ihm in den Krieg
hineinziehen. Und darin hat sie auch schon aus militärischen Gründen sehr
recht gehabt, was man um ihres Sieges willen in Europa schon ganz ver¬
gessen hat, was aber kommende Ereignisse möglicherweise wieder ins Gedächtnis
rufen werden.
Mitte April stand Marschall Ebben Pascha mit seiner Hauptmacht in
und um Elaffona. Die gegebne Richtung seines Vormarsches war die auf
Larisfa und von dort über Pharsala, Dhvmolo, Lamia gegen Athen. Statt
ihm nun in der thessalischen Ebne oder an den Gebirgen in deren Norden mit
der gesamten griechischen Landmacht ernstlich entgegenzutreten und diese so
einer schnellen, sichern Niederlage oder doch zum mindesten einem unter allen
Umständen demoralisirenden, erzwungnen Rückzüge auszusetzen, wäre es für
die Griechen das Gegebne gewesen, sich von vornherein unter thatsächlicher
Preisgabe von Thessalien an die Seite von Edhems Vormarschlinie zu setzen
und sich auf die Flotte zu stützen. Welche Verluste auch trotz den gemachten
Thorheiten die Griechen den Türken am 27., 29. und 30. April und 5. und 6. Mai
bei Velestino bereiteten, ist bekannt. Eine gründliche, wochenlange Arbeit, zu der
man Zeit gehabt hätte, wäre aber imstande gewesen, diese Linien von Velestino
geradezu uneinnehmbar zu machen. Die Griechen hätten sich nach einigen
Gefechten kleinerer Abteilungen an der Grenze zur Irreführung der Osmanen
auf Kalabaka-Trikkala zurückziehen müssen, um von dort mit der Bahn Velestino
zu erreichen oder weiter nach Westen auszuweichen, um in Epirus hinter den
türkischen Truppen den Bandenkrieg zu entfesseln. Hütten sie sich mit ihrem
Gros auf eine zähe Verteidigung der sachgemäß verstärkten Linien von Velestino
beschränkt, so wäre es wahrscheinlich Ebben Pascha dadurch allein schon un¬
möglich gemacht worden, über Thessalien hinaus nach Süden vorzudringen.
Denn während die Griechen dicht an ihrer Operationsbasis, der Küste und Bolo,
saßen, mußte das Heer Edhems in Thessalien seine sämtlichen Bedürfnisse viele
Tagemarsche weit von Sorovich und Karaferia an der Linie von Salonik nach
Monastir auf Saumtieren herschleppen und blieb dabei angewiesen auf das
elende Wasser in der thessalischen Ebne. Wagler aber die Türken einen Marsch
über Pharsalos nach Süden zu, so waren ihre rückwärtigen Verbindungen
von Velestiuv-Volo her sowohl bei Pharsalos als bei Larissa mit Leichtigkeit
zu zerstören.
Hatten die Griechen Truppen, die sie an mehr als eine Verteidigung der
bei Velestino zusammenlaufenden Straßen von Pharsalos und von Larissa
denken lassen konnten, so war außer diesem befestigten Lager ein zweites nahe
dem Ausfluß der Salamvria ins Meer, an dem berühmten Tempethal, zu er¬
richten: auch diese Arbeiten hätten aber längst vor Beginn des Feldzugs unter¬
nommen und mit Gründlichkeit durchgeführt werden müssen. Auch hier waren
zwei Stvßrichtnngen möglich. Die eine westlich gegen die Verbindung von
Lariffa nach Elnsfonci, die zweite nördlich unter dem Schutz der Flotte, östlich
vom Olhmp, zwischen diesem und dem Meer, die alte Heeresstraße, auf der
die Römer zur Vernichtung des makedonischer Reiches vorgedrungen waren.
Hier führte der Weg über Kydros. das antike Phdna, nach Salonik, dem
Vereinigungspunkte der Bahnlinien von Mvnastir-Sorovich-Knraferia und von
Üsküb und Muratli, dem Zentralpuukt der Operationsbasis der türkischen
Armee in Thessalien.
Die Entfernung des Tempethales von Vvlv-Velestino ist zu Land gegen
vier Tagemarsche, für eine Transportflotte betrügt sie etwa fünfzehn Stunden.
Diese Zahlen allein genügen, um zu zeigen, daß es bei hinreichender Verstärkung
dieser beiden Einfallsthore von Thessalien, von denen das eine wenigstens dazu
noch einen vorzüglichen Hafen besitzt, in der Hand der Griechen gelegen wäre,
bald hier bald dort überraschend in starker Zahl aufzutreten. Das hätte
mehr oder weniger erfolgreiche Vorstöße gegen die rückwärtigen Verbindungen
einer nach Thessalien vorgerückten türkischen Armee gestattet und damit den
Osmanen einen längern Aufenthalt in dieser fruchtbaren, aber auch fieberreichen
Landschaft unmöglich gemacht.
Mit einem Rückzug der Türken aus Thessalien, was bei zäher Verteidigung
von Velestino-Volo bloß eine Frage der Zeit war, wäre dann für ein zum
Vorstoß von vornherein zu schwaches griechisches Heer der Augenblick gekommen
gewesen, zum raschen Angriff überzugehen.
Wären von Anfang an auf griechischer Seite mehr tüchtige Truppen vor¬
handen gewesen, als zur durchaus sichern Verteidigung von Volo-Velestino und
des Tempcthals erforderlich sind, so konnte der Offensivstoß, der sonst erst
nach dem Scheitern oder doch wenigstens nach der Stauung des türkischen Vor¬
marsches gegen Süden begonnen werden durfte, schon gleichzeitig mit diesem
ausgeführt werden. Das gegebne Ziel für eine kleinere Unternehmung der
natürlich ungeteilt im Ägäischen Meere beisammen zu haltenden Flotte mit
einem Landungskorps lag bei Dedeagatsch: Zerstörung der Bahnlinie, Unter-
brechung der Verbindung der europäischen Türkei mit der Hauptstadt. Für
größere Unternehmungen lagen vor der griechischen Flotte die größtenteils
von griechischsprechender Bevölkerung bewohnte Halbinsel von Chalkidike und
die des thmkischen Chersonnes. Chalkidike mit seinen drei weit ins Meer
hinausgestreckten Fingern ist geradezu ein ideales Objekt für ein Landungskorps,
das ja nur zu wählen braucht, wo es absteigen will, um sich entweder unter
den Geschützen der Schiffe häuslich auf einem der Finger einzurichten oder
sofort von dort gegen Norden vorzudringen zur Besetzung der schmalen Streifen
festen Landes zwischen den Seen und Sümpfen, die die Halbinsel an ihrem Nord¬
rande von Makedonien abgrenzen. Dicht dabei liegt dann Salonik, das Zentrum
der ganzen europäischen Türkei und der Ausgangspunkt der Armee Ebben
Paschas. Trotz der technischen Vollendung moderner Kampfmittel sind die
Wege, auf denen heute die Heere vorschreiten müssen, im wesentlichen dieselben
geblieben wie vor zweitausend Jahren, und so hätte auch bezüglich der Halb¬
insel Chalkidike und ihrer strategischen Bedeutung den modernen Griechen ein
Blick in ihre alte Geschichte genügt, ihnen klar zu machen, daß für sie als
Seemacht hier der Angriffspunkt lag gegen eine auf Makedonien basirte Land¬
macht, wie sie Ebben Paschas Heer darstellte.
Um was hatten sich denn die drei olympischen Reden des Demosthenes,
die sogenannten Philippiken, andres gedreht, als um die Verteidigung der
in der Seite von Makedonien gelegnen Halbinsel Chalkidike! Solange man
diese besaß, konnte man in Athen ruhig ins Theater gehen und auf dem Markt¬
platz debattiren, statt sich in Reih und Glied zu stellen, um sich dem An¬
marsch der makedonischer Phalanx entgegenzuwerfen. Denn der große Vater
des großen Alexander hütete sich wohl, vor der Eroberung und Schleifung
von Olrmth, der Hauptfeste Athens auf Chalkidike, den Vormarsch auf dem
westlich davon gelegnen Festlande gegen Süden zu unternehmen. Was aber
wäre denn einer Landung der modernen Griechen auf der Halbinsel Kassandra,
dem westlichsten der drei Finger der Chalkidike, türkischerseits rasch genug ent¬
gegenzustellen gewesen? Einigermaßen mit Sachkenntnis und guten Truppen
durchgeführt, hätte diese Unternehmung fraglos in kurzer Frist zunächst zum
Falle des türkischen Außenforts am Meerbusen von Salonik, Karaburnu, führen
müssen, das gegen einen Angriff vom Lande her durchaus verteidigungsuufähig
war, und vor dem auf der Seeseite im Westen sich nur eine vollkommen un¬
zureichende Minensperre befand, eine kerzengerade, durch rote Bojen auf Kilo¬
meter weit sichtbar gemachte Fahrstraße, durch die täglich unter den Augen
der Griechen die österreichischen Lloyddampfer aus und ein pcissirten. Inwiefern
ein weiteres Vorgehen der Griechen von der Halbinsel Kassandra her gegen
das türkische Immerfort am Meerbusen, das nach dem Lande zu gleichfalls
ungeschützte sogenannte Kleine Kap, geboten oder möglich war, oder ob von
dort aus über Wasser gegen die Wardarbrücke westlich von Salonik und die
Bahnlinien von Salonik nach Karaferia-Sorovich-Monastir und nach Üsküb
andrerseits vorzugehen war, oder ob von hier aus nach Osten hin eine weitere
Unternehmung zur See einzuleiten war, hing von der Raschheit des eignen
Handelns und von der Gewandtheit des Gegners ab, sich um Salonik in
starken Massen zu konzentriren.
Dadurch allein aber schon, daß die Türken sich durch die Landung und
Festsetzung der Griechen auf Chalkidite zur schnellen Vereinigung aller ver¬
fügbaren Truppen um Salonik gezwungen gesehn hätten, wäre der Zusammen¬
brach ihrer Herrschaft in Europa besiegelt gewesen; denn weder Serbien noch
Österreich hätten dem Abzug der türkischen Truppen von ihren Grenzen Gewehr
bei Fuß zugesehn, und noch viel weniger das kriegsbereite Bulgarien.
Es lag in der Hand Griechenlands, durch eine Demonstration gegen
Salonik von Chalkidike her alle Balkanstaaten gegen die Türkei mobil zu
machen und in seinen Kampf auch Europa hereiuzuziehn, da Österreich diesen
Platz in niemands Hände geraten lassen darf, der es hier dauernd von seiner
Verbindung übers Meer nach dem Orient abzuschneiden vermöchte. Damit
stand die Entfesselung des Wettkampfes zwischen Rußland und England
gleichfalls ganz im Belieben Griechenlands, sobald es ihm nur einfiel, von
seiner Beherrschung des Ägäischen Meeres Gebrauch zu machen und von Norden
her auf dem thrakischen Chersonnes, der heutigen Halbinsel von Gallipoli, zu
landen. Auch dieser Unternehmung hätte die Türkei kaum rasch genug ent¬
gegenzutreten vermocht, sobald sie mit Kraft und Schnelligkeit eingeleitet
worden wäre. Allerdings hätte Griechenland damit den Zorn der Bulgaren
herausgefordert, die sich schon heute als künftige Besitzer von Konstantinopel
betrachten, und deren Stammesgenossen diese Halbinsel in der Hauptsache be¬
wohnen, während Griechen nur in Gallipoli und sonst längs der Dardanellen¬
straße in den größern Küstenplützen sitzen. Wohl ohne Zweifel wäre aber
damit auch Englands Eintreten für die Griechen entschieden gewesen, da dieses
eine solche Position am Ausfallsthore Rußlands ins Mittelmeer und gegen
die indische Linie einem Staate nicht mehr hätte entwinden lassen, den es
durch Geld und Seegewalt mit Sicherheit dauernd an sich knüpfen konnte.
Nicht ohne Grund hatten die Türken alle verfügbaren Fahrzeuge, abgesehn
von ein paar kleinen Naddampfern, einem Minenleger und einem Torpedo-
bötchen, die bei Salonik stationirt waren, während des Krieges und der
Friedensverhandlungen hinter den Dardanellenschlössern aufgestellt, und, so
viel ich weiß, warten sie dort uoch heute der Dinge, die da kommen werden.
Denn eine Festsetzung der Griechen zu Lande auf der Halbinsel von Gallipoli
und ein gleichzeitiger, vom Lande her unterstützter Angriff der griechischen
Flotte in der Dardanellenstraße hätte der Pforte nur die Wahl zwischen einem
verzweifelten Ringen in dieser Meerenge oder der Annahme aller griechischen
Bedingungen gelassen.
Ein Vormarsch Ebben Paschas ohne jede Rücksicht auf seine rückwärtigen
Verbindungen und ohne daß er von griechischer Seite behindert worden wäre,
hätte bis nach Athen zum mindesten vierzehn Tage bis drei Wochen bean¬
sprucht. Auch dann aber wäre der griechischen Negierung die Flucht nach
Morea oder nach Euböa offen geblieben. Die Landung eines Expeditions¬
korps der Griechen von 40000 Mann auf Kassandra oder nordwestlich von
Gallipoli hätte bei genügender Vorbereitung und Sammlung der Transport¬
mittel drei bis fünf Tage erfordert und konnte erfolgen im Momente der
Kriegserklärung. Man sollte meinen, diese Zahlen sprächen genng.
Man hat sich in Europa daran gewöhnt, die Niederlage der Griechen
als eine endgiltige zu betrachten, und einer der ruhigsten und klügsten Menschen,
die ich kennen gelernt habe, und dabei einer der ersten Kenner des Orients
schreibt mir: „Jedenfalls bedeutet der Ausgang des Kampfes für Griechenland
nicht nur eine Erleichterung um fünf Millionen Pfund und einige Quadrat¬
kilometer Ödland: vor allem ist sein Prestige dahin, und Makedonien dürfte
an die Slawen verloren sein." Aber gleichzeitig meint dieser zuständige Be¬
urteiler: „Auffüllig ist es allerdings, mit welcher Resignation und Ruhe die
Griechen schließlich die Friedensbedingungen acceptirt haben. Das ist ver¬
dächtig und sieht so aus, als ob es sich nnr um einen Waffenstillstand und
nicht um einen Frieden auf ewige Zeiten handelte." Und von andrer diplo¬
matischer Seite aus dem Orient wird mir geschrieben: „Der politische Horizont
sieht wirklich trüb aus; dennoch bin ich der Meinung und Hoffnung, daß in
Alteurvpa nichts ausbrechen wird, wahrscheinlich aber, wie Sie auch meinen,
zwischen Dardanellen und Suezkanal, und da bin ich des Gutachtens eines
zweiten Trafalgars." Ja wenn Ebben Pascha das griechische Landheer, das
sich ihm so sinnlos in den Weg stellte, nicht hätte viermal entweichen lassen,
sondern wenn er es vernichtet Hütte, wie er konnte, dann wäre die Lage heute
anders als vor einem Jahre.
Aber während die griechische Flotte überhaupt nicht ins Gefecht kam, blieb
das griechische Lcmdheer, von dem Verluste einiger tausend Verwundeter und
Toter abgesehen, unbeschädigt. Im Gegenteil, während vielleicht die Nation ge¬
läutert wurde durch das erlittne Unglück und die Aussicht auf den endgiltigen
Verlust ihrer Expansionssphüre an die Slawen, und während sie dnrch den
Mißerfolg des Kampfes ihrer Landarmee im Innern des Landes geradezu mit
der Nase auf die Küsten und den Kampf zur See hingestoßen wurde, hat die
Armee selbst durch die Erfahrung und Schulung in diesem Kriege fraglos
gewonnen. Wie Frankreichs Heer in den Jahren nach dem siebziger Kriege un¬
zweifelhaft zu einem andern Werkzeug wurde, als es vorher gewesen war, so
hat sicher auch diese Niederlage im griechischen Heere ihre Folgen. Schon
heute sehen wir den tüchtigsten der Führer im Feldzug des vorigen Frühjahrs,
General Smolenski, der die richtige Erkenntnis von der unvergleichlichen
Wichtigkeit der Linien von Velestino hatte und diese mit Mut und Ausdauer,
wenn auch noch nicht tadelfrei verteidigte, als Kriegsminister an der Spitze des
griechischen Heerwesens; und während eine starke Strömung dahingeht, die
Armee und ihre Offiziere völlig aus dem zügellosen, unsaubern Parteigetriebe
herauszuziehen, indem den Offizieren die Wählbarkeit ins Parlament entzogen
wird, sehen wir den griechischen Kronprinzen mit überraschender Einfachheit
und Klarheit und mit achtunggebietender Offenheit und Entschlossenheit öffentlich
auf die Kernschäden im griechischen Heere hinweisen, die seine Niederlage
herbeiführen mußten.
Es ist wohl denkbar, daß in Griechenland die nüchterne Anschauung der
Thatsachen auf politischem Gebiete ebenso durchdringt, wie sie auf militärischem
Gebiete nach der Niederlage durchgedrungen ist, und daß es ferner den Griechen,
diesen gebornen Händlern, gelingen wird, von Rußland oder England — die
beide alles aufwenden müssen, um sich die im Königreich Griechenland liegende
Basis für den Kampfplatz zur See zwischen Suezkanal und Dardanellen im
voraus zu sichern — die nötigen Summen zu erhalten zur Bezahlung ihrer
Schulden in Europa. Damit würde auch ein für Griechenland günstiger
Wechsel der Stimmung in Enropa eintreten. Glückt es ihm dann, einen neuen
klugem, nur auf die Küsten der europäischen Türkei gerichteten Angriff mili¬
tärisch gut vorzubereiten, dann haben diese Leute noch keineswegs ausgespielt,
sondern können noch großes erreichen, gestählt durch den erlebten Krieg.
Ein Themistokles! Und nochmals fallen die Würfel der Welt in Athen.
ährend wir auf dem Festlande in stetem und noch nicht abge¬
schlossenen Kampfe die Waffen mit Franzosen und Slawen
kreuzten, hatte sich der Irrglauben eingenistet, mit dem angel¬
sächsischen Stammesvetter auf seinen unangreifbaren britischen
Inseln verbinde uns Bluts- und Interessengemeinschaft, undM
nirgends in der Welt stießen unsre Ziele feindlich zusammen. Seit Cromwell
hat aber Englands Macht stetig auf Kosten der einzelnen Festlandsstaaten
zugenommen, und Deutschland war der willige Lieferer seines Truppenersatzes
und der Abnehmer seiner Waren. Schon in den fridericianischen Tagen
sprach man vom treulosen Albion, und in den Befreiungskriegen wurde dessen
deutschfeindliche Gesinnung vor dem gesamten Vaterlande kund, als es uns
um den Siegespreis betrog und den Raub der Ludwige von der Freigraf¬
schaft Hochburgund bis zu den französischen Niederlanden hinab bei Frankreich
ließ. Bei den belgischen Selbständigkeitskämpfen schürte England ebenso geflissent¬
lich den Abfall, der doch nur eine französische Einverleibung nach der Absicht
der Machthaber in Paris vorbereiten sollte, wie es 1870 die Neutralität ans
Geschäftsrücksichten brach, indem es harmlos Kriegskontrebande gegen teure
Preise unter seiner Flagge nach Frankreich einführte. Die Franzosenfreundlichkeit
kam auch unverhohlen auf politischem Gebiete zum Vorschein, als geschäftige
Frauenhünde diesseits und jenseits des Kanals die Fäden der deutschen Politik
zu verwirren suchten. Bei dem Beginn unsrer Kolonialbestrebungen und deren
Verwirklichung zeigte sich uns England als offnen Gegner.
Es war ein wunderbarer Zufall, daß das Steppenland der südwest-
afrikanischen Küste zuerst der britischen Begehrlichkeit entrissen wurde; ohne
Bismarcks geniale Meisterkunst Hütte England wie damals thatsächlich, so auch
heute staatsrechtlich die Herrschaft bis zum Kumme in Anspruch genommen. Liegt
auch Südwestafrika unsrer gegenwärtigen praktischen und amtlichen Kolonialpolitik
ferner, als man wünschen müßte, da es die einzige Siedelungskolonie ist, so ist es
doch politisch und national die bedeutungsvollste. Es bildet geographisch die Ver¬
bindung mit dem niederdeutschen Element in dem englischen und dem boerischen
Südafrika. Wie in Belgien, so tritt uns hier auf afrikanischen Boden die nieder¬
deutsche Frage entgegen. Aber die boerische Bevölkerung im Kapland wie auch
die der Freistaaten ist keineswegs besonders holländisch, also nvrdniederländisch,
sondern das reichsdeutsche Element Frieslands und Niedersachsens ist mindestens
ebenso stark vertreten wie das holländische selbst, abgesehen von der beträcht¬
lichen hochdeutschen Einwanderung. Wie Frankreich in Belgien die Ohnmacht
Deutschlands ausnutzte, so benutzt England dort unten die deutsche Un-
thütigkeit, um mit beharrlicher Rücksichtslosigkeit die englische Vorherrschaft
auch auf deutsches Volkstum auszudehnen. Die kapländische, boerische und
hochdeutsche Bevölkerung hatte vor einem Jahrzehnt noch die Mehrheit im
Kapparlament und ist noch heute an Zahl stärker als die verhältnismäßig
junge englische Einwanderung, die aber von der Negierung planmäßig ge¬
fördert wird. Die Aussichten der wirtschaftlichen Erschließung dieses auch
für Europäer dauernd und ohne Schaden für die Gesundheit bewohnbaren
Landes sind durchaus günstig, aber der hoch- und niederdeutsche Zufluß ist
winzig, und das erregt sür die deutsche Zukunft des Kaps ernstliche Befürch¬
tungen. Eine praktische Politik müßte auf die Auswanderung Deutscher nach
dem Kaplande viel mehr Wert legen. England kann uns darin als Muster dienen.
Die Rinderpest ist nur eine vorübergehende Plage, die auch bei uns im Reiche
vor nicht zu langer Zeit gewütet hat. Die Angst um das Wohl unsrer Volks¬
genossen in diesem gesunden und aufblühenden Steppenlande, unsre Kolonie
einbegriffen, ist bei der Sorglosigkeit gegenüber Amerika gänzlich ungerechtfertigt,
wo ein ernster wirtschaftlicher Notstand herrscht und der jungfräuliche Boden
längst in den Händen beutelustiger Spekulationsgesellschaften ist.
Da der Ire aus politischen Gründen bei dem Verlassen der heimischen
Scholle die englischen Kolonien meidet, haben wir bei einer planmäßigen Ein¬
wanderung nach Südafrika den englischen Wettbewerb nicht zu fürchten, zumal
da der Engländer auch jetzt noch meist nur als Kaufmann und Gewerbe¬
treibender in das Land kommt. Freilich ist im Handel das deutsche Element
auch stark vertreten, aber es steht in nationaler Gefühllosigkeit auf englischer
Seite, wie die größte deutsche Bergwerksfirma Wernher, Veit u. Komp. zeigt.
Legt sich das deutsche Element mit amtlicher Unterstützung erst tüchtig ins Zeug,
so führt schon das Geschäftsinteresse den vaterlandslosen deutschen Handel in
Südafrika in das deutsche Lager. Vorläufig ist der Gewinn auf englischer
Seite. Aber man rühmt doch sonst den deutschen Kaufmann wegen seiner Ge¬
wandtheit so sehr, daß es ihm nicht schwer fallen dürfte — wo doch genügendes
Kapital vorhanden ist, das sich dann nicht mehr in exotischen Werten, von den
Grieche» und Portugiesen nicht zu reden, allzu rasch verflüchtigen würde —, den
englischen Wettbewerb zu schlagen und das Hoch- und Niederdeutschtum auf eigne
Füße zu stellen. Die parlamentarische Verfassung der Kapkolonie ermöglicht den
Stammeskampf auf dem friedlichen Boden der Redeschlacht, und vor den eng¬
lischen Söldnern fürchten wir Deutschen uns doch wahrlich nicht. Mag England
die See beherrschen; auf dem Lande hat es stets eine klägliche Rolle gespielt.
Wir haben wohl nicht umsonst mit dem Säbel gerasselt und folgenreiche
Telegramme ausgesandt, ohne die notwendigen Schlüsse aus solchem politisch
ernsten Handeln zu ziehen, sondern werden hoffentlich unsre Thatkraft bei der
ersten Gelegenheit erweisen, die Englands und seines Lieblings Cecil Rhodes
unverfrorne Werke und Worte schon jetzt reichlich gewähren. Wir dürfen doch
annehmen, daß die Caprivische Politik, die den Kappremierminister offnen
Schmuggel in unserm benachbarten Schutzgebiet treiben und unsre Schutz-
befohlnen von englischen Händlern ungestört aufwiegeln ließ, endlich abgewirt¬
schaftet hat. Sonst würde das deutsche Halt in der Delagoabucht und beim
Jamesonschen Einfall nur ein harmloser Schreckschuß für das übrigens keines¬
wegs ängstliche England gewesen sein, das bisher nur deutsche Schwäche, aber
keine deutsche Kraft kennen gelernt hat. Was nützte uns der Ruhm des ver¬
flossenen Krieges und der Heldengestalten der Schöpfer des Reichs, wenn wir
selbstgenügsamen Söhne und Enkel gemächlich auf den nicht selbst gepflückten
Lorbeeren ausruhen und uns bloß in großen Worten ergehen wollten.
Die Sachlage in Südafrika ist klar und durch englische Heucheleien nicht
mehr zu verdunkeln. England rüstet sich zu einem Gewaltstreich wider die
Boerenstaaten, die den kleinern Teil des gesamtdeutschen Volksbestandes in
Südafrika bilden, deren Unabhängigkeit aber das Hindernis für die head-
sichtigte Anglisirung des ganzen Landes ist. Wir wollen hier nur die nationale
Frage ins Auge fassen und die weitere kolonialpolitische Aussicht auf das große
afrikanische Reich des britischen Löwen vom Kap bis zum Nil unerörtert
lassen. Da der Hochdeutsche und der niederdeutsche in Südafrika der Anleh¬
nung an das Mutterland entbehrte, stellte er sich lieber auf eigne Füße, und
diesem Bestreben verdankte der Afrikanderbund sein Entstehen. Er war anti¬
englisch gemeint, ohne leider England auszuschließen. Die englische Teilnahme
aber lähmte ein nationales Vorgehen gleich anfangs. Diese Entwicklung war
ganz natürlich, da Deutschland bis 1870 nur ein geographischer Begriff
war und kolonialpolitisch auch später noch nicht anzahlte. Bismarck wollte
auch England um Frankreichs willen nicht unmittelbar vor den Kopf stoßen
und begnügte sich mit dem kleinen Schutzgebiet. Indessen behielt er dem
Reiche durch weitere Abmachung ein Einflußgebiet vor, das die Verbindung
zu den Boerenstaaten sowohl längs des Oranjeflusfes wie auch über den
Sambesi sicherte, wodurch eine Anknüpfung an die portugiesische Kolonie
Mozambique hergestellt werden konnte. Dadurch war das Gebiet nördlich
von der Kapkolonie, die jetzt dort ganz ungehindert und ungemessen schaltet
und sich ausdehnt, der englischen Ausbreitung entzogen. England hielt die
Steppenländer der sogenannten Kalahariwüste wohl selbst für wertlos, wäh¬
rend gegenwärtig die Betschuanen- und Griqualünder dieselbe Knlturfähigkeit
haben wie die Kapkolonien. Freilich wies Bismarck anscheinend bestimmte
Bündnisantrüge der südafrikanischen Republik und Portugals gegen Eng¬
land zurück, ohne jedoch seine offenbare Abneigung gegen die englischen Machen¬
schaften in Südafrika zu verhehlen. Der unglückliche Sansibarvertrag seines
kolvmalfeindlichen Nachfolgers fand daher seine herbste Mißbilligung. Dentsch-
lands unverantwortliche und durchaus ungerechtfertigte Nachgiebigkeit schaffte
England freie Bahn und zerstörte Bismarcks vorausschauendes Werk, das
uns die Möglichkeit zu einer Verbindung mit deu übrigen Beteiligten in
Südafrika offen ließ, ohne uns in offne Feindschaft mit England zu stürzen.
Auf diese hat es Albion dann selbst durch die offne Begünstigung der Nhodesschen
Ränke ankommen lassen, sodaß jetzt der easus tdsclsris hätte eintreten können.
Borher konnten wir nach formellem Recht England ohne weiteres von einem
nördlichen Vordringen durch den einfachen Hinweis auf unser vertragsmüßiges
Einflußgebiet abhalten. Jetzt können wir bloß eine befreundete, stannnesgleiche
und vergewaltigte Macht gegen englische Übergriffe schützen. Das ist aber
eine Einmischungspolitik, während wir früher in der günstigen Lage waren,
Verteidigenderweise Angriffe auf unser eignes Land zurückzuweisen. Denn der
Grund und Boden, wo Rhodesia errichtet worden ist, wäre vertragsmüßig
deutsch gewesen, wenn wir auch keinen Finger für die Erschließung des Landes
gerührt hätten. Der diplomatische Vorteil springt so klar in die Augen, daß
nur eine thatkräftige Politik uns die alte Niederlage verschmerzen lassen kann.
Visher ist aber dem kaiserlichen Telegramm kein sichtbares Zeichen der Zurück¬
weisung der englischen Umtriebe gefolgt. Herrn von Marschalls hierzu gegebne
Erläuterung glich dem französischen Standpunkte, der bloß südafrikanische
Handelsinteressen, aber keine nationalen Ziele von schwerwiegender Bedeutung
vertritt.
Es ist die einfache Frage, ob nach der Wiederaufrichtung des Deutschen
Reichs und dem Beginn einer entsprechenden Kolonialpolitik das ehemals in
Südafrika herrschende deutsche Volkstum dem englischen Einfluß gänzlich ver¬
fallen und wie in Nordamerika von dem angelsächsischen Stamme aufgesogen
werden soll, oder ob das Reich die Kraft und den Willen hat, seine Volks¬
genossen vor diesem Schicksal zu bewahren. Nur dann würde die Gründung
des Reichs den erwarteten Vorteil für das Deutschtum im Auslande haben,
da in der Zeit der deutschen Ohnmacht und Zerrissenheit das wehrlose Vater¬
land auch weiter nichts verbrochen hat, als daß es sich nicht um seine Glieder
im Auslande gekümmert hat. Diese schmähliche Rolle darf man aber wohl dem
neuen Reiche nicht zumuten. Was nützten uns nach der Annahme der Marine¬
vorlage die schönsten Kreuzer, wenn wir unsre nationalen Interessen nicht mit
dem genügenden Nachdruck vertreten wollten! Durch unsre Kriegsflotte und
durch unsre Politik, hinter der das mächtigste Landheer der Welt steht, können
wir unsre nationalen Zwecke erfüllen, deren einer und nicht der geringste die
Lösung der niederdeutschen Frage im Sinne eines kräftigen Schutzes des von
Frankreich und England bedrohten stammesgleichen Volkstums ist. Weder
England noch Frankreich wollen offiziell die Anstifter sein. Auch wir bedürfen
keiner offiziellen Mittel. Aber die Regierung muß nach dem fremden Muster
handeln.
Was nützt alles Jammern über eine treulose Politik, und was nützt das
zweifelhafte Lob der Aufrichtigkeit, wenn sich Frankreich und England vergnügt
über die Harmlosigkeit des deutschen Michels die Hände reiben, und ihre Ge¬
schäfte den gewünschten Fortgang in den gedachten niederdeutschen Landen
Europas und Afrikas nehmen? Freilich müssen die Maßnahmen der Negie¬
rung auch von der öffentlichen Meinung mit voller Überzeugung getragen
werden, wie sie Bismarck für die Kolonialpolitik verlangte. Selbst die Arbeit
der Kolonialpraktiker verzettelt sich zu sehr in theoretischer Erörterung und
beschränkt sich auf unsre Schutzgebiete, deren baldige wirtschaftliche Erschließung
ja sehr wünschenswert ist, aber doch nicht der Schwerpunkt einer Auslandspvlitik
zum Schutze unsers auswärtigen Volkstums sein kann. Man hat Frankreich vor¬
geworfen, daß der Rachegedanke seine Politik versteinere; trotzdem hat es aber
seit 1871 ein gewaltiges Kolonialreich geschaffen. Was haben wir im Ver¬
gleich hierzu gethan? Die Angst vor europäischen Verwicklungen bannt uns
an die Stelle und verhindert jeden kühnen Aufschwung trotz des verlockenden
englischen und französischen Beispiels.
Der Umstand, daß England sein Panzergeschwader aus der Delagoa-
bucht zurückgezogen hat, übrigens das stärkste, das in der Gegenwart den
Indischen Ozean durchfahren hat, darf uns nicht in vertrauensseligen
Schlummer versenken. Portugal ist eben nicht so gefügig gewesen, als man
in London und Kapstadt erwartet hatte. Vielleicht liegt auch ein diplomatischer
Druck andrer Mächte vor; wir wollen zu unsrer Ehre annehmen, daß Deutsch¬
land hierbei mitgewirkt hat. Unsre Vertretung in Lissabon war freilich in der
Glüubigerfrage bisher ziemlich schwächlich. Ob es an der Person oder der
Berliner Weisung lag, ist für den Uneingeweihten schwer zu entscheiden. Aber
die Truppeunachschübe nach Südafrika dauern englischerseits ganz harmlos
fort und benachteiligen die militärische Lage Transvaals immer mehr. Nur
der klugen und zugleich nachgiebigen Haltung seiner Regierung verdankt dieser
Boerenstaat noch den Frieden. Nach der jüngsten Phase der parlamentarischen
Untersuchung ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der englische Staatssekretär
sür die Kolonien rechtzeitige Kenntnis von den Jamesonschen Einfallsvor-
bereitnngen hatte und diese nicht hinderte. Chamberlain wird auch nachträglich
nicht über diesen offiziösen Friedensbruch fallen. Das ländersüchtige System
besteht eben weiter fort unter jeder englischen Negierung. An das Aufgeben
seiner vermeintlichen Vormachtstellung kann England nicht denken, wenn es nicht
seiner eignen, jahrhundertelang überlieferten Politik der Vergewaltigung untreu
werden will. Es hat stets die Schwächern unterdrückt und ist nur vor den
Starken gelegentlich mutig zurückgewichen. Fraglos dankt es aber seinem rück¬
sichtslosen Verhalten seine ungeheuern Erfolge. Es ist die eigentliche Weltmacht,
hinter der die andern Mächte weit zurücktreten. Rußland folgt am meisten
und schnellsten seinem Beispiel. Bisher ist Deutschland noch nicht auf den
Plan getreten. Wir richten gerade so ängstlich, wie die Franzosen, unsern
starren Blick auf die tronsg as Löltort. Frankreich, im Gefühle der Sicherheit
vor deutschen Angriffen, erobert unterdessen weite Kolonialreiche, während wir
uns mit höchst mittelmäßigen Kolonien begnügen müssen.
Das englische Gold der Chartered Company hat die öffentliche Meinung
in Paris zu Ungunsten der Boeren beeinflußt, und deshalb ist der Wind dort
entschieden umgeschlagen. Frankreich ist nur finanziell in Südafrika beteiligt,
verlangt also nur den Schutz dieser Geldiuteressen. England dort unten
zur Vergeltung für Ägypten entgegenzutreten, lag den französischen Staats¬
männern und der Presse freilich sehr nahe. Aber nationale Interessen sind
dabei nicht im Spiel. Daher ist auch bald eine Abkühlung der anfänglichen
Boerenfreundlichkeit eingetreten, ein Umschwung, der von England noch begünstigt
wird, ohne freilich Frankreich engländerfromm zu machen. Für unsre natio¬
nale Auslaudspolitik ist diese Minderung der französischen Sympathie nur von
Nutzen Sonst müßten wir uus in den Boerenschutz mit Frankreich teilen, mit
dem wir in Europa trotz aller Friedensbeteuerungen doch immer halb auf
Kriegsfuß sind und leider auch bleiben werden. Hierdurch träte aber das
rein nationale und deutsche Interesse bedeutend hinter dem kapitalistischen und
internationalen zurück, während jetzt das erste im Vordergrunde steht. Freilich
müssen wir die ideale Seite auch materiell stärken, und zwar sowohl durch
Einwanderung wie durch Kapitalzufluß. Die wieder eingetretene Verkleinerung
der südwestafrikanischen Schutztruppe war angesichts der drohenden Verwicklung
gerade keine sehr weitansschciuende Maßregel und jedenfalls eine falsch angebrachte
Sparsamkeit, die sich schon gerächt hat, da der Ovambociufstcmd im Norden einen
erneuten Nachschub an Streitkräften erforderlich macht, und somit doppelte
Transportkosten entstehen. Tausend deutsche Reiter und gediente Soldaten
würden gegenüber dem gewordnen englischen Gesindel sehr ins Gewicht fallen,
wenn sich die kriegsschwangere Wolke endlich entladen sollte. Diplomatische
Noten werden am besten durch Gewehre unterstützt, und der größte Staats¬
mann unsers Jahrhunderts heißt der „Mann mit Blut und Eisen," weil er
zur rechten Zeit die Kanonen spielen ließ. Kriegslustig ist Deutschland nie
gewesen, auch Bismarck hat manchmal vielleicht zu lange gezögert, ja sogar bald
nach dem Kriege von 1870/71 gegen Moltkes Rat einen erneuten Ausbruch ver¬
hindert, dessen Ergebnis die Herstellung der alten lothringisch-niederländischen
Grenze hätte sein können-^) Versäumen wir deshalb nicht den richtigen Augen¬
blick. Der englischen Kühnheit wird schon eine deutsche Demonstration genügen.
Es handelt sich um kein leichtfertiges Kriegsabenteuer, sondern um den Be¬
ginn einer besonnenen Weltpolitik zum Schutze unsers eignen Volkstums. Es
gilt zu zeigen, ob das kaiserliche Wort vom „größern Deutschland" in die
That umgesetzt werden kann und wird. Die schwere Kriegsrüstung trügt das
deutsche Volk nicht zum Spaß, und die Last ist nur dadurch gerechtfertigt,
daß im gegebnen Fall das deutsche Schwert, wie einst, den gewichtigen Aus¬
schlag giebt in Europa und jenseits des Ozeans. Schon einmal hat uns
Albion in Afrika überlistet, sorgen wir dafür, daß eine solche nationale Schmach
nicht wiederkehrt.
Wenn uns auch die Nativnalitätenkämpfe der Jingos und Jantees im
angelsächsischen Machtbereich und der Sprachenstreit in der österreichisch-
ungarischen Monarchie, wo überall das Deutschtum der Amboß statt des
Hammers ist, mit Deutlichkeit zeigen, daß das geradem Deutschland so be¬
liebte Weltbürgertum entschiedne Rückschritte gemacht hat, so können wir doch
nicht die gewichtigen wirtschaftlichen Zustände verkennen, die jetzt mehr als
früher auf das Leben der Völker bestimmend einwirken. Nur wenn zugleich
die wirtschaftlichen Kräfte und Verhältnisse eine Annäherung der Staaten ge¬
nügend stützen, werden sich auch nationale Ziele verwirklichen lassen. Die
nördlichen Niederlande Holland) und die südlichen (Belgien) sind das Vorland
und Mündungsgebiet des Rheins und der Maas, deutscher Ströme, mag
die Maas jetzt auch durch das noch französisch gebliebne Westlothringen fließen.
Die Scheide ist der dritte Fluß dieses großen Deltas, der aber den Nieder¬
landen selbst angehört und sein Quellengebiet in den Waldbergen des leider auch
französisch gewordnen Ooster Baut hat. Die Niederlande sind somit die
natürliche Ausgangsstelle des großen deutschen Hinterlandes bis zu den Alpen,
und der Rhein ist die Wasserstraße, die durch den Leck in die Maasmün-
dungen führt. Daher ward auch die germanische Besiedlung dieses Vorlandes
bis zur Somme vorgeschoben, wo die alte Reichsgrenze lief, obwohl auch
südlich über Paris hinaus die Franken noch geschlossen saßen, aber bald
verwelschten. Nördlich von der Somme erhielt schon der Verkehr die
fränkisch-friesischen Stämme, die die niederländische Bevölkerung bilden,
deutsch, da hier Oberdeutschlands natürliche Hafenplätze lagen. Der Ge¬
werbefleiß folgte dem Handel, und gerade das gegenwärtige Belgien war
der Stolz des betriebsamen deutschen Bürgertums, dessen Macht und
Reichtum zeitweise sogar die Nheinstüdte und die oberdeutschen Handels¬
plätze überstrahlte. Am Ausgang des Mittelalters waren die flandrischen
Städte die Blüte des deutschen Handels und Gewerbes, die wirtschaftlich
auch die Königin der Hanse, das kriegerische Lübeck, weit überragten.
Die Unabhängigkeitskämpfe im Norden und die spanisch-österreichische Mi߬
wirtschaft im Süden der Niederlande zerrissen dieses natürliche Band und
schufen eine widersinnige Schranke zwischen dem Mutterland und dessen wich¬
tigstem Hafengebiet. Aber der Gegenwart ist es vergönnt gewesen, die zer¬
rissenen Fäden neu zu knüpfen, da der gegenseitige Aufschwung der Industrie
und des Verkehrs mit Naturnotwendigkeit den alten Zustand wenigstens wirt¬
schaftlich herbeiführen mußte. In Antwerpen hat sich kürzlich die alte, allezeit
gut vlämisch gesinnt gewesene Hafenstadt in der Erinnerung an ihre hansische Ver¬
gangenheit zur alten wirtschaftlichen Gemeinschaft bekannt und auch mit ihren
großartigen Einrichtungen zur Förderung des deutschen Ausfuhrhandels durch
die That die Aufrichtigkeit ihrer Kundgebung bewiesen. Im gewöhnlichen Leben
entscheidet gerechtermaßen bei allem sonstigen hochherzigen Idealismus der
materielle Vorteil, der sich hier mit dem nationalen Gebot deckt. Der Hebel
zur innigern Verbindung des durch die Schuld der alten Mutter Germania
der Heimat entfremdeten Tochterlandes voll urwüchsiger deutscher Kraft, die
zur Zeit allein das alternde und unfruchtbare Frankreich durch frische Blutznfnhr
vor dem allmählichen Absterben bewahrt, ist dort anzusetzen, wo sich wirtschaft¬
liche gemeinsame Interessen mit den nationalen decken. Solche Gründe der
Annäherung sind unwiderstehlich und müssen zum Ziele führen.
Holland hat sich dem deutschen Mutterlande gegenüber trotz der Bewahrung
seiner nationalen Eigenart stets ablehnender verhalten, als das teilweise ver-
weiseste Belgien. Daher müssen auch wir dieser antinationnlen Stimmung
Rechnung tragen und bei der Wahl zwischen dem Rheinhafen Rotterdam und
dem Scheldeplatz Antwerpen dies letzte möglichst begünstigen. Die kleine Un¬
bequemlichkeit der Verkehrserschwerung darf uns nicht hindern, dem belgischen
Antwerpen möglichst den Vorzug zu geben, zumal da es zu materiellen Opfern
bereit gewesen ist. Die Geschichte der Rheinschiffahrt und Rheinsischerei weiß
ein Lied von der holländischen Unfreundlichkeit zu singen, sodaß auch wirt¬
schaftspolitisch die Frage zu Gunsten Belgiens entschieden werden muß.
Solange sich nicht die lächerliche Deutschenfurcht in Holland legt, und der
Deutschenhaß nicht der nationalen Freundschaft der Stammesbrüder weicht, muß
Holland auch die notgedrungne Zurückhaltung des deutschen Mutter- und
Hinterlandes am eignen Leibe sühlen, und in diesem Punkt ist der Holländer
sehr empfindlich und verständnisinnig. Auf die Dauer wird das wirtschaftliche
Interesse auch zur nationalen Wiedergeburt der gesamten Niederlande in
deutschnationalem Sinne führen.
In Südafrika wächst in gleicher Weise unsre wirtschaftliche Beteiligung,
daher dürfen wir hoffen, daß sich anch unser Handel dem eigennützigen Schutze
Albions entwindet, da das praktische England auch im internationalen Handel
immer nur das britische Interesse vertritt. Erst die Emanzipation des deutschen
Handels von der englischen Flagge hat ihn wieder groß gemacht wie zu den
Zeiten der Hanse, wo das flandrische Quartier mit dem Vorort Brügge der
>le Beratungen des Reichstags über die lex Heinze müssen im
! Volksfreunde die gemischtesten Gefühle erregen. Einem sozialen
Übel durch Strasgesetzbuchparagraphen Einhalt thun, und sitten¬
lose Menschen durch Zuchthaus, Gefängnis oder Geldbuße zur
Sittlichkeit erziehen wollen, ein solches Bemühen kann, wie
jeder Einsichtige erkennen muß, von keinem Erfolg gekrönt sein.
Nur vorsichtiger, aber darum nicht weniger eifrig werden Kuppler und
Zuhälter ihr schändliches Gewerbe treiben, wenn sie wissen, daß das Gesetz
ihr Vergehen schwerer ahndet, als es bisher der Fall war. Und kaum eine
der von der Unzucht lebenden Personen wird durch die drohende oder vielleicht
auch schon erlittene Strafe bewogen werden, den Weg des Lasters zu verlassen
und den Weg der Tugend zu wandeln. Solange noch die Möglichkeit vor¬
handen ist, sich der Unsittlichkeit in die Arme zu werfen, wird kein noch so
strenger Strafgesetzbuchparagraph das stete Anwachsen der Zahl der sitten¬
losen verhindern. Die Thatsache, die auch wieder im Reichstage erwähnt
wurde, daß es überall und zu allen Zeiten Prostituirte gegeben habe, ist leider
richtig. Daraus aber zu folgern, daß es nun auch bis in alle Ewigkeit
diesen traurigen Stand geben müsse, ist ebenso unlogisch wie unsittlich: un¬
sittlich, weil es einer den höchsten ethischen Idealen zustrebenden menschlichen
Gesellschaft unwürdig ist, Mitglieder zu haben, die, selbst moralisch gesunken,
aus den sittlichen Fehlern der Mitmenschen ihren Lebensunterhalt ziehen. Un¬
logisch ist die Folgerung, weil kein noch so ehrwürdiges Alter imstande ist,
eine von jedem sittlich gesunden Mensche» als verwerflich bezeichnete Sache
zu heiligen.
Hatte etwa die Einrichtung der Sklaverei dadurch an sittlichem Werte
gewonnen, daß sie Jahrhunderte hindurch üblich war? Ist der Kanniba¬
lismus dadurch gcrechfertigt, daß er seit undenklichen Zeiten bei gewissen
wilden Völkerstämmen besteht? Nein! Was als unsittlich, als verwerflich,
als menschenunwürdig erkannt und empfunden wird, das hat kein Recht, auch
nur noch eine Stunde länger zu bestehen, das soll, das muß unterdrückt
werden. Aber wie? Kann durch ein gesetzliches Verbot, durch Strafandrohung
die Prostitution, das Kuppler- und Zuhälterwesen aufgehoben werden? Wir
haben vorher gesagt, und die Geschichte hat es bewiesen, daß dnrch ein bloßes
gesetzliches Einschreiten die Unsittlichkeit nicht beseitigt werden kann. Gesetzlich
verboten und mit schweren Strafen belegt sind Mord, Raub, Diebstahl,
Betrug und Wucher. Sind diese Vergehen von der Bildflüche verschwunden?
Jeder Tag beweist das Gegenteil. Auch in dem vorliegenden Fall ist mit
einem Gesetz, mit Androhung und Vollziehung von Strafen nichts gethan.
Die der Unzucht Verfallnen werden stets, bis auf eine kleine Anzahl, für die
menschliche Gesellschaft unwiederbringlich verloren sein; sie werden immer Mittel
und Wege finden, das Gesetz zu umgehen, dem Laster zu fröhnen und so eine
stete Gefahr für die heranwachsende Jugend sein. Es kann der Gesellschaft
nichts daran liegen, nur äußerlich, durch das Strafgesetzbuch, die Unsittlichkeit
zu bekämpfen, aber das gefährliche Feuer unter der Asche fortglimmen zu lassen:
auf moralischem Wege muß die Unzucht bekämpft werden; die Sitten müssen
von innen, nicht von außen gebessert werden. Hierfür giebt es nur einen
Weg — den der Erziehung.
Die Kardinalfrage ist: Wie soll in Zukunft verhütet werden, daß sich
Mädchen der Prostitution, Frauen und Männer der Kuppelei oder dem Zu-
hältertum ergeben?
Die Vertreterinnen der Frauenbewegung haben wohl richtig gesagt: „Es
gäbe keine Sünderinnen, wenn es keine Sünder gäbe." Aber das gilt doch
auch umgekehrt: Fehlt die Gelegenheit zum Sündigen, so muß der Sünder
tugendhaft bleiben. Der Versuch, die Schuld von dem einen Geschlecht auf
das andre zu wälzen, bringt uns in einen oirLulus vitiosus, aus dem kein
Herauskommen ist. Denn nicht der Einzelne trägt in diesem Falle die Schuld,
sondern der Staat, die Gesellschaft, in deren Mitte die Unzucht wuchert, muß
dafür verantwortlich gemacht werden. Der Gesellschaft muß der Vorwurf
gemacht werden, daß sie bisher in unverantwortlicher Weise ihre Pflicht ver¬
nachlässigt hat.
Ich spreche hier nicht von den zum Schlagwort gewordnen „Hunger¬
löhnen," mit denen sich allerdings eine große Anzahl des weiblichen Prole¬
tariats begnügen muß; denn die meisten der so jämmerlich bezahlten Mädchen,
die aus der Unzucht einen Nebenerwerb machen, könnten sich auf bessere, an¬
ständige Weise ernähren, wenn sie als Dienstmädchen ihr Brot suchten. Aber
sie ziehen das freiere, ungebundnere Leben der Arbeiterin dem mehr unter
Aufsicht stehenden des Dienstmädchens vor. Und hat sich ihnen erst einmal
die Thür der Fabrik oder der Arbeitsstube aufgethan, so bleibt ihnen der Rück¬
weg in die Häuser anstündiger Dienstherrschaften gewöhnlich versperrt.
Die Pflichtverletzung, die sich die Gesellschaft zu schulden kommen läßt, liegt
auf cuiderm Gebiet: auf dem der Erziehung. Die Erziehungsfrage ist eine soziale
Frage. Aber thun Staat und Stadt nicht schon genug für die Erziehung? Haben
wir nicht Universitäten, auf denen Lehrer und Beamte ausgebildet werden, haben
wir nicht Gymnasien, Realschulen, Mittelschulen, Volksschulen, Fortbildungs¬
schulen, auf denen unsre Jugend erzogen wird? Haben wir nicht Waisenhäuser,
Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Nettungs- und Besserungsanstalten, in
denen elternlose, körperlich zurückgebliebne oder mit sittlichen Fehlern behaftete
Kinder Aufnahme finden und erzogen werden? Ist das nicht genug? Nein,
das ist nicht genug! Denn wo bringt ihr die unglücklichen Kinder des Prole¬
tariats hin, die körperlich und geistig völlig gesund sind, die noch Eltern
haben und doch ohne Erziehung aufwachsen? Überzeugt euch selbst, geht des
Nachts durch die belebten Straßen der Großstadt, seht euch die kleinen, zer¬
lumpten Jungen an, die noch im Kindesalter stehenden, elend gekleideten und
schlecht genährten Mädchen, die euch Streichhölzer oder Blumen zum Kauf
anbieten und in Wind und Wetter, in Schnee und Kälte stundenlang ans den
Straßen wandern, um ein paar Pfennige zu verdienen. Ihr seht sie in
Nachtcafös und Chantcmts hineingehen, um dort ihre Ware abzusetzen. Wären
es nur die paar Groschen, die diese Kleinen in die ärmliche Wohnung ihrer
Eltern mitbringen! Aber leider bringen sie noch etwas andres mit sich heim,
etwas, das nicht so schnell wieder aus dem Besitz der Ärmsten verschwindet
wie das wenige, sauer verdiente Geld. Es sind die Erlebnisse der Straße,
der Cafvs, der Chcmtants. die sich der Seele des Kindes einprägen. Gemeine
versteckte und unversteckte Zweideutigkeiten, Witze, frivole Lieder, unsittliche
Gespräche nimmt das Proletarierkiud während seiner nächtlichen Wanderung
in sich auf. Wie oft mag es sogar Zeuge abscheulicher Handlungen sein!
Und da soll es nicht sittlich erkranken, wenn es so direkt und schutzlos der
Pestluft ausgesetzt ist, die dem unzüchtigen Treiben des nächtlichen Großstadt¬
lebens entsteigt?
Wer sind die besten Freundinnen der kleinen Blumenverkäuferinnen, wer
wirft ihnen mitleidig einen Nickel zu, wer spricht zu ihnen im Vorübergehen
einige freundliche Worte — die einzigen vielleicht, die diese unglücklichen Kinder
überhaupt zu hören bekommen? Es sind die Dirnen der Straße, die dieselbe
Zeit zu ihrem traurigen Gewerbe benützen. Dann sieht wohl so ein armes
Blumenmädchen mit sehnsüchtigen Blicken der im Vergleich zu ihm selbst vor¬
nehm gekleideten „Dame" nach: ja, wer es auch so gut haben könnte! Aber
noch zwei, drei Jahre — arme Kinder, ihr seid die Kadetten zu dem großen
Heere der Prostituirten und ihrer Zuhälter! Denn auch der Knabe, der dem
nächtliche» Straßenhandel obliegen muß, sieht zumeist in der Eleganz und in
dem Treiben des auf seinen nächtlichen Beutezug streifenden Ronv, in der
gewaltthätigen Kraft des Zuhälters, deren Proben er gewiß nicht selten zu
sehen bekommt, ein trauriges Ideal, dem er in Ermanglung eines bessern
zustrebt.
Unter solchen Eindrücken und Einflüssen wachsen diese Kinder, deren Zahl
nicht gering ist, heran. Die Schule vermag in den wenigen Stunden des
Tages nicht die Mächte, die während der Nacht die Herrschaft über die Seele
des Kindes gewonnen haben, zu besiegen, zu vertreiben. Und sind erst einmal
diese Kinder der Zucht der Schule entwachsen, ist erst einmal die Zeit der
„Freiheit" über sie gekommen, dann hindert die Physisch und seelisch hernnter-
gckommnen Wesen nichts mehr, den Weg des Lasters zu beschreiten, den sie
ja nur zu gut vou Kindheit an kennen gelernt haben. Vielleicht versuchen die
einen oder andern, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren, aber den Unglück¬
lichen fehlt meistens die sittliche Spannkraft, die erforderlich ist, um für das
tägliche Brot ehrlich zu arbeiten. Die meisten haben diese sittliche Kraft schon
verloren, als sie auf der Straße den Angriffen auf ihr unschuldiges Kinder¬
gemüt schutzlos und wehrlos gegenüberstanden.
So wird denn nach einem schwachen mißlungnen Versuch die Arbeit aus¬
gegeben, und die Gescheiterem folgen dem Beispiel der alten Bekannten von
der Straße. Die neue Beschäftigung, der sie von jenen zugeführt werden, ist
müheloser und einträglicher. Für den Nachwuchs der Prostitution und ihres
Anhangs ist also gesorgt.
Man wird einwenden, daß sich nicht alle Prostituirten und Zuhälter aus
diesen Unglücklichen rekrutiren, daß auch Mädchen und Knaben, die keinen
Straßenverkauf treiben oder getrieben haben, der Prostitution und den mit ihr
zusammenhängenden unzüchtigen Gewerben anheimfallen. Ganz recht, aber be-
schränkt sich eine ansteckende Krankheit auf den Körper, worin sie zum Aus¬
bruch kommt? Gewiß nicht, denn sonst wäre es ja keine ansteckende Krankheit.
Die Unsittlichkeit, die Unzucht ist eine Seuche, die mit verheerender Gewalt
in Herzen und Sinne dringt und die zarten Keime der Liebe zum Guten,
Schönen, Erhabnen erstickt, vergiftet. Die Kinder, die den geschilderten sitt¬
lichen Gefahren ausgesetzt sind, bleiben nicht isolirt. Sie bringen den Krank¬
heitsstoff mit in die Schule, er teilt sich den andern Kindern mit, und wehe,
wenn Lehrer und Eltern nicht wachsam sind! In den meisten Füllen bleibt
das so infizirte Kind seinem Schicksal überlassen. Die Schülerzahl in den
einzelnen Klassen ist zu groß, als daß der Lehrer jedes einzelne Kind genügend
beobachten und in der Erziehung fördern könnte. Die häuslichen Verhältnisse
erlauben es den Eltern gewöhnlich nicht, ihren Erziehungspflichten genügend
nachzukommen. Die meisten haben vollauf zu thun, die leiblichen Bedürf¬
nisse der Kinder zu befriedigen; für die Sorge um die Erziehung bleibt nur
wenig oder keine Zeit übrig. Das Kind verfällt dem Dämon der Unzucht;
zwar äußert sich das erst uur in Worten und Geberden, aber nirgends setzen
sich Worte gewisser und schneller in Thaten um, als wenn die Unsittlichkeit
die treibende Kraft dieses Umwandlungsprozesses ist. So birgt jedes sittlich
erkrankte Kind eine unermeßliche Gefahr für die andern Kinder.
Ein weiterer Zufluß erwächst der Prostitution aus dem in Großstädten üb¬
liche« Schlafstellenwesen. Es ist in der letzten Zeit genügend über dieses Thema
geschrieben worden; es ist bekannt, daß oft eine ganze Familie samt ihren
Schlafstellenmietern, ohne Unterschied der Geschlechter, in einem engen Zimmer
oder gar in einer Küche schläft, oder daß später heimkehrende Schlafstellen¬
mieter (die sich vielfach aus Prostituirten rekrutiren) durch den Schlafraum
halberwachsener Kinder, oder umgekehrt, gehen müssen. Welch schamloses
Treiben bietet sich da oft den unschuldigen Kinderaugen dar! Die sittliche
Gefahr, die für das heranwachsende Geschlecht aus diesen ungesunden Verhält¬
nissen entsteht, liegt auf der Hand. Und was hat die Gesellschaft, was haben
Staat und Stadt zur Besserung dieser Verhältnisse gethan? Nichts, oder so
gut wie nichts!
Das Bestreben der wackern Männer und Frauen, die sich um die
Gründung von Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit und zur Bekämpfung der
Unzucht verdient gemacht haben, soll nicht verkannt werden, es soll nicht ver¬
schwiegen werden, daß die Privatwohlthütigkeit nicht zurückgehalten hat, für
diese Zwecke Gaben zu spenden, die gewiß nicht nutzlos verwandt worden sind.
Aber alles dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier hilft nicht
private Wohlthätigkeit, nicht Barmherzigkeit, uicht sittliche Entrüstung Einzelner.
Hier muß der Staat oder die Stadt helfe», hier muß aus den Steuern der
Bürger das Kapital herbeigeschafft werden, das zur Errichtung öffentlicher
Wohlfahrts- (uicht Wohlthüügkeitö-) Anstalten erforderlich ist. Wir haben als
Bürger eines Kulturstaats ersten Ranges nicht zu bitten, wir haben zu fordern,
daß die Regierung für die Abschaffung sittenloser Zustände Sorge trage.
Die Prostitution findet, wie wir gesehen haben, reichliche Nahrung in der
Zuchtlosigkeit, in der ein großer Teil unsrer Großstadtkindcr aufwächst. Die
Zahl der Personen, die trotz sorgfältiger Erziehung, durch Selbstverschulden,
der Prostitution anheimfallen, ist bedeutend geringer. Diese von ihrem schänd¬
lichen Handwerk beizeiten zu ehrlicher Arbeit zurückzuführen, dürfte nicht
schwer sein, auch giebt es Stifte, die sich dieser Gefallnen annehmen und sie
wieder auf den rechten Weg zurückführen. Schwieriger ist das Verfahren, den
direkt zur Unsittlichkeit Erzognen zu einem sittlichen Lebenswandel zu verhelfen.
Darum eben soll nicht erst gewartet werden, bis die schlimme Saat schlimme
Früchte gezeitigt hat; der Unsittlichkeit muß der Boden entzogen werden, auf
dem sie Wurzel schlagen kann. Man steuere also der Zuchtlosigkeit, in der
ein großer Prozentsatz unsrer großstädtischen Jugend aufwächst, man erwecke
durch vernünftige, planmäßige Erziehung in ihr das Gefühl von Anstand und
Sitte, den Abscheu vor dem Verwerflichen, und die Prostitution samt den aus
ihr folgenden unvermeidlichen Übeln wird bestündig abnehmen.
Wie aber und wo soll eine solche Erziehung bewirkt werden? Der
Staat soll in jeder größern Stadt eine oder mehrere Erziehungsanstalten er¬
richten, und zwar sür die Kinder der Leute, die nicht imstande sind, für eine
ordentliche Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Die Kinder sind in diesen
öffentlichen Anstalten auf Staatskosten zu erziehen. Es ist zu erwarten, daß
viele Eltern, denen es nicht mehr möglich ist, das tägliche Brot für ihre
Kinder zu schaffen oder gar für deren Erziehung zu forgen, mit Freuden die
Gelegenheit ergreifen werden, ihre Kinder einer staatlichen Anstalt zuzuführen.
Denn diese könnte den armen Kindern wenigstens eine sorglose Jugendzeit ge¬
währen und auch dafür Sorge tragen, daß die Kinder beim Verlassen der
Schule einen ihren Fähigkeiten angemessenen Beruf ergreifen. Ein Zwang,
seine Kinder diesen Anstalten zu übergeben, dürfte selbstverständlich nicht aus¬
geübt werden.
Aber insofern könnte ein Druck auf Widerstrebende ausgeübt werden, als
jegliche Kinderarbeit, wie Fabrikarbeit, Straßenhandel, Frühstück- und Zeitung¬
austragen, Kegelaufsetzen usw. gesetzlich verboten werden müßte, überhaupt
jedes Anhalten der Kinder zum Geldverdienen.
Solange der Staat oder die Gemeinde nicht die Sorge und die Kosten für
die Erziehung dieser Kinder übernimmt, darf freilich ein so strenges Verbot der
Kinderarbeit nicht erfolgen, denn gar oft wäre es den Ärmsten nicht möglich,
ihre Kinder auch nur satt zu bekommen, wenn diese nicht allein ihren Lebens¬
unterhalt erwürben. Wird aber von Staats wegen in der bezeichneten Weise
sür die Kinder solcher Leute gesorgt, so verliert die Kinderarbeit ihre Be¬
rechtigung. Mann und Frau haben nur noch für sich allein zu sorgen, und
wo Krankheit oder Alter sie an der Ausübung ihrer Erwerbsthätigkeit
hindert, haben die Gemeinde und der Staat helfend einzugreifen. Die vor¬
hin erwähnten Anstalten müßten also Alumnate sein. Unter der Leitung
verständiger Pädagogen müßten die Kinder in der schulfreien Zeit angemessen
beschäftigt werden; der Unterricht könnte in den bestehenden Gemeindeschulen,
sür besonders begabte in höhern Schulen stattfinden. Die Anstalten hätten
nur die Hauserziehung zu ersetzen.
Für die noch nicht im schulpflichtigen Alter stehenden Kinder des Prole¬
tariats wird schon jetzt von privater Seite durch Kindergärten gesorgt, wo
die Kinder der während des ganzen Tages außer dem Hause beschäftigten
Eltern Aufnahme und liebevolle Behandlung finden. Auch diese Veranstaltungen
sollte der Staat oder die Stadt übernehmen, schon um dem Ganzen das Ge¬
präge der Wohlthätigkeit zu nehmen; denn dem berechtigten Stolz der Armut
muß Rechnung getragen werden.
Wer aber vor den allerdings nicht geringen Kosten, die diese Einrichtungen
verursachen, zurückschrecken sollte, der möge sich gesagt sein lassen, daß sür die
Jugend das Beste gerade gut genug ist. Die Jugend stellt die Zukunft dar,
von der wir alle das Beste hoffen, und wer die Jugend hat, dem gehört die
Zukunft.
Wir selbst haben es also in der Hand, unser Volk, das auf die physische
und sittliche Tüchtigkeit der Jugend angewiesen ist, nach unserm Willen, nach
unsern Idealen zu gestalten. Die Sittenreinheit aber ist der Boden, auf dem
allein die höchsten Volkstugenden gedeihen können, und diesen Boden in dem
heranwachsenden Geschlecht vorzubereiten darf kein Opfer zu groß sein. nichts¬
würdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre!
riedrich Rückert sagt einmal: „Stelle dich selber dar, und du
kommst in Gefahr, aus der Rolle zu fallen." Die gleiche Gefahr
droht jedem Geschichtschreiber, der es unternimmt, denselben Zeit¬
raum darzustellen, den er werdend, denkend, fühlend und strebend
selbst mit, erlebt hat. Sind wir doch längst gewöhnt, dem
Memoirenschriftsteller — und mehr oder minder wird jeder Darsteller seiner
Zeit einem solchen ähnlich erscheinen — mit dem Verdacht entgegenzutreten,
daß er die Welt nur einseitig betrachte, daß er das zeitlich und räumlich
nächste für das bedeutendste, das seinem Herzen und seiner Überzeugung ver¬
wandte für das allein wertvolle halte. Fern von allen diesen Schwächen
und Einseitigkeiten hält sich die neueste Darstellung des letzten halben Jahr¬
hunderts in dem mit äußerst wertvollen, immer authentischen Porträts und
Städtebildern, Karikaturen, Karten und Schlachtplänen geschmückten zehnten
Bande von O. Spamers illustrirter Weltgeschichte (Leipzig, 1898, auch
als selbständiges Buch erschienen unter dem Titel „Jllustrirte Geschichte der
neuesten Zeit von der Begründung des zweiten Napoleonischen Kaiserreichs bis
zur Gegenwart"). Nur ein Verfasser, der, wie Otto Kaemmel. sich frühzeitig
geübt hat, auf den ungeebueten Wegen der Spezialforschung zur geschichtliche»
Wahrheit vorzudringen und mit gleichem Eifer den weiten Blick auf ganze
Perioden der Kultur- und Weltgeschichte früherer Jahrhunderte zu üben, konnte
die Hoffnung hegen, mit eigner Überzeugung und warmem Vaterlandsgcfühl den
Leser durch die letzten vierzig Jahre seit 1852 aufklärend und belehrend zu be¬
gleiten, ohne ihn zu kränken oder gar — zu langweilen. Daß er der letztern Gefahr
entgangen ist, erscheint umso merkwürdiger, als er es fast ganz verschmäht hat,
durch irgend eine parteiisch gefärbte Anekdote dem Appetit des Lesers zu Hilfe
zu kommen. Allein während das umfangreiche Werk von mehr als sechshundert
Seiten im ganzen den würdigen und ernsten Ton des Philosophen oder des
Staatsmannes anschlägt, läßt es doch an geeigneter Stelle niemals die warme
Empfindung des vaterländisch gesinnten Staatsbürgers vermissen.
Nachdem uns der Verfasser mit dem Hofe Napoleons III., den er mit
Meisterschaft (S. 5) charakterisiert, bekannt gemacht hat, giebt er uns einen
umfassenden Einblick in die Verwaltung und das Heerwesen, in Schule und
Kirche, Gewerbe und Handel, in die Entwicklung der Wissenschaften und Künste
und läßt uns, wie in dem ersten Aktschlüsse eines Trauerspiels, ahnen, daß
dieser großartige Prachtbau des kaiserlichen Frankreichs ans der unberechenbaren
Grundlage des allgemeinen Stimmrechts, also der Volkssouveränität, sehr un¬
sicher ruhe. Eine in ähnlicher Weise umfassende Behandlung des britischen
Großstaates führt ihn zu der Überzeugung, die einst Lord Beaeonssield in die
kecken Worte kleidete: „England ist gar nicht mehr eine europäische, sondern
nur eine asiatische Großmacht." Umso interessanter muß sich die Entwicklung
des Krimkriegs gestalten, worin jene beiden Großmächte, später noch fekundirt
von Österreich und Sardinien, dem russischen Selbstherrscher, der fast dreißig
Jahre selbst in das westeuropäische Konzert wiederholentlich arge Mißtöne
gebracht hatte, die Alleinherrschaft im türkisch-griechischen Süden von Europa
entrissen. Selbst die Einzelschilderungen, wie der Kampf um Sebastopol, das
Wüten der Cholera, des Fiebers, des Typhus, endlich die aufopfernde Thätig¬
keit der englischen Diakonissen wirkt spannend und ergreifend wie ein Roman.
Wenn sich der Erzähler von nun an den Bestrebungen der europäischen Kolonial-
machte zuwendet, auf den Hochflächen von Iran, an den buchtenreichen Küsten
Hinterindiens oder in den seit Jahrhunderten hermetisch verschlossenen Reichen
des östlichen Asiens neue Handelsplätze zu gewinnen, so läßt er uns doch
immer den roten Faden sehen, den der eigentliche Sieger im Krimkriege bei
jeder Gelegenheit in das Gewebe der asiatischen Kolonialpolitik einschlägt.
Napoleon vermittelt im März 1857 den Frieden zwischen England und Persien,
schickt ungebeten den Briten 1857 ein Geschwader gegen China zu Hilfe und
erlangt im folgenden Jahre das Recht, in Peking einen Gesandten zu halten.
Freilich sind ihm in Japan mit den Ansprüchen ans Erschließung des Landes
Rußland und Holland zuvor-, Preußen bald nachgekommen, aber 1864 macht
er durch das Protektorat über Cochinchina bereits den Anfang zu einem hinter-
indisch-französischen Kolonialreiche.
Nach diesem weiten Ausflug in den fernsten Osten kehrt Kaemmel zum
Herzen Europas zurück und schließt das buntfarbige Mvsaikbild von Nord-
uud Mitteldeutschland zur Zeit der Reaktion mit der Betrachtung ab, wie alle
wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Interessen durchaus fortgeschritten seien
und allein der Gedanke an politische Größe und an nationale Vereinigung
immer den Widerspruch der Regierungen erweckt habe. Andrerseits zeigt er,
wie Österreich, das 1850 zu Olmütz mit russischer Hilfe den Fuß auf den
Nacken Preußens gesetzt hatte, trotz mancher Reformen auf dem Gebiete des
Verkehrs-, Heer- und Schulwesens, finanziell zerrüttet und durch die Folgen
des Konkordats innerlich zersplittert- war. Umso erbaulicher erscheint die stille
Arbeit Preußens, das allen Machinationen Österreichs, der Kleinstaaten und
selbst Rußlands zum Trotz auf rein praktischer Grundlage seinen preußischen
Zollverein in einen deutschen umwandelt, mehr aus Wankelmut als aus
Klugheit während des Krimkriegs durch Parteilosigkeit an Macht gewinnt,
sich auf dem Bundestage durch seineu Gesandten Otto von Bismarck Ansehen
und Achtung verschafft und unter der Regentschaft des Prinzen Wilhelm seit
dem Oktober 1858 einer vollkommnen Neugestaltung entgegenzugehen beginnt.
Kaemmel schließt diesen Abschnitt mit den Worten: „Deutschland stand an der
Schwelle seiner modernen Heidenzeit."
Fast eine Parallele zu diesen Vorgängen in Deutschland zeigt die Schilde¬
rung der verkommnen Zustände des südlichen Italiens, in dem Unbildung,
Priester- und Tyrannenherrschaft alles vergiftet haben, während allein Sar¬
dinien unter der wohlwollenden Herrschaft des thatcnlustigen Viktor Emanuel
und unter der intelligenten und unermüdlichen Leitung des genialen Grafen
Cavvur zu einem musterhaft geordneten und machtvollen Staatswesen heran¬
reift, das durch den Bund mit Napoleon III. und durch kluge Beschränkung
zu weit gehender Gelüste endlich auf Kosten Österreichs, des Papstes und vieler
ausländischer Dynasten in ein Königreich Italien mit der Hauptstadt Florenz
umgestaltet wird. Eingehend behandelt Kaemmel in dem folgenden Abschnitte
gewissermaßen die Erklärung des bekannten Wortes von Gvrtschakow: I^ii.
üussäs ne bonas xss, mai8 Sö rvoueillö, indem er die mannigfaltigen
Reformen auf dem Gebiete der Landwirtschaft, des Heeres und des Schul¬
wesens erörtert und endlich zu demi Resultate kommt, daß Nußland unter
Alexander II. wohl in Asien von Erfolg zu Erfolg fortschreitet, aber nicht
nur in der Balkanhalbinsel seinen Einfluß zum Teil verliert, sondern auch im
Innern durch das schleichende Gift des Nihilismus seine Festigkeit einbüßt.
Fast teilnahmlos sieht es zu, wie das von Napoleon III. verkündete und zuerst
in Italien zum Siege geführte Nationalitätsprinzip mehr und mehr die Zer¬
setzung des Türkenreichs herbeiführt. Aber schon erscheint nicht Nußland allein
in seinem politischen Einflüsse geschwächt, sondern auch Napoleons III. Stimme
verhallt in Italien mehr und mehr in dem Kampf der Geister, die er rief,
und wenige Jahre später bringt ihm sein Versuch, dnrch Einmischung in die
verwirrten Zustände Mexikos den Rang eines Weltherrschers zu erwerben,
durch den tragischen Untergang des Kaisers Maximilian eine nie auszutilgende
Schmach ein. Die ausführliche Darstellung der amerikanischen Zustände vor
und nach dem Bundeskriege, wie des Bundeskrieges selbst und der erschüt¬
ternden Katastrophe von Queretaro gehören zu den schönsten Stellen des
Buches.
Den zweiten Abschnitt, das Zeitalter Wilhelms I., leitet Kaemmel ein
durch eine ausführliche Darstellung des deutschen und österreichischen Wirt¬
schafts- und Geisteslebens, die er mit den Worten abschließt: „Und ein so
hochgebildetes, großes Volk von so gewaltigen geistigen und wirtschaftlichen
Interessen, von solchem Reichtum an bedeutenden Persönlichkeiten, entbehrte
noch immer selbst jenes Maßes von politischer Einheit, das ihm die Sicherung
seiner Kulturarbeit und der ihm gebührenden Stellung in der Welt bewirkte!
Diese Einheit zu schaffen um jeden Preis war ebenso gut eine praktische Not¬
wendigkeit wie eine sittliche Pflicht." So eröffnet er zugleich den Eintritt
Wilhelms I. nicht in die Weltgeschichte, sondern zunächst in die Leidens¬
geschichte seiner ersten Regierungsjahre, sein mühvolles Arbeiten an der Heeres¬
reform und seinen Kampf mit dem Abgeordnetenhause bis zu jenem erschüt¬
ternden Augenblick, wo der sünfundsechzigjährige Monarch, von der Masse ge¬
schmäht, von den Freisinnigen verkannt, selbst von feinem Sohne und seiner
Gemahlin nicht verstanden, den schmerzlichen Entschluß faßt, der Negierung zu
entsagen, aber die fertig geschriebne Erklärung doch wieder zerreißt, als er den
gewaltigsten Staatsmann dieses Jahrhunderts bereit findet, die Leitung des
preußischen Staates an seiner Seite zu übernehmen, auch ohne Budget und
ohne Programm. In dieser bedeutsamen Stunde, am 22. September 1862,
kam jener Bund zu stände zwischen dem pflichttreuen Monarchen und dem
großen Staatsmanne zum gemeinsamen Leiden und Kämpfen für die große
Nation, die von beiden nichts wissen wollte. Auch der Gefahren ihres kühnen
Unternehmens waren sie sich wohl bewußt: sie haben von dem englischen König
Karl I. und von Strafford gesprochen.
Wahrhaftig, es ist nicht nur wertvoll und lehrreich, sondern auch eine
Pflicht, daß die Generation von heute sich immer von neuem jene verwickelte
und leidensvolle Vorgeschichte der deutschen Einheit vor Augen führe, die uns
bis heute so stark und groß gemacht hat. Wie eine Erlösung aus unklaren
Verhältnissen erscheint der gemeinsame Kampf Österreichs und Preußens gegen
Dänemark, der zwei herrliche Landschaften wieder zum deutschen Mutterlande
zurückführt, aber zugleich den Gegensatz zwischen beiden Siegern zur äußersten
Schärfe steigert. Während die Schilderung des Sturms auf Düppel und des
Übergangs nach Alsen ein wahrhaft episches Interesse erweckt, folgt man mit
Spannung der wechselnden innern Entwicklung Österreichs, das dem liberalen
Zentralismus Schmerlings entsagt, den bedenklichen Weg zum zersetzenden
slawisch-ungarischen Föderalismus einschlüge und durch diesen Rückschritt hinter
die Zeiten der Maria Theresia die Kraft zu gewinnen vermeint, sogar die
Verhältnisse Deutschlands gewaltsam umzugestalten und den siegreichen Bundes¬
genossen im Dänenkriege niederzutreten. Kaemmel zeigt uns die verschlungnen
Fäden, die endlich zum italienisch-preußischen Bündnisse führen, und daneben
den beständigen Kleinkrieg gegen die kurzsichtigen und kleinmütigen Angriffe des
mißtrauischen deutschen Liberalismus. Es ist bemerkenswert, daß H. von Treitschke
zuerst und allein aus seinem Lager in das des großen Mannes überging. In
dem Bruderkriege von 1866, dessen jedes deutsche Herz mit Wehmut gedenkt,
folgt man doch am liebsten den Wegen Bismarcks, der nach dein glänzenden
Siege bei Königgrätz das erlösende Wort spricht: „Die Streitfrage ist also
entschieden; jetzt gilt es, das alte Verhältnis mit Österreich wiederzugewinnen,"
der zugleich mit dem äußern Frieden den innern im Lande vermittelt und den
Norddeutschen Bund als eine Großmacht hinstellt. Hat er allein doch vier Jahre
lang, während die Welt im Frieden lag, nicht nur gegen welfische Feindschaft,
sondern auch gegen die Ränke des erbitterten französischen Kaisers einen Depescheu-
krieg sühren müssen, bis dieser, jedoch nicht durch ihn, sondern allein durch
seine eigne Nation, zu einem Kriege gedrängt wurde, der dem neugebornen
Deutschland unsterblichen Ruhm und seine Wiederherstellung als Kaiserreich
eintrug. Wie in der Darstellung des deutschen Krieges die Schilderung der
Schlacht bei Königgrätz und der ersten Seeschlacht zwischen Panzerschiffen bei
Lissa, so ist im deutsch-französischen Kriege die Erzählung der Kämpfe und der
Kapitulationen von Sedan, Metz, Straßburg und Paris von ganz besondrer
Schönheit.
Die Geschichte der letzten zwanzig Jahre wird den Leser am meisten fesseln.
Seitdem Deutschland die Vormacht in Europa geworden ist, wahrt es durch
das Dreikaiserbündnis den Weltfrieden und wehrt nicht nur die Revanchegelüste
Frankreichs ab, sondern nötigt auf dem Berliner Kongreß von 1878 sogar
den russischen Bundesgenossen, seine Forderungen nach der Niederwerfung der
Türkei zu Gunsten Österreichs und Griechenlands einzuschränken; dabei gewinnt
es gleichzeitig durch den Dreibund Österreich und Italien zur gemeinsamen
Abwehr gegen Rußland, falls dieses die Waffen gegen eine von den drei
Mächten erheben sollte. Wohl war diese neunzehnjährige Friedenspolitik zu¬
meist das Werk des unermüdlichen deutschen Reichskanzlers, den O. Kaemmel
als „die höchste Verkörperung des deutschen Wesens seit Luther" bezeichnet,
aber eine überaus feinsinnige Charakteristik des Kaisers und seines Ministers
(S. 400 ff.) zeigt uns deutlich, wie jener stets im vollen Sinne der Herr
blieb und alle Fäden doch schließlich in seiner Hand zusammenliefen, deren
Unterschrift stets nur nach sorgfältigster Prüfung gegeben wurde.
Vervollständigt wird dies Lichtbild einer langen Friedenszeit durch den
innern Ausbau des Reichs in militärischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und
sozialer Beziehung, der schließlich zu einer beispiellosen Vermehrung der
Bevölkerung und Erhöhung des Wohlstands geführt hat. Die Darstellung
der „wirtschaftlichen Lage in Deutschland" (S. 538) giebt den besten Beweis
von der Wahrheit des geschichtlichen Satzes, den vor wenigen Wochen einer
der größten Industriellen (Woermann in Hamburg) in Berlin aussprach, daß „die
politischen von den wirtschaftlichen Fragen absolut nicht zu trennen" seien, daß
vielmehr „die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes niemals ohne politische
Machtstellung erfolgt" sei. Freilich ergeben sich daraus Verpflichtungen, die
weit über die Grenzen unsers Vaterlandes hinausgehen. Das reichhaltige
Kapitel (S. 467—521), das von dem „Wettstreit der Kolonialmächte" handelt,
spricht schon von den ersten Anfängen der deutschen Kolonisationsbestrebungen
seit 1384 und läßt die Notwendigkeit voraussehen, noch weitere Machtschritte
zu thun. Noch niemals ist uns eine so knappe und doch alles wesentliche
klar hervorhebende Zusammenfassung dieses ungeheuer« Stoffes begegnet.
Kaemmel schildert zunächst Nußland, England und Frankreich in Asien, bespricht
sodann die selbständig gebliebner ostasiatischen Mächte, insbesondre die merk¬
würdige Europäisirung Japans seit 1868 und wendet sich dann zu einer aus¬
führlichen Schilderung der „Teilung Afrikas." Dabei scheiden sich übersichtlich
drei Gruppen von Ereignissen: die Vorgänge im Nordosten (Ägypten, Tunis,
Abessinien bis zum Frieden von Abif Abeba 1896), in Zentralafrika (ein¬
schließlich der deutschen Besitzergreifungen bis zu den Abgrenzungsverträgen
von 1830) und in Südafrika von den englischen Kaffernkriegen und der Be¬
gründung der Boerenstaaten an bis zum Gefecht von Krügersdorp 1896.
Den Schluß des Kapitels bildet eine kurze Darstellung von der Besiedlung
des australischen Festlandes und der Besitzergreifung der Südseeinseln.
So erweitert Kaemmel den wenig schwankenden Begriff der Weltgeschichte
in einem, soviel uns bekannt ist, vollkommen neuen Sinne. Obwohl er die
Darstellung der großartigen Wellenbewegung auf dem Gebiete der politischen
Macht, des geistigen Fortschritts, des künstlerischen Erfinders und Empfindens,
sowie des maßgebenden Einflusses heldenhafter Persönlichkeiten von Gottes
Gnaden nirgend verabsäumt, verliert er doch nie die eigentümliche Entwicklung
der Nationen nicht nnr Europas, sondern der gesamten Welt aus den Augen.
Überall stellt er die unabweisliche Erweiterung ihres wirtschaftlichen und
geistigen Besitzes in den Vordergrund seiner Betrachtung, die er meistens mit
geistvollen „Ergebnissen und Aussichten" abschließt. Der Blick des deutschen
Lesers wird mit besondrer Vorliebe doch immer an den Ergebnissen und Aus¬
sichten haften, die ihm die Geschichte des Vaterlands eröffnet. Der Verfasser
versagt sich — was man selbstverständlich finden wird — die Darstellung der
letzten neun Jahre deutscher Geschichte seit Kaiser Wilhelms II. Thronbesteigung
und schließt diese mit der erschütternden Tragödie der 99 Tage wirkungs¬
voll ab.
Am Ende des ganzen Werkes wirft er noch einen Blick in die Zukunft.
„An den Sieg des Nativnalitätsgedankens und die Ausbildung der Welt¬
wirtschaft schließt sich der gewaltige Kampf um eine neue Verteilung des
Anteils an dieser Weltwirtschaft, d. h. an der Weltherrschaft. Schon haben
sich drei ungeheure wirtschaftliche Körper gebildet oder sind in der Bildung
begriffen: das russische Reich, eine zusammenhängende Lündermasse von der
Ostsee bis zum Großen Ozean, das über alle Erdteile zerstreute britische Welt¬
reich und die amerikanische Union zwischen den beiden wichtigsten Ozeanen der
Erde. Sollen die übrigen Nationen dem Drucke dieser drei riesigen Macht¬
bildungen nicht erliegen und aufhören, Großmächte im wahren Sinne des
Wortes zu sein, so müssen sie mit aller Kraft ihren Anteil an der Welt zu
vergrößern suchen und den unversöhnlichen Gegensatz, in dem die beiden
stärksten Machtbildungen stehen, benutzen, um sich selbst Raum zu schaffen."
Gerade weil diese unabsehbaren Kämpfe bevorstehen, glaubt Kaemmel weder
an ein Zurücktreten der nationalstaatlichen Gestaltung, da alle Großmächte
auf nationaler Grundlage beruhen, noch an eine Steigerung der parlamen¬
tarischen Macht, da diese zur Leitung einer Weltpolitik unfähig und überall
im Verfall begriffen ist, noch vollends an einen Sieg der Sozialdemokratie,
da ihr Ideal der menschlichen Natur und der gesamten Entwicklung wider¬
spricht, und er sieht den Sieg der Völker voraus, die von einer starken Monarchie
und einer wahren Aristokratie geleitet werden. Andrerseits hofft er auf eine
sich schon kräftig ankündigende Belebung des religiösen Gedankens, da „auf
der Grundlage des Pessimismus und Materialismus eine befriedigende und
befreiende Weltansicht niemals entstehen kann."
er Tod des gefeierten Romanschriftstellers Alphonse Daudet hat
in das litterarische Frankreich eine Lücke gerissen, die bei der
scheinbaren Ermattung und Unfruchtbarkeit der führenden Geister
schwer ausgefüllt werden kann. Es ist deshalb erklärlich, daß
die französischen Zeitungen und Zeitschriften aller Schattirungen
nicht müde werden, die litterarische Bedeutung Daudcts, seinen nationalen
Charakter und seine persönlichen Eigenschaften lobend hervorzuheben und seinen
Tod als einen großen geistigen Verlust für Frankreich zu beklagen. So über-
schwänglich auch manche Charakteristiken ausgefallen sind, und so phrasenhaft
und nichtssagend auch manche Lobpreisungen klingen, so ist bei dieser Gelegen¬
heit doch auch manches vortreffliche Urteil über Daudet ausgesprochen worden.
Von Männern wie Emile Faguet, Jules Lema!tre und Ren6 Doumic konnte
man auch schon eine unbefangne Kritik und eine gründliche ästhetische Wür¬
digung dieses freilich nicht leicht zu erklärenden Schriftstellers erwarten. Aber
auch diese Schriftsteller haben sich in ihren Aufsätzen — im ^ouriM clef
DsbatL (18. Dezember 1897), im ?iMio (20. Dezember 1897) und in der
Növruz as« cieux Nonclös (15. Januar 1898) — darauf beschränkt, Daudets
Stellung und Einfluß innerhalb der französischen Litteratur nachzuweisen, ohne
einen Blick über die Grenze nach andern Ländern zu werfen. Sie mögen das
wohl weniger aus nationaler Bescheidenheit gethan haben als aus dem Grunde,
weil ihnen das litterarische Leben des Auslands in seinen einzelnen Strö¬
mungen, Sympathien und Antipathien unbekannt oder uninteressant ist. '
Auch das Ausland hat mit Alphonse Dandet einen liebenswürdigen
Schriftsteller verloren. In England und in Amerika giebt es große Gemeinden/
die für Daudet begeistert sind, und eine der besten litterarischen Würdigungen!
die ich über ihn gelesen habe, stammt aus der Feder des bekannten Schrift¬
stellers Henry James in seinen ?g.rtiiü xortr-nes (London, 1888). Nicht
weniger zahlreich siud Daudets Freunde in Deutschland, obgleich wir Deutsches
allen Grund hätten, mit ihm recht unzufrieden zu sein; denn es giebt kaüni
einen zweiten französischen Schriftsteller, den die Erfahrungen des schrecklichen
Jahres mit so finsterm Groll gegen Deutschland erfüllt und zu so ungerechten
Anklagen gegen unser Volk getrieben hätten wie ihn. Vor allem sind Daudet
die Bayern bis in die Seele verhaßt; er läßt keine Gelegenheit vorübergehen,
sie mit Schmähungen zu überhäufen. So sagt er z. V. in den Lontss an
lunäi: Trotz allem, was man seit einigen Jahren über den französischen
Chauvinismus geschrieben hat, über unsre patriotischen Dummheiten, unsre
Eitelkeit, unsre Prahlereien, glaube ich nicht, daß es in Europa ein so hohles,
ruhmgicriges, eingebildetes Volk giebt wie die Bayern. La. doues xstlls
distoirs, äix paZss äswollsss as 1'lüstoirs as 1'^IIsniÄAns, s'vois äans Iss
russ as Nunieli, giMntvscjus, äisxroportivnnvs, tout su xsinturss et su
Monuments, oomme un as öff livrss ä'strsnnss ein'vo äonns MX snkMts:
xsu as tsxts se bsMeoux ä'imgZss (S. 330). Auch die alberne Legende
von der Pendülen-Kleptomanie der deutschen Soldaten stammt hauptsächlich von
Daudet, und die boshafte aber wenig witzige Geschichte ?frau1s as NouAival
läßt er bekanntlich in München bei dem Professor Otto de Schwanthaler
spielen. Ebenso unerquickliche, von Chauvinismus triefende Schilderungen
enthält sein Roman Rodsrt, Relmont, aus der Zeit der Pariser Belagerung.
Daudet hat sich leider von der niedrigen Rcvancheschriftstellerei nicht immer
frei gehalten, die mit den Jahren gewaltig ins Kraut gewachsen ist. Wer sich
darüber näher unterrichten will, den verweise ich auf die vortreffliche Arbeit
von Eduard Koschwitz: Die französische Novellistik und Romanlitteratur über
den Krieg von 1870/1871 (Berlin, 1893), worin auch Daudet als Revanchc-
schriftsteller charakterisirt ist.
Hätte ein deutscher Schriftsteller derartige Bosheiten gegen Frankreich
ausgesprochen, so wäre er dort für alle Zeiten gerichtet, auf keinen Fall würde
man seine Schriften, und wären sie auch noch so berühmt, als Lektüre in den
Schulen einführen. Wir sind in dieser Beziehung weniger reizbar; wir ge¬
raten über dergleichen Ausfälle eines überwundnen Gegners nicht in den
Harnisch, weil noch etwas von der behaglichen Menschenliebe unsrer Altvordern
in uns lebt, die jedem Verurteilten erlaubte, vierundzwanzig Stunden un¬
gestraft über seine Richter zu schimpfen. Wir finden den furchtbaren Haß,
der Daudets patriotische Seele erfüllte, erklärlich; wir verstehen seinen Schmerz,
seine innere Zerrissenheit, seine leidenschaftlichen Ausbrüche über den Sturz
feines Vaterlandes, und unsre Entrüstung verwandelt sich in Nachsicht, in
Mitgefühl. Ans diese menschliche Verirrung Daudets passen Geibels Verse:
Keiner
Gehört in Haß und Liebe nur sich selbst.
Ein Zauber webt im Dunstkreis, den wir atmen,
Und sucht von ewig gleichem Hauch umwittert,
Verwandelt sich dus Herz uns in der Brust.
So ist denn Alphonse Daudet, trotz seines Deutschenhasses, bei uns nicht nur
ein viel gelesener Dichter, er ist sogar als klassischer Schriftsteller in unsre
Schulen gedrungen, und die Pädagogen sind sich längst darüber einig, daß
manche seiner kleinen Erzählungen und Stimmungsbilder wahre Muster einer
wirkungsvollen, geiht- und gemütbildenden Lektüre sind. Die französischen
Kritiker hätten also allen Grund gehabt, auch die internationale Bedeutung
Daudets hervorzuheben und seinen wohlthätigen Einfluß auf das litterarische
Leben andrer Kulturvölker als einen wesentlichen Ruhmestitel zu preisen.
Daudet hat als Schriftsteller glänzende Erfolge gehabt, aber als Mensch
hat er die Bitterkeiten des Lebens gründlich durchkosten müssen. Eine kümmer¬
liche Kindheit in Nimes und Lyon, völlige Verarmung der Eltern, unzuläng¬
liche Ernährung, gezwungner Verzicht auf den Abschluß seiner Schul¬
bildung, das waren seine Erinnerungen an das Elternhaus und an seine
Jugend. Und dann als schrecklichste Erinnerung sein trauriger Versuch, sich
als plein oder Jnternatsadjunkt in dem College des Städtchens Alers eine
Lebensstellung zu verschaffen, wo er, das schmächtige und unscheinbare Männchen,
von den übermütigen Jungen fast zu Tode geärgert wurde. Mit welcher
Sehnsucht sah er, der sich zu höhern Dingen, als Nüpelu Anstand und Sitte
beizubringen, berufen glaubte, nach dem Eldorado aller emporstrebenden Geister,
nach Paris! Wie beneidenswert erschien ihm das Los seines altern Bruders
Ernest, der als Journalist an einer Pariser Zeitung beschäftigt war und sich
eine — nach der Meinung des armen Alphons — großartige Stellung er¬
rungen hatte! Endlich schlug anch für den kleinen geplagten Schulmeister die
Erlvsuugsstunde. Ernest ließ ihn nach Paris kommen, und kaum spürte
Alphons die Pariser Luft, so löste sich auch der Bann von seiner jungen
Seele, und das unscheinbare Pflänzchen seiner Poesie, das so lange versteckt im
Schatten gestanden hatte, fing an zu treiben und zu blühen. Die Großstadt¬
luft brachte seine dichterischen Fähigkeiten zur Entfaltung. Er trat nicht mit
stürmischer Leidenschaft, mit genialen Entwürfen und titanischen Kraftproben
auf den Schauplatz; sein Erstlingswerk, das er als Achtzehnjähriger im Jahre
1858 unter dem Titel I^L ^inoai'anso» veröffentlichte, war eine Sammlung
anspruchsloser, aber in anmutigen und wohlklingenden Versen gcschriebner
Gedichte, von denen nur wenige, wie l?um<; bekannter geworden sind.
Dennoch sollten diese unscheinbaren Gedichte der Anfang einer glänzenden
litterarischen Laufbahn sein; sie erregten das Interesse der Kaiserin Eugenie,
und Daudet wurde Sekretär des Herzogs von Morny, der als Napoleons
Halbbruder ein Mann von großem Einfluß war. Bald gründete sich der junge
Schriftsteller einen eignen Herd, und an der Seite einer vortrefflichen Frau
fand er endlich das ersehnte Glück. Da kam der große Krieg mit allen seinen
entsetzlichen Folgen für Frankreich. Daudet griff selbst zu den Waffen und
lerute die Rat- und Hilflosigkeit des französischen Heeres aus eigner An¬
schauung gründlich kennen. 0n nous -lo-ut tant invnti, Wut. jous! Aber
sein schöpferischer Geist schien neue Kräfte bekommen zu haben. In ziemlich
rascher Folge erschienen seine großen Romane: Vronmnt, jvnuv or Ri8lkr -Mi^
'1'u.nu.rui c>« 'lMs«<zon, «s»ok, 1^6 Mdsb, Zuss liois su sxil, Arun» Rownsswn,
I/IZvWMÜstö, Liiviu), I.'I!N1>U>>I>^ Doch schon bei den vier letzten war das
Verhängnis über ihn hereingebrochen. Ein unheilbares Leiden, das ihn, wie
Heine, in die Matratzengruft bannte, machte ihn zu einem hilflosen Manne.
Und derselbe Daudet, der kein schöneres Vergnügen kannte, als mit dem Ränzel
ans dem Rücken und dem Knotenstock in der Hand durch das Land zu streifen,
lag fast zwanzig Jahre lang gelähmt da und siechte langsam dahin, bis er
am 16. Dezember des vorigen Jahres im Alter von 57 Jahren durch den
Tod erlöst wurde.
Zola hat Daudets Grabrede gehalten und deu Schriftsteller und Freund mit
wenigen Strichen zu zeichnen versucht. Daudet habe deu Geist seiner Zeit begriffen
und an seinem Teile dazu beigetragen, die allgemeine große Bewegung des Jahr¬
hunderts nach der richtigen Erkenntnis der Wirklichkeit, nach der Enthüllung der
Wahrheit auch auf dem Gebiete der Litteratur zu kräftigen und zu beschleunigen.
Wenn Zola aber die Sache so darstellte, als sei Daudet ein überzeugter Anhänger
oder ein Schildträger der naturalistischen Schule gewesen, so ist er damit weit
über das Ziel hinausgeraten. Daudet hat sich stets dagegen gewehrt, in ein
litterarisches Schubfach gesteckt zu werden. Alles Theoretisiren über das
Wesen, den Zweck und die Mittel der Kunst war ihm zuwider. Er erkannte
sehr wohl, daß das lärmende Gebahren der naturalistischen Kritiker nur daraus
ausging, auf dem litterarischen Markte für ihre minderwertige Ware Platz zu
schaffen, und daß alle neuen Glaubensartikel nur dazu dienten, den Mangel
an schöpferischer Phantasie durch Surrogate aus den exakten Wissenschaften zu
ersetzen, d. h. aus der Not eine Tugend, aus der künstlerischen Armut ein wissen¬
schaftliches Verdienst zu machen. ?1us on avAnos clans notrs in6tisr, sagt
Daudet, xlus on s'avsihoit an'on litterature xas xlu8 «zu'su xsirckurö se su
musiciuö, it n'^ g. ä'öoolö: it ^ veux <mi ont ein tslövt et «Kux <M n'su
out xg>s.
Alle die hochtrabenden Redensarten und künstlerischen Theorien von der
Beobachtung und dem Experiment oder der Analyse, von dem Determinismus
der Erscheinungen, von den menschlichen Dokumenten, von dem Mechanismus
der Leidenschaften, den Gesetzen der Vererbung und des gesellschaftlichen
Milieus waren für ihn leerer Schall. Es giebt keine alleinseligmachende Art
von Kunst; es giebt Künstler und es giebt Pfuscher. Der wahre Künstler ist
eine Welt für sich, er braucht keine ästhetischen Krücken, keine kritischen Helfers¬
helfer, keine litterarische Partei, die von den Strebern, den Dummen und
Faulen gemacht wird. Es galt Daudet auch für die Litteratur, was er in
seinem Roman Robvrt Hvlmont. von dem politischen Parteiuuweseu sagt:
O Politik, wie ich dich hasse! Ich hasse dich, weil du roh, ungerecht, markt¬
schreierisch und geschwätzig bist, weil du die geschworene Feindin der Kunst
und jeder ausdauernden Arbeit bist, weil du unter allen möglichen Vorwänden
nur dem Strebertum, der Dummheit und Faulheit dienst. Du machst die
Sehenden blind, du stachelst die Leidenschaften auf, trennst die edeln Herzen,
die für einander geschaffen sind, und bringst die zusammen, die gar nicht für
einander taugen. Du vernichtest das Gewissen, du machst die Lügen'und
Winkelzüge zur Gewohnheit; dir ist es zu danken, daß ehrliche Männer zu
Freunden von Spitzbuben werden, weil sie zufällig derselben Partei angehören.
Ich hasse dich, weil du in unsern Herzen die Vaterlandsliebe getötet hast! Ich
hasse dich, weil du den fürchterlichen Ausspruch Heinrich Heines zur Wahrheit
gemacht hast: In Frankreich giebt es keine Nation mehr, dort giebt es nur
noch Parteien.
Daudet ist ein viel zu gescheiter Mann gewesen, als daß er sich einer
politischen oder litterarischen Partei hätte anschließen sollen. Und gerade diese
Unabhängigkeit hat ihm die Frische, die Klarheit und Beweglichkeit erhalten,
die selbst in seineu letzten Schöpfungen noch zu spüren sind, obwohl sich schon
die Schatten des Todes darüber verbreiteten. Daudet ist also kein Partei¬
gänger des Naturalismus. Man könnte ihn mit demselben Rechte zur
idealistischen wie zur realistischen Schule reichen; denn er befriedigt die Leser
eines Erckmann-Chatrian, Feuillee. Theuriet und Cherbuliez ebenso wie die
eines Zola und Manpassant. In einer Eigenschaft, der scharfen Beobachtung,
dem Wirklichkeitssinn schließt sich Daudet freilich an die Träger des realistischen
Romans, an Stendhal, Balzac, Flaubert und die Gebrüder Goncourt an. Er
machte sich den Grundsatz der Goncourts zu eigen: 0n n<z t'ait bien <zu<z o«z
on'on g, vu, und baute sich nicht, wie die Idealisten, eine eigne phantastische
Welt. Daudet ist ein seiner Beobachter des Menschen, er hat für die Eigen¬
tümlichkeiten, und wären sie noch so versteckt, ein scharfes Ange: eine Hand-
bewegung, ein Zucken im Gesicht, eine Äußerung genügt ihm, den ganzen
Menschen zu zeichnen. Wie der Naturforscher aus der Struktur einer Holz¬
faser auf die Natur des ganzen Baumes schließt, aus dem Bau eines Zahns
auf die ganze Lebensweise eines Tieres, so konstruirt sich Daudet seine Ge¬
stalten aus scheinbar unbedeutenden Beobachtungen. Ohne diese Einzelheiten
der Charakterzüge zu haben, beginnt er kein Werk; sein Notizbuch, sein Zettel¬
kasten muß ihm das positive Material liefern- Er spricht an einer Stelle
selbst über seine Arbeitsweise: Wie die Maler sorgfältig ihre Skizzenbücher
aufbewahren, worin Köpfe, Stellungen, eine Verkürzung oder Bewegung des
Armes nach dem Leben gezeichnet sind, so sammle ich seit Jahren eine Menge
kleiner Hefte, sur löLauizls Iss rsinarquös, iss pönssos n'our xartois ein'uns
ki^ruz 86rrv6, av cjnoi so raxvolor rin Zesto, uns Intonation, (^voloxnos,
kArMäis xws tara xour 1'lig.imoniö as 1'ozuvro iinxorwnts.
In der Art der Beobachtung schließt sich Daudet also ziemlich eng an
die Methode der realistischen Schriftsteller an. Die Menschen, die er uns
vorführt, hat er wirklich gesehen, beobachtet, studiert; die meisten seiner Ge¬
schichten hat er selbst erlebt. Das ganze Stadtviertel arbeitete für mich, sagt
er, als er seinen Roman Vromont jours ot L.islsr fiir^ schrieb. Er sah die
ganze Fabrik vor sich liegen, beschrieb die aus- und eingehenden Fabrikmädchen
genau, wie er sie sah, beobachtete den alten Besitzer, der eins der jungen
Mädchen zu seiner Frau gemacht hatte, den jungen Kompagnon, der dieselbe
Sidonie, diese leichtfertige, infame Pariser Pflanze schon früher geliebt hatte —
und der Kern der Geschichte war da. Aber wie er diese Geschichte aufbaut,
dramatisch steigert, psychologisch vertieft, wie er den Leser fesselt und in die
größte Spannung versetzt, in seiner Seele alle Empfindungen von Furcht und
Mitleid, von Beifall und Entrüstung wachruft, das hat Daudet nicht von
der kalten beschreibenden Experimentalmethode der Naturalisten gelernt, das ist
sein eignes Werk, das ist das Geheimnis seiner Kunst, das ist die Arbeit
seiner Phantasie und seines Herzens.
Damit kommen wir zu den charakteristischen Merkmalen, die diesen Schrift¬
steller vor allen andern auszeichnen, und in denen er in dem vollständigsten
Gegensatz zu Zola und seiner Schule steht. Drei besondre Züge sind uns
an Daudets litterarischem Bilde immer wieder aufgefallen, so oft wir seine
Werke in die Hand nahmen: seine absichtlich verhüllte, aber doch immer wieder
in allen Werken leise hervortönende lyrisch-romantische Stimmung, sein starkes
Heimatgefühl, das ihn auch im verwirrenden Treiben der Großstadt immer
wieder nach dem Lande seiner Kindheit, nach der Provence zurückführt, und
endlich ein Zug, der bei französischen Schriftstellern selten zu finden ist, der
menschen- und welterlösende Humor, der Humor, der uns Deutschen als die
köstlichste Blüte aller Dichtung erscheint. Ein Kritiker nennt Daudet 1s Ms
«IiÄstv 6s N08 romMoiers, und in der That müssen wir sagen, daß sich Daudet
vou allen widerwärtigen Szenen ferngehalten hat. Er wußte, daß zum
Schmutzmaler, zum artists 6v oräurs, nicht viel mehr gehört als eine gute
Portion von Schamlosigkeit, und daß es unwürdig ist, seine Kunst nach den
rohen Instinkten der Masse zu richten. Daher bleibt ihm selbst bei den ver¬
fänglichsten Stoffen etwas von der keuschen Poesie, die seine ^inourousos, seine
Phantasien, wie die Geschichten vom Rotkäppchen und von den Friedhofs¬
nachtigallen, und seine I^etres 6s mein Norilin auszeichnen. Wie echt roman¬
tisch ist die kleine Geschichte I^Sö Mönch von dem jungen provenzalischen
Schäfer, der auf seinem einsamen Bergland von der schönen Stephanette träumt,
der Tochter seiner Herrin! Wie einfach und doch wie poetisch erzählt der
Schüfer ihr Zusammentreffen: „Also hier lebst du, mein armer Schäfer? O,
wie mußt du dich langweilen, immer so allein zu sein! Was machst dn denn?
An was denkst du deun?" — „Ach, ich hätte so gern geantwortet: An Euch,
meine Herrin, und es wäre keine Lüge gewesen; aber meine Verwirrung war
so groß, daß ich nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte." Stephanette
ist gezwungen, die Nacht ans dem Berge zu bleiben. Sie wird müde und
schläft, an seine Schulter gelehnt, ein. „Und ich, ich sah auf die schlum¬
mernde, und das Herz pochte mir, aber mich hütete die Nacht, die klare Nacht,
die immer nur gute Gedanken in mir erweckt hat. Um uns wandelten die
Sterne weiter auf ihrer stillen Bahn, folgsam wie eine große Herde, und denn
war es mir, als ob einer dieser Sterne, der schönste und glänzendste, seinen
Weg verloren habe und zu mir gekommen sei, sich an meine Schulter zu
lehnen und zu schlafen." Damit schließt dieses kleine Meisterstück.
Die naturalistischen Kritiker haben Daudet wegen dieses lyrisch-roman¬
tischen Zugs den Vorwurf gemacht, daß er die menschliche Natur falsche M
lui xrZtÄnt ass graess se ass vsrtus iingAmg-iros. Ja, was hätte Wohl Zola
oder Maupassant aus dieser Nachtszene auf dem einsamen Berge gemacht! Daudet
behält immer etwas von dem empfindsamen Wesen des unscheinbaren, schüch¬
ternen, liebenswürdigen Daniel Eyssette in I>s?seit elwss, dessen Lebensgeschichte
seine eigne Jugendgeschichte ist. Als der kleine Dingsda seine Heimat verlassen
muß, geht er noch einmal in den Garten und spricht mit den Bäumen, den
alten Genossen seiner Träume: „Nun ist es aus, wir werden uns nicht mehr
wiedersehen. Im Garten stand ein Granatbaum, dessen schöne rote Blüten sich
vor den Strahlen der Sonne aufthaten. Ich sagte schluchzend zu ihm: Gieb
mir eine von deinen Blüten. Er gab sie mir. Ich legte sie mir ans Herz
zur Erinnerung an ihn."
Das ist ein wenig sentimental, rührselig, es wird in Daudets Geschichten
überhaupt viel geweint, aber gerade dieser Zug von Sentimentalität, den alle
realistischen und naturalistischen Schriftsteller als eine romantische Schwäche,
als eine Albernheit verabscheuen, giebt den Daudetschen Romanen ihren eigen¬
tümlichen Reiz. Und Jules Lemattre hat nicht so unrecht, wenn er in seinen
00mes!nxc»rg.in8 (II, 279) sagt: „Die Seele dieses lieben kleinen Dingsda, der
keine glückliche Kindheit gehabt hat, und der so freundliche und zärtliche Träume
träumt, schwebt leicht auch über den wirklichen Romanen Daudets, dringt hier
und da tiefer ein, bringt eine gewisse Erregung in die Geschlossenheit der Ge¬
mälde und fügt zu der genauen Beobachtung eine solche Menge seltner und
feiner Einzelheiten, daß sie, ohne jedes andre Kunstmittel, die Wirklichkeit in
dichterische Phantasie verwandelt." Die Vorschrift, das Ich aus dem Spiele
zu lassen und ganz unpersönliche Schilderungen zu geben (nsutralitä adsolus
as l'autour), erkannte Daudet niemals an. Wo er seine persönliche Sym¬
pathie zu diesen oder jenen Gestalten zeigen will, da thut er es. Als der
Pensionatsvorsteher Moronval in dem Roman ^ok die verkommne Gesell¬
schaft von Philosophen und Künstlern zu sich eingeladen hat, und diese sich
einfindet, da heißt es: „Auf ihre abgeschabte Erscheinung war soviel Elend
geschrieben, daß man trotzdem etwas Rührung empfand vor dem fieberhaften
Glanz dieser von Illusionen trunkner Augen, vor diesen verwüsteten Gesichtern,
auf denen alle besiegten Träume, alle erstorbnen Hoffnungen eingetragen waren."
Ähnliche Beispiele sind in allen Romanen zu finden.
(Schluß folgt)
Unter diesem Titel hat ein Newyorker Kaufmann, Gustav
Müller, bei E. Hauff (Fr. Frommann) in Stuttgart (1897) ein kleines Buch (mit
dem Untertitel: Studien eines Praktikers) herausgegeben, das mich einigermaßen
angeht, da der Verfasser darin meine kleine Volkswirtschaftslehre, bald beistimmend,
bald dagegen polemisirend, sehr häufig erwähnt. Er behandelt in dreizehn Kapiteln
die Themata: Reichtum, Kapital, produktiven und unproduktiven Verbrauch, Lohn,
Gewinn. Rente, Wert, Geld. Produktivität der Nationen, Welthandel, Freihandel
und Zollschutz, Krisis, Grenzen des Reichtums. Der Inhalt fällt also großenteils
mit dem meines Buches zusammen, und in einigen Stücken, die ins kaufmännische
Fach fallen, ergänzt er dieses, S 79 hatte ich die argentinische Anleihe als ein
Beispiel dafür angeführt, daß bei einem Krach das Weltvermögen unvermindert
bleiben könne, wenn auch das Vermögen des Glänbigerlandes geschädigt wird.
Müller erklärt S. 230 meine Auffassung des Vorgangs für falsch: es sei nicht
Bargeld, sondern eine Menge von Materialien nud Werkzeugen zu Eisenbahnbauten
nach Argentinien geschafft worden; diese Dinge seien, weil sich die Bahnen nicht
rentirten, nutzlos verschwendet, das Weltvermvgen sei also Wohl vermindert worden.
Ich nehme die Belehrung dankbar um, aber es war kein Grund für Müller vor¬
handen, an der Menschheit zu verzweifeln, weil sie Leute hervorbringt, die solche
Dummheiten wie ich zusammenschreiben. Denn die Sache, die ich erklären wollte,
bleibt unangefochten bestehen, nur in dem Beispiel, mit dem ich sie erläutern wollte,
habe ich mich vergriffen, verleitet durch Zeitungsnachrichten. Unsre Zeitungen haben
nämlich damals berichtet, das Geld sei überhaupt nicht auf produktive Anlagen ver¬
wendet, sondern von den dortigen Staatsmännern und ihrem Anhang in ihren
eignen Nutzen verwendet worden, was ja bei der bekannten Beschaffenheit südameri¬
kanischer „Staatsmänner" durchaus glaublich erschien. Das Wort „Bargeldschatz,"
das ich gebraucht habe, war freilich unglücklich gewählt, aber daß ich damit nicht
habe sagen wollen, die Milliarden seien vollständig in Gold nach Argentinien ge¬
schafft worden, konnte Herr Müller schon aus dem entnehmen, was ich S. 175
über die Kleinheit des Weltgoldschatzcs im Verhältnis zum Wcltkapital und über
die Art sage, wie die französischen Milliarden nach Deutschland übergeführt worden
sind; ich habe also bei dem Worte Bargeldschatz an Wechsel u. tgi. gedacht."')
Gerade in Geld- und Währungsfrage» und im Begriff des Vermögens herrscht
zwischen uns vollständige Übereinstimmung, ebenso in der Anerkennung der rela¬
tiven Berechtigung des Malthusianismus, in der Beurteilung des Schutzzolls und
in der Verwerfung des Luxus, dieses Wort in seinem strengsten Sinne genommen.
Müller übersieht aber, daß die heutige kapitalistische Welt zum guten Teil auf
dem Luxuskousum beruht. Denn die Staaten von alter Kultur entwickeln sich
mehr und mehr zu exportirenden Industriestaaten; was aber diese Staaten expor-
tiren, das dient zum allergrößten Teil dem Luxus. Müller hat ganz recht, wenn
er meint, ein Staat könne reich sein, ohne zu exportiren. Er huldigt dem Ideale
Adam Smiths, der das alte Ägypten und China als die glücklichsten Staaten ge¬
priesen hat, und dieses von Carey dann vollständiger beschriebne Ideal ist auch
meines. Die Vereinigten Staaten wären auch heute noch in der Lage, dieses
Ideal zu verwirklichen, ebenso Rußland, aber England, Deutschland und Belgien
können es nicht.
Müllers Einwürfe gegen mich beziehen sich hauptsächlich auf die Begriffe
.Kapital, Arbeitslohn und Rente. Wollte ich mich ausführlich mit ihm auseinander¬
setzen, so müßte ich uuznhligemal gesagtes noch einmal sagen. Ich beschränke mich
darauf, an zwei Proben zu zeigen, wie er daneben schießt. Ich habe gezeigt, daß
das Kapital in dem Sinne von naturaleu Kapitalgütern nicht durch Sparen, sondern
dnrch Arbeit entsteht, bemerke dann weiter (S, 155), daß dagegen das Kapital in dem
Sinne von Kapitalbesitz allerdings zum Teil dnrch Sparen gebildet wird, und füge
hinzu- „Insbesondre sind alle kleinen Kapitalisten Sparer. Das Kapital schaffen sie
dadurch nicht, sie bringen bloß einen Teil davon in ihre Gewalt, sie bewirken eine
Besitzverschiebuug." Müller leugnet nicht, daß es eine bloße Bcsitzverschiebnng sei,
wenn ich ein Wertpapier kaufe, aber er meint, der bisherige Besitzer dieses Wert¬
papiers werde für die freigewordne Summe eine neue Anlage suche» und das Geld
entweder unmittelbar in die Produktion stecken oder ein andres Wertpapier bannt
kaufen, und am Schlüsse der Kette von Käufern und Verkäufern, die ihre Wert¬
papiere wechseln, werde ganz gewiß einer stehen, der die empfangne Kaufsumme
auf Produktion verwendet, also Kapital schafft. Daß der Sparer einen Anstoß zur
Produktion erteilen, also mittelbar zur Kapitalschaffnng beitragen kann, leugne ich
durchaus nicht, aber Kapital schaffen und mittelbar zur Kapitalschaffuug beitragen
ist zweierlei; daß der Ankauf eines Wertpapiers keine kapitalschaffende Handlung,
sondern bloß eine Besitzübertraguug ist, bleibt eine unbestreitbare Thatsache. Und
jener mittelbare Anstoß zu neuer Kapitalbilduug ist keineswegs sicher und tritt
wahrscheinlich noch nicht einmal in der Hälfte der Fälle ein. Manchmal ist der
Verkäufer des Werlpapiers ein in Not geratner Mensch oder ein Verschwender,
der die Kaufsumme verbraucht. Manchmal ist er ein Spekulant, der bloß des
Kursgewinns wegen verkauft. Ju den übrigen Fällen hängt das Endergebnis
davon ub, ob das Land, worin der Besitzwechsel vorgeht, mit Unternehmerkapital
gesättigt ist oder nicht. Ist es nicht der Fall, dann steht der Zinsfuß hoch, es ist
überall Lust zu neuen Unternehmungen vorhanden, und jede ueugesparten tausend
Mark finden produktive Verwendung. Ist es aber der Fall, der Zinsfuß also
niedrig, dann werden die zufließenden neuen Sparkapitalieu in unsichere Unter¬
nehmungen und in exotische Anleihen gedrängt, wo sie größtenteils unproduktiv ver¬
schleudert werden. Von den Kapitalien der Grvßtapitalisten habe ich dann gesagt,
daß zu ihrer Entstehung und Vermehrung die etwaige Sparsamkeit der Besitzer
nichts erhebliches beitrage, und ich habe bemerkt: „Bei der ungeheuer» Größe der
Summen, die unsre heutigen Großkapitaliflen alljährlich gewinnbringend umsetzen,
ist es ziemlich gleichgiltig, ob einer zehntausend Mark mehr oder weniger ans seinen
Haushalt oder sein Vergnügen ausgiebt." Dagegen schreibt Müller: „Ich bestreite
absolut, daß es ziemlich gleichgiltig sei, ob einer zehntausend Mark mehr oder weniger
ans seinen Haushalt oder sein Vergnügen ausgiebt. Mit dieser Summe können im
heutigen Deutschland zehn Arbeiterfamilien ein Jahr lang haushalten usw." Ja,
das sage ich ja selbst bei jeder Gelegenheit seit zwanzig Jahren! Aber hier
handelte es sich doch nicht darum, wie die Einschränkung des Millivnärhanshalts
in volkswirtschaftlicher Beziehung wirkt, sondern ich habe nur gesagt: der jährliche
Vermvgeuszuwachs eines solchen Mannes ist so groß, daß zehntausend Mark mehr
oder weniger dabei keine Rolle spielen. Übrigens ist es noch die Frage, ob nicht
gerade dnrch die Einschränkung des Millionärs zehn Arbeiterfamilien ihr Ein¬
kommen verlieren, denn die Luxusartikel, die er zu verbrauchen unterläßt, werden
eben doch mich von Arbeitern gemacht, und es ist außerdem die Frage, ob das
produktive Unternehmen, worauf er das Geld verwendet, nicht wegen mangelnder
Rentabilität wieder eingeht und Leute brotlos macht; oder vielleicht ist es gerade
ein LuWsgeschäst, dessen Arbeiter nur bestehen können, wenn viel Luxus ge¬
trieben wird.
S. 112 schreibt Müller: „Einige Nationalökonomen, darunter mehrere Deutsche,
haben sich die geistreiche Bemerkung nicht versagen können, daß der Kapitalist über¬
haupt nichts vorschieße, daß höchstens der Arbeiter, der z. B. am Ende der Woche
abgelohnt werde, dem Kapitalisten Arbeit vorschieße," und bringt dann die bekannte
Begründung der gegenteiligen Ansicht: daß der Arbeiter ohne den Vorschuß des
Kapitalisten nicht leben könne, wenn er nicht selbst ein wenig Kapitalist sei. Müller
leugnet also nicht, daß es der Arbeiter ist, der etwas vorschießt, wenn er den Lohn
erst am Ende der Woche empfängt, aber er sieht es als das Normale an, daß der
Arbeiter den Lohn im voraus, also als wirkliche» Vorschuß empfange; geschehe das
nicht, dann müßte er beim Bäcker, Fleischer und Krämer borgen; und dann seien
diese die Kapitalisten, die ihm das Leben ermöglichten; also gehe es ans keinen
Fall ohne Kapitalisten. Ja, wo steht das denn geschrieben, daß jeder Arbeiter
unbedingt ein Lnmpenproletarier sein müsse, der verhungert, wenn ihm nicht irgend
jemand entweder den Lohn vorausbezahlt oder die Lebensmittel vorschießt? Die
Bauarbeiter an meinem Wohnort sind fast ausnahmslos Stellcnbesitzer oder Söhne
von solchen in den benachbarten Dörfern, die nicht bloß eine Woche, sondern einen
Monat und vielleicht ein Vierteljahr lang zu leben hätten, wenn sie so lauge auf
ihren Arbeitslohn warten müßten. Dasselbe habe ich auch schou bei Fabriken ge¬
sunden; so waren die Arbeiter der Offcuburger Spinnerei größtenteils Söhne und
Töchter von Landleuten der umliegenden Dörfer. Es ist kein Grund vorhanden,
warum uicht jeder Arbeiter ein solcher kleiner Kapitalist sein sollte, der sich nichts
vorschießen zu lassen braucht.
Müllers Polemik gegen mich hält mich nicht ab, sein Buch zu empfehlen; es
ist frisch und anregend geschrieben und liest sich angenehm. Man muß sich ja
darüber freuen, daß sich ein wirklicher Praktiker überhaupt mit dem Nachdenken
Unter dem sonderbaren Titel: Zur orga¬
nischen Güterverteilung hat Karl Kindermann, Doktor der Philosophie und
der Rechte und Privcitdozcnt in Heidelberg, zwei Bücher herausgegeben, die sich
mit den Verhältnissen je einer Arbeiterklasse beschäftigen: der Roheisenarbeiter der
Bereinigten Staaten und der Glasarbeiter Deutschlands und der Vereinigte» Staaten
(Leipzig, Duncker und Humblot, 1894 und 1896). Der Verfasser betrachtet nämlich
Deutschland und die große Republik als Vertreter zweier Gesellschaftssysteme, die
er das zentralistische und das pluralistische nennt. Diese beiden Ausdrucke bezeichnen
ungefähr dasselbe, wie die alten Ausdrücke absolutistisch und liberal, nur daß man
sich den Absolutismus noch mit ständischer Gliederung verbunden zu denken hat,
aber man muß dem Verfasser zugestehen, daß seine Auffassung und geschichtliche
Begründung der beiden Shsteme, wenn sie auch in der Sache nichts neues bieten
kann, doch durch die Kunst der Darstellung den Eindruck der Originalität macht,
und daß er es besonders versteht, den Gegensatz durch die Schilderung der von
ihm behandelten Arbeiterklassen zu erläutern. So heißt es S. 9: In der Union
„fühlt sich der Arbeiter im ganzen als ein selbständiger Mann; er hat auf der
gleichen Schulbank mit dem Unternehmersohn gesessen; im Beruf nud Staatsleben
kann er sich durch Fleiß und Talent leicht emporarbeiten; er benimmt sich gegen
seinen Arbeitgeber höflich, selten unterwürfig und mißtrauisch; das Wort Arbeiter
hat keine herabsetzende Bedeutung, man geht gern in die Fabrik. In Dentschlnnd
ist sich der Arbeiter seiner Untergebenheit bewußt; von Jngend an lebte er ab¬
gesondert von den Unternehmerkreisen; wegen seiner geringen physischen nud
psychischen Eigenschaften arbeitet er sich nnr selten empor; sein Auftreten gegenüber
dem Arbeitgeber ist vielfach demütig oder argwöhnisch; die Bezeichnung Arbeiter
hat etwas herabsetzendes; man liebt die Fabrikarbeit wenig und sucht sich, wenn,
irgend möglich, als Handwerker zu erhalten." Wie im ganzen Volke, so hat im
Arbeiterstande bei den Nordameriknnern die Panmixie große Gleichmäßigkeit, bei
den Deutschen die Absonderung und Inzucht starke Differenzirung erzeugt. Dort
steht der Durchschnitt der körperlichen und geistigen Begabung höher als in Deutsch¬
land; dagegen giebt es keine geistig so hoch stehenden Menschen und auch keine so
hoch qualifizirten Arbeiter wie bei uns, dafür aber auch keine solche Verkümmerung,
wie sie bei uns leider häufig ist. Die Verschmelzung beider Völker mit ihren
eigentümlichen Einrichtungen würde nach Ansicht des Verfassers „ein rein orga¬
nisches Volk" geben. (Wir wollen über die Berechtigung der Bezeichnung „orga¬
nisch" nicht streiten, aber wenn sie einmal gewählt war, so sehen wir nicht recht
ein, warum sich der Verfasser für den Titel „organische Güterverteilung" entschieden
hat, da es sich doch um weit mehr als bloß um die Güterverteilung handelt.)
Kindermcmn glaubt, daß unsre Zeit dieser „organischen" Verfassung zustrebe, daß
aber auch diese, wenn sie hergestellt sein werde, ihre eigentümlichen Übel erzeugen
werde. Was die Lage der Glasarbeiter betrifft, von der man wohl auf die der
Lohnarbeiter in den übrigen Industrien schließen darf, so wird nachgewiesen, daß
in Nordamerika die Löhne bei einzelnen Unterabteilungen dieser Arbeiterklasse viermal,
im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch stehen. Durch den höhern Preis einzelner
Güter, wie der Wohnungen, dnrch das Fehlen der Wohlfahrtseinrichtungen, deren
sich viele deutsche Arbeiter erfreuen, nud durch die UnWirtschaftlichkeit der amerika¬
nischen Hausfrauen wird dieser Vorteil bedeutend vermindert; die sehr genaue,
auf naturwissenschaftlicher Grundlage aufgebaute Berechnung des Verfassers ergiebt
ein durchschnittliches Übergewicht von 60 Prozent für den amerikanischen Glas¬
arbeiter, und das fällt schon ins Gewicht; der amerikanische Arbeiter lebt besser
als der deutsche, macht im Durchschnitt weniger Schulden und spart trotz lieder¬
lichern Lebens mehr, sodaß er leichter auf das Sprungbrett gelangt, von wo er
sich in die Kapitalistenklasse emporschwingen kann. Der Stoff für die Arbeit ist
mit großem Fleiß gesammelt und mit der strengsten wissenschaftlichen Sorgfalt und
Sauberkeit bearbeitet worden. Außer Behörden, wie dem badischen Finanzminister
Buchenberger, dem statistischen Bureau in Karlsruhe und den Regierungsbehörden
zu Straßburg und Trier haben fünf Arbeiterorganisationen, einundzwanzig Unter¬
nehmer und vierundsiebzig Arbeiter Beiträge geliefert; die Veitragenden werden
alle namentlich angeführt. Der Unterschied der beiden Systeme macht sich, wie der Ver¬
fasser darlegt, auch schou bei einer solchen Stoffsammlung dadurch bemerkbar, daß sich
der Saiuniler in Amerika mehr an die Arbeiter, in Dentschland mehr an die Unter¬
nehmer nild die Behörden halten kann und muß, und daß dort, wo die Arbeiter selbst
von den Behörden in die statistische Thätigkeit hineingezogen und darin unterrichtet
werden, das im persönlichen Verkehr, nicht bloß auf schriftlichen Wege, erlangte
statistische Rohmaterial reichlicher und besser ist und deu individuellen Charakter
der Thatsachen hervortreten läßt, während in Dentschland die Bearbeitung des Ur-
matcrials in Dnrchschnittsberechilnngen und Vergleichungen weiter fortgeschritten ist.
Wie sich doch die Zeiten ändern! Als
England noch Agrarstaat war, da war Mecklenburg ein zwar kleiner, aber blühender
und wohlhabender Industrie- und Handelsstaat. Seine Landwirtschaft war bei den
zum Teil wendischen Bauern und bei den ihren nobeln Passionen huldigenden
Rittern in den denkbar schlechtesten Händen. Der bekannte große Umschwung um
das Jahr 1500, der die Handelsstraßen verlegte, hat dann zusammen mit der
Auflösung des Reichs den Handel und die Industrie des Ländchens vernichtet und
es zu einem armen Agrarstaate gemacht. Die ungeschickte Kur, die man anwandte,
und die der Hauptsache nach in Versklavung der Bauern, im Zunftzwang und
Steuerdruck bestand, gab der Volkswirtschaft und dem Wohlstande den letzten Stoß,
sodaß das Land ganz elend in unser laufendes Jahrhundert eintrat. Das alles
erfahren wir mit vielen interessanten Einzelheiten aus dem Schriftchen: Mecklen¬
burgs wirtschaftliche Vergangenheit, Lage und Zukunft. Wirtschaftspoli¬
tische Studie von W. M. Wismar, Hinstorffsche Hofbuchhandlung, 1897. Der
Verfasser wendet sich mit Entrüstung gegen die Pessimisten, die behaupten, Mecklen¬
burg sei dazu verurteilt, Agrarstaat zu bleiben, und fordert, damit es anders werde,
eine Reform der Verfassung, die das Volk zu gemeinnütziger Thätigkeit erziehen
soll, Reformen des Schul- und Bildungswesens, Beseitigung der Verkehrshindernisse,
Parzellirung eines Teils des Großgrundbesitzes, wodurch die ländliche Bevölkerung
um hunderttausend Seelen vermehrt werde» könne. Der Landwirtschaft könne nur
geholfen werden durch rationeller» Betrieb, wozu u. a. die Beschränkung des Ge¬
treideanbaus gehöre, und durch Begründung einer Industrie, die dem Bauern eine
inländische Kundschaft verschaffe.
Als die Vorträge,
die im Frühjahr 1879 Professor Dr. Adolf Wach in Leipzig vor praktischen
Juristen über die Reichszivilprozeßordnung gehalten hatte, im Druck erschienen
waren, brach sich bald und allseitig die Überzeugung Bahn, daß in diesem an¬
spruchslosen Bande mit das Beste und Reifste enthalten sei, was über das neue
Recht überhaupt gesagt worden ist. Weit über ihr ursprüngliches Ziel hinaus,
eine anregende Einführung in das ungewohnte Verfahren zu geben, wirkten die
Wachscheu Vorträge auf Theorie und Praxis ein; mannigfach folgten Wissenschaft
und Rechtsprechung den von ihnen gewiesenen Pfaden; und was zunächst nur die
geistreiche Meinung eines Einzelnen war, wurde vielfach die anerkannte Grundlage
deutscher Rechtsübung.
Gerade dieser große Erfolg des Buches mußte, als es siebzehn Jahre später
in neuer Auflage erschien, die Besorgnis erwecken, daß es nicht die gleiche Auf¬
nahme finden würde wie einst; denn je mehr sein Inhalt bereits in das Allgemeiu-
bewußtsein übergegangen war, umso weniger durfte es noch auf das Allgemein¬
interesse rechnen. Indes erwies sich jene Besorgnis als grundlos. Nicht bloß die
unvergänglichen bisherigen Vorzüge seiner lebhaften und durchsichtigen Ausdrucks¬
weise, seiner scharfen und klaren Begriffsentwicklnng, seiner tiefen Art der Auf¬
deckung und Erörterung von Zweifelsfragen haben ihren alten Reiz bewahrt und
bewährt — Berichtigungen, Veränderungen und Zusätze haben das Werk auch auf
der Höhe der Zeit erhalte». Sie bieten die reichen Früchte der Erfahrungen, die
Wach inzwischen in wissenschaftlicher und praktischer Thätigkeit, als Mitglied der
Fakultät und des Landgerichts in Leipzig gesammelt hat; an die Stelle der Aus¬
blicke in die Zukunft sind Rückblicke in die Vergangenheit und Einblicke i» die
Gegenwart getreten, und so ist dieselbe Thatsache des Zeitablaufs, die der Schrift
auf der einen Seite einen Teil ihrer frühern Wirkung geraubt hat, auf der andern
die Quelle einer neuen und wahrlich nicht minder bedeutsamen Wirkung geworden.
Daß bei der Berücksichtigung der thatsächlichen Entwicklung des Reichszivil¬
prozesses die Nechtsanwaltschast nicht übergangen werden konnte, ist selbstverständlich;
sie hat denn anch neben der bereits vorhanden gewesenen dogmatischen Behandlung
eine reichliche kritische Würdigung ihrer Wirksamkeit erfahren. Und da ist es ein
Punkt, deu Wach immer wieder und fast ausschließlich in den Vordergrund stellt —
die Frage nach der Schuld oder Mitschuld der Rechtsanwaltschaft an der Ver¬
schleppung der Prozesse und an der Vereitelung der gegen diese gerichteten
Gesetzesvorschriften. Wie er diese Frage beantwortet, ergiebt folgende Zusammen¬
stellung seiner Äußerungen:
Die Zaghaftigkeit im Gebrauche der Kostenstrafe — ans Z 48 des Gerichts¬
kostengesetzes — findet ihre Erklärung in begreiflicher Rücksicht auf die Anwälte . . .
und in dem Widerstande, der dem Gerichte hänfig entgegengesetzt wird durch die
Nachsicht des Gegenanwalts. Anregungen der höchsten Justizverwaltungsbehörde
zu energischeren Eingreifen sind erfolglos geblieben (S. 18).
Die Thatsachen haben leider gezeigt, daß das Souveräuitätsrecht des Gerichts
— aus §Z 252. 502. 339, 367, 398 der Zivilprozeßordnung — praktisch fast
bedeutungslos ist. Indem das Gesetz seinen Gebrauch vom Antrag abhängig
machte, legte es dasselbe lahm; denn im Anwaltsprozeß hält .... die Kollegialität
vom Antrag zurück (S. 35).
Aber es muß erwähnt werden, daß die Anwälte — obschon sie nicht er¬
mangeln, gelegentlich über ungenügende Beurkundung zu klagen — von dein Mittel
des Z 270 fast keinen Gebrauch machen. Das Gesetz, ans das man nicht geringe
Hoffnungen setzte, ist sozusagen außer Anwendung (S. 40).
Aber es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß im großen und ganzen
die Beurkundung im amtsgerichtlichen Prozesse nicht wesentlich anders und nicht
erheblich unsichrer von statten geht als im Anwaltsprozeß. Wie die Garantie
des Z 270 in diesem eitel geworden ist, habe ich schon erwähnt (S. 43).
Nur wenn in den Personen der Anwälte der Grund der Verschleppung liegt,
daun zeigt sich der Schaden des Gesetzes. Das ist nun an den größern Gerichten,
bei viel beschäftigten Anwälten begreiflicherweise nicht selten der Fall; auch mag
in den geringfügigen Sachen die Gleichgiltigkeit gegen die lästige, uneinträgliche
Aufgabe ein weitverbreitetes Leitmotiv fein. Dazu kommt die übel angebrachte
Kollegialität, welche die Pflicht gegenüber der Partei vergißt und nach dem Gesetz
verfährt: clericus elsrieum mein cleeiwat. Da wird von dem erschienenen Anwalt
gegen den säumigen das Versäumnisurteil nicht erbeten, vielmehr Vertagung be¬
antragt und, wenn das Gericht sie in seiner Not verweigert, erklärt, man „gebe
sich nicht an," „verhandle nicht." Das Gewissen wird beschwichtigt. ... (S. 47).
Die Anwälte üben unbeschränkt (Zivilvrozeßordnnng Z 77) und maßlos diese
Herrschaft über den Prozeßfvrtgang. . . . Wir wissen, daß bei dem im größten Stil
geübten Verschleppen der Parteiwille nicht mitspricht. ... Es ist unerträglich, wenn
— wie es geschieht — das Gericht stundenlang der Parteien, richtiger gesagt,
der Anwälte gewärtig unthätig verharrt, um wohl gar unverrichteter Dinge
von dannen zu gehen. Das ist Mißachtung der Staatsthätigkeit. Hier muß
energisch durchgegriffen werden zum Wohl des Staates und — wir dürfen es
getrost hinzufügen — der Recht suchenden Parteien is. 57).
Der geltende Parteibetrieb unterstellt, wie gezeigt, recht eigentlich den Rechts¬
gang der Allmacht der Partei, leistet der Saumsal und der Bequemlichkeit der
Anwälte unzulässigen Vorschub. ... Wie teuer aber die Partei demzufolge die Ehre
zu bezahlen hat, das Subjekt des Prvzeßbetriebs zu sein, braucht umso weniger
geschildert zu werden. ... (S. 63).
Zwar haben die Anwälte die Macht, nicht zu verhandeln — und wie oft
sie zum Schaden der Sache davon Gebrauch machen, ist bekannt (S. 35).
Soweit Wach. Seine Meinungsäußerung kommt sehr zu rechter Zeit. Die
bevorstehende Reform der Zivilprozeßordnung soll der Rechtsanwaltschaft nachteilige
Neuerungen bringen; sie erregt insoweit ihren heftigen Widerspruch. Ihm ent¬
gegenzutreten ist nicht leicht: denn mit Zahlen läßt sich ans diesem Gebiete nicht
viel anfangen, und die Rechtsanwaltschaft hat im Parlament, in der Presse, in
der gesamten öffentlichen Meinung und Stimmung eine überaus einflußreiche
Stellung. Unter solchen Umständen ist es sicherlich von Wert, aus einem juristischen
Werk heraus auch Weilern Kreisen ein Urteil zugänglich zu machen, das um der
unzweifelhaften Bedeutung seines Autors willen auch ohne Statistik und aller Vor¬
eingenommenheit zum Trotz die Entscheidung zu beeinflussen geeignet ist. E. s.
Zufällig kommt mir
ein Aussatz der Grenzboten vom 2V. August 1396 Ur. 34 wieder vor Augen,
worin von einer Bewegung in den verschiedensten Teilen Deutschlands zur Er¬
haltung der dahinschwindenden Volkstracht die Rede ist. Ich habe fast meine
ganze Jugend ans dem Lande gelebt und viele Volkstrachten in Deutschland kennen
gelernt, die ich heute noch beschreiben konnte, obwohl man nnr noch Teile davon
hie und da an alten Baucrufrauen sieht, die längst in die Reihe der Groß- und
Urgroßmutter eingerückt sind. Wenn ich jetzt wieder in meine früher so trachtenreiche
Heimat komme, muß ich die Überzeugung gewinnen, daß eine Bewegung zur Er¬
haltung der Volkstrachten gänzlich verfehlt ist. Ja ich muß mich wundern, wie
man nur einen solchen Gedanken fassen kaun, hente, wo der immer steigende Ver¬
kehr die Menschen auch aus den fernsten Teilen der Erde einander immer näher
bringt. Wie soll da ein Dorf, ein Städtchen seine altangcstammte Tracht behalten?
Höchstens eine Amme oder Kinderwärterin prangt noch in Landestracht in der
Stadt. Befiehl man diese Tracht aber näher, so überwiegt meistens die Phantasie
über die Historie der Kleidung. Die Sache ist ja auch sehr einfach. Die Trachte»
sind wohl sämtlich teurer als die modernen in großen Kleidergeschäften angefertigten
Anzüge. Das glich sich früher aus, wo der Edelmann, der Bürger und der Bauer,
die Frau und die Jungfrau erst dann neue Sachen anschafften, wenn die alten ver¬
braucht waren. Und das dauerte bei den starken Stoffen, die in alter Zeit ver¬
arbeitet wurden, lange. Man denke nur an die Hosen des Herrn von Bredow.
Ich selbst habe genug alte Bauern noch in Lederhosen gesehen, die sie gewiß trugen,
seit sie ihre Mannesgröße erreicht hatten. Jetzt ist das anders. Die Töchter der
vermögenden Bauern, die sich also noch die teure alte und meist schöne kleidsame
Landestracht anschaffen und erneuern könnten, besuchen Institute und Schulen aller
Art in der Stadt, die Söhne gehen ans landwirtschaftliche Anstalten. Sie wollen
dort im Kreise ihrer Kameraden nicht auffalle», sie kleiden sich also nach der Mode.
Dazu kommt die immer mehr fortschreitende Ausgleichung der Standesunterschiede
und der Lebenshaltung.
Ich habe als Kind selbst noch in großen und kleinen Städten und auf dem
Laude gesehen, daß der Handwerker nnr eine Wohnstube hatte. Darin stand das
Ehebett und die Wiege. An dem großen Ofen wurde im Winter, der Ersparnis
wegen, auch die gesamte Tagesnahruug gekocht, und außerdem befand sich in dem
Zimmer noch die Werkbank bei solchen Handwerkern, wie Klempner, Messerschmiede,
Sattler, die keine ranmbedürftigen Arbeitsgeräte durchaus nötig hatten. Selbst der
kleine Beamte benutzte die Wohnstube zugleich als Eßzimmer und als Arbeits- und
Spielzimmer für die Kinder. Heutzutage findet man auch schon in diesen Kreisen
besondre Empfangszimmer, Eßzimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. Von Lüftung
der Zimmer war bei Handwerksleuten kaum die Rede. Ich erinnere mich, daß
ein Handwerksmeister meinem Vater auf dessen Ermahnung, doch ein Fenster zu
öffnen, erwiderte: „O nein, gewiß nicht, da jagt man ja das Holz zum Fenster
hinaus, und so reich bin ich nicht!" Darüber find die Begriffe doch jetzt geklärt.
Man weiß besser Bescheid über die Gesundheitspflege. Das zeigen auch unsre
heutigen Schulgebäude in Stadt und Land, wenn man sie mit den elenden Kasten
vergleicht, in denen wir in unsrer Jugendzeit den Unterricht „genossen." Diese
Steigerung von Raum- und Luftbedürfnis ist ebenso eine Ursache für die Aus¬
dehnung unsrer Städte, wie die Vermehrung der Bevölkerung durch Zuzug von
außen.
Wie sich nun in Bezug auf die Wohnungsverhältnisse eine Annäherung der
Stände unter einander vollzogen hat und durch die billige Herstellung schöner
Wohnungen immer weiter vollziehen wird, so geht anch die Annäherung und Aus¬
gleichung der Stände in ihrer Bekleidung immer weiter vorwärts. Konnte man
noch im vorigen Jahrhundert den Bürgerlichen vom Adlichen schon in der Be¬
kleidung unterscheiden, indem man dem Bürgerlichen das Tragen bestimmter Farben
in seiner Kleidung, die Verwendung gestickter Röcke usw. untersagte, so ist die Be¬
kleidung jetzt vom Vornehmsten bis zum Niedrigsten in Form und Farbe so ziemlich
gleich und höchstens, vom Bettler abgesehen, in der Güte des Stoffes und in besserer
Erhaltung verschieden. Ein Engländer, ein Franzose, ein Russe der gebildeten
Klasse unterscheidet sich in seiner Kleidung nicht vom Deutschen, und auch der
Ungar und der Pole, ja selbst der Türke trägt seine Nationaltracht nur noch bei
feierlichen Gelegenheiten. In Universitätsstädten laufen Asiaten, Afrikaner, Söhne
der Valkauhalbinsel zu Dutzenden herum; an ihrer Bekleidung kann man sie nicht
erkennen. Selbst der Tiroler, der Handschuhe in den Badeorten verkauft oder mit
Landsleuten beiderlei Geschlechts Jodler vorträgt und die Leute mit „du" an¬
biedert, trägt gewöhnlich nicht die wirkliche Tiroler Landestracht, sondern ein
Phantasiekostüm, wie es der Philister aller Nationen in jedem Maskengeschäfte für
seine Karnevalsbelnstigungen kaufen kann. Für gewöhnlich geht aber auch der
Jodel- und Haudschuhtiroler in Zivil wie andre Menschen.
In frühern Jahrhunderten beschäftigten sich Behörden und Fürsten mit der
Tracht ihrer Unterthanen. Wir haben z. B. Anträge des Stadtrats von Darm-
stadt aus dem Jahre 1677, worin der Landgraf gebeten wird, „eine solche Kleider¬
ordnung zu machen, darnach ein jeder sich zu achten und keiner dem andern. es
gleich oder vorthnn möge." Die Landgräfin Elisabeth Dorothea erließ iir der'
That eine ausführliche Kleiderordnung im Jahre 1684, worin „ein jedes, so oft
es mit einer Tracht, die seinem Stand zuwider ist, betroffen würde, mit zehn
Gulden oder Gefängnisstrafe verfallen sein solle." Wiederholt wird in der Ver¬
ordnung auf Berücksichtigung von Herkommen und Stand bei der Auswahl der
Bekleidung erinnert und eine ganze Anzahl verbotner Bekleidungsstücke aufgezählt/
So wenig Erfolg diese Verordnungen gehabt haben, ebenso wenig wird es gelingen,
bei dem heutigen Verkehr der Völker und der einzelnen Stände unter einander die
Aufrechterhaltung der immer mehr schwindenden alten Volkstrachten anders'zu er-^
reichen als vorübergehend bei historischen Festzügen. Überhaupt kann ja bei un--'
befangner Betrachtung der heutigen Verhältnisse von einer Erhaltung der Trachten
gar nicht mehr die Rede sein, man könnte höchstens von einer Wiedereinführung
Wir lesen, daß der Name des für Deutschland erworbnen chine¬
sischen Hafens jetzt offiziell festgelegt worden sei: wir sollen fortan Kiautschou
schreiben. Diese Schreibweise mag nrchinesisch sein, man wird darüber Experte
vernommen haben; mir tritt hier aber wieder eine Eigentümlichkeit unsrer Auto¬
ritäten entgegen, über die ich mich schou oft gewundert habe. Wenn ich nicht irre,
bedeutet der Zusatz Tschou deu Gattungsbegriff eiuer Kreis- oder Bezirksstadt, wie
das angehängte „Fu" einen Hauptort der Provinz bezeichnet; jedenfalls findet man
auf der Karte viele chinesische Orte mit dem Znsntz Fu oder Tschou. Wäre es
nun nicht am einfachsten, sich mit Kiau zu begnügen und sich um die chinesische
Orthographie nicht weiter zu kümmern, als für den Verkehr nötig ist? Wir
würden uns sechs Buchstaben ersparen in Wort und Schrift. Aber man scheint
in unsern Bureaus eine Vorliebe für lange Namen zu haben. Da bestehen noch
immer: „Deutsch-Südwestafriknnisches Schutzgebiet" und Deutsch-Ostafrikcmisches
Schutzgebiet"! Kann man sich etwas Pedantischeres, Schwerfälligeres ausdenken?
Als Lüderitz Angra Pegnena besetzte, sprach man einige Zeit lang von Lüdcritz-
land, aber unsre Bllrecmkraten kamen hinzu und machten, als wir an den Kuuene
gelangten, eine Kolonie mit dem längsten Namen, den die afrikanische Karte aus¬
weist. Andre Leute wären bei Liidcritzland geblieben oder hätten dem Gebiet den
ersten Volksnamen gegeben, der sich darbot, etwa Namaland, oder noch kürzer
Kolonie „Rama." Das läßt aber unsre Gewissenhaftigkeit, richtiger Pedanterie
nicht zu, denu „da sind ja auch noch Hereros und Bastarde und Bergdcimara."
Ebenso im Osten. Warum nicht „Petersland" oder — wenn das den liebenden
Herzen mancher zu bitter war — „Usagara" oder „Usmnbara," den ersten besten
Namen, den man im Lande fand? Ein Wunder, daß wir nicht statt Kamerun
>, Westafrikanisches Schutzgebiet" und statt Togo „Nordwestafrikanisches Schutzgebiet"
schreiben. „West, Südwest, Nordwest" — das wäre so hübsch vollständig, so
ordnungsmäßig gewesen; unsre Dorfschulmeister selbst hätten ihre Freude daran
gehabt! Denn unsre Büreauleute arbeiten hierin ganz im Sinne unsers hochge-
geschulten Publikums — das muß ich zugeben. Wir lieben nicht praktische Kürze,
sondern Ruinen und Bezeichnungen, die selbst gleich eine ganze Erklärung enthalten,
und gewöhnen uns gern ab, mit einem Billet in den Tram zu steigen, weil wir
„deutsch" sein wollen. Mein Gott! Niemand kann die Schwäche des deutschen
Selbstbewußtseins mehr bedauern als ich; aber für fo elend halte ich es denn doch
nicht, daß ich glauben könnte, die deutsche Sprache nud das deutsche Selbstgefühl
könnte durch „Fnhrscheiu" und „Pferdebahn" verbessert werden. Die Pedanterie
liegt darin, daß wir uns nicht entschließen können, einheimische Worte, die nicht
im Wörterbuch stehen, anzunehmen, wo wir sie finden, noch auch uus neue, fremde
Worte sprachlich bequem zu macheu, indem wir sie wo nötig deutsch umformen.
Wenn man uns zumutet. Tram zu sagen, so erhebt sich alsbald Widerspruch: „Es
heißt nicht Tram, sondern Trcnnway!" Möge es doch! Wir heißen es Tram —
würde ich antworten, und das ist ein gutes, deutsch klingendes Wort, das dadurch
nicht verliert, daß es englischen Ursprungs ist. Übrigens läßt der Engländer das
„way." selbst gern weg, so anstößig das unsern Pedanten vorkommen mag. Und
was „Billet" betrifft, so hätte selbst Luther wahrscheinlich nichts dagegen einzu¬
wenden gehabt; nur hätte er es vielleicht „Biljet" oder ähnlich geschrieben, zum
Entsetzen unsrer heutigen Schnlgclehrten, die nicht daran denken, daß kein Franzose
das Wort so ausspricht, wie wir es thun. Unsre Pedanterie geht sogar so weit,
daß wir uns oft bemühen, „Traumes" herauszubringen, um korrekt englisch zu
sein. Wer gar „Tramweg" sagen wollte, würde für ungebildet gelten. Und da ich
Nicht gerne solchen Vorwurf auf mich lenke, so gestehe ich lieber gleich ein, daß,
wenn ich einmal doch zu Kinn-Tschon genötigt werde, ich nicht recht weiß, wie
ich das unselige Tschou aussprechen soll, da wir Deutschen ein on als Diphthongen
oder als französisches n nicht haben. Ich kann nicht annehmen, daß die Regierung
den Namen hat französiren wollen, und da es sich auch schwerlich um eine Nach-
schreibuug des Chinesischen handeln kann, weil die Chinesen keine Buchstaben wie
wir haben, so spreche ich getrost: „Tscho—u."
Nach alledem scheint mir die Taufe unsers neue» Hafens ans Kiau-Tschou
zwar in nationalen Sinne geschehen zu sein, aber im Sinne einer nationalen
Schwäche. Wenn unser Auswärtiges Amt mit chinesischen Behörden zu korre-
spondiren hat, wird es ohne Zweisel mit vollem Recht die alte chinesische Be¬
zeichnung beibehalten. Uns andern aber würde Kinn schon genügen, und wir
wären erfreut, wenn man uns auch der Verlegenheit enthöbe, bei Gelegenheit lange
nachsinnen zu müssen, um deu Namen jeder unsrer afrikanischen Kolonien richtig
anzugeben. Denn im täglichen Verkehr habe ich ihren richtigen, d. h. offiziellen
Namen in der That noch niemals aussprechen hören. „Südwestasrikanisches Schutz¬
gebiet" ist wie der große Titel des Königs: kein Mensch kennt ihn und nur ein
Jubiläen bereiten den Jnbilirenden selten
einen ungemischte» Genuß. Handelt es sich bloß um einen Künstler oder Gelehrten,
so ist ja die Sache noch nicht schlimm! die Verehrer des großen Mannes haben
sich dann nur darüber zu ärgern, daß seine Gegner ans Leibeskräften schimpfen.
Bei politischen und kirchlichen Größen und Ereignissen aber kanns unter Umständen
recht ungemütlich werden. Wie viel Angstschweiß mag den Berliner Stadtvätern
das Achtundvierziger Jubiläum schon ausgepreßt haben, und wie mag dem König
Humbert zu Mute gewesen sein, der ein Revolutiousjubiläum feiern mußte, während
seine Truppen zum so und so vielteumale damit beschäftigt waren, Revolten zu
unterdrücken! Wie haben das Luther- und das Canisiusjubiläum die Leidenschaften
erhitzt! Jetzt droht den Katholiken das Jubiläum des am 23. Mai 1498 ver¬
brannten Snvvnarola, bei dem der Protestantismus ausnahmsweise einmal als
tertius Zauäc-us zusehen kann. Es hat sich eine Partei innerhalb der katholischen
Welt gebildet, die den Fra Girolamo schlechterdings den „Freimaurern entreißen"
und in den Heiligenkalender bringen will. Leo soll auf Anfragen, klug wie immer,
geantwortet haben, mitthun könne er natürlich nicht beim Jubiläum, er habe aber
mich nichts dagegen. Ludwig Pastor hat in seiner Geschichte der Päpste eine
Charakteristik Savoncirolas entworfen, die wir unterschreiben: Hoch begabt, von
reiner Absicht, aber Fanatiker mit Kirchen- und Stnatsidealen, die nicht verwirklicht
werden können, und in seiner Kritik des Bestehenden übertreibend; nur das eine
unterschreiben wir natürlich nicht, daß seine Unbotmnßigkeit gegen den Papst als
der Hanpteinwand gegen seine Heiligkeit geltend gemacht wird. Die unparteiischen
unter den Historikern beider Konfessionen haben Pastors Charakteristik als treffend
anerkannt, von der Savvnarolapartei aber hat er heftige Angriffe erfahren und
ist sogar der Ketzerei beschuldigt worden. In einem interessanten Schriftchen:
Zur Beurteilung Savouarolas (Freiburg i. B., bei Herder, 1898) weist er
diese Augriffe zurück und widerlegt besonders zwei seiner Gegner, den Breslauer
Professor Ernst Commer und Paul Luotto, Professor am königlichen Lyceum zu
Faenza. Indem die Dominikaner, um von einem Heiligen ihrer päpstlichen Kirche
die „Freimaurer" abzuwehren, die Presse dazu zwingen, wieder einmal das Bild
der Borginperivde vor der Welt aufzurollen, erweisen sie dieser Kirche einen
ähnlichen Dienst wie der Bär seinem guten Freunde, dem Einsiedler. Leos Nase
wird sich, zwar wohl widerstandsfähiger erweisen als die des armen Einsiedlers,
aber ganz ungeschundeu wird sie kaum davon kommen.
Es giebt wohl
für jeden Tage, wo er zu nichts Lust hat. Er greift zu diesem und denn wieder
zu etwas anderen und so weiter, und er legt alles wieder weg, weil er nicht muß
und braucht. Ja, wenn er müßte, denn käme so etwas nicht. Aber er muß ja
nicht, und nun mag er nicht. Das heißt, er möchte so gern, aber es scheint, er
kann nicht. In Wirklichkeit will er nicht, wenigstens nicht stark genug, und wo
dieser notwendige Ersatz für das Müssen fehlt, da tritt eben der Zustand ein, in
dem man oft lange nach dem richtigen Hilfszeitwort suchen turn. Wenn einem in
solcher Stimmung ein passendes Buch zu Hilfe käme! So das richtige, nicht schwer
und gar zu tief oder zu sehr spannend, sondern das einen so langsam und all¬
mählich einige Stunden mit sich nähme. Solche Bücher giebt es, man muß sich
ihrer uur zu rechter Zeit erinnern. Aber es kommen mich neue der Art, nicht
täglich, aber dann und wann. „Die Chronik des Garnisonstädtchens" von Sophus
Bauditz, übersetzt von Mathilde Mann, und „Einsam" von O. Verdeck (Leipzig,
Grnuow) sind zwei solche Bücher. Gleich hübsch gedruckt, gleich reizend gebunden,
klein von Format und von beinahe gleichen! Umfange, so treten sie auf, als ob sie
zusammen gehörten. Und doch innerlich wie verschieden! Mau weiß nicht, von
welchem man zuerst sprechen soll. Legte man sie einem Ehepaar auf den Tisch,
so würde wohl der Mann den Bauditz vorziehen, denn bei ihm ist die Rede von
menschlicher Arbeit in Frieden und Krieg, vou dem Leben in einer dänischen
Schule und auf einem Kasernenhof, endlich auch vou Politik. Aber die Frau wird
zu „Einsam" greifen und meist wohl anch, nachdem sie den Konkurrenten gelesen
hat, zu „Eiusmu" zurückkehren, denn das ist ein Roman, in dem das Schicksal
einer Frau von einer Frau ergreifend geschildert wird, und eine Lage, die, ab¬
gesehen davon, daß sie recht traurig ist, für teilnehmende weibliche Herzen ein
großes Interesse zu haben Pflegt: eine unglückliche Ehe. Bei O. Verdeck ist alles
aktuell und modern: Berlin V. und eine äußerst treffende, natürliche, oft witzige
und gelegentlich auch etwas derbe Sprache. So etwas könnte jeden Augenblick
passiren. Hanna, so heißt die Heldin, ist glücklich in der Pflege ihrer kranken ver¬
witweten Mutter und hat sich liebe Freunde im Kirchenchor erworben, mit denen
sie einmal wöchentlich übt, darunter einen, der ohne Frage schou etwas mehr ist
als Freund, aber bei den Verhältnissen — daran ist ja zunächst gar nicht zu
denken. Und nun kommt der steinreiche, harmlose und gar nicht unangenehme
junge Kaufmann und führt sie mitsamt ihrer gelähmten Mutter in die fürstlich ein¬
gerichtete Tiergartenvilla. Mit einem Schlage ist ihr alle Lebenssorge genommen.
Lange Besinnen war da nicht möglich. Wer hätte an ihrer Stelle nicht ebenso
gehandelt? Der Mutter zuliebe, nicht aus Liebe zu einem Mann, den sie ja noch
gar nicht kannte, das sagte sie sich wohl, aber konnte das nicht doch gut gehen,
es war doch von allen Seiten so gut gemeint? Also ein sehr ernstes Thema
jedenfalls, ein Feuer, an dem sich schon mancher verbrannt hat, der es vorher nicht
ahnte, und gegen das auch nicht immer Vorsicht hilft. Wem also das Leben
schon herb genug ist, und wer darum seinen Nerven den Luxus der Anregung nicht
mehr gönnen mag, die nötig ist, um ein fremdes leidvolles Dasein in natürlicher
Größe an die Wand gemalt aus nächster Nähe zu betrachten und mitzuerleben: der
wird, ob Manu oder Weib, sich lieber mit Banditz unterhalten, dessen Erzählung
auch von Liebe handelt, aber ohne so an die Nerven zu greifen. Es wird darin
ein blutjunger, sehr sympathischer Kavallerieleutuant geschildert, der auf ein kleines
Nest zur Reitschule kommandirt ist, seinem prächtigen alten Rittmeister die Zeit
vertreiben hilft und dabei sich von einigen kleinen Eroten umspielen laßt, bis der
große Eros kommt, und mit einer äußerst natürliche», glückverheißenden Verlobung
die Geschichte zu Ende ist. Bei Bauditz sind es viele Figuren: Adliche, Geistliche.
Schullehrer und Schüler, Offiziere, Beamte und Bürgersleute, auf die sich unsre
Aufmerksamkeit verteilt, und von denen mehrere in der Zeichnung völlig ausgearbeitet
sind. Dazu kommt die landschaftliche Schilderung mit ihren von uns schon oft
hervorgehobnen Vorzügen und eine äußerst glückliche idyllische Stimmung, die auf
dem Ganzen ruht und nur hie und da an das Elegische streift, wenn die Ge¬
danken sich in die politische Zukunft richten. Die Erzählung trägt sich nämlich um
das Jahr 1864 zu, und auch von dem Kriege bekommen wir einzelne vorzüglich
getroffne Bilder, österreichische Husarenpatronillen und preußische Einquartierung,
alles echt und lebendig, keineswegs karikirt. — Bei O. Verdeck konzentrirt sich unser
Interesse ans die eine Hanna und ihren Ehemann. Das Verhältnis hätte ja
vielleicht gleichgiltig, jedoch äußerlich ungestört bleiben können; der Mann meint es
nicht schlecht, und die Frau hat ja das Äußerliche, was sie in dies Haus geführt
hatte, nach wie vor ungeschmälert. Aber seine Liebe kann sie nicht erwidern, er
wird verstimmt und sie empfindlich, das Schicksal zieht langsam heran. Zwischen
S. 287 und 307 fallen die kritischen Äußerungen; nachher ist nichts mehr zu
retten. Die Schilderung ist hier technisch meisterhaft, und poetisch, was die Er¬
findung betrifft, kann man der Verfasserin nicht den Vorwurf machen, daß sie ihr
Geschlecht bevorzugt hätte. Wie die Schuld sich entwickelt, anhäuft und auf beide
Teile verteilt, das ist deutlich und überzeugend dargestellt, es würde anch einem
gewiegten Selbstanalytiker genügen. Die Berfasferin hat dafür gesorgt, daß der
Leser immer beiden Teilen gerecht zu werden sucht, und daß er erst ganz zuletzt
den Mann aufgiebt, wo dann dessen Tod die einzige befriedigende Lösung ist.
Wir danken es ihr noch besonders, daß sie der Versuchung widerstanden hat, die
Annäherung der Vereinsamten an den ehemaligen Geliebten noch weiter zu führen.
Man kann sich das ja denken, und sittlich spricht nichts dagegen, aber man hätte
nicht gerade dabei zugegen sein mögen, und das Verhältnis Harras zu deu beiden
jungen Männern ihres frühern Kreises — Günther und Rettenbacher — ist übrigens,
was nicht ganz leicht war, auch ästhetisch so vorzüglich gehalten, daß man hierin
einen nachträglichen Mißgriff sehr bedauert haben würde. Ernster gerichtete Leser
werden, abgesehen von ihrer Hochachtung vor der Leistung, geneigt sein, noch eine
tiefer greifende Wirkung dieses Romans für möglich zu halten, prophylaktisch oder
therapeutisch je nach den Umständen und gleichermaßen bei Mann und Weib. —
Bauditz gehört zu deu dänischen Schriftstellern, die ihren Dichtungen einen für uns
Deutsche besonders wertvollen Hintergrund zu geben wissen. Ihn erfüllen Ge- ,
danken an das Gemeinsame der germanischen Rasse, wenn auch ihre Teile getrennt
und politisch zeitweilig einander vielfach entgegengesetzt sind. Wir sühlen den warmen
Herzschlag des Dichters, wenn er seine Leute sich unterhalten läßt über Franzosen
und Engländer, über die skandinavische Union und die deutschen Gegner, mit denen
sie aus dem Kriegspfade zusammentreffen. Ob er nicht auch ein Zusammengehen
der feindlichen Brüder vielleicht in ferner Zukunft für möglich hält? Jedenfalls
sind seine Bücher geeignet, heilsam zu wirken, versöhnend und annähernd, und
darum drücken wir nicht nur dem Dichter, sondern auch dem wohlmeinenden Politiker
im Geiste dankbar die Hand.
nvergeßlich bleibt uns aus den Erinnerungen der Schulzeit die
Gestalt des buntrockigen kleinen Joseph, der, von seinen Brüdern
verkauft, trotz Sklaverei und Gefängnis, trotz Weiberguust und
Weiberhaß seinen Weg in das Kabinett Sr. Pharaonischen Majestät
fand, lange Jahre als vertrauter Minister im Nillande waltete
und endlich, hochbetagt und mit Ehren überhäuft, bei den Ägyptern ein seliges
Ende fand.
Zwar nicht ganz so abenteuerlich, aber uicht weniger eigentümlich ist die
Laufbahn eines andern, modernen Joseph aus dem Volke, das von sonderbaren
Schwärmern für die Nachkommenschaft der Verlornen zehn Stämme des Volkes
Israel gehalten wird. Was will Saul unter den Propheten? Wie kommt
Joseph Chamberlain, der Erzradikale, unter die Tories? Es ist in der That
ein seltsames Schauspiel, die Verfechter vou Staatskirche und Adel einem
Manne zujauchzen zu sehen, mit dem sie erst vor wenigen Jahren die gröbsten
Wahrheiten austauschte«, weil er ihnen die Grundlagen der Gesellschaft er¬
schüttern zu wollen schien. , Im Jahre 1883 malte Chamberlain Lord Salis-
bury in deu dunkelsten Farben als einen Mann ohne das geringste Mitgefühl
für die armen irischen Bauern, als den Wortführer einer Klasse von Menschen,
die weder arbeiteten noch spornen, und deren Vermögen aus Schenkungen
stamme, die ihnen in längst vergangnen Tagen für höfische Dienste zugefallen
seien. Seitdem aber ist vieles anders geworden. Im Jahre 1895 vermochte es
Chamberlain über sich, einen Platz an dem grünen Tische einzunehmen, an dem
sein Beelzebub von 1883 den Vorsitz führte, und gegenwärtig sind die Gegen¬
sätze soweit ausgeglichen, daß er am 5. November 1897 in Glasgow erklären°
konnte: Ich darf sagen und ich sage es mit absoluter Bestimmtheit, daß mir
im Kabinett liberale Unionisten und konservative Unionisten nicht kennen. Wir
sind alle Unionisten. Eine Scheidungslinie im Kabinett hat es nie gegeben
und wird es nie geben. Aber ich will Ihnen sagen, was es gegeben hat: die
absoluteste Einmütigkeit im Fühlen und Denken.
Vor fünfzehn Jahren hätte die kühnste Einbildung das Bild nicht fertig
gebracht: der alte radikale Aristokratenfresfer zu gemeinsamer Arbeit mit dem
Häuptling des Hauses Cecil verbrüdert. Wolf und Fuchs in ungetrübter
Freundschaft. Ist das Millennium angebrochen?
An der Wiege ist Jung Joseph von alledem nichts gesungen worden, und
Geburt wie Erziehung schienen ihn von einer öffentlichen Laufbahn auszu¬
schließen, wenn auch die beliebte Redensart, die schon die Lebensbeschreibung
so manches Helden eingeleitet hat, ans ihn nicht ganz zutrifft. Seine Eltern
waren zwar ehrlich, aber arm wohl schwerlich. Der Vater hatte eine alte
Schuhwarenfabrik, zu deren Arbeitslast noch die Sorge für die Erziehung
von neun Kindern kam, was ihn aber nicht abhielt, sich später mit seinem
Schwager auch noch zur Schraubenverfertigung zu verbinden. Joseph, der
Stammhalter, war 1836 zu Camberwell geboren und trat mit sechzehn Jahren
im väterlichen Geschäfte seine Lehrzeit an. Schon zwei Jahre später eröffnete
sich ihm ein größerer Wirkungskreis mit größerer Verantwortlichkeit durch die
Beteiligung seines Vaters an der bekannten Schraubenfabrik von Nettlefold in
Birmingham. Jung Joseph ging als Vertreter des neuen Teilhabers nach
Birmingham, und vornehmlich durch seine Thatkraft und seine kaufmännische
Befähigung errang sich das Geschäftshaus den ersten Platz, sast ein Monopol
in der Schraubenverfertigung. Der Erfolg war so groß, daß er sich schon
1874, erst achtunddreißig Jahre alt, vom Geschüft zurückziehen konnte, um sich
hinfort ganz dem öffentlichen Leben zu widmen. Die Jahre der Geschäfts-
thütigkeit waren jedoch keineswegs nur dem Geschäfte gewidmet gewesen. Er
hatte stets einen regen Anteil an dem städtischen Leben seiner neuen Heimat
genommen, und die Schärfe, mit der er seine Anschauungen vertrat, hatte ihm
bald Beachtung verschafft. Unter den Radikalen Birminghams ragte er durch
seinen Radikalismus hervor; aber, klug wie die Schlangen, obgleich nicht so
sanft wie die Tauben, hat er sich stets gehütet, ihn wie Bradlaugh oder
Labouchere so zuzuspitzen, daß er persönlich Anstoß bei der königlichen Familie
erregte.
Ob die frühe Beschäftigung mit Leder — Schuhmacher pflegen ja sehr radikal
zu sein — ihm radikale Ideen einflößte, lassen wir dahingestellt. Als Nonkvu-
formist, der sich rühmt, von einem der Geistlichen abzustammen, die unter den
Stuarts für ihre Überzeugung litten, war er von Hause aus den Konservativen
abgeneigt, und eine Fabrikstadt wie Birmingham, die aus sich selbst geworden
ist, was sie ist, bietet einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung eines fort-
geschrittnen politischen Glaubensbekenntnisses. Ein Sprosse der alten Familien,
ein Cecil, Cavendish oder Stanley, dringt zum Verständnis des Staatswesens
von oben herab. Chamberlain gelangte dazu von unten herauf. Die Er¬
ziehung des Gentleman in Oxford oder Cambridge war ihm versagt gewesen.
Die Jahre, wo der Geist am empfänglichsten ist, hatte er am Schreibpult ver¬
bracht und in einer Umgebung, die von der geistigen Atmosphäre jener Bil¬
dungsstätten nichts eingeatmet hatte. Kein Wunder, daß die Welt sich in
seinem Kopfe anders malte, als in dem der goldnen Jugend. Dem Nonkon-
formisten war natürlich die Staatskirche ein Greuel, und in dem Streite um
den Religionsunterricht in den Schulen treffen wir ihn zuerst auf dem poli¬
tischen Kampfplatze als dessen Gegner. Er wollte den Religionsunterricht ganz
aus den Schulen verbannen oder nur unter der Bedingung zulassen, daß alle
selten in der Behandlung gleichgestellt würden. Die Unmöglichkeit dieser
Forderung leuchtet sofort ein, wenn man die Zahl der in England bestehenden
Sekten betrachtet, die sich jetzt auf etwa dreihundert beläuft und auch zu
Anfang der siebziger Jahre, als der Schulstreit tobte, über zweihundert betrug.
Obgleich nun Chamberlain schon damals Vorsitzender des Ausschusses der
nationalen Erziehungsliga war, so lag der Schwerpunkt seiner öffentlichen
Thätigkeit doch nicht in der staatlichen, sondern in der städtischen Politik. In
der städtischen Selbstverwaltung Birminghams bereitete er sich für das weitere
Feld des britischen Reiches vor. Wir haben auch in Deutschland die Er¬
fahrung gemacht, daß die Verwaltung eines großen städtischen Gemeinwesens
keine schlechte Schule für einen Minister ist, ebenso wie daß ein Mann in der
Jugend radikalen Anschauungen huldigen und doch später einen Kronberater
abgeben kann. Nun giebt es zweierlei Arten von Radikalen: die eine ist
kritischer Natur, in ihrer Folgerichtigkeit voll ätzender Schärfe, überall ver¬
letzend, aber nicht imstande aufzubauen, die andre ist praktischer Natur und
begnügt sich mit dem Erreichbaren. Während jene versuchen, eine senkrechte
Wand hinauszulaufen oder sie mit dem Kopfe einzurennen, sind diese zufrieden
zu warten, bis sie ihre Leiter fertig gezimmert haben. Die Kritiker gelangen,
wenn die Wand widersteht, bald auf den Standpunkt unfruchtbarer Verneinung,
wodurch sie zwar ungemein grundsatztreu erscheinen, aber auch in politischer
Thätigkeit auf bloße Nörgelei beschränkt werden. Mit den Praktikern dagegen
läßt sich ganz wohl auskommen. Sie haben ihr Anpassungsvermögen nicht
eingebüßt und sind oft geeignet, einer etwas eingerosteten Staatsmaschine neues
Leben einzuflößen. Wie Salz für sich allein oder im Übermaße genossen nichts
taugt, aber in gehöriger Mischung ein wertvolles und unentbehrliches Nahrungs¬
mittel ist, so wirken auch radikale Ideen, mit Mäßigkeit angewandt, befruchtend
und wohlthätig. Jeder wirkliche Fortschritt, d. h. ein Fortschritt, der nicht
eine heftige Gegenwirkung unvermeidlich macht, ist auf eine solche maßhaltende
Mischung zurückzuführen. Unmerkbar setzen sich dann die neuen Gedanken
fest, sodaß dem folgenden Geschlechte als selbstverständlich gilt, was dem alten
noch als eine gewagte oder gar gefährliche Neuerung erschien.
Chamberlain gehört entschieden zu den Radikalen, mit denen sich rechnen
läßt, die nicht von der Begierde verzehrt werden, die Theorie sofort in die
Praxis umzusetzen, sondern erst kühl berechnen, ob das Unternehmen ausführbar
ist. Anfang der siebziger Jahre bekannten sich viele Engländer zum republi¬
kanischen Glauben; Sir Charles Dilke, Auberon Herbert und Professor Fawcett
hatten sogar den Mut, sich im Parlament, wütendem Lärm zum Trotz, als
Republikaner zu erklären, doch keiner von ihnen hat je einen Finger gerührt,
sein Ideal zu verwirklichen; sie zogen praktische Arbeit vor. Chamberlain er¬
kannte wie sie, daß England für eine Republik noch lange nicht reif sei; auch
seine republikanische Gesinnung ist nie über die graue Theorie hinausgekommen.
Für die praktische Anwendung radikaler Anschauungen dagegen fand Chamber¬
lain Gelegenheit genng im Stadträte von Birmingham, dem er seit 186!)
angehörte. Schon als einfacher Stadtratabgeordneter war er eine treibende
Kraft, und als er 1874 den Bürgermeisterstuhl einnahm, begann eine neue
Zeit für Birmingham, die Zeit des städtischen Sozialismus.
Der große Neformeifer der dreißiger Jahre, der aus dem mittelalterlichen
feudalen Großbritannien einen modernen Staat machte, hatte auch die Städte
auf die gesunde Grundlage der Selbstverwaltung gestellt. Doch konservativ,
wie unsre angelsächsischen Vettern sind, machte» sie lange nur einen beschränkten
Gebrauch von der sich darbietenden Möglichkeit, das städtische Leben selbständig
zu entwickeln, und noch heute giebt es eine starke Partei, die mit Erfolg gegen
die Verleihung großer Machtbefugnisse an die städtischen Körperschaften auf¬
tritt. In Birmingham hatte diese Partei kein Glück. Chamberlain schob ohne
Gnade alles, was widerstrebte, beiseite, und als er nach zweimaliger Wieder¬
wahl seine Würde niederlegte, konnte er auf eine Amtszeit zurückblicken, die,
bei nur dreijähriger Dauer, um Fruchtbarkeit in umfassenden Neuerungen nicht
leicht übertroffen wird. Die Stadt hatte die Gasanstalten wie die Wasserwerke
angekauft, sehr zum Vorteil der Einwohner; denn nicht nur wurden Gas und
Wasser billiger, sonder« es erwuchs der Gesamtheit ein Nutzen, der sich jetzt
etwa auf hunderttausend Pfund Sterling jährlich beziffert. Außerdem hatte
sie ein großes Gut zur Anlage von Rieselfeldern erworben und endlich, nach
dem Vorbilde des Seiuepräfekten, begonnen, aus den ungesunden, schmutzigen
und winkligen Gassen in der Mitte ein neues Viertel zu schaffen, das allen
neuern Anforderungen entspricht.
Eine große städtische Verwaltung, die Polizei und öffentliche Ordnung,
Beleuchtung, Wasserzufuhr und Entwässerung, Gesnndheitsorge, öffentliche
Bauten und örtliche Gesetzgebung auf ihren Schultern hat, erfordert gewiß
nicht unbedeutende Gaben. Der Erfolg im städtischen Parlament reizte
Chamberlain dazu, die Kräfte auch im staatlichen zu erproben; und schon im
Jahre 1376 trat er in den großen Debattirklub zu Westminster als Abgeord¬
neter für Birmingham und Mitglied des radikalen Flügels der liberalen Partei,
die damals Ihrer Majestät allergetreuste Opposition war. In allen Parla¬
menten spielt die Mehrzahl der Abgeordneten nnr die Rolle eines Opernchors.
Sie sind dazu gewählt, auf Befehl der Führer einzuschwenken wie die Rekruten.
Je weniger Parteien, umso geringer die individuelle Bedeutung des Abgeord¬
neten, wenn er es nicht versteht, sich innerhalb der Partei zur Geltung zu
bringen. Im britischen Unterhause, das 670 Mitglieder zählt und erst seit
ungefähr fünfundzwanzig Jahren zu seinen beiden alten Parteien eine dritte,
die irische hat, ist die Mannszucht immer scharf gehandhabt worden, und die
Einpeitscher, wie die Herren geschmackvoll benannt werden, spielen eine wichtige
Rolle. Chamberlain war jedoch keineswegs gesonnen, im Hanse der Gemeinen
nur als Gemeiner zu dienen. Sein Ehrgeiz trieb ihn in die Höhe und stachelte
ihn an, andern seinen Willen aufzuzwingen. Freilich leicht und ohne Gefahr
ist solch ein Ziel nicht zu gewinnen. Lord Randolph Churchill kam bei seinein
Versuche, Salisbury zu meistern, zu Fall. Chnmberlain wollte, wagte und
gewann.
Bisher hatten sich die Radikalen bescheiden im Hintergrunde gehalten,
waren zufrieden gewesen mit den Brocken, die ihnen die liberale Partei zu¬
kommen ließ. Das wurde mit Chamberlains Eintritt anders. Er hatte etwas
von dem Geiste Parnells in sich, der Gladstone bekehrte, indem er sich ihm
unangenehm machte. Eine nationale Macht wie die irische Partei hatte
Chamberlain zwar nicht hinter sich; aber die Radikalen waren stark genng,
den Liberalen große Verlegenheiten zu bereiten, während ihre Schärfe gegen
die Konservativen sie als Mitstreiter sehr wertvoll machte. Die hieraus sich
ergebende Politik war, die Radikalen möglichst selbständig zu halten und
nötigenfalls, wie es einmal wirklich geschah, den Liberalen die Gefolgschaft
auszusagen. Der Erfolg gab Chamberlain Recht, die Radikalen wurden ein¬
flußreich. Unabhängig hiervon sicherte sich Chamberlain seine Stellung auch
durch unmittelbares Einwirken auf die Wähler. Die alten Parteien hatten
eine durch die Interessen von Ackerbau und Handel gesicherte Stellung. Die
Radikalen mußten den Mangel eines solchen festen Rückhalts durch verbesserte
Organisation wettzumachen suchen, und wie Parnell durch die Landliga zum
ungekrönten König von Irland wurde, so errang sich Chamberlain politische
Macht durch den nationalen Verband liberaler Vereine, der seinen Sitz in
Birmingham und ihn zum Vorsitzenden hatte.
Wie wertvoll der Verband als Wahlmaschine war, zeigte sich bei den
Wahlen des Jahres 1880, die der Laufbahn Beaconsfields ein Ende machten.
Nun war der Vorsitzende dieses Verbands eine zu gewichtige und möglicher¬
weise gefährliche Person, als daß man ihn hätte beiseite lassen können. Ob¬
wohl er als Parlamentarier noch jung und ein Neuling in der Politik war,
wagte niemand ihm den Kabinettrang streitig zu machen, und Gladstone, der
nun aus seiner Zurückgezogenheit wieder in die Arena trat, nahm ihn als
Präsidenten des Handelsamts in sein Ministerium. Gladstones Rückkehr zu
den Geschäften war kein glücklicher Schritt. Er konnte die reformatorischen
Thaten seines ersten Ministeriums nicht wiederholen, und den beginnenden
Zerfall der liberalen Partei vermochte er ebenso wenig aufzuhalten. Die
Periode der konstitutionellen Neuerungen war vorüber, aber für soziale Re¬
formen, wie sie die neue Zeit erheischte, war die liberale Partei nicht geschaffen,
weil sie sich von den Grundsätzen des Manchestertums nicht lossagen konnte.
Gladstones Führerschaft hielt zwar die Radikalen noch bei den Liberalen, aber
die radikale Vertretung im Kabinett war eher ein Element der Schwäche als
der Stärke, da Chamberlain sich nicht in den Hintergrund drängen ließ,
und die Politik der neuen Regierung dadurch der Einheitlichkeit beraubt
wurde.
Um Chamberlains Laufbahn zu verstehen, ist es nötig festzuhalten, daß
er, welcher Partei er auch angehören mag, in erster Linie Chamberlain ist
und nur in zweiter Parteimann. Er war radikal in seinen Grundanschauungen,
und sein Radikalismus war auf derselben trügerischen Grundlage aufgebaut
wie der seiner Parteigenossen. Er glaubte an Rousseaus Ooiirrg-t 8voig.1, von
dem die historische Wissenschaft nichts weiß, und sah in der von ihm angestrebten
Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen eine Rückkehr zu den Zustünden
einer glücklichen Kindheit des menschlichen Geschlechts. Er war auch Manchester¬
mann, aber, und hier kommt Chamberlain zum Durchbruch, er war kein
Prinzipienreiter, sondern ein praktischer Mann, der im Sturme auch ein paar
untergeordnete Sätze seines Programms über Bord wirft, wenn er damit sein
Schiff und den Rest der Ladung in den Hafen bringen kann. Das geopferte
Gut kann ja später bei Gelegenheit wieder aufgefischt werden.
Als Geschäftsmann, der mit den Dingen handeln muß, wie sie sind, uicht
wie sie sein sollten, erkannte er auch, daß die Große des britischen Reichs
und sein Wohlstand auf dem Handel beruht, und daß die Kolonien als Absatz¬
gebiete für das Mutterland um so bedeutender werden, je mehr andre Nationen
im internationalen Wettbewerb vorankommen. Ihm blieb nicht verborgen, daß
das britische Gewerbe- und Handelsmonopol einer vergangnen Zeit angehört.
Die Verbesserung der Lage der britischen Arbeiter aber ist nur möglich, wenn
der britische Gewerbfleiß seine Erzeugnisse absetzen und die britische Flotte den
Handel schützen kann. So kam er, ungleich andern Radikalen, zu dem folge¬
richtigen Schlüsse, daß radikale Ziele mit imperialistischen Bestrebungen sehr
wohl vereinbar seien. So ist es gekommen, daß der Radikale Chamberlain
heute für Flottenvermehrung und Kolonien eintritt wie nur ein Jingo. Es
wird noch lange dauern, bis unsre deutschen Radikalen zu gleichem Schlüsse
gelangen.
Wenn Gladstone in der innern Politik keine großen Erfolge mehr erringen
konnte, so war dies noch mehr der Fall in den äußern Angelegenheiten. Mit
Beaconssield ging der Mann von der Bühne, der es trotz seines theatralischen
Auftretens verstanden hatte, Englands Stimme im europäischen Völkerrate
gewichtig zu machen. Beaconsfields triumphartige Rückkehr vom Kongreß in
Berlin bezeichnete auch den Höhepunkt des britischen Einflusses. Gladstone
kehrte sofort die Politik seines Vorgängers um, oder, wo er sie beibehielt,
wie in der Transvaalangelegenheit, führte er sie in solcher Weise weiter, daß
er das Unglück geradezu heraufbeschwor. Die Niederlage von Mcijuba Hill
wie der Tod Gordons fallen ihm zur Last, und seine Schuld wird nur da¬
durch gemindert, daß das ganze Kabinett mitschuldig war. In Afghanistan
wurden errungne Erfolge aufgegeben, und die Rolle eines Beschützers der
Türkei verwandelte sich in die eines kleinlichen Gegners, wodurch das Ansehen
Englands im Orient keineswegs verbessert, die Türkei aber dem russischen
Bären in die Hände getrieben wurde.
Das Kabinett, das Friede, Einschränkung und Reform auf seine Fahne
geschrieben hatte, sah sich so in einer Reihe von Verwicklungen, die Ein¬
schränkung und Reform einfach unmöglich machten und nicht immer rühmlich
verliefen. In der ganzen Gladftonischen äußern Politik herrscht ein zögernder
Geist, der, anstatt den Ereignissen entgegenzugehen, sie abwartet oder von
ihnen überrascht wird, dabei niemand Vertrauen schenkt und dementsprechend
auch kein Vertrauen erweckt. Mehr oder weniger ist diese Politik auch auf
die Nachfolger übergegangen. Sie trägt jedenfalls die Hauptschuld an der
Vereinsamung Englands. Zwar nennt man das Ding svIsQäick Isolation,
doch der Stolz, mit dem sich John Bull brüstet, hat eine verzweifelte Ähn¬
lichkeit mit der Gemütstimmung unsers alten Freundes Reineke, als er die
Trciubeu so hoch hängen sah. Wieweit Chamberlain diese auswärtige Politik
Gladstones beeinflußte, ist fürs erste dem profanen Auge verschlossen. Aber
Türkenfeindschaft und Kurzsichtigkeit in äußern Angelegenheiten sind so sehr
radikale Eigentümlichkeiten, daß es wunderbar wäre, hätte er ihr nicht mit
vollem Herzen beigepflichtet und Gladstone in seinem Vorgehen bestärkt.
Imperialistische Ideen brauchen dem nicht im Wege zu stehen.
In innern Fragen trat der Mangel an Einheit im Kabinett bald, in
voller Schürfe zu Tage. Die äußern Verwicklungen bewogen den friedlichen
Quäker John Vright, das Kabinett zu verlassen, die innern führten zum Rück¬
tritte von drei andern hervorragenden Politikern, von denen der Herzog
von Argyll sich später den Unionisten angeschlossen hat.
Die Hauptschwierigkeit, die alle übrigen überragte, war die irische.
Parnells Genie hatte es verstanden, die beiden ungleichartigen Stiere, die
Homerulepartei und die Landliga, die politische und die agrarische Bewegung,
zusammen ins Joch zu spannen und durch ihre vereinte Wucht die englische
Regierung auf die Kniee zu zwingen. Noch nie hatte ein irischer Führer, nicht
einmal der große Volkstribuu O'Connell, eine solche, dazu vortrefflich diszi-
plinirte Macht in die Arena geführt. Nur eine von einem Willen beseelte
Negierung hätte der Bewegung Einhalt gebieten können. Statt dessen war
das Kabinett in sich gespalten. Zwei Parteien hielten sich die Wage, beide
bestrebt, den schwankenden Gladstone zu sich herüberzuziehen; und Gladstone,
bemüht, einen offnen Streit im Kabinett zu verhüten, sah unthätig mit ver¬
schränkten Armen zu, wie Irland mehr und mehr der Anarchie heimfiel. Der
irische Staatssekretär Forster verlangte außerordentliche Gewalten zur Aufrecht¬
erhaltung des Gesetzes, Chamberlain dagegen sah das Heil Irlands einzig in
Reformen. Als aber die Gesetzlosigkeit weiter zunahm, gab Gladstone dem
Verlangen Forsters nach, und Chamberlain hatte außerdem die bittere Pille
zu schlucken, daß die Lamballe von 1881, von der er sich die Heilung aller
Wunden versprochen hatte, vou Parnell verächtlich als elendes Almosen be¬
zeichnet wurde. In der That läßt sich nicht viel zu Gunsten der Akte sagen.
Sie hat nur die Grundbesitzer beraubt und erbittert, ohne die Pächter im
geringsten zufrieden zu stellen.
Bei dem Zustande offnen Aufruhrs, worin sich Irland befand, war
Chamberlains Widerstand gegen Ausnahmegesetze dem Drängen Forsters nicht
gewachsen. Doch nur für den Augenblick. Als trotz der Gefangennehmung
Parnells und andrer irischer Führer, trotz der Aufhebung der Landliga die
Beruhigung Irlands nicht gelingen wollte, erhielt er wieder Oberwasser. Er
überredete Gladstone, den Iren auf gütlichem Wege entgegenzugehen, d. h. vor
Parnell die Flagge zu streichen. Durch Vermittlung Chamberlains, der sich
mit den Iren immer gut gestanden hatte, kam der berühmte Kilmainhamvertrag
zu stände. Gladstone verpflichtete sich zu eiuer von Parnell aufzusetzenden
Vorlage zur Regelung der Pachtrückstände, wogegen Parnell die liberale Partei
zu unterstützen versprach. Für Förster war das genug, er trat von einem Amte
zurück, dessen Führung ihm durch seine Kollegen unmöglich gemacht wurde.
Eine solche Kapitulation kann unter keinen Umständen ehrenvoll genannt
werden und ist nur entschuldbar, wenn ein wirklicher Friede damit erkauft
wird. Aber gerade dieses Ziel wurde durch die würdelose Demütigung der
Regierung nicht im entferntesten erreicht. Parnell war der Führer der Iren,
doch über die amerikanischen Feiner hatte er keine Gewalt. Diese wollten
keinen Frieden, und um den Ausgleich zu hintertreiben, metzelten sie Forsters
Nachfolger, Lord Frederick Cavendish und den ihn begleitenden Burke im
Phönixparke zu Dublin nieder. Für keinen war das Verbrechen ein größerer
Schlag als sür Parnell. Fast am Ziele, sah er die Frucht seiner Arbeit auf
einmal vernichtet. Denn an eine gütliche Auseinandersetzung war fürs erste
nicht mehr zu denken. Nicht daß die Ausführung des Kilmaiuhamvertrags
seine Wünsche erfüllt hatte. Er war nur der erste Schritt auf dem Wege,
aus dem Gladstone nicht wieder herausgekonnt Hütte; aber die Mordthat hatte
eine mächtige Barrikade englischen Zornes über den Weg geworfen, deren
Hinwegräumung jahrelange Arbeit erforderte.
Auch für Chamberlain bedeutete die heimtückische That eine schwere Nieder¬
lage. Die Thatsachen hatten wieder dem Nebenbuhler recht gegeben, der
meinte, Gewalt müsse mit Gewalt bekämpft werden. Der Staatsmann Cham¬
berlain hatte sich kurzsichtig erwiesen, doch den Politiker rührte das nicht.
Politiker sind dickhäutig. Der feinfühlige Forster mochte aus dem Kabinett
ausscheiden, weil er seine Pläne hinter seinem Rücken von einem Amtsgenossen
durchkreuzt sah, Chamberlain blieb, trotzdem daß das Kabinett sich zu verschärften
Ausnahmegesetzen genötigt sah und sie bis zum Ende aufrecht erhielt. Für den
Nest von Gladstones Amtszeit hielt Chamberlain seine Finger von dem heißen
irischen Schmortopf und begnügte sich mit der bescheidnern, aber nützlichem
Thätigkeit im Handelsamte, wo er seine Befähigung und Erfahrung, wie an¬
erkannt werden muß, zu mehreren praktischen Gesetzen verwertete.
Im Juni 1885 wurde Gladstone auf kurze Zeit von Scilisbury abgelöst.
Die allgemeinen Wahlen, die nötig waren, gaben den Konservativen nur 249
Sitze, und die Liberalen kehrten als eine Schar von 335 zurück, genau die
Hälfte des Hauses. Das Zünglein der Wage lag also ausschließlich in der
Hand der 86 Parnelliten. Zahlen beweisen nicht nur, sie bekehren auch, und
da die Konservativen es ablehnten, vor Parnell zu Kreuze zu kriechen, so
beugte Gladstone sein Haupt vor dem ungekrönten König von Irland, den er
einst hinter Schloß und Riegel gesetzt hatte, der aber jetzt den Schlüssel zur
Macht in seiner Tasche führte. Als das neue Parlament zusammentrat, wußte
alle Welt, daß Gladstone den Iren weitgehende Zugestündnisse machen würde,
und bei der Abstimmung, die Scilisbury aus dem Amte trieb, stimmten die
Iren an der Seite Gladstones; aber eine Anzahl der Liberalen enthielt sich
der Abstimmung, und achtzehn warfen ihre Stimmen sogar gegen ihren alten
Führer. Die Warnung war deutlich genug. Morleys Befürchtung, daß die
Gewährung von Homerule eine große Partei zerstören würde, begann schon
wahr zu werden. Doch <zuöin clcmZ vult xeräers xrius et<zahlte>g,t,
Chamberlain trägt einen großen Teil der Verantwortung für die ver¬
hängnisvolle Schwenkung Gladstones. Der Staatsmann Chamberlain geriet
wieder in die Brüche. Er hatte sich seit langem bereit erklärt, den Iren
Homerule zu gewähren, soweit es sich mit der Einheit des Reichs vereinigen
ließ. Nach seinem Dafürhalten wäre alle Sehnsucht der Iren damit befriedigt,
die irische Frage aus der Welt geschafft und Raum für soziale Arbeit ge¬
schaffen worden. Nur das eine übersah er dabei, daß seit 1882 mehrere Jahre
verflossen waren, und daß Parnell durch die Thaten der Fenier gewitzigt war.
Parnell durfte nur Zugeständnisse annehmen, die auch den Unversöhnlichen
wenigstens als eine zur Zeit genügende Abschlagzahlung gelten konnten.
, Wie wir schon oben angedeutet haben, sind Chamberlains Lieblingspläne
sozialer Natur und nur ausführbar, wenn Handel und Gewerbe blühen, und
weiter ist er bei allem Radikalismus kein Prinzipienreiter, der die Teilnahme
für ein unterdrücktes Volk bis zur Schädigung des eignen treibt. Die Forde¬
rungen der Iren gingen zu weit, als daß sie mit der Sicherheit des Reichs
vereinbar gewesen wären. Vermöge seiner Lage konnte ein selbständiges und
feindliches Irland zur größten Gefahr für Großbritannien werden. Was er
zu gewähren bereit war, genügte den Iren jetzt so wenig wie seinerzeit die
Lamballe von 1881. Der große Fehler, den Chamberlain beging, war also,
daß er Gladstone auf eine Bahn trieb, die er nicht mehr verlassen konnte,
während er selbst nicht Willens war, ihm mehr als eine gewisse Länge Wegs
zu folgen. Die alten Whigs, wie Hartington, Goschen, James und Lubbock,
lehnten von vornherein ab, sich auf Homerule einzulassen. Chamberlain trat
zwar noch in das neue Kabinett ein, aber schon am 15. März trennte er sich
von seinem Führer, wenn Gladstone als Führer dessen betrachtet werden kann,
der den Weg in den Sumpf gewiesen hat.
Feindschaft verfolgte hinfort die Liberalen, die eine Beteiligung an Glad-
stones Abenteuer ablehnten, aber giftiger, grimmiger Haß war das Los Cham-
berlains. Er war ein Verräter, ja es wurde ihm nachgesagt, er sei in das
neue Kabinett nur eingetreten in der teuflischen Absicht, das Schiff zum
Scheitern zu bringen. Daß dem nicht so war, liegt auf der Hand. Ein
Verräter hat persönliche Vorteile im Auge, und sür Chamberlain bedeutete
sein Rücktritt den Verlust der Anwartschaft auf die Führung der liberalen
Partei nach Gladstone und, da die Zukunft sich nicht voraussehen läßt, viel¬
leicht die Zurückgezogenheit des Privatlebens für den Nest seiner irdischen
Laufbahn. Der Politiker hat die kurzsichtigen Fehler des Staatsmannes zu
büßen. Manch andrer hätte freiwillig seine politische Thätigkeit nach einem
solchen Bruche mit den Parteigenossen eingestellt. Nicht so Chamberlain. Der
Politiker sällt wie eine Katze immer auf die Füße und bricht sich so leicht
nicht das Rückgrat. Die radikal-liberale Ära schloß ab sür ihn, das war alles,
und die radikal-konservative begann.
Freilich so schnell, wie es sich schreiben läßt, vollzog sich die Scheidung
nicht. Ein erbitterter Feind der Konservativen konnte nicht über Nacht zum
Freunde und Teilhaber der Firma Salisbury und Komp. werden. Solange
als möglich suchte er den alten Genossen gegenüber eine wohlwollende Neutra¬
lität zu bewahren, und bis zur Abstimmung über Gladstones Homerulevvrlage
mag er noch eine Verständigung sür möglich gehalten haben, obgleich er seinen
Einfluß im nationalen Verbände der liberalen Vereine verloren hatte und
selbst in seiner eignen Feste Birmingham angegriffen worden war. Die Ab¬
stimmung besiegelte die Trennung. Chamberlain war einer der viernndneunzig
Liberalen, die mit den Konservativen die Vorlage zu Fall brachten. Noch
einmal zwar versuchte er eine Ausfüllung der Kluft; doch die Mühe war ver¬
geblich, und er hätte den Versuch nicht unternommen, wenn er staatsmännischen
Blick gehabt hatte. Wohl hätte Gladstone mit Freuden ein fettes Kalb, eine
ganze Herde fetter Kälber geschlachtet, um die Rückkehr des Verlornen Sohnes
zu feiern — von seinem Homernleprogramm konnte, durfte er nicht ablassen,
aus Furcht vor dem irischen Shylock.
Die Whigs empfanden die Trennung weniger als der radikale Chamberlain.
Ihnen war die Neigung Gladstones zu den Radikalen schon längst unheimlich
gewesen, und sie hatten im Grunde mehr mit den gemäßigten Tories gemein
als mit den himmelstürmenden Titanen des Alten von Hawarden. Für Cham¬
berlain lag die Sache anders. Ihm war schon ein Mann wie Hartington zu
konservativ, und keiner von beiden hatte für den andern viel Liebe übrig.
Wenn also Chamberlain sich auch Hartingtons Anhängern, den liberalen
Unionisten zugesellte, in Wahrheit war er ein Wilder, bis er sich mit seiner
Thatkraft und Zähigkeit eine herrschende Stellung in dem neuen Feldlager
erzwungen hatte. Für eine Natur wie die seiue ist eben Herrschaft ein Lebens¬
bedürfnis. Lieber steht er allein als untergeordnet. Als er zuerst ins Par¬
lament trat, war sein Ziel, die Radikalen zu führen. Er setzte es durch.
Darm wollte er die Liberalen leiten, und er unterwarf Gladstone seinem Willen.
Jetzt verwies ihn das Schicksal auf die sezessionistischen Whigs; nach wenigen
Jahren, als Hartington Herzog von Devonshire wurde, wählten sie ihn zu
ihrem Haupte, und jetzt — nun, es sollte uns nicht wundern, wenn er von
den Konservativen zum Nationalheiligen erklärt und seine Bildsäule mit
einem mächtigen Heiligenschein in der Westminsterabtei aufgestellt würde.
Die Neuwahlen, die auf den Fall der Homerulevorlage folgten, hatten
ein ebenso sonderbares Ergebnis wie die von 1885. Gladstones Anhang
schmolz zusammen, und Salisburys Mannen erschienen in verstärkter Zahl;
aber so wenig wie früher die Liberalen eine absolute Mehrheit erhalten hatten,
so wenig jetzt die Konservativen. Nur lag der Ausschlag diesmal nicht in
den Händen Parnells, sondern bei den liberalen Unionisten, deren fünfundsiebzig
Stimmen die Lage beherrschten. Eine arbeitfähige Regierung war daher nur
möglich durch ihre Unterstützung. Nachdem Salisburys Anerbieten, zu Gunsten
Hartingtons zurückzustehen, abgelehnt worden war, kam eine Einigung zustande
auf der Grundlage, daß die Konservativen das Kabinett bildeten, während die
liberalen Unionisten sich mit der Stellung nichtamtlicher, aber darum nicht
weniger einflußreicher Berater begnügten. Nur Goschen trat später in die
Stelle Nandolph Churchills im Kabinett. Wie die Dinge lagen, war dieser
Ausgleich sicher der beste. Das Ministerium würde, was es an Talenten
gewann — und die besten Köpfe der Liberalen hatten Gladstone verlassen —,
an Einheitlichkeit eingebüßt haben, und innere Kämpfe hätten nicht ausbleiben
können in einer Verwaltung, die aus Konservativen, Liberalen und Radikalen
zusammengesetzt war und fürs erste nur durch ein negatives Band, das der
Abneigung gegen Homerule, zusammengehalten war.
Chamberlain wäre jedenfalls in einem solchen Kabinett an der unrechten
Stelle gewesen. Innerhalb eines Monats wäre es durch sein eigenwilliges
Gebahren gesprengt worden. Er war besser draußen, und von der Freiheit,
Zensur zu üben und den Cato zu spielen, machte er den ausgiebigsten Gebrauch,
nicht sehr zur Befriedigung der Bundesgenossen, die wohl manchmal zum
Himmel um Schutz vor dem neuen Freunde seufzten.
(Schluß folgt)
in 7. Dezember 1741 ließ sich König Friedrich II. im Rathause
zu Breslau von den schlesischen Ständen huldigen, und schon
am Tage darauf eröffnete er den Vertretern der Stände, daß
er gedenke, binnen Jahr und Tag eine neue Klassifikation aller
Güter und alles Einkommens zustande zu bringen und darauf
die Kontribution zu bestimmen, sodaß jeder Ort wisse, was und wieviel er
jedesmal zu entrichten habe. Unverzüglich wurde unter Münchows Leitung
die Herstellung des neuen Katasters begonnen, schon im Februar 1742 fand
im Kreise Schwiebus versuchsweise eine Veranlagung statt, kurz darauf im
Kreise Frankenstein, Mitte Dezember 1742 war man mit siebenthalbhundert,
Ende Februar 1743 mit mehr als zweitausend Dörfern, im ganzen mit zwei¬
undzwanzig Kreisen fertig, und in elf andern ging man eifrig vorwärts. Ende
Mai konnte Münchow dem Könige melden, daß in dem gesamten Nieder¬
schlesien das Werk beendet sei. Sofort wurde die Thätigkeit in Oberschlesien
und Glatz fortgesetzt, die inzwischen erworben worden waren. Schon im
August war man mit sechshundert Dörfern fertig; die vollendete Klassifikcitions--
tadelte von Oberschlesien konnte im Oktober, die von der Grafschaft Glatz am
1. November überreicht werden.
Ob die preußische Verwaltung eine solche Aufgabe in so kurzer Zeit auch
heute noch bewältigen würde? Wir fürchten, daß die Frage verneint werden
muß. Im Sommer 1897 ist dieselbe Provinz Schlesien schwer durch Über¬
schwemmungen heimgesucht worden, und allgemein war die Klage, daß der
Verwaltnngsapparat versagt habe. Ebenso war es im Jahre 1889 bei dem
großen Streik der Bergarbeiter in Westfalen und in andern Fällen, wo un¬
gewöhnliche Ereignisse eingetreten waren, und es wäre dringend erwünscht, daß
endlich einmal genau geprüft würde, worauf diese Schwäche unsrer Verwaltung
beruhe.
Im Jahre 1894 erschien das Buch „Reform oder Revolution" des Ge¬
heimrath von Massow, und in einem Aufsatze der Grenzboten wurde damals
gesagt, daß die Gesellschaft von allen guten Geistern verlassen sein müßte,
wenn sie an diesem Buche stumpfsinnig vorüberginge. Wir wissen nicht, ob
das Buch in weitern Kreisen Eindruck gemacht hat, aber sicher ist, daß die
preußische Verwaltung von dem, was Massow gesagt hat, völlig unberührt ge¬
blieben ist, obgleich das Buch doch in erster Linie für Verwaltungsbeamte be¬
stimmt war und ein ganzes Kapitel der Reform der Staatsverwaltung ge¬
widmet ist. Wir empfehlen jedem, der sich für öffentliche Angelegenheiten
interessirt, dieses Kapitel nachzulesen; das Bild, das darin von der preußischen
Verwaltung entworfen wird, ist zwar wenig erfreulich, aber es ist richtig, und
man muß es kennen, um zu wissen, wie den vorhandnen Übelständen zu
steuern sei.
An der Spitze der Ressorts stehen die Minister, allmächtig und doch bei
dem großen Umfange der Geschäfte thatsächlich abhängig von den vortragenden
Räten, die in ihrer Laufbahn vielfach recht wenig Gelegenheit gehabt haben,
die Bedürfnisse der Bevölkerung kennen zu lernen, nur in seltnen Fällen vom
grünen Tische wieder ins praktische Leben zurückkehren und daher auch wenig
geeignet sind, der zukünftigen Entwicklung vorzuarbeiten. Bei den Regierungen
ebenso wie in den Ministerien arbeiten Spezialdezeruenten, die, da es meist
Assessoren sind, oft wechseln, den Bezirk nicht kennen und aus den Akten ver¬
fügen. In der untersten Instanz sitzen Landräte, die oft genug gar nicht in
ihren Kreis fahren und bisweilen den Geschäften überhaupt nicht gewachsen
sind. Dazu kommt ein überaus schleppender Geschäftsgang, der täglich Un¬
zufriedenheit erweckt und Beschwerden hervorruft, keine sürsorgende Arbeit,
sondern Erledigung der Geschäfte von einem Tag auf den andern, und En¬
queten, wenn es nötig ist, sich über eine Frage Klarheit zu verschaffen.
Wie kommt das nun? Sind unsre Beamten soviel unfähiger als früher?
Wir glauben, daß das nicht der Fall ist. Es giebt nur eine Antwort auf
die Frage: es fehlt die unmittelbare Aufsicht des Monarchen. Die preußischen
Könige sind deutsche Kaiser geworden, die Ansprüche, die an sie gestellt werden,
sind unendlich gewachsen, und ihre persönliche Fürsorge, ihr Interesse gehört
im wesentlichen der Armee, nicht mehr der Verwaltung. Massow erzählt, daß
König Friedrich Wilhelm IV. zuletzt der Sitzung einer Negierung präsidire
und Zivilbehörden revidirt, überhaupt sich um Einzelheiten der Verwaltung
gekümmert habe. Seit Einführung der Verfassung ist das nicht mehr ge¬
schehen, es scheint, als ob das Jahr 1848 dieses persönliche Verhältnis be-
heilige habe und also auch in dieser Beziehung einen Abschnitt in unsrer Ge¬
schichte bedeute. Da aber in Preußen, so wie es historisch geworden ist, jeder
Impuls vom Königtum ausgeht, so revidiren auch die Oberpräsidenten nicht
mehr die Regierungen, obgleich sie dazu nach der Instruktion vom 31. De¬
zember 1825 ausdrücklich verpflichtet sind, und die Regierungspräsidenten revi¬
diren nicht mehr die ihnen unterstellten Landratsämter und Gemeinden. Die
Aufsicht fehlt, der Ansporn zu energischer Thätigkeit, und damit ist es still
geworden in der Verwaltung. Das muß unbedingt anders werden, aber die
Reform kann nur von oben kommen. Nur die Hohenzollern, die unsre Ver¬
waltung groß gemacht haben, können sie zu neuem Leben erwecken, und darum
muß zunächst der komplizirte Verwaltungsapparat unter die unmittelbare
Aufsicht des Königs gestellt werden. Die Zeiten Friedrich Wilhelms I. und
Friedrichs des Großen werden freilich nicht wiederkehren, aber das ist auch
nicht nötig, es wäre vielleicht nicht einmal ein Glück. Aber jeder Verwaltungs¬
beamte muß wieder wissen, daß seine Verdienste sowohl wie seine Fehler an
Allerhöchster Stelle bekannt sind, daß seine Wirksamkeit nicht nur von wechselnden
Ministern kontrollirt wird. Unser alter Kaiser hat die Armee reorganisirt,
der Enkel, dem es ja an Energie nicht fehlt, würde sich ein sehr großes
Verdienst erwerben, wenn er seine Aufmerksamkeit einmal der Reform der Ver¬
waltung zuwenden wollte.
Die erste und bedeutsamste Aufgabe jeder Verwaltung ist es, die Tüchtigen
von den Untüchtigen zu sondern und auf jeden Platz den richtigen Mann zu
stellen. Warum werden denn nun die Personalien der Offiziere im Militär¬
kabinett unter unmittelbarer Aufsicht des Monarchen bearbeitet, die der Be¬
amten aber in den Ministerien? Allerdings erfolgt ja die Anstellung aller
höhern Beamten durch den König, aber in den weitaus meisten Fällen handelt
es sich dabei doch nur um die Form, die Auswahl trifft thatsächlich der
Minister. Nun haben wir seit dem Sommer 1888 den vierten Minister des
Suram, die durchschnittliche Lebensdauer betrug also noch nicht zweieinhalb
^Jahre, und es kann nicht anders sein, als daß durch einen so häufigen Wechsel
-die Verhältnisse der Verwaltung empfindlich beeinflußt werden. Entweder werden
idie Personalien im Ministerium von einem Beamten bearbeitet, der hierfür
-nicht hoch genug steht, oder die Minister bearbeiten sie selbst, dann ändert sich
-der.Gesichtspunkt, unter dem das geschieht, so oft wie die Minister wechseln.
Von einer Stetigkeit wie in der Armee kann keine Rede sein. Damit hängt
es auch zusammen, daß in den Zivilverwaltungen, wie jeder Eingeweihte weiß,
persönliche Beziehungen eine sehr große Rolle spielen.
Bei diesem Punkte müßte also eine verstündige Reform einsetzen. Die
-Aussicht über die Dienstführung der Beamten und die Vorschläge sür ihre An¬
stellung und Beförderung müßten den wechselnden Ministern entzogen und dem
Zivilkabinett übertragen werden, die Wirkung würde sich sehr bald zeigen.
Man muß wissen, was es bedeutet, wenn in Preußen der König für irgend
eine Angelegenheit besondres Interesse gezeigt hat, oder etwa seine Anwesenheit
in einer Provinz erwartet wird. Da wird Tag und Nacht gearbeitet, tele-
graphirt und telephonirt, daß es eine Lust ist, und in kurzer Zeit sind
Schwierigkeiten beseitigt, zu deren Bewältigung sonst Jahre nicht genügt
hätten. So würde die dauernde Aufsicht des Monarchen einen ganz andern
Geist in die Verwaltung bringen, und mit Leichtigkeit würden sich dann die
Änderungen durchführen lassen, auf die man im andern Falle noch lange wird
vergeblich warten können.
Was not thut sind besonders drei Dinge: Vereinfachung der Verwaltung,
Beschleunigung des Verkehrs mit dem Publikum, und die Erwerbung genauer
Kenntnisse des Landes und seiner Verhältnisse. Soeben ist bei Carl Heymann
in Berlin der erste Teil einer kleinen Schrift des Oberverwaltungsgerichtsrats
Dr. Scheffer erschienen mit dem Titel: Einführung der Meerbuchten in die
innere Verwaltung. Der Verfasser bespricht kurz die Vorschläge die für eine
grundsätzliche Änderung der zur Zeit bestehenden Organisation gemacht worden
sind: Übertragung der gesamten obrigkeitlichen Verwaltung erster Instanz,
soweit sie noch bei den Regierungen ist, auf die Landräte; Verminderung der
Instanzen durch Beseitigung der Bezirksregierungen. Er kommt zu dem unsers
Erachtens berechtigten Schlüsse, daß gegen diese Änderungen sehr große Be¬
denken bestünden. Es würden viele historisch gewordne und bewährte Ein¬
richtungen beseitigt werden, und wenn auch mancherlei durch Bericht und Ver¬
fügung verursachtes Schreibwerk wegfallen würde, so wäre doch über diesen
äußerlichen Erfolg hinaus eine durchgreifende Änderung der bestehenden dienst¬
lichen Gewohnheiten nicht verbürgt. Scheffer hält es deshalb für zweckmäßiger,
unter Verzicht auf eine tiefgehende Umwälzung eine Neuerung zu versuchen,
die sich im Rahmen der bestehenden Verwaltungsorganisation lediglich auf
praktischem Boden bewegt. Er sagt, daß die Schriftlichkeit im Verwaltungs¬
dienst einen zu großen Raum einnehme, und daß sich die Thätigkeit im wesent¬
lichen verkörpere im Berichte und in der Verfügung. Persönliche Anregung,
sicheres Vorgehen, organisatorische Thätigkeit würden vielfach zurückgestellt
hinter die Anforderungen, die an einen nach Form und Inhalt geschickten,
mühevoll ausgearbeiteten Bericht gestellt würden. Ähnlich sei es bei der Ver¬
fügung, die der Dezernent meistenteils nach dem Inhalt des ihm vorgelegten
Berichts entwerfe. Scheffer schlägt deshalb vor, die Mündlichkeit durch Ein¬
fügung von obligatorisch und regelmäßig abzuhaltenden Verhandlungstagen
in den Dienstorganismus grundsätzlich einzuführen. Auf diesen Verhandlungs¬
tagen sollen etwa folgende Angelegenheiten erledigt werden: 1. die von der
Zentralstelle zur Erörterung gebrachten Angelegenheiten wichtigern Charakters,
die im Runderlaß und Rundbericht behandelt zu werden Pflegen; 2. all¬
gemeine, von den Vorgesetzten zur Erörterung gebrachte Angelegenheiten niederer
Bedeutung (Auskunftserteilungen, kleinere Gutachten, Mitteilungen zur Kenntnis¬
nahme); 3. Sachen wichtigern Charakters, namentlich auf dem wirtschaftlichen
Gebiete; 4. besondre Angelegenheiten eines Bezirks, deren Vorbereitung und
Durchführung dem untergebnen Beamten Schwierigkeiten macht; 5. vertrau¬
liche Angelegenheiten.
Über die Verhandlungen soll eine den Untergebnen zuzustellende Registratur
aufgenommen werden, in der das Ergebnis der Einzelberatungen vermerkt
wird. In dieser Weise soll der Landrat mit seinen Untergebnen (Bürger¬
meistern, Amtsvorstehern), sowie mit den nebengeordneten Beamten (Kreisschul¬
inspektor, Kreisphysikus, Kreisbaumeister, Kreistierarzt) gemeinsam beraten, der
Regierungspräsident mit den Landräten, der Oberpräsident mit den Regierungs¬
präsidenten. Von einer solchen Einrichtung erhofft Scheffer eine gesunde Ver¬
einfachung der Verwaltung und eine außerordentliche Verminderung des Schreib¬
werks. Die Einheitlichkeit und das gleichmäßige, thatkräftige Vorgehen der
Verwaltung würden gewinnen; die Initiative und Stetigkeit in der Verfolgung
der Verwaltungsziele wären gesichert; die kleinliche, lediglich formale Be¬
handlung der Verwaltungsangelegenheiten würde abnehmen.
Wir müssen gestehen, daß wir diesen Vorschlägen etwas skeptisch gegen¬
stehen. Scheffer sagt selbst, daß die regelmäßige Pflege der amtlichen Be¬
ziehungen immer im Wege der Schriftlichkeit werde erfolgen müssen. Für die
große Masse der Sachen würde also auch seiner Ansicht nach der jetzt übliche
Geschäftsgang bestehen bleiben, wie das auch gar nicht anders möglich ist.
Im übrigen würden sich aber sehr bald große Schwierigkeiten ergeben. Bei
den Beratungen der Oberpräsidenten mit den Regierungspräsidenten würden
diese bei dem außerordentlichen Umfange der Geschäfte ohne die Unterstützung
ihrer Dezernenten in speziellen Fragen vielfach kaum Auskunft zu geben in der
Lage fein, die Erörterung würde sich also auf Dinge allgemeiner Natur be¬
schränken müssen, die ebenso gut bei gelegentlicher Anwesenheit des Ober¬
präsidenten am Sitze der Regierungen erfolgen kann. In der untersten Instanz
pflegen derartige Besprechungen, etwa mit dem Kreisphysikus oder dem Kreis¬
baumeister, formlos bei den sich häufig bietenden Gelegenheiten abgemacht zu
werden. Ob aber regelmäßige Zusammenkünfte der Untergebnen des Landrath
überhaupt zu erreichen wären, ist doch sehr zweifelhaft. Die Geschäfte der
Amtsvorsteher besorgen im Osten der Monarchie fast ausschließlich die großen
Grundbesitzer, die oft in weiter Entfernung von der Kreisstadt wohnen. Werden
diese, die schon jetzt über die Häufung der Geschäfte klagen, geneigt sein, zu
regelmäßigen Besprechungen in die Kreisstadt zu fahren? Und wenn sie es
thun, werden sie nicht bald zu der Ansicht kommen, daß der Zeitverlust in
keinem Verhältnis stehe zum Gewinne? Man muß wissen, wie in den Amts¬
bezirken die Geschäfte vielfach erledigt werden; mit der Selbstverwaltung müßte
man bei der Durchführung der Schesferschen Vorschlüge jedenfalls brechen. In
Hessen und in Nassau giebt es überhaupt keinen Amtsvorsteher, soll dort der
Landrat mit den Bürgermeistern der Landgemeinden in allgemeinen Konferenzen
verhandeln? Man muß ein großer Optimist sein, um davon einen Erfolg zu
erwarten.
Den verhältnismäßig größten Nutzen könnte man sich noch von den Ve¬
ratungen der Regierungspräsidenten mit den Laudräten versprechen. Hier
würde allerdings die mündliche Erörterung von Fragen allgemeiner Bedeutung
oft von Vorteil sein. Die Anwesenheit der Dezernenten würde eine gründliche
Erörterung ermöglichen. Nun pflegen aber jetzt schon solche Regierungs¬
präsidenten, denen die Wohlfahrt ihres Bezirks wirklich am Herzen liegt, bei
der Durchführung von Gesetzen, bei einem Erlaß allgemeiner Anordnungen,
bei der Einführung neuer oder der Verbesserung bestehender Einrichtungen die
tüchtigsten Landräte ihres Bezirks zu Besprechungen zusammenzuberufen, und
es würde nur einer Anregung von oben her bedürfen, um derartige Be¬
sprechungen allgemein einzuführen. Daß aber davon eine Verminderung des
Schreibwerks zu erwarten wäre, glauben wir nicht. Zunächst muß man
berücksichtigen, daß viele Landräte den Geschäften durchaus nicht so gewachsen
sind, daß sie sich an solchen Verhandlungen mit Erfolg beteiligen könnten;
dann aber würde die Erörterung einer großen Zahl spezieller Angelegenheiten
auch den tüchtigen Laudräten nicht leicht fallen. Die Geschäfte sind eben so
verwickelt geworden, daß es ohne Information aus den Akten kaum mehr
abgeht. Man denke sich, daß der Minister in irgend einer Sache Bericht
fordert. Es wird mit den Landräten mündlich darüber verhandelt, diese
unterrichten sich darauf in ihrem Kreise, und ans dem nächsten Verhandlnngö-
tage wird die Sache vorgetragen. Soll dann der Dezernent bei der Regierung
seinen Bericht nach diesen Vorträgen machen? Wie viel solche Sachen glaubt
man an einem Tage verhandeln zu können?
Und doch steckt in den Vorschlägen Scheffers ein sehr guter Kern. Wenn
von oben her etwas mehr Leben in die Verwaltung gebracht werden würde,
wenn jeder Beamte wüßte, daß er jeden Augenblick darauf gefaßt sein muß,
über die verschiedenartigsten Fragen mündlich oder schriftlich Aufklärung zu
geben, ohne daß ihm Zeit gelassen wird, sich durch Anfragen zu unterrichten,
dann würden sich mündliche Besprechungen, wie Scheffer sie wünscht, von
selbst einstellen. Der Gewinn wäre sehr groß, aber allein damit ist es nicht
gethan.
Wenn, wie Scheffer richtig hervorhebt, die Berichterstattung an die vor¬
gesetzten Behörden den größten Zeitaufwand verursacht, dann sind wir mit
Massow der Ansicht, daß einmal die Kompetenzfrage für alle Behörden aller
Ressorts geprüft werden muß mit dem Grundsatz, da, wo die untere Behörde
gut entscheiden kann, die Berichterstattung nach oben abzuschaffen. Die Ab¬
hängigkeit nicht nnr der untern Instanzen, sondern auch der untern Regierungen
ist unglaublich groß; über die geringfügigsten Dinge wird oft mit einer Aus¬
führlichkeit berichtet, die zur Bedeutung der Sache in keinem Verhältnis steht.
Darin liegt ein Mangel an Vertrauen zu der Einsicht und Gewissenhaftigkeit
dieser Behörden, der dnrch nichts gerechtfertigt ist; gerade durch diese Unselb¬
ständigkeit der Regierungen wird auch das Schreibwerk vermehrt, da jeder
Bericht einer Regierung Anfragen mindestens bei einem Landrat, oft bei allen
Landräten des Bezirks nötig macht, und jeder Landrat wieder seine Amts¬
vorsteher zum Bericht auffordert. Hier also müßte man einsetzen, um eine
Verminderung des Schreibwerks zu erreichen, und die notwendige Einheitlichkeit
in der Verwaltung wäre herzustellen durch allgemeine Direktiven, deren Be¬
satzung durch Revisionen und Inspektionen bis in die unterste Instanz herunter
festgestellt werden müßte. Ergiebt sich dabei, daß Beamte berechtigten An¬
sprüchen nicht genügen, so sollte man sie ebenso rücksichtslos beseitigen, wie
das mit unfähigen Offizieren in der Armee geschieht, statt sie sorgfältig zu
konserviren, bis sie zu wandelnden Mumien werden.
Die nächste Aufgabe wäre, die Erledigung der Geschäfte möglichst zu
beschleunigen durch eine Vereinfachung des Geschäftsgangs namentlich bei
den Regierungen. Wer bei Massow nachliest, in welchen Formen sich dieser
vollzieht, der wird sich nicht mehr wundern, daß er in ganz geringfügigen
Angelegenheiten oft wochenlang auf einen Bescheid warten muß. Bei einer
Negierung gelangt eine eingehende Sache erst nach vier bis fünf Tagen
zum Dezernenten, und ebenso viel Zeit vergeht, bis sie nach ihrer Erledigung
zur Post getragen werden kann. Ist nun die Eiuforderung eines Berichtes
notwendig, so müssen Wochen vergehen, bis auf die Anfrage oder Beschwerde
eine Antwort erteilt werden kann. Bei gutem Willen ließe sich hier vieles
ändern. Massow bemerkt hierzu: „Ich bin überzeugt, wenn ein Direktor von
Krupp und ein Disponent von Rudolf Hertzog sich einmal zusammen daran
machten, den Geschäftsbetrieb bei einer Negierung zu organisiren, mit der Er¬
mächtigung, ihn nach ihren Uscmeen zu gestalten, Telephon, Schreibmaschine
und Stenographie einzuführen, die Arbeitszeiten zu regeln, das Personal zu
verteilen, sie würden in verhältnismäßig kurzer Zeit dem Geschäftsgange ein
zehnmal schnelleres Tempo geben, ohne daß die Gründlichkeit der Bearbeitung
irgendwie darunter litte." Daß die Behörden des preußischen Staats Ein¬
richtungen wie Telephon und Schreibmaschine nicht kennen, sollte man eigent¬
lich nicht glauben, aber es ist so. Eine Regierung müßte doch mit den andern
Behörden desselben Orts, den Landratsümtern und den Polizeiverwaltungen
der größern Städte des Bezirks telephonisch verkehren können, wieviel Zeit und
Arbeit würde da gespart werdeu. Man nehme den Fall, daß ein Bericht nicht
ganz vollständig ist, oder daß man vergessen hat, einige Vorgänge beizufügen,
die für die Beurteilung der Sache unentbehrlich sind, wie das alle Tage vor¬
kommt. Könnte der Dezeruent den Landrat oder die Polizeiverwaltung durch
das Telephon befragen oder um eilige Nachsendung der fehlenden Papiere er¬
suchen, so würde die Sache sofort oder doch nach kurzer Zeit erledigt werden
können. Statt dessen wird eine schriftliche Verfügung erlassen, bis zu deren
Beantwortung zwei Wochen vergehen. Noch drastischer zeigen sich die Folgen
dieser mangelhaften Einrichtung, wenn zwei Behörden in dieser schleppenden
Weise mit einander verkehren, die an demselben Orte ihren Sitz haben, oder gar
zwei Abteilungen derselben Regierung, die praktischerweise in verschiednen Ge¬
bäuden untergebracht sind. In vielen Fällen würde man überhaupt keinen
schriftlichen Bericht einzufordern genötigt sein, sondern nach einer Unterredung
durch das Telephon und einem kurzen Vermerk über die erhaltne Auskunft in
die Akten die Sache erledigen können — das würde in der That eine Ver¬
minderung des Schreibwerks bedeuten. Für die Benutzung der Telephonein-
richtnngen müßte der preußische Staat mit der Neichspostverwaltung die
Zahlung einer Pauschalsumme vereinbaren, wie das auch für das Porto der
Briefe und Pakete geschehen ist. Die Schreibmaschine hat sich in den großen
privaten Geschäftsbetrieben bewährt, sie müßte also doch auch in der Staats¬
verwaltung mit Erfolg benutzt werden können. Außerdem müßten Formulare
in ausgedehntester Weise benutzt werden. Bei der Expedition der Verfügungen
geschieht das allerdings schon jetzt, die Kanzlei muß dann aber diese Seiten¬
längen Verfügungen Wort für Wort abschreiben, was bei den vielen Zahlungs¬
anweisungen, die täglich an die Regierungshauptkasse ergehen, ganz besonders
überflüssig ist, nicht weniger aber auch bei vielen andern Sachen, die stets in
derselben Form erledigt werden.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, wie es einzurichten wäre, daß
die Beamten sich mehr, als es jetzt geschieht, eine genaue Kenntnis des Landes,
der Bedürfnisse der Bevölkerung erwerben. In erster Linie kommen hier die
Regierungen in Betracht, denn die Landräte werden sich sofort mehr um die
Verhältnisse ihrer Kreise bekümmern, wenn ihre Arbeit im Bureau ver¬
mindert wird, und die, die auch dann noch hinter dem Ofen sitzen, sind eben
für die Verwaltung eines Landratsamts ungeeignet. Nach der Regierungs-
instruktiou vom 23. Oktober 1817 soll jeder Rat alljährlich einen Teil seines
Departements bereisen, um sich Orts- und Persvnenkenntnis zu erwerben und
die Kreis- und Ortsbehörden zu revidiren. Die Abstellung von Mängeln soll
er an Ort und Stelle verfügen und, wenn deren Rüge außer seinem Geschäfts¬
kreise liegt, dem Präsidium Anzeige erstatten. Auf der Reise soll er ein Tage¬
buch führen, dessen Inhalt nach der Rückkehr zum Vortrag zu bringen ist.
Ebenso sollen die Mitglieder des Präsidiums und der Präsident selbst jährlich
einen Teil des Bezirks bereisen, um die Dienstführung der Unterbehörden und
der Departementsräte zu prüfen und selbst die nötige Kenntnis der Verhält¬
nisse zu erwerben. Jedes Mitglied der Negierung soll über den Zustand und
die Geschäftslage seines Departements, von dem, was im Lause des Jahres
geschehen ist und noch zu thun übrig bleibt, einen allgemeinen Bericht er¬
statten, der zum Hauptverwaltungsbericht zu benutzen ist, nachdem vorher das
nötige verfügt worden ist.
Es sind achtzig Jahre verflossen, seit diese Bestimmungen erlassen worden
sind, und doch bedürfen sie kaum einer Änderung oder Ergänzung. Gesetze
und Verordnungen werden sonst bei uns mit peinlicher Gewissenhaftigkeit aus¬
geführt, die Befolgung dieser Bestimmungen ist aber längst außer Gebrauch
gekommen. Reisen werden nur noch gemacht, um besondre Angelegenheiten zu
erledigen, nicht mehr, um Land und Leute kennen zu lernen, Behörden zu revi-
diren und Mängel an Ort und Stelle zu beseitigen. Allgemeine Verwaltungs¬
berichte werden von den Dezernenten nicht mehr erstattet, und damit ist auch
die genaue Kenntnis aller Verhältnisse des Departements verloren gegangen.
Nun muß man allerdings anerkennen, daß die Vorschriften der Negieruugs-
instruktiou heute schwerer auszuführen sind als früher, weil die Geschäfte
außerordentlich angewachsen sind, und als Folge davon bei den Regierungen
ein weitgehender Spczialismus eingeführt ist. Dazu kommt noch, daß die
Beamten wohl nicht mehr so seßhaft sind wie früher, was wesentlich damit
zusammenhängt, daß die Zahl der etatsmäßigen Stellen viel zu gering ist, und
der größte Teil der Geschäfte von Assessoren besorgt wird, die das bewegliche
Element bei den Regierungen sind. Bei dem häufigen Wechsel in den Dezer¬
nenten und bei dem Spezialismus müßte also stets eine große Anzahl von
Mitgliedern der Regierung den Bezirk bereisen, was schon wegen der dadurch
entstehenden Kosten nicht durchzuführen ist. Wenn man hier eine Besserung
herbeiführen will, so müßte man also dafür sorgen, daß die Dezernate möglichst
lange von denselben Personen verwaltet werden, damit die erworbne Kenntnis
der Verhältnisse auch verwertet werden kaun, und außerdem würde eine den
veränderten Umständen entsprechende Verteilung der Geschäfte vorzunehmen sein.
Jetzt bearbeitet bei den Regierungen der eine Dezernent für den ganzen
Bezirk die Polizeisachen, der zweite die Gewerbesachen, der dritte die Wege¬
sachen usw. Jeder von ihnen beherrscht sein Dezernat theoretisch, aber da er
wegen der Ausdehnung des Bezirks auch in Jahren die Verhältnisse nicht kennen
lernen kaun, so muß er in der Mehrzahl der Fälle aus den Akten verfügen.
Dem könnte man abhelfen, indem man jedem Dezernenten nur einen Teil des
Bezirkes zuwiese, etwa drei oder vier Kreise, und ihn auf diesem begrenzten
Raume in einem erweiterten Geschäftskreise arbeiten ließe. Es wären die De¬
zernate zusammenzulegen, die innerlich verwandt sind, z. B. Polizei-, Bau¬
polizei-, Gewerbepolizei- und Wegesachen, dann wieder die Meliorativnsdezernate
wie Landwirtschaft, Deichsachen, Kleinbahnen, und für jedes dieser neuge¬
schaffnem Gesamtdczernate würde man dann also je nach der Größe des Bezirks
zwei, drei oder auch vier Dezerucnteu haben. Alle Geschäfte ließen sich ja
nicht in dieser Weise verteilen, aber doch die meisten, und die Einrichtung
Würde den großen Vorteil haben, daß die Dezernenten aufhörten, Spezin-
listen zu sein, daß die ihnen für Dienstreisen überwiesenen Mittel ausreichen
würden, ihnen die genane Kenntnis der Personen und Verhältnisse in ihrem
Bezirke zu ermöglichen, und daß auf diesen Dienstreisen nicht nur Spezialfülle
würden erledigt werden, sondern stets eine ganze Reihe oft eng zusammen¬
hängender Angelegenheiten, bei denen jetzt ein Dezernent auf den andern ver¬
weisen muß, da ihm die Bearbeitung nicht zusteht. Die Kreisbehörden würden
nur noch mit wenigen Dezernenten zu thun haben, denen die örtlichen Ver¬
hältnisse vertraut sind. Die Bearbeitung der Geschäfte würde gewinnen, und
ebenso die Beamten, deren Gesichtskreis sich infolge der vielseitigen, Thätigkeit
erweitern müßte.
Man wird gegen diesen Vorschlag viel einzuwenden haben, besonders daß
dabei die Einheitlichkeit in der Bearbeitung der Geschäfte leiden würde, und
daß bei den Regierungen die Dezernenten Spezialisten sein müßten, wenn sie
ihren Geschäftskreis theoretisch beherrschen sollen. Darauf erwidern wir, daß
man es doch einmal praktisch versuchen möge. Bei gutem Willen wird sich die
Einrichtung sicherlich bewähren, auch besteht sie schon teilweise bei den zweiten
Abteilungen der Regierungen, wo die Kirchen- und Schulsachen vielfach, und
zwar nicht zum Schaden des Ganzen, in örtlich abgegrenzten Bezirken be¬
arbeitet werden. Und wird denn nicht von jedem Landrat verlangt, daß er
alle Teile des Dienstes beherrscht? Die Grundsätze, nach denen zu verwalten
ist, müßten in den Sitzungen festgestellt werden, wie das ja schon die Negic-
rnngsinstruktion vorschreibt, und die Bestimmung, daß jeder Dezernent am
Schlüsse des Jahres einen Verwaltungsbericht zu erstatten hat, würde dann
auch wieder zu Ehren kommen, während sie jetzt kaum ausgeführt werden kann,
weil den Dezernenten die praktische Erfahrung und damit die Übersicht fehlt.
Die Vergleichung der Verwaltungsberichte würde die beste Anregung zu neuer
Thätigkeit geben und zugleich einen vorzüglichen Anhalt für die Beurteilung
der Leistungsfähigkeit der Dezernenten. Die Abteilnngsdirigenten würden es
allerdings nicht mehr so beqnem haben wie jetzt, aber das kann doch nicht
ernstlich in Betracht kommen.
Im Rahmen dieses Aufsatzes kann nicht auf die vielen Verbesserungen
näher eingegangen werden, deren die preußische Verwaltungsorganisation fähig
ist; der Zweck dieser Zeilen ist nur, die Aufmerksamkeit auf diese Angelegen¬
heiten zu lenken, die eigentlich jeden angehen und doch so wenig beachtet
werden. Massow sagt darüber: „Wenn auf dem gewerbetechuischeu Gebiet
eine Erfindung gemacht wird, die ein beschleunigtes Betriebsverfahre» ermög¬
licht, so nimmt die ganze Welt daran Anteil; wird eine Verbesserung an einer
Maschine erfunden, so führen sie so und so viele Fabriken sofort ein, und
summa 8uuimarunr werden Millionen dafür ausgegeben. Über eine Verbesse¬
rung der allergrößten, der Staatsmaschine denkt niemand nach, und doch: was
Würde ein schnelleres Arbeiten derselben für Tausende und Abertausende von
Interessen bedeuten! Es wäre in Geld gar nicht abzuschätzen und würde dabei
verhältnismäßig sehr wenig kosten." So steht es leider, daß mit diesen Dingen
sich niemand ernstlich beschäftigt. Die Minister und ihre Nöte thun es nicht,
und wenn Abgeordnete im Landtage Verbesserungen der Verwaltung anregen,
so geschieht das meist auch mit so wenig Nachdruck, daß damit nicht viel er¬
reicht wird.
Dieser Aufsatz war schou zum größten Teile geschrieben, als im Ab¬
geordnetenhaus? der Abgeordnete von Vockum-Dolffs bei der zweiten Lesung
des Etats eine Vereinfachung der Schreibgeschäfte durch Benutzung des Tele¬
graphen und Telephons empfahl, da sich diese Einrichtung bei viele» Land-
ratsümtern des Westens durchaus bewährt habe. Nach den Zeitungsberichten
erwiderte der Minister Freiherr von der Recke: „Die Frage ist bereits erwogen,
es haben auch schon Landratsämter, besonders im Westen, auf Staatskosten
Telephonauschlüsse erhalten. Zu weit darf man aber nicht gehen, schon aus
finanziellen Gesichtspunkten." Diese Antwort ist für die Behandlung derartiger
Angelegenheiten so recht charakteristisch: man hat Erwägungen angestellt, zum
Abschluß ist man damit noch nicht gelangt, nennenswerte Kosten dürfen durch
die Neuerung jedenfalls nicht entstehen. Die Sache bleibt natürlich genau so,
wie sie war, und der Abgeordnete ist befriedigt. Nun erwäge man einmal,
welche Kosten denn durch den Anschluß von einigen hundert Landratsämtern
an das Telephonnctz entstehen können. Wenn man die Kosten auf einige
Jahre verteilt, können sie gar nicht in Betracht kommen, jeder Geschäftsmann
würde sie als unvermeidliche Geschäftsunkosten betrachten. In Wahrheit
kommen in erster Linie aber auch gar nicht finanzielle Gründe in Betracht,
wir können das wenigstens nicht glauben, sondern bei der Mehrzahl der Be¬
amten die Abneigung gegen alle Neuerungen und die Furcht vor den damit
verbundnen Unbequemlichkeiten. Es läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß
der Aufenthalt auf einem Bureau sehr viel angenehmer ist, wenn man nicht
zu befürchten braucht, durch das Geräusch des Telephons gestört zu werden.
Mit viel Humor hat kürzlich ebenfalls im Abgeordnetenhause dessen
früherer Präsident, der Wirkliche Geheime Rat von Köller, die Vielschreiberei
der preußischen Behörden gegeißelt. Er sucht den Grund des Übelstauds
hauptsächlich in der Vorbildung der Verwaltungsbeamten, die zu nichts anderm
angelernt würden als zum Dekrctiren und so dahin kommen müßten, dies für
die höchste Aufgabe ihres Amts und die höchste Lebenswonne anzusehen. Man
müßte, sagte Herr von Köller, die jungen Leute in das praktische Leben
schicken, damit sie sehen, wie es dort zugeht; man müßte sie hinschicken, sobald
sie von den Gerichten übernommen werden, zu den königlichen Domänenbeamten,
zu den Oberförstern, den Amtsvorstehern, den Bürgermeistern in den kleinen
Städten, damit sie begreifen, daß der Grundsatz: Huon non sse in avei8, non
est in aurato für den Juristen vielleicht brauchbar ist, für den Verwaltungs¬
beamten aber das Thörichteste ist, was es giebt. Denn in den Akten steht
das Beste niemals, das muß der Verwaltungsbeamte mit seinen Augen im
Leben sehen. Das sind goldne Worte, die auf allen Seiten des Hauses leb¬
haften Beifall hervorriefen; bei dem großen Ansehen, das der Redner genießt,
bleiben sie vielleicht auch nicht ganz ohne Wirkung. Aber verhehlen kann man
sich doch wohl kaum, daß es mit einer bessern Ausbildung der Beamten allein
nicht gethan ist. Die Verhältnisse sind stärker als die Menschen. Die beste
Ausbildung kann nichts nützen, solange die Beamten gegen ihren Willen ge¬
zwungen werden, ihre Zeit und ihre Kraft am Schreibtische in der Abfassung
von Berichten zu verbrauchen. Nur eine vollständige Änderung des Systems
kann da Abhilfe bringen, an die Wurzel des Übels muß die Axt gelegt
werden.
Übrigens glauben wir, daß Herr von Koller für seine Vorschläge viel
mehr Verständnis bei den jüngern Beamten finden wird als bei denen, auf
deren guten Willen es in diesem Falle allein ankommt. Er sollte seinen Ein¬
fluß einmal dahin geltend machen, daß eine Kommission von tüchtigen Be¬
amten eingesetzt werde mit der Aufgabe, genau zu untersuchen, welche Ein¬
richtungen der Verwaltung der Verbesserung bedürfen, und bestimmte Vor¬
schlüge für Abänderungen zu machen. Die beabsichtigten Neuerungen sollte
mau, ähnlich wie das in der Armee geschieht, in einigen Regierungsbezirken
probeweise einführen, um festzustellen, wie sie sich in der Praxis bewähren.
