Dieses Werk ist gemeinfrei.
Fraktur
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Nachkorrektur erfolgte automatisch.
]]> eleven die Menschen angefangen haben, über den Staat und sein
Wesen nachzudenken, haben sich zwei verschiedne Anschauungen
ausgebildet. Die einen sehen den Staat von oben an, die
andern von unten, die einen als Negierende, die andern als
Regierte, die einen vom politischen, die andern vom sozialen
Standpunkt aus. Im klassischen Altertum herrschte die harte politische Ansicht.
Der Mensch ging als Bürger völlig im Staate auf, war nur für den Staat
da; selbst die Religion war Staatssache, ein Konflikt zwischen weltlicher und
geistlicher Gewalt so gut wie unmöglich. Erst im sinkenden Altertum regte
sich die Sehnsucht nach einem persönlichen, privaten Dasein ohne Anteil am
Staat, und von einer unwiderstehlichen Reaktion der Persönlichkeit gegen den
harten Zwang des Staats wurde das Christentum mit zum Siege geführt. Daher
stand im Mittelalter die Kirche, die herrschende geistige Macht der Zeit, dem
Staate gleichgiltig und verständnislos gegenüber; sie sah in ihm eine unter¬
geordnete, auf die allerdringendsten Aufgaben des Waffen- und Rechtsschutzes
beschränkte Einrichtung, das Reich der Welt, der Sünde gegenüber dem Reiche
Gottes, der Kirche. Erst Luthers Reformation brachte in ungewollten Zusammen¬
wirken mit dem großen Heiden Macchiavelli eine Wandlung der Anschauung
nach der politischen Seite hin; der Staat erschien jetzt als eine göttliche
Ordnung wie die Kirche, mit sittlichem Selbstzweck und ihr als irdische Macht
übergeordnet, aber daneben erhielt sich in der römischen Kirche die mittel¬
alterliche Auffassung bis zur Stunde. Indem sich nun aber dieser neue Staats¬
begriff im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert immer schärfer nach der
antiken Seite hin ausbildete und dem Staate eine absolute, alle Seitendes
Menschendaseins leitende, selbst die Kirche als eine staatliche Polizeianstalt zu
staatliche» Zwecken brauchende Gewalt zuschrieb, trieb sie im vorigen Jahr-
hundert abermals eine starke Reaktion der Persönlichkeit, des Individualismus
hervor, die im Staat eine zwar unentbehrliche, aber leidige Zwangsanstalt
sah und die möglichste Freiheit des Einzelnen nicht sowohl im Staat als
vom Staat verfocht, in der ungehinderten Ausgestaltung der Persönlichkeit
das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins sah. Diese naturrechtliche An¬
schauung lebt im Grunde noch heute im Liberalismus fort. Er sieht im
Staat am liebsten auch nur eine Anstalt zur Wahrung der öffentlichen Sicher¬
heit und will ihn von der Einwirkung auf das wirtschaftliche und geistige Leben
möglichst fernhalten, und das Ziel aller Staatsthätigkeit ist sür ihn das mög¬
lichste Maß von Wohlbefinden jedes Einzelnen. Er betrachtet also den Staat
wieder nur von unter, vom Standpunkte der Regierten, vom sozialen Stand¬
punkt aus, und die Sozialdemokratie zieht aus diesem Standpunkte die äußersten
Folgerungen.
Dem entspricht nun ein eigentümlicher Gegensatz der geschichtlichen Auf¬
fassung. Von ihrem kleinbürgerlichen Liberalismus aus sahen Geschichtschreiber
wie Schlosser und Gervinus die Geschichte schlechterdings nur als Regierte, also von
unten, in den Leitern der Staaten meist eine Gruppe von Gewaltmenschen, Schuften
oder Dummköpfen, in der Weltgeschichte eine Kette von gelungner oder mi߬
lungnen Schurkenstreichen. Erst Ranke lehrte die Geschichte wieder vom Stand¬
punkte der Regierenden ans betrachten, die Politik aus der Lage der Staaten
und aus ihren Beziehungen unter einander begreifen, ohne sich anzumaßen,
sie als Moralist mit dem Katechismus in der Hand zu meistern. Natürlich,
daß ihm da die leitenden Persönlichkeiten, in deren Beweggründe und Hand¬
lungsweise er tief hineinblickte, im Vordergründe des Interesses und der
Schilderung standen, die Massen, bei denen das viel schwerer, oft ganz
unmöglich ist, zurücktraten. Dieser unzweifelhaften Einseitigkeit stellt sich
seit einiger Zeit eine andre nicht minder einseitige Richtung entgegen. Sie
sieht in den wirtschaftlichen und geistigen Massenbewegungen den Hauptgegen¬
stand aller Forschung und Darstellung, faßt die „Helden" zwar nicht gerade
als bloße Erzeugnisse dieser Massenbewegungen auf, schränkt aber die Selb¬
ständigkeit, also die Bedeutung der großen Persönlichkeiten sehr ein und erblickt
im Staate nur etwas von der allgemeinen Kulturentwicklung bedingtes, kehrt
daher das bisherige Verhältnis zwischen Staats- und Kulturgeschichte zu Gunsten
der zweiten geradezu um. Sie steht also auf sozialem, nicht auf politischem
Standpunkt und sieht den Staat schlechterdings nur von unten.
Bei der stark ausgeprägten Neigung des Deutschen zu individueller Selb¬
ständigkeit und absprechender Kritik über alles, was eine Regierung thut oder
nicht thut, bei unserm verrannten Doktrinarismus und unsrer aus nlledem
hervorgehenden geringen politischen Befähigung, bei der Macht, die eben des¬
halb gerade bei uns die Sozialdemokratie auf die Massen ausübt, ist das Auf¬
treten dieser ziemlich anspruchsvoll sich gebärdenden Geschichtsauffassung und
das Fortwirken jener einseitig sozialen Ansicht des Staats, wie sie besonders
im Bürgerinn: noch herrscht, das sich überhaupt gern als die Nation schlecht¬
weg und seine Standesinteresseu schlechthin als nationale ansieht, keineswegs
unbedenklich. Wenn ein Volk der Ehrfurcht vor dem Staate, dem nationalen
Staate, bedarf, so sind das wir Deutschen mit unserm schwachen Nationalgefühl.
Es ist deshalb dankbar zu begrüßen, daß als letztes Vermächtnis H. non Treitschkes
seine „Politik" nach seinen Vorlesungen herausgegeben worden ist/") Der Text
beruht auf genauen stenographischen Niederschriften namentlich aus den Winter¬
semestern 1891/92 und 1892/93. und man sieht es ihm in der That auf den
ersten Blick an, daß er den Vortrag des Redners so gut wie wörtlich wieder¬
giebt; so charakteristisch ist die Ausdrucksweise, und doch wieder wesentlich ver¬
schieden von der Art, wie er schrieb. Wer Treitschke aus seinen historischen
Werken und seinen politischen Aufsätzen kennt, wird sachlich kaum etwas Neues
finden. Aber diese Anschauungen nun im logischen Zusammenhange und doch
ohne die dürre Schablone eines Lehrbuchs kennen zu lernen und in jedem
Zuge das alte vertraute Bild des unvergeßlichen Lehrers wieder zu finden
gewährt einen ganz besondern Genuß. Es ist, als wenn man ihn reden horte,
ihn vor sich sähe, und das Ganze wirkt oft wie ein politisches Erbauungs¬
buch. Und doch ist keine Spur von dem Pathos darin wie in seinen andern
Werken. Aber mit männlicher Offenheit sucht er, unbeirrt durch Vorurteile
und Phrasen, die Wahrheit und spricht sie furchtlos aus, wie sie ihm erscheint.
Bescheiden giebt er zu, daß jede politische Theorie dem Leben des Staats
gegenüber mangelhaft bleiben muß, daß das Rätsel der Persönlichkeit, die
fortwährend und unberechenbar eingreift (denn „Männer machen die Geschichte,"
und „die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht"), den Politiker
hindert, irgend ein für alle Zeiten geltendes exaktes System aufzustellen,
und daß er nur einzelne sittliche Entwicklungsgesetze erkennen kann, daß es bei
der „radikalen Sündhaftigkeit" des Menschengeschlechts eine Thorheit ist, einen
absolute» sittlichen Maßstab an politische Handlungen anzulegen, und an einen
unbedingten Fortschritt der Menschheit zu glauben, und daß alle geschichtliche
Betrachtung zum müßigen Spiele wird ohne die Voraussetzung einer sittlichen
Weltordnung und eines lebendigen Gottes. So weit entfernt ist er von jedem
Doktrinarismus, deun er urteilt nicht als Jurist, sondern als Historiker.
Da es unmöglich ist, im Rahmen eines Artikels von dem ganzen reichen
Inhalte des Bandes eine Vorstellung zu geben, so beschränken wir uns hier
auf die Leitsätze des ersten für das ganze Werk grundlegenden Buches: „Das
Wesen des Staates." „Der Staat ist das als unabhängige Macht rechtlich
geeinte Volk." Ihn schlechthin als „Organismus" zu bezeichne«, ist unstatthaft,
weil das sein Wesen nicht erschöpft. Denn da er eine Gesamtpersönlichkeit ist,
so macht der Wille sein Wesen aus, und er ist, wie der Mensch, nur denkbar
als einer unter vielen, denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich seine
eigentümliche, ihn von andern Staaten unterscheidende Persönlichkeit entfalten.
Durch ein Weltreich „diesen Wettstreit aufheben zu wollen ist Unvernunft,"
umso mehr, je schärfer sich mit den Fortschritten der Kultur die Völkerpersön-
lichkciten ausbilden. Um seinen Willen durchzusetzen, muß der Staat Macht
sein; daher bestimmen ihn nicht die Ideen, sondern der Charakter. Als souve¬
räne Macht, die keine menschliche Gewalt über sich anerkennt, setzt er die
Schranken seiner Macht sich selbst, übt das Recht der Waffen und muß
die Kraft haben, sich als souveräne Macht gegen andre Staaten zu behaupten.
Diese Kraft, sich selbst zu genügen (Autarkie), ist aber nicht auf allen Kultur¬
stufen dieselbe. Im klassischen Altertum und im spätitalienischen Mittel¬
alter hatten sie Stadtstaaten, wie Athen und Sparta, Florenz und Venedig,
seit dem siebenjährigen Kriege in Europa haben sie nur die fünf oder sechs
Großmächte, im nächsten Jahrhundert werden sie nur die Weltmächte haben,
d. h. die Großstaaten, die auch in fremden Erdteilen herrschen. Im all¬
gemeinen ist der Großstaat, trotz mancher Schattenseiten (wie Schablvnisirnng),
dem Kleinstaate weit überlegen durch die Stärke des Wasfenschutzes, die allseitige
Rechtsentwicklung, die wirtschaftliche Sicherheit, den starken Nationalstolz, den
weitblickenden Weltsinn, die Entstehung großer Hauptstädte als mächtiger
Kultnrmittelpunkte. Daher sind alle großen Werke der Kunst und Dichtung
nur auf dem Boden großer Nationalitäten entstanden, und die deutsche klassische
Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht durch die Kleinstaaterei,
sondern trotz der Kleinstaaterei geschaffen worden.
Staat und Gesellschaft können sich nur theoretisch decken, denn die Gesellschaft
lebt rascher als der Staat; dieser kann mit seinen Bestimmungen wirtschaftlichen
und sozialen Erscheinungen nur folgen, nicht vorangehen. Er muß dabei über
den Parteien der Gesellschaft stehen, denn diese müssen sich beständig bekämpfen,
weil sie den miteinander ringenden Interessen entspringen, die fortwährend die
Gesellschaft zerreißen, sie würden also, sich selbst überlassen, die Gesellschaft selbst
auflösen; die Voraussetzung von der natürlichen Harmonie aller berechtigten
Interessen ist falsch. Am besten wird der Staat der natürlichen gesellschaftlichen
Gliederung dann entsprechen, wenn er monarchisch oder aristokratisch geordnet
ist, denn jede Gesellschaft ist eine natürliche Aristokratie, weil jede Kultur nicht
nur dienende Elemente fordert, sondern überhaupt nur dann erhalten werden
kaun, wenn die ungeheure Mehrheit der Menschen körperlich arbeitet und so
die groben Bedürfnisse sicher befriedigt, und diese natürliche Ordnung ist auch
gerecht, denn das Glück des Menschen beruht gar nicht auf der geistigen
(intellektuellen) Bildung, sondern auf den Gütern des Gemüts, und diese sind
auch dem Ärmsten zugänglich. Daher enthält schon der Name der Sozial-
demokratie einen Widerspruch, und ihr Streben geht wider die menschliche
Natur. Der Staat kann also die Arbeit der Gesellschaft nur ordnen und schützen,
er kann und soll gar nicht alles leiten, aber er ist die Voraussetzung für die
Dauer der Völker. Die „Volksseele" (als ein wollendes, also wirkendes Wesen)
ist „eine modisch gewordne Gelehrtenverirrnng," denn die Volksseele kann
gar nichts wollen, wollen kann sie nur durch den Staat und im Staate.
Daher ist auch alle Geschichte zuerst politische Geschichte; Gelehrte und Künstler
gehören auch in die Geschichte, aber das geschichtliche Leben geht in ihrem
Schaffen nicht auf, und rein kulturgeschichtliche Werke, die vom Staat und von
der Welt der That absehen, haben immer etwas Lückenhaftes. Im übrigen „ist es
eine wunderliche Eitelkeit unsers Jahrhunderts, zu meinen, daß diese Geschichte
der Kultur in Geschichtswerken etwas neues sei"; schon Herodot hat zur vollen
Hülste Kulturgeschichte. Aber sie kann allenfalls auch fehlen, die Politik da¬
gegen niemals. Ein Geschichtsschreiber ohne politischen Sinn wird also niemals
in den Kern der Dinge eindringen.
Als Zweck des Staats läßt sich kein Maximum seiner Leistungen be¬
stimmen, da er sich kraft seiner Souveränität selbst die Grenzen seines Wirkens
setzt, sondern nnr ein Minimum, und dies besteht auch bei den unvoll¬
kommensten Staaten im Waffenschutz nach außen, im Rechtsschutz nach innen.
Also ergiebt sich der Krieg ans dem Wesen des Staats, und er kann zwar
seltner werden, aber nie aufhören, solange es Staaten giebt; der „ewige
Friede" ist schon ein logischer Unsinn. So erscheinen Heerwesen, Rechtspflege
und Finanzwirtschaft als die nächsten Aufgaben des Staats. Aber seine
Thätigkeit erweitert sich mit der Entwicklung der.Kultur, nur daß sie zugleich
immer indirekter wird, und da der Staat seinem Wesen nach eine sittliche
Gesnmtpersönlichkeit ist, so hat er das Volk zu einem wirtlichen Gesnmtcharakter
auszubilden.
Als sittliche Gesamtpersönlichkeit steht der Staat unter dem allgemeinen
Sittengesetz und darf sich nur sittliche Zwecke setzen, wenn er sich nicht selbst
aufheben will; die bloße Zweckmäßigkeit als oberstes Gesetz für staatliche
Handlungen, wie es Maechiavelli aufgestellt hat, ist deshalb unhaltbar. Wenn
Politik und Moral in Gegensatz geraten, so ist das ein Gegensatz entweder
zwischen zwei Pflichten, wie er mich im Privatleben tausendfach vorkommt,
oder zwischen politischem Handeln und positivem Recht. Diesen muß der
Staatsmann lösen nach dem Wesen des Staats, und das macht es dem
Staate zur obersten aller Pflichten, seine Macht, d. h. sich selbst zu behaupten,
weil es etwas Höheres über ihm gar nicht giebt. Der Einzelne kann und
muß sich dem Ganzen opfern, ein Ganzes, dem sich der Staat, einer, der es
wirklich ist, opfern könnte, giebt es nicht. Daß ein Staatsmann nicht ohne
tragische Schuld aus solchen Konflikten hervorgeht, folgt aus der allgemeinen
Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts.
Der Staat, uranfänglich und notwendig, wie er ist, ist nicht entstanden
aus irgendwelchem Beschluß oder Vertrag des souveränen Volks, sondern
aus einer Erweiterung der Familie, später durch Unterwerfung schwächerer
Gemeinschaften durch eine stärkere, und der Krieg ist immer die wichtigste
unter den staatenbildenden Kräften geblieben, hinter der alle andern weit
zurückstehen. Daher ist auch der Bestand der Staaten in fortwährender Ver¬
änderung begriffen, sie erweitern ihr Gebiet durch Eroberung, Kolonisation usw.,
und sie verlieren wieder Teile davon. Auch die innern Verhältnisse wandeln
sich beständig, entweder durch friedliche Reformen oder durch Revolutionen.
Die Revolution ist kein Prinzip, sondern ein gewaltsamer Bruch des positiven
Rechts von oben oder von unten her und insofern immer mit einem Unrecht ver¬
knüpft, aber dann notwendig, wenn es kein andres Mittel giebt, einen im
Wesen des Staats liegenden wichtigen Zweck zu erreichen, und gerechtfertigt,
wenn er dauernd erreicht wird.
Der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten liegt in der Natur
des Staats, daher auch der Unterschied in der Anschanung vom Staate.
Die der Regierten kommt in der sogenannten öffentlichen Meinung zum Aus¬
druck, doch kann diese auch gröblich irren und ist selten einheitlich, sondern
setzt sich aus deu Ansichten der einzelnen Parteien zusammen. Diese selbst
entstehen und vergehen mit den Interessen, denen sie dienen; rein prinzipielle
Parteien giebt es gar nicht, denn uicht das iäkrn 86vtir<z, sondern das iäöiu
vslls macht die Partei. Wenn die Regierten „Freiheit" fordern, so ist das
zunächst ein negativer Begriff; einen positiven Inhalt giebt ihm erst der
Staat, und zwar nach zwei Richtungen. Die politische Freiheit besteht erstens
in der Teilnahme an der Verwaltung, die notwendig zu einer aristokratischen,
nicht zu einer demokratischen Ordnung führt und eine um so kräftigere Stcmts-
gesinnnug erzeugt, je größere Kreise sie mit den Anschauungen der Regierenden
erfüllt, sodann in einer Reihe von persönlichen Rechten (Sicherung des phy¬
sischen Daseins, der persönlichen Freiheit, des Erwerbs, der Meimmgsäußernng,
der Religionsübung, Gleichheit vor dem Richter usw.); doch sind keine
davon etwa „angeboren," und der Staat kann sie je nach seinem Bedürfnis
erweitern oder einschränken. Die Gleichheit kann er vernünftigerweise nnr dn
gewähren, wo sie der Natur entspricht; daher ist das allgemeine gleiche Stimm¬
recht unvernünftig. Gar nicht anerkennen kann er ein Recht des Wider¬
standes gegen seine eignen ungesetzlichen oder unsittlichen Befehle, denn damit
würde er jedem Unterthanen eine Entscheidung über sich selbst zuerkennen,
also prinzipiell seine Souveränität aufheben. Gleichwohl kann der Wider¬
stand sittlich gerechtfertigt sein, und auf die Dauer wird kein Staat der sittlichen
Zustimmung seines Volkes entbehren können, denn der Satz Ls-in-z oivwiu
suxrsmÄ lex gilt unbedingt.
Wie Dahlmcmns Politik 1832 die Erfahrungen der ersten Zeiten des
konstitutionellen Lebens in Deutschland zusammenfaßte, so ist Treitschkes Politik
der theoretische Niederschlag der Kämpfe um unsre nationale Staatsordnung
und ihre Ausbildung. Keiner war mehr berufen als er, diese ebenso schöne
als schwierige Aufgabe zu lösen. Wenn seinem Buche eine ähnliche Ein¬
wirkung auf die politische Anschauung unsers Volkes beschieden ist, wie dem
er Reichstag ist gleich nach seiner Eröffnung von den elsa߬
lothringischen Separatisten mit Anträgen bestürmt worden. Es
soll erstens der Diktaturparagraph ausgehoben, zweitens das
Reichspreßgesetz auf Elsaß-Lothringen ausgedehnt, und drittens
für den Landesausschnß ein neues Wahlgesetz eingeführt werden.
Wenn diese Anträge wirklich beraten werden sollten, so werden die Ab¬
geordneten ans dem Reichslande nicht fehlen; auch zu der Abstimmung über
die Marinevorlage werden sich wenigstens die Gegner aus dem Reichsland
in Berlin einstellen. Sonst wird von unsern Abgeordneten in dieser Tagung
so wenig wie in den bisherigen etwas zu sehen oder zu hören sein, denn sie
entziehen sich ihrer Pflicht noch allgemeiner und beharrlicher als die Abge¬
ordneten aus den andern Teilen Deutschlands. Nur einer, der in Berlin
wohnende Prinz Hohenlohe, ein Sohn des Reichskanzlers, macht eine
Ausnahme und gehört zu den fleißigen Besuchern des Reichstages; die
andern fehlen bestündig, und zwar die freundlichgcsinnteu nicht weniger als
etwa die Herren Winterer, Gerber und Spieß. Nur reichsländische Angelegen¬
heiten sind für sie von Interesse; auf jeden Monat der Tagungen zwei
Sitzungen wird das Höchste sein, woraus sie es durchschnittlich bringen. Es
liegt System darin. Nun giebt es ja kein Mittel, die Herren zum Erscheinen
zu zwingen, aber würde das Neichstagspräsidium nicht seine Pflicht thun,
wenn es Vergeltung übte? wenn es der Gruppe der schlechtesten Besucher da¬
durch antwortete, daß es ihre Antrüge gar nicht oder erst hinter allen übrigen
auf die Tagesordnung setzte? Es wäre das immerhin eine mittelbare Ein¬
wirkung auf fleißigem Besuch, und ein Recht, sich zu beklagen, hätten die
Säumigen nicht. Es ist doch einleuchtend, daß das Reichstagspräsidium, nach
dessen pflichtmäßigem Ermessen die Initiativanträge an die Reihe kommen,
dabei die beschränkte Zeit des Reichstags in Erwägung zu ziehen hat; wer
durch Abwesenheit „obstruirt," beschränkt die verfügbare Zeit noch mehr und
bringt sich selber um den Anspruch, von dem geringen Rest noch einen Teil
eingeräumt zu erhalten.
Dem Reichstagspräsidium sollte jedes Mittel gegen die Pflichtwidrigkeit
der Reichstagsabgeordneten willkommen sein, aber es ist nicht wahrscheinlich,
daß von diesem Mittel Gebrauch gemacht werden wird, denn es widerspricht
dem Herkommen, und das Herkommen, oder richtiger 'gesagt das, was sich
unter diesem Namen „fortschleppt," ist auch in der Parlamentsleitnng mächtig,
nicht weniger als in der Bernfsbüreaukratie. Im vorliegenden Falle wäre
die Anwendung vielleicht gar nicht zu wünschen, denn alle drei Anträge geben
der Regierung Gelegenheit, ans den entsprechenden Gebieten des öffentlichen
Lebens zum Augriff überzugehen und sich von der Unschlüssigkeit aufzuraffen,
die im Reich wie in unserm Lande gleich lähmend wirkt.
Daß der Diktaturparagraph in Elsaß-Lothringen nicht aufgegeben werden
wird, darf als sicher angesehen werden, mag auch deo Reichstag den Antrag,
der darauf gerichtet ist, zum drittenmal annehmen. Un^re Landesregierung, die
das Machtmittel nicht entbehren kann, sich aber nicht gern unpopulär macht,
kann sich also ihrerseits auch diesmal damit begnügen, das Schreckgespenst
durch ihren Bundesratskommisfar verteidigen zu lassen, torlivorurn. et Icxzoruw
rationo n^ditÄ. Anders steht es mit der Neichsregierung, nicht sowohl des¬
wegen, weil sie es ist, die schließlich zu entscheiden hat, als darum, weil sie
keinen bessern Anhalt hat, ein festes Ordnungsprogramm aufzustellen. Gegen
die revolutionären Bestrebungen, unter denen die der Sozialdemokratie nur
obenanstehen, reicht ja die Übertragung des Diktatnrparagraphcn auf Reich
und Einzelstaaten nicht mehr allein aus, weil der Wust von Zündstoff, der
sich allenthalben aufgesammelt hat, nur durch Spezialvvllmachten weggefegt
werden kann; aber als dauernde Klausel eines sonst zeitlich begrenzten Gesetzes
gegen den Umsturz würde der Diktaturparagraph kräftig nachwirken und eine
neue Ansammlung von Zündstoff verhüten. Seine allgemeinen Vollmachten
sind einerseits sehr umfassend, andrerseits liegen sie in der Hand der Zentral¬
leitung, sodaß er zwar mit großem Nachdruck angewendet werden kann, aber
ein häufiger und kleinlicher Gebrauch ausgeschlossen ist. Er thut nur denen
weh, die selbst weh thun wollen, und schüchtert nur die ein, die andre ein¬
schüchtern möchten. Er ist in der That eine Schutzwehr geordneter Freiheit.
Als solche gehört diese vielgeschmähte, aber wenig bekannte gesetzliche Formu-
lirung des Staatsnotrechts in jede Staatsverfassung, also auch in die Ver¬
fassung des Reichs; es ist die höchste Zeit, daß die Reichsregiernug das be¬
stimmt ausspricht und an die Spitze ihres Ordnungsprogramms stellt, wenn
sie sich nicht von den Ereignissen überholen lassen will. Es ist ja zweifellos,
daß schließlich die Sache der Ordnung siegen muß und siegen wird, aber die
Opfer an Freiheit, Gut und Blut werden unermeßlich und unersetzlich sein,
wenn das Staatsnotrecht in dem Augenblick, wo seine Anwendung zur unab-
weislichen Pflicht werden wird, keine vorausbestimmten, allgemein anerkannten
Bahnen vorfindet; der Weg wird dann dnrch den Drang des Augenblicks,
dnrch rücksichtslose Gewalt und Leidenschaft bestimmt werden. staatsmännische
Verantwortung hat dem vorzubeugen, die schlechteste Beraterin aber ist die
jetzt grassirende Furcht vor den Wahlen.
Solche Erwägungen sind es, die dem Diktaturparagraphen über sein
Geltungsgebiet hinaus politischen Wert verleihen und eine Reichstagsverhand¬
lung über seine Fortgeltung erwünscht machen. Für eine kräftige Offensive
werden die günstigen Erfahrungen, die wir mit ihm im Reichsland gemacht
haben, die besten Dienste thun, während sie, wenn nur die matte Verteidigung
fortgesetzt wird, fast vollständig versagen, weil der Eindruck, daß die Regierung
um eine halb aufgegebne Stellung kämpfe, stärker ist als alle Gründe. Trotz¬
dem möchte ich auch für diesen Fall auf eine Waffe aufmerksam machen, gegen
die unsre Fmnzöslinge gleich schwach sind, mögen sie ihre auostion as cliZnM
mit ungeschickten Q.. .. Kößen, elegischen Flötentönen oder demokratischen
Phrasen vertreten. Das ist nämlich die Thatsache, daß Frankreich in seinen
niöLurvZ ü<z Imutg xolieö oder aotss as ZouvörusmLut etwas unserm Diktatur-
Paragraphen sehr ähnliches hat; was nachdrückliche Macht angeht, so fallen
diese Maßregeln damit vollständig zusammen, und ihre Anwendung ist noch
weniger gehemmt. Das galt schon vor 1870, sodaß die Elsaß-Lothringer
durch den Diktaturparagraphen in ihrer ckignitv gar nicht schlechter gefahren
sind. Das ist ja, wenn man will, nur ein arAuuiöntmin a<1 lloininsm, aber
gegen den französisch gefärbten Separatismus unsrer Abgeordneten ist es
schlagend; das allgemeine Totschweigen dieser unliebsamen Thatsache beweist
es. Die deutschen Freiheitsdoktrinäre dagegen möchte ich daran erinnern, daß
ein anständiger Mann weder persönlich noch als Staatsbürger dnrch Fesseln,
die nur ans Unruhstifter berechnet sind, in seiner Würde und Freiheit Abbruch
erleiden kann; eine solche Auffassung wird streng, aber wirklich würdig durch
die Schillerschen Worte zurückgewiesen: Des Gesetzes strenge Fessel bindet nur
den Sklavensinn, der es verschmäht.
Zum Verständnis des Wahlgesetzantrages sind einige Vorbemerkungen
über die jetzt geltenden Bestimmungen erforderlich. Der Landesausschuß zählt
achtundfunfzig Abgeordnete. Davon werden gewählt: vierunddreißig von
den Bezirkstagen, den Sondervertretungen von Oberelsaß, Unterelsaß und
Lothringen, dann je einer von den zwanzig Landkreisen, genauer ausgedrückt,
von den durch Wahlmänner verkrallten Gemeinderäten der Orte, die in den
Kreisen liegen, endlich je einer unmittelbar von den Gemeinderäten der Städte
Straßburg, Mülhausen, Metz und Kolmar. Die Bezirkstage und Gemeinderäte
gehen aus dem allgemeinen gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht hervor.
Nach dem Antrag nun soll der Landesausschuß in Zukunft durch dieses Wahl¬
recht unmittelbar zusammengesetzt werden, ohne die erwähnten Zwischenstufen
oder Zwischenwahlen, in Wahlkreisen, die zahlenmäßig gebildet werden.
Man sieht, vom Standpunkt der „Freiheit" ist der Unterschied nicht groß,
denn schon jetzt fließt bei uns das demokratische Öl sehr reichlich; es sollen
jedoch noch ein paar Kannen zugegossen werden. Praktisch freilich liegt die
Sache anders, weil jede Form der Zwischenwahlen den Kreis der Kandidaten
zum Landesausschuß verengert, rechtlich oder wenigstens thatsächlich; um be¬
liebte Kunstausdrücke zu gebrauchen: die Ausschweifungen des ultrademvkra-
tischen aktiven Wahlrechts werden durch Beschränkungen des passiven „korrigirt."
Soweit als die städtischen Wahlen und die in den Landkreisen in Betracht
kommen, ist das auch kein Schaden, weil da die Ausschließung zugleich als
Auslese wirkt. An den Angelegenheiten der Gemeinden nimmt unsre Bevölke¬
rung im ganzen Lande regen Anteil, während die der Bezirkstage und die der
auch vorhandnen Kreistage den meisten fremd bleiben. Das Interesse, das
sich diesen umfassendern Selbstverwaltungskörpern zuwendet, ist höchstens vorüber¬
gehender Art, das für die Gemeinde dagegen dauernd; dieses erneuert sich
immer wieder. Auch das Verständnis für Gemeindesachen ist allgemeiner; auf
dem Lande z. V. kontrolliren alle Haushalter den Teil von ihnen, der im
Gemeinderat sitzt, sehr genau. Dadurch wird die auch im Gemeindeleben nicht
fehlende Selbstsucht immer wieder eingedämmt, und gegen sie ist doch auch an
vielen Orten wirklicher Gemeinsinn an der Arbeit. In Gemeindeangelegenheiten
wird in der Regel sehr reiflich überlegt, unter Berücksichtigung aller „Faktoren";
so findet das kirchliche Bedürfnis, dessen Befriedigung bei uns in hohem Maße
auf die politische Gemeinde angewiesen ist, außer dem Herrn Pfarrer auf die
Dauer immer so viel Anhänger, daß es, ohne vorzuherrschen, doch schließlich
zu entsprechender Anerkennung gelangt. Deshalb ist die Zugehörigkeit zum
Gemeinderat bei uns die einzige wirklich volksmäßige Wahlstellung, das Ge¬
meindeleben die Hauptschule des öffentlichen Lebens für Nichtbeamte, für andre
Wahlen der Gemeinderat die natürliche Zwischenstufe. Die Gemeinderüte sind
keine Jdealwahlkörper, und es sind auch keine Jdealwahlmänner, die aus ihnen
hervorgehen, aber sie sind doch mit vielen Eigenschaften ausgestattet, jedenfalls
besser als die sich sonst einschiebende Demagogie von schwarzer, roter oder
sonstiger Farbe. Wenn bei dieser Wahlart das politische Talent wenig Aus¬
sicht hat, in die Volksvertretung zu kommen, auf dem Lande wenigstens, so
wird doch nur mißbräuchlicherweise unser Laudesausschuß als eine Stätte
für Fragen der „hohen" Politik angesehen, denn dafür ist der Reichstag da.
Der Landesausschuß hat seinerseits engere und weniger glänzende, aber eben¬
falls nützliche Aufgaben, für deren Erfüllung diese Durchsiebung, wenn man
die Sache so nennen will, die rechten Männer nicht ausschließt, sondern heraus-
hebt. Daß dabei der Einfluß der Kreisdirektionen allmächtig sei, wird be¬
hauptet, ist aber nicht richtig, mau wollte denn mit denen, die mit der Be¬
hauptung nur den Wunsch maskiren, ihren eignen Einfluß konkurrenzfrei zu
machen, Besonnenheit und verständige Rücksicht auf die Staatslenkung als Ab¬
hängigkeit und Servilismus verschreien. Wie die Verhältnisse in unserm Lande
liegen, ist diese Form von Zwischenwahlen die einzige, die das Wahlergebnis,
in Bausch und Bogen genommen, vor den Gefahren des allgemeinen Wahl¬
rechts bewahrt, dieses erträglich macht, ohne Koteriewesen zu begünstigen.
In den Bezirkstagen dagegen steht das Koteriewesen in üppiger Blüte.
Es kann auch gar nicht anders sein, denn sie zählen nicht ganz dreimal soviel
Mitglieder, als sie aus ihrer Mitte an Abgeordneten in den Landesausschuß
zu wühlen haben. Wie soll bei so geringer Auswahl rechte und freie Wahl
möglich sein? Bei uus kommt noch die schleichende Macht des Notabelnwesens
hinzu. Das haben wir gehegt und noch mächtiger gemacht, ohne uns irgend
welche Gegenleistungen zu sichern, und es stützt sich gerade auf die Bezirke
als die Erben der französischen Departements. Es sind ja deu Bezirken manche
Amtsbefugnisse abgenommen und auf die Kreise übertragen worden, aber der
Abzug wurde bald durch parlamentarische Stärkung der Bezirkstage ersetzt.
Überhaupt greift alles, was mit den Bezirken zusammenhängt, in den Gang
der Dinge viel tiefer ein, als man gewöhnlich meint. Wir sprechen von Elsaß-
Lothringen oder vom Reichsland nur als von einer Einheit, in Wirklichkeit
jedoch stehen sich schon Oberelsaß und Unterelsaß sehr fern, und Lothringen
vollends ist eine ganz andre Welt; des Trennenden giebt es viel mehr als
dessen, was innerlich einigt. Das, worin sich politisch in allen drei Bezirken
die Bevölkerung eins fühlt, ist nur die französische Tradition als Gegensatz
und vermeintlicher Vorzug, und dann, als positive Ergänzung, der Wunsch,
sich von jeder Gestalt deutscher Einflüsse freizumachen; wie ich es schon früher
bezeichnet habe: das Band, das die drei Bezirke innerlich und auch parlamen¬
tarisch zusammenhält, ist ein französisch gefärbter Separatismus. Sonst streben
die Bezirke ü, 1a Schweizer Kantönli aus einander; wenn je der Separatismus
siegen sollte, so wäre sofort der Bezirkszwist da. Einstweilen bilden die Bezirks¬
tage den Mittelpunkt für alles, was uotabel ist, notabel wiederum ist in neun¬
zehn von zwanzig Füllen deutschfeindlich, nur im Uuterelsaß ist die Verhältniswahl
günstiger, und so sind es die Herde der gegen uns gerichteten Bestrebungen,
die mehr als die Hülste des Landesausschusses besetzen.
Das Wahlgesetz für den Landesausschuß ist also in der That ver¬
besserungsbedürftig, sogar dringend und in hohem Maße, aber in einer ganz
andern Richtung als nach dem Antrag, der dem Reichstag vorliegt. Das
Wahlgesetz ist vielmehr so zu verbessern, daß das Wahlrecht der Bezirkstage
beseitigt wird, und ihre Abgeordneten, der Gesamtzahl nach vielleicht etwas
heruntergesetzt, auf die Städte und Landkreise verteilt werden, je nach Be¬
deutung und Bevölkerung. Dieses Ziel sollte die Negierung angrisfsweise durch
einen eignen Gesetzentwurf verfolgen und so den Gegenstand im Reichstag
zur Verhandlung bringen. Sie wird daraus auch gegen die innern Schwierig¬
keiten Kraft schöpfen. Aber freilich, die parlamentarische Vertretung eines
solchen Gesetzentwurfs setzt voraus, daß mit der gern gesehenen Zufriedenheits¬
legende gebrochen wird.
Dieselbe Offenheit würde zur Bekämpfung des dritten Antrags, das Neichs-
preßgesetz auf Elsaß-Lothringen auszudehnen, nötig sein; da wird überdies
kräftige Offensive der Regierung im Reichstag und in der Volksstimmung auf
stärkern und allgemeinern Widerspruch stoßen als bei der Parirung des Wahl¬
gesetzantrags durch den richtigen Gesetzentwurf. Denn die Schrankenlosigkeit
des Wahlrechts, womit Elsaß-Lothringen für seine Landesvertretung bedacht
werden soll, hat ihren Nimbus schon lange verloren, möchte sie doch ein guter
Teil des Reichstags und der liberalen Volksschichten auch im Reich gründlich
beschneiden; die Überschätzung alles dessen dagegen, was sich für Preßfreiheit
ausgiebt, ist noch nicht zur Besinnung gekommen. Trotz dieser ungünstigen
Stimmung wird es der Negierung, wenn sie eine Sammlung von Ausschnitten
aus unsern Preßerzeugnissen zum besten giebt, leicht sein, die Unwahrheit zu
widerlegen, daß die Presse im Reichsland über Mangel an Freiheit zu klagen
habe; im Gegenteil, die öffentliche Ordnung, der friedliche Bürger und das
deutsche Interesse haben über eine fast unglaubliche Zügellosigkeit und Ge¬
hässigkeit zu klagen, und die Negierung hat sich Vorwürfe zu machen, daß sie
nicht streng einschreitet. Durch solche Feststellung des wirklichen Sachverhalts
würde sich die Negierung auch für die Hervorhebung des zweiten Kernpunkts
der Sache Gehör verschaffen, nämlich dafür, daß die wesentlichen Beschränkungen
die geschäftliche Seite der Presse, das Zeitungsunternehmcn, treffen, und daß
außerdem von dem, was für wichtig gehalten wird, nur das Recht, über poli¬
tische Prozesse zu berichten, versagt ist. Das sind zwei Beschränkungen, die
dem allgemeinen Interesse nicht weh thun und in einem Lande unentbehrlich
sind, das von der Verschmelzung mit uns noch so weit entfernt ist. Alle
sonstigen Bestimmungen sind Kleinigkeiten, und wenn sie auch nicht zusammen¬
gefaßt, sondern in zahlreichen Gesetzen und Verordnungen neuen und teilweise
recht alten Datums verstreut sind, so giebt es doch gute Zusammenstellungen,
und die Bestimmungen selbst sind von den Geschäftsführern leicht zu beobachten.
Dann hat zwar in Preßsachen das Argument, daß die von unsern Gegnern
cmgefochtnen Bestimmungen aus französischer Zeit stammten, keine rechte Zug¬
kraft, weil Frankreich im Jahre 1881 ein neues Preßgesetz erlassen hat, aber
dieses gewährt mit einem Nachtrag von 1895 eine andre, noch schlagendere
Waffe gegen die Bewundrer französischer Freiheit, mögen sie im Reichsland
oder im übrigen Deutschland zu Hause sein. Diese Frucht der Republik gestattet
nämlich, alle ausländischen Preßerzeugnisse und die inländischen Zeitungen
Hov.rrmux), die in einer andern als der Landessprache erscheinen, kurzer Hand
zu verbieten (interclirs), ohne gerichtliches Verfahren, durch Beschluß des
Ministerrath. In der reichslündischen Preßgesetzgebung fehlt diese zweckmüßige
Bestimmung; wir sollten sie unsern vielbewunderten Nachbarn entlehnen, sie ist
mehr wert als der „gallische Sprung," an dem wir uns seit siebenundzwanzig
Jahren abmühen. Die Negierung sollte den Versuch machen, eine so wirksame
Ergänzung bei der Reichsgesetzgebung durchzusetzen. Denn, um es zu wieder¬
holen, nur dadurch, daß wir zum Angriff übergehen, können wir der durch
unsre Schwäche geschaffnen ungünstigen Lage wieder Herr werden; in jedem
spätern Abschnitt dieser Erörterungen wird darauf zurückzukommen sein. Noch
nie ist ein mit den Waffen erobertes Land mit größerer Rücksicht behandelt,
mit mehr Wohlthaten und Bevorzugungen bedacht worden, noch nie haben sich
verhätschelte Kinder undankbarer erwiesen. Jetzt fangen gar, wie der Eng-
gnssersche Fall in Kolmar gezeigt hat, die Chasfepvts an, von selber loszugehen.
Es ist die höchste Zeit, mit einem System zu brechen, das im Namen der
Freiheit unsre Feinde bewehrt.
lexcinder Tille hat (bei Emil Felder in Weimar, 1897) von
sieben Sozialen Essays des am 29. Juni 1895 verstorbnen
Naturforschers Thomas H. Huxley eine „berechtigte deutsche
Ausgabe" veröffentlicht. In der Einleitung schreibt er u. a.:
„Allerdings hat Huxley zur Biologie und Paläologie hochbedeut-
snme Beitrüge geliefert und auf dein Gebiete der vergleichenden Anatomie und
der Physiologie die Ergebnisse der modernen Forschung in mustergiltiger Weise
Zusammengefaßt; allerdings dankt ihm der höhere naturwissenschaftliche Unter¬
richt Großbritanniens seine Organisation und der niedre fast sein Dasein; aller¬
dings lebt seine Lehrthütigkeit in taufenden von Ärzten, Naturwissenschaftlern
und Lehrern dauernd fort; aber sein eigentlicher Ruhmestitel gründet sich doch
uns die neun Kleinoktavbünde in rotbraunen Leinwandbaud, die den bescheidnen
Titel tragen: Lollsvwä IZssa^ b^ K. Hnxle^." Durch diese habe er die
Naturwissenschaft in darwinischer Auffassung und eine gesunde Weltanschauung
"n englischen Volke verbreitet. Wir kennen das Geistesleben der Engländer
N'ehe genau genug, um beurteile» zu können, ob Huxley darin wirklich den
^nig einnimmt, den ihm Tille anweist. Wir wollen es glauben und erkennen
"und to, daß die vorliegenden Essays reich an originellen und beachtenswerten
edanken sind, und daß aus ihnen ein ehrlicher, klarer, durchdringender Geist
und ein edles Gemüt sprechen. Aber die ersten drei, die gegen Rousseau und
-"-'ury George gerichtet sind, beweisen zugleich, daß auch ein hervorragender
Gelehrter imstande ist, über Dinge zu sprechen, von denen er nichts versteht,
und wenn Tille dem deutschen Publikum Ansichten, die ein leidlich intelligenter
deutscher Arbeiter zu widerlegen imstande sein würde, als neue und erhabne
Weisheit darzubieten wagt, so verdient das eine Zurückweisung.
Im Eingange des zweiten Aufsatzes bemerkt Huxley, ein Kritiker des
ersten: Über die natürliche Ungleichheit der Menschen, habe geäußert, „er sei
ja ganz nett, aber zu welchem Zwecke Hütte ich mir die Mühe genommen,
etwas Todes noch einmal totzuschlagen?" Wir sind ganz der Ansicht dieses
Kritikers und dehnen sein Urteil auch auf den zweiten Aufsatz: Natürliche
und politische Rechte aus. Jedermann weiß heute, daß sich unter den Höhlen
oder Hütten der Urmenschen weder eine Notariatsstube noch ein Rathaus be¬
funden hat, wo Verträge hätten geschlossen werden können. Aber, schreibt
Stolzmann in dem kürzlich besprochnen Buche: Die soziale Kategorie: „Es ist
wohlfeil, die Geister des vorigen Jahrhunderts zu belächeln, wenn sie meinen,
daß ihre Typen, wie etwa der Ooickrxck 800ni, geschichtliche Zustände der
frühern Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellen. Ein Typus braucht
nicht geschichtlich zu sein und kann doch für die Erkenntnis der Gesetze der be¬
stehenden Volkswirtschaft und ihrer künftigen Entwicklung von unentbehrlichen
Werte sein." Ja Huxley selbst gesteht auf S. 177 ein: „Vielleicht sind alle sozialen
Organisationspläne, die bis jetzt ausgeheckt worden sind, unpraktische Thorheiten.
Aber wenn dem so wäre, so bewiese das doch nicht, daß der ihnen zu Grunde
liegende Gedanke wertlos sei, sondern nur, daß sich die Sozialwissenschaft noch
in einem sehr unvollkommnen Zustande befände." Und S. 171 lesen wir sogar:
„So oft die Annahme eines sozialen Vertrages auch lächerlich gemacht worden
ist, so ist es doch Wohl genügend klar, daß sich alle soziale Organisation auf
etwas gründet, was in seinem Kerne ein Vertrag zwischen den Mitgliedern
der Gesellschaft ist, mag er nun ausgesprochen oder stillschweigend sein."
In der That beruht jede zivilisirte Gesellschaft auf einem stillschweigenden
Vertrag; jeder ihrer Angehörigen, mag ihm auch das Wort Vertrag oder der
entsprechende Begriff gar nicht in den Sinn kommen, erwartet doch, daß seinen
Leistungen Gegenleistungen der andern, der Gesellschaft entsprechen werden, und
wenn einer überzeugt wäre, daß die Gesellschaft ihre Pflichten gegen ihn nicht
erfülle, so würde auch er sich zu nichts mehr verpflichtet fühlen, und was er
dann noch leistete, das würde er nnr leisten, weil und so weit er sich dazu ge¬
zwungen sähe. Abgesehen ferner davon, daß wir einen reinen Naturzustand
gar nicht kennen, wissen wir heute zu viel von den sogenannten Naturvölkern,
als daß wir sie mit Rousseau glücklich preisen könnten. Aber wir wissen auch,
daß wir die Befreiung vou den aus einer übermächtigen Natur und aus Un¬
wissenheit entspringenden Übeln, die die Naturvölker bedrängen, mit andern Übeln
erkauft haben, die ein verwickelter Gesellschaftszustand erzeugt, und es war
keineswegs überflüssig, wenn Rousseau auf diese Übel nachdrücklich hinwies.
Und wenn Huxley den Gleichheitsaposteln die Thatsache entgegenhält, daß
schon die Kinder einer und derselben Familie die auffälligste Ungleichheit in
Beziehung auf Begabung, Temperament und Charakter zu offenbaren Pflegen,
so war es ja eben das, was jene Gleichheitsapostel im Grunde genommen
gemeint haben. Sich mit der Thatsache der natürlichen Ungleichheit zu be¬
schäftigen hatten sie gar keine Veranlassung. Wogegen sie sich wendeten, das
war die gesellschaftliche und gesetzliche Ungleichheit, die es mit sich brachte,
daß der in der Höhe geborne ohne Rücksicht auf seine Begabung oben, und
der in der Tiefe geborne ebenfalls ohne Rücksicht auf seine Begabung zeitlebens
unten blieb.
Endlich hat ja Huxley vollkommen Recht, wenn er in witzigen Aus¬
führungen die Rechtsgleichheit lächerlich macht, die ungefügen hilflosen Fleisch-
klümpchen zugeschrieben wird; in der That, wenn die Neugebornen in irgend
etwas gleich sind, so ist es ihre Hilflosigkeit, ihre Unfreiheit und ihre Recht¬
losigkeit. Aber den Begriff des Naturrechts mißversteht er doch gründlich.
Er sieht es in dem Rechte der Tiger, Menschen zu fressen, und in dem Rechte
des Menschen, sich der Tiger mit jedem ihm zu Gebote stehenden Mittel zu
erwehren. Er findet ganz richtig, daß dieses Naturrecht mit der Gewalt zu¬
sammenfalle und den Kampf aller gegen alle, den Kampf ums Dasein, sonst
nichts, erzeuge. Er meint — und das wollen wir uns gegen Tille und seine
Auslesetheorie merken —, diesem Naturrecht, diesem Kampfe aller gegen alle
mache eben die Zivilisation, die Gesellschaft, ein Ende und setze an dessen
Stelle „ein sittliches und bürgerliches Recht." Ganz richtig! Nur daß das
sittliche und das bürgerliche Recht keineswegs zusammenfallen, und daß das,
was die Männer der ältern idealistischen Weltanschauung unter Naturrecht
Verstehen, nicht das Recht der Tiger ist — der vernunftlosen Natur gehört
die Idee des Rechtes eben nicht an —, sondern das sittliche Recht im Unter¬
schiede vom bürgerlichen. Das bürgerliche Notrecht ist weiter nichts als der
juristische Ausdruck von Machtverhältnissen und ein Mittel, die rohesten Formen
des Kampfes ums Dasein, soweit dieser unter Menschen tobt, zu beseitigen,
die feinern Formen aber, die es bestehen läßt, zu regeln; es ist also im
Grunde genommen weiter nichts als eine höhere Stufe jenes Naturrechts, das
Huxley so nennt. Wir glauben nun aber, daß dem Menschen von Gott die
Idee der Gerechtigkeit eingepflanzt sei — des Anstoßes der äußern Umstünde
bedarf sie zu ihrer Entfaltung so gut wie alle übrigen Ideen —, die da
fordert, daß jedem vergolten werde nach seinem Verdienst oder Mißverdienst,
nach seinen Leistungen oder Unterlassungen, und daß jedem gelassen oder zu¬
gewendet werde, was er sich auf rechtmäßige Weise als Eigentum erworben
hat, Rechtsansprüche können natürlich erst in der Gesellschaft hervortreten
und müssen erworben werden, aber sobald sie hervortreten, sind sie ihrem
Wesen nach für alle gleich, das heißt: jeder hat Anspruch auf das Seine und
auf das, was er verdient. Die natürliche Rechtsgleichheit bedeutet nicht, daß
alle gleich viel Vermögen oder Einkommen oder dieselbe soziale Stellung oder
dasselbe Amt im Staate haben sollen, was alles Unsinn wäre und gar nicht
widerlegt zu werden brauchte, sondern sie bedeutet, daß jeder das Vermögen,
das Einkommen, die Stellung und das Amt haben soll, das ihm zukommt.
Die Idee des Rechts verurteilt es nicht, daß der eine 1000 und der andre
100000 Mark Einkommen hat, sie verurteilt es bloß, wenn einer, der nur
1000 Mark verdienen wurde, 100000 hat, ein andrer dagegen, der 100000
verdiente, nur 1000. Ob dieser Fall vorkommt, und ob, wenn er vorkommen
sollte, die Gesellschaft Mittel hätte, der Ungerechtigkeit abzuhelfen, darüber
kann gestritten werden, über die Sache selbst aber besteht nnter den Anhängern
der Idee des Naturrechts oder der natürlichen Gerechtigkeit kein Zweifel. Das
bürgerliche Recht nun erfüllt sich mit einem sittlichen Inhalt in dem Maße,
als es die Staatseinrichtungen den Forderungen der natürlichen Gerechtigkeit
anzupassen bestrebt ist; soweit es das nicht thut, muß man ihm vorwerfen,
daß es das natürliche Recht oder die Rechtsgleichheit im oben angegebnen
Sinne verletze.
Huxley wendet nun seine Widerlegung der natürlichen Rechtsgleichheit in
der Polemik gegen Henry George an und sucht zu beweisen, daß es weder ein
Recht auf Arbeit noch ein allgemeines gleiches Recht auf Boden gebe; der Be¬
weis ist von seinen Voraussetzungen aus sehr leicht: da es überhaupt keine
eingebornen natürlichen Rechte giebt, so giebt es anch diese beiden nicht. Besitz¬
lose Menschen suchen Arbeit bei einem Landwirt. „Ich bin außer stände,
irgend welche apriorischen Rechte auf Arbeit zu entdecken, kraft deren diese
Leute darauf bestehen könnten, in Arbeit genommen zu werden, wenn man
ihrer nicht bedarf." Gewiß, von diesem bestimmten Landwirt genommen zu
werden, haben sie kein Recht. Auch vom Staate Arbeit zu fordern, haben sie
vielleicht kein Recht, aber das Recht, sich in diesem Falle zu entleihen, kann
ihnen niemand streitig machen. Bei Naturvölkern werden Kinder, von denen
man glaubt, daß es schwer fallen werde, sie zu ernähren, grundsätzlich getötet,
und der römische Vater hatte das Recht, die Annahme des Kindes zu ver¬
weigern, das er zu erhalten keine Lust hatte, in welchem Falle es ausgesetzt
wurde. Der moderne Staat bestraft, teils von christlichen Ideen, teils von,
politischen Rücksichten geleitet, den Kindesmord, die Kinderaussetzung und
schon die Vernichtung eines keimenden Lebens als Verbrechen; d. h. er zwingt
jeden Menschenkeim, ein wirklicher Mensch zu werden. Dieser Mensch mag
seinen Nebenmenschen gegenüber völlig rechtlos dastehen. Aber das eine
Recht hat er ganz gewiß, wenn diese seine Nebenmenschen keine Verwendung
für ihn haben, sich aus diesem Leben, in das er nicht freiwillig, sondern
gezwungen eingetreten ist, wieder zu entfernen. Ob er dieses Recht Gott
gegenüber hat, ist eine andre Frage, die Menschen haben ihm nichts vor-
zuwerfen. Ob er aber nicht wenigstens an den Staat, der ihn zum Eintritt
gezwungen hat, Ansprüche hat, das mögen die Juristen entscheiden. Von
einem Wurf Hunde pflegt der Besitzer nur einen aufzuziehen, die übrigen, falls
sich kein Käufer dafür findet, zu ersäufen. Wenn nun ein Mann statt dessen
die Hündchen von ihrer Mutter großsäugen und dann verhungern ließe, so
hätte er freilich kein Huuderecht verletzt — Hunde haben ganz gewiß keine
Rechte —>, aber jedermann würde den Menschen einen unanständigen Kerl
nennen; es giebt eben auch Pflichten, denen keine Rechte gegenüberstehen.
Henry George sah, daß es in seinem Vaterlande Land im Überfluß gebe, und
dabei ein paar Millionen Menschen, die bei schlecht bezahlter Arbeit oder ohne
alle Arbeit die bitterste Not litten, er überlegte, daß es nicht lauter Dumm¬
heit und Faulheit sein könne, was diese Not erzeugte, denn er wußte, daß,
so lange Land frei gewesen war, fast alle Einwandrer sich dem Landbau ge¬
widmet und dabei ihr gutes Auskommen gefunden hatten, er schrieb daher die
Not dem Umstände zu, daß der Staat durch große Landverscheukuugen und
durch große Landverküufe an Kapitalisten den freien Boden verschleudert habe,
und dagegen wandte er sich mit seinen Ncformideen, Er mag diesen Ideen
eine sehr ungeschickte Begründung und einen sehr unvollkommnen Ausdruck ge¬
geben haben, und das Radikalmittel der Linglg ox, das er vorschlägt, ver¬
werfen wir ausdrücklich, aber die Berechtigung seiner Ideen haben seitdem
die Regierungen mehr als eines Staates durch Heimstnttengesetze, innere und
äußere Kolonisation und Einwandrerverbote anerkannt; die Regierungen sind
sich offenbar ihrer Verpflichtung bewußt, für die noch Ungebornen entweder
Land oder als Ersatz dafür Arbeitsgelegenheit bereit zu halten, und Henry
George, deu Huxley als einen Wirrkopf hinstellt, hat nicht vergebens gelebt.
Ganz besonders glaubt sich Huxley über Georges Behauptung lustig
machen zu dürfen, daß alles Kapital durch Arbeit geschaffen werde, daß der
Arbeitslohn ans der Arbeit und nicht aus dem Kapital fließe, daß die Arbeit
allein den Waren Wert verleihe, und daß sie allein wirkliches Eigentumsrecht
begründe: alles Wahrheiten, die die Welt schon Jahrtausende vor George ge¬
wußt hat. Huxley aber schreibt dagegen seinen Essay: Kapital die Mutter
der Arbeit. Er beginnt mit dem ersten Atemzuge des Kindes, von dem er
nachweist, daß er eine Arbeitsleistung sei, die nur durch das von der Mutter
angesammelte Lebenskapital ermöglicht werde. Huxley, oder, da er nicht mehr
^de, sein deutscher Herausgeber, soll doch einmal deutsche Arbeiter examiniren,
die den Vorwärts regelmäßig lesen: die werden ihm alle sagen können,
daß alles organische Leben auf Erden den durch die Sonnenwärme in Be¬
rgung gesetzten Stoffen, namentlich Kohlenstoff. Sauerstoff, Wasserstoff und
Stickstoff verdankt werde, und kein einziger wird leugnen, daß es ohne dieses
Natnrkapital weder einen Menschen noch eine menschliche Arbeitsleistung geben
^une; ja da die Leutchen meistens Gläubige des naturalistischen Evangeliums
sind, das die Herren Engländer offenbart haben, so werden sie auch den Geist
und alle geistigen Leistungen für Produkte dieses Naturkapitals erklären. Aber
diese selben Leutchen werden ihn zugleich darüber belehren, daß es eine Lächer¬
lichkeit ist, dieses Naturkapital in die volkswirtschaftlichen Erörterungen hinein¬
zuziehen. Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne entsteht erst durch die Arbeit.
Und auch darüber besteht kein Streit, ob dieses durch Menschenarbeit entstandne
Kapital notwendig sei; niemand außerhalb der Narrenhäuser leugnet es.
Nur darüber wird gestritten, ob der landwirtschaftliche Boden, die Werkzeuge
und Maschinen Privatbesitzern oder der Gemeinschaft gehören sollen, ob es
zweckmäßiger sei, die Eisenbahnen zu verstaatlichen, als sie Privatgesellschaften
zu überlassen, ob es möglich sei, alle Gewerbe ebenso zu verstaatlichen, wie
man bei uns die Eisenbahnen verstaatlicht hat, und ob, wenn es möglich wäre,
die Lage des Volkes dadurch verbessert oder verschlechtert werden würde. Daß
das Naturkapital aller Arbeit vorhergehen muß, bezweifelt kein Mensch. Über
die Priorität von Kapital im wirtschaftlichen Sinne und Arbeit innerhalb der
Kulturgemeinschaft zu streiten, das hätte so wenig Sinn, wie der Streit über
die Priorität von Henne und El, weil beide stets gleichzeitig und in Wechsel¬
wirkung mit einander vorhanden sind, die Arbeit ohne Unterlaß Kapital erzeugt,
jedes Kapital als Arbeitswerkzeug benutzt wird. Gehen wir aber auf den
Anfang des wirtschaftlichen Prozesses zurück, so finden wir zweifellos die Arbeit
als das erste, denn der Stecken zum Früchte abschlagen, der das erste Stück
Kapital gewesen sein mag, mußte allermindestens abgebrochen und durch diese
kleine Arbeit aus einem bloßen Naturprodukt in ein wirtschaftliches Gut ver-
wandelt werden. Denken wir uns einen Rittergutsbesitzer, dessen Rittergut
eine Insel bildet; denken wir uns, daß er auch noch eine Zuckerfabrik, eine
Spiritusbreuuerei, ein Schiff und einen Sack voll Goldstücke besitzt. Denken
wir uus serner, daß dem Manne eine Pest sämtliche Leute wegrafft, daß er
selbst zu jeder körperlichen Arbeit unfähig ist, und daß zufällig ein ganzes
Jahr hindurch kein fremdes Schiff seine Insel berührt, so wird er nicht allein
das elendeste Leben führen, sondern vielleicht verhungern; denn es ist die Frage,
ob er ans den vorhandnen Vorräten, z. B. Getreidekörnern und lebenden
Kälbern, eine Speise zuzubereiten vermöchte, die sein Gaumen und sein Magen
vertrügen, ob er Früchte von den Bäumen zu holen und seine Kühe zu melken
imstande wäre. Werden dagegen zwanzig Bauern und Handwerker nackt auf
eine Insel versetzt, die ihnen das erforderliche Naturkapital bietet: wilde Rinder,
fruchttragende Bäume und körnertragende Gräser, so werden sie in unendlich
mühseliger Arbeit mit der Zeit Werkzeuge, Häuser, Äcker und Werkstätten,
d. h. gesellschaftliches Kapital schaffen. Ganz ohne Kapital sind sie freilich
nicht gekommen, denn sie haben die in der Gesellschaft erworbnen Kcmnuisse
und Fertigkeiten mitgebracht; aber dieses Kapital bewirkt nicht, daß sie über¬
haupt arbeiten und weiteres Kapital schaffen können, sondern nur, daß es
damit rascher geht, als es in einem vorausgesetzten kulturlosen Urzustande ge¬
gangen sein könnte.
Huxley will den Arbeitslohn aus dem Kapital und nicht aus der Arbeit
entspringen lassen, weil Beeren und Vogeleier Naturkapital sind, ehe sie der
Mensch einsammelt. Aber das Naturkapital wird eben in allen Füllen als
selbstverständlich vorausgesetzt und ist gar keine volkswirtschaftliche Kategorie.
Arbeitslohn des Sammlers sind diese Gegenstände nicht an sich, sondern eben
nur, wenn er sie sammelt; dadurch, durch die Arbeit des Scimmelns, ver¬
wandeln sie sich in Arbeitslohn. George hatte gesagt: nichts, was die Natur
dem Menschen ohne seine Arbeit bietet, ist eine Ware. Huxley wendet dagegen
ein: „Nach meiner Meinung sind gediegne Metalle, Kohle und Ziegcllehm
Bergbauerzeuguisse, und ich bin ganz überzeugt, daß mau sie mit Recht Waren
nennt. Wenn nun aber ein Kohlenlager an der Oberfläche zu Tage tritt und
also für das bloße Aufheben Kvhlenstücke zu haben sind; oder wenn gediegnes
Kupfer in massiven Stücken herumliegt; oder wenn Ziegellehm eine Ober¬
flächenschicht bildet, so scheinen mir diese Dinge dem Menschen doch ohne seine
Arbeit geboten, ja ihm geradezu aufgedrängt zu sein. Nach Georges Begriffs¬
bestimmung sind sie darum keine Ware, nach dieser Aufzählung aber sind sie
es. Ein hübsches Beispiel für einen Widerspruch im Ausdruck." Sollte man
es für möglich halten, daß ein großer Gelehrter solches Zeug zusammen¬
schreiben könne? Wenn es irgend ein Beispiel giebt, an dem sich überzeugend
darthun läßt, daß es Arbeit allein ist, was einem Naturdinge gesellschaftlichen
Wert verleiht und es zur Ware macht, so ist es das von der Kohle. Kohle,
die eine Stunde weit von Herrn HuxleyS Ofen auf der Erde herumliegt, ist
für diesen so wenig vorhanden, wie wenn sie tausend Meter unter der Erde
oder im Monde steckte. Denn es ist in England so wenig wie bei uns Sitte,
daß ein Mann von Huxleys Stellung einen Sack und einen Schiebkarren
nimmt, aufs Feld hinausfährt und Kohlenstücke einsammelt. Auch sein Dienst¬
mädchen wird es nicht thun mögen, er muß einen Tagelöhner dingen. Wenn
nun der ortsübliche Tagelohn zwei Mark, der ortsübliche Arbeitstag zwölf
Stunden beträgt, und der Tagelöhner drei Stunden braucht, um einen zentner¬
schweren Sack voll Kohlen zu liefern, so kostet dieser Sack Kohlen fünfzig
Pfennige. Diese fünfzig Pfennige sind der gesellschaftliche Wert eines Zentners
Kohlen. Und da der Tagelöhner die Kohlen auch aus freien Stücken holen
und Herrn Huxley zum Kauf anbieten konnte, so sind sie Ware. Beides, den
Wert und den Warencharakter, haben sie allein durch die Arbeit erhalten. ')
So kann man ein großer Biologe sein, ohne vom Recht und von der
Volkswirtschaft etwas zu verstehen, und so hat sich denn der Übersetzer dieser
drei Essays eine recht überflüssige Mühe gemacht. Auf die übrigen vier, die
wirklich wertvolle Gedanken enthalten, kommen wir vielleicht bei einer andern
Gelegenheit zurück.
UMMK!??fiAU«i»K
WMn der von Kapitän Lemuel Gulliver entdeckten und von Seiner
Ehrwürden dem Dechanten Jonathan Swift zuerst beschriebnen
gelehrten Landschaft Laputa lebte in neuern Zeiten ein weiser
Meister, einer von denen, die uns täglich den innern Sinn be¬
freien, während ihnen selbst „erträglich der Leib gedeiht," und
zu dessen Lehrstuhl die Jünger von nah und fern strömten. Der Meister
lehrte vor allen Dingen eine Wissenschaft, die er die „Analysis der unendlichen
Perfektibilität" nannte, und in der er den klaren Beweis führte, daß nicht nur
alles Menschliche in einem fortwährenden Fortschritt begriffen sei, sondern
auch die steigende Vergeistigung des Menschen nach und nach eine gute Zahl
grober und roher Glieder und Werkzeuge des Menschenlcibs vollständig ent¬
behrlich machen würde. Und da es gewiß sei, daß der Zukunftsmcnsch den
Weltraum im Fluge durchschneiden, keiner Beine bedürfen werde, da bei der
künftigen Ernährung dnrch wundersame Elixire und kostbare Tropfen die Zähne,
die ohnehin eine fatale Erinnerung an die Verwandtschaft mit dem Affen und
dem Raubtier sind, für überflüssig gelten würden, da es nicht ausgeschlossen
sei, daß sich der Mensch der Unsterblichkeit um so viel nähere, als er unbrauch¬
bare Leiblichkeit los werden könne, so eröffneten sich sür das kommende Jahr¬
hundert gleichsam neue Himmel. Diese Verheißungen vernahmen die Schüler
mit immer wachsendem Wohlgefallen, sie sahen von der Höhe ihres Selbst¬
bewußtseins verächtlich auf die Zweifler herab, lächelten täglich geheimnisvoller,
behielten aber hübsch ihre Beine wie ihre Zähne. Nur einer von ihnen, ein
enthusiastischer Bursche, wurde von dem Gefühl überwältigt, daß zur Ver¬
wirklichung so idealer Zuknnftsaussichten einmal ein Anfang gemacht werden
müßte, ging hin, ließ sich die Beine amputiren und die Zähne sanft ausziehen.
Als er nach langem Krankenlager mit schönpolirten Stelzfüßen und einem
perlmntterglcinzenden Gebiß vor dem Meister und seinen Gesellen wieder
erschien, empfing ihn schallendes Hohngelächter, bitterer Tadel und bedauerndes
Achselzucken. Als er sich aber auf des Meisters Lehren berief und entrüstet
erklärte, daß immer und überall einer mit dem großen Neuen vorangehen
müsse, daß er sür seine Kühnheit Lob und nicht Spott erwartet habe, sagte
der Meister: Weißt du nicht, du Tropf, daß der Kluge die Probe ans seine
Behauptungen immer andern zuschiebt und den Erfolg abwartet? Und begreifst
du nicht, daß alle bindende und lösende Kraft der Welt nur in Worten liegt?
Der Mensch wird in Zukunft keiner Beine und Zähne bedürfen, gewiß und
wahrhaftig, denn wir werden die Dinger, auf denen er steht, und die Knochen,
mit denen er kaut, anders benennen.
Wie der Schüler nach dieser Offenbarung die Weisheit von Laputa an¬
gesehen hat, ist uns leider nicht mit überliefert. Aber an die Geschichte erinnert
uns jeder Tag, und je öfter, leidenschaftlicher und bestimmter wir in den
Kunstkümpfen der Gegenwart die Versicherung vernehmen, daß der sogenannte
gute Geschmack und der gesunde Menschenverstand nicht nur unzulänglich,
sondern überflüssig, hemmend und hindernd sei, um so lebendiger sehen wir
den Schüler vor uns, der sich, weil doch geflogen werden soll, die Beine
amputiren läßt, und weil man sich des rohen Essens entwöhnen wird, die
Zähne ausziehen läßt, um so deutlicher den Meister, der recht wohl weiß,
daß. auch wenn die Flügel schon erfunden wären, der Mensch die Beine unter
andern auch zum Sitzen braucht, und daß, wenn selbst alle Nahrung in einem
Löffel Lebenselixier bestünde, die Zähne beim Sprechen nicht gut zu entbehren
sind. Das Verhältnis zwischen Meistern und Jüngern auf ästhetischem Gebiet
ist ungefähr dasselbe wie in unsrer Fabel: die erstern lehren mit großem Nach¬
druck Dinge, von denen sie wissen, daß sie falsch, irreführend und bestenfalls
die alten Einsichten sind, die, um des Scheins der Neuheit und eines geistigen
Fortschritts willen, einfach umgetauft wurden, die Jünger aber verkündigen
mit dem seit Jahrhunderten beliebten Geschrei, daß jetzt der Weisheit letzter
Schluß gewonnen worden sei.
Wenn einzelne wirkliche und ernsthaft zu nehmende Ästhetiker nachgewiesen
haben, daß das, was eine gewisse Durchschnittsbildung gewöhnlich den „guten
Geschmack" nennt, die schlechteste Bürgschaft für Erkenntnis und Beurteilung
neuer Kunst, neuer poetischer Schöpfungen sei, so hätten sie getrost das Bei¬
wort neu weglassen und sagen können: die schlechteste Bürgschaft für Kunst¬
genuß und Kuusteiusicht überhaupt. Daß die mühsame Einprägung der äußer¬
lichen Eigenschaften anerkannter Kunstwerke und der nachfolgende Vergleich
neuer Schöpfungen mit dem so gewonnenen Vorbilde, die Anlegung von Ma߬
stäben, die eklektisch aus einer Reihe vorhandner Werke konstruirt werden, und
der Gebrauch von rein negativen Regeln, kurz alles, was Goethe treffend und
erschöpfend „Geschmackspfäfflerwesen" nennt, klüglich unfruchtbar bleibt, ist
wenigstens keine neue Wahrheit. Ebenso kann ohne weiteres zugegeben werden,
daß die Mangelhaftigkeit und das Schwankende des Wortgebrauchs in unsrer
ästhetischen Sprache mit dem Begriff des guten Geschmacks bald dürre Schul¬
meisteret, bald eine ganz äußerliche Sauberkeitsforderung verbunden hat, die
beide nichts fördern. Und endlich räumen wir ein, daß es eine Abart auch
des wahren guten Geschmacks — das heißt der Fähigkeit, zwischen lebensvollen
und hohlen, zwischen meisterhaften und stümperhaften Leistungen zu unter¬
scheiden — giebt, die nur innerhalb eines bestimmten Kreises wirkt und sich
gegenüber neuen Lebens- und neuen Kunstregungen unzulänglich zeigt. Wird
jedoch, wie das die lärmende, nach allen Seiten hin zerstörende und auflösende,
nirgends im Interesse der Kunst, sondern höchstens zu Nutz und Frommen
einzelner Künstlerkliquen und revolutionärer Talente arbeitende modische Kritik
vielfach thut, aus diesen Vordersätzen die Folgerung gezogen, aller gute
Geschmack überhaupt sei nutzlos, ja hemmend, so haben wir wieder die ampu-
tirten Beine des Mannes aus Laputa. Natürlich ist das bezeichnete Unter¬
scheidungsvermögen, auf das im Grunde aller gute Geschmack hinausläuft,
und dessen Mangel bei allem schlechten Geschmack bemerkbar wird, nur die
Vorbedingung und der erste Anfang aller tiefern Kunstempfindung und Kunst¬
einsicht, aber gerade so unentbehrlich wie die Glieder, die man selbst dann
noch brauchen wird, wenn das Fliegen Gemeingut geworden sein wird. Sind-
die stärksten und feinsten Eindrücke dichterischer und künstlerischer Schöpfungen
an die Vertiefung in die Absichten und Ausführungen des Dichters oder
Künstlers gebunden, so kann doch diese Vertiefung nicht schlechthin für jede
Hervorbringung gefordert werden. Es muß eine Fähigkeit geben, die den
kunstgenießenden Menschen darüber ins Klare setzt, ob es künstlerische Leistungen
wert sind oder nicht, sich in sie zu vertiefen. Kein Zweifel, daß diese Fähigkeit
bei zahllosen Menschen schlecht ausgebildet ist oder falsch und flüchtig an¬
gewandt wird. Dennoch ist sie vorhanden, muß vorhanden sein und wird
ihrem Besitzer zwar niemals den innersten Kern und das feinste Geäder eines
Kunstwerks erschließen, ihm aber ersparen, solchen Kern und lebenerfüllte Adern
in hohlen Machwerken und leblosen Fratzen zu suchen. Ob man diese Fähig¬
keit, die angeboren oder durch Bildung erworben oder aus der Wechselwirkung
ursprünglichen Gefühls und künstlerischer Erfahrungen hervorgegangen sein
kann, anders nennen will als Geschmack, wäre am Ende gleichgiltig. Doch
sowie man ihre Wertlosigkeit zu erweisen versucht und aus der gelegentlichen,
immer nur relativen Unsicherheit ihrer Urteile ihre volle Entbehrlichkeit
folgert, haben wir nichts als eine Lebensäußerung der geistigen Anarchie vor
uns, die unbewußt und bewußt (meist aber bewußt zu leicht durchschaubaren
Zwecken) jede Unterscheidung als die zwischen alt und neu niederzuwerfen strebt.
Den Hauptbeweis für das angebliche Unheil, was alle Geschmacksbildung
anrichte, führen die Heißsporne der Geschmacksverwilderung mit der soeben zu-
gestandnen Thatsache, daß es ein Zerrbild wirklichen Geschmacks, eine Urteils-
lose Gewöhnung an gewisse künstlerische Stileigenschaften giebt, mit der man
freilich keinen 5>und vom Ofen locken kann. Sie machen geltend, daß die fort¬
schreitende Entwicklung der Kunst, die mit der fortschreitenden Entwicklung
des Lebens in innigster Wechselwirkung stehe, jeder Verkümmerung oder Ein¬
schränkung durch die Enge eines ausgeprägten Geschmacks widerstrebe. Sie
leugnen, daß es einen der Natur selbst unmittelbar entstammenden Wert¬
messer poetischer und künstlerischer Schöpfungen gebe, der unter allen Wand¬
lungen der Kultur, der Bildung und der Mode in Kraft bleibe, und leiten
aus der beständigen Veränderung der Sitten, der Zustände und der geistigen
Richtungen eine beständige, lediglich an das Fortschreiten der Zeit gebundne
Vervollkommnung aller menschlichen, also auch der künstlerischen Leistungen
ab. Geschmack schließt uach ihrer Annahme eine Gewöhnung an gewisse Über¬
lieferungen in sich, hindert also das, worauf es ihnen vor allem ankommt: das
Neueste auch jederzeit für das Beste zu erkennen. Alle vermeinten Unterschiede
zwischen gehaltvoll und hohl, zwischen tief und flach lasten sich nach ihrer
Meinung auf den Unterschied zwischen veraltet und aktuell zurückführen, an
Stelle des Geschmacks hat der Instinkt für das unmittelbar Wirksame zu treten,
das, wie es auch geartet sei, jedenfalls in irgend einer Richtung das Vergangne
übertreffen müsse. Eine andre Gruppe zeitgemäßer Ästhetiker will zwar ein¬
räumen, daß es Unterschiede auch andrer Art als die zwischen alt und neu
gebe, und daß solche Unterschiede empfunden und gesehen werden könnten, be¬
hauptet jedoch, daß dazu ein geistiges, weit über die Geschmacksbildung hinaus¬
ragendes Vermögen gehöre, ein Vermögen, das mit dem Gefühl für das tiefere
innere Bedürfnis jeder einzelnen Periode zusammenfalle.
Wenden wir dieses in kritischen Artikeln und Zeitungsfcuillctous bis zum
Ekel breitgetretne Gerede auf einen bestimmten in der Vergangenheit liegenden
Fall an, fo stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Die Bekenner der Über¬
zeugung, daß das Neueste jederzeit das Beste sei. hätten im Jahre 1798, ein
Vierteljahrhundert nach Goethes „Werther," das Meisterwerk der siebziger Jahre,
für eine vollkommen veraltete und abgestcmdne Schöpfung erklären und aus
der Gewißheit, daß Vulpius ..Rinaldo Rinaldini" „gedruckt in diesem Jahr"
war, den romantischen Rauberroman für einen unendlichen Fortschritt über die
sentimentale Geschichte betrachten, somit den jüngern der beide» Schwager
Goethe und Vulpius als den vortrefflichem Schriftsteller rühmen müssen. Sie
wären, da in demselben Jahre auch „Franz Sternbalds Wanderungen" von
Ludwig Tieck erschienen, genötigt gewesen, zuzugestehen, daß das letztgenannte
Buch sich zwar wesentlich vom „Rinaldo Rinaldini" unterscheide, aber kein
höheres Recht habe, sondern eben nur von einer andern Strömung der Zeit
und des Tages getragen werde. Die Anhänger der Lehre, daß zwar Unter¬
schiede vorhanden seien, aber immer nur das Gegenwärtige mit dem Gegen¬
wärtigen verglichen werden dürfe, würden zugestanden haben, daß der „Stern-
bald" das poetisch höherstehende und wertvollere Buch, Vulpius vielberufner
Nänberromcm eine zu äußerliche Befriedigung des tiefern Zeitbedürfnisfes nach
der Romantik sei, aber es hätte ihnen festgestandn, daß der „Sternbald" so
hoch über dem Werther stehe, als die Entwicklung von 1798 über der von
1774. Ein paar „Geschmackspfnsfen," die zur Zeit des Erscheinens von
„Werthers Leiden" den Goethischen Roman mit bösem oder schielendem Auge
betrachtet hätten, würden ihn um 1798 als das mustergültige Werk gegenüber
den ohnmächtigen Bestrebungen der Gegenwart angepriesen und den „Sternbald"
samt dem „Rinaldini" verworfen haben. Die Menschen von wirklich gutem
Geschmack, das heißt von frischer Empfänglichkeit, durchgebildeten Urteil und
der Fähigkeit, Natur und Leben in den Werken der Kunst zu erkennen, das
Ursprüngliche und Starke von nachgeahmten und Schwächlichen zu unter¬
scheiden, die Kraft und den Wert der hinter den Werken stehenden Persönlichkeit
abzuschätzen, würden ruhig geurteilt haben, daß „Werther" ein vollendetes Kunst¬
werk sei, in dem die dauernden Elemente die vergänglichen schwärmerischer
Sentimentalität weit überwogen, daß „Franz Sternbald," obschon aus poetischem
Geiste geboren und nicht ohne eine Fülle warm empfundner Einzelheiten und
gewinnender Schilderungen, doch zu wenig von dem ewigen Gepräge echter Natur
und zu viel von dem wechselnden geistiger Mode und flüchtiger Zeitstimmung trage,
um mit der ältern Schöpfung als gleichwertig gelten zu können, daß „Ninnldo
Rinaldini" dagegen ein uaturloses wie poesieloses Machwerk sei, von dürftiger
Einbildungskraft für dürftige Einbildungskraft hervorgebracht. Sie würden
gewußt haben, daß sie über den poetischen Gehalt, die Einwirkungen des
Lebens und gewisser geistiger Richtungen, über hundert Fragen der Kunst und
des Stils noch hundert Aufschlüsse und Belehrungen aller Art empfangen
könnten, aber daß kein Aufschluß und keine Belehrung den bezeichneten Gesamt¬
eindruck der genannten dichterischen Werke aufzuheben vermöge. Und sie hätten
zu der Forderung, die sichern Wertmesser ihres guten Geschmacks, ihres Ge¬
fühls für Leben und poetische Wahrheit mit Wertmessern zu vertauschen, die
den Jahreszahlen entlehnt sind, einfach gelacht.