Es gehört allerdings ein starker Wille dazu, eine Reform durchzuführen,
bei der mit vielen Vorurteilen und festgewurzelten Gewohnheiten gebrochen
werden muß. Die preußische Verwaltung verfügt aber über einen Mann,
der dieser Aufgabe gewachsen wäre. Herr von Miquel würde seinen vielen
Verdiensten ein neues großes Verdienst zufügen, wenn er seine Aufmerksamkeit
ernstlich der Reform der Verwaltung zuwenden wollte. Aber selbst wenn eine
solche Reform auf die eine oder andre Weise zu stände kommen sollte, so
fürchten wir doch, daß der Erfolg nicht von Dauer sein würde, wenn die
Verwaltung auch in Zukunft der ständigen Aufsicht des Monarchen entbehren
müßte. Ohne diese geht es nun einmal nicht in Preußen, und darum muß
es dahin kommen, daß die preußischen Könige neben der Armee auch den
Angelegenheiten der Verwaltung wieder ihre Fürsorge widmen. Wünschen
kann man nur, daß diese Änderung recht bald eintreten möge.
le Besprechung zweier Schriften über Nietzsche im 31. Heft des
vorigen Jahrgangs habe ich mit den Sätzen eingeleitet: „Die
meisten der Bücher und Broschüren, die über Philosophen ge¬
schrieben werden, sind überflüssig; gute Schriften über Nietzsche
dagegen finden wir nützlich, weil man niemandem die Lektüre
dieses Schwarmgeistes anraten kann. Ich selbst habe ihn noch nicht gelesen."
Kurz darauf wurde ich veranlaßt, ihn vorzunehmen, habe ihn ganz durch-
gelesen und sehe um, daß die Entrüstung, die jene Sätze bei einigen Ver¬
ehrern Nietzsches hervorgerufen hatten, berechtigt gewesen ist, und daß ich ihm
selbst Abbitte zu leisten habe. Er ist kein Schwarmgeist. „Ich will Zäune
um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in
meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen," schreibt er VI, 277,°^)
und eine der bei seinen Lebzeiten'"') noch nicht veröffentlichten Notizen lautet:
„Mein Erfolg bei den Schwarmgeistern, dessen war ich bald müde und mi߬
trauisch" (XI, 398). Aber eben der Umstand, daß seine Verehrer meistens
den Eindruck von Schwarmgeistern machen, mag dem Vorurteil, das ich gehegt
hatte, zu einiger Entschuldigung dienen.
Beim Lesen erstaunt man zunächst darüber, in welchem Grade die moderne
Gedankenwelt von Nietzsche, oder Nietzsche von ihr, oder jedes vom andern
durchdrungen ist. Abgesehen von den umlaufenden Redensarten, die jedermann
als nietzschisch kennt, findet man, daß noch manche andre, mit denen die
Zeitungs- und Bücherschreiber prunken, von Nietzsche stammen, wie: der gute
Europäer, der Bilduugsphilister, Wohlwollen die Höflichkeit des Herzens,
öffentliche Meinungen private Faulheiten. Ja manche heutige Richtungen,
Wie das mit Antisemitismus und Haß gegen die Bibel verschmolzne Urteu-
tonentum scheinen geradezu in ihm zu wurzeln. Freilich bemerkt man bald,
daß der Zeitgeist die gemeinsame Wurzel ist, und daß sich der Zweig, der
Nietzsche heißt, von den übrigen Sprößlingen sehr deutlich unterscheidet; so
z. B. erklärt Nietzsche freilich die Juden wiederholt für das schlechteste Volk,
preist aber zugleich ihre Rassenreinheit, ihr hohes ethisches Pathos, und nicht
das Alte Testament haßt er, sondern die Antisemiten und besonders Eugen
Dühring; bei der Analyse Wagners findet er auf dessen tiefstem Herzensgrunde
zuletzt den Juden und erklärt daraus seineu Antisemitismus (XII, 171).
Rassenverbesserung durch Ausrollen oder Umkommenlassen der Schwachen,
und daß sich die Glücklichen das Elend der Unglücklichen nicht ins Gewissen
schieben lassen dürfen, das sind Losungen unsrer Tage, die Nietzsche ausgegeben
hat. Die Kärrner finden in Nietzsches Steinbrüchen auf ein paar hundert
Jahre hinaus Material, und seine Sentenzen enthalten soviel Lebensweisheit
und Gedankenblitze, daß man sie, ohne sich des orimsn ig-osas rag,Me!it,i8
schuldig zu machen, neben Goethes Prosnsprüche stellen darf.
Am meisten aber setzte es mich in Erstaune», ein wie großes Stück
meiner selbst ich in Nietzsche wieder fand. Nicht etwa, daß ich meine Be¬
gabung der seinen ähnlich funde; es kann mir nicht einfallen, mein bescheidnes
Talent kritischer Reproduktion mit seinem reichen produktiven Genie zu ver¬
gleichen; die Übereinstimmung bezieht sich nur auf einige Ergebnisse des Denkens.
Hier aber werden sie alle, die sowohl Nietzsche als meine Sachen kennen, schon
längst bemerkt haben. Beide wissen wir, daß der Mensch im Grunde ge¬
nommen nichts weiß, daß die sogenannte Natnrerklärnng nichts ist als eine
Beschreibung von Erscheiuungsreihen, und daß die sogenannten unfehlbaren
Wahrheiten der Naturwissenschaft nichts als Hypothesen sind. Ich führe nur
eine von vielen Stellen an. „Erklärung nennen wirs, aber Beschreibung ist
es, was uns vor ältern Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet.
Wir beschreiben besser, wir erklaren ebenso wenig wie alle Frühern" (V, 153).
Die von England nusgegangne mechanische Natnrerklärnng nennt Nietzsche die
englisch-mechanistische Weltvertölpeluug (VII, 221). Beide verehren wir die
alten Griechen und das Alte Testament. Beide sehen wir in der Weltgeschichte
ebenso viel Rückschritt wie Fortschritt, und stellen wir den heutigen Dnrch-
schnittmenschen nnter den Hellenen und unter den Menschen der Renaissance.
Beide finden wir, daß der mittelalterliche Mensch in manchen Beziehungen
nicht gebundner, sondern freier und dabei stärker gewesen ist als der heutige.
Beide sehen wir das Ziel der Menschheit weder im Staate noch in einer zu¬
künftigen Gesellschaftsform, sondern in der Gegenwart jedes Geschlechts. Denen,
die fortschreitende Vergeistigung oder Versittlichung für das Ziel erklären, habe
ich die Wahrnehmung — wenigstens ist es meine Wahrnehmung — entgegen¬
gehalten, daß der Mensch im allgemeinen in der Kindheit am geistigsten ist und
mit zunehmendem Alter immer gröber und sinnlicher wird. Nietzsche drückt
das XI, 372 so aus: „Die Moralität der Männer nimmt im Leben ab:
als Kinder sind wir am moralischesten, weil ohne Furcht, von Liebe umgeben
und der Anmaßung fremd. Die Moralität der Frauen, welche*) in ähnlichen
Verhältnissen, wie die Kinder, zeitlebens leben, nimmt deshalb mit den Jahren
eher zu als ab." Gleich Nietzsche verabscheue ich das Mvralgeschwcitz, die
Moralpredigten und das Moralischthun; was man gewöhnlich Moralität nennt,
das mag, habe ich öfters gesagt, manchmal für den Moralischen und manchmal
für andre Leute recht nützlich sein, aber höhern Wert hat es so wenig wie
die vorsichtige und bescheidne Zurückhaltung eines oft getretner und viel ge¬
prügelten Hundes. Gleich Nietzsche erkläre ich ein für alle in gleichem Maße
giltiges Sittengesetz für eine leere Einbildung; wenn alle Welt daran zu
glauben scheint, so ist das eben nur ein aus der Gewohnheit des gedanken¬
losen Nachvlapperns entstandner Schein; in Wirklichkeit glaubt kein Mensch
daran, sondern jedermann denkt mit jenem berühmten Justizminister: ano
auuin lÄoiunt, iclöui, mein sse iclvm. Gleich Nietzsche halte ich an der Ver¬
schiedenheit der Moraltypen fest, und erkenne ich besonders den Unterschied
zwischen Herren- und Sklavenmoral an, nur daß ich diese nicht gleich ihm
mit dem Christentums in Zusammenhang bringe. Gleich ihm ekelt mich alles
Chineseutum an.
Was mich aber am allermeisten überrascht hat, das ist unsre Überein¬
stimmung in der Auffassung der Arbeiterfrage (nicht der sozialen Frage als
einer Frage der Volkswirtschaft; von dieser hatte Nietzsche keinen Begriff).
Von den vielen in Betracht kommenden Stellen will ich nur zwei hersetzen:
„Die Dummheit, im Grunde die Jnstinktentartung, welche hente die Ursache
aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiterfrage giebt. Über
gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. ^Weil Nietzsche
die wirtschaftliche Entwicklung niemals eines Blickes gewürdigt hatte, hielt er
die Wirkungen dieser Entwicklung für Verirrungen des Instinkts der Herrschenden.^
Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen
will, nachdem man eine Frage aus ihm gemacht hat. sJch muß das natürlich
etwas anders ausdrücken: es ist nicht abzusehen, was aus ihm werden soll,
nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse die Sklaverei als Rechtsinstitut be¬
seitigt haben, ohne den ehemaligen Sklaven die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu
verschaffen.^ Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu
fragen, unbescheidner zu fragen. ^Daß es auch Millionen Arbeiter giebt, denen es
nicht gut geht, davon wußte Nietzsche nichts, wenigstens nichts genaueres; richtig
aber ist, daß unter den Arbeitern nnr solche zu Trägern einer Arbeiterbewegung
Werden können, denen es verhältnismäßig gut geht, und daß das Streben der Ar¬
beiter nach Verbesserung ihrer Lage so wenig eine innere Schranke kennt wie das
der Geschäftsleute nach Vermehrung ihres Reichtums, nachdem die äußere Schranke
der Standesunterschiede, die übrigens sür den Gebundnen nicht bloß eine
Schranke, sondern auch einen Schutz bedeutete, gefallen ist.^ Er hat zuletzt die große
Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine be¬
scheidne und selbstgenugsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande
herausbilde; und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Not¬
wendigkeit gewesen. Was hat man gethan? Alles, um auch die Voraussetzung
dazu im Keime zu vernichten; man hat die Instinkte, vermöge deren ein Ar¬
beiter als Stand möglich, fich selber möglich wird, durch die unverantwort¬
lichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter
militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitivnsrecht, das politische Stimm¬
recht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits
als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht) empfindet? Aber was will
man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel
wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren
erzieht" (VIII, 153). „Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die
Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst ver¬
steckenden Sklaventums. Unselige Zeit, in der der Sklave solche Begriffe
braucht, in der er zum Nachdenken über sich und über sich hinaus aufgereizt
wird! Unselige Verführer, die den Unschuldstand des Sklaven durch die Frucht
vom Baume der Erkenntnis vernichtet haben! Jetzt muß dieser sich mit solchen
durchsichtigen Lügen von einem Tage zum andern Hinhalten, wie sie in der
angeblichen Gleichberechtigung aller oder in den sogenannten Grundrechten des
Menschen, des Menschen als solchen, oder in der Würde der Arbeit für jeden
tiefer Blickenden erkennbar sind. Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe
und in welcher Höhe erst ungefähr von Würde gesprochen werden kann" (IX, 96).
Das des Menschen Unwürdige in mancher Maschinenarbeit, in der Erniedrigung
des Arbeiters zum bloßen Produktionsmittel erkennt Nietzsche klar und fühlt
er tief. Er verachtet solche Arbeiter, die es selbst erkannt haben und dennoch
ertragen, etwa nur nach einer Milderung ihres Loses verlangen. Er meint,
wenn die heutigen Arbeiter, darin gelehrige Schüler' ihrer bürgerlichen Lehrer,
an die philosophische Armut, die in Lumpen stolz ist, nicht mehr glauben, von
jener Freiheit, die in der Bedürfnislosigkeit besteht, nichts wissen mögen, die
freiwillige idyllische Armut, Berufs- und Ehelosigkeit jwenn idyllische Armut
uur außerhalb des Klosters bei uns noch möglich wäre!j verlachen, dann
sollte ein jeder bei sich denken: „lieber auswandern, in wilden und frischen
Gegenden der Welt Herr zu werden.suchen und vor allem Herr über mich
selber; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen, und
sür die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten: nur nicht länger
diese unanständige .Knechtschaft, nur nicht länger dieses Sauer- und Giftig-
und Verschwörerischwerden! ^Hier übersieht Nietzsche wieder, daß ein solches
Auswandern, wie es in frühern Zeiten immer geholfen hat, durch die
heutigen Staatseinrichtungen erschwert wird, und denkt nicht daran, daß
der christliche Glaube ein Mittel, und zwar für die Massen das einzige
Mittel ist, wenigstens den Geist der philosophischen Armut zu behaupten.^
Die Arbeiter in Europa sollten sich als Stand fürderhin sür eine
Menschcnunmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart
und unzweckmäßig Eingerichtetes erklären; sie sollten ein Zeitalter des großen
Ansschwürmens im europäischen Bienenstöcke herausführen, wie dergleichen
bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese That der Freizügigkeit im
großen Stil, gegen die Maschine, das Kapital und die jetzt ihnen drohende
Wahl protestiren, entweder Sklave des Staats oder Sklave einer Umsturzpartei
werden zu müssen. Möge sich Europa des vierten Teiles seiner Bewohner
erleichtern! Ihm und ihnen wird es leichter ums Herz werden! In der
Ferne erst, bei den Unternehmungen schwärmender Kolonistenzüge, wird man
recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit die Mutter Europa ihren
Söhnen einverleibt hat, diesen Söhnen, welche es neben ihr, dem verdumpften
alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrämig,
reizbar und genußsüchtig, wie sie selber, zu werden. . . . Mag es immerhin
dann an Arbeitskräften fehlen! Vielleicht wird man . . . einige Bedürfnisse
wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und
diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für die arbeit¬
samen Ameisen schickt" (IV, 203 bis 205). Wenn man alles, was er an ver-
schiednen Stellen über die Sklaverei als eine für die Kultur unentbehrliche
Einrichtung und gegen den Sozialismus sagt, mit der bekannten Streitschrift
Treitschkes gegen „den Sozialismus und seine Gönner" vergleicht,*) so muß
man ausrufen: zwei Seelen und ein Gedanke! Der Unterschied ist nur der, daß
Nietzsche gleich mir die Schwierigkeiten erkennt, die aus dem Widerspruch zwischen
der wirtschaftlichen Lage und der staatsrechtlichen Stellung des Arbeiterstnndes
entspringen — Rodbertus hat sie schon vor 1848 kräftig ausgesprochen —,
während Männer vom Schlage Treitschkes die Augen hartnäckig dagegen zu
verschließen Pflegen; Treitschke selbst hat diese Schwierigkeiten wenigstens einiger¬
maßen anerkannt; er ereifert sich daher in seiner Streitschrift gegen das all¬
gemeine Stimmrecht, gegen übertriebne Schulbildung der untern Klassen und will
die freigeistigen Ansichten der höhern Stände in die untern nicht durchsickern lassen.
Früher als ich hat Nietzsche auch schon erkannt, daß es mit der „europäischen
Kleinstaaterei" zu Ende geht, und daß die Zeit des Kampfes um die Herrschaft
über den Erdball angebrochen, den Völkern der Zwang zur großen Politik
auferlegt ist; wenn er jedoch von diesem Gesichtspunkte aus Rußland für die
einzige unter den heutigen Mächten erklärt, die eine Zukunft habe, so lasse ich
das nur unter der hoffentlich unzutreffender Voraussetzung gelten, daß es dem
deutschen Volke entweder an der Einsicht fehlt, seinen Beruf zu erkennen, oder
an dem Mute, ihn zu erfüllen (VII, 156 und VIII, 151). Und um schließlich
noch etwas Nebensächliches zu erwähnen, wir verabscheuen beide das Bier und
den Tabak; Nietzsche meint sogar, ein Mann, der täglich Bier trinkt und raucht,
sei gar nicht fähig, die feinern Probleme auch nur aufzufassen. Darüber
könnte ja vielleicht durch eine Umfrage bei den Männern der feinern Probleme
Gewißheit verschafft werden.
So würde es also ein wenig mich selbst treffen, wenn ich Nietzsche in Ver¬
ruf erklären wollte, und ganz anders gerichtete Männer werden sich wahrschein¬
lich in Nietzsche ebenso wieder finden. Also kann ich seine Lektüre nicht wohl
widerraten. Aber ich möchte bitten, daß jeder, der sich mit ihm abgeben will,
ihn ganz lese, alle zwölf Bände, denn durch die Lektüre einzelner von seinen
Schriften kann allerdings Unheil angerichtet werden. Hat er doch selbst in
den spätern Schriften die härtesten Urteile über die frühern gefällt, und wäre
es ihm vergönnt gewesen, noch weiter im Lichte der Vernunft zu wandeln,
so würde er jetzt wahrscheinlich die letzten von seinen Schriften am allerhärtesten
verurteilen.
Wenn man nun fragt, wie er dazu gekommen ist, zuletzt den Boden unter
den Füßen zu verlieren und kometenartig ins Grenzenlose zu schweifen, so
muß gerade die Erklärungsweise abgewiesen werden, die der Beifall der
Schwarmgeister nahe legt. Nietzsche war nichts weniger als ein zügelloser
Mensch, der alle Bande heiliger Scheu zu lösen versucht hätte, um dem
Sinnengenuß zu fröhnen. Das Erotische, woran man in solchen Fällen zu¬
nächst zu denken pflegt, hat weder in seinen gröbern noch in seinen seinem
Formen bei ihm eine Rolle gespielt; er gehörte auch hierin zu den Aus-
ncihmeuaturen. Für sein Gemüt sand er Genüge in der Freundschaft. Die
innigste, beständigste und herzlichste aller Freundschaften war die, die ihn
mit seiner Schwester verband. Über Ehe und Geschlechtsverkehr hat er
freilich so manches gesagt, was vielen anstößig klingen mag, allein das
sind keine Reden xro clomo; er für seine Person hätte keiner Änderung der
heutigen Gesetze und Sitten bedurft; er empfahl Änderungen nur, weil
er glaubte, daß sie im höhern Interesse der Menschheit notwendig seien.
Seine Vorschläge liegen, wie man sich denken kann, nicht nach der sozial-
demokratischen Seite hin, Weiberemanzipation ist ihm ein Greuel. Nietzsche
ist zeitlebens einer der Menschen gewesen, neben denen man sich schämt.
Er machte als Kind den Eindruck eines kleinen Pastors; ein älterer Mitschüler
äußerte einmal, der kleine Nietzsche komme ihm vor wie der zwölfjährige Jesus
im Tempel. Der Frau Förster hat ein Bekannter erzählt, er sei Primaner
gewesen, als Nietzsche in den untern Klassen saß, und habe öfters die kleinen
Schüler in den Arbeitsstunden beaufsichtigen müssen. „Oft sei ihm Fritz mit
den großen sinnenden Augen aufgefallen, und er hätte sich gewundert, welchen
Einfluß er auf seine Mitschüler ausgeübt habe. Sie hätten vor ihm kein
rohes Wort, keine unpassende Bemerkung auszusprechen gewagt. Einmal habe
sich ein Junge auf den Mund geklopft und ausgerufen: Nein, das kann man
vor Nietzsche nicht sagen! Was thut er euch denn? habe er gefragt. Ach, er
sieht einen so an, da bleibt einem das Wort im Munde stecken." (B. I, 79
bis 80.)
Von Zuchtlosigkeit ist er zeitlebens das verkörperte Gegenteil gewesen.
Er hat gern als Soldat gedient und liebte den Soldatenstand. Mein Aus¬
gangspunkt, schreibt er in einem Entwurf zu den Unzeitgemäßen Betrachtungen,
„ist der preußische Soldat: hier ist eine wirkliche Konvention, hier ist Zwang,
Ernst und Disziplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfnis
entstanden. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst
geforderten Pflichttreue" (X, 258). Er tadelt die Deutschen, daß sie von der
Konvention los wollen und eine Bummiigleit anstreben, die sie Natürlichkeit
nennen. Er meint, eine Umgebung, in der man sich gehen lassen könne, sei
das letzte, was man suchen solle. Er selbst ließ sich niemals gehen, kleidete
sich stets sorgfältig und bediente sich keines Schlafrocks. Alles sich schwer
machen und hart gegen sich sein, war seine Losung. Er erklärt die Industrie
und alles Krämerhafte für gemein") und preist dafür den Soldatenstand als
einen vornehmen Stand. Er rühmt die Offiziere als die bescheidensten aller
Menschen, nur ihre Sprache sei abscheulich (V, 139). Er haßt die Liberalen,
die aus Bequemlichkeit den Krieg scheuen und den Staat zu einem Werkzeuge
erniedrigen, das ihnen zur Bereicherung und zur Sicherung eines angenehmen
Lebens dienen soll. Er hält sehr viel ans leibliche Erziehung; Schönheit sei
eine durch solche erworbne Eigenschaft. Er hält allen Zwang für notwendig
und wohlthätig. Er definirt einmal die Erziehung als Gehorsam gegen den
Genius. Namentlich auch Erziehung zum richtigen Sprechen und Schreiben
fordert er und donnert gegen die heutige Sprachverwilderung und das Zeitungs¬
deutsch. Die heutige sogenannte klassische Bildung sei ja im ganzen nichts
wert. Denn erstens hätten die Philologen den Geist der Alten nicht in sich,
zweitens seien die Gymnasiasten viel zu unreif, um die alten Klassiker zu ver¬
stehen, drittens lernten die heutigen Gymnasiasten nicht einmal mehr die
schwierigern Klassiker lesen und lateinisch sprechen und schreiben, was man
früher doch wenigstens auf dem Gymnasium gelernt habe. Indes werde doch
wenigstens eine Frucht davon getragen: daß die Schüler Respekt vor Lexikon
und Grammatik lernten. Freilich, diesen Respekt der eignen Muttersprache be¬
zeugen, das könnten sie nicht lernen, weil es ihre Lehrer selbst daran fehlen
ließen; aber deren Pflicht wäre es doch gerade, den Schülern dieselbe Ehr¬
furcht vor ihrer Muttersprache beizubringen, mit der die Griechen und Römer
die ihrige behandelt hätten. Er will, daß der junge Mensch sprechen und
schreiben lerne, wie der Soldat gehen lernt. „Hier muß es jedem ernsthaft
sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch,
etwa als Soldat, genötigt ist, gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen
roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet,
daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich
und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem
und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und
roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet, jedes Gehen verlernt zu haben und
das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus
den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und
zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit des Schrittes gestärkt
und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch,
wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über
den elegant sich geberdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsre
»elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen ge¬
lernt" (IX, 263).
Ein Feind aller Anarchie, verwirft er auch das Treiben des „Jungen
Deutschlands." Aber er entschuldigt es. Einmal sei die thörichte Aufsatz¬
schreiberei auf dem Gymnasium geradezu eine Verführung zur Zeitnngs-
schreiberei und eine Vorbereitung darauf. Dann aber fehle es den Studenten
an aller vernüftigen Leitung und Erziehung; nur durch das Ohr hingen sie
mit ihren Lehrern zusammen, die sich sonst nicht um sie kümmerten, sodaß man
sie Wegen ihrer vielgepriesenen Selbständigkeit bedauern müsse. Endlich aber
seien ihnen die Zugänge zur wahren Bildung verschlossen, sodaß sie an gewalt¬
samer Unterdrückung des edelsten Bedürfnisses litten. „Es sind nicht die
schlechtesten und geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungs¬
schreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja der Geist
gewisser, jetzt*) sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charcckte-
risiren als desperates Studententum. Wie anders wäre z. B. jenes ehemals
wohlbekannte »junge Deutschland« mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden
Epigonentum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wild gewvrdnes
Bildungsbedürfnis, das sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: Ich bin
die Bildung! Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten,
treibt sich die aus ihm entlaufne und sich um souverän geberdcnde Kultur
dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: sodaß z. V. der
Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits litte¬
rarischen Gymnasiasten zu fassen wäre. . . . Wie will man sonst unsern Ge¬
lehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen
Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch
die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas ähnliches für sie sein möge, was
für jene die Nomanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische
Ertötung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums.
Aus unsrer entarteten litterarischen Kunst ebenso wohl als aus der ins Un¬
sinnige anschwellenden Vuchmacherei unsrer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer
hervor: Ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! O der elenden Verschuldet-
Unschuldigen! Denn ihnen fehlte etwas, was jedem von ihnen entgegenkommen
mußte, eine wahre Vilduugsinstitutiou, die ihnen Ziele, Meister, Methoden,
Vorbilder, Genossen geben konnte, und aus deren Jnnern der kräftigende und
erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes ans sie zuströmte." (IX, 332.
Der Geist Luthers, meint er an einer andern Stelle, sei es gewesen, den die
Regierungen in den Burschenschafter gehaßt Hütten.)
Man kann schon ans diesen Äußerungen, ohne nähere Prüfung des
Zusammenhanges, schließen, daß es nicht in einer dem deutschen Heere feind¬
seligen Gesinnung geschah, wenn er gegen die Behauptung protestirte, im
deutsch-französischen Kriege habe unsre höhere Kultur gesiegt, und wenn er
die Redensart von dem preußischen Schulmeister, der bei Sadowa gesiegt
haben sollte, unwahr und widerlich fand. Von einem Siege der deutschen
Kultur könne schon aus dem Grunde keine Rede sein, weil die französische
Kultur fortbestehe und wir von ihr nbhingen wie bisher. „Nicht einmal an
dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche
Tapferkeit und Ausdauer, Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam
unter den Geführten, kurz Elemente, die nichts mit der Kultur zu thun haben,
verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente
fehlten: nur darüber kann man sich wundern, daß das, was sich jetzt ^es
war die Zeit der Tingeltangels in Deutschland Kultur nennt, so wenig
hemmend zwischen diese militärischen Erfordernisse zu einem großen Erfolge
getreten ist, vielleicht nur, weil dieses Kultur sich nennende Etwas ^der Epi-
kurüismus und Mammonismus) es für sich vorteilhafter erachtete, sich diesmal
dienstfertig zu erweisen. Läßt man es heranwachsen und fortwuchern, ver¬
wöhnt man es durch den schmeichelnden Wahn, daß es siegreich gewesen sei,
so hat es die Kraft, den deutschen Geist zu exstirpiren"(I, 179).
Diese Sätze sind der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: David Strauß,
der Bekenner und Schriftsteller, entnommen. In Strauß verspottet er den
durch Bier dumm gewordnen Bildungsphilistcr, der sichs in den Errungen¬
schaften der modernen Kultur wohl sein läßt. S. 202 parodirt er die selbst¬
gefällige Beschreibung, die Strauß von seinem und seiner Gesinnungsgenossen
Leben, dem Philisterhimmel, entworfen hatte. Das ist unser Mann, läßt er
den Philister ausrufen. „Wie schön er die Dinge zu umschreiben weiß! Was
kann er z. B. unter den geschichtlichen Studien, mit denen wir dem Ver¬
ständnis der politischen Lage nachhelfen, mehr verstehen, als die Zeitungs¬
lektüre, was unter dem lebendigen Anteil an der Aufrichtung des deutschen
Staates, als unsre täglichen Besuche im Vierhans? und sollte nicht ein
Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte »gemeinverständliche Hilfs¬
mittel« sein, durch das wir unsre Naturerkenntnis erweitern? Und zum
Schluß — Theater und Konzert, von denen wir »Anregungen für Phantasie
und Humor« mit nach Hanse bringen, »die nichts zu wünschen übrig lassen« —
wie würdig und witzig er das Bedenkliche sagt! Das ist unser Mann, denn
sein Himmel ist unser Himmel!" Es empört Nietzsche, daß Strauß in seinem
„leichtgeschürzten Vnchc" — so hatte dieser sein Bekenntnis: der alte und der
neue Glaube, selbst genannt — an den ernsten und schrecklichen Lebensfragen
vorübergaukclt. In der Seele sind sie ihm zuwider, diese „Heiterlinge," die
vor allem Ernster und Furchtbaren die Augen schließen und an nichts denken,
als wie man sich das Leben angenehm machen könne. Er selbst ruft: Tod
aller Weichlichkeit, Bequemlichkeit! (X, 296), und läßt Zarathustra predigen:
„Wenn ihr das Angenehme verachtet und das weiche Bett und von den
Weichlichen euch nicht weit genug betten könnt: da ist der Ursprung eurer
Tugend" (VI, 111). Den Krieg erklärt Zarathustra für gut, nicht das „Hübsche
und Rührende."
Durchaus positiv nennt Nietzsche sich selbst. Er will, daß jeder zur
höhern Bildung Berufne methodisch „sehen, denken, tanzen" lerne. Er findet
sich selbst körperlich und geistig kerngesund (seine Erkrankungen waren sämtlich
durch äußere Schädigungen verursacht), war ein Freund aller Leibesübungen,
frei von pessimistischen Stimmungen und von Menschenhaß, denn im Haß,
meint er, sei Furcht, und er kenne keine Furcht. Den Schwarzgallichten, fordert
er, sollte nicht erlaubt werden, Kinder zu zeugen. Keine Spur bei ihm von
jener Zerfahrenheit, die sich unter dem Namen der Genialität verbirgt. Von
der Genialität denkt er gar nicht hoch; man müsse nur ein fleißiger Hand¬
werker sein, behauptet er, so bringe man alles fertig, was die sogenannten
Genies leisteten, auch z. B. gute Novellen. (Freilich kommen in seinen Büchern
noch viele andre Auffassungen der Erscheinung vor, die als Genialität be¬
zeichnet zu werden Pflegt.) Er selbst hatte schon als Knabe mit gleichgesinnten
Freunden Privatarbeitcu mit großem Ernst angefertigt, war in der Schule
tüchtig gewesen, hatte als Student schwierige kritische Studien so gründlich
und mit solchem Erfolg betrieben, daß der große Ritschl den erst vierund-
zwanzigjährigen für eine Universitätsprofessur empfehlen konnte, und bewährte
sich in Basel nicht allein als ein Hochschullehrer, der einen begeisterten und
mit Verehrung erfüllten Jüngerkreis um sich Scharte, sondern auch als gewissen¬
hafter Lehrer im Pädagogium. Hier brauchte er niemals zu strafen; auch die
Faulsten waren fleißig bei mir, konnte er berichten. Er weiß vortreffliche
pädagogische Ratschläge zu erteilen (XI, 67), und die Behörden von Basel
haben seine gesegnete Wirksamkeit dankbar anerkannt. Dazu kam ein liebreiches,
dankbares, ehrfurchtsvolles Gemüt. Er war lange Jahre geneigt, alle Per¬
sonen, mit denen er zusammenkam, zu überschätzen, sich zu unterschätzen. Erst
viele bittere Enttäuschungen waren erforderlich, ihm einen großen Ekel vor den
Menschen beizubringen, und die Achtung vor ihm selbst ward ihm von seinen
Verehrern beigebracht. Als Kind unterhielt er sich einmal mit seiner Schwester
darüber, woher es wohl komme, daß sie vieles wüßten, was andre Kinder
gleichen Alters noch nicht wüßten; die Schwester behauptete, sie verdanke das
ihm, dem Bruder, er aber glaubte, es sei der verstorbne Bater, der ihnen
beiden ante Gedanken eingebe. In seinem Benehmen war er schlicht und ein¬
fach. Wer wird nicht giftig und innerlich aufgebracht, lautet eine Bemerkung
auf Seite 81 des elften Bandes, „wenn er einen Hort, der sein Leben gar zu
pathetisch nimmt und von Golgatha und Gethsemane redet! Wir vertragen
das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht
zu laut sein." Durch und durch Aristokrat im besten Sinne des Wortes, litt
er an einem beinahe krankhaften Ekel vor allem schmutzigen. Er definirte.
wohl die Aristokratie als einen Stand derer, die sich waschen, und hielt es
für möglich, daß man am wohlbesetzten Tische verhungern könne, aus Ekel vor
den Mitesfenden. Nach Erfolg war er nicht gierig; er wünschte nur von
wenigen verstanden zu werden, hoffte aber, daß er noch Jahrhunderte nach
seinem Tode leuchten werde.
Was konnte einen so festgefügten Geist zuletzt doch aus den Fugen
bringen? Das Unglück ist nicht schwer zu verstehen. Nietzsche war zeit¬
lebens von unbedingter und unerbittlichster Wahrheitsliebe und von tiefstem
Ernste erfüllt. Er nahm alles ernst und meinte alles vollkommen aufrichtig.
Als er das erste Jahr die Bürgerschule besuchte, fiel einmal gerade am Schul¬
schluß ein Platzregen. Die Mutter erwartete ihn in der Hausthür und sah,
wie alle Jungen dahergestürmt kamen, während ihr Fritz, die Kappe unter der
Schiefertafel geborgen und das Taschentuch darüber gebreitet, ruhig einher-
schritt. So lauf doch! rief ihm die Mutter zu; er aber antwortete, als er
endlich angelangt war: „Aber Mama, in den Schulgesetzen steht: die Knaben
sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig
und gesittet nach Hause gehn" lV. I, 30). So blieb er zeitlebens. Er war
von Kindheit auf stolz darauf, Sprößling eines polnischen Grafengeschlechts
zu sein, das der Religion wegen in die Verbannung gezogen war. Die
Schwester, die ganz unter seinem Einflüsse stand und ein Herz und eine Seele
mit ihm war, schreibt: Wir logen nicht, weil sich das für uns, die Grafen
Nietzky, nicht schickte (V. I, 35). Nun denke man sich, wie es auf einen
solchen Geist wirken mußte, wenn er nach und nach die Verlogenheit der
Welt inne wurde und erfuhr, wie man ausgelacht wird, wenn man irgend
etwas ernst nimmt, was kein Geld einträgt, und dessen Vernachlässigung
keinen Schaden bringt! Er fühlte sich ausgestoßen aus Kirche, Staat und
Gesellschaft, die er verantwortlich macht, und glaubte später die heutigen
Deutschen schon darum für Barbaren erklären zu müssen, weil sie nichts ernst
zu nehmen vermöchten. Dazu kam die hartnäckige Beharrlichkeit, mit der er
allem, was er angriff, auf den Grund ging. Wer aber den irdischen Dinge»,
und zu diesen gehört auch jede Art von Wissenschaft, auf den Grund geht,
der findet, wie schon der Ekklesiast, ihre Eitelkeit und noch schlimmeres als
bloß Eitelkeit. So fand Nietzsche u. a.: leben heiße ungerecht sein; man müsse
das vergessen können, um leben zu können; er konnte aber schwer vergessen
si, 308). Nicht zu tief! notirt er einmal. „Personen, die eine Sache in aller
Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe
ans Licht gebracht, da giebt es immer viel schlimmes zu sehen." Damit ist
denn zugleich der häufige Wechsel seiner Ansichten erklärt. Hatte er die
Nichtigkeit einer Philosophie, einer Autorität erkannt, so blieb eben nichts
übrig, als es mit einer andern zu versuchen, und so gelangte er zuletzt zu
einer verhängnisvollen Universalität, die gleichbedeutend mit Selbstzerstörung
war. Man kann universell sein als ein Vielwisser und noch zehn- oder
hundertmal mehr wissen als Nietzsche, ohne die geringste Störung des seelischen
Gleichgewichts zu erleiden, wenn man seine Kenntnisse nur im Gedächtnisse
hat, wie der Sextaner seine Vokabeln, oder wie der Sammler seine Steine in
Kästen. Nietzsche aber empfand jede neue Erkenntnis, jede neue Ansicht als
eignes Erlebnis, und es fehlte ihm jene eigentümliche Selbsterhaltungskraft,
die den sonst ähnlich gearteten Goethe befähigte, alles, was ihn bedrückte, durch
Aussprechen aus dem Innersten der Seele herauszubringen, sodasz es fortan
uur als eine nicht mehr aufregende Erinnerung in ihn: lebte. In Nietzsche
lebte alles fort, sodaß seine Seele beständig in Gefahr schwebte, von ent¬
gegengesetzten Strebungen zerrissen zu werden. Das Glück, das die alten
Juden und die alten Griechen genossen haben, in einer einfachen Weltanschauung
ungestört zu leben, haben wir Heutigen ja alle verloren; wie wir alle Baustile
aller Völker und Zeiten, alle Rassenphhsiognomien und alle Trachten vor
Augen haben, so spuken alle Religionen, Philosophien und Politiker in unsern
Köpfen, sodaß es kein Wunder ist, wenn die Irrenhäuser nicht mehr zu¬
reichen. Aber die meisten wissen sich doch leidlich zu helfen; sie spinnen sich
in die Auffassung ihrer engern Gruppe ein und behandeln die übrigen Ansichten
als Guckkastenbilder; rücken aber deren Vertreter ihnen zu Leibe, so werden
sie als Feinde zurückgewiesen;^) so behauptet sich eine jede Gruppe und hält
ihre Monologe, es unserm Herrgott überlassend, ob und wie er aus dem
Stimmengewirr eine Symphonie, aus dem Gcgeneinanderarbeiten einen Bau
zustande bringen wird. Nietzsche aber war Träger und Vertreter aller dieser
Richtungen zugleich. Ich habe den Geist Europas in mich aufgenommen,
durfte er (XI, 389) von sich sagen und: „Ich habe von allen Europäern, die
leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire, Goethe.
Es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim
Wesen der Dinge, ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein
Gegenstück zum indischen wäre" (XII, 365).
Und diesem so gefährdeten Geiste fehlte jedes der schweren Gegengewichte,
die sonst an die Erde fesseln. In jungen Jahren schon zwang ihn Krankheit,
sein Amt aufzugeben. Er strebte auch weder nach Ämtern, Ehren und Würden,
uoch uach Geld und Sinnengenuß. Mit der Befriedigung der täglichen Not¬
durft begnügte er sich, und für diese hatte er niemals selbst zu sorgen; kleine
Erbschaften und die Fürsorge von Mutter und Schwester überhoben ihn aller
unangenehmen Notwendigkeiten, und als kurz vor der Umnachtung seines Geistes
die Geldsorge an ihn herantrat, hatte er den Zusammenhang mit der Gesellschaft
schon verloren. So wenig hatte er rechnen gelernt, daß er den verachtete, der bei
zweihundert bis dreihundert Thalern Einkommen aus Vermögen Beamter oder
Kaufmann wird (XII, 83). Er wußte also nicht einmal, daß ein Mann seines
Standes heute so viel schon auf Wohnung braucht. Vor dem Gemeinen freilich
ist ein Mann, der keine andern als intellektuelle Schmerzen, Sorgen und Nöte
kennt — Körperschmerzen achtete er gering —, zeitlebens geschützt, während
einer, der in die irdischen Dinge verstrickt lebt, der Vergrößerung und Ver¬
schlechterung seines Charakters, vielfacher Beschädigung und Verstümmelung
seiner Seele nicht entgehen kann, die freilich durch mancherlei Gutes aufge¬
wogen wird, das aus der Sorge für andre und aus dem Kampf hervorgeht.
Aber ein solches vielfach zerschundnes, zerquetschtes und gesticktes Menschenkind
bleibt wenigstens bis zu seinem leiblichen Tode auch geistig am Leben und
kann eine nützliche Thätigkeit üben, während einem, der gewissermaßen als
reiner Geist leben will, der Tod vor dem leiblichen Tode droht. Als Student
sah Nietzsche einmal, wie bei heftigem Winde ein Hausirer ängstlich seine
Luftballons festhielt. Unsre Mutter! rief er lachend seiner Schwester zu und
fügte bei: was fliegen soll, fliegt doch! Ja, aber wohin? Die ekstatische
Heilige, die der Erde entflieht, ruht sicher in Gott, und mögen die Un¬
gläubigen Recht haben, daß die Ekstase nur Nervenkrankheit und Einbildung
sei, so ruht sie nichtsdestoweniger in dieser Einbildung; der Grübler aber,
der die ihn mit der Erde verbindenden Fäden zerschnitten hat, fällt ins Leere.
er zweite charakteristische Zug in Daudets litterarischer Persön¬
lichkeit ist seine Heimatliebe, seine Liebe für den warmen Süden
der Languedoc und der Provence mit ihren landschaftlichen
Reizen, dem merkwürdigen Gemisch der römischen Kultur,
deren altersgraue Bauten noch stehen, und der jungen,
modernen Welt; mit ihren eigentümlichen Menschen, die dem Nordfranzosen
im Denken und Fühlen fremd gegenüberstehen, und deren Temperament und
Charakter dem beobachtenden Schriftsteller einen unerschöpflichen Stoff liefern.
Dandets Versuch, den Hintergrund und die Gestalten zu vielen seiner Ge¬
schichten aus der Heimatprovinz zu nehmen, steht in der französischen Litte¬
ratur nicht vereinzelt da; es ließe sich im Gegenteil schon jetzt aus deu zahl¬
reichen Provinzialromanen eine ziemlich vollständige litterarische Geographie
zusammenstellen. Berrh, das Herz Frankreichs, hat George Sand in ihren
Romanen behandelt; in der Touraine spielen zahlreiche Geschichten Balzacs;
Erckmann-Chatrian haben vor allem das Elsaß zum Schauplatz ihrer Erzäh-
lungen gemacht; in der Normandie läßt Flaubert einen seiner Hauptromane
und Maupassant eine ganze Reihe von Geschichten spielen. Andrö Theuriet
schildert Lothringen, der jüngst verstorbne Ferdinand Fabre giebt seine Bilder
mit Vorliebe aus den Cevennen, Jules de Glouvet versetzt uns mit seinen
Bauerngeschichten nach Maine, und Pouvillvn nach Quercy. Es scheint also,
als ob man in den letzten Jahrzehnten des Pariser Romans überdrüssig ge¬
worden sei, und man auf dem Gebiete der Litteratur nach einer gesunden Dezen¬
tralisation strebe.
Niemand kommt über seine Jugendeindrücke hinweg, und glücklich der
Schriftsteller, dem es vergönnt gewesen ist, in einer originellen Umgebung,
unter merkwürdigen Menschen seine Jugendzeit verbracht zu haben, der später
dnrch einen krassen Wechsel dieser uugehobnen Schätze gewahr wird und in
der Ferne alle die Erinnerungen in einer Beleuchtung auftauchen sieht, die
selbst das Unscheinbare und Alltägliche zu einer Merkwürdigkeit, zu einem Er¬
eignis macht. So ist auch erst in Paris dem jungen Daudet seine kleine
verlassene Welt im Süden wie ein großer Naritätenkasten erschienen, und er
hat mit Entzücken daraus genommen, was er greifen konnte, glücklich über den
Schatz, an dem bis dahin fo viele achtlos vorübergegangen waren. ?lus on
Ä Ä's8xrit, sagt La Bruyvre, plus on trouvo Ä'orig'irmux, und dieser Geist, diese
wunderbare Witterung und feine Empfänglichkeit für das Seltsame im Alltäg¬
lichen, diese Schnelligkeit, novellistisch verwertbare Motive zu erfassen und seine
Beobachtungen in eine kleine dramatisch belebte Handlung zu bringen — diese
Fähigkeiten hatten sich bei Daudet schou früh entwickelt.
Als er den uugehobnen Schatz seiner Heimat erkannt hatte, da begab er
sich wieder, der Einundzwnnzigjährige, von Paris nach der lachenden, sonnigen
Provence und suchte sich ein stilles Plätzchen aus. eine alte verfallene Mühle
in Pampvrigouste, die von Epheu und Rosmarin umrankt, fernab von allem
Verkehr lag, und hier schrieb er seine reizenden provenzalischen Skizzen: Die
Briefe aus meiner Mühle.
Wie schon liegt die Mühle! „Ein prächtiger Tannenwald zieht sich, ganz
von Licht überflutet, bis zu dem Fuß des Hügels herab. Am Horizonte die
schöngezackten Gipfel der Alpen. Kein Geräusch. Nur hin und wieder der
Ton einer Querpfeife, ein Brachvogel im Lavendel, das Glöckchen eines Maul¬
tiers auf der Landstraße — das ganze schone provenzalische Land erhält sein
Leben durch das Licht. Und nun, wie kannst du verlangen, daß ich mich nach
deinem lärmenden, dunkeln Paris zurücksehne? Ich fühle mich glücklich in
meiner Mühle . . . und was für schone Dinge giebt es rund um mich herum!
Kaum bin ich acht Tage hier, und schon habe ich den Kopf voller Eindrücke
und Erinnerungen."
Und nun entwirft er uns reizende Genrebilder von den Bewohnern des
Landes, von ihren Gewohnheiten, ihren Träumen, ihren Legenden. Wir
sehen den unglücklichen Scherenschleifer, der in der Diligence de Beaucaire
wegen seiner treulosen Frau geärgert wird und nichts zu sagen weiß als:
?Ä8-toi, boulkMAsr, so t'en xrie. Wir hören die rührende Geschichte von
dein alten Windmüller. Meister Cornille, dem die Pariser Dampfmühle
bei Tarascon alle Arbeit weggenommen hat. Wir werden in den kleinen
Meierhof geführt, wo sich das Drama mit dem prächtigen Bauernburschen Jan
abspielt, der über der Treulosigkeit der koketten Arlesierin zu Grunde geht.
Mit seiner Geschichte Rule co führt uns der Dichter in die lustige
Zeit, wo die Päpste in Avignon residirten; man könnte diese Geschichte auch
die Rache des päpstlichen Maultiers nennen, denn sie beruht auf der Redensart
der Provenzalen, wenn sie einen unversöhnlichen Menschen bezeichnen wollen:
Dieser Mensch da! trau ihm nicht! er ist wie das Maultier des Papstes, das
erst nach sieben Jahren seinen Fußtritt austeilt.
Der eigentümliche Charakter der Südfranzosen ist für Daudet eine un¬
erschöpfliche Quelle für viele seiner Geschichten und ChnrakterzeichnUngen gewesen.
Diese Provenzalen, die immer in zwei Welten leben, in der wirklichen und in der
ihrer grenzenlosen Phantasie, und dabei diese beiden Welten bunt durcheinander
Wirbeln, erscheinen ihm als unbewußte Weltkomödianten, die harmlos sind,
solange sie sich wie Tartarin in ihren verdrehten Kreisen als moderne Aboeriten
bewegen, die aber gefährlich werden können, wenn sie wie Numa Ronmestan
Einfluß auf das Schicksal der Regierung und des ganzen Volkes gewinnen.
In Urin.^ RvuillöstiM hat Daudet mit bewundernswerter Feinheit ein psycho¬
logisches Werk ersten Ranges geschaffen; nirgends sind die starken Gegensätze
zwischen dem Wesen des Südfranzosen, der mehr keltisches Blut in den Adern
hat, und dem Charakter des Nordfranzosen, der germanische Züge geerbt hat,
mit solcher Menschenkenntnis dargestellt worden. Die meisten Züge zu dem
Helden dieses Romans hat Daudet sicher aus dem Leben und dem Charakter
Gambettas genommen, obwohl er es in Abrede stellt; die Südfranzosen haben
es ihm auch sehr verdacht, daß er der Welt ein so wenig erfreuliches Bild
von ihrem wahren Wesen vorgeführt hat. Alle Züge, die Dandet an seinen
Landsleuten erkannte, ihr leichtfertiges, eitles, prahlerisches Wesen, ihre Wort¬
brüchigkeit, ihren Ehrgeiz, ihre Sinnlichkeit und Unselbständigkeit trotz der
hohen geistigen Begabung und dazu ihre Gutmütigkeit, ihre Naivität, ihre
Freude daran, andern Leuten etwas zu versprechen, sie für einen Augenblick
glücklich zu machen und sich selbst als Wohlthäter zu fühlen, alle diese Neigungen
läßt er in Numa Noumestan spielen, und alle Verwirrungen und Konflikte werden
durch sie heraufbeschworen. Immer wieder wird Rosalie, die vortreffliche Nvrd-
sranzösin, von Ekel über ihren Gatten Numa, diesen wetterwendischen, treulosen
Menschen ergriffen, aber immer kehrt sie zu ihm zurück, wie zu einem Kranken,
der nur Mitleid verdient, weil er nicht anders kann, weil der Fluch der Doppel-
natur in seinem Blute steckt.
Gerade dieser Roman offenbart die eigentümliche Kunst Daudets, seine
Geschichten aufzulösen in eine Reihe abgerundeter packender Genrebilder, die
scheinbar auseinanderfallen, aber doch durch ein feines Gewebe zusammen¬
gehalten werden. Gleich das erste Bild, die landwirtschaftliche Ausstellung in
Aps, auf der unser Held wie ein Fürst gefeiert wird, ist ein Kabinettstück
seiner Darstellung. Natürlich überschüttet Numa auch hier alle Welt mit
großartigen Versprechungen. Den Tambourin- und Flötenspieler Valmajour,
der auf der Ausstellung seine Künste vorträgt, fordert er auf, nach Paris zu
kommen; er werde dort sein Glück finden. Aber als dieser später wirklich in
Paris auftaucht, hat Numa natürlich alle Versprechungen vergessen. Da er¬
scheint ein andrer provenzalischer Typus, die heißblutige, mißtrauische, ehr¬
geizige Bäuerin Audiberte, Valmajours Schwester, und verlangt und ertrotzt
die Erfüllung aller Versprechungen. Der gutmütige und beschränkte Provenzale
tritt denn auch wirklich in einer Soiree bei Roumestans auf und wird gefeiert,
weil Numa vorher ein ganzes phantastisches Lügengewebe um den Flötenspieler
erdichtet hat. Valmajour wird als origineller Künstler gepriesen, aber wenn
er um seine Kunst gefragt wird, so hat er nur die eine stereotype Erklärung,
die durch den ganzen Roman wie ein Leitmotiv geht: Es ist mir in der Nacht
gekommen, als ich die Nachtigall singen hörte. Da dachte ich in meinem
Sinn: Wie, Valmajour, der kleinen Gotteskreatur genügt ihre Kehle, um all
diese Läufer und Triller hervorzubringen, und was der Vogel mit dem einen
Loch seines Schnabels fertig bringt, das solltest du mit deinen drei Löchern
auf der Flöte uicht erreichen können?
Die edelste Frauengestalt, die Daudet geschaffen hat, lebt in diesem
Romane; es ist die vortreffliche Rosalie, der nordfranzösische Typus der Rein-
heit, Wahrheit und Natürlichkeit. Sie bleibt ihrer Pflicht getreu trotz aller
Enttäuschungen über ihren südfranzösischen Gatten. as v-u-risro, äoulou
ä'on8t,av. ist ein altes provenzalisches Sprichwort: Freude aus der Gasse, Leid
am Herde. „Indem sie die Worte eins nach dein andern wie Steine in einen
Abgrund fallen ließ, wiederholte sie langsam dieses Sprichwort, womit sich
ein ganzer Menschenschlag gekennzeichnet und seinen Charakter in eine Formel
gebracht hat. Sie wiederholte es, als wollte sie den ganzen Jammer ihres
Lebens darin niederlegen: Llan as sarrisro, äoulou ä'on8eg,u." Damit schließt
dieser ausgezeichnete Roman, der am meisten den Erdgeruch, ssnisur as tsrroir,
von Daudets Heimat an sich trägt.
In den übrigen Romanen spielt Südfrankreich nur eine geringe Rolle;
ihr Schauplatz ist Paris. So in .kahle, der Geschichte eines Arbeiters, in I^o
^Ad^d, worin der Geschäftsschwiudel und die moralische Versunkenheit während
des zweiten Kaiserreichs geschildert werden, so in I-hö Rsis su sxil, einem Roman,
der uns die ganze Misere entthronter Fürstenfamilien vorführt; anch der Pro-
selytenromcm I>'IZviZ.nA's1i8t>s spielt hauptsächlich in Paris, desgleichen I/Im-
mortsl, diese heftige Satire gegen die französische Akademie, und L^xlro, worin
Daudet das Leben einer modernen Manon Leseaut schildert und die Unmög¬
lichkeit nachweisen will, aus einer Kurtisane wieder ein ehrbares Wesen zu
machen. Dagegen hat sich Daudet mit seinem Roman 1,3. ?n.wi88ö (Die
kleine Kirche, ein Eheroman. Autorisirte Übersetzung von W. A. Meyer.
Deutsche Verlagsanstalt, 1896) wieder dem Leben auf dem Lande zugewandt,
aber das in diesem Roman behandelte Problem, ob eine treulose Frau wieder
die Liebe des betrogneu Gatten gewinnen könne, ist doch wenig tief auf¬
gefaßt und wenig befriedigend gelöst worden. In dem letzten Romane ist der
Verfall von Daudets schöpferischer Kraft sehr merkbar; namentlich ist ihm
eine Eigenschaft abhanden gekommen, die über die meisten seiner Schriften
einen wundervollen Zauber verbreitet, das ist der unter Thränen lachende
Humor.
Man pflegt den französischen Schriftstellern den Humor überhaupt abzu¬
sprechen, schon deshalb, weil die Franzosen keinen Ausdruck für Humor hätte».
Das ist eine von den vielen thörichten Behauptungen, die urteilslos von aller
Welt nachgesprochen werden. Wenn wir Deutschen alles das nicht hätten,
wofür es keinen deutschen Ausdruck giebt, so müßte unser geistiges und seelisches
Leben sehr arm sein. Wir haben ja auch für Humor kein entsprechendes
deutsches Wort, und schon Lessing hat sich redlich abgemüht, eins dafür zu
finden, aber die von ihm zuerst eingeführte Bezeichnung „Laune" verwirft er
in der Hamburgischen Dramaturgie doch wieder. Nun sagt freilich auch Taine
in seiner Studie über Carlyle: Oette äisxoÄüon et'ssprlt xroäuit 1'Iminour,
mot intraäuiÄbls, var 1s vdoss mens iruur«zuo. I/tmmour est 1s Zevro als
enivre, «mi psut g,iQU8ör Is,8 <^ornrmn8, c!s8 1winrQ08 an I>höre1. . . . 1?0ur 1S8
MN.8 amers rg.hö 11 S8t av8^ruiZ,1)1s; no8 mort8 1s trouvsot trop Äprs se
trox aroer. Aber auch Taine ist in dem Wahne befangen, daß ein Volk nur
die Gedanken, Empfindungen und Stimmungen haben könne, für die es einen
eignen überlieferten Ausdruck hat. Er scheint sich auch nicht klar zu sein
über den Begriff Humor und vergißt, daß der Humor nicht eine allgemeine
von der Rasse abhängige Seelenstimmung ist, sondern eine rein individuelle
Anlage des Geistes und des Herzens.
Unsre Ästhetiker von Jean Paul bis Eduard von Hartmann haben ver¬
sucht, das Wesen des Humors philosophisch zu ergründen, aber zu einem
befriedigenden, für den Literarhistoriker verwertbaren Abschluß haben diese
Studien noch immer nicht geführt. Das Originellste, was ich über den Humor
gelesen habe, und was mich am meisten an Alphonse Daudets Schriften er¬
innert hat, stammt von dem geistvollen aber wenig bekannten Schopenhauericiner
Julius Bahnsen, den man als Gymnasiallehrer im äußersten Winkel von
Hinterpommern, in dem Städtchen Lauenburg, ziemlich traurig hat verkümmern
lassen. In seiner Schrift mit dem etwas abschreckenden Titel: Das Tragische
als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen be¬
zeichnet er als Humor den seinen unmittelbaren Schmerzen cntwundnen Geist,
der die Widersprüche der Gemütserfahrung in die Abstraktion erhebt und so
dem Menschen zur Seeleubefreiung verhilft. Und an einer andern Stelle
nennt er den Humor einen Akkord aus der Katzenmusik der sogenannten Welt¬
harmonie. So wunderlich und paradox das klingt, so steckt doch ein gutes
Stück Wahrheit in diesem Ausspruch. Diesen Akkord aus der scheinbaren
Katzenmusik des Lebens hat auch Daudet, trotz Taine, vortrefflich zu ersoffen
gewußt. Nisux aus xsrsoiiiiö, sagt Jules Lemattre, it sg-ihn et äögiigö os8
ironiW, egg oui'iositW <ze> vonimiz vos laiixis as 1a ssra-mie oomöäie ass lloininö8
et <is8 ello8ö3. 1'on rolrouvora. xrcZL^no » elmquö xgM as 8ö8 grauäs
i'0iNM8 ost g.re Ä'sxtrMS <1>z ig. rvÄlitö ÄL8 We,illlv8S8 doutlorm.<Z8 on nktvrMlvs,
ä'on Mil1i33sin ig 8urM8ö, is rirv öl 8vuvsnt ig. pitiv (I^ö8 Oontöinx. II,
S. 287).
Es steckt in der That eine Fülle von Humor in Daudets Dichtungen,
und gerade dieser Humor, diese Freude an der Versöhnung der Gegensätze,
dieses Mitgefühl für die Armen, Bedrängten und Enterbten, diese Mischung
von Melancholie und herzbefreiender Heiterkeit unterscheidet ihn am deut¬
lichsten von der kalten, handwerksmäßigen Lebensauffassung der naturalistischen
Schriftsteller. Für alle Schattirungen des Humors, vom satirischen bis zum
sentimentalen, könnte man bei Daudet vortreffliche Vorbilder finden. Wie fein
ist die Skizze vom Elixir des ehrwürdigen Pater Gaucher, der sein Kloster
dadurch vor der Verarmung rettet, daß er einen ausgezeichneten Schnaps
brant, wodurch dem Kloster Geld in Hülle und Fülle zufließt. Pater Gaucher,
der bis dahin wegen seiner Dummheit von deu Brüdern mißachtet worden
ist, wird nun der Ehrwürdigste von allen, und obgleich er jeden Abend in
seiner Klause wenig ehrwürdig betrunken ist, so beten doch der Prior und die
Mönche für den armen Bruder, der seine Seele den Interessen der Gemeinschaft
opfert . . . OrölQus vonüns. „Und während über alle die weißen Kapuzen, die
im Schatten der Kirchenschiffe niedergekniet waren, der Schauer des frommen
Gebetes hinlief, hörte man von unten, ganz am Ende des Klosters, hinter den
erleuchteten Fenstern der Destillation den Pater Gaucher, der aus voller
Kehle sang:
Oder das prächtige Idyll I^es Vioux, die der Dichter aufsucht, um ihnen Grüße
von ihrem Sohn ans Paris zu bringen. Gerade die Briefe aus meiner Mühle
und die Sammlung I^ö8 I'oenas8 et'Meist!iZ8 sind reich an humoristischen Skizzen.
Auch manche Episoden in seinen Romanen sind geradezu Muster humoristischer
Darstellung. Ich kann hier nicht näher auf diese Frage eingehen und empfehle
dem Leser, der sich dafür interessirt, eine Leipziger Inauguraldissertation von
Hermann Lindemann über Alphonse Daudet als Humoristen (1896), eine ein¬
gehende Studie, die sich auch durch ihre geschmackvolle Form noch besonders
auszeichnet.
Es liegt nahe, den Humoristen Daudet mit Dickens zu vergleiche», und
in der That ist schou oft auf die Ähnlichkeiten zwischen beiden Schriftstellern
hingewiesen worden, ans die Entbehrungen und das Elend in ihrer Jugend,
auf deu Kampf beider mit den Widerwärtigkeiten des schriftstellerischen Berufs,
auf ihre Selbstbiographien, der von Daudet in I^s ?edle Ollere und der von
Dickens in vavick OoppvrllsIÄ. Ja auch manche Gestalten und Szenen bei
Daudet haben eine auffallende Ähnlichkeit mit einigen bei Dickens, z. B. der
Vater Delobelle in ^roinont Semne mit Mr. Turveydrop in Dickens Llealc
Hou8v, manche Stellen in ^elc erinnern an Uiollolas UiMvd? und Oliver
1ol8t usw. Aber man darf nicht vergessen, daß sich, wenn zwei Schriftsteller
dasselbe Problem oder dieselbe Gesellschaftsschicht behandeln, auch manche Ideen
und manche Gestalten beiden aufdrängen werden; es ist daher immer gewagt,
gleich von Entlehnungen zu sprechen, wo es sich nur um zufällige Wegkreuzungen
handeln kann. Daudet selbst ist immer ungehalten darüber gewesen, wenn man
ihn mit Dickens verglich, auch schou dann verglich, als er noch nichts von diesem
Schriftsteller gelesen hatte. Er weist den versteckten Borwurs der Anlehnung
entschieden zurück, besonders in seinem Buche Ireirw ans as ?g.ris, tu8wire
as 1lors8, mit den Worten: ^e ins 8SN8 an scvur l'^mour as violcsi^
ponr 1lZ8 al8A'riieie3 et les P-MVI'L8, 1S8 snlM068 rnsleö8 g.n Illi8ere as8 x>'rcmäs3
vitio8, s'in en soinins lui uns freres as la vie iiÄvrg.mes, l'odliAÄticin as
gÄ»ner uioir pg.in avluck 8si?.e M8; s's3t In, s'jirucZ'ins, uotrs piu.8 grNiäs
rL88LUld1»it06.
Der dauernde Bestand einer vorläufig hinreichend
starken deutschen Kriegsflotte ist durch die letzten Neichstagsbeschlüsse gesichert. Die
positiven Parteien haben — hoffentlich aus vollem Herzen — ja gesagt; die stets
verneinenden sind „unentwegt" ihren Grundsätzen treu geblieben und konnten das
ja auch ruhig, da die verantwortliche Entscheidung an andrer Stelle lag. Die
Parteien, die diese Entscheidung gaben, die das Zünglein an der Wage waren,
haben zum Schluß politische, wirtschaftliche und sogar konstitutionelle Bedenken
beiseite gesetzt, weil sie begriffen, daß sie andernfalls eine selbstmörderische Thorheit
begehen würden. Denn die Negierung hätte mit keiner wirksamern Wahlparole
in die bevorstehende Kmnpcigne eintreten können, als mit der für die überseeische
Entwicklung des deutschen Volkes. Nun ist es mit dieser Parole nichts, und soviel
auch von allen Seiten zum Sammeln geblasen und getrommelt wird, so kann der
nüchterne Politiker doch nicht verkeimen, daß jede der blasenden Parteien bis jetzt
nur die andern bei sich und um sich versammeln möchte und somit, wie man früher
in Österreich sagte, „halt alles beim alten bleibt."
Neueste Äußerungen vom Regiernngstische, wie daß das deutsche Volk ein¬
geschlafen sei, und die Regierung für das Wecken Sorge tragen werde, lassen die
Vermutung aufkommen, es könne als Wahlparole das Motto „wider den Umsturz"
genommen werden. Die Grenzboten sind gut deutsch und gut kaiserlich und haben
sich auch in der Flottenvorlage so gehalten; sie würden jeden Aufruhrversuch als
ruchlos und seiner Aussichtslosigkeit halber auch als unsinnig verdammen, wollen
aber auch nicht verhehlen, daß sie diese Wahlparole für eine recht unglückliche
halten würden. Davon, daß das Motiv schon stark abgespielt ist, wollen wir ab¬
sehen, denn bei gegebner Notwendigkeit könnte man sich eben der Wiederholung
nicht entziehen, aber die Notwendigkeit ziehen wir in Zweifel, und die Tonart, die
in den letzten Jahren von der Regierung gewählt worden ist: Fortitor in moclo,
sua,vit<zr in 10, hat doch ihr Ansehen leider nicht gerade gesteigert. Also, wir ver¬
urteilen jede ungesetzliche Gewalt, wir wollen aber auch nicht, daß aus dem „Um¬
sturz" ein Popanz gemacht werde, mit dem man Philister und Kinder zur Wahl¬
urne zu scheuchen vermeint.
Die gegen den Umsturz predigen, sollen uns zuvor genau sagen, was sie
darunter verstehe», und dann werden wir sehen, ob ihre Ansicht vom Standpunkt
des Ganzen aus zu billigen oder vielleicht eine Trivialität ist. Denen, die mit
dem „Umsturz" Vorstellungen verbinden an die Schreckensherrschaft von Robespierre
und an die Pariser Kommune oder wenigstens an die Barrikadenkämpfe von 1843,
setzen wir eine andre Umsturzerkläruug entgegen und geben ihnen auf, deu Autor
zu raten, wenn sie ihn nicht wissen. „Im Kampfe vollzieht sich überhaupt die
weltgeschichtliche Bewegung; aus den verfallende» Bildungen geht ein neues Dasein
hervor, das zugleich Weiterentwicklung und recht eigentlich Umsturz ist." Das
bedenkliche Wort ist nicht von Marx oder Lassalle, sondern von dem alten königs-
trenen und konservativen Historiker Leopold von Ranke, dem Gesinnungsgenossen
des Fürsten Vismarck, der es als eine Frucht tiefsten Studiums und reifster Weisheit
in seinem hohen Alter niedergeschrieben hat; es steht im achten Teil seiner Welt¬
geschichte, Seite 162. Übrigens erinnert es lebhaft an das viel bekanntere:
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht uns den Ruinen.
So können wir nur wiederholen, daß wir die rechte Mittellinie, von deren
Jnnehaltung wir eine heilsame Entwicklung unsrer Zukunft erwarten, allein in
rechtzeitigen und zweckmäßigen Reformen erkennen können. Wir müssen durchaus
den sozialen Zwiespalt im Innern überwinden; unsre geographische Lage, die uus
natürliche Grenze» versagt und uns acht andre Völker zu Nachbar» gegeben hat,
hat uns auf Einigkeit und eigne Kraft verwiesen bei Strafe innern und äußern
Ruins. Wir müsse» es wieder und wieder sagen, einen Aufruhr fürchten wir
keineswegs, aber ein Wörth, ein Spichern, ein Se. Privat und ein Plewna stürmt
man nur mit Männern, die ihr Leben freudig für Kaiser und Vaterland einsetzen
und hingeben.
Dreimal haben wir Dentschen in den letzten anderthalb Jahrhunderten einen
Anlauf genommen, das Herrenvolk zu werden, das wir sein könnten, das wir einst
waren und wieder werden müssen; das erstemal in der Glanzperiode König
Friedrichs des Einzigen, das zweitemal in den Befreiungskriegen, das drittemal
etwa vor einem Menschenalter. Jedesmal nach dem kräftigen Ausschwung glaubte
man die entfesselten Geister wieder zähmen zu müssen. Die letzte Zeit Friedrichs
ist durch Unterdrückung jeder Selbständigkeit, Bevormundung und Polizeiplackereien
gekennzeichnet; üppig schössen Materialismus und Sentimentalität zumal bei den obern
Klassen ius Kraut, und die Früchte zeigten sich in der Neutralitätspolitik des
Basler Friedens und im Unglücksjahre 1806.
Wie herrlich hat sich dann nach der strengen aber heilsamen Fremdherrschaft
der preußische Geist gezeigt, als der König vertrauensvoll das ganze Volk zu den
Waffen rief! Wie hingebend, stark und treu war doch dies Volk, wie stolz und
kühn, wie sicher und mannhaft traten seine Führer auf, ein Stein und Blücher,
ein Gneisenau und Dort! Und wie ist es gekommen, daß sich auf diesen ganzen
Volksfrühling ein zäher und giftiger Mehltau legen konnte? Ängstliches Festhalten
an veralteten, nicht mehr zeitgemäßen Formen und Mißtrauen bei den Regierenden,
egoistisches Festhalten an ihren Privilegien bei den obern Klassen waren wohl die
wichtigsten Hindernisse der damals notwendigen Reformen, wie sie es vielleicht
immer sind. Wir können heute kaum den Grad der Spannung und Verhetzung
ans den Ursachen begreifen. Und doch empfindet man noch jetzt Entrüstung, wenn
man erfährt, daß das Koblenzer Hauptquartier Gneisenaus, den Treitschke den
eigentlichen Besieger Napoleons genannt hat, in gewissen Berliner Kreisen — gut¬
gesinnte und Patrioten nannten sie sich selber, Maulwürfe nennt sie ein geistvoller
Gegner — als „Wallensteins Lager" bezeichnet wurde. Und wie hoch mußte die
Verbitterung über die Zustände gestiegen sein, wenn Prinz Wilhelm von Preußen
— unser alter Heldenkaiser — 1324 schreiben konnte: „Was unsre änßere Lage
betrifft, so muß ich leider ganz der Ansicht beitreten: Hätte die Nation 1813 ge¬
wußt, daß nach elf Jahren von einer damals zu erreichenden und wirklich erreichten
Stufe des Glanzes, Ruhmes und Ansehens nichts als die Erinnerung und keine
Realität übrig bleiben würde, wer hätte damals wohl alles aufgeopfert, solches
Resultats halber? Die Aufstellung jener Frage verpflichtet auf das heiligste, einem
Volke von elf Millionen den Platz zu erhalten, den es durch Aufopferungen er¬
langte, die weder früher gesehen worden sind, noch werden gesehen werden." —
Und Sybel charakterisirt die Lage Deutschlands: „nach innen unfruchtbar und
despotisch, nach außen abhängig und wehrlos." Beides hängt in gewissem Grade
zusammen.
Heute haben so ziemlich alle Wünsche Erfüllung gefunden, die man damals den
Demagogen als Hochverrat anrechnete. Leider ist uns ans jener Zeit eins geblieben,
das Mißtrauen und die Spaltung zwischen Regierenden und Regierten; die verspätete,
erzwungne und widerwillig durchgeführte Reform von 1818 hat das nicht aus¬
zugleichen vermocht. Jene Zeit des leidenschaftlichen Vorwärts- und Znrückdrängens
von Reformen, ohne den rechten Entschluß zu finden, bietet außerordentlich viel
Analogien mit der Gegenwart, möchte man ihre Lehren doch beherzigen! Erst nach
dem Jahre 1866 haben uns König, später Kaiser Wilhelm und Bismarck einen
neuen Aufschwung gegeben und uns damit zum Teil von den Nachwirkungen jener
Zeit erlöst. Das Jahr 1370 war vielleicht zu schön und zu herrlich und hat
uns zuviel auf einmal gebracht; schon sehr früh hat der alte Prächtige F. Th. Bischer
in seinem „Auch Einer" prophezeit, daß wir einen häßlichen materialistischen Nutzen
davon tragen würden, von dem uns nur ein schwerer äußerer Krieg befreien
könnte. An dem bösen Wurm sind manche vielversprechende Früchte zu Grunde
gegangen. Heute halten wir eine Heilung ohne Krieg für möglich; manche Zeichen
deuten auf Besserung. Aber eine günstige innere Entwicklung ist eine unbedingte
Notwendigkeit. Sollen wir uns endlich auf der Welt den Herrenvölkern als völlig
ebenbürtig fühlen, und becinsprucheu wir. von ihnen als Mi-W und nicht nur als
eine etwas bessere Art von Hindu angesehen zu werden, so müssen wir auch daheim
entsprechend erzogen und behandelt werden. Hier vor allem liegen die Keime, aus
denen sich unsre Weltmacht entwickeln kann. Vertrauen erzeugt Vertrauen.
Ein Privatdozent an der Universität Greifs¬
wald, Dr. Josef schuole, arbeitet an einem umfassenden Werke über Die
sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland seit dem Erlasse des
Sozialistengesetzes. Der erste, vorbereitende Teil (Jena, Gustav Fischer, 1896)
behandelt die Geschichte dieser Gewerkschaften seit 1868 und die Rechtsprechung
in Sachen gewerkschaftlicher Organisationen. In der Einleitung führt der Verfasser
ans, wie die Sozialdemokratie daran schuld sei, daß bei uns die Gewerkvereine
nicht zu solcher Ausbreitung, Wirksamkeit und Macht hätten gelangen können wie
in England, meint aber, es werde bei uns auf einem Umwege schließlich dasselbe
erreicht werden wie in England. „Indem sich unter dem Drucke der sozialdemo-
kratischen Massenbewegung tiefgreifende Umgestaltungen vollziehen, tritt der uns
immer größere Machtentfaltung des Kapitals gerichteten Tendenz unsrer Zeit ein
paralysirendes Element entgegen, und ohne daß es im entferntesten beabsichtigt
wäre, wird, aller revolutionären Phrase zum Trotz, von der Sozialdemokratie selbst
ganz allmählich hingearbeitet ans die Hebung der untern Volksschichten in ihrer
Gesamtheit; und da gleichzeitig deu befähigtesten Elementen des Arbeiterstandes
durch die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Propaganda immer reichlichere
Gelegenheit geboten wird, sich hoch über den Durchschnitt zu erheben, eine ange¬
sehene Stellung unter der übrigen Arbeiterschaft zu gewinnen und mit Hilfe des
allgemeinen Wahlrechts sogar zu unmittelbarer Mitwirkung bei der Gesetzgebung
und der staatlichen Verwaltung zu gelangen, so rücken Gefahren allgemach in
weitere Ferne, deren Abwendung noch bei Entstehung der sozialdemokratischen Be¬
wegung für unmöglich gehalten wurde. Was erreicht die Sozialdemokratie damit
aber wesentlich verschiednes von den Erfolgen der Lra.ä<z-Hinaus Englands auf
sozialem Gebiete?" Diese unbeabsichtigten Erfolge der Sozialdemokratie brächten
es auch mit sich, daß sich die Stellung der Partei zu den Gewerkvereinen geändert
habe; während diese anfangs nnr dazu benutzt worden seien, die politisch gleich-
giltigen Arbeiter für die Partei einzufangen, sinke jetzt, wo die Unerreichbarkeit
der politischen Ziele der Sozialdemokratie erkannt werde, diese zum Nährboden der
Gewerkschaftsbildung herab. Im historischen Teil der Arbeit Hut uns besonders
zweierlei interessirt; ein Urteil über die Sozinldemokratie, das die Volkszeitung im
Jahre 1368 bei einem Wiener Arbeiterfest ausgesprochen hat: es sei begreiflich,
daß man in dem zurückgebliebnen Österreich noch fürchte, „was bei uns bereits
zur Komik herabgesunken ist"; dann der Abschnitt, worin dargestellt wird, wie die
auf Vernichtung der Fortschrittspartei abzielende, von der konservativen Partei und
von den Behörden begünstigte „Berliner Bewegung" die Sozialdemokratie gefördert
hat. Das Verhalten der Polizeibehörden und mancher Gerichte in Gcwerkvereins-
sachen wird zwar wegen der Verquickung der Gewerkschaftsbewegung mit der
Sozialdemokratie entschuldbar gefunden, aber doch für verderblich erklärt, nicht bloß
weil es das Vertrauen des Volks auf die Rechtspflege erschüttert, sondern auch
weil nun die Sozialistenführcr in der Lage sind, alle Schuld an dem revolutio¬
nären Charakter der Arbeiterbewegung auf die Behörden abzuschieben, die eine auf
Besserung der Lage der Arbeiter innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung ge-
richtete gesetzliche Bewegung unmöglich gemacht hätten. Der Verfasser giebt indes
die Hoffnung nicht auf, daß es noch zu einer solchen kommen werde. „Nach der
beginnenden Erweckung des Klassenbewußtseins, schreibt er S. XIII der Einleitung,
nach den Vorarbeiten zur Erzeugung eines Gesamtwillens im Arbeiterstande und
nicht zum wenigsten nach der angefachten Erbitterung gegen die Kapitalsherrschaft
ist auch heute noch eine Möglichkeit vorhanden, daß eine gewerkschaftliche Bewegung
mit geradezu elementarer Gewalt von dem Zeitpunkte an zum Durchbruch gelangte,
wo die Einsicht allgemein würde, daß der Ausbau von Berufsvereinigungen eine
unerläßliche Voraussetzung weiterer Fortschritte der arbeitenden Bevölkerung bildet."
Das Buch ist ein aus amtlichen Quellen geschöpftes reines Nachschlagebnch
ohne Raisonnement und Tendenz, wenn man nicht etwa das Lob des Syndikats
im Vorwort tendenziös finden will. Es giebt Auskunft über die Behörden und
die unter der Aufsicht des Oberbergamts stehenden Anstalten, über das Nheinisch-
westfälische Kohlensyndikat und die übrigen Verkaufsvereinignngen, enthält eine Nach-
weisung über die gezählten Arbeitslöhne und die zahlreichen Bergpvlizeiverordmmgcn,
endlich ein Verzeichnis der Bergwerke des Bezirks in alphabetischer Ordnung mit
Angabe der Nechnnngsnbschlüsse, Kurse usw. Das Jahrbuch legt Zeugnis ab von
dem erfreulichen Fortgange der Produktion und wird allen Aktionären, Aktienkänfern
und sonstigen Interessenten sehr nützlich sein. Der Sozinlpolitiker wird freilich
eine nicht ausschließlich aus amtlichen Quellen geschöpfte Ergänzung dazu wünschen,
aus der unter anderm zu ersehen wäre, wie und in welchem Umfange die vor¬
trefflichen Bergpvlizeivervrdnungen ausgeführt werden. Anläßlich des letzten furcht¬
baren Unglücks auf der Zeche Verein. Karolinenglück erhebt die deutsche Berg- und
Hüttenarbeiterzeitnng wiederum die Anklage, daß es an der Ausführung fehle. Eine
Gerichtsverhandlung wird ja wohl darthun, was an dieser Anklage wahres ist, aber
rein aus den Fingern gesogen ist sie nicht, denn sie beruht auf den Aussagen
zweier Fachmänner, die sich an den Rcttungsarbeiten beteiligt und dabei den Zu¬
stand der Grube in vieler Beziehung vorschriftswidrig gefunden haben.*) Die
Löhne entsprechen der Schwierigkeit, Wichtigkeit und Gefährlichkeit der Arbeit keines¬
wegs. Der Jahresverdienst der Steinkvhlenberglcnte betrug im Jahre 1895 nach
der Tabelle des Jahrbuchs auf Seite 106 bis 107 für die Klasse -r (unterirdisch
beschäftigte eigentliche Bergarbeiter) im Bezirk Dortmund 1114, in Niederschlesien 796,
in Oberschlesien 740 Mark. Wie der Bericht auf Seite 110 zu der Angabe ge-
langt, das; dieselbe Klasse in demselben Jahre in Oberschlesien 930, in Nieder¬
schlesien 905 Mark Jahresverdienst habe, haben wir uns aus den Tabellen zu er¬
mitteln vergebens bemüht.
nach den Akten der Staatsarchive
zu Berlin und Hannover dargestellt von Max Baer (Leipzig, Verlag von S. Hirzel)
ist eins der lehrreichsten Bücher, die man lesen kann. Auf Grund eines reichen,
archivalischen Materials stellt der Verfasser die vergeblichen Versuche dar, eine deutsche
Flotte auszubilden oder auch nur zu erhalten. Die unüberwindliche Abneigung und
das kindische Mißtrauen gegen jede, auch die ehrlichste Bemühung Preußens, zum besten
Deutschlands zu wirken, lähmten jeden Versuch, der Nation eine Flotte zu schaffen
oder zu erhalten. Österreich spielt freilich bei deu verschlungnen Verhandlungen,
die hier ausführlich mitgeteilt werden, insofern eine sonderbare Rolle, als es sich
ebenso standhaft weigerte, für die deutsche Flotte auch nur einen Kreuzer zu be¬
zahlen, wie es bei allen darüber gefaßten Beschlüssen ein entscheidendes Wort mit
sprach; man mag die Behauptung noch so lächerlich finden, seine Kriegsschiffe im
Adriatischen Meere enthoben es der Pflicht, für die Sicherung der Nordsee dnrch
Geldzahlungen für eine dort stationirte Flotte zu sorgen — die Hauptschuld um
der ganzen Tragödie trägt doch die wütende Eifersucht Hannovers gegen Preußen.
Es klingt daher wie eine versöhnende historische Gerechtigkeit, wenn der Verfasser
am Schlüsse seines Werkes die maßlose Bestürzung erwähnt, mit der man in
Hannover den in aller Stille am 1. Dezember 1853 zwischen Preußen und Olden¬
burg abgeschlossenen Vertrag erfuhr, durch deu Preußen das Terrain für deu Kriegs¬
hafen an der Jahde erwarb.
Schließlich bemerken wir noch, daß eine Reihe bisher nicht veröffentlichter
Depeschen des damaligen Bundestagsgesandter von Bismarck der schönste Schmuck
des Werkes ist.
Schillers Lehrgedicht, das diesen Titel trägt,
ist ein Versuch, Römer 3 und Galater 3 und 4, die von der Weltgeschichte so
wenig gerechtfertigt zu werden scheinen, mit Hilfe der ästhetischen Weltanschauung
zu rechtfertigen; Schiller kommt dabei dem Kerne des Welträtsels so nahe wie ein
Sterblicher nur irgend kann, vermag aber ebenso wenig wie ein andrer Weiser
hineinzubringen und läßt den Leser mit ungestillter, ja gesteigerter Sehnsucht stehen.
Aber jeder Denkende wird von Zeit zu Zeit immer wieder zu dieser gewaltigen
Dichtung zurückkehren und jene Sehnsucht, die eine heilige Ahnung einschließt, von
neuem in sich entzünden lassen. Deshalb wird vielen el» Büchlein Freude macheu,
das Dr. O. A. Ellisen, der Biograph Friedrich Albert Langes, aus dessen
Nachlaß herausgegeben hat: Einleitung und Kommentar zu Schillers Philo¬
sophischen Gedichten (Bielefeld und Leipzig, Velhagen und Klasiug, 1897);
das Ideal und das Leben nimmt darin den breitesten Raum ein.
s ist mehr als vierzig Jahre her, daß W. H. Riehl in seiner
Naturgeschichte des Volkes die Emcmzipirung von den Frauen
predigte. Er sah in dem Vordrängen der Frauen auf den offnen
Markt, in ihrem Hereinpfuschen namentlich in die geistigen Be¬
rufe der Männer ein Zeichen der Abspannung des öffentlichen
Lebens, der erschlafften Sitte des Hauses — eine Folge üppiger Friedenstage.
Diese Warnung ist keineswegs veraltet; was sich auf die sprachgelehrten Frauen,
die Malerinnen und Kupferstecherinnen früherer Jahrhunderte und auf die
Politisch thätigen Teilnehmerinnen der Revolutionsbewegungen der vierziger
Jahre bezog, läßt sich ohne Zwang auf mancherlei Erscheinungen der heutigen
Frauenbewegung umwenden. Heute wie damals ist es das erste Gebot der
gepredigten Emanzipirung, sich nicht durch klangvolle Reden und Übertreibungen
berauschen zu lassen, den Wert gepriesener ausländischer Vorbilder an den Er¬
fordernissen deutscher Sitte zu messen und gerade die lautesten Klagen über
Unterdrückung und Notstand mit der unerbittlichsten Gründlichkeit aus ihre
sachliche Berechtigung zu prüfen.
Die Überschrift verrät, wohin diese Bemerkungen zielen. Die einheitliche
Neuordnung des bürgerlichen Rechts im Deutschen Reiche hat den Anlaß zu
einem besonders lauten Klageruf über „Raub an den Frauen" gegeben; bei
der Beratung des bürgerlichen Gesetzbuchs im Reichstage ist die Frauenfrage
uach ihrer privatrechtlichen Seite eingehend erörtert worden; mit welchem Er¬
folge, ist bekannt und ergiebt sich aus der mit Recht abenteuerlich genannten
Bittschrift an den Reichstag, das soeben beschlossene Gesetzbuch schleunigst
wieder abzuschaffen. Gerade hier, auf dem rechtlichen Gebiete, ist es nicht
leicht, vor einer breitern Öffentlichkeit ungerechten Forderungen und schiefen
Urteilen entgegenzutreten; nirgends findet man so wie hier die unglaublichsten
Behauptungen und gröblichsten Entstellungen des wirklichen Rechtszustandes,
die offenbar darauf rechnen, von einem harmlosen Leserkreise willig für bare
Münze genommen zu werden. Da liest man z. B. in einer ernsthaften Berliner
Tageszeitung*!: „Seit unvordenklichen Zeiten beruht die Stellung des weib¬
lichen Geschlechts auf dem Grundsatz, daß das Weib als eine Sache, nicht als
eine Persönlichkeit betrachtet werden müsse. ... In dem Entwurf eines bürger¬
lichen Gesetzbuchs wird die Frau nach wie vor als Sache, nicht als Person
behandelt. Als Ehefrau steht sie unter der Gewalt des Eheherrn. . . . Sie
ist dem Manne zu persönlichem Gehorsam verpflichtet und hat nicht das Recht,
in die Verhältniße des täglichen Lebens, sowie in die Schicksale minderjähriger
Kinder bestimmend einzugreifen. Ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen wird,
wenn man von einem geringen Vorbehaltsgut absieht, der Verwaltung und
Nutznießung des Mannes unterworfen, und sie muß auch der sinnlosesten Ver¬
schwendung des eingebrachten Gutes hilflos zusehen, da die für diesen Fall
vorgesehene gesetzliche Klausel (?) sich nur in vereinzelten Fällen als praktisch
wirksam erweist. . . ." Die armen Frauen! Wenn an derselben Stelle un¬
mittelbar darauf dem Sittengesetze der heutigen Gesellschaft nachgesagt wird,
daß es „das weibliche Geschlecht auf die Stufe eines tändelnden Kindes oder
Idioten stelle," so wird der urteilsfähige Leser dafür nur ein mitleidiges Kopf¬
schütteln übrig haben; aber die Begriffe weiterer Kreise von der Gesetzgebung
unsrer Zeit werden durch solche freundlichen Ausstreuungen mehr beeinflußt, als
mau denkt.
Zweierlei kommt dazu, einer übelwollenden Beurteilung des bürgerlichen
Gesetzbuchs die Wege zu bahnen. Der Gesetzgeber konnte das Recht der
Frauen nicht ausschließlich nach ihren besondern Vorteilen gestalten; seine Auf¬
gabe war hier wie überall, die widerstreitenden Interessen mit einander aus¬
zugleichen und jeder gesellschaftlichen Gruppe den Platz anzuweisen und zu be¬
grenzen, der ihr nach ihrem eigentlichen Wesen gebührt, dem gleichberechtigten
Vorteil andrer Gruppen nicht zu nahe kommt und die Lebensbedingungen
der Gesamtheit nicht gefährdet. An diese Rücksichten, die im Gesetze natürlich
nicht ausgesprochen sind, ist der einseitige Tadler nicht gebunden; ihn hindert,
nichts, nur die Lage und den Vorteil seiner Partei, also etwa der Frauen ins
Auge zu fassen, ihre Beschränkungen und Nachteile mit grellen Farben hervor¬
zuheben und daraus ein Schauergemälde. der Ungerechtigkeit zu machen. Der
harmlose Leser fragt sich dann wohl verwundert, wie es denn nur möglich
gewesen sei, daß die vielen erfahrnen und einsichtigen Mitglieder der verschiednen
Gesetzgebungskommissionen und Behörden an so offenbarer Billigkeit vorbei-
gcsehen haben — er ahnt nicht, daß alle diese Erwägungen bei der Abfassung
des Gesetzes eingehend und sorgsam geprüft und nur deshalb nicht berück¬
sichtigt worden sind, weil ihnen andre ebenso gewichtige und gewichtigere
Gründe entgegenstehen, die der Tadler vorsichtig verschwiegen hat.
Das zweite ist eine Frage der juristischen Technik. Das bürgerliche
Gesetzbuch hat es in einer wahrhaft vornehm zu nennenden Weise verschmäht,
an seine Spitze große Worte und leere Allgemeinheiten zu stellen, die keine
unmittelbare, praktische Anwendbarkeit beanspruchen könnten, sondern höchstens
dazu dienen würden, den heutigen Rechtszustand mit dem gehörigen Gepränge
von der „Barbarei" früherer Zeiten abzuheben und damit böswilligen, leicht¬
fertigen und oberflächlichen Angriffen die Spitze abzubrechen.
Gleich den obersten Grundsatz, auf dem unser ganzes Frauenrecht beruht,
deu Grundsatz der unbedingten und unbeschränkten Gleichheit beider Geschlechter
auf dem Gebiete des Vermögensrechts wird man im Gesetze als besondern Para¬
graphen vergeblich suchen; er ist lediglich dadurch verwirklicht, daß das Gesetz von
einem Unterschiede schweigt und Eigentum, Erbrecht und Schuldverhältnisse ohne
jede Rücksicht darauf behandelt, ob sie einem Manne oder einem Weibe zustehen.
Im Familienrecht ist es anders; auch hier sind aber nur die einzelnen Rechts¬
sätze ausgeprägt, ihren innern Zusammenhang und ihre grundsätzliche Be-
deutuug muß man sich aus ihrer unmittelbaren Wirksamkeit selber zurechtlegen.
Es ist deshalb sehr leicht, durch eine einseitige Auswahl und absichtliche
Gruppirung aus einzelnen Sätzen des bürgerlichen Gesetzbuchs ein Frauenrecht
zusammenzustellen, vor dem jeder Frau bange werden kann. Man nehme etwa
folgeichc Bestimmungen: § 1354: Dem Manne steht die Entscheidung in allen
das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er be¬
stimmt insbesondre Wohnort und Wohnung. — 8 1356, Abs. 2: Zu Arbeiten
im Hauswesen und im Geschäfte des Mannes ist die Frau verpflichtet, soweit
eine solche Thätigkeit nach den Verhältnissen, in denen die Ehegatten leben,
üblich ist. — § 1363: Das Vermögen der Frau wird durch die Eheschließung
der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen (eingebrachtes
Gut). Zum eingebrachten Gute gehört auch das Vermögen, das die Frau
während der Ehe erwirbt. — 1373: Der Manu ist berechtigt, die zum ein¬
gebrachten Gute gehörenden Sachen in Besitz zu nehmen. — § 1376: Ohne
Zustimmung der Frau kann der Mann über Geld und andre verbrauchbare
Sachen der Frau verfügen.... — s 1377, Abs. 3: Andre verbrauchbare Sachen
(nämlich außer dem Gelde) darf der Mann auch für sich veräußer» oder ver¬
brauchen. — § 1383: Der Mann erwirbt die Nutzungen des eingebrachten Gutes
in derselben Weise und in demselben Umfange, wie ein Nießbraucher. — § 1395:
Die Frau bedarf zur Verfügung über eingebrachtes Gut der Einwilligung des
Mannes. — § 1396: Verfügt die Frau durch Vertrag ohne Einwilligung des
Mannes über eingebrachtes Gut, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags von
der Genehmigung des Mannes ab. — 1398: Ein einseitiges Rechtsgeschäft,-
durch das die Frau ohne Einwilligung des Mannes über eingebrachtes Gut
verfügt, ist unwirksam.
Wer weiter nichts als diese Sätze liest, wird wenig Bedenken tragen, sich
dem „Frauenlandsturm" anzuschließen, jener berühmt gewordnen Flugschrift
an den Reichstag: „Wie ein dunkler Schatten aus den dunkelsten Tagen des
Mittelalters ragt der Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuchs in die Gegenwart
hinein"; und in der That kann man dabei an der Weisheit des Rechts irre
werden; wozu überhaupt ein gesetzliches Ehegüterrecht, wenn es solche „Knecht¬
schaft" zeitigt? Neuerdings hat ein juristischer Schriftsteller, der in einem
allgemeinverständlichen Werkchen*) die Kenntnis des Frauenrechts verbreiten
und auf diese Weise den maßlosen Angriffen auf das künftige Recht ein Ziel
setzen will, der Frauenwelt den Gedanken des gesetzlichen Güterrechts damit
mundgerecht zu machen versucht, daß die Verwaltungsgemeinschaft dem Durch¬
schnitt der meisten Ehen („dem Normalmaß der Alltagsfrau im Rechtsleben")
entspreche, daß das Gesetz zur Sicherung der Ehefrau der Verwaltung des
Mannes viele Schranken gesetzt und dadurch „diejenigen Frauen, welche" ihr
Vermögen ohnehin dem Manne anvertrauen würden, besser schütze, als die
völlige Gütertrennung es thun würde; wem das nicht passe, der könne durch
Ehevertrag die Sache anders regeln. „Der Kaufmann, der mit fertigen Roben
handelt, wird sie nach den Normalmaßen der Alltagsfrauen einrichten. Weder
die Zwergin noch die Humm wird eine Robe vorrätig finden. Aber der Kauf¬
mann wird bereit sein, ihr eine nach Maß anzufertigen." Damit ist aber
herzlich wenig bewiesen, da der Kampf der Frauenbewegung ja gerade davon
ausgeht, daß die Frauen über das „Normalmaß der Alltagsfrau" hinaus¬
gewachsen zu sein glauben und die Aufstellung eines neuen Normalmaßes ver¬
langen; auch das gewählte Beispiel ist nicht nur etwas geschmacklos, sondern
geradezu schief; denn aller Erfahrung nach werden die Frauen unter der Herrschaft
des bürgerlichen Gesetzbuchs genau ebenso wenig wie unter dem jetzt geltenden
Rechte vor der Hochzeit daran zweifeln, daß das Kleid des gesetzlichen Ehe¬
rechts ihnen vorzüglich passe; wenn sie es nach bösen Eheerfahrungen erst als
mangelhaft und drückend empfinden, ist es zu spät, und es kann nichts mehr
geändert oder umgetauscht werden, und sie müssen es bis an ihr Lebensende
tragen. Überhaupt ist es ein schwacher Trost und eine schlechte Rechtfertigung
eines Gesetzes, daß man seine Anwendung auch ausschließen könne. Man wird
der Sache tiefer auf den Grund gehen müssen.
Die Frage des ehelichen Güterrechts ist bekanntlich eine der wenigen, die
auch im Reichstag ausführlich erörtert worden sind; daß die Verhandlungen
das tiefere Verständnis der Sache besonders gefördert hätten, wird man freilich
kaum behaupten können; immerhin bieten sie des lehrreichen genug — weniger
durch das, was gesagt worden ist, als durch das, was man in den langen
Reden vergeblich sucht. Der Entwurf hatte in dem oben angeführten, in der
Reichstagskommission vergeblich bekämpften Z 1363 die Verwaltungsgemein¬
schaft als die wichtigste und verbreitetste der geltenden Güterrechtsformen vor¬
geschlagen und wurde so zum Gesetz erhoben; die Mehrheit des Reichstags
stellte sich dabei, wie das Schlußwort des Berichterstatters der Kommission
ergiebt, auf den etwas nüchternen Standpunkt, daß eine durchgreifende Ver¬
änderung des ehelichen Güterrechts einen solchen Riß in die Rechtsentwicklung
und für den größten Teil des Deutschen Reichs so gewaltige Unbequemlich¬
keiten bringen würde, daß die dafür geltend gemachten Gründe nicht aus¬
reichten.
Die Redeschlacht selbst stand in dem Zeichen der Frauenbewegung, deren
Bestrebungen unter den Abgeordneten aller Parteien beredte und offenbar über¬
zeugte Fürsprecher fanden, von dem Freiherrn von Stumm-Halberg, den Ab¬
geordneten von Kardorff. Prinzen zu Schönaich-Carolath, Rickert, Träger und
Conrad bis zu Frohne und Vebel; der Kampf drehte sich insbesondre um
5; 1354, den die Sozialdemokraten durch die Herrschaft des Geldsacks ersetzen
wollten („bei Meinungsverschiedenheiten um den ehelichen Aufwand entscheidet
derjenige Teil, aus dessen Vermögen die Ehelasten zum größten Teil bestritten
werden"), und um das eheliche Güterrecht, dessen Beseitigung der Freiherr
von Stumm und die Sozialdemokraten in zwei gesonderten Antrügen erstrebten;
die Sozialdemokraten mit der spöttischen Entschuldigung, daß sie sich um ein
Recht kümmerten, das eigentlich nur die besitzenden Frauen der Gesellschaft
etwas anginge; die Gerechtigkeit für alle sei aber die oberste Aufgabe wie des
Staats so auch jedes einzelnen Menschen und also auch der sozialdemokratischen
Redner. Daß mit der beantragten Einführung gesetzlicher Gütertrennung ein
eigentliches eheliches Güterrecht überhaupt beseitigt und aufgehoben werden
würde, ist klar; denn es würde darnach gesetzlich der Abschluß einer Ehe auf
das Vermögensrecht überhaupt keinen Einfluß mehr äußern. Daß die Frau
dem Manne zur Bestreitung des gemeinschaftlichen Aufwandes einen an¬
gemessenen Beitrag zu leisten hat, oder daß durch freien Vertrag eine ver¬
mögensrechtliche Wirkung der Eheschließung verabredet werden kann, ist nichts
der Ehe eigentümliches; zwei Schwestern oder zwei Freunde, die sich auf
längere oder kürzere Zeit zu gemeinschaftlichem Leben zusammenthun, würden
ebenso häufig zu gleichen oder ähnlichen Verabredungen gelangen.
So verschieden die Vertreter dieser Anträge nach Partei und sonstiger
Stellung waren, so sehr war ihre Beweisführung auf ein und denselben Ton
gestimmt: Das geltende Güterrecht sei ein Erzeugnis früherer Gesittungs¬
zustände, wo die Frau in der Bildung hinter dem Manne zurückgeblieben und
daher zu selbständiger Vermögensverwaltung unfähig, auch der Mann so gut
wie ausschließlich der Ernährer der Familie gewesen sei; dies treffe für die
moderne Kultur nicht zu; die Knechtschaft der Verwaltungsgemeinschaft sei für
die Frau ungerecht und demütigend; sie sei schutzlos der Gewalt des Mannes
preisgegeben, der als Trinker, Spieler oder Spekulant ihr Vermögen ver¬
schwenden dürfe; es gelte also, „das schwerste sittliche und wirtschaftliche Un¬
recht zu sühnen, das an der größern Hälfte der Menschheit zum Schaden der
deutschen Kultur seit einem Jahrtausends?) begangen worden sei"; in England
habe man mit den Viktoriastatutcn von 1881, die gleichfalls die Gütertrennung
eingeführt hätten, die besten Erfahrungen gemacht. Besondern Anklang scheint
die Erwägung gefunden zu haben, daß man im öffentlichen und privaten Leben
kein Fest vorbeigehen lasse, ohne in Toasten und begeisterten Worten die Frau
als die Krone der Schöpfung zu preisen;*) mit dieser „Sitte" dürfe das
Gesetz nicht in Widerspruch geraten. Auf den Freiherrn von Stumm machte
der Hinweis auf die deutsche Nechtsentwickluug einen „erheiternden Eindruck";
er meinte, bei dieser Anknüpfung müsse man auch wünschen, „daß der Mann
nach wie vor sich auf der Bärenhaut in Med betrinkt und die Frau die Feld¬
arbeit verrichtet" — zu diesem Ausspruch eines Mitglieds der konservativen
Partei ist nichts weiter zu "bemerken, er verdient niedriger gehängt zu werden.
Für eine richtige Beleuchtung dieser Verhandlungen ist dreierlei bemerkens¬
wert. Einmal, daß ein wirklicher Nachweis übler Folgen des geltenden ehe¬
lichen Güterrechts von keiner Seite erbracht worden ist. Daß leichtsinnige
und nichtswürdige Ehemänner ihre Familien und also vor allem ihre Frauen
ins Unglück stürzen, ist unbestreitbar; damit hat aber die Gestaltung des ehe¬
lichen Güterrechts nichts zu thun. Der Mann hat nicht das Recht, vor allem
nicht nach dem bürgerlichen Gesetzbuche, für eigne Schulden oder persönliche
Genüsse das Vermögen der Frau zu verschwenden, und wenn er es gleichwohl
thut, so handelt er nicht um einen Schatten weniger rechtswidrig, als wenn
er zu diesem Zwecke seiner Frau das Geld aus dem Kasten stiehlt oder ihr
die Sachen mit Gewalt wegnimmt. Das einzige, was der Freiherr von Stumm
in dieser Beziehung anzuführen vermochte, ist eine gewisse thatsächliche Er¬
leichterung des Zugriffs, insofern der Ehemann Geld und Wertpapiere in
feinem Kasten habe; dies wird aber im Leben nur äußerst selten eine
Rolle spielen. Hat der Mann erst einmal Schulden gemacht, so wird auch
die getrennteste Vermögensverwaltung nicht geeignet sein, den Druck der
drohenden Schande und das Gewicht der Bitten und Vorstellungen des be¬
drängten Ehemanns zu vermindern. „Wem sie ihren Leib traut, dem traut
sie auch ihr Gut," ist eben von jeher weniger ein Rechtssatz als ein Zeugnis
thatsächlicher Übung gewesen, die sich durch alle Rechtssätze und Schutzvorschriftcn
niemals beseitigen läßt.
Es giebt, und damit kommen wir zum zweiten Punkt, kaum ein Rechts¬
verhältnis, über das sich leichter eigne Erfahrungen sammeln ließen, als gerade
das eheliche Güterrecht; das kann jeder Ehemann und jede Ehefrau und jeder,
der in seiner Verwandtschaft oder Freundschaft die Schicksale einer Ehe verfolgen
kann. Aber an keiner Stelle ist die Berufung auf eigne Erfahrungen so wenig
angebracht wie gerade hier. Von der eignen Ehe in diesem Zusammenhange zu
reden und sie als Muster hinzustellen, würde nicht nur allen Regeln des
guten Geschmacks und des Zartgefühls widerstreiten, sondern auch jeder Beweis¬
kraft entbehren. Dies tritt auch in den Reichstagsverhandlungen scharf hervor;
es ist darin viel von zustimmenden Briefen gebildeter und verständiger Frauen
die Rede; der einzige wirklich vorgelesene Brief betont ausdrücklich, daß die
Absendern, selber in der glücklichsten Ehe gelebt und nur bei andern Frauen
Gelegenheit gehabt habe, die „Fülle von Jammer, Elend und Verzweiflung"
zu sehen, woran die Verwaltungsgemeinschaft schuld sei. Und wenn der Frei¬
herr von Stumm dem Reichstage eine Art Umfrage empfiehlt bei der „ruhigen
Frau, die heute der Bewegung fernsteht," so verfehlt er nicht, fürsorglich hinzu¬
zusetzen, man müsse ihr erst klar machen, wie die Verhältnisse liegen, und sie
bitten, wenn sie in normaler Ehe lebt, von ihrer eignen Ehe einmal abzusehen.
Auch hier behält nicht also Recht, wenn er meint, die Lehre von dem gleichen
Berufe der Geschlechter sei „berechtigter in der Poesie als im System, aber
immer noch berechtigter im System als in der That." „Es giebt gewisse
Wahrheiten, die nur wahr sind, wenn man sie gleich der Dekorationsmalerei
aus einiger Entfernung und bei künstlichem Lichte betrachtet."
Das dritte endlich und die Hauptsache ist, daß bei den Reichstagsver-
handlnngen vom 25. Juni 1896 der Kernpunkt der ganzen Frage, das wichtige
und eigentlich entscheidende so gut wie völlig unerwähnt geblieben ist. Alles,
was der Freiherr von Stumm und Bebel so ausführlich und überzeugungsvoll
vortrugen, ist schlechtweg unwiderleglich und selbstverständlich, sobald man
Mann und Frau in der Ehe als Einzelmenschen einander gegenüber oder auch
neben einander stellt; es verliert jede Bedeutung, wenn man sich bewußt wird,
daß hier nicht Mannesrecht und Frauenrecht, sondern das Recht der deutscheu
Familie auf dem Spiele steht.'
Als nicht in den fünfziger Jahren seine Naturgeschichte des Volkes
schrieb, widmete er den dritten und letzten Band „dem großen unser Volk
veredelnden und zur sittlichen Einheit verbrüdernden Kleinod des deutschen
Hauses und der deutschen Familie" und sah gerade in diesem Teile seines
Werkes den Schlußstein, „und zwar nicht bloß den Schlußstein als den zuletzt
eingefügten, sondern auch als den eigentlich schließenden Stein, der das Ge¬
wölbe erst zusammenhält und den festen Mittelpunkt ausmacht, darin der Gegen¬
druck aller Pfeiler und Mauern seine Stütze findet." Ihm ist die Familie
der Urgrund aller organischen Gebilde in der Volkspersönlichkeit, und der
Gegensatz von Mann und Weib der Beweis, daß die soziale Ungleichheit ein
ewiges Naturgesetz im Leben der Menschheit ist. „Wäre der Mensch geschlecht¬
los, gäbe es nicht Mann und Weib, dann könnte man krümmen, daß die Völker
der Erde zu Freiheit und Gleichheit berufen seien. Indem aber Gott der Herr
Mann und Weib schuf, hat er die Ungleichheit und die Abhängigkeit als die
Grundbedingung aller menschlichen Entwicklung gesetzt." „Wer Mann und
Weib nicht wieder zur Geschlechtseinheit zurückführen kann, der vermesse sich
auch nicht, das Menschengeschlecht zur sozialen und politischen Einheit und
Gleichheit zu führen." Es ist ein Stolz der Germanen als des „familien-
haftesten" Volkes, daß sie erst das volle Bewußtsein über Beruf und Stellung
von Mann und Weib der Menschheit hell entzündet haben: „Wie eine ein-
geborne göttliche Gabe seines Stammes hat das rohe Krieger- und Jägervolk
die wahre Idee von der Stellung der beiden Geschlechter herübergetragen aus
seiner dunkeln asiatischen Urheimat, gleich als ein Erbstück aus dem verlornen
Paradiese."
Diese wahre Idee ist aber nicht der äußerliche Minnedienst des Mittel¬
alters oder die moderne radikale Gleichstellung von Mann und Weib, sondern
die Erkenntnis, daß der öffentliche und nationale Beruf der Frauen ein ganz
andrer ist als der der Männer, aber diesem in seiner Bedeutung für Staat
und Volk ebenbürtig: „In Weib und Mann, sagt nicht, sind uns hier die
Mächte des Beharrens und der Bewegung vorgebildet. . . . Die soziale
Tugend ist es, deren Grund zuerst von Frauenhünden in uns gelegt wird;
zur politischen bedarf es der Lehre und des Beispiels der Männer. . . . Die
Sitte, die bewegende Kraft der Gesellschaft wird gehegt und bewahrt vom
Weibe, das Weib steht im Naturleben der Sitte____ Der politische Volks¬
charakter ruht in letzter Instanz bei dem Weibe, die politische That bei dem
Manne." Der geheime Kern aller dieser Thesen über den Geschlechtsgegensatz
ist „die Thatsache, daß der Beruf der Frauen überall in der Regel nur ein
in der Familie vermittelter sein kann." Die eigentümliche Aufgabe der Frau
ist beschlossen in der Familie, nur in ihr kann die Frau ihrer öffentlichen
Aufgabe gerecht werden: „Das echte Familienleben ist an sich schon eine Form
des öffentlichen Lebens." Nur in der Beschränkung auf die Familie kann die
Frau ihre eigne Art bewahren; losgelöst von der Familie verfällt sie der Un-
Weiblichkeit und der Überweiblichkeit, und „an diese Überweiblichkeit knüpfen die
Sozialisten den Strick, womit sie die bürgerliche Gesellschaft erwürgen wollen." Die
Familie ist also „nicht bloß religiös, sondern mich sozial und politisch ein Heilig¬
tum----Die Familie antasten, heißt aller menschlichen Gesittung den Boden weg¬
ziehen. . . . Wie der Staat auf den Schwerpunkt des Rechts gestellt ist, so die
Familie auf den Schwerpunkt der sich ergänzenden Liebe und der auf diese gegrün¬
deten bewegenden Mächte der Autorität und Pietät. Die Familie steht unter
der natürlichen Oberovrmundschaft der Eltern und speziell des Familienvaters.
Diese Obervvrmundschcift ist ein Urrecht, in der Natur der Sache gegeben. . . .
Ebenso steht der Manu zu seiner Frau in dem aus der Liebe hervorwachsenden
Verhältnis der Autorität. Nicht gezwungen durch äußere Unterdrückung,
sondern weil sie ihrer Natur nach gar nicht anders kann und mag, tritt die
Frau unter die Autorität des Mannes. So war es, seit die Welt steht, und
so wird es bleiben." Alles das sind nicht „zufällige Aperyus, nicht persön¬
liche Ansichten und Erörterungen, sondern Erkennen und Festhalten ganz be¬
stimmter Thatsachen, die sich in der Sitte und Lebenspraxis des Volkes fest
und klar aussprechen."
Auch nicht legt sich die Frage vor: „Sollten wir nicht nach eignen
Heften neue Normen der Lebenspraxis aufstellen, begründet auf die in der
modernen Zeit unstreitig geläuterten Ideen der Freiheit, des Rechtes, des
Wohlstandes, der Bildung?" Seiner Antwort auf diese Frage läßt sich kein
Wort hinzusetzen oder wegnehmen: „An eine Sitte muß man glauben. Wenn
wir aber auch ganz vortreffliche neue Grundlagen des Hauses und der Familie
ersonnen, würden doch schwerlich noch einmal Sitten daraus aufwachsen, denn
eilte Welt würde unsre neuen Regeln kritisiren, und nur die wenigsten würden
sie gläubig hinnehmen und bewahren. Eine Epoche, welche so theoretisch
schöpferisch ist auf dem Gebiete des Rechts wie die unsrige, wird es niemals
Praktisch auf dem Gebiete der Sitte sein. Wir werden die ererbten Sitten
läutern, weiterbilden oder zerstören, in minder wichtigen Dingen werden wir
auch allenfalls Keime zu neuen Sitten pflanzen; aber Kardinalsitten der Nation,
die bestimmend würden für den ganzen Charakter derselben, schafft unsre Zeit
keine mehr. Wären darum die alten Kardinalsitten unsers Volkes auch weniger
gut, als sie wirklich siud, so müßten wir sie doch festhalten, weil in ihnen eine
Autorität gegeben ist, die, einmal gebrochen, sür uns nie mehr wieder ge¬
wonnen werden kann. Die Nationen selber fallen in Trümmer, wenn einmal
ihre Kardinnlsitten fallen; denn in dem Aufgeben dieser Sitten ist zugleich der
ganze Charakter der Nation, die innerste Kulturinacht derselben verleugnet und
abgeschworen."
Was finden wir von alledem, sei es Verteidigung oder Widerlegung, in
^n Neichstagsverhandlungen über das Recht der Frau? Nichts — doch ja:
der Freiherr von Stumm, gespannt auf die Begründung des geltenden ehe¬
lichen Güterrechts, „mußte gestehen," er habe „eigentlich nichts gehört, als
entweder Festhalten an eingewurzelten Vorurteilen oder aber den Grundsatz:
das Recht des Stärkern." Und der Abgeordnete Rickert nahm kopfschüttelnd
an einer in dem Kommissionsberichte enthaltnen „wunderbaren Definition der
sittlichen Grundlage der Ehe" Anstoß: „Es heißt da wörtlich: Wollte die
Frau dem Manne sich nicht unterordnen, so bedeutete das eine bedenkliche Locke¬
rung der Familienbande und einen ganz anomalen Zustand der Familie. Ja,
meine Herren, hier haben die Herren der Welt doch zu sehr das Bedürfnis
gefühlt, ihre Hoheit und ihre Machtvollkommenheit erkennen zu lassen." Das
ist alles. Nur in den Reden des Professors Planck, der im Auftrage des
Bundesrath die Vorlage zu vertreten hatte, spürt man den Geist rechter
deutscher Sitte, wie denn überhaupt die Reden der Regierungsvertreter im
Reichstage zu dem Besten gehören, was über das bürgerliche Gesetzbuch gesagt
und geschrieben worden ist; bei manchen kann man nur bedauern, daß sie in den
stenographischen Berichten des Reichstags so gut wie begraben sind.") Man
vergleiche z. B. die Schilderung der allmählichen Entwicklung einer Ehe, wie sie
der Freiherr von Stumm giebt, mit den Worten Plancks: „Wer eine Ehe
eingeht, muß einen gewissen Teil seiner Selbständigkeit immer opfern, um von
dem andern Teil dasselbe Opfer zu erhalten. Und ich meine, bei der wahren,
rechten Ehe ist der der glücklichste Teil, der dem andern das meiste giebt."
Den Reden Plancks wird denn auch von Freund und Feind ein „gewaltiger
Eindruck" nachgerühmt, und in einem Punkte werden sie zweifellos auch un¬
mittelbar für die Rechtsprechung Bedeutung gewinnen, nämlich in der schönen
Bestimmung des im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossenen „Mißbrauchs" der
ehelichen Gewalt; sie verbietet: „Jede Entscheidung des Ehemannes, die mit
der rechten ehelichen Gesinnung nicht vereinbar ist, wenn er eine Entscheidung
so trifft, daß man sagen muß: bei der rechten Liebe würde diese Entscheidung
nicht getroffen sein." Aber auch Planck läßt das öffentliche Interesse an der
Gestaltung des Eherechts zu kurz kommen; einen entschiednen Hinweis auf den
innern Zusammenhang der Sozialdemokratie mit den Forderungen der Frauen¬
bewegung sucht man vergeblich, und nur ganz schüchtern findet sich eine An¬
deutung, daß der Frauenbewegung im Grnnde die große Bedeutung gar nicht
zukomme, die ihr von allen Seiten des hohen Hauses beigemessen werde.
Riehl hat diese Reichstagsverhandlungen noch erlebt; er wird sich wohl
nicht sonderlich darüber gegrämt haben, daß sein Gedankengang, sein Name
und sein Buch bei dieser wichtigen Gelegenheit so unverdienter Nichtachtung
verfielen. Ist aber dieses Totschweigen nicht bezeichnend und beschämend zu¬
gleich? Beschämend — dazu mag jeder sich selbst das nötige sagen, bezeich¬
nend deshalb, weil es besser als jede Verteidigung die Wucht und Unwider-
leglichkeit von Richis Auffassung beweist. Selbstverständlich wäre es ein mehr
als eitles und aussichtsloses Beginnen, mit dem Buche Richis auch nur einen
Verfechter der Frauenbewegung überzeugen zu wollen; gleichwohl ist die Er¬
innerung daran und das ausführliche Eingehen auf die Neichstagsbercttungen
nicht überflüssig; mit der Annahme des bürgerlichen Gesetzbuchs und seines
Eherechts ist die Sache nicht abgethan; alle Gegner haben im Reichstage er¬
klärt, daß sie nicht ruhen und rasten wollen, bis die latente Mehrheit, die
schon im Juni 1896 für die Stummschen Anträge vorhanden gewesen sein
soll, sich auch offen dazu bekenne. Wie die Zeitungen berichten, will die
Frauenbewegung auch in den bevorstehenden Wahlkampf eintreten und nur
solche Kandidaten unterstützen, die ihre Forderungen gutheißen. Da scheint es
auch heute noch an der Zeit, den verschobnen Kampfplatz wieder zurecht¬
zurücken, und vielleicht ist auch die Hoffnung gerechtfertigt, daß für manchen
das Niehlsche „Trostgedicht" von der deutschen Familie mehr Überzeugungs¬
kraft hat als der nackte Satz, worin sich im Munde Vebels, wohl unabsichtlich,
die letzte Weisheit der Sozialdemokratie zusammenfaßte: „Ich meine also: hier
muß aufgeräumt werden."
(Schluß folgt)
le Kirche, die sich selbst die rechtgläubige nennt, hat seit ihrer
Trennung von Rom weder eine wesentliche Reformation, noch
einen so gefährlichen Kampf und Zerfall erlebt, wie ihre römische
Schwestcrkirche im sechzehnten Jahrhundert. Vielmehr bestand,
seit Rußland der Hauptträger der griechisch-katholischen Kirche
geworden war, die einzige Reform, deren sich ihre Geschichte rühmt, in der im
siebzehnten Jahrhundert unternommnen Reinigung von einigen Mißstünden,
die sich im Laufe der Zeit in die Bräuche und Bücher der Kirche eingeschlichen
hatten. Die Kirchenreform des russischen Patriarchen nitor war eine Rück¬
kehr zu ältern Formen, nicht eine Entwicklung neuer Dogmen, neuer Lehren
oder Formen, wie sie die protestantische Reformation in einem großen Teil
der römisch-katholischen Welt durchsetzte. Dem entsprechend war auch die
Stellung verschieden, die jede der beiden Kirchen fortan zu denen einnahm, die
sich von ihnen losgelöst hatten: die russische orthodoxe Kirche nannte die Per¬
sonen, die ihre Rückkehr zu alten Formen nicht mitmachen wollten, Schisma¬
tiker; der römische Katholizismus verdammte selbständige Geister, die neue
Formen und neuen Inhalt in die christliche Kirche einzuführen wagten. Dort
kam die Reform von oben, hier von unten, dort durch die Kirche, hier durch
das Volk.
Aber auch abgesehen von dem Ausgangspunkt waren die Reformen in
West und Ost durchaus von einander verschieden. In beiden griff man freilich
zurück auf Meinungen und Zustände früherer Perioden; während jedoch die
Reformation im Westen vor allem die Kirche zu evcingelisireu, auf das Neue
Testament zu stellen strebte und auf diesem Wege dazu gelangte, sich von
Westrom loszureißen, handelte es sich bei der Reform Nikons um unwesent¬
liche rituelle Äußerlichkeiten früherer Zeit; dort wollte man Gott anbeten im
Geist und in der Wahrheit; hier wollte man einigen schadhaft gewordnen Auf¬
putz wieder herstellen. So war im Grunde der eine Vorgang eine evange¬
lisch-kirchliche Revolution, der andre nicht einmal eine Kirchenreform, allenfalls
eine Korrektur des Rituals, und diesem gewaltigen Unterschiede entsprach die
Größe der Wirkung, die die Reformen auf jeder Seite hatten. Im Westen
wurde nicht bloß das kirchliche und religiöse Leben erneuert, sondern es wurden
auch gewaltige bisher durch die Kirche gebundne Kräfte geistiger und sittlicher
Natur entfesselt zu schaffender Arbeit. Im Osten erwachte nur die passive Wider¬
standskraft, die bei den alten Formen verharren wollte. Im Westen führte der
kritische Geist, der die Kirche läuterte, zugleich weite und tiefe Schichten der
Volksmasse zu selbständigem Denken und Unternehmen auf allen andern Ge¬
bieten des Kulturlebens. Im Osten konnte in einem wenn auch erbitterten
Kampf um einen Buchstaben im Namen Jesu oder um die Fingerlage beim
Zeichen des Kreuzes von freier Kritik in kirchlichen Dingen nicht die Rede
sein. Dort machte der Geist frei, hier tötete der Buchstabe; dort wurde pro-
testirt gegen geistliche und geistige Knechtung, hier kämpfte man um ein paar
Steine, die man für Brot genommen hatte; dort suchte mau die Wahrheit im
Evangelium Christi, hier in einigen unsichern Meinungen alter Kirchenväter.
Allein so geringfügig auch der Gegenstand des Kampfes war, so hielten
doch Millionen orthodoxer Russen ihn für bedeutend genug, sich der Forde¬
rung der Kirche zu widersetzen und die Verfolgungen geduldig zu ertragen, die
seitdem stets, und zu Zeiten mit großer Härte, von der mit der Kirche ver-
schmolznen staatlichen Macht über die Unfügsamen verhängt wurden. Selbst
die schrecklichsten Leibesstrafen und Martern konnten die Anhänger der alten
Ritualformeu, die man Altgläubige nennt, nicht dazu bewegen, von jenem
streitigen Buchstaben im Namen Jesu und von den zwei Fingern beim Be¬
kreuzen abzulassen. Und wie im Westen Hunderttausende zum Feuertode
schritten für den Glauben an Christus und seine Lehre, so starben im Osten
Hunderttausende, weil sie Gott nicht anders als mit dem Namen Jissus an¬
rufen wollten. Von dem Wesen Christi und von seiner Lehre wußten sie nichts
oder nur sehr wenig; ihr ganzes Bekenntnis lag in dem Namen, im Zeichen;
ihr religiöses Bewußtsein ging nicht hinaus über kirchliche Gebräuche, und
doch war ihr Glaube nicht minder eifrig als der Glaube, mit dem ein Huß
nach Konstanz oder ein Luther nach Worms kam. Nicht das Was, sondern
das Wie des Glaubens macht den Märtyrer, den fanatischen Gegner einer
herrschenden und unduldsamen Kirche, und für den Gläubigen kann der Rock-
knopf auf dem Heiligenbilde, die Zehe des Holzgötzen ebenso heilig sein wie
die erhabenste Wahrheit: das Maß der Heiligkeit dessen, was man glaubt,
trägt jedermann in sich.
Im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche war in der russisch-ortho¬
doxen der Gebrauch der Bibel dein Laien zwar gestattet, aber wie dort die
griechische und die lateinische, so machte hier die altslawische Sprache das Neue
Testament den meisten Laien überhaupt unzugänglich. Es gab wenig Leute,
die das Evangelium lesen konnten, es gab anch nur wenig Exemplare davon
in einigen Klöstern; es gab wenig Russen, deren geistige Entwicklung genügend
gefördert war, um die Neigung nach näherer Kenntnis dessen wachzurufen,
was den eigentlichen Inhalt ausmachte an dem festgefügten Bau, der ihnen
als Kirche überall in unantastbarer Würde erschien. Im Westen wurde die
theologische Forschung dnrch die profane Forschung geweckt und vorwärts ge¬
trieben. In Nußland gab es weder eine profane Wissenschaft, noch eine theo¬
logische Forschung auf dem orthodoxen Kirchenboten. Während in Enropa
nach Luthers Bibelübersetzung auch in andern Ländern Übersetzungen der Hei¬
ligen Schrift schnell ans einander folgten, während dadurch in die Massen
nicht nnr die Kenntnis der dem Evangelium entnommnen kirchlichen Lehrsätze
und Glaubenssatzungen drang, sondern anch der Geist, wie er aus der Schil¬
derung des Lebens Jesu und seiner Jünger mit der Kraft der Ursprünglichkeit
hervorleuchtet; während dadurch die Evangelistrnng der Menge immer weiter
fortschritt, die starre Kirchlichkeit milderte und in ihre Schranken zurückdrängte:
blieb innerhalb der orthodoxen Welt das Evangelium fast gänzlich unbekannt.
Eine Änderung trat erst im Beginn unsers Jahrhunderts ein, als unter
Alexander I. eine aus pietistischen Quellen strömende religiöse Bewegung nicht
bloß den Zaren selbst, sondern einflußreiche Kreise am russischen Hof ergriff.
Der Plan zur Gründung einer Bibelgesellschaft wurde am 6. Dezember 1812
obrigkeitlich bestätigt, die Organisation im Jahre 1814 begonnen und dann
von dem eifrig evangelisch gesinnten Minister und Vertrauten Alexanders, dem
Fürsten Golitzin, die Verbreitung der heiligen Schriften in russischer und
andern einheimischen Sprachen gefördert. Aber mit der liberalen Periode
Alexanders endete auch der Zwang, der die herrschende Kirche von dem offnen
Kampf gegen Golitzin und seine Genossen zurückgehalten hatte. Gvlitzin wurde
durch die Ränke kirchlicher Würdenträger gestürzt, und nach dem Regierungs¬
antritt Nikolaus I., am 12. April 1826. wurde die Bibelgesellschaft aufgelöst.
Inzwischen waren 876000 Bibeln und Teile davon gedruckt, und eine große
Menge dieser Schriften im Volke verbreitet worden. Wenige Jahre später er¬
hielten die Evangelischen durch die Bemühungen des von herrnhutischen Geist
beherrschten Ministers Fürsten Lieven die Erlaubnis, Bibelgesellschaften ihrer
Konfession zu errichten. Aber unter dem starren Absolutismus Nikolaus I.,
unter dem Mangel an Schulbildung und an Verkehr in dem Lande der end¬
losen Entfernungen und schlechten Straßen, endlich unter dem Druck des
Bureaukratismus und der Leibeigenschaft konnte sich eine Wirkung jener ersten
Versuche, den Massen die Bibel näher zu bringen, schwer geltend machen.
Erst die liberale Negierung Alexanders II., die Aufhebung der Leibeigenschaft
im Jahre 1861, die Öffnung des Landes durch Eisenbahnen ermöglichten auch
den freien Vertrieb der heiligen Schriften unter dem Volke.
Es war zu Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, daß in
Petersburg drei Männer zusammentraten, um die im Jahre 1826 aufgelöste
russische Bibelgesellschaft wieder ins Leben zu rufen. Es waren ein orthodoxer
Russe, Astafjew, ein protestantischer Pole, Graf Zaremba, und ein katholischer
Pole, Dcmilv. Sie reichten, wie es die Ordnung vorschreibt, eine Petition beim
Metropoliten von Petersburg ein, wurden aber von ihm abgewiesen. Aus
welchen Gründen? Nun, aus den folgenden. Als die Herren persönlich bei
dem Metropoliten ihre Sache vertraten, hielt dieser ihnen vor, welches Unheil
daraus entstehen könnte: „Wie, sagte er, Sie wollen die Bibel beim Volte ver¬
breiten? Aber haben Sie auch bedacht, was Sie thu»? Da kauu ja die
Bibel in die Hände von Halunken gelangen oder in gemeine Kneipen! Be¬
denken Sie doch!" — „Das gerade wollen wir, daß es zu den Halunken und
in die Kneipen gelange," antwortete man. „Wie? Erbarmen Sie sich, die
Bibel in der Kneipe, das wäre ja eine Entweihung, eine Gotteslästerung!
Nein, unmöglich, das erlaube ich nicht." Sie mußten abziehen. Aber sie
wandten sich nun an den damaligen Oberprokureur des Synods, spätern
Minister, Grafen Tolstoi, der dann vom Zaren die Erlaubnis erwirkte. Seit
1863 begannen sie mit dem Ankauf und Verkauf von Bibeln, Psaltern, Neuen
Testamenten. Es ward ihnen schwer, welche aufzutreiben, sie mußten hier
und da auf Trödelmärkten und in Kramläden russische Bibeln aufstöbern und
oft mit fünf und sechs Rubeln bezahlen, und wenn sie an den Kellerfenstern
des Synods in der Straße der Garde zu Pferde vorübergingen, so konnten
sie tief unten die Ballen von Bibeln modern sehen, die dort seit der Auflösung
der ersten Bibelgesellschaft lagen. Aber die Sache fand Teilnahme, und im
Jahre 1869 wurde ein Statut bestätigt, auf Grund dessen eine mit ansehn¬
lichen Mitteln arbeitende Gesellschaft jährlich viele Tausende von Bibeln und
Teilen daraus bis in das östliche Sibirien hin unter das russische Volk ver¬
breitete.
Schon weit früher, schon 1861, nach der Aufhebung der Leibeigenschaft,
begann auf religiösem Gebiet an verschiednen Punkten eine Bewegung, die
mit der politischen Belebung des russischen Volks vorschritt, eine Bewegung,
deren Bedeutung sich für den russischen Staat und seine Kultur als größer
erweisen dürfte, als manche rein politischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte.
Denn die evangelische Bewegung ist volkstümlich, der Masse verständlich, während
dieser Masse die großen politischen Ideen noch lange unverständlich bleiben
werden.
Wir können in der evangelischen Bewegung Rußlands mehrere von ein¬
ander gesonderte Ausgangspunkte wahrnehmen. Den einfachsten, naivsten Ver¬
treter des Evangelismns sehe ich in dem Priester Johann von Kronstäbe.
Ihm ist alle Kritik fern, der Bibel gegenüber sowohl wie der Kirche; er sieht
in beiden Gottes Werk und Wort, und wenn er manches, etwa die Verehrung
der Heiligen oder Heiligenbilder mit den Bibelworten nicht vereinigen kann,
so sieht er drüber weg, sügt sich der Form und vergeudet seinen Eifer nicht
im Kampfe gegen Dogma oder Ritus. Denn sei» ganzer Eifer gehört dem
Wesen, dem innersten, lebensvollen Kern des allgemeinen evangelischen Christen¬
tums: der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Erfüllt von unmittelbarem
Glauben an Christus und seine Worte, ist er ein Nachfolger Christi, der in
unsrer Zeit kaum seinesgleichen hat. In unermüdlicher Thätigkeit der
Nächstenliebe verkündet er durch das Werk das Wort, ohne sich um Kon¬
fessionen und Kirchen zu kümmern, ein rechter Evangelist, und viele Tausende
folgen ihm nach mit derselben Einfalt, mit der er täglich auf Grund der Ver¬
heißungen Christi Kranke heilt, Arme nährt, religiöses Sehnen stillt. Vater
Johann wäre nicht solch ein Evangelist in einem andern als dem russischen
Volke. Aber hier, bei dem tiefen religiösen Empfinden des Volkes und der
flachen, bloß äußerlichen Nahrung, die ihm von der Kirche geboten wird,
wirkt die Predigt von der Liebe erlösend, hinreißend. Und in dem Vater der
Armen, dem Tröster der Elenden, dem materiellen Wohlthäter von Hundert-
tausenden, dem Manne, dessen Gebet am Bette der Kranken Gott erhört und
dessen Segen gewaltig wirkt, sieht die Menge die Verkörperung der reinen,
selbstlosen Liebe. Streng und ernst ist die schöne Liturgie der griechischen
Kirche. Aber ihr Sinn ist der Ruf nach Erbarmen für den Sünder, und
ihre Sprache ist dem gemeinen Volke kaum verständlich. Das Evangelium
des Vater Johann versteht jeder, und daher hat das russische Volk ihn höher
gestellt als Bischöfe und Metropolit, darum gilt er für eiuen Heiligen von
Petersburg bis Jrkutsk und Samarkand, daher geht eine Kraft von ihm aus,
die an das Wunderbare grenzt. Sem Anhang ist ungeheuer, aber wie er
nicht nach konfessionellen Lehren und kirchlichen Formen fragt,-so erzeugt er
in seinem Anhang auch nur den Glauben an das praktische Christentum seines
Heiligen und die Macht seines Gebetes. Daher bildet sich keine Sekte, kein
Abfall von der orthodoxen Kirche, und daher findet dieser Heilige kein Mi߬
trauen und kein Hindernis bei der Obrigkeit. Nicht sowohl in der Lehre, als
in dem Glauben und dem Leben des Vater Johann liegt das Gewicht seines
Evangeliums, und deshalb wird dieser Mann keine Gemeinde, keine Nachfolge
bei seinem Tode hinterlassen, sondern nur die persönliche Erinnerung und den
Heiligenschein.
Welche Gegensätze: Hier in dem einfachen Häuschen zu Kronstäbe der
arme Priester, den das Volk umdrängt, wo er sich zeigt, nur um sein Gewand
Zu berühren, der des Abends nicht einen Rubel und am nächsten Morgen
zehntausend in der Tasche hat, dessen Rat oder Segen täglich Hunderte von
Leuten aller Stunde brieflich oder mündlich erbitten, dem die Gaben zuströmen,
und der doch nie Geld hat, der nichts erwirbt als den Dank und den Segen
derer, denen er Gutes that; und dort hinter Moskau auf seinem Landgute ein
andrer Prophet, der Graf Tolstoi, im Kleide des Bauern den Pflug lenkend
oder Stiefel besohlend oder Bücher schreibend — welche Gegensätze, und doch
wie viel Verwandtes in ihnen!
Weder Vater Johann noch Leo Tolstoi ist Prophet des Dogmas. Ihr
religiöses Bedürfnis drängt nicht ungestüm zu der Erkenntnis übersinnlicher
Wahrheiten, zu jener Vertrautheit mit Gott und dem göttlichen Willen, die
zu Kirchentum, zu göttlich geheiligten Heilswahrheiten, zu Priestertum und
Herrschaft leitet. Zu allen Zeiten hat das religiöse Bedürfnis die Menschen
in zwei Richtungen Befriedigung suchen lassen: die einen finden das Heil in
der Anbetung, die andern im Handeln, die einen im Glauben an göttliche
Lehren, die andern im Befolgen göttlicher Gebote, die einen in idealem Ver¬
senken in sich selbst, die andern im Bethätigen nach anßen. Und das Ziel,
wohin jeder dieser Wege führt, ist dieses: die einen, die von dem Übersinn¬
lichen, der Abstraktion des reinen Geistes ausgehen, schaffen das Dogma, die
Kirche, die Hierarchie mit ihrer weltlichen Macht; die andern, die von der
Not des täglichen Menschenlebens ausgehen, schaffen in der einzelnen Brust
die Versöhnung zwischen Gott und Welt. Je nach der persönlichen Geistes¬
anlage neigt der eine mehr dieser, der andre mehr jener religiösen Entwicklung
zu, und je weniger ausschließlich er sich nach einer der beiden Richtungen hin
entwickelt, um so eher wird Fanatismus hier, Verflachung dort vermieden
werden. Wem die Religion nur die Brücke zum künftigen Leben ist, der wird
leicht zum eifernden Priester mit Richtschwert und Scheiterhaufen; wer in der
Religion nur die Moral findet, der wird das irdische Leben nicht ganz
erfassen.
Den realen Verhältnissen dieser Welt sind die religiösen Ideen sowohl
des Vater Johann als des Grafen Tolstoi vor allem zugewandt; beide streben
darnach, das Elend des Menschen zu lindern, beide thun es ohne Rücksicht
auf Kirchentum oder Volkstum, als Humanisten im reinsten Sinne; beide
Predigen nicht die Furcht, sondern die Liebe, nicht die Schrecken des Gerichts,
noch die Buße, noch die Erlösung zum künftigen Leben, sondern die Wege
Gottes in diesem Leben. Beide gründen ihren Glauben, ihre Lehre auf das
Evangelium, beide widmen sich selbst, ihre Person und ihre Habe dem Wohl¬
thun, der praktischen Nachfolge Christi. Aber Vater Johann ist der Mann
aus der Hütte, der einfältig Gläubige, der die Lehre Christi mit dem Gemüt
Empfangende, ohne eignes kritisches Zuthun, ohne Grübelei, ohne viel Reflexion,
der Evangelist des Herzens. Tolstoi ist Denker, geschulter Denker, von großer
Kraft der kritischen Vorstellung und Unterscheidung, mit reicher Schulbildung,
der die Lehren Christi mit selbständigem Geist verarbeitet und ins Leben ein¬
führt. Das Wesen ihres Christentums finden beide in der Bergpredigt. Aber
jeder schöpft aus ihr das, was seiner Natur zusagt. Vater Johann ließ sich
von dem Geist der großen Rede Christi erfüllen, erleuchten und folgte ihren
Geboten instinktiv; Tolstoi betrachtete jeden Vers, prüfte jedes Wort und
Päckte es fest, wie er es verstand, um es nicht mehr loszulassen, um es zu
dem Kern seines evangelischen Glaubens, zur Norm des Lebens zu machen. Auch
er suchte nach dem Geist, aber mehr als Vater Johann auf dem Wege der
rationellen Forschung, und deshalb ist dieser Denker dem Geist der Bergpredigt
serner geblieben als der Priester; denn diese Predigt will vor allem empfunden,
nicht begriffen werden. Selig sind die geistig Armen, die Leidtragenden, die
sanftmütigen, die Hungernden nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die
reines Herzens sind, die Friedfertigen — das ist das Evangelium des Vater
Johann. „Zürnet nicht, ehebrechet nicht, schwöret nicht, verteidigt euch nicht
durch Gewalt, führet keine Kriege" — das ist das Evangelium des Grafen
Tolstoi. („Worin besteht mein Glaube," Seite 270.)
Dieses Credo ist augenscheinlich ein Bekenntnis mehr des Kopfes als
des Herzens. Tolstoi ist dazu gelangt, indem er im Evangelinm nach den
Mitteln suchte, das Elend des täglichen Lebens zu mildern. Er fand in den
Lehren Christi diese Vorschriften, von denen er annahm, daß sie die Menschheit
zu einem bessern Erdenleben, ja zur Glückseligkeit erheben könnten. Er fand,
daß Christus geboten habe: „Lebe für die Glückseligkeit, hüte dich aber vor —
der Versuchung." „Die Gebote Christi, sagt er, geben mir die Mittel der
Errettung ans den Versuchungen." Ein göttliches Erdenleben ist demnach
das Ziel und der Zweck der evangelischen Lehren. Die Moral allein ist hier
zurückgeblieben, ist gesondert von dem transcendenter Inhalt des Evangeliums,
der das so nahe verwandte Streben und Leben des Vater Johann doch durch¬
leuchtet. Beide kämpfen gegen das menschliche Elend, aber Tolstoi ist evange-
lischer Moralist, nicht Prophet, und erfaßt — wie ich es oben bezeichnet
habe — deshalb nicht das ganze, das innerste Leben. Und indem seine Moral
über das persönliche Gefühl hinausgreift, stößt er gegen Kirche und Staat
heftig an. Nicht schwören, sich nicht verteidigen durch Gewalt, keine Kriege
führen — das sind Forderungen, die weder Staat noch Gesellschaft, noch
Kirche anerkennen können, wenigstens nicht in der Konsequenz, wie Tolstoi sie
vertritt. Er beruft sich auf das Wort Christi (Matth. 5, 39): „Ich aber
sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel" und folgert, daß aller
Krieg, alle Polizeigewalt, alle Rechtspflege, soweit sie mit Zwang verbanden
sind, vom Übel seien. Seine Lehren sind für jeden Staat so nmstürzend, so
unerträglich, wie nur revolutionäre Lehren sein können, und dennoch wird er
bisher von der russischen Negierung mit keinem Finger belästigt. Vielleicht
eben weil man seine Lehren für zu unvernünftig hält, als daß sie schädlich
sein könnten. In der That, wenn er, am Buchstaben des Evangeliums haftend,
alle Staatsgewalt für unchristlich erklärt, so sollte man meinen, daß er für
ein solches Evangelium wenig Anhänger finden werde. Und dennoch hat er
Anhänger, dennoch giebt es eine nicht unbedeutende Schar in der Masse des
bäuerlichen Volkes und auch in den obern Klaffen, die ihn als ihr geistliches
Haupt verehrt.
Tolstoi hat sich offen von der Kirche losgesagt, ohne eine religiöse
Gemeinschaft an die Stelle setzen zu wollen; denn seine Lehren sind moralisch¬
soziale, nicht religiöse Lehren, und was er durch sein Leben predigt, ist
ebenso wenig religiösen Inhalts: es ist ungefähr was Rousseau vor hundert
Jahren auch pries, das Glück des einfach bäuerlichen Daseins. In zahlreichen
Schriften tritt er vor das Volk als der Apostel des Friedens, des Duldens
gegenüber aller Gewalt und unterstützt zugleich seine Lehre durch Verbreitung
einer russischen Übersetzung der vier Evangelien, die er verfaßt hat. Sein
Name, sein Leben, seine Schriften haben weite Wirkung trotz jenes aus¬
schweifenden Kernsatzes. Gleich ihm suchen auch seine Anhänger die sozialen
Unterschiede aufzuheben, indem sie sich, soweit sie den höhern Stünden an¬
gehören, im äußern Leben der arbeitenden Menge möglichst gleichstellen. Man
hat Leute von vornehmem Namen gesehen, die in schlechter, ja schmieriger
Kleidung in die Gesellschaft ihrer Dienstboten hinabstiegen, mit ihren Kutschern
und Dienern aßen und ihre Kleider flickten. Aber Tolstoi geht noch weiter,
er greift direkt in die Politik ein mit seinen Lehren und greift die staatlichen
Gesetze öffentlich an. So ist sein Anhang auch mehr politischer als religiöser
Natur. Diese Tolstojciner von der „evangelischen Brüderschaft Christi" ver¬
weigern den Kriegsdienst im Namen der christlichen Gebote. Aber sie beginnen
bereits weiter zu gehen im Widerstande gegen die Gesetze des Staates, indem
sie auch die Steuern verweigern, und so haben sich die Behörden genötigt ge¬
sehen, wenn nicht gegen Tolstoi selbst, so doch gegen seine Anhänger ebenso
vorzugehen, wie sie gegen deren Glaubensverwandte, die Molokanen und die
Duchoborzen vorgegangen sind. Diese russischen Sekten verwerfen gleichfalls
auf Grund der Gebote Christi den Kriegsdienst und haben sich von der Staats¬
kirche gelöst. Mit welchen Mitteln sich die Staatskirche und der Staat gegen
diese Sekten schützen, haben im Laufe des letzten Jahres mancherlei in die
Öffentlichkeit gedrungne Beispiele gezeigt. Verbannung nach Sibirien, Kon¬
fiskation des Eigentums, Wegnahme der Kinder sind die Strafen, durch die
diese Sekten zersprengt und ausgerottet werden sollen. Tolstoi hat mit rück¬
sichtsloser Schärfe in verschiednen Schriften und zuletzt zu Anfang dieses
Jahres in einem schwedischen Blatt gegen diese Verfolgungen protestirt und
sich thatsächlich zum Beschützer und Helfer der Verfolgten aufgeworfen.
Von weit größerer Tragweite als die Thätigkeit Johanns von Kron¬
stäbe und Tolstois ist die evcmgelisirende Bewegung des Stundismus.
Den Ursprung des russischen Stundismus führt Dalton („Der Stundismus
in Nußland") auf ein paar deutsche Kolonistendörfer im Gubernium Cherson
zurück. Wie dem auch sei, gewiß ist, daß es in den großen und reichen
deutschen Kolonien des südlichen Rußlands an amtlichen Predigern oft mangelte,
und daß dieser Mangel oft durch Bibelstunden von den Gemeindegliedern er¬
setzt zu werden pflegte. Die Kolonisten, meist Oberdeutsche aus Schwaben,
waren Protestanten, und ihre Bibelstunden erhielten den evangelischen Sinn
aufrecht, den sie aus der Heimat mitgebracht hatten. Da keinerlei missionirendc
Thätigkeit von diesen Kolonisten ausging, so blieb das umwohnende Russentum
lange unberührt von dem deutsche» Evangelismus. Fast ein Jahrhundert
haben die Deutschen dort gesessen, ohne daß man von ihren religiösen, von
kirchlichen Einflüssen auf die orthodoxe Bevölkerung vernahm. Erst die Ver¬
breitung der russischen Bibel unter Alexander II. und die Aufhebung der
Leibeigenschaft haben gemeinsam die Wirkung gehabt, daß der russische Nachbar
von den Deutschen das selbständige Lesen der Bibel und wohl auch die Auf¬
fassung des Evangeliums annahm, die sich dem einen und andern gelegentlich
durch die Beteiligung an einer deutschen Bibelstunde eingeprägt hatte. Diese
Auffassung war von der einfachsten Art: das Evangelium und nichts als das
Evangelium befriedigte das religiöse Bedürfnis. Das allgemeine Priestertum,
wie wir es in manchen protestantischen Sekten längst kennen, ersetzte das
Kirchentum, und die Kraft des Glaubens ersetzte die Kraft des kirchlichen
Priestertums. Wie ein Steppenbrand züngelte seit dem Anfang der sechziger
Jahre dieser evangelische Stundismus nach allen Seiten hin, Dorf auf Dorf
verließ die Staatskirche, um zur Bibelstunde zu gehen, das Evangelium zu
hören, Choräle und Lieder protestantischen Gepräges zu singen und oft auch
um ruhig den Hohn, die Schläge und Mißhandlungen zu erdulden, die ihnen
autorisirte und nicht autorisirte Anhänger der Staatskirche zu teil werden ließen.
Seitdem hat der Staat uuter Alexander II. milde, später, unter dessen Nachfolger,
harte Maßregeln gegen diese Bewegung versucht, aber die stete Ausbreitung
nicht verhindern können. Ursprünglich auf das kleinrussische Volk beschränkt, hat
sich der Stundismus im ganzen südlich von Moskau und Smolensk liegenden
Gebiet ausgebreitet und umfaßt Hunderttausende, vielleicht schon Millionen.
Ursprünglich harmlos innerhalb der Kirche lebend, ist er heute eine Sekte, die
sich von der Kirche getrennt hat; den Abfall hat die Staatskirche selbst durch
die Bedrückung und den Angriff beschleunigt, zu dem sie schritt, als sie sah,
daß geistige Mittel nicht ausreichten. Der Stundismus ist so durchaus
evangelisch, daß er bei den deutschen Kolonisten, von denen er ausging, ruhig
innerhalb der protestantischen Kirche bleiben konnte. Aber während er sich
den Lehren und Bräuchen des Luthertums leicht einfügte, stieß er hart an
eine Kirche, deren kunstvoller Bau ebenso wenig der Schlichtheit des Evan¬
geliums der Fischer entspricht, wie die römische Schwesterkirche.
Eines Geistes mit dem Stnndismus ist die Gemeinde, an deren Spitze
der Gardeoberst Paschkow stand. Über diese Gemeinde ist bereits mehrfach in
deutschen Zeitschriften geschrieben worden, sodciß ich es unterlasse, hier näher
darauf einzugehen. Es ist bekannt, daß die Paschkower auf methodistischem
Wege das Evangelium von der Erlösung verkünden, daß sie sich von der
Staatskirche losgesagt haben, daß sie in freien Versammlungen die Schrift
auslegen, wie der Geist sie treibt; daß die Stifter und leitenden Glieder dieser
Gemeinde den höchsten und reichsten Kreisen Petersburgs angehören, daß ihre
sehr großen Geldmittel mit verschwenderischer Freigebigkeit für Zwecke der
Nächstenliebe, ohne alle Rücksicht auf Geburt, Nationalität oder Bekenntnis
verwandt werden — oder richtiger wurden, solange als man sie und ihre
Thätigkeit duldete. Paschkow war eine Zeit laug (in den siebziger Jahren) in
Petersburg zwar kein Heiliger wie Vater Johann, weil er nicht Wunder that,
aber ein Mann, den jedermann kannte, den man mit Verwunderung und Be¬
wunderung betrachtete, der beim niedern Volk nicht fern von religiöser Ver¬
ehrung stand. „Unser Erlöser," so konnte man ihn oft von Droschkenkutschern
und Leuten ähnlicher Stellung nennen hören. Und in der That, er und seine
Anhänger haben so viel „wohlzuthun und mitzuteilen" verstanden, daß ihnen
Dank und Ehre nicht bloß vom Volke, sondern auch von Seiten der staat¬
lichen Gewalt gebührt Hütte. Aber es ist anders gekommen.
Alexander III. kam zur Negierung als ein Schüler Pobedonoszews und
blieb es bis an sein Lebensende. Die Macht des Oberprokureurs des Shnods
wuchs schnell weit hinaus über die Grenzen dieser obersten Behörde der
orthodoxen Kirchenleitung. Und diese Macht gebrauchte das thatsächliche,
wenn auch nicht förmliche Haupt der russisch-orthodoxen Kirche seitdem mit
der ganzen Grausamkeit, die von jeher den Eiferern, nicht der Religion,
sondern des Kirchentums eigen gewesen ist. Denn auch Vater Johann und
Paschkow sind Eiferer, aber ihr Fanatismus gilt dem Kern, der Fanatismus
Pobedonoszews lediglich der Schale. Dieser Fanatiker steht in der russisch¬
orthodoxen Kirche so hoch, daß noch heute kaum ein öffentliches Gebet von
einem orthodoxen Geistlichen in Rußland gesprochen wird, ohne daß der
Segen Gottes ausdrücklich auf das Haupt Pobedonoszews herabgefleht wird.
Es wird von dem Klerus mehr für ihn als für den Zaren selbst gebetet.
Mit der weltlichen Macht ausgerüstet begann er die Verfolgung, anfangs mit
milden Mitteln, mit Belebung einer orthodoxen Missionsthätigkeit, die haupt¬
sächlich dem Stnndismus entgegentreten sollte. Aber er Hütte voraussehen
können und sah vielleicht wirklich voraus, daß mit der Berufung auf Kirchen¬
väter, auf den Willen der Kirche und des Kaisers wenig auszurichten war
gegenüber Leuten, die Befriedigung suchten für ein Bedürfnis, das weder nach
dem Wohlwollen von Zar und Kirche, noch nach den Meinungen von dogmati-
sirenden Kircheugrößen aus entlegner Zeit fragte, sondern nach unmittelbarem
Verkehr mit Gott selbst verlangte. So gab mau die friedlichen Mittel bald
auf oder ließ sie neben stärkern Beschwörungen hergehen, gleich der Mission
gegen die Altgläubigen der orthodoxen Kirche, die ihre Disputationen in
Moskau mit geringem Erfolg zwar fortsetzt, aber doch auf die Staatsmittel
ihr eigentliches Vertrauen setzt. Es erschienen wieder die alten Bilder, die in
der ganzen Lebensgeschichte der christlichen Kirchen so oft wie kaum in einer
andern Religionsgemeinschaft neuer oder alter Zeit wiederkehren: die Bilder
der Märtyrer, die um ihres Glaubens willen sogar im Namen Gottes gequält
und mißhandelt werden. In die Öffentlichkeit ist natürlich wenig gedrungen.
Auch für die Stundisten trat Leo Tolstoi als Verteidiger in Schriften gegen
die Regierung auf und schilderte die Leiden dieser Leute. Da sind Gefängnis,
Marter, Verbannung, Trennung der Kinder von den Eltern, Beraubung des
Eigentums, kurz die alt bekannten Heilmittel zu sehen, mit denen christliche
Herrscher von jeher für die himmlische Zukunft ihrer Unterthanen zu sorgen
Pflegten. Da wurden, so erzählt man. Stundisten und Pafchkowisten in
Ketten nach Sibirien in menschenleere Einöden geschickt, weil man beobachtet
hatte, daß, wenn sie, wie das Gesetz vorschreibt, in dem Kaukasus und den
angrenzenden bewohnten Gebieten untergebracht wurden, die Bewohner dort
bald selbst von dem Verlangen ergriffen wurden, daS christliche Evangelium
kennen zu lernen. Da wurden alle religiösen Versammlungen verboten, da
wurden Familien mit fürstlichen Namen genötigt, ihre Güter zu verlassen
und ins Ausland zu entweichen, da wurden namentliche Ukase des Zaren
erwirkt, wodurch einzelnen die Verwaltung ihrer Güter entzogen wurde, da
wurde alles ausgerottet, was Nächstenliebe im Namen der Gebote Christi mit
großen Opfern an Kranken-, Speise- und ähnlichen Anstalten geschaffen hatte.
Paschkow selbst, dieser Mann edelsten Denkens, glühender Sehnsucht nach
Wohlthun, nach der christlichen Wahrheit, ward 1884 des Landes verwiesen.
Weshalb? Weil er auf die Fragen, ob er die Kirche besuche, ob er dort das
Abendmahl nehme, ob er an die Heiligen glaube, mit Nein geantwortet hatte.
Und doch hatte der hohe kirchliche Würdenträger, der geschickt worden war,
ihn zu vermahnen, bei allem Kopfschütteln über das Nein des Sünders ihm
gestanden, daß auch er an die Heiligen nicht glaube. Als Paschkow Peters¬
burg verließ, haben nur zwei Frauen aus dem glänzenden Kreise seiner An¬
hänger gewagt, ihm auf dem Bahnhofe das Geleit zu geben. Die Polizei
war versammelt, wie wenn es sich um das Haupt einer mächtigen und gefähr¬
lichen politischen Partei gehandelt hätte.
Von welchem Geiste die von Pobedonoszew geleitete russische Kirche er¬
füllt ist, mag man aus dem Nachstehenden entnehmen. Im Angust 1897 fand
zu Kasan ein von hohen kirchlichen Würdenträgern besuchter orthodoxer
Missionskongreß statt. Über seine Beschlüsse brachten die „Russischen Nach¬
richten" (Rnssk. Wedom.) einen Bericht, dem die „Petersburger Zeitung" das
Folgende entnahm:
„Ans den vielen Referaten, Mitteilungen und Memoranden, die dem
Kongreß von seinen Teilnehmern vorgelegt worden sind, geht hervor, daß die
Verbreitung des Naskols und des Sektenwesens trotz aller Bemühungen der
Missionare und aller Regierungsmaßregeln nicht nur nicht abnimmt, sondern
sogar stärker wird. Besonders stark verbreitet sich der Stundismus, der früher
nur in Südrußland existirte, jetzt aber innerhalb der Bevölkerung der östlichen
Gouvernements, z. B. der Gouvernements Ssamara, Ssaratow und sogar
Asa viele Anhänger hat. Außerdem sind in der letzten Zeit viele neue, bisher
unbekannte Sekten entstanden. Diese letztern Sekten sind teils Schößlinge
jener Sekten, die sich im Volke bereits eingenistet haben, teils selbständig ent-
standne, die mit den frühern nichts zu thun haben. Zu den neuen sektircrischen
Lehren hat der Kongreß auch die religiös-sittlichen Anschauungen des Grafen
Leo Tolstoi gezählt und erkannt, daß seine Anhänger eine »völlig ausgebildete
Sekte« seien. In der Erkenntnis, daß auf diese Sekte die Definition »für
Kirche und Staat besonders gefährlich« durchaus passe, hat der Kongreß be¬
schlossen, den Hi. spröd zu bitten, er möge bei der Regierung dahin vor¬
stellig werden, daß das Gesetz, welches für die »besonders gefährlichen« Sekten
gelte, auch auf diese Sekte ausgedehnt werde. Um die übrigen Sekten und
den Raskol zu schwächen, erkannte der Kongreß es für notwendig, folgende
Maßregeln zu ergreifen: Den Raskolniken die Eröffnung von Schulen zum
Unterricht ihrer Kinder zu verbieten und alle ihre jetzigen Schulen zu schließen;
die Zugehörigkeit zu einer »besonders gefährlichen« Sekte für einen »ent¬
ehrenden Umstand« zu erklären, um den Bauerngemeinden die Möglichkeit zu
geben, diejenigen Mitglieder, welche einer schädlichen Sekte angehören, aus¬
zuschließen und nach Sibirien zu deportiren; die Herausgabe lutherischer gottes¬
dienstlicher Bücher in russischer Sprache für »gefährlich« zu erklären; den
Sektirern zu verbieten, minderjährige Orthodoxe in Dienst zu nehmen und
über die volljährigen Orthodoxen, welche bei Sektirern in Dienst treten, dnrch
die Ortsgeistlichkeit eine besondre Kontrolle auszuüben. Da die Stundisten,
welche seit 1894 des Rechts, zu Gebetsversammlungen zusammenzukommen,
beraubt sind, in letzter Zeit begonnen haben, zu diesem Zwecke die benachbarten
lutherischen Kirchen zu besuchen, in denen die Pastoren sür sie russischen
Gottesdienst abhalten, so beschloß der Kongreß, die Regierung durch den
Hi. spröd darum zu bitten, daß es verboten werde, in den Gegenden, wo
Stnndisten leben, lutherische Gottesdienste in russischer Sprache abzuhalten.
„Da nach dem Strafgesetzbuche nur diejenigen Personen zur Verantwortung
gezogen werden können, welche den Raskol und die sektirerischen Lehren
»öffentlich« predigen, so saßte der Kongreß ferner den Beschluß, durch den
Hi. spröd an die mit der Redaktion des neuen Strafgesetzbuchs beschäftigte
Kommission das Ansuchen zu richten, sie möge jenes Wort »öffentlich« aus
dem Gesetze streichen. Dieses Wort gebe nämlich zu der Interpretation Anlaß,
die Predigt jener Lehren sei nur auf öffentlichen Plätzen und Straßen verboten.
Die genannten Beschlüsse wurden einstimmig angenommen.
„Als im Kampfe gegen den Raskol und das Sektirertum nützlich wurden
noch folgende Maßregeln vorgeschlagen: die Petition um die Herausgabe eines
Gesetzes, laut welchem den Raskolniken und Sektirern, die Kinder genommen
werden können, um in besondern Asylen im orthodoxen Glauben erzogen zu
werden. Über diesen Vorschlag ratschlagte der Kongreß einen ganzen Tag,
verwarf ihn aber, da man bei der Gründung der Asyle auf Schwierigkeiten
stoßen würde. Erzbischof Meleti von Rjasan, der eine der Sitzungen besuchte,
empfahl noch eine sehr wichtige und nach seiner Ansicht sehr nützliche Ma߬
regel — die Konfiskation des Eigentums der Raskolniken und Seltirer."
Soweit die Petersburger Zeitung.
Das ist die „missionirende" Thätigkeit der russischen Kirche unter Pobe-
donvszew.
Die Verhältnisse der russischen Kirche siud, wie ich meine, für uns von
größeren Interesse, als man ihnen gewöhnlich zu widmen geneigt ist. Indem
ich auf den Evangelismus in Rußland hinwies, habe ich die protestantischen
Konfessionen, habe ich die geschlossene lutherische Kirche der Ostseeprovinzen und
Finnlands beiseite gelassen. Es kam nur an auf den Evangelismus nicht im
russischen Staat, sondern innerhalb des russischen Volks. Und hier ist er für
die Zukunft dieses Volkes von einer Bedeutung, die selbst von großen rein
staatlichen Ereignissen nicht leicht aufgewogen werden kann.
Als unter Alexander H. der Nihilismus „ins Volk zu gehen" begann,
meinte er dort gut vorbereiteten Boden zu finden für seine demokratischen
Lehren. Aber das Volk verstand weder Freiheit noch Gleichheit, und nach
der Ermordung des Zaren gestanden sich die Führer des Nihilismus ein, daß
sie dieses Volk falsch beurteilt hatten. Die Autorität des zarischen Staates
sitzt dem russischen Bauer,? — d. h. neun Zehnteln der Bevölkerung — noch
zu tief im Leibe, und sein Gesichtskreis ist noch von Schulung zu wenig er¬
weitert, um zu begreifen, daß man in der Welt ohne einen Zaren leben oder
sich auf gleiche Stufe mit einem Wirklichen Staatsrat erheben könne. Kein
Volk in Enropa mag politisch so bequem, so leicht zu regieren sein als das
rassische; keines hat vielleicht so das Dulden gelernt, und keinem ist die Pietät
für herkömmliche Gewalt so angeboren wie dem russischen. Aber neben dieser
Pietät ist es erfüllt von der ?ist>g,s des Gemüts, worin der religiöse Sinn
seine besten Wurzeln hat. Trotz des toten Formalismus seiner Kirche — oder
vielleicht infolge davon — hat sich bei ihm diese instinktive Frömmigkeit in
hohem Maße erhalten, und je weniger Wissen und Reflexion das Volt zu
eignen Meinungen über öffentliche Dinge hinleiten, umso größer ist die Wirkung
des religiösen Empfindens und der religiösen Vorstellungen auf sein reiches,
bewegliches und tiefes Gemüt, auf seine schnelle und klare Anffasfungskraft.
Wer in Nußland an eine große Zukunft und an ein freies Volksleben glaubt,
hofft auf eine Erhebung durch den Bauern, fühlt in ihm die nationale Kraft
und das nationale Heiligtum; und mit Recht, insoweit als die guten Kräfte
des Nusfentums dort im Dorf, nicht in der sogenannten Intelligenz, den obern
Schichten beschlossen sind. Dieser Bauer nun, der, wenn er überhaupt lesen
kann, nie eine Zeitung, höchst selten ein Buch liest, wird mächtig gepackt von
der einfältig-verständlichen Frömmigkeit, die ihm aus dem Evangelium ent¬
gegenströmt. Dulden — das versteht er! Lieben, wohlthun — das ist nach
seinem Sinn! Gott fürchten — das steckt in ihm wie die Zarenfurcht. Und
den Priester, den Popen hat er niemals hoch geachtet, sondern ihn oft mi߬
handelt; abergläubisch speit er aus, wo er ihm in der Straße begegnet. Und
endlich: die bei alledem demokratische Natur des Russen spürt bald die Brüder¬
lichkeit in den Lehren des Evangeliums heraus.
Daß beim Bauern die Neuheit der evangelischen Erzählungen und Lehren
nicht ohne Einfluß auf das von ihnen erweckte Interesse ist, wird verständlich,
wenn man erwägt, daß die orthodoxe Kirche im allgemeinen die Predigt nicht
übt, und daß der Bauer bis vor kurzem, auch wenn er lesen konnte, doch
die Bibel nicht las, weil sie eben nicht zu haben war. Überraschender
— wenigstens für Leute, die eine protestantische Erziehung genossen haben —
ist es, zu bemerken, wie auch auf die höchstgebildeten Kreise der orthodoxen
Kirche die Schriften des Neuen Testaments mit der Kraft gänzlich unbekannter,
neuer Offenbarungen wirken. Ich selbst habe in stundenlangen Gesprächen
mit Paschkow mit steigender Verwunderung wahrgenommen, wie dieser von
reinstem Feuer für die Heilslehren des Evangeliums erfüllte Mann stets durch-
drungen war von der Annahme, daß nur meine Unkenntnis dieser Heilslehren
daran schuld Ware, wenn diese Lehren in mir nicht ein gleiches Feuer zu
entzünden vermocht hatten. Und doch war das, was er mir als neue Offen-
barungen bot, genau dasselbe, was mir von frühester Kindheit an in Eltern¬
haus und Schule täglich war geboten worden. Erkenntnis der Sündhaftigkeit,
Erlösung durch den Tod des Gottessohnes — dem protestantisch erzognen
Knaben geläufige Vorstellungen waren hier dem reifen Manne neue und
überraschende Erfahrungen, die er an sich selbst gemacht hatte, und deren ent¬
stammende Wirkung er nun ausbleiben sah. Wir verstanden einander nicht,
weil ich in der lutherischen, er in der orthodoxen Kirche aufgewachsen war.
Dem orthodoxen Russentum aller Stände ist das christliche Evangelium
eine neue Entdeckung. Sie wird ihren Weg machen trotz aller Bemühungen
der Kirche, ihren Gang zu hemmen. Und der Evangelismus wird nicht bloß
seine religiöse Wirkung, sondern vornehmlich seinen großen moralischen Einfluß
auf das gesamte Volksleben haben. Dafür liegen zahlreiche Anzeichen vor in
dem plötzlichen Erwachen des sittlichen Bewußtseins überall dort, wo eine
evangelische Bewegung auftaucht.
Eine durchgreifende Reform der Staatskirche darf kaum erwartet werden,
solange als Staat und Kirche so fest mit einander verschmolzen sind, wie es
seit der kirchlichen Usurpation durch Peter I. der Fall ist. Die Macht, die
dem Zarentum aus dieser Verschmelzung zuwächst, ist zu groß, als daß man
sie ohne Zwang würde sahren lassen; es bedürfte zu einer Trennung von
Staat und Kirche eines politischen Zusammenbruchs der Staatsgewalt, dem
dann allerdings die Schwächung auch der kirchlichen Autorität bald folgen würde;
das würde den Raum für die üppige Entwicklung der Sekten freimachen. Nichts
aber könnte der innern Belebung der toten Masse des Volks förderlicher
werden als die Belebung seines religiösen Empfindens, die Befreiung vom
kirchlichen Zwang, die Gewährung der Glaubensfreiheit. In dem Kultur¬
zustande, worin der russische Bauer lebt, und bei dem ihm eignen Charakter
hat das Neue Testament für ihn eine größere Kraft als alle Schulbücher,
mit denen man ihn beglücken wollte. Alexander II. hätte sich wohl entschlossen,
Glaubensfreiheit zu gewähren; er hat aber mit Bedauern erklärt, er dürfe
diesen Schritt nicht wagen. Ob Nikolaus II. ihn wagen wird? Schwerlich
L. von der Brügger
enge Zeit konnte Chamberlain das Mißtrauen gegen die Konser¬
vativen nicht überwinden. Sie waren ihm Denner. Aber bei
näherer Bekanntschaft fand er doch allmählich heraus, daß auch
in konservativen Busen menschliche Herzen schlagen, und daß die
Negierung ehrlich bemüht war, das Abkommen mit den liberalen
Unionisten einzuhalten. Chamberlain hatte keine Ursache, sich über die Konser¬
vativen zu beklagen, so sauer er ihnen auch oft Versöhnlichkeit und Nachgiebig¬
keit machte. Zugestündnisse an die irischen Pächter, die ihm die Regierung
gegen ihre Überzeugung bewilligte, zeigten genug den Geist der Konservativen.
Wenn er aber in der Frage der Unterdrückung der irischen Nationalliga gegen
die Regierung stimmte, so bewies er damit nur, daß er noch wenig von diesem
Geiste hatte. Eine Reise nach Amerika, die er als Bevollmächtigter Englands
unternahm, um einen alten Streit zwischen Kanada und den Vereinigten
Staaten wegen der Fischereirechte beizulegen, war daher insofern von großem
Nutzen, als sie ihn auf einige Zeit dem Parteihader entzog. Seine Abwesen¬
heit währte lauge genug, die Bitterkeit, die sein Benehmen bei den Konser¬
vativen erweckt hatte, zu mildern und auch in ihm eine Verfassung zu erzeugen,
die mit seiner neuen Stellung im Parteigetriebe vereinbar war. Er hätte
auch kaum länger als wilder Lanzknecht auf eigne Faust weiterfechten können,
ohne sich hoffnungslos in eine Sackgasse zu verrennen.
Die Regierung handelte weise, ihn nach Amerika zu senden, obgleich nur
ein moäuL vivsrM zustande kam, anstatt des erhofften Vertrages. Die Arbeit,
die ihn dort beschäftigte, war über inneres Parteiinteresse erhaben, sie war
für das Ganze. Sie nötigte ihn auf den höher» Aussichtspunkt, auf den
jeder denkende Mensch gelangen muß, wenn er sich die Heimat einmal von
außen ansieht, und der persönliche Verkehr mit den Kanadiern eröffnete ihm
das Verständnis für koloniale Fragen. In dem britischen Reiche, dessen
Blühen für sein soziales Programm unerläßliche Vorbedingung ist, spielen die
Kolonien eine zu hervorragende Rolle, als daß er sie nicht in erster Reihe
hätte ins Auge fassen müssen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese ameri¬
kanische Sendung ihn bestimmt hat, in Salisburys dritten Kabinette das
Kolonialamt zu übernehmen.
Nun waren die Konservativen schon seit langem eifrige Verfechter im¬
perialistischer Ziele und hatten in der äußern Politik mehr Erfolge auszuweisen
als ihre Gegner, die von der Löwenjagd meist nur Bocke heimbrachten. Für
die Unterlage sozialer Reformen ließen also die Konservativen mehr hoffen als
die Liberalen. Die Frage war nur, ob sie auf, ein soziales Programm ein¬
gehen würden. Sobald Chamberlain ohne Voreingenommenheit an die Konser¬
vativen herantrat, fand er nicht nur keine reaktionären Absichten, sondern sogar
ein bereitwilliges Entgegenkommen. Von Chamberlains vielen Feinden ist oft-
behauptet worden, daß alle seine Handlungen aus Eitelkeit, Selbstsucht und
persönlichem Ehrgeiz entspringen. Andre Politiker sind in ähnlicher Weise
angegriffen worden, doch selten mit solcher Heftigkeit. Im Grunde bezeichnen
alle drei, Eitelkeit, Selbstsucht und Ehrgeiz nur ein und dasselbe, nämlich das
persönliche Wesen, von dem sich die menschliche Natur nun einmal nicht frei¬
machen kann, und je nach dem Standpunkte des Kritikers wird es so oder so
oder noch schlimmer benannt. Ohne ein Urteil auszusprechen, muß gesagt
werden, daß bei Chamberlain die persönlichen Züge stark in die Augen springen.
Er ist in allem erst Chamberlain, und unter den lebenden englischen Politikern
hat keiner eine so stark ausgeprägte Individualität wie er. Als Radikaler
oder Demokrat ist ihm der ausgesprochne Wille der Mehrheit Gesetz. Wenn
aber dieser Wille der Mehrheit ihm nicht behagt, so sucht er, ihn mit allen
einer starken Natur zu Gebote stehenden Mitteln nach seinem Willen zu ändern.
Auch die radikalsten Radikalen und Verehrer des Demos sind Despoten in
ihrer Art, Despoten in der Toga des Volkstribunen und alle nicht abgeneigt,
Andersdenkenden eine Unterkunft in den Steinbrüchen zu verschaffen. Ein
solcher despotischer Charakter wird wohl seineu Zweck erreichen, aber er kann
nicht verhindern, daß seine Führung als ein Joch empfunden wird. Die
kleinern Geister der liberalen Partei sahen das Ausscheiden Chamberlains mit
nichts weniger als Bedauern und thaten ihr Möglichstes, seinen Wiedereintritt
zu verhindern. Schmähungen von ihrer Seite haben also wenig Gewicht und
fallen auf die Urheber selbst zurück, da ihre eigne Eitelkeit durch die Ent¬
fernung des Starken befriedigt wurde.
Grundlos sind die Anklagen darum nicht, ob berechtigt, müssen wir be¬
zweifeln. In der Staatengemeinschaft ist die Freundschaft eines Staates umso
wertvoller, als seine Feindschaft gefährlich sein kann. Ist es im Parteikämpfe
oder selbst im Geschäftsleben anders? Ein Politiker muß sich Gehör ver¬
schaffen, muß Einfluß erlangen. Hartington war als zukünftiges Haupt des
Hauses Cavendish fast der geborne Führer der Whigs. Er brauchte sich nicht in
den Vordergrund zu drängen, weil er schon dort war, und sein Gewicht war so
groß, daß zur Behauptung seines Postens eine verhältnismäßig geringe An¬
strengung genügte. Bei Chamberlain lag die Sache anders. Er mußte sich
nicht nur seine Stellung erst erringen, sondern unablässige rührige Thätigkeit,
die allen in die Augen fällt, war nötig, sie zu halten. Wir haben gesehen,
wie er seine Herrschaft über die Liberalen in überraschend kurzer Zeit gewann:
er zeigte ihnen, wie wertvoll seine Unterstützung und wie schädlich seine Gegner¬
schaft sein konnte. Ohne ein Herauskehren des Persönlichen, so unangenehm
es andern sein mag, läßt sich eine politische Stellung nicht erkämpfen.
Es ist möglich, daß sein Verhalten gegen die Konservativen nach seinem
Ausscheiden aus der liberalen Partei etwas von dem Bestreben beeinflußt worden
war, auch die Konservativen seine Persönlichkeit fühlen zu lassen und sie dadurch
willfähriger zu machen; es ist auch möglich, daß es auf die Konservativen
Eindruck machte und ihm einen größern Einfluß bei ihnen verschaffte, als sie
dem Marquis von Hartington zugestanden. Doch sein leitender Beweggrund
kann dies nicht gewesen sein. Die Konservativen kannten ihn und seine Schärfe
schon hinreichend aus früherer parlamentarischer Erfahrung. Sie hatten die
Stiche wie die Keulenschläge seiner Rhetorik oft genug am eignen Leibe gefühlt,
und seine Fähigkeit sür praktische Arbeit war ihnen ebenso wenig ein Ge¬
heimnis. Sein zögernder Anschluß läßt sich wohl besser, wenn nicht aus
seiner Gewissenhaftigkeit, die von Gegnern in Frage gestellt wird, so doch aus
der Schwierigkeit des Übergangs erklären, die gerade durch das starke Hervor¬
treten des Persönlichen in ihm vergrößert wurde. Genug, als er aus Amerika
zurückkam, machte er seinen Frieden mit den Konservativen.
Eine Geschichte der irischen Frage zu schreiben, ist hier nicht der Platz.
Die irischen Wirren führten die große Wendung in'Chamberlnins Laufbahn
herbei, aber mit ihrer weitern Entwicklung ist er nicht unmittelbar verknüpft.
Der große Staatsprozeß gegen Parnell, die spätere Spaltung der irischen
Partei und die häßlichen Streitigkeiten, die sich daran schlossen, konnten nur
die eine Wirkung haben, Chamberlain und die liberalen Unionisten noch mehr
von der Berechtigung ihrer Stellungnahme zu überzeugen. Irland war augen-
scheinlich für Selbstverwaltung nicht reif, ganz abgesehen von der Gefahr, die
durch ein selbständiges Irland heraufbeschworen wurde. Das kräftige Regiment
Balfours führte das Land bald in ruhigere Verhältnisse zurück und gab da¬
durch die Bahn frei für andre gesetzgeberische Arbeiten, bei denen Chamberlain ein
weiterer Einfluß zugestanden wurde. Für Irland selbst wurde die Landfrage
wenigstens etwas der Lösung näher gebracht durch ein Gesetz, das den Land¬
kauf erleichterte, während für die englische Landbevölkerung die Pachtung kleiner
Grundstücke zu eigner Bewirtschaftung ermöglicht wurde. Auch in der Reform
der örtlichen Selbstverwaltung und besonders in der Errichtung des Graf¬
schaftrats von London ging Chamberlain mit den Konservativen Hand in
Hand, ja er fand sie fast radikaler, als er selbst war. Endlich war die Auf¬
hebung des Schulgelds ein großes Zugeständnis, das ihm die Regierung
machte. Alles in allem trug das Abkommen der beiden »monistischen Parteien
gute Früchte und hätte wohl mehr Anerkennung bei den Wählern verdient,
als ihm zuteil wurde.
Doch eine große Anzahl der weisen Wähler weiß nie, zu welcher Seite
sie eigentlich gehört, und Pflegt gewöhnlich im Sinne eines Regierungswechsels
zu stimmen. Die allgemeinen Wahlen von 1892 brachten daher den alten
Gladstone wieder ins Amt mit einer nur durch die irischen Parteien erreichten
Mehrheit von zweiundvierzig Sitzen, wodurch er mehr denn je zum Sklaven
der Iren wurde. Daß an irgend welche heilsame Gesetzgebung nicht zu denken
war, lag auf der Hand, daß Homerule für Irland nicht erreicht werden konnte,
war ebenso offenkundig. Trotzdem preßte Gladstone eine Homerulevorlage
durch das Unterhaus, nur um sie vom Oberhause mit erdrückender Mehrheit
verworfen zu sehen. Andre radikale Maßregeln hatten ein gleiches Schicksal,
und eine Agitation gegen das Hans der Lords wollte nicht in Gang kommen,
weil die Masse der öffentlichen Meinung in England kein Vertrauen zu Glad-
stones gewagten Versuchen hatte und sich auf die Seite der Lords stellte. Auch
als Gladstone vom öffentlichen Leben zurücktrat, war der Erfolg nicht größer,
und die Schwäche der liberalen Regierung vermehrte sich unter Rosebery noch
dadurch, daß die Radikalen, die nach dem Ausscheiden der Whigs die Oberhand
in der Partei hatten, einem Lord an der Spitze der Geschäfte abgeneigt waren.
Unrühmlich und arm an Ergebnissen endete die Amtszeit der Liberalen im
Jahre 1895.
Bis zu diesem Zeitpunkte waren die liberalen Unionisten nur Berater der
Konservativen gewesen, mit voller Freiheit zu handeln, wie ihnen beliebte.
Jetzt, mit der Bildung der dritten Verwaltung Salisburhs traten sie in ein
festes Bündnis ein. Außer Goschen erhielten auch Devonshire, Chamberlain
und Sir Henry James, jetzt Lord James, Sitz und Stimme im Kabinett.
Die Organisation der beiden Parteien blieb noch selbständig und getrennt, aber
für praktische Zwecke bildeten sie ein Ganzes. Für alle Thaten des Koalitions¬
ministeriums sind die liberalen Unionisten daher so gut verantwortlich wie die
Konservativen, und diese Gemeinsamkeit der Verantwortung hält sie stärker zu¬
sammen als jedes andre Band. Vorbedingung war natürlich die Ausschließung
aller Fragen, in denen eine grundsätzliche Verschiedenheit der Anschauungen
besteht; doch das gemeinsame soziale Programm, worin sich alle zusammen¬
finden, ist reichhaltig genug, und bis dies erschöpft ist, wird noch viel Wasser
die Themse hinab ins Meer fließen.
Soziale Reform war es, was Chamberlain mit den Konservativen gemein¬
same Sache machen ließ, soziale Reform ist auch die Devise des Koalitivns-
kabinetts, während die radikal-liberale Partei, in sich zerfallen, an Homernle
verzweifelnd, nur konstitutionelle Reformen, allgemeines Stimmrecht, das im
Lande des Parlamentarismus noch immer bloß ein frommer Wunsch ist, und
Abschaffung des Oberhauses auf ihr Banner geschrieben hat. Soziale Reformen
bildeten die Unterlage aller unionistischen Wahlreden, und unter ihnen standen
die Forderungen der Altersversorgung und der Unfallversicherung an der Spitze.
In der That ist die gegenwärtige Negierung für soziale Gesetzgebung wohl
geeignet. Das radikale Element in ihr drängt zum Fortschritt, das konservative
mäßigt den Übereifer und verhindert, daß Reform in Revolution ausartet.
Das Ziel, die Besserung des Loses der minder Begüterten, ist das gleiche, und
vor ihm treten alle andern Fragen zurück, in denen der Radikale mit dem
Konservativen nicht übereinstimmt.
Ein Radikaler ist Chamberlain heute noch, nur ist sein Radikalismus
nicht engherzig an die Lehren des Manchestertums gebunden. Schon eine der
ersten Maßnahmen der Regierung, die Erleichterung der auf dem Ackerbau
liegenden Steuerlast, schlug allen hergebrachten radikalen Anschauungen ins
Gesicht. Nach dem radikalen Glaubensbekenntnis ist der Grundbesitzer eine
Drohne im Bienenkorbe, und selbst wenn er es nicht wäre, so würden doch
die Mauchestergrundsätze jede Staatshilfe verbieten. Für grundsatztreue Radi¬
kale mag das ganz gut sein; ein klardenkender Volkswirt jedoch kann nur mit
Sorge sehen, wie mit dem Einkommen des Grundbesitzers auch die ackerbau¬
treibende Bevölkerung dahinschwindet. Die gesunden Söhne des Landlebens
wandern aus oder ziehen in die Fabrikstädte, wo sie allmählich der Entartung
anheimfallen. Je mehr die Stadtbevölkerung zunimmt und sich die Land¬
bevölkerung verringert, um so größer wird die Gefahr einer Entartung der ganzen
Nation. Die erwähnte Erleichterung allein kann den Ackerbau in England
nicht wieder zur Blüte bringen; denn die Gründe seines Darniederliegens
werden davon nicht im entferntesten berührt. Die Gründe liegen teils in den
Besttzverhültnissen, teils in dem durch das Freihandelssystem begünstigten
fremden Wettbewerb. Aber das Gesetz ist wichtig als ein Markstein in der
volkswirtschaftlichen Geschichte Englands. Es bedeutet, wie die soeben von
Chamberlain angekündigte Unterstützung des westindischen Zuckergewerbes, eine
entschiedne Abkehr von dem alten Satze des I^^issör lÄirs se laisssr aUsr
und den Beginn einer weitern Auffassung von den Pflichten des Staates.
Bei der Besetzung der Ämter war Chamberlain der Posten des Staats¬
sekretärs für die Kolonien zugefallen, oder besser, er hatte ihn sich gewühlt.
Als Mitglied des Kabinetts konnte er die sozialen Reformen immer im Gange
erhalten. Als Leiter des Kolonialamts wollte er auch die Beziehungen des
Mutterlandes zu den Kolonien in seiner Hand halten. Wenn man die Wichtig¬
keit der Interessen betrachtet, so ist kein englisches Ministerium von größerer
Bedeutung; und wenn auch Salisburh den Vorsitz sührt, die Seele der Negie¬
rung und ihr wirkliches Haupt heißt Joseph Chamberlain.
Es hat eine Zeit gegeben, wo die Kolonien für nichts galten, wo man
die beste von allen zum Abfall trieb. Die Zeit ist vorüber, Erfahrung macht
weise. Heutzutage werden sie gehätschelt, und sie erhalten vielleicht mehr Kredit,
als ihnen gut ist. Die Kinder sind anch wohl erzogen und erweisen der Frau
Mutter alle gebührende Ehre. Nur ein ernstes Bedenken erhebt sich. Aus
Kindern werden Leute, und Erwachsene stehen gern auf eignen Füßen. Bruder
Jonathan ist mit seiner Freiheit durchaus nicht unzufrieden, ein Beispiel, das
ansteckend wirken könnte. Bei den Antipoden denkt man ferner in vielen
Dingen anders als an der Themse, und wenn sich John Bull senior beim Frei¬
handel wohl befindet, so steht es John Bull junior doch frei, sich mit einem
kräftigen und einträglichen Schutzzollsystem zu gürten. Und gesetzt, das alte
Haus gerät in Verwicklungen irgendwo in Asien, warum sollte das junge
Haus in Kapstadt oder Sydney dafür büßen. Es sind ja doch im Grunde
ganz verschiedne Geschäfte. Im Interesse des Mutterlandes liegt es, im Not¬
falle auf die ganze Stärke der Kolonien zählen zu können, während die Kolo¬
nien eine Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht für vorteilhafter halten.
Das ganze britische Reich unter einen Hut zu bringen, es zu einer volks¬
wirtschaftlichen Einheit zu machen, einen britischen Zoll- und Kriegsverein zu
bilden, wäre eine Aufgabe, deren Ausführung einen Mann zum Range des
größten Staatsmannes seiner Zeit erheben würde. Sie ist zuerst angebahnt
worden durch die Iinpöri^I I^dörstion I^g^us, die 1884 entstand und sich
1393 auflöste. An die Stelle dieser Liga sind seitdem drei andre Vereine
getreten, von denen die eine Föderation auf der Grundlage des Schutz¬
zolles befürwortet, die zweite auf Grundlage des Freihandels, während
die dritte gemeinsame Verteidigung durch eine gemeinsame Flotte für das
wichtigste hält. Chamberlains Amtsantritt brachte sofort frischen Zug in
alle kolonialen Angelegenheiten. Er zeigte nicht nur selbst das stärkste Inter¬
esse für koloniale Fragen, sondern wußte es auch in andern anzufachen. Mit
solchem Feuereifer führte er bei jeder Gelegenheit die Kolonien vor die Öffent¬
lichkeit, daß ihm nachgesagt wird, er geberde sich, als habe er die Kolonien
erst entdeckt. Ohne Frage stehen die Kolonien seit dem Jahre 1895 im Vorder¬
gründe des Interesses, und die Neichsföderation ist ein Gegenstand, der allent¬
halben erörtert wird. Die Kolonien an das Mutterland anzugliedern, ist daher
der vornehmste und wichtigste Punkt in Chamberlains Kolonialprogramm, und
der zweite Punkt ist, auf soviel wie möglich noch unbesetzte Gebiete für Eng¬
land Beschlag zu legen. Noch ist ja der englische Handel dem aller andern
Nationen überlegen. Aber der Märkte, die noch der Ausschließung harren,
sind nur wenige, und der Wettbewerb der andern läßt den Abstand stetig
kleiner werden. Für Englands Industrie ist es also von der größten Wichtig¬
keit, sich Märkte und Absatzgebiete zu sichern, die nötigenfalls gegen Ausländer
durch Schutzzölle verschlossen werden können.
Die Schwierigkeiten des Födcrationsplans haben wir schon berührt. Sie
liegen in der Verschiedenheit der wirtschaftlichen Verhältnisse. Ein britischer
Zollverein mit Freihandel zwischen den Mitgliedern bessert die Kolonien nicht,
da bei allen Fortschritten andrer Staaten, besonders Deutschlands und der Ver¬
einigten Staaten, die Hauptmasse der Einfuhr doch aus England kommt.
Bevor daher die Kolonien nicht auch industriell auf eignen Füßen stehen,
werden sie sich schwerlich für Freihandel erwärmen, sondern an ihren Zöllen
festhalten.
Eine Beratung kolonialer Staatsmänner, die Chamberlain bei Gelegenheit
des Jubiläums der Königin veranlaßte, kam nur zu dem Schlüsse, daß Föde¬
ration wünschenswert sei, zu praktischen Vorschlägen gelangte sie nicht. Einzig
Kanada erklärte sich bereit, nach Kündigung der die Meistbegünstigungsklausel
enthaltenden Handelsverträge mit Deutschland und Belgien, das Mutterland
im Zolltarif gelinder zu behandeln. An Freihandel jedoch denkt Kanada nicht.
Wenns an die Tasche geht, sind die Kolonien sehr zugeknöpft. Ebenso ge¬
ringen Eindruck machte die Jubiläumsbegeisterung in der Frage der gemein¬
samen Verteidigung. Bisher hatte nur Australien etwas gethan. Groß war
daher die Freude, als es laut wurde, die Kapkolonie habe das Mutterland mit
einem Schiffe, nicht einem kleinen Torpedoboote, sondern mit einem aus¬
gewachsenen Schlachtschiffe zum Preise von einer Million Pfund Sterling be¬
schenkt. Das Lob der Kapkolonie wurde in allen Tonarten gesungen, und alle
Welt erwartete, die übrigen Kolonien würden sofort in gleicher Weise ihren
Patriotismus beweisen. Doch keine frohe Botschaft kam von jenseits des großen
Wassers, und die heiße Freude wurde auf den Gefrierpunkt hinabgedrückt, als
von Kapstadt die nüchterne Nachricht einlief, daß die Kapregierung und das
Kapparlament von einem Schlachtschiffe nichts wüßten. Der gute Sir Gordon
Spriggs hatte in der Weinlaune den Mund etwas zu voll genommen, und
Goschen, der das Geschenk ankündigte, hatte die Weisheit der alten Germanen
vergessen, die als1i,v6rg,ut> cluin tivZsrs nosoiuQt, oonstituunt, äuirr «zrrArs mein
xossunt,. Die Herren am Kap, denen die Rinderpest die Gebelaune durchaus
nicht erhöht hat, halten sich durch die Versprechungen ihres Premierministers
nicht für gebunden. Wir fürchten, auf absehbare Zeit ist ein wesentlicher
Fortschritt in der Verwirklichung des Föderationsgedankens nicht anzunehmen,
und der Lorbeer des Gründers des britischen Zoll- und Kriegsvereins wird
Chamberlains Schläfe nicht kränzen.
Bessern Erfolg hatte Chamberlain mit dem zweiten Teile seines Pro¬
gramms, dem Bestreben, möglichst große Strecken auf der Landkarte rot anzu¬
malen. Im Nigergebiete folgt eine Expedition auf die andre, um den Fran¬
zosen den Rang abzulaufen. Ein Negerkönig nach dem andern wird mit eng¬
lischen Flinten von der Schändlichkeit der Menschenopfer und dem Segen der
Zivilisation, sowie der Preiswürdigkeit baumwollner Jacken und Beinkleider
überzeugt, während am Nil ägyptische Bajonette den Völkern des Mcchdi ähn¬
liche Unterweisung angedeihen lassen. Gegen diese Thätigkeit wird niemand
Einwendungen machen, außer den also unterwiesenen Schülern und vielleicht
unsern gallischen Nachbarn. Minder löblich dagegen ist Chamberlains Ver¬
bindung mit dem recht ehrenwerten Cecil Rhodes, der auch gern mit dem
Pinsel über die Landkarte fährt. Was soll man von einem Minister sagen,
der, nach Rücksprache mit Rhodes, im Parlament erklärt, Rhodes sei an
Jamesons Transvaalabenteuer unschuldig, der später als Mitglied des Unter¬
suchungsausschusses das Schriftstück unterzeichnet, das Rhodes als den Urheber
und Hauptschuldigen brandmarkt und unmittelbar darauf uM Et orbi ver¬
kündet, an Rhodes hafte kein Makel. Jameson und seine Offiziere wurden
ins Gefängnis gesteckt, und die Offiziere verloren ihre Patente; Rhodes ging
frei aus und ist noch heute wie Chamberlain selbst das recht ehrenwerte Mit¬
glied des Geheimen Rates Ihrer Großbritannischer Majestät. Es ist schwer,
nicht zu demselben Schlüsse zu kommen wie der ehrliche radikale Journalist
Stead, der in seiner Rsvisv ok Rsvisvs Chamberlain als Mitverschwornen
an den Pranger stellt.
Über Rhodes ist alle Welt einig, und dieselbe Einigkeit würde auch über
Chamberlain herrschen, wenn die Aufgabe des Untersnchnngsausschusses ge¬
wesen wäre, die Wahrheit zu ergründen, anstatt Chamberlain weiß zu waschen.
Chamberlain wußte, weshalb er einen Sitz im Ausschusse einnahm, wo er
Richter in eigner Sache war. Rhodes, das muß man ihm lassen, hat seine
Schuld nie geleugnet, und um ihn hätte kein Ausschuß zu tagen brauchen.
Aber das Verhalten Chamberlains war mehr als verdächtig. Handelte Rhodes
wirklich nur auf eigne Faust, als er Jameson zu verstehen gab, d«ß das
Kolonialamt den Plan gegen Transvaal billige? Wenn es der Fall war, dann
hätte die Vorlegung der berüchtigten Kabeltelegramme Chamberlains Unschuld
über allen Zweifel gestellt. Doch diese wichtigen Beweisstücke wurden zurück¬
gehalten, und der Ausschuß drückte beide Augen zu und erklärte Rhodes für
den alleinigen Sündenbock.
Von einem gewandten Politiker wie Chamberlain war zu erwarten, daß
er sich aus den Dornen herauswinden würde. Ohne Einbuße an moralischer
Wolle aber hat er das Stückchen nicht fertig gebracht. Als er sich im Parla¬
mente für Rhodes Unschuld verbürgte, mußte er von Rhodes die Wahrheit
erfahren haben, und dann log er; oder er hatte sich von Rhodes über die
Grenzen des Möglichen belügen lassen, und dann Hütte er nicht später den
recht ehrenwerten Herrn für makellos erklären dürfen, sondern hätte auf einer
Strafverfolgung bestehen müssen. Nun, Rhodes hat nicht gelogen. Der
Mangel an Wahrheitsliebe fällt Chamberlain zur Last, und wo einmal ge¬
logen worden ist, darf man annehmen, daß es auch im übrigen mit der Wahr¬
heit nicht allzu genau genommen wird. Alle Anzeichen deuten auf Chamber-
kams Mitwisserschaft. Doch Rhodes ist ein recht ehrenwerter Mann, und alle,
alle sind sie ehrenwert. Es ist nicht nötig, auf die Entwicklung der Trcms-
vaalfrage einzugehen. Das diplomatische Verfahren Chamberlains war neu,
aber weder diplomatisch, noch von Erfolg gekrönt. Ein herrisches Gebahren
mag am Platze sein und seinen Zweck erfüllen gegenüber einem Beamten des
Kolonialamts, und Chamberlain hätte gut gethan, seinen Untergebnen Sir
Graham Vower besser in Zucht zu halten und ihn zu verhindern, sich in
Rhodes Machenschaften einzulassen; gegen das Haupt eines unabhängigen, be¬
leidigten Staates war der hochfahrende Vefehlston und die Verletzung inter¬
nationaler Höflichkeit unangebracht. Es hat das Mißtrauen der Buren gegen
England nur noch verstärkt und eine Lösung des Zwiespalts in Südafrika
weiter hinausgeschoben. Die Jingos mögen Chamberlain als einen Helden
feiern, sie haben eben eigne Anschauungen von Heldentum.
So ist Chamberlain aus einem erbitterten Feinde zu einem warmen
Freunde, zu einem Führer und Heros der Konservativen geworden. Eine
Trennung von den Konservativen ist nicht wahrscheinlich. Sie wäre nur
möglich nach der Ausführung der sozialen Reformen und unter der Voraus¬
setzung, daß sich die liberale Partei aus ihrem gegenwärtigen Zerfalle mit
neuer Kraft erhöbe. Die neue Partei würde sich jedoch sehr gegen seine Herr¬
schaft sträuben, und er würde den Kampf um die Macht zum drittenmale be¬
ginnen müssen.
Fürs erste ist eine liberale Wiedergeburt nicht in Sicht, und Chamberlain
ist mit zweiundsechzig Jahren gerade kein Jüngling mehr, der seine Laufbahn
noch vor sich hat. Das soziale Programm bietet Arbeit genug für den Rest
seines Lebens. Von seinen radikalen Brüdern aufgegeben, ist Joseph zum all¬
mächtigen Minister bei den Ägyptern geworden, und aller menschlichen Be¬
rechnung nach wird er auch bei den Ägyptern sterben. Über seinen Charakter
sind die Meinungen geteilt, je nach der Parteistellung des Urteilers. Seine
gegenwärtigen Freunde erheben ihn in den Himmel, seine frühern erkennen in
allen seinen Fußstapfen den Abdruck des Pferdehufes. Keine Feindschaft ist so
bitter wie die alter Freunde. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte.
Der Vorwurf, er sei ein Renegat und habe seine Grundsätze gewechselt, trifft
ihn, wie uns scheinen will, nicht mit Recht. Seine Anschauungen hat er ge¬
ändert, wie jeder sie ändert, der seine Augen nicht neuen Umständen verschließt,
und wir sind weit entfernt zu leugnen, daß sein Radikalismus im konservativen
Sonnenschein etwas abgeblaßt ist. Doch in der Hauptsache ist er sich treu
geblieben. Die radikalen Grundanschauungen sind noch dieselben. Er ist noch
immer ein Gegner der Staatskirche und würde auch dem Oberhause keine
Thräne nachweinen. Er hat nur die Verfolgung radikaler Veränderungen in
der Konstitution, für die die Zeit noch nicht gekommen ist, zu Gunsten praktischer
sozialer Thätigkeit vertagt. Das Zusammenwirken mit den Konservativen ge-
schieht auf einem Felde, auf dem sich beide Teile vereinige» können, ohne von
ihren Grundsätzen etwas aufzugeben, und im übrigen sind die Konservativen
ihm mehr entgegengekommen als er den Konservativen.
Was seinen Feinden als Renegatentum erscheint, ist wohl mehr ein Aus¬
fluß seiner übergroßen Energie. Wir haben gesehen, wie schwer ihm die
Schwenkung zu den Konservativen geworden ist; aber als sie vollzogen war,
warf er sich mit seinem ganzen Eifer in die neuen Aufgaben und gewann da¬
durch ein solches Ansehen bei den Konservativen, daß es wohl scheinen mag,
als sei er ganz in ihnen aufgegangen. Diesem Eifer verdankt er seine Erfolge,
aber zum Übermaße gesteigert, hat der Eifer auch seine Mißerfolge verschuldet.
Im parlamentarischen Nedekampfe hat Chamberlain manches mal durch seinen
Übereifer, der einen gewonnenen Vorteil bis zum letzten ausnutzt und die
Spitzen der Beweisführung wie Dolche in den Gegner hineinsenkt, der eignen
Sache geschadet und schwankende Geister, die für eine Vorlage schon fast ge¬
wonnen waren, erbittert und abwendig gemacht. Als Mitglied der Gladstonischen
Regierung blendete ihn sein Eifer, die irische Frage zu losen, gegen die Er¬
kenntnis der wirklichen Sachlage und führte dadurch nicht nur seinen eiguen
Fall, sondern auch den der liberalen Partei herbei. Als Kolvnialsekretür
endlich brachte ihn der Landhunger durch die Verbindung mit Rhodes in eine
ähnliche verzweifelte Lage, die ihn vor die Wahl stellte, entweder in das
Dunkel des Privatlebens zurückzutreten, da ein der Mitwisserschaft am Kom¬
plott überführter Kolonialminister unmöglich war, oder sich, selbst in Wasser
von zweifelhafter Reinheit, weiß waschen zu lassen. Er hat das letztere ge¬
wählt, doch der Fehler des Übereifers wird dadurch nicht getilgt; der bleibt
ihm wie das Pigment der Negerhaut. Wir müssen zugeben, daß ein Politiker
oft Mittel anwendet, die der Privatmann verwerfen muß; aber nnr wo ein
offnes ehrliches Vorgehen nicht zum Ziele führt, siud sie entschuldbar, und
der Erfolg allein kann sie rechtfertigen. Bei Chamberlain war weder das eine
noch das andre der Fall, und der Sache, die er fördern wollte, hat er un¬
ermeßlichen Schaden zugefügt. Der Parteipolitiker hat feinen Posten im
Kolonialamt behauptet, der Staatsmann hat sich in der Transvaalangelegenheit
unfähig gezeigt.
Sich im Strudel der Parteien nicht nur über Wasser zu halten, sondern
nach einander bei allen Parteien eine führende Rolle zu spielen, erfordert un¬
gewöhnliche Gaben. Daß diese Gaben auch ihre Schranken haben, glauben
wir genugsam gezeigt zu haben. Logisches Denken, Schlagfertigkeit, Fleiß und
organisatorisches Talent stehen Chamberlain in hohem Maße zu Gebote. Durch
sie hat er sich seine Stellung als eine der hervorragendsten Gestalten des eng¬
lischen Parteilebens erworben. Für die höhern Aufgaben des Staatsmannes
aber reichen sie nicht aus; der weite, das Ganze übersehende Blick und die
Ruhe des Staatsmannes fehlen ihm. Es ist nicht der große Plan, was den
Staatsmann macht, sondern die Wahl der Mittel, die zum Ziele führen, und
ihre Anwendung zur richtigen Zeit. Als Pnrteipolitiker steht Chamberlain in
England ohne gleichen da. Als Staatsmann ward er gewogen und zu leicht
befunden, und wir glauben nicht, daß die Zeit aus dem Parteipolitiker trotz
all seiner Entwicklungsfähigkeit einen Staatsmann machen kann.
n den eben verflossenen Festtagen ist es deutlich hervorgetreten,
daß das, was zunächst die Sachsen an ihren König bindet, nicht
nur sein Wirken ist, sondern auch seine Persönlichkeit. Freilich
wissen wir von dem, was er ist, noch viel weniger, als von dem,
was er thut, und so kann auch das Bild, das die folgenden
Zeilen zu zeichnen versuchen, nnr eine Skizze und eine unvollkommne Skizze sein.
Über die Grundzüge dieses Charakterbildes kann allerdings kein Zweifel sein:
klare Verständigkeit, tiefes Gemüt, ehrliches Wohlwollen. Sein Hof entfaltet
königliche Pracht nur, sobald es zu repräsentiren gilt. Wenn dann das Königs¬
paar etwa, wie am Wettinfeste 1889, im sechsspännigen, von herrlichen,
kastanienbraunen Rossen gezognen Galawagen, deren reiches Geschirr von ver¬
goldeten Beschlägen blitzt, gelbe Jockeys auf den Sattelpferden, Stallmeister und
Spitzenreiter vorauf, durch die Straßen seiner Hauptstadt fährt, oder wenn
die Hoftafel im Schmuck der kostbarsten Tafelaufsätze und in verschwenderischer
Blumenfülle prangt, oder wenn beim Hofball ein farbenschimmerndes Gewirr
die hohen Schloßräume erfüllt und die künstlerisch angeordneten Büffels das
Entzücken eines jeden Beschauers erregen, dann ist dies ein wirklich königlicher
Anblick; aber unwillkürlich fortgerissen werden die Tausende von Zuschauern,
wenn bei einer großen Parade der König, seinem glänzenden Gefolge allein
weit vorausreitend, von allen Musikkapellen mit den rauschenden Klängen der
Hymne „Den König segne Gott!" begrüßt wird, und wenn die langen,
glitzernden Reihen der Truppen klirrend Präsentiren. Allein in so glänzender
Umgebung erscheint König Albert nur selteu. Deun für sich selbst lebt er
schlicht, einfach und prunklos. Mau kann ihm im Großen Garten zuweilen
ganz allein begegnen, wie er im Überrock, die geliebte Virginia rauchend und
einen großen Hund vorschriftsmäßig an kurzer Leine führend, durch die schat¬
tige« Baumgänge schreitet, am liebsten unerkannt, was ihm allerdings schwer
fallen mag; und wer ihn etwa im grünen Hochthale seines einfachen Jagd¬
hauses Nehefeld, wo er absichtlich keine Villcnbauteu zuläßt, weil sie die kund-
liebe Einsamkeit zerstören würden, durch die Wiesen gehen sieht, in grauer
Jagdjoppe, einen leichten Filzhut auf dem Haupte, den Stock in der Hand
und von ein paar Hunden umsprungen, der kann nicht ahnen, daß er den
Sieger von Beaumont vor sich hat. Auch in der Unterhaltung tritt das
wenig hervor. Das kluge, blaue Auge blickt so freundlich, der Ton seiner
Rede ist so ungezwungen, daß der von ihm Angesprochne zuweilen gut thut,
sich im stillen zu erinnern, daß der König mit ihm spricht. Er hat gar nicht
das Bedürfnis, seine Ansichten und Empfindungen vor der Öffentlichkeit aus-
zusprechen, er ist überhaupt kein Redner, aber er weiß das Notwendige und
Passende auch öffentlich gut und klar zu sagen, mit kräftiger, weithin ver¬
ständlicher Stimme, in kurzen, schlichten Sätzen. Auch von andern liebt er
lange Reden gar nicht; Festlichkeiten derart, denen er die Ehre seiner Gegen¬
wart schenkt, müssen kurz sein. Aber König Albert ist ein trefflicher Erzähler,
denn er hat das ausgezeichnete Gedächtnis für Menschen und Dinge, das den
meisten Wettinern eigen gewesen ist, und er verfügt dazu über eine reiche Er¬
fahrung.
Sein einfacher, schlichter Sinn zeigt sich auch darin, daß er den Verufeu,
die zu den ursprünglichsten der Menschheit gehören, besonders zugethan ist.
Er ist ein passionirter Jäger und Soldat, und gerade diese Thätigkeit, die
rüstige Bewegung im Freien bei jedem Wetter, erhält ihn auch im Alter noch
frisch und spannkräftig. Je mehr Wild zur Strecke gebracht wird, desto besser
die Laune; fällt die Beute mager aus, dann hat der Oberförster des Reviers
keine Ursache, sich des Tages zu freuen. Ist aber alles nach Wunsch ge¬
gangen, und sammeln sich die Weidgesellen zur gastlichen Tafel, dann giebt sich
der königliche Jagdherr ganz offen, erzählt selbst gern und läßt sich erzählen
und lacht oft von Herzen. Für Menschen und Dinge hat er einen sehr scharfen
Blick, auch in Kleinigkeiten. Ein Dresdner Herr, der zu mancherlei Sport
neigte, hatte sich einmal von dem Oberförster in der Heide ausgebeten, bei einer
königlichen Jagd als Treiber verwandt zu werden, um sie sich ordentlich
in der Nähe anzusehen, was sonst nicht möglich war. Als nun die Jagd¬
gesellschaft frühstückte und die Treiber in ehrfurchtsvoller Entfernung ringsum
standen, fiel der Blick des Königs auf diesen Sportsmann, der natürlich
ebenso jagdmäßig gekleidet war wie die andern und nach einigen Stunden
des Marsches durch dick und dünn keineswegs elegant aussah. Er winkt
dem Oberförster, und auf den Mann zeigend sagt er: „Das ist doch kein
Treiber, wer ist denn das?" Der Oberförster bekennt natürlich sofort sein
Verbrechen und nennt den Namen, der König aber sagt gemütlich: „Nun, da
mag er doch mit zum Frühstück kommen," und unterhält sich dann freundlich
mit dem eingeschmuggelten Treiber.
Überfeinen militärischen Scharfblick zureden wäre überflüssig; er hat ihn
in zwei großen Feldzügen bewährt, er bewährt ihn aber auch bei minder
wichtigen Gelegenheiten. Als er einmal bei einem Manöver im Vogtlande
eine Batterie in ziemlich weiter Entfernung zum Angriff auf ein Dorf auf¬
fahren und feuern sah, rief er einen Adjutanten und sagte ihm: „Fragen Sie
doch mal den Batteriechef, worauf er eigentlich feuert; er kann ja von dort
aus das Dorf gar nicht sehen." Bei einem andern Manöver war ihm der
sogenannte Normalangriff der Infanterie, ein in der That imposantes Schau¬
spiel, sehr schön vorgeführt worden- Aber statt der wohl erwarteten An¬
erkennung fielen bei der Kritik die Worte: „Meine Herren, das war also
der Nvrmalangriff; ich kann Ihnen nur sagen, daß es im Kriege ganz anders
zugeht, den wünsche ich nicht wieder zu sehen." Aber den Scharfblick des
Feldherrn zeigt er auch sonst. Er ist in den verschiedensten Angelegenheiten
gleichmäßig orientirt, er ist immer, sozusagen, im Bilde, und er hat eine außer¬
ordentliche Pcrsvnenkenntnis. Wie eingehend er sich auch um Dinge der
Wissenschaft kümmert, bezeugen vor allem seine regelmäßigen Besuche an der
Universität Leipzig, die ihn mit Stolz ihren rsotor MagmlivöllkisLmrus nennt;
er hört hier bekanntlich jeden neu ernannten Professor, und um die Berufung
eines Historikers kümmert er sich stets ganz persönlich. Selbst über ernste
pädagogische Fragen hat er ein selbständiges festes Urteil. In der Krisis, die
der Gymnasialuuterricht im Anfange der neunziger Jahre durchzumachen hatte,
trat er persönlich sehr entschieden für dessen alte Grundlagen ein, und nach
der Einweihung des neuen Prachtbaus der Fürstenschule Grimma sprach er
noch beim Abschiede auf dein Bahnhofe zum Rektor Bernhard! die schwer¬
wiegenden Worte: „Gott schütze die klassischen Studien, ich werde bis an mein
Ende für sie kämpfen." Es ist wenig bekannt, daß der König sehr viel liest,
namentlich historische Bücher. Besonders interessiren ihn wohl Darstellungen
ans der neuesten Geschichte, und es mag dabei ihm, der um so hervorragender
Stelle thätigen Anteil daran genommen hat, manches Urteil wunderlich genng
vorkommen. Wenigstens hat er einmal geäußert, über die neuste Geschichte
könne man wohl Vorlesungen halten, aber nicht schreiben; so unsicher mag ihm
noch die Beurteilung und die Kenntnis dieser Dinge erscheinen. Auf seine
Privatbibliothek verwendet er jährlich große Summen; er ist dabei so liebens¬
würdig, selbst das Ausleihen von Büchern an vertrancnswerte Privatpersonen
zu gestatten, wofür es sogar gedruckte Formulare giebt. Die Auswahl der
anzulaufenden Bücher bestimmt er selbst nach den Vorschlägen seines Biblio¬
thekars. Dabei fällt gelegentlich manches charakteristische Urteil, wie er etwa
einmal ein schönes, illustrirtes Werk über die Auerhahnbalz, mit dem ihm
der Bibliothekar eine besondre Freude zu machen gedachte, mit der trocknen
Bemerkung abwies: „Soviel wie da drin steht, weiß ich selbst." Er ist auch ein
vortrefflicher Pianist, und wenn auch im übrigen bei ihm eine besondre Hin¬
neigung zur Kunst nicht hervortritt, so ist doch seine Negierung an künstle¬
rischen Unternehmungen besonders reich gewesen.
Aller Schmeichelei ist er völlig unzugänglich; selbst berechtigtes Lob weist
er gelegentlich bescheiden zurück; er will nicht mehr scheinen, als er ist. Klar
und ohne jede Selbsttäuschung ist er sich auch der Grenzen bewußt, die seiner
königlichen Macht durch die Verfassung und die Ordnung der Verwaltung ge¬
steckt sind, und niemals hat er versucht, sie zu überschreiten. Als ihn bei der
Neuordnung der Gerichtsverfassung im Jahre 1879 der Bürgermeister einer
ansehnlichen fächsischen Mittelstadt, die trotz aller Bemühungen kein Land¬
gericht bekommet? sollte, gelegentlich bat, er möge doch seinen Einfluß für die
Erfüllung des Wunsches geltend machen, da hörte ihn der König, die Hände
auf den Rücken gelegt, behaglich an, dann drehte er sich rasch auf dem Absatz
herum und sagte lächelnd: „Ach mein lieber Bürgermeister, Sie halten mich
für viel mächtiger, als ich bin." In dieser halb humoristischen Selbstkritik
zeigt sich dieselbe gute Laune, die ost bei ihm hervortritt. Als Kronprinz
wurde er bei einem Besuche des Odhins bei Zittau auf die wunderliche Gestalt
irgend eines Sandsteinfelsens aufmerksam, die mit irgend einem Gegenstande
Ähnlichkeit hatte, fagte aber sofort zu seiner ehrerbietig zustimmenden Um¬
gebung: „Ich bitte mir aus, meine Herren, daß Sie den Felsen nun nicht
etwa nach mir nennen," und dieser Wunsch war natürlich Befehl. Mit mi߬
billigend kritischem Blick betrachtete er einmal bei einer Jagd einen jungen
Dachshund, fagte aber zu dem erschrocknen jungen Forstbeamten, dem das
Unglückstier gehörte, nichts weiter als die Worte: „Das ist also Ihr Dachs;
den wird die Frau Gemahlin künftig wohl besser einsperren müssen."
So freundliches Wohlwollen wurzelt in einem tiefen Gemüt. Seinem
Vater, dem König Johann, war er in liebevoller Verehrung ergeben. Aus
dem französischen Feldzuge berichtete er ihm alle Einzelheiten in einer Fülle
von Privatbriefen, die leider ein noch uugehobner und wahrscheinlich noch
lange Zeit unzugänglicher Schatz sind. Als ihn bald nach dem Tode des
Vaters bei dem ersten Besuche, den er als König in Zittau machte, der Rektor
des dortigen Gymnasiums in dem netten Gebäude, das den Namen Johanneum
trägt, begrüßte und ihn dabei an den Verstorbnen erinnerte, der wenige Jahre
zuvor den Grundstein des Hauses gelegt hatte, da traten dem König sofort
die Thränen in die Augen, und er vermochte nur wenige Worte zu erwidern.
Dem Kaiser Wilhelm I. war er persönlich ganz ergeben, und als beim funfzig¬
jährigen Militürjubilüilm 1893 unser jetziger Kaiser ihm mit den wärmsten
Worten der Anerkennung und des Dankes einen kostbaren Marschallstab über¬
reichte, und der König ihn annehmend sagte, auf des Kaisers Ruf werde er
ihn wieder ergreifen für Deutschlands Recht und Sicherheit, da war diese
Begegnung der beiden hohen Herren ein so herzbewegender Auftritt, daß die
anwesenden Hoheit Offiziere aufs tiefste ergriffen waren. Bei dem begeisterten
Empfange des Fürsten Bismarck in Dresden im Juli 1892 sprach der König
diesem in einem ausführlichen Schreiben nicht nur sein Bedauern aus, daß er
ihn nicht persönlich begrüßen könne, sondern dankte ihm auch für den Segen,
der durch das Wirken des großen Kanzlers auch in seine eigne Arbeit gekommen
sei. Diese tiefe Empfindung macht es unserm König auch zu einem Herzens¬
bedürfnis, sich eins zu fühlen mit seinem Volke. Die Ausbreitung der Sozial¬
demokratie in Sachsen ist ihm offenbar ein Gegenstand ganz persönlichen
Unbehagens. Nach der Neichstagswahl vom Februar 1887, die dieser Partei
alle ihre Sitze in ganz Sachsen entriß, sprach er seine Freude darüber aus,
daß er nunmehr alle sächsischen Reichstagsabgeordneten empfangen könne
— denn Vertreter einer ausgesprochen antunouarchischen Partei empfängt er
natürlich nicht —, und es bereitete ihm offenbar eine ganz besondre Genug¬
thuung, daß er einmal in Chemnitz auch von den Arbeitern warm begrüßt
wurde, denn er bemerkte zu einem seiner Begleiter wie erleichtert: „Ich glaube,
die Leute haben im Grunde gar nichts gegen mich."
Die kirchliche Differenz, die ihn von seinem Volke trennt, weiß er doch
so zu behandeln, daß ihm das persönliche Vertrauen der Evangelischen niemals
gefehlt hat. Sein eigentlicher Erzieher war ein Protestant, der Geheimrat
von Langenn, und seinen Neffen gab er in den Hauptfächern protestantische
Lehrer. Oft genug hat er evangelische Kirchen besucht, zuweilen sogar evan¬
gelischem Gottesdienst beigewohnt. Bei einer Besichtigung der neuen Martin
Lutherkirche in Dresden wollte ihn der Pfarrer an dem Medaillonbildnis des
Reformators am Altarplatz ohne weitere Bemerkung vorüber führen; der König
aber blieb stehen, betrachtete es aufmerksam und sagte: „Das ist ja ein wohl-
getroffnes Bild des Dr. Martinus." Allerdings sind ihm peinliche Empfin¬
dungen nicht immer erspart geblieben. Bei der großartigen Lutherfeier des
Jahres 1883 empfand er den Zwiespalt schwer; er bemerkte am nächsten Tage
zu einem hohen Beamten bekümmert: „Ich konnte gestern nicht mit meinem
Volke beten; ich bin auf die Jagd gegangen."
Ein Herrscher von so tiefem Gemüt kann nicht anders, als herzlich wohl¬
wollend für alle sein. Im Sommer 1880 verwüstete ein fürchterlicher Wolken¬
bruch, über die ahnungslosen Bewohner binnen wenigen Stunden reißende
Ströme ergießend, die südliche Oberlausitz. Auf die ersten Telegramme schickte
der König noch am Abend eine Abteilung Pioniere unmittelbar vom Übungs¬
plätze hinweg mit Sonderzng nach den Unglücksstätten, wo sie bei strömendem
Regen in schwarzer Nacht ihr Nettungswerk begannen; schon am nächsten
Morgen war er selbst zur Stelle, Dorf um Dorf durchschritt er stundenlang,
überall Trost spendend und die nötigen Anordnungen unmittelbar treffend.
Eine Herzenssache ist ihm die Ausübung des Begnadigungsrechts. Ein Be¬
amter des Justizministeriums hat den besondern Auftrag, über alle Fälle dieser
Art genau schriftlich zu berichten; der König liest jedes dieser Schriftstücke
aufs sorgfältigste und trifft darnach seine Entscheidung, wenn es irgend geht,
zu Gunsten des Verurteilten. In den ersten Jahren seiner Negierung hat
er überhaupt kein Todesurteil bestätigt, schon aus Pietät gegen den Vater,
der die Todesstrafe grundsätzlich verwarf; und auch jetzt thut er es nur dann,
wenn die Schuld ganz unzweifelhaft ist und ein Geständnis vorliegt.
Bei einer festlichen Veranstaltung hat König Albert einmal gesagt: „Es
ist doch schön, König von Sachsen zu sein," und während der letzten Festtage
war er über die ihm entgegengebrachten zahllosen Beweise der Anhänglichkeit
ruit Verehrung offenbar herzlich erfreut; Mahnungen der Ärzte, sich zu
schonen, hatte er lächelnd abgewiesen. So ist ihm wirklich das seltne Glück
zu teil geworden, ganz mit und in seinem Volke zu leben, dasselbe Glück,
das Kaiser Wilhelms I. Alter bezeichnet hat. Es ist ihm geworden, weil er
eine Reihe deutscher und besonders vielleicht sächsischer Charakterzüge in sich
vereinigt, weil also sein Volk in ihm sich selbst wiedererkennt, und weil er
wiederum seinen Herzschlag versteht- Von einem solchen Verhältnis hat kaum
er Ehrentitel „Deutsche Sappho," mit dem jüngst ein Teil der Kritik
Johanna Ambrosius geschmückt hat, ist schon einmal einer deutschen
Dichterin zu teil geworden, der schlesischen Hirtin Anna Luise
Karsch. Sie war in äußerst kümmerlichen und bedrängten Ver¬
hältnissen aufgewachsen und hatte in zwei unglücklichen Ehen
von des Lebens Bitternissen reichlich kosten müssen, als der
Baron von Kottwitz sie „entdeckte" und im Jahre 1761 in das Berliner Litte¬
raturleben einführte. Bald wurde sie von dem neuigkeitslüsternen Publikum
über die Maßen gefeiert und verhimmelt, die ersten Gesellschaftskreise und
sogar der Hof öffneten sich ihr, und mit den Sternen am damaligen Litteratur¬
himmel, namentlich mit Ramler und Sulzer. stand sie in lebhaftem Verkehr.
Sie durfte mit Recht in dem Gedicht an ihren verstorbnen Oheim von sich
sagen:
Blick nuf diese feinern Menschen nieder,
Alle singen deiner 'Nichte Lieder.
Als Dichterin war sie uicht unbegabt: die Natur hatte ihr eine lebhafte Phan¬
tasie und seltne Versgewnudtheit verliehen, aber ihre Bedeutung stand uicht
im Einklang mit der überschwänglichen Begeisterung, womit man sie trotz
Herders Warnung feierte, einer Begeisterung, an der Mitleid für die Schicksale
der hartgeprüften Frau und Bewunderung, daß in so beschränkten und ge¬
drückten Lebenssphären eine Dichterin erstehen konnte, ihren Anteil hatten.
Als mächtigste Schutzgöttin aber stand der Karschin, wie sie allgemein genannt
wurde, die alte Tyrannin der Menschheit zur Seite — Frau Mode. Das
Märchen von der Karschin — als ein solches erscheint nun aus der Ferne be¬
trachtet ihr Leben — klingt trüb aus. Das Berliner Treiben verdarb ihre
natürlichen Anlagen, aus der Dichterin wurde eine eingebildete, geistlose
Neimerin, die auch da dichtete, wo sie beim besten Willen nichts zu sagen
wußte, und so sank sie schnell von der Sonnenhöhe des Ruhms herab, und
heute, reichlich hundert Jahre nach ihrem Tode, ist sie so gut wie vergessen.
Keines ihrer vielen Gedichte hat sich im Gedächtnis unsers Volkes erhalten,
und mir in den Büchern der Litteraturgeschichte steht ihr Name als ein
trauriges Beispiel, wie sehr auch in dieser Beziehung die Menschen dem
Zwange der Mode unterworfen sind.
Es liegt uns durchaus fern, hinsichtlich des Wertes ihrer Dichtung wie
ihrer Person Johanna Ambrosius mit der Karschin vergleichen zu wollen. Als
Dichterin steht die Ostprcußiu entschieden über der Schlesierin, und weit sym¬
pathischer ist ihre Persönlichkeit als die ihrer Schwester in Apoll. Aber in
andrer Beziehung bietet sich bei beiden manche Ähnlichkeit, die einen Vergleich
sehr wohl gerechtfertigt erscheinen läßt. Es besteht eine große Ähnlichkeit
zwischen ihnen in der Art der Lebensschicksale sowohl wie in der fabelhaften
Schnelligkeit, mit der beide auf den Gipfel des Ruhmes getragen wurden, und
auch Johanna Ambrosius ist „entdeckt" worden und hat in dem Professor
Weiß-Schrattenthal zugleich ihren Kottwitz und ihren Ramler gefunden. Vor
allem aber fließt bei beiden Dichterinnen die ungeheure Popularität aus den¬
selben drei Quellen, die wir oben genannt haben. Und leider drängt uns der
jüngst erschienene zweite Band der Gedichte von Johanna Ambrosius, der einen
unverkennbaren Rückgang bedeutet, die Befürchtung auf, daß auch hier der
strahlende Nuhmeslranz, den man ihr gewunden hat, die Dichterin geblendet,
und daß die Öffentlichkeit nicht vorteilhaft auf ihr Schaffen eingewirkt habe.
Ein Lyriker aber, der aufs liebe Publikum sieht, rührt schon an den
Wurzeln seiner Kraft. Sollten auch in dieser Beziehung beider Schicksale
gleichartig sein? Sollte auch Johanna Ambrosius als letztes Ziel die Ver¬
gessenheit winken?
Es sind nun etwa drei Jahre her, seitdem der Stern der Johanna Ambrosius
zu strahlen begann und mit seinem Lichte bald ganz Deutschland erfüllte.
Unter Anführung des Professors Schrattenthal, der durch das Aufbauschen
dilettantischer Kunstleistungen sogenannter „Naturdichter" neuerdings unheilvoll
auf unser künstlerisches Leben einwirkt, dessen Verdienste um Johanna Am¬
brosius aber nicht geschmälert werden sollen, wurde die Lärmtrommel der
Reklame gerührt; diese Reklame bezog sich hauptsächlich auf die Armut der
Dichterin und auf die ihr beigelegte Eigenschaft als „Naturdichteriu." Der
Appell an das Mitleid aber ist in solchen Fällen, soweit die Leistungen selbst
in Frage kommen, ein mißliches Ding — das weiß jeder Kritiker, der ein
Wohlthütigkeitskvnzert zu beurteilen hat —, und was die „Naturdichterin"
anbetrifft, so war das ein der Begründung entbehrendes Schlagwort. Wer
das nicht aus den Gedichten der Ambrosius, die allzu oft fremde Einflüsse
verraten, herausempfunden haben sollte, der möge in der Einleitung zum ersten
Teil den schwülstigen Brief der Schwester Martha lesen und einige Aussprüche
der Dichterin selbst hinzunehmen, wie: „Der Tod ist in Deutschland der beste
Empfehlungsbrief der Dichter." So wurde denn der Johannenkultus bald
eine Modekrankheit, wie es vor einigen Jahren die Mascagnitis und das Suber-
mannfieber waren. Die Gedichte der Johanna Ambrosius „fein in Goldschnitt" zu
besitzen gehörte wie der Besuch dieses oder jenes Wohlthütigkeitsbazars unbedingt
zum guten Ton, und wer sie nicht gelesen hatte, der wurde über die Achsel
angesehen als einer, der der Dichtung Stimme nicht vernimmt und nebenbei
natürlich uicht auf der Hohe der Zeit steht. Die Kritik verfiel in denselben
Taumel; wir entsinnen uns, die wunderlichsten Äußerungen gelesen zu haben,
hat man doch die Dichterin alles Ernstes unmittelbar neben — Goethe gestellt!
Es mußte scheinen, als sei dem Volke der Lyriker i^o/^ erst jetzt der
lyrische Heiland geboren. Und die Ambrosianischen Lobgesänge übertönten
völlig die warnenden Stimmen derer, die nüchterner dachten und bei aller An¬
erkennung der großen Vorzüge, die Johanna Ambrosius unleugbar hat. und
die sie über den Durchschnitt erheben, doch Bedenken geltend machten und
kaltes Blut anempfahlen. Heute haben sich die Wasser ein wenig verlaufen,
und da die Dichterin jetzt in günstigern materiellen Verhältnissen ist und
ihre Gesundheit durch Reisen gekräftigt hat, was wir ihr von ganzem
Herzen gönnen, so darf man vielleicht bei der Beurteilung des zweiten Bandes
ihrer Gedichte zu einem weniger günstigen Ergebnis kommen, ohne als fühl¬
loser Barbar und Neider oder als Böotier verschrieen zu werden.
Einem Künstler, der durch eine seiner Schöpfungen über Nacht plötzlich
berühmt geworden ist, wird es ja immer schwer, sich mit seinen weitern Werken
dieselbe Anerkennung zu erringen. Das Publikum wird ihm gegenüber
kritischer und schraubt seine Ansprüche sehr hinauf; das hat noch vor wenigen
Jahren der Komponist der Liaviillörig, an sich erfahren müssen, dessen Ratcliff
zweifellos einen höhern musikalischen Wert hat als die sizilische Oster-
tragödie. Johanna Ambrosius würde dies Hindernis zu überwinden gehabt
haben, auch wenn sich die zweite Sammlung ihrer Gedichte auf der Höhe der
ersten gehalten oder diese überschritten Hütte. Umso mehr aber füllt der starke
Rückschritt auf. Leider wird nirgends gesagt, wann die neuen Gedichte ent¬
standen sind; verschiednes läßt uns aber darauf schließen, daß sie sich teils
aus neu geschaffnen, teils aber — leider — ans der Spreu des alten Weizens
zusammensetzen. Nur in wenigen Gedichten der neuen Sammlung erkennen
wir die alte Johanna Ambrosius wieder, die es versteht, allgemein menschlichen
Empfindungen in schlichten Versen ergreifenden Ausdruck zu geben, wie z. B.
in „Ferienreise," „Mein Herz ging auf die Wanderschaft," „Zu arm," „Herbst¬
bild," „Mein Herz" oder in dem chorcilartigen „Ich bin mit meinem Gott
versöhnt"; bei kaum einem Liede aber hat man das Gefühl, es werde dauern.
Die Mehrzahl der Gedichte ist Mittelware, wie sie täglich gedichtet und ge¬
druckt wird; Reimereien, die Selbstzweck sind. Wir zitiren ganz willkürlich aus
„Lavagluten":
Oder wer vermöchte sich z. B. bei dem folgenden, „Liebe und Freundschaft"
überschriebnen Gedicht etwas vernünftiges zu denken:
Wir beschränken uns darauf, noch „Bad Elster," „Rühre nicht" und „Durch
Nacht zum Licht" zu nennen, und überlassen es unsern Lesern, die Sammlung
selbst zur Hand zu nehmen und zu beurteilen, ob wir hämisch einige mißlungne
Gedichte herausgegriffen haben.
Auch das äußere Gewand ist nachlässiger geworden, und eine schon in
der ersten Sammlung bemerkbare Schwäche der Dichterin tritt verstärkt hervor:
die Neigung zu Katachrescn, zu durcheinander gemengten, verfehlten und un-
schönen Bildern, die gedankenlos hingeschrieben worden sind. Daß Johanna
Ambrosius keine „Natnrdichterin" ist, beweisen diese Gedichte aufs neue voll-
stündig. Es soll aus dem Fehlen dieser Eigenschaft nicht etwa ein Borwurf
hergeleitet werden — Kunst- wie Naturpoesie, deren Grenzen übrigens recht
schwer festzustellen sind, haben ja beide ihre Berechtigung —, aber es ist notwendig,
darauf hinzuweisen, weil man zu Zwecken der Reklame die „Bäuerin" mit
Vorliebe als „Naturdichterin" ausgegeben hat. Hierfür fehlt aber jeder Grund.
Es ist in dieser Beziehung charakteristisch für Johanna Ambrosius, die in un¬
mittelbarer Berührung mit dem „Volke" aufgewachsen und geblieben ist, daß
sie sich niemals das Volkslied zum Vorbild nimmt, daß ihr niemals ein volks¬
tümliches Lied entquillt. Man möge sich wohl davor hüten, etwa die sozialen
Dichtungen der Ambrosius damit zu verwechseln.
Auch in den neuen Gedichten macht sich ein Zug der Dichterin bemerkbar,
der unzweifelhaft zu ihrer Beliebtheit beigetragen hat, dem wir aber nie Ge¬
schmack haben abgewinnen können, die Neigung nämlich, ihr Leid, ihr „meer¬
tiefes" Leid in den verschiedensten Variationen zu besingen. Worin dieses
Leid besteht, ob in der Erinnerung an trübe Lebenserfahrungen und Schicksale
oder in der Sehnsucht aller diesem Menschen nach unerreichbaren Idealen,
das erfährt man nicht, das ist im Grunde genommen ja auch gleichgültig.
Wenn aber die Dichterin immer wieder von ihrem Leide spricht, das die
bösen Menschen ihr rauben wollen, und sogar der neuen Sammlung als
Autogramm in großen Schriftzügen das Wort „In der Wiege des Leidens
wird die Seligkeit groß gezogen" vorausschickt, so ist das, um nicht einen
schärfern Ausdruck zu gebrauchen, ein Kvkettiren mit dem Leide, ein „Spielen
mit dem Gram," das nicht sympathisch berührt. Man kann sich des Gedankens
nicht erwehren, daß diese Empfindung nicht ganz echt sei. Bon einem jeuer
Dichter, denen das Verhängnis zu teil geworden ist, gelobt zu werden, aber
ungelesen zu bleiben, von dem liebenswürdigen Justinus Kerner stammt das
bekannte Wort:
Poesie ist tiefes Schmerzen,
Und es kommt das echte Lied
Einzig aus dem Menschenherzc»,
Dus ein tiefes Leid durchglüht.
Es entsprang so ganz Kerners Wesen, dem der Schmerz als der „Grundton"
des Alls erschien. Auch er war, wie Johanna Ambrosius es ist, eine selbst¬
quälerische Natur, oder besser gesagt, ein Dichter, dem der Schmerz Wollust
und eine der notwendigen Ingredienzien seines dichterischen Vermögens war,
denn der Quell seiner Poesie versiegte, wie er selbst sagt, schnell, wenn Leid
und Trübsal sich gelegt hatten. Bei Kerner ist nebenbei gesagt dieses Behagen
am Schmerz umso verwunderlicher, als die äußern Lebensverhältnisse sowohl
wie seine Gemütsanlage ihn zum Glücklichsein bestimmt hatten. Ob wirklich
ein „echtes Lied" mir tiefem Schmerz seine Entstehung verdanken könne, oder
ob nicht ein dem heitersten Frohsinn entsprudeltes Gedicht gleiche Berechtigung
habe, soll hier nicht entschieden werden; wohl aber wollen wir ein Kerners
Beispiel zeigen, wie verschieden sich,das Leid dichterisch widerspiegeln kann, und
wie verschieden es dann wirkt. Überall da, wo leiser Schmerz und stille
Resignation seine Gedichte gleich einem zarten Flor umgeben, wo seine Lieder
ans einer wehmütigen, elegischen Grundstimmung heraus erwachsen, wie im
„Wanderlied," dem „Wandrer in der Sägemühle," da erscheinen sie am
vollendetsten und ergreifen uns am tiefsten. Wird aber, wie es bei Kerner
oft geschieht, das eigne Leid, der persönliche Schmerz in den Vordergrund ge¬
drängt, da verliert es in rein menschlicher wie in ästhetischer Beziehung an
Wirkung. Das gilt beispielsweise auch von Heines krasser Subjektivität, der
uns eiskalt läßt, wenn er tausendmal versichert, daß er „so elend" sei; das¬
selbe trifft auf Johanna Ambrosius zu. Denn am vollsten genießen wir
lyrische Gedichte, wenn wir selbst in ihnen aufzugehen vermögen, und uns nicht
das eigne Ich ihres Schöpfers störend in den Weg tritt. Wir verweilten hierbei
absichtlich etwas länger, weil gerade aus der Schilderung ihres Leidens ein
Lob für die Dichterin hergeleitet wurde, das uns nicht gerechtfertigt erscheint.
Diese Betrachtungen sind nicht in der Absicht geschrieben worden, daS
Kreuz gegen Johanna Ambrosius zu predigen. Nichts liegt uns ferner. Wir
erkennen willig an, daß sie eine starke poetische Begabung hat, die einen
Teil ihrer Gedichte, wie wir schon gesagt haben, weit über das meiste er¬
hebt, was heutzutage an lyrischen Ergüssen dem geduldigen Papier anvertraut
wird, und wir hoffen, daß uns die Dichterin bei strenger Selbstzucht noch
manche schöne Frucht bescheren wird. Zugleich freuen wir uns, daß der von
Sorgen bedrängten Frau die Muse als eine Trösterin herabgestiegen ist. Aber
ein doppelter Grund veranlaßt uns, davor zu warnen, daß man einen Pla¬
neten als Sonne anbetet. Einmal — wenn es auch ein wenig paradox
klingen mag — die Rücksicht auf die Dichterin selbst. Nicht von heute ist die
Erfahrung, und das Beispiel der Karschin, von der wir ausgingen, hat es
gelehrt, daß einem Künstler, der zu Beginn seiner Laufbahn allzu stark über¬
schätzt wurde, der schlimmste Tod droht: Vergessenheit, und die mochten wir
manchen Gedichten von Johanna Ambrosius, namentlich aus der ersten Samm¬
lung, nicht wünschen. Und liegt nicht ferner in den Lobhudeleien, mit der
man ihr von allen Seiten begegnet, die Gefahr für die Dichterin, daß sie sich
selbst überschätzt und eitel wird? Schon kann ein aufmerksamer Beobachter
in ihren neuesten Gedichten kleine Züge davon wahrnehmen. Zum andern
aber halten wir es für unsre Pflicht, im Interesse unsers Volks selbst und
seiner großen Dichter dem „Ambrosiusrummel" entgegenzutreten. Gottlob waren
und sind wir überreich an bedeutenden Lyrikern; aber ist ihnen Wohl immer
der Erfolg und die Beachtung zu teil geworden, die sie verdient haben? Oder
müssen wir nicht vielmehr beschämt gestehen, daß wir unter dem Druck der
Mode die Lebenden, die Heyse, Lingg, Fitgcr, Ebner-Eschenbach zurücksetzen
und den Toten nicht tren geblieben sind? Wir greifen zwei Beispiele heraus,
um das zu beweisen: Theodor Storms Gedichte haben in fünfundvierzig
Jahren nur zehn Auflagen, Mörikes gar in neunundfünfzig Jahren deren nur
elf erlebt. Johanna Ambrosius Gedichte aber brachten es etwa in drei Jahren
auf nicht weniger als dreiunddreißig Auflagen, d. h. um ein Drittel mehr als
die der beiden genannten Dichter zusammen genommen. Man wird ja im
allgemeinen gut daran thun, dem vagen Begriff „Auflage" gegenüber ein wenig
skeptisch zu sein, hier aber kommt es auf ein paar tausend Exemplare mehr
oder weniger gar nicht einmal an. Es wird demnach zugegeben werden müssen,
daß unser warnender Ruf berechtigt war; oder wird jemand im Ernst Johanna
Ambrosius auf dieselbe Stufe mit Eduard Mörike oder mit dem Dichter der
„Elisabeth." der „Nachtigall," der „Stadt am Meer" heben?
Wir stellen unsre Meinung nicht als ein Apostolikum hin und überlassen
es einem jeden, ob er ihr beipflichten wolle oder nicht. Das Recht aber, ein
unabhängiges Urteil zu fällen, lassen wir uns auch von unsern Gegnern nicht
verkümmern. Wohin soll eine so unerhörte Bevormundung von Publikum und
Kritik führen, wie sie von seiten der Herren <schrattenthal und Genossen aus¬
geübt wird? Die scharfen Bemerkungen der von ihnen „herausgegebnen"
Dichter über die Kritiker, die mit Reserve loben oder sich gar erlauben, ein
von dem großen Schwärme durchaus abweichendes Urteil zu haben, kehren so
regelmäßig wieder, daß man nur annehmen kann, es läge eine Art Verhetzung
vor. Fast in der gesamten Presse Deutschlands ist für Johanna Ambrosius
eine beispiellose Reklame gemacht worden, trotzdem erklärt die Dichterin, daß
sie gar nicht für „Kritikerohren" geschrieben habe, und neuerdings versteigt sie
sich in den,, Gedichten „Was wollt ihr" und „Es sind die schlechtsten Früchte
nicht" zu Äußerungen, die als ungehörig zurückgewiesen werden müssen. Da
ist die Rede von den „Krähen," die ihr „teuflisch Gericht" halten, von dem
„Gezeter" der „Höllengestalten," von den „kleinen, dummen Wiesler," die
„doch auch leben wollen" usw. Warum muß neidisch und mitleidlos sein, wem
die Gesamtheit mehr gilt als das Schicksal eines Einzelnen? Wir geben Johanna
Ambrosius, was der Johanna Ambrosius ist, behaupten aber, daß sie höchstens
ein Stern zweiter Größe ist, und daß man sie dereinst anch als einen solchen
erkennen und bezeichnen wird. Mit dem einst ist uns aber nicht gedient.
Herdengeschmack und Modethorheiten waren immer und sind auch heute eine
große Gefahr für das künstlerische Leben eines Volkes, und wer hätte in
höherm Maße Recht und Pflicht, sie zu bekämpfen als die Kritik? Jedermann
im lieben deutschen Vaterlande aber darf, solange er nicht mit dem Strafgesetz¬
buch in Konflikt gerät, frei seine Meinung äußern. Und dem Kritiker wollte
man vor sechsundzwanzig Jahren, das heißt vom 29, April bis
1. Mai 1872, tagte in Berlin eine „Konferenz ländlicher Arbeit¬
geber." Die von ihr für die Behandlung der landwirtschaftlichen
Arbeiterfrage aufgestellten Grundsätze sind ein ehrenvolles Zeugnis
von dem Verständnis der Konfercnzinitglieder und ihrem guten
Willen, zu helfen, wo Hilfe not thut, und sie sind auch heute noch
als das beste Programm praktischer Reformen der ländlichen Arbeiterverhältnisse,
namentlich für Nord- und Ostdeutschland, zu bezeichnen, um so mehr, als leider von
dein, was sie vorschlugen, das hauptsächlichste nicht durchgeführt, ja kaum versucht
worden ist. Vor allem wurde eine gesteigerte Fürsorge für die Erziehung der
Arbeiterbevölkerung verlangt, und dabei natürlich anch für die Schule und für den
Schulbesuch. Die Errichtung von mehr Schulen wurde gefordert, Aufbesserung
der Lehrergehälter, Verminderung jeder Beeinträchtigung des Schulbesuchs durch
die Heranziehung der Kinder zur Arbeit während der Schulzeit, Einführung von
Handarbeitsunterricht für die Mädchen, Einrichtung von Kleinkinderschulen da, wo
die Mütter regelmäßig ans Arbeit gehen, von Fortbildungsschulen, womöglich mit
obligatorischen Besuch für die jungen Leute mindestens bis zum sechzehnten Lebens¬
jahre. Warm wurde auch den Geistlichen, Patronen und Gcmeindekirchenräten ans
Herz gelegt, den Arbeitern in vollkommnerer Weise den erziehenden Einfluß zu teil
werden zu lassen. Die Landgeistlichen sollten ihnen mehr als bisher als „treue
Seelsorger" und mit praktischem Rat auch für die „realen Verhältnisse des Lebens"
zur Seite stehen, die Arbeitgeber es als Pflicht betrachten, den Kirchenbesuch der
Arbeiter in jeder Beziehung zu erleichtern und zu fördern. Es sei für Volks¬
bibliotheken zu sorgen. Namentlich habe der Arbeitgeber es als seinen „Beruf"
anzuerkennen, daß er auf das Gesinde erziehend einwirke, was aber nicht möglich
sei, wenn er ihm nicht persönlich Teilnahme zuwende und dadurch zeige, daß ihm
das Wohl und das Wehe jedes Einzelnen am Herzen liege. Er müsse in seinem
eignen Familienleben den Arbeitern ein gutes Beispiel geben und darauf auch bei
seine» Beamten halten. Es sei dahin zu streben, daß die Arbeiterfrauen mehr als
bisher dem häuslichen Herde erhalten würden. Eine angemessene Abkürzung der
vielfach üblichen Arbeitszeiten ländlicher Tagelöhner sei für deren materielle, geistige
und sittliche Hebung eine Notwendigkeit. Wenn anch eine direkte Lohnerhöhung
vielen Arbeitgebern zur Zeit unerschwinglich sei, so könne dnrch Tautiemelöhnung
neben einem festen, zum Lebensunterhalt der Arbeiterfamilie ausreichenden Lohnsatz
sür den Arbeiter immerhin die Möglichkeit geschaffen werde», etwas zu sparen.
Auch Akkordlöhnung sei unter Umstände» zu empfehlen. Der Lohn solle teils in
Geld, teils in Naturalien gezahlt werde». Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter
entsprächen im allgemeinen noch keineswegs den Ansprüchen der Humanität und
den Verpflichtungen, die die Arbeitgeber zu tragen hätten. Vieh-, Feuer-, Kranken-
und Altersversicherungsknssen für Arbeiter seien zu schaffen, ebenso Sparkassen usw.
Ganz besonders aber sei dem ländlichen Arbeiter die Möglichkeit zu geben, selbst
Grundeigentum zu erwerben. Die Konferenz beschloß nach dieser Richtung hin,
soweit staatliche Maßnahmen duzn erforderlich schienen, sofort bei der preußischen
und den beiden mecklenburgischen Regierungen vorstellig zu werden. Zum Schluß
— anch das verdient hervorgehoben zu werden — richtete die Konferenz an den
Reichskanzler die Bitte um die Errichtung eines „Arbeitsamts" mit den erforder¬
lichen Unterämtern für das Deutsche Reich.
Was mir vor sechsundzwanzig Jahre» dieses Programm ehrlich konservativer,
zumeist als Großgrundbesitzer im praktischen landwirtschaftlichen Erwerbsleben
stehender, hochgebildeter Männer wertvoll gemacht hat und erst recht heute wertvoll
macht, das ist die auf richtigem Verständnis unsrer ländlichen Verhältnisse begründete
Forderung, nicht etwa nur der gewöhnlich mit dem Schlagwort Selbsthilfe be¬
zeichneten Anzahl äußerlicher Maßregeln und Einrichtungen, die die Arbeitgeber
treffen sollten, sondern vor allem der „sozialen Gesinnung," in der die Besitzenden
und Gebildeten auf dem Lande im Osten und Nordosten Deutschlands weit zurück¬
stehen hinter dem Westen und Süden. Da lag der Fehler, dem abgeholfen werden
mußte, und da liegt er leider noch heute. Nur wenn es gelang, den „Herren"
auf dem Lande, den Rittergutsbesitzer», Großbauern und Pastoren eine andre Auf¬
fassung von ihrer sozialen Stellung und Pflicht gegenüber der Arbeiterbevölkerung
anzuerziehen, nur dann war die Gefahr der Landflucht der Besitzlosen zu be¬
schwören. Aber der Appell der Konferenz vom Jahre 1872 ist in den Wind
geschlagen worden. Dank der staatssozialistischen Einseitigkeit der letzten zwanzig Jahre
sind unsre Agrarier vorläufig noch weiter als jemals entfernt von sozialer Gesinnung,
und sind auf der andern Seite unsre politischen Pastoren vorläufig noch daran, den alten
unseligen Zwiespalt zwischen Herren und Arbeitern im Osten der Elbe eher zu ver¬
schärfen als zu mildern. Was auch von äußerlichen Maßregeln im Sinne des
Programms von 1872 versucht worden ist, die völlige Vernachlässigung dieses
Hauptpunkts hat den notwendigen Erfolg gehabt, daß die Landflucht der Arbeiter¬
schaft die Ostprovinzen dein Polentum zurückzugeben droht, dem gegenüber sich die
Grundherren der unbequemen Änderung ihrer sozialen Anschauungen und Pflichten
noch auf weitere hundert Jahre entschlagen dürfen. Der Ultramontanismus findet dabei
natürlich seine Rechnung. Er wird ein nach slawischen Unterthanen verlangendes
preußisches Junkertum, wo es immer praktisch in Frage kommt, ganz ebenso wirksam
unterstützen, wie er es in den deutscheu Ländern der habsburgischen Krone gethan
hat. Die landwirtschaftliche Arbeiterfrage hat sich in Altpreußen zu einer sozialen
und nationalen Frage von höchster Bedeutung ausgewachsen, und um den Erben der
Markgrafen von Brandenburg aus dem Hause Hohenzollern ist es, in ihrer Losung
dem rnhiureicheu Wirken der Ahnen ein Denkmal z» setzen, damit Preußen die
Schmach erspart bleibt, unter der Osterreich darniederliegt.
Veranlaßt durch eine Jnterpellation des ultramontanen Abgeordnete» Szuinla,
hat sich das preußische Abgeordnetenhaus kürzlich mit dieser wichtigen sozialen und
nationalen Frage beschäftigt. Der Verlauf der Verhandlungen war gänzlich un¬
fruchtbar, aber vielleicht gerade deshalb für den Stand der Sache recht bezeichnend.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß die deutsche, und vor allem die ostdeutsche
Landwirtschaft zur Zeit schwer uuter der Landflucht der einheimischen Arbeiter zu
leide» hat und sich in dieser augenblicklichen Notlage nicht selbst zu helfen weiß.
Der Wagen ist in den Sumpf gefahren durch die alten Sünden, und die neuen
verschärfen die verhängnisvollen Wirkungen der alten. Wie die Sachen liegen,
kann mau in manchen Kreisen, wieder namentlich der Ostprovinzen, ohne polnische
Wanderarbeiter vorläufig nicht auskomme». Zum Teil bilden diese den Ersatz für die
ans dem deutschen Osten nach dem Westen ziehenden „Sachsengänger," zum Teil
dringen sie auch selbst weit über die östlichen Grenzprovinzen nach Westen vor.
Hat man es verabsttnmt, den: heillosen Unfug der Sachsengängerei — er ist zum
guten Teil eine Bescherung nicht der Freizügigkeit, sondern des Rübenzncker-
schwindels — rechtzeitig, schon in den siebziger Jahren, entgegenzutreten, so ist man
jetzt natürlich nicht imstande, ans einmal den russisch-Polnischen Wanderarbeitern die
Grenze zu versperren. Man muß sie vorläufig als ein notwendiges Übel gewähren
lassen, aber man sollte angesichts des Unheils, das schon entstanden ist, und des
noch größer», das zu entstehe» droht, erstens die polnischen Zuzügler auf das geringste
Maß einzuschränken suche» u»d ihre Ansiedlung in Deutschland rücksichtslos ver¬
hindern und zweitens unperzüglich und energisch daran gehen, dnrch Reformen im
Lande die völlige Aussperrung der fremden Wanderarbeiter wieder zu ermöglichen.
Der ersten Aufgabe gerecht zu werden, ist die preußische Regierung bisher
grundsätzlich bemüht gewesen, wenn anch thatsächlich dieser löbliche Grundsatz vielfach
auf dem Papier geblieben ist, d. h. die zur Kontrolle der polnischen Eindringlinge
erlassene» Vorschriften mangelhaft oder gar nicht gehandhabt werden. Es wird sich
vorläufig kaum etwas dagegen einwenden lassen, daß die Regierung nach der Er¬
klärung des Landwirtschaftsministers bei der Szmnlaschen Jnterpellation, anch ferner¬
hin Polnische Arbeiter zuzulassen und ihnen Aufenthalt bis zum 1> Dezember, statt
wie bisher nur bis zum 15, November, zu erlauben gewillt ist. Ganz entschieden
wird man aber verlangen müssen, daß fortan die .Kontrolle des An- und Abzugs
streng gehandhabt wird, damit sie ihren Zweck erfüllt, Ist sie unpraktisch ein¬
gerichtet, so muß sie eben praktisch umgestaltet werde». Daß die preußische Regierung
zur Zeit nicht daran denkt, den Wünschen des Interpellanten zu entsprechen, das
scheint nach den Erklärungen des Ministers sicher. Diese Wünsche laufen aber auch
auf nichts mehr und nichts weniger hinaus, als auf die absolute Freiheit des Zuzugs
und der Ansiedlung der zur Invasion jederzeit bereiten polnisch-katholischen Arbeiter¬
massen auf deutschem Boden.
So erfreulich es ist, daß die Regierung wenigstens so weit die deutschen Ost¬
provinzen vor der Polonisirnng und die altpreußischen Rittergutsbesitzer und Gro߬
bauern vor ihrer eignen Schwäche zu schützen entschlossen scheint, so unerfreulich ist
meines Erachtens das, was die Erklärungen des Ministers über die Stellung der
Regierung zu der zweiten, unendlich wichtigern Aufgabe, d. h. der Erhaltung der
deutschen Arbeiter im Osten, erkennen ließen. Der Minister hat sich dagegen ver¬
wahrt, daß, wenn die von ihm verlesene Erklärung der Staatsregierung nur von
einem „vorübergehenden" Mangel an Arbeitern spräche, damit einer weniger ernsten
Auffassung der Lage Ausdruck gegeben sein sollte. Er wollte das Wort „vorüber¬
gehend" nur dahin aufgefaßt wissen, daß eigentlich bei dem starken Wachstum der
Bevölkerung in Deutschland Arbeitskräfte sowohl für das Gewerbe wie für die In¬
dustrie genügend vorhanden sein müßten, wenigstens unter „normalen Verhältnissen"—
d. h. „wenn eine richtige Verteilung der Arbeitskräfte sich als möglich erweise." Er
sei der Ansicht, „daß immerhin eine richtigere Verteilung der Arbeitskräfte anzu¬
streben sein dürfte, eine richtigere Verteilung der vorhandnen Arbeitskräfte zwischen
Stadt und Land, Landwirtschaft und Industrie." Der Minister konnte wohl nicht
im Zweifel darüber sein, daß, anch wenn er es selbst anders gemeint hätte, diese
Worte von den Landwirten nur dahin aufgefaßt werden würden, daß sich der
Staat als solcher dieser richtigern Verteilung zu unterziehen habe, indem er die land¬
wirtschaftlichen Arbeiter auch dort auszuhalten veranlasse oder zwinge, wo es ihnen
nicht gefalle. Vollends bestärkt mußten die vstdentschen Landwirte in dieser Auf¬
fassung von den Ansichten der Staatsregierung durch die ausdrücklich verlesene Er¬
klärung werden, es werde zu „erwägen" sein, „ob und eventuell durch welche Ma߬
regeln eine Beschränkung der Auswüchse des Rechts auf Freizügigkeit, welches eine
Entvölkerung des Landes und eine ungesunde Bewegung der ländlichen Bevölkerung
nach den Industriebezirken und nach den Städten gezeitigt hat, zu erstreben sein
wird." Der Minister hat versucht, die beklagenswerte Beunruhigung, die durch
solche unbestimmt gehaltenen Erklärungen in der Bevölkerung erregt werden muß,
dadurch zu beschwichtigen, daß er darauf hinwies, man wolle das Recht der Frei¬
zügigkeit selbst nicht antasten, sondern nur seine „Auswüchse." Aber indem er diesen
noch unbestimmtem Begriff zu definiren versuchte, hat er erst recht die unklare
Stellung der Regierung zu der großen Frage, um die es sich handelt, gezeigt und
wegen ihrer weitern Behandlung die ernstesten Bedenken wachgerufen. Als einen
„Auswuchs" des Rechts der Freizügigkeit bezeichnete er es nämlich, „daß die über¬
mäßige Abwanderung der Arbeiter nach den Städten, in die Jndustriebezirke, und
zwar ohne Rücksicht auf die Nachfrage nach Arbeit, zur Entvölkerung des Landes,
zum Rund der Landwirtschaft diene." Diese ungesunde Abwanderung, fügte er
hinzu, werde vielfach dadurch gefördert, daß man in deu Städte» in der Wvhl-
fahrtsfrage zu weit und auf dem Lande nicht weit genug gehe, daß mau den Ar¬
beitern das Leben in den Städten, selbst wenn sie nicht arbeiten wollten oder keine
Arbeit hätten, zu sehr erleichtere, daß dort Vergnügungen geboten würden, die das
Land uicht biete usw. — Vergnügungen vielfach recht bedenklicher Art. Weiter sei
es ein gefährlicher Auswuchs, daß das Zuwandern zu den Industriebezirken, vielfach
über das Maß des wirklichen Bedürfnisses weit hinausgehend, künstlich gefördert
werde, sogar zum Nachteil der Arbeiter selbst, weil das übermäßige Arbeitsangebot
ans die Löhne drücke. Auch das sei ein Auswuchs der Freizügigkeit, daß, wenn
die Industrie vorübergehend die Arbeit einstelle oder einschränke, die Arbeiter brotlos
würden. „Das Recht der Freizügigkeit, so schloß er seine Erläuterungen, hat die
arbeitende Bevölkerung heimatlos gemacht, von der Scholle, ans der sie geboren,
erzogen und wohin sie nach ihrem Beruf gehöre, losgelöst, und meistens nicht zu
ihrem Glück. Das Recht auf Freizügigkeit oder dessen Auswüchse hat zu einer un¬
zweckmäßigen, auch den Interessen der Arbeiter widersprechenden Verteilung der
Arbeitskräfte geführt."
Es war nötig, diese Ausführungen des Ministers so eingehend wiederzugeben.
Sie kennzeichnen die Lage zum Erschrecken deutlich. Wenn das die „Auswüchse" siud,
die man beseitigen zu sollen glaubt, was bleibt dann anders übrig, als das Recht
auf Freizügigkeit selbst zu beseitigen? Da hilft kein Wenn und kein Aber. Klar
und unerbittlich liegt diese Konsequenz ans der Hand, und sie wird von den
Agrariern gezogen werden mit all der Energie, die ihrer das Ende niemals be¬
deutenden Begehrlichkeit eigen ist. Es muß unbegreiflich erscheinen, wie die Ne¬
gierung, die durch so viele Vorgänge gewitzigt sein sollte, sich selbst diese Schlinge
um den Hals hat legen können. Der Strick wird angezogen werden, bis ihr der
Atem ausgeht. Schon quittirt das führende Blatt der extremen Agrarier, die
„Hamburger Nachrichten," dankend für die neue Blöße, die dem agrarischen An¬
sturm geboten ist, mit den Wortein „Die Ursachen der ländlichen Auswanderung
nach den. Städten sind nicht zu beseitigen, sie liegen in der menschlichen Nntnr, und
es kann demnach in diesem Falle nicht nach dem Rezept osWants o-mM vWMi,
«zik'solus gearbeitet werden, sondern es muß auf demi Wege der Repressiv» vor¬
gegangen werden, da kein andrer gangbar ist." Das ist der sozialpolitische Fort¬
schritt, den wir seit sechsundzwanzig Jahren gemacht haben. Mit ihm müssen wir
rechnen als mit einer gewaltigen Macht in den bevorstehenden Kämpfen um die
wichtigsten sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes.
An einen halbwegs dauernden, ja überhaupt an einen irgendwie und für
irgend jemand befriedigenden Erfolg dieses Angriffs gegen die Freizügigkeit ist nach
dem Wesen und der ganzen geschichtlichen Entwicklung dieses Rechts gar nicht zu
denken. Alles wird nur auf unfruchtbare Experimente, auf weitere Verwirrung
der rechtlichen und sozialen Anschauungen Hinauslaufen. Wir haben in Preußen die
Freizügigkeit seit 1842. Nicht der norddeutsche Bund hat sie uns beschert. Will
man von Staats und Polizei wegen die Verteilung der Arbeitskräfte zwischen Industrie
und Landwirtschaft regeln, so unternimmt man nicht etwas, was durch frühere Er¬
fahrungen erprobt ist, sondern eine sozialistische Neuerung, die allen konservativen
Grundsätzen ins Geficht schlägt. Not lehrt beten. Die schweren Zeiten, die die ost¬
deutsche Landwirtschaft heute auch in der Arbeiterfrage durchzumachen hat, erweckten
die Hoffnung, daß endlich auch in ihr eine gesündere soziale Praxis und die rechte so¬
ziale Gesinnung zur Herrschaft gelangen würden. Der so vortreffliche Ziele sachgemäß
verfolgende, sich von allen Utopien fernhaltende „Verein für Wohlfahrtspflege auf
dem Lande" war wohl geeignet, diesen Erziehungsprozeß in wirksamster Weise zu
fördern. Da kommt das Programm der „Repressiv«" als das weit bequemere,
allem Rohen in der menschlichen Natur nur zu sehr entsprechende Rezept, und es
hieße die Natur unsrer agrarischen Bewegung gründlich verkennen, wollte man bei
diesen Aussichten der Blasse ihrer Anhänger noch irgend welchen guten Willen
zutrauen, dem deutschen Arbeiter im Osten wieder Liebe zur Heimat beizubringen.
Zwang thuts auch und thuts besser! Wenn der ultramontane Rittergutsbesitzer
Szmnla mit seiner Jnterpellation der dereinstigen Polonisirnng der Preußischen Ost¬
provinzen wirklich hätte Vorschub leisten »vollen, was er bewnßterweise wohl nicht
gewollt hat, dann hätte er sich eine» bessern Erfolg vorläufig kaum wünschen
können, als den, den er gehabt hat. Die des Hcimalsgefühls beraubten dentschen
Arbeiter werden am schnellsten aus der Heimat vertrieben werden durch das neue
staatssozialistische Experiment der „Repressiv«." Und das nennt sich konservative
und nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik!
Spanien kann uns Dentschen, wenn
wir auf unsre Geschichte zurücksehen, nicht sympathisch sein. Dem ersten spanischen
Habsburger danken wir den dreißigjährigen Krieg und damit Deutschlands tiefste
Erniedrigung und Schmach. Er riß die Niederlande vom Reiche los, als er seinen
Sohn zum Erben der Rhein- und Scheldemündnngen einsetzte, Deutschlands reichster
Landschaften. Hvchburgund und damit Mömpelgard gingen zugleich dem dentschen
Volkstum verloren. Die Glnubenseinheit ist nicht durch Luther und die evange¬
lischen Fürsten, sondern durch Karl V. und die spanischen Jesuiten zerstört worden,
denn Deutschland wäre ohne Spaltung für das römische Bekenntnis verloren ge¬
wesen. Ohne das hispanische Habsburg wäre die Gegenreformation nicht möglich
gewesen, wenn auch in den österreichischen Alpenländern der neue Glaube anfänglich noch
nicht tief ins Volksgemüt gedrungen gewesen sein mag. Aber das an sich schon wenig
reichstreue, mehr um seine Hausmacht besorgte kaiserliche Geschlecht der Habsburger
wurde durch die Politik der spanisch-österreichischen Weltmonarchie gänzlich seinem
dentschen Beruf entfremdet, und es war kein Zufall, daß der erste Lothringer auf
dem Kaiserthron fein altdeutsches Erblaud an Frankreich überließ und das italie¬
nische Toskana in kläglichem Länderschacher dafür eintauschte. Alle diese dem Reiche
widerfahrnen Übel waren der Ausfluß der spanischen Weltmachtpolitik, wen» auch
deren ursprünglicher Stützpunkt von Madrid allmählich nach Wien herübergeglitten
war. Mit Spanien hängen also die dunkelsten Blätter unsrer Geschichte zusammen.
In Amerika aber ist ein Drittel der gegenwärtigen Bevölkerung der Union deutschen
Geblüts, sodaß ein französisches Blatt mit Recht die Amerikaner als ein Gemisch
von Angelsachsen und Deutschen bezeichnet hat. Es wäre deshalb natürlich, wenn
uns die Blutsverwandtschaft in das Spanien feindliche Lager triebe, zumal da
Frankreich ans demselben Grunde, der noch durch das unwiderstehliche Gebot des
Geldbeutels gestärkt wird, der Union entgegentritt. Indessen gerade die Forde¬
rungen unsers Volkstums und der Volkswirtschaft zwingen uns auf den entgegen¬
gesetzten Standpunkt. Daß der königliche Engländer unser schlimmster ratio-
nater Widersacher ist, haben wir kürzlich an dieser Stelle gezeigt. Der republi¬
kanische Engländer der Vereinigten Staaten zeigt dasselbe Gepräge in noch viel
stärkerer Weise. Der Uankee und der Ire bilden die amerikanische Mehrheit. Auf
dem Buden der neuen Welt kennt der Ire keine Rassenfeindschaft gegen seinen
europäische» Bedrücker, den Engländer, der in Amerika zum Jankee geworden,
d. h. eigentlich derselbe geblieben ist, der er war; der Begriff des amerikanischen
Volkes ist eben lediglich eine Erfindung zum Vorteil des Augelsachseutums und zur
Täuschung der gutmütigen Deutschen. Dieser englische Amerikaner ist der böseste
Chauvinist, dort Nativist geheißen, und unterdrückt mit Überlegung das ihm eben¬
bürtige Volkstum des deutscheu Stammes, denn dieser konnte ihm allein gefährlich
werden, wenn ein Zerfall des Riesenkörpers der Union eintreten sollte, was bei
dem losen Zusammenhang des Staatcnbllndels und dem tiefen Gegensatz zwischen
Nord und Süd keineswegs ausgeschlossen ist. Alle andern Volkselemente sind schon
ihrer Zahl nach nicht widerstandsfähig. Freilich ist das Deutschtum sich seiner
Kraft nicht bewußt und ebenso vaterlandslos gesinnt wie in der Heimat, die zur
Zeit der Auswanderung der Mehrzahl eben nnr ein geographischer Begriff war.
Die Volkszahl der Deutschen in der Union beträgt fast zwanzig Millionen; viele
sind freilich der Muttersprache und dem deutschen Vatersnamen abtrünnig geworden.
Aber es rollt unverfälschtes deutsches Blut in ihren Adern, und es bedarf bloß
der Sammlung unter der Fahne des angestammten Volkstums, um alle Glieder in
deu Schoß der Mutter Germania zurückzuführen.
Auf der amerikanischen Seite steht also ein beträchtlicher Bruchteil unsers
Volkes, auf der spanischen ein fremder, herabgekommner Stamm der lateinischen
Rasse, an dem wir kaum noch die Reste der alanischen, vandalischen und west¬
gotischen Beimischung zu erkennen vermögen. Unser Gefühl sollte uns deshalb zu
der amerikanischen Partei gesellen, unser Verstand aber nähert uns dennoch Spanien.
Auf die Rechtsfrage ist wenig Gewicht zu legen; immer ging im Völkerleben Macht
vor Recht. Die gerechte Sache wird Spanien auch wenig nützen, wenn uicht seine
eigne Kraft und starke Bundesgenossen sie schützen. Zweifellos spricht die Haltung
Nordamerikas jedem Völkerrecht Hohn, sie ist einfach roh und gewaltsam. Völker¬
rechtlich wäre also eine europäische Einmischung gegen den Friedensbrecher gewiß
statthaft, aber natürlich wird sich Europa vor einer bewaffneten Intervention hüten,
wenn auch der Handstreich einer Großmacht aus Newyork und andre Küstenstädte
sicherlich spielend gelingen dürfte, was sogar Spanien bei geschickter Initiative zu
stände bringen könnte. Denn Europa ist zunächst nicht der Hüter der spanischen
Ehre. Spaniens Heer auf Cuba ist gegenwärtig stärker als die ganze amerika¬
nische Streitmacht, die selbst nach amerikanischer Darstellung nur eine elende
Söldnerbande uns dem Abhub der Bevölkerung und im Volke noch verachteter ist
als ihre englische Schwester. Die gedienten Soldaten der deutschen Einwanderung
werden erst dieser traurigen Bürgergarde und Miliz ein Rückgrat geben müssen,
und somit wird das Deutschtum den nativistischen Amerikanern als Dank für die
Unterdrückung den Sieg über die spanische Flagge erkämpfen, der schließlich bei
der numerischen und wirtschaftlichen Überlegenheit Nordamerikas für dieses nicht
zweifelhaft sei» kauu.
Nach dem alten Grundsatz, daß Blut der beste Kitt ist, muß man annehmen,
daß die englischen Jingos in Amerika darauf rechnen, durch die künstliche Kriegs¬
begeisterung und die loyale Vaterlandsliebe der übrigen Bollselemcnte das englische
Gepräge der Union noch fester zu macheu. Die einheitliche Kriegsleitung verlangt
englische Befehlssprache. Aber natürlich werden die deutscheu Freiwilligen die höchste
Blutsteuer im Kampfe zahlen müsse», da sie allein das soldatische Element bilden.
Die zusammengewürfelten Häuser der Engländer, Kreolen, Iren und Neger sind
doch zu buntscheckig und des Kriegshandwerks ungewohnt, als dasz sie für kriegs-
tüchtig gelten könnten. Dennoch wird das Deutschtum auch im stehenden Heer
zurückgesetzt, indem die Generalsstellen mit wenigen Ausnahmen ausschließlich
von Engländern besetzt sind. Nur in der technischen Verwaltung finden sich Deutsche,
wie der Generalarzt und der Geuernlrichter. Im Sezessionskriege waren die
deutschen Regimenter unter erfahrnen deutschen Berufsoffizieren aus der Heimat
die besten Regimenter der Unionistcn. Auch jetzt haben sich schon Freiwilligeu-
kompagnien alter deutscher Krieger an der Südküste in der kubanischen Nachbar¬
schaft gebildet. Deutsches Blut wird also für die amerikanische Sache fließen.
Thatsächlich ktimpft Spanien gegen die Monroedoktrin für Europa, das daher
ein sehr beteiligter Zuschauer ist. Die etwas komödienhafte Aufbringung feind¬
licher Kanssahrteischiffe wird wohl die übrigen Mächte veranlassen, zum Schutze
der neutralen Ladung thatkräftig für die Freiheit ihres Handels einzutreten. Viel¬
leicht gelingt es uus Deutschen dabei, unsern Landsleuten in Amerika eine etwas
größere Achtung vor ihrem Mutterland einzuflößen als bisher und sie handgreiflich
mi dessen Größe und Machtstellung zu erinnern. Dem rcnommistischen Amerikaner
deutscher Zunge imponirt eine kräftige Sprache und ein derbes Zugreifen mehr
als sentimentale Heimatserinueruugeu, die auf seinen sehr praktischen Sinn keine
Wirkung ausüben. Wenn sich die amerikanische Schwäche auf dem Kriegsschauplatz
offenbart, wird das den deutsch-uationnlen Interessen nur förderlich sein. Die kriege¬
rische Stärke der Heimat wird dann umso schärfer hervortreten. Wird es schlie߬
lich auch der amerikanische Geldbeutel sein, der siegt, die idealen Mächte des na¬
tionalen Volkstums sind doch nicht zu unterschätzen, und sie sind nicht auf der
angreifenden Seite.
Sehr durchsichtig ist die auffällige englische Freundschaft für die sogenannten
amerikanischen Vettern, die Albion doch handelspolitisch nicht ungefährlich sind.
Das bloße Handelsgeschäft in den Kriegswirren veranlaßt England nicht zu dieser
Stellung. Die englische Weltmacht steht aus dem Spiele, denn was Amerika Cuba
gegenüber versucht, würde es unzweifelhaft Kanada gegenüber sofort in Angriff
nehmen, wenn sich England ihm feindlich gegenüberstellte. Deshalb verständigt
man sich lieber bei den gemeinsamen Gegensätzen zum Deutschtum.
Wirtschaftlich ist das Verhältnis Deutschlands zu den Parteien noch klarer.
Spanien ist handelspolitisch trotz des Spirituskrieges sür uns ziemlich gleichgiltig.
Indessen muß es uns erwünscht sein, diesen Zvllkcnnpf zu beseitigen und das er¬
schöpfte Land aufnahmefähig zu macheu, denn unsre Handelsbilanz ist zur Zeit eine
passive, belastet also unsern Nntionalwohlstand. Daß die fünf Milliarden spanischer
Staatsschulden nicht bei uns untergebracht sind, sondern in Frankreich, das ja auch
die russische Goldgrube ist, truü uns allerdings nur angenehm sein. Die kubanische
Mißwirtschaft war unsrer Znckeranssnhr günstig, da sie den Wettbewerb des west¬
indischen Zuckerrohrs aushob. Nordamerika überschüttet uns aber mit landwirtschaft¬
lichen Erzengnissen, gegen die unser Ackerbau uicht in Wettbewerb treten kann, und
verschließt seine Grenzen unser» gewerblichen. Unsre Haudelsbilauz Amerika gegen¬
über ist also in ganz anderen Maße passiv, und sie sllhrt zu einem industriellen und
landwirtschaftlichen Notstände für uns. Dabei ist Deutschland auch uoch von den
Schlamm Uankees als Ablageruugsstälte für ihre wertlosen Eiscnbnhnbouds benutzt
worden, während die amerikanischen Betrüger den Rahm bei diesen wüsten Speku¬
lationen abgeschöpft haben. Es steht fest, daß der amerikanische Zuckcrtrust die Ein¬
mischung in die kubanische Angelegenheit angezettelt hat, um über den Rübenzucker
des amerikanischen Festlands und das Zuckerrohr der Antillen unbeschränkt gebieten
zu können und die deutsche Zuckereinfuhr durch Prohibitivzölle zu vernichten. That¬
sächlich seit die neue cimerikcuüsche Zuckerindustrie viel Aussichten, und die Rübe
im Westen gedeiht in vorzüglichster Weise. In Magdeburg haben seit Jahren die
Amerikaner die besten Herstellungsarten und unsre neuesten Maschinen studirt und
versuchen jetzt, unserm wertvollsten landwirtschaftlichen Nebengewcrbe den Garaus
zu machen. Bekanntlich belegt die Union den deutschen Zucker schon mit einem
vertragswidrigen Differentialzoll, der Deutschland für die Gewährung der Export¬
prämie strafen soll. Ebenso belastet Amerika unser Ausfuhrgewerbe, das zum Teil
auf den transatlantischen Absatz zugeschnitten ist und besonders in den armen
Mittelgebirgen eine fleißige Bevölkerung genügsamer Holzbaueru ernährt. Hierbei
ist vor allem die thüringische Spielwarenindustrie zu nennen, deren Schwinden
einen wirtschaftliche» Notstand verursachen würde. Amerika arbeitet sichtlich ans
den Ausschluß der fremde» Industrie hin und stärkt durch die fast unerschwing¬
lichen Zollsätze die heimische auf Kosten des Auslands. Es schickt uus für
vierhundert Millionen Mark Waren, hauptsächlich Roherzengnisse der Landwirtschaft,
während wir ihm ungefähr für dreihundertzwanzig Millionen Marr' fertige Waren
schicken. Da aber unsre Ausfuhr uur ein Neuntel des Wertes ihrer sämtlichen
Gewerbeerzengnisse ausmacht, so können wir ja im Notfall den amerikanischen Absatz
verschmerzen, zumal da uus in nicht ferner Zeit dieses Absatzgebiet doch verloren
gehen wird, wenn nicht eine Scheidung der Union in einen englischen und einen
deutschen Teil eintritt, wozu jetzt uoch wenig Hoffnung ist. Am stärksten ist unsre
chemische Industrie beteiligt, wohl mit hundert Millionen Mark. Gegenwärtig
braucht diese aber deu Wettbewerb und den Zollkrieg nicht zu fürchten, da Amerika
noch auf uns angewiesen ist. Soeben ist eine große Salpeterladnng zur Pulver-
bereituug in Hamburg angehalten worden, die für die Union zu Kriegszwecken be¬
stimmt war.
Der vom Zaun gebrochne Krieg belästigt in erster Reihe unsern Handel, und
es wird Sache der Reichsregieruug sei», wenn nötig mit Hilfe der Kriegsflotte
Störungen zu begegnen und deutsche Ladungen unter den kriegerischen Flaggen mit
allem Nachdruck zu schützen. Unsre Reederei wird wohl zunächst Vorteil haben,
da die amerikanische Schiffahrt fast außer Wettbewerb treten wird, ein Zustand,
dessen Dauer wir anstreben müssen. Eine Schwächung unsers wirtschaftlichen
Gegners, der Union, kann uus uur nützen, mich wenn zunächst für uus selbst Absatz¬
stockungen entstehen.
Für uns kommt noch in Betracht, daß mehr als drei Millionen Deutsche als
Fremde in den Vereinigten Staaten leben und somit am Kriege persönlich nicht
beteiligt sind. Es wird Sache einer geschickten nationalen Führung sein, diese
deutsche Menge gegen die schamlosen Kriegsspekulanten auszuspielen, deren Karten
übrigens der frühere amerikanische Gesandte in Berlin, Phelps, in einem offnen
Schreiben aufgedeckt hat. Die Erfahrung lehrt aber, daß Leute von so vornehmer
Gesinnung der bestochueu öffentlichen Meinung im Lande des Königs Dollar unter-
liegen; diese Äußerung eines verständigen englischen Politikers wird wirkungslos
verhallen. Wir aber werden gut thun zu bekunden, daß unsre Sympathie» auf
der Seite Spaniens sind, und politisch richtig handeln, aus unsrer Gegnerschaft
gegen die euglischamerikanischc Brutalität kein Hehl zu machen, zumal da unsre
Demokraten schon sür die große Republik als die Bringerin völkerbeglückender Frei¬
heit in schmählicher Weise zu schwärmen beginnen.
In Heft 14 dieser Zeitschrift
habe ich auf den Widerspruch hingewiesen, der zwischen dem offiziellen Bericht des
russischen Finanzministers zum laufenden Budget und den von privater Seite
kommenden Mitteilungen über die wirtschaftliche Lage des russischen Volks besteht.
Jetzt liegen uns statistische Auskünfte vor, die das russische Finanzministerium
selbst gesammelt hat. Diese besagen, daß der Volkswohlstand in dem größten
Teile des Reiches im Sinken begriffen sei. Diese Auskünfte wurden merk¬
würdigerweise vor zwei Jahren von demselben Minister gesammelt, der heute
seinem Herrn in amtlichen Bericht von der Erstarkung der Landwirtschaft und
dem steigenden Wohlstande des Volkes erzählt. Wenn man anch annehmen
will, daß die Industrie auf dem Wege der Erstarkung sei und dadurch der
Wohlstand in der industriellen Bevölkerung steige, so beträgt diese doch nur
etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Neu» Zehntel aber verarmen nach den
von dem Finanzministerium selbst angestellten Forschungen. Der Minister scheint
freilich mit diesen Forschungen nicht ganz zufrieden zu sein, da er die Arbeit seines
Ministeriums einer nochmaligen Prüfung unterwerfen ließ, über deren Ergebnisse
er, wenn sie günstig für seinen Optimismus ausgefallen wären, sicher die Welt in
Kenntnis gesetzt hätte. Statt dessen lesen mir täglich in der Presse von Zuständen
in weiten russische» Gebieten, die eine schon bestehende Hungersnot unzweifelhaft
machen. Da sind die Bauern ohne Brotkorn und ohne Mittel, welches zu kaufen;
da haben sie ihr letztes Pferd für zwanzig Mark, ihre letzte Kuh für zehn Mark
verkauft; da decke» sie ihre Dächer ub, um mit dem Stroh eine Kuh zu erhalten
und, da es weder Holz noch Kohle giebt, den Ofen zu heizen; dn haben sie das
letzte verkauft und verheizt, verlassen das Dorf und gehen in die nächste, einige
hundert Kilometer entfernte Stadt, um dort zu betteln oder Arbeit zu finden.
Und wenn sie welche finden, so nehmen sie natürlich soviel, als der Jndustriemann
ihnen geben will, nämlich einen Hungerlohn. Dabei mag dann die Industrie wohl
vorwärts kommen; aber man kann nicht wohl sagen, daß die allgemeinen Zustände
in erfreulicher Entwicklung begriffen seien. In einigen der fruchtbaren zentralen
Gubernien ist inzwischen die Hungersnot offiziell anerkannt worden. Die Bauern
greifen zu dem überraschenden Mittel, ihre Kinder — in die Schule zu schicken,
damit sie dort ernährt werden; und die provinziellen Landschaften bitten für diesen
Zweck deu Staat um Unterstützung. Und was verlangen sie? 75 Kop. oder
1 Mk, 60 Pf. monatlich für das Kind! Man kann schwerlich Kinder billiger
ernähren, d. h. die Ernährung kaun schwerlich schlechter sein, als sie dort ge¬
fordert wird.
Ein eben so nnerfrculiches Licht fällt auf die landwirtschaftlichen Zustände
des adlichen Gutsbesitzcs vou der Adlichen Agrarbank her, in deren offne Arme
sich seit einigen Jahren alles gestürzt hat. Von jeher war die Liste der Güter,
die wegen mangelnder Zinszahlung mit Subhastation bedroht wurden, sehr lang;
jetzt ist ein ganzes Buch daraus geworden, aus dem man lesen kann, daß die weit¬
aus meisten Güter uur noch von Stundung der Zinsen leben, und daß diese Bank
unweigerlich liquidiren müßte, wenn der Staat sie nicht dnrch die Stundung
seiner Forderungen stützte. Wie lange kann das so fortgehen?
Aber wenn man den Bericht des Ministers liest, so sollte man meinen, es
stünde vortrefflich im Lande; und wenn man das Budget ansieht, so scheint der
Minister Geld in Fülle zu haben.
Das russische Staatsbudget für 1898 ist mit triumphirender Miene vor die
Öffentlichkeit getreten! Ausgabe und Einnahme balanciren mit rund 1474 Millionen
Rudel, wozu es keiner neuen Anleihe bedurft hat. Diese Summe sällt dadurch
etwas auf, daß sie ziemlich geuau der Einuahmeziffer des abgeschlossenen Budgets
für 1396 entspricht. Eine Steigerung der Ausgaben ist nicht eingetreten, obwohl
jür Neubau und Materialergänzuug vou Eisenbahnen im Extraordinarium 113 Mil¬
lionen stehen, denen der stets wiederkehrende Einnahmeposten: „aus dem freien
Barbestande der Reichsrentei" diesmal mit 106 Millionen gegenübersteht. Die
Gctränkcaecise ist gegen die Einnahme von 1896 um 34 Millionen geringer ver¬
anschlagt, die Zolle um 13 Millionen geringer; der Dienst der Staatsschuld fordert
272 Millionen, fast 4 Millionen mehr als 1896. Jene Miuusziffern sind eher
erfreulich als betrübend, besonders neben den Plusziffern in den wesentlichen Ein¬
nahmeposten, namentlich den Eisenbahnen, die die Ausfälle decken. Bedenken er¬
wecken die erhöhten Einnahmeposten aus Steuern und Zahlungen, die vom Land-
bnu aufgebracht werden sollen, während der Minister selbst in dem Bericht an den
Kaiser sagt, daß die letzte Ernte nur eben zur Ernährung des Volkes, nicht zur
Ausfuhr genüge. Bedenklich ist auch der schon erwähnte Posten der Einnahme
„ans dem freien Barbestande der Neichsreutei." Dieser Barbestaud hat am
1. Januar 1897 sogar 246 ^ Millionen betragen; aus deu Erlnuteruugen des
Ministers muß man annehmen, daß der Bestand als besondre Kasse fortgeführt
werde, und daß er am 1. Januar 1898 noch weit über' die geforderten 106 Mil¬
lionen betragen habe. Wo kommen denn solche gewaltigen „freien Barbestände"
her, und wo gehen sie hin? In der Form, wie sie im russische» Budget jährlich
auftreten, scheinen sie den Charakter eines Dispositionsfonds des Ministers zu
haben, aber dieser Fonds ist denn doch etwas gar zu groß bemessen, um nicht dem
ganzen Budget zu schaden. Ferner fagt der Minister, die schwebende Schuld habe
im verflossenen Jahre um 122 Millionen Kreditbillcte abgenommen; andrerseits
weist die „Russ.-Orient. Hand.-Korr." ein Anwachsen der russischen Papierschuld vom
1. Januar 1897 bis 1. Januar 1398 etwa um 43 Millionen auf. Der Quell
dieser Differenz von 165 Millionen ist nicht ohne neue Papieremissioneu ersichtlich.
Die oben genannte Korrespondenz berechnet weiter die gesamte Staatsschuld Ru߬
lands zum 1. Januar 1898 auf rund 6 Milliarden Goldrubel, und den Dienst für
Zins und Tilgung für 1898 auf rund 372 Millionen. Das wären 100 Millionen
mehr, als das Budget angiebt.
Diese Dinge können nicht übersehen werden trotz des Triumphes, mit dem
der Minister auf die — wohl oder übel — durchgeführte Goldwährung hinweist.
Der Staatsschatz wies am Schluß von 1897 allerdings 1470 Rubel Gold in
Barre» und Münze anf, eine imposante Menge. Aber der russische Halbimperial
wird erst den Beweis zu führen haben, ob er die Kraft hat, zu Hause zu bleiben.
Er läuft gegenwärtig bereits überall als gleichwertig mit dem Zwanzigfrankstück
der lateinischen Münzuuivu um. Ob er aber wieder heimkehrt, wird davon ab¬
hängen, ob das volkswirtschaftliche Gedeihen sich in Wirklichkeit als so gut erweist,
wie der Minister angiebt, und ob die Handelsbilanz das Gold vom Auslande
wieder zurückbringt. Die so außerordentlich erfolgreiche äußere Politik unterstützt
zwar in hohem Maße den Kredit des Staates, vermag aber nicht, die Stenertrast
des Volkes direkt zu heben. Sie forderte vielmehr noch eben wieder 200 Millionen
Mark (90 Millionen Rubel) für die Marine, die man nicht, wie etwa die ge¬
waltigen Kosten der Sibirischen Bahn, zu den produktiven Anlagen rechnen kann.
Und mögen die Staatsfinanzen noch so glänzend sein, so vermag man ihnen doch
kein glänzendes Prognostikon zu stelle», solange 90 Prozent des Volkes, wie noch
jüngst wieder in der russischen Zeitschrift „Leben und Kunst" dargelegt wurde auf
«x. v. d. Br.
Doch was der Brüder Eintracht sich versprach,
Das klingt noch immer in der Seele nach,
Und wie die Inschrift, in den Stein gegraben,
Besteht das Wort, das nur zum Bund uns gaben.
in Ostermontag 1836 ruhten drei junge Männer an der Süd¬
seite des Staufen im Taunus auf dem Felsenvorsprung, der
einen herrlichen Blick über das Mainthal bis zum Odenwald und
Spessart gewährt. Sie kamen vom Krankenbett der geliebten
Mutter, deren vollständige Genesung zu erwarten war. Morgen
sollte die Trennung und Abreise erfolgen. Sie hatten sich vorher noch manches
zu sagen und zu diesem Zweck einen Morgenspaziergang unternommen. Die
wenig trostreiche Lage des Vaterlandes war ihr Hauptthema gewesen. Auf An¬
regung des ältern erneuerten hier oben alle drei ausdrücklich und feierlich die
längst stillschweigend bestehende Verabredung, bei allen wichtigen Fragen und
Ereignissen nach der Übereinstimmung ihres Verhaltens zu streben und im
Leben auch ferner zusammenzuhalten. Es waren drei Brüder von Gagern,
der älteste, Friedrich Balduin, Oberstleutnant in niederländischen Diensten,
der zweite, Heinrich, damals Landwirt und Mitglied des hessischen Landtags,
und der jüngste, Max, Privatdozent in Bon». Man hat später oft gespottet
über die „Familienpolitik" der Gagern, aber es ist doch eine Thatsache, daß
genau nach zwölf Jahren alle drei Brüder zusammenstanden, als der erste
Anlauf zu der Einheit des Vaterlandes genommen wurde, und daß ihre Namen
in den ersten Monaten der Bewegung des Jahres 1848 im Munde aller guten
Deutschen waren. In jener Zeit der Unreife aller deutschen Dinge war es
schon ein Großes, daß sie durch Erziehung und Überzeugung, trotz ihrer sonst
auseinandergehenden politischen Meinungen, bereit waren, für die Größe des
Vaterlandes ihr ganzes Sein und Können einzusetzen, Ihr Ziel wurde nicht
erreicht, denn jene Tage erst haben ihnen und vielen tausend andern gelehrt,
daß die Geschicke Deutschlands nicht von Frankfurt, sondern nur von Berlin
aus entschieden werden konnten und mußten. Die Vewegnng ging ihren
furchtbaren Gang, schon nach wenigen Wochen siel Friedrich von Gagern als
ein Opfer der deutschen Revolution. Seinem Andenken, das nahezu vergessen
ist, seien die folgenden Zeilen gewidmet, denn er war die bedeutendste und
edelste Erscheinung jener Zeit.
Die Gagernsche Familie, ursprünglich auf der Insel Rügen heimisch, jedoch
schon seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in einem Zweige am Mittel¬
rhein angesessen, hat dem deutschen Vaterlande mehrere verdiente Söhne ge¬
geben. Friedrich Balduin von Gagern, ungewöhnlich begabt an Geist und
Charakter, wurde am 24. Oktober 1794 auf dem Schlosse zu Weilburg ge¬
höre», wo sein Vater, Hans Christoph von Gagern, als erster Beamter das
kleine Fürstentum Nassau-Weilburg mit Geschick verwaltete. Als Westdeutsch¬
land 1795 zum Kriegsschauplatz wurde, flüchteten Hof und Minister unter
preußischen Schutz nach Bahreuth, und die Familie Gagern wohnte dort in
der Eremitage. Auch ein Großvheim lebte als Emigrant in Hanau, die Jugend¬
eindrücke des Knaben waren somit keineswegs der Fremdherrschaft günstig.
Bezeichnend dafür ist ein Vorfall aus dem Jahre 1805. Der nachmals be¬
rüchtigte französische General Snrasin, unzufrieden darüber, nicht im Schlosse
zu Weilburg aufgenommen, sondern in der Stadt einquartiert zu sein, hatte
schon vom Vater die nötigen Aufklärungen erhalten, brachte aber nichtsdesto¬
weniger abends am Theetisch vor der Mutter von neuem seine Beschwerde zur
Sprache. Der elfjährige Friedrich stand bei der Mutter am Sofa, und da
er sich über die läppischen Klagen des Franzosen ärgerte, sagte er nach jedem
Satze halblaut vor sich hin: „Gut genug für dich, gut genug für dich!" bis
die Mutter, verlegen über die Unart des Knaben und besorgt, daß der General
doch Deutsch verstehen könnte, ihn hinausschickte.
Auch der Vater litt sehr unter der Fremdherrschaft, denn im Grunde
seines reichsfreiherrlichen Herzens war er ein guter Deutscher, wenn auch in
einem Sinne, den unsre Tage nicht mehr verstehen. Nach dem Zusammenbruch
des Reiches hatte er mit allen Hilfsmitteln der Diplomatie in Paris die
Existenz seines Fürstenhauses gerettet und dessen Länderbestand aus Kosten der
geistlichen Fürstentümer auf das Doppelte gebracht, aber das Gefühl der tiefen
Unsittlichkeit der rheinbündischen Dinge lastete von Tag zu Tag quälender ans
ihm. Als Freiherr vom Stein geächtet und sein Besitztum eingezogen worden
war, gelang es dem wohlwollenden uasscmischen Minister, obwohl er dabei
mithelfen mußte, wenigstens die bittere Not von der Familie des Patrioten
abzuwenden. Franzose wollte Gagern um keinen Preis werden. Vergeblich hatte
er seine Abstammung aus Rügen vorgeschützt, umsonst ließ er sich von seinem
Fürsten bestätigen, daß er zwar dessen Minister, aber nicht sein Unterthan sei:
als Napoleon durch das Edikt von Trianon vom 26. August 1810 alle auf
dem linken Rheinufer gebornen für Franzosen erklärt hatte, gab Hans Christian
von Gagern den nassauischen Dienst auf und verkaufte seine Güter zu Spott¬
preisen, ließ die Mutter mit den jünger» Geschwistern in Weilburg zurück und
wanderte mit den beiden ältesten Söhnen aus. Friedrich hatte inzwischen das
Gymnasium in Weilburg durchgemacht, denn im Winter 1809/10 den Vater
nach Paris begleitet, um sich dort zum Besuche der polytechnischen Schule vor¬
zubereiten, jedoch als Nichtfranzose keine Aufnahme gefunden. Hierauf studirte
er bis 1812 in Göttingen, erhielt aber wegen zahlreicher Duelle, die aus dem
Gegensatz der Deutschgesinnten gegen die „Neuwestfalen" entsprungen waren,
das eonsilwm Ädsuncli.
Im Frühling 1812 verließ der alte Gagern Weilburg, brachte in München
seinen zweiten Sohn Karl in der bayrischen Armee unter und wandte sich mit
Friedrich nach Wien, wo dieser als Kadett in das Dragouerregiment Niesch
eintrat; nachdem er einexerziert war, folgte er im September dem Regiment
nach Polen. Der Vater schrieb inzwischen an seiner „Nationalgeschichte der
Deutschen" und gehörte mit Hormayr u. a. zu den Vertrauten des Erzherzogs
Johann, die damit umgingen, in Tirol den Volkskrieg gegen Napoleon vor-
zubereiten. Sobald Kaiser Franz durch Verrat Kunde von dem Plan einer
Volkserhebung erhielt, wurde Gagern des Landes verwiesen, und Erzherzog
Johann verschwand in den steirischen Bergen. Gagern wandte sich im März
1813 nach Breslau mit dem geheimen Auftrage des Fürsten Metternich, den
Beitritt Österreichs an die Verbündeten anzukündigen, und traf unterwegs den
Sohn, der inzwischen Leutnant geworden war, zwei Typhnsanfälle überstanden
hatte und zum Vater nach Wien auf Urlaub gehen wollte. In Breslau erhielt
Gagern den Auftrag und die Vollmacht des Prinzen von Oranien, bei dem
bevorstehenden Umschwung der Dinge die Interessen seines Hauses wahr¬
zunehmen; er hielt sich darauf in Sachsen und Schlesien beim Hauptquartier auf
und ging im Juli über Berlin und Schweden nach England. Friedrich hatte
inzwischen den Feldzug in Böhmen und Sachsen samt der Schlacht bei Leipzig
mitgemacht und traf den Vater erst wieder in Frankfurt a. M. am 14. November.
Dieser war mit seinen oranischen Plänen vollauf beschäftigt und zog den Sohn
nach sich in den niederländischen Dienst. Im Dezember schied Friedrich in
Freiburg i. B. aus der ihm lieb gewordnen österreichischen Armee und traf in
den letzten Tagen des Jahres im Haag ein.
Die groß-batavischen Entwürfe hatten auf dem Wiener Kongresse uner¬
wartetes Glück, das erst neu eroberte Königreich der Niederlande wurde das
„Schoßkind der Mächte" und „mit wahrer Affenliebe" großgezogen. Man
hat Gagern aus seiner diplomatischen Thätigkeit dafür später Vorwürfe ge¬
macht und seine deutsche Gesinnung bezweifelt, doch wohl mit Unrecht: er teilte
mit seinen Ansichten nur die Täuschungen der meisten seiner Zeitgenossen. Nie
war ihm vergönnt gewesen, in einem wirklichen Staate die harte Schule der
Politik zu durchlaufen und eine ernste Verantwortlichkeit zu tragen. So blieb
er immer ein kleinstaatlicher Politiker; daraus erwuchs auch seine Vorliebe sür
die Mittelstaaten, der unverwüstliche Glaube an den loyalen Sinn der deutschen
Bundesfürsten. Sein vager Idealismus dehnte den Begriff des Vaterlands
weit über seine politischen Grenzen aus, bis zum Texel und zum Genfersee.
So ließ er auch den geliebtesten und begabtesten seiner Söhne in holländische
Dienste treten, ohne zu ahnen, daß er ihn in die Fremde schicke. Er sah in
den Niederlanden wohl nicht einen „Bundesgenossen," aber einen „Vundes-
verwandten," der in die deutsche „Gesamtmacht" eintreten müsse, was ja auch
für das Großherzogtum Luxemburg bewerkstelligt wurde. Die künstliche
Schöpfung hielt bloß fünfzehn Jahre vor, darnach fiel Belgien davon ab.
Aber neben so großer Verworrenheit in nationalen Fragen berührt es bei dem
alten Gagern doch wohlthuend, daß er schon im Herbst 1813 Elsaß und
Lothringen für Deutschland zurückverlangte, sich mit andern Staatsmännern
für die Rückführung der geraubten Kunstschätze aus den napoleonischen Museen
bemühte und schließlich der erste war, der — schon im April 1818 — der
von Metternich gewollten „Epuration" des Bundestags zum Opfer fiel, weil
er einem redlichen Ausbau der Bundesverfassung das Wort redete.
Hans Christoph zog sich nach dem bescheidnen Gute Hornau im Taunus
in der Nähe von Soden, am Fuß des Staufen zurück, das er 1818 gekauft
hatte, und das seit 1322 der ständige Wohnsitz der Familie wurde. Es war
ein schönes Bild deutschen Lebens, das sich dort entwickelte. Lebte ein Sinn,
wie der des alten Reichsritters, in vielen unsrer deutschen Familien, so stünde
es anders um unser Volk. Das gastliche Haus war der Mittelpunkt eines
überaus angeregten geselligen Lebens. Er gab den Söhnen die eiceronianische
Losung: (ÄvssÄts röinpubliög.in (Widmet euch der Sache des Vaterlands) und
schärfte ihnen sein: Lxg.rta,in naotus Sö, nemo sxvrng. fort und fort ein. War
der Vater der Typus des leichtgebauten, geschmeidigen, sanguinischen Rhein¬
franken, so schien sein Ältester mehr nach dem rügenschen Stamme geartet zu
sein, er war von hoher Statur, breiter Brust, mit stämmigen Unterbau und
kräftigem Gange. Kraft war das vorherrschende Gepräge der breiten, offnen
Stirn und des tiefen, ruhigen Auges; der Ausdruck der Züge war freundlich
ernst, gewinnend und vertrauenerweckend. Talleyrand hatte freilich an dem
zwölfjährigen Knaben den eng-ters as g'Moos vermißt, aber dafür zeichnete diesen
während seines ganzen Lebens deutsche Gediegenheit aus. Abgesehen von dem
tiefen Ernst, die Söhne für das Vaterland zu erziehen, ließ der Vater ihnen
volle Freiheit der Entwicklung. Ob auch diplomatische Freunde ihn an seinen
makellosen Namen und zur Strenge mahnten, durfte doch Heinrich unbehelligt
seine liberalen Wege gehen. Daß der Alte seinen Liebling Fritz nicht störte,
Verstand sich ohnehin, denn mehr empfangend als gebend stand der Vater früh
schon der überlegnen Klarheit dieses groß angelegten Kopfes gegenüber. Der
vierte Sohn, Max, trat schon 1843 (nicht erst nach 1848, wie im Lexikon
steht) zum Katholizismus und ging noch später ins ultramontane Lager über.
Überhaupt wußte sich der Vater, als echter Sprößling der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, in seiner Gutmütigkeit mit den großen Gegensätzen
des Lebens nicht besser abzufinden, als indem er versuchte, das Unversöhnliche
zu versöhnen; und so trieb der unermüdliche Mann nur zu oft in eine all¬
bereite Vielgeschäftigkeit hinein und spielte nicht selten, zum Unbehagen des
feinfühligen ältesten Sohnes, die Rolle des ungerufnen Ratgebers. Aber diese
Schwächen traten weit zurück hinter dem unerschöpflichen väterlichen Wohl¬
wollen und der stets von edler Sittlichkeit durchwehten geistigen Regsamkeit.
So konnte es nicht ausbleiben, daß ihm die Familie mit inniger Liebe anhing;
Friedrich von Gagern schreibt als Fünfzigjähriger in seinem „indischen Tage¬
buche" über den Vater: „Die Eigenheiten, in denen er sich schon mit vierzig
Jahren gefiel, wird er mit achtzig nicht ablegen, aber bewundernswürdig bleibt
die Frische seines Geistes, die Wärme und Energie, die Harmonie und der
gehaltene Ton durch ein so langes Leben" — und er sagt an andrer Stelle
über Lord Hardinge, den damaligen Generalgouvemeur von Indien: „Es ist
nicht möglich, einen artigern, einfachern, offnem und liebenswürdigem Greis
zu finden als ihn — wenn ich meinen Vater ausnehme!" Auch die Mutter
war eine hochgesinnte, sich ganz dem Wohlergehen der Familie hingebende
deutsche Frau. Was Wunder, wenn dem Sohne in der Fremde der Aufent¬
halt in Hornau bei jedem Urlaub als Glanzpunkt seines pflichtgetreuen, an
Ereignissen wie an Auszeichnungen nicht kargen Lebens erschien. Zog ihn doch
alles nach der Heimat, zum Wirken für sein Vaterland.
Friedrich war als Hauptmann im Generalstab in die neugeschaffne nieder¬
ländische Armee eingetreten, focht 1814 neben den Preußen in Holland, kämpfte
bei Waterloo mit und wurde uach dein Frieden dem Vater, der Luxemburg
beim Bundestage vertrat, attachirt, hatte aber in Frankfurt so wenig zu thun,
daß er gleichzeitig, wie sein Bruder Heinrich, in Heidelberg seine Studien fort¬
setzte. Im Dezember 1816 kehrte er nach den Niederlanden zurück und war
als Generalstabsoffizier namentlich an der großen Landesvermessung beteiligt.
Im Jahre 1824 wurde er der Bundesmilitärkoinmission in Frankfurt zugeteilt,
1826 wurde er zum Major befördert und dann bis 1830 als Generalstcibs-
vfsizier innerhalb der belgischen Provinzen verwandt. Nach dem Ausbruch
der belgischen Revolution wurde er Chef des Generalstabes beim Herzog
Bernhard von Weimar; es folgten die kriegerischen Vorgänge, die Ende dieses
Jahres mit der Räumung Belgiens ihren voreiligen Abschluß fanden, und
dann im August 1831 der zehntägige, für die niederländischen Waffen höchst
ehrenvolle, aber durch das Einschreiten Englands und Frankreichs unterbrochne
Feldzug mit der Schlacht bei Hasselt. Hieran schloß sich eine dauernde Kriegs¬
bereitschaft des holländischen Heeres in Nordbrabant, die bis 1839 währte,
bis die Niederlande endlich nachgaben. Gagern war 1834 zum Oberstleutnant
befördert worden, trat 1839 ans seinen Wunsch zur Kavallerie über, avancirte
zum Obersten und begleitete in diesem Jahre den Prinzen von Oranien auf
einer Reise nach Petersburg und Moskau.
Seine reich begabte und kräftige Persönlichkeit hatte dnrch die Anregungen
des Vaters, durch eifriges Selbststudium und durch die Mannigfaltigkeit der
gesellschaftlichen und militärischen Beziehungen, mit denen ihn seine Dienst¬
und Lebensverhültnisse in Berührung brachten, eine weit über das Gewöhn¬
liche hinausgehende Entwicklung genommen. Durch Dienst und gesellige Ver¬
hältnisse gehörte er Wohl den Niederlanden an, wo man ihm nie, auch nicht
unter den schwierigsten Verhältnissen, den Ausländer anrechnete, aber durch
die Bande der Familie und des Vaterlands blieb er im Herzen stets ein
Deutscher, und nie verließ ihn das hoffende Sehnen, endlich einmal für Deutsch¬
land etwas thun zu können. Vom Vater veranlaßt, hat er in gedankenreichen
Briefen, noch mehr aber in einer großen Anzahl politischer Aufsätze einen
wunderbar klaren Scharfblick für staatliche und militärische Verhältnisse, nament¬
lich über die Lage in Deutschland, gezeigt, zunächst im vollsten Gegensatz zu
der phantasievollcn Anschauungsweise des Vaters.
Dieser geistige Ideenaustausch zwischen Vater und Sohn trug einen seltsamen
Charakter, beruhte aber auf vertrauensvoller gegenseitiger Offenheit und be¬
wegte sich in den Formen diplomatischer Feinheit und zartfühlender Höflichkeit.
Als Beispiel möge hier eine der bittersten Auslassungen Friedrichs aus dem
Jahre 1824, wo er das Bundestagselend in Frankfurt deutlich vor Augen
hatte, angeführt werden: „Ich will Thatsachen sprechen lassen, die den Zu¬
stand der Nation schildern. In welchen Verhältnissen stehen oder standen die
Staatsmänner, welche in der letzten Zeit den größten Einfluß auf deutsche
Politik gehabt haben — die Männer, die im guten oder bösen Sinne am
meisten genannt werden: 1. Der Fürst Metternich veräußert seiue deutschen
Güter, um andre, Gott weiß wo, in Kroatien oder Slawonien zu kaufen, und
bald wird er in Deutschland nichts mehr besitzen. 2. Graf Münster war in
Wien ein Mann von großem Einfluß. Es ist bekannt, daß seine hochschwangere
Frau sich einschiffen mußte, um in London von einem — Engländer zu ge¬
nesen. 3. Der Freiherr vom Stein hat die Zentralverwaltung der Verbündeten
in Deutschland geleitet als — russischer Staatsminister! 4. Freiherr von
Gagern trat in Wien und Frankfurt auf als niederländischer Gesandter.
5. Der deutsche Ritter, der bei der Krönung des deutschen Kaisers aufgerufen
wurde, der Stammherr des Hauses Dalberg, erschien beim Kongreß zu Wien —
als französischer Gesandter, Herzog und Pair. Ist es nötig, Folgerungen zu
ziehen? Viele der Männer, welchen Deutschland seine politische Gestaltung
Verdanke, wurden von fremden, ausländischen Interessen ^ vielleicht ge¬
leitet —, ganz gewiß durch diese auswärtigen Dienstverhältnisse in ihrer
Thätigkeit gehemmt; und es ist klar, daß diese Herren, nachdem sie unser und
unsrer Kinder Wohl so sest begründet haben, für das ihrer eignen Kinder am
besten zu sorgen glaubten, wenn sie ihnen den Jammer sparten — Deutsche
zu sein."
So schrieb der Dreißigjährige an und für den Vater, doch ohne Persön-
lichen Groll. Wir vermögen uns gar nicht vorzustellen, nachdem wir ein
Deutsches Reich haben, was damals in der Seele eines Mannes vorging, der
in jeder Faser ein Deutscher war und doch kein Vaterland hatte.
Seine sehr interessanten Briefe, politischen Aufsätze und Reisetagebücher,
ihrer Natur und seiner Stellung nach nicht für die Öffentlichkeit bestimmt,
wanderten in die Schublade des Vaters, der sie mit Randbemerkungen in
seinem Sinne versah, höchstens kamen sie noch den engern Familiengliedern zu
Gesicht. Bekannt wurden sie erst dnrch das dreibändige Werk „Das Leben
des Generals Friedrich von Gagern" (Leipzig und Heidelberg, F. C. Winter,
1856/57), das Heinrich von Gagern dem Andenken des Bruders widmete, ein
etwas weitschweifiges, aber immerhin noch sehr lesenswertes Buch. Uns ist gar
manches schon als sicheres Geschenk in der Wiege eingebunden worden, was den
Besten der Nation vor fünfzig Jahren noch Gegenstand unklarer Erörterung
war, und nur mit Überwindung vermögen wir uns darum durch die phan¬
tastische Weitschweifigkeit hindurchzuarbeiten, die damals, als die Nationalver¬
sammlung in der Paulskirche tagte, als Blüte politischer Weisheit galt; aber
noch immer fesseln die helle Beweisführung, der sichere Ausdruck, die die
Schriften Friedrich von Gagerns schon aus den zwanziger und dreißiger Jahren
auszeichneten. Mit Staunen begegnet mau Gedanken und Ausführungen, die
dreißig und fünfzig Jahre später aus den Schriften Treitschkes und in den
Reden Bismarcks an das Herz der Nation schlugen. Scharfer Verstand, Ruhe
und sachliche Gediegenheit, knappe, schmucklose Darstellungsweise verleihen den
Ausführungen des thatkräftigen Mannes, den keine allgemein giltige Phrase,
leine blendende Überlieferung zu beirren vermag, einen unwiderstehlichen Reiz
und zeigen eine ritterliche, dem Idealen zugewandte Gesinnung, eine reiche,
vielseitig entwickelte Seele, völliges Aufgehen in der Größe seines Volkes, des
Vaterlandes, dem er äußerlich fern stand, dem er aber den Rest seines Lebens
zu widmen hoffte.
Jener zuknnftreiche politische Plan, der zuerst als unbestimmt ferne Aus¬
sicht vor Fichtes Seele geschwebt hatte, der Plan des deutschen Vundesstaats
unter Preußens Führung stand schon 1823 in greifbarer Gestalt in Gagerns
Seele fest begründet da. Paul Pfizer, der erst über ein Jahrzehnt später mit
dem gleichen Gedanken an die Öffentlichkeit trat, eroberte sich damit einen
Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen nationalen Bewegung, aber sollte es
sich in dieser Frage jemals um einen Prioritätsstreit handeln, so gebührt
Friedrich von Gagern unbedingt der Vorrang. Wir lernen daraus die Haltung
der Brüder in den Vorgängen von 1848 verstehen, begreifen aber auch, warum
die Wendung so rasch erfolgte, nachdem der führende Geist hinweggenommen
war. Besonders betont muß werden, daß bei Friedrich von Gagerns so ent-
schiedner Stellungnahme keine gemütlich bestochne Vorliebe für das Haus
Hohenzollern oder Preußen in Frage kam, da ihn die Tradition seiner Familie
wie die Ideen und Wünsche seiner Jugend nach Österreich hinlenkten, sondern
daß er lediglich durch eigne Gedankenarbeit und durch die Überwindung wider¬
strebender Einflüsse zu dem Resultat gelangte, Preußen sei als ausschlaggebende
Macht für die einheitliche Gestaltung Deutschlands zu betrachten und für Öster¬
reich bloß ein weiteres Bündnisverhältnis in Aussicht zu nehmen. Diese klare
politische Einsicht in das Wesen der dentschen Dinge schon in jenen Tagen
darf billig in Erstaunen setzen. Sicher hat Friedrich von Gagern in diesem
Punkte, wenn auch keinen Widerspruch, so doch nie die Zustimmung seines
Vaters gefunden, denn dieser beharrte bei seiner Vorliebe für die Mittelstaaten
und in zweiter Linie für Österreich. Aber der Sohn hielt an seinem Stand¬
punkt sest und schrieb noch Ende 1347, wo die Bewegung des folgenden
Jahres nicht einmal zu ahnen war, an den Bruder Heinrich: „Hoffnungen,
Wünsche, Zuneigung schweben in der Luft, eine rss nuUws, die auf den wartet,
der sie sich zueignen will. Preußen kann und muß sie gewinnen, weil Ehrgeiz
die Bedingung seiner Existenz ist." Dabei hatte er keine große Meinung von
der Energie König Friedrich Wilhelms IV. Die Brüder folgten ihm, so lange
er lebte.
Es würde unangebracht sein, weiter auf die politischen Schriften Friedrichs
von Gagern einzugehen, sie auch nur nach ihrem Inhalt aufzuzählen. Nur
eines Gegenstands sei hier noch gedacht, bei dem schlagend die Auffassungs¬
weise des jüngern aufstrebenden Politikers gegenüber der veralteten Anschauung
des Vaters hervortritt. Als Hans Christoph von Gagern aus dem Bundes¬
tage ausschied, sah er, wohl in Hinblick auf den nachteiligen Einfluß des wetter¬
wendischen Paris, in einer „alles verzehrenden Hauptstadt" ein Unglück für
Deutschland. Wenige Jahre darnach schrieb der Sohn kurz und bestimmt:
„Wir müssen eine Haupstadt anerkennen, weil wir sonst auf die Einheit ver¬
zichten müssen," und etwas später: „Läge Berlin oder Wien am Main, es
würde schon lange der Krystallisationspunkt politischer Einheit geworden sein.
Eine Hauptstadt ist für uns der feste Punkt des Archimedes, auf dem der
Hebel ruhen muß." Aus Zweckmäßigkeitsgründen war er allerdings bei dem
Ausbruch der deutschen Bewegung dafür, daß sich die deutsche Nationalver¬
sammlung „womöglich nicht in Berlin" versammeln müsse, doch war das keine
Abweichung von seiner ursprünglichen Ansicht. Im Juni 1344, kurz vor seiner
Abreise nach Indien, hatte er noch seinem Bruder Max erklärt: „Schafft einen
Mittelpunkt zur Hauptstadt, dann laßt einen Krieg ausbrechen, und ich komme;
und ich komme dann noch früh genug." Es unterliegt gar keinem Zweifel,
daß er in Berlin die zukünftige Hauptstadt Deutschlands sah.
Bevor wir zu der kurzen tragischen Episode übergehe», in der Friedrich
von Gagern handelnd in Deutschland auftrat, bleibt noch übrig, die weitere
Entwicklung seines holländischen Dienstverhältnisses zu erwähnen. Er war
1842 zum Brigadekommandeur und Provinzialkommandanten von Nordholland
ernannt worden, trat aber 1843 infolge der durch die Finanzlage verursachten
allgemeinen Verminderung der Armee in „Nonaktivität," doch ernannte ihn der
König zu seinem „persönlichen Adjutanten im außerordentlichen Dienst" und
eröffnete ihm die Aussicht, ihn sofort wieder anzustellen, sobald eine geeignete
Stelle offen sein werde. Doch Gagern drängte es nach Deutschland zurück,
und er trat in Vorverhandlungen wegen der Übernahme des Kommandos der
nassauischen Truppen. Die Brüder, namentlich Heinrich, rieten ihm ab
wegen der politischen Verhältnisse, doch er ließ sich nicht irre machen und hielt
sich für den Mann, der diese Verhältnisse „an sich kommen lassen" könne.
Die Entscheidung kam von niederländischer Seite, wo man Gagern nicht ent¬
behren mochte. Nach einer längern Beurlaubung in die Heimat wurde er zum
Generalmajor ernannt und im Mai 1844 mit einer besonders vertraulichen
Gesandtschaft nach den holländischen Kolonien aus deu Sundainseln beauftragt.
Gagern nahm an, aber mit der ausdrücklichen Absicht, sich dadurch die Rückkehr
ins Vaterland zu bahnen. Er schrieb darüber der Mutter: „Nach anderthalb
Jahren kann ich hoffen, in die Heimat zurückzukehren und dort nach eigner
freier Wahl entweder in angenehmer Unabhängigkeit oder vielleicht in ehren¬
voller Thätigkeit den Rest des Lebens zuzubringen." Er ging also nach Indien,
um für später persönliche Unabhängigkeit zu erreichen. Daß in Deutschland
für die nächsten Jahre besondre Ereignisse zu erwarten stünden, nahm er mit
Recht nicht an, nur die Trennung von den hochbetagten Eltern fiel ihm sehr
schwer: er reiste ohne Abschied ab unter dem Vorwande, den Bruder Heinrich
nach Mainz begleiten zu wollen.
Die Sendung nach Indien betraf eine Besichtigung des militärischen
Dienstes und der Verteidigungsmittel der holländischen Kolonien und erstreckte
sich in ihrem amtlichen Teile auf Java, Madura und Sumatra. Die Hinreise
gab Gelegenheit, die Azoren und Brasilien kennen zu lernen, und auf der Rück¬
reise lernte Gagern Britisch-Indien und Ägypten genau kennen. Die Reise,
über die ein interessantes Tagebuch von ihm vorliegt, nahm drei volle Jahre
in Anspruch. Seine amtlichen Berichte wurden in den Niederlanden mit der
größten Anerkennung aufgenommen, und man überhäufte ihn nach der Rückkehr
mit Auszeichnungen. Er wurde zum Kommandeur der Reservebrigade und
zum Gouverneur der Residenz ernannt, der König verlieh ihm das Großkreuz
des Luxemburgischen Ordens mit den Worten: „Das haben Sie aus Indien
mitgebracht," und der Prinz von Oranien sandte ihm hierzu mit eigenhändigen
Brief die Dekoration, die er selbst getragen hatte. Im Februar 1848 wurde
ihm die Stellung als Kommandant der Armee und als Generalgouvemeur
von Indien verliehen, der glänzendste Posten, den Holland zu vergebe« hat.
Er stellte seine Bedingungen, hatte jedoch keine Lust und schrieb am 15. Februar
an seinen Bruder Max: „Die Ernennung zum Generalleutnant und eine höhere
Pension verlocken mich nicht." Sein Sehnen stand nach der Heimat.
Da kam die Bewegung von 1848 dazwischen. Der Deutsche von damals
verlangte nicht mehr wie 1830 die Freiheit allein, sondern auch die Einheit
dazu. Aber die Sehnsucht nach Freiheit war älter und entwickelter, und darum
gehört es zu dem bösen Verhängnis des Jahres, daß sich die beiden einander
nahe verwandten Strömungen meistens durchkreuzten und hemmten, statt sich
gegenseitig zu unterstützen. Die Unklarheit über das Ziel wie über die Mittel
zu seiner Erreichung, der durch das Strande» der Dynastien genährte Sonder¬
geist der Bevölkerungen, das verworrne und ohne Krieg zwischen Preußen und
Österreich nicht zu entwirrende Verhältnis, ein weitverbreiteter Widerwille gegen
Preußen und die Persönlichkeit König Friedrich Wilhelms IV., der Parteigeist
der Demokratie und schließlich die gänzliche politische Unerfahrenheit selbst der
befähigtsten Führer in der Nationalversammlung haben zusammengewirkt, um
den begeisterten Versuch, einen nationalen Staat zu schaffen, ruhmlos zum
Scheitern zu bringen. Am klarsten darüber, was man eigentlich wollte, waren
die Männer um Dahlmann und um Heinrich von Gagern. Welcher Anteil
bei letzter»: auf Rechnung des Bruders Friedrich kommt, braucht nicht weiter
nachgewiesen zu werden.
(Schluß folgt)
an könnte sagen, und das scheint auf den ersten Blick manches
für sich zu haben, daß gerade das eigentliche Wesen der Ehe
eine Verquickung mit vermögensrechtlichen Wirkungen nicht ver¬
trage, daß dadurch die rechte Innigkeit, Zartheit und Heiligkeit
des Ehebandes gefährdet sei. Diesen Gedanken hatten bekannt¬
lich die Römer in ihren: Eherechte durchgeführt, und sie waren darin so weit
gegangen, daß sie sogar Schenkungen unter Ehegatten für ungiltig erklärten,
„damit die Liebe nicht vereine, was das Gesetz getrennt hatte," wie einmal ein
Nechtsphilosoph gesagt hat. Wenn man sich nicht durch eine Berufung aus die
deutsche Rechtsentwicklung dem Verdacht aussetzte, als sehne man sich nach dem
Metgenuß und wolle ans der Bärenhaut liegen, so könnte man darauf hinweisen,
das; das römische Dotalrecht der Teil des römische» Rechts ist, der an der
deutschen Sitte am meisten und am allgemeinsten gescheitert ist. Selbst in
dem kleinen Gebiete, wo man ihm eine wirkliche Aufnahme zuschreibt, ist auf
einem künstlichen Umwege, aber im Leben überwiegend der deutsche Nechts-
gedanke in der Lehre von der stillschweigenden Dosbestellung wieder zur Geltung ge¬
kommen. Man braucht aber nicht einmal so weit zurückzugreifen; jeder weiß, wie
wenig man gerade hier von den materiellen Grundlagen des Lebens absehen kann,
und wie empfindlich sich die gemeine Wirklichkeit der Dinge zu rächen Pflegt,
wenn man sie vernachlässigt. Ein Eherecht, das die vermögensrechtliche Seite
der Ehe ganz außer acht ließe, würde damit nichts weiter schaffen als die
Möglichkeit und den Anlaß bestündiger Reibungen und Meinungsverschieden¬
heiten, die nur zu sehr geeignet sind, die rechte eheliche Gesinnung zu unter¬
graben. Auch dies hat Planck im Reichstag mit treffenden Worten ausein¬
andergesetzt.
Auf der andern Seite darf man nicht zu weit gehen. Man kann vielfach
hören, da die Ehe „eine allgemeine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau
sein solle, sei das einzige prinzipiell zulässige Güterrecht die allgemeine Güter¬
gemeinschaft." Das ist nicht richtig. Wie alles Irdische, so ist auch die Ehe
vergänglich, und es liegt nicht der mindeste Grund dafür vor, ihre vermögens¬
rechtlichen Wirkungen weiter zu erstrecke», als es ihr sonstiger Zweck und Sinn
erfordert. Dies würde aber die Gütergemeinschaft zur Folge haben. Wenn
arm und reich einander heiraten, so würde bei der Gütergemeinschaft im Falle
der Ehescheidung der eine Teil mit der Hälfte des Vermögens des andern
davon ziehen, und ebenso beim Todesfall, wenn keine Kinder und Enkel vor¬
handen sind, das ursprüngliche Vermögen des einen Teils zur Hälfte dem
Erbrechte der Verwandten des andern Teils unterliegen. Das ist unbillig
und ungerecht und wird auch unzweifelhaft in solchen Fällen von allen Be¬
teiligten so empfunden. Die Verwaltungsgemeinschaft des bürgerlichen Gesetz¬
buchs, die jedem Ehegatten das Eigentum seines Vermögens beläßt und bei
der Auflösung der Ehe jedem zurückgiebt, was er eingebracht hat, vereinigt
nur für die Dauer und für die Zwecke der Ehe beide Vermögen zu gemein¬
schaftlicher Verwaltung und ist deshalb auch grundsätzlich die richtige Regelung.
Nur nebenbei ist auf die Gründe aufmerksam zu machen, die die wirtschaftliche
Not unsrer Zeit der Einführung der Gütergemeinschaft entgegenstellt. Bei ihr,
die ohne Rücksicht auf Zweck und Dauer der Ehe und für immer beide Ver¬
mögen in der verwaltenden Hand des Mannes vereinigt, haftet „das Gesamt¬
gut" für die Schulden des Mannes; gerät dieser daher wirtschaftlich in Ver-
fall, so ist mit ihm die ganze Familie zu Grunde gerichtet, und das Vermögen,
das zur Erhaltung der Familie in die Hand des Mannes gegeben war, geht
durch ihn der Familie verloren. Es ist klar, daß dies eine ungewollte Folge
des familienrechtlichen Zusammenschlusses beider Vermögen und eine einseitige
Begünstigung der Gläubiger des Mannes ist, vor allem da, wo die Schulden
des Ehemannes nicht zur Erhaltung der Familie gemacht sind, sondern viel¬
leicht sehr unfamilienhaftem Verhalten, der Verschwendung oder der Spekulativ»
entstammen. Dem Gläubiger freilich wird man es nicht verargen können,
wenn er, wie man es so häufig hört, laut darüber klagt, daß sein Schuldner
ihn unbefriedigt läßt und gleichwohl, mit dem Gelde seiner Frau, in Wohl¬
leben und standesmäßigem Auftreten verharrt; von dein Standpunkte der All¬
gemeinheit wird man diese Folge in Kauf nehmen müssen.
Sozial steht eben die Erhaltung der Familie höher als der Vorteil des
Gläubigers, der durch unvorsichtiges und gewagtes Borgen sich selber ge¬
schädigt hat. Ein sozial denkendes Eherecht, das nnr mit Rücksicht auf die
Familie das Vermögen beider Ehegatten der Verwaltung des Mannes unter¬
wirft, wird also die Haftung des Frauenguts für die einseitigen Schulden des
Mannes ablehnen und dadurch der Mehrzahl der Familien, nämlich überall da,
wo der Sitte gemäß die eigentliche Ausstattung von der Frau in die Ehe ein¬
gebracht worden ist, auch an den beweglichen Sachen des Haushalts ein wirkliches
vor Zwangsvollstreckungen geschütztes Heimstättenrecht sichern. Der Fortschritt
ist kaum abzusehen, den damit das bürgerliche Gesetzbuch im Sinne eines ge¬
sunden Sozialrechts gemacht hat; er erstreckt sich nicht allein auf die bisherigen
Gebiete der Gütergemeinschaft, sondern auch da, wo schon jetzt der Schutz der
Frau gegen die Gläubiger des Ehemanns als Regel anerkannt war, ist ihre
Rechtsstellung durch reinere Durchführung des Gedankens und Beseitigung der
Ausnahmen ganz wesentlich verbessert. So ist entgegen dem Allgemeinen
Landrechte das Zurückbehaltungsrecht des Hauswirth an den eingebrachten und
sogar an den durch Ehevertrag vorbehaltnen Sachen der Ehefrau beseitigt. Noch
wichtiger ist, daß der Nießbrauch des Ehemanns fortan weder übertragbar noch
pfändbar ist; letzteres ist neu; es ergiebt sich daraus, daß im Konkurse des
Ehemanns die Früchte und Einkünfte des Frauenguts nicht mehr wie bisher
zur Masse gehören. Darüber hinaus ist vorsorglich bestimmt, daß mit der
Eröffnung des Konkurses über das Vermögen des Ehemanns die Verwaltung
und die Nutznießung des eingebrachten Gutes aufhören.
Hiernach gewinnt das Eherecht des bürgerlichen Gesetzbuchs bereits ein
ganz andres Gesicht. Den Ausgangspunkt bilden die §§ 1389 und 1360:
„Der Mann hat den ehelichen Aufwand zu tragen" und „der Frau nach Ma߬
gabe seiner Lebensstellung, seines Vermögens und seiner Erwerbsfähigkeit
Unterhalt zu gewähren." Z 1363, der mit der Eheschließung das Vermögen
der Frau der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterwirft, findet
seine richtige Beleuchtung in den Z§ 1374 und 1375: „Der Mann hat das
eingebrachte Gut ordnungsmäßig zu verwalten" und „nicht die Befugnis, über
eingebrachtes Gut ohne Zustimmung der Frau zu verfügen." Ebenso darf
man auch den 1383: „Der Mann erwirbt die Nutzungen des eingebrachten
Gutes in derselben Weise und in demselben Umfange, wie ein Nießbraucher"
nie ohne den zweiten Absatz des § 1389 anführen: „Die Frau kann verlangen,
daß der Mann den Reinertrag des eingebrachten Gutes, soweit dieser zur Be¬
streitung des eignen und des der Frau und den gemeinschaftlichen Abkömm¬
lingen zu gewährenden Unterhalts erforderlich ist, ohne Rücksicht auf seine
sonstigen Verpflichtungen zu diesem Zwecke verwendet." Damit ist übrigens
ausgesprochen, daß dem Ehemanne auch insoweit die Früchte des eingebrachten
Gutes zufallen, als sie zum Unterhalt der Familie nicht erforderlich sind, mit
andern Worten, daß er Eigentümer der Ersparnisse des Fraueuguts wird, und
dieser Satz ist besonders heftig bekämpft worden. Es ist rückhaltlos zuzugeben,
daß er aus dem Begriffe der Familie nicht hergeleitet werden kann und un¬
billig ist, weil und soweit er ohne Grund und Gegenleistung dem Ehemann
einen reinen Gewinn zuführt. Die Sache ist aber nicht so schlimm, wie es
bei rein theoretischer Betrachtung scheinen könnte; man braucht sich nur zu
fragen, wie viel Ehen es im Deutschen Reiche giebt, bei denen die Frage der
Ersparnisse des Fraueuguts wirklich wichtig wird, und man wird ohne weiteres
einsehen, daß man es diesen wenigen Frauen ruhig überlassen kann, selbst
durch Ehevertrag sich einen Teil der Überschüsse zu retten, wenn sie es für nötig
halten. Die Gesamtheit hat an einer allgemeinen Vorschrift dieses Inhalts
um so weniger ein Interesse, als die Auseinandersetzung durchaus nicht so
einfach ist, wie es aussieht; denn überall, wo der Mann selbst auch ein Ein¬
kommen hat, taucht die Frage aus, von welchem Vermögen die Haushaltkosten be¬
stritten worden sind, und aus welchem die Überschüsse herrühren.
Die Frage hat aber noch eine andre Seite, und die ist bedeutend wichtiger.
Es ist ein wirkliches Verdienst der oben erwähnten Jastrowschen Schrift, daß
sie auf die Rechte hinweist, die die Frau an dem eignen Erwerbe des Mannes
hat. Man denke an Schillers Glocke:
Mag noch so sehr der Mann allein ins feindliche Leben hinausgestürmt sein,
kein Zweifel, daß solche Thätigkeit der Hausfrau einen Anteil an dem „er¬
listeten und errafften" Reichtum bedeutet, der sich zwar nicht in Zahlen aus-
rechnen, noch weniger aber wirtschaftlich und rechtlich bestreiten läßt. Für
dieses Recht der Frau hat das bürgerliche Gesetzbuch noch keine Formel ge¬
funden; es kennzeichnet aber die Frauenbewegung, daß ihr, wie Jastrow hervor¬
hebt, dieses Unrecht völlig entgangen ist, und daß anch ihre Freunde im Reichs¬
tage über der maßlos einseitigen Betonung der äußerlichen Gleichberechtigung
der Frau keine Zeit gefunden haben, für diesen Gedanken einen Ausdruck und
einen gangbaren Weg zu finden.
Man kann also dem bürgerlichen Gesetzbuch hier kaum einen Vorwurf
machen, zumal da dieser Gedanke auch bisher noch nirgends gesetzlich geregelt
ist; ob er Kraft und Anklang genug gewinnen wird, sich durchzusetzen, mag
die Zukunft lehren. Die Bildung und Anerkennung eines neuen Gewohnheits¬
rechts ist vom bürgerlichen Gesetzbuch im Gegensatze zu den bestehenden Gesetz¬
gebungen nicht ausgeschlossen worden und darum der richtige» Meinung nach
zulässig; möglich, daß sich auf diesem Wege eine Art Errungenschaftsgemein¬
schaft zum regelmüßigen Güterrecht entwickelt. Einstweilen kann man sich damit
trösten, daß es auch auf diese Frage im wirklichen Leben nicht allzu oft an¬
kommt. Eigentlich brennend wird sie nur da, wo eine Ehe bei Lebzeiten beider
Ehegatten geschieden wird, nachdem sie längere Zeit gedauert hat, und nachdem
durch die gemeinschaftliche Arbeit ein nennenswertes Vermögen erworben worden
ist. Das sind drei Voraussetzungen, die im Leben nur äußerst selten zu¬
sammentreffen werden. Gelangt das Vermögen nach dem Tode beider Ehe¬
gatten an die regelmäßigen Erben, die Kinder, so ist es überhaupt gleichgiltig,
von wem sie es erben. Stirbt der Mann vor der Fran, ohne zu ihren
Gunsten letztwillig verfügt zu haben, so findet sie einen gewissen Ersatz für
das fehlende Miteigentum an den Ersparnissen in einem weitgehenden Erb¬
rechte, das gegenüber Kindern und Enkeln ein Viertel, gegenüber Eltern, Ge¬
schwistern und deren Abkömmlingen und Großeltern die Hälfte des Nachlasses
des Mannes umfaßt und alle entfernter» Verwandten ganz ausschließt. Von
großer Bedeutung ist die für weite Gebiete, z. B. auch für Berlin neue Vor¬
schrift des § 1932, daß die Witwe, wenn keine Kinder oder Enkel vorhanden
sind, außer ihrem Erbteil die zum ehelichen Haushalt gehörigen Sachen und
die Hochzeitsgeschenke im voraus erhält. Dies schützt, insbesondre bei kleinern
Verhältnissen, die Witwe vor chikanösen Erbteilungsanträgen der Verwandten
des Mannes und sichert ihr die Fortführung des gewohnten Lebens.
Wenn es der Nutzen der Familie ist, dem zuliebe die Verwaltung des
eingebrachten Gutes in die Hände des Ehemannes gelegt ist, so bedarf es
selbstverständlich besondern Schutzes, wo die Familie von der Gefahr einer
zweckwidrigen Verwendung des Fraueugutes bedroht ist. Es handelt sich hier
nicht allein und uicht einmal vor allem um einen Vertrauensmißbrauch des
Ehemannes, sondern hauptsächlich um das Verhältnis der Frau zu den Gläu¬
bigern des Ehemannes. Wie schon vorher angedeutet worden ist, ist die Regelung
vor allem deshalb schwierig, weil hier in vielen Fällen wirklich berechtigte
Interessen einander widerstreiten und man beiden Teilen zugleich nicht gerecht
werden kann. Wichtig ist hier, daß das bürgerliche Gesetzbuch nicht nur, wie
das Allgemeine Landrecht, das Eigentum der Frau an den ursprünglich ein¬
gebrachten Sachen schützt, sondern auch in der Regel alle beweglichen Sachen
und Wertpapiere in ihr Eigentum übergehen läßt, die der Ehemann mit
Mitteln des eingebrachten Gutes erwirbt (§ 1381). Noch weiter geht Z 1332,
der alle Haushaltgegenstände, die an Stelle eingebrachter angeschafft werden,
gleichviel wer von den beiden sie bezahlt, Eigentum der Frau werden läßt
und also dem Zugriffe der Gläubiger des Mannes entzieht. Die Wichtigkeit
dieser Vorschrift leuchtet ein; die Frau ist dadurch auch vor Gericht besser ge¬
sichert als bisher, da sie künftig bei „Jnterventionsprozessen" nur deu Nach¬
weis zu führen hat, daß sie eine Sache von der Art der gepfändeten in die
Ehe eingebracht hat. Die jedem Praktiker wohlbekannte xrovii-die» eng.vo1iea,
der „Identität" bleibt ihr daher in der Zukunft erspart.
Die Frau kann Sicherheitsleistung verlangen (§ 1391) und außerdem auf
Aufhebung der Verwaltung und Nutznießung klagen 1418), wenn das Ver¬
halten des Mannes die Besorgnis begründet, „daß ihre Rechte in einer das
eingebrachte Gut erheblich gefährdenden Weise verletzt werden." Hieran reiht
sich die Vorschrift: „Das gleiche gilt, wenn die der Frau aus der Verwaltung
und Nutznießung des Mannes zustehenden Ansprüche auf Ersatz des Wertes
verbrauchbarer Sachen erheblich gefährdet sind." Diese Vorschrift sieht un¬
scheinbar aus und hat doch einen gewaltigen Einfluß auf die Kreditverhältnisse
kleinerer Leute. Zu den verbrauchbaren Sachen gehört im gesetzlichen Sinne
vor allem das Geld in jeglicher Form; die Vorschrift umfaßt deshalb alle
Fälle, wo das Vermögen der Frau mittelbar oder unmittelbar in bar einge¬
bracht und zum Erwerbe oder zur Vergrößerung des Geschäfts des Ehemannes
verwendet wird. Gerät der Ehemann in Vermögensverfall und Konkurs, so
wird es für ihn und seine Familie ein naheliegendes Bestreben sein, das ein¬
gebrachte Gut seiner Frau sicherzustellen oder zurückzugewähren. Das be¬
stehende Gesetz schiebt dem den bekannten Riegel der Anfechtbarkeit vor, der
jede Rückgewähr oder Sicherstellung des Heiratsguts ans den letzten zwei
Jahren vor der Eröffnung des Konkursverfahrens unterliegt. Die Bestim¬
mung der Konkursordnung ist bestehen geblieben, aber unwirksam geworden:
bei drohendem Konkurse ist fortan die Frau in der Lage, im Rechtswege Rück¬
gewähr und jede noch mögliche Sicherstellung ihres eingebrachten Vermögens
zu erzwingen. Kommt der Mann dieser Verpflichtung freiwillig nach, solange
es noch Zeit ist, d. h. vor der offenkundiger Zahlungseinstellung, so ist die
Frau gegen die Anfechtung der Gläubiger geschützt; denn diese ist nach der
Konkursordnung überall da ausgeschlossen, wo der Ehemann mit der Nück-
gewcihr oder Sicherstellung nur seiner gesetzlichen Verpflichtung nachgekommen
ist. Man hat diese Regelung auch trotz der entgegenstehenden und wohl¬
erwognen Bedenken mit vollem Bewußtsein gewählt, „weil es vom sozialen
Standpunkt aus den Vorzug verdiene, der Frau und den Kindern des Gemein¬
schuldners, wenn auch auf Kosten der übrigen Gläubiger, einen erhöhten
Schutz zu gewähren, statt sie der öffentlichen Armenpflege zur Last fallen zu
lassen."
Vom Geld- und Gläubigerstaudpunkt aus pflegt man solche Schutzvor-
schrifte» damit zu bekämpfen, daß durch sie gerade kleinern Geschäftsleuten die
Möglichkeit verringert werde, Kredit zu bekommen. Ob das zutrifft, wollen wir
abwarten; gewiß ist der Kredit heute für unser Wirtschaftsleben notwendig.
Spekulation und Konkurrenz um Absatz verlegner Fabrikanten, nicht minder
der Provisionshunger gewissenloser Reisenden sind aber nur zu oft die Quelle
leichtsinnigen Kredits, der dann die einzige Wurzel einer auf die Dauer un¬
haltbaren wirtschaftlichen Selbständigkeit ist; würde unsre Bestimmung diesem
Mißbrauch des Kredits entgegenwirken, so würde sie zweifellos auch in dieser
Richtung zur Gesundheit unsrer Verhältnisse helfen und wirtschaftlich ein Segen
werden.
Die Frauenbewegung wird freilich weiter sagen, das alles sei für den
eigentlichen Kern unsrer Frage gleichgiltig und die Hereinziehung der Familie
nichts als eitel Vorwand, um die grausame Unterdrückung der deutschen Frau
zu beschönigen. Wie ernst es aber in Wahrheit dem bürgerlichen Gesetzbuch
mit dem Bestreben ist, die Stellung der Frau ihrer Würde und ihrem wahren
Berufe gemäß auszubilden, kann man am besten sehen, wenn man auf die
Kehrseite der Sache schaut und die Beziehungen prüft, in denen die Ver¬
mögensrechte der Frau durch ihre Familicnstellnng nicht beschränkt, sondern
erweitert werden oder unbeeinflußt bleiben. Schon oben ist darauf hingewiesen
worden, daß alle aus frühern Zeiten her bekannten Zurücksetzungen oder Be¬
schränkungen des unverheirateten Weibes weggefallen sind, so sehr, daß nicht
einmal eine Erwähnung übrig geblieben ist, daß sie aufgehoben seien. Hier
handelt es sich um die vermögensrechtliche Stellung der verheirateten Frau,
und zwar kommt dreierlei in Frage.
Noch das Allgemeine Landrecht konnte bestimme«: „Was die Frau in
stehender Ehe erwirbt, erwirbt sie, der Regel nach, dem Manne." Das heißt
richtig verstanden: wenn eine Ehefrau thätig wird, so ist es nach den Lebens¬
verhältnissen die Regel, daß sie diese Thätigkeit im Nahmen des Hauses und
der Familie entfaltet, und es ist deshalb zu vermuten, daß der Erwerb aus
solcher häuslichen Thätigkeit (oM'g,s äomsstiog.6 nennen sie die Juristen im
Gegensatze zu oporas in-tilioi-ne^ et inäustri^iss) „dem Ehemanne in derselben
Art und nach denselben Grundsätzen zufällt, wie ihm das vou andern in seinem
Hanse oder Geschäfte verwendeten Gehilfen Erworbne" gehört. Schon die Recht¬
sprechung des Obertribunals hat erkannt, daß der landrechtliche Grundsatz in
seiner Allgemeinheit auf die wirtschaftlichen Verhältnisse unsrer Zeit nicht mehr
paßt, und es ist auch gar kein Zweifel möglich, daß die Ehefrau, die zur Er¬
haltung der Ihrigen einem selbständigen Erwerbe nachgeht, sei es als Künst¬
lerin, als Gewerbetreibende oder als Waschfrau, damit aus dem Rahmen der
Familie heraustritt. Die wirtschaftliche Entwicklung, die eine übergroße Anzahl
von Frauen so aus der Familie herausgeführt hat, besteht nun einmal; man
kann sie von heute auf morgen nicht ändern, so sehr mau sie für die reine
Entfaltung des deutschen Familienbegriffs bedauern mag. Sehen wir nun zu,
wie sich hierzu das bürgerliche Gesetzbuch stellt, so finden wir, daß darin uuter-
schiedlos alles, „was die Frau durch ihre Arbeit oder durch den selbständigen
Betrieb eines Erwerbsgcschäfts erwirbt," für Vorbehaltsgut erklärt, also von
der Verwaltung und Nutznießung des Mannes befreit ist. Es ist nicht über¬
flüssig zu erwähnen, daß sich diese Bestimmung schon in dem so übel beleum¬
deter ersten Entwürfe des bürgerlichen Gesetzbuchs vorfindet und in den amt¬
lichen Motiven mit einem Verständnis für die wirtschaftliche Entwicklung und
für die Würde der erwerbenden Frau begründet ist, wie man es bei dem
wärmsten Gönner der Frauenbewegung nicht besser wünschen kann.
Der zweite Punkt ist noch weit wichtiger, uicht weniger wegen seiner
praktischen Folgerungen als wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung. Die
Familie als Gesamtperson bedarf eines Hauptes, und es ist wohl im Ernste
noch niemals angefochten worden, daß dies der Mann ist, solange er lebt. Daß
bei seinem Tode an seine Stelle mit allen Rechten und Pflichten die Mutter
tritt, ist gleichfalls uicht zu bezweifelu, weder aus grundsätzlichen Bedenken,
noch wegen einer angeblichen Minderbegabtheit der Frauen zur Vermögens¬
verwaltung, noch mit Rücksicht auf die Kräftigung des Familienbandes, das
ja gerade in der Mutter beim Wegfall des Vaters den stärksten Halt findet.
Es giebt in dem geltenden Privatrecht keine schlimmere Verkümmerung eines
wirklichen Naturrechts, als die völlige Nichtachtung dieser Nachfolge der Frau
im Hausregiment. Stirbt der Vater mit Hinterlassung unmündiger Kinder, so
wird die gerichtliche Vormundschaft eingeleitet, gleichviel ob die Mutter lebt
oder uicht; ja die Mutter hat uicht einmal ein unbedingtes Recht auf die
Übertragung der Vormundschaft und unterliegt nur in einzelnen Punkten einer
weniger peinlichen Gerichtsaufsicht als andre Vormünder. So demütigend und
mit Umständlichkeiten verknüpft diese Rechtsstellung für die Witwe ist, so
zwecklos ist sie: der sichtbare Erfolg der Vermögensverzeichnisse, Vermögens-
übersichteu und Schlußrechnungen, womit die Mündclmütter nach der geltenden
Vormundschaftsorduung geplagt werden müssen, ist weniger eine Beförderung
des Wohles der dem Staatsschutze anvertrauten Waisen, als eine Vermehrung
der Akten der Vormundschaftsgerichte, und bekannt ist auch das schattenhafte
Dasein, das viele neben der Mündelmutter wider ihren Willen bestellte Vor¬
münder besonders in größern Städten zu führen Pflegen.
Es ist vielleicht die größte, jedenfalls aber die erfreulichste Überraschung
gewesen, daß das bürgerliche Gesetzbuch in diesem Punkte die Frau, die Mutter
in ihre natürlichen Rechte wieder eingesetzt hat. Auch dies ist keine mühsam
erkämpfte Errungenschaft der Frauenbewegung, sondern das wertvolle Ver¬
mächtnis, mit dem das französische Recht sein Dasein in Deutschland verewigt
hat; schon der erste Entwurf hat es im Gegensatze zu dem Rechte sast
des ganzen Deutschen Reichs übernommen und mit vorsichtig abwägenden
Worten begründet: „Es ist nicht ein öffentliches Amt, durch welches der
Mutter fremde Geschäfte vou außen überwiesen werden; vielmehr handelt
es sich wesentlich doch nur um eine Erweiterung ihrer familienrechtlichen
Stellung, um eine vollere Ausgestaltung ihres hausfraulichen und mütter¬
lichen Berufs. Die Mutter soll nicht aus ihrem natürlichen Berufe heraus¬
gehoben, sondern im Gegenteil nur von Schranken befreit werden, welche
sie bisher in der Erfüllung des ihr eignen Berufs beengten. Dem Ent¬
Wurfe liegt nichts ferner, als der Gedanke der sogenannten Emanzipation der
Frauen. Er geht vielmehr von der Erwägung aus, daß das Mißtrauen,
welches frühere Jahrhunderte in die Fähigkeit der Frau zu einer vollen Er¬
füllung ihres elterlichen Berufs setzten und bei der Unsicherheit der Zustände,
der Schwierigkeit der Rechtsverfolguug usw. vielfach setzen mußten, nach den
Verhältnissen der Gegenwart nicht mehr berechtigt ist. ... In den weitaus
meisten Fällen kann die Fähigkeit der Mutter zur Übernahme dieser vollem
Elternpflicht nicht wohl in Zweifel gezogen werden. . . . Wie die Anerkennung
der elterlichen Gewalt der Mutter einerseits das innere Familienleben vor der
sich eindrängenden Einmischung vormundschaftlicher Aufsichtsorgaue bewahrt,
so vermindert sie andrerseits in erheblicher Weise die Geschäfte der Vormund¬
schaftsgerichte, entlastet die durch die neuere Gesetzgebung auf andern Gebieten
mehr als früher in Anspruch genommne Thätigkeit der Staatsbürger ans dem
Gebiete der Vormundschaftsverwaltung und erspart so nicht allein dem Staate,
sondern auch den Kindern und den Staatsbürgern nicht unerhebliche Kosten
und Ausgaben."
Nach dem französischen Rechte hat die Witwe, ebenso wie der Vater in
demselben Falle, nur die Stellung eines gesetzlichen, aber immerhin beaufsich¬
tigten Vormunds mit Erziehungsrecht und elterlichen Nießbrauch an dem Ver¬
mögen des Mündels; dies ist dem bürgerlichen Gesetzbuch fremd; wie der Tod
der Frau die Rechtsstellung des Vaters zu den minderjährigen Kindern nicht
berührt, so erlangt die Mutter durch den Tod des Vaters aus eignem Rechte
und ohne jede Einmischung und Mitwirkung des Vormundschaftsgerichts die
volle elterliche Gewalt; das bürgerliche Gesetzbuch kennt keine väterliche Gewalt
mehr, .sondern nur eine elterliche Gewalt, die bei seinen Lebzeiten dem Vater,
nach dessen Tode und in gewissen Beziehungen schon vorher der Mutter zu¬
steht.*) Nur dann bestellt das Bormundschaftsgericht der Mutter einen Bei¬
stand, wenn sie es selbst beantragt, oder der Vater es angeordnet hat, oder
das Bormundschaftsgericht die Bestellung aus besondern Gründen im Interesse
des Kindes für nötig erachtet, insbesondre wegen des Umfanges oder der
Schwierigkeit der Vermögensverwaltung, oder bei Mißbrauch der elterlichen
Gewalt und Gefährdung des Kindesvermögens. Die Motive bemerken, daß
nach den bisherigen Erfahrungen in der Rheinprovinz (dem preußischen Geltungs¬
gebiet des französischen Rechts) das praktische Bedürfnis fast niemals dazu
geführt hat, von diesem Auskunftmittel Gebrauch zu machen. Die Öffentlichkeit
und die Frauen werden dafür zu sorgen haben, daß nicht etwa eine allzu
ängstliche Gerichtspraxis dem Geiste des Gesetzes zuwider die Beistandbestellung
übertreibt. Die vorstehenden Rechte stehen natürlich nur der rechten Mutter
zu, nicht der Stiefmutter; auch jene verliert die elterliche Gewalt, sobald sie
eine neue Ehe eingeht, d. h. in eine andre Familie eintritt. Das letztere er¬
giebt sich aus dem Familienbegriff von selbst; im Reichstage ist freilich auch
dieser Satz heftig bekämpft worden „als eine Prämie auf das Konkubinat,"
als eine „Ungerechtigkeit," über die „selbst die ruhigsten Frauen" eine „durch¬
aus berechtigte Entrüstung empfinden."
Das letzte ist die schon öfters berührte Möglichkeit, durch gericht¬
lichen oder notariellen Vertrag das gesetzliche Güterrecht auszuschließen, also
einerseits die von der Frauenbewegung erstrebte Gütertrennung, andrerseits
eins der bisher außer der Verwaltungsgemeinschaft gebräuchlichen Güterrechte
zu wählen, die im bürgerlichen Gesetzbuche auf drei Grundformen (allgemeine
Gütergemeinschaft, Errungenschaftsgemeinschaft, Fahrnisgemeinschaft) zurück¬
geführt und eingehend geregelt sind. Es ist eine der spannendsten Fragen
unsrer Nechtsentwicklung, wie sich die Bevölkerung, insbesondre der Bauern¬
stand mit der Beseitigung der durchweg auf jahrhundertelanger Gewöhnung
beruhenden gesetzlichen Güterrechtsverhältnisse abfinden wird. Für bestehende
Ehen bleibt natürlich ihr bisheriges Güterrecht in Kraft. Es ist nach allen
bisherigen Erfahrungen anzunehmen, daß die drei vertragsmäßigen Formen
der allgemeinen oder besondern Gemeinschaft so gut wie völlig aussterben
und nur in einer verschwindenden Anzahl von Fällen vertragsmäßige Fest¬
setzung finden werden. Häufiger wird sich ein Bedürfnis zur Vereinbarung
der Gütertrennung ergeben. Für alle Eheverträge einer längern Übergangszeit
ist im Reichstage Gebührenfreiheit gefordert worden; daß dies nicht durch¬
gedrungen ist, ist zu billigen. Selbstverständlich dürfen finanzielle Rücksichten
bei einer solchen Frage keine Rolle spielen; wenn aber das Recht die Ver-
mögensverhältnisse der Eheleute in einer Weise regelt, die nicht allein dem
Nutzen beider Ehegatten gerecht wird und den Anschauungen des weit über¬
wiegenden Teiles des Volkes entspricht, sondern auch in ganz beträchtlichem
Maße dem öffentlichen Interesse dient, so ist es wohl Fug und Recht des
Staates, auf den sanften Zwang zur Unterwerfung unter das Eherecht nicht
zu verzichten, den die Rücksicht auf die Kosten eines Ehevertrags ausübt. Es
sührt dies dazu, die Ausschließung des gesetzlichen Güterrechts auf die Fülle
zu beschränken, wo sie nicht auf willkürlicher Laune oder vorübergehender
Modeansicht beruht, sondern durch ein wirkliches wirtschaftliches Bedürfnis
gefordert wird.
ietzsche ist also der moderne Mikrokosmus im strengsten und zu¬
gleich umfangreichsten Sinne des Wortes. Wenn ich nun in
dieser kleinen Welt einen Orientirungsversuch unternehme, so
versteht es sich bei ihrem Reichtum von selbst, daß er in dem
hier zugemessenen Raume sehr unvollständig und, wenn man
will, fehlerhaft ausfallen muß, da ja jede unvollständige Abbildung eines
Gegenstands ein in mancher Beziehung falsches Bild ergiebt, weshalb ich anch
allem, was vou Verehrern wie von Gegnern Nietzsches gegen meine Dar¬
stellung und Beleuchtung einiger seiner Ansichten gesagt werden wird, im voraus
Recht gebe.
Nietzsche war Philologe, und so bildete denn das Helleuentum die Pforte,
durch die er in das Reich der wissenschaftlichen Welterkenntnis eintrat. Er
war schon mit vierzehn Jahren tüchtiger Klavierspieler und Komponist gewesen,
War als Student in den Kreis geraten, den Richard Wagner beherrschte, und
so war es denn kein Wunder, wenn sein Geist zwischen dem griechischen Drama
und dem modernen Musikdrnma Beziehungen suchte und fand, lind wenn die
erste bedeutendere Leistung, mit der er vor die Öffentlichkeit trat, den Titel
führte: Die Geburt der Tragödie. Daß er beim handwerksmäßigen Betrieb
der Philologie, dem er als Student gewissenhaft obgelegen hatte, stehen bleiben
würde, darau war uicht zu denken. Die zweite seiner unzeitgemäßer Be-
trachtungen stellt dar. wie „ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schadet."
Er beleuchtet darin die drei Vehandluugsweiseu der Geschichte, die „monu-
mentalische," die antiquarische und die kritische, und zeigt von jeder sowohl
die Berechtigung an sich, wie die Stelle, wo sie ihre Berechtigung verliert und
gefährlich wird. Gar prächtig schildert er, wie die historische Betrachtungs¬
weise das Leben hier durch die Größe der Vergangenheit erdrückt, dort durch
die Gleichgiltigkeit gegen die Gegenwart entwurzelt, wie sie die Thatkraft
lahmt, wie sie Vorwünde bietet, uuter der Maske der Verehrung verstorbner
Größen den Haß und den Neid gegen die lebenden zu verbergen, wie sie die
Menschen lehrt, mit allen frühern Zeiten zu empfindeln, sich mit den Lappen
aller verflossenen Kulturen zu schmücken und so allmählich zu jener Gesinnung
oder Gesinnungslosigkeit zu gelangen, die nichts mehr ernst nimmt, und der
das ganze Dasein nur eine Maskerade ist. Besonders die rein antiquarische
BeHandlungsweise ist ihm zuwider, die es verlernt, nur das Wertvolle zu
suchen, das Wertlose aber beiseite liegen zu lassen, die alles Alte ohne Unter¬
schied nur darum schätzt, weil es alt ist. „Die antiquarische Historie entartet
in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr
beseelt und begeistert. Jetzt dörrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung
besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen
Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden
Sammelwut, eines rastlosen Zusainmenschnrrens alles einmal Dagewesenen.
Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm, selbst eine bedeutendere
Anlage, ein edleres Bedürfnis durch die antiquarische Manier zu unersättlicher
Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so
tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub
bibliographischer Quisquilien frißt" (I, 306).
Von der Versuchung zu dieser Verirrung gänzlich frei, wandte sich also
Nietzsche dem Probleme der Tragödie zu. Vielleicht thue ich etwas Über¬
flüssiges, wenn ich den Grundgedanken seiner Schrift entwickle, da sie in der
Gesamtausgabe der Werke Nietzsches schon die vierte Auflage erlebt hat, viel¬
leicht aber giebt es auch noch mehr Orte wie meinen Wohnort, wo bis vor
kurzem nur ein einziger Mensch lebte, der die Schrift und überhaupt Nietzsche
gelesen hatte. Die Tragödie ist bei den Griechen aus dem Divnysustultus
entstanden. Der Dithyrambus des Chors der Satyrn war ihr erster Anfang.
Diese Musik war der Ausdruck einer Nauschbegeisterung, in der die Schicksale
des Dionysus empfunden und gepriesen wurden, was später in etwas andrer
Weise bei der Mysterienfeier geschah. Dionysus ist das Urwesen der Welt.
Er wird von den Titanen zerstückelt, das heißt, die Einheit des Urwesens
spaltet sich in die Vielheit der Elemente, deren Sinnbilder die Titanen sind,
zuletzt der Individuen. Aus dem Lächeln dieses Dionysus, der in der Zer¬
stücklung Zagreus heißt, sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die
Menschen entstanden. „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus
die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden
sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopeen ^in den Mysterien) ging
aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der
Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten
Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopeen. Und nur in dieser
Hoffnung giebt es einen Strahl von Frende auf dem Antlitze der zerrissenen,
in Individuen zertrümmerten Welt. In diesen Anschauungen haben wir alle
Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und damit
zugleich die Mysterienlehre der Tragödie: die Grunderkenntnis von der Einheit
alles Vorhandnen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des
Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation
zu zerbreche» sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit" (I, 74).
Und zwar ist hier vorzugsweise eine Kunst, die Musik, gemeint, die nach
Schopenhauer nicht wie die andern Künste Erscheinungen abbildet, sondern den
alleinen Willen des Weltwesens selbst ausdrückt. Die Satyrgestalt des Chors
hat den Zweck, das Entsetzliche, dessen man im Mythus inne wird, durch die
Umwandlung ins Erhabne und zugleich ins Komische erträglich zu machen;
erhaben aber erscheinen die Satyrn als Vertreter der unverfälschten Natur,
der gegenüber die Kulturmenschen mit ihrer beschränkenden Sitte und be¬
schränkten Weisheit nur als Karikaturen erscheinen. Wo sich aber die Weisheit
mystisch vertieft und die Natur zwingt, ihr Geheimnis preiszugeben, da er¬
scheint sie als Widernatur, als Frevel an der Natur, weshalb die alten Perser
glaubten, ein Magier könne nur aus dem Jnzest geboren werden, und weshalb
Ödipus, der Rätsellöser, Gatte seiner Mutter und Mörder seines Vaters sein
muß. Die Helden der Tragödie, namentlich Prometheus und Ödipus, sind
nämlich alle nur Masken des einen Dionysus, wie sich andrerseits mit den
Personen des Chors, den Satyrn, die Zuschauer eins fühlen, die ja auch ur¬
sprünglich singend und tanzend an der Feier teilgenommen hatten.
Der Mythus und seine orgiastische Feier stammt bekanntlich aus Vorder-
nsien. Hier um lag der Kern der Feier „in einer überschwänglichen geschlecht¬
lichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehr¬
würdige Satzungen hinwegflnteten; gerade die wildesten Bestien der Natur
wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und
Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche »Hexentrank« erschienen ist.
Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntnis auf alten Lcmd-
und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang
völlig gesichert und geschützt durch die sich hier in seinem ganzen Stolz auf¬
richtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlichern Macht
entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist
die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo
verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglicher wurde dieser Widerstand,
als sich endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus ähnliche Triebe
Bahn brachen: jetzt beschränkt sich das Wirken des delphischen Gottes darauf,
dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung
die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen." Wie die dionysischen
Künste: Musik und Tanz aus dem Rausch, so entstehen die apollinischen, die
die Natur nachbildenden Künste aus dem Traum, der das Nachbilden von
Gestatte» lehrt. Dem Tiefsinn der Griechen hat sich das Entsetzliche der Welt
enthüllt, und ihr Zartsinn, der die Leiden der Welt in ihrer ganzen Stärke
und Tiefe empfindet, müßte erliegen, wenn ihnen nicht Apollo, d. i. ihre
Fähigkeit, das Schöne zu sehen, und ihr Trieb, es darzustellen, zu Hilfe käme.
Sie zaubern sich die olympische Götterwelt vor und verbergen sich durch diese
herrliche Kulisse die Welt der düstern Titanen, die Schrecken der Natur; die
ästhetische Auffassung der Welt macht ihnen das Dasein erträglich. In der
Tragödie nun verschmilzt das Apollinische mit dem Dionysischen, indem es
dem Chorgesang die Dekoration, die Person des Helden und den Dialog bei¬
fügt. Der Sinn der Musik wird durch Wort und Bild gedeutet, und die
dionysische Stimmung entladet sich in einer apollinischen Bilderwelt.
Auch wenn ich, was nicht der Fall ist, über das erforderliche philologische
und historisch-antiquarische Rüstzeug verfügte, würde ich es nicht unternehmen,
diesen Erklärungsversuch Nietzsches zu kritisiren; dergleichen kritisirt man über¬
haupt nicht, denn wer vermöchte mit Sicherheit nachzuweisen, wie die Ge¬
dankenwelt einer vor zweitausend Jahren untergegangnen Nation entstanden
ist, und wie alles darin zusammenhängt, und wer vermöchte den zu widerlegen,
der sich auf dem Wege der Kombinationen und Vermutungen ein Bild davon
gemacht hat? Ist das Bild nur schön und glaubhaft, so freut man sich
daran; höchstens untersucht man, ob der Bildner nicht etwa historisch nicht
nachweisbare Züge eingemischt hat, und das ist bei Nietzsches Versuch nicht
der Fall. Alle Elemente, die er verwendet, sind der Wirklichkeit des Alter¬
tums entnommen: der orgiastische Kultus, der Sinn dieses Kultus, die Ver¬
schmelzung des Orgiasmus mit den darstellenden Künsten im griechischen
Drama; auch ist es Thatsache, daß in der Kunst der Rausch der Begeisterung
und die traumartig Bilder schaffende Phantasie zusammenwirken. Vielleicht
wird mancher vorziehen, statt des Apollo die Pallas Athene als Nepräsen-
darein des Bildnergeistes und der den Orgiasmus bändigenden Sitte und Be¬
sonnenheit zu uemien. Was den, Dionysus anlangt, so ist seine Stellung zur
Tragödie schon durch deren Namen gegeben, denn sie hat ihn ja von dem
Bock, der diesem Gott geschlachtet wurde, vielleicht auch von den bockfüßigen
Satyrn, seinen Begleitern. Übrigens hat Nietzsche später gestanden, daß ihm
diese historische Begründung der Bezeichnung dessen, was er mit dem Worte
dionysisch meinte, eigentlich Nebensache sei. Der dritten Auflage, die 1886
erschien, hat er unter dem Titel: Versuch einer Selbstkritik, ein Vorwort
vorausgeschickt, worin er die Schrift „ein unmögliches Buch" schilt. „Ich
heiße es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig.
gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo,
ohne Willen zur logischen Sauberkeit" usw. (alles Fehler, nebenbei gesagt, an
denen mir der Zarathustra in weit höherm Grade zu leiden scheint als dieses
Erstlingswerk). Gilt findet er in dem Buche den Geist, der es beseelt. Wenn
nämlich auch der darin ausgesprochne Gedanke, daß sich das Dasein der Welt
nur als ästhetisches Phänomen rechtfertigen lasse, falsch sei, so habe doch dieser
rein ästhetischen Weltbetrachtung eine löbliche Empfindung zu Grunde gelegen:
der Haß gegen das Christentum und gegen dessen auch von Schopenhauer ver¬
tretene moralische Weltbetrachtung, die auf Verneinung des irdischen Daseins
hinauslaufe. „Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem frag¬
würdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens,
und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens,
eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und
Mensch der Worte durfte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — denn wer wüßte
den rechten Namen des Antichrist? — auf den Namen eines griechischen Gottes:
ich hieß sie die dionysische." Er bedauert dann, daß er damals noch nicht
den Mut oder die Unbescheidenheit gehabt habe, sich für seine eignen An¬
schauungen auch eine eigne Sprache zu erlauben, daß er mühselig mit Schopen¬
hauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Wertschätzungen auszu¬
drücken gesucht habe, „die dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie
ihrem Geschmack, von Grund aus entgegen gingen!"
Wir lassen diesen Erguß, mit dem er, wie mir scheint, sein früheres,
jüngeres Ich ein wenig verleumdet, auf sich beruhen und wenden uns den
beiden Gedankenreihen zu, die von der „Geburt der Tragödie" ausgehen und
alle Werke Nietzsches durchziehen, den Betrachtungen über das Wesen des
Griechentums und über die Kunst. Nietzsche klagt den Sokrates an als den
Zerstörer des alten Griechengeistcs, des einfachen, seiner selbst gewissen, vor¬
nehmen Geistes der ältern Zeit. Wie er denn gewöhnt ist, jeden Gegenstand
von allen Seiten zu beschauen, daher die entgegengesetztesten Eigenschaften daran
zu entdecken und die Gegensätze in den übertriebensten Ausdrücken hervorzu¬
heben, so preist er ja auch gelegentlich die außerordentlichen Gaben und
Leistungen des Sokrates. Gewöhnlich aber spricht er schlecht von ihm. Er
schließt aus seiner Häßlichkeit, daß er gar kein Grieche gewesen sei, und er
nennt ihn plebejisch. Sokrates sei der theoretische Mensch, und alles Theore-
tisiren sei plebejisch. Der vornehme Mensch handle aus Instinkt und könne
niemals genügend über die Gründe seines Handelns Auskunft geben (VII, 121).
„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um:
was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack
besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte
man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als
schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen.
Auch mißtraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honette Dinge
tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muß, ist
wenig wert. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man
nicht »begründet,« sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst:
man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. Sokrates war der Hanswurst,
der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich? Man wählt die
Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiß, daß man Mi߬
trauen mit ihr erregt, daß sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen
als ein Dialektikereffekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird,
beweist das. Sie kann nur Notwehr sein, in den Händen solcher, die keine
andern Waffen mehr haben. Man muß sein Recht zu erzwingen haben, eher
macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren jund sindlj deshalb
Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch?"
(VIII, 70). Aus Euripides spricht nun nicht mehr der Gott Dionhsns, sondern
der Dämon Sokrates, und so hat er denn die Tragödie vernichtet. In ihm
hat die Tragödie selbst tragisch geendet, durch Selbstmord (I, 77).
Ich sagte mir, als ich das las, daß man bei solcher Auffassung den Tod
der Tragödie eigentlich mit ihrer Geburt zusammenfallen lassen müsse, denn
nicht erst bei Euripides, sondern schon bei Sophokles wird rüsonnirt, ja auch
schon in den Eumeniden des Äschylus wird darüber gestritten, welches das
größere Verbrechen sei, der Gattenmord oder der Muttermord, und werden die
beiderseitigen Ansichten begründet, und sind auch die Helden des Euripides
ganz, ungöttlich und durchaus den Zuschauern ähnlich, wie Nietzsche richtig
aber tadelnd hervorhebt, so sind doch auch schon die des Sophokles recht
menschlich — und eben deshalb uns so wert — und auch die des Äschylus,
obwohl viel einfacher, strenger, erhabner, doch noch als Menschen zu erkennen.
Nachdem ich mir das gesagt hatte, fand ich, daß es auch Nietzsche selbst sagt
(u. a. IX, 40 und 41); nur die ersten Tragödien des Äschylus aus der Zeit,
wo er uoch nicht von Sophokles beeinflußt war, seien echte Tragödien gewesen.
Die soiratische Dialektik habe auch die Seele, die Musik aus dem Drama ver-
drängen müssen, denn es würde lächerlich gewesen sein, wenn man Disputa¬
tionen hätte singen wollen. An dem allen ist ja viel wahres. Man hat es
lange vor Nietzsche gewußt, daß die Dialektik jeden religiösen, politischen,
wissenschaftlichen und ästhetischen Glauben auflöst. Ob sie aber auch den
Staat, die Kirche und die Kunst zerstört, das hängt ganz und gar von dem
Gesundheitszustande des Volkes ab, das der Träger des Kirchentums, des
Staates und der Kunst ist. Ein kräftiger Staat kann jedes beliebige Maß
von Parlaments-, Zeitungs- und Vereinsgeschwätz vertragen, ohne davon eine
Erschütterung zu erleiden, und wenn ein schwacher Staat zu Grunde geht, so
geht er nicht am Geschwätz zu Grunde, sondern dieses ist bloß eine Begleit¬
erscheinung seines allmähliche» Verscheidens. An sich ist die Dialektik eine Er¬
scheinung, die bei einem gewissen Grade der Kulturentwicklung unvermeidlich
eintritt. Wie es unmöglich ist, daß die Herren durch alle Zeiten so vornehm
bleiben können, immer nur zu befehlen, ohne jemals Gründe anzugeben, weil
in jedem nicht ganz stumpfsinnigen Volke einmal der Zeitpunkt eintritt, wo
die Dienenden anfangen zu fragen, warum sie gehorchen sollen, so ist es auch
einem begabten Volk unmöglich, bis ans Ende der Zeiten auf der Stufe seines
reflexionslosen Glaubens oder Aberglaubens stehen zu bleiben. Zu irgend
einer Zeit fängt es einmal an, bei allem, was es sieht, nach Gründen zu
fragen und die Gründe, die ihm bis dahin seine Priester und Medizinmänner
angegeben haben, zu untersuchen; so entsteht eine Philosophie, die sich all¬
mählich in Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft spaltet. Wenn nun
Nietzsche die vorsokratische Philosophie preist, den Sokrates des Verderbs der
echten Philosophie anklagt, dem Plato in der Philosophie dieselbe Rolle zu¬
erteilt wie dem Euripides in der tragischen Poesie, so kehrt er, scheint es mir,
den Sachverhalt um. Gerade die vorsokratische Philosophie war auf dem
Wege der Untersuchung des Seins und Werdens ungefähr dort angelangt, wo
unsre heutige steht: bei der Auflösung der Welt entweder in einen wesenlosen
Schein oder in ein Chaos von Unvernunft, das zur pessimistischen Welt- und
Willensverneinung einlud, wie sich denn der von Nietzsche so hoch gestellte
Empedokles in der That in den Krater des Ätna gestürzt haben soll. Indem
Sokrates alle diese philosophischen Untersuchungen der Natur für wertlos er¬
klärte, den Blick auf das Menschendasein und seine Verbesserung richten lehrte
und der Menschenseele durch die Unsterblichkeitslehre ewigen Wert verlieh, hat
er den durch die Philosophie gefährdeten Seelen der Edelsten seines Volkes
wieder Mut und Lust zum Leben eingeflößt. Nietzsche muß denn auch selbst
eingestehen, daß Sokrates den philosophischen Optimismus begründet und neue
Heiterkeit verbreitet habe, doch das nimmt er ihm nun wieder übel; von seinem
frühern schopenhauerischen Standpunkte aus freilich mit Recht, aber wenn er
ihm auch in seiner spätern „tanzlustigen" Stimmung einen Vorwurf daraus
macht, so kann er das nur sehr künstlich begründen. Endlich ist gar nicht
einzusehen, wie sich die Tragödie anders hätte entwickeln sollen, als von
Äschylus durch Sophokles zu Euripides. Das ewige Austoben dionysischer
Räusche in Dithyramben eines Satyrchors hätte doch nur eintönige Varia¬
tionen einer Lyrik von zweifelhaftem Werte ergeben, und wie sollte der apolli¬
nische Gestaltnngstrieb eingreifen, wenn es ihm verwehrt wurde, Menschen¬
gestalten auf die Bühne zu bringen, wie sie wirklich sind, samt ihren Tugenden
und Untugenden, einschließlich der Dialektik? Ähnliches hat Ritschl in einem
Briefe eingewandt. Er könne das natürliche Abblühen einer Epoche oder Er¬
scheinung niemals mit dem Worte Selbstmord bezeichnen. „Sie können, schreibt
er, dem »Alexandriner«") und Gelehrten unmöglich zumuten, daß er die Er¬
kenntnis verurteile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende
und befreiende Kraft erblicke. Die Welt ist jedem ein andres: und da wir so
wenig, wie die in Blätter und Blüten sich individualisirende Pflanze in ihre
Wurzel zurückkehren kann, unsre »Individuation« überwinden können, so wird
sich in der großen Lebensökonomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner
besondern Misston gemäß ausleben müssen" (B. II, 66).
Noch stärker als bei der Person des Sokrates gehen Nietzsches Urteile in
Beziehung auf die Griechen im allgemeinen ins Entgegengesetzte. Daß eine
von dionysischen Rausch und apollinischen Schönheitsgefühl erfüllte Seele in
die Griechen verliebt sein muß, versteht sich von selbst. Es braucht deshalb
nicht weitläufig angeführt zu werden, was Nietzsche an ihnen rühmt. Nur
zwei Stellen wollen wir hervorheben, die ein nicht ganz alltägliches Lob ent¬
halten. „Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer
oder persischer abgiebt, weil jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter
sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie diejenigen, welche sich über die
griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können,
als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne Blitz Wetter
und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben."*) Der Weg zu den
Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen
abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebcindigte Wissenstrieb an sich
zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen
durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis ihren
an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben — weil sie das, was sie
lernten, sogleich leben wollten. Die Griechen haben auch als Menschen der
Kultur und mit den Zielen der Kultur philosophirt, und deshalb ersparten
sie sich, aus irgend einem autochthonen Dünkel die Elemente der Philosophie
und Wissenschaft noch einmal zu erfinden, sondern gingen sofort darauf los,
diese übernommnen Elemente so zu erfülle« zu steigern zu erheben und zu
reinigen, daß sie jetzt erst in einem höhern Sinne und in einer reinern Sphäre
zu Erfindern wurden. Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe,
und die ganze Nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzu erfunden. Jedes
Volk wird beschämt, wenn man auf eine so wunderbar idealisirte Philosophen¬
gesellschaft hinweist, wie die der altgriechischen Meister Thales Anaximander
Heraklit Parmenides Anaxagoras Empedokles Demokrit und Sokrates. Alle
jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem
Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie
jede Konvention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab.
Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Spätern
übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Kleinste Und Größte
fortzubilden" (X, 6). Und III, 116 lobt er es, daß die Griechen „allen ihren
Leidenschaften und bösen Naturhäugen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben
und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen ein¬
richteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christentum
aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das härteste bekämpft und
verachtet. Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen
vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Ein¬
ordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: jn alles,
was im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die
Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen
Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken
ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaßregeln
erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen
Abfluß geben zu können." Weit merkwürdiger als seine Begeisterung für die
Griechen ist, daß er ihnen alles erdenkliche Böse nachsagt. Ihr ganzes Wesen
sei uns durchaus fremd. Wir seien viel vornehmer als sie; wie unanständig
sei der Trostspruch des Odysseus: „Ertrag es nur, mein liebes Herz, du hast
schon Hundemäßigeres ertragen." Jn jedem Griechen habe ein kleiner Tyrann
gesteckt (IV, 167 und 191 bis 193). Nicht auf die Erregung von Furcht und
Mitleid Hütten es die Tragödiendichter abgesehen gehabt: „Die Athener gingen
ins Theater, um schöne Reden zu hören, und um schöne Reden war es dein
Sophokles zu thun" (V, 110). „Jn den Griechen schöne Seelen, goldne
Mitten und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe
in der Größe, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern — vor dieser
»hohen Einfalt,« einer niaissrig -Mönianäs zuguderletzt, war ich durch den
Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt,
den Willen zur Macht." Immerwährende Kriege seien notwendig gewesen, die
Explosivkraft dieses Triebes vom Innern ab und nach außen zu lenken
(VIII, 169). Er wirst ihnen Grausamkeit vor, und daß sie entarteten und
der Hybris verfielen, sobald sie nicht mehr durch mächtige Nebenbuhler und
Feinde in Schranken gehalten wurden (IX, 197 bis 207). Vergebens hätten
die vorsvkrntischen Philosophen diese Laster bekämpft, sowie die weichliche
Behaglichkeit, die Lüge und die Schmiegsamkeit. Der Grieche, der durch keine
Gewalt in Schranken gehalten wird, „ist ein ganz maßloses Wesen; er stürzt
die Gebräuche des Vaterlandes um, thut den Weibern Gewalt an und tötet
Menschen nach Willkür" (X, 147 und 151). „Leidenschaftlich, aber herzlos
und schauspielerisch, so waren die Griechen, so waren selbst die griechischen
Philosophen, wie Plato" (XII, 396). Dazu litten sie an Halluzinationen und
übergroßer Sensibilität; es fehlte ihnen die Nüchternheit, und was dergleichen
erbauliche Dinge mehr sind; ja er spricht ihnen geradezu die Humanität ab.
Meine Kenntnis der alten Klassiker ist ja weder sehr umfangreich noch sehr
gründlich, aber so weit sie reicht, hat sie mir ein Bild des griechischen
Charakters ergeben, das mir die Vorwürfe Nietzsches teils ungerechtfertigt,
teils übertrieben erscheinen läßt. Insbesondre bin ich überzeugt, daß die
Griechen human waren, soweit ein ganzes Volk überhaupt human sein kaun.
Nietzsche bemerkt selbst einmal, vom Mittelalter aus betrachtet, erschienen die,
Griechen freilich human, aber er wußte uicht, daß das Mittelalter in diesem
Sinne bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hinein gedauert hat,
und das Inhumane um modernen Leben hat er niemals kennen gelernt; er
hat unsre heutige Welt nach dem Pastoren- und Professorenkreise beurteilt,
in dem er lebte, und bei solcher Beschränkung des Begriffs moderner Europäer
dürfte er allerdings sagen, daß ein solcher in der Zeit der Völkerwanderung
als ein heiliger verehrt worden sein würde. Wie es außerhalb dieses engern
Kreises vielfach aussieht, darauf will ich hier nicht eingehen. Was aber den
ersten Punkt betrifft, so möge man nur das eine bedenken, daß die Athener
für Staatsverbrecher keine härtere Strafe kannten, als die schmerzlose Tötung
durch den Schierlingsbecher, und damit z. B. die bestialische Schlachtung des
Ritters Grumbach und des Kanzlers Brück auf dem Markte zu Gotha am
18. April 1567 vergleichen, die ja nicht etwa ein vereinzelter Fall, sondern
für dieses und das nächste Jahrhundert typisch war; und dazu nehme man
noch, daß beide vorher greulich gefoltert worden waren, und daß es im Urteile
über Grumbach hieß, dieser habe „eine gar ernstliche Strafe" verdient, der
Kurfürst (August) jedoch mildere diese „aus angeborner Güte" also, daß er
nur lebendig gevierteilt werden solle. Solcher Barbareien haben sich die
Griechen niemals und nirgends schuldig gemacht, d. h. die alten Griechen;
bei den Byzantinern dann, wenn man diese Griechen nennen will, waren sie
ja an der Tagesordnung.
Bei jedem nicht bis zur Armseligkeit einseitigen und beschränkten Menschen
kommt es vor, daß man seine spätern Aussprüche durch frühere widerlegen
kann; bei Nietzsche aber ist dies in so hohem Grade der Fall, daß man das
Rüstzeug zu seiner Bekämpfung so ziemlich vollständig in seinen Werken bei¬
sammen findet. Namentlich seine Ansicht über die Kunst hat er gründlich ge¬
ändert. Die ästhetische Lebensauffassung, die er in der Geburt der Tragödie
verkündigt, lief auf die Verherrlichung Richard Wagners hinaus, von dem er
die Wiedergeburt des Dramas in Dentschland und damit die Geburt einer
neuen, höhern Kultur erwartete, und diesem Traume hat er dann noch die
1876 erschienene vierte unzeitgemäße Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth,
gewidmet. Daß er, wie er später bekennt, mehr von der Persönlichkeit Schopen¬
hauers und Wagners überwältigt worden war, als von des ersten Philosophie
und des zweiten Musik, daß er sich aber in beiden getäuscht hat, daß es sein
eigner Geist war, den er in beide hineingelegt, gepriesen, bewundert und wovon
er eine neue, schönere Kultur erwartet hatte, das alles versteht man ganz
gut. Schwerer ist zu verstehen, wie er wirklich jahrelang die Wcignersche
Musik schön finden konnte. Denn er war musikalisch hoch begabt, von Kindheit
an ausübender Musiker und hatte einen ganz gesunden Geschmack. Er urteilt
später genau so über Wagners Kompositionen, wie alle Freunde der klassischen
Musik stets geurteilt haben, und geht zuletzt so weit, zu schreiben: „Ich habe
in den letzten Jahren zwei- oder dreimal den unsinnigen Zweifel in mir gefühlt,
ob Wagner überhaupt musikalische Begabung habe" (X, 418). Nun ist die
Musik die Kunst, die am allerunmittelbarsten wirkt, sodaß man gleich bei den
ersten Takten eines Stückes weiß, ob einem das Gehörte wohl oder wehe thut,
und daher ist es geradezu unbegreiflich, wie Nietzsche jahrelang für eine Musik
schwärmen konnte, von der er später bekennt, daß seine Beine und sein Magen
dagegen protestirten. Von seinen Urteilen über Wagners Person wollen wir
nur zwei anführen: „Wagner ist für einen Deutschen zu unbescheiden; man
denke an Luther, unsre Feldherrn. . . . Man muß ^jedoch^ nicht unbillig sein
und nicht von einem Künstler die Reinheit und Uneigennützigkeit verlangen,
wie sie ein Luther besitzt. Doch leuchtet aus Bach und Beethoven eine reinere
Natur" (X, 398 und 399). „Über die Genies müssen wir umlernen. Ich
wüßte nicht, warum fruchtbare Menschen sich nicht still und anspruchslos be¬
nehmen sollten (Moltke), oder vielmehr — es ist gegen alle Fruchtbarkeit, seine
Person so in das Getümmel der Meinungen zu werfen und selber voller Be-
gehrungen zu sein, die uns unruhig, ungeduldig machen und die Weihe der
Schwangerschaft nehmen. Ich höre noch immer jedem Takte an, was für
Gebrechen der Musiker hat: sein Mehrbedeutenwollen, sein Abweichen von der
Regel, sein Unterstreichen dessen, was er besser macht als andre, alle Kleinlich¬
keiten sind fortwährend mit produktiv, wenn erst der Genieunsinn in ihm
wütet" (XI, 358). Die Idee, vom Theater aus die Kultur erneuern zu
Wollen, erklärt er später für ganz unsinnig. Er verachtet das ganze Theater¬
wesen. Wie ist mir das alles zuwider! ruft er in Beziehung auf die „wilden
Tiere mit Anwandlungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns" in der Nibe-
lungentrilogie, denen er die echten Menschen des Sophokles, z. B. im Philoktet.
gegenüberstellt. Wagner war ihm also auch, abgesehen von seinem Abfall zur
katholischen Mystik im Parsifal, der Nietzsches Abneigung zum Haß steigerte,
in der Seele zuwider. Unbeschreiblicher Ekel, heißt es XI, 401, wenn unsre
Gebildeten von der Notwendigkeit einer idealen Bildung und einer Erneuerung
der Religion phantasiren! Dieses verlogne Gesinde!, das bei Musik und
Schauspiel wieder religiös werden will und sich in den Kopf setzt, sobald es
nur wieder im Herzen zu zittern beginnt, alle Redlichkeit des Kopfes fahren
zu lassen und sich kopfüber in den mystischen Schlamm zu stürzen!" Nicht
bloß von Wagners Musik, von der Kunst überhaupt denkt er je länger desto
geringer. „Das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft in Kopf
und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens" (XI. 361). Während er
früher gelehrt hatte, die Welt sei nur ästhetisch zu rechtfertigen und nur zu
ertragen, wenn man sie in den Schein des Schönen einhülle, die Wissenschaft
decke die Häßlichkeit der Welt auf und stürze in Verzweiflung, gefällt er sich
später darin, den Gelehrten gegen den Künstler herauszustreichen, das Unheil
zu beschreiben, das die Kunst in der Seele des Künstlers wie im Volke an¬
richte, z. V. durch Verweichlichung, und beklagt es, daß er sie früher über¬
schätzt habe. Übrigens enthalten Nietzsches Betrachtungen über die Kunst
manchen wertvollen Beitrag zur Ästhetik; so widerlegt er (VII, 408 und sonst)
die Kantische Ansicht, daß schön sei, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse
am Menschen, meint er. gebe es kein Schönheitsgefühl. Sehr beachtenswert
ist auch, was er über das Verhältnis des Textes zur Musik sagt.
Mit der Wagnerei dürfte der verrückte Plan einer Erneuerung höherer
Kultur durch das Theater für immer begraben sein. Ich denke sehr hoch
von den sittlichen Wirkungen des Schönheitsgefühls, rechne aber die Wirkungen
der Bühne gar nicht dazu. Dem Theater schreibe ich nur insofern sittliche
Wirkungen zu, als es eine Stätte der Erholung. Erholung aber für die Ge¬
sundheit notwendig ist, die die Grundlage der Sittlichkeit wie überhaupt des
höhern Seelenlebens bildet; die Gesundheit kann dadurch gefördert werden,
daß man einmal tüchtig lacht oder sich durch schöne Musik in eine angenehme
Stimmung versetzen läßt. Die Vorstellung von der Schaubühne als einer
moralischen oder Erziehungsanstalt entstand bei unsern Klassikern in der Zeit,
wo das Christentum aus der Welt der Gebildeten vollständig verschwunden
war. Sie sahen sich nach einem Ersatz um und verfielen, bei ihrer Freund¬
schaft für die Alten natürlich genug, aufs Theater. Sie vergaßen, daß das
Athenische Drama eine Kulthandlung gewesen war. und daß wir Heutigen
weder an den Dionysus noch an irgend einen andern der griechischen Götter
glauben können. Wurde ja doch auch in Athen nicht, wie bei uns, alle Tage
Theater gespielt, sondern uur zur Feier von Götter- und Staatsfesten. Sie
vergaßen ferner, daß die Athener im Theater Weisheitslehren zu hören be¬
kamen, die sie als etwas Neues und Erbauliches mit Andacht hörten, und daß
sich die Christenheit für diesen Zweck Einrichtungen geschaffen hat, die darum
noch lange nicht überlebt waren, weil sie es am Hofe von Weimar zu sein
schienen. Und diese Veranstaltung zur Belehrung und Erbauung bietet zu¬
gleich die Aufführung eines Dramas, bei dem in der katholischen Kirche der
Priester der Anfftthrende ist, während in der evangelischen die ganze Gemeinde
für ihn eintritt, die mit ihrem Gesänge, metzschisch zu sprechen, den diony¬
sischen Chor bildet, der ja nach Nietzsche die Hauptsache und durch den Dialog
einzelner Personen zur Ungebühr zurückgedrängt worden sein soll. Dabei ist
noch zu erwägen, daß die Träger einer Handlung, von der die sittliche Er¬
neuerung oder sonst etwas Großes ausgehen soll, selbst große Charaktere sein
müssen. Die christlichen Geistlichen sind nun zwar im Durchschnitt niemals
Idealmenschen gewesen, aber man hat auch niemals aufgehört, der Idee ihres
Amtes gemäß die Forderung zu stellen, daß sie es sein sollen. Diese Forde¬
rung wird kein Vernünftiger je an den Schauspieler stellen. Der kann es gar
nicht sein. Eine komische Rolle könnte, auf der Liebhaberbühne, allenfalls auch
ein Jdealmensch übernehmen, denn hier weiß jedermann, daß es bloß Spaß ist,
und außerdem wird in der Komödie nicht die Tiefe des Charakters enthüllt,
sondern nur die Oberfläche des Menschen dargestellt: seine Manieren und
Schrullen. Wer dagegen heute den Lear, morgen den Franz Moor und über¬
morgen den Karl Moor darstellen muß, der mag ein guter Kerl und ein recht¬
schaffner Mensch sein, ein Charakter und vollends ein großer Charakter kann
er nicht sein. Nietzsche führt einmal ganz richtig aus (IX, 159), daß uns die
Darstellung eines Shakespearischen Stücks auf der Bühne anwidert und
wie eine Entweihung vorkommt; wir wollen es lieber lesen, und wiederum,
weim wir das laut thun, nicht mit Differenzirung der Stimme nach Personen
und Affekten, sondern mit einem monotonen Pathos, wie es in der Wirklich¬
keit gar nicht vorkommt. Mit einem Wort: alles Schauspielerische ist wider¬
lich. Diesem Widerlicher haben die Alten vorgebeugt: der Träger einer Rolle
war nicht Schauspieler, sondern bloß Rezitator. Seine Person verschwand
hinter der toten xersoua, der Maske, und der Ort der Aufführung nötigte
ihn zu gleichmäßigem Schreien. Es war eigentlich der Dichter, nicht der
Schauspieler, den man hörte.
er geniale Verfasser der „Geschichte der Sage," der viel zu früh
verstorbne Julius Braun, pflegte sein badisches Ländle das Reich
der Mitte zu nennen. Er, Badenser dnrch Geburt und auch von
Humor, kannte sehr gut die stolze Selbstzufriedenheit und das
warme Behagen seiner zwischen Rhein und Schwarzwald so schön
warm gebetteten Landsleute. Er legte aber seinem Scherz einen
tiefern Gedanken unter: Baden ist im räumlichen Sinne wirklich ein Land der
Mitte. Zwischen der Schweiz und dem Elsaß, der Pfalz und Württemberg,
sich im Nordosten bei Wertheim und Prozelten mit dem bayrischen Franken,
an der obern Donau mit Hohenzollern-Preußen berührend und endlich im Süd¬
osten noch durch den Bodensee mit Österreich verbunden, steht es den aller-
verschiedensten und entlegensten Einflüssen offen. Neulich wurde Baden in
einer altbayrischen Zeitung als das „Probirlandl" von Deutschland bezeichnet,
wozu die überaufgeklärte Bureaukratie es gemacht haben sollte. Lange vor
der Bureaukratie hat die Natur selbst Baden zum Probirlandl gemacht. Denn
so wie es in Badens Lage geschrieben steht, daß auf dem Schwarzwald alpine
und an den heißen Geländen des Rheinthals südfranzösische Pflanzen wachsen, oder
daß der Wein von Durbach mehr an den Elsässer, der Bauländer an den
Württemberger und der feurige Gerlachsheimer an den Frankenwein erinnert,
so fliegen den offnen Köpfen in diesem offnen Lande hier französische und
dort schweizerische Ideen an, und in diesem Winkel herrschen Würzburger und
ü> jenem Heilbrouner Einflüsse vor. Wenn dies nun auch leider gar nicht
selten zu dem Ergebnis geführt hat, daß der von allen Seiten befruchtete
Volksgeist einem Acker glich, in dessen Saaten von allen Himmelsgenden Samen
blühenden Unkrauts verweht wird, so hat es doch zu der Art von Bildung
beigetragen, die, nach dem badischen Ausdruck, den Mann gewürfelt macht.
Nicht umsonst trägt der Rhein seine grüngrauer Fluten durch die ganze Länge
des Landes, wobei er an beiden Ufern die reichsten Sammlungen alpiner Ge¬
steine in endlosen Kiesbänken ablagert. Einst wurden die abgeschliffnen Berg-
krhstalle, die „Nheinkiesel," bald wasserklar, bald gelblich und rötlich, als Halb¬
edelsteine wert gehalten. Heute haben sie sehr an Schätzung verloren. Auch das
Gold des Rheines wird kaum mehr gewaschen, seitdem der Tagelohn das doppelte
und dreifache des durchschnittlichen Ertrages einer mühsamen Tagesarbeit mit
dem Waschtrog beträgt. Mitte der fünfziger Jahre, als Handel und Wandel
darniederlagen, lohnte es sich noch, einen Verdienst von vierundzwanzig Kreuzern
zu erwaschen. Damals prägte die Karlsruher Münze noch die schönen hell¬
gelben Dukaten aus Rheingold, die heute nur noch der Sammler sieht, und
die Ehepaare des badischen Fürstenhauses trugen Eheringe aus Rheingold.
Bald wird der Rhein seinen Anwohnern das Gold in andrer Form bringen.
Man wird ihn bis Straßburg für größere Fahrzeuge schiffbar machen und
hoffentlich auf den Seitcnkanal Straßburg-Ludwigshafen verzichten. Dann
wird das Land zu beiden Seiten des Oberrheins in noch höherm Maße werden,
was es zur Römerzeit war und seitdem immer mehr geworden ist: eines der
belebtesten Straßenländer Europas. Der Rhein, die Ill, Kanüle, Straßen,
Eisenbahnen, diese meist doppelt auf beiden Seiten, wie Bergstraße und Thal¬
straße: stärker und unaufhaltsamer noch als das Wasser strömen die Menschen
und die Waren landauf landab, Schweiz und Niederland verknüpfend und bis
nach Österreich und Frankreich hinein von den zwei großen links- und rechts¬
rheinischen Plätzen Straßburg und Mannheim aus mächtig anziehend wirksam.
Wer hätte es sich träumen lassen, daß das langweilig in den Rheinsand
hingewürfelte Mannheim der fünfziger Jahre, die Stadt ohne Altertümer und
Straßennamen, die ohne ihr Theater in einem dunkeln Winkel der deutschen
Geschichte stünde, ein Welthandelsplatz werden würde? Heute ist Mannheim
einer der ersten Süßwasserhäsen, Europas, sür Oberdeutschland und die Schweiz
mindestens das, was für das Österreich nördlich von der Donau das mächtig
aufblühende Aussig ist, für Getreide und Tabak noch viel mehr. Was Frank¬
furt an oberdeutschen Verkehr verloren hat, das ist fast alles Mannheim zu
gute gekommen, und das zur Wettbewerbung hingesetzte Ludwigshafen hat
Mannheims Größe nur noch vermehrt. Mannheim hat seiner jungen Nach¬
barin klugerweise die Großindustrie überlassen und ist nicht bloß eine der
reichsten Rheinstädte geworden, sondern auch eine der reinlichsten geblieben.
Der Spuren der kleinen engen Residenz der katholischen Kurfürsten von der
Pfalz sind immer weniger geworden. Noch vor vierzig Jahren gab es Straßen,
deren kleine einstöckige Häuschen in die Breite der vom fröhlich sprossenden
Gras grünlich angehauchten Straßen hinter ihren schmalen Sandsteinsteigen
hinabzusinken schienen: das versteinerte Kleinbürger- und Kleinbeamteutum.
In Darmstadt, Homburg, Wiesbaden, Karlsruhe gab und giebt es zum Teil
noch dieselben Häuser, die alle aus der Wende des Jahrhunderts stammen. Auch
Stuttgart hat noch Spuren davon. So wie in Mannheim herrschten sie doch
nirgendswo. Hatte doch keine von allen diesen Städten so schwer gelitten und
gekämpft. Jene gediehen unter dem Schutz ihrer Fürsten zu einem wenn nicht
großen und rühmlichen, doch auskömmlichen Leben, während Mannheim eigentlich
erst mit dem Eintritt Badens in den Zollverein sein eignes unabhängiges Leben
gewann. Ich habe Mannheim nie betreten, ohne daß mich wie ein junger,
frischer Hauch die Empfindung anwehte: von allen blühenden Städten Deutsch¬
lands dankt diese am meisten ihre Blüte dem, was Gesamtdeutschland geeinigt
und groß gemacht hat. Es ist auch kein Zufall, daß zwei der namhaftesten
badischen Staatsmänner, die am Reich haben bauen helfen, Mathy und Jolly,
aus Mannheimer Familien stammen. Und da so oft dem Judentum ein
Löwenanteil an dem geschäftlichen Aufblühen Mannheims zugeschrieben wird,
möchte ich die bezeichnende Thatsache hervorheben, daß Mathy und Jolly
französischen Ursprungs sind. Diese jugendliche Gründung hat wie eine
Kolonie in überseeischen Landen Menschen aus allen Gegenden angezogen;
und sicherlich waren es nicht die energielosesten, die sich in dem sandig¬
sumpfigen Winkel zwischen Neckar und Rhein niederließen. Mannheim hat oft
versucht, so wie wirtschaftlich auch politisch allen badischen Städten voran-
zuschreiten, was ihm nicht immer gelungen und noch viel weniger bekommen
ist. Die Zeiten, wo Hecker und Struve Mannheim zum Brennpunkt einer
oberdeutsche» Bewegung in republikanischen Sinne zu machen strebten, sind fast
vergessen. Doch blieb seitdem eine Eifersucht und ein Mißtrauen zwischen
Karlsruhe und Mannheim lebendig, das ja nun auch beseitigt zu sein scheint,
wie so manches Kleine und so manches Mißverständnis im deutschen Leben. Wer
aber das unerwartete Aufblühen Karlsruhes verfolgt hat, zweifelt nicht daran,
daß es wesentlich durch die Übertragung der in Mannheim heimischen Thatkraft
in die schläfrig und unselbständig gewordnen Kreise der Residenz gefördert worden
ist. Es ist derselbe Prozeß, der zwischen Mainz und Darmstadt und entfernter
zwischen Nürnberg und München, Leipzig und Dresden gespielt hat; wie denn
mit jeder deutscheu Residenz eine Schwesterstadt in Wettbewerb getreten ist,
wobei sich das dort gedrückte und gebückte Bürgertum, durch den Gegensatz
angespornt, freier regte. Das ist ein sehr heilsamer Wettbewerb, der in
der Neubelebung bürgerlicher Tugenden ungemein glücklich gewirkt hat. Ich
rechne hierher auch die Pflege des Theaters, deren Einseitigkeit man den
Mannheimern oft verdacht hat. Man warf ihnen vor, daß sie außer vom
Geschäft nur noch vom Theater zu reden wüßten. Welche französische oder
englische Stadt hat aber aus eigner Kraft eine so respektable Pflegestätte der
Kunst erhalten? Alle Achtung auch darin vor Mannheim!
Um auf das Wirtschaftliche zurückzukommen, so werden die in den letzten
Jahren von schwäbischer Seite viel erörterten Pläne zur Hebung der Neckar¬
schiffahrt — Vertiefung bis Heilbronn, Nebenkanal für Eßlingen — natürlich auch
dem badischen Rhein-Ncckarhafen zu gute kommen müssen. Eine Zunahme des
Neckarvcrkehrs hatte Mannheim in den letzten Jahren ohnehin schon zu ver¬
zeichnen. Sogar der Passagierverkchr hat auf dem untern Neckar wieder Auf¬
nahme gefunden. Wir, die das badische Land nur durchwandern, freuen uns
dieses Aufblühens einer jungen Stadt nicht in dem lokalpatriotischen Sinne,
der in Mannheim von der'stark jüdisch durchsetzten Großkaufmannschaft bis
hinunter zum Neckarsch leim" — die untersten Volksklassen, vor allem Schiffer
und Hafenarbeiter — sehr stark ist, sondern weil Mannheim uns das Wieder¬
aufblühen des gesamten deutschen Wirtschaftslebens verdeutlicht. Und außerdem
verzeichnen wir mit Befriedigung das dabei zu Tage tretende einträchtige Zu¬
sammenwirken der Stadt mit der Regierung, die bei den Ausgaben für die
neuen 5>afer- und Bahnanlagen in Mannheim wahrlich bewiesen hat. daß man
Baden nicht bloß die Kühnheit und Beweglichkeit hat. die zum Probiren
gehört, sondern auch die den Erfolg sicher fassende Weitsicht. Muß ich mich
vielleicht zu den unpraktischen Ideologen rechnen lassen, weil ich die Ansicht
der Mannheimer nicht teile, ihre Stadt werde „von oben herunter" nur so
kräftig gefördert, weil man den Plänen zur Hebung Straßburgs eine große,
unverrückbare Thatsache. Mannheim als die Haupthandelsstadt Oberdeutschlands
entgegensetzen wolle? Diese herrlichen, wvhlgelegnen Länder. Baden aus der
enim, das Elsaß auf der andern Seite können zwei große Handelsstädte nähren.
Schreitet Deutschland, wie wir alle hoffen. vorwärts, dann wird die Aus-
- ' andres für Mannheim be¬
Teil seines Handels nach
mlisation des untern Mains
reichlich wieder gewonnen?'^ verloren hatte, und die Zukunft
wird ihm uoch viel mehr, nämlich sein altes Verkehrsgebiet, das Mambecken bis
Böhmen und zur Donau, wieder erschließen, wenn es den bayrischen Plänen auf
Verbesserung der Mainschiffahrt und der Main-Donauverbindungen kräftigen
Vorschub leistet. Für Straßburg ist man ja leicht versucht, eine noch viel größere
Perspektive zu eröffnen: den mitteleuropäischen Zvllbund im engen Verein mit
Frankreich, wo dann Straßburg natürlich eine großartige Aufgabe zufiele. Ich
bin aber kein Freund von Nebel, selbst nicht im schönen Rheinthal, wo der
Nebel nicht so schmutzig braun und grau wie im Norden, sondern von tadel¬
loser Weiße ist, als sei er von den Alpengipfeln mit dem Rhein herabgestossen,
und selbst nicht im Weinlande, wo der Nebel als guter Freund des Winzers
gilt, weil er die Traubenbeeren weich mache, und selbst von den Vorbergen
des Odenwalds und des Schwarzwalds herab sehe ich ihn nicht gern, auf
denen die Sonne um so wärmer liegt, je dichter da unten das Nebelmeer
wogt. Diese Rhein- und Neckarnebel gehen aber immer rasch vorüber, und
gewöhnlich folgt noch an demselben Mittag ein Heller Sonnenschein.
Halten wir uns also an das, was wir deutlich sehen und greifen können, so
zweifeln wir keinen Augenblick, daß Baden im Elsaß ein Hinterland oder,
wenn es höflicher klingt, ein Nebenland gewonnen hat, mit dem es einen sich
unerwartet entwickelnden Verkehr pflegt. Früher war der Lokalverkehr zwischen
den beiden Ländern ungemein beschränkt. Nur eine stehende Brücke auf der
laugen Rheinlinie Basel-Mannheim! Wie wenig bedeutete der Verkehr über
die Schiffbrücken von Rheinau und Selz! Es ist doch kein Zufall, daß, so
oft ich über die Setzer Brücke gegangen bin, Elsässer Bauern badische Ferkel
vom Rastadter Markt gen Hagenau trugen, weiter nichts, wobei sich mir immer
der thörichte Gedanke aufdrängte, wie schön es wäre, wenn die Elsässer die
altdeutschen Menschen ebenso freundlich behandelten wie die altdeutschen Ferkel,
die sie mit Zärtlichkeit in weichen Säcken über den Rhein trugen. Sollte
nicht die jahrelange Erfahrung, wie gutartig diese altdeutschen Tiere sind, das
unter blauer Bluse schlagende Herz dieser fränkisch-alemannischen Hartköpfe
auch altdeutschen Menschen wärmer schlagen machen? Doch weg mit solchen
Nheinnebeln! Da taucht die alte Rheinauer Schiffbrücke vor mir auf, wo ich
1870 Posten stand, als Fuhre um Fuhre die Negiecigarren der Benfelder
„Manufaktur" geu Lahr gefahren wurden. In jeglichem Sinn konfiszirte
Ware! Die Rheinauer Bauern waren einig; einen solchen Verkehr hätte sich
die alte Brücke nie träumen lassen. Der Rhein bildete eben bis zum Fall von
Straßburg hauptsächlich eine Schranke, die nur der Schmuggel gewohnheits¬
mäßig überschritt. Es genügt, an die Thatsache zu erinnern, daß damals
Hagenau und Karlsruhe, in der Luftlinie achtundvierzig Kilometer, also einen
starken Tagemarsch, von einander entfernt, durch eine Eisenbahnfahrt von einem
vollen Tag getrennt waren. Heute ist Karlsruhe, das über Rastatt-Durmers-
heim in einer Stunde von Hagenau erreicht wird, ein wichtiger Markt für die
Vodenerzeugnisse des untern Elsaß. Und wer hätte sich träumen lassen, daß
Karlsruher Bier auf elsässischen und südlothringischen Dörfern getrunken und
dazu statt des einst alleinherrschenden Münsterkäses Käs „ufm Badische" ge¬
gessen würde?
Ich hoffe, daß mein altdeutsches Herz mir keinen Streich spielt, wenn
ich erkläre, daß ich das ganz vernünftig finde. Deal das Elsässer Bier
war in der französischen Zeit gerade so „umgestanden" wie der elsässische
Volkscharakter. Es war kein Vier, sondern eine süßliche, schwach gehopste
Limonade, für die französischen Kaffeehausbummler und die Dominospieler
an kleinen Voulevcirdtischchen gebraut. Könnte ich hier doch jenen württem¬
bergischen ssauptmann von der Ulmer Artillerie sprechen lassen, dessen Leute
im heißen September 1870 beim Batterieban in Königshöfen einen großen Bier¬
keller anschnitten, der seinen Inhalt dann in die fernsten Stellungen der
Belagerer ergoß, bis der Genuß der schalen hellen Flüssigkeit in dem weit um
Straßburg lagernden Ringe durstiger Meuscheu wegen ihrer abführenden
Eigenschaften verboten, der Rest des Kellers zugeschüttet wurde. Mir steheu
die kräftigen Schwabenflüche nicht zur Verfügung, mit denen der breitbetreßte
Hauptmann „das saumäßige Gesöff" in die Tiefe zurückvcrwttuschte. aus der
es jubelnd ans Licht gehoben worden war. Auch der braune Spiegel des
Bieres spiegelt in seiner Weise treu die Weltgeschichte zurück. Bis zum Rhein
war in den sechziger Jahren die vou Altbayern ausgegangue Bierverbesferung
vorgedrungen. 5)ier hatte sie 5>alt gemacht. Die Rechtsrheinischen hatten sich
an das kräftigere Gebräu gewöhnt, das der in diefem Fache sinmge Baher
bierehrlich zum kräftigen Männergetränk ausgestaltet hat. Den Linksrheinischen
mundeten mehr süßliche Biere, wie sie die Franzosen liebten. Es lag nicht am
Hopfen, den damals die Hopfengärten von Hagenau, noch nicht durch ameri¬
kanischen Wettbewerb gedrückt, so edel wie je lieferten, und nicht an der Gerste,
wiewohl diese die besten deutschen Sorten nicht erreichte. Das Ideal des El¬
sasser Brauers war ein Bier, das die Lederhosen des standhaften Trinkers auf
die Bank leimt. So trennte also der Rhein nicht bloß zwei Reiche, sondern
zugleich zwei Geschmacksrichtungen. Mau könnte sagen, er floß als Grenz¬
strom zwischen Bierprovinzen.
Es ist aber merkwürdig, wie es dabei nicht sein Bewenden hat. Der
Weingeschmack ist auf beiden Seiten nicht minder verschieden. Seufzend muß
es der Elsässer Wirt zugeben, daß selbst die lieben guten Freunde aus der
Schweiz den Markgrüflcr allem Elsässer Wem vorziehe», und der Altdeutsche,
der sich mitten in der angeheirateten oberelsässer Weinbauerfamilie die Unbe¬
fangenheit der Zunge wenigsteus im Weinkosten bewahrt hat, giebt mit Achsel¬
zucken zu, daß von keinem Elsässer Weine Hebel Hütte singen können, wie von
seinem Markgräfler „z'Müller uf der Poscht! Trinkt mer nit en gucke Wi?
Tusig Sappermoscht! Gobe er nit wie Baumöl i (em)?" Der halbgelehrte
Agronom schreibt die Rauheit des Elsässer Weins gewissen UnvollkommenlMen
der Kellerei zu. Weg mit dieser rationalistischen Klügelei! Es sind dieselben
"»begreiflichen, aus irgend einer unbekannten Tiefe herauf wirkenden Ursachen,
die auch die Menschen auf beiden Seiten des Rheins sich nicht haben gleich
entwickeln lassen. wiewohl ihr alemannisch-fränkischer Grundstock ebenso wenig
verschieden gewesen sein dürfte, wie die Reben der römischen Kolonisten, die
von den Vogesenhängen nach den Schwarzwaldbergeu gebracht worden sind.
Warum dann freilich die Haardthügel bei Neustadt, Dürkheim, Edenkoben usw.
einige der feinsten Weine der Welt erzeugen, die hart hinter den besten Sorten
dom Rhein und der Mosel kommen, während gegenüber auf der basischen
Seite vom Rhein bis zur Tauber nnr ländliche Gewächse gedeihen, ist ebenso
unerklärlich wie die Thatsache, daß der linksrheinische „Pälzer" derber und
beweglicher ist als der rechtsrheinische, ernstere und gesetztere Badenser. Die
körperliche Erscheinung weist auf eine reinere Erhaltung des alten Franken-
stanunes rechts vom Rhein, wo zwischen Karlsruhe und Mannheim einer der
hochwüchsigsten Stämme des Deutschen Reichs sitzt. Die Pfalz dagegen hat.
w'e schon die Familienname« zeigen, sehr viel französisches Blut aufgenommen,
und vielleicht ist am Fuß der Hciardt auch mehr römisches lebendig geblieben
als im Lande zwischen Schwarzwald und Odenwald. Der badische Anteil der
Pfalz liegt weniger frei, ist auch weniger Stürmen ausgesetzt gewesen.
Es ist auch heute ein stilles Land, diese Lücke zwischen Schwarzwald und
Odenwald, crdgeschichtlich so etwas wie eine nicht ganz vollendete Versenkung.
Im badischen Lande nennt man sie mit den unberühmter Namen Kraichgan
und Bauland. Diese Gaue dürften auch heute nur von wenigen Fremden
durchwandert werden, denn weder ihre Natur noch ihre sonstigen Denkwürdig¬
keiten bieten Anziehungen für die Menge. Kunstfreunde besuchen in Bruchsal
das Nokokoschmuckkästchen des bischöflichen Schlößchens, wobei sie einen scheuen
Blick auf das halbrunde, fensterreiche Zellciigefängnis werfen, das besonders
durch die Erinnerungen einiger Revolutionäre ans dem Jahre 1849 berühmt
geworden ist. Freunde der Reformation statten dem stillen Breiten einen Besuch
ab, um ehrfurchtsvoll dem hier gebornen Melanchthon ihre Neigung zu be¬
weisen. Sie müssen aber deutlich nach Melanchthon fragen. Denn Breiten
hat noch eine andre Berühmtheit, die in weiten Kreisen viel mehr Teilnahme
weckt als die Erinnerung an den — ich gebrauche die leise tadelnden Worte
eines Apothekers der Gegend — früh aus seiner Heimat fortgezognen Melanch¬
thon, der zwar ein berühmter Mann geworden sei, aber für Breiten oder sein
Bezirksamt weiter nichts mehr gethan habe. Diese zweite Merkwürdigkeit ist
das „Brettemer Humble," ein urmythisches Geschöpf, das alle Völker Europas
kennen: Bei einer Belagerung durch die Schweden schickten die ausgehungerten
Bürger das gemästete Hündchen ins feindliche Lager, dessen Anführer über
den fetten Anblick außer aller Fassung geriet und die Belagerung aufhob.
Ebenfalls in die Schwedenzeit führt uns der nicht ganz mythische, sondern
zum Glück vollbezeugte Opfertod der Pforzheimer Bürger in der in derselben
Gegend geschlagner Schlacht bei Wimpfen, ein klassisches Beispiel der gerade
im mittlern Baden so recht ausgeprägten Fürstentreue des Volkes.
Aus diesem Lande nach Osten sichren gutgehaltne, aber staubige Land¬
straßen den Wandrer Welle auf, Welle ab. Geht er im Muschelkalk, so ist
der Staub weißgrau, geht er im Keuper, so ist er gelblichgrau und ein bischen
weniger reichlich. Sonst ist kein großer Unterschied. Die Wellen sind gleich
mild, eine gleicht der andern zum Verwechseln, nur trägt die eine einen dunkeln
Waldschopf, wo die andre von einer Cyklopenmauer von Kalkplatten gekrönt
ist, die ein fleißiger Bauer aus seinem steinigen Acker herausgelesen und zu¬
sammengetragen hat. „Hinten" im Gänsschmauserland, in der Gegend von
Buchen und Kranksein, werden diese Mauern beängstigend lang und breit,
dort ist eine der steinreichsten und kornärmsten Gegenden des Landes. Wie
Oasen von Fruchtbarkeit sind die fetten Auen und Hänge des Neckarthals, des
Taubergrundes und des Mainthals zwischen diese höhern und rauhern Striche
hineingelegt, und es ist bezeichnend, wie sich auch hier das geschichtliche Leben
an das Wasser angeschlossen hat, wie eine Pflanze, die Feuchtigkeit braucht,
um zu gedeihen.
Von den vielen, die alljährlich Rothenburg ob der Tauber besuchen,
dessen Bedeutung als Schatzkästlein der städtischen Renaissancearchitektur nach
unsrer bescheidnen Meinung übertrieben wird, gehen sehr wenige ein paar
Kilometer rechts oder links ins Land hinein. Und doch würde sichs ver¬
lohnen, den Gegensatz der Muschelkalkhochebne zu dem breit eingeschnittenen
Taubergrund kennen zu lernen. Der Volksmund hat wieder einmal Recht,
Wenn er hier nicht von Thal, sondern von Grund spricht. Das Wort wird
unter ähnlichen Umständen von den grünen Flächen gebraucht, die in den
Sandstein der Sächsischen Schweiz gleichsam versenkt sind. Der Taubergrund
liegt wie ein grünes Band zwischen den flachen Wellen des grauen Kalkes.
Viel lohnender als immer nur die Giebel und Mauern Rothenburgs zu be¬
wundern, wäre eine Wanderung von Rothenburg über die Höhen, die Schlingen
der Tauber abschneidend, nach dem saubern Mergentheim, deutsch-ordens-
geschichtlicheu Namens, über das römerfundberühmte Leuta und Tauber¬
bischofsheim uach dem schönen Wertheim. Es wäre eine der an geschichtlichen
Erinnerungen und Denkmälern reichsten Wanderungen, die man an einem
kleinern deutschen Flusse hin irgendwo unternehmen könnte. Es würde freilich
dem Wandrer nicht erspart bleiben, auf der Höhe über Tauberbischofsheim die
zerschossene Feldkapelle zu besuchen, an deren Wände 1866 Schwerverwundete
Württemberger die Grüße Sterbender an das fliehende Leben schrieben. Er
würde aber dort anch versöhnende Worte gemeinsamer Siegeszuversicht lesen,
die im Juli 1870 württembergische und badische Soldaten vor dem Ausmarsch
"ach Frankreich eingegraben haben. Tauberbischofsheim, vor der Eisenbahnzeit
der Typus eines Hinterlandstädtchens, wo ein stillstehendes Meinbürgertum
ärmlich und behaglich und im allgemeinen etwas stumpfsinnig lebte, ist heute
el» regsames, fortschreitendes Städtchen geworden, das nicht mehr so tief
unter dem aufgeklärten, vom Mainverkehr berührten und von löweustein-wert-
heimischer Fürstenguust beschienenen Wertheim steht.
Man würde Wertheim die Perle des Tauberthales nennen müssen, wenn
es nicht doch mehr dem Main angehörte. Mögen sich die Nothenburger nicht
gekränkt fühlen, gegen die Natur kann man nun einmal nicht an. Von allen
deutschen Städte» gleicht Wertheim am meisten Heidelberg, natürlich in ver¬
jüngtem Maßstabe. Der Main kann es hier mit dem Neckar, die bewaldeten
Hügel am rechten Mainufer können es mit dein Heidelberger Schloßberg und der
Molkenkur aufnehmen; die Wertheimer Burg ist eine der schönsten unter ihres¬
gleichen; etwas einziges wie das Heidelberger Schloß ist sie allerdings in keiner
Weise; dafür ist ihr uun auch die Schmach erspart geblieben, daß ein Wirtshaus
über sie gesetzt worden ist, wie es das Heidelberger Schloß und die ganze
Landschaft verunstaltet. ^ .
.^
Der Wandrer kann, wenn er will, seinen Fuß noch weiter setzen und in
Miltenberg deu durch Luthers Aufenthalt berühmt gewordnen, hochgiebeligen
alten Gasthof zum Niesen besuchen, wobei er allerdings auch an den Bauern¬
krieg wird denken müssen, dessen klassische und blutigste Stätten: Rosenberg,
Tngstfeld, Würzburg, hier herum liege». Nicht weit davon kann er auch ein
Stück portugiesischer Geschichte mitten in diesen stillen Winkel Deutschlands
hineinflackern sehen, denn ob Brombach erhebt sich die Gruft der katholischen
Löwensteine, in der Dom Miguel bestattet ist. Vielleicht zieht aber der Wandrer
dor, von diesem langen Gang durchs Tauberthal im gastlichen Wertheim aus¬
zuruhen, wo einer der edelsten, wegen seiner geringen Menge wenig bekannten
Frankenweine, genannt Kalmuth, ein brauugoldues Getränk von fast be¬
ängstigenden Feuer, ihm winkt, während das sehr nahe bayrische Krenzwert-
heini ein Bier von gediegnem Rufe brant. Das Land umher ist gersten-
berühmt.
Es wird dem Wandrer auch nicht leicht an trautem Wechselgesprüch
fehlen, das gut zum Ausruhen ist. Das Volk ist zutraulich und von frein-
tisch-leichter Auffcissuug. Als ich zum letztenmal in diesem Gau weilte, war
mein Tischgenosse ein basischer Postillon, der sich bitter über die bayrischen
Kollegen beschwerte, die ihn säuselten, daß er nicht mehr großherzoglicher,
sondern Reichspostillon sei. Sein Schlußsatz lautete ungefähr: Das will ich
gar nicht untersuchen, ob ein Reichspvstillon nicht doch am End grad soviel
ist wie ein blauweißer; das steht aber fest, daß die Blauweißeu besser thäten,
auf ihre Landstraßen zu schauen, daß sie besser unterhalten werden. Jetzt
ists eine Schand; wenn man auf die württembergischen kommt, ists schon nichts
mehr rechtes, aber die bayrischen sind noch weniger nutz. Einstweilen fahren wir
in Baden noch am besten. In Hessen solls jetzt ziemlich ordentlich sein.
Ich lächelte in mich hinein: O dn glückliches Volk der Mitte.
Die Neckereien zwischen den Angehörigen verschiedner Stämme und Staaten,
die in der ganzen Welt vorkommen, treten natürlich in einem Grenzlande wie
Baden ganz besonders hervor. Es ist sür die Kenntnis der Volksseele auf
beiden Seiten, der urteilenden und beurteilten, wertvoll zu wissen, welche
Meinungen, Neigungen und Abneigungen sich ausgebildet haben. Denn merk¬
würdigerweise handelt es sich dabei nicht um die tiefen Unterschiede, sondern
um die feinern und feinsten Schattirungen von Begabungen und Gewohnheiten.
Der Bauer von der Haardt (Gegend von Karlsruhe) sieht im Pfälzer, von
dem ihn nur der Rhein trennt, einen lebhaften, aber etwas geschwätzigen und
windigen Nachbar; er kauft im Zweifelsfalle mit mehr Vertrauen von einem
Schwaben als von einem „Driwwe-riwwer" (Drüben-herüber), wie er den
Pfälzer nennt. Für den Pfälzer dagegen ist der badische Nachbar, soweit er
oberhalb Mannheims wohnt, schon ein halber Schwabe. Auf deu Schwaben
aber schauen beide Angehörige der nobiliZ Kör>8 ?rain;oruiv. als auf eine beschränktere
oder doch langsamer denkende Abart herab. Der „dumme Schwob" ist sprich¬
wörtlich; und doch kann darüber kein Zweifel herrschen, daß der Schwabe
mehr geschichtliche Zeugnisse für hervorragende Begabung aufzuweisen hat als
der Badenser von der Tauber bis zum Bodensee. Besonders auch auf dem
politischen Gebiete haben sich die Schwaben in ihrem prächtig geschlossenen
und abgerundeten Württemberg sicherlich viel verständiger benommen als die
immer zwischen Extremen schwankenden Badenser. Auf deren Rechnung stehen
seit der Einführung der Verfassung viel mehr und größere politische Schwaben¬
streiche als auf der der schwäbischen Nachbarn, solange es ein Württemberg
giebt. Ihren Ruhm, politisch vorgeschrittner zu sein als alle andern Deutschen,
haben die sanguinischen Badenser bis auf den heutigen Tag teuer bezahlen
müssen. Das hat sie aber nicht abgehalten, auf „den Schwaben hinab¬
zusehen. Einen merkwürdigen Beleg der badischen Überlegenheit liefert die
Thatsache, daß diese großen Politiker noch nie eine größere Zeitung zu stände
gebracht haben. Sie lesen landauf landab die Frankfurter Zeitung, so wie
früher das Frankfurter Journal, die Stmßburger Post, den Schwäbischen
Merkur. Die Badische Landeszeitung, Landesbase genannt, ist das größte, aber
zugleich engherzigste fanatisch nativualliberale Blatt Badens. Entsprechend
sind die ultramontanen Blätter geschrieben. Die Masse ist farblos und kraftlos.
Eigentümlich und besonders interessant ist das Verhältnis der drei Zweige
des alemannischen Stammes, die am Oberrhein zusammenstoßen: badische Ober¬
länder, Elsüsser und Schweizer. Die Alemannen sind unter allen deutschen
Stämmen der einheitlichste; auch die des Allgüu und des Vorarlbergs sind den
westlicher wohnenden sehr ähnlich. Früher haben sie das auch selbst anerkannt.
Man nehme nur das Leben Johann Peter Hebels mit seinen innigen Be¬
ziehungen zur Schweiz und seinem gewaltigen Einfluß aus die elsässische
Dialektlitteratur. Hebel ist der Vertreter des erwachenden alemannischen Ge-
meinbewußtseins. das sich allerdings sehr bald durch die politischen Grenzen
Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz wieder trennen ließ. Indessen sind
die badisch-elsässischen Beziehungen noch bis 1870 in engen Kreisen sehr warm
geblieben; Familienbande, die seitdem zerrissen sind, waren bis dahin gepflegt
worden, und Straßburg war trotz der Zollschranken die alte Hauptstadt auch
für den gegenüberliegenden Teil von Baden. Der französirende Elsässer ver¬
spottete die Kleinstaaterei der benachbarten „Schwowe." aber der Bürger und
der Bauer des Elsaß hegten das lebhafte Gefühl der Verwandtschaft, das
sich erst von der Ensisheimer Gegend an auf Grund alter geschichtlicher Ver¬
bindungen mehr dem schweizerischen Alemannentume zuwandte.
Für den unbefangnen Betrachter hob sich gerade von dem Schweizer
sowohl der badische wie der elsässische Alemanne durch die übereinstimmende
Eigenschaft einer gewissen Weichheit und Nachgiebigkeit ab, die den Eigensinn
der Einzelnen nicht ausschließt. Ob sich nun die kräftigern Leute des ale¬
mannischen Stammes in die Alpen gezogen haben, oder ob die Burgunder, deren
Neste man in der Westschweiz vermuten darf, ein besonders reckenhafter Stamm
gewesen sind, weiß niemand zu sagen. Vielleicht genügt aber zur Erklärung der
härtern, knochiger» Züge, die das Volk jenseits des Rheins und des Bodensees
merklich auszeichnen, die Einwirkung der den Körper und die Seele stählenden
Gebirgsluft und überhaupt der Ge'birgsnatur. Wer von den weichen Ober¬
deutschen in Bausch und Bogen redet, vergißt, daß an Kriegsruhm und Staats¬
sinn kein deutscher Staunn dem schweizerisch-alemannischen voransteht. Daran
ändert gar nichts die Neigung des Badensers. seinen freundnachbarlichen Spott
über die militärischen Bestrebungen der Schweizer auszugießen, die im ganzen
achtunggebietend sind, im einzelnen aber natürlich viel Lächerliches haben.
Seitdem indessen die schweizerische Miliz durch einsichtige und energische Führer
wesentlich nach deutschem Grundgedanken reformirt ist, sieht der benachbarte
Süddeutsche das Kriegswesen der Eidgenossen wieder mit günstigern Blick an.
Er erkennt mit alemannischer Billigkeit an. daß der Deutschschweizer doch ein
natürliches Talent zu strammen Auftreten hat. Daß der liederliche französische
Pumphosenschnitt aufgegeben ist. bedeutet nur eine Äußerlichkeit, aber die
Haltung hat entschieden dadurch schou gewonnen. Man sieht jetzt Schweizer
"> Uniform, die das „Herausdrücken" der Wade» versteh«, als hätten sie bei
der Garde in Berlin Parademarsch studiert.
Der Vadenser hat ja auch sonst allerlei an dem Schweizer auszusetzen,
»ut umgekehrt. Und doch, wie eng hängen die Länder geschichtlich zusammen.
Man kann sagen, sie haben eine gemeinsame Geschichte von tausend Jahren
von den Römern an. Die Zühringer haben auf heute schweizerischem Boden
früher eine rühmliche Thätigkeit entfaltet als auf dem. wo das badische
Fürstenhaus ihnen entsprossen ist. Man braucht nur an die Bedeutung dieser
Dynastie in der Westschweiz zu erinnern, die sich in der Geschichte Beruf und
Freiburgs im Uechtland ausprägt. Ihre Stellung ist auf die Habsburger
"hergegangen, die sie nicht so glücklich zu wahren wußten. Kann man die
Geschichte von Glarus schreiben ohne die Säckingens, der alten klösterlichen
Schutzherrschaft und der Stadt des heiligen Fridolin? Von dem gemeinsam
alemannischen Grundstrom, der die Schweiz mit Oberdeutschland auch da»»
verwandtschaftlich verband, als sie als Eidgenossenschaft thatsächlich und seit
1648 rechtlich von Deutschland getrennt war, zeugt jeder Blick auf die Reste
der Jahrhunderte in ländlichen und städtischen Bauwerken. Gerade wie im
Sundgau, im Schwarzwald und in Oberschwaben sind die Häuser einzeln und
in Gruppen sinnig und sonnig in die Landschaft hineingestellt, wie es der
selbständigen Natur ihrer Erbauer gemäß ist. Dasselbe zeigt sich auch in
größern Ansammlungen. Man betrachte sich einmal Flüelen. Und wer von
Waldshut oder Säckingen nicht etwa nach dem nahen Laufenburg oder Rhein-
felden, sondern nach einem so echt innerschweizerischen Städtchen wie Zofingen
verschlagen wird, den mutet dort die eigentümliche Architektur gerade so deutsch
an wie das behäbige Leben der Bürger. Basel, wo unser Hebel geboren ist,
und wo er sich, weil er dort „daheim" sei, noch in seinem Todesjahr zur
Ruhe setzen wollte, ist die deutscheste unter allen großen Städten der Schweiz.
Man muß einmal, etwa aus Frankreich oder von jenseits des Gotthard
kommend, auf der alten Rheinbrücke gestanden und die prächtige Front gesehen
haben, die Basel dem dort schon mächtigen grünen Strom zuwendet. Diese
alten Häuser mit steilen Dächern und Giebeln, Galerien und Vorhanden,
Gärtchen und Vciumgruppen, darunter sogar dunkle Fichten, geben über der
festen Ufermauer ein echt deutsches Städtebild, ohne Plan und Absicht, auch
ohne Absicht zu gefallen, höchst ungleich, aber voll Reiz und Bewegung in
dem reichen Wechsel von Licht und Schatten, wo hundert Winkel bestimmt zu
sein scheinen, das nordisch spärliche Licht aufzufangen: der stärkste Gegensatz
zu den großen einheitlich gefärbten und dekorirten Flächen des südlichen Städte¬
baues.
Politisch hat Baden niemals mehr nachhaltig auf die Schweiz gewirkt,
wie ja überhaupt seit Jahrhunderten der offizielle und nichtoffizielle Einfluß
Frankreichs, der Einfluß der Ideen und der klingenden Münze, jeden andern
zurückgedrängt hat. Über diesen und sein seit 1870 bemerkbar gewordnes,
im Grunde schon seit dem Sonderbund beginnendes Rückschwenken wäre viel
zu sagen. Es gehört aber nicht in den südwestdeutschen Nahmen, wo es uns
viel mehr interessirt, daß die schweizerischen Alemannen ans die badischen
Stammesbrüder einen starken Politischen Einfluß geübt haben, den noch die
badischen Aufstände von 1848 und 1849 bezeugten, und auf die elsüssischen
nach 1870 zu üben versucht haben. Dazwischen hat sich freilich immer die
freundnachbarliche Abstoßung gerade wie an andern Grenzen gezeigt, und
während in einigen Grenzgebieten republikanische Ideen Wurzel faßten, trat
in andern das badische Staatsgefühl überraschend stark hervor.
Für diese Abstoßung des Ähnlicher kenne ich in der ganzen Ausdehnung
der deutsch-schweizerischen Grenze kein schöneres Beispiel als die liebliche rebeu-
bedeckte Insel Reichenau, die die deutsche Kaiser- und Kunstgeschichte von
karolingischen Zeiten an kennt und mit hohen Ehren nennt. Die nur 1500
Einwohner zählende Insel liegt im Uutersee, dem schweizerischen Ufer fast
ebenso nahe wie dem badischen. Ihr schweizerischer Verkehr ist immer be¬
trächtlich gewesen. In Dampfbootverbindung steht sie heut überhaupt nur mit
dem schweizerischen Ufer. Die Reichenauer haben aber 1848/49, als Konstanz
das Hauptquartier der besonders von Zürich aus geschürteu Revolution im
Seekreis war, ein in diesem Teile Badens fast einzig dastehendes Beispiel
von Treue gegeben. „Se Sinn oft gnue von Konschtcmz go preddige kumme,
's hat cuc awer niemand glaube möge," sagte mir ein alter Reichenauer. Als
Großherzog Leopold in sein durch Preußen von den Freischärlern gereinigtes
Land zurückkehrte, verlieh er den Neicheuauern für alle Zeiten das Recht,
fünfzig Mann Militär und dreißig Spielleute zu halten. Daß die kleine Insel
auch im Ernst ihren Mann stellt, beweist das Kriegerdenkmal in Mittelzell
mit einer langen, in Stein gegrabenen Liste von Mitkämpfern des 1870er
Krieges. An einem Kreuzweg zwischen Mittel- und Niederzell ist außerdem
zur Erinnerung an zwei in'diesem Kriege gefallene Reichenauer ein Stein-
krenz errichtet. Scheffel erzählte gern, wie er sich unter den alten Schatten-
büumeu vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flasche goldnen Neiche-
nauers in die karolingischen Kaiser- und Klosterzellen zurückgedacht habe, und
wie wohl es ihm später nach 1870 ward, wenn er von Radolfzcll herüberfuhr
und in demselben Schatten die neue Kaiserzeit überdachte, die ihn so tief er¬
griffen und manches in ihm. dem alten Großdeutschen und Preußenhasfer,
umgewandelt hatte.
Rudolf Eberstndt hat
in seiner Studie: Ä^istorium und ?ratvr»it»s (Leipzig, Duncker und Humblot,
den schwierige» Gegenstand nicht allein durch eine Fülle urkundlichen
Materials aufgehellt, das vorzugsweise französischen Quellen entnommen ist, sondern
""es eine grundsätzliche Schlichtung des Streits versucht, den die Vertreter der
entgegengesetzten Theorien vom hoferechtlicheu Ursprung der Zünfte und von der
freie» Einung mit einander führen. Die Zunft ist nach Eberstadt zweifellos hvfe-
rechtlichen Ursprungs. Das Hofecnnt entwickelt sich aus einem Herrendienst zum
^la^iswium, zum Amt eines erwählten Vorstehers fort, der gar nicht einmal ein
Gewerbegenosse zu sein braucht, und die Gliederung, deren Spitze der „Meister"
ist. giebt den Rahmen ab für die Gewerbeorganisation, die später Zunft heißt.
Die kirchlichen Bruderschaften waren allerdings freie Einungen (was nicht immer
gleichbedeutend war mit Einungen von Freien), aber um sich noch keine Zünfte und
überhaupt keine Körperschaften des öffentlichen Rechts; das wurden sie erst dadurch,
daß ihnen die Zunft von der Obrigkeit verliehen wurde. Die Freiheit, führt der
Verfasser aus, sei bei dieser Entwicklung nicht zu kurz gekommen; sei die Zunft
kein freies Rechtsinstitut. so sei sie dafür ein befreiendes gewesen. Die alte, vor-
swtliche Volksfreiheit, die ursprünglich die Quelle des öffentlichen Rechts und
demnach etwas positives gewesen war, sei nun einmal verloren gewesen; alles
Recht sei an den Staat übergegangen, der von da um die einzige Rechtsquelle
wurde, die Freiheit aber sei ein negativer Begriff geworden: Unabhängigkeit vom
Staatszwange. Diese Unabhängigkeit mußte Schritt für Schritt wieder erkämpft
und fortwährend verteidigt werden. Die Zünfte waren es vorzugsweise, die diesen
Kampf führten und die Freiheit auf dem Wege der Erwerbung von Sonderrechten,
von Privilegien, zurückeroberten. Bei den Kämpfen der mittelalterlichen Zünfte
handelte es sich keineswegs um solche Lappereien wie bei unsrer heutige» Zünftlerei.
wo sich — in Österreich ist man ja schon so weit — die verschiednen Zünfte um
das Recht balgen, eine Schnalle oder eine Lederhose anfertigen oder einen Krapfen
backen zu dürfen, sondern es handelt sich um das Recht der Selbstverwaltung der
Stadt und um das Recht der korporativ organisirten Bürgerschaft auf die Teil¬
nahme an der Verwaltung. „Nur ein greifbarer Irrtum in der Auslegung des
Zwangsprinzips konnte die verfafsungsgeschichtlichen Aufgaben des Zunft¬
wesens verkennen. Der Zunstverband hat sich nirgends die Erlangung gewerb¬
licher Vorrechte zum Gegenstand gesetzt; sondern sein Ziel war die Ausbreitung
der städtischen Freiheiten und die Einfügung des Handwerks in die allgemeine
und öffentliche Verwaltung." Zur Zeit der Blüte der Zünfte hatte der Zunft¬
zwang nicht den Zweck, den Handwerkern die Konkurrenten vom Leibe zu halten,
sondern den Sinn, daß alle, die des Bürgerrechts teilhaft sein wollten, auch einer
der Körperschaften angehören mußten, die die Leistungen für den kleinen Freistaat:
Steuern, Kriegsdienst und den Dienst in unbesoldeten Gemeindeämtern unter sich
verteilten. — Wie wenig die Zünfte ursprünglich gewerbliche Interessengemeinschaften
und wie sehr sie politische Körperschaften gewesen sind, das tritt besonders deutlich
in der Florentiner Zunftgeschichte hervor; wirkt doch schon der eine Umstand als
durchschlagender Beweis, daß zur Zunft der Ärzte und Apotheker auch die Krämer
in vielfacher Verzweigung gehörten — namentlich werden angeführt die Material¬
warenhändler, die Börsenhändler (mit Börsen sind hier Geldbeutelchen gemeint)
und die Haubenmacher —, dann die Sattler, die Maler und die Händler mit
Malerfarben. Nur bei dem mächtigen Exportgewerbe der Wollenweberei fällt mit
der politischen auch die gewerbliche Organisation zusammen, und hier sieht man
zugleich, worauf wir schon wiederholt hingewiesen haben, in welchem Grade die
politische von der sozialen Gliederung, diese aber von der Technik abhängig ist.
In dem genannten Gewerbe, wie überhaupt in den Textilgewerbcn, hat sich zuerst
der Gegensatz zwischen kapitalbesitzenden Unternehmern und kapitallosen Lohnarbeitern
ausgebildet, und daher brach sich an diesem Gewerbe die demokratische Entwicklung
von Arno-Athen. Der Aufstand der Ciompi 1373 errang zwar den Lohnarbeitern
der Wollenzunft die politische Gleichberechtigung, aber diese blieb rein formell:
thatsächlich behielten die Unternehmer die Macht, und der Versuch der Arbeiter,
dnrch Erweiterung ihrer politischen Rechte ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern,
verlief erfolglos. „Der rechtliche^) Abschluß der Stände, wie er das frühere
Mittelalter bezeichnet, war in der Stadt modernen Verkehrs längst durchbrochen;
die ökonomische Entwicklung hatte statt dessen Schranken aufgerichtet, die kaum
leichter zu durchbreche» waren," schreibt Alfred Dorer in seiner Schrift „Ent¬
wicklung und Organisation der Florentiner Zünfte im dreizehnten und vier¬
zehnten Jahrhundert" (Leipzig, Duncker und Humblot, 1897). Sie ändert das
Bild, das wir aus Perrens und Poehlmann gewonnen haben, in keinem wesent¬
lichen Punkte, ergänzt es aber in dankenswerter Weise. Dorer hebt unter anderm
hervor, daß bei der Entstehung und Entwicklung der Florentiner Zünfte weder
das in Deutschland so wirksame religiöse Bruderschaftswesen, noch der Zweck gegen¬
seitiger Unterstützung eine Rolle gespielt habe.
aufgäbe, die noch im nämliche» Jahre 1875 vergriffen war. Eine zweite Auf¬
lage hat bis voriges Jahr gereicht. Schmoller verdient Dank, daß er sich, vom
Verleger (Duncker und Humblot) aufgefordert, zu einer neuen Auflage entschlossen
hat, dem, die Schrift hat heute noch eine ganz aktuelle Bedeutung und behält dabei
für alle Zeiten ihren bleibenden Wert als eine Zusammenfassung der Grundsätze, die
bei der Beurteilung sozialer Fragen maßgebend sein müssen. Der Verfasser hat zwei
weniger bedeutende Aufsätze beigefügt und dem Ganzen den ursprünglichen Titel der
ersten Schrift gelassen: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der
Volkswirtschaftslehre. Die ander» beiden Abhandlungen: „Die Volkswirtschaft,
die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode" und „Wechselnde Theorien und fest¬
stehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften," enthalten der
Hauptsache nach dasselbe, nämlich eine Kritik der volkswirtschaftlichen Theorien, nur
daß die erste die Form einer ausführlichen und gründlichen wissenschaftlichen Unter¬
suchung trägt, während die zweite — es ist die vielbesprochne vorjährige Rektorats-
rede — kürzer und mehr populär gehalten ist. Mit den „feststehenden Wahrheiten"
ist vor der Hand noch nicht viel Staat zu machen, „nur im Halbdunkel des Ahnens,
Hoffens und Glaubens liegen die letzten und größten der staatswissenschaftlicher
Fragen auch heute vor uns" (S. 339); aber wir bekommen wenigstens seite 30»
den Trost, daß wir uus auf dem rechte» Wege befinde», wenn wir uns nicht für
eine orthodoxe Theorie, etwa den Smithiauismus oder Marxismus, einfangen
lassen. — Eine neue Ära englischer Sozialgesetzgebung betitelt Dr. Otto
Bielefeld seine (ebenfalls bei Duncker und Humblot erschienene) Geschichte der
Entstehung des voriges Jahr erlassenen Vorlcmöit's vomponWticm ^Vol, die er als
Ohrenzeuge der Parlamentsverhandlungen und aus Unterredungen mit den politischen
Führern geunu kenne» gelernt hat. Erst dnrch dieses Gesetz über Arbeiterversichernng,
meint er, habe England mit seinen alten Traditionen gebrochen und sich auf den
Boden der deutschen Sozialgesetzgebung gestellt. Unter „eigentlicher Sozialgesetz¬
gebung" versteht er eine „Regelung der gesellschaftlichen Hilfe gegen Störunge»
des Erwerbslebens im Arbeiterstande, die über das Maß der allgemeinen zivil-
rechtlichen Grundsätze hinausgeht." Wenn er demnach den Arbeitcrschntz nicht zur
Sozialgesetzgebung zu rechnen scheint, so läßt sich das am Ende rechtfertige», indem »in»
diesen als eine allgemeine kriminalrechtliche Maßregel auffaßt; durch Arbeiterschntz-
nesetze werden gewisse Arten von Menschenquälerei verboten, die nur besondre Fälle
der allgemein verbotne» Mißhandlung und Körperschädignng sind. Bielefelds Dar¬
stellung bestätigt deu Eindruck, den schon die Zeitungsberichte gemacht hatten, daß
das englische Gesetz hinter dem deutschen wen zurückbleibt, sowohl was den Umfang
der Verhinderungspflicht, als was die Höhe und Sicherheit der Entschädignngc»
""langt. Mit Recht wird es vou ihm zu den Mängel» des englische» Gesetzes
gerechnet, daß im Falle der Tötung des Arbeiters die Hinterbliebnen eine ein¬
malige Abfindung erhalten statt, wie in Deutschland, eine Rente. (Den Vorzug der
Rentenform erkennt much der „Vorwärts" an, und er polemisirt daher gage» den
Vorschlag der Post, an Stelle der Unfall- oder Invalidenrente ein Kapital zu ge¬
währen, wenn sich der Versicherte verpflichtet, damit ein ländliches Grundstück zu
erwerbe»; das soll natürlich ein Mittel gegen die Not der Landwirtschaft sein, die
sich in diesem Jahre der schönen Getreidepreise vorzugsweise in der Gestalt des
Mangels an Arbeiter» äußert.) Die Mängel des englischen Gesetzes werden dnrch
die sehr bedeutenden freiwilligen Leistungen von Arbeitervereinen, die ja vor¬
läufig fortdauern, erträglich gemacht; doch glaubt Bielefeld, daß d,c freiwilligen
Leistungen der Arbeiter mit den jetzt vom Staate den Unternehmern auferlegten
verschmolzen werden, und daß man in absehbarer Zeit bei der berufsgenosseuschaftlich
organisirten allgemeinen Zwangsversicherung anlangen wird; da die Entschädignngs-
Pflicht den einzelnen Unternehmern auferlegt ist, die kleinern unter diesen daher
durch größere Unglücksfälle in ihrer Existenz bedroht werden, während gleichzeitig
der Bankrott der Unternehmer den Anspruch der Entschädigungsberechtigten ge¬
fährdet, so werden sich sowohl die Arbeiter wie die Unternehmer gezwungen sehen,
auf das genannte Ziel loszusteuern. — Dr. Nikolaus Buschmann giebt in seiner
Broschüre: Die Arbeitslosigkeit und die Berufsorganisationen (Berlin,
Puttkammer und Mühlbrecht, 1897) zunächst eine dankenswerte Übersicht über die bis¬
herigen Versuche einer Regelung des Arbeitsnachweises und macht dann eigne Vor¬
schläge. Er bestreitet, daß die Kommunen die geeigneten Träger einer mit Arbeits¬
nachweis verbundnen Arbeitslosenversicherung seien. Eine Spezialisirung nach Ge¬
werben lasse sich im Umfange einer mittleren Stadt nicht durchführen, weil da die
Zahl der jeder Unterstützungskasse Angehörigen zu klein sei. Würden aber alle
Arbeiter zusammengeworfen, so ergäben sich arge Übelstände. Am öftesten werde
die zahlreiche Klasse der ungelernten Arbeiter von Arbeitslosigkeit betroffen. Sei
nun die Versicherung fakultativ, so würden gerade die zahlungsfähigsten Arbeiter,
die der höhern Gewerbe, auf die Teilnahme verzichten, um nicht für die ungelernten
zahlen zu müssen; werde dagegen die Versicherung obligatorisch gemacht, so trete
diese Schädigung der gelernten Arbeiter wirklich ein. Der Verfasser will daher,
daß die Verhinderungspflicht Arbeiterberufsvereinen auferlegt werde, die vom Staate
organisirt werden und von ihm eine Geldhilfe erhalten sollen. Unmöglich ist es
ja nicht, daß wir mit der Zeit zu dieser Lösung der Schwierigkeit gelangen, nachdem
der Staat einmal den Weg der Zwangsversicherungen beschritten hat. — Was zu
viel ist, ist zu viel! Die Statistik ist eine interessante Wissenschaft, die unter Um¬
ständen gute Dienste leistet und heutzutage Wohl nicht mehr zu entbehren ist, ober
wenn man uns Tabellen mit Textbegleitnng aufbürdet, aus denen wir z. B. er¬
fahren, daß von den zu Stockholm in der Flaschenkapselfabrikation beschäftigte!! Ar¬
beiterinnen vier aus Östergötland und Gotland und fünf aus Vestmanland und
Nerike stammen, und daß von den fünf in der Milchabliefcrung beschäftigten Ar¬
beiterinnen je eine den Gesnndheitsklassen a, b, e im Wohnnngsverhältnis 1 an¬
gehört, während sich die zwei übrigen mit Wvhnuugsverhältuis II begnügen müssen,
aber sich dennoch der gute» Gesundheit der Klasse ii. erfreuen, so ist das entschieden
zu viel, und wir fühlen uns weder durch den Nezensentenberuf noch als Svzial-
pvlitiker verpflichtet, solche Tabellen durchzustudireu, wie sie die Schrift des
Dr. I. A. Leffler: Zur Kenntnis von den Lebens- und Lvhnverhnltnisse» in¬
dustrieller Arbeiterinnen in Stockholm (Leipzig, Duncker und Humblot, 1898)
enthält. Wenn wir lesen, daß in einem Berufe alljährlich ein paar hundert Menschen
tödlich verunglücken und ein paar tausend sich erhebliche Verwundungen zuziehen,
so rechtfertigt das schon eher eine statistische Aufnahme. Das einzige interessante
an der Broschüre ist, daß sie die Vermutung bestätigt, die wir ir priori hegen, es
könnten in der mäßig großen Hauptstadt eines dünn bevölkerten Landes, dessen
tüchtige germanische Einwohner meistens von Landwirtschaft leben, die Arbeiter-
Verhältnisse nicht gerade unerfreulich sein. Daß die Leutchen dort noch nicht allzu
sehr von der Kvnknrrenzhche ergriffen sind> darf man wohl ans dem Umstände
schließen, daß die wöchentliche Arbeitszeit durchschnittlich K0 Stunden beträgt, >»
keinem Gewerbe 69 übersteigt, und daß Sonntagsnrbeit äußerst selten vorkommt.
Die Pflanze, Vortrage aus dem Gebiete der Botanik, Von Dr, Ferdinand Cohn,
Zweite, vermehrte Auslage, 2 Bände, Breslau, I, U. Kerns Verlag (Max Müller), 1890
und 1897
Gewiß hat mancher Gebildete schon das Bedürfnis gefühlt, seine mangelhaften
naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu verbessern oder sich über die Fortschritte zu
unterrichten, die die Naturwissenschaften in neuerer Zeit gemacht haben. Das ist
aber hier viel schwerer als auf andern Wissensgebieten. Zunächst fehlen bei vielen
Gebildeten die Grundlagen. Manche, besonders die ältern, haben auf der Schule
gar keinen oder uur höchst mangelhaften naturwissenschaftlichen Unterricht gehabt.
Auch die jünger» konnten besonders in den biologischen Wissenschaften, die ja nur
in den untern Klassen gelehrt werden, bloß die elementarsten Vorkenntnisse erwerben.
Wer darüber hinaus will, ist ans das Studium populärer Werke angewiesen. An
denen ist ja kein Mangel, Aber leider sind gar manche davon weiter nichts als
oberflächliche Kompilationen, deren Verfasser den Stoff, den sie darstellen wollten,
selbst nicht ordentlich beherrschten. Bei andern ist zwar der Verfasser genügend
über seinen Stoff unterrichtet, es fehlt ihm aber die Gabe, ihn fo klar und an¬
ziehend darzustellen, wie es wünschenswert wäre. Noch andre sind Tendenzschriften,
deren Verfasser für Theorien, die noch gar nicht vor das große Publikum gehöre».
Propaganda machen wollen. Durch solche Werke mag gar mancher, der wirklich
den guten Willen hatte, sich weiterzubilden, abgeschreckt worden sein.
Da ist es nun eine wahre Frende, auf ein Buch hinweisen zu können, das in
jeder Hinsicht denen empfohlen werden kann, die erfahren möchten, womit sich
gegenwärtig die wissenschaftliche» Botaniker beschäftige», und welche Ergebnisse ihre
Studien gehabt haben. Das vorliegende Buch ist in zweiter Auflage erschienen.
Die erste ist lange nicht so bekannt geworden, wie sie es verdient hätte. Der
Verfasser, der Vertreter der Botanik an der Breslauer Universität, hat vor kurzem
seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. So hat er die Entwicklung der Botanik in
der zweiten Hälfte diefes Jahrhunderts selbst mit erlebt, und was noch mehr ist.
°r selbst gehört zu deu Männern, denen wir die Fortschritte seiner Wissenschaft
SU danken haben. Auch uach der formalen Seite ist er wie wenige berufen zum
Verfasser eines populärwissenschaftlichen Buches: er versteht es meisterhaft, seineu
Stoff anziehend und klar vorzutragen. ,
Das Werk ist aus öffentlichen Vorträgen entstanden, die der Verfasser im
Laufe der letzten vierzig Jahre an verschiednen Orten Deutschlands gehalten und
dann für das Buch neu bearbeitet hat. Er hat dabei die Form des Vortrags
beibehalte», weil er meint, daß diese Form dem Leserkreise, der in einem solchen
Buche Belehrung und Anregung sucht, besser entspricht als die des Lehrbuchs.
Man wird ihm hierin im allgemeinen recht geben müssen. Das Buch liest sich
sehr leicht, vielleicht, wenigstens in einzelnen Vorträgen, für den, der mehr Be¬
lehrung als Al.regung sucht, zu leicht. Wir meine», we»» dem Leser etwas mehr
geistige Arbeit zugemutet würde, hätte er auch noch größern Gewinn dem, ^efen.
Doch ist dies sür jemand, der dem Stoffe »icht ganz fremd gegenüber steht, schwer
zu beurteilen.
„ ... l ^
Jeder der Vortrüge bildet auch uoch im Buche ein geschlossenes Ganze, sodaß
»>>es der. der nicht das ganze Buch auf einmal durchlesen will, se.ne Rechnung
finden wird. Dabei sind überall die Hauptsachen scharf und klar hervorgehoben.
Einzelheiten si»d. soviel wie möglich, i» den Hintergrund gerückt, ganz beiseite ge¬
lassen oder in die Anmerkungen gebracht worden, die jedem Vortrage folgen. In
diesen findet der, der genauer unterrichtet sein möchte, häufig weitere Belehrung
oder auch Litteraturnachweise, die es ihm ermöglichen, tiefer in den behandelten
Gegenstand einzudringen. Um dem Leser schwierige Probleme leichter verständlich
zu machen, verfolgt der Verfasser häufig ihre historische Entwicklung von den ein¬
fachen Anfängen an, oder er greift zu Vergleichen, die manchmal bis ins einzelne
mit großem Geschick und mit großer Kunst ausgeführt werden. Muster von An¬
schaulichkeit und Geschmack sind die Naturschilderungen, die sich an verschiednen
Stellen, ganz besonders aber in den „Vom Pol zum Äquator" und „Vom Meeres¬
spiegel bis zum ewigen Schnee" übcrschricbneu Vorträgen finden.
Daß an dem botanischen Inhalt des Werkes nichts auszusetzen ist, versteht
sich bei der Person des Verfassers von selbst. Auch sonst haben wir nur wenig
gefunden, was zu beanstanden wäre. Dieses wenige möchten wir aber erwähnen,
damit es bei einer neuen Auflage des Werkes verbessert werden kann. Sehr an¬
schaulich ist eine Angabe auf Seite 307 des ersten Bandes, und sie könnte daher
leicht abgeschrieben und weiter verbreitet werden; aber sie ist falsch. Es heißt dn
nämlich, daß die über 500 Millionen Tonnen Kohle, die im Jahre 1392 auf der
Erde gewonnen wurden, „auf einem Raum gehäuft, einen Würfel von drei Kilo¬
metern Seite weit überragen würden." Nimmt man das spezifische Gewicht der
Kohle sehr gering durchschnittlich als 1,25 an, so würden 500 Millionen Tonnen
erst einen Würfel von rund 737 Meter Kauteuläuge, 600 Millionen Tonnen einen
von 733 Meter Kantenlänge ergeben. Ein Kohlenwürfel von drei Kilometer
Kanteulänge würde dagegen 67,5 mal soviel als 500 Millionen Tonnen enthalten.
Ein ähnliches Versehen findet sich auf Seite 390 des zweiten Bandes, wo Hekto¬
liter und Kubikmeter einander gleich gesetzt werden. Sonst wäre noch zu erwähnen,
daß (I, 370) die Eskimos fälschlich zu deu Renntiere haltenden Völkern gezählt
werden, daß (II, 101) in der Meißner Gegend Weinbau nicht ans dem linken,
sondern vor allem auf dem rechten Elbufer getrieben wird, und daß (II, 370)
Wale und Fische als frei bewegliche Tiere nicht zum Plankton gehören.
Ein ausführliches und, wie es scheint, sorgfältig gearbeitetes Sachregister
macht das Buch auch fiir den brauchbar, der einmal über einen bestimmten Gegen¬
stand Auskunft haben möchte. Druckfehler sind uns außer den wenigen, die am
Schlüsse berichtigt werden, kaum aufgefallen, nur die Nummern einiger Anmerkungen
sind vertauscht worden (I. 341, Anm. 4 und 5, 23 und 24; II. 86 und 87,
Anm. 27 und 28). Die Ausstattung des Buches ist so, wie man sie nur wünschen
kann. Ganz besondres Lob verdienen die Abbildungen. Ein Teil davon dient zur
Erläuterung des Inhalts. Diese sind zum größten Teile nach besonders für das
Buch angefertigten Photographien hergestellt worden, aber nur daun durch ein
photomechanisches Verfahren, wenn dies der Deutlichkeit und Schönheit keinen Ab¬
bruch that, sonst sauber in Holz geschnitten. Zu diesen Abbildungen kommen aber
noch viele andre, besonders die Titelbilder, Kopfleisten und Schlußvignetten der
einzelnen Vorträge, die als Kunstwerke das Buch in vornehmer, durchaus nicht
aufdringlicher Weise schmücken. Besonders ist auf den gelungner Versuch hinzuweisen,
mikroskopische Bilder von einzelligen Pflanzen und von Gewebsdnrchschnitten zu
Ornamenten zu verwenden, wie dies z. B. in dem Titelbilde zu dem Vortrage
über deu Zellenstaat geschehen ist. Mau möchte darnach uusern Musterzeichueru
raten, aus dieser unerschöpflichen Quelle von neuen und schönen Formen auch bei
andern Gelegenheiten zu schöpfen.
in Laufe dieses Sommers wird, wie jedermann weiß, über die
Natioualliberalen ein Strafgericht ergehen. Von diesem wird
anch ihr Gebiet zwischen Weser und Elbe, das sie noch immer
stolz als „ihre Hochburg" bezeichnen, nicht verschont bleiben.
Wie sich auch dort die Volksstimmung gegen sie gewandt hat,
das werden die Neichstagswahlen kundthun, die — man mag von dem all¬
gemeinen und direkten Wahlrechte denken, wie man will — immerhin ein
lebendiges und deutliches Bild von solcher Stimmung geben, ein deutlicheres
jedenfalls, als die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus«.', die sich auch
diesem Jahre vollziehen werden- Die Landtagswahlen bezeichnen in Preußen
nach der Umgestaltung des direkten Steuersystems, wodurch die Stimmen der
Mittlern und niedern Schichte» der Bevölkerung an Geltung beträchtlich ein¬
gebüßt haben, nicht mehr die politischen Anschauungen der Gesamtheit des
Volkes, sondern die der relativ reichsten und steuerkräftigsten Personen inner¬
halb der einzelnen Wahlkreise, wogegen die mittlern Bevölkerungklassen mit
ihrem reichen politischen Kapitale durch jene Reform noch weiter in den Hinter¬
grund geschoben sind und bei diesen Wahlen noch viel weniger Gewicht in die
^agschale legen können als früher. Dennoch werden auch in der Provinz
Hannover bei den künftigen Landtagswahlen die Nationalliberalen, die jetzt
"übt mehr mit den ^konservativen und Gouvernementalcn dort unter sich sind,
sondern mit neuen, zum Teil machtvolle» Gegnern rechnen müssen, schlimme
Erfahrungen machen.
Die nationalliberale Partei hat eine ruhmreiche Jugend hinter sich. An
dem Glänze der Vergangenheit haben die Hannoveraner einen gut bemessenen
Anteil. Als sich im Oktober 1866 eine Anzahl Fortschrittler mit andern
preußischen Liberalen in Berlin zu einer neuen Partei vereinigten, die zwar
vor allem ihren liberalen Überlieferungen folgen, aber daneben die nationale
Entwicklung der durch den Krieg geschaffnen deutschen Verhältnisse Pflegen sollte,
fand das Programm dieser Partei, die sich zutreffend eine „nationalliberale"
Partei nannte, regen Beifall auch außerhalb des alten Preußens, in den
neuen Provinzen des Staates nicht minder als in den norddeutschen und
mitteldeutschen Kleinstaaten und selbst in Süddeutschland unter den Liberalen
der verschiedensten Schattirungen. Viele und angesehene Vertreter des „klein¬
deutschen" Gedankens hatten eingesehen, daß die feindselige Haltung, die die
liberale Welt in Deutschland gegen das Ministerium Bismarcks in dessen
Streit mit der Majorität des Abgeordnetenhauses einnahm, nach den Ereig¬
nissen des Sommers aufgegeben werden mußte. Wer von den Liberalen die
„preußische Spitze" in Deutschland wollte — und diese wollten alle Anhänger
des erst im Jahre 1859 gegründeten Nationalvereins —, der konnte, nachdem
Preußen auf den Plan getreten'war, um das Ideal des Nationalvereins, ein
Deutschland unter preußischer Führung und mit einem Volksparlamente, zu
verwirklichen, der deutschen Politik des preußischen Ministerpräsidenten trotz
aller Mißbilligung seiner jüngsten innern Politik eine werkthätige Unterstützung
nicht versagen. Die preußische Fortschrittspartei, wie sie sich in der Konflikts¬
zeit entwickelt hatte, war wegen ihrer starrköpfigen Stellung zur Heeresreform,
wegen ihres immer mehr auf das Persönliche zugespitzten feindlichen Verhält¬
nisses zu den Mitgliedern der preußischen Staatsregierung, namentlich zu
Bismarck, und wegen ihrer wenig staatsmännischen Haltung in nichtpreußischen
Angelegenheiten außer Stande, einer deutschen Bewegung unter Preußens
Führung einen zuverlässigen, noch weniger einen den preußischen Staatsmännern
wünschenswerten Beistand zu bieten. Das war die Überzeugung der preußischen
Parlamentarier, die sich soeben von der Linken abgesondert hatten, und
diese Überzeugung wurde von vielen Liberalen durch ganz Deutschland geteilt.
Herr von Bennigsen war noch im Jahre 1866 Präsident des deutschen
Nationalvereins. Er war zugleich anerkannter Führer der hannoverschen Libe¬
ralen, ein lauterer und fester Charakter, bewährt im Kampfe gegen das Mini¬
sterium Borries, ein Mann von zweifellos liberaler Gesinnung und von großem
Ansehen wie von großer Beliebtheit außerhalb und innerhalb Hannovers, vor
allem unter seinen zahlreichen politischen Freunden, die sich uuter dem rück¬
schrittlichen Regimente der meisten Vundesstaaten zusammengefunden hatten.
Die neue Partei war für Herrn von Bennigsen und seine hannoversche, meist
dem Bürgerstande und den Kreisen der wohlhabenden Bauern angehörende
Gefolgschaft wie geschaffen. Herr von Bennigsen und die Seinigen hatten
Vertrauen zu der deutscheu und auswärtigen Politik Bismarcks, und sie ver¬
zweifelten nicht wie viele Fvrtschrittsmünner an einer Wendung der innern
Politik im liberalen Sinne. Sie waren anfangs vielleicht weniger gute Preußen
als vielmehr gute Deutsche, aber sie suchten sich, so gut es ging, auch mit
den altpreußischen. dem Hannoveraner oft recht lästig fallenden Einrichtungen,
mit der altpreußischen Bureaukratie, der altpreußischen Überlieferung und selbst
den altpreußischen Äußerlichkeiten von zweifelhafter Anmut, soweit alles dies
nicht geradezu antiliberal erschien, abzufinden.
Länger als ein Jahrzehnt gab es nach 1866 in der Provinz Hannover
eigentlich'nur zwei politische Parteien: die deutsch-hannoversche oder Welfen-
pcirtei, die sich aus Anhängern der Vertriebnen Dynastie, ans doktrinären Gro߬
deutschen und preußenfeiudlichen Demokraten zusammensetzte, und die national-
liberale, die sich um Herrn von Bennigsen und seinen Stab Scharte. Die
Fortschrittspartei und später der Freisinn fanden und finden bis heute im
Hannoverschen im allgemeinen wenig Anhänger, sie haben dort ebenso wenig
wie die preußischen Konservativen ostelbischer Richtung auf eine beachtungs¬
werte Anzahl von sympathischen Seelen rechnen können. Die Hannoveraner,
die der Geschichte und der Entwicklung dieser Parteien fremd gegenüber standen,
haben sich mit beiden memals recht befreunden können, und nur ganz besondre
Zufällige Umstände waren es, die den Fortschrittlern einmal in einem Kreise
einen Wahlsieg und zuweilen in andern nennenswerte Minoritäten ver¬
schafften. Die Ultramontanen in der Provinz, die anfangs nur als eine
Spezies der Weisen erschienen, gingen auch nach der Bildung der Zentrums-
p"reel mit deu Welsen wie diese mit jenen, ein Verhältnis, das bis auf die
Gegenwart besteht und bekanntermaßen auch in den parlamentarischen Körper¬
schaften zum deutlichen Ausdrucke gelangt ist. Konservative von altprenßischer
Art gab es, wie schon angedeutet worden ist. in der eingesessener Bevölkerung
'"ehe; und selbst als gelegentlich einige aus dem Osten stammende hohe Ver-
waltungsbeamte von beschränktem politischem Blicke den Versuch machten, ihre
östlichen Ansichten und Überzeugungen unter den Provinzlern einzubürgern.
f"nden sie dort nur geringes Verständnis und hatten daher auch nur geringe
und vorübergehende Erfolge. Auch die Freikonservativen hatten in Hannover
^me eigentliche Partei hinter sich - es hat unsers Wissens dort nie einen
sreikonservativen Verein gegeben dennoch sind vom Beginn der preußischen
Herrschaft an in dem einen und andern Wahlkreise Abgeordnete gewählt worden,
d-e ans ihrer freikonservativen, d. h. gouvernementalen Gesinnung kein Hehl
wachten und von vornherein erklärten, daß sie sich einer Fraktion der Rechten
anschließen würden. Die Wahlen geschahen mit Hilfe der Nationalliberalen.
die nach einigem Schwanken und Zaudern, mit Rücksicht auf das Persönliche
Ansehen der Kandidaten im Wahlkreise oder wegen besondrer lokaler Umstände,
auf eigne Kandidaten Verzicht leisteten, um die nationalen Elemente nicht zu
zersplittern. Selbst der damaligen altkonservativen Fraktion schloß sich der
eine oder der andre dieser Gewählten - die fast ausschließlich Verwaltung-
hemmte waren — im Abgeordnetenhause an, mehr in einem naiven Mißver¬
ständnisse über das Verhältnis dieser Gruppe zur Regierung, als um sich
völlig zu deren Anschauungen zu bekennen. Die nativnalliberalen Wahlkomitees
nahmen an solchen Erscheinungen keinen großen Anstoß. Die Furcht vor der
welfischen Strömung einerseits, die Rücksicht auf Regierungsbeamte andrerseits,
die stets ihre schwache Seite war, hinderte die Parteileitung, den Negierungs-
kandidaturen selbst da thatkräftig zu begegnen, wo sie diese im Keime ersticken
konnten; und statt die ihren Bestrebungen und politischen Gedanken geneigten
Teile der Bevölkerung durch lebendige Rede und Schrift an ihre Fahnen zu
fesseln, zog sie es vor, ihr selbständiges Auftreten einzustellen, dem gouverne-
mentalen Kandidaten zu sekundiren und auf diese Weise die ihr nahe stehenden
Kreise mehr nach rechts zu lenken, als ihr später lieb sein konnte.
Der Zwiespalt zwischen den Nationalliberalen und dem Welfentum
durchzog lange Zeit und an vielen Orten noch bis zum jüngsten Eingreifen
des Bundes der Landwirte das gesamte öffentliche Leben in der Provinz.
Gemeinde- und sonstige Korporationsallgelegenheiten, Provinzial- und Kreis¬
versammlungen, alle Arten von öffentlichen Wahlen, auch das landwirtschaft¬
liche Vereinswesen und andre gemeinnützige Angelegenheiten, die an sich in
keinem Zusammenhange mit politischen Aufgaben und Gesinnungen standen,
alles wurde in diese Parteifehde hineingezogen, und hüben und drüben ge¬
wöhnte man sich, auch ganz unpolitische Dinge unter den Gesichtswinkel der
Parteiinteressen zu bringen und vom Parteistandpunkte aus zu erörtern.
Daß darunter sehr häufig die Behandlung der Sache selbst litt, verhehlte man
sich keineswegs, aber die Parteileidenschaft war mächtiger als die Einsicht.
Namentlich waren es manche städtischen Gemeinwesen, deren Aufgaben während
dieser Kämpfe ihrer sachgemäßen Erledigung harrten.
Im Kampfe mit den Welsen und deren ultramontanen Verbündeten
glaubten die Nationalliberalen in der Provinz die werkthütige Unterstützung
der Regierungsbehörden nicht entbehren zu können; sie suchten daher Fühlung
mit diesen, oft schon früh eine innigere, als sich mit der Selbständigkeit einer
Partei, die auf eignen Füßen stehen wollte, vertragen konnte. Die kleinen
Führer in Stadt und Land, die sonst so selbstbewußten Lokalgrößen, waren
leicht geneigt, manchem in die Provinz versetzten Landrate (Amtshanptmann)
und Regierungspräsidenten (Lcinddrvsten), der in feudalen Traditionen aufge¬
wachsen war, auf Kosten der liberalen Idee politische Gefälligkeiten zu erweisen,
und, ganz wie ihre Abgeordneten in den parlamentarischen Versammlungen,
selbst den direkt antiliberalen Forderungen jener Herren mit Kompromißvor-
schlägen zu begegnen. Übrigens gab es damals — in den siebziger Jahren,
auch noch im Anfange der achtziger — neben den konservativen und freikonser¬
vativen Verwaltungsbeamten auch noch einige Landräte (Amtshauptleute), die
sich offen zur nationalliberalen Partei bekannten, was von den konservativen
Ministern gnädigst geduldet wurde, da jene Herren offenbar mit ihrem Libe¬
ralismus das konservative Regiment nicht im entferntesten schädigten und sich
als Abgeordnete — was auch zuweilen vorkam — zahm und musterhaft brav
verhielten. Einige von ihnen machten denn auch eine für ihre Fähigkeiten und
Ansprüche völlig ausreichende kleine Karriere und sind seitdem stille Männer
geworden. Manch echter Junker übrigens, der unter den Eulenburgs und unter
Puttkamer als Regierungsbeamter herüberkam, zeigte sich für das stille Liebes-
werben nationalliberaler Kreise schlechterdings unempfänglich; er war weit
mehr geneigt, den adlichen Welsen entgegenzukommen, um wenigstens den einen
oder andern seiner Standesgenossen in die seligen Gefilde der ostelbischen Kon¬
servativen hinüberzuleiten — was freilich kaum gelang —, als sich mit Liberalen
zu befreunden, vor denen schon seine politische Amme gewarnt hatte, und deren
verschiedne Schnttirungen seinem ungeübten Ange nicht leicht sichtbar wurden.
Einige von diesen Herren haben nie begreifen können, wie außerordentlich wert¬
voll für eine konservative Regierung eine so traktable Gesellschaft wie die der
Nationalliberalen in manchen Zeitläuften sein mußte.
Immerhin traten in der Provinz Hannover gleich in den ersten Jahren
nach 1866 die Nationalliberalen als eine stattliche Macht auf. Ihre Partei
war dort der feste Punkt, um den sich alle Nationalgesinnten scharten. Sie
geboten über eine gutgeschulte Presse, die ihre Gedanken vertrieb, und der selbst
die meisten Kreis- und Amtsorgane angehörten. Die intelligenten Volks¬
schichten standen zum größten Teile zu ihnen. Bürgerliche Gutsbesitzer, Kauf¬
leute, Fabrikanten, der größte Teil der Richter, freier gestellte Verwciltuugs-
becnnte, die Bürgermeister und „Senatoren" der Städte mit den städtischen
Angestellten, staatliche Subalternbeamte, der größte Teil der Rechtsanwälte
und Ärzte wie der Lehrerschaft an den höhern Lehranstalten stellten sich in
ihre Reihen, während sich den Welsen besonders der welfische Adel, die Klein¬
bauern, viele Handwerker, die meisten Geistlichen und ein Teil der Volksschul-
lehrer, sowie die alten, meist inaktiven hannoverschen Beamten einschlossen.
In der That war der Nationalliberalismus in seiner Jugend, die freilich
viel zu früh einer kraftlosen Greisenhaftigkeit Platz machen sollte, Wohl ge¬
eignet, die hoffnungsfreudigen nationalgesinnten Elemente um sich zu ver¬
sammeln.
Im Reichstage wie im preußischen Landtage waren die hannoverschen
Mitglieder der nationalliberalen Fraktion der Kern des rechten Flügels, der
sich schon früh hie und da dem Zusammengehen mit der Fortschrittspartei
widersetzte, das bis etwa um die Mitte des siebenten Jahrzehnts in allen den
Liberalisinus angehenden Fragen die Regel war, und der sich auch gelegentlich
regierungsfreundlicher zeigte als der linke Flügel, was zuerst bei der Ab¬
stimmung über den Servis der Offiziere im Mai 1873 hervortrat. Es war
bezeichnend, daß Herr von Bennigsen und die Seinigen bei dieser keineswegs
sehr bedeutenden Angelegenheit für die Regierungsvorlage, Laster mit seinem
Gefolge aber mit der Opposition stimmten. Die Hannoveraner mit Bennigsen
und Miquel hatten wenig Sympathie für die Fortschrittspartei, desto mehr
für die Freikonservativen, die sie ja anch bei Wahlen zuweilen unterstützten,
während Laster, Forckenbeck und Stciuffenberg in vielen wichtigen Fragen mit
den Ansichten und Forderungen der Fortschrittler völlig übereinstimmten und
diese Übereinstimmung zuweilen auch durch Fraktionszwang für die Gesamt¬
haltung der Partei durchsetzten. Im Gegensatz zu der preußischen Fortschritts¬
partei, deren Vergangenheit sie nicht berührte, haben die hannoverschen
Nationalliberalen von Anfang an ihre Stellung zu der preußischen Regierung
und zu der Reichsverwaltung niemals so aufgefaßt, wie die der Opposition
eines parlamentarisch regierten Landes, die da weiß oder erwartet, daß sie
früher oder später die Regierung ablösen werde. Die Nationalliberalen waren
klug genug, einzusehen, daß die realen Machtverhültnisfe in Preußen und im
Reiche, sowie die historische Entwicklung des Staates die Herstellung einer
Regierung lediglich durch Volkswillen auf lange Zeit ausschlossen, während
die Fortschrittspartei so that, als ob die Verwirklichung des parlamentarischen
Staatswesens in Preußen schon in naher und sicherer Aussicht stünde.
Die Hannoveraner haben viel dazu beigetragen, die nationalliberale Partei
einigermaßen von den Schlacken der doktrinären Sätze, die die preußischen
Gründer aus dem Arsenale der Fortschrittspartei mit übernommen hatten, zu
reinigen. Sie waren es namentlich, die den nationalen Zug der Partei in
den Vordergrund stellten, und die den Satz „durch Freiheit zur Einheit," der
auch ein Vermächtnis der Liberalen war, in den Satz „durch Einheit zur
Freiheit" umwandelten. In ihrem politischen Empfinden wurden sie nicht,
wie die altpreußischen Liberalen, auf Schritt und Tritt durch die unliebsamen
Erinnerungen an die Konfliktszeit und deren persönliche Fatalitäten gestört,
sie huldigten von dem Beginn ihrer parlamentarischen Thätigkeit einem ge¬
wissen Optimismus und betrachteten die innere und die deutsche Politik des
Ministerpräsidenten mit andern Augen als viele liberale Altpreußen. Sie
hatten in manchen Richtungen einen weit freiern Blick als diese, ein Vorzug,
den sie mit ihren Parteigenossen aus Holstein, Hessen-Nassau und den deutschen
Kleinstaaten teilten.
Übrigens war die liberale Gesinnung und Denkweise der damaligen han¬
noverschen Mitglieder der Partei durchaus nicht zu beanstanden; die meisten
von ihnen waren liberal bis „in die Knochen," und viele von ihnen hatten
in der Zeit der kleinlichen Reaktion unter den Nadelstichen des Ministeriums
Borries ihre liberale Überzeugung festigen können. Sie waren Anhänger des
allgemeinen und direkten Wahlrechts, sie kämpften gegen die reichlichen Über¬
bleibsel des alten Polizeistaats, waren Gegner büreaukratischer Auswüchse und
schwärmten sür ausgedehnte Selbstverwaltung, für Gewerbefreiheit, Preßfreiheit
und Koalitionsfreiheit, sie zogen mit Eifer in den Kulturkampf und stritten
heftig gegen die Orthodoxie im protestantischen Lager; sie zeigten warme Nei¬
gung für die Interessen der Schule und der Lehrerwelt, die sie von der Kirche
zu emanzipiren strebten, kurz, sie unterschieden sich in den meisten innern
Fragen nicht grundsätzlich, sondern nur taktisch von den linksstehenden übrigen
Parteigruppirungen, oft nur durch eine mildere Tonart und durch einen
größern Respekt vor Äußerungen der Negierung und deren Vertreter bis
herunter zum Landrate. In wirtschaftlichen Fragen waren sie Manchester¬
männer, wie die meisten Liberalen bis in die Reihen der Demokraten, sie ver¬
traten in Wort und Schrift die Idee der „wirtschaftlichen Freiheit" so gut
oder so schlecht, wie das damals überall im Reiche von liberaler Seite ge¬
schah. Das änderte sich erst allmählich seit dem energischen Eintreten des
Fürsten Bismarck für eine systematische Schutzzollpolitik; wir sagen „allmählich,"
denn noch am 12. Juli 1879 stimmte ein großer Teil der Nationalliberalen,
darunter auch die meisten Hannoveraner, gegen den neuen Zolltarif und
namentlich gegen die Getreidezölle, ebenso wie sie sich mit großer Mehrheit
im Jahre 1882 gegen den Gesetzentwurf über das Tabaksmonopol erklärten
und sich in demselben Jahre mit der Fortschrittspartei und der liberalen Ver¬
einigung (denen um Nickert) bei der Beratung der Gesetzentwürfe wegen der
Unfallversicherung gegen jegliche Zwangsversicherung aussprachen.
Nur zögernd und zunächst widerwillig folgten die Nationalliberalen den
ersten Schritten des Reichskanzlers auf den sozialpolitischen Wegen. Indessen
wurden sie durch die starke Strömung, die sich im Anfange der achtziger
Jahre dafür geltend machte, bald fortgerissen, und so konnten sie schon in der
Heidelberger Erklärung (März 1884) auf ihr Programm schreiben: Billigung
der erhöhte» Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klaffen. Aber sie ließen
sich auch nur fortreißen; sie selbst haben niemals den Ehrgeiz gehabt, auf
irgend einem Gebiete der Sozialpolitik die Führung zu übernehmen. Sie
überließen das dem Zentrum, dessen Leitung, klüger und gewandter als die
ihrige, sie hier und in andern Zielen, die früher im liberalen Programm
einen festen Platz einnahmen, zum Bedauern vieler Patrioten allmählich über¬
flügelte. Jahre hindurch trugen sich die Nationalliberalen mit dem Glauben,
daß durch die magern Gerichte, die den Arbeitern in der Unfall-, Krcmken-
und später Alters- und Juvaliditätsgesetzgebung vorgesetzt waren, die große
Masse der Arbeiter zufriedengestellt sein dürfte, und daß somit diese Gesetz¬
gebung der sozialdemokratischen Bewegung großen Abbruch thun würde.
Namentlich auch die hannöverschen Liberalen und deren Presse huldigten dieser
Ansicht. Dein kaiserlichen Programm von 1890 standen sie teils gleichgiltig
gegenüber, teils gegnerisch, da damals schon der Einfluß der rheinisch-west¬
fälischen Industriellen in der Partei so mächtig geworden war, daß selbst Herr
von Bennigsen sich dem nicht entziehen konnte, der nicht lange darauf als
Sprachrohr dieser Gruppe im Reichstage die Negierung (Berlepsch, Vvtticher)
ersuchen mußte, ein langsameres Tempo in der sozialpolitischen Gesetzgebung
einzuschlagen- Wie man mit den wenigen Mitgliedern der Partei, die es mit
der praktischen Sozialpolitik Ernst nahmen und nicht nur so thun wollten,
umzuspringen beliebte, davon weiß der Braunschweiger Kulemcmn zu erzählen.
Noch über 1879 hinaus waren die hannoverschen Nationalliberalen, wie
gelegentliche Äußerungen ihrer Presse kund thaten, mit dem größten Teile des
rechten Flügels der Partei in dem Wahne befangen, daß der Kanzler über
kurz oder lang ihre Parteigrößen an das Staatsregiment berufen, sich deutlich
für ihren gemäßigten Liberalismus erklären und die von manchem heiß ersehnte
Negicrungsfähigteit der Partei zugestehen werde. Es hatte sie kaum stutzig
gemacht, daß schon im Jahre 1876 das Kanzlerblatt sehr lebhaft für eine
„konservative" Führung der Dinge eingetreten war, daß seitdem Bismarck
durch den Kreuzzeitungswagner die Agrarier lebhaft unterstützte, und daß ihre
— der Nativnalliberalen — mächtige Stellung seit den Wahlen von 1878
und infolge der wirtschaftlichen Reformpläne des Kanzlers, denen sie un¬
sicher und teilweise feindlich gegenüberstanden, offenbar im Schwinden war.
Trotz der veränderten Lage hofften sie immer noch, daß der Fürst Bismarck
die frühern Unterhandlungen (Winter 1877/78) mit Herrn von Bennigsen über
dessen Eintritt in die Negierung wieder aufnehmen werde, und hannoversche
Verehrer Benuigseus träumten noch um die Mitte der achtziger Jahre davon,
in ihrem Führer den Nachfolger Bismarcks zu sehen; sie brachten diese Träume
selbst in die Presse, zum großen Befremden derer, die eher als die große
Menge erkannt hatten, daß Herr von Bennigsen wohl ein vortrefflicher Redner
war, nicht aber als ein Manu, dem eigne schöpferische Gedanken in der großen
Politik zu Gebote standen, geschätzt werden konnte.
In den hannoverschen Kreisen der Nationalliberalen betrachtete man nach
dem ersten Schrecken die Sezession des linken Flügels (1880) als eine Art
von Reinigung, und dieser Gedanke war sehr geeignet, ihren Glauben an die
Ncgierungsfähigkeit der Partei zu stärken. Sicher war dieser Glaube, der
auch von Parteigenossen außerhalb Hannovers noch geteilt wurde, mitbe¬
stimmend für die weitere Haltung der Partei: die Heidelberger Erklärung
sanktionirte ihren Zug nach rechts, ihre Nachgiebigkeit gegenüber den Regierungs¬
einflüssen wuchs, sie suchten und fanden noch innigere Fühlung mit den Gouver-
nementalen als bisher. Selbst mit dem Polizeiminister von Puttkamer wußten
sie sich abzufinden. Eine liberale Forderung nach der andern legten sie still
beiseite, wenn es zu handeln galt. In Worten freilich blieben sie „unentwegt"
„voll und ganz" die Verfechter der Volksfreiheit, und gelegentlich, namentlich
vor Wahlschlachten, strömte ihre Presse über von volksfreundlichen Beteue¬
rungen, die dann freilich in den parlamentarischen Schlußakten kaum je Be¬
thätigung fanden. Ihr Programm ward farbloser und phrasenhafter, ihr poli-
tisches Gebare» immer unsicherer und schwankender, und das Mißverhältnis
zwischen ihren hochtönenden Worten und ihren schwächlichen Thaten machte sie
zum Gegenstande einer nicht schmeichelhaften Heiterkeit bei allen andern poli¬
tischen Parteien. Ihre Anschauungen und Gesinnungen in allen Fragen, die
mit den Volksrechten im Zusammenhange standen, hatten sich in Wahrheit
verwandelt, sodaß sie sich in vielen Punkten mit nicht allzu extremen Konser¬
vativen berührten, gleichwohl konnten und können sie sich bis auf den heutigen
Tag nicht entschließen, das verschliffene liberale Gewand abzulegen, sie halten
es noch immer für nützlich, den Schein aufrecht zu erhalten, daß in ihrem
Lager die liberale Gedankenwelt eine feste Stütze habe. Wen sie damit zu
täuschen gedenken, ist nicht recht ersichtlich.
Um gerecht zu sein, muß man zugestehen, daß sich die matte und
schwankende Haltung der Nationalliberalen auf die innere Politik beschränkte,
und man muß andrerseits anerkennen, daß die Partei ihrem ursprünglichen
„nationalen" Programm und ihrer nationalen Überlieferung zu keiner Zeit
untren gewesen ist. Niemand wird den dentschen Patriotismus der National¬
liberalen bestreiten wollen, kein Unbefangner wird leugnen, daß sie in deutscheu
Fragen, in Militär- und Marineangelegenheiten, in der Kolonialpolitik einen
weit freiern Blick gezeigt haben und auf einer höhern Warte stehen, als ihre
frühern Freunde auf der Linken nebst den süddeutschen Demokraten, deren
Widerwilligkeit in allen diesen Angelegenheiten durch ihren ingrimmigen Haß
gegen das konservative Regiment in Preußen und gegen den Militarismus
bestimmt wird. Die hannoverschen Nationalliberalen machten darin keine Aus¬
nahme von ihren Parteigenossen, sie haben redlich dabei mitgewirkt, wenn es
galt, für die Machtstellung und Machtentfaltung des Deutschen Reichs nach
anßen und gegenüber unberechtigten partikularistischeu Strömungen für den
Neichsgedanken einzutreten. Das ist immerhin bei der Lage, in der sich
Deutschland noch befindet, ein großes Verdienst; dabei kann man schon über
einige Äußerlichkeiten von komischer Wirkung, wie die lärmenden Kundgebungen
des Hurrapatriotismus und die häufigen Selbstkvmplimcntirungen in Rede
und Presse, die in dem Grade zunahmen, wie die Partei quantitativ und
qualitativ zurückging, leicht hinwegsehen.