Warum lachen die Menschen von gutem Geschmack heute nicht ebenso,
wenn man ihnen mit keinen: bessern Grund als mit den Jahreszahlen 1896,
1897, 1898 beweisen will, daß Fratzen von heute mehr bedeuteten als Ge¬
sichter, hölzerne Latten mehr als Gestalten, Kohlstrünke mehr als Bäume, daß
das Niedrige und das Widrige, wenn es von gestern ist, das Erhabne und
Unartige von vor zehn Jahren selbstverständlich überragen müsse, warum
lassen sie sich von dem geistigen Schwunge imponiren, der zwar noch immer
nicht zu fliege» vermag, aber es eines Tages vermögen wird und vor der
Hand wenigstens die überflüssigen Beine los ist? Warum mühen sie sich ab,
den willkürlichen Umläufen ihres eigensten Besitzes zu folgen, warum setzen sie
der Anarchie des Augenblicks nicht das feste Bewußtsein entgegen, daß, wie
hoch die Kunstanschauung der Gegenwart immer ihre Begriffe sublimiren möge,
es ohne den Unterschied zwischen meisterhaft und stümperhaft, lebensvoll und
leblos, geistvoll und albern nie abgehen wird und es darum immer geraten
bleiben wird, für den Hausgebrauch etwas vom guten Geschmack zu behalten,
der diese trotz ihrer Vorläufigkeit doch nicht unwichtigen Unterschiede erkennen
lehrt?
In derselben Verdammnis wie der gute Geschmack befindet sich bei einer
Gruppe der jüngsten Ästhetiker der gesunde Menschenverstand. In den er¬
habnen Weltanschauungen des Tages ist er eines der verächtlichsten Elemente
geistigen Lebens, und jede Berufung auf ihn in Kunstdingen ein untrügliches
Kennzeichen hoffnungsloser Trivialität. Seit es sogar Mode geworden ist,
die geile Üppigkeit und rohe Grausamkeit der gelehrten Poeten der zweiten
schlesischen Schule als Blüte der Phantasickunst zu preisen, erscheint selbst das
Verdienst, das sich die verständige, klare Nüchternheit von Chr. Weiße bis
Gellert, ja bis Lessing um die Anfänge unsrer neuen poetischen Litteratur er¬
worben hat, in Frage gestellt. Niemand wird die Tage zurückwünschen, wo
man Spiele des Verstandes und Witzes sür Poesie hielt, aber für das Lob.
keinen Funken gesunden Menschenverstandes zu besitzen, würden Goethe und
Schiller, auch noch Fr. Hebbel und Gottfr. Keller doch bestens gedankt haben.
Der gewaltigste Berg, der die Züge der Wolken überragt, ruht mit seinem
Fuß auf dem platten, gemeinen Erdboden, und die schöpferische Kraft, die uns
die tiefsten Geheimnisse der Menschennatur offenbart, die erkennt, was die Welt
im Innersten zusammenheilt, muß irgendwo an das anknüpfen, was alle zu
begreifen und auch die Augen zu erkennen vermögen, die nur das Nächste sehen.
Jede Einbildung und jeder falsche Anspruch des gesunden Menschenverstandes
kann zurückgewiesen werden, außer der einen, daß er überall dabei sein müsse,
und dem andern, daß er keinen Stellvertreter habe. Die Kunst bedarf höherer
geistiger Kräfte als des schlichten Verstandes, aber sie kann diese niedern nicht
entbehren. Wenn nun eine gewisse Strömung der neuern Kritik ganzen Reihen
von Romanen, von Dramen, von Erzählungen gegenüber nicht nur auf jedes
Recht des Verstandes verzichtet, sondern in dem Mangel gesunden Menschen¬
verstandes einen besondern Vorzug erblickt, so muß man es noch für ein Glück
halten, daß dies offen herausgesagt wird. Dann pflegt wenigstens ein Teil
der Leser zu stützen und sich sogar die Frage vorzulegen, inwiefern Oberleder
ohne Sohlen gute Schuhe abgeben könne? Schlimmer stehts, wenn die
eigentliche Meinung hinter dunkeln Redensarten versteckt, mit anscheinend vor¬
nehmen Kunstwörter gestempelt wird, sodaß der Laienverstand nur halb er¬
raten kann, wovon eigentlich die Rede ist. Die Frage, um die es sich hier
handelt, wird von der modischen Ästhetik und Kritik meist falsch gestellt. Sie
kaun, wenige nüchterne Rechthaber ausgenommen, jederzeit nur dahin lauten:
ob ein dichterisches Werk, seiner höhern Vorzüge unbeschadet, dem gesunden
Menschenverstand nicht ins Gesicht schlage oder seiner Spotte? Sie wird jedoch
den Fragenden im Munde verdreht und zu der Frage umgewandelt, ob ein
Kunstwerk dem sogenannten gesunden Menschenverstande, den Gewöhnungen
der Platten und geistig Armen genug thue? Sie wird mit der Beschuldigung
verknüpft, daß der gesunde Menschenverstand der Todfeind aller tiefern Weisheit,
aller Welterkenntnis, aller schaffenden Einbildungs- und Stimmungskraft, alles
geistigen Schwunges sei, während er einfach deren Grundlage ist, wie die Erd¬
fläche der Untergrund der Berge. In wunderlicher Verkennung des Lirsäo <zug>
g,b8urcwni ost gefüllt sich ein Teil der neuern Kunstlehrer darin, überall da
Größe, Tiefe, „Eigenart," schöpferisches Vermögen zu sehen, wo einfach Wider¬
sinn, Dunkelheit und gekünstelte Unnatur walten. Man gesteht zu, daß gewisse
Leistungen freilich dem platten Verstand nicht einleuchten können, aber in eben
dem Maße für bewundrungswürdig gelten müßten, als sie dieses inferioren
Verstandes bar seien. Und es sind nicht etwa nur die Verfasser philosophischer
Untersuchungen, die Erforscher der letzten Gründe und Abgründe des poetischen
und künstlerischen Schaffens, die diese Sprache sichren. Nein, die kläglichsten
Gesellen, die unfähig sind, überhaupt eine Individualität von der andern zu
unterscheiden, die nie über die Natur einer künstlerischen Aufgabe nachgedacht
haben, lassen sich in Hunderten von Zeitungen mit der Geringschätzung des
gefunden Menschenverstandes vernehmen, von dem ihnen selbst freilich ein so
geringes Maß verliehen worden ist, daß es nicht der Mühe lohnt, Wert auf
den Besitz zu legen. Das Publikum läßt sich auch hier von einigen mit
Sicherheit vorgebrachten und täglich wiederholten Redensarten imponiren. Zu
Hilfe kommt dem kritischen und ästhetischen Wirrwarr die verbreitetste Feigheit,
die unzähligen Irrlehren und Sektenbildungen förderlich geworden ist, die Ver¬
leugnung der eignen Überzeugung, sobald diese Überzeugung von irgend einer
Seite her beschimpft oder verdächtigt wird. Im Grunde siud unter tausend
Menschen keine zehn, die wirklich glauben, daß der gesunde Menschenverstand
ein Hemmnis für die Aufnahme und das Verständnis poetischer Werke und
beim Schaffen solcher völlig entbehrlich sei. Doch unter den neunhundertnnd-
nennzig, die vom Gegenteil überzeugt sind, finden sich freilich keine fünfzig,
die sich vou einem mit patziger Miene vorgebrachten geringschätzigen Wort
nicht einschüchtern ließen.
Darüber, daß der gesunde Menschenverstand allein kein Kunstwerk hervor¬
bringen kann und in einsamer Dürftigkeit auch keines Kunstwerks bedarf, ist
ja längst kein Streit mehr. Aber daraus zu folgern, daß er auf ein ver¬
schwindendes Teil reduzirt oder aus dem Gebiete der Kunst hinausgeödet
werden müsse, ist eine der zahllosen „modernen" Willkürlichkeiten, die mit der
Selbstverstümmelung des jungen Philosophen von Lapnta auf einer Linie
stehen. Auch in diesen Dingen giebt es ein Maß, unter das nicht hinab¬
gegangen werden kann. Wie sagt Prinz Heinz, als er Falstaffs Rechnung
aus der Schenke zum Wilden Schweinskopf durchsieht? „O ungeheuer! Nur
für einen halben Pfennig Brot zu dieser unbilligen Menge Sekt." Ein gleich
schreiendes Mißverhältnis herrscht zwischen den Fluten von Stimmung und
subjektiver Weltverachtung und den Brosamen von Lebeuswcchrhett und ge¬
sundem Menschenverstand, die wir in endlosen Folgen neuester Romane und
Schauspiele gegeneinander zu halten haben. Die Kritik, die sich den Vergleich
schenkt, mochte das immerhin thun, sie sollte sich aber die Versäumnis des
Notwendigsten nicht als besondre Auszeichnung anrechnen. Daß einer und
viel gesundem Menschenverstand ein armselig geistloser Gesell sein kann, erleben
wir alle Tage, daß aber der Mangel an gesundem Menschenverstand geistvolle
Anschauung und schärferes Urteil verbürge, soll erst noch bewiesen werden.
Vor allem der Tageskritik, die sich ohne tiefern Anteil an irgend welchen
Kunsterscheinungen, ohne feineres Verständnis der individuellen Besonderheiten
Poetischer und künstlerischer Naturen die Lobsprüche gewisser Koterien und die
Betrachtungsweisen litterarischer Sonderlinge zu eigen macht, muß die Mahnung
gelten, dem gesunden Menschenverstand sein unverlierbares Recht zu wahren.
Für sie vor allem erklingt noch heute das Distichon der Goethe-Schillerschen
,, Genien":
Wenn man statt der „Moral" die Philosophie und die Ästhetik der Dämonen,
statt der Menschlichkeit den gesunden Menschenverstand setzt, so trifft der
Pfeil ins Schwarze. Es ist Zeit, höchste Zeit, daß in der Kunst- und
Litteraturkritik der Tagesblätter wieder etwas vom guten Geschmack und etwas
vom gesunden Menschenverstand zu Tage tritt. Die Maßstäbe beider sind un¬
zulänglich, gewiß! Aber das ebenso zuversichtliche als stümperhafte Hantiren
mit falsch verstandnen Phrasen, mit Aussprüchen und Offenbarungen tieferer
Geister, die nur von tiefern Geistern begriffen und in Zusammenhang gebracht
werden können, ist nachgerade unerträglich geworden, und das hausbackenste
Urteil, das wirklich auf einem Eindruck und einer Vergleichung mit der Natur
beruht, ist hochklingenden Redensarten vorzuziehen. Bis die Herren wirklich
fliegen können, mögen sie doch allerseits ihre Beine, die geraden wie die
krummen, und bis sie thatsächlich nicht mehr zu kauen brauchen, in Gottes
Namen auch ihre Zähne behalten.
eher das deutsche Vauernhaus ist schon viel geschrieben worden.
Auch über die Häuser der Bürger, über Burgen und Schlösser,
Bahnhöfe, Kasernen, Spitäler und viele andre Gebäude, besonders
auch über alte Häuser giebt es eine große Litteratur. Wie
kommt es, daß gerade über das deutsche Wirtshaus so wenig
geschrieben worden ist? Ist es doch sür unsre Volksart und unser Volksleben so
bezeichnend! Das Wirtshaus gilt bei uns mehr und ist auch bei uns mehr
als bei irgend einem andern Volke. Es steht höher und übt einen größern
Einfluß. Nirgends lernt der Fremde soviel von dem Leben und Trachten eines
Volks im Wirtshaus kennen wie in Deutschland. Seine dumpfen Räume er¬
setzen uns Deutschen sogar eiuen großen Teil von dem, was die Agora den
Griechen war. Dringt doch die Politik mit Versammlungen und Wahlen so in
die Wirtshäuser ein, daß manches heutzutage mehr Diskussions- und Agitations¬
mittelpunkt ist als Wirtshaus in dem guten alten Sinne. Wenn ich hinzufüge,
daß auch unser geselliges und Einzelleben sehr stark vom Wirtshaus beeinflußt
wird, so sage ich das im guten und ohne an einen Vorwurf zu denken.
Schreibe ich doch diese Zeilen auf der Holzbank neben der gastlichen Thür
eines ländlichen Wirtshauses, das mich fast wie ein zweites Heim alljährlich
freundlich empfängt. Bin ich doch ein Deutscher, der einen guten echten Trunk
mit Freunden oder sinnig allein als ein hohes Gut dankbar schätzt. Wie ans
manches andre im deutscheu Lande, so bin ich auch auf unsre guten, ehrlichen
Wirtshäuser stolz. Wenn sie dein Mißbrauch unterliegen, so ist das eine
Eigenschaft, die sie mit allein Guten dieser Erde teilen. Gerade das ist schön
am deutschen Wirtshaus, daß es für deu offnen und mäßigen Genuß in Speise
und Trank, womöglich nicht ohne Behagen an wohlthuenden Räumen oder an
gastlicher Naturumgebung da ist. Nicht dem Gewöhnlichen, sondern dem Bessern
in unserm Leben soll das Wirtshaus dienen. In einem guten Wirtshause
sollen die Gäste vergessen, daß sie nicht zu Hause sind. Der Wirt oder die
Wirtin an der Spitze des Wirtstisches will den wechselnden Gästen die
Illusion des Fnmilienlisches gewähren. Die Sitte ist allerdings in Frankreich,
besonders auf dem Lande, weiter verbreitet als in Deutschland, aber sie der-
dient namentlich wegen des günstigen Einflusses auf die Küche gelobt zu
werden. Der Gefahr eines allzu offnen Wortes setzt sich der Wirt daber
freilich aus, ebenso wie der Gast der einer etwas peinlichen Lage, wie ich sie
vor einigen Jahren einmal in Saalfeld erlebte. Dort sagte ich zum Wirt,
der geradeso aussah wie die andern Geschäftsreisenden, die da herum saßen:
Finden Sie es nicht eigentlich geschmacklos, ein Mittagessen aus fettem Rind¬
fleisch, Schweinsknochen und Gänsebraten zusammensetzen? Antwort: Ich bin
der Wirt. Mir ists ganz recht, wenn Sie einen Gang überschlagen, denn
andre essen für zwei. Unsern ländlichen Anschauungen entspricht es vielleicht
mehr, daß sich die Wirtin, wo sie überhaupt noch selbst kocht, in frischer weißer
Schürze und mit knchengerötetem Antlitz nach dem Appetit ihrer Gäste er¬
kundigt und freundliche Mienen und Worte gewissermaßen als letzten Gang
bietet. Dazu gehört freilich das gute Gewissen der ..perfekten" Köchin!
In der deutscheu „Trinkkemcnate" schwebt uns ein Ideal von gemütlicher
Geselligkeit vor, wie es im deutscheu Mannesherzen lebt, und der Speisesaal
eines englischen Inn von gutem altem Schlag kommt dein seinen Behagen
des englischen Innenlebens so nahe wie möglich. Es kann und soll jn nicht
anders sein, als daß das beste Wirtshaus uoch tief unter einem guten „Heim"
steht. Aber wie groß ist auf der andern Seite die Zahl derer, die in ihren
engen, dumpfen Räumen nie das Behagen finden, das ihnen schon eine Bier¬
stube niedern Ranges bietet! Die Schöpfung von Vierpalästen, die die äußern
Bilder unsrer Städte so sehr beeinflußt, führt dem Leben weiter Kreise einen
Strom von Behagen zu, in dem manchmal auch feinere ästhetische Genüsse
sind. Als sich die bairischen Bierkeller nach Franken und an den Oberrhein
ausbreiteten — es war vor etwa vierzig Jahren —, da wurde das Leben
der Kleinstädter bereichert; sie ließen sich um an schönen Sommerabenden mit
ihren Frauen unter dem künftigen Schatten junger Roßkastanien nieder.
Glücklicherweise hatten die Nachahmer den Baiern auch den feinen landschaft¬
lichen Sinn abgeguckt, mit dem diese ihre ..Keller" um herrlichen Aussichts¬
punkten anzulegen pflegen. Der Spießbürger wunderte sich, indem er sem
Bier trank, nicht nur über die merklich bessere Verwertung des trefflichen
Schwetzinger oder Hcigenauer Hopfens, die die bairische Schule eingeführt
hatte, sondern auch über die Reize seiner Landschaft, die ihm nie so schön vor¬
gekommen war. Nicht überall giebt es freilich eine so schöne Lage, wie in Traun-
stein. wo mir von meinem Gastfreund der Kvllerkeller als der schönste Keller
Europa gerühmt wurde. Der Blick auf die Berge von Rnhpold.ng ist
allerdings wundervoll, besonders wenn er mit dem Blick auf einen vollen Maß-
krug abwechseln kann. Wären nicht einige leichte Schatten, die diese beliebten
Vierhügel über die Städte und Städtchen hinwerfen, wo die Leute um
so anspruchsloser wohnen, je näher und billiger sie diesen gemeinsamen Er¬
holungsplatz haben, so möchte man von dem „Bierkeller als ^-ahnte des
Naturgenusses" mit ungemischtem Behagen sprechen. Auch bin ich bereit,
jedem Litteraturmenschen, der den Ncitursinn von Rousseau an datirt, nicht
bloß die herrliche Lage mancher uralten Kapelle und Kirche, sondern die Aus¬
sicht von so manchem altberühmten Bergwirtshcms oder von der Bank vor einem
Fährhaus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das Naturgefühl
nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo sich ein Dichter hinsetzte, um eine
Aussicht zu bedichten; ebenso wenig wie das deutsche Gasthaus erst würdig
war, besungen und gerühmt zu werden, als Lessing seinen köstlichen, von dem
wackern Just so tief verachteten Wirt in der Minna von Barnhelm eingeführt
hatte, und Goethe sein Dorfwirtshaus von Wahlheim mit den zwei Linden,
unter deren ausgebreiteten Ästen („so vertraulich, so heimlich hab ich nicht
leicht ein Plätzchen gefunden") Werther seinen Kaffee trinkt.
Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören
zum deutschen Leben. Sie machen es genußreich, beeinflussen es aber auch in
andrer Beziehung mehr, als man denkt. Es ist die Rückkehr der Stadt zu dem
Land, ans dem die Stadt herausgewachsen ist. Die arme Stadt! Solange
die deutschen Städte noch ihren Kranz von Ackern und Gärten hatten oder
nicht soweit hinausgerückt hatten wie jetzt, umschlossen viele selbst soviel Land,
als sie zum Atmen und zur Freude am Leben brauchten. In Stuttgart oder
Karlsruhe, so gut wie in Cleve oder Brieg, besaß vor fünfzig Jahren der
kleine Bürger und Beamte seinen Garten vor dem Thor, wenn nicht sogar vor
dem Haus, und die Frau des Tagelöhners bebaute eiuen Acker mit Kraut,
Kartoffeln, Rettichen und Obst, wovon mir ein Teil verkauft wurde. Am Sonntag
Nachmittag auf seinem eignen Laud leichte Arbeit zu thun und dann auf dein
Väukchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu selbstgebauten Rettich einen Krug
Most oder Bier zu leeren, war eine Erholung, bei der es dem Holzhauer nicht
einfiel, über das Wohlleben andrer Betrachtungen anzustellen. Jetzt giebt es eine
Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem schmutzigen Miethans und im
Anblick von ebensolchen abstoßenden Backsteinhöhlen verbringen, und denen Nasen
und Bäume nur leihweise zugänglich werden, wenn sie eine staubige und kost¬
spielige Eisenbahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Städte sind über die
einst grünen Flächen hingewachsen, und die Nachkommen derer, die dort ge¬
wohnt haben, suchen jetzt ihre Erholung in den halbländlichen Wirtshäusern
der Vorstädte, wo sie unter Schutt und Neubauten schon Natur zu finden
glauben. Es ist eine ärmlichere und doch kostspieligere Erholung, aber gerade
auf sie wird unser Volk nicht verzichten. Und ist sie nicht immer noch gesünder als
viele andre? Wenn in Deutschland dem minderbcgüterten Mann immer noch
ein größeres Maß von Lebensfreude vergönnt ist, als in deu meisten andern
Ländern Europas und Amerikas, so hat daran das ländliche und halbländliche
Wirtshaus seinen nicht zu unterschützenden Anteil. Je weiter die Wege, je
größer die Anziehung des Waldes und der Wiesen mit ihren Blumen und
Früchten, je schöner die Ausblicke, desto mehr tritt der materielle Genuß in
den Hintergrund, desto unschädlicher sind die Getränke, mit denen ein wohl-
begründeter Durst gestillt wird, desto vollständiger ist die Erholung, an der
doch in vielen Füllen auch die Familie teilnimmt.
Ein Höhepunkt wirtshäuslicher Entwicklung ist in den Restaurationen an
Aussichtspunkten erreicht, wo ein seines Weges und des Lohnes seiner Mühe
frohes Publikum verkehrt. Hier ist an schönen Tagen ungeheurer Durst zu
bewältigen, während die Küche kalt zu sein pflegt. Aber Wirt und Kellner
dürfen hier uicht nur für die Gewährung materieller Genüsse vorbereitet sem.
man verlangt von ihnen Nnturgefühl und Orientirung. Ist keine Orientirungs-
tafel vorhanden, dann wohnt ihnen sogar eine hohe Autorität inne. auf die
man sich allerdings nicht blind verlassen darf; denn diesen Kellnertopographen
kommt es bisweilen nicht darauf an, die Berge bunt am Horizont durch¬
einander zu werfen. Nur die Städte und Kirchtürme halten sie fest, denn
darin werden sie kontrollirt. Will doch jeder Gast seineu heimatlichen Kirch¬
turm wiedererkennen. Es giebt in Deutschland Städte, die man sich ohne
ihre Ausflugsberge gar nicht mehr denken kann. Daß diese Höhen immer
mehr auch im Winter besucht werden, wo die Mühe größer, aber der Ausblick
Heller zu sein pflegt, bezeugt die Vertiefung des Naturgefühls. Aussichtstürme
sind auf manchen wohlgelegnen Bergen lange vor der Begründung der Gelnrgs-
vereine und Touristen klnbs von Menschenfreunden errichtet worden, die ihren
Mitbürgern eine gesunde Freude zugänglicher machen wollten. Natürlich übt
immer der ruinengekrönte Berg eine besondre Anziehung aus, auch wenn es kein
Heidelberger Schloß ist, und so giebt es denn in Deutschland bald keine Ruine
mehr, die nicht wenigstens mit einer Sommerwirtschaft verbunden wäre. Die
einst einsame Rudelsburg ist seit Jahren an Sonntagen mehr Bierwirtschaft als
Ruine, und auf den alten Schlössern von Heidelberg und Baden sind Restau¬
rationen „ersten Ranges" eingerichtet. Matthisson würde dort heute, trotz der
mehrfach in alten Mauerlöchern augebrachten brummenden Äolsharfen, auch
beim schlechtesten Wetter nicht die Ruhe und Stimmung zu einer „Elegie in
den Mauern eines alten Schlosses" finden; dagegen würden die hohen Preise
und der öde Luxus seiue Seele vielleicht zu einem Klagelied von der Länge
eines abschreckend splendid gedruckten „Menü" stimmen.
Für den Freund der Einsamkeit sind diese Orte entweiht. Und so hat
ja auch der Naturfreund den Erguß sonn- und festtäglicher Vergnügungswall¬
fahrer in die stille» Wälder und Thäler zu beklagen. Was die Menge an
ziemlich oberflächlichem Naturgenuß gewinnt, geht dem Einzelnen an tiefern
Eindrücken verloren. Die Sache will aber nicht egoistisch betrachtet werden,
sondern wir müssen die Steigerung des Erholungsbedürfnisses in Betracht
ziehen, an der vor allem die' städtischen Menschenanhäufungen schuld sind.
Man hat die Leute hereingezogen in die Städte, wo sie Mangel an Licht
und Luft leiden. Die Industrie, der Handel wollte es so, und die andern
schauten diesem Zustrom lange Zeit mit Vergnügen an. Wenn es nun die
Zusammengepferchten an ihren spärlichen Feiertagen ins Freie hinaustreibt, so
sind die Unbequemlichkeiten, die sie damit den stillern Naturfreunden be¬
reiten, klein im Vergleich mit denen, die sie selbst ihre sauern Wochen hin¬
durch zu ertragen haben. Laßt sie diese Last städtischer Eingeschlossenheit ab¬
schütteln und freut euch, daß sie nicht die bequemern Erholungen in städtischen
Kneipen und Singspielhallen vorziehen! Begreift, daß das ländliche Wirts¬
haus bei unserm Stand der Bevölkerungsanhäufung als billige und unschäd¬
liche Erholungsstätte eine Wohlthat geworden ist!
Legt einmal die Scheu vor der Berührung mit der „Masse" ab und geht
an den Psingsttagen ins Freie, wo sich euch die aus allen Städten heraus¬
flutende Bevölkerung zeigt, die sich frühlingsmäßig heiter, wie sonst nie. aus-
staffirt hat und sich alle Mühe giebt, heiter zu sein, weil sie Heiterkeit zu
finden hofft. Ich freue mich über die Männer mit abgearbeiteten Mienen,
die heute einmal wirklich Feiertag machen. Sie fühlen sich aller Pflicht ledig.
Der grüne Zweig am Hute versinnlicht den seelischen Mitbesitz an Gottes
freiem Walde, den sich kein Deutscher abstreiten läßt. Einige deuten ihre
Unternehmungslust durch eine mit „Kornjack" gefüllte Neiseflasche an. die sie
über ihren feierlichen Bratenrock gehängt haben. Andre bemerken am Eingang
eines Aussichtsturms, dessen Besteigung zehn Pfennige kostet: Nee, das Geld
legen wir in Bier an und für dich Otte (zärtlich) in Kaffee. Ich freue mich
für die würdigen Gattinnen, die in ihren Sonntagskleidern entweder furchtbar
schwitzen oder entsprechende Angst ausstehen, daß sie vom Regen durchnäßt
werden möchten. Gar nicht zu reden von der Angst um das Familienporte¬
monnaie, das sie in der Hand des festlich heitern Gatten heute nicht ganz sicher
aufgehoben glauben. Ich freue mich am allermeisten über die kleinen Mädchen,
die in weißen Kleidern, weißen Strümpfen, hellen Schuhen und bunten Sonnen-
schirmchen wie Schmetterlinge umherflattern, sich wechselseitig begrüßen und be¬
gucken. Das reine Glück, das durchaus keine Lust hat, sich von dem schon
grollenden Pfingstgewitter trüben zu lassen! Draußen sind die ländlichen Er¬
holungsstätten, mit Maien und Blumen geschmückt, bereit. Tausende zu tränken
und zu speisen. Nachmittags erschallt Musik im Garten, und abends folgt
der unvermeidliche Tanz. Wenn ich daran denke, wie in Frankfurt am dritten
Pfingsttag Hoch und Niedrig in den Wald zieht, um den „Wäldchestag" im
frischen Grün zu feiern, oder in München, wo am Pfingstmontag alles, was
von der niedern Bevölkerung fahren oder gehen kann, die Waldwirtschaften
von Grvßhesfellohe und Pnllach aufsucht, so freue ich mich dieser Erholungen,
als ob ich sie selbst mitmachte.
Es fällt mir dabei ein, wie ich an einem Frühlingssonntag voll Sonnen¬
schein und Regenschauern vor plötzlicher Durchnässung im Thorgang eines
Wirtshauses bei London Schutz suchte. Die Wirtschaft schien verschlossen. Nach
mir kamen aber andre Männer herein, die das „Scham" wußten, das solche
Thüren öffnet. Sie klopften und riefen 1rg.v<z11<zr, worauf, da dem Gesetz
genüge geleistet war, das nur dem „Reisenden" am Sonntag geistiges Getränk ge¬
stattet, durch die Thürspalte die gewünschte Erfrischung, in der Siegel ein Schnaps,
herauswanderte. Ich bin sonst ein Verehrer der englischen Sonntagsruhe; soweit
sie den Lärm der Städte zur Ruhe bringt, ist sie eine körperliche, moralische und
ästhetische Wohlthat. Aber wenn sie dem Städter die ländliche Erholung ver¬
schließt, übt sie einen thörichten und grausamen Zwang aus. In England ist nun
die Umgehung des Verbotes, am Sonntag Erfrischungen zu verkaufe», auf
den sinnreichsten Wegen möglich, die dem anglokeltischen Erfindungsgeist ein
glänzendes Zeugnis ausstellen- Auch in einem Temperenzstaate Nordamerikas,
wo man noch nicht so weit war, begegnete es mir vor einigen Jahren, daß
ich mit einem Lokalzug, der Sonntagsruhe hatte, bis zu einer einsamen Wald¬
station fuhr. Da hieß es nun den Sonntag zubringen. Um das trockne
Biskuit und den salzigen Speck möglichst gut anzufeuchten, wanderte man zur
nächsten Ansiedelung, wo der Arzt sür solche Fälle den erschöpften Reisenden
eine beliebige Menge Bier oder Wein verschreibt, genau in der hergebrachten
Rezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich dachte an den alten Pro¬
visorenwitz: lieoixö se misvs: Stiefelwichs se mo! roh-nun. Der Jünger der
Heilkunde holt die Arzenei aus seinem kühlen Medizinalkeller und ist gern
bereit, dem Reisenden bei ihrer Vertilgung Gesellschaft zu leisten, natürlich
in einem der Straße möglichst abgewandten dunkeln Zimmer, das sich zum
sonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn entwickelt hat. Also hier
machen die Sonntagsgesetze den Arzt zum Bierwirt!
Ich ziehe die andre Verbindung des gastwirtlichen und ärztlichen Berufes
vor, die sich ganz von selbst aus der Natur des Gasthauses als Rast- und
Erholungshaus ergiebt. Sie ist ebenso wahr und menschlich, wie jene
amerikanische verlogen und verzerrt ist. Was ist das Haus des Wirtes für
so manchen Kranken, der fern von der Heimat Genesung sucht! Wieviele
Werke der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, ihren
Familien und Bediensteten plötzlich Erkrankten oder, besonders im Gebirge, Verun¬
glückten geleistet! Auf einzelne Fälle, in denen übermäßige Rechnungen dafür
geschrieben werden, kommen zahllose Samariterdienste, von denen nichts bekannt
wird. In den zahlreichen Bädern, Kurorten und Kuranstalten Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz zeigt sich die hospizartige Funktion des Wirts¬
hauses von der besten Seite. Sie gliedert sich hier allerdings einer großen
Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und Wohlbehagen leidender und gesunder
Menschen ein. Doch'erreicht gerade in unsern Badeorten das deutsche Wirts¬
haus einen seiner Höhepunkte. Wenn die Entwicklung eines Baden-Baden
oder Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leistung der Fürsorglichkeit,
der Intelligenz und des Schönheitssinnes ist. so tragen die großen inter¬
nationalen Hotels an solchen Plätzen neben den andern Anlagen und Bauten
eben soviel dazu bei, wie in den kleinern Bädern die bescheidnen Badegast-
Häuser, die zum Teil noch in die menschenfreundlichen letzten Jahrzehnte des
vorigen Jahrhunderts zurückreichen, die so manche Heilquelle gefaßt und so
manchen Waldweg um unsre Gebirgsbäder gezogen haben, und in die auch
die Anfange unsrer Seebäder zurückreichen. Damals sind jene freundlichen
weißen Badehäuser, Lvgirhäuser und Wandelbahnen gebaut worden, die ge¬
wöhnlich im Bogen die Quelle umgeben. Ihr einfacher Stil, eine Verbürger¬
lichung des Schloßstils Ludwigs XVI., mutet uns sehr behaglich an. Im
Gegensatz zu andern Gasthauszimmern sind ihre Räume groß, nicht hoch, und
haben wenige, aber breite Fenster. Das Ganze ist von Parkanlagen umzogen,
an deren Abschluß in einer schattigen Rotunde, von Steinbauten eingefaßt,
sich ein vermooster Denkstein erhebt, ans dessen einer Seite der fürstliche
oder gräfliche Eigentümer seinen Gästen als milder Wirt den Segen der
Quelle wünscht, während die andere altmodisch vertraulich-beredsam das wichtige
Jahr und die Umstünde dieser Erneuerung kommenden Geschlechtern verkündet.
Tauperlen in dein Moos des alten Steines glänzen uns wie alte Thränen
menschenfreundlichen Mitgefühls an. Gute Zeiten waren das doch!
le altchinesische Partei, die nichts von uns Barbaren und fremden
Teufeln wissen will, sollte eigentlich neben Konfncins auch
Kolumbus zu ihrem Nationalheiligen erheben. Denn ihm hat
sie es in erster Linie zu verdanken, daß das unabwendbare
Schicksal des himmlischen Reichs, schließlich eine Bente der
Abendländer zu werden, um einige Jahrhunderte hinausgeschoben worden ist,
obwohl dieses Geschick im Zeitalter der großen Entdeckungen für eine Weile
schon bedenklich näher rückte. Aber die kühne Fahrt des Kolumbus entschleierte
den erstaunten Blicken der ervberungslustigen Europäer eine ganz neue Welt,
in der es zunächst so viel zu thun gab, daß mau deu fernen Osten sich selbst
überlassen mußte. China und Japan konnten daher noch auf lange Zeit ihr
Sonderleben fast ungestört weiter führen. Als dann in unserm Jahrhundert
immer ungestümer an die verschlossenen Thore der beiden Reiche gepocht wurde,
faßte Japan mit bewundernswerter Thatkraft den Entschluß, seine Thore der
Kultur des Westens weit zu öffnen. Ganz anders handelte China. Es ließ
nur gerade so viel Licht in die mehr als mittelalterliche Finsternis seines
Landes herein, als ihm mit Gewalt aufgedrängt wurde. Hätten es die
Mandarinen in ihrer Macht, die Ausländer alle mit einander wieder zu ver¬
jagen, sie würden keinen Augenblick zögern, es zu thun. Diese Anfsnssnng
Wird sich auch schwerlich jemals ändern lassen, denn sie liegt zu tief in dem
Wesen des Maudarinentums begründet, das gar nicht darauf eingerichtet und
darauf zugeschnitten ist, Belehrung von auszen anzunehmen. So ausgezeichnete
Diener die Chinesen stets abgegeben haben, so schlechte Herren sind sie von
jeher gewesen. Sie sind kein Herrenvolk und werden es auch niemals werden.
Anscheinend widerspricht dieser Auffassung die Thatsache, daß doch die vielen
Millionen Chinesen mehrere Jahrtausende lang von Mandarinen regiert worden
sind. Das ist ein ebenso unerhörtes wie unverdientes Glück dieser Volks¬
aussauger gewesen. Hätte das geduldige Volk einmal eine andre und bessere
Herrschaft kennen lernen, dann wäre es auch anders gekommen. Das beweisen
die furchtbaren Umwälzungen, die das Reich der Mitte von Zeit zu Zeit
durchzumachen hat, wen» dem unglückliche» Volke trotz aller Geduld die Mi߬
wirtschaft zu arg geworden ist.
Wie unvorstellbar für einen Mandarinen der Gedanke ist. ein Beamter
könne uneigennützig nud ohne Entgelt für das Gemeinwohl arbeiten, dafür
ist ein kleiner Vorfall recht bezeichnend, der sich während des Aufenthalts
Li Hung-tschaugs in England zutrug. Als der Alte »unlieb die großartigen
Werkstätten für den Schiffsbau am Clyde besichtigte, wurden ihm die Herren
vorgestellt, die für die gute Instandhaltung des Flusses sorge». Sie betrachten
diese Ämter lediglich als Ehre»poster. Li fragte »um in seiner gewöhnlichen
ungenirter Weise einen von den Herren, wie viel Geld ihm sei» Amt ein¬
brächte. „Gar keins," war die unerwartete Antwort. Verdutzt sah ihn der
alte Chinese an und fragte dann mit schlauem Augenzwinkern: „Na. woher
kommt denn die Diamantnadel an der Kravatte des Herrn?" I» diesen Worte»
spricht sich eine durch und durch chinesische Auffassung aus.
Li Hung-tschang selbst mag vielleicht dafür sein, einige Verbesserungen im
himmlischen Reiche einzuführen, wie er denn z. B. mit dem Else»bah»bau in
Tschihli begonnen hat, als er noch Vizekönig dieser Provinz war. Aber was
hundertmal wichtiger ist als Eisenbahnen oder alle sonstigen schönen Ein¬
richtungen, die Ehrlichkeit in der Verwaltung öffentlicher Gelder wird in Li
niemals einen Fürsprecher finden. Denn Nepotismus und Korruption wäre»
in seiner Provinz ebenso schlimm wie anderswo in China. Hier Hütte er alle
Hebel zu Reformen ansetzen sollen, wenn er sich den Name» eines Mannes
erwerben wollte, der sich um sein Vaterland verdient macht.
Die Weltreise Lif. von der sich manche Menschen viel versprachen, ist
ziemlich ergebnislos verlaufen. Sollten ihr noch ein Dutzend ähnliche Reisen
s°lgen. so würde es damit höchst wahrscheinlich ebenso gehen. Ist doch China
Asien ,., höchster Potenz. Asien mit allen seinen schlechtesten Selten orienta¬
lischen Hoflebens. scho» während Li Hung-tschangs geräuschvoller Fahrt
kamen ominöse Nachrichten aus Peking, die von einer Verstimmung des Sohnes
Himmels zu berichte» wußten darüber, daß bei den meiste» der z» Ehre»
veranstaltete» Festlichkeiten viel zu viel vou diesem selbst und viel zu
wenig von seinem Herrscher die Rede wäre. Die mancherlei Neider und Feinde
Lif haben diesen Punkt als eine willkommne Handhabe benutzt, aus den Kaiser
einzuwirken, der dem Alten ohnehin die im Kriege gegen das viel kleinere
Japan erlittne schwere Niederlage noch keineswegs verziehen hat. Deshalb
darf man sich nicht darüber wundern, daß Li ziemlich kaltgestellt ist. Die
Rolle eines Neuerers und Wegweisers zu höhern Zielen ist am Hofe eines
orientalischen Selbstherrschers immer sehr undankbar, und ganz besonders an
einem so eingefleischt sremdenfeindlichen Hose, wie dem chinesischen.
Die Hoffnung auf gründliche Reformen von innen ist also im Reiche der
Mitte sehr schwach. Wenn nun der Chinese sein Haus nicht selbst in Ordnung
bringen kann, so wird es wohl das Ausland für ihn thun müssen. Denn
daß das Abendland den ungefügen Stehimwcg noch länger sich selber über¬
lassen und Handel und Wandel des vierten Teiles der gesamten Menschheit
mit den ander» drei Vierteln durch ihn noch länger behindern lassen wird, ist
wohl als ausgeschlossen zu betrachten. Es entsteht also die Frage: was soll
aus dem reichen Besitz des kranken Mannes in Ostasien werden, den dieser so
wenig gut zu gebrauchen verstanden hat?
Zur Beantwortung dieser immer brennender werdenden Frage sind seit
dem Kriege mit Japan in ostasiatischen Zeitungen Vorschläge mancherlei Art
aufgetaucht, die gewöhnlich auf eine Enterbung des kranken Mannes noch bei
dessen Lebzeiten hinauslaufen, in der Weise, daß ihm die Verwaltung seines
Reiches allmählich entwunden und von Ausländern besorgt werden soll. Un¬
ausführbar ist ein solcher Gedanke umso weniger, als man hierfür schon seit
Jahrzehnten in dem chinesischen Seezolldienst ein Vorbild hat. Diesem von
dem Engländer Sir Robert Hart vortrefflich geleiteten Dienst gehören Aus-
länder aller der Nationen an, die mit China Handel treiben, wobei bisher der
Umfang des dortigen Handels einer Nation den Maßstab für die Anzahl ihrer
Vertreter abgegeben hat. Der Generaldirektor Hart steht unter dem Tsungli
Z)amen, dem Pekinger Auswärtigen Amt, und ist diesem sür den ganzen Dienst
verantwortlich. Vor dem Kriege mit Japan gingen die Mandarinen zeitweilig
mit dem Gedanken um, den Zolldienst allmählich selbst zu übernehmen. Nun,
sie sollten nur einmal den Versuch mit einem einzelnen Hasen machen! Dessen
Zolleinnahmcn würden dann bald genug erstaunlich zurückgehen. Jetzt hat
man sich doch in Peking dazu bequemt, das nen errichtete kaiserliche Postamt
gleichfalls Sir Robert Hart zu übergeben. Man begreift dort also, daß wohl
noch nicht so bald ohne die fremden Beamten auszukommen sein wird, weil
die Mandarinen zu sehr betrügen würden, wenn sie an deren Stelle waren.
Ein jämmerlicheres Armutszeugnis hat sich ein großes Reich kaum jemals
ausgestellt.
Eine weitere Vermehrung der ausländischen Beamten ist gleichwohl nicht
wahrscheinlich, Die altchincsische Partei wird sicher alles aufbieten, dein ent-
gegenzuarbeiten. Aber auch ein angeblich so fremdenfreundlicher Mann wie
L, Hung-tschang ist der Ansicht, die Eisenbahnen und andre Neuerungen müßten
uicht zu sehr in Abhängigkeit von den Ausländern geraten. Als er in Amerika
war, sagte er einmal: „General Grant, der beste ausländische Freund, den ich
jemals gehabt habe, meinte, als er mich in Tientsin besuchte, China müßte
vor allem darauf sehen, Herr im eignen Hause zu bleiben." Das klingt förm¬
lich rührend. Aber es ist nichts als eine Unmöglichkeit, auf die der Ameri¬
kaner in einer sentimentalen Anwandlung hingewiesen hat. Jedermann von
einigermaßen unbefangnen Urteil würde es China gewiß gönnen, im eignen
Lande alles selbst zu machen, wenn die Mandarinen nur das Zeug dazu hätten.
Doch das haben sie eben nicht. Da sitzt der Haken, den selbst ein so kluger
Mann wie Li Hung-tschang niemals gesehen hat. Vielleicht hat er ihn aber
nur nicht sehen wollen.
Aber selbst abgesehen vom guten oder bösen Willen der Chinesen ist es
sehr fraglich, ob sich die fremden Mächte jemals einigen könnten, das Reich
der Mitte sozusagen in gemeinschaftliche Verwaltung zu nehmen und die
Mandarinen beiseite zu schieben, wobei der Sohn des Himmels dem Namen
nach Herrscher bleiben könnte. Zwar bestand in den siebziger und achtziger
Jahren eine wunderschöne Einigkeit uuter den Gesandten in Peking, solange
es sich nur darum handelte, bei Verfolgungen von Missionaren und bei ähn¬
lichen Anlässen gemeinsame Vorstellungen beim Tsungli Yamen einzureichen,
die regelmüßig ohnmächtig waren und keine Erfolge hatten. Jetzt hat sich aber
eine andre Lage der Dinge in Peking gebildet. Die Zeiten sind ernster ge¬
worden in Ostasien, und die bequeme Harmonie, die sich in den fruchtlosen ge¬
meinsamen Stilübungen der Gesandtschaften in der schwierigen chinesischen Sprache
kundgab, ist längst verflogen. Jeder Gesandte denkt jetzt ausschließlich um die
Wahrung der Interessen seines eignen «Staates.
Deutschland ist nun gegenüber den andern drei hauptsächlich beteiligten
Mächten in dieser Anlegenheit bisher insofern in einer weniger vorteilhaften
Stellung gewesen, als es trotz seiner an zweiter Linie stehenden Handels-
interessen sür seine Kriegsschiffe noch keinen Stützpunkt in China oder an
dessen Grenze hatte. Jetzt haben wir Kiaotschau besetzt und werden es hoffent¬
lich nicht wieder herausgegeben. Die Bucht ist für die Zwecke unsrer Mar-ne
gut geeignet. Leider ist das Hinterland bis auf die dortigen Kohlenlager
lange nicht so viel wert, wie viele andre chinesische Provinzen.
Bei einer durchaus nicht unmöglichen baldigen friedlichen Verteilung des
chinesischen Erbes sollte., wir deshalb unsre Augen auch auf etwas fettere
Bissen richte.,. Werden wir uns zunnüchst über die mutmaßlichen Forderungen
von Rußland. England und Frankreich klar. Zum Glück siegt die Sache
ziemlich einfach, weil jede dieser Mächte ihre natürlich gegebne „Interessen¬
sphäre" hat. Rußland hat längst die breite Hand ans die chinesische Mandschuiei
gelegt, wie eine bereits vor Jahresfrist — wahrscheinlich durch tüchtige eng¬
lische Bestechungen von Chinesen — an die Öffentlichkeit gelangte geheime
Abmachung zwischen China und Rußland beweist. Port Arthur werden die
Russen deshalb sicherlich jetzt behalte».
England wird dem dauernden Übergewicht Rußlands in den nördlichen
Provinzen Chinas kaum ernstlichen Widerstand entgegensetzen. Der Umstand,
daß die jetzige Hauptstadt des großen Reiches im Norden liegt, fällt dabei
wenig ins Gewicht, denn Peking ist nur ein künstlicher Schwerpunkt. Der
natürliche Schwerpunkt liegt in den gesegneten und sehr betriebsamen Provinzen
um mittlern und untern Aangtsekiang mit der alten Hauptstadt Nanking.
Diese Gegend haben die Engländer von jeher als zu ihrem Interessenbereich
gehörend betrachtet. Eingriffe andrer Mächte würden sie hier wohl nicht leicht
ohne Widerstand zulassen. Beim Beginne des letzten Krieges sagten sie den
Japanern rund heraus, sie würden keine Operationen gegen Schanghai und
den Jangtsekiaug dulden. Die japanische öffentliche Meinung nahm dies
damals sehr übel.
Den Franzosen fällt von selbst der Süden zu. Vou Tongking aus haben
sie in der letzten Zeit die benachbarten chinesischen Provinzen zu erforschen
gesucht. Dabei find sie bis in die größte und vielleicht wohlhabendste Provinz
des ganzen Reichs, Szetschuau am obern Ä)angtsekiang, vorgedrungen, die sie
auch für sich beanspruchen. Vermutlich gedenken sie von dort aus hinter dem
Rücken der Engländer ihren von Norden kommenden russischen Bundesbrüdern
die Hand zu reichen.
Unter diesen Umständen wird es das beste sein, wenn Deutschland die
südöstlichen Küstenprovinzen mit ihren vortrefflichen Häfen für sich ins Auge
faßt. Es sind dies Tschehkiang, Fuhkien und vielleicht ein Teil von Kuaug-
tung, nebst einem ordentliche» Stück Hinterland aus den hieran grenzenden
Provinzen. Unsre Regierung hat möglicherweise schon ähnliche Gedanken
gehabt, da vor einiger Zeit stark davon die Rede war, Deutschland suche eine
Kohlenstation bei dem Vertragshafen Amoy in Fuhkieu zu erwerben. Für
deutsche Bauern wäre allerdings das Klima dieser Gegend nicht geeignet, weil
es zwar nicht ungesund, aber im Sommer viel zu heiß ist. Aber unser Handel
würde ohne Zweifel sehr großen Vorteil davon haben, wenn wir das be¬
zeichnete Stück der Erbschaft bekommen könnten. Tschehkiang wird wegen seiner
mannichfachen Erzeugnisse der Garten Chinas genannt. Die in der Hauptstadt
Hnngtschau angefertigte Seide hat im ganzen Reiche großen Ruf. Der wich¬
tigste Ausfuhrartikel von Futschau, der Hauptstadt von Fuhkieu, ist Thee.
Das Geschäft darin ist allerdings infolge des Wettbewerbs von Ceylon und
Assam zurückgegangen, aber daran ist hauptsächlich die stumpfsinnige Manda¬
rinenwirtschaft schuld, die von einer Herabsetzn»«, der auf Thee liegenden
drückenden Steuern nichts wissen will.
Manchem Leser, der nicht viel über ostasiatische Verhältnisse weiß, werden
vielleicht Zweifel darüber kommen, ob diese kaltblütige Verteilung des himm¬
lischen Reiches aus dem Papier nicht ein abenteuerliches Hirngespinst sei.
Jeder Kenner der Verhältnisse wird zugeben, daß sie das keineswegs ist, sondern
daß sie durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegt. China ist schwerlich noch
fähig, sich aus sich selbst heraus zu reformiren. Andrerseits kann es trotz
seiner ungezählten Millionen dem Abendlande nicht annähernd einen solchen
Widerstand entgegensetzen, wie das in ähnlicher Lage befindliche kriegstüchtige
Türkenvolk.
Das einzige, was man dafür sagen könnte, Europa solle lieber die Hände
von diesem Unternehmen lassen, ist, daß kein Mensch imstande ist, die Folgen
einer so gewaltigen Umwälzung vorherzusehen. Einige ausgezeichnete Kenner
Chinas, wie unser früherer Gesandter in Peking. Herr von Brandt, meinen,
es könnten daraus manche schwere wirtschaftliche Nachteile für das Abendland
entstehen. Unmöglich ist das nicht, aber das Geschick läßt sich durch solche
Erwägungen nicht aufhalten. Die Dinge sind einmal in Fluß. Da ist es
für eine große, in Ostasien stark interessirte Macht wie Deutschland der einzig
richtige und würdige Standpunkt, der Lage entschlossen ins Gesicht zu sehen.
Hoffentlich greift unsre Regierung fest zu. wenn es an der Zeit ist, in China
noch mehr zu holen. In einem weitern Artikel gedenken wir die Lage der
christlichen Mission im Reiche der Mitte und die wahrscheinlichen Folgen des
deutschen Vorgehens für sie zu besprechen.
es frei'! Su thuts nimma gut, seufzte Madlene. — Woh is denn
mei sogen? brummte der „Kleine." Der „Große" saß hinter dem
Webstuhl und zog bei diesen Worte» die Weblade einigemal so
heftig um, daß von dem groben Zettel etliche Fäden rissen.
Der „Kleine" war vor einundzwanzig Jahren allerdings sehr
klein gewesen dem „Großen" gegenüber; aber mit seinem vierzehnten
e war er ins Schieben gekommen, und jetzt überragte er den „Großen" fast
,^'Pfs Länge. Er hieß aber immer der Kleine, und dieser der Große.
e"e, im sechsnndzwnnzigsten Jahre, war ein ivvhlgestaltctes Mädchen mit
bräunlichen Zöpfen und „eggertse»"*) Augen. Eggertse Augen halte» die Mitte
zwischen blau und grau und si»d el» we»ig verschleiert, vo» üppigen dunkeln
Winwern überdacht.
Es war Ende Februar. Die Abendmahlzeit war vorüber, Madlene hatte das
(Geschirr gespült und saß auf der Ofenbank und span». Die Ofenbank hatte einen
gebogne» Ausschnitt für die Ofenblase. I» der Ofenblnse schwammen im warmen
Wasser Hvlzäpfelchen, die gefroren gewesen, aber nun aufgetane waren, und von
Zeit zu Zeit hob Madlene den neuen hölzernen, von? Kleinen in diesen Tagen
erst gefertigten, rechtwinkligen Blasendeckel ab und langte sich so el» krachsaures
Äpfelchen heraus, das sie dann, ohne eine Miene zu verziehen, zwischen die
blendenden Zahne schob. Zur Linken der Madlene stand die Südgelte, deren
Inhalt, knrzgeschuittnes Viehfutter, mit kochendem Wasser ans der Ofenblase gebrüht
wurde. Den gebrühten Häcksel deckte ein ebenfalls neues, vom Kleinen gefertigtes
Zirkelbrett mit jvchförmigem Griff in der Mitte. Ans dem warmen Futterdeckel
hatte Fritz, ein mächtiger, wildfarbner Kater, Platz genommen und spann mit
seinem Liebling, der Madlene, um die Wette.
Mir unsre Paar Thaler hätt der Tischkasten noch lang gut gethan. — Woh
is denn mei sogen? — Kupp, klappklapp! Da rissen wieder etliche Zettel¬
fäden. — Ins Dreiteufelsnamen! Das muß ich kenn! wetterte der Große,
nahm den schwarzen, eisernen Leuchter, der in der Mitte einer quer über den Web¬
stuhl gezognen Schnur hing, und stellte ihn auf den Zettel, um die gesprnngnen
Fäden wieder einzuziehen und zu knüpfen. Das Talglicht sah gelb aus, und sein
Docht war etwas stark nusgefalleu bei dem Lichteziehen der Madlene und des
Kleinen. Der saß am vordern Ende der Ofenbank bei dem Öllämpchen an dem
Arm eines hölzernen Leuchters und besserte el« paar Schuhe aus. Er war im
Sommer der Ackerbauer mit ein Paar Kühen, im Winter der Bößler. So
erhielt Madlene ihr Licht zum Spinnen teils vom Webstuhl her, teils vom Bvßlers-
lämpchen. Und so war anch ihre Stellung in der Wirtschaft zwischen den beiden
Brüdern. Wenn sie anch dem Großen gerne Widerpart hielt wegen seiner
„Prahlhnnferei," so fiel doch oft genug aus seinem Kopf aufklärendes Licht in ihr
Wesen. Aber das gestand sie nicht einmal sich selbst. Dagegen konnte man öfter
merken, daß sich das Gemüt des Kleinen in ihrem eggertsen Auge als ein
Flämmlein widerspiegelte. In dieser brüderlichen Beleuchtung nahm sich Madlene
gar uicht übel aus. Des Großen Licht rief die Schatten hervor, des Kleinen
Licht trug die Farben auf. Hätte von eiuer Seite her das Licht gefehlt, die
Madlene wäre uur halb so schön gewesen. Aber sie war schön; jetzt meine ich
geistig. Was ihr da draußen in der großen Welt von Schöngeisterei sonst geredet
habt und vielleicht hente noch redet, das ist jedoch wieder ein wenig anders. Und
die Holzäpfelchen der Madlene gehören jetzt auch uicht her. Oder doch? Sind
sie vielleicht die Ursache ihrer sauern Stimmung, die sie veranlaßt mit Freien
zu drohen? Denn wenn Madlene droht: Ich frei! dann ist es, wie wenn eine
andre schreit: Ich lauf davon! oder: Ich fahr ans der Haut! Und der
Kleine hat nachgeschlagen: Woh is denn mei sogen? Das ist das Madlenen-
siegel. Nun mag der Große einpacken. Aber ist denn das schön? Jsts schön
von der Madlene, wenn sie mit dem Kleinen paktirt gegen den Großen? Das ist
es eben. Der Große fällt bei ihr so in die Wagschnle, daß sie zur Herstellung
eines schönen Gleichgewichts mir gar zu oft den Kleinen auf ihrer Seite nötig
hat. Das fühlt der Kleine auch so geläufig, daß er ohne weiteres immer bei
der Madlene steht.
Kupp, klappklapp! Kupp, klappklapp! Für unsre paar Thaler! Kupp,
klnppklapp! Der Große reißt um einer nach der Fälle (dem Halter am Kamm¬
rad des Zettelbnnms) laufenden Schnur, damit der Zettel um einen Kamm weiter
rückt, dreht dann das Zahnrad am Tnchbaum zum Aufwinden des Drillichs und
ruft mit einer Wendung nach der Ofenblasengegend: Die wir sauer erworben
haben! Das muß ich kenn! Der Madlene wars „nein gefahren"; sie holte mit
einem ncusilbernen Haken, dessen Griff mit glitzernden Plättchen und Drahtglöckcheu
geziert war, den Faden durch die Spindelhöhlung und ließ ihn wieder am Rocken
naschen. Und der Kleine mußte eben eine Naht fertig haben; denn er fing mit
seinem Hammer an zu pochen wie ein richtiger Schuster.
Kupp, klappklapp! In Schlesiugu haben sie mir 's Geld aus der Laden ge¬
stohlen. Und was für ein Schloß wars? Das muß ich kenn! Kupp, klnppklapp!
Der Große hatte als Leineweber eine ansehnliche Reihe Jahre gewandert,
bezog sich aber am liebsten in seinen Wanderschaftsanspiclnngen auf Schlesien. Als
Altgesell war er in die Heimat zurückgekehrt, und das war er uoch. Der
während der Wanderschaft des Großen verstorbne Vater war Webermeister gewesen.
Nach der Rückkehr aus der Fremde hatte der Große das Meisteriurecht der
Mutter ausgenutzt zur Ersparung der Unkosten, die mit dem Meisterwerden ver¬
knüpft waren. Nun die Meisterin aber seit einigen Jahren dem Meister ins Jen¬
seits nachgefolgt war, hätte er, um weiter arbeiten zu können, Meister werden
müssen. Well man dem „Schlesinger" aber gewogen war von der Zunftlade her
und ihn nicht sonderlich zum Meisterstück antrieb, so ward der wichtige Akt eben
der Unkosten wegen immer weiter hinausgeschoben. Hätte der „Schlesinger" aber
heiraten »vollen.' so wäre es unerläßlich für ihn gewesen, das Meisterstück zu
machen. Aus Heiraten hatte er freilich noch nicht gedacht. — Ich kenn die Welt!
war eins seiner Schlagwörter, bei denen sich die Augenbrauen wölbten wie Ehren¬
pforten für staunende Blicke. Und weil er die Welt kannte, wollten ihm die
Bauernmädchen nicht mehr recht Passen. Dagegen schien ein Fräulein Hoßfeld, das
der leiUvergauqnen Kirchweih als Glied einer winzig kleinen Seiltänzer- und
Schauspielertruppe im Dorf war. Eindruck auf den Schlesiuger gemacht zu haben.
Am Tage hatte die Truppe gymnastische Vorstellungen im Freien gegeben, nachts
hatte sie auf dem Tanzbcwen Komödie gespielt. Als Mann. der gereist war, fühlte
sich der Schlesiuger vou den Reisenden angezogen. Aber den Dorn." d.e einzige
männliche Person der Truppe, mied der Schlesinger. weil er dies Metier
eines Mannes für unwürdig erachtete. Dagegen das weibliche Mitglied!
Und das war also Fräulein Hoßfeld. und diese Person war wahrhaftig kern¬
gesund und federkräftig, wie er beim Seiltänzer gesehen hatte, und mich „nicht
garstig." Sie konnte sich auch hochdeutsch mit dem Schlesinger herhalten und
war «llerdiugs auch in Schlesien gewest." - Seit Weser Kirchwe ging
es dem Großen manchmal wie ein Mühlrad im Kopf herum. We-i,i h ^Fräulein im Traum erschien, so geschah das manchmal anch mit den Füßen da,
w° andern Frauenzimmer, der Kopf steht. Kurzum, es war dem Schlesinger em
wenig angethan. Aber er ließ sichs nicht merken, und de. es den Kopf gekostet
Die Madlene wußte es aber doch. Und das war wieder schon von ihr, daß e
that, als wußte sie auch nicht das Geringste. Nicht einmal den Kleinen hatte
sie in ihre Wissenschaft eingeweiht.
Wir wohne doch nit in Schlesinge! spann Madlene weiter. Und gleich folgte
ihr Siegel drauf: Woh is denn mei sogen!
Die Naht mußte noch nicht glatt genug sein; denn der Kleine lies; seinen
Hammer spielen wie ein mutwilliger Schusterlehrling. Doch war er harmlos und
friedliebend. Wenn sichs jetzt in ihm regte, so war es gewiß nur Bänguis ums
Gleichgewicht. Das war bei ihm bis zur selbigen Abendstunde überhaupt das
Grundmotiv. Es gebar die Regungen oder verschlang sie. Regte sichs einmal in
seinem tiefen Gemüt, weil ihn ein schönes Mädchen anlachte, so begann das Grund¬
motiv seine mörderische Wirkung. Denn was sollte aus dem Gleichgewicht in der
Ofenblasengegend werden, wenn dn das Mädchen wieder anlachtest? So ganz
deutlich nahm sich der Kleine zwar nie ins Verhör; aber es kam nach seinem
Grundmotiv doch immer auf ein Gleiches hinaus. Dafür bekam er von Weibs¬
bilder», die ihn gern aus dem Gleichgewicht gebracht hätten, hin und wieder zu
hören: Folg nar hübsch, Klemmer!
Kupp, klappklapp, 's Birro (Bureau) ist bestellt! Das muß ich kenn! Kupp,
tlappklnpp! Da fuhrs der Madlene wieder nein. Und der Kleine begann Nägel
in den Absatz zu schlagen., und Fritz schnurrte dazu:
Das ging ans den Großen, der ein Schnurrbärtchen aus Schlesien mitgebracht hatte,
das er bis auf die Stunde artig pflegte.
Der Große hatte aus der Fremde einen blauen Frack mit blanken Knöpfen
mitgebracht, den er immer noch an Festtagen zur Kirche oder ins Wirtshaus trug.
Noch ein Hieb auf den Großen: er führte eine Schnupftabaksdose ans Birken¬
rinde mit einem Lederzipfel am Deckel.
Ich frei! Wieder fuhrs der Madlene mein. Es mochte eine alte Drohung
sein. Aber sie traf den Großen stets im innersten Mark, obgleich er keine
Ahnung hatte, nach welcher Seite hin die Verwirklichung der Drohung ausschlagen
könnte. Denn Madlene hatte keinen Schatz, den sie hätte freien können. Obgleich
dem Großen das klar, und obgleich für ihn nicht einmal der Schein einer Möglich¬
keit vorhanden war, so galt ihm diese Drohung durchaus nicht als inhaltlos: sie
sagte ihm mit dem unfehlbaren Siegel: Großer! Wir sind nicht einverstanden mit
dir! Das war für ihn des Inhalts genug, ein niederschlagender Inhalt.
Soll sich der Große niederschlcigen lassen von der jüngern Kompagnie?
Nicht um die Welt! Kupp, klappklapp! Dus muß ich kenn! Ein Vexirschloß
kommt dran. Ich kenn die Welt!
Der Fritz fing stärker an zu schnurren; aber wir haben jetzt keine Zeit, auf
sein grobes Lied zu höre». Madlenens Spindel schnurrte mit ihm um die Wette,
und der Kleine nagelte, daß die Stube dröhnte. Der höchste Trumpf war aus¬
gespielt: Ich kenn die Welt!
Su? a Vexirschluß? — Woh is denn mei sogen! Vexirn! Hahaha! —
Wenn der Kleine laut lachte, so wars ungefähr, als schlüge der Pfarrer mit
Zwei Fäusten auf die Kanzel. Da war es der Madlene, als stürze ihre Wag¬
schale in den Feuerteich, und die Schale des Großen schnelle in die Äste des
Holzapfelbnums, sodaß sie schleunigst einlenkte und zaghaft fragte: Wie solls denn
»ander mit dem Schlüssel werd»?
Kupp, klappklapp! Bleibt, wies war! Das muß ich kenn! Nun hob Madlene
den Ofenblasendeckel, nahm ein Holzäpfelchen heraus und führte es zwischen die
restlichen Zähne und netzte den Faden so freigiebig, daß von der Spule dem Fritz
ein paar feine Tröpflein ins Gesicht flogen, und er niesen mußte. Hases deutest,
tagte Madleue und langte dem Kleinen auch ein Äpfelchcn zu. Es war eine
Lust, zu sehen, wie die drei nun in stillem Eifer weiter arbeiteten, und der Kater
Lieder dazu dichtete.
So mochte ein Biertelstündchen ohne Rede und Widerrede verstriche» sein.
Da griff Madlene wieder in die Ofenblase und mochte so ein Stücker vier oder
fünf Holzäpfelchen erwischt haben; die warf sie dem Großen zu. Weil aber
etliche davon beim Trittwechsel in den Zettel gerieten, so sprangen Wohl zehn Fäden
"uf einmal. Doch der Große las die Äpfelchen zusammen, steckte eins in den
Mund und die andern in die Tasche und knüpfte geduldig die gerissenen Fäden;
dann arbeitete er weiter — vergnügt weiter. Madlene steckte den Rocken uuter,
stellte das Rad in die Ecke und huschte mit einem schelmischen Gute Nacht! zur
^-sur hinaus. Fritz war mit entwischt und begann seine Spaziergänge auf dem
"bersten Boden. Der Kleine packte sein Flickgerät in einen Kasten und schob
""t einem herzcnhaften Gute Nacht! ebenfalls ab.
Für den Großeir aber begann nun noch ein Stündchen ungestörter, fröh¬
licher Arbeit, bei der er ein Lied aus seiner Wanderzeit sang, zwischen den Strophen
"ber öfter eine längere Pause machend. Die sauern Äpfel mochten ihn an das
Schlehenlied erinnert haben. Wenn er damit zu Eude war, fing ers wieder von
vorn an. Er kam die Nacht nicht über das Ding hinaus; drum magh mit drein
gegeben werden.
Madlene
Das Haus dieses Geschwisterkleeblattes hieß dus Müsershaus, und die Be¬
wohner hießen die Müsersleut — vom Großvater her, der aus der „Mus" stammte,
einem einzeln in der Wiese gelegne,? Haus des Nachbarortes Schwarzbach, und
darum der Müser genannt worden war. Die drei ledigen Müsersleut führten
einen guten Haushalt miteinander und hatten sich etliche hundert Thaler gespart.
Die bewahrten sie im Tischkasten auf. Wohlgervllt und eingewickelt stak die Er¬
sparnis hinter einem Wall von Papieren und alten Kalendern, und vor diesem
Wall stand zwischen Petschaft, Schreibzeug, Schreibkaleiider, Rasiermesser und einer
„Sandaner" (der Feiertagsdosc des Großen) ein ans feinen Wurzeln geflochtenes
längliches „Schänzcheu," worin dus Wirtschaftsgeld war. Den Geldschlüssel, d. h.
also den Tischkastenschlüssel, führten die drei Geschwister gemeinschaftlich so, daß ihn
jedes eine Woche behielt. Am Sonntag bei der Morgensuppe legte der Inhaber
den Schlüssel dem Geschwister ans seinen Tischplntz, das für die angetretene Woche
den Verschluß bekam. Alle Einnahmen und Ausgaben konnten nur durch die Hand
des jeweiligen Schlüsselinhabers gehen. — Mndlene und der „Meine" hatten sich
ein der Ausgabe gestoßen, die nach dein Willen des Großen für ein „Birro"
gemacht werden sollte. Nachdem ihnen aber das Schlüsselrecht auch für die neue
Kassezeit zugesichert worden war, hatten sie sich der bevorstehenden Neuerung gefügt.
Zwar hatte Madleue die gemeinschaftliche Ersparnis nur mit „ein paar Thaler"
bezeichnet; aber sie galt ihr doch ebensogut als ein Schatz Wie dem Großen. Nur
nicht prahlen! Das 'war ihr zuwider. Die Zahl 250 Thaler hätte sie um keinen
Preis airsgesprochen.'
Die „Birrv"- und „Vexierschloß"-Idee brach aber in Madlene zum voll¬
ständigen Sieg durch, als die Kunde zu ihr drang, beim Schwarzbacher Ziegler
sei ein nächtlicher Einbruch verübt worden. Nun lief sie selbst zum Schreiner und
fragte, ob denn das „Birro" endlich bald fertig werde? — Ich kenn die Welt!
rief da der „Große" triumphirend.
Vom Schreiner nach Haus gekommen ließ sich Madlene vom Kleinen ein
Viertel Weizen einfassen, um es gegen Abend in die Mühle zu tragen. Doch
n>t Hvchzigweizen? fragte der Große, der im Vorbeigehen den Auftrag der
Madlene gehört hatte. Madlene schwieg. Der Große setzte sich hinter seinen
Webstuhl und arbeitete, als ob er heute noch sein Stück zur Mitgift fertig zu
bringen habe. Er hatte gerade einen zerrissenen Faden einzuziehen, als Madlene
eintrat, um eine bessere Schürze und „Schoppe" zum Mnhlgang anzuziehen; da
brummte er wie im Selbstgespräch vor sich hin: Hätts uit gedacht, daß 's so schnell
gehen würd mit der Freierei! Hvchzigbier schlägt der Fink: Hochzigweß mahlt der
Müller. Kupp, klappklapp! — Und Purzelbäm schloan die Seltnnzera! — Das
warf Madlene dem Großen zu wie verwiesen die Handvoll Holzäpfel, und dann
war sie hinaus. Lächelnd schritt sie, den Korb mit einem Viertel Weizen ans dem
Rücken, durch die Hausthür. Der Kleine ging eben in die Scheune, um Futter
zu schneiden. Er hatte die Madlene lächeln sehen und dachte bei sich: Madlene,
dn hast gewiß dem Großen einmal Holzäpfel zugeworfen.
Der Große laute daran, machte ein verdutztes Gesicht und saug denn den
Kehrreim:
Als sich der Schlesinger ganz aNein und unbeobachtet wußte, hielt er inne,
stützte die beiden Ellenbogen ans den Brnstbaum und nahm den Kopf zwischen
die Hände, sodaß der Nagel jedes kleinen Fingers zwischen die Zahne kam. Die
Madlene hats hinter den Ohren. Wirft mit Seiltänzerin n.n s.et^ d-e Veschte
die! Man folles nit mein'n! - Aber das muß ich kenn! - Wenn us e.n
Maler wär und sollt eine Venus maln - ich wüßt eine. - Und sie ist auch
in Schlesiugeu czewest! — Kupp, klappklapp!
Madleue schreitet gut aus; denn sie will beim Nwhsiittern zum Melken imeder
d"heim sein. Die Müsersleut mahlen in der „Hennsenmühl" über den. -Kerg
drüben im Bibergrnnd, eine gute halbe Stunde weit.
, Wie breitet sich die Flur aus so weit, so weit, bis an du. ^rge ud d^e
swßen an deu Fimmel mit ihren gedankenschwerer Köpfen. Drüben ^ ! n
der rüstigen Madlene, steht die Sonne ans den. „Nollbret " und wirft rotes Gold
beruhe . der Jungfran ins Gesicht, daß es glüht. Die Vogelbeerbäume am Weg
recken ihre lehren Zweige in ti! Luft. als wollten sie mit ehren Köpfchen, den
verschlossenen wolligen Knospen, auch den Hinunel berühren. Aber da ist noch
weit hinauf, ihr friereudeu Knospeu! - Die Traulieustiele an den Zweigen sind
der Beeren bar; eben fliehen vor der zwischen den Van.nen schreitenden Madlene
einige vom großen Zug abgesprengte Wacholderdrosseln, die die letzten Beeren
abgesucht haben und nun vor einer Hungerreise stehen. Nun ist auch das arme
Vogelleben hinweg, öd und still liegt das weite Schneefeld. Der Schnee knirscht
unter den Schuhen des Mädchens; es wird kälter. Das Sonnengold ist hinweg;
aber die Wangen glühen noch. Läufst du zu schnell, oder ist es die Kälte? Mag
beides sein. Denn von einer Seelenglut, die da etwa durch die Winterlandschaft
zöge und hinter der wogenden Brust emporstiege in die Wangen: wer könnte von
ihr erzählen? Hüte sie, Madlene! Sei heimlich mit ihr, wie du es nun schon acht
Jahre lang warst! Wenn die weite Flur oder der bergende Wald dachte, jetzt
werde die Glut oder die Blässe oder die Thräne von einem Menschenkind unver¬
mutet entdeckt werden: da war sie hinweg — die Glut oder die Blässe oder die
Thräne, und die Müsers-Madlene wußte von nichts, von gar nichts, war frei und
ledig, und jeder konnte kommen und sie zum Weibe begehren. Aber es kam keiner.
Und das mußte doch an der Madlene liegen, weil sie keine Glut, keine Blässe,
leine Thräne merken ließ."
Madlene nähert sich der „Kerbe. Das ist ein Einschnitt im Bergkamm,
durch den der Weg nach der Hennsenmühle führt. Plötzlich bleibt das Mädchen
stehen und horcht auf, gespannt, ohne zu atmen. Da, wieder! Sie hört einen
Klageruf aus der Kerbe heraus. Ein Unglück! Es muß ein Mann sein. Wie
im Sturm, die Last auf dem Rücken nicht mehr spürend, eilt Madlene vorwärts.
In der Kerbe solls „umgeben." An die Kerbe stößt der Bretterplatz, eine Platte,
die von den Bretterfuhrleuten zur Anfuhr der Dielen aus den Schneidemühlen in
den Waldgründen benutzt wird, und wo im Sommer oft große Brettervorräte nnf-
geschränkt stehen und der Abfuhr an die Werra zur Flöße harren. Auf dem
Bretterplatz ists auch „nicht richtig." Was ist auf dem Bretterplatz nicht schon
alles gesehen worden, was ist den Leuten in der Kerbe nicht alles schon zu- und
aufgestoßen! Trotz alledem! Madlene stürmt furchtlos hinein in die verrufne
Schlucht.
Der Mühlweg wird in der Kerbe von einem andern Hohlweg rechtwinklig
durchschnitten. Dieser andre Weg kommt vom Bergrücken her und läuft über der
Kerbe draußen in zwei Armen auf den Hvchtafeln, die die „Sorg" — einen
Kessel — umgeben, auseinander.
Entgegengesetzt davon, vom Bergrücken her, war er gekommen mit seinem
großen Handschlitten voll Holz, frisch gefälltem, bleischwerem Holz, der „Nöders-
Frieder." Die Ladung war mit grünem Fichtenreisig sorgfältig verdeckt, über das
die zusammenhaltenden Stricke liefen. Die Bahn war spiegelglatt. Und der
Nödersfrieder hatte vorn auf seinem Schlitten gesessen und war dahingesaust, daß
ihm die Haare gepfiffen hatten. Aber es hat ihn wohlgedcucht, wie sein glühendes
Gesicht die kalte Luft durchschnitt.
Hinten in der Gemeindewaldung hatte er eine Fichte gefällt, sie in Schlitten¬
längen zerhackt und aufgeladen. Bei dieser sauern Arbeit war ihm warm ge¬
worden. Aber noch mehr Anstrengung hatte es ihn gekostet, den schweren Schlitten
auf die abschüssige Bahn zu bringen. Als ihm das gelungen war, hielt er da auf
der Höhe, setzte sein Pfeifchen in Brand und sah zufrieden in die Winterlandschaft
hinab, die eben im letzten Sonnenschimmer erglänzte. Drunten lag sein Dörfchen
so friedlich, so geschiehts- und zukunftslos, versunken in Weltvergessenheit. Er sah
das Dach seines Hauses, und sein Blick schweifte weiter zum Müsershcms, das er
plötzlich so deutlich vor sich sah, als hätte er das beste Perspektiv vor dem Auge.
Die Madlene sah er zum Brunnen gehen, und die Frau Nachbarin hörte er sagen:
WM Wasser sollt? Es ist das auch ein Gruß, eine grüßende Teilnahme am
Leben des andern. Wer die Madleue war nicht rot und nicht blaß und hatte
"und kein Thränlein im Auge und sagte zur Nachbarin: Ja! So war sie immer
<eit acht Jahren. Aber vorher war sie anders gewesen.
Dem Rödersfriedcr war das Pfeiflein ausgegangen. Sein Gesicht glühte, die
Brust wogte. Der Glanz der Landschaft war erloschen. Wie ein zartes Spinn¬
gewebe breitete sich die erste Dämmerspur über das winterliche Gefilde. Frieder
Mlfzte und rückte an seiner Holzladnng herum und steckte sein Pfeiflein in seine
^nckentasche. Dann rückte er an seinem Schlitten, daß er in Bewegung kam,
Ichwnng sich vorn auf und lenkte mit den freischwebenden Füßen.
Immer schneller wurde die Fahrt. Wie strich ihm die Luft doch so barm-
y^zrg kühlend über das Gesicht. Da schoß es dem Frieder durch den Kopf: Wenn
on sterbend im Fieber lagst, und die Madleue striche dir mit der kühlen .Rand
"^Gesicht! Immer rascher sanft die Last ans dem Spiegel dahin. Kühl! o wie
l"si! wie hübsch kühl!
Und die Madleue kam unten herauf zwischen den Vogelbeerbäumen — war
'naht um Brunnen — und glühte auch; denn niemand war weit und breit um sie.
Frieder sunst eben den steilsten Stieg hinab in die Kerbe. Am Wegwiukel
WM er, mit dem Fuß lenkend, den Schlitten herumbringen und arbeitet mit
""ßerster Anstrengung. O weh! Sein Fuß wird vom Schlitten erfaßt; er stürzt,
und der Schlitten stürzt mit ihm auf die Seite, den Unglücklichen festhaltend.
Mieder ruft um Hilfe.
Sei» Hilferuf war gehört worde«. Madleue steht vor dem Verunglückten,
^es. du lieber Gott! Das ist der Ruf der Armen, der Landleute. Sie denken
Ach nichts dabei, wenn sie so rufen, so wenig, wie sie sich in alter Zeit bei ihrem
^ne> eleison gedacht haben. Und doch sind diese Rufe immer von mächtiger Wirkung
gewesen und sind es noch. Achtet einmal auf die Melodie, in der sich diese
^"lfe ergießen! Sie ist unbeschreiblich, auch musikalisch undarstellbar. Diese
Melodien fallen wie Feuerschlangen ins Herz, jedem, der sie Hort, und sollten sie
von Begriffen in fremder Sprache getragen werden. Ach, du lieber Gott! rief
"und Frieder.
Madlene feste rasch ihre Weizentracht am Rand des Hohlwegs ab und zer¬
schnitt mit ihrem Taschenmesser die Stricke der Schlittenladnng. und in wenigen
Sekunden war die Last dem Schlitten entladen. Frieder aber blieb liegen; es war
UM nicht möglich, sich aufzurichten. Madlene hatte seinen Zustand sofort erkannt.
setzte ihren Korb mit dein Weizen auf das Hintere Teil des Schlittens,
»und ihn fest und machte von den grünen Fichtenreisern ein Lager zurecht, das
">res ihren Korb als Lehne ergänzt ward. Nun trat sie an Frieder heran. Einen
Augenblick stand sie vor dem jungen Mann, als wären ihr die Glieder gelähmt.
>ne diesem Augenblick war ihr alles Blut in den Kopf geschossen und dann wieder
Zum Herzen zurückgeflutet, war in ihrem Antlitz die Glut der Blässe gewichen,
^ner als das heilige Wasser ihr ins Auge trat, da war es, als Schwelle Niesen-
^"se in ihren Gliedern: sie nmfnßte mit ihren starken Armen die Brust des Mannes
und hob ihn hoch auf. Sie fühlte sein Herz nu ihrem Busen schlagen. Da be¬
kennen ihr die Kniee zu zittern. Aber es gelang ihr, den Verunglückten auf seinem
Schlitten zu gutem Lager zu bringen. Nun sank sie zusammen. Ach, du lieber
^oll! rief Frieder. Madleue flüsterte: Es ist zu glatt da, erhob sich und
Agierte die Fracht mit großer Vorsicht den Berg hinunter, dem friedlichen Dörf-
^n> zu.
Der „Zug" des Schlittens ist aus einem hänfnen Schiebkarrentragband her¬
gestellt, das mit Stricken am Schlitten befestigt ist und beim Ziehen über die linke
Schulter, schräg über die Brust und unter dem rechten Arm weg, der zum Regieren
an der Deichsel frei sein muß, nach hinten läuft. Madlene aber hat den Zug
los am linken Arm hängen; denn der Schlitten länft leicht auf der glatten Schnee¬
bahn der Mhrerin nach wie ein treues Haustier, und sie hat ihre Kraft, Aufmerk¬
samkeit und Vorsicht allein der Deichsel zu widmen.
Still geht die Fahrt den nicht zu steilen Abhang hinab. Ob er nur keine
Schmerzen hat, der arme Frieder? Die Madlene weiß ja gar nicht, wie groß
der Schaden ist, den er genommen hat. Sie hat ihn uicht untersucht und ihn auch
nicht darum befragt. Ach, du lieber Gott! hatte er gerufen — nichts weiter hatte
sie uns seinem Munde vernommen. Der garstige Frieder! Hat er denn kein Wort
des Dankes? Und wenn er nicht danken will — konnte er denn nicht wenigstens
sagen, wo und wie sehr es ihm weh thut? Ob es schlimm ist? Oder ob es uicht
viel zu sagen hat? Weil er nichts sagt, nicht einmal einen Klageton vernehmen
läßt — der Eigensinnige —, so sagt sie auch nichts. Still! Eine schrecklich stille
Fahrt!
Über dem linken Auge der Madlene spielt ein rebellisches Haarlöckchen hin
und her. Mit der freien Linken, hinter der der Schlittenzug hängt, fährt sie öfter
hinauf nach den? Löckchen. Aber es spielt immer nieder nach dem Auge. Sonder¬
barerweise verfängt sich jedesmal der Schürzeusaum in den Fingern der Linken und
bewegt sich mit hinauf nach dem Löckchen und über die Auge« hin, als ob ein
ganzer Haufen Löckchen überall hiueiuspielte. Aber es war nur eins. Und das
kam gar nicht so oft ins Auge, als die Schürze hinausfuhr. — Still!