ährend der gewaltige Obstruktionskampf tobt, den das deutsche
Volk in Österreich für sein gutes Recht kämpft, während für
das Ausgleichsprovisvrium gearbeitet wird, ist ein Angriff gegen
uns siebenbürger Sachsen unternommen worden, der uns ans
Leben geht.
Der Angriff ist wenig bemerkt worden, und fast sieht es aus, als ob der
ungarische Ministerpräsident das kleine, chauvinistische Gesetzentwürfchen — diese
Äußerung wird ihm in den Mund gelegt — absichtlich in dem allgemeinen Trubel
eingebracht habe, um es unbemerkt und unbehelligt ins Sichere zu bringen.
Daß er ein guter Taktiker sei, ist ein unbestrittner Ruhm des Herrn von
Bcmffy, und das ist wohl auch sein wesentlichster Rechtstitel ans den Namen
eines Staatmanns.
Am 8. November 1897 hat der Minister des Innern dem Abgeordneten¬
haus einen Gesetzentwurf über die Regelung der Ortsnamen vorgelegt. Dieser
Gesetzentwurf war eine Überraschung. Niemand ahnte etwas von einer der¬
artigen Absicht. Selbst unsre dreizehn sächsischen Abgeordneten, die doch zur
Regierungspartei gehören, hatten erst ganz zuletzt davon Kunde erhalten. Der
erste Paragraph dieses Gesetzentwurfs ordnet kurz und bündig an: Jede Ge¬
meinde darf ausschließlich nur einen Namen führen. Die folgenden Para¬
graphen enthalten nur erläuternde und durchführende Zusatzbestimmungen.
Sie setzen also fest, daß nur der amtliche Name der Gemeinde in der offiziell
festgesetzten Schreibart gebraucht werden dürfe, und zwar in allen amtlichen,
munizipalen und gemeindeamtlichen Schriften, auf Gemeindestampiglien und
Siegeln, bei der Geschäftsführung der uuter der unmittelbaren Verfügung des
Staates stehenden Anstalten, in den Schulen, ihren Drucksorten und Siegeln,
in notariellen Schriften. Sie setzen ferner fest den Wirkungskreis der zu
bildenden „Landesgemcindenstammbuchkommissiou," die unter anderm anch die
Aufgabe hat, solche Verfügungen zu beantragen, die notwendig sind, um nicht
nur im amtlichen Gebrauch, sondern auch im gesellschaftlichen Verkehr die
offiziellen Namen immer allgemeiner und ausschließlicher zu verbreiten. Sie
bestimmen, daß der Minister des Innern für die Festlegung des amtlichen
Namens zu sorgen hat.
In dem ganzen Gesetzentwurf ist darüber keine Bestimmung enthalten,
welcher Sprache diese Namen angehören müßten. Daß aber der Minister des
Innern und seine famose „Landesgemeindenstammbuchkommission" nur magya¬
rische Namen beantragen werden, das dürfte sicher zu den Thatsachen gehöre»,
über die eine Erörterung oder gar ein Zweifel ausgeschlossen ist.
Es muß also als fest angesehen werden, daß der Gesetzentwurf, ohne jede
andre Rücksichtnahme, nur ein Ziel und eine Richtung hat, die Magyari-
sirung der Ortsnamen, womit ein mächtiger Schritt auf dem Wege der allge¬
meinen Magycirisirung vorwärts gethan werden soll.
Dieser Thatsache gegenüber verdient ein Wort der Vergessenheit entrissen
zu werden. Das Wort lautet: „Es ist in den heutigen Zeiten nicht genug,
Gesetze zu schreiben, man muß für dieselben auch Sympathie erwecken. Und
die Überstrenge ist zwecklos, macht Märtyrer und gebiert Fanatismus." Diese
Worte hat Graf Stefan Szechenyi, Ungarns größter Patriot, der eigentliche
Erwecker des magyarischen Volkes, bei festlicher Gelegenheit, einer Sitzung der
von ihm ins Leben gerufnen ungarischen Akademie gesprochen. Freilich schon
vor recht langer Zeit. Aber was vor fünfundfünfzig Jahren richtig war, wird
heute doch nicht eine veraltete und überwundne Thatsache sein. Und doch
scheint es so, nein, es muß so sein, wenn man nämlich an den vorliegenden
Gesetzentwurf den Maßstab der Szechenyischen Worte legt. Das Gesetz — man
kann leider seit einigen Tagen nicht mehr sagen: der Gesetzentwurf — ist über¬
streng und ist geeignet, Erbitterung, Fanatismus, Märtyrer zu schaffen. Und
das sonderbare ist, daß kein Magyare das einsehn oder wenigstens eingestehn
will; daß auch Minister und Abgeordnete das Gesetz als etwas ganz harm¬
loses und selbstverständliches darstellen; es sei wunderbar, daß man damit so
lange gezögert habe; es werde gar keine nachteiligen Folgen für die betroffnen
Nationen haben. Ein cingesehnes Blatt erklärte naiv, das Gesetz habe
eigentlich nur einen dekorativen Zweck, sodaß durch die magyarischen Namen
Fremde und womöglich auch Einheimische über den nationalen Charakter der
Ortschaften hinweggetäuscht würden. In der Beziehung sind die Abgeordneten
der äußersten Linken und ihre Organe ehrlicher. Sie jubeln über das Gesetz,
sie preisen es offen als einen Schlag gegen die fremden Nationen nud besonders
gegen das Deutschtum. Erinnert man sich aber an eine Äußerung desselben
Szechenyi, der den Charakter seines Volkes besser kannte, als irgend jemand,
daß nämlich dem besonnenen, einsichtigsten und gerechtesten Magyaren alle
diese Tugenden sofort abhanden kämen, wenn die nationale Frage gestellt
werde; ruft man sich dann ein Wort Grillparzers ins Gedächtnis, das wie
für die gegenwärtigen Zeiten bestimmt erscheint: Österreichs Verhängnis sei,
daß es die beiden eitelsten Völker der Erde, Tschechen und Magyaren zu seinen
Bewohnern zähle, dann erscheint dem Kundigen nichts mehr sonderbar. Vielleicht
kommt er sich selbst, einzig und allein, sonderbar vor, daß er, die Magyaren
kennend, ihnen doch so lange Zeit getraut habe und ihnen vielleicht auch wieder
trauen werde.
In welcher Beziehung immer mau das Gesetz prüfen mag, es hält nach
keiner Richtung hin der Prüfung stand.
Am Schluß der Arpadischen Zeit wird in einem der namhaftesten ungarischen
Geschichtswerke (Feßler-Klein) das Verhältnis Siebenbürgens zu Ungarn folgender¬
maßen dargestellt: „Siebenbürgen ist, durch gleiche Konstitution vereinigt, ein
integrirender Teil des Reichs. Es ist im ungeschmälerten Besitz seines Ge¬
biets; Sprache und Nationalität werden nicht angefochten; es behält seine her¬
gebrachten bürgerlichen Einrichtungen; als freie Gemeinwesen ordnen sie selbst
ihre innern Angelegenheiten; sie gehorchen dem König, an dessen Wahl und
Krönung sie teilnehmen, und den Neichsgesetzen, die unter ihrer Mitwirkung
gegeben werden. Sie tragen nicht nur keine größern Lasten und Beschrän¬
kungen als die Bewohner Ungarns, sondern genießen noch viele und bedeutende
Vorrechte. Daher wird es erklärlich, daß sie nie nach Unabhängigkeit strebten,
sondern selbst in solchen Zeiten, wo Ungarn dnrch innere Unruhen geschwächt
und zerrüttet wurde, mit unerschütterlicher Treue an demselben festhielten, das¬
selbe als das gemeinsame Mutterland aller liebte«? und zu seiner Verteidigung
bereitwillig ihr Blut vergossen."
Dieselben Rechtsverhältnisse dauerten auch nach dem Erlöschen des Ar¬
padischen Königshauses fort. Und als dann zweihundert Jahre später der
innerlich morsche und zerrüttete Staat dein Anprall der Türken erlag und bis
auf einen schmalen Streifen Landes verschwand, den die habsburgischen Fürsten
als dürftigen Nest des Königreichs Ungarn behaupteten, da stieg Siebenbürgen
zum Rang eines selbständigen Staats empor, worin die Sachsen einen be¬
sondern, einflußreichen Landstand bildeten.
Und als dann, wieder fast zweihundert Jahre später, von jenem schmalen
Streifen vorwärts dringend, die Habsburger mit fast ausschließlich deutschem
Gut und Blut die Türke» aus Ungarn verjagten, da haben die siebenbürgischen
Stände mit Leopold I. am 4. Dezember 169t jenen Staatsvertrag abgeschlossen,
der unter dem Namen des Leopoldinischen Diploms die rechtliche Grundlage
des rechtlichen Verhältnisses zwischen Ungarn und Siebenbürgen geworden ist.
Alle diese Verträge und Gesetze sind in fast ermüdender Einförmigkeit von
allen Habsburgischen Herrschern bestätigt worden. Noch in den letzten Jahr¬
zehnten, bei dem Unionsbeschluß des Klauseuburger Landtags des Sturmjahres
1848, auf dem Hermannstädter Landtag des Jahres 1363 sind diese Ver¬
hältnisse immer als Grundlage anerkannt worden. Der dreiuudvierzigste Gesetz¬
artikel vom Jahre 1868, der die Union Ungarns und Siebenbürgens regelt,
gewährleistet in seinem Z 1 ausdrücklich die Gleichberechtigung sämtlicher
Bürger Ungarns und Siebenbürgens in bürgerlicher und politischer Hinsicht,
und wir haben dann noch außerdem den vierundvierzigsten Gesetzartikel
aus demselben Jahre, der diese Gleichberechtigung paragraphenweise aus¬
einandersetzt.
Man wirft deu Sachsen gern vor, daß sie ihre Existenz aus vergilbte
Pergamente, auf veraltete und heute unmögliche Privilegien gründeten. Solche
Vorwürfe nehmen sich zwar im Munde der Magyaren komisch genug aus,
jener Magyaren, die mehr als andre Völker auf ihr historisches Recht pochen;
aber Verträge der letzten Jahrzehnte gehören doch nicht einer grauen Vorzeit
an. Es sind Gesetze, die den Charakter von Staatsgrnndgesetzeu tragen, die
wirklich solche sind, wenn auch neulich ein Redner im Parlament ausrief,
Ungarn habe keine Staatsgrundgesetze. Solche Gesetze können, sollte man
meinen, doch nicht einseitig von einer Parlamentsmajorität beseitigt werden.
Da das aber doch geschieht, und da im ungarischen Parlament alles eine
Mehrheit findet, was zur Kräftigung der eignen Nation dient, so sind in
Zukunft die Nichtmagyaren vor keiner noch so ausschweifenden Gewaltthat
sicher.
Wie die allgemeine Rechtslage, so hat die Autonomie der evangelischen
Landeskirche der Sachsen unzählige, scheinbar unantastbare Garantien. Mit
der Kirche ist die Schule verfassungsmäßig verbunden. Diese Verfassung hat
sich seit einem Menschenalter trefflich bewährt. Wenn hie und da gelegentlich
an eine Lockerung des Verbands von Kirche und Schule gedacht wurde, so
wurde der Gedanke immer durch die entscheidende Erwägung zurückgewiesen,
daß beide in der Vereinigung widerstandsfähiger seien, ja daß die Kirche
geradezu unangreifbar sei.
Nun denke man sich die Wirkungen des Gesetzes auf das sächsische Schul¬
wesen. Und um nicht zu ausführlich zu werden, heben wir bloß einen Punkt
hervor: die Schulbücherfrage.
Für niedere Bildungsanstalten, Volksschulen, Bürgerschulen, die in größerer
Zahl und mit viel Schülern und Lehrern vorhanden sind, ist es wohl möglich,
im Lande selbst die nötigen Schulbücher herzustellen. Das geschieht wohl, und
im allgemeinen sind die Bücher auch dem Zwecke entsprechend. In welche
Lage werden aber unsre Mittelschulen, in erster Linie unsre Gymnasien kommen?
Wir besitzen neben einigen unvollständigen fünf vollständige Gymnasien. Je
höher hier die Klasse, je geringer die ohnehin nicht starke Schülerzahl uach
oben zu wird, desto schwieriger wird die Beschaffung der geeigneten Lehr¬
mittel und dadurch der Bestand der Anstalt als deutsche Anstalt. Schwierig¬
keiten haben die Anstalten jetzt schon reichlich genug; sie können unübersteiglich
werden. Mit Ausnahme von Grammatiker, Logarithmentafeln und ähnlichen
Werken, wo ja ungarische Ortsnamen kaum vorkommen werden, wird es immer
Schulbücher geben, z. B. Lehrbücher der Geschichte und der Geographie, in
denen solche verpöntem Benennungen vorkommen. Wenn aber in einem Leit¬
faden der Geschichte von einem Frieden von Preßburg, von einer Schlacht bei
Peterwardein die Rede ist, so ist das Buch rettungslos für uus verloren, und
wenn es noch so ausgezeichnet wäre. Wir können aber fremden Verlegern
in Österreich und Deutschland nicht zumuten, für unsern geringen Bedarf
Sonderausgaben mit magyarischen Bezeichnungen herzustellen.
Wie einst vor sechzig und mehr Jahren die deutschen Hochschulen unsern
Abiturienten gesperrt wurden, so werden uns jetzt mit noch eindringenderm Er¬
folge die deutschen Bildungsmittel abgeschnitten. Wir müssen also die Lehr¬
mittel selbst herstellen. An den tausend deutscheu Mittelschulen mit ihrer Armee
von Lehrern und Professoren finden sich natürlich leicht die geeigneten Männer,
das passende Buch zu schaffen. Daß anch diese nicht sofort das richtige
treffen, und wie sehr sich ein Schulbuch von seinen ersten Anfängen in Jahr
für Jahr folgenden neuen Auflagen entwickelt und verbessert, das weiß jeder
Fachmann. Wie sollen die Lehrer unsrer Mittelschulen, deren Gesamtzahl noch
nicht hundert erreicht, die Bedürfnisse der verschiednen Fächer decken? Wie sollen
bei dem geringe« Verbrauch von Büchern auf deu einzelnen Stufen Neuauf¬
lagen möglich gemacht werden, die doch uuumgüuglich nötig sind, um das
Buch zur Höhe zu führen oder auf der Höhe zu erhalten? Wo sollen sich
die Verleger finden, die ihr Geld in so hoffnungslose Unternehmungen stecken?
Wenn man sich in diese eine Frage ein wenig hineindenkt, so erscheinen die
Schwierigkeiten geradezu unlösbar.
In dem ministerlichen Gesetzentwurf war die Kirche selbst nicht berührt.
Gegen Schluß der Verhandlung im Abgeordnetenhause beantragte ein Ab¬
geordneter der äußersten Linken, Arpad Szentivanhi, auf einmal, daß die Be¬
stimmungen des Gesetzes auch auf die im kirchlichen Leben vorkommenden amt¬
lichen Schriftstücke, Siegel usw. ausgedehnt würden. Der Minister des Innern,
dessen eigner Gesetzentwurf hierdurch wesentlich erweitert und verschärft wurde,
schwieg; ein großer Teil der Regierungspartei stimmte für diesen Zusatz, und
so wurde dieser ebenfalls angenommen.
Aber die Autonomie der evangelischen Landeskirche ist unzählige male ge¬
währleistet und dauert solange, bis ein neuer Arpnd Szentivanhi eine« neuen
Angriff macht, und ein Minister sich abermals in geheimnisvolles Schweigen
hüllt. Muß man da nicht annehmen, daß die ganze Sache abgekartetes Spiel
war? Und so klagen die Siebcnbttrger Sachsen einstimmig: das Gesetz ist un¬
billig, ungerecht, verfassungswidrig. Und ihre Klage ist nicht zu herb.
Aber vielleicht ist das Gesetz eine Notwendigkeit gewesen? Vielleicht
waren die bestehenden Verhältnisse unleidlich, unhaltbar? Vielleicht forderte
das Wohl des Staates, das ja in letzter Linie doch immer den Ausschlag
geben muß, dringend eine Änderung? In der That ist sowohl im Parlament
durch den Referenten, sowie durch eine Reihe von Rednern aller Parteischat-
tirungen, als auch in zahlreichen Zeitungsartikeln versucht wordeu, diese Not¬
wendigkeit nachzuweisen.
Es wurde dcirauf hingewiesen, daß in Ungarn viele gleich oder ähnlich
klingende Ortsnamen vorkommen. Das sind vorzugsweise magyarische Orts¬
namen. Die Formen L^vnd-OMg'/, LöLut-Istv-in und dergleichen Heiligen¬
namen füllen ganze Spalten im offiziellen Ortslexikon; da wäre eine Abhilfe
vielleicht geboten. Daß deutsche Ortsnamen doppelt vorkommen, wie Rosenau
im Vurzenland und Rosenau in der Zips, ist eine Seltenheit. Und das
Zipser Rosenau würde sich leider die Magharisirung leicht gefallen lassen.
Hat doch der Zipser Abgeordnete Mummies im Parlament erklärt, seine Wähler
seien mit dem Gesetzentwurf so zufrieden, daß er gar nicht dagegen stimmen
dürfe, wenn er sich nicht deren Unwillen zuziehen wolle.
Es wurde auf die schwankende Orthographie hingewiesen — die, nebenbei
bemerkt, bei deutschen Namen nicht vorkommt —, durch die Schwierigkeiten in der
Beförderung von Postsendungen entstünden. Es wurden strategische Interessen
sür gefährdet erklärt. Nun, man sollte nur darau gehen, die Generalstabs¬
karten Ungarns magyarisch umzuformen. Nicht etwa nur die Namen von
Städten und Dörfern, sondern auch von Bergen, Pässen und dergleichen, wie
es ansdrücklich beabsichtigt ist, und ein Offizier sollte sich bei einem Feldzuge,
mit einer solchen Karte ausgerüstet, ins Gebirge hineinwagen, etwa in eine
Walachische Gegend (der größte Teil der karpathischen Nandgebirge ist von
Nichtmagyaren bewohnt), so würde dieser Offizier in eine unter Umständen
verhängnisvoll werdende Verwirrung hineingeraten. Es mag immerhin zuge¬
geben werden, daß in der Benennung, in der schärfern Auseinanderhciltung,
in der Schreibweise manches verbessert werden muß, aber das Gebiet solcher
notwendigen Besserungen liegt ganz ausnahmsweise bei deutschen Bezeichnungen;
es liegt anderswo.
Was sollen aber die kleinen Übelstände und ihre Änderungen gegen die
Thatsache heißen, die nun einmal nicht weggcstritten werden kann, daß Ungarn
kein nationaler Staat ist. Noch heutzutage, nachdem die magyarische Statistik
ein Anwachsen des Magyarentnms in den letzten Jahrzehnten festgestellt hat,
wie in keiner frühern Periode — die Macher mögen es am besten wissen, wie
es gemacht wird —, noch heutzutage bilden die Magyaren in Ungarn nicht
fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung; es giebt hente noch in Ungarn weite
Gebiete, in denen der Reisende kaum vermute» könnte, daß er sich in Ungarn
befinde, sondern annehmen müßte, in Rumänien oder einem slawischen Staate zu
sein. Nun müssen zahllose neue Namen geschaffen werden, die sich nach Jahr¬
zehnten noch nicht eingebürgert haben und in dem Volksbewußtsein nicht
lebendig geworden sein werden. Das muß im ganzen öffentlichen Leben und
Verkehr eine Verwirrung, Erschwerung und Schädigung hervorrufen, die gar
nicht zu ermessen sind.
Muß sich denn, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, ein Korrespondent
in Hamburg oder London ein magyarisches Ortslexikon anschaffen; muß er
wissen, daß nach einem bestimmten Termin Kronstäbe nicht mehr so heißt,
sondern einzig und allein Brasso? Und wenn er nun i» altgewohnter Weise
seinen Brief adressirt, so könnte es vorkommen, daß der Postbeamte in Kron¬
stäbe den Brief als unbestellbar zurücksendet oder gar liegen läßt, weil er nicht
weiß, wo Kronstäbe ist (und er braucht es nicht zu wissen, er darf es eigentlich
gar nicht wissen, denn auch die Post ist eine jener Anstalten und Betriebe,
die unter der unmittelbaren Verfügung des Staates stehen). Wer ist dann
der Geschädigte, der ganz ohne eigne Schuld Geschädigte? Man darf nicht
sagen, das seien übertriebne, ausgetüftelte Fälle. Es mag sein, daß besonnene,
wohlwollende, vernünftige Beamte anders handeln. Aber wer steht dafür,
daß alle Beamte vernünftig, besonnen, wohlwollend sind? Und wenn man
schon auf deren Wohlwollen und Gefälligkeit angewiesen ist, so muß folge¬
richtig auch zugegeben werden, daß im entgegengesetzten Falle jeder denkbaren
Verschleppung und Plackerei Thür und Thor geöffnet ist. Wenn der Beamte
jetzt nicht will, so expedirt er einen Brief oder ein Telegramm an einen Herrn
Nnßbächer oder Marienburg nicht, weil es im Lande der Stefanskrone nnr
einen Herrn Ng.g'^rv8i oder IMävü,ri geben darf. Und glaubt jemand, daß ein
solcher Beamter in Ungarn, falls man ihn verklagte, verurteilt werden würde?
Er könnte im Gegenteil sicher sein, wenn sich solche Klagen wiederholten,
baldigst wegen bewiesenen Eifers befördert zu werden. Und zugleich muß die
Befürchtung ausgesprochen werden, daß dieser Vorstoß gegen die andern Na¬
tionen nicht vereinzelt bleiben werde.
Was der deutsche Kaiser bei seinem Besuch in der Hauptstadt Ungarns
in freudig gehobner Stimmung freundliches und schmeichelhaftes gesagt hat,
das kann hier nicht erörtert werden. Wenn aber der Herr Ministerialrat
Beksies jubelt: „Der germanische Kaiser hat alles Deutschtum ostwärts der
Leitha aufgegeben. Keine unsrer Nationalitüten kann noch auf eine Stütze im
Ausland rechnen. Keine Wirkung von außen her wird also noch die Einheit
der ungarischen Nation hindern. Heute können wir alles thun," so drückt er
damit aus, was die Herzen und Köpfe aller Magyaren, mit verschwindend
wenigen Ausnahmen, fühlen und denken. Er drückt aus, wie sie sich die
gesprochnen oder nicht gesprochnen Worte des deutschen Kaisers auslegen. Und
der Ministerialrat legt zugleich ein bedeutungsvolles Geständnis ab. Nicht
aus Achtung vor Recht und Gesetz, sondern aus Schen vor fremden Mächten
haben wir Magyaren uns bis jetzt eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Nun
sind die Schranken gefallen, nun haben wir freie Bahn, nun können wir alles thun,
alles. Und so muß befürchtet werden, daß nach nicht allzulanger Zeit ein ehr¬
geiziger und diensteifriger Minister einen neuen Gesetzentwurf eindringen werde,
der die Umgestaltung der Familiennamen anordnet. Es giebt ja leider so viele
Müller und Schmidt, daß da auch leicht Verwechslungen vorkommen können,
die zu verhüten der Staat das Recht und die Pflicht hat. Wenn diese Um-
gestaltung zugleich eine Magyarisirung der Namen enthält, so ist das eine
angenehme aber durchaus nicht geplante Zugabe.
Und so kann alles geschehen, und so wird alles geschehen. Die Parla-
mentsmaschiue arbeitet mit erfreulicher Genauigkeit. „Sie sind vierhundert,
wir sind dreizehn," hat ein sächsischer Abgeordneter, Dr. Karl Schmidt, den
Magyaren im Parlament zugerufen. Aber dadurch, daß ein Gesetz gegeben
wird, wird noch uicht der Beweis geliefert, daß es gut sei. Dies Gesetz wenig¬
stens ist unnötig, zweckwidrig, verderblich.
Aber das Gesetz ist auch ohne Rücksicht auf menschliches Gefühl, auf das
geschichtliche Bewußtsein, auf das nationale Empfinden gemacht worden, und
das fällt mit am schwersten ins Gewicht- Die Stätten und Orte, die unsre
Vorfahren als ihre Heimat geliebt, wo sie in Kampf und Frieden, in Sorge
und Lust, in Arbeit und Erfolg ein großes Kulturwerk geschaffen haben, ein
Kulturwerk, dnrch das sie dem ganzen Lande, weit über die engen Grenzen
ihres Gebiets hinaus, den Stempel ihres Wesens aufgedrückt haben, diese
Städte und Orte sollen um ihren Charakter verlieren. Alle die Siedlungen,
die von deutschen Gründern ihren deutschen Namen erhalten und ihn mit
Ehren durch die Jahrhunderte getragen haben; alle die Orte, die so aus¬
schließlich deutsch waren, daß es unmöglich ist, sie sich anders vorzustellen,
so ausschließlich deutsch, daß fremde Nationen in ihnen nicht einmal Nieder-
lassungsrecht hatten, die sollen nun in magyarische Namensformen verkleidet
werden, und damit soll planmäßiges Vergessen der Vergangenheit erzielt werden.
Aber Namen sind nicht Rauch!
Der Lehrer erzählt seinen Schülern in der Heimatkunde von der Burg,
die sich am Ende des Holtauerthales erhebt. Er erzählt ihnen, wie in
jener Zeit, wo Hermann von Nürnberg Hermmmstadt gründete, auch ein vor¬
nehmer Ritter Michael mit sechsundzwanzig Knechten mitgekommen sei und
die Burg gegründet habe, die nach ihm den Namen trage: Ivis-visMocl.
Klingt das nicht lächerlich, aber klingt es nicht auch aberwitzig und brutal?
Darf man mit den Gefühlen eines Volkes spielen?
Es geht keine Festlichkeit vorüber, ohne daß die siebenbürger Sachsen
ihr Volkslied sängen. Es wurde von Max Moltke gedichtet, dem vor einigen
Jahren verstorbnen Leipziger Schriftsteller, als er in den vierziger Jahren in
Kronstäbe weilte. Die erste Strophe lautet:
Siebenbürgen, Land deS Segens,
Land der Fülle und der Kraft;
Mit dem Gürtel der Karpathen,
Um das grüne Kleid der Saaten,
Land voll Gold und Rebensaft.
Jede der folgenden Strophen beginnt mit einem ähnlichen Ausruf: „Sieben¬
bürgen. Land der Duldung," „Siebenbürgen, süße Heimat" n. tgi. Das Lied
kann ferner kaum noch gesungen werden. Denn in magyarischer Verballhor-
nnng geht das doch nicht an; und der Gefahr wird man sich nicht aussetzen
wollen, daß ein Herr Obergespan oder ein andrer Beamter, und diese Herren
sind oft recht unberechenbar, das Absingen verbiete oder von seiner Gunst ab¬
hängig mache! In vielen Fällen wird man lieber verzichten.
Eines der schönsten Lieder der Sachsen:
Bei Marienburg, bei Marienburg
Im leichenvollen Feld
besingt die Niederlage und den Untergang der Kronstädter — vierzig Gym¬
nasiasten kämpften und starben mit — im Kampf gegen den Wüterich Gabriel
Bathori. Wird man in Zukunft singen: Bei Földwir, bei Földv-ir?
Ja, Namen sind eben nicht etwas gleichgiltiges, und erst wenn die Gefahr
droht, sie zu verlieren, erhält ein Volk das volle Bewußtsein davon, wie sehr
seine Seele mit dem Namen verbunden und verflochten ist.
Die siebenbürger Sachsen haben in den letzten Jahren eine Politik ver¬
folgt, die von vielen ihrer Freunde, auch in Deutschland, arg getadelt worden
ist. Sie wurde als eine Politik der Unterwerfung, der Charakterlosigkeit und
Feigheit dargestellt. Auch unter den Sachsen selbst entstand Zwiespalt, indem
die Partei der „Grünen" der Politik der leitenden Kreise, gleichsam der offi¬
ziellen Politik entgegenarbeitete; die Grünen erhoben dieselben Vorwürfe gegen
die „Gemäßigten." Es ist Thatsache, daß das sächsische Volk vor etwa sieben
Jahren nach zwanzigjährigen Widerstande gegen magyarische Vergewaltigung
klein, arm, zerstreut zwischen andern Nationen wohnend, kampfesmüde und
friedensbedürftig erschien. Damals kamen die einsichtigsten Männer, bis dahin
die Führer im Kampfe, zu der Überzeugung, daß eine Fortsetzung des Kampfes
in derselben Art die Kräfte des Volkes übersteige, und daß man einer Krise
entgegentreibe; Ruhe, Sammlung, Kräftigung sei unumgängliches Bedürfnis.
Und als damals beim Rücktritt Tiszas sich auch bei der Negierung billiges
Entgegenkommen fand, hoffte man, ohne sachlich und rechtlich etwas wesent¬
liches zu opfern, ein erträgliches Verhältnis anzubahnen. Und dieses Ver¬
hältnis hat wirklich eine Reihe von Jahren gedauert. Die Magyaren werden
es natürlich nie zugeben, daß dieses Verhältnis auch ihnen Vorteil gebracht
hat, und doch ist es so.
Die Sachsen sind gering an Zahl. Aber ihre historische Vergangenheit
und ihre historischen Rechte, die in Ungarn nie vergessen und übersehen werden
können, ihre Intelligenz, ihre Arbeitskraft, ihr fester Zusammenhalt, ihr Wohl¬
stand, der zwar vielfach überschützt worden ist, der schwere Einbußen erlitten hat,
der sich aber in einer armen Umgebung immerhin fast stattlich ausnimmt —
das alles sind Dinge, die den Sachsen eine weit über ihre Zahl hinausgehende
Bedeutung sichern. Nun sind die Sachsen anch die einzigen, die aus Über-
Zeugung und Erwägung treu nur ungarischen Staate Hunger. Rückkehr früherer
Zustände, absolutistische Regierung — das sind Unmöglichkeiten, an die nie¬
mand denkt. Und wenn nach dem Kriegsjahr 1870/71 ein phantastischer
Großdeutschtümler gelegentlich einmal den Mund vollnahm und von einem
Eingreifen Deutschlands zu unsern Gunsten fabelte, rinn so waren das un¬
praktische Träumer, die niemand ernst genommen hat, und die heute längst
vergessen sind. Also, wir sind aus ehrlicher Überzeugung, wir sind aus poli¬
tischer Erwägung gute Ungarn und erkennen der magyarischen Nation gern
die Führung zu. Wir bezweifeln, daß Slowaken und Rutheuen, daß Serben
und Rumänen, die von Nord und Süd aus fremden Staatsgebieten in breiten
Massen nach Ungarn hineingreifen, in gleich rückhaltloser Weise dieses magya¬
rische Staatswesen und dessen magyarische Leitung anerkennen.
Und die Magyaren bezweifeln das selbst. Und gelegentlich zeigt sich eine
ganz gewöhnliche blasse Angst vor diesen Nationalitäten, am meisten vor den
Rumänen, die in unheimlicher Zunahme begriffen sind, die man ja doch nicht
durch ein pharcwnisches Gesetz hemmen kann. Und einsichtsvolle Magyaren
müßten es wissen, daß die Sachsen in Siebenbürgen ihnen unentbehrliche
Bundesgenossen seien, die ihnen nie gefährlich werden können, deren Schwächung
ein großer Fehler sei. Und nun rüttelt eine Afterstaatskunst, die die Zu¬
stimmung der Massen berauscht, und die die Schaffung neuer Gesetze als den
höchsten Erfolg sieht, an den festesten Stützen. Und diese Staatskünstler sehen
nicht ein, daß die Entfremdung der Sachsen eine Schwächung der Magyaren ist.
Glauben denn diese im Ernst, daß die anderthalb Millionen Rumänen
Siebenbürgens ewig passiv bleiben und sich und ihrer Erbitterung höchstens
in ein paar Demonstrationen und Zeitungsartikeln Luft machen werden?
Glauben die Magyaren wirklich, daß es auf die Dauer möglich sein werde,
acht Millionen Nichtmagyaren ohne Vertretung im ungarischen Reichsparlament
zu lassen? Und daß sie dort ewig so friedlich unter einander vierhundert
Magyaren gegen dreizehn Sachsen sein werden? Wenn die Sachsen mit den
Rumänen zusammengingen und sie organisirten, so könnte man in Sieben¬
bürgen schon bei den nächsten Reichstagswahlen erstaunliches erleben, und es
wäre den Magyaren nicht lieb.
Vorläufig ist das Gesetz im Abgeordnetenhause angenommen worden, mit
dem oben erwähnten Szentivanyischen Zusatz. Und es wird seinen weitern
Gang gehen. Vorläufig hat es das Gute gehabt, die Sachsen zu einigen, die
nicht in ihrer Gesinnung gespalten waren, sondern nur in ihrer Ansicht über
Mittel und Wege. Die verschiednen Kreisausschüsse und die von ihnen be¬
rufnen Wählerversammlungen haben eine seltne Einmütigkeit bewiesen. Kron¬
stäbe und Hermannstadt haben ihre Deputaten schon zum Austritt aus der
Regierungspartei aufgefordert, und die Kronstädter Abgeordneten Hintz und
Schmidt sind der Aufforderung schon nachgekommen.
Wir Sachsen gehen einer neuen Periode schwerer Bedrückungen und An¬
griffe entgegen, wie in den siebziger und achtziger Jahren. Wir haben die
Kämpfe durchgeführt, mit mancher Einbuße, aber wir haben uns doch erhalten,
erfüllt vom Bewußtsein unsers guten Rechts. Dieses Bewußtsein erfüllt und
hält uns auch jetzt.
as die nationale Bewegung hauptsächlich hervorrief, war die
Furcht vor Frankreich in Südwestdeutschland, die dort, wie
auch die Ereignisse von 1867, 1870 und 1887 dargethan haben,
allein imstande ist, die landesüblichen partikularistischeu, demo¬
kratischen und ultramontanen Strömungen zu überwinden. Man
befürchtete die militärische Einmischung der Februarrepublik in die süddeutschen
Verhältnisse, in denen sich starke republikanische Neigungen geltend machten.
Die eigne Gefahr ließ selbst zeitweilig die altgewohnte Scheu vor Preußen
vergessen, und der nationale Gedanke fand offne Herzen. Zum Gegengewicht
gegen den lärmend auftretenden Republikanismus beriefen die Fürsten die
Führer der nationalen Liberalen zu Ministern, in der ersten Woche des Mürz
kam Max von Gagern im Auftrage des Herzogs von Nassau nach Darmstadt,
wo Heinrich Staatsminister geworden war, um Verhandlungen zur An¬
regung einer Bundesreform und Schaffung einer deutschen Volksvertretung
unter einem gemeinsamen Oberhaupte zu beginnen. Diese Verhandlungen sollten
in Karlsruhe. Stuttgart, München, Dresden und Berlin fortgesetzt werden.
Im Anfang ging alles vortrefflich, Baden und Württemberg schlössen sich an,
in München ging es schon langsamer, und erst die Wiener Revolution bewirkte
da den Anschluß. Die schwankende Haltung in Berlin erschütterte zwar bald
die in Süddeutschland aufgeflammten Sympathien für Preußen, doch war die
nationale, auf eine Zentralgewalt unter Preußen und auf ein deutsches Par¬
lament gerichtete Strömung noch mächtig. Die führende „Deutsche Zeitung"
in Heidelberg schwankte freilich noch immer zwischen Österreich und Preußen.
Die siebzehn Vertrauensmänner waren in Frankfurt zusammengetreten und
hatten Max von Gagern zum Vorsitzenden gewählt, in dem am 30. März er¬
öffneten sogenannten „Vorparlament" war Heinrich von Gagern der gefeiertste
Redner. Da litt es Friedrich nicht länger im Haag.
Schon seit Jahren hatte er das Heranwachsen der nationalen Strömung
mit Aufmerksamkeit verfolgt, zunächst mit wehmütigen Zweifeln, später mit
zunehmender Hoffnung. An den sanguinischen Bruder Heinrich, der den Tages¬
strömungen leicht nachgab, schrieb er am 13. März 1842 über den Eindruck
der Erwartungen, die der Thronwechsel in Berlin erregt hatte: „Wir stehen
noch immer am ersten Vers des Evangeliums Johannis: Im Anfang war das
Wort; ich wollte aber, es hieße bei uns: Im Anfang war die That." Den
Bruder Heinrich beneidete er überhaupt darum, daß er, wenn auch in be¬
scheidnen Grenzen, eine politische Rolle in Deutschland spielen konnte, und
liebte ihn darum um so inniger, bis zur Bewunderung. Wie sehr er selbst
dabei der eigentlich führende Geist war, hat er wohl kaum geahnt; ihm genügte,
daß der Bruder im vollen Einverständnis mit ihm wirkte. An diesen Bruder
entstand auch in der Langweile des niederländischen Lagerlebens schon im Jahre
1837 ein längeres Gedicht, das unvollendet geblieben ist. und dem die oben
angeführten Verse entnommen sind. Das Gedicht atmet die glutvollste Vater¬
landsliebe und beschwört den Bruder, dem deutschen Volke bei seinem Ringen
zum Einhcitsstaate ein Führer zu sein, denn „auch ohne Lorbeerkranz ist der
ein Held, der für die gute Sache steht und fällt." Er hat mit diesen Worten
das eigne Schicksal prophetisch vorausgesagt.
Die Ereignisse der Mürzbewegung hatten in ihm den Entschluß zur Reife
gebracht, den niederländischen Dienst, ungeachtet der verlockendsten Aussichten
für die Zukunft, zu verlassen und sich, gleich den Brüdern, den öffentlichen
Verhältnissen Deutschlands zu widmen. Es handelte sich für ihn bloß noch
um den schicklichen Zeitpunkt, seine Stellung, in der ihm so viel Liebe und
Auszeichnung entgegengebracht wurde, mit Anstand zu verlassen. Er schreibt
den 14. März an Bruder Heinrich: „Du kannst dir denken, wie in den letzten
Tagen mein Gemüt bewegt war, wie gern ich zu euch geeilt wäre; aber es
war nicht möglich, weil es unter den jetzigen Verhältnissen den Schein hätte,
als wollte ich mich den Schwierigkeiten meiner hiesigen Stellung aus Furcht
entziehen." Als Gouverneur der Residenz war er verpflichtet, die Ordnung
aufrecht zu erhalten, und man hatte darum nach den Pariser Vorgängen nicht
unbegründete Besorgnisse. Da aber nach einigen Änderungen der Verfassung,
bei der energischen Haltung aller besonnenen Elemente, und auch weil Belgien
sich ruhig verhielt, die innere Ruhe ungestört blieb, konnte am 30. März die
außerordentliche Vorsorge und militärische Bereitschaft wieder aufgehoben werden.
Nun drängte es ihn nach Deutschland, um zunächst selbst zu sehen, und er
schreibt am 1. April an Heinrich: „So ungern man mir jetzt Urlaub giebt,
so wird man mir einen kurzen von acht bis vierzehn Tagen nicht weigern,
wenn ich darauf bestehe; und ich werde darauf bestehen, sobald ihr mir schreibt:
Komme! ^ Ambition treibt mich nicht, aber ich bin zu allem bereit, wenn
die Stimme des Vaterlandes ruft, besonders im Falle des Krieges; im Frieden
wird es an berufnen und unberufner Ratgebern nicht fehlen." Am nächsten
Tage hatte er Urlaub. „Ich habe es nicht länger aushalten können," schrieb
er an Heinrich, der Brief des Bruders Max vom 3. April mit der Auf¬
forderung, seine Entlassung zu nehmen, „wir bedürfen deiner," hatte ihn nicht
mehr erreicht. Er traf am 5. April bei den Brüdern in Frankfurt ein.
Die republikanische Linke hatte aus ihrer Niederlage im Vorparlament
bei den Wahlen zum Fünfzigerausschuß ohne weiteres das Recht abgeleitet,
zur Revolution zu schreiten. Konstanz und der ganze, im Rücken durch die
Schweiz gedeckte Seekreis waren der Hauptsitz der Bewegung, die sich über den
Südwesten verbreitet hatte und mit den Pariser Revolutionären in Verbindung
stand. In Frankfurt und weiterhin nahm man an, daß der geringste Erfolg
einer republikanischen Schilderhebung die Anerkennung und die kriegerische Ein¬
mischung Frankreichs zur Folge haben werde. Der Bundestag hatte in solcher
Voraussicht das siebente und achte Bundesarmeekorps mobil gemacht, und
Markgraf Wilhelm von Baden hatte das Kommando über das achte, sowie
über die badische Division niedergelegt, damit nicht ein Prinz des großherzog¬
lichen Hauses in den Kampf mit Landesangehörigen verwickelt werde. In
Baden bedürfte man eines kriegskundigen Führers der Truppen, und das
liberale Ministerium richtete seine Blicke auf den ihm wohlbekannten, aus
Indien mit großer Anerkennung zurückgekehrten General Friedrich von Gagern.
Der Vater und Bruder Heinrich waren damit nicht einverstanden; der Vater
dachte an eine Ersetzung des niederländischen Gesandten von saberse durch ihn am
Bundestag, wovon aber die Brüder nichts wissen wollten; dem Bruder Heinrich
erschien die badische Stellung zu gering, er wußte, daß nach der Lage der Dinge
bei einem ausbrechenden Kriege dem Bruder ein höheres Kommando gar nicht
entgehen konnte. Friedrich machte diesen Bedenken mit einem energischen:
„Du willst also, daß ich gar nichts thue," ein Ende, Vater und Bruder
fügten sich wie immer seinem festen Entschluß. Auch er sah in dem republi¬
kanischen Putschversuch die nächste ernste Gefahr für die günstig fortschreitende
nationale Einheitsbewegung und war bereit, mit seiner Person dagegen ein¬
zutreten. Rang und Stellung kamen dabei für ihn nicht in Betracht, er wäre
bei einer kriegerischen Gefahr des Vaterlands auch als Freiwilliger mitge¬
gangen, falls sich keine andre Verwendung für ihn gefunden hätte.
Es kam ihm nun darauf an, sein dienstliches Verhältnis in den Nieder¬
landen mit Schonung zu lösen. Schon am 11. April hatte er nach der ersten
badischen Anfrage an den Kriegsminister, General Nepveu, ein Schreiben ge¬
richtet mit der Bitte, ihm in Anbetracht der außerordentlichen europäischen
Lage entweder die Erlaubnis zur zeitweiligen Übernahme des badischen Kom¬
mandos oder seinen Abschied mit der ihm vertragsmäßig zustehenden Pension
auszuwirken. Ehe eine Entscheidung darüber eintreffen konnte, hatten die Er¬
eignisse in Baden zu weitern Schritten gedrängt. Friedrich von Gagern war
schon am 11. in Karlsruhe zu Verhandlungen eingetroffen, verließ aber, nach¬
dem er einige Schwankungen bemerkt hatte, die Stadt am andern Morgen
wieder, um nicht als Ämtersuchender zu erscheinen. Das Angebot der badischen
Negierung, das Kommando und die Einrichtung der Vürgerwehr, sowie die
Stellvertretung des Prinzen Max in der Führung der badischen Division zu
übernehmen, folgte ihm unmittelbar nach Frankfurt nach. Die Vürgerwehr lehnte
er entschieden ab und erbot sich nur aus „Pflichtgefühl, mich im Augenblick der
Not einem ehrenvollen Auftrag nicht zu entziehen," und in der „Hoffnung,
meinem Vaterlande einen Dienst zu leisten," zur zeitweiligen Führung der
badischen Truppen. Die Ernennung hierzu mit dem Range eines General¬
leutnants erfolgte umgehend unter dem 14. April, und der General begab sich
nach Karlsruhe, nachdem er dem König von Holland seinen Entschluß angezeigt
und ihm anheimgestellt hatte, deswegen Rückberufung, Urlaub, Abschied oder
Entlassung zu verfügen. Er war also bereit, selbst ans seinen berechtigten
Pensionsanspruch zu verzichten. Die Übernahme eines fremden Kommandos
vor der Regelung der dienstlichen Beziehungen zu den Niederlanden ist nicht
einwandfrei, auch nicht bei der Berücksichtigung des Verzichts auf alle Rechte,
und es läßt sich als Entschuldigung dafür nur die überaus dringliche Lage
anführen, die eine schnelle Entscheidung verlangte.
Es empfiehlt sich, hier gleich die endgiltige Erledigung dieser Angelegenheit
vorauszuschicken. Der König ließ Gagern durch den Kriegsminister in einem
Schreiben vom 16. April zurückrufen, ohne indessen die Erlaubnis zur Übernahme
des badischen Kommandos zu verweigern, sondern bloß zur persönlichen Aus¬
kunft darüber, wie weit die Verpflichtungen etwa bei Feindseligkeiten von fran¬
zösischer Seite gingen, weil sich daraus diplomatische Schwierigkeiten ergeben
könnten. Der Brief erreichte den General erst spät am Abend des 19. in
Schliengen, als bereits der Befehl für den folgenden Tag ausgegeben war;
zwölf Stunden darnach war Friedrich von Gagern tot. Man ersieht aus
allem, daß der König geneigt war, möglichst weit entgegenzukommen, um den
General dem holländischen Dienst zu erhalten. Die Todesnachricht erschütterte
den König zu Thränen, und er ließ dem Vater, ohne irgendwie einen Vorwurf
anzudeuten, sein tiefstes Mitgefühl aussprechen- Auch von berufner nieder¬
ländischer Seite ist niemals ein Tadel gegen Friedrich von Gagern lant ge¬
worden; die ganze Armee wußte, daß er im Herzen immer ein Deutscher ge¬
wesen war.
Der General traf schon am 14. April in Karlsruhe ein, wo er gut em¬
pfangen wurde, und ihm der Großherzog eigne Pferde zur Verfügung stellte.
Er begab sich am folgenden Tage nach Willstedt bei Kehl und übernahm die
Führung der dort Straßburg gegenüber aufgestellten Truppen. Die sür den
Palmsonntag (16. April) gehegten Befürchtungen wegen eines Einfalls be¬
waffneter Scharen ans Frankreich fanden keine Bestätigung, und am 18. ver-
legte Gagern sein Hauptquartier nach Freiburg, um den am Oberrhein cms-
gebrochnen Aufstand niederzuwerfen. Diesen hatten Hecker und Struve am
12. April im Namen einer „provisorischen Negierung" erklärt, aber der erhoffte
allgemeine Zuzug blieb aus, ein Unternehmen auf Donaueschingen wurde durch
das rechtzeitige Eintreffen der Württemberger vereitelt, und Hecker wandte sich
mit seiner Schar durch das Wiesenthal gegen Kandern, um das Rheinthal zu
erreichen. Hier trat ihm General von Gagern entgegen; er befehligte zwei
badische und ein großherzoglich hessisches Bataillon, drei Schwadronen badische
Dragoner und sechs Geschütze, im ganzen gegen 2400 Mann. Die Heckersche
Schar belief sich auf etwa 1000 Maun, der Mehrzahl nach Sensenmänner,
ihre „Artillerie" bestand aus zwei auf Pflugrädern mitgeführten Böllern. Das
badische Hauptquartier wurde am 19. nach Schliengen verlegt, und Gagern
beschloß, den Aufständischen andern Tags entgegenzugehen, um die Bewegung
in ihren Anfängen zu ersticken. Hecker war abends in Kandern eingetroffen.
Der Beschluß der Führer, nach Steinen zurückzugehen, wurde erst spät am
Morgen ausgeführt, als die Truppen bereits vor Kandern standen und das
Durcheinander in dem Städtchen wahrnehmen konnten. General von Gagern
hatte noch keine badische Uniform und befand sich im bürgerlichen Kleid an
der Spitze seiner Kolonne, bloß mit einem Säbel bewaffnet.
Der badische Regierungsrat Stephani begab sich mit einem Trompeter in
den Flecken, traf Hecker nicht mehr an, fand noch Pulverkarren, Wagen und
„Artillerie" unbespannt vor, konnte ungehindert die Aufrnhmkte verlesen, aller¬
dings ohne Erfolg, und kehrte zum General zurück, der sofort deu Weitermarsch
befahl. Ihm war klar, daß sich der Gegner gar nicht in der Verfassung be¬
fand, Widerstand zu leisten, einige Kanonenschüsse von der Höhe vor Kandern
hätten ausgereicht, die Schar zu zersprengen. General von Gagern sah davon
ab, er hielt die Gegenüberstehenden in der Mehrzahl nur für Verführte, wollte
unnützes Blutvergießen vermeiden und war überzeugt, seinen Zweck einfach
durch Drängen mit seinen Truppen zu erreichen. Diese erhielten Befehl, in
keinem Falle zuerst zu schießen. Die edle Menschenfreundlichkeit kostete dem
General das Leben.
Während noch die letzten Aufständischen den Flecken räumten, rückten die
Truppen ein und durch den Ort hindurch. Gagern entwickelte seine gesamte
Macht jenseits der Stadt, nur vier Geschütze blieben auf der Höhe vor Kandern,
von wo sie die Abmarschlinie des Gegners vollständig beherrschten. Kaum
achtzig Schritte von der Infanterie stand die Nachhut Henkers „in Schlacht¬
ordnung," d. h. Schützen hatten hinter Felsen und Bäumen im lichten Hoch¬
wald zu beiden Seiten der Straße Aufstellung genommen, der Haupttrupp
war schon längst im vollen Rückzug den Hohlweg hinauf. Auch von jener
Seite fiel kein Schuß. Gagern ließ die Freischärler durch einen Offizier noch¬
mals zur Niederlegung der Waffen auffordern, und als der Erfolg ausblieb,
ritt er selbst bis zur Brücke, ließ Hecker herbeiholen und wiederholte diesem
gegenüber nachdrücklich sein Verlangen. Hecker lehnte ab und erhielt mit seinem
Nachtrab zehn Minuten Zeit zum Rückzug, der sofort bewerkstelligt wurde.
Militärisch notwendig war das alles nicht, entschiednes Vorrücken der Truppen
hätte die Schar hier ebenso kurzer Hand zersprengt, wie es nach kaum einer
Stunde weiter oben der Fall war.
Die Führer der Aufständischen mochten einsehen, daß ihnen in kurzer Zeit
die Leute auseinanderlaufen würden, wenn es so weiter ginge, und sie be¬
stimmten ihren militärischen Führer Willich, auf der kleinen Hochfläche der
Scheidegg eine Aufstellung zu nehmen- Hier sollte vor allem der Versuch ge¬
macht werden, die Soldaten zum Treubruch zu verleiten, wozu allerdings,
wie die Vorgänge des folgenden Jahres bewiesen haben, unter den Badenern
Neigung vorhanden war. Indessen die hessische Schützenkompagnie, die an der
Spitze marschierte, ließ sich auf dergleichen nicht ein; die vorderste badische
Kompagnie lief freilich bei den ersten Schliffen aus einander, aber doch auch
nicht zu -den Aufstündischen hinüber. Nach Ablauf der zehn Minuten waren
die Truppen in dichter Marschlinie aufgebrochen und kamen bald den letzten
der Heckerschen Schar auf hundertfünfzig Schritte nahe. Als die Scheidegg
in Sicht kam, konnte man erkennen, daß dort Vorkehrungen zum Widerstande
getroffen wurden. Gagern befahl einfach den Weitermarsch und befand sich
dabei hinter dem vordersten Zuge der Vorhut.
Als diese, immer in geschlossener Marschform, die Scheidegg erreichte,
wurde sie mit wildem Geschrei empfangen, aus dem nur einzelne Rufe: „Schießt
nicht, deutsche Brüder! Kommt in unsre Reihen! General vor!" unterschieden
wurden. Auf diesen letzten Ruf aufmerksam gemacht, stieg Gagern vom Pferde
und begab sich vor die äußerste Spitze seiner Truppen dicht an die Aufständischen
heran, wo er von deren Führer Kaiser aus Konstanz nochmals kurz die Nieder-
legung der Waffen verlangte. Die Aufstündischen versuchten, die Soldaten zum
Verrat zu verleiten, auch Kaiser beteiligte sich dabei, andre drängten dicht bis
an die Reihen der Hessen heran, forderten sie zur Übergabe auf und konnten
nur mit Mühe abgehalten werden, zwischen die Glieder selbst einzudringen.
Das Nutzlose seiner Bemühungen einsehend, wandte sich Gagern zurück und
bestieg, mitten auf dem offnen Platze, sein Pferd wieder, zog den Säbel und
sagte: „Nun, in Gottes Namen, vorwärts!" Auf die Bemerkung des Haupt¬
manns Keim: „Herr General, Sie exponiren sich," erwiderte er: „Lieber Freund,
wir gehören auch hierher," und trieb sein Pferd zum Vorwärtsgehen an. Die
Hessen füllten das Gewehr und drangen gegen die noch standhaltenden Auf¬
rührer vor — da erfolgten die ersten Schüsse aus deren Reihen, namentlich
von den seitwärts im Walde verteilten Büchsenschützen, und besonders die
Offiziere zu Pferde wurden bei der kurzen Entfernung getroffen. Gagern hatte
drei Kugel« erhalten und sank mit dem ebenfalls verwundeten Pferde zusammen.
Nun feuerten aber auch die Hessen und trieben die bereits schwankenden Haufen
der Gegner mit Kolben und Bajonett in die vollständigste Flucht. Es ging
dabei auf dem kleinen Platz etwas bunt durch einander, die letzten, aus dem
Walde Vertriebnen Schützen mußten sogar ihren Weg über die Scheidegg nehmen,
um auf die Rückzugslinie ihres Hanpttrupps zu gelaugen. Die hessische
Kompagnie hatte mit einem Verlust von neun Verwundeten die Entscheidung
bewirkt, die nächste badische Kompagnie war im ersten Schrecken auseinander¬
gelaufen; bevor sie wieder gesammelt worden war, und die noch weiter zurück
befindlichen Badener und Hessen auf der Scheidegg eintrafen, war alles vor¬
über, und die Hessen bereits um den gefallnen General bemüht.
Hinterher ist von aufständischer Seite sehr viel Ruhmrediges über dieses
„Gefecht" verbreitet worden; man kennt ja die „Heldengeschichte" jener Tage.
Es verlohnt sich nicht, diese Ungereimtheiten und Widersprüche wieder zu er¬
wähnen. Nur der nachträglichen Behauptung Kaisers, daß Gagern die Auf¬
rührer auf der Scheidegg „Gesindel" genannt, und der Erfindung Mvglings,
der General habe selbst eine Pistole abgefeuert, wollen wir hier entgegentreten.
Jener Ausdruck lag der seinen Denkuugs- und Ausdrucksweise Friedrichs
von Gagern vollkommen fern, und Pistolen hatte er gar nicht zur Verfügung.
All diese erfundnen Einzelheiten sollten bloß den weitverbreiteten Eindruck ab¬
schwächen, der den Tod des Generals als berechneten, feigen Meuchelmord
kennzeichnete. Auch diese Auffassung ist falsch. Gagern fiel, weil er sich,
wahrscheinlich aus Mangel an Vertrauen auf die Festigkeit seiner Truppen,
zu sehr aussetzte, er fiel, weil er das angebliche „Gesindel" zu sehr schonte,
denn diese Haufen wären bei den ersten Schüssen auseinaudergestoben, wie
es dieser Tag und die darauf folgende Woche hinreichend dargethan hat. Daß
sich die Konstanzer Schützen bei dem Haß und der Verblendung jener Zeit
eingebildet haben mögen, eine Großthat sür Freiheit und Vaterland zu begehen,
als sie den „Aristokraten" auf sechzig Schritte Entfernung vom Pferde knallten,
ist leider kaum zu bestreiten. Sie hatten ja keine Ahnung davon, daß sie den
Mann niederstreckten, in dessen klarem Geiste das Gebilde der Zukunft, das
Wir heute unser Vaterland nennen, in deutlichen Linien vorgezeichnet stand.
Als Hauptmann Keim mit seiner Kompagnie die Scheidegg gesäubert
hatte, und Leutnant Becker sich links nach dem Walde wandte, wo noch
Schützen hinter den Bäumen Stand hielten, rief letzterer dem Hauptmaim zu:
„Herr Hauptmann, unser General ist tot!" Keim eilte hin, sah Gagern unter
dem toten Pferde liegen und bemerkte, daß er noch lebte. Er rief: „Meine
Herren und ein paar Schützen, rasch hierher, er lebt noch!" Inzwischen hatte
Leutnant Becker eine schwarzrotgoldne Fahne aufgehoben, die ein Flüchtiger
weggeworfen, begab sich aber ans den Ruf des Hauptmanns zu ihm und half
ihm mit drei Schützen den General unter dem Pferde hervorzuziehen. Mittler¬
meile wurden die letzten Freischärler unter Mitwirkung der durch den Wald
vordringenden badischen Seitendeckung vertrieben und mußten an der Scheidegg
vorüber. An dieser Stelle hatte das Feuern längst aufgehört, die Freischärler
sahen den gefallnen General. Einige wollten durchaus die Fahne wieder
haben, Hauptmann Keim rief ihnen zu: „Hört auf zu schießen; es hat Opfer
genug gekostet und hilft euch doch nichts!" Sie gaben ihr Wort, nicht mehr
zu feuern, worauf Leutnant Becker ihnen die Fahne zuwarf. Auch hieraus hat
Mögling hinterher eine Heldengeschichte von einer angeblichen Gefangennahme des
verwundeten Generals und seiner Auslösung gegen die Fahne gemacht; sie ist
einfach erlogen. Das Gefecht war zu Ende, die beiden Offiziere waren mit dem
sterbenden General beschäftigt und legten keinen Wert auf die vermeintliche
Trophäe. Als man mit Mühe den Verwundeten vom Pferde befreit und
etwas in die Höhe gerichtet hatte, sprach er seine letzten Worte: „Brave Sol¬
daten!" — eine Anerkennung für die tapfern Hessen, deren Zuverlässigkeit er
vielleicht zu wenig vertraut hatte. Man trug ihn ans Gewehren nach einem
Erdaufwurf am Rande der Scheidegg etwa dreißig Schritte weit; als man
ihn niederlegte, war er schon verschieden. Wie die nächst hinter der aufge-
lösten badischen Kompagnie marschierenden Hessen im Laufschritt oben eintrafen,
war der General schon tot, der in ziemlicher Entfernung flüchtende Feind nicht
mehr zu erreichen. Das Gefecht hatte nach Uhr begonnen und war in
weniger als einer halben Stunde zu Ende. Es war am Gründonners¬
tag 1848.
Die Leiche von Gagerns wurde von den Truppen bis Müllheim geführt
und dort auf dem Kirchhof beerdigt. Auf Wunsch des Vaters wurde sie nach
wenigen Tagen wieder abgeholt und unter großer Teilnahme am 1. Mai in
Hornau beigesetzt. Dort auf dem Friedhofe unter dem Fuße des Staufen
wurde dem Gefallnen später von den Brüdern ein einfacher Denkstein von
Granit errichtet. Obgleich die Grabstätte nur wenige Stunden von Frank¬
furt a. M. liegt, wird sie doch eigentlich von niemand besucht. Wer weiß
auch noch etwas von dem General Friedrich von Gagern? Die Leute, die
wenige Jahre nach seinem Tode während und nach der Revolutionsperiode
die gelesenen Blätter beherrschten, waren beflissen, die revolutionären Thor¬
heiten des „tollen Jahres" als große historische Thaten zu preisen, die natio¬
nale Seite trat gänzlich in den Hintergrund, diente höchstens, etwas undeutlich
gehalten, als zierende Verbrämung. Für sie war General Friedrich von
Gagern nur der „Aristokrat," der das „souveräne" Volk zusammenschießen
wollte. Wir haben jetzt ein Deutsches Reich, und der Weg, auf dem allein
es zu erreichen war, liegt historisch festgelegt, für jedermanns Urteil klar vor
Augen. Trotzdem hat man gerade in den letzten Tagen versucht, verschiedene
falsche Götzen und gewisse verfehlte, wenn auch vielleicht gut gemeinte Hand¬
lungen vor fünfzig Jahren zu bedeutsamen nationalen Erscheinungen aufzu¬
putzen. Die Versuche haben sich als vergeblich erwiesen. Aber dem gegenüber
ist es doch wohl am Platze, darauf hinzuweisen, daß in jener gührenden Zeit,
in der so viel redliches Wollen und alle nationale Begeisterung an dem gänz¬
lichen Mangel an diplomatischen und politischen Fähigkeiten scheiterten, ein
deutscher Mann vorhanden war, ein wahrer Vorläufer Bismarcks, der über
diese Mittel verfügte, und dem Ziel und Wege zur deutschen Einheit klar vor
Augen standen. Familienverbindungen und die unglückliche politische Lage
unsers Vaterlands hatten es mit sich gebracht, daß er im entscheidenden Mo¬
mente nicht an einer ihm gebührenden Stelle stand, und als er versuchte, aus
eigner Kraft in die Wirrnisse des Tages einzugreifen, streckte ihn eine feind¬
liche Kugel nieder.
Es soll hier keineswegs behauptet werden, daß das Jahr 1848 die Er¬
füllung der deutschen nationalen Wünsche hätte bringen können, wenn Friedrich
von Gagern eine leitende Stelle in Preußen oder in Frankfurt eingenommen
hätte. Dazu war wohl die Unklarheit jeuer Tage noch zu groß, und in
Berlin fehlte die Entschlossenheit. Aber so viel darf als sicher angenommen
werden, daß manche verfehlte Maßregel unterblieben und mancher zweckmüßigere
Schritt in Frankfurt gethan worden wäre, wenn sich Friedrich von Gagerns
Augen nicht so früh geschlossen hätten. Die weitere politische Entwicklung der
beiden Schwurgenossen vom Ostermontag des Jahres 1836, nachdem ihnen der
führende Geist, der abgöttisch verehrte Bruder, genommen worden war, liefert
dafür den unwiderleglicher Beweis. Kaum zwei Monate ruhte Friedrich vou
Gagern im Grabe, da stellte Heinrich in der Paulskirche auf eigne Faust den
verhängnisvollen Antrag, den Erzherzog Johann zum Reichsverweser zu
wühlen. Es entsprach durchaus der gefühlsseligen Unklarheit jener Zeit, daß
der Vorschlag mit Begeisterung aufgenommen wurde; Heinrich von Gagern
war wieder der von allen Gefeierte. Und was hatte man erreicht? Die
Regierungen hatte man schwer, Preußens Krone und Volk unvergeßlich be¬
leidigt und keine nationale Macht gewonnen. Es konnte doch billigerweise
nicht angenommen werden, daß ein Mitglied des Hauses Habsburg dem Könige
von Preußen redlich den Weg zum deutscheu Kaiserthrone ebnen hülfe! Dieser
Antrag wäre sicher nicht gestellt worden, wenn Friedrich noch gelebt hätte,
aber bei Heinrich war die alte Gagernsche Hauspolitik und die Tradition der
süddeutschen Mittelstaaten wieder zum Durchbruch gekommen. Er beteiligte
sich zwar noch am Erfurter Parlament, wandte sich aber 1859 gänzlich von
Preußen ab und ging 1862 vollkommen in das österreichische Lager über.
Seinen 1842 gebornen ältesten Sohn Friedrich Balduin ließ er in öster¬
reichische Dienste treten, wo dieser bis 1871 Marineoffizier war; später kehrte
er nach Deutschland zurück. Dieser, dem Oheim gleichnamige Neffe war
1881 bis 1893 Mitglied des Deutschen Reichstags für Kronach als Mit¬
glied — des bayrischen Zentrums. Max von Gagern war schon 1354 in
österreichische Dienste getreten.
Die Geschichte der drei Brüder von Gagern ist ungemein lehrreich, auch
noch für unsre politisch gereiftere Zeit. Um dem Vaterlande wahrhaft zu
dienen, genügten nicht allein reiche geistige Anlagen, umfängliches Wissen,
patriotische Hingebung und glänzende Rednergabe, nein weit vor diesen, oft
als die wahren politischen Tugenden bezeichneten Eigenschaften steht der durch
eifriges Nachdenken erworbne, ruhig erwägende Scharfblick, mit dem der Staats¬
mann unbeirrt durch Gefühle, Traditionen und Tagesströmungen — sie
höchstens benutzend — die eigne Macht wie die widerstrebenden Kräfte klar
abwägt und mit Entschlossenheit vorwärts schreitet. Um die Richtigkeit hiervon
bestätigt zu sehen, brauchen wir nur die Riesengestalt Bismarcks mit all den
„politischen Größen" der letzten fünfzig Jahre zu vergleichen. Friedrich von
Gagern hatte diesen Vismarckischen Geist, den scharfen, durch nichts zu be¬
irrenden Blick; schade, daß es ihm nicht vergönnt war, ihn im Dienste Deutsch¬
lands zur Geltung zu bringen. Wenn aber in dieser Zeit so oft von den
„Opfern des Jahres 1848" gesprochen wird, so ist es eine Ehrenpflicht, dabei
des national gesinnten Friedrichs von Gagern nicht zu vergessen.
ewiß, gewiß, er ist alles gewesen, euer Goethe! Es wäre zweck¬
mäßig, wenn die Akten des Weimarischen Schloßbanes aus den
neunziger Jahren und bis zum Jahre 1803 genau durchforscht
und Goethes Verhältnis zur Tischlerei und Schlosserei zum
Gegenstand einer eingehenden Abhandlung gemacht werden würde,
damit man nicht etwa unwissentlich einem braven Tischler- oder Schlosser-
meistcr Verdienste zuschiebt, die eigentlich dem Dichter des „Faust" und der
„Iphigenie" zukommen. Auch ists sehr leichtfertig von euern Philologen, die
jahrein jahraus die Schreiberhünde von John und Kräuter, von I. P. Goetze,
Geist und zehn andern vor Augen haben, daß sie nicht längst ein umfassendes
Wert über Goethes Verhältnis zur Schönschreibkunst in die Welt geschickt
haben, womit doch klärlich eine empfindliche Lücke der nie genug zu ver¬
mehrenden Goethelitteratnr gefüllt werden würde! Warum sollten Sie nicht
anch noch nachweisen können, daß der Dichter, wie in allem ein Erwecker und
Muster, ein vorzüglicher Kriegsminister gewesen sei, bei dem sich Albrecht
Roon und Herr von Vronsart allenfalls hätten Rats holen können, wenn er
nicht zufällig lange vor ihnen gelebt und geamtet Hütte? —
Die vorstehenden spöttischen Zeilen erhielt ich zur Antwort auf einige
Anfragen, die ich über Goethes Thätigkeit in der „fürstlich sächsischen Kriegs¬
kommission" während der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, an einen
in Weimarischer Vergangenheit wohlbewanderter Freund gerichtet hatte. Wäre
es ernstlich meine Aufgabe und Absicht gewesen, die kriegsministerielle Rolle
unsers Dichters zu einer Weltrolle aufzubauschen und die kleine Episode in dein
vielbewegten Leben des Dichters mit Wichtigkeit zu behandeln, so hätte die
erste Aufnahme meines Vorhabens wohl niederschlagend wirken können. Wer
hier eine allzu ernsthafte Miene aufsetzt, nach Goethes Wort ein wenig dänisch
dreinschaut und der Thatsache, daß der Dichter wirklich acht Jahre lang der
„Kriegsminister" der Herzogtümer Weimar und Eisenach gewesen ist, tiefere
Bedeutung für Goethes Universalität zumißt, als ihr zukommt, der fordert
die Ironie aller, die nach ihrer Meinung schon lange genng und zuviel vom
Dichter wissen, unnötig heraus. Weit zweckmäßiger würde vielen eine leichte,
humoristische Behandlung des Gegenstandes scheinen. Und wahrlich erweckt
es zunächst ein Lächeln, daß unser Dichter, der unbeschadet aller persönlichen
Mannhaftigkeit und eines Geistes, den die Gefahr zur Verwegenheit, ja Toll¬
kühnheit steigerte, doch durchaus ein Mann des Friedens war, die Leitung
der Militärverhültnisfe eines deutschen Kleinstaats bis auf das Geschäft der
Rekrutirung in die eigne Hand nehmen mußte. Sehen wir ihn freilich auch
auf diesem fremdartigen Gebiete die besten Eigenschaften seines Wesens ent¬
falten, erkennen wir, daß sich der unwiderstehliche Drang seiner Natur nach
klarer Ordnung, nach Einklang von Form und Wesen, nach der Wahrheit der
Dinge auch in seiner Leitung der hochfürstlich sächsischen Kriegskommission
bethätigt hat, so gewinnt die Erinnerung an Goethes Kriegsministerschaft
neben ihrer heitern eine durchaus ernsthafte Seite und ist nichts weniger als
gleichgiltig.
Man darf bei der Beurteilung der so vielseitigen und im Vergleich mit
seiner Innerlichkeit teilweise so wunderlichen Lebensaufgaben und Leistungen
Goethes im ersten Weimarischen Jahrzehnt nie vergessen, daß der junge
Frankfurter Advokat und neue Günstling des acht Jahre jüngern Herzogs im
November 1775 überlieferte Zustände vorfand, die stark verbesserungsbedürftig
sein mochten, aber die er erst kennen und beurteilen zu lernen hatte. Seit
ihn der fürstliche Freund in sein geheimes Korsen gesetzt und in hundert
Dingen zu seinem andern Ich gemacht hatte, lag Goethe die Doppelpflicht
auf, dem neuen Herrn auf Grund der seither üblichen Verhältnisse zu dienen
und doch, weil er wahre Anhänglichkeit an den Herzog gewonnen hatte, zur
Klärung und Verbesserung eben dieser Verhältnisse das Seinige beizutragen.
Es ist hundertfach nachgewiesen und gepriesen worden, wie der Dichter, zum
Teil mit entschiedner Selbstverleugnung und mit dem Opfer seiner eignen
Neigungen, dieser Doppelpflicht lange Jahre genügte. Und nicht minder
gewiß ist, daß Goethe hierbei Talente und Einsichten entfaltete, die Freunde
und Widersacher zugleich in Erstaunen setzten und die kleine Gruppe derer, die
mit Karl Augusts Minister, dem Geheimrat von Fritsch, den jungen Frank¬
furter für eine „an und vor sich habile und gute Hoffnung gebende, keines¬
wegs bei Geschäften hergekommne," folglich zu seinem Posten untaugliche
Persönlichkeit angesehen hatten, tief beschämen mußte. Mit wieviel Mut sich
der Dichter in den Strom werfen, mit wie energischer Hingebung er den
wusend Ansprüchen seines neuen Geschäftslebens gerecht werden, welches scharfe
Auge und welche glückliche Hand er dabei bewähren mochte, es blieb ihm doch
gewiß, daß ihn die Natur recht eigentlich zu einem Privatmenschen bestimmt,
und daß ihn nur das Schicksal in eine fürstliche Familie hineingeführt habe.
Und wenn Goethe vor der Entscheidung dieses Schicksals an Johanna
Fahlmer zuversichtlich geschrieben hatte: „Hier hab ich doch ein paar Herzog¬
tümer vor mir," und Merck beteuert hatte: „Die Herzogtümer Weimar und
Eisenach sind immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle
zu Gesichte stünde," so hatten schon die ersten Jahre dieser Weltrolle genügt,
ihn zu belehren, wie viel der Schauplatz selbst zu wünschen übrig lasse.
Gewiß gehörten die beiden Herzogtümer seit der Regentschaft Anna
Amalias zu den bestregierten Kleinstaaten Mitteldeutschlands, es war zur Zeit
von Karl Augusts Regierungsantritt schon viel geschehen. Gute Überliefe¬
rungen, die aus den Tagen des frommen und ernstgesinnten Herzogs Wilhelm
Ernst (1683 bis 1728) stammten, waren auch unter dem launisch-willkürlichen
Regiment seiner Nachfolger Ernst August und Ernst August Konstantin nicht
völlig beseitigt worden, und durch die Mutter Karl Augusts hatte das kleine
Land in der That viele Segnungen der aufgeklärten fürstlichen Selbstherrschaft
des achtzehnten Jahrhunderts empfangen. Die kluge Brauuschweigcrin hatte
in sechzehnjähriger Negierung, von dem Geheimrat Greiner und dem etwas
pedantischen aber einsichtigen und umsichtigen Minister Jakob von Fritsch unter¬
stützt, eine Reihe von Einrichtungen und Vorkehrungen für gute Verwaltung,
Justiz und Forderung der Landeswohlfahrt getroffen, die zu der Zeit, als Goethe
in das „Geheime Korsen," die höchste Behörde der Herzogtümer, eintrat, in
der Hauptsache noch die Grundlagen der Negierung waren. Noch hat niemand
ein ganz klares, deutliches und treues Bild der Zustände im Weimarischen
Hof-, Staats- und Stadtleben gegeben, die Goethe vorfand, mit denen er ver¬
flochten wurde, und in die er hineinwuchs. Daran aber läßt sich nicht zweifeln,
daß diese Zustände, so leidlich, ja vortrefflich sie im Vergleich mit den Zu¬
ständen andrer Kleinstaaten sein mochten, aller Orten und Enden verbesserungs¬
bedürftig waren. Noch in der Sprache des Sturms und Dranges drückte
Goethe die Gefühle, die ihn inmitten der neuen Pflichten überkamen, in einer
Reihe von Brief- und Tagebuchstellen aus, und wenn er an Merck am
5. Januar 1777 schrieb: „Ich lebe immer in der tollen Welt und bin sehr
in mich zurückgezogen. Es ist ein wunderbar Ding ums Regiment dieser
Welt, so einen politisch-moralischen Grindkopf nur halbe Wege zu säubern und
in Ordnung zu halten," und wenn er schon früher als Summe seiner Eindrücke
vom hergebrachten Jammer an Herder Weimar, 10. Juli 1776) gemeldet hatte:
„Da hat der Gotteskasten kein Geld, da sollen die alten Fenster bleiben, da
ist der ein Schlingel und jener ein Maz. Und so gehts durch," so waren
das Zeugnisse einer Grundstimmung, in der er, unentmutigt und niemals
wankend, sich schon nach drei Jahren eingestehen mußte: „Das Elend wird
mir nach und nach so prosaisch wie ein Kaminfeuer. Aber ich lasse doch nicht
ab von meinen Gedanken und ringe mit dem unerkannten Engel, sollt ich mir
die Hüfte ausrenken. Es weiß kein Mensch, was ich thue und mit wieviel
Feinden ich kämpfe, um das wenige hervorzubringen. Bei meinem Streben
und Streiten und Bemühen bitt ich euch nicht zu lachen, zuschauende Götter.
Allenfalls lächeln mögt ihr und mir beistehen."
Goethes Kriegsministerschaft ist ein Beispiel von den vorstehend angedeuteten
Erfahrungen und Stimmungen, wie von dem Ernst und der Treue, womit
der Dichter sich allen seinen politischen Geschäften hingab und sich selbst ver¬
leugnete. Es entzieht sich genauerer Kenntnis, in welchem Zusammenhange
und unter welchen Einflüssen Herzog Karl August zu dem Entschluß kam, dem
Mann seines Vertrauens, der Goethe nun einmal und mit vollem Rechte war,
neben andern wichtigen Aufträgen auch die Oberleitung der militärischen An¬
gelegenheiten seines kleinen Staates zu übertragen. Es ist leicht möglich, daß
dieser Entschluß mit der vorübergehenden kriegerischen Stimmung zusammen¬
hing, die den Herzog im Frühjahr 1778 beim Ausbruch des bayrischen Erb¬
folgekriegs ergriff und ihn in Begleitung Goethes nach Berlin führte. Der
Herzog hatte offenbar gehofft, ein willkommner Bundesgenosse zu sein und
in dem bevorstehenden Kampfe alte Ansprüche seines Hauses geltend machen
zu können. In Berlin aber, wo man fand, daß die Zwecke, die man
vor Augen hatte, „zu einem Kampfe auf Leben und Tod ohnehin nicht an¬
gethan waren" (Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund), hütete
man sich wohl, Verpflichtungen gegen kleine Mithelfer einzugehen, die die
schon überlegne preußische Macht nicht wesentlich verstärken konnten.
Damals war es, wo Goethe im Mitgefühl für die Enttäuschung seines
fürstlichen Freundes gegen Charlotte von Stein (Berlin, 18. Mai 1778) in
den Zornesruf ausbrach: „Soviel kann ich sagen, je größer die Welt, desto
garstiger wird die Farce, und ich schwöre, keine Zote und Eselei der Hans-
wnrstiaden ist so ekelhaft als das Wesen der Großen, Mittlern und Kleinen
durch einander. — Den Wert, den wieder dieses Abenteuer für mich, für uns
alle hat, nenne ich nicht mit Namen. — Ich bete die Götter an und fühle in
mir doch Mut genug, ihnen ewigen Haß zu schwören, wenn sie sich gegen uns
betragen wollen wie ihr Bild, die Menschen." Für Goethe lag in dem Ber¬
liner Abenteuer lediglich eine Bestärkung des frühgehegten Wunsches, daß sein
Fürst, aller Wirkung nach außen soviel wie möglich entsagend, sein Land mit
all der Sorgfalt und der unermüdlichen Treue im kleinen verwalte, die der
Dichter, trotz des besten Willens des Herzogs, in dem öffentlichen Wesen der
Herzogtümer vielfach noch vermißte. Karl August aber sah, seiner Natur und
seinen innersten Wünschen nach, in dem Erlebten einen Stachel, sein Augenmerk
schärfer als bisher auf die militärischen Verhältnisse seines Landes zu richten
und Reformen, die auf andern Gebieten längst in Angriff genommen waren,
nun auch auf das kleine Truppenkorps zu übertragen, das, als Attribut der
vollen Souveränität unentbehrlich, in den Jahren zwischen 1775 und 1778
der Hauptsache nach in dem Zustande geblieben war, worin es die Herzogin
Anna Amalia ihrem Sohne übergeben hatte.
Wie sich dieselben Zustände und Mißstände, die Widersprüche zwischen
dem gesteigerten und übertriebnen fürstlichen Selbst- und Machtgefühl des
achtzehnten Jahrhunderts und den Kräften der kleinen Gebiete überall gezeigt
hatten, so waren sie in der ersten Hülste des achtzehnten Jahrhunderts auch
im Herzogtum Weimar sichtbar und fühlbar geworden. Neben der prunkhaften
Hofhaltung sollte eine stattliche Soldateska den Unterschied zwischen großen
und kleinen Herrschern vergessen machen. Da selbst der rücksichtsloseste Druck
auf die Unterthanen nicht die Aushebung und den Unterhalt zahlreicher
Truppen ermöglichte, so half man sich mit Werbung und Vermietung in fremde
Kriegsdienste. Lange bevor „die Husarenhändler von Hessen und Ansbach,"
wie sie Macaulay nennt, an den Pranger der empörten öffentlichen Meinung
gestellt wurden, war das Truppenvermieten durch die Kleiustaatfürsten Mode ge¬
worden und namentlich durch den spanischen Erbfolgekrieg gefördert worden. Auch
das Fürstentum Weimar hatte 1702, mit Gotha und Eisenach zusammen, zwei
Regimenter gestellt, die unter Prinz Eugen in Italien fochten. Den höchsten,
unsäglich unnatürlichen Aufschwung nahm das weimarische Soldatenwesen erst
unter dem trotzig-eigenwilligen und durch eine lange, machtlose Mitregentschaft
verbitterten Herzog Ernst August, dessen Alleinregierung (von 1728 bis 1748)
das wunderbarste Bild kleinfürstlichen Machtdünkels bei thatsächlicher Ohnmacht
zeigt, ein Bild unruhiger Geschäftigkeit bei thatsächlicher Vernachlässigung der
Landesverwaltung, leidenschaftlicher Vergnügungssucht nud Glanzentfaltung bei
thatsächlich trübseligen und verdrießlichen Hans- und Hofverhältnissen.
Der militärische Ehrgeiz veranlaßte den Herzog, im Jahre 1732 gegen
den Titel eines kaiserlichen Generals der Kavallerie und eine Beihilfe von
jährlich 50000 Thalern die Verpflichtung einzugehen, für Kaiser Karl VI. ein
Regiment zu Fuß und ein Regiment Kürassiere zu unterhalten, die in der
Kriegsstärke von 3000 Mann zu Fuß und 1000 Reitern in den Jahren 1733
bis 1735 im sogenannten polnischen Erbfolgekrieg am Rhein und in Italien
fochten. Derweil verstärkte der Herzog daheim seine Garden, errichtete mehrere
Kompagnien Artillerie, ließ Schanzen aufwerfen (die sogenannte Falkenschanze
an der Straße von Weimar nach dem Lustschlosse Belvedere) und hielt kost¬
spielige „Campements" ab. Auch als sich das Verhältnis zum Kaiserhof in
Wien löste, und nachdem Ernst August 1741 das Herzogtum Eisenach geerbt
hatte, fuhr er fort, Truppen zu errichten; so hatte er um das Jahr 1742,
neben einem Regiment schwerer Reiter, ein Husarenregiment, zwei Garde¬
kompagnien zu Fuß, zwei Bataillone Infanterie, vier Kanonierkompagnien
unter Waffen, während er die alten „Landregimenter" als bloße Milizen
gering schätzte und vernachlässigte. Noch in seinen letzten Negierungsjcchren
entwarf der Herzog einen Plan, um als formidabler Kriegsfürst dazustehen,
seine Armee auf 10000 Manu mit nahezu 2000 Pferden zu bringen, was
dann wohl hingereicht haben würde, seine beiden Herzogtümer innerhalb eines
Lustrums aufzuzehren. Da der Tod am 19. Januar 1748 die weitere Aus¬
führung abenteuerlicher Entwürfe hemmte, so hatte die für den minderjährigen
Herzog Ernst August Konstantin eintretende Vormundschaftsregierung Herzog
Friedrichs III. von Gotha zwar immer noch die übergroße Truppenzahl auf
einen der Kleinheit des Landes und der Mittel besser entsprechenden Bestand
zurückzuführen, aber die geplanten dreizehn Bataillone und vier Reiterregimenter
mußte sie nicht auflösen. Immerhin blieben von den verschiednen militärischen
Formationen bei jeder Veränderung Stämme und Neste zurück, auch verharrte
namentlich eine Anzahl von Offizieren, für die irgend welche Verwendung ge¬
funden werden mußte, in den seitherigen Diensten.
Herzog Ernst August Konstantin stellte das Weimarische und Eisenachische
Landregiment sonne ein Jenaisches Landbataillon auf Andrängen der Stände
wieder her, vermehrte auch die unter der vormundschaftlichen Negierung ver¬
ringerten kleinen Neiterabteilungen (Garde du Corps und Husaren) wieder um
einige Leute und hinterließ seiner Witwe, der Herzogin-Regentin Anna Amalia,
einen Generalmajor, vier Obersten, drei Oberstleutnants und acht Majors,
einen Militäretat, der immer noch viel zu groß für Leute und Land war,
aber im wesentlichen beibehalten wurde. Das Weimarische Zeughaus bewahrte
noch gegen sechzig Geschütze und viel überflüssige Waffen, obwohl die Reichs-
armee während des siebenjährigen Krieges zwei Geschütze und 1500 Musketen
und Karabiner wie ans Feindesland entführt hatte. In den kleinen Städten
des kleinen Landes saßen Kommandanten, die nichts zu kommandiren hatten,
Hof- und Staatsdiener des Herzogtums waren, ohne militärische Aufgaben,
mit „einem militärischen Charakter beehrt," überall zeigten sich noch Über¬
bleibsel und Bruchstücke des babylonischen Turmbaus, den Ernst August auf¬
zuführen begonnen hatte. Als Goethe im November 1775 nach Weimar kam,
thaten die schweren Gardereiter in den fürstlichen Schlossern noch Dienst, die
Husaren begleiteten den wandernden Hof und hielten zu den abendlichen
glänzenden Eisfahrten, die der Frankfurter Doktor und Dichter als neuen
Sport mitbrachte, die Fackeln; der Artillcriehauptmann Castrop hatte gerade
noch soviel Konstabler unter seinem Befehl, daß bei großen Festlichkeiten die
Geschütze gelöst werden konnten, und durch die ältesten Weimarischen Tagebuch¬
blätter Goethes schwirren Exerzitien des Militärs, Paraden der Husaren. Es
sah überall noch buntscheckig und anspruchsvoll genug aus, und Goethe wird
nicht verfehlt haben, stille Betrachtungen über die halbe Komik dieser Nach¬
ahmung der Mannigfaltigkeit größerer Heerkörper anzustellen.
Eine erste wichtigere Umgestaltung erfolgte schon in den Jahren 1777
und 1778. Die Garde du Corps wurde aufgelöst, ihre Reiter der kleinen
Husarenschwadron einverleibt, die der Herzog, da sie neben dem Militär- auch
Polizei- und Ordonnanzdienst that, mit Recht für zweckmäßiger erachtete als
die bepanzerten Prunksoldaten. Unterm 4. Juni 1778 erging sodann die
Verordnung, die die „Landregimenter" von Weimar und Eisenach „wegen des
beträchtlichen Aufwandes und wegen der Seltenheit der Gelegenheiten, wo
einiger Gebrauch von selbigen zu machen gewesen," auflöste. Und gegen Ende
1778 entschloß sich der Herzog, den Vorsitz der Kriegskommission Goethe zu
übertragen. Der Dichter sah mit gepreßtem Gefühl und merklichem Seufzen
der neuen Arbeit und neuen Ehre entgegen. In Verbindung mit einer Reihe
allgemeiner, sehr charakteristischer Bemerkungen gedenkt der Schluß des Tage¬
buchs von 1778 der bevorstehenden Kriegsministerschaft. „Ich bin nicht zu
dieser Welt gemacht, wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter
Kot. Und weil ich mich nicht um Lumperei kümmere, nicht klatsche und solche
Napporteurs nicht halte, handle ich oft dumm. Viel Arbeit in mir selbst,
zu viel Sinnens, daß abends mein ganzes Wesen zwischen den Augenknochen
sich zusammenzudrängen scheint. Hoffnung auf Leichtigkeit durch Gewohnheit.
Bevorstehende neue Ekelverhältnisse durch die Kriegs-Kommission. Durch Ruhe
und Geradheit geht doch alles durch."
Am 5. Januar 1779 erhielt Goethe im Geheimen Korsen den Vorsitz in
der Kricgskommission, den bisher der Geheimrat und Minister von Fritsch
geführt hatte, förmlich übertragen. Im Aktendeutsch der Zeit erscheint der
Vorgang mit den Worten gebucht: „Des würdigen Herrn Geheimraths Frei-
herrn von Fritsch Excellenz werden von der bey der Kriegs-Commission ver¬
sehenen Ivorrmdeni? dispensiret und solche dem Herrn Geheimen Legationsrath
Göthe übertragen" (Geheime Kanzleiakten der Kriegs-Commission fff. Fol. 119.
Grvßherzogl. Staatsarchiv zu Weimar), und „dem Herrn Geheimen Legations¬
rath Göthe (so schreiben die Akten bestündig) werden für sothane Jncumbenz
jährlich 200 Thaler accordiret" (Kriegscommission ggg. Fol. 120. Grvßherzogl.
Se.-A. z. W.). Die eigentliche Arbeitskraft, oder besser der Beamte, der unter
Oberaufsicht des Ministers Fritsch bisher die Militärangelcgenheiten verwaltet
hatte, war der Kriegsrat C. A. von Volgstedt (Volgstädt). Er war schon als
herzoglich weimarischer Leutnant zum „Assessor" des damaligen Kriegskollegiums
und späterhin zum Kriegsrat ernannt worden; das Verhältnis drückt sich in
den Gehaltsbezügen, wonach der Vorsitzende der Kommission die Summe von
200 Thalern sür ein Nebenamt, Volgstedt die von 600 Thalern empfing, voll-
kommen deutlich aus. Mit dem Kriegsrat übernahm Goethe zugleich den
Fourier Christian Gottlob Schmidt und den Kriegskanzlisten und Skribenten
Karl Gottlob Uhlemann als Beamten der Kommission.
Am 10. Januar warteten die Offiziers und seine künftigen Subalternen
dem neuen Chef auf, am 13. hielt Goethe die erste Session, wobei er „fest und
ruhig in seinen Sinnen und scharf" war. Zwölf Tage lang kramte er in den
Akten, störte die unordentliche RePositur durch und bemächtigte sich der neuen,
ihm seither so fremden Aufgabe mit der in seiner Natur liegenden Naschheit
und Entschlossenheit. Er entdeckte bald genug, daß nicht nur in den Akten
Unordnung herrschte, sondern daß alle Verhältnisse, mit denen er sich jetzt
zu besassen hatte, so ziemlich verworren und verrottet waren, daß Volgstedt
dem neuen Vorsitzenden mit übeln Willen gegenüberstand, und daß ein sauer
Stück Arbeit seiner wartete, obgleich er nur das Nötigste wollte. „Die Kriegs-
Cvmmissiou werd ich gut versehen, weil ich bei dem Geschäft gar keine Imagi¬
nation habe, gar nichts hervorbringen will, nur das, was da ist, recht kennen
und ordentlich haben will," bezeugte er sich im Tagebuch vom 1. Februar 1779.
Und er wußte auch schon, daß er bei allem verantwortlichen Geschäft nur sich
selbst vertrauen dürfe. Denn an demselben Tage bekannte er: „So schwer ist
der Punkt, wenn einem ein Dritter etwas räth oder einen Mangel aufdeckt und
die Mittel anzeigt, wie dieses gehoben werden könnte, weil so oft der Eigennutz
der Menschen ins Spiel kommt, die nur neue Etats machen wollen, um bei
der Gelegenheit sich und den ihrigen eine Zulage zuzuschieben, neue Ein¬
richtungen, um sichs bequemer zu machen, Leute in Versorgung zu schieben :c.
Durch diese wiederholten Erfahrungen wird man so mißtrauisch, daß man sich
fast zuletzt scheut, den Staub abwischen zu lasse». In keine Lässigkeit und
Unthätigkeit zu fallen, ist deswegen schwer."
Die Gefahr, lässig und unthätig zu werden, kann bei Goethe nie groß
gewesen sein, von den befürchteten Ekelverhältnissen in der Kriegskommission
erhielt er gleich nach Übernahme des Vorsitzes mannigfaltige Proben. Die
Rekrutirung wartete auf ihn, die „Repositur" enthielt eine bedenkliche Menge
von Akten nnter dem Titel „Schuldensachen und Traetamcntsvorschüsse," über
das Schnldenwesen des verstorbnen Hauptmanns von Harras zu Jena und
des verstorbnen Hauptmanns von Mengersleben zu Allstedt mußte gleich im
Jahre 1779 entschieden werden, zwischen der fürstlichen Kriegskommission und
dem Rittmeister von Lichtenberg von den Husaren war eine „Differenz wegen
Abgabe der ledernen Hosen der seitherigen Gardereiter an das Husarenkorps"
entstanden, der Kommerzienrat Paulsen zu Jena (dem wir in Goethes Leben
mehrfach, namentlich vor und während der italienischen Reise begegnen) hatte
wegen einer Wechselschuld de» knrmainzischen Hauptmann von den Brincken
arretiren lassen.
Wichtiger und schlimmer als alles dies waren die Verhältnisse zu
den preußischen Militärbehörden und den Werbern. Der bayrische Erbfolge-
krieg ging zu dieser Zeit noch seinen lahmen Gang und kam erst Mitte Mai durch
den Frieden von Teschen zum Austrag. Die Preußen verlangten ungehinderte
Werbung in den herzoglich weimarischen Landen, General Möllendorf bestand
darauf, Werbekommandos ins Land selbst zu schicken, und die Einwände, die
Herzog Karl August bei seinem Oheim, dem großen Friedrich erhob, fanden
in diesem Augenblick kein günstiges Ohr. Von Ende Januar 1779 datirt der
bekannte Brief Goethes an den Herzog, der eigentlich mehr eine Denkschrift als
ein Brief ist, und worin der Dichter die schärfste Einsicht in die bedrängte Lage
des machtlosen Kleinstaats gegenüber den Forderungen und dem Macht¬
bewußtsein der großen Mächte an den Tag legt. Hält man diesen Brief mit
den Bemerkungen zusammen, die Goethe unter dem 1. Februar über die Kvnseil-
sitzung des gleichen Tages seinem Tagebuch vertraute („Conseil. Dumme Luft
drinne. Fataler Humor vou Fr. 2z zuviel gesprochen. — 2>. steht noch
immer an der Form stille. Falsche Anwendung auf seinen Zustand, waS mau
bei andern gut und groß findet. Verblendung am äußerlichen Übertüncheu"),
so ergiebt sich, daß der Dichter fürstlichen Selbsttäuschungen vorbeugen wollte.
Er setzte weder Vertrauen auf den Anschluß an die Staaten zweiten und dritten
Ranges, die mit Weimar-Eisenach in gleicher Gefahr und Verdammnis waren,
noch auf die Beschwerden, die man im äußersten Falle beim Reichstag zu Regens-
burg erheben konnte. Er hielt offenbar im ganzen die feste Abweisung der
preußischen Ansprüche und Abwehr etwa doch ins Land eindringender Werbe-
kommandos für das geratenste, war der Meinung, daß die Preußen selbst es
nicht zu einem öffentlichen unangenehmen Ausbruch kommeu lassen und, wenn
sie Standhnftigkeit sähen, sich begnügen würden, in der Stille zu necken und
hie und da einigen Abbruch zu thun. Aber er forderte nachdrücklich, daß man
sich, bevor man handle, alle Möglichkeiten klar vor Augen stelle, „weil die
augenblicklichen Entschlüsse in solchen Gelegenheiten selten die Folgen zu Rate
Ziehen." (Goethe an Herzog Karl August, Ende Januar 1779.)
(Schluß folgt)
n der Antwort auf die Sziuulnsche Jnterpellation in der Sitzung
des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 20. April hat der Land¬
wirtschaftsminister namens der Staatsregierung außer der in Aussicht
gestellte» Bekämpfung der „Auswüchse" der Freizügigkeit noch einige
weitere Maßregeln genannt, durch die die Regierung eine Milderung
des augeul'licklichen Notstands zu versuchen bereit sei. Von nennens¬
wertem Interesse ist darunter wohl nur die Aussicht auf die reichsgesetzliche Ein-MW
führung des Kvuzessionszwangs für die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung. Sie
entspricht einem ausgesprochnen Bedürfnis, und man wird dabei vor scharfen Kontroll¬
maßregeln nicht zurückschrecken dürfen. Natürlich ist irgend welcher Erfolg in der
Hauptsache, um die es sich in der ganzen Frage handelt, von diesem in der That
winzig kleinen Mittel kaum zu erwarten. Hinweisen wenigstens möchte ich hier
beiläufig auch darauf, daß mau endlich einem Mangel abhelfen sollte, der mit
der menschlichen Natur einfach uiwerträglich ist, d. i. dem Mangel an jeder Über¬
wachung der Freizügigkeit Minderjähriger. Die modernen Verkehrsverhältnisse ent¬
rücken die eben der Schule entwachsenen Knaben und Mädchen vielfach völlig der
elterlichen Autorität und Verantwortung. Die Gleichgiltigkeit des Staats gegen
die doch ganz offenbar daraus erwachsenden schweren Schäden ist mir immer unbe¬
greiflich gewesen. Vereinsthätigkeit, auch die kirchliche, reicht nicht aus, wenn ge¬
holfen werden soll. Hier sind durchgreifende gesetzliche Reorganisationen nötig,
und zwar sehr weitgehende.
Die Erklärung der Staatsregierung enthält endlich noch folgenden, den Kern
der Sache wenigstens berührenden Satz: „Die Arbeiterwvhlfahrtspflege auf dem
Lande bedarf der thunlichsten Förderung. Über diese Frage wird ein Benehmen
mit den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen in die Wege geleitet werden, um
diese vorwiegend dein Gebiete der Selbsthilfe angehörende Aufgabe auch staatlicher-
scits zu fördern." Soll aber diese Selbsthilfe in der Hand der landwirtschaftlichen
Interessenvertretungen etwas leisten, so ist doch in erster Linie die Erkenntnis der
bestehenden Mängel und der gute Wille, ihnen abzuhelfen, unerläßliche Voraussetzung.
Ist darauf zu rechnen? Darf die Regierung sich auf die Landwirtschaftskmnmern
verlassen, darf sie ihnen die Verantwortlichkeit in dieser so überaus wichtigen sozialen
und nationalen Aufgabe überlassen? Darf das preußische Beamtentum auch in dieser
Frage wieder hinter dem verhängnisvollen Schirme der „Selbstverwaltung" Deckung
suchen? Angesichts der Allmacht und der Natur der agrarischen Bewegung kann
heute die Antwort nur lauten: Nein und abermals nein!
Die Passive, wenn nicht ablehnende Haltung der preußischen Landwirtschafts-
kammern gegen die Bestrebungen des Vereins für Wohlfahrtspflege auf dem Lande
ist erst kürzlich in der zweiten Hauptversammlung dieses Vereins dnrch den Direktor
im Landwirtschaftsministeriunl Dr. Thiel ausdrücklich hervorgehoben und „tief be¬
dauert" worden. Man brauchte das vielleicht an und für sich nicht einmal allzu
tragisch zu nehmen. Ein gewisses Mißtrauen gegen Vereinsagitationen wäre
natürlich und verzeihlich, selbst wo es ungerechtfertigt ist, wie hier. Die Ritter¬
gutsbesitzer und Großbauern im Osten könnten sich sagen: Warum Vereinsagitation?
Warum nicht offnes, energisches Eintreten der Landräte, der Regierungspräsidenten,
der Oberpräsidenten für soziale Reformen, wie wir das in Preußen früher gewöhnt
waren? Aber in Wirklichkeit ist die Sache doch sehr ernst. Das Agrariertum und
damit die eigentliche, zur Zeit alleinherrschende Interessenvertretung der ostelbischen
Großgrundbesitzer und Großbauern lehnt die soziale Reform auf dem Lande grund¬
sätzlich ab. Das Agrariertum bestreitet entschieden, daß die Flucht vom Lande ihren
Hauptgrund habe in den Zuständen auf dem Laude, in der sozialen Stellung der
ostelbischen ländlichen Arbeiterbevölkerung, die mit den berechtigten Lebensansprüchen
der dentschen Arbeiter unverträglich geworden ist. Das ist notorisch. Ausdrücklich ist
dieser Standpunkt aber mich formulirt worden in der schon erwähnten Äußerung der
Hamburger Nachrichten über die Szniulasche Jnterpellation. Das Blatt schreibt
wörtlich: „Wir erblicken einen Hauptgrund des stets zunehmenden Verziehens der
Arbeitskräfte vom Laude namentlich in der Annehmlichkeit der städtischen Bequem-
lichkeiten und Vergnügungen, in den Tingeltangels, den Tanzsalons usw. Dabei
halten wir den hohen Prozentsatz der weiblichen Zuzügler vom Lande in die Gro߬
städte in der Hauptsache für ein Ergebnis des weiblichen Schulunterrichts auf dem
Lande. Die Schulmädchen werdeu durch ihn gerade soweit ausgebildet, daß sie
ländliche Arbeit in Wind und Wetter oder in Viehställen ihrer nicht mehr für
würdig finden und sich befähigt glauben, ihre Existenz in der Hoffnung auf eine
Nähmaschine und in Aussicht auf Tanz- und Tingeltaugelvergnügen in der großen
Stadt zu suchen. Wenn sie dahin kommen, so finden diejenigen, bei denen der
Tanzsalon mehr Anziehungskraft als die Nähmaschine hat, sehr bald, daß ihr Ver¬
dienst ihren Ansprüchen nicht mehr genügt. Sie fallen dann leicht der Prostitution
anheim und steigern so die großstädtischen Zustände, wie sie bei Beratung der
Je-x Heinze und bei andern Gelegenheiten hinreichend erörtert worden sind. Wenn
von freisinniger Seite den Landwirten geraten wird, ihre Leute besser zu behandeln,
damit sie bei ihnen blieben, so enthält dies die Aufforderug, den Arbeitern auf den
Dörfern Singspielhalleu, Tanzsnlons und dergleichen einzurichten. Das ist natürlich
eine Unmöglichkeit." Und dann kommt die Forderung der „Repression," weil kein
andrer Weg gangbar sei. Daß die Hamburger Nachrichten hiermit, in feinem Ver¬
ständnis für die Regungen der Volksseele, die herrschende Anschauung des ostelbischen
Agrariertums getroffen und etwa schwankenden Gemütern neuen Holt gegeben haben,
ist nicht zu bezweifeln. Mögen auch einzelne Gutsbesitzer solche Roheiten gebührend
würdigen, in den Juteressenvertretuugen der Rittergutsbesitzer und Großbauern wird
das in Hamburg formulirte Dogma in den nächsten Jahren praktisch den Ausschlag
geben, wo immer es sich um praktische Maßnahmen gegen die Landflucht handelt,
auch bei deu Versuchen einer sogenannten innern Kolonisation. Die agrarische Be¬
wegung macht die landwirtschaftlichen Interessenvertretungen heute zu deu ungeschickten
Trägern der sozialen Reformen auf dem Lande. Mit ihnen macht man den Bock
zum Gärtner. Ware noch darauf zu rechnen, daß die höhern Verwaltungsbeamten
in den Ostprovinzen imstande und gewillt wären, der agrarischen Agitation mit der
nötigen Energie entgegen zu treten, so könnte die Sache eine andre Gestalt ge¬
winnen. Der gesunde Sinn unsrer Landwirte würde dann vielleicht Luft und
Halt bekommen, und wenn auch langsam, so doch sicher, würde der Bann des
rohen, oberflächlichen, gedankenlosen, kleinlichen Eigennutzes, der jetzt die Lage be¬
herrscht, gebrochen werden. Traut mau im preußischen Landwirtschaftsministerinm
den ostelbischen Landräten usw. diese antiagrarische Energie zu? Hofft der Ministerial¬
direktor Thiel darauf? Das ist unglaublich. Das Landwirtschaftsministerinm und
die Staatsregierung haben, so scheint es, endgiltig vor dem Agrariertnm kapitulirt,
und die agrarischen Interessenvertretungen werden in den nächsten Jahren allen
widerhaarigen königlich preußischen Beamten mich in der ländlichen Arbeiterfrage ganz
gehörig die Wege weisen. Wer das nicht glaubt, der lese den amtlichen Bericht
über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 20. April. Hat doch der
Landwirtschaftsminister selbst für das Wagnis, dem hohen Hause ein harmlose Ge¬
schichte zu erzählen, nach der es im Osnabrückschen much ohne „Repression," durch
bessere Fürsorge zu Hause, gelungen sei, dem Abwandern der Arbeiter entgegen zu
treten, die Herren aus dem Osten in einer Weise um Verzeihung zu bitten für
nötig gehalten, die in Preußen nen ist. Das wird sich wohl nach den Neuwahlen
zum Reichs- und Landtage vorläufig noch steigern.
Aber Bestand wird es nicht haben! Je toller mans treibt, um so schneller
das Ende.
Es war nötig, bei diesen unerfreulichen Bildern solange zu verweilen, weil
jede Erörterung der Frage verfehlt und unfruchtbar ist, die von der Illusion aus¬
geht, daß man mit den Agrariern die Flucht vom Lande bekämpfen könne, es nicht
gegen sie thun müsse. Das sollten die konservativen Eleniente unter den Gebildeten
endlich begreifen lernen, sonst sind sie unfähig, ihrerseits die Lnndreform im Osten
zu leiten, und unabsehbarer Schaden droht, wenn sie diese Reform in die begehrlich
darnach ausgestreckten Hände der Umsturzparteien demokratischer und sozialdemo¬
kratischer Richtung fallen lassen. Die Gefahr muß klar erkannt werden, die gerade
für die hier in Frage stehende Reform das für die östlichen Zustände am wenigsten
passende Selbstverwaltungsübermaß mit sich bringt.
Es ist eine nicht mir in agrarischen Kreisen vielfach ausgesprochne Ansicht, daß
ein Übermaß gewerblicher Thätigkeit in Deutschland der Landwirtschaft die Arbeits¬
kräfte raube und das platte Land entvölkere. Mai: verlangt deshalb nach einer
Schranke für die gewerbliche Entwicklung oder doch wenigstens nach einer geringern
Förderung der Industrie, namentlich der Exportindustrie. Es ist wertvoll, zu sehen,
was die neuesten statistischen Erhebungen darüber lehren.
Es sind im Deutschen Reiche gezählt worden erwerbthätige Personen
Während also die Erwerbthätigen im Gewerbe (Industrie, Handel und Ver¬
kehr) um rund 40 Prozent zugenommen haben, ist die Zahl der in der Landwirt¬
schaft Erwerbthätigen so gut wie unverändert geblieben. Im großen und ganzen
wird man das nicht ohne weiteres als ungesund bezeichnen dürfen. Die Land¬
wirtschaft ist ihrer Natur nach nicht in der Lage, die Arbeitsgelegenheit, wenigstens
die lohnende, der wachsenden Volkszahl entsprechend zu vermehren. Sie braucht
Raum; je mehr Maschinen u. dergl. Verwendung finden können, und je weniger
ertragreich Klima und Boden ist — cete-ris xaridn8 —, desto mehr. Es muß also
überall einmal ein Sättigungszustand eintreten, über den hinaus die landwirtschaft¬
liche Bevölkerung den Überschuß an Nachkommenschaft abstößt, sei es durch Abgabe
an Gewerbe im Inlande, sei es dnrch Auswanderung. In Gegenden mit vor¬
wiegenden Großbetriebe wird dieser Zustand im allgemeinen eher eintreten als in
solchen mit Kleinbetrieb. Wie das Deutsche Reich im Vergleich mit andern Kultur-
staaten daran ist. zeigen folgende Zahlen.
Es sind zuletzt gezählt worden erwerbthätige Personen
und auf 100 Hektar landwirtschaftlich benutzter Fläche (Acker, Wiese, Gartenland
und Weinberge) kommen etwa
Deutschland hat also thatsächlich noch eine verhältnismäßig sehr große Zahl erwerb¬
thätiger Personen in der Landwirtschaft, vollends wenn man Klima, Boden und
Besitzverteilung in Betracht zieht. Ich glaube nicht, daß man eine Erhöhung
der Zahl der Erwerbthätigeu im Verhältnis zur landwirtschaftlich benutzten Fläche
wird in Aussicht nehmen können, ohne die Lebenshaltung der landwirtschaftlichen
Bevölkerung im allgemeinen stark herabzudrücken, etwa ans die der slawischen Land¬
arbeiter. Auch eine wesentliche Ausdehnung der landwirtschaftlichen Fläche ist nicht
zu erwarten. Ob- und Uulaud ist nicht mehr viel zu kultiviren, und die Wal¬
dungen wollen wir lieber schonen als vernichten. Es scheint also in Deutschland
im ganzen der Sättigungszustand für die Landwirtschaft nahezu erreicht zu sein, wie
er in Frankreich schon seit hundert Jahren erreicht sein soll. Dort hat sich seit 1792
weder die landwirtschaftliche Fläche noch die landwirtschaftliche Bevölkerung nennens¬
wert verändert. Wenn die Ergebnisse der IZnguöts <Zee«?nun.l6 von 1892, die das
französische Laudwirtschaftsministerium kürzlich veröffentlicht hat, einen Volkswirt zu
dem Ausspruch veranlaßt haben: I/of oawp^gro8 si bollos as Is, Kranes sont bien
loin et'«ze>i'<z clönonplöSL. DIlss out xm'an siinplömönt lALoroi88einont as leur Population,
so kann man das für Deutschland im ganzen, mit seinen 25 Erwerbthätigen auf
100 Hektar, »och mehr sagen. Freilich nur „im ganzen." Der Osten entvölkert
sich, und der Westen ist in manchen Bezirken übervölkert. Das Problem länft also
in gewissem Sinne nicht so sehr auf eine „richtigere" Verteilung der Arbeitskräfte
zwischen Industrie und Landwirtschaft hinaus, als auf eine richtigere Verteilung
innerhalb der Landwirtschaft, eine Kolonisation des Ostens durch die Überschüsse
des Westens, wo die Schollenkleberei und Parzellenwirtschaft, zusammen mit der
Entwertung der Lohe und der Holzkohle u. dergl., oder dem Untergang von Haus¬
industrien hie und da schon den Jammer einer landwirtschaftlichen Übervölkerung
immer näher rückt. Gelänge diese Kolonisation in einigermaßen erheblichem Um¬
fange, dann würde sich die Besserung der sozialen Lage anch der im Osten ein¬
heimischen deutschen Laudarbeiterschaft ganz von selbst ergeben.
Für diese Kolonisation muß anch das moderne, konstitutionelle Preußen die
großen Mittel, die nötig sind, verfügbar machen. Hunderte von Millionen wären
dafür nicht zu viel, und wenn sie sich anch erst in hundert Jahren verzinsten.
Leider versagen auch hier die entarteten Reste des preußischen Liberalismus dem Staat
die Unterstützung und zwingen ihn geradezu zur Unterwerfung unter den agrarischen
Heerbann. Die preußischen Städte sind schuld daran, wenn das so fort geht. Ihre
jämmerliche politische Unreife, wie sie sich in der Flottenfrage gezeigt hat, macht
sich much hier geltend und raubt ihnen jedes Recht, der agrarischen Unvernunft Vor¬
würfe zu machen.
Und doch haben unsre Städte ein ganz außerordentlich großes eignes Interesse
an einer Reform der Lage der Landarbeiterschaft im Osten. Ich will auf die mehr
oder weniger zweifelhaften Hypothesen über die Unfähigkeit der städtischen und
industriellen Bevölkerung, sich selbst zu ersetzen und zu vermehren, gar nicht ein¬
gehen. Die Thatsache allein, daß die Städte und die Jndnstriebezirke zur Zeit
die Masse ihrer Arbeiterschaft vom Lande und in Preußen vor allem aus den
Ostprovinzen beziehe«, macht die Frage nach der Qualität dieses Zuzugs vou Jahr
zu Jahr brennender. Eine rohe, heimatlos gewordne, in zunehmendem Haß gegen
die Besitzer aufwachsende Landarbeiterschaft ist, in die Großstadt versetzt, eine un¬
geheure Gefahr für die bürgerliche Gemeinschaft. Unser großstädtisches Proletariat
krankt vor allem an den Zuständen auf dem Lande, aus denen es herkommt. Nur
das moderne städtische Agrariertnm, dem die Steigerung der Wvhnnngsnüeten und
Grundstückspreisc über alles geht, kann stumpfsinnig genug sein, das zu übersehen.
Ganz gewiß sind die schlechten Vergnügungen der Großstadt gefährliche Fallstricke
auch für die guten Elemente unter den zuziehenden Landarbeitern, aber das
Schlimmste ist das, was die Masse mitbringt: die soziale, wirtschaftliche und auch
sittliche Verwahrlosung. Gerade in der Kindererziehung der aus dem Osten zu¬
gewanderten Arbeiterfamilien kann man das wahrnehmen. Mag der Fortschritts¬
philister es heute für angebracht halten, mit der Sozialdemokratie gut Bruder zu
sein und jeder Stärkung der Autorität im Staat und in der Familie, wenn es
nur nicht die eigne ist, entgegen z» arbeiten, die Roheit der großstädtischen Arbeiter¬
massen wird ihm die Strafe nicht ersparen. Unsre Großstädte sind auf das Platte
Land im Osten angewiesen, mich wenn sie nicht für einen Pfennig für den Jn-
lcmdsmarkt produzirten. Deutschlands Gewerbfleiß kann nicht gedeihen ohne eine
gesunde Landbevölkerung, die ihm tüchtige Menschenkräfte liefert und nicht ver-
kommnes, vaterlandsloses Gesindel.
Aber der städtische Gewerbfleiß im Osten hat doch auch sonst geschäftlich das
größte Interesse daran, daß sich in Altpreußen eine kulturfähige deutsche Land¬
arbeiterschaft, ein kauffähiger deutscher Kleingrundbesitzerstand erhält und entwickelt.
Zunächst wird natürlich das kleinstädtische Gewerbe durch die Entvölkerung des be¬
nachbarten platten Landes schwer getroffen, aber mit ihm geht zugleich der beste
und sicherste Kunde der großstädtischen und großgewerblichen Produktion zu Grunde.
Die deutsche innere Kolonisation in den Ostprovinzen würde für Handel und Ge¬
werbe der ostelbischen Groß- und Mittelstädte eine Erhöhung des Umsatzes von
Hunderten von Millionen bedeuten. Der „Freisinn" der Großkrämer dieser Städte
denkt natürlich nicht daran, den Finger darum zu rühren, ob die Ostmnrken deutsch
bleiben oder polnisch werden, für sie ist die Flucht vom Lande eine ganz und gar
interesselose Sache.
Was im Osten zu. geschehen hat, um deutsche Arbeiter heimisch zu mache»,
das hat in neuster Zeit ganz vortrefflich Buchenberger in seinem bekannten Buche
„Grundzüge der Agrarpolitik" gezeigt. Natürlich würde ein preußischer Landwirt¬
schaftsminister heute Rock und Kragen riskiren, wollte er öffentlich eingestehen, von
Buchenberger etwas lernen zu können. Der preußische Staat wird aber nolonZ volons
bei den Kennern des Westens in die Schule gehen müssen, wenn er ernstlich das
Deutschtum im Osten erhalten Null. Mit Recht weist Buchenberger darauf hiu,
daß die Landwirtschaft im Osten in der Zeit von 18L5 bis 1890 rund 600 000
Meuscheu verloren hat, während der dicht bevölkerte Süden nur 154 000 als Ab¬
gabe des platten Lands an die Städte zu hundelt hatte. Im Süden, fügt er hinzu,
sei aber recht eigentlich die Heimat des grnndangesesseneu Arbeiters, ebenso wie der
Nordosten typisch sei als das Land der eigentumslvsen Gutstagelöhner. Im Süden
bildeten aber weiter die ländlichen Tagelöhner keine in sich abgeschlossene, durch
eine tiefe soziale Kluft von dem Arbeitgeber getrennte .Klasse. Diesen grundange¬
sessenen, freien Arbeiter knüpfe nicht nur die Scholle, die ihm eigen sei, und die
er Jahr um Jahr zu mehren sich bemühe, sondern hundertfältige Interessen an
die Gemeinde, der er durch Geburt angehöre, und in der er wirtschaftlich und
gesellschaftlich wurzle. Ähnlich sei es da, wo eine Dorfverfassung und ein mannigfach
gegliederter bäuerlicher Besitz die Gruudeigentumsverfassung kennzeichne, wie dies
auch für das Gebiet zwischen Weser und Elbe zutreffe. Und diese auf dem Unter¬
grund einer breiten bäuerliche» Bevölkerung und des Dorfsystems ruhende Arbeits-
verfassuug habe bis jetzt auch deu Ansprüchen des größern Grundbesitzes nach
Arbeitskräften leidlich Genüge geleistet, weil zu den eigentlichen Tagelöhnern in
diesen Bauerngemeinden zahlreiche weitere Arbeitslustige aus den Kreise» der
Familienangehörigen kleiner und mittlerer Wirte träten, die keinen Anstand nähmen,
in fremden Dienst zu treten.
Man sieht, mit der Kolonisation allein ist nicht geholfen, es kommt darauf
an, wie kvlonisirt wird. An eine schablonenhafte Übertragung der Grnndeigentums-
verfassuug ans dem Westen nach dem Osten ist natürlich nicht zu denken. Nicht
nnr der Boden, sondern die Gesamtkultur von Land und Volk macht meiner An¬
sicht nach eine weitgehende Erhaltung des Großgrundbesitzes und des Gro߬
betriebs in den östlichen Grenzprovinzeu für hundert Jahre erwünscht. Aber wenn
wir deutsche Landarbeiter im Osten erhalten wollen, die mehr wert siud als
Polen, so ist zweierlei aus dem Westen herüberzuholen, einmal, und zwar sofort,
die Möglichkeit für den Arbeiter, zum selbständigen, von einem Brodherrn völlig
unabhängigen Grundeigentümer zu werden, und zweitens, so bald als möglich, sich
als berechtigtes Mitglied der Heimatsgcmeiude zu fühlen. Die Begründung und
Besiedlung von thatsächlich oder rechtlich geschlossenen Zwerggütern hilft nichts.
Wie soll der Arbeiter durch sie zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelangen?
In der That zielt die agrarische Kolonisation leider vielfach geradezu darauf ab,
dies zu verhüten. Die erste Rücksicht ist für sie, die Arbeiter zu fesseln, sodaß sie
dauernd unselbständig und unabhängig, womöglich auf ein einziges größeres Gut
als Arbeitsgelegenheit angewiesen bleiben. Ohne Beweglichkeit des Grundeigentums
läßt sich gerade heute, wo es gilt, eine ucich freier Bewegung verlangende Bevölke¬
rungsklasse an die Heimat zu fesseln und an die größte Freiheit gewöhnte Kolonisten
heran zu ziehe», nichts erreichen. Gelingt es aber, in hinreichender Anzahl Ge¬
meinden zu schaffen mit der Möglichkeit für den Arbeiter, als Grundeigentümer
klein anzufangen und sich allmählich zur vollen Selbständigkeit zu vergrößern, so
werden diese Wirte die Söhne niemals, die Töchter nur zum Teil in der eignen
Wirtschaft lohnend verwenden können, und mit der Zeit werden die Anwärter für
den Gesindedienst und die freie Arbeit zunehmen. Pnchtäcker können dabei helfen,
nur hat das Ansetze» von Zwergpächtern durch Großgrundbesitzer, wenn der Zwang
zur Arbeit dabei der Zweck ist, für die Frage, um die es sich hier handelt, gar
keinen Wert. Eine Schablone giebt es überhaupt nicht, nur müssen die zur Durch¬
führung der Kolonisation Berufnen das Ziel, die Landbevölkerung mit Aussicht auf
Selbständigkeit auszustatten, keiner Nebenrücksicht opfern, sie müssen mit einem Worte
ehrlich zu Werke gehen.
Die großen Schwierigkeiten, die der Seßhaftigkeit einer tüchtigen deutsche»
Laudarbeiterschaft durch die ostelbische Gemeiudeverfnssuug in den Weg gelegt werden,
find nicht zu verkenne«. Ich meine aber, daß sich in Gegenden, wo die Kolo¬
nisation selbst wirksam durchgeführt ist, der Boden für zeitgemäße Reformen schon
ergeben wird. Unterbleiben dürfen sie nicht, aber sie sind nicht zur Voraussetzung
des Beginns der Laudreform zu machen. Mit der Schablonenhaften Beseitigung
der Gutsbezirke den Anfang machen zu »vollen, hieße das Pferd beim Schwänze
aufzäumen.
Aber der wichtigste Teil der Reform sollte — wenn Preußen noch Preußen
ist — unverzüglich von allen königlichen Beamten im Osten begonnen werden, die
rücksichtslose, dienstliche und außerdienstliche Einwirkung auf die Arbeitgeber zur
Herbeiführung einer andern Auffassung des Verhältnisses vorn deutschen Herrn
zum deutscheu Knecht. Selbst das Wohlwollen hat auf diesem Gebiete im Osten
Formen beibehalten, die hente der Arbeiterschaft die Heimat verleiden müssen.
Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber sind darin hinter deu industriellen zurück-
geblieben und haben dadurch ihre erziehende Einwirkung, zu der sie an sich in so
weit höheren Grade befähigt und berufen sind, zum großen Teil verloren. Die
„soziale Gesinnung" des Einzelnen ist das A und O der Sache. Gebe der Himmel,
daß ihre Reform nicht zu spät als dringlich erkannt wird.
Mitte März sind Aktien
der Elektrischen Licht- und Krnftaulagen-Aktiengesellschaft im Nominalbeträge von
fünfzehn Millionen Mark zur Zeichnung aufgelegt worden. Schon am Abend vor
dem Zeichnuugstage wurde aus Berlin berichtet, daß über hundertzwanzig Millionen
Mark Aktien gezeichnet worden seien. Dies war aber nur ein geringer Teil der
gesamten Zeichnungen. Welche Summe diese ausmachen, ist nicht bekannt gegeben.
Man wird jedoch nicht fehlgehen, wenn man sie auf hoher als sechshundert Millionen
Mark annimmt. Dann wäre mehr als der vierzigfache Betrag gezeichnet worden.
Ähnliche Überzeichuungen haben in deu letzten Jahren zu wiederholten malen bei
Emissionen von Aktien und Anleihen stattgefunden. Die Zeitungsberichte über den
Verlauf der Zeichnungen pflegen den typischen Schluß zu enthalten: Die Zeichnung
ist alsbald nach der Eröffnung infolge starker Überzeichnung geschlossen worden.
Die jüngste Überzeichnuug bedeutet nnn nicht, daß für mehr als sechshundert Mil¬
lionen Mark Aktien der neuen Elektrizitätsgesellschaft zur wirklichen Anschaffung
begehrt worden sind. Diese Riesensumme ist vielmehr dadurch zu stände gekommen,
daß die Zeichner in Erwartung einer vielfachen Überzeichnung den von ihnen be¬
gehrten Betrag um das zehn-, zwanzig- nud mehrfache gesteigert haben, um bei
der Zuteilung wenigstens einen kleinen Teil des gezeichneten Betrags zu erhalten.
Die Auflage von Wertpapieren zur Zeichnung hat den Zweck, deu Verkauf
an die Personen zu vermitteln, die die Wertpapiere behufs dauernder Kapitalanlage
erwerben wollen. Dies sind die sogenannten seriösen Zeichner. Der normale
Verlauf würde daher sei», daß uur die seriösen Zeichner sich an der Zeichnung
beteiligen, und daß sie nur den Betrag zeichnen, dessen Erwerb zum Zwecke
dauernder Kapitalanlage sie beabsichtigen. Auch hierbei ist eine Überzeichnung
möglich, sie wird sich aber in mäßigen Grenzen halten.
Bei den Zeichnungen kommt aber noch etwas andres zur Geltung. Die Auf¬
lage zur Zeichnung ist die Aufforderung der Emissionsbanken an Kauflustige,
mittels der Zeichnungen Kaufangebote zu einem von den Emissionsbanken im voraus
festgesetzten Kaufpreise (Kurse) zu machen. Diese Kursfestsetzung ist vou wesent-
licher Bedeutung. Von ihrer richtigen Normirung ist der Erfolg der Emission
abhängig. Wird der Emissiouskurs zu niedrig bemessen, so geht den Emissions¬
banken ein Teil des Gewinnes verloren, der ihnen sonst zufallen würde. Wird
der Kurs zu hoch bemessen, so stellen sich nicht genug Kauflustige ein, die Emission
gelingt uur zum Teil, der börsenmäßige Kurs sinkt unter den Emissionskurs, und
auch die nachträgliche Begehung der Wertpapiere durch allmählichen Verkauf
stoßt aus große Schwierigkeiten, weil das Vertrauen des Publikums zu dem
Wertpapier erschüttert ist. Um diesen Gefahren zu begegnen, pflegt daher der
Emissionskurs etwas unter dem mutmaßlichen Börsenkurs festgesetzt zu werden,
sodaß sich also der sogenannte erste Kurs, zu dem die aufgelegten Wertpapiere nach
der Zeichnung an der Börse gehandelt werden, höher stellt als der Emissionskurs.
Diese Kurssteigerung wird sich bei vorsichtiger Bemessung des Emissionskurses ins¬
besondre bei Wertpapieren spekulativen Charakters einstellen, also namentlich bei
ausländischen Anleihen und bei Aktien von industriellen Unternehmungen, in ge¬
ringerm Maße aber auch bei andern Wertpapieren. Wenn keine ungünstig ein¬
wirkenden Veränderungen eintreten, wird sich demgemäß in der Regel an die
Zeichnung eine Kurssteigerung der aufgelegten Wertpapiere anschließen.
Dieser Erfcchrungssntz führt eine zweite Kategorie von Zeichnern ins Feld,
die sogenannten Konzertzeichner. Sie wollen die zugeteilten Wertpapiere nicht in
dauernden Besitz nehmen, sondern unter Ausnutzung der Kurssteigerung möglichst
bald wieder veräußern, um demnächst die investirten Mittel von neuem nutzbar zu
machen. Sie können sich, um ihren Zweck zu erreichen, bei der Zeichnung nicht
mit kleinen Summen begnügen, sondern müssen, wie es die Agiotage erfordert, die
geringen Bruchteile des zu erwartenden Gewinnes durch die Größe des Umsatzes
steigern. Diese Tendenz, große Summen zu zeichnen, wird noch vermehrt durch
die Konkurrenz sowohl der andern Konzertzeichner, als auch der seriösen Zeichner.
Dazu kommt, daß das Beispiel der Kouzertzeichner die guten Sitten der seriösen
Zeichner verdirbt. Diese müssen sehen, daß bei der Zeichnung ihrem eignen soliden
Vorgehen nur ein bescheidner Erfolg blüht, während die Konzertzeichner den Haupt¬
anteil davon tragen, und lassen sich nun auch von den soliden ans die spekulativen
Bahnen locken. So entsteht ein Wettstreit, worin jeder den Ansturm des andern
dadurch abzuwehren sucht, daß er den Betrag seiner Zeichnung vervielfacht. Die
Überzeichuung wirkt wiederum belebend auf die Kurssteigerung ein, erhöht den
Anreiz zur Agiotage und erzeugt so neuen Grund zur Überzeichnung. So geht
jeder vernünftige Maßstab verloren. Die Zeichnungen vermehren sich ins Ungeheure.
Den Emissionsbanken wächst der Andrang über den Kopf. Sie geraten in Ver¬
legenheit, wie sie die Zuteilung vornehmen sollen, und sie fürchten die Gefahren,
womit der Kampf um die aufgelegten Wertpapiere deren gesunde Kurseutwickiung
bedroht. Es kann daher nicht überraschen, daß die Überzeichnuugen als ein Übel-
stnnd empfunden werden, der möglichst zu bekämpfen sei. Die bisher angewandten
Mittel (Kautionsleistung, Sperrfrist) haben sich, wie der Erfolg zeigt, wenig bewährt.
Der Versuch, ein besser wirkendes Gegenmittel ausfindig zu machen, dürfte demnach
berechtigt erscheinen. Dieses Mittel kann nichts andres als eine Fessel sein. Wenn
sie ihrem Zwecke entsprechen soll, muß sie so augelegt werden, daß sie dem nor¬
malen Verkehr Bewegungsfreiheit läßt, daß sie aber aus Ausschreitungen hemmend
einwirkt.
Dieses Mittel ist eine neue Steuer. Die Erklärung des Zeichners, daß er
einen bestimmten Betrag zeichne, wird nach allgemeinem Gebrauch in der Weise
abgegeben, daß der Zeichner ein gedrucktes Formular ausfüllt, mit seiner Unter¬
schrift versieht und bei der Zeichnnngsstelle einreicht. Die neue Steuer soll darin
bestehen, daß jeder einzelne Zeichnungsscheiu mit einer Stempelabgabe belegt wird,
die nach der Höhe des gezeichneten Betrages bemessen wird. Sie soll für jede
1000 Mark diefes Betrags 10 Pfennige betragen und wird somit auf ^„ Pro Mille
des gezeichneten Betrages festgesetzt. Die Art der Erhebung wird ähnlich geregelt
wie bei andern reichsgesetzlichen Urkuudeustempelu. Der Zeichnungsscheiu ist mit
Stempelmarken in dem erforderlichen Betrage zu versehen, die alsbald zu kassiren
sind. Zur Entrichtung der Stempelabgabe ist an erster Stelle das Bankhaus zu
verpflichten, das die Zeichnung entgegennimmt, an zweiter der Zeichner. Dies wird
dazu führen, daß das Bankhaus die Verstempelung des Zeichnuugsscheins besorgt,
den Stempelbetrcig verauslagt und sodann den Zeichner damit belastet. Die Steuer¬
erhebung wird somit zu Lasten der Zeichner durch die Emissionsbanken bewirkt werden.
Die Einführung der Steuer und deren Einziehung wird daher keine be¬
sondern Schwierigkeiten bereiten. Die gesetzliche Festlegung erfolgt in einer Novelle
zu dem Börsensteuergesetz. Dem Stempel auf Schlußscheiue wird der Stempel auf
Zeichuungsscheiue hinzugefügt. Sollte eine Umgehung der Steuer durch mündliche
Zeichnungserklärungen befürchtet werden, so dürfte zu bestimmen sein, daß die
mündlichen Erklärungen in ein schriftliches Verzeichnis einzutragen und auf diesen,
zu verstempeln siud. Um die Berechnung des Stempels zu erleichtern, empfiehlt
es sich, ihn von dem Nominalbetrag der Zeichnungen zu erheben. Der Unterschied
wird nicht bedeutend sein.
Die Arbeit, die den Bankhäusern aus der Verwendung des Stempels erwächst,
wird leicht bewältigt werden. Es kommen ja nur große Bankhäuser in Frage,
die über geeignete Arbeitskräfte verfügen. Auch bei sehr umfangreichen Zeichnungen
wird das Belieben der Zeichnnngsscheine mit den Stempelmarken und die Ab-
stemplung der Marken in kurzer Zeit beendet sein. Alle diese Erwägungen sprechen
für die neue Steuer, sie reichen aber zu deren Begründung nicht aus. Diese kann
erst durch den Nachweis erbracht werden, daß die Steuer eine bessernde Wirkung
auf die Zeichnungen bei der Emission von Wertpapieren ausübt. Diese haupt¬
sächlichste Frage ist zu erörtern. Die neue Steuer bewegt sich bei Zeichnungen
bis zu zehntausend Mark in Beträgen bis zu einer Mark, erreicht bei einer Zeich¬
nung von zwanzigtausend Mark den Betrag von zwei Mark und wächst entsprechend.
Um genau festzustellen, welcher Steuerbetrag nach deu Ergebnissen der letzten Jahre
auf die abgegebnen Zeichnungen entfällt, wäre eine Zeichnungsstatistik erforderlich,
die uicht vorhanden ist. Immerhin wird sich mich ohne Statistik ein Überblick er¬
möglichen lassen.
Ani eine Grundlage zu gewinnen, ist hier an die obigen Ausführungen über
die seriösen Zeichner und die Konzertzeichner anzuknüpfen. Der ferisse Zeichner
zeichnet kleinere Beträge zum Zwecke dauernder Kapitalanlage, der Konzertzeichner
zeichnet große Summen zum Zwecke flüchtiger Spekulation. Ans die Zeichnung
des ersten entfällt somit ein kleiner Steuerbetrag, der im Verhältnis zu dem Werte
und demi dauernden Bestand des beabsichtigten Anschaffungsgeschäfts ohne Bedeutung
ist. Die Zeichnung des andern wird mit einem größern Steuerbetrag belegt,
der um so mehr ius Gewicht stillt, als auch beim Gelingen der Spekulation nur
ein einmaliger, auf einen geringen Bruchteil der gezeichneten Summe beschränkter
Gewinn zu erwarten ist. Die mutmaßliche Folge der neuen Steuer wird daher
sein, daß sie auf die solidesten Zeichnungen keinen oder nur geringen Einfluß aus¬
übt, daß sich ihre hemmende Kraft am stärksten geltend macht bei den übertriebnen
Zeichnungen rein spekulativer Tendenz, und daß die zwischen diesen Extremen
liegenden Zwischenstufen der Zeichnungen eine desto größere Einschränkung durch
die neue Steuer erfahre», je mehr sie sich von der soliden Basis entfernen. Damit
würde gerade das zu erstrebende Ziel erreicht sein: eine kaum merkliche Fessel für
die seriösen Zeichner — ein Hemmschuh für die Konzertzeichner.
Die weitere Entwicklung würde dann den umgekehrten Weg zurücklegen wie
die bisherige. Die neue Steuer beseitigt die übertriebnen Zeichnungen der Konzert¬
zeichner und wirkt auf die großen Zeichnungen einschränkend ein. Ist aber eine
Überzeichnung, wie sie bisher üblich war, nicht mehr zu erwarten, so liegt für den
seriösen Zeichner kein Anlaß mehr vor, den mehrfachen Betrag der Summe zu
zeichnen, die er zur Kapitalanlage bestimmt hat. Dies führt zu einer vermehrten
Einschränkung der Zeichnungen. Diese Einschränkung ist gleichbedeutend mit einer
Abschwächung des Wettstreits um die ausgelegten Wertpcipiere und hat zur weitem
Folge, daß auch die Kurssteigerung abgeschwächt wird, die bisher durch den An¬
sturm der Zeichner veranlaßt wurde. Steht aber eine Kurssteigerung nicht mehr
in Aussicht, so bleiben die Konzertzeichner aus, denen es nur um den Kursgewinn
zu thun ist, und es fehlt auch für die übrigen Zeichner der Reiz zu spekulativen
Zeichnungen. Jede Einschränkung der Zeichnungen wirkt als Ursache weiterer Ein¬
schränkung. Das Ergebnis ist somit dahin zu ziehen: die neue Steuer wird
lediglich als wohlthätige Bremse Ausschreitungen abwehren und nicht die freie Be¬
wegung einengen, die für den soliden Geschäftsbetrieb bei der Emission von Wert¬
papieren erforderlich ist.
Dies wird auch der wesentliche Gewinn sein, der durch die Einführung der
neuen Steuer erreicht wird. Große Einnahmen für die Reichskasse wird sie nicht
abwerfen. Wenn sie von den Zeichnungen in dem bisherigen Umfange entrichtet
würde, so würden allerdings große Steuererträge herauskommen. Da aber von
der Steuer eine starke Einschränkung der bisherigen Zeichnungen zu erwarten
ist, so wird dementsprechend auch der Ertrag der Steuer herabzusetzen sein. Immer¬
hin wird sich eine Einnahme ergeben, die reichlich die Mühen lohnt, die mit der
Einführung und Erhebung der neuen Steuer verbunden sind.
So erscheint die neue Reichssteuer durchaus empfehlenswert. Möge sich bald
Gelegenheit zu der Feststellung geben, daß der Praktische Erfolg der neuen Steuer
deu Erwartungen entspricht, die hier an ihre Einführung geknüpft werden.
In unsre
Geschichtsdarstellung ist bekanntlich die Auffassung übergegangen, Bodelschwingh
habe den König in der Nacht nach dem 18. März veranlaßt, die Proklamation
„An meine lieben Berliner" zu erlassen, und er habe ebenfalls den königlichen
Befehl der Zurückziehung der Truppen am 19. erwirkt. Sogar Fürst Bismarck
soll dies noch im März 1889, wie damals Zeitungen berichteten, vor Zeugen be¬
hauptet haben. Am 18. März 1889 teilte Bvdelschwinghs Sohn, der Pfarrer in
Bethel bei Bielefeld, dem Fürsten einen Brief mit, den sein Vater am 30. März
1848 an einen alten Freund, Geheimen Regierungsrat a. D. Falkenberg in Heidel¬
berg, geschrieben hatte, und der die Sachlage vor und uach dem 13. März aus¬
führlich und ganz anders darstellte. Darnach hat Bodelschwingh den verhängnis¬
vollen Entschließungen des Königs bis zum letzten Augenblick entgegenzuwirken
gesucht und schließlich, dem königlichen Befehle gehorchend, dos Aufgetragne einfach
ausgeführt, die Proklamation in die Druckerei gebracht und den Befehl zum Abrücken
der Truppen von deu Barrikaden übermittelt.
Fürst Bismarck erwiderte dem Pfarrer von Bodelschwingh am 23. März 1889,
daß er den Minister, seinen Vater, als klassischen Zeugen in allen Fragen anerkenne,
die die innere Politik der vierziger Jahre betrafen. Jener Brief beweise aufs
neue, daß „der Barrikadenkampf, den mau Märzrevolution nennt, nicht erforderlich
war, um die Entschließungen des Königs herbeizuführen." Er bitte deshalb nicht
nur im Interesse des verstorbnen Vaters, sondern auch aus politischen Gründen
um die Erlaubnis, den Brief veröffentlichen zu dürfen. Leider unterblieb die Ver¬
öffentlichung. Die Bodelschwinghschen Söhne legten Wert darauf, daß sie in einer
Form erfolge, aus der man sähe, daß der Brief dem Fürsten ans der Familie
zugegangen sei, und daß der Fürst den Abdruck selbst veranlaßt habe. Bismarck
erklärte aber darauf, er könne „in seiner Stellung nur amtliche Veröffentlichungen
auf politischem Gebiete in die Presse bringen," dazu aber „eigne sich dieses der
Vergangenheit angehörige Aktenstück heute nicht." So ruhte die Sache, denn auch
Treitschke, der das Material in seinem sechsten Bande benutzen sollte, starb darüber
hinweg.
Nunmehr hat ein Neffe des Ministers, der Regierungspräsident von Diest,
diese Briefe und andre Aktenstücke ans dem Nachlasse seines Onkels, darunter
Briefe Friedrich Wilhelms IV. und des Prinzen von Preußen an Bodelschwingh,
veröffentlicht in einer kleinen Schrift, die uns übrigens auch mancherlei neues über
das Jahr 1848 bringt: Meine Erlebnisse im Jahre 1343 und die Stellung des
Staatsministers von Bodelschwingh vor und an dem 13. März 1843, von Gustav
von Diest (Berlin, Mittler und Sohn). Wir erhalten darin nicht nur mehrere
authentische Berichte über die damalige Lage außer dem, auf den sich Bismarcks
Anerkennung bezieht, sondern wir sehen anch daraus, was den Minister von Bodel¬
schwingh betrifft, daß es nach dessen Verhalten vorher und nachher, nach seiner
ganzen Persönlichkeit und den mitgeteilten objektiven Thatsachen unsinnig wäre, die
ihm von der falschen Geschichtsüberlieferung zugewiesene Rolle aufrecht erhalten zu
wollen. Es hat keinen mutigern und überzeugungstreuern Anhänger des Königs
und keinen beständigem Vertreter der königlichen Rechte gegeben, und keinen konnte
es schwerer treffen, als ihn, daß er gegen seiue Einsicht gehorchen mußte. Seine
Angehörigen haben nun bis zum Jubiläumsjahre damit gewartet, daß dem Namen
des Toten sein Recht würde, weil sie einen geschichtlichen Anlaß zu ihrem Vor¬
gehen haben wollten; leicht wird ihnen das Warten nicht geworden sein.
Man sieht, daß diese kleine Publikation von 80 Seiten einen ganz hervor¬
ragenden Wert hat. Wir möchten doch auch auf die interessanten persönlichen Er¬
lebnisse hinweisen, die der Verfasser bescheiden hinter die großen Ereignisse ver¬
steckt. Er war es z. B., der in einer Nacht auf Posten vor dem Palais des
Prinzen von Preußen, auf die Schultern des befreundeten Kameraden steigend, die
bekannte Kreideinschrift „Nationaleigentum" auslöschte. nachdenkende Leser möchten
wissen, wer denn wohl ans deS Königs Entschließungen den meisten Einfluß aus¬
geübt habe. Bodelschwingh denkt an Georg von Vincke, ohne den Namen zu
nennen (S. 24). Herr von Diest deutet mit gutem Grund auf den Hofprediger
Strauß, der in der Nacht zwischen dem 13. und 19. März einen Gottesdienst vor
dem Könige halten mußte. Unverständlich erscheint das Verhalten Bismarcks im
März 1889 gegenüber dem Pfarrer von Bodelschwingh. Er selbst hatte doch
einst in einem hier ebenfalls zum erstenmale veröffentlichten Briefe vom 27. Januar
1849 den ehemaligen Minister gebeten, die Wahl zur zweiten Kammer für den
Wahlkreis Teltow anzunehmen oder, wenn er durchaus nicht wolle, ihm — Bismarck —
seinen Einfluß zuzuwenden. In solchem Vertrauen stand er zu Bodelschwingh, so
hoch verehrte er ihn persönlich. Das würde er nicht gethan haben, wenn er ge¬
meint hätte, Bodelschwingh sei der Veranlasser jener königlichen Entschließungen
gewesen. In Bezug auf die Gründe Bismarcks möchten wir uns an dieser Stelle
auf keine Vermutungen einlassen. Wir setzen statt dessen die Schlußstellen der
beiden Briefe hierher. „Ew. Hvchehrwürdeu würden daher nicht nur dem
Andenken Ihres Herrn Vaters, sondern auch der Geschichte und der Krone einen
Dienst erweisen, wenn Sie in die Veröffentlichung des Schreibens vom 30. März
1848 willigten." — „Meines Dafürhaltens kann es dabei aber von keiner Be¬
deutung sein, ob die Veröffentlichung mit meiner Person in Zusammenhang gebracht
wird; es kommt lediglich darauf an, daß die von Ihrem Herrn Vater referirten
Thatsachen xublioi M'ig werden."
elche Mühe kostet es, dem deutschen Michel beizubringen, dnß er
seit 1870 in ein Alter gekommen sei, wo er sich nicht mehr die
Püffe und die Schelte der Großen gefallen zu lassen brauche!
Wie schwer wird es ihm, die gewohnten Kinderschuhe und die
Nachtmütze des alten Bundestages zu vergessen, wie schwer, den
Nacken steif zu halten, wenn er sich den ältern Kameraden fremden Stammes
gegenüber sieht! Seit dreißig Jahren arbeiten Lehrer und Erfahrung an ihm
herum, aber nur strampelnd und weinerlich ließ er sich bewegen, übers Meer
zu gehen nach eignen Kolonien, oder sich eine Flotte zu bauen, die, wie er
fürchtete, ihn in allerlei Welthändel verwickeln könnte. Wie wohlgefällig nahm
er die Versicherung auf, daß Deutschland nun gesättigt sei, als er den Helgo-
länder Stein verschluckt hatte, und wie viele unsrer Volkshelden erschraken,
als sie dann später aus demselben Munde die andre Versicherung hörten, daß
wir eine Weltmacht sein oder werden müßten! Die Kinderstube mit dem
netten politischen Puppen- und Parlamentchenspiel und dem gemütlichen
Deutschlandsgarten daran, wo wir uns so schön unter einander prügeln dürfen,
ohne daß einer der „Großen" uns mehr, wie ehedem, dreinreden darf — es
ist so schön! und weshalb sollen wir hinaus in die böse Welt, weshalb wetten
und wagen, wenn meins daheim so gut hat und, Gott sei Dank, der Tisch auch
leidlich gut versorgt ist? Nein, lassen wir die Weltmachtspolitik den andern
und nehmen wir uns ein Beispiel an Mhnheer, dem friedlich-fetten Vetter an
der Amstel!
So dachten und denken noch heute viele bei uns — wenn man das
Politisch denken nennen will, und nicht vielmehr politisch schlafen. Aber die
Zeit ist — zum Glück vielleicht — nicht dazu angethan, uns dem politischen
Schlummer zu überlassen; ich meine dem weltpolitischen, denn für den Raben
im Hause sind wir ja immer wach, und wir sind sogar bereit, wenn die täglichen
Prügeljungen müde werden, uns solche professionellen Radaumacher wie die
Jesuiten herein zu rufen. Die Zeit ist ernst auf der Weltbühne und wird
täglich ernster.
Es ist eine bedeutsame und interessante Erscheinung unsrer Zeit, daß sich
der Schauplatz der politischen Konflikte zwischen den Staaten Europas ändert.
Je stärker sich die materiellen Interessen der großen europäischen Mächte in
außereuropäischen Ländern entwickeln, umso mehr dürfen wir hoffen, daß
Deutschland nicht mehr, wie ehemals, zum Turnierplatz aller Welt werden
wird. Ehedem bestand das europäische Gleichgewicht hauptsächlich darin, daß
man von dem deutschen Trümmerhaufen diesen Stein in jene Schale, oder'
jenen in diese Schale zu werfen suchte; Deutschland mußte fast immer das
Material zum Ausgleich hergeben, und alles diplomatische Interesse konzentrirte
sich in Deutschland; umso mehr, seit England es verstanden hatte, dem übrigen
Europa fast alle überseeischen Interessen mit List oder Gewalt abzunehmen.
Das begann sich seit 1870 zu ändern. Unsre Nachbarn sahen, ärgerlich zwar,
immer deutlicher ein, daß die deutschen Steine für keine Ausgleichsprojekte
mehr zu haben waren, sondern in sich selbst zu einem festen Bau zusammen¬
wuchsen. Schon zehn Jahre nach der Einigung Deutschlands konnten wir
anfangen, unsre wirtschaftlichen Interessen nach außen hin staatlich zu erweitern.
Seit 1881 begann das afrikanische Wettrennen; und wenn unsre kolonialen
Erwerbungen auch keinen andern Nutzen für uns hätten, als zu diesem Wett¬
rennen den Anstoß gegeben zu haben, so wäre der Gewinn für uns schon sehr
groß. Denn nun begannen auch andre europäische Kontinentalmächte sich so
gut wie England darauf zu besinnen, daß es noch interessante Dinge in der
Welt, außer Deutschland, gebe, und sie hörten auf, dieses allein starren Blickes
zu beobachten. Frankreich breitete sich in Afrika und Asien aus, der Kongo-
staat wurde gegründet. Italien versuchte sich in Erythräa; Rußland suchte sich
für den ungeschickten und verunglückten Vorstoß gegen die Türkei weiter im
Osten zu entschädigen. Und gerade unsre Gegner der siebziger Jahre, Frankreich
und Rußland, haben in dieser Zeit gewaltige neue Gebiete erworben, die sie
reichlich entschädigen für den Verlust der offnen Thüren, durch die sie stets,
bald gerufen, bald ungerufen, in den deutschen Tummelplatz zu stürmen pflegten.
Tunis, die großen Gebiete am Senegal, Niger und Kongo, dann Mada¬
gaskar und Tonkin sind französisch geworden, und von Tonkin aus rückt die
französische „Interessensphäre" langsam in das südliche China vor. Die
russischen Vorposten sind auf die Pamirhöhen und an die Thore von Herat
vorgeschoben worden; auf das koreanische Königreich hat Nußland seine Hand
gelegt, ebenso auf die Mandschurei; am Golf von Petschili besitzt es seine
Häfen, am Hofe von Peking übt es einen beherrschenden Einfluß aus. Und
diese gewaltigen Erfolge hat Frankreich bloß mit dem Kriege in Tonkin bezahlt,
Nußland ohne einen Schwertstreich errungen. Freilich aber gilt es sür beide
nun, das Erworbne festzuhalten und zu verwerten, was sich vielleicht als nicht
ganz so leicht herausstellen wird wie das Erwerben. Denn China und seine
tributpflichtigen Nebenländer sind denn doch etwas andres als die afrikanischen
Negergebiete, und um China handelt es sich heute in der That.
Und da haben nun auch wir auf chinesischem Boden Fuß gefaßt, und
zwar ohne daß von irgend einer Seite, weder von andern Staaten noch von
innern Nörglern dagegen Einspruch erhoben worden wäre. Daß dieses Vor¬
gehen unsrer Regierung im Volke so einmütig gutgeheißen wurde, ist nicht
nur erfreulich, sondern fast überraschend. Denn das ist Weltpolitik, mehr
Weltpolitik als die Erwerbung afrikanischer Kolonialländer, mehr selbst als
die jüngst beschlossene Vergrößerung unsrer Flotte es war — allerdings unter
der Annahme, daß wir uns von Kiautschou aus an den Ereignissen kräftig
beteiligen wollen, die sich in Ostasien vorbereiten.
Man kann sagen, daß die europäische Kulturwelt im Begriff ist, ihren
Eroberungszug um die Erdkugel zu vollenden, Mittelasien und Ostasien sind
die letzten großen Gebiete, die dem Vordringen europäischen Wesens wider¬
standen haben, und das zwanzigste Jahrhundert wird Europa als das be¬
herrschende Haupt unsers Weltkörpers anerkennen. Wie merkwürdig ist es da,
daß auf diesem mehr als zweitausend Jahre dauernden Zuge wir zu allerletzt
an das größte und älteste der uns bekannten Reiche der Welt gelangt sind,
an einen Staat, der bisher eine Welt für sich war und, was mehr ist, eine
Kultur sür sich geschaffen hat, die wir, bei unserm Kulturstolz zwar mit
Widerstreben, dennoch anerkennen müssen. Denn nicht die Waffengewalt ist
der einzige und höchste Kulturmesser, sondern die Arbeitskraft.
Lange hat China sich gegen alles Eindringen europäischer Menschen und
Dinge gewehrt. Und welcher billig und objektiv denkende Mensch wollte ihm
das verargen? Braucht es, um das Recht der Chinesen auf ihre grundsätz¬
liche Abschließung zu erweisen, eines klareren Beispiels als die Vorgänge, die
zu unsrer Erwerbung von Kiautschou führten? Was konnte harmloser,
humaner, ja in unsern europäisch-christlichen Augen uneigennütziger und segen¬
reicher sein, als das Bestreben der christlichen Völker und Staaten, den armen
Chinesen das Evangelium zu predigen? War es nicht christliche Liebe, die
mit allen Opfern an Gut und Blut, mit Entsagung und Märtyrertum nach
China ging, um nichts zu nehmen, um das Beste zu geben? War es nicht
heidnische, rohe Verstocktheit, wenn China solchem Streben mit Abneigung, mit
Verachtung hindernd entgegentrat? Aber der nationale Widerwille, der doch
wahrlich nicht als eine besondre chinesische Eigentümlichkeit von uns bezeichnet
werden kann, brachte es dazu, daß ein paar dieser uneigennützigen Missionare
getötet wurden; und die Folge war, daß wir uns mit Kiautschou und Umgegend
für diesen Totschlag entschädigten!
Da steht nun die christliche Menschenliebe plötzlich mit Kanonen und
Schiffen, mit Schaufel und Hacke, mit Grubenlicht und Lokomotive ausgerüstet
da, und die Missionare sind verschwunden, die Maskerade ist aus; über Nacht
ist der fordernde, gebietende Herr erschienen, die Macht der „roten Teufel"
auf chinesischem Boden. Waren diese Missionare so gefährliche Leute, wie
viel mehr Grund hatten die Chinesen, Kaufleuten, Eisenbahnbauern und
sonstigen weniger harmlosen Gästen ihr Haus, das ihnen wohl eingerichtet
schien, zu verschließen, so lange es ging? Denn sie hatten längst vor
diesem unglücklichen Ereignis in Kiautschou ihre Erfahrungen gemacht. So
ist es immer hergegangen; was wir gethan haben, ist genau nach dem alten
Rezept ausgeführt worden, mit dem vor uns Portugiesen, Franzosen, Eng¬
länder die Chinesen kurirt haben, und wir brauchen uns daraus kein Gewissen
zu machen. Aber Gewalt bleibt Gewalt, und man soll sich nicht wundern,
wenn der Chinese klug genug war und ist, timore Dg.niZ.o8 se Anna, tsrsuws.
Der Missionar ist unser trojanisches Pferd geworden, seitdem wir mit christ¬
licher Entrüstung die wilden Eroberer von Pizarro bis auf Stanley und
Peters von uns gewiesen haben. Sie gehen hin als Lämmer, aber zuletzt
kommen die Wölfe hinterdrein; das ist nun einmal so, und ist nur natürlich
und unvermeidlich, weil die Kultur, unsre Kultur, eben kein Mädchen aus der
Fremde, sondern ein harter Herr ist.
Und ist es denn andrerseits so durchaus gewiß, daß diese Aufschließung
Chinas, wie sie jetzt im Gange ist, für uns die Quelle großen Glückes werden
muß? Für mich ist das eine noch sehr zu erwägende Frage. Zwar, ich
fürchte nicht, daß wir unsre heiligsten Güter vor dem kriegerischen Ansturm
der gelben Rasse werden schützen müssen. Seit nicht mehr die Stärke des
Armes, sondern die Kraft des Kopfes unsre Schlachten schlägt, brauchen wir
keine Horden Dschingiskhans oder Tamerlans mehr zu fürchten. Wir haben
ja die chinesischen Thüren auch nicht eingeräumt, um gewaltsam zu erobern,
sondern um für unsern Gewerbefleiß und Handel Raum zu schaffen. Werden
wir wirklich und sicher erobern? O ja, wir werden für unsre Fabrikate und
Erfindungen in dem Lande der drei- bis vierhundert Millionen Menschen einen
sehr großen Absatz finden, sobald erst die Willkür wird beseitigt sein, mit der
jeder Statthalter, jeder Provinzialmandarin, jede Stadt die eindringenden
Waren mit Binnenzöllen wie bisher belastet. Aber wir begnügen uns damit
nicht, sondern legen dort schon selbst Fabriken an. Wir haben wirtschaftliche
Grundsätze aufgegeben, die ehedem bei uns in Europa galten, insbesondre den
Grundsatz, daß es vorteilhaft sei, Fabrikate an den Fremden zu verkaufen, und
daß es daher thöricht sei, ihn selbst das Fabriziren zu lehren, weil damit das
Verkaufen bald aufhört. Inzwischen entsteht am Kautonfluß und anderwärts
in China eine europäisch gegründete und geleitete Fabrik nach der andern, und
unsre Zeitungen bringen sogar jubelnde und triumphirende Berichte darüber.
Unsre klugen Vorfahren von der Hansa Hütten das vermutlich anders ver¬
standen. Sie hätten, wie ich meine, auf die Nachricht, daß ein Europäer am
Kantonfluß eine Spinnerei oder Gießerei angelegt habe, ein Schiff den Fluß
hinaufgeschickt, die Fabrik niederbrennen und den Unternehmer bestrafen,
vielleicht henken lassen. Sie Hütten, wenn etwa Holland oder Dünemark
Instrukteure nach Peking zur Ausbildung des chinesischen Heeres schicken
wollten, diese unterwegs aufgreifen und einsperren lassen; sie hätten Herrn
Krupp für einen Landesverräter erklärt und mit Wegnahme seiner Kanonen
bedroht, wenn er diese an Chinesen oder andre fremde Völker zu verkaufen
versuchte.
So haben es auch die in Kolonisation wie Handel wohlerfahrnen Herren
vom Deutschen Orden gemacht, als Rußland noch, im sechzehnten Jahrhundert,
ein Land war, das zwar sehr arm im Vergleich zu dem heutigen China, diesem
doch gleich war in seiner Abgeschlossenheit, seinem Widerwillen gegen die Europäer
und ihre Kultur, und das von China sehr unterschieden war durch seine rohe
Barbarei und seine Unfähigkeit, die Produkte der westlichen Kultur zu ver¬
stehen oder gar nachzuahmen. Die deutschen Händler verkauften unter dem
Schutz des Ordens nach Nußland diese Erzeugnisse der Kultur im Tausch
gegen Rohstoffe, wachten aber mit größter Strenge darüber, daß keine Menschen
oder Dinge nach Rußland gelangten, die dort, sei es eine Kräftigung der
russischen Streitmacht bewirken oder eine Konkurrenz für ihre Einfuhrartikel
eröffnen konnten. Heute ist die Konkurrenzraserei unter den abendländischen
Völkern so groß, daß man es aufgegeben hat, sich das Monopol der euro¬
päischen Industrie gegenüber den Ländern geringerer Kultur möglichst lange
zu sichern. Man stürmt nach Japan, nach China hinein, um dort nicht nur
Gewebe, sondern auch Spindeln, nicht nur Maschinen, sondern selbst die Werk¬
zeuge zu ihrer Herstellung zu verkaufen; man errichtet dort die Werkstätten,
die mit unsrer heimischen Industrie auf dem ungeheuern chinesischen Markt in
Wettbewerb treten sollen; man sägt den Ast ab, auf den man sich soeben erst
gesetzt hat — und man ist noch dazu sehr stolz und froh darüber!
Wohin das führt, können wir schon in Japan sehen. Einige Jahre
haben genügt, dort eine Industrie zu entwickeln, die schon die europäischen
Produkte auf einigen Gebieten zurückdrängt, und das nicht bloß auf japanischem,
sondern auch schon auf chinesischem, indischem, australischen Boden. Ja wir
sehen unsre Frauen die japanischen Sonnenschirme, die sie in Berlin kaufen,
wegen ihrer größern Eleganz und Billigkeit den deutschen Schirmen vorziehen;
wir finden in unsern Buchhandlungen Bücher, z. B. die Fabeln von Lafontaine,
die in Tokio so gut gedruckt und so geschmackvoll ausgestattet sind, daß niemand
mehr eine Pariser Ausgabe dieser Werke kaufen will. Und nun wird derselbe
Vorgang in China beginnen.
Ein vortrefflicher Kenner erklärt China für »das reichste, älteste und be-
völkertste aller der Reiche, die jetzt bestehen, oder deren Geschichte uns erhalten
ist." Uns interessirt hier vornehmlich, zu hören, daß es das reichste sei, und
wenn wir deu Reichtum nicht nach der Menge papierner Schuldscheine, wie
sie unsre heutige Geldwirtschaft geschaffen hat, sondern nach natürlichen und
durch menschliche Arbeit erzeugten Werten berechnen, so mag jenes Urteil
vielleicht richtig sein. Dieser uns so lockend erscheinende Reichtum ist zum
großen Teil, nämlich soweit er Werke der Menschenhand darstellt, angehäuft
worden durch die Arbeit von Jahrtausenden; und diese Arbeit wiederum hat
in dem Chinesen eine Arbeitsfähigkeit ausgebildet, die im ganzen von keinem
andern Volk übertroffen, wahrscheinlich von keinem erreicht wird. Ich brauche
die Eigenschaften, aus denen sich diese Arbeitsfähigkeit des Chinesen zusammen¬
setzt, kaum aufzuzählen: sie sind nicht nur bekannt, sondern so sehr anerkannt,
daß alle Küstenländer des Stillen Ozeans niemand in der Arbeitskonkurrenz
so fürchten wie den Chinesen, nud daß der liberalste Staat der Welt, die Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika, gezwungen gewesen ist, sich gegen diese Kon¬
kurrenz gewaltsam, d. h. durch Gesetz zu schützen. Wenn der Chinese trotz
seiner uralten Schulweisheit nicht verstanden hat, sich, wie wir, die Kräfte der
Natur dienstbar zu machen, deren Anwendung unsre gewaltige materielle Über¬
legenheit über ihn begründet, so möge man bedenken, daß wir selbst noch in
dem Jahrhundert leben, das die erste Dampfmaschine, den ersten elektrischen
Telegraphen sah. Der Chinese wird die Verwertung unsrer Erfindungen sehr
bald lernen; er ist für technische Arbeit vorzüglich geschult: sorgfältig, aus¬
dauernd, genau wie eine Maschine, die langweiligste, geistloseste Arbeit immer
gelassen fortsetzend, solange er gut behandelt und genau gelohnt wird. Für
schwere körperliche Arbeit, besonders in der Fremde, scheint der Chinese wenig
geeignet zu sein. Als zum Bau des Panamakanals Kukis verwendet wurden,
las man Klagen darüber, daß sich viele aus Heimweh und aus Widerwillen
gegen diese Arbeit umbrachten. Sie setzten sich zur Zeit der Ebbe auf den Meer¬
sand und ließen sich von der Flut ertränken. Zuletzt mußte man die Übrig-
gebliebnen nach Hause schaffen. Umso leistungsfähiger ist der Chinese zur
Fabrikarbeit, besonders in seiner Heimat. Die ungeheuern Verluste, mit denen
uns die Streiks bedrohen, sind dort nicht zu befürchten: der Chinese arbeitet
tagaus tagein um einen Lohn von 50 Pfennigen, die Chinesin um 30 Pfennige.
Trotz der dichten Bevölkerung sind die Lebensmittel, deren der Chinese
bedarf, weit billiger als in irgend einem Teile Europas. Der Boden erzeugt
in den guten Landstrichen eine Überfülle von Brotkorn, er birgt die größten
Kohlenlager der Welt und Minerale jeder Art. Alles dieses wäre genügend,
uns bedenklich zu machen in dem Unternehmen, das dem Chinesen die Mittel
in die Hand geben soll, um mit unserm europäischen Arbeiter in Wettbewerb
zu treten. Bedenklich besonders in einer Zeit, wo wir unter dem Druck der
Frage seufzen, wie wir dem wachsenden Elend unsers Arbeiterproletariats be¬
gegnen sollen. Unsre Industrie hat auch unter der Leitung der besten, hu¬
manster, opferwilligsten Gesinnung des Staats- oder des Jndustrieherrn die
Tendenz, den Arbeiter zur Maschine herabzudrücken. Kein Volk der Erde aber
scheint sich so tief in das Elend ohne viel Widerstreben hinabdrücken zu lassen,
als der Chinese. Er hat weder Religion noch religiöses Bedürfnis, noch
ideale Anlage; er ist spekulativ-rationalistisch, ganz realistisch, von sehr geringer
Moralität; dabei außerordentlich unempfindlich gegen seelische wie körperliche
Leiden, in der Not mit allen Lastern leicht vertraut, dem Spiel leidenschaftlich
ergeben, den materiellen Gewinn allein und rücksichtslos verfolgend, schlau,
verschlagen, sparsam. Das ist der Charakter der großen chinesischen Nation,
von der sich in Nord und West die mehr oder minder verwandten Völker
unterscheiden, mit der wir aber auch in Kiautschau vorwiegend werden zu
rechnen haben. Und nun denke man sich in China Städte wie Elberfeld oder
Chemnitz in Menge entstehen, mit Hunderttausenden von Kukis als Arbeitern,
vorläufig unter der Leitung wenn auch europäischer Unternehmer, so doch
chinesischer Unterbeamten. Alle Bemühungen, diesen Kukis einigen Schutz zu
gewähren, werden nicht verhindern können, daß in kurzer Zeit eine Sklaven¬
wirtschaft entsteht, fürchterlicher als die in den Südstaaten von Amerika zur
Zeit des Onkel Tom war. Das Elend, der Schmutz, die Lasterhöhlen in den
großen Städten des heutigen China, in den chinesischen Vierteln von San
Franzisko, die der Europäer kaum zu betreten wagt, sind oft genug geschildert,
worden, daß man sich die Zustünde vorstellen kann, die entstehen müßten
sobald erst dieses Fabrikwesen im großen Stil in die chinesischen Millionen¬
städte einzieht. Es wird da ein menschliches Arbeitsvieh gezüchtet werden,
wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Und glaubt man denn, daß das für
die Dauer auf unser eignes soziales Elend ohne Einfluß bleiben kann? Glaubt
man, mit Schutzzöllen für immer die Fabrikate der Kukis schlagen zu können,
auch wenn man die Einfuhr von Kukis nach Europa verhindert? Glaubt
man, daß die Bereitwilligkeit, die Lage unsrer Fabrikarbeiter zu bessern, bei
uns wachsen wird, wenn man erst den Druck der billigen chinesischen Arbeit
spürt, wenn man erst auf die Lage des chinesischen Kuli in den von unsern
Unternehmern und unsern Technikern geleiteten Fabriken Chinas wird hin¬
weisen können? Wer wird denn den deutschen Betriebsdirektor oder Aufseher
in der Fabrik am Jan-the-klang hindern, seine für fünfzig Pfennige arbeitenden
Kukis mit der Peitsche und den üblichen Strafen chinesischer Gerechtigkeit zur
Arbeit zu ermutigen? Und sollten solche Erfahrungen nicht auf die Moral
bei uns zu Hause ihre Wirkung üben?
Wir werden zuerst vielleicht eine reiche Ernte an Gewinn durch den
Handel und durch die Anlage von Kapital in chinesischen Unternehmungen ein¬
heimsen. Aber nach einigen Jahren wird die üble Rückwirkung nicht aus¬
bleiben, wenn wir wie bisher China weiter aufschließen. So überlegen wir
uns im ganzen und besonders in einigen Wissenszweigen den Chinesen gegen¬
über fühlen dürfen: man sollte die Kraft nicht unterschätzen, die in einer so
alten Kultur, in einem so stark ausgeprägten Volkscharakter, in einer durch
Geschichte und Naturanlage so verflüchtigten Volksmoral liegt. Was uns im
ganzen denn doch noch heilig ist, die Religion, ist dort kaum vorhanden, und
alle Religionslehren sind einmal von einem chinesischen Kaiser grundsätzlich
verdammt worden- Was für uns die große noch ungelöste Frage der Zeit
ist: der Sozialismus in allen seinen Verzweigungen, der Kampf zwischen dem
Handarbeiter und dem Kopfarbeiter um die staatliche Macht: China meint diese
Frage vor siebenhundert Jahren schon gelöst zu haben. Im elften Jahrhundert
soll dort alles, Grundbesitz, Handel, Gewerbe verstaatlicht worden sein; aber
die Sozialisten wurden — so heißt es — im Jahre 1129 gestürzt und zu
Hunderttausenden aus dem Lande gejagt, weil die Zustände unter ihrer Re¬
gierung unerträglich geworden waren. Werden wir aus ihrer Geschichte zu
unserm Heil lernen, oder werden sich die sozialen Gegensätze bei uns nicht
auch theoretisch durch die chinesischen Erfahrungen und Zustände verschärfen?
Niemals werden wir uns mit chinesischem Blut vermischen; wir werden in
China fremde Herren sein, oder gar nicht sein. Wir werden vielleicht finden,
daß der friedliche, fleißige, geschäftliebende Chinese bequem zu beherrschen
ist. Aber der Gegensatz zwischen uns und ihnen ist so groß, daß wir besten
Falls eine Stellung erringen werden, wie sie von den Südbaronen Amerikas
um 1860 eingenommen wurde, mit dem Unterschiede, daß die moralische Ver¬
kommenheit eines Kulturvolkes sehr viel stärker das sittliche Bewußtsein eines
fremden Herrenvolkes herabzieht, als die rohen Sitten einer Naturrasse.
Es ist nicht zu erwarten, daß Europa, selbst wenn es die Gefahr dieses
Eindringens in das innere China anerkennen sollte, vor den einmal geöffneten
Thüren werde stehen bleiben. Die Begierde nach Gewinn ist dabei zu groß,
die lockende Beute zu glänzend. Aber ich meine, wir hätten besser gethan,
uns mit dem Gewinn des Handels zu begnügen und im übrigen die Abschließung
Chinas gegen das Eindringen europäischen Wesens und Treibens bestehen zu
lassen. Vielleicht wäre es für die Chinesen besser gewesen, wenn die europäischen
Mächte der Mandschudynastie vor achtunddreißig Jahren nicht geholfen hätten,
den Taipingaufstcmd zu besiegen. Vielleicht ist die heutige erschütterte Stellung
des Thrones zu Peking der Anfang einer Auflösung, die zu dem endlichen
Sturze dieser fremden Herrscher und zum Zerfall des Reichs in einzelne
Staaten mit eingebornen Herrschern führen wird. Dann könnte die seit zwei¬
hundert Jahren dauernde Mißwirtschaft aufhören, das Raubshstem des Er¬
oberers, der gierigen und wie eine Herde von Schafen über das Land hin
weidenden Mandschnmandarinen könnte ein Ende finden. Kanäle und Wege
und unzählige andre öffentliche Anlagen, die unter dieser Dynastie zerfielen,
könnten hergestellt, Bestechung und Lvkaltyrannei gemüßigt werden, und der
Chinese würde versuchen können, die guten Zeiten vor 1644 wieder zurück zu
bringen, von denen er erzählt. Dann würden die Grenzen dem Fremden offen
stehen wie ehedem. Der Zopf verschwände, und der Chinese würde vielleicht
in die Fremde wandern ohne das Verlangen, als Leiche in seine Heimat
zurückzukehren. Alles das wäre vielleicht gut für die Chinesen, aber wahr¬
scheinlich übel für Europa. Die Staaten europäischer Kultur würden weise
handeln, wenn sie sich untereinander dahin einigten, China dem Handel aller
Völker zu öffnen, aber dem Eindringen europäischer Industrie zu verschließen,
Wäre es auch nur für ein Menschenalter. Es wäre weise im Interesse unsrer
Industrie und im Interesse des Friedens, der durch jede im Innern Chinas
neu entstehende Fabrik gefährdet wird.
Ich zweifle, ob einige Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, daß, wie
man oft hört, China demnächst aufgeteilt werden könne. Aber mir er¬
scheint es wohl möglich, daß man von europäischer Seite mit dem neuen
völkerrechtlichen Instrument der Interessensphären gegen China vorgehen
wird. Mit diesem Brecheisen wird man bei der Unfähigkeit Chinas, den
europäischen Truppen zu widerstehen, leicht große Stücke ausbrechen und an
die nächsten Interessenten austeilen. England versucht ja schou, die Hand auf die
größte Marktstraße der Welt zu legen, die dem Laufe des herrlichen S)an-tse-
kiang folgend hinauf in die reichsten Provinzen Hupe und sse-tschuan führt.
Ich wünschte, wir machten dort nicht zum andern mal die Erfahrungen, die
wir mit dem „allen Nationen freien" Niger gemacht haben. Wird China erst
einmal in Interessensphären geteilt, dann folgt die Zerreißung in Russisch-,
Deutsch-, Englisch-, Französisch-China bald hinterher, und die Aufstände werden
die Mächte ebenso schnell „nötigen," gewaltsam Ordnung zu schaffen und ihre
„Interessen" zu konsolidiren, worunter ich freilich nicht Eroberung meine.
China ist nicht von Jndiern bewohnt, und das Selbstgefühl des Volkes hat
den Haß gegen die Europäer schon jetzt zu einer bedenklichen Höhe gesteigert.
Für jene Möglichkeiten ist Kiautschou ein ungenügender Erwerb, schon um der
Entfernung willen von den reichen innern Gebieten und den großen natür¬
lichen Verkehrsadern. Wir werden uns beizeiten vorsehen müssen, um nicht
bloß die Knochen von dem reichen Mahle zu bekommen.
Die Gefahr, daß es zu diesem Mahle kommt, liegt in der Schwäche der
zentralen Regierung und in der Neigung des Volkes zu Aufständen. Die
Japaner haben uns gezeigt, daß China 1896 kaum besser auf einen ernstlichen
Krieg vorbereitet war, als es 1850 gegen die Taiping und als es zehn Jahre
später gegen Frankreich und England war. Mit elftausend Mann europäischer
Truppen wurde damals Peking genommen, und mit einem Armeekorps könnte
es heute wohl wieder genommen werden. Man darf sich wundern, daß bei solcher
Schwäche der zentralen Regierung die in letzter Zeit hie und da ausgebrochuen
Unruhen nicht größern Umfang gewonnen haben. Kein Staat Europas hat
so viel Revolutionen erlebt als der chinesische. Jener schon erwähnte Kenner
Chinas nennt es „das revolutionärste Land der Welt." Die geheimen Gesell¬
schaften sind vorzüglich organisirt, und sie bedecken das ganze Land in zahl¬
losen Verbänden. Der Haß gegen die Mandschu ist alt und heftig. Ein
Fanatiker wie im Jahre 1850 oder ein ehrgeiziger Statthalter findet sich
leicht, der die geheimen Gesellschaften sammelt und wieder wie 1850 gegen die
Mandschu oder aber auch gegen die fremden Eindringlinge aus Europa führt.
Es ist daher unwahrscheinlich, daß, wie in einigen Blättern angedeutet worden
ist, der Hof von Peking nach dem Süden, etwa Nanking, werde verlegt werden.
Nanking, die alte Residenz der echt chinesischen Fürsten vom „Reich der Mitte,"
und der Jan-the-klang, das ist das Herz von China, ein dem Volk heiliger
Boden. Es wird vor allem im Interesse Rußlands liegen, nachdem es sich
in der Heimat des herrschenden Volks durch den Bau einer die Mandschurei
durchschneidenden Eisenbahn wird festgesetzt haben, die Mandschu in ihrer
Herrschaft zu erhalten. Im Besitz der Mandschurei wird Rußland es leichter
als jede andre Macht haben, die Mandschu in Peking und durch sie China
selbst zu leiten. Ein Aufstand, der die Dynastie und damit die Herrschaft der
Mandschu stürzte, der China wieder in seine alten Teilstaaten, wie sie vor
Jahrhunderten bestanden haben, zersprengte, würde leicht auch den Haß der
Chinesen zum Angriff gegen alle europäischen Niederlassungen reizen; er würde,
wenn auch dieser Angriff zurückgewiesen werden könnte, doch die reichen Länder
der Mitte dem russischen Einflüsse entziehen und den Mächten in die Arme
treiben, die sich der großen Ströme dann versichert haben werden. In Eng¬
land ist man schon wieder der alten Ansicht, daß die großen Ströme englisches
Interessengebiet seien und besonders Deutschland dort nichts zu suchen habe. Die
Folge dieser Ansicht dürfte sein, daß wir umso fester mit Rußland verbunden
unsern Weg in China gehen und die Mandschudynastie stützen werden.
Die internationalen Wettrennen der neuern Zeit haben außer dem Begriff
der Interessensphäre noch einige andre mehr oder weniger sonderbare und ver-
schwommne Regeln dieses politischen Turfes erzeugt. Man unterscheidet z. B.
in England die Interessensphäre von der Einflußsphäre, und obwohl weder
ein Professor des Staatsrechts oder des Völkerrechts, uoch ein diplomatisches
Aktenstück bisher die Begriffe genau hat feststellen können, werden diese bei
passender Gelegenheit fast wie anerkannte Ordnungen des Völkerrechts in Ge¬
brauch genommen. Wie wenig man sich, ohne den Rückhalt realer Macht¬
mittel, auf solche unbestimmten Begriffe verlassen kann, haben wir erfahren mit
der Verwertung des von der Kongokonferenz eingeführten Begriffes des Hinter¬
landes. Das „Hinterland" ist nicht nur in den diplomatischen Verkehr aller
Staaten, sondern sogar in die fremden Sprachen aufgenommen worden, was
jedoch nicht gehindert hat, daß sich z. B. am Niger weder Engländer noch
Franzosen darüber klar geworden sind, wo die Grenzen der verschiednen Hinter¬
länder liegen. Ein andres neues Mittel, sich unklare Situationen und Rechte
zu schaffen, besteht darin, daß eine Macht sich von einem fremden Staate das
Versprechen geben läßt, gewisse Gebiete an eine dritte Macht nicht zu ver¬
äußern, nicht anderswie zu vergeben, ihr keine Niederlassungen dort zu ge¬
statten oder keine Sonderrechte zu gewähren. Zu solchen Versprechungen läßt
sich ein Staat in der Not wie die Negerstaaten Afrikas oder auch wie China
unschwer verleiten, da er ja nur verspricht, was er sehnlichst zu halten wünscht.
Wie es heißt, hat China derartige Versprechungen an Frankreich im Süden,
an England im Gebiet des Aar-the-klang gemacht. Thatsächlich verwandelt
sich ein solches Gebiet, das man bisher vielleicht bloß zur Interessensphäre
zählte, sofort in ein Einflußgebiet, das man überzeugt ist, gegen jeden fremden
Eindringling mit Kanonen verteidigen zu dürfen. Denn wo der englische
„Einfluß" herrscht, da darf sich der Nichtengländer nur mit englischer Er¬
laubnis niederlassen und Rechte erwerben. Wie wird es nun werden, wenn
wir uns oder die Franzosen oder die Russen sich von China Rechte oder
Besitzungen im Gebiete des Dan-the-klang, d. h. in einem Drittel von China
und den reichsten Provinzen, geben lassen? Wir werden uns hoffentlich dort
nicht durch Verträge übertölpeln lassen, die viel Ähnlichkeit haben mit den bei
den Negerkönigen angewandten Papierbogen. Oder werden wir dem Beispiele
Englands und Frankreichs folgen?
Die heutige Lage in Ostasien ist geschaffen worden durch den plötzlich
hereingebrochnen japanisch-chinesischen Krieg, der die europäischen Mächte un¬
vorbereitet traf. Kaum bemerkte man, daß es sich um China, um die künftigen
maßgebenden Einflüsse aus dieses Reich handle, so stürzte alles dorthin, um eine
Entscheidung aufzuhalten. Japan wurde mit Formosa und Geld abgefunden.
Am schnellsten entschlossen und zum Handeln am ehesten in der Lage war
Rußland. In zwei Jahren hat es verstanden, sich durch einen festen Vertrag
ein „Einflußgebiet" anzugliedern, das mehr als doppelt so groß als das
Deutsche Reich ist. Denn ich glaube nicht, daß Rußland jemals weder Korea
noch die Mandschurei aufgeben wird. Das Einflußgebiet wird sich über kurz
oder lang in russisches Gebiet verwandeln. Wenn Rußland heute noch be¬
hutsam, besonders Japan gegenüber, auftritt, indem es die japanischen An¬
sprüche und Einflüsse auf Korea nicht schroff hinausweist, so ist das sehr ver¬
stündlich: es fühlt sich dazu noch nicht stark genug.") Aber Schiff ans Schiff
segelt von Odessa mit Truppen, Waffen, Baumaterial nach dem Osten ab, um
die Stellung in Port Arthur und in Wladiwostok zu stärken. Wenn Ru߬
land übers Jahr diese Häfen gesichert, 20000 Mann Landtruppen und eine
bedeutende Flotte dort beisammen hat, dann könnte sich die Nachgiebigkeit ver¬
mindern. Unterdessen wird die sibirische Bahn mit großer Anstrengung vor¬
geschoben. Hat sie in etlichen Jahren erst Wladiwostok und Port Arthur er¬
reicht, dann wird Japan wenig mehr dreinreden dürfen. Dann wird auch
England es schwer finden, die Grenze festzusetzen, wo der russische Einfluß in
China aufzuhören habe.
Noch aber ist die sibirische Bahn nicht fertig, noch stehen erst 3000 Mann
in Port Arthur, und gerade das macht die Lage kritisch. Mit China ist zwar
kein Krieg zu befürchten, sondern nur etwa Verwicklungen, die entstehen wer den
wenn erst wieder ein paar Missionare ermordet oder Fabriken niedergebrannt
sein werden, was man von dem angehäuften Fremdenhaß der Chinesen täglich
zu befürchten hat. Solche Fälle haben Repressalien zur Folge, die für den
Frieden unter den Gästen an der chinesischen Tafel gefährlicher sind, als für
den Frieden mit China selbst. Aber Japan ist ein kühner und unternehmender
Staat, der mit demselben Eifer seine Rüstungen betreibt wie Rußland. Japan
hat seine Absichten auf das Festland nicht aufgegeben und wird sie wahr¬
scheinlich wieder aufnehmen, sobald es sich für genügend stark hält durch
eigne Rüstung und durch Bundesgenossen; den Bundesgenossen sieht es ohne
Zweifel in England, seinem Erben in Wei-Hai-Wei. Eine Erbschaft übrigens,
die von etwas zweifelhaftem Wert erscheint für eine Macht, die nicht eine
Armee zur Deckung des Hasens von der Landseite her zur Hand hat. Wie
viel Wert eine englische Vundesgenosfenschaft hat, wissen wir aus der Ge¬
schichte zur Genüge: sie wird für Japan von Wert sein zum Angriff und zur
Kriegführung gegen Rußland und genau dann aufhören, wenn Japan etwa
zur See siegreich gewesen sein und Miene machen wird, sich zu der ersten See¬
macht in den Gewässern Ostasiens zu erheben, d. h. die Früchte seiner Siege
ernten zu wollen. Unterliegt Japan, so wird England dafür sorgen, daß von
der japanischen Seemacht nicht zu viel übrig bleibt, ehe es Japans Küsten gegen
einen etwaigen russischen Angriff schützt. Solche Lehren etwa können wir aus
den Blättern der englischen Geschichte entnehmen. Und sast ebenso wahr¬
scheinlich ist es, daß England selbst es auf keinen Kampf mit Rußland wird
ankommen lassen, solange die gegenwärtigen Beziehungen der Kontinentalmächte
zu einander fortbestehen.^) Der große Rechenfehler Englands ist der gewesen,
daß es, wie andre Staaten auch, die Kraft Chinas überschätzt hat, die es für
hinreichend hielt, Japan und dem russischen Druck widerstehen zu können.
China hat sich als so schwach erwiesen, daß es auch mit englischer Stütze
nicht fest auf den Beinen zu stehen vermag, und da hat England das Stützen
denn aufgegeben. So jetzt in Peking, wie vorher in Konstantinopel. Denn
trotz aller Versicherungen des Herrn Chamberlain liegt die Unterstützung des
Pekinger Hofes mehr in der Sorge Rußlands als Englands. Wiederum wie
in Konstantinopel, und zwar in beiden Fällen deshalb, weil beide Höfe mehr
dem Druck russischer Truppen als englischer Schiffe ausgesetzt sind. So bleibt
England auf Japan als Sturmbock angewiesen. Verwickelter würde die Sache
werden, falls sich etwa die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach einem
sieghaften Kriege gegen Spanien in diese ostasiatischen Händel mischten. Doch
ist das eben noch eine bloße Möglichkeit, mit der wir vor der Hand nicht zu
rechnen brauchen. Es ist ungewiß, wie schnell Nußland die großen Schwierig¬
keiten wird überwinden können, die sich seinem Vahnbau jenseits des Baikalsees
entgegenstellen; vielleicht braucht es dazu vier, vielleicht auch mehr Jahre.
Innerhalb dieser Frist wird sich entscheiden müssen, ob Japan sich stark genug
sühlt, zum Angriff überzugehen, und ob England sich stark genug fühlt, sich
dem neuen Dschingiskhan Europas auf seinem Eroberungszuge gegen ganz
Asien entgegen zu werfen. Für uns Deutsche ist die Zeit hoffentlich fern, wo
uns vielleicht diese Händel zur Einmischung nötigen werden. Wenn aber
einmal Asien in Einflußsphären geteilt werden soll, so werden wir zusehen
müssen, daß wir nicht von schwächern Staaten überholt werden.
le in ganz Deutschland, so sind auch in Hannover die Reichs¬
tagswahlen im großen und ganzen das Spiegelbild für die
augenblickliche politische Volksstimmung. Sie sind eine Art
Barometer, an dem die politischen Parteien erkennen können,
wie ihre Haltung und ihre Bestrebungen in den breiten Volks¬
schichten beurteilt werden, und inwieweit sie auf diese eingewirkt haben. DasMlM
haben die Nationalliberalen zu ihrem Schaden in den Jahren 1881, 1884
und 1890, zu ihrem Vorteil bei den Wahlen von 1887 und 1893 erfahren.
Aber es ist bezeichnend, daß es sowohl 1893 als 1887 eine außerordentliche
Wahlparole war, von der die Nationalliberalen Nutzen zogen. Für sie war
es ein Glückszufall, daß die Opposition der Linken und des Zentrums bei den
Militärvorlagen aus der Verkennung der Stimmung großer Wühlermassen
hervorging und durch ihr Verhalten die Auflösung des Reichstags vorbereitete.
Ohne die Wahlparole — und im Jahre 1887 ohne das Kartell — hätten
sich in den Wahlkreisen, wo die Nationalliberalen der feste Kern waren, kaum
die übrigen Freunde der Militärvorlage bei den Neuwahlen um sie geschart,
und namentlich hätten bei den Wahlen von 1893 die Nationalliberalen in
Hannover ohne diesen Zuzug nicht die Erfolge gehabt, die sie thatsächlich er¬
zielt haben. Bei den diesjährigen Wahlen wird sich der Mangel einer alle
Kreise des Volks aufrüttelnden Wahlparole für die Nationalliberalen sehr fühl¬
bar machen, und gerade aus ihrer Mitte hört man die lautesten Klagen darüber,
daß die kluge Taktik des Zentrums die Marinewahlparole zu nichte gemacht
hat. Sie wissen sehr wohl, daß ihnen nur ein geschickt zu verwertendes,
das patriotische Empfinden aufrüttelndes Ereignis neue Wählermafsen zu¬
führen kann.
An eigner werdender Kraft gebricht es den Nationalliberalen im Hanno-
verschen wie in den übrigen Teilen Deutschlands seit geraumer Zeit ganz und
gar. Mit dem Kampfruf „für Kaiser und Reich," mit patriotischen Festreden,
mit großen Versprechungen und allgemeinen Redensarten ist es heutzutage
allein nicht gethan. Für das Mißverhältnis zwischen Worten und Thaten
hat denn doch das Volk jetzt ein deutlicheres Verständnis, als ihm von national¬
liberaler Seite zugetraut wird. Das Hin- und Herschwanken bei den wich¬
tigsten Tagesfragen, die Nachgiebigkeit, mit der sie sich einem fremden Willen
unterordnen, ihre engen Beziehungen zum Großkapital und zur Großindustrie
und in Verbindung damit die Aufstellung von Meinungen und Forderungen,
die mit den alten Überlieferungen der Partei schlechthin unvereinbar sind, alles
das und manches andre ist nicht geeignet, ihnen neue Anhänger zuzuführen.
Die Überzeugung, daß sie schon seit einer Reihe von Jahren in erster Linie für
die obern Zehntausend arbeiten, hat sich weiter Kreise bemächtigt, in denen
sie vor Zeiten ihre Freunde suchten und fanden.
Es ist bekannt, daß bei den Nationalliberalen gegenwärtig, was während
der Jugendblüte der Partei nicht der Fall war, die Großindustrie und das
Großkapital den Ton angeben. Die parlamentarische Thätigkeit ist von pluto-
kratischem Geiste erfüllt; kein Wunder also, daß nicht allein die niedern Volks¬
klassen von ihr abgefallen sind, sondern auch der Mittelstand ihr den Rücken
zuzukehren beginnt. Die Intelligenzen des Mittelstands, die früher wesentlich
die Vertretung der Partei ausmachten, Gelehrte, Richter und andre Juristen,
Gutsbesitzer. Fabrikanten und Kaufleute des Mittelstands, die sonst mit Eifer
die Parteiinteressen wahrnahmen, ihren Einfluß auf Programm und Taktik
geltend machten und auf die Haltung der Presse wirkten, spielen keine ma߬
gebende Rolle mehr in der Partei; viele von ihnen haben sich vom öffentlichen
Leben zurückgezogen und sind nur noch laue Mitgänger der Partei. Der Ersatz
ist spärlich; für die Jugend haben die Nationalliberalen keine Anziehungskraft.
Anstatt der alten Herren aus dem Mittelstande, deren politische Erziehung der
Regel nach volksfreundlich gewesen war, und von denen viele eine demokratische
Vergangenheit hatten, die sie niemals ganz verleugneten, begannen die unter
der Herrschaft des Liberalismus, unter der liberalen Gesetzgebung satt ge-
wordnen Vertreter des Großgewerbes und des Großkapitals das entscheidende
Wort in der Partei zu führen. Diese hatten in der liberalen Ära allmählich
die Ansprüche, die ihre Interessen forderten, im wesentlichen befriedigt gesehen.
Ihnen genügte auch die mäßige Freiheit, die erlangt war und sür sie wenigstens
nicht auf dem Papiere stand, und gelegentliche Vorkommnisse, die mit dem
Rechtsstaate schlechterdings nicht zu vereinbaren waren, schädigten nicht sie,
sondern andre Kreise, an deren Emporkommen sie kein besondres Interesse
hatten. Der Ausbildung des Rechtsstaats, an dem noch so vieles fehlt, standen
sie ebenso gleichgiltig gegenüber wie manchen wichtigen Forderungen der poli¬
tischen Gerechtigkeit. Das Wirken dieser Elemente kann man an vielen gesetz¬
geberischen Arbeiten der letzten fünfzehn Jahre leicht erkennen und würdigen.
Es gab eine Zeit, wo die Hannoveraner in der Partei, namentlich in den
parlamentarischen Körperschaften, von großem Einfluß, oft von ausschlaggebender
Bedeutung waren. Diese Zeit ist lange vorüber. Die Zahl gescheiter Männer,
die geneigt wären, ein Mandat anzunehmen, hat sich bei den hannoverschen
Nationalliberalen gewaltig vermindert. Man ist dort schon feit mehreren Wahl¬
perioden in arger Verlegenheit um politisch gebildete Kandidaten. Es sind
ja in der Regel recht brave und in ihrem engern Horizonte nicht unverständige
Leute, die aufgestellt werden, aber selbst die glaubensstärksten Anhänger der
Partei werden nicht leugnen können, daß das Durchschnittsniveau ihrer gegen¬
wärtigen Abgeordneten tiefer steht als das der Abgeordneten aus der Blütezeit
des Nationalliberalismus. Das ist freilich eine Erscheinung, die dieser Partei
nicht eigentümlich ist, sondern auch bei andern zutrifft, z. B. bei den preußischen
Konservativen. Gewiß giebt es unter den Freunden der Nationalliberalen in
der Provinz Hannover noch manche, die auch höhern Ansprüchen als denen
der heutigen Lenker der hannoverschen Wahlen genügen würden, aber diese
Männer sind unter den jetzigen zerfcchrnen Verhältnissen innerhalb der Partei
für ein Mandat nicht zu gewinnen.
Seit Jahren segeln die hannoverschen Nationalliberalen in den Fraktionen
des Reichs- und Landtags teils bewußt, teils — was bezeichnend ist — un¬
bewußt im Fahrwasser einer großkapitalistischen Gruppe. Vom Rhein und von
Westfalen empfangen sie ihre Inspirationen, dort liegt der Schwerpunkt der
Partei und die treibende Kraft für ihre jeweilige Thätigkeit. Es scheint fast,
als ob sie sich mehr als der Teil der Partei, der in der „Nationalzeitung"
seine Vertretung findet, von der augenblicklichen Zweckmäßigkeit des pluto-
kratischen Standpunktes haben überzeugen lassen. Dafür finden sich Belege
sowohl auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiete. Der Stillstand der
sozialpolitischen Gesetzgebung ist ihnen herzlich willkommen, ihr Widerstand
gegen die Ausbildung und Ausbreitung des Koalitionsrechts der Arbeiter ist
bekannt. Ihre Haltung bei der kläglich gescheiterten Umsturzvorlage und bei
dem neckischen Vereinsgesetzentwurfe, bei dem sie fast eine macchiavellistische
Taktik verfolgten, ist noch unvergessen. Nicht minder sonderbar war ihre
Gegnerschaft bei den Anträgen zur Sicherstellung des Wahlgeheimnisses, und
ihre Presse, vor allem der „Hannöversche Kurier," tritt hin und wieder mehr
oder weniger schüchtern, je nachdem der Wind weht, für Umgestaltungen und
Einschränkungen des allgemeinen und geheimen Stimmrechts ein; dagegen
geschieht von ihrer Seite nichts, um eine politisch gerechte Reform des von
allen Seiten verdammten preußischen Dreiklassenwahlrechts in die Wege zu
leiten. Die drei von der Regierung sehr milde rektifizirten Hildesheimischeu
Landräte, die neuerdings in einem Wahlaufrufe auf die großkapitalistischen und
einseitig industriellen Tendenzen der Nationalliberalen aufmerksam machten,
hatten sachlich keineswegs Unrecht.
Durch die ganze Partei, nicht zum wenigsten bei ihrem hannoverschen
Teile, geht seit Jahren ein matter, müder Zug. Überall Lauheit, keine Initiative,
oder diese höchstens in untergeordneten Fragen, desto mehr politisches „An-
empfinder." Unter allen Nationalliberalen, zumal unter den hannoverschen,
giebt es heute niemand mehr, der unter den jetzigen Verhältnissen die Partei
einer bessern Zukunft entgegenführen konnte. Herr von Bennigsen ist ein Greis,
dessen parlamentarische Thätigkeit abgeschlossen ist. Aber auch er würde nicht
helfen können, denn gerade in ihm sind die wesentlichen Schwächen der Partei
verkörpert. Ihm fehlt die Festigkeit, die Entschlossenheit, die Widerstandskraft
gegen andre, selbst sür verfehlt erkannte Meinungen. In den letzten Jahren
war seine Führerschaft nur äußerlich; die geistige Führerschaft hatte er längst
einem Konsortium von großen Arbeitgebern überlassen.
Unser oben ausgesprochner Gedanke von dem Mangel an werdender Kraft
gilt mehr oder minder von dem gesamten Liberalismus, insbesondre von dem
Parlamentsliberalismus. Es sehlt ihm häufig das Verständnis für die Schwin¬
gungen der Volksseele. Die mit den heutigen Zuständen unzufriednen Volksteile
von rechts und links strömen nicht mehr den liberalen Fähnlein zu, sie suchen
in immer größerer Anzahl bei neuen Parteigruppirungen Halt. Das haben
in den letzten Jahren auch die Nationalliberalen in der Provinz Hannover
erfahren. Dort hat namentlich die Entwicklung der agrarischen Bewegung die
ganze innere Schwäche und Haltlosigkeit des Liberalismus offenbart.
Die hannoversche Spielart des Nationalliberalismus hat sich durch ein
besondres Vermögen, die träge Menge, einen großen Bestandteil der nieder-
sächsischen Bevölkerung, ihren Bestrebungen und Ansichten dienstbar zu
machen, niemals ausgezeichnet, uoch weniger verstand sie es, die ihr wider¬
strebenden Volksteile zu sich herüberzuziehen. Was man vor allem und von
vornherein von den Nationalliberalen erwartete, nämlich die allmähliche Ver¬
nichtung der Welfeupartei, das ist auch nicht im entferntesten erreicht worden.
Die Welfeupartei steht heute — es ist traurig, das bekennen zu müssen —
in gesicherterer und festerer Stellung da als die Nationalliberalen selbst. Die
großen Hoffnungen insbesondre, die man außerhalb Hannovers an gewissen
Stellen auf die Versöhnungskraft des Oberpräsidiums von Bennigsen setzte,
haben sich nicht erfüllt. Fernerstehende mögen sich die Thatsache, daß heute
die Welsen in kaum schwächerer Ziffer zur Wahlurne schreiten als in den ersten
Jahren nach der Einverleibung des Königreichs, um so weniger erklären, als
die Anhänger der abgesetzten Dynastie, die vermöge ihres persönlichen Einflusses
unter der Bevölkerung noch in den siebziger Jahren die Massen um sich scharten,
jetzt sämtlich gestorben oder wenigstens von der Schaubühne des öffentlichen
Lebens abgetreten sind, und als der erträumte ro^ keineswegs zu den Männern
gehört, die durch ihre Persönlichkeit und durch die Art ihres Auftretens die
Meuge zu bezaubern verstehen. Der Satz von der Wiederherstellung des
Königreichs Hannover, der noch immer auf dem Programm der deutsch-han-
noverschen Partei prunkt, ist denn auch bei der europäischen Lage, wie die
welfischen Politiker wohl wissen, nichts andres mehr als eine historische Ver¬
zierung. Das wesentliche Kennzeichen der Partei ist seit langem die Preußen-,
mindestens die Regierungsfeindlich^. Unter diesem Zeichen sammeln sich die
oppositionellen Geister, soweit sie nicht der Sozialdemokrcitie zulaufen, in vielen
Gegenden der Provinz unter welsischer Fahne., Viele von denen, die in andern
Provinzen des Staates mit einer freisinnigen oder demokratischen Partei gehen
würden, gehen hier immer noch mit den Welsen, unbekümmert darum, daß die
führende» Kreise dort einer Aristokratie angehören, die exklusiver, freilich auch
liebenswürdiger ist als die dem Niedersachsen antipathische Juukersippe in Ost-
elbien. Die alte Fortschrittspartei und der neuere Freisinn haben daher aller
Mühen ungeachtet unter den Autochthonen der Provinz bis ans den heutigen
Tag nicht recht Fuß fassen können und sind, abgesehen von dem einen Wahl¬
kreise, weder den Welsen noch den Nationalliberalen gefährlich geworden. Erst
in neuester Zeit scheint der Rickertsche Freisinn beiden Parteien in einigen
Gegenden Abbruch zu thun. Übrigens ist die welfische Parteileitung keines¬
wegs ungeschickt, sie hat von den Taktikern des Zentrums gelernt und ist heute
gescheiter als die uationalliberalc Leitung in der Provinz; der welfische Adel
ist in der harten Schule der letzten dreißig Jahre in gewisser Weise volks¬
freundlich geworden und hat dadurch eine Popularität erlangt, die ihm in
den Zeiten seiner Herrschaft abging, und um die ihn die uativnalliberalen Ton¬
angeber von heute beneiden.
Gegen zwei Strömungen haben sich in neuerer Zeit die beiden alten Parteien
im Hannoverschen ganz besonders zu Mehrer, gegen die Sozialdemokratin?
und gegen den Bund der Landwirte. Die Sozialdemokraten sind, wie überall,
in den arbeiterreichen Gegenden gefährliche Gegner gegen alle bürgerlichen Par¬
teien, sie haben den Welsen unmittelbar vielleicht größern Schaden zugefügt
als den Liberalen, indem ein Teil der niedern Bevölkerung, der jahrzehntelang
den Welsen folgte, neuerdings die Zahl ihrer Mitgänger vermehrt hat, mittelbar
aber sind sie nicht selten für jene von großem Vorteil gewesen, indem sie den
welfischen Kandidaten gegen den nationalliberalen mit Erfolg unterstützten.
Zwischen Nationalliberalen und Sozialdemokraten giebt es keine Verständigung,
sie sind und müssen geschworne Feinde sein, und es ist daher für die Liberalen
recht schlimm, daß der sozialdemokratische Anhang, der noch immer im Wachsen
ist, bei den Stichwahlen häufiger als je von ausschlaggebender Bedeutung zu
werden droht.
Aber die Sozialdemokratie ist es nicht, die Heuer den alten Parteien den
heftigsten Kummer macht. Am meisten bedroht werden sie durch den Bund
der Landwirte, der hier erst vor kurzem in einer namentlich die National-
liberalen beunruhigenden Gestalt auf den politischen Plan getreten ist. Schon
vor der Gründung dieses Bundes freilich gab es in der Provinz Hannover
starke agrarische Strömungen, die zuweilen bei Aufstellung vou Wahlkandida¬
turen auch innerhalb der nationalliberalen Partei hervortraten und einen ge¬
wisse,: Gegensatz zwischen Stadt und Land feststellten. Gar nicht selten mußte
ein Wahlkomitee den vorgeschlagnen Kandidaten fallen lassen, weil die länd¬
lichen Wühler mehr Gewicht darauf legten, daß der Abgeordnete ein Landwirt
als ein politisch gebildeter und erfahrner Mann sei. Bei der Welfenpartei
machten sich solche MißHelligkeiten nicht geltend, weil ihr Programm von
vornherein mit Rücksicht auf die große Menge ihrer ländlichen Anhänger
agrarisch gefärbt war und in dieser Richtung im Laufe der Zeit eine Ände¬
rung nicht erlitten hatte. Die Welfenpartei wird daher, so sehr sich auch
einige ihrer Führer gesträubt haben, dem neuen wirtschaftlichen Bunde beizu¬
treten, in ihrem Bestände längst nicht so gestört werden wie die National-
liberalen, die bis zum verflossenen Jahre das Auftreten des Bundes in der
Provinz durch ihre Presse scharf bekämpfen ließen und jetzt, wo ihnen die
Augen ganz aufgegangen sind, die einheimischen Stimmführer des Bundes
in das Land wünschen, wo der Pfeffer wächst. Die welfischen Mitglieder des
Bundes denken nicht daran, ihre Zugehörigkeit zur deutsch-hannoverschen
Partei aufzugeben, und diese Partei ist in dem dreißigjährigen Kriege zu ge¬
festigt, um den mit ihrem Programm etwa unvereinbarer politischen Forde¬
rungen des Bundes der Landwirte zu weichen.
Die Mitglieder des Bundes der Landwirte im Hannoverschen sind nament¬
lich in den Gegenden zahlreich, wo von einer wirklichen Notlage der Land¬
wirtschaft kaum die Rede sein kann, in Gegenden, wo die Landwirte im Gegen-
senza zu frühern Zeiten infolge intensiver Wirtschaft, Rübenbau, Viehzucht ganz
erkleckliche Einkünfte aus ihrem Besitze ziehen. Nicht die Kleinbesitzer, nicht
die Leute, die auf dürftigem Boden sitzen, nicht die zufriedner Lüneburger und
Osnabrücker, sondern die Großbauern, die Ökonomen, die Gutsbesitzer in den
Marschen, im Hildesheimischen, an der Weser, am Nordrande des Harzes
wurden die leidenschaftlichsten Gefolgsmänner der agrarischen Obern, und sie
besonders, die bislang zumeist den Nntiomlliberalen Heeresfolge geleistet
hatten, traten als Wortführer für die Satzungen des Bundes kräftig ein. Nur
dem Antrage Kcmitz und der auf Einführung der Doppelwährung gerichteten Be¬
wegung Beifall zu zollen, konnten sich die hannoverschen Mitglieder anfangs
(1893) nicht entschließen, jetzt sind sie indes in großer Mehrzahl — dank dem
unermüdlichen Dr. Hahn und dessen Gehilfen — zu Anhängern auch dieser
Punkte bekehrt worden. Von der nationalliberalen Parteipresfe im Hanno¬
verschen wurde der Bund bei seiner Gründung und später, solange man meinte,
daß er an höchster Stelle mit dauernder Ungnade bedacht sei, heftig befehdet,
man bekämpfte alle oder doch die meisten Sätze seines Programms und warnte
»nablässig vor seinen Werbungen. Diese Taktik änderte sich erst, als man
— spät genug! — einsah, daß der Bund stärker und zäher war als die Re¬
gierung, geschweige denn als die Nationallibcralen selbst. In die Zeit vor
dieser Einsicht fielen die Konflikte der nationalliberalen Fraktion mit dem
Dr. Hahn, dem jetzigen rührigen Leiter des Bundes, die mit seinem Austritte
ans der Fraktion endeten. Seitdem war grimmige Feindschaft zwischen diesem
Agrarier und den nationalliberalen Führern. Mit aller Macht, mit allen
Waffen wurde seine Agitation für den Bund von der liberalen Provinzpresse
bekämpft, und man gab sich hier zeitweilig dem Glauben hin, den Feind
politisch vernichtet zu haben — ein schwerer Irrtum, der darlegte, wie sehr
man in den nationalliberalen Kreisen die Strömungen im eignen Lager und
die Energie und Umsicht des Gegners unterschätzte.
Im verflossenen Jahre, als die Fortschritte des Bundes nicht mehr weg-
disputirt werden konnten, machten die hannoverschen Leiter der Nationallibe¬
ralen den Versuch, sich mit dem Bunde für die künftigen Wahlen zu ver¬
binden; der Versuch scheiterte jedoch, da die ihrer Stärke sich bewußte Buudes-
leitung zu keinen wesentlichen Zugeständnissen geneigt und namentlich nicht
zu bewegen war, irgend einen Punkt ihres Programms zeitweilig in den
Hintergrund zu stelle». Eine Einigung auf Grund der echt nationalliberalcn
Kompromißvorschläge konnte vernünftigerweise umso weniger erwartet werden,
als die liberale hannoversche Presse, schlecht unterrichtet über die innern Ver¬
hältnisse des Bundes, jede Gelegenheit wahrnahm, um die Bundesleitung,
namentlich den Dr. Hahn, in den Augen der hannöverschen Anhänger des
Bundes zu diskreditiren, eine Taktik, die bei der einflußreichen Stellung,
die sich or. Hahn schon erobert hatte, von keinerlei Erfolg begleitet war.
Heute ist Dr. Hahn auf dem platten Lande Herr der Lage, der die matten
Rückzugsgefechte seiner Gegner kaum beachtet. Er schaltet fast wie ein Sou¬
verän, er bestimmt die Kandidaten für die ländlichen Wahlkreise — und die
meisten Kreise sind ländlich —, ohne sich um die ciltweiberhaften Klagen des
Hannoverschen Kuriers und der übrigen nationalliberalen Presse zu kümmern.
Er ist recht hart, dieser Dr. Hahn, und ihn rührt weder das Gezeter über
„Einbrüche" noch der abgestandne Hinweis auf die mittelbare Begünstigung
sozialdemokratischer Wahlsiege. Er hat nichts dagegen, daß sich der eine oder
der andre seiner Kandidaten vorläufig äußerlich der natioualliberalen Fraktion
anschließt, aber er hält streng darauf, daß jeder Kandidat in erster Linie
sicherer Gefolgsmann des Bundes ist und auf das agrarische Programm ver¬
pflichtet wird, das in allen Punkten bislang — wohlverstanden: bislang —
von den Nationalliberalen bekämpft wurde. Unter diesen Bedingungen nimmt
er die Leute an, die ihm aus dem Lager der Natioualliberalen zur Prüfung
und Bestätigung ihrer Kandidaturen zugeführt werden. Es war ergötzlich zu
scheu, wie die nationalliberalen Wahlkomitees, eins nach dem andern, teils
unter lauten Wehklagen, teils in dumpfer Resignation vor ihrem Besieger zu¬
sammenbräche». Sie waren schwach und würdelos genug, ihren eignen — nach
ihrer Meinung bewährten — Kandidaten sofort fallen zu lassen, sobald die
Buudesleitung dessen Aufstellung mißbilligte und statt seiner einen der
ihrigen aufstellte, wenn dieser nur die unverbindliche Erklärung abgab, daß er
„politisch" auf nationalliberalem oder auch nur auf „nationalem" Boden stehe.
Sie sind so genügsam geworden, daß sie es schou als einen Erfolg ihrer
Partei ansehen, wenn die so vom Bunde abgestempelten Personen als Sieger
aus der Wahlurne hervorgehen. Erst ganz vor kurzem haben sich in einem
Wahlkreise (Hameln-Springe) die Nationalliberalen der Leitung zum Trotze auf
ihre Vergangenheit besonnen und den Kandidaten des Bundes abgestoßen, den sich
ihre Führer in Hannover schon achselzuckend hatten gefallen lassen. Dieser Vor¬
gang hat den Mut der Natioualliberalen auch in andern Gegenden wieder einiger¬
maßen belebt und zur Nacheiferung angereizt. Jedoch kommt diese Ernennung
gegenüber der vorgeschrittucu Wahlbeweguug allem Anschein nach zu spät.
Die ganze Wahltaktik der Personen, die durch ein widriges Geschick Leiter
der nationalliberalen Sache im Hannoverschen geworden sind, läuft zur Zeit
darauf hinaus, die Partei äußerlich zusammenzuhalten, möglichst wenig Ein¬
bußen an Zahl zu erleiden und fremdartigen Elementen ihre Firma zur Ver¬
fügung zu stellen, unbekümmert um die innere Festigkeit der Partei und ohne
Sorge darum, daß durch solche Taktik die Auflösung der Partei besonders
gefördert wird. Die Natioualliberalen trösten sich damit, daß der Bund der
Landwirte eine wirtschaftliche Partei ist, und daß er für politische Fragen, die
mit wirtschaftlichen nicht zusammenhängen, seinen Mitgliedern keine Verpflich¬
tungen auferlegt — aber war nicht das Zentrum ursprünglich auch eine rein
kirchliche Partei, das seinen Mitgliedern in nichtkirchlichen politischen Fragen
freie Hand ließ, und ist es jetzt nicht eine eminent politische Partei geworden?
Ebenso wird es nur eine Frage der Zeit sein, daß der Bund der Landwirte
— wenn anders sich seine Verhältnisse weiter günstig gestalten — seine Aktion
über das wirtschaftliche Gebiet ausdehnt; indem er Stellung nimmt zu den
politischen Fragen, verstärkt er seinen Einfluß und seine Macht in wirtschaft¬
lichen Dingen. Die Segnungen der Äo ut des-Politik werden ihm schon jetzt
nicht entgangen sein.
Sehr viel versprachen sich die Nationalliberalen von der „Politik der
Sammlung." Sie stürzten sich mit Heißhunger auf diese Phrase, indem sie
darin die ersehnte Wahlparole zu finden vermeinten. Aber es zeigte sich bald,
daß jede Partei das Wort in ihren: Interesse deutete und die Deutung der
andern verwarf, und es zeigte vor allem niemand Neigung, sich um die
Nationalliberaleu zu sammeln. Die letztern hofften vergeblich darauf, daß das
Gelegenheitswort des Herrn von Miqnel ihnen zu ebenso glücklichen Erfolgen
verhelfen werde, wie im Jahre 1887 das Kartell. Ihre Bundesgenossen von
damals jedoch sind in ihrem eignen Besitzstände so gefährdet, daß sie selbst als
hilfsbedürftig erscheinen.
Einer der Hanptvorwürfe, die den hannöverschen Nationalliberalen gemacht
werden müssen, ist die Lässigkeit. Eine politische Partei, die sich ans der Höhe
erhalten will, darf nicht feiern. Man vermehrt die Zahl seiner Anhänger nicht,
man verliert die Einwirkung auf die Massen, wenn man sich unmittelbar nach
Schluß der Wahlen zum Schlafe niederlegt und erst unmittelbar vor deu Neu¬
wahlen wieder aufwacht. Die Pflege der Vereinsthätigkeit wird von den
hannoverschen Nationalliberalen von Jahr zu Jahr mehr vernachlässigt, ihre
Fühlung mit dem kleinen Manne ist von Jahr zu Jahr schwächer geworden. Ihre
Organisation auf dem platten Lande ist dürftig. Was Wunder also, zumal
bei ihrer verschwommnen Stellung zu den Mittelstands- und Handwerker¬
fragen, bei ihrem unklaren Hin- und Herschwanken in den wichtigsten Angelegen¬
heiten, bei der Bereitwilligkeit, mit der ihre Presse manche die Empfindlichkeit des
Volkes reizenden Ungerechtigkeiten im „Rechtsstaate" beschönigt oder darüber hin¬
weggeht — was Wunder, daß nicht allein auf dem Lande, sondern auch in den
Städten sich viele ihrer ehemaligen Anhänger von ihnen abgewandt haben!
Immerhin werden sich die als schlechte Propheten erweisen, die dem National¬
liberalismus in dieser seiner frühern Hochburg ein schleuniges Ende weissagen.
So schnell, wie die Feinde der Partei meinen, löst sich eine politische Genossen¬
schaft nicht auf. Man muß erwägen, daß die mittlere Linie, auf der sich die
Nationalliberalen im großen und ganzen zu bewegen und zu halte» suchen,
gerade in den Volksgruppen noch immer ihre Anhänger hat, die eine zahl¬
reiche, politisch ziemlich gleichgiltige und daher bei Wahlen von ihren Führern
wohl zu benutzende Gefolgschaft hinter sich haben, und daß namentlich dort,
wo der alte Gegensatz zwischen den Nationalliberalen und den Welsen das Feld
beherrscht, oder dort, wo es gilt, die Gefahr eines sozialdemokratischen Wahl¬
steges zu verhindern, sich die große Mehrzahl der reichstreuen Wühler aller-
wärts noch um die Nativualliberaleu gruppirt, so sehr auch deren Verhalten
im einzelnen gemißbilligt wird. Gegenwärtig ist ihre innere Organisation
noch immer besser als die der jüngern Parteien, die im Hannoverschen
die Erbschaft des Nationalliberalismus antreten wollen, z. B. die der Anti¬
semiten und der Nationalsozialen, Aber freilich als eine „Hochburg" der
Nationalliberalen wird die Provinz Hannover nach den nächsten Wahlen nicht
mehr gelten können.
le Schwierigkeiten, die einer zweckmäßigen Umgestaltung unsers
veralteten Stipendicnwesens an den Universitäten im Wege stehen,
sind überaus groß, und nach den bisherigen Erfahrungen möchte
man fast dazu kommen, sie wirklich für unüberwindlich zu halten.
Wenn mau uun aber auf Grund reichhaltiger praktischer Erfahrung
die Überzeugung gewonnen hat, daß bei der gegenwärtigen Einrichtung der
Nutzen auch nicht entfernt im richtigen Verhältnisse zu den aufgewandten
riesigen Mitteln steht, ja daß vielfach durch Verleihung von almosenhaft kleinen
Stipendienbeträgen thatsächlich nur Schaden gestiftet, demoralisirend auf manche
jungen Leute eingewirkt wird, dann darf man sich nicht die Mühe verdrießen
lassen, immer und immer wieder auf diese Frage zurückzukommen. Indem
wir dies hier thun, liegt uns hente vor allem daran, auch gleichzeitig Vor¬
schlüge zu machen, die sich auch ohne prinzipielle Umänderung des Stipendien¬
wesens im allgemeinen wohl durchführen, jedenfalls in bescheidnen Umfange
einmal praktisch versuchen ließen.
Die Mängel unsrer Stipendieneinrichtuug lassen sich im großen und ganzen
auf zwei Punkte zurückführen: wir haben eine zu formalistische Behandlung
der Stipendienverleihung auf der eine» und eine viel zu große Zersplitterung
der zur Verfügung stehenden Mittel auf der andern Seite.
Der erste Umstand beruht zum großen Teile auf der unvernünftigen Ge¬
staltung zahlreicher Stipendienstiftungen selbst; denn bei der Auswahl der vorzugs¬
weise oder ausschließlich zu berücksichtigenden Bewerber sind oft so viele Einzel¬
bedingungen (Heimat, Konfession, Berufstellnng der Eltern, spezielle Studien usw.)
zu berücksichtigen, daß die betreffenden Kommissionen froh sein müssen, wenn sie
überhaupt Bewerber haben, bei denen diese formalen Bedingungen zutreffen.
Ob sich bei entsprechender Entschlossenheit der Negierung hierin nicht Wandel
schaffen ließe, wollen wir vorerst nicht weiter erörtern; wohl aber muß mit
lebhaftem Bedauern festgestellt werden, daß Stipendienstiftungen mit solchen
Vcrklausulirnngen, die von vornherein jedes nützliche Wirken der Stiftung in
Zweifel stellen, auch heutzutage noch begründet und von den Verwaltungen
angenommen werden. Wo keine solchen Hindernisse im Wege stehen, scheint
es an unsern Universitäten in der neusten Zeit doch wesentlich besser geworden
zu sein; im allgemeinen legt man jetzt der Prüfung der Studienerfvlge
gegenüber der bloßen Bedürftigkeit der Bewerber doch wohl die größere Be¬
deutung bei. Namentlich hat die Gepflogenheit, den Bewerbern um Stipendien
die Verpflichtung zur Ablegung einer besondern Stipendienprüfung aufzuerlegen,
bedeutend um sich gegriffen, was gegenüber den bloßen „Fleißzengnissen"
immer schon ein großer Fortschritt ist. Und soweit man diese noch gelten läßt,
werden sie doch immer ernsthafter und weniger formalistisch behandelt. Aber
anch bei der gewissenhaftesten und völlig individuellen Behandlung wird der
wesentlich formalistische Charakter nicht verschwinden: der Dozent wird im
allgemeinen immer nur die Frage prüfen können, ob ein Student an seiner
Vorlesung regelmüßig teilgenommen oder sie in der Regel „geschwänzt" hat,
die Frage des wirklichen Studienfleißes (der doch mit bloßer körperlicher Präsenz
bei der Vorlesung noch lange nicht zusammentrifft) und der Studienerfolge
kommt uicht weiter in Betracht. Die allgemeine Durchführung des Grund¬
satzes, ohne Prüfung keine Stipendien zu verleihen, müßte unsers Erachtens
der nächste Schritt in der ganzen Entwicklung des Stipendienwesens sein; dabei
würden zwar große, aber nicht unberechtigte und unmögliche Anforderungen an die
Mitwirkung der Dozenten gestellt. Endlich muß bezüglich der formalistischen
Behandlung noch etwas immer und immer wieder betont werden: die vielfach
bestehende und von den Behörden immer mit bureaukratischer Gewissenhaftigkeit,
ohne besondre Prüfung des einzelnen Falles (die ihnen meistens auch gar uicht
möglich ist) durchgeführte Bestimmung, daß ein Stipendium bei dein Wechsel
des Studienfaches im vollen Betrage zurückzuzahlen ist. Diese Bestimmung
gehört zu den nichtsnutzigsten Einrichtungen, die man sich denken kann. Sie
Hütte einen Sinn, wenn ein solcher Studienwechsel jederzeit ein Zeichen von
wirklichem Unfleiß oder von Liederlichkeit wäre — aber gerade in diesen Fällen
wird man von den betroffnen „verbummelten" Existenzen trotz aller Schreiberei
doch nichts bekommen, während die aus innerm Trieb aus wahrer Neigung
in einen andern Beruf übergehenden oft lange Jahre unnötigerweise mit amt¬
lichen Recherchen und Zahlungsaufforderungen gepeinigt und manchmal direkt
unglücklich gemacht werden.
Was die bedauerliche Zersplitterung der Stipendienbeträge betrifft, scheint
leider bis auf den heutigen Tag keine Besserung zu verzeichnen zu sein. Sogar
in Preußen ist offenbar die vor sieben Jahren ergangne Ministerialverfügung,
wonach die Stipendien fortan im Sommer nicht mehr unter 120 und im
Winter nicht mehr unter 180 Mark betragen sollten (ohnehin noch zu niedrig
gegriffne Beträge!), in der Praxis völlig ohne Wirkung geblieben. Nach der
Verfügung des preußischen Kultusministers sollte bei dieser Neuregelung des
Stipendienwesens für die ersten drei Jahre in den Ausnahmen, die mit Ge¬
nehmigung des Kuratoriums möglich sind, mit besondrer Milde Verfahren
werden. Diese drei Übergangsjahre sind mit Ostern 1894 zu Ende gegangen.
Nun behandelt der neuste Band der „Statistik der preußischen Landesuniver-
sitüten" die Zeit vom Herbst 1892 bis Ostern 1895, also sowohl die Über¬
gangsjahre wie auch zwei weitere Semester, wo sich das neue System der
Stipendienverleihung in voller Kraft äußern müßte. Obwohl nnn dieses
amtliche Quelleuwerk unglaublicherweise die Stipendien und Freitische zusammen¬
wirft, also die Gewinnung eines zutreffenden Bildes von dem Stipendien¬
wesen für sich allein unmöglich macht, ist doch mindestens so viel zweifellos,
daß die Ministerialverfügung sowohl in den Übergangsjahren wie auch in den
beiden Semestern darnach in der Praxis überhaupt nicht beobachtet worden
ist — eine Erscheinung, die gerade in Preußen überaus sonderbar anmutet.
In deu erwähnten fünf Semestern vom Herbst 1892 bis Ostern 1895 haben
1669, 1248, 1669. 1262 und 1704 Empfänger gleich 60, 49, 62, 48 und
63 Prozent der Empfänger überhaupt Stipendien in geringerm Maße als dem
in der Ministerialverfügung festgesetzten Minimalbetrage bekommen. Und die
Summen, die man auch in diesen fünf Semestern noch in so winzigen Beträgen
— man mochte wirklich fast sagen, verschleudert hat, belaufen sich auf nicht
weniger als 157040, 89288, 156562, 90644 und 163047 Mark, was 34,
24, 33, 20 und 34 Prozent der Gesamtausgaben, für Stipendien und Freitische
zusammen, ausmacht. Dieses unerquickliche Bild verändert sich noch weiter
zu seinen Ungunsten, sobald man nur einige ins einzelne gehende Berechnungen
anstellt. An einer andern Stelle des erwähnten amtlichen Quellcnwerks wird
der Geldwert der gewährten Freitische auf 71382. 64478, 72674. 67110 und
72014 Mark angegeben. Mit wenig Ausnahmen werden nnn zweifellos die
Freitische gerade an solche Stipendiaten gegeben worden sein, die nur kleinere
Stipendien beziehen. Man kann also wohl ohne großen Fehler den auf
diese Freitische entfallenden Betrag bei unsern obigen Summen in Abzug
bringen, um im großen und ganzen ungefähr den Stipendienbetrag zu er¬
mitteln, der in Wirklichkeit auf diese Empfänger der kleinern Stipenden ge¬
troffen haben mag. Thut man dies, dann berechnet sich für diese Kategorie
der Stipendiaten in deu Wintersemestern ein Durchschnitt der bezvgnen Sti¬
pendien von 50 bis 53, in den beiden Sommersemestern ein solcher von rund
20 Mark! Daß dieser lächerliche Durchschnitt aber wohl ein zutreffendes Bild
der wirklichen Sachlage giebt, entnehmen wir der Thatsache, mit der wir
diese statistischen Angaben abschließen wollen: die Zahl solcher Stipendiaten, die
an Stipendien und Freitischen zusammen höchstens 50 Mark (!) in den erwähnten
fünf Semestern bezogen haben, betrug nach unserm amtlichen Quellenwerke
311, 343, 298, 361 und 302, und die Gesamtbeträge, die auf diese Stipen¬
diaten verwandt worden sind, beliefen sich auf 12251, 12878, 11719,
13927 und 11934 Mark!
Obgleich wir bei diesen Feststellungen durch die in diesem Punkte nicht
glückliche Einrichtung des Quellenmaterials auf eine völlige Genauigkeit von
vornherein verzichten müssen, so genügen die vorstehenden Angaben ohne
Zweifel, die Meinung, daß hinsichtlich der Zersplitterung der Stipendien¬
beträge keine wesentliche Besserung zu verzeichnen ist, zu bestätigen. Nun
wird es aber jedem, der mit den studentischen Verhältnissen nur einiger¬
maßen vertraut ist, nicht schwer fallen, sich in die Lage eines Studenten
hineinzudenken, der ans eine nachhaltige Unterstützung gerechnet hat, in Wirk¬
lichkeit aber mit ein paar Mark, das heißt mit einem geringfügigen Almosen
abgespeist wird. Wir müssen gestehen, wir haben uns in einer ganzen Reihe
von Fällen, die wir aus nächster Nähe beobachten konnten, wahrlich nicht
gewundert, daß dieses sogenannte Stipendium alsbald verkneipt worden ist.
Wie nun aber auf diesem schwierigen Boden zu einer nachhaltigen Besse¬
rung gelangen?
1. Für sehr wünschenswert halten wir es, daß die Kultusministerien der
mit Universitäten ausgestatteten Bundesstaaten ihre Universitäten veranlassen,
sich einmal ausführlich über die Erfahrungen, die innerhalb der Universitüts-
kreise mit dem bisherigen Verfahren der Stipendienverleihung gemacht worden
sind, gutachtlich zu äußern. Man stellt ja heutzutage derartige Erhebungen über
die unglaublichsten Verhältnisse an, warum nicht einmal über die wichtige
Frage, die uns hier beschäftigt?
2. Ohne weiteres müßte überall der Grundsatz festgehalten oder — was
zumeist wohl der Fall wäre — neu eingeführt werden, daß Stipendienstiftnngen
uur unter der Voraussetzung angenommen werden, daß keinerlei beschränkende
Bedingungen (abgesehen einzig und allein von der nicht abzulehnenden Be¬
vorzugung von Bewerbern, die aus der betreffenden Familie stammen) die
ersprießliche Verwendung der Stiftungserträge von vornherein in Frage stellen.
3. Durchaus angezeigt wäre es, die an den meisten Hochschulen oder
sonstwo zu deren Gunsten bestehenden ältern Stiftungen daraufhin sorgfältig zu
Prüfen, ob deren Satzungen mit den heutigen Verhältnissen noch im Ein¬
klange stehen. Sache der Ministerien wäre es dann, für gewisse von diesen
Bestimmungen zu erklären, daß ihre Voraussetzungen nicht mehr bestünden,
und daß sie deshalb als gegenstandslos und hinfällig zu betrachten seien.
Selbst wenn man in dieser Hinsicht mit der größten Vorsicht vorgehen würde,
könnten doch manche unerquicklichen Erscheinungen, die große Schwierigkeiten
verursachen, beseitigt werden.
4. Einer speziellen Prüfung müßten alle Bestimmungen unterzogen werden,
die sich auf die bedingte Zurückzahlung empfangner Stipendien beziehen. Unsers
Erachtens dürfte eine solche Zurückzahlung immer nur eine Art von Strafe
für Verbummlung sein. Wie weit freilich in solchen Fällen die Versuche,
eine, derartige Rückzahlung zu verwirklichen, in der Praxis Erfolg haben
dürften, wird sehr fraglich sein. Jedenfalls müßte aber dafür gesorgt werden,
daß die Rückzahlung von Stipendien nicht ein Hindernis sür einen tüchtigen
jungen Mann wird, sich auf einem seiner innern Neigung und seiner Be¬
gabung entsprechenden Gebiete möglichst bald eine auskömmliche Existenz zu
gründen.
5. Mit den bloßen Fleißzeugnissen müßte, wie schon ausgeführt worden
ist, grundsätzlich gebrochen werden. Die Stipendiatcnprllfungen müßten all¬
gemein eingeführt werden. Dabei wäre selbstverständliche Voraussetzung, daß
unter gewissen Umständen die Prüfung durch eine entsprechende andre Leistung
ersetzt werden könnte. Wir denken hierbei namentlich an die wissenschaftlichen
Seminarien, die ja schon ziemlich überall als gleichwertige Unterrichtsanstalten
an die Seite der Vorlesungen getreten sind, oder an die praktischen Übungen
bei den Medizinern und Naturwissenschaften!. Das Zeugnis eines Seminar¬
direktors über schriftliche oder mündliche Leistungen eines Seminarmitglieds
ist ganz selbstverständlich mindestens gleichwertig mit dem Ausfall einer kurzeu
mündlichen Prüfung.
6. Gerade dieser Punkt des Seminarwesens führt uns dann zu einer
Forderung, die uns ganz besonders einer eingehenden Erwägung würdig
erscheint. Gegenwärtig werden die Stipendien unsers Wissens überall zu
Anfang des Semesters vollständig verliehen. Nun kann aber ein Professor
in seinem Seminar oder in seinen praktischen Übungen die Begabung und die
Leistungen eines Studenten, der neu in das Seminar eintritt, zu Beginn des
Semesters in keiner Weise beurteilen, und oft handelt es sich dabei um einen
Bewerber, der sich je länger je mehr als einer ausgiebigen Förderung würdig
erweist. Wir meinen daher, die Universitäten würden viel besser daran thun,
ihre reichen Stipendienmittel nicht sofort in den ersten Wochen des Semesters
wegzugeben. Es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn etwa die Hälfte oder
doch ein bedeutender Teil dieser Mittel erst in der zweiten Hälfte oder gegell
Ende des Semesters verwandt würde, und zwar ausschließlich auf Vorschläge
der einzelnen Dozenten, die ganz unabhängig von allen formellen Fragen der
Bedürftigkeit usw. einzig und allein die tüchtigen Studienerfolge der Bewerber
zu beachten hätten. Damit wäre dann wenigstens sür diesen Teil der Stipendien¬
mittel in der besten Weise die Möglichkeit rein formalistischer Behandlung
aus der Welt geschafft und die Verleihung in die Hände der Persönlichkeiten
gelegt, die ausschließlich über die Würdigkeit als Sachverständige urteilen
können. Daß damit wieder eine recht beträchtliche Belastung der Professoren
herbeigeführt würde, ist uns natürlich vollständig klar; wir kennen aber die
Universitätsverhältnisse gut genug, um zu wissen, daß sich die betroffnen Kreise
mit verschwindenden Ausnahmen gern einer solchen Ehrenpflicht unterziehen
würden.
7. Endlich kommen wir noch zu einem Punkt, der zwar nicht formell,
wohl aber sachlich zum Gebiete der Stipendienfrage gehört, wir meinen die
Stundung der Vorlesungsgelder. Auch diese Stundung ist ja eingeführt als
ein Mittel, die Studirenden in materieller Hinsicht zu unterstützen, ihnen das
Studium zu erleichtern. Wir sind überzeugt, daß die guten Seiten des Stun¬
dungsverfahrens durch dessen Nachteile weit überwogen werden. Diese Ansicht
stützt sich auf die Erfahrung, daß in vielen Fällen mit dieser Stundung nur
ein Reiz auf die Studenten ausgeübt wird, möglichst viele Vorlesungen zu be¬
legen, ohne vorher zu überlegen, ob es möglich sein werde, allen mit Nutzen
zu folgen. Ans diese Weise sammelt sich dann oft bei solchen Studenten eine
Schuld von so und so vielen hundert Mark an (wir kennen zahlreiche Fälle,
in denen es sich schließlich um 600 bis 800 Mark gehandelt hat). Kaum ist
um der Betreffende in das praktische Leben eingetreten, kaum ist ihm ein
kärglich bezahltes Ämtchen übertragen worden, so beginnen die Nachforschungen
der Kasfenverwaltuug, ob er noch nicht in der Lage sei, seine Schuld nach
und nach abzutragen. Wir kennen Fülle aus philologischen Kreisen, wo sich
die bedenklichsten finanziellen Verhältnisse in Lehrerfamilien zuletzt auf solche
Honorarstundung zurückführen ließen. Für die Professorenwelt aber müßte
unsers Erachtens allein schon die unbestreitbare Thatsache, daß in der Stundung
für die Studenten ein Reiz zu leichtsinnigem Schuldenmachen liegt, Grund
genug fein, mit dieser verderblichen Maßregel endlich einmal aufzuräumen.
le preußischen und alle Werber blieben, auch nachdem sich die
Kriegsungewitter verzogen hatten, für den Vorsitzenden der hoch¬
fürstlichen Militärkommission eine unablässige Plage. Waren sie
nicht im Lande, so richteten sie sich an den Grenzen ein und
beunruhigten die Gemeindebehörden, wie die höhern Beamten der
Herzogtümer fortgesetzt mit Anforderungen und kleinen Übergriffen der ver¬
schiedensten Art. In Stadt-Ilm im Schwarzburgischen saßen die preußischen,
im kurmainzischen Erfurt die kaiserlichen Werber. Die Akten der Kriegs¬
kommission über den Verkehr mit fremdherrlichen Werbern spiegeln gewisse un¬
erfreuliche Seiten des damaligen Soldatenwesens deutlich genug.
Im Jahre 1780 stellt der zu Markt Ilm auf Werbung stehende königlich
Preußische Leutnant von Wolffsberg (des Regiments von Schwarz) das Gesuch
an Herzog Karl August, „daß die sich in hiesigen Ländern einfindenden
Vagabunden an ihn abgeliefert werden möchten." In feiner Supplik an den
Herzog, Stadt-Ilm am 14. August 1780, bezeichnet er Goethe als „Geheimer
Rath von Coethcn," zeigt sich überhaupt mit der Orthographie auf gespanntem
Fuße, wartet aber eifrig seines Dienstes und ist im Notfall bereit, statt mit
Vagabunden von zweifelhafter, mit Sträflingen von unzweifelhafter Vergangenheit
vorlieb zu nehmen. (Geheime Kanzleiakten. 173. Großherz. Se. - A.) Da
auch die „Regierungen" von Weimar und Eisenach „gegen die Überlieferung
von Züchtlingen nichts einzuwenden hatten," so wurden die Herzen der Werber
von Zeit zu Zeit mit Geschenken dieser Art erfreut. So gab man 1782 den
Züchtling H. Simon aus Ostheim an Herrn von Wolffsberg, im nächstfolgenden
Jahre den „im Zuchthause zu Eisenach sitzenden Vagabunden Johann Andreas
Bentziger aus dem Chursächsischen bürtig" an den königlich preußischen Ritt¬
meister von Goechhausen ab und widmete, um die Unparteilichkeit zu wahren,
den Züchtling Gottlob Hürtel aus Werthau der kaiserlichen Werbung zu
Erfurt. Im Jahre 1785, gegen das Ende von Goethes Kriegsministerschaft,
wanderte gar ein Jnsasse des Zuchthauses zu Eisenach, Fr. M. Mehrmann aus
Großrudestedt, hoffentlich zu seiner Besserung, in holländische Kriegsdienste.
(Geheime Kanzleiakten. 179. 180. 195. Grvßherz. Se.-A.)
Das sind nur ein paar Beispiele von vielen; sie würden stark ver¬
mehrt werden können und immer nur dasselbe unerfreuliche Bild geben.
Natürlich begnügten sich die Werbeoffiziere keineswegs mit diesen traurigen
Subjekten, sondern versuchten fort und fort, auch die unbescholtnen kräftigen
Burschen des weimarischen Landes einzufangen.
Goethes Abneigung gegen dies ganze Werde- und Werberwesen führte immer
wieder zu der Zurückweisung der unablässig erneuerten Gesuche. Wer dem
Herzog gut empfohlen zu sein glaubte, hoffte für sich eine Ausnahme; noch 1785
richtete der Oberst de Grauges aus Mittenwalde in der Mark ein Gesuch um
Gestattung der Werbung „für sein unterhabendes Freijägerbataillon" an
die fürstlich sächsische Kriegskommission. Die Anschauung und Stimmung
Goethes gegenüber der üblichen Reisläuferei giebt sich auch darin kund, daß
er die Gnadengesuche der freiwillig in fremdherrische Kriegsdienste eingetretnen
weimarischen Unterthanen, die nach dem strengen Patent Herzog Ernst Augusts
mit empfindlichen Vermögensverlusten bedroht waren, keineswegs befürwortete.
Auch verabschiedeten Soldaten gegenüber machte er geltend, daß „erteilter
Abschied keine Erlaubnis zum Eintritt in fremde Kriegsdienste einschließe."
(Geheime Kanzleiakten 1779—1810. Fol. 164. Großherzogliches Staatsarchiv.)
Am bekanntesten von Goethes Thätigkeit als „Kriegsminister" sind seine
Fahrten durch das weimarische Land zur Rekrutenaushebung geworden. Die
erste dieser Fahrten im Frühling 1779 fiel mit dem Beginn und der Weiter-
führung der Jphigeniendichtung in ihrer ursprünglichen (Prosa-) Gestalt zu¬
sammen, und unzähligemale sind die charakteristischen Ausrufungen des Dichters
aus seinen Briefen an Charlotte von Stein zitirt worden. Am 14. Februar
früh hatte er die „Iphigenia" angefangen zu diktiren, noch am 24. abends
an dieser Dichtung geträumt, am 26. und 27. hatte er in Weimar die „erste
Auslesung der jungen Mannschaft" zu besorgen. Am 1. März war Aushebung
in Jena, abends fuhr er für sich an Iphigenien fort, am 3. März hob er
Rekruten in Dornburg aus, trotzdem konnte er bei der schonen Einsamkeit „im
ruhigen und überlieblichen Dornburgcr Schlößchen" sein Stück fördern; am
5. und 6. Mürz meldete er Frau von Stein aus Apolda: „Bester hätt ich
gethan, heute noch in Dornburg zu bleiben, da wars schön, offen und ruhig.
Hier ist ein bös Nest und lärmig, und ich bin aus aller Stimmung" und
„Grüßen Sie den Herzog und sagen ihm, daß ich ihn vorläufig bitte, mit
den Rekruten säuberlich zu verfahren, wenn sie zur Schule kommen. Kein
sonderlich Vergnügen ist bei der Aushebung, da die Krüpels gerne dienten
und die schönen Leute meist Ehehafften haben wollen. Doch ist ein Trost,
mein Flügelmann von allen (11 Zoll 1 Strich) kommt mit Vergnügen, und
sein Vater giebt den Segen dazu. — Hier will das Drama gar nicht fort,
es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpf¬
wirker in Apolde hungerte."
In Buttstädt und Allstedt wurde am 8. und 9. März das Geschäft fort¬
gesetzt. Der ganze Widerspruch seiner ursprünglichen Anlage und seiner eigent¬
lichen mit seiner augenblicklichen Lebensaufgabe kam ihm doch zum Bewußtsein,
so tapfer er sich über den Widerspruch zu erheben suchte, und in dem Briefe
vom Buttstädter Rathaus vom 8. März an Herzog Karl August prägen sich
die streitenden Gefühle einfach und deutlich aus: „Indeß die Bursche gemessen
und besichtigt werden, will ich Ihnen ein paar Worte schreiben. Es kommt
mir närrisch vor, da ich sonst in der Welt alles einzeln zu nehmen und zu
besehen pflege, ich nun nach der Physiognomik des rheinischen Strichmaßes
alle junge Bursche des Landes klassifizire. Doch muß ich sagen, daß nichts
vortheilhafter ist, als in solchem Zeuge zu kramen, von oben herein sieht man alles
falsch, und die Dinge gehen so menschlich, daß man, um was zu nutzen, sich
nicht genug im menschlichen Gesichtskreise halten kann. Übrigens laß ich mir
von allerlei erzählen, und alsdann steige ich in meine alte Burg der Poesie
und koche an meinem Töchterchen. Bei dieser Gelegenheit sah ich doch auch,
daß ich diese gute Gabe der himmlischen ein wenig zu kavalier behandle, und
ich habe wirklich Zeit, wieder häuslicher mit meinem Talent zu werden, wenn
ich ja noch was hervorbringen will." Die Gegensätze, die Goethe mit jugend¬
lichem Mute und voll Opferwilligkeit jetzt und noch manches Jahr in sich
nnszugleicheu strebte, sollten sich im Verlauf der Zeit aber doch als unüber¬
windlich erweisen.
Einstweilen war Goethe eifriger Vorsitzender der Kriegskommission. In
seinen Tagebüchern von 1779, 1780, 1781 sind die Sitzungen dieser Kom¬
mission in ziemlich rascher Aufeinanderfolge verzeichnet; mit dem energischen
Ordnungssinn seiner Natur drang er immer darauf, daß in der Kriegs-
kvmmissionsrcpositur Ordnung geschafft würde. Am 13. Mai 1780 gestand
er sich: „Hab ich das doch in anderthalb Jahren nicht können zu Stand
bringen! es wird doch! Und ich wills so sauber schaffen, als Wenns
die Tauben gelesen hätten. Freilich ist es des Zeugs zu viel von allen
Seiten und der Gehilfen wenige." Und erst am 15. August 1781 durfte er
triumphirend sagen: „Kriegs-Commission. Nckapitulirte in der Stille, was ich
bei diesem Departement geschafft. Nun wäre mirs nicht bange, ein weit
größeres, ja mehrere in Ordnung zu bringen, wozu Gott Gelegenheit und
Mut verleihe." Er wußte recht gut, wie sehr er bei diese« Bemühungen auf
sich allein stand; als er von der Schweizerreise des Winters 1779 zu 1780
im Januar heinikehrte und auf der Kriegskommission gute Ordnung sand, meinte
er: „Wenn sie (die Subalternbeamten) wüßten, daß mich Staub und Moder
erfreute, sie schafften ihn auch." Daß zur Ordnung mehr gehörte als die
Rekrutirung und Auslese der Repvsitur, braucht gar nicht erst gesagt zu
werdeu. In der That fallen in die beiden ersten Jahre der „Kriegsminister¬
schaft" Goethes die Kämpfe mit seinem wichtigsten lind einflußreichsten Unter¬
gebnen, dem früher erwähnten Kriegsrat von Volgstedt, der Sieg des Dichters
über diesen zähen Widersacher und die von Goethe vom ersten Tage an er¬
sehnte, befürwortete und betrievne Reduktion des weimarischen Militärwesens.
Goethe spricht einmal bitter von „Volgstedtischen Principien," doch scheint
aus dem ganzen Zusammenhange seiner Aufzeichnungen und Bemerkungen
hervorzugehen, daß der dicke Kriegsrat eben nur der Vertreter und Bewahrer
des herkömmlich Mißbräuchlichen war und gar nicht einsehen konnte, wie er,
der Soldat und Edelmann, dazu käme, sich den Weisungen des bürgerlichen
Geheimen Legationsrath bequemen zu sollen. Die Notizen Goethes im Tage¬
buch lassen erkennen, daß er umsonst seine Beredsamkeit und Vorstellungskraft
aufgeboten hatte, den widerwilligen Volgstedt auf andre Pfade zu weisen.
,.25.März1780 Kriegscommission. Große Explikation mitVolgstedt"; ,.28.März.
früh zu Schuauß über Volgstedt und Batty"; „31. März. Angesagt Conseil.
Momentanen Bewegung widerstanden und überwunden. Es scheint das Glück
mich zu begünstigen, daß ich in wenig Tagen viel garstige mit geschleppte
Verhältnisse abschütteln soll. Ueuro oorormtur nisi ^ni «ertavsrit arts; 1. April.
Kriegscommission. Volgstedten haranguirt; December. Viel Arbeit und Be¬
arbeitung. Volgstedt abgeschüttelt. Diesen Monat hab ich mirs sauer werden
lassen; 1781. Januar d. 1. bis 3. Viel Geschäft auf der Kriegscommission,
um alle Fäden an mich zu knüpfen." (Goethes Tagebücher.) An Frau
von Stein schreibt er am 31. Dezember 1780: „Der Abschied des Dicken ist
freilich nicht ohne unangenehmes für mich gewesen und giebt mir auf die erste
Zeit viel mehr zu thun. Doch ists immer besser, mit solchen Menschen auf
keine Art verwandt zu sein." In diesen Worten klingt die Wirkung dieser
unerquicklichen, wenn auch nicht tiefgehenden Zwistigkeiten gewissermaßen aus.
Von ganz andrer Bedeutung für Goethe und recht eigentlich der Triumph
seiner Thätigkeit an der Spitze der Kriegskommissivn war die endlich be¬
schlossene und entschieden durchgeführte Reduktion der weimarischen Truppen.
Zu viel für das Bedürfnis nach innen, zu wenig für irgend welches Eingreifen
nach außen stellte sich dem Auge Goethes die kleine Militärmacht dar. Wohl
waren nach den „Stamm- und Nationallisten" vom 1. Juli 1779 schon viel
überflüssige Anhängsel beseitigt, das herzogliche Artilleriekorps auf den Kapitän
Jean Antoine Joseph de Castrvp mit einem Zeugwärter, einem Zeugschreiber,
einem Korporal, einem Schafter und sechs Kanonieren beschränkt, das Husaren¬
korps unter dem Rittmeister Friedrich von Lichtenberg auf einen Wachtmeister,
einen Quartiermeister, vier Korporals, einen Trompeter und vierundvierzig
Husaren gebracht, das Infanterieregiment uuter dem Obersten Johann Maxi¬
milian von Laßberg bestand außer den Stäben nur noch aus acht Kom¬
pagnien, von denen die sechs ersten in Weimar und Eisenach durchschnittlich
einen Bestand von hundert Mann (Offiziere, Unteroffiziere und Spielleute mit
eingerechnet), die beiden Garnisonkompagnicn zu Jena gar nur von fünfzig bis
sechzig Mann hatten. Aber selbst diese geringfügige Zahl verschlang für die
Verhältnisse des vom siebenjährigen Kriege her noch schwer verschuldeten Landes
dann zu große Summen, wenn sie dauernd uuter Waffen blieb.
Goethe schrieb am 10. Juni 1779 in sein Tagebuch: „Der Herzog ist
bald über die große Krise weg und giebt mir schone Hoffnung, daß er auch
auf diesen Fels herauf komme und eine Weile in der Ebne wandeln wird. —
Dunkler Plan der Reduction des Militairs und Hoffnung, den gew. (Volg-
ftedt?) bald los zu werden"; damit bezeichnete er die Erwartung und Sehn¬
sucht, womit er die Kriegsministerschaft hauptsächlich übernommen hatte. Und
nun wurden in der That von 1780 an seine Pläne verwirklicht. Der Herzog
stimmte zu, daß umfassende Beurlaubungen eintraten, die sich auf den größten
Teil des Jahres erstreckten. In jedem Herbst wurde die gesamte Infanterie
zu vierwöchigen Übungen zusammengezogen, darnach aber ins Land entlassen,
was nur ein Daheim hatte. Die Kompagnien schmolzen ans vierzig Mann
zusammen, man hatte in Weimar und Eisenach gerade genug Soldaten, um
die Schloßwachen und Thorwachen zu besetzen, zu plötzlichen Kommandos
waren die Husaren geeignet, die, nebenbei gesagt, dem Herrn Kriegsminister
mehr Unruhe und Verdruß bereiteten, als die ganze Infanterie und Artillerie
zusammengenommen. Da war uach den Akten unendlich viel zu schlichten und
zu regeln, unter den „Exzessen" der Militärkommissionsakten spielten die
Schlägereien zwischen Reitern und Fußgängern ihre Rolle (eine besonders
schlimme von 1780 zwischen dem Husaren Bricke und dem Grenadier Gollum);
da verlangte Eva Susanna Meißner in Weimar aus beweglichen Gründen,
daß der Husarenquartiermeister Giehan angehalten werden möchte, „die Ehe
mit ihr durch priesterliche Kopulation zu vollziehen" (Militärwesen, Exzesse
und Strafen. Geheime Kanzlei Acten Cap. XIX. 90 u. 155); da führte der
Husarenrittmeister Lichtenberg grimmige Beschwerde gegen den Stadtschreiber
Voigt zu Buttelstädt, der 1783 wegen des Jahrmarkts in diesem Städtchen
die Einquartierung der Husaren in Bürgerhäuser verweigert hatte. Die In¬
fanterie war natürlich zahmer, der Wacht- und Garnisondienst, wenn auch nicht
allzu anstrengend, doch eintöniger und ermüdender als die Ritte der begünstigten
kleinen Husarenschwadron. Aber die große Reduktion blieb im Gange, bis
ihre letzte Konsequenz in der Bildung eines einfachen, aber tüchtigen Jäger¬
oder Scharfschützenbataillons von 600 Mann im ganzen gezogen wurde.
Auch die Vorräte des Weimarischen Zeughauses, die zum guten Teil aus
Herzog Ernst Augusts Tagen stammten, wurden in die Reduktion einbezogen.
Was sollte die Menge der überflüssigen Geschütze? Im Jahre 1784 wurden
vier sechspfündige und vierzehn zweipfündige bronzene Kanonen, einige tausend
Musketen und Karabiner verkauft. Zu dieser Zeit war Goethe schon seit
zwei Jahren neben dem Kriegsminister auch Finanzminister, hatte die Kammer¬
verwaltung übernommen und arbeitete im ganzen wie vorher bei der Kriegs-
kommission auf Sparsamkeit, auf klare, übersichtliche und wirklich eingehaltene
Etats los. Als köstliches Zeugnis, wie gut er es verstanden hatte, Einnahmen
und Ausgaben bei der fürstlichen Kriegskasse in Einklang zu bringen, mag
der (in den Geheimen Kanzlciacten die Reduction des Militairs betreffend.
2. Oberster Kriegsherr. 23. Großherzogl. Staatsarchiv) bewahrte Etat von
1783 gelten:
Der kleine Kriegsetat giebt zu mancherlei Betrachtungen Anlaß. Vor
allem muß die unverhältnismäßige Höhe der Pensionen — beinahe der fünfte
Teil der Gesamtausgabe — in die Augen fallen. Wenn uns aber die Offi¬
ziersliste des Jahres 1780 belehrt/') daß neben einem aktiven Oberst, einem
Major, neun Hauptleuten, einem Rittmeister, acht Leutnants, fünf Fähndrichen,
einem Garnisonmedicus und einem Vizeauditeur nicht weniger als vier Oberst¬
leutnants, sechs Majors, vierzehn Kapitäns und Rittmeister, zwölf Leutnants
als pensionirte Offiziere zu erhalten waren, so erkennen wir darin die Festig¬
keit, mit der man unter Goethes Leitung die überflüssigen Stäbe beseitigte,
und die Billigkeit, mit der man für die Betroffnen sorgte. Die meisten Etats¬
posten wiesen eine beträchtliche Verminderung gegen früher auf, die zehn Thaler
für Inquisitions- und Exekutionskosten deuten auf beinahe idyllische Zustände
in dem kleinen Truppenkörper hin. Freilich steht zu vermuten, daß daneben
kostenlos zur Genüge gefuchtelt wurde. Erdöhl gegen früher waren die fünf¬
tausend Thaler „auf das Kommißbrot." Goethe drang darauf, daß dieses
wichtige Nahrungsmittel den armen Soldaten gut und rein geliefert werde;
von den Proben, die er erhielt, wanderten gar viele zu Frau von Stein, und
in den Zettelchen an diese sehen wir öfter die Bemerkung „hierbei ein Stückchen
schwarzes Brod" oder auch „gegen deinen Kuchen kann ich dir nur Commiß-
brod schicken, aber Liebe gegen Liebe" (Goethe an Frau von Stein, 9. August
1782). Ob Gesuche, wie die des königlich preußischen Fähndrichs von der
Burg zu Halle um „ein Darlehen von 30 Louisdor aus hiesiger fürstlicher
Kriegskasse," unter den gnädigsten Verehrungen oder unter den Extraausgaben
und Doueenrs gebucht wurden, weiß ich nicht anzugeben, jedenfalls hatte
Goethe so gute Ordnung geschafft, daß auch ein paar Ausnahmen drein
gingen.
Der Gedanke, die kleine Truppe nach auswärts zu vermieten oder von
auswärts unterhalten zu lassen, lag dem Herzog wie Goethe so fern, daß
Goethe seinem Fürsten, als dieser im Herbst 1784 aus der Schweiz nach
Weimar zurückreiste, mit ruhiger Sicherheit und einer hübschen Mischung von
Ernst und leichtem Spott schreiben durfte: „Bei uns wohnt Friede, wenigstens
äußere Ruh. Die Holländer haben durch einen wunderbaren Gesandten Sub-
sidien anbieten lassen. Einsiedel, der Afrikaner, ist als holländischer Haupt¬
mann und substitnirter Bevollmächtigter des Rheingrafen von Salm aufge¬
treten. Die Bedingungen klingen ganz gut, ich lege sie bei. Indessen war
er schon selbst überzeugt, daß es eigentlich nur ein Compliment sei, das er
anbringe und ist über Dresden nach Berlin, wo er seinen Substituenten finden
wird" (Goethe an Herzog Karl August. Weimar, 26. November 1784).
Mit entschiedner Einsicht und Arbeitskraft, mit glücklicher Hand hatte Goethe
als Chef der Kriegsverwaltung die Militärverhültnissc der Herzogtümer Weimar
und Eisenach geordnet; er hatte die Erscheinung mit dem Zweck, den Aufwand
mit den Kräften des kleinen Landes in besten Einklang gebracht. Die Lächer¬
lichkeit kleinfürstlicher prunkvoller Gardetruppen, eines im Verhältnis zur
Mannschaft zu großen Offizierkorps, schimmernder Uniformen, die Not und
den Druck, den übermäßige Aushebungen über viele kleine Länder brachten
— Herder konnte dem Freunde von der Energie erzählen, mit der seine Bücke¬
burgische „Hoheit," der Soldatengraf Wilhelm, das winzige Schauenburger
Land wehrhaft machte —, das Mißverhältnis zwischen dem Willen und den
Mitteln, die kläglichen Gehalts- und Soldrückstände, die anderwärts an der Tages¬
ordnung waren, das alles kannte man in weimarischen Landen nicht. Andrer¬
seits genoß die wohlgeordnete kleine Truppe die gebührende Achtung, von den
Zurücksetzungen der Soldaten, die preußischen Offizieren an den Pfaffenhöfen
und in den Pfaffenstaaten des zerfallenden Reichs übel auffiel, wußte man an
der Ilm nichts.
Goethe Hütte mit voller Befriedigung auf seine Verwaltung des Kriegs-
dcpartements sehen können. Alles war wohl bedacht, zweckdienlich, der Be¬
scheidenheit der Zustände angepaßt. Nur eines war bei all dieser Ordnung
vergessen worden — die soldatische Natur, der im Blut seines ruhmreichen
Geschlechts liegende Thatendrang des obersten Kriegsherrn. Herzog Karl
August hatte den gewissenhaften Ratschlägen seines dichterischen Freundes und
derzeitigen Kriegsministers überall zugestimmt, hatte Goethe die Bahn sür sein
ersprießliches Wirken frei gemacht. War dem Herzog anfänglich nicht zum Bewußt¬
sein gekommen, welche Selbstverleugnung er dabei zu üben hatte, oder hatte sich
der Dichter, der doch sonst recht wohl wußte, daß „der Frosch fürs Wasser
gemacht ist, wenn er auch eine Zeit auf dem Lande leben kann," darüber ge¬
täuscht, wie weit die landesväterliche Pflicht die innersten Wünsche seines
Fürsten besiegen könnte? Wenn auch ein tüchtiges Jnfanteriebataillon und
eine kleine Husarenschwadron dem Bedürfnis der Herzogtümer Weimar und
Eisenach vollauf genügten, so genügte der Befehl über die kleine Schar dem
soldatischen Wesen des jungen und thatkräftigen Herzogs nicht. Der be¬
sonnene Landesfürst mochte es in der Ordnung finden, daß sein Artillerie¬
hauptmann de Castrop hauptsächlich als Ingenieur bei der Wegbaukommission
thätig war, daß seine Husaren mit Briefen und Verordnungen der Zivil-
behörden ritten oder nach Vagabunden und Wegelagerern streiften — aber
genügen konnte ihm das nicht. Seine Phantasie flog über dies Zweckmüßige
und Notwendige hinweg zu einem wirklichen Heere, zur Macht und Pracht
großer kriegsfähiger Truppenkörper.
Es war umsonst, daß Goethe, der mit diesem Zug im Wesen des fürst¬
lichen Freundes nicht einverstanden war, ihn zu hemmen und abzulenken suchte.
Manches Jahr später mußte er erkennen, daß Karl August sich selbst besser
beurteilt hatte, als er ihn; er schrieb aus dem Lager von Marienborn vor
Mainz an C. G. Voigt in Weimar (14. Juni 1793): „Der Herzog ist wohl
und in seinem Elemente glücklich. Es ist wahr, der Fisch kann sich im Wasser
nicht besser finden noch benehmen, als er in diesen Verhältnissen." Doch bis
es dahin kam, müssen Kämpfe vorausgegangen sein, deren Geschichte und Be¬
urteilung nicht in das kleine Kapitel „Goethe als Kriegsminister," sondern in
das große „Goethe und Karl August" gehören. Bis in die Mitte der acht¬
ziger Jahre war es Goethe gelungen, den Herzog bei seinen nächsten und er¬
erbten Aufgaben festzuhalten. Nach der Geburt des Erbprinzen Karl Friedrich
(1783) und mit der Begründung des von ihm so eifrig geförderten Fürsten¬
bundes (1785) regte sich das soldatische Blut Karl Augusts stärker als zuvor.
Er faßte den Plan, in preußische Dienste zu treten, an der Spitze preußischer
Regimenter und Brigaden zu wagen und zu thun, was ihm an der Spitze
seiner paar hundert Soldaten für immer versagt geblieben wäre.
Und damit trat dann der lang hinausgeschobne Angenblick ein, wo Goethe
einmal wieder an sich selbst und an seine ursprüngliche und eigenste Natur
denken durfte. Als der Herzog sich rüstete, einen Teil des Jahres hindurch
als Regimentskommandeur der Oscherslebner Kürassiere außer Landes zu ver¬
weilen, bereitete eines der Dichter still seinen Rückzug aus der bisherigen
amtlichen Thätigkeit vor. Die methodischen Borbereitungen Goethes zu einem
Abschied, der, zwar nicht nach seinem Wunsch und Willen, aber nach Lage der
Verhältnisse zu einem Abschied auf immer werden konnte, haben etwas Er¬
greifendes und gehören zu den innerlichen Dramen, deren der Dichter in seiner
Seele so viele durchzukämpfen hatte. In dem berühmten Karlsbader Brief
vom 2. September 1780 schrieb Goethe an Karl August: „Sie sind glücklich,
Sie gehen einer gewünschten und gewählten Bestimmung entgegen, Ihre häus¬
lichen Angelegenheiten sind in guter Ordnung, auf gutem Wege, und ich weiß,
Sie erlauben mir auch, daß ich nun an mich denke, ja Sie haben mich selbst
oft dazu aufgefordert. Im allgemeinen bin ich in diesem Augenblicke gewiß
entbehrlich, und was die besondern Geschäfte betrifft, die mir aufgetragen siud,
diese hab ich so gestellt, daß sie eine Zeit lang bequem ohne mich fortgehen
können; ja ich dürfte sterben, und es würde keinen Ruck thuen. Noch viele
Zusammenstimmuugen dieser Constellationen übergehe ich und bitte Sie nur
um einen unbestimmten Urlaub." Eine Nachschrift enthielt auch die freilich
nicht klar ausgesprvchne Berzichtleistung auf die zeitherige Kriegsministerschaft.
In den Weisungen, die Goethe seinem getreuen Hausgeist und Vertrauten
Philipp Seidel in Weimar hinterlassen hatte, stand die Kriegskommission noch
obenan. Seidel hatte Auftrag, alle Briefe zu erbrechen, und „wenn etwas
darin vorkommt, was die Kriegskommission angeht und eine baldige Expedition
erfordert, hat er es an des Herrn Geheimen Assistenzrat Schmidt Hochwohl-
geboren zu melden." Jetzt, am 2. September, schon mit einem Fuß im Reise-
wagen, der ihn nach Italien führen sollte, bat Goethe in jener Nachschrift den
Herzog: „Noch ein Wort. Ich habe den Geheimen Assistenzrat Schmidt bei
meiner Reise wie gewöhnlich gebeten, sich der Kriegskommissions-Sachen an¬
zunehmen, er pflegt aber alsdann nur pressante Sachen abzuthun und läßt
die übrigen liegen. Wollten Sie ihn wohl veranlassen, daß er die kurrenten,
wie sie einkommen, sämtlich expedirt, ich habe ihm ohnedies geschrieben, daß
ich Sie um verlängerten Urlaub gebeten."
Dies war oder wurde das Ende von Goethes Kriegsministerschaft. Als
er im Juni 1788 von seinem Römerzug nach Weimar zurückkehrte, nachdem
er in Italien sich selbst und zwar als Künstler wiedergefunden hatte, lagen
die Geschäfte der Kriegskommission längst in andern Händen. In den wunder¬
lichen Gestirnen über dem Dasein des Dichters aber stand es geschrieben, daß
er erst nach Jahren, nachdem er die militärischen Angelegenheiten des kleinen
weimarischen Staates geleitet hatte, durch seine Teilnahme am Lager von
Reichenbach in Schlesien (1790). am Champagnefeldzug (1792) und an der
Belagerung von Mainz (1793) das große und mächtige Leben des Krieges
aus eigner Anschauung kennen lernen sollte.
oweit den Rhein Gebirge einfassen, wenden sie seinem Thale ihre
schönste Seite zu. Der Unterschied ist nicht immer so schneidend
wie im Westerwald oder in der Eifel, wo man aus dem mittel¬
rheinischen Paradies so oft nur zu einer öden, armen, mit dünnen
Schülwäldern bestandnen Hochfläche emporsteigt. Aber auch in
^dem durch seinen Waldreichtum an sich so anziehenden Odenwald,
der noch immer hochstämmige Eichen nährt wie zu der Zeit, da Siegfried am
Siegfriedsbrnnnen, den man bei Fürth i. O. zeigt, erschlagen wurde, gliedert
sich die rheinwärts gekehrte Seite, die Bergstraße, als bewegtere und lieblichere
Landschaft ab. Ihr kommt es zu gute, daß durch die Einschnitte ihres be¬
wegten, Profils höhere Waldberge ernst in die hochkultivirte Landschaft herüber¬
schauen. Vom Schwarzwald löst sich aber der Streifen der Vorberge wie ein
Saum von Gärten los, bereichert in der Breisacher Gegend durch das eigen¬
tümliche Vulkangebirge des Kaiserstuhls, der sich in langen Wellenhügeln zu
flachen Kegeln aufbaut. Das dunkle Gestein schaut an wenigen Stellen aus
dem üppigen Knltnrkleid hervor, das vorwiegend aus Neben zusammengesetzt
ist. Der bübische Weinbau erreicht hier einen seiner Höhepunkte. Im Auslande
kennt man die „Kaiserstühler" wenig, da sie nicht in großen Mengen erzeugt
werden. Im „Windle" aber schätzt man sie nach Verdienst. Es ist darunter
ein natürlicher Schaumwein, dem Asti verwandter als dem Champagner. Auch
an den Vogesen, die vom Vielfacher Schloßberg aus gesehen fast so nahe zu
stehen scheinen wie der Schwarzwald — und beide sind hier zum Verwechseln
ähnlich —, zieht sich in diesem oberrheinischen Winkel, der^der wärmste Deutsch¬
lands ist, der hellgrüne, mannigfaltig in Weinberge, Äcker und Wiesen ge¬
gliederte und durch blühende Städtchen, Dörfer und Burgen belebte Kultur¬
streif noch höher hinauf. Er schlingt sein buntes Band bis sechshundert Meter
Höhe um den Fuß des walddunkeln Gebirges.
Diese Kulturstufe erinnert schon an den Süden. Der Harz, der Thüringer
Wald, der Bayrische Wald sind bis zum Fuß bewaldet. Das ist ein nordischer Zug,
daß sich die güldne Ane zu Füßen der walddunkeln Harzberge ausbreitet und sich
selbst in die Thäler nur schüchtern hineinzieht. Besonders auf der Vogesenseite ge¬
winnt das Rheinthal ungemein an Reichtum der Landschaftsbilder, die immer auch
geschichtliche und Kulturbilder sind, durch das Hinaufranken der menschlichen Werke
und Siedelungen an den Gebirgsslanken, ebenso wie ihnen dann am Westabfall der
mildere Charakter der lothringischen Hochebene zu gute kommt, die zwar der
Rauben Alp geologisch und geographisch entspricht, aber ohne rauh zu sein.
Besonders der Landschaft von Metz ist ein warmer Ton eigen, man möchte
sagen etwas an den Süden erinnerndes. Der Mont Se. Quentin von Osten
gesehen, mit seinem Buschwald, seinem Nest zusammengedrängter Steinhäuser,
im übrigen waldlos, ist schon kein deutsches Bild mehr. Es ist ein verstärkter
Typus der Weinbergslandschaft: auf der sanften untern Vodenanschwellung
Äcker, Wiesen, Gurten mit den endlosen Hainen von Mirabellenbäumen, die
1870 unsern Soldaten Labung boten, darüber das Dorf, dann beim steilern
Anstieg die Weinberge, zuletzt der Buschwald. Es ist keine Landschaft von
großen Formen, aber sie hat die besondre Größe, die der Landschaft eigen
ist, die das für ein weites Gebiet Allgemeingültige zum Ausdruck bringt.
Die Thalöffnungen nach der Rheinebne zu umschließen die schönsten und
reichsten Bilder des oberrheinischen Landes. Da liegen Städte, deren Häuser
sich an den Höhen hinauf- und in einmündende Thäler hineinziehen, und gleich
darüber steht der dunkle Wald. Draußen nichts als ebene Äcker und Wiesen,
in der Ferne der Silberhauch des Rheins. Von Höhenstufen aber blicken mit
uns alte Burgen und erneuerte Kirchen ins Land hinaus. Und ihrer sind so
viele, daß sie von Berg zu Berg einander ihre Eindrücke von der Welt da
unten zuraunen könnten, die wohl nicht sehr schmeichelhaft für die haftenden
Menschen wären. Diese Thoren, möchte es da wohl lauten, glauben die
Welt umzuwälzen, und da unten fließt der Rhein wie vor tausend Jahren,
und der Wald, der ihn umsäumt, ist so frisch und wild wie je, und Rhein
und Wald und wir mit ihnen, wir überleben diese atemloser Geschlechter. Mit dem
elsässischen Dichter höre ich noch andre Gespräche in dieser Gegend, die die
Berge des Schwarzwalds und der Vogesen mit einander über den Rhein und
über den Doppelsaum der Kiesbänke oder Uferwülder weg führen; ihr Gegen¬
stand ist die Nichtigkeit der Sonderungen, die die Menschen in das von Natur
zusammengehörende legen wollen. Der alte Rhein stimmt rauschend mit ein.
Ich überschreite, solche Gedanken im Sinn, den Rhein nach der Schweiz hin,
wo dieselben Bürgen auf römischen Fundamenten auf Landschaften von dem¬
selben Charakter und ähnlich geartete Menschen hinabschauen. Ein großes, durch
gleichen Ursprung und gleiche Geschichte verbundues Land, das Erbe der Seeufer
und Habsburger schließt sich vor meinem geistigen Auge wieder zusammen, und der
Horizont dehnt sich immer weiter nach Süden zu, bis das blaue Mittelmeer an
provenzalischen Gestaden auftaucht: der alte burgundische und arelatische Anteil
des Deutschen Reichs, der natürlichste, die Alpen umgehende Weg Südwest¬
deutschlands zum Meer.
Baden und Elsaß, Pfalz und Rheinhessen samt dem untern Mainlaud
erscheinen mir in einem goldnen Lichte, wenn ich an die Zeit zurückdenke,
wo hier das Herz des Reichs schlug. Hat uns der von den neuern Ge¬
schichtschreibern Deutschlands so viel gepriesene Drang nach Osten, dem das
Verdrängtwerden aus dem Westen folgte, wirklich Ersatz gebracht für den
Verlust der Rhone- und Alpeuwege nach Süden und der Nheinmündungs-
lande im Nordwesten? Wird die Zeit kommen, wo die Sackgassen sich aus¬
schließen, in die nun seit vielen Jahrhunderten das reiche rheinische Leben
südwest- und südostwärts hineindrängt? Man würdigt wohl nicht genug diesen
Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschland, daß Norddeutschland die ihm
von Natur gehörige Meereslage und Küste hat, während Süddeutschland
nicht einmal mehr über die Alpenwege verfügt, die zum Mittelmeer führen.
Die Industrie vou Mülhausen und von Augsburg hat die Zollschranken vor
der Thür, während Mittel- und Norddeutschland das freie Meer vor sich haben.
Norddeutschland ist ein natürlicher abgerundeter Körper, Süddeutschland einer,
dein Lebensorgauc genommen sind.
Aus dem alten Gemäuer des seit zweihundert Jahren in Trümmern lie¬
genden alten Schlosses von Baden, Hochbaden genannt, schweift der Blick in
die Rheinebne hinaus, nach der sich zu beiden Seiten des schmalen Silber¬
bandes der Oos die dunkeln Berge Badens in langen Wellen abdachen. Dumpfe
Töne und zerrissene Stücke einer Melodie der Kurmusik schweben herauf durch
die üppigen Wälder der Edelkastanien zu den Tannen und Fichten, die schon
einen derbern, mehr gebirgshaften Wuchs zeigen. Sie mischen sich mit den
seltsamen Klängen der durch die romanischen Doppelbogen des alten Schlosses
ziehenden Bergluft, die zum Überfluß die Saiten einer Äolsharfe berührt.
Deutlich erkennt man von hier oben den eigentümlichen Aufbau des Bodens
der berühmten Bäderstadt, der im Grunde derselbe ist wie bei Heidelberg und
Freiburg: das Thor eines dem Strome zu sich öffnenden Seitenthales. Eigen¬
tümlich ist aber bei Baden die reiche Gliederung der Thalweitung mit der Aus¬
mündung der Oos. Da ist die Gruppe von Höhen im Norden, auf denen
sich das neue und das alte Schloß erheben, die wichtigste wegen des Schutzes,
den sie der Stadt gewährt. Dann die des Fremersberg im Süden, und
zwischen diesen der schön gewölbte, so recht zum Bau einer Villenstadt auf¬
fordernde breite Hügel im Osten. Zwischen ihm und den Nordhügeln lag
die römische Aurelia und liegt die alte Stadt; die neue zieht sich zwischen ihm
und den Südhügeln an der Oos hin, auf beide» Seiten eines der herrlichsten
Baumgänge der Welt, der Lichtenthaler Allee, und schou fängt sie nun an, den
Mittelhügel selbst von allen Seiten her zu Überbanen. Von dem engen,
häusererfüllten Thal der Altstadt erhebt sich eine schmale Stufe, auf der die
Stiftskirche mit altbadischen Fürstengräbern steht, darüber eine breite mit dein
neuen Schloß und dem wundervollen Schloßgarten. Ein sonniger Oktobertag
unter den pfeilcrgetragnen Nebgängen, den uralten'Linden und Ulmen dieses
Gartens, im Ringe der alles so traulich umfassenden Waldberge gehört zum
stimmungsvollsten der deutschen Landschaft. Die milde Lage Badens erlaubt
es, daß noch im Oktober hier eine überraschende Menge von Palmen, Dra-
cünen, Bananen usw. im Freien auf nordischem Rasen vor dem Dunkel der
Tannen und Eichen stehen: ein reiches Bild von einer Mischung, die nirgends
so wiederkehrt. Freilich, es gehört auch die Feuchtigkeit dazu, in deren Menge
und nachhaltigem Erguß diese Naudlandschaften des Odenwaldes und des
Schwarzwaldes nicht zufällig mit denen der Alpen wetteifern. Heidelberg, Baden
und Salzburg, diese herrlichen Städtebilder, stehen in mancher Erinnerung nur
wie Rauchbilder, d. h. höchstens der Vordergrund ist grün, alles andre ver¬
hüllt ein Nebelschleier eines aus feinen, endlosen Wasserstrahnen gewöhnen
Landregens. Selbst über die Dinge im nächsten Vordergrund ist ein blauer
Hauch gebreitet, und in den Kronen der Bäume schweben losgerissene Wolken¬
flocken. Alles trieft und schwellt durchfeuchtet.
Der von Norden kommende Wandrer sieht sich in Baden-Baden zum
erstenmal von Schwarzwaldbergen umgeben. Und diese Vadencr Berge ge¬
hören zu den schönsten des Gebirges. Indem sie Baden-Baden fast von allen
Seiten einschließen — vom neuen Schloß gesehen, liegt ja die Stadt mit allen
ihren Ausläufern geradezu in einem Kessel, und die gerühmte Milde des
Vadener Klimas hängt wesentlich von dieser Lage ab —, zeigen sie die denkbar
größte Mannigfaltigkeit in der Abwandlung der bekannten Mittelgebirgsformen
und in der Höhenabstusung; den mehr kegeligen Gestalten, im Osten liegen die
stark gewölbten, im Westen um den Fremersberg, gegenüber und zwischen ihnen
schließen die flachen Höhen hinter Lichtenthal die Kette. Vor die einen wie
die andern legen sich die schönen Anschwellungen niedrer Stufen. Es ist ein
schöner Rhythmus in diesen Linien, bei aller Einfachheit des Themas eine
Fülle der Abwandlungen. Insofern mag hier der Wandrer das Wesen der
Schönheit des Schwarzwaldes und zugleich auch des Schwestergebirges im
Westen gleich von Anfang vollständig in sich aufgenommen haben. Wieviel
größere Berge und tiefere Thäler er auch ersteigen und durchwandern wird,
er wird immer wieder die Wellenlinien des alten abgeglichnen Gebirges finden,
in deren allgemeiner Übereinstimmung eine Fülle von anziehenden Besonder¬
heiten gegeben ist.
Besonders aber sorgen die Thäler für Abwechslung, im Schwarzwald noch
mehr als in den Vogesen. Wohl sind die Thäler der Vogesen nicht so tief und auch
oft nicht so steilwandig wie im südlichen Schwarzwald. Aber daß sie fast alle als
Wiesenthäler mit weichem Rasen, kleinem, klarem, über Felsen sprudelndem Bach
durch den dunkeln Wald herausschauen und schon von geringer Höhe in bläu¬
licher Tiefe zu liegen scheinen, giebt ihnen gerade in der Vogesenlandschaft eine
Bedeutung, die sich nicht an den Metern der Tiefe und Breite mißt. Und
dann haben alle diese Thäler Ursprungsgebiete, die das gerade Gegenteil der
alpinen sind. In den Vogesen und im Schwarzwald ziehen sich die Wiesenthäler
schön sanft und grün zu den Kämmen^ hinauf, und diese obern Teile um¬
schließen dann die breitesten Wiesen und Äcker der zerstreuten Weiler, die eben
deshalb so oft von den Höhen in die grünen, unbewohnten Thäler hinab¬
schauen. In den Alpen ist es umgekehrte Da liegen die Dörfer unten, wo
sich hier der Wald von Hang zu Hang über das Thal erstreckt, und die Thal-
anfünge sind wüste, ununterbrochen von Lawinen und Wildbächen umgewälzte
Schuttkessel. Über diesen grünen Thalansängen schwebt etwas an die Ruhe
des Alters erinnerndes. Wer das „große Thal" zwischen Hub und Dagsburq
durchschreitet, vergleicht das kleine Bächlein von heut und die oberflächlich
überhaupt ganz wasserlos hereinmündenden Nebenthäler. Das kann nicht immer
so gewesen sein. Wir wandern in uralten Gebirgen, bei denen nur die Pflanzen¬
decke jung ist, und das Menschenleben und, verglichen mit der Geschichte
des Gebirges, selbst die Burgen aus Römerstcinen ganz nahe an die Gegen¬
wart heranrücken.
Mit allen unsern Waldgebirgen teilen diese beiden die Ausdehnung und
Schönheit der Wälder. Schon Baden-Baden, Gernsbach, Wildbad und die
andern jährlich mehr besuchten Fremdenorte des nördlichen Schwarzwaldes
bieten eine endlose Variation von Waldwegen, und das ist gerade wie bei
Eisenach und Harzburg ihre den Meisten zugänglichste und verständlichste, die
Meisten ergreifende Schönheit. Daß die Wege seltner in den Thälern als an
und auf den Hängen hinführen, ist die Ursache herrlicher von Bäumen ein¬
gerahmter Ausblicke. Besonders in den nördlichen Vogesen tritt dies hervor,
wo die Thäler oft so tief und schmal in den bunten Sandstein eingeschnitten
sind. Da schmiegt sich der Weg in ganz eigentümlicher Weise dem überall
hervortretenden Gesteinskern des Berges an, dessen braunrote Schichtenflächen
ihn wie auf natürlichen Stufen am Berge hinleiten. Biegt er ein, so ist er
wohl auf beiden Seiten von Felsvorsprüngen umdrängt, zwischen denen er sich
hindurchwindet. Man ist oft zweifelhaft, ob mau auf natürlichen Vuntsand-
steinplatten wandelt oder auf einer alten römischen Pflasterung. Damit sind
auch steile Abfälle gegeben, wie der Schwarzwald sie seltner hat. Mit diesen
Felsgebilden und daraus hervorwachsenden Mauern und Türmen, ihren weit
hinausgebauten Kirchen und Kapellen, ihren Dörfchen auf hohen Thalrändern
sind die Vogesen das Land der Silhouetten. Das gilt ja selbst von Stra߬
burg mit seinem hohen Münsterturm; und wie scharf zeichnet sich Fröschweiler
auf seinem Höhenrücken ab! Am Fuße der Berge sind die Dörfer und Städtchen
oft so eng an den Gebirgsrand gedrängt, daß man von dem oben hinführenden
Wege nur ihre Kirchturmspitze und die vorgeschobensten Häuser sieht.
Wo die Sandsteinquadern so viele natürliche Mauern bauten, ist die un¬
mittelbare Bedeutung des Buntsandsteins für den Burgenbau schon der Römer
und mehr noch des Mittelalters als Fundament und Quaderbruch ebenso klar
wie die der phantastischen Felsgebilde auf die Volksphantasie und — die Phan¬
tasie der Keltomcmen. Wo ein Sandsteinfels ein natürliches Fundament ins
Thal hinausbaute, mußte eine Burg darauf gesetzt werden, und wo der Fels
eine natürliche Säule war, mußte er einen Grenz- oder Grabmonolith bedeuten.
Der alte Sagenreichtum des Elsaß hängt damit ebenso zusammen wie das
wuchernde Gedeihen der modernen Keltensagen in den Vogesen.
Schwarzwaldkenner vermissen in den Vogesen die malerischen Gruppen alter
Holzhäuser. Sie fehlen nicht ganz, es liegt aber nicht in der Vesiedlungsweise
der im Innern wenig bewohnten Vogesen, so zahlreiche hochgelegne Dörfchen zu
haben wie der Schwarzwald. Die rechte Rheinseite hat dafür nicht die Menge
der alten Burgen aufzuweisen, die sich in den Vogesen an manchen Stellen
geradezu drängen. Die nächste Umgebung von Zabern und Lützelburg hat deren
sieben wohl erkennbare und daneben noch vereinzelte Trümmer. In Baden sind
auch so interessante alte Städtchen nicht häufig, wie in dem politisch einst so viel
buntem und eigenartigem Elsaß. Mit ihnen können sich einige der vor den
Thalausgängen des südlichen Schwarzwaldes am Rhein liegenden Städtchen,
wie etwa das in der Kirchengeschichte des Oberrheins und der Schweiz berühmte
Säckingen, die Stadt des heiligen Fridolin, oder das einst starke Waldshut
vergleichen. Die Nüchternheit der meisten badischen Amtsstädte bezeugt dagegen
deutlich, daß niemand von der Büreaukmtie, und wäre sie so gebildet wie die
badische, Schöpfungen von eigner Art verlangen darf. Und man möge nicht
vergessen, daß das rechte Rheinufer von schwerer verwüstender Kriegsnot in
demselben Zeitalter heimgesucht wurde, wo sich das linke unter Frankreichs
Schutz tiefer Ruhe erfreute.
Baden hat sich indessen in seinen alten Bischofs- und Fürstenstädten, be¬
sonders in Konstanz, Freiburg, Baden-Baden und Heidelberg, genug geschicht¬
liche Denkmäler bewahrt, daß es seinen Nachbarn im Westen nicht zu beneiden
braucht. Ja in Rastatt und Karlsruhe verdankt es seinem Fürstenhause Städte,
die zu den eigentümlichsten Deutschlands gehören. Rastatt trägt die Spuren
des Markgrafen Ludwig aus der ausgestorbnen Baden-Badenschen Linie, des
Siegers von Zerda, des Gefährten des großen Eugen. Es ist eine aus-
gesprochne Militärstadt. Die Festung und nach der Festung die Garnison
haben die Residenz verschlungen. Einige Denkmäler erinnern an die Kriege
mit Türken und Franzosen, der Stil Ludwigs XIV. ist mit Glück nachgeahmt.
Das Rastadter Schloß aber, breit, geräumig, imposant wie alle Nokokobauten, ist
trotz seiner Nutzbarmachung als Kaserne des dritten badischen Infanterieregiments
Ur. 111 eine traurige Ruine. Der Eindruck des Vergeblichen, vollkommen Über¬
flüssigem ist besonders allen Bemühungen der Götter und Genien eigen, die in un¬
zählbarer Menge die Zinnen, Giebel und Galerien bevölkern. Der vergoldete
Jupiter auf der Spitze der Kuppel mag noch so gleißende Blitze schleudern,
sie erreichen nicht das Bajonett des kleinen badisch-preußischen Musketiers, der
langweilig unten auf- und abschreitet. Den edeln und mannigfaltigen Be¬
mühungen der mit allen Geräten, Waffen und Früchten der Erde ausgestatteten
steinernen Götter spricht die einförmige Übung des Stechschritts Hohn, die die
Rekruten auf der Ebne der Sandwüste hinter dem Schloß ausführen. Und
ganz besonders ergebnislos kommt uns die Anstrengung der Genienpaare vor,
die auf allen Seiten das badische Wappen zeigen. Sie vermögen höchstens
die Neugierde eines zufälligen Besuchers zu reizen, dessen Aufmerksamkeit im
nächsten Augenblick durch die sehr leserliche Inschrift: Kgl. Preußisches Proviant¬
amt abgelenkt wird. Indessen geht seit der Niederlegung der Wälle Rastatt
als Mittelpunkt der badischen Nheinthalbahnen, der Murgthalbahn und der
Linie nach Selz und Hagenau einer gesunden Entwicklung entgegen, die sich
schon in einem nicht unbeträchtlichen neuen Bahnhofstadtteil ausspricht. Die
strategischen Erwägungen des alten Türkenbesiegers bei der Befestigung Nastcitts
sind durch die Zurückgewinnung von Straßburg hinfällig geworden; zugleich
wird aber durch diese Rastatt eiuer neuen Blüte entgegengeführt. Und das
hat sich der alte Feldherr wohl nicht träumen lassen, wieviel Weisheit auch
seine mächtige Allongeperrücke bedeckt haben mag.
Karlsruhe wird von vielen, die es nicht genau kennen, als eine der
langweiligsten Städte Deutschlands bezeichnet; seine Fächeranlage ist aller¬
dings sehr regelmäßig, und da es nicht älter als hundertachtzig Jahre ist,
kann es keine ehrwürdigen Denkmäler umschließen. Ich teile jene Ansicht
nicht, finde vielmehr gerade in dieser jungen Stadt erfreuliche Zeugnisse dafür,
daß der diesen warm- und weichherzigen Südwestdeutschen innewohnende Schön¬
heitssinn nicht bloß als ein geschichtlicher Schatten dünn und grau in alten
Städten, Münstern und Schlössern umgeht. So herrliches er dort geschaffen
hat, das Schönste bleibt doch, daß er lebendig geblieben ist. Er war nur ein¬
geschlafen. In einem Schlaf, den Not und Verkümmerung so tief gemacht
haben, entstanden die ärmlichen Neustädte mit den unglaublich kleinen, absolut
schmucklosen Häusern, die man hierzulande einstöckig nennt; in Wirklichkeit be¬
stehen sie ja nur aus einem Erdgeschoß. Aber als Friede und Gedeihen ein¬
zogen, da wachte sogleich der alte Schönheitssinn wieder auf. Karlsruhes Bau-
geschichte zeigt die Stufen dieses Aufsteigens sehr deutlich. In der,, 1740 ge¬
gründeten Stadt gab es außer dem zopfigen Schloß nur Kleines, Ärmliches;
selbst die Ministerien und die Wohnungen der Prinzen sahen nur größern
Bürgerhäusern gleich. In den ersten beiden Jahrzehnten unsers Jahrhunderts
mit der auf diese dörfliche Residenz zurückwirkenden Vergrößerung Badens
wurden einfache Kirchen in antikisirendem Stil, zwar nüchtern, aber durch die
großen Verhältnisse wirkungsvoll von Weinbrenner gebaut, der besonders als
theoretischer Kenner der antiken Baukunst geschätzt war. Das jetzt durch den
pompösen Prachtbau des Erbgroßherzogschlosscs verdrängte „Schlößle," damals
für eine der Prinzessinen gebaut und später von der Mutter des regierenden
Großherzogs bewohnt, entsprach als einfache Villa, schmucklos, aber mit großen
Räumen, auf originellem Felseuunterbau dem Streben nach größern Dimen¬
sionen bei einfachster Haltung im Äußern. Auch die innere Ausstattung dieses
Schlößchens war bis zu seinem Abbruch einfacher als die von Tausenden von
Wohnhäusern und Villen moderner Geldprotzen. In dieser Zeit wohnten die
Würdenträger des Hoff und des Staats und die Aristokraten, die sich in
Karlsruhe niederließen, fast alle in der Stefanienstraße in bürgerlich einfachen,
äußerlich absolut schmucklosen Häusern, die im Innern ein eben zureichendes
Maß von Bequemlichkeit hatten. In vielen waren die Wohnungen, wie im
Bauernhaus, gar nicht vom Hausgang abgeschlossen. Der Eintretende ge¬
langte ohne Hindernis bis an die Eingänge der Küche, Wohn- und Diener¬
zimmer, die alle in derselben Flucht lagen. Das Schöne an diesen Häusern
war, daß ihre tiefen, schattigen, obstreichen Gärten bis an den damals noch nicht
„angelegten" Hardtwald reichten. In einem solchen Haus, das Stadt und
Land verband, hat Scheffel seine Knabenjahre verlebt. Ich habe nie eine
stillere Straße gesehen als diese. Man mag das langweilig nennen, man kann
es auch poetisch finden. Scheffel hat als Mann gern in dieser Straße ge¬
wohnt. Viele Stunden des Tages konnte man sie durchwandern, ohne einem
Menschen zu begegnen. Die BePflanzung mit Bäumen, wie in andern deutschen
Städten in den fünfziger Jahren durchgeführt, hatte sie wesentlich verschönert.
Mit dem Meister des neuromanischcn Stils, Hübsch, trat ein neuer Ab¬
schnitt der Baugeschichte Karlsruhes ein. Die Kuusthalle in ihrer alten, jetzt
durch Vergrößerungen wesentlich umgestalteten Form, das neue Theater zeigen
einen feinen Sinn und ein Vermögen, mit geringen Mitteln Großes zu wirken
und die romantischen Stilformen der Gegenwart anzupassen. Wenn die Ge¬
schichte der deutsche» Kunst einst in einem das Kunstgewerbe umfassenden Sinn
geschrieben werde» wird, werden die Thonreliefs des Hoftheaters von Reich
in Hüfingen hoffentlich nicht vergessen werden. In diese Zeit fallen die
schönen Bauten Eisenlohrs, die besonders durch die virtuose Verwendung des
bunten Sandsteins hervorragen. In den fünfziger Jahren war das Wohnhaus
Eisenlohrs in der Karlsstraße eine Sehenswürdigkeit. Heute verschwindet es
neben dem pompösen palastähnlichen Bau des Bürgers S. gegenüber. Auch der
ältere Teil der Technischen Hochschule gehört noch dieser Zeit edler Einfach-
heit an. Alles moderne ist geschmückter, wobei natürlich viel mehr Gelegen¬
heit zur Entfaltung gegeben war. Karlsruhe war unterdessen der Sitz einer
Architekturschule am Polytechnikum und einer Kunstschule und einer der be¬
lebenden Mittelpunkte des süddeutschen Kunstgewerbes geworden. Aber wir
sehen noch immer mit Frende die Anregungen jener einfach-schönen Bauweise
nachwirken, die besonders auch in der Verwendung des ungetünchteu Braunrot
des Buntsandsteins schöne Vorbilder gegeben hat. Die einfachsten Bauten der
badischen Staatsbahn, aus grau beworsnem Backstein mit Fenster- und Thür¬
einfassungen ans buntem Sandstein, konnten der Privatarchitektur zum Muster
dienen und sind mit großem Glück z. B. in neuen Familienhausanlagen Frei-
burgs nachgeahmt.
Welche Wandlung hat dieser neuerweckte Kunstsinn aber erst in der alten
Schwarzwälder Industrie bewirkt! Welcher Fortschritt von den karminroten
Rosen auf dem weißen schon lackirten Schild der Schwarzwälderuhr von einst¬
mals und den kunstvollen Ausländer von geschnitzten Wand- und Negulatoren-
gehäusen, die ein Besuch der Ausstellungen in Triberg oder der Uhrmacher¬
schule in Furtwangen zeigt! Nicht früher als im Anfang der siebziger Jahre
hat dieser künstlerische Aufschwung begonnen, also ziemlich gleichzeitig mit dem
Erwachen aus dem allgemeinen Verfall, der das Gewerbe so ziemlich zwei
Menschenalter immer tiefer aus dem römisch-französischen Stil des ersten Kaiser¬
reichs durch den Biedermaierstil bis zur äußersten Verarmung der fünfziger
Jahre herab geführt hatte. Die Pariser Ausstellung hatte zuerst auf dem
Gebiet der Uhrenindustrie eine so große Überlegenheit in der Ausstattung der
Werke aus dem französischen Jura über die der Schwarzwälder und Schweizer
gezeigt, daß man schon damals die Reform der Zeichen- und Schnitzschulen ins
Auge faßte. Zuerst erschien uun ein merkwürdiges Gemisch des gewohnten
Gewöhnlichen mit schulmäßig-klassischen und Renmssancemotiven, das sich sehr
festgesetzt hat, und nur langsam hat sich das selbständige Kunstvermögen der
Alemannen daraus wiedererhoben. Die künstlerische Ausstattung blieb nicht bei
den Uhren stehen, sie hat sich auf alle Schwarzwälder Industrien ausgebreitet,
und neue Zweige der Kunstindustrie haben sich besonders an die schon lange
gepflegte Holzbildhauerei angeschlossen. Die Aufgaben werden auch hier immer
schwieriger, aber ohne dieses Aufraffen hätte der Wettkampf mit den Nachbar¬
industrien nur mit Niederlagen auf der ganzen Linie geendet, während nun
die Schwarzwälder Industrien ein zwar mühsames, aber stellenweis immer noch
recht erträgliches Leben sichren. Auch sie gehören zu dem, was im Schwarz¬
wald den Wandrer anzieht und ihm Sympathie mit dem ebenso fleißigen wie,
findigen Volke einflößt.
Das Hausirer mit Schwarzwälder Holzwaren soll bis ins frühe Mittel¬
alter zurückgehen, die „Glasträger" haben ihre zuerst sehr einfachen Gläser
wahrscheinlich schou im sechzehnten Jahrhundert ins Rheinthal und in die
Nachbarländer getragen. Ein Glasträger soll ans Böhmen im Anfang des
siebzehnten Jahrhunderts die erste Holzuhr in den Schwarzwald gebracht haben,
die dann die geschickten „Schnefler" (Schnipfler, Schnitzer) nachmachten, und
aus der die große Schwarzwälder Uhrenindnstrie hervorgegangen sein soll. Aber
das war überhaupt die Art der Hausirer, daß sie von ihren Wanderungen alles
mitbrachten, was die Heimat brauchte, und die Heimat erhielt dadurch manche
Anregung zu neuen Erzeugnissen. Wie die Hausirer organisirte Gesellschaften
bildeten, die in alljährlich wiederkehrenden Versammlungen der Heimgekehrten
in Triberg, Steig und andern Orten ihre Absatzgebiete verteilten, Preise be¬
stimmten und sich Gesetze gaben, das möge der Leser in Treulich Geschichte
der Schwarzwälder Industrie (1874) nachschlagen. Man muß den Hut ab¬
ziehen vor diesem Fleiß, dieser Selbständigkeit und diesem Sinn für billiges,
gesetzliches Handeln. Es giebt kaum ein Gewerbe von der einfachsten Holz¬
arbeit und Strohflechterei bis zur kunstvollen Vaumwollweberei und Uhr-
macherei, das die Schwarzwälder nicht aus eigner Kraft in der Form der
Hausarbeit bei sich eingebürgert hätten. Natürlich hat sich keines ganz in
dieser Form erhalten lassen, und besonders in der Uhrmacherei hat die Gro߬
unternehmung an der Notwendigkeit der Verfeinerung des Mechanismus und
der künstlerischen Ausstattung Bundesgenossen erhalten, gegen die selbst jene
Handfertigkeit nicht aufkommt, die einst die berühmten genauen Schlaguhren
bis auf das letzte Rädchen aus Holz zu schaffen wußte.
Die Industrie hat sich im Schwarzwalde hauptsächlich auf den Hochebnen
entwickelt, die in breiten Wellenhügeln, an die schwäbisch-bayrische Hochebne
erinnernd, vom Schwarzwald östlich abdachen. Im östlichen Teil, in der Baar,
ist diese Landschaft getreidereich und reich an stattlichen Dörfern. Die Breg, der
Donanquellsluß, windet sich hier langsam durch ihr Wiesenthal zwischen Baum¬
gruppen hin. Wer in diesem Thal aus der Alp dem Schwarzwald zuwandert,
der mache in Donaueschingen Halt, wenn auch nicht wegen der schön gefaßten
Donauquelle. Er betrachte sich einmal diese stille Residenz des reichsten
deutschen Standesherrn und besonders die wundervollen Sammlungen, die
der Fürst von Fürstenberg dort vereinigt hat und mit freiem Sinn und frei¬
gebig verwalten läßt. Die Bibliothek, die Urkundensammlung, die Gemälde¬
sammlung und das geologisch-paläontologische Museum sind ebenso viele be¬
deutende Sehenswürdigkeiten. Das kleine Städtchen der Baar ist durch sie
ein geistiger Mittelpunkt geworden. Leute wie Scheffel, Riezler, Vaumann
haben hier gelebt und gearbeitet. Wie gut wäre es, wenn viele Glieder unsers
hohen Adels dieses Beispiel nachahmten; und wie viel besser noch, wenn sie
nach dem Beispiel eines Due de Broglie, eines Duke of Argyll selbst mit Hand
anlegten. Krupp hat nicht bloß ein interessantes Waffenmuseum, sondern auch
eine schöne geologische Sammlung zu zeigen, und seine Privatbibliothek ist an¬
sehnlich. Der verstorbne Gruson hatte die schönsten Orchideen und Kakteen,
die in Deutschland eines Privatmanns Garten zieren. Es ließen sich noch
viele Namen nennen. Aber im allgemeinen ist das alles gar nichts im Ver¬
hältnis zu dem, was bei uns Staat und Körperschaften für Wissenschaft und
Kunst leisten müssen und noch mehr außer Verhältnis zu den Mitteln jener
Leute. Um so erfreulicher ist das Bild, das Donaueschingen gewährt. In dem an
seltenen Bäumen reichen Schloßgarten erhebt sich das jetzt eben vollendete neue
Schloß als ein stolzer Renaissancebau, neben dem das aus dem Anfang des
Jahrhunderts stammende „alte" Schloß nur ein gemütliches ländliches Herren¬
haus von etwas größern Verhältnissen ist. Dieses war seinerseits an die
Stelle des Hüfinger Schlosses getreten", das einer ganz andern, feste Mauern
und sichere Gänge liebenden Zeit angehörte. Die neuen fürstlichen Bauten in
Donaueschingen erinnern auffallend an Karlsruher Vorbilder, durchaus nicht
zu ihrem Nachteil; sie sind von einheimischen Künstlern entworfen und aus¬
geführt.
Die Fürsten von Fürstenberg sind stolz, die Herren der Donauquelle zu
sein, in die in kräftigern Zeiten die hohen Besucher hineinsprangen, um ein
Glas auf das Wohl der Herrschaft zu leeren. Die Gelehrten wollten ihnen
diesen schönen Besitz streitig machen, indem sie sagten: Wohl entsteht die
Donau bei Donaueschingen durch die Vereinigung der Breg und der Vrigach,
aber deren Quellen sind die Donauquellen. Hier sagt man aber: Der aus
der Donauquelle im Donaueschinger Schloßhof herausfließende Bach vereinigte
sich früher mit der Breg und Brigach bei deren Zusammenfluß und hieß
Donaubach. Also liegt hier die Quelle. Einerlei, die offizielle Donauquelle
ist ein großes, ungemein klares Wasser in einem kreisrunden Becken mit
monumentalen Steingitter. Den Zweifler belehren monumentale Inschriften
und Bilder. Auf der einen Seite „Bis zum Meer 2840 Kilometer," auf der
andern „Über dem Meer 678 Meter," darüber ihrouend eine Quelluymphe, zu
deren Füßen ein Kind die Quelle aus voller Vase ausgießt, und endlich im
Kreis die Steinbilder des Tierkreises. Das Ganze, von Linden und Ahornen
überschattet, ist ein reizendes Stück Natur und Kunst, dem wir nur die leeren,
zwecklosen, gemeinen Zinkvasen auf der Balustrade wegwünschten.
Donaueschingen liegt frei auf weiter Hochebne. Gehen wir dem Schwarz¬
walde zu, so treten breite, flache Höhenzüge erst noch weit aus einander und
lassen den Blick in die Ferne schweifen; dann nähern sie sich einander und
führen sachte ins Gebirge über, indem sie den Fluß und den Weg von beiden
Seiten immer mehr einengen und ihre hohen Tannen naher heranschieben.
Dabei wird da und dort in der Flußrinne der Felsboden sichtbar, erst roter
Sandstein, dann Granit, und zuletzt rinnt das Wasser an dunkeln Felsblöcken
hin, die sich von dem ganz überrasten Thalboden abheben. Das ganze Breg-
thal bis auf die Höhe hinauf ist aber immer nur von denselben flachen Wöl¬
bungen eingerahmt, und auch in der Ferne taucht kein höherer Gipfel auf, bis
bei dem nenerdings von Sommergästen viel besuchten Oberbrand plötzlich das
ausgedehnte Alpenpanorama im Süden und die südlichen Schwarzwaldgipfel
im Westen auftauchen, worauf dann über Neustadt auch der höchste Schwarz¬
waldberg, der Feldberg erscheint, der zwar an Höhe, kaum aber in der Form
die bescheidnern Wölbungen übertrifft. Er zeigt im obersten Teil eine leichte
Abweichung von der einfachen flachen Kurve, eine Annäherung an einen Gipfel,
der aber doch flach ist. Und so kommt man eigentlich aus dem Hochebnen¬
haften nicht heraus, bis man in das Höllenthal hinabsteigt, wo der schmale
Thaleinschnitt das Großartige bewirkt, das die Erhebung nicht vermochte. Bei
dem kühnen Felsenturm des Hirschsprungs erinnert man sich an ähnliche Bil¬
dungen im obern Bodethal und an so manche andre Felsklippen an den Hängen
dieses oder jenes Mittelgebirgsthales. Es zeigt sich darin das allgemeine Ge¬
setz, daß die scharfen Formen in unsern alten Gebirgen nicht wie in den Alpen
den Gipfeln und Kämmen, sondern den Thaleinschnitten angehören. Deswegen
ist auch das schönste am Feldberggipfel, der mit seinem gastlichen Hause dort
herüberwinkt, genau wie beim Brocken, der Rundblick, der hier allerdings ein
Alpenpanorama umfaßt, wie man es in- den Alpen selbst nicht findet, und
dazu den Blick ins Rheinthal bis in die Vogesen hinein.
Die Hochebne der Baar senkt sich als ein ununterbrochen wohl angebautes
Land zum Vodensee hinab. Im Westen tauchen an ihrem Rande die kalkgrauen
Abfälle des Ränder und die altvulkcmischeu Kegel des Hegau hervor. Das
Nordufer des Bodensees aber gehört zu den ausgedehntesten Weinlandschaften
Deutschlands. Von den Höhen hinter dem mauer- und türmereichen Meers¬
burg, wo das Grabkirchlein herabschaut, neben dem das rührend einfache Grab-
denkmal der Annette von Droste-Hülshoff steht, bis über Hagenau hinaus ist
der ganze sanfte Abhang ein einziger Weingarten; das lichte Mattgrün der
Neben bedeckt einförmig dieses Gestade, so wie in Flachländern Wiesen oder
Rübenfelder weite Flächen einnehmen. Steigt man auf engen Wegen die heißen
Wände hinauf, wo der edelste Seewein, der Mersburger, ausgebrütet wird, so
sieht man auf der Hochebne Hopfengürten, Obstbüume, Kleefelder, aber
meilenweit kein Getreide. Dahinter steht in der Ferne wieder der dunkle
Rand des Waldes.
Die Ernennung des bis¬
herigen Direktors der Kolonicilabteilung des Auswärtigen Amts zum Unterstaats¬
sekretär und Vorsteher der ersten (politischen, d. h. diplomatischen) Abteilung dieses
Amtes beweist, daß die Ausgestaltung der Kolonialverwaltung zu einem selbständigen
obersten Reichsamt für absehbare Zeit nicht vorgesehen ist, da sonst Freiherr von
Nichthofen lieber Staatssekretär eines unabhängigen Kolonialamts geworden wäre,
als Inhaber des am meisten überlasteten Postens des Auswärtigen Amts, der zu¬
gleich wenig Initiative erlaubt, weil der thatsächliche Chef der ersten Abteilung der
Staatssekretär selbst ist. Es darf wohl zunächst als Aufmerksamkeit gegen den
Herzog-Regenten von Mecklenburg, den rührigen Präsidenten der Kolonialgesellschaft,
und sodann gegen den regierungsfreundlichen Teil der Konservativen betrachtet
werden, daß nach langem Suchen der mecklenburgische Konservative, Herr von Buchka,
zum Direktor der Kolouialabteilung ernannt worden ist.
Der etwas häufige Wechsel läßt einen Rückblick auf die bisherigen leitenden
Persönlichkeiten angebracht erscheinen, zumal da nun ein gänzlicher Neuling im aus¬
wärtigen Dienste die Kolonialabteilung übernimmt. Die offiziösen Empfehlungen des
Herrn von Buchka auf Grund seiner Mitgliedschaft der Kolonialgesellschaft klingen
wunderlich. Die juristische Thätigkeit ist auch keine glückliche Vorbereitung, da es
sich hier um eine praktische Verwaltung handelt. Die Kolonialabteilung ist bei dem
Beginn der Einrichtung der Schutzgebiete nur ein Referat der ersten Abteilung des
Auswärtigen Amts gewesen, um das sich der große Kanzler anfänglich selbst be¬
kümmerte, sodaß der Referent, Geheimer Legationsrat Dr. Krauel, nur Bismarcks
Willen auszuführen hatte. Damals wurde die Kolonialpolitik noch nicht hoch be¬
wertet, sonst hätte gerade Herr Krauel nicht Referent werden können. Er hieß im
Amt bloß der Mann mit dem leichten Herzen, da er als Generalkonsul in Sydney
die deutschen Ansprüche auf den Fidschi- und Tongainseln gegenüber den englischen
Anmaßungen schlecht gewahrt und allzu wohlfeil preisgegeben hatte. Der Sansibar¬
vertrag war bei solcher Auffassung unschwer vorauszusehen. Während bei der Auf¬
nahme der Kolonialpolitik Bismarck selbst mit genialen Blick eingriff und höchst¬
eigenhändig die Weisungen gab, blieb die spätere Ausführung mehr dem damaligen
Staatssekretär, Herbert Bismarck, und dem genannten Sachreferenten überlassen.
Beide ließen sich von England völlig übertölpeln, als Dr. Krauel in London auf
Grund englischer Admiralitätskarten den berüchtigten Sansibarvertrag abschloß, der
Bismarcks Werk arg beschnitt. Helgoland hätten wir schließlich umsonst bekommen,
jedenfalls hätte das diplomatische Geschick der amtlich Beteiligten auch bei der Er¬
werbung von Helgoland das Ansehen und den Vorteil des Reiches wahren müssen.
Wenn es auch feststeht, daß Herbert Bismarck an erster Stelle für den Sansibar¬
vertrag verantwortlich zu machen ist, so ist doch anzunehmen, daß der Vater schlie߬
lich eine andre Entscheidung getroffen hätte. Caprivi trifft hier nicht der Vorwurf
des Mangels an nationalem Verständnis, da er bloß noch seinen Namen unter den
Vertrag zu setzen hatte, ohne noch einwirken zu können. Die Wirkung im Aus¬
wärtigen Amt selbst war auch derartig, daß Dr. Krauel einfach weggelobt wurde
nud als ausländischer Gesandter die Zentralstelle verlassen mußte. Es wäre aber
unbillig, wenn man nicht anerkennen wollte, daß er sich als deutscher Vertreter in
Brasilien der nationalen Interessen besonders im Süden des Landes, dem alten
deutschen Siedlungsgebiete, mit nachdrücklichem Eifer angenommen hat; diese natio¬
nale Richtung unsrer dortigen Politik entsprang allerdings unmittelbaren Weisungen
von Berlin aus, da jetzt erfreulicherweise in der Wilhelmstraße ein nationaler Wind
weht, und auch die jüngern Diplomaten nicht mehr im internationalen, gesell¬
schaftlichen Verkehr das nationale Gefühl verlieren, was man leider von der ältern
Schule nicht sagen kann, obwohl sie doch Bismarcks Beispiel hätte bekehren sollen.
Der Jurist Kayser übernahm nach Krauels Ausscheiden das Referat, das nunmehr
zu einer selbständigen Abteilung erhoben wurde. Dank Caprivis und Marschalls
erklärlicher Unkenntnis der Verhältnisse ihres Ressorts gelang es auch dem neuen
Dirigenten, die Kolonialabteilung thatsächlich unabhängiger zu machen als die andern
Abteilungen, was deu Kolonialinteressen nur förderlich war. Allerdings haftete
Kayser trotz seines praktischen Verstandes noch juristischer Formalismus an, aber der
Systemwechsel fällt ihm nicht zur Last. Das Soldatenspielen mußte in den Schutz¬
gebieten aufhören, und Herr von Soden war in Kamerun keineswegs ein Bureaukrat,
sondern ein gewandter Geschäftsmann gewesen, dem das Schutzgebiet seinen Auf¬
schwung verdankt. Die zweite Regierung Wißmanns in Ostafrika hat gezeigt, daß
er kein stetiger Arbeiter ist. Das Leben des Expeditiousführers taugt nicht für
die stille, rastlose Thätigkeit des Verwalters einer Kolonie, dem doch nur beschränkte
Geldmittel zur Verfügung stehen. Deshalb war auch Wißmanns Kandidatur für
die Leitung der Kolonialabteilung niemals ernstlich in den maßgebenden Kreisen
erwogen worden. Auch der Kolonialrat hielt ihn nicht dafür geeignet. Daß Soden
in Ostafrika eine unglückliche Hand hatte, konnte Kayser nicht voraussehen. Er hat
sich gegen den teuern und zwecklosen Militarismus unsrer Kolonien weidlich gewehrt.
Die persönliche Tüchtigkeit des Gouverneurs Liebert und des Landeshauptmanns
Leutwein kann an dem verfehlten System nichts ändern. Der Assessor und
der Leutnant müssen sich erst sehr mausern, ehe sie dort unter nützen sollen.
Beide geben sich im übrigen persönlich redliche Mühe. Kayser hatte darunter zu
leiden, daß uuter dem Kolonialseind Caprivi die Kolonialpolitik das Stiefkind des
Auswärtigen Amts war. Der Zustand in Sttdwestafrika war geradezu schmählich,
ohne daß die Kolonialabteilung oder der dortige Reichskommissar das geringste von
dem unverständigen Starrsinne des zweiten Kanzlers erreichen konnten. Da sich
das deutsche Kapital nicht ganz mit Unrecht einer so schlechten Kolonialpolitik
versagte, die sogar den etwaigen Verkauf von Südwestafrika an England erwägen
konnte, so blieb Kayser nichts andres übrig, als andre Finanzkräfte anzuregen.
Daß es leider englisches Kapital in dem gerade von Albion bedrohten Südwest-
afrikn war, mußte den Zorn der nationalen Kolonialfreunde erregen, die aber doch
nicht Pcitriotisch und kapitalkräftig genug waren, in die eigne Tasche zu greifen,
statt die ohne Frage schuldlose Kolonialabteitung anzugreifen. Die sachliche Gegner¬
schaft verwandelte sich bald in persönliche Feindschaft, die der amtlichen Kolonial¬
politik schaden mußte, sodaß Kaysers Austritt unvermeidlich war, obschon er in
schwerer Zeit seine Stellung völlig ausgefüllt hatte.
Herr von Richthofeu trat den Posten uuter ganz andern Aussichten an. In
Ägypten hatte er die erfolgreiche Rücksichtslosigkeit der Engländer in nächster Nähe
kennen gelernt. Er wußte also, mit welchen Waffen der koloniale Erbfeind am
sichersten zu bekämpfen ist. Er machte auch dem Schreiber dieser Zeiten keinen
Hehl aus seiner Bewunderung dieses thatkräftigen englischen Eigennutzes, der dem
Inselreich den Weltball handelspolitisch erobert hat. Das englische Muster kann
uns nur heilsam sein. Die deutsche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit schützt uus vor
bösem Mißbrauch nach englischem Beispiel, und der Haß unsrer lieben Nachbarn
ringsum auf dem Festlande wird uns auch sonst in den Schranken halten. Herr
von Richthofen ist in den vorgezeichneten Geleisen ruhig weiter gefahren, ohne daß
auch ihm eine stärkere Kapitalserschließuug geglückt wäre, wo Kayser trotz der Übeln
Erfahrung doch wohl finderischer gewesen ist, zumal da er auch bessere Finanz-
beziehuugen hatte. Die Arbeitsfreudigkeit des heimischen Kapitals für die Kolonien
läßt noch sehr zu wünschen übrig. Am opferwilligsten und unternehmungslustigsteu
haben sich noch unsre großen Herren vom Lande, die verschrieenen ostelbischen Innrer
gezeigt, die zusammen mit reichen Mitgliedern der regierenden Häuser beträchtliche
Summen in den Schutzgebieten angelegt haben. Ostafrika ist dank der Fürsorge
der Regierung bisher noch bevorzugt.
Man hat in Kolonialkreisen häufig und stürmisch die Trennung der Ver¬
waltung der Schutzgebiete vom Auswärtigen Amt gefordert, und zwar mit Unrecht.
Die eigentlichen Kolonialgeschäfte nehmen nur den kleinern Teil der allgemeinen
Kolonialthätigkeit der Reichsregierung in Anspruch, die sich nicht auf die verhältnis¬
mäßig kleinen und noch unbedeutenden Schutzgebiete beschränkt. Das Deutschtum
in überseeischen Ländern, in Südamerika und Südafrika, auch in der Union,
sowie in Europa außerhalb der Reichsgrenzen ist unendlich viel wichtiger für
die Weltmacht des größern Deutschlands, als unsre noch unentwickelten Kolonien,
die doch nur schlechte Brocken vom Tische andrer Kolonialmächte gewesen sind. In
der politischen Abteilung des Auswärtigen Amts liegt daher noch heute der Schwer¬
punkt einer Kolonialpolitik im weitern Sinne. Diese aber der Kolonialverwaltung
unterzuordnen, ist ein Unding, da die Auslandspolitik immer mehr von ihr bestimmt
wird. Ja sogar die Schutzgebiete verlangen schon in einem äußern Punkte die
stete Fühlung mit der auswärtigen Leitung, da die Grenzabmachuugen im dunkeln
Erdteil noch lange nicht zum Abschluß gelangt sind. Freilich ist hierbei der
Kolonialverwaltung vielleicht ein größerer Einfluß einzuräumen. Aber beim jüngsten
Togoabkommen waren der dortige Landeshauptmann und Herr Vohsen ausdrücklich
zugezogen und das Ergebnis trotzdem ziemlich unbefriedigend. Gegenüber dem
fremden Ausbreituugsdrcmge ist daher eigne Selbstgenügsamkeit kaum mehr am
Platze. In Togo und Kamerun werden wir immer mehr vom Hinterkante ab¬
geschlossen. Der Nigerbogen wie der Tschadsee find uns entrückt, obwohl alle
Grundlagen zum Gelingen von Bismarck geschaffen worden waren. Auch unsre
Forscher haben trotz beschränkter Mittel ihr Bestes mit zäher Ausdauer gethan.
Hier hat fraglos die Thatkraft der Kolonialverwaltung versagt. Die Unabhängigkeit
vom Auswärtigen Amt würde die schon jetzt gelockerte Fühlung zum Schaden der
Schutzgebiete noch mehr mindern und das Kolonialinteresse des Auswärtigen Amts
vollends lahmen, zumal da es schon gegenwärtig nicht allzu lebhaft ist und häufig
als Störung des guten Einvernehmens mit den andern Kolonialmächten empfunden
wird. Seitdem wieder ein geschulter Diplomat an der Spitze des Auswärtigen
Amtes steht, zeigt sich auch wieder ein größeres Vertrauen zu der Leitung unsrer
auswärtigen Angelegenheiten, man kann auch einen günstigen Einfluß auf die
Erschließung und äußere Abgrenzung unsrer Schutzgebiete erhoffen. Die Engländer¬
furcht, die auch Bismarck noch nicht ganz überwunden hatte, obgleich er die Hohl¬
heit der englischen Großsprechereien durch die Art der Einführung der Kolonialpolitik
in den Rahmen der allgemeinen Politik wirksam aufgedeckt hat, dürfte nunmehr
beseitigt sein. Bezeichnend und durchaus gerechtfertigt ist auch der Umstand, daß
Kiautschou nicht der Kolonialverwaltung, sondern dem Neichsmarineamt unterstellt
worden ist. obgleich fraglos ein Landerwerb vorliegt, und eine deutsche Handels¬
kolonie in Aussicht steht. Das Reichsmariueamt kann sich staatsrechtlich nur um
die Flottenstation kümmern. Die Zivilverwaltung soll aber nur ein kleines Anhängsel
bleiben und ist bisher bloß durch einen Amtsrichter markirt, der wohl auch kaum
überlastet werden dürfte.
Der neue Kolonialdirektor von Buchka ist der letzte aus der Reihe der in Vor¬
schlag gebrachten Beamten. Es ist bekannt, daß mehrere Beamte des auswärtigen
Dienstes die Berufung abgelehnt haben. In der Kolonialabteilnng selbst ist wohl
keine Umschau gehalten worden, da die beiden ältesten Räte noch zu jung für diese
Stellung sind, anch der einzige seit Errichtung der Abteilung dort beschäftigte
Referent, Herr von König, noch 1891 Assessor war. Auch der Generalkonsul
in Kapstadt, Herr von Schuckmann, der bis dahin zu den ersten Hilfsarbeitern
der Abteilung gehört hat, muß wohl unter seiner Jugend leiden, wie auch der
Gesandte in Mexiko, Herr von Kettler, der als einziger Diplomat dem Ressort
zugeteilt war. Die drei Herren wären wohl sonst die geeigneten Sachkenner ge¬
wesen. Herr von Schwartzkoppen ist leider kein Redner, und Herr von Norden-
flycht will seine jetzige Bankthätigkeit nicht gegen den undankbaren Staatsdienst
aufgeben, obschon beide ehemaligen Räte der Kolonialabteilnng ihrem Alter und
ihrer hervorragenden Befähigung nach das meiste Anrecht auf die leitende Stelle
hatten. Der Oberlandesgerichtsrat von Bnchka wird sich zunächst einarbeiten müssen,
was seine Vorgänger nicht brauchten, und den Juristen in einen Verwaltungs¬
beamten verwandeln, was bei seinem Alter und der Dauer seiner richterlichen
Thätigkeit keineswegs so leicht ist. Als einzigen Befähigungsnachweis bringt er
das Kolonialinteresse eines verständigen Parlamentariers mit, das freilich auch
andre Politiker für sich in Anspruch nehmen können. Herr von Buchka hat den
Vorteil, daß keine dringenden Neuerungen erforderlich sind, aber die wirtschaftliche
Erschließung der Kolonien liegt noch sehr im Argen und bedarf der ernstesten Er
U. v. Ser.
Die Zeitung „Das Volk" hat
kürzlich in einem Leitartikel: „Grenzboten und Kathedersozialisten" ihren Lesern die
sozialpolitische Tendenz der Grenzboten so dargestellt, als ob sie die sozialen
Reformen überhaupt bekämpften und der „unbedingte Gehorsam" der Arbeiter ihre
einzige sozialpolitische Forderung wäre. Natürlich ist das wider besseres Wissen
geschehen, und wir brauchten auf diesen Unsinn nicht zu antworten, wohl aber ver¬
anlaßt es uns, auf die Gründe kurz zurück zu kommen, die uns den Kampf gegen
die Einseitigkeiten und Übertreibungen der Kathedersozialisten und, soweit sie mit
ihnen den gleichen Weg gehen, der Christlich-Sozialen, National-Sozialen usw.
heute zur Pflicht machen. Unser Kampf richtet sich nur gegen Einseitigkeiten und
Übertreibungen.
Als in den siebziger Jahren die manchesterliche Richtung, nachdem sie schon
Jahrzehnte vorher von der deutschen nationalökonomischen Wissenschaft als falsch
und unhaltbar erkannt worden war, auch in der Praxis in die Brüche ging, kamen,
wie es kaum anders sein konnte, die Schüler der alten maßvollen nichtmanchester-
lichen Nationalökonomen oben auf. Der Kampf gegen die Einseitigkeit und Über¬
treibung des „individualistischen" Prinzips war für sie aber keine wissenschaftliche
Heldenthat mehr, und der Sieg fiel ihnen ziemlich mühelos in den Schoß. Auch
die Rehabilitirung des „sozialistischen" Prinzips in der praktischen Politik ist nicht
das sauer errungne Verdienst der „Kathedersozialisten," so populär diese falsche
Geschichtsauffassung auch im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre gemacht
wordeu ist. Die Geschichte des Vereins für Sozialpolitik war in der Hauptsache
nicht ein Kampf sondern ein Triumphzug mit reichlich Weihrauch und Lorbeer¬
kränzen, und man konnte, schon als er begann, ahnen, daß er zu derselben Über¬
treibung und Einseitigkeit des Sozialismus führen werde, zu der vorher der
Individualismus getrieben worden war. Wer deu Streit zwischeu Treitschke und
Schmoller, auch den zwischeu Adolf Held und Adolph Wagner in den siebziger
Jahren unbefangen betrachtete, konnte dem Kathedersozialismus das Ende voraus¬
sagen, bei dem er heute angelangt ist. Aus dem Kampfe für die Gleichberechtigung
des sozialistischen und des individualistischen Prinzips, den die deutschen National¬
ökonomen um die Mitte des Jahrhunderts aufgenommen und siegreich durchgeführt
hatten, haben die Epigonen den Kampf für den Sozialismus schlechthin gemacht.
Für den „wissenschaftlichen Sozialismus" freilich, wie sie sagten; aber eben dadurch
sind wieder die Schüler dieser Epigonen zu dem geworden, was sie sind, zu viel¬
fach leichtfertigen und gedankenlosen Aposteln der „wissenschaftlichen Sozialdemokratie,"
zum eigentlichen Generalstab der Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Partei.
Schon im Jahre 1878 warnte Adolf Held vor dem „wissenschaftlichen Sozialismus,"
ivie ihn die Kathedersozialisten zu predigen begannen, mit den leider völlig in den
Wind geschlagner Worten: „Sozialismus ist gar keine Richtung und Partei, kann
also gar kein wissenschaftliches System für sich haben, sondern Sozialismus kurz-
weg ist nur ein Prinzip, das in den verschiedensten wissenschaftlichen Richtungen
beachtet werden muß. Man kann Praktisch unter »wissenschaftlichem Sozialismus«
nur ein das Prinzip des Sozialismus einseitig und radikal ausbeutendes System,
d. h. die wissenschaftliche Sozialdemokratie verstehen, oder ein künstliches destillirt
ans den Schriften von Rodbertus, Marx und andern." Wissenschaftlich ist heute
der Kathedersozialismus auf der Höhe der Sozialdemokratie angelangt. Da sind
grundsätzliche Unterschiede kaum noch vorhanden. Selbst die neuesten Wandlungen
in der Formulirung maucher Dogmen sind beiden gemeinsam.
Was die praktische Wirksamkeit des Kathedersozialismus betrifft, so war diese,
wie Held auch schon zu Anfang des Triumphzugs der Epigonen richtig, und zwar
damals keineswegs tadelnd, ausgesprochen hat, von Anfang an „agitatorisch ge¬
färbt," und es mußte ganz natürlich im Laufe der Jahre auch diese Färbung
immer schärfer hervortreten. Die Bundesgenossenschaft, die der Kathedersozialismus
bei dem letzten Aufstande der Hamburger Hafenarbeiter den sozialdemokratischen
Agitatoren geleistet, ja fast aufgedrängt hat, ist sür diese Entwicklung bezeichnend.
Nun ist es ja ganz natürlich, daß sich der Kathedersozialismus mit großem
Stolz auf die Arbeiterschutzgesetzgebung als den Erfolg seiner „Kämpfe" beruft.
Aber das thun die Sozialdemokraten auch, und als dritter im Bunde darf doch
Vor allem der Freiherr von Stumm nicht vergessen werden, der einer der ältesten
und erfolgreichsten Vorkämpfer der Arbeiterschutzgesetzgebung gewesen ist. Bei einem
Prozeß um die Vaterschaft zwischen den drei Anwärtern würde nicht viel heraus¬
kommen. Wir unsrerseits hätten gar kein Interesse an ihm, haben aber ein sehr
großes daran, daß das große Werk des deutschen Arbeiterschutzes thatsächlich bisher
wenig oder nichts beigetragen hat zur Versöhnung der Interessen, zur Überbrückuug
des Gegensatzes zwischen Unternehmer und Arbeiter, und daß es in keiner Weise
die Anhänglichkeit der Arbeiter an Baterland, Staat und Reich zu fördern vermocht
hat, was Herr von Schulze-Gävernitz erst kürzlich erklärt und entschuldigt hat.
Nicht die Arbeitsschutzgesetzgebung halten wir für überflüssig oder für an sich un¬
wirksam. Wir haben sie immer befürwortet und befürworten noch immer ihre
Vervollkommnung. Sondern wir beklagen es, daß neben der sozialdemokratischen
Agitation und vielfach im Zusammenhange mit ihr der Staatssozialismus in seiner
wissenschaftlichen Übertreibung und Ruhelosigkeit und mit seiner agitatorischen
Färbung so viel beigetragen hat, die Arbeiterschutzgesetzgebung ihrer versöhnenden
Wirkung zu berauben. Der Kathedersozialift richtet durch den „wissenschaftlichen
Sozialismus" in den Köpfen der Gebildeten schon Verwirrung genug an, aber
wenn er als Agitator seine Weisheit in die ungebildeten Massen hinausträgt oder
tragen läßt, wie er das in gewissem Grade, seiner Farbe entsprechend, grundsätzlich
thun muß und Will, so wird er geradezu gemeingefährlich, mag er als Privatmann
ein gutes Herz und nationale Gesinnung oder als Gelehrter seine Verdienste haben.
Der Staatssozialismus ist zu einem das Prinzip des Sozialismus einseitig und
mehr oder weniger radikal ausbeutenden System geworden, das bei seiner grund¬
sätzlichen agitatorischen Tendenz unsre gesellschaftliche Entwicklung gefährdet, und
dem schon viel früher seine alleinherrschende Stellung auf den staatlich ciutorisirten
Kathedern hätte genommen werden sollen.
Das wäre wohl auch geschehen, wenn nicht — man kann wohl sagen — der
Zufall es so gefügt hätte, daß eine scheinbar sehr konservative und der Sozial¬
demokratie direkt entgegengesetzte Strömung, nämlich das extreme Schutzzöllner- und
Agrariertum, den Kathedersozialismus eine Zeit lang zu Vvrspcmnoiensteu benutzt
hätte. Das „wissenschaftliche Agrariertum" wie die wissenschaftliche Schutzzöllnerei
ist nichts weiter als ein Kapitel des Kathedersozialismus. Auch hier haben die
Meister der jetzt herrschenden Schule in einseitiger Zuspitzung des sozialistischen
Prinzips zu einem „System" der nationalen Wirtschaft und der allmächtigen
Staatsprotektion den agitatorischen Radikalismus der in ihren Renten zeitweise
oder dauernd stark beschnittner Grundherren und Eisenbarone wissenschaftlich ge¬
züchtet und legitimirt. Wenn die Agrarier und ihre großindustriellen Schleppen¬
träger jetzt ihren kathedersozialistischen Generalstäblern den Laufpaß gegeben und die
Herren Bueck und Hahn dafür in Dienst gestellt haben, so ist das für die Männer
der Wissenschaft eine wohlverdiente Strafe. Leider können wir andern Sterblichen
uns der darin liegenden Komik nicht freuen, denn die Schädigung, die dem gemeinen
Besten aus der agrarischen Verwirrung der Geister erwächst, ist zu traurig. Auch
hier werden Ruhe und eine wirklich konservative Gesinnung erst wieder zur Herr¬
schaft gelangen, wenn die kathedersozialistischen Einseitigkeiten und Übertreibungen
hinausgefegt sein werden.
Wir haben dem Kathedersozialismus auch zum Vorwurf gemacht, daß er das
Erstarken des sozialen Pflichtgefühls, d. h. der christlichen Nächstenliebe als kate¬
gorischen Imperativ gehindert, ja verhindert habe. Das konnte auch gar nicht
anders sein. Predigte man den Leuten „systematisch" fünfundzwanzig Jahre lang,
daß das Elend in unserm Gesellschaftsleben von Verhältnissen herrühre, die nicht
vom einzelnen Menschen abhängen und deshalb nur durch eine „ethische" Sozialpolitik
geändert werden könnten, die die Sache des Staats und der ihm untergeordneten
Körperschaften sei, so konnte es gar nichts helfen, daß ab und zu, ganz unsystematisch,
bei einzelnen Gelegenheiten auch einmal den Arbeitern „Nüchternheit, Sparsamkeit,
Fleiß" anempfohlen und der „Maugel an Gottseligkeit, an sittlicher Kraft, christlicher
Demut, brüderlicher Liebe" beklagt wurde. Das System macht die Schule, und wir
müssen immer wieder betonen, daß uus an den systematisch erzogueu Schülern der
Kathedersozialisten nichts charakteristischer und widerwärtiger erscheint, als das über¬
legne Lächeln über die Illusion, daß es besser werden könnte, wenn jeder für sich
seine Pflicht ernster nehmen würde. Das Dogma, die Menschen seien so, wie die
Verhältnisse sie machten, ist den kathedersozialistischen Schülern mit aller wissen-
schaftlichen Konsequenz beigebracht worden, und wenn die kathedersozialistischen
Lehrer das nicht wissentlich besorgt haben, so wird damit nur bewiesen, woran
wir nie gezweifelt haben, daß sie zu Lehrern der Jugend und des unmündigen
Volks so viel taugen, wie der Bock zum Gärtner.
Natürlich muß sich uus das Bedauern über diese Wirkung des Katheder¬
sozialismus besonders aufdrängen, wenn wir den Evangelisch-sozialen Kongreß als
sein Organ anzusehen haben. Die soziale Aufgabe der Kirche und der Religion
liegt gerade heute wieder einmal in der Stärkung des individualistischen Prinzips
gegen die Einseitigkeiten des Sozialismus. Gerade die christliche Kirche, und
vollends die evangelische, darf sich die Frage, was voranzugehen habe: die sittliche
Wiedergeburt oder die staatliche Sozialreform, gar nicht stellen, ohne gegen den
Geist des Evangeliums zu verstoßen. Für sie hat die sittliche Wiedergeburt immer
und überall voranzustehen. Das ist das ihr zugewiesene Feld, und das soll sie
beackern, wie der Kaiser vor zwei Jahren den „politischen Pastoren" geraten hat.
Es wird noch gute Weile haben, bis den kathedersozialistischen Irrtümern auch
unter den Christlich-Sozialen die Herrschaft entzogen ist. Scheint doch sogar der
evangelische Liberalismus protestantenvereinlicher Farbe dem Zeitgeist Rechnung
zu tragen und sich mehr und mehr mit den Naumannschen Extravaganzen zu ver¬
söhnen. Der politische Parteifreisiun mag ihn wohl auch darin wieder aufs Glatteis
führen. Aber uns hält das nicht ub, gegen Übertreibungen und Einseitigkeiten zu
kämpfen, gegen individualistische wie gegen sozialistische. Der Kampf gegen zwei
Fronten ist freilich wenig angenehm, aber wer heute zu Kaiser und Reich, zu
Recht und Wahrheit steht, wer noch im rechten Sinne konservativ ist, der kauu
Da Sie in Ihrer geschätzten Zeitschrift auch altormn x-rrtsin
zum Worte zuzulassen Pflegen, so erlauben Sie mir vielleicht zu dem in Ur. 1V
vom 21. April erschienenen Anfsntze Kiau? einige Bemerkungen zu machen, die
um so angebrachter sein dürften, als ähnliche Ergüsse auch in viele» andern
Blättern, so z. B. in der Täglichen Rundschau, ja neulich sogar in gereimter
Form in der Jugend erschienen sind, wo sie, nachdem zunächst der Befürchtung
Ausdruck gegeben ist, die deutschen Katzen möchten in künftigen Nächten Miou
schreien, wenn die Studenten Raton machten, zum Schluß mit dem pathetischen
Rufe ausklingen: „Schreibt und sprecht deutsch Kiautschan!"
Was nun solche Benennungen anlangt wie „Deutsch-südweflafrikanisches Schutz¬
gebiet" oder solche Schreibweisen, wie das von der Täglichen Rundschau gerügte
Kilimanjaro, zu sprechen Kilimandscharo, so ist allerdings über diese Schreiber-
erzeugnisse kein Wort zu verliere». Was aus der Schreiberzunft kommt ein Sprach-
und Schriftbereicherungen, ist ja in der Regel abgeschmackter als saures Bier,
und wenn ich zu befehlen hatte, so müßte jeder, der auf einer Behörde schreiben
will, zunächst ein sxaMsu riAvrosuni durchmachen, daß er den Wustmann in- und
auswendig kann. Aber ist denn Kiautschou eine Erfindung der Schreibstube?
Keineswegs! Sondern lange, ehe irgend jemand daran dachte, daß einst die
deutsche Fahne über dieser guten Stadt des Mittelreiches wehen würde, hatte
unser gründlichster Kenner Chinas, Freiherr von Richthofeu, die Schreibart tschou
vorgeschlagen und wissenschaftlich begründet, und schon vor vielen Jahren hat sie
der Andrsische Handatlas angenommen, von dem mau wohl ohne Übertreibung
sagen kann, daß er in aller Händen sei. Die Schreibcrzunft also, die uns an¬
fänglich aus Eignen das Ungeheuer Kiaotschan beschert hatte, verdient diesmal
volles Lob, daß sie sich noch rechtzeitig bekehrt und zu dem gewandt hat, ums
von Wissenschaft und Praxis festgestellt war. Aber deu Deutschen ist nun einmal
nichts recht zu machen. So schlägt denn E. v. d. Br. vor, sich mit Kinn zu be¬
gnügen mild dadurch sechs Buchstaben zu ersparen, weil doch tschou im Chinesischen
weiter nichts als Stadt bedeute. Ausgezeichnet! Zwar der Einzelne kommt nicht
oft in den Fall, Kiautschou zu schreibe», und die Ersparnis wäre nicht groß,
wenn der Vorschlag darauf beschränkt bliebe. Aber wie, wenn man ihn weiter
ausdehnte? Welch ein Ausblick auf Ersparnisse eröffnete sich dann erst! Wir
werden also in Zukunft nur noch Bel, Star, Now und Buschte sage» und schreiben;
denn die Anhängsel grad, gard, gorod und breit bedeuten ja im slawischen auch
weiter nichts als Stadt. Wer hätte sich nicht schon über die protzigen Füufsilber
Adrianopel und Konstantinopel geärgert? Weg also mit dem pel und von jetzt
ab mir uoch Adriauv und Konstantin»; damit gewinnen wir zugleich Philippv,
Sebasto und Nea. Die Siege von 1370 sind natürlich bei Vivu, Rezon und
Noisse erfochten worden. Ob freilich unsre zahlreichen Neu- und andre Städter
damit einverstanden wären, wenn man ihre Geburtsstätten zu Neu, Aru, Lipp,
Duder u. s. w. amputirte, lasse ich dahingestellt sei»; hoffen wir, daß sie sich dem
Gemeinwohl fügen werden.
Allein Herr v. d. Br. scheint selbst nicht unbedingt darauf zu vertrauen, daß
sein Borschlag durchginge. So überlegt er denn, wie er das unselige tschou
aussprechen soll, und, ungefähr wie Faust nach langem Sinnen endlich getrost
schreibt: Im Anfang war die That, so spricht auch er getrost: tscho—u. Ich
bin weit entfernt, zu leugnen, daß wir Deutschen ein on als Diphthongen nicht
haben, ja daß sogar die Buchstabenfvlge o und n im Deutschen fast nie vor¬
kommt, aber ist deshalb schon jemals irgend einer im Zweifel gewesen, wie er
den Namen des Herrn Soundso auszusprechen hätte? Oder hat schon jemand
nach langem Sinnen, ob er vielleicht lieber Scmndso oder Sundso sagen solle,
endlich getrost So—undso gesagt? Wie um des Himmels willen soll man also,
wohlgemerkt im Deutschen, tschou anders aussprechen als eben tscho—u? Und
weshalb soll on nicht eine Nachschreibuug des Chinesischen sein können, wohlver¬
standen des chinesischen Lautes, geradeso, wie die Engländer diesen Laut an
oder vo nachschreiben, weil sie diese Buchstaben in ihrer Sprache gleichfalls o—u
nussprccheu? Wenn also die Jugend patriotisch ausruft: Sprecht und schreibt
deutsch Kiautschau! so ist darauf zu erwidern: on ist der Sprache nach freilich
chinesisch, der Schrift nach aber deutsch; an dagegen ist geschrieben englisch und
gesprochen — Unsinn. Aber nur Deutschen sind wunderliche Leute, uns sällt alles
eher ein, als das Einfache und Natürliche, und wenn wir uns endlich einmal er-
nannt haben zu einer deutschen, für uns allein vernünftigen Schreibart, so zer¬
brechen wir uus wieder deu Kopf, ob wir es nicht doch am Ende englisch oder
französisch aussprechen müßten. Anstatt also über Kiautschou zu nörgeln, sollten
wir lieber solche Ungetüme wie Chefoo (sprich Tschifu) und Weihaiwei (sprich
Wechaiwe) aus unsern Zeitungen verbannen und durch die allem vernünftigen
phonetischen Schreibweisen ersehen.
Zum Schluß noch ein paar Worte über die Betonung. Wie aus dem Vers¬
maße der Jugend hervorgeht und man außerdem täglich hören kann, halten es
manche für „deutsch," deu Ton auf die letzte Silbe zu legen, vermutlich, weil sie
sehr wohl fühlen, daß die Chinesen die erste Silbe betonen werden. Darum ist
aber das Gegenteil noch lange nicht deutsch. Die Chinesen weichen zwar in vielen
Dingen von uns ab; darin aber machen sie es genau wie wir, daß sie in zu¬
sammengesetzten Hauptwörtern auch nicht den allgemeinen Begriff, sondern das
unterscheidende Merkmal betonen. Es heißt daher Kiautschou gerade so gut, wie
es Lippstadt, Stargard, Troüville, Aorltown heißt. Auch hierbei handelt es sich
nicht darum, daß wir das Chinesische ängstlich richtig aussprechen, sondern daß
wir nicht aus uneigennütziger Zuneigung zum Verkehrten und Weithergeholten
gegen ein Gesetz verstoßen, worin alle Sprachen übereinstimmen, weil die allen
In den Zeitungen bekam man voriges Jahr ab
und zu etwas über die Maßregelung eines bayrischen Lehrers zu lesen, was mau
gleichgültig überflog. Jetzt sehen wir aus einer Broschüre, daß der Fall höchst
merkwürdig und nicht unwichtig ist. Ihr Titel lautet: Die Rechtsunsicherheit
der Volksschullehrer und der Schulbnreaukratismns, beleuchtet durch deu
Fall Zillig in Würzburg. Von F. A. Schröder. (Leipzig, Alfred Hahn. 1898.)
Der Volksschullehrer Zillig gehört zu den Männern, denen ihre hohe pädagogische
Begabung zur pädagogischen Leidenschaft wird. Er hat, um sich vollkommen auf
sein Amt vorzubereiten, uach einige» Jahren praktischer Thätigkeit noch die Uni¬
versität Leipzig besucht und sich einer Prüfung bei den Professoren Ziller, Wundt
und vou Noordcu unterworfen, die ihm die glänzendsten Zeugnisse aufstellten. Nach¬
dem er noch zwei Jahre an andern Orten gewirkt hatte, kam er 1881 als Lehrer
einer Knabenklasse nach Würzburg und gab sich hier seinem Beruf mit Feuereifer
hin. sein unmittelbarer Vorgesetzter, der Domherr Dieu, bezeichnete anfangs
Zilligs Methode als ungewöhnlich und allzu wissenschaftlich, gewann aber allmählich
Verständnis dafür und rühmte in den Protokollen von 1891 und 1892 die geistige
Förderung der Schüler; Zillig sei kein Freund des Drittens, leite die Schüler zum
selbständigen Denken an und zeichne sich durch innige Religiosität aus; zwischen
ihm und den Schillern, die mit Liebe an ihm hingen, bestehe das schönste Ver¬
hältnis. In demselben Jahre 1892 wurde die Aufsicht durch Fachmänner in
Würzburg eingeführt. Der Schulrat Klemmert — er ist vor einiger Zeit ge¬
storben — trat sein Amt mit der Erklärung an, er werde im Würzburger Schul¬
körper Einheit der Lehrmittel und Einheit der Methode herstellen. Damit war die
Unvermeidlichkeit des Konflikts zwischen den beiden Männern gegeben. Verschärfend
kam hinzu, daß sich Zillig schon eines litterarischen Rufes erfreute, während
Klemmert uur ein paar Leitfäden herausgegeben hatte, und daß Zillig gerade den
„Leitsadenunfug" bekämpfte. Die ersten von Klemmert abgefaßten Prüfungsprotokolle
in den Jahren 1393 und 1894 fielen noch ziemlich günstig aus, aber nach dem
Protokoll von 1895 taugte der bis dahin hochangesehene Zillig gar nichts; seiue
Schüler wußten und konnten nichts. Auf Grund einer Negierungsverfügung forderte
die Lokalschulkommissiou Zillig auf, sich „wegen der sihmi, zur Last gelegten Ver¬
schuldungen in ^seineml, Schulunterricht binnen vierzehn Tagen zu verantworten."
Da Zillig — es war gerade eine sehr arbeitsreiche Zeit — mit seiner Verant¬
wortung bis zum gestellten Termin nicht fertig wurde, forderte man ihn unter
Androhung einer Ordnungsstrafe von zehn Mark nochmals-auf, die Verantwortung
binnen acht Tagen einzureichen. In der Verantwortungsschrift, die Zillig uun
einreichte, entwickelte er n. a. seine pädagogischen und methodischen Grundsätze. Die
„Pädagogischen Grundsätze" beginnen mit dem Satze: „Das Kind soll vor allem
erzogen werden; das Ziel der Erziehung ist Christus." Darauf erteilte ihm die
Lokalschulkommissiou einen „strengen Verweis" und trug ihm auf, „binnen acht
Tagen bündige Erklärung darüber unser abzugeben, ob Sie auf Ihren in der
Rechtfertigungsschrift dargelegten pädagogischen und methodischen Grundsätzen »eigner
Überzeugung« beharren, oder ob Sie sich vielmehr bereit erklären und verpflichten
»vollen, den Anordnungen der BeHorden zu gehorchen." Auf Zilligs Antwort
wurde ihm eröffnet, daß ihm zur Strafe die Gehaltserhöhung, auf die er Anspruch
hatte, entzogen werde. Mit seinen Beschwerden gegen dieses Urteil wurde er in
allen höhern Instanzen abgewiesen. Besonders gut hat nus in einer der Re-
gieruugseutscheidungen der Satz gefallen: „Erschwerend fällt noch in die Wagschale,
daß Zillig in den letzten fünf bis sechs Jahren nicht wie in frühern Jahren für
sich blieb und sich ans seine Schule beschränkte, sondern Anhänger seiner päda¬
gogischen Ansichten zu gewinnen suchte und fand." Einen Ketzer, der bloß in seinen
vier Wänden letzere, kann ja die gütige Mutter, die Kirche, oder die Regierung,
großmütig gewähren lassen; aber die Ketzerei ausbreiten und die Unschuld verführen
lassen — nein, das darf sie auf keinen Fall! Die Schrift schließt mit einer
Sammlung von .Klagen angesehener Lehrer über den Schulbureaukratisnms.
Unter diesem Titel hat der Königlich Preußische Ober¬
regierungsrat Alexander von Padberg bei Carl Duncker in Berlin voriges
Jahr ein kleines Buch herausgegeben, das im Vorwort den Verdacht erregt, man
habe es hier mit einem Konkurrenten des Professor Schenk zu thun oder der be¬
scheidnere« „Forscher." die ohne ihren Namen zu verraten in den Zeitungen den
'„Klapperstorch nach Wunsch" anzeigen. Der Verdacht erweist sich als unbegründet.
Nur ein Abschnitt ist diesem mehr interessanten als nützlichen Gegenstande gewidmet;
den Hauptinhalt bilden Vergleichungen der Eigentümlichkeiten der beiden Geschlechter,
die Stellung und Lage des Weibes bei den verschiednen Völkern und in den ver-
schiednen Zeiten und eine Übersicht über die heutige Frauenbewegung. Der Ver¬
fasser bringt nichts Neues bei, aber seine Arbeit ist deswegen nicht ganz unver¬
dienstlich, weil er diese Gegenstände, deren sich die Naturalisten bemächtigt haben,
vom christlichen und idealistischen Staudpunkte aus behandelt. Er weist mit Ent¬
rüstung die Verleumdungen zurück, die von Asketen, Wüstlingen, pessimistischen
Philosophen und Naturalisten der Wissenschaft wie der Kunst gegen das Weib auf¬
gehäuft worden sind; mit Recht findet er es lächerlich, wenn bei der Erörterung der
Sittlichkeitsfrage die Männer als Opfer weiblicher Verführung dargestellt werden,
und er sagt den Pornogrnphen, daß sie nicht „das Weib" sondern sich selbst
schildern. Aber er schießt über das Ziel hinaus, wenn er mit einigen Vertretern
der Sittlichkcitsbewegung Maun und Weib demselben sittlichen Gesetz unterwerfen
will. Was die Natur verschieden gebildet hat, kann nicht gleich behandelt werden;
der Umstand, daß die Natur dem einen Teil die aktive, dem andern die passive
Rolle zugeteilt hat, begründet für sich allein schon einen Unterschied, der sich durch
Machtsprüche nicht aufheben läßt, und daher kann der oonsgQLns aller Völker und
Zeiten in diesem Punkte nicht als eine Verirrung angesehen werden. Man darf
ja nur das eine bedenken, daß die Natur zur Erreichung ihres Zwecks den mächtigen
Trieb, den sie in den aktiven Teil gelegt hat, nicht entbehren kann, während
es die Erreichung des Zwecks nicht hindert, wenn der passive Teil sich rein
passiv verhält oder sogar widerstrebt, daß der Mut zur Initiative, der bei
dem eiuen Teil notwendig ist, am andern unnatürlich erscheint. Es giebt keine
größere und ungerechtere Ungleichheit, als wenn Ungleiches gleich behandelt wird,
z. B. wenn der Strolch, der das Gefängnis als ein angenehmes Winterquartier
begehrt, und der feinfühlig gebildete Ehrenmann, dem eine Zwangshaft die größte
Qual bereitet, für ein und dasselbe Vergehen mit sechs Monaten Gefängnis be¬
straft werden. Gleich behandelt werden dürfen und sollen die Geschlechter in dem,
worin sie von Natur gleich sind; so ist z. B. die Fähigkeit, daher mich die Pflicht,
Gerechtigkeit und Liebe zu üben, bei beiden dieselbe; und daher ist das Unrecht
beider gleich groß, wenn sie im geschlechtlichen Verkehr entweder das Recht eines
andern oder die Liebe verletzen.
Der Verfasser hat nicht allein die Aufgabe, die Legion verschiedner Krisen¬
theorien klar und objektiv darzustellen, erfolgreich gelöst, sondern auch die noch
schwierigere, ihren wechselseitigen Zusammenhang und die Abstammung der einen
von der andern aufzudecken und sie nach den ihnen zu Grunde liegenden gemein¬
samen Anschauungen in Gruppen zu sondern, was besonders deswegen sehr schwierig
war, weil sie vielfach in einander fließen. Seine acht Gruppen lassen sich auf fünf
zurückführen. Man erklärt entweder die Krisen roh empirisch aus der Unfähigkeit
der Unternehmer, die Produktion dem Bedarf anzupassen, oder ganz oberflächlich
aus zufälligen Ursachen wie Kriegen und Ernteausfällen, oder merkantilistisch aus
Geldverhältnissen, oder wie Rodbertus aus einer falschen Verteilung des National¬
einkommens, die den Massen die Kaufkraft raubt, oder man sieht in ihnen mit
Marx Äußerungen des der gegenwärtigen Produktionsordnung mit Notwendigkeit
inhärirenden Widerspruchs, der die Aufgabe hat, die Thesis durch die Antithesis
in die Synthesis überzuführen. Welcher Ansicht der Verfasser beipflichtet, wird er
hoffentlich in einem zweiten Werke, das er in Aussicht stellt, verraten. Vorläufig
läßt sich mir vermuten, daß er der zuletzt angeführten den Vorzug giebt; denn
während er alle übrigen Theorien kurz kritisirt, bemerkt er nach Darlegung der
Marxischen nur auf S. 379: „In dem mit Kraft und Sorgfalt gefügten System
von Karl Marx ist die Krisentheorie an hervorragender Stelle eingegliedert. Nur
auf Grundlage einer umfassenden Kritik seines zweifellos großartigen Versuchs eiuer
im wesentliche» deduktiven Theorie der volkswirtschaftlichen Entwicklung kann man
auch zu einem abschließenden Urteile über diese Krisenlehre gelangen."
el dem regen Interesse, das wir jetzt den Vorgängen in Ost¬
asien entgegenbringen, ist es zu verwundern, daß man in den
deutschen Zeitungen einem Lande nur wenig Beachtung geschenkt
hat, das nicht weit entfernt von der großen Verkehrsstraße von
Malakka gelegen ist. Wir meinen Siam, das Reich des weißen
Elefanten. Zwar ist es schon vor einigen Jahrzehnten der westlichen Kultur
erschlossen worden, aber namentlich in letzter Zeit hat es große Fortschritte
gemacht, und gerade auch deutsche Arbeit hat hierbei tüchtig mitgeholfen.
Siam ist neben Japan das Land des Ostens, wo europäische Kultur am
meisten Eingang gefunden hat. Nur besteht zwischen beiden Ländern der Unter¬
schied , daß in Japan das Volk selbst auf Neuerungen hingedrängt und mit
Hand angelegt hat, während in Siam die Reformen ganz allein vom König
anbefohlen und durchgeführt worden sind. Es drängte dazu die Erkenntnis,
daß Siams Selbständigkeit nur dann gerettet werden könnte, wenn geordnete
Zustände den eifersüchtigen Nachbarn jede Gelegenheit zur Einmischung in die
innern Verhältnisse nähmen.
Der jetzige König Tschnlalonkorn ist ein Sohn des „weisen" Mongkut,
unter dem in den Jahren 1855 bis 1368 die Handelsverträge mit den euro¬
päischen Großmächten zu stände kamen. Preußen knüpfte 1862 durch den
Grafen Eulenburg auf der Fahrt der Gazelle mit Siam Handelsbeziehungen
an. Seitdem haben sich westindische Sitten immer mehr verbreitet und in
die erstarrten Verhältnisse neues Leben gebracht. Den Überlieferungen seines
Vaters ist Tschnlalonkorn, der am 1. Oktober 1868 im Alter von siebzehn
Jahren auf den Thron kam, treu geblieben- Da er eine englische Erzieherin
gehabt hatte, so hatte er durch die Kenntnis der englischen Sprache die Möglich¬
keit gefunden, sich über die Verhältnisse außerhalb Siams zu unterrichten. In
seinen ersten Negicrungsjahren unternahm er Reisen nach Java und Kalkutta.
und hier lernte er die europäische Verwaltung durch eigne Anschauung kennen.
Von da an beseelte ihn lebhaft der Wunsch, auch sein Land allmählich der
Kultur zuzuführen.
Die Regierungsform im siamesischen Reiche war absolut, aber beschränkt
durch die Herrschaft des Adels. Ohne heftige Stürme ging es daher nicht
ab, als der junge König seine Ideen durchzuführen versuchte. Seit dem
8. Mai 1874 übt der König die gesetzgebende Gewalt in Gemeinschaft mit
dem großen Staatsrate und dem Ministerrate aus. Die Minister und Prinzen
sind meist Brüder des Königs. Die Beamten zerfallen in fünf Rangklassen.
Unter ihnen giebt es mehr gebildete Siamesen, als man gewöhnlich anzunehmen
pflegt. Die Bestrebungen des Königs gehen vor allem darauf aus, einen
tüchtigen Beamtenstand zu schaffen. Deshalb zieht er europäische Beamte ins
Land, auch läßt er junge Siamesen in Europa dazu heranbilden. In diesem
Bestreben wird der König von einer Anzahl von Prinzen unterstützt. Es
giebt aber auch am Hofe und unter den Beamten eine Sippe, die von dieser
Neuordnung nach europäischer Weise nichts wissen will und den königlichen
Befehlen teils offen, teils im geheimen Widerstand leistet oder sie durch
morgenländische Thatennnlust vereitelt. Da der König öfter durch Vorspiege¬
lungen getäuscht wurde, so faßte er den Beschluß, Europa selbst zu besuchen
und sich von den Einrichtungen an Ort und Stelle zu überzeugen. Diesen
Beschluß hat er auch im Jahre 1897 ausgeführt.
Nach seiner Rückkehr aus Europa, anfangs Januar dieses Jahres, brachten
ihm dreitausend Priester im Welt Prakeo, in der Tempelstadt zu Bangkok,
eine Huldigung dar. Auf diese antwortete der König, umgeben von seinem
Hofstaate, von den Vertretern der fremden Mächte, von Hunderten von Offi¬
zieren und Beamten und von Abordnungen ans allen Teilen des Landes.
Diese Antwort ist von höchster Bedeutung für die gesamte Entwicklung Siams.
Der König schloß mit der Aufforderung an sein Volk, es möge mit ihm einen
festen Bund schließen, um Siam glücklich zu machen. Gute Gesetze wolle er
ihnen geben, und eine gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten solle folgen.
Laßt uns treu zusammenhalten und nicht nur das, was nützlich ist, ausführen,
sondern auch das, was edel und gut ist! Laßt uns nicht blind bewundern,
was fremd ist, und verachten, was siamesisch ist, laßt uns aber auch nicht
alles loben, was siamesisch und tadeln, was fremd ist! Es ist wohl bekannt,
daß der König auf dieser Reise unsre deutschen Herrscher und den Fürsten
Bismarck in Friedrichsruh besucht hat, denn aus seiner Neigung für Deutsch¬
land macht der König kein Hehl. Daß gerade Deutschland sein Augenmerk
auf sich zog, lag daran, daß zu derselben Zeit, wo sich in Siam eine bedeut¬
same innere Umwälzung vollzog, auch unser deutsches Vaterland zu einem
großen Reiche zusammenwuchs. Wie es die Aufmerksamkeit der ganzen Welt
auf sich lenkte, so konnte sich auch der junge, strebsame König von Siam diesen
Eindrücken nicht entziehen.
In frühern Jahren hatte man sich mehrfach, wie das wohl am nächsten
lag, an England angelehnt und Engländer in den siamesischen Dienst über¬
nommen. So finden wir auch noch englische Ratgeber in der Zoll-, Finanz-
und Justizverwaltung. Aber in neuerer Zeit hat man die Deutschen vorge¬
zogen, weil die Siamesische Regierung mit ihnen besser fuhr als mit den eng¬
lischen Beamten. Es soll daher kommen, daß England die Beamten einfach
aus ihrem Dienstverhältnis entläßt, während Deutschland sie nur beurlaubt.
Dieses fortdauernde Abhängigkeitsverhältnis vom Heimatlande soll nach den
Ersahrungen der siamesischen Regierung günstig auf die Pflichttreue der über-
nommnen Beamten wirken. Schon 1890 klagten englische Zeitungen, wie
^lo,ö8 und LtanäMä, über den wachsenden Einfluß der Deutschen, die sich
auf friedlichem Wege mit jedem Tage in Siam fester setzten. Natürlich fehlte
es nun nicht an Eifersüchteleien und Treibereien der Engländer. Trotz alledem
schwand aber der englische Einfluß immer mehr, und der deutsche trat an seiue
Stelle. Es wurde dies auch mit veranlaßt durch die schlechten Erfahrungen,
die Siam beim Vahnbau mit den Engländern machte.
Obgleich ein Deutscher, Baurat Bethge, an die Spitze des 1890 be¬
gonnenen Nagara-Rajasema-Bauunternehmens gestellt worden war, so wußte
doch die englische Regierung durch Druck auf Siam der Firma Murray und
Campbell die Lieferungen zu verschaffen; die deutschen Firmen, mit denen schon
verhandelt worden war, mußten zurücktreten. Da aber bald Zwistigkeiten
zwischen den Bauleitern und der englischen Gesellschaft entstanden, mußten
1896 infolge eines Schiedsspruchs, bei dem auch der Geheime Oberbaurat
Lange aus Berlin mitwirkte, die Engländer zurücktreten, und deutsche Kopfe
und Hände förderten nun in sehr schneller Zeit das gänzlich »erfahrne Unter¬
nehmen, und zwar bedeutend billiger. Bis jetzt sind 150 Kilometer dieser
Bahn, die eine Länge von 265 Kilometer erreichen soll, fertig. Sie wird
Bangkok mit dem im Innern, nach Nordosten zu gelegnen, ziemlich bedeutenden
Handelsplätze Korat verbinden. Außer Baurat Bethge wirkt als Betriebs¬
direktor Oberbaurat Rvhus. Die höhern Betriebsbeamten sind fast ausschlie߬
lich Deutsche, die höhern Techniker aber sind nur zur Hälfte Deutsche, zur
andern Hälfte Engländer und Dänen. Die Wagen sind von England geliefert
worden; bei der Lieferung der Lokomotiven war auch die Firma Krauß und
Comp. in München beteiligt. Der Betrieb auf der Bahn ist pünktlich und
sicher, und überall macht sich hier deutscher Einfluß auf das vorteilhafteste
bemerkbar. Auch die siamesischen Schaffner und Bahnhofsvorsteher machen in
ihren saubern Uniformen einen guten Eindruck.
In noch höheren Maße zeigt sich der deutsche Einfluß im PostWesen.
Es lag wohl nahe, Vertretern des Landes, von dem die Begründung des
Weltpostvereins ausging, die Einrichtung der Post und des Telegraphenwesens
anzuvertrauen. Mitte der achtziger Jahre übernahm der damalige Postinspektor
Pankow mit Bewilligung des Reichspostamts die Aufgabe, als oberster
Leiter das Postwesen Siams zu ordnen. Auch eine Anzahl deutscher Beamten
ging mit ihm hinaus. Dann folgten die Postinspektoren Stratz und Eickhoff.
Ihrer Thätigkeit, sowie den unter ihnen wirkenden andern deutschen Post¬
beamten ist es gelungen, trotz mannigfacher Schwierigkeiten, die in den Eigen¬
tümlichkeiten des Landes, im Klima, in der Sprache und in dem Verkehr mit
vielfach ganz ungeschulten Personen lagen, der gestellten Aufgabe in jeder
Hinsicht gerecht zu werden. Siam gehört schon seit mehreren Jahren dem
Weltpostverein an, und zwar auch in Bezug auf Paket- und Postanweisungs¬
austausch.
In dem Lande, das Deutschland an Größe etwas übertrifft, aber nur
fünf bis sechs Millionen Einwohner hat, waren in den bevölkertsten Gegenden
längs der Flüsse und der Küsten am Schlüsse des Jahres 1889 siebzig Post-
anstalten angelegt, deren Zahl 1893 schon auf 128 angewachsen war. Seitdem
sind auch noch die Verbindungen Bangkoks mit den Haupthandelsplntzeu der
Halbinsel sehr verbessert worden. Die Hauptorte des Landes sind unter¬
einander telegraphisch verbunden, und das so entstandne Netz ist über Mnlmein
und Saigon an die Weltlinien angeschlossen. Ein regelmüßiger PostVerkehr
geht durch Siam nach Cochinchina, sodaß das PostWesen in Siam, was deu
guten und sichern Betrieb und die praktische Einrichtung anbelangt, das aller
andern Staaten Asiens überragt.
In Bangkok selbst sind sechs Postanstcilten. Die Briefbestellung findet
dreimal täglich, morgens, mittags und abends, von drei Bestellämtern aus
statt. An die Stelle der alten hölzernen Briefkasten sind neue, von einer
Berliner Firma gelieferte aus Eisenblech eingeführt worden, worauf die Ab¬
holungszeiten durch Stundenplatten angezeigt sind. Die Amtsbedürfnisse, wie
Papier, Tinte, Klebstoff und Bindfaden, werden alle aus Deutschland bezogen
und schon seit Jahren von einem Hamburger Hause geliefert. Selbst die neuen
Briefmarken, die demnächst eingeführt werden sollen, kommen aus Deutschland.
Auch eine Postsparkasse ist von der Verwaltung ins Leben gerufen worden, um
den Beamten Gelegenheit zu geben, kleine Ersparnisse zu mäßigem Zinse sicher
anzulegen. Das Postwesen untersteht jetzt einem siamesischen Generaldirektor,
der in Leipzig sein Examen als Postsekretär abgelegt hat. Neben ihm, aber
in völlig selbständiger Stellung steht als Ratgeber ein höherer, deutscher Post¬
beamter Namens Collmann, der nun schon sieben Jahre lang das Siamesische
PostWesen mit großer Umsicht leitet.
Wie in der Post und Telegraphie, so haben auch in dem Heere Deutsche
vielfach die Offizierstellen inne, in kleinerer Anzahl sind darin auch Dänen
vertreten.*) Doch sind diese deutsch-siamesischen Offiziere nicht mit Urlaub
hierhergegangen, sondern sie sind fast immer als junge Offiziere aus unserm Heere
ausgeschieden. Das stehende Heer, das größtenteils in Bangkok seine Garnison
hat, zählt 6000 Mann; sie sind hauptsächlich nach deutschem Muster aus¬
gebildet, mit Mannlichergewehren ausgestattet und tragen als Kopfbedeckung
Helme, die den preußischen Pickelhauben gleichen; natürlich sind die Helme aus
leichterm Stoffe, wie es das südliche Klima erfordert, hergestellt.
Auch in andern hervorragenden Stellungen begegnen wir den Deutschen.
So ist der Hafendirektor in Bangkok ein Deutscher; Generaldolmetscher ist
Dr. Frankfurter, ein vorzüglicher Kenner der altindischen Palisprache. Ein
Architekt Namens Scindreczki, der künstlerisch sehr begabt ist, baut das Palais
des Kronprinzen- Auch der Leibarzt des Königs ist ein Deutscher. Ein von
einem Trierer ganz nach europäischer Weise geschultes königliches Orchester
verschafft deutscher Musik in Siam Eingang. Neben leichterer Musik werden
den Sicimesen in den Konzerten auch Stücke aus den Wagnerschen, Beethovenschen,
Mozartschen und Weberschen Opern vorgeführt. Handwerker findet man nicht
unter den Deutschen, denn anstrengender körperlicher Arbeit würden sie in den
Tropen nicht gewachsen sein. Das Handwerk liegt in den Händen der überaus
zahlreichen Chinesen. Nur ein aus Stralsund stammender Goldschmied,
Grählert, ist hier ansässig. Er sertigt die schönsten Gold- und Silberarbeiten
in altsiamesischem Stile. In seiner Werkstatt bildet er tüchtige, jüngere Leute
heran. Deu Erzeugnissen deutschen Gewerbefleißes begegnet man überall, so¬
wohl in deu großen Kaufhäusern der Hauptstraße, wie in dem Palaste des
Königs. Sind doch auch die im Lande umlaufenden Münzen vor einigen
Jahren in Deutschland hergestellt worden.
Besonders erwähnenswert ist noch das Werk eines Deutsch-Österreichers,
des aus Wien gebürtigen Erwin Müller. Seine Thätigkeit ist für die Zukunft
Siams von höchster Wichtigkeit. Er hat begonnen, durch ein Netz von Kannten
in unmittelbarster Nähe von Bangkok ein viele Quadratmeilen umfassendes,
von Dschungeln und Präriegras bedecktes Urwaldgebiet in fruchtbares Acker¬
land zu verwandeln. Jetzt wohnen auf ihm, nach vierjähriger Arbeit, schon
40000 Menschen, die sich durch Reisbau ernähren. Der Hauptkanal, der die
beiden größten Flüsse, den Meran und den Nakvukajok verbindet, hat eine Länge
von sechzig Kilometern, eine Breite von sechzehn und eine Tiefe von vier Metern.
Sechzehn kleinere Kanäle zweigen sich von ihm ab und spenden das befruch¬
tende Naß. Von den 1500 Kilometern, die gebaut werden sollen, sind bisher
300 Kilometer sertig gestellt. Eine in Deutschland gebaute und unter Aufsicht
eines Lübeckers stehende Trockenbaggermaschiue, die in zehn Stunden 2000 Kubik¬
meter Erde auswerfen kann, hilft die Wildnis in Kulturland umgestalten.
Die deutsche Kolonie Bangkoks ist ungefähr siebzig Mann stark. Außer
Postbeamten, Offizieren, Ingenieuren und Baumeistern umfaßt sie noch Apotheker.
Schiffskapitäne, Photographen und Kaufleute. Ihre Mitglieder sind fast alle
in leitenden Stellungen und werden von den Siamesen ihrer Tüchtigkeit wegen
geschätzt. Ein allerliebstes, in europäischem Billenstil errichtetes Gebäude, das
mit Türmchen und Erker, mit Balkonen und Veranden geziert ist, bildet ihren
Vereinigungspunkt. Wie muß es den deutschen Weltreisenden anheimeln, wenn
ihm von der offnen Vorhalle in farbiger Schrift der freundlich einladende
Spruch entgegenprangt: Tritt heiter ein und noch heitrer hinaus, die Sorge
laß draus! und wenn ihm fröhliche deutsche Töne aus den weitgeöffneten
Fenstern entgegenklingen!
Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Siam find rege und
haben sich von Jahr zu Jahr immer inniger gestaltet. Der deutsche Anteil
am Handelsumsatz Bangkoks betrügt gegen dreißig Prozent des gesamten
Handels; der französische dagegen noch nicht einmal ein(!) Prozent. Deutsch¬
land bezieht von Siam vor allem Reis. So wurden über Hamburg allein
im Jahre 1894 175000 Doppelzentner und 1896 105000 eingeführt; außer¬
dem liefert es uns noch: Stnhlrohr, Kopai, Schellack, Pfeffer, Sago und Nutz¬
hölzer, vor allem Teakholz, sodaß die gesamte Einfuhr über Hamburg 1896
einen Wert von 2^ Millionen Mark hatte. Übersehen darf hierbei nicht
werden, daß auch Bremen, das ja für Reishandel der Mittelpunkt ist, an der
Einfuhr aus Siam stark beteiligt ist. Die Ausfuhr, die hauptsächlich über
Hamburg geht und besonders Gebrauchsgegenstände, Eisenwaren und Kunst-
erzeugnisse enthält, stellte im Jahre 1896 einen Wert von 712750 Mark dar.
In den amtlichen Nachweisen kommt der Handelsanteil Deutschlands lange nicht
genügend zum Ausdruck, da viele deutsche Geschäfte ihren Handel auch über
England und über Honkong und Singapore betreiben. Die bedeutendsten, in
Siam thätigen deutschen Handelshäuser, deren Name im ganzen Osten Asiens
bekannt ist, sind A. Markwald u. Comp., Windsor ». Comp. (Chr. Bruckmann),
A. W. Schmidt u. Comp. und B. Grimm u. Comp.
Sind nun Deutschlands Beziehungen zu diesem zukunftreichen Lande, das
erst im Beginn feiner Kulturentwicklung steht, schon rege, wie aus dem Mit¬
geteilten hervorgeht, so läßt sich doch nicht leugnen, daß sie noch einer be¬
deutenden Entwicklung fähig sind. Mit großer Freude hat es uns daher er¬
füllt, daß ein Mitglied des von Ostasien zurückkehrenden Handelsansschusses
auch nach Bangkok entsandt worden ist. Sicherlich könnte darin noch viel er¬
reicht werden, wenn sich die Deutschen in Bangkok nach dem Beispiel der
Deutschen in Singapore auch zu einer Vereinigung zusammenschlossen, deren
Zweck die Förderung der wirtschaftlichen und die Pflege der geistigen Be¬
ziehungen zum Heimatlande ist. Wissen wir doch, wieviel die gleichartigen
englischen Vereine der China-Assoziation in Honkong und Schanghai in der
verhältnismäßig kurzeu Zeit ihres Bestehens für die englischen Interessen in
Ostasien genützt haben. Jetzt, wo die vierzehntägiger Dampferfahrten des
Norddeutschen Lloyd das Heimatland näher rücken und jeden Wettbewerb zu
schlagen ermöglichen, kann es den Deutschen in Siam, bei der Beliebtheit,
deren sie und ihr tüchtiger Ministerresident sich bei König und Volk erfreuen,
nicht schwer fallen, die Beziehungen zwischen Siam und Deutschland noch
erfolgreicher zu gestalten.
em Drängen einflußreicher Manchesterleute nachgebend hat die
preußische Negierung, zunächst an den zwei wichtigen Universitäten
Berlin und Breslau, Dozenten der Volkswirtschaftslehre ange¬
stellt, die die Aufgabe haben, nach bestem Vermögen dem Umsich¬
greifen sozialistischer Ideen Einhalt zu thun. Die beiden Ge¬
lehrten haben sich nicht darauf beschränkt, im Hörsaal dieser Verpflichtung
nachzukommen, sondern sie sind auch gleich schriftstellerisch auf den Plan ge¬
treten, um vor einem größern Publikum die Überlegenheit ihrer Waffen im
Kampfe mit dem bösen Lindwurm zu zeigen. Professor Wolf hat in einer
von ihm begründeten Zeitschrift, Professor Reinhold in einem dicken Buch
über die bewegenden Kräfte der Volkswirtschaft den Kampf begonnen, indem
ein Angriff gemacht wird auf den Illusionismus als das aus phantastischem
Gestrüpp zusammengeflochtne, schwer zugängliche Nest, worin der Drache zu
Hausen und Unheil zu brüten Pflegte. Das große Übel ist, nach Neinholos
Meinung, daß die Menschen viel zu viel glauben. Sie sind in solchem Maße
gläubig, daß „immer wieder nüchterne Leute kommen müssen, um ihnen die
Illusionen und den Aberglauben, die frommen Wünsche und die eiteln Hoff¬
nungen auszutreiben." Die nüchterne Wahrheit nun, die allem eiteln Glauben
und vergeblichen Hoffen, damit auch allem den ruhigen Prozeß kapitalistischer
Gttteranhäufnng störenden Streben nach Besserung des Menschen und seines
irdischen Loses ein Ende machen soll, ist die Manchesterlehre vom reinen
Egoismus als dem treibenden Prinzip aller Volkswirtschaft. Und damit man
sich ja nicht einfallen lasse, den Ausdruck „Egoismus" in einem mildernden
oder einschränkenden Sinne deuten zu wollen, sagt Professor Reinhold aus¬
drücklich: „Nur in einem Punkte ist der Mensch derselbe, immer mit sich im
Einklange: daß wir von ihm nichts gutes erwarten können; daß er ein
ehnischer Selbstsüchtling ist, und — daß er dies ewig bestreiten wird."
Zweimal ist innerhalb der Geschichte unsrer abendländischen Zivilisation
ein Versuch im großen angestellt worden, eine gründliche Besserung des
Menschen und seiner äußern Lage herbeizuführen. Das Christentum unter-
nahm es vor zweitausend Jahren, eine Wiedergeburt des innern Menschen
herbeizuführen und so der Menschheit den Weg zu weisen, der sie zur Er¬
lösung von ihrem Elend und zu vollkommnem Glück führen sollte. Aber nach
aller Meinung, sagt der manchesterliche Professor, verweilt noch heutigestags
die Welt in derselben Lage der Verdammnis und des irdischen Elends. Warum
ändert sich die Welt nicht? Sie kann sich nicht andern, weil der Kern des
Menschen immer derselbe bleibt — ein nackter, unzerstörbarer, unveränderlicher
Egoismus. Vor einem Jahrhundert wollte die französische Revolution durch
eine gruudstürzende Änderung der äußern, der objektiven Lebensordnung ein
freieres, edleres, beglückteres Menschendasein herstellen. Die Menschenrechte
wurden verkündet als unveräußerliches, niemals verjährendes Erbteil aller
Völker. Was war die Folge? Die großen Kulturvölker Europas, meint
Professor Reinhold, „sind in der innern Struktur der Gesellschaft, in der
organischen Gestaltung ihrer Rechts- und Eigentumsordnung nicht von der
Stelle gerückt. Sie haben vollauf mit dem drängenden Leben zu thun, und
ihre praktischen Gedanken sind andern Zielen zugewendet, als dem sozialen
Frieden auf Erden."
So wäre es denn nichts mit der Lehre, daß das Christentum zur Be¬
glückung der Menschheit beitragen könnte; es ist auch nichts mit der Re¬
volution; denn weder durch die Religion noch durch politische und soziale
Reformen wird an dem Wesen des Menschen irgend etwas geändert, und solange
das Wesen des Menschen dasselbe bleibt — nackter Egoismus, so lange wird sich
auch an der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, namentlich der
armen und schwachen, im wesentlichen nichts ändern. Darum gebt allen
Glauben an ein Besserwerden auf, verzichtet auf alles Streben nach Ver¬
änderungen, die euch eine bessere Lebenslage sichern sollen, lAsomw oZni sxg-
rÄn^g., laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in diese wirtschaftende Welt
eintretet, die nun einmal unter dem despotischen Szepter des naturgesetzlicher
Egoismus steht!
Es läge nahe, an der Hand unbestreitbarer Thatsachen solchen Deutungen
der Weltgeschichte zu widersprechen und darzuthun, daß wirklich durch das
Christentum sowohl wie durch die französische Revolution die Volksmassen auf
eine höhere Stufe der Sittlichkeit und auch der äußern Wohlfahrt gehoben
worden sind. Da wir aber nicht dem optimistischen Glauben huldigen, daß es
einen Fortschritt der Menschheit geben könnte, der nicht zugleich einen Verlust
und Rückschritt bedeutet, so vermöchte» wir uns nicht zu schmeicheln, eine der¬
artige historische Kontroverse innerhalb eines knappen Raumes zu einem ab¬
schließenden Ergebnis zu führen. Wir müssen daher, um die Nichtigkeit eines
Trugschlusses darzuthun, der allem Aufstreben, allem Glauben und Hoffen der
Menschheit ein Ziel setzen würde, dem Prinzip der Manchesterdoktrin selbst zu
Leibe gehen und nachweisen, wie jener Egoismus, der eine Macht vorstellen
soll, die selbstherrlich und ausschließend über das innere wie über das äußere
Leben des Menschen gebietet, nichts ist, als eine ziemlich fadenscheinige Ab¬
straktion.
Aus welcher Gedankensphäre stammt die Vorstellung vom Egoismus als
einer Willenspotenz, die bei allen Menschen gleich und in dem Einzelnen das
ganze Leben hindurch unveränderlich sein soll? Wo hat die Abstraktion einer
rein auf materiellen Vorteil bedachten Selbstsucht, in der sich der ganze Inhalt
des individuellen Wollens erschöpfen würde, ihren Ursprung genommen? In
Manchester hat die Lehre vom abstrakten Jndividualegoismus als dem das
gesamte Wirtschaftsleben souverän beherrschenden Prinzip im Laufe unsers
Jahrhunderts eine besonders charakteristische Ausprägung und Anwendung
gefunden; der Grundgedanke dieser Lehre taucht aber zuerst auf am Ausgang
der Religionskriege auf den Kondoren von Rotterdam und London. Es ist
die von allen Traditionen der Religion und des Staatslebens abgelöste Kauf¬
mannsmoral, die in der Gleichheit des individuellen Egoismus das Prinzip
gefunden zu haben glaubte, woraus sich alle Erscheinungen des in ihren Ge¬
sichtskreis fallenden Ausschnittes des gesellschaftlichen Lebens erklären und die
für den Kreis des Erwerbslebens gemeingiltigen Gesetze des Erlaubten und
Gerechten herleiten ließen.
Wenn der Kaufmann als solcher seinem Mitmenschen näher tritt, so ge¬
schieht es, um mit ihm ein Tauschgeschäft zu machen. In dem Augenblick,
wo das Geschäft zu stände kommt, ist er sich in seinem Innersten bewußt,
ganz legitim zu handeln, wenn er, ohne der Wahrheit und Ehrlichkeit etwas
zu vergeben, daraus bedacht ist, den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen.
Eine solche Ruhe des Gewissens ist in der praktischen Natur des Menschen
begründet. Es giebt allerdings zart besaitete, ideal gestimmte Seelen, in denen
sich ein gewisses Etwas gegen jede Handlung dieser Art sträubt, weil sie den
Verdacht gegen sich selbst nicht los zu werden vermögen, sich beim Streben
nach einem Vorteil im Tauschgeschäft zu einem Betrug, wenn auch leisester
Art und nur etwa durch Schweigen begangen, vor sich selber erniedrigt zu
haben. Solche Leute würden aber alle Handelsgeschäfte unmöglich machen,
weswegen es ganz berechtigt ist, sie von der Feststellung der moralischen und
Rechtsregeln für den Geschäftsverkehr auszuschließen.
Insoweit als der einzelne Tauschvertrag in Betracht kommt, mag also der
Satz, daß, mit dem Vorbehalt der Vermeidung des Betrugs, das vernunft¬
mäßige, intelligente Streben nach persönlichem Vorteil und die kluge Wahr¬
nehmung des egoistischen Interesses die innere Berechtigung des Vertrags
in sich trage, ohne weiteres zugestanden werden. Die gesamte, durch englisch-
holländischen Vorgang hervorgerufne Entwicklung des modernen Verkehrs¬
lebens hat aber dazu beigetragen, daß allmählich alle auf wirtschaftlichem
Grunde ruhenden Beziehungen der Menschen zu einander jenem Moment-
geschaft des Kaufmanns gleichgestellt wurden. So erschien denn der reine
Egoismus in letzter Instanz als das treibende Motiv aller im wirtschaft¬
lichen Leben wurzelnden Handlungen und damit als die souveräne Macht, die
die gesellschaftliche Entwicklung ausschließlich beherrschte. Mit dieser Zurück-
führung des egoistischen Prinzips aus seinen Ursprung ist aber eben der
Nachweis geliefert, daß wir es hier mit einer Abstraktion zu thun haben, die
in einseitiger Weise aus den Eigenschaften des Menschen eine einzige/ besonders
bedeutsame herausgriff und die übrigen bei jeder Handlung, wenn auch vielleicht
in sehr geringem Maße, unbeteiligten Seelenkräfte zurückstellte. Eine solche
Einseitigkeit entsprach aber dem Bedürfnis der Zeit. Die rücksichtslose Ent¬
fesselung des Einzelwillens löste Energien aus, deren der Kulturfortschritt
der europäischen Menschheit nicht entraten konnte.
Durch das Innewerden der Kraft, die von einer Idee geweckt wird, er¬
zeugt sich der Glaube. Je stärker ein Glaube ist, desto mehr hat er die
Neigung, einen andern Glauben, dessen Wirkung er als Hemmnis empfindet,
beiseite zu drängen, dagegen sich das Vertrauen auf Ideen anzueignen, die
sich seinem Streben förderlich erweisen. Es wurde so zum allgemein ange¬
nommenen Kennzeichen des modernen Menschen, Kulturfortschritt und all¬
gemeine Wohlfahrt von der vereinigten Energie des auf wirtschaftliche Thätigkeit
gerichteten Einzelwillens und der im Interesse des „Egoismus" fessellos
waltenden Einzelvernnnft zu erwarten.
Daß sich in der Entfaltung dieser Einseitigkeit eine unaufhaltsame historische
Notwendigkeit vollzog, geht klar und deutlich daraus hervor, daß alle lebens¬
kräftigen Völker Europas, mochten ihre kirchlichen und staatlichen Einrichtungen
und Überlieferungen sein, welche sie wollten, der Reihe nach von dem mit
jener liberalistisch-Militärischen Lebensauffassung in engster Wechselbeziehung
stehenden Fieber des Jndustrialismus ergriffen worden sind. Wenn sich nun in
allen diesen Ländern, obschon nicht überall in gleicher Stärke, als Folge der
wirtschaftlichen Entwicklung und der sie begleitenden Ausgestaltung der sitt¬
lichen und Rechtsanschauungen, übereinstimmend auch dieselben sozialen Mi߬
stände und Gefahren einstellen, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen,
daß in dein gemeinsamen Prinzip, von dem sich die an die allbeglückende
Macht des Liberalismus Glaubenden bei ihren sich auf das wirtschaftliche
Leben beziehenden Handlungen leiten lind bestimmen ließen, ein grober Fehler
mit unterlaufen muß. Dieser Fehler besteht, wie sich bei näherer Prüfung
unzweifelhaft herausstellt, eben in der irrigen Annahme, daß man an dem ab¬
strakten Begriff Egoismus eine konkrete Grundlage für das Gleichmaß sozialer
Gerechtigkeit habe. Man könnte, zwar immer noch mit Vorbehalt, eine der¬
artige Annahme etwa zulassen, wenn die Erfahrung irgendwo einen durchaus
in sich abgeschlossenen, nach Inhalt und Stärkegrad bei allen gleichen Willen,
also einen thatsächlich gleichen Egoismus aufweisen würde. Ein solcher
Egoismus kommt aber beim Menschen nirgends vor, denn schon von Natur
ist die Mischung und das Stärkeverhältnis der seelischen Kräfte uno Triebe
bei den Einzelnen sehr verschieden.
Wenn zwei Kaufleute einander gegenüber treten, jeder in der Absicht,
eine Ware auszutauschen, um eine andre dafür einzutauschen, .so berühren sie
sich gewissermaßen nur mit einer Stelle der Epidermis, worin sich sür den
Augenblick ihr Egoismus, ihr Streben nach unmittelbarem Gewinn und Vorteil
zusammendrängt. Unter normalen Umstünden wird man hier von einer Gleich¬
heit der Egoismen sprechen können, und die beiderseitige Einwilligung in den
Tanschvertrag wird in diesem Fall auch ein materiell der Idee der Gerechtig¬
keit entsprechendes Verhältnis schaffen. Sowie aber ein Mensch, gegen Ent¬
gelt, seine Leistungsfähigkeit dauernd in den Dienst eines andern stellt, so be¬
gründet sich ein Verhältnis, das aus dem Umkreis des juristisch abgegrenzten
Vertrags heraustritt. Die manchesterliche Anschauung, wonach die zum Kauf
angebotne und gegen Entgelt hingegebne Arbeitskraft, deswegen weil das
Motiv der Hingabe ein „egoistisches" sei, einer Ware gleichzuachten wäre, und
das sich aus dem Arbeitsvertrag ergebende Verhältnis keinen andern sittlichen
Inhalt haben und demnach keine andern Pflichten schaffen soll, als jede be¬
liebige Abmachung an der Börse oder auf dem Rennplatz, erscheint dem
Christen, der im Mitmenschen immer die unsterbliche Seele und die Gottes-
kindschaft anzuerkennen gewohnt ist, beinahe als Ruchlosigkeit. Jedenfalls
darf die Kirche, wenn sie nicht ihr Prinzip der Wertschätzung des unsterblichen
Teiles im Menschen aufgeben will, zu der Theorie, daß ein auf sittlich
gewerteter Leistung begründetes Arbeitsverhältnis für den Kapitalisten, den
sogenannten Arbeitgeber, keinerlei sittliche Verpflichtung schaffe, niemals
ihre Zustimmung geben. Den radikalen Unterschied zwischen dem kaufmän¬
nischen Warentauschgeschäft und dem Vertrag über dauernde Leistungen zeigt
auch die tägliche Erfahrung. Nachdem zwei Händler ihr „Top. abgemacht"
gesprochen haben, gehen sie vollkommen gleichgiltigen Sinnes aus einander.
Der Arbeiter bringt ins Geschäft Haß oder Liebe mit, er trägt Haß oder
Liebe mit nach Hause, je nachdem die Behandlung, die er erfährt, seinen Vor¬
stellungen von Gerechtigkeit entspricht oder nicht.
Wer dazu beitragen will, daß wir den sozialen Zwiespalt im Innern
überwinden, und daß sich allmählich wieder ein Weg öffne, der aus dem ha߬
erfüllten Kampf der Klassen herausführt, der muß vor allem den Aberglauben
zerstören helfen, deu das Manchestertum predigt, den Aberglauben, daß es der
angeborne und unausrottbare „Egoismus" des Menschen unmöglich mache, in
versöhnender Weise das rein wirtschaftliche Verhältnis des Arbeiters zum
Kapitalisten durch die Förderung des Bewußtseins einer doppelseitigen Ver¬
pflichtung zu einem sittlichen, weiterhin auch rechtlich immer mehr zu festigenden
fortzueutwickeln. Nicht daß den Besitzenden das Recht bestritten werden soll,
zur Wehr zu greifen und auch die Hilfe des Staates anzurufen, wo sie un¬
gerechterweise angegriffen und bedroht werden. Im Gegenteil; so wie die
Dinge heute liegen, wird eine versöhnende Thätigkeit nur verstanden werden
und eine gute Stätte finden, wo sie verbunden auftritt mit energischer Zurück¬
weisung der Versuche, weit über das Maß hinausgehende Forderungen der
Arbeiter gewaltsam durchzusetzen. Aber auch der Kampf muß christlich geführt
werden mit dem Wunsche, zu einem gerechten Frieden zu gelangen.
Die Gewaltsamkeit im Vorgehen der uach Verwirklichung eines falschen
Ideals von sozialer Gerechtigkeit ringenden Lohnarbeiter zu mildern, wird aber
wiederum kein andres Mittel so geeignet sein, als die Einführung der Religion
als einer stärkenden und tröstenden, das Gemüt befreienden Macht bei den
Seelen, die in ihrer hilflosen Vereinzelung argwöhnisch und verbittert geworden
sind. „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" — das muß das Heilswort werden
sür die Seelen, die unter der Last schwerer, erschöpfender Arbeit zu erliegen
drohen. Fort mit der Heuchelei, daß die Arbeit selbst, als Mitarbeit an der
Kultur erfaßt und verstanden, eine erhebende, erlösende und heiligende Kraft
in sich trage! Um den Kraftaufwand zu bestreikn, den die Aufgaben eines
modernen Großstaats gebieterisch verlangen, wird für Millionen und aber
Millionen die höchste Anstrengung und Anspannung zu einseitiger und niedriger
Thätigkeit als hartes Lebenslos zur Notwendigkeit. Diese Schichten der Be¬
völkerung auf die Segnungen der Kultur zu verweisen, klingt wie schnöde
Ironie und kann unter Umständen als direkte Aufforderung zur Empörung
wirken. Eine ähnliche Verletzung der Menschlichkeit liegt in dem klugen Einfall
der Manchesterprofessoren, daß man zu dem harten Spruch des Lebens Lio
vos von vobis auch noch den Raub hinzufügen müsse, der den Arbeiter um
die „Illusion," um den letzten Rest von Glauben und Hoffen bringt. Statt
den Hoffnungskeim, der sich etwa noch in der verdüsterten Seele des Gedruckten
regen mag, mit der eisigen Kälte nüchterner Kritik zu zerstören, wollen wir
Christen versuchen, den Herzen das Wort dessen nahe zu bringen, der gesagt
hat: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht." Zwischen völligem
Versinken im Elend und leidenschaftlichem Hinhorchen nach der Aufruhrglocke
wird die Seele des Belasteten niemals die maßvolle Mitte finden, solange
nicht ein Glaube und eine Hoffnung höherer Art und höhern Ursprungs dem
in den Kerker der Leiblichkeit Gebannten einen Ausblick verschafft auf ein
Stück blauenden Himmels und ihn ahnende Fühlung gewinnen läßt mit einer
Welt, wo sich eine wärmende Luft des Lichtes und der Liebe an die Seele
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(M^kxL^meer welchen Voraussetzungen darf ich verhaftet werden? Wer
ist zur Verhaftung befugt? Bin ich selber zur Festnahme eines
andern berechtigt, und wann bin ich es? Das sind Fragen,
die immer, auch in Laienkreisen, auf Interesse Anspruch machen
dürfen, ganz besonders aber jetzt, wo so viel von Übergriffen
„Subalterner Polizeiorgane" die Rede ist.
In Betracht kommt hier natürlich nur der Fall, wo noch kein rechtskräftiges
Urteil auf eine Freiheitsstrafe vorliegt, wo also ein plötzlicher, unvermuteter
Eingriff in die Freiheit des Einzelnen stattfindet. Wie weit hier die Organe
des Staates und der Einzelne gehen dürfen, diese überaus schwierige Frage
ist bisher in folgender Weise geregelt. Artikel 5 der preußischen Verfassung
bestimmt: „Die persönliche Freiheit ist gewährleistet, die Bedingungen und
Formen, unter welchen eine Beschränkung derselben, insbesondre eine Ver¬
haftung zulässig ist, werden durch das Gesetz bestimmt." Als solche Gesetze
kommen vor allem in Betracht das preußische Gesetz zum Schutze der per¬
sönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850 und die Strafprozeßordnung vom
1. Februar 1877. Aber auch die Zivilprozeßordnung und manche andern
Gesetze enthalten einschlägige Bestimmungen. Man muß folgende Begriffe
streng auseinander halten: die Verhaftung im engern Sinne des Wortes,
die vorläufige Festnahme, die Verwahrung oder Sistirung und die Zwangs¬
gestellung.
Die Verhaftung im engern Sinne findet statt, um eine begangne straf¬
bare Handlung zu verfolgen. Das Recht zur Verhaftung steht einzig und
allein dem Richter zu. Und zwar ist in der Regel der Amtsrichter der zu¬
ständige Richter. Nur wenn eine Voruntersuchung schon eröffnet ist, ist auch der
Untersuchungsrichter und uach der Eröffnung des Hauptverfahrens in dringenden
Fällen der Vorsitzende des erkennenden Gerichts einen Haftbefehl zu erlassen
berechtigt. So kann es kommen, daß, wenn z. B. ein Zeuge einen offenbaren
Meineid vor dem Schwurgericht leistet, der Gerichtshof nicht zur Verhaftung
des Thäters berechtigt ist. Wohl aber könnte der etwa beisitzendc Amtsrichter
sofort einen Haftbefehl erlassen. Die Verhaftung erfolgt auf Grund eines
schriftlichen, dem Verhafteten bekannt zu gebenden Haftbefehls, worin der
Grund der Verhaftung zu nennen und ans das Rechtsmittel der Beschwerde
hinzuweisen ist. Ein Haftbefehl darf nur erlassen werden, wenn dringende
Verdachtsgründe gegen den zu Verhaftenden vorliegen, dieser der Flucht ver¬
dächtig ist, oder wenn zu befürchten steht, daß er die Spuren der That oder
die Beweismittel vernichten könnte. Der Fluchtverdacht ist ohne weiteres als
begründet anzusehen, wenn ein Verbrechen Gegenstand der Untersuchung ist,
oder der vermeintliche Thäter ein Landstreicher oder unfähig ist, sich über
seine Person auszuweisen, endlich, wenn er ein Ausländer ist, und wenn zu
befürchten steht, daß er der Ladung zum Termin nicht Folge leisten werde.
Die verhängte Haft darf höchstens bis zur Dauer von vier Wochen ausgedehnt
werden, wenn nicht innerhalb dieser Zeit die öffentliche Klage erhoben wird.
Ist dies der Fall, so ist keine Grenze der Haft vorgesehen. Und es ist nicht
zu leugnen, daß es manchmal recht lange dauert, bis eine Voruntersuchung
abgeschlossen ist und die Hauptverhandlung stattfinden kann.
Grundverschieden von der in dieser Weise geregelten Untersuchungshaft
ist die Haft, die verhängt werden kann, wenn ein Schuldner die Zwangs¬
vollstreckung zu vereiteln droht, oder wenn in dem Falle des Konkurses der
Gemeinschuldner durch sein Verhalten die Masse gefährdet; ferner die Zwangs¬
haft gegen Zeugen, die nicht aussagen wollen, und den Schuldner, der den
Offenbarungseid nicht leisten will; endlich die sich der Strafhaft schon nähernde
Haft, die vom Gericht über Personen verhängt werden kann, die sich in der
Sitzung ungebührlich benehmen oder den Anordnungen des Gerichts nicht
Folge leisten.
Streng von der Verhaftung zu unterscheiden ist die sogenannte vorläufige
Festnahme. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß letztere
nur so lauge dauern darf, als erforderlich ist, die Entscheidung des Richters
anzurufen. Denn ein für allemal gilt der Grundsatz, daß uur der Richter über
die persönliche Freiheit seiner Mitbürger zu entscheiden hat. Dem Amtsrichter
ist daher der Festgenommene unverzüglich vorzuführen, und dieser hat ihn
spätestens am Tage nach der Vorführung zu vernehmen. Zur vorläufigen
Festnahme ist unter Umständen jedermann befugt, dann nämlich, wenn er
einen andern bei Begehung einer strafbaren Handlung auf frischer That oder
bei der unmittelbaren Verfolgung ergreift, und dieser der weiter» Flucht ver¬
dächtig ist oder sich über seine Person nicht ausweisen kann. Dabei ist die
Schwere der strafbaren Handlung ganz gleichgiltig. Ich kann z. B. einen
Bettler, einen Jungen, der mich mit Steinen wirft, jemand, der ruhestörenden
Lärm verübt, wenn die andern Voraussetzungen vorhanden sind, so gut fest¬
nehmen wie einen Totschläger, ohne daß ich mich der Freiheitsberaubung
schuldig mache.
Die Staatsanwaltschaft und die Polizei- und Sicherheitsbeamten haben
das Recht zur vorläufigen Festnahme noch weiter dann, wenn die oben er-
Mahnten Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen und Gefahr im Verzüge
liegt. Es bedarf hier also nicht des Ergreifens auf frischer That oder bei
der unmittelbaren Verfolgung.
Von der vorläufigen Festnahme zum Zwecke der Strafverfolgung ver¬
schieden ist nun wieder das Recht der Staatsanwaltschaft, der Polizei und
der Wachtmaunschaften, Personen in polizeiliche „Verwahrung" zu nehmen.
Dies Recht haben die genannten Behörden dann, wenn der eigne Schutz der
festgenommenen Personen oder die Aufrechterhaltung der „öffentlichen Sitt¬
lichkeit, Sicherheit und Ruhe" diese Maßregel dringend erfordern. Auch um
eine bei der VerÜbung strafbarer Handlungen, z. B. ruhestörenden Lärms, fest¬
genommene Person von der Verübung weiterer Strafthaten abzuhalten, sollen
die genannten Behörden nach einer Entscheidung des Reichsgerichts zur Fest¬
nahme berechtigt sein. Immer aber sind die Behörden verpflichtet, die fest¬
genommene Person im Laufe des folgenden Tages in Freiheit zu setzen oder
das Erforderliche zu veranlassen, um sie der zuständigen Behörde — dem
Gericht, der Vormundschaftsbehörde, der Militärbehörde usw. — zu überweisen.
Endlich können die Behörden noch insoweit in die persönliche Freiheit
des Einzelnen eingreifen, als sie zum Teil berechtigt sind, die Personen vor¬
führen zu lassen, die ihrer Ladung nicht Folge leisten. So kann das Gericht
uuter Umstünden den Beschuldigten oder die Zeugen, die auf orduuugsmüßige
Ladung uicht erschienen sind, vorführen lassen. Dasselbe Recht steht auch der
Polizeibehörde bei der Handhabung der ihr übertragnen Exekutivgewalt und
andern Behörden zu.
Man sieht aus diesen Bestimmungen, zu denen noch die harten Strafen
wegen unrechtmäßiger Freiheitsberaubung hinzutreten, daß es an einschlägigen
Gesetzen nicht fehlt, und daß vor allem gegen eine unrechtmäßige Verhaftung
alle nur erforderlichen Bürgschaften geboten sind. Andrerseits läßt es sich
nicht leugnen, daß der Polizei durch die Bestimmungen über vorläufige Fest¬
nahme und Verwahrung eine überaus weitgehende Macht eingeräumt ist.
Denn der Begriff: so weit es die öffentliche Sicherheit und Ruhe erfordert,
ist natürlich in „das pflichtgemäße Ermessen" der Beamten gestellt. Unter
diesen Begriff läßt sich aber so ziemlich alles bringen, von dem angeheiterten
Studio, der auf der Straße singt, bis zum Redakteur, der in kritischer Zeit
einen sensationellen Leitartikel geschrieben hat. Auch die Berechtigung, die
wegen Sittenvergehens festgenommenen Frauenspersonen körperlich untersuchen
zu lassen, stützt sich, meines Wissens, nur auf diese Bestimmungen.
Die Vorschriften über die „vorläufige Festnahme" können leicht dazu
führen, daß jemand eine Nacht unrechtmäßig festgehalten wird. Man denke:
Auf der Straße wird Lärm gemacht oder irgend ein Unfug verübt. Der
herbeieilende Wächter hält einen zufälligen Passanten für den Thäter und
nimmt ihn mit zur Wache. Kann dieser sich hier nicht legitimiren, so muß
er dableiben, denn er ist nach der Ansicht des Wächters bei der Verübung
einer strafbaren Handlung betroffen worden, und seine Persönlichkeit hat nicht
festgestellt werden können. Die andern, jetzt in der Tagespresse besprochnen
Vorkommnisse ähnlicher Art sind weit schlimmer. Sie sind häufiger, als man
annimmt, da der Betroffne den ihm peinlichen Vorfall meist verschweigen wird.
Daß somit aus jenen weitgehenden Bestimmungen große Unannehmlich¬
keiten, ja Nachteile für den Einzelnen erwachsen tonnen, läßt sich nicht leugnen.
Dem gegenüber stehen aber die großen Gefahren, die daraus entspringen
könnten, wenn man dem Staat ein schnelles energisches Eingreifen selbst in
die Freiheit des Einzelnen verböte oder allzu sehr erschwerte. Bricht bei einem
Menschen plötzlich Tobsucht aus, und bedroht er seine Umgebung; mißhandelt
ein roher Arbeiter auf das Grausamste Frau und Kinder, taumelt ein schwer
Betrunkner durch die Straßen; ist aus bestimmten Anzeichen anzunehmen,
daß jemand seinen Todfeind ermorden will, wenn auch uoch kein strafbarer
Versuch gemacht worden ist, so muß in allen diesen und unendlich vielen andern
Fällen der Staat das Recht haben, ohne weiteres in die Freiheit des Einzelnen
einzugreifen.
Die Zahl solcher Fälle ist aber Legion, sodaß es ein vergebliches Bemühen
wäre, sie spezialisiren zu wollen. So bleibt denn nichts andres übrig, als die
Bestimmungen, die dem Staat das Recht zum Einschreiten geben, so weit zu
fassen, daß alle solche Begebenheiten darunter fallen. Daß dann freilich auch
Vorkommnisse mit einbegriffen werden, die nicht dahin gehören, ist natürlich
und unvermeidlich. Nimmt man hinzu, daß bei der dichtgedrängten Be¬
völkerungsmasse unsrer großen Städte ein an sich harmloser, doch Aufsehn
erregender Vorfall durch das Herbeidrängen der rohen Menschenmenge allzu
leicht zu bedenklichen Tumulten führen kann, so wird man kaum dazu neigen,
die Befugnisse der Polizei „zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ruhe und
Sicherheit" einzuschränken. Ebensowenig dürften die Bestimmungen über die
vorläufige Festnahme im wesentlichen geändert werden können. Auch hier ist
die Zahl und Art der Fälle zu groß, als daß sie sich genauer bestimmen
ließen. Dem Staate muß die Gewalt gegeben sein, auch bei kleinen Straf¬
sachen energisch gegen den böswilligen Thäter vorzugehn. Die bedauerlichen
Fälle, daß durch Irrtum der Beamten oder durch sonstige ungünstige Um¬
stände ein Unschuldiger betroffen wird, werden sich durch gesetzliche Bestimmungen
nicht vermeiden lassen.
Dagegen könnten die Behörden bei der Ausführung der gesetzlichen Be¬
stimmungen und in gewisser Weise auch das Publikum manches thun, um die
Zahl solcher Vorkommnisse zu verringern. Von den Behörden ist es die
Polizeibehörde, die hier selbst allein in Frage kom»me. Die notwendige An¬
forderung, die man an ihre Beamten stellen muß, ist Takt. Gleichheit ist ein
schönes Wort. Aber wenn ich nach demselben Gesetz den Bummler und den
angesehenen Bürger auf der Wache behalte, so entsteht für den einen eine
Wohlthat, für den andern eine Kränkung, an der er vielleicht sein Leben lang
trägt. Darum muß die Polizei durch Takt die Härten des ungleichen Gesetzes
aufheben, kurz sie darf nicht schematisch arbeiten, sondern muß jeden Fall
einzeln betrachten. Dazu ist aber nötig, daß unsre Polizeibeamten anders
ausgebildet und anders gestellt werden als jetzt. Um nur eins zu erwähnen,
so werden die mittlern Venmtenstellen bei der Polizei, die der Inspektoren,
Pvlizeioffiziere und Räte meist mit ansgeschiednen Offizieren oder mit Juristen
besetzt, die gewöhnlich vor dem zweiten Examen abgegangen sind. Daß diese
aus ihrem eigentlichen Beruf herausgedräugteu Leute bei der Polizei nicht mit
derselben Liebe arbeiten, scheint natürlich, um so mehr, als sie im Range trotz
der großen Machtbefugnis, die ihnen ihr Amt giebt, den höhern Beamten
andrer Kategorien nicht gleich stehen. Sollte da nicht durch Schaffung einer
besondern Laufbahn eine Besserung möglich sein? Jedenfalls würde schon dnrch
häufigere Instruktion der Unterbeamten manches gebessert werden.
Das Publikum kann sich vor ärgerlichen Vorkommnissen in gewisser Weise
dadurch schützen, daß es sich daran gewöhnt, irgend eine Legitimation mit sich
zu führen. In großen Städten ist das für Personen, die viel ans den
Straßen zu thun haben, auch für einzelnstehende Mädchen, geradezu geboten,
da niemand in dem Menschentreiben sicher sein kann, nicht gelegentlich in einen
ärgerlichen Konflikt verwickelt zu werden. Als solche Legitimationszeichen
kommen in Betracht die Paßkarten, die von der Behörde zu 1 Mark abgegeben
werden, ferner werden stets ausreichen Militärpapiere, Versichernngskarten,
Gesinde- und Dienstbücher. Die meisten Wachthabenden lassen wohl auch auf
den Namen lautende gedruckte Mitgliedskarten größerer Vereine und Verbände
(Radfahrerbuud :c.) gelten, ja selbst an den Inhaber adressirte Vriefum-
schläge, wenigstens eingeschriebner Briefe, kommen in Frage.
Bei uns wird auf der einen Seite bei all und jeder Gelegenheit nach
der Polizei gerufen, auf der andern Seite steht eine zuweilen geradezu bis
zum Krankhaften gesteigerte Abneigung gegen alles, was Polizei heißt —
eine Erscheinung, die in ihrer schlimmsten Form unter der Bezeichnung
„Blaukollcr" bei den Gerichten wohl bekannt ist. Daß die bösen Vorfälle der
letzten Zeit nur zu sehr geeignet sind, dem Haß gegen die Polizei neue Nahrung
zuzuführen, ist leider unbestreitbar. Und doch wird man sich bei aller Teil¬
nahme für die Geschädigten davor hüten müssen, zu weitgehende Folgen bis
zur Gesetzesänderung usw. aus den Vorfällen zu ziehen. Vor gelegentlichen
Irrtümern werden auch die besten Gesetze die Polizei nicht bewahren können.
Verlangt werden muß dagegen und mit allen Mitteln ist dahin zu wirken,
daß die Behörden mit allem Ernst aus die genaueste Beobachtung der be¬
stehenden Gesetze und auf ihre taktvolle Anwendung sehen. Die Staatsanwalt¬
schaften arbeiten viel mit den Polizeibeamten zusammen und sind vielfach auf
sie angewiesen. Das legt leicht die Versuchung nahe, daß sie bei Übertretungen
zu schonend gegen diese Beamten vorgehn. Sie und die Gerichte müssen mit
eiserner Strenge Amtsüberschreitungen der Polizeibeamten verfolgen. Und
ebenso mögen die Beamten, die in Begnadigungsfällen den ausschlaggebenden
Vortrag halten, recht gründlich prüfen und auch auf das verletzte Rechts-
bewußtsein im Volke Rücksicht nehmen. Geschieht dies, so ist mit den be¬
stehenden Gesetzen wohl auszukommen, und die Gefahr ist völlig ausgeschlossen,
daß wir uns dem unerträglichen Zustand eines uniformirten Banditentums
nähern. Dem Publikum bleibt die Aufgabe, bei einem Konflikt mit Polizei¬
beamten um jeden Preis Ruhe zu halten, freilich auch ihre Amtsüberschrei¬
tungen rücksichtslos anzuzeigen.
ehrfach ist in den letzten Jahren bei den Verhandlungen des
preußischen Abgeordnetenhauses eine Frage zur Sprache gebracht
worden, die gegenüber den gewaltigen andern Aufgaben der Unter¬
richtsverwaltung nur eine bescheidne Bedeutung beanspruchen
kann, deren endliche Regelung aber einmal wird erfolgen müssen;
es ist dies die Frage einer einheitlichen Regelung der Bedingungen, unter
denen an einer Universität des Deutschen Reichs die Doktorwürde erworben
werden kann.
Schon etwa vor zwanzig Jahren brachte Theodor Mommsen im preußischen
Abgeordnetenhause diese Frage zur Sprache, und zwar bei einem in jener
Zeit vielfach besprochnen Falle: die philosophische Fakultät einer deutschen
Universität hatte einem ihr ganz unbekannten Manne ohne jede nähere Prüfung
den Doktortitel verliehen, lediglich auf Grund einer von ihm vorgelegten Ab¬
handlung, die, wie sich alsbald nach ihrer Veröffentlichung herausstellte, wört¬
lich aus schon früher erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten abgeschrieben war.
Mommsen regte damals die Frage an, ob es sich nicht empföhle, daß das
Reich die Promotionsfrage einheitlich regle, um in Zukunft derartige Mi߬
bräuche auszuschließen. Irgend welchen Erfolg hat diese Anregung nicht gehabt;
noch heute herrscht an den verschiednen Universitäten — oft sogar desselben
Bundesstnats — eine erstaunliche Verschiedenheit der Anforderungen, die bei
der Erteilung der Doktorwürde gestellt werden. Daraus erklären sich That¬
sachen, die von Zeit zu Zeit in der Tagespresse hämisch besprochen werden,
und die der deutschen Wissenschaft, insbesondre den Universitäten, nicht zur
Ehre gereichen; nach glaubwürdigen Mitteilungen kamen von den in den fünf
Jahren 1887 bis 1892 erfolgten juristischen Promotionen auf die drei Uni¬
versitäten Heidelberg, Jena, Leipzig etwa dreimal soviel als auf die sämtlichen
übrigen siebzehn Universitäten zusammen. Von den in den Jahren 1895 und
1896 im ganzen Reiche vorgekommnen 237 juristischen Promotionen sollen volle
107 in Erlangen erfolgt sein; ähnlich ist es in der philosophischen und in der medi¬
zinischen Fakultät/') Einzelne Universitäten werden eben von den Doktoranden
mit ganz besondrer Vorliebe aufgesucht, andre — insbesondre die altpreußischen —
geradezu gemieden, und über die Gründe dieses eigentümlichen Verhältnisses
herrscht unter den Eingeweihten volles Einverständnis, ohne daß jedoch unter
den hier in Betracht kommenden Universitäten der Mißstand empfunden wird;
denn andernfalls hätte man ihn längst beseitigt. Wenn ein Primaner das Gym¬
nasium zu Stettin ohne jeden sachlichen Grund verläßt und Ausnahme in das
Gymnasium zu Kyritz begehrt, so wird er vom Direktor des letzten nicht eben
freundlich empfangen; denn dieser mutmaße als Grund des Umzugs sofort,
daß der Ankömmling die Reifeprüfung in Kyritz leichter zu bestehen glaube als
in Stettin. In einen solchen Ruf wünscht aber der Direktor die Anstalt nie¬
mals gelangen zu lassen. Dagegen ist es durchaus gebräuchlich, daß sich
Leute, die ihre Studien an einer norddeutschen, sagen wir, preußischen Uni¬
versität gemacht haben und dort oder in der Nähe einheimisch sind, an eine
weitabliegende, ihnen fremde Universität zur Erlangung des Doktortitels
wenden. Die so angegangne fremde Universität kennt die Gründe dieses auf¬
fallenden Verhaltens ganz genau: der Bewerber fürchtet deu wissenschaftlichen
Anforderungen, die die Heimatsnniversität an die Erlangung des Titels stellt,
nicht gerecht zu werden, wohl aber denen der von ihm angegangnen fremden
Universität. Und dabei sind diese Anforderungen „auf dem Papier" gleich:
eine wissenschaftliche Arbeit und eine mündliche Prüfung werden bei allen Uni¬
versitäten verlangt. Die eine Fakultät aber läßt eine von dem Bewerber einge¬
reichte Arbeit als „Doktordissertation" gelten, während diese von der Fakultät
einer andern Universität als wertlos mit Entrüstung zurückgewiesen werden würde;
und Kenntnisse, die die eine Fakultät als zum Nachweis „wissenschaftlicher Eru¬
dition" beim tCn.es.men riMrosum für genügend hält, würden von der andern
Fakultät als völlig ungenügend bezeichnet werden. Das merkwürdige ist, daß Zu¬
stände dieser Art nur gerade bei dieser Fakultätsprüfung zum Doktor gelten,
während sie bei staatlichen Prüfungen unerhört wären. Das Maß der Kenntnisse,
die eine staatliche Behörde bei der Abiturientenprüfung, bei der Prüfung als prak¬
tischer Arzt, als Oberlehrer, als Richter oder Referendar verlangt, ist im wehend-
liehen gleich, mag die Prüfungsbehörde nun eine preußische oder eine sächsische
oder eine bayrische sein. Verschiedenheiten, die hier doch viel begreiflicher
wären, sind nur als vorübergehende, durch die Einzelanschauungen des einen
oder andern Prüfenden erklärliche Schwankungen zu bezeichnen und nicht als
dauernde Einrichtungen aufzufassen.
Die beschriebnen Zustünde gereichen den Universitäten und der deutschen
Wissenschaft sicher nicht zur Ehre, und eine Beseitigung der Mißstände läßt
sich nur erreichen, wenn die Anforderungen, die an die Erteilung der Doktor¬
würde gestellt werden, einheitlich für das ganze Reich geregelt werden. Dabei
ist allerdings klar, daß die Reichsgesetzgebung zu einem Einschreiten in dieser
Frage nicht zuständig ist; es bedarf auch keines Einschreitens der Gesetzgebung.
Vielmehr genügt zur Herstellung des gewünschten Ergebnisses eine Überein¬
stimmung der beteiligten Bundesstaaten; denn die Universitäten stehen unter der
obersten Unterrichtsbehörde und sind daher verpflichtet, den von dieser über
die Promotionen gegebnen Anweisungen Folge zu leisten. Selbst wenn man
dieses' als einen unzulässigen Eingriff in das den Universitäten zustehende
Selbstverwaltungsrecht auffassen wollte, so müßte doch thatsächlich ein Wider¬
spruch der Universitäten gegen ein solches im Interesse der Universitäten und
der Wissenschaft erfolgendes Vorgehen für ausgeschlossen gelten.
Der Doktortitel wird gegenwärtig zumeist geführt von Männern, die zu¬
gleich die zu einem eine wissenschaftliche Vorbildung erfordernden Amte not¬
wendige Prüfung vor einer staatlichen Behörde bestanden haben, also von
Lehrern höherer Lehranstalten, von höhern Justiz- und Verwaltungsbeamten,
Ärzten usw. Fragt man, welche besondern Fähigkeiten und Leistungen diese
Promovirten vor ihren nichtpromovirten Berufsgenossen nachgewiesen haben,
um hierfür einen wissenschaftlichen Titel zu führen, so muß man sagen: gar
keine. Dieselben Kenntnisse, auf Grund deren man die Staatsprüfungen
bestanden hat, genügen im allgemeinen zur Erlangung des wissenschaftlichen
Titels, und wer die Prüfung bestanden hat, ist regelmäßig auch den Titel
zu erlangen in der Lage. Gegenwärtig ist also der Doktortitel — dies muß
offen ausgesprochen werden — in diesem Falle nur ein Beweis, daß der
ihn führende wohlhabend und eitel genug war, neben seiner Amts- oder
Berufsbezeichnung noch einen wissenschaftlichen Titel zu erstreben. Zustünde
dieser Art entsprechen aber nicht der Würde der Universitäten. Zwar sind die
Zeiten vorbei, in denen der Doktortitel genügte, daß man eine Stelle als ordent¬
licher Lehrer an einer Universität, als Richter an den höchsten Gerichten bekleiden
konnte, in denen die voetore^ dem Adel gleichstanden und von der ordentlichen
Gerichtsbarkeit „eximirt" waren. Immerhin soll aber der Doktor ein äoows
sein, ein Gelehrter; und wenn man an einen solchen Titel keine wesentlich
andern Anforderungen stellt, als sie der Staat an die stellt, die einen eine
wissenschaftliche Vorbildung erfordernden Beruf ausüben, so ist der Wert des
Titels zur gänzlichen Bedeutungslosigkeit hinabgedrückt. Dieser Unwert aber
fällt zurück auf die ihn verleihende wissenschaftliche Anstalt, denn er wider¬
spricht ihrer Würde.
Da der heutige Staat das Prüfungswesen für alle eine wissenschaftliche
Vorbildung erfordernden Berufe genau geregelt hat, und es nach dem eben
gesagten geboten ist, daß der Bewerber um die Doktorwürde andre und
höhere wissenschaftliche Leistungen aufweise, als sie bei staatlichen Prüfungen
gefordert werden, so wird man bei einer einheitlichen Regelung des Promotions¬
wesens verlangen müssen, daß der Bewerber um die Doktorwürde zunächst
den wissenschaftlichen Anforderungen genügt haben müsse, die der Staat stellt,
um ein höheres Staatsamt oder einen freien Beruf ausüben zu können. In
den katholisch-theologischen Fakultäten ist es überall als Voraussetzung der Er¬
teilung der Doktorwürde vorgeschrieben, daß der Bewerber die Priesterweihe
erhalten habe. Erscheint es schon an sich natürlich, daß, wer den „Adel der
Gelehrsamkeit" in einer bestimmten Wissenschaft erlangen will, zu allererst den
niedern Grad wissenschaftlicher Kenntnisse erlangt haben muß, der vom Staate
für den in Betracht kommenden Beruf verlangt wird, so würde ferner durch
die hier vorgeschlagne Regelung eine Reihe von Mißständen schwinden, die
gegenwärtig mit der Erteilung der Doktorwürde verbunden sind. Kann der
Titel nur dem verliehen werden, der die Prüfung als Arzt, als Oberlehrer
(ersten Grades), als Richter oder höherer Verwaltungsbeamter bestanden hat.
so würde die Unsitte aufhören, daß der Titel erworben wird lediglich als ein
Studiencmsweis von Leuten, die ihre Universitätszeit vollendet haben, um
sodann eine Stellung in der Tagespresse, die Bewirtschaftung eines Landguts
oder die Leitung eines gewerblichen Unternehmens zu übernehmen, also von
Leuten, die regelmäßig mit der Fachwissenschaft in gar keinem Zusammenhang
bleiben.
Ganz besonders würde aber auch der gegenwärtig in der juristischen
Fakultät bestehende Unfug aufhören, daß junge Leute, denen jede praktische
Ausbildung abgeht, den Titel eines „Rechtsgelehrten" erwerben. Man ist
darüber einig, daß das juristische Wissen, das man auf der Universität erwirbt,
nichts weiter ist als ein Gerippe von Einzelkenntnissen, die Fleisch und Blut
erst erhalten durch die praktische Bethätigung in der Anwendung des Rechts.
Ein Jurist, dessen Ausbildung sich auf bloße Universitütslenntnisse beschränkt,
ist etwa einem Mediziner vergleichbar, der sein Wissen nur aus Büchern ge¬
schöpft und niemals eine Klinik besucht oder einen Kranken gesehen hat, oder
jenem Rhetor, der, wie Cicero erzählt, Vorträge über die Kriegskniist hielt,
ohne je ein militärisches Lager gesehen zu haben. Erst die praktische Be¬
thätigung im Recht schafft das volle Verständnis für das Recht, das die
Jurisprudenz als Wissenschaft nicht wertlos erscheinen läßt; der Mangel unsrer
juristischen Vorbildung wird ja gerade darauf zurückgeführt, daß der Rechts-
unterricht nicht praktisch genug sei. Die bloß theoretischen Kenntnisse eines
jungen Juristen bewertet der Staat in der Weise, daß er ihn für befähigt hält,
die Dienste eines Gerichtsschreibers zu versehen; für juristische Fakultäten ge¬
nügen derartige Kenntnisse, um den Titel eines „Rechtsgelehrten" zu verleihen!
Bei der hier vorgeschlagnen Regelung, nach der die Staatsprüfungen vor
der Erlangung der Doktorwürde zu machen sind, würde es nun allerdings für
gewisse Personenklassen schlechthin unmöglich sein, die Würde zu erwerben, so
für Ausländer. Apotheker, Rabbiner, Landwirte, Architekten usw. Abgesehen
nun davon, daß diese Ausschließung schon an sich kein Unglück wäre, so steht
es diesen ja frei, ihre Studien derart zu erweitern, daß ihnen zuerst die Ab¬
legung der staatlichen Prüfungen ermöglicht und dann die Erlangung der
eine weitere Ausbildung erfordernden gelehrten Würde offen gelassen wird.
schlimmstenfalls mag jeder Fakultät das Recht beigelegt werden, beim Nach¬
weise hervorragender wissenschaftlicher Leistungen von der Forderung abzusehen.
Daß der Bewerber um den wissenschaftlichen Titel seine Würdigkeit
vor allem durch eine fachwissenschcistliche Abhandlung nachzuweisen hat, wird
nicht zweifelhaft sein, und gerade an dieser Stelle ist eine gänzliche Wandlung
des jetzigen Zustandes notwendig. Gegenwärtig zerfallen in dieser Beziehung
die Universitäten in zwei Gruppen. Die eine begnügt sich mit Vorlegung
einer Arbeit, die sich als eine bloße Zusammenstellung fremder Ansichten, als
jeder wissenschaftlichen Selbständigkeit bar darstellt, etwa von derselben Güte,
wie sie ein Nechtskandidat zur ersten Staatsprüfung zu leisten hat. Die andre
Gruppe, zu der fast sämtliche altpreußische Universitäten gehören, stellt an die
Doktordissertation den Anspruch einer selbständigen wissenschaftlichen Leistung,
sei es in der Auffindung neuer oder in der Begründung schon gewisser fest¬
stehender Ergebnisse. Demnach ist auch die Veröffentlichung der Arbeit vor¬
geschrieben. Es ist aber nicht zu leugnen, daß auch bei diesen strengern An¬
forderungen die Doktordissertation, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen,
immerhin nur eine „nutzlose Überschwemmung des Büchermarkts" ist, daß sie
nur von wenigen beachtet wird und für die Wissenschaft größtenteils ohne
entsprechenden Nutzen ist. Es kann dies auch gar nicht anders sein, da
die Dissertation gegenwärtig die Erstlingsarbeit junger Leute ist, die ihre
Studien eben erst vollendet haben; man wird nicht behaupten können, daß diese
swcliorum xrimitms eines Virchow, Koch oder Mommsen eine wissenschaftliche
Bedeutung beanspruchen können. Soll aber der Doktortitel keine bloße Form
sein, soll er vielmehr zur Ehre der Universitäten eine Auszeichnung für wissen¬
schaftliche Leistungen sein, so müssen an die sogenannte Doktordissertation ganz
andre Anforderungen gestellt werden. Man verlange eine Arbeit, wie sie etwa
als Habilitationsschrift verlangt wird, also eine Arbeit, deren Veröffentlichung
im Interesse der Wissenschaft wünschenswert ist. Nur wer eine Arbeit dieser
Art geleistet hat, hat Anspruch auf den Titel eines „Gelehrten," und nur
unter dieser Voraussetzung wird der gegenwärtig völlig bedeutungslose Doktor¬
titel eine Bedeutung erhalten. Überaus charakteristisch ist es gegenwärtig, daß
Professoren eine der Fakultät vorgelegte Erstlingsarbeit zur Erteilung der
Würde als genügend ansehen, während dieselben Professoren als Herausgeber
einer wissenschaftlichen Zeitschrift die Aufnahme dieser Arbeit ablehnen, weil
sie eine solche Erstlingsarbeit den Lesern einer wissenschaftlichen Zeitschrift
uicht zu bieten wagen. Aber die Erteilung einer wisfenschciftlichen Würde
sür eine solche Leistung erscheint angemessen!
Daß sich der Bewerber um die gelehrte Würde zum Nachweis seiner
Würdigkeit einer mündlichen Prüfung vor der Fakultät zu unterziehen hat,
wird man gleichfalls für notwendig erachten müssen. Nur wird sich, da bei
der oben vvrgeschlagnen Regelung der Bewerber seine allgemeine wissenschaft¬
liche Ausbildung schon durch die abgelegten Staatsprüfungen nachgewiesen
haben muß, die Fakultätsprüfung natürlich darauf zu richten haben, ob sich der
Prüfung in einem oder in einzelnen (von ihm vorzuschlagenden) Souderfächern
die eingehenderu, gründlichen Kenntnisse verschafft hat, dnrch die sich der
Gelehrte von dem bloß wissenschaftlich Gebildeten unterscheidet.
Und nun, was ebenso wichtig ist: die Promotionsgebühren müssen weg¬
fallen; die Erlangung des Titels muß kostenfrei sein. Gegenwärtig kostet eine
Doktorpromotion an deutschen Universitäten etwa 300 bis 400 Mark, eine
Summe, die in Deutschland sür zahlreiche zu den wissenschaftlich gebildeten
Kreisen gehörende sehr hoch ist. Daß die Erlangung wissenschaftlicher
Kenntnisse dem Unbemittelten ungleich schwieriger ist als dem Bemittelten, ist
eine notwendige Folge der bestehenden Ungleichheit der Vermögensverhültnisse.
Daß aber auch der bloße Nachweis der Kenntnisse dem Unbemittelten so
erschwert wird gegenüber dem Bemittelten, ist um so ungerechtfertigter, als
bei den gegenwärtigen Verhältnissen die Erlangung des Titels in zahl¬
reichen Fällen, insbesondre bei Ärzten, zum Zweck des bessern Fortkommens,
geradezu notwendig ist. Dieser Umstand ist in einer Zeit, wo soviel über
den Ausgleich der bestehenden sozialen Ungleichheit geschrieben wird, völlig
unerklärlich. Nichts schadet dem Ausehen der gelehrten Würde in den Augen
berufner und unberufner Beurteiler so sehr, als daß sich die Fakultät für die
Erteilung der Doktorwürde einen recht hohen Geldbetrag zahlen läßt. Unsre
deutscheu Professoren werden ideal genug sein, den „Meisterschlag," den „Adel
der Gelehrsamkeit" dem wahrhaft Würdigen zu erteilen, auch wenn ihnen
hiervon kein Vorteil in Geld erwächst. Geradezu klüglich ist die Bestimmung
der Satzungen verschiedner Fakultäten, wonach der eingezahlte Geldbetrag ganz
oder teilweise dem Bewerber zurückgezahlt wird, wenn er die Prüfung nicht
besteht; diese Bestimmung ist geradezu ein Anreiz für schwächliche Professoren,
die Prüfung für bestanden gelten zu lassen, weil das Nichtbestehen für sie
einen Geldverlust zur Folge hat. Eine derartige Festsetzung erinnert stark an
die Bestimmungen des bürgerlichen Rechts, wonach der Makler seinen Lohn nicht
für bloße erfolglose Bemühungen, sondern nur dann erhält, wenn das Geschäft
infolge seiner Vermittlung wirklich zu stände kommt. Rechtsanwälte und Ärzte
würden sich schönstens bedanken für eine Gebührenordnung, durch die ihre
Thätigkeit verschieden bewertet werden würde, je nachdem der Prozeß gewonnen
oder verloren wäre, der Kranke stürbe oder gesund würde. Deutsche Pro¬
fessoren dagegen lassen sich ihre Thätigkeit bei einer Prüfung verschieden be¬
zahlen, je nachdem sie bestanden wird oder nicht.
Daß die Abfassung der Dissertation in lateinischer Sprache, die Schein¬
disputation mit „Opponenten" über „Thesen" ein veralteter Zopf sind, ist klar;
die Abschaffung derartiger Einrichtungen wäre also gleichfalls erwünscht, wobei
es selbstverständlich jeder Fakultät freistehen müßte, die reosMy in numerum,
virorum Äoetoruin durch eine öffentliche xroolainMo in Gegenwart des neuen
Doktors zu verkünden. Um sodann den Unfug gänzlich zu treffen, wäre not¬
wendig eine reichsgesetzliche Anordnung, wonach es zur Führung der von einer
ausländischen Gesellschaft verliehren gelehrten Würde innerhalb des Reichs
für Reichsangehörige einer Genehmigung der Behörden bedarf.
Die vorstehende Frage kann allerdings keine so große Bedeutung bean¬
spruchen wie zahlreiche andre Fragen auf dem Gebiete der Unterrichtsvenval-
tung. Aber die Erteilung der gelehrten Würde ist ein Vorrecht der Universi¬
täten; diese sind der Stolz Deutschlands, und es ist daher im Interesse der
Universitäten dringend erwünscht, daß die Erteilung der Würde so gehandhabt
wird, daß der Titel nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt wird oder
gar in den Augen mancher Beurteiler lediglich als eine Einnahmequelle für
Professoren erscheint.
er Haß gegen die Moral und das Christentum war es gewesen,
was Nietzsche nach seinem eignen Bekenntnis bewogen hatte, eine
rein ästhetische Weltauffassung auszusinnen. Weder seine Schriften
noch die Mitteilungen seiner Schwester klären uns darüber auf,
in welchem Zeitpunkte und wodurch veranlaßt der ursprünglich
sehr fromme Knabe den Glauben an Gott aufgegeben hat. Es wird eben eine
eigentliche Katastrophe gar nicht eingetreten, sondern der Glaube wird all-
mählich und ihm selbst unbemerkt erstorben sein, wie das bei den gebildeten
Jünglingen jener Zeit ganz allgemein der Fall war. Die deutsche Philosophie
von Kant bis Schopenhauer hatte Gott beseitigt — von dem einzigen Theisten,
Herbart, fanden nnr die psychologischen und die pädagogischen Schriften ein
größeres Publikum —, und in jedem Kreise, der auf moderne Bildung An¬
spruch machte, galt es als selbstverständlich, daß der Glaube an Gott nur als
Volksaberglaube zu dulden sei; ja die für die moderne Bildung begeisterten
arbeiteten daran, ihn auch im Volke auszurotten. Wenn Nietzsche einmal an¬
deutet, daß der Verkehr mit den Pastorenfamilien seiner Verwandtschaft, so
gutmütig, rechtschaffen und tüchtig sie auch waren, den Hang zur Verneinung
eher gefördert als gehemmt habe, so entspricht das ja einer Erfahrung, die
man häufig macht. Zweifel bleiben keinem Denkenden erspart, und die Frage,
die die alte Kirche jahrhundertelang in Aufruhr versetzt hatte: woher das
Böse? quälte ihn schon als Dreizehnjährigen (VII, 289). Der Verlauf solcher
Prozesse hängt sehr vom Temperament und von persönlichen Erfahrungen ab.
Ein junger Mann, der alles ernst und schwer nimmt und sich in jeden Fall
tief eingrübelt, findet natürlich weit mehr Schlimmes in der Welt, als ein
leichtsinniger Genußmensch, und so kann es weiter nicht verwundern, wenn
Nietzsche findet, falls Gott existire, könne er nicht gut sein, und wenn er
Zarathustra (VI, 379) sagen läßt: „Zu vieles mißriet ihm, diesem Töpfer,
der nicht ausgelernt hatte! Daß er aber Rache an seinen Töpfen und Ge¬
schöpfen nahm, dafür daß sie ihm schlecht gerieten — das war eine Sünde
wider den guten Geschmack." Einmal bemerkt er: „Es müßte geistigere Ge¬
schöpfe geben als der Mensch ist, bloß um den Humor ganz auszukosten, der
darin liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltdaseins ansieht,
und die Menschheit ernstlich nur mit Aussicht auf eine Weltmission sich zu¬
frieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen
zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzu¬
langer Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl
das Spottgelachter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum" (III, 200).
Nicht eben jener Glaube des Menschen an seine Bestimmung, wohl aber
das Verhalten der Menschen in Staat und Gesellschaft und im Erwerbsleben ist
auch mir oft so lächerlich erschienen, daß ich ebenfalls oft gedacht habe: Was
muß unser Herrgott für Spaß daran haben! Ich wandelte einmal mit einem
Freunde an einem Bach. Unser Nahen erschreckte einen im Grase liegenden
Entenschwarm, und wie die armen Dinger mit lautem Angstgequak vor uns
her watschelten, Anläufe zu einer Wendung nach dem Bache nahmen, aber
immer wieder, in der Angst, wir könnten sie einholen, ein Stück weiter
geradeaus watschelten, bis sie doch endlich Mut faßten und eine nach der
andern ins Wasser plumpsten, wo sie sich, der eingebildeten großen Gefahr
entronnen, beruhigten, das war so komisch, daß wir laut lachen mußten.
Sehen Sie mal, sagte ich meinem Begleiter, gerade so müssen wir unserm
Herrgott vorkommen. Während ich jedoch trotz alledem durch allen Wirrwarr
und alle Verrücktheiten des Lebens immer das Walten einer ordnenden Ver¬
minst habe hindurchschimmern sehen, war Nietzsche nicht so glücklich. Ihm
schien alles Zufall, und das Vernünftige nur ein einzelner Fall des Mög¬
lichen zu sein. Dieses schien ihm das Endergebnis jeder strengen Weltbetrach¬
tung und aller gewissenhaften Forschung zu sein, und er fand daher auch
— ein Gedanke, der oft ausgesprochen worden ist —, daß das Bemühen der
Reformatoren, den christlichen Glauben zu reinigen, zu seiner völligen Auf¬
lösung geführt habe. Mit alledem war er nur ein Kind seiner Zeit und
seines Gesellschaftskreises. Was ihn an David Strauß empörte, war natürlich
nicht dessen Atheismus, sondern, wie schon bemerkt worden ist, die Leichtfertig¬
keit in der Behandlung furchtbarer Fragen und die Unehrlichkeit, mit der er
die wissenschaftliche Ansicht seines Kreises als einen neuen Glauben bezeichnete,
um den Anschein zu erwecken, als könne man auch als Atheist Religion haben,
eine Heuchelei, die ja heute noch fortgesetzt wird. Die Bedeutung Nietzsches
besteht unter anderm darin, daß er der einzige vollkommen ehrliche, vollkommen
aufrichtige und ganz folgerichtige Bekenner des Atheismus ist.
Seiner Art Hütte es natürlich nicht entsprochen, den von andern er-
fundnen Atheismus als fertige Meinung anzunehmen, in welchem Falle aller¬
dings auch der Atheismus ein Glaube genannt werden darf. Er errang sich
seine Ansicht, sie fortwährend umbildend, in ernsten Studien und schweren
Kämpfen. Schon durch Kant scheint er sich in einen unerträglichen Zustand
versetzt gefühlt zu haben. „Gegen Kant ist dann noch immer einzuwenden,
daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt,
daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze
Position unbrauchbar; in dieser Skepsis kann niemand leben. Wir müssen
über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen" (X, 215). Er selbst ist
aber niemals darüber hinausgekommen. Daß er unzähligem«! (z. B. VIII, 231)
die Religion beschuldigt, eine eingebildete, völlig unwirkliche Welt geschaffen
zu haben, die nicht einmal, wie die Traumwelt, ein Abbild der Wirklichkeit,
sondern reine Erdichtung sei, das will bei seinem Haß gegen das Christentum
noch nichts sagen. Aber er erklärt (IX, 66 und sonst) die Vorstellung an sich
für Trug. Er erklärt nicht allein den reinen Geist für eine Einbildung,
sondern auch das „rein Menschliche" für eine „Illusion der gemeinsten Art"
(IX, 74). Die Erscheinungen sind Spiegelungen des Ureinen, und alles, was
da ist, ist nur Vorstellung. „Unser Schmerz ist ein vorgestellter, unser Leben
ist ein vorgestelltes Leben" <IX, 172). Das gewisseste, was wir haben, ist
doch wohl die Empfindung; wenn ein Philosoph an seinem eignen Dasein
zweifelt, braucht mau ihn nur mit einer Nadel zu stechen, um ihm die Über¬
zeugung davon, daß er wirklich vorhanden ist, wenigstens auf einen Augenblick
zurückzugeben. Nietzsche aber schreibt: „Wie ganz irrtümlich ist die Empfin¬
dung! Allen unsern Bewegungen auf Grund von Empfindungen liegen Ur¬
teile zu Grunde — einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und
Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser Ich usw. Alles ist aber
falsch! Trotzdem: wir mögen es besser wissen, sobald wir praktisch handeln,
müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der
Empfindungsurteile stellen!" (XII). Also unsre Vorstellungen täuschen und
unsre Empfindungen täuschen; und woher sollte uns das bessere Wissen
kommen, wenn auch, wie er oft lehrt, alle Philosophien trügen, die doch allein
besseres Wissen vermitteln könnten? Nun hat er ja später die Skepsis da¬
durch zu überwinden versucht, daß er sich einredete: die Wirklichkeit ist so,
wie sie ist, die Sinne täuschen nicht, das Leibliche ist wirklich, und es ist das
allein Wirkliche! Aber die erlangte philosophische Erkenntnis hat er doch durch
solche Gewaltsprüche nicht aus seiner Seele auswischen können, und die Zweifel
brechen immer wieder durch. Den metaphysischen Idealismus, d. h. die Über¬
zeugung, daß die Stofflichkeit der Körperwelt nur eine Vorstellung unsers
Bewußtseins sei, wird einer nicht mehr los, wenn er sie einmal gewonnen hat.
Nietzsche drückt sie einmal sehr hübsch aus, indem er meint, von einem in be¬
stimmten Richtungen wirkenden elektrischen Strom würden wir in der Hand
genau dieselbe Empfindung haben, wie wenn wir einen harten Körper an¬
fühlten. Das eine, was ihm wirklich gewiß gewesen zu sein scheint, ist nur
eine Negation: die Unmöglichkeit eines persönlichen Gottes.
Es dürfte die Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie der
Griechen gewesen sein, was ihm diese Ansicht zur klaren Überzeugung erhob.
In seiner Darstellung der Lehre des Anaximander (X, 23) liest man: „Nie
kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht,
Ursprung und Prinzip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaxi¬
mander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle
andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehen müssen. Damit das
Werden nicht aufhört, muß das UrWesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit
und Ewigkeit des UrWesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpf-
barkeit, wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen, sondern darin,
daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist: wes¬
halb es auch seinen Namen, als »das Unbestimmte« trägt" (X, 23). Wenn
er sich in diesen Gedanken verbiß, so mußte er dann allerdings den persön¬
lichen Gott undenkbar finden. Um den ^von,- des Anaxcigoras aber kam er
dadurch herum, daß er in ihm — ob mit Recht oder mit Unrecht, vermag
ich nicht zu entscheiden — keineswegs den Weltenordner, sondern nur den
ersten Anstoß zur Bewegung sah, die blind nach mechanischen Gesetzen fort¬
schreitend, Ordnung und Zweckmäßigkeit rein zufällig erzeuge.
Wie schwierig es ist, sich einen persönlichen Gott zu denken, empfindet
jeder, der Philosophie treibt. Das Endergebnis der Grübelei hängt einerseits,
wie schon bemerkt wurde, von persönlichen Stimmungen und Erfahrungen ab,
namentlich davon, ob einer in der Welt mehr Vernunft und Glück oder mehr
Unvernunft und Elend gewahr wird. Andrerseits aber liegt die Entscheidung
bei der eigentümlichen Beschaffenheit des Kausalitätstriebes eines jeden.
Während im mathematischen Gebiet der Denkapparat bei allen Menschen gleich¬
müßig arbeitet, verhalten sie sich bei Schlösser von den Wirkungen auf die
Ursachen verschieden. Ich kann mir das Denken weder aus der materiellen
Bewegung entstanden noch als ein unbewußtes vorstellen; andre können
beides; darum kommen sie ohne einen persönlichen Gott aus, ich nicht. Die
Frage, ob es einen Beweis für das Dasein Gottes gebe, beantworte ich also
zwar mit ja, aber mit der Einschränkung, daß er nur subjektive Geltung habe.
Daß er theoretischer Art ist, unterscheidet ihn von dem Beweise Kants, dem
von seinem Urheber jedenfalls nur subjektive Geltung zugeschrieben wird, dem
man aber, weil er ausschließlich praktischen Erwägungen entnommen ist, noch
außerdem den Vorwurf machen kann, er laufe auf den Satz hinaus: es giebt
zwar keinen Gott, aber es ist nützlich, sich einen vorzulügen. Und der Theist
hat noch den Vorteil, von dem großen Problem der Erkenntnistheorie, mit
dem sich auch Nietzsche zeitlebens herumgeschlagen hat, nicht bis zum Wahn¬
sinn gepeinigt zu werden. Die Erkenntnistheorie lehrt uns, daß die Eigen¬
schaften der Dinge nicht an diesen haften, sondern nur unsre Vorstellungen
sind, sodaß, nachdem Kant auch noch die Ausdehnung, die seine englischen
Vorgänger noch stehen gelassen hatten, in unser Inneres verlegt hatte, von
den Dingen gar nichts mehr übrig geblieben ist. Andrerseits lehrt uns die
Erfahrung, daß, auf unsrer Erde wenigstens, kein Vorstellen und Denken vor¬
kommt ohne ein Gehirn, das nach dem eben erwähnten Denkergebnisfe selbst
nur eine Vorstellung unsrer Seele sein soll. Ist nicht dieser Zirkel allein
schon imstande, den Philosophen ins Tollhaus zu bringen?
Wenn sich nun ein Atheist, wie Nietzsche in seinen letzten Jahren gethan
hat, zum naiven Realismus des Volkes zurückrettet, an der derben Wirklichkeit
der körperlichen Dinge festhält und sich die Grübeleien aus dem Sinne schlägt,
so bedeutet das die Verzichtleistung auf das Denken, auf das Dasein des eigent¬
lichen, des höhern Menschen, dem derselbe Nietzsche gerade in diesen letzten
Jahren zustrebte; damit lebt aber der seelenzerreißende Zwiespalt in einer
andern Form wieder auf. Der Theist dagegen kann sich durch folgende Be¬
trachtung daraus retten. Es ist vollkommen wahr und richtig, daß der Geist,
der bewußte Geist, das einzige wahrhaft Seiende ist, und daß die körperlichen
Dinge ohne einen wahrnehmenden Geist nicht vorhanden sein würden. Aber
ehe die Menschenseelen, ehe die Tierseelen vorhanden waren, war Gott vor¬
handen, und in dessen bewußtem Geist und Willen hatten die körperlichen
Dinge ihr Dasein. Gott wollte, daß Wesen da seien, die gleich ihm sich und
ihre Mitwesen erkannten, die gleich ihm wirkten und erkennend und wirkend
ihr Dasein genössen, und dazu diente ihm der Komplex von Erscheinungen,
den wir die Körperwelt nennen, als Mittel. Daß wir nun diese Einrichtung,
durch die er uns das Dasein ermöglicht, nicht begreifen, nicht durchschauen,
ist sehr natürlich, da wir ja nicht selbst Gott, nicht unsre Schöpfer sind; wir
dürfen uns daher nicht darüber wundern, daß wir bei der Betrachtung des
Wesens der Dinge nur bis zu einer gewissen Tiefe klar sehen, zuletzt aber auf
unaufhellbares Dunkel und auf unlösliche Widersprüche stoßen. Dadurch sind
wir nicht genötigt, die Welt und uns selbst in lauter Illusion aufzulösen,
bleiben vielmehr unsrer und der Welt Realität, die beide in der realsten Rea¬
lität, in Gott, wurzeln und von ihr getragen werden, vollkommen gewiß.
Aber das ist allerdings nicht zu vermeiden, daß dem Philosophen die religiöse
Wärme verloren geht. Diese strahlt von den sinnlichen Vorstellungen aus,
die sich der kindliche Mensch von Gott macht, und die muß der Philosophi-
rende aufgeben. Darin hat Kant recht, daß wir von der Beschaffenheit der
jenseitigen Dinge nichts wissen, nichts wissen können; wir haben kein Organ
für ihre Wahrnehmung, und wir wissen, daß die Bilder, die man von ihnen
entwirft, der Wirklichkeit nicht entsprechen können. Wir glauben zwar, daß
alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist von jener ewigen Welt der Ideen,
die Plato verehren lehrt, aber diese stehen, gleich den Göttern Epikurs, zu
sern, als daß sie einen merkbaren Einfluß auf uns ausüben sollten; Einfluß
üben nur ihre Abbilder, eben die in uns selbst wirkenden Ideen, deren Wirk¬
samkeit allerdings durch den Glauben verstärkt wird, daß sie keine leeren Ein¬
bildungen sind.
Selbst Gelehrte können dem erkältenden Einflüsse der Philosophie entgehen,
wenn sie sich auf ein abseits von diesen Problemen liegendes Fach beschränken.
So konnte Röscher in den von seinem Sohne herausgegebnen religiösen Be¬
trachtungen schreiben: Was für herrliche Dramen wird Sophokles, wird
Shakespeare im Jenseits all die Jahrhunderte hindurch drüben gedichtet haben!
Als ob Lustspiele möglich wären ohne menschliche Thorheiten und Trauerspiele
ohne Unglück und Schuld, und als ob das Stoffe wären für die Seligen,
wie sie sich der Christ vorstellt. In den Himmel wird wohl nur die Lyrik
Einlaß finden. Aber wir wissen überhaupt nichts von ihm und können uns
schlechterdings keine Vorstellung machen von einem Dasein, für das die irdischen
Daseinsbedingungen nicht gelten. Deshalb kann der philosophische Theist, der
sich diese Unzugänglichkeit des Jenseits, diese Unvorstellbarkeit Gottes klar gemacht
hat, nicht mehr im Gebete mit dem lieben Gott wie mit eineni guten Freunde oder
gütigen Vater vertraulich plaudern; weder zu einer leidenschaftlichen Liebe zu
Gott bringt er es. noch zur Sehnsucht nach dem Himmel, denn: issvoti mcklg,
onMo. Aber von der Furcht vor dem Tode ist er befreit, er erwartet, was
sich ihm darüber enthüllen mag, mit Gelassenheit, da es nichts unvernünftiges
sein kann; desgleichen entgeht er der Gefahr, durch die Widersprüche philo¬
sophischer Meinungen und durch den philosophischen Nihilismus um die Mög¬
lichkeit des praktischen Wirkens und zuletzt um seinen Verstand gebracht zu
werden.
Von den zahllosen Einwendungen Nietzsches gegen den Gottesgedanken
mögen nur zwei angeführt werden, die sich auf eine.bestimmte Anwendung
dieses Gedankens, auf den Glauben an Gottes Allgegenwart und Vorsehung,
beziehen. Er führt einmal, offenbar beistimmend, die Bemerkung eines kleinen
Mädchens an, sie finde es sehr unanständig von Gott, daß er „überall dabei
sei," und VIII, 291 schreibt er selbst: „Mit einem noch so kleinen Maße von
Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zu rechter Zeit vom Schnupfen
kurirt, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heißt, wo
gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn
abschaffen müßte, selbst wenn er existirte! Ein Gott als Dienstbote, als
Briefträger, als Kalendermann. . .!" Dem Christentum rechnet es Nietzsche
als Verbrechen an, daß es das Natürliche am Menschen zur Sünde stempele
und beschimpfe, und hier findet er es selbst unanständig, daß Gott dem Natür¬
lichen, das er geschaffen hat, nicht fern bleibe! Das bekundet nicht philo¬
sophischen Geist, sondern leidenschaftliche Boreingenommenheit. Und wie un¬
wissenschaftlich, das Eingreifen der göttlichen Vorsehung in die Menschen¬
schicksale als Dienstbotenverrichtungen verächtlich zu machen. Warum nicht
Mutterdienste? Thut nicht eine Mutter so manches Widerwärtige, was der
Dienstbote nicht für Geld thun mag, und ist sie darum verächtlich? Für den
Mann der Wissenschaft giebt es im Natürlichen überhaupt nichts verächtliches
und unanständiges. Wenn Gott durch die wunderbarsten Fortpflanzungs¬
einrichtungen dafür sorgt, daß die Wasserflöhe einer Pfütze nicht aussterben,
sondern die Zeiten der Trockenheit überdauern, so bewundern wir seine uner¬
gründliche Schöpferkuust; warum sollte es seiner unwürdig sein, einen Mann,
den er zu einem Werkzeug für gewisse Zwecke ausersehen hat, und der doch
auch ohne dies mehr wert ist als alle Wasserflöhe der Erde zusammengenommen,
einen solchen Mann von einem Schnupfen zu heilen, der in eine tödliche
Krankheit umschlagen könnte?
Als achtzehnjähriger hat Nietzsche einmal (V. I, 318) die Worte nieder¬
geschrieben: „Innerhalb ^gewisser^ Grenzen W die Willensfreiheit^ unbeschränkt.
Etwas andres ist es, den Willen ins Werk zu setzen; das Vermögen hiezu ist
uns fatalistisch zugemessen. Indem das Fatum dem Menschen im Spiegel
seiner eignen Persönlichkeit erscheint, sind individuelle Willensfreiheit und
individuelles Fatum zwei sich gewachsene Gegner. Wir finden, daß die an
ein Fatum glaubenden Völker sich durch Kraft und Willensstärke auszeichnen,
daß hingegen Frauen und Männer, die nach verkehrt aufgefaßten christlichen
Sätzen die Dinge gehen lassen, wie sie gehen, da »Gott alles gut gemacht
hat,« sich von den Umständen ans eine entwürdigende Art leiten lassen." Die
Sucht, dem Christentum um jeden Preis eins zu versetzen, kann dem Primaner
nicht zur Schuld angerechnet werden, sie war die Schuld der Welt, in der er
— damals vielleicht nur durch Lektüre — lebte; sucht er doch sogar noch das
Christentum selbst von dem Vorwurf zu befreien, indem er von verkehrt auf¬
gefaßten christlichen Sätzen spricht. Aber er hätte sich später durch die Welt¬
geschichte belehren lassen können, daß man es in diesem Falle mehr mit ver-
schiednen Völkercharakteren, als mit verschiednen Glaubenslehren zu thun hat.
Die Türken bentttzen ihren Fatalismus, der sie ja unter Umständen zu Helden¬
thaten befähigt, für gewöhnlich zur Beschönigung ihrer Faulheit, während die
mittelalterlichen Italiener, auch die Deutschen, mit ihrem Vorsehungsglanben
ungemein regsam gewesen sind. Übrigens besteht zwischen den beiden Glaubens¬
vorstellungen kein wesentlicher Unterschied; in beiden wird angenommen, daß
die Dinge von der höchsten Macht bis ins Kleinste geordnet seien, nnr daß
das Wort Vorsehung mehr väterliche Liebe und Milde und Gewährenlassen
im Unbedeutenden einschließt. Harte Naturen und eigensinnige Köpfe ziehen
die härtere Vorstellung vor; weil sie entschlossen sind, unter allen Umstünden
ihren Willen durchzusetzen, nennen sie diesen ihren Willen eine unabänderliche
Fügung. Daher haben Calvin, die Holländer und die Schotten die Lehre von
der Prädestination ausgebildet. Nietzsche nennt gern den Menschen sein eignes
Fatum, ist aber selbst kein Calvin geworden, weil er zwar entschlossen genug
war, das durchzusetzen, was er gerade wollte, aber aller Augenblicke etwas
andres als das zu wollende erkannte.
Unter den erdachten Vorstellungen und verwerflichen Empfindungen, die
seiner Ansicht nach das Christentum in die Europäerseele eingeschmuggelt habe»
sollte, waren ihm keine mehr verhaßt, als die Vorstellungen Sünde, Schuld
und Verantwortung und die entsprechenden Gefühle. Als es ihm im Wohl-
gefühl der Genesung von schweren körperlichen Leiden gelang, alle diese Vor¬
stellungen und Gefühle gründlich loszuwerden, da kam er sich vor, wie ein
Mensch, der dazu verurteilt gewesen sei, im Innern der Erde Maulwurfsarbeit
zu verrichten, und der sich um zum Lichte emporgegraben habe und, als Mensch
neugeboren, die Morgenröte begrüße. Wenn er sich nun frage, was er da
unten eigentlich gemacht habe, so finde er, er sei heruntergestiegen, um ein
gewaltiges Werk zu vollenden: „ein altes Vertrauen zu untergraben, unser
Vertrauen auf die Moral zu untergraben" (IV, 3 bis 4). Daß dieses Unter¬
nehmen bei Nietzsche nicht denselben Sinn haben kann, wie bei manchen Lüst¬
lingen, die sich derselben Aufgabe unterziehen, folgt zur Genüge aus dem im
ersten Artikel gesagten. Wir werden später sehen, daß die Jmmoralitcit, deren
er sich rühmt, eine bloße Selbsttäuschung war. In dieser Selbsttäuschung be¬
merkt er einmal: „Man hat gut reden von aller Art Jmmoralitüt! Aber sie
aushalten können! Z. V. würde ich ein gebrochnes Wort oder gar einen
Mord nicht aushalten; langes oder kürzeres Siechtum und Untergang wäre
mein Los, ganz abgesehn vom Bekanntwerden der Unthat und von der Be¬
strafung derselben" (XII, 177). Auch erkannte er die historische Berechtigung,
ja die Notwendigkeit dessen, was man gewöhnlich Moral nennt, vollauf an.
Das einemal nennt er sie eine unentbehrliche Notlüge. Unter der Spitzmarke:
Das Übertier, schreibt er (II, 65): „Die Bestie in uns will belogen werden;
Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irr¬
tümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Tier
geblieben. So aber hat er sich als etwas höheres genommen und sich strengere
Gesetze auferlegt. Er hat deshalb einen Haß gegen die der Tierheit näher ge-
bliebner Stufen, woraus die ehemalige Mißachtung des Sklaven, als eines Noch-
nicht-menschen, als einer Sache zu erklären ist." Er erkennt die Moral an als ein
Mittel, sowohl die Gattung als die Gemeinde zu veredeln und diese auf einer
gewissen Höhe zu erhalten (III, 207 und öfter). Jede Moral, schreibt er VII, 116,
„ist, im Gegensatz zum Iai8hör Msr, ein Stück Tyrannei gegen die Natur, auch
gegen die Vernunft; das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte
denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, daß alle Art
Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare
an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder
Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehen, mag man sich des Zwangs
erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht,
des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus." Ein ander¬
mal meint er, es sei Grausamkeit notwendig, dem faseligen Menschentier Ge¬
dächtnis, die Grundbedingung des menschlichen Lebens, beizubringen, und
IV, 24 erwähnt er die wunderlichen Sitten der Naturvölker, z. B. daß dem
Kamtschadalen bei Todesstrafe verboten ist, den Schnee von den Schuhen mit
einem Messer abzuschaben; solche im übrigen zwecklose und daher unvernünftig
scheinende Gebote schienen nur den Zweck zu haben, überhaupt eine Sitte zu
begründen; sie beruhten also auf der Überzeugung, daß das Menschenleben nach
irgend einer festgesetzten Ordnung verlaufen müsse, und seien eine „Bekräftigung
des großen Satzes, mit dem jede Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als
keine Sitte." Ein Gedanke, nebenbei bemerkt, von dem aus auch auf das
Verbot im Paradiese ein neues Licht fällt. Und er findet sogar, daß die Be¬
folgung der Sitte den Menschen schön mache; denn sie lasse bei dem, der sich
ihr ganz unterwirft, die Angriffs- und Verteidignngsorgcme verkümmern; deren
Übung und die entsprechende Gesinnung nämlich sei es, die häßlich machten.
Darum sei der alte Pavian häßlicher als der junge, und der junge weibliche
Pavian sei dem Menschen am ähnlichsten, also am schönsten; und er sügt
hinzu: Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit
der Weiber (IV, 32). Sehr richtig! Wenn die Emanzipation durchgeführt
und das ganze weibliche Geschlecht in den Kampf ums Dasein hineingestoßen
würde, dann wäre es mit der Frauenschönheit vorbei. Doch muß gegen diesen
letzten Satz Nietzsches eingewandt werden, daß er hier wie eine besondre Art
von Sitte, so auch nur eine besondre Art von Schönheit berücksichtigt, und
daß die „prachtvolle Bestie," die er später zu preisen pflegte, in der That
auch ihre Schönheit hat.
Also Neigung zur Zuchtlosigkeit war es nicht, was Nietzsche bewogen
hat, sich einen Haß gegen die Moral einzubilden, von dem er in Wirklichkeit
ganz frei war, sondern es waren zwei Betrachtungen, von denen die erste alle
großen Religionsstifter und Reformatoren bewegt, die zweite noch jeden ernsten
philosophischen Kopf beschäftigt hat. Das.Moralisiren läuft am Ende immer
darauf hinaus, daß der armselige Philister, der zu beschränkt, zu einfältig und
zu furchtsam ist, an irgend einer Stelle die engen Schranken der Sitte seiner
Zeit, seines Volkes und Standes zu durchbrechen, den auch keine seiner Lebens¬
aufgaben dazu nötigt, der auch gar nicht die Machtmittel dazu hat und sofort
auf Nummer Sicher gebracht wird, wenn er es sich einmal einfallen läßt, den
wilden Mann zu spielen, daß ein solcher Philister als Ideal hingestellt wird
und von der Kirche die Anwartschaft auf einen Platz im Himmel erhält,
während die großen Männer von David und Alexander bis auf Bismarck und
von Sophokles bis Goethe allesamt große Sünder und beim unparteiischen
staatsanwältlichen Lichte gesehen Verbrecher sein sollen, die sich mit einem
Quartier bei Luzifer begnügen müssen. Nietzsche ist nicht der erste gewesen,
der sich gegen diesen Unsinn aufgelehnt hat, und er wird nicht der letzte sein.
Er erklärt einmal die Moral für die Nache von Menschen, die nicht genug
Geist haben, sich dessen freuen zu können, aber gerade genug Bildung, das zu
wissen; die sich selbst verachten und sich im Grunde ihres Daseins schämen.
Was glaubt ihr Wohl, fragt er, was ein solcher nötig hat, „um sich bei sich
selbst den Anschein von Überlegenheit über geistigere Menschen, um sich die
Lust der vollzognen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen?
Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die großen Moralworte,
immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer
den Stoizismus der Gebärde (wie gut versteckt der Stoizismus, was einer
nicht hat!), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der
Milde, und wie alle die Jdealistenmäntel heißen, unter denen die unheilbaren
Selbstverächter, auch die unheilbar Enten, herumgehn" (V, 308). Im Zara-
thustra läßt er den Wandrer, auch Zarathustras Schatten genannt, singen:
„Ha, herauf, Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! noch
einmal brüllen, moralisch brüllen, als moralischer Löwe vor den Töchtern der
Wüste brüllen! Denn Tugend-Geheul, ihr allerliebsten Mädchen, ist mehr als
alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger" (VI, 448). Dazu kommen
dann noch solche Nebenbetrachtungen wie VI, 138: „Und wiederum giebt es
solche, die halten es für Tugend, zu sagen: Tugend ist notwendig; aber sie
glauben im Grunde nur daran, daß Polizei notwendig ist." Oder IV, 213:
Man sehe einem Menschen im Leben viel nach, wenn er sich nur zur strengsten
Theorie der Moral bekenne; dagegen beobachte man das Leben des erklärten
Freigeists durch das Mikroskop, um Fehltritte zu entdecken und damit die
Falschheit der Theorie des Gegners zu beweisen.
Die andre Gedankenreihe bildet den Gegensatz gegen den platten Mili¬
tarismus, der in der Begründung der Moral eine so große Rolle spielt. Nur
in außerordentlich engen Lebenskreisen kann die Ansicht aufkommen, daß das
Moralische das allgemein Nützliche sei. Häufig genug ist der Fall, daß die
Herrschenden zwar das ihnen, aber keineswegs das ihren Untergebnen Nützliche
diesen als das allgemein Nützliche einzureden suchen, und manchmal haben sie
damit Erfolg. Bei weiteren Umblick sieht man, daß es ein allen gleichmäßig
Nützliches gar nicht geben kann, weil ja die Interessen einander widerstreiten
und des einen Nutzen meist eines andern Schaden ist, und daß sür die Er¬
haltung des Einzelnen, der Gemeinde, des Volkes bald das, was man gut
nennt, bald das sogenannte Böse förderlich ist. ^ustitia kunäÄiusnwm, rvg'Qoruin
klingt sehr schön, aber um die Gerechtigkeit der Weltmächte, die teils durch
Eroberung, teils durch Handel emporgekommen sind, sieht es windig aus, und
einem kleinen Staate, den ein mächtiger Nachbar zu verspeisen Appetit hat,
hilft alle seine Gerechtigkeit nichts. Überdies hat sich alle menschliche Tugend
im Kampfe mit ihrem Gegenteil entwickelt, ohne das sogar ihr Begriff fehlen
würde, sodaß man in der That mit Nietzsche sagen kann, alle Tugend habe
sich aus Lastern entwickelt. Und endlich wechselt der Begriff der Tugend
selbst; der größte und auffälligste, geradezu weltgeschichtliche vou diesen Begriffs¬
wechseln besteht darin, daß die Tugenden der heroischen Zeitalter in den bürger¬
lichen und zahmen Zeitaltern zu Lastern gestempelt werden, während um¬
gekehrt die Krämermoral dem Ritter verächtlich erscheint. Der Lärm um das
Duell wird dadurch verursacht, daß heute die beiden verschiednen Moralen,
die erste allerdings sehr abgeschwächt, neben einander bestehen. Richard Löwen¬
herz ließ am 20. August 1191 vor den Thoren von Akkon 2600 Geiseln nieder¬
metzeln. In der Erzählung dieser Schandthat — wie wir Heutigen so etwas
zu nennen pflegen — berichtet ein frommer Chronist (ich kann nicht finden,
welcher): „Des Königs Ritter stürzten sich auf die Geiseln, voll Begier, seinen
Willen zu erfüllen, und voll Dank gegen Gott, der ihnen eine solche Rache
gönnte." Für was alles haben nicht schon fromme und tugendhafte Christen
Gott gedankt! Das alles hat nun Nietzsche erwogen und damit noch eine
andre Reihe von Betrachtungen verbunden. Er spottet VII, 186 über die
Milch der frommen Denkungsart und fährt fort: „Fast alles, was wir höhere
Kultur nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit;
das ^vom Bildungsphilister gefürchtete und verabscheut^ wilde Tier ist gar
nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich mir — vergöttlicht.
Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit; was
im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabnen,
bis hinauf zu deu höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik, angenehm
wirkt, bekommt seine Süßigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der
Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen
des Kreuzes, der Spanier angesichts von Scheiterhaufen und Stierkämpfen,
der Pariser Vorstadtarbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat,
die Wagnerianerin,die mit aufgehängten ^so!^ Willen Tristan und Isolde
über sich ergehen läßt, was diese alle genießen und mit geheimnisvoller
Brunst in sich hincinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der großen
Circe Grausamkeit. Dabei muß man freilich die tölpelhafte Psychologie von
ehedem davon jagen, welche ^wie gehorsam er doch zeitlebens der Frau Cosima
geblieben ist!^ von der Grausamkeit nur zu lehren wußte, daß sie beim An¬
blicke fremden Leids entstünde; es giebt einen reichlichen, überreichlicher
Genuß auch am eignen Leiden." Bei der schon von andern gemachten
Entdeckung, daß die Askese sehr oft nur eine Art von grausamer Wollust
sei, verweilt er sehr häusig, ebenso bei dem Gedanken, daß es kein Glück
gebe, das sich mit dem des standhaft gebliebner Gefolterten vergleichen
lasse, der das Hochgefühl des Triumphs über seine Gegner genieße. Das
zweite gilt doch wohl nur für wenige unter den zahllosen Fällen; die armen
Hexlein werden nicht viel Hochgefühl empfunden haben, und der im zweiten
Artikel erwähnte Kanzler Brück hat beidemal, sowohl vor der Folterung als
vor der Vierteilung, unter Thränen gefleht, ihm die Marter zu erlassen.
Geltung hat der Satz für kriegsgefangne Indianer, die unter Martern hin¬
gerichtet wurden, und bei dieser frühern Sitte des beinahe ausgestorbnen
Volkes ist auch noch zu bemerken, daß die Marterung keine Handlung feiger
und gemeiner Grausamkeit war, was die Folterung oder sonstige Mißhandlung
wehrloser Opfer in geschlossenen Kerkern ist. Der Indianer wurde von früh
auf in der Erduldung körperlicher Schmerzen, die sein hartes Krieger- und
Jägerleben mit sich brachte, geübt, Virtuosität darin galt als höchster Ruhm,
und die Marternden wußten, daß sie dem Gemarterten einen Triumph be¬
reiteten, der umso größer war, als die Feier im Freien veranstaltet wurde
und der ganze feindliche Stamm den Zuschauerkreis bildete; und außerdem
wußten sie, daß sie jeden Tag von den Stammgenossen des Hingerichteten
dasselbe erleiden konnten. Nietzsche macht auch einmal die Bemerkung, daß
die wilden und grausamen Zeitalter im ganzen heiterer gewesen seien als die
zahmen. In der That müssen die Spanier in der Zeit der Autodafes von
ausgelassener Lustigkeit beseelt gewesen sein, wie ihre Theaterstücke aus jener
Zeit bezeugen. Endlich erinnert Nietzsche daran, daß es keine Grausamkeit
giebt, die sich mit der Grausamkeit der christlichen Vorstellung von der Hölle
vergleichen ließe, erinnert er an den Geist der Grausamkeit, der aus der
Apokalypse spreche, und daß dieses Buch gerade dem Jünger der Liebe zuge¬
schrieben werde, und wie grausam Thomas von Aquin sei, der von den
Seligen des Himmels sage: sie werden die Strafen der Verdammten schauen,
damit sie ihre Seligkeit desto wonniger empfinden.
Merkwürdig, wie Nietzsche am Christentum alles abscheulich findet, auch
das, was er eigentlich schön finden müßte! Er hatte sich vorgenommen, die
weichliche Mitleidmoral zu bekämpfen und der von der Heuchelei verschleierten
Bestie wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen; wie er aber im Christentum die
allerschönste und allerwildeste Grausamkeit zu entdecken glaubt, ruft er nicht
Beifall, sondern überhäuft er es mit Schmähungen; solche nämlich begleiten
die zuletzt erwähnten Bemerkungen über das Christentum. Ich bin überzeugt,
daß er das Neue Testament seit seiner Jugend nicht mehr angerührt und
alles, was er dagegen vorgebracht hat, nur aus undeutlicher Erinnerung ge¬
schrieben hat. Hätte er das Neue Testament und Luther gründlich gekannt,
so würde er bemerkt haben, daß er mit seinem Kampfe gegen die Moral und
mit seiner Umwertung aller Werte neunzehnhundert oder wenigstens dreihundert
Jahre zu spät gekommen sei. War es nicht das, was Christus ans Kreuz
gebracht hat, daß er notorische Sünder und Sünderinnen um sich sammelte,
Ehebrecherinnen begnadigte, die korrekten Moralmenschen dagegen in die Hölle
verwies? Gab er nicht dem Verlornen Sohne, der sein Erbteil mit Dirnen
durchgebracht hatte, den Vorzug vor dem Musterknaben? Hat er nicht noch
am Kreuze dem Schächer zur Rechten gesagt: Heute wirst du mit mir im
Paradiese sein, ohne über den andern, den lästernden Schächer, ein Verdam¬
mungsurteil auszusprechen? War es nicht der Kern der Lehre des Paulus,
daß es mit der Gerechtigkeit des Menschen nichts sei, und daß wir alle ohne
Ausnahme in die Hölle kämen, wenn unsre Gerechtigkeit es wäre, was unser
Los in der Ewigkeit entschiede, und hat er nicht das Gesetz mit seinem: Du
sollst!, das Nietzsche« so sehr verhaßt ist, einfach für abgeschafft erklärt? Und
hat Luther nicht diese Lehre, die als sehr gefährlich allezeit in der Christen¬
heit möglichst verhüllt wird, mit der ihm eignen Rücksichtslosigkeit wieder auf¬
gedeckt? Merkwürdigerweise hat Nietzsche selbst diese Bedeutung der Paulinisch-
Lutherischen Lehre erwogen (IV, 66), ohne daß ihn dieses Wiederfinden seines
Ich in Paulus mit diesem ausgesöhnt Hütte.
ischcrs vielbändige berühmte 1846 bis 1857 erschienene Ästhetik
ist das einzige Werk dieses Titels, aus dem sich etwas über
die bildende Kunst lernen läßt, alle andern sind von Philosophen
für ganz andre Zwecke geschrieben morden. Aber auch Bischers
Werk war sür die meisten selbst ernsten Leser viel zu schwer,
namentlich in seinen ersten beiden Teilen, die die philosophische Grundlage,
das Naturschöne und die Phantasie, behandeln, und es dürfte heute mit Aus¬
nahme solcher, die wieder eine Ästhetik schreiben wollen, nur außerordentlich
wenig Menschen geben, die in diesen beiden Teilen auch nur hin und her
gelesen haben. Mit so schweren Brocken durfte aber der geistvolle Mann
seinen Zuhörern am Stuttgarter Polytechnikum nicht kommen, und für sie
fand er daher in vieljähriger Vorlesungspraxis eine besonders glückliche Art,
über Kunst zu belehren, ohne den Wortvorrat der Philosophen ganz in Anspruch
zu nehmen. Weil im Wesen und in der Wirkung der Kunst so vieles unmeßbar
und unbestimmbar, mehr zu empfinden, als mit Worten zu beweisen ist, so
thut anstatt der dogmcitisircnden Verschleierung der Philosophen eine einfachere
Besprechung, die die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennt und auch bekennt, doppelt
not, und wenn diese zugleich noch unterhaltend und anregend ist, so sind alle
billigen Wünsche erfüllt. Bischer hat dies alles, wie kein andrer, geleistet in
seinen Vorlesungen über Kunstlehre (die ja nicht mit Kunstgeschichte verwechselt
werden darf), das sieht man aus dem Buche, das sein Sohn, der Göttinger
Kunsthistoriker, nach Heften von Zuhörern des Vaters kürzlich herausgegeben
hat unter dem Titel: Das Schöne und die Kunst, zur Einführung in die
Ästhetik. Vorträge von Friedrich Theodor Bischer (Stuttgart, Cotta Nach¬
folger). Dem Inhalte nach entspricht es den zwei ersten Teilen des frühern
Werkes, dessen dritter, die einzelnen Künste behandelnder demnächst wieder in
einer neuen Auflage bei Cotta zu haben fein wird; hier weichen die Vor¬
lesungen nicht so sehr von dem ältern Werke ab, daß ihr Druck not¬
wendig wäre.
Diese neue, handliche Psychologie des Schönen wird nun hoffentlich ihre
klaren und leicht verständlichen Gedanken überall verbreiten, wo es Menschen
giebt, die gern über Kunst nachdenken mögen, ohne gleich mit dem Urteil fertig
zu sein. Sobald wir auf das Gebiet der Seeleneindrücke geraten, läßt sich
auf die wenigsten Fragen eine bestimmte Antwort geben, aber „die Ästhetik ist
darum doch nicht nichts." Denn „wie verschieden sind die Wirkungen der Baum¬
arten, der Tanne, der Buche, der knorrigen Eiche, der gelappten, der gefiederten,
der buchtiger Blätter. Daß sich die Seele mit dem Hohen streckt, mit dem
Hellen freut, mit dem Finstern verfinstert, mit dem Gelben erwärmt, mit dem
Blauen kühlt, das wenigstens wissen wir; es ist eine helldunkle, nicht ganz zu
durchlichtende Welt, aber wir haben den Weg in sie gefunden." An einer andern
Stelle spricht Bischer über das nicht mehr Meßbare. Die Seele kann sich
einfühlen in einen Kreis, ein Quadrat, sie kann in der kahlsten Geometrie
Eindrücke der Wohlgefälligkeit erfahren. „Bloße Formen sind also ästhetisch
wirksam, sofern sie Niederschläge verborgnen innern Lebens sind oder als
solche aufgefaßt werden." Aber dann „überflutet und durchbricht dies innere
Leben seine meßbaren Grenzen und geht so ganz ins Unmeßbare hinaus."
Dies mögen Beispiele theoretischer Erörterungen sein, die bei andern länger,
aber darum doch nicht erschöpfender zu sein Pflegen. Den klugen, schnellen
Witz macht ihm vollends keiner nach. Vlumendüfte affiziren nicht nur sinn¬
lich, sondern auch geistig. Man kann Blumen malen, aber keine Düfte, sie
sollen darum auch nicht „unmittelbar in Funktion treten," wie man z. B. in
Paris bei Gretchens Himmelfahrt in Gounods Faust Wohlgerüche über das
Proszenium verbreitet. „Das ist grobsinnlich. Mephisto würde sagen: gut,
was wollt ihr aber thun, wenn ich auftrete?" Bischer schrieb kein Heft,
sondern machte nur eine sorgfältige Disposition für jede Vorlesung und sprach
dann frei. Daher kommt dieser ungemein frische, natürliche Zug, in dem uns
alles vorgetragen wird. Er hatte auch nicht gern, wenn seine Zuhörer nach¬
schrieben, sie sollten ihn ansehen und mit ihm denken. „Eine Rede ist ein
für allemal keine Schreibe." Aber daß sie als „Lese" einen großen Eindruck
machen kann, davon wird sich jeder leicht überzeugen.
Von der Wiedergeburt deutscher Kunst, Grundsätze und Vorschläge
von Dr. Siegmar Schultze, Privatdozent (Berlin, Karl Duncker), ist der
vielverheißende Titel eines Heftchens, das unter lauter ebenso klangvollen
Überschriften kleine Abschnitte ganz allgemeiner Tiraden mit den bekannten
Schlagwörtern: Volksseele, Plakatkunst, künstlerische Erziehung usw. enthält.
Es klingt ja komisch, wenn ein junger Mensch auf 84 Seiten auseinandersetzt,
was die Kunst, der Künstler, das Volk, das Leben usw. nicht sind, und was
sie alle nach seiner Auffassung erst wieder werden müssen und nach seinen An-
weisungen zum Teil auch werden können. Es kann ja auch Leser geben, die
sich beim Lesen solcher Redensarten etwas vorzustellen glauben. Wir gönnen
jedem sein Vergnügen und meinen nur unmaßgeblich, ein deutscher Privat¬
dozent sollte nicht „Phydicis" schreiben, auch wenn er etwa kein Gymnasium
durchgemacht hätte.
Chr. V. Nielsen, Architekt und Dozent an der Kunstakademie zu Kopen¬
hagen, hat unter dem Titel: Dürer und sein Verhalten zur Perspektive
(dänisch, Kopenhagen, Wilhelm Tryde) eine größere Abhandlung herausgegeben
mit Tafeln und Textabbildungen, worin gezeigt wird, wie genau es Dürer auf
den betreffenden Holzschnitten, Kupferstichen und Gemälden bis in die Einzel¬
heiten der landschaftlichen Hintergrunde mit dem Horizont, dem Verschwindungs-
punkt usw. genommen hat. Darauf beruht auch mit der Eindruck der Sicher¬
heit, mit der seine Figuren hingestellt erscheinen. Das Buch ist einfach, fehr
sachlich und höchst belehrend.
Von Albrecht Dürer handelt zumeist auch ein lange bekanntes Buch von
eigentümlicher Schönheit: Noriea, das sind Nürnbergische Novellen aus alter
Zeit. Nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts von August Hagen.
Der Verfasser wurde vor hundert Jahren geboren, und jetzt erlebt das 1829
zuerst erschienene Büchlein die siebente Auflage (Leipzig. I. I. Weber)! Tiecks
Künstlernovellen sind längst vergessen, und keiner wird sie mehr lesen, die
Noriea, die übrigens viel besser sind als irgend eine von ihnen, nicht nur im
Inhalt, sondern auch im Tone, sind noch lebensfähig. Die Fiktion der „alten
Handschrift," die vor fünfzig Jahren den englischen Übersetzer zu einer ernst¬
haften Widerlegung veranlaßte, wird noch heute auf die Leser wirken. Jakob
Heller aus Frankfurt schildert nach den Eindrücken seiner Nürnberger Besuche
das Leben Dürers und seiner Freunde, der bekannten Nürnberger Bildhauer.
An diese tagebuchartigen Berichte sind Mitteilungen Pirkheimers angeschlossen.
Die Darstellung ist so angenehm und zart in der Form, daß es keine bessere
erste Einführung in die Geschichte der deutschen Kunst geben kann. Für die
sicher zu erwartende achte Auflage müßten allerdings mancherlei offenbare Un¬
richtigkeiten und einige Druckfehler in den Jahreszahlen beseitigt werden, wofür
wir gern das Verzeichnis unsrer Wünsche zur Verfügung stellen.
Auf ein noch wenig bebautes Gebiet führt uns eine schöne Publikation
des E. A. Seemannschen Verlags in Leipzig. Jeder weiß, wie reich Schleswig-
Holstein an Schnitzwerken ist. Brüggemanns Altar in Schleswig ist schon mehr¬
fach wissenschaftlich bearbeitet worden. Hier erhalten wir nun zum erstenmal
eine zusammenfassende, lichtvolle Behaudlung eines Barockkünstlers aus einer
dieser alten Schnitzerfamilien, mit neunzehn großen Tafeln in deutlichem Licht¬
druck und vielen Textabbildungen: Hans Gudewerdt, ein Beitrag zur Kunst¬
geschichte Schleswig-Holsteins von Gustav Brandt. Gudewerdt war selb¬
ständiger Meister im väterlichen Geschäft in Eckernförde seit 1634 und starb
1671. Seine Hauptwerke fallen in die Zeit des großen Krieges, der in dem
übrigen Deutschland die Kunstthätigkeit meist zum Stehen brachte. Es sind
zwei sehr stattliche Schnitzaltäre ohne Bilder in Eckernförde (1640) und Koppeln
(1641); viel geringer in der Arbeit sind zwei ähnliche in Preetz (ans Dänischen-
hagen) und Schönkirchen von 1653 und 1656. Dazu kommen noch die Gek-
kluger Taufe, die Kanzel in Sörup von 1663 und einige kleinere Epitaphe. Alle
Arbeiten, außer dem Kappelner Altar, der polychrom gewesen zu sein scheint,
zeigten ursprünglich das Eichenholz in seiner Naturfarbe, nur mit etwas Gold.
Der Aufbau im Barockstil ist namentlich bei den ersten zwei Altären sehr ge¬
lungen, die Behandlung des Ornaments im sogenannten Ohrmuschelstil und
der Zierfiguren gewandt; am Schluß geht der Künstler schon in eine Art
Rokoko über. Die Figuren sind in freier Skulptur, nur an der Söruper
Kanzel auch im Relief gegeben. Das Figürliche ist an den frühern Arbeiten
viel besser als später. Der Verfasser vermutet, daß Gudewerdt in Belgien
gewesen sei, weil er offenbar unter dem Einfluß von Rubens steht. Dreimal
hat er die „Anbetung der Hirten" nach Vorstermans Stich von 1620, jedesmal
mit kleinen Veränderungen gegeben. Der Verfasser Hütte, was er Seite 33
und 72 darüber sagt, in einander arbeiten müssen. Er scheint, wie alle, die
sich mit den norddeutschen Schnitzwerken beschäftigen, die Erfindung und die
Selbständigkeit im Figürlichem zu hoch anzuschlagen. Wozu waren denn die
Stiche da, die weitverbreiteten Anweisungen für alles und jedes, wenn sie von
diesen kleinen Prvvinzialmeistern nicht hätten benutzt werden sollen! Wie
gering ist selbst Hans Brüggemanns Erfindung, wenn wir nur z. V. an Adam
Krafts Sakrnmenthäuschen denken! Es wird sich ohne Frage das Gemeinsame
in den Kompositionen der Schnitzer durch umfängliche Vergleichungen immer
mehr herausstellen, und es ist nicht zu verlangen, daß ein erster Herausgeber
schon solche Fragen erledigt. Er hat genug gethan, wenn er uns durch eine
so sorgfältige Beschreibung seiner Denkmäler und durch vollständige Nachrichten
über den Meister erfreut. Wir hoffen ihm noch oft auf diesem Felde zu be¬
gegnen.
Von der neuen Zeitschrift für angewandte Kunst (München, Bruck-
mann), über die wir nach Erscheinen des ersten Heftes ausführlich gesprochen
haben, liegen weitere — Dezember 1897 bis Januar 1808 — vor uns. Die
Ausstattung ist wieder reich und anschaulich und der Text unterrichtend; hie
und da dürfte er etwas ruhiger sein, und es könnten die Superlative gespart
werden, mit denen der Propaganda nicht genützt wird. Es wird hier zuletzt
alles auf das Volk ankommen, aber nicht auf das, für das man heute „Volks¬
kunst" zu machen pflegt, sondern auf das kaufende, bessere Publikum. Die
Erscheinung der neuen Dekoration ist ja der hergebrachten, historischen genau
entgegengesetzt. Früher sollte ein Haus äußerlich nach etwas aussehen, was
man schön nannte, jetzt sieht es am besten nach gar nichts aus. Gesäße und
Geräte, die früher Architekten zu entwerfen pflegten, erfinden jetzt die Maler.