Er rührt sich nicht, der verunglückte, schreckliche Frieder. — Wenn es schlimm,
sehr schlimm wäre? — Kein Laut aus seinein Munde! — Wenn er gar gestorben
wär auf deu grünen Nadel»? — Ein halbunterdrückter Schrei dringt zwischen den
Hvlzapfelzähuen hervor. Der Schlitten steht plötzlich, als wäre die Dcichselspitze
an einen Baum gestoßen, und Madlene ist herumgefahren und starrt den Frieder
an; sein Kopf schießt ein wenig nach vorn, sinkt aber gleich wieder zur grünen
Lehne zurück.
Madlene!
Schon ist der Schlitten wieder im Lauf, in schnellerm Lauf als vorher. In
der Brust des Mädchens regt und reckt sichs gewaltig. Sie wird weit, als thäte
sich der Wald aus einander zu einem Thal, und der Frühling riefe hinein: Er
lebt! und das Echo spiele hinüber und herüber ohne Aufhören: Er lebt! Er
lebt! Er lebt! — Immer schneller wird die Fahrt, immer schneller. Der
Schlitten gleitet wieder dahin wie oben auf der Höhe, als ihn Frieder mit deu
schwebenden Füßen lenkte. Und die Luft streicht ihm kühl, barmherzig kühl über
das glühende Antlitz. — Madlene! — Immer schneller — schneller! — Madlene!
Da hält der Schlitten vor dem Hanse des Rvders-Frieder. Madlene ver¬
schwindet. Bald kommt der Bruder des Frieder, dann etliche Nachbarn. Als sie
ihn hinein trugen ins Haus, war Madlene daran, ihre Weizentracht auf den Rücken
zu nehmen. Von der Hausthür her hörte sie: Ach, du lieber Gott! dann eilte
sie mit zitternden Knieen heim ins Müsershaus.
Auf der Bodentreppe setzte sie ihren Korb ab und sich daneben und barg
ihren Kopf im Schoß. Es stürmte gewaltig in diesem Weibe. In dieser Stunde
war sie zum Weibe geworden. Was hatte die Jungfrau gewußt von der Seele,
die bis jetzt in ihr geträumt? Es war ihr ja wohl immer, seit acht Jahren, als
trüge sie da drinnen unter dem Busen ein Rätsel verborgen, als spüre sie ein
Weh, ein stilles Sehnen, an dem sie wohl gar noch sterben werde; aber sagen
konnte sie nicht, was es war. Und wenn ihr Gedanken an den Frieder gekommen,
waren, waren sie stets von ihr gebannt worden. Kein Licht durfte dahinein fallen
in dieses Geheimnis; das mußte dunkel bewahrt bleiben, sogar vor ihr selbst. So
blieb ihre Seele gefangen im Traum und trug geduldig ihr Leid bis zu dieser
Stunde. Dn waren Fesseln gesprengt worden in diesem keuschen Leib; ein Gewitter¬
leuchten hatte sein Inneres durchzuckt und das Traumwesen vernichtet. Das Ge¬
heimnis war von blendendem Licht verschlungen worden. Eine übermenschliche
Macht hatte den schönen Bau erfüllt und Gehirn und Herz zur Vermählung hinein¬
gerissen in deu heiligen Strom des Opfermuth. Für jedes andre Wesen wäre die
dem verunglückten Frieder gewährte Hilfeleistung eine selbstverständliche, dem Menschen
natürliche That oder Erfüllung der Christenpflicht gewesen: für Madlene war sie
der Bruch mit dem Leben — zur Wiedergeburt, ward sie zur selbstverleuguenden
Heldenthat, deren Preis Gewinnung des Ewiggeliebten für die Ewigkeit ist, der
Anfang eines neuen Lebens, das in den Himmel ragt. So, war Madlene durch
die That dieser Stunde zum Weib gereift: sie hatte die Schmerzen und die Wonne¬
schauer der Gebärenden empfunden. Die That lag dahinten; die Geburt hatte
sich vollzogen. Ein neuer Mensch saß da. Vor einer halben Stande war die
Jungfrau über die Schwelle geschritten: ein Weib war wieder gekommen. Nun
weiß Madlene gewiß, daß sie'dem Frieder mit Leib und Seele gehört, ganz und
fest, und nimmermehr von ihm lassen kann. Und sie wills ihm sagen.
Da kam der Kleine mit geschnittne.n Futter die Treppe herauf. Madlene
richtete sich auf. — Bist schou wieder da aus der Musk? — Bin nit in die
Musk komm». Dein Kleinen fiel der Umstand auf, mehr aber noch der Ton,
in dem die Schwester geantwortet hatte. Hätte er in ihrem Gesicht lesen können,
so würde er weiter gefragt haben. Da dies aber in der Dunkelheit unmöglich
war, so ließ er alles Auffällige bei sich bewenden und sagte: Kannst gleich melken,
Madlene. Sie folgte ihm. ^ .
Vor dem Wirtshaus, gegenüber dem Müsershans, wollte sich eben em Arzt
ans dem nahen Städtchen zur Abfahrt in seinen Schlitten sehen, als der Bruder
des Nöders-Frieder in großer Eile an ihn heran kam. Nach kurzem Zwiegespräch
Ueß der Arzt sein Pferd wieder einstellen und folgte dem Boten.
Madlene war mit ihren abendlichen Hausarbeiten so weit fertig daß s,e nnr
"°es Wasser zu holen hatte. Nach den. Wasserten f°l^essen. Auf dem Wege zum Brunnen begegnete ihr die Nachbarin und voller But e
-ab grüßte: Willst auch Wasser hole.,? - Weißes schon? Der Roders-Fr.eder
hat ein Bein gebrochen. - Ja! sagte Madlene und ging weiter.
Sie hatte den Tisch gedeckt und angerichtet, setzte sich aber anstatt an de
Tisch, an den Ofen wischen Blase und Südgelte. Die Bruder begannen zu
essen, und der Kleine fragte: Madlene. willst du denn me eß? - ^»n -
Da schmeckte es dem Großen nicht ...ehr; den., er meinte es habe d:e Schwester
verdrossen, daß er sie vor ihrem Mühlgang wegen ihrer Freiern ..S^ter Yatte^Er wa te es ber nicht, einen Ausgleich zu versuchen; denn er ha te hinsichtlich
der Seiltänzerei keine ^guten Briefe und fürchtete, wß ihm die Schund
Holzäpfel zwverfen konnte. Als der Kleine die Silbe gebrüht hatte, ging er
co wenig „Spill" in die Nachbarschaft. ^
Der Große webte bei seinem gelbe.. Talglicht nach den. Abendessen fleißig
an seinem Drillich, sang aber heute »icht. Dafür griff er öfter als gewohnlich nach
seiner Schnupftabaksdose. Es beunruhigte ihn über die Maßen, dnsz Madlene nicht
gegessen hatte und ungewöhnlich bald zu Bett gegangen war. Sie wird uns doch
nicht krank werden? Der Kleine hatte eigentlich nachmittags den Weizen in die
Mühle schaffen können. Seine Böstelei konnt er abends machen — hätt ich
auch Gesellschaft gehabt. Läßt er die Madlene bei der Kalt gehn! Hin! hin!
Wenn sie krank wird! — So hatte webend und schnupfend der Große ein
halbes Stündchen vor sich hingeredet. Dann verließ er seinen Webstuhl und
schlich sich zum obern Stübchen und an das Bett der Madlene. Madlene! rief er
leise. Madlene, hast du Frost? Ich will dir einen Thee koch, daß dn in Schweiß
kommst. Oder hat dich was verdrossen? — Geh, Großer! Es hat mich nichts
verdrossen, hab auch keinen Frost. Es ist weiter nichts. Geh, und laß mich
schlafn! — Da schlich der „Große" wieder hinaus und sagte: Gute Nacht,
Madlene!
Aber er konnte nicht mehr arbeiten und ging mich zu Bett. Schlafen konnte
er aber auch nicht: die Madlene machte ihm Kummer.
(Fortsetzung folgt)
Im Auschluß an die Mitteilung einer
rheinischen Zeitung, wonach Kaiser Wilhelm den ihm vorgelegten Stadtbauplan von
Soest aus einem gesundheitlichen Grunde beanstandet hatte, äußerte die Freisinnige
Zeitung voni 24. August v. I. Besorgnisse und Wünsche über eine angeblich er¬
forderliche geschäftliche Entlcistnng des Kaisers. Die Verwaltungssachen, die gegen¬
wärtig der königlichen oder kaiserlichen Genehmigung und Unterschrift bedürfen,
hätten einen Umfang erreicht, der ohne große Benachteiligung öffentlicher Interessen
auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden könne. Man möge sich nur die große
Arbeitslast vergegenwärtigen, die dem Kaiser obliege. Aus fünfzehn verschiednen
Ministerien gingen ihm unausgesetzt Akten zu. Außer dem Militär- und dem
Marinekabine'et bestehe ein besondres Zivilkabinett mit zwei höhern Beamten und
einundzwanzig Subalternbeamten. Eine Unsumme von Personalien namentlich im
Militärwesen unterliege der Entscheidung des Kaisers, nicht nur die Ernennungen
und Verabschiedungen im Offizierkorps, sondern auch die Bestätigung militär¬
gerichtlicher und ehrengerichtlicher Urteile. Dazu kämen aus dem Justizministerium
alle Begnadigungssachen, aus der Finanzverwaltung gewisse Beanstandungen der
Oberrechnungskammer. Zu diese» Verwaltungssachen trete dann noch die ganze
Gesetzgebung. Man könne vom Kaiser unmöglich verlange», daß er in allen diesen
Gebieten auf dem Laufenden bleibe. Die auswärtige Politik stelle hohe Anforde¬
rungen, die formelle Repräsentation und die häufigen Reisen beanspruchten großen
Zeitaufwand, ebenso die Teilnahme an den zahlreichen Festlichkeiten, an Grundstein¬
legungen, Einweihungen vou Denkmälern und Bauten usw. Als oberster Kriegs¬
herr nehme der Kaiser Paraden ab, beteilige sich an den Manövern und treffe
Entscheidungen über die Änderung von Reglements, über Ausrüstung und Be-
kleidnng der Truppen, über Schiffsanlagen usw. Auch das Hausministerium und
die obersten Hofämter nahmen ihn in Anspruch. Wo bleibe da für ihn Zeit zur
Erholung oder zur Beschäftigung mit Wissenschaft, Kunst, Sport usw., da doch
auch für ihn der Tag nur vierundzwanzig Stunden habe?
An und für sich ist ja nun die starke Inanspruchnahme des Kaisers gewiß zu
bedauern. Allein es wäre bedenklich, dagegen eine Abhilfe zu schaffen, wie sie die
Freisinnige Zeitung vorschlägt, nämlich durch eine Beschneidung der königlichen
Befugnisse, wiewohl sich das genannte Blatt gleichzeitig gegen den Vorwurf ver--
wahrt, als ob es aus diesem Anlaß für eine Erweiterung der Parlamentarischen
Machtbefugnisse eintreten wolle. Nach der Freisinnigen Zeitung wäre die Ent¬
lastung des Kaisers vielmehr in der Richtung anzustreben, daß in den minder
wichtigen Angelegenheiten die Ministerien und sonstigen Behörden von der Not¬
wendigkeit befreit würden, die Entscheidung des Kaisers einzuholen. Man sieht,
der Mephisto der Freisinnigen Zeitung kann den Pferdefuß doch nicht völlig ver¬
bergen; sein wohlwollender Vorschlag bezweckt schließlich eben doch eine Einengung
des in Preußen und Deutschland geschichtlich begründeten persönlichen Regiments.
^ Ist man der Ansicht, daß die kraft- und lebensvolle persönliche Leitung des
Staates durch den Monarchen ein Recht des Monarchen und ein Segen für das
Volk sei, so kann man eine Beeinträchtigung dieser Stellung in keiner Richtung
wünschen, auch nicht zu Gunsten eines Ministeriums, das rechtlich und thatsächlich
von dem Monarchen abhängt und nur der Vollstrecker seines Willens ist. Praktisch
wird ja in tausend Fällen die letzte Entscheidung bei dem Nesfortchef liegen und
liegen müssen, da dem Kaiser nicht jede Einzelheit der Verwaltung und Gesetz¬
gebung so bekannt sein kann, daß er des sachverständigen Beirath zu entbehren in
der Lage wäre. Allein rechtlich muß der Minister der Vertreter des Kaisers und
der Vollstrecker seines Willens sein, und es muß dem Kaiser die Möglichkeit
gewahrt bleiben, seinen persönlichen Willen zur Geltung zu bringen gegenüber einer
ihn nicht überzeugenden abweichenden Auffassung des Ministers oder einer ihm
unterstehenden Behörde.
Wie die persönliche Leitung der Staatsgeschäfte gewahrt werden soll ohne
Vortrag des Ministers oder Vorlegung der Akten, ohne Einholung der Unter¬
schrift und damit der endgiltigen Entscheidung des Monarchen, ist uns unverständlich.
Wie denkt sich das die Freisinnige Zeitung? Nach der liberalen Theorie soll freilich
der Minister lediglich der verantwortliche Vertreter der Mehrheit des Parlaments
sein, und er ist es auch wenigstens in den Staaten, wo man, wie z. B. in Griechen¬
land, das parlamentarische System bis in seine äußersten Konsequenzen durchgeführt
hat. Wenn die Freisinnige Zeitung befürchtet, daß die persönliche Umgebung des
Kaisers unter den gegenwärtigen Umständen einen immer größern Einfluß ans seine
Entscheidungen gewinnen müsse, zumal da die Minister außer stände seien, die
große Zahl der in das Kabinett gelangenden Sachen persönlich zu vertreten, so
halten wir diese Besorgnis für grundlos. Daß die seinerzeit aufgetauchten Klagen
über Nebenregierung, über unberechtigte Einflüsse des Kabinetts schließlich auf
bloße Preßtreibereien zurückzuführen waren, steht allen noch in frischer Erinnerung.
Was uns veranlaßt, auf den erwähnten Artikel der Freisinnigen Zeitung
zurückzukommen, ist der Umstand, daß nach einer Mitteilung des Budapesti Hirlap
die leitenden Kreise des herrschenden Liberalismus in Ungarn beabsichtigen, im
Sinne freisinniger Negierungsweisheit die Befugnisse des Königs zu beschneiden.
Im ungarischen Ministerium des Innern soll ein Regulativ ausgearbeitet worden
sei», angeblich um dem Monarchen die Regierungsthätigkeit zu erleichtern, und
zwar durch Einschränkung des Wirkungskreises der Krone und durch entsprechende
Erweiterung der Befugnisse der Minister. Verschiedne Angelegenheiten von „unter¬
geordneter Bedeutung," die bisher durch Entschließung des Kaisers verfügt wurden,
sollen nunmehr durch die Minister erledigt werden. Insbesondre sollen sämtliche
Staatsbeamten bis zur sechsten Rangklasse, also einschließlich der Mittelschul-
prvfessoren, Finanzdirektoren usw., fortan in letzter Instanz durch den Minister
ernannt werden. Glaubt man aber wirklich, durch den Wegfall von einigen hundert
oder auch selbst einigen tausend Unterschriften jährlich eine Entlastung des Monarchen
herbeiführen zu können? Wer auf dem Boden des konstitutionellen Königtums
steht, wird gerade eine Einschränkung der königlichen Befugnisse bei der Ernennung
oder Verabschiedung von Beamten oder Offizieren am allerwenigsten befürworte».
Man kann ja der Ansicht sein, daß die Entscheidung über den Bebauungsplan der
Stadt Soest theoretisch richtiger der Selbstverwaltungsbehörde überlassen bliebe,
man mag es als zu weitgehend betrachten, wenn bei allen Neubeueuuungen von
Berliner Straßen die königliche Zustimmung einzuholen ist, obwohl dieser Gebrauch
offenbar auf Bestimmungen gegründet ist, wonach die Bebauungspläne von Resi¬
denzen, Festungen und Städten mit Baudenkmälern von künstlerischem Wert der
königlichen Bestätigung unterliegen. Unbedingt notwendig aber erscheint die könig¬
liche Entscheidung, wo es sich um die Ernennung, Beförderung oder Verabschiedung
von Beamten der verschiednen Grade handelt, und zwar schon deshalb, weil der
Monarch das Recht haben muß, jederzeit die vorgeschlagnen Bewerber abzulehnen,
ein Recht, das er nur dadurch ausüben kann, daß ihm in letzter Reihe die formelle
Entscheidung vorbehalten bleibt. Wo der Minister die Ernennungen vollzieht, da
steht der Monarch vor einer gegebnen Thatsache, ohne sie ändern zu können. Vor
allem gilt es aber hier, „Imponderabilien" zu schützen, die für die Erhaltung und
Erstarkung des mounrchischen Gefühls sehr wesentlich sind. Das persönliche
Verhältnis, das den Offizier und den Beamten an den Monarchen bindet und in
dem Akt der Ernennung durch den König seinen äußern Ausdruck erhält, darf
uicht gelockert werden; jeder Versuch dazu ist zurückzuweisen. Wie sehr die Offiziere
und Beamten selbst auf die Ernennung durch den Monarchen Wert legen, zeigt
sich in Baiern, wo es Brauch geworden ist, daß bei Ernennungen und Beförde¬
rungen die Offiziere bis zum Leutnant und die Zivilbemnteu bis zum Assessor
hercmb »in Audienz bei dem Prinzregenten nachsuchen, um dafür zu danken.
(Geschieht auch in Sachsen. D. R.)
Sollte etwa von freisinniger Seite in der Volksvertretung angeregt werden,
nach dem Beispiele Ungarns die Ernennung gewisser höherer Veamtenklassen und
andrer Befugnisse des Monarchen dem Ministerium zu übertragen, so würde eine
solche Beschränkung der königlichen Macht hoffentlich nicht nur bei der Regierung,
sondern auch in allen tonigstrenen Kreisen des Volkes auf unüberwindliche» Wider¬
stand stoßen.
Friedrich Kluge
hat in seinem lichtvollen Vortrag über Sprachreinheit und Sprachreinignng den
zahlreichen, oft recht leichtfertigen Anfeindungen gegenüber, die der allgemeine
deutsche Sprachverein in frühern Jahren hat erfahren müssen, die glänzendste Recht¬
fertigung seiner Bestrebungen dadurch gegeben, daß er deren Übereinstimmung mit
dem natürlichen Entwicklungsgang unsrer Muttersprache selbst überzeugend nach¬
wies. Dieser Vortrag, auf der Hauptversammlung des Allgemeinen deutscheu
Sprachvereins im August 1394 zu Koblenz gehalten, ist damals nicht nur nuper-
kürzt in der Vereinszeitschrift IX. 201 ff., sowie in der Beilage der Münchner All¬
gemeinen Zeitung (Ur. 253 u. 254 d. I.), sondern auch in einem von dem Verein
besorgten Auszuge durch eine sehr große Zahl von Tageszeitungen in ganz Deutsch¬
land bekannt gemacht worden. Auch in Weimar könnte man ihn gelesen haben.
Und von dort kommt uns jetzt eine zwar keineswegs wichtige, doch immerhin recht
erfreuliche Bestätigung eines einzelnen der damals von Kluge in wohlgeschlosseuem
Zusammenhange dargestellten Gedanken. Entgegen nämlich der einseitigen Auffassung,
die Fremdwörter bloß als Schädlinge der Muttersprache zu betrachten, hat Kluge
in ihnen auch eine „Quelle der Bereicherung" erkannt, um Worte des Weimarcmers
zu verwenden, hat gesehen und an schlagenden Beispielen dargethan, daß sie das
deutsche Sprachgefühl „fort und fort wecken und wacker erhalten." Denn der
fremde Eindringling erregt nicht nur regelmäßig bald die wachsende Gegenwehr
des natürlichen Sprachgefühls, sondern auch die schöpferische, nenbildende Sprach¬
kraft, die das wiederverdrängte Fremde nicht spurlos verschwinden läßt, sondern
schließlich durch eine einheimische Nach- oder Neubildung ersetzt. Zum Beweise
dafür wies Kluge unter anderm auf die bis dahin oft einseitig als bloß lächerlich
hervvrgehobnen Ausdrücke hiu, in denen gleichbedeutende deutsche und fremde Worte
scheinbar geradezu albern, jedenfalls überflüssig aneinander gereiht werden, wie bei
„Examensprüfung, treibendes Agens, reitende Kavallerie."
Eine ganz ähnliche Erscheinung bespricht nun Franz Sandvoß im November¬
hefte der Preußischen Jahrbücher S. 319 bis 330 aus wesentlich früherer Zeit,
hauptsächlich nämlich Luthers, und belegt sie mit folgenden Beispielen:
Bei Gener von Kaisersberg: betrachten und contempliren — Memory und
gedechtnis.
Bei Joh. Pauli: ordiniren und schicken — mit . . falschen reereatzen und
kurtzweileu — ideoteu . . und Narren — recreatz und erfrischung — die Prisonneer
und gefcmgenn lent.
Bei Luther: Historien und Geschichten — Fundament und Grundfest -—
Superstition und Aberglauben — dnpliren und zwiefächtigen — Pön und
Strafe — der Effect oder die Wirkung — vexiret und geheiet — Patienz und
Geduld — die Abominatio und der Gräuel — dividiren und unterscheiden —
Germanien und Deutschland — zu definiren und zu örteru — Erudiren und
Überweisen — das Mi und Leiden — osfendirt und erzörnet — eomparireu und
erscheinen — so procediren und fahren wir fort — kein spatium noch Raum —
Autorität und Gewalt — confirmiren und bekräftigen — Resignation oder Über¬
gebung — reformiren und reinigen — confirmiren, bestätigen und erhalten —
reponiren und widerrufen — commandiren und befehlen — visitirte und besuchte —
exequiren und vollstrecken — Justisikatiou und Rechtfertigung — extenuirt und
verkleinert — eoufutirt und widerlegt — solvirt und löset auf — Poema und
Gedicht — Tragödie und Spiel — confirmiret und gestärkt — Prärogativa und
Furzug — das Louseciusus und die Folge — keine llxe.vin.lo noch Auszug —
exequiren und üben — als Knrkindern oder tiliis g,Äopt.!oris.
Die überwiegende Gleichartigkeit dieser Verbindung — unter allen Beispielen
steht nämlich nur in den beiden von mir an die erste und an die letzte Stelle ge¬
setzten das Deutsche voran — verbürgt auch die Gleichartigkeit des ihnen zu Grunde
liegenden geistigen Vorgangs, der, wie mir scheint, sich sehr einfach erklärt. Die
meisten Stellen sind den Tischreden entnommen. Dem lebhaften Redner in einem
lateingewöhnten Kreise oder auch dem Zuhörer ist bei der Aufzeichnung, wie man
sieht, immer zuerst das fremde Wort gekommen, aber unmittelbar darauf muß sich
ihm auch das Bedürfnis der Verdeutlichung und Verdeutschung eingestellt haben,
das durch die Hinzufügung des gleichbedeutenden einheimischen Begriffs für ihn be¬
friedigt und für uns — bezeugt ist. Also ein Vorgang, der dem von Kluge
beobachteten ganz gleich verlauft. Und wer Kluges wohlgegründete Auffassung
kennt, der wird in dieser Lutherschen Sprechweise dieselbe natürliche, unwillkürliche
Gegenwirkung des heimischen Sprachgefühls vernehmen, die keineswegs das Fremde
einfach abstößt, sondern es umgestaltend sich wirklich anzueignen anschickt. In dem
Sinne könnte gerade von diesem Vorgange der Sprachgeschichte das von Sandvoß
beigebrachte Wort Goethes gelten: „Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie
das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt." Und dem ebenfalls von ihm
angeführten Ausspruche V. Hehns: „Viel Fremdwörter, viel Kulturverkehr, viel
entlehnt, viel gelernt" schadet der Zusatz nicht: „Noch besser aber, als bloß geborgt
ist wirklich angeeignet."
Aber sehr würde man irren, wenn man mit der vvrgctragnen Betrachtung
auch die Ansicht von Fr. Sandvoß getroffen zu haben meinte. Weit gefehlt; er
macht von seiner Sammlung eine ganz andre Nutzanwendung. Er folgert aus ihr,
daß Luther ein geschmorner Feind der „heutigen zum Teil grauenvollen Verrohung
und Versimpelung unsrer Sprache" sein müßte, will sagen: der Arbeit des All¬
gemeinen deutschen Sprachvereins.
Und das kommt in einem Atem heraus mit den oben angezognen Bezeich¬
nungen jener Fremdwörter als „Quelle der Bereicherung und Klärung unsrer
Begriffe," als Wecker und Erhalter des deutschen Sprachgefühls! In welchem andern
als dem Klngeschen Sinne das gemeint sein könnte, wie Sandvoß diese Äußerung
mit der erwähnten Folgerung innerlich zusammenbringt, kurz, was den innern Zu¬
sammenhang zwischen der nützlichen Beispielsammlung und dem unnützen Wutanfall
gegen deu Sprachverein bildet, das sage ich nicht. Denn ich weiß es nicht. Aber
Sandvoß selber sagt es auch nicht. Im Gegenteil, er sagt mehreres, wonach man ihn
vielmehr für ganz einig rin uns halten möchte. So sieht auch er in dem von
Luther dem Fremdwvrte nachträglich zugefügten deutschen einen Versuch, den
fremden Begriff seinem Volke „annehmbar zu machen," ja noch mehr — oder
müßte es heißen im Gegensatz dazu? — gewiß aber unsrer Anschauung noch näher
nennt er die hinzugefügte Verdeutschung „einen zunächst nur subjektiven Vorschlag,"
„zunächst" d. h. doch wohl bis zur allgemeinen Billigung, und „Vorschlag" d. h. doch
wohl zum künftigen Ersatz. Demnach fühlte auch er bei Luther eine aufsteigende
Abneigung gegen das Fremdwort heraus und den Wunsch, es zu verdeutsche»;
deun wozu sonst der Versuch, es annehmbar zu machen, wozu sonst der Ver-
deutschuugsvorschlag? Aber er hätte dann folgerichtig nicht, wie er thut, vorher
fragen sollen, warum Luther nicht bloß das deutsche Wort gebe — denn das er¬
klärt sich ja hinlänglich aus dem Bildungszustände seiner Zeit —, sondern um¬
gekehrt, warum nicht bloß das lateinische.
Es ist das nicht die einzige Unklarheit in dem der Sammlung vorausstehenden
Gedankengange, wenn man es nicht besser eine lose Reihe von Zitaten und einzelnen
Bemerkungen nennte. Aber ich wüßte nicht, was es nützen sollte, dabei länger
zu verweilen. Etwas ganz andres wäre es mit den darin verstreuten Einwänden
n»d Vorwürfen gegen den Sprachverein, wenn sie nämlich — nicht gar zu ab¬
gedroschen wären, sodaß jede Verteidigung nur längst und oft Gesagtes zu wieder¬
holen hätte. Der Mann weiß viel und nimmt auch gern die Gelegenheit wahr,
sein Licht leuchten zu lasse» vor den Leuten, ja im Notfalle zieht er diese Ge¬
legenheit wohl gar bei den Haaren herbei, wie besonders einige Anmerkungen unter
bem Aufsatze bezeugen. Aber Kluges Vortrag scheint er nicht zu kennen; Rudolf
Hildebrands zuerst 1889 in den Grenzboten erschienene, dann umgearbeitet in dem
dritten Bande der Zeitschrift für den deutschen Unterricht und darnach in den Bei¬
trägen zum deutschen Unterricht Ur. 8 abgedruckte inhaltreiche und gediegne Antwort
aus die längst verkluugne Berliner Erklärung wider den Allgemeine« deutschen
Sprachverein kennt er ebenso wenig, sonst brächte er uicht Goethe, Schiller, Herder
gegen den Sprachverein vor. Aber er mißbilligt vielleicht Hildebrands Worte,
auch ohne sie zu kennen, wenn etwa das S. 321 in der Anmerkung Moritz Heyne
an der Stelle ohne sichtbaren Anlaß erteilte Lob im Verborgnen eine Spitze gegen
jenen andern Fortsetzer Grimms als den Anhänger des Sprachvereins haben sollte.
Unzweifelhaft ohne ihn zu kennen mißbilligt er den deutschen Sprachverein selbst.
Und das ist ernst zu nehmen. Es läßt sich gar nicht milder ausdrücken. Sandvoß
weiß nichts, gar nichts von den wirklichen Bestrebungen des Sprachvereins, uicht
einmal seine Satzungen kennt er. Sonst würde er ihm wenigstens nicht ohne An¬
deutung auf die darin bezeichnete Absicht, Liebe und Verständnis unsrer Mutter¬
sprache zu erwecken, den entgegengesetzten Vorwurf machen, würde ihn wenigstens
uicht frecher Pietätlosigkeit zeihen. Er kennt auch die Mitgliederschaft des Vereins
uicht, sonst nähme er sich doch wohl ein wenig in acht, ihr öde Geschmacklosigkeit,
ciumaßliche Unwissenheit, Bannuseutum, lächerliche Bornirtheit, geistlosen Dilettan¬
tismus zuzusprechen. Er schätzt wohl andre Leute überhaupt gern etwas tief ein,
um sie dann belehren zu kömieu, wie in der Anmerkung S. 328 über die Ver¬
wandtschaft von Recht und rsetum, die doch jeder Schüler kennt.
Nun ist freilich, wie schon die gesuchte Überschrift des Aussatzes „Dr. Martl»
Luther und der heutige Sarrazinismus" sagt, alles das zunächst gegen einen einzelnen
Vertreter des Sprachvereins gerichtet und zwar als den Verfasser des bekannten
Verdeutschuugswörterbuchs, das Sandvoß in der zweiten 1389 erschienenen Auflage
anführt — so lange mag sich also Sandvoß nicht um die Thätigkeit des Vereins
gekümmert haben. Und ich mochte dem Angegriffnen nicht vorgreifen. Aber es
würde mich nicht wundern, wenn ihm der Ton des Gegners zu tief gegriffen
schiene, als daß er sich überhaupt auf eine Antwort einlassen mochte/'') Allein völlig
schweigen auf solche Verunglimpfung einer guten Sache darf man doch nicht. Es
mußte das Bedauern darüber nusgesprocheu werden, daß ein Mann wie Sandvoß,
der sich selbst um Verständnis deutscher Art und Wesens in der Sprache bemüht
und verdient gemacht hat, die verwandten Bestrebungen des Allgemeinen deutschen
Sprachvereins uoch heutzutage so gänzlich verkennen und so kleinlich und gehässig
angreifen konnte. Ehre wird er damit nicht einlegen.
Daß aber dieser Angriff von der Leitung der Preußischen Fahrbücher nicht
zurückgewiesen worden ist, wie die Kreuzzeitung erwartet hätte, das wundert uns
gar nicht, denn da gehörte er hin!
Zehn Jahre deutscher Kämpfe. Schriften zur Tagespolitik von Heinrich von Treitschke.
Z. Auflage, 2 Bände, Berlin, G, Reimer, 1807
Schon die zweite Auflage dieser bekannten Sammlung von Tcigesschriftcn
Treitschkes (1879), die meist in den Preußischen Jahrbüchern erschienen waren,
umfaßte nicht mehr zehn, sondern fünfzehn Jahre. Trotzdem hat der Verfasser
damals den einmal eingeführten Titel unverändert gelassen, und auch der Heraus¬
geber dieser dritten Auflage, Erich Liesegang, hat daran festgehalten, aber der
Zweckmäßigkeit wegen den Inhalt in zwei Bände geteilt, von denen der erste die
Jahre 1865 bis 1870, der zweite die Zeit von 1871 bis 1379 umfaßt. Neue
Stücke sind also nicht hinzugekommen (der Aufsatz „Unsre Aussichten" ist sogar der
neuen Folge der deutscheu Kämpfe zugewiesen worden), wohl aber ein vorzüglich aus¬
geführtes Bildnis Treitschkes mit feinem Namenszuge. Wenn eine solche Sammlung
von Aufsätzen, die in der Erregung des Tages entstanden und auf die Wirkung für
den Tag berechnet sind, noch dreiundzwanzig oder achtzehn Jahre nach ihrem ersten
Erscheinen unter gänzlich verwandelten Verhältnissen wieder aufgelegt wird, so ist
schon damit der Beweis für ihren innern Wert geliefert. Und dieser Wert liegt
nicht nur darin, daß die Aufsätze den Entwicklungsgang dieses größten aller deutschen
Publizisten vergegenwärtigen und in die Kämpfe dieser gewaltigen Zeit einen tiefen
Einblick verstatten, sondern daß sie, obwohl sie nunmehr weit zurückliegende Dinge
behandeln, doch mitunter wie für die Gegenwart geschrieben sind und auf den
Leser wirken wie ein Stahlbad. Die unbestechliche mannhafte Wahrheitsliebe, der
lautere Patriotismus, der sich stetig auf ein Ziel richtet und sich nicht durch irgend¬
welche kleinliche Sonderinteressen der Parteien oder der Landschaften ablenken läßt,
die Besonnenheit in den einzelnen Vorschlägen und Forderungen, der tiefe sittliche
Ernst und ein oft geradezu prophetischer Scharfblick in die Zukunft treten überall
hervor. Artikel, wie „Österreich und das deutsche Reich" (vom Dezember 1371),
„Die Türkei und die Großmächte" (vom Juni 1376), „Deutschland und die orien¬
talische Frage" (vom Dezember desselben Jahres), oder der berühmte große Aufsatz
„Der Sozialismus und seine Gönner" (1874), „Bund und Reich" (1874) ent¬
halten unvergängliche Wahrheiten, die heute nur zu oft verdunkelt oder vergessen
werden, Warnungsrufe, die zum ernstesten Nachdenken und zur Einkehr anregen,
und Weissagungen für die Zukunft aus dem tiefsten Verständnis unsers Volkslebens
und der gesamten europäischen Gesellschaft heraus. Für reife Männer, die mit
Bewußtsein und mit innerer Teilnahme diese Jahrzehnte erlebt haben, kann es kein
le Mariner aller großen Kulturstaaten haben in der Neuzeit
Perioden gehabt, wo das Gefühl der Schwäche, das Bewußtsein,
überholt zu werden, oder die Gewißheit, nicht zeitgemäß fort¬
zuschreiten, erschreckend über sie kam. Solcher Erkenntnis folgte
in Staaten mit Kraftgefühl jedesmal eine außerordentliche
Anstrengung, ihre Seestreitkräfte zu steigern. Weit zurückgeblieben als See¬
macht waren die Vereinigten Staaten Nordamerikas, weil das Fehlen eines
ebenbürtigen Gegners in ihrer Nähe das Volk und die Negierung über die
Notwendigkeit des Besitzes einer starken Seemacht lange Zeit hinweggetäuscht
hatte. Jetzt wird das Versäumte in Eile nachgeholt, die moderne Flotte ent¬
steht, Amerika fühlt sich als Weltmacht, treibt Politik außerhalb des Landes
und ärgert das alte Europa mit Schutzzöllen. Ein zweites Weltreich, Rußland,
hat im Krimkrieg und später 1878 böse Erfahrungen mit dein Mangel einer
starken Flotte gemacht; seine eigentümlichen Verhältnisse und seine Regierungs-
form machen Flottenvergrößernugcu vom Vvlkswillen unabhängig. Nußland
vermehrt seit zwei Jahrzehnten andauernd seine Flotte und sorgt besonders
sür ihre Stärkung im Stillen Ozean, wo es bald der Mitbewerbung Japans
um die Vorherrschaft ausgesetzt sein wird. Japans Flottcnbcm steht ohne
Beispiel in der neuern Geschichte da und beweist das Kraftgefühl der jungen
Macht, sowie deren klare Erkenntnis der Gefahren, die aus der Übervölkerung
ihres Landes entstehen können. Diese treibt den Staat zur Vergrößerung
seines Landbesitzes und der Absatzmärkte für die Erzeugnisse seiner Industrie
und zwingt ihn, erhöhten Wert ans die Seemacht als Hauptmittel zur Er¬
langung von Kolonien und Welthandel zu legen. Italien hat seit Lissci seiue
Flotte außerordentlich verstärkt. Frankreich hat im vorigen Jahre bei den
Jubiläumsfeierlichkeiten in England seine maritime Schwäche im Vergleich zu
England stark empfunden und hat unter Zustimmung seines Volkes seitdem
eine große Vauthütigkeit begonnen.
Großbritannien, das dritte und größte Weltreich, mißt seine Seemacht
nur mit der Summe der Flotten der europäischen Großmächte. Jedes Zurück¬
bleiben gegen eine denkbare Vereinigung solcher Flotten erscheint im Lichte der
englischen Weltpolitik als eine gefahrdrohende Schwäche und als Verminderung
der Sicherheit des Landes. Von seiner Flotte verlangt England völligen
Schutz gegen jeden Angriff in Europa und die Erhaltung der uubestrittnen
Seeherrschaft in allen Meeren. Die rücksichtslose Ausnutzung dieser Herrschaft
hat dem englischen Reiche und dem englischen Wohlstande ihr ständiges Wachsen
gesichert. Englands Macht und Reichtum sind das beste Zeugnis für den Nutzen
einer starken Seemacht. Doch auch England hat Zeiten gehabt, wo die Fragen
der innern Politik das Interesse an der Außenwelt und an der Flotte schwachem,
und wo es den Fortschritt andrer Seemächte aus dem Auge ließ, sodaß es im
Anfang der achtziger Jahre hinter dem Ziel, das es sich für den Umfang
seiner Seestreitkraft gesteckt hatte, zurückgeblieben war. Nachdem aber an
Stelle von Gladstone Lord Salisbury ans Ruder getreten war, wurde 1889
mit allen Kräften eine so gewaltige Verstürknng der Flotte und aller mit ihr
zusammenhängenden Einrichtungen ins Werk gesetzt, daß seitdem Englands
Seeherrschaft gesicherter als je dasteht.
Wir stehen jetzt mit unsrer deutschen Flotte vor der trüben Erkenntnis,
daß wir ans allen Seiten überholt worden sind. Durch unser eignes Zurück¬
bleiben und durch den Aufschwung der Seemacht andrer Staaten sind wir seit
fünfzehn Jahren von der dritten Stelle bis zur sechsten, wenn nicht gar zur
siebenten herabgesunken. Im Gegensatz dazu ist unser Wohlstand gestiegen,
unser Seehandel der zweite der Welt geworden, und unsre neuen Kolonien
beanspruchen die stete Gegenwart von Kriegsschiffen. Dabei droht Übervölkerung
oder erhöhte Abgabe unsrer überschüssigen Volkskraft an konkurrirende Staaten,
während unsre über den eignen Bedarf hinausgewachsene Industrie dringend
der Mehrung und der Sicherstellung von Absatzgebieten bedarf. Statt überholt
zu werden, hätte unsre Seemacht seit mehr als zwei Jahrzehnten von Jahr
zu Jahr wachsen und steigen müssen, worüber sich nach unsern Siegen 1870/71
kein Staat Europas gewundert hätte. Aber das Gegenteil ist geschehen; man
rechnet schon in der ganzen Welt mit unsrer Schwäche auf der See und mi߬
gönnt uns alle Vorteile und Rechte, die die ältern Seemächte als selbstverständlich
für sich in Anspruch nehmen. Zu Lande stark sein, zur See aber schwach,
gewährt nur Einwirkung auf die unmittelbaren Nachbarn. Die sich immer
mehr verschärfende politische Lage in der ganzen Welt hat uns jetzt zur Er¬
kenntnis unsrer eignen gefährlichen Lage gebracht. Die Duldung, die früher
dem guten, aber ohne reges Nationalgefühl arbeitenden Hamburger, Hannoveraner,
Badenser, Bremenser u. s. w. das Fortkommen im Auslande erleichterte, ist
endgiltig verschwunden, seitdem es nur noch Deutsche giebt, die teilhaben möchten
am Gewinn des Welthandels, und die als Mitbewerber anfangen, unbequem
zu werden. Es ist die wachsende Bedeutung unsers Handels, es ist unser
Wohlstand, es ist die starke Zunahme unsrer Bevölkerung mit ihren Folgen,
die uns in diesem Zeitalter der Politik der Handelsinteressen am leichtesten
in Verwicklungen mit andern Staaten bringen können. Nur unsre Stärke zur
See kann uns den Frieden sichern, kann andre Staaten von unsrer Gleich¬
berechtigung überzeugen. Mit reiner Defensivkraft ist es nicht gethan; wer
sich in seiner Rüstung nur auf die Verteidigung beschränkt, bereitet seinen
Untergang vor; die beste Deckung ist der Hieb. Indem wir diese Dinge ins
Auge fassen, müssen wir an die zweckentsprechende Rüstung zur See denken.
Wir müssen von unsrer Seemacht wünschen, daß sie die heimischen Küsten,
den Handel im In- und Auslande schlitzen und unsre Handelswege in den
deutscheu Meeren offenhalten könne. Wir müssen ihr einen Teil des
Schutzes der Kolonien anvertrauen können und sie zum Vorstoß befähigen.
Der Zeitpunkt für den Beginn dieser Rüstung ist nicht fraglich; es ist die
höchste Zeit, die Verstärkung unsrer Flotte so schnell als möglich zu beginnen
und durchzuführen. In welcher Zeit wir es vermögen, darüber entscheidet die
Finanzlage des Reiches, der Wohlstand und die Einsicht seiner Bürger und
die Fähigkeit unsrer Privat- und Stacitswerfteu. Die Größe der Verstärkung
muß von den ständigen Aufgaben unsrer Seemacht und von der steigenden
Wichtigkeit der zu schützenden Güter abhängen. Vom politischen Standpunkt
ans muß man an unsre Seemacht die Anforderung stellen, daß sie als Waffe
so stark und schneidig sei, daß selbst dem stärksten Gegner ihr Bündnis mit
der Seemacht andrer Staaten bedenklich wird. Unsre Seemacht soll uns bündnis¬
fähiger zum Schutz gegen die Erdrückung durch übermächtige Weltreiche machen;
unsre Stärke zur See soll uus ein besserer Bürge für den Frieden sein als
unsre Schwäche.
Wir haben ganz andre Ziele bei unsrer Flottenvermehrung als das die
Meeresherrschaft der Welt beanspruchende England; unsre Ziele sind bescheiden
und unsrer Lage in Europa angepaßt. Es giebt kein lehrreicheres Beispiel
für uns, als die in den Jahren 1882 bis 1839 in England von den Freunden
der Seeherrschaft geübte Thätigkeit für die Vergrößerung der Flotte, die
in der Durchdringung des Seeverteidigungsgesetzes, der bekannten Mos,1
votonvv ^.vt 1889 gipfelte. Die Begründungen der englischen Marinevorlage
und ihre Besprechung in der Presse durch die Flottcufreunde und später durch
die Vertreter der Regierung sind so allgemein zutreffend, daß man sie unver¬
ändert auch auf unsre Verhältnisse anwenden kann. Es lohnt sich, einen Blick
auf diese Bewegung zu werfen, gerade weil wir bei der geringern Bekanntschaft
des größern Teils unsers Volkes mit dem Meere und bei dem Überwuchern
des Parteiwesens in unsrer innern Politik so große Schwierigkeiten zu über¬
winden haben, obgleich unsre Ansprüche ein die Bewilligungen durch das Volk
so sehr viel bescheidner sind.
Als die Gefahr des Ausbruchs eines Krieges zwischen England und Nu߬
land im Jahre 1878 vorübergegangen war, war man in England gegen die
Fortschritte der eignen Seemacht und gegen die der fremden Staaten wieder
gleichgiltig geworden. Im Gefühl der Sicherheit hatte man das in frühern
Jahren schon einmal auf 82 000 Mann gebrachte Personal der Marine all¬
mählich bis auf 58000 Mann heruntergehen lassen und war auch noch nicht
darangegangen, Hinterlader als Schisfsgeschütze einzuführen. Unter Gladstones
Leitung der Negiernngöpolitik (1880 bis 1835) war die Teilnahme des Volkes
fast ausschließlich den Fragen der innern Politik zugewandt, während die
Marinedebatten im Unterhause vor leeren Bänken geführt wurden. Einsichtigen
Staatsmännern aber wurde die Gleichgültigkeit des Volkes gegen die Be¬
ziehungen des Reiches zum Auslande und gegen den Stand der Flotte, sowie
die falsche Sparsamkeit der Regierung schließlich bedenklich. Im März 1832
erschien die von Lord Henry Gordon Lennox verfaßte Flugschrift ?in'Lvvg.mea,
1<'oro-u.'lo<zal, die schon darauf hinwies, daß die britische Flotte jeder denkbaren
Vereinigung von Flotten andrer Staaten überlegen sein müsse, und die den
Stand der britischen Seemacht als unzureichend bezeichnete. Bald darauf im
Januar 1883 wurde in der Zeitschrift 'I'bu Uinotsontl, Lcmwr/ ein von
Arnold Forster verfaßter Artikel Orr Position !l8 g, Fg,olu ?c»ver und im
l^nWneLring' die sehr geschickt geschriebne Broschüre 1b» bull^ ol' ?ort La<I
veröffentlicht, die den schlechten Stand scharf beleuchtete, den Englands Flotte
in einem Znkunftskriege haben würde. Die damalige Admiralität verteidigte
ihren Standpunkt und hielt es selbst 1884 noch nicht für angezeigt, ans eine
Vergrößerung des Marinebudgcts zu bringen, trotzdem daß Politiker und Fach¬
männer wiederholt auf das Heranwachsen der Seemacht Rußlands, Italiens
und vor allem Frankreichs hingewiesen hatten. Auch die Artikel der limss
waren noch fast bis Ende 1884 fa'rblvS und ohne Parteinahme. Das Volk
war zwar noch nicht für eine Flottenverstärknng gewonnen, aber doch schon
durch die verschiednen Flugschriften angeregt und dazu vorbereitet, kräftig
Stellung zu nehmen.
Lord Salisburh hatte im Juni 1884 bei einem Aufenthalt in Plymouth
in Marinekreisen viele Klagen über den unzureicheuden Stand der Flotte ge¬
hört und hatte seiner zustimmenden Ansicht bald darauf im Oberhause Aus¬
druck gegeben. Dies veranlaßte den auf Wunsch der Regierung sparsamen
ersten Lord der Admiralität, Lord Northbrvok, im Juli 1884 in wenig ge¬
schickter Weise den Versuch zu machen, unter Zugrundelegung des Tonnen-
gchalts der Flotte zu beweisen, daß diese völlig auf der Höhe der Zeit stehe.
Er ging so weit, zu behaupten, daß er gar nicht wisse, wie er drei Millionen
Pfund für die Marine verwenden solle, wenn man ihm eine solche Summe
über den Etat geben wollte. Hiermit erregte er große Entrüstung in den fach¬
männischer und politischen Kreisen. Unter der Überschrift: 0us vdo Krwvvs ello
Koth veröffentlichte die Mut (ni^Ltts im September 1884 eine Reihe von
sehr sachverständig geschriebnen, scharfen Artikeln über den Stand und für
den stärkern Ausbau der Flotte. Hervorragende Seeoffiziere, Fachmänner und
Politiker beteiligten sich mit Flugschriften, mit Abhandlungen und offnen
Briefen, in der Tngespresse, mit Parlamentsreden und Vorträgen in Versamm¬
lungen an der Bewegung und sorgten dafür, daß die Teilnahme des ganzen
Volkes erregt wurde. Sogar Schriftsteller und Dichter wie Tennyson und Swin-
burne veröffentlichten Gedichte, in denen sie die Verstärkung der Flotte forderten.
Die Artikel der N-M S^veto, die dann unter dein Titel ?us WM
lllicmt ello U^v/ lmZ its LioalivA Ltativus, d^ eine vno Icnovs tuo Koth,
als Flugschrift erschienen, schilderten das Anwachsen des britischen Handels,
des Wohlstandes und der Bevölkerung sowie die erhöhte Thätigkeit andrer
Staaten, besonders Frankreichs, für ihre Seemacht; sie schilderten die schlechte
Armirnng der englischen Schiffe und das Zurückbleiben der englischen Seemacht
den immer größer werdenden Fährlichkeiten gegenüber und schlössen mit den
Worten: „Unsre Marine muß verstärkt werden, und das sofort. Noch ein
Jahr Verzögerung, und es ist vielleicht zu spät. Die Wiederherstellung der
Seeherrschaft Englands in der ganzen Welt ist die erste und dringendste
Pflicht der Regierung." Daß die I'rutii üdout ello n-rv/ nicht gerade
glimpflich über die Admiralität und die Negierung der letzten Jahre urteilte,
ist selbstverständlich; sie erreichte auch ihren Zweck, das Volk machte ihre An¬
sichten zu dem seinigen. Schließlich mußte Lord Northbrook trotz seines an¬
fänglichen Sträubens sogar fünf und eine halbe Million Pfund über den Etat
der Marine annehmen und zur Vergrößerung der Flotte verwenden. So etwas
wird manchem guten Deutschen kaum glaublich erscheinen. Der Admiralität
wird eine solche Summe zur Verfügung gestellt, weil das Volk selbst seiue
Flotte uicht für genügend stark hält.
Als am 24. Juni 1885 an Stelle Gladstones der Marquis of Salisbury
die Swapgeschäfte übernahm, wurde Lord George Hamilton zum ersten Lord
der Admiralität ernannt. Er hat dies Amt mit einer siebenmonatigen Unter¬
brechung bis zum 23. August 1892 innegehabt, und unter seiner Leitung hat
nun die englische Marine die größten materiellen Fortschritte gemacht.
Lord G. Hamilton hatte im Stäbe der Admiralität den in jeder Beziehung
tüchtigen Kapitän zur See Lord Charles Beresford, und dieser hatte im
Oktober 1886 ein Memorandum über den unbefriedigender Stand der Flotte,
die Mängel in ihrer Kriegsbereitschaft, die Mängel des Personals und
Materials, sowie die notwendigen schleunigen Maßregeln zur Hebung und
Stärkung der Seemacht eingereicht. Dies eingehende und scharfgefaßte Memo¬
randum wurde die Grundlage für die Aufstellung und auch für die Bewilligung
der spätern ^g-val DskLuoc; ^or, und ihm verdankt England zum größten Teil
das wiederhergestellte Übergewicht seiner Flotte. Das Memorandum kam bald
darauf, wie erzählt wird, durch Vertrauensbruch eines Unterbeamten, durch
die ?^l1 N-M vom 13. Oktober 1886 in die Öffentlichkeit. Lord
C. Veresford trat am 18. Januar 1888 von seiner Stellung eines See¬
lords der Admiralität zurück und konnte nun als Parlamentsmitglied, frei
von allen Rücksichten gegen Vorgesetzte, im Unterhause, in der Presse und
durch Vorträge in den großen Handelsstädten des Reichs seine Ansichten ver¬
treten und populär machen. Die englische Admiralität nahm zunächst noch
Stellung gegen die ihr teilweise unbequemen Agitationen, die aber durch Reden
des Admirals Sir G. Hormby, Lord Carnarvons und andrer hochstehender
Männer in der Londoner Handelskammer im Mai 1888 unterstützt wurden.
Als dann Lord Veresford am 13. Dezember 1888 im Unterhause die Not¬
wendigkeit zahlreicher Schiffsneubauten nach einheitlichem Plan und die Not¬
wendigkeit einer Summe von 20 Millionen Pfund Sterling dafür bewies,
wurde er zwar von einigen Zeitungen als ein enthusiastischer, zu Übertreibungen
neigender Seeoffizier, deutsch „Flottenschwärmer," bezeichnet, aber sein Plan
wurde schließlich fast unverändert von der Admiralität aufgenommen und am
7. März 1889 in Form und Fassung eines Gesetzes dem Unterhause als
Entwurf der Napf-I Dstsneiz ^et, vorgelegt. Unter Vorlage einer Liste von
siebzig gewünschten Neubauten und mit dem Antrag, das Geld dafür,
21-/2 Millionen Pfund Sterling 438 Millionen Mary der Admiralität
zu bewilligen, trug Lord Hamilton dem Unterhause den Gesetzentwurf in nach¬
stehender Form vor:*)
1. Die Admiralität hat sofort zu veranlassen, daß die auf anliegender Liste
aufgeführten Schiffe der verschiednen Klassen mit annähernder Junehaltnng des
Tvnnengehalts, der Geschwindigkeit und Armirung, wie es die Angaben der Liste
vorschreiben, gebaut, ausgerüstet und seefertig gemacht werden.
2. Alle diese Schiffe sollen mit Armirung vor dem 1. April 1394 fertig sein.
3. Die Admiralität darf infolge dieses Gesetzes für obigen Zweck die Summe
von 21500000 Pfund Sterling ausgeben, und zwar davon 10000000 Pfund
Sterling für die im Teil I der Liste als auf Privntwerfteu zu bauende Schiffe
bezeichneten Neubauten nebst Armirung. Für die im Teil II der Liste, die die
auf Staatswerften zu bauenden Schiffe ausführt, genannten Neubauten, sowie die
letzten Ausrüstungsarbeiten an den auf Privntwerfteu gebauten Schiffen sollen im
ganzen 8 050 000 Pfund Sterling verwendet werden. Für die Armirung der auf
Staatswerften zu bauenden Schiffe sollen 2 850 000 Pfund Sterling verfügbar sein.
Erläuternd hierzu wird bestimmt, daß für die Summe von 10 000 000 Pfund
Sterling für die Privatwerftschiffe ein Konto bei der Bank von England eröffnet
werden soll unter dem Namen vsienos ^Leouut. Diese Summe soll un-
abhängig von allen weitern Bestimmungen des Parlamentes sein und die sofortige
Bestellung und möglichst schnelle Ausführung aller Privatwerftschiffe des Teils I
der Liste ermöglichen.
Die vom Gesetz für die Staatswerftschiffe ausgeworfne Summe soll bis zur
Erreichung ihres Gesamtbetrages in den jährlich vom Parlament für die Wersten
zu bewilligenden Summen enthalten sein; doch darf ihr Maximum in einem Etats¬
jahr 2 650 000 Pfund Sterling für Neubau und 600 000 Pfund Sterling für
Armirung nicht überschreiten. Sollten die Zahlungen für diese Bauten in einem
Jahre diese festgesetzte Summe überschreiten, so darf das Schatzamt ans der Staats¬
schuldkasse Vorschüsse zahle», die im nächsten Jahr wieder ans den erwähnten
2 6S0 000 Pfund Sterling zurückzuzahlen sind. Was in einem Jahre nicht auf¬
gebraucht wird, soll dem folgenden Jahre zu gute kommen dürfen.
4. Die am 1. April 1889 schon auf Privatwcrften und königlichen Werften
im Bau befindlichen Schiffe fallen nicht unter die Maßnahmen dieses Gesetzes und
sind unter Aufwendung der früher dafür vorgesehenen oder noch zu bewilligenden
Mittel zu vollenden.
Die Liste der nach der Ug-val votenes ^vt vorgeschlcignen Neubauten, die
fast gleichzeitig in Angriff genommen werden sollten, umfaßt
Zu diesen Neubauten der Mivul vötgnvg ^.ot muß man noch, um ein Bild
der Gesamtbauthätigkeit der englischen Marine in den Jahren 1889 bis 1894
zu erhalten, die dreiundvierzig vor dem I. April 1889 schon begonnenen Schiffe
und Fahrzeuge zählen, die sich aus 5 Schlachtschiffen 1. Klasse, 2 geschützten
Kreuzern 1. Klasse, 8 Kreuzern 2. Klasse, 6 Kreuzern 3. Klasse, 1 Torpedo¬
depotschiff, 9 Torpedokanonenbooten, 12 kleinern Schiffen verschiednen Typs,
zusammen 43 Schiffen und Fahrzeugen zusammensetzen.
Es sollten also im ganzen 113 Kriegsschiffe und Fahrzeuge innerhalb der
nächsten fünf Jahre gebaut und vollendet und zugleich der größte Teil der
dazu nötigen Geldmittel im voraus dafür bewilligt werden. Eine Anfrage
im Unterhause am 7. März, warum die Geldmittel für die Flottenvermehrnng
nicht in der gebräuchlichen Weise durch jährliche Bewilligungen des Parlaments
aufgebracht werden sollten, beantwortete der Schatzkanzler Goschen und am
25. Mnrz auch Lord Hamilton in genügender Weise, und das Unterhaus ließ
sich zum zeitweiligen freiwilligen Verzicht auf einen Teil seines Bewilligungs¬
rechts bewegen. Die beiden Redner führten aus, daß mir bei völliger Sicher-
Stellung der Mittel ein großer Plan aufgestellt und durchgeführt werden könne,
daß nur dabei die wirkliche Fertigstellung der Schiffe und ihrer Armirung
innerhalb der gewünschten Zeit erreicht werden könne, und daß dadurch jede
— später vielleicht ans pekuniären Rücksichten entspringende — Neigung zur
Änderung des einheitlichen Bauplans vermieden werde. Durch einen solchen
einheitlichen Bauplan würde die früher so große Zahl der Schiffsklassen und
Typen, die oft ihren Grund in den Einzclbewilligungen gehabt hätten, ver¬
mindert, sodaß die neue Flotte im allgemeinen aus Schlachtschiffeu erster
Klasse, zwei Klassen Kreuzern und den Torpedofahrzengen bestehen würde.
Der praktisch denkenden Volksvertretung hat der erwähnte Verzicht auf
einen Teil ihres Bewilligungsrechts innerhalb der nächsten fünf Jahre keine
Unruhe bereitet; sie sah den Grund ein, war von dem Vorteil der Vermehrung
der Seemacht für den Staat schon vorher selbst überzeugt gewesen und be¬
schäftigte sich bei den Debatten am 1. und 8. April nicht weiter mit der im
Grunde doch nur nebensächlichen Prinzipienfrage.
Am 25. März empfahl der Schatzkanzler nochmals die Annahme der
Navlü DetontZö ^.et, indem er betonte, daß ein Land, das Frieden wünsche,
als gegen feindliche Angriffe gesichert bekannt sein müsse, und daß man sich
niemals durch das scheinbar friedliche Aussehen der auswärtigen Politik von
Schritten abhalten lassen dürfe, auf denen die Sicherheit und die Zukunft des
Landes beruhe.
Nachdem am 1. April mit 251 gegen 75 Stimmen die prinzipielle Be¬
willigung des sofortigen Neubaus von siebzig Schiffen sowie von 21500000
Pfund zu diesem Zweck vom Unterhause genehmigt war, wurde am 8. April
auch die Art und Weise der Geldgewährnng in der von Lord G. Hamilton
vorgeschlagnen Form mit 215 gegen 118 Stimmen angenommen. Am
31. Mai 1889 trat dann die 5sg,og.1 DolduM ^ot, nach Lesung im Oberhause
und Bestätigung durch die Königin als Gesetz in Kraft.
Die Presse, die während der letzten Jahre diesem Gesetz den Boden geebnet
und während der Zeit der Debatten eifrig dafür gewirkt hatte, frohlockte über
den schließlichen Erfolg. Die times und die meisten bedeutenden Zeitungen be¬
glückwünschten die Negierung um 1. Juni und hoben hervor, daß die verhält¬
nismäßige Schwäche der Opposition diesem Gesetz gegenüber dadurch zu er¬
klären sei, daß das Volk erkannt habe, daß die Stärkung der nationalen Ver¬
teidigung notwendig sei, und daß die Vorschläge der Negierung zweckentsprechend
gewesen seien. Auch wurde hervorgehoben, daß das Volk im ganzen vor d.in
Jahre 1884 in Bezug auf die Flottenfrage unwissend und gleichgilüg ge¬
wesen sei.
Der Nroacl ^.rrov feierte schon im Januar 1889 Lord Beresford wegen
seines wackern Eintretens für eine solche nationale Frage und schrieb: „Was
bedeuten 20 Millionen Pfund im Vergleich zu den auf dem Spiele stehenden
Interessen und zu den Verlusten, die uns der erste Monat eines Krieges mit
einer größern Seemacht bringen würde? Es ist sehr schön mit Gelehrsamkeit
und Heldenreden gegen die Thorheit der Furcht vor einem solchen Kriege zu
eifern; aber wenn wir uns nicht sehr täuschen, würden bei ernster Kriegsnot
die sogenannten „wirtschaftlich denkenden Volksvertreter" die ersten sein, die
von Entsetzen ergriffen werden würden, während Offiziere vom Schlage des
Lord Veresford den Kampf auch in dem kleinsten Fahrzeuge noch fortsetzen
würden. Nein! Lieber wollen wir vertrauensvoll unsern Kämpfern die Waffen
liefern, deren sie bedürfen; dann werden wir auch billigerweise und als selbst¬
verständlich voraussetzen können, daß sie in Zeiten der Not ihrer Pflicht ge¬
nügen können und werden."
Im März lobte dieselbe Zeitschrift deu Lord Hamilton, daß er den Bau
der einzelnen Schlachtschiffe immer beschleunigt habe, und betonte, daß die Bau¬
kosten eines Schiffes um so geringer seien, je kürzer die Bauzeit sei. Im
April wurde in demselben Blatt der Erfolg von Lord Beresfords Teilnahme
an den Debatten anerkannt, zugleich aber gefragt, ob es nicht Zeitverschwendung
sei, vor dem vielfach nicht seekundigen Unterhause so sehr in Einzelheiten der
nautischen Technik einzugehen. Einigen Untcrhausmitgliederu, von denen be¬
hauptet wurde, daß ihr politischer Horizont nicht weiter als ihre Nase reiche,
wurde vorgeworfen, daß sie in ihrer Ängstlichkeit immer fürchteten, daß die
Vermehrung der Scestrcitkräfte zugleich die Neigung zu bösen Gewaltthaten
steigere. Auch das Nörgeln des frühern, nun in technischen Fragen in der
Opposition stehenden Chefkonstrukteurs der Marine Sir E. Reed und sein
Auskramen von Schiffsbauweisheit vor den wenig sachverständigen Unterhaus-
Mitgliedern wurde treffend beleuchtet. Im allgemeinen wurde aber bestätigt,
daß die Opposition wenig kraftvoll und gering an Zahl dastand.
Die ^im^ auel Nao^ O^sete schrieb am 9. März 1889: „Die große
Masse des Volks wird allerdings noch dazu erzogen werden müssen, zu be¬
greifen, daß wir absolute Sicherheit durch unsre Seemacht erlangen müssen,
dafür aber auch zu zahlen haben. Gar mancher Biedermann wird sich die
Frage vorlegen: »Wird die Besteuerung auch meinen Geldbeutel treffen?
Werde ich von der Extraausgabe auch wieder persönlichen Vorteil haben?«
Darauf kann vorläufig schon geantwortet werden, daß das Zirkuliren von
zwanzig Extramillionen Pfund in unserm Lande dem Arbeiterstande nur wohl¬
thun kann, denn alles Geld bleibt im Lande und wird auch dort für den
Schiffbau ausgegeben. Daß die ganze Angelegenheit bald auch vom Volke
von einem höhern und freiern Gesichtspunkte angesehen werden wird, ist zu
hoffen."
Eine Woche später schrieb dieselbe Zeitschrift: „Es kommt vorläufig doch
darauf hinaus, daß, wenn auch der Steuerzahler in seine Tasche greifen muß,
von dem zirknlirenden Gelde der Arbeiter und der für dessen Unterhalt und
Vergnügen sorgende Händler und Unternehmer in erster Linie den Hauptvorteil
haben wird. Hoffen wir, daß alle Opposition gegen die Vorschläge aufhören
werde, und daß wir durch ihre Annahme zu einer größern Stetigkeit in unserm
Kriegsschiffbau kommen werden/'
Ein von dem als Autorität in Marinesachen hochgeschätzten Admiral Sir
Geoffrey Hormby an die ^loss gerichteter Brief hatte die Erwartung aus¬
gesprochen, daß von nun an nur noch Schlachtschiffe von großem Kampfeswert,
größter Schnelligkeit und neuestem Typus gebaut werden würden, zu denen
als Vorposten und Wachen kleinere schnelle Schiffe gehören sollten. Es sollte
bei jedem Flottenplan stets das Hauptgewicht auf die Offensivkraft der Schiffe,
also der Schlachtschiffe gelegt werden, wogegen die andern Gesichtspunkte zurück¬
trete» müßten.
Am 1. Juni besprach die ^.rin^ iwä Uav^ tÄWstts die Rede des Lord
Salisbury bei Lesung der Vorschläge im Oberhause am 31. Mai 1889. Der
Premierminister hatte darin erklärt, daß das auf Stärkung der Flotte ver¬
wandte Kapital eigentlich nur eine Versicherungssumme darstelle, die beim An¬
wachsen des Handels und des Besitzes gleichfalls steigen müsse. Die Kriege
der Neuzeit kämen im Gegensatz zu frühern Zeiten oft schnell und unerwartet
und ließen wenig Zeit zu Vorbereitungen. Die andern Staaten Europas
hätten deshalb auch ihre Angriffs- und Verteidigungsmittcl immer bereit, und
ihre Leiter wüßten, daß derartige riesige Anstrengungen nicht umgangen werden
könnten, wenn die Möglichkeit ernster Gefahren abgewendet werden solle.
In den Tagen der Feier des Jubiläums der englischen Herrscherin im
vorigen Jahre gingen die Wogen der Begeisterung hoch, und im Gefühl
der absoluten Seeherrschaft und der Weltmacht erinnerte man sich dankbar der
Urheber und Durchführer dieses Gesetzes, das dem englischen Selbstgefühl die
berechtigende Grundlage wiedergegeben hatte. Der Presse wurde der größte
Teil des Verdienstes zuerkannt, weil sie von Anfang bis zu Ende das Werk
zum Heile der Nation hatte fördern und durchführen helfen. Man meinte,
die Mitglieder des Unterhauses Hütten eigentlich nur nötig gehabt, für das zu
stimmen, was von der durch die Presse belehrten öffentlichen Meinung als
notwendig gefordert worden war.
Auch wir müssen der Presse und besonders dem noch unbekannt gebliebner
Verfasser von IKs trülil g,de>ut ete> Mo/ einen großen Teil des Verdienstes
zuerkennen, müssen aber die Verdienste der leitenden Staatsmänner, Politiker
und Fachleute wie besonders Lord Salisbury, Goschen, Arnold Forster und
vor allem Lord Beresford, sowie verschiedner Seeoffiziere denen der Presse
zur Seite stellen, denn diese Männer haben die Presse vielfach erst in richtige
Bahnen geleitet.*)
Kommen wir um zu unsern eignen Angelegenheiten! Die Notwendigkeit
der Verstärkung unsrer Flotte zu einer unserm Seehandel und Besitz mehr
entsprechenden Macht ist schon betont worden. Der Plan dazu ist in Form
eines Gesetzes mit Zustimmung des Bundesrath entworfen und bedarf jetzt der
Zustimmung des Reichstags. Der Staatssekretär des Reichsmarineamts, dem
die schwere Aufgabe der Durchführung der Reform der Flotte obliegt, ist in
der Lage eines Baumeisters, der ein großes Haus bauen soll und nach Ge¬
nehmigung seines Bauplans auch gern die Sicherheit hätte, daß keine Stockung in
dem Zufluß der Baugelder die Ausführung verzögern oder gar zu Abweichungen
von der stilvollen Vollendung zwingen könne. Daß der Kampf um den jähr¬
lichen Etat der Marine und um die Bewilligung einzelner Schiffe oft nicht zum
Segen der Marine und zum Ansehen des Staates gedient hat, haben wir
leider schon mehrfach erfahren. Der Bau der einzelnen Schiffe wird verzögert,
und die einheitliche Durchführung eines Bauplans wird erschwert durch die
Ungewißheit über die Erfolge oder Niederlagen der jährlichen Vorlagen. Mag
der Vertreter der Marinevvrlage sie vom politischen oder vom fachmännischer
Standpunkt ans auch noch so gut begründen, so werden ihm nur zu oft
Mangel an Kenntnis der äußern Politik, eine falsche, nach Popularität strebende
Sparsamkeit oder gar die rücksichtslose Vorschiebung von Parteiinteressen seine
Pläne vereiteln. Der berufne fachmännische Berater des Reichs und des
Volks kann bei uns mit seinen Vorschlägen der Abstimmung einer Partei
unterliegen, die kein einziges Mitglied auszuweisen hat, das in Sachen der
auswärtigen Politik oder der Seefahrt Verständnis oder Erfahrung hat. Man
hat deshalb, in ähnlicher Weise wie es in England geschehen ist, diesmal für
unsre Marinevvrlage die sowohl die Leitung der Marine wie den Reichstag
auf sieben Jahre verpflichtende Form des Gesetzes gewählt und darin die
Größe des Sollbestandes der Flotte, den Zeitraum sür die Ausführung der
Neubauten und die Regelung der Zeiten für Ersatzbauten aufgenommen.
Der Sollbestand der deutschen Flotte wird darin, abgesehen von Torpedo¬
fahrzeugen und den für den Gefechtsmert der Flotte unwesentlichen Schulschiffen,
Spezialschiffen und Kanonenböten, auf siebzehn Linienschiffe, acht Küsteupcmzer-
schiffe, neun große und sechsundzwanzig kleine Kreuzer, die jederzeit ver-
wendnngsbereit sein müssen, und zwei Linienschiffe, drei große und vier kleine
Kreuzer, die als Materialreserve dienen sollen, festgesetzt.
Zu diesen Festsetzungen haben die taktischen Erfahrungen bei den Ge-
schwaderübnngen und die Folgerungen ans den Herbstmanövern vieler Jahre
geführt. Das Linienschiff ist die Gefechtseinheit der rangirten Schlachtlinie.
Die Division ist eine Vereinigung von vier Kriegsschiffen unter einem Kom¬
mando; zwei Divisionen bilden ein Geschwader unter einem Geschwaderches.
Mehrere Geschwader bilden eine Flotte tinter dem kommandirenden Admiral,
der die Flotte von einem besonders dazu bestimmten Linienschiff aus, dem
Flottenflaggschiff, leitet. Wir rechnen auf eine Division der Linienschiffe einen
großen und drei kleine Kreuzer als Aufklärungs- und Vorpvstenschiffe, auf
eine Division der Küstenpanzerschiffe einen großen und zwei kleine Kreuzer.
Wir haben mithin bei vollem Sollbestand der Flotte ein Flottenflaggschiff,
zwei Linienschiffsgeschwader oder vier Linienschiffsdivisionen mit vier großen
und zwölf kleinen Kreuzern, sowie ein Küstenpanzerschiffsgeschwader oder zwei
Küstenpanzerschiffsdivisionen mit zwei großen und vier kleinen Kreuzern. Für
den Auslandsdienst sind außerdem drei große und zehn kleine Kreuzer vor¬
gesehen, zu denen noch vier Kanonenboote und ein Stationsschiff in Konstan-
tinopel treten. Der Bestand der Materialreserve ist notwendig, um Ausfälle
oder den Mchrgebrauch von Kreuzern im Auslande zu decken. Ans diese
Zahlen sollen die am 1. April 1893 vorhandnen oder noch im Bau befind¬
lichen Schiffe unsrer Marine, zwölf Linienschiffe, acht Küstenpanzcrschiffe, zehn
große und dreiundzwanzig kleine Kreuzer in Anrechnung kommen. Dieser Plan
halt bescheidne Grenzen ein, unterscheidet sich in der Zahl der Schiffe nur
wenig von dem Plan von 1873 und kann keine Veranlassung zu einem Gerede
von Streben nach einer Flotte ersten Ranges geben. Daß der jetzt beabsichtigte
Bestand der Flotte aber an Kraft und auch an Kostspieligkeit im Vergleich
mit dem 187Z gedachten höher stehen muß, das kann die Negierung uicht ver¬
meiden. Die Vertreter derselben Schiffsklassen sind in allen Mariner militärisch
stärker und teurer geworden, und minderwertige Schiffe zu bauen wäre bei
einer kleinen Flotte eine noch größere Geldverschwendung als bei einer großen.
Die Anrechnung der eigentlich mehr der Küstenpanzerschiffsklasse ange¬
hörenden Schiffe der Badenklasse und des kleinen Panzerschiffes Oldenburg
auf die Linienschiffe ist ein Beweis für die größte Beschränkung der Anforde¬
rungen und nur erklärbar durch den bald nach 1905 beabsichtigten Ersatz dieser
Schiffe durch vollwertige Linienschiffe. Dasselbe gilt von der Aufnahme der
kleinen Avisos in die Klasse der kleinen Kreuzer, sowie von der sehr weit¬
gehenden Bezeichnung mancher Schiffe als große Kreuzer, die das Ausland
nicht so ehrend benennen würde. Über diese mit Rücksicht auf die sonstigen
Ausgaben des Reichs mit in den Kauf genommnen Schwächen werden wir
jedoch durch Ersatzbanten für die alternden Schiffe im Laufe der Jahre hinweg¬
kommen.
Sehr erfreulich ist die aus dem Bauplan hervorgehende Absicht, die Zahl
der Schiffsklassen zu beschränken. Wie die andern Mariner, so haben anch
wir zu viele Klaffen von Schiffe», was vielfach seinen Grund darin hat, daß
die Verwaltung der Marine oft aus Mangel an Geldmitteln einzelne Schiffe
bauen mußte, die bestimmten Aufgaben so vollkommen genügen sollten, daß sie
den allgemeinen Aufgaben einer ganzen Schiffsklafse nicht entsprechen konnten.
So können z, B. die Schiffe, die nur für den Kampf in der Nähe der Küste
bestimmt waren und deshalb bei schwerer Artillerie nur wenig .Kohlen
brauchten, heute niemals den Ansprüchen an ein Schlachtschiff genügen, da ein
solches unter Umständen auch zeitweise im Ausland verwendbar sein muß.
Übrigens sind andre Mariner mit noch mehr Schiffsklassen behaftet, und es
ist eine stete Klage der französischen Seeoffiziere, daß ihre Flotte vor allen
andern die größte Zahl von Klaffen und Typen hat. Auch die englische
Flotte ist, wie erwähnt, erst seit der Reorganisation von 1889 auf den Bau
von Schisfsmaterial in nur wenig Klaffen übergegangen. Daß unsre neue
Klasseneinteilung richtig ist, lehrt uns das englische Beispiel und sagt uns
das Urteil der eignen Fachleute. Es würde den Nahmen dieser Abhandlung
überschreiten, wenn die Begründung für jede Klasse hier durchgeführt werden
sollte. Die jetzt bei uns und bei andern Seemächten vorliegenden Erfahrungen
mit diesen Schiffsklasfen lassen es zu, daß der Plau für die Neubauten für
eine Reihe von Jahren im voraus aufgestellt wird, wobei jedoch die immer
fortschreitende Vervollkommnung des einzelnen Typus innerhalb der Klasse
durchaus nicht ausgeschlossen ist. Es ist im Gegenteil die Vervollkommnung
erleichtert, weil die Erfahrungen und die Erprobung der Fortschritte der Technik
jetzt immer von den ältern Schiffen sofort ans die Neubauten derselben Klassen
übertragen werden können. Ans dem Brandenbnrgtyp hat sich der Typ der
Linienschiffe Kaiser Friedrich III. und Kaiser Wilhelm II. entwickelt, und
ebenso wird es in den Kreuzerklasseu werden. Daß die Beschränkung auf
wenige Klassen die Ausbildung der Leute erleichtern und die Reservisten bei
ihrer Einschiffung ans Schiffen der ihnen bekannten Klasse im Kriegsfalle
wieder schneller kriegsbereit machen wird, liegt auf der Hand. Auch der Bau
der Schiffe auf den Werften wird dadurch schneller und billiger.
Wenn sich in Dentschland erst die Ansicht mehr Bahn bricht, daß bei
dem heutigen Stande unsrer Industrie der deutschen Nation kein Geldverlust
aus der größern Thätigkeit im Kriegsschiffban erwachsen kann, weil wir die
Schiffe und das Material für ihren Bau im eignen Lande herstellen, so muß
der uur aus pekuniären Rücksichten gegen die Vorlage gerichtete Widerstand
fallen. Wer aber den größten Vorteil von allen Bauten mit inländischen
Material haben wird, das ist der Arbeiterstand.
Der Kriegsschiffbau wird Tausenden von Arbeitern lohnende Beschäftigung
geben, und vom Verdienst der Arbeiter werden wieder die Gewerbszweige
Gewinn ziehen, die für den Unterhalt und die Veschaffnng von Genuß und
Vergnügen für den Arbeiterstand sorgen. Man kann annehmen, daß auf
Arbeitslohn und Beamtciigehalt drei Viertel der ganzen Summe der Bau¬
kosten eines Kriegsschiffes kommen. Ans der Werft selbst sind im Banpreise
Lohn und Materialwert ungefähr gleich groß. Beim Material macht aber
der Arbeitslohn für die Gewinnung des Rohmaterials im Bergwerks- und
Hnttenbetrieb, für die Herrichtung des Materials zum Gebrauch für die Werft
im Fabrikbetriebe, in mechanischen und elektrotechnischen Anstalten die Hälfte
des Preises aus. Daraus geht auch hervor, daß der Bau eines Kriegsschiffes
weit über die Grenzen der Küstenstädte hinaus auf die Arbeitsverhältnisse
und unsre Industrie günstig einwirkt. Hätten wir wirklich einen solchen Not-
stand unter unsrer Bevölkerung, wie es im Parteiinteresse öfter behauptet
wird, so müßte seine Linderung durch die Schaffung von Arbeitsgelegenheit
im Dienste des Staates doch um so williger befürwortet werden, als auch
der Erfolg der Arbeit, die Stärkung der Seemacht, zur Sicherung und Ver¬
mehrung des Wohlstandes beitragen muß. In England ist die Erkenntnis
von der Nützlichkeit des Zirkulirens der Baugelder für Kriegsschiffe auch in
allen Volksschichten verbreitet, und es wurde dort noch im vergangnen Jahre
bei neuen Flottenvergrößerungen betont, daß auch die vermehrten Unterhaltungs¬
kosten einer größern Flotte wieder mehr sichern Arbeitslohn bildeten. Diesem
Umstand gegenüber kann das Gejammer über die hohen Ausgaben des Staates
und die Mehrbelastung der kleinen Leute uur als ein Mittel für selbstsüchtige
Parteizwecke erscheinen. Die Einwendungen, die gegen das Gesetz als Be¬
schränkung des Budgetrechts des Reichstags gemacht werden, sind nichts als
klägliche Parteipraktiken. Das jährliche Bewilligungsrecht des Reichstags wird
von dem Gesetz gar nicht berührt, weil gar keine bestimmten Summen im
voraus bewilligt werden sollen. Vielmehr wird durch das Gesetz der Flotten¬
bauplan nur in seinen Grenzen und Zielen festgelegt, während in jedem Jahr
im Neichshnushaltsetat die Summe gefordert werden soll, die zur Ausführung
des Gesetzes nach Lage der Arbeiten, der Löhne und Materialpreise notwendig
sein wird. Man muß hoffen, daß bei besserer Erkenntnis des guten Zwecks,
der in der Fassung der Vorlage in ein Gesetz für die gedeihliche und stetige
Entwicklung unsrer Wehrkraft zur See und damit auch der Zukunft unsers
Landes liegt, auch in unserm Reichstage diese nichtigen Gegengründe ebenso¬
wenig wie seinerzeit in England der ruhigen Überlegung Stand halten werden.
Im ganzen sind für die siebenjährige Bauperiode bis 1905 als Kosten
veranschlagt worden für Neubauten an Linienschiffen und Kreuzern beider
Klassen nur 162,2 Millionen Mark und für Ersatzbauten derselben Schiffs¬
klassen 211 Millionen. Von diesen 211 Millionen fallen aber 72,5 Millionen
Mark sogar auf spätere Etatsjahre als 1904/05, da die Ersatzbautcn von vier
Schiffen der jetzigen Vadenklasse und sechs kleinen Kreuzern dann noch nicht
vollendet sein werden. Es bleiben also für die sieben Baujahre als Kosten
was einen Jahresanteil von 58,6 Millionen Mark ergiebt. Hiermit bleiben wir
hinter Frankreich und Nußland zurück; Frankreich hat im Etat für 1898 für
Schiffsneubauten 92273000 Franks und Nußland für denselben Zweck
27304693 Rubel ausgesetzt.
Wollte man den die Neubauten und Ersatzbauten so gleichmäßig auf die
sieben Jahre verteilenden Plan zur Stärkung unsrer Flotte noch länger hinaus¬
schieben und nur in der gewohnten Weise fortbauen, so würde das Land in
einigen Jahren infolge des Veraltens einer ganzen Reihe von Schiffen auf
einmal vor sehr bedeutenden Anforderungen stehen. Der Etat der Marine
würde dann, um einem schnellen Sinken unsrer Wehrkraft vorzubeugen, un¬
vermittelt hinausschreiten müssen, und es müßte eine riesige Bauthätigkeit
einige Jahre lang unternommen werden, von der weder die Industrie noch die
Arbeiter den Nutzen hätten, den die vorgeschlagne gleichmäßige Verteilung der
Bauten auf viele Jahre bringen wird.