Während das historische Ornament eine gewisse Regelmäßigkeit und eine Mitte
hat, ist das neue zentrifugal und verkriecht sich in eine Ecke, je zufälliger es
da zu sitzen scheint, wie der Schmetterling am Zweig, desto echter, und die
Metallbeschläge, die früher das Holzwerk an Thüren oder Deckeln kräftig ge-
packt zu haben und zu halten scheinen sollten, ziehen sich nun in dünnen Spi¬
ralen auseinander, wie Spinnenbeine oder Polypenarme. Also säßen wir einmal
erst ganz in diesem Stile drin, von dem Hause, das wir bauen, bis zu dem
Büchereinbande, den wir in der Hand halten, und dem Nachtleuchter, mit dem
wir zu Velde gehen — ja dann! Aber einstweilen nehmen sich die neuen
Flicken auf den alten Kleidern noch seltsam genug aus. Wir glauben nicht,
daß der neue Stil das Feld gewinnen wird, schon weil er, wenn wir ihn uns
allgemein durchgedrungen denken, viel langweiliger, weniger ausdrucksvoll als
jeder frühere, wir mochten sagen: rein negativ sein würde. Könnte man nicht
auch aus der Vergangenheit etwas lernen? Mit welcher selbstverständlichen,
mühelosem Sicherheit nahm der Empirestil Besitz von seinem Reiche! Mit
welcher Rücksichtslosigkeit brach der Barockstil ein! Als Bernini das fehlende
Kapitell an der Vorhalle des Pantheons nicht nach dem Muster der übrigen,
sondern in seinem eignen Stil machte, dachte er sich gewiß kaum etwas dabei,
und ebenso selbstverständlich schien es dem Publikum, daß er es that. Diese
Stile hatten etwas positives, materielles, was die Massen gefangen nehmen
konnte. Hier in dieser neuen Verzierungsweise vermißt man die durchgehenden
Kennzeichen, es ist alles zu fein, zu überlegt, und auf die Art entsteht nach
unsern bisherigen Erfahrungen kein beherrschender Stil. Die Völker aber, auf
die wir uns berufen, und von denen wir die neuen Ornamente genommen
haben, hatten nach unsrer abendländischen Auffassung überhaupt in der hohen
Kunst keinen selbständigen Stil, sondern nur diese dekorative, stilisirende
Formgebung. Indessen das ist ja auch nur Theorie, auf beschränkte Erfahrung
gebaut, und jeder neue Tag kann neues bringen. Wir werden dem mit Interesse
entgegenkommen.
Ein sehr zeitgemäßes Unternehmen hat die Photographische Gesellschaft in
Berlin begonnen mit einer Sammlung von Porträts in großem Format unter
dem Titel: Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen. Vor uns
liegen sechs Lieferungen mit zusammen 48 Porträts und 44 Seiten eines
kurzen, gut geschriebnen biographischen Textes. Die Porträts sind mit Sach¬
kunde ausgewählt und ganz vortrefflich wiedergegeben. Im ganzen sind
75 Lieferungen vorgesehen, der Preis einer jeden (1 Mark 50 Pfennige) ist
lächerlich gering, das Blatt kostet noch nicht 20 Pfennige. Es ist ein wirk¬
licher Genuß, so vielen ausgezeichneten Menschen ins Angesicht sehen zu können
und sich dabei an ihre Lebensarbeit zu erinnern. Dem glücklichen Anfange
wird der Erfolg nicht fehlen, und diese ersten Lieferungen sind ausgezeichnet.
Und nun kommt noch zum Schluß der Humor in der Kunst: Italie¬
nische Landschaftsbilder von Emil Roland (Emmi Lewald), Oldenburg
und Leipzig, Schulzesche Hofbuchhandlung. So etwas kriegt man nicht leicht
wieder zu lesen. Wir geben aufs Geratewohl einige Proben, etwa für Meyer
und Bädeker, ihre trockne Reisetopographie zu garniren. „Vanucci . . . es
ist der Name Peruginos, des größten Sohnes der Stadt (war aber leider aus
Citt». della Pieve). Wenige Schritte den Korso hinauf schatten zierliche
Fensterreihen sich auf dem Pflaster ab (wie machen sie das?), die Fenster der
alten Handelskammer sind es, des Collegio del Cambio, in das Perugino seine
besten Bilder gemalt hat, leicht hinschreitende Gestalten aus römischen Sagen
und heiligen Legenden (sind bekanntlich scheußlich!). Die Kunst hat der Stadt
Peruginos jenen Stempel aufgedrückt, der wie ein Magnet die Pilger Italiens
in die stillen Berge Andricus hineinzieht" (ein unheimlicher Stempel!). Ein
neues Bild. „Zur Nachtzeit treten wir durch das Thor von Assise. Wahr¬
haftig, Städte wie diese sollte man zum erstenmale nur bei Nacht betreten,
um die Feierlichkeit ihrer erhabnen Größe voll wie einen köstlichen Trank zu
genießen." Fräulein hat also die bedenkliche Angewöhnung, nächtlicher Weile
zu trinken? „Assise, das Bethlehem des Mittelalters" ist auch gut. Und
weiter pilgert ins Thal der Egeria „der römische Fremdling von heute, wenn
er wandern will auf den Spuren des Numa Pompilius." Er läßt sich auch
von den Juvenalerklärern nicht rauben „den Glauben, daß er wirklich ge¬
wandert ist hier, wo Numa vordem sich traf mit der nächtlichen Freundin,
und die Erinnerungen, die ihm heilig waren als Knabe." Jedenfalls ein recht
bedenklicher Knabe! Neu sind ferner die Quellen, die bei Arrieia „zum
Nemisee herabschluchzen," neu die „Frauen Palestrinas mit den wilden Parzen¬
gesichtern," sollte es vielleicht „milden" heißen? Doch nein, es folgt „und
dem schwarzen Furienhaar." Die armen Weiber, daß sie nicht wenigstens
blond sind. Was können sie dafür, daß das Fräulein diese leicht erregbare
Phantasie hat! „Ein Schweizer in jener malerischen Tracht, die unwillkürlich
an Rutil gemahnt, an Wilhelm Tell und tiefgrüne Fluten der Alpenseen,
öffnet uns das hohe Gitter." Nämlich des Vatikans, wir ziehen es aber vor,
nicht weiter mitzugehen. Und der Leser wird auch genug daran haben.
Der Herausgeber der Zu¬
kunft, Maximilian Harden, hatte in einer der letzten Nummern seiner Wochenschrift
einen Artikel über König Otto von Bayern veröffentlicht. In diesem Aufsatze
wurde der geistigen Umnachtung des verstorbnen Königs Ludwig II. gedacht, die
Lebensweise des geisteskranken Königs Otto geschildert und dieser mit dem geistes-
umncichteten Philosophen Nietzsche verglichen. Dabei wurde ausdrücklich betont,
daß die monarchischen Gesinnungen in Deutschland seit dem Jahre 1843 eine
solche Stärkung erfahren haben, daß auch die Regierung eines geisteskranken
Königs ohne Erschütterung des Staatswesens möglich sei. Über den Wert oder
Unwert dieses Artikels wollen wir uns hier nicht auslassen. Die in Berlin heraus¬
gegebne Wochenschrift wird auch nach München verbreitet. Harden wurde um
am 28, April des laufenden Jahres wegen der in seinem Artikel enthaltnen Über¬
tretung des Paragraphen über den groben Unfug vom Schöffengericht München zu
einer Haftstrafe von vierzehn Tagen verurteilt. Das Gericht nahm an, daß der
verantwortliche Herausgeber einer Druckschrift wegen eines Preßdelikts nicht nur am
Erscheinungsorte der Schrift, sondern überall da strafrechtlich verfolgt werden könne,
wo die Schrift verbreitet würde. Es bekannte sich also zu dem sogenannten ambulanten
Gerichtsstand der Presse, den die Obergerichte in der Rechtsprechung festgelegt
haben. Das erkennende Gericht konnte über diese Rechtsansicht, ohne sich einer
Rektifizirnng durch die höhere Instanz auszusetzen, so wenig hinaus, wie über
die weitere, durch die Rechtsprechung längst bejahte Frage, ob durch die Presse
grober Unfug verübt werden könne. Wir wollen uns hier mit der Schuldfrage
nicht weiter beschäftigen; das Gericht stellte aus der Art' nud Weise der Dar¬
stellung der Lebensgewohnheiten des geistesumnachteten .Königs und aus den im
einzelnen gebrauchten Wendungen die gesetzlichen Merkmale fest. Wir wollen uns
nur mit der Frage des ambulanten Gerichtsstandes befassen. Die Rechtslage war
so: der Herausgeber der Zukunft war an und für sich wegen der in dem Artikel
enthaltnen Beleidigung eines Bundesfürsten vor der Strafkammer des Land¬
gerichts in Berlin abzuurteilen. Allein die zur strafrechtlichen Verfolgung not¬
wendige Ermächtigung des beleidigten Bundesfürsten lag nicht vor. Die Staats¬
anwaltschaft in Berlin konnte also nicht einschreiten. Damit hätte die Sache wohl
auf sich beruhen tonnen. Dagegen erhob nun die Anklagebehvrde in München
Anklage beim dortigen Schöffengericht wegen groben Unfugs. Diese neue An¬
wendung des ambulanten Gerichtsstandes hat nicht nur in der Presse eine um¬
fangreiche Erörterung hervorgerufen, sie ist auch sofort im bayrischen Landtage
bei der Beratung des Justizetats zur Besprechung gekommen. Der Justizminister
hat eine Einwirkung ans die Anklagebehörde in derartigen Fällen abgelehnt. Wir
gestehen offen, es wäre besser gewesen, wenn diese erste Statuirnng des ambulanten
Gerichtsstandes in Bayern unterblieben wäre. Zur Aburteilung von Preßdelikten —
natürlich nicht von Übertretungen, die zum Schöffengericht kompetiren — sind in
Bayern kraft eines Sonderrechts die Schwurgerichte zuständig. Freilich sind die
Wahrsprüche der Geschworenen in dieser Richtung oft recht eigentümlich; allein
mau hält in Bayern immer noch die Geschwornengerichte für die höchste Weis¬
heit in der strafgerichtlichen Organisation. Darum wird hier auch über diesen
Sondergerichtsstand der Presse mit einer gewissen Empfindlichkeit gewacht. Als
nämlich ^in Jahre 1894 der bayrische Staatsangehörige Freiherr von Thüngen
wegen einer in einer Würzburger Zeitung veröffentlichten Beleidigung des Reichs¬
kanzlers von Caprivi vor der Strafkammer in Berlin statt vor dem Schwur¬
gericht in Würzburg abgeurteilt wurde, zeigte sich in Bayern eine lebhafte Be¬
wegung über diese .Anwendung des mnbnlanten Gerichtsstandes, und auch im
Landtage kam der Fall zur Besprechung. Nun hat die bayrische Anklagebehörde
denselben Weg beschritten, wie damals die preußische im Fall Thüngen. Wir
glauben deshalb, daß es mit Rücksicht auf die Presse, die dadurch ja kein Privileg
erhält, dringend angezeigt wäre, durch eine Amendirung des Z 7 der N.-Ser.-P.-O.
diesen durch die Praxis geschaffnen ambulanten Gerichtsstand verschwinden zu lassen,
der rechtlich und thatsächlich nnr zu Unzuträglichkeiten führt. Der verantwortliche
Leiter einer Zeitschrift ist niemals sicher, eine Vorladung vor ein Gericht zu be¬
kommen, dessen Sitz er erst ans der Karte suchen muß. Er riskirt auch, vor
Richter zu kommen, denen er unter Umständen erst auf dem Wege einer umständ¬
lichen Beweiserhebung die Richtung darthun muß, die er in seinem Blatte vertritt,
während er bei dem Gerichte des Erscheinnngsvrtes diese Thatsachen als bekannt
voraussetzen, darf. Im Reichstag ist diese Frage wiederholt angeregt worden, und
es ist unsers Wissens auch ein solcher Antrag gestellt. Mit einem Znsntze zu § 7
der R-Ser.-P.-O.: „Für Preßdelikte ist der Gerichtsstand der begangnen That
der Ort, an dem die Druckschrift erscheint," ist diese Frage zur befriedigenden
Losung gebracht. Sie kehrt sonst immer wieder, verursacht jedesmal großen Lärm,
den man in unsern unruhigen Zeiten wohl entbehren kann, und schafft thatsächlich
unerquickliche Zustände, die für das Ansehen der Gerichte nicht förderlich sind.
Über dies Thema erhalten wir zwei Zuschriften. Herr
Otto Koenig in Halberstadt schreibt uns: Das 37. und 38. Heft der Grenzboten
brachte einen Aufsatz „Einiges von der deutschen Rechtseinheit," worin daraus
hingewiesen wurde, wie rechtmäßig man zu einem äußerst billigen halb oder ganz
fertigen neuen Hause kommen kann. Es ist das eine alte Geschichte, die schon
längst weite Kreise beschäftigt hat. Trotzdem ist bis jetzt alles beim Alten geblieben.
Den Bauhandwerkern fehlt jeder gesetzliche Schutz, auf den sie sich berufen könnten,
da scheinbar alles rechtlich zugeht und im Bauwesen ein Schwindel überhaupt
uicht besteht. Ich will deshalb versuchen, einen sür die Gesetzgebung praktischen
Vorschlag zu machen.
Beabsichtigt jemand ein neues Haus zu erbauen, so müßte er zunächst ver¬
pflichtet sein, die Hypothekengläubiger seiner Baustelle in der Weise zu befriedigen,
daß diese ihre Hypothekenvorrechte aufgeben. Kann er deren Einwilligung nicht
erlangen, und wäre er auch nicht imstande, diese Hypotheken auszuzahlen, also
gänzlich zu beseitigen, so dürfte er auch nicht die unbedingt notwendige Bau¬
erlaubnis erhalten. Erfüllte aber der Bauherr diese gesetzlichen Bedingungen, so
müßte er auf dem Amtsgericht zu Protokoll geben, ob oder wieviel Schulden schon
auf der Baustelle lasten. Von diesen Angaben müßte an Gerichtsstelle jeder Ein¬
sicht nehmen können, sodaß die thatsächlichen Verhältnisse für niemand ein Ge¬
heimnis sein würden.
Nun kann der Bau des neuen Hauses beginnen, denn die Bauhandwerker
und Baulieferanten sind nicht mehr Von den sonstigen geschäftlichen Verhältnissen
des Bauherrn abhängig, und seine allgemein bekannte Schuld, die auf der Baustelle
lastet, hat mit allen andern Forderungen, die aus dem Bau hervorgehen, nnr
gleiche Rechte. Sollten nun die, die für den Neubau geliefert und gearbeitet
haben, uicht vollständig befriedigt werden, so müßte in Bezug auf den Neubau ein
konknrsähnliches Verfahren eingeleitet werden, worin sämtliche Forderungen nach
Verhältnis des aus dem Grundstück erzielten Kaufpreises befriedigt würden.
Dieses Verteiluugsverfahreu würde niemand hindern, seine etwa ausgefallnen
Forderungen beim Bciuherru noch weiter geltend zu machen.
Nach einer solchen Ordnung der Dinge könnte von einem Schwindel in der
That nicht mehr die Rede sein, da sich für niemand irgend ein nnberechtigter Vor¬
teil ergiebt, denn der Bauherr würde unter Hinzufügung seiner eignen Arbeit nur
den Teil des für gemeinschaftliche Rechnung verkauften Hauses bekommen, der nach
Bezahlung der darauf lastenden Schulden für ihn übrig bliebe. Unter keinen Um¬
ständen würden die Baulieferauteu über die pekuuittreu Verhältnisse des Bauherrn
getäuscht und deshalb betrogen werden, da sie sich vom Anfang bis zu Ende genau
darüber unterrichten konnten, denn niemand dürste an dem Konkurs teilnehmen,
der nicht sein Recht dazu nachweisen könnte. Die rechtmäßige Reihenfolge der
Hypotheken dürfte erst ein Jahr nach völliger Herstellung des neuen Hauses ein¬
treten, denn es darf wohl angenommen werden, daß dann jeder Lieferant und
Handwerker zu seinem vollen Recht gekommen wäre.
Wem nützt eigentlich die große Überproduktion an Neubauten, die ohne Geld
oder vielmehr mit dem Gelde der betrognen Handwerker erbaut werden? —
Von andrer Seite wird geschrieben: Es wird mit Recht über den im
Baufach herrschenden Schwindel geklagt. Der „Bauherr" ist oft ein vermögens¬
loser Spekulant, der im glücklichen Falle den Gewinn einsteckt, beim Mißlingen der
Spekulation aber „verduftet" und seinen Gläubigern das Nachsehen läßt. Aber
dieser Schwindel hätte nicht so lange bestehen können, wenn nicht das Geschäfts-
gebahren der Bauhandwerker ihn ermöglicht hätte. Hierin liegt der Hauptübelstand.
Die Überfüllung des Bauhandwerks mit Arbeitskräften und die dadurch eingetretne
starke Konkurrenz hat zu einem leichtsinnigen Geschästsgebahren geführt. Man
prüft nicht genügend die Zahlungsfähigkeit dessen, der die Bauarbeiten vergiebt.
Es heißt dann: wir müssen die Arbeit übernehmen, denn sonst übernimmt ein
Konkurrent sie. Das leichtsinnige Kreditgeben, das überall im Geschäftsleben zu
stark eingerissen ist, leistet dem Bauschwindel Vorschub. Der Schwindler weiß,
daß, wenn ein Bauhandwerker nicht sür ihn arbeiten will, er leicht einen andern
findet, der die Arbeiten übernimmt. Er kann auch höhere Preise versprechen als
der solide Hausbesitzer, weil er entweder gar nicht die Absicht hat, zu bezahlen,
sondern nur eine Zeit lang auf den ihm geschenkten Kredit hin leben will, oder,
wenn er auch zu bezahlen beabsichtigt, doch wegen seiner Vermögenslosigkeit um
die Folgen seiner Zahlungsunfähigkeit nicht besorgt zu sein braucht.
„Wenns gut geht, lobt mans." Und es ist lange gut gegangen. Die Hänser¬
preise stiegen. Mancher vermögenslose Spekulant wurde ein reicher Hausbesitzer.
Das reizte wieder zur Spekulation, zu tollem Überbieten, bis das kam, was kommen
mußte, der „Krach" oder die Stockung, das Stillstehen und Hinabgehen der Miet¬
preise und der Häuserpreise, zahlreiche Konkurse von Hausbesitzern und Verluste bei
den Bauhandwerkern. Hauffe und Baisse lösen einander ab, wenn eine fieberhafte
Bauthätigkeit einen Überfluß an Wohnungen erzeugt hat, oder wenn nach einer Zeit
der Stockung und bei fortgesetztem Andrang nach der Großstadt wieder ein Mangel
an Wohnungen eintritt. In der „guten Zeit," der Zeit des Steigens der Preise
und der lebhaften Bauthätigkeit, werden viel mehr Wohnungen hergestellt, als durch
deu Bedarf geboten ist. Vor etwa drei bis vier Jahren war im Umkreise Berlins
und in einigen Vororten so stark gebaut worden, daß viele Wohnungen in Berlin
leer stehen blieben, und mancher nicht ganz kapitalkräftige Hausbesitzer Konkurs
machen mußte. Weil gleichzeitig die Verkehrsverbindungen bequemer geworden
waren, zogen viele Bewohner Berlins nach den Vororten hinaus. Die Hausbesitzer
in Berlin sträubten sich zwar gegen die Herabsetzung der Mieter, aber schließlich
mußten sie sich doch dazu verstehen. Wenigstens hörte das beständige Höherschrauben
der Mietpreise eine Zeit lang auf, die Mietpreise gingen sogar ein wenig herunter.
Seitdem aber ist längst eine Gegenbewegung eingetreten. Die leeren Häuserreihen
in den Vororten haben sich mit Menschen gefüllt; die massenhaft aufsaugenden
Mietzettel in einigen Straßen Berlins sind verschwunden. Die Mietpreise sind
wieder die alten. Die Hauswirte machen vergnügte Gesichter, und die Mieter
stimmen die alte» Klagen über Tyrannei und Ausbeutung an. Da kommt dann
auch wieder ein kräftigerer Zug in die Banthdtigkeit, und das alte Spiel turn
wieder beginnen.
Die Schwankungen der Konjunkturen lassen sich nicht dnrch Gesetze beseitigen.
Es ist unmöglich, die Produktion ganz genau dem Bedarf anzupassen, weil vielfach
für einen zukünftigen Bedarf, dessen Umfang sich nicht genau bestimmen läßt,
produzirt wird. Außerdem wird die Neigung zur Überproduktion durch unsre
Zeitverhältnisse besonders begünstigt. Wo nur ein einträgliches Gewerbe zu finden
ist, drängt sich eine übergroße Zahl von Arbeitskräften dazu; wo nur ein Gewinn
zu erHaschen ist, strecken viele die Hand darnach ans. Ähnlich wie bei der sür
den Bedarf der Weltwirtschaft Produzirendeu Industrie ist es bei manchen mit der
Industrie in Verbindung stehenden und von ihrem Gedeihen abhängigen Gewerben.
Das rasche Wachstum der Großstädte, das hauptsächlich dem Aufblühen unsrer
Industrie zu verdanken ist, hat vielen Menschen Vorteil und Gewinn gebracht.
Damit ist aber zugleich die Unsicherheit der Erwerbsverhältuisfe verbunden.
Jeder, der sich an dem Wettbewerb um Anteil und Verdienst beteiligt, sollte be¬
denken, daß die Gesetzgebung ihm nicht ein Recht auf die Fortdauer der reichlichen
Arbeitsgelegenheit und des reichlichen Verdienstes sichern kaun. Bei dem Jagen
nach Gewinn haben natürlich nicht alle denselben Erfolg. Da regt sich der Neid
auf die Glücklichen, und die Spekulation wird als unehrenhaft und verwerflich ge¬
scholten. Aber die Spekulanten sind nicht eine besondre Klasse von Menschen, die
man von der übrigen Menschheit scharf unterscheiden könnte. Ein wenig zu speku-
liren halten die wenigsten Menschen für ein Unrecht; die wenigsten sind ganz un¬
empfänglich für den Reiz raschen und mühelosem Gewinnens. Das Bauhandwerk
hat den Tanz um das goldne Kalb mitgemacht; es hat mit ans das Steigen der
Häuser- und Grundstückpreise spekulirt und an dem Gewinn teilgenommen. Mancher
Bauhandwerker hat sich zum Hausbesitzer und Grundstückspekulanten emporgeschwungen.
Eine scharfe Grenze läßt sich zwischen dem „ehrsamen" Handwerker und dem
Spekulanten oft gar nicht ziehen. Die Entrüstung über den vielfach von gewissen¬
losen Hausbesitzern getriebnen Schwindel und Betrug ist berechtigt, und es ist be¬
greiflich, daß die öffentliche Meinung für die geprellten Handwerker Partei ergreift.
Aber es sollte doch bedacht werden, daß auch die Solidität des Handwerks unter
diesen Verhältnissen stark gelitten hat, und daß es unmöglich ist, die Handwerker
vor den Folgen eines leichtsinnigen Geschäftsgebahrens zu schützen. Was immer
bei den Vorschlägen zum Schutz der Bauhandwerker herauskommen mag, man thut
gut, die Hoffnungen nicht zu hoch zu spannen. Denn der Schwindler, der sich
das Ansehen eines leistungsfähigen Mannes zu geben weiß und dadurch den Hand¬
werker zu unvorsichtigem Kreditgeben veranlaßt, wird immer Handhaben finden,
das Gesetz zu umgehen.
Das Schulturnen hat ja wohl unter anderm den Zweck,
einiges von dem Schaden wieder gut zu machen, den der unnatürliche Sitzzwang
anrichtet. Nicht? Nun höre man und staune! Unser Städtlein hat — wenigstens
für die Volksschüler — noch keine Turnhalle; infolgedessen siel bisher an Regen¬
tagen der Turnunterricht aus, und der oben genannte Zweck kam dabei eigentlich
nicht zu kurz, denn unsre Buben machen sich ans dem Regen nichts, denken nicht
daran, wegen ein paar Tröpflein gleich unterzukriechen, und benutze» jeden Zaun,
jedes Geländer und jeden unbespannten Wagen als Turngerät; zugleich machen sie
in den Pfützen die Kneippkur. Eines schönen Tages aber verkündigt der Rektor
der Knabenschule den Kollegen, ein Zirkular des Kreisschulinspektors ordne an, daß
in Zukunft die Schüler bei Regenwetter wahrend der ausfallenden Turnstunden in
den Klassen zu behalten und mit irgend einem Unterrichtsgegenstände zu beschäftigen
seien. Man stelle sich nun die Luft in einem überfüllten Schulzimmer vor uach
fünf Unterrichtsstunden, und darin sollen Lehrer und Schüler auch noch von vier
bis fünf Uhr sitzen! Und das soll die Turnstunde vertreten! Das wird gleich
angenehm sein bei warmem Sommerregeu, wo die Feuchtigkeit den Dust verschönert,
wie an Wintertagen, wo das Gaslicht das Seinige beitrüge zur Gesuudheitsförde-
rnng, und wo das einzige Stündchen verloren geht, während dessen Lehrer und
Schüler, wenn nicht bei Tageslicht, so doch wenigstens in der Dämmerung Lust
schnappen können. (Über Mittag müssen, wie die Mütter klagen, kleine Burschen
von neun Jahren nicht selten Schularbeiten machen, weil sie sonst des Abends nicht
fertig werden.) Unter den Lehrern giebt es schwarze Seelen, deuen das vorschrifts¬
mäßige Vertrauen zur väterlichen Gesinnung der Behörde mangelt, und die arg¬
wöhnen, man habe die neue Vorschrift nur erlassen, weil man es den Lehrern
nicht gönne, daß sie bisher durch den Regen manchmal eine Stunde profitirt hätten.
Nun wären ja achtundzwanzig Arbeitsstunden die Woche, zu denen freilich noch
Korrekturen (unter anderen allwöchentlich fünfzig bis siebzig Aufsätze), Vorbereitungen,
bei deu Landlehrern amtliche Schreibereien kommen, um sich noch keine übermäßige
Arbeitszeit, aber unterrichten, und zwar in vollen Klassen, ist doch eine etwas
anstrengendere Beschäftigung als Bogenschreiben oder Hobeln, und wenn, wie an
unserm Orte, eine Klasse achtzig bis neunzig Schüler stark ist, dann hat der Lehrer
nach der dritten Stunde für den ganzen Tag genug. Dabei wird eine Intensität
des Unterrichts gefordert, von der frühere Zeiten nichts wußten. Früher durften
sich Lehrer und Schüler ein wenig gehen lassen; heute müssen die Schüler die
ganze Stunde sitzen wie eine Mauer, und nicht eine Minute darf verbummelt
werde». Und um zum Schluß den Blick nochmals auf den genannten Zweck zurück-
zuleuken, so sei noch daran erinnert, daß wir in unserm lieben Vaterlande mehr
Regentage haben als schöne Tage. Übrigens wird der Gewinn an Gelehrsamkeit,
den die Stunden von vier bis seems bringen können, nicht bedeutend sein. Einen
ganz andern Kurs als den auf die Gelehrsamkeit gerichteten scheint eine zweite
Neuerung anzudeuten. Bisher wurde der Religionsunterricht in vier, der Natur¬
geschichtsunterricht in zwei Stunden erteilt, jetzt ist eine Naturgeschichtsstunde ge¬
strichen und die Zahl der Religionsstunden auf fünf erhöht worden. Wenn nun
die Feiertage zufällig auf Naturgeschichtstage treffen, so kann es einer Klasse be¬
gegnen, daß sie ein paar Wochen hinter einander gar keine Naturgeschichtsstunde
hat. Diese Änderung wäre nicht so auffällig, wenn die Behörden nicht eine Zeit
lang auf Naturgeschichte und Naturwissenschaften förmlich erpicht gewesen wären.
Bis vor ein paar Jahren sah es aus, als sollten die Naturwissenschaften den be¬
herrschenden Mittelpunkt des Volksschuluuterrichts bilden, und die Lehrer wurden
mit Konferenzarbeiten über die besten Methoden der Behandlung dieses und jenes
naturwissenschaftlichen Gegenstandes geplagt. Vielleicht handelt es sich bei solchen
Änderungen gar nicht um wechselnde Richtungen, sondern bloß um grundsatzlose
büreaukratische Einfälle. Wenigstens würde es schwer sein, aus einer dritten
Änderung, die uoch erwähnt werden mag, auf eine Richtung oder einen Grundsatz
zu schließen: das Zeichnen soll, anstatt in der dritten, von jetzt ab schon in der
zweiten Klasse anfangen, d. h. bei den siebenjährigen. Die Lehrer versichern
— und welcher Verständige wäre nicht von vornherein dieser Ansicht! —, daß
auch »och bei den achtjährigen der Zeichenunterricht eine unnütze Verschwendung
von Mühe und Bleistift sei, und sie wünschten, daß sie die Zeit lieber auf Lesen und
Schreiben verwenden könnten, wofür ihnen in Anbetracht der Überfüllung ihrer
Klassen die Zeit zu knapp zugemessen sei. Zum Schluß sei bemerkt, daß die Lehrer
nicht wissen, ob die neuen Vorschriften aus dem Kultusministerium oder aus dem
Provinzialschulkollegium stammen.
Carlyle hatte die Fähigkeit und auch die Gewohnheit,
einen Gegenstand, den er behandeln wollte, solange anzusehen, bis ihm etwas daran
anders erschien, als allen frühern Betrachtern. Er war mit ihm ganz vertraut
geworden, er sah mehr als sie, die sich vielleicht im grobsinnlichen Verstände viel
mehr daran abgemüht hatten. Auf dieser Eigenschaft und ihrer Wirkung beruht
der Eindruck seiner Worte, oft über recht unbedeutende Dinge, nicht auf dem Neuen
an Stoff, dem bisher Unbekannten. Man lese daraufhin in der sechsten Vorlesung
über Helden — der Held als Schriftsteller — seine Betrachtung über das Wunder
des Buches, des geschriebnen, das imstande ist, das Lebendigste aus einem Zeitalter,
wenn dieses in aller seiner sichtbaren Kultur längst zerstört ist, der fernsten Nach¬
welt darzubieten, nicht erst des gedruckten, das mir die weite Verbreitung dieses
Lebens ermöglicht hat. Das hat jeder vou uns ebenso gut gewußt, und mancher
hat schon darüber nachgedacht, aber keiner hat es so wunderbar ausgedrückt, wie
Carlyle, sodaß, wer es gelesen hat, fortan um dieses „Wunders" willen seine
Bücher noch einmal so gern hat. Carlyle war so beweglich, teilnehmend und
parteilos in seinem Denken, daß er uns sogar für Mohamet — den Helden als
Propheten — begeistern könnte. Die „Sechs Vorlesungen über Helden, Heldenver¬
ehrung und das Heldentümliche in der Geschichte," seine ersten, 1840 in London
bald nach seiner Übersiedlung aus Schottland gehalten, sind kürzlich deutsch in
dritter Auflage — von Neuberg — bei Decker in Berlin erschienen. 1893 er¬
schien die zweite. Man sieht, Carlyle gewinnt immer mehr Boden in Deutschland.
Die Ausstattung ist sehr geschmackvoll, und der Druck ausgezeichnet, was man be¬
kanntlich von der ersten Auflage des ganzen Übersetzungswerks nicht sagen konnte.
Hätten wir einen Wunsch zu äußern, so wäre es der, wenn er geschäftlich aus¬
führbar wäre, daß einmal von der viel zu wenig gekannten Geschichte Friedrichs
des Großen eine neue Auflage der Übersetzung erschiene. Sie könnte sehr gekürzt
werden und müßte nur die Glanzpartien aus den drei Kriegen und die pracht¬
vollen Schilderungen der Persönlichkeiten ausführlich geben, zugleich mit kurzen
Hinweisen auf etwa geänderte Auffassungen von der Hand eines belesenen und
taktvollen Historikers. Es dürfte drei Bände in der Art des vorliegenden geben
und könnte großen Nutzen stiften. Fände sich doch eine gemeinnützige Gesell¬
schaft, sich für die Kosten zu verbürgen. Für die Akademien ist es ja natürlich
nicht vornehm genug; es würde auch zu ausführlich und darum nachher im Handel
zu teuer werden.
le magyarische Jcihrtausendfeier und der deutsche Kaiserbesuch in
Ofen-Pest, den alten deutschen Städten, die jetzt ungeschichtlich
Buda-Pesth genannt werden, haben die Veranstalter nur zu sehr
befriedigt, obgleich die idealen und die materiellen Kosten haupt¬
sächlich von den Nichtmagyaren, besonders von den Deutschen
bestritten worden sind.
Bei unparteiischer Forschung kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die
Neiterhorden Arpads weder die Gesittung in die weiten Dvnauebnen Pannoniens
gebracht, noch sie erhalten und weitergebildet haben. Erst die von den unga¬
rischen Königen herbeigerufnen Deutschen, die während der Völkerwanderung
leider diese fruchtbaren Gefilde verlassen hatten, haben das Land der europäischen
Kultur erschlossen. Das türkische Joch wurde auch nicht durch den ritterlichen
Magyaren gebrochen, denn er kämpfte auf der Seite des Halbmonds mit
seinen Verwandten vom finnisch-ugrischen Stamme, sondern die deutschen Reichs¬
heere, die jahrhundertelang durch den Türkenpfennig unterhalten wurden, ge¬
wannen das ungarische Gebiet dem Habsburgischen Kaiserhause. Die unga?
rische Freiheit diente bis zum Ausgleich von 1867 nur zum bequemen Vorwand
für den Hoch- und Volksverrat herrschsüchtiger Magnaten. Leider fließt aber
selbst in den stolzesten Vertretern des magyarischen Adels kein nationales Blut,
sondern ihre Abstammung ist deutsch, wie folgende Namen ergeben: Baborsay,
Batthyanyi, Forgach. Dubinyi. Ujhelyi, Nitzky, Sztaray, Palffy, Hedervary
(Hedrichsburg) u. a.
Die Magyaren waren zwar bis zur Türkeunot, durch die schließlich ganz
Ungarn türkisch wurde, die Herren des Landes. Aber auf den Edelhöfen, in
den Städten, an den Gebirgsrändern, in den Dörfern, an den österreichischen
und polnischen Grenzen saßen deutsche Siedler mit königlichem Freibriefe als
freie Landsassen, denen die magyarischen Beamten und Großen nicht gebieten
durften, wie den Slowaken und Walachen, die zusammen fast das Doppelte
der Volkszahl der herrschende» Magyaren ausmachten. Mit dem Beginn der
Habsburgischen Negierung, die mit deutschem Gut und Blut dem Halbmond
den Boden fußweise abringen mußte, gab es überhaupt keine magyarische Herr¬
schaft mehr, sondern bloß das deutsche Regiment des Kaiserhauses, das in dem
vielsprachigen Lande leider lateinisch amtirte statt, wie in der westlichen Reichs¬
hälfte, deutsch. Dadurch wurde die Germanisirung verabsäumt, und die unter¬
drückten und landesverrüterischen Magyaren fühlten sich in ihrer relativen
Mehrheit unter der Gesamtbevölkerung bald wieder als die Herren, die sie
ebenso wenig waren, wie die übrigen Volksstämme. Aber die Deutschen hatten
unter der deutschen Herrschaft die führende Stellung von früher verloren, trotz
der dauernden deutschen Einwanderung. Die geistlose, jedes nationalen Ver¬
ständnisses bare Büreaukratie der Hofburg duldete die nationalen Bestrebungen
der Magyaren trotz ihrer bewiesenen Verrätereien und ihrer beständige!? Un-
zuverlässigkeit, was folgerichtig zu einer Unterdrückung der übrigen zersplitterten
Volksstämme führen mußte. Am wenigsten widerstandsfähig zeigten sich frei¬
lich, wie immer, die Deutschen, selbst diesem geringwertigen Hirtenvolke gegen¬
über; ja sogar die noch tiefer stehenden Slowaken konnten die Schwaben der
Zips slawisiren, obgleich diese in geschlossenen Dörfern saßen. Bei der ge¬
trennten Verwaltung und dein Mangel jedes Gemeinsinns unterstützten die
damals noch unbedrängten Sachsen Siebenbürgens nicht ihre ungarischen
Volksgenossen, obgleich sie mit ihrer Volkszahl und Unabhängigkeit für ihre
Landsleute nachhaltig hätten wirken können.
Natürlich empörten sich diese angeblich tonigstreucn Magyaren im Jahre
1848, sogar von deutscheu, irregeleiteten Freiheitsschwärmern unterstützt; und
hier zeigte sich die ganze Stärke des magyarischen Chauvinismus, den man
nur durch russische Bajonette dämpfen konnte. Das Zeitalter der nationalen
Kämpfe fand in Ungarn einen vorbereiteten Boden, leider nur auf magyarischer
Seite. Die Deutschen dachten weder um die Wahrung ihres Volkstums, noch
forderten sie nach der Besiegung der aufständischen Magyaren, daß man sie
vor magyarischer Vergewaltigung sichere. So konnte ein freilich nichtöster-
reichischer Minister, der Sachse Beust, die Selbständigkeit eines ungarischen
Staats mit magyarischer Spitze dem deutschen König von Ungarn empfehlen
und einen Zustand durchsetzen, der die Mehrheit der Bevölkerung rechtlos
machte, da die papiernen Gewährleistungen in dem halb orientalischen Lande
keine Kraft haben. Dort unten ist immer Gewalt vor Recht gegangen. Aber
schmerzlich ist die Thatsache, daß ein deutsches Königshaus und eine deutsche
Negierung einen solchen Ausgleich durchführen konnten, der eine Unterdrückung
der eignen Volksgenossen durch eine Minderheit von höchst zweifelhafter Treue
in sich schloß. Den sechs Millionen Magyaren stehen zwölf Millionen Deutsche,
Slawen und Walachei, gegenüber, aber von diesen ist jetzt noch eine weitere
Million magyarisirt, größtenteils Deutsche, von denen nur zwei Millionen
bisher noch dem Verderben entgangen sind. So traurig hat sich die Lage des
Deutschtums in Ungarn entwickelt, dem es durch seine Bürger und Bauern
deutsche Gesittung und deutsches Recht gebracht, und dem es unter dem kaiser¬
lichen Doppeladler die Freiheit vom Türkenjoch geschenkt hat.
Dieser geschichtliche Rückblick erscheint notwendig, um die Ereignisse der
Gegenwart zu würdigen und die geflissentliche Entstellung der Thatsachen auf¬
zudecken. Die österreichischen Tschechen erscheinen als ein selbstbewußtes, einst
unterdrücktes Volk, das ein stärkeres nationales Empfinden hegt und zum Aus¬
druck bringt, als ihre in die Verteidigungsstellung getriebnen deutschen Widersacher.
Die Magyaren sind thatsächlich die Minderheit im Lande der Stephanskrone,
sie haben immer ohne eignes Verdienst die Herren gespielt, haben auf Kosten
der andern Steuerzahler einen ungeschichtlichen, rein magyarischen Staat auf¬
gerichtet und gegen das geschriebne Recht die gleichberechtigten Volksstämme
unterdrückt. Alle diese Willkürhandlungen spielen sich unter der trügerischen
Flagge des liberalen Parlamentarismus ab, wo nach Fug und Recht die nicht¬
magyarische Mehrheit herrschen müßte. Ein willkürliches, gewaltthätig gehand-
habtes Wahlgesetz schließt aber die thatsächliche Mehrheit der Bevölkerung von
dem Wahlrecht aus; auch wird mit Hilfe jüdischer und deutscher Renegaten
und lauer Vertreter andrer Stämme jede andre nationale Regung rücksichtslos
unterdrückt. Die an Bildung am tiefsten stehenden Wallachen zeigen noch die
größte Widerstandskraft, und die in Kroatien und Slawonieu einigermaßen
gegen magyarische Übergriffe gesicherten Slawen wehren sich tapfer ihrer Haut.
Nur die einstigen, geistigen und wirtschaftlichen Führer im Lande, die deutschen
Kulturbringer und -träger werden ohne Gegenwehr mißhandelt. Schon ist
der deutsche Stamm trotz dauernder Einwanderung aus dem Reiche und aus
Österreich auf zwei Millionen gesunken. Die deutsche Hauptstadt Ungarns
kleidet sich in ein aufdringliches magyarisches Gewand mit französischem Firnis,
hinter dem asiatische Wildheit und Sittenlosigkeit versteckt ist. Das ist das
Bild der ritterlichen magyarischen Nation, die ihre Hilfe dem habsburgisch-
lothringischen Königshause immer nur auf Kosten der übrigen Volksstämme
Ungarns gewährt hat.
Vom nationalmagyarischen Standpunkte aus können wir freilich nur die
Geschicklichkeit und Verschlagenheit bewundern, womit eine Minderheit im
Staate die freilich national getrennte Mehrheit in rohester Weise vergewaltigt.
Die Leistung ist für dieses noch halbasiatische Hirtenvolk erstaunlich, wenn
man bedenkt, daß seine Stammverwandten, die Türken und Finnen, zu einer
staatlichen Ordnung ihrer Länder unfähig sind. Finnland ist noch heute ein
schwedisch-deutscher Staat unter russischer Hoheit. Würden die ungarländischen
Deutschen die Führung der Mehrheit übernehmen, so würde die Hohlheit und
Unwahrhaftigkeit der magyarischen Herrschaft bald zu Tage treten. Die fremden
Renegaten sind noch jetzt die Hauptstützen der magyarischen Regierung. Aber
die panslawistisch aufgesetzten Kroaten und Slcnvonier hassen die Deutschen
leider ebenso mit dem Instinkt der niedern rohen Natur, wie die Magyaren;
und die Walachen können mit Recht von der nationalen Gesinnung der
Deutschen nicht groß denken, nachdem diese weder in Siebenbürgen noch sonst
wo für sie und gegen ihre widerrechtlichen Bedrücker eingetreten sind.
Noch herrscht im ungarländischen Deutschtum, besonders unter den Abgeord¬
neten eine Opportunitätspolitik, die sich von den gleißnerischen Beteuerungen
der magyarischen Negierung irreführen läßt und in der Überschätzung der
deutschen Bildung gegenüber der magyarischen Halbbildung den offnen poli¬
tischen Kampf mit nationalen Waffen fürchtet. Nationale Roheit hat immer
mit elementarer Wucht über vaterlandslose Bildung gesiegt. Diese Erfahrung
müßte die weltbürgerlichen Deutschen endlich zur Einsicht und zu einer natio¬
nalen Gegenwehr bringen, zumal da überall in der Welt der Bestand des
deutschen Volkstums zerbröckelt. Selbst im eignen Hause unterliegt ja der
Deutsche trotz aller Macht der Regierung den dünischen, französischen und
polnischen Eindringlingen; das ist eine Schande, die kein andres Volk ertragen
würde. Nur der vaterlandslose Freisinn kann über die deutschen Hakatisten
im preußischen Osten spotten und eifern.
Die allgemeine nationale Gefahr für das Deutschtum rückt auch die
magyarische Vergewaltigung unsrer Volksgenossen in den Kreis einer über¬
legnen und weitansschauenden Reichspolitik. Denn eine slawisch-magyarische
Herrschaft in der verbündeten österreichisch-ungarischen Monarchie muß zu einer
Zerstörung des bisherigen Bündnisses führen, das nicht bloß aus politischen,
sondern auch aus nationalen Erwägungen entsprungen ist. Durch das Bündnis
hat Bismcirck seiner Zeit dem gesamten Mittel- und kleinstaatlichcn Partikula¬
rismus ein wesentliches Kampfmittel genommen; auch die nationalgesinnten
Großdeutschen wurden dadurch gewonnen. Nachdem der Kaiser kürzlich das
Wort vom „größern Deutschland" gesprochen hat, dürfen zehn Millionen
Deutsche unter dem Schutze dieses Bündnisses nicht ihren nationalen Feinden
ausgeliefert werden, die offen gegen den Dreibund Hetzen. Die gegenteilige
Beteuerung der Magyaren ist bei ihren französischen Sympathien nicht ernst
zu nehmen. Freilich lassen sie sich in altgewohnter Weise den Schutz des
deutschen Schwertes gegen Nußland und den Panslawismus gefallen, aber nur
um ungestört das Land der Stephanskrone magyarisiren zu können. Nur die
Russcnfurcht, nicht die Deutschenliebe hält sie auf der Seite des Dreibundes.
Im Kriegsfall müßte also Ungarn schon gegen Rußland Partei ergreifen. Ein
Ungarn aber, das den Rest von zwei Millionen Deutschen als Preis des
Bündnisses fordert, ist für das Deutsche Reich nicht vertragswürdig.
Eine ängstliche Diplomatie mag vor dem Gedanken einer Einmischung in
die innern österreichischen Verhältnisse zurückschrecken. Unser Bündnis zwingt
uns aber ebenso, Österreich-Ungarn nicht mit dem kühlen Blick internationaler
Höflichkeit, sondern mit dem wachsamen Auge des Freundes anzusehen. Nur
das Deutschtum hält das vielsprachige Völkergemeugsel des Douciureichs zu¬
sammen- Bisher schrieb der ungarische Minister g, laters deutsch an die
Reichs- und österreichischen Ressorts. Wir glauben schon vor längerer Zeit
ein solches Schreiben in ungarischer Sprache gesehen zu haben. Also selbst
in der Zentralverwaltung macht sich der ungarische Chauvinismus breit. Ein
slawisch-magyarisches Österreich bedeutet den Zerfall, ein deutsches stellt den
geschichtlich überlieferten Beruf der deutschen Ostmark dar, von der Ungarn
nur ein vorgeschobner Posten ist. Die polnische Regierung Österreichs dürfte
auch den Ungarn beweisen, daß der Sieg der augenblicklichen slawophilen
Mehrheit zugleich den Untergang des Magyarentums herbeiführen muß. Der
Abfall der Slowaken und Walachen wäre die notwendige Folge, und damit
wäre die Auflösung des ungarischen Staats besiegelt.
Die Beurteilung der deutschen Kaiserrede in ihrer sicher nicht beabsichtigten
Wirkung auf den magyarischen Chauvinismus dürfte die ungarischen Staats¬
männer nicht im Unklaren lassen, wie bei uns die deutsche Stimmung gegen
Ungarn ist. Übrigens war der Trinkspruch lediglich eine Höflichkeit gegen den
kaiserlichen Gastgeber in der ungarischen Königsburg. Deutschland und das
Deutschtum im Auslande wird daran erinnert werden, daß sich die nationale
Reichspolitik auf die Dauer nicht dem bundesfeindlichen Treiben in Ungarn
anschließen kauu. Natürlich' bedarf eine entsprechende Äußerung des deutschen
Bundesgenossen einer besonders behutsamen Form bei den ungemein ver¬
wickelten Verhältnissen des Donaustaats, wo überall auf die Zersetzung des
gesamtstaatlichen Organismus hingearbeitet wird. Aber die Sprache wird doch
nicht weniger deutlich sein müssen. Die galizischen Polen haben in ganz
andrer Weise die preußische Polenpolitik kritisirt und sogar durchkreuzt, der
dortige Polenstaat ist eben die Hoffnung aller Polen.
Unser Bündnis mit Österreich-Ungarn ruht auf der Voraussetzung, daß
das ungestörte Dasein von zehn Millionen Deutschen in Österreich-Ungarn
eine dauernd deutschfreundliche Politik gewährleistet. Eine Fortsetzung der
gegenwärtigen slawisch-magyarischen Staatskunst erschüttert also die Grund¬
lagen dieser innigen Verbindung und führt mit Gewißheit zu einer Trennung.
Ein amtlicher Druck in freundschaftlicher Form, an dessen Aufrichtigkeit nie¬
mand zweifeln kann, scheint also am Platze zu sein, soll sich unser Volkstum
nicht als aufgegeben im Reiche betrachten, und zwar in einem Augenblicke, wo
das „größere Deutschland" ein Rüstzeug der Reichspolitik geworden ist. Auch
die Handelsverträge geben einen willkommnen Anlaß, da der Löwenanteil dabei
auf Ungarn gefallen ist.
Das wirtschaftliche Verhältnis ist gegenwärtig von entscheidenden Werte
bei der Beurteilung allgemein politischer Fragen. Ungarn ist ein wichtiges
Ausfuhrgebiet für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zugleich durch die öster¬
reichische Reichshälfte und durch eigne Staatsunterstützung unserm Ausfuhr¬
handel an gewerblichen Erzeugnissen thatsächlich verschlossen, zumal da auch
der Zolltarif des Handelvertrags einen Wettbewerb mit dem dortigen heimischen
Markt verbietet. Wir gewähren also zum Schaden für unsre notleidende
Landwirtschaft den ungarischen Naturerzeugnissen Aufnahme ohne Gegen¬
leistungen auf industriellem Gebiet. Ein mitteleuropäisches Zollbündnis würde
daher auch nur Ungarn nützen, da dadurch seine Landwirtschaft ungehindert
den deutschen Markt drücken würde. Die deutsche Landwirtschaft ist sich dieses
Jntereffengegenscitzes noch nicht klar geworden, zumal da deutsche Landwirte selbst
in Ungarn thätig sind und die besondre ungarische Konkurrenz noch nicht er¬
kannt worden ist. Hierzu kommt noch, daß Ungarn landwirtschaftlich noch
nicht ganz erschlossen und einer Steigerung seiner Erzeugnisse wohl fähig ist.
Die liebenswürdigen Redensarten der ungarischen Staatsmänner und Land¬
wirte haben die deutschen Landwirte über den wahren Sachverhalt getäuscht.
Diese Zustände zu Ungunsten des deutscheu Volkstums inner- und außerhalb
des neuen Reiches bestehen zu lassen, würde für uns eine Selbstverleugnung
sein, die aller nationalen Würde Hohn spräche. Ungarn hat schon mehr als
ein Jahrtausend unter deutschem Einfluß gestanden. Schon vor der Ein¬
wanderung der gotischen Stämme saßen germanische Völker in Pannonien.
Die Vandalen in Schlesien und die Markomannen in Böhmen reichten bis an
die Gebirgsründer der Donauebne, die auch später zuerst von deutschen Siedlern
in Besitz genommen wurde. Ohne diese ältern Rechte germanischen Volkstums
und ohne die ununterbrochnem Handelsbeziehungen mit Deutschland hätten die
magyarischen Könige nicht die Hilfe der Deutschen begehrt. Durch die deutschen
Einwanderungen kam nur neues, frisches Volkstum zu ältern, vielfach zertrctnen
germanischen Bestandteilen. (In der Krim leben noch bis zum heutigen Tage
fast reine Goten, die noch vor hundert Jahren ihre germanische Mundart
sprachen.)
Die fortschreitende Magyarisirung Ungarns, wo der herrschende Volks¬
stamm trotz aller Gewaltmaßregeln in der Minderzahl ist, muß im Zusammen¬
hang mit den übrigen dauernden Abbröckelungen des deutschen Volksbodens
beurteilt werden. Was in Österreich unsre gerechte Entrüstung hervorruft,
das darf auch in Ungarn nicht unsre Billigung oder Duldung finden. Der
Grundsatz der Unparteilichkeit ist hier nur eine bequeme Decke für schwächliche
Ruheseligkeit. Eine Diplomatie, die, aus Furcht anzustoßen, nur im alten
Gleis fahren kann, wird freilich mit verschränkten Armen zusehen, wie man
die eignen Volksgenossen national erwürgt, und wie man die Zahl unsrer
Feinde für den Entscheidungskampf zwischen Germanentum, Nomanentum und
Slawentum stärkt. Ungarn mit seinem magyarischen Chauvinismus ist keines¬
wegs ein Felsen im brandenden slawischen Meer. Aus einem getreuen An¬
hänger des Deutschtums, wozu ihn die Geschichte seit Jahrhunderten gezwungen
hat, ist der Magyar zum wildesten Verfolger des Deutschen geworden, obwohl
dieser allein ihn vor dem übermütigen, gefährlichen Slawen retten kann.
Aufrichtige Freunde hat das Deutschtum überhaupt nicht unter den Ma¬
gyaren, trotz aller schönen Reden. Undankbarkeit ist das hervorstechendste
politische Zeichen der Ungarn und ihrer rationalisirten Regierung. Der
Schwob und der Sachse müssen sich unter der Stephanskrone selbst helfen,
und die Volksgenossen diesseits der Leitha wie des Böhmerwaldes dürfen nicht
müßig zuschauen, sondern wenigstens mit geistigen Waffen den bedrängten
Brüdern beistehen. Auf die Dauer ivird deshalb auch die offizielle deutsche
Welt bei diesem Völkerringen Farbe bekennen müssen, will sie nicht ein neues
und schlimmeres Olmütz erleben.
Die Sachlage hat sich gegenwärtig leider noch verschlimmert; es ist nicht
zu leugnen, daß die deutsche Kaiserrede in Pest zu der erneuten Vergewalti¬
gung des Deutschtums Gelegenheit gegeben hat. Freilich ist die Art und
Weise, wie der zuständige Preßbeamte des ungarischen Ministerpräsidiums
diesen folgenschweren Höflichkeitsaustausch zu magyarischen Zwecken mißbraucht,
in den amtlichen Gepflogenheiten eines Staates unerhört und nnr aus den
halbasiatischen Verhältnissen dort zu erklären, die Europas Höflichkeit bloß
dürftig übertüncht hat. Der Preßreferent, Ministerialrat und Sektionschef
G. Belsies, also selbst ein Slowake, schreibt offiziös wörtlich: „Der germa¬
nische Kaiser hat ostwärts der Leitha alles Deutschtum aufgegeben. Keine
unsrer Nationalitäten kann noch auf eine Stütze im Auslande rechnen. Keine
Wirkung von außen her wird also noch die Einheit der ungarischen Nation
hindern. Heute können wir alles thun." Dies ist eine amtliche Schamlosig¬
keit schlimmster Art, der Gedanke liegt nahe, ob nicht von Amts wegen dieser
Auslegung der Kaiserrede entgegenzutreten ist. Der Kaiser des „größern
Deutschlands." wie sich Kaiser Wilhelm II. ausdrücklich genannt hat, kann
niemals, auch nur unbewußt ein Minderer des Deutschtums sein. Am stärksten
muß aber diese ungarische Auslassung in Wien verstimmen, da der Preßbeamte
des ungarischen Ministerpräsidenten den österreichischen Kaiser als nichtdeutschen
Herrscher ansteht und daher überhaupt unbeachtet läßt. Man möge in Wien
daraus den sichern Schluß ziehen, daß die Krone im eignen Interesse ihr an¬
gestammtes deutsches Volkstum nicht nur in Österreich, sondern auch in Ungarn
schützen muß, will sie nicht tschechische Zustände erleben, die unmittelbar die
Einheit des Reichs bedrohen.
Daß min in Ungarn nicht nur die altehrwürdigen deutscheu Gemeindennmen
amtlich magyarisirt werden, sondern auch die Magyarisirung der Familiennamen
stempelfrei erfolgen soll, kann kaum noch befremden. Den Gipfel des Deutschen-
Hasses bedeutet es aber, daß Staatsmittel, also deutsches Geld, bereitgestellt
werden, um auch im gesellschaftlichen Verkehr die magyarischen Ortsbezeich-
nungen zur Geltung zu bringen und dem Mcigyarentnm Vorschub zu leisten.
Solches Beginnen ist nicht nur deutschfeindlich, sondern geradezu kulturfeindlich.
Das Volk der Pferdehirten und -tiede merzt gegen das verfassungsmüßige
Recht nicht nur die nationale Eigentümlichkeit der gleichberechtigten Staats¬
bürger aus, sondern will auch mit blinder Wut die Erinnerung an ihr ge¬
schichtliches Wirken vernichten. Die selbständigem Kroaten haben der führenden
Nation daher schon die Fehde auf Leben und Tod angesagt, wie die Vorgänge
im Landtage und die Blutthaten der Bauern deutlich beweisen. Die Rumänen
haben die prahlerische und lügnerische Jahrtausendfeier abgelehnt und den
Besuch ihres Königspaares in Pest gemißbilligt. Dagegen haben sich unter
den ungarländischen Deutschen mir die Sachsen in Siebenbürgen gerührt.
Die deutsche Stadtbevölkerung von Pest hat bisher eine unverzeihliche Gleich-
giltigkeit zur Schau getragen, wo es gilt, das angestammte Volkstum gegen
rohe Vergewaltigung wider Recht und Gesetz zu verteidigen. Aber endlich
muß die Langmut des deutschen Michels aufhören, und wir wollen hoffen,
daß das deutsche Beispiel in Österreich jetzt auch in Ungarn ansteckend und
vorbildlich wirkt. Ein Gesamtvorgehen aller Deutschen der österreichisch-unga¬
rischen Monarchie würde unwiderstehlich sein, da die deutsche Krone jetzt ein¬
gesehen hat, daß sie ohne die Deutschen nicht regieren kann, es sei denn, daß
der Staat sich in die unzähligen Volkssplitter auflöst, die sich der geschicht¬
lichen deutschen Vorherrschaft entziehen wollen.
Magyare wie Slawe sind unsre Feinde auch im Reiche. Der künstliche
Unterschied zwischen österreichischen und Reichsdeutschen ist eine diplomatische
Spiegelfechterei, die das mächtige Deutsche Reich nicht gelten lassen sollte, falls
es sich wirklich seiner Kraft bewußt ist und Thaten nicht schent. Bisher haben
wir amtlich nur hochtrabende Worte gehört, denen der erforderliche Nachdruck
fehlte. Es klingt daher wie Hohn, wenn wir mit Bismarck rufen würden:
„Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt." Nicht einmal
sechs Millionen Ungarn fürchten sich vor uns, sie weisen sogar spöttisch darauf
hin, daß wir in ihrem Lande mehr als zwei Millionen Volksgenossen aufge¬
geben haben. Solche Schmach sollte das Deutschtum schweigend erdulden,
solche Schädigung sollte eine selbstbewußte Regierung öffentlich anerkennen?
Wir denken höher von dem Beruf des deutschen Kaisertums, dessen erlauchter
Träger soeben wieder das Gelöbnis abgelegt hat, die deutsche Ehre allerwärts
zu wahren.
Ungarn hat soeben wieder einen wichtigen Sieg über die andern Volks-
stümme und den eignen Landesherrn errungen, einen Sieg, dessen Bedeutung
nicht zu unterschätzen ist. Der ungarische König hat amtlich die Auflehnung
der Magyaren gegen die angestammte Habsburgische Regierung und die An-
fange des revolutionären Nationalstaats durch eine besondre Jubiläumsbotschast
anerkannt. Der Völkerfrühling des Jahres 1848, den in Österreich der Kaiser
mit Recht nicht feiert, obgleich das Metternichsche System zum Heil des
Gesamtstaats zusammenbrach, war in Ungarn nicht ein Kampf der Aufklärung
und das Erwachen idealer Volkskräfte, sondern lediglich ein aufrührerischer
Versuch landesverräterischer Magyaren. Die Willkürherrschaft der Magnaten
wurde zwar beschränkt, aber noch ist Ungarn das feudalste Land Europas, und
die liberale Verfassung dient bloß einer Oligarchie verschuldeter Aristokraten,
jüdischer Geldleute und käuflicher Journalisten. Die Agrarunruhen und die
lügnerischen Preßberichte aus Budapest sind der untrügliche Beweis für diese
jammervollen Zustände. Nur deutsche Harmlosigkeit kann daher in redlicher
liberaler Gesinnung den kaiserlichen Erlaß feiern, worin die freiheitliche Ent¬
wicklung Ungarns seit dem Nevolutionsjahr bloß als eine Verbrämung sür den
magyarischen Chauvinismus aufgeputzt wird. Vanffys Uuterdrückungsregiment
bildet doch einen allzu starken Widerspruch gegen den Inhalt der Botschaft.
Freilich der deutsche liberale Zeitungsinichel ist auf diesen Leim gegangen, da
er wohl die tönenden Worte gehört, nicht aber deren geschickt versteckten Sinn
verstanden hat.
Die magyarische Negierung nutzt die Schwäche der national zerrissenen
Schwesterhülfte des Habsburgischen Reichs mit anerkennenswerten Geschick sür
ihre Zwecke aus, und das deutsche Volkstum muß auch jenseits der Leitha die
Zeche bezahlen. Kroaten und Walachen wehren sich tapfer und mit Erfolg ihrer
Haut. Der friedfertige, gebildete Deutsche wagt es kaum, sich zu verteidigen.
Der Liberalismus schwärmt auch im Deutschen Reiche für Ungarn, ohne
zu ahnen, daß dessen Verfassung die reaktionärste aller europäischen Staaten
außer Rußland und der Türkei ist. Denn das Abgeordnetenhaus ist dort keine
Volksvertretung, sondern nur eine Wahlmaschine der Regierung. Das arg
beschränkte Wahlrecht liegt ganz in der Hand der Regierung nach dem Muster
der andern halbasiatischen Staaten Osteuropas, und ein klarer Volkswille aller
Stämme kann hierdurch nie zum Ausdruck kommen. Leisten im Abgeordneten¬
hause deutsche Liberale der Parteiregierung Schergendienste, so handeln im
Magnatenhause deutsche Konservative als Schleppenträger ihrer magyarischen
Standesgenossen und jüdischer Großgrundbesitzer nicht anders, obgleich das
numerische Verhältnis trotz der deutsch-kroatisch-walachischeu Mehrheit das
denkbar ungünstigste für diese Volksstümme ist. Der ritterliche magyarische
Liberalismus hat das Kunststück fertig gebracht, unter der heuchlerischen Phrase
der Gleichheit dem eignen Volkstum trotz der absoluten Minderzahl ein unan¬
greifbares Übergewicht zu sichern. An der Maguatentafel sitzen fast nur Voll¬
blutmagyaren und Juden.
Mit Österreich-Ungarn verbinden uns wichtige Lebensinteressen, einerseits
das gemeinsame Volkstum des bisher führenden Kultnrstmnms, andrerseits das
völkerrechtliche Bündnis als Fortsetzung des alten staatsrechtlichen innigern
Bandes im alten Reiche und im deutschen Bunde. Das neue Reich ist bloß
ein Kleindeutschland, durch dessen Gründung wir die übrigen deutschen Außen¬
länder ober- wie niederdeutscher Art nicht aufgeben wollten. Rhein und
Scheide wie die Donau sind deutsche Ströme. Es kann uns nicht gleichgiltig
sein, ob unser Volkstum in der germanischen Douauebne unter dem Schutze
deutscher Waffen langsam vernichtet wird. Die ungarische Reichshälfte verdankt
ihr Dasein trotz aller Absonderungsgelüste lediglich dem Verbände mit Öster¬
reich, ohne das sie von der slawischen Welle verschlungen werden würde. Die
Waffenmacht der vereinigten beiden Kaiserreiche ermöglicht allein Ungarn ein
eignes staatliches Lebe». Vor der Hvnvedarmee fürchtet sich niemand. Die
Zeiten siud vorbei, wo Panduren und Kroaten der Schrecken Europas waren.
Aber schon hat man in Ungarn Bresche in die deutsche Befehlssprache gelegt,
und die magyarische Minderheit will mich im Heere die andern Stämme ver¬
gewaltigen und besonders das überlieferte deutsche Gepräge der österreichischen
Armee beseitigen.
Wir müssen im Reiche offen Farbe für unsre ungarländische» deutschen
Brüder bekennen und als Voraussetzung des Bündnisses die Aufrechterhaltung
des deutscheu Charakters der Habsburgischen Monarchie fordern, da sonst der
Anschluß an das mächtigere Deutsche Reich für uns wertlos ist. Im Kriegsfall
können wir auf ein tschechisch-magyarisches Heer mit ausgesprochnen französisch-
russischen Neigungen nicht rechnen; daher dürfen wir die befreundete Donau¬
regierung nicht im Zweifel lassen, daß nur ein auf das Deutschtum gestütztes
Staatswesen in den Leithaländcrn uns die Gewähr einer wirklichen Unter¬
stützung im Kriegsfall bietet. Wer nicht für uns ist, ist wider uns. Dieser
Spruch muß auch Ungarn gegenüber unsre Politik bestimmen. Hohle Be¬
geisterung fürs Reich und dessen erlauchten Vertreter und eine fortgesetzte
Unterdrückung unsers Volkstums sind unlösbare Widersprüche, deren klare
Lösung wir heischen müssen, ehe es für uns und unser Volk zu spät ist.
as allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht, das in politischen
Dingen den dümmsten Pfahlbürger so viel in die Wagschale
werfen läßt, wie den Fürsten Bismarck, gilt wohl keinem Ein¬
sichtigen für etwas andres als für den Ausdruck der Unmöglichkeit,
das schwierige und heikle Geschäft der Stimmenwertung praktisch
durchzuführen, zumal in der übersichtlichen, schematichen Form, in der sich
Wahlgeschäfte ihrer Natur nach nun einmal vollziehen müssen.
Ein vollkommnes Wahlrecht müßte dem einzelnen Staatsbürger soviel
Anteil an der Volksboden einräumen, wie er nach der Summe seiner Eigen¬
schaften verdient. Begabung, Bildung, Herkunft, Familienstand, Beruf, Besitz,
Einkommen, politische Einsicht — alle diese Eigenschaften und noch eine Reihe
andrer müßten nach ihrer politischen Bedeutung geschätzt werden, und das Maß
des Wahlrechts, das dem Bürger zusteht, hätte sich dann nach der Anzahl
der Werteinheiten zu richten, die er in seiner Person vereinigt. Eine derartige
Schätzung ist freilich undurchführbar. Man kann höchstens die eine oder die
andre der meßbaren unter den in Betracht kommenden Eigenschaften als
Grundlage der Wahlrechtsstaffelung verwenden. Das ständische Wahlrecht,
sür das unsre Konservativen schwärmen, wäre im wesentlichen eine Gliederung
nach Herkunft und Beruf; das Steuerklassensystem stuft nach der Steuerleistung
ab, das heißt also nach Besitz und Einkommen; allenfalls könnte man sich
noch ein Wahlsystem nach Bildungsklnssen vorstellen, das dem Hochschulprofessor
das größte, dem Bauernknecht, der nur notdürftig lesen und schreiben kann,
das geringste Wahlrecht einräumte. Jedes dieser Systeme hat seine Vorzüge,
jedes seine Mängel. Und ihr gemeinsamer Mangel ist, daß sie gegen den dema¬
gogischen Vorwurf der Klasseuwirtschaft schwer verteidigt werden können.
Beruf, Besitz, Bildung tragen zum Werte des Mannes bei, aber sie bestimmen
ihn nicht allein. Eine Ordnung, die nach einem von den dreien die Rechte
abstuft, die sie zu verleihen hat, führt zu dem Mißstände, daß sehr häufig der
würdigere Mensch an Rechten hinter einem schlechtern zurücksteht und ihn in
seinem ganzen Leben nicht einholen kann. Das ist aber ungefähr das, was
unsre Demagogen als charakteristisches Merkmal der Klassenherrschaft bezeichnen.
Gegenüber diesen Schwierigkeiten war es der Weisheit letzter Schluß, auf jede
Staffelung zu verzichten und die Stimmen zu zählen, statt sie zu werten, mit
einem Worte: das gleiche, allgemeine Wahlrecht.
Daß dieses erst recht seine Mängel hat, ist oft erörtert worden. Nur
hat man dabei einen seiner Nachteile auffallend wenig beachtet, der vielleicht
sein Hauptnachteil ist: das gleiche Stimmrecht räumt den jüngsten Wählern
das wuchtigste Votum ein. Wenn es eine Altersstatistik der deutschen Rcichs-
tagswähler gäbe, brauchte man die nur aufzuschlagen, um diese Behauptung
bestätigt zu finden. Ich verwende zu ihrer Begründung eine sogenannte
Sterblichkeitstafel, und zwar die der „dreiundzwanzig deutschen Gesellschaften."
Sie beginnt mit hunderttausend zwanzigjährigen Männern und giebt an, wie
viele von ihnen mit einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig u. s. f. Jahren
noch am Leben sind.
Wenn man der Übersichtlichkeit halber diese „Zahlen der Lebenden" nach
fünfjährigen Gruppen zusammenfaßt, so erhält man die folgende Besetzung der
Altersklassen:
Von vornherein sei hier erwähnt, daß die Altersstatistik der Reichstagswähler
ein noch stärkeres Überwiegen der Jungen ergeben würde. Denn ich mußte,
um die „Zahlen der Lebenden," die die Sterblichkeitsliste nach einander angiebt,
als die Zahlen der in den verschiednen Altersstufen gleichzeitig Vorhandnen
verwenden zu können, annehmen, daß jedes Jahr dieselbe Kopfzahl in das
Anfangsaltcr eintritt. Diese Zahl steigt aber in Wirklichkeit von Jahr zu
Jahr, weil die Geburten steigen. Ferner ist die Sterblichkeitstafel aus den
Beobachtungen abgeleitet, die man an Männern gemacht hat, die auf den
Todesfall versichert waren. Solche Versicherten aber werden nur nach einer sorg¬
fältigen Auslese aufgenommen; sie sterben also langsamer weg als die Reichs¬
tagswühler, unter denen sich viele Kranke und mit Krankheitsanlagen Belastete
finden. Da es sich hier aber nur um die Angabe eines Gedankenganges,
nicht um die Gewinnung praktisch anzuwendender Zahlen handelt, haben diese
Umstände nicht allzu viel zu bedeuten. Wir können unsre gewissermaßen
aprioristischen Zahlen ruhig als Grundlage unsrer Vorschläge verwenden.
Der erste Blick auf die Zahlenreihe zeigt, daß die niedrigste Altersklasse
nach dem gleichen Wahlrecht das stärkste Votum abgiebt. Gegenüber den
würdigen Herren von 50 bis 54 Jahren ist sie schon um volle 123952
Stimmen, also fast um 35 vom Hundert im Vorteil. In politischer Be¬
ziehung stehen also die Väter unter der Herrschaft ihrer Söhne. Wie recht-
mäßig diese Herrschaft ist, geht aus der nachstehenden Reihe von Gegensätzen
hervor: Der gebildete Fünfundzwanzigjährige hat den Kopf voll unverarbeiteten,
noch rein theoretischen Wissens; der Fünfzigjährige hat vieles von dem in der
Jugend Gelernten vergessen, das noch Vorhandne aber hat sich mit den Er¬
fahrungen eines Menschenalters zu einem lebendigen Ganzen, zu einer Welt¬
anschauung verbunden. Der ungebildete Fünfundzwanzigjährige ist nicht einmal
Theoretiker, er ist gar nichts. Beim Fünfzigjähriger hat die Erfahrung
den Vildungsmangel teilweise ausgeglichen. Der begüterte Fünfundzwanzig¬
jährige ist bloßer Erbe, der Nutznießer zufälliger Vorteile. Sein Vermögen
beherrscht zumeist ihn. Der schon von Hause aus wohlhabend gewesene
Fünfzigjährige hat von seinem Gute Besitz ergriffen, indem er es be¬
arbeitete. Er beherrscht sein Vermögen. Der besitzlose Fünfundzwanzigjährige
ist der richtige Proletarier. Der Fünfzigjährige, der mit nichts angefangen
hat, ist häufig 86ik manis man geworden, zum mindesten hat er sich eine
Stellung errungen, die ihm annähernd feste Lebensbedingungen gewährt. Der
Fünfundzwanzigjährige steht mitten im Liebesleben, das seine über die Erwerbs¬
thätigkeit überschüssigen Kräfte bindet; mit fünfzig Jahren ist der Geschlechts¬
trieb im Sinken, das politische Interesse aber mächtig entwickelt. Für das
Zustandekommen der folgenden Generation ist gesorgt, der Gattungssinn richtet
sich also auf die Ordnung ihrer Lebensbedingungen, der künftigen Verhältnisse
im Staate. In der Mundart Zarathustras ausgedrückt: Der Junge sagt:
^xrvs rwus le ävlnM! Der Alte spricht: Nach uns unsre Kinder! Endlich
sei auch die rechtliche Seite der Frage erwähnt. Der Fünfundzwanzigjährige
hat dem Staate noch nichts geleistet als die militärische Dienstzeit, steht aber
für die genossene Erziehung noch in der Schuld des Gemeinwesens. Der
Fünfzigjährige hat außer der Blutsteuer noch eine Menge andrer Steuern
entrichtet und die Erziehungsschuld vielfach zurückgezahlt, indem er seinerseits
dem Staate neue Bürger großziehen half.
Außer diesen Gegensätzen ist noch zu erwägen, daß in der jüngsten Alters¬
klasse auch eine große Zahl von Personen anstimme, die zum Irrsinn oder
zum Verbrechen neigen. Ihr Mitstimmen verschlechtert das Ergebnis. In
der Altersklasse der Fünfzigjähriger ist dieses schädliche Element zum größten
Teile ausgeschieden. Es sitzt in den Irrenhäusern und Strafanstalten, deren
Bewohner selbst in den am meisten demokratischen Staaten zur res pudUo-i
nichts zu sagen haben.
Diese Überlegungen zeigen uns also, daß der fünfzigjährige Staatsbürger
an politischem Werte jedenfalls höher steht und zugleich mehr Rechte an den
Staat hat als der fünfundzwanzigjährige. Wir haben also die Gegensätze:
1. Der politische Wert des Einzelbürgers steigt, die Zahl der in ihm vor-
handnen Werteinheiten wächst mit zunehmendem Alter, mochte diese Zahl an¬
fänglich hoch oder niedrig sein. 2. Die Kopfzahl, damit also auch die Stimmen-
zahl der Gleichaltrigen, fällt von Jahr zu Jahr. Dus Votum des Jahrgangs
fällt immer weniger in die Wagschale.
Wer mir bis hierher zustimmend gefolgt ist, kann nun kaum anders, als
meine Forderung einer Wahlrechtsstaffelung nach dem Alter zu unterschreiben.
Die Höhe der Stufen ist natürlich Sache der Übereinkunft, die nur zum Teile
wissenschaftlich begründet werden kann, denn es ist unmöglich, mathematisch
festzulegen, um wie viele Prozente der Deutsche im Jahre politisch klüger wird.
Man könnte so rechnen: Nach unserm Altersklassentäfelchen stehen die Stimmen¬
zahlen der höhern Altersklassen gegen die jüngste um die folgenden Prozent¬
sätze zurück:
Um die Voden der Altersklassen zunächst gleich schwer zu machen, müßte
man also die Stimmenzahlen der höhern Altersklassen um die entsprechenden
Sätze erhöhen. Nimmt man dann an, daß der politische Wert der Klassen
in demselben Maße steigt, wie die Kopfzahl sinkt, so müßte man, um zu
einem gerechten Resultat zu kommen, die gleiche prozentuale Erhöhung noch¬
mals vornehmen oder, was dasselbe ist, die Zahl der wirklich abgegebnen
Stimmen um folgende Sätze erhöhen:
was nach Zehnern abgerundet die Sätze ergiebt:
Hier brechen wir mit der Weiterentwicklung der Reihe ab, weil ein neuer
Umstand in Frage kommt, das Sinken der geistigen Frische, der Rückgang
der Urteilsfähigkeit, mit einem Worte, das beginnende Greisentum. Der Ein¬
fachheit wegen wollen wir annehmen, da wir uns auch hier mit einer Annahme
helfen müssen, der politische Wert bleibe im Durchschnitt zehn Jahre auf dem
Höhepunkte seiner Entwicklung und nehme dann in derselben Weise ab, wie er
sich gebildet hat. Wir haben also für die folgenden fünf Altersklassen die Skala
in umgekehrter Reihenfolge anzusetzen:
Verdeutlichen wir uns nun die Anwendung dieses Verfahrens an einem
idealen Wahlgänge, worin fünfzigtausend Stimmen derart abgegeben werden,
daß jede unsrer zehn Altersklassen fünftausend Wähler zur Urne oder vielmehr
zu den Urnen geschickt hätte. Wir brauchen nämlich fünf Stimmzettelbehälter,
immer je einen für zwei gleichwertige Altersklassen. Also einen für die jüngste
und die älteste, einen für die zweitjüngste und die Zweitälteste u. s. f. Die
Wähler treten nach einander vor den Leiter der Wahl, dieser bestimmt nach
dem in der Wahllegitimation angesetzten Geburtsdatum die Altersklasse und
legt den Stimmzettel in die entsprechende Urne. Nach Vollendung der Stimmen¬
abgabe enthält jede der fünf Urnen zehntausend Stimmzettel, die in der fol¬
genden Weise angerechnet werden:
Die Gesamtzahl der abgegebnen Wcrtstimmen beträgt 61000, die Mehrheit
also 30501. Diese Mehrheit ist beispielsweise schon erreicht, wenn ein Wahl¬
kandidat die 20000 Stimmzettel der Urnen V und IV und außerdem 2100
ans der Urne III ans sich vereinigt. Er hätte dann mit 22100 Zählstimmen
30520 Wertstimmen. Wenn die Wahl eine Stichwahl ist, so Ware der Gegner
mit 27900 Zählstimmen, die aber nur 29 980 Wertstimmen ergeben, in der
Minderheit geblieben. Der Kandidat der Vollreifen Männer zwischen vierzig
und sechzig Jahren hätte also über den Kandidaten der jungen Leute gesiegt,
obwohl seine Anhänger um 5800 Köpfe weniger zählen als die Gegenpartei.
Mein Stimmrecht schätzt eben das Votum der Väter höher ein als das der
Söhne.
Thut dieses Stimmrecht damit etwas der Allgemeinheit Ersprießliches?
Ehe ich diese Frage beantworte, muß ich den Vorwurf der Wahlrechts-
verschlechternng abthun, der mir von gewisser Seite gewiß gemacht werden wird.
Dieser Einwand ist völlig unbegründet. Mein Stimmrecht ist genau so demo¬
kratisch wie das allgemeine, gleiche, direkte, es ist ja selbst ein allgemeines,
gleiches und direktes. Nur sührt es die patriarchalische Auffassung, die Achtung
vor der Erfahrung und den Verdiensten, die das höhere Alter auszeichnen,
wieder ein. Diese Achtung war in den sehr demokratisch gesinnten Völkern
des Altertums stark entwickelt, während wir heute es allzusehr daran fehlen
lassen. Überdies will die Abstufung des Wahlrechts nach Altersklassen nicht
bloß eine Verbesserung des gleichen Stimmrechts sein; auch in den einzelnen
Wahlkörpcrn, die das Steuerklaffensystem unterscheidet, würde die Abstufung
des Stimmwerts nach Altersklassen für das gemeine Wohl förderlich sein.
Dieser Vorteil würde zunächst in einer wesentlichen Verringerung der Ver-
sammlungsflucht und der Wahlflucht bestehen. Die säumigen Wähler sind
zumeist unter den ältern Herren zu suchen. Sie haben zwar mehr wirklich
politischen Sinn als die jungen Leute, aber sie erschöpfen ihn in den Kanne¬
gießereien der Bierbank, auf der sie sich zu ihresgleichen setzen. In der Ver¬
sammlung suhlen sie sich unbehaglich. Der Vater gilt dort nicht mehr als
der Sohn oder als der Bursch, der mit seiner Tochter „geht," der Meister
nicht mehr als der Geselle, der Vorgesetzte nicht mehr als der Untergebne. Das
paßt den Leutchen nicht, zumal da sie ganz wohl fühlen, daß ihnen durch
diese Gleichheit Unrecht geschieht. Hätten sie ein gewichtigeres Wort mit¬
zureden als die Grünschnabel, so würden sie zu Haus kommen. Jeder sühlt sich
gern und geht deshalb gern dahin, wo sein Verdienst gewürdigt wird. Zudem
würden diese ältern Männer dann von den Agitatoren viel mehr bearbeitet
als jetzt. Namentlich die extremen Parteien, d. h. ihre Führer und Wühler,
lassen jetzt die ältern Leute gern links liegen und halten sich lieber an die
jungen, die mit tönenden Worten leichter zu ködern sind, und deren Stimmen
ebensoviel wiegen wie die der kritischen, schwer heranzuholenden Alten. Wenn
das anders würde, müßten die Herrschaften andern Köder an ihre Angeln
stecken als jetzt. Mit Schlagworten fängt man die Erfahrnen nicht; wenn die
einen mächtig dreschen sehen, gucken sie erst zu, ob auch Körner auf die Tenne
springen. Für die Gütergemeinschaft sind die Bejahrten, die zäh an ihrem
Besitze hangen, mag er noch so klein sein, schwer zu erwärmen. Wenn sie, von
der Freiheit reden hören, machen sie den Vorbehalt, daß diese Freiheit nicht
auch die schädlichen Kräfte entfesseln dürfe — kurz, die Freisinnigen und die
Zukunftsstätler würden schlechte Geschäfte machen.
Aber auch der doktrinäre Kvnservativismns würde seinen Weizen nicht
recht zur Blüte komme» sehen. Denn so unwahrscheinlich es klingt, mich auf
dieser Seite sind die extremen Prinzipienreiter zum größten Teil die jüngern
Leute. Sie kochen entweder zu heiß, weil sie rasch vorwärtskommen wollen,
oder weil der ungestüme Idealismus des jugendlichen Theoretikers in ihnen
lodert. Unter besonnenen, kühlen, erfahrnen Leuten aber haben Liberale und
Konservative sehr viele Berührungspunkte. Wenn ihre Meinung bei den Wahlen
entsprechend wirkte, würde sich die Politik der Mittellinie, die jetzt, weil die
Radikalen um ihrer Zahl willen überall die Vorhand haben, in allen Staaten
so mühsam gesucht wird, aus der Mitte der Volksvertretung ganz von selbst
ergeben.
Vielleicht versucht es ein Staat, aller dieser schönen Wirkungen teilhaft
zu werden, indem er sein Wahlsystem nach meinem Gedankengange formt.
Der nächste dazu wäre Osterreich, dessen staatliches Leben ja unter der Herr¬
schaft des famosen Notverordnuugsparagraphen zu einer Kette kleiner Staats-
streichsexplosioncn geworden ist. Zudem redet man in Wien gerade jetzt von
einer drohenden Wahlrechtsoktrohirung. Nach meinem System würde die Ne-
gierung ans allen Lagern viel weniger Exaltados erhalten, zumal von den
Tschechen. Den Haß gegen das Deutsche machen dort zu allermeist die eben
der Schule entronnenen Jünglinge. Die Ältern hat die Erfahrung den Wert
dieser Sprache schätzen gelehrt. Freilich ist der Befolgung meines Rates in
Österreich der Umstand im Wege, daß ich Österreicher bin. Der Prophet gilt
wenig in seinem Vaterlande, und am allerwenigsten, wenn er Österreicher ist.
Aber der Österreicher lebt ja im Auslande. Sollte das kein Milderungs-
grund sein?
ietzsche klagt oft darüber, daß der Fetischdienst der Worte Ver¬
wirrung anrichte im Reich der Begriffe. In der That trifft
das ganz besonders im Gebiete der Ethik zu, ja gerade die
Worte: Ethik, Moral, Sitte, Sittlichkeit sind es, die ein echtes
Verständnis dessen, was man mit ihnen meint, so schwer auf¬
kommen lassen. Ich habe schon früher einmal bemerkt, daß es eine Bezeich¬
nung für das, was der Philosoph mit jenen Worten eigentlich meint, über¬
haupt nicht gebe. Es ist ungefähr dasselbe, was die neutestamentlichen
Schriftsteller mit den Ausdrücken: Glaube, Hoffnung, Liebe, oder Heiligkeit und
Gerechtigkeit, oder Himmelreich meinen, aber keiner dieser Ausdrücke erschöpft
für sich allein die Sache, und alle zusammen genommen geben nicht ohne
weiteres einen klaren Begriff davon. Wenn man unter Sittlichkeit nichts
andres versteht als die Beobachtung der Sitte, so ist sie, wie ich oft gesagt
habe, von dem Benehmen des dressirten Hundes schlechterdings nicht ver¬
schieden. Soll sie etwas höheres und besseres sein, so muß das dem ästhetischen
Urteil verwandte sittliche Urteil dazu kommen, das dadurch entsteht, daß wir
die Idee des Guten haben, wie wir andrerseits auch die Idee des Schönen
haben, und daß uns die Dinge gefallen und mißfallen, je nachdem sie mit
jenen zwei Ideen übereinstimmen oder nicht. Wer einen Gott, in dem die
Ideen leben, nicht annimmt, der kann sich die Sittlichkeit natürlich nur auf
darwinischen Wegen entstanden denken, und auch Nietzsche erklärt sie so, ob¬
wohl er den Darwinismus das einemal entsetzlich nennt, was dieser als
Philosophie ja auch ist, und ein andermal (XI, 16) eine Philosophie für
Fleischerburschen. Aber diese durch Zwang und Züchtung gewordne Moralität
ist eben, wie gesagt, keine andre als die des Jagdhundes (ich meine nur die,
die er als Jagdhund bethätigt, denn die Liebe und Treue, die er als Hund
seinem Herrn erzeigt, ist schon etwas höheres). Prügel und Stachelhalsbänder
— jede solche Moralität beruht auf einem System von Prügeln und Stachel¬
halsbändern — können mich wohl dahin bringen, daß ich unter keinen Um¬
ständen einen gewissen Leckerbissen anrühre, aber möchte die Dressur auch
tausend Jahre lang fortgesetzt werden, so könnte sie doch niemals das Urteil
erzeugen: den einem andern gehörigen Leckerbissen aufessen ist häßlich, jedem
das Seine lassen, ihn im Besitz seines rechtmäßigen Eigentums schützen und
verteidigen ist schön, und vermöchte am allerwenigsten die unangenehme und
die angenehme Empfindung zu erzengen, die diese beiden Urteile begleitet;
keine Dressur der Welt kann etwas daran ändern, daß jede Entbehrung nur
unangenehme, jede sinnliche Befriedigung uur angenehme Empfindungen er¬
zeugt, so lange sich nicht mit dem leiblichen Organismus als Träger seines
Bewußtseins ein Wesen verbindet, das ganz andern Lebensbedingungen unter¬
liegt als der Leib. Wunderbarer Prozeß, schreibt denn auch Nietzsche IX, 209,
„wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine
6ex^ anerkennt; wo kommt diese her?" Ja, wo kommt sie her? Entweder
sie kommt vom Himmel, aus Gott, oder sie ist eine unerklärliche leere Ein¬
bildung. In und an den Interessenkonflikten entwickelt sich die Idee der Ge¬
rechtigkeit, wie sich in und an den geschlechtlichen Genüssen, Mutterfreuden,
kameradschaftlichen Vorteilen und Annehmlichkeiten die Idee der Liebe, wie sich
an der Arbeit die Idee der Vollkommenheit entwickelt, also, wenn man will,
auf darwinischen Wegen, aber erzeugt werden diese Ideen keineswegs durch
die Leiden, Freuden und Thätigkeiten, in und an denen sie sich entfalten, so
wenig wie die Denkgesetze durch die Gegenstände erzeugt werden, an deren
Betrachtung sie sich entfalten. Wären sie nicht als eine Einrichtung unsrer
Seele vorhanden, dann würde dem Manne das Weib nach gehabten Genuß
so gleichgiltig sein wie dem Stier die Kuh, dann würde jeder Mensch ohne
Ausnahme alles ihm Angenehme rauben, was er ungefährdet und ungestraft
bekommen kann, ohne jemals die Idee der Gerechtigkeit zu gewinnen, und dann
würde er gleich dem Karrengaul genau so lange arbeiten, als er dazu ge¬
zwungen wird, ohne jemals auf den Gedanken zu verfallen, daß man thätig
sein könne, um seine Kräfte anzuwenden, seine Anlagen zu entfalten und da¬
durch seine Persönlichkeit zu vollenden.
Hat man dagegen die Gottesidee angenommen, wie sie die sokratischen
Philosophen und das Christentum ausgebildet haben, dann läßt sich das, was
der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, und das Verhältnis dieser
Eigenschaft zu dem, was im gewöhnlichen Leben darunter verstanden wird,
einigermaßen begreifen. Gott, das eus rsalisZimum, ist der Inbegriff alles
Schönen und Guten und im Besitz seiner Fülle selig. Er ergießt diese seine
Fülle in die Geschöpfe, in die fühlenden und bewußten Wesen (die meta¬
physischen Fragen, ob die Welt den Lebensinhalt Gottes erschöpfe, ob Gott
mit einer bloß gedachten Welt, mit der unverwirklichten Weltidee denkbar sei,
ob demnach Gott ohne die Welt schon vor der Welt bestanden haben könne,
lassen wir beiseite). Die Bestimmung der Geschöpfe kann nur sein, das Wesen
Gottes auszudrücken und zu wiederholen, was jedes einzelne von ihnen, als
ein winziger Bruchteil, natürlich nur in sehr beschränktem Maße vermag. Ein
jedes hat also zunächst die göttliche Fülle wieder zu spiegeln, was Leibniz
meint, wenn er sagt, daß sich in jeder Monade das Universum spiegele. Es
hat ferner nach dem Vorbilde Gottes thätig zu sein, und falls sich ihm dabei
Hindernisse in den Weg stellen, sie zu überwinden. Es hat nach dem Vor¬
bilde Gottes seinen Inhalt andern Geschöpfen mitzuteilen, und es hat in
seinem Bereich Ordnung zu erstreben, da nur eine geordnete Umgebung Be¬
friedigung erzeugt. Damit sind die Ideen der Vollkommenheit, der Freiheit,
der Liebe oder des Wohlwollens, der Gerechtigkeit gegeben, und mit der letzten
zusammen, als der Ordnerin des geistigen Universums, zugleich die ästhetische
Idee der Schönheit, die ebenfalls auf der Ordnung beruht. In welchem
Maße nun ein vernünftiges Geschöpf diese Ideen verwirklicht, davon hängt
sein Wohlbefinden ab, dessen höchster Grad Seligkeit genannt wird. Das
also, was der Philosoph mit dem Worte Sittlichkeit meint, ist die Gottähn¬
lichkeit, die Verwirklichung der Idee des Menschen nach den genannten vier
Seiten oder Beziehungen hin. Nun kann aber kein einzelner Mensch die
ganze Idee der Menschheit verwirklichen; würde er doch dadurch ein zweiter
Gott werden. Die Individuation bringt es mit sich, daß der eine mehr die
eine, der andre mehr die andre der Teilideen verwirklicht, in die sich die eine
Idee des Ebenbildes Gottes spaltet, und daß, wie ich oft gezeigt habe, die
Ideen einander widerstreiten, sodaß nicht zwei oder drei oder alle vier oder
fünf zugleich in einem und demselben Menschen in gleich hohem Grade ver¬
wirklicht werden können. Dazu kommen noch zwei andre Schranken. Die
eine wird von der Natur gezogen. Wir lassen wiederum eine metaphysische
Frage beiseite, nämlich die, ob unsre sinnliche Welt die einzige denkbare sei;
genug, für uns ist sie die einzige vorhandne.
Die Natur erzeugt nun zunächst mit Notwendigkeit physische Übel; wie
wäre organisches Leben denkbar ohne die Erwärmung unsrer Erde durch die
Sonnenstrahlen, wie könnte diese Erwärmung anders als ungleichmäßig gedacht
werden, und wie sollten sich die aus dieser Ungleichmäßigkeit entspringenden
Leidbringer: Kälte, Hitze, Stürme, Dürre, Überschwemmung beseitigen lassen?
Und wie konnte man sich ohne diese Leidbringer die Kulturthätigkeit denken,
zu der sie stacheln? Aber diese ganze physische Einrichtung bildet, während
sie einerseits das Seelenleben trägt, nährt und fördert, zugleich andrerseits ein
mauuigfciches Hemmnis für die Verwirklichung der Idee des Menschen, nicht
bloß in solchen Füllen, wo ein Übermaß physischer Übel die Menschen bald
niederdrückt und verkümmern läßt, bald zu wilder Wut und Grausamkeit an¬
stachelt, sondern schon im ruhigen und gesetzmäßigen Verlaufe des Lebens.
So z. B. fordert die Idee des Menschen, und zwar die Unteridee der Ord¬
nung, die Vereinigung je eines Mannes mit einem Weibe unter Ausschluß
jedes andern geschlechtlichen Verkehrs; dagegen fordert der eine der Zwecke der
geschlechtlichen Differenzirung: die Fortpflanzung des Menschengeschlechts,
wenigstens beim aktiven Teil eine solche Stärke des Geschlechtstriebs, daß die
strenge Beschränkung seiner Befriedigung auf die Ehe namentlich dort, wo
deren rechtzeitigen Abschluß Hindernisse im Wege stehen, dem Durchschnitts¬
mann meistens zu sauer vorkommt. Solche Hindernisse entspringen aus den
gesellschaftlichen Verhältnissen und Einrichtungen, und diese bilden nun die
andre Schranke, insbesondre durch die zahllosen Interessenkonflikte, die es mit
sich bringen, daß der eine um seiner Selbsterhaltung willen zur Schädigung
des andern, also zur Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit gezwungen ist.
So erscheint denn die Sünde, wie die Bibel den Widerspruch gegen das
Menschheitsidcal nennt, als unvermeidlich. Wird sie als Widerspruch gegen
den Willen Gottes aufgefaßt, so ist das durch die Bemerkung zu ergänzen,
daß es sich hier eigentlich um einen Widerspruch zwischen zwei Willen Gottes
handelt, indem Gott einerseits will, daß die Geschöpfe ihm ähnlich seien,
andrerseits aber eine Einrichtung der Welt, die diese Ähnlichkeit — wenigstens
innerhalb des Bereichs des Irdischen — an der Vollendung hindert.") Dem
Glauben an die Güte Gottes thut das keinen Eintrag, da das Dasein der
Welt gerechtfertigt ist, wenn die Bilanz zwischen Weltseligkeit und Weltelend
zu Gunsten der ersten ausfüllt, was nach dem Glauben der Mehrzahl der Fall
ist. Dagegen sieht sich der Philosoph genötigt, den Begriff der Allmacht
Gottes einzuschränken und sein Walten und Wirken an Gesetze gebunden zu
denken, die er nicht ändern kann.
In pädagogischer Hinsicht ist es nun ohne Zweifel vorteilhaft, wenn diese
Seite der Sache der Mehrzahl und namentlich der Jugend verborgen und der
Blick ausschließlich auf das zu erstrebende Ideal als den alleinigen Willen
Gottes gerichtet bleibt. Die Naturnotwendigkeit, die gesellschaftlichen Übel und
die Schranken der Individualität erscheinen dann als Wirkungen einer Gott
feindlichen Macht, die im Parsismus als Ahriman, in der jüdischen und der
christlichen Mythologie als Teufel erscheint. Da Christus den Volksscharen
unmöglich philosophische Vortrüge halten konnte, mußte er sich in seiner Aus¬
drucksweise dem Volksglauben anbequemen, der so natürlich ist, daß sich seiner
auch der Gebildete nur mit Mühe erwehren kann. Wenn ich einen am ganzen
Leibe Gelähmten sehe, so macht mir das den Eindruck, als hätte ihn eine
feindliche Macht gefesselt, und wenn ich den schmerzerfüllter Ausdruck im Ge¬
sicht eines Zwergs oder einer Zwergin sehe — schon in früher Jugend haben
solche Unglücklichen alte Gesichter —, so muß ich unwillkürlich an einen bösen
Dämon denken, der die unglückliche Seele in diese Mißgestalt gebannt hat,
wenn mir auch die Vernunft fagt, daß es durchaus widersinnig sei, an das
Dasein von Dämonen zu glauben. Und so klingt denn nichts selbstverständ¬
licher, als was Christus bei der Heilung eines gekrümmten Weibes sprach,
da der Synagogenvorsteher die Leute ausschalt, daß sie sich am Sabbat heilen
ließen: „Ihr Heuchler, bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen
oder Esel von der Krippe los und sührt ihn zur Tränke? Diese Tochter
Abrahams aber, die der Satan schon ins achtzehnte Jahr gebunden hielt,
sollte nicht von ihrer Fessel gelöst werden am Tage des Sabbath?" Indem
die Übel, die physischen wie die moralischen, auf eine Gott feindliche Macht
zurückgeführt werden, erscheint ihre Bekämpfung als Pflicht; diese Pflicht
könnte leicht verdunkelt, und der Mensch könnte versucht werden, sich wider¬
standslos allen Übeln zu überlassen, wenn es ihm von vornherein klar wäre,
daß die Übel in der Schöpfung, also in Gott selbst ihren Ursprung haben,
aber erkannt haben diese Wahrheit nicht allein die Philosophen, sondern
auch die vier größten Theologen der Christenheit: Paulus, Augustinus, Luther
und Calvin, die den Menschen für unfrei, die Gebote Gottes für unerfüllbar
(d. h. den Widerspruch zwischen Ideal und Leben für uncinfhebbar), die
Menschheit daher für der Verdammnis verfallen und ihre Rettung nur durch
die Gnade für möglich erklären.
Die Erlösung kann nun auf dreierlei Weise gedacht werden. Erstens ist
sie von vornherein dadurch gegeben, daß die Übel eine unerläßliche Bedingung
für die Entfaltung des Menschen sind; eben in ihrer Bekämpfung wird er erst
Mensch; darin liegt die Einladung zu ihrer Bekämpfung, also zu einer fort¬
währenden, vom Menschen selbst zu vollziehenden Erlösung, die freilich auf
Erden niemals ihr Endziel erreicht. Diese Art der Erlösung wird durch die
wohlthätigen Wunder Christi gesinubildet. Zweitens versetzt Gott einzelne in
eine Lage, durch die sie weniger in Pflichtenkollisionen verwickelt werden als
andre, und rüstet sie zudem mit glücklichen Naturanlagen aus. Das ist die
Gnade im engern Sinne, die den oben genannten vier großen Theologen den
Gedanken der Prädestination eingegeben hat, denn mit ihm ist nichts andres
gesagt, als daß durch die von Gott geordnete Einrichtung der Welt die einen
ni deu Stand gesetzt werden, das Menschenideal annähernd zu verwirklichen,
während die andern von dieser Möglichkeit ausgeschlossen bleibe». In solch
glücklicher Lage befinden sich eigentlich nur die Kinder guter und verständiger
Familien, die deshalb die einzigen Idealmenschen ans Erden sind und von den
Erwachsenen darin nie mehr erreicht werden können; weshalb Christus sagte,
daß ihnen das Himmelreich gehöre, und daß der Erwachsene werden müsse
wie ein Kind, wenn er hineinkommen wolle. Goethe bemerkt einmal, die Kinder
hielten nicht, was sie versprachen; gewiß nicht, das können sie nicht, oder viel¬
mehr die Erwachsenen können es nicht.
Die Gefahren, die dieser Gedanke der Prädestination mit sich bringt,
liegen auf der Hand; die katholische Kirche hat daher aus pädagogischen
Gründen die Deutung vorgezogen, daß die Gnade eine geheimnisvolle innere
Kraft sei, die den Christen, wofern er nur guten Willens ist, zu sittlichen
Leistungen befähige, die der Unerlöste nicht vollbringen könne. Die Erfahrung
hat bis jetzt diese Deutung wenig bestätigt; man findet nicht, daß die Ge¬
tauften und die Betenden durchschnittlich idealere und vollkommnere Menschen
wären als die Ungetauften und die nicht Betenden. Aber indem die vorge¬
stellte Gabe die Pflicht einschließt, sich ihrer würdig zu beweisen, ist diese Vor¬
stellung nicht ohne Nutzen.
Die dritte Art der Erlösung besteht darin, daß Gott die Sünden der
Menschen nicht ansieht im Hinblick darauf, daß sie unvermeidlich sind, und daß
sie nicht bösem Willen entspringen, oder, was dasselbe ist. im Hinblick auf
den Sohn, der den Willen des Vaters zu erfüllen willig ist. Wie in der
Schöpfung und Weltregierung, so ist Gott auch in der Erlösung an ein
Gesetz gebunden; die Moira der Hellenen kann man auf beide Gesetze beziehen;
das zweite wird in der Bibel als die Heiligkeit Gottes, die Übereinstimmung
seines Wesens mit sich selbst, bezeichnet. Es ist Gott unmöglich, ein Wesen
zu beseligen, das sich der natürlichen Bedingung geschöpflicher Seligkeit
widersetzt. Diese Bedingung ist: daß das Geschöpf sich als Geschöpf, als ein
begrenztes, daher notwendig unvollkommnes, der Ergänzung bedürftiges, auf
das Empfangen von andern angewiesenes, daher auch zum Vergelter durch
Spenden verpflichtetes, also nur in Wechselwirkung lebensfähiges anerkenne
und verhalte; eben in solcher Wechselwirkung verwirklicht es seine Idee. Wenn
wir nachforschen, welche Klassen von Menschen Christus verdammt, d. h. für
unfähig der Beseligung erklärt, so finden wir, daß es einmal die Unbarm¬
herzigen und Liebkosen sind, die sich also der Pflicht des Sperbers, des segens¬
vollen und beglückenden Austausches von Liebe und Liebesgaben entziehen
wollen, und dann die Pharisäer, die Selbstgerechten, die in der lächerlichen
Einbildung der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit befangen sind, also
das Unmögliche unternehmen, die Grenzen der Individuation zu überspringen,
die sich Sonnen oder Sonnensysteme oder gar Welten zu sein dünken, während
der Mensch höchstens ein Planet sein kann. So erwächst also die Unseligkeit
des Geschöpfes daraus, daß es sich gegen die unabänderlichen Daseins¬
bedingungen des Geschöpfes sträubt, gegen die in Gott wurzelnde Ordnung
des All. Man kann daher, je nachdem, entweder die ungeordnete Seele des
Unerlösten oder das geordnete Universum oder Gott selbst als die Hölle be-
zeichnen. Nietzsche hat also den tiefen Sinn des letzten Teils von Dantes
Hölleninschrift") nicht verstanden, wenn er VII, 332 schreibt, Dante habe sich
gröblich vergriffen; mit größerm Recht hätte er über die Pforte des Paradieses
schreiben können: auch mich schuf der ewige Haß. Wir können uns die Sache
durch ein Gleichnis klar machen, das mir bei einem andern Ausspruche
Nietzsches eingefallen ist. Zu den Verwirrungen, die die Sprache im Denken
anrichte, rechnet er auch (III, 237), daß wir uns gewöhnten, in der Natur
Gegensätze zu sehen, wo nur Gradunterschiede seien, z. B. warm und kalt,
und diese Gewohnheit aufs geistige und sittliche Gebiet zu übertragen. Der
Gedanke ist äußerst fruchtbar. Aber Nietzsche irrt sich, wenn er in warm und
kalt nur einen Gradunterschied, keinen Gegensatz sieht. Die Physiker haben
vollkommen recht daran gethan, daß sie an den Gefrierpunkt des Wassers
Null gesetzt haben und von da aufwärts positiv und abwärts negativ weiter
zählen, also einen Gegensatz statuiren. Denn die Verdunstung des Wassers,
die bei den positiven Graden, und seine Verfestigung, die bei den negativen
vor sich geht, sind zwei entgegengesetzte Arten des Verhaltens, und dieser
Gegensatz ist von der größten Wichtigkeit für den Haushalt der Natur. Für
die organischen Geschöpfe aber liegt der Nullpunkt in ihrer Blutwärme.
Stimmt die äußere Temperatur mit dieser überein, so fühlen sie sich wohl,
steigt sie bedeutend darüber oder sinkt sie darunter, so fühlen sie sich unbe¬
haglich, desto unbehaglicher, je größer der Abstand von der Eigenwärme wird;
erreicht der Abstand einen gewissen Grad, so erleidet der Organismus eine
ernstliche Störung, und bei einem bestimmten noch höhern Grade wird er ver¬
nichtet. Wir können uns diesen Einfluß der Temperatur folgendermaßen an¬
schaulich machen. Die Wärmeempfindung ist bekanntlich die Wirkung einer
eigentümlichen Molekularbewegung; geht diese langsam vor sich, so empfinden
wir Kälte, je mehr sie sich beschleunigt, desto wärmer sühlen wir es werden.
Behaglich ist uns die Temperatur dann, wenn die Molekeln unsrer Umgebung
in demselben Tempo schwingen wie die unsers Körpers; die Zähne der
Rädchen der uutermikroskopischeu Außenwelt greifen dann in die Zahnlücken
unsrer eignen uutermikrvskopischen Gewebeteile ein, ohne deren Bewegung weder
zu beschleunigen noch zu hemmen. Wirbeln dagegen die äußern Rädchen
schneller oder langsamer als unsre innern, dann treiben oder hemmen sie diese,
und wir fühlen die Störung als Hitze oder Kälte, sodaß ein zweifacher Gegen¬
satz entsteht, einmal der Gegensatz der uns zuträglichen Normaltemperatur zu jeder
unserm Organismus feindlichen, dann der Gegensatz der Wärmeempfindung zur
Kälteempfindung. Erreicht der Unterschied der Tempi einen gewissen Grad, dann
zerreißt die zu langsame oder zu rasche Bewegung des uns durchströmendem
?schol 1s, alpins, xotsswts,")
I.Ä soirmik 8ÄPi,su?is, o it primo amors.
Äthers unser Zellgewebe, und die Extreme berühren sich wie in der mechanischen
Wirkung so anch in der Empfindung: der Schmerz des Erfrierens wird beinahe
ebenso empfunden wie der des Verbrennens.
Bei der Übertragung dieses Verhältnisses ins geistige Gebiet müssen wir
eine Umkehrung vornehmen. Im leiblichen Gebiete haben wir den Organismus,
der immer dieselbe Temperatur behält, während die Temperatur seines Me¬
diums wechselt und ihm dadurch bald wohl, bald wehe thut. Im geistigen
Gebiet haben wir ein Medium von stets gleichbleibender Temperatur: Gott,
und die darin lebenden Geschöpfe, deren Temperatur oft wechselt; die sich
wohlfühlen, wenn sie im Einklang mit ihrem Medium schwingen, und übel,
wenn sie sich ihm widersetzen; denn anstatt dieses ändern zu können, setzen sie
sich der Gefahr aus, von ihm zerrissen zu werden. So ist es das eine Feuer
der göttlichen Liebe, das die einen als Lebenswärme beseligt, die andern als
Höllenbrand verzehrt. Die Bibel deutet nun an, daß dem Menschen auf Erden
sein wirkliches Verhältnis zu Gott durch mancherlei Täuschungen verdeckt wird
und erst im Jenseits völlig zum Bewußtsein kommen wird, wo er ohne die
irdischen Hüllen unmittelbar in das Urwesen eintaucht. Das entspricht der
oben beschriebnen Beschaffenheit der Welt, die, obwohl Gottes Schöpfung, doch
in vielen Beziehungen uugöttlich sein muß, daher einer ungöttlichen Seele
dnrch die Übereinstimmung mit ihrer irdischen Umgebung Wohlbefinden zu be¬
reiten vermag. Wie dem ins Jenseits Versetzten sein Zustand der Seligkeit
oder Verdammnis — diese braucht nicht als ewige gedacht zu werden —
bewußt werden wird, davon können wir uns keine Vorstellung machen. Was
die Henkerphantasten fanatischer Priester und roher Zeitalter in den Höllen-
begriff hineingelegt haben, das geht uns natürlich nichts an.*) Pädagogisch
sind die Höllenschrecken, die von Dogmatikern, Mystikern, frommen Dichtern
und Malern erregt werden, vielleicht nicht ganz wertlos, wie ja auch Athene
in des Äschylus Eumeniden den Athenern rät: „Und nicht entfernt euch alles
Furcht erweckende, denn wer bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?"
Doch beschränkt sich die Wirksamkeit der Höllenfurcht auf solche Frevelthaten,
die überlegt werden, die man verüben und auch lassen kann, und das ist immer¬
hin eine nicht zu verachtende Leistung. In den Fällen, wo Not oder ein
Naturtrieb zur Sünde drängt und zwingt, oder wo ein augenblicklicher Anfall
von Leidenschaft überwältigt und wo nicht einmal die Furcht vor dem Zucht¬
hause stark genug ist, abzuschrecken, nützt sie, wie tausendfältige Erfahrung be¬
weist, rein gar nichts; soll auch nichts nützen, denn die meisten dieser Sünden
sollen geschehen, um die Gesellschaft zur Änderung unzweckmäßiger Einrich¬
tungen zu zwingen.
Also jene eigentümliche Beschaffenheit des Menschen, die ihm einen Wert
über den bürgerlichen Nutzwert verleiht, und die man in der Philosophie mit
dem Worte Sittlichkeit meint, läßt sich nicht mit einem Worte bezeichnen,
man müßte denn dem christlichen Ideenkreise die Worte Gottähnlichkeit oder
Gvttgefälligkeit entnehmen, oder den Ausdruck Humanität, verwirklichte Idee
des Menschen, wählen. Da sich alle Anlagen des Menschen, darunter auch
diese höchste, in den Banden der Sitte und nicht ohne sie entwickeln, so besteht
natürlich ein Zusammenhang zwischen jener höhern und der gewöhnlich so ge¬
nannten Sittlichkeit. Bei unverständigen Naturvölkern ist der Zusammenhang
sehr lose; ihre meistens sehr ungereimten Sitten haben höchstens, wie Nietzsche
erkannt hat. die Bedeutung, überhaupt an eine Ordnung zu gewöhnen, aber
die Keime der höhern Menschennatur: Güte, Gerechtigkeit, Schöpfer-, Thaten-
und Forschungsdrang wachsen mehr neben als in solchen Formen heran.
Dagegen finden wir einen sehr innigen Zusammenhang bei den Griechen und
Römern, wo die Volkssitte durchaus vernünftig und auf die Erziehung des
höhern Menschen gerichtet war; bei den Römern auf einseitige Mannhaftigkeit
und Gerechtigkeit, bei den Griechen auf allseitige Entfaltung des Menschen¬
wesens zur Humanität, welcher Ausdruck seit Herder hie und da für das ge¬
braucht wird, was man mit Sittlichkeit meint, aber es nicht zur allgemeinen
Anerkennung gebracht hat. Eine Volkssitte kann nun ursprünglich ganz ge¬
eignet sein, die Gottühnlichkeit oder echte Humanität zu fördern, aber mit der
Zeit zur toten Form erstarren und in eine Fessel umschlagen; das war be¬
kanntlich mit der jüdischen Sitte zur Zeit Christi der Fall. Man braucht,
um sich die Sache vollkommen klar zu machen, nur daran zu denken, wie die
Priesterschaft und wie Christus das Sabbatgesetz behandelt hat. In unsrer
Zeit, wo jede alte Volkssitte zerstört und die Kraft zur Neubildung ge¬
schwunden ist, wo solche Kraft auch gar nichts nützen würde, da das äußere
Verhalten der Menschen teils durch die launenhaft wechselnde Mode geregelt
wird, teils durch Gesetze, deren Zustandekommen von tausend Zufällen abhängt,
die einander widersprechen, die heute erlassen und morgen aufgehoben oder ge¬
ändert werden, und deren Menge sich ins ungemessene häuft, sodaß sie der
Staatsbürger nur zu einem winzigen Teile kennt; heute stehen einander Sitte
und echt menschliche Vollkommenheit ferner als je. Daher ist es ganz natür¬
lich, daß Geister wie Nietzsche wild werden, wenn man ihnen zumutet, einen
Menschen oder vielmehr einen Herrn — Mensch wäre schon eine Beleidi¬
gung — deswegen für vollkommen zu halten, weil er keine silbernen Löffel
gestohlen und bei seinen Finanzoperationen das Zuchthaus auch uicht einmal
mit dem Ärmel gestreift hat, weil er niemals betrunken in der Gosse gelegen
hat. weil er seine Amts- oder Geschäftsstunden inne hält, einen tadellosen
Gehrock und ein Bändchen im Knopfloch trägt, seiner Frau niemals vor
Zeugen grob kommt und sich niemals bei einem xsovÄtum voudra ssxwin er¬
wischen läßt. (Ob der Kirchenbesuch oder das Kirche schwarzen und die Frei¬
geisterei zur Vollkommenheit gehört, das hängt vom Hofe und von der
Politik ab.)
Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, daß es wenig Menschen giebt,
die so aufrichtig nach wirklicher Vollkommenheit strebten, wie Nietzsche in seinen
gesunden Tagen. Er war also natürlich kein Feind der höhern Sittlichkeit,
und — bei seinem strengen Ordnungs- und Schicklichkeitssinn — auch nicht
einmal ein Feind der niedern, sondern er bekämpfte nur, geradeso wie Christus,
die Moralfexerei als Heuchelei und Hemmnis des höhern Strebens; wenn er
sich mit Stolz einen Jmmvralisten nannte, so war das Selbsttäuschung oder
Übertreibung aus Oppositionslust. Auch die Wahrheit ist ja längst durch die
alten Philosophen und durch Christus ins Reine gebracht worden, daß alle
Handlungen an sich indifferent sind und erst durch die Gesinnung und die
Absichten des Handelnden und durch die Umstände ihren Wert erhalten, sodaß
schon aus diesem Grunde Sitte und Staatsgesetz, die es nur mit dem Äußer¬
lichen, mit Handlungen zu thun haben, niemals mit dem Reiche der innern
Wertschätzungen zusammenfallen können. Andrerseits haben aber auch Staat
und Sitte, wenn sie nicht gar zu unvernünftig sind, von dem Freien, wie
Paulus den nach seinem eignen innern und höhern Gesetze Lebenden nennt,
nichts zu fürchten, denn über die Versuchungen gemeiner Art: zu stehlen, zu
betrügen, des Nächsten Weib zu verführen, ist er erhaben. Auf einem andern
Gebiet freilich kann er mit dem Staate in Konflikt geraten und etwas begehen,
was dieser als Verbrechen bestraft, wie das denn fast keinem der großen Refor¬
matoren erspart geblieben ist.
Was von der Moral im allgemeinen gilt, das gilt noch ganz besonders
vom Mitleid, gegen das Nietzsche manchmal förmlich tobt. Ich habe es
diesem Toben sofort angesehen, was es zu bedeuten hat, noch ehe ich B. II,
47 ff. gelesen hatte, wo er selbst und seine Schwester es erklären; ich sagte
mir gleich: das ist einer, der furchtbar an Mitleid gelitten hat, und der sich
durch sein Toben und seinen Ruf: werdet hart, werdet hart! vor der ihm von
seiner Überempfindlichkeit drohenden Selbstzerstörung retten will. Wie schön
charakterisirt ihn folgende Aufzeichnung (XII, 157), die er selbst nicht ver¬
öffentlicht hat: „Gesetzt, man ist der Liebhaber einer Sängerin, mit was für
ängstlichen Ohren hört man da sie vor irgend welchen Zuhörern singen! Man
urteilt sein und überfein, keineswegs voreingenommen: vielmehr entgeht uns
keiner ihrer kleinsten Fehler; wir wissen, wenn auch die Zuhörer jubeln und
klatschen, daß sür die Sängerin selber nicht alles so klang und lief, wie ihr
feinstes Gewissen es verlangt hat, und weil wir fühlen, daß ihr selber all ihr
kleines und großes Mißlingen bewußt ist, leiden wir unbeschreiblich dabei."
Die letzten Worte hat er selbst unterstrichen. Und welche zarte Menschenliebe,
welcher von allem Gemeinen freie Edelsinn spricht aus folgenden, ebenfalls
aus seinem Nachlaß veröffentlichten Bemerkungen (XI. 163): „Gesetzt, jemand
hat Herzeleid durch einen boshaften anonymen Brief: die gewöhnliche Kur ist
die, feine Empfindung entladen, indem man einem andern Herzeleid macht.
Diese alberne Art uralter Homöopathie müssen wir verlernen: es ist klar, das;
wenn er sofort auch einen anonymen Brief schreibt, womit er jemandem eine
Wohlthat und Artigkeit erweist, er seine Wiedergenesung auch erlangt. —
Sobald wir uns verstimmt und gallsüchtig fühlen, sofort den Geldbeutel her
oder die Vrieffeder oder den nächsten Armen oder das erste beste Kind, und
etwas verschenken, womöglich mit wohlwollendem Gesicht: wenn es aber nicht
geht, dann auch mit verbissenen Zähnen." XII, 226 finden sich die Para-
doxien: „Daß ihr mitleidig seid, setze ich voraus: ohne Mitleid sein heißt,
krank im Geiste und Leibe sein. Aber man soll viel Geist haben, um mitleidig
sein zu dürfen! Denn euer Mitleid ist euch allen schädlich. — Ich liebe
den, der so mitleidig ist, daß er aus der Härte seine Tugend und seinen Gott
macht." Nietzsches Kampf gegen das Mitleid richtet sich eigentlich nur gegen
die Schopenhauerische Mitleidsmoral und gegen die Altruismusmoral der
modernen Soziologen. Darüber brauche ich mich nicht weiter auszulasten,
deun ich habe oft genug an dieser Stelle ausgeführt, daß beides Unsinn ist.
Die Moral im höhern Sinne, die ich oben beschrieben habe, umfaßt alle
Lebensäußerungen des Menschen und beschränkt sich nicht auf die Nächsten¬
liebe, noch weniger auf eine einzelne Äußerung der Nächstenliebe. Ferner
bildet die Nächstenliebe keinen Gegensatz zur Selbstliebe, sondern eine schließt
die andre ein; Christus hat diese zum Maße jener gemacht. Und die oben
beschriebne UnVollkommenheit der geschöpflichen und irdischen Natur bringt
es mit sich, daß jeder Mensch ein Sünder ist, daß keiner in allen Beziehungen
vollkommen sein kann, daß man daher jeden in dem einen oder dem andern
Stück unmoralisch oder weniger moralisch nennen darf, dieses umso mehr, als
die verschiednen sittlichen Ideen, wenigstens bei lebhafter und starker Be¬
thätigung, mit einander unvereinbar sind. Nietzsches Ansicht vom Mitleid
läuft auf die bekannte Regel der Stoiker hinaus, daß man seinen leidenden
Mitmenschen helfen solle, ohne sich durch mitleidige Empfindungen peinigen zu
lassen. Diese Regel ist ganz vortrefflich für Leute wie Nietzsche, die so
empfindlich sind, daß ihnen, wie er selbst einmal sagt, die Seclenhaut und
jede natürliche Schutzvorrichtung zu fehlen scheint, aber unempfindlichen Na¬
turen muß gerade der entgegengesetzte Rat erteilt werden. Ein berühmter Arzt
schreibt mit Beziehung auf die Verhärtung, die die ärztliche Praxis leicht zur
Folge hat, jeder Arzt sollte mindestens einmal im Jahre recht heftige Zahn¬
schmerzen haben, damit er nicht vergesse, wie Schmerzen thun. Daß das Mit¬
leid oft nur ein weichliches Selbstleid ist (wie wenn uns der Anblick eines
ekelhaft aussehenden Kranken oder einer häßlichen Verstümmelung Übelkeit er¬
regt), daß es oft unverständig angewendet und daß viel Unfug damit getrieben
wird, z. B. von den Tierschutzvereinlern, deren Lehren und Praxis sich zu
den Tollheiten der Jndier zu steigern drohen, das alles sind allgemein be¬
kannte Dinge.
Um nicht allein die Regungen und Äußerungen des Mitleids, sondern
überhaupt unser Verhalten zum Nächsten vernünftig regeln zu können, müssen
wir immer ans den Kern dessen zurückgehen, was als das Gottgefällige be¬
zeichnet worden ist, und was man auch Humanität nennen kann. Es ist das
Wohlgefallen an gesundem und schön geordnetem Leben und das Bestreben,
solches Leben zu erhalten, zu schaffen und zu verbreiten. Daraus folgen für
das Mitleid unter anderm zwei Regeln. Man wird es nicht jedem beliebigen
Schmerze zuwenden, sondern nur solchen Schmerzen, die mit ernstlicher
Schädigung des Lebens verbunden sind. Wegen einer Tracht Prügel, auch
wenn sie sehr schmerzt, braucht man einen gesunden, kräftigen Burschen, der
sie lachend oder mit zusammengebissenen Zähnen tapfer trügt, nicht zu bemit¬
leiden, wohl aber wegen eines Schlages, der einem seiner Augen die Sehkraft
raubt, oder der gewisser Umstände wegen, z. B. weil er sein Gerechtigkeits¬
gefühl empfindlich verletzt, auf seine Seele eine verschlechternde und für seine
Zukunft verhängnisvolle Wirkung ausübt. Aus demselben Grnnde, das ist
die andre Regel, wird man Kindermißhandlung immer und unter allen Um¬
ständen verabscheuen, weil sie stets eine Zerstörung oder Verkrüppelung zu¬
künftigen Lebens bewirkt, dagegen durch die Leiden eines alten Strolches nur
mäßig gerührt werden, weil an dem nichts mehr zu zerstören ist. Er mag
früher zu bedauern gewesen sein, aber nachdem er ins höhere Mannesalter ge¬
kommen war, hätte er, wenn er sein Los zu ändern keine Kraft hatte, sich
und die Menschheit von der unnützen Last befreien sollen. Auch Nietzsche
billigt den Selbstmord in Fällen, wo es keinen andern Ausweg aus einer un¬
würdigen Lage giebt, und die Bibel? Sie enthält auch nicht ein einziges
Wort gegen den Selbstmord. Aus derselben Betrachtungsweise ergiebt sich
die Grenze der Berechtigung des Bösen in der Moral. Es kommt vor, daß
Gerechtigkeit nur mit Verletzung der Liebe, Liebe nur mit Verletzung der
Gerechtigkeit geübt werden kann, oder daß ein Staatsmann seine dem Wohle
des Vaterlands förderlichen, vielleicht zur Rettung seines Volks notwendigen
Pläne nicht ohne vielfache Verletzung der Liebe und Gerechtigkeit ausführen
kann. In solchen Fällen soll man nicht sagen, der Zweck heilige die Mittel,
und soll andrerseits einen Aristides, der in solcher Lage aus zarter Gewissen¬
haftigkeit auf das Handeln verzichtet, weder tadeln noch preisen. Man soll
die Tragik nicht wegvernünfteln aus der Welt, sondern soll das Verhängnis
anerkennen, das den Menschen oft in Lagen bringt, wo er in jedem Falle
sündigen muß, sei es durch Handeln oder durch Unterlassung; das Böse bleibt
böse, auch wenn es der Mensch unter dem Zwange der Notwendigkeit thut.
Aber er darf bei Gott auf ein gnädiges Gericht hoffen, und Menschen haben
überhaupt kein Recht zu richten. Dagegen ist es schlechthin Niedertracht und
fällt aus der Grenze des Moralischen hinaus, wenn einer, ohne irgend einen
höhern Zweck, seine Nebenmenschen seinen Gelüsten opfert, „um sich auszu¬
leben," wie die Redensart lautet. Der Tiger bleibt unschuldig, und wenn
man will, sogar höchst moralisch, d. h. in Übereinstimmung mit seiner von
Gott gewollten Natur, wenn er zu seinem Vergnügen das Blut seines noch
zuckenden Opfers trinkt, aber der Mensch ist kein Tiger; weder ist er von
Natur aufs Bluttrinken angewiesen, noch für den ausschließlichen Genuß rein
individueller Lustempfindungen eingerichtet; sondern von Natur ist seine Seele
so organisirt. daß das Glück andrer einen wesentlichen Bestandteil seines
eignen Glücks ausmacht, daß demnach der gesunde Egoismus den Altruismus,
die Selbstliebe die Nächstenliebe einschließt.
Darnach sind denn auch die wilden Redensarten zu korrigiren, mit denen
sich Nietzsche hie und da aus Opposition gegen Schopenhauer, die Altruisten
und Demokraten ein wenig als Bestie aufspielt, was ja übrigens bei einem
so zartsinnigen Manne ganz ungefährlich ist. Im Grunde genommen meinte
er das Nichtige, wie man unter anderm aus folgenden zwei Stellen (XI, 308
und 313) ersieht: „Wenn ich sage, diesen Menschen mag ich, mit ihm sym-
Pathisire ich, so soll das nach Schopenhauer moralisch sein! Und wieder die
Antipathie etwas Unmoralisches; als ob nicht aus demselben Grunde einer für
diesen sympathisch, für den andern antipathisch empfände! So wäre das Mo¬
ralische notwendigerweise unmoralisch! Vielmehr hat man Sympathie- und
Antipathie-Haben nie ins Moralische gerechnet, es ist eine Art Geschmack, und
Schopenhauer will, daß wir den Geschmack für alles, was lebt, hätten! Das
müßte ein sehr grober und roher, gefräßiger Geschmack sein, der mit allem
zufrieden ist! — Nicht daß wir den Menschen helfen und nützen wollen, nein,
daß wir Freude haben an den Menschen, das ist das Wesentliche an soge¬
nannten guten Menschen und an der Moralität." Sehr richtig! Freude
haben an dein Menschen, den Gott nach seinem Bilde erschaffen hat, das ist
das Göttliche, und ihn Haffen, Freude haben an seinem Verderb und an seiner
Zerstörung, das ist das Teuflische. Ist die Freude nur echt und stark genug,
so wird sich das helfen und nützen wollen schon von selbst einstellen, ohnein
jene aufdringliche Nächstenliebe auszuarten, der Nietzsche einmal den Rat ent¬
gegenhält, wenn mans wirklich gut meine mit seinem Nächsten, so solle man
ihn vor allem ungeschoren lassen.
le deutsche Danteforschnng, von der der Italiener Scartazzini,
selbst einer der fleißigsten und erfolgreichsten Danteforscher, be¬
kennen mußte, daß sie „ganz unbestritten den ersten Rang" unter
den gleichen Bestrebungen der Italiener, Engländer und Ameri¬
kaner — andre kommen nicht in Betracht — einnähme, hat
im verflossenen Jahre die Litteratur über Dante um zwei wichtige Werke be¬
reichert. Man wäre versucht, sie „monumental" zu nennen, wenn mit diesem
Wort in jüngster Zeit nicht so viel Mißbrauch getrieben worden wäre, und
wenn man auch sonst nicht aus bittrer Erfahrung wüßte, daß das geläufige
Wort des Horciz von dem inonuinsutum g.<zrs xerennius nichts weiter als
eine schöne dichterische Redensart ist. Immer kürzer und enger müssen die
zeitlichen und räumlichen Grenzen aller Bücher, auch der besten, in unsrer
Zeit der litterarischen Massenproduktion und der rücksichtslosesten Bücher¬
spekulation bemessen werden. Selbst das, was uns heute als volkstümlich im
guten Sinne erscheint, kann es in zwei oder drei Jahren nicht mehr sein, weil
ein schlauer Spekulant es besser als sein naiverer Vorgänger verstanden hat,
der Denkfaulheit der Menge und ihrer Lust an bunten, wenn auch meist
gleichgiltigem Bilderkram zu schmeicheln. Möglichst viel Anschauungsmaterial
und möglichst wenig Lesestoff ist die Parole in einer Zeit, zu deren zahlreichen
mechanischen und körperlichen Beschäftigungen noch als die allerwichtigste der
Radfahrersport hinzugekommen ist.
Die beiden Bücher über Dante, die wir empfehlen wollen, sind nur für
ernste, seßhafte Leser berechnet, und da sich deren Zahl von Jahr zu Jahr
zu verringern scheint, ist allerdings Aussicht vorhanden, daß diese Bücher
wenigstens zu monumentaler Ehrwürdigkeit gedeihen werden. Das eine, das
noch Ende 1896 erschienen ist, aber während der für ernste Werke ungünstigen
Zeit des Büchermarkts gewiß nicht die verdiente Beachtung gefunden hat, ist
Dantes Beziehungen zu seiner Heimat gewidmet, die ihn bei Lebzeiten meist
sehr schlecht, nur selten etwas freundlich und liebevoll behandelt, die ihn aber
bald nach seinem Tode, nachdem die politischen Leidenschaften erloschen waren,
bis zu den Sternen erhoben hat. Alfred Bassermann in Heidelberg hat
sich in einem stattlichen Folianten: Dantes Spuren in Italien (Heidelberg,
Carl Winter) die Aufgabe gestellt, „eine Darstellung dessen zu geben, was
Natur und Kunst Italiens an Beziehungen zu Dante aufweist." Es wäre
nun für einen Büchermacher, der das große Publikum gewinnen will, sehr
leicht gewesen, alle Orte, in denen Dante gelebt, die er berührt oder auch in
seinen Dichtungen geschildert oder nur beiläufig erwähnt hat, durch Reproduk¬
tionen von Lichtbildern zu veranschaulichen, die in ganz Italien für wenige
Centesimi zu haben sind oder, wo sie fehlen, in wenigen Stunden durch rad¬
fahrende Amateurphotographen hergestellt werden können. Bassermann hat
aber dieser Versuchung widerstanden. Abgesehen davon, daß ein derartiges
Werk schon — und zwar ausnahmsweise einmal von einem italienischen Buch¬
händler schweizerischer Abkunft — begonnen worden ist, hat Bassermann
auf solche billige Hilfsmittel verzichtet, weil sie in Wirklichkeit zur Erklärung
des Lebens und der Dichtungen Dantes nichts beitragen können. Was Dante
sah, sieht man heute nicht mehr: daß das bei großen Städten wie z. B. Florenz,
dem Mittelpunkte von Dantes politischen und dichterischen Kämpfen, der Fall
ist, ist selbstverständlich. Aber auch Städte, die außerhalb der geschäftlichen
Berechnungen des modernen Staatswesens und der modernen Industrie liegen,
haben seit Dantes Zeit so gewaltige Veränderungen erfahren, daß es thöricht
wäre, ihre heutige Physiognomie zur Illustration der Göttlichen Komödie zu
benutzen. Selbst einsame Gebirgsthäler, Bergrücken, menschenleere Hochebenen,
wilde Engpässe sind durch kunstvolle Landstraßen und kühne Schienenwege zu¬
gänglich geworden, und damit hat man sie jeuer jungfräulichen Schönheit und
Strenge beraubt, die den vornehmsten Reiz der Dantischen Naturschilderungen
ausmachen. Ohnehin sind diese so allgemein, so absichtlich rätselhaft gehalten,
daß der Forscher die litterarischen Anhaltpunkte mit den örtlichen sehr scharf
vergleichen muß, um nur zu einem Ergebnis zu gelangen, das seine Gewissen¬
haftigkeit als einigermaßen sicher ausgeben darf. Die Phantasie muß er dabei
so streng zügeln, daß sie ihm niemals einen Streich spielen darf, und wenn
er wirklich die sichersten Beweise in den Händen zu haben glaubt, ist er noch
immer nicht über den Zweifel erhaben, daß Dante wirklich den Ort selbst ge¬
sehen hat, den er so wunderbar plastisch geschildert hat.
Die dichterische Phantasie kann, wenn sie sich auf mündliche oder litte¬
rarische Überlieferung zu stützen vermag, Unglaubliches und Unfaßbares ver¬
richten. Das allgemein bekannte klassische Beispiel dafür ist unser Schiller,
der die Schweiz nur aus sehr dürftigen Beschreibungen und vielleicht auch
aus den mündlichen Mitteilungen von heinigekehrten Reisenden kennen gelernt
hatte. Es muß etwas von einem Seher, wie die alten Griechen sagten, oder
von einem innern Gesicht, wie die Modernen sagen, in Schiller gesteckt haben.
Denn die eidgenössischen Behörden haben in spätern Jahren alles, was
Schiller gesehen und in seinem „Wilhelm Tell" dargestellt hat, amtlich be¬
glaubigt.
Sollte nicht auch bei Dante seine dichterische Phantasie mehr gethan
haben, als sein Wanderleben? Seine dichterische Phantasie, die sich zum Teil
auf Mitteilungen Ortskundiger, zum Teil aber auch nur auf Landkarten mit
sehr einfachen Andeutungen gestützt haben mag? Bassermann zitirt ein Bei¬
spiel dafür, das eigentlich zur Vorsicht mahnen sollte. Im „Inferno" (27)
läßt Dante die Städte der Romagna in kurzem Überblick an dem Leser vorüber¬
ziehen und sagt dabei von Cesena, das er allein etwas näher bezeichnet:
Und jene, der der Savio rnuscht -vorbei,
Lebt, wie sie daliegt, zwischen Berg und Felde,
Stets zwischen Freiheit hin und Tyrannei.
Diese Andeutungen, die übrigens, wie jeder Unbefangne zugeben wird, so un¬
bestimmt wie möglich sind, stimmen nun mit der geographischen Lage Cesenas
nicht überein. Bassermann, der wirklich jahrelang mit staunenswertem Eifer
und unter allerlei Mühsalen den Spuren Dantes in Italien nachgegangen ist,
hat nach eigner Anschauung gefunden, daß sich bei Cesena, das allerdings am
Beginn der Küstenebene liegt, die Berge so allmählich abstachen, daß die Hügel¬
welle, an die sich die Stadt anschließt, so sanft und anmutig ist, „daß von
dem harten Kontraste, den man nach der (oben erwähnten) Terzine hier er¬
warten sollte, schlechterdings nichts zu finden ist." Bassermann setzt dem
hinzu: „Die Bemerkung scheint fast mehr auf das Bild der Landkarte, als auf
das der Wirklichkeit zurückzuführen." Man kann ebenso gut sagen, daß Dante
sich vielleicht nur eine dichterische Freiheit erlaubt hat, um die politische Lage
Cesenas durch ein der Natur willkürlich entnommnes Bild zu erläutern. Auf
eignen Anschauungen mag dagegen eine Stelle im „Purgatorio" (4, 25) beruhen,
wo Dante den Aufstieg zur ersten Stufe des Fegefeuers mit einer andern
Gegend in der Romagna vergleicht:
Aus nach San Leo gehts, nach Roll nieder,
Der Kulm Bismantovas selbst ist zu zwingen
Durch unsern Fuß. Hier aber branches Gefieder.
Diese wenn auch sehr kargen Andeutungen machen es wahrscheinlich, daß Dante
die Gebirgswanderung, deren einzelne Stationen er mit drei Namen bezeichnet,
selbst gemacht hat. Verständlich werden diese Andeutungen aber erst durch die
ausführliche landschaftliche Beschreibung, die Bassermann nach Wiederholung
dieser Wanderung giebt, und in diesen praktischen Nachprüfungen, die vielleicht
für manche Leser einen kleinen scholastischen Beigeschmack haben mögen, liegt
ein Hauptverdienst seines Buches. Das Scholiastische wird auch durch die
Lebendigkeit und Anschaulichkeit seiner Darstellung stark abgeschwächt. Einige
Sätze, die die zuletzt zitirte Terzine erläutern, sollen den Lesern eine Vor¬
stellung von der Methode Bassermanns geben. „Der Weg nach San Leo
führt von Rimini die Marecchia aufwärts, vorbei unter dem stolz gelegnen,
wohl erhaltnen Schloß und Städtchen von Verruechio und an den Trümmern
andrer Burgen der Malatesta. Schon hier charakterisirt sich die Gegend durch
die auffallend scharfen Bergkuppen, die den Feudalherren willkommne Platze für
ihre Kastelle boten. . . . Nach fünf Stunden bei Pietra Cruda, dem »rauhen
Stein,« wie es treffend heißt, biegt unsre Straße links südlich ab in das Thal
des Nebenflüßchens Masoco und steigt dann am breiten Westhang dieses Thals
in langen Schleifen hinauf. Wenn wir die Höhe erreicht haben, steht bei der
letzten scharfen Biegung nach rechts plötzlich der Fels von San Leo uns
gegenüber. Ein überraschendes Bild. Wir sind im Bogen wieder in das
Marecchiathal gelangt. Gegen dieses vorgeschoben ragt der mächtige Block
scheinbar unersteiglich vor uns auf, und dieser Eindruck wird dadurch noch
verstärkt, daß man rechts und links an ihm vorbei fern in das Flußthal
hinabsieht. Auf der uns zugekehrten Ostseite fällt der Stein vollkommen senk¬
recht ab, hier ist der höchste Punkt, und dieser Teil trügt das gewaltige
Kastell. . . . Von diesem Eckpfeiler laufen die schroffen Wände nach Norden
und Westen, und nach seinem Fuß hinüber senkt sich von dem Punkt, wo wir
zuerst des Felsens ansichtig geworden, unsre Straße, um dann von der Süd¬
seite des Klotzes hin nach dem Städtchen hinauszuziehen, das, von der Höhe
des Klosters überragt, die nach Westen etwas geneigte und nach allen Seiten
steil abfallende Oberflüche des Felsens einnimmt. . . . Eine Ähnlichkeit, wie
sie größer kaum denkbar ist, besteht zwischen San Leo und dem andern von
Dante genannten Gipfel, der Pietra Bismantova. Sie ist etwa sieben Stunden
südlich von Reggio-Emilia dicht bei Castelnuovo ne' Monti an der großen
Heerstraße gelegen, die von der Via Emilia durch die Apenninen nach der
Lunigiana führt. Auch hier zeigt sich uns auf dem Hinweg schon, gleichsam
wie vorbereitend, ein Berg von verwandter Form, der berühmte Fels von
Canossa, der auf eine weite Strecke das ganze Landschaftsbild dominirt. Etwa
eine Stunde, ehe man Castelnuovo erreicht, wird, wieder bei einer Biegung
der Straße, die Pietra Bismantova plötzlich sichtbar. Ihre Gestalt ist viel¬
leicht noch überraschender, aber doch von dem gleichen Charakter wie die von
San Leo. Mitten aus dem Thal ragt, nach allen Seiten frei, der gewaltige
Stein, den der breite Kegel von Matten, Laubholz und Geröllhalden, auf dem
er sitzt, noch mächtiger heraushebt. Die allenthalben senkrecht und gleichmäßig
abfallenden Wände, die nur nach Norden etwas niederer werden, bedingen es,
daß der Fels an seinem Gipfel fast die gleiche Ausdehnung hat wie an seinem
Fuß, und die völlige Kahlheit erhöht noch den Eindruck einer mathematischen
Figur."
Es wird nicht an Leuten fehlen, die diese Art, uns das Verständnis der
Dantischen Naturschilderungen zu erschließen, als umständlich und pedantisch
erklären werden. Aber ohne solche Kommentare sind den Lesern Dantes
^ viele giebt es ohnehin nicht mehr — viele Hunderte von Terzinen ein
toter Ballast, ein Hindernis, das ihnen den Weg zu der tiefen, unvergäng¬
lichen Schönheit und Wahrheit Dantischer Poesie versperrt. Gerade dieser tote
Wortballast wird durch Wassermanns Werk lebendig gemacht, und mancher
Leser, der vielleicht schon nach der Lektüre weniger Gesänge die Göttliche
Komödie enttäuscht und ermüdet aus der Hand fallen läßt, wird diese Gesänge
mit ganz andern Augen ansehen, wenn er zuvor durch Bassermann in das
Land Dantes eingeführt worden ist. Wir schmälern gewiß nicht sein Verdienst,
wenn wir sagen, daß einzelne Abschnitte seines Werks, das sich, wie Philo¬
logen sagen, wesentlich mit den „Realien" zu Dante beschäftigt, den farben¬
prächtigen Bildern in Gregorovius „Wanderjahren in Italien" nahe kommen.
Ein Kuriosum der neuern Dantelitteratur sei hier noch beiläufig erwähnt.
Bassermann hat sich durch seinen Forschungseifer nicht verleiten lassen,
Dantes Wanderungen bis in ungemessene Fernen auszudehnen. Ein schwei¬
zerischer Patriot, Paul Pochhammer, hat dies unternommen, indem er in
einer kleinen Schrift „Dante in der Schweiz" die Behauptung aufgestellt
hat, daß sich der Dichter der Göttlichen Komödie eine Zeit lang auch in
der Schweiz aufgehalten haben müsse. Denn nur in der Schweiz seien die
Schluchten, Wasserfülle, Gießbäche und vornehmlich Gletscher zu sehen, von
denen Dante in seinen Naturschilderungen oft rede. Auch die Bergsteigerei,
die in Dantes Fahrten durch Hölle, Fegefeuer und Paradies eine bedeutende
Rolle spielt, und besonders das wohlthuende Atmen auf freier Berges¬
höhe, das Dante als Symbol für eine sittliche Läuterung braucht, seien
schweizerische Eigentümlichkeiten, die Dante nur in der Schweiz kennen gelernt
haben könne. Eine ernsthafte Widerlegung verdienen diese Phantastereien nicht.
Mit demselben Rechte könnte ein Lokalpatriot ans Trient, wo man Dante
übrigens unlängst ein prunkvolles Denkmal gesetzt hat, kommen, um alles das,
ums der Schweizer gesagt hat, für Welschtirol in Anspruch zu nehmen. Mit
größeren Recht, da sich Dante unzweifelhaft in der Nähe von Trient aufge¬
halten hat, nach einer alten, anscheinend begründeten Überlieferung auf dem
Schlosse von Lizzcmna, einem Besitztum der Grafen von Castelbarco, die am
Hofe der Scaliger in Verona eine hervorragende Rolle spielten, und mit denen
Dante dort bekannt geworden sein mag. Von jenem Schlosse aus hat er das
gewaltige Trümmerfeld, die sogenannten Llg-vini al Narov überblicken können,
die er, wie man in jedem Reiseführer lesen kann, im „Inferno" bei der Er¬
wähnung des Bergsturzes, der zum Kreise der Gewaltthätigen sührt, zum Ver¬
gleiche heranzieht.
Allzuviele so zwingende Beweise für die Anwesenheit Dantes an diesem
oder jenem entlegnen Orte lassen sich freilich nicht führen. Immerhin hat
Bassermann das Verdienst, mit großem Scharfsinn alles beigebracht zu haben,
was zur Aufklärung des Zusammenhangs von Dantes großem Gedicht mit
dieser Welt dienen kann, und dieser Teil der Dantegeographie, der den meisten
Verehrern des Dichters wohl sympathischer sein wird, als die pedantischen
Versuche, auch eine örtliche Beschreibung der Hölle, des Fegefeuers und des
Paradieses graphisch herzustellen, scheint durch Bassermanns Forschungen, in
den Grundzügen wenigstens, endgiltig abgethan zu sein. Neben den Forschungen
in der Natur hatte sich Bassermann, wie schon vorhin erwähnt worden ist,
aber noch eine zweite Aufgabe gestellt: eine Charakteristik von Dantes Be¬
ziehungen zur Kunst seiner Zeit und seines Einflusses auf die Kunst der spätern
Jahrhunderte bis auf die Neuzeit. Eine treffliche Vorarbeit dazu lag in einer
Schrift Volkmanns, Bildliche Darstellungen zu Dantes viviua, (Zoiniuöäia
(Leipzig, 1892) vor. Aber Wassermann ist es gelungen, in italienischen Biblio¬
theken noch manche illustrirten Dantehandschriften aufzufinden, die der Forschung
bisher entgangen waren. Interessante Proben davon bieten die seinem Werke
beigegebnen Tafeln. Allerdings handelt es sich dabei weniger um wirkliche Kunst¬
werke, als um mehr oder weniger geschickte Versuche, die Nätselsprache des
Dichters durch bildliche Darstellungen faßlich zu machen.
Während Bassermann Dantes Beziehungen zur Kunst aber vorzugsweise
vom Standpunkt des Danteforschers oder spezieller des „Dantephilologen" be¬
trachtet und darnach den Wert der verschiednen Danteillustrationen abschätzt, hat
sie nach ihm Franz Xaver Kraus, der Verfasser des zweiten neuern Werks, das
in der Dantelitteratur von epochemachender Bedeutung zu werden verspricht,^)
als Kunsthistoriker behandelt. Er ist, wie er in der Vorrede sagt, „der Dante¬
forschung von zwei Seiten zugeführt worden: einmal von Seiten der Kirchen-,
dann von Seiten der Kunstgeschichte." Das entspricht den beiden Gebieten
der Wissenschaft, die er seit Jahrzehnten litterarisch pflegt, und auf denen er
auch als Hochschullehrer, jetzt an der Universität Freiburg i. B., thätig ist.
Durch diese Studien war Kraus zu der Überzeugung gekommen, daß Dante
nicht bloß den Höhepunkt christlicher Dichtung bezeichnet, sondern daß sein
Geist „auch der treueste Spiegel aller wissenschaftlichen und politischen Er¬
kenntnis seiner Zeit" ist. „Seine wahre Bedeutung aber für alle Folgezeit
liegt darin, daß er die Wurzeln des Verderbnisscs, welches die mittelalterliche
Kirche angriff und die Gesellschaft des vierzehnten Jahrhunderts rasch ihrem
Niedergang entgegenführte, früher und klarer als ein andrer erkannte: kein
zweiter Mensch hat mit deutlicheren Bewußtsein den Finger auf die Wunde
gelegt, deren Heilung die Einheit der abendländischen Kirche gerettet haben
würde."
Nachdem Kraus einmal zu dieser Erkenntnis gelangt war, ergab sich für
ihn die Notwendigkeit, Dantes Dichtungen von neuem zu untersuchen, daraus
seine „Seelengeschichte" zu entwickeln und, da diese ohne eine Kenntnis von
Dantes äußern Lebensverhältnissen unverständlich gewesen wäre, eine neue
Lebensbeschreibung, mit Berücksichtigung des heutigen Standes der Forschung,
aber auch mit scharf eindringender, vor keinen Folgen zurückschreckender Kritik
zu liefern. Das erschien ihm auch nach dem vortrefflichen biographisch-histo¬
rischen Werke Wegeles und nach dem Dantehandbuch Scartazzinis als keine
überflüssige Arbeit, weil er sich bewußt war, nicht nur manches neue beibringen,
manche neue Ausblicke eröffnen zu können, sondern auch weil es die höchste
Zeit war, mit allen tief eingewurzelten Irrtümern und Fabeln aufzuräumen,
die allmählich die geschichtliche Persönlichkeit Dantes zu einer sagenhaften Er¬
scheinung gemacht hatten.
Bei dieser scharfen Sonderung zwischen beglaubigten und unbeglaubigten
Überlieferungen, bei dem Vergleich des urkundlichen Materials mit diesen Über¬
lieferungen und den Darstellungen der ältesten Biographen Dantes ist freilich
an rein lebensgeschichtlicher Nachrichten, die als zuverlässig befunden worden
sind, nicht viel übrig geblieben. Was das Gegenständliche in Dantes Leben
anbelangt, so hat Kraus mehr zerstört als aufgebaut. Aber er wollte ja die
Seelengeschichte Dantes möglichst unverfälscht durch spätere, fremdartige Zu¬
thaten erzählen, und dazu mußte er sich zuvor alles Ballastes entledigen, der
die ursprünglichen Züge entstellt hat. Da er gefunden hat, daß die geistige
Physiognomie des Dichters Züge enthält, die deutsche Einflüsse verraten, hat
er auch der Entdeckung Leos, daß Dantes Beinamen, der wohl ursprünglich
Aldigherius, d. h. Glanz des Zeitalters, gelautet hat, germanisch ist, ein be¬
sondres Gewicht beigelegt. In der That hat Dante als Politiker Ideale vor
Angen gehabt, die die Geschichte der spätern Jahrhunderte als spezifisch ger¬
manisch erwiesen hat. Selbst sein Gedanke einer Universalmonarchie und eines
ununterbrochnem Fortbestehens des römisch-germanischen Reichs hat noch bis in
die neueste Zeit am meisten in deutschen Köpfen herumgespukt, und ab und zu
taucht er noch heute in Flugschriften auf, mit denen phantastische Flachköpfe die
Welt zu beglücken vermeinen. Also schon hierin hat Kraus recht, wenn er sagt,
daß die Wirkung Dantes weit über seine Zeit hinaus bis in die Gegenwart und
in die Zukunft reicht, und daß mau ihn sogar den „kommenden Mann des
zwanzigsten Jahrhunderts" nennen kann. Darauf hätte Dante um freilich
keinen Anspruch, wenn er bloß Phantast, nicht auch Realpolitiker gewesen
wäre. Dies mit großem Scharfsinn erkannt und formulirt zu haben, ist
vielleicht das größte Verdienst, das sich Kraus in den Augen der Dantekenner
erworben haben mag. Er hat sicherlich nichts hineingedeutet, wenn er aus
den Werken Dantes die Überzeugung gewonnen hat, daß Dante zuerst die Be¬
deutung und den sittlichen Wert des modernen Kulturstaats, den Vorzug der
Monarchie vor allen andern Regierungsformen erkannt und — was wohl das
Überraschendste ist — für Italien „den nationalen Gedanken zuerst erfaßt
und damit der ganzen nationalen Entwicklung die Wege gezeigt" hat. Seine
Kirchenpolitik hat schon das Ziel verfolgt, dem Klerus zu Gemüte zu führen,
daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt und daß es die höchste Zeit sei,
die Führung der politischen und bürgerlichen Angelegenheiten den Kindern dieser
Welt zu überlassen. Es ist bekannt, daß es noch mehr als ein halbes Jahr¬
tausend gedauert hat, ehe sich dieses Ideal Dantes, nicht auf friedlichem
Wege, wie er es gehofft, sondern erst durch gewaltsame Umwälzungen ver¬
wirklicht hat. Ganz und gar eigentlich noch nicht. Denn die niedergeworfne
weltliche Herrschaft des Papstes wird von den jeweiligen Trägern des Konstan¬
tinischeu Dominiums immer noch als eine vorübergehende Erscheinung be¬
trachtet, und darum ist die Mission Dantes auch nach dieser Richtung hin
nicht ganz erfüllt. Kraus ist selbst Katholik, dem es gewiß nicht einfüllt, an
den Lehrsätzen seiner Kirche zu rütteln. Aber darin fühlt er sich mit Dante
einig, daß er es verabscheut, daß der politische Katholizismus „die Herrschaft
über die Geister durch die Herrschaft über die Leiber erzwingen will und die
weltliche Gewalt der geistlichen völlig unterordnet." Ist das, in wenigen
Sätzen zusammengefaßt, nicht auch das kirchenpolitische Glaubensbekenntnis
Luthers gewesen?
Kraus, der sonst als unabhängiger Mann der Wissenschaft und als frei¬
sinniger Katholik über die kirchenpolitische Stellung Dantes sehr unbefangen
urteilt, hat diesen Zusammenhang zwischen zwei Zeitaltern und auch zwischen
zwei anscheinend feindlichen Weltanschauungen nicht bemerkt oder vielleicht auch
nicht bemerken wollen. Es wäre auch zu spitzfindig, wenn man wirklich ver¬
suchen wollte, einen Zusammenhang zwischen Dante und Luther künstlich her¬
zustellen. Freilich weiß man nicht, wie schnell auch im Mittelalter und im
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts große Gedanken von Mensch zu Mensch
getragen wurden, wie schnell sie dnrch die Luft flogen. Ohne auf die refor-
mntvrischen Bestrebungen, die auf eine Neugestaltung der Kirche an Haupt und
Gliedern zielten, näher einzugehen, begnügt sich Kraus damit, daß er am
Schlüsse seiner allgemeinen Charakteristik Dantes sagt, er habe das Banner
des idealen und religiösen Katholizismus entfaltet, indem er diesen von der
weltlichen Herrschaft loslösen wollte.
Daß Kraus die Liebe Dantes zu Beatrice als eine poetische Fiktion, als ein
Symbol erklärt hat, das in seinen Dichtungen immer das Organ seiner wechselnden
Welt- und Lebensanschauungen, seiner religiösen und philosophischen jeweiligen
Stimmungen, seiner Ansichten ist, sei nur beiläufig erwähnt. Die Identität der
Dantischen Beatrice mit einem Nachbarskinde, das die Gespielin seiner Jugend
gewesen war, mit Beatrice Portinari, hat schon Scartazzini als eine willkürliche,
durch nichts beweisbare Deutung der spätern Dantebivgraphen und -erklärer preis¬
gegeben. Daß aber doch ein tiefes, inneres Erlebnis Dantes die Grundlinien der
dichterischen Gestalt geliefert habe, weist er nicht ganz von der Hand. Kraus
läßt aber auch dies nicht gelten. Nach Analogie der proper^ausehen Troubadours,
von denen Dante allerdings gewisse Anschauungen, Gedanken und poetische
Ausdrucksformen unzweifelhaft übernommen hat, habe sich der Dichter der
5snov3. vitg. und der Göttlichen Komödie eine Herrin gewählt, die für ihn
eine Allegorie war wie etwa die Musen für die griechischen und römischen
Dichter. Sogar den Namen Beatrice habe er, zum Teil des Wohlklangs
wegen, zum Teil weil er sich glücklich in seine Versmaße einfügte, den Trou¬
badours entlehnt, bei denen er häufig vorkommt; daß diese den wirklichen
Namen ihrer Herrinnen, unter denen sich auch manche nicht ganz allein auf
Seelenfreundschaft gestimmte Damen befanden, in ihren Liedern verschwiegen
und durch einen andern ersetzt haben, ist bekannt. Was wir von Dantes
persönlichen Verhältnissen wissen, beschränkt sich demnach auf die Kenntnis von
seinen Eltern, von seiner Heirat mit einer Frau aus angesehener Familie, mit
der er in Frieden gelebt und mehrere Kinder gehabt hat, und auf seine Teil¬
nahme an den politischen Angelegenheiten seiner Zeit, die für sein persönliches
Behagen unglücklich, sür seinen Ruhm glücklich auffiel. Daraus schöpfte er
jenen gewaltigen Groll, jene souveräne Menschenverachtung, die ihn zur Gött¬
lichen Komödie nicht bloß begeistert, sondern geradezu gedrängt haben.
Bei diesem Mangel an urkundlichen Mitteilungen ist der Wunsch nach
einer authentischen Vorstellung von Dantes äußerer Erscheinung umso be¬
rechtigter. Aber sobald sich der Kritiker, der es mit der Wahrheit ernst und
ehrlich nimmt, auf dieses Gebiet begiebt, stößt er auch wieder allenthalben auf
Hindernisse und Schwierigkeiten. Die Untersuchung über die Bildnisse Dantes
ist eines der besten Kapitel in Kraus Werk. Mit Spannung folgt der Leser
seiner einschneidenden Kritik, die eigentlich nur die allgemeinen Umrisse von
dem populär gewordnen Dantekopf übrig läßt. Selbst das berühmte Fresko
im Bargello in Florenz, das früher für ein Werk Giottos, also eines Zeit¬
genossen Dantes, gehalten wurde, kann vor der Kritik nicht mehr bestehen.
Es ist von einem Schüler Giottos, Taddeo Gaddi, und als es 1840 wieder
ausgefunden wurde, fiel es alsbald einer ungeschickten Auffrischung und Über¬
malung zum Opfer. Einige vorher darnach gemachte Zeichnungen sind künst¬
lerisch so schwach, daß man ihnen mir wenig Vertrauen schenken kann. Es
kommen dann noch ein paar Bildnisse in Handschriften in Betracht; aber ihre
Entstehungszeit ist von Dante noch weiter entfernt als die Wandmalerei im
Bargello. Aus ihnen geht nur soviel hervor, daß schon frühzeitig zwei Dante¬
typen, ein jugendlicher und ein älterer, neben einander hergingen und den
Künstlern als Muster dienten. Auf den ältern geht auch die berühmte Bronze¬
büste im Museo Nazionale in Neapel zurück, die Kraus, wohl mit Recht, in
die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts setzt. Ihr Schöpfer ist un¬
bekannt; es muß aber ein sehr hervorragender Künstler und Dantekenner ge¬
wesen sein. Denn in dieser Büste haben seitdem alle, die sich mit Dante näher
befaßt haben, insbesondre unsre deutschen Landsleute die vollkommenste Ver-
sinnlichung des Dichters nach dem Ideal, das sie sich selbst gebildet, erkannt.
Diese Büste ist denn auch in Nachbildungen soweit verbreitet worden wie kein
zweites Bildnis des Dichters.
Alle großen Künstler der italienischen Renaissance sind auch große Kenner
oder doch große Freunde Dantes gewesen. Für Lucci Signorelli, für Naffael
und Michelangelo haben wir monumentale Beweise dafür. Sandro Votticelli
hat sogar eine ganze Dantehandschrift illustrirt, die uns ein glücklicher Zufall
erhalte» hat. Sie gilt als ein Hauptwerk des Meisters, der in neuester Zeit
durch die „Modernen," die ihn auf dem Umweg über die englischen Prä-
raffaeliten plötzlich kennen und wegen seiner weibischen Charakterlosigkeit, seiner
schwindsüchtiger Gestaltungsart anbeten gelernt haben, zu einer übertriebnen
Schätzung gelangt ist. Es ist übrigens bemerkenswert, daß Wassermann von
Bottieellis Verständnis für das Dantische Gedicht sehr wenig hält, und daß
er ihn darum keineswegs zu den Dante-Illustratoren rechnet, die den höchsten
Anforderungen entsprechen. Kraus ist andrer Meinung. Er sagt, daß „Sandro
Bottieellis Werk unter allen Illustrationen der Commedia den ersten Platz
einnimmt, ... nachdem Michelangelos Schöpfung zu Grunde gegangen." Hier
macht sich aber der treffliche Gelehrte eines kleinen Widerspruchs schuldig.
Denn wenige Seiten später läßt er deutlich erkennen, daß er an die freilich
nicht alte Überlieferung, daß Michelangelo eine Danteausgabe illustrirt habe,
daß dieser kostbare Schatz aber im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bei
einem Schiffbruch zu Grunde gegangen sei, nicht glaube. Er kann recht haben;
aber das Schweigen der Zeitgenossen allein spricht nicht dagegen. Denn
Michelangelo war eine verschlossene Natur, ebenso wie sein großer Nebenbuhler
Leonardo da Vinci, für den Kraus auch kein Zeugnis anzuführen weiß, daß
er sich mit Dante beschäftigt habe. Es ist aber gerade eines vorhanden, noch
dazu eines, das uns die beiden großen Künstler im Streite über Dante vor¬
führt. In einer aus dem ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts stammenden
Biographie Leonardos wird erzählt, daß beide Männer, als man sie eines
Tages — es muß in Florenz um 1505 gewesen sein — als große Dante¬
kenner aufforderte, einen Streit über eine dunkle Stelle zu schlichten, hart
an einander geraten seien. Es ist auch noch nicht ausgeschlossen, daß man in
den Zeichnungen Leonardos noch einige finden wird, die den Beweis liefern
werden, daß er sich auch mit dem Gedanken einer Jllustriruiig Dantes trug.
Auf einem Blatte hat man schon jetzt eine Beatrice zu erkennen geglaubt.
Der kunstgeschichtliche Teil des Kransschen Werkes wird also voraus¬
sichtlich noch mehr Erweiterungen und Berichtigungen erhalten. Im übrigen
kann man aber getrost sagen, daß er alles, was wir jetzt über Dante wissen,
zusammengefaßt und geklärt hat. Der Gegenstand läßt überraschende Ent¬
deckungen nach jahrzehntelanger Durchforschung aller italienischen Archive und
Bibliotheken nicht mehr erwarten. Wir haben also auf lange Zeit hinaus
eine Dante-Eneyklopädie, bei der wir unsern Forschungstrieb beruhigen können.
Wenn wir dem Verfasser dieses Lob spenden, so hat er es dadurch erreicht,
was er an seinem erlauchten Vorgänger in der Danteforschung, an Philalethes,
preist: „durch die weise Auswahl des zu Erklärenden, durch die besonnene
er für das Angelsachsentum so günstige Beginn des spanisch¬
amerikanischen Krieges hat nicht nur in Amerika den Anlaß zu
starken Ausbrüchen der Volksseele auf politischem und merkan¬
tilem Gebiete gegeben, sondern auch die Wogen der seelischen
Erregung über den Ozean zum Mutterlande, wenn auch in ab¬
geschwächten Wellen, hinübergleiten lassen. Die Rede Chamberlains, die der
„kommende" Mann Englands in seiner Hauptfeste Birmingham vor wenigen
Tagen gehalten hat, steht ohne Zweifel unter dem Eindruck, den die allgemeine
Meinung durch den Sieg bei Manila, durch die angebliche Eroberung der
Philippinen und neuerdings von San Juan erhalten hatte. Nur so ist es
zu erklären, daß die englische Diplomatie schon jetzt nicht nur den in China
scharf gewordnen Gegensatz zur russischen Politik offen zugiebt, sondern auch
schon, was die Hauptsache ist, deu zukünftigen Krieg mit dem slawischen
Rivalen einer offnen Erörterung unterzieht. Denn der siegreiche Bruder jen¬
seits des Ozeans ist es, den Chamberlain als Retter und Genossen in dem
grimmen Wettstreite um die künftige Weltherrschaft anruft: „Das verbündete
Angelsachsentum gegen die Welt, die einigen Angelsachsen Herren der Welt,"
das ist der Grundzug seiner Auslassungen. Bezeichnend aber ist es, daß fast
zu derselben Zeit die Bruderseele jenseits des Ozeans durch den Mund des
Senators Hanna ganz ähnlichen Träumen Ausdruck verliehen hat, indem
dieser Politiker, den man als den Maschinisten der politischen Bühne der
Union bezeichnen kann, die Interessengemeinschaft Nordamerikas mit England
betont und eine Expansion der amerikanischen Kraft durch weitgehende Kolo¬
nisation befürwortet hat.
Nun wird man kaum einen Fehler begehen, wenn man diese Reden
lediglich als Ausgeburten diplomatischer Reizbarkeit und Aufgeregtheit ansieht
und demgemäß auf sich wirken läßt. Denn gesetzt auch, daß Nordamerika
wirklich als Sieger aus dem anscheinend so sehr ungleichen Kampfe hervor-
ginge, sich also dadurch als annehmbare Kriegsmacht offenbarte, so ist damit
noch in keiner Weise dargethan, daß sich das Staatsschiff der Union, wenn
die kriegerische Fiebererregung dem ruhigen Pulsschläge des bürgerlichen Lebens
gewichen ist, von dem bisher innegehaltnen Kurse des sichern Erwerbs und
der Dollarverehrung in das Kielwasser des englischen Kriegspanzers ziehen
lassen wird. Amerika ist eine Welt sür sich. Die allmähliche Umwandlung
Gesamtamerikas zu einer wirtschaftlichen Einheit unter der Leitung Nord¬
amerikas ist möglich, wenn auch der bleibende Gegensatz des romanischen
Südens zum angelsächsischen Norden wahrscheinlich ist und zur Belebung des
Ganzen sogar wünschenswert erscheint. Stützpunkte für seinen Handel mit
Europa hat es nicht nötig. Seine handelspolitische Stellung in Ostasien zu
verstärken ist ihm unbenommen — ja es ist anzunehmen, daß es dem Bei¬
spiele der Mächte bei der Besetzung chinesischen Bodens unmittelbar gefolgt
wäre, wenn es nicht längst den Krieg mit Spanien vorausgesehen und sich
die Philippinen als künftige Handelsbasis für Ostasien vorgemerkt hätte.
Daraus ergiebt sich, daß für Amerika ein Grund zu einem Bündnisse mit dem
kriegfürchtenden England in keiner Weise besteht.
Aber vorerst ist auch noch gar nicht bewiesen, daß die Union so schnell
ihres Gegners, einer Macht dritten Ranges im europäischen Kriegskalender,
Herr werden wird. Der Sieg bei Manila, der mit solchem Fanfarengeschmetter
als gewaltige Heldenthat ausgerufen worden ist, kann jedem vorurteilslos
Denkenden in keiner Weise als Beweis der allgemeinen Überlegenheit der
Amerikaner gelten. Die vorhandnen Kräfte waren bei Manila völlig ungleich;
hier die moderne Waffe in bestem Zustande, dort veraltete Systeme, nicht ge¬
zogne Geschütze, meist hölzerne Schiffe, eben gut genug, den Küstensicherheits¬
dienst auf der Inselgruppe zu besorgen. Bei all den andern Treffen haben
sich die Spanier bisher durchaus bewährt; sie haben es bis jetzt thatsächlich
verstanden, die Küste Kubas vor jeder feindlichen Invasion zu bewahren; und
wie die Kämpfe zwischen den beiden ungefähr gleichen atlantischen Flotten aus-
laufen werden, ist zwar nicht abzusehen, doch spricht nichts dagegen, daß die
ohne Zweifel auf spanischer Seite straffere Mannszucht und der ererbte Korps¬
geist der Offiziere am Ende den Ausschlag geben werden. Denn militärischer
Geist läßt sich nicht aus dem Boden stampfen; der Boden giebt nur den
Körper, der Geist ist aus unendlich feineren Stoffe, und alle Millionen Dollar
werden schließlich niemals das ersetzen können, was ein Volk aus sich selbst
heraus giebt: die ideale Hingebung des Einzelnen für sein Volk, für die Inter¬
essen der Gesamtheit. Man wende nicht ein, daß Amerika im Befreiungskriege
gezeigt hat, was ein auch junges Volk in der Hingebung zu leisten vermag;
damals im Kampfe mit dem Mutterlande war Amerika in ganz andrer Lage,
es spielte die Rolle, die Spanien jetzt aufgedrungen ist — es kämpfte um seine
Existenz. Jetzt liegen die Verhältnisse ganz anders; auch jeder Amerikaner
weiß, daß der Krieg um Kuba ein Jnteressenkrieg ist, der schließlich nicht der
Gesamtheit, sondern wenigen Milliardären zu gute kommen wird. Das wird
aber bei der einmal gegebnen Sachlage für absehbare Zeit so bleiben. Und
deshalb wird der freie Amerikaner sich schwerlich dazu verstehen, seine teure
Freiheit, ja sein Leben für die Geldinteressen der Plutokraten aufs Spiel zu
setzen; er wird, kurz gesagt, niemals das für die europäischen Kontinentstaaten
nötige System der allgemeinen Wehrpflicht auf sich nehmen. Was aber die
berühmten amerikanischen Freiwilligenbataillone leisten können, haben sie in den
Treffen mit den Berufssoldaten auf Kuba noch nicht gezeigt; was sie nicht
leisten können, werden sie voraussichtlich noch öfter zu zeigen Gelegenheit
haben.
So also sieht der Bundesgenosse aus, mit dem John Bull die Welt
erobern will. Wir können nicht glauben, daß Chamberlain, der Mann der
Realpolitik, in Wirklichkeit der Meinung ist, durch dieses Bündnis in dem
künftigen Kampfe mit Nußland um die sogenannte Weltherrschaft den Sieg an
Englands Fahnen binden zu können. Hat der englische Staatsmann vielleicht
nur betonen wollen, daß England willens ist, aus seiner stolzen Isolirung
herauszutreten? Ist das patriotische Opfer, das er seinem Volke zuzumuten
in der Zwangslage ist, vielleicht der Verzicht auf diese Politik der Isolirung,
die nur den eignen Willen anerkennt und ihn in allen Weltfragen, ohne durch
Bündnisparagraphen gebunden zu sein, rücksichtslos gegen die Interessen andrer
durchgesetzt hat? Vor einiger Zeit ging das Gerücht durch die politische Presse,
daß die Insel Sansibar an Deutschland abgetreten sei; Lord Valfour zögerte
nicht, auf eine Jnterpellation hin dieses Gerücht als albern zu bezeichnen.
Wir sind ganz der Meinung des Herrn Ministers. Um ein bischen Sansibar,
das freilich in böser Stunde unsern Staatsmännern als sür die Entwicklung
unsrer ostafrikanischen Kolonie entbehrlich erschienen ist, wird sich der Kurs
des deutschen Staatsschiffs nicht im geringsten ablenken lassen.
Aber dieses Gerücht hat doch eine symptomatische Bedeutung, ebenso wie
die Nachricht, die in russischen Blättern spukte, daß Deutschland einen Hafen
an der syrischen Küste zur Wahrung seiner kleinasiatischen Interessen zu besetzen
gedächte. Beide Gerüchte sind Ahnungen der englischen und der russischen
Volksseele, daß zwischen beiden Völkern noch eine dritte Macht stehe, die in
dem zwischen beiden Weltmächten entbrennenden Kampfe von Bedeutung sein
werde. Diese Macht sind die mitteleuropäischen Militärstaaten, die Deutschland
als ihr Haupt anerkennen. Denn die Entscheidung in jenem angeblich um die
Weltherrschaft geführten Kampfe wird nicht in Seeschlachten fallen, sondern in
Landschlachten. In China ist England schon jetzt endgiltig durch Rußland
aus seiner Stellung gedrängt; der Bau der transsibirischen Eisenbahn und die
Besetzung Port Arthurs und Talienwans geben dort Rußland vor jeder andern
Macht ein absolutes Übergewicht, das auch durch ein etwaiges Bündnis Eng-
lands mit Japan nicht in Frage gestellt werden wird, da Japans Landheer
dem Kampfe mit der russischen Macht nicht gewachsen ist. In Persien und
Afghanistan kämpft russischer und englischer Einfluß einen stillen, aber er¬
bitterten Kampf; und hier in Afghanistan, dem Einfallthore nach Indien,
muß die schließliche Entscheidung zwischen beiden Staaten fallen. Gelingt es
Rußland, in Afghanistan festen Fuß zu fassen, so wird ein Zerbröckeln der
englischen Herrschaft in Indien die Folge sein. Eine sofortige Besetzung
Indiens durch Rußland selbst ist gar nicht nötig; ein mit Hilfe Rußlands
unternommener Aufstand einer Bevölkerung von dreihundert Millionen würde
der englischen Weltherrschaft den Todesstoß geben.
Denn darüber ist keine Täuschung möglich: die andern großen Kolonien
Englands sind ja gute Absatzgebiete, geben aber dem Mutterlande nicht die
Mittel zur Weltmacht, die es thatsächlich nur durch seinen indischen Reichtum
hat. Außerdem wird zweifellos Kanada im Laufe der Zeit amerikanisirt
werden, und Australien wird die Verbindung mit dem sieghaft thronenden
Mutterlande zwar gern aufrecht erhalten, für ein geschlagnes England jedoch
kaum zu besondern Opfern bereit sein. Der Gedanke Cecil Rhodes endlich,
ganz Afrika zu einer neuen Domäne Großbritanniens umzuschaffen, dürfte
doch wohl endgiltig als gescheitert anzusehen sein; die verschiednen europäischen
Kolonien, Transvaal und das mit Rußland in Verbindung stehende Abessinien
sind ebenso viele Riegel, die das von Rhodes ursprünglich geplante Vordringen
Englands für immer hindern.
So liegen die Verhältnisse, die den nervös werdenden Staatsmännern
Englands den Ruf nach Bundesgenossen entlockt haben. Der Kampf mit dem
russischen Bären ist unabwendbar; alle Versuche, ihn auf seinem asiatischen
Veutegcmge durch Zettelungen im Orient aufzuhalten, sind vergebens gewesen.
Die Kontinentalkabinette wissen ja sehr gut, daß sich eine in der Türkei ent¬
stehende Feuersbrunst zum europäischen Brande entwickeln muß, der allen Be¬
teiligten so ungeheure Schädigungen verursachen würde, daß für lange Zeit
das sich selbstverständlich vom Kampfe möglichst fern haltende England allein
im Vollbesitze seiner Kraft bleiben würde. So sind die Wirren in Armenien
erfolglos geblieben, so hat der griechische Krieg seinen eigentlichen Zweck ver¬
fehlt. Es sieht ganz so aus, als ob wirklich der Aufrollung der Balkaufrage
die Auseinandersetzung zwischen Rußland und England vorausgehen soll.
Welchen Wert dabei nun die amerikanische Vundesgenosscnschaft für Eng¬
land haben würde, glauben wir vorhin gezeigt zu haben. England braucht
ein schlagfertiges Landheer, um seinen Gegner zu Lande in Schach zu halten,
und das kann ihm weder Amerika noch sonst eine außereuropäische Macht
bieten. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: ein solches Landheer bietet
nur der mitteleuropäische Staatenbund, der stark genug wäre, mit Nußland
zugleich auch das durch die Ereignisse von 1870 dem Slawenreiche in die
Arme getriebne Frankreich, das glücklicherweise einer weitern Steigerung seiner
Leistungsfähigkeit nicht mehr fähig ist, zu gebotner Stunde in die Schranken
zu fordern.
In der That giebt das eine Gruppirung der Mächte, die eines Tags bei
der dauernd bleibenden slawischen Gefahr selbstverständlich sein wird. Wann
aber dieser Tag erscheinen wird, ist noch nicht abzusehen. Die Expansion
Rußlands auf der einen Seite, die jedenfalls wirtschaftlich eintretende Einigung
des amerikanischen Kontinents auf der andern Seite muß die europäischen
Kontinentalstaaten zusammenschließen. Und zwar nicht nur wirtschaftlich,
sondern auch politisch; die Art und Weise ihres Zusammenschlusses ist politisch
im Dreibund vorgebildet. Den festen Kitt dieser Vereinigung wird die Not
der Weltlage liefern. Denn darüber kann kein Streit sein: die slawische Rasse
als die jüngere ist durch die in ihr wirkende Jugendkraft eine gefährliche
Gegnerin für die germanische und die noch altere romanische Nasse. Das
bisher beobachtete Gesetz, daß sich die Sonne der jungen Völker mit dem
Tagesgestirn im Osten erhebt, und daß die müde gewordnen im Westen ver¬
sinken, gilt auch heute noch. Nur fester Zusammenschluß kann deshalb die
Glieder der ältern Rasse gegen die jüngere Schwester schützen. Das Herz dieser
Vereinigung kann natürlich nur Deutschland sein, wo die übrigen germanischen
Staaten Europas ihren natürlichen Mittelpunkt finden, und an das sich alle
Kvntinentalstaaten anschließen müssen, die nicht von dem slawischen Niesen-
staate aufgesogen werden wollen, sondern in ihrer nationalen Eigenheit unter
festem Schirm und Schutz weiter leben wollen.
Denn auch das ist festzuhalten: das Germanentum ist im Gegensatz zum
Slawentum für die weitere Zukunft Hauptträger und Hauptstütze der euro¬
päischen Kultur. Von der müde gewordnen romanischen Rasse ist diese Auf¬
gabe zum Teil schon auf uns übergegangen und wird in Zukunft noch mehr
auf uns übergehen. Wir sind zwar durchaus nicht der Meinung, daß Ru߬
land der Kultur absolut feindlich wäre; wir erkennen selbstverständlich an, daß
im westlichen Rußland die westeuropäische Kultur längst ihre bleibende Stätte
gefunden hat, daß Kunst, Litteratur und Wissenschaft in ihm Vertreter auf¬
weisen können, die sich mit den stolzesten Namen des westeuropäischen Geistes¬
lebens messen dürfen. Aber was sind diese westlichen zivilisirten Teile im
Verhältnis zu der ungeheuern uuzivilisirten Mehrheit des Reichs, das noch
stetig dnrch Anschluß barbarischer Asiaten wächst? Wie es vor der Hand
unmöglich ist, dem so zusammengesetzten Staate eine Verfassung zu geben, so
ist es auch unmöglich, ihm auf einmal die europäische Kultur zu übermitteln.
Noch Jahrhunderte werden vergehen, bis man das russische Volk in seiner
Gesamtheit als Kulturvolk bezeichnen kann, noch jahrhundertelang wird den
westeuropäischen Völkern das Sinnbild der Knute über dem Nussenreiche zu
schweben scheinen.
So ist es nicht nur der Nasseninstinkt, sondern auch der Geistcswillc der
Kulturmenschheit, der das Germanentum auffordert, sich in engem Zusammen¬
schluß seiner Glieder die Existenzbedingung gegen das Slawentum zu schaffen,
und der den übrigen Kulturvölkern Europas anraten wird, diesen Zusammen¬
schluß zu verstärken. Wann sich aber England, seiner Abstammung entsprechend,
der Zugehörigkeit zu diesem „Großgermanien" bewußt werden wird, ist eine
Frage der Zeit — daß es geschehen wird, ist naturnotwendig. Aber freilich,
nicht das England wird Glied des Bundes sein können, wie es jetzt stolz
thronend auf goldnem Stuhl bis in die Wolken zu ragen glaubt. Es ist an¬
zunehmen, daß es erst von seinem goldnen Sitz herabgeschleudert werden wird,
ehe ihm die Erinnerung kommt, daß Germanien das Mutterland der Angel¬
sachsen ist, daß es nur hier die Verbindung mit den Wurzeln seiner Kraft
wiederfinden kann.
Wir können das bedauern, aber nicht hindern; denn es liegt in der Natur
der Sache, daß einem über das Maß hinaus gewachsenen Staate jedes Maß
bei der Abschätzung seiner Größe und Sicherheit verloren geht. Englands
Größe beruht einzig auf seiner Flotte, die das Inselreich unangreifbar macht
und es befähigt, feine volle Kraft an jeder Stelle der Weltmeere zu entfalten.
Durch das Bestreben Englands, seine Flotte auf der Höhe zu halten, ist es
bis jetzt jeder Koalition der Mächte gewachsen gewesen. Dieses Bestreben
wird immer schwerer, je mehr die Mächte, in der Gewißheit, daß die Gegen¬
wart und nächste Zukunft die Entscheidung über die Weltteilung bringt, be¬
müht sind, ihre Flotten ihren Ansprüchen entsprechend stark zu machen, und
dieses Bestreben wird für England mit dem Tage unmöglich werden, wo die
Quelle des indischen Reichtums durch russische Bemühungen verstopft wird.
Es ist eine schlechte Vorbedeutung, daß seit den Tagen Cäsars das Jnselland
einer Invasion immer nur geringen Widerstand hat entgegensetzen können.
Wie gesagt, wir können eine Niederlage Englands nicht hindern; denn
wir sind nicht mehr gewillt, wie bisher jahrhundertelang den Aus an Uou
der Fabel zu spielen. Das Haus Hohenzollern ist seit den Tagen Friedrichs
des Großen mit Recht einer englischen Allianz möglichst aus dem Wege ge¬
gangen. Wir sind nicht mehr gewillt, mit unserm überschüssigen Blute andre
Nationen aufzufrischen, den Kulturdünger der Welt zu liefern. Wir verlangen
nicht nur uusern Platz an der Sonne, sondern wir verlangen auch das Recht,
uus selbst und andern, minder starken Völkern ihre Plätze an der Sonne an¬
zuweisen. Wir brauchen Kolonien, die uns unsre überschüssige Kraft bewahren;
mir zwei Jahrzehnte ungefähr trennen uns von der Zeit, wo das Mutterland
keinen Raum mehr hat für die Überzahl seiner Kinder, wo die Fläche Deutsch¬
lands nicht mehr reicht für die stetig wachsenden Millionen seiner Bewohner.
Aber diese Millionen sollten sich dann nicht sern auf der südlichen Hemisphäre
eine neue Heimat suchen müssen, wenn sie ans Reichsboden bleiben wollten
— denn das wäre für die Minderbemittelten ein Abschied vom Mutterlande
auf Nimmerwiedersehen —, sondern in der Nähe, sodaß die unmittelbare Ver¬
bindung mit dein Mutterlands gewahrt bliebe und dieses selbst im Falle
der Not alle seine Kinder rufen könnte. Das entvölkerte Kleinasien und Syrien
sind solche Länder, wie geschaffen zu einem andern Vaterlande für uns Ger¬
manen. Wenn England Ägypten besetzen konnte, warum sollen wir nicht jene
Länder, die im Mittelalter so manche» Tropfen deutschen Blutes getrunken
haben, bei der künftigen Aufteilung der Türkei von vornherein beanspruchen?
Zum erstenmale, seitdem die Germanen in der Geschichte aufgetreten sind,
ist eine wirkliche Einheit ihrer Stämme geschaffen; das ganze Mittelalter hin¬
durch fehlte die zeutralisirende Macht, die ihre Kräfte zur segensvollen Ver¬
einigung zu zwingen imstande war. Und trotzdem hat auch die zersplitterte
Kraft des Germanentums die ganze Zeit hindurch Probe abgelegt von seiner
Existenzfähigkeit, von seiner Unverwüstlichkeit. Jetzt aber — endlich! — sind
die Stämme dauernd geeint unter einem gesunden Herrscherhause, das durch
die Jahrhunderte mit treuster Arbeit, in Freud und Leid, unermüdlich, geholfen
hat am Werke der Neugeburt des Germanentums, das in sich durch seine
Vollsaftigkeit, durch sein Werden und Wachsen ein Sinnbild der Gesamtnation
geworden ist. Sei uns das Herrschergeschlecht nicht nur ein Sinnbild, sondern
auch ein Vorbild in der Bethätigung unsers Nationalcharakters! Das Wort,
daß am deutschen Wesen die Welt gesunden soll, ist nicht nur geistig zu ver¬
stehen, sondern auch realpolitisch. Nur Deutschland vermag eine slawische
Weltherrschaft zu verhindern, uur ein Großgermanien in der Zukunft das
politische Gleichgewicht der Welt herzustellen.
In dem ersten Artikel über Nietzsche ist S, 180
noch einmal der verhängnisvolle Widerspruch erwähnt worden, der im heutigen Lohn¬
arbeiter steckt. Die aus diesem Widerspruch entspringenden Fragen werden in
diesem Augenblick auf einem Gebiete brennend, an das man bei dem Streit um
den Sozialismus in den siebziger Jahren gar nicht gedacht hat. Die Klagen
über den Arbeitermangel ans den ostelbischen Landgütern, die am 29. Januar Herr
Szmnla im preußischen Abgeordnetenhnnse vorgetragen hat, und die Mitte März
in mehreren Landwirtschaftskammcrn, namentlich in der schlesischen und ostpreußischen,
erörtert worden sind, mögen ja gleich allen agrarischen Klagen sehr übertrieben
sein, aber daß selbst nach Abzug aller Übertreibungen noch eine ernste Gefahr für
die Landwirtschaft dieser Provinzen übrig bleibt, scheint nicht bezweifelt werden zu
können. Halt man die Reden und Berichte über diesen Gegenstand zusammen, so
kommt ungefähr das heraus, was ich über die Ursachen der Entvölkerung des
Landes in „Weder Kommnmsmus noch Kapitalismus" von S. 335 ab gesagt habe,
mir daß gewisse Ursachen, an die man nicht gern denkt, nur flüchtig gestreift
werden, und daß die Einsicht in den organischen Zusammenhang aller dieser Ursachen
zu fehlen scheint. Schulunterricht und Militär versäumt mau nirgends unter den
Ursachen anzuführen. Vom Lohne wird freilich behauptet, er sei, die Naturalien
eingerechnet, sogar höher als in der Industrie. Ob das der Fall ist, mögen solche
Mitarbeiter entscheiden, denen die neusten statistischen Hilfsmittel zur Verfügung
stehen. Im Jafalle wird die Besserung zu spät gekommen sein; im Jahre 1393
Waren die Löhne in Oberschlesien noch erbärmlich und wirklich unzureichend, wie
ich in den Aufsätzen über die Landarbeiter im vierten Bande des genannten Jahr¬
gangs S. 356 auf Grund gewissenhafter persönlicher Erkundigungen dargelegt
habe. Außerdem ist in Schlesien, auf den Rittergütern wenigstens, bei den Tage¬
löhnern von Naturalien gar keine Rede; nicht einmal ein Stück Brot oder einen
Trunk bekommen die Leute außer ihrer Mark Tagelohn. (Zufällig erfahre ich, daß
der Arbeitermangel jetzt auch die Dominien nötigt, zur Mark Geld noch die Kost
hinzuzugeben.) Wenn in den Provinzen, wo die Einrichtung der Jnstleute noch
besteht, darüber geklagt wird, daß die Leute selbst darnach strebten, die letzten Reste
des Naturallvhns in Geld umzuwandeln, so mag das richtig sein; gewiß ist aber,
daß es die Rittergutsbesitzer sind, die den Umwandlungsprozeß eingeleitet haben
in einer Zeit, wo er ihnen bei hohen Getreidepreisen vorteilhaft schien. Die Herren
von der Negierung mögen sich sperren und sträuben, so lange sie wollen, schließlich
werden sie gezwungen sein, die Nichtigkeit dessen anzuerkennen, was ich an ver¬
schiednen Orten über die Frage gesagt habe; sehr kräftig u. a. im zweiten der
Aufsätze über die Landarbeiterfrage S. 401 des vierten Bandes des Jahrgangs
Professor der Rechte
an der Universität Bern, hat am 4. Dezember vorigen Jahres über die Freiheit
der Berufswahl eine Rektoratsrede gehalten (bei Duncker und Humblot in Leipzig
jetzt im Druck erschienen), die nachweist, daß die Beseitigung der gesetzlichen Schranken
der Berufswahlfreiheit vor der Hand nicht viel nutzt, da die sozialen Schranken
mindestens ebenso stark, wo nicht noch stärker hindern, als ehedem die gesetzlichen
gehindert haben. Im Gegensatz zu Ammon und seiner Schule schreibt er: „Gewiß
ist, daß die durch ökonomischen und sozialen Druck erzwungne Hingabe an einen
Beruf nicht bloß das Wohlbefinden des Einzelnen beeinträchtigt, bei dem der Zwie¬
spalt von Sein und Thun zum Leiden wird, sondern auch das Ganze in Mitleiden¬
schaft zieht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden dadurch der Gesellschaft Kräfte
vorenthalten, die zu ihrem Vorteil gewirkt haben würden. Dies wird immer noch
von manchen mit der unerwiesenen und unerweislichen Annahme bestritten, daß
Talente nicht zu ersticken seien, daß jedes Genie sich Bahn breche. Dieses schäd¬
liche Vorurteil stützt sich auf vereinzelte Vorkommnisse und ist so wenig haltbar
wie die Meinung, daß Ideen nicht unterdrückt, Lehren nicht ausgerottet werde»
könnten durch Verfolgung oder Ausmerzung ihrer Bekenner." Lotmar ist der Ansicht,
daß die Arbeiterbewegung die Wirkungen dieser Unfreiheit bedeutend abzuschwächen
verspreche. „Wenn man sich die zahlreichen Maßregeln, die unter dem Namen
des Arbeiterschutzes befaßt werden, vollständig durchgeführt und sachgemäß auf
"lie, die landwirtschaftliche wie jede gewerbliche Arbeit erstreckt denkt, so braucht
Zwar dadurch der Spielraum der Berufswahl für die Besitzlosen nicht erweitert zu
werden, aber da dann die Berufe, die zu ergreifen sie sich gezwungen sehen, eines
großen Teils ihrer Übel entledigt sind, so ist damit die Unfreiheit ihrer Wahl er¬
träglicher geworden."
Umgearbeitet sind die Abschnitte über die Gefühle, Affekte und Willensvor¬
gänge und die Lehre von den Zeitvvrstellungen und dem zeitlichen Verlauf der
Bewußtseinsvorgänge. Unverändert geblieben ist u. a. die Ansicht Wundes vom
Wesen der Seele, wonach diese nichts andres sein soll als „die Summe unsrer
innern Erlebnisse selbst, unsers Vorstellens, Fühlens und Wollens" (S, 516).
Demnach bleibt auch in dieser neuen Ausgabe die Frage unbeantwortet, die wir
bei der Besprechung der zweiten (im vierten Bande des Jahrgangs 1892 S> 47)
aufgeworfen haben, was unsre Seele in den Stunden sei, wo sie weder vorstellt,
noch fühlt, noch will, im Schlaf und in sonstigen Zuständen der Bewußtlosigkeit?
Für den Materialisten ist die Antwort einfach; da er die Erscheinungen des Be¬
wußtseins für bloße Gehirnthätigkeit hält, so ist in Zeiten, wo die betreffenden
Gehirnzellen ruhen, thatsächlich keine Seele vorhanden; aber Wundt huldigt dem
Materialismus so wenig, daß er, weit entfernt davon, das" geistige Leben als eine
bloße Wirkung der Nervenmasse aufzufassen, nur einen mit Wechselwirkung ver-
bundnen Parallelismus zwischen dem geistigen und dem leiblichen Leben annimmt.
Die erste Auflage des vortrefflichen Werkchens, das wir im ersten Bande des
Jahrgangs 1895 Seite 593 besprochen haben, ist schon 1896 vergriffen gewesen.
Daß der Verfasser bei dieser neuen Auflage den so lehrreichen Vortrag über die
soziale Gliederung der Frankfurter Bevölkerung im Mittelalter ausgelassen hat, „weil
er die erstrebte größere Einheitlichkeit störte," thut uns leid. Was die drei neuen
Abhandlungen anlangt, die er hinzugefügt hat, so sind zwei davon eine wirkliche
Bereicherung: die über den Niedergang des Handwerks und die über Arbeits¬
vereinigung und Arbeitsgemeinschaft, Jene faßt die Ergebnisse der auch von uns
wiederholt besprochnen Untersuchungen über die Lage des Handwerks zusammen.
Bücher sieht diese Lage sehr pessimistisch an und schließt mit dem Satze: „Gewiß ist
es nicht leicht zu nehmen, wenn jene breite Schicht selbständiger kleiner Leute, die den
Kern der alten Stadtbevölkernngen bildete, verschwindet, und an ihre Stelle eine
zusammenhanglose Masse abhängiger Existenzen tritt; es ist ein Verlust für die Gesell¬
schaft, für den wir ans städtischem Boden zunächst keinen Ersatz finden," In der
dritten oder eigentlich ersten Beigabe jedoch, die jetzt den Band eröffnet, vermögen
wir keine wertvolle Bereicherung zu erkennen. Der Forderung chronologischer Voll¬
ständigkeit freilich wird im höchsten Grade genügt, wenn das erste Kapitel eines
Buches über die Entstehung der Volkswirtschaft überschrieben ist: Der wirtschaftliche
Urzustand. Aber da der Verfasser darin vor allem klar macht, daß die heutigen
Naturvölker, obwohl sie schon hoch über dem Urzustande stehen, doch von den
Kulturvölkern dnrch eine ungeheure Kluft geschieden sind, die sie aus eigner Kraft
kaum zu überbrücken vermögen, so macht es diese Abhandlung nur um so unbe¬
greiflicher, wie sich der Mensch aus tierischen Anfängen zur Kultur mit ihrer Volks¬
wirtschaft emporgearbeitet haben soll.
ehnjährige Jubiläen begeht man nicht. Deshalb hat mich der
Kaiser jede amtliche Feier des 15. Juni, an dem er vor zehn
Jahren die Regierung antrat, abgelehnt. Doch zu einem Rück¬
blicke fordert ein solcher Zeitraum immerhin ans. Wer damals,
als am 15. Juni 1888 die Purpurstandarte des Neuen Palais
auf Halbmast sank und damit verkündigte, daß der Dulder Kaiser Friedrich
von seinen Leiden erlöst sei, den Prachtbau Friedrichs des Großen betrat, der
empfand sofort, daß ein neuer fester Wille dort zur Herrschaft gelangt sei,
und mit jubelnder Zuversicht begrüßte Deutschland Kaiser Wilhelm II. Wußte
man doch, daß die, die ihn als Prinzen näher gekannt hatten, schon längst
ein friedericianisches Regiment von ihm erwarteten, und empfand man es doch
als eine sichere Bürgschaft für die Zukunft, daß der gewaltige Kanzler auch
den jungen Kaiser beriet, und daß er selbst bemerkt hatte, dieser werde dereinst
sein eigner Reichskanzler sein. Man beachtete damals wenig, daß in dieser
Äußerung Fürst Bismarcks schon die leise Andeutung der kommenden Trennung
lag. Zwar gab Wilhelm II. bei jeder Gelegenheit seiner Verehrung für den
großen Staatsmann Ausdruck, aber sein väterliches Haus hatte ihn dazu
keineswegs erzogen; erst in Bonn während seiner Studienjahre war ihm durch
einen unsrer ersten Historiker das Verständnis und damit die Bewunderung
für die Bedeutung des Kanzlers erschlossen worden. Dazu war der Unter¬
schied des Alters und der Erfahrung zwischen dem Kaiser und seinem ersten
Minister viel zu groß, der Drang des Monarchen, nun anch wirklich zu sein,
was er hieß, und seiner eignen Eingebung zu folgen, viel zu lebhaft, als daß
sich ein Verhältnis hätte bilden können, wie es zwischen Wilhelm I. und
Bismarck bestanden hatte, die ein Vierteljahrhundert der gewaltigsten Ent¬
scheidungen mit einander durchlebt und viele von ihnen gemeinsam herbeigeführt
hatten. Und doch wissen wir jetzt genau, daß die Vorstellung völlig falsch ist,
Wilhelm I. habe seinen Willen ohne weiteres dem Bismarcks untergeordnet,
wir wissen vielmehr, daß er sich immer nur durch Gründe überzeugen, aber
niemals überreden ließ, und daß er gar nicht selten, auch in wichtigen Fällen,
gegen den Minister entschied. Ein solches Verhältnis konnte zwischen dem
Enkel und dem Kanzler nicht entstehen. Die besondern Gründe, die dann llach
kaum zwei Jahren, im März 1890, zur Trennung führten, mögen gewesen
sein, welche sie wollen, der eigentliche Grund lag in der Natur beider Männer.
Aber das Ereignis kam so überraschend und vollzog sich in einer so unerfreu¬
lichen Weise, daß die bisherige warme Sympathie für den Kaiser in weiten
Kreisen plötzlich erkaltete, und an ihre Stelle eine kritische Stimmung trat,
die alles, was der Monarch that und sprach, mit Argwohn und Mißtrauen
aufnahm, und da sie sich nicht offen äußern konnte, sich mit Vorliebe in feind¬
seligen oder höhnischen Anspielungen erging. Man denke z. V. nur an ein so
trauriges Machwerk wie Quiddes „Caligula" und an die zahllosen Auflagen, die
es. nicht zur Ehre der deutschen Leserwelt, erlebt hat. Die Persönlichkeit des
neuen Reichskanzlers und das, was als seine Politik erschien, trug nicht dazu
bei, diese tiefe Verstimmung gerade der ehrlich nationalen Kreise zu beschwichtige»,
und sie wurde um so mehr eine ernste Sache, als die Bahnen, in denen Fürst
Bismarck das Reich gehalten hatte, offenbar in vielen Beziehungen verlassen
wurden, und viele Tausende die scharfe Kritik, die der Einsiedler von Fried-
richsruh an der Politik seines Nachfolgers in seinen Reden und seiner Presse
übte, als berechtigt empfanden. So begann sich die Nation daran zu ge¬
wöhnen, in dem entlassenen Bismarck den eigentlichen Vertreter der nationale»
Interessen, in der Regierung des Kaisers eine Reihe von Verirrungen zu
sehen und mit Nachdruck den „alten Kurs" als deu richtigen dem „neuen,"
dem falschen Kurs entgegenzustellen. In einem parlamentarisch regierten
Lande würde Fürst Bismarck der gewaltige und vermutlich bald siegreiche
Führer der Opposition in der Volksvertretung gewesen sein; in Deutschland
war er es zwar nicht, aber er war mehr: eine Macht für sich, der unermüd¬
liche nie schlummernde Wächter über dem Gedeihen seines Lebenswerkes, des
Reichs. Ein Wort von ihm bestimmte in den weitesten Kreisen das Urteil über
die Regierung.
Die erste Wendung trat ein, als sich der Kaiser im September 1893 von
den ungarischen Manövern aus teilnehmend nach dem Befinden des erkrankten
Fürsten Bismarck erkundigte und ihn im Januar 1894 zu seinem Geburtstage
nach Berlin einlud. Dankbar und wie von einem Alp erlöst empfand man
es, daß die persönliche tiefe Entfremdung der beiden Männer gewichen sei.
Es war die Vorbedingung dafür, daß die in die Opposition getriebnen Kreise
das schmerzlich entbehrte natürliche Verhältnis zu ihrem Kaiser wieder fanden.
Die Entlastung des Grafen Caprivi und die Ernennung des Fürsten Hohenlohe
im Oktober 1894 führten dann weiter; hatte jener sich namentlich durch seinen
Mangel an diplomatischer Erfahrung und durch die unverzeihliche Behandlung
Bismarcks im Juni 1892 Vertrauen und Sympathien verscherzt, so begrüßte
man in Hohenlohe einen geschulten Diplomaten und einen alten Mitarbeiter
Bismarcks. Dies Vertrauen übertrug sich freilich keineswegs aus die wichtigsten
seiner Amtsgenossen. Erst mit deren Rücktritt zu Ende 1897 regte sich kräftiger
die Zuversicht, daß der neueste Kurs wieder in den alten einlenke; die kritischen
Erörterungen der Hamburger Nachrichten wurden sparsamer, und von Monat
zu Monat befestigte sich die beruhigende Überzeugung, die Leitung des Reichs
sei in guten Händen.
Dies hat auch die Sympathien für den Kaiser wieder belebt, doch sind
sie noch kaum auf der Hohe angelangt wie vor zehn Jahren. Der Grund
dafür liegt nicht nur darin, daß alte bittere Erfahrungen noch nachwirken,
sondern auch darin, daß der Gegensatz in dem Wesen des jetzigen Kaisers und
dem seines Großvaters außerordentlich ist. Man hat sich gewöhnt, die ehr¬
würdige Greisengestalt Wilhelms I. schlechtweg als das Musterbild eines
Kaisers zu betrachten, mit dem der Nachfolger unwillkürlich oder bewußterweise
fortwährend verglichen wird, und man vergißt ganz, in Wilhelm II. einen noch
Werdenden zu sehen, während Wilhelm I. der Nation als ein fertiger, an der
Schwelle des Greisenalters stehender Mann entgegentrat. Aber auch abgesehen
von diesem Unterschiede des Alters und der Entwicklungsstufe kann es nicht
leicht zwei verschiedenartigere Herrschergestalten geben. Der fürstliche Stolz,
das fürstliche Pflichtbewußtsein und die persönliche Liebenswürdigkeit sind beiden
gemeinsam. Aber Wilhelm I. war vor allem Preuße und Soldat. Die An¬
nahme der Kaiserkrone war ihm keineswegs die Erfüllung eines Herzens¬
wunsches, sondern eher ein Opfer; seine Bildung war rein militärisch, andre
Interessen lagen ihm anfangs fern. Das Große in ihm war gerade dies, daß er
doch in seine neuen Aufgaben völlig hineinwuchs, daß er mit unermüdlichem
Fleiße die verschiedensten Gegenstände bewältigte und ein wahrer Kaiser nach
dem Herzen seines Volkes wurde. So vermittelte er das wertvolle alte
Preußische Erbe dem neuen Deutschland. Dieser altpreußischen Tradition ent¬
sprach auch die Schlichtheit und Anspruchslosigkeit seiner Gewohnheiten und
seines Auftretens. Er that und sprach immer nur das, was gerade gethan
und gesagt werden mußte. Auch sein persönlicher Wille trat nur selten be¬
sonders hervor, so entscheidend er anch wirkte. Diese harmonische, abgeklärte
Ruhe seines Wesens war freilich erst das Ergebnis einer langen Gewöhnung,
einer ungeheuer» Erfahrung und einer beharrlichen Arbeit an sich selbst, die
Eigenschaft eines hohen Alters. Wie anders Kaiser Wilhelm II.! Ausgewachsen
unter den mächtigen Eindrücken der glorreichen Einheitskriege ist er vor allem
Deutscher und Kaiser, und er wird auch in Preußen fast immer als solcher
bezeichnet, während der Großvater auch nach 1871 in erster Linie König war
und am liebsten so hieß. Er ist gewiß ein ganzer und ein begeisterter Soldat,
vielleicht ein bedeutender Feldherr, aber mindestens ebenso groß ist sein geradezu
fachmännisches Interesse für die junge Marine, für das er in der Geschichte
seines Hauses kein Vorbild hat, und seine Jugendbildung war viel umfassender
als die des Großvaters. Daher seine lebendige Teilnahme an den verschieden¬
artigsten Zweigen des geistigen Lebens, seine Sprachgewandtheit, seine Hin¬
neigung zur bildenden Kunst, in der er nicht nur sehr bestimmte Ansichten
hegt und ausspricht, sondern der er auch nach seinem Geschmack und seinem
Willen große Aufgaben zu stellen liebt, unbekümmert um die Kritik am Wege.
Wilhelm I. zeigte auch in seinen Reisen große Regelmäßigkeit und blieb über¬
wiegend, so zu sagen, zu Hause; Wilhelm II. ist immer unterwegs, er giebt
seinem Kaisertums etwas von der „reisigen Allgegenwart" des mittelalterlichen
Kaisertums in seiner großen Zeit, und er hat darüber hinaus auch Rußland,
Skandinavien, England, Italien und den türkisch-griechischen Orient mehr als
einmal aufgesucht. Wohl wird darüber geredet und gelegentlich auch gespöttelt,
aber man vergißt dabei, daß Kaiser Wilhelm II. vor seiner Thronbesteigung
für einen Fürsten sehr wenig von der Welt gesehen hat, daß er auf diese
Weise allen Teilen der Nation gleich nahe kommt, und daß hente die lebendige
Anschauung fremder Länder und Menschen von ganz besonderen Werte ist. In
dieser Beziehung hat der Kaiser einmal halb im Ernst, halb im Scherz gegen¬
über seinem Bruder geäußert, er habe es nicht so gut gehabt wie dieser, denn
während Prinz Heinrich die Reise um die Welt gemacht hätte, habe er auf
dem Exerzierplatz in Potsdam den Paradeschritt üben müssen. Die frische,
lebhafte Empfänglichkeit, aus der solche Wanderlust entspringt, drängt den
Kaiser auch dazu, seiue Gedanken und Wünsche oft einmal rückhaltlos auszu¬
sprechen, ohne darnach zu fragen, ob alles und jedes einer strengern Prüfung
Stich hält, oder ob dem Worte immer die That folgen kann. Es ist eben
nicht jedermanns Sache, auch nicht Sache jedes Fürsten, nur im Lapidnrstil
und immer wie für die Ewigkeit zu reden; die natürliche Menschlichkeit hat
auch ihr gutes Recht, selbst bei einem Kaiser, und ein Redner ist er. Daß er
seinen Willen sehr entschieden zur Geltung zu bringen versteht, daß er wirklich
sein eigner Kanzler und die Seele seiner Negierung ist, das empfindet und weiß
die Welt. Und er will wie die Macht, so auch die Pracht der Monarchie;
er liebt persönlich den Glanz, und er erfreut sich seiner. Kurz, Wilhelm II.
hat die lange Reihe der Hohenzollern um einen ganz neuen Typus bereichert,
der von dem des Großvaters sehr weit abweicht. Ist das ein Fehler? Ist
es nicht das gute Recht der lebendigen, der wirklichen Monarchie, der Persön¬
lichkeit des Herrschers Raum zu freier Bethätigung zu lassen, auch wenn diese
zuweilen manchem unbequem wird? Dergleichen Schattenseiten muß man um
ihrer unersetzlichen Vorzüge, willen mit in den Kauf nehmen. Jeder moderne
Mensch verlangt heute nach freier Entfaltung seiner Eigentümlichkeit, und dem
höchst gestellten Menschen sollte sie verwehrt sein?
Und dies Glück sollte dem Monarchen versagt sein? Danken wir doch Gott,
daß wir nicht ein parlamentarisches, also ein verkrüppeltes Königtum haben,
das seinen Namen bald der, bald jener Partei leihen muß! Aber eben weil
eine solche ganz und gar undeutsche und im tiefsten Grunde unwahrhaftige
Staatsordnung das stille Ideal gar vieler Leute auch in Deutschland ist, weil
andrerseits jeder Tag zeigt, daß dieser Kaiser wirklich ein Monarch ist, und
nicht eine Puppe irgend welcher Partei, und weil er an die Stelle des alt¬
gewohnten, Ehrfurcht gebietenden und von ihm selbst hochverehrten Idealbilds
einen neuen Herrschertypus gesetzt hat, deshalb wird man nicht müde, auch
jetzt noch nicht, alles, was er sagt und thut, unfreundlich, kleinlich, oft geradezu
boshaft und hämisch zu bekritteln. Deal die nun einmal überall herrschende
Mittelmäßigkeit begreift eben nur das Mittelmäßige und Gewöhnliche; das
Bedeutende und Eigentümliche geht über ihren Horizont.
Das Ausland ist gerechter, und es ist kein Ruhm sür uns Deutsche, die
wir eine ausgesprochne Begabung dafür haben, das Heimische geringzuschätzen,
daß Fremde den Kaiser oft besser zu würdigen wissen als wir. „Geben Sie
uns Ihren Kaiser, hat vor kurzem ein bedeutender Franzose zu einem Deutschen
gesagt, und wir wollten bald wieder die große Nation sein, die wir gewesen
sind." Die Fremden sehen eben, weil sie ferner stehen, nur die großen und
bedeutenden Züge dieses Charakterbildes, die kleinen und unbedeutenden treten
für sie zurück; sie sehen vor allen Dingen, daß Deutschland unter dieser Leitung
rastlos fortschreitet, und daß der Kaiser noch keinen ernsthaften Fehlschlag er¬
litten hat. Daß der Vertrag mit Rußland von 1887 nicht erneuert wurde
und eine gewisse Hinneigung zu England hervortrat, war sicher ein Fehler,
der das französisch-russische Einverständnis beschleunigt hat, aber es ist doch
die Frage, ob dies überhaupt ganz zu vermeiden gewesen wäre, ja ob es nicht
für Deutschland das Gute gehabt hat, Frankreich an die Kette zu legen, und
indem es die Nevancheschreier mehr und mehr überzeugte, daß Rußland nichts
thun wolle, um ihre Hoffnungen zu erfüllen, den Nevanchegedanken überhaupt
abzuschwächen. Das entsprach den Bemühungen des Kaisers, ein erträgliches
Verhältnis zu Frankreich herzustellen, ohne jemals den geringsten Zweifel darüber
zu lassen, daß er den Gewinn von 1870/71 nnter allen Umständen behaupten
werde. Mit Rußland vollends scheint nach dem Tode Alexanders III. das
alte Einvernehmen wiederhergestellt zu sein, trotz des „Zweibundes," während
die taktlosen Grobheiten der englischen Presse ebenso wenig auf die Haltung
Deutschlands wirken, wie ihre gelegentlich damit abwechselnden Sirenengesänge.
Der Abschluß der Handelsverträge war sicherlich übereilt, woran übrigens auch
den Reichstag ein Teil der Schuld trifft, aber daß die gewaltige Steigerung der
Industrie und der Ausfuhr ihnen wenigstens mit zu verdanken ist, das kann
doch auch nicht zweifelhaft sein. Mit Recht wurde die Kolonialpolitik des
Kolonialfeindes Caprivi als verfehlt bezeichnet und verurteilt, vor allem auch
deshalb, weil sie die kaum erwachte Unternehmungslust lähmte; aber seit 1894
trat auch hier eine Wendung ein: der Widerspruch gegen das englisch-kongo¬
staatliche Abkommen, die Intervention im chinesisch-japanischen Kriege zusammen
mit Rußland und Frankreich 1895, das energische Eintreten für Transvaal
1896, die Erwerbung von Kiautschou 1897 und endlich die Erneuerung unsrer
Flotte verrieten einen weiten Blick, eine feste Hand und den Entschluß,
Deutschland einzuführen in die Reihe der Weltmächte und alte Sünden wieder
gut zu machen, soweit das überhaupt noch möglich ist. Man hat jetzt das
erhebende Gefühl: Wir sind überall da, wo wir sein müssen, d. h. wo wir
Interessen haben, und die Welt findet das in der Ordnung. Kein Zweifel,
Deutschland ist in eine neue zukunftsreiche Periode eingetreten.
Leider kann man keineswegs sagen, daß die große Masse des deutschen
Volkes oder seiner Presse diese Politik unterstützte oder auch nur verstünde.
Wieder einmal ist die Regierung der öffentlichen Meinung vorausgegangen,
die oft genug kurzsichtig und kleinlich ist. Sobald irgendwo eine Meldung
auftaucht, Deutschland beabsichtige da und dort eine Einmischung oder Besitz¬
ergreifung, sei es auch nur die Erwerbung einer der unentbehrlichen Kohlen¬
stationen, so wird kleinmütig abgewiegelt und im Tone gekränkter Lammes¬
unschuld versichert, es sei kein Gedanke daran. Es ist immer noch, als
wenn wir unsre geehrten Herren Nachbarn um Entschuldigung bitten müßten,
daß wir uns die Freiheit nehmen, als Nation zu existiren. Wann werden
wir endlich lernen, unsre Ellenbogen kräftig zu brauchen! Unsre Vorfahren
haben das doch recht gut verstanden. Diese Zaghaftigkeit und Schüchternheit
ist ein fremder Tropfen im deutschen Blute, sie ist uns eingeimpft in einer
schlechten Zeit, in der auch das jämmerliche, bedientenhafte Sprichtwort ent¬
standen ist: „Mit dem Hute in der Hand kommt man durchs ganze Land."
Nein, mit dem Schwerte in der Hand kommt man durchs ganze Land, d. h. jetzt
durch die Welt. Wir können gar nicht mehr thun, als was uns die Fremden
so wie so zutrauen; thun wirs doch also! Hat doch keine Macht gewagt,
uns wegen Kiautschou auch nur schief anzusehen! Aber wir wollen noch
immer nicht begreifen, daß jetzt die wichtigsten Aufgaben Deutschlands in der
auswärtigen Politik liegen, daß wir die Grundlagen unsers wirtschaftlichen
Lebens erweitern müssen, wenn wir weiter leben wollen.
Wir stehen erst am Anfange. Möge, wenn wir in fünfzehn Jahren das
fünfundzwauzigjährige Negierungsjubiläum unsers Kaisers, so Gott will, festlich
begehen, sich das entwickelt haben, was er will, möge dann die ganze Nation
einmütig hinter ihm stehen, und möge dann auch erreicht sein, was das Glück
seines Großvaters ausmachte, der volle Einklang zwischen ihm und seinem
Volke! Er selbst läßt sich durch Anfechtungen wenig stören; er geht mit der
heitern Sicherheit des Bewußtseins, das Wohl der Nation zu wollen, dem
Ziele zu, das ihm in der Ferne winkt, und er wird es erreichen, denn er muß
aß sich die Deutschen keiner großen Beliebtheit bei andern
Nationen erfreuen, wird wohl allgemein zugegeben werden, und
wenn man auch mancherlei Gründe dafür vorbringt, lassen sie
sich doch meistens auf das unklare Gefühl zurückführen, das auch
im Leben der Einzelnen den Ausschlag für Sympathie und Anti¬
pathie giebt. Wir mögen sie nicht leiden, sagt schon der Süddeutsche von den
Deutschen nordwärts von der Mainliuie; aus dem Munde von Bayern, die
sich für gute Deutsche und für Politiker halten, kann man vernehmen, sie
seien gegen die Verstärkung der deutscheu Seemacht, weil diese wieder nur den
Preußen zu gute kommen werde. Was wir an Fremden, z. B. den Eng¬
ländern, nur zu oft bewundert haben, das rücksichtslos geltend gemachte starke
Selbstgefühl, die Anmaßung in der Politik wie im Verkehr, erscheint an Unsers-
gleichen unerträglich. Und zum größten Unheil haben wir es trotz aller Auf¬
klärung und aller Verträge noch immer nicht zu wirklicher Verträglichkeit und
Duldsamkeit gebracht. Da liegt die Schuld offenkundig auf beiden Seiten;
man bekümmert sich viel zu gern um das Seelenheil der andern, Mißachtung
und Mißtrauen verstärken immer aufs neue die verhängnisvolle Scheidewand
zwischen Katholiken und Protestanten, und Ungläubige wie Gläubige geben
den Fanatikern verschiedner Farben die Gelegenheit, sich in Angelegenheiten,
die Sache der Einzelnen sein sollten, versetzend einzumischen. Von einem
Parlamentarischen Minister in Österreich ist das Wort verbreitet worden: Wie
sollen wir für einander einstehen, wenn wir einander nicht ausstehen können!
Die Ursachen der unfreundlichen Stimmung, der wir so oft bei unsern
Nachbarn begegnen, liegen nicht immer so offen auf der Hand. Ein Staats¬
mann in den Niederlanden, mit dem ich unlängst über die namentlich auch
während des deutsch-französischen Krieges zur Schau getragne Abneigung seiner
Landsleute gegen Deutschland sprach, erklärte die Holländer für Thoren, die
nicht wissen wollen, daß ihr Feind immer Frankreich gewesen ist, daß noch
Louis Napoleon dem Könige Wilhelm eine Teilung des mitunter lästigen
Belgien nahegelegt hat — eine Lockung, die man im Haag klugerweise nicht
zu verstehen schien —, während die Regentenhäuser und die Länder Branden¬
burg und Oranien immer im besten Einvernehmen blieben, und daß Deutsch¬
land, dem es ja nicht mehr an Häfen mangelt, durch Schädigung Hollands
lediglich die Zahl seiner Feinde vermehren könne. Auch ein älterer Herr,
der schon den belgischen Krieg als Freiwilliger mitgemacht hatte, gab alle
Schuld „den Franschen." Eine Dame wußte jedoch bestimmt, daß Deutschland
die niederländischen Kolonien haben wolle. Darüber konnte man nur lächeln,
und der Schluß bleibt, daß den Holländern die Pariser besser gefallen als die
Deutschen.
In den andern Grenzlündern fristet sich offenbar noch der Glaube fort,
daß Gott das große Mittellaud Europas ausdrücklich geschaffen habe, damit
die Nachbarn auf diesem Boden ihre Kriege führen und von seinen Rändern
Fetzen zur Ergünznng und Befestigung ihres Besitzes herunterschneiden könnten.
Solange die Deutschen sich solche Operationen wohl oder übel gefallen ließen,
waren sie ganz erträgliche Nachbarn; doch nun ist Deutschland einig und stark
und hat sich erlaubt, einige Naubbeute zurückzunehmen: nun sind die Deutschen
Ruhestörer, Habgierige, vor denen man sich nur schützen kann durch eine
Koalition aller Beeinträchtigten und Bedrohten. Sogar Nußland hat über
den einstigen Vasallen zu klagen, der es nach dem letzten Türkenkriege heim¬
tückisch im Stiche ließ. So antwortete ein Russe auf die Frage nach dem
Nihilismus ganz trocken, Nihilisten gebe es in Nußland überhaupt nicht, alle
Gerüchte darüber habe „der Bismarck" erfunden. Und kaum ein Vierteljahr
später wurde Alexander II. hingeschlachtet! Im Elsaß vollzieht sich die
Scheidung der Volksstämme langsam aber merklich, die Juden, die dort noch
vielfach das große Wort führen, folgen mehr und mehr dem Zuge ihres
Herzens noch Paris oder bequemen sich wieder Deutsch zu sprechen, was sie
1870 plötzlich verlernt hatten, wogegen das Franzosentum in Lothringen
wohl lange ein schwer verdaulicher Bissen bleiben dürfte. Die nordschleswigsche
Frage ist erst vor kurzem in diesen Blättern gründlich erörtert worden. In
Schweden scheint man an Rügen und Vorpommern nicht mehr zu denken.
Aber das polnische Reich! Zwar versichern die galizischen Edelleute, sie
beabsichtigen nicht mehr die Wiedereroberung Danzigs, allein sie finden und
verdienen damit nicht mehr Glauben, als mit der so oft wiederholten Be¬
teuerung, daß sich die polnischen und ruthenischen Bauern unter der Herrschaft
der Schlacht« höchst glücklich sühlen. Die durch Erweiterung des Wahlrechts
endlich zum Worte gekommnen Bauer» haben es im österreichischen Neichsrate
an greller Beleuchtung ihrer Glückseligkeit nicht fehlen lassen. Das einst von
Bismarck so klassisch charakterisirte polnische Landsknechttum ist immer bereit,
Schwert oder Feder in den Dienst der Feinde Deutschlands zu stellen; der
Staatsmann Beust verschrieb sich eigens aus Paris deu Journalisten Klacztv,
der sich durch eine Parallele der beiden Kanzler nach Kräften dankbar erwies,
und ein polnischer Minister bewies den besten Willen, das Deutschtum in Öster¬
reich mit gebundnen Händen den Slawen auszuliefern.
Daß es so weit kommen konnte, ist wesentlich eine Folge der vielen
Schwankungen und plötzlichen Schwenkungen in der innern Politik des Kaiser¬
staats, und wer die Zusammensetzung und die Führung der deutschfeindlichen
Heerscharen ins Auge faßt, kann nicht darüber im Zweifel sein, daß der er¬
bitterte Kampf vor allem der Hochburg des Protestantismus gilt. Überall
sieht mau katholische Geistliche eifrigst an der Arbeit, und es ist sicher nicht
zufällig, daß der Jesuitenorden, der bei der Gegenreformation in Böhmen,
Polen, Jnuerösterreich, Tirol sich mit so viel Ruhm bedeckt hat, eben jetzt in
Österreich so auffallend gehegt und gepflegt wird. Kein Wunder daher, daß
die Deutschen zum großen Teil sich Gambettas Losung angeeignet haben: I.ö
vlerieMsnw o'oft 1'causal. Indessen kann die Anwendung des Satzes nicht durch¬
weg als glücklich betrachtet werden. Ja, die Gegenreformation hat unendliches
Unheil über das Reich gebracht, doch ist das bei diesem Anlaß nicht gut zu
machen, und es wäre höchst unpolitisch, Deutsche zurückzuweisen, weil sie
Katholiken sind. Damit würde den Feinden nur Wasser auf die Mühle ge¬
führt. Ihnen liefern ohnehin unüberlegte Reden und Handlungen der soge¬
nannten Radikalen den Vorwand, alle Deutschen antiösterreichischer, nnti-
dhnastischer Gesinnung zu bezichtigen, und ihren Glauben wollen sich die
Tiroler und Oberösterreichcr ebenso wenig wie ihre Kaisertreue rauben lassen.
Es ist überhaupt nicht abzusehen, was Herr schönerer und sein — wie man
sagt besonders unter der Jugend sehr bedeutender — Anhang anstreben. Daß
ihre stürmischen Liebeswerbungen Deutschland nicht erwünscht kommen, ist
natürlich und hinlänglich dargethan; eine neue Auflage der vom Jahre 1848
her berühmten Herrschaft der Wiener „Aula" ist undenkbar, und so bleibt als
Rest des Liebäugelns mit der Kornblume und andern Wahrzeichen die Durch¬
löcherung der „Gemeinbürgschaft" der Deutschen Österreichs. Einig machen
konnte sie Graf Bcideni, aber einig zu bleiben wird augenscheinlich deu Deutschen
noch hente so schwer wie vor zweitausend Jahren.
Das Verschulden an den jetzigen beklagenswerten und gefährlichen Zu¬
ständen im deutschen Österreich darf also nicht den Regierenden allein auf¬
gebürdet werden. Für fremde Nationen und Natiönchen zu schwärmen war ja
ein Gebot des Liberalismus. Die Sage von dem Undanke der Deutschen
gegen die Polen als Retter Wiens, auch von Armstasius Grün bitter beklagt,
geht angeblich noch um, obwohl längst geschichtlich erhärtet ist, daß Johann
Sobieski ein willkommner Mitstreiter, aber keineswegs der Held von 1683
gewesen ist. An der thörichten Verherrlichung der polnischen Freiheitshelden
trotz der wilden Wirtschaft ihrer Nachkommen von 1846, 1848 usw. krankte
ganz Deutschland noch lange. Doch ist weniger erinnerlich, daß deutsche
Dichter es möglich gemacht habe», sogar das Tschechentum zu preisen. Moritz
Hartmann und Alfred Meißner führten sich in hussitischen Gewände in die
deutsche Litteratur ein, und in einem verschollnen Novellenbuche ihres Zeit¬
genossen Uffo Horn aus den vierziger Jahren entsinne ich mich einmal eine
warme Schilderung des tschechischen Patriotismus gefunden zu haben, der es
seinen Anhängern verbot, sich noch der deutschen Sprache zu bedienen. Der
neue hussitische Rausch verflüchtigte sich 1849 bald, wenn auch Echtgefärbte
thätig blieben, durch Anfertigung alter Handschriften und falsche Bezeichnung
von Kunstwerken Vorstellungen von alttschechischer Kultur und Kunst zu ver¬
breiten. Die Menge fand es ersprießlicher, sich der Germanisativn in Ungarn
zur Verfügung zu stellen. Damals und später hat sich gezeigt, daß mit den
Tschechen auszukommen ist, wenn sie eine feste Hand über sich fühlen. Beamte
aus Böhmen sollen dazumal ganz Ungarn überschwemmt und das Regiment
der Minister Bach und Thun verhaßt gemacht haben. Vom General Benedek
ist oft erzählt worden, er habe als Statthalter von Ungarn einem deutschen
Beamten sein Erstaunen darüber ausgedrückt, daß er während seines mehr¬
jährigen Aufenthalts im Lande noch nicht böhmisch (wie man damals sagte)
gelernt habe. Dagegen werden Reisende sich erinnern, daß in Prag zu derselben
Zeit noch das Deutsche die allgemeine Umgangs- und Verkehrssprache war.
Wiederum verdarb der doktrinäre deutsche Liberalismus alles. Unter
dem Minister Schmerling wurde die Pflege der Muttersprache in den Schulen
eingeführt, und was Kenner der Verhältnisse voraussagten, daß in einem
Menschenalter eine ausschließlich tschechische Bevölkerung gezüchtet sein werde,
ist pünktlich in Erfüllung gegangen. Nun steht der Hussitismns wieder in
voller Blüte, die Deutschen sollen nicht nur in Böhmen, sondern anch in
Mähren, in dem österreichischen Schlesien, am liebsten in ganz Osterreich aus¬
gerottet werden, der Utraquismus steht nicht mehr in Frage wie 1419, aber
mit Ausnahme des Fenstersturzes ist die nationale Kampfesweise dieselbe ge¬
blieben. Zwar das Gedächtnis des Johann Huß ist bekanntlich fast aus¬
gelöscht worden durch die Verehrung des Johann von Nepomuk, dafür wissen
die Tschechen, und zwar sie allein, von einem böhmischen Staatsrechte, das
weder von der Wahl des Kurfürsten von der Pfalz noch von der Schlacht
am Weißen Berge berührt wird und mit der Zeit wohl an die Stelle des
österreichischen Staatsrechts treten soll.
Mit nicht geringerer Brutalität verfolgt die magyarische Minderheit die
Vernichtung der deutschen Nationalität wie der slawischen und der rumänischen
Nationalität in Ungarn. Im Besitze aller Machtmittel und sich ohne Scheu
über alle Schranken des Rechts hinwegsetzend, glaubt die Regierung durch
Umlaufe der Personen und der Ortschaften alle Bewohner des weiten Reichs
in Magyaren verwandeln zu können und scheint es für einen großen Erfolg zu
halten, wenn sie mit Hilfe der allbekannten Volkszählungsarithmetik wieder
eine Zunahme des Mcigyarentnms „konstatiren" kann. Was bei solchen
Leistungen einer Politik ü, 1a Potemkin herauskommen wird, ist abzuwarten,
denn das hängt wesentlich auch von der weitern Gestaltung des Verhältnisses
zwischen Österreich und Ungarn ab, und es könnte doch ein Tag anbrechen,
an dem der alte und nun so kräftig genährte Haß aller nichtmagyarischen
Völkerschaften ihren Unterdrückern mit größerer Energie als 1848 den „Gro߬
machtskitzel" austriebe. Welcher Brennstoff von den Kurzsichtigen angehäuft
worden ist, das können wir unter anderm aus der aktenmäßigen Darstellung
in „Deutschtum und Magyarisirung" von Fr. G. Schultheiß (München. 1898)
und aus dem Aufsatz in Ur. 20 der Grenzboten erkennen. Leider giebt es zur
Ergänzung wieder eine beträchtliche Sündenlast des deutschen Liberalismus.
Bis 1848 begegnen wir in der Litteratur nur guter Freundschaft zwischen
Magyaren und Deutschen. Diese bewunderten bereitwillig die phantastische
Ritterlichkeit, die Neiterkünste, die Redegewandtheit, die Räuberromautik, die
feurigen Weine, die Zigeunermusik; die Ungarn ließen es sich gutmütig ge¬
fallen, daß die „Schwaben" wie von altersher Gewerbe, Handel und Ackerbau
betrieben, und daß Pester Buchhandlungen die Werke deutscher Autoren druckten,
wie z. B. Stifters Studien, belletristische Jahrbücher des Grafen Mailath u. v. a.
Erst Kossuth brachte die Lehrmeinung auf, Ungarn gehöre den Magyaren,
und sie müßten die Deutschen, Slowaken. Rumänen usw. mit allen Mitteln
magyarisiren. um nicht selbst erdrückt zu werden. Den ersten Anhang fand er
unter Juden, die stolz darauf waren, Attila und Kalpak (leider nicht auch
sofort den Säbel!) tragen zu dürfen und ihre Namen zu übersetzen oder sich
doch ein ffy oder esp anzuhängen. Indische Journalisten überschwemmten nach
Vilagos Deutschland, Frankreich und England, und deutsche Zeitungen gaben
sich dazu her, die von den „edeln Flüchtlingen," wie Hirschel-Szarvady und
Genossen, aus Ungarn datirten Entstellungen und Übertreibungen zu vertreiben.
In ihrer Verblendung merkten die Liberalen nicht, daß die Angriffe auf alles
Österreichische zugleich das Deutschtum trafen. Ein Fall dieser Art verdient
der Vergessenheit entrissen zu werden. Eine im Banat angesessene Dame
strengte sich rastlos an, die Bevölkerung dort zu rationelleren Betriebe des
Wein- und Tabakbaues anzuleiten. Die Ansiedlung von Pfülzern hatte nicht
den gewünschten Erfolg, weil die Leute sich zu schwer an Klima und Lebens¬
weise gewöhnten. Deshalb entwarf die Dame, ebenso verständig wie edelmütig,
einen andern Kolonisationsplan, wonach Kinder aus Findelhäusern Wiens über¬
nommen, zu Landarbeitern erzogen werden und eine sichere Zukunft erhalten
sollten. Der Plan war so einleuchtend, daß die edeln Flüchtlinge in Wut
geriete». Was auf einem einzelnen Landgute geschah, konnte nachgeahmt
werden, und dann drohte eine neue friedliche und deshalb umso gefährlichere
deutsche Einwanderung. Durch Darstellungen der Verhältnisse in ihrem wahren
Lichte konnten sie kaum Eindruck machen; so erklärten sie schamlos, in Ungarn
solle ein — Botanybai für Österreich geschaffen werden! Das wurde in
deutschen Zeitungen gedruckt, und die österreichische Regierung, die gerade an¬
fing, mit den Magyaren zu liebäugeln, ließ sich einschüchtern, und das in
jedem Sinne wohlthätige Werk mußte unterbleiben! Mehr in das Gebiet des
Komischen gehört ein andrer, ungefähr gleichzeitiger Zug. Als auf dem ge¬
samten Erdboden die Vorbereitungen für die Schillerfeier getroffen wurden,
fand die Nation, die, wie man sagt, ihren eignen Globus hat, daß man un¬
möglich einem dentschen Dichter huldigen dürfe, und ein Patriot entdeckte, daß
im Jahre 1759 auch ein großer magyarischer Dichter geboren sei, Kazinezy.
Der Name genoß allgemeine Unbekanntschaft, doch erfuhr man, dessen Träger
sei Schauspieler und Übersetzer aus dem Deutschen gewesen, und ein Flücht¬
ling, den ich um die Bedeutung Kcizinczys für die ungarische Litteratur be¬
fragte, belehrte mich, er verdiene neben Basedow gestellt zu werden. Und
wirklich rettete der ungarische Basedow sein Vaterland vor der Schmach der
Schillerfeier.
Was alles seitdem teils von Österreich zugelassen, teils von Ungarn verübt
worden ist, wie man die Militärgrenze preisgab, eine politisch und strategisch
hochwichtige Einrichtung, eine Stütze österreichischen Staatsbewußtseins und
der deutschen Sprache, — wie deutsche Bildungsstätten aller Art unterdrückt,
gehemmt, verkürzt wurden usw. — das darf als bekannter vorausgesetzt werden.
Und trotz alledem und alledem wagte auf dem kunstwissenschaftlicher Kongresse
zu „Budapest" 1896 ein Redner aus Wien von der Versöhnung der deutschen
mit der französischen Kunstwissenschaft „auf dem Boden der ungarischen Freiheit"
zu faseln. Solcher Aufmunterung bedarf das Magyarentum umso weniger,
seitdem es sich eine Firma nach der Mode der deutschen Buchhändler beilegen
durfte: Kossuth Nachfolger. Es steht ja alles, wie der Hochmut der Chau-
vinisteu es sich wünschen kann. Die türkische Justiz ist glücklich über die
österreichische, die schreckliche Zeit herübergerettet worden; siebenbürgische Damen,
die nach altem Brauch ihrem Könige in Wien die Beschwerden des Landes
vortragen wollten, wurden von dem Minister Banfsy ab und zur Ruhe ver¬
wiesen mit dem Bedeuten, daß nicht in Wien, sondern in Budapest über die
Angelegenheiten Ungarns entschieden werde; die jüdischen Konsortien, die jetzt
den ganzen ungarischen Handel und Wandel in Händen haben, erfreuen sich
schon in der ganzen Welt eines traurigem Rufs, und während es früher hieß,
Ungarn sei viel zu arm, um seinen richtigen Anteil an dem Aufwande für die
sogenannten gemeinsamen Angelegenheiten zu entrichten, will man heute gar
nichts mehr zahlen, weil man Österreich gar nicht brauche.
Seit wann die Deutschen die Ehre haben, auch die Windischen zu ihren
grimmigen Feinden zu rechnen, wird kaum genau festzustellen sein. Als das
Germanische Museum uoch neu war, hatte es auch Gelehrte in Laibach als
Mitglieder, 1859 entstand ebendaselbst sogar ein Zweigverein der Schiller¬
stiftung, und die armen Slowenen, die gleich den meisten Südslawen am
liebsten die Weiber für sich arbeiten lassen, erachteten es nicht als entwürdigend,
bei deutschen Grundbesitzern in Krain, Körnten, Steiermark Tagelohn zu-ver¬
dienen. Die neue Generation aber ist schon so fortgeschritten, daß die Schul¬
jungen das Denkmal des Dichters Anastcisius Grün entweihen und — wenn
sie in der Mehrheit sind — deutsche Studenten anfallen. Ferner erinnern
wir uns gelesen zu haben, daß sich in den Faustkämpfer im österreichischen
Abgeordnetenhause ein Hofrat aus Slowenien besonders ausgezeichnet habe.
Als ErWecker der windischen Nation wird ein Tierarzt namens — Vlei-
weiß gefeiert.
Gereizt und drangsalirt werden also in Osterreich die Deutschen von allen
Seiten, aber von Abhilfe ihrer Beschwerden ist nichts zu vernehmen. In einer
fremden Zeitung hieß es, das Ministerium befolge die bewährte Methode ge¬
wisser Eltern, die, wenn Besuch erwartet wird, die zum Unfug aufgelegten
Kinder mit Zuckerbrod bestechen, die andern hingegen ernst vermahnen, artig
zu sein wie immer. So hoffe man mit guter Manier das Jubiläumsjahr zu
überleben. Und in der That, wer in Wiener Blättern die täglichen Berichte
über zahllose Jubelfeste beachtet, muß auf die Vermutung kommen, daß sich
mindestens die Wiener auf dem Gipfel ihrer Wünsche befinden.
le amerikanisch-spanischen Kriegswirren haben das schon viel¬
fach vermutete Einverständnis zwischen den monarchischen Eng¬
ländern auf den britische» Inseln und deren republikanischen
Volksgenossen auf dem amerikanischen Festlande klar dargethan.
In Deutschland herrscht gegenwärtig erfreulicherweise ein kräftiger
Engländerhaß, und diese Abneigung wird auch auf Amerika übertragen, das
ja auch an wirtschaftlicher Rücksichtslosigkeit John Bull noch übertrifft. Eng¬
land hofft natürlich bei dem amerikanischen Raubzug im Trüben zu fischen,
indem es dem Bruder Jonnthcm seine moralische Unterstützung leiht und da¬
durch das freilich schon ziemlich in Verruf gekommne europäische Konzert stört.
Wir haben das zweifelhafte Vergnügen, an zwei Orten mit den verbündeten
Angelsachsen zusammenzustoßen, wo sie gerade jetzt ziemlich unverhohlene An¬
strengungen machen, das bisherige Gleichgewicht zu stören, indem sie un¬
berechtigte Ansprüche erheben.
Die Delagoabucht an der südlichen Küste Ostafrikas ist der Zwischen¬
hafen für den afrikanischen Küstenverkehr zwischen uns im Norden und der
Kapkolonie im Süden und zugleich der Zugang zum Meere für die Voeren-
Staaten. Nun liegen die Verhältnisse dort so, daß die Neutralität Portugals
seinen Besitz nicht von fremden Einflüssen unabhängig macht, sondern viel¬
mehr eine stete Gefahr für seine Unabhängigkeit ist. Schon im portugiesischen
Mutterlande vermag der britische Einfluß alles, da der ganze Außenhandel
Portugals in englischen Händen liegt. Das verarmte und mißregierte Land
ist nicht in der Lage, seine Kolonien auf die Dauer zu halten. Deutschland
ist aber ebenso an der Ost- wie an der Westküste Afrikas der Grenzuachbar
Portugals. Nach der leider von Caprivi zu unsern Ungunsten geänderten
Bismarckischen Gebietsaufteilung Südafrikas trennte unsre oft- und südwest-
afrikanischen Besitzungen nur die portugiesische Kolonie Mozambique mit
der Delagoabucht. Ein breiter Gürtel deutschen Einflußgebiets schied die
Kapkolonie von Zentralafrika, und die Boerenstaaten bildeten das vorgelagerte
Mittelstück dieses Länderstreifens. Bis auf eine zwei Meilen breite Heerstraße
längs des Zambesi hat das Deutsche Reich im berüchtigten Zanzibarvertrage
diese ungemein günstige Stellung in unglaublicher Kurzsichtigkeit ohne Gegen¬
leistung Englands aufgegeben und somit seine eignen Schutzgebiete in bedenk¬
licher Weise isolirt. Nur das Dasein der beiden Boerenstaaten macht es vielleicht
möglich, den Verlornen Posten wiederzugewinnen; hier im Norden des Kaplandes
muß eine zielbewußte deutsche Politik einsetzen, und das Telegramm an Krüger
hat auch schon den festen Willen bekundet, das Gladstonische Iianclg ot? den
Engländern zurückzugeben. Die uns noch formell zustehende Zainbesiheerstraße
bedeutet völkerrechtlich keineswegs bloß einen freien Durchzug bis zur Strom-
mündnng, sondern einen territorialen Anspruch, da die Breite der deutschen
Heerstraße ausdrücklich auf zwei deutsche Meilen durch Vertrag festgestellt
worden ist. Der Verbindungsweg berührt den Norden Transvaals und endet
in der Delagoabucht.
Dieser natürliche Hafen ist eine Lebensbedingung für die niederdeutschen
Staatswesen in Südafrika. Er ist die nächste Verbindung mit dem Ozean
und nicht in englischer Hand. Ebenso wichtig ist er für uns, soweit bei
dem Verkehr unsrer afrikanischen Kolonien die Vermeidung englischen Bodens
erwünscht ist. Es war nur eine Schwäche unsrer Politik, daß sie im Zanzibar¬
vertrage die gefährliche Nachbarschaft Englands in Ostafrika zuließ, und es
wäre eine Schwäche unsrer Politik, wenn sie nicht eine weitere Ausdehnung
der englischen Macht verhindern wollte. Aber Englands Absicht geht offenbar
dahin, auch im Süden unser Nachbar zu werden und sich Mozambique wenigstens
teilweise zu sicher». Nach geschickter englischer Art, die wir nur nachahmen
sollten, versucht das englische Kapital einen Vorstoß in dieser Richtung, wie
ja schon Nhodesia zunächst nur eine Finanzoperation war, an deren politischer
Wirkung aber wohl selbst der thörichtste deutsche Philister nicht mehr zweifelt.
Wenn die Neichsregierung englisches Kapital zur wirtschaftlichen Erschließung
Südwestafrikas haben mußte, da schimpflicherweise deutsches nicht zu haben
war, so kann man es Portugal nicht verdenken, wenn es in Mozambique dem
deutschen Beispiel folgt. Freilich Deutschland hat die Kraft, das englische
Kapital politisch in Schach zu halten, aber Portugal ist wehrlos, wenn Eng¬
land dem Kapital den politischen Einfluß und die politische Angliederung
folgen läßt. Die Thatsache steht fest, daß der portugiesische Gouverneur in
London über die Beteiligung englischen Kapitals verhandelt hat, während er
in Berlin nur einen Höflichkeitsbesuch abstattete. Das deutsche Kapital rührte
sich nicht, und in Südafrika geberdet es sich sogar englünderfreundlich und
antinational. Und die Reichsregierung blieb müßig, während die Begünstigung
der chinesischen Anleihe doch weniger wichtig war, als die Finanzirung der
wirtschaftlichen Ausbeutung des Küstenlandes der Delagoabucht. Die politische
Wirkung des Telegramms an Krüger muß sich bei dieser Unthätigkeit ver¬
flüchtige», da die unverschleierte englische Absicht gar nicht bezweifelt
werden kann.