Die Steigerung unsers Gesamtmarineetats während der nächsten sieben
Jahre wird als Vermehrung der jetzigen 117,5 Millionen ungefähr auf
149,7 Millionen Mark im Jahre 1904/05 geschützt. Entsprechend der im
Anfang und in der Mitte des Zeitraums stärksten Bauthätigkeit wird der Etat
vom ersten zum zweiten und zum dritten Jahre schnell wachsen und dann von
1901/02 an bei ungefähr 150 Millionen stehen bleiben, weil die Kosten der
Bauten dann sinken, während die fortlaufenden Ausgaben um etwa 4 Millionen
jährlich steigen werden. Im Durchschnitt wird die Steigerung des Marine¬
etats bis zum Ende der Bauperiode jährlich nur 4,6 Millionen Mark betragen,
sodaß wohl noch nirgends in der Welt die Stärkung einer zurückgebliebnen
Flotte mit so geringer Belastung der Finanzen eines Reichs geplant worden
ist. Die Befürchtungen mancher Leute, die trotz des Blüheiis von Handel und
Industrie noch immer an das Märchen von der Armut Deutschlands glauben,
und daran, daß der Staat durch die Stärkung der Wehrkraft zur See von
der Erfüllung andrer Aufgaben abgehalten werden konnte, sind also hinfällig.
Unsre Negierung hat, um die Zustimmung der Volksvertretung leichter zu
erlangen, denselben Weg eingeschlagen, wie es in England die Flottenfreunde
gethan hatten. Die in Marinesachen maßgebenden Kreise haben diesmal nicht
wie in frühern Jahren den Einfluß der Presse unterschätzt; eine Besprechung
der Ziele der Regierung erschien ihnen auch, wo es unsicher war, wie Partei
ergriffen werden würde, wertvoller als die Teilnahmlosigkeit und der Mangel
an Verständnis in den frühern Jahren. Die Thätigkeit der Presse im letzten
Jahre hat um auch unser Volk aufgerüttelt, hat seinen Gesichtskreis über die
Grenzen Deutschlands hinaus erweitert und seinen Blick für die zur Sicherung
der Zukunft der Nation dienenden Maßnahmen geschärft. Der Segen und
Nutzen dieser sich in den Dienst des Vaterlandes stellenden Preßthätigkeit wird
nicht ausbleiben. Ebenso wie in England haben sich bei uns Männer der
verschiedensten Berufe bemüht, durch Veröffentlichungen in der Tagespresse,
durch Flugschriften, Bücher und Vorträge Verständnis im Volke für die zum
Wohl des ganzen Landes dienenden Mittel, für die Vorgänge im Auslande
und die Auslandspolitik und ebenso für die Notwendigkeit genügender Macht
zur See zu wecken, und es ist nun vom deutschen Volk dieselbe Einsicht zu
hoffen, wie sie damals das englische gezeigt hat.
Die Geschichte kennt kein Beispiel dafür, daß sich ein Staat durch Aus¬
gaben für die Stärkung seiner Wehrkraft geschadet hätte, wohl aber dafür, daß
Staaten ihren Untergang gefunden oder an Macht und Wohlstand Einbuße
erlitten haben, weil sie aus Pfennigsparsamkeit Ausgaben für die Unterhaltung
der Landeswehr im Frieden gescheut hatten. Die Hauptaufgabe des Staates
ist die Erhaltung seiner Widerstandskraft gegen die Außenwelt, und Pflicht
aller Bürger ist es, ihn darin zu fördern.
en Anteil, den Württemberg an den großen Ereignisse» von 1812
bis 1815 gehabt hat, quellenmüßig festzustellen ist der Zweck
zweier jüngst erschienenen Werke des württembergischen General¬
majors z. D. Dr. A. Pfister.*) Der Verfasser verbindet damit
noch den weitern Zweck, die Fäden der geschichtlichen Entwicklung
Deutschlands, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberreichen, auf¬
zuzeigen und dem Leser den geschichtlichen Zusammenhang der vaterländischen
Geschicke verständlich zu machen. Also neben dem rein wissenschaftlichen zu¬
gleich ein lehrhafter, erzieherischer Zweck. Durch diesen doppelten Zweck ist es
zu erklären, daß die Darstellung zuweilen aufgehalten wird durch Vor- und
Rückblicke, Wiederholungen und Einschaltungen; mau möchte ihr einen straffem
Gang wünschen. Im übrigen ist sie gehaltreich, eindringlich und nicht ohne
patriotischen Schwung. Berichte von Augenzeugen geben anschauliche Bilder
von Kriegsereignissen und von diplomatischen Vorgängen. Für das Wesen der
Rheinbundstaaten, die in unverminderter Souveränität und mit starr aus¬
gebildetem Partikularismus, unter sich und gegen die Großmächte getrennt
durch Neid und Argwohn, aus der napoleonischen Zeit in die des Bundes¬
tags herübergenommen wurden, sind die Mitteilungen Pfisters höchst lehrreich.
Nächst Baiern ist Württemberg noch am weitesten zurück in der Eröffnung
seiner Archive. Aber man hat doch angefangen, einzelnes nach Auswahl
herauszugeben, auch aus der Zeit des Rheinbunds, und einheimischen Ge¬
schichtschreibern Einblick in die Archivschätze zu gewähren. Pfister hat sich
schon sür seine frühere Studie über den König Friedrich bisher geheim ge¬
haltner Akten bedienen dürfen, und er hat davon einen völlig freimütiger
Gebrauch gemacht. Nichts ist ihm fremder als Beschönigung oder apologe¬
tischer Eifer. Das ist allerdings unzweifelhaft, daß das überlieferte Bild jenes
rohen Despoten, je mehr es in ein quellenmäßiges Licht tritt, zwar keines¬
wegs in sein Gegenteil verkehrt, aber doch um Züge bereichert wird, die ihn
als eine geborne Herrschernatur von nicht gewöhnlichen Eigenschaften erkennen
lassen. Mit rastloser Energie wußte er die Kräfte seines kleinen Erblandes
zu steigern, unter kluger Benutzung der Zeitverhältnisse es inmitten eifer¬
süchtiger Nachbarn um mehr als das doppelte zu erweitern und daraus ein
wohlgeordnetes Staatswesen zu bilden, das für sein Selbstgefühl und seinen
Thatendrang nur immer noch viel zu klein war. Und seine Herrseherwürde
ließ er sich von niemand antasten. Schon frühere Veröffentlichungen haben
gezeigt, daß er auch gegenüber den französischen Generalen und zuweilen selbst
dem Kaiser Napoleon gegenüber eine freimütige Festigkeit, eine rechthaberische
Zähigkeit bewährte, die zu seinen Gunsten in die Wagschale fallen. Er allein
von allen Nheinbundfürsten setzte es durch, von der Heeresfolge nach Spanien
verschont zu bleiben. Als es nach Nußland ging, hatte er die größte Sorg¬
falt auf die Ausbildung seiner Truppe verwandt. War er nicht imstande
gewesen, wie Sachsen, Baiern, Westfalen ein eignes Armeekorps aufzustellen,
so sollte seine Division doch als ein geschlossenes Ganze beisammen bleiben,
unzerrissen, selbständig im innern Dienst, die Truppe einer Verbündeten Macht;
zu ihrem Schutz hatte der König in den Instruktionen an seine Generale be¬
sondre Vorschriften gegeben. Natürlich hatten diese wohlgemeinten Vorkehrungen
nur geringe Wirkung; bald genug kamen Klagen aus dem Felde über gröb¬
liche Hintansetzungen oder schonungslose Ausnutzung, und die Folge waren
dann Beschwerden, mit denen der König dem Kaiser und dessen Generalen
lustig fiel. Am peinlichsten war die Stellung seiner eignen Generale und
Gesandten, die diese Beschwerden zu übermitteln hatten und zum Dank dafür
meistens noch mit Grobheiten von ihrem Herrn überhäuft wurden.
Auch der bestimmte Wunsch des Königs, die württembergische Division
nicht zerrissen zu sehen, wurde nicht geachtet, und darüber war er ganz be¬
sonders ungehalten. Der Kaiser trennte nämlich zwei Kavalleriebrigadcn von
dem Zusammenhang mit der Infanterie und verteilte die einzelnen Regimenter
unter französische Reiterbrigaden, wodurch die beiden Generale v. Wöllwarth
und v. Walsleben außer Verwendung kamen. Als Vorwand für diese Ma߬
regel dienten die zuchtlosen Übergriffe der Reiterei, die nach den Berichten der
württembergischen Generale dadurch hervorgerufen waren, daß man sie ab¬
sichtlich zu gehässigen Requisitionen verwandt hatte. Der wahre Grund war
der Argwohn, den Napoleon gegen den Geist der höhern württembergischen
Offiziere gefaßt hatte. Die genannten beiden Generale waren denunzirt worden,
daß sie sich üble Reden, irmu.og.is xropos, erlaubt hätten, und ihrer wollte
man sich entledigen. Es kam darüber um 25. Juni 1812 in Kowno, kurz
nach dem Übergang über den Riemen zu einem heftigen Auftritt zwischen
Napoleon und dem Kronprinzen von Württemberg, der damals noch den
Befehl über die Division führte, und noch heftiger fuhr der Kaiser an demselben
Tage den württembergischen General v. Breuuing an. Es schloß sich daran
noch eine Korrespondenz zwischen dem Kaiser und dem Kronprinzen, in der es
noch deutlicher zum Ausdruck kam, daß der Kaiser die Loyalität vieler württem¬
bergischer Offiziere bezweifelte, und daß sein Argwohn bis an die Person des
Kronprinzen selbst reichte. König Friedrich nahm davon Veranlassung, einen
bekümmerten Brief an seinen Sohn zu richten, worin er ihm ein kluges Be¬
trage« gegen den Mann einschärfte, von dessen Gunst das Bestehen seiner
Dynastie abhänge. Daß sich die Offiziere in ihren Briefen nach Hause zum
Teil freimütige Bemerkungen erlaubt hatten, war dem König selbst nicht un¬
bekannt geblieben. Diese Korrespondenzen gingen durch seine Hand, und er
untersagte für die Zukunft mißliebige Äußerungen in den Briefen aus dem
Felde. Daß unter den höhern württembergischen Offizieren ein den Franzosen
abgeneigter Sinn verbreitet war, weiß man auch aus andern Quellen.
I. G. Past erzählt in seinen Denkwürdigkeiten von einer patriotischen Gesell¬
schaft, aus Stuttgartern und Ludwigsbnrgern bestehend, die sich zu gewissen
Zeiten in geschlossenem Raume zu Marbach zusammenfand, und der über¬
wiegend Offiziere angehörten. Auch der zweite Geistliche von Ludwigsburg,
der Vater von Fr. Th. Bischer, mag diesem Kreise angehört haben. Wenigstens
ist von ihm bekannt, daß er ein heftiger Hasser Napoleons war. Leider sind
die Angaben Pasis über diese Gesellschaft, obwohl er Namen nennt, etwas
farblos, wie denn überhaupt seine stilisirte, den Alten nachgebildete Prosa
häufig die volle Deutlichkeit der Dinge vermissen läßt. Noch mehr ist zu
bedauern, daß man sonst über die Stimmung in Schwaben aus dieser Zeit
fast gar keine Berichte oder Bekenntnisse hat. Die Furcht vor Horchern und
Spionen unterdrückte jede freie Äußerung. Der Presse waren die engsten
Schranken gezogen, und selbst in vertrauten Briefen wagte man aus wohl¬
begründeter Furcht vor den allgegenwärtigen Dienern des Monarchen keine
Anspielung, die eine Handhabe für Angeberei geboten hätte. Was von schwä¬
bischen Briefen aus dieser Zeit veröffentlicht ist, berührt niemals öffentliche
Dinge."') Übrigens war König Friedrich viel empfindlicher, wenn er sich selbst
in seiner Herrseherwürde verletzt glaubte, als wenn einem fremden Potentaten,
und war es auch der Kaiser Napoleon, eine Ungebühr widerfuhr. An seinen
Untergebnen, auch an den Offizieren mochte er keine Hinneigung zum Fran¬
zösische» leiden. Nachäffung oder Unterwürfigkeit gegen die Fremden war ihm
zuwider. Keinem andern Gott als ihm selbst sollte gehuldigt werden.
Die Erfahrungen, die der König während des russischen Feldzugs machte,
indem er Kränkungen aller Art hinunterschlucken mußte, während er sein
Kontingent von 15000 auf kaum 1000 Manu zusammenschmelzen sah, dienten
dazu, eine Summe von Groll gegen den „Verbündeten" in ihm aufzusammeln.
Wie die Stimmung im Lande selbst nach der russischen Katastrophe war, das
erfahren wir zwar wieder nicht durch die Presse, die geknebelt blieb, aber aus
dem Munde des Königs selbst, der im Februar 1813 an seinen Gesandten in
Paris schrieb: das Mißvergnügen mit allem, was französisch sei, steige täglich,
in Stuttgart und auf dem Laude. Durch die Rückkehr der Offiziere, der
Kranken und Verwundeten werde eine Stimmung erzeugt, die zwar für die
Treue und Anhänglichkeit an ihn selbst und das königliche Haus nichts be¬
fürchten lasse, deren Einfluß auf das Heer aber Besorglichkeit erwecken müsse.
„Die Mißhandlung, so ich in der Person meines Gesandten habe erfahren
müssen, die Äußerungen wegen meiner braven Truppen, die Drohungen gegen
mich und einzelne Diener des Staats haben kein Geheimnis bleiben können.
Der Hof und meine Tafel sind vielleicht die einzigen Orte, wo man diese Ge¬
sinnungen nicht laut werden läßt. Man fängt an, an verschiednen Orten auf
dem Lande Ausrufe an das Volk anzuschlagen, worin man von Befreiung von
dem drückenden Joch unter Mithilfe von Österreich spricht." Schon in dem
Manifest am Neujahrstage, womit der König seinem Volke neue Steuern und
neue Aushebungen ankündigte, hatte er gewagt zu sagen, daß er genötigt sei,
seinen Unterthanen „unverschuldete neue Lasten" auszuwalzen. Die Spitze war
unverkennbar, und der Kaiser verbarg seinen Ärger nicht. Er fand, daß „da¬
durch ein Tadel auf Frankreich geschoben werden wolle," und richtete ein merk¬
würdiges Schreiben an den König, worin er ihm das die Throne bedrohende
Gespenst der Revolution vorhielt und ihm andrerseits als Lohn der gemein¬
samen Anstrengungen die Erhaltung seines gegenwärtigen Besitzstands in Aussicht
stellte; am Schlüsse aber wurde vom König ausdrücklich verlangt, alle unrnhe-
stiftendcn Verbindungen aufzulösen und seinen Unterthanen „die Gefühle der
Freundschaft gegen das französische Volk einzupflanzen." Die Antwort des
Königs war so freimütig als möglich. Einzelne Unruhestifter, meinte er, gebe
es überall, alles tugendbündlerische Wesen aber habe er wirksam überwacht
und niedergehalten. Dann rühmte er die Treue seiner Unterthanen in Worten,
die den Emporkömmling schwer verletzen mußten. „Seit 800 Jahren an die
Familie ihres Fürsten gewöhnt, ist ihre Treue über jeden Zweifel erhaben.
Davon konnte ich mich überzeugen, als in den letzten Jahren des abgelaufnen
Jahrhunderts die revolutionäre Regierung Frankreichs die Völker gegen ihre
Fürsten aufzuwiegeln suchte; in Württemberg hat sich nicht ein einziges Dorf,
nicht ein einziger Weiler dazu hergegeben, den Wünschen der Aufwiegler zu
willfahren. Ich regiere jetzt vierzehn Jahre, während welcher sechs aufeinander
folgende Kriege mich genötigt haben, außerordentliche Auflagen vorzunehmen,
bedeutende Rekrutirungen anzustellen — ich habe keinerlei Widerrede, keinerlei
Widerstand gefunden, wohl aber die vollständigste Hingebung und unbedingten
Gehorsam."
Seinem Ärger über diese Antwort machte der Kaiser in einem seiner ge-
wöhnlichen Wutausbrüche Luft. In der Audienz, die der württembergische
Gesandte Graf Wintzingerode am 3. Februar bei ihm hatte, gebrauchte er solche
Ausdrücke, daß der Gesandte in seinem Bericht an den König „aus schuldiger
Ehrfurcht" sie teilweise unterdrücken mußte. Außer der gegen Frankreich ge¬
richteten Anklage wegen der „unverschuldeten Lasten" hatte der Kaiser eine
ganze Anzahl von Beschwerdepunkten, mit denen er jetzt losplatzte: der König
hatte jene beiden mißliebigen Generale Wöllwarth und Walsleben wieder an¬
gestellt, mau hatte die Liste der in Rußland erfrornen Offiziere veröffentlicht
und an Neujahr die sonst an diesem Tag, dem Tag der Annahme der Königs¬
würde, üblichen Festlichkeiten abbestellt, man hatte angefangen den französischen
Gesandten in Stuttgart von der Gesellschaft auszuschließen. „Führt man sich
so auf seinen Freunden gegenüber, wenn sie im Unglück sind? Ist das zart¬
fühlend? Will denn Ihr König, indem er sich so öffentlich gegen mich erklärt,
sein Volk aufwiegeln und alle Unzufrieduen um sich versammeln? Wenige
Generale ausgenommen, sind eure Offiziere lauter Näsonneure. Will der König
mich verhöhnen, will er sich über mich lustig machen? Der Löwe ist noch
nicht tot, sodaß man über ihn hinunter ...(?) könnte." Der Kaiser war über
das Benehmen des Königs umso mehr aufgebracht, als er es von ihm am
wenigsten erwartet hatte. Von allen seinen Verbündeten habe er Versicherungen
der Teilnahme und des Mitgefühls erhalten, sagte er zum Grafen Zeppelin, den
Friedrich zur Beschwichtigung des kaiserlichen Zorns nach Paris geschickt hatte.
„Alle haben dieselben Verluste gehabt, wie Ihr König; er allein aber hatte
kein Wort für mich, und er ist es doch gewesen, dem ich die unzweideutigsten
Proben meiner Freundschaft gegeben habe. Er war es allein von allein
Fürsten des Rheinbunds, mit dem ich über meine Entwürfe, über meine Politik
sprach."
Dem Grafen Zeppelin gelang es übrigens ohne Mühe, eine Aussöhnung
zu stände zu bringen. Das Bündnis war gelockert, doch lag beiden Teilen
daran, in diesem Augenblick den Bruch zu vermeiden. Ohne eine neue An¬
lehnung gefunden zu haben, hielt es Friedrich für klüger, seinen bisherigen Ver¬
pflichtungen treu zu bleiben. Daß seine Beziehungen zu Frankreich erkaltet seien,
daß er temporisire, meldeten Anfang März der österreichische und der preußische
Gesandte ein ihre Höfe. Eine Verständigung mit Österreich war auch bereits
eingeleitet. Bei den Erfolgen Napoleons zu Anfang des Feldzugs und bei
der Zurückhaltung Österreichs, scheint es, wurde die Verhandlung wieder ab¬
gebrochen. Die Heeresfolge betrieb aber der König nicht mit dem gewohnten
Eifer. Er hätte am liebsten seine Truppen im Lande behalten. Das war
nicht möglich, doch ging die Rüstung langsam von statten, es wurde eine
schwache Division ins Feld gestellt, und sie erhielt geheime Weisungen, die im
Notfall bereits die Abschwenknng einleiteten. Inzwischen duldete aber der
König nichts Disziplinwidriges, und den Offizieren wurden strengstens alle
Äußerungen untersagt, die „der denen mit Seiner königlichen Majestät ver¬
bündeten Mächten schuldigen Ehrfurcht zuwiderliefen."
Je näher die Katastrophe rückte, um so lockerer wurde das Bündnis.
Schon anfang Oktober fchrieb der König an den Kaiser, er erbitte sich seine
Truppen aus dem Felde zurück, und am 14. Oktober, also wenige Tage vor
der Entscheidungsschlacht, erklärte er ihm, daß er, um sein Land vor dem
sichern Untergang zu retten, sich Waffenstillstand und Neutralität auswirken
müsse. Der König begründete dies mit der Rücksicht ans Baierns veränderte
Stellung. Mit Aufmerksamkeit hatte er die Politik des Nachbarlandes verfolgt,
die ja für ihn selbst schwer ins Gewicht fallen mußte. Daß Baiern aber seine
Entscheidung bereits getroffen, den Übergang ins Lager der Verbündeten schon
vollzogen hatte, das war seinem scharfsichtigen Auge entgangen. Diesmal sah
er sich getäuscht, überlistet, von einem Nachbar überholt, der das stärkste Mi߬
trauen herausforderte und jetzt auf Grund seines rechtzeitigen Übergangs eine
Hegemonie in Süddeutschland auszuüben sich anschickte. Der König fand sich
dadurch plötzlich in eine höchst peinliche Lage versetzt. General Wrede rückte
an die württembergische Grenze und drohte das Land feindlich zu behandeln,
wenn der König nicht sofort den Anschluß an die Verbündeten erklärte. Ver¬
gebens wehrte sich der König, der nicht mit Baiern, sondern nur mit Öster¬
reich oder sonst einem der Großen abschließen wollte. Von allen Seiten ver¬
lassen, mußte er dem Druck nachgeben, den Wrede unerbittlich und in rück¬
sichtslosen Formen ausübte. Die Militärkonvention, die am 24. Oktober in
Uffenheim mit Wrede abgeschlossen wurde, erschien ihm als die schwerste
Demütigung seines Lebens. „Je unförmlicher und von offenbarer Gewalt
zeugender eine solche Pieee ist, desto mehr wird sie einst Europa überzeugen,
daß kein freier Mann, sondern ein mißhandelter und in seiner Würde tief
gekränkter nur noch Titnlarkönig sie hat genehmigen müssen," so schrieb der
König selbst an den Grafen Zeppelin, der die Konvention abgeschlossen hatte.
Es verwundete ihn tief, daß er einen Entschluß, der schon vorher bei ihm
feststand, nicht ans freiem Willen durchführen konnte, daß er mit gebundnen
Händen und Füßen von dem verhaßten Nachbar ins andre Lager geschleppt
wurde.
Ein Trost war es, daß Baiern seiner führenden Stellung in Süddeutsch¬
land nicht froh werden sollte. Osterreich sicherte allen Rheinbundstaaten im
Süden ihren Fortbestand zu und war nicht gewillt, einen andern Einfluß als
den seinigen aufkommen zu lassen. Fortan war es Friedrichs Politik, sich
gegen die österreichische Vorherrschaft zu wehre», wobei er sich auf Rußland
stützte, sobald er sich wieder mit seinem Neffen Alexander ausgesöhnt hatte.
Gleich beim Beginn des Feldzugs der Verbündeten kam es zu scharfen Zu¬
sammenstößen mit dem Fürsten Schwarzenberg. Es war dem König höchst
unangenehm, daß Österreicher durch sein Land zogen, sich hier ohne weiteres
einquartierten, daß sie selbst die Residenzen nicht verschonten, und daß sich
österreichische Offiziere erlaubten, dem König seine Hasen und Fasanen weg¬
zuschießen. Über alles das gab es Beschwerden und höchst gereizte Aus¬
einandersetzungen- Mit Napoleon war der König fertig, aber er war nicht
gewillt, gegen die alte Knechtschaft eine neue einzutauschen, die noch dazu un¬
rentabel war. Man hat oft wiederholt, Friedrich sei, nur ungern den Fahnen
der Verbündeten gefolgt, im Herzen hätte er es noch mit seinem alten Be¬
schützer gehalten. Pfister versichert, daß urkundliche Belege hierfür nicht auf¬
zufinden seien. Im Gegenteil: Friedrich zeigte im Rat der Verbündeten einen
ungeduldigen Eifer; so viel an ihm lag, drängte er auf eine rasche und nach¬
drückliche Kriegführung in Feindesland, und als seine Truppe zum erstenmale
am 1. Februar 1814 bei La Nothivre rühmlich gegen ihren alten Lehrmeister
gestritten hatte, ließ er in Stuttgart Viktoria schießen und ein Tedeum singen.
Die zaubernde Kriegführung der Österreicher war gar nicht nach seinem Sinn,
und als Schwarzenberg nach dem Mißerfolg bei Mouterau den Rückzug an¬
trat, selbst ein Scparcitfriede Österreichs zu befürchten stand, wollte Friedrich
seine Truppen aus der Schwarzenbergischen Armee herausziehen und unmittelbar
unter den Kaiser Alexander stellen, der zugleich mit den Preußen vorwärts
drängte. Und er atmete auf, als es wieder vorwärts ging, Blücher die
Führung erhielt und die ersten Siege erfocht.
Natürlich nicht aus deutscher Gesinnung drängt er vorwärts. Er hat
dabei seine besondern Absichten. Je rascher und vollständiger die Nieder¬
werfung des Feindes gelingt, umso eher hofft er zu dem Ziele zu gelangen,
das ihm unausgesetzt vor Augen steht: der Vergrößerung seines Reiches.
Dieser kleinstaatliche Monarch fühlte in sich den Beruf, ein wirkliches Reich
zu beherrschen. Unter den Augen Friedrichs des Großen aufgewachsen, der
immer sein Ideal blieb, erst in preußischen, dann in russischen Diensten, als
Gouverneur von Finnland und von Cherson, hatte er in größern Verhältnissen
gelebt, als er im Jahre 1790, schon 36 Jahre alt. zum erstenmal den Boden
des kleinen Württemberg betrat, über das er sieben Jahre später zur Negierung
berufen wurde. Nach dem ansehnlichen Gebietszuwachs, den er 1803 gewann,
verfolgte er nur mit umso größerer Zähigkeit den Plan, im Sturme der Zeit
sein Land zum Mittelpunkt einer größern Staatenbildung zu machen. Das
Bündnis mit Napoleon brachte neuen Zuwachs, sodaß er seine Erdtaube um
mehr als das doppelte vergrößert sah. Jetzt hoffte er durch die Teilnahme
am Kriege der Verbündeten noch größeres zu erreichen. Sein Gedanke war.
die altwürttembergischen Besitzungen im Elsaß und Mömpelgard wieder zu ge¬
winnen und durch den Erwerb von Pruntrut und dem badischen Seekreis
sein Land zu einem selbständigen Reich abzurunden, das imstande wäre, ein
starkes Grenzbollwerk gegen Frankreich zu bilden. Doch dabei war auf die
Wiedergewinnung des Elsaß gerechnet, wo Baden seine Entschädigung finden
sollte, und Friedrich überzeugte sich bald, daß das Verlangen nach der Vogesen-
grenze an der Großmut Alexanders scheiterte und an dem Widerwillen Öster¬
reichs, das für diesen Fall den Verlust Galiziens an Rußland befürchtete.
Größern Gebietsverschiebungen innerhalb Deutschlands selbst aber hatte schon
der Frankfurter Vertrag einen Riegel vorgeschoben.
Noch einmal belebten sich Friedrichs Hoffnungen nach dem Kriege von 1815.
Auf dem zweiten Pariser Kongreß erscheint er in der elsässischen Frage als der
entschiedenste Verbündete Preußens. Das Unglück war nur, daß Preußen
keinen rudern Verbündeten hatte als eben Württemberg und einige noch weniger
ins Gewicht fallende Staaten. Eine Zeit lang scheint Preußen wirklich die
Hoffnungen des Königs genährt oder doch hingehalten zu haben, doch sind im
ganzen die Berichte seiner Gesandten von Anfang an wenig zuversichtlich.
Schon im Juli schrieb der General v. Hügel, der sich in Wellingtons Haupt¬
quartier befand, nach Stuttgart: „Eine Sicherheit gegen dieses Land Frankreich
kommt eben nicht zustande; jede Macht beachtet nur den eignen Vorteil. England
hat gut großmütig sein; es hat seinen Zweck erreicht und nicht viel von Frank¬
reich zu fürchten, auch wenn dieses mächtig bleibt. Preußen allein hat den
wahren Gesichtspunkt über die Sicherstellung gegen Frankreich. Die persön¬
lichen Eigenschaften des russischen Kaisers werden das größte Hindernis bilden
sür ein energisches Vergehen. Österreich schwankt uoch zwischen beiden Parteien.
Preußen giebt sich alle erdenkliche Mühe, um Österreich auf seine Seite zu
ziehen. Talleyrand nützt das alles aus und wird die Integrität Frankreichs
erhalten, und so haben die Franzosen die Schlacht bei Waterloo gar nicht ver¬
loren." Die württembergische Denkschrift vom August, die eindringlich und
in schlagender Weise die Notwendigkeit der Vogesengrenze für den Schutz Süd-
deutschlands begründete, konnte nicht einmal in offizieller Form den Vertretern
der Mächte übergeben werden, weil sich der richtige Augenblick dazu nicht finden
wollte.
Noch später, im September, tum Friedrich wenigstens aus Mömpelgard
zurück und stellte unter Berufung auf seine, seines Sohnes und seiner Truppen
Dienste beweglich vor, daß man doch die Wiege seines Hauses und zugleich
die des russischen Kaiserhauses uicht ewig unter der Fremdherrschaft seufzen
lassen solle. Fünfhundert Unterschriften hatten die Mömpelgarder für die
Wiedervereinigung mit Württemberg geschickt. Aber alles vergebens. „Der
Fluch, das Unglück des Schwachen ist es eben, daß er nicht aufkommen kann
gegen die Fehler der Mächtigen," so hatte Friedrich schon im April ausgerufen.
Jetzt am 16. Oktober, nachdem ihm sein Gesandter Wintzingerode berichtet
hatte, daß alles zu Ende sei, schrieb der König: „So sind alle Anstrengungen
wieder umsonst gewesen, Süddeutschland so wenig gegen Frankreich geschützt,
als es bisher war. Und zum zweitenmal ist das Los von Mömpelgard ent¬
schieden zu meinem Nachteil. Die Sektirer vom Tugendbund sind eben auch
zu wenig meine Freunde; sie sind in Preußen oben und suchen mir zu schaden
nach außen und nach innen." In Sachen der künftigen deutschen Verfassung
war der König natürlich ebenso den preußischen Entwürfen entgegen, als er
in der Grenzfrage zu Preußen gehalten hatte. Preußische Vorherrschaft war
ihm so verhaßt als österreichische, und gegen den Tugendbund hatte er einen
außerordentlichen Abscheu. Nach der Schmalzschen Denunziation wünschte er
genauer über das gefährliche Treiben in Berlin unterrichtet zu sein, umso mehr
als man ihm hinterbracht hatte, daß die Tugendbündler, angeblich schon
130000 Mitglieder stark, auch nach Württemberg einzudringen versuchten.
Er schickte deshalb einen eignen Gesandten, den General neuster, nach Berlin,
der aber sofort die ganze Hohlheit der von einer aufgeblasenen Bureaukratie
ausgehenden Angeberei durchschaute und in seinen Berichten immer wieder die
gänzliche Ungefährlichreit des gefürchteten Bundes versicherte. „Giebt man
dem Volke die versprochn? Konstitution, so ist nichts zu befürchten." Dem
König aber mißfiel es gänzlich, daß sein Gesandter die schändliche Sekte auf
die leichte Achsel nahm, er gab ihm das in den ungnädigsten Ausdrücken zu
verstehen, warf ihm tadelnswerten Eigendünkel und Leichtsinn vor, rief ihn
kurzer Hand aus Berlin zurück und gab ihm eine andre Bestimmung. Zur
Entschuldigung des Königs dient allerdings, daß er in derselben Zeit durch
den württembergischen Legationssekretär in Berlin, v. Linden, Berichte erhalten
hatte, die ganz anders lauteten und die vom Tugendbund drohenden Gefahren
in den abenteuerlichsten Farben ausmalten. „Der Tugendbund — schrieb
Linden am 16. Dezember 1815, — ist nichts als der engere Ausschuß der
Jakobiner in Deutschland, welche wahrscheinlich mit denen in Frankreich in
der engsten Verbindung stehen." Solche Berichte gefielen dem König besser.
Vollen Glauben hat er ihnen doch wohl nicht geschenkt. Wenigstens ist nichts
davon bekannt, daß er gegen den Buchhändler Cotta und gegen den Grafen
Waldeck (den Führer der Altrechtlcr im Verfassnngstampf) eingeschritten wäre,
die ihm Linden als Häupter der württembergischen Tugendbündler bezeichnet
hatte. Was die wirklichen, freilich noch nicht klar formulirten Absichten des
Tugendbunds waren, und was die Gedanken der preußischen Negierung selbst
waren und sein mußten, das hatten nach den Abmachungen des zweiten Pariser
Kongresses gescheitere Diplomaten als jener Linden dein König vorzustellen
nicht unterlassen. „Preußen — so schrieb sein Minister Wintzingerode im
Oktober 1815 — steht vor der absoluten Notwendigkeit, Vergrößerung und Ab-
rundung zu suchen. So wie Preußen jetzt ist, kann es nicht bestehen bleibe».
Es hat nur zu wählen zwischen seinem eignen Untergang und dem seiner
Nachbarn, und es ist nicht schwer, die Wahl zu erraten, die es trifft." Und
wie prophetische Ahnung mutet es an, wenn der Minister voll Besorgnis die
Pläne des Tugeudbnndes, von seinem Standpunkt aus, als dahin gehend
beschreibt: „mit allen Miteln die Autorität der deutschen Souveräne zu ver¬
mindern, die Irrungen zwischen ihnen und ihren Unterthanen zu erhöhen, um
die preußische Regierung endlich zur Herrin über die öffentliche Meinung und
den Volksgeist zu machen und eine Revolution herbeizuführen, deren Be¬
stimmung es ist. die Kaiserkrone auf das Haupt der Nachkommen des Burg¬
is auf die Zeit des dreißigjährigen Kriegs waren die Deutschen
im Besitz eines reichen Schatzes einheimischer Sagen, die sich in
der Weise zusammenschlossen, daß sie für eine Darstellung der
Urgeschichte des Volkes gelten konnten. In der That sind sie
jederzeit, ganz wie die altgrichischen Sagen, als eine solche auf¬
gefaßt worden, wie die alten Versuche zeigen, sie in die beglaubigte Geschichte
einzureihen, und wie daraus hervorgeht, daß besonnene Historiker sich veranlaßt
sahen, gegen diese Art von Geschichtsauelle Verwahrung einzulegen. Sicherlich
bestehen zwischen unsrer Sage und der beglaubigten Geschichte gewisse Be¬
ziehungen; diese sind zwar nicht so nahe, daß eine Ableitung der Sage aus
der Geschichte greifbar wäre, aber auch nicht so fern, daß man sie von vorn¬
herein ablehnen könnte. Der Spielraum, der der Forschung gelassen ist, ist
also ziemlich groß, es kann daher nicht Wunder nehmen, daß die Meinungen,
die über diesen Punkt geäußert worden sind, vielfach weit auseinandergehen.
Es sind im wesentlichen drei Gesichtspunkte, von denen aus die Erklärung
der Sagen versucht worden ist: der historische, der mythische und der poetische;
nach dem historischen wären geschichtliche Vorgänge, nach dem mythischen alte
Naturmythen, nach dem poetischen dichterische Verarbeitung irgend welcher sei
es ethischer, sei es natürlicher Grundlagen der Ursprung der Sagen gewesen;
bei den beiden zuletzt genannten werden die Beziehungen zur Geschichte soweit
beiseite geschoben, daß höchstens eine spätere Anlehnung an sie zugestanden
wird. Aber meist ist nicht eine dieser drei Erklärungsweisen ausschließlich
angewendet, sondern bald ist die eine, bald die andre bevorzugt worden;
freilich fehlt dabei nicht selten der schlagende Beweis für die Richtigkeit
der angewandten Methode. Umso lohnender muß ein Versuch sein, sowohl
den Ursprung unsrer Sagen wie auch die Umstände, die für ihre weitere Ent¬
wicklung maßgebend gewesen sind, zu erforschen; vielleicht läßt sich daraus eine
Methode gewinnen, deren Anwendung wenigstens auf die deutsche Sage , eine
gewisse Bürgschaft für ihre Richtigkeit darbietet. Ein kurzer Überblick über
den ganzen Sagenkreis, wie er etwa im dreizehnten Jahrhundert bestand, mag
die Untersuchung einleiten.
Nach der Sage herrschte einst über Italien und die angrenzenden Teile
Süddeutschlands (Baiern und Schwaben) das Königshaus der Amelunge. Nach
einer Reihe von Vorfahren, unter denen besonders Ortnid und Wvlfdietrich
hervortreten, kam das Reich an drei Brüder, die es teilten: der älteste,
Ermenrich, erhielt den Hauptanteil mit der Königsstadt Ravenna, der zweite,
Dietmar, nahm seinen Sitz in Bern (Verona), der dritte, dessen Name in der
Überlieferung schwankt, in Breisach. Die beiden jüngern Brüder starben früh,
hinterließen aber Erben: Dietmars Sohn und Nachfolger ist Dietrich, der sich
bald durch große Heldenthaten auszeichnet; die Söhne des dritten Bruders
sind die Harluuge. Nun beginnt Ermenrich, verführt durch die heimtückischen
Angaben seines bösen Rates Sibich, gegen sein eigen Geschlecht zu wüten: er
sendet den eignen Sohn Friedrich mit einem Urinsbrief in den Tod, bringt die
jungen Harluuge trotz der Aufsicht ihres treuen Hüters Eckehart in seine Ge¬
walt und läßt sie hängen und vertreibt schließlich Dietrich von Land und
Leuten. Dieser begiebt sich landflüchtig in'Begleitung, seiner treu gebliebner
Gefolgsleute, unter denen der alte Hildebrand, sein Lehr- und Waffenmeister,
hervorragt, zu Etzel, dem mächtigen Herrscher der Hunnen (deren Gebiet im
wesentlichen dem geschichtlichen Ungarn gleichgesetzt wird), und findet bei ihm
Aufnahme durch Vermittlung Nüdegers, des Markgrafen von Bechelaren. Da
Dietrich, einmal in Etzels Gefolge eingetreten, an allen Feldzügen der Hunnen
rühmlichen Anteil nimmt, so wird er auch in seiner eignen Sache thatkräftig
unterstützt: an der Spitze eines hunnischen Heeres macht er den Versuch, sich
seines väterlichen Erbes wieder zu bemächtigen; ihn begleiten Etzels und der
Königin Helche junge Söhne. Allein der Versuch mißglückt in der Schlacht
von Ravenna, und Etzels Söhne fallen von der Hand Witigs, eines der
Mannen Ermenrichs, der früher in Dietrichs Diensten gestanden hat. Dietrich
lehrt zu Etzel zurück und findet trotz des Unheils, das er über dessen Haus
gebracht hat, wieder bei ihm Aufnahme. Nach einiger Zeit stirbt die Königin
Helche; Etzel vermählt sich abermals mit Kriemhild, der Witwe des dnrch
ihre nächsten Angehörigen ermordeten Siegfried. Diese geht die neue Ehe nur
ein in der heimlichen Voraussetzung, damit die Machtmittel zu erlangen, die
sie zur Ausführung der Rache für ihren ersten Gatten nötig hat. Sowie sie
in deren Besitz ist, veranlaßt sie Etzel, ihren Bruder Günther, den zu Worms
regierenden Burgundenköuig, mit seinen vornehmsten Mannen an den hunnischen
Hof zu einem Feste zu laden. Bei diesem Feste gelingt es ihr, den Racheplan
zur Ausführung zu bringen: die Burgunder werden angegriffen, es entsteht
ein allgemeiner mörderischer Kampf, der schließlich nur durch Dietrichs Ein¬
greifen zu Gunsten der hunnischen Partei entschieden wird. Das Gemetzel
überleben von namhaften Personen nur Etzel, Dietrich und Hildebrand; Kriem¬
hild ist zur Strafe für deu an ihren Verwandten verübten Verrat getötet
worden.
Inzwischen ist auch Ermenrich von seinem Schicksal ereilt worden: nach
einer Überlieferung, die freilich im dreizehnten Jahrhundert wohl schon er¬
loschen war, ist er zur Rache für eine neue Unthat von zwei Brüdern, die
noch im zwölften Jahrhundert Sarelo und Hamidieens genannt werden, tötlich
verwundet worden. Dietrich beschließt daher, in seine Heimat zurückzukehren.
Auf dem Wege dahin findet ein feindlicher Zusammenstoß statt, bei dem der
alte Hildebrand mit seinem eignen Sohn zu kämpfen hat, der seinerzeit als
kleines Kind in Italien zurückgeblieben ist; diesem Kampfe, der ursprünglich
tragisch mit dem Tode des Sohnes endete, hat schon die Darstellung des
dreizehnten Jahrhunderts einen versöhnlichen Ausgang gegeben. Ohne nennens¬
werte Schwierigkeiten findet nun Dietrich die Anerkennung als König im
Reiche seiner Väter, und damit die Sage im wesentlichen ihren Abschluß.
Man erkennt leicht, daß den Kern der ganzen Erzählung die Geschichte
Dietrichs von Bern bildet, die Wucht genug gehabt haben muß, eine große
Zahl andrer Sagen ein sich zu ziehen und mit sich zu einem großen Ganzen
zu vereinigen. Dieser Dietrich, Dietmars Sohn, der Amelung, ist aber un¬
zweifelhaft das Spiegelbild des geschichtlichen Ostgotenkönigs Theoderichs des
Großem, des Sohnes Theodemers ans dem Geschlechte der Amaler. In der
Geschichte führt er sein Volk aus der Balkanhalbinsel 489 nach Italien, um
dieses Land im Auftrage des oströmischen Kaisers dem Usurpator Odoaker zu
entreißen. Die Eroberung gelingt und schließt mit der Einnahme von Ravenna
493- , Odoaker wird getötet. Seitdem herrscht Theuderich kraft eignen Rechts
von Ravenna aus über ein Reich, das im wesentliche,, den von der Sage be¬
haupteten Umfang hat, denn auch Deutschland südlich von der Donau gehört
dazu; sein Einfluß, der die gesamten zeitgenössischen Germanenfürsten beherrschte,
ist bekannt. - '^:. ' ^ ^
Aber auch der ^Amelung Ermenrich der Sage ist auf eine geschichtliche
Person zurückzuführen: er entspricht dem Amaler Ermcmcirich, der um die
Mitte des vierten Jahrhunderts ein großes Gotenreich nördlich vom Schwarzen
Meere begründete und bis zur Zeit des Hunneneinfalls um 370 beherrschte;
von ihm erzählt schon der gotische Geschichtschreiber Jvrdanes um 550, daß
er von zwei Brüdern Ammius und Sarus tötlich verwundet worden sei, weil
er ihre Schwester Svcmihilda habe vierteilen lassen.
Endlich entspricht der Hunnenkönig Etzel unzweifelhaft dem geschichtlichen
Attila, der 453 starb; selbst seine vergleichsweise nebensächliche Gattin Helche
ist in der vou Priscus erwähnten Hauptfrau Attilas, Kreta, wieder gefunden
worden.
Was von der Geschichte abweicht, das ist vor allem die Zeitrechnung der
Sage: Personen und Ereignisse, die innerhalb von etwa ein und einem halben
Jahrhundert fallen, sind auf den kurzen Zeitraum von ungefähr einem Menschen¬
alter zusammengedrängt.
Es entsteht nun zunächst die Frage: läßt sich die Darstellung der Sage
so aus der Geschichte ableiten, daß damit sowohl das Gemeinsame wie das
Unterscheidende erklärt wird? Wir können diese Frage unbedenklich bejahen,
weil wir einige Zwischenglieder in den Händen haben, die aus dem Zeitraume
zwischen den Ereignissen, die den Kern bilden (350 bis 500), und dem Ab¬
schlüsse der sagenhaften Darstellung (dreizehntes Jahrhundert) stammen und
wenigstens in einigen Fällen die Stufenfolge der Entwicklung anzeigen.
Als Ausgangspunkt des Ganzen ist anzusehen das wichtige Ereignis der
Eroberung Italiens durch Theoderich; die Sage selbst schließt damit im wesent¬
lichen ab, stellt also alles andre nur als eine Vorgeschichte dieser Thatsache
hin. Freilich stimmt nichts weiter als die einfache Thatsache der Eroberung,
alles übrige ist verschoben: Dietrich kommt nicht als Eroberer, sondern als der
echte König, der sein väterliches Reich in Besitz nimmt, und sein Gegner ist
nicht mehr Odoaker. Nimmt man aber an, daß, wie es natürlich ist, die Er¬
innerung an jene Ruhmesthat vor allem bei den Goten und ihren Rechts¬
nachfolgern gepflegt wurde, so ergiebt sich der Grund der erster« Verschiebung
vou selbst: der edle und große König Theoderich kann das Reich nicht als ein
gewaltthätiger Usurpator begründet haben, er kann dabei nur sein und der
Seinen gutes Recht gewahrt haben. Nun hat er ja in der Geschichte that¬
sächlich ein besseres Recht als sein Gegner, dadurch daß er von dem römischen
Kaiser, dem rechtmäßigen Eigentümer Italiens, mit der Eroberung beauftragt
ist. Aber diese Begründung wurde gewiß ebenso rasch vergessen, wie sich der
geschichtliche Theoderich von seinem Verhältnis zu Ostrom losmachte. So
blieb denn nur die Thatsache des bessern Rechts in der Erinnerung und er¬
weckte folgerichtig die Frage: worin war dieses Recht begründet? warum war
der Eroberer der echte König, der besiegte aber der Usurpator? Die Antwort
konnte kaum anders ausfallen, als wie sie ausgefallen ist: der Usurpator hat
eben den echten König zunächst einmal seinerseits vertrieben, Theuderich hat
schon vor Odoaker eine Zeit lang in Italien geherrscht.
Der Vorgang, der in unserm Falle aus der Geschichte eine Sage macht,
ist also der: es ist nur eine wichtige Thatsache in der Erinnerung geblieben,
ihr geschichtlicher Grund war verschollen; so wurde sie den inzwischen ver¬
änderten Umständen nach neu begründet.
Das älteste Denkmal aus dieser Dietrichsage, das wir haben, und das
mehr als ein bloßes Zeugnis ist, ist das im achten Jahrhundert entstandne
Hiltebrandslied. Es behandelt das Ereignis, das sich gelegentlich der Heim¬
kehr Dietrichs begeben haben soll. Der Gegner Dietrichs, der ihn vertrieben
hat, heißt hier noch Otachar; in der Zeit seiner Verbannung hat sich Dietrich
bei dem Könige der Hunnen aufgehalten, dessen Name zufällig nicht genannt
ist, der aber kein andrer sein kaun als der bekannte Attila (—Etzel). Wie kam
man nun wohl dazu, den nun einmal Verbanne gedachten Dietrich gerade zu
den Hunnen gehen zu lassen? Auch hierfür läßt sich leicht ein Grund in der
Geschichte finden: Attilas Unterthanen bestanden, außer seinen Hunnen, vor¬
wiegend aus Germanen, unter denen gerade die Ostgoten eine hervorragende
Stelle einnahmen. Die hunnische Oberhoheit war nicht drückend, im Gegen¬
teil, die Goten hatten ihre eignen Fürsten, die zu den ersten Ratgebern des
Großkönigs zählten. Uuter diesen befand sich auch Theuderichs Vater Theo-
demer. Man darf also gewiß annehmen, daß sich Dietrichs Aufenthalt im
Hunnenlande darstellt als eine Erinnerung an die frühere Zugehörigkeit der
Ostgoten zu jenem Reiche; die äußern Lebensumstände des Vaters Theodemer
sind dabei auf den Sohn übertragen worden.
Damit ist aber zugleich die erste gröbere Verletzung der wirklichen Zeit¬
folge gegeben. Das kaun uns jedoch nicht Wunder nehmen, da es sich von
vornherein um eine Darstellung der Vergangenheit handelt; denn für den un¬
gelehrten Menschen erscheinen alle vergangnen Ereignisse gewissermaßen auf ein
und derselben Fläche, die nötige Perspektive muß er nach eignem Gutdünken
hineinbringen.
Schon vorhin ist gezeigt worden, daß Dietrich für die Sage von vorn¬
herein in Italien herrscht; damit ist zugleich als Sitz der Ostgoteu für die
Sage ein für allemal Italien gegeben. Wir dürfen uns also auch nicht
Wundern, dem geschichtlich in Südrußland sitzenden Ermanarich als König von
Italien zu begegnen.
Die Sage von Ermenrich ist natürlich ältern Ursprungs als die von
Dietrich; schon der Gode Jordanes berichtet um 550 das hauptsächlichste Er¬
eignis, die Hinrichtung Schwanhilts und die tötliche Verwundung des Königs,
doch auf eine Weise, die die Möglichkeit offen läßt, daß wir hier noch einen
Bericht über geschichtliche Thatsache» vor uns haben. Außerordentlich früh
ist gerade diese Erzählung nach Skandinavien gebracht worden; hier erscheint
sie ohne jede Verbindung mit der Dietrichsage und nur insofern -weitere ge¬
bildet, als der Tod Schwanhilts in folgender Weise begründet wird: sie ist
Ermenrichs zweite Gattin; ein übler Ratgeber bringt den Kötlig zü dem
Glauben, daß zwischen ihr und. seinem erwachsenen Sohne aus einer frühern
Ehe ein sträfliches Verhältnis bestehe; Ermenrich läßt deshalb beide toten und
fordert damit die Rache der Brüder heraus. Wichtig für uns ist hierbei der
Tod des Sohnes und der üble Ratgeber, beides übrigens , keine nordischen Zu¬
thaten, sondern -auch, in Deutschland bekannt. Diese , Sage dürste sich auf
folgende Weise entwickelt haben: der geschichtliche Ermanarich ist ein gewaltiger
Reichsgründer, der die zahlreichen ihm unterworfnen Stämme gewiß nicht ohne
Strenge im Gehorsam halten konnte. Aber mit seiner letzten strengen Handlung
schoß er über das Ziel hinaus: die grausame Hinrichtung der Schwanhilt hatte
seine eigne Ermordung zur Folge. So blieb er in der Erinnerung als das Urbild
eines gewaltthätigen Herrschers bestehen, als den ihn schon die alten/ spätestens
dem achten Jahrhundert, angehörigen angelsächsischen Zeugnisse kennen. Neben
ihm entwickelte sich die Figur des ungetreuen Rates, wohl ein alter Versuch,
zu erklären, wie'ein König aus dem edeln Hause der. Amalex so aus der Art
schlage» konnte; er ist eine rein dichterische Figur, gewissermaßen eine Perso¬
nifikation des bösen Charakters des. Königs.' . '
'
. Wir stoßen hier zuerst auf. eins der wichtigsten Darstellungsmittel! aller
Sagen: es werden.Typen verwendet, d. h. Personen ausgestellt, die bestimmt
sind, eine gewisse Eigenschaft, sei es des Charakters oder auch einer besondern
äußern Stellung, ein für allemal zu vertreten. Zu .diesen Typen gehört z. B.
auch Dietrichs Waffenmeister, der alte Hildebrand; es verstand sich von selbst,
daß ein König einen ältern Freund bei sich hatte, von dem er erzogen und
im Waffenhandwerke unterrichtet worden war und-der zeitlebens sein bester,
weil erfahrenster Ratgeber blieb. Fast ausnahmslos erzeugt ein solcher Typus
aus sich heraus sein Gegenbild: so steht dem ungetreuen Sibich in der Har-
lungensage der getreue Eckehart gegenüber, so entwickelt sich neben dem er¬
fahrnen Hildebrand später sein jugendlich unerfahrner, überall täppisch drein-
fahrender Neffe Wolfsart,, der, wenn auch nie böswillig, viel Unheil .anrichtet
und schließlich anch die Ursache wird, daß Dietrichs: Mannen alle außer Hilde¬
brand !in^ der Nibelnngenschlacht! umkommen. ^ l ! ^ -.^
Aber kehren wir zu dem Gange der Hauptuntersuchung zurück. War
Ermenrichs Charakter einmal in der angedeuteten Weise festgelegt, und war er
samt seinem Volke nach Italien versetzt, so lag es nahe, ihn, den Amnler, zu
dem Amaler Dietrich in nähere Beziehung zu bringen. Das ist denn -auch
sehr bald geschehen. Um das Jahr 1000 berichtet die Quedlinburger Chronik,
Ermenrich habe auf-Antreiben Odocikers seinen Vetter Dietrich aus Verona
vertrieben und zu Attilci in die. Verbannung ^zü -gehen genötigt.-- Dann M
Ermenrich zur Rache für eine.Gewaltthat, von drei Brüdern (zu deu zwei bei
JordaneH erwähnten ist Ddoaker . als dritter getreten) getötet worden: Endlich
habe Dietrich mit Attilas Hilfe Ravenna erobert und Odoaker gefangen/ ge-
ltMMn:» «ses -jvA:'!)- ÄT» - .fett.-^ ^ ks.^'
'
Hier ihr die Verbindung der Ermenrich- und der Dietrichfcige in folgender
einfachen- Weise vollzogen: dem gewaltthätigen Ermenrich wird, zu seinen
übrigen Schandthaten auch noch die Vertreibung Dietrichs aufgebürdet; Odoaker
Ivird damit nicht verdrängt, denn Ermenrichs Tod ist ein feststehender Teil
der Sage und kann nicht der Rache Dietrichs zugeschrieben werden. Dietrichs
Gegner bei der Rückkehr bleibt also Odoaker wie bisher, er wird zum Nach-
folger Ermenrichs gemacht und deshalb seinen Mördern beigesellt; dnrch die
Ermordung gewinnt er den Thron. Auch scheint er die Stelle des bösen Rat¬
gebers eingenommen zu haben. ,
Noch eine wichtige Verschiebung ist durch die Verbindung der beiden
Sagen hervorgerufen worden: wie der heimkehrende Dietrich geschichtlich
richtig Ravenna erobert, so kann er auch mir hier ursprünglich seinen Sitz
gehabt haben. Die Sage läßt ihn aber aus Bern (Verona) vertrieben werden;
das ist die Folge davon, daß jetzt zwei Könige neben einander stehen, als»
eine. Reichsteiluug angenommen werden muß. Die alte Hauptstadt Ravenna
wird dein ältern Ermeurich zugeschrieben, Dietrich muß Platz machen; daß ihm
gerade Verona zugewiesen wird, ist vielleicht in den im zehnten Jahrhundert
giltigen Verhältnissen begründet. Seitdem heißt er der Vogt von Bern, und
Bern erlangt in. der Sage die größte Berühmtheit. . . . ...^
/ Vou dem Zustande, wie ihn der Quedlinburger Bericht darstellt, bis zur
Sagenform des dreizehnten Jahrhunderts sind die Grundzüge der Sage von
den Amelungen noch in ewigen Punkten, verschoben worden. Vor allem hat
sich Dietrichs. Zug nach Italien verdoppelt; das erstemal führt er zu dem
großen, aber erfolglosen Kampfe vor Ravenna, das zweitemal bringt er Dietrich
ohne wesentliche Schwierigkeit an sein Ziel. Man geht wohl nicht fehl, wenn
man in dieser Verdoppluug die Folge der Thätigkeit deutscher Spielleute des
zwölften Jahrhunderts -sieht; sie lieben es, denselben Faden, zweimal nach
einander, mit Variationen zu verspinnen, wie. wir z. B. deutlich an. dem Ge¬
dichte von. König Rother sehen können, dessen Held sich seine Geliebte zweimal
»ach einander, erst mit List, dann mit Gewalt gewinnen muß. Wenn die
Spielleute auch Dietrichs Heimkehr auf diese Weise verdoppelt haben, so. sind
sie dabei vielleicht mit durch deu Umstand beeinflußt worden,, daß die Er¬
zählung vom Untergänge der Burgunder in den Sagenkreis um Dietrich
Mtratu^D/.:5 .-^
-Im dreizehnten Jahrhundert Pud aber- auch .einige.ursprünglich höchst
wichtige Punkte, .ja geradezu Ausgangspunkte der. Sage in Vergessenheit ge¬
raten,, die. ursprüiiglicheiiTodesart Ermenrichs und/die Persönlichkeit Odoakers.
Das eine war möglich, weil rum der Charakter Ermenrichs schon durch die Tötung
der Harlunge und die grundlose Vertreibung Dietrichs genügend gezeichnet
war; Odociker aber konnte Übergängen werden, weil Ermenrich den wesentlichen
Teil seiner Thätigkeit übernommen hatte. Es ergiebt sich also die auffüllige
Thatsache, daß zwei Umstünde, ohne die der Ursprung unsrer Sage kaum denk¬
bar Ware, infolge ihrer Weiterentwicklung gänzlich daraus verschwinden.
(Schluß folgt)
as Dorfwirtshaus gehört in erster Linie dem Dorf, in zweiter erst
dem Verkehr, der die Dorfstraße durchzieht; der Verkehr macht
es zum Gasthaus. In abgelegnen, verkehrsarmen Gegenden
hängt daher seine Güte, ja sein Dasein von den Ansprüchen der
Dorfbewohner ab. Es hat bis vor wenigen Jahren in manchen
Teilen Deutschlands Dörfer gegeben, die überhaupt keine Wirtshäuser hatten,
weil der Verkehr keine ins Leben rief, weil sich die Bauern mit einem alten
Baumstamm vor dem Rathaus als Beratungsbank begnügte» und ihren Durst
mit dem Haustrunk stillten. Alls dem Flüming, jenem sandigen Höhenrücken,
der von der Gegend von Magdeburg uach der Niederlausitz zieht, hat die Ver¬
waltung im Interesse des wachsenden Verkehrs erst neuerdings in einzelnen
Dörfern die Gründung von kleinen Gasthäusern anregen müssen. Häufig
sind die Wirtshäuser, die keine besondern Fremdenstubeu haben, weshalb die
bessern Gäste in dem besten Zimmer der Wirtsfamilie untergebracht werden.
In dem wunderbar stillen Sibratsgfäll im Bregenzerwald schlief ich so ein¬
mal in Gesellschaft der in Wachs nachgebildeten, früh verstorbnen Kinder des
Hauses wie in einer Gruft oder einem kleinen Tempel des Seelenkults. Aber
Deutschland ist doch fast in allen Teilen von Verkehrsäderchen soweit durch¬
zogen, daß der Wandrer in allen größern Dörfern Stärkung und zur Not
auch Unterkunft finden kann. Auf die Gastfreundschaft der Gutshöfe, Pfarrer usw.
augewiesen zu sein, das beginnt erst im polnischen und ungarischen Osten. Nur
als ein Rest vergangner Zeiten hat sich in einzelnen Teilen Süddeutschlands der
Anspruch der „Studenten" auf Bewirtung im katholischen Pfarrhaus, zur Not auch
auf Unterkunft und Viatikum erhalten; manche geistliche Herren werden dadurch
ganz gehörig mitgenommen, und ich habe im Algäu Klagen gehört über die
große Anzahl von reisenden Gymnasiasten und Theologiestudircnden, die all¬
sommerlich in die Pfarrhöfe einfallen. Daß der deutsche und österreichische
Alpenverein an den besuchtesten Orten der deutschen Alpen einzelne gute und
billige Gasthäuser zu „Stndcntenherbergen" erklärt hat, wo die wanderlustige
studirende Jugend billige Zehrung und Unterkunft findet, ist eine sehr löbliche
Erneuerung des alten Rechts fahrender Schüler auf Erleichterung ihrer Reise.
So verschieden in unserm Lande der Verkehr war und ist, so wenig
gleichen einander seine Wirkungen auf die Wirtshäuser. In Süd- und West¬
deutschland mit seinem alten und weitreichenden Verkehr sind schon früh aus
dörflichen Wirtshäusern Verkehrsstätten, echte Gasthäuser geworden. Kein
deutsches Gebirgsland ist so reich an großen, guten Gasthäusern wie der
Schwarzwald mit seinen Industrieorten und seinem alten, mächtigen Holzhandel.
Hier sind lange vor dem Fremdenznzug die Gasthäuser im Sommer und
Winter vou Leuten besucht gewesen, die einen guten Trunk und entsprechenden
Bissen verlangten. Daß die guten alten Wirtshäuser auch selbst an einsamen
Straßenkreuzungen und in kleinen Weilern nicht fehlen, gehört zu den Eigen¬
tümlichkeiten des Schwarzwalds, die man besser begreift, wenn man mitten im
Winter Hunderte von Holzfuhrwerken an einem einzigen Tage beim Kreuz oder
Sternen vorfahren sieht. Übrigens hat hier auch der Wein seine Wirkung gethan,
der überall einer reinlichen und auf die Küche bedachten Wirtschaft günstiger ist
als das Bier. Der Geschäftsgeist, der sich in den Schwarzwälder Werkstätten
äußert, ging natürlich auch nicht an den Gasthäusern vorüber, und die ale¬
mannische Reinlichkeit, die fast in jedem Bauernhaus waltet, hilft auch dazu.
Endlich hat auch die Nähe der Schweiz eingewirkt, dieses Musterlcmdcs des
modernen Gasthauswesens; die neuen großen Gasthäuser im Schwarzwald und
den Vogesen sind in ganz Deutschland die schweizerischsten im guten und Übeln
Sinne.
Von deu ursprünglich vcrkehrsärmern mitteldeutschen Gebirgen ist der Harz
in gasthäuslicher Beziehung dem Thüringer Wald gerade so ähnlich, wie er
geologisch mit ihm verwandt ist und landschaftlich soviel Ähnliches aufzuweisen
hat. Harz und Thüringer Wald sind arme Gebirge im Gegensatz zum Schwarz¬
wald, mit nur spärlichen Oasen fruchtbaren Landes, eher rauh als mild und
schon außerhalb der Zone des Weines gelegen. Die Edelkastanien von Blanken-
burg, die nördlichsten auf deutschem Boden, sind nur noch Kuriositäten, ver¬
glichen mit den „Keschten"wüldern von Cronberg oder Gernsbach. Die arme
Bevölkerung dieser Gebirge besuchte aus guten Gründen die Wirtshäuser wenig,
Reisende gab es auch nicht viel, und so mußte denn der Neiseluxus, den der
Vergnügungsrcisende verlangt, ganz von außen hereingetragen und erst ange¬
pflanzt werden. Ju dem rauhen sozialen Klima der Waldgebirge ist er aber
nicht so recht gediehen. Jedes Bett spricht von dem Kampf, den er mit den
ärmlichen Lebensgewohnheiten der Gebirgsbewohner zu kämpfen hatte, und die
Küche hat ebensowenig an einheimische Überlieferungen anknüpfen können. Es
ist mir der regsamen Intelligenz der Bewohner zuzuschreiben, daß das Gast-
hausweseu in diesen Gebirgen in ununterbrochnem Fortschritt ist; die schlechten
oder mittelmäßigen Zensuren, die es in den aufrichtigen Reisehandbüchern noch
erhält, werden hoffentlich mit jedem Jahre günstiger ausfallen. Schade, daß so
ziemlich überall die Preise immer rascher steigen als das, was dafür geboten
wird! Ähnlich ist es im Erzgebirge, besonders auf der sächsischen Seite, und
war es einst im Riesengebirge. Ähnlich ist es noch heute im Taunus, im Wester-
wald und auf der Eifel. Hier hat der Touristenstrom ganz neue Häuser ins
Leben gerufen, da das alteinheimische Wirtshaus viel zu einfach war, um
dem Bedürfnis eines plötzlich beginnenden Luxusverkehrs zu dienen. Die
Wirtshäuser in den industriellen Gegenden des Erzgebirges und der schlesischen
Gebirge sind häufig mit einem auffallend großen Saalanbau versehen, der all¬
sonntäglich die vergnügungssüchtige Jugend der Arbeiterbevölkerung und ge¬
legentlich sozialdemokratische Versammlungen beherbergt.
In Baiern und Tirol haben wir ähnliche Verhältnisse wie am Oberrhein.
An den einst vielbefahrnen Straßen des italienischen Handels über den Brenner
und den Fern, an den Salzstraßen, die, die Jsar und den Jnn kreuzend, vor dem
Gebirge herziehen, an der Donaustraßc stehen die alten Gasthäuser der Fuhr¬
leute und der Stellwagen. Einige haben sich in geschickter Art dem modernen
Fremdenverkehr angepaßt, der die großen Räume wenigstens zur Sommerszeit
füllt. Die beliebtesten Gasthäuser am Brenner, im Oberinnthal, im Drauthal,
in den alten Durchgangspunkten des Augsburger Verkehrs, Mittenwald und
Ammergau, gehören zu den alten Verkehrsstätten. Ihr durch manches bunte
Wandbild von Heiligen oder von Frachtführer mit sechs Paar Gäulen bezeugtes
Alter und ihre behaglichen weiten Räume haben dazu beigetragen, sie den
modernen Vergnügungsreisenden angenehm zu machen. Welches „Hotel" kann
einen Raum bieten, der sich an freundlicher Behaglichkeit mit dem zimmerartig
breiten und hellen Vorplatz der Stockwerke eines solchen Hauses messen könnte,
wo in Glasschränken die Familienschütze alter Gläser, Teller und Platten auf¬
gereiht sind und zwischen den Fenstern der blumengeschmückte Hausaltar steht?
Der eleganteste Konversationssaal ist fade und kalt neben einem solchen an¬
spruchslos edeln Raum, der sich besonders auch dadurch auszeichnet, daß er
durchaus nicht überflüssig ist, was man von vielen Räumen moderner Gast¬
hausbauten nicht sagen kann. Bei diesen muß man unwillkürlich an den
eignen Geldbeutel denken, der thörichten Luxus mitzählen muß, während jener
alte Vorraum uns durch seine bürgerliche Gediegenheit beruhigt.
Nicht allen den alten Postgasthüusern war diese glückliche Auferstehung
beschieden. Wer die von Touristen selten begangne Straße wandert, die in
ziemlicher Entfernung vom Gebirge von München über Mühldorf am Jnn
und Braunau nach Linz und Budivcis zieht, trifft in selten genannten
Dörfern, zu denen auch das schlachtenberühmte Ampfüig gehört, große wei߬
getünchte Häuser, deren dickes Mauerwerk und breite erkergeschmückte Fronten
einen mächtigen Hof umschließen, der rückwärts von Pferdeställen und Ökonomie-
gebäudeu umgeben ist. Wo einst Fremde aus aller Herren Ländern Reise
machten, erzählen sich heute der Förster und der Pfarrer alte Geschichten, und
den Platz der Postpferde nehmen Ackergäule ein. Aus einem berühmten Um¬
spanneplatz ist ein Dorfwirtshaus von imposanten, fast historischen Formen
geworden, überschattet im günstigen Fall von dem Ackergut, das heute die
Hauptsache ist, wo es früher nur ein Anhängsel des Gasthauses war.
sind nun in solchen Gegenden die Wirte von der Höhe wichtiger Organe
des Verkehrs wieder herabgestiegen und zu Bauern geworden, so sind sie doch
eine besondre Art von Bauern. Überall, wo es noch einen tüchtigen Bauern¬
stand giebt, bilden die Baueruwirte eine in ihrem Kreis hervorragende, ein¬
flußreiche Klasse, die die Vorteile des bäuerlichen Lebens mit dem Vorzuge
verbindet, den die tägliche Berührung mit andern Schichten der Bevölkerung
und die Verbindung mit den Kannten bietet, in denen das Geld umläuft.
Das Wirtshaus ist das größte Haus des Dorfes nächst dem Pfarrhaus, in
seiner Einrichtung steckt ein stattliches Kapital, manches Zimmer scheint ja mit
seinem ganzen Inhalt aus der Stadt hierher versetzt zu sein. An Kenntnis
der Menschen und der Wettläufe übertrifft der Wirt oft den Pfarrer und den
Lehrer, und gar nicht selten führt er mit Würde an dem Honoratioreutisch in
seiner eignen Gaststube deu Vorsitz. Das hindert ihn freilich nicht, die leeren
Krttge und Gläser seiner Gäste mit eigner Hand zu füllen. Auch die Wirtin
und das Töchterlein setzen sich mit ihren Strickstrümpfen an den gemeinsamen
Tisch, wenn nach dem Nachtmahl ihre Geschäfte in der Küche besorgt sind.
Mit der am Herrentisch gewonnenen Autorität wandert der Wirt zwischen den
Bauerntischen umher, die übrigens in der Regel an den Werktagsabenden nicht
sehr gefüllt siud. Verheiratete, die etwas auf sich halten, und auf die, was
wichtiger ist, ihre Weiber etwas halten, sind, außer an den Sonntagen, abends
nicht im Wirtshaus zu treffe».
Natürlich hat der gesteigerte Fremdenverkehr in allen Industrie- und
Touristeulaudschafteu Deutschlands auch deu Wirt erfaßt und umgeändert, und
mit ihm alle dienstbaren Geister. Dabei bleibt aber doch immer ein Nest von
Natur; denn das Wirtsgeschäft ist zu einem so großen Teil angewandte
Lebenskunst, daß es ohne angeborne Gabe ebenso wenig gelingt wie eine andre
Kunst. Es liegt nahe, zuerst an die Schauspielkunst zu denken; der Wirt muß
sich ja „geben" können. Man könnte ebenso gut an jene Kunst des Umganges
mit Menschen denken, die eine der allerwichtigsten Voraussetzungen der Erfolge
regierender Fürsten ist. Dem Fürsten rechnet man es hoch an, wenn er die
Menschen wiedererkennt, die er einmal gesehen hat, und wenn er denen ein
passendes Wort sagt, deren Amt, Beruf, Verdienst ihm vorher mitgeteilt worden
sind. Viel mehr leistet der Wirt, der auf einen Blick den in sein Haus ein¬
tretenden Fremden „nach Verdienst" würdigt, d. h. zunächst ihm die richtige
Nummer giebt und ihn dann weiter „entsprechend" behandelt und — ein¬
schätzt. Laien behaupten, das sei keine Kunst, es genüge ein Blick auf das
Gepäck; auch der Anzug verrate schon genug. Das sind sehr oberflächliche
Urteile. Ich gebe zu, daß es am Anzug ein Stück giebt, das sehr weittragende
Schlüsse auf seinen Träger erlaubt. Es ist das Schuhwerk. Ein Mann von
Stand und Geschmack kann einen alten Filz, eine bäuerische Joppe tragen:
schlechtes Schuhwerk trägt er fast nie. Außerhalb Deutschlands ist dieses Kenn¬
zeichen unbedingt sicher. In Deutschland giebt es freilich eine höchst anstündige
Klasse, die noch immer schlecht „chaussirt" ist. Das sind die Gutsbesitzer,
und zwar nicht, weil und seitdem der Landbau schlechte Zeiten hat, sondern
weil das Herumwandern auf kotigen Feldwegen den Stiefel erfordert. Eine
Statistik des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im deutschen Reiche würde
ohne Frage eine Zunahme der beschuhten Männer und einen Rückgang der
gestiefelten nachweisen, entsprechend der Zunahme städtischer Bevölkerung und
städtischer Lebensweise. Wenn man aber abends durch die Korridore eines
internationalen Hotels geht, kann man ziemlich sicher aus der Zahl der vor
den Thüren stehenden Stiefel auf die der hier abgestiegnen deutschen Reisenden
schließen.
Wenn man Gäste zu empfangen hat, muß man liebenswürdig sein. Ist
der grobe Wirt dennoch nicht selten, so spricht sich darin die Schwierigkeit
seiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt spielt in der bairischen und österreichischen
Dialektdichtung eine charakteristische Rolle. Vaiern und Deutschösterreich sind
die Länder, wo der Wirt dem Bauern noch am nächsten verwandt ist. Aber
der grobe Wirt hat doch eigentlich seinen Beruf verfehlt. Der Geschäftsgeist
kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht ersetzen. In der Schweiz geht
man mit der Zufriedenheit des Handelsmannes aus dem Gasthaus, der für
sein Geld erhalten hat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogesen, im
Schwarzwald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol giebt es viel mehr Wirte und
Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, es dem Gast behaglich zu
machen. Das sind Länder, wo es ein Bauerntum giebt, das durch die Kultur
veredelt, aber nicht entartet ist.
In dem ländlichen Gasthaus haben sich gerade hier gute Seiten des Banern-
und Bürgertums erhalten, jene Seiten, die Goethe herausgefühlt und in
„Hermann und Dorothea" für alle Zeiten festgehalten hat. So kenne und ehre
ich eine Wirtsfamilie. die ein kleines Fürstentum von Thälern, Bergen, Seen
und Flüssen besitzt; in ihrem Hause hütet sie einen Familienschatz von altem
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ist unzweifelhaft die erste
im Ort, ihre Töchter sind, wie es dort zu Lande üblich, in einem Kloster im
italienischen Tirol erzogen, dabei arbeiten sie aber alle in der Wirtschaft mit.
Die eine, künstlerisch beanlagt, hat das Speisezimmer mit japanisch-englischen
Jrisstengeln ausgemalt und schmückt allmorgentlich die Tische mit den geschmack¬
vollsten Blumensträußen. Wenn im Herbst die Blumen selten werden, weiß
sie Kohl-, Notrüben- und Salatblätter zu überraschend schönen Kraut-
sträußen zu vereinige». Alles ist so gut, wie es die Leute geben können,
und die Preise sind anständig. Der Gast fühlt sich in einem solchen Haus
gehoben, es geht ein aristokratischer Zug hindurch. Jeder thut seine Arbeit,
niemand drängt sich auf. Die Leute freuen sich, wenn sie gute Gäste haben
und thun den andern gegenüber die Pflicht ihres Berufs. Ein solches Haus
ist sür den Reisenden eine Oase in der Wüste der modernen Reiseeinrichtungen
und Reisemethoden, besonders wenn die Tüchtigkeit seiner Besitzer dafür sorgt,
daß es auch „mit der Zeit fortschreitet." Vor einigen Jahren kam ich
die Mosel und die Saar herab, schlief die eine Nacht in Metz, die
andre in Saarbrücken, die dritte in Trier. In Metz war ich in einem
der alten französischen Hotels feinen Stils, es wurde von einem deutschen
Gastwirtdilettanten terrenis- und geschmacklos bewirtschaftet; in Saarbrücken
War ich in einem neugebauten Haus für Geschäftsleute, das physisch und
moralisch nach Kalk roch; in Trier in einem auf reisende Engländer
zugeschnittnen Provinzialhaus. Am vierten Abend lief ich wie ein müdes
Schiff in den stillen Hafen eines von Frauen liebevoll verwalteten kleinen,
warmen Gasthauses in dem Moselstndtchen C. ein. Das Haus hat einen
guten Namen, es trägt den Bädekerschen Stern, seitdem überhaupt Vüdeter
Hotelstcrne verleiht, und es ist gut besucht. Auch diesmal saßen wir zu
fünfzehn zum „gemeinschaftlichen Abendessen" nieder und tranken dazu fünf¬
zehn bis dreißig Schoppen C.er Schloßberg, hellgelben, grünlich-topasig
schillernden. Tochter und Nichte warten auf, mit Grazie und Bestimmtheit.
Die weibliche Leitung der Küche verrät sich in der Schüchternheit der Würzung
der Speisen, sonst ist alles aufs sorgfältigste zubereitet. Zeitungen, Reisebttcher,
Schreibzeug, alles ist in schönster Ordnung. Sogar der skatspielende Revier-
förster und Schiffstapitün nebst Gesellschaft finden Karten und Kreide hübsch
auf einem Nebentisch vor dein Ledersofa zurecht gelegt. Die Mädchen sind
unablässig in Bewegung, die Wirtin überwachte sie vom Tisch aus, wo sie
uach dem Essen die Zeitung las. Ein Wink genügte. Ich ging nach dem
kleinen Zimmer, das man mir angewiesen hatte, und sand es leer. Mau hatte
wir ein besseres eingeräumt, das man bis zur Ankunft des letzten Zuges für
Familien bereit hält. Statt der Öldrucke schmücken hübsche Stickereien die
Wände. Alles spricht hier von Sorgfalt n»d Bemühen. Es sind eben
Menschen, mit denen man es hier zu thun hat. nicht Rechenmaschinen.
Zu welche» Verzerrungen des Einfachen und Natürlichen führt doch unser
Stadtleben, wemi es sich die hier so holde u»d i» jedem Sinn gute weibliche
Bedienung nicht mehr anders als mit einem unmoralischen Nebengeschmack
vorstellen kann! Nur aus einer Wanderung in der Mark Brandenburg, nicht
ganz nahe bei Berlin, ist es mir vorgekommen, daß in dem äußerlich an¬
ständigen Bierstübchen gegenüber dem einsamen Bahnhof die hochgewachsene
Hebe sich als „Animirkellnerin" entpuppte, die mit unverschämt gestärkten
Nauschkleid den Gast bedeutsam streifte, indem sie wie aus Versehen ein zweites
Glas zu dem lauen Flüschlein Patzenhofer stellte. Der vvlantbesetzte Eindruck
dieser verwehten Großstadtpflanze drängt in meiner Erinnerung selbst die an
demselben Tage gewonnenen Bilder endloser gelber Lupinenfelder und kleiner
rotbacksteinener Kotsassenhäuschen, sowie des akaziennmsäumten Bukower
Sees zurück.
Mit dem Dorswirtshaus hat der Kellner nichts zu thun. Der Hausknecht
ist streng aus der Wirtsstube gewiesen, Stall und Hof sind sein Revier. Ur¬
sprünglich verkehrte er mit den Gästen nur, wenn er ihnen ausspannte oder
sie frühmorgens weckte, um, mit schwankender Laterne voranschreitend, die schlaf-
trunkner zur Post zu führen. Die Zunahme des Verkehrs hat auch das ge¬
ändert. Jetzt kommen die Kellner wie die Schwalben mit der „Saison" und
kehren im Winter in die Stadt zurück. Aber es wäre unbillig, den deutschen
Kellner hier zu übergehen, weil er nur sporadisch auf dem Lande auftritt. Er
ist uns eine willkommne Erscheinung in England und Australien, in Ägypten
und Kalifornien. Wir wollen ihn darum in seiner Heimat nicht vergessen.
Ehe er sein Glück in der weiten Welt versucht, verdient er sich die Sporen
in dem Gasthaus einer kleinen deutschen Stadt. Wenn ich an dem deutschen
Wirt oft manches auszusetzen hatte, so habe ich fast immer mit stillem Wohl¬
gefallen und nicht selten mit Sympathie das eifrige Walten junger Kellner beob¬
achtet. Das sind in den bessern Häusern kleinerer Städte Jünglinge, die eine
gute Schule hinter sich haben und mit einer gewissen Liebe ihren Schatz von
Ortsknnde, Sprachkenntnissen usw. an den verschwenden, der ihnen hilfsbedürftig
scheint. Wenn des Abends die Gäste näher zusammenrücken und nur der an¬
spruchslose „Stamm" noch übrig ist, wandert eine französische oder englische
Grammatik hervor, die bei Tage unter Adreß- und Kursbüchern ruht. Indem der
junge Mann die geistreichen Sätze Ollcndorffs lernt, träumt er sich in ein Welt-
Hotel in der Rue de Rivvli oder der Victoria Street oder noch weiter in die Welt
hinaus. In Lissabon schrieb einer meiner Freunde seinen untrüglich nieder-
bairischcn Namen ins Fremdenbuch. Der internationale Oberkellner schaute ihn
freudigfragend an: Kennen Sie den „Wilden Mann" in Passau? — Natürlich,
sehr gut, und seinen siebzigjährigen Oberkellner kannte ich wohl, der leider
tot ist. — Oh, der war mein Lehrer, ich habe vier Jahre als Kellner im „Wilden
Mann" gelernt. Wissen Sie, dieser Alte war bei den Kellnern Europas bekannt,
der hat mehr als zwanzig ausgebildet, die in alle Welt hinausgewandert sind.
Er sprach vier Sprachen, hat Passau nie wieder verlassen und war, mit all
seinen Ersparnissen, zufrieden, der erste und älteste Kellner seiner Vaterstadt
zu sein.
Doch kehren wir aufs Land zurück. Das Dorfwirtshaus gehört dem
Bauern, und bäuerlich bleibt es daher auch in allen Entwicklungen, die ihm
der Fremdenverkehr auferlegt. Daher unterscheidet es sich ganz wesentlich von
der „Pension," die nur für die Sommerfrischler hingestellt ist; es hat seine
eigne Notwendigkeit und ein ganz andres Leben. Das bairische und das
Schwarzwülder Wirtshaus wird nicht wie das schweizerische Hotel — und eine
kleine Anzahl tirolische — im Winter geschlossen, um nur drei, in hohen
Lagen gar nur zwei Monate dem Fremdenzuzug geöffnet zu sein, es ist den
ganzen fremdenarmen Teil des Jahres ans seine ländliche Kundschaft an¬
gewiesen, die auch im Sommer nicht so scharf von der städtischen getrennt ist,
sondern unverändert ihre Ansprüche auf Komfort und Verpflegung geltend
macht. Die Ansprüche der Gaststube mit denen des „Herrenstübel" zu ver¬
einen gehört zu den Aufgaben, die nur ein guter Wirt löst. Wenn die Bauern zu
kegeln anfangen, während neben der Kegelbahn im Wirtsgarten eben das Essen
für feine Gäste aufgetragen wird, lassen sie sich leicht Ruhe gebieten; nicht so
leicht läßt sich der Lärm einer Bauernhochzeit mit dem Nuhebedürfnis nervöser
Städter vereinigen. Doch schlüge hier die alte Anziehung zwischen Vucibn
und Madln manchmal die Brücke, da es die „Stadtfratzen" gar nicht unter
ihrem Stande finden, sich im bäurischen Ländler zu drehen, was auch die
Burschen gern annehmen. Am leichtesten ebnet aber ohne Zweifel das Bier,
der Trunk, der allen zugänglich ist, die Verschiedenheiten aus. Ein gutes,
billiges Bier, das dem Holzknecht ebenso gut mundet wie dem Touristen, giebt
dem ganzen Wirtshausleben einen im guten Sinne demokratischen, daher
behaglichem Charakter.
Wenn ich hier eine angenehme Seite der Vereinigung des Trinkhauses
und Gasthauses unter demselben Dache berühre, will ich nicht die Nachteile
verbergen, die daraus so oft für das gute deutsche Gasthaus hervorgehen.
Mit dem Egoismus der Genußsucht überschreitet die Kneipgesellschaft Raum
und Zeit, in die eine billige Rücksicht sie bannen sollte. Am obern Ende der
Wirtstafel trinken Familien Thee, während am untern das Wein- oder Bier¬
gelage mit Cigarrenanalm und banalen Gerede schon begonnen hat. Und zu
später Stunde, wo reisemüde Wandrer gern Ruhe hätten, lärmt diese Gesell¬
schaft, deren laute Unterhaltung sich zum Gebrüll gesteigert hat, in den Morgen
hinein. Auch im Auslande zeichnen sich besonders Deutsche durch die Rück¬
sichtslosigkeit aus, womit sie ihren Trinksitten fröhnen; es hebt nicht ihr An-
sehn, daß sie, um ungestört kneipen zu können, die „Schweinen" dem Salon, das
KcmdWvous less eoonsr8 dem Speisesaal vorziehen. In der lieben Heimat bedroht
diese Neigung am meisten das beliebte Gasthaus, von dem es in den Büchern
büßt: Einfach, bürgerlich, gut, billig. Was will man mehr? Aber gerade
diese Rose hat viel Dornen. Der einfachste und natürlichste Fall ist, daß
mehr Leute so denken wie ich, und daß mich ihre Menge in meinem einfachen
bürgerlichen Behagen stört. Es ist aber noch der beste Fall. Minder leicht
ist die parasitische Dornenentwicklung der Stammgäste zu ertragen, die guter
Wein oder alte Gewohnheit an das obere Ende des Speisetisches zieht, wo
sie ihr Kartenspiel mit Faustschlägen auf den Tisch begleiten, überhaupt sich
mit einer Ungenirtheit benehmen, die ich nicht nachahmen könnte, wenn ich
wollte. So kämpft das deutsche Gasthaus den ungleichen Kampf mit dem
Triukhaus, in dem es vielleicht nur dann nicht unterliegt, wenn ihm Fremde ohne
„Trinksitten" zu Hilfe kommen. Ich komme in ein ländliches Gasthaus, das
wunderschön am Eingang eines vielbesuchten Parkes liegt. Er ist wie gemacht
zum ruhigen Aufenthalt. Ich bin erstaunt, das als trefflich gerühmte Haus
in Unordnung zu finden. Zimmerschlüssel verlegt, Zimmer nicht gelüftet usw.:
die bekannten Übel. Der Wirt entschuldigt sich mit drei Berliner Bankiers,
die gestern abend gekommen und bis heute früh um fünf bei mehreren üppigen
Booten sitzen geblieben sind. „Hoffentlich haben Sie die Herren ruhig trinken
lassen und sie einem Kellner übergeben!" — „Wo denken Sie hin? Ich
mußte aufbleiben, deun da handelte es sich um feinste Sorten. Nein, ich war
der letzte." Und heute, es ist Sonntag, hat dieser Mann sein Haus voll
Gäste, die alle seine Aufmerksamkeit heischen. „Wie können Sie das?" — „Man
muß! Das ist die ganze Kunst. Diese paar Sommermonate sind unser Ge¬
schäft, da heißt es, alle Nerven anstrengen, im Winter ruhen wir wie die
Dachse." Dabei kann natürlich das Haus nicht in Ordnung kommen. Der
Mann wird im besten Fall ein paar Jahre früher Privatier, aber als Gast¬
wirt bleibt er ein Stümper.
cum diese Zeilen durch die Druckerpresse gehen, versammeln sich
Hunderte durch geschäftliche Tüchtigkeit, Erfolge und Erfahrungen
ausgezeichnete Kaufleute und Fabrikanten aus allen Teilen
Deutschlands in der Reichshauptstadt zu einer Kundgebung für
die Vermehrung der deutschen Kriegsflotte. Man kaun den Wert
solcher Versammlungen und „Kundgebungen" im allgemeinen so hoch oder so
gering anschlagen, wie man will — ich halte unter Hunderten kaum eine für
der Rede wert —, diese Versammlung und diese Kundgebung scheint doch eine
besondre Beachtung zu beanspruchen, sowohl der Sache wegen, der sie gilt,MW
wie der Leute wegen, von denen sie ausgeht. Die Sache ist in den Grenz¬
boten schon gründlich behandelt worden, aber die Leute sind es noch nicht.
Li nov tavirmt leisen, non est Iclsm. Wenn Kaufleute Politik treiben, so ist
das etwas besondres.
Die versammelten Handels- und Fabrikherren wollen und werden natürlich
zunächst ihr Urteil abgeben als Geschäftsleute, vom Standpunkte ihrer eignen
und ihrer Standesgenossen geschäftlichen Interessen. Das ist bei der Sach¬
kunde der Herren sehr viel wert, und man kann nur wünschen, daß dem
deutschen Michel im Kaufmannsstande die Notwendigkeit einer starken Seemacht,
deren Nutzens für Handel und Industrie ja nicht in Gelde berechnet werden
kann, recht klar und eindringlich s,et oculos demonstrirt wird. Die Vorlage
ist nach dieser Richtung hin ungenügend vorbereitet an den Reichstag ge¬
langt. Erst in letzter Stunde hat man, wie es scheint, daran gedacht,
daß der Entwurf doch vor allem eine handelspolitische Begründung verlangt,
und hat dann im Neichsmarineamt die dem Zahlengehalt nach sehr wert¬
volle, dem Text nach aber ganz ungenießbare Denkschrift: „Die Sceintercssen
des deutschen Reichs" zusammenstellen lassen. An den zur Vertretung der
materiellen Interessen, man kann mich sagen: der Sonderinteressen des deutschen
Handels berufnen Stellen, im Auswärtige» Amt, im Reichsamt des Innern,
in den verschiednen Handelsministerien, hat man sich um die Sache augen¬
scheinlich viel zu wenig, viel zu spät gekümmert, und eigentlich ist es nur der
Kaiser selbst gewesen, der in seinen hie und da gehaltnen Reden das Mvisaro
neoesss sse und die Notwendigkeit der gepanzerten Faust in unsrer Seehandels¬
politik von vornherein sachgemäß und mit vollem Nachdruck begründet hat.
Diese Lücke kann und wird die Kundgebung der versammelten Handels- und
Fabrikherren vortrefflich ausfüllen, am vortrefflichsten, je schärfer dabei der
kaufmännische, der geschäftliche Standpunkt zum Ausdruck kommt. Auch
im Prinzip ist es gut, wenn gerade von diesem Standpunkt aus der kurz¬
sichtigen Übertreibung manchesterlicher Konsequenzen ein Ende gemacht wird,
die in der Phrase ausklingt, unser Seehandel habe bisher ohne die gepanzerte
Faust seine Erfolge erzielt, und deshalb brauche er sie auch in Zukunft nicht.
Es gilt auszusprechen, daß die Zeiten eben anders geworden sind, schon durch
den Übergang zum Absperrungssystem bei den Staaten und Nationen, die sich
dank ihrem Nieseuanteil an der Erde das erlauben können. Es gilt dem
kaufmännischen Verstände kaufmännisch klar zu machen, daß die englische, die
russische, die amerikanische und auch die französische Konkurrenz den deutschen
Seehandel trotz seiner bisherigen Erfolge Schach und matt zu setzen vermöchte,
wenn England, Rußland, Nordamerika und Frankreich nicht nur deu durch
ihre politischen Grenzpfähle umschlossenen Teil des Erdballs unserm Absatz
versperrten, sondern außerdem auch noch durch ihre Kreuzer und Linienschiffe
mit einem klug berechneten Netz von Kohlen- und Flottenstationen die politisch
noch unabhängigen Staaten zwängen, ihrem Handel und Kapital Monopole,
rechtlich oder thatsächlich, einzuräumen, die dem deutschen Handel neue lohnende
Absatzwege zu finden unmöglich machen und die bisher gefundnen abgraben
würden. Es gilt den Kaufleuten die Augen dafür zu öffnen, daß unsre
Konkurrenz das lieber heute als morgen thun möchte, und daß uur die ge¬
panzerte Faust sie davou abhält, daß es damit aber naturlich ein Ende hat,
wenn wir länger um den Vorurteilen des Agrarstaats kleben, der nur zum
Küstenschutz eine Flotte brauche. Die Versammlung und Kundgebung vom
13. Januar wird zweifellos und mit Fug und Recht im Ausland wie im In¬
land aufgenommen werden als ein Zeugnis von dem fachmännischer Ver¬
ständnis des deutschen Handels- und Gewerbestandcs für die neue handels¬
politische Aufgabe des Reichs, für deu neue» Kurs, den der Kaiser in der
Welthandelspolitik zu gehen für geboten hält, und schon die große Mehrzahl
der Männer, die die Einladung unterzeichnet haben, bürgt dafür, daß dieses
Zeugnis schwer in die Wagschale fallen wird, vollwichtiger in gewissen Sinne
als das Votum des Reichstags selbst. Mit verschwindenden Ausnahmen sind
es Männer, die das Vertrauen ihrer Verufsgenossen auf ihre handelspolitische
Erfahrung und Urteilsfähigkeit an die Spitze von lokalen oder Fachvereinigungen
berufen hat, und die jeder gebildete Kaufmann und Industrielle Deutschlands
als die Sachverständigen kennt, die berufen find, ein den praktischen Bedürf¬
nissen, Wünschen und Absichten der an unsrer Welthaudelspvlitik interessirten
Bevölkerungskreise entsprechendes Votum abzugeben. Bekannt sind diese Männer
vor allem der deutscheu Geschäftswelt auch dahin, daß sie nicht geneigt und
gewohnt sind, mit solchen „Kundgebungen" einen Schlag ins Wasser zu thun,
nicht ausgedroschnes Stroh noch einmal zu dreschen. Sie sind bekannt als
gewiegte, praktische Geschäftsleute, die, wenn sie sich zu Kundgebungen herbei-
lassen, damit auch praktisch wirken wollen. Nur platonische Neigungen zu zeigen
ist nicht ihre Gepflogenheit. Weit entfernt ist bei dieser Versammlung doch wohl
auch jeder Gedanke an eine parteipolitische Mache und an einseitige örtliche
Wünsche und Interessen. Es ist — wie schon in den Grenzboten hervorgehoben
worden ist — hvcherfreulich, daß die süddeutschen, sächsischen, thüringischen
Handels- und Gewerbekammern schon die Einladung fast vollständig dnrch ihre
Vorsitzenden unterzeichnet hatten, und daß die binnenländischen Interessen die
Hauptrolle dabei spielen. Mau muß wünschen, daß dieser Charakter auch der
Versammlung selbst gewahrt bleibt.
Es ist über die Bahne», die unsre Handelspolitik in Zukunft einschlagen,
und über die Aufgabe, die unsrer Seemacht dabei zufallen soll, schon viel ge¬
redet worden, in gewissem Sinne viel zu viel. Über die Pläne für weitaus¬
schauende zukünftige Unternehmungen, zu denen sich der Kaufmann entschlossen
hat und sich hat entschließen müssen, wenn er vorwärts, nicht rückwärts kommen
will, spricht er nicht viel. Aber auch in der Handelspolitik, zumal jetzt in
der deutschen, ist Reden Silber, Schweigen Gold, und wer die Rede nicht ge¬
braucht, seine Pläne zu verbergen, der soll lieber schweigen als reden. Freilich
im konstitutionellen Staate muß die Negierung reden, auch wo sie lieber
schweigen möchte, und auch der deutsche Kaiser mußte über die Handels¬
politik und Flottcnfrage reden, schon um dem Volke jeden Zweifel darüber
zu nehmen, daß er für sein Teil wenigstens die Pflicht seines hohen
Amts klar erkannt habe und für ihre Erfüllung auch in der Handels¬
politik einzutreten entschlossen sei. Das deutsche Volk und Deutschlands
Handel und Gewerbe wird ihm das noch danken. Der Konkurrenz hat
er dabei die Karten nicht verraten; Kiaotschau würde dem verschwiegensten
Kaufmann Ehre machen. Aber man muß in Deutschland noch auf ganz
andrer Seite über handelspolitische Maßnahmen schweigen lernen, und dazu
sollte, wenn die Kaufleute und Industriellen am 13. Januar den Kern
der Sache, um den sich zur Zeit der parlamentarische Streit noch dreht,
treffen wollen, die Versammlung zu allererst etwas beitragen. Dem Reichs¬
tage hat vor allem die Kundgebung zu gelten. Die verbündeten Regierungen
legen mit Recht den größten Nachdruck auf die Endgiltigkeit der Bewilligungen
für die Mariuevermehruug, auf die Vermeidung alljährlich wiederkehrender
grundsätzlicher Debatten über die Flotten- und Weltpolitik Deutschlands vor
der ganzen Welt, und kein verständiger Kaufmann wird sich der Berechtigung
dieses Verlangens verschließen können. In nichts spricht sich die handels¬
politische Unreife der Mehrheit der Vevöllerungskreise, die bis jetzt im Gegensatz
zu Handel und Industrie in unsern parlamentarischen Körperschaften fast aus¬
schließlich vertreten sind, deutlicher aus, als in dem völligen Mangel an
Verständnis dafür, daß, wenn die Vermehrung der Flotte, wie die Regie¬
rungen sie vorschlagen, an sich als notwendig anerkannt werden muß, es als
Superlativ von Zweckwidrigkeit und handelspolitischem Ungeschick zu bezeichnen
ist, wenn man die Geldmittel dazu nicht bellte definitiv, soudern in sieben einzeln
zu debattirenden Jahresraten bewilligen will. In England, selbst in Frank¬
reich, lacht man uns deshalb mit Recht aus. Dort werden Vorlagen, die
unserm gegenwärtigen Marinegcsetzentwurf entsprechen, ohne Debatte, ohne Reden,
ohne den Versuch bewilligt, aus der Negierung Erklärungen herauszupressen,
die sie gar nicht geben darf. Dieser handelspolitische Takt fehlt im Reichs¬
tag in einem Grade, der mit einer kräftigen Flottenpolitik völlig unverträglich
ist, und es wird endlich zu dringender Pflicht der Selbsterhaltung, daß die
Vertreter der handelspolitischen Einsicht und des kaufmännischen Sachverständ¬
nisses miles in Deutschland sich aus ihrer nachgerade unverantwortlichen Passi¬
vität aufraffen und den Herren Volksvertretern aus andern Bildungskreisen
unzweideutig die Fingerzeige geben, wie in Zukunft ihre, der Kaufleute, Sache,
d, h. die Handelspolitik und die Flottenpvlitik, auch parlamentarisch behandelt
werden soll. Die Inhaltlosigkeit der vorgeschützten „konstitutionellen Bedenken"
braucht man Vertretern der kaufmännischen Intelligenz nicht erst auseinander
zu setzen. Daß die neuen Schiffe nicht in einem Etatsjahre gebaut werden
können, berührt das Recht und die Pflicht des Reichstags, die einmal als not¬
wendig erkannten Aufwendungen jetzt zu bewilligen, gar nicht. Auch die
Finanzlage des Reichs steht dieser endgiltigen Bewilligung nicht entgegen.
Die „konstitutionellen Bedenken" sind thatsächlich Hokuspokus der Partei¬
politik, der in jeder halbwegs verständigen Generalversammlung einer Aktien¬
gesellschaft einer ähnlichen Frage gegenüber unmöglich wäre. Es wäre dringend
zu wünschen, daß die versammelten Handels- und Fabrikherren auch darüber
unumwunden ihre Ansicht kund gäben.
Damit wird freilich die Abgabe eines ausgesprochen politischen Urteils ver¬
langt, aber das geht nicht mehr anders. Die deutschen Kaufleute müssen deutsche
Politiker werden, sie müssen einen hohen politischen Einfluß eingeräumt er¬
halten in einem Reiche, dessen politischer Schwerpunkt nicht länger ausschließlich
innerhalb der Grenzpfähle des alten, stark beschnittenen Grund und Bodens
des deutschen Bundes seligen Angedenkens gesucht werden darf. Aber der
Himmel bewahre Deutschland vor neuen politischen Mächten und Machthabern,
deren Politik nicht unwandelbar fußt auf einem felsenfesten Untergrund der
Vaterlandsliebe. Wir haben gerade genug an jenen „vaterlandslosen" Stimmen,
die imstande sind, auf Deutschlands Politik einen übermäßigen, oft ausschlag¬
gebenden Einfluß verfassungsmäßig auszuüben. Wie stehts damit in der Kauf¬
mannschaft? Die Versammlung am 13. Januar sollte auch darüber die
dringend erwünschte Beruhigung schaffen, die versammelten Handels- und
Fabrikherren sollten keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß neben dem
kaufmännischen Jnteresfenstandpunkt die Vaterlandsliebe als oberstes Gesetz auch
den deutschen Kaufmann regiert, in der Heimat wie draußen, und daß die
Leute lügen, die ihm heute noch diese erste, unerläßlichste Vorbedingung heil¬
samen politischen Einflusses absprechen.
Der alte Jude Sirach hat geschrieben: „Wie der Nagel in der Mauer
zwischen zween Steinen steckt, also steckt auch Sünde zwischen Käufer und
Verkäufer." Aber heute, so scheint es mir, steckt sie auch gerade so zwischen
Meister und Lehrling, zwischen Bauer und Knecht. Das „mobile Kapital"
hat in der Sünde nichts mehr voraus. Vor hundertundzwanzig Jahren hat
der Prophet der „klassischen Nationalökonomie," Adam Smith, behauptet,
keine Eigenschaften seien weniger verträglich miteinander, als die des Kauf¬
manns und die des Politikers. Als Politiker müßten die Handelsherren das¬
selbe Interesse haben wie das Vaterland, als Kaufleute hätten sie gerade das
entgegengesetzte. Ich glaube nicht, daß sich die Ältesten der Berliner Kauf¬
mannschaft bei ihrem bekannten Bescheide, sie und der deutsche Handelstag
hätten sich um Politik, auch um Handels- und Flottenpolitik, nicht zu kümmern,
in einem Anfall übertriebner Selbsterkenntnis von dieser alten Weisheit
haben beeinflussen lassen, aber das glaube ich doch, daß sich sehr viele Handels¬
und Fabrikherren in Deutschland scheuen, fast schämen, die Vaterlandsliebe
offen als Richtschnur ihres politischen Verhaltens in der Flottenfrage anzu¬
erkennen, ja daß ihnen die manchesterliche Orthodoxie so tief im Blute sitzt,
daß sie die Vaterlandsliebe lahmt und trübt bis zur praktischen Wert- und Kraft¬
losigkeit. Wenn man die Notwendigkeit der neuen Bahnen der deutschen Wirt¬
schaftspolitik einsieht, wenn man für die Kaufmannschaft einen größern Anteil
an der Politik verlangt, wenn man die Behandlung, die ihr von vielen Seiten
heute zu teil wird, als Ungerechtigkeit und Thorheit, als den Ausfluß von Neid
und widerlicher Splitterrichterei verdammt, dann hat man zweifellos die Pflicht,
nach der Vaterlandsliebe des deutschen Kaufmanns zu fragen und der Frage
auf den Grund zu gehen. Die Intelligenz in unserm Handel und unsrer In¬
dustrie sollte sich hüten, der Frage auszuweichen, sich den Angriffen auf ihre
Negierungsfähigkeit gegenüber taub und blind zu stellen. Vollends die Herren
jüdischer Abkunft thun sehr unklug daran.
Was ist denn Patriotismus, was ist Vaterlandsliebe in xrs.xi, in der
Politik von Kaufleuten vor allem? Versicherungen der Vaterlandsliebe hören
wir ja auf allen Seiten, von Herrn v. Plötz über das Zentrum bis zu Bebel
und Genossen. Man soll sich hüten, so leichthin den Kaufleuten die Vater¬
landsliebe abzusprechen, ohne ihnen zu sagen, was man darunter versteht. Das
hat keiner besser gethan als Professor Otterberg in seinem bekannten Vortrag
über „Deutschland als Industriestaat," der, so verkehrt er in seinen Voraus¬
setzungen und so übertrieben er in seinen Folgerungen ist, einen geradezu er¬
schreckenden Beifall und Widerhall gefunden hat in weiten und einflußreichen
Kreisen der Gebildeten gerade jetzt bei Eröffnung des neuen Kurses in unsrer
Handelspolitik. Er spricht darin dem „Kapital," d. h. den Großindustriellen und
den Großhändlern vor allem, jede wirtschaftliche Voraussicht, jede Sorge für
die Zukunft ab. Der Sinn für die Zukunft werde von ihm systematisch
erstickt. Alles sei darauf eingelegt, nur nach heute und morgen zu fragen.
Der leitende Gesichtspunkt seines Vortrags — sagt Otterberg selbst — „das
ist der Gegensatz zwischen der Augenblickspolitik, die das Kapital immer ver¬
folgt hat und seiner Natur nach verfolgen muß, und zwischen der weitblickenden
Sorge sür die Zukunft, die wir für eine nationale Wirtschaftspolitik fordern."
Gerade diese weitblickende Sorge für die Zukunft, nicht nur für ihre Söhne
und Schwiegersöhne in London, New-Uork, Paris und Petersburg, sondern
für die Zukunft des Vaterlands, des deutschen Volks, das ist die Vaterlands¬
liebe in der Politik der Kaufleute, die wir von den Vertretern des „Kapitals,"
den Handelsherren und Industriellen, fordern müssen in dem neuen handels¬
politischen Kurs und Gott sei Dank auch fordern dürfen trotz Adam Smith
und trotz Otterberg und seinen neuen Propheten in der Nationalökonomie, die
den alten in nichts nachstehen in Unfehlbarkeit und Übertreibung.
Es sind schwere Beschuldigungen, die in den Oldenbergschen Behauptungen
der Kaufmannschaft gemacht werden, und es ist deshalb doppelt zu beklagen,
daß ihnen durch die Stellung eines Teils des deutschen „Kapitals" zur Flottcn-
frage ein Schein von Berechtigung verliehen worden ist. Es wäre verkehrt,
diesem Vorurteil, diesem tiefen Mißtrauen gegen die Kaufmannschaft gegenüber
den Vogel Strauß spielen und sich so stellen zu wollen, als ob das alles nur
gegen Börsenjobber gemünzt sei, als ob man durch etwas Schutzzöllnertum
und Zunftfreuudlichkeit das Patent für „nationale Wirtschaftspolitik" erhalten
könne. Es gilt endlich offen und ehrlich, einer für alle und alle für einen,
dem Unsinn und der Lüge von der Unverträglichkeit des sogenannten „Kapitals"
mit der Vaterlandsliebe entgegenzutreten. Das deutsche Volk braucht mehr
als je Vertrauen zu seinen Kapitalisten, und das wird denn auch nicht fehlen,
wenn sich unsre Großhändler und Großindustriellen freimütig und öffentlich
bekennen als das, was sie fortan sein müssen: die zuverlässigen Stützen der
kaiserlichen Politik, die treuen Vorkämpfer des Deutschtums überall, mögen sie
Juden sein oder Christen.
Zum Schluß noch einen kurzen Hinweis auf die ganz außerordentliche
Bedeutung der Leistungen unsrer Kaufmannschaft für das soziale Gebiet. Man
streitet unnötig viel über das Plus und Minus der landwirtschaftlichen und
der industriellen Bevölkerung; darüber, ob das Reich schon als ein Industrie¬
staat bezeichnet werden soll oder noch als ein Agrarstciat. Danken wir dem
Himmel, daß unsre Landwirtschaft die unverwüstliche Gesundheit und Lebens¬
kraft hat, die sie vor der Rolle der großbritannischen und irischen bewahren
wird, auch wenn sich die industrielle Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten
verdoppelt und verdreifacht. Wer die englische Eigentumsverteilung von land¬
wirtschaftlichen Grund und Boden in Verbindung mit der natürlichen Be¬
schaffenheit des Gesamtareals gehörig in Rechnung stellt, wird die Unvergleich¬
barkeit der englischen und der deutschen agrarischen Entwicklung einsehen und
aufhören, die englischen Zustände als Schreckgespenst hinzustellen. Das,
wonach man heute bei uns fragen muß, ist das Verhältnis der industriellen
Arbeit Deutschlands zu der andrer Industriestaaten, namentlich Englands,
Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Zahl der von
der Industrie lebenden und deshalb in zunehmendem Maße vom überseeischen
Handel abhängigen erwerbsthütigen Leute mit ihren Familien. Und da lehrt
nun die Statistik, daß Deutschland thatsächlich schon an der Spitze der ge¬
nannten Industriestaaten marschiert. Es ist mit seinen 8300000 in der In¬
dustrie beschäftigten Personen Frankreich um fast 4000000 voraus, den
Vereinigten Staaten um mehr als 3000000. Wenn Großbritannien mit
Irland nach dem Zensus von 1891 in der InöustriAl olklss 9000000 erwerbs-
thätigc Menschen gezählt hat, so ist ein großer Teil auf die Händler mit
Jndustrieprodukten, die dabei mit gezählt sind, abzurechnen, sicher nicht unter
einer Million. Jedenfalls steht Deutschland an industriell thätigen Menschen¬
händen hinter England nicht mehr zurück. Bezüglich der Arbeiter, d. h. ab¬
gesehen von den Arbeitgebern und den auf eigne Rechnung arbeitenden Personen,
zeigen die Zahlen dasselbe Verhältnis, vielleicht noch etwas ausgesprochner zu
Ungunsten unsers gewaltigsten Nebenbuhlers auf industriellem Gebiet. Und
Deutschland hat keine Kolonien, die für den Absatz der Arbeitserzeugnisse und
für die Lieferung unentbehrlicher Rohstoffe nennenswert in Betracht kämen;
seine Kaufmannschaft hat in fremdem Lande für die heimische Jndustriebevölke-
rung das Brot zu suchen, unter schwierigen, oft feindseligen Verhältnissen, im
Kampf mit mangelndem Rechtsschutz, im Kampf mit gewaltthätigen, vorurteils-
vollen, nicht selten fanatischen Behörden, Einwohnern und Händlern. Man
möchte an dem gesunden Menschenverstande des deutschen Philisters verzweifeln,
der diesen klaren Thatsachen gegenüber nicht für die Flottenvermehrung Lärm
schlägt statt gegen sie, wo er doch sonst Angst genng hat vor jeglicher Gefahr
für sein bischen Hab und Gut, Profit und Zinsen. Und wie erscheint in dieser
Beleuchtung die Haltung der verdienstvollen achtundvierzig Volksvertreter sozial¬
demokratischer Farbe? Werden die über 6000000 deutschen Industriearbeiter
nicht endlich einsehen, daß das Votum dieser achtundvierzig in der Flottenfrage
der infamste Verrat am Arbeiterwohle ist, an den wichtigsten Lebensbedingungen
für die Zukunft der 6 Millionen und ihrer Familien? Die achtundvierzig
wissen wohl selbst nicht, was sie thun, aber sie haben jedes Recht verscherzt,
sich über den Vorwurf der Vaterlaudslosigkeit zu beklagen.
or acht Jahren war Madlene anders. Da war alles ganz anders. Die
ganze Welt war anders. Die Berge waren höher, der Schnee war
nicht so glatt, da hat niemand ein Bein gebrochen; im Frühling
war das Gras grüner, die Ane war weiter und schöner, die
Lerchen waren lustiger, alle Leute freundlicher und besser; da
spielten die Musikanten noch so hübsch zum Tanz ans, und das
^uchschreten der Burschen lautete so prächtig, daß auch der Madlene das Herz im
'^be tuchte. Ach, da wars schön ans der Welt!
Es war Frühling. Damals war zwar das ganze Jahr ein Frühling, aber
es ist der wirkliche Frühling gemeint, der an den Spitzen der Fichtenzweige röt¬
liche Stanbkätzcheu und purpurne, zarte Zapfenansätze hervorlockt und Hain, Flur
und Wald bevölkert mit holden Freudenwesen, die, schwarzäugig, in Liedern
schwelgen; der wirkliche Frühling, der an den Rändern und an den Felsen hinauf
die Erdbeerblüte hervorzaubert und dem Boden unter den Tannen seinen warmen
Odem einhaucht, das; die brannwolligen Wedelrollen der Farnkräuter hervorbrechen.
So ein schöner Frühlingstag war es. Die Sonne stand schon hoch, und im
Müsershaus schlug die Schwarzwälderin gerade elf Uhr.
Madlene! rief die Mutter, es ist alles fertig und eingepackt, tummel dich!
Aber die Madlene steckte die Zöpfe erst noch einmal richtig und band sich
ein feuerrotes Musselintüchlein um die Stiru und unter dem Zopfnest herum.
Denn nahm sie den aus der Ofenbank stehenden Korb auf den Rücken und den
bereit stehenden grünen Henkeltopf und eilte davon. Der Korb und der Henkel¬
topf enthielten die Mittagsmahlzeit für den Vater und die Madlene.
Der Kleine war noch in der Schule, der Große in der Fremde, und der
Vater fällte mit allen Nachbarn der Gemeinde im Walde Holz.
Das Dörflein hat über dem Bergrücken drüben eine ausgedehnte Gemeinde-
Waldung, immer eine Wand von schöneren Bestand als die andre. Aus der Ge¬
meindewaldung bekommt jedes Haus jährlich eine Klafter Holz und den Abraum
vom Schlag. Das ist das Nachbarrecht. Zur Bestreitung des Gemeindehaus-
Halts wird aber noch etwas darüber zum Verkauf gemacht, sodaß man von
Ortsumlagen nichts weiß. Jedes nachbarberechtigte Haus hat zu diesem jährlichen
Holzschlag, zur sogenannten Maß, die gewöhnlich nach der Frühjahrssaat „gemacht"
wird, einen Mann zu stellen, und nach der Vollendung des Schlages wird der
Ertrag, das Maßholz, verlost.
Aus jedem Haus wird das Mittagsessen dem Holzmacher in den Wald ge¬
tragen. Wenn sich dann um der Bergwand lagernde Gruppen zum Speise« gebildet
haben, so sprudelt Humor und Witz dabei wie ein mutwilliger Wnldbach, und es
schallt und hallt oft ein herzliches Lachen zur stillen Waldwiese hinab. Kommt
einmal des Einen oder des Andern wandelnde Küche nicht zur rechten Zeit, so
wird der ohnedies schon Ungehaltene zur Zielscheibe nllerhaud spitzer und drolliger
Redensarten, sodaß ihm nicht selten vor Ärger der Appetit vergeht.
Madlenens Vater hatte sich mit seinem Nachbar zusammengethan zur Maß,
weil immer zwei Maun gemeinschaftlich arbeiten mußten; das verlangte schon die
Schrotsäge. Ju der Nähe dieser Kompagnie arbeitete der damals ungefähr zwanzig
Jahre alte Rödersfrieder mit einem guten Freund. Und weil zwischen den ge¬
fällten Bäumen dieser beiden Parteien eine alte, verraste Meilerstätte lag, so war
es ganz natürlich, daß sich diese vier Mann auf der runden, grünen Tafel morgen¬
ländisch zur Mahlzeit lagerten.
Manche der Speiseträger essen vor, manche nach dem Waldgang zu Haus;
manche nehmen ihr Teil mit, um es an der Seite des Holzmachers im Wald zu
genießen, je nach Lust und häuslichen Umständen. Madlene hatte sich für die letzte
Weise entschieden und ließ sichs an der Seite des Vaters vorzüglich schmecken.
Denn damals war es noch anders. Da schmeckte auch das Essen anders. Aber
wie es damals demi Frieder schmeckte, das anzusehen war doch eine wahre Lust.
Er hatte die Hemdärmel bis an den Ellenbogen ausgestülpt beim Holzmacher, und
so aß er auch. Und wie er so dalag an der Schüssel, und Gesundheit und Kraft
aus allen Blößen lachte, da hätte ein Mädchen wahrhaftig blind sein müssen,.
wenn es nicht ein wenig hätte betroffen werden wollen, Madleue fühlte, daß sie
nicht zu oft nach diesem Frieder hinschicken dürfe; denn sie wollte mit keiner
Miene verraten, daß sie am liebsten gar nicht von ihm weggesehen hätte. Eine
solche Bangigkeit hatte noch nicht hinter dein Brusttüchlein gewirtschaftet. Aber
der Frieder mußte schon damals ein hartköpfiger Bursche sein; denn er merkte
nichts und merkte nichts.
Die Tafel ward aufgehoben. Die ältern Männer suchten das Kühle, um
mit geschlossenen Unger ein Stündchen zu ruhn. Die Jugend verschmähte es
jedoch, die Augen zu schließen. Alte Tannenzapfen trugen den neckenden Übermut
hin und her, und junge Speiseträgerinnen wurden von losen Burschen gejagt und
niedergeworfen, daß sie hellauf lachten und kreischten.
Frieder blieb liegen. Wenn er gradaus sah, traf sein Blick auf die Füße
der Madleue. Im bäuerlichen Leben hat ja das nichts zu sagen. Aber dem
Frieder mußte der Anblick doch was zu sagen haben. Er hatte eben keinen rohen
Sinn, und die Saiten seines Gemüts waren schon durch Feinheiten in Schwingung
zu bringen. Und so sah denn der Frieder „gradhincms wie ein gestochnes Kalb."
Hätte er seinen schönen Kopf nicht einmal ein wenig nach hinten werfen können,
daß sein Blick das Mädchen unter einem andern Winkel getroffen hätte — mindestens
in der Gegend des Busens, sodaß er gesehen hätte, wie dort die Bangigkeit wirt¬
schaftete —, oder etwas weiter hinauf den wonnigen roten Saum der weißen
Zähne, oder noch ein wenig höher, die eggertsen Augen, die sich jetzt unbeobachtet
wußten und wie angeheftet auf dem Burschen ruhten?
So war es schon mit Schweigen und Zurückhaltung angegangen. Freilich
war es ein andres Schweigen: das Schweigen der Apfelblüten und Rosenknospen,
wenn sie der Mittagssonne ihre Herzen öffnen, nicht das Schweigen der Entsagung:
das Schweigen der zitternden Hingebung im tiefen Grund des Herzens.
Plötzlich springt Madlene auf. Da wirft Frieder den Kopf zurück. Sein
Blick trifft in das eggertse Auge: ein banges, geheimnisvolles Haften, Glühen.
Dann klapperten Löffel, Messer, Gabeln, Teller, Töpfe, und Madlene kehrte der
alten Meilerstätte den Rücken. Sie lief schneller, als es nötig gewesen wäre, in
schräger Richtung an dem Abhang dahin.
Frieder trieb mit wuchtigen Axtschlägen einen Keil in einen Baumklotz und
gab so das erste Zeichen zum Abbruch der Mittagsrast. Bald erdröhnte die
Bergwand unter Sägen und Schlägen der fleißigen Leute, und alles ging seinen
gewohnten Gang, als wäre nichts Besondres vorgefallen. Es war auch weiter nichts.
Das war um Freitag vor Pfingsten gewesen.
Die Maß war gewaltige. Der Heiligabend hatte wie überall, so auch in
unserm geschiehts- und zukunftslosen Dörflein den Frauen und Mädchen viel Arbeit
zugewiesen. Es gab zu scheuern, zu putzen und zu backen, so viel, daß die Manns¬
personen hansflüchtig wurden, um nicht mit ihrer Tölpelhaftigkeit den emsigen, aufge¬
regten, hin und her schießenden Wirtschafterinnen im Weg zu sein. Die Bube»
tummelten sich auf der „Raudefucht,"die Burschen holten Maien, die Alten
machten sich in Scheune, Schuppen und Stall zu schaffen. Nur der Schneider
war nicht von seiner Brücke zu bringe«; der hatte bis zum Kirchgang am kommenden
Morgen noch viel vom Gewissen herunter zu arbeiten. Es gab nur einen im
Dorf. Der bügelte gerade einen „Motzen," als die Thüre aufging und ein
Prächtiger Mädchenkopf in die Stube guckte und rief: Wie weit seid Ihr mit
meiner Schoppen? — Da hängt sie. Wenn du sie morgen so anziehen wollest,
wär mirs ein großer Gefallen. — Alter Lügensager! Die ist ja nur geheftet.
Ich glands. Ihr thät't Euch nichts draus machen und schicktet mich mit den
großen weißen Stichen in die Kirch! — Probier sie einmal an, Madlene! —
Madlene huschte in die Stube. Aber es sind ja noch keine Ärmel drin. —
Gleich! — Der Schneider stellte sein Bügeleisen in die Kohlen und heftete die
Ärmel an. So, nun flink! — Madlene schlüpfte in das unfertige Ding. — Es
kommt alles drauf an, wie sie unter den Armen ringsherum sitzt. So, recht schön
so! Dabei strich er und zupfte und zog bald hinüber, bald herüber, bald nach
unten, bald nach oben. Sitzt wie angegossen, Madlene! Morgen beim ersten
Läuten bring ich dir 's Schöppla! — Das läßt Euch Gott reden! Machts
nur gut und bügelts hübsch! — Wie der Wind war sie wieder davon.
Im Müsershaus wurden an dem Abend auch uoch Waffeln oder Pfannkuchen
gesotten. Das war von altersher das Pfingstrccht, vielmehr die Pfingstpflicht der
Hausfrau. Madlene hatte natürlich dabei zu helfen. Ja, das Wnsfelsieden! Wenn
es gefehlt hätte, wär das kein richtiges Pfingsten gewesen.
Der Kleine hatte sich heute nicht auf den Spielplätzen herumgetrieben. Er
war in das letzte Schuljahr eingerückt und nicht mehr ans die Nandefncht erpicht,
biß schon etwas Gesetztes heraus und kam eben mit etlichen Birken um, als das
Waffelsieden in der Küche begann. Die Nacht war schon angebrochen. Madlene
eilte zum Kleinen in die Hausflur und rief: Klemmer, wos Hofe du duch su graße
Birken! Warm sie dir nit zu schwer? — Freilich! Wenn der Nödersfrieder
nit ein Einsehn gehabt hätt, wärs übel gangen. Der hat meine Mai'n mit auf
seinen Handwagen geladen. Ich hab mich mit angespannt; so gings prächtig! —
Hat der auch Mai'n geholt? — Was denn? Und große, zweimal so groß wie
die da! — Husch! war die Madlene wieder beim Waffelsieden in der Küche.
Ob sie auch sehr müde war, in dieser Nacht walzte sich Madleue lange
schlaflos in ihrem Bett. Sollte der Nödersfrieder schon Eine haben? Wer wirds
sein? Wem wird er die Mai'n stelln? An mich denkt niemand in der Welt. —
Ich muß doch gar nit schön sein! — Und sie weinte in dieser Nacht zwischen
zwölf und ein Uhr wie ein kleines Kind, bis sie einschlief.
An der „Porlam"") hin — einem von der Küche auslaufenden Gang, dessen
eine Längswand von der Brüstung bis unter das Dach offne Bogen hat — lief
eine dünne Stange zum Trocknen kleiner Wäsche; darauf saß die treue Haus¬
schwalbe und sang ihren Morgengruß, der durfte zum Pfingstfest nicht fehlen.
Drinnen die Schwarzwälderin verkündigte mit vier hellen Glockenschlägen den
Anbruch der Morgenröte. Alles schlief uoch fest im Müsershaus. Es war ja der
erste Feiertag. An keinem andern Morgen macht sich das Bedürfnis der Ruhe
so nachhaltig geltend als am ersten Feiertngsmorgen, weil er vom arbeitsschweren
Heiligabend geboren wird. Und an keinem andern Morgen wirkt der Zauber der
Nuhe so gewaltig; deun auf den erste» Feiertag folgt ja noch ein zweiter. Ju
die Nuhe herein ragt Ruhe, nicht Arbeit, wie an einem Sonntag. Die Sonntags¬
ruhe wird in schlimmen Arbeitszeiten für den Landmann durch deu Montag hart
bedrängt. Aber der Morgen des ersten Feiertags blickt nach dem Morgen eines
zweiten Feiertages, der deu ersten jeglicher Berührung mit den Mühen und Drang¬
salen der arbeitsvollen Zukunft enthebt und dadurch seine Feier und weihevolle
Nuhe zu eiuer Höhe steigert, die das menschliche Gemüt in eine Glückseligteits-
Stimmung versetzt, wie sie im irdischen Leben eben nur durch den ersten Feiertag
gewirkt werden kann. Feste können nur durch einen zweiten Feiertag zu „hohen"
Festen werden. Erst durch ihn wird der erste Feiertag zum heiligsten Tag der
Himmelsruhe in Gott. Von einer Ahnung dieser Erhabenheit zeugt die Streuge
der Heilighaltung, die das Volk dem ersten Feiertag allezeit zu wahren gewußt hat.
Das Lied der Schwalbe klingt in eine feierliche Stille hinein. Nur dann
und wann läßt der Haushahn seine Stimme erschallen, um dem Nebenbuhler drei
Häuser weiter mit einem Zeichen von Vollbewußtsein seiner Herrseherwürde zu
antworten. Ein prächtiges Morgenrot beginnt sich zu entfalten. Ein befiederter
Sänger nach dem andern erwacht. Über dem Müsershaus schwebt eine schmetternde
Lerche. Auf dem Birnbaum hinter der Porlam schlägt der Fink. So ist es jeden
Morgen, seit der Lenz regiert. Und doch ist es heut anders. Es ist alles ernst¬
hafter und feierlicher. Wissen denn die Tiere auch, daß erster Feiertag ist? Sie
haben jeden Tag ersten Feiertag, soweit sie noch nicht der Natur abwendig gemacht
find. Aber der ewigen Naturweise sind wir am Werkeltag unzugänglich; am
ersten Pfingstmorgen ist unsre Seele stille genug für den Geist der Wahrheit.
Mit dem letzten der sechs hellen Glockenschläge erhebt sich im Müsershause
die Hausfrau gestärkt vom Lager. Sie begiebt sich nach der Stube und ans Fenster,
um die Feierlichkeit dieses Morgens auf sich wirken zu lassen. Sie braucht niemand
zu wecken; es ist heute erster Feiertag. Bei diesem Gedanken ist es ihr, als schwebe sie
durch das Zimmer; so leicht und Wohl ist ihr zu Mut, daß sie singen möchte. Es
waren ihr auch schon einige Töne über die Lippen geschlüpft; aber da dachte sie
an deu Großen in der Fremde. Wo wird er heute zur Kirche gehen?
Sie schob das Fenster nächst der Hausthüre auf. Mit einem Ruf der Über¬
raschung fuhr sie wieder zurück. Da standen vor der Hausthür zwei mächtige
Maien, die ihre Spitzen hoch über die Dachrinne erhoben. In der ersten Erregung
eilte sie hinaus, Madlene zu wecken. Doch auf der zweite» Bodentreppenstufe
kehrte sie wieder um. Schlaf du, Madleue! Ruh ans! Wer weiß, obs frommt? —
Sie holte zwei große Töpfe und stellte die Birkenstümme hinein; dann goß sie
Wasser ein — damit sie hübsch frisch bleibn. Ach, als ich meine ersten Mai'n
gesetzt bekommen hatte! Die Freud selmal! Nun gehts bei der Madlene so an.
Sie wischte sich eine Thräne aus dem Gesicht. Inzwischen war der Hausvater
auch erschienen. Und als er die Maien anstaunte, sagte sein Weib, das hinter ihm
stand: Weißes noch? Warm schöne Tag, jenes! Wie die Zeit vergeht! Sie ging
in die Küche zur Bereitung der Morgeusuppe. Der Kleine lächelte, als er die
Maien vor der Thüre sah; aber er sprach kein Wort darüber, weder zur Mutter
noch zum Vater, noch später zur Schwester. Er brummte aber damals schon vor
sich hin: Woh is denn mei sogen?
Madlene hatte sich um eine Stunde verschlafen. Die Natur hatte ihr Recht
gefordert. Sie fuhr mit beide» Händen nach der Brust, als sie die Maien sah,
wurde feuerrot und hätte sich beinahe geschämt. Dann ging sie über den Hof
nach dem Holzschuppen, als fehle es an Holz in der Küche; aber drinnen im
Schuppen wandte sie sich um und blickte nach den Maien drüben an der Hausthüre,
wie groß sie wären und wie prächtig belaubt, und wie schön weiß die Stämme
blitzten. Dabei vergaß sie das Holz und kam leer in der Hausflur an, sodaß sie
noch einmal hinüber mußte. Zum zweitenmal blieb sie ein wenig länger: der
Anblick war zu schön, und die Gedanken, die sich daran knüpften, jagten einander
wie spielende Vöglein im blühenden Kirschenbaum. Aber nun brachte sie wirt¬
lich Holz.
Beim ersten Läuten brachte der Schneider die Schope. Der Kleine saß im
Hofe auf einem Holzklotz und schmierte das Schuhwerk, Vater und Mutter waren
im Stall. Madlene war allein in der Stube und stand am Spiegel, ihr Haar
feiertagsniäßig zu bändigen, als der alte Schneider eintrat. Sie fuhr herum und
wäre beinahe erschrocken. Weil es aber der Schneider war, lachte sie ihn an und
fragte nichts darnach, daß eine schöne Neugierde das blüteuweiße Hemd und den
unter dem Kinn qnerhinflutendcn Haarschwall zu durchbrechen drohte.
Ihr seid doch ein braver Mann! Sie wird mir doch gut stehn? Legt sie
aufs Webzeug! Wenn ich hernach vorbei in die Kirche geh, werde Ihr mich
schon sehn. Alleweil hab ich keine Zeit zum Anprobirn.
Wenn ich daheim sein werde! Hab da noch viel an den Mann zu bringn.
Zerreiß dei Schöpla gönnt, Madlene! Guten Morgen! Der Alte hatte noch eine
hübsche Anzahl neuer Kleidungsstücke über dem Arm liegen und schritt stolz durchs
Dorf, als hätte er eiuen Haufen Heldenthaten zur Schau zu tragen.
Nach der Mvrgensuppc schnitt Madlene einen Rosmarinstengel, etliche Mnskat-
blättlein, Gelbveichelein und Aurikeln ub, fügte alles zu einem Sträußchen und
machte sich auf den Weg zur Kirche, das Konfirmationsgesangbuch in der Hand
und das weiße Thränentüchlein im Schürzenband. Die Kirche war eine Viertel¬
stunde entfernt. Wer sich zur Madleue gesellte, kam auf ihre Maien zu sprechen,
und sie hatte manchen Stich auszuhalten. Das junge Volk trieb sich unter den
blühenden Bäumen vor der Kirchhofsmauer schäkernd umher. Madlene aber wagte
es nicht, sich darunter zu mischen. Ihre eigenste Freude wollte sie sich nicht zer¬
zupfen und zerzausen lassen. Sie wäre gern dem Nödersfrieder begegnet — der
Maien wegen, weil sie ihn daraufhin einmal ansehen wollte. Wie sie durch das
Mauerthor geschritten war und eben einmal an ihren Strauß roch und sich dabei
ein wenig umsah, stand da wirklich der Frieder im Gespräch mit seinem Nachbar.
Madlene erschrak, daß das Sträußlein ihrer Hand entfiel, und als sie es aufhob,
siel das Gesangbuch zur Erde. Frieders Nachbar rief lachend: Was hast du denn
schönes gefunden, Madleue? Hast ja Glück wie ein Güllcsnnntigskind! Frieders
Rücken war ihr zugekehrt. Nun drehte sich der Ersehnte um, und Madlene guckte
ihn wirklich auf ihre Maien hin an. Es war freilich nur so wie zufällig im
Vorübergehen. Aber was kann nicht vorgehen zwischen zwei Augenpaaren mich
im Augenblick des Vvrübergehens! Das Schicksal zweier Menschen mit unendlich
viel Glück oder Elend kann sich da anspinnen.
Der Frieder sprach kein Wort; er mußte ganz vergessen haben, was ihm vor
zwei Tagen auf der alten Meilerstätte ans den eggertsen Augen ins Herz gefallen
war, und daß es ihm aus deu eignen Augen geglüht hatte. Denn anch seine
Augen sagten nichts. Kurz, der Kerl nahm sich aus wie ein leeres Blatt
Papier.
Nun hatte sie ihn daraufhin angesehen und mußte leer ausgehen. War ers,
oder war ers nit? So gings ihr im Kopf herum, auch während der Predigt.
So gings ihr am Mittagstisch im Kopf herum und nachmittags, als sie sich hinter
den Gartenzäunen hinschlich. Die Lerchen sangen: Er wars! und die Grasmücken
und der Spottvogel sangen: Er wars nit! Er wars nit! Und der Notschwanz
nickte, und die Bachstelze schüttelte mit dem Kopf. Die Bienen an den Stachel¬
beerhecken summten: Was gehts uns an? und die Maikäfer brummten: Wer wird
denn so blöd sein? Frag ihn doch!
(Fortsetzung folgt)
Die Entgegnung, die der Staatssekretär
des Innern in der Reichstagssitzung vom 13. Dezember vorigen Jahres dem Ab¬
geordneten Bebel ans seinen abgedroschnen Vorwurf: die Arbeiter fänden keine
genügende Berücksichtigung im Reich und in den Einzelstaaten, hat zu teil werden
lassen, ist natürlich Veranlassung geworden zu neuen beweglichen Klagen über
den Stillstand der Sozialreformen in dem vielstimmigen Chor der Generalpächter
sozialer Gesinnung und Arbeiterfreundlichkeit. In bekannter Weise haben dabei
besonders die sozialpolitischen Kundgebungen des Kaisers von 1890 wieder her¬
halten müssen. Auch die Soziale Praxis der Herren von Berlepsch und von Rotten¬
burg hat es sich nicht nehmen lassen, ihren Lesern von neuem den angeblichen
Widerspruch zwischen der heutige» Lage der Sozialpolitik im Reiche und der
Kabinettsordre vom 4. Februar 1890 aufzutischen, in der es heißt: „daß es
eine Aufgabe der Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit
so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die
wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleich¬
berechtigung gewahrt bleiben." Diese mißbräuchliche Verwertung der Februarerlasse
durch Leute, die weder zur Mitarbeiterschaft an der Spezialität unsrer „ersten"
Pamphletisten, Quitte und Harden, noch zur Gefolgschaft der Herren Bebel und
Liebknecht gehören, hat ihre giftige Wirkung dadurch nicht verloren, daß sie chronisch
geworden zu sein, und daß man sich gewissermaßen an sie gewöhnt zu haben scheint.
Es ist vielmehr, schon in Rücksicht auf die akuten Erscheinungen, die die bevor¬
stehende Reichstagswahlkampagne zeitigen dürfte, dringend geboten, dieses Hcmpt-
und Paraderüstzeug der sozialistischen Schwarmgeister, wo immer es in Aktion
gesetzt wird, in seiner ganzen Kläglichkeit zu zeigen. Seine Schärfe besteht doch
nnr in der Gedankenlosigkeit der Masse und seine Wirkung in der Unter¬
grabung des Vertrauens dieser Masse zu der Person des Kaisers, desselben Kaisers,
der wegen der Februarerlasse von der sozialpolitischen Reaktion aufs äußerste
verhöhnt und bekämpft worden ist und noch bekämpft wird. Man kann die Frage
füglich für müßig erklären, ob die Kundgebungen von 1890 mit Rücksicht auf jeden
möglichen Mißbrauch durch Unverständige und Böswillige besser unterblieben wären.
Sie sind da, sie find gemißbraucht worden, wie Worte und Sätze und der ganze
Inhalt von Thronreden und andern „Allerhöchsten" Kundgebungen gemißbraucht
worden sind zu allen Zeiten und überall, auch vor und nach Bismarcks Rücktritt.
Aber das steht fest: sie werden in der Geschichte Wilhelms II. dereinst ein schönes,
rühmenswertes Blatt bilden, trotz Mißbrauch und Undank, die bisher ihr Lohn
waren. Davon, daß sich heute die Sozialpolitik des Reichs in Widerspruch gesetzt
habe zu dem sachlichen Inhalt der 1890 er Politik, kann gar keine Rede sein; die
Rederei vom „neuesten Kurs" in diesem Sinn ist bis heute eine Fabel, eine Lüge
geblieben. Wie könnte sich auch ein Politiker mit gesunden Sinnen nur so stellen,
als ob er die von der Soziale» Praxis zitirten Sätze der Kabinettsordre vom
4. Februar 1890 dahin aufgefaßt hätte, daß um. sofort, überall, für alle Arten
von Arbeitern nach Geschlecht, Alter und Beschäftigung und ohne jede Rücksicht
auf alles historisch Gewordne und berechtigt Bestehende eine bis ins einzelne
gehende Reglementirung „der Zeit, der Dauer und der Art der Arbeit" zur aus¬
giebigsten Wahrung „der Gesundheit, der Sittlichkeit, der wirtschaftlichen Bedürf¬
nisse und des gesetzlichen Anspruchs auf gesetzliche Gleichberechtigung" der Arbeiter
von Reichs wegen Platz greifen sollte? Wie könnte er behaupten, daß der Kaiser
das versprochen habe, und daß man deshalb heute, im Januar 1898, die Regie¬
rung des Widerspruchs mit dem kaiserlichen Wort von 1390 beschuldigen dürfe?
Die Herren von Berlepsch und von Rottenburg selbst sind sicher am weitesten
davon entfernt, so etwas zu glauben und so etwas zu behaupten. Wie würden
die Dienste, die sie dem Kaiser jahrelang geleistet haben, wohl sonst bezeichnet
werden müssen? Aber die Fabel vom neuesten Kurs hat doch nur Sinn, wenn
man solchen, Unsinn in die Erlasse hineindeutet. Faßt man sie auf als das, was
sie in Wahrheit sind und nur sein können, als allgemeine, prinzipielle, ihrem
Wesen nach zunächst rein theoretische Darlegungen persönlicher Anschauungen des
Monarchen über zukünftig ins Auge zu fassende Ziele der Fürsorge für die
arbeitenden Klassen, so fällt selbstverständlich jedes Recht, irgend welche sozial¬
politische Maßnahmen der letzten Zeit als einen Bruch des kaiserlichen Worts dar¬
zustellen, in sich zusammen. Der Kaiser hat 1890 sehr nachdrücklich und zur
rechten Zeit jenem rücksichtslosen Unternehmeregoismus und seinen noch rücksichts-
losem Organisationen, die sich nach Durchführung der Arbeiterversicheruug das
Recht anmaßen wollten, sich als unübersteigbaren Wall zwischen Arbeiter und
Regierung einzuschicken und so unumschränkt die soziale Gesetzgebung zu beherrschen,
den Riegel vorgeschoben, und die Grenzboten und alle ihre Freunde haben ihm
das gedankt und werden es ihm immer danken. Herr von Berlepsch und Herr
von Rottenburg müssen wissen, was dieser Schritt im preußischen Deutschland be¬
deutete, sie müssen wissen, wie die ausgesprochen antisoziale großindustriell-agrarische
Fronde seit 1890 gegen den Kaiser gehetzt und geschürt hat und immer noch hetzt
und schürt bis an die Stufen des Thrones heran, und Herr von Berlepsch und
Herr vou Rottenburg sollten deshalb wenigstens, soweit ihr Einfluß reicht, alles
aufbieten, zu verhindern, daß dieser Fronde immer wieder Wasser auf die Mühle
gegossen Wird. Wenn sie dieser Pflicht in der öffentlichen Diskussion der Frage
vom Stillstand der Svzialreformen nicht genügen, so trifft sie ein schwerer
Vorwurf.
Die Erklärungen des Staatssekretärs des Innern vom 13. Dezember gegen
den Abgeordneten Bebel verdienen den vollsten Beifall jedes verständigen Sozial¬
politikers in Deutschland. Es war wohl gerechtfertigt, den sozialdemokratischen
und andern sozialen Hetzereien gegenüber ans die Niesenleistung des Reichs in der
Arbeitervcrsichernng hinzuweisen, auf die gesetzlich sicher gestellte Aufwendung von
täglich 1000 000 Mark für die arbeitenden Klassen zur Linderung der leidigen
Folgen des Lebens von der Hand in den Mund. Was ist solchem dauernden Auf¬
wand gegenüber die einmalige Ausgabe, die jetzt für die Instandsetzung der
vernachlässigten Flotte verlangt wird? Schon um die 365000000 Mark an jähr¬
licher Rente für die deutsche Arbeiterschaft zu sichern, ist die in der Marine-
Vorlage geforderte einmalige Prämie gerechtfertigt. Der Staatssekretär hat auch
mit Recht auf die fast vollständige Befreiung der Arbeiter von den direkten Steuern
in den Einzelstaaten hingewiesen; hierbei kommt in Betracht, daß neben dieser Be¬
freiung überall vielleicht noch höher zu bewertende und steigende Zuwendungen
an die nrmern Bevölkerungsschichten in der Form staatlicher und kommnnaler
Kranken-, Armen- usw. Fürsorge stehen. Schon dieser Thatsache gegenüber ist die
Behauptung Bebels: die Arbeiter fänden keine genügende Berücksichtigung im Reich
und in den Einzelstaaten, unwahr. Freilich nicht um ein Haar unwahrer als die
agrarische Behauptung: die Landwirtschaft sei seit Bismarcks Abgang mißhandelt
worden. Man müßte eigentlich darüber staunen, daß Graf Posadowsky dieser
agrarischen Unwahrheit gegenüber nicht ein Wort der Entgegnung gefunden hat,
wenn man nicht wüßte, wie die Sachen nun einmal stehen, und wie sie vollends
stehen würden, wenn nicht des Kaisers Autorität über den Herren schwebte — nicht
als toter Zierat, sondern als persönliche aktive Kraft mit höchstem Verantwortlich¬
keitsgefühl auch für die 1890 er Kundgebungen.
Weit wichtiger aber war das, was der Staatssekretär des Innern am 13.
gerade über die Notwendigkeit der Ruhe in der sozialpolitischen Gesetzgebung
gesagt hat, und seine treffende Zurückweisung der soziale» Vielregiererei. Wir
müssen in der Sozialpolitik durchaus einmal zur Ruhe, zur Besinnung, zum Ver¬
dauen kommen, wenn der soziale Fortschritt nicht zum Rückschritt werden soll. Je
entschiedner die Regierung jede Aussicht des durch den stnatssozialistischen Doktri¬
narismus im Laufe der letzten zehn Jahre in Masse gezüchteten Strebertums ver¬
nichtet, wieder einmal in der Gesetzgebung und in der Verwaltung seinen Thaten¬
drang befriedigen zu können, um so eher wird es möglich sein, in der Praxis und
in der Wissenschaft der Sozialpolitik zu der Ruhe zu gelangen, die die Vor¬
bedingung für dauernde, segensreiche Erfolge ist. Von diesem Gesichtspunkt aus
hat mau die Erklärungen des Grafen Posadowsky im Interesse des wahren
sozialpolitischen Fortschritts aufs wärmste zu begrüßen, und man kann mir
wünschen, daß die Thaten den Worten entsprechen mögen. In der Praxis wie
in der Wissenschaft hat uns die Sucht nach Neuem und die Anmaßung und Ein¬
seitigkeit der Neuen auf den Holzweg geführt, der zur Vernichtung des sittlichen
Wertes der Individuen, zur Aufhebung der sozialen Pflicht und der Verantwortung
der Einzelnen und damit zum Verfall des Ganzen fahren muß. Da ist Ruhe
und Beruhigung zu schaffen die dringendste Aufgabe der Staatsgewalt als sozialer
Heilanstalt. Brom kann sie nicht verschreiben, und Zwangsjacke und Gununizelle
würden wahrscheinlich mehr aufregen als beruhigen. Der Kraute muß vor allem
von der überlegnen Unbeugsamkeit des Arztes dem Größenwahn und der Rcform-
sucht gegenüber überzeugt werden, wenn er zur Vernunft kommen soll. Damit ist
hoffentlich jetzt der Anfang gemacht, und wer noch gesunden Sinn behalten hat
unter den Freunde» sozialen Fortschritts, der sollte den Staat kräftig in seinem
Beruhigungsverfahren unterstützen.
Nicht einen Stillstand, sondern einen Fortschritt in der Sozialpolitik bedeutet
diese Ruhe, es sei denn, daß man das Ausbrüten neuer sozialpolitischer Probleme
und ihre Ausgestaltung zu Gesetzespnragraphen als Selbstzweck betrachtete. Wer
die Besserung der sozialen Lage und die Sicherung des sozialen Friedens als Zweck
der Sozialpolitik des Reichs anerkennt, der hat auch die Ruhe, die nach dem
Willen der verbündeten Regierungen jetzt in den äußern Reformen eintreten soll,
als unerläßliches Mittel zum Zweck zu begrüßen. Freilich, wer mit den Menschen
umspringen zu dürfen glaubt, wie der Chemiker mit Atomen, wer die unberechen¬
baren und unbezwingbaren Regungen im Menschenherzen, die guten wie die bösen,
und die tausenderlei Kombinationen von Dummheit und Klugheit im Menschenkopfe
nicht kennt und nicht berücksichtigt, der kann das nicht verstehen. Aber der soll
auch den Staatsmann und Sozialpolitiker nur in der Studirstube spielen. Vor
den Leuten soll er den Mund halten, ja schon im Hörsaal wird er mehr schaden
als nützen.
Zur Ruhe kommen müssen zunächst die deutschen Arbeiter selbst. Sie haben
ja im ganzen das alte Jahr verhältnismäßig ruhig beschlossen und das neue in
Frieden begonnen. Es scheint, daß sich in dem an der Jahreswende 1896/97 im
Hamburger Hafen tobenden Kampfe die sozialdemokratischen Unruhestifter etwas
stark verschossen haben, und wenn nur die Herren Kathedersozialisten ihren Thaten¬
drang bemeistern lernen, so werden wohl die Arbeiterführer nicht wieder sobald
die Verantwortung sür neue Mnssenausstände übernehmen. Aber die Brentanosche
Einmischung in den englischen Maschinenbauerausstand zwingt uns auf der Hut zu
sein. Die deutschen Arbeiter haben 1897 überall ihr gutes Brot gefunden, das
neue Fahr fängt fast mit noch bessern Aussichten an. Wer arbeiten will, wird
auch 1393 guten Verdienst haben und nach besserm zu streben ermutigt werden.
Wehe deuen, die sich anmaßen sollten, die Arbeiter in Deutschland wieder zu Auf¬
ständen zu verleiten, um doktrinären Hirngespinsten praktische Experimente folgen
zu lassen. Die Ausstaudsschürerei der sozialistischen Professoren und Pastoren geht
weit hinaus über die Grenzen, die durch die Latus xublieÄ der Freiheit der
Wissenschaft gezogen sind, und wer von den Herren in Zukunft nicht hören
will, der wird fühlen müssen. Zur Ruhe kommen sollen endlich aber auch
die Unternehmer. Wer der privaten Unternehmerschaft überhaupt den Garaus
machen will, der mag das nicht einsehen, aber er soll sich dann offen zum voll¬
ständigen Bruch mit der bisherigen Gesellschaftsordnung bekennen, er soll ehrlich
auf die Seite der Sozialdemokratie treten, auf die Seite der ausgesprochnen Feinde
des bestehende»! Staates und seiner Autoritäten. Giebt man die Berechtigung der
Fortdauer des Privaten Unternehmertums zu, so muß mau auch die unerträgliche
Hetze gegen die Unternehmer, wie sie bisher auf der ganzen Linie der doktri¬
nären Sozialreformer in der Mode war, als unvernünftig, zweckwidrig und vor
allem als ungerecht zugeben. Es ist äuverständlich, wie Leute mit gesundem
Verstand und etwas Gerechtigkeitssinn, die sich sozialpolitischer Einsicht rühmten,
die unerträgliche Ungerechtigkeit nicht erkannten, die in der grundsätzlichen, be¬
dingungslosen sogenannten Arbeiterfreuudlichkeit unsrer modernen Kathedersvzialisten
liegt. Systematisch haben diese vermessenen Volkspädagogen die Unternehmerschaft
verbittert und die ins Recht gesetzt, die ihr jedes Nachgeben auch gegen wohlbe-
gründete Forderungen der Arbeiter als eine Untergrabung der eignen Existenz¬
bedingungen hinstellten. Die Körbe voll ungewaschnem Zeug, die Jahr für Jahr
aus den staatssozialistischen Lehrwerkstätten Deutschlands in die Druckereien geliefert
worden siud, um „Kapital" und „Kapitalisten" in ihrer teuflischen Bosheit vor
allem Volk zu brandmarken, haben dem Fortgang der sozialen Reformen unendlich
geschadet, noch viel mehr als die materiellen Opfer und Unbequemlichkeiten, die viele
der schablonenhast eingeführten äußern Reformen für einen großen Teil der
Unternehmer im Gefolge gehabt haben. Es ist traurig, wie es diese Pharisäer
der Arbeiterfreundlichkeit grundsätzlich ablehnen, sich auch einmal in die Lage
der Unternehmer zu versetzen und sich zu vergegenwärtigen, wie es dem wohl¬
wollenden, gewissenhaften Arbeitgeber zu Mute ist, wenn es von Professoren und
Pastoren seinen Arbeitern als Pflicht gepredigt wird, in ihm nur den Feind, den gewissen¬
losen Ausbeuter zu betrachten, dem jedes Recht in seiner eignen Werkstatt genommen
werden müsse, weil er es doch nur mißbrauche, um dem braven, harmlosen, fleißigen
Arbeiter, von dem er erhalten werde, sein sauer verdientes Brot zu verkürzen und
zu stehlen. Man weiß nicht, soll man über die Dummheit lachen oder weinen,
die den sozialen Reformen auf diese Weise diene» will und doch auch die Bei¬
behaltung des privaten Unternehmertums zu Wollen vorgiebt. Als ob nicht der
gute Wille der Unternehmer von der grüßten Bedeutung wäre für alle Sozinl-
reformen in der heutigen Gesellschaftsordnung! Dadurch ist man zu der Absurdität
gekommen, daß der Staat je zehn Arbeitern einen Schutzmann oder gar einen
Gewerberat beigeben müßte, um den sogenannten Arbeiterschntz zur Wahrheit zu
macheu. Also gebt Ruhe in der Sozialpolitik, ihr Herren Gesetzgeber, wenn ihr
die Svzialrcformen im Sinne der kaiserlichen Kundgebungen von 1390 nicht zum
Stillstand bringe» wollt! Gebt Ruhe, ihr Herren Kathedersozialistcn, wenn euch
nicht der Staat mit gewaltiger Hand das Handwerk legen soll, wo ihr zu lange
als Bocke die Gärtner gespielt habt, eurer anmaßlichen Arbeiterfrcnndschnft zu Liebe,
aber den Arbeitern zu Leide!
Neben der schon ein Vierteljahrhundert
lang aus eigner Kraft bestehenden deutscheu Kingsinlinie, deren Dampfer schon seit
Jahren aller vierzehn Tage von Hamburg nach Japan fahren, dehnt nnn auch die
Hamburg-Amerikanische Paketfahrtgesellschaft, die größte Dampfcrgesellschaft der
Erde, ihre Fahrten nach Ostasien aus! Am 25. Januar wird der erste große
Dampfer der Gesellschaft dorthin abgehen, und zwar ohne mehr als einen andern
enropäischen Hafen anzukaufen; vorläufig soll monatlich ein Dampfer (mit 12 See¬
meilen Geschwindigkeit) abgeschickt werden, später sollen noch schnellere Passagier¬
dampfer in die Linie eingestellt werden. Fürwahr ein prächtiges Unternehmen,
kühner Handelsherren würdig, das goldne Früchte für ganz Deutschland tragen kann,
wenn es richtig gewürdigt wird. Mit Recht ist die mächtige hamburgische Gesell¬
schaft stolz darauf, daß sie von jeher aus eigner Kraft, ohne jede Staatshilfc
wachsen und schaffen konnte. Während die vom Reiche unterstützten Dampfer des
Norddeutschen Lloyd den größten Teil ihrer Ladung in Antwerpen, Southampton
und Genua nehmen, also auch noch dem Auslande billige Frachtgelegenheiten bieten,
wollen die hamburgischen Dampfer ohne Staatshilfe und ohne fremden Seehandel zu
fördern, den Wettbewerb gegen die staatlich unterstützten deutschen und fremden Linien
aufnehmen. Das fordert Bewunderung und warmes Lob! Aber nicht das allein —
denn gerade weil diese weitblickenden unternehmenden deutschen Männer aus eigner
Kraft es wagen, auf gut Glück die deutsche Handelsflagge in den fernen Osten zu
führe», ohne daß ihnen der Einsatz an Unkosten, den das großartige Unternehmen
fordert, bei Mißerfolgen von irgend jemand gedeckt werden würde, hat das Vater¬
land, also das Reich, die Pflicht diese Thatkraft wirksam zu schützen. Der Deutsche,
der in fernen Gewässern für sich und also mittelbar mich für das Vaterland wirkt,
Handelsgelegeuheiien aufspürt und ausnützt, der hat dasselbe Recht auf Schutz
durch die Reichsgewalt, wie jedes andre nützliche Glied der Gesellschaft im eignen
Lande. Glückauf den hamburgischen Reedern, die so großes beginnen! Möchten
sie alle fremden Flaggen bald im Erfolge hinter sich lassen! Dem Kühnen gehört
die Welt! — Was werden aber die Theoretiker nach Schema „Richter" von solcher
Die sozialdemokratischen
Zeitungen nehmen bei ihren Neujnhrsbctrachtuugen den Mund natürlich wieder ge¬
waltig voll. Es wird mit ungeschwächten Kräften weitergewühlt, gehetzt, gestachelt
und gelogen. Der Leipziger Volkszeitung, „Organ für die Interessen des gesamten
werkthätigen Volkes" (Auflage 22 500) war am 3l. Dezember ein Wandkalender
für das Jahr 1898 beigelegt, der folgende Tabellen enthält, die also dem werk¬
thätigen Volke jeden Tag des neuen Jahres vor Augen stehen sollen:
Die Schulden des deutschen Reiches betrugen:
Daneben besteht noch eine unverzinsliche Reichsschuld in Gestalt von Reichstassenscheinen
(120000000 Mary.
Die Zinsen für die Reichsschuld betrugen:
Für Heer und Marine sind die Ausgaben lüll. Pensionsfonds seit 1872 gestiegen:
In den 20 Jahren (1872—97) sind verausgabt:
Eine Hausfrau mit einer sünfko'pfigen Familie inn
Woche folgende indirekte Steuern bezahlen. Aufbeim Einkauf ihrer Bedürfnisse pro
Mithin hat die Familie jede Woche 1,04 Mk. oder im Jahre 85,28 Mark indirekte Steuern zu
bezahlen bei einem Einkommen von 800 bis 900 Mark, also den zehnten Teil. — Wie schwer
diese indirekte Besteuerung hauptsächlich ans den ärmern Klassen lastet, zeigt folgende Zusammen¬
stellung. Es sind jährlich pro Kopf der Bevölkerung zu zahlen:
Was sollen nun diese Zahlen dem Volke sagen? Sie sollen ihm vorschwindeln,
daß eine heillose Wirtschaft zu Ungunsten des werkthätigen Volks im Reiche herrsche —
den Text dazu liefern die Leitartikel. Die Zahlen der ersten Tabelle werden ja
wohl richtig sein, das Verlogne liegt darin, daß nur die eine Seite des Kontos
gezeigt wird, nicht die mit den Gegenwerten. Aber was sagen denn diese Schuld¬
summen und Ausgaben der ersten Tabelle an sich, wenn man sie zerlegt? Daß
auf „den Kopf" der Bevölkerung etwa ganze 400 Mark Neichsschulden kommen;
auf welche Beutel sie aber kommen, sagen die ehrlichen Sozialdemokraten dem
Werktätigen Volke nicht, und daß jedenfalls dessen Beutel dabei nicht in Betracht
kommen, verschweigen sie. Für Heer und Marine sind in sechsundzwanzig Jahren
etwa 14 000 Millionen Mark ausgegeben worden. Das macht im Durchschnitt auf das
Jahr 650 Millionen, und auf „deu Kopf" für das Jahr die grandiose Summe
von etwa zehn Mark. Aber welche Beutel zahlen es? Natürlich die fünfköpfigen
Familien des werkthätigen Volks mit nur 800 bis 900 Mark Einkommen, das
beweisen ja die beiden andern Tabellen. Wir möchten dem werkthätigen Volke
wünschen, daß es wirklich „pro Kopf" den der dritten Tabelle entsprechenden
Anteil an den Gescimtnahrungs- und Genußmitteln hätte, deren Steuern ihm hier
„pro Kopf" zugeteilt werden, wenn wir es auch nicht für geradezu nötig halten
möchten, daß dabei fast die Hälfte für Wein, Bier, Schnaps und Tabak auf
den würdigen Mor tÄmilias käme, der doch nur den fünften Teil der fünfköpfigen
Familie bildet, also mit Leichtigkeit das Los der übrigen vier wesentlich besser ge¬
stalten könnte. Daß die Steuern der zweiten Tabelle — abgesehen von deren
Schiefheit — dazu beizutragen haben, dem werkthätigen Volk erst die Erwerbs¬
möglichkeiten zu schaffen, wird natürlich verschwiegen, ebenso, daß fast jeder Pfennig
der Ausgaben für Heer und Marine als Lohn in die Taschen des Werktätigen
Volks fließt, denn auch da, wo sich dieses Geld zu Kapital sammelt, muß es sofort
wieder Anlage suchen, d. h. es schafft wieder Arbeitsgelegenheit für das Volk.
Diese Binsenwahrheit wird von den Volksbeglückeru natürlich sorgfältig ver¬
schleiert.
Die Lage des Volks zu verbessern ist jeder ehrliche Mensch in Deutschland
bestrebt, und fast die gesamte Arbeit, die gethan wird — auch von denen, die
keine edeln Motive haben bei ihrem Erwerb —, dient diesem Zweck. Nur uicht
die der Herren Sozialdemokraten mit ihrer Verhetzung des werkthätigen Volks, denn jede
Störung der Ordnung und des Friedens schlägt zuerst zum Schaden des werk¬
thätigen Volks aus. Den Herren Sozialdemokraten muß endlich das Handwerk
gründlich gelegt werden — die leitenden Herren meinen wir, nicht die verleitete
Masse —, und wenn dazu die Aufhebung des bestehenden Wahlrechts nötig wäre.
Man lese nur so einen Leitartikel voll blühender Phrasen, wie den der Leipziger
Volkszeitung vom 31. Dezember mit seiner verlognen Schwarzfärberei, seiner
Hetzerei und seiner Verdächtigung aller — Kaiser und Regierung an der Spitze —,
die nicht zum „werkthätigen Volke" gehören, das man für seine Zwecke zu
angeln sucht. „Wirkliche, grundsätzliche Opposition findet sich allein bei der Sozial¬
demokratie," sagt sie — ja, und Gemütsvergiftung und Volksbethörung find ihre
Mittel, und deshalb muß sie zu Boden geschlagen werden, daß der Friede wieder
hergestellt wird und aufrecht erhalten bleibt zwischen den Schichten des Volks oben
und unten, der allein Gedeihen, Fortschritt und Verbesserung der Lage der untern
Schichten bringen kann.
Unsre Leser lesen ja die „Leipziger Volkszeitung" nicht. Wir wollen ihnen
deshalb einige Sätze aus dem Leitartikel des Blattes vom 7. Januar über den
Pachtvertrag von Kiaotschau hier annageln:
Der erste Schritt nur kostete Mühe, der Weg ist nun frei für Ausdehnung-, Vergröße¬
rung-, Eroberungsgelüste,¬
Je trüber und bedenklicher die Situation in der Heimat ist, je schärfer sich die gesellschaft
lichen Geqens«t,e zuspitze», um so stärker drängt es die Mächtigen, den Blick der zum nachdenke»,
zur Einsicht in ihre Klassenlnqe aufgerüttelten Menge von den heimischen Zuständen abzulenken.
nebelhaft verschwommne, phantastische Entwürfe, überseeische Abenteuer, Träume vom „größern
Deutschland" sollen die „Nörgler," die Unzufriednen, die Unterdrückten mit dem Zwange ihres
Zaubers fesseln, Die Geschichte niedergehender Gemeinwesen, verfallender Rcgiernngssusteme
zeigt uns der Beispiele genug. Der demagogische Absolutismus Bounpnrtes, des Dezember-
mcinues, suchte vergeblich de'u Sturz zu hindern, als er nach Italien, nach der Krim, nach
Mexiko zog.
Man experimentirt eben, man proturt, man langt zu muss Geratewohl, Wenn dabei
viele Dutzende von Millionen Mark, von den kolossalen Kosten einer Wasserregulirung ganz
abgesehen, aufgebracht von dem werkthätigen Volte, verbraucht, wenn neue Steuerkasten den
kleinen Leuten aufgehalst werden, wenn die ganze deutsche „Wcllpolitik" sich am Ende mich nur
als ein untauglicher Versuch am untauglichen Objekte erweist, die Apostel der neuen Heilsbotschaft
werden dennoch nicht ermüden. Wenn es hier nicht gelingt, vielleicht dort, zu immer neuen
Zielen stechen die Kreuzfahrer um Ende des neunzehnten Jahrhundert in See: „Seegewnlt ist
Reichsgewalt,"
Prinz Heinrich aber, der in neutestamentarischem Schwunge, kaum wohl aus dem Steg¬
reife, in Kiel des Kaisers Trinkspruch beantwortete, schwimmt noch auf dem Meere, Nicht mehr
winkt ihm des Kriegers, des Siegers Kranz, das heißersehnte Gebiet ist gewonnen,,,ohne das;
ein schuf; gefallen, der Krieg im Frieden ging zu Ende, ohne daß er eines Grenadiers Knochen
gekostet. Die „gepanzerte Faust" brauchte nicht dreinzufahren. Wird der prinzliche Seefahrer
nun heimfahren?