Die Festsetzung englischer Monopolgesellschaften in Mozambique bedeutet
die Erdrosselung der Boerenstaciten, die ohne eignen oder befreundeten Hafen
von England in unabsehbarer Zeit einfach erdrückt werden müssen. Leider
findet die Voerenfrage an amtlicher Stelle in Berlin überhaupt nur wenig
Verständnis; am wenigsten aber in nationaler Hinsicht, während gerade, dieses
Interesse ausschlaggebend sein müßte. Bezeichnend ist die Behandlung des
großen Boerentrecks nach Nordwesten in unser dortiges Schutzgebiet. Der
niederdeutsche Zug war fünftausend Köpfe stark, ein hervorragender Zuwachs
an nationaler Bevölkerung für das menschenarme Land. Aber die kleinliche
Büreaukratie in Berlin und die militärische Beschränktheit im Schutzgebiet
fürchtete den Freiheitssinn der ungebundnen niederdeutschen Viehbauern und
verschloß ihnen das Schutzgebiet, sodaß sie sich mehr tropenwärts in die portu¬
giesische Kolonie Mossamedes wandten. Wir selbst werden des Schutzgebiets
nicht Herr, obgleich tausend deutsche Reiter dort stehen, und weisen doch
deutsche Bauern von den Grenzen, weil sie, während sie bereit gewesen wären,
die Oberhoheit des Reichs anzuerkennen, Selbstverwaltung sür sich fordern
und nicht wehrpflichtig werden wollen. Den entarteten Hottentotten lassen
wir ihre patriarchalische Stammesversassung und die Waffen zum Aufruhr
gegen die deutsche Herrschaft, die uns stammverwandten Boeren aber sollen
mit kleinlichen Polizeiverordnungen regiert werden und womöglich trotz fremder
Staatsangehörigkeit Kriegsdienste leisten. Warum haben wir dieses Ansinnen
nicht an die englischen Händler gestellt, die als Agenten des kaplündischen
Premierministers Cecil Rhodes Gewehre und Munition in das Land schmug¬
gelten? Warum wurden sie mit Sammethandschuhen angefaßt? Bei tausend
Mann Besatzung brauchen wir keine Kriegshilfe der Boeren, die aber im
Kriegsfalle freiwillig und mit Freuden gegen Farbige und Engländer ihre töt-
lichen Büchsen gebrauchen würden. Mit Recht klagen die deutschen Kaufleute
und Pflanzer über die nörgelnde Bureaukratie in unsern Schutzgebieten, die
nicht um der Assessoren und Leutnants, sondern um der deutschen Unternehmer
und Ansiedler willen gewonnen worden sind, wie Bismarck allezeit betont hat. Ehe
wir statt dieser abgewiesenen Boeren fünftausend Deutsche nach Südwestafrika
bringen, kann ein Jahrzehnt vergehen. Was nützen die gewiß erfreulichen
Agitationsreden des Gouverneurs Leutwein im Mutterlande, wenn er selbst
unter der Billigung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts das einzige
einheimische Element Afrikas in so unüberlegter Weise behandelt und damit
nur die Geschäfte Englands besorgt. Ohne das Niederdeutschtum Südafrikas
ist unser Schutzgebiet als Ansiedlung wertlos. Unsre Zukunft beruht auf
dessen Sieg und der Entfernung der Engländer aus Südafrika, wo sie noch
immer selbst im Kapland nur in der Minderheit sind.
Die Delagvabucht ist der Schlüssel zum freien Verkehr für die Boeren
und für uns selbst, ohne sie würden wir England tributpflichtig bleiben. Die
Boeren sind aufs Reich angewiesen, da sie sich auf die Dauer aus eigner Kraft
nicht gegen Englands Übermacht halten können. Und wir sind ohne ihre
Hilfe ja doch auch zu schwach; vereint mit ihnen sind wir England gewachsen,
und seine Stunde wird dann bald schlagen. In Südwestafrika wird der
Kampf, um die Vorherrschaft zwischen Deutschtum und Angelsachsentum zu
Lande ausgefochten werden müssen, und somit haben wir dort Englands
Schiffe nicht zu fürchten. Haben doch sogar die Boeren sich bisher allein des
britischen Löwen erwehren können, wie sehr er auch brüllte. Die Delcigoa-
bucht ist der Zankapfel des künftigen Streits, wir dürfen aber auch schon jetzt
nicht die Hände müßig in den Schoß legen, wo das englische Gold auf fried¬
liche, wirtschaftliche Eroberung ausgeht. Unsre Finanzmächte haben leider noch
nicht auf eignen Füßen stehen und die nationalen Interessen mit ihren Geld¬
interessen verbinden gelernt. Der englische Geldgeber opfert sein Vermögen
auch nicht dem Vaterlande, aber seine Anlagen im Auslande nützen der eng¬
lischen Macht. Unsre deutsche Finanz führt dagegen lieber in einem fremden
Schlepptau. Nur in Kleinasten hat sich jetzt ein weiterer, selbständiger Blick
gezeigt, und die Früchte werden auch nicht ausbleiben. In Anatolien sind
Diplomatie und Börse erfolgreich Hand in Hand gegangen, und in derselben
Weise müssen wir auch die portugiesische Kolonie wirtschaftlich unter unsre
Obhut nehmen. Für Portugal sind wir angenehmere Gläubiger als das
herrische Albion. Wir sind aber in Südafrika überhaupt zu wenig in finan¬
zieller Beziehung beteiligt und zu spät gekommen, während sich England.
Frankreich und Holland schon den Löwenanteil gesichert hatten. Dabei blieben
wir abhängig vom englischen Kapital und traten ohne eigne Thatkraft auf.
Ja angesichts des Telegramms unsers Kaisers an Krüger mahnte der Leiter
einer der größten deutschen Banken vor deutscher Anmaßung und empfahl recht
patriotisch und mutig engsten Anschluß an Großbritannien, und auch jetzt ver-
suchen die Großbanken Stimmung für das friedensbrecherische Nordamerika zu
machen, weil sie dessen wirtschaftliche Rache fürchten. Das zeugt von ge¬
ringem Selbstvertrauen! Wir sind leider gewohnt, alle Hilfe von der Regie¬
rung zu erwarten, statt der Diplomatie durch wirtschaftliche Unternehmungen
die Wege zu ebnen und die Aufgabe zu erleichtern. Zum Schutz deutscher
wirtschaftlicher Interessen könnte die Reichsregieruug schärfer einschreiten, als
wenn bloß ideale nationale Interessen auf dem Spiele stehen. Ist erst der
eigne Geldbeutel in Mitleidenschaft gezogen, so wird auch der Börsenfreisinn
national empfindlich werden.
Der Aufschwung unsrer südafrikanischen Kolonien, die einzeln ebenso wenig
wert sind wie Kamerun und Togo, hängt durchaus von der Möglichkeit einer
Verbindung beider Schutzgebiete ab, wodurch England im Süden ausgeschaltet
wird, und der Traum eines großen britischen Kolonialreichs vom Kap bis zur
Nilmündung zerrinnen muß. Im Norden bleibt England dabei immer noch
mächtig genug. Von einigen Seite» wurde empfohlen, wenn England die
Delagoabucht erwerben sollte, dafür andern Ersatz zu fordern, z. B. Zanzibar
und die Walfischbncht. Aber die unsrer ostafrikanischen Küste vorgelagerten
Inseln Pemba und Zanzibar müssen uns später von selbst als reife Frucht
in den Schoß fallen. Unsre Kosten für unsre festländischen Hufen wären doch
auch vergeblich aufgewandt, wenn wir Zanzibar eintauschen wollten, das wir
freilich vor dem unseligen Vertrag schon in der Gewalt hatten. Zanzibar und
die Walsischbucht gehen übrigens augenscheinlich zurück. In der Walsischbai
bleiben die Engländer bloß aus Eigensinn, wobei sie freilich auch auf einen
Austausch hoffen mögen, bei den? sie uns wieder einmal übervorteilen könnten.
Wir dürfen aber nicht wertlose Dinge als Kompensationen annehmen, die uns
schließlich doch nicht entgehen können, sondern wir müssen England auf dem
Kampfplatz selbst, zunächst mit wirtschaftlichen Waffen, entgegentreten und uns
mit ihm messen. England ist überall bedroht; in Ostasien, in Indien, in
Afghanistan, am Nil und in Südafrika stehen ebenbürtige Gegner auf der
Lauer. Nur dürfen wir nicht aus übergroßer Vorsicht Frankreich und Ru߬
land gegenüber vor allen außereuropäischen Verwicklungen zurückschrecken, denn
auf dem Kolonialschlachtplatz werden sie Schulter an Schulter mit uns gegen
den gemeinsamen englischen Feind kämpfen.
Als Kvmpcnsationsobjekt für die Delagoabucht wird auch die Wieder¬
erlangung der ausschließlichen Bewegungsfreiheit auf Samoa genannt. Dort
sind England und Nordamerika aber mehr Hemmschuhe als Mitregenten für
uns. Der Krieg in den Antillen setzt die Union zur Zeit ganz außer Wett¬
bewerb, wenn sie auch trotz ihrer Schisfsnot gerade jetzt einen kleinen Kreuzer
als Stationsboot nach Apia gesandt hat. Diese Kraftleistung kann uns über
die Schwäche der stolzen Republik nicht täuschen. Inzwischen besorgt aber
England die amerikanischen Geschäfte, indem es die von uns empfohlne Rück-
lehr des auf den Marschallinseln in Haft gehaltnen Königs Malitoa in seine
Heimat nicht erlaubt. Beide Mächte müssen die Fortdauer unsichrer Zustände
und die Schwäche der einheimischen Regierung wünschen, um ihr Verbleiben
auf der Inselgruppe zu rechtfertigen und um den deutschen Interessen Abbruch
zu thun. Aber England ist vereinsamt, und Amerika hat genug mit sich selbst
zu thun. Wir können mühelos unsre Neutralität in Rechnung stellen und
dafür Amerikas Rückzug von Samoa verlangen. Englands Abgang ist dann
nur noch eine Frage der Zeit, und Samoa wird endlich deutsches Schutzgebiet
werdeu, was es schon vor der Kolonialära war. Richters thörichter Wider¬
spruch gegen die erste Dampfersubvention war der Anlaß, daß Bismarck die
deutsche Flagge dort nicht bisher ließ; Bismarck war damals noch nicht klar
über die einzuschlagende Kolonialpolitik und glaubte mit Recht die Zustimmung
der Mehrheit des Reichstags fordern zu müssen. England und später Amerika
nutzten diesen Mißerfolg deutscher Kolonialpolitik, was wir Herrn Richter nicht
vergessen wollen, mit anerkennenswerten Geschick aus, und bald mußten wir
uus mit den beiden Nebenbuhlern in die Herrschaft teilen. Dabei sind die
Interessen Englands dort nur wenig gestiegen und immer noch verhältnis¬
müßig gering im Vergleich zu den deutschen Pflanzungen. Amerika ist geradezu
winzig vertreten, was es durch desto größeres Geschrei wettzumachen sucht.
Freilich, die Waffen der Insulaner sind amerikanischen Ursprungs, wohl auch
der Branntwein, und dies sind die Hauptinteressen der Union, die ans diese
Weise die unterdrückten Völker beglückt.
Bei dieser günstigen Konstellation kann die Lösung der Samoafrage keinen
ernsten Schwierigkeiten begegnen, und unsre Zurückhaltung in der Neutralitäts¬
erklärung dürfte sich belohnen- Weder amerikanisches noch englisches Säbel¬
gerassel kann uns mehr schrecken. Die Proben in Nordindien und im Antillen¬
meer haben den Beweis geliefert, daß das Heldentum der Angelsachsen selbst
den schwächlichsten Gegnern nicht gewachsen ist, sie verdanken ihr politisches
Ansehen nur uoch ihren Geldmitteln. Es wäre freilich eine Ironie des
Schicksals, daß uns Spanien als Ersatz für die Karolinen zum Alleinbesitz
Samocis verHülfe. Jetzt würden die Karolinen auch billig sein. Ein Zollzuschlag
auf die amerikanische Einfuhr als Autwort auf die gleiche amerikanische Maß«
reget würde uus die nötigen Mittel verschaffen.
Die Genialität der Politik Bismarcks zeigte sich darin, daß er den Augen¬
blick zu benutzen wußte, während er das große Ziel nie ans den Augen verlor.
Wir sind nach den Caprivischen Irrfahrten glücklicherweise wieder zu diesem
bewährten Grundsatze zurückgekehrt, und die Gegenwart bietet uns eine treff¬
liche Gelegenheit zur Probe. Die Flottenvorlage ist mit der Forderung eines
ausgiebigern Schutzes der deutschen überseeischen Interessen begründet worden.
Samoa war ihr erster Gegenstand, in Lourenyo Marquez aber berühren sich
nationale, koloniale und Handelsinteressen. Das Angelsachsentum, das auf
seine Weltherrschaft pocht, ist in augenscheinlicher Bedrängnis, wenn es auch
den Traum seiner Weltmacht fast verwirklicht hat. Aber wir müssen bedenken,
daß Amerika noch in der Entwicklung begriffen ist, und seine klägliche Kriegs¬
rüstung darf uns nicht über seine Machtmittel täuschen. Chamberlains ab¬
sichtliche Offenherzigkeiten über die Gemeinsamkeit der Interessen der Engländer
in Europa und in Amerika sind kein leerer Wahn und sind ein keineswegs
ungeschicktes Agitationsmittel. Durch die englisch-amerikanische Weltherrschaft
wird aber Deutschlands aufstrebende Macht am meisten bedroht. Wenn der
germanische Menschenschlag die Zukunft hat, so gilt es, daß sich die festlän¬
dischen Germanen die führende Rolle sichern. England ist in Indien und Ost¬
asien stark bedrängt, Amerika in seinem eignen Wirkungskreis beschäftigt, und
dadurch ist uns die Gelegenheit geboten, den uns bisher entgangnen Gewinn
aus der Gunst des Augenblicks zu ziehen, und jetzt bietet sich die Gelegenheit,
frühere Versäumnisse durch ein entschiednes Vorgehen auszugleichen.
o sehr man die Winkelkonsulenten, wie die Nechtskonsnlenten oft
genannt") werden, zurückzudrängen sucht, und so große Schwierig¬
keiten die Gesetzgebung ihnen in den Weg legt, so wenig Erfolg
ist damit erzielt worden. Auch die zuweilen cmsgesprochne Hoff¬
nung, die sreie Advokatur würde die Winkelkonsulenten beseitigen,
hat sich nicht erfüllt; sie hat sie nicht einmal einzudämmen vermocht. Das
Winkelkonsnlententum ist heute blühender venu je! Diese Thatsache spricht
jedenfalls dafür, daß die Rechtskonsulenten einem wirklichen Bedürfnis dienen.
Zahlreiche Geschäfte des Rechtsverkehrs können wegen ihrer Geringfügigkeit
Und der damit verbundnen Plackereien und Scherereien nicht von Nechtsan-
wälten besorgt werden, sollen diese nicht in ihrer ganzen Stellung hinabgedrückt
werden. Mai? denke z. B. nur an die mit Jnformationseinziehung verbundnen
Laufereien und an das Antichambriren bei Behörden! Dazu kommt, daß selbst
w wichtigern Rechtssachen sich der kleine Mann und die Landbevölkerung nicht
zuerst an einen Rechtsanwalt zu wenden Pflegen, sondern wegen der leichtern
Zugünglichkeit und des gleichen Bildungsgrades an den Winkelkonsulenten als
den Mann ihres Vertrauens. Prozesse, die zur Zuständigkeit der Landgerichte
gehören, übertragen die Konsulenten dann einem Rechtsanwalt, während sie
amtsgerichtliche Rechtsstreitigkeiten vielfach selbst führen. Hier und in großen,
oft recht einträglichen Geschäften, wie Kurateln und Konkursverwaltungen,
findet ein eigentliches Konkurriren mit den Rechtsanwälten statt, sei es, daß
es in dem betreffenden Orte an Nechtsanwälten fehlt, sei es, daß die Amts¬
richter die Übertragung von Geschäften der erwähnten Art an einen Rechts¬
anwalt nicht für zweckmäßig halte». Wenn aber so wichtige Geschäfte von
Rechtskonsulenten besorgt werden sollen, so liegt es in der Natur der Sache,
daß hierfür verschiedene Bürgschaften gefordert werden müssen.
Die Reichsgesetzgebung enthält nur wenig über die Nechtskonsulenten. Es
sind dies Z 143 Absatz 2 der Zivilprozeßordnung, wonach der Amtsrichter
Bevollmächtigte und Beistände, die das mündliche Verhandeln vor Gericht
geschäftsmüßig betreiben, zurückweisen kann; und Z 35 der Gewerbeordnung
(Fassung vom 1. Juli 1883). Darnach ist die gewerbsmäßige Besorgung
fremder Rechtsangelegenheiten und bei Behörden wahrzunehmender Geschäfte
zu untersagen, wenn Thatsachen vorliegen, die die Unzuverlässtgleit des Ge¬
werbetreibenden darthun.
Eine Neuerung, die möglicherweise von der weittragendsten Bedeutung
ist, enthält die Novelle zur Zivilprozeßordnung, wonach Z 143 Absatz 2 ans
die Bevollmächtigten und Beistände nicht angewandt werden soll, denen das
mündliche Verhandeln vor Gericht durch eine von der Justizverwaltung ge-
troffne Anordnung gestattet ist. Bevor wir auf diese Neuerung näher ein¬
gehen, müssen wir auf die beiden vorerwähnten Bestimmungen einen Blick
werfen.
Der § 143 Absatz 2 der Zivilprozeßordnung beruht auf dem Gedanken,
„dem Entstehen und dem verderblichen Treiben der Winkeladvokatur entgegen¬
zutreten." Folgerichtig wäre es daher gewesen, wie dies auch der Abgeordnete
Eysoldt beantragte, daß der Richter alle Personen, die das Verhandeln vor
Gericht gewerbsmäßig betreiben, zurückweisen müsse. Dieser Antrag wurde
aber abgelehnt und dem Richter nnr die Befugnis zur Zurückweisung erteilt.
Damit wurde offiziell die Notwendigkeit einer neben der Rechtsanwaltschaft
bestehenden zweiten Klasse von Parteivertretern für die Amtsgerichte anerkannt.
Es giebt nämlich an vielen Amtsgerichtssitzen keine Rechtsanwälte; auch treten
nicht alle Anwälte vor diesen Gerichten auf, da sie die dahin gehörigen Sachen
als zu unbedeutend zurückweisen. Es ist unbedingt zu verwerfen, daß es dem
Gutdünken des Amtsrichters überlassen bleibt, ob er Rechtskonsnlenten vor
seinem Forum dulden will oder nicht, weil diese Willkür das Ansehen des
Anwaltsstandes schädigt und mit dem Grundgedanken der freien Advokatur
— völlige Unabhängigkeit gegenüber Behörden und Gerichten — unver¬
einbar ist.
Zur Zeit konkurriren, wie schon erwähnt worden ist, bei den Amts-
gerichten die Rechtsanwälte mit den Winkelkonsulenten, und zwar ist der hier
geführte Wettkampf weit schärfer, als man gewöhnlich annimmt. Durch die
Befugnis, Konsulenten als Vertreter anzunehmen oder zurückzuweisen, ist es
dem Amtsrichter möglich, auf diesen Konkurrenzkampf einzuwirken und damit
auf die Praxis der Rechtsanwälte einen großen Einfluß zu gewinnen. Nicht
nur in Orten, wo es an Anwälten fehlt, sondern auch da, wo sie in ge¬
nügender Zahl vorhanden sind, lassen die Amtsrichter Winkelkonsulenten als
Parteivertreter zu. Berücksichtigt man nun, daß sich das Verhältnis zwischen
Richtern und Anwälten zusehends verschlechtert, und bedenkt man weiter, daß
manche Amtsrichter lieber mit den von ihnen abhängigen Konsulenten, als mit
freien Rechtsanwälten verhandeln, so wird man leicht die in diesem Gutdünken
des Richters für den Anwaltsstand liegenden Gefahren einsehen. Ferner
werden dadurch die Parteiinteressen zur Willkür neigenden Einzelrichtern
ausgeliefert. Deshalb liegt die Abschaffung des § 143 Absatz 2 im Interesse
des Anwaltstandes wie der Rechtspflege, und es sind andre Mittel und Wege
ausfindig zu macheu, um das Bedürfnis der Parteivertretung vor den Amts¬
gerichten, soweit dies nicht von den Nechtsanwälten besorgt werden kann, zu
befriedigen. Wie wir später sehen werden, liegt ein solches Mittel darin, daß
nur der Justizverwaltung die Befugnis eingeräumt wird, bestimmten Personen,
die nicht Rechtsanwälte sind, das mündliche Verhandeln vor den Amtsgerichten
zu gestatten. Eine solche Vorschrift müßte den Absatz 2 des Z 143 der Zivil¬
prozeßordnung ersetzen, dürfte aber nicht, wie dies die Novelle vorschreibt, neben
diesem Geltung erhalten. Denn so ist die Bestimmung eine Halbheit. Es
werden dadurch zwei Klassen außerhalb der Rechtsanwaltschaft stehender Partei¬
vertreter für die Amtsgerichte geschaffen, nämlich solche, die ihre Stellung
von der Justizverwaltung, und solche, die sie vom Amtsrichter ableiten. Der
gerügte Übelstand bliebe also nach wie vor bestehen. Die wohlthätige Wirkung,
durch staatlich zugelassene Parteivertretcr die Wiukeladvvkatur einzudämmen,
wäre dadurch völlig unwirksam gemacht, daß den Amtsrichtern auch noch
fernerhin gestattet würde, Winkeladvokaten zur Prozeßführung zuzulassen.
Die Vorschrift des § 35 der Gewerbeordnung, daß unzuverlässigen Per¬
sonen die gewerbsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten und bei
Behörden wahrzunehmender Geschäfte von der Verwaltungsbehörde untersagt
werden muß, hat lediglich deu Zweck, die Auswüchse des Winkelkonsulententums
zu bekämpfen. Das geringe Ansehen, dessen sich die Rechtskonsulenten zur Zeit
erfreuen, und die zahllosen Schwierigkeiten, die ihrem Geschäftsbetrieb allent¬
halben in den Weg gelegt werden, haben eine Menge Gesindel und verkommne
Existenzen diesem Berufe zugeführt. Es ist also nur zu billigen, daß der
Verwaltungsbehörde die Befugnis gegeben wird, zweifelhafte Individuen aus¬
zumerzen. Diese Befugnis wird auch bestehen bleiben, wenn die erwähnte Be¬
stimmung der Novelle eingeführt wird, gleichviel ob es dem Belieben des Amts-
richters noch weiter überlassen bleibt, Wiukelkonsulenten das Auftreten vor
Gericht zu gestatten. Denn außer dieser Thätigkeit vor Gericht bleiben für die
Winkelkonsulenten noch eine Menge Geschäfte übrig, die sich durch eine pro-
zessuale Bestimmung nicht reguliren lassen; gerade in den Orten, wo die Amts¬
richter grundsätzlich keinem Winkelkonsulenten das Auftreten vor Gericht erlauben,
pflegt das Gewerbe in höchster Blüte zu stehen. Ob man die Konzessionen
verallgemeinern oder nur auf die bedeutendern Geschäfte beschränken soll, mag
dahingestellt bleiben. So viel aber ist sicher, daß § 35 der Gewerbeordnung
dadurch nicht berührt wird, ganz abgesehen davon, daß der Staat, wenn er
Personen zum Auftreten vor Gericht autorisire, diese Ermächtigung ihnen
auch muß entziehen können. Wenn man zwischen konzessionirten und nicht
konzessionirten Konsulenten unterscheidet, und die letztern alsdann allein als
Winkelkonsulenten erschienen, so ist die Frage, ob die konzessionirten nicht einer
Disziplin der Gerichte unterliegen müßten, und ob den ihr zugehörigen dann
die Ausübung des Gewerbebetriebs nur auf Grund eines geordneten Verfahrens
entzogen werden könnte.
Die erwähnte Bestimmung der Novelle ist möglicherweise der Ausgangspunkt
für eine zweckentsprechende Regulirung der Rechtskvnsulentenfrage. Während
nämlich die Zivilprozeßordnung bestimmt, daß die Nechtskonsulenten, denen
von der Justizverwaltung die Genehmigung zum Auftreten vor den Amts¬
gerichten erteilt wurde, von den Amtsrichtern nicht zurückgewiesen werden
können, veranlaßt sie zugleich die Justizverwaltung, bestimmte Borschriften für
diese Genehmigung aufzustellen. Im Anschluß an die Novelle hat jüngst
Schiffer*) die Einrichtung von Nechtskonsnlentenschulen vorgeschlagen, deren
erfolgreicher Besuch die Voraussetzung für die Zulassung als Parteivertreter
sein sollte. So nützlich solche Schulen auch wären, so erscheint deren Ein¬
richtung zur Zeit noch als verfrüht. Zunächst handelt es sich um die Bil¬
dung eines der Nechtsanwaltschaft nicht angehörenden Standes von Partei-
Vertretern für die Amtsgerichte. Hierfür hätten nun in erster Linie die
Nechtskonsulenten in Betracht zu kommen, die bisher zur Zufriedenheit des
Publikums vor den Amtsgerichten aufgetreten sind. Von ihnen noch den
Besuch einer Schule zu verlangen, wäre durchaus unbillig. Es könnte sich
also nur um den Nachwuchs handeln. Aber auch für diesen könnte der pflicht¬
mäßige Besuch solcher Schulen doch erst in späterer Zeit von Bedeutung sein,
da die zu deren Einrichtung nötigen Vorbereitungen nicht so rasch beendet und
manche Hindernisse noch zu überwinden sein dürften. Zuerst würde man diese
Vorbereitung mit privaten Mitteln durchführen müssen. Daraus folgt aber
noch nicht, daß der Staat nicht ein gewisses Maß von Kenntnissen als Vor¬
bedingung für die Zulassung als Nechtskonsuleut sollte verlangen können. Als
solche schlägt nun Vresgen") eine zweijährige Praxis als Referendar und die
Ausstellung eiues Befühigungszeugnisses durch den Oberlandesgerichtspräsidenten
vor. Will mau aber auch nichtstudirten Personen die Vertretung amtsgericht¬
licher Sachen überlassen, so bliebe eben nichts andres übrig, als von diesen
eine mehrjährige Beschäftigung als Schreiber bei Gerichten, Nechtsanwälten,
Notaren oder Gerichtsvollziehern zu verlangen. Desgleichen würde sich die
Ablegung einer Prüfung über die Kenntnisse und Fertigkeiten empfehlen, die
ein gerichtlicher Parteivertreter haben muß, wie dies ja auch für die Anstellung
als Gerichtsschreiber oder Gerichtsvollzieher vorgeschrieben ist.
Es genügt aber keineswegs, daß der Staat ein gewisses Maß von Kennt¬
nissen für die von ihm konzessionirten Nechtskonsulenten verlange, sondern es
müssen auch noch Garantien für ihr geschäftliches und moralisches Verhalten
geboten werden, und zwar ist dies noch notwendiger als bei den Rechts¬
anwälten, denen die höhere wissenschaftliche Bildung einen gewissen moralischen
Halt verleiht. Wie wir gesehen haben, werden aber Rechtskonsulenten nicht
nur mit der Parteivertretung, sondern auch mit Kurateln und der Verwaltung
von Konkursen betraut. Daß es aber hierfür ganz besondrer Bürgschaften
bedarf, steht außer Frage. Ähnlich der Ncchtsanwaltsordnung wäre eine
Rechtskonsulentenvrdnung zu erlassen, worin die Voraussetzungen für die Zu¬
lassung anzugeben wären, ferner eine bisher fehlende, allgemein anerkannte Be¬
zeichnung ihrer Berufsstellung, die von ihnen zu verrichtenden Geschäfte und
Disziplinarbestimmungen. Die Disziplinargewalt über die Nechtskonsulenten
hätten in erster Instanz das Amtsgericht des Wohnorts, in zweiter das über¬
geordnete Landgericht. Neben diesen konzessionirten Nechtskonsulenten würde
es noch eine große Anzahl wilder geben, die weniger schädlich wären, weil sie
von den bedeutsamem und größeres Vertrauen verlangenden Geschäften gesetzlich
ausgeschlossen wären.
Bevor wir diesen Aufsatz schließen, erscheint es geboten, die Stellung der
Rechtsanwaltschaft gegenüber dieser Bestimmung der Novelle zu behandeln.
Die Rechtsanwaltschaft verhält sich durchaus ablehnend und hat sich in diesem
Sinne in einer an den Reichstag gerichteten Eingabe des Deutschen Anwalt¬
vereins deutlich ausgesprochen.**) Zunächst wird darin das Bedürfnis zu einem
Rechtsanwaltstand zweiter Klasse geleugnet. Es wären an den meisten Amts¬
gerichtssitzen Rechtsanwälte vorhanden, und dort, wo solche fehlten, würde die
Vertretung von den benachbarten Anwälten übernommen; zur Vertretung im
Vortermin und zur Beweisaufnahme bestehe kein Bedürfnis. Sodann werden
die Nachteile der Konkurrenz mit Wiukelkousulenten hervorgehoben und schließlich
auf das Gefährliche hingewiesen, daß Rechtsagenten, die die Vertretung in der
ersten Instanz übernommen haben, den Anwalt für die Berufungsinstanz sollten
bestimmen können. Jedenfalls wäre diese Vertretung auf die Dauer des Be¬
dürfnisses zu beschränken-
Über die Bedürfnisfrage, die schon erwähnt worden ist, kann an dieser
Stelle um so eher hinweggegangen werden, als es sich die Eingabe hier zu
leicht gemacht hat, indem sie das Bedürfnis ohne jede Begründung einfach
leugnet. Im übrigen will sie glauben mache», daß durch die Novelle eine
Konkurrenz zwischen Nechtsanwälten und Nechtsagenten erst geschaffen werden
solle, während sie in Wirklichkeit schon längst besteht. Der Unterschied liegt
nur darin, daß diese Konkurrenz nach dem gegenwärtigen Recht, soweit die
Vertretung vor den Amtsgerichten in Betracht kommt, von dem Willen des
Amtsrichters, während sie nach der Novelle außerdem noch von der Justiz¬
verwaltung abhängig ist. Daß es aber der Nechtsanwaltschaft würdiger ist,
wenn die Konkurrenzfrage von einer über ihr stehenden Behörde, als von dem
dem Anwalt gesellschaftlich gleichstehenden Amtsrichter gelöst wird, ist außer
Zweifel. Freilich darf daneben auch das freie Zulassuugsrecht des Amtsrichters
nicht bestehen bleiben.
Die Konkurrenz mit den Nechtskonsulenten und die Übelstünde daraus
bleiben also, nur werden die Konkurrenten meist anständigere Menschen sein
als jetzt, da von der Justizverwaltung eher ein „Durchsieben" zu erwarten ist
als vom Amtsrichter. Nach ihrer gegenwärtigen Organisation ist die Rechts¬
anwaltschaft freilich nicht imstande, die Winkelkvnsulenten von den Amtsgerichten
zu verdrängen. Vorschläge, die darauf abzielten, dies durch Schaffung einer
Amtsgerichtsanwaltschaft zu erreichen, die von den Kollegialgerichten aus¬
zuschließen sei (Grenzboten 1896, IV. 112), haben die Rechtsanwälte abgelehnt
oder totgeschwiegen. Auf der einen Seite sträuben sie sich also gegen Reformen,
die ihnen die Möglichkeit verschafft hätten, daß die Vertretung vor den Amts¬
gerichten ausschließlich auf sie übergehe, auf der andern dagegen wehren sie
sich, daß die infolgedessen unvermeidliche und längst bestehende Konkurrenz
würdiger werde!
Es bleibt nun noch die Frage zu prüfen, ob die Zulassung eines Nechts¬
konsulenten als Partcivertretcr bei dem Amtsgerichte auf den Fall und die
Dauer eines Bedürfnisses zu beschränken sei. Da jedoch die Justizverwaltung
verpflichtet ist, vertrauenswürdige Personen hierzu zu berufen, so schließt sich
eine Zulassung von Nechtskonsulenten auf Widerruf von selbst aus. Was die
Besorgung der amtsgerichtlichen Vertretung durch Anwälte aus den benach¬
barten Orten betrifft, so wird sie durch die hohen Neisegebühren erschwert, die
oft zu der geringen Höhe des Prozeßobjekts in gar keinem Verhältnis stehen.
Die Justizverwaltung wird freilich die Bedürfnisfrage zu prüfen haben, doch
muß ihr in dieser Beziehung ein gewisser Spielraum überlassen werden, da
dabei verschiedne Erwägungen lokaler Natur in Betracht kommen. So kann
z. B. der Fall eintreten, selbst an Landgerichtssitzen Nechtskonsulenten zur
Parteivertretung zuzulassen, wenn nicht genügend Anwälte für die amtsgcricht-
lichen Prozesse vorhanden oder von den vorhandnen einzelne an der Aus¬
übung der Praxis verhindert sind.
Freilich wird die Neuerung nicht ohne Rückwirkung auf den Anwaltstand
sein, namentlich werden die weniger beschäftigten und mehr auf das Amts¬
gericht angewiesenen Rechtsanwälte eine Einbuße erleiden; auch wird sich der
Zudrang nach den größern Orten noch stärker vermehren als bisher. Auf der
andern Seite wird aber die Konkurrenz unständiger werden und, wenn das
Zulassungsrecht des Amtsrichters fortfällt, auch die Abhängigkeit von seinem
guten Willen aufhören. Wenn die vorliegende Bestimmung der Novelle zu
einer Organisation eines Anwaltstandes zweiter Klasse führen sollte, so ist die
Möglichkeit durchaus nicht ausgeschlossen, daß Referendare, die ohne diese in
die Nechtsanwaltschaft eingetreten wären, sich dem reformirten Rechtskonsulenten-
ftande zuwenden, der ihnen schneller ein genügendes Auskommen gewährt,
sodaß sich auf diese Weise der Andrang zur Nechtsanwaltschaft vermindern
würde. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist der moralische Gewinn,
den die Nechtsanwaltschaft aus der Schaffung dieses neuen Konsulentenstandes
ziehen würde. Es würden verschiedne Geschäfte, die jetzt von Rechtsanwälten
besorgt werden, obwohl sie sich nicht für sie eignen, auf die Konsulenten über¬
gehen, das berufliche Ehrgefühl und damit das Ansehen der Nechtsanwaltschaft
würde sich steigern. In erhöhtem Maße, als es zur Zeit möglich ist, würde
sie imstande sein, die ihr im Rechtsleben der Nation zukommenden Aufgaben
zu erfüllen, nämlich: die Jndividualrechte gegen alle Angriffe, woher sie auch
kommen mögen, zu schützen.
d. Schure hat seine Geschichte des deutschen Liedes bekanntlich
Hi8toirs an lisci betitelt und uns damit ein sehr großes Kom¬
pliment gemacht. Andre Ausländer — man erzählt bestimmte
Aussprüche Ant. Dvornks — beginnen die deutsche Überlegen¬
heit auch auf diesem Gebiete zu bestreikn. Noch sind sie im
Unrecht; aber wir thun gut, uns durch sie warnen zu lassen und mit der
Sorgfalt über unserm Lied zu wachen, auf die es durch seine Vergangenheit
Anspruch hat.
Keineswegs ist den andern Völkern Lied und Liedgesang fremd: der
Italiener hat seine Liebeslieder und Kanzonen, der Franzose Trinklieder und
Couplets, der Engländer seine Balladen, Skandinavier und Slawen sind reich
an Tanzliedern von mannigfaltiger und eigentümlicher Schönheit. Aber eine
gleiche Bedeutung wie in Deutschland hat das Lied in keinem zweiten Lande
gehabt, nirgends hat es so vollständig die Herzensgeschichte des Volkes er¬
zählt. Das Höchste und Teuerste, was der Deutsche seit Jahrhunderten ge¬
fühlt und gedacht hat: Religion, Vaterland, Heimat, Elternhaus, Freund¬
schaft — das lebt in seinem Liede so gut wie die kleinen Sorgen und Freuden
des Tagewerks, wie die Heimlichkeiten des Familienlebens, wie die Träume
und Gestalten seiner Phantasie. Sage und Wirklichkeit, Himmel, Erde und
Hölle — alles zieht der Deutsche in den Bereich seines Liedes; es ist er¬
haben, ernst, aber ebensogut auch lustig und ausgelassen, frei von jeder Ein¬
seitigkeit, wenn auch die Gemütssaite besonders vorklingt. Das Lied ist
jahrhundertelang eine starke Stütze unsrer politischen und unsrer geistigen
Einheit gewesen. Es fesselt die höhere, aber lockt und hebt auch zugleich die
bescheidnere Bildung; es ist als Vildungsmittel und Kulturbcmd kaum zu
ersetzen.
In dieser Bedeutung hat namentlich das achtzehnte Jahrhundert das
deutsche Lied aufgefaßt. Alle Richtungen in Dichtung und Komposition gingen
damals immer wieder darauf hinaus, das Lied so volkstümlich als möglich zu
gestalten, und die sogenannte Berliner Schule hat, durch I. A. Hillers Ein¬
greifen auf festen Boden gestellt, dieses Ziel in glänzender Weise, mit einer
Nachhaltigkeit erreicht, die bis nahe an die Gegenwart heran zu spüren war.
Die Lust am Lied wuchs fast bis zur Ausartung: es war die Zeit, wo
schließlich jeder Stand für sich seine eignen Lieder haben wollte. Längst ist
diese Hochflut wieder in die natürlichen Dämme zurückgekehrt; schon hat eine
Periode der Trockenheit eingesetzt. Das Lied nimmt heute in dem geistigen
Haushalt des Volkes nicht die gebührende Stellung ein: es wird von oben
und von unten vernachlässigt.
Unser deutsches Lied ist eigentlich ein Studentenkind! Heinrich Albert,
mit dem die Geschichte des neuern deutschen Liedes beginnt, hatte die Leipziger
Pandektensäle noch nicht so lange hinter sich, als er in Königsberg unter die
Komponisten ging; von den weitern Liedersammlungen des siebzehnten Jahr¬
hunderts kamen nicht die schlechtesten von deutschen Universitäten her. Von
des Sperontes „singender Muse" ab über Görner und Gräfe hin lag jahr¬
zehntelang das Geschick des deutschen Liedes in den Händen Leipziger und
Hallischer Studenten, und unter den Männern, die dann Berlin zum Sitz der
Gattung machten, waren gebildete Dilettanten zunächst entscheidender als die
Berufsmusiker. Jedermann weiß, wie sehr sich diese Verhältnisse bis heute
geändert haben, wie sehr das Verständnis und das Interesse für Musik in
unsern studirten Kreisen zurückgegangen sind. Wir haben eine „Kunstgeschichte,"
aber die Musik kommt für sie nicht in Betracht. Den stärksten Beweis für
jenen Rückgang bieten unsre Litteraturgeschichten. In ihnen ist gar nicht oder
nur ganz verschämt von der Musik die Rede. Davon, daß in der Zeit vom
dreißigjährigen Kriege bis zum siebenjährigen nur die Musiker die deutsche
Lhrik am Leben erhalten haben, scheinen die Verfasser nichts zu ahnen.
Der rechte Musiker wird zu stolz sein, um diese Thatsachen zu beklagen,
aber er wird sich die Frage vorzulegen haben, wie weit denn die Musik selbst
daran Schuld trägt, daß sie wichtige Freunde verloren, daß insbesondre das
Lied nicht unbeträchtlich an Macht und Kulturbedeutung eingebüßt hat. Diese
Frage läßt sich ohne weitern historischen Aufwand durch eine einfache Prüfung
der heutigen Leistungen im Lied beantworten. Es kann sich bei dieser Prüfung
nicht darum handeln, alle die Dutzende von gelehrten und ungelehrten, dra-
Pirtcn und nackten Mittelmäßigkeiten in der neuesten Liederernte kritisch durch-
zusiebeu und mit Etiketten zu Versehen. Die Grundsätze und Einflüsse, unter
denen unsre Komponisten arbeiten, sollen beleuchtet, und das Gesamtergebnis,
das Liedertalent der Gegenwart soll bestimmt werden. Auf einzelne Namen
kann nur eingegangen werden, sofern sie eine Richtung bedeuten oder eine
neue Entwicklung der Gattung erschließen.
Der Tod Wagners dient uns hierbei als geeignete Zeitgrenze. Wohl
haben seine Musikdramen die jüngste Liedkomposition beeinflußt, aber bisher
nicht beherrscht. In einer ganz andern Weise steht da die vorausgehende
Generation unter dem Zeichen Schumanns. Ihm ist die große Mehrzahl aller
deutschen Lieder, die in den fünfundzwanzig Jahren vor 1880 ans Tageslicht
traten, tief verpflichtet. Er machte den gemütlichen, rührseligen und äußer¬
lichen Schubertnachzüglern ein Ende und hob die Ansprüche an den geistigen
Gehalt des Liedes ans eine Stufe, die der Durchschnitt der Komponisten so
gut, als es ging, erklimmen mußte. Zu diesem allgemeinen Aufschwung der
Gattung bescherte das Glück jener Zeit eine Reihe Spezialisten von aus¬
geprägter Individualität. Der Liedcrertrag der vorhergehenden Periode ist
demnach für die Gegenwart eine bedeutende, schwer zu überbietende Vorlage.
Er gleicht einem Berge, der ihr die Sonne nimmt, sie zwingt, im Schatten
zu wachsen. Die Meister, die aus der vergangnen Periode am entschiedensten
in die gegenwärtige Liedkomposition hineinragen, sind Adolf Imsen und
Johannes Brahms. Imsen, der 1879 starb, hat schon die Mitlebenden stärker
beeinflußt, als es dem Umfang und der Ausbildung seines Talents entsprach.
Wir werden aber seinen weichen Melodien und seinen pikant formelhaften
Harmonien noch lange begegnen. Denn es ruht Schönheit und Anmut darin;
damit und mit seiner halb unterdrückten Traurigkeit wirkt er auf die Jugend
ähnlich unwiderstehlich, wie Mendelssohn und Chopin gewirkt haben. Das
Herz und das Mitleid, das Geheimnis einer rätselhaften, nicht zu ihreni Recht
gekommnen Individualität, zieht immer wieder zu ihm hin, fast wie zu Goethes
„Mignon."
Auf ganz andern Ursachen ruht der Einfluß, den Vrahms auf die Lied¬
komposition unsrer Tage übt. Hat er ja auch bis vor kurzem noch zu uns
gehört, und gerade der Abend seines Lebens galt ganz vorwiegend dem Lied.
Imsen wird schwinden, Brahms aber wird, wenn mit irgend einem Teil
seiner Werke, so mit seinen Liedern bleiben. Denn sie gehören zur guten
Hälfte mit zum besten Ertrage, den deutsche Musik, deutsche Kunst überhaupt
im neunzehnten Jahrhundert geboten hat. Gesänge wie die „Maggellone-
romanzen" hat diese vorher nicht gehabt und wird sie nicht wieder bekommen.
Denn Brahms, so viele es jetzt auch auf allen Gebiete» versuchen, ist schwer
nachzumachen, und es ist kein Glück und kein Vorteil, wenn seinesgleichen zur
Regel wird. Im Lied ganz besonders ist der weitere Einfluß von Brahms
viel eher zu fürchten, als zu wünschen. Denn Brahms war wie alle die
großen Individualitäten unter den Licderkomponisten der letzten Generation
Romantiker, war ausgesprochen subjektiv. Wie bei Imsen die Empfindsamkeit,
bei Robert Franz der wuchtige Ernst allen Kompositionen den individuellen
Stempel aufdrückt, so kehrt Brahms in den meisten Liedern und Gesängen
den Tiefsinn hervor. Deshalb sind diese Männer, unbeschadet des Werth ihrer
Gesangskompositioncn, zu Mustern nicht geeignet. Am ehesten noch Robert
Franz, der aber die geringste Nachfolge gefunden hat; am wenigsten Johannes
Brahms.
Der subjektive Zug, die Neigung zum Pathos und zum Erhabnen macht
auch Richard Wagner zu einer Gefahr für die Liedkomposition. Außer einigen
Walkürenbässen, die bei Philipp Graf zu Eulenburg begegnen, beschränken
sich die direkten Spuren Wagners im neusten Lied auf Anklänge aus den
„Meistersingern" und aus „Triften," den beiden Werken, die sich schon in der
vorhergehenden Periode am meisten oder ausschließlich bemerklich machen.
Bleibt es beim Anlehnen an die „Meistersinger," so giebt das in den Liedern
häufig eine übertrieben geschäftige Begleitung, aber ebenso oft einen wohl¬
thuend muntern oder kräftigen Ton. Die Tristanmotive hingegen richten im
Liede bedenklicheres Unheil an. Sie und die breiten Brahmsschritte immer
wieder von Unbefugter nachgeahmt zu finden, wirkt beim Studium des neuen
Liedes unangenehmer als sonst etwas. Unter allen Bildungen künstlerischer
Unechtheit und Pose schädigen sie den Charakter und die Physiognomie des
deutschen Liedes am meisten, machen es grau und schwerfällig, verklagen unsre
Zeit bei der Nachwelt als müde, tödlich erschöpft, unfruchtbar und lügnerisch.
Das deutsche Lied hat schon manchen argen Exzeß heil überstanden, hat
Perioden grenzenloser Tugend und Zufriedenheit vertragen, Ströme falscher
Thränen sich wieder verlaufen sehen — aber von diesen gespenstischen Philo¬
sophenlarven kann es nicht schnell genug wieder befreit werden. Gewiß, sie
rühren nicht bloß von Brahms und von Wagner her, sondern allgemein
geistige Krankheitselemente, die kurz in die Namen Schopenhauer und Nietzsche
zusammengefaßt werden können, sind ihnen beigemischt. Den Pessimismus in
allen Ehren! Aber zum Kokettiren ist er nicht da, und am wenigsten im Lied,
das für Lügen aller Art zu wenig Raum hat. Daß mans aber fortdauernd
damit versucht, ist eine der Ursachen, die dem Lied in unsrer Zeit die Besten
entfremden und seiner natürlichen Stellung empfindlichen Abbruch thun muß.
Wagners Einfluß beschränkt sich aber keineswegs auf das Eindringen
pathetischer Töne in das neue Lied. Er hat die Fähigkeit dramatischer An¬
schauung und Empfindung in unsrer Zeit überhaupt mächtig gesteigert, und
das macht sich in der jüngsten Liedkomposition immer breiter fühlbar. Es
ist seit lange schon von einer förmlichen dramatischen Bewegung ergriffen.
Ihr Hauptträger in der vorhergehenden Periode war Franz Liszt, ihm folgten
Peter Cornelius und mit gewissen abschwächenden Eigenheiten Hans Sommer.
Liszt namentlich hat es trefflich verstanden, die dramatische Glut seiner Gesänge
in die knappen Formen des Lieds zu dämmen und auch Texte, die Szenen
gleichen, zu wunderbar belebten Liedern zu gestalten. In unsrer jüngsten
Liederperivde droht dieser an Anhang ungemein gewachsene, dramatische Geist
das Haus, in das er eingezogen ist, zu zerstören. Die Liedformen sind ihm
zu eng oder zu unbedeutend, er will sie durch die Kantate ersetzen. Der
Prozeß ist an und für sich nichts neues, die ganze Geschichte des Lieds bewegt
sich um den Gegensatz zwischen Volkslied und Kunstlied, um Verlassen und
Wiederaufsuchen der einfachen Formen auf höherer Stufe. Der dramatischen
Kantatenzeit, der Zeit der ungeheuern Quodlibets am Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts folgte das Tanzlied des Sperontes, den Odenkompvsitionen der
Reese, Sack und Ruhe an seinem Ausgang die Berliner Schule mit der
Devise: Volksweisen, nur Volksweisen. An und für sich ist die eine Gattung
so berechtigt wie die andre, beide können neben einander so gut bestehen wie
Dorf und Stadt, beide ergänzen sich, und beiden ist durch die Dichtungen
Gebiet und Wirkungskreis bestimmt. Kommt es, wie jetzt wieder, zu Grenz¬
verwischungen, strebt das Lied den gemischten Formen zu, so ist das immer
ein Zeichen von Krankheit, von Überdruß, vom Sinken des Liedgeistes.
Die Thorheit, daß man das für die Familie, für die Arbeit, die Geselligkeit
bestimmte Lied ins große Konzert eingeführt hat, beginnt sich zu rächen. Es
giebt noch Institute, die es für stillos halten, wenn nach einer Veethovenschen
Sinfonie die erregte, erweiterte Seele des fähigen Hörers in die idyllische
Nußschale eines Liedchens eingezwängt werden soll, aber sie kommen immer
mehr in die Minorität.
Zweitens aber steht dieses Abdrängen vom Lied in unverkennbarem
Zusammenhang mit der dämonischen Bewegung nach oben, die den größern
Teil der heutigen Menschheit erfaßt hat. Die, die nach alter Art sagen
dürfen: „Ich genüge mir in meinem Stande," geraten allmählich in die Rolle
des Sonderlings. Von allen Enden rufts nach Verbesserung oder Umsturz.
Hier Erhöhung von Lohn, wirtschaftlicher Lage, gesellschaftlicher Stellung,
dort das Ringen um höhere Kulturwertung der geistigen und künstlerischen
Arbeit. Wem Verse gelingen, der will nicht Dichter bleiben, sondern Religions-
stifter sein, den ausgezeichneten Radirer gelüstcts nach dein Ruhm eines neuen
Michelangelo, der Gänsemaler hält seine Bilder in Wand- und Mauerformat —
auch der Liederkomponist läßt merken, daß er zu höherm geboren ist. In
uicht bloß die Komponisten fühlen sich zum Teil über das Lied erhaben, auch
das Publikum gefällt sich in einer Geringschätzung wenigstens seiner ein¬
fachern und einfachsten Spielarten. Als vor kurzer Zeit der Schwede Scho-
lander mit seiner Laute durch Deutschland zog, alte naive aber volle Kunst
wieder belebend, da hat ihn die Aristokratie der Abonnementskonzerte ignorirt
und die hohe Kritik meistens unglimpflich behandelt. Man schwärmt wohl
von Rhapsoden, aber wenn sie leibhaftig wieder in die Gegenwart herein¬
treten, erkennt sie niemand. Diese Vornehmthuerei, dieser musikalische Carl
verschuldet es, daß die Musik des Volks, sich selbst überlassen, tief auf Ab¬
wege gerät, und daß die gesunden Keime, die in der Kunst unsrer Couplet¬
sänger und LlÄtvs vlumtimts zahlreich vorhanden sind, verderben. Die Wässer
werden sich wieder verlaufen; nach dieser Übergangsperiode werden sich unsre
Musiker wieder wohl fühlen im Liede. Es ist für sie eine unvergleichlich
gute Schule der Erfindung. Es zwingt sie zusammenzudrängen, zu dichten,
originell zu werden. Niemand hat diesen erzieherischen Segen der Lied¬
komposition besser erkannt als Beethoven, und gerade die knappste und ein¬
fachste Art des Liedes, das Lied der Berliner Schule, war es, dem er sich
ganz vorwiegend zuwandte. So lange aber die Liederflucht in den Kreisen
der Komponisten noch anhält, so lange durchkompvnirt, mit Recitativ und
Kantatenmaterial bei Gedichten gearbeitet wird, die das nach Bau und Inhalt
nicht erlauben, so lange wird auch der Abfall von Lied und Musik in den
Kreisen der hohen Bildung und in den Schichten des einfachen Volks weiter
gehen.
Noch in einem dritten Punkte zeigt sich das neueste Lied von Wagner
wesentlich beeinflußt. Das ist der innere Stil, insbesondre das Verhältnis
zwischen Gesang und Begleitung. Schon Franz Schubert hat ausnahmsweise
dem Klavier in seinen Liedern eine wichtige Rolle zugewiesen. Es verkörpert
bei ihm das Rauschen des Baches, das Schnurren des Spinnrads, meist die
äußere Situation, auf der sich die menschlichen Gestalten, die Herz und Seele
im Gesänge öffnen, bewegen. Schumann geht schon weiter und giebt dem
Klavier, z. B. in seiner Dichterliebe, zuweilen die Hauptpartie. Seit nun aber
das Wagnersche Opernorchester in die Musikermcisfen eingedrungen ist, droht
im Lied das vernünftige Verhältnis sich umzukehren. Das Instrument wird
zur Hauptsache, die Singstimme übernimmt die Begleitung, giebt die erklärenden
Worte zu dem Treiben des Klaviers. In äußerster Verfolgung dieses Prinzips
haben wir es glücklich bis zur Gattung „Gesprvchne Lieder" gebracht.
Th. Gerlach ist jüngst damit hervorgetreten. Sie sind dem Begriff des Liedes
gegenüber noch viel absurder, als die jetzt gleichfalls häufiger erscheinenden
„Lieder mit Orchester"! Der Verteilung der Rollen im Lied kann das Mustk-
drama nicht zum Muster dienen. Ganz abgesehen davon, daß auch dort diese
Rollen nicht selten unnatürlich verteilt sind, gestatten die großen Formen und
die außermusikalischcn Hilfsmittel der Bühnenkunst das Zurücktreten des Sängers
in einem Maße, das durch den knappen Umfang des Liedes vollständig aus¬
geschlossen ist. Beharren unsre Komponisten bei dieser Methode, so ist der
Gesang in Deutschland nicht bloß auf die niedrige Stufe verwiesen, auf der
er in Frankreich von je gestanden hat, sondern geradezu zum Tode verurteilt.
Schon jetzt sind zusammenhanglose, stümperhafte Melodien, nichtssagende Motive
in der Singstimme sehr häusig; an Stelle belebten, ausgreifenden, anch durch
Figuren sprechenden Gesangs und Ausnützung seiner reichen Ausdrucksmittel
herrscht trockne Deklamation. Ist ja thörichterweise von Schülern Wagners
die Koloratur theoretisch zu Grabe getragen worden!
Wenn das Vorbild Wagners durch Mißbrauch auf das neueste Lied viel¬
fach ungünstig gewirkt hat, so ist nach andern Seiten sein Einfluß segensreich
gewesen. Ihm ist es zu danken, daß die weichliche Romantik, die von der
Schumannschen Schule aus das deutsche Lied zu beherrschen anfing, bis auf
die Spuren, die der interessante Imsen gelassen hat, zurückgedrängt und durch
einen männlichem und kräftigern Normalton ersetzt worden ist, auf den wir
für die Zukunft noch große Hoffnungen gründen dürfen. Wie seit 1870 unsre
poetischen Ansprüche im allgemeinen realer und gesunder geworden sind, so,
und nicht zum wenigsten durch Wagners Verdienst, auch die musikalischen. Das
zeigt sich am deutlichsten, wenn man einmal von der Erinnerung getrieben zu
den Liedeslieblingen der vorher gehenden Periode zurückkehrt, wozu z. B. un-
längst „Nachgelassene Gesänge" von Hugo Brückler Anlaß gaben. Wie vergilbt
die meisten dieser Blätter, wie weit liegt diese Musik der verminderten Septimen¬
akkorde hinter uns! Genau so weit wie Spielhagen, Gutzkow und ein großer
Teil Moritz von Schwinds. Auch auf die ernste Hingebung an die Einzel-
selten der Dichtung hat Wagner in der jüngsten Periode weiter fördernd ein¬
gewirkt. Sein Hauptschüler ist hierin Alexander Ritter, ein großes, echtes,
aber von den Zeitgenossen nicht erkanntes Talent. Diese niedersehen Gesänge
sind Bausteine zu einer nuovs inusiono, zu einer zukünftigen Gesangsmnsik,
wie sie auf dem Gebiete des neusten Liedes gleich wertvoll und bedeutend
nur noch Franz Liszt vorgelegt hat. Es ist angreifende, zehrende, oft nervöse
und im Ringen nach Unmittelbarkeit des Ausdrucks überheizte, in der Gesamt¬
wirkung der einzelnen Nummern oft unbefriedigende Musik. Aber ebenso oft
ist sie der edelsten und schönsten Eingebungen voll; nie läßt sie leer, besteht
fast aus lauter Herzenstönen. Im ganzen: eine Kunst für den tägliche» Ge¬
brauch ungeeignet, in manchen Stücken verfehlt und nicht nach jedermanns
Geschmack — aber für alle, die wahre, ursprüngliche musikalische Empfindung
zu schätzen wissen, ein Hochgenuß!
Albert Fuchs kann man als einen Schüler Ritters ansehen. Ein andrer
sehr wichtiger und verheißungsvoller Fortschritt in der neusten Entwicklung
des deutschen Liedes liegt darin, daß es zu dem Volkslied in innigere Be¬
ziehungen getreten ist. Das ist zunächst die Wirkung von Robert Franz. Karl
Löwe und andern Liedermeistern, die als die letzten Apostel der Berliner Schule
angesehen werden können. Es ist die Fernwirkung der Herder, Grimm, Hoff¬
mann von Fallersleben, Hildebrandt, denen wir im letzten Grunde ja auch die
Ausgaben alter Volksmelodien von Kretzschmer bis auf F. M. Böhme, der
die Aufgabe im großen ergriff, zu danken haben. Außerordentlich befruchtend
wird auf diese Bestrebungen von jetzt ab die von Brahms in seinen letzten
Jahren besorgte Ausgabe von neunundvierzig Volksliedern wirken. Sie war
als eine Kritik gemeint, wie Volkslieder aus den Quellen ausgewählt werden
sollten; sie ist aber mehr geworden: ein Muster, wie sie der moderne Musiker
lesen und behandeln soll. Da ist bei aller Freiheit in Harmonien und Rhythmen
der zugefügten Begleitung nichts, was dem Wesen dieser Lieder widerspricht,
aber Brahms hat eine große Kunst entfaltet, mit kleinsten und einfachsten
Mitteln die Wirkung des Gesangs zu heben. Die vorige Periode ist nicht
arm an „Liedern im Volkston," die alte Muster frei nachbilden. Manche
thun da etwas Parfüm dazu (H. Hoffmann, Moszkowski). Größer wird der
Nutzen sein, wenn der Geist des alten Volkslieds die Komponisten überall
begleitet und leitet. Ihm verdanken viele der schönsten Lieder von Brahms
ihre Einfachheit. In diesem Sinne erstreckt heute das alte Volkslied seine
Macht über einen immer größern Kreis. Aus ihm nennen wir als ein außer¬
ordentlich beachtenswertes neues Liedertalent Johannes Techritz, nach ihm
Müller-Reuter, Fr. Mayerhoffer.
Ob die Einflüsse, denen die Entwicklung eines Kunstzweiges ausgesetzt ist,
ihm zum Segen oder zum Schaden gereichen, hängt von den Grundsätzen ab,
die im Betrieb gelten. Unter den Grundsätzen aber, die für die Liedkomposttion
in Frage kommen, sind die am wichtigsten, die die Stellung der Musik zur
Dichtung regeln.
Zwei Jahrhunderte lang haben sich die deutschen Liederkomponisten voll¬
ständig als die Diener der Dichter betrachtet. Das Lied war von den Texten
in dem Grade abhängig, daß es während der siebzig Jahre, in denen der
deutsche Dichterwald entvölkert war, vollständig verstummte. Die frühern
Lieder wollten nichts andres, als guten Gedichten durch Melodien eine Form
geben, in der sie sich leichter merkten und verbreiteten. Erst seit Schuberts
Zeiten ist die Musik im deutschen Lied selbstherrlicher geworden und hat damit
einer Reihe von Verirrungen Thür und Thor geöffnet, die der Gegenwart
zu immer zahlreicher und bedrohlicher werden. Nach dem Naturgesetz ist bei
jeder Art von Vokalkomposition die Dichtung die Hauptsache; daraus erklärt
es sich zu allererst, daß sich so viele ganz unmusikalische Menschen an Wagners
Musikdramen doch ehrlich erbauen können. Im neuen Lied hat uns die Ro¬
mantik das Gewicht dieses Fundamentalsatzes stark verschoben. Wir werden
aber doch im Interesse der fernern Entwicklung des Lieds zu ihm zurückkehren
müssen. Eine gewaltige Dichterzeit würde unsre Musiker vou allein auf den
richtigen Standpunkt bringen. Das ist aber die Gegenwart trotz der aller-
neusten Anläufe immer noch nicht. Ihre lyrische Poesie bringt die Stimme
der Zeit nicht zu Gehör, und wo sie es versucht, klingt diese Stimme noch
roh und ungebildet. Weder die Scheffel, Wolff oder Baumbach, noch die
Liliencron und Dehmel sind die Dichter, die die Musik zur Ordnung zu rufen,
ihre Kräfte zur vollen Entfaltung zu bringen vermögen. Aber Männer wie
Karl Busse zeigen doch, daß noch ein höherer Genius lebt, und warten wir
ab — vielleicht kommt ein neuer Klopstock schneller, als wir es ahnen. Jeden¬
falls aber sind unsre Komponisten ihren Vorfahren vor hundertfünfzig und
zweihundert Jahren gegenüber in der viel glücklichern Lage, daß sie nicht
auf die mitlebenden Dichter angewiesen sind. Gerade aber darin, wie sie
von dem ungeheuern poetischen Vorrat aller Zeiten und aller Länder, der
um sie herumgebreitet ist, Gebrauch machen, verraten sie eine große Schwäche.
Zwei Vorwürfe sind es, die gegen die neuen Komponisten erhoben werden
müssen: sie setzen eine große Anzahl von Texten in Musik, die sich dazu über¬
haupt nicht eignen, und bekunden dadurch eine handwerksmäßige Gleichgiltigkeit
gegen Poesie und Vernunft. Zweitens aber überwiegt in der Wahl brauch¬
barer Texte das Liebeslied heute in einem geradezu unglaublichen Grade! Von
der Vielseitigkeit, die früher ein Ruhm des deutschen Liedes mit war — keine
Spur mehr. Kann man in dieser durch und durch femininen Gesellschaft
wirklich die Nachkommen jener Geschlechter, die im Mittelalter, die zur Refor¬
mationszeit gesungen haben, erkennen? Wenn der studirte Mann vor diesem
Liedergarten, in dem nur Armide waltet, flieht und sich in sein Kommersbuch
zurückzieht, hat er Recht. Wir erwähnen hier das deutsche Kommersbuch alles
Ernstes. Kein andres Volk hat es uns bis jetzt nachmachen können, noch
weniger als unsre Universitäten. Den jungen Komponisten kann man nur
zurufen: Geht hin und trinkt aus dieser poetischen Quelle und lernt an ihr,
was deutsches Leben außer verwegner oder zimperlicher Erotik noch zu bieten
hat. Das wird ein Schritt zur Besserung sein, aber nur einer. Des Wurzels
Übel liegt doch wohl darin, daß das neue Lied mit dieser Einseitigkeit einer
Neigung des heutigen Geschlechts entspricht. Künstler und Kunstfreunde müssen
sich jedoch gegenseitig erziehen. Ein Teil der Schuld fällt auch auf die That¬
sache, daß die Mehrzahl der Liederkomponisten und Musiker mit Dichtung und
Litteraturgeschichte nur wenig vertraut ist. Ein Rezensent der bekannten
„Signale" fragte neulich ziemlich von oben herab, wer denn eigentlich „dieser
Prinz Rosa Stramin" wäre. Er hielt ihn offenbar für einen obskuren Lieder¬
dichter. Tragikomisch ist es, daß bisher unsre deutschen Männerchöre die ein¬
stimmigen Sänger im Girren und Balzen tapfer unterstützt haben. Vielleicht
werden sie durch die Richtung, die mit den Hegarschen Balladen im Mäuner-
gesang eingeschlagen worden ist, auf einen bessern Weg gedrängt, auf den dann
möglicherweise das Sololied nachfolgt.
Gegen schädliche Einflüsse, gegen Unklarheit in den Grundsätzen giebt es
nur ein Mittel: hohe allgemeine Bildung. Wenn diese wie im Musikerstande
überhaupt, so unter den Liederkomponisten unleugbar einen Rückgang bemerken
läßt, so kommt das von den Mängeln des Konservatorienshstems. An spezifisch
musikalischer Begabung fürs Lied kann sich unsre Zeit mit den vomusgegangnen
Perioden wohl messen; sie übertrifft sie noch in Gediegenheit und Vornehmheit.
Es könnte sogar nichts schaden, wenn sich das Zwitschern leichterer Vögel wie
Erik Meyer-Helmund etwas häufiger vernehmen ließe. Die Richtung entscheidet
heute über das Geschick eines Liederkomponisten viel bestimmter als vor drei
Jahrzehnten. Ein Paul Frommer bleibt heute trotz allen Fleißes und aller
Bemühungen des Verlegers unten. Ebenso sind die Ansprüche an Individualität
gewachsen. Das ist zum Teil ein Übelstand, der sich aus der Verwöhnung
der vorhergehenden Periode ergiebt. Aber er ist eine Thatsache, und darunter
haben Liederkomponisten wie Al. von Fielitz, wie Robert Kahn zu leiden. Das
sind Künstler, die ein Menschenalter früher eine viel höhere Stellung ein¬
genommen Hütten.
Eine bemerkenswerte Erscheinung in der neuesten Liederproduktion ist die
Beteiligung hervorragend begabter Damen. In der That hat die Frau die
wichtigsten Talente, die die Gattung verlangt, lebhaftes und richtiges Gefühl,
Formensinn und Takt, von Natur aus.
Ganz natürlich erregen die Liederkomponisten die meiste Aufmerksamkeit,
die schon auf andern musikalischen Gebieten einen Namen haben. Diesem Um¬
stände hat es Eugen d'Albert zu danken, daß gleich von seinem ersten Lieder¬
hefte ab sich die Sänger seiner angenommen haben. Der Griff, den sie da
nach der Nummer „Das Mädchen und der Schmetterling" thaten, war nicht
sehr glücklich. Es gehört ebenso wenig wie „Zur Drossel sprach der Fink"
zu den bedeutendem Gesangskompositionen und verdankt seine Wirkung in
erster Linie dem Texte, den aber Hans Hermann viel muntrer und origineller
komponirt hat. d'Alberts Talent verlangt breite Formen und dramatische
Situationen. Wo diese sehlen, gerät er auch leicht in Abhängigkeit von
Brahms.
Eine andre Größe aus der Virtuosenklasse: Felix Weingärtner muß mau
unter die bedeutendsten Liedertalente der Gegenwart rechnen, jedenfalls liegt
die stärkste und echteste Seite seiner musikalischen Begabung auf diesem Ge¬
biete. Insbesondre ist er für die Ballade begabt; wie wenige versteht er kühn
und doch natürlich instrumentale Sitnationsmotive zu erfinden. Die „Post
im Walde," die „Frühlingsgespenster" und noch andre Stücke seines Op. 19
belegen das ebenso überzeugend wie die schon weiter bekannte „Wallfahrt
nach Kevlaar." Als Komponisten eigentlicher Lieder zeichnet ihn seine be¬
deutende Fertigkeit in der Durchführung schwieriger musikalischer Motive und
in Cyklen wie „Harold" die geistvolle poetische Belebung und Verknüpfung
der Formen aus. Bedenken erweckt er durch das Vorkehren von Tristan-
stimmungen, infolgedessen einzelne Hefte wie Op. 16, auch Op. 15 ungebührlich
mit Herzeleid und Monotonie beschwert werden. Felix Weingärtner gehört zu
den Komponisten, die vor keinem Text zurückschrecken. Ein solcher ist z. B.
das „Verspätete Hochzeitslied" Uhlands, dessen Ton außerdem durch die von
Weingärtner gewühlte Bvlervmusik sehr herabgezogen wird. Sehr hoch wird
man ihm die Komposition von Uhlands Lied „Das ist der Tag des Herrn"
anrechnen müssen. Die Schönheit dieses Stückes verbindet sich mit größter
Einfachheit und giebt ein Muster für die Behandlung religiöser Texte, die
leider zum Schaden unsrer Hausmusik — der Grundlage für das Gedeihen
deutscher Tonkunst — vou den neuern Musikern ungebührlich vernachlässigt
werden.
Auch Richard Strauß scheut nicht vor unmusikalischen Gedichten und wird
durch sie wie in dem Lied „Die Zeitlose" (H. von Gilm) zu Künstelei verleitet.
Im allgemeinen verdient er die Bevorzugung, die er von den Sängern erfährt,
durch die Lebendigkeit und Wärme seiner Natur, durch die Fülle und Natür¬
lichkeit seiner musikalischen Erfindung. Sie verfügt für neue Situationen nicht
selten über ganz eigentümliche, neue Töne, z. B. in Liliencrons: „Ich ging den
Weg" sin Op. 32), sucht aber zuweilen zu verstandesmäßig nach besondern
Wendungen. So läßt er in dem (zur Komposition ungeeigneten) Schlußstück
seines Op. 21 „Die Frauen sind oft fromm und still" die Harmonie auf dem
Sextakkord des I?-Äur-Dreiklangs enden, während die Haupttouart M-clur ist.
Also ein ähnlich befremdender Ausgang wie in seiner sinfonischen Dichtung:
..Also sprach Zarathustra." Warum? Weil die letzten Worte heißen: sie
sehen den Himmel offen. Im übrigen ist dieses Heft, das den Titel „Schlichte
Weisen" führt, das beste, das Strauß bis jetzt vorgelegt hat. Hervorzuheben
ist namentlich die Nummer „Ach, weh mir unglückhaften Mann," in der er
einen Fuhrmann mit Peitschenknallen und den andern Allüren des Gewerbes
sehr hübsch zur Belebung des Ganzen einführt. Äußerlich zeichnet die Melodik
von Strauß der Gebrauch von Figuren aus.
Noch verdient unter den allgemeiner bekanntern Musikern Felix Model an
dieser Stelle wegen drei (ohne Opuszcihl veröffentlichten) Heften erwähnt zu
werden, die neunzehn deutsche Gedichte in Musik bringen. Sie sind in den
ernsten und schwermütigen Stücken zum Teil bedeutend, wenn auch nicht gleich¬
mäßig und nicht frei von barocken Elementen und von Anklängen an Vrahms
und an „Tristan." Die freundlichen Nummern stehen im Durchschnitt eine
Stufe tiefer, wenn sie auch manchen hübschen Schnbertschen Zug bringen. In
der Mehrzahl sind sie in erster Linie Klavierstücke. Eins von ihnen, „Don
Fadrique," erregt besondre Aufmerksamkeit, weil es außerhalb der Oper zum
erstenmal Beckmessermusik bietet.
Das Spezialistentum im Lied ist der Gefahr, in Manier zu verfallen,
leicht ausgesetzt. Aber im allgemeinen hat es in allen Perioden die Entwick¬
lung der Gattung bedeutend gefördert. Wir haben es daher zu begrüßen,
daß sich auch in der Gegenwart eine Reihe von Musikern ausschließlich der
Liedkomposition gewidmet hat. Ein Teil von ihnen kommt hier nicht in Frage,
weil er für den gröbsten Bedarf, für den Liederpöbel, fabrizirt. Andre haben
sich in ihrer Entwicklung noch nicht geklärt. Das ist z. B. mit Hermann
Behn der Fall, der in seinein Op. 1 mit unzulänglichen Kräften ein richtiges
Ziel, eine gehaltvolle Liedmusik in einfachster Form verfolgte, später aber einen
vollständigen Konfessionswechsel vollzogen hat und jetzt fleißig Klavierlieder
schreibt. Kräftige Männlichkeit und ein bedeutender Kunstverstand zeichnen
seine bessern und selbständigem Kompositionen aus. Genannt seien: „Der
Ritt in den Tod," „Das Gebet," „Am Rhein, dem heiligen Strom" — alle
in Op. 2, und die vier Gesänge seines Op. 5, ganz besonders daraus „Ein¬
gelegte Unter." Das Talent des Komponisten neigt einem Zug, der durch
alle Kunst unsrer Zeit geht, entsprechend zum Ernster. Viele Hoffnungen
erweckt mit seinen noch nicht zahlreichen Liedern E. O. Nodnagel. Sie zeichnen
sich durch Kenntnis der gefänglichen Mittel, natürliches poetisches Empfinden
und dnrch originelle Kombinationen aus. In der „Gebrochnen Treue" fingt
der Baß im "/s-Takt, als Erinnerung zieht dazu durchs Klavier ein Walzer
in 2/4. Solche rhythmische Bündnisse begegnen uns ja im neuesten Liede
sehr häufig, aber in der Regel sind sie unnatürlich, reine Produkte der
Spekulation.
Unter den Spezialistin der Gegenwart darf Martin Plüddemann nicht
übergangen werden. Wenn auch sein Wollen das Können bedeutend überragte,
so hat er doch Wagnersche und Löwesche Intentionen zuweilen wirksam ver¬
einigt und durch seinen Fleiß und Eifer das Interesse sür die Ballade neu
belebt. Es ist aber für die Zukunft des deutscheu Gesangs ganz notwendig,
daß die Ballade zunächst in der Hausmusik eine bedeutendere Stellung zurück¬
gewinnt- Plüddemann ist leider früh gestorben. Die lebenden Spezialisten,
über die mit einiger Sicherheit gesprochen werden kann, sind der bereits er¬
wähnte Philipp Graf zu Eulenburg, Hans Hermann und Hugo Wolf.
Das sind drei positive Talente, im Wert verschieden, keins ohne eigne
Art und doch durch einen gemeinsamen, erfreulichen Zug verbunden. Dieses
Gemeinsame liegt in der Richtung aufs Einfache, Klare, im Sinn für natür¬
liche Verhältnisse und in der Achtung vor der Macht der menschlichen Stimme.
Diese drei Künstler sind im allgemeinen viel tiefer von der Volksmusik als
von der Kunstmusik berührt. Am tiefsten der Graf zu Eulenburg, in dessen
Gesängen das Tanzlied zuweilen wieder zu der Bedeutung gelangt, die es
in alten Zeiten hatte. Den nächst starken Einfluß haben dann Löwe, die
Skandinavier und zuletzt Wagner auf ihn geübt. Wagner, dessen Einfluß
auch bei Hermann, bei Wolf, bei der guten Hülste aller Liederkomponisten
der Gegenwart wiederkehrt. Denn er ist so stark gewesen auf die Musik seiner
Zeit, wie die Geschichte nur ein zweites Beispiel weiß: in der Wirkung, die
Monteverdi aufs siebzehnte Jahrhundert geübt hat. Eins scheidet Graf
Eulenburg von R. Wagner, das ist das Maß im Ausdruck der Leiden¬
schaften. Da zeigt er sich mehr mit Mendelssohn, mit Curschmann verwandt,
von der Berliner Schule, von norddeutscher Art, vom Wesen der Gesell¬
schaftskreise, aus denen er kommt, berührt. Aber nur im Ausdruck, nicht in
der Empfindung, der nichts von der Stärke und Ursprünglichkeit einer ge¬
sunden Natur fehlt. Die Kunst Eulenburgs gleicht einem edeln Renner,
dem Peitsche und Sporen fremd sind. Lebensverhältnisse und zufällige Um¬
stünde haben es gefügt, daß Graf Eulenburgs Kunst mit Vorliebe den Norden
besingt. Der Komponist selbst legt nach der Vorrede unter diesen Nvrdlands-
liedern besondern Wert auf seine Skaldengesänge, die uns in vortansend-
jährige Sitten und Geschlechter zurückversetzen wollen. Es ist um alle Nach¬
bildung im allgemeinen und um die Nachbildung alter Kunst im besondern etwas
Mißliches. Wir erinnern an Frehtag, an Dahn, an Thomae und an den
Schiffbruch vieler ähnlicher bedeutender Dichter und Maler. So wird man
unter diesen Skaldengesängen nur die kürzern, „Der Knabe," „Karln" — hier
wirkt der Refrain das Beste —, von den größern vielleicht die „Jul-Nacht"
unbedingt loben können. In den andern ist die Manier starker als die Phan¬
tasie und Kunst. Die erfreulichsten Arbeiten des Dichterkomponisten sind seine
„Rosenlieder."
Hans Hermanns Wert liegt in seinem Talent für den Entwurf, für ge¬
schlossene Führung großer, breiter Formen, für klare und imposante Gruppi-
rung, sowie in der eignen Mischung von Munterkeit, Frohsinn mit großem
und leidenschaftlichem Gefühl. Er liebt in einer Weise, die über Maß und
Methode der Romantiker hinausgeht, Gegensätzliches zusammenzufügen: Altes
und Modernes, Schlichtes und Komplizirtes, und es gelingt ihm, auseinander¬
strebender Elemente Kraft da zu vereinen, wo er es wollte. Unter den ihm
eignen Ausdrucksmitteln ist die springende Führung der Singstimme hervor¬
zuheben.
Für Hugo Wolf sind in mehreren Orten besondre Vereine gegründet
worden, die Wagnerianer haben sich seiner besonders angenommen und ihn
vielleicht, wie sie nun einmal bekannt sind, als Leute mit den besten Absichten,
aber im Durchschnitt erstaunlich unwissend und urteilslos, mit ihrem Eifer
diskreditirt. Daß es für diesen Komponisten überhaupt irgend welcher Gewalt¬
mittel bedurft hat, ist — wir dürfen hier das offne Wort nicht umgehen —
eine Schande für den deutschen Sängerstand. Ein Musiker, der Goethische,
Moerikische, Eichendorffsche Gedichte zu halben Hunderten komponirt hat, ver¬
dient nicht bloß wegen seiner Fruchtbarkeit, sondern auch wegen des bekundeten
guten Geschmacks zunächst einmal beachtet zu werden. Hätte aber Wolf diese
Beachtung gefunden, so hätte trotz allem auch sein Wert erkannt werden müssen.
Er gehört durchaus nicht unter die künstlerischen Bekanntschaften, die sich leicht
machen lassen. Wenns gerade einmal ein böser Zufall will, kann einer zuerst
hintereinander ein ganzes Dutzend Wolfscher Gesänge in die Hand bekommen,
von denen jedes mehr abstößt als anzieht. Denn der Komponist hält auf
Konsequenz, Charakteristik, scharfe Zeichnung von Einzelheiten ohne Rücksicht
aufs Ohr und auf Wohlklang, er beleidigt die Schulmeister durch Quinten,
giebt den Negistratorseelen Nüsse auf. „Wohin mit ihm? So gar keine
Manier, bei der man ihn fassen könnte!" Er ist eine universale und volle Natur
wie Franz Schubert ungefähr, und wir tragen gar keine Bedenken, ihm für
das Lied unsrer Zeit eine Schubertsche Bedeutung beizumessen. Es giebt für
seine Phantasie keine Grenzen, und wo er sie hinführt, da strömt ihm Musik
vou erster Güte zu. Er hat Gewagtes. Verfehltes, wie z. B. „Se. Nepomuks
Vorabend," aber nirgends etwas Dürftiges und Kümmerliches. Hört man
seine feierlichen Sachen, wie z. B. das „Wächterlied" oder das zweite „Kop¬
tische Lied," so glaubt man: hier liegt seine Stärke. Es sind Töne, die man
außer in der Kirche und in der Kindheit gehört zu haben sich kaum erinnert.
Dann ergiebt sich aber, daß er sich auf allen andern Gebieten menschlichen
Fühlens und Vorstellens mit derselben Sicherheit bewegt. Er ist ein aus¬
gezeichnet lebendiger Erzähler, bei dem alle Gestalten in ihrer Art sofort leben
und sich einprägen — eins der bedeutendsten Stücke dieser Art: Epiphanias
mit den drei Königen: gravitätisch der erste, beweglich der zweite, kokett der
dritte. Er ist ein unwiderstehlicher Humorist, er ist sinnig und zart, und
ebenso versteht er sich aufs Kecke und Ausgelassene. Er beherrscht die All-
gemeingefühle und weiß uns ebenso zwingend in die besondern und absonder¬
lichsten Lagen und Stimmungen zu versetzen. Er zeichnet einen Griesgram,
einen Alberich ebenso zum Greifen, wie eine Philine, einen Mephisto. Sieht
man auf den Umschlügen der Hefte, daß er sich an Goethes Harfner- und
Mignonlieder macht, so glaubt man vor einer Überhebung Schubert und
Schumann gegenüber zu stehen. Aber tritt man in die Kompositionen ein,
kommt vor Stellen wie „Dahin, 0 mein Geliebter," so kann man nur ge¬
stehen, daß das keiner vor Wolf so getroffen hat. Vergleicht man das Heft
der Gesänge aus dem Schenkenbuch in seinem tollen, barbarischen, bacchan¬
tischen Übermut mit den Suleikaliedern in ihrer zarten, von aller Sentimen¬
talität freien Weiblichkeit, ihrer, die verzehrende Leidenschaftlichkeit doch an-
deutenden Innigkeit — sieht man, wie er in den Moerikischen Gesängen
Volkstümlichkeit und Seelengröße verbindet, das Äußere und Innere gleich
meisterhaft darstellt — so ist des Erstaunens über die Kraft und den Um¬
fang dieses Talents kein Ende. Dieser Wolf ist ein Genie, von dessen Glanz
dereinst mehrere Strahlen auf die ganze Liederkomposition seiner Zeit fallen
werden.
eher der Akademiestraße und dem Siegesthor lag der Mondschein.
Er malte dieselben Schatten auf den Boden wie das Sonnenlicht,
aber sie sahen fremd aus in dieser Beleuchtung. Die Akademie mit
ihrer lichten fensterreichen Nenaissaueefront lag jetzt als dunkle Masse
mit ihrem eignen Schatten verbunden, und sie wirkte wie etwas Un¬
erbittliches, Übermächtiges auf den kleinen Menschen, der ans dem
Mondschein in das Schattengcbiet trat, die große Freitreppe vermied und die Rampe
hinaufging bis zum Portal. Das Treppenhaus und die Gänge mit den hohen
Fenstern nach Süden und den hohen Atelierthüren nach Norden lagen schweigend
da. Es brannten nur wenig Gasflammen, und in ihrem Lichte machten die
antiken Bildwerke mit ihren weißen Gipsleibern und den würdevollen Geberden,
die den Mutwillen der Schattenbilder herausforderten, den Eindruck der Verein¬
samung. Sie atmeten den Duft staubiger Trockenheit ans, der von Akademien un¬
zertrennlich ist und sich sofort mit der Bezeichnung eines akademischen Werkes in
der Phantasie verbindet.
Während der kleine Mensch unter in der Halle hierhin und dorthin schlich,
um auf irgend etwas Richtunggebendes zu stoßen, war oben im Aktsaal Modell-
pmise. Aus dem heißen Raum drängte es sich in die Gange. Allerlei Natio¬
nalitäten und allerlei Klangfarben waren vertreten, aber auch allerlei Abarten der
treibenden Kraft unter diesen vielen, die sich alle zum Gefolge der Kunst rechneten.
Wenn sich die Gasflammchen an der Würde der Antike gesättigt hatten, so konnten
sie jetzt moderne Würde in zahlreichen Variationen studiren. Es gab Normalaka¬
demiker wie den schwarzen Heyse, den das Gefühl seiner Wichtigkeit auch dann
nicht verlassen hätte, wenn nicht diese Hallen und Treppenhäuser, die seinetwegen
da waren, ihn davon überzeugt hätten. Er wußte, daß er der eigentliche Mensch
sei und einmal Professor werden würde, und machte seine künftige Vorzugsstellung
schon jetzt zur Förderung andrer geltend. Ihn sahen andre über die Achsel an,
die sein gesetztes Wesen für Streberei hielten und ihrerseits stolz darauf waren,
bei jungen Jahren schon mit vielen Wassern gewaschen zu sein. Seltner waren
solche wie der blonde Rainer, der Schlossersohn aus Leipzig, der seine breiten
Arbeiterhände so in die Taschen steckte, als wenn er mit ihnen alle zweihundert
Akademiker und neunzehn Professoren der Akademie einstecken könnte.
Der Alte ist heute spät dran, sagte der schwarze Heyse. Ich wußte es gleich,
als ich um halb sieben Uhr aus dem Salvator ging, daß ich noch zur rechten Zeit
zur Korrektur kommen würde, — Gemache haben Sie aber doch nichts, bis er kommt,
fagte einer der andern. — Wetten, daß ich etwas haben werde, und daß er ent¬
zückt sein wird? Kommen Sie, Rainer, ich zeige es nur Ihnen!
Rainer folgte nicht besonders eifrig zu dem steinernen Wasserbecken, auf dessen
gemeißelten Rand Heyse das Reißbrett stemmte und einen gelinden Wasserstrahl
über die Kohlenzeichnung laufen ließ. Dünn schwenkte er die Tropfen ab und
sagte: So, das trocknet in zehn Minuten, und dann werden Sie sehn, es hat
sich da ein Ton zusammengeschwemmt, wie der Alte ihn nicht feiner aufgetragen
bekommt, wenn seine Besten eine Woche lang dran arbeite». Ich setze noch ein
paar pikante Striche hinein, damit er sieht, daß ich die Form verstehe, und dann
ist er begeistert. So, mein Lieber, kommen Sie, die andern brauchen nichts davon
zu wissen.
Es wird ihnen anch nicht viel dran liegen, den Alten zu begeistern.
Oho, Ihnen etwa nicht? — Nein, wozu deun? — Damit er Sie protegirt.
Sie haben das Wohl nicht nötig? — Rainer zuckte die Achseln: Ich will ja nicht
Hoflieferant werden. — Aber Sie wollen doch wohl gelegentlich ausstellen, und
eine Medaille würden Sie vielleicht zuletzt auch annehmen, was? — Mit Ver¬
gnügen, aber deswegen kriechen, das ist nicht so mein Geschmack. — Nun, Sie
haben für einen jungen Menschen von Ihrer Herkunft einen wählerischen Geschmack.
Wir werden ja sehen, wie bald Sie sich an meinen Rat erinnern werden.
Rainer machte eine ungeduldige Bewegung, als ob er die Fäuste in der
Tasche lockerte. Sie waren bei den andern angekommen. Kelety, der lustige Ungar,
legte ihm die Hand ans die Schulter: Aufgepaßt, Rainer, aus dem schwarzen
Heyse spricht Salomo. Er hob die Nase und die Augenbrauen in die Höhe.
Schauen Sie, Heyse hat Witterung. Der weiß, was Stunde geschlagen hat, was
Publikum mag. Gourmand in der Kunst! Wenn der einmal malt, muß seine Fran
dazu auf der Orgel akkompagniren! — Für das, was der malt, wirds ein Leier¬
kasten auch thun, sagte Rainer, während sie wieder in den Saal gingen. Einen
Augenblick später waren die Antiken wieder mit ihren Schatten allein, und das
feierliche Schweigen so tief, daß die Schritte hallten, als zwei Menschen von der
Treppe her aus dem Schatten hervor- und herankamen. Es war der Hausmeister
und neben ihm der kleine unscheinbare Mensch von der Rampe, der aus lauter Ehr¬
furcht vor der gebietenden Größe dieser Fenster zur Linken und der Gipsmänner
zur Rechten den Hut in der Hand trug.
Vor der Thür Nummer zehn machten sie Halt. Der Hausmeister öffnete sie
gerade weit genug, um sich durch den Spalt vernehmlich machen zu können, und
rief hinein: Herr Rainer sollen, bitt schön, herauskommen. Dann ging er, ohne
sich weiter nach dem Kleinen umzusehen, die Treppe wieder hinunter.
Der Fremdling hatte sich inzwischen an einen Pfeiler gedrückt, wo das Asch¬
blond seiner Haare und das Grau seiner Kleider so mit dem Hintergrund ver¬
schwamm, daß man ihn kaum von der Wand unterscheiden konnte. So stand er,
bis der Gerufne erschien und sich suchend, umsah. Da trat er auf ihn zu und
sagte: Du, Rainer, ich wollte dich mal was fragen!
Einen Augenblick stand Rainer sprachlos da. Dann war er mit einem Sprung
bei dem Kleinen und zerrte ihn herum wie einen Federball.
Wilhelm, du Knirps, wo kommst du her? Wächst da aus der Mauer heraus,
als ob er schon immer dazu gehört hätte, und ich dachte, du stündest in Regens¬
burg hinter deiner Maschine, wo ich dich gelassen habe. Seht mal an, will mich
bloß mal was fragen, als ob wir zusammen in der Druckerei stünden wie dazumal.
Wilhelm, so red doch nur was!
Wilhelm war aber selber so überwältigt von der Thatsache, daß er leibhaftig
in der Kunstakademie und Rainer gegenüber stand, daß er erst nichts that, als ihm
still und listig ins Gesicht lachen, und als er endlich Worte zusammengebracht hatte,
nichts weiter sagte als: Ich bin nicht mehr beim Vater in der Druckerei!
Ach, ums du sagst, rief Rainer. Das dachte ich mir beinah. Aber was du
hier willst, das möchte ich wissen.
Kunstmaler werden! Das kam leise und kleinlaut. Es war so, als wenn er
etwas Gewaltiges unternommen hätte und nun abwechselnd davon gehoben wäre
und dann wieder erschrocken vor seiner eignen Vermessenheit stünde. Es fiel ihm
auch durchaus nichts mehr ein, bis Rainer sagte: Dn mußt aber Zeichnungen vor¬
legen, wenn du hier aufgenommen werden willst.
Ich habe welche mitgebracht!
Wann hast du denn gezeichnet?
Wilhelm zuckte die Achseln: Schon immer.
Und mir hast du nie etwas gezeigt?
Ich schämte mich! Du wußtest immer so genau, was du wolltest, ich gar
"icht. Ich habe schon, als ich klein war, deswegen Schläge bekommen. Er schwieg
einen Augenblick, und als Rainer nichts einwandte, fuhr er lebhaft fort: Aber wie
du fort warst, da habe ich mich drangemacht und habe es so probirt, wie du immer
sagtest. Weißt du noch? Jedes Blatt, jeden alten Strumpf muß man zeichnen,
alles, was einem unter die Finger kommt. Dn hattest es denen in der Druckerei
allen so schön klar machen können, wie du einmal alle Schwierigkeiten durchnagen
würdest, jeden Tag ein bischen weiter. Da hab ich halt das Nagen auch angefangen,
und jetzt habe ich mich bis München durchgenagt.
Hier wagte Wilhelm schüchtern zu lache». Ich will mir deine Sachen an¬
sehen, scigte Rainer. Nach acht Uhr ist es hier vorbei, dann komme ich uach Hause.
Bnrerstraße 65. da kannst du uns mich warten. Damit warf er Wilhelm einen
großen Schlüssel zu, den der aber uicht fing, sondern erst aufhob, als er klirrend
auf den Steinboden gefallen war. Beschämt über das Getöse schob er seine kleine
Gestalt ans deu Zehen fort. Rainer war lachend hinter der großen Thür ver¬
schwunden.
Und dann wanderte Wilhelm wieder allein durch die Straßen, den weiten
Weg bis zum Bahnhof zurück. Dabei war es ihm ganz gelegen, daß die nicht zu
dichten Gaslaternen ihm Schatten genng ließen, sich darin fortzustehlen. Es war
ihm doch immer, als ob er sich vor etwas oder vor jemand verstecken müßte. Es
quälte ihn, worauf er doch immer gewartet hatte, daß er Rainer seine Sachen
zeigen sollte. Rainer war immer sein Heiliger gewesen, gefürchtet und bewundert,
beides! Dort in Regensburg in der Druckerei des Vaters, wo er gearbeitet hatte,
war Rainer eines Tages aufgetaucht. Wie ein Stern, würde Wilhelm gesagt
haben, wenn er gewagt hätte, sich eines so verwegnen, schönen Bildes zu bedienen.
Thatsächlich war Rainer aber ein Gestirn für ihn geworden. In seiner Erinnerung
war in der Druckerei seit Rainers Eintritt ein Wechsel der Beleuchtung vorgegangen.
Geschwärzt und finster blieb sie immer uoch, aber damit war es noch nicht ans.
Sie war nur der Tunnel, der durch die Berge ins Freie führte, und wenn man
Rainer sprechen hörte, dann sah man ordentlich den lichten Punkt am Ende, zu
dem hin der Weg aus der Enge hinausführte; und daß in Rainer die Dampfkraft
war, die den Ausgang gewinnen würde, spürte man auch. Er kam aus Leipzig zu¬
gewandert. Schon die Sprache, die für Wilhelm fremdartig klang, so als wenn
in ihrem behäbigen Singsang eine Anwartschaft liege, mit dem Glück auf gutem
Fuße zu stehen, schon die bezeichnete für ihn einen Abstand zwischen Rainer und
den Menschen, an die er gewöhnt war.
Nach München wollte er, darauf hatte er schon lange, lange hingearbeitet.
Von Leipzig nach München! Aus eigner Macht hatte er sich das vorgenommen.
Er selber, der Wilhelm aus Pullach, kannte zwar den Viktimlienmarkt in München,
aber die Akademie hatte er nie gesehen, und er hätte niemals daran gedacht, sie in
Beziehung zu seiner eignen Person zu bringen. Es war ihm, als ob von einer ganz
fremden Stadt die Rede wäre, wenn Rainer von München sprach, wo er hinwollte.
Das war auf einmal ein Ort, wo man sich mit eigner Hand Lorbeern züchten konnte,
und zwar mit der verachteten Malerei. Wilhelm mußte daran denken, wie er
damit sogar seines Oheims Weib, die stille Niedersteinerbänerin in Pnllach erzürnt
hatte. Das war damals gewesen, als der Großvater mit dem Knecht die Tenne
neu gemacht hatte. Die Bäuerin stand drin bei den Milchtubeln, aber auf einmal
rief sie: Geh, Wilhelm, nimm einen Stecken und scheues den Nero von der Tenne
weg. Der drückt sonst seine Tapfen in den frischen Lehm hinein.
Er, der Wilhelm, war also hingelaufen, aber der Nero konnte noch schneller
vom Fleck, und als er vor der Tenne ankam, sah er mit Entzücken die Tapfen,
die der Nero schon gemacht hatte. Wie Bienen und wie kleine fünfknvspige
Blütenstände waren sie über die Fläche verstreut, mit festen dunkeln Schatten aus¬
gefüllt, wo der Hund tief eingesunken war, und verschwimmen!) zarten Umrissen,
wo er im Lauf uur leicht den Boden berührt hatte. Und nun stand Wilhelm
selbstvergessen da und zeichnete mit seinem Stecken Stengel an die Blüten, zeichnete
zarte Flügel an die schwärmenden Jnsektenleiber, und an einer Stelle zog er ein
rundliches Haupt und starre Flechten um ein Gewürfel von runden Tupfen her
in deu weichen Lehm. Da wurde daraus die Magd Rosinn mit der aufwärts
gestülpteu Nase, den unvermittelter Angen und runden Lippen — bis eine
sausende Ohrfeige Wilhelms bildende Hand aus der Richtung brachte und der
Magd Rosina das linke Ange in einem langen Thränenband über die ganze Tenne
sprühte. Während dann Wilhelm den Rückzug nahm, sprach die Bäuerin das
Wort: Daß du auch alleweil Zeit hast zum Unfug machen! — Und jetzt? da
wollte er sich mit dem Unfug was andres verdienen als Schläge.
Er hatte auf dem Bahnhof ein unförmliches Bündel ausgelost und auf der
Schulter nach der Barerstrnße getragen. Sein Leben lang hatte er sich als last-
tragendes Wesen gekannt, und wenn er sich irgend eine körperliche Anstrengung
zumuten kannte, so fühlte er sich geborgen, gedeckt seiner Bestimmung gegenüber,
dann wagten sich seine Gedanken freier hervor, um auf eigne Hand Luftschlösser
zu bauen. So fand er auch jetzt mit der Last auf der Schulter mehr Muße
Träumen nachzuhängen als auf dem Hinweg- Wenn der Großvater wüßte, was
jetzt geschieht! Wenn er später einmal wieder sagen würde: Der Wilhelm, der
Hungerleider, und die andern würden sagen i Der Wilhelm hat sein gutes Brot,
fast besser wie unsereiner und Ehre dazu! Und wenn erst die Bilder von ihm aus¬
gestellt würden! — Und der Vater. Er hatte doch immer gehöhnt, wenn er den
Wilhelm beim Zeichnen erwischt hatte, manchmal noch spät abends, wenn er vom
Kegeln heimkam. Das heißt, eine Zeit lang hatte er auch mitgemußt auf die
Kegelbahn. Es fehlte ihnen ein Kegelbube. Wilhelm konnte sich genau besinnen,
wie er hinten unter der Lampe gestanden hatte, die über dein Kegelstande hing, und
hingeschaut hatte, wo unter der andern Lampe oben das Gedränge von Hemd¬
ärmeln und roten Gesichtern im Tabnksqnalm schwamm. Die Lampe brannte rötlich
und hatte einen Hof; von ihrem Lichtschein begleitet kamen die Kugeln daher. Er
kannte jede einzelne. Erst lief ihr der halbrunde Schatten voraus, sie unwillig
und ernst hinter ihm drein, als wollte sie ihn erreichen und zudecken. Er schaute
ja auch nur noch so eben nnter ihr heraus, eh sie in den Lichtkreis der zweiten
Lampe trat, da auf einmal war der Schatten weg, nnter ihr durchgeschlüpft und
duckte sich hinter ihr, während sie zornig weiterrollte, suchend zwischen die Kegel
hineinfuhr und erst ruhte, als Leichen um sie gehäuft lagen. Wilhelm nickte ihr
zu, wenn sie herankam, und er mit angezognen Beinen zur Seite hockte. Wenn
er sie auf dem abschüssigen Weg wieder heimschickte, gab er ihr Ratschläge mit
und hörte ihre mürrische Antwort in dein dumpfen Getöse, mit dem sie sich
trollte.
Nur einmal kamen die Kugeln nicht so eilfertig und sicher herbeigerannt.
Das war an des Vaters Namenstag, als er das Vier aus seiner Tasche gab.
Sie zögerten und wichen ab, und die des Vaters gerade am meisten. Darum gab
es, wenn er geschoben hatte, immer el» brüllendes Gelächter hinten, wo das Ge¬
dränge von Hemdsärmeln war, von wo sich der Tabaksqualm heranzog. Zuletzt
wetteten sie. Wilhelm hörte, wie der Vater sich vermaß, alle nenne zu schieben.
Er aber, der die drüben zwischen den Tnbatswolken in immer weltfernern Gegenden
taumeln sah, fühlte sich selber bei seinen Kegel» wie der Älteste von zehn unbe¬
wachten Geschwistern, und als er sich einen Spaß ausdachte, widerstanden ihm die
Neune auch nicht. Bindfadenrester trug er immer in der Tasche. Davon hatte
er, seit die oben so lustig wurden, eine große Schlinge geknotet und legte sie jetzt
ganz unbefangen um den Kegelstand. Das Ende lag unter seinein Fuß am Boden.
Als der Vater ansetzte, ging oben das Gelächter schon an, so eine Kugel hätte noch
keinem Kegel Angst gemacht. Als sie dann aber in wilden Sprüngen herankam,
begrüßte sie Wilhelm und scharrte mit dem Fuß — um ihr Mut zu machen
natürlich. Und siehe da, die Kegel stolperten und neigten sich.
Kranz geschoben, schrie Wilhelm hinauf. Zur Kugel sagte er: Mehr Glück
als Verstand, gelt? und gab ihr einen milden Klaps, als er ihr auf den Rückweg
half. Die von oben kamen herbei, um sich zu vergewissern. Wilhelm spürte Lust,
die Schlinge noch einmal auszubreiten und diese großen Kegel durcheinander rollen
zu sehen, sie schienen nicht mehr so gar fest zu stehen. Aber wenn er sich diese
Freude auch verbeißen mußte, so hatte er doch die Genugthuung, daß keiner auf
den Bindfaden acht hatte, der zur Seite lag. Der Vater wurde gefeiert. Er
sollte ein Ehrendiplom bekommen: Meister im Steindruck und Kegelschieben. Jetzt
gleich an der Tafel sollte es entworfen werden. Wer soll zeichnen? Der Jüngste!
Sie stritten sich ums Alter. Die Kegelbub ist der Jüngste, rief einer. He, Wilhelm,
hierher! Der zeichnet ja auf jeden Papierfetzen. Sie stellten ihn auf den Tisch,
und er zeichnete. Er zeichnete die Kugel, wie er gewohnt war, sie herankommen
zu sehen. Sie trug die Züge des Vaters, rund, erhitzt und ereifert. Um sie her
taumelten die Kegel, das waren alles Mitglieder des Kegelbuuds. Warte, du
Schelm, riefen sie und kniffe» ihn in die Beine. Der Vater aber trocknete sich die
Angen vor Lachen. Um den ists schad, an dem ist ein Kunstmaler verloren. He,
Niedersteiner, für den darfst du schon etwas thun, gings durcheinander. — Freilich,
freilich, beteuerte der Vater. Er soll einen Lohn haben. Er stellte einen Schein
aus, daß an dem Tage, wo sein Sohn Wilhelm ihnen ein Historienbild von seiner
Hand vor die Augen stellte, ihm vor den unterschriebuen Zeugen von seinem Vater
zweihundert Mark ausgezahlt werden sollten. Sie unterschrieben alle, aber geglaubt
hatte kein Einziger an die Möglichkeit.
Und wenn ers nun wahr machte? Das Herz klopfte ihm heftig — aber da
stand er vor dem Hause, das Rainer ihm bezeichnet hatte, und die Träume kamen
nicht mit über die Schwelle. Oben, wo Rainers Name an der Thür stand,
schloß er ans und leuchtete sich mit einem Zündholz hinein. Auf dem Tisch stand
eine Lampe, die zündete er um und legte sein vielverschnürtes Bündel mitten auf
den Tisch. Dann nahm er die Lampe und leuchtete an den Wänden herum.
Hier war Rainer viel zu gegenwärtig, als daß eine von Wilhelms gewagten
Phantasien Stand gehalten hätte. Er stellte Vergleiche an, während er das be¬
trachtete, was hier mit Reißnägeln an die Wand gesteckt war. Das waren schon
andre Sachen als die seineu. Es war ein so gewaltiges Studium darin!
Da war auch das Bäumchen, das Rainer noch in Regensburg gezeichnet hatte.
Es stand bei der Nachbarin am Zaun und hatte die ersten Frühlingsblättchen ge¬
trieben. Rainer sagte immer, es hielte ihm zuliebe in der Entwicklung inne. Und
jedes Blättchen hatte er beobachtet und nachgebildet, jede Anschwellung unter der
Rinde des Stammes. Wenn die andern Gehilfen aus der Druckerei dazukamen,
hatte er gelacht- Ja der Stamm ist gezeichnet wie ein Akt! und dann war er mit
dem Zeigefinger der einen Hand um den andern herumgefahren: So geht die
Form, so muß man modelliren, immer herum um die Form, immer rum.
In jeder Mittagspause und am Sonntag hatte er gezeichnet, ganz frei und un-
verholen, während Wilhelm sich mit seinen Sachen immer verkroch. Rainer war seiner
Sache eben sicher, und Wilhelm konnte nie schlüssig werden, ob es nicht ein
Majestätsverbrechen an der Kunst sei, wenn er sich überhaupt mit ihr abgebe.
Fragen mochte er aber niemand, um nicht bestätigt zu hören, was er fürchtete.
Rainer sagte ganz ruhig, daß München sein Ziel wäre, und daß er in Regens¬
burg nur so lange bliebe, bis er wieder Geld hätte. In München, da würde er
schon Stipendien bekommen. Er hatte deswegen an einen Professor der Akademie
geschrieben und ihm Zeichnungen eingesandt. Als die Antwort kam, hätte er dem
kleinen Wilhelm, der zunächst bei ihm stand, beinahe mehrere Nippen eingedrückt,
wie dieser später erzählte, alles vor Freude.
Eine Genugthuung hatte Wilhelm aber doch gehabt, nachdem Rainer weggegangen
war. Einer von den Druckern kramte zwischen den Probeabdrücken und zog eine Zeich¬
nung vor, die Wilhelm gemacht und da versteckt hatte. Seht mal, rief er den
andern zu, da hat der Rainer etwas liegen lassen. Sie liefen zusammen und
beugten sich drüber: Schön gemacht, der Kerl kann halt doch was! Wilhelm that,
als wenn es ihn nicht mehr anginge mis die andern, aber nachher war die Zeich¬
nung weg, und an dem Tage pfiff er leise bei der Arbeit vor sich hin.
Jetzt hörte er etwas ans der Treppe, seine Hand wurde unruhig, er setzte
die Lampe klirrend nieder, und in demselben Augenblicke stand Rainer auch schon
mitten im Zimmer. Sein Hut flog auf einen Stuhl: Guten Abend, Knirps! Hast
du gegessen? Nein? Bist du gar nicht hungrig? Ich war noch schnell im Achaz,
ich bin satt. Dann trat er auf den Tisch zu, an dem Wilhelm tief gebückt stand
und Knoten aufschnürte.
Schneid auf, rief Rainer und zog sein Messer heraus.
Das ist kein guter Wirt, der schneidet, antwortete Wilhelm. Das, was er
wünschte, war aber ein Aufschub, bis Rainer seine Sachen sehen würde.
Ja, das ist ne rechte Holzhackerweisheit, von wem hast dn die? fragte Rainer.
Etwa von deinem Großvater, von dem du immer sprichst, als wenn er jeden
Augenblick in Rauch und Schwefel erscheinen und dir den Hals umdrehen konnte?
Lebt der noch?
Freilich, sagte Wilhelm, so, als ob die Sterblichkeit des Großvaters etwas
wäre, was erst erwiesen werden müßte, ich war heute in Pnllach draußen und
habe ihn gesehen.
Rainer fuhr mit seinem Messer unter den Schnüren her, daß sie nach beiden
Seiten auseinander sprangen. Unter Hemden, Kragen und audern Kleidungsstücken
kamen vielfach ineinander gerollte Blätter zum Vorschein. Rainer rollte sie auf,
eins unes dem andern und ließ sie wieder zusammenschnurren. Der Tisch bedeckte
sich, und er schwieg beharrlich. Wilhelm stand dabei und verwünschte alle Gnaden¬
fristen. Es schien ihm, als ob die jeinige unbarmherziger wäre mis das Urteil,
tels er am meisten fürchtete.
So, da hast dn angefangen nach der Nntnr zu zeichnen, sagte Rainer endlich.
Das ist deine eigne Hand, man kennt sie gleich. Die ist gar nicht übel modellirt.
Aber der alte Satyr da, den dn so oft hast, was ist das für einer? Es scheint
ein teures Inventarstück zu sein?
Es ist der Großvater.
So, haben sie in eurer Familie Hörner und Schlitzohren?
Das nicht gerade, aber der Großvater hat sich mir immer so vorgestellt in
meiner Phantasie.
Phantasie, da hast dus! Du zeichnest viel zu viel aus dem Kopfe. Wo sind
denn diese Waldmotive her?
Von uns daheim.
Aber nicht nach der Natur!
Das nicht, aber ich hab es nun so oft gesehen, daß ich meine, ich zeichne nach
der Radien
Einerlei, es ist eben nicht die Beobachtung drin, als wenn dir so ein Baum
vor der Nase steht. So ans der Erinnerung, da kriegt man wohl einen einheit¬
lichen Eindruck hinein, weil die vielen Einzelheiten nicht da sind, die alle gesehen
werden; wenn man davor sitzt. Aber das ist es ja gerade: alles müssen wir
machen, was da ist, und doch nichts stärker betonen, als es ihm gehört.
Wilhelm stand abgewandt. Es war ihm lieb, denn er kam sich vor wie
taumelig. „Wir," hatte Rainer gesagt, wir müssen machen, was wir sehen. Es
schien, er rechnete ihn für voll. Es übergoß ihn heiß, er würde sich nicht ge¬
wundert haben, wenn die Freude ihm sichtbar wie ein Heiligenschein um den Kopf
gestrahlt hätte. Aber gleich darauf überfiel ihn die alte Mutlosigkeit. Das „wir,"
das Rainer gebraucht hatte, brauchte ihn ja gar nicht einzuschließen. Er hatte sichs
ganz einfach gedacht, Rainer zu fragen, ob er meinte, daß er Talent hätte. Aber
jetzt wars ihm nicht möglich, er brachte es nicht heraus.
Rainer hatte weiter gar nicht acht auf ihn. Er ließ die Rollen liegen und
warf sich gestiefelt und gespornt rückwärts aufs Bett: Du mußt eben hinausgehen,
nahm er seinen Gedanken wieder auf, und die Sachen an Ort und Stelle
zeichnen, wie sie wachsen, oder schlägt dich der alte Satyr tot, wenn er dich
dabei findet?
Das wird er nicht gerade wagen, wenn schon, die Feindschaft zwischen ihm
und meinem Vater immer noch frisch ist. Aber jetzt, wo ich von zu Haus weg
bin . . .
Da hat dich der Alte in Gnaden aufgenommen? So hast du zwei, den
Großvater und den Vater, und wenn du den einen erzürnst, hales der andre mit
dir, und umgekehrt? Das ist nicht übel. sowas müßte für uns arme Kerle alle
eingerichtet werden.
Gur so arg ist es nicht. Einstweilen kriege ich von keinem was.
Keinen Pfennig?
Nichts! Das heißt, von: Großvater einmal zu essen in der Woche — am
Sonntag.
Und so kommst du her und willst malen? Das ist talentvoll, das muß man
sagen. Also regelrecht durchgebrannt. Ich hätt es mir denken können. So kommen
viele zur Akademie.
Und werden was? fragte Wilhelm gespannt.
Warth ab, mein Sohn!
Also sind es doch nicht durchaus die talentvollsten, die so herkommen?
Dummkopf, bin ich denn so hergekommen?
Nein, du nicht. Aber du könntest ja eine Ausnahme sein.
Das freilich. Aber es gehört überhaupt nicht dazu.
Das ist mir recht. Ich bin nämlich recht eigentlich nicht durchgebrannt.
Doch nicht?
Nein. Aber ich werd es dir schon ordentlich erzählen müssen, sonst kennst dn
dich niemals aus.
Ja, weiß der Himmel, das ist wahr.
Nur kurzweilig wirds nicht sein, meinte Wilhelm zögernd.
So koche uns eben einen Kaffee, damit ich nicht einschlafe. Der Spiritus
steht auf der Kommode, und der Kaffee daneben. Hast dus? Gut! Dann fang an.
Wissen möcht ich doch, was mit dem Satyr eigentlich ist.
Es hebt aber so ziemlich bei Adam an.
Vorwärts, sag ich dir. Das ist ja nicht zum aushalten, wie du dich
windest.
(Fortsetzung folgt)
Wie für den ersten, so sind wir dem Herausgeber auch für diesen zweiten
Band der Kleinen Schriften Zcirnckes zu lebhaftem Danke verpflichtet. Wo wir
das Buch immer aufgeschlagen haben, trat die Gestalt Zcirnckes nach wenigen Worten
lebendig vor unser Auge: der gewandte, liebenswürdige Kämpe und Sprecher in
großen Dingen, ein kräftiger Körper mit einer hohen Stimme wie mit einer scharf
geschliffnen und immer elegant geführten Waffe begabt, mit hell funkelndem Ange
auf dem Platze gegenüber dem Dunste des Unwissens wie des Dogmas. Beiträge
zur Universitätsgeschichte, namentlich zur Geschichte der Universität Leipzig, bilden
den Hauptteil des Bandes, an den sich Aufsätze und Anzeigen zur Gelehrten¬
geschichte des neunzehnten Jahrhunderts passend anschließen, und dem eines die
unter der Überschrift „Zeitgeschichtliches" zusammengefaßten Reden und Kund¬
gebungen sehr nahe stehen, denn Zarncke spricht in ihnen fast durchweg als Ver¬
treter der Leipziger Universität. Das etwas persönlichere Gepräge, das der
Sammlung damit gegenüber den Goetheschriften aufgedrückt ist, rechtfertigt mich die
Aufnahme der Arbeiten Zcirnckes zur Geschichte seiner Heimat und seiner Familie
und die Beigabe eines Anhangs, der im Wortlaut das wichtigste von dem bringt,
was Freunde und Schüler bei seinem Tode ausgesprochen haben. Aber ebenso
interessant und reich wie der persönliche ist der allgemein kulturgeschichtliche Ertrag
dieses Bandes; wir stehen übrigens nicht an, ihm auch viele hier mitgeteilte
Persönliche Äußerungen Zcirnckes als typisch für die Kulturgeschichte in den Jahr¬
zehnten seiner Wirksamkeit einzureihen.
Im Jahre 1893 hat der Verfasser eine Bibliographie des Sozialismus und
Kommunismus herausgegeben. Da die Kenntnis der Sozialpolitik sehr viel wichtiger
ist als die des theoretischen Sozialismus, so hilft das vorliegende zweite Werk einem
weit dringender» Bedürfnis ab als das erste. Wenn der Anblick eines Buches in
Lexikonformat, von dessen 643 Seiten auf das Bücher- und Schriftenverzeichnis
677 kommen, den Wißbegierigen entmutigt, so fühlt sich doch der, den die Pflicht
Zur Beschäftigung mit diesen Sachen zwingt, einigermaßen beruhigt durch den Ge¬
danken, daß er nun wenigstens einen Leitfaden durch das Labyrinth hat, der sehr
zweckmäßig eingerichtet ist. Die letzten 70 Seiten enthalten ein Sachregister. Man
Will sich z. B. über die Agrarpolitik in Deutschland unterrichten, sieht unter dieser
Rubrik des Sachregisters auch den Namen Schciffle, möchte wissen, was dieser
darüber geschrieben hat, und sucht nun, der Weisung folgend, im Schriftenverzeichnis
Schciffle 16. Dort steht: Fntternvt, Bauernrecht und Staatshilfe (Die Zukunft.
Bd. 4, 1893). Freilich entdecke» wir gerade bei dieser Rubrik zufällig auch eine
Lücke; es müßte nämlich nnter „Agrarpolitik in Deutschland" auch „Schciffle 22"
angeführt fein, das die deutschen Kern- und Zeitfragen nennt, denn deren erster
Band ist, wie auch ausdrücklich angeführt wird, Agrarpolitik — Sozialpolitik über¬
schrieben; indes absolute Vollständigkeit und Genauigkeit ist eben von einem Bädeker
durch solch einen Schriftenurwald nicht zu verlangen; das Dargebotne genügt schon
Kur Orientirung.
Wer kennen lernen will, zu welcher Größe sich die Volksballade auf germa¬
nischem Sprachgebiet entwickeln kann und entwickelt hat, der muß an die nordische
Volksdichtung Herangehen. Eine treffliche, gut übersetzte Auswahl, namentlich aus
Island, bietet das vorliegende Buch. Wer freilich auch die wenigstens zum Teil
überlieferten Melodien keunt, wird sie hier ungern vermissen; gelesen, gesprochen
klingt und wirkt das ja alles ganz anders als gesungen, zumal in dem eigentümlich
nordischen Melodiecharakter gesungen; das charakteristische des Refrains kommt sonst
gar nicht zu seinem Rechte. Immerhin ist der poetische Gehalt so groß, die Em¬
pfindung so stark, daß der Leser — wir wünschen dem Buche recht viele —
ohne Zweifel auch so einen bedeutenden und schönen Eindruck erhält. Als Probe,
zugleich der guten Übertragung, teilen wir folgende Verse mit, das Bruchstück einer
größern, Verlornen Ballade:
Für die nächste Auflage bitten wir um eine wichtige Sache: die Melodien —
und um eine Kleinigkeit: den Stabreim nicht durch fette Buchstaben zu bezeichnen;
das wirkt beinah häßlich beunruhigend aufs Auge und verhindert ein unmittel¬
bares Eingehen in den Aufnehmenden. Wer deu Stabreim nicht in gewöhnlicher
Schrift empfindet, für den wird er auch nicht durch dicke zu einem organischen
Kunstmittel.
n der schon sehr umfänglichen und noch immer mehr anschwel¬
lenden Litteratur über die Erneuerung des Deutschen Reichs
nimmt das Werk von Heinrich Friedjung eine hervorragende Stelle
ein.*) Es ist ein österreichisches Seitenstück zu Sybel. Der Ver¬
fasser ist ein liberaler Deutsch-Österreicher, seinem Berufe nach
Journalist, der noch an die Zukunft seines Staates und an die Zukunft seines
Volkstums in diesem Staate glaubt und in der Darstellung des großen Kampfes
mit dem Herzen auf der Seite seines Vaterlandes steht. Daß er Österreicher
ist, zeigt sich schon in der Wahl des Titels. Denn ein Reichsdeutscher wird
in diesem Kampfe niemals nur einen Streit um die Vorherrschaft zwischen
Preußen und Österreich sehen; für ihn ist die Erringung der Vorherrschaft
Preußens nicht der Zweck selbst, sondern nur das Mittel zu einem höhern
Zweck, zur Reichsgründung, denn nicht darum handelte es sich dabei, ob Öster¬
reich oder Preußen diese vollziehen sollte, sondern ob sie überhaupt vollzogen
werden sollte; und vollzogen werden konnte sie niemals durch Österreich, nicht
nur weil das damalige Österreich dazu unfähig war, sondern weil Österreich
als solches dazu unfähig war. Auch Friedjung verkennt keineswegs, daß der
nationale Drang nach einer geschlossenen politischen Einheit den Kampf herbei¬
geführt hat, aber er hebt die nationale Bedeutung des Ergebnisses zu wenig
hervor, und er berichtet auch über die Ereignisse im übrigen Deutschland nicht
mit derselben Ausführlichkeit, wie über den Kampf der beiden Hauptgegner.
Doch so entschieden seine Sympathien sind, sein Urteil ist bewunderungs¬
würdig unbefangen. Er sieht mit vollkommner Klarheit ein, daß der Ausgang
des Kampfes gar kein andrer hat sein können, als er thatsächlich gewesen ist;
er erscheint ihm als das Ergebnis der ganzen innern Entwicklung Österreichs.
Er sagt am Schlüsse des Werkes (II, 498): „So strafte sich die Unterdrückung
der lebendigen Kräfte im Volke durch die Gegenreformation und später durch
die Negierung Franz si-) und Metternichs. — Derselbe Druck, der dann durch
mehr als ein Jahrhundert auf den Geistern lag, lühmte auch deu Willen und
die Entschlußfähigkeit von Generationen und zog eine genußliebende, zu großen
Anstrengungen unwillige Bevölkerung groß. Die Briefe der Herrscher und
Staatsmänner des achtzehnten Jahrhunderts sind voll von Klagen darüber,
daß Generale und Offiziere stets die Verantwortung scheuen, zu handeln und
zu schlagen. Dieser Mißstand steigerte sich bis 1848. Die absolutistische Re¬
gierung hatte durch Unterdrückung aller selbständigen Regungen die Völker im
Zaume gehalten und nichts als die blinde Erfüllung der Befehle gefordert. —
Auch die leitenden Männer von 1866 waren in den Ideen Metternichs und
der Restauration aufgewachsen. Sie bestritten den Völkern das Recht, sich
den Staat selbst zu formen; sie unterschätzten die Kraft des Nationalgefühls;
die Legitimität und die Verträge waren für sie die einzige Quelle nicht bloß
des positiven Rechts, sondern auch die Wurzeln der historischen Entwicklung.
Sie vertraten die Staatenordnung der heiligen Allianz und damit eine ver¬
sinkende Welt."
Friedjung stellt die österreichischen Dinge in den Vordergrund; der Leser
hat daher das unwillkürliche Gefühl, daß er die Ereignisse im Ministerrate
des Kaisers Franz Joseph und im Generalstabe Benedeks oder des Erzherzogs
Albrecht miterlebt, nicht in der Umgebung König Wilhelms und Bismarcks.
Aber Friedjung hat als Österreicher auch den großen Vorzug vor Shbel, daß er die
Verhältnisse und Personen in Österreich ganz genau keunt und zu beurteile!?
weiß. Dies ist um so schwieriger, als auch heute, wie er in der Vorrede sagt,
die österreichische Politik von 1859 bis 1866 noch unter die Staatsgeheimnisse
gerechnet wird, und daß noch keiner der österreichischen Staatsmänner und
Generale der Zeit irgend etwas über seine Wirksamkeit veröffentlicht hat. Auch
Benedek hat, dem Versprechen getreu, das ihm der Erzherzog Albrecht abnahm,
alle seine Papiere verbrannt und das, was er wußte, mit ins Grab genommen,
womit offenbar eine Hauptquelle der Kenntnis für alle Zeit verschütter ist. Damit
glaubt man in Osterreich noch immer dem Staatsinteresse zu dienen. Selbst
auf weit zurückliegende Zeiten wendet man dieses System des Verschweigcns
und Vertuschens zuweilen noch an. Ein Mitglied der hohen österreichischen Aristo¬
kratie sagte einmal dem Verfasser dieser Zeiten, manches über Wallenstein könne
noch heute nicht veröffentlicht werden, weil sonst eine große „Nechtsverwirrung"
entstehen werde. Friedjung nennt dieses Verfahren „altmodisch"; uns will es
vor allem unwahrhaftig erscheinen und weder im Interesse der historischen Wissen¬
schaft liegend, das natürlich nicht überall in erster Linie berücksichtigt werden
kann, noch auch des Staats, denn die begangnen Fehler und die vorhandnen
Schwächen können doch nur dann vermieden oder geheilt werden, wenn sie
erkannt und anerkannt werden; verschweigt man sie, so erweckt man leicht die
Vorstellung, als seien die Zustände noch viel ärger als sie in Wirklichkeit sind;
man schädigt also die Autorität des Staats, aber man stärkt sie nicht. Der
österreichische Pessimismus wurzelt nicht zum wenigsten in diesem Vertuschungs¬
und Verschwcigungssystem.
Eine rühmliche Ausnahme sind die amtlichen österreichischen Darstellungen
der Kriege von 1859 und 1866, aber noch der allerdings schonungslos ur¬
teilende, ungenannte Verfasser eines tüchtigen Buchs über 1859/1 der seiner
Vorrede das Motto vorangestellt hat: „Wahrheit ist im sittlichen wie im
geistigen Leben die erste aller Pflichten," und sie mit den Worten schließt:
Falsche Meinungen und Ansichten „sind unverwüstliche Keime künftiger Kata¬
strophen," hat seine Offenheit mit der Verabschiedung aus den: Heere gebüßt.
Auch Friedjung hat zuletzt das k. k. Kriegsarchiv, das ihm die frühere Leitung
bereitwillig geöffnet hatte, verschlossen gefunden. Um so eifriger hat er sich
bemüht, bei den leitenden Persönlichkeiten dieser Jahre ausführliche Erkun¬
digungen über wichtige, sonst nicht leicht aufzuklärende Fragen einzuziehen,^ und
sie haben auf beiden Seiten bereitwillig und ehrlich seinem Verlangen entsprochen.
Fürst Bismarck, Moltke, Blumenthal und Graf Nigra, Graf Nechberg, General
von Edelsheim-Giulay, Beuedeks Witwe, frühere Geueralstabsoffiziere Benedeks,
wie die (jetzigen) Feldmarschallleutnants Freiherr von Sacken und Reuber u. a.,
haben wichtige Nachrichten beigesteuert, die der Verfasser teilweise zusammen
mit einer Anzahl von Aktenstücken aus dem Kriegsarchiv im Anhange mitteilt.
Zuweilen hat er über eine besonders wichtige Frage ein förmliches „Zeugen¬
verhör" angestellt, um zu einem sichern Ergebnis zu gelangen. So hat er
die historische Erkenntnis in sehr wesentlichen Punkten gefördert; ja man kann
sagen, daß die Vorgänge in der österreichischen Diplomatie und Heeresleitung
erst durch ihn in das richtige Licht gerückt worden sind. Vor allem aber ver¬
dankt er diesen mithandelnden Männern neben seiner eignen Erfahrung als
Österreicher die überaus lebendige Färbung seiner Darstellung der Verhältnisse,
Vorgänge und Personen. Da er, bei aller Anerkennung der Wucht, die in den
Dingen selbst liegt, sehr wohl weiß, wie entscheidend im gegebnen Augenblick,
namentlich im Kriege, die Persönlichkeit eingreift, so giebt er eine Reihe höchst
anschaulicher Lebens- und Charakterbilder der führenden Männer auf beiden
Seiten. Auch den Männern der preußischen Seite wird er gerecht, nur dem König
Wilhelm nicht, den die Ausländer fast niemals ganz verstehen, und zu diesen
scheinen hierin auch die deutschen Österreicher zu gehören. Ans eine eingehendere
Charakteristik Kaiser Franz Josephs verzichtet er, dieser Monarch sei für die Zeit¬
genossen noch eine verhüllte Gestalt; gleichwohl lassen sich ziemlich deutlich die
Punkte erkennen, wo der Kaiser persönlich die Entscheidung gegeben hat. Bei
allem innern Anteil aber, den der Verfasser an den Ereignissen nimmt, bewegt
sich die Erzählung doch in ruhigem Flusse einher und vermeidet jedes Pathos.
Sehr ausführlich und eingehend schildert er die innern Verhältnisse Öster¬
reichs. Er betont die eigentümliche Stellung des Kaisers, der noch immer
von einem Schimmer der Laora Oassarsa umMtiis umgeben sei, und zu dem
sich auch das Urteil nicht hinanfwage, während in Deutschland über die re¬
gierenden Persönlichkeiten noch bei ihren Lebzeiten sehr freimütig geurteilt
worden sei und geurteilt würde. Er führt auch das nicht nur auf die Tra¬
dition, sondern auch auf das Interesse des Staates zurück, dessen Zusammen¬
halt nun einmal wesentlich in dem Herrscherhause beruhe. Gar nicht bespricht
er die politische Bedeutung der römisch-katholischen Kirche in Österreich, die
doch offenbar noch immer sehr groß ist; um so mehr betont er die Stellung der
österreichischen Aristokratie. Etwa sechshundert adliche Familien regieren das
Reich; sie behaupten den größten Teil des Grundbesitzes und damit auch des
werbenden Kapitals in industriellen Unternehmungen; sie nehmen die obersten
Stellen im Staats- und Heeresdienst ein, auch wenn die Befähigung dieser
Herren deu an sie gestellten Aufgaben nicht entspricht, und sie pflegen „sanft
zu fallen," wenn sie Mißerfolge gehabt haben, wie Graf Clam-Gallas 1866,
der nach seinen böhmischen Niederlagen zwar vom Heer abgerufen wurde, aber
später ein anerkennendes Handschreiben des Kaisers erhielt, weil seine Standes¬
genossen über seine Maßregelung tief verletzt waren. Den unvermeidlichen
Sündenbock Pflegt man sich dann in andern Kreisen auszusuchen; im Jahre
1866 war es der unglückliche Beuedek, auf den alle Schuld an der Niederlage
gehäuft wurde, während z. V. die Grafen Thun und Festeties, deren befehls¬
widrige Führung des rechten österreichischen Flügels bei Königgrätz die Nieder¬
lage wesentlich verschuldete, nicht zur Verantwortung gezogen wurden.
Ausführlich schildert Friedjung die österreichische Armee vor und nach
1859. Ihr Gründer ist, was die ganze österreichische Geschichte bezeichnet,
nicht ein Monarch, wie in Preußen, sondern ein Feldherr, und zwar ein zuletzt
rebellischer Feldherr, nämlich Wallenstein; sie wurde seitdem die beste Stütze,
das eigentliche Rückgrat des Reichs. Lange wirkten in ihr die von Wallenstein
geschaffnen Traditionen nach: die bunte Zusammensetzung ans allerlei Volk,
die Beförderung ohne Rücksicht auf Abkunft und Religion, während bis 1868
kein Protestant Richter oder Lehrer werden konnte, das Übergewicht des deutschen
Elements in den Offizieren, weil ja damals noch ausgedehnte Landschaften in
Süddeutschland den Habsburgern gehörten und die Söhne des Reichsadels
scharenweise in kaiserliche Dienste traten. Erst seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts gerieten die höhern Stellungen immer ausschließlicher in die
Hände des österreichischen Adels, nicht zum Vorteile des Heeres. Die Masse
der Offiziere entstammte bis auf die neueste Zeit den alten Soldatenfamilien,
die dnrch Generationen ihre Söhne immer wieder für den Heeresdienst erzogen
und damit diesem vielsprachigen Gemisch von Soldaten ausschließlich aus den
untern Schichten teilweise in der Kultur noch tief stehender Bevölkerungen erst
festen Halt gaben. Die Schwierigkeiten, die diese Vielsprachigkeit des Heeres
nicht sowohl der Vefehlgebung, als dem Verkehr der verschiedensprachigen
Truppenteile mit einander und der Einwirkung der Offiziere auf ihre Leute
entgegenstellen, unterschätzt Friedjung offenbar, und er verkennt, wie es scheint,
die Wirkung, die der dadurch verursachte Mangel an innerm Zusammenhange
besonders im Falle einer Niederlage ausüben mußte, obwohl er selbst II, 268
erzählt, daß bei dem Kampf um China am 3. Juli die Magyaren und Slowaken
der Brigade des Erzherzogs Joseph — zugleich ein Beispiel von der natio¬
nalen Verschiedenheit in derselben Brigade — die deutschen Zurufe der Ar¬
tillerieoffiziere, standzuhalten, nicht verstanden hätten. Es ist doch kein Zufall
und beruht nicht nur auf der bessern Schulbildung, daß sich die Sachsen in
allen diesen Niederlagen tadellos hielten. Seitdem die österreichisch-ungarischen
Regimenter 1882 grundsätzlich in ihre Ersatzbezirke verlegt worden sind und
die Kenntnis des Deutschen auch bei den Offizieren und Unteroffizieren immer
mehr abnimmt, müssen sich diese Übelstände noch wesentlich gesteigert haben.
Bei Manövern ist es schon oft genug vorgekommen, daß wichtige Meldungen
bei den Truppenteilen, denen sie galten, nicht verstanden wurden, und selbst
der Nachwuchs der alten Ofsiziersfmuilien ist gefährdet, da diese für ihre Söhne
in den außerdeutschen Ländern nicht mehr genug deutsche Schulen finden. Wohin
soll das vollends im Kriegsfalle führen!^)
Seit Lacy, dem Kriegsminister Maria Theresias und Josephs II., begann
auch die Routine im Dienst und die abstrakte Gelehrsamkeit in der Kriegführung
zu überwiege», die zu den Niederlagen von 1796/97. 1800 und 1805 führten;
die Bemühungen des Erzherzogs Karl, eine Landwehr und damit einen
Rückhalt für das stehende Heer zu schaffen, hatten keinen dauernden Erfolg,
und noch 1866 war ein Grund des Unterliegens für Österreich der, daß Öster¬
reich keine eigentlichen Reserven hatte und statt der 800000 bis 900000 Mann,
von denen seine Anhänger auch in Deutschland fabelten und faselten, im ganzen
von einer Bevölkerung von 35 Millionen nur 528000 Mann, davon etwa
460000 streitsähige Leute, mvbilisiren konnte, während Preußen von seinen
18 Millionen zuletzt 600000 Mann zur Verfügung hatte. Auch die öster-
reichische Taktik blieb hinter der Zeit zurück. Nach 1805 ging das Dienst¬
reglement des Erzherzogs Karl von der überwundnen Lineartaktik zur fran¬
zösischen Schwarmtaktik über, doch so, daß sich nur etwa der vierte Teil der
Truppe in Schützenlinien auflöste, die Hauptmasse in dreigliedriger Linien¬
aufstellung folgte. Diese Taktik erlag 1859, obwohl beide Heere Vorderlader
und die Österreicher sogar das bessere Gewehr führten, den Franzosen, die in
dichten Schützenschwärmen mit nachfolgenden tiefen Kolonnen anrückten und
nach einem überwältigenden Plänklerfeuer zum Bajonnettaugriff übergingen.
Seitdem bildeten die Österreicher diese siegreiche „Stoßtaktik" eifrig nach.
Hinter einer dünnen Schützenlinie ging das Bataillon in drei eng aneinander-
geschlossenen „Divisionen" (zu zwei Kompagnien, deren damals das Bataillon
sechs zählte) möglichst bald, auch aus gedeckten Stellungen, mit der blanken
Waffe vor.
Dagegen legte man in Preußen nach den Vorschriften von 1861 das Haupt¬
gewicht auf das Feuergefecht mit dem überlegnen Hinterlader, dem Zündnadel¬
gewehr, das dreimal schneller feuerte als jeder Vorderlader, bevorzugte die ge¬
deckte Stellung und übte die Offiziere, auch schon mit der Kompagnie, der eigent¬
lichen Gefechtseinheit, möglichst selbständig vorzugehen, namentlich den Gegner
in seiner starren, unbehilflichen Formation auch in den Flanken zu fassen und
zum Schluß in überwältigenden, allseitigem Ansturm den schon erschütterten
Feind über den Haufen zu werfen. Daher wurden auch die Hauptleute, was
Friedjung nicht erwähnt, beritten gemacht, schon um das zerstreute Gefecht
besser übersehen zu können, während sie bei den Österreichern noch zu Fuß
fochten und kaum eine andre Aufgabe hatten, als mit gezognen Säbel ihren
Leuten voranzustürmen. Da indes diese neue preußische Taktik 1864 ihre
Vorzüge uoch wenig entfaltet hatte, fo blickte mau in Österreich geringschätzig
auf sie und auf das Zündnadelgewehr herab und behielt die Stoßtaktik bei;
erst kurz vor dem Kriege von 1866 erhoben sich einzelne besorgte Stimmen.
Nur die österreichische Artillerie war in Material und Vorgehen der preußischen
wirklich überlegen, aber sie wurde von der Heeresleitung selten zweckentsprechend
verwandt; die Reiterei aber leistete 1866 auf beiden Seiten nicht das Erwartete,
die preußische besonders deshalb nicht, weil sie auf dem Marsch und im Kampfe
hinter der Infanterie zurückgehalten wurde, nicht, wie 1870, den Marschkolonnen
aufklärend voranging.
Mit einem Rückblick auf die Zeit seit 1849 und einer übersichtlichen Dar¬
stellung des Krieges von 1859 beginnt Fricdjung seine Darstellung. Seit
dieser Niederlage begannen die Versuche, im Innern den Kaiserstaat durch
parlamentarische Formen zu verjüngen, nach außen das Verhältnis zu Deutsch¬
land im Sinne einer großdeutschen Politik stärker zu betonen. Beide Rich¬
tungen schienen in enger Verbindung mit einander zu stehen, weil Österreich
dabei auf die deutschen Liberalen rechnen mußte; thatsächlich widersprachen sie
einander, denn der Parlamentarismus mußte in Österreich sofort das Selbst-
gefühl auch der nichtdeutschen Nationalitäten beleben, also die thatsächliche
Vorherrschaft der Dentschen, die doch für eine großdeutsche Politik die unent¬
behrliche Voraussetzung war, ins Wanken bringen. Die Seele dieser Politik
war Anton von Schmerling (seit Dezember 1860), der Schöpfer der einheits¬
staatlichen parlamentarischen Verfassung vom 16. Februar 1861. Aber weder
konnte er die Ungarn zur Unterwerfung unter diese Verfassung bewegen, noch
war der Kaiser vollständig mit ihm einverstanden, und die auswärtige Politik
wurde nicht ganz in seinem Sinne geleitet. Vielmehr erstrebte Graf Bernhard
Rechberg, 1855 bis 1859 Bundestagsgesandter neben Bismarck, ein enges Zu¬
sammengehen mit Preußen im Sinne des alten friedlichen Dualismus vor
1848, also ungefähr dasselbe, was auch Bismarck ursprünglich wollte. Beide
Auffassungen bekämpften sich fortwährend im Kabinett und im Ministerrat,
denn sie schlössen sich aus. siegte Schmerling, so mußte Preußen mit Gewalt
niedergeworfen und auf die Stellung eines Mittelstaats hinabgedrückt, also ein
Krieg auf Leben und Tod geführt werden, da doch an eine friedliche Unter¬
werfung Preußens unter die österreichische Vorherrschaft damals, unter der
Leitung König Wilhelms und Bismarcks, gar nicht mehr zu denken war. Zu¬
nächst behauptete Schmerling das Übergewicht, er knüpfte auch mit den preußen¬
feindlichen Ultramontanen und Demokraten in Deutschland Verbindungen an.
Von diesen, von Julius Fröbel, einem Demokraten von 1848, und dem Erb¬
prinzen von Thurn und Taxis, einem Haupte der Ultramontanen, ging der
Gedanke aus, Kaiser Franz Joseph solle durch einen Fürstentag in Frankfurt
die Reform des deutschen Bundes im österreichisch-großdcutschen Sinne selb¬
ständig in die Hand nehmen. Schmerling und der Freiherr M. von Biege¬
leben, der Referent für die deutschen Angelegenheiten, ein geborner Hessen-
Darmstädter von durchaus katholisch-aristokratischer Überzeugung, geistvoll und
federgewandt, aber mehr gelehrter Publizist als praktischer Staatsmann,
stimmten eifrig bei, Graf Rechberg widersprach aufs entschiedenste und setzte
es wenigstens durch, daß uicht Schmerling, wie dieser natürlich erwartet hatte,
sondern er selbst mit Biegeleben den Kaiser nach Frankfurt begleitete. Das that¬
sächliche Scheitern des Fürstentags im August 1863 war natürlich auch eine
entschied»« persönliche Niederlage Schmerlings und ein Sieg Rechbergs.
So gelang es Rechberg, das gute Einvernehmen mit Preußen noch einmal
herzustellen. In der Schleswig-holsteinischen Frage gingen 1864 beide Gro߬
mächte, die Mittelstaaten beiseite schiebend, gemeinsam vor und nahmen die Herzog¬
tümer den Dänen ab. Aber sobald die Frage auftauchte, was denn nun aus
dieser gemeinsamen Eroberung werden sollte, begannen ihre Bahnen sich wieder
zu trennen. Nechbergs Rat, gegen den Verzicht ans das Anrecht Österreichs
an Schleswig-Holstein die preußische Bürgschaft für den Besitz Veneziens ein¬
zutauschen, drang nicht durch, und obwohl im August 1864 die beiden Mo¬
narchen mit ihren Ministern noch einmal in Wien zusammentrafen und hier
selbst einen gemeinsamen Krieg gegen Frankreich ins Auge faßten, so begann
doch der Einfluß Biegelebens wieder zu überwiegen. Da Nechberg endlich bei den
Verhandlungen über die Erneuerung des Zollvereins für Österreich nicht einmal
die Aussicht auf einen künftigen Beitritt erringen konnte, obwohl Bismarck zu
einem solchen Zugeständnis riet, um Nechberg im Amte zu erhalten, so nahm
dieser am 27. Oktober 1864 seinen Abschied. Damit gewann die zum Kriege
drängende Richtung Viegelebens mehr und mehr die Oberhand.
Allerdings wurde nun nicht etwa dieser Rechbergs Nachfolger, sondern
wieder ein vornehmer Herr, Graf Alexander Mensdorff-Pouilly, ein echt öster¬
reichischer Kavalier und ein tapfrer Soldat, eine vornehme, ehrliche, ritterliche,
feinfühlige Natur, aber ohne alle diplomatische Erfahrung, dabei weich und
unselbständig, also leicht bestimmbar. Auch er wollte keinen Krieg mit Preußen;
er hat vielmehr bis zuletzt davor gewarnt, allein er wußte nicht zu verhindern,
daß die österreichische Politik sich nunmehr immer offner auf die Seite
Friedrichs (VIII.) von Augustenburg stellte, also den Plänen Bismarcks immer
schärfer gegenübertrat und es diesem erleichterte, die anfängliche Abneigung
König Wilhelms gegen eine Annexion und die starke eine solche bekämpfende
Partei am preußischen Hofe zu überwinden. Noch einmal verhinderte die
Konvention von Gastein am 14. August 1865 den schon drohenden Bruch,
aber man empfand sie in Wien als eine diplomatische Niederlage, in der
großdcutschen Partei als einen Verrat Österreichs an der gemeinsamen Sache.
Schon war der eigentliche Träger dieser Politik, Schmerling, damals aus
dem Amte geschieden (30. Juli 1865). Die Unzufriedenheit der deutschen
Liberalen mit dem geringen Maße der von ihm gewährten politischen Rechte,
die Vergeblichkeit der Bemühungen, Ordnung in die Finanzen zu bringen, die
Feindseligkeit des hohen Adels gegen den bürgerlich-liberalen Minister und die
unüberwindliche Opposition der Magyaren gegen den parlamentarischen Einheits¬
staat untergruben Schritt für Schritt Schmerlings Stellung. Der Sieger in
diesem Kampfe gegen den deutsch-liberalen Zentralismus war Graf Moritz
Esterhazy, schon unter Schmerling Minister ohne Portefeuille, ein ungarischer
Magnat der alten Art, im diplomatischen Dienst aufgekommen, ein Fremder in
seiner Heimat, sodaß er weder ungarisch noch deutsch geläufig sprach, sondern
am liebsten das Französische brauchte, ein Anhänger Metternichs, also Gegner
jeder wirklich parlamentarischen Verfassung und jedes liberalen Zentralismus, an
dessen Stelle er vielmehr wieder möglichst altständisch geordnete Landtage für
die einzelnen Kronlünder, für Ungarn die aristokratische Verfassung der Zeit
vor 1848 setzen wollte. Nach außen wollte er die überlieferte Machtstellung
der Monarchie aufrecht erhalten; ein Verständnis für die nationalen Bestrebungen
und Bediirfnisfe Deutschlands lag diesem Magyaren natürlich ganz fern. Überaus
scharfsinnig, erkannte er jede Schwierigkeit voraus, schreckte aber vor einem
kräftigen Entschlüsse, sie zu überwältigen, regelmüßig zurück. Aber gerade diese
kritische Fähigkeit sicherte ihm beim Kaiser den entscheidenden Einfluß. Daher
gelang es ihm auch, eiuen Mann seiner Richtung zum Nachfolger Schmerlings
zu machen, den bisherigen Statthalter von Böhmen, Graf Richard Belcrcdi,
einen aristokratischen Föderalisten und Gegner der Deutschen; doch der eigentliche
Leiter der österreichischen Politik blieb auch jetzt, obwohl nur Minister ohne
Portefeuille, Graf Esterhazy.
Für dieses „Grafenministerium" fielen die Interessen des Staats und der
regierenden Aristokratie in eins zusammen. Es „sistirte" daher schon am
20. September 1865 die junge zentralistische Verfassung, verhandelte mit den
Ungarn und Böhmen über einen „Ausgleich" auf föderalistisch-aristokratischer
Grundlage und begünstigte bei seiner Finanzgesetzgebung und seinen Finanz¬
maßregeln in einer geradezu anstößigen Weise die Interessen des Großgrund¬
besitzes auf Kosten der übrigen Steuerzahler und zum Schaden der notleidenden
Staatskasse. Einen Ausgleich mit Ungarn brachte es nicht zu stände, und
für die Neuordnung der deutschen Dinge hatte es weder Verständnis, noch
ein Programm, noch den Beruf. Denn ein Staat, , der zum Vorteil der
feudalen, klerikalen und föderativem, also slawisch-magyarischen Interessen ge¬
leitet wurde, konnte und durfte Deutschland so wenig reorganisiren, wie
Ferdinand II. mit seinen Jesuiten und seinen heimatlosen Söldnerheeren, und
es war das entscheidende Verhängnis für Österreichs deutsche Politik, daß der
Verfechter des großdeutschen liberalen Standpunktes, Schmerling, in dem
Augenblicke zurücktreten mußte, wo sich der Kampf um die Vorherrschaft in
Deutschland mit raschen Schritten näherte. Dies hebt Friedjung doch zu
wenig hervor. Er betont, Österreich habe sich Preußen gegenüber im Stande
der Verteidigung befunden, denn Preußen sei im Angriff auf die alte deutsche
Stellung Österreichs gewesen. Gewiß war es das seit Bismcircks Berufung,
wie jeder als „Angreifer" erscheinen wird, der es unternimmt, eine lästige Fessel
AU sprengen. Aber im tiefern Sinn ist doch der schließlich der Angreifer, der
diese Fessel geschmiedet hat oder sie, wenn sie drückend wird, nicht löst, und
so ganz auf die bloße Behauptung der „historischen Stellung" ging doch auch
das Ministerium Belcredi keineswegs aus.
Für einen friedlichen Ausgleich mit Preußen über Schleswig-Holstein
etwa nach dem Gedanken Nechbergs war nur der Graf Mensdorff, der Öster¬
reich die Kraft nicht zutraute, einen Doppelkrieg im Norden und im Süden zu
führen, aber er hatte wenig Einfluß. Graf Esterhazy verabscheute den Krieg
Zwischen zwei alten konservativen Mächten und wäre vorher oder nachher zu
einer Art von Teilung Deutschlands bereit gewesen, aber er ließ sich in der
ganzen Frage mehr treiben, als daß er die Richtung gegeben hätte. Graf
Veleredi und Biegeleben dagegen drängten zum Kriege, der im Bunde mit
den deutschen Mittelstaaten zu führen sei, um, wie sich Biegeleben ausdrückte,
»Preußen in seine Teile zu zerschlagen." Wie man teilweise auch in den Mittel¬
staaten dachte, das zeigt unter anderm eine Äußerung Beusts: nun sei der
Augenblick gekommen, wo die Improvisation Friedrichs II. wieder verschwinden
werdet) Das war gewiß nur konsequent, aber eine reine Verteidiguugspolitik
war das nicht mehr. Und diese Richtung überwog im österreichischen Minister¬
rate mehr und mehr, deun sie hatte wenigstens ein bestimmtes klares Ziel.
Daher wurde in Holstein die Augustenburgische Agitation begünstigt, in der
Preußen einen Angriff auf sein Mitbesitzrecht erkannte und erkennen mußte.
Nun lagen an sich für Österreich zwei Wege offen. Entweder mußte es den
Krieg gegen Preußen mit allen Mitteln aufnehmen, also sich möglichst bald
mit Italien unmittelbar durch Verzicht ans Venezien verständigen, um seine
ganze Kraft nach Norden werfen zu können und hier einen durchschlagenden
Sieg zu erfechten. Oder es mußte seinen Anspruch auf den ausschließlichen
Vorsitz im Deutschen Bundestage — denn viel mehr bedeutete die so eifer¬
süchtig bewahrte „Vorherrschaft" nicht — aufgeben und sich mit Preußen über
eine gemeinsame Neuordnung der deutschen Verhältnisse einigen, deren UnHalt¬
barkeit Kaiser Franz Joseph selbst 1863 mit unvergeßlichen Worten anerkannt
hatte. Der Stolz auf die alte Tradition und der Mangel an jedem Ver¬
ständnis für die nationalen Interessen Deutschlands versperrten den zweiten
Weg, wie den ersten. Um so sichrer ging Vismarck vor. Schon am
28. Februar 1866 hatte der preußische Ministerrat gegen die Stimme des
Kronprinzen beschlossen, es um Schleswig-Holsteins willen auf einen Krieg
ankommen zu lassen, und seit dem 14. März wurde mit dem General Govone
in Berlin über ein preußisch-italienisches Bündnis verhandelt. Nachdem am
29. März die ersten Befehle zu militärischen Vorbereitungen ergangen waren,
kam am 8. April der Bund auf drei Monate zum Abschluß (in dem Sinne,
daß, falls Preußen wegen der Bundesreform während dieser Zeit in Krieg
verwickelt würde, Italien gleichfalls losschlagen müsse und Venezien erhalten
solle). Unmittelbar darauf, am 9. April, stellte Preußen in Frankfurt den
überraschenden Antrag auf die Berufung eines deutschen Parlaments nach dem
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht der Reichsverfassung von 1849.
Dieser kühn vordringenden, zielbewußter preußischen Politik gegenüber
herrschte in Österreich ebenso große Ratlosigkeit wie Erbitterung. Dabei trat
ein bedenklicher Zwiespalt zwischen der Staats- und der Heeresleitung hervor.
Die Diplomaten, namentlich Biegeleben, trieben zum Kriege, die Generale
machten Bedenken geltend, besonders wegen der unvermeidlichen Langsam¬
keit der österreichische« Mobilisirung, und wollten von Anfang an nur
von einem Verteidigungskriege hören, während Moltke sich ebenso ent¬
schieden für den entschlossensten Angriffskrieg und zwar in möglichst kurzer
Frist aussprach, allerdings ohne den König zu überzeugen. In dieser Ab¬
neigung des Monarchen gegen einen Angriff, in der er von einem Teile seiner
nächsten Umgebung bestärkt wurde, lag die letzte Möglichkeit einer friedlichen
Wendung, und in der That beantwortete Preußen (gegen den Willen Bismarcks,
der damals erkrankt war) die österreichische Note vom 7. April mit dem Vor¬
schlage, die schon getroffnen militärischen Maßregeln zurückzunehmen, am 15. April
zustimmend. Allein hier griffen nun die europäischen Verhältnisse maßgebend ein.
Für beide Mächte war die Haltung Napoleons III. von entscheidender Bedeutung.
Da dieser den Krieg schürte, um, als Vermittler zwischen die erschöpften Gegner
tretend, für Frankreich eine Landerwerbung am Rhein oder in Belgien, für
Italien die Erwerbung Vencziens durchzusetzen, daher Italien zum Bündnis mit
Preußen drängte, um der, wie er meinte, unzweifelhaften Übermacht Österreichs
einigermaßen ein Gegengewicht zu schaffen, so vermochte zunächst weder Preußen
noch Österreich zu einer festen Abmachung mit ihm zu kommen, das seine
Neutralität der einen oder andern Macht gesichert hätte. Gerade die Rüstungen
Italiens aber führten in Wien gegen Mensdorffs Meinung zu dem ent¬
scheidenden Beschlusse, die dort stehenden Truppen zu mobilisiren (21. April)
und in der Note vom 26. April Preußen zu erklären, daß Österreich im Süden
nicht abrüsten könne. Damit waren im Grunde die Würfel gefallen, denn das
konnte Preußen schon mit Rücksicht auf das verbündete Italien nicht zugeben,
und da schon am 27. April Österreich auch die Aufstellung einer Nordarmee
anordnete, so ergingen seit dem 3. Mai die Befehle auch zur Mobilisirung
der gesamten preußischen Armee.
Jetzt erst war der lange Widerstand des Königs Wilhelm gegen den
Krieg überwunden, denn die Sicherheit seines Staates war bedroht. In dem¬
selben Augenblicke, also zu spät, faßte man in Wien den Entschluß, sich mit
Italien zu verständigen, aber auch jetzt noch nicht unmittelbar und nicht rück¬
haltlos, sondern indem man am 30. April in Paris, wenn Italien neutral
bliebe, Venezien anbot, falls es nämlich gelänge, Schlesien für Österreich zu
erobern. Damit spielte dies Napoleon III. und dem Kabinett von Florenz
die Entscheidung in die Hand. Jener bestand auf der Zusicherung, Venezieu
ohne Rücksicht auf Schlesien abzutreten, und erreichte sie auch; die italienische
Regierung aber konnte nach dem Bündnisvertrage und unter dem steigenden
Drucke der nationalen Leidenschaft das verspätete Anerbieten auf keinen Fall
annehmen. So mißlang dieser österreichische Schachzug völlig, und Österreich
vergoß dann das Blut seiner Soldaten in Strömen für das Gespenst der
Waffenehre um einer Provinz willen, die es grundsätzlich schon aufgegeben
hatte, ein Verfahren, das Graf Rechberg später rund heraus eine „Schändlich¬
keit" genannt hat.
(Schluß folgt)
icht nur die maßgebenden militärischen Kreise, sondern auch die
Volksvertretung und die Presse beschäftigen sich immer wieder
mit der Frage, ob die Vorbildung der Offiziere des Veurlaubten-
standes genügend sei, und wie der vielfach auftretenden Unsicher¬
heit im Dienst abgeholfen werden könne. Es erscheint daher bei
der Erörterung dieser Frage ein kurzer geschichtlicher Rückblick erwünscht.
Als eine erste bindende Vorschrift über die Ergänzung der Offiziere darf
die von Friedrich Wilhelm III. unter dem 21. November 1815 erlassene Land¬
wehrordnung angesehen werden, die sich an die im Gesetz vom 3. September
1814 für die Landwehr gegebnen Bestimmungen anschließt. Nach Z 32 der
Landwehrordnung soll jeder abgehende Offizier in der Art ersetzt werden,
daß die Behörde und der Ausschuß eines Kreises, in dessen Bezirk der Offizier
abgegangen ist, drei Kandidaten vorschlagen, aus denen sich das Offizierkorps
des betreffenden Landwehrregiments einen auswählt. Nach 8 33 kommen hierfür
in Betracht: 1. die im Kreise angesessenen verabschiedeten Offiziere; 2. frei¬
willige Jäger, die bei ihrer Entlassung das Zeugnis der Befähigung zum
Offizier erhalten haben; 3. Unteroffiziere, sofern sie freie Grundeigentümer sind.
4. Eingesessene des Kreises mit einem Vermögen von zehntausend Thalern.
Eine Kabinettsordre vom 22. Mai 1818 bestimmt: „Es ist hauptsächlich daraus
zu achten, daß nur solche Individuen zur Würde eines Landwehrvffiziers ge¬
langen, die nicht allein die in der Landwehrordnung vorgeschriebnen militärischen
und staatsbürgerlichen Eigenschaften besitzen, sondern die auch durch ihr
moralisches Benehmen sich die Achtung ihrer Mitbürger erworben haben, da
es Mein ernster Wille ist, daß jedes Offizierkorps der Landwehr aus den ge-
achtetsten Männern seines Bezirks gebildet und fortdauernd erhalten werde."
Erst eine Kabinettsordre vom 10. März 1323 bestimmt die Militärbehörden
zur Mitwirkung, indem das Vorschlagsrecht auf die stündigen Mitglieder der
Kreisersatzkommission (Landwehrbataillonskommandeur und Landrat) übergehen
sollte. Endlich ordnete eine Verfügung des Kriegsministeriums vom 4. Mürz
1853 an, daß die Offizieraspiranten nicht eher zu Vizefeldwebeln ernannt werden
dürften, als bis sie bei einer Übung ihre dienstliche Qualifikation entschieden
nachgewiesen hätten. Mit dieser Verfügung wurde die Mitwirkung der Zivil-
behörden für künftighin beseitigt und der Anfang zu der gegenwärtigen Ein¬
richtung geschaffen.
Es ist nun nicht der Zweck der nachfolgenden Betrachtungen, weitere Vor¬
schläge zu machen, sondern auf Grund der später erweiterten und jetzt geltenden
gesetzlichen Bestimmungen zu untersuchen, wie das, was erreicht werden soll,
auch erreicht werden kann. In einem frühern Grenzbotenaufsatz habe ich schon
bemerkt, daß mir eine mehr als dreißigjährige Frontdienstzeit zur Seite steht.
Ich spreche mithin nicht als Laie und beginne mit dem Dienstjahr des Ein¬
jährig-Freiwilligen. In dieser Zeit soll er auf Grund seiner nachgewiesenen
wissenschaftlichen Befähigung und körperlichen Tauglichkeit, soweit er sich durch
militärische Beanlagung und Diensteifer hierzu eignet, zum Offizier der Reserve
und der Landwehr ausgebildet werden. Hier ist also die Grundlage zu suchen;
ich betone das vorangegangne Wort „Diensteifer" noch ganz besonders. Dieser
ist vom ersten bis zum letzten Tage unbedingt erforderlich, soll aus dem jungen
Soldaten für die Folge etwas tüchtiges werden. Vom Beginn des vierten
Monats ab wird durch einen hierzu besonders befähigten Offizier praktischer
und theoretischer Unterricht erteilt. Die Dienstobliegenheiten eines Unter¬
offiziers, die eines Frontoffiziers, sowie die besondern Standespflichten bilden
hierbei je einen Abschnitt für sich. Die Heerordnung giebt endlich in der An¬
lage 7 zu Z 20 scharf abgegrenzte Bestimmungen über das Maß dessen, was an
militärischem Wissen und Können bei der Abgangsprüfung gefordert wird.
Obenan steht hierbei die erlangte Sicherheit in der Persönlichen Ausführung
des Dienstes und in der Kenntnis der Bestimmungen, die ein sicheres Auf¬
treten als Vorgesetzter fraglos gewährleisten. Wer sich durch gute Führung,
Fleiß und Verständnis auszeichnet, kann nach sechsinonatiger Dienstzeit zum
überzähligen Gefreiten und nach neun Monaten zum überzähligen Unteroffizier
befördert werden. Nach besondrer Prüfung am Ende des Jahres erfolgt die
Ernennung zum Neserveoffizieraspiranten.
Hieraus dürfte hervorgehen, daß die Grundsätze, nach denen die Vor¬
schriften für die Ausbildung verfaßt worden sind, dahin gehen, aus der Masse
der Einjährig-Freiwilligen die relativ besten Kräfte auszusuchen, um sie für
ihre wichtigste Aufgabe — den Krieg — zu erziehen. Es kaun in dieser Hin¬
sicht auch von jeder Truppe behauptet werden, daß sie von der hohen Wichtigkeit
dieser ihrer Pflicht durchdrungen ist und sich auch dieser militärischen Aufgabe
mit Eifer widmet. Es erscheint mir aber auf der andern Seite unbedingt
nötig, zu fordern, daß sich auch der dienende junge Mann der Pflicht seines
Dienstjahres ganz bewußt wird; er muß von der Notwendigkeit durchdrungen
sein, zu lernen und zu arbeiten, alles abzustreifen, was ihn irgendwie von
seiner militärischen Ausbildung ablenken könnte; der feste Wille, das vorgesteckte
Ziel zu erreichen, muß bei ihm erkennbar sein. Die Offizieraspiranten haben
später zwei achtwöchige Übungen zu leisten. Die sogenannte Übung ^. hat
lediglich den Zweck, das während der einjährigen Dienstzeit Gelernte zu befestigen
und zu vervollständigen, und schließt mit einer praktischen und theoretischen
Prüfung sür die Aspiranten ab, die in ihrer dienstlichen und außerdienstlichen
Haltung befriedigt haben (Reserveoffizierprüfung). Während der Übung L thun
die zu Vizefeldwebeln usw. beförderten Offizieraspiranten Offizierdienste; hier
wird der Hauptwert auf die praktische Ausbildung gelegt. Am Schlüsse dieser
Übung giebt der zuständige Kommandeur sein Einverständnis, daß der Ofsizier-
aspircmt zum Reserveoffizier des Truppenteils oder zum Landwehroffizier vor¬
geschlagen werden kann. Dieses Einverständnis ist neben der Beurteilung der
außerdienstlichen Haltung des Aspiranten noch von einer besondern praktischen
Prüfung abhängig. Im übrigen sind die Truppenbefehlshaber persönlich dafür
verantwortlich, daß in ihrem Befehlsbereich allerseits darnach gestrebt wird, die
für den Mvbilmachungsfall erforderliche Anzahl geeigneter und verwendungs¬
fähiger Reserve- und Landwehroffiziere oder Offizierstellvertreter heranzubilden.
Dies betont auch die Felddienstordnung in Ur. 14 und 15 der Einleitung.
Nach erfolgter Wahl zum Offizier sind während der Zugehörigkeit zur Reserve
drei pflichtmäßige Übungen von je achtwöchiger Dauer zu leisten, wobei auf
eine kriegsgemäße Ausbildung unter Verantwortung der Truppenbefehlshaber
aller Grade Nachdruck gelegt wird. Eine besondre Ausbildung erhalten die
ältern Offiziere bei den sogenanten Beförderungsübungen. Die bestündige
Wiederholung des früher Erlernten ist dabei von großer Wichtigkeit.
Die Verhältnisse, unter denen die Freiwilligen ihr Jahr addieren, sind
natürlich oft recht verschieden. Ein Teil will damit das Studium an einer
Hochschule verbinden, um — wie man oft hört — das Jahr nicht zu ver¬
lieren. In Wirklichkeit ist das Jahr aber doch verloren. Einmal kann infolge
der Anstrengungen des Dienstes von ernsten berufswissenschaftlichen Studien
keine Rede sein, dann raubt an einer Universitätsstadt das nicht zu vermeidende
Kneipenleben so viel Körperfrische, daß darunter der militärische Dienst wesentlich
leidet. Es wird also auf keiner Seite etwas richtiges geleistet, weil eben
niemand zwei Herren dienen kann. Diese Beobachtungen kann man gerade in
Universitätsstädten vielfach bei den Prüfungen machen, bei denen durchschnittlich
fünfzig Prozent durchfallen, sodaß man sich sagen muß, es ist schade um die
Zeit und um so viel Intelligenz, die auf diese Weise verloren geht. Auch
muß man oft staunen, wie wenig militärische Kenntnisse gerade sonst einsichtige
Leute haben, wie ungewandt und lückenhaft die schriftliche Ausdrucksweise selbst
bei den einfachsten Aufgaben ist. Ein andrer Teil der Einjährigen vollendet
erst seine Studien und dient nach bestandnen Berufscxamen. Ich kann mich
auch dafür nicht erwärmen. Diese jungen Leute sind oft in einer Zwangslage.
Sie sind allerdings in gewisser Weise fertig, gereifter an Lebensalter und An¬
schauungen, aber sie haben oft nicht mehr die körperliche und geistige Bieg¬
samkeit, die beim Beginn des Dienstjahres erforderlich ist, um mit einer ge-
wissen Selbstverleugnung die Unbequemlichkeiten geschickt zu überwinden. Die
gewohnte akademische Ungebundenheit haftet ihnen oft sehr an, daher können
sie sich nur schwer unter dem Druck der militärischen Zucht zurecht finden.
Hat der Betreffende dann noch eine flotte Studienzeit verlebt und dabei dem
sich noch entwickelnden Körper zu viel zugemutet, so sehlt gewöhnlich die not¬
wendige Widerstandsfähigkeit gegen alle Strapazen. Ein dritter Teil der Ein¬
jährig-Freiwilligen endlich, der aus dem Handelsstand, der Industrie, der
Landwirtschaft usw. hervorgeht, erfüllt manche Vorbedingungen am besten, da
er ohne jede Nebenabsicht dient, also ganz bei der Sache sein kann. Hier
sehlt aber sehr häusig der Ehrgeiz, auf der militärischen Stufenleiter weiter
zu steigen, und das Streben wird oft erkennbar, fo rasch wie möglich die
militärische Pflicht los zu sein; jede spätere Dienstleistung wird oft wie eine
schwere Last empfunden. In gewisser Beziehung hat dies auch seine Be¬
rechtigung, denn der Kampf ums Dasein erfordert heutzutage gerade auf diesen
Gebieten die Kraft und Intelligenz eines ganzen Mannes, auch sind die Opfer
an Zeit und Geld bei Übungen manchmal unersetzlich. Umso mehr ist es an¬
zuerkennen, wenn diese Opfer gebracht werden.
Ich halte also dafür und möchte dies Eltern und Vormündern dringend
ans Herz legen, daß in erster Linie der junge Mann gleich nach bestandner
Abiturientenprüfung dient, und zwar in keiner Stadt mit Hochschule. Die
hieraus entspringenden Vorteile sind nicht zu unterschätzen. Einmal tritt er aus
der Luft der Schulstube in eine frische und gesunde Thätigkeit, die dem jungen
Körper nur förderlich sein kann. Dann erfreut er sich eines freiern Lebens,
aber in einem Maße, das Ausschreitungen verbietet. Endlich entwickelt sich
der Körper unter dem Gleichmaß von Ruhe und Arbeit derart, daß am Ende
des Jahres ein fertiger Mann vor uns steht, ausgestattet mit einem gefestigten
Charakter. Einen solchen Sohn kann ein Vater zum weitern Studium dann
ruhig sich selbst überlassen.
Zu einer sachgemäßer,? Aus- und Fortbildung der Offizieraspiranten
und der Offiziere des Beurlaubtenstands sind schon viele Vorschläge gemacht
und alle möglichen Rezepte gegeben worden; sie treffen insofern nicht das
Richtige, als sie alles von dem Lehrer fordern. Man muß aber auch Gegen¬
leistung erwarten dürfen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der deutsche
Berufsoffizier heutzutage alles daransetzt, tüchtige und brauchbare Reserve- und
Landwehroffiziere heranzubilden; der Einjährig-Freiwillige muß diesem Bestreben
aber auch durch Eifer und Fleiß entgegenkommen. Wenn es hier fehlt, so
helfen die besten Verordnungen nichts. Die Vorschriften, wie Exerzirreglement,
Felddienstordnung und Schießvorschrift müssen gründlich durchgearbeitet werden
und während des praktischen Dienstes in Fleisch und Vink übergehen. Gerade
die beiden erstern eignen sich in ihrer klassischen Ausdrucksweise besonders zum
tiefern Studium und zur festen Einprnguug. Die Passion muß bei der Sache
sein. Der junge Mann muß von der Notwendigkeit eines ernsten Strebens
durchdrungen sein und ringen und arbeiten, um ein schneidiges und brauch¬
bares Rüstzeug in der Hand seines obersten Kriegsherrn zu werden. Unsre
gesetzlichen Bestimmungen reichen hierzu vollkommen aus. Also: volle Aus¬
nutzung des Dienstjahres. Die spätern Übungen verlangen Wiederholung des
Erlernten, aber nicht erst, wenn der Betreffende wieder eingezogen ist, sondern
schon vorher gewissermaßen als Vorbereitung, dann werden wir auch brauch¬
bare Offiziere haben und im Kriege keinen Mangel an Führern.
Wie in den Feldzügen von 1864, 1866 und 1870/71, so werden auch
in einem künftigen Kriege die Offiziere des Veurlcmbtenstands unter Einsetzung
ihres Lebens für Kaiser und Reich zu kämpfen wissen und damit zeigen, daß
sie die Haupteigenschaft des Offiziers haben, die sie treibt, ihren Unter¬
gebnen auf dem Pfade der Ehre und Pflicht mit persönlichem Beispiele voran¬
zugehen. Aber damit ist die Sache für uns noch nicht erledigt. Der Offizier
ist auch verantwortlicher Führer und muß als solcher ein gutes Teil Urteils¬
kraft und Entschlußfähigkeit haben. Er muß über das Was und Wie unter¬
richtet sein, um die Verantwortung eines Truppenführers tragen zu können.
Dazu ist erforderlich, daß, wenn die Zeit einer Dienstleistung naht, die Regle¬
ments und Vorschriften hervorgeholt werden, damit er nicht bei jeder neuen
Übungsperiode unter dem Mangel der nötigsten Dienstkenntnisse leide. Wo
das Verständnis für die Ausführung höherer Anordnungen, das sich auf die
Kenntnisse der Elemente des militärischen Wissens aufbaut, fehlt, da bringt
der Betreffende „keine drei Mann über den Rinnstein." Es liegt in diesem
drastischen Ausspruch eine tiefe und praktische Bedeutung; er will mit andern
Worten sagen, der Mann hat nicht die Fähigkeit, Truppen dahin zu bringen,
wohin man sie haben will. Wo dagegen das Bewußtsein des Wissens und
Könnens vorhanden ist, wo sich ein berechtigtes Selbstvertrauen als die wahre
Quelle selbständigen Handelns findet, wo sich eine schneidige Persönlichkeit über
einen unsichern Augenblick hinweghelfen kann, da wird auch der Erfolg nicht
ausbleiben.
Wenn vorstehende Gedanken hier und da auch anfechtbar erscheinen, so
kann ich doch versichern, daß sie aus dem Leben genommen sind; ich habe mich
dabei lediglich von dem Wunsche leiten lassen, meinen Kameraden vom Beur¬
laubtenstande nützlich zu sein. Im übrigen führen viele Wege nach Rom,
auch erhebe ich keinen Anspruch darauf, in meinen Betrachtungen die allein
arwin und kein Ende! werden die Leser seufzen. Nun, dieser
Aufsatz soll eben das Ende sein. Für uns wenigstens ist mit
dem, was wir hier zu sagen haben, die Sache abgeschlossen, und
sie hätte schon vor zwanzig Jahren für alle Welt abgeschlossen
sein können, wenn Laienpnblizisten, wie wir, an die schon damals
fließende Quelle geraten wären und den Mut gehabt hätten, diese der Dar¬
winischen Hochflut gegenüber zur Geltung zu bringen. Hat doch der in der
Überschrift genannte, 1876 zu Dorpat gestorbne Naturforscher den Darwinismus
sogar schon vor Darwin wissenschaftlich vernichtet. Wir haben ihn erst jetzt
kennen gelernt ans dem Buche: Karl Ernst von Baer und seine Welt¬
anschauung von Dr. Nemigius Stölzle, Professor der Philosophie an der
Universität Würzburg (Regensburg, G- I. Mainz. 1897). Der Verlag und die
Widmung — es ist dem Vater des Verfassers und dem Freiherrn von Hertling
gewidmet — zeigen an, daß wir es mit einem katholischen Tendenzwerke zu
thun haben. Aber es ist eine gewissenhafte Arbeit, und die wörtlichen An¬
führungen aus Baers Schriften (es sind ihrer über dreihundert) reichen voll¬
ständig hin, die Sache, auf die es uns ankommt, gegen jeden Zweifel sicher¬
zustellen. Wir beschränken uns auf diese uns am Herzen liegende Sache und
verzichten darauf, nach dem vorliegenden Buche ein Bild von dem Charakter
des vielseitigen großen Gelehrten zu entwerfen und von seinen Leistungen auf
andern Gebieten, wie in der Geographie, Ethnographie, Geschichtsphilosophie.
Nur das eine bemerken wir noch, daß man bei ihm den Ursprung mancher
Betrachtungen entdeckt, die heute mit Vorliebe von Feuilletonisten ausgesponnen
werden, z. B. über die Relativität unsers Zeitmaßes, das ein jeder in seinem
Puls in sich trage. Die Ausmalung der Sinneswahrnehmungen eines kleinen
Wesens, das nur den tausendsten Teil der Lebenszeit eines Menschen und
darum ebensoviel mal rascher, und eines andern, großen Wesens, das tausend¬
mal so lange wie ein Mensch und darum ebenso vielmal langsamer lebe, ist,
so wie sie Baer geschrieben hat, schon ein Feuilleton. Das raschlebende Wesen,
wird unter anderm ausgeführt, nimmt auch entsprechend rasch wahr und wird
also eine Flintenkugel in ihrem Laufe mit den Augen verfolgen können; ein
Millionenmal rascher als der Mensch lebendes Wesen würde die Bewegungen
eines Tieres nur so wahrnehmen können, wie wir jetzt die Bewegungen der
Gestirne, durch Schluß aus der nach einiger Zeit wahrgenommnen Ortsver¬
änderung, dem Auge würde das sich bewegende Tier stillzustehen scheinen.
Beim tausend- oder millionenmal langsamer lebenden Wesen würde sich alles
entgegengesetzt Verhalten. Also wir lassen das alles beiseite und ziehen nur
Baers Kritik des Darwinismus in Betracht.
Schon im Jahre 1826 hatte Baer seine Typenlehre vollendet. Darnach
sind die großen Familien der verwandten Tiere bestimmt, „durch das gegen¬
seitige Lagerungssystem sämtlicher Organsysteme, welches sür jeden Typus ein
eigenartiges ist und dadurch die Verschiedenheit bedingt, auch wenn die Or¬
gane an sich die gleichen sind." Deshalb ist für ihn der Gedanke, daß Tiere
des einen Typus durch Transmutation aus Tieren eines andern hervorgehen
könnten, von vornherein ausgeschlossen, obwohl er die Transmutation an sich,
die sich aber auf ein Schwanken innerhalb gewisser Grenzen beschränke, für
Thatsache hält. Wie die Tiertypen geworden sind, weiß er nicht zu sagen,
aber er erklärt es für unwissenschaftlich, durch willkürliche Annahme den Schein
zu erwecken, als wisse man etwas von Dingen, von denen wir eben nichts
wissen können; wissenschaftlich sei es allein, unsre Unwissenheit einzugestehen.
Gewiß sei nur, daß sich in der Entwicklung der organischen Wesen „Ziel¬
strebigkeit" offenbare. Er zog diesen Ausdruck, den er erfunden hat, dem Worte
Zweckmäßigkeit vor, einmal, um den geheimnisvollen innern Drang der Wesen
nach Vervollkommnung und zu einem bestimmten Ziele hin zu bezeichnen, zum
andern, um die Vorstellung auszuschließen, als ob der nach einem Plane
schaffende Gott in jedem Augenblick gewissermaßen eigenhändig eingriffe; die
Welt sei eben mit dem ihr innewohnenden Gestaltungsdrange und der Ge¬
staltungskraft, die sie bestimmten Zielen zuführt, geschaffen. Als allgemeine
Ziele erkennt er: für die unorganische Welt die Herstellung der zur Entstehung
der Organismen notwendigen Bedingungen, für die organische Welt den Sieg
des Geistes über den Stoff, für alle übrigen Geschöpfe zusammen die Er¬
möglichung des Daseins des Menschengeschlechts, sür dieses selbst endlich den
geistigen Fortschritt. Das Ziel oder der Daseinszweck jeder Art von Wesen
bestimmt ihren Typus, und dieser bestimmt ihre Entwicklung. Baer zeigt z. B.
ausführlich an der Entwicklung des Vogeleis, daß sie nicht anders verlaufen
könne, als sie verläuft, wenn ein Vogel daraus werden soll, warum die Bildung
des Auges viel früher beginnen müsse als die des Schnabels usw., und er
schließt diese Betrachtung mit der Bemerkung, man dürfe nun nicht etwa sagen:
weil der Vogel Flügel und Füße hat, kann er fliegen und gehen, sondern man
müsse sagen: Flügel und Füße bilden sich aus, damit ein Vogel daraus werde;
von vornherein sei dieses Wesen derart angelegt, daß seine Extremitäten ganz
anders an den Rumpf befestigt seien als die der Vierfüßer. Gewiß seien alle
Wesen ihrer Umgebung und ihren Daseinsbedingungen angepaßt, dem Wohnort,
der Nahrung, dem Himmelsstrich, aber nicht so sei die Anpassung zu ver-
stehen, daß die Umgebung und die Lebensbedingungen die Organe schufen und
umbildeten, sondern umgekehrt, die Organe seien so und nicht anders gebaut,
weil das Tier für diese und keine andre Umgebung und Lebensweise bestimmt
sei; der Aufenthaltsort, das Element oder Medium, die Nahrung, die Lebens¬
weise des Tieres entscheiden darüber, wie es vom ersten Anfange seines Ent¬
stehens an aufgebaut werden muß; das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige,
nicht umgekehrt.
Alles das stand für Baer schon vor Darwins Auftreten fest. In seiner
Polemik gegen diesen (vorzugsweise in der 1876 erschienenen Schrift: Über
Darwins Lehre) entwickelte er hauptsächlich folgende Gegengründe. Art sei
durchaus kein schwankender, sondern ein ganz fester Begriff, die Variabilität
sei keineswegs unbegrenzt und bewege sich nicht planlos nach allen Richtungen
hin; das seien Erfahrungsthatsachen. Die in Ägypten gefundnen Tiermumien
und mehrere tausend Jahre alte Pflanzenteile bewiesen, daß die damals be¬
stehenden Arten mit den heutigen völlig identisch seien. Wenn die von den
Darwinianern behaupteten Umwandlungen Thatsache wären, dann müßten sich
in historischer Zeit irgendwo einmal wenigstens nahe verwandte Arten in ein¬
ander, z. B. Schafe in Ziegen verwandelt haben oder umgekehrt, das sei aber
niemals vorgekommen. Nehme man aber zu unendlich langen Zeiträumen seine
Zuflucht, dann lasse sich das Vorhandensein deutlich unterscheidbarer Arten
erst recht nicht erklären. Die unendlich langen Zeiträume würden doch an¬
genommen, weil die Entwicklung in unendlich vielen, winzig kleinen, für den
Beobachter unwahrnehmbaren Schritten vor sich gehen soll. Nun sei es doch
undenkbar, daß je eine bestimmte Anzahl oder Abteilung von Tieren oder
Pflanzen jeden dieser unendlich vielen kleinen Schritte genau zu derselben Zeit,
aber zu andrer Zeit als jede andre Abteilung gethan haben sollte, was man
annehmen muß, wenn dabei unsre heutigen Arten herauskommen sollen. Viel¬
mehr würde jedes organische Wesen bei diesem Fortschritt sein eignes Tempo
innegehalten haben, und es würde eine unendliche Verschiedenheit dabei heraus¬
gekommen sein, lauter unmerkliche Übergänge, sodaß eine Abgrenzung von
Gattungen und Arten gar nicht möglich wäre. Durch Summirung vererbter
Abänderungen sodann könne nur dann eine neue Art oder wenigstens eine
neue Spielart entstehen, wenn die abändernde Ursache durch viele Geschlechts¬
folgen hindurch beständig einwirke, wie das bei der Tierzucht der Fall sei;
eine planlos wirkende Natur könne also nimmermehr einen solchen Erfolg er¬
zielen, wie ihn der mit einer bestimmten Absicht einwirkende Züchter erzielt;
zufällige Wirkungen heben einander gegenseitig auf, und die in der freien Natur
durch solche zufällige Einwirkung entstandnen Abweichungen von der Normal¬
gestalt verschwinden wieder. Deshalb könne auch der Kampf ums Dasein keine
neue Arten hervorbringen. Der Züchter habe ein Ziel, der Kampf ums Dasein
habe nur einen Erfolg, kein Ziel. Sollte der Kampf ums Dasein im Sinne
Darwins artbildend wirken, so müßten im Weltmeere nur wenige Arten von
Fischen vorhanden sein. Denn die Nahrung für viele Arten sei dieselbe; es
müßte also von jeder Gruppe von Konkurrenten nur die siegreiche Art übrig
geblieben sein; es finden sich aber Tausende von Fischarten.
Das von Häckel und Fritz Müller formulirte biogenetische Grundgesetz
hat Baer schon in seiner Entwicklungsgeschichte der Tiere (1828 bis 1837)
widerlegt, als Häckel noch in den Windeln lag. Es war nämlich damals
schon von I. F. Meckel und Oken aufgestellt, wenn auch noch nicht mit dem
heutigen schönen Namen verziert worden. Einige Sachkenntnis in embryo¬
logischen Fragen wird man Vaer, der das Säugetierei entdeckt hat und den
Waldeyer den Vater der wissenschaftlichen Embryologie nennt, nicht absprechen
wollen. Baer behauptet nun auf Grund seiner Beobachtungen, es sei einfach
nicht wahr, daß der menschliche Embryo nach einander die Formen der Em¬
bryonen seiner angeblichen tierischen Ahnen annehme, oder daß überhaupt der
Embryo irgend eines Tieres die Entwicklungsstufen der Embryonen niederer
Tierklasfen durchmache. Freilich seien im allerfrühesten Stadium alle Em¬
bryonen einander sehr ähnlich, auf einem spätern Stadium z. B. die Embryonen
aller Wirbeltiere kaum von einander zu unterscheiden, indem sie alle nur den
allgemeinen Charakter der Klasse trügen, zu der sie gehören, aber sobald ein
Klassencharakter oder ein Artcharakter hervortrete, sehe man auch sofort, zu welcher
Klasse oder zu welcher Art das Wesen gehöre. Kein höherer Typus, sagt er, kann
einen niedern durchlaufen; Wirbeltiere durchlaufen nicht zuerst den der Gliedertiere
und Mollusken, Gliedertiere nicht den der Mollusken; nicht eine Tierreihe durch¬
läuft die Entwicklung des Individuums, sondern sie geht von den allgemeinen
Charakteren ihrer Gruppe zu den speziellern und allerspezielisten Charakteren
über. Im Wirbeltierkeime entsteht aus einer Verdickung in der Mitte zuerst
der Stamm der künftigen Wirbelsäule. Es bilden sich zwei Leisten, die mit
einander verwachsen, und aus deren innern Wänden allmählich das Rücken¬
mark entwickelt wird. Ehe die beiden Leisten verwachsen, sind auch schon
hinter einander liegende Verdickungen, die künftigen Wirbel, sichtbar geworden.
Auf dieser Stufe hat der Embryo nur den allgemeinen Charakter des Wirbel¬
tieres; sobald er einen besondern Charakter, z. B. den der Fische zeigt, kann
er ans diesem nicht mehr heraus. Aus einem als Gliedertier angelegten
Wesen kann schon darum kein Wirbeltier werden, weil das Gliedertier die
Nervenzentren an der Bauchseite, das Wirbeltier sie an der Rückenseite hat.
Demgemäß sei auch die Lagerung aller andern Organe verschieden. Man dürfe
nicht sagen, der Rücken könne ja zum Bauche werden oder umgekehrt, denn
dagegen stritten die Extremitäten- Diese seien so gebaut, daß die Bauchseite
dem Boden zugekehrt sei oder dem festen Körper, auf dem es sich bewege, selbst
wenn es umgekehrt an der Decke krieche. So sei es dann weiter mit den
Embryonen der verschiednen Arten einer Klasse. Aus einem fischartiger
Embryo könne niemals ein Vogel oder ein Säugetier werden. Denn das sehr
kleine Hirn, die Kiemen und die unPaaren Mittelflossen des Fisches, sowie
sein starker zum Vorwärtsstoßen des ganzen Tieres bestimmter Schwanz seien
schon im Embryo angelegt und würden sichtbar, sobald der Fischcharakter
hervortrete. Ist demnach aus den Entwicklungsstufen, die der Embryo des
Menschen durchläuft, keine Ahnenreihe abzuleiten, so läßt sich auch auf paläon¬
tologischen Wege keine ermitteln. Baer findet bei einem Überblick über die
Tierarten der auf einander folgenden Erdperioden, daß die Paläontologie
keineswegs die Entstehung der einen Grundform aus der andern durch Um¬
bildung erweise, „daß vielmehr die Grundformen, die wir Typen nennen, ohne
solche Übergänge neu aufgetreten zu sein scheinen." Überall würden Formen
vermißt, die man als Übergangsformen ansehen könnte. Wo sei ein Übergang
von Pflanzenfressern zu Fleischfressern, von Huftieren zu Raubtieren oder um¬
gekehrt zu finden? Die Omnivoren, wie das Schwein, seien keine Übergangs¬
formen, sondern hätten ihre besondern Eigentümlichkeiten, die sie eben so scharf
von jenen beiden Klassen unterschieden, wie jene unter sich verschieden seien.
Die Beuteltiere sollen die älteste Säugetierart sein; aber die in der alten Welt
gefundnen fossilen Beuteltiere seien so klein, daß niemand unsre großen Säuge¬
tiere von ihnen abzuleiten wage, und wolle man diese von den großen Beutel¬
tieren Australiens abstammen lassen, so entstehe die Frage, wie es komme, daß
Australien selbst keine großen plazentalen Säugetiere habe.
Für ganz unmöglich erklärt es Baer, sich die Entstehung des Menschen
aus einem Affen oder affenähnlichen Tiere zu denken. „Kein Klima, keine
Nahrung, keine Krankheit kann nach unsrer Erfahrung aus der Hinterhand
des Orang-Utangs den menschlichen Fuß gestalten, der in der gesamten
Schöpfung nicht wieder vorkommt. Ja, wenn nnn gar erwiesen werden kann,
was ich für erweisbar halte, daß der aufrechte Gang des Menschen nur Folge
von der Entwicklung seines Hirns, sowie die höhere Entwicklung des Hirns
nur der Ausdruck der höhern geistigen Anlage ist, so haben wir weiter zu
fragen: wie konnte in den Orang-Utang die höhere geistige Anlage kommen?"
Natürlich wird die Umwandlung nicht wahrscheinlicher, wenn man statt des
Orang-Utang den Gorilla bevorzugt.
Müssen wir annehmen, schreibt Baer (bei Stölzle S. 376), daß dieser Ur¬
vater die Bäume verlassen und sich im Gehen auf platter Erde zu üben angefangen
hat? Annehmen, daß dadurch der Fuß allmählich sich verbesserte, daß die große
Zehe allmählich weniger von den andern abzustehen begann, daß der Gorilla sich
aufrecht hielt »ut senkrecht zu stehen sich gewöhnte, daß die Kniee allmählich im
Laufe der Tausende von Jahrhunderten gerade gemacht wurden, daß die Beine
länger, die Arme und die Kiefer kürzer wurden, daß die Haare ausfielen außer
auf dem Kopf und an einigen andern Stellen, wo sie, wie es scheint, am wenigsten
notwendig sind? >Die Früchte, mit denen sich der Gorilla nähre, wüchsen doch
auf Bäumen.) Warum wird er nicht zu ihnen zurück auf die Bäume gehen,
wenigstens in der ersten Zeit, wenn er auch später gelernt hat, Wassermelonen und
vielleicht auch Reis zu Pflanzen? Und warum bleibt er nicht auf den Bäumen,
da doch jede Tierart für die Erhaltung ihres Lebens sorgt? Müssen wir an¬
nehmen, daß alle Bäume plötzlich vernichtet wurden, oder brachte keiner von ihnen
mehr Früchte hervor? Aber dann mußten notwendig alle Affen zu Grunde gehen.
Oder muß man annehmen, daß die Affen im Laufe der Jahrtausende sich im
Gehen auf platter Ebene geübt und von der Erde Früchte genommen haben, nur
um sich von der fatalen Form der Füße zu befreien, und um diese nicht durch
Übung im Klettern zu konserviren? Aber dann würde nicht Kampf ums Dasein
stattfinden, sondern Kampf um die Zivilisation, der sie sich im Laufe der Jahr¬
hunderte ergeben müssen. ^Gemeine ist wohl: die sie zu erringen beabsichtigen.)
Aber wo finden wir beim Menschen, daß die Magenbedürfnisse den geistigen Be¬
dürfnissen geopfert werden? Diese Gorillas waren also früher viel erhabner als
jetzt, wo sie sich in Menschen umgewandelt haben. Die Menschen unsrer Zeit
müssen die sich ihnen zunächst darbietende Nahrung zu erlangen suchen, um ihren
Hunger zu stillen, jene Gorillas dagegen, die Bildung suchten, müssen so etwas
wie haarige Engel gewesen sein, die dem Hunger nicht unterworfen siud.
Baer sagt den Darwinianern geradezu, sie gingen nicht von der Beobach¬
tung aus, sondern von der Reflexion, an die Stelle der Beobachtung setzten
sie Poesie, Phantasie, Vermutungen, Annahmen, Behauptungen, logische Postu¬
late, und wer neben Häckels Schriften einiges von Baer gelesen hat, der kann
nicht darüber im Zweifel sein, auf welcher Seite die exakte Wissenschaft und
die gewissenhafte, nüchterne Forschung zu finden ist. Das deutsche Publikum
hat sich ein paar Jahrzehnte hindurch von den Popularisirern der Darwi¬
nischen Theorie blauen Dunst vormachen lassen; es ist Zeit, daß es sich an
die soliden Forscher wende, um von denen zu erfahren, wie weit unsre Natur¬
erkenntnis reicht.
eit einer Reihe von Jahren sind bei Leopold Voß in Hamburg von
Theodor Lipps und Richard Maria Werner Beiträge zur Ästhetik
herausgegeben worden, die nach Inhalt und Form gleich aus¬
gezeichnet sind. Ihre Zahl ist klein gegenüber den Dutzenden,
die andre Sammelredakteure wie in einem Brutapparat reifen
lassen, aber jede Nummer war ein Treffer. Werners „Lyrik
und Lyriker" eröffneten die Reihe, darauf beleuchtete Lipps den „Streit über
die Tragödie," und einer unsrer begabtesten jüngern Architekten, Richard
Streiter, gab eine Kritik von „Karl Böttichers Tektonik der Hellenen." Dieses
Jahr ist die Sammlung wieder um zwei vorzügliche Arbeiten vermehrt worden.
In dem zuletzt erschienenen fünften Heft untersucht Paul Stern die Begriffe
»Einfühlung und Assoziativ!! in der neuern Ästhetik." Er kommt zu dem
Schlüsse, „Einfühlung," von Novalis geprägt und neuerdings wieder warm
Verteidigt als beste Bezeichnung für den Akt der ästhetischen Anschauung, sei
als eine sür die Wissenschaft zu allgemeine und metaphorische Bezeichnung doch
abzulehnen. Ein Rest von metaphorischen bleibt freilich auch in seiner Ant¬
wort auf die Frage nach dem Wesen des ästhetischen Gefühls, wenn er erklärt:
Dieses Gefühl ist zunächst bestimmt durch die Eigenart der einzelnen in Be¬
tracht kommenden Empfindungen und ihre Stellung zur Psyche, ihre Be¬
ziehungen zu einander und die Bedeutung, die die Objekte der Wahrnehmung
auf dem Wege der Erfahrungsasfoziation für uns gewonnen haben; als ästhe¬
tisches Gefühl verselbständigt und gesichert wird es durch die „Resonanz der
Ähnlichkeitsassoziationen." Dieses Bild ist viel feiner, der ganze Vorgang viel
behutsamer analysirt als mit dem Schlagwort Einfühlung, aber ganz ohne
Bild geht es eben auch so nicht.
Auf dem Grenzgebiet zwischen Geschichtschreibung und Ästhetik steht der
vierte Beitrag der Reihe. Der erste Vertreter der altdeutschen Philologie in
Österreich, Richard Heinzel in Wien, giebt darin eine „Beschreibung des geist¬
lichen Schauspiels im deutschen Mittelalter." Indem das Werk den Stoff
nach den Wahrnehmungen und Eindrücken des Publikums einteilt und die bei
einer Aufführung in Betracht kommenden Assoziationen bespricht, soll es in
erster Linie als ein Veitrag zur Ästhetik gelten; die folgende Skizze sucht
mehr das Geschichtliche an der Sache zu betonen.
Die Stoffe der altdeutschen geistlichen Schauspiele stammen aus der
heiligen Tradition. Passionen sind die meisten von ihnen, viele auch Weihnachts¬
spiele, eine ganze Anzahl Klagen der Maria am Kreuze und wieder andre
Osterspiele, noch andre stellen das Märtyrertum vou Heiligen dar, das der
heiligen Dorothea, der heiligen Katharina u. a.; aufgeführt wurden diese
Spiele alle möglichst zu den betreffenden Zeiten des Kirchenjahres. Die
Passionen greifen zum Teil bis zur Geburt Christi zurück; Auswahl und
Ordnung des Dargestellten ist natürlich nicht überall gleich. Charakteristisch
für die Vorliebe für menschlich-weltliche Ueberzüge ist, daß Magdalenas Be¬
kehrung und ihre Salbung des Herrn beim Gastmahle Simons des Aussätzigen
in keiner Passion fehlt. Dagegen ist eine so persönlich empfundne Verknüpfung
wie die Verteidigung Christi durch den von ihm Geheilten bei dem Verhör
vor Pilatus etwas, was sich in der ganzen Litteratur nur einmal findet. Die
Weihnachtsspiele beginnen gewöhnlich mit der Verkündigung, wenn sie nicht
noch ein Prophetenspiel vorausschicken, und schließen mit der Flucht nach
Ägypten oder dem Morde der unschuldigen Kindlein. Von den Osterspielen
begegnen uns zwei Typen: der eine bringt die drei Marien, die Christi Grab
leer finden und das den Aposteln melden, der andre die Grabwache, die Auf¬
erstehung Christi selbst und seine Höllenfahrt; beides kommt aber auch oft ge¬
mischt vor, wobei wieder bezeichnend ist, daß die Begegnung Magdalenas mit
Christus als Gärtner bis auf eine einzige Ausnahme in keinem Osterspiele
sehlt. Die Länge der Stücke ist sehr verschieden; eine Wiener Osterfeier hat
nur dreißig Verse, die größten Spiele mußten auf drei Tage verteilt werden.
Entsprechend schwankt die Personenzahl zwischen zwei und an die zweihundert,
wobei die kleinsten Zahlen auf die Marienklagen, die größten auf die Passionen
fallen. Eine auch nach unsern Begriffen große und anstrengende Rolle war
die des Christus in den Passionen, eine ganz kleine z. B. die des Hausvaters,
bei dem das Abendmahl abgehalten wird.
Die meisten Spiele entbehren nicht eines dramatischen Konflikts. Christus
steht den Juden und Pilatus oder den Grabwächtern und den Teufeln gegen-
über, eine Heilige wie Katharina dem heidnischen Tyrannen Maxentius; so
gut wie gar keine Spannung haben freilich die Marienklagen. Dazu kommen
Kontraste im Bau des Stückes. Wichtige Vorgänge wechseln mit Nebenvor¬
gängen ab, ernste mit komischen, in denen neben die heilige Tradition als
Quelle die Ersahrungen des wirklichen Lebens, namentlich der niedern Stände,
treten. Dem Hauptspiel wird ein Vor-, ein Nachspiel beigefügt, Teufelsspiele
waren als Zwischenspiele beliebt; auch die Vorliebe für Disputationen sorgte
für einen spannenden Gegensatz. Das ist aber freilich auch alles, was sich
über die Kunst des dramatischen Aufbaus jener Zeit sagen läßt. Verknüpfung,
Motivirung, Steigerung findet sich nur ganz gelegentlich im kleinen, äußer¬
lichen, im großen nur, soweit es im Stoffe lag. Der Kausalzusammenhang
bleibt so gut wie unberücksichtigt. Warum hassen die Juden Christus so?
Die Frage hat sich keiner der Verfasser und wohl auch niemand im Publikum
damals gestellt.
Der Sinn für das Dramatische war noch so wenig entwickelt, daß wir
uns nicht wundern dürfen, vieles höchst Undramatische in diesen Spielen zu
finden. Es fehlt nicht an Widersprüchen und sinnlosen Wiederholungen. Die
Gefühle werden in breiten Monologen ausgesprochen. „Oft treten sie in lyrischen
Formen auf, wie in den Klagen Marias und den Äußerungen der Weltlust
Magdalenas. Es ist charakteristisch nicht für die Kunst der Zeit, wohl aber
sür das Leben der Zeit, wie ungebrochen die pathetischen Gefühle durchweg
hervorquellen. Nur ganz vereinzelt begegnet ein kleiner reflektirender Zug,
so wenn Maria in einer Klage sagt, indem sie die Lenden Christi mit ihrem
Schleier deckt:
Gewöhnlich sind in diesen Spielen Ansprachen an das Publikum, meist von
epischem Charakter und oft von epischer Breite. Auch sie können dazu dienen,
den Gefühlswert der Sache klar zu machen. Indem sie auf das Publikum
und nicht auf die Mitspielenden berechnet sind, berühren sie sich mit den häufigen
Namensanreden im Dialog. Am wenigsten undramatisch wirken sie zu Anfang
und zu Ende eines Stückes, als Prolog und Epilog. Die Prologe enthalten
regelmüßig das Gebot zu schweigen, meist eine allgemeine Mitteilung des In¬
halts, oft eine kurze der Vorgeschichte, auch Gebete, religiöse Betrachtungen
oder Aufforderungen dazu. Der Epilog giebt einen Rückblick auf das Ge¬
schehene und Gehörte oder eine Ankündigung der Darstellung des folgenden
Tages. Aber auch mitten im Spiel wechselt epischer Bericht mit dramatischer
Handlung. Es kommt vor, daß in einer Passion nach der Darstellung der
Geburt Christi und des nächsten, was dazu gehört, die Jugendzeit Christi
durch die gesungnen Worte des Chors xusr ^esus xrolloisbat überschlagen
wird. Es kommt vor, daß eine Handlung wie der Wettlauf von Petrus
und Johannes nach dem Grabe des Herrn von den betreffenden Schau¬
spielern thatsächlich ausgeführt wird, aber dazu von andrer Seite (einem oder
mehreren Schauspielern, dem Chor) der Evangelientext Lurreog-ut cluo Alan
gesungen wird. Mitten in einer Szene giebt eine Person oft ihre Rolle auf
und wendet sich an das Publikum mit der Aufforderung teilzunehmen, nament¬
lich am Schmerze. In einer Marienklage aus Sterzing wird folgendes fast
unmittelbar hinter einander gesagt:
DaS klag mit mir, christenheit,
Solche herde bitterkeit,
DaS die kind von Jerusalem
So gar untreu und widerzem (widerspenstig).
Wo wohnt hie ein mulier bei,
Die do leide solch leid und schmerzen,
Als sie HKgt an iren herzen?
Dar umb soll ir Marium klagen mit mir.
Dar umb, ir werten christen,
Tut aus eurs herzen kisten
Und helft der jungfrau tragen
Ir Schmerz und leiden klagen.
Klagt mit mir, frauen und manu,
Wann ich vit unmuß (Not) hau.
Du viel snlige christenheit,
La dir erbarmen das große leid,
Das hie leide die mulier sein
Umb sein große harte pein.
Durch got, ir frauen all gemeine,
Beide keusch und auch reine,
Nu helft zu klagen mir mein kind,
Ja wißt ir wol, wie lieb sie sind.
In einem Sterzinger Marialichtmeßspiel lautet die Aufforderung zur Teilnahme
an der Freude: Joseph, ohren so »<1 xoxulum:
et inonLt,rg.t> Msrum xoxulo. Narig, reoixit xusrnm s.ä niiinu8 proxrias. .
ohren Sö ad xovulurn:
Oder die Zuschauer werden mitten im Stück noch einmal begrüßt und sogar
im Scherz zur Teilnahme an der Aktion aufgefordert. In einem Innsbrucker
Osterspiel tritt der Krcimcrarzt mit den Worten auf:
Zugleich bezeichnend für das auf Schritt und Tritt sich bezeugende Unvermögen,
den Typus der von der Tradition überlieferten Gesamtperson, z. B. Christi,
während der Aktion entsprechend zu entwickeln, auch nur in den äußern Er¬
lebnissen, erscheint es, wenn Christus in einer Art Ansprache in einer Frank¬
furter Passion den Juden vor der Kreuzigung den Gallentrank und den Lanzen¬
stich vorwirft.
Vielleicht darf man diesen letzten Fall aber doch als in blindem Eifer ge¬
schehen ansehen. Ohne Zweifel zeigen nämlich eine ganze Anzahl dieser Spiele
eine judenfeindliche Tendenz, keines so deutlich wie die Frankfurter Passion.
Auch sonst fehlt es ihnen nicht an hineingetragnen Nebenabsichten. Beliebt
ist die Entfaltung theologischer Gelehrsamkeit in Disputationen aller Art.
Gott unterredet sich einmal mit den Engelchören über das liosruw, arvitrium.
Das ritterliche Minnelied wird ergötzlich parodirt. In einem Erlauer Oster¬
spiel heißt es am Schlüsse der Beschreibung einer häßlichen Magd, die Rüben
gegraben hat: „Der froß sie siben, die süß und die vit rain."
Auch die Sprache ist undramatisch, soweit sie nicht den Dialog der Evan¬
gelien wiedergiebt oder sich in der Sphäre des niedern Volkes hält. Schon
der Gebrauch des Lateinischen mußte hier hemmend wirken. Diese Sprache ist
entweder allein durchgeführt oder mit Deutsch gemischt, mit der Zeit nehmen
die ganz deutschen Stücke zu. Vereinzelt sind hebräische, gewöhnlich entstellte
Brocken wie kams, ni.bg.cztlig.ni. Einfacher liturgieartiger Gesang ist häusiger
als gesprochne Rede; oft wird erst der lateinische Text von mehreren gesungen,
dann der entsprechende deutsche von einer Person gesprochen, offenbar mit
Rücksicht auf den nicht Latein verstehenden Teil des Publikums. Der Durch¬
schnittston der Sprache ist trocken, ja hölzern, von Vers- und Reimzwang
beeinflußt, tief unter der weltlichen Kunst der Zeit; Abweichungen von diesem
Charakter führen entweder zu lyrischer Geschraubtheit oder zu niedriger Natur¬
wahrheit. Auf diesem zweiten Seitenwege blüht der Witz, oft derb. Joseph
sagt einmal von seinen Hosen, sie seien „bei den lucheren ganz." In einem
Erlauer Osterspiel rühmt sich der Arzt, im ganzen Lande gäbe es keinen
wie ihn:
Wir wollen an der Hand von einer andern Reihe von Beispielen ver¬
suchen, das historische Gepräge des altdeutschen christlichen Spieles noch posi¬
tiver zu fassen. wobei man sich freilich immer gegenwärtig halten muß, daß
innerhalb der Spiele selbst wieder ein Unterschied besteht zwischen solchen von
höchster Naivität und andern mit einer schon leidlich entwickelten Reflexion.
Ein allgemein giltiges Zeugnis für die Schlichtheit der Gedankenwelt, in der
die Stücke befangen sind, ist, daß die Worte des Pilatus Huiü sse voi-nah?
und Huocl sorixsi, svrixsi entweder weggelassen oder mißverstanden sind. In
einer für uns rührend naiven Weise äußert sich die Gewohnheit, eine Person
als unveränderlichen Gesamttypus aufzufassen — ähnlich wie es unser altes
Volksepos thut, Giselher heißt trotz der Jahrzehnte, die über der Handlung
des Nibelungenlieds vergehen, am Ende wie am Anfang das Kind*^) —, und
der sich daraus ergebende Widerspruch mit der Handlung in folgendem Ge¬
spräch aus einem Kasseler Weihnachtsspiel:
Ena, eua, Maria liebe mulier mun:
Sal ich von den Joder litem große pin?
Swige, liebes kindelin Jesu Christ,
Beweun diner marteul"^) nicht zu disszer frist.
Das Erlauer Weihnachtsspiel zeigt mehrfach Vermengung der dargestellten
Zeit und des dargestellten Ortes mit Zeit und Ort der Aufführung. Wenn
Joseph zu dem Hirten sagt: „So ist das chindlein, das samt sol geporn sein,"
so bedeutet „samt": am heutigen Weihnachtsabend, an dem das Spiel auf¬
geführt wird. „Auch das wiederholte Trinken in diesem Stück — Joseph
bietet den Hirten, Maria und der Hebamme zu trinken an — bezieht sich aus
die gegenwärtige Weihnachtsfreude." ^ Das Stück schließt:
Joseph mich zimpt in meinem mut,
Dem chint sei die chelten^) nicht gut.
Laßt uns hie aufstan
Und luß uns zu sans gen;
Da schüli (sollen) mir froleich wer»
Mit Jesu Christo dem edeln Herrn.
Gut man, des volig ich dir.
Wol auf, Maria, volig mir;
Wir schütten in got froleich sein,
Wir lungen nicht lenger hie gesellt.
Vielleicht hat man es sogar für eine derartige Naivität und nicht für
einen bloßen Witz zu halten, wenn sich zwischen zweien der heiligen drei
Könige, indem sie vor das Christuskind treten wollen, folgendes Gespräch
abspielt:
Ich bitt dich, Caspar, durch dein tugend,
Das du mir gabst dein alter umb mein jugent,
Das ich der erst möcht gesellt
Für Jesum den scheppher mein.
Ich wil dich gewern so zehant
Der yet (bitt), das du mich hast genaue:
Nun hin mein graben part
Hin an diser part
Und verleich du mir dein jugent.
Kaspar giebt dem andern seinen falschen Theaterbart. Daß die Zeiten der
Vergangenheit alle ineinander fließen, darf dann nicht Wunder nehmen- David
und Augustin treten zusammen auf, die Ekklesia gleichzeitig mit Jesaias, Gott
Vater beruft sich auf Paulus, und Petrus trügt die Himmelsschlüssel schon
zur Zeit der Bekehrung der Maria Magdalena. Heinzel führt zum Beweis
dafür, daß man das nicht als Unbedacht zu nehmen brauche, folgende Verse
Salomos aus dem Wolfenbüttler Spiel vom Sündenfall von Arnold Jm-
messen an:
Aber schließt man nicht richtiger aus dem ganz vereinzelten und späten Auf¬
treten einer solchen Bemerkung, daß man es hier mit einer Ausnahme zu
thun hat, einer Besinnung, die sich gegen das Ende der ganzen Entwicklung
einstellt und der für die Zeit typischen Denkgewohnheit widerspricht?
Daß der Hahn wie Mond und Sterne menschlich reden, sind versprengte,
bewußt als solche empfundne Reste einer sonst überwundnen kindlich märchen¬
haften Metaphorik. Mehrfach begegnet als Denk- und Handlungsform ein
naives bildliches Symbol. Die Tradition selbst bot es dar in Handlungen
wie der Händewaschung des Pilatus, der Schlüsselübergabe an Petrus.
Gabriel giebt Christus eine Kerze in die Hand mit den Worten:
Herre unter, Jesu Christ,
Wanne (da) du das war licht bist,
So nim das licht in die haut dein,
Die Seele wird gelegentlich durch einen Vogel dargestellt — bei Christus
durch eine weiße Taube, bei Judas durch einen schwarzen Vogel, den der
Schauspieler aus dem Munde fliegen lassen muß, um den Tod anzudeuten,
oder durch kleine Menschenbildchen, wie sie die sterbenden Schächer im Munde
tragen. Eine Art Symbolik liegt auch noch in der typisirenden Kürze. Mit
einem Krieger und einem Schwert wird in dem Freisinger Herodesspiel der
Kindermord vollzogen. Petrus und Andreas „vertreten"") bei der Apostel¬
wahl die Gesamtheit der Zwölf. Der Charakter einer Typen neben eincmder-
fetzenden Kunst ist nun wohl für die historische Signatur dieser mittelalterlichen
Dramatik das bezeichnendste. Mit dem Wesen des Typus aber ist eng ver¬
bunden das der mehr oder weniger variirenden Wiederholung, und in dem
ihr wieder anhaftenden Rhythmus liegt eine der wesentlichsten äußern ästhetischen
Wirkungen jeuer Kunst. Typisches in rhythmischer Wiederholung bringen z. B.
die Reden höhnender Verachtung an Christus, die sich ablösenden Reden der
Grabwüchter, die sich ablösenden Anerbietungen der Soldaten zum Kindermord
bei Herodes und seine Antworten, die Erkundigungen des Herodes bei den
Hirten und den Königen. Auf die Prahlreden der vier Grabwächter folgen
später die Klagereden aller vier. Man denke auch an den schließlich doch
auch rhythmisch wirkenden Wechsel von Gesang und Rede, Latein und Deutsch.
Oft wurden aber geradezu dieselben Textworte, ja Reden und Dialoge mit
denselben Geberden und wohl auch derselben Musik völlig wiederholt. Oft
wird auch eine Szene durch Einschiebung einer andern in zwei Teile zerlegt,
ja in der Frankfurter Passion wird das Verhör Christi bei Annas und
Kaiphas dreimal durch Petri Verleugnung unterbrochen und dreimal fort¬
gesetzt. Gleiche Zahlen der Bedientengrnvpen wirken ähnlich: in einer Augs¬
burger Passion mißhandeln erst vier Schergen des Annas Christus, dann vier
des Kaiphas, dann kreuzigen ihn vier des Pilatus. Das typische der Dar¬
stellung von Personen aus solchen Gruppen liegt auf der Hand. Gleich ge¬
kleidet, in gleicher Gemütsbewegung haben sie einer nach dem andern denselben
Sinn, nur variirt in der Form, zu sagen. Ebenso haben typischen Charakter
die klagenden fünf thörichten Jungfrauen, die klagenden drei Marien. Das
letzte Beispiel führt schon zu den alleinstehenden Personen; auch bei ihnen
kommt es nirgends auch nur zu einem Anlauf zu individueller Charakteristik
(Heinzel spricht umgekehrt von „Abstreifung einer bestimmten Persönlichkeit").
Christus ist das typische Ideal, Pilatus der typische Tyrann, die Apostel
tragen den Typus des gemeinen Mannes, werden als grob und etwas komisch
charakterisirt und nicht innerlich unterschieden, und ebenso ist der Typus der
Juden als solcher erkannt und gefaßt, am besten in der Gestalt eines nervösen,
ungeduldigen, viel gestikulirenden Archisynagogus, der den Gegner nicht reden
hören..kann, übrigens gelehrt und redegewandt ist.
Über diese typisirende Darstellungskunst der Dichter werden auch die
Schauspieler nicht hinausgegangen sein. Allgemeine Anweisungen sür den
Ausdruck von allerlei Gemütsstimmungen lassen das schließen: oum irwäsrÄ-
roins, tnrioso Winio, ÜMÄo, oum mgMg. Lnpörbia usw. In deutschen Stücken
begegnet bei solchen Anweisungen oft das holzschnittene wol als od. Be¬
zeichnend ist, daß da, wo Petrus von Reue über seineu Verrat ergriffen wird,
es in lateinischen Stücken gewöhnlich nach dem Wortlaut des Neuen Testaments
heißt ne-of Dinare, in deutschen nur „weinend"; den tiefen Gefühlsgehalt dieses
„bitterlich" hat die deutsche Kunst erst in Bachs Matthäuspassion ausgeschöpft.
Die in einem Stücke beteiligten Schauspieler waren alle während des
ganzen Stückes dem Publikum vor Augen. Oft spielt im Augenblick nur eine
szenische Gruppe von zwei Personen, indessen hat man sich die andern Gruppen
stumm an ihrem Orte vorzustellen. Ein buntes Bild! Gruppen sind z. B.
Gott und die Engel, Christus und die Apostel, die Mütter der unschuldigen
Kindlein, die Geretteten des jüngsten Tages. Fast in allen Stücken spricht oder
singt eine solche Mehrzahl einmal zusammen. Alle Rollen wurden von Männern
dargestellt. Damit war für die Frauenrollen eine intimere individuelle Ge¬
staltung ausgeschlossen. Auch die wenigen Kostümbestimmungen ergeben nur
Typen.
Was die Art der Szenen betrifft, thut man gut, mit Heinzel Redeszenen
und Aktionsszenen zu unterscheiden. Beides kann natürlich vereinigt sei» und
aus einem das andre werden. Das Gespräch Christi mit den Jüngern beim
Abendmahl ist eine Redeszene, darauf folgt eine Aktionsszene: Jesus und Judas
tauchen die Bissen ein, Johannes lehnt sich an Christi Brust. Nur aus einer
Ncdeszene besteht eine der Marienklagen. 262 Redeszenen nebst 85 Aktions-
szenen zählt Heinzel in dem Alsfelder Passionsspiel. Die Aktionen können
sehr verschiedner Art sein. Die einfachste besteht in bloßem Hin- und Hergehen,
andre bedürfen eines Gerätes: der Bau der Arche, das Aufschlagen des Krames;
Zwischen den Personen geschieht beinahe alles mögliche. Größere Handlungen
sind festliche Aufzüge, das Begräbnis Christi, der Kindermord, wohl die größte
das jüngste Gericht. Zu den Sachenhandlungeu gehört der Donner bei Christi
Tode und bei der Auferstehung: in bissen sol ein tonnerklapf mit büchsen gemacht
werden. Noch ein paar Beispiele für stumme Aktion ans Passionen. Während
Jesus auf dem Ölberg betet, kümpt Judas in garder dieplich schlichen und
geschont in wol, und demnach gat er dann in Cayphas huse und spricht. —
Nu stat der Salvator uff und gat mit Lasarus zuo dem mal, und so sy ge¬
sitzend, dienet Lasarus und Martha zu tisch und kümpt Maria Magdalena
mit ir büchsen und sehnt dem Salvator dar uff sin houpt und bückt sich
zuo den fueßen im die ouch ze salben und sitzt denn hinder in nieder; denn
so facht Judas an und spricht. — Nu trucken die Juden gegen dem Salvator
und doch nit gantz zuo im, und gat Malchus vor dran, als ob er den Sal¬
vator allein well fachen (fangen),' das ersieht Petrus und malet sin schwere
und schlecht Malchus zum kopf, der fallt denn nider, als ob im ein or ab sy,
so gat der Salvator hin zuo und tuot glich, als ob er im das or wider au¬
sätzt und spricht zu Petro. Von zwei Gruppen kann die eine zu derselben
Zeit eine Aktionsszene haben, während die andre eine Redeszene hat. Während
die Magier ihre Wanderung von Herodes dem Sterne nach markiren, spricht
der Hirt zu den Engeln auf dem Felde; während des stummen Teils der
Abendmahlsszene verhandelt Judas mit den Juden. Ja dreierlei neben ein¬
ander kommt vor: Christus auf dem ^lberg allein, in einiger Entfernung die
schlafenden Jünger, wieder ein Stück weiter Judas mit den Führern der Juden
verhandelnd.*) Die Zahl der Bühnenorte, wo sich je eine Gruppe befindet,
wächst im ganzen mit der Länge des Stückes, das Donaueschinger Passions¬
spiel verlangt neunzehn. Und dabei kann ein Vühnenort immer noch mehrere
der Wirklichkeit bedeuten, z. B. wohnen nach dem Plan des Alsfelder Passions¬
spiels Nikodemus und der Hausvater, bei dem das Abendmahl gehalten wird,
in einem Hause. Außer den bestimmten Bühnenorten, wie den Häusern gewisser
Personen, dem durch Bäume angedeuteten Ölberg, dem Brunnen, wo Christus
mit der Samariterin spricht, und anderm gab es einen mittleren, neutralen
Bühnenort, wo die Ansprachen an das Publikum gesprochen wurden und auch
manches aus dem Stück selbst, das nicht an die Vorstellung eines bestimmten
Ortes gebunden war. Die Häuser waren meist so offen, daß man von allen
Seiten hineinsehen konnte; eine genauere Vorstellung verschaffen z. B. die
Krippendarstellungen der bildenden Kunst. Wenn da die Maler von Giotto
bis ins achtzehnte Juhrhundert anstatt eines nur nach der Seite des Be¬
schauers offnen Stalles vielmehr ein durchsichtiges Gebäude darstellen, das
bloß aus einem an den vier Ecken von vier Pfeilern getragnen Dache besteht,
so ist das entschieden eine Wiedergabe des auf der geistlichen Bühne üblichen
Stalles.**)
Die Bühne war in der Kirche oder auf einem Platze der Stadt auf¬
geschlagen. Sie bestand aus einem einfachen hölzernen Unterbau, und für die
Marienklagen war nicht einmal dieser nötig. In der Kirche war die Darstellung
nach einer Seite hin gerichtet, im Freien nach allen; ringsherum, von unten
und von oben aus den Fenstern sah das Publikum zu und nahm teil.
Wer ferner stand und die Reden nicht deutlich vernahm, verstand ja doch die
bekannte Sache. Freudige Billigung und Liebe, Bewunderung und Ehrfurcht,
Behagen und Heiterkeit, Haß und Abscheu, Schrecken und Mitleid wallten in den
Seelen der Zuschauer auf, die Spannung begann mit dem ersten Zeichen der
Feindseligkeit der Juden gegen Christus, und eine große Anzahl interessanter
Vorgänge, auf die verhältnismäßig kurze Vühnenzeit zusammengedrängt, erhielt
sie lebendig. Dazu kam oft eine Fülle von Pracht, fast immer der Wohllaut
von Vers und Musik, die Freude an der Kunst des Schauspielers, des Sängers.
Und diesen ästhetischen Eindrücken gesellte sich noch die assoziative Freude
über den Schauspieler, der im Leben ein werter Zunftgenosse war, der Stolz
auf den Reichtum und Kunstsinn der ausführenden Gemeinde. Wir schließen
mit Heinzels Schlußworten: „Das Ganze der Stücke wurde durch Assoziationen
als schön empfunden: weil der Stoff ein christlich-moralischer war, weil die
Aufführung ein seltnes Stadtfest bedeutete — durch Suggestion, weil die
Ältern wohl den Jüngern von der Herrlichkeit einer solchen Schaustellung mit
Worten und Geberden des Wohlgefallens werden gesprochen haben."
or der Sägmühle an der Landstraße, die sich nach dem grauen
ummauerten Pfalzburg hinaufwindet, sitze ich am Holztisch und
schaue in die duftigen, blauen Waldberge der Vogesen hinein.
Thalauf thalab hallt das Singen der Säge und das Fallen der
Bretter. Der Harzgeruch des frisch zerschnittnen Holzes würzt die
feuchte Luft. Hart vor mir stehen die ersten Tannen, und
Tannen erfüllen den vielgestaltigen Gesichtskreis rechts und links und vor mir.
Der fast regelmäßige flache Kegel des Schneebergs ist bis oben mit Tannen¬
wald bekleidet. Ich bin drei Stunden gewandert, habe wenig Föhren und
zahllose Tannen gesehen und habe kaum einmal ihren Schatten verlassen.
Ihr Wurzelgeflecht, das über den Boden hervortritt, hat mir den Weg herauf
erleichtert; man steigt auf dem Fußpfad wie auf Holzstufen von einer Wurzel
zur andern. Der Duft ihrer nahen Zweige weht mit der Abendluft thalaus.
Diese Tausende und Abertausende von Tannen, kräftig alle im Gewand ihrer
straff anliegenden silbergrauen Rinde und mit den breiten Schirmästen, scheinen
wie eine Armee über die runden Berge im Westen herzumarschiereu und mit
unwiderstehlicher Kraft ins Rheinthal hinabzubringen. In den Schluchten
schieben sich diese dunkeln Heerhaufen zusammen, und nur an den flachen
Berghängen zeigen sie Lücken, Lichtungen. Dort hinten schimmert es gelblich
und bläulichgrün vom Thalausgange her, das ist der obere Rand des Reben¬
gürtels, ein Grenzsaum, der dem Walde zuruft: Nicht weiter! Aber er ist
nur Grenze, solange der Mensch will. Als die Römer flohen und ihre Dörfer
und Pflanzungen den Alemannen überließen, da dauerte es nicht lange, daß
unter den hellen Neben die Vorposten des dunkeln Waldes erschienen, sie über¬
schattend und in sich aufnehmend. Dieser dunkle Tann ist der alte Wald, der
Urwald des Schwarzwalds und der Vogesen, mit denen er seit Jahrtausenden
verwachsen ist, und die auch heute ohne ihn gar nicht zu denken sind. Er ist
vor den Menschen dagewesen und würde an ihre Stelle treten, wenn sie jemals
wieder die Thäler verließen, in die sie sich seit der alten Keltenzcit mühsam
hineingerodet haben.
Zwischen diesen tiefen, dunkeln Wäldern des Gebirges und dem gartenartig
angebauten Lande des ebenen Rheinthals zieht an allen tiefern Berghängen ein
suum von Laubwald entlang. So hoch vor allem der Kastanien- oder Kcsteu-
baum ansteigt, so weit ist ein Zug von lichter Heiterkeit durch die hellgrünen.
großblättrigen Kronen und die vielversprechenden Früchte des kräftigen Baumes
eingeflochten. Er macht nicht den Eindruck eines Fremdlings wie die weiter
oben dann und wann eingesprengte Lärche. Ebenso wie die Hopfenbuche, deren
Ährenfrüchte im Herbst den Boden bedecken, eine gern gesehene Bereicherung
des an Ahorn, Ulmen und Eschen armen Schwarzwald- und Vogesenwaldes
ist, so grüßt uns der Kestenbaum, der die Eigenschaften des Wald- und Frucht¬
baums vereinigt, als ein vertrauter und dazu freigebiger Gast, den man an
keinem mittägigen Berghang missen möchte.
Die Nordvogesen tragen auf ihren roten Sandsteinquadern auch die Säulen
herrlicher Vuchenhallen. Die schönsten Buchenwälder Deutschlands, wie sie
am Ostseestrand und dann wieder im Wellenhügelland und an den steilen
Thalhängen des bayrischen Jnn- und Jsargebiets grünen, übertreffen nicht die
Buchenwälder der Sandsteinvogesen und der Haardt. Und diese Buntsand¬
steinhügel haben dazu die naturgeborne Phantastik ihrer Felsformeu und die
Menge des gleichsam aus dem Stein heraufwachsenden Gemäuers alter Burgen.
Schlösser und Klöster für sich. Die Kammwandernng von der mächtigen Ruine
Hochbarr zu den durchaus nicht unbedeutenden Trümmern der Burgen Groß-
und Kleingeroldseck führt ans schattigen Waldwegen in einer halben Stunde
an drei Burgruinen vorüber. Von diesen burggekrönten Hügeln sieht man
Vorsprung hinter Vorsprung des buchtenreichen Gebirges, wie Vorgebirge ins
Meer, in die Ebne hinaustreten. In die Buchten schmiegen sich die Städtchen
und Dörfer, deren Obstgärten wie zerstreute Vorposten des hinabsteigenden
Waldes den Gebirgsrcmd der Ebne durchschwärmen.
Dieses mächtige Schloß von Hochbarr über Zabern, das auf zwei seltsam
gestalteten Felsen auf konglomeratartig kieselfteinreichem Buntsandstein gegründet
ist. wiederholt in seinen wulstförmigen umlaufenden Gesimsen die Struktur des
Felsens. Man sieht bei diesen Bauten oft kaum, wo die aus dem roten Fels
herauswachsende Burgmauer anfängt; und diese hängt in der That so innig
mit dem Grundfelsen zusammen, daß bei Sprengungen beide mit einander ge¬
brochen sind. Auf der Waldeck, die weiter nördlich, zwischen den Hanauer
Weihern, zwei stillen, halbversumpften Waldseen, auf einem Sandsteinkegel empor¬
steigt, nimmt diese Verbindung phantastische Dimensionen an. Der Zugang zu
dem schlanken, gut erhaltnen, viereckigen Wartturm wird durch die vorspringende
Platte eines Felstisches gedeckt. Aus ihm eröffnet ein natürliches Fenster
den Blick nach Norden. Die meisten Stufen sind in den Fels gehauen, und
zu beiden Seiten des obern Plateaus sind zwei große kesselförmige Ver¬
tiefungen im Felsgrunde zu sehen. Der etwas tiefere westliche Teil der Burg
zeigt überhaupt kein Mauerwerk, sondern Stufen, Bänke und Zinnen sind aus
dem anstehenden Stein geschnitten. Manches an diesen Sandsteingebilden
erinnert an die sächsische Schweiz, aber Stein, Gestalten und Kanten sind
härter.
Eine seltne Erscheinung: Seen in den Nordvogesen. Diese beiden Hanauer
„Weiher" liegen in einer Thalweite, die mitten im Walde dem Ackerland der
kleinen Weiler Waldeck und Schweizerländel Raum geschaffen hat. Die Ärmlich¬
keit dieser Weiler zeigt, daß hier nie viel zu holen war. Eher waren die Seen
früher ausgedehnter als jetzt, und das bischen Ackererde ist eben offenbar dem
Umstände zu danken, daß alter Seeboden trocken wurde. Da sie nicht unmittelbar
von Bergen umgeben sind, bieten die kleinen Seen nur an einzelnen Uferstellen,
wo der dunkle Föhrenwald ganz nahe herantritt, wirksame Partien. Die Ränder
des kleinern Sees sind fast ringsum versumpft, und auch den Glanz des Wasser¬
spiegels des größern trübt allzuviel schwimmendes Getränke. So teilen sie
eigentlich nur die Einsamkeit mit den Südvogesenseen, die als echte Gebirgsseen
aus tiefen Schluchten wie dunkle Augen blicken. Treffend nennt der Volks¬
mund diese, ebenso wie die flachen, am Rande sumpfigen lothringer Seen
„Weiher."
Kaum gleichen sich zwei Gebirgslandschaften auf deutschem Boden so wie
die der Sandsteinvogesen und der Haardt. Politisch gehören sie zu drei Ländern:
Elsaß, Pfalz und Lothringen, von Natur sind sie eins. Diese Natur wird hoffent¬
lich herauf aus ihrer Tiefe und durch alle menschlichen Schranken hindurch
einigend wirken! Beim Eintritt in den lichten, hochstämmigen Buchenwald, der
zum Wasenstein über Niederbronn emporführt, fühlt nur sich,,so vollständig an
den Fuß des Trifels versetzt, daß man das Gefühl für die Örtlichkeit verliert.
Und so ist es überall in den nördlichen Vogesen. Natürlich reicht ein Blick
von der Höhe hin, um die Eigenart des Landes zu zeigen: die breitere Zone
der Vorberge, von deren Rand sich vom Wasenstein, Wasenköpfel u. a. der
neue Kirchturm von Fröschweiler wie eine zum Himmel weisende Säule erhebt,
das am ernstesten stimmende von allen Schlachtdenkmälern um Wörth.
Man kann sich keine deutschere Landschaft vorstellen als diese, deren
Schauplatz die Schlacht bei Wörth gewesen ist. Das Wiesenthal zwischen
Fröschweiler und Wörth, aus dem sich die Deutschen am Nachmittag des
6. August zur letzten Entscheidung westwärts emporkümpften, ist, vom Kirchhof
in Fröschweiler aus gesehen, die reine Idylle. Von hier aus der sanfte Abfall
der Wiesen, drüben der Ostabhang mit obstbaumbestandncn Wiesen, Ackern und
Weinbergen steiler ansteigend, bis er in eine flache Wölbung übergeht, aus der
als Abschluß ein ununterbrochner Laubwaldstreifen des Herrenberges hervor¬
tritt. Grün in allen Tönen und Schatten. Dahinter erhebt sich noch ganz nahe
der schöne, dicht bewaldete Rücken des Hochwalds, und aus der Ferne schauen
die Höhen um Bieses und weiter nördlich von der Pfalz und Weißenburg zu,
fast in einem Halbkreis um das Amphitheater von Wörth. Die alte Grenze
zwischen Deutschland und Frankreich andeutend und zugleich das nächste Ver¬
teidigungsobjekt und die Rückzugslinie der Franzosen verdeutlichend, geben sie
dem Bilde einen großen Zug. Wer aus dem Walde hinter Fröschweiler
heraustritt, dem erscheinen die Vogesen nahe. Nur eine gute Stunde Weges ist
es noch bis Niederbronn, das schon von bewaldeten Gebirgsausläufern umfaßt
wird. Den Flüchtlingen des 6. August mochte das freundliche Reichshofen mit
seinem hohen Kirchturm aus rotem Sandstein, das in dem weiten Wiesengrunde
westlich von dem die Orte Neichshofen und Fröschweiler trennenden Höhenzug
liegt, als ein Halt- und Ruheplatz winken. Die Flucht ging aber bekanntlich
weit darüber hinaus, und die bayrischen Reiter drangen noch am Abend des
Schlachttages bis zum Westrand von Niederbronn vor, das allerdings mehr
vollgepfropft als eigentlich militärisch besetzt war.
Es war ein wohlgewähltes Schlachtfeld auf diesen schönen sanftgeneigten
Ackerfluren und Weinbergen, die sich von den westlichen Höhen zur Sauer herab¬
ziehen und das an ihrem Fuße liegende Wörth in flachem Bogen umfassen,
darüber das hochgelegne Fröschweiler in der beherrschenden Mitte, auf beiden
Flanken und im Rücken schützender Wald, vor sich die Deckung durch die
Sauer in ihrem Wiesengrund. Das ist ein Schlachtfeld, wo eine anstürmende
Armee, wenn sie nicht ganz festgefügt war, zerschellen mußte. Die Franzosen
waren ganz sicher, den von Osten und Norden heranrückenden Feind schon
beim Herabsteigen ins Thal oder doch im Thal selbst vollkommen überschauen
und beschießen zu können. Die Mitrailleusenbatterien gestrichen sogar einzelne
Straßen von Wörth. Die Osthänge werden nicht allein überragt von den
Westhängen, sie sind auch viel weniger reich an Baumpflanzungen und haben
keine Weinberge. Bastionenartig vorspringende Stützpunkte, wie sie auf der,
Westseite der Herrenberg und der Galgenberg bieten, kamen natürlich auf der
Ostseite gar nicht in Betracht, ebenso wenig schluchtenartige Hohlwege, wie der
von Wörth nach Elsaßhausen herausführende, der den Schlesiern so furchtbare
Opfer kostete. Von dem Nußbaum aus, der als der Standpunkt Mac Masons
gezeigt wird, liegen die östlichen Thalhünge zwischen Görsdorff und Gunstett
wie eine scmstgeneigte Ebne. Die Deutschen wurden thatsächlich in allen Be¬
wegungen gesehen bis zu dem Augenblick, wo sie beim Heraustreten aus dem
Westrand von Wörth reif fürs Chassepotfeuer waren.
In der Rheinebne und hoch an den Vogesen hinauf giebt es im Elsaß
besonders viel lichte Wälder hochstämmiger Buchen und Eichen, wo die ziemlich
dicht stehenden Bäume schlank emporstreben. Sehr passender Wald zum Feuer¬
gefecht! So ist der Wald hinter Fröschweiler, wo am Nachmittag des
6. August Ducrot gegen die nachstürmenden Bayern und Preußen den Rückzug
Mac Masons zu decken suchte. Wo die von Neichshofen kommende Straße den
Wald verläßt, ist noch ganz gut der rechtwinklige Einschnitt kenntlich, wo die
82er eine von den Ducrotschen Batterien nahmen, die den Deutschen in Frösch¬
weiler so großen Schaden zugefügt hatten.
Den Rhein im Osten, der ebenso dazu gehört, muß man sich allerdings
denken, denn Wörth liegt schon ganz in den Vorbergen, und der Blick dringt
nicht bis Hagenau hinter seinem breiten uralten Forste. Doch wird es von
dieser Höhe aus auch dem an strategische Blicke nicht Gewöhnten klar, wie die
Franzosen von dieser Vorstufe der Vogesen herab die südlich sie umwindenden
Wege nach Bieses und Zabern decken und den gegen Straßburg Vordringenden
in der rechten Flanke bedrohen wollten. Das stille Hagenau lag damals
außer Schußweite, und seine Besetzung durch die badische Division an jenem
6. August erwies sich als ganz überflüssige Vorsicht, da die Franzosen "an
nichts weniger dachten, als ihre ohnehin schon schwachen Truppen durch eine
Entsendung in den Rücken der Deutschen zu verringern. An jenem heißen
Tage konnte man Hagenau ausgestorben wühlten. Viele Bewohner waren nach
Straßburg geflohen, die andern hielten sich in ihren kleinen Häusern versteckt.
Nur die nach französischer Sitte weit offnen Kaffeehäuser luden die Durstigen
ein. Auch heute liegt die Sonne in den stillen Straßen des Städtchens, und
nicht viele Schatten schneiden ihr grelles Licht. Es hat sich nicht viel ge¬
ändert im Aussehen dieser Straßen, und das Leben, das jetzt am Mittag eines
Septembertags ganz in Schlaf verfallen zu sein scheint, ist im Grunde nicht
viel anders als das Leben vor einem Menschenalter. Nur ruht es heute
sorglos, während es damals ängstlich dem Kanonendonner lauschte, der so laut
hereinrollte, als ob vor den Thoren gekämpft würde. Es träumte damals
von Mord und Plünderung. Nichts davon wurde wahr. Das Städtchen hat
vielmehr weniger vom Krieg gemerkt als so manche Stadt Deutschlands, von
französischen nicht zu reden. Nachdem sich das Schlachtengewitter in so großer
Nähe entladen hatte, zog es rasch über die Vogesen, und Hagenau lag von
nun an fern von allen Zugstraßen kriegerischer Gewitter. Nur friedlich belebt war
es als Sitz der Negierung bis zu deren Übersiedlung nach Straßburg. Es
machte mir schon einen sehr beruhigten Eindruck, als ich 1871 kurz nach dem
Kriege in einem Hagenauer Gasthof elsässische Männerstimmen sich zur Probe
idyllischer Frühlingsgesänge anschicken hörte. Die Menschen waren ihren
Schrecken losgeworden und hatten ihre im Elsaß seit lange berühmte Sanges¬
freude wiedergewonnen.
Hagenau gehört zu den elsässischen Städten, die unter deutscher Herrschaft
auffallend gewonnen haben. Es ist vielleicht auch mit einer gewissen Vorliebe
behandelt worden, die weniger der alten ..Barbarossastadt" galt, als dem
Mittelpunkt einer ruhigen, fleißigen, vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung.
Hagenau ist ohnehin mehr, als was man bei Bädeker und Konsorten unter
Landstädtchen versteht. Es trägt noch Spuren davon, daß es einst ein
Lieblingssitz deutscher Kaiser war. Die schöne Basilika der Se. Georgskirche
mit ihren schweren romanischen Säulen und Bogen und ihrem gotischen Chor
ist von Barbarossa gegründet. Der aus jenen Zeiten her der Stadt zu eigne
Hagenauer Forst läßt der Stadt solche Einkünfte zufließen, daß sie sich den
schönen Luxus prächtiger Gartenanlagen gestatten kann, um die einige deutsche
Städte von der zehnfachen Einwohnerzahl sie beneiden könnten. Die imposante
Hopfenhalle zeigt, daß Hagenau der Mittelpunkt einer fruchtbaren Landschaft
ist. Eine neue Errungenschaft sind die ausgedehnten Kasernenbauten, die vom
leicht erhöhten Süden auf die Stadt herabschauen. Hoffentlich nehmen sie ihr
nicht zuviel Licht!
Leider hat Hagenau durch den Rückgang der Hopfenpreise und die
damit eingetretne Beschränkung des Hopfenbaus in den letzten Jahren an
Wohlstand eingebüßt. Seine einst lebhaften Beziehungen zu Nordamerika
haben besonders gelitten. Früher hatten die hiesigen Hopfenhändler Zweig¬
geschäfte in den Mittelpunkten der nordamerikanischen Bierbrauerei, wo sie jede
Menge absetzen konnten. „Nicht einmal vom Himmel hing es ab, ob der
unterelsässer Hopfenbauer sein Haus richten (erneuern) lassen würde oder nicht;
denn wenn der Sommer gut war, hatte er viel Hopfen, und wenn der Sommer
schlecht war, teuern zu verkaufen. Heutzutage gilt der Hopfen so wie so nichts,
und wenn Sie aufs Dorf hinausgehen, zeigt es Ihnen der Zustand der Häuser,
daß die Bauern nur noch Geld fürs Nötigste, und oft nicht einmal das haben."
So erzählte mir ein Bauernsohn aus der Lauterburger Gegend, der, als wir
auf der breiten Rheinstraße gegen Selz zu fürbaß schritten, mit Stolz auf den
Hagenauer Schießplatz hinwies, wo er oft als Artillerist geübt habe. Er
rühmte die freigebige Hand der Militärbehörden bei Landläufer, Pferdekäufen
und bei der Bemessung der Arbeitslöhne, die in dieser schwierigen Zeit den
Bauern sehr wohl thue. Schlecht war er auf die Juden zu sprechen, die den
Hopfen ausgeführt hätten, solange sie den Nutzen davon hatten, aber ebenso
unbedenklich in die Hagenauer Hopfenhalle amerikanischen oder sogar russischen
Hopfen einführen würden, wenn es ihnen Nutzen brächte. Man kann hier,
meinte er ganz richtig, nicht von heut auf morgen vom Hopfenbau abgehen, wir
müssen einfach weiterbauen und sehen, wie wir ihn anbringen. Wir brauchen
große Brauer, wie in Bayern, die gute Ware gut bezahlen, und eine strenge
Aufsicht auf den Handel. Dem Manne wäre es am liebsten gewesen, wenn die
Regierung den Hopfenhandel in die Hand genommen hätte, so wie sie den
Tabak für ihre Manufakturen kauft. Daß die elsässer Bauern nicht unter¬
nehmend genug seien und sich von den Juden zuviel bieten ließen, davon war
er fest überzeugt. Auch möchte seine Auffassung nicht ganz unbegründet sein,
daß die Regierung dem jüdischen Zwischenhandel schon ganz anders entgegen¬
getreten sein würde, wenn sie eine Bauernpartei hinter sich hätte, die diesen
Schaden aus erster Quelle aufdecken würde.
Visher ist die Armee allein so frei gewesen, sich bei den Remonte-
ankänfen einfach die Mitwirkung der Juden zu verbitten. Die Verwaltung
behauptet, keine Handhabe zu besitzen, um gegen die Bewucherung vor¬
zugehen. Thatsache ist, daß die Bauern rechts und links vom Rheine
ganz zufrieden sind, wenn sie von den Juden bevormundet werden. Sie ziehen
aus eigner Entschließung die Juden zu jedem Kauf und Verkauf herbei. In
Dagsburg, dem hoch gelegnen Vogesendorf bei Zabern, mit seiner auf tisch¬
ähnlichem Felsgebilde kühn erbauten Kapelle, hörte ich einige Tage darauf er¬
zählen, wie die Bürger aus Leiningenschen Zeiten große Holzbezugsrechte ge¬
nießen. Alljährlich am 10. November zieht jeder sein Holzlos, das ihm das
Recht auf eine Anzahl wertvoller Stämme giebt. An diesem Tage wimmelt es
dort von Juden aus Zabern, Pfalzburg und Rummatsweiler. Warum? Weil
die meisten Dagsburger ihr Holzrecht seit lange, oft für Reihen von Jahren
an die Juden verkauft haben. Die Juden stehen vor der Thür, für sie wird
eigentlich gelöst, und mancher trägt in seiner Brieftasche die Anweisungen für
Holz im Wert von Tausenden herum.