Wir haben sein mit so glänzendem Pomp begonnenes Unternehmen von Anfang um eine
Wnsserpromenade genannt, Sie wird nun zu einer Visiteutour bei den drei Kaisern von China,
Japan, Korea,
So viel Lärm um einen Eierkuchen!
Der Appetit kommt immer beim Essen, und trotz aller amtlichen Erklärungen und Kanzler¬
vorschriften wird die feste Stellung in Kiautschcm nur der Ausgangs- und Stützpunkt für die
eingebildeten Erben der alten Hansa sein.
Derweil wachsen daheim die Ausgaben ins Ungemessene, Flotte und Landheer verschlingen
die NcichSemkünfte, für Knlturaufgnbcn, wie für den Schutz vor Überschwemmungen, für Fluß-
laufregulirungen fehlt daheim wohl, sicher aber nicht in Kinntschau das Geld, Die Hochzöllnerei
sitzt am Nuder, die Sozialreform ist ein leeres Wort, und die Ausnahmegesetzgebung° schießt geil
ins Kraut, ein überseeisches Abenteuer löst das andre ab.
Ist das deutsche Volk nicht auf der Hut, duldet es, daß die nächsten Reichstagswahlen
dem Evangeliumskurse eine Mehrheit schaffen, dann etnblirt sich das persönliche Regiment wie
auf einen rovlwr alö Kron?:»,
Die Sozialdemokratie weiß, was sie in dieser Krisis zu thun hat. Mag man dein Wal¬
fisch Philistertum die Tonne Kiautschau zum Spielen hinwerfen, das Proletariat durchschaut
das Spiel und geht zielsicher seines Weges,
Wir hoffen, daß man solchen Niederträchtigkeiten, rin denen ein Bildungs¬
lumpenproletariat das „werkthätige Volk" aufsetzt, nicht länger freien Weg läßt.
u dem, was im Reichslande gern als Ausnahmezustand an¬
gegriffen wird, gehört außer dem Diktaturparagrapheu und
unserm besondern Preß- und Versammlmigsrecht auch der Um¬
stand, daß sehr viele Staatsstellen mit Altdeutschen besetzt sind;
die Agitation dagegen ist ebenso lebhaft und in den Mitteln
ebenso maßlos wie gegen das, wo der Stein des Anstoßes in der Gesetzgebung
liegen soll. Dabei weiß jeder, daß die Einheimischen xnr Wu^ von jeher in
jeder Beziehung bevorzugt worden sind, auch bei geringern Leistungen. Aber
die Thatsache, daß im deutscheu Reichslande die Leute, die sich rühmen, keinen
Tropfen „deutschen" Blutes in den Adern zu haben, den Amtsadel vorstellen,
genügt unserm Nativismus schon lauge nicht mehr, sondern er verlangt voll¬
ständige Ausschließung der Altdeutschen und führt sorgfältig Buch über die
nur noch seltnen Anstellungsfälle; der betreffende Fall macht dann die Runde
in allen zu der Fahne haltenden Zeitungen. Mit Vorliebe wird das Thema
von den Zeitungen behandelt, die die Verbindung mit Deutschland mit den¬
selben Augen ansehen wie der Neichstagsabgeordnete Preiß. In einer solchen
Zeitung wurde unter anderm vor einiger Zeit die Forderung erhoben, unsre
sämtlichen Kreisdirektoren sollten „Einheimische" sein; also die Beamten, in
denen sich die Befehlgewalt des Staats gleichsam verkörpert, die, denen es vor
allen andern zufällt, die Ordnung gegen den innern Feind zu wahren und
Staatsgesinnung zu verbreiten.
Dieselbe Richtung weist zwar die deutschen Männer, die im Dienst des
Landes ergraut siud, aus dem Kreise der Einheimischen aus, nicht weniger
ihre im Lande geborne Nachkommenschaft, die nie eine andre Heimat gekannt
hat, aber Herrn Preiß und Genossen rechnet sie dazu, überhaupt alle „Kom-
patrioten," namentlich auch die, die nach Frankreich auswandern und, etwa
nach Ablauf der Militärjahre, zurückkehren. Wir für unsern Teil sind schwach
genng, solche Leute wieder zu naturalisireu; dann sind sie zu Abgeordneten
wie geschaffen, und ihre Söhne kommen, mochte man sagen, mit den goldnen
Amtssporen auf die Welt. Die ganze Sache ist in ein System gebracht, und
dessen Stichwort ist der Titel dieses Aufsatzes: Elsaß-Lothringen den Elsaß-
Lothringern. Eine gar nicht schlecht gewählte Bezeichnung.
In der Auslegung gehen ja viele, die das Losungswort im Munde führen,
nicht so weit wie eben angegeben, aber den Mut, der für uns schlimmsten
Auslegung energisch entgegenzutreten, hat bisher meines Wissens noch keiner
gehabt. Wie immer in solchen Dingen sind ja die Extremen und Konsequenter
im Vorteil, und außerdem geben sie Beweise von gutem Gedächtnis und
machen von ihrem Arm, so lang er eben ist, rücksichtslosen Gebrauch, während
wir lauter Vergeben und Vergessen sind und nicht selten für die ärgsten unter
unsern Feinden Sammethandschuhe haben. Die Negierung hat in der Frage
thatsächlich kapitulirt. Früher hat sie wohl versucht, den richtigen Standpunkt
zu vertreten, aber nie mit Kraft und Entschiedenheit; jetzt führt sie fast nur
noch Zahlen dafür an, daß die Klagen nicht gerechtfertigt seien. Es handelt
sich um eine sehr ernste Gefahr, weshalb der Versuch, den richtigen Stand¬
punkt festzustellen, Pflicht ist. Der Versuch kann wenigstens nicht schaden.
Aber freilich, helfen kann er nur, wenn sich unsre Gebildeten „draußen im
Reich" von dem Wahn frei machen, die Wahrheit sei ein beseeltes Wesen, das
aus eigner Kraft zu siegen befähigt ist, ohne Hinzuthun vou menschlicher
Mühe. Aus dem Reichslande selbst ist wenig Hilfe zu erwarten, denn unsre
Reihen sind teils von Gleichgiltigkeit und Mutlosigkeit, teils von einer fata¬
listischen Stimmung ergriffen; ein dritter Teil ist sogar an der Erhaltung des
dichten Schleiers, der auf unsern Verhältnissen ruht, persönlich interessirt.
Unsre Gegner dagegen werden durch unsre Schwäche angefeuert, lassen sich
selber durch keine Rücksicht hindern und können bei dem ultramontanen und
dem demokratischen Teil der Presse Altdeutschlands auf thatkräftige Unter¬
stützung rechnen.
An sich ist es ja natürlich und wünschenswert, daß Elsaß-Lothringen den
größten Teil seines Bedarfs an Beamten selbst stellt. Andrerseits ist ein aus¬
schließender Nativismus bei uns wie überall im Reich unzulässig, weil er dem
Gedanken und der Fassung des allgemeinen deutschen Jndigenats widerspricht,
also verfassungswidrig ist, und weil gerade bei der Ämterbesetzung die Frei¬
zügigkeit nur wohlthätig wirkt. Die Hansestädte z. B. haben sehr viele
Richter und sonstige Beamte, die aus dem übrigen Deutschland stammen, und
stehen sich wohl dabei. Dann ist die Neichslandseigenschaft Elsaß-Lothringens
ein Verstürkungsgrund dafür, fremden Zufluß willkommen zu heißen, denn das
Reichsland steht in der That der Bevölkerung des ganzen Reichs besonders
nahe; an ihm hat jeder Preuße und Valer mehr Anteil als jener am
vairischen und dieser am preußischen Staate. Ein reichslündischer Nativismus
ist für jeden Deutschen als trennende Mauer eine Beleidigung. Überdies
reicht der Ersatz aus dem Lande noch gar nicht aus: er hat in manchen Dienst¬
zweigen lange Jahre fast vollständig versagt und beginnt erst allmählich, stärker
und gleichmäßiger zu fließen. Am Anfang war für die sogenannten studirten
Stellen so gut wie kein „Angebot" da; die paar Leute sind weit über Verdienst
bedacht und gehegt worden. Berücksichtigt man dies und auch die überall
wiederkehrende Thatsache, daß die bessern und höhern Stellen in der Regel
erst im vorgerückten Lebensalter erreicht werden, so ist es natürlich, daß es
bei uns fast keine Präsidenten und Geheimräte ohne „deutsches" Blut giebt;
aus dem, was selbstverständlich ist, wird jedoch eine „Pariastelluug" der Ein-
gebornen gemacht. Nun, der Paria Zorn von Bulach ist, uoch in jungen
Jahren und ohne eine der vielen für Brahmanen erforderlichen Zwischenstufen,
zum Uuterstaatssekretür ernannt worden, zu ministerähnlicher Stellung gelaugt.
Um Mißverstündnissen zuvorzukommen, füge ich hinzu, daß ich die Ernennung
selbst keineswegs bedaure.
Also, im ganzen genommen sind wir darauf angewiesen, den Beamten¬
bedarf unsers Landes aus dem übrigen Deutschland zu ergänzen. Doch, macht
denn überhaupt Geburt und Abstammung den Beamten ans? Man soll ja
bei ihm wie bei jedem andern Menschen darnach fragen, aber sie ist nicht das,
was den Beamten auszeichnet, oder das, wodurch er sich auszeichnen soll.
Andres ist wichtiger. Vor allem Vaterlandsliebe und Staatsgesinnung. Die
Vaterlandsliebe beruht in der Regel auf der Heimathliebe, beide ergänzen sich;
nnr dann stimmen sie für das Bedürfnis, insbesondre unsers Landes, nicht zu¬
sammen, wenn die Liebe zu der elsässischen oder lothringischen Heimat in dieser
nicht einen Teil von Deutschland, sondern ein abgerissenes Stück von Frank¬
reich erblickt, oder so etwas wie einen Schweizer Kanton aus der Sonder¬
bundszeit mit französischen Sitten. Dergleichen ist für uns der Feind,
während der eruste Wille, heimisch zu werde», mit der Zeit auch heimisch
macht. Die Staatsgesiuuung ihrerseits schützt in dem Staat als der Gemein¬
schaft, die alle andern umfaßt, zugleich die für unser irdisches Zusammensein
wichtigste Gemeinschaft. Staatsgesiuuung ist kein Privileg des Beamten, ihm
aber doch vorzugsweise und als Bcrufseigenschaft notwendig. Diesen im Beruf
liegenden Vorzug ist der Beamte wohlberechtigt hochzustellen, aber noch mehr
soll er ihn als Sporn zu höherer Pflichtübung empfinden. Für die reichs-
ländischen Verhältnisse lassen sich Vaterlandsliebe und Staatsgesinnung zu einer
Bezeichnung als deutsche Gesinnung zusammenfassen.
Deutsche Gesinnung ist für jedes Amt die erste Voraussetzung, auch für
rein technische Ämter und für die untersten. Sie muß so bestimmt ausgeprägt
und bethätigt sein, daß sie auch nach der unwiderruflichen Anstellung gesichert
erscheint. Daß die Eltern des Amtsanwärters mit Liebe an der französischen
Vergangenheit hängen, ist kein Hindernis; der Sohn soll seinen Eltern darum
keine geringere Pietät beweisen, es empfiehlt ihn nicht, wenn er sie darum
vernachlässigt. Aber der Sohn selber muß, um angestellt zu werden, die fran¬
zösische Tradition innerlich und äußerlich überwunden haben, ein Deutscher
sein und sich auch so geben. Er hat das ganze welsche Gethue abzulegen und
abzuweisen; so darf er auch nicht die französische Sprache bevorzugen. Unter
den Gründen, worauf die Parlirerei zurückzuführen ist, die in den siebenund¬
zwanzig Jahren eher zu- als abgenommen hat, befindet sich keiner, der nicht
wenigstens trennend wirkte, und der Beamte soll sich zu uns halten, sich nicht
von uns absondern.
Dann gehört zum Beamten auch Charakter. Die deutsche Amtsauffassung
verlangt Hingebung des ganzen Menschen an das Amt; hiergegen treten Ver¬
sorgung und persönliches Ansehen zurück, und die Vorbereitung mit ihren
Prüfungen und Aufwendungen giebt ohne Charakter keinen Anspruch darauf,
angestellt zu werden.
Überall bleibt ja die Wirklichkeit hinter der Forderung zurück, aber die
Übereinstimmung beider muß überall das Ziel sein, zumal in einem neu er-
worbnen Lande, das von den Beamten besonders viel verlangt. Wie sieht es
nun hierzulande mit der Wirklichkeit aus? An der Amtsstellung wird fast
allgemein nur der „gute Platz" geschätzt, Anstellung und Vorrücken werden
durchweg als feste Ansprüche angesehen, etwa wie der auf eine Leibrente, die
Frage nach deutscher Gesinnung und nach Charakter ist durchaus untergeordnet.
Es giebt ja Ausnahmen, und in einigen Dienstzweigen, in der Forstverwaltung
z. B. und im Zollwesen, sind sie nicht vereinzelt; die Regel jedoch habe ich
richtig ausgedrückt. Es ist auch kein Fortschritt, sondern eher ein Rückschritt
zu merken. Es muß zugegeben werden, daß auch in unsern Kreisen die Herab¬
würdigung des Amtsbcgriffs recht verbreitet ist, aber in den sogenannten ein¬
heimischen ist sie es noch mehr, und unsre deutsche Gesinnung beschränkt sich
doch nicht auf Teilnahme am Kaiserfeste und an sonstigen Feierlichkeiten. Bei
uns ist sie ein Stück des Gemüts und durchdringt den ganzen Menschen.
Wenn wir dem französischen Wesen gegenüber schwach genng sind, so beteiligen
sich doch nur wenige von uns aktiv an der Parlirerei, während sie in den
einheimischen Beamtenkreisen von Vater und Mutter, Kind und Kegel mit der¬
selben Aufdringlichkeit gepflegt wird wie sonst in den „bessern" Familien.
Was den Charakter anbelangt, so sind ja unter uns Altdeutschen Streberei,
die Neigung zum Wohlleben, Großthuerei häufige Erscheinungen, aber das
eingeborne Element ist damit ebenso stark, nur weniger auffällig behaftet, und
wir leiden wenigstens nicht an einem besonders gefährlichen Zusatz. Ich meine
die Doppelseite des Seelenlebens, die deutsche und die französische, die in be¬
ständigem Mißklang die Aufrichtigkeit und dadurch die Grundlage des Cha¬
rakters zerstören. Gewiß trifft davon ein Stück den Einzelnen unverschuldet,
und er darf diesen Teil der Schuld auf die Umgebung abwälzen, worin er
aufwächst, aber daraus folgt doch nur, daß die Zwitterumgebung je eher je
besser zu beseitigen ist, und es ist doch nicht ihr französisches Gesicht, das wir
zu schonen haben.
Ist das Ausgeführte richtig, und niemand kann es bestreiten, der unser
Land kennt, so ist die Kapitulation der Regierung dem Nativismus gegenüber
für eine gedeihliche Zukunft gerade unerträglich, und entschlossene Umkehr not¬
wendig. Wir haben einundzwanzig Kreisdirektoren. Wenn sie alle wie Herr
Preiß denken dürfen, so können wir ebenso gut Elsaß-Lothringen den Fran¬
zosen zurückgeben. Aber auch dann sind diese die Herren im Lande, wenn die
Kreisdirektoren mir partikularistisch gesinnt sind, denn bei uns ist der Parti¬
kularismus gegen das Frcinzosentum ohnmächtig und davon durchsetzt. Bei
den andern Beamtenklassen sind ja die Folgen nicht ganz so schreiend, aber
ebenfalls der schlimmsten Art. weil auf allen Gebieten der Staatsthütigkeit das
Berufsbeamtentum der Träger des regelmäßigen Lebens ist, der Teil, der das,
was oben beschlossen wird, ausführt und ihm erst dadurch Fleisch und Blut
giebt, der auch den leitenden Willen sehr stark beeinflußt. Man kann das
Berufsbeamtentnm subalternisiren, dem Rang und dem Wesen nach, z. B. da¬
durch, daß man die vielgepriesene Selbstverwaltung noch mehr ausdehnt, aber
„kaltstellen" kann man es nicht, denn, um bei demselben Fall zu bleiben, dann
macht der Generalsekretär die Arbeit des Chefs und giebt ihm deshalb in neun
von zehn Fällen auch die Lenkung; auch der Bürcaukratismus wird dadurch
nicht beseitigt, sondern nur um eine neue schlimmere und fast unangreifbare
Form bereichert. Ist der Teil des Staats, den die Berufsbeamten vorstellen,
ungesund, so ist das Ganze in Gefahr, und, es ist nicht anders, unser ein¬
heimischer Veamtennachwuchs ist im deutscheu Sinne krank, bis ins Mark.
Auch bei der Ämterbesetzung ist für unsre Landesregierung Umkehr nur
so möglich, daß sie zugleich zum Angriff übergeht. Unsre jungen Juristen,
die aus dem Lande stammen, haben jetzt ein Jahr ihres Referendaricits in
Preußen zu verbringen. Das ist die Handhabe, die zu ergreifen ist, aber so,
daß längere Zeit gefordert wird, und womöglich von allen Beamtcntlassen,
mit Einschluß der sogenannten höhern Subalternen, daß auch die Wahl des
Lehrorts nicht freigestellt, sondern geleitet wird, unter Bevorzugung Mittel-
nnd Ostdeutschlands und ländlicher Örtlichkeiten oder wenigstens kleinerer
Städte. In den großen Städten würden sich die jungen Leute aus unserm
Lande immer wieder zusammenfinden und absondern, gegen ihre altdeutschen
Genossen sowohl als gegen den Lebensgehalt, mit dem sie bekannt und ver¬
traut werden sollen, und der deutsche Westen ist ja nicht weniger patriotisch
als die andern Teile Deutschlands, aber in diesen ist die deutsche Staats¬
gesinnung erwachsen und vergleichsweise noch immer mehr zu Hause, wofür
als Beweis nicht bloß Preußen in Betracht kommt, sondern z. B. auch Alt-
baiern und das Königreich Sachsen. Die Vereinbarungen mit den betreffenden
Staaten werden keine Schwierigkeiten machen, wenn die Wichtigkeit der Auf¬
gabe an leitender Stelle anerkannt wird.
Außer dieser auf die Zukunft berechneten Maßregel ist unter den Beamten,
die noch nicht festangestellt sind, eine Auslese zu halten, und unsichere Persön¬
lichkeiten dürfen nicht mehr angenommen werden; dafür braucht man das gar
uicht, was Gesinnungsriecherei genannt wird, denn die Verhältnisse liegen
meistens offen für den da, der nur die Augen ausmacht. Doch damit ist die
Offensive der Negierung noch nicht erschöpft; sie muß sich auch gegen den
Landesausschuß kehren, wenn dieser fortfährt, die Hauptstütze des Nativismus
zu sein. Jetzt wetteifern zu dessen Förderung unsre erklärten Feinde und
unsre vermeintlichen oder wirklichen Freunde. Einer der Hauptverfechter ist
Herr Dr. Petri, der doch für eine Säule der deutschen Sache im Landesaus¬
schuß gilt. Er will durchweg nur Elsaß-Lothringer berücksichtigt wissen; dazu
rechnet er anch die von altdeutscher Abstammung, die im Lande geboren sind,
aber andre Einschränkungen des Nativismus macht er nicht, so oft und mit
solchem Eifer er auch die Frage behandelt. Sollte er wirklich keine kennen,
ein Mann, der als Kandidat zum Justizministerium genannt worden ist, der
als Justizminister den umfassendsten Stcllenvorschlcig haben würde?") Aus
diesem Beispiel, das typisch ist, ergiebt sich auch, wie wenig die Regierung
Empfehlungen von Amtsanwärtern durch Mitglieder des Landesausschusses
gelten lassen darf. Was ist denn für die Zukunft des Neichslcmds wichtiger:
die Aufrechterhaltung der wurmstichigen Zufriedenheitslegeude, oder Fortschritte
im deutschen Sinne? Geteilte Herzen kann Deutschland nicht brauchen; wer
seine französischen Schiffe nicht hinter sich verbrannt hat, darf weder die Vor¬
teile, noch den Einfluß einer deutschen Amtsstellung genießen. Für die An¬
stellung gilt das Stichwort „Elsaß-Lothringen den Elsaß-Lothringern" nur mit
einem Zusatz: Elsaß-Lothringen den deutschgesiunten Elsaß-Lothringern, das
Reichsland den reichsländisch Gesinnten!
(WHährend sonst überall im deutschen Reiche selbst kleinere Postämter
von gründlich gebildeten Fachbeamten geleitet werden, liegt in
den ältern Provinzen des Königreichs Preußen die Verwaltung
von 132 Postämtern erster Klasse in den Händen verabschiedeter
Offiziere. Diese Verwendung invalider Offiziere als Postamts¬
vorsteher ist zuerst von Friedrich dem Großen nach Beendigung des zweiren
schlesischen Krieges eingeführt worden.") Er befahl, daß „mittelmäßige und
nicht an der Grenze gelegne Postämter mit invaliden Offizieren" besetzt werden
sollten. Unter Friedrich Wilhelm II. wurden sogar zwei Drittel der Post¬
ämter zur Besetzung mit Offizieren bestimmt. Die verabschiedeten Offiziere
betrachteten aber bald die ihnen verliehenen Postämter nur als Sinekuren,
sodaß sich Friedrich Wilhelm III. genötigt sah, dem Schaden, der der Post-
verwciltnng durch die überhandnehmende Anstellung der Invaliden erwuchs,
Einhalt zu thun; er bestimmte, daß bei der Vakanz eines Offizierspostamts
der älteste dazu vorgemerkte Offizier zum Titularpostmeister mit 200 Thalern
Gehalt ernannt würde, während die thatsächliche Verwaltung des Postamts
einem Fachbeamten übertragen werden sollte. Wenn einer oder der andre
invalide Offizier das Amt selbst übernehmen wollte, so mußte er in einer
Prüfung die Befähigung zu eigner Geschäftsführung nachweisen.
Die UnHaltbarkeit der hierdurch geschaffnen Zustände machte sich aber
bald geltend. Schon Hcirdenberg erkannte, daß „die bisherige Einrichtung nicht
angemessen und dem öffentlichen Dienste nachteilig sei." Er war daher als
Staatskanzler bestrebt, die Versorgung invalider Offiziere mit Postmeisterstellen
gänzlich zu beseitigen. Das gelang ihm aber nicht. Die Titularpostmeister
fielen erst nach der Reorganisation der preußischen Postverwnltung im Jahre
1850 weg. Darnach sollten die Offiziere in jedem Falle die Verwaltung des
ihnen verliehenen Postamts selbst führen und ihre Befähigung dazu durch eine
Prüfung nachweisen. Die Bewerber mußten zur Erlernung des Postdienstes
bei einem Postamt eintreten und sich die zur Verwaltung einer Postmeister¬
stelle erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten praktisch erwerben. Die Grund-
scitze, die die PostVerwaltung damals mit dem preußischen Kriegsministerium
vereinbarte, haben in der Hauptsache noch heute Geltung. Der Gang der Aus¬
bildung eines Offiziers zum Postdirektor gestaltet sich darnach in folgender
Weise.
Der mit Aussicht auf Anstellung im Zivildienste verabschiedete Offizier
reicht seine Bewerbung um Übertragung eines Postamts unmittelbar beim
Neichspostamte ein. Er wird dann, wenn er hinsichtlich seiner Gesundheit
den Anforderungen der Verwaltung entspricht, einem von ihm selbst gewählten
Postamt erster Klasse zur Ausbildung überwiesen. Dort hat er sich mit allen
Dienstzweigen und namentlich mit den Geschäften und Pflichten eines Amts¬
vorstehers vertraut zu machen. Zunächst hat er sich die notwendigen tele¬
graphendienstlichen Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen. Hierzu gehört die
Fertigkeit, Telegramme auf dem Morseapparat abzugeben und anzunehmen,
sowie die allgemeine Kenntnis der Telegraphentechnik. Die Vorprüfung über
diese Gegenstände legt der Offizier meist in den ersten Monaten seiner Be¬
schäftigung im Post- und Telegraphendienste ab. Die eigentliche Prüfung, in
der die Befähigung zur selbständigen Verwaltung eines Postamts nachzuweisen
ist, findet gewöhnlich am Ende des Ausbildungsjahres statt. Diese Prüfung
ist am Sitze der zuständigen Oberpostdirektion abzulegen und besteht in der
Beantwortung von fünfzig beim Neichspostamte formulirten Fragen aus allen
Gebieten des Postdienstes. Diese Fragen hat der Prüfung schriftlich unter
Klausur zu beantworten, ohne jedoch dabei an eine bestimmte Erledigungsfrist
gebunden zu sein. Die Entscheidung über den Ausfall der Prüfung hat das
Neichspostamt. Nach bestandner Prüfung wird der Bewerber, sobald ein
Offizierspostamt seiner Militärcharge*) frei wird, und wenn nicht ältere Be¬
werber vorhanden sind, probeweise zur Verwaltung eines Postamts einberufen.
Als Postdirektor wird er dann meist nach einem Jahre bestätigt.
Wenn nun auch eine solche abgekürzte Ausbildung vielleicht vor vierzig
Jahren einen verabschiedeten Offizier zum Vorsteher eines müßig großen Post¬
amts einigermaßen befähigte, so muß sie doch bei den verwickelten Verhältnissen
und den vielseitigen Pflichten, denen heute ein Postdirektor gerecht werden
muß, schlechterdings für ungenügend gelten. Es geht das deutlich aus den
Anforderungen hervor, die die PostVerwaltung an die Ausbildung der Zivil¬
postdirektoren stellt.
Diese Beamten treten mit dem Reifezeugnis eines Gymnasiums oder
Realgymnasiums als Posteleven ein und werden erst nach drei Dienstjahren,
in denen sie sür alle Zweige des Post- und Telegraphendienstes theoretisch
und praktisch gründlich ausgebildet worden sind, zur ersten Prüfung, der
Sekretärprüfung, zugelassen. In dieser Prüfung sind drei schriftliche Klausur¬
arbeiten, zwei aus dem Bereiche des Postdieustes, eine aus der Telegraphen¬
technik anzufertigen, außerdem werden die Kandidaten einer eingehenden münd¬
lichen Prüfung unterworfen. Drei Jahre nach dieser Prüfung können die
Beamten zur zweiten, der höhern Verwaltungsprüfung zugelassen werden. Für
diese sind drei umfängliche schriftliche Arbeiten zu liefern, zu deren Erledigung
dem Kandidaten eine Frist von vier Monaten gegeben wird. Wenn diese
Arbeiten den Anforderungen genügen, wird der Kandidat zur mündlichen
Prüfung einberufen. Dieser mündliche Teil der Prüfung ist vor dem Prüfungs-
rat des Reichspvstamts abzulegen und umfaßt neben dem eigentlichen posr¬
und telegraphentechnischen Gebiete die wichtigsten juristischen und staatswissen¬
schaftlicher Fächer. Nach dem Bestehen dieser (von den Kandidaten mit Recht
gefürchteten) Prüfung werden die Beamten erst noch lange Zeit in verschiednen
Dienststellungen, als Oberpostdirektionssckretär, Postkassirer, Postinspektor be¬
schäftigt, ehe sie zu Postdircktoren befördert werden. Die gesamte Laufbahn
bis zum Postdirektor umfaßt jetzt mindestens den Zeitraum von fünfzehn bis
Zwanzig Jahren.
Allerdings sind nun die mit Zivilpostdirektoren besetzten Postämter erster
Klasse meist viel bedeutender als die Offizierspostämter, sie erfordern daher
auch unbedingt gründlicher durchgebildete Vorsteher als jene. Aber selbst die
Vorsteher der Postämter zweiter Klasse, die Postmeister, verfügen über eine
viel umfassendere dienstliche Vorbildung als die Militürpostdirektoren. Zu
Postmeistern werden solche Postsekretäre ernannt, die sich durch Umsicht und
dienstliche Brauchbarkeit auszeichnen. Auch sie werden nicht vor einer mindestens
fünfzehn- bis zwanzigjährigen praktischen Postdienstlaufbahn Postamtsvorsteher.
Entweder sind also die Anforderungen, die die PostVerwaltung an die aus den
Zivilanwärtern hervorgegangnen Amtsvorsteher stellt, zu hoch, oder die Aus¬
bildung der Militärpostdirektvren ist unzureichend.
Außer der ungenügenden Ausbildung hat aber das bei der Anstellung
der Offizierspostdirektvren jetzt übliche Verfahren auch noch den Nachteil, daß
nicht selten verhältnismäßig junge Leute im Alter von vierundzwanzig bis
dreißig Jahren schon die verantwortliche Stellung eines Postdirektors erreichen.
Es sind das Leutnants, die aus irgend welchem Anlaß zeitig invalide ge¬
worden sind und nun mit der Anstellung als Postdirektor einen Posten
auszufüllen haben, dem sie — ganz abgesehen von der ungenügenden Dienst¬
kenntnis — nicht einmal nach ihrer allgemeinen Lebenserfahrung gewachsen
sind. Das gilt besonders sür die Fälle, wo die Offiziere ihre schulwiffen-
schaftliche Ausbildung in einer Kadettenanstalt erhalten haben. Dort werden
sie von vornherein nicht für einen praktischen »der wissenschaftlichen Lebensberuf,
sondern ausschließlich für die Ofsizierslaufbahn vorbereitet. Als Offiziere
ziehen sie sich aber von den übrigen Berufsklassen zurück und entfremden sich
dem praktischen Leben. Und nun treten sie nach einer kurzen, oberflächlichen
Ausbildung in eine amtliche Stellung ein, die gerade zu den Bedürfnissen
des praktischen Lebens in den engsten Beziehungen steht, und die an die geistige
Selbständigkeit ihrer Inhaber die größten Anforderungen stellt. Offizieren
wiederum, die erst in vorgerücktem Lebensalter Postdirektoren werden, und
die uach ihrer Erfahrung recht wohl zum Postamtsvvrsteher geeignet sind,
wird wegen ihres höhern Lebensalters die Aneignung der notwendigsten Dienst¬
kenntnisse natürlich weit schwerer als den jüngern.
Es ist auch vielfach vorgekommen, daß Beamte, die für die Assistenten¬
laufbahn bei der Post eingetreten waren, in ihrer Eigenschaft als Neserve-
oder Lnndwehroffiziere die Aussicht auf Zivilversorguug erwarben und es auf
diese Weise zum Pvstdirektor brachten. Diese Beamten haben es also nur
dem Juvalidewerden zu danken, daß sie zu einer Dienststellung für fähig ge¬
halten wurden, die sie bei gesundem Leibe wegen unzureichender Vorbildung
niemals hätten erreichen können.
Bei diesen schweren Mängeln, die der Verwendung invalider Offiziere als
Postdirektoren anhaften, wäre es nun vielleicht das Beste, wenn man von
dieser Versorgung, wie schon Hardenberg wollte, ganz absähe. Aber darauf
ist wohl kaum zu rechnen. Die Voraussetzungen, die zur Zeit Friedrichs des
Großen für die Einführung der Versorgung invalider Offiziere im Postdienste
maßgebend gewesen sind, bestehen zwar längst nicht mehr. Die Versorgung
als Postmeister sollte damals den Offizieren Ersatz geben für den Mangel einer
Staatspension, wie denn auch Hardenbergs Bestrebungen darauf hinzielten, die
Unterbringung der Offiziere in Postmeisterstcllen durch die Gewährung ordent¬
licher Pensionen entbehrlich zu machen. Heute werden den verabschiedeten
Offizieren aus der Staatskasse Pensionen gezahlt, aber die Besetzung eines
Teils der Postämter mit invaliden Offizieren ist trotzdem beibehalten worden.
Freilich, wenn der Offizier schon nach kurzer Dienstzeit verabschiedet wird,
genügt die Pension nicht für seinen Unterhalt. Bei den heute üblichen zeitigen
Pensionirungen ist daher die Zahl der verabschiedeten Offiziere, die noch keine
ausreichende Pension erdient haben, recht groß. Ihre anderweitige Unter¬
bringung im öffentlichen Dienste ist daher eine Pflicht, der sich der Staat
nicht gut entziehen kann. Daher wird man auch unter den heutigen Verhält¬
nissen wohl kaum auf die Versorgung der Offiziere in Postdirektorstellen ganz
verzichten wollen. Es ist ja auch nicht zu verkennen, daß die Mehrzahl der
Offiziere, die heute ans dienstlichen oder persönlichen Gründen ihren Abschied
nehmen müssen, noch recht gut im Zivildienste verwendbar ist. Aber man
sollte nicht nur bemüht sein, diesen Offizieren ein anderweitiges Unterkommen
zu verschaffen, sondern man sollte doch auch dafür sorgen, daß sie für ihren
neuen Beruf ausreichend vorgebildet werden. Wenn es im militärischen Inter¬
esse notwendig ist, für geeignete Versorgung der frühzeitig verabschiedeten
Offiziere zu sorgen, so ist es im Interesse des Postdienstes und damit zugleich
im öffentlichen Interesse ebenso notwendig, daß die in Postdirektorstellen über¬
tretenden Offiziere für ihre neue Dienststellung angemessen vorbereitet werden
und erst dann in selbständigen Stellungen Verwendung finden, wenn sie sich
dazu durch längere Dienstzeit als untergeordnete oder „Nachgeordnete" Beamte,
wie man jetzt sagt, geeignet erwiesen haben.
Zu diesem Zwecke könnte die Ausbildung der Militärpostdirektoren viel¬
leicht in folgender Weise geregelt werden. Das erste Jahr müßte ausschließlich
der Erlernung des Betriebsdienstes gewidmet, werden. Die Amtsvorsteher¬
geschäfte dürften zunächst nicht zum Gegenstände der Ausbildung gemacht
werden. Ein volles Jahr auf die Aneignung des Betriebsdienstes zu ver¬
wenden, ist keineswegs zu viel. Der technische Post- und Telegraphendienst
ist heute so verwickelt, daß ein Jahr kaum ausreicht, um ihn in allen Zweigen
völlig beherrschen zu lernen. Die Postdienstinstrnktion, deren genaue Kenntnis
dazu unerläßlich ist, ist ein mehrbändiges Werk, dessen Studium außerordent¬
lich zeitraubend und langwierig ist. Von einem Amtsvorsteher muß aber doch
mindestens dieselbe Kenntnis des Dienstes verlangt werden, die seine Be¬
amten, z. V. die beim Amte beschäftigten Postassistenten haben müssen. Soll
er doch gerade in zweifelhaften Fällen die Entscheidung geben und den jüngern
Beamten die notwendige Anleitung und Belehrung erteilen. Um dieses Ziel
zu erreichen, ist aber ein Jahr angestrengter praktischer Thätigkeit gewiß nicht
zu wenig. Die Prüfung, die sich an diese erste Ausbildung anzuschließen
Hütte, dürfte demzufolge auch nur Gegenstände des praktischen Dienstes um¬
fassen und müßte im allgemeinen der Sekretärprüfung ähnlich sein.
Nach bestandner Prüfung würde der Offizier dann bei einem Postamt
erster Klasse zunächst in „Nachgeordneter" Stellung als Aufsichtsbeamter im
Betriebsdienste verwendet oder als Beistand des Postdirektvrs mit den eigent¬
lichen Amtsvorstehcrgeschüften vertraut gemacht werden. Wenn irgend möglich,
müßte sich an diese Thätigkeit auch eine etwa halbjährige Beschäftigung
bei der Oberpostdirektion anschließen, da dem Beamten hierdurch am besten
der notwendige Überblick über deu Verwaltungsvrganismns gegeben werden
kann. In dieser Stellung als „Nachgeordneter" Beamter würde dem Offizier
auch in irgend einer Form Gehalt gezahlt werden können, der in seiner Höhe
etwa dem Anfangsgehalt der Sekretäre zu entsprechen hätte. Nach zwei Jahren
vielleicht könnte dann der Offizier zur Postdirektorprüfung zugelassen werden,
in der die hauptsächlichsten Prüfungsgegenstände der höhern Verwaltnngs-
Prüfung für Post und Telegraphie verlangt werden müßten. Erst nach dem
Bestehen dieser Prüfung dürfte der Offizier mit der selbständigen Verwaltung
eines Postamts betraut werden.
Eine solche Ausbildung der Offiziere zu Postdirektoren würde nicht nur
gerechten Ansprüchen der Postverwaltung bezüglich der Brauchbarkeit ihrer
Beamten besser entsprechen, sie würde auch dem Interesse der Militärverwaltung
und den Offizieren selbst gute Dienste leisten. Denn bei der Verwendung der
Offiziere in „Nachgeordneten" Stellungen würde eine größere Zahl von Offi¬
zieren im Postdienste versorgt werden können als jetzt. Dann würde aber die
abgeänderte Ausbildung im Postdienste auch dem Offizier persönlich nur er¬
wünscht sein können. Jetzt vergehen vom Ablauf des Ausbildungsjahrs bis
zur Einberufung zur Probedienstleistung als Amtsvorsteher häusig mehrere
Jahre. Während dieser ganzen Zeit, in der der Offizier von seiner schmalen
Pension und seinem Vermögen leben muß, würde er künftig in Amt und Brot
stehen. Er würde aber auch bei der vorgeschlagnen Ausbildung mit viel
größerer technischer Sicherheit sein neues Amt übernehmen als jetzt, wo so
mancher Postdirektor dauernd auf die Dienstkenntnisse seines Personals an¬
gewiesen bleibt.
Die jetzige Art der Versorgung invalider Offiziere als Postdirektoren ist
ein Anachronismus. Wenn irgendwo bei unsrer PostVerwaltung eine Reform
notwendig erscheint, so ist es bei dieser Einrichtung der Fall. Aus einer Zeit
herrührend, wo sich der Postdienst noch in den einfachsten Formen bewegte,
hat sie bis heute keine wesentlichen Änderungen erfahren, trotz aller Umwäl¬
zungen, die sich inzwischen in unserm Verkehrsleben vollzogen haben. Das
Neichspostamt steht jetzt im Zeichen der Reform. Besonders in den Personal¬
verhältnissen sollen, wie man hört, durchgreifende Änderungen bevorstehen.
Vielleicht rührt Herr von Podbielski anch an diese durch das Alter bisher
scheinbar geheiligte Einrichtung und paßt sie den veränderten Verhältnissen an.
s ist an sich ein schönes Ding, daß in dem zivilisirten Europa
und darüber hinaus heutzutage jedes halbwegs selbständige poli¬
tische Gemeinwesen, und sei es auch noch so klein, seine eigne
„Universität" haben möchte. Aber nicht überall scheinen sich die
gründungslustigen Staatslenker klar zu machen, welche Ver¬
pflichtungen die Negierung mit der Errichtung einer solchen Lehranstalt über¬
nimmt, und jedenfalls haben die Beherrscher des Kantons Freiburg, als sie
vor neun Jahren die Hochschulen der mit Universitäten schon überreich ge¬
segneten Schweiz um eine vermehren zu müssen glaubten, nicht genügend
darüber nachgedacht, daß sich Universitäten im neunzehnten Jahrhundert
nicht etwa nach Art eines katholischen Priesterseminars oder einer Unteroffizier-
schnle leiten lassen, und daß die Männer der Wissenschaft, um ihren Aufgaben
genügen zu können, nicht bloß einer gewissen Freiheit der Bewegung bedürfen,
sondern in der Regel auch Leute von regem Ehrgefühl sind und unwürdigen
Zumutungen der Regierenden schon mehr als einmal hartnäckigen Widerstand
entgegengesetzt haben. Hütten sie das bedacht, so wäre nicht so bald nach der
an sich ja sehr löblichen Bethätigung des kantonalen höhern Bildungsdrangs
gekommen, was gekommen ist: daß acht an der jungen Hochschule wirkende
rcichsdeutsche Professoren, lauter tüchtige Gelehrte, darunter Zierden der Wissen¬
schaft, ihr Amt der Kantonalregierung zurückgegeben haben.
Dieser Massenabschied, der uns an die Göttinger Sieben erinnert, hat
begreiflicherweise in weiten Kreisen Aufsehen erregt, und viele deutsche und
Schweizer Zeitungen haben sich schon mit ihm befaßt. Die Betreffenden haben
bis jetzt keine Erklärung des von ihnen gethanen Schrittes veröffentlicht, und
eine solche ist auch, wie es scheint, vor Ostern, dem Termin ihres Abgangs
von Freiburg, nicht zu erwarten. Dennoch ist über diesen Exodus, seine Vor¬
geschichte und die an dieser Pflegestätte der Wissenschaft herrschenden Zustünde
schon soviel an die Öffentlichkeit gedrungen, daß es dem aufmerksamen Be¬
obachter nicht schwer wird, die Einzelheiten zu einem im großen Ganzen rich¬
tigen Bilde zusammenzufassen. Das Bild ist wenig ansprechend, aber umso
lehrreicher.
Die katholische Universität Freiburg in der Schweiz wurde im November
1889 eröffnet, nachdem der Großrat, d. h. die gesetzgebende Körperschaft des
Kantons, einen Monat früher die Errichtung einer kantonalen Hochschule be¬
schlossen hatte. Die Mittel zu diesem Unternehmen hatte eine Konversion der
Staatsschuld geboten, die einen Gewinn von 2^ Millionen gebracht hatte.
Schon im Laufe des Sommers hatte der als Politiker, Svziolog und Romanist
bekannte Nntionalrat Dcenrtins, ein Nhntoromcmc, in der Schweiz, in Deutsch¬
land und in Frankreich eine Anzahl von Dozenten geworben, und so konnte
zu dem genannten Zeitpunkt wenigstens die Eröffnung der juristischen und der
Philosophischen Fakultät vor sich gehen. Beide hatten einige zwanzig Dozenten,
unter denen die Deutschschweizer und die Reichsdeutschen die überwiegende
Mehrzahl bildeten. Die philosophische Fakultät war so gut wie ganz deutsch
(nur die beiden Vertreter der romanischen Philologie stammten ans Frankreich),
die juristische war von vornherein doppelsprachig. Dies erklärt sich dadurch,
daß sie eine Erweiterung der schon lange bestehenden kantonalen Rechtsschule
bildete, deren Personalbestand einfach übernommen und nach Kräften ergänzt
wurde.
Von Anfang an trug die Universität einen konfessionellen Charakter inso¬
fern, als alle Dozenten dem katholischen Bekenntnis angehören sollten. Diese
Bestimmung ergab sich einerseits daraus, daß die Bevölkerung des Kantons
fast ausschließlich katholisch ist, anderseits aus der Absicht, zugleich für die
katholischen Kantone der Ostschweiz eine Hochschule zu schaffen. Irgend eine
Satzung über den konfessionellen Charakter der Anstalt giebt es übrigens nicht;
was die Zeitungen darüber gemeldet haben, beruht auf Irrtum.
Im folgenden Jahre wurde die theologische Fakultät eröffnet. Sie wurde
dem Dominikanerorden anvertraut, mit dem die Kantonalregieruug einen, später
erneuerten und etwas abgeänderten, Vertrag abschloß, wonach er sich ver¬
pflichtete, den Bedarf an theologischen Dozenten zu decken. Die Bedürfnisse
der neuen Fakultät wurden im wesentlichen von den Zinsen einer halben
Million bestritten, die von der Stadt Freiburg für die Universität bewilligt
worden war.
Die Errichtung einer mathematisch-naturwissenschaftlichen und einer medi¬
zinischen Fakultät behielt man unausgesetzt im Auge. Aber die Beschaffung
der Geldmittel stieß auf Schwierigkeiten. Erst im Herbst 1896 konnte wenigstens
die naturwissenschaftliche Fakultät ins Leben treten, während die Errichtung
der medizinischen noch der Zukunft vorbehalten ist.
Inzwischen hatte auch der innere Ausbau, der Ausbau der Verfassung
und der Lehrvrgcmisation der Hochschule, wenigstens dem Anschein nach, große
Fortschritte gemacht. Die ersten Jahre waren der Ausarbeitung der Statuten
und eines „Grundgesetzes" gewidmet, das die rechtliche Grundlage der ganzen
Anstalt bilden sollte. Die Organisation trug durchaus deutschen Charakter;
waren doch die bei der Gründung der Universität berufnen deutschen Dozenten
nur unter der Bedingung gekommen, daß die neue Hochschule nach dem Muster
der deutschen und deutsch-schweizerischen Universitäten eingerichtet werde, und
in allen innern Angelegenheiten völlige Selbständigkeit genieße. Für den
Entwurf der Statuten war in erster Linie das Vorbild von Leipzig und
Zürich maßgebend. Hervorgehoben zu werden verdient, daß sich auch die fran¬
zösischen Dozenten an dem Ausbau der Universität in deutschem Sinne aufs
eifrigste beteiligt haben.
Die Studentenschaft der Hochschule war von Anfang an vorwiegend deutsch.
Den Hauptteil bildeten natürlich stets die Ostschweizcr. Die Zahl der Reichs¬
deutschen war aber nicht wesentlich geringer. Die Polen, die anfangs unter
der Studentenschaft durch eine Reihe vornehmer Namen vertreten waren, sind
allmählich stark zurückgegangen. Franzosen haben so gut wie gänzlich gefehlt:
im Laufe von acht Jahren wird ihre Zahl ein halbes Dutzend wenig über¬
schritten haben- Für Kenner der französischen Universitätsverhältnisse kann
diese Erscheinung nichts befremdliches haben. Die Gesamtzahl der Studenten
betrug im ersten Semester etwa dreißig, im Laufe der Jahre ist sie auf mehr
als vierhundert gestiegen. Gewiß ein stattliches Wachstum.
Leider hielt mit den äußern Erfolgen das innere Gedeihen nicht gleichet!
Schritt. Dem anfänglichen Einvernehmen innerhalb der Lehrerschaft folgte eine
stärker und stärker werdende Spannung. Je ausgedehnter das Professoren-
kollegium ward, umso mehr machte sich der Mangel an Gleichartigkeit fühlbar.
Auch erwies es sich als ein wenig glücklicher Gedanke, daß durch die Über¬
gabe der theologischen Fakultät an einen Orden gleichsam ein Staat im Staate
geschaffen worden war, eine Gruppe, die ihre Sonderinteressen in immer
steigendem Maße hervorzukehren begann und nicht selten mit rücksichtslosester
Schroffheit durchzusetzen suchte. Auch die Verschiedenheit der Nationalität
hatte anfangs wenig Schwierigkeiten bereitet, ja mit der Zeit hatte sich ein
freundschaftliches Verhältnis nicht nur zwischen Reichsdeutschen und Deutsch¬
schweizern, sondern auch zwischen Deutschen und Franzosen gebildet. Jetzt
begannen Zerwürfnisse' aufzutauchen. Einen bedrohlicher» Charakter nahmen
diese Gegensätze jedoch erst an, als die Polen unter den Dozenten eine Rolle
zu spiele« begannen. Ihnen gelang es, die Funken zur hellen Lohe zu ent¬
fachen, insbesondre die Mehrzahl der Franzosen gegen die deutschen Kollegen
aufzuhetzen. Das war umso eher möglich, als unter den französischen Pro¬
fessoren nur einer war, der von der Gründung der Universität an in Freiburg
gewirkt hatte. Willkommne Bundesgenossen fanden sie in den an der theo¬
logischen Fakultät thätige» Vertretern des Dominikanerordens, die ihrer Mehr¬
heit nach Franzosen waren. Die neuen Berufungen brachten keine Stärkung
der Deutschen. In merkwürdigem Gegensatz zu der Zusammensetzung der Stu¬
dentenschaft, deren deutscher Charakter sich immer schärfer ausgeprägt hat,
erfuhr das Professorenkollegium eine merkliche Verschiebung zu Ungunsten des
Deutschtums. So zählt die Universität gegenwärtig sieben Polen (drei Pro¬
fessoren, vier Assistenten), zwei Tschechen, zehn Nationalfranzosen, der vereinzelt
vertretnen Nationalitüten, wie des Jtalieners usw., nicht zu gedenken.
Diese Verschiebung bedeutete natürlich zugleich eine Schwenkung der
Regierung oder, was dasselbe sagt, des allmächtigen Erziehuugsdirektors.
Hätte dieser unparteiisch seines Amtes gewaltet, so hätten die auftauchenden
Konflikte leicht beseitigt werden können. Statt dessen ergriff er selber Partei
gegen die Deutschen. Sie waren ihm unbequem geworden, weil sie unter alleu
Umständen an der ihnen zugesicherten Selbständigkeit der Universität in ihren
innern Angelegenheiten festhielten; weil sie wieder und wieder darauf drangen,
daß das seit Jahren in den Händen der Regierung befindliche Grundgesetz der
gesetzgebenden Körperschaft, dem großen Rate, vorgelegt werde und so die
Universität eine rechtliche Grundlage erhalte; weil sie stets die Forderung
stellten, daß die in Universitätsfragen völlig ununterrichtete Regierung den Rat
der offiziellen Vertreter der Universität einholen und sich nicht auf unverantwort¬
liche Ratgeber stützen solle; weil sie endlich das Verlangen stellten, daß die bei
ihrer Berufung von der Regierung kontraktlich übernommnen Verpflichtungen
endlich erfüllt würden. Das alles war sehr unbequem. An Widerspruch
war der Selbstherrscher Freiburgs schon seit langen Jahren nicht mehr ge¬
wöhnt. Was Wunder, daß er es angenehmer sand, ohne Grundgesetz weiter
zu regieren. Die unwillkommnem Mahner aber sollten lernen, daß man die
Ruhe des Allmächtigen nicht straflos störe; sie sollten mürbe gemacht und
zum Gehorsam gebracht werden. nützte alles nichts, so wurde eine Plenar-
versammlung der Universitätslehrer einfach verboten, oder die Statuten wurden
irgendwie „ergänzt," Was auf diesem Wege geleistet werden kann, haben die
Reichsdeutschen und Deutschschweizer in den letzten Semestern, insbesondre im
vergangnen Sommerhalbjahr staunend erfahren. Wagler sie zu Protestiren,
so erfolgten Erlasse, wie sie ihrem Tone nach in der Universitätsgeschichte
wohl einzig dastehen dürften. Daneben lief eine wilde Hetze gegen einzelne,
besonders mißliebige Persönlichkeiten her, die man mit allen Mitteln vernichten
wollte. Daß die Stimmung unter solchen Umständen sehr erregt war, ist be¬
greiflich. Sie wurde nicht gebessert durch die Erfahrung, die ein Dozent noch
am Schlüsse des letzten Semesters machen mußte. Ihm war wie andern bei
der Gründung der Universität berufnen von dem Vertreter der Freiburger
Negierung, Herrn Dccurtins, zugesichert worden, daß er nach Ablauf der ersten
fünfjährigen Anstellungsperiode auf Lebenszeit angestellt werden solle, und
ein notarieller Vertrag bekräftigte diese Zusicherung. In Freiburg mußte er
erfahren, daß die Erfüllung dieses Versprechens nicht so einfach sei, da die
Verfassung des Kantons widerspreche. Als nun nach Jahren die Grundlagen
der Universität ins Wanken kamen, und von der Erziehungsdirektion eine Um¬
gestaltung der Organisation mit dürren Worten angedroht wurde, hielt es
jener Dozent für angebracht, die Probe darauf zu machen, ob die Regierung
ihre privatrechtlichen Verpflichtungen in gleicher Weise zu behandeln gesonnen
sei. In der That weigerte sich diese, ihren Verpflichtungen nachzukommen.
So ging man im August 1897 in die Ferien. Eine Anzahl von Professoren
war schon damals fest entschlossen, über kurz oder lang Freiburg zu verlassen.
Die Regierung war also nahe daran, ihr Ziel zu erreichen, das darin bestand,
die Mißliebigen einzeln und in aller Stille wegzuärgern. Es sollte aber
anders kommen. Der erste Gruß, der den aus den Ferien zurückkehrenden bei
Beginn des Wintersemesters zu teil ward, war die Nachricht, daß zwei Kollegen,
den Professoren Jostes und Hardy, der am 1. Oktober fällige Gehalt gesperrt
sei. Man war zuerst geneigt, diese Nachricht für einen schlechten Witz zu
halten. Sie bestätigte sich aber bald. An der Kasse war den beiden einfach
erklärt worden, es sei für sie kein Gehalt da. Von einer vorausgegangnen
Untersuchung, von einem Richterspruch, ja selbst von einer vorherigen Mit¬
teilung war keine Rede. Über die Gründe herrschte völliges Dunkel; man
wußte nur, daß beide Herren mißliebig waren, daß man ihnen im letzten
Semester das Leben nach Kräften schwer gemacht hatte, und daß sie. so gut
es gehen wollte, sich ihrer Haut zu wehren gesucht hatten. Die Folge dieser
Maßregel war jedoch eine andre, als man in gewissen Kreisen gehofft haben
dürfte. Nach vergeblicher Reklamation erfolgte eine Beschwerde beim deutschen
Gesandten in Bern, und dieser nahm sich der Sache aufs wärmste an. Da
hielt es die Negierung doch für angebracht, einzulenken: am 9. November
empfingen beide Herren eine Anweisung auf den fälligen Gehalt. Das ganze
Verfahren wurde aufs ungeschickteste begründet: nicht um eine Sperrung habe
es sich gehandelt, sondern um eine „Suspcndirung," um die Herren zu einer
Aussprache vor dem Erziehungsdirektor zu veranlassen. Nur schade, daß
diese treffliche Begründung erst mehrere Wochen nach der Gehaltsverweigerung
auftauchte!
Es konnte nicht ausbleiben, daß das Vorkommnis den Weg in die Öffent¬
lichkeit fand. Sprach doch ganz Freiburg von nichts anderm. Die Nachricht
lief auch durch die Zeitungen. Die Versuche, sie abzuleugnen, scheiterten kläg¬
lich. Eine Zuschrift, die der Redakteur des Freiburger Regierungsblattes,
der laböM, an die Neue Zürcher Zeitung schickte, und worin er eine mit
groben Ausfällen gespickte, arg entstellte Schilderung der wirklichen Vorgänge
gab, war der Tropfen, der das bis zum Rande gefüllte Gefäß endlich zum
Überlaufen brachte. Man kam überein, mit dem Schlüsse des Semesters sein
Bündel zu schnüren. Unter dem Eindruck der erwähnten Zeitungsmitteilung
wurde der Regierung die gemeinsame Demissionserklürung übergeben und zu¬
gleich eiuer Anzahl von Tagesblättern von dem Schritte Mitteilung gemacht.
Die scheidenden Universitätslehrer sind die Herren Effmcmn (Kunstgeschichte),
Gottlob (historische Nationalökonomie), Hardy (Religionsgeschichte, indische
Sprache und Litteratur), Jostes (germanische Philologie), Lörkens (Strafrecht),
von Savigny (deutsches Recht), Streitberg (indogermanische Sprachwissenschaft,
Sanskrit), Sturm (klassische Philologie). Dazu kommt noch Professor Wasser¬
rad (Nationalökonomie), der gleichzeitig in den Verband der Münchner Uni¬
versität, der er bis zu seiner Berufung angehörte, zurückgekehrt ist.
Die Folgen dieses Schrittes für die Freiburger Hochschule lassen sich
leicht voraussehen. Sie wird — daran ist nicht zu zweifeln — mit der Zeit
ganz ins französische Fahrwasser einlenken. Zwar wirken an ihr jetzt noch
immer fünfzehn reichsdcutsche Dozenten, und diese stattliche Zahl ist denn auch
dazu benutzt worden, das Vorhandensein eines nationalen Zwiespalts ab¬
zuleugnen. Aber von dieser Zahl sind zunächst abzuziehen die beiden reichs-
deutschcn Dominikanerpatres, weil diese in allem von den Befehlen der Ordens¬
obern abhängig sind, ferner einer, der zwar Preuße ist, jedoch der polnischen
Nationalität angehört, ein andrer, der mit der Absicht umgeht, das Schweizer
Bürgerrecht zu erwerben, ein dritter, der in der Kölnischen Volkszeitung erklärt
hat, daß er schon früher seine Entlassung eingereicht habe, aber auf dringenden
Wunsch der Regierung vorläufig weiter lese; ein vierter ist als Mitglied des
Preußischen Abgeordnetenhauses seit Jahren verhindert, Vorlesungen zu halten,
und wird auch schwerlich jemals wieder in die Lage kommen, dies zu thun.
Ferner müssen natürlich die abgerechnet werden, die sich offen zu denselben
Anschauungen wie ihre scheidenden Kollegen bekannt haben, aber durch äußere
Umstände noch an Freiburg gebunden sind. Somit bleiben nur noch die vier
erst vor kurzem berufnen Professoren der naturwissenschaftlichen Fakultät übrig,
die die Lage nur erst unvollkommen übersehen, sowie ein kürzlich habilitirter
Privatdozent. Von solchen, die ebenso lange in Freiburg wirken wie die Zurück-
getretnen, sind nur noch zwei vorhanden, von denen der eine durch Krankheit
stets vom Universitätsleben und seinen Kämpfen ferngehalten worden ist. Das
sind die bleibenden Deutschen.
Man sieht also, daß es sich allerdings um eine entscheidende Wendung
in der Geschichte der Freiburger Universität handelt. Denn darüber kann
kaum ein Zweifel bestehen, daß den Scheidenden in nicht allzuferner Zeit andre
nachfolgen werden. Dürfte doch auch für die Deutschschweizer der Boden
Freiburgs vou Tag zu Tag heißer werden. Und die erst kürzlich angekommnen
Dozenten der naturwissenschaftlichen Fakultät werden vermutlich in wenigen
Jahren dieselben Erfahrungen machen, die heute ihre ältern Kollegen veranlaßt
haben, ihr Amt niederzulegen. Ein Versuch aber, die Verlornen Kräfte aus
Deutschland zu ersetzen, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Erstens sind für eine
Reihe von Fächern katholische Gelehrte bei uns zur Zeit überhaupt nicht vor¬
handen, die Lücke ist also von dort nicht auszufüllen. Dann aber werden sich
voraussichtlich die katholischen Gelehrten, die für die andern Lehrstühle in
Betracht kommen könnten, aus dem Schicksal der heute Scheidenden eine Lehre
ziehen, damit sie nicht blindlings den Versprechungen der Freiburger Staats¬
lenker Glauben schenken.
Doch das sind Folgen, denen die Kantonalregicrnng vielleicht ruhigen
Gemüts entgegensieht. Denn sind deutsche Professoren nicht zu haben, so
giebt es ja auch noch anderwärts gelehrte Leute, z. B. unter den Polen und
den Tschechen. Eine andre, vielleicht weniger leicht genommne Frage ist die:
wird der Zuzug von Studenten aus den Ländern deutscher Zunge, auf den
Freiburg angewiesen ist, der bisherige bleiben? Unsre deutschen Studenten
besuchen ausländische Hochschulen in der Regel nur dann, wenn ihnen die an
diesen verbrachten Semester als Studicnscmester in der Heimat angerechnet
werden. Unsre Regierungen und unsre Fakultäten haben aber allen Grund,
sich jetzt die Frage vorzulegen, ob sie eine in solchem Geiste regierte Universität,
an der nicht nur Neid und Haß gegen deutsche Kulturarbeit das Wort führen,
sondern auch die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre durch eiuen katholischen
Orden aufs ernstlichste bedroht erscheint, fernerhin als eine den andern Schweizer
Hochschulen und den deutschen Universitäten ebenbürtige Lehranstalt anerkennen
können- In den Kreisen der deutschen Universitätslehrer scheint schon jetzt
die Meinung vorzuherrschen, daß diese Frage zu verneinen sei. Jedenfalls
muß man auch heute schon wünschen, daß unsre akademische Jugend dieser
iz-lips, nmtgr fortan fern bleibe, umso mehr, als es gerade die tüchtigsten
Professoren sind, die sie zu Ostern verlassen, und die Gewinnung eines eben¬
bürtigen Ersatzes für die Ausscheidenden mehr als zweifelhaft erscheint.
Man mag es bedauern, daß ein vorgeschobner Posten des Deutschtums
an der romanischen Sprachgrenze dem sichern Untergang geweiht ist. Wenn
aber den Voraussagungen der Statistik Zutrauen geschenkt werden darf, so
hat das Deutschtum sein letztes Wort im Kanton Freiburg noch nicht ge¬
sprochen. Denn diese behauptet, daß, falls die gegenwärtigen Bevölkernngs-
verschiebnugen andauern, in einem Jahrhundert der Kanton von Bern aus
germanisirt sein werde. Vorausgesetzt natürlich, daß bis dahin an den Ufern
der Saame nicht ein neues polnisches Königreich erstanden ist.
es habe bisher versucht, die Grundzüge der Amelungensage aus
gegebnen geschichtlichen Ausgangspunkten zu entwickeln. Die
Möglichkeit meiner Ausführungen angenommen, entsteht nun
aber sofort die weitere Frage: wer sind die Träger dieser
ganzen Entwicklung? Ohne Menschen, die jenen Schatz von
Überlieferung als ihr Eigentum betrachten, und ohne solche, die ihn bewußt
ausgestalten, ist ja diese ganze Entwicklung undenkbar. Nun liegt es auf der
Hand, daß eine so hervorragend volkstümliche Sage wie die von den Ame-
lungen gerade von dem Volke gepflegt worden sein muß, dessen Ruhm sie
verkündet. Das wären die Ostgoten. Aber schon ein Menschenalter nach der
ruhmreichen Regierung Theoderichs verschwinden die Ostgoten in blutigen
Kämpfen gänzlich vom Schauplätze der Geschichte, sie können also ihre Über¬
lieferungen nicht lange gehütet haben, es müssen andre für sie eingetreten sein,
die jenen Schatz als den ihren betrachten und pflegen konnten. Diese andern
finde ich in dem Stamme der Baiern. Ihr Gebiet bildete unter Theoderich
einen Teil des ostgvtischen Reiches; später ist es, wenn auch unter fränkischer
Hoheit, ein selbständiges Staatsgebilde, dessen eigentlicher Ursprung freilich im
Dunkel liegt. Es wäre aber recht gut möglich, daß sich Baiern insofern als
eine unmittelbare Fortsetzung des ostgvtischen Reichs darstellte, als es jener
Teil davon ist, der von den Oströmern nicht wieder erobert wurde. Dem
Blute und besonders auch der Sprache nach brauchen seine Bewohner darum
keine Goten zu sein; es genügt, wenn sie eine Erinnerung an ihre politische
Zugehörigkeit zu den Goten bewahrt haben. Das aber haben die Vaiern
zweifellos gethan: noch eine späte Glosse erklärt den Namen Amelunge. den
in der Geschichte das Königshaus, in der Sage das ganze Volk der Ostgoten
führt, durch: Baiern. So sind es denn wohl die Baiern gewesen, die uns
den Schatz der gotischen Sagen bewahrt haben.
Im einzelnen hat man sich die Art dieser Bewahrung hier wie überall
in folgender Weise vorzustellen: der Ursprung unsrer Sagen reicht in eine Zeit
hinauf, wo die germanischen Stamme noch gänzlich oder wesentlich ohne Schrift
waren; es gab nur eine einzige Möglichkeit, geschichtliche Berichte der Mit-
und Nachwelt zu übermitteln: die gebundne Rede, die durch ihre äußere Form
dem Gedächtnis ein Hilfsmittel zum Festhalten bot. Das Wort des Tacitus
von den alten Liedern der Germanen, die bei ihnen die einzige Art von Ge¬
schichtsüberlieferung seien ^v.c>ä unum. axucl ille>8 liKZinorias et xmng,1iuin Zsrw8
est), galt zur Zeit der Ostgoten noch in vollem Umfange. Die gebundne Rede
muß in schriftlosen Zeiten die Aufgaben, die jetzt durch Schrift und Druck
gelöst werden, mit übernehmen. Derartige Zustände bringen es aber mit sich,
daß sich ein Stand berufsmäßiger Dichter entwickelt, der denn auch bei den
germanischen Stämmen genügend bezeugt ist und sich bis in die spätesten Zeiten
erhalten hat, je nach den Schwankungen der gesellschaftlichen Verhältnisse höher
oder tiefer geschätzt, aber erst seit der Entwicklung einer Litteratur endgiltig
gesunken.
Nun stelle man sich vor, es biete sich einem solchen Manne Gelegenheit,
Zeitereignisse, die er, selbst falls er Augenzeuge ist, unmöglich bis ins kleinste
übersehen kann, in gebundne Rede zu bringen. Die Form allein zwingt ihn
dazu, seine Darstellung nach Möglichkeit abzurunden. Nun wird er aber in
den meisten Fällen wohl die großen Thatsachen kennen, doch nicht ihre innern
Ursachen. Aber gerade diese muß er versuchen zu finden, denn sonst wäre
wohl die Frage: warum? die erste, die seine Zuhörer an ihn richten würden.
So muß er denn begründen und thut es auch. Ob er dabei das richtige trifft
oder nicht, ist für ihn und sein Publikum nebensächlich, daß er aber das
richtige, je ferner er den Ereignissen steht, um so seltner trifft, das ist die
Hauptursache dafür, daß sich die Geschichte in Sage verwandelt.
Zu dieser zunächst unbewußten Umdichtung tritt nun aber bald die bewußte:
die ursprünglich als Wiedergabe der Geschichte gedachte Überlieferung ist nach
einiger Zeit nur uoch ein besonders beliebter Unterhaltungsstoff, der die Ein¬
führung ursprünglich fremder Züge verträgt, ja dadurch gewinnt. Die An¬
knüpfung solcher Züge an beliebte Personen der Sage ist etwas sehr häufiges.
Das älteste Beispiel in der Amclungensage ist die Anknüpfung der auch ander-
wärts oft bezeugten Erzählung von dem Kampfe zwischen Vater und Sohn an
die Person Hiltebrands, und zwar ist die Einführung sehr geschickt gemacht:
sie ist in die Zeit der Heimkehr verlegt, wo man sich Angehörige desselben
Volkes auf beiden Kämpferparteien zu denken hat; der Sohn ist als Kind bei
der Flucht des Vaters zu Hause gelassen worden und in den neuen Verhält¬
nissen aufgewachsen; seinen Vater kennt er nicht, er hält ihn für tot. Die
Person des Sohnes ist natürlich für diesen Fall erfunden, der Name, den er
trägt, Hadubrant, nichts als eine Nachbildung des väterlichen Namens.
Die Amelungensage ist also ihrem Ursprünge nach Geschichte, ihrer Ent¬
wicklung nach Dichtung; für sie kommen nur zwei von den drei zu Anfang
erwähnten Gesichtspunkten der Sagenforschung in Betracht, der geschichtliche
und der poetische, und zwar in verschiedner Geltung, der eine für den Ursprung,
der andre für den Fortgang. Von dem dritten Gesichtspunkt, dem mythischen,
Gebrauch zu machen, hat sich bisher keine Gelegenheit geboten. Und doch
enthält die Dietrichsage auch mythische Bestandteile: eine Reihe von Gedichten,
die sich mit dem jungen Dietrich, vor seiner Vertreibung, beschäftigen, zeigen
ihn als gewaltigen Streiter im Kampfe mit übermenschlichen Wesen, Drachen,
Niesen und Zwergen. Daß hier mythische Vorstellungen hereinspielen, liegt auf
der Hand, doch braucht deshalb die Verbindung, in die Dietrich gebracht ist, an
und für sich nicht mythisch zu sein, sondern die Sache wird wohl so liegen: Drachen,
Riesen und Zwerge sind Gestalten des Volksglaubens und mindestens insofern
mythisch, als sie nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß in der Vorstellung derer
leben, die an sie glauben. Wer aber an solche Gestalten glaubt, der hält es natürlich
für möglich, daß er gelegentlich persönlich mit ihnen in Berührung kommen
kann, und sür den ist es selbstverständlich, daß die großen Helden der Vorzeit
mitunter in eine solche Lage versetzt worden sind. So weit schrumpft also,
wenigstens in der Dietrichsage, bei genauerer Betrachtung der mythische Gehalt
zusammen; eine Annahme, wie die, daß Dietrich in solchen Fällen in die Stelle
eines alten Donner- oder auch Sonnengottes eingerückt sei, ist vollkommen
überflüssig und eigentlich schon damit abgethan, ganz abgesehen von dem Um¬
stände, daß es gerade die jüngsten Dichtungen sind, die Dietrich zu mythischen
Wesen in Beziehung setzen. Es ergiebt sich also für die Amelungensage, daß
Mythen in ihr keine andre Rolle spielen als jedes beliebige andre Motiv,
das an sie angeknüpft worden ist, mit andern Worten: der mythische Gesichts¬
punkt der Sagenforschung füllt hier weg.
Nun haben wir freilich andre Sagen, bei denen der mythische Gesichts¬
punkt mit einem bessern Scheine des Rechts auftritt. Vor allem ist dies der
Fall in dem ersten Teile der Sage von Siegfried und dem Untergange der
Burgunden. Ihr wesentlicher Inhalt ist folgender: Siegfried, ein Knabe vor¬
nehmer Abkunft, wächst als Findling unter ärmlichen Verhältnissen auf. tötet,
nachdem er Herangewachsen ist. einen gewaltigen schatzhütendcn Drachen, wird
dadurch unermeßlich reich, verlobt sich mit der Walkürenhaften Brunhild, zieht
dann an den Hof des Burgundenkönigs Gibich und vermählt sich dort mit
dessen Tochter Kriemhild. Die verlassene Brunhild erwirbt er dann für den
neu gewonnenen Schwager Günther. Diese Erwerbung ist mit Schwierig¬
keiten verknüpft, die nur der echte Bräutigam Siegfried überwinden kann. So
muß dieser dem Günther bei der Gewinnung in betrügerischer Weise helfen.
Doch das wird sein Unheil: Brunhild erführe durch einen Zank mit Kriemhild
die nähern Umstünde und gewinnt ihren Gemahl und die Seinen für ihre Rache:
Siegfried wird in ihrem Auftrage von Hagen ermordet, sein Schatz kommt in
den Besitz der burgundischen Könige, seine Witwe Kriemhild aber nimmt nach
einiger Zeit von ihren Brüdern die Mordbnße an und versöhnt sich mit ihnen.
Später wird sie die Gattin des Hnnnenkönigs Attila. Dieser, gierig nach dem
Horte seiner Schwäger, lockt sie zu sich und tötet sie samt ihren Mannen.
Kriemhild übernimmt dann die Rache für ihr Geschlecht und tötet den Attila.
Dies dürfte die älteste Fassung der Sage sein, die sich freilich aus den
verschiednen Formen der Überlieferung nur schwer ableiten läßt; besonders
im ersten Teile bleibt es im einzelnen nicht selten zweifelhaft, ob diese oder
jene Form der Erzählung als altertümlicher vorzuziehen sei. Aber auf den
ersten Blick ist klar und auch längst erkannt, daß die Erzählung in zwei nur
lose verbundne Teile zerfüllt: die Geschichte von Siegfried und die Geschichte
von dem Untergange der Burgunden und Attilas Tode. Während nun der
erste Teil jeder Art von Deutung große Schwierigkeiten entgegenstellt, ist die
des zweiten längst festgestellt: zwei geschichtliche Ereignisse des fünften Jahr¬
hunderts, die Zerstörung des mittelrheinischen Vurgundenstaats unter Gnndicari
durch Aetius mit hunnischer Hilfe im Jahre 437, und Attilas plötzlicher Tod
an der Seite seiner neuesten Gattin Hildiko im Jahre 453 sind mit einander
in folgender Weise in ursächlichen Zusammenhang gebracht: die Hunnen des
Aetius sind Hunnen Attilas geworden, Hildiko gilt, wie schon gleichzeitige
Gerüchte besagten, als Attilas Mörderin, und zwar als eine burgundische
Fürstin, die den Untergang ihres Volkes rächt, Damit ist der geschichtliche
Ursprung dieses Teiles und der in ihm handelnd austretenden Sagengestalten
Günther, Etzel und Kriemhild erwiesen (der Name Hildiko ist Koseform eines
mit -bitt zusammengesetzten Frauennamens, darf also unmittelbar mit Kriemhild
verglichen werden).
Mit dem ersten Teile ist diese unzweifelhaft aus Geschichte entstandne
Sage nur dadurch verknüpft, daß auch dort gewisse Personen (Günther, Kriem¬
hild) und Sachen (der Schatz) des zweiten Teils eine Rolle spielen. Diese
Personen und Sachen können aber entweder durch Gleichsetzung oder durch
Übertritt aus einem in den andern Teil beiden gemeinsam geworden sein:
jedenfalls beweisen sie nichts für eine alte Zusammengehörigkeit der dnrch eine
klaffende Lücke geschiednen Abschnitte.
Der unverbundne erste Teil ist nun bisher mit besondrer Vorliebe aus
einem angeblichen Mythus abgeleitet worden: Siegfried soll ein Lichtheros
irgend welcher Art sein (Tag, Sonne, Frühling), der die Finsternis überwindet,
indem er den Drachen tötet, damit in den Besitz der Welt (des Schatzes und
der Brunhild) gelangt, schließlich aber den Mächten der Finsternis wieder er¬
liegt (sie töten ihn und entreißen ihm Schatz und Braut). Aber stichhaltig
ist diese Erklärung nicht: ihr steht vor allem entgegen, daß nach Überein¬
stimmung aller uns erhaltnen Darstellungen der Zank der Königinnen (und
damit der von Siegfried an Brunhild verübte Betrug) die Ermordung Sieg¬
frieds verursacht; wo fände aber dieser Zank im Mythus seine Erklärung?
Auch stellt keine unsrer alten Quellen die Verlobung mit Brunhild als eine
innere Folge der Drachentötnng dar; erst in der jüngsten Quelle, dem Liede
vom horreum Siegfried, findet sich etwas derartiges, doch ist die Jungfrau,
die hier aus der Gewalt des Drachens erlöst wird, Kriemhild, nicht Brunhild.
Dagegen spricht das älteste Zeugnis, das uns das angelsächsische Gedicht von
Beowulf darbietet, dem Siegfried Drachentötung und Hortgewinn geradezu
ab, indem es beides dem Siegmund zuschreibt, der sonst für Siegfrieds Vater
gilt, und es ist unbedingt unmethodisch, wenn man diesen Umstand damit um¬
geht, daß man das älteste Zeugnis eines Irrtums zeiht und eine Übertragung
auf den Vater annimmt, denn man darf ein älteres Zeugnis nicht auf Grund
von jüngern ablehnen.
Die landläufige mythische Erklärung ist also geradezu unwahrscheinlich.
Aber auch irgend welche andre dieser Art scheint nicht geraten, denn was an
der Siegfricdsage mythisch ist oder scheint, liegt so lose auf der Oberfläche,
daß die bei der Dietrichsage gegebne Bestimmung der Mythen in der Sage
auch hier anwendbar ist. Vor allem aber dürfen nicht Mythen, die nur in
der nordischen Darstellung auftreten, ohne weiteres als alte Bestandteile der
Sage augesehen werden, denn wenn die nordische Form mich vielfach alter¬
tümlicher ist als die deutsche, so ist sie doch gerade um zahlreiche Zusätze
mythischen Inhalts erweitert, die neuerdings als rein nordisches Gut nach¬
gewiesen worden sind, z. B. die Waberlohe und das Auftreten Odins.
Eine geschichtliche Deutung der Siegfriedsage freilich stößt auf nicht ge¬
ringere Schwierigkeiten, denn nirgends in der beglaubigten Geschichte findet sich
etwas, das man ohne weiteres als ihren Ausgangspunkt betrachten könnte.
Aber nachdem wir gesehen haben, wie ein geschichtliches Ereignis der Ursprung
einer gewaltigen Sage sein und schließlich doch durch den Gang der Ent¬
wicklung wieder aus ihr verschwinden kann, wie dürften wir da den geschicht¬
lichen Ursprung der Siegfriedsage für unmöglich erklären?
Es ist längst darauf hingewiesen worden, daß die Sicgfriedsage das wilde
Wesen der Merowingerzeit widerspiegelt; insbesondre die Gier nach Siegfrieds
großem Hort, die in der Sage vielfach die treibende Kraft ist, erinnert an die
Beweggründe, von denen die merowingischen Herrscher geleitet wurden. Dies
würde zunächst nur die Annahme nahelegen, daß die Sage ihre endgiltige Aus¬
bildung in merowingischer Zeit erlangt habe. Aber wir dürfen wohl weiter¬
gehen und uns in der Geschichte der Merowinger nach Ereignissen umsehen,
die die Grundlage unsrer Sage gewesen sein konnten.
Da bieten sich denn ungesucht die Ereignisse aus der zweiten Hälfte des
sechsten Jahrhunderts dar, Ereignisse, die das merowingische Haus von Grund
aus erschütterten, die Merowinger auf der Höhe ihrer Kraft, aber auch ihrer
Verworfenheit zeigen, und die von so gewaltiger dramatischer Wucht sind, daß
es sehr verwunderlich wäre, wenn sie in der fränkischen Sage keinerlei Spuren
hinterlassen hätten. In ihren Hauptzügen sind es folgende: Es herrschen
gleichzeitig die drei Brüder Chilperich von Neustrien, Guntrcim von Burgund
und Sigebert von Austrien. Sigebert erscheint gegenüber der sittlichen Ver¬
kommenheit seiner Brüder als ein strahlender Held, der übrigens seinen Ruf
durch glückliche Kriegsthaten an der Ostgrenze des Reiches auch verdient. Er
weicht auch darin von seinen Brüdern ab, daß er nicht, wie sie, mehrere niedrig
geborne Fränkinnen eheliche, sondern um des westgotischen Königs Athanagild
Tochter Brunihild freit. Er erhält sie mit ansehnlicher Mitgift in Gold und
Kostbarkeiten. Dieser äußerliche Gewinn sticht seinem Bruder Chilperich so in
die Augen, daß er sein fränkisches Weib entläßt und Brunihilds Schwester
Galsuintha heiratet- Aber kaum hat er sie und ihre Mitgift, so kehrt er zu
seiner frühern Geliebten Fredegund zurück und läßt Galsuintha töten. So wird
Brunihilds und Sigeberts Nache herausgefordert; sie ziehen gegen Chilperich zu
Felde und schlagen und vertreiben ihn. Doch auf der Höhe seiner Macht fällt
Sigebert plötzlich durch Mörder, die Fredegund ausgesandt hat. Was dem
noch folgt, ist für uns unwesentlich; nur das sei noch erwähnt, daß der Haß
der beiden Königinnen bis an ihren Tod dauert und sich auf ihre Nachkommen
vererbt, sowie daß Brunihild wieder und wieder versucht, für ihre Nachkommen
die Zügel der Regierung zu führen, und sich nicht scheut, zu Pferde gepanzert
inmitten aufsässiger Vasallen zu erscheinen.
Hier haben wir. meine ich, wenn auch nicht die Siegfriedsage selbst, so
doch ihre wesentlichen Züge ans engem Raume beisammen; die Gruppirung ist
allerdings in der Geschichte anders als in der Sage. Wesentlich gleich aber
ist folgendes: Sigebert, der die andern überragt, ist uach Namen und Stellung
gleich Siegfried (der zweite Bestandteil des Namens Siegfried steht auch in
der Sage nicht fest, denn der Norden nennt ihn Sigurdr Siegwart); mit
der Verdrängung der Galsuintha durch Fredegund vergleicht sich die der
Brunhild durch Kriemhild in der Sage. Am deutlichsten stimmen Sage und
Geschichte überein in dem Streite der Königinnen und der dadurch hervor-
gerufnen Ermordung Sigeberts. Die geschichtliche Brnnihild deckt sich nach
Namen und Charakter völlig mit der Brunhild der Sage. Endlich entspricht,
etwas seitwärts stehend, Gnntram von Burgund in seiner mehr zuschauenden
Rolle der des Burgunden Günther. Darf man sich nach dieser Zusammen¬
stellung nicht wundern, daß unter allen denkbaren Gleichungen bisher nur die
nebensächlichste einigermaßen anerkannt war, nämlich die des Merowings
Chilpcrich mit dem in der nordischen Sagenform auftretenden Hjalprekr?