Man würde sich irren, wenn man glaubte, solche Zustände müßten in
weiten Kreisen eine antisemitische Bewegung erzeugen. Diese ist jedenfalls in
so manchen Teilen Altdeutschlands, wo es fast keine Juden giebt, stärker als
in Baden oder im Elsaß, wo mau so manches Dorf und Städtchen mit mehr
als zwanzig Prozent Juden zählt. Der Südwestdeutsche findet sich mit den
Übeln Seiten des Juden durch Scherz und Spott ab. Das ist der Geist der
klassischen Judenanekdoten des „Nheinlündischen Hausfreunds" und der ideali-
sirten Darstellungen der Pfalzburger Juden in den Romanen von Erckmann-
Chatrian. Nachdem meine Dagsburger Gewährsmänner ihre Klagen über die
wuchernden Juden ausgeschüttet hatten, gab einer zum Schluß eine Geschichte
zum besten von einem Rabbiner in einem elsässischen Städtchen, der 1848 ge¬
zwungen wurde, eine Lobrede auf die noch unsichere, eben geborne Republik
zu halten, welcher Aufgabe er sich durch den tiefsinnigen Spruch entzog: Was
kann mer viel sage? Die Republik ist zu vergleichen einem Schuhmacher:
heut lebt er, und morgen kann er schon tot sein. Und unter dem Gelächter
über alte und neue Judenanekdoten ging alle Bitterkeit verloren, die sich vorher
Luft gemacht hatte.
Die weitgehende Zerteilung der Acker- und Wiesenfluren, die sich bis zur
Zerstückelung steigert, fällt gerade hier im Hopfenlande auf. Man denkt, die
oft beklagte und nicht neue Verschuldung der Bauern hätte ihren Gläubigern
Mittel an die Hand gegeben, größere Komplexe zusammenzukaufen. Aber da
wird nun auf einen Punkt hingewiesen, den sich der Wandrer freilich nicht
gedacht hat: Das ist ja, sagt uns ein Hagenauer Kaufmann, der Vorteil, den
die Bauern von den Juden haben, daß ein Jude nie selbst den Acker bewirt¬
schaftet; also läßt er den Bauern sein Feld, wenn er auch den Gewinn davon
einstreicht. So ist es auch mit den Notaren, die häufig Gläubiger sind: sie
wollen nicht das Land. Der Bauer behält also den Boden unter seinen
Füßen, ist aber freilich dann in vielen Fällen nicht viel mehr als der Pächter
seines Gläubigers. Wenn der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugnisse sinkt,
dann wird die Kette der Verschuldung fühlbarer, und im Bauernstand greift
das Unbehagen so epidemisch um sich, wie es die Politiker des Reichsländes
gern zu schildern pflegen, um die Unzufriedenheit mit der deutschen Herrschaft
besser zu begründen. Gern übergehen sie dabei den steigenden Wohlstand der
Städte, der wie überall das Gegenstück des Rückganges der Landwirtschaft ist.
Grundsätzlich verschweigen sie die tiefern Wurzeln dieses Mißstandes in der
geflissentlich herangezognen Unselbständigkeit der Bauern, zu deren Hebung
ganz besonders die bei ihnen so einflußreiche katholische Partei bei weitem
uicht so viel gethan hat, wie z. B. in Altbayern. Gerade dieses satte Rasten
der Besitzer über den hart arbeitenden und wenig gewinnenden Massen der
Arbeitenden ist echt französisch. Die altdeutschen Beamten haben sich über die
Würdigung dieser Sachlage hinwegtäuschen lassen durch die wohlthuende
Urbanität des Verkehrs der Obern mit den Untern und durch die ruhige
Geduld, mit der der Bauer alles über sich ergehen läßt. Wenn der Bauern¬
stand im untern und obern Elsaß, und das obere möchte ich besonders be¬
tonen, der einzige im ganzen Lande ist, der sich ehrlich in den 1870 gewordnen
Zustand gefunden hat, so hat daran die Verwaltung weniger Verdienst, als
sie haben könnte. Sie läßt sich hoffentlich die Möglichkeit nicht entgehen, in
Zukunft mehr davon zu erwerben.
Ich höre mit Behagen meinem Wandergefährten zu, wie er sich als ganzer
Bauer und Elsässer derb und frei ausspricht, dabei aber ohne den Ärger und
den Groll des städtischen Altelsässers, der Deutschland nur vom Hörensagen, und
von welchem Hörensagen! kennt. Mein Gefährte vertritt glücklicherweise Hundert¬
tausende, die seit 1871 in der deutschen Armee gedient haben. Dies sind die
besten Förderer des Verständnisses für deutsches Wesen. Ihnen jedenfalls in
erster Linie ist es zu danken, wenn man in den kleinsten und letzten Dorf¬
wirtshäusern das Bild des Kaisers findet, und in jedem Bauernhaus, wo es
seit 1871 gesunde Söhne gegeben hat, eines der bekannten militärischen Aquarell¬
bilder des Soldaten zu Pferd oder in voller Ausrüstung und in kriegerischer
Stellung, oder eine der beliebten Gruppenphotographicn mit dröhnenden Unter¬
schriften wie „Kanonendonner ist unser Gruß" u. tgi. So wie die Elsässer
als Soldaten das Lob ihrer Vorgesetzten haben, zählt man auch viele unter
ihnen, die Soldaten mit Leib und Leben sind. Das wird sich noch mehr zeigen,
wenn man ihnen das Dienen im Lande gestatten wird, das bis jetzt nur als
Ausnahme zugelassen ist. Aus dem Munde „eines Burschen im Kreis Zabern,
der in der Garde gedient hat, habe ich die Äußerung gehört: Ich würde mich
jeden Tag freuen, wenn die Gestellungsordre nach Berlin käme. Und diese
Anhänglichkeit an die alte Garnison ist nichts vereinzeltes. Freilich kehrt der
Elsässer immer wieder gern nach seiner Heimat zurück. Das ist ein tiefberech¬
tigter Zug, den ihm niemand verübeln kann, der das oberrheinische Land kennt.
"
Wenn Hohe und Niedere in ganz Deutschland der „Zug nach Westen
ergreift und das Behagen an dem Leben in rheinischen Landen alljährlich
Tausende vou Ost- und Mitteldeutschen, manchmal selbst Österreicher, veranlaßt,
sich dort eine neue Heimat zu gründen, wie sollte es nicht den Einheinuschen
dahin ziehen, wo seine frühen Erinnerungen ihm das sonnige Klima, die schöne
Landschaft, das heitere Dasein und die ganze unbewußte Empfindung der
Atmosphäre einer alten Kultur zurückrufen? In den Landen, die der deutschen
Litteratur die von Witz und Frohsinn schäumenden Werke von Fischart,
Grimmelshausen, Abraham a Santa Clara, Hebel, Scheffel, Eichrodt, Stöber,
Kobell, Nadler geschenkt haben, lachen die Menschen gern, laut und herzlich,
und haben die Augen einen wärmern Ausdruck. Man freut sich mehr und
ärgert sich weniger als anderwärts. Noch mehr als der Pfülzer und Badenser
liebt der Elsässer seinen derben Spaß, während er dem oft frostigen Wortwitz
des Norddeutschen fremd gegenübersteht. In der Korporalschaft der französischen
Armee war der Elsässer der „Lustigk." In den trübsten Zeiten, die über
Südwestdeutschland hingegangen sind, ist kaum in einem deutschen Lande soviel
gelacht worden, wie zwischen Schwarzwald und Vogesen. Das heitere Lachen
der Mädchen, die neckenden Zurufe der Burschen gehören zum oberrheinischen
Dorf. Fischart mag vielleicht in Mainz geboren sein — sein Geburtsort wird
wohl nie mehr sicher bestimmt werden können —, jedenfalls hat er, sich als
Elsässer und besonders als Straßburger fühlend, dem derben und tiefsinnigen
Volkswitz in klassischen Werken seine Stelle in unsrer Litteratur erobert. Er
kann darin mit keinem besser als mit Johann Ulrich Megerle aus Kreenhein-
stütten bei Meßkirch (zwischen der Baar und dem Bodensee) verglichen werden,
der als Abraham a Santa Clara der Vertreter desselben derbwitzigen und
spottlustigen Volksgeistes in der Predigt und der Erbauungslitteratur war.
Ein Zeitgenosse hebt besonders hervor, Megerle sei „kein geschwätziger, sondern
ein tiefsinniger, beredter Schwab" gewesen. In Wirklichkeit ist seine Mischung
von Derbheit, Fröhlichkeit und ernstem tiefem Sinn echt alemannisch und nicht
ohne einen romanischen Beisatz.
Der norddeutsche macht das, wie der Engländer in Frankreich, gern mit
dem „Weinland" ab. Darin liegt es aber nicht allein, wieviel Wein, Most
und Bier, dazu Kirschen- und Zwetschgenwasser erster Güte im Lande
gern und verständnisvoll genossen wird. Auch nicht darin, daß die Leute
weißeres Brot, besseres Obst und mehr Gemüse essen, und daß die Frauen
schmackhaftere Speisen zuzubereiten wissen als die in Mitteldeutschland. Es
liegt auch nicht in der ältern Kultur überhaupt, die ich indessen sür kein leeres
Wort halte. Der Kunsthistoriker Springer sagte mir einmal: Wenn ich in
Straßburg ein Haus bauen sah, so merkte ich, daß die römische Überlieferung
noch in jedem Maurergesellen lebt. Der Unterschied zwischen den Südwest¬
deutschen und den übrigen Deutschen liegt tiefer, er geht bis in die Vlut-
mischung zurück. Wenn ich im Markgräflerlcmd oder an den klassischen Stätten
deutsch-französischer Kämpfe an der Lauter oder Sauer wandre, mutet mich
die Bevölkerung eigentümlich an. Diese edeln Profile, diese dunkeln Haare
und Augen, diese bräunliche Haut, die da unter fränkischen Langkvpfen auf¬
tauchen, versetzten mich vielleicht nach Tirol oder ins südliche Körnten, wo
sich noch heute Germanen mit Romanen mischen. Kehre ich nach Osten zurück,
so hören diese romanischen Züge bei Würzburg auf, häufig zu sein, so wie
sie mir in Bayern jenseits des Lech allmählich verloren gehen.*)
Auf diesen Anteil romanischen Blutes, sei es römischen oder französischen
Ursprungs, trifft der Deutsche aus Nord- und Ostdeutschland im ganzen Süden
wie auf etwas Fremdartiges. Man hat an der Spree gar keine Ahnung, wie
wenig oberflächlich die stille Abneigung gegen nordostdeutsches Wesen in Baden
und die laute Opposition dagegen im Elsaß ist. Es ist nicht das Widerstreben
gegen Maßregeln, sondern gegen einen fremden Geist. Die Gesetze, die man
hier neu eingeführt hat, muß mancher Besonnene für trefflich anerkennen, mit
dem Geist und den Sitten, die ins Land gezogen sind, setzt er sich viel weniger
leicht aus einander. So ist auch im Politischen der demokratische Zug, den
man besonders an den Zentrumsleuten der beiden oberrheinischen Länder tadelt,
durchaus nicht bloß eine Meinung, die diese irgendwo und von irgendwem
aufgenommen hätten. Nein, es ist ein angeborner Sinn für das Recht des
Einzelnen, der sich den rauhen Forderungen des Staats widersetzt. Deswegen
hat sich hier zu Land eine sreie Gesinnung unter den allerverschiedensten Ver¬
hältnissen wiedergeboren, erhalten und bewährt. Diesen Leuten liegt ein demo¬
kratischer Zug buchstäblich im Blute. Keine Zeitung und keine Partei braucht
ihn zu lehren. Sie zeigen ihn auf dem Rathaus, nicht bloß im Ständehaus; sie
bewähren ihn unter sich im täglichen Leben, nicht bloß vor der breiten
Öffentlichkeit. Diese Gesinnung ist in andrer Form der Geist der Eidgenossenschaft.
(Schluß folgt)
tho schau, sagte Wilhelm, der Großvater hat zwei Söhne gehabt.
Der Älteste, das ist mein Vater. Der hätte den Hof haben sollen,
in Pullach draußen. Der Großvater mochte aber seinen zweiten
lieber, und weil mein Vater ein schwächliches Kind war, darum
hat ers zum Vvrwnnd genommen, daß er nach ihm den Hof nicht
haben könnte. Er wäre zu schwächlich, die schwere Bauernarbeit zu
thun. Er hat ihn dann in die Stadt gegeben nach Regensburg, in die Lehre zu
einen, Drucker. Mein Vater ist aber vorwärts gekommen. Er hat geheiratet, und
zuletzt hat er sich die Druckerei gekauft.
Mein Oheim draußen, dem Großvater sein zweiter Sohn, hat auch geheiratet
und hat sieben Jahre lang kein Kind gehabt. Da hat mein Vater ihnen gesagt,
das wäre die Strafe vom Himmel, daß der Großvater ihn mit sein Erbe gebracht
hätte. Weils aber dem Großvater gar so hart war, das Seine keinem Leibeserben
zu lassen, so sind sie trotz allem eins geworden, daß der Vater mich nach Pullach
thun, und ich dn in der Wirtschaft groß werden sollte, wenn ich auch nur zart
war wie mein Vater vordem. Ich war vier Jahr draußen, da kam der Oheim
zu Schaden und starb. Ihm nach aber ist von der Base, seiner Frau, sein einziges
Kind geboren worden. Es war ein Bub. Darnach ging der Großvater wieder
aufrecht, nur ich war ihm seitdem ein Dorn im Auge. Die Base, die ist niemals
schlecht mit mir gewesen. Ich hab den Buben, den Joseph herum getragen, und er
hat an mir gehangen Wie an der Mutter. Später, wie er größer geworden ist,
hat er mein „gemaltes" so gern gemocht. Freilich hat es sich deswegen erst recht
verstände», daß es mit meinem Zeichnen eine kindische Sache sein mußte, die nur
heimlich verrichtet werden konnte, wenn der Großvater nicht da war. Und das
Malen hat dann auch geholfen, daß ich bei Nacht und Nebel fort gemußt habe.
'
Da möchte ich dabei gewesen sein, so n Däumling auf der Flucht! sagte
Rainer.
Da hab ich eines Tags mit dem Joseph drin am Fenster gestanden, sprach
Wilhelm weiter, und zugeschaut, wie der Großvater den Stallbnben ins Gebet ge¬
nommen hat. Es muß ein langes und breites Sündenregister gewesen sein. Der
Großvater hat mit den Armen herumgefochten wie eine Signalstange. Der Bub hat
geschlottert und ist immer kleiner geworden, so hat er sich in seiner Angst geduckt.
Da springt der Großvater auf ihn zu, bückt sich und schlägt ihm eine hinein, daß
es uns wunder genommen hat, als nach zwei Tagen die Geschwulst gefallen war,
daß die Nase wieder am alten Platz gesessen ist.
Wir drinnen haben die Worte nicht gehört, aber alles gesehen. Da hat
Joseph mich am Jackenzipfel gerissen und gesagt: Schau, Wilhelm, so thut der Gro߬
vater! Und dabei hat er sich gebückt und ist auf mich zugesprungen wie ein Stier¬
kalb mit gesenkten Hörnern. Ich habe lachen müssen, und von dem Tage an habe
ich den Großvater immer mit Hörnern gesehen. Es hat mir gar keine Ruhe ge¬
lassen, ich hab es auf dem Joseph seine Tafel hinzeichnen müssen. Gleich wieder
weggewischt habe ichs, wenn er auch geschrieen hat, daß ers behalten wollte. Aber
den Mund hat er nicht halten können. Er hat die Hände rechts und links an
den Kopf gehalten, beide Zeigefinger aufwärts gekrümmt: Schau, Großvater, schau!
So ist er einmal aus der Scheune gesprungen und einmal hinter den? Hundehaus
hervor, und dann davongelaufen wie das böse Gewisse», bis daß einmal der Gro߬
vater ihn ergriffen hat. Da hats dann Schläge gegeben, bis daß es heraus war:
Der Wilhelm hat dich gemalt, mit Hörnern.
Das war eins. Aber es kam noch etwas. Der Großvater war an dem
Tage hinaus gefahren zum Holz laden. Wie ich vom Felde herein kam, sagte die
Base zu mir: Geh, hilf dem Großvater die Ochsen leiten. Wie ich hinausgekommen
bin, habe ich gerade gesehen, wie der Großvater einen Kloben von der Beuge reißt,
die oben am Berge steht, wie der Kloben den Großvater mitreißt, und'wie er den
Berg abwärts sich überschlägt wie ein Hase, bei dem der Schrot gesessen hat.
Ich habe oben gestanden und nicht daran gedacht, ob dem Großvater sein altes
Genick brechen wird, nur lachen hab ich müssen. Da wo ich gestanden bin, hab
ich mich niedergeworfen und gelacht.
Heute meine ich, daß ich dem Großvater das Leben gerettet habe. Er hat
einen zornigen Geist, und was sollte es Wohl gemacht haben, daß der siebzig¬
jährige das Leben von dem Sturze davon gebracht hat, nußer daß er die Seele
nicht hat können hinfahren lassen, eh er mir das Gelächter heimgezahlt hat. Unten
ist er aufgestanden wie ein Junger und den Berg hinauf, ich weiß noch heute
nicht wie: Wirst schon sehn, wies der Großvater dir macht, mit den Hörnern,
saubrer Kamerad, saubrer — hat er so vor sich hingesagt, gar nicht besonders
laut, aber schrecklich, wie er ans mich losgekommen ist, als ob er mit der Luft
heraufführe am Berge. Seine Angen haben weiß ausgesehen, und die meinigen
haben hineingeschaut und sind starr geworden, nicht rühren hab ich mich können.
Erst wie er fast zum Greifen nah war und ich gemeint hab, ich spüre schon sein
Schnaufen, hab ich den Kopf herumgebracht, um zu schaun, wie ich auskommen
könnt. Und wie meine Augen nicht mehr in die wilden Lichter vor mir geschaut
haben, da hab ich auch die Herrschaft über meine Glieder wiederbekommen. Ich
hab die Beine angezogen, auf die Füße gesprungen bin ich und fort! Wie lang
er mir im Wald nachgekommen ist, weiß ich nicht. Wie ich still gestanden bin
und umgeschaut hab, war er nicht mehr da, und ich hab ihn auch nicht wieder¬
gesehn bis an den heutigen Tag.
Nachts, wie ich endlich aus dem Walde heimgekommen bin, hab ich schon von
fern etwas ums Haus streichen sehn. Es war der Joseph. Wie er mich erkannt
hat, ist er auf mich zu: Du, mit dem Großvater ist heute nicht zu spaßen gewesen.
Schau nur, daß du ihm morgen früh nicht gleich unter die Augen gehst. — Ich
will überhaupt da nicht wieder hinein, sagte ich trotzig. Der Joseph hat zuletzt be¬
griffen, ich wollte fort, und da hat ihn nur eins gereut, daß er nicht mit konnte,
aber getröstet hat er sich endlich mit dem Gedanken, was das für ein Gaudi geben
würde, wenn der Großvater alleweil schauen würde, wo ich bliebe, ob der Wilhelm
ihm nicht endlich unter die Fäuste kam, und der Wilhelm verschwunden bliebe.
Er hat mir alsdann mein Sonntagsgewand herbeigestohlen und einen Patenthaler
gebracht. Der wird wohl ein Jahr reichen, hat er gemeint. So bin ich fort.
Den Thaler habe ich für die Reise gebraucht und noch in München den neuen
Rock versetzt, damit es reichte bis Regensburg. Dort bin ich zum Vater hinein¬
gegangen und habe gesagt, ich wollte jetzt bei ihm arbeiten. Aber mein Empfang
bei ihm ist nicht um vieles besser gewesen, als der Großvater ihn für mich im
Sinn gehabt hat. Zwar geschlagen hat er mich nicht, aber rechtschaffen getobt hat
er. Dableiben hätt ich sollen, ich wäre der Erbe gewesen. Jetzt könnte der Gro߬
vater sich gut mit dem Vorwand decken, daß ich mich heimlich davon gemacht hätt
Wie ein Dieb in der Nacht! — Und dann war ich halt Drucker. Kurzweilig ist
das uicht gewesen, bis dahin, wo du kamst. Aber jetzt bin ich hier, und kein
Mensch kann mir was sagen, und jetzt möcht ich nur wissen, ob ich Talent hab.
Das war die Frage, die ihn so lange schon würgte, und jetzt hatte er sie im
Strom der Erzählung sich selbst fast unvermutet ausgesprochen. Der Schrecken
faßte ihn nachträglich so, daß er das kochende Wasser nicht nur über den Kaffee,
sondern auch über den Tisch und seine Hände goß.
Talent wirst du schon genug haben, sagte Rainer leicht und gnädig, hundert
andre kommen ja dnrch, die nicht mehr haben. Deine Sachen haben Phantasie.
Das ist ganz schon, aber zuletzt doch was überflüssiges. Sieh mal meine Sachen
an: ich rücke der Natur auf deu Leib, und ich packe sie, wie sie ist, so wahr mir
Gott helfe. Und mehr Phantasie als die Natur braucht keiner zu haben. Wer
immer Ideen malen will, bringt meistens Ausgeburten zur Welt, so wie Albert
Zimmermann in der Schackgalerie mit seinen Irrlichtern, lauter aufgehängte Mehl¬
würmer, die aus dem Kopf heraus brennen. Aber das brauchst du ja nicht. Mach
dich nur dran. Wie wirs mit dem Gelde macheu, das ist mir freilich dunkel.
Ich kann dir nichts borgen!
Ja weißt du, fuhr Wilhelm eifrig dazwischen, einstweilen brauche ich keinen
anzusprechen. Zu Neujahr, nachdem du fort warst, habe ich den Vater gebeten,
mir Gesellengehalt auszuzahlen, damit er mir nichts zu geben brauchte, wenn ich
einmal wandern wollte. Das ist jetzt fast zwei Jahre her, und von dem Gelde
fehlt mir nichts als das, was ich fürs Herfahren ausgegeben hab.
Dem Vater wars recht, als ich ihm sagte: Ich will fort, und zwar nach
München. Er hätte selber schon dran gedacht, sagte er. Ich sollte auf dem
Sprung sein, falls in Pullach was passirte. Der Großvater war einmal krank im
vergangnen Jahre, und der Vater meint, wenn an den alten Habicht was kommt,
dann ist es gewiß zum Tode. Er hat mir gesagt, in München in der Blüteu-
straße wohn ein Bekannter von ihm, der Pvchinger, der hat auch eine Druckerei.
Bei dein könnt ich Arbeit nehmen, und dann, Wenns die Gelegenheit giebt, hat
der Vater gesagt, etwa daß der Großvater krank wird, und kein erwachsenes Manns¬
bild außer den Knechten auf dem Hof draußen ist, daß sie dich brauchen, dann
zeig, was du wert bist, und wenn du einmal draußen sitzt, dann sitzt du auch
fest. Dem Joseph seine Mutter hat bei des Großvaters Lebzeiten nie den Mund
aufgethan und wirds nach seinem Tod nicht auf einen Prozeß hin versuchen, dich
wieder hinauszudrängen. — Nein, Vater, habe ich gesagt, ich will ja auf die
Akademie, Kunstmaler werden!
Da hättest du ihn sehn sollen. Zuerst hab ich gemeint, er wird zuschlagen.
Vater, sagte ich, du hast es jn selber gesagt: Zweihundert Mark soll ich kriegen
an dem Tag, wo ich dir ein Historienbild von meiner Hand vor die Augen stelle. —
Bub, hat er geantwortet, alles hat seine Zeit, die Betrunkenheit auch. Aber wenn
der Rausch ausgeschlafen ist, dann ist man wieder wie vorher ein vernünftiger
Mensch, außer man ist rechtschaffen verrückt, und ich will nicht hoffen, daß es mit
dir so steht. — Wir haben nicht mehr davon geredet. Er wird meinen, ich würde
schon bedacht sein, mich von der Verrücktheit ledig zu erweisen. Den Brief an den
Pochinger hat er mir mitgegeben, und so bin ich halt hier. Jn Pullach draußen
bin ich gewesen, heute, bevor ich zu dir in die Akademie kam. Den Joseph hab
ich herausrufen lassen. Er ist gesprungen wie ein Lamm, als er mich sah, und
hat nicht geruht, bis ich mit ihm ins Haus gekommen bin. Der Großvater ist
auch nicht weiter wild gewesen. Vielleicht hat er gedacht, ich käme wegen meiner
Rechte, von denen der Vater immer spricht, und wie von der Art nichts zum Vor¬
schein kam, ist er ganz umgänglich geworden, hat gefragt, wies mit meinem Ge¬
werbe geh, und gesagt, am Sonntag sollt ich nur zu ihnen hinauskommen: So
einer wie du wird hier immer noch satt! — Also schon, für einmal satt essen in
der Woche ist schon gesorgt, und dann mein Geld! Für eine Weile reiches —
wenn du also meinst, so probir ichs halt.
Freilich, versuch es doch, sagte Rainer. Aber was war denn das mit den
zweihundert Mark, die dir dein Vater geben sollte?
Wilhelm wurde rot und erzählte die Geschichte jenes Kegelabends. Den ver-
tragnen Zettel mit den Unterschriften hatte er immer bei sich. Er faltete ihn vor¬
sichtig auseinander und reichte ihn Rainer hin: Siehst du, in der Zukunft hab ich
einmal das Geld gut.
Ja, und wenn du dir dies Geld Verdienst, dann kannst du der Künstlerschaft
adieu sagen, antwortete Rainer heftig. Ich wenigstens will nichts mit Historien¬
malern zu thun haben, diesen Großmäulern. Ins Hoftheater gehn und im fünften
Akt, wenn der Held in der Schlußpose steht, den Apparat hernehmen und Phvtv-
grnphiren, das können sie.
Thun sie das? fragte Wilhelm verschüchtert.
Ob sich thun oder nicht thun, weiß ich nicht. Aber Historienbilder sehen so
aus, als ob sich thäten. Wenn einer Atlas und sonstwas malen will, was zum
Stilleben gehört, meinetwegen! Und wenn er bengalisches Feuer gern hat, das ist
zwar keine künstlerische, aber doch vielleicht eine verzeihliche Liebhaberei. Wenn
aber einer hingeht, und malt Einen in Atlas und in bengalischer Beleuchtung, der
dasteht und edle Gebärden macht, dann soll er wenigstens dazu sagen, daß es auf
dem Theater ist, und das; der Manu in der Heldenrolle so spielt, damit die im
vierten Rang noch erkennen können, was los ist. aber er soll nicht sagen, das
Ware die Entdeckung Amerikas durch den wagehalsigen ausgehungerten Kolumbus.
Ja, wenn das Historienbilder wären, was Rembrandt macht. Aber ich wollte mal
die Spießbürger sehen, wenns einer wagen wollte, den „Helden" in der unbe¬
wachten Leidenschaft zu malen, so gut er kann. Nein, der Held muß „auftreten,"
wie es der Würde eiues Historienbildes geziemt. Auftreten, das sagt genug. An
dem Tage, wo ich so ein Historienbild male, kannst du gehen und mir eine Kon¬
zession für die Oktoberwiese kaufen. Wenn ich das schon thue, um Geld zusammen¬
zukratzen, dann kann ich auch gleich mit meinen Bildern herumziehen und absingen.
Rainer hatte sich während seines Ausbruchs energisch auf die Füße gestellt
und sich ausgezogen. Jetzt warf er sich nieder und zog die Decke über sich. Ein
Quartier hast du wohl nicht? fragte er zu Wilhelm hinüber, ohne sich umzusehen.
Nein.
Aber einen Mantel?
Ja, den hab ich.
Dann leg dich da aufs Sofa, und wenn du fertig bist, blas die Lampe aus.
Rainer schlief sofort. Wilhelm ging auf den Fußspitzen noch ein paarmal
zwischen dem Tisch und dem Sofa hin und her. Aber seine Stiefel machten ein
Geräusch, das ihn allerdings mehr beängstigte, als es Rainer störte. So blies er die
Lampe aus und tappte zur Wand hin. Dort setzte er sich auf den Sofarand und zog
die Beine, die er so leise wie möglich von den Stiefeln befreite, vorsichtig hinauf.
Von der Straßenlaterne herauf durchs Fenster kam eine fahle Helligkeit. Dahin
richteten sich seine Augen, während er immer behutsam versuchte, auf dem kurzen
Gerüst, das den Namen Sofa trug, eine erträgliche Lage zu finden. Dabei klang
es in ihm nach, was Rainer gesagt hatte. Er hätte ihn so gern uach allerlei
gefragt. Aber wer weiß, durch eine dumme Frage konnte sich seine Talentlosig-
keit plötzlich enthüllen, und davor fürchtete er sich. Darum hatte er lieber ge¬
schwiegen.
Wilhelm hatte den Eingang in die Rennbahn, wo man nach dem Lorbeer
jagt, nicht verlockend gefunden. Aber als er erst täglich die große Freitreppe zu
der Akademie beschritt wie ein Zugehöriger, als er um den gebietenden Gipsfiguren
vertraulich vvrbeistrich, war es ihm doch, als wenn er Sprungfedern unter den
Füßen hätte, und als ob sich an der Wirklichkeit eine glänzende Seite nnfgethan
hätte, die er ihr eigentlich nicht zugetraut hatte. Er glänzte auch beständig, wenn
die Akademiker ihn anredeten wie ihresgleichen. Aber er selber blieb verschlossen,
und als ein Jahr um war, wußte eigentlich noch keiner etwas von ihm außer dem,
was sie von Rainer gehört hatten, daß Wilhelm bis dahin Steindrucker gewesen
wäre, und daß er jeden Samstag nach Pnllach hinaufginge, wo er Verwandte
hätte, Ackerbauer. Zu denen bekannte er sich auch durch seineu Fleiß, der etwas
vom ackern an sich hatte. Es war vielleicht in der ganzen Akademie keiner, der
so wie er jede kleinste Gelegenheit aufsammelte, etwas zu lerne«, denen, die etwas
konnten, das abzumerken. Gierig wie eine Ente, sagten sie von ihm, wenn sie
sahen, wie er bei den Korrekturen der Lehrer aufmerkte. Gerade durch das, was
ihn bei den Professoren beliebt machte, wurde er zum Gespött der andern. Das
Wurde dadurch nicht besser, daß er weder durch Spöttereien noch durch Zudringlich¬
keiten zu irgend einer Vertraulichkeit zu drängen war. Nicht einmal was er in
seiner freien Zeit trieb, war aus ihm herauszubringen, obgleich es ein stillschweigend
anerkannter Sport geworden war, ihn zu necken:
Sie, junger Mann, wo waren Sie denn gestern abend? Wir wollten mit
Ihnen Billard spielen im Cafe- Minerva!
Laß doch, Kelety, das schickt sich ja nicht für einen Jdealjüngling, laß ihn,
wenn er nach zehn Uhr nach Hause kommt, kriegt er Schläge von seiner Wirtin.
Geh, ich hab ihn ja selber am Montag nach Mitternacht aus der Kaulbach¬
straße kommen sehen.
Da hast du dich geirrt. Es wird der Piccolo aus dem Schottenhammel ge¬
wesen sein, den du gesehen hast, der gleicht ihm auf ein Haar.
Was, im Schottenhammel haben sie jetzt einen Kellner?
Freilich, aber immer nur für ein paar Stunden am Tag und ein paar am
Abend. Um die Mittagszeit und nach acht Uhr am Abend ist dem Wirt zu viel
Menschheit da, er kommt nicht durch mit der Bedienung, trotz der Kellnerin. Da
hat er neuerdings so einen Hungerleider, der kommt zur bestimmten Zeit, zieht
seinen Rock aus und dem Wirt seinen Piecolofrack an und hilft bediene». Dafür
kriegt er freies Essen, und wenn er sich mit der Kellnerin gut steht, steckt sie
ihm auch uoch was zu. Er hängt seinen Rock schon immer so hin, daß sie die
Taschen leicht finden kann, wenn sie ein Hühnerbein oder einen Schweinshaxen
übrig hat.
Aber der Piccolo haßt die Akademiker wie den Teufel, rief ein Dritter da¬
zwischen. Er ist kein einzigesmal an unserm Tisch gewesen, als ich neulich mit im
Schottenhammel war.
Dann ist die Ähnlichkeit nur äußerlich, wandte Kelety sich an Wilhelm, Sie
würden uns nie verleugnen, nicht wahr, junger Freund?
Frag ihn doch nicht, sagte ein andrer, vielleicht ist ers selber!
Ein dröhnendes Gelächter belohnte den Sprecher, und Wilhelm stimmte ans
Leibeskräften ein, aber erfahren konnten sie nichts über seine Abende, so wenig
wie über das Bündel, mit dem er sich belud, wenn er am Samstag entweder zu
Fuß oder mit der Eisenbahn den Weg nach Grvßhessenlohe nahm, um von da nach
Pullach zu wandern.
Es wird Wohl der Quersack sein, dein sie ihm draußen mit Lebensmitteln
füllen müssen, meinten sie.
Aber ich habe noch nie etwas eßbares bei ihm gesehen, außer Munkerl, von
denen die Bäcker für fünf Pfennige ein halbes Gebirge geben.
Ja, er nimmt eher die Speckseite mit ins Bett, als daß er einen wissen läßt,
daß er etwas hat.
Bauernart, versteckt und geizig!
Aber Wilhelm hielt sein Bündel in Pullach draußen womöglich noch geheimer als
dort vor seinen Kameraden. Wie eine Katze für ihr Junges suchte er ihm Schlupf¬
winkel aus. Außerdem schien er von der Witterung dafür zu fürchten. Schon
ehe er seine Wanderung antrat, am Freitag schon, wenn er im Schottenhammel
den Frack an seinen Ort gehängt hatte und ging, spähte er mit Spannung nach
dem Wetterglas, das der Wirt nahe bei der Thür hängen hatte. Am Samstag
Abend und Sonntag mußte man sich beim Schvttenhammel mit einem andern be¬
helfen. Dann saß Wilhelm mit der Familie des Niedersteiner und mit den Knechten
in dem niedrigen Zimmer auf der Holzbank um deu Tisch, und während sie aßen,
our es sprichwörtlich geworden: Der Wilhelm weiß nlleweil nichts, als was am
Sonntag für Wetter sein wird.
Und angehn thut er doch nie, sagte der dreizehnjährige Joseph. Aber
Wilhelm machte ihm zornige Zeichen mit den Angen, und Joseph schwieg mit
schlauer Miene. Dann kam der Sonntag und die Messe, und nach dem Essen,
wenn das Wetter gut war, begleitete Joseph die Mutter, die außerhalb Verwandte
besuchte.
Der Großvater aber nahm den großen Schweinslederband, worin die
Heiligengeschichten standen, und die Holzschnitte von der Mutter Gottes mit den
sieben Schwertern im Herzen, und von den Qualen des Fegefeuers, wo die Teufel
mit Gabeln und Zangen bandirten, um ihre Aufgabe an den armen Seelen zu er¬
füllen. Mit diesem Buch setzte er sich unter der Gartenmauer an die Stelle, von
wo aus er Hof und Haus übersehen konnte. Das war, so lange das Wetter
warm blieb, sei» stetiger Sonntagsplatz. Der Alte schlug das Buch auf seinen
Knieen auf und erhob sich erst wieder beim Abendländer, wenn gezankt werden
mußte, daß die Knechte die Futterstunde beim Vieh nicht pünktlich einhielten, und
daß die Wirtschaft auf jeden Fall zurückgehen müßte, wenn die Frau zur Visite
ginge statt nachzusehen. Aber wehe dem, der es gewagt hätte, ihm die Aufsicht
abnehmen zu wollen, der hätte den Niedersteiner so kennen gelernt, daß er daran
gedacht hätte.
Wilhelm kannte des Großvaters Gewohnheit von früher. Der Platz an der
Mauer war vou ihm und vom ganzen Gesinde scheu genug gemieden worden.
Jetzt strich er in der Ferne umher, und wie er den Großvater unverändert in der
einmal gefundnen Lage verharren sah, kam er näher und fand, daß der alte Mann,
des Lesens ungewohnt, über die erste Seite seines Textes nicht hinausgekommen
War, daß er mit halbgeöffneten Augen über dem Buche saß und schlief.
Wilhelm betrachtete die eisernen Formen dieses Kopfes, das weiße, dichte
Haupthaar, die ganze hagere Gestalt zwischen den bunten Farben der Blumen da
an der Mauer. In Gedanken fing er an zu zeichnen, dann holte er sich Papier,
fand den Großvater noch ebenso und begann in Wirklichkeit zu zeichnen, immer
bereit, mit einer gleichmütigen Wendung weiter zu schlendern, wenn das Modell
erwachen sollte. Am nächsten Samstag brachte er sich einen kleinen Blendrahmen
mit Aquarellpapier bespannt aus München mit. Wenn er bisher mit Farben Ver¬
suche gemacht hatte, waren es Wasserfarben gewesen. Er behandelte sie gnr nicht
künstlerisch, aber brachte manchmal doch eine Wirkung zusammen, nicht grübe eine feine,
aber das war es ja anch, was er erst zu lerne» hoffte. Er kam sich vor wie ein Ver¬
schwörer, als er am Samstag in der Dämmerung hinschlich und sich bei des Gro߬
vaters Sitz einen Standort aufsuchte. Da wo er das vorigemal die Bleistift¬
zeichnung gemacht hatte, stand ein alter Fliederbaum. Wilhelm schlug zwei kleine
Nägel in die Stämme und versuchte, ob mau darüber deu Blendrahmen aufstellen
konnte. Er stand sehr gut, und nun war noch die eine Sorge, die ihn seitdem
von Woche zu Woche so sehr beschäftigte, die um das Wetter. Aber die Sonne
war günstig und fand ihn regelmäßig am Sonntag, etwa eine halbe Stunde nachdem
der Großvater mit seinem Schweinslederband zur Mauer gegangen war, an seinem
gefährlichen Posten. Mit vorgebeugtem Halse spähte er und versuchte es nnchzu-
modelliren, Blatt um Blatt, wie es den Alten umgab, die knochigen Hände am
Buch, die Sonnenflecken auf seinem Rock, auf dem weißen Haupthaar, dem Garten¬
weg, und das Geflimmer von wehenden Blätterschatten ans der beschienenen Mauer.
Und dabei drehte sich die Sonue, die Schatten wechselten, und wenn er mit Leiden-
schaft ein Ding aufs Korn genommen hatte, zuckte der Großvater, als wenn er er¬
wachen wollte, weil sich ihm eine Fliege auf die Hand gesetzt hatte, oder weil auf
dem ausgestorbnen Hof ein Laut vernehmbar geworden war, seis, daß sich in den
Ställen das Vieh regte, oder der Hahn auf die Deichsel am Leiterwagen geflogen
war, und die herabhängenden Ketten an einander klangen.
Und wenn der Großvater aufwachte, ehe Wilhelm alles weggeräumt hatte,
woraus er auf seine Thätigkeit schließen konnte? Dann wäre seines Bleibens auf
dem Hos nicht gewesen, und wer Weiß, ob der Abschied nicht stürmischer geworden
wäre, als es der Ehre eines Akademikers erträglich erschien. Wilhelm traute ja
seinen schnellen Füßen, die ihn schon einmal gerettet hatten, aber es brauchte ihm
nicht jedesmal zu glücken, und wenn er auch seitdem aus den Kinderschuhen heraus¬
gewachsen war, des Großvaters Fäuste waren noch immer behend, und sein Gemüt
war mit den Jahren nicht sanfter geworden.
Wieder ein Laut! Die Wimpern zuckten über den halb geschlossenen Augen.
Wilhelm raffte den Blendrahmen mit der rechten Hand auf. Den Farbenkasten
ans der Linken, den Pinsel zwischen den Zähnen, schlüpfte er wie ein Wiesel davon,
soweit es ging hinter der Deckung der Büsche. Erst als er seine Sachen in
Sicherheit gebracht hatte, wagte er sich wieder hervor und ging mit gleichgiltiger
Miene über den Hof noch der Mauer zu. Da saß sein Modell noch wie vorher,
zusammengesunken, mit halboffnen Augen schlafend über dem Buch. So hatte ihn
wieder die Angst um die Arbeitszeit betrogen!
Wilhelm blieb stehen und bewegte die Lippen wie jemand, der etwas aus¬
wendig lernen will. Unwillkürlich zeichnete er mit dem Zeigefinger der rechten
Hand in die Handfläche der linken: Messerscharf schneidet der Schatten über die
Stirn. Über dem Kopf der Blätterzweig ist blauschwarz, ohne Modellirnng, einfach
eine dunkle Silhouette gegen den hellen Himmel —
Und das Bild ging mit ihm. Nicht nur auf dem Blendrahmen, den er sorg¬
fältig eingewickelt unter dem Lodenmantel wieder mit sich nahm, sondern in viel¬
fältiger Spiegelung in seinen Gedanken. Wenn er am Montag früh, nach der
Fußwanderung im feuchten Gras mit Fromm und Männern ans Pullach, die des
Handels wegen nach München fuhren, in der Eisenbahn saß, stellte er Vergleiche
an. Es war manches feste Gesicht da, aber an den Abweichungen von des Gro߬
vaters Art machte er sich dessen Besonderheit klar.
Wenn er in München durch den Pinakothekgarten ging, da spürte er den
Sounenringen nach, wie sie zwischen den dunkelvioletten Schatten des Buschwerks
auf dem Boden tanzten. Er ließ sie auf seinen Ärmel fallen, auf seine Hand: so
saß der Großvater zwischen wechselnden Lichtern — und erst wenn er merkte, daß
die lange Reihe der Droschenkutscher an der Barerstraße ihm zusahen, lief er weiter
in die Pinakothek. Da stand er vor dem Ribera. Der malte so faltige Häute über
scharfe Knochenhände gespannt, und wieder stand er und bewegte die Lippen, wie
wenn er sich eine Aufgabe zu wiederholen hätte, und versuchte sich fest ein¬
zuprägen, wie vor Jahrhunderten einer die Aufgabe angefaßt hatte, die jetzt ihn
beschäftigte.
(Schluß folgt)
In unserm Aufsah
„Sozialanslese" in Ur. 10 d. I. war folgendes mitgeteilt wordeu: „In der »Neuen
Zeit« Ur. 9 des Jahrgangs 1897 bis 1898 berichtet Helene Simon über die
amtliche Untersuchung, der in England sieben Industrien in Beziehung auf ihre
Gesundheitsschädlichkeit unterworfen worden sind. Nach dem im Juli 1896 ver¬
öffentlichten Bericht hat die Kommission unter ander,» in den lithographischen An¬
stalten bei den Bronzirern die Metallvergiftung so stark gefunden, daß sie vor¬
schlägt, es solle gesetzlich angeordnet werden, diesen Arbeitern täglich zweimal eine
halbe Pinke Milch als Gegengift zu reichen."
Hierzu erhalten wir von Herrn Th. Staehle (Gebrüder Klingenberg) in
Detmold folgende Mitteilung: Ich gestatte mir mitzuteilen, daß in der Anstalt,
deren Teilhaber ich bin, seit vielen Jahren täglich zwei Bronzirmaschineu im
Gange sind. Diese beiden Maschinen werden vou einem Arbeiter und sechs
Mädchen bedient, ferner werden noch weitere sechs bis acht Mädchen zeitweilig mit
Bronziren mit der Hand beschäftigt. Bei allen diesen Leuten hat sich im Laufe
der vielen Jahre kein einziger Krankheitsfall ereignet, bei dem auch nur eine Ver-
mutung auf Metallvergiftung bestanden hätte. Ebensowenig haben Arbeiter oder
Arbeiterinnen irgendwelche Beschwerden, die sich auf die Beschäftigung mit der
Bronze zurückführen ließen, obwohl besonders die Arbeiterinnen auch bei den
kleinsten Anlässen den Arzt konsultiren, der täglich in unsrer Anstalt Sprech¬
stunde abhält. Es wird dabei noch besonders bemerkt, daß den mit Bronziren
beschäftigten Arbeitern und Arbeiterinnen keinerlei Mittel gegeben wird, das der
Einwirkung der Bronze entgegenwirken soll, ferner, daß die Leute die allerdings
vorhandnen Respirationsapparate niemals benutzen. Es wird in unsrer Anstalt
genau dieselbe Bronze verarbeitet wie in England, dn dieses Metall bekanntlich
ausschließlich in Deutschland hergestellt wird.
Da mir aus meiner ziemlich umfangreichen Praxis in andern lithographischen
Anstalten ebenfalls kein einziger Fall bekannt geworden ist, wo die Bronzirer unter
Metallvergiftung gelitten haben, muß ich annehmen, daß die englische Kommission
ihren Bericht in durchaus leichtfertiger Weise aufgestellt hat, ich wäre Ihnen
deshalb dankbar, wenn Sie die oben angeführten Thatsachen in einer der nächsten
Nummern veröffentlichen würden, da die Anschuldigung gegen die lithographischen
Anstalten, die in dem Bericht der englischen Kommission liegt, nur dazu angethan
sein kann, Mißhelltgkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern hervorzurufen.
Im Nachlasse Karl Ernst von Baers hat sich eine Handschrift
mit dem Titel: Lebensgeschichte Cuviers gefunden. Ludwig Stieda hat sie
für deu Druck fertig gemacht und voriges Jahr bei Fr. Vieweg in Braunschweig
herausgegeben. Baer und Cuvier waren verwandte Geister. Die Verwandtschaft
tritt u. a. in folgenden Sätzen dieser sehr hübschen und anziehenden Lebensbe¬
schreibung hervor. „Es springt in die Augen, daß Cuvier in der Jugend auch
ein genetisches System im Auge hatte, wie Oken es später verfolgte, daß er aber
bald erkannt haben muß, daß diese Aufgabe für ihn nnlvsbnr sei. Er gab sie
"uf und suchte vielmehr ans der Mannigfaltigkeit des Gcwordnen Schlüsse ans
die Bedingungen des Werdens zu ziehen. So kam er zu den teleologischen An¬
sichten, die er bei verschiednen Gelegenheiten entwickelte. Deutsche Naturforscher
haben daraus, besonders zur Zeit der Schelliugscheu Naturphilosophie, den Schluß
gezogen, Cuvier sei kein philosophischer Kopf gewesen. Mir scheint vielmehr die
Klarheit seiner Einsichten hieraus hervorzuleuchten. Er ließ die höhere Aufgabe fallen,
weil er fand, daß sie ihm nicht zur klaren Einsicht verhelfen konnte.... Es verdroß
ihn sogar, wenn man seine »Vergleichende Anatomie« als etwas Vollendetes sehr
erhob. Ich bin nur ein Perugino, sagte er in einer seiner Vorlesungen. »Ich
sammle nur Materialien für einen künftigen großen Anatomen, und wenn ein
solcher kommt, so wünsche ich, daß man mir das Verdienst zuerkennt, ihm vorge¬
arbeitet zu haben.« Es war also nicht Mangel an philosophischem Sinn, was
ihn von allen hypothetischen und unbestimmten Ansichten entfernt hielt, sondern
das entschiedne Bedürfnis nach Klarheit. Mir scheint, daß gerade darin der
philosophische Geist sich offenbart" (S. 72-74). Geoffroy Se. Hilaire, der als
Jüngling dem noch unbekannten Cuvier zur ersten Anstellung in Paris verholfen
hatte und sein innigster Freund gewesen war, wurde später sein bedeutendster
wissenschaftlicher Gegner, und Goethe hat in dem Streit der beiden Männer für
den ersten Partei genommen. Baer meint, Goethe habe nur auf den einseitigen
Bericht hin geurteilt, den ihm Geoffroy über die Angelegenheit geschickt hatte.
Am sechsten Tage. Die Erde war geschaffen — das Ebenbild Gottes hatte -
seinen ersten Tag erlebt.
Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da ging Gottvater durch den Garten.
Sinnend ruhte sein alldurchdringendes Auge auf seinen Werken, auf allem, was
fein Schöpferwille hervorgebracht hatte. Da sah er unter einem Strauche den
Menschen in friedlichem Schlummer. Des Staunens und Schauens müde hatte
dieser sich aus dem hellen Sonnenlichte in die Dämmerung des Gebüsches begeben;
dort war er eingeschlafen. Gottvater trat zu ihm. Das war sein Ebenbild, Kraft
und Fülle, Macht und Wille in jeder Linie. Lange schaute Gottvater —--
„— Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei," sprach er, „ich will ihm
eine Gefährtin geben." Und Gottvater erglühte in heiliger Schöpfungskraft, die
da ist die Liebe. Der Stoff formte sich unter seinen Händen, ein zart Gebilde
entstand — des Mannes Gegenstück!
Regungslos stand die Gestalt. Da griff Gottvater zur Abendröte und festigte
sie auf dem weißen Körper, aus Sonnengold wob er das wallende Haupthaar —
daun neigte er sich über sie und hauchte ihr in göttlichem Kusse Leben ein. „Sei
Mensch, wie der da! — Doch einen Vorzug will ich dir gewähre:,: Öffne deine
Augen, und was du zuerst anschaust, davon soll ein Schimmer deinen Augen ver¬
bleiben."
Da hob das Weib die Augen auf zu dem Herrn, seinem Gott. — —
Sehenden Geistes aber sprach der Herr: „Wehe dem Volk, das den göttliche»
Strahl in des Weibes Augen vernichtet! — Es wird sich selbst richten."
Wir bitte» »nsrc Krcnndc um Leser, die jetzt in Bäder »ut Sommerfrische» »ehe» werde»,
überall, wo die Grcnzbotc» noch »icht i» den Kurhäuser» «so. »ehalten werden, ans deren An¬
schaffung zu drinnen, und damit mich fiir die wohl much ihnen erwünschte immer gröszere Verbreitung
der Zeitschrift zu wirke». Unsre Hefte werde» sehr reich a» interessanten und wertvollen Vciträncn
sein. <5s sind aber jetzt dielleicht bessere Aussichten fiir die Verbreit««,, der Grenzbotc» vorhanden
als je, da sich nröszcrc »reise des Publikums von anderni abzuwenden beginnen, von dem sie sich in
den letzte» Andre» hatten blenden lasse».
he es noch sicher war, daß Italien seine eignen Wege ging,
glaubte Napoleon III. in der Erwartung, es werde sich doch noch
vom Kriege zurückhalten lassen, an Preußen eine entscheidende
Forderung stellen zu können: am 2. Mai bezeichnete er dem
preußischen Botschafter Robert von der Goltz andeutungsweise
als den Preis für die französische Neutralität die Nheingrenze. Er hatte seine
Karten zu früh aufgedeckt. Seitdem wußte Bismcirck, wessen er sich von ihm zu
versehen habe; er mußte den Krieg mit Österreich wagen auf die Gefahr hin,
daß Frankreich das Rheinland bedrohe, denn von irgend welchem Eingehen auf
solche Wünsche Napoleons konnte ja gar keine Rede sein.
Während sich somit der westliche Horizont umdüsterte, zeigte sich zugleich,
daß sich die Hoffnung Vismarcks, die Mittelstaaten zu sich herüberzuziehen
oder sich mindestens ihrer Neutralität zu versichern, nicht erfüllte. Sie kannten
keinen höhern Gedanken, als die Behauptung ihrer ungeschmälerten Souverä¬
nität; sie wollten am liebsten mit den Kleinstaaten eine selbständige „dritte
Gruppe" neben den beiden Großmächten bilden, deren Rivalität ihnen als die
sicherste Bürgschaft ihrer eignen ungeschmälerten Selbständigkeit erschien. Nur
dachte Bayern die Trias als Schemel für eine selbständige europäische Gro߬
machtstellung zu benutzen, und die Kleinstaaten zogen vermutlich, wenn sie
denn einmal auf Souveräuitätsrechte verzichten sollten, einen mächtigen Schirm¬
herrn, also eine Großmacht, einem anspruchsvollen, aber thatsächlich ohn¬
mächtigen Beschützer vor. Sobald uun Preußen mit der Bundesreform unter
seiner Führung Ernst machte, wurden die meisten Mittelstaaten auf die Seite
Österreichs getrieben, das an eine ernste Bundesreform gar nicht dachte, am
wenigsten damals. Aber während von der Pfordten zwischen der Angst Um
die bayrische Souveränität und der tiefen Abneigung gegen Österreich unsicher
hin- und herschwankte, während König Georg V. von Hannover in seinem
Welfenstolze möglichst freie Hand behalten wollte, um sich je uach den Um¬
stünden zu entscheiden, sich zwar dann zu Österreich neigte, als ihm Kaiser
Franz Joseph in einem Handschreiben am 20. Mai eine Vergrößerung auf
Kosten seiner Nachbarn zusicherte, und doch keine ausreichenden militärischen
Vorkehrungen traf, traten König Johann und Kronprinz Albert von Sachsen,
sobald sich die Unzuverlässigkeit Bayerns herausstellte, klar und entschlossen
auf Österreichs Seite und rüsteten nach Kräften; schon um den 20. Mai stand
die sächsische Armee um Dresden zum Abmarsch uach Böhmen fertig, und der
Kronprinz bat Benedek an dieseni Tage, ihm seine Absichten mitzuteilen, damit
die Sachsen ihren Marsch demgemäß einrichten könnten (V. Beilage). Über
die unruhige Geschäftigkeit und das hochgradige Selbstbewußtsein Beusts, den
der alte Fürst Metternich einmal einen „politischen Seiltänzer" genannt hatte,
und den auch König Johann von „Seitensprüngen" abhalten zu müssen erklärte,
urteilt auch Friedjung wenig günstig, bei aller Anerkennung seiner reichen
Begabung.
Die Rücksicht auf die mit ihm thatsächlich schon verbündeten Mittelstaaten,
die dann doch, mit Ausnahme Sachsens, für Österreich gar nichts leisteten,
übte nun einen verhängnisvollen Einfluß auf die österreichische Politik. Zum
letztenmale machte Bismarck, zunächst auf die Veranlassung und durch den
Mund Antons von Gablenz, der in Preußen angesessen war, während sein
Bruder als General in österreichischen Diensten stand, dem Wiener Kabinett
den Vorschlag, die Vorherrschaft und den militärischen Oberbefehl in Deutsch¬
land zwischen die beiden Großmächte zu teilen, die beiderseitigen Besitzungen
(auch Venezien) einander zu garantiren und dann gemeinsam gegen Frank¬
reich vorzugehen (25. Mai). Inwieweit Bismarck die Annahme dieser Vor¬
schläge für möglich gehalten und sie im vollen Ernste gemacht hat, ist nicht
recht zu sagen, für Österreich boten sie jedenfalls viele Bordelle. Doch das
tiefe Mißtrauen gegen Bismarck, die alte Tradition und das Verhältnis zu
den Mittelstaaten, die dann Österreich der ^Treulosigkeit hätten beschuldigen
können, bestimmten den Kaiser, sie abzulehnen. Auch so förderte er Bismarcks
Politik, denn König Wilhelm, der den Teilungsplan ernster genommen hatte,
sah in seiner Zurückweisung einen neuen Beweis von Feindseligkeit. Dieser
Eindruck verstärkte sich noch, als Österreich am 1. Juni die Annahme des
Napoleonischen Kongreßvorschlags, dem Preußen und Italien schon zugestimmt
hatten, gegen Mensdorffs Stimme an unerfüllbare Bedingungen knüpfte, ihn
also ablehnte. Die letzte Hoffnung auf die Abwendung des Krieges war damit
geschwunden, und durch die Teilnahme der Mittelstaaten wurde er zum wirk¬
lichen Bruderkriege.
Wenn Österreich sich so entschied, so geschah das schon unter dem Eindrucke
der Verhandlungen mit Frankreich. Von einem „Wettlauf" Preußens und
Österreichs, wie sich Friedjung ausdrückt, kann dabei doch keine Rede sein; das
Äußerste, was Bismarck von Napoleon III. verlangte, war die Zusicherung
seiner Neutralität; aber weder hat dieser eine direkte klare Forderung an
Preußen gestellt, uoch hat Bismarck ihm ein Angebot deutschen Bodens ge¬
macht, wie damals vielfach gefürchtet wurde; er war deshalb auch noch beim
Ausbruche des Krieges der Haltung Frankreichs keineswegs sicher. Anders
Österreich. Am 12. Juni schloß es mit Frankreich einen geheimen Vertrag,
der in seinem Wortlaute noch heute unbekannt ist, den aber Beust später das
„unglaublichste Aktenstück" genannt hat, das ihm je vorgekommen sei. Darnach
trat Österreich unter allen Umständen, es mochte siegen oder nicht, Venezien
an Italien ab und versprach, in Deutschland keine politischen oder territorialen
Veränderungen ohne Frankreichs Zustimmung vorzunehmen, d. h. es verzichtete
auf jede wirkliche Bundesreform in Deutschland und nahm für sich die Er¬
werbung Schlesiens, für Frankreich die des Rheinlandes in Aussicht. In Italien
aber wurde dem Papste nicht nur der Besitz des Kirchenstaats verbürgt,
sondern auch die Marken und die Legationen in Aussicht gestellt, falls sich
dort eine Volksbewegung erheben sollte, die zuzulassen sein werde. Damit war
also auch die schon beinahe vollendete Einheit Italiens bedroht. Und- was
gewann dafür Österreich? Lediglich die Neutralität Frankreichs, nicht etwa
die Italiens; es erhielt vielmehr dort nur die Erlaubnis, mit seinen Waffen
den verfaulten Kirchenstaat wieder aufzurichten, in Deutschland für sich Schlesien
zu erobern. Aber indem es das linke Rheinufer den Franzosen preisgab und
auf jede einheitliche Gestaltung Deutschlands verzichtete, führte es abermals
den Beweis — ähnlich wie 1757 —, daß es weder den Willen noch den
Beruf habe, die nationalen Bedürfnisse Deutschlands zu befriedigen oder auch
nur in der bisherigen Weise an seiner Spitze zu steheu. Welcher Zukunft
ging Deutschland also entgegen, wenn Österreich siegte! Das verdiente weit
entschiedner betont zu werden, als es Friedjung gethan hat.
Der Bruch der Gasteiner Konvention durch die Überweisung der schleswig-
holsteinischen Sache an den Bundestag, die einseitige Berufung der holsteinischen
Stunde, der Einmarsch der Preußen in Holstein (7. Juni), die Überreichung
des preußischen Bundesreformplanes (10. Juni) und die übereilte Abstimmung
über den von Bayern gemilderten Antrag Österreichs auf die Mobilisirung außer¬
preußischer Kontingente (14. Juni) gingen neben diesen Verhandlungen her oder
folgten ihrem Abschlüsse unmittelbar. Mit voller Zuversicht ging die vsterreichisch-
mittelstaatliche Diplomatie in den Krieg, und aller Haß der Ultramontanen,
Demokraten und Partiknlaristen gegen Preußen entlud sich in der österreichischen
und süddeutschen Presse in einem Strom von Schimpfreden, an die noch heute
kein Deutscher, der dies Jahr mit Bewußtsein erlebt hat, ohne tiefe Be-
schämung denken kann. Friedjung scheint es in diesem Sinne nicht mit erlebt
zu habend)
Im seltsamsten Gegensatze zu der Zuversicht, mit der in Osterreich die
Diplomaten wie die Volksstimmung dem Kriege entgegensahen, standen Stim¬
mung und Verfahren der Heeresleitung. Nur widerwillig und ohne Vertrauen
auf sich selbst übernahm am 12. Mai der Feldzeugmeister Ludwig von Benedek
den Oberbefehl der Nordarmee, nur weil der Kaiser, der Volksstimmung nach¬
gebend, es ihm befahl, und der Erzherzog Albrecht, der selbst zum Befehls¬
haber der Südarmee in Italien ausersehen war, ihm vorstellte, daß ein Mit¬
glied des kaiserlichen Hauses sich der Gefahr einer Niederlage nicht aussetzen
dürfe. Italien, so hatte Benedek erklärt, wolle er gegen jeden Angriff
garantiren, denn dort kenne er jeden Baum, in Böhmen wisse er nicht einmal,
wo die Elbe fließe. In der That, er war ein tapferer und glücklicher Korps¬
führer, aber kein Feldherr. Dazu fehlten ihm der Überblick und die Fähigkeit
des raschen Entschlusses, wie nicht minder die militärwissenschaftliche Bildung.
Mit den Soldaten wußte er vortrefflich zu verkehren, und fast jedes Regiment
seines buntgemischten Heeres verstand er in seiner Sprache anzureden, sorgte
auch väterlich für die Truppen, aber mit den teilweise sehr hochgebornen
Generalen seiner Korps traf er den Ton nicht, und bei seinen Offizieren hielt
er selbst im Felde auffällig viel auf an sich gleichgiltige Äußerlichkeiten in der
Uniform und sogar in der Barttracht. Daher genoß er zwar das Vertrauen
der Soldaten, aber nicht der höhern Offiziere. Umso wichtiger war demnach
die Wahl des Generalstabschefs. Dies war nur der Form nach der Freiherr von
Henikstein, thatsächlich wurde es der Chef der Operationskanzlei, Generalmajor
Gideon Krismanitsch, ein Offizier kroatischer Abkunft, ein gelehrter Theoretiker
von gründlichen militürwissenschaftlichen Kenntnissen und voll starken Selbst¬
gefühls, der, starr an einem einmal gefaßten Plane festhaltend, jede Einwendung
mit dem Bewußtsein der Überlegenheit abzuweisen Pflegte, und da er Benedeks
Schwächen zu ergänzen schien, bei diesem im größten Ansehen stand. So wurde
er die Seele der ganzen österreichischen Kriegführung im Norden. Viel günstiger
stand es sür Österreich im Süden. Nicht nur war der Erzherzog Albrecht
persönlich seiner Aufgabe durchaus gewachsen, sondern er hatte auch im Feld¬
marschallleutnant John einen ausgezeichneten Generalstabschef, dessen kalte
Ruhe das feurige Ungestüm des Erzherzogs wirksam und glücklich dämpfte.
Mit der ausführlichen Darstellung des siegreichen Kampfes in Italien
bis nach der Schlacht von Custozza am 24. Juni 1866 beginnt Friedjung die
Schilderung der Kriegsereignisse; dann folgt, nur in den Hauptzttgen dar¬
gestellt, die Unterwerfung Norddeutschlands, die Einleitung des preußischen
Vormarsches gegen Österreich. Nach den Plänen von Krismanitsch sollte sich
die Nordarmee zunächst bei Olmütz sammeln, weil er einen Einbruch der
Preußen von Schlesien nach Mähren fürchtete; nach Böhmen bis zur Jser
wurde zunächst nur das Korps Clam-Gallas vorgeschoben, an das sich dann
die Sachsen anschlössen. Doch beabsichtigte Krismanitsch von anfang an die
Hauptarmee nach Böhmen zu führen und hier bei Josephstadt zu vereinigen
in einer Stellung, in der 1778 Joseph II- mit Erfolg Friedrich dem Großen
die Spitze geboten hatte. Hier beherrschte er die innern Linien, und hier sollte
die Entscheidung fallen. Er gab also den Gedanken eines Angriffs auf Preußen
nur fürs erste auf; nach einem durchschlagenden Siege auf böhmischen Boden
gedachte er das Heer durch Sachsen gegen Berlin zu führen. Wie die öster¬
reichische Heeresleitung über die wirklichen Absichten der preußischen im Un¬
klaren war, so auch umgekehrt: bis zum 11, Juni vermutete der preußische
Generalstab die österreichische Hauptmacht in Böhmen und besorgte einen
Angriff auf Schlesien. Daher wollte Moltke, um den Vorteil der raschem
Mobilisirung in Preußen auszunützen, schon um den 5. Juni losschlagen;
allein der König bestand darauf, daß Preußen abwarte, bis Österreich politisch
als der Angreifer erscheine, und wollte auch Sachsen nicht eher feindlich be¬
handeln, als bis es seine Vorschlüge abgewiesen habe. So bestand in Preußen
zwischen dem Verfahren der Staats- und der Heeresleitung gerade das umge¬
kehrte Verhältnis wie in Österreich: die Generale drängten zum Schlagen, die
Staatsleitung hielt zurück; der König selbst dachte lange sogar an einen bloßen
Verteidigungskrieg. Daher mußte die Heeresleitung den schweren Nachteil in
den Kauf nehmen, daß die preußischen Korps zunächst auf einer langen kvrdon-
artigen Linie von sechzig Meilen, von Halle und Zeitz bis Glatz, verteilt
standen, um Schlesien nicht preisgeben zu müssen. Erst zwischen dem 6. und
10. Juni zogen sie sich enger zusammen, sodaß die Hauptmasse in der preu¬
ßischen Oberlausitz und im nordwestlichen Schlesien stand, und als am 14. Juni
die Würfel gefallen waren, „da wurde der letzte Mann, der letzte Hauch daran
gesetzt, den Sieg zu erringen" im stürmischen Angriff. Im Feindeslande sollten
sich die getrennten Heersäulen zur Entscheidungsschlacht vereinigen.
Erst in den Tagen, als die Preußen schon Sachsen überfluteten, am
17. Juni, begannen die Österreicher, etwa 180000 Mann, auf das Drängen
des Kaisers und auf die Kunde, daß nach der neuen preußischen Aufstellung
in Schlesien ein Einbruch in Mähren nicht mehr zu besorgen sei, ans drei
Straßen den Abmarsch von Olmütz nach Böhmen. Am 28. Juni sollten
fünf Armeekorps um Josephstadt vereinigt sein. Die Sachsen näherten sich in
Gewaltmärschen der Jser, und auch die Bayern sollten nach einer Verabredung
mit ihrem Generalstabschef von der Tann in Böhmen erscheinen. Daß von
der Pfordten in kleinstaatlicher Befangenheit seine Einwilligung dazu ver¬
weigerte, war der erste Mißerfolg der Österreicher im Norden.
Den Höhepunkt des Friedjungschen Werkes bildet die Darstellung des
böhmischen Feldzugs. Die ganze dramatische Gewalt dieses „siebentägigen
Krieges" kommt hier in einem großartigen Gemälde voll flutenden Lebens und
erschütternder Wahrheit vorzüglich zur Geltung. Ohne seine Darstellung mit
Einzelheiten zu überladen, weiß Friedjung ebenso wohl die Entschlüsse und
Beweggründe der Leiter, wie den Gang der Gefechte aufs klarste zu entwickeln.
Aber nicht Schachfiguren, sondern lebendige Menschen in Hoffnung und Sorge,
in kühnem Draufgehen und zäher Gegenwehr, in Siegesjubel und Verzweiflung
bewegen sich vor unsern Augen. Ohne Zweifel verdient diese Darstellung vor
Sybel den Preis; Friedjung reißt unwillkürlich mit sich fort, Sybel entfaltet
die Ereignisse mit völliger Klarheit, aber er läßt im Grunde genommen kalt.
Auch die Anordnung des Stoffes ist bei beiden Historikern wesentlich ver¬
schieden. Sybel folgt den Ereignissen im Zusammenhange zuerst mit der
Armee des Prinzen Friedrich Karl, dann mit dem Heere des Kronprinzen,
bis sich beide auf dem Siegesfelde vereinigen. Friedjung stellt den öster¬
reichischen Generalstab in den Mittelpunkt und zeigt, wie die Ereignisse an der
Ostgrenze und die in Nordwestböhmen fortwährend auf einander und auf die
Entschlüsse der Oberleitung wirken. So folgen wir den Vorgängen Tag für
Tag, ja Stunde für Stunde in atemloser Spannung, als wenn wir sie selbst
erlebten, und vollends dem, dessen eigne Erinnerung bis in diese Zeit zurück¬
reicht, und in dem noch etwas nachzittert von der ungeheuern Erregung dieser
gewaltigen Woche, treten die Tage, die das Schicksal Deutschlands entschieden,
wieder lebendig vor die Seele.
Benedeks damals viel besprochner und nachmals viel bespöttelter „Plan"
ging darauf aus, sich mit Übermacht gegen den Prinzen Friedrich Karl zu
wenden und nach seiner Überwältigung zum Angriff überzugehen; gegen den
Kronprinzen wollte er sich nur abwehrend verhalten. Er stellte ihm daher zu¬
nächst nur zwei Armeekorps (Gablenz und Ramming) entgegen, weil er meinte,
diese würden genügen, den langen, vereinzelten Heersäulen der schlesischen
Armee den Ausgang aus den schwierigen Paßstraßen zu verlegen. Es war
sein Irrtum, aber ein verzeihlicher Irrtum, daß er weniger die Stärke dieses
Heeres, als die Energie der preußischen Führung unterschützte, und ein Fehler,
daß er, weil er sein Heer nicht in Böhmen, sondern in Olmütz gesammelt
hatte, zu spät kam, um die erste preußische Armee zu schlagen, bevor der
Kronprinz seine rechte Flanke wirksam bedrohen konnte. Dabei teilte er aber
die Grundgedanken seinen Unterfeldherrn niemals mit, sondern wies ihnen
immer nur einzelne bestimmte Aufgaben zu. Sie tappten daher über den Zu¬
sammenhang und die Ziele der Operationen immer im Dunkeln und waren
deshalb zu Eigenmächtigkeiten aller Art geneigt. Um so nachteiliger war es,
daß die Ausfertigung und namentlich die Übermittlung der Befehle Benedeks
fast immer unbegreiflich und unverantwortlich saumselig war; ja diese echt
österreichische „Schlamperei" hat ganz verkehrte, den Absichten Benedeks geradezu
widersprechende Operationen verschuldet.
Ganz anders verfuhr Moltke. Er gab immer das Ziel der Operationen
an, die Ausführung im einzelnen überließ er den Armee- und Korpsführern.
So wies er auch am 22. Juni, als die erste Armee mit der Elbarmee schon
in der südlichen Oberlausitz dicht an der Grenze Böhmens stand, den Prinzen
Friedrich Karl und den Kronprinzen kurz und bündig nur an, in Böhmen
einzurücken und die Vereinigung in der Richtung auf Gitschin aufzusuchen.
Infolgedessen überschritt Prinz Friedrich Karl am Morgen des 23. Juni,
Sonnabends, die böhmische Grenze. Wenn Friedjungs Karte als Hauptrich¬
tung des Einmarsches die Linie Görlitz-Friedland-Reichenberg angiebt, so ist
das nicht genau. Vielmehr muß, da als „Hauptrichtung" doch der Weg des
Hauptquartiers angesehen werden muß, als solche die Straße Görlitz-Zittau-
Reichenberg bezeichnet werden, die Linie, die den Preußen zugleich die einzige
benutzbare Bahnverbindung nach Böhmen für ihre Nachschübe und Rücktrans¬
port bot. Zittau, wo noch am 20. Juni österreichische Husarenpatrouillen
rekognoszirt hatten, wurde schon am 22. von der 7. Division besetzt, die ihre
Vorposten bis dicht an die nahe Grenze vorschob; am 23. folgte die 8. Division
und Teile des II. (pommerschen) Armeekorps (also etwa die Hülste der ganzen
ersten Armee) in endlosen Kolonnen von Görlitz und Löbau her. Der Prinz
hatte sein Hauptquartier am 22. abends in Hirschfelde an der Straße von
Görlitz nach Zittau; in Zittau erschien er am Sonnabend früh gegen sieben
Uhr und ritt um die Stadt die böhmische Straße hinaus bis an den Grenz¬
posten; hier stieg er ab und ließ stundenlang seine Heersäulen an sich vorbei-
desiliren, die beim Anblick des Feldherrn und des schwarzgelben Schlagbaums
in brausende Hurrah ausbrachen. Auch die amtliche preußische Depesche von
diesem Tage lautete: „Die erste Armee ist heute über Zittau in Böhmen ein¬
gerückt."
Doch viel entscheidender als dies Heer griff die zweite Armee, den Kron¬
prinzen und Blumenthal an der Spitze, in den Kampf ein. Sie vor allem
hat Benedeks ganzen Plan vereitelt. Noch am Morgen des 26. Juni wies
Benedek den Kronprinzen Albert, den nunmehrigen Oberbefehlshaber der Jser-
armee, an, die Jserlinie „um jeden Preis" zu halten, denn seinem Plane
gemäß setzte er jetzt seine Hauptmacht von Josephstadt dorthin in Bewegung.
Aber an demselben Tage warfen die preußischen Vortruppen die Österreicher
bei Hühnerwasser und Liebenau zurück, besetzten Turnau, das den Übergang
nach Gitschin beherrscht, und erstürmten noch in der Nacht die Jserbrücke bei
Podol. Damit war die Jserlinie schon durchbrochen, ja die Stellung der Jser-
nrmee schon mit Umgehung bedroht, die Absicht Benedeks also vereitelt. Dazu
brachen jetzt die Korps des Kronprinzen über die Grenze und stießen in seine
rechte Flanke vor, das I. Korps (Bonin) von Liebau über Tmutenau mit
der Richtung nach Pilnikau und Gitschin, das V. (Steinmetz) gefolgt vom VI.
(Mutius) von Glatz her gegen Nachod, in der Mitte zwischen beiden die Garden
als eine Art von Reserve für beide über Braunau. Anfangs schienen Benedeks
Voraussetzungen zuzutreffen. Gablenz wies am 27. Juni Bonin bei Trautenau
siegreich zurück, und gegen Ramming konnte Steinmetz bei Nachod eben nur den
Ausgang aus dem Desilee gewinnen. Daher setzte Benedek auch jetzt noch seine
Bewegung nach der Jser hin fort, schickte aber gegen den Kronprinzen noch
zwei Korps, das VIII. des Erzherzogs Leopold und das IV. (Festetics), die
beide ihren Marsch nach der Jser abbrechen mußten, um Ramming bei
Skalitz zu Hilfe zu kommen. Hier standen also am Morgen des 28. Juni
drei österreichische Armeekorps mit zehn Brigaden dem einzigen Armeekorps
Steinmetz (vier Brigaden) und einer Brigade vom VI. Korps gegenüber,
70000 gegen 30000 Mann, und Benedek selbst erschien bei seinen Truppen,
von ihnen mit Jubel begrüßt, denn sie erwarteten endlich von ihm zu einem
entscheidenden Schlage gegen den Feind geführt zu werden. In der That
rieten ihm auch Ramming und andre Offiziere dringend dazu, seine augenblick¬
liche Übermacht zu einem solchen zu benutzen, und vermutlich wäre es ihm ge¬
lungen, Steinmetz ins Gebirge zurückzuwerfen, worauf dann die vereinzelten
Garden ihren Vormarsch schwerlich hätten fortsetzen können, aber Benedek und
Krismanitsch wollten sich in ihrem „Plane" nicht stören lassen, gaben also den
Korps den Befehl, zurückzugehen, und kehrten selbst nach Josephstadt zurück.
Damit verspielten sie die letzte Möglichkeit zu einem entscheidenden Schlage;
es war die Krisis des Feldzugs. Mehrere Jahre später hat der Kriegsminister
Kühn zu seinem frühern Waffengefährten Benedek gesagt: „Freund, das war
dein Fehler, daß du den preußischen Kronprinzen nicht am 28. Juni angegriffen
hast." Die schlimmen Folgen zeigten sich auf der Stelle. Benedeks ausdrück¬
lichen Befehl ungehorsam blieb der Erzherzog Leopold ehrenhalber bei Skalitz
stehen und erlitt hier noch an demselben 28. Juni gegen den ungestüm an¬
dringenden Steinmetz eine zerschmetternde Niederlage. In denselben Stunden
faßten die Garden, von Eipel her vorbrechend, das Korps Gablenz in die
Flanke und drängten es nach dem blutigen Treffen bei Soor und Burkers-
dorf von Josephstadt ab nach Westen auf Königinhof zurück. Die Korps des
Kronprinzen hatten den Ausweg aus den Pässen erkämpft, waren vereinigt
und standen nur noch einen Tagemarsch vou der Elbe entfernt den Öster¬
reichern in der Flanke.
Damit war deren Vormarsch nach der Jser unmöglich geworden; abends
elf Uhr ergingen aus Josephstadt Benedeks Befehle an die vordersten Korps,
anzuhalten. Noch Hütte die Möglichkeit vorgelegen, mit raschem Frontwechsel
eine Übermacht auf das schlesische Heer zu werfen, allein dazu fehlte der Ent¬
schluß. Noch am 29. gab vielmehr Krismanitsch die Befehle aus, das ganze
Heer südlich von Königinhof auf der Hochebne von Dubenetz zu vereinigen, in
der Stellung von 1778, um hier wie damals den Preußen die Spitze zu
bieten. Noch im Laufe dieses Tages rückten sechs Korps und drei Kavallerie¬
divisionen in diese Stellung ein, und mitten unter ihnen nahm Benedek in
Dnbenetz sein Hauptquartier. Er hatte seinen Plan, das eine der feindlichen
Heere mit Übermacht anzugreifen, nunmehr völlig aufgegeben und konnte jetzt
nicht einmal die Vereinigung der feindlichen Armeen mehr verhindern. Am
30. Juni erstürmten die Garden Königinhof und gewannen damit den Über¬
gang über die Elbe; an demselben Tage warf Steinmetz Festetics bei Schwein¬
schädel zurück und erreichte um sechs Uhr abends bei Gradlitz ebenfalls die Elbe.
Von der andern Seite her näherte sich Prinz Friedrich Karl. Den
27. Juni hatte er benutzt, um sein Korps zum Vormarsch über die Jser zu
sammeln; am 28. lieferte ihm Kronprinz Albert, der einzige General der Nord¬
armee, der seiner Aufgabe gewachsen war, im Osten von Turnau her schon
halb umgangen, ein scharfes Rückzugsgefecht bei Münchengrätz und wich dann
auf Gitschin zurück, noch in der Meinung, hier die Hauptarmee erwarten zu
können, und deshalb entschlossen, die Stadt zu halten. Er glaubte damit
Venedeks Absichten zu entsprechen, denn am 29. Juni nachmittags zwei Uhr
traf — mit unglaublicher Verspätung! — dessen Befehl vom 28. abends sechs
Uhr ein, der den Vormarsch nach der Jser anordnete, und von der seitdem
völlig veränderten Kriegslage, vou den Niederlagen des 27. und 28. Juni,
wußte der Kronprinz noch nichts. So nahm er, als die Preußen, einer Auf¬
forderung Moltkes folgend, stärker nachdrängten, am Nachmittage des 29. Juni
die Schlacht vor Gitschin an. Da traf einhalb acht abends der Befehl zum
Rückzüge ein; um die drei Reitstunden von Josephstadt nach Gitschin zurück¬
zulegen, hatte diese entscheidende Weisung, die, wenn sie dem Kronprinzen nur
wenige Stunden früher zugegangen wäre, das ganze blutige Gefecht verhindert
hätte, einen ganzen Tag gebraucht! Jetzt mußte es unter schweren Verlusten
abgebrochen und der Rückzug in dunkler Nacht angetreten werden. Aber noch
mehr. Auch die Vereinigung der Jserarmee mit Benedek in der Stellung von
Dubenetz war jetzt unmöglich geworden, denn die Sachsen mit der Reiter¬
division Edelsheim waren nach Süden auf Smidar abgedrängt, und auch ein
Teil des tieferschütterten Korps Clam-Gallas nahm seinen fluchtartigen Rückzug
nicht nach Miletin und Dubenetz, wohin nur zwei Brigaden marschierten,
sondern, von der feindlichen Reiterei fortwährend aufgescheucht und umschwärmt,
nach Horschitz und Königgrätz.
Damit war auch die Stellung von Dubenetz, in ihrer linken Flanke schon
von Prinz Friedrich Karl bedroht, unhaltbar geworden. Völlig nieder¬
geschmettert befahl Benedek noch am 30. Juni den allgemeinen Rückzug auf
die Höhen im Westen von Königgrätz. Noch in der Nacht wurde der Marsch
angetreten, aber er vollzog sich in solcher Unordnung und daher so langsam,
daß die Korps erst am Abend des 1. Juli in die ihnen zugedachten Positionen
eingerückt waren. Ein Glück, daß der Kronprinz in Königinhof den Abzug
nicht bemerkte. Stimmung und Zustände des Heeres waren die traurigsten.
Ungehorsam und Schlaffheit, Unordnung und Niedergeschlagenheit bezeichneten
die Lage. An 30000 Mann hatte die Armee in wenigen Tagen und ohne eine
Hauptschlacht verloren, ihre immer wieder angewandte Stoßtaktik war, trotz hin¬
gebender Tapferkeit, an dem furchtbaren Schnellfeuer der Zündnadel gewesen,
das Offiziere und Soldaten gleichmäßig mit Entsetzen erfüllte, abgeprallt und
der überlegnen, ebenso gewandten als schneidigen Taktik des preußischen Fu߬
volks erlegen. Die Soldaten hatten alles Vertrauen auf ihre Fechtweise und
ihre schwächere Waffe, die obern Führer auf ihre Truppen und auf Benedek
verloren. Dieser selbst hielt unter solchen Umständen einen Sieg für unmöglich;
in einem verzweifelten Telegramm am Mittag des 1. Juli bat er den Kaiser,
„um jeden Preis den Frieden zu schließen," mit dem Zusatze: „Katastrophe
für Armee unvermeidlich." An seine Frau schrieb er am Tage vorher: „Wäre
besser-, wenn mich eine Kugel träfe." Hätte er seiner eignen Einsicht ungestört
folgen können, so hätte er wahrscheinlich am 3. Juli den Rückzug nach Olmütz
angetreten und dadurch die gefurchtste Katastrophe vermieden; aber der Kaiser
deutete ihm an, daß er eine Schlacht erwarte, berief Krismanitsch, Henikstein
und Clam-Gallas ab und befahl die Wahl eines neuen Generalstabschefs
(Vaumgarten). So kam Benedek am Vormittage des 2. Juli zu dem Ent¬
schlüsse, die Schlacht zu wagen, allerdings mit der Elbe im Rücken, aber er
hatte sie an zwölf Stellen überbrücken lassen, und die noch von Krismanitsch
ausgearbeiteten Dispositionen konnten in der an sich starken Stellung, wenn
der Augenblick richtig erfaßt wurde, vielleicht doch noch einen Erfolg erzielen.
Noch am Morgen des 3. Juli schrieb Benedek seiner Gemahlin: „Wenn mein
altes Glück mich nicht ganz verläßt, kanns zum guten Ende führen." Seine
Absichten den Korpsführern mitzuteilen hatte er freilich auch jetzt nicht für
nötig gehalten.
Die schicksalsvolle Entscheidung nahte also mit raschen Schritten. Am
Morgen des 30. Juni verließ König Wilhelm mit Bismarck, Moltke und
Roon Berlin, um den Oberbefehl selbst zu übernehmen. Unterwegs von Kohl-
surt aus sandte Moltke, noch ohne Kenntnis von Benedeks Stellung, gegen
ein Uhr mittags ein Telegramm an die Armeeführer in Böhmen, das den
Kronprinzen anwies, sich am linken Elbufer zu behaupten und über Königinhof
dem linken Flügel der ersten Armee anzuschließen, dem Prinzen Friedrich Karl
aber befahl, „ohne Aufenthalt" auf Königgrätz (also, wie er annahm, auf die
Rückzugslinie der Österreicher) vorzugehen. Als der König mit seinem Gefolge
nachmittags nach drei Uhr den Bahnhof Zittau passirte, da hatten auch die
Hunderte von Einwohnern der sächsischen Stadt, die ihn halb grollend, halb
ehrfurchtsvoll erwarteten, das bestimmte Gefühl, daß die große Entscheidung,
auf die sie mit Bangen harrten, unmittelbar bevorstehe. Eine Stunde später
traf der König in Reichenberg ein, am 1. Juli übernachtete er in Sichrow,
dem schönen Schlosse des Fürsten Rohan, am 2. erreichte er, über das Schlacht¬
feld des 29. Juni fahrend, Gitschin, wo er im „Goldner Löwen" Quartier
nahm. In diesem bescheidnen Gasthofe wurden in der Nacht des 2. Juli die
entscheidenden Beschlüsse zur Schlacht bei Königgrätz gefaßt.
Die Schilderung der ungeheuern Schlacht, der größten des neunzehnten
Jahrhunderts, ist ein Glanzstück des Fricdjungschen Buches. Benedek war
von den preußischen Stellungen soweit unterrichtet, daß er sachgemäße An¬
ordnungen treffen konnte; gleichwohl erfuhr er von dem Anmärsche des Kron¬
prinzen nicht etwa durch seine eignen Nekognoszirungspatrouillen, sondern
durch ein Telegramm des Kommandanten von Josephstadt, das erst um einhalb
zwölf Uhr mittags eintraf, also um die Zeit, wo der Kronprinz schon von der
Höhe bei Choteborek aus die Feuerlinien der vor ihm tobenden Schlacht und
die berühmten Linden von Horschenjowes erblickte und wenige Minuten,
bevor elf Uhr vierzig Minuten der erste Kanonenschuß der Garden fiel. Nun
war es allerdings nicht Benedeks Schuld, daß sein rechter, dem Kronprinzen
zugewandter Flügel so schlecht gesichert war; das veranlaßte der Ungehorsam
zweier Korpsgenerale, der Grafen Festetics und Thun. Statt nämlich nach
Benedeks Weisung sich in der Teile zwischen Maslowjed und Nedjelischt ver¬
deckt aufzustellen, besetzten sie den nördlich vorliegenden Höhenzug von Horschen¬
jowes, um einen bessern Ausblick zu gewinnen, und ließen sich dann verleiten,
auf eigne Faust ihre Bataillone in den furchtbaren Kampf um den Swiep-
wald gegen die heldenmütige (achte) Division Fransecly zu werfen, wo sie sich
nutzlos verbluteten. Als Benedek ihnen endlich gegen Mittag bestimmt befahl,
zurückzugehen, thaten sie das nur zögernd und zu spät; ja Graf Thun führte
sein übel zugerichtetes zweites Korps sofort nach der Elbe zurück, ohne sich
weiter um die Schlacht zu kümmern. Dies Versäumnis hatte die weitere
Folge, daß die Brigade Appiano, von Horschenjowes her heftig beschossen,
das hochgelegne China, den Schlüssel der Stellung, fast ganz räumte. So
wurde der Einbruch der Garden in das österreichische Zentrum möglich.
Persönlich verantwortlich ist dagegen Benedek dafür, daß er von der gewal¬
tigen Reserve, die er im Zentrum bereit hielt, 47000 Mann Infanterie,
11400 Reiter und 320 Geschütze, nicht rechtzeitig Gebrauch machte, um sich
entweder vor dem Eintreffen des Kronprinzen mit Übermacht ans die ermattete
erste Armee zu werfen oder die Lücke im rechten Flügel auszufüllen. Von
dem ersten mag ihn die Befürchtung, durch ein Vordringen nach Westen seine
Rückzugsliuie zu gefährden, abgehalten haben, zum zweiten war es vermutlich
zu spät. Auch als das Verderben über ihn hereinbrach, that Benedek zwar
das Äußerste, um an einzelnen Punkten zu verzweifelten Gegenstößen zu
treiben, aber darüber versäumte er es, Anordnungen für den Rückzug zu
treffen. So trieben die Truppen, zwischen zwei feindliche Feuerlinien einge¬
preßt, in zunehmender Auflösung führerlos nach der Elbe.
Gegen sechs Uhr verließ auch Venedek das Schlachtfeld und überschritt
ungefährdet die Elbe. Von Holitz aus sandte er um zehn Uhr abends das
erste Telegramm an den Kaiser, der schon vorher durch eine Depesche des
Kommandanten von Königgrätz von siebeneinviertel Uhr über die Niederlage
unterrichtet war („ganze Oorxs en. ävdg.nclaäö in und um die Festung, über¬
steigen alle Pallisadirungen, schwimmen durch die Gräben und Elbe, erklettern
die Hauptumfaffuugsmauern"). Unter diesem Eindrucke empfing Franz Joseph
nachts 2 Uhr auf dem Nordbahnhofe seinen Bundesgenossen, den König von
Sachsen, der von der Entscheidung noch keine Ahnung hatte; als ihm der
Kaiser, selbst totenblaß, wenige leise Worte darüber sagte, sank der alte Herr
wie vernichtet in sich zusammen. Zwei sächsische Offiziere waren die nächsten
Zeugen des Auftritts. Dann kam die volle, schreckliche Gewißheit, und niemand
kann ohne Bewegung so verzweifelt ehrliche Sätze lesen, wie die des Venedekschen
Telegramms, das der Kaiser nach einer bangen Nacht am 4. Juli früh ein-
halbfünf empfing: „Vorgestern schon besorgte Katastrophe der Armee heute
vollständig eingetreten. — Ganz ungeordnet zog sich alles über die Kriegsbrücken
der Elbe sowie nach Pardubitz zurück. Verluste noch gar nicht zu übersehen,
aber gewiß unendlich groß."
Einen ernsten Versuch, die bei Königgrätz gefallne Entscheidung zu be-
streiten, hat Österreich damals nicht gemacht. Aber indem es die grundsätzlich
schon beschlossene Abtretung Veneziens am 4. Juli thatsächlich uun in Paris
anbot, gelang es, den größten Teil der Südarmee nach Wien zu ziehen und
unter dem Oberbefehl des Erzherzogs Albrecht hinter der Donau eine ansehn¬
liche schlagfertige Streitmacht mit dem Zentrum bei Presburg aufzustellen.
Wie ein zweiter großer Kampf um die Donauübergänge ausgefallen wäre,
vermag niemand bestimmt zu sagen. Jedenfalls drängte die aufdringliche „Ver¬
mittlung" Napoleons III. und der Wunsch Bismarcks, Preußen nicht unheilbar
mit Österreich zu verfeinden, sondern, nachdem die Streitfrage entschieden war.
möglichst bald ein besseres Verhältnis wieder herzustellen, zum raschen Frieden.
Diese verwickelten Verhandlungen schildert Friedjung noch eingehend, ohne hier
gerade viel neues beizubringen, und mit begreiflicher Genugthuung stellt er
dann die glückliche Verteidigung Tirols, sowie die Seeschlacht von Lissa dar,
wobei er dem jugendlichen Sieger, dem neunnnddreißigjährigen Kontreadmiral
Wilhelm von Tegetthoff, den verdienten Lorbeerkranz flicht. Benedeks letzte Schick¬
sale, Tegetthoffs Ungnade und Rückberufung, die Verhandlungen Beusts mit
Frankreich 1868 bis 1870, um einen Vergeltungskrieg vorzubereiten, und die
endliche Aussöhnung zwischen den beiden Gegnern von 1866 durch das Bündnis
von 1879 bilden den „Schluß" des Werkes. Friedjung sieht darin noch nicht das
letzte Wort über das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich, er hofft
mehr. „Wenn die Zeitgenossen des deutschen Bruderkrieges zu ihren Vätern
versammelt sind — das ist sein letzter Satz —, wird der Tag kommen, da ihre
Erben das Vermächtnis der deutschen Geschichte (von dem Kaiser Wilhelm II.
in seiner Thronrede vom 25. Juni 1888 sprach) erfüllen werden." Er denkt
dabei keineswegs, wie mancher seiner pessimistisch-hitzköpfigen Landsleute, an
die Auflösung Österreichs und an die Vereinigung der ehemaligen deutschen
Bundesländer mit dem Deutschen Reiche, sondern an ein „pragmatisches," in
die Verfassung beider Reiche aufgenommnes, von allen gesetzgebenden Faktoren
genehmigtes Bündnis, wie es Fürst Vismarck schon 1879 in Aussicht genommen
hatte. H. v. L. V.
eit Jahren wird darüber geklagt, daß die Vorbildung der preu¬
ßischen höhern Verwaltungsbeamten nicht mehr den Forderungen
der Neuzeit entspreche; aber eine eingreifende Änderung der Vor¬
schriften ist bis jetzt vergebens erwartet worden. Nun hat in der
letzten Session des Abgeordnetenhauses der langjährige Präsident
v. Köller bei seiner drastischen Schilderung der in der preußischen Verwaltung
herrschenden Vielschreiberei auch über die ungenügende Ausbildung der Verwal¬
tungsbeamten gesprochen und dabei eine so allgemeine Zustimmung des Hauses
gefunden, daß die Sache hierdurch vielleicht etwas gefördert werden wird.
Die jetzt für die Ausbildung zum höhern Verwaltungsdienst in Preußen
geltenden Bestimmungen sind gegeben durch das Gesetz vom 11. März 1879
über die Befähigung für den höhern Verwaltungsdienst und durch das dazu
erlassene Regulativ vom 29. Mai 1879. Nach dem Gesetze werden ein
mindestens dreijähriges Studium der Rechte und der Staatswissenschaften auf
einer Universität und die Ablegung zweier Prüfungen gefordert, von der die
erste die juristische Prüfung zum Referendar ist, während die zweite, die große
Staatsprüfung, bei der Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte
abzulegen ist. Die zweite Prüfung ist mündlich und schriftlich und soll sich
auf das in Preußen geltende öffentliche und Privatrecht, insbesondre auf das
Verfassungs- und Verwaltungsrecht, sowie auf die Volkswirtschaft und Finanz¬
politik erstrecken. Zu dieser Prüfung ist eine Vorbereitung wenigstens von
zwei Jahren bei den Gerichtsbehörden und wenigstens von zwei Jahren bei
den Verwaltungsbehörden erforderlich. Bei der Prüfung kommt es darauf
an, festzustellen, ob der Kandidat für befähigt und gründlich ausgebildet zu
erachten sei, im höhern Verwaltungsdienste eine selbständige Stellung mit Erfolg
einzunehmen.
Dies sind also im allgemeinen die Anforderungen, die insbesondre an
die Abteilungsdirigenten und die Mitglieder der königlichen Regierungen
und an die den Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten zugeordneten
höhern Verwaltungsbeamten gestellt werden. Ausgenommen davon sind die
Justiziarien und die technischen Beamten. Der Justiziarius, der als Rechts-
konsulent der königlichen Regierung darauf zu sehen hat, daß nichts Gesetz¬
widriges beschlossen werde, und daß die Prozesse des Fiskus mit Gründlichkeit
geführt werden, hat die Befähigung zum höhern Justizdienste nachzuweisen;
dasselbe gilt von den juristischen Mitgliedern einer Negierung, die die Aus¬
einandersetzungssachen zu bearbeiten haben.
Das oben erwähnte Regulativ vom 29. Mai 1879 bestimmt dann weiter,
daß der bei den Gerichtsbehörden vorschriftsmäßig vorbereitete Gerichtsrcferendar
, und darnach zum Regierungsreferendar ernannte Beamte zunächst und zwar
im ganzen mindestens fünfzehn Monate bei einer Regierung beschäftigt werde.
Drei bis sechs Monate nach seinem Übertritt zur Regierung ist der Referendar
bei einem Landrate und bei dem Vorstande einer Stadtgemeinde mindestens
neun Monate lang zu beschäftigen. Die Beschäftigung bei dem Vorstande
einer Stadtgemeinde, die mindestens drei Monate zu umfassen hat, kann mit
der Beschäftigung bei dem Landrate verbunden werden. Die Dauer der letzten
beträgt mindestens sechs Monate.
Mit dem Vorbereitungsdienste bei einer Negierung ist die Beschäftigung
bei einem Verwaltungsgericht mindestens drei Monate lang zu verbinden.
Hier muß auch aus schwierigern Prozeßakten eine Proberelation geliefert
werden. Zur Ausbildung in Domanial-Verwaltungsangelegenheiten soll der
Referendar auch uoch bei der Finanzabteilung einer der Regierungen, in deren
Bezirke größere Domanialgüter liegen, mindestens drei Monate beschäftigt
werden.
Nur ausnahmsweise darf mit Genehmigung der zuständigen Minister der
Vorbereitungsdienst bei einem Landrate oder dem Vorstande einer Stadt¬
gemeinde beginnen. Ob dies öfter vorkommt, ist uns nicht bekannt, wir glauben
aber nach einer langjährigen Praxis annehmen zu dürfen, daß in der Regel
der Vorbereitungsdienst nicht allein bei einer königlichen Negierung begonnen,
sondern auch durch die ganze vorgeschriebne Zeit von fünfzehn Monaten dort
ununterbrochen fortgesetzt wird.
Der Referendar arbeitet also bei einer Negierung fünfzehn Monate, bei
einem Landrat sechs Monate, bei einer Stadtgemeinde drei Monate, beim Ver¬
waltungsgericht drei Monate, in Domanialsachen noch etwa drei Monate, macht
zusammen dreißig Monate, also sechs Monate mehr als die vorgeschriebne
Vorbereitungszeit von zwei Jahren. Trotz dieser beschränkten Zeit wird das
Ziel uun dadurch erreicht, daß der Referendar zugleich bei einer Regierung
und einem Verwaltungsgericht und ebenso zugleich bei einem Landrate und
einer Stadtgemeinde arbeiten darf; die längste Zeit ist er aber immer bei einer
Regierung beschäftigt.
Die Anforderungen, die an den künftigen höhern Verwaltungsbeamten
gestellt werden, sind also, wie man hieraus sieht, keineswegs gering. Bei den
Regierungen muß der Referendar in allen Dezernaten arbeiten, und wenn er
nicht das Zeugnis beibringt, daß er die Dezernate selbständig zu bearbeiten
vermöge, so ist seine Zulassung zu der großen Staatsprüfung in Frage gestellt.
Das ist jedenfalls weit mehr, als die ältern Regierungsbeamten, die diesen
Vorschriften noch nicht unterworfen waren, zu leisten imstande waren. Alle
Dezernate selbständig bearbeiten zu können, dazu hielt man sonst nicht einmal
den tüchtigsten Oberregierungsrat für fähig; denn es ist ein ganz andres Ding,
die Arbeiten andrer, bei denen man die erforderlichen Kenntnisse vorhanden
weiß, zu kontrolliren und die Arbeiten selbst machen zu müssen. Nehmen wir
indes an, daß ein Referendar begabt ist und seine Vorbereitungszeit mit bestem
Fleiße ausgenutzt hat, und untersuchen wir nun, in wie weit er nach wohl
bestandner großer Staatsprüfung imstande sein wird, den Anforderungen zu
genügen, die man nach den jetzigen Zeitverhültnifsen an ihn stellen muß, damit
seine Thätigkeit in der Verwaltung für das Gemeinwohl wirklich ersprießlich
werde.
Daß auch von den Verwaltungsbeamten ein juristisches Studium und die
Ablegung der ersten juristischen Prüfung, sowie eine praktische Vorbildung bei
den Gerichtsbehörden gefordert wird, ist durchaus berechtigt. Der künftige
Verwaltungsbeamte soll auch die Staatswissenschaften (als solche sind in dem
Regulativ vom 29. Mai 1879 Nationalökonomie und Finanzwissenschaft be¬
zeichnet worden) studirt haben, und die erste juristische Prüfung soll sich auch
auf diese Wissenschaften erstrecken, aber für die praktische Thätigkeit des Richters
und Urwalds wird immer eine allgemeine Kenntnis dieser Wissenschaften ge¬
nügen, wie sie jetzt eigentlich jeder Gebildete haben sollte; für den künftigen
Verwaltungsbeamten aber ist eine gründliche Kenntnis dieser Wissenschaft un¬
erläßlich, wenn er überhaupt ein selbständiges Urteil über die unsre Zeit
bewegenden sozialen Fragen gewinnen und sich nicht darauf beschränken will,
allezeit auf die Instruktion seiner Vorgesetzten zu warten.
Wird also in der ersten juristischen Prüfung bei den Kandidaten, die sich
der Richter- und Anwaltslaufbahn widmen wollen, kein entscheidender Wert
auf die Kenntnisse in den Staatswissenschaften zu legen sein, so wäre wohl
Veranlassung, bei dieser Gelegenheit die Kandidaten der Verwaltung hierin
gründlich zu prüfen, um festzustellen, ob sie die notwendigen Vorlesungen auf
der Universität ausgenutzt haben. Der Zeitpunkt, wo von ihnen eine völlige
Durchdringung der Staatswissenschaften zu fordern wäre, wird freilich erst die
große Staatsprüfung sein können, weil sie erst dann Gelegenheit gefunden
haben werden, die Bedeutung der Nationalökonomie und der Finanzwissenschaft
für die praktische Thätigkeit des Verwaltungsbeamten zu erkennen. Wir
werden bei der Besprechung der großen Staatsprüfung hierauf zurückkommen.
Begleiten wir nun den Regierungsreferendar auf seinem Gange durch die
Verwaltungsbehörden, so tritt er also zuerst bei einer Regierung ein und wird
dort einem Dezernenten zur Beschäftigung überwiesen. Es ist dies in der Regel
für die Dezernenten leine erwünschte Sache, denn der Zweck des Vorbereitungs¬
dienstes ist nach dem Regulativ vom 29. Mai 1879 ausschließlich die wissen¬
schaftliche und praktische Ausbildung der Referendare, und jede auf Aushilfe
oder Erleichterung der Beamten gerichtete Thätigkeit soll dabei vermieden werden.
Da der junge Referendar von der Verwaltungspraxis noch gar nichts
kennt und auch noch nicht genötigt gewesen ist, die Gesetze der Verwaltung,
die Verordnungen und generellen Verfügungen, diese meist aus den Regierungs¬
akten zu studiren, so ist vorerst eine Erleichterung der Beamten überhaupt aus¬
geschlossen. Wie soll der Dezernent dann aber den Anforderungen des Regu¬
lativs genügen? Man wird nicht erwarten, daß er dem Referendar förmlichen
Unterricht erteile, er wird ihm also einzelne Sachen zur Bearbeitung übergeben,
und wenn der Referendar davon möglichst viel Nutzen haben soll, solche Sachen
aussuchen, die ihm Gelegenheit geben, die Verwaltungsgesetzgebung kennen zu
lernen; oder er wird ihn vielleicht größere Berichte anfertigen lassen, wobei
der Referendar lernen kann, ein umfangreicheres Aktenmaterial übersichtlich zu¬
sammenzustellen. Bei den mangelnden Vorkenntnissen des Referendars kann der
einzelne Dezernent ihn auch nur eine beschränkte Zahl von Arbeiten anfertigen
lassen, zumal wenn der Referendar zugleich noch bei andern Dezernenten oder
dem Bezirksausschusse zu arbeiten hat. So geht es denn durch alle Dezernate
hindurch, später vielleicht etwas besser, wenn der Referendar dazwischen bei
einem Landrat oder dem Vorstande einer Stadtgemeinde gearbeitet hat. Die
Vorstände der Stadtgemeinden müßten aber sehr wenig zu thun haben, wenn
sie sich selbst eingehend mit einem Referendar zu beschäftigen imstande wären.
Er wird also bei ihnen meist nur sehr untergeordnete Arbeiten zu besorgen
haben.
Was wird der Referendar aber an der Kenntnis des praktischen Lebens
während seiner Beschäftigung bei einer Regierung gewinnen? — Nichts oder so
gut wie nichts! Er wird in landwirtschaftlichen Angelegenheiten arbeiten,
ohne vielleicht je auf einem Bauernhofe gewesen zu sein, ohne Hafer von
Weizen unterscheiden zu können, ohne zu wissen, daß eine Rieselwiese nicht
ohne Wasser angelegt werden soll; er wird in Schulangelegenheiten Ver¬
fügungen schreiben, ohne vielleicht außer den Schulstuben, in denen er selbst
gesessen hat, jemals eine andre Schulstube oder einen Dorfschullehrer in seinem
Schulhause gesehen zu haben; er wird in Gewerbesachen arbeiten, ohne jemals
an einem Webstuhl gestanden zu haben, ohne jemals in einer Fabrik oder in
einer Arbeiterwohnung gewesen zu sein usw. Kurz er wird Verfügungen entwerfen,
ohne das Leben zu kennen und auch ohne es in seiner Arbeit kennen zu lernen.
Auf der Regierung hat er nur mit Akten zu thun. Früher konnte der Referendar
dazu noch etwas aus den Vortragen und Besprechungen in den Sitzungen
lernen, aber die Abteilungen des Innern sind als Kollegialbehörden aufgehoben,
der Regierungspräsident ist an ihre Stelle getreten und hat keine Veranlassung
mehr, die ihm zugeordneten Räte und Assessoren zu Sitzungen zu vereinigen.
Soll der Verwaltungsbeamte also mit einer gründlichen Kenntnis des
praktischen Lebens in sein Amt, sei es als Regierungsrat, sei es als Landrat
oder als Mitglied eines Verwaltungsgerichts eintreten, so ist sein ganzes Ar¬
beiten bei der Regierung in dieser Beziehung nutzlos und völlig entbehrlich.
Die besondre geschäftliche Routine, die das Arbeiten in einer solchen Behörde
erfordert, läßt sich sehr schnell und ohne besondre Anleitung erlernen.
Mit der Beschäftigung bei einem Verwaltungsgerichte steht es nicht
anders. Ebenso kann die Beschäftigung bei dem Vorstande einer Stadt¬
gemeinde den Referendar aus dem vorhin angeführten Grunde nur wenig
fördern, zumal da diese Thätigkeit nur drei Monate dauern soll und gewöhnlich
mit der bei einem Landrate verbunden ist. Viele wichtige Geschäfte, wie die
Steuerverwaltung, die Aufstellung des Etats usw. kommen überhaupt nur in
jedem Jahre einmal vor und nicht aller drei Monate. Von solchen Angelegen¬
heiten erfährt der Referendar dann vielleicht überhaupt nichts, wenn er sich
nicht etwa aus den toten Akten darüber belehren will.
Auch die Beschäftigung bei dem Landrat ist mit sechs Monaten zu kurz
bemessen, weil viele Geschäfte, die an sich nur durch Wiederholung einigermaßen
gründlich erlernt werdeu können, im Laufe des Jahres nur einmal vorkommen.
Die Vorbereitungszeit bei dem Landrate müßte daher wenigstens ein Jahr dauern.
Im übrigen wird der Referendar bei einem tüchtigen und erfahrnen Landrate
doch am ehesten einen Einblick in das praktische Leben gewinnen können.
Nach Vollendung der Vorbereitungszeit hat sich der Referendar endlich
der großen Staatsprüfung zu unterwerfen, die in einer schriftlichen und in
einer mündlichen Prüfung besteht. Die schriftliche Prüfung hat zwei Arbeiten
über Aufgaben aus dem Gebiete des Staats- und Verwaltungsrechts oder der
Volks- und Staatswirtschaftslehre zum Gegenstande. Mit der mündlichen
Prüfung ist ein freier Vortrag aus Akten zu verbinden. Die ganze Prüfung
erstreckt sich auf das in Preußen geltende öffentliche und Privatrecht, insbe¬
sondre auf das Verfassungs- und Verwaltungsrecht, sowie auf die Volkswirt-
fchafts- und Finanzpolitik. Gegen die Anforderungen der frühern großen
Staatsprüfung ist hier unverkennbar ein Fortschritt festzustellen, denn früher
wurde auch bei dieser Gelegenheit noch auf Gegenstände der allgemeinen Bil¬
dung zurückgegangen, wie sie dem Abiturienten des Gymnasiums im Maturitäts-
examen abgefragt werden. So wurde der künftige Verwaltungsbeamte nach
den Menschenrassen, nach den griechischen Säulenordnungen gefragt, so nach
den Namen der Päpste in geschichtlicher Reihenfolge, selbst zu den alten
Klassikern ging man zurück und fragte wohl, ob der Kandidat noch Stellen
aus den Tragödien des Sophokles (!) im Gedächtnisse habe. Und wenn der
Kandidat in solchen „Spuzereien," wie diese der Staatsverwaltung allerdings
recht fern liegenden Gegenstände im Scherze benannt wurden, nicht gut be¬
schlagen war, so war das für sein Prüfungszeugnis keineswegs gleichgiltig.
Dieser Zopf, auf den freilich mancher Regierungsrat sehr stolz war, ist
glücklich abgeschnitten, aber auch die jetzigen Anforderungen werden sich ohne
Schaden für die Verwaltung ermäßigen lassen. Wissenschaftliche Abhandlungen
zu schreiben ist vielen nicht gegeben, und doch können diese Leute im praktischen
Leben etwas Tüchtiges leisten. Eine Prüfung im Privatrechte müßte unbedingt
wegfallen, denn die Kenntnisse hierin hat der Referendar in der ersten juristischen
Prüfung schon nachweisen müssen. Sich hierin weiter bilden zu müssen, kann
nur eine Beeinträchtigung wichtiger Studien zur Folge haben, außerdem ist
der Justiziar dazu berufen, über die Rechtsfragen zu Votiren und in dieser
Hinsicht auch die Verantwortung zu tragen. Die große Staatsprüfung soll
sich dann freilich auch auf Nationalökonomie und Finanzwissenschaft erstrecken,
aber man lasse sich nur einmal eine Aufzeichnung der in dieser Prüfung vor-
gekommnen Fragen geben, wie sie von den Kandidaten nach der Prüfung zu¬
sammengestellt und als öffentliches Geheimnis weiter gegeben werden, und
man wird sich überzeugen, wie sehr diese Wissenschaften in den Hintergrund
treten. Eine uns vorliegende derartige Aufzeichnung enthält keine einzige
Frage aus diesen Wissenschaften, nur Fragen ans dem Verwaltungsrechte und
den Verwaltungsgesetzen und Fragen aus dem privatrechtlichen Gebiete.
Wie wird die Vorbildung des künftigen Verwaltungsbeamten nun in einer
den Anforderungen des praktischen Lebens entsprechenden Weise einzurichten
sein? Wir haben vorhin gesehen, daß der Referendar jetzt nur bei dem Landrat
und allenfalls dem Vorstande einer Stadtgemeinde Gelegenheit hat, das prak¬
tische Leben kennen zu lernen, aber auch in Bezug auf die Thätigkeit der
Landräte, wie sie sich jetzt entwickelt hat, hat Herr von Köller Bedenken
geäußert. Diese mögen auch vielfach begründet sein, und besonders werden
die jungen Landräte, die oft wenige Jahre nach der großen Staatsprüfung
selbst noch unerfahren und in den meisten Angelegenheiten auf die Erfahrungen
der ältern Kreissekretäre angewiesen sind, sehr wenig geeignet sein, einen nicht
viel jüngern Referendar praktisch auszubilden; es wird daher immer eine Aus¬
wahl unter den Landräteu geboten sein. Man wird aber doch eine genügende
Anzahl älterer Lcmdrüte finden, die zu diesem Zwecke geeignet und außerhalb
ihrer Akten und ihrer Bureaus mit den Verhältnissen des Lebens vertraut
geworden sind. Wenn sie wollen, können die Landräte noch überall persönlich
und ohne sich auf das Dekretiren aus der Amtsstube zu beschränken, direkt
eingreifen und einwirken. Die Mehrzahl wohnt auch an kleinern Orten, wo
der Referendar von vornherein vielfach mit Leuten der verschiednen Stände
und Berufe in unmittelbare Berührung kommt und so Gelegenheit findet, sich
über vielerlei Verhältnisse zu belehren, die ihm bisher unbekannt gewesen sind.
Würde der junge Maun in dieser Weise seine Vorbereitungszeit allein bei
Landräten in verschiednen Teilen des Landes zubringen, so würde er ohne
Zweisel besser praktisch vorgebildet sein, als es jetzt der Fall ist. Wir haben
jedoch noch andre Beamte, die dem Leben näher stehen als die Laud-
rüte, das sind in der Rheinprovinz die Landbürgermeister und in Westfalen
die Amtmänner, und es könnte dem künftigen Regierungsrate usw. nur von
Nutzen sein, wenn er auch an diesen Stellen beschäftigt würde. Vielleicht
können in dieser Beziehung auch geeignete Amtsvorsteher der östlichen Provinzen
in Frage kommen.
Es ist kürzlich mitgeteilt worden, daß Referendaren Urlaub erteilt werden
würde, um sich auf einer Domäne mit dem landwirtschaftlichen Betriebe
bekannt zu machen; dabei ist angenommen worden, daß der Aufenthalt dort
etwa neun Monate dauern müsse, um die Zeiten der Saat, der Ernte und
der Bestellung zu umfassen. Ebenso ist die Rede davon gewesen, die Referen¬
dare in eine Fabrik, in ein Bankgeschäft usw. zu schicken, damit sie dort ge¬
werbliche und andre Betriebe kennen lernen. Wir glauben, daß dies zu weit
geht und doch den Zweck verfehlt. Alle Referendare in solcher Weise umher
zu schicken, geht gewiß nicht an. Unter ganz besondern Umständen, bei be¬
sondrer Neigung und Befähigung mag mit Einzelnen so Verfahren werden,
aber wo in dieser Beziehung eine wirklich gründliche Fachkenntnis notwendig
erscheint, da muß es doch viel näher liegen, einmal von den Juristen abzu¬
sehen und tüchtige Fachleute in die betreffenden Stellen zu berufen. Wir
haben doch jetzt schon Forstmänner als Forsträte, Schulmänner als Schulräte,
Vautechniker als Banräte und daneben Gewerberäte — sür die übrigen Ver¬
waltungsbeamten, die mit den Fachleuten zu arbeiten haben, wird es genügen,
wenn sie nur einen allgemeinen Überblick und das erforderliche Verständnis
haben. Sonst möchten wir nur noch eine neue Spezies von landwirtschaft¬
lichen Triddelfitzen und ähnlichen Naturen heranziehen, bei denen man doch
keineswegs sicher wäre, daß sie noch einmal etwas nützliches leisten würden.
Nur zu oft würde das nur Dilettantenarbeit bleiben und damit der Verwaltung
vielleicht mehr geschadet als genützt werden.
Recht oft wird bei der Verteilung der Dezernate nicht beachtet, ob der
Beamte für das betreffende Dezernat, für das mehr als die allgemeinen Kennt¬
nisse des Verwaltungsbeamten erforderlich sind, nach seiner ganzen Veran¬
lagung und Ausbildung paßt-. Wird aber z. B. das landwirtschaftliche Dezernat
einem Regierungsrate gegeben, der, in der Stadt geboren und aufgewachsen,
ohne Kenntnis der landwirtschaftlichen Verhältnisse ist, oder ein Dezernat in
Baupolizei-, Wege-, Eisenbahn- und dergleichen Angelegenheiten einem Regie-
rungsrate, dem die einfachsten technischen Sachen unbekannt sind, und der
vielleicht nicht einmal einen Grundriß- oder Lageplan versteht, so kann das
der Geschäftsführung nicht förderlich sein. Und das ist vorgekommen und
wird noch nicht ausgeschlossen sein. Die Überschätzung des Juristen spielt
dabei hauptsächlich mit, oft mag aber die Gesamtbesetzung der Behörde hierin
keine Auswahl ermöglichen. In dieser Hinsicht kann jedenfalls mancher un¬
liebsamen Klage über unpraktisches Gebcihren der Verwaltungsbehörden vor¬
gebeugt werden. Wäre es nur möglich, das gewerbliche Dezernat einem aus
einer Jndustriegegend stammenden, das landwirtschaftliche Dezernat einem vom
Lande stammenden Rate und ähnlich die übrigen Dezernate zu verteilen, so
würden sich die vielfachen Klagen bald vermindern. Auf die Besonderheit der
Verhältnisse, in denen der Referendar aufgewachsen ist, könnte auch schon bei
der großen Staatsprüfung Rücksicht genommen und danach ein Urteil über
seine Verwendbarkeit in den verschiednen Dezernaten abgegeben werden.
Der jetzige preußische Kultusminister war nach der Annexion längere
Jahre bei dem Oberpräsidium in Hannover beschäftigt. Nach den Erfahrungen,
die er dort bei der Bearbeitung der Personalien gemacht hat. hat er sich in
einem in der Monatsschrift für deutsche Beamte von 1887 abgedruckten Auf¬
satze dahin ausgesprochen, daß der völlig abweichende hannoversche Vorbe¬
reitungsdienst ganz vorzügliche Ergebnisse auszuweisen gehabt habe. In Han¬
nover aber wurde der junge Verwaltungsbeamte nach zweijähriger Beschäfti¬
gung in der Justiz und zwar bei den Amtsgerichten, nicht bei den höhern
Verwaltungsbehörden, sondern ausschließlich oder doch fast ausschließlich bei
den Lokalverwaltnngsbehörden, den Ämtern, ausgebildet.
Eine Rückkehr zu dem hannoverschen Systeme wird in jenem Aufsatze
freilich kaum als möglich erachtet, und in der That waren die Verhältnisse
der hannoverschen Ämter von den damaligen Verhältnissen der preußischen
Landratsümter sehr verschieden, aber inzwischen haben sich auch die Verhältnisse
und der ganze Geschäftsbetrieb der Landratsämter wesentlich geändert. Die
hannoverschen Ämter umfaßten nur Bezirke durchschnittlich von 15000 Seelen,
aber bei wenig dichter Bevölkerung zum Teil von bedeutender räumlicher
Ausdehnung. Die Ämter waren in den meisten Angelegenheiten erste ent¬
scheidende Instanz, und die von dort an altpreußische Regierungen versetzten
Beamten traten bei diesen in gewohnte Arbeit ein. Sie waren regelmäßig mit
zwei Beamten aus der höhern Verwaltung besetzt, hatten keine Kreissekretäre
und in den Amtsgehilfen und Vögten nur Unterbeamte, die in ihren Bezirken
die Polizeiaufsicht zu führen, Einzelheiten zu ermitteln und zugleich Ladungen
und Zustellungen zu besorgen hatten. Die Amtsgehilfen und Vögte konnten
außerdem zu Protokollführung, Registraturarbeiten und Aufstellung und
Führung von Verzeichnissen, Rollen und Berechnungen sowie zu Rechnungs¬
prüfungen herangezogen werden.
Eine tüchtige Amtsverwaltung hing ab von der eignen Anschauung, der
unmittelbaren Verhandlung und von der persönlichen Einwirkung der Beamten.
Die Beamten hatten deshalb nicht allein am Amtssitze, sondern auch auswärts
regelmäßige Sprechtage abzuhalten, außerdem zur Gewinnung einer genauen
Kenntnis von den Sachen und Personen den Bezirk oft zu bereisen und mit
den Eingesessenen an Ort und Stelle zu verhandeln.
Schon der Mangel eines Kreissekretärs hatte das Gute, daß die Schreiberei
möglichst eingeschränkt wurde; ein Arbeiten auf Journalnummern war den
Beamten unbekannt, denn nur die von auswärts eingehenden Schriftstücke
wurden in das Journal, das sogenannte Produktenbuch, eingetragen, aber z. B.
die aufgenommnen Protokolle nicht; und wenn Sachen zur Entscheidung bei
der Oberbehörde vorzulegen waren, so wurde erwartet, daß diese vollständig
instruirt waren und die Oberbehörde nicht etwa noch von andern Stellen
Berichte einzufordern hatte. Hatte die Oberbehörde als Berufungsinstanz zu
entscheiden, so wurden die Verhandlungen erster Instanz nur mit kurzem Berichte
vorgelegt. Alle in bestimmten Terminen einzureichenden Nachweisungen wurden
nur unter Couvert ohne Bericht eingesandt.
Bei solcher Geschäftsführung war es erklärlich, daß die nach der Annexion
nach Hannover versetzten altpreußischen schreibseligen Verwaltungsbecimten den
Eindruck bekamen, als ob an den dortigen Ämtern recht wenig zu thun ge¬
wesen sei, während die an altpreußischc Regierung versetzten hannoverschen
Beamten, wenn sie auch sonst klagten, niemals Veranlassung gefunden haben,
sich wegen Überanstrengung zu beklagen. Waren die Ämter in den meisten
Sachen erste entscheidende Instanz, so waren sie auch nicht an Instruktionen
und an die Vorentscheidungen höherer Instanz in gleichartigen Fällen ge¬
bunden, sondern gehalten, allezeit nach den Gesetzen und nach eigner pflicht¬
gemäßer Überzeugung zu entscheiden.
Der zweite Beamte war nur Hilfsbeamter und in gewisser Weise dem
ersten Beamten, dem Amtmann, untergeben. An den ersten Beamten wurden
aber so weitgehende Anforderungen gestellt, daß dazu nur in längerer Dienst¬
zeit erprobte Männer bestimmt wurden. In der Regel erfolgte das Aufrücken
in diese Stelle erst etwa nach fünfzehnjähriger Dienstzeit nach der zweiten und
letzten Prüfung.
Da die meisten Amtssitze auf dem Lande oder in kleinen Orten waren und
zu der Dienstwohnung auch Dienstländereien gehörten, so wurden die Amtmänner
hierdurch zugleich durch eigne Praxis mit dem landwirtschaftlichen Betriebe
bekannt gemacht. Bei der Überweisung der jungen Leute in der Vorbereitungs¬
zeit an ein Amt wurde mit sorgfältiger Auswahl verfahren. Bei den höhern
Behörden wurden die Referendare (Auditoren) nicht beschäftigt. Daß ein junger
Mann aber unter solchen Verhältnissen bei einem Amte wirklich Gelegenheit fand,
das praktische Leben nach allen Seiten hin kennen zu lernen, liegt auf der Hand.
Die zweite und letzte Prüfung bestand in einem mündlichen Vortrage aus
einer Akte, wobei die in der Sache zu erlassende Verfügung angefertigt werden
mußte; an deren Stelle konnte auch eine andre geeignete Arbeit über Ver-
waltungsgegenstände aufgegeben werden. Die mündliche Prüfung erstreckte sich
gar nicht auf das privatrechtliche Gebiet, sondern nur aus das öffentliche und
Verwaltungsrecht, daneben aber auch auf Nationalökonomie und Finanzwissen-
schaft. Auch sollte der Kandidat über die volkswirtschaftlichen Verhältnisse in
den Gegenden, wo er beschäftigt gewesen war, und insbesondre über die bei
den Ämtern vorkommenden Geschäfte, namentlich auch durch Vorlegung prak¬
tischer Fälle geprüft werden. Nach der Ablegung der Prüfung und nach der
Anstellung als Assessor hatte der Verwaltungsbeamte noch eine Reihe Jahre
zu dienen, bis ihm die selbständige Verwaltung eines Amtes anvertraut
wurde. Auch an die obern Verwaltungsbehörden wurden die Assessoren erst
nach jahrelanger Bewährung und dann zunächst nur als Hilfsarbeiter berufen;
sie wurden einem Rate zugeteilt und hatten keineswegs sogleich ein Dezernat
selbständig zu bearbeiten.
In der preußischen Verwaltung ist es ein unverkennbarer Mißstand, daß
die Stellen der Landräte und die Stellen der Dezernenten in der Negierung
häufig mit zu jungen Leuten besetzt und sogar sehr junge Leute zur dauernden
Veschästiguug in die Ministerien berufen werden. Bei den Landratsstellen ist
bis jetzt die ungenügende Besoldung der Grund gewesen, daß sich überall dort,
wo die Besetzung nur mit Verwaltungsbeamten möglich war, junge Assessoren
gern um ein Landratsamt bewarben, weil sie dort einen angenehmem Dienst
und ein höheres Einkommen zu erwarten hatten als in der Stellung eines
Negierungsassessors. Sie rechneten aber daraus, später wieder in eine Ne¬
gierung eintreten zu können, und so hat vielfach ein häufiger, der Verwaltung
keineswegs förderlicher Wechsel der Landräte stattgefunden. Soll an dieser Stelle
aber etwas nachhaltiges geschaffen und gewirkt werden, so muß der Landrat
bleiben, denn zunächst braucht er einen oft nach Jahren zu berechnenden Zeit¬
raum, um die Verhältnisse und Persönlichkeiten seines Kreises gründlich kennen
zu lernen, zumal wenn er aus einer andern Provinz herstammt.
Der Grund, weshalb die zu Landräten ernannten Negierungsassessoren
nicht auf den Landratsämtern aushielten, war das für die höhern Dienstjahre
nicht ausreichende Einkommen; hierin ist aber jetzt eine erhebliche Besserung
eingetreten, und so darf angenommen werden, daß die Landräte künftig nicht
so häufig wechseln, sondern auf den Stellen verbleiben. Der Wirkungskreis
und das Einkommen des Landrath sind jetzt so, daß sich dabei jeder Verwal¬
tungsbeamte, der nicht nach hoher Stellung strebt, und der die Genüsse der großen
Städte entbehren kann, vollkommen befriedigt fühlen wird. Schon jetzt werden
junge Regierungsasfessoren den Landräten als Hilfsbeamte beigegeben. Werden
sie künftig lange genug in solcher Stellung gelassen und erst nach gründlicher
Erkenntnis der Verhältnisse und Bedürfnisse des praktischen Lebens zu Mit¬
gliedern der Regierungen oder zu Landräten befördert, dann wird es auch in
Preußen nicht an Landrüten fehlen, bei denen sich die Referendare erfolgreich
vorbereiten können, und dann werden auch die jetzigen Klagen über bureau¬
kratisches, den Bedürfnissen des Lebens nicht entsprechendes Verwalter in
Preußen verstummen und nicht weiter mit Grund erhoben werden können.
Ohne Nachteil für die Wirksamkeit der Verwaltungsbeamten werden dann
auch die Anforderungen der großen Staatsprüfung in mancher Beziehung
ermäßigt werden können. Nur in Bezug auf das Studium der Nationalökonomie
und der Finanzwissenschaft werden die Anforderungen gesteigert werden müssen,
denn in einer Zeit, wo die Welt durch die unruhigen Bestrebungen der Sozial-
demokratie bewegt wird, wo die Fragen der Doppelwährung, der direkten
oder indirekten Besteuerung, der Progressivbesteuerung, der Schutz- und Finanz¬
zölle und so viele derartige Fragen auf der Tagesordnung stehen, muß der
Verwaltungsbeamte, mag er auch uicht eine Spitze der Verwaltungsbureaukratie
sein und nur ein Landratsamt zu verwalten haben, doch wissen, wie die
Wissenschaft zu solchen Fragen steht. Die Kammerverhandlungen lassen nur
zu oft erkennen, wie gering die Kenntnisse in dieser Beziehung selbst an hohen
S
n den beiden vergangnen Jahren ist das vorstehende Thema in
Zeitungen und Zeitschriften außerordentlich viel besprochen
worden, und auch uoch jetzt steht fast in jeder Zeitungsnummer
wenigstens irgend eine Nachricht aus Transvaal. Aber aus
alledem ist kein deutliches Bild von den dortigen Verhältnissen
zu gewinnen. Es ist, als ob die Welt über die Dinge dort absichtlich im
Unklaren gehalten werden sollte. Haben sich doch ihrer Zeit die englische
Untersuchungskommission und selbst Lord Chamberlain die größte Mühe ge¬
geben, die Wahrheit über den Jamesonschen Einfall nicht an das Licht kommen
zu lassen. Dies ist, wie überall zu lesen war, geschehen, um sehr hochgestellte
Personen nicht bloßzustellen, und damit hat sich die Presse längere Zeit ganz
besonders beschäftigt, die meisten Blätter haben es nur angedeutet, einige haben
es ganz unverblümt gesagt. Es war nämlich bei der Gründung der cui^rtsreÄ
LoM^-^ü'ieÄ-LoiupM^ durch Cecil Rhodes die Erteilung der Litmrter von
der englischen Regierung nur unter der Bedingung zugesagt worden, daß man
sich mit Männern von Stellung in England verbände. So einigte man sich
dahin, daß der Herzog von Fife, der Herzog von Abercorn und der Graf
Gray Direktoren werden sollten, was dann auch geschah.
Es stehen nun in der Zeitschrift „Die Nation" mehrere Artikel von
Ludwig Bamberger mit der Überschrift: „Die neueste Ära der Spekulation,"
die von den Geschäften in Goldaktien in Südafrika handeln und von den Ge¬
sellschaften, die sich dort gebildet hätten. Darin heißt es wörtlich: „Die be¬
rühmteste dieser Gesellschaften ist die Oil^rtöisä Oomxan^, an deren Spitze
Cecil Rhodes steht. Die meisten Beteiligten haben enorme Summen verdient.
Man erzählt, daß der Erbe eines großen Reichs unter diesen Glücklichen ge¬
wesen und dadurch in den Stand gesetzt worden, seine langjährigen und zahl¬
reichen Gläubiger zu befriedigen, welche diese glückliche Wendung wohl herzlich
bedauern."
Die Kolonialzeitung schrieb: „Es ist in diesen Briefen schon früher er¬
wähnt worden, daß hochgestellte aristokratische Persönlichkeiten in der Leitung
der südafrikanischen Freibriefsgesellschaft hinter dem Rhodes-Jamesonschen
Freibeuterzuge standen, und daß nur dadurch die verbrecherische Frechheit von
englischen Beamten ersten Ranges zu erklären ist. Zu jenen hohen Persönlich¬
keiten gehört der Herzog von Fife, der eine Tochter des Prinzen von Wales
zur Gemahlin hat. Die feit vielen Jahren andauernde Verschuldung des
Thronfolgers ist kein Geheimnis. Damit hängt, wie allbekannt, der häufige
Empfang in Marlborough-House von Leuten zusammen, die der zukünftige
König von England wohl kaum gesellschaftlich bei sich sähe." Erwähnt ist
dabei ferner, daß der Prinz sich nicht gescheut hätte, persönlich bei den Ver¬
handlungen des Untersuchungsausschusses zu erscheinen und mit Rhodes einen
Hündedruck zu wechseln.
Um diese Dinge drehte sich eine Zeit lang alles, was man in den Zeitungen
las. Daß es sich so verhält, daß der Einfall des Dr. Jameson von der
OIig-rterLä «üourx^, insbesondre durch Cecil Rhodes angestiftet und ins Werk
gesetzt worden ist, und daß der Dr. Jameson ein bezahlter Freibeuter war,
daran zweifelt längst niemand mehr. Aber die Hauptsache ist, was damit
eigentlich bezweckt wurde, und darüber geben die Zeitungen keine genügende
Aufklärung.
Zunächst ist es von Interesse, die Personen einigermaßen kennen zu lernen,
die dort eine hervorragende Rolle gespielt haben und noch spielen. Vor allem
Cecil Rhodes. Er war Student der Medizin und kam schon 1866 oder 1867
nach Südafrika, ging nach Kimberley unter die Diamantensucher, und dort war
er es, der Genossen zu einer großen Gesellschaft vereinigte, der berühmten as
üssrs, und dadurch ein immenses Vermögen erwarb. Später ging er nach
dem Kap, kam dort in die gesetzgebende Versammlung, wurde dann bald Minister
und zuletzt Premierminister. Als sich später die Gerüchte über den Goldreichtum
des Matabele- und Maschonalandes verbreiteten, schickte er 1888 Agenten
(darunter auch Alfred Veit) zu dem Könige dieser Länder, Lobengula, und
diese erreichten es durch Vorspiegelungen und Geschenke, daß der König in
einem solennen Dokumente ihnen und ihren Auftraggebern das vollständige und
ausschließliche Recht erteilte, die Metalle und Erze, die sich in seinen Ländern
finden würden, zu suchen und auszunützen. Auf Grund dieser Konzession, die
unter der selbstverständlichen Bedingung erteilt worden war, daß an den Eigen¬
tumsverhältnissen des Landes dadurch nichts geändert werde, verfuhren Rhodes
und seine Kompcmions, wie wenn das Land ihr Eigentum wäre. Lobengula
beschwerte sich bei der Königin von England, daß man ihn Dinge habe unter¬
schreiben lassen, die gar nicht vereinbart worden seien, erhielt aber durch den
Kolonialsekretär den Bescheid, er möge mit Konzessionen künftig vorsichtiger
sein, bei der schon erteilten müsse es aber verbleiben. Die „Gruppe" (Rhodes,
Beit und die übrigen Kompcmions) suchten nun die Erteilung einer Lüulrtsr
nach, ähnlich wie einst die der ostindischen Kompagnie, und so wurde ihnen
diese unter der oben erwähnten Bedingung zugesichert und demnächst auch
erteilt. Im Londoner Norning' füllt ein früherer Studiengenosse von Rhodes
folgendes Urteil: „Freunde im gewöhnlichen Sinne kann Cecil Rhodes nicht
haben, denn er nimmt nicht das geringste Interesse an irgend einem mensch¬
lichen Wesen, außer sich selbst. Wenn ich manchmal im Gespräch mit dem
großen Mann, der fortwährend redete, ein mich angehendes Wort einfügte,
so fing er an, an seinen Nägeln zu kauen oder aus dem Fenster zu sehen
oder die Wand anzugaffen."
Was Alfred Beit betrifft, so charakterisirt ihn eine Korrespondenz der
„Münchner Neuesten Nachrichten" aus London vom 29. Mai 1397 wie folgt:
„Der große Millionär ist ein kleines wohlgenährtes Männchen mit blondem
Haar, rundem Gesicht, krummer Nase und vorstehenden Ohren, einem kleinen
Bärtchen, an dem er krampfhaft dreht, und einer Zunge, die englische Phrasen
muss geläufigste, aber mit stark jüdisch-deutschem Accent hervorsprudelt." Von
Varnato sagt Ludwig Bcunberger in der „Nation": Das sei der Mann, der
zahllose Millionen in Afrika gemacht habe; er heiße eigentlich Bcrnay oder
Bernays und sei ein früherer kleiner Händler aus London, der später Schau¬
spieler gewesen sei, und führt dann fort: „Im Augenblick residirt Barnato im
Hotel Bristol in Paris, wo die gekrönten Humpler abzusteigen Pflegen, und
wo er mehr als mancher Gesalbte des Herrn jetzt die Großen des Landes
empfängt und sich gnädig von Journalisten und vornehmen und galanten
Damen, beides nicht selten in einer Person, interviewen läßt. Bei diesen
Empfängen erscheint er angethan mit einem rosaseidnen Schlafrock und ent¬
sprechenden Hosen. Die Zeitungen von New Uork, London und Paris füllen
ihre Spalten mit Schilderungen seiner Person und seinen weitumfassenden
Plänen. Es giebt bereits eine ganze Menge Barnatoschöpfungen, Varncito-
consols, ^oliMllLsKui'A-invöstinöllts, ^.vZIo ?rsiKZd, London- und Parisgesell¬
schaften usw., zu denen jetzt die große Barnatobank kommen soll." Vor nicht
langer Zeit ist Varnato gestorben, und die Lg.or6g^ lisvisv vom 16. Oktober
1897 schildert ausführlich und mit Entrüstung die Winkelzüge seiner Erben,
mit denen sie sich der Bezahlung der Erbschaftssteuer zu entziehen suchen.
Dies mag vorläufig genügen. Man sieht aus alledem schon, daß man
es hier nicht mit „Engländern" oder mit „Afrikanern," wie die Zeitungen
sagen, zu thun hat, sondern mit Juden, und zwar mit Persönlichkeiten wie
etwa Cornelius Herz. Schon vor der Entdeckung der Goldfelder in Transvaal
hörten wir einen interessanten Vortrag des Grafen Pfeil, der Südafrika
bereist hatte. Er trug ausführlich die Geschichte der Leiden der Buren
vor, insbesondre auch der Unbilden, die sie von den Engländern zu erdulden
gehabt haben, und schilderte deren Leben und ihre altertümlichen, bei ihrer
Abgeschlossenheit unverändert gebliebner einfachen Sitten. Dabei erwähnte
er, daß vielfach aus dem Kaplande Juden zu ihnen kämen, um Geschäfte zu
machen, und es bei der Unerfahrenheit der Buren leicht hätten, sie zu über¬
vorteilen. Seit der Entdeckung der Goldfelder (1887) hat dann eine Massen¬
einwanderung von Juden stattgefunden, aus England, Frankreich, Deutschland,
ganz besonders ans Rußland und Polen, Galizien, Amerika, kurz aus aller
Herren Ländern. Engländer und Deutsche scheinen verhältnismäßig wenig
hingegangen zu sein, meist Ingenieure und Handwerker. Das sind die „Uit-
laender" des Transvaal. Reich waren unter ihnen nur die Männer, die ihr
Vermögen bei den Diamantgruben in Kimberley erworben hatten, namentlich
Cecil Rhodes, Alfred Veit, Julius Wernher, I. Lewis, S. Marks iMarcus),
G. und S. Farrar, Lionel Phillips, S. Neumann, Barnato, Herrmann Eck¬
stein, Langermann usw., von denen heute einige zu den reichsten Finanzmännern
Europas gehören. Die übrigen kamen ohne Mittel hin.
Wer sich über die Goldproduktion und die Verhältnisse, die sich dort
infolge davon entwickelt und zu dem Jamesonschen Einfall geführt haben,
genauer unterrichten will, der lese folgendes Buch: Nsrmsix, 1^6 1rg,n8og.g.I
se 1a (Hdg-rtersä (1a rsvolutioii Ah -loliMuosburA ot Iss iniuss ä'or). ?g.rlZ,
?g,u1 vllenclork «Mtsnr. R,ne cle liiolioliöu 28 bis. Die Tendenz dieses
Buches ist, den Einfall des Dr. Jameson zu rechtfertigen, wenigstens zu ent¬
schuldigen. Das Buch ist augenscheinlich aus jüdischer Feder und mit großem
Geschick geschrieben. Der Verfasser schildert die Dinge im allgemeinen der
Wahrheit gemäß, weiß aber dabei alles den „Uitlaendern" Unangenehme zu ver¬
schleiern, sodaß es ganz harmlos erscheint. Das Buch muß daher eum Arg.no
hö-lis, vielfach zwischen den Zeilen gelesen werden, dann ist es sehr lehrreich.
Es mögen bei dieser Gelegenheit noch zwei Bücher genannt werden: Felix
Abraham, Aufrichtige Geschichte der Goldminen des Witwciterstrcmdes. Berlin,
bei Leonhard Simion und: Afrika in seiner Bedeutung für die Goldproduktion
in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Dr. Karl Juttner, Privat¬
dozenten an der Berliner Universität. Berlin, bei Reimer.
Es zieht sich ein etwa 1500 Meter über dem Meere liegender Höhenzug
von Osten nach Westen, der Witwaterstrand, auch kurzweg Rand genannt, der
die Wasserscheide zwischen zwei Meeren ist. Die auf dem Südabhange ent¬
springenden Gewässer fließen zum Vaal, mit diesem in den Oranjefluß und
so in den Atlantischen Ozean, die der Nordseite zum Limpopo und mit diesem
in den Indischen Ozean. In diesem Höhenzuge hauptsächlich findet sich das
Gold. Schon vor dessen Entdeckung waren durch Beschluß des Volksraads
alle Metalle und Edelsteine als Eigentum des Staats erklärt worden. Nach
der Entdeckung erfolgte dann die Verwaltung in der Weise, daß das ganze
Terrain — soweit es Privateigentum war, mit Einwilligung der Eigen¬
tümer — in Parzellen, olaims genannt, 130 Meter lang und 45 Meter breit,
eingeteilt wurde. Nun konnte jedermann gegen eine Abgabe von fünf Schilling
pro Monat nach Gold suchen. Sobald festgestellt war, daß ein Terrain gold¬
haltig sei, wurde es von der Negierung „proklamirt." Von da ab konnte es
jeder in Besitz nehmen und ausbeuten. Der Eigentümer hatte jedoch das
Privilegium, daß ihm ein Zehntel der Parzelle seines Grundstücks zur Aus¬
beutung verblieb (Mynpacht). Jeder Okkupant hatte nun eine Abgabe von
fünfzehn Schilling monatlich zu zahlen bis zum Beginn der Ausbeutung, und
von da ab ein Pfund Sterling. Der Eigentümer jedoch zahlte nur eine ge¬
ringe Abgabe.
So begann um der Minenbau, der, von Ingenieuren geleitet und von
Negern ausgeführt, bald einen großen Aufschwung nahm, in erster Linie von
den obengenannten großen Finanzmännern betrieben wurde und vielfach fehr
reiche Ausbeute ergab. Die Genannten bildeten sodann Gesellschaften, die ihre
Gold-sIiÄrss emittirten und an die Börsen brachten. Es wurden enorme
Summen verdient. Aus den großen Gesellschaften gingen dann kleinere hervor,
und ihre Zahl vermehrte sich zusehends. Die Eigentümer wurden leicht dazu
gebracht, ihnen ihre Mynpacht zu verkaufen. Ludwig Vamberger drückt sich
darüber in dem oben erwähnten Artikel wie folgt aus: „Das Publikum,
welchem diese Meteore vor den Augen herumblitzen, möchte gern nachlaufen.
Aber wie soll man die richtige Mine erraten? Um diesem tiefgefühlten Be¬
dürfnis entgegenzukommen, haben sich Gesellschaften gebildet, welche die un-
sichern Schritte der kleinen Kapitalisten leiten wollen und sich nicht auf einzelne
Objekte beschränken."
In dem erwähnten Buche heißt es ferner: I^g, xooue an xuvlie est iM88i
uns nos ä'or, was wohl keines Kommentars bedarf. Schon im Jahre
1895 waren es 481 Gesellschaften mit einem Nominalkapital von 2 Milliarden
32 Millionen Franken und einem Kurswert von über 5 Milliarden Franken
Auf dem öden baumlosen Rand entstand in zehn Jahren Johannesburg, eine
Stadt von mehr als 100000 Einwohnern mit langen Straßen, hohen Häusern,
Tramways, elektrischer Beleuchtung, großen Magazinen und allem modernen
Luxus. Dort entstanden oder vergrößerten sich auch noch andre Städte. Das
Eisenbahnnetz erweiterte sich immer mehr. Der „Jsraelit," Zeitung sür das
orthodoxe Judentum (Redakteur Rabbiner Lehmann in Mainz), zählte kürzlich
die Synagogen und jüdischen Bethüuser in Transvaal auf, wobei er erwähnte,
daß am Tage der Eröffnung der Eisenbahn nach Buluwayo im Matabeleland
dort eine große Synagoge eröffnet worden sei.
Die „Uitlaender," denen die Regierung die Erteilung des Bürgerrechts ver¬
weigert, und die also nicht in den Volksraad kommen können, erstreben schon
lange dieses Recht, auf das sie einen Anspruch zu haben behaupten, da sie es
seien, denen das Land all den ungeheuern Fortschritt, seine Industrie und
seinen Wohlstand zu verdanken habe, wogegen die Boers erwidern, daß die
Uitlacnder bis auf die oben benannten Millionäre ganz arm hingekommen
seien und aus ihren Goldminen ihr Vermögen erworben, alles, was sie be¬
säßen, also ihnen zu verdanken hätten. Die Uitlaender wollen den Volksraad
„verbessern," um „Reformen" durchzusetzen. Sie haben sich nämlich über
mancherlei zu beklagen. Den neuen Verwickeltern Verhältnissen waren die bis¬
herigen Organe der Verwaltung nicht gewachsen. Die Uitlaender wollten nun,
daß wegen ihrer überlegnen Intelligenz die erforderlichen Verwaltungsbeamten
aus ihnen genommen würden. Die Negierung hat das nicht gethan, sondern
Beamte aus Holland hingezogen, und diese haben nicht die Partei der
Uitlaender genommen, sondern die der Boers, die ja doch ihre Lands¬
leute sind.
Was ihre materiellen Beschwerden betrifft, so sieht man deutlich, daß
ihnen das Gesetz, wonach die Metalle Eigentum des Staates sind, ein Dorn
im Auge ist. Ihre ausgesprochnen, zum Teil auch in den Zeitungen erwähnten
Klagen sind folgende: Die oben erwähnte Taxe, die von den olaims zu zahlen
ist, ist überall dieselbe, ob der Goldertrag der oliüins hoch oder gering ist, ob
deren Lage günstig ist oder nicht, ob die Eisenbahn bis dorthin führt, oder ob
Kohlen, Maschinen, Holz, Lebensmittel mit Ochsenkarren hingebracht werden
müssen. Das sei eine Unbilligkeit. Die Taxe müsse je nach dem Goldgehalt
und nach diesen zu berücksichtigenden Umständen verhältnismäßig immer ver¬
schieden sein. Auch sei die Taxe für die erste Zeit, wo noch gar kein Ertrag
erzielt werde, viel zu hoch. Zudem sei die Regierung in Betreff des Baues
der Eisenbahnen von unglaublicher Langsamkeit. Der Präsident Krüger habe
einmal gesagt, er habe an einem Johannesburg genug und wolle nicht noch
ein zweites haben. Ferner: Der Gebrauch von Dynamik ist den Mineuren
unentbehrlich. Nun hat die Regierung einer holländischen Gesellschaft ein
Dynamitmonopol erteilt, und das Dynamik ist infolgedessen teurer als im
Matabeleland. Sie verlangen Aufhebung des Monopols. Endlich ist es auch
eine holländische Gesellschaft, der die Konzession der Eisenbahnen erteilt ist.
Sie beklagen sich über die Höhe des Tarifs und verlangen erhebliche Herab¬
setzung. Das alles ist sehr begreiflich, sie vergessen dabei nur, daß das,
was sie ihre Industrie nennen, ein Glücksspiel ist, um reich, oder noch viel
reicher zu werden, und daß, wer mitspielen will, den Einsatz riskiren muß.
Neuerdings ist soviel nachgegeben worden, daß Frachten und Zölle herabgesetzt
worden sind, auch der Dynamitpreis ermäßigt worden ist. Das ist ihnen aber
uicht genug. Die Regierung möchte eine Anleihe kontrcchiren. Dies gelingt
ihr aber nicht, solange sie ihnen nicht den Willen thut. Man sieht, wie das
alles zusammenhängt.
Da die Regierung auf die verlangten „Reformen" nicht eingehen will, so
wollen sie in den Volksraad, um ihren Willen durchzusetzen, oder richtiger,
um die Herrschaft in dem Lande an sich zu reißen und den Goldrcichtum
ganz allein in ihre Hände zu bringen. Was den Reichtum der mehrgenannten
Finanzgrößen betrifft, so mag hier beiläufig erwähnt werden, daß Alfred Beit
(nach einer Korrespondenz der Münchner Neuesten Nachrichten) vor dem süd¬
afrikanischen Komitee gesagt hat, er habe die Johannesbnrger Bewegung mit
170000 bis 200000 Pfund Sterling unterstützt. Er konnte sich dieser Kleinig¬
keit nicht genau entsinnen. M. S- Marks (Marcus) hat, wie Mermeix sagt,
100000 Franken ausgegeben allein für den Transport des Materials zu seiner
Villa in Swartzkoppjes bei Prütoria und um diese Villa 500000 Bäume
gepflanzt. Lionel Phillips besitzt in Braam-Fontain ein Haus, das ksrM
llssurs äg-us I'avenuö an Loth as LouloZns.
Lionel Phillips war gleichsam der Chef der Fremdenkolonie in Jo¬
hannesburg. Die Minenkammer, das Syndikat aller Gesellschaften, hatte ihn
zum Präsidenten erwühlt. II P6rs0nulli3.it bien veux qu'it rsprsssutait, o'sse
I'IIit1aöuäör-?^p6. Er war die Seele des Komplotts und aller Vorbereitungen,
die schließlich zu dem Jamesonschen Einfall führten, und die er ins Werk setzte,
als man mit Bestechung nichts ausrichtete. Es charakterisirt ihn, was er
(nach der Frankfurter Zeitung) im Juni 1876 an Alfred Veit schrieb: „Aber
man muß bedenken, daß durch die letzte Gesetzgebung die Verwendung von
Geld für Wahlen zu einem Kriminalverbrecher gemacht worden ist," und im
Juli: „Wir wollen keinen Aufruhr. Unsre Trumpfkarte ist die Verbesserung
des Volksraads. Es wird 10000 bis 15000 Pfund Sterling kosten."
Es ist nicht der Zweck dieses Artikels, alle seine Intriguen und Demon¬
strationen, wie überhaupt den ganzen Hergang zu schildern, wie er dem eng¬
lischen Gouverneur des Kaps, Sir Henry Loch, die Aufregung der Uitlaender
zu schildern und die Sache so darzustellen wußte, als hätte die Stadt Johannes¬
burg einen Angriff der Boers zu fürchten und hoffe auf den Schutz Eng¬
lands, ja Europas; wie er und seine Vertrauten eine Insurrektion vorbereiteten
— ein Advokat, Ch. Leonhard, übernahm es, die „Afrikaner" zu bearbeiten —,
wie Waffen gekauft und heimlich unter Täuschung der Zollbehörden eingeführt
wurden (Maximgeschütze, Karabiner, 3000 Gewehre), auch Pferde und Maul¬
esel angeschafft wurden, wie gleichzeitig der Dr, Jameson, die rechte Hand von
Cecil Rhodes, seine Schar zusammenbrachte — sein Einfall sollte gleichzeitig
mit dem Ausbruch der Revolution in Johannesburg erfolgen —, und wie
schließlich dies alles durch die Energie des Präsidenten Krüger vereitelt wurde.
Die Deutschen hatten sich als Freiwillige zur Verfügung gestellt, obgleich
sie auch keine Bürgerrechte hatten. Das Resultat ist aus den Zeitungen be¬
kannt genug, auch wie es gekommen ist, daß Anstifter und Thäter dieser
schändlichen und verbrecherischen Unternehmung so gut wie straflos geblieben
sind. Die Absicht des Cecil Rhodes ging, wie manche Symptome deutlich
zeigen, weiter, als der angegebne Zweck der beabsichtigten Insurrektion, nämlich
dahin, wenn der Erfolg dies möglich machen sollte, nicht nur den Präsidenten
Krüger zu beseitigen, sondern die südafrikanische Republik (Transvaal) zu unter¬
werfen und der Kapkolonie einzuverleiben. Er und Alfred Veit siud dann
1896 aus der <Aiart«zröt1 ausgetreten. Von Rhodes, dem „Napoleon Südafrikas,"
hört man zur Zeit wenig, wie denn überhaupt neuerdings die Uitlaender ziemlich
kleinlaut geworden zu sein scheinen. Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß
Rhodes und Beit allein den Jamesonschcn Einfall bezahlt haben. Die geringe
Entschädigung, die die Transvaalregierung verlangt hat, ist sür beide bei ihrem
enormen Vermögen eine Kleinigkeit. Sie haben die Summe aber bis heute
nicht bezahlt, werden sie auch sicherlich in Güte nicht bezahlen. Wo werden
sie denn! Wer wird sie zwingen? Die englische Negierung, die alles ruhig
angesehen und geduldet hat? Es zeigt dies so recht die Jmmoralität der eng¬
lischen Politik. '
Zum Schluß dieser Betrachtung kommen wir auf die Moral, die sich für
uns daraus ergiebt. Es wäre möglich, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß
in unsern Kolonien in Afrika und Neu-Guinea mit der Zeit Edelmetalle ge¬
funden werden, namentlich Gold. Wenn man nun die Dinge in Transvaal
bedenkt, auch den Blick auf die widerwärtigen Zustände richtet, die sich überall
entwickelt haben, wo Gold gefunden worden ist, in Kalifornien, in Australien
und neuerdings in Klondhke, so muß man zu dem Schluß kommen, daß solche
Zustände, oder besser gesagt, solcher Unfug in unsern Kolonien nicht geduldet
werden darf, und daß es daher geraten ist, beizeiten dem vorzubeugen und
auf Mittel zu denken, mit denen in solchem Falle das habgierige Gesinde! fern
gehalten werden kann. Es ist zur Zeit im Werke, ein Neichsberggesetz zu
machen. Da bietet sich die Gelegenheit, die Edelmetalle (vielleicht auch Dia¬
manten) in unsern Kolonien für ein Regal des Reichs zu erklären, auch ebenso
festzusetzen — was indes auch ohnedem unbedingt geschehen müßte —, daß,
falls dergleichen gefunden wird, die Förderung und Gewinnung unter keinen
Umstünden weder verpachtet, noch in irgend einer andern Form an Private
überlassen werden darf, sondern die Verwaltung nur durch die Kolonialregierung
selbst, durch Bergämter zu erfolgen hat, wie dies z. B. bei den Bergwerken
im Harz der Fall ist. Dann fließen die Einnahmen dem Reiche zu, dann
wird man auch nicht solche Erfahrungen machen, wie man sie in Preußen mit
dem Bernstein gemacht hat, wo die Regierung das Regal an einen jüdischen
Kommerzienrat verpachtet hat.
laube man, Baden sei das Land volksfreundlicher Einrichtungen,
weil es einen liberalen Fürsten und eine aufgeklärte Bureau¬
kratie habe? Das wäre sehr oberflächlich geurteilt. Es würde
immerhin noch triftiger sein, wenn einer sagte: Ihr seid politische
Optimisten, die sich die Ecken und Kanten der Wirklichkeit durch
angenehme Selbsttäuschungen beschönigen. Indessen, nur ein dem
Volke ganz Fremder würde glauben können, alles mit dem politischen Optimis¬
mus abgethan zu haben, der ja ohne Frage da ist. Ich halte es mit dem
echt alemannischen Grundsatz: Was dem einen recht ist, das ist dem andern
billig, und frage die Leute im Lande selbst, was sie von ihrer Politik denken.
Da erinnere ich mich einer sehr beredten, wenn auch kurzen Aussage. Gerecht,
wohlwollend und versöhnlich, so rühmt ein schönes Denkmal in den städtischen
Anlagen von Donaueschingen den langjährigen Präsidenten der badischen
zweiten Kammer, den Apotheker Kirsner. einen der einflußreichsten Politiker
des badischen Landes. Es ist bezeichnend; das sind eben die Eigenschaften, die
der Alemanne hochschätzt. Durch sie hat Kirsner, der dabei entschieden frei¬
sinnig im bürgerlichen Sinne war, mehr gewirkt als durch die Staatsmännisch-
keit und Klarheit, die ihm ebenfalls die Denkmalinschrift nachrühmt. Es
dürfte in Preußen selten vorkommen, daß man einem Apotheker und Landtags¬
präsidenten ein solches Denkmal setzt, und das in einer Stadt, wo man
sich vergeblich nach Fürsten- und Feldherrndenkmälern umschaut. Wohl¬
wollen und Versöhnlichkeit wird man als große politische Eigenschaften nur
bei einem Volke rühmen, das aus weicheren Stoffe gemacht ist. Und so in
der That ist in diesem alemannischen Volkscharakter mehr Weichheit, als die
so leicht erregten politischen Leidenschaften zu verraten scheinen. Der Volks-
mund kennt den Ausdruck „wehleidig" für eine Abstufung von empfindlich und
hat auffallend zahlreiche Vergleiche für den Empfindlichen und Schüchternen,
die z. V. dem derben Bayern fern liegen. Schon vor dem lauten, raschen
Franken Nordbadens und der Pfalz zieht sich der Alemanne gern aufs
Schweigen zurück. Der schweizerische Alemanne ist von härteren Stoff als der
badische und besonders der elsässische, vornehmlich in den Urkantonen und in
Bern. Aber der behagliche Ton selbst der politischen Reden zeigt, daß auch
er das weiche Gemüt des Alemannen hat,,, worin jene Eigenschaften wurzeln.
Auf einer weisen, besonnenen Politik der Übereinkünfte ruht das Gedeihen der
Eidgenossenschaft, und nicht klein ist die Zahl schweizerischer Staatsmänner,
denen Denkmäler mit derselben Aufschrift zu setzen wären wie dem trefflichen
Kirsner. Übrigens konnte die hohe Gestalt dieses badischen Landtagspräsi¬
denten mit der breiten Stirn und den freundlichen braunen Augen darunter
und dem beredten Mund, von dem die Worte wohlthuend wie mit leisem
Gesang flössen, als der klassische Typus des alemannischen Stammes gelten.
In der badischen Geschichte treten uns diese Züge bei Fürsten und Staats¬
männern in allen Generationen entgegen. Sie haben den Markgrafen Karl
Friedrich, der später der erste Großherzog wurde, zum Liebling des Volkes
gemacht, das ihn noch heute nicht vergessen hat. Sie waren dem Großherzog
Leopold eigen, den man den Bürgerfreund nannte. Und wer fände sie nicht
in der sympathischen Gestalt des regierenden Großherzogs Friedrich wieder?
Wenn auch die Badenser, die mit ihrem Großherzog politisch nicht im einzelnen
übereinstimmen, mit Stolz auf ihn sehen, so ist darin das Gefühl bestimmend,
in ihm den angesehensten und geschichtlich wirkungsvollsten Vertreter des ba¬
dischen, Wesens in diesem Jahrhundert zu haben. Er verkörpert schon in seinem
edeln Äußern die milde billige Denkungsart, die der Badenser hochhält. Seine
liebenswürdigen Formen im Verkehr mit Hoch und Niedrig und seine freund¬
liche Nachgiebigkeit, die gepaart sind mit einem strengen Festhalten an politischen
Grundsätzen von liberaler Färbung, machen ihn zum Ideal des badischen
Politikers. Einem bayrischen Geschmack mag er nicht derb, einem preußischen
nicht schroff genug erscheinen; für seine Unterthanen ist er gerade so recht.
Und er hat sie mit aller Milde sest gehalten auf dem Wege zur deutschen
Einheit, auf dem er entschieden mehr Folgerichtigkeit bewiesen hat, als
die große Mehrzahl dieser Unterthanen, und größere Opfer gebracht hat, als
irgend ein Einzelner unter ihnen. Man ahnt nur die Kämpfe, die ihm sein
Rücktritt von der Stellung des obersten Kriegsherrn kostete, die von den
Fürsten seines Ranges doch bis dahin als eine notwendige Folge der Landes¬
herrschaft aufgefaßt wurde. Sachsen hat nach seiner Niederlage von 1866
nicht soviel verloren, als Baden nach den Siegen von Straßburg und Belfort
1871 aufgegeben hat. Der König von Sachsen ist der Kriegsherr seiner
Truppen, der Großherzog von Baden steht neben sich einen preußischen
General das XIV. Armeekorps kommandiren, das fast ganz aus badischen
Truppen besteht. Man hat in den siebziger Jahren viel von den Schwierig¬
keiten erzählt, mit denen der Großherzog zu kämpfen hatte, bis sich die mili¬
tärische Nebenregierung in seinem Lande in den immerhin noch halb selbständigen
Organismus des badischen Landes eingefugt hatte. Die warmherzigen Badenser
ahnten damals nicht, daß sie mit dem Übermaß des Dankes und Preises für
die angeblich abgewandte, in Wirklichkeit so nicht vorhanden gewesene Gefahr
der Invasion des Menschenknüuels, genannt Bourbakische Armee, dem ehrgeizigen
General Werber den Kopf verdrehte. Werber suchte sich an seiner Befehls¬
haberstelle in Karlsruhe für vermeintliche Zurücksetzungen gegenüber andern
Helden des Krieges von 1870/71 schadlos zu halten, wodurch in der kritischsten
Zeit die Stellung des Großherzogs recht schwierig wurde.
Aus solchen Schwierigkeiten, die sich natürlich auf allen Stufen wieder¬
holt haben, ist in Baden doch niemals eine dauernde Verstimmung zwischen
Einheimischen und „Preußen" entstanden. Und das ist besonders lehrreich im
Hinblick auf die elsässischen Verhältnisse, wo gleiche Ursachen zu ganz andern
Wirkungen geführt haben. Man sieht, wieviel gegenüber angeblich unausgleich-
baren Unterschieden des Volkscharakters der ans der Erkenntnis der Not¬
wendigkeit eines Zustandes geschöpfte einfache gute Wille vermag. Es sind
in Baden seit dreißig Jahren Tausende von preußischen Offizieren und Post¬
beamten, Universitcits- und Gymnasialprofessoren angestellt worden, weitere
Tausende von Norddeutschen sind eingewandert und haben sich z. B. in dem
schönen Freiburg so dicht angesiedelt, daß sie viel von dem alemannischen
Charakter der Dreisamstadt samt der alten Billigkeit und Anspruchslosigkeit
verwischt haben. Nicht immer ist das Auftreten der Fremden gegenüber den
Einheimischen geschickt und klug gewesen, aber diese haben sich dadurch nicht
hindern lassen, sich den Norddeutschen gegenüber, selbst wenn sie aus dem
äußersten Nordosten kamen, als Landsleute zu zeigen, d. h. das gemeinsame
Deutsche in den Vordergrund zu stellen und die immer doch verhältnismäßig
kleinen Stammesverschiedeuheiteu zurücktreten zu lassen. Das ist das Gegenteil
von der elsässischen Methode. Hoch und Niedrig hat sich in Baden vor allem
bereit gezeigt, das Gute anzuerkennen, das man der preußischen Führung auf
dem militärische» Gebiete verdankt. Selbst der Vergleich zwischen der Be¬
handlung der Untergebnen durch badische und preußische Offiziere fiel für den
gemeinen Mann nicht immer zu Gunsten seiner Landsleute aus. Man konnte
schon 1870 badische Soldaten die ruhigere Art des Verkehrs rühmen hören,
die preußische Offiziere mit ihren Soldaten pflogen; ganz richtig führten sie
sie auf die allgemeine Wehrpflicht zurück.
In weiten Kreisen wirkten noch die Erinnerungen an das Sturmjahr 1849,
wo das Großherzogtum wie ein Wrack auf den wilden Wellen einer überreizten
Volksstimmung trieb; die Armee und ein Teil des Beamtentums hatten damals
einfach versagt. Daß solche Zustände gerade in einem Lande von der aus¬
gesetzten Lage Badens nicht wiederkehren durften, darüber war man überall
einig. Die Demokraten, die die traurigen Erinnerungen an 1848/49 höchst
kurzsichtig als rühmliche hochhalten wollen, mußten zugeben, daß die preußische
Schulung mindestens zweckmäßiger sei als die badische, wenn sie auch zum
Teil trotz 1866 über den Zweck einer Armee eigne Ansichten hatten. Der
Herrschaft der Liberalen und fpüter Nationalliberalen in Baden mag man
manche Vorwürfe machen, sie hat jedenfalls redlich an der Annäherung zwischen
Badensern und Norddeutschen gearbeitet. Nur die Kraft der nationalen Ge¬
sinnung, die sie mit Eifer nährten, hat fo manche persönliche Verstimmung
über Anmaßungen der norddeutschen Freunde überwinden lassen. Selbst die
ultramontane Presse Badens, die eine kräftige, offne Sprache sehr liebt, läßt
erkennen, daß Badens Lage ebenso wie die Gemütsart seiner Bewohner anders
sind als die Bayerns. Der Ton des „Vaterlands" oder früher des „Volks¬
boden" gegen Preußen ist hierzulande nie üblich geworden. Junge Hei߬
sporne, die ihn anpflanzen wollten, mußten fühlen, daß auch in der poli¬
tischen Polemik der fränkisch-alemannische Geschmack Maß und Grenzen liebt.
Ihre Presse und ihre politischen Reden ließen den Widerwillen gewissermaßen
nur durchscheine», den ihnen die preußische Hegemonie erweckte. Wo sie sich
einmal deutlicher äußerte, wie in der Frage der Besetzung des Freiburger Erz-
bischofstuhles oder gegenüber unglaublichen Berufungen an die Landeshochschulen
oder in der Frage der Selbständigkeit der badischen Eisenbahnen, hat ihre
Opposition nicht selten ins Schwarze getroffen und ihnen auch bei solchen
Beifall gewonnen, die ihren Bestrebungen sonst lau gegenüberstanden. Dabei
hielten aber die engen Beziehungen zum rheinischen Katholizismus und durch
diesen zum Zentrum doch die Verbindungen nach allen Seiten offen, und eine
Abschließung wie im Elsaß kam hier niemand in den Sinn. Man kann
sagen, in Baden haben Freund und Feind daran gearbeitet, das Land fester
in das Reich einzufügen, zwar aus sehr verschiednen Gründen und mit einem
sehr verschiednen Maß von gutem Willen, aber immer doch mit demselben Erfolge.
Wie anders das Elsaß. Baden und Elsaß zeigen ja anch, wie ihre
Lage es selbstverständlich macht, in der politischen Entwicklung manche Ähn¬
lichkeit. Vor allem gehört die Erstarkung des Katholizismus in Baden und
im Elsaß zu den großen folgenreichen Veränderungen in Süddeutschland. Beide
sind sich auch darin ähnlich, daß ihre protestantischen Minderheiten bis in die
siebziger Jahre einen überwiegenden Einfluß auf die Politik ausgeübt hatten,
bis die katholischen Mehrheiten sich ans ihre Macht besannen und eine Herr¬
schaft brachen, die wie alle Partei-, Sekten- und Kliqueuherrschaft zuletzt
tyrannisch, kleinlich, ausschließlich, kurz unerträglich geworden war. In Baden
hatten der liberale Rückschlag gegen das geistlose reaktionäre Regiment der
Stengel und Genossen, das sich mit dem Konkordat unmöglich gemacht hatte,
und der Schwung der nationalen Idee, der im Anfang der sechziger Jahre eine
aus Protestanten, liberalen Katholiken und Juden bestehende Kammer mit einer
verschwindenden Minderheit von drei oder vier Ultramontanen zu Stande
gebracht. Ich erinnere mich noch gut der Kammerverhandlungen, in denen der
ultramontane Jakob Lindau aus Heidelberg, seines Zeichens Kleintaufmann in
Wolle und Baumwolle, wie ein Fels im Meere seiner Gegner aufragte, ein
Hüne von Gestalt, ein Redner von Gottes Gnaden, der im bittersten Kampfe
den pfälzischen Humor nicht verleugnete. Den liberalen Beamten und Professoren
stand er als ein echter Volksmann gegenüber, der zu Zeiten auch etwas
Demagogie nicht verschmähte. Das rechtfertigt aber nicht, daß man ihn in
der altkatholischen Bewegung, weil er den Kirchenschatz in sein Haus in Heidel¬
berg gerettet hatte, um die Teilung zu verhindern, wie einen Dieb verurteilte.
Das Gefängnis brach die Gesundheit des Mannes, dem in ruhigern Zeiten
auch Feinde die Hand gereicht hatten.
Im Elsaß hatte das dritte Kaiserreich den liberalisirenden Protestantismus
begünstigt, der durch seine schriftstellernden und wissenschaftlichen Talente, durch
seine Beamten und nicht zuletzt durch seine Pariser Verbindungen einflußreich
war — es war der unterelsässtsche und speziell der Straßburger Protestantismus
Augsburgischen Bekenntnisses; die reformirte Insel von Mülhausen stand diesem
fern. Ohnehin suchte das dritte Kaiserreich der von ihm selbst großgezognen Macht
des Klerikalismus, als sie bedrohlich wurde, überall kleine Hindernisse entgegen¬
zusetzen. Die Elsässer Katholiken hatten sich in den ruhigen Zeiten der fünfziger und
sechziger Jahre ähnlich wie die badischen darein gefunden, daß die Protestanten
überall an der Spitze waren, so z. B. daß sie in der Verwaltung Straßburgs
eine Art erblichen Vorrechts auf die ersten Stellen beanspruchten. Es schien ja
die Stellung der Katholiken in dem katholischen Frankreich gesichert, wo das
Departement des Niederrheins mit einem Drittel protestantischer, Bevölkerung
ijetzt 36 Prozent) überhaupt das protestantischste war. Der Übergang des
Landes an Deutschland änderte plötzlich die Lage. Das Elsaß gehörte jetzt
zu einem vorwiegend protestantischen Reiche, und seine Katholiken waren in
der Minderheit. Zugleich fehlte die starke Hand des französischen Kaiserreichs,
die auf ihnen gelastet hatte. Alles waren Gründe, um den elsüssischen Katho¬
lizismus mobil zu machen. Vereine, Versammlungen, Zeitungen, Broschüren,
Flugblätter: ein Leben wie nie zuvor. In kurzem waren die Verluste der
Franzosenzeit ausgeglichen, die Abneigung im Volke gegen die neuen Herren
und die Neigung derselben Herren, dem Volke im Bunde mit einer Macht, wie
die katholische Kirche sie bietet, entgegenzukommen, forderten diese zu einem
Doppelspiel auf, das in meisterlicher Weise durchgeführt wurde.
Nur politische Träumer mochten diesseits oder jenseits der Vogesen an
ein tiefes Mitgefühl der Kurie mit dem niedergeworfnen Frankreich glauben.
Italienischen Politikern, wie sie im Vatikan sitzen, eine solche Sentimentalität
zutrauen, ist eigentlich eine Beleidigung. Die Realpolitiker sagten sich, daß eine
Verstärkung der deutschen Katholiken durch eine Million unznfriedne Elsässer und
Lothringer in einer Zeit nicht unwillkommen sein konnte, wo sich in dem jungen
Reiche der Kern eines weitverbreiteten Widerstands gegen die Konzilsbeschlüsfe
von 1870 zu entwickeln drohte. Mit dem Protest war den Politikern des Papst¬
tums nicht geholfen, die klerikalen Abgeordneten des NeichSlands nahmen also die
neue Lehre insoweit an, als sie ihnen die Möglichkeit bot, an der Seite des
Zentrums die deutsche Negierung im Reichstag zu bekämpfen. Und dieselbe
Regierung sah dann im Elsaß einen Fortschritt in dem Beginn einer, wenn auch
feindseligen, Teilnahme an den Geschäften und in der Aufgebung des ohnehin
zweischneidigen Protestes. So hat sich zu derselben Zeit, wo in Baden die nationale
Hochflut eintrat, im Elsaß die Erstarkung des katholischen Sonderbewußtseins
unter den günstigsten Umständen vollzogen, und dieses Bewußtsein hatte große
Schritte in der politischen Bahn gemacht, als es in Baden erst anfing, selb¬
ständig gehen zu lernen.
Es ist selbstverständlich, daß die Protestanten von Straßburg und Mül-
hausen und die nicht zu den Ultramontanen eingeschwornen Katholiken auch
die konfessionellen Zwistigkeiten. die nicht fehlen konnten, der deutschen Ver¬
waltung in die Schuhe schoben und sie verantwortlich machten für das greif¬
bare Wachstum des klerikalen Einflusses in der Bevölkerung. In Kolmar
habe ich bittere Vorwürfe gegen sie wegen der Zulassung eines Kapuziner¬
klosters, der Gründung oder Stiftung des Bischofs Ruß, in Siegolsheim im
Knysersberger Thal vernommen mit dem auch sonst zu hörenden Kehrreim:
Das hätten die Franzosen nicht gestattet. Wenn es gilt, der deutschen Ver¬
waltung etwas am Zeug zu flicken, wissen die Elsässer nicht jenseits der Vogesen-
grenze Bescheid, sonst hätte ihnen der Stich ins Spanische nicht entgehen können,
den Kirche und Schule in Frankreich nnter der Republik angenommen haben.
Übrigens hat ihn ein scharfblickender Geist, wie Taine, schon vor einem Menschen¬
alter kommen sehen.*) Das Elsaß wäre von dieser Bewegung nicht verschont
geblieben; hatte sich doch sein Klerus am engsten mit Frankreich verbunden.
Schon äußerlich genommen ist ja auch heute die letzte Uniform, die Frankreich
im Reichslande zurückgelassen hat, die der katholischen Geistlichen. Man kann
nicht leugnen, daß sie Eindruck macht. Sie spielt sich sehr auf. Wo sonst
das bekannte Paar Gendarmen mit den quergesetzten Dreispitzen und dem
gelben Lederwerk paradirte, zeigen sich heute auf jeder größern Station der lange
bis zu den Knöcheln reichende schwarze Rock mit der schwarzseidnen Schärpe,
der breitkrempige Seidcnfilz und die schwarzen, weißberänderten Väffchen. Eine
präsentable Uniform, die sich sehr zur Koketterie eignet, auch zur politischen,
und vor allem den Vorzug aller Uniformen hat, den Korpsgeist zu heben.
Wie bescheiden, bürgerlich-bäuerlich macht sich daneben das Auftreten der
badischen Kleriker, die man in Röcken von jeder Länge und in Hüten von jeder
Form, auch im Schlapphut des Kunstjüngcrs, einhergehen sieht. Darin spricht
sich nicht eine andre Mode, sondern eine gänzlich verschiedne Stellung in der
Gesellschaft aus, und diesem Unterschied entspricht am letzten Ende auch die
verschiedne Art von politischer Stellung und Geltung der klerikalen Parteien
rechts und links vom Rhein. In Baden haben wir eine Opposition wie andre
auch, nur stärker und folgerichtiger, die „mit und gegen" für das Wohl des
Heimatlandes arbeitet; im Reichsland verkörpert sie einen fremden Geist, der
sich dem, den Deutschland dort anpflanzen will, gänzlich unverwandt fühlt.
Die Bedeutung der Abneigung der oberelsässischen Industriellen oder der
Straßburger Sozialdemokraten verschwindet vor der der Klerikalen, die in
Frankreich das Vaterland ihrer kirchlichen und sozialen Ideale sehen. Wer
nun glauben würde, daß etwa die protestantischen Geistlichen des Unterelsaß
durch eine entsprechende Anlehnung an Deutschland eine Art von Gegengewicht
bilden müßten, der irrt sich. Wohl giebt es hier teutschgesinnte Männer, aber
es ist in diesem Stande zugleich auch eine andre Art von Frcmzöselei heimisch:
die Bewunderung der Revolution, die republikanische Gesinnung in der Art,
wie sie im französischen Protestantismus ja immer Boden gefunden hat. Ich
habe sie in unterelsässischen Pfarrhäusern fanatisch entwickelt gefunden.
Ist es bei so vielen Gegensätzen zu verwundern, wenn in den Schichten,
wo die Menschen gewohnt sind und die Zeit dazu haben, ihre Ansicht zu
„kultiviren" und zur Schau zu tragen, Elsässer und Deutsche wie Fluß und
Nebenfluß neben einander in demselben Bette fließen, ohne sich zu mischen?
Ein angesehener ruhiger Manu, Wirt und Bürgermeister in einem vielge¬
nannten Städtchen des Oberelsaß, von der Nüchternheit der Lebensauffassung,
die dort die Leute gern von sich rühmen, schilderte mir die Schwierigkeiten,
die ihm als Wirt die Abneigung zwischen Deutschen und Elsässern gemacht
habe. Es sei besser geworden im einzelnen, aber noch immer habe er das
Gefühl, als ob sie sich den Rücken kehren möchten, wenn sie gezwungen sind, an
demselben Tisch zu sitzen. „Hus vouls? vous? Die Lüd möge sich halt nit, sie
gfallen einander zu schlecht." Ja, das Einandergefallen, darin liegt eben die
Schwierigkeit. Auch Völker lieben und hassen, und die Politik irrt sich gründlich,
die glaubt, dieses ImponclerMIs außer Rechnung lassen zu können. Es ist That¬
sache, Elsüsser und Altdeutsche fließen in den obern Schichten wie zwei Ströme
neben einander, die sich nicht vermischen können. Die zahlreichen Verbindungen
herüber und hinüber, die ein Vierteljahrhundert geschaffen hat, haben im ein¬
zelnen manches gebessert, diese Hauptthatsache haben sie aber gar nicht berührt.
Es ist eine beklagenswerte Schönfärberei, wenn deutsche Beamte bei allen Ge-
legenheiten die Gegensätze als ausgeglichen bezeichnen. Das nützt gar nichts.
Eher schadet es unserm Ansehen, wie denn in diesem ganzen Verhältnis der
Altdeutsche sich viel zu oft in die ungünstige Stellung bringt, daß er möchte,
und daß der Elsässer nicht will. Außerdem leitet er Waffer auf des Gegners
Mühle durch die große Beachtung, die er den kleinen und kleinlichen Gegner¬
schaften, Hänseleien und Chilenen schenkt. Wieviele Kindereien hat die reichs-
ländischc Polizei durch ihren Übereifer erst zu Stacitsciktioneu aufgebauscht!
Ich lege sonst kein großes Gewicht auf schweizerische Urteile über die
Verhältnisse im Elsaß, denn wir sind ja den Schweizern unbequem, seitdem
wir groß geworden sind, und am unbequemsten im Elsaß, wo wir auch alt¬
eidgenössischen Boden einverleibt haben. Aber ich mußte doch einem Basler
Politiker recht geben, der mir angesichts der Erinnerungen an die Selbständig¬
keit Mülhausens, die in dem Nusvö ein visux Nuldouss vereinigt sind, über
den Verfall Mülhausens, nicht der Stadt und der Geschäfte, sondern der
leitenden Familien klagte. Er meinte, der Rückgang habe allerdings schon
mitten in dem größten Gedeihen unter dem dritten Napoleon begonnen, als
das Elsaß allen andern Teilen Frankreichs voran die Erwerbung materieller
Güter der Pflege der Freiheit und Selbständigkeit vorangestellt habe. Aber
auch Deutschland habe, ohne zu wollen, dazu beigetragen, indem es sich in
eine Politik der kleinen, nervösen Maßregeln habe hineintreiben lassen, die nur
dazu gedient haben, daß Deutsche und Elsässer sich wechselseitig das Leben
sauer machten, worüber sie beide größere Ziele verfehlten, die sie zu verfolgen
meinten. Aus meiner Beobachtung oberelsässischen Lebens konnte ich hinzu¬
fügen, daß es jedenfalls die Elsässer sind, die dabei am meisten verloren haben.
Die Auswanderung des intelligenten und thatkräftigen Nachwuchses, der sich
nicht entschließen konnte, sich in die bestehenden Verhältnisse einzuleben, um
sich ihre Vorteile zu sichern, hat gerade in den Industriegebieten des Ober¬
elsaß am meisten dazu beigetragen, daß der Einfluß des einheimischen Elements
so ziemlich in allen Beziehungen gesunken ist. scharfblickende Deutsche haben
schon vor 1870 eine gewisse Partikularistische Verengerung des elsässischen
Gesichtskreises beobachtet. Bei Besuchen in der Weißenburger und Lauter¬
burger Gegend kurz vor dem Kriege im Sommer 1870 gewann auch ich den¬
selben Eindruck, der meinen pfälzischen Freunden längst vertraut war, daß
über dem Unterelsaß eine verschlafne Spießbürgerstimmung schwebte. Es war
ein Mißverhältnis zwischen dem ruhmrediger Sichbekennen zur großen Nation
und dem sichtlichen Bestreben, hinter den Vogesen als Bürger des glänzendsten
Großstaats ein behagliches Kleinstaatsdasein zu führen. Ganz unbegründet
erschien uns damals schon die Überhebung, mit der diese Biedermeier auf die
kleinstaatlichen deutschen Nachbarn herabschauten. Nicht bloß die Badenser
und die Pfcilzer haben unter der Geringschätzung ihrer stammverwandten
Nachbarn zu leiden gehabt, auch die Schweizer hatten sich über so manche
Überhebung ihrer elsässischen Nachbarn zu beklagen.
Wie wenig gut es aber den Bewohnern dieser beiden östlichen Departe¬
ments that, daß sie ein anscheinend gedeihliches, weil von den Strömen der
Zeit viel weniger bewegtes und bedrohtes Dasein führten, als die Nachbarn
überm Rhein und jenseits des Jura, das wußten sie selbst nicht. Die ge¬
waltigen Enttäuschungen der Jahre 1870/71 haben sie vorübergehend aufge¬
rüttelt. Aber nur die einsichtigsten Elsässer vermögen sich zu der Erkenntnis
aufzuschwingen, daß ihre östlichen Nachbarn sie in vielen Beziehungen über-
holen. Es ist eine seltsame Verbindung von philisterhafter Selbsttäuschung
und französischer Überhebung, die sie befangen machte. Dem unparteiischen
Beobachter aber, der heute aus Baden oder der Pfalz oder von der Saar ins
Elsaß kommt, ist es nicht zweifelhaft, daß dort drüben eine kräftigere Luft die
Nerven stählt und die Augen Heller macht. Ein bald dreißigjähriges Schmollen
bedeutet eben einen gewaltigen Verlust an Schwung und Thatkraft. Die männ¬
lichen Eigenschaften gehen unter weibischer Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit
unter. An die Stelle der offnen Aussprache tritt der Klatsch. Man stichelt
auf die Plumpheit, Geschmacklosigkeit, Rauheit der deutschen Sitten und über¬
sieht dabei das wesentlichste, daß wir als das männlichere, durch Selbstzucht
kräftigere, mit ernsten Aufgaben beschäftigte Volk dem verweichlichten, eines
klaren Blickes in seine Zukunft baren Volke gegenübertreten.
Ein gebildeter Bürger im Unterelsaß zeichnete, ohne es zu wissen, sich
und seine Landsleute, indem er von den Franzosen mit feiner Beobachtung
fügte: „Der Franzos isch darin komisch, er isch zu ängstlich. Beim kleinste
0v8eg,o1<z, das er uf seim Wäg findt, retirirt er. Der Dütsche gobe xmr toros
drüber weg. Li'sse Is, raison: der Edmond About us Paris verkauft sein
Ferne unterm Preis und gobe hinter die Vogese zruck." Der leise Tadel war
mir ebenso interessant in diesen Sätzen, wie die Sympathie des stark fühlenden
Mannes für den schwachen. Viele Elsässer schützten eben an den Franzosen
gerade eine Art von Schlaffheit, die die Dinge gehen läßt, wie sie gehen, das
gerade Gegenteil der preußischen Schroffheit und Rastlosigkeit. Es lebte sich
so leicht damit. Jetzt hoffen sie sich in einem reichslündischen Sonderdasein
etwas von diesem Stillleben zu erhalten, und der Ruf: Das Elsaß den El-
sässern! hat bei der Masse keinen edlern Sinn. Aber die Regierenden in
Straßburg werden hoffentlich nach so vielen Enttäuschungen einsehen, daß das
ein ganz andrer Partikularismus wäre als der, dem wir sonst in Deutschland
geneigt sind, ein Daseinsrecht zuzugestehen, und dessen sich einst auch unsre
Landsleute zwischen Rhein und Vogesen erfreuen mögen.
er A sagt, muß auch B sagen, und so gebe ich den Postkarten¬
sammlern unter unsern Lesern wieder Bericht über das, was der
Markt Neues gebracht hat. Vor einem Jahre wurde die Manie,
illustrirte Postkarten herzustellen und zu verschicken, allgemein. Wer
den Anfang gemacht hat, das hüllt sich schon in den Schleier der
Vergangenheit; ich glaube, es war das Hofbräuhaus, wo man schon
seit einigen Jahren derlei angeboten bekam, was beim Frühschoppen abzusenden
meist mehr Vergnügen bereitete als der Empfang, denn es war meist schauerlich.
Plötzlich sing es aber überall an hervorzubrechen und zu rieseln und schließlich
wie ein Strom heranzuschwemmen. Ein Narr macht viele, sagte man sich,
wenn man das Zeug sah und beobachtete, Wie es zu Tausenden gekauft und
mit Marken für Tausende beklebt wurde — in den kleinsten Gebirgsnestern ver¬
doppelte und vervierfachte sich der Verbrauch von Füufpfennigmarkeu. Und dann
kamen die ersten „Küustlcrpostknrten" von Venen in Karlsruhe, Karten, die von
Künstlerhand gezeichnet waren und beanspruchten, von uns gewürdigt zu werden.
Mein Freund W. that es denn auch, ihm machten diese ersten wirklich selbständig
und künstlerisch entworfnen Sächelchen Spaß, die sich weit über den gewöhn¬
lichen Ansichtenkram und die groben Scherze des Hofbräuhauses erhoben. Zunächst
war allerdings die Folge, daß uus ein Leser die flotten aber etwas sezessio-
uistisch hingehauenen Karten von „K. N." einzeln mit der Frage durch die Post
zuschickte, ob wir das wirklich schön fänden. Aber mit den andern schien er doch
einverstanden zu sein, und unser Gewissen konnte sich beruhigen. Dann aber kam
die zweite Folge dieser Besprechung, und das war eine Reihe von Sammlungen
andrer Postkarten, die gleichfalls den Anspruch erhoben, als Künstlerprodukte be¬
rücksichtigt zu werden. Zuerst war mir als Herausgeber von Politik und Litteratur
die Sache halb ärgerlich, allmählich aber fing sie an mich zu reizen: das Sammel-
fiebcr ergriff mich! Ich sagte mir: Diese kleinen Sachen sind gar nicht so uninter¬
essant; sie zeigen den Stand der modernen Technik — denn sie waren mit allem
Raffinement hergestellt— und des modernen Geschmacks; sie sind von ganz ernst¬
haften Malern entworfen, warum soll man sie ganz unbeachtet lassen? In kurzer
Zeit werden sie wieder verschwunden sein; es ist vielleicht der Mühe wert, sie zu
sammeln und aufzubewahren. Ich dachte an die Plakate, die von Anfang an auf-
zubewahren ich versäumt hatte — sie siud jetzt in dem Maße ein Gegenstand des
Snmmelsports geworden, daß z. B. in Frankreich Künstler ersten Ranges — in
ihrer Art — Plakate, die niemals irgendwo angeschlagen werden, nur noch für
Sammler anfertigen; sie werden oft sehr bald mit Hunderten von Franks bezahlt.
Also sing ich an zu beobachten, was erschien, herauszugreifen, was der Beachtung
wert schien, und alles in ein Album zu stecken — es gab ja sofort auch Albums,
ebenso gut wie für die edeln Licbigkarten und andres Schöne, selbstverständlich auch
sehr schnell eine Zeitschrift für das illustrirte Postkartenwesen —, und ich quittirte
auch den Einsendern dieser Erzeugnisse zu Weihnachten über das, was sie gebracht
hatten. Jetzt ist das erste Album, das fünfhundert Karten faßt, schon voll, und
das zweite halb gefüllt. Womit dieses zweite beginnt, werde ich erst am Ende
dieser Revue melden. Zunächst ist ein Rückblick auf eine Fülle vou Erscheinungen
zu werfen, die im Zusammenhang mit dem früher erwähnten besprochen zu werden
verdient.
Bei allen Dingen, mit denen sich der menschliche Geist beschäftigt, giebt es
nach einer Zeit kühnen Aufschwungs Ausartungen nach verschiednen Seiten. Es
ist überflüssig, auf Beispiele hinzuweisen: bei den Postkarten gehen sie in der Haupt¬
sache nach zwei Richtungen. Die eine ist die ganz banale Fabrikation, die allerdings
gleich im Anfang begann, und die sich mit der Wiedergabe von Landschaftsbildern im
Stil der geschliffnen böhmischen Gläser und illuminirten Lithographien unsrer Jugend
begnügt — die gemeinen Pikanterien, mit denen sich unser Jahrhundert auf mehr
als einem Gebiete schmückt, lassen wir unbeachtet. Die andre das Hinausgehen
über den natürlichen Rahmen: die Postkarten, die gar keine Postkarten sind. Zu der
ersten, die ihre Zahl schon nach Tausenden mißt — denn die geschäftige Industrie
sendet ihre Künstler und Photographen von Dorf zu Dorf, und jedes Dorf erhält seiue
nichtswürdigen Ansichtskarten —, sollen die nicht gerechnet werden, die sich mit der
einfachen Wiedergabe einer Landschaftsphotographie schmücken; es giebt sehr hübsche
Blättchen darunter, wie auch in der dazu gehörigen Legion der zuerst in München
gebornen, damals — die ganze Entwicklung der illustrirten Postkarte ist kaum älter
als ein Jahr — sehr überraschenden blauen Mondscheinkarten, auf denen allerdings
der Mond gewöhnlich hinter dem beleuchteten Gegenstand steht. Aber diese Sachen
gehören überhaupt uicht zu dem, was man „Künstlerpostkarten" zu nennen hat. Zu der
zweiten gehört vor allem die Menge der Karten mit Schauspieler- und Musiker- usw.
Porträts, die wohl so ziemlich das albernste auf diesem Gebiete sind, wenn sie nicht
zum Persönlichen Gebrauch der dargestellten Größen gedacht sind; und dann doch
auch die mit Galeriebildern u. dergl., denn was z. B. die sixtinische Madonna mit
einer Postkarte zu thun hat, wird niemand sagen können. Endlich gehören aber
auch die Scichelchen dazu, deren Technik — da doch der eigentliche Zweck der
Postkarten nicht darin besteht, daß man sie für Albums anfertigt — fo zart ist,
daß sie durch die Benutzung ruinirt werden. Damit meinen wir die als Kunst¬
blättchen ganz allerliebsten zwölf Radirungen Karl Oenikes vom Rhein (Verlag von
Rud. Schuster in Berlin), die zehn ebenso hübschen Hamburger von Thiele nach
Zeichnungen von Karl Jcmder (Verlag von Boyseu und Maasch in Hamburg) und
die fünf seinen Frankfurter von Mannfeld und andern (bei A. H. John in Frank¬
furt a. M. erschienen). Hierzu sind auch zu rechnen die zehn in zarter Lithographie
ausgeführten sehr hübschen „Motive aus dem Walde und vom Strande" von
K. Rettich (Verlag von Bernhard Nöhring in Lübeck). Alle diese Sachen sind
wohl Knnstblättchen und als solche unsern Sammlern als Kuriositäten empfohlen,
aber eben doch keine eigentlichen Postkarten.
Indem ich mich nun diesen zuwende, habe ich zuerst die drei Verleger zu
nennen, die auch zuerst mit schönen Sachen hervorgetreten sind: I. Venen in Karls¬
ruhe, Max Seeger in Stuttgart und Joh. Elchlepp in Freiburg. Velten hat
seiner ersten Serie vom Schwarzwald und Oberrhein zwei weitere von je fünf¬
undzwanzig folgen lassen, die auch Szenen am Bodensee haben, von Mutter,
Kiep, Biese, Junker und Völlmy entworfen; sie sind in flotter Aquarellmauier
äußerst sauber hergestellt, in der Farbe sast noch hübscher als die erste Serie, und
können zum größten Teil kleine Kunstwerke genaunt werden. Eine vierte Serie
von Velten enthält fünfundzwanzig Ansichten von München, die sämtlich von Kiep
gemalt sind, aber fast schon ein wenig zu flott, wenn sie auch zum größten Teil
noch sehr hübsch sind. Dasselbe könnte man auch von der fünften Serie (fünf¬
undzwanzig Ansichten von Mutter aus Nürnberg und Rothenburg) und der sechsten
(fünfundzwanzig Ansichten vom Rhein von Franz Hein) sagen; sie find alle sehr
geschickt aquarellirt, fein und geschmackvoll, aber sie haben doch schon etwas hand¬
werksmäßiges an sich, vor allem auch in der Farbengebung, bei der namentlich
das Not und das Lila sich etwas stark vordrängen. Immerhin gehören sie, wie alle
Veltenschen Karten, zu dem Schönsten auf diesem Gebiet, und gehören in jede
Sammlung. Gedruckt sind sie alle in der rühmlich bekannten Anstalt von E. Rister
in Nürnberg.
Seeger hat seine allerliebsten Soldatenkarten von C. Becker inzwischen auf
mehr als sechzig gebracht — die neueste Serie enthält lauter Garde. Sie gehören in
Zeichnung, Kolorit und Druck zu dem Feinster und Zierlichsten, was ich kenne,
nicht nur auf dem Postkartengebiet, sondern auf dem lithographischen überhaupt,
und sind in jeder Beziehung vollendet. Sie erfreuen nicht nur durch ihre Leb¬
haftigkeit und Schärfe der Beobachtung, sondern auch durch den köstlichen Humor
vieler Blätter. Auch eine Serie schwäbischer Typen von Planck mit lustigen Versen
von Grimminger ist hübsch, allerliebst die aus Tirol von Hugo Engl.
Elchlepp hat zwei Serien von je fünfundzwanzig Stück in der Art und Weise
den Veltenschen ähnliche Ansichten eins Württemberg, aus dem Schwarzwald und
vom Oberrhein gebracht, die bis auf vier in etwas andrer Technik von Liebich
gezeichnete sämtlich von Münch gemalt und auch zum großen Teil sehr hübsch und
lobenswert sind, wenn sie auch seinen reizenden Schwarzwaldkarten von Hasemann
nicht gleichkommen, die eben etwas ganz besondres waren.
An diese Sachen reihen sich, in der Art und Weise sehr ähnlich, eine
Serie vom Bodensee von Biese (bei A. I. John in Frankfurt erschienen), die seinen
Veltenschen Karten entsprechen, und eine von W. Jllner gemalte, bei Zimmer und
Munde in Magdeburg erschienene von Harzbildern an, recht wacker gemacht; inter¬
essant sind insbesondre ein paar Bilder alter Häuser aus Goslar und Wernigerode.
Eine zweite Serie, die in Aussicht gestellt ist, wird hoffentlich gerade davon mehr
bringen.
Besonders hervorgehoben zu werden verdient auch eine den vorhergenannten
Sachen nahestehende bei Freytag in Stuttgart erschienene Sammlung von fünfund¬
zwanzig „Schwäbischen Postkarten," auf denen die Maler Cloß, W. Hoffmann,
Käppis, Reiß, Schickhardt und Schmohl eine Reihe von Schönheiten ihres daran
überreichen Ländles in sehr feiner und ansprechender Weise dargestellt haben, und
die entsprechend lithogravhirt sind.
An die Beckerschen Soldatcnbildcr reiht sich eine von demselben Maler ent-
worfne Serie von zwölf Karten „Vom Rennplatz", die bei Meißner und Buch in
Leipzig erschienen ist. Natürlich sind die Bildchen ebenso flott und sicher gezeichnet
und kolorirt wie die andern, und ebenso natürlich wetteifern die Drucke in Schön¬
heit mit den Seegerschen. An die Kriegsmarinebilder von Meißner und Buch,
die wir schon angezeigt hatten, schließen sich die bei F. W. Kühler in Hamburg
erschienenen hübschen zehn Blätter „Hamburgs Hafen" an.
Außer diesen meist gelungner und lobenswerten Sächelchen, die wir allen
Sammlern gern empfehlen, sind noch ein paar Besonderheiten hervorzuheben. Die
erste sind die zehn zur Hälfte blau, zur Hälfte rot gedruckten bei Adolf Titze in
Leipzig erschienenen Postkarten, die Thumann in einer glücklichen Stunde erfunden
hat. Sie werden seinen Verehrern Freude machen: zehn Putten, die wirklich etwas
mit Briefschreiben zu thun haben. Dann eine in den Mitteln sehr bescheidne
— nur schwarze Federzeichnung, zum Teil und einem leichten grauen Ton —, in
der Wirkung ausgezeichnete Sammlung von hessischen Typen, fein und charakteristisch
gezeichnet von Otto Ubbclohde, verlegt von der Elwertschen Buchhandlung in Mar¬
burg. Dann zwei Serien in der Art des Deister Porzellans blau auf weiß ge¬
druckte Bildchen, von denen die eine (bei Dietrich und Komp. in Brüssel erschienene)
zwölf von H. Cassiers gemalte zierliche holländische Landschaftsszenerien bringt —
Mühlen und Wasser mit Schiffen; die andre außer ähnlichem in etwas größerer
Zeichnung auch Stüdteansichten, Architektur und andres nach Art der holländischen
Kachelbilder, fein und technisch gut ausgeführt, von G. Koelewijn in Baarn in
Holland herausgegeben. Und zuletzt noch die ganz tollen, aber sehr fideler und
meist ganz köstlichen Burlesken von E. Hansen: Die Bergriesen der Schweiz (zwei
Serien vou je zehn Blättern) und der Ostalpen (zehn Blätter), die die Berge in
eine Reihe fürchterlicher und komischer Phantasiegestalten mit den merkwürdigsten
Verhältnissen und Beschäftigungen verwandeln. Die muß man sich sichern, ehe sie
wieder vom Markt verschwunden sein werden; verlegt sind sie von Stern und
Albrecht in München.
Allen diesen Kleinigkeiten wird ja kein langes Leben beschieden sein, die Pro¬
duktion ist so groß, daß eins vou dem andern verdrängt werden wird, und das wirk-
lich Gute sich schließlich nicht mehr durchringen kann — es ist schon jetzt gar nicht
leicht, ihm ans die Spur zu kommen. Dabei tragen alle diese schnell aufgeschossenen
Pflänzchen auch bald die Zeichen des Verweilens. Die ersten Würfe sind immer
die besten. Was folgt, wird leicht im Übermaß produzirt und fängt dann an,
banal zu werden. So scheint es mir, wenn ich alle diese Albumseiteu durch¬
blättere, als wäre Seeger — von deu Beckerschen Sachen abgesehen — doch
nie wieder etwas so gelungen, wie seine Jsselschen Schwarzwaldtypen und die
Englschen Tiroler Karten, Elchlepp nichts wieder wie die Hasemannschen Schwarz¬
waldbilder, und wer weiß, ob sie wieder dazu kommen, etwas so Originelles zu
machen. Es leurs eben nicht jeder Künstler so wie der andre, und keiner immer
gleich frisch und gut.")
Die Hnnsenschen Kuriositäten leiten schon zu dem über, was ich mir bis
zuletzt verspart hatte. Erst muß aber noch etwas besprochen werden, dem ich
eigentlich schon die Postkartenberechtigung abgesprochen hatte, und das sind die
„Galeriebilder." Hier ist Adolf Ackermann in München der Beherrscher des
Gebiets. Er hat bis jetzt schon mehr als vierhundert Karten herausgegeben und
kündigt weitere Serien an — es ist also ein ganz gewaltiges Unternehmen! Der
größte Teil seiner Illustrationen sind Wiedergaben von klassischen und modernen
Bildern, die allerdings an sich nichts mit der Postkarte zu thun haben, worüber
auch nicht hinweg hilft, daß Herr Ackermann sie zum Teil mit so schönen Devisen
wie „Glück und Gruß," „Friede sei mit Euch." „Eile mit Weile," „In Harmonie,"
„Auf Wiedersehn," „Gott befohlen." „Mit klopfenden Pulsen." „Makkabäer
Kap. 12, Vers 18" usw. versehen hat. Aber als Bildchen sind sie so köstlich,
daß man sie nur mit Freude in die Hand nehmen kann. Und als Bildchen zeigen
sie noch etwas besondres: daß man mit Photolithographie nicht nur selbstverständ¬
lich etwas viel Schöneres herstellen kann als mit der grauenhaften Zinkographie,
die jetzt von andern Verlegern zu ihren billigen Sammelwerken verwandt wird,
sondern mich ebenso billiges. Eine viermal so große Lithographie würde nicht
viel mehr herzustellen kosten als diese kleinen Blättchen, denn der Papicrverbrcmch
kommt nur auf Bruchteile eines Pfennigs hinaus, sodciß man also mir bedauern
kann, daß sich diese allerliebsten Sammlungen des Postkartenformats bedienen,
allein wegen des Postkartensports.
Neben den Anfängen einer Sammlung klassischer plastischer Kunstwerke hat
Ackermann jetzt schon eine große Anzahl von Meisterwerken der Galerien von
München, Dresden, Florenz, Madrid, Wien, Paris, Amsterdam usw. mit den
Namen aller großen Meister. Daneben eine noch größere Anzahl moderner Bilder
von Vcmtier, Beyschlag, Max. F. A. Kaulbach, Lenbach, Piglheim, Kiesel. Makart.
Defregger, Schmorr, Grützner, Hugo Kauffmann. Schleich und vielen andern, also
ältern und neuern Meistern, vieles Schöne und Berühmte, und alles klar und fein
wiedergegeben. Daran schließen sich ein paar andre hübsche Serien wie z. B.
Sportbilder, Nadlerszenen von Blühen und andern, Ornamente usw. von Herren-
chiemsee, Ansichten von den bayrischen Königsschlössern (Mondscheinserie), auch allerhand
etwas banalerer Kram, Humoristisches und Genrehaftes, sogar etliches Sezessioni-
stisches von Koko Moser, was noch am ehesten der eigentlichen Postkarte entsprechen
kann. Alles in allem eine wirklich erfreuliche kleine Bildersammlung, die für die
liebe Jugend ein so billiges, hübsches und instruktives Sammelmaterial giebt, wie
es wohl nicht noch einmal vorhanden ist, und dafür gebührt Herrn Ackermann
besondrer Dank. Er könnte aber die ganze Sache vielleicht gelegentlich von der
Postkartenfessel befreien, da sie viel mehr wert ist, als dieser ganze Sport.
Und nun kommt das daran, womit ich mein zweites Album begonnen,
und was ich mir bis zuletzt aufgespart habe, das sich aber kein Sammler entgehen
lassen darf. Das ist die Sammlung von hundertfünfzig Karten — so viele habe
ich bis jetzt erhalten — aus dem Verlage von Philipp und Kramer in Wien.
Sezession! So wienerisch und so sezessionistisch wie möglich. Zum Teil sehr
simpel in der Technik, zum Teil brillant, zum Teil sehr geschmackvoll, wenn auch
wunderlich, zum Teil so albern, wie die Sezession nur sein kann. Aber das ganze
Arsenal der Sezessioniflen auf den kleinsten Raum zusammengedrängt. Man kann
bei vielem wirklich nicht anders sagen als! Famos! So macht es wirklich Spaß,
und mau fragt sich: Warum beschränkt sich die Sezession nicht auf Postkarten?
Da ist ihr Gebiet!
Dies bezieht sich hauptsächlich auf etwa die erste Hälfte; die neunte Serie
— Tierkarrikaturen — ist sehr Witz- und geschmacklos. Die achte und die fünf¬
zehnte enthalten Szenen von den österreichischen Alpenseen von A. Hlavacek und
von der Riviera von G. Holub, an sich ganz interessante und zum Teil nette
Blätter, die aber nnter dem rohen Dreifarbendruck leide».
Daß aber auch hier noch ein Übertrumpfen möglich war, zeigen die mit der
größten technischen Vollendung hergestellten beiden Sammlungen von zehn und zwölf
Blättern von Gerlach und Schenk in Wien. Wer die künstlerischen Urheber der
einzelnen Blätter sind, ist nicht angegeben; es kommt auch nichts darauf an, denn
eins ist so verrückt wie das andre, im schönsten Kalligraphenstil der Japaner.
Da sieht man überhaupt nicht mehr, was die Bilder darstellen sollen. Das ist
der Triumph der Sezession und der Postkarte. Und indem ich das anerkenne,
will ich meine Übersicht als abgeschlossen betrachten — ob mir etwas entgangen
ber dann kam ein Tag in der Akademie, da trat der kleine Wilhelm
Niedersteiner aus einem Mauerwinkel auf Rainer zu wie das erste¬
mal: Dn Rainer, ich will dich mal was fragen, ich glaube, ich bin
doch talentlos. Er drückte sich in seine Fensternische zurück und
stierte dnrch die großen Scheiben hinaus, mit weit aufgerissenen
Augen, damit sich die Thrttueu nicht sammeln und noch mehr verraten
sollten, als er sagen wollte.
Rainer sah eine Weile nach ihm hin, dann lachte er laut heraus: Dummkopf,
dn hast einen Malkater!
Ach geh, Rainer, wenn du wüßtest! Ich bin so furchtbar traurig —
Du Grünschnabel, du Mückenei, du denkst wohl, du wolltest uns was Neues
lehren? Dn denkst wohl, wir kennten das nicht? Du meinst, du bist der Erste,
der das erlebt?
Wilhelm antwortete nicht, ihm war verzweifelt zu Mute. Rainer wurde
allmählich weniger unwirsch. Ich will dir sagen, wie das ist, fing er wieder an.
Du siehst, was Reiz ist in der Natur, und einen Pinsel hast du mich in die
Hand bekommen, aber was du machst, ist etwas andres als der Reiz, den du siehst,
und da wird dir so herzbrechend zu Sinn, daß du dich hängen oder ans dem
Fenster schmeißen oder ans die Schienen legen möchtest. Ja mein Junge, das
kennen wir, und falls es dir ein Trost ist, so kannst du wissen, daß Größere das
auch noch erleben. Ihre Augen kriegen einen Seherblick für die Schönheit in
allen verborgensten Ecken, und ihre Hände bleiben eben Hände.
Wilhelm hatte die Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt und den Kopf in
die Hände gesteckt. Jetzt sah er einen Augenblick zu Rainer um, aber mit einem
so erbarmungswürdigen Blick, daß der wieder laut auslachte: Du denkst wohl, es
gäbe ein Rezept gegen deine Schmerzen? Da kann dir nur einer helfen, und das
bist du selber. Sieh doch uur mal, wenn jetzt der Erzengel Michael vom Himmel
käme, extra um dir zu helfen, würde dir das nützen? Oder wenn der Prinzregent
dir ein halbes Regiment Soldaten zu Hilfe schickte? Du bleibst das arme Tier,
das nicht über sich selber weg kann. Aber ein Rezept will ich dir sagen, das ist:
bohren! Geh der Natur zu Leibe, immer wieder, immer wieder. Sieh mal, ich
mache die Natur nach Pore um Pore, und wenn ich einen Kater kriege, so gehe
ich erst recht drauf los. Ich denke, wenn mir die Haare von der Anstrengung
herunterfallen wollen, eh ich den malerischen Reiz croisade, oder die Augen ver¬
glasen, ich lasse doch nicht locker, und da werde ich dich schon mal kriegen, du
Malefizkreatur. Und wenn es mir ein Ohrwaschel wäre, wie ihr hier sagt, das
ich gut gemalt habe, so ist es doch ein Sieg, und ich setze die Verfolgung fort, so
wahr ich Hände habe.
Rainer war je länger je wärmer geworden. Zuletzt hatte Wilhelm seinen
kräftigen Griff an der Schulter gefühlt. Da ging eine der hohen Atelierthüren
auf, und ein paar Köpfe fuhren heraus. Laute Stimmen riefen durch einander,
Rainer sollte kommen, nur schnell. Und fort war er.
Wilhelm blieb unbeweglich stehen. Draußen ans der Rampe spielten die
Modellkinder, baumelten mit den Beine« von der Brüstung herab und sangen im
Sonnenschein. Ihm kam es vor, als ob das etwas fernes, fremdes Ware. Er
konnte sich besinnen, daß er einmal stolz durch die Gänge geschritten war, so als
wenn er mitgetragen würde von der Bedeutung der Kunst, für die hier berühmte
Lehrer arbeiteten, von der Kunst, die etwas wesentliches in der Geschichte der
Völker war.
Der Wahn! Was hatte Wilhelm Niedersteiner mit der Kunst zu thun? Er
war talentlos!
Als die Thür wieder hinter ihm aufging, stürmte Rainer mit einem Schwarm
der andern hervor. Ihr Gelächter erfüllte den weiten Gang. Sie liefen in der
Richtung auf die Treppe zu, Rainer schwenkte einen Augenblick zurück und nahm
Wilhelm am Arm: Komm, wir müssen in die Komponirschule, die Kvnknrrenz-
arbeiten sind aufgestellt. Der schwarze Heyse hat mitgemacht, Karl V. in Se. Just!
Komm doch!
Nein, sagte Wilhelm heftig und halblaut und wollte sich losmachen.
Ach was! Rainer zog ihn mit fort.
Höre doch, Rainer!!
Der sah sich um: El, du siehst mir schön aus, geheult, ja? Aber dafür ist
gerade der Spaß gut. Nachher wird dir das Gewimmer schon vergehen, komm!
Heyse hat natürlich nicht an sich halten können, die Arbeiten find sonst selbstver¬
ständlich anonym, bis das Preisurtcil heraus ist.
Er ließ den Kleinen los und lief um die andern einzuholen, und Wilhelm
folgte jetzt wirklich.
Im Saal der Komponirschule standen Staffeleien Reihe um Reihe. Wil¬
helm drückte sich an den Wänden herum, bis sich die Masse, die zuerst die
besprvchne Komposition gesucht hatte, verteilte. Dann näherte er sich selbst der
Staffelei: Rainer stand noch allein davor und sah sich uach ihm um: Sieh, Wil¬
helm, die dicke Frauensperson, die dem Mönch eine Ohrfeige giebt. Was meinst
du? Sie winkt ihm nur? Darunter steht ja freilich: Die Weltmacht von Karl V.
Abschied nehmend. Dann wirst du wohl recht haben, sie winkt ihm zu. Aber da
kannst dn sehn, wie groß Karls V. Macht war. Das Frauenzimmer sieht aus wie
doppelte Portion. Knauserig ist der schwarze Heyse wenigstens nicht gewesen.
. Sie strichen durch die Reihen. Rainer sprach mit lustiger, lauter Sicherheit.
Wilhelm war gedrückt und schlich sich unter Naiuers Deckung hin, und nur wenn
er sich rasch nach ihm umsah, versuchte er sein Gesicht zu einem lustigen Ausdruck
zu zwingen, gewunn aber bei dieser Anstrengung eine noch kläglichere Miene.
Höre, Knirps, sagte Rainer, entweder du bist im Anfangsstadium der Cholera,
oder du bist ordentlich in die Katerei hineingesunken. Hopp, raff dich auf! Was
mißfällt dir zum Beispiel hier von dem ganzen Kram am wenigsten?
Am besten haben mir die drei Reiter gefallen.
Was für drei Reiter?
Da, in der vierten Reihe, du wirst es schon finden, wenn du suchst, ich muß
nämlich jetzt heim, arbeiten!
Ach was, Dummheiten! Komm mit zu deu drei Reitern; ob du eine Viertel¬
stunde früher oder später berühmt wirst, darüber wird die Nachwelt keine Rechen¬
schaft fordern. Das hier meinst du?
Sie standen vor einer Leinwand in Längsformat: Eine eintönige Landschaft,
schwarzer Himmel und schwarzgrünes Laubwerk, das über einer langen, Weißgranen
Mauer emporragt, und davor drei zerzauste Gestalten auf müden Tieren wartend,
bis das Thor sich öffnen würde: Karl V. vor Se, Just.
Du, es ist wirklich fein, sagte Wilhelm mit großer Lebhaftigkeit, Es schien,
als versänke sein Kummer vor dem Eindruck.
Meinst du? fragte Rainer und lachte kurz auf.
Ja, das ist doch mal was! Es fällt einem ordentlich ein, was der Mann
alles gehabt hat, und wie er jetzt warten muß vor der unheimlichen Mauer wie
irgend einer bei dem scheußlichen Wetter da.
Rainer lachte wieder: Du bist zum totlachen, wenn du dich so ereiferst, schade,
daß du nicht im Kollegium zu reden hast.
Es ist aber so! Wenn mans so macht, ist es schon keine Schande, Historien¬
bilder zu malen, Lache du nur. Ich weiß ja, daß du mich für talentlos hältst,
aber 's ist schon so, mir gefällts!
Ninus nicht übel, mein Kind, sagte Rainer, und zum Trost will ich dir
sagen: Ich Habs nämlich gemacht.
So — ah — Wilhelm wollte etwas entgegnen, blieb aber stumm.
Sperr das Maul nicht so unanständig auf, fuhr Rainer ihn leise an. Die
andern merken sonst was, und da will ich doch erst mal das Urteil der Jury gehört
haben, ehe ich mir den ganzen Chor zum Kritiker setze. Siehst du, ich wollte
ihnen mal zeigen, wie ich mir das denke, wie man das machen könnte ohne ver¬
drehte Augen und geballte Fäuste und bleiche Heldenstirnen, mit einer natürlichen
Temperatur will ich mal sagen. Du weißt schon, sieh mal wie zum Beispiel das
da, so einfach hin — daß ich da übrigens noch nicht drauf geachtet habe! Guck
doch uur hin, Mensch, was für ein feines naturalistisches Ding!
Es war ein kleines Bildchen, ein alter Mann, der in einem Schweinslederband
las, zwischen langstengligeu Bauernblumen, Stockrosen und Kartäusernelken an einer
hohen Mauer.
Rainer lachte wieder: Grandiose Unverschämtheit, so den ersten besten Gro߬
vater da hinzusetzen und ihn Karl V. zu schimpfen! Sehr hart in der Farbe,
aber naiv wirkt es. Naiv ist was Gutes, merk dir das, mein Junge,
Wilhelm stand dabei und rieb die eiskalten Hände unruhig in einander, Zu
sagen fiel ihm nichts ein als: Du Rainer, ich habe Hunger, wir wollen endlich hinaus.
Wenn du Hunger hast, so gehts dir schon viel besser, sagte Rainer, dann ist
dein Kater nicht unheilbar. Und mit einem scharfen Blick auf den Kleinen fuhr er
fort: Wenn ich übrigens mal in Geldnot bin, bringe ich dich zum Oberländer,und
lasse mir den Dienst bezahlen. Dn siehst in jedem Augenblick aus wie irgend
etwas, jetzt gerade wie ein Spatz, der ein goldnes El gelegt hat und selbst davor
erschrickt.
Am andern Morgen früh kam Rainer ohne anzuklopfen herein, als Wilhelm
noch im Bett lag: Den ersten Preis hab ich, und dich habe ich nun auch endlich
erwischt! Er machte mit einer entschiednen Bewegung die Thür hinter sich zu und
setzte sich auf den Bettrand: Gestern abend habe ich schon zu dir herauf gewollt.
Aber unten war zugeschlossen, und auf mein Pfeifen hast du dich tot gestellt.
Wilhelm sah ihn aus verschlafnen Augen abwesend an. Ja, verstell dich nnr,
führ Rainer fort, ich komm dir schon auf die Sprünge. Was ist denn das zum
Beispiel wieder?
Er beugte sich vor und streckte die Hand nach der gegenüberliegenden Wand
aus, die zu nahe war, als daß er hätte aufzustehen brauchen, um hinüberzureicheu.
Zu Wilhelms Entsetzen dreht er ohne die Erlaubnis abzuwarten einen Blendrahmen
um, der mit der Bildflnche gegen die Wand gekehrt stand. Es war eine Kohlen-
zeichnnng: Wieder mal so ein phantastisches Ding! Natürlich wie immer der ge¬
hörnte Großvater. Das ist übrigens nicht schlecht gemacht, wie er da zwischen den
Felsen auf das Liebespaar unten am Ufer hinunter lauert und sich nur halb auf¬
hebt, als wenn das Gold unter ihm nicht kalt werden dürfte.
So macht ers, Wenns Knötel giebt und die Schüssel ihm nicht nah genug steht.
Und auf Thalern sitzt er so bei Tisch?
Sie Sägers, obs wahr ist, weiß ich nicht, denn zu sehen ist nichts. Aber im
Stall erzählen sie sich, er hatte sein Geld im Bett. Und das ist schon wahr, jetzt,
wo er das Reißen so hat, sein Pfühl trägt er sich doch selbst zum Fenster hiu,
wo sein Stuhl steht, und nachts trägt ers selber wieder ins Bett. Da darf keiner
dran rühren.
Nun und hier unter die beiden an der Jsar, auf die du deinen Familien¬
drachen hernnterschnnen läßt?
Die beiden da unten — Wilhelm wurde rot — geh, stells doch weg, das ist weiter
nichts. Ich hab sie mal gesehn unter an der Jsar, wo die Sonne zwischen den
Bnchenstämmen durchkomme — es war ganz malerisch. Ich bin gerade von des
Großvaters Hof nach München zu gegangen, auf dein obern Weg über den Baum¬
wipfeln, und der Großvater mit seinem Geld hat mir noch in Gedanken gelegen:
Davon, wenn ich nur eine Hand voll hätt! — Und was thut er damit! Der
Frende ist er feind! So einer meint doch, es gehe allenthalben auf seine Kosten,
wenn eins vergnügt ist. Wenn er die da unten an der Jsar sehen würde, die
wüßten auch nicht, wie er sich oben würd um Leibe reißen, um ihnen was an¬
zuthun — wie sie dem lieben Gott den Tag wegstehlen! — Und dann hab ich
ihn halt gezeichnet, wie die Knechte uns immer erzählt haben, daß der Tobelmann
auf seinem Schatz sitzt, und wenn er die Menschen lachen hört, macht er einen
Felsblock los und bringt ihn ins Rollen, daß sie hin sind.
Was du für Einfälle hast, Kerl! Und warum zeigst du mir das nicht? D»
hockst auf deinen Scharteken wie der Alte auf seinem Geld. Wenn ich das nun
nicht wieder zufällig ausgegraben hätte, du hättest nicht gemuckst.
Es ist doch wieder so ein phantastisches Ding!
Das schon. Aber wenn mans nicht macht wie der schwarze Heyse, und wenn
du dich nebenher ordentlich vor die Natur setzest und studirst — was würdest du
übrigens sagen, wenn die kleine bunte Großvaterskizze von gestern den zweiten
Preis bekommen hätte?
Wilhelm machte die Augen zu. Das Herz schlug ihm so, daß er fürchtete,
Rainer möchte es hören. Aber er wagte nicht den Mund aufzuthun. Als wenn
er eine Lawine kommen sähe: begraben oder verschont werden, beides lag in dieser
Minute.
Du hast ihn nicht — sagte Rainer und wollte fortfahren. Aber Wilhelm hatte
das Gesicht in die Kissen gedreht und weinte leise.
Rainer war betroffen: Mach dir nichts daraus, Junge, rief er und schüttelte
Wilhelm um den Schultern. Ich wollte nur, daß dus nicht erst drüben hören
solltest, deswegen wollte ich ja schon gestern nacht zu dir.
Wilhelm veränderte seine Lage nicht. Rainer lief in dem engen Zimmer auf
und ab: Ich war in der Allotria gestern abend. Da hab ich mich mit meiner
Maß zum Alten gesetzt, und so allmählich ist alles ans Licht gekommen, daß das
kleine Aquarell von dir ist, und beiß sie sich deinetwegen im Kollegium herum¬
gezankt haben. Es ist viel Ernst in dem kleinen Kerl, sagte der Alte, und sein
Versuch ist gediegne Arbeit. Es ist beobachtet und ohne Flunkerei gemacht. Aber
Prämiiren kann man das doch nicht. Für Historisches hat er eben keinen Sinn,
und die Aufgabe war doch einmal so gestellt, daß man ihr mit einem bloßen Ab¬
schreiben der Natur nicht gerecht werden konnte. Etwas vom Geist der Jahrtausende,
der in der Weltgeschichte webt, mußte sich darin spiegeln! — Da hast dus, was
ich immer gesagt habe! Du meinst, wo denn bei meinen drei Reitern der Geist der
Jahrtausende steckt? Mensch, das ist doch die Mauer vom königlichen Park in Nymphen¬
burg, die ich gemalt habe, da webt sichs schon ganz anders sür so einen Geist als
bei dir, der dn dem Niedersteiner in Pullach seinen Schweinestall Pvrträtirt hast,
oder wozu deine Ziegelwand sonst gehört. Über so was kann ein Professor nicht
weg. Das mußt du nicht verlangen.
Vom Bett aus kam noch immer kein Laut. Rainer drehte sich unbehaglich
auf dem Absatz hiu und her: Du, ich muß jetzt hinüber, sei mal so gut und laß
jetzt das Heulen sein. Ich hätte sie alle miteinander ausgelacht, wenn sie mir den
Preis nicht gegeben hätten!
Ja, und die zweihundert Mark, und dann das vom Vater, was er mir doch
hätt gebe» müssen, wenn ers gedruckt hätt lesen können, daß ich eine Prämie
gekriegt hab . . .
Wilhelm brachte es schnell und heftig heraus und wühlte den zitternden Mund
gleich wieder in die Kissen hinein.
Ja so, das ist freilich schlimm, wenn die Geschäfte so schlecht gehen! sagte Rainer.
Wilhelm fuhr herum, als wollte er ihm an die Kehle: Und wenn ich nichts
mehr hab! Und der Vater! Wenn er aufragt beim Steindrncker in der Blüten¬
straße, und wenn alles heraus muß und er mich holen läßt wie einen Land¬
streicher . . . ?
Rainer räusperte sich: Das ist freilich nicht bequem. Aber warte mal, das mit
dem Bild macheu wir doch! Wir lassen uns vom Professor die Anerkennung für
deinen Erstling schriftlich geben und schicken ihn samt der Belvbignng an deinen
Alten. Der wird dann doch so vernünftig sein und dich unterstützen.
Für dem Großvater sein Bild? In Wilhelms verstörten Augen lag Ent¬
rüstung über den unhaltbaren Vorschlag.
Ach was, Großvater! Das ist Karl V., und wenn dus nicht schickst, thu ichs.
Damit war Rainer zur Thür hinaus, die Treppe sprang er in großen Sätzen
hinunter und fuhr sich dabei ein paarmal mit der Hand über die glatten, blonden
Haare: Den hats, den hats! Er lief, was er konnte: Der Wilhelm mit seinem
Geheul hat mir ganz eng gemacht.
Ein paar Wochen später war es Herbst geworden, und der Wind trug Blätter
vom Sicgesthor her über die Akademiestraße, und in dem Wind flatterte und
sprang eine kleine Gestalt. Sie wehte in der Richtung der Barerstraße auf
eine andre zu, die stämmig und breit gebaut dem Winde entgegenschritt.
Rainer, halt, ich muß dir was sagen!
So komm herauf in mein Zimmer, sagte Rainer. Wenn du nicht einen ernst¬
haften Geldbeutel bei dir trägst, nimmt der Wind dich doch mit fort.
Wilhelm schnappte nach Luft, während sie die Treppe hinausgingen: Das hab
ich dir eben sagen wollen, Wenns das Geld angeht, so hat der Wilhelm Nieder¬
steiner jetzt Gewicht genug.
Rainer blieb stehen. Ist etwas mit deinem Vater?
Mit dem Vater und dein Großvater, mit allen beiden. Aber schließ auf,
Rainer, ich wills dir gleich erzählen.
Sie traten ein, und Rainer fragte: Also was hat dein Alter zu dem Bilde
gesagt?
Rasend ist er gewesen. Wie die Mutter mir geschrieben hat, so hält er mich
jetzt für einen Verlornen Sohn. Die Sache ist so gewesen: Die Mutter hat ge¬
lesen, was der Professor uus aufgeschrieben hat, und das Lob hat sie so gefreut,
daß sie alles zusammengepackt und zur Kegelbahn gebracht hat, wo der Vater den
Abend sein sollte. Er ist der letzte dort gewesen, die andern haben ihn mit Ge¬
schrei empfangen, was sein Bub alles kann, und dann sieht er des Großvaters
Bild. Er bills für Hohn genommen, in seinem Zorn hat ers an sich reißen und
hinschlagen »vollen. Die haben gemeint, es ist ihm um das Geld, das er mir
auszahlen sollte. Sie haben ihm deswegen Sachen gesagt, keiner hat mehr den
andern verstanden, die Rauferei ist im Gang gewesen, bis die Mutter den Vater
mit List und Gewalt auf die Straße und heimgebracht hat. Dort hat sich wenigstens
allein entgelten müssen, sagt sie, aber mit zweien seiner Geschäftsfreunde ist er doch
aus einander. Wenn sie ihn nicht um Gottes willen angerufen hätte, so hatte er
mir geflucht, sagt sie: Und da will er mir ein Geld abjagen mit seiner verruchten
Hetz, statt daß er hingeht und thut, was ich ihn heiße, hat er alleweil ge¬
schrieen.
Ich kann dir versicher», schwindlig ist mir geworden bei dem Brief, ich hab
ihn am Samstag bekommen, als ich hinaus nach Pullach ging. Dort ist von dem
Hof der Joseph gelaufen gekommen, ob ichs schon wüßte? Er hat gerade so ver¬
stört dahergeschaut, wie mirs drum gewesen ist. Ja, sagte ich, ich wüßte es
schon. — Das mit dem Großvater? — Freilich! Aber wie weiß es denn der
Großvater? — Ja, der Herr Pfarrer wäre ja schon dagewesen. — Da haben
Wir gemerkt, daß wir doch nicht dasselbe meinten. Der Joseph hat mir er¬
zählt, mit dem Großvater wär es nicht gut. Bresthaft ist er ja schon eine Weile
gewesen, das hab ich gewußt. Immer wenn ich zum Hofe hinein gekommen bin,
hab ich das knochige Bild am Fenster sitzen sehen, von wo aus er die Wirtschaft
regiert hat, seit er nicht mehr recht hat fort können. Aber nun wär es ganz schlimm
geworden. Die Bäuerin hätte schon gemeint, er stirbt. Er wollte aber keinen
da haben als ihn, den Joseph, er wäre nicht krank, sagte er immer, und die
Bäuerin sollte lieber nach der Arbeit schaun als da herumstehn. Auch jetzt hätte
der Joseph vor des Großvaters Thür gestanden, um der Mutter Bescheid zu
bringen, falls es schlimmer mit ihm würde. Da hätte er nur gerade mich durch
die offne Hausthür kommen sehen und wär mir entgegengelaufen. Während er
auf seinen Posten zurückging, hab ich ihm dann erzählt, was nur begegnet ist, wes¬
wegen 's mich gar nicht gewundert hat, daß alles so anders aussieht, ich bin eben
ganz auseinander gewesen. Der Joseph hat gelacht über meine erbärmliche Miene.
Ich hab gesagt, er soll still sein, daß wenigstens der Großvater nichts merkt. Wie
ich ihm aber dann erzählt habe vom Vater und der Überraschung mit Karl V.,
da ist ihm das Gelächter herausgefahren, und dann hat der Großvater nach ihm
geschrien, und ich habe mich umgedreht und bin vom Hof in den Wald. Am Abend
bin ich heimgekommen, da war der Großvater tot.
Was denn, richtig gestorben? rief Rainer.
Genuß und wahrhaftig, sagte Wilhelm. Es ist ganz schnell eins nach dem
andern gekommen. Erst hat der Joseph ihm die Geschichte mit dem Bild erzählt,
weil der Großvater so nachgeforscht hat, daß ihm Angst geworden ist. Dann hat
der Großvater zu lachen angefangen, hat sichs noch einmal sagen lassen und so
gelacht, daß es ihn ordentlich zusammengeschüttete hat, und dann ist die Schwäche
wieder gekommen, aber so stark wie nie. Die Bäuerin hat heimlich mit dem Knecht
gesprochen, ob mau zum Doktor sollte, da hat der Großvater die Augen aufgemacht
und streng geblickt wie immer. Mit einer ganz lauten Stimme hat er befohlen,
sie sollten sich an die Arbeit machen. Um seinen Tod brauchte niemand Sorge zu
tragen, Wenns Zeit wäre, wollte er schon rufen.
Er hat am Fenster gesessen wie immer, und drüben auf der Tenne haben sie
gedroschen, bis es scharf zwischen die Schläge hineinklang, und das Fenster zu klirren
anfing. Das thut der Großvater, der klopft mit seinem harten Finger an die
Scheiben: Es ist Zeit, der Tod ist da!
Man hat noch gesehen, wie er gewinkt hat, sie sollten fort machen, er brauchte
sie nicht alle. Aber seine Stimme hat nicht durchdringen können, und das Gesinde
ist fort gewesen, wie wenn der Sturm zwischen die Spreu fährt.
Wie die Mutter hinein gekommen ist, hat sie den Großvater schon verändert
gefunden, aber die Gedanken hat er klar zusammengehalten, zäh bis zuletzt.
Er hat bestimmt, was die nächsten Wochen auf dem Feld gethan werden soll,
und zuletzt hat er hinter sich gegriffen, wo das bunte gewürfelte Kissen lag. Da
hat er sein buntes Sacktuch herausgehoben: So, das ist für den Wilhelm, hat er
gesagt. Das mit dem Bild hat mir gefallen, sag ihm das vom Großvater. —
Dann ist er hin gewesen.
Das Sacktuch war schwer, Rainer, Geld genug hätt ich jetzt — Rainer, hörst
du nicht?
Der hatte die Augen starr auf etwas Blankes gerichtet, einen Nagelkopf, der
vom Fenster her einen Lichtstrahl gefangen hatte. Freilich höre ichs, sagte er,
ohne die Blicke abzuwenden. Aber was ist da weiter zu sagen? Freu dich doch!
du kannst es jetzt und ansehen. Ich sage ja immer, wenn einer nur gesund ist und
ganze Strümpfe hat! Und du hast ja außerdem noch Geld.
Nein, Rainer, wenn du so sprichst, das halt ich nicht aus. Mir hat selber
gegraut vor dem vielen Geld, wie ichs hente nacht neben mein Bett hingelegt
habe. Und dann hab ich denken müssen, jetzt wenns wahr wäre, daß ich Talent
habe, jetzt könnt es drauf losgehen und was werden. Verdienen brauch ich nicht
mehr. Jetzt könnt ich Modell nehmen, soviel ich will, und machen, was mir ein¬
fällt. Aber das ist es ja gerade, du sagst, das ist nichts, und wenn ich denke, ich
soll in meinem Leben nichts zusammenbringen, als was dem schwarzen Heyse seiner
Weltmacht gleicht, dann lieber mit dem Joseph draußen auf dem Mist stehn!
Wilhelm schwieg und sah bedrückt zu Renner hinüber: Du sagst auch gar
nichts!
Rainer trat auf die Wand zu und faßte den Nagelkopf, als wenn ihm das
die Handhabe zu einem Entschluß geben könnte. Dann wandte er sich um und
sagte: Höre, mein Junge, das mit dem Geld ist in der Ordnung, das kannst du
brauchen. Der Großvater hat sein Porträt nicht zu teuer bezahlt, denn merk dir
etwas: Ich habe es gleich am ersten Tage gewußt, als du mir deine Sachen
brachtest. Du weißt schou, ich will die da drüben in der Akademie überleben.
Nicht mit den Jahren, das ist mir einerlei. Aber ich will meinen Namen zwischen
sie legen, wie man einen Fettstein in einen Sandhaufen schmeißt. Wenn der Sand
lauge verweht ist, bleibt doch der Stein. Und daß dus nur weißt: Du wiegst
uicht leichter als ich.
Über die Aufstündischen in Kuba soll
Fürst Bismarck geäußert haben: Die wollen plündern; mit ihnen über Autonomie
verhandeln zu wollen, wäre Thorheit. Daß die Spanier mit ihnen nicht haben
fertig werden können, hat wohl hauptsächlich darin seinen Grund, daß sie von Nord¬
amerika her fortwährend mit Geld und Waffen unterstützt worden sind. Doch nicht
bloß damit, sondern auch mit Hilfstruppen sind sie von dorther unterstützt worden,
denn, wie man in den Zeitungen gelesen hat, sind viele Abenteurer vou dorther
zu ihnen gestoßen, die wohl nicht ans eigne Kosten hingegangen sein werden. Ja es
scheint fast, als ob der ganze Aufstand überhaupt von dort aus angestiftet worden sei.
Wer hat das alles gethan? Die Regierung der Vereinigten Staaten? Der Prä¬
sident? Doch sicherlich nicht, wenn er auch Kenntnis davon gehabt haben mag.
Denn politische Gründe, die es für die Vereinigten Staaten besonders wünschens¬
wert oder notwendig machten, Kuba zu besitzen, liegen durchaus nicht vor, auch
strategische Gründe nicht. Wenn die Amerikaner nach Eroberung, Ausdehnung,
Machterweiterung verlangten, so lüge es näher für sie, nach dem Besitz von Mexiko
zu streben, das nur ein Fluß von ihnen trennt und das ihr Gebiet geographisch
vervollständigen würde, als nach dem Besitz der Antillen.
Neuerdings hieß es, Nordamerika bedürfe einer Flottenstation auf Kuba, um
die Durchfahrt nach dem Nicaraguakanal zu beherrsche». Das scheint doch etwas
weit hergeholt und ein leerer Vorwand zu sein. Somit können es nur Privat¬
interessen sein, die den Besitz der Insel wünschenswert machen. Wer sind nun die
Leute, die den Aufstand unterhalten und zum Kriege getrieben haben? Is even,
cui xroclsst. Der „Zuckerring," hieß es, habe zum Kriege getrieben, aber aus
welchen Personen dieser besteht, wurde nicht gesagt. In einer Zeitung war neulich
zu lesen, „eine gewisse Gruppe im Kongreß" übe einen Druck auf deu Präsidenten,
mit der Besitznahme von Kuba energisch Ernst zu machen. An den Philippinen
also scheint dieser „Gruppe" nicht so viel gelegen zu sein. Auch hier wird nicht
gesagt, was das für eine Gruppe sei. Die Ausdrucksweise ist dieselbe, die man
in den Zeitungen so oft findet, daß es nämlich heißt: „gewisse Leute." Mau wagt
nicht, sie zu nennen, und doch weiß alle Welt, wer damit gemeint ist. (Sie selbst
nennen sich zur Zeit „Republikaner.") Fast die gesamte Presse treibt diese Heuchelei
und hilft mit vertuschen und verschleiern.
Daß diese „gewissen Leute," wie in Amerika überhaupt, so namentlich auch
im Kongreß einen ganz außerordentlichen Einfluß haben, hat man schon bei ver-
schiednen Gelegenheiten wahrnehmen können. Da also ist die eigentliche, wahre Ur¬
sache des Krieges zu suchen. Es ist die Habgier derer, die man nicht nennt, aber
meint, die den Krieg herbeigeführt und durch deu Aufstand vorbereitet haben, weil sie
in den Alleinbesitz der Reichtümer der Insel gelangen wollen. Es ist dieselbe Macht,
die auch vor zwei Jahren deu Einfall des Dr. Jameson in Transvaal ins Werk gesetzt
hat. Bevor der Krieg ausbrach, las man in den Zeitungen, wie die Aufständischen
die großen Etablissements einer genannten deutschen Tabaksirma auf Kuba ge¬
plündert, in Brand gesteckt und deren deutsche Beamte ermordet hätten. Das könnte
wohl geschehe« sein nach eiuer erteilten Instruktion. Die Firma wird nun wohl
ruinirt sei«, und ihr Besitz kann in andre Hunde übergehen. Auch darin ist eine
Bestätigung des Gesagten zu erblicken.
Wie viel Menschen sind dieser Habgier schon geopfert worden, und wie viele
werden noch geopfert werden! Wann wird die Welt endlich einsehen, wie die
stumme Macht, die mau nicht neunt, in stetem Wachsen begriffen ist, und wann
werden die Völker aufhören, sich von dieser Macht tauschen und beherrschen zu lassen!
Die neue Militärstrafproze߬
ordnung hat die Regelung der Frage, ob Bayern ein Neservatrecht auf einen eignen
obersten Militärgerichtshof zusteht, offen gelassen. In der Sitzung der bayrischen
Abgeordnetenkammer vom 2. Juni d. I. hat sich der Kriegsminister von Asch
auf eine Anfrage dahin geäußert, daß gegenwärtig Verhandlungen hierüber von
Souverän zu Souverän gepflogen werden. Es ist eine allbekannte Thatsache,
daß sich der Prinzregent von Bayern für verpflichtet erachtet, an dem Rechte
Bayerns auf einen eignen obersten Militärgerichtshof festzuhalten, und daß ihm
hierin die Bevölkerung Bayerns und die bayrischen gesetzgebenden Körper treu zur
Seite stehen. Der berufenste Interpret der Versailler Verträge, Fürst Bismarck,
hat zudem erklären lassen, daß Bayern ein Reservatrecht auf einen obersten Ge¬
richtshof hat. Wir glauben, daß es gerade in diesem Punkte der jetzt in Berlin
befolgten Politik der Sammlung entsprechen würde, wenn die Preußische Militär¬
verwaltung das bayrische Reservatrecht vorbehaltlos anerkennen würde. Damit
würde den Preußischen Rechten nichts genommen, und um eine divergirende Recht¬
sprechung zu vermeiden, wird sich leicht eine Bestimmung finden lassen, wonach in
prinzipiellen Fragen, ähnlich den Plenarentscheidungeu des Reichsgerichts, die beiden
obersten Gerichtshöfe zusammentreten müssen. Ein Nachgeben Preußens würde nur
eine Rückkehr zu der Politik Bismarcks bedeuten, die immer die Sonderrechte der
Einzelstnaten ans das sorgfältigste gewahrt hat. Unter Bismarck wäre diese Frage
Wohl nicht ungelöst vor den Reichstag gekommen, und der Gegensatz zwischen dem
preußischen und dem bayrischen Vertreter in der Neichstngssitzung nicht zum Aus¬
druck gelangt. Das Ausland, voran Frankreich, Ware dann nicht in der Lage ge¬
wesen, hieran die unbegründetsten Kommentare zu knüpfen. In Bayern werden
die Reservatrechte in allen Kreisen als eine unberührbare Sache hochgehalten, und
gerade die Frage der Erhaltung eines obersten Militärgerichtshvfs wird von reichs¬
feindlicher Seite gegen Preußen agitatorisch sehr ausgenutzt. Wohl wird dadurch
das feste Gefüge des Reichs in keiner Weise gelockert; allein es würde doch ein
wichtiger Zug einer reichsstärkenden Politik sein, gerade in dieser Frage Bayern,
dem zweitgrößten Bundesstnate, entgegenzukommen und ihm seinen obersten Militär¬
gerichtshof zu lassen.
Wir bitten »«fre Freunde und Leser, die jetzt i» Bilder >>»d Sommerfrische» »ehe» werde»,
überall, w» die «ircnzbotcn noch nicht i» de» Knrhiinsern usw. »ehalte» werde«, auf dere« An-
schasf«um Z» dri»»en, »»» damit mich für die wohl auch ihnen erwünschte immer »riiszcrc Verbreit»»»
der Zeitschrift zu wirken. Unsre Hefte werden sehr reich an interessante» »»» wertvolle» Beiträgen
sein, «ö sind aber jetzt vielleicht bessere Aussichten fiir die Verbreit»»» der «ircnzbotcn borhandeu
als je, da sich »röszerc Kreise des Publikums bon »»der», abzuwenden bcainnen, von dem sie sich in
den letzten Jahren hatte» blenden lasse».
Zur Beachtung
Mit drin nächste» Krfte beginnt dies- Zeitschrift das Vierteljahr ihres S7. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postonstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis fiir das Vierteljahr !> Mark. Wir bitten, die Krstrllnng schleunig zu
erneuern.
Keipzig, im Juni 1898Die Verlagshandlung