Freilich bleibt uoch eine wirkliche Schwierigkeit zu überwinden: soll
nämlich die sagenhafte Brunhild dieselbe Gestalt wie die geschichtliche sein, die
erst 613 starb, so muß die ganze Sage beträchtlich jünger sein, als man bisher
angenommen hat; sie könnte schwerlich vor 700 die später geltenden Grund¬
züge erlangt haben. Aber auch dieser späte Ursprung der Siegfriedsage läßt
sich durch ein äußeres Zeugnis wahrscheinlich machen: wir haben in der angel¬
sächsischen Litteratur eine große Menge Belege für alle möglichen deutschen
Sagen, und diese Belege gehören im wesentlichen dem achten Jahrhundert an;
nnter ihnen findet sich aber nicht ein einziger für die Siegfriedsage, denn den
schon erwähnten, der Siegmund (später Siegfrieds Vater) samt dem Drachen¬
kampf und dem Hortgewinn kennt, mußten wir gerade von Siegfried trennen.
Der Niederschlag, den die Geschichte jener Merowinge als Sage hinter¬
lassen hat, ist wohl bald, etwa um 700, mit der geschichtlichen Attila-Vur-
gnndenscige in der Weise vereinigt worden, daß einige Personen der einen mit
Personen der andern gleichgesetzt wurden, so Guntrcnn — Günther, Fredc-
gnnd ^ Kriemhild (Hildiko). Diese Vereinigung wird es gewesen sein, die,
so äußerlich sie auch war, die starke Verschiebung in der Gruppirung der Züge
des ersten Teiles zu stände brachte. Daß diese Verschiebung notwendig war,
ergiebt sich schon aus folgendem: trat an die Stelle der Fredegnnd die Kriem-
hild, die Günthers Gnntrams Schwester war, so konnte ihr Gemahl nicht
mehr ein Bruder Gnntrams sein, sonst wäre er ihr eigner Bruder gewesen;
so wurde der Merowing Sigebert zum Findling Siegfried. Der Siegfriedsage
wurde dann als Vorgeschichte die schon bestehende Sage von Siegmund vor¬
geschoben, offenbar infolge der Namenverwandtschaft; von ihr gingen dann
einige Züge in die Siegfriedsage über.
Es liegt mir völlig fern, die hier vorgetragnen Ausführungen als voll¬
ständig bewiesen ansehen zu wollen. Aber einen gewissen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit glaube ich erreicht zu haben, und damit kaun man wohl zufrieden
sein, denn wirklich beweisen läßt sich in solchen Dingen wenig.
Etwa um das Jahr 800 ist dann die äußerlich verbundne Siegfried-
Burgnndensage nach dem Norden gelangt, als erste aller deutschen Sagen
offenbar deshalb, weil sie in Niederfranken, an der Mündung des Rheins, zu
Hause war, wohin sich schon frühzeitig die Fahrten der nordischen Wikinge
richteten.
In Deutschland hat sie in den folgenden vier Jahrhunderten eine Weiter¬
entwicklung erfahren, die klarer vor uns liegt als der Ursprung ihres ersten
Teiles, und die wieder deutlich zeigt, wie sich Sagen umbilden.
Zunächst ist der Anstoß, der darin liegt, daß die beiden Teile nur äußer¬
lich zusammenhängen, beseitigt worden; ein zweifellos nicht unbedeutender
Dichter hat die Lücke dadurch geschlossen, daß er den Untergang der Burgunden
als die Rache der Kriemhild für die Ermordung ihres ersten Gemahls auf¬
faßte. Diese Auffassung hat aber zur Folge, daß die Wünsche Etzels und
Kriemhilts bei jener Vernichtung uicht mehr einander entgegen stehen, sondern
in einander aufgehen; somit hat Kriemhild gar leine Veranlassung mehr, Etzel
deshalb zu grollen, kann ihn also auch nicht mehr ermorden. Und so haben
wir das merkwürdige und wichtige Ergebnis, daß eine Sage, die sicher von
Attilas Tode ausgeht, nach Verlauf einiger Jahrhunderte von diesem Tode
gar nichts mehr zu erzählen weiß. Später hat dieser Umstand eine Nach¬
dichtung hervorgerufen, in der ein nachgeborner Sohn Hagens die Rache an
Attila übernimmt. Ehe das aber geschah, wurde die Sage nach Vaiern über¬
tragen, etwa im zehnten Jahrhundert, und hier hat sie sich natürlich sofort
in die Dietrichsage einfügen müssen; das nötige Bindeglied war dadurch schon
gegeben, daß hier wie dort der Hunnenkönig Attila eine hervorragende Rolle
spielte. So versetzte man denn den Untergang der Vurguuden in die Zeit,
wo Dietrich an Etzels Hofe lebte, und ließ diesen, als anerkannten Haupthelden,
die Entscheidung im Kampfe bringen.
Es ist in dieser Darstellung eine große Masse wichtiger Einzelheiten un¬
erwähnt geblieben. Dennoch hoffe ich, im wesentlichen gezeigt zu haben, wie
sich die deutsche Heldensage gebildet und weiter entwickelt hat. Von sichern
Gleichungen zwischen Geschichte und Sage ausgehend, kamen wir zu der
Überzeugung, daß die Sage in der Geschichte ihre Wurzeln hat, daß aber
ihre Fortbildung durch Dichtung, sei es bewußte, sei es unbewußte, besorgt
wird. Mythische Bestandteile sind der Sage zwar nicht fremd, doch liegen sie
dort, wo sie sicher nachweisbar sind, so an der Oberfläche, daß sie das Wesen
der geschichtlich-poetischen Sage nicht berühren; sie sind nur äußerlich angeknüpfte
Züge. Bisher hat man Sagen, deren geschichtlicher Ursprung nicht auf der
Hand liegt, gern aus mythischen Wurzeln erklärt; aber wir haben an einigen
Fällen, deren allmähliche Entwicklung klar vor uns liegt, beobachten können,
wie ein bestimmtes geschichtliches Ereignis den Ausgangspunkt einer Sage
bildet, die Sage später sich aber so verschiebt, daß gerade der Ausgangspunkt
gänzlich aus ihr verschwindet. Das berechtigt uns ohne Zweifel, auch Sagen,
die sich nicht ohne weiteres aus der Geschichte ableiten lassen, doch auf sie
zurückzuführen und anzunehmen, daß irgend eine dnrch Dichtung verursachte
Verschiebung den Ursprung verdunkelt habe. Auf eiuen strengen Beweis
werden wir in solchen Fällen verzichten müssen, bis uns einmal ein glücklicher
Zufall die vermißte Zwischenstufe in die Hand spielt.
Jedenfalls würde es unmethodisch sein, eine deutsche Sage deshalb für
mythischen Ursprungs zu halten, weil sich der geschichtliche nicht ohne weiteres
finden läßt. Es liegt mir fern, mythischen Ursprung von Sagen überhaupt
bestreiten zu wollen; aber die Mythen, die wir für alt- oder gemeingermanisch
halten dürfen, sind sämtlich sehr einfach und durchsichtig. schoben wir den
darin auftretenden mythischen Wesen Menschen unter, so würden wir auch eine
sehr einfache Sage erhalten, die das Kennzeichen ihres Ursprungs an der Stirn
tragen würde. Solcher einfacher vermenschlichter Mythen lassen sich zwar
manche in unsern Märchen nachweisen, in unsrer Heldensage aber, außer in
Fallen, wo sie äußerlich angeknüpft sind, keine.
Verwickeltere Mythen aber, wie sie als Wurzeln für die Siegfriedsage
erforderlich wären, treten uns wohl in Skandinavien entgegen, aber nicht in
den übrigen Teilen der germanischen Welt. Skandinavien hat aber auch die
urgermanischen Vorstellungen mehrere Jahrhunderte länger bewahrt als Eng¬
land und Deutschland und hat in dieser Zeit mit den unter dem Einflüsse
der antiken Kultur und des Christentums stehenden Teilen Europas ständig
in Beziehung gestanden; es hat also für die Entwicklung solcher Mythen die
nötige Zeit und auch die nötige Anregung gehabt. Falsch wäre es daher,
wenn man skandinavisch-heidnische Vorstellungen ohne weiteres für urgermanisch
erklären wollte. Der urgermanische Mytheubestaud scheint vielmehr sehr ein¬
fach und nur von schattenhaften Umrissen gewesen zu sein, also nicht sonderlich
geeignet, um, vermenschlicht, eine entwicklungsfähige Sage zu erzeugen.
Wir sind also wohl berechtigt, von den zu Anfang erwähnten drei
Gesichtspunkten der Sagenforschnng für die deutsche Heldensage den mythischen
in der Hauptsache abzuweisen; von den beiden andern aber ist der geschicht¬
liche anzuwenden für die Betrachtung des Ursprungs, der poetische für die der
Weiterentwicklung der Sage.
it der in den fünfziger Jahren leise einsetzenden, dann aber mit
jedem Jahr rascher anschwellenden Bewegung der sommerlichen
Vergnügungsreisenden aus den Städten aufs Land, aus den
Ebenen ins Gebirge und ans Meer beginnt eine neue Ära des
deutschen Wirtshauses. Es hat sich vervielfältigt, vergrößert,
verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Volkszahl drängt auch die Räume
des Wirtshauses zur Vergrößerung, damit hat besonders in Mitteldeutschland
das Dorfwirtshans seine behagliche familienhafte Enge abgestreift; in der
Woche gähnt den Besucher das saalartige Wirtszimmer an, wo des Sonntags
die abgearbeiteten Gesichter der Weber, Bergleute, Glasbläser, Schnitzer, Flechter
ins Glühen kommen. Wer die Wirtshäuser jeder Stufe zählen wollte, die
allein im Harz im letzten Menschenalter gebaut worden sind, würde mehrere
hundert aufzuzählen haben, zu denen noch die alten, aber in jedem Falle
gründlich erneuerten „Lokale" kommen. Wer erkennt in Harzburg mit seinen
Reihen großer Hotels das bescheidne Städtchen von 1860 mit seinen paar
altbürgerlichen Gasthäusern und seinem kaum beachteten schüchternen Anspruch,
ein Vadeplatz zu werden? Ebenso haben sich viele von den Sommerfrischen
am Nordfuß der bairischen Alpen zu vielbesuchte» Orten entwickelt. Dörfer
und Marktflecken wie Garmisch, Partenkirchen, Starnberg, Prien u. a. haben
ein städtisches Gewand angezogen. Welcher Unterschied, wo auf der einen
Seite eines Berges ein Örtchen ins Wachsen gekommen ist, während das
Schwesterstädtchen drüben vernachlässigt wurde: das gasthaus- und villenreiche,
moderne breite Friedrichsroda auf dieser und das enge, trübe Schmalkalden ans
jener Seite des Thüringer Waldes. Nicht nur Villen von allen Größen und
Güter, neue Gasthäuser, Restaurationen und selbst Keime von Kaffeehäusern
sind entstanden. Daneben sind jene in Fremdeuplätzeu unvermeidlichen Tand¬
läden mit geschnitzten, gestanzten, geklecksten (oder erst zu beklecksenden) Andenken,
banalen Bilderpostkarten u. dergl. wie Pilze emporgeschossen. Wenigstens im
Dunstkreis der Bahnhöfe und Dampfschiffländen ist der ländliche Duft gänzlich
abgestreift.
Jeder von diesen Orten hat heute mindestens ein Wirtshaus, das den
Anspruch erhebt, ein „Haus ersten Ranges" zu sein. Vor dreißig Jahren
war auch schau eins da, das für das beste galt; damals war es in der Regel
noch die Post. Einzelne Gasthäuser waren schon weithin berühmt, nicht durch
Reisehandbücher, die damals für unsre Gebirge erst zu entstehen begannen, und
nicht durch Reklame, die man noch nicht kannte, sondern durch die Überlieferung
von Mund zu Mund. Sie zeichneten sich durch bessere Zimmer und sorg¬
fältigere, nicht gerade feinere Küche aus, besteuerten aber den Fremdling nicht
beträchtlich höher als die anspruchsloser» Gasthäuser daneben, unter denen in
der Regel eines durch die Güte des eignen Weines oder Bieres berühmt war.
Die Abstufung lag überhaupt weniger in den Ansprüchen und in den Preisen
als in der Gewohnheit. Den altbürgerlichen Komfort, der nicht vom Tapezierer
aus der Stadt auf Bestellung geschaffen, sondern das Erzeugnis eines fest-
begründeten Wohlstands war, fand man in einem bescheidnen Hanse oft noch
besser als in einem anspruchsvollern. Doch lag ein seitdem verschwundiier
Unterschied auch darin, daß in dem größern, besuchter» Haus die Leute ge¬
wöhnt waren, Gäste zu empfangen, die in einem kleinern oft als Unbequem¬
lichkeit behandelt wurden.
Abseits von den Straßen waren aber die Wirtshäuser nur für die
Bauern berechnet. Das machte sich besonders in den bis dahin uur auf
einigen Hauptstraßen durchzognen Alpen fühlbar. Als Ludwig Steub vor
fünfundzwanzig Jahren in die bairischen Alpen und ins tirolische Unterinn¬
thal zog, um neues Material zur zweiten Ausgabe seiner „Drei Sommer in
Tirol" zu sammeln, war dieser Zustand eben in der Umwandlung begriffen.
Steub fand damals in Schliersee schon Markgräfler mit Selterser und die
Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer; aber die Bequemlichkeit der Betten
und Zimmer, und die Höflichkeit und Dienstbereitschaft hatten wenig Fort¬
schritte gemacht. Im Eingang jenes Buches ruft er erstaunt und erschrocken:
Der große Schlag ist geschehen, das bairische Gebirge ist fashionabel geworden!
Aber schon in der Klause bei Kufstein wiederholt er sein oft ansgesprochnes:
Wer in Baiern gut leben will, muß ins Tirol gehen. Die Baiern haben
seitdem von den Tirolern gelernt, und was mehr ist: sie fangen an, das Wirts¬
gewerbe als eine Kunst aufzufassen, die gelernt und geübt sein will. Der
Banernwirt that sich und seinen Gästen genng, wenn er bäurisch sprach und
handelte und bäurische Nahrung bot. Die städtischen Ansprüche ließen ihn
lange unberührt. Zuerst hat er es verstanden, städtische Preise zu fordern.
Dann ließ er sich aber auch zu höhern Leistungen herbei, wobei das weibliche
Element das treibende gewesen zu sein scheint, denn sie zeigten sich zuerst in
der Küche und am Bett.
Es fehlt zwar noch viel im einzelnen, aber im ganzen ist doch der Still¬
stand überwunden und die Notwendigkeit des Fortschritts anerkannt. Eine
ganz neue Erscheinung ist dabei der gewaltig wachsende Einfluß der Gro߬
städte. Münchens Einfluß äußert sich in ganz Baiern von einem Ende bis
zum andern so stark, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank¬
reich verglichen werden kann. Am frühesten ist Münchner Bier in Wettbewerb
mit den Erzengnissen ländlicher Brauereien getreten, die aber in den meisten
Teilen Ober- und Niederbaierns mindestens zur Gleichberechtigung der länd¬
lichen geführt hat. Die „Münchner Neuesten Nachrichten" liegen fast in jedem
Dorfwirtshaus aus, wenigstens in den Sommermonaten. München ist aber
auch der Lieferant von Weinen und Speisen, Möbeln und Zimmerschmuck, und
der wachsende Verkehr in Südbaiern und Nordtirol hat in München eine
große Fremdcnindnstrie hervorgerufen. Der erleichterte Eisenbahnverkehr er¬
möglicht den Wirten und Wirtinnen den Markt der nächstgelcgnen größern
Stadt zu besuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten haben, daß
feinschmeckerischen Gästen zulieb eine Wirtin drei Stunden auf der Eisenbahn
führt, um persönlich die Fasanen zu kaufen, die am Orte uicht zu haben
sind? So ist Braunschweig für den Harz, Görlitz für das Riesen- und Jser-
gebirge Markt geworden, und die Forellen, die man dort ißt, sind oft gerade
so gut Fremdlinge wie der, der durch ihre Verspeisung sein Naturgefühl uoch
etwas gebirgshafter zu steigern trachtet. Der Sommerverkehr vermehrt so
plötzlich die Nachfrage nach Nahrungsmitteln, daß ohne den Schnellverkehr so
manches Gebirgsdorf und noch eher manches Seebad von Hungersnot heim¬
gesucht werden würde. Daß das ländliche Wirtshaus ländlichen Überfluß
bietet, kommt nur noch in den von Fremden am wenigsten besuchten Gegenden
vor; oder der einsame Winterreisende erfährt diesen Segen, wenn ihn sein
Stern zur Metzelsuppe daherführt. Wir haben schon gesehen, wie leicht sich
die Wirtshäuser im Schwarzwald und an der Haardt in die neuen Verkehrs¬
verhältnisse gefunden haben, weil ihnen schon früher ihre glückliche Lage ein
kosmopolitisches, forderndes und zählendes Publikum zugeführt hatte. Merk¬
würdig, daß dabei die Preise noch über das schweizerische Niveau stiegen,
sodaß der Freiburger und Offenburger seine Rechnung dabei findet, zu der¬
selben Zeit eine Schweizerreise zu machen, wo die Norddeutschen, Frankfurter
und Engländer den Schwarzwald überschwemmen.
Der Prozeß ist dort viel einfacher verlaufen, wo die neue Entwicklung
überhaupt an nichts Vorhcmdnes anknüpfen konnte, sondern auf frischem
Boden aufzubauen hatte. Im Hintergrund der Alpenthüler traten an die
Stelle der Heulager in Alphütten zuerst einfache Schutzhäuser mit Pritschen¬
lagern, die dann bei zunehmendem Besuch immer besser ausgestattet und
endlich zu wahren Gasthäusern wurden, die aus dem Besitz einer Alpen¬
vereinssektion in den eines Wirtes übergingen, der nun jährlich Tausende ein-
und ausgehen sieht. So sind das Wendelsteinhaus, das Herzogenstandhaus
und andre in den bairischen Alpen zu viel besuchten Höhengasthciuscrn ge¬
worden, und bald wird es vom Pfänder bis zum Triglav im weiten Bereich
der deutschen und österreichischen Alpen keinen besuchter» Gipfel mehr geben,
der nicht in irgend einem Thalhintergrund oder an seinem Jochsattel seine
„bewirtschaftete" Hütte hätte. Dazu kommen zahllose Alphütten, in denen im
Sommer Wein oder Vier verzapft und das altursprüngliche Heulager durch
Wolldecken höhern Ansprüchen angepaßt wird. Dabei treten die merkwürdigsten
Übergangserscheinungen hervor. Zum Beispiel reicht das Geld uur sür die
Bettladen und diese werden nun mit Heu ausgefüllt, um in einem künftigen
Jahr, wenn das Geschäft gut geht, ländliche Betten aufzunehmen. In den
deutschen Mittelgebirgen zeigen Harz, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz und
Riesengebirge eine Menge nagelneuer Wirtshäuser, die entweder mit großen
Mitteln groß, protzig und teuer hingestellt sind, oder als Unternehmungen
einzelner kleiner Leute zunächst nur bescheidnen Ansprüchen entgegenkommen
wollen, leider aber gezwungen sind, unverhältnismäßig hohe Preise zu machen.
Auch in den Vogesen hat der seit dem Übergang an Deutschland gesteigerte
Verkehr neue Häuser ins Leben gerufen. Altdeutscher Wirt und elsässische
Wirtin geben zusammen einen guten Klang, wenn nicht zufällig der Wirt ein
sitzengebliebuer Jurist ist, tems „der Wirtin Töchterlein" angethan hat. Ein
solcher Mann paßt nicht hinter die hellen, harten, unpolirten Wirtstische ans
Apfel- und Birnbaumholz, die im Elsaß üblich sind. Ich habe tief im Wasgen-
Wald einen Gestrandeten dieser Art getroffen, der trotz ängstlichem Bemühen
den welschen Wirt nicht fertig brachte, nach dessen Muster er mit der Ser¬
viette unter dem Arm servirte; seine Frau, die im Wirtshaus aufgewachsen
war, leitete mit natürlicher Sachkenntnis das Ganze. Ein interessanter Fall
von Vererbung!
Von Frankreich herüber reicht ein ganz andres System der Wirtschafts¬
führung in den von Fremden häufiger besuchten Gasthäusern als das in
Deutschland übliche. Der Wirt leitet Küche und Keller, kocht, wenn es nötig
ist, selbst, während die Frau die Fremden empfängt und bedient, womöglich
von Töchtern oder weiblichen Verwandten unterstützt. In Lothringen findet
man manches Wirtshaus nach diesem „Plan," der ja auch den Erfolg manches
nicht ganz kleinen Gasthauses in der Schweiz schafft. Im Elsaß nimmt der
Wirt nach deutscher Art die Stellung des Hausherrn ein. Wäre nicht die
in manchen elsüssischen Dörfern, selbst im Weinland, hervortretende größere
Nüchternheit der Bevölkerung, die das Wirtshaus an Werktagen meidet, so
würde sich die Übereinstimmung mit den rechtsrheinischen Alemannen auch auf
diese Sphäre erstrecken. Es ist aber keine Frage, daß das Elsaß in seinen
Gebirgswirtshäusern geradeso wie in andern Dingen hinter dem Schwarzwald
zurückgeblieben ist. Unliebsam verspürt der Wandrer an abgelegnen Orten den
Mangel alemannischer Reinlichkeit und Emsigkeit. Der Elsüsser wirft dem
Altdeutschen, der sein heimatliches Wirtshaus lobt, Vergnügungssucht und
Wirtshaushockerei vor, während der Vadenser meint, da die Elsässer Weine
bei weitem nicht so süffig seien wie der Markgräfler, sei es keine Kunst,
weniger lang bei einem elsässischen Schoppen sitzen zu bleiben. Ein Gang
durch elsässische und lothringische Städte und Städtchen läßt keinen Zweifel
daran auskommen, daß die Altdeutschen redlich bestrebt sind, auch in dieser
Beziehung Unebenheiten auszugleichen. Mit dem deutschen Bier ist eine
Menge badischer und bairischer Brauer und Wirte eingewandert, und die
bairischen Keller- und Gartenwirtschaften haben dazu beigetragen, die elsa߬
lothringischen Stüdtebilder umzugestalten. In andrer Weise bezeugt so manches
alte Haus in Lothringen, das in die Hand eines deutschen Wirtes oder
Wirtsdilettanten übergegangen ist, die Änderung der Verhältnisse. Wenn es
nach alter Sitte in einer ruhigen Seitenstraße und womöglich hinter einem
umgitterten Hofe liegt, ein Bild der Ruhe und Respektabilität, und es tönt
der Lärm einer Sektkneiperei deutscher Offiziere heraus, ist der Kontrast sehr
stark. So wie aus Deutschland seit 1870 schiffbrüchige Existenzen jedes
Standes nach dem Reichsland getrieben sind, hat natürlich auch das Wirts-
gcwerbe dort anziehend auf solche gewirkt, die in Altdeutschland nicht mehr
viel zu hoffen hatten. Es giebt Städte, wo alle Wirtshäuser seit 1870 die
Besitzer gewechselt haben. In den Südvvgesen traf ich vor einem neuen
Touristenwirtshaus fünf schöne junge Tannen ohne Wurzeln eingepflanzt.
Der Wirt meinte, zwei Jahre sähen sie ganz gut aus, und dann könne man
sie durch lebende Bäume ersetzen, wenn sich das Geschüft erst einmal übersehen
lasse, das doch zweifelhaft sei, solange das Touristenwescn von den Ein¬
heimischen scheel angesehen werde. Wie manche Gründung auf diesem Gebiete
wäre diesen wurzellosen Tannen zu vergleichen, die man einmal versuchsweise
für ein paar Jahre hinsetzt!
Wo der Fremdcuandraug Jahr für Jahr so unanfhaltsnm wächst, wie an
der Ostsee und Nordsee, da wird bald jede Hütte zum Gasthaus, allerdings
unter beschränkenden Voraussetzungen, wie sie einer meiner Freunde auf H. er¬
lebte, wo der Wirt hartnäckig nnr Junggesellen in seine Fremdenzimmer, das
heißt in die neuen Bretterverschläge seines alten Speichers aufnahm, weil
seine Mittel noch nicht erlaubten, bis zu dem Grade von Komfort fort¬
zuschreiten, den weibliche Wesen angeblich selbst in einem kleinen Ostseestrand¬
dorfe verlangen.
Eine besondre Klasse vou neuen Wirtshäusern wollen wir nicht vergessen,
die sich zu den Eisenbahnen ungefähr so verhalten, wie die alten Postgasthänser
zu den Poststraßen: die Bahnhofgasthänser. Diese Gasthäuser gegenüber dem
Bahnhof sind die eigentlichen Durchgaugshänser. Es wäre viel besser, wenn
ein solches Haus den Titel trüge „Passantenhaus." Es ist immer lärmend
und natürlich in großen verkehrsreichen Städten vor allem zu meiden, wo
jeder Nachtzug neue Gäste bringt. Ans dem Lande ist es das Stelldichein
der Eisenbahnbediensteten, im Gebirge der Führer, die hier die Touristen in
Empfang nehmen. Es ist immer neu und trägt leider oft schon heute in
Spuren frühen Verfalles die Merkmale eines übereilte» Baues. Entsprechend
ist die ganz moderne, aber meist billige und schlechte innere Einrichtung.
Ju diesem Wandel der Zeiten hat natürlich auch das Innere der Wirtshäuser
entsprechende Veränderungen erfahren. Die alten erneuern sich, und die neuen
richten sich von vornherein modisch ein. Diese Umwandlung auf ihren ver-
schiednen Stufen zu beobachten, ist für den nachdenklichen Wandersmann sehr
anziehend. Die alten Wirtshäuser bieten ihm immer Beachtenswertes, und die
neuen sind zwar minder erfreulich, aber in ihrer Weise anch lehrreich. Die
alten waren auf dem Dorf vergrößerte und bereicherte Bauernhäuser, in der
Stadt Bürgerhäuser und in den Marktflecken und Poststationen ein interessantes
Mittelding. Wer hat nicht den ursprünglichsten Komfort der hölzernen Ofen¬
bank mit Wonne empfunden, wenn er an einem kühlen Herbstabend einkehrte,
und der Tisch mit einem dampfenden Gericht zwischen ihn und den wärmenden
Kachelofen gerückt wurde? An passender Stelle fand er neben sich den im
Fußboden befestigten Stiefelzieher und den mit einer Kette an die Ofenbank
gehängten eisernen Schuhlöffel. Wer nun gar das Glück hatte, zur Winterszeit
in dem Teil der Alpen zu wandern, wo, ungefähr zwischen der Furka und dem
Julier, der grünliche Thonstein von Chiavenna die Ofenkacheln ersetzt, der
konnte das Behagen kennen lernen, mit dem man auf dem niedern breit aus
Steinplatten aufgebaute» Ofen seinen derben Veltliner zu schlürfen pflegt, denn
in den dortigen alten Bergwirtshäusern ist die Oberfläche des Ofens als er¬
höhter Ehrenplatz mit einem niedrigen Tisch und Schemel ausgestattet. Was
kaun die Modernisirung an die Stelle dieses Behagens setzen, das man elementar
nennen möchte, und dessen Bestandteile man eines Tages eifrig für die Volks¬
museen der Zukunft suchen wird?
Auch wenn die Mittel viel größer und der moderne Masfengeschmack viel
weniger schlecht wären, würden diese guten alten Dinge nicht zu ersetzen sein.
Der Fall ist sehr lehrreich für unsre Kunstgewerbe. Welche kurzsichtige
Enthusiasten, die einem modischen Stil zu lieb alles umgestalten möchten,
ohne zu bedenken, daß das gute Alte aus einem Boden herausgewachsen ist,
den sie mit aller Begeisterung nicht nachschaffen können! Hier haben die
Generationen, wie sie auf einander folgten, für dieselben Bedürfnisse mit
nur langsam sich wandelnden Geschmack gesorgt, indem sie nach Maßgabe
ihrer Mittel stückweise anschafften und nachschafften; sie wählten das Zweck¬
mäßige und das Gediegne, denn sie dienten nicht der Mode. Die besten
Sachen entstanden auf Höhepunkten des bäuerlichen Daseins: zur Ausstattung
der Braut, als Taus- oder Firmgeschenke. Der Umkreis des Bedarfs war
nicht groß, und wenn er durchschritten war, brachte die neue alte Gelegen¬
heit, das alte neue Geschenk. So sammelten sich die messingnen Leuchter
zum Dutzend, das blankgeputzt den friesischen Kaminsims schmückt — ich war
sehr erstaunt, denselben Schmuck in den Hütten der Fischer von Cette und
Agde zu finden —, und so erhielten die geschliffnen Weinflaschen ihre zahl¬
reiche Nachfolge, die man im Glasschrank einer oberrheinischen Wirtschaft be¬
wundert. Der „Glasträger" hat Jahr für Jahr eine neue aus der böhmischen
Waldhütte in den Odenwald getragen. Und ununterbrochen ging die Be¬
schaffung neuer Leinwand am Spinnrad fort, das in der langen Winterzeit fast
ohne Unterlaß schnurrte.
Heute deckt man dir auf gemeinem sicheren Tisch, dessen Platte nicht wie
die in Abgang geratnen birnen- oder apfelholznen gebohrt wird, daher verdeckt
werden muß, ein schnödes Tuch, das eiuer Jutefabrik entstammt, darüber ein
braunes Wachstuch, und stellt darauf eine unnötige Menge von Tassen, Unter¬
tassen, Tellern, Zuckerschälchen, Kannen und Kamraden aus grüngeründertem
Porzellan mit dem Monogramm des Herrn Hinterhuber oder der Frau Ober¬
mayer. Es darf nicht an staubigen Palmen, sogar blechernen, auf der langen
Wirtstafel fehlen, die für die Herrschafte» bestimmt ist. Für Blumensträuße
reicht die Zeit nicht mehr, auch geht die Blumenzucht in den Dorfgarten zurück,
wo die genügsamen, dankbaren Bauernblumen, wie Vuschnelken, Hahnenkamm,
Zinnien, Stundenblumen, Rosmarin, nicht mehr die alte Liebe finden. In dem
Schlafzimmer setzt uns in Staunen jenes untrüglichste Merkmal der Reform: der
Eimer aus Steingut, in einfachern Verhältnissen aus blauemaillirtem Eisen,
neben dem Waschtisch. Mit ihm erscheinen glücklicherweise fast regelmäßig die
umfänglichern Waschschüsseln, die unzweifelhaft die beste von allen Neuerungen
im deutschen Wirtshauszimmcr sind. Wenn aber daneben noch jenes sinnreichste
und stilvollste Möbel der Biedermaierkultur erhalten ist, der auf schraubenförmig
gewundnen Fuße, wie eine Lotosblume, sich dir entgegenhebende Spucknapf, der
seine Sägespäne unter gedrehten Deckel scheu verhüllt und sich immer an Stellen
herumtreibt, wo er Gefahr läuft, umgestoßen zu werden, dann stehen zwei
Zeitalter deutscher Kultur vor dir. Verachte diesen opserschalenähnlichen Spuck¬
napf nicht, er steht nicht so allein, wie es den Anschein hat. Nicht nur das
Sofa aus den vierziger oder fünfziger Jahren mit möglichst viel Holz und
möglichst wenig Polster, nicht nur das Bildnis irgend eines Fürsten oder
einer Prinzessin, heute Urgreise oder längst zu den Ahnen versammelt, in fast
märchenhafter Jugendlichkeit, die so strahlend auch selbst vor fünfzig Jahren
kaum gewesen sein können, nicht nur der graphitglänzende Ofen, der ein huf¬
eisenförmiges Rohrpaar zur Decke streckt, verzweifelnd über die rasche Ver¬
gänglichkeit seiner schwer erzeugten Wärme: viel mehr gehört zu ihm, ist ihm
alters- und kulturverwandt. Oft ist es der ganze Geist des Hauses, der nur
ein paar neue Formen angenommen hat, die mechanisch angeeignet und an¬
gelernt sind.
Aus diesem Widerspruch gehen recht unfreundliche Eigenschaften des
modernisirten ländlichen Wirtshauses hervor. Der alte Zustand, der beiseite
gesetzt werden soll, war das Erzeugnis einer langen ungestörten Entwicklung,
in der er die organischen Eigenschaften des langsamen Herangewachsenseins erwarb.
Das alte ländliche Wirtshaus war, ob gut oder schlecht, aus einem Guß.
Indem nun unkundige Hände Änderungen vornehmen, begegnen uns endlose
Widersprüche. Der neue Wirt schafft mit gewaltigem Aufwand ein modernes
Eßgeschirr an, aber seine Frau gehört zu der in Deutschland schrecklich rasch
zunehmenden Masse von Frauen, die nicht mehr kochen können; daher ein
ungenießbares Essen auf fein gemaltem Steingut. Und fo weiter durch ge¬
schliffne Gläser mit schlechtem Wein bis zum Schlafzimmer im modernsten
Renaissancestil mit unmöglichen Betten.
Die deutsche Renaissance hat ihre tollsten Sprünge in den neu ein¬
gerichteten Wirtshauszimmern gemacht, die in den zwei letzten Jahrzehnten
von angeblich wertlosen Gerümpel gereinigt und dafür mit stilvollen Möbeln
ausgestattet worden sind. Wo Preiserhöhungen für ein Zimmer von achtzehn
Kreuzer fübt. auf drei Mark eingetreten sind, wie in so vielen Wirtshäusern
der süddeutschen Sommerfrischen und Fremdcnstüdte, konnte es dem Wirt nicht
darauf ankommen, ob er ein paar hundert Mark mehr für seine neuen Sofas
und Sessel anlegte, wenn nur der Eindruck des Luxuriösen erreicht wurde,
der die sprungweis vorgenommenen Preissteigerungen rechtfertigte. Die deutsche
Renaissance zeigt natürlich gerade hier ihre schwachen Seiten ganz unverhüllt,
wo der praktische Zweck der einfach bequemen Einrichtung so nahe und eben
deshalb ganz außer dem Gesichtskreis des von den neuen Ideen erfüllten
Kunstschreiners und Tapezierers liegt. Die fünfziger und sechziger Jahre
hatten die deutsche Zimmereinrichtung auf ihren niedersten Stand herunter¬
gebracht, wo Bequemheit und Schönheit gleich vernachlässigt worden waren,
Billigkeit und Schablone sich mit der vollendeten Unfähigkeit der Hand¬
werker verbanden, um das praktisch und ästhetisch Unbrauchbarste zu schaffen,
was es um 1870 auf dem weiten Erdenrund an Hauseinrichtung gab.
Und dann der plötzliche Aufschwung zum stilvollen! Statt jedes einzelne
Möbel bequemer und fester zu machen, wurden die unpraktischen, unsolider
Konstruktionen mit Schnörkeln umgeben, wie sie der Stil vorschrieb. Statt
das zum Liegen und Sitzen gleich unbequeme Sofa, an dessen geschweiften
harthölzernen Rücken und Lehnen man sich unfehlbar anstieß, wenn man den
kühnen Gedanken zu verwirklichen suchte, sich auf ihm auszustrecken, mit einem
wahren Divan zu vertauschen, wurde das hochrückige Pruuksofa eingeführt,
auf dessen Gesims zwecklose Krüge und Vasen verdächtig klappern, wenn sich
der Nuhebedttrftige auf ihm umwendet. Oder, um den „Forschritt" an einem
andern kleinern Beispiel zu zeigen: den guten alten Leuchter mit festem Hand¬
griff und tiefer Röhre, in die das Licht fest hineingestellt und durch eine be¬
wegliche Hülse nachgeschoben werden konnte, hat der silberplattirte verdrängt,
der eine schlanke, fast windig zu nennende Form, keinen Griff und nur ein
seichtes Grübchen für ein dünnes Licht hat. Von Schieben kein Gedanke; das
Licht leuchtet hoch von oben herunter, wenn es neu ist, droht bei jeder Bewegung
herunterzufallen und sinkt in sein Grübchen ein, wenn es niedergebrannt ist.
Diesen Leuchter darf man auch nicht oft blankputzen, weil sonst das Kupfer durch¬
schimmert. Im glasreichen Böhmen und Schlesien giebt es solche Leuchter
aus dem silberbelegten Glas der Weihuachtskugelu! Die haben doch wenigstens
noch etwas Rührendes, Naives. Wenn ich aber diese glänzenden Belege des
Verkommens des einfachsten praktischen Sinnes und des elementaren Geschmacks
sehe, denke ich mit Sehnsucht an die schwarze Eisenklammer in der Mauer
neben dem Herd, in die einst der düsterflammende Kienspan eingeschraubt
wurde. Und was auch die reinlichkeitliebende Hausfrau denken mag: die von
Glanzruß leuchtende Wand über einem solchen Licht kam mir viel schöner vor
als die verschnörkeltste Deckenmalerei, die rote, knisternde lebendige Flamme
poetischer als der langweilig-hellste Glühstrumpf.
In den industriellen Teilen von Deutschland sind die bessern unter den
neuen Gasthäusern oft wahre GeWerbeausstellungen. Das bringen die geschaft-
lichen Beziehungen mit sich, daß der Wirt Abnehmer der neuesten Erzeugnisse
des Umkreises seines Städtchens ist. Was für Privatleute Überfluß wäre,
das kann seinem Hause Nutzen bringen. Ich habe in Gasthäusern kleiner
Städte der Lausitz Wurzner Teppiche, schlesisches Steingut und Dresdner elek¬
trische Lampen, dazu Seiden- und Federblumen auf jedem Tisch und Schrank,
geschliffne Gläser, japanische Brettchen mit echt abendländischen Mustern,
vogtländische Vorhänge gefunden. Aber leider hatte diese Pracht ihre Lücken,
die übrigens lehrreich sind. Die Tapeten der Wände sind fast immer ge¬
schmacklos. Schwere Farben und große Muster, sogenannte Ohrfeigenmuster,
wiegen vor. Von Harmonie zwischen den Wänden und der Decke ist keine
Rede. Die Hauptsache ist aber, daß all das bunt zusammengewürfelte nicht
zusammenpaßt. In Niederdeutschland, wo, wie in Belgien und Frankreich
und auch in unserm Reichsland, in den vierziger und fünfziger Jahren die
Mahagonimöbel sehr verbreitet waren, machen die einfachen, praktischen, ge¬
räumigen Formen noch heute einen harmonischen Eindruck. Und zu ihrer
Zeit sprach niemand von Kunstgewerbe und Volkskunst. Auf welche Abwege
das Streben nach einer äußerlichen Ausschmückung der Gebrauchsgegenstünde
ohne Rücksicht auf den Zweck und ohne Verbesserung des Materials führt,
kann man nirgends besser als gerade in den Zimmern einfacher Wirtshäuser
beobachten. In größern Städten sind einige neue Gasthäuser mit gediegnem
Geschmack eingerichtet worden, wie man ihn vor dreißig Jahren nicht kannte.
In die kleinern Städte und auf das Dorf ergießt sich der verlogne Schund
eines „billigen Luxus," der unglaublich teuer, weil unzweckmäßig und un¬
dauerhaft ist.
Wie wenig von dem Aufschwung der deutschen Kunst dem Volke zu gute
gekommen ist, zeigt auch der Bilderschmuck der Wirtshäuser dieses Volks. Hier
hat der Ölfarbendruck verwüstend gewirkt. Hätten wir doch noch die alten
Stahlstiche oder Lithographien, die den nun längst bläulich oder grünlich be¬
reiften Stümpereien in Ölfarbe weichen mußten. Die großen Ereignisse unsrer
neuern Geschichte haben nichts daran gebessert. Vergleiche ich die Schlachten¬
bilder von 1864, 1866. 1870/71 — wahrlich, es hat unsern Künstlern nicht
an Material gefehlt! —, die ihren Weg bis in die Gastzimmer deutscher
Wirtshäuser gefunden haben, so bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig es
ist, und wie schlecht und unzweckmäßig das wenige genannt werden muß. Lahn
aufgefaßt, schlecht gezeichnet, endlich noch schlecht gedruckt, das gilt von nahezu
allen. Wie waren da die alten Bilder: Napoleon bei Austerlitz, Napoleon bei
Wagram und dergleichen in Stahlstichen und Lithographien packend. In einem
lothringischen Gasthaus fand ich den seinerzeit auch in Deutschland verbreiteten
Holzschnitt nach Avons 1859 preisgekröntem Bild „Die Erstürmung des
Malakoff." Niemand kann das Bild ohne Interesse betrachten. Der Holz¬
schnitt sieht wie eine doppelseitige Beilage zur Illustration aus, kann also
nicht teuer gewesen sein. Ein so interessantes, dabei echt volkstümliches, weil
ganz verständliches Schlachtenbild aus unsern großen Jahren habe ich nie in
einem deutschen Gastzimmer gesehen. Was Wunder, daß sich uns ein Vorsaal
oder Gastzimmer eines Wirtshauses tief einprägt, wo wir alte Ölgemälde
hängen sehen, und seien sie auch bis zur Unkenntlichkeit dunkel geworden.
Zum Glück sind noch nicht alle zum Trödler gewandert.
Das deutsche Bett wird einst auch seinen Geschichtschreiber finden. Ich gebe
hier nur kleine Beiträge zu einer Seite seiner Geschichte. Wenn man das
Bett als eines der beachtenswertesten Geräte des Menschen deshalb bezeichnet
hat, weil er fast die Hälfte aller Stunden seines Lebens darin zubringt, so
erheischt das Wirtshausbett eine doppelt sorgfältige Betrachtung, denn es be¬
herbergt seine Gäste gewöhnlich noch viel länger als das häusliche oder Familien¬
bett. Das Wirtshausbett ist in Deutschland vom Bett des Privathauses vor
allem darin verschieden, daß es ein Einzelbett ist. Während man in Frankreich und
England in städtischen und ländlichen Gasthäusern noch sehr häufig die Doppel¬
betten trifft, die bequem von einem Paar zu benutzen sind, und an Schläfer¬
paare, nicht bloß Ehepaare, zur Not auch an drei Schläfer vermietet werden,
wiegt in Deutschland überall das Einzelbett vor. Es entspricht das ganz der
Entwicklung des deutschen Bettes überhaupt. Das alte Himmelbett ist in
vielen Teilen Deutschlands schon im vorigen Jahrhundert in die Rumpel¬
kammer gewandert, während die Familie in England und Frankreich daran
festhielt. Im ehelichen Schlafgemach ist es dann durch zwei aneinandergerückte
Betten ersetzt worden. Auch zu den Bauern hat sich diese Mode verbreitet. Sie
berühren sich aber auch darin mit der Geburtsaristokratie, daß bei beiden an der
alten Sitte des geräumigen Bettes am zühesten festgehalten worden ist. Das sind
die beiden Stände, bei denen nicht leicht Raummangel eintrat, und die auch
am festesten auf ihrem Boden sitzen geblieben sind. In dem seit dem sieb¬
zehnten Jahrhundert immer mehr verarmenden Kleinbürgertum und den un¬
stete« Beamten- und Offiziersfamilien muß man dagegen den Ursprung des
schmalen, meist auch kurzen, einschläfrigen Bettes suchen, das der Kasernen¬
pritsche am nächsten verwandt ist. Das Minimum hat es in Mitteldeutschland
erreicht, wo Thüringen, Teile von Hessen, Sachsen und Schlesien sowohl in
den Dimensionen als in der Ausstattung des Bettes das Unmögliche an Un¬
bequemlichkeit leisten. Dann schon lieber eine Schütte Stroh!
Als das deutsche Bett von feiner üppigen Fülle verlor und abzumagern
begann, konnte es sich doch nicht entschließen, auf seine hohen Dimensionen
ohne weiteres zu verzichten. Was es an Federn verlor, gewann es an Holz
zurück, indem es sich nun auf die vier Füße stellte, auf denen es sich bis auf
den heutigen Tag fest erhalten hat, trotzdem daß niemand zu sagen weiß,
welchen Wert diese Vierfüßigkeit eigentlich haben soll. Die Unzähligen, die
aus hohen Betten herausgefallen sind, die vielen, die die Schwierigkeit erprobt
haben, selbst mit Hilfe eines Bettschemels oder Höckers die Spitze des Bett¬
turmes zu besteigen, die zahllosen Furchtsamen, die jede Nacht unter das Bett
leuchten, um den Missethäter zu entdecken, der sich dort verborgen hält, warum
haben sie sich nicht zusammengethan und einen Bund gegen die hohen Bett¬
beine und überhaupt gegen die Vierfüßigkeit des ganzen Wesens gemacht? Die
Furcht und die Bequemlichkeit vermögen doch sonst soviel in deutschen Landen,
warum denn nicht hier? Ja, wenn nicht die Bequemlichkeit, sich ins Un¬
bequeme zu fügen, so verführerisch wäre!
Erst nach fremden Mustern hat man ganz langsam die Vettbeine niedriger
gemacht, aber manchmal doch nur soweit, daß die Besteigung noch immer
eine beträchtliche Leistung, einen Aufschwung verlangt, dessen nicht jeder fähig
ist. Obgleich die deutsche Sprache den Müden sagen läßt: „Ich bin so müd,
daß ich ins Bett hineinfallen möchte," so hat der Deutsche doch nicht aus der
eignen Erkenntnis der Untauiglichkeit des hochbeinigen Bettes heraus ein Bett
geschaffen, das diesen Wunsch des Müden erfüllte, sondern in Nachahmung
der englischen und französischen Vorgänger. Aber leider in kleinlicher, stümper¬
hafter Weise, die wieder das wesentliche übersah, daß das Bett zum Ruhen in
gestreckter Lage bestimmt ist. Das Bett ist nun auf kürzere Beine gestellt,
hat aber in seinen Weichteilen noch einen Rest der alten Auftürmung in der
dreifachen Kissenlage und dem überflüssigen, wenn nicht schädlichen Unterbett
bewahrt. Es ist sehr merkwürdig, wie das besonders im Sommer unerträg¬
liche und ungesunde Federdeckbett in ganz Westdeutschland, der Schweiz, Baiern
und selbst Böhmen durch die wollne oder gesteppte Decke mit einem leichten
Federkissen (?1um«zän) schon seit langen Jahrzehnten verdrängt ist, während
man ihm in Thüringen, im Harz, in Sachsen, in der Mark und Schlesien noch
in anspruchsvollen Gasthäusern, sogar in großstädtischen begegnen kann. Die
augenfällige Verbesserung wird an manchen Stellen mehr als ein Jahr¬
hundert nötig haben, um sich vom Rhein und von der Donau bis zur Oder
fortzupflanzen. Den für den müden Wandrer verhängnisvollen zeitweiligen
Sieg des Seegrases über das Roßhaar und die gewiß nur kurzlebige Ver¬
drängung beider durch die heimtückischen Sprungfedermatrazen zu schildern,
muß ich dem Historiker des deutschen Bettes überlassen, der hoffentlich seine
Aufgabe in Angriff nimmt, ehe es zu spät ist.
le Sonne scheint so warm; es ist so schwül: heut kanns noch ein
Gewitter geben. Wer liegt oder sitzt, schläft ein, so schwül ist es.
Der Frieder war nach dem reichlichen Mittngsessen in weißen
Hemdärmeln zur hintern Thür hinaus durch den Obstgarten gegangen
und hatte sich auf der Wiese hinter eine Hecke gesetzt. Da es aber
so schwül war, war er umgesunken ins Gras und eingeschlafen. Der
blaue Himmel lachte ihm ins Gesicht; und ein Seur schritt an ihm vorüber und
sagte: Du Duckmäuser! Der Frieder aber sperrte das Maul auf und schnarchte sehr
ernsthaft weiter.
Im Traume liegt er da so glücklich wie ein Leutnant, und es ist ihm, als
säße er in einer Kutsche und die Madlene neben ihm, und als wüchse ihm ein
Schnurrbart, so kitzelte es unter seiner Nase. Es wollte ihm allerdings schon seit
langer als einem Jahr ein Schnnrrbnrt wachsen; er rasirte aber Donnerstags und
Sonntags jeglichen Bartkeim hinweg, als wäre das Unkraut. Heute zum ersten
Feiertag hatte er sich sogar mit besondern! Fleiß rasirt. Und doch° kitzelte es unter
seiner Nase. Er fuhr mit der Hemd über das Schnnrrbartsfeld — im Traume —
und schnarchte weiter.
Madlene aber saß nicht neben dem Leutnant Frieder in einer Kutsche, sondern
stand neben dem Träumendeu und fuhr ihm mit einem Grashälmchen leise, ganz
sanft unter der Nase hin. Und wenn der Frieder das Hälmchen hinweg-
gestrichen hatte und in seiner Kutsche weiter fuhr, kam es immer wieder und
kitzelte weiter. Das Hälmchen wirkte endlich wie die Zauberrute eines Erdgeistes,
daß die Kutsche leicht und schwankend wurde, als wäre sie von Papier, und Frieder
hindurchplnmpste hinein ins Gras, wo er ruhig liege» blieb. Der Traum aber
war dahin, und Frieder schnarchte nicht mehr. Da kam das Grashälmchen
wieder.
Potztausend! Der Frieder springt auf. Mit einem Schrei entflieht Madlene.
Wie ein Ölgvtze steht der Frieder da; er weiß noch nicht, ob er träumt oder wacht.
Über Madlene aber ist ein großer Schreck gekommen, uicht einer, der blaß, sondern
einer der rot macht. Und weil der Schrecken und die Scham in ihr einen Kampf mit
einander begannen, so wurde es in der Gegend der Neugierde bei ihr so bänglich
und ängstlich, daß sie davon rannte wie ein gehetztes Reh.
Madlene war schon lange verschwunden, aber der Ölgötze stand immer noch
ein Weilchen neben der Hecke und rieb sich die Nase.
Deu Ölgötzen können wir nicht mehr aufrecht erhalten. Nicht, als sei er noch
schläfrig und drohe wieder ins Gras zu sinken: der Ölgötze haftet nicht mehr an
dem Frieder. Der Frieder ist überhaupt nie ein Ölgötze gewesen. Er mochte
manchem in diesem oder jenem Fall als ein solcher erscheinen; aber hinter diesem
Schein steckte etwas andres. Es entstand, wenn sich der Frieder in sich zurückzog,
d. h. in seinen Herzensgründen spazieren ging und die Pfade um sich her aus den
Angen verlor. In diesem einfachen, natürlichen Frieder hatten sich Gründe und
Höhen entwickelt, die dem Verständnis vieler zu tief und zu hoch waren. Da gab
es eine Höhe, auf die der Frieder leicht aus dein tiefsten Grund hinaufschnellte,
und von der er so leicht nicht herunter zu bringen war, den Stolz. Kam es ihm
vor, als halte man ihn für einen Ölgötzen, so stand er plötzlich hoch da oben,
ohne sichs besonders merken zu lassen. Denn der Edelmut war der Stab, mit
dem er sich oben hielt. Die Zinne der Verachtung gab es nicht in seiner Seele.
Wenn er auf der Höhe des Stolzes stand, gestützt auf den Stab des Edelmuth,
ward er von der Blume der Geduld umrankt.
In diese Friederseele war noch kein Mädchenblick gedrungen gewesen, als am
Freitag vor Pfingsten ein Strahl des eggcrtsen Auges hineinfiel. Da war eben
dem Frieder geschehen, wovon er noch keine Ahnung gehabt hatte. Und als es in
ihm war, als müsse er die Madlene an sich reisten, da hatte sie ihm den Rücken
gewandt. Aber der Strahl hatte gezündet, und das Feuer hatte den Frieder ge¬
trieben, der Madlene Maien zu setzen. Und als er im Gras lag und der Traum
ihm die Madlene zur Seite in die Kutsche setzte, weckte ihn die Neckerei des
Mädchens zu einer Nüchternheit mit Gelächter, obwohl Madlene nicht gelacht hatte.
Es war das eingebildete Gelächter des Hohns. Sie Hols erfahren, daß dir ihr
die Maien gesetzt hast, und hat dich zum Besten. So stand er neben der Hecke,
rieb sich unter der Nase und — — mit einem kräftigen Schwung war er auf der
Höhe des Stolzes.
Einem Fußpfad folgend, schritt Frieder über die Wiese und dann zwischen
den Kornfeldern hin an einer sanften Berglehne empor. Die mit Iltisfell ver¬
brämte Mütze, die in einer goldigen Quaste gipfelte, stand in einem grellen Wider-
spruch zu den mit der Nachmittagsschwülc so schön harmonierenden weißen Hemd¬
ärmeln. Und so auch stand der Frieder auf der Höhe mit dein Frieder im Herzens¬
grund jetzt im Widerspruch. Der Schritt des sozusagen doppelten Frieder wurde
nach und' nach lebhafter, und bald setzten sich unter dem Mützenpelz Schweißperlchen
an. Der Pfad wurde steiler, die Perlen größer. Frieder rückte an seiner Mütze
und strich mit der flachen Hand über die Stirn; aber sein Schritt gab nicht nach.
Er nahm sich just aus. als ginge er ins Holzmacher. Es war ihm aber, als hätte
er sich vorhin noch nicht hoch genug geschwungen, und als könne er seinem Auf¬
schwung nachhelfen durch das Emporsteigen an einem wirklichen Berge. Und so
stieg der Frieder immer höher, ließ die Kornfelder hinter sich und die Kartoffel¬
felder, schritt zwischen Heide, Wachvldergestrüpp und jungen Birken dahin, immer
höher hinauf, und wäre wahrhaftig bis an des Herrgotts Thron gelaufen, wenn
der Berg hoch genug gewesen Ware. Aber plötzlich hatte das Steigen ein Ende,
und der Instinkt sagte dem Frieder, daß er nnn den höchsten Punkt' erreicht habe,
und brachte ihn zum Stehen und drehte ihn herum, die weite Landschaft zu über¬
blicken. Der Instinkt hatte es gethan; denn klare Gedanken waren in dein zwie¬
spältigen Frieder uicht aufgekommen.
Nun sollten wir eigentlich das Gesicht malen können, das sich unter der Pelz¬
mütze nufthat beim plötzlichen Anblick der weiten Landschaft. Der doppelte Frieder
fuhr zusammen zu eiuer einfachen Person und staunte die weite Welt an als ein
Zauberbild, das ihm noch nie aufgestoßen war, obwohl er schon hundertmal von
da hinausgeschaut hatte. Der Mensch schaut mit der Seele. Und seit zweimal
viernndzwnnzig Stunden hatten sich in der Seele des Frieder die Gründe und
Höhen gereckt, und Schatten und Licht war gewaltiger geworden, und alles, was
nun hineinfiel, nahm sich da drinnen anders aus wie früher, mehrsagend, be-
deutuugs- und wirkungsvoller. Kurz, dem Frieder war es, als gucke er in einen
Zauberspiegel, und als würde er zusammengeschüttete und gerüttelt por einer ge¬
heimen Macht. Und es war ihm, als sinke die Höhe seines Stolzes mit ihm immer
tiefer Por diesem Anblick. Es kam wie Wehmut über ihn, und er setzte sich ans
einen Rain und schaute und schaute. Die Wellenlinien am Horizont begannen zu
woge» und wurden flüssig wie ein Meer. Und da schwamm eine Burg, und da
noch eine. Die weißschimmernde Kapelle zur heiligen Ursel weit dahinten sank bald
hinab, bald wurde sie wieder von deu Wogen emporgehoben. Es begann auch im
Frieder zu wogen. Bald stand er auf einer Höhe seiner Seele, bald sank er in
die Tiefe. Und als er in einen Grund gesunken war und nicht wieder empor
kommen konnte, begann er ans der Tiefe also zu predigen: Weit und breit ist die
Welt. Viel der Dörfer und Städte sind über sie hingesät, und dick des Reichtums
und Glücks steckt darin. Wer was kaun und vermag, der kaun sich sein Teil holen.
Aber man muß was können. Ich kann nichts; mein Vater hat mich nichts lernen
lassen. Ich kann mir nichts draußen in der Welt holen, weder Reichtum noch
Glück. Da sitz ich in dein Nest, muß ackern und säen, mähen und dreschen und
Holz machen, ein Jahr wies andre. Wenn das Jahr herum ist, hab ich nichts >—
nichts! Nichts als arme Teufel um mich herum, denen es gerade so geht. Wir
arbeiten und essen und schlafen und drehen Uns immer und immer um denselben
Markstein herum wie gebannt und verwünscht. So versäuern und verdünne» wir.
War mirs denn uicht seit zwei Tagen, als wolle da ein Sternlein herein scheinen
in die Verwünschung? Fing es denn nicht an, als thäte sich doch ein wenig Glück
in dem Nest auf für so einen Nichtskönner? Spott! Narretei! Ich hätte sie nu
mich gerissen und wäre reich und glücklich gewesen! Nichts davon! — Wind-
spiel! — Äfferei!
Es ließ sich aus der Höhe keine Stimme dagegen hören. Die Stimme des
Frieder ging unter in der Tiefe. Und Schwermut zog ihn vom Berg hinab. Er
schlich zwischen den Kornfeldern hin, über die Wiese, durch seinen Obstgarten,
zur hintern Thür hinein und kam am ersten Feiertag nicht wieder zum Vorschein.
Am zweiten Feiertag morgens ging Frieder mit dem. Gesangbuch zur hintern
Thür hinaus durch den Obstgarten und hinter dem Dorf an den Gartenzäunen
hin, als wollte er zur Kirche gehen. Das wollte er eigentlich auch. Aber wer
zur Kirche geht, nimmt uicht den Weg hinten herum, sonder» geht milde» diirchs
Dorf. Zur Kirche zu gehen, war damals dem Dörfler noch eine heilige Frende;
und in der Freude begiebt man sich ohne besondre Gründe uicht auf ausweichende
Pfade. Der Frieder mußte also einen besondern Grund haben, sich hinter den
Gärten weg zu drücken. Den hatte er allerdings. Er hatte sich in der Nacht
wieder zur Höhe des Stolzes hinaufgearbeitet. Und von diesem Standpunkt wollte
er sich nicht wieder abbringen lassen. Darum vermied er, an dem Müsershaus
mit den stolzen Maien und der mutwilligen, windigen Madlene vorüberzugehen.
Das hätte ihm einen Stoß versetzen können. Darum trug er — nicht die Kirche —
sein Gesangbuch ums Dorf herum. Er hielt sich ober oben am Feldweg hin und
mied, als das Dorf hinter ihm lag, auch den Kirchweg. Auf dem Wege zur Kirche
den Kirchweg meiden, war wieder recht kurios. Es geschah auch in der Sorge
um deu errungenen Standpunkt. Mit deu Mächte» der Seelengründe standen am
zweiten Feiertage schon die spekulirenden Gedanken der Höhen im Bündnis. Und
diese spiegelten dem Frieder ans Schritt und Tritt die Müsers-Madleue vor, das;
es ihm war, als müsse er unabwendbar auf sie stoßen, wenn er den Kirchweg
beträte. Diese Vorspieglung und die Sorge um den Standpunkt wurden in ihm
immer stärker, sodaß es ihn auf den nächsten, in deu Wald abführenden Weg riß,
auf dem er mit seinein Gesangbuch so rüstig vorwärts schritt, als wäre es seine
Axt, und er ginge ins Holzmache». Im Wald verließ er den Weg und schlug sich
an einer sanft abfallenden Wand hin zwischen jungen Birken und Fichten, still und
bedächtig wie ein Vogelfänger.
Die Vögel im Walde jubilirten aber, als wäre der Frieder der leibhaftige
Lenz, dem sie einen festlichen Empfang zu bereiten hätten. Und das that dem Frieder
Wohl, so wohl, daß er sich ans einen Felsvorsprung niedersetzte. Aber er machte
sein Gesangbuch nicht auf, etwa mitzusingen: es galt die Höhe des Stolzes zu be¬
haupte».
Drunten lag ein anmutiges Wiesengründchen, von niedrigem dichtem Gebüsch
umsäumt. Aus diese,» anmutigen Wiesenrahmen herauf tönte ein Grasmückenkonzert
i» uralten lieblichen Weisen. Dahinein begänne» die drei Glocke» der Kirche, der
Frieder ausgewichen war, mit feierlichem Ton zu reden. In den Seelengründen
des Frieder wurde es schwül, und die Stütze des Edelmuth auf der Höhe des
Stolzes begann sich zu biegen wie Wachs in der Sonne, daß es dem Frieder ängst¬
lich wurde um seinen Standpunkt. Da kam Hilfe.
Vom Wiesengründchen herauf kam ein ganz gewöhnlicher Vogelfänger; es war
der Grundel, ein etwas verschmitzter Bursche, Schulkamerad des Frieder. Jeder
war überrascht, als sie einander erblickten. Aber der Grundel setzte sich zutraulich
zum Frieder und entwickelte große Redseligkeit. Drunten stand ein Mordsvogel
von eiuer Grasmücke; aber der Türkendres — sein Vater hieß der Türkeuuikel,
weil er in seine», Taubenschlag mir „Türke»" hielt — hat sie »ur weggeschmippt.
Dem Frieder war die Vogelfäugerei ein Greuel; er sagte kein Wort dazu. Der
Grundel schlug ein andres Thema an. Hast du die Maien der Müsers-Madleue
gesehen? Der Türkendres hat sie gesetzt. Es wird den Müserslenten kein großer
Gefallen sein; die Madlene freilich bilde sich was drauf ein. Und dabei thut sie,
als wärs gar nit so. Vor den Leuten ist ihr der Türkendres freilich nichts. Aber
die Sorte keunt mau. Hochmut kommt vor dem Fall.
Das War dem Frieder genug. Er stand ans und wandte sich rechts, unes der
Kirche zu. — Noch in die Kirch? Zum Vaterunser wirst du schon noch zurecht
kommen! Der Gründe! schlug die Richtung nach dem Dorf ein, und bald Ware»
sie einander ans den Angen.
So war in dem nichtsnutzigen Grundel dem Frieder ein hilfreicher Geist er¬
schienen zur Behauptung feines Standpunkts. Auf der Höhe des Stolzes stand
er nun fester als je.
Der Türkendres! Der Türkendres! Der Grundel und der Türkendres ver¬
vielfältigten sich um den Frieder herum zu einen: Ameisenhaufen. Und es zwickte
und biß ihn von unten herauf, daß er sich immer höher hinauf arbeitete wie auf
der Flucht vor Gift und Tod.
Der Türkeudres hatte sich aber nicht bloß für den Frieder in eiuen beißende»
Ameisenhaufen verwandelt: auch durch den bösen Zauber des Gerüchts war er in
einen solchen zerlegt geworden. Das ganze Dörflein ward davon Überzügen, und
die ätzende Nageschar war bis zur Feiertagsschüssel auf dem Tisch vorgerückt, und
auf jedem Bissen saß ein Türkeudres, vou Haus zu Haus im gauzeu Dörflein.
Auch das Müsershaus war uicht verschont geblieben. In diesem Haus war
das Nagwnsser von wahrhaft teuflischer Wirkung. Da saß auf jedem Bissen der
Türkeudres verhundertfacht. Aber keins um Tisch wollte sichs merken lassen, daß
ihm jeder Bissen vergiftet war. Der inwendige Kampf mit dem Türkeudres ließ
keinen darüberhiuausgeheudeu Gedanken aufkommen, und das war ein stilles, trau¬
riges Feiertagsessen im Müsershaus.
Nachmittags nahm sich Madlene aus ihrem Kmheusträußcheu, das in einem
Glas auf dem Fensterbrett stand, den Rosmariusteugel heraus und roch darau und
steckte sich ihn ius Bnsentüchlein und ging hinter den Gärten herum, gerade wie
um ersten Feiertag zur selben Stunde. Die Lerchen sangen wieder: Er wurf!
Wer wcirs? Der Frieder? Der Türken... — Madlene blieb mit der Schürze
an einem Dornstrauch hängen. Indem sie sich losmachte, summten die Bienen:
Was gehts uns an? Und der Spottvogel im Ahornbanm sang wieder: Er wars
nit! Er wars nit! Wer wurf nit? Der Türkeudres wurf uit!
Mndleue stand bald vor der Hecke, hinter der gestern der Frieder im Gras
gelegen hatte. Aber heut lag er uicht da. Das Gras, das vou ihm niedergedrückt
gewesen war, stand heute kerzengrad da und stach mit seinen Spitzen wie Nadeln
ius Herz der Mndleue. Gestern hätte sie ihn da fragen können, hätte sich ihn
merken küssen können, welches Glück ihr die Pfiugstmnien bereitet hatten: aber in
ihrem Glück war sie empvrgehüpft wie das Eichkätzchen in der Baumkrone und
war mutwillig geworden und konnte sich von dem Gipfel des Mutwillens nicht
schnell zurecht finden zur Feierlichkeit ihres Glücks und war in den Wind hinein¬
gesprungen. Heut ist das Plätzchen leer. Es tum so gewaltig schwer über die
Madleue, daß sie hinter der Hecke niedersank ins Gras, just auf das Plätzchen,
wo der Frieder gestern geträumt hatte. Wenns der Türkeudres war, so wars der
Rödersfrieder uit. Sie habn gesagt, die Triltschenchristel in Brattendorf möcht
ihn. Wenns der Türkeudres war, hat der Frieder seine Maien nach Brattendorf
geschafft. Madleue bog ihr Antlitz nieder in den Schoß und barg es mit den
Händen, und die Zährlein rannen zwischen den Fingern hindurch, und vou iuiieu
heraus geschahen gewaltige. Stöße.
Der Star kam wieder durchs Gras geschritten und schaute verschmitzt zu der
Jungfran hinüber. Duckmäuserei! schnarrte er und schwang sich in die Luft. Die
Stare sterben nicht um Herzdrücken. Aber der Frieder und die Madlene sind
keine Stnre. Der Frieder sitzt wieder hoch oben auf dem wirkliche» Berg und
hält sich eine Predigt vom Glück in der weiten Welt und von der Berwüuschung,
in der er hängt; Madlene geißelt sich mit Vorwürfen und droht im Untrost zu
versinken. Beide ober springen wie nuf ein Kommando auf und begebe» sich
feste» Schrittes in ihre Häuser. Beiden ist ein nnfrttttelnder Gedanke dnrch die
Seele geblitzt und hat sich zum Entschluß gestaltet. Der Entschluß des Frieder
ist dem Entschluß der Mndlene so ähnlich wie ein El dein andern. Jener will
heut übend nuf dem Tanzboden bevbnchten, wie es zwischen dem Türkeudres und
der Madleue steht; diese will heut abend dahinter kommen, obs der Frieder mit
der Triltschenchristel von Brnttendvrf hat. Denn sie weiß, daß die Lichtstnbe der
Triltschenchristel kommen wird. Beide haben noch nie so ungeduldig des Abend¬
tanzes geharrt.
Der Tanz beginnt; aber es ist noch zu hell. Um Pfingsten sind doch die
Tage schon gar zu lang. Der Türkendres wirtschaftet und tolle aber schon herum
wie ein Hanswurst, und die Brattendörfer haben sich richtig eingefunden und
machen sich schon breit, als wären sie zu Haus. Die Triltschenchristel lacht und
girrt wie eine Turteltaube. He, Christel! Der Nodersfrieder kommt heut nit!
Ines! ruft der Türkendres und schwingt die lachende Turteltaube im Kreis. —
Der Grundel stößt mit dem Türkendres an: Recht so, Bruderherz! Immer lustig!
Du hast mir die best Grasmück im Trettersberger Grümbke weggeschnappt, Saker-
mentcr! Doch darum keine Feindschaft nit. Ines! — Es wurde noch einmal an¬
gestoßen. He, Dreh, auf ein Wort! Was sagst du dazu, daß die Müsersmadlene
noch nit da ist? — Schwerenöter, der du bist; und die Madlene dazu! — Hätt
sie lieber wo anders, wie hier! Ines! — Tolpatsch! Im Bettstroh wirst sie frei¬
lich nit verlier»! — Nit so laut, Grundel! Du kriegst die Grasmück von mir
und meine Wachtel, wenn du die Geschicht ordentlich in Gang bringst. Mit den
Maien hast du 'u guten Einfall gehabt; hnhaha! — Ines! — Gelt, Brüderle? Ines!
Die Dunkelheit war endlich eingebrochen. An den Wänden des Tanzbodens
brannten schon düster etliche Talglichte. Ringsherum an den Wänden standen und
saßen zuschauende Weiber, darunter anch sehr alte. Die Sitzenden hatten sich ihre
Bänke mitgebracht. Die Schützin, Dorfsmeisteriu, die Wohlhabenderen, kurz alle,
die das breitste und längste Band um der Kirchenknppe trugen, so auch z. B. die
Gotteskasteumeisters - und Steinsetzcrsfrnu, saßen in der vordem Reihe. Hinter
ihnen standen die, die schmäleres und „nngewässertes" Band und statt der Goldtressen
auf dem Mantelkragen nur blnuwollne Liezen zur Kirche trugen.
Unbemerkt hatte sich Mndleue, die eigentlich in die vordere Reihe gehört hätte,
in eine Ecke hinter die bescheidenste Masse gedrückt, um still zu beobachten. Und
Frieder, der Duckmäuser, hatte sich in einen Futterboden geschlichen, der durch ein
großes Loch in der Wand zur Erntezeit das Grummet vom Tanzboden aus auf¬
nahm, nun aber ziemlich leer war. Der Laden vor diesem Loch stand auf, um
etwas Zug in die Schwüle des Tanzbodens zu bringen, und hinter diesem Loch
stand beobachtend Frieder. Der Star hätte die Duckmäuserei verraten, wenn er
da gewesen wäre. Er träumte aber schon bei seiner Stärin und seinen Jungen
im Nest von dem Glück, das den, Frieder, der Madlene, dem Türkeudresen und
der Triltschenchristel im Schoße ferner Zeiten ruhte, dahinten über Bergen von
Entbehrung nud Herzeleid, Weltschwiudel und Mist.
Nun standen die armen Teufel auf ihren Beobachtungsstationen, ohne eine
Spur vou dem zu rotirenden Herzenswetter zu entdecken. Jedem der Beobachter
fehlte.der wettergebärende Punkt. Und doch war er jedem so nahe. So laufen
oder stehen wir gar oft herum wie unnütze Gesellen, weil wir blind sind. Und
wenn uns nicht manchmal das Gewühl des Tanzbodens, will sagen des Lebens,
ein wenig zu Hilfe käme durch eine gesunde Anrempelnng, so würden wir wahr¬
haftig versäuern wie der vergessene Trunk im Glas.
Heil dem, den das Leben aufsucht, wenn er strebt, sich vor ihm zu bergen!
Heil dir, Madlene, daß dich die Triltschenchristel von Brnttendorf entdeckt hat. Nun
ist ein Wetterpuukt gefunden. Wird sich auch der andre noch finden? Wird sich
noch Herzenswetter einstellen? Nur hinein ins Leben, in den Ningelreihn des
Tanzbodens! Es wird schon werden.
Es wird nicht.
Aber die Brattendörfer Christel holte Mndlene aus ihrem Winkel hervor und
lachte und girrte. El, du Herrjemine! Da dorre gehts heckenhoch! Schämst dich
wohl wegen der Maien? Der Türk'endres tanzt wie ein feuriger Mann auf der
Wiesen. Hab schon zwei Reihn mit ihm gemacht. Und du wirst mir net bös!
Da stand Madlene auf dem Plan, und als die Fiedel mit ihren Unterthanen
aufbegehrte, kam wahrhaftig der Türkendres und umfaßte die Madlene nud schnalzte
und klappte nud trappte und juchzte und walzte, daß es der Madlene grün und
gelb vor den Augen ward. Dahin flogen sie wie ein Wüstenwirbel. Und hinter
dem Grummetloch fing das andre Herz an zu pochen wie der Hammer eines Nagel¬
schmiedes.
Nur keinen Nagel zum Sarg geschmiedet! Dazu ist uoch Zeit. Es muß
gar viel Zeit erfüllt werden, ehe es zum Sarg kommt.
Der Walzer ist ans. Madlene steht vor der Schützin. Und die Schützin
zupft an dem Mieder der Madlene: He, Madlene! Es sind halt doch schöne
Feiertag, die Pfingsten, wenn einem Maien gesetzt wordeu sind! Das war ein
Schlag auf einen Nagel zum Sarg. Hämmert ihr immer zu! Die Madlene stirbt
nicht gleich; sie ist uoch zu jung.
Und die Fiedel erhob sich abermals mit ihren Uuterhauen zu einem leben¬
sprühenden Galopp. Da ward Madlene sanft umfaßt, daß sie von dieser Berührung
zusammenschauerte, so sanft war sie. Und ihre Seele trat zurück aus allen Glieder»
und flüchtete sich ins heilige Kämmerlein, daß die Arme wie gelähmt niedersanken,
und die Kniee zitterten, und die Fußknöchel wankten. Der Frieder hatte seinen
rechten Arm um sie gelegt, daß er ans den gemauerten Hüften ruhte. Er sah
nicht in das blasse Antlitz; sein Blick fiel zur Erde. Und bevor sich die süße Ge¬
stalt belebte, durchzuckte es den Frieder wie ein ungeheurer Schmerz. Mit dem
Türkcndrcseu war sie dahin geflogen wie eine Feder, vor ihm stand die Unlust.
Das war ein trauriger Galopp.
Als er zu Ende war, stand der Frieder wie versteinert auf der Höhe des
Stolzes, aber ohne die Stützen des Edelmuth; er hatte den Knotenstock der Ver¬
zweiflung zur Hand. Und als sich die Fiedel mit ihren Unterthanen zu einem
lustigen Gelächter anließ, warf er sich der Triltschenchristel an die Brust und fegte
über den Boden hin wie ein ausgelassener Bube. Er juchzte nicht, aber die Christel
lachte und girrte in Lust wie eine Siegerin.
Madlene war verschwunden vom Tanzboden. Es war ihr nicht zum Heil
geraten, wie wir wähnten, daß sie vom Weltrad erfaßt und in den Luststrndel
gerissen ward. Das höhnende Getöse vom Wirtshaus her, aus dem heraus die
stechenden und kreischenden Töne der Fiedel und Klarinette sie wie Nadeln trafen,
verfolgte die Madlene, bis sie erschöpft ans einen Bauholzstamm unter der „alte»
Linde" niedersank. Da starrte sie vor sich hin in die Nacht hinein wie eine Irr¬
sinnige. So saß sie lange.
Endlich verläßt junges Volk den Tanzboden, und verliert sich gruppen- oder
paarweise schäkernd und kichernd durchs Dorf. Da schleicht sich Madlene hinter
eine Gartenbeete am Saum der Ane, an dem ein Fußsteig uach Brattendorf hin¬
führt, und wartet. Nicht lange, da kommen die Brattendörfer. Den Schluß der
Lichtstnbe macht ein vertrautes Partein. Am Lachen und Girren erkennt Madlene
die Triltschenchristel. Und der sie umschlungen führt? Er ists! stößt Mndlene
hervor. Dann schleicht sie sich nach Haus. Ihr Leid, ihr achtjähriges, stummes
Elend hat in selbiger Nacht begonnen.
Aber es war nicht der Frieder; es war der Türkendrcs. Der Rlldersfrieder
war ja auch verschwunden vom Tanzboden nach dem tollen Tanz mit der Christel.
Er hatte sich aber nicht erst auf weitere Beobachtung begeben. Er war wie ge¬
knickt in sein nett gekrochen. Und in selbiger Nacht hatte anch sein achtjähriges
stummes Elend begonnen.
(Fortsetzung folgt)
Die Kundgebung der Kaufleute und
Industriellen Deutschlands für die Marinevorlagc, die am 13. Januar d. I. im
Kaiserhof in Berlin versammelt waren, hat in erfreulicher Weise Zeugnis davon ab¬
gelegt, daß die in der reaktionären grundsätzlichen Opposition gegen die fortschritt¬
liche Handelspolitik des Kaisers verharrenden Berliner Kaufleute und Industriellen
in den obern Schichten der deutschen Kaufmannschaft auf keine nennenswerte Gefolg¬
schaft mehr zu rechnen haben. Sie wird im In- und Auslande nicht ohne Wirkung
bleiben, sie wird aber hoffentlich anch auf deu Reichstag den berechtigten und
unerläßlichen Druck ausüben, den — wenn die Zeitungen recht berichten — der
Vorsitzende des Zentralverbands deutscher Industrieller in seinen die Versammelten
begrüßenden Eröffnungsworten in unbegreiflicher Ängstlichkeit als durchaus außer¬
halb des Zwecks der Kundgebung liegend bezeichnet hat. Praktisch handelte es
sich in erster Linie um einen Einfluß auf die bevorstehenden Beschlüsse des Reichs¬
tags, dessen Mehrheitsparteien zwar die Notwendigkeit der Flottcnverstärlung und
die Mäßigkeit der Forderungen der Regierungen für diesen Zweck an sich zugegeben
haben, aber leider zum Teil trotzdem die Absicht verraten, die Bewilligung an
Bedingungen zu knüpfen, die hoffentlich auch Herr Häßler als unsachlich, zweck¬
widrig und unvernünftig anerkennt, mögen sie nun in Zentrnmsinteressen oder in
agrarischen oder freisinnigen gestellt werde». Es ist der deutschen Kaufmannschaft
dringend zu raten, beim Geltendmachen eines gewissen Einflusses auf die Handels¬
politik der nächsten Zukunft nicht all zu leise zu treten, sondern mit offnem Visir
zu fechten, wenn die verbündeten Regierungen sie als zuverlässige Stützen anzusehen
lernen sollen. Der Einzelne mag dabei ja ab und zu sein Geschäftchen machen;
mit der Aufgabe, die der Handelsstand, zu dem unsre Großindustrie ganz und gar
gehört, in der Wellpolitik des deutschen Reichs zu lösen hat, verträgt sich diese
Taktik nicht mehr. Die ganze Kundgebung bleibt trotz unsrer Hochachtung vor dem
praktischen Sinne der Kundgcber ein Schlag ins Wasser, wenn sich die deutsche
Kaufmannschaft nicht ganz energisch aufrafft zum Kampfe gegen die unpatriotischen,
svndersüchtigen, kleinlichen Partcitreibereicn, die unser parlamentarisches Leben be¬
herrschen, und ganz besonders im deutschen Reichstage. Die deutsche Nation hat
das Recht, das von dem deutschen Kanfmannstande zu verlangen. Wer viel Macht
hat, hat auch viel Pflichten, und wenn er die nicht erfüllt, dann soll er nicht
klagen, wenn seine Macht als unerträglich erkannt und bekämpft wird.
Vergleicht man mit der Kundgebung der Kaufleute und Industriellen die
Kundgebungen aus einem ganz andern Kreise von Männern, die zu sammeln und
zu veröffentlichen die Allgemeine Zeitung sich das große Verdienst erworben hat,
die Antworten der zweiundfünfzig „Gelehrten," die ihr auf eine Umfrage über die
Flottenfrage zugegangen sind, und die in den außerordentlichen Beilagen vom 11.,
12. und 13. Januar vorliege», so fällt, das müssen wir ehrlich bekennen, der Ver¬
gleich leider zu Gunsten der Gelehrtcuschaft aus. Hoffentlich wird die deutsche
Kaufmannschaft daraus lernen, was sie zu leisten hat in ihrem eignen praktischen
Interesse und in dem der Gesamtheit. Es ist uns freilich eine große Genugthuung,
in den Urteile» der deutscheu Gelehrten mit verschwindenden Ausnahmen eine Be¬
stätigung der Berechtigung des Standpunkts zu finden, von dem aus wir bisher
nach besten Kräften für die Handels- und Flvttenpolitik des Kaisers eingetreten
sind, mögen auch sonst unsre Anschauungen mit denen der Antwortgcber nicht
immer übereinstimmen. Wir sehen hier in sast vollständiger Einstimmigkeit die
Berechtigung und Notwendigkeit der kaiserlichen Politik bewiesen, es erfüllt uns
mit aufrichtiger Freude, sagen zu können: möge diese Profcssorenweisheit dem
deutschen Volk und der deutscheu Kaufmannschaft bald und gründlich in Fleisch und
Blut übergehen! Bei der Art der Kundgebungen — kurze Antworten auf eine
Reihe kurzer Fragen — ist es schwer, dem Leser mit wenig Worten einen Über¬
blick über den reichen Inhalt des Ganzen zu geben. Jeder gebildete Deutsche
sollte die Antworten selbst lesen, selbst auf sich wirken lassen. Nur einige Äuße¬
rungen bekannterer Nationcüökonomen möchten wir hervorheben und besondrer Be-
achtung empfehlen. Den Reigen hat der alte Schäffle in vier schon im Dezember
in der Allgemeinen Zeitung erschienenen Artikeln eröffnet. Treffend schließt er
seine Ausführungen über die volkswirtschaftliche Bedeutung einer „starken Flotte"
mit folgender Mahnung. Seines Erachtens wären gerade die, die die vollste Ent¬
wicklung des Welthandels wünschten, also die Freihändler aller Schattirnngen, vor
allem die freihändlerischen Vertreter des am Export heute gewaltig interessirten
Arbeiterstandes und des Exportindustrie- wie Expvrthandelskapitals nicht bloß
vollauf berechtigt, sondern anch vouiehmlich berufen und verpflichtet, eine im Sinne
der Tirpitzschen Vorlage ausreichend starke Flotte zu fordern und zu fördern. Die
aus einer Blockade usw. entstehende wirtschaftliche Bedrängnis wäre in erster Linie
empfindlich für die Lohnarbeiter, unmittelbar für die der Exportindustrie und der
Handelsschiffahrt, mittelbar aber wieder zumeist für den ganzen Arbeiterstand, da
sich die Stockung mehr oder weniger ans alle Industriezweige ausdehnen würde,
und die stark vermehrte Zahl überzähliger Hände einen Druck auf den Lohn im
allgemeinen ausüben müßte. Dabei wäre in solchen Fällen an eine Auswanderung
kaum zu denken. — Auch Lujo Brentano kommt diesmal mit einer ganz praktischen
Betrachtung zum Vorschein, die von Herrn Haßler und Genossen dankend zu be¬
herzigen sein wird. Kein Zweifel, meint er, daß die Entfaltung einer starken
Macht zur See in asiatischen und südamerikanischen Gewässern unserm auswärtigen
Handel und damit der weitern Entwicklung des heimischen Gewerbfleißes mächtigen
Vorschub leisten würde. Indes genüge es dazu nicht, eine starke Flotte zu schaffen,
ja es könnten alle wirtschaftlichen Wirkungen einer Flottenvermehrung durch eine
Wirtschaftspolitik, die mit ihr in Widerspruch stehe, neutralisirt werden. „Wie
könnte man dnrch eine Flottenvermehrung dem deutschen Handel, speziell der
deutschen Ausfuhr, nützen, wenn man gleichzeitig dnrch hohe Zölle den auswärtigen
Völkern es unmöglich machte, für unsre Produkte das zu geben, was sie zu bieten
haben?" Man solle nicht vergessen, daß sich eine blühende Handelsschiffnhrt und
eine starke Flotte gegenseitig bedingten, und daß sich eine blühende Handelsschisfahrt
mit Unterbindungen der Ausfuhr durch Einfuhrbeschränkungen nicht vertrage. Wer
also eine starke Flotte wolle, müsse auch gegen alle Bestrebungen auftreten, die
eine Schädigung unsers Handels und unsrer Ausfuhr durch Einfuhrbeschränkungen
bezweckten. Gelangten sie zum Siege, so würde auch die größte Flottenvermehrung
für die Erhaltung nud Förderung unsers auswärtigen Handels und unsrer Handels¬
schiffahrt bedeutungslos bleiben. Ähnliche Töne schlägt einer der „Neue»," Herr
Max Weber an, wenn er sagt: „Eine ostentativ »gefällige,« die erruugneu Lor¬
beeren schonende, allen überseeischen Expansionsgednnken ersichtlich abholde Politik,
wie sie nach 1870 begann, konnte der Erweckung des Interesses an der Flotte
gewiß nicht förderlich sein. Noch weniger aber kann dies in der Gegenwart
eine Wirtschaftspolitik, welche sich von der allmächtigen agrarischen Phrase be¬
herrschen läßt! Es ist begreiflich, daß zwischen dem Streben nach maritimer
Macht und einer Politik, die Deutschlands kommerzielle Machtstellung teils schon
geschädigt hat, teils weiter Preiszugeben sich bereit zeigt, ein Widerspruch
gefunden wird. Nicht eine mit antikapitalistischen Schlagworten operirende Politik
selbstgenugsamer sogenannter Sammlung, sondern allein eine entschlossene Durch¬
führung der Konsequenzen unsrer kraftvollen bürgerlich-gewerblichen Entwicklung
— ohnehin die auf die Dauer allein mögliche Wirtschaftspolitik Dentschlands im
Zeitalter des Kapitalismus, mag man ihn nun lieben oder hassen — kann für die
bürgerliche Klasse dem Verlangen nach Macht zur See einen Sinn verleihen. Zum
Schutze der Grundrente bedarf es keiner Flotte." Wir wünschen recht sehr, daß
die „bürgerlichen" Kreise sich das zu Herzen nehmen, aber dabei, mit den Herren
Brentano und Weber zusammen, nicht vergessen, daß wenn Freisinn und Sozial¬
demokratie, Kaufmannschaft und Arbeiterschaft in unsinniger Verblendung der kaiser¬
lichen Politik die Gefolgschaft versagen und jedes erdenkliche Hemmnis in den Weg
legen, der Kaiser und die Regierungen gezwungen werden, um nicht das Ganze
vernichten zu lassen, andre Stützen zu suchen, so unbequem diese auch sein mögen.
Wir erkennen gern an, daß Brentano und Weber überzeugt und warm für die
Flottenvorlage eintreten, aber wenn sie, sei es wissentlich oder aus Ungeschick, den
achtundvierzig Arbcitervertretern im Reichstage und ihrer vaterlandsfeindlichen
Partei Vorschub leisten und Kräftigung verschaffen, dann sind sie heute weit schärfer
zu tadeln, als die Limburgs und Kardorffs, deren agrarische Gefolgschaft sich trotz
alles Unverstands und Eigennutzes wenigstens scheut, das Reich thatsächlich der
Übermacht rücksichtsloser äußerer Feinde preiszugeben. — Professor Oldeuberg hält
natürlich an seiner Verdammung der Exportindustrie fest, er bleibt der einseitige Ver¬
sechter des Satzes: Handelspolitik gleich Eroberungspolitik. „Sollen die neuen
Schiffe, sagt er, als Lokomotiven der einseitigen industricstantlicheu Entwicklung
Deutschlands dienen, z. B. um den Export nach Ostasien zu foreiren, so sind sie
nicht überflüssig, sondern schädlich. Zweifellos haben wir in China Zukunftsinter¬
essen anch ohne die Perspektive des Industriestaats, vielmehr im Sinne der Selb¬
ständigkeitspolitik; z. B. Gewinnung eines eignen Gebiets für Bnumwollenpflnnzungen,
dessen wir auf die Dauer doch uicht entbehren können, oder Gewinnung eines macht-
politischen oder wirtschaftpolitischen Austauschobjekts. Dafür brauchen wir eine
offensive Kriegsflotte. Aber die militärische Erzwingung eines chinesischen Absatz¬
gebiets sür deutsche Exportwaren, deutsche Knöpfe oder deutsches Schießpulver, auch
wenn wir zunächst die Macht dazu haben, ist eine praktische Unmöglichkeit, weil
eine solche anachronistische Krämerpolitik in den Stil des zwanzigsten Jahrhunderts
uicht hineinpaßt, weil sie keine Zukunft hat, und ihr einziger positiver Erfolg sein
würde, uns die japanische Bundesgenossenschcift zu entfremden, deren wir gegen unsern
weitaus gefährlichern Zukunftsgegncr Rußland bedürfen werden." Es ist übrigens
wohl sicher, daß Herr Oldeuberg deu Stil unsrer Handelspolitik im zwanzigsten Jahr¬
hundert nicht zu bestimmen hat, ist er auch einer von den Allerneusten, die sich
selbst des unmöglichen erdreusten. Er braucht übrigens seine Baumwollpnssiou nur
noch dem Schafwoll- und Leiuwandregime zu opfern, um deu agrarischen Idealen
ganz zu entsprechen. Und dabei giebt es in der ganzen Welt keinen Professor,
der sich in xraxi mit unsern Agrariern auf die Dauer schlechter vertragen konnte,
als dieser unpraktische, ehrliche, hartnäckige Großstadtstubengelehrte. — Über die finan¬
zielle Seite der Frage äußert sich mit bekannter Klarheit und Lebhaftigkeit nament¬
lich Adolf Wagner, hier erfreulicherweise nicht als Kampfgenosse Harders. „Wir
sollten das nicht leisten können, was Frankreich leistet! Das, mit 14 Millionen
Einwohnern weniger, vorweg ans seinen Einnahmen, und zwar durchaus aus seinen
Stenererträgen, 30V Millionen Mark für seine Staatsschnldenverziusung jährlich
verwenden muß, wofür wir in Deutschland im Grunde keinen Pfennig Steuer
brauchenI Denn unsre Schulden, auch die verschrieene „unproduktive" Reichsschuld
eingeschlossen, werden durch die Überschüsse unsrer Staatsbahneinnahmen allein, und
wenn es not thut, durch die hiuzutreteudeu der Domänen, Forsten, Bergwerke ver¬
zinst, und »ach Abzug aller dieser Zinsen bleibt noch ein Erkleckliches übrig. Und
wir haben nicht, wie die Franzosen, alle Steuerquellen erschöpft. Es geht auch
für so kleine Forderungen, wie die jetzt verlangte Verstärkung der Marine,
ganz gut mit deu bisherigen Einnahmen und ihrer natürlichen Ertragssteigeruug.
Aber wenn es sein muß, ist es ein kleines, weitere Mittel flüssig zu machen . . .
Es giebt kein traurigeres politisches Zeiche», als daß keine politische Partei offen
wagt, ihren Wählern zu sagen: im Opferbriugcu für das Gemeinwohl liegt die
erste Pflicht, aber auch die beste Kapitalanlage, die ein Volk und jeder einzelne
gute Volksgenosse machen kann. Finanziell haben wir ohne jede wesentliche
Schwierigkeit die Macht, eine Flotte gleich der französischen zu erlangen, eine so
bescheidne Verstärkung, wie die jetzt verlangte, ist finanziell gar kein Objekt." — Über
die „konstitutionellen Bedenken" bemerkt der sich darin besonders vorsichtig gebende
Schaffte: „Kein Parlament und keine Partei kann sich Beschlüssen entziehen, welche
auf mehrere Jahre, sowie ans unbestimmte Zeit finanzielle Belastung nach sich
ziehen. Septennate und Ätcrnate sind unvermeidliche Einrichtungen, welche der
Ordnung aller öffentlichen Haushalte unentbehrlich und gerade für einen obersten
Zweck konstitutionellen Lebens, für eine planvolle, rationelle, billige Staatswirt¬
schaft unerläßlich sind." Nur fünf Von den zweiundfünfzig deutschen Professoren
haben wir genannt, und ans ihren Antworten nur wenige Sätze wiedergegeben.
Sie möge» dazu beitragen, die Leser für das ganze Ergebnis der Umfrage zu
interessiren, das hoffentlich als besondre kleine Schrift in den Buchhandel kommt.
Es läßt sich über die Entwicklung der Flottenfrage seit der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs im Reichstag zur Zeit nichts sichres sagen. Fest in ihrer Haltung
wie immer, wo es den gefunden Fortschritt zu stören gilt, sind eigentlich nur die
Sozialdemokratin,. Auf keinen Fall darf mau deu parlamentarischen Sieg schon
als entschieden betrachten. Aber der Kampf wird gute Früchte zeitigen über kurz
oder lang, des sind wir sicher. Das Gewissen des deutschen Volks scheint sich
schon zu regen. Nur jetzt kein Schacher zwischen Regierung und Parteien! Das
Volk will den festen Willen sehen gegen rechts und links, in der Flvtteupolitik
wie in der Sozialpolitik. Es ist der Schwäche, des Schachers und des Zanks
herzlich müde.
Ein Engländer, der viele Jahre in
China gelebt hat und sich jetzt in London aufhält, schrieb kürzlich: „Ich war nicht
wenig erfreut zu hören, wie thatkräftig Deutschland in China aufgetreten ist.
England hätte längst ähnlich handeln sollen." Und die in Schanghai erscheinende
OdinAt Oasiötto schrieb vor kurzem: „Endlich scheint die Geduld der westindischen
Mächte erschöpft zu sein, und endlich scheint es, als ob strenge Abrechnung gehalten
werden sollte mit den Mandarinen, die jahrelang ungescheut und ungestraft dein
größten Frevel gegen die einfachste Menschlichkeit haben Vorschub leisten dürfen.
Wir hoffen, daß Mandarinen von dem widerwärtigen Schlage eines Li Pirg-Heng
I^des fremdenfeindlichen Gouverneurs der Provinz Schenkung, dessen Namen mau
wohl nicht mit Unrecht mit der Ermordung der beiden deutschen Missionare in
Zusammenhang bringt^, durch das energische Vorgehen Dentschlands eine Lehre
erteilt wird, die sie nicht leicht vergessen werden. Die chinesische Regierung war
offenbar bereits zu dem Glauben gekommen, das Leben eines Missionars lasse sich
immer mit einigen tausend Taels und mit der Enthauptung von ein paar Kukis
aufwiegen. Bei frühern Blutthaten ähnlicher Art hatten sich allerdings Westländische
Regierungen leider immer wieder auf diese Weise abfinden lassen. Das war ein¬
fach schimpflich, denn darnach mußten Menschen wie Li Pirg-Heng annehmen, den
europäischen Regierungen seien die im Reiche der Mitte wirkenden Missionare
ziemlich gleichgiltig oder höchstens einiges Blutgcld wert. Jetzt werden die Man¬
darinen wohl andrer Ansicht werden, und darüber muß jeder in China lebende
Fremde froh sein."
Diese Äußerungen geben einen Beweis von der bisher noch bestehenden Soli¬
darität der Interessen der Ausländer im Reiche der Mitte. Wer eine Reihe von
Jahren in China zugebracht hat, sei er nun Amerikaner oder Angehöriger irgend
einer europäischen Nation, mußte bei der Nachricht des deutschen Auftreten in
Kiaotschau unwillkürlich ausrufen: Endlich doch einmal eine That, und nicht bloß
immer wieder Worte, wie wir sie in den letzten Jahren zum Überdruß von den
Gesandten in Peking haben hören müssen!
Wie die China, Kaxett-g ganz richtig bemerkt, wird die deutsche That in ganz
Ostasien sicherlich die allgemeinste Zustimmung gesunden haben. Die Chinesen
hatten seit langer Zeit einen solchen Schlag verdient. Deshalb ist die anfangs
auch in Deutschland vcrtretne Auffassung, unser Vorgehen sei gewaltthätig gewesen,
nicht richtig. Als die ersten Nachrichten über Kiaotschau nach Europa kamen, be¬
richteten die Zeitungen von einer großen Verblüffung der Engländer. Das war
begreiflich. Die Engländer haben schon oft Anlaß gehabt, im Interesse der Aus¬
länder in China so aufzutreten, wie es Deutschland jetzt gethan hat. Die eng¬
lische Negierung hat aber die Sache offenbar immer für viel schwieriger gehalten,
als sie war, zum größten Schaden des Ansehens der Kaukasier bei der mongo¬
lischen Nasse. Kein Wunder, daß mau in London zuerst über den Mut Deutsch-
lands erstaunt war. Inzwischen scheinen sich auch die Engländer entschlossen zu
haben, mit den Chinesen so zu reden, wie es die Umstände erfordern. Im letztem
U'meh Obina Horalcl steht zu lesen: „Ein Chinese, der britischer Staatsangehöriger
ist, war in Swatau von Mandarinen ins Gefängnis geworfen worden. Der
dortige englische Konsul konnte seine Freilassung nicht erwirken, Weshalb er darüber
nach Peking berichtete. Daraufhin ersuchte der englische Gesandte den zuständigen
Admiral, einige Kriegsschiffe nach Swatau zu schicken. Dies geschah. Eins ging
von Schanghai und eins von Hongkong dahin, was alsbald die Freilassung des
widerrechtlich eingekerkerten Mannes zur Folge hatte." Niemand, der die Chinesen
kennt, wird sich hierüber Wundern. Bei Mandarinen, die sich förmlich in ihren
Fremdenhaß verrannt haben, helfen eben die klarsten und einfachsten Vernunftgründe
nichts, sondern nur Gewaltmaßregeln.
Ähnlich ist es bisher in allen Missionsangelegenheiten gewesen. Der Be¬
hauptung, die man vielfach hört, daß die Missionsfrage in China sehr verwickelt
sei, kann ich nicht zustimmen. Zu Gegenteil, die Sache liegt ganz einfach. Ob
es klug war, den Chinesen die christlichen Sendboten gegen den offenbaren Wunsch
der Mandarinen und der Litteraten, also der führenden Kreise des Volks, auf¬
zudrängen, ist schon längst eine müssige Frage geworden. Die Missionare sind
einmal da im Reiche der Mitte, und sie würden sich nicht mehr ohne den leb¬
haftesten Widerspruch großer und einflußreicher Kreise in Europa und in Amerika
zurückrufen lassen. Mit dieser Thatsache muß man rechnen. Es fragt sich also:
wie kann man diese im Jnnern des Reichs verstreuten Europäer und Amerikaner
vor den ihnen sehr übelgesinnten Litteraten schützen? Die Antwort lautet: indem
man Gewalt gegen Gewalt setzt. In einigen deutschen Zeitungen ist gesagt worden,
man fordere von der chinesischen Regierung etwas, was sie nicht leisten könne,
wenn man verlange, sie solle keinem Missionar im Innern des Landes ein Haar
krümmen lassen. Nun, gewiß würde es nicht gerechtfertigt sein, in Fällen, wo
Missionare wirklich und nicht uur angeblich von Räuberbanden oder von auf¬
rührerischen Volkshaufen erschlagen worden sind, mit Panzerschiffen und Kanonen
einzuschreiten, und solche Fälle kommen ja dann und wann vor. Aber bisher hat
man meistens Gewißheit oder wenigstens sehr große Wahrscheinlichkeit dafür gehabt,
daß Litternten und Mandarinen das ein sich ruhige Volk gegen die Christen aus¬
gesetzt haben. Überall, wo es einmal einen freudenfreundlichen Tcwtni (Regierungs¬
präsidenten) giebt, da fürchten die Missionare nichts; nimmt der Taotcii eine neutrale
Stellung ein, so fürchten sie wenig; ist er dagegen missionsfeindlich, so sind sie
niemals vor Angriffen sicher. Das ist nicht etwa eine aus der Luft gegriffue Be¬
hauptung, sondern der Beweis dafür ist schon oft geliefert worden. Noch kürzlich
hat das die amerikanische Regierung der chinesischen amtlich ins Gesicht gesagt,
wie die Schanghaier Blätter übereinstimmend berichtet haben. Nun mag ja der
sremdcuseiudliche Geist der unverantwortlichen Litteraten den Verantwortlicher
Mandarinen in der letzten Zeit vielfach über den Kops gewachsen sein. Aber
woran liegt es, daß diesen Herren der Kamm so sehr geschwollen ist? Nur an
der Schlaffheit der Ausländer, besonders der Engländer. Alle Asiaten werden nnr
noch kecker, wenn man sie in solchen Sachen, wie die Ermordung eines Missionars,
glimpflich behandelt. Alle Asiaten werden aber mäuschenstill, sobald sie die Faust
einer europäischen Großmacht gefühlt haben. In Hongkong oder in Singapore
oder wo sonst viele Chinesen unter fremder Herrschaft wohnen, kommen niemals
Unruhen gegen Missionare vor. Bekehrungsversuche werden auch dort nach Kräften
gemacht, ohne daß das Volk daran dächte, sich an den Missionaren zu vergreifen,
weil es niemand dazu aufzuhetzen wagt.
Eine Ironie des Schicksals ist es, daß gerade jetzt Deutschland Ursache hatte
einzugreifen, wo sich schon die ersten Zeichen einer Besserung in der allgemeinen
Lage der christlichen Sendboten im himmlischen Reiche bemerklich machten. Während
man früher in den Kreisen der Regierung in Peking wie unter den hohen Satrapen
w den Provinzen nichts von ihnen wissen wollte, beginnen den Mandarinen jetzt
ein klein wenig die Augen über die Uneigennützigkeit der Missionare aufzugehen.
Uneigennütziges Handeln zu begreifen ist für einen Chinesen sehr schwer, wenn nicht
fast unmöglich. Daß den Mandarinen endlich eine Ahnung davon aufdämmert, daß
bei den Missionaren diese in ihren Augen sonderbare Tugend zu finden ist, wird
hauptsächlich durch den Gegensatz zu den andern in China lebenden Ausländern
bewirkt. Die hohen Mandarinen sind keineswegs alle gegen die Einführung von
Reformen in ihrem Lande. Sie wissen nur nicht recht, wie sie die Sache am besten
anfangen sollen, ohne den Fremden immer mehr Einfluß einzuräumen, den sie von
ihrem Standpunkt aus natürlich nicht wünschen können. Nun sagen sie sich: die
Gesandten und die Konsuln verfolgen mit ihren Vorschlägen vor allem Politische
Zwecke; die ausländischen Kaufleute und Industriellen denken nur an ihren Geld¬
beutel; aber die Missionare haben immer wieder betont, sie hätten lediglich das Wohl
unsers Landes im Auge; diese Auffassung der Christen ist uns zwar nicht recht
begreiflich, aber es mag wohl etwas Wahres daran sein. So haben wir denn
seit kurzer Zeit das merkwürdige Schauspiel, daß die hohen Mandarinen anfangen,
die früher so sehr gehaßten Missionare gelegentlich um Rat anzugehen.
Einige deutsche Zeitungen haben die Besorgnis ausgesprochen, die Chinesen
könnten ihr Land dem deutschen Handel ganz verschließen, wenn wir die Dinge
auf die Spitze trieben. Diese Besorgnis ist völlig grundlos. Nach dem Kriege
Japans gegen China fanden die japanischen Kaufleute nirgends die geringste
Schwierigkeit, die zeitweilig unterbrochner Handelsbeziehungen wiederanzuknüpfen.
Und doch sind die Japaner im Reiche der Mitte im allgemeinen wenig beliebt.
Aber es würde einem Chinesen einfach lächerlich vorkommen, gute Handels-
beziehungen nicht wieder aufzunehmen, weil seine Regierung einen ihm gleichgiltigen
Krieg geführt hat. Alle aufmerksamen Beobachter stimmen darin überein, daß die
Chinesen, obgleich man ihnen viel Heimatsinn zuschreiben muß, doch keinen Patrio¬
tismus in unserm Sinne haben. Aus diesem Grunde finden sie sich auch leicht
mit einer fremden Herrschaft ab, solange man sie nur nicht in den Gewohnheiten
ihres täglichen Lebens stört. Das Schicksal der Teilung des großen Reichs unter
die europäischen Mächte wird sich schwerlich abwenden lassen. Sämtliche in
Schanghai erscheinenden europäischen Zeitungen sind schon dieser Ansicht. So meint
z. B. das «üolestial ZZwxirs: „Die Freunde Chinas wollten bisher immer die
Hoffnung noch nicht ganz aufgeben, daß sich das alte Reich endlich zu ernstlichen
Reformen aufraffen werde. Es ist im höchsten Grade bedauerlich, daß ein so
großes Volk mit so vielen gemeinsamen Banden des Blutes, der Sprache, der
Religion und der Geschichte wahrscheinlich uuter fremde Eroberer verteilt werden
wird. Aber wir müssen gestehen, es ist wenig oder gar keine Hoffnung auf eine
andre Lösung der chinesischen Frage vorhanden." Möge man daher im deutschen
Vaterlande andauernd scharf aufpassen, damit mau bei dieser über kurz oder laug
bevorstehenden Teilung nicht zu kurz komme.
Da sich die Gelehrten bis heute weder über den Begriff
der Gesellschaft uoch über den der Gesellschaftswissenschaft haben einigen können,
so schlagen wir wenigstens für die zweite eine Definition vor, deren Nichtigkeit keinen
zu bestreiten sein dürfte: ein neuer Name für ein Bündel alter Sachen. Damit wollen
wir jedoch die Notwendigkeit und den Nutzen der neuen Wissenschaft nicht bestritten
haben, denn sie lenkt dnrch ihre Auswahl unter den alten Sachen die Aufmerksamkeit
gerade auf solche Wahrheiten und Thatsachen, deren Untersuchung und Erwägung
in unsrer Zeit besonders not thut. Daher gehört Herbert Spencers Einleitung
in das Studium der Soziologie, das die Berechtigung und Notwendigkeit der
neuen Wissenschaft darlegt, zu deu nicht ganz überflüssigen Büchern, und die Neu¬
ausgabe der schon vor zweiundzwanzig Jahren erschienenen deutscheu Übersetzung
Von Dr. Heinrich von Marqucirdsen (14. und 15. Band der bei Brockhaus
erscheinenden Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek, Leipzig, 1896) kann
einigen Nutzen stiften. Der größte Teil des Werkchens ist den Schwierigkeiten ge¬
widmet, die alle Arten von Vorurteil der fraglichen Wissenschaft bereiten, was
freilich auch von alle» andern Wissenschaften gilt, wie denn auch jedes der ange¬
führten Beispiele in verschiednen andern Wissenschaften verwendet werde» konnte,
das von der Trunksucht (S. 95 ff) z. B. in der Moral, Politik, Geschichte und
Kulturgeschichte. Spencer erinnert dort daran, daß in England die Trunksucht im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ganz allgemein geherrscht hat, auch und
sogar vorzugsweise bei den hohen und höchsten Ständen, daß sie aber seitdem
— bloß durch einen Wandel des Geschmacks und der Begriffe des Anständigen
und Schicklichen und ohne Anwendung eines vom Staat ausgeübten Zwanges —
aus den obern Schichten verschwunden und in den untern viel seltner geworden
ist. (Dasselbe gilt bekanntlich für Deutschland, nur mit dem Unterschiede, daß hier
die Trunksucht, als ein Laster der Vornehmen, im siebzehnten Jahrhundert, in
England dagegen, wie es scheint, erst im achtzehnten ihren Höhepunkt erreichte.)
Die Führer der Mäßigkeitsbewegnng aber, die eben mit der Ausrottung des letzten
Restes beschäftigt sind, bilden sich ein, das Laster sei in beständiger Zunahme be¬
griffen und so furchtbar gefährlich, daß die Gesetzgebung mit Zwang dagegen ein¬
schreiten müsse. Ein wirklich sehr hübsches Beispiel dafür, wie nicht allein grobe
Selbstsucht, sondern anch jede edle Leidenschaft gegen soziologische Thatsachen blind
macht! Im übrigen ist Herbert Spencer mit seinem krassen Naturalismus nicht
unser Maun. Einen recht geschmackvollen Ausdruck findet seine darwiuische Auf¬
fassung in dem Satze (I, 213), mit dem die hohe Organisation der höhern Tiere
erklärt werden soll: „Den nie aufhörenden Anstrengungen, zu saugen und zu fressen,
und den nie aufhörenden Anstrengungen, dem Gefangen- und Gefrcsseuwerden zu
entgehen, muß die Entwicklung der verschiednen Sinne und der von denselben ge¬
leiteten verschiednen Bewegungsorganen >so!j zugeschrieben werden." Da Spencer
neben dem Naturmechanismus keinen andern Entstehungsgrund der Wesen kennt,
so muß er auf diese Ursache auch die Schönheit des Menschenleibes, zu deren
wesentlichen Bestandteilen die Form der Bewegungsorgane gehört, und — die
Seelenschönheit samt allen geistigen Schöpfungen des Menschen zurückführen, und
dazu schütteln wir ungläubig den Kopf. — Spencer ist bekanntlich auf seine alten
Tage eine Hauptstütze jener Schule geworden, die im Darwinismus die Grundlage
einer aristokratischen Gesellschaftswissenschaft begrüßt. Der italienische Kriminnlist
Enrico Ferri dagegen beweist in seiner von or. Hans Kurella übersetzten
Schrift: Sozialismus und moderne Wissenschaft, Darwin, Spencer, Marx
(Leipzig, Georg H. Wigand, 1395), daß der Darwinismus zum Sozialismus führe;
die von den Gegnern gerühmte Auslese sei nnr ein Zersetzungsprozeß, die echte,
kultnrfördernde Auslese werde erst in der sozialistisch organisirten Gesellschaft vor
sich gehen. Ferri ist, gleich deu übrigen sozialistischen Professoren Italiens, deren
geistige Richtung sich aus den politischen Zuständen ihres Vaterlands leicht erklärt,
ein nchtnugswerter Charakter und eine liebenswürdige Persönlichkeit. Das an¬
stößigste an ihm ist uns seine Feindschaft gegen die Religion. Die heutigen Reli¬
gionen gelten ihm „als überflüssige Produkte einer moralischen Verknöcherung, die
vor der Ausbreitung einer anch nnr elementaren naturwissenschaftlichen Bildung
schwinden müssen" (S. 53). Ganz anders, wenn auch nicht verständiger, denkt
Benjamin Kitt über die Religion, dessen Soziale Evolution in Deutschland
einiges Aufsehen erregt hat, als ihre deutsche Übersetzung von E. Pfleiderer (mit
einem Vorwort von Professor Dr. August Weismann; Jenni, Gustav Fischer, 1396)
erschien. Wir wollen die Hauptsätze von Kidds Lehre kurz zusammenstellen und
jedem unsern Haupteinwand in Klammer beifügen. Der Mensch hat, sich selbst
überlassen, „nicht den geringsten eingebornen Trieb, irgend einen Fortschritt nach
irgend einer Seite hin zu machen." (Unbewiesene Behauptung!) Durch nichts
andres hat daher ein Fortschritt entstehen können, als durch den auslesenden Daseins-
kampf. (Der Daseinskampf ist freilich eine der Triebfedern des Fortschritts, aber
nicht die einzige, und ebenso oft auch Ursache des Rückschritts.) Da nun die Ver¬
nunft jede» Meuscheu sein eignes Glück erstreben lehrt, so würden die Meuscheu,
wenn sie von der Vernunft allein geleitet würden, dem Leiden schaffenden Daseins¬
kämpfe, etwa durch eine sozialistische Organisation der Gesellschaft, ein Eude
macheu. (Als ob dazu ein bloßer Entschluß der Menschen hinreichte, und als ob
die Menschen mich nur eines Volkes sich über den Plan einer solchen Organisation
einigen könnten!) Damit würde aber der Fortschritt zum Stillstand gebracht, das
Wohl der zukünftigen Menschheit dem Jndividualglllck der jetzt lebenden Menschen
geopfert. Daher ist eine Triebfeder notwendig, die den Menschen zwingt, fein
Jndividualglück dem Interesse der Menschheit unterzuordnen und zu opfern. Diese
Triebfeder ist die Religion, der Glaube an eine übernatürliche Macht, die den
Altruismus gebietet. Die Religion darf und kann daher niemals aus der Vernunft
abgeleitet werden, da es gerade ihre Bestimmung ist, die Vernunft zu überwinden.
(Die Religion kann allerdings die Nächstenliebe befördern — manchmal thut sie
das Gegenteil — und verhilft zur innern Ergebung in die Opfer, die dem Ein¬
zelnen die Weltordnung auflegt. Aber uicht aus Religion und nicht aus Altruismus
unterwirft sich der Einzelne äußerlich — und darauf allein kommts hier an —
den harten Bedingungen des Daseinskampfcs, sondern weil er nicht anders kann;
die atheistischen Sozialdemokraten thun es ebenso vollkommen wie die frömmsten
Christen.) Zuletzt verlaufen sich Kidds Betrachtungen in einem hoffnungslosen
Gestrüpp von Widersprüchen. So z. B. soll in unsrer Zeit der Altruismus aufs
höchste gestiegen und trotzdem die Lage der arbeitenden Klassen so elend sein, daß
sie sich vor der Vernunft nicht rechtfertigen läßt, soll der Altruismus ein Hauptziel
der Entwicklung sein und zugleich diese beeinträchtige», weil er ja den Kampf
mildert wo nicht gar aufhebt. Das einzige einigermaßen positive Ergebnis seiner
Untersuchungen ist seine Ansicht, die Entwicklung strebe einem Zustande zu, wo alle,
und zwar alle unter gleichen Bedingungen in den fortschrittfvrderndcn Konkurrenz¬
kampf würden eintreten können. Kitt stellt seine berühmten Landsleute Herbert
Spencer und Huxley als Leute hin. die am Ende ihrer Forschungen mit ihrem
Latein zu Ende seien und dem Greise auf dem Dache glichen (dieses Bild gebraucht
er freilich uicht), der sich nicht zu helfen weiß; er kann sich als dritter zu ihnen
setzen. Das Theoretisiren wird dem Manne ungemein erleichtert durch seiue köstliche
Unwissenheit in allen den Dingen aus alte» und neuen Zeiten, über die er sich
weitläuftig ausläßt. Den alten Griechen spricht er die Humanität ab, was er nicht
thun könnte, wenn er auch weiter nichts als Xenophons Cyropädie gelesen hätte,
und die Verwaltung Indiens durch die Engländer preist er als einen Ausfluß des
englischen Altruismus. Den Gipfel des unfreiwilligen Humors aber erklimmt er
mit dem Satze: „Die Banmwollenindustrie Indiens steht bereits in einer freund¬
lichen Rivalität mit der von Lancashire" (S. 291).
nennt Karl Freiherr von Manteuffel
seine bei Otto Liebmann (Berlin, 1896) erschienenen Vetrnchtnngen, die vielfach
an die Grenzboten anklingen und ungefähr auf den von Massow empfohlenen
Staatssozialismus hinauslaufen. — Neben den frommen preußischen Lutheraner stellen
wir deu frommen reformirten Republikanern Charles Secrotan, dessen Ge¬
danken sich in der gerade entgegengesetzten Richtung bewegen. Seine Sozialen
Schriften hat Ednard Platzhoff „in Auswahl" übersetzt und 1896 bei
I. C. B. Mohr, Freiburg i. B. und Leipzig, mit einer Biographie des als
Professor der Philosophie in Lausanne verstorbnen Verfassers herausgegeben. Bei
der Einweihung der dortigen neuen Universität 1892 ist dieser das letzte mal
öffentlich aufgetreten und hat in seiner Rede gerufen: „Mit Kant von Königsberg,
mit Pascal von Clermont-Ferrand, mit Paul von Tarsus, mit Jesus von Nazareth
glaube ich, daß nichts in der Welt die sittliche Kraft aufzuwiegen vermag!" Aus
seinen Schriften spricht ein feiner, zarter, skeptischer, vorsichtig abwägender, aber
in seiner Grundrichtung fester und entschiedner Geist. Diese Grundrichtung ist die
religiös-gläubige („wer nicht recht weiß, was Sünde ist, ist nur ein Affe, viel¬
leicht der geistreichste aller Affen") in der Form des in republikanischer Luft er¬
wachsenen reformirten Bekenntnisses. Er ist deshalb durch und dnrch liberal; er
will den Kampf ums Dasein, er will die selbstsüchtigen Triebe frei walten lassen;
nicht der Staat soll diese überwinden, sondern freie christliche Liebe und Gerechtig¬
keit sollen ihnen das Gleichgewicht halten. Mit Pressenss sagt er: „Weil der
Staat das bewaffnete Recht ist und Zwang ausübt, hat er keinerlei Kompetenz in
Sachen des Gewissens, denn der Zwang würde genügen, dieses unfruchtbar und
tot zu macheu und damit die Triebkraft des sittlichen Lebens zu hemmen." Seine
Reformvorschläge laufen vorzugsweise auf Bodenbesitzreform hinaus. In seiner
Utopie — er hat auch eine solche, eine hübsche, kleine geschrieben — werden die
Leute, die Vermögen erwerben, als Wohlthäter des Volkes gefeiert. Sehr scharf
spricht er sich gegen den Luxus aus, und die Entrechtung der Frau durch die
männlichen Gesetzgeber erfüllt thu mit Entrüstung. — Auf dem entgegengesetzten Pol,
und trotzdem nicht gerade freuudunchbarlich neben Manteuffel, finden wir Ferdinand
Lnssnlle, der deu Liberalismus haßte und die Staatshilfe hoch hielt. Dr. Lam-
Pertns Otto Brandt hat in seiner Broschüre: Ferdinand Lassalles sozial¬
ökonomische Anschauungen und Praktische Vorschläge (Jena, Gustav Fischer, 1895)
ein brauchbares Hilfsmittel zum Verständnis und zur Beurteilung des großen
Agitators geliefert; er versucht nachzuweisen, daß Lassalle nur als Agitator aus
Oppvrtuuitätsrücksichten vielfach geschwankt habe, als gelehrter Theoretiker dagegen
sich stets treu geblieben sei und von Anfang an dem radikalen Kommunismus ge¬
huldigt habe. Daß der Anarchismus das gerade Gegenteil vom Sozialismus und
Kommunismus ist, wird ziemlich allgemein verkannt oder auch absichtlich übersehen.
E. v. Zenker hat bei den Gebildeten eine so staunenswerte Unwissenheit in Be¬
gehung auf deu Anarchismus gefunden, daß er beschloß, dessen Geschichte zu
schreiben. Der Unwissenheit des Publikums, fand er weiter, entspricht die Praxis
der Bibliotheken, die zwar „ihren Stolz drein setzen, möglichst vollständige Samm¬
lungen aller Textausgabcn von Herodot oder Sophokles zu besitze»," aber es
unter ihrer Würde halten, die Schriften der anarchistischen Doktrinäre anzuschaffen.
Er war deshalb gezwungen, sich an diese selbst zu wende», und namentlich Elisöe
Reclus hat ihn mit Material versorgt, jedoch im Begleitschreiben bemerkt, er zweifle
um Gell»gen der Arbeit, denn on no oomprsng rion eins os ein'ein anus. So ist
das Buch zu stände gekommen: Der Anarchismus, Kritik und Geschichte der
nnarchistischeu Theorie. (Jenni, Gustav Fischer. 1895.) Es reicht vollständig hin
tur jeden, der sich über den Gegenstand gründlich unterrichten will; auch die aller-
unbedeutcudsten Führer der Sekte finden Berücksichtigung. Zu bemerken ist. daß
der Verfasser auch Hertzka und namentlich Dühring zu den Anarchisten rechnet,
dagegen sehr lebhaft gegen solche protestirt, die Herbert Spencer (besonders wegen
seiner Schrift: Incliviäual vorsus tlig Leg.t>o) und Friedrich Nietzsche dazu zahlen
möchten. Sein Endurteil läßt sich folgendermaßen zusmumeufasseu. Die Propaganda
der That muß selbstverständlich als Verbrechen behandelt werden, aber Ausnahme¬
gesetze dagegen siud weder notwendig noch nützlich; Verbrechen bleibt Verbreche»,
und wie Politische oder sonst ideologische Beweggründe nicht als Mildcrungsgrüude
gelten dürfen, so darf man sie auch nicht als erschwerende Umstände auffassen.
Die anarchistischen Theorien dagegen sind harmlose Hirngespinste; sie sind irrig,
sie sind utopisch, haben aber gleich allen theoretischen Irrtümern ihre Aufgabe und
darum ihre Daseinsberechtigung. Die Aufgabe des Anarchismus besteht darin, daß
er der Opposition gegen die herrschende Zeitrichtung den schärfsten Ausdruck ver¬
leiht, gegen eine Zeitrichtung, die deu Zwang auf allen Gebiete» fordert und alle
alten Freiheitsidenle als überwundne Jugcndeseleien verspottet. Ob sozialistischer
Znknnftsstciat oder auarchistischer Absolutismus, meint der Verfasser, das komme
doch auf eins heraus. Jedenfalls ist es nicht allem theoretisch korrekt, sondern
auch praktisch wichtig, bei der Behandlung des Gegenstandes anzuerkennen, daß der
radikale Liberalismus uicht zum Sozialismus, sondern zum Anarchismus führt.
Zwar entsteht, wie in der Natur, so auch in der Gesellschaft, jedes aus jedem,
aber doch nicht ans dieselbe Weise; wenn der Sozialismus den Liberalismus ablöst,
so geschieht es nicht durch Fortbildung, sondern durch Umschlag; dabei befindet
sich der Sozinlismus ans der Seite des Staatsabsolntismus, wie er ja auch von
diesem bei uns zur Zertrümmerung der liberalen Parteien benutzt worden ist. —
Wir schließen unsre heutige Übersicht mit einem juristischen Buche, das von den
Soziologen vielleicht als antisozial bezeichnet werden wird! Die Aufgabe» der
Strafrechtspflege vo» Dr. Richard Schmidt, Professor der Rechte i» Frei¬
burg i. B., Leipzig (Duncker und Humblot, 1895). Der Verfasser bekämpft die
Lisztsche Richtung und sucht nachzuweisen, daß die von dieser geforderte „Spezicil-
prcivention" (bei der die Strafe in ein der Individualität des Verbrechers an¬
zupassendes Heilverfahren übergeht) und die „Geueralprävention" (durch Erfüllung
der Forderungen der vergeltenden Gerechtigkeit, wobei die Strafe ohne Rücksicht
auf die Person des Verbrechers »ach senicr That abgemessen wird) nicht gleichzeitig
erreicht werden können, und daß bei Unvereinbarkeit dieser beiden Zwecke der
Strcisjustiz der erste dem zweiten als dem wichtiger» zu weichen habe. Daß das
geltende System, das den zweiten Zweck zu Grunde legt, verbesserungsbedürftig
sei, leugnet Schmidt nicht, aber daß es ganz schlecht, daher der Verbesserung nicht
sähig sei, bestreitet er den Neformsreunden der bezeichneten Richtung gegenüber.
er siebente Band von Theodor von Bernhardts Tagcbuch-
blättern ist betitelt Der Krieg 1866 gegen Österreich und
seine unmittelbaren Folgen und umfaßt die Zeit vom
23. Mai 1866 bis zum 10. Mai 1867.
Es war unstreitig ein großes Wagnis, einen im vierund¬
sechzigsten Lebensjahre stehenden Mann, der bis dahin Politik und Kriegs¬
wissenschaft nur theoretisch getrieben hatte, als Militärbevollmächtigten mit
einer Sendung zu betrauen, für die ursprünglich Moltke in Aussicht genommen
war, umso mehr, als Bismarck zu den Fähigkeiten des preußischen Gesandten
Grafen Usedom, dem Bernhardt an die Seite gesetzt wurde, nur ein sehr
mäßiges Zutrauen hatte. Der Erfolg dieses Wagnisses aber überbot alle Er¬
wartungen: Usedom zeigte sich seiner Aufgabe noch weniger gewachsen, als zu
erwarten war, und Bernhardi erwies sich als unermüdlicher und unübertreff¬
lich geschickter und scharfsinniger Beobachter. Das haben schon seine von
Shbel benutzten offiziellen Berichte bewiesen, und noch klarer geht es aus den
in dem vorliegenden Bande enthaltnen ursprünglichen Aufzeichnungen hervor,
die eine Quelle ersten Ranges für die Zeitgeschichte sind und für die Wahr¬
heitsliebe und durchdringende Verstandesschärfe des großen Geschichtschreibers
das glänzendste Zeugnis ablegen.
Bor allem wurde Bernhardi nach Italien geschickt, um mit der ita¬
lienischen Heeresleitung den Kriegsplan gegen Österreich zu verabreden. Am
6-Juni empfing ihn General La Marmora im Palazzo vecchio; das Ergebnis
ihrer Unterredung faßt Bernhardi in die Worte zusammen: »Nach unsrer
Meinung müßte mau sich bemühen, den Österreichern den Weg durch die
venetianische Ebene nach Friaul zu verlegen, sie zunächst auf das Festungs¬
viereck zu beschränken und nach Tirol hineinzuwerfen. La Marmora will sie
gerade umgekehrt von Tirol abschneiden und im besten Fall aus dem Festungs¬
viereck hinaus, gerade rückwärts in die venetianische Ebene treiben, wo sie an
jedem Flusse eine neue Stellung finden und ihre Nückzugsliuie immer ganz
ungefährdet gerade hinter sich haben würden! Und die Freiwilligen unter
Garibaldi will er nicht nach Dalmatien schicken, wo sie ein Königreich unter
Waffen bringen können, sondern nach Tirol, wo sie sehr bald auf die deutsche
Bevölkerung und einen sehr hartnäckigen Widerstand stoßen werden; wo sie
die Landesschützen in Bewegung bringen, das heißt Streitkräfte in Bewegung
setzen werden, die als solche gar nicht wirksam werden können, ja gar nicht
da sind, wenn man sie nicht unnützer- und thörichterweise in ihrer unmittel¬
baren Heimat aufsucht und aufstört, die aber, einmal in solcher Weise auf¬
gestört, Garibaldi und seine Freischaren für den ganzen übrigen Krieg neutra-
lisiren können und werden."
Bei La Marmoras hoffnungsloser Bornirtheit schien es zwar nicht mög¬
lich, ihn zu einem vernünftigen Feldzugsplane zu bewegen; trotzdem beschloß
Usedom eine Denkschrift auszuarbeiten, in der er darlegte, die Italiener würden,
wenn sie ihren Plänen gemäß etwa nur bis Udine vorgingen, den Preußen
weniger nützen, als wenn sie gar nichts thäten. War schon dieser ganz über¬
flüssigerweise beleidigende Ausdruck höchst unglücklich gewählt, so konnte
außerdem, wie Bernhardt sagt, die unzusammenhüngende Argumentation und
die dilettantische Weise, in der die militärischen Operationen in der Note be¬
sprochen wurden, für sich allein keinen Feldherrn bestimmen, einen fremden
Feldzugsplan anzunehmen. Der Verabredung gemäß arbeitete gleichzeitig
Bernhardt selbst eine Denkschrift aus, in der er sich auf den Beweis beschränkte,
daß durch die Eroberung einer oder mehrerer italienischer Festungen für die
in Böhmen und an der Donau liegende Entscheidung des Krieges nichts ge-
wonnen sei, und daß die Italiener, um Preußen wirklich zu fördern und
zur Entscheidung beizutragen, entweder die österreichische Armee bei Verona
festhalten oder ihr auf dem Fuße bis zur Donau folgen müßten: „Das erste
konnten sie nur dadurch bewirken, daß sie der Armee des Erzherzogs Albrecht
den Rückweg nach den deutschen Provinzen Österreichs in der Stellung bei
Caldiero verlegten und ihr, wenn sie den Rückzug durch das Pusterthal an¬
trat, wieder bei Laibach den Weg sperrten. Gelang es aber nicht, sie von der
Donau abzusperren, so mußten sie wenigstens zugleich mit ihr dort eintreffen."
Und nun kommt das Unglaubliche: Usedom übergab am 18. Juni 1866, wie
er später selbst gestanden hat, und wie erst jetzt aus Bernhardts Aufzeichnungen
bekannt wird, La Marmora nur seine eigne Denkschrift und unterschlug ihm die
von Bernhardt ausgearbeitete! Hätte er wenigstens von der Absicht, diese ebenso
schändliche als alberne Gewissenlosigkeit zu begehen, Bernhardt Mitteilung
gemacht, so Hütte Bernhardt die Sache vielleicht noch rückgängig machen können,
so aber hat er seine diplomatische Heldenthat erst zwei Jahre später, am 22. Juli
1868 unter dem Zwange der von La Marmora angeregten parlamentarischen
Verhandlungen eingestanden. Ganz hat er freilich die Denkschrift nicht unter¬
schlagen, er hat sie dem Ministerium am 10. Juli 1866, das heißt unter ganz
veränderten Umständen eingereicht. Bernhardts Denkschrift war, wie er selbst
sagt, darauf berechnet, alle Fehler der Note Usedoms zu decken und gut zu
macheu; sie enthielt die wirklichen technischen Argumente, die La Marmoras
Entschluß — vor Custozza natürlich — bestimmen mußten. Ob Bernhardts
Ausführungen auf Lu Marmora Eindruck gemacht haben würden, ist natürlich
schwer zu sagen, wahrscheinlich ist es nicht; fast zwei Monate später aber hatte
jedenfalls die Einreichung der Denkschrift überhaupt keinen Sinn mehr.
La Marmoras kindische Art der Kriegführung — seinen Plan spricht er
Bernhardt gegenüber mit de» klassischen Worten aus: nous sautercms clans lo
tM-MMtsrs! U0U8 simtsrcms äscllms! — ist ebenso bekannt wie das aller
Welt unerklärliche Zaudern in der italienischen Kriegführung nach der Schlacht
bei Custozza. Die Empörung darüber war auf preußischer Seite kaum minder
lebhaft als im italienischen Publikum. So giebt Bismarck in seiner aus Horsitz
11. Juli an Usedom gerichteten telegraphischen Depesche einem vielfach gehegten
Argwohne Ausdruck, wenn er sagt: „Letzteres (die energische Fortführung des
Krieges) geschieht von Italien so wenig, daß unser volles (bei Bernhardi:
vollendetes, im Originale wohl x^rlmte) Vertrauen zu der Rechtlichkeit des
Königs und der Nation dazu gehört, nicht zu befürchte», daß Geueral
La Marmorn von Haus aus auf Kosten der Ehre seines Souveräns und
seines Landes ein betrügerisches Spiel mit uns gespielt habe, und die jetzige
Cession Venetiens schon vor dem Kriege zu Dreien abgekartet worden sei: nur
so erklärt sich das Publikum die unbegreifliche Unthätigkeit der italienischen
Flotte und Armee. Teilen Sie diesen Verdacht noch nicht mit, aber melden
Sie eingehend Ihre Meinung. Nur sofortige energische Aktion mit Land¬
armee und Flotte kauu abhalten, an eine ehrlose Verrüterei der dortigen
Regierung zu glauben und darnach unsre weitern Schritte zu bemessen. Wir
halten bisher ehrlich am Vertrage, stehen zwei Märsche vor Brünn. und nur
die Rückkehr der italienischen Armee Österreichs kaun uns abhalte», in zehn
Tagen vor Wien zu sein."
Diesen Verdacht Bismarcks teilte Bernhardi nicht. Ihm ist La Marmora
der beschränkte Piemontese, der das ganze übrige Italien bloß als einen Ballast
betrachtet, als einen Anhang, der in mancher Beziehung viel Beschwerliches
hat, in dessen Augen Piemont das eigentliche Reich ist, das man sicher stellen
'"uß. „Die Piemontesen — so führt er an einer andern Stelle aus — wollen
die eigentlichen Vollbürger Italiens sein und, uuter einander eng verbündet,
ausschließlich im Besitze der Macht bleiben. Sie können überhaupt nicht aus
den Ideen heraus, an die sie sich als Piemontesen gewöhnt haben, und da
Piemont stets französischen Schutzes bedurft hat und mehr oder weniger von
Frankreich abhängig gewesen ist, so erscheint ihnen die Abhängigkeit von Frank¬
reich als der normale und rechtmäßige Zustand Italiens. Es fällt ihnen gar
nicht ein, selbständig sein zu wollen. Der Gedanke, sich von Frankreich frei
zu machen, würde von ihnen als völlig albern ohne jede Erörterung ab¬
gewiesen werden. So betrachten sie denn unter allen Bedingungen das Ver¬
hältnis Italiens zu Frankreich als das Eigentliche, Bleibende, die Beziehungen
zu Preußen dagegen als zufällig und vorübergehend, und es versteht sich von
selbst, daß die Rücksicht auf Frankreich immer und auch dafür maßgebend
bleibt, wie weit man in den Beziehungen zu Preußen gehen kann. Ferner
klebt ihnen auch in Beziehung auf Politik die Beschränktheit an, die in Klein¬
stanten heimisch ist und aus den Verhältnissen eines Staates dritten Ranges
natürlich genug hervorgeht. Piemont vermochte der Natur der Sache nach
nichts über die großen, allgemeinen europäischen Verhältnisse und hatte bei
den Händeln der Großmächte unter sich immer nur zu erwägen, wie es wohl,
indem es sich der einen oder der andern Partei anschloß, irgend einen aller¬
nächsten kleinen Vorteil erlangen könnte. Aus dieser Art, die Dinge zu be¬
trachten, können nun einmal Leute wie La Marmora nicht heraus. So hat
er auch dieses mal lediglich die Erwerbung Vcneticns im Sinn; wenn man
das erwirbt — gleichviel auf welche Weise —, vorausgesetzt, daß mau da¬
durch das Verhältnis zu Frankreich nicht verdirbt: dann hat sich Italien nicht
darum zu kümmern, was sonst noch in Europa vorgeht; das mögen die Gro߬
mächte unter sich ausmachen; Italien mischt sich nicht in bedenkliche Händel,
die sich nicht gut übersehen lassen."
Wie vollständig La Marmora in dem Gedanken der Abhängigkeit von
Frankreich befangen war, zeigte sich aufs deutlichste bei der Unterredung, die
Bernhardt am 10. Juli mit ihm hatte. „Bismarck, sagte er dabei, hat an¬
gefragt, ob Preußen im Falle eines Krieges mit Frankreich auf Italien rechnen
könne; diese Frage bespricht La Marmora dann wie die aberwitzige Frage
eines Verrückten, als ob es vollends unsinnig wäre, eine solche Frage über¬
haupt nur auszustellen: in dem Vertrage, ruft er aus, sieht kein Wort von
Frankreich; ein Krieg mit Frankreich ist für uns ganz unmöglich!"
Andrerseits verhehlt sich Bernhardt keineswegs, daß. auch abgesehen von
dem unbegreiflichen Zögern nach der Schlacht bei Custozzci, Anzeichen vorlagen,
die allerdings den Verdacht des Verrath sehr nahe legten. So hatte der
Admiral Perscmo von der Negierung den Befehl erhalten, die Eisenbahn bei
Triest zu zerstören und die österreichische Flotte im Hafen von Pola zu
blockiren: er that keins von beiden, weil er von La Marmora den geheimen
Befehl erhalten hatte, weder Triest noch die dalmatische Küste zu berühren,
da Frankreich und England dagegen waren!
In diesen Zusammenhang gehört auch eine Betrachtung von König Victor
Emanuels Verhältnis zu La Marmora. Der König hält La Marmora sür
einen Dummkopf: 11 u'g, vsaueoup as tods, vo xauvrg I^g. NarnrorÄ (S. 225),
er bespricht mit Bernhard: (S. 132, 137) militärische Maßregeln, die er ihn
bittet vor La Mcirmorci zu verschweigen. Daß er die allgemeine Meinung
der Armee über La Marmoras völlige Unfähigkeit, die sich in Offizierskreisen in
leidenschaftlichster Weise geltend machte, nicht geteilt haben sollte, ist kaum an¬
zunehmen. So warfen denn auch die Offiziere dem König nur vor (S. 171),
es fehle ihm le vouraZs civil, den Schlachtenverderber zu beseitigen. Zur Er¬
klärung könnte man sich auf den roZionglismo, den landsmannschaftlichen Zu¬
sammenhang berufen, der in manchen Teilen Italiens unglaublich stark, nirgends
aber stärker ist als in Piemont; aber dieses bloße kameradschaftliche Gefühl
kann man sich doch nur sehr schwer auch in solchen Lebenslagen als vor¬
herrschend denken, wo das Wohl des Staats, ja seine ganze Zukunft auf dem
Spiele stand. Außerdem müßte ein solches Verhältnis gegenseitig sein: nun
spricht sich aber La Marmora gegen Bernhardt keineswegs sehr günstig über
den König aus. Am 5. Juli warnt er ihn davor, sich von dem König hinters
Licht führen zu lassen: prensn Mrclo, Huf 1o roi vou,8 eg88ö quolciuö
pitto. . . voniwö 1« roi n'sse xss kort . . . it su g, kalt, ü, moi. Eine andre
Erklärung wäre in Victor Emanuels militärischer Begabung zu suchen. Er
trügt zwar den rauhen, bedürfnislosen Krieger zur Schau (S. 122) und ist
der eigentlich kommandirende, während La Marmora nur sein Generalstabschef
ist, aber in Wahrheit spielt er mit seinem Hauptquartier nur die Rolle eines
Figurnnten und übt keinerlei Einfluß auf den Gang der Operationen ans. „Ans
den König, sagt Bernhardi hierüber, ist gar nicht zu rechnen, denn er hat sich
so eingerichtet, in eine solche Lage versetzt, daß er gar nicht durchgreifen kann.
Er kennt die Bedingungen überhaupt nicht, unter denen sich ein wirklicher
Heerbefehl allein führen läßt. Namentlich hat er für seine Person kein wirk¬
liches Hauptquartier. Zwar hat er ein sehr zahlreiches und glänzendes mili¬
tärisches Gefolge, aber ein organisirtes, militärisches Hauptquartier, mit dem
sich arbeiten ließe, ist das eben nicht. Die Herren seiner Umgebung haben
alle nichts zu thun, weil gar nichts vorliegt, was hier gethan werden könnte.
Der König sagt sich nicht, daß eben La Marmoras Hauptquartier das seinige,
und La Marmora selbst nur ein Element darin sein müßte, wenn sein könig¬
licher Oberbefehl eine Realität sein solle. Er sagt sich nicht, daß alle höhern
Offiziere des Hauptquartiers, der Generalquartiermeister, der Generalintendant,
der Chef des Nachrichtenbüreaus unmittelbar mit ihm selbst arbeiten müssen.
Das geschieht aber nicht, und La Marmora ist das einzige Verbindungsglied
zwischen dem König und der Armee. Der König erhält weder von seiner
eignen Armee noch vom Feinde andre Nachrichten als die, die ihm La Marmora
zukommen laßt."
Wer ans diesem — um es milde auszudrücken — Mangel an militci-
tnrischer Einsicht folgern wollte, Victor Emanuel habe sich der überlegnen
soldatischen Tüchtigkeit La Marmoras gefügt, würde doch wohl fehl gehen:
hatte der König nicht Cialdini zur Hand, den er gleich von vornherein oder
wenigstens unmittelbar nach Custozza mit dem Oberbefehl betrauen konnte?
Wenn jemand recht zornig ist, sagt er manchmal auch Dinge, die er bei kaltem
Blute verschweigen würde. Nun hatte Bernhard! am 17. Juli eine Unter¬
redung mit La Marmora, über die er folgendes berichtet: „Ich fand ihn in
einem seltsamen Zustande von Aufregung, der sich schon in seinem Äußern
verriet. Sein Anzug war in Unordnung, ebenso Haar und Perrücke; das
Gesicht gerötet, der Blick wanderte unstät überall umher, ohne irgend etwas
zu sehen: der Maun war in der That kaum für zurechnnngsfühig zu halten.
Natürlich genug: was hatte er in wenigen Tagen alles erleben müssen! Zuerst
und vor allem ist er im Ministerrat nicht durchgedrungen mit seiner Politik,
deren Alpha und Omega ist, daß Italien einfach und unbedingt Napoleons
Willen thun müsse. Infolge dessen hat er die Leitung des Ministeriums ver¬
loren und dann den Oberbefehl über die Armee, der thatsächlich in die Hände
seines Nebenbuhlers Cialdiui gelegt worden ist. Am schlimmsten aber ist es
wohl, daß er nun, eben weil es ihm nicht gelungen ist, Napoleons Willen
durchzusetzen, befürchten muß, dessen Gunst und Schutz zu verlieren, und damit
wäre seine politische Bedeutung für alle Zukunft unwiederbringlich vernichtet.
So war er denn in der Stimmung, nichts zu hören und nichts zu sehen;
was ich ihm von der Haltung unsrer Negierung und von der Lage der Dinge
in Böhmen mitzuteilen hatte, beachtete er gar nicht; er perorirte mit über¬
lauter zankender Stimme lediglich von Dingen, die ihn persönlich betrafen,
und beachtete auch das nicht, was ich beschwichtigend dazwischen zu reden ver¬
suchte. So klagte er leidenschaftlich über die ungerechten soripyons, deren
Gegenstand er sei — vergeblich sagte ich ihm, daß ihn niemand im Verdachte
unredlicher Absichten habe —; rühmte seine lo^aues — vergebens ließ ich sie
anerkennend gelten —; er habe Beweise von loznuts gegeben: Venetien sei
ihnen, den Italienern, vor dem Ausbrüche des Krieges angeboten worden,
sie hätten es ganz umsonst haben können, ganz ohne Krieg, er, er, La Mar¬
mora, habe bewirkt, daß es nicht unter solchen Bedingungen angenommen
werde. Wenn er et<z inauvaiss toi hätten sein und handeln wollen, wären die
Dinge wohl anders gegangen, und nun sage man. alles sei im voraus mit
Frankreich verabredet gewesen! ^s n'iioesxts ass Isosus as lo^Audh as xsr-
soniuz, xss ruZins als Ur. als LisuraroK!"
Ähnliche Andeutungen hatte schon am 5. Juni Baron Blane, damals
Generalsekretär, später, im Ministerium Crispi, Minister der auswärtigen An¬
gelegenheiten, zu Bernhardt gemacht: sui, nous ».von« so tous glliss pour
vous; it g. su un luomsut, 1rs8-oriticiue, er deutet an, daß man Italien ver¬
führerische Anerbietungen gemacht habe, se si Wut «.nero aus 1s gvnsrg.1 I^g.
Narmor» s.v»it ses g, 1a töte äos »Kaires, ,is us sais of yue ssrg.it arrivs.
La Marmora wie Biene bezieht sich offenbar auf das Anerbieten Öster¬
reichs, erst Venetien nach Eroberung Schlesiens, dann Venetien sogleich und
nur gegen das Versprechen der Neutralität in dem preußisch-österreichischen
Kriege an Italien abzutreten. Sybel meint, La Marmora habe der allgemeinen
Volksstimmung in Italien wegen den schimpflichen Vorschlag, das vor kaum
einem Monat mit Preußen abgeschlossene Bündnis zu brechen, unbedingt ab¬
lehnen müssen, aber man wird, wenn man die äußerst mißliche Finanzlage des
Landes erwägt, billigerweise diese Notwendigkeit bezweifeln können und nach
einem andern Grunde suchen, der La Marmora zu seiner vielgerühmten, an¬
geblichen Loyalität veranlaßt hat, einem Grunde, den er mit dem Könige teilte,
den er aber weder Napoleon noch Bernhardt mitteilen konnte. Dieser Grund
dürfte das Streben gewesen sein, durch einen Krieg mit Österreich vor allem
das italienische Tirol zu erwerben. Unter dieser Voraussetzung erklärt sich seine
ganze Handlungsweise. Daß die Flotte gegen Trieft operirte und Garibaldi in
Dalmatien landete, erschien ihm wie dein Könige überflüssig, da es beiden nur
darauf ankam, im Trentino Fuß zu fassen. Den von preußischer Seite in
Vorschlag gebrachten Plan, das Festungsviercck zu umgehen und ins Herz der
Monarchie vorzudringen, um Preußen an der Donan die Hand zu reichen,
verwarf er, da er die italienische Armee von Südtirol entfernt hätte. Er
wollte offenbar, nachdem Garibaldi vorausgeschickt war, ans dem Festuugs-
viereck mit der ganzen Armee nach Norden ziehen und sich in Tirol festsetzen,
um es beim Friedensschlüsse zu behalten. Offenbar war er auch nicht be¬
schränkt genug, die Vortrefflichkeit des von Moltke und Bernhardt für Italien
entworfnen Feldzugsplans zu verkennen: seine Beschränktheit verhinderte ihn
nur einzusehen, daß lediglich ein durch die Vereinigung der italienischen mit
der preußischen Armee an der Donau bis zur Vernichtung besiegtes Österreich
jemals auf Südtirol verzichten konnte. Den Plan, Südtirol zu erwerben und
darnach den ganzen Feldzugsplan zu entwerfen, mußten La Marmora und der
König vor Preußen ebenso geheim halten wie vor Napoleon, vor Napoleon,
weil diese Gebietserwerbung weit über sein sür Italien entworfnes Programm
hinausging, vor Preußen, weil ein so geführter Feldzug das Bündnis mit
Italien strategisch wertlos machte.
Das Ergebnis ist bekannt; das italienische Ministerium verlangte in seiner
Sitzung in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli als Friedensbedingungen neben
der Abtretung Venetiens und dem Fernhalten andrer (also der römischen)
Fragen wirklich das italienische Tirol (S. 140). und später berichtet Bernhardt
(S. 215), daß ihm Visconti Benosta eine Depesche des italienischen Gesandten
Grafen Barral aus Nikolsburg vom 23. Juli gezeigt habe, wonach Vis-
'narck den Grafen ziemlich schnöde angelassen zu haben schien und verlangte,
Italien solle auch den von Preußen abgeschlossenen Waffenstillstand unter¬
schreiben. Bismarck verlangte das, da Italien alles erhalte, was es irgend
verlangen könne. Von Welschtirol — das also Barren gefordert haben muß —
sei in dem Allianztraktat gar nicht die Rede, es sei den Italienern nicht
zugesagt worden. Wenn Italien über die Bedingungen des Bündnisses hinaus¬
gehen wolle, werde Preußen genötigt sein, seinen Waffenstillstand allein, ohne
Zuziehung Italiens, abzuschließen.
Höchst ergötzlich sind Bernhardts sonstige Mitteilungen über den Muster¬
feldherrn La Marmora. Am 11. Juli notirt er in seinem Tagebuche in
Torre ti Malimberti: „Um vier Uhr bricht das Hauptquartier auf uach Cvlorno.
seiner nächsten Etappe. Welch ein Geschleppe! Welche Menge von berittenen
Offizieren und Ordonnanzen! Wieviel Equipagen und Packwagen! Der Zug,
dem ich aus dem Feuster zusehe, will gar kein Ende nehmen. Ein Bataillon,
das den Zug schließen soll, muß auf einer Wiese jenseits des Wassergrabens
sehr lauge warten. Zu meiner Überraschung schreitet La Marmorn durch
meinen Saal. Er sagt mir, er bleibe für seine Person noch bis morgen früh,
um den Truppen, die am Oglio stehen, die letzten Befehle zu geben. Übrigens
werden die Dinge hier in mancher Beziehung eigentümlich genug betrieben:
La Marmora bleibt hier ohne sein Hauptquartier, ohne sein Handwerkzeug.
Das Hauptquartier ist eingepackt — so muß ich es nennen —, es soll erst in
Ferrara wieder ausgepackt werden: La Marmora hat sich auf drei Tage in
die Lage versetzt, keine schriftliche Disposition ausfertigen zu können; das Ge¬
schäft ist auf drei Tage geschlossen, wie man in der kaufmännischen Welt zu
sagen pflegt!"
Ebenso oder noch schlimmer ist folgendes. Am 24. Juli hatte Baron
Blane Bernhard! mitgeteilt, La Marmora habe mit Österreich eine achttägige
Waffenruhe unter der Bedingung abgeschlossen, daß die Spitzen der Kolonnen
der österreichischen wie der italienischen Armee da Halt machten, wo sie eben
im Augenblick stauben, während weiter rückwärts beiden Parteien jede Be¬
wegung gestattet war. Dazu bemerkt Bernhardi: „Hat nicht am Ende La
Marmora beim Abschlüsse der Waffenruhe den Schweif der österreichischen
Kolonnen am Tagliamento oder am Jsouzo für ihre Spitze angesehen? Er
ist imstande, es zu thun, er ist sogar mit seiner beschränkten Weise, die Dinge
aufzufassen, ganz der Manu dazu! Dann sind natürlich am Tagliamento oder
am Jsonzo Punkte festgesetzt worden, über die hinaus die österreichischen Ko¬
lonnen nicht vor, das heißt in Wahrheit nicht gegen Italien zurückgehen
dürfen, während von Rechts und Vernunfts wegen den wirklichen Spitzen der
österreichischen Kolonnen in der Richtung nach der Douciu hin hätte Halt ge¬
boten werden müssen; während in der Richtung nach der Donau hin hätten
Punkte bestimmt werden müssen, über die die Truppen der bisher in Italien
verwendeten Armee nicht Hinausgehen dürfen. Ist das nicht geschehen, haben
die österreichischen Arrieregarden dem erleuchteten La Marmora wirklich für
Kvlonuenspitzen gegolten, dann ist durch den Nachsatz, daß weiter »rückwärts«
beiden Parteien alle beliebigen Bewegungen gestattet seien, den Österreichern
volle Freiheit gelassen, die bisher in Italien verwendete Armee an der Donau
gegen uns, gegen Preußen zu verwenden. Italien hat uns dann den einzigen
Dienst — den nämlich, eine italienische ^lies österreichisches Armee in Italien
festzuhalten — nur sehr unvollkommen geleistet."
Bon unübertrefflicher Komik ist die schon erwähnte Szene zwischen La
Mcirmvra und Bernhardt: La Marmora versichert zuletzt schreiend fortwährend
seine Loyalität, wird immer leidenschaftlicher und schreit endlich wie ein Be¬
sessener: l-i eoucluits als Ur. ä'IIssäoin g, ses iguodls! Bernhardt hatte sich
schon vorher gezwungen gesehen, ebenfalls sehr laut zu sprechen, damit man
nicht im Vorzimmer glauben sollte, daß er einseitig ausgezankt werde und sich
auszanken lasse, und erklärte dem General auf diese Bemerkung über Usedom
mit dem größten Nachdrucke und überlauter Stimme: Non sssnsrul, vous us
cksvex Munus ouvlisr, eins ^j'al 1'uouusur as rsxrs3sutsr loi til ?rü8«s, se, ^u'it
^ g, this tsriuss, aus As xuis tu As avis ni As vsux sntmutrs, et) MS ^'s NL
Muürirtü osriainsmönt xg.s, worauf der „Held" etwas zu erschrecken schien.
Einen im ganzen günstigen Eindruck macht König Victor Emanuel auf
Bernhardi, wenn Bernhardi auch z. B. gegen des Königs Zurschautragen des
grimmen Kriegsmanns und seine Zugänglichkeit gegen weiblichen Einfluß keines¬
wegs blind ist. Der Leser, dem das biderbe persönliche Benehmen des Königs
das Urteil nicht beeinflussen kann, wird zu etwas ungünstigem Ansichten
kommen. Aber auch Bernhardi macht zu den Mitteilungen des Königs vom
13. Juli doch seine kritischen Glossen. Victor Emanuel behauptet entschlossen
zu sein, der österreichischen Armee in die deutschen Provinzen Österreichs zu
folgen, ja er wäre mit seiner ganzen Armee zu Schiffe nach Trieft gegangen,
wenn ihm der Eintritt ins Venetianische ernstlich untersagt worden wäre:
Bernhardi bemerkt dazu nur: welch ein abenteuerlicher Gedanke! Dann fährt
der König fort, er sende eine Seeexpeditiou mit zweitausend Mann Landungs¬
truppen dorthin; hierbei giebt Bernhardt seinem Zweifel Ausdruck, ob die ita¬
lienische Flotte überhaupt imstande sei, zweitausend Mann Landungstruppen
aufzunehmen. Seine Fcmfaronaden bestätigt der König dann noch im Laufe
der Unterredung durch die Behauptung, die Flotte habe Befehl gehabt, die
österreichische anzugreifen und dann in der Bucht von Pola zu blockiren. was
sie nur teilweise ausgeführt habe; hierzu bemerkt Bernhardi trocken: Gar nicht.
Das ärgste ist Wohl die Behauptung des Königs, zu dem Admiral Perscmv
habe er nie Vertrauen gehabt, habe ihn über als konstitutioneller König nicht
entfernen können.
Das merkwürdigste an dem vorliegenden Bande von Bernhardts Tage¬
büchern ist aber wohl das völlige Fiasko der zünftigen Diplomatie, nicht etwa
wie es der Verfasser feststellt oder seinen Lesern nahezulegen sucht, sondern wie
^ sich aus den einfachen, schmucklos mitgeteilten Thatsachen ergiebt.
Was den Grafen Usedom anlangt, so ist seine ganze Handlungsweise
während der Zeit, wo Vernhardi, der ihm in alter Freundschaft verbunden
war und ihn möglichst schont, in der Zeit des preußisch-österreichischen Kriegs
mit ihm amtlich zu thun hatte, eine Kette von Taktlosigkeiten. Das schlimmste,
was er sich zu Schulden kommen ließ, hallen wir schon erwähnt. Sobald
dann die italienische Negierung das italienische Tirol verlangte, machte er in
ungeschicktester Weise diese Forderung zu seiner eignen in einem an Bismarck
am 10. Juli gerichteten Telegramm; ja er behauptet in einem andern Tele¬
gramm vom 23. Juli an Bismarck, wenn Italien gegen Frankreichs Druck
Stand halten solle, müsse er unter anderm ermächtigt sein, zu erklären, Preußen
werde die Forderung Südtirols unterstützen. Welchen Eindruck diese unsinnige
Stellungnahme auf Bismarck machen mußte, der für Preußen keinen Fußbreit
österreichischen Landes verlangte, ist bei Bernhardi nicht gesagt, aber leicht zu
erraten.
Geradezu entsetzlich ist ein Schreiben an den König vom 13. Juli, das
Bernhard! um 17. Juli erhielt und dem Könige übergeben mußte (S. 172
bis 174); es enthält die bittersten Vorwürfe über die Unthätigkeit der italie¬
nischen Armee nach der Schlacht bei Custozza. Bernhardi sagt darüber, milde
genug, nur folgendes: „Usedom hat nicht immer den glücklichsten Takt! . . .
Der Brief paßt gar nicht mehr zur thatsächlichen Lage der Dinge, jetzt, wo
La Mcirmoras hemmender Einfluß gebrochen, und die italienische Armee in
voller Bewegung ist, bemüht, den Feind in Gewaltmärschen einzuholen, da ist
dieser Brief zu nichts gut, vollkommen unnütz. Er kann nur verletzen, böses
Blut machen und möglicherweise viel verderben. ... Es zeigt sich wieder,
wie wenig Usedom in militärischen Dingen Bescheid weiß. Er glaubt, der
Erzherzog Albrecht führe seinen Rückzug auf dem Umwege durch Tirol aus,
während von italienischer Seite gar nichts geschehen ist, ihn, als es dazu Zeit
gewesen wäre, in diese Richtung zu drängen; während man ihm alle Zeit und
Freiheit gelassen hat, auf dem bequemen Wege durch die venetianische Ebene
zurückzugehen und wenigstens von Treviso aus die Eisenbahn zu benutzen."
Daß ein solcher Mann über Bismarcks Politik aufs leichtfertigste aburteilt,
kaun man sich denken. Bismarck hatte ihm am 20. Juli aus Nikolsburg
folgendes telegraphirt: „Kaiser Napoleon hat hier und in Wien vorgeschlagen,
erstens: Österreich erkennt Auflösung des alten Bundes und Rekonstruktion
eines neuen ohne Österreich an; zweitens: Norddeutscher Bund, dessen Militär
unter Preußen steht; drittens: Süddeutscher Bund mit völkerrechtlicher Selb¬
ständigkeit; viertens: Natioualverbindung zwischen Nord- und Süddeutschland
demnächst frei zu reguliren; fünftens: Elbherzogtümer an Preußen; nördlichstes
Schleswig, wenn es wünscht, an Dänemark; Sechstens: Österreich und Ver¬
bündete zahlen an Preußen einen Teil der Kriegskosten; Siebentens: Integrität
der österreichischen Monarchie. Der Kaiser erklärt, Venetien, im Falle der
Annahme, sofort an Italien zu eediren. Graf Benedetti bringt von Wien
Amiahme Österreichs. Seine Majestät hat diese Annahme für genügend er¬
achtet als Grundlage für Waffenstillstand, wenn Italien einwilligt und dies
nach Paris telegraphirt; er ist bereit die Unterhandlungen anzunehmen ^ge¬
meint: aufzunehmen^, sobald Zuziehung von italienischen Bevollmächtigten er¬
folgt. Graf Barral hat nach Florenz um Instruktion und Vollmacht tele¬
graphirt. Für den Frieden haben wir die Vorschläge für nicht genügend
erklärt; der König verlangt bedeutende direkte Annexionen in Norddeutschland,
die in den Präpositionen nicht erwähnt, aber auch nicht ausgeschlossen. Wir
können Annahme als Grundlage nicht direkt ablehnen, ohne bei unsrer vor¬
gerückten Stellung den Verdacht über Ausdehnung unsrer letzten Ziele zu ver¬
stärken und Napoleon dadurch nach Österreich hinüberzudrcingen. Wenn Italien
den Moment für Waffenstillstand nicht gekommen glaubt und mein sagt, so
hüllen wir fest an Vertrag, ohne seine Zustimmung auch nicht Waffenstillstand zu
schließen. Frieden ohne das stipulirte Äquivalent für Venetien lehnen wir
überhaupt ab. Ist denn die Flotte inaktiv? Darin liegt der Maßstab für
unser Vertrauen auf Italiens Entschlossenheit."
Diese Fricdensausstchteu schienen Usedom so ungünstig, daß er einen Zettel
an Bernhardi beilegte mit den Worten: dormimig, trixiU'eiw! anstatt Osrumnig,
ung,! HuicI Mi, viäotur? Welches Parlament, welches Volk wird dem zustimmen?
Noch unglücklicher sind Usedoms Anschauungen über Preußens Verhältnis
zu Frankreich. Als die Befürchtung auftauchte, Napoleon werde für Preußens
Vergrößerung „Kompensationen" am Rhein verlangen, notirt Bernhardi
(8. August) in seinem Tagebuche: „mit Usedom ist eigentlich über diese Dinge
nicht gut sprechen, denn er ist noch immer, wie früher, der Überzeugung, daß
Man dem Kaiser Napoleon, um ihn zu beschwichtigen, eine Kleinigkeit am Rhein
abtreten könne — wo als selbstverständlich angenommen wird, daß sich die
Franzosen mit einer Kleinigkeit begnügen würden. Eine solche Abtretung, um
sich dann des Friedens zu versichern, könne nicht schaden, wiederholt Usedom,
so oft diese Frage berührt wird. Daß eine solche Transaktion der moralische
Ruin Preußens wäre, dafür hat er kein Verständnis. Wie unbedingt Preußens
Macht und Zukunft darauf beruht, daß es sich stets als der zuverlässigste
Schirmvogt Deutschlands wie der protestantischen Kirche bewährte, das sieht
er nicht."
Daß Bismarck über seinen so gearteten Diplomaten hart urteilen
">ußte. ist leicht einzusehen. So sagt er am 14. Januar 1867, Usedoms
Berichte seien unzuverlässig und zu nichts zu brauchen. Usedom sei ein sehr
liebenswürdiger Mann, ein liebenswürdiger Feuilletonist, der sehr angenehme
Konversation mache, aber kein Staatsmann; er erzähle in seinen Berichten
die Dinge selbst, sondern spreche immer nur seine Ansicht von den
ringen aus, ohne zu sagen, worauf sie denn begründet sei, sodaß mau
sich nach seinen Depeschen gar kein eignes Urteil bilden könne. Und dazu
schwankten seine Darstellungen von einem Extrem zum andern hin und her:
einmal sei alles ooulsur als rc>86, und acht Tage darauf schreibe er dann
wieder, in Italien sei alles verloren, wenn man dem Könige nicht den
schwarzen Adlerorden sende. Ähnlich spricht sich Bismarck am 10. Mai 1867
aus. Da hieß es, Usedom schreibe uicht Berichte sondern Leitartikel, weit¬
läufige Betrachtungen über das, was erfolgen könne, wenn dies und das ge¬
schehe, oder über das, was sich ergeben würde, wenn das eine und andre
anders gemacht worden wäre; er habe nicht Zeit, dergleichen zu lesen, und
damit sei nichts anzufangen; wenn er aber Usedom und Brassier Samt Simon
(in Konstantinopel) wollte die Stellen wechseln lassen, so wäre auch nichts
gewonnen. Das Ende war, daß Bernhardt am 11. Mai 1867 nach Florenz
als Militärbevollmüchtigter ging, um militärische und politische Berichte nach
Berlin zu erstatten; denn „wir brauchen, wie Bismarck ein andres mal zu
ihm sagte, präzise und zuverlässige Berichte aus Italien: wir müssen da jemand
haben, an den wir schreiben können. Usedom ist nicht zu beseitigen; ihn ohne
weitere Umstände zur Disposition zu stellen, dazu kann sich der König nicht
entschließen, dazu ist er zu rücksichtsvoll; dazu vermag ich ihn nicht zu
bringen."
Über den Grafen Robert Goltz, preußischen Gesandten in Paris,
berichtet Bernhardt am 5. Juni 1866: „Graf Goltz schildert die Gefahren,
die von Frankreich her drohen könnten, in den schwärzesten Farben und er¬
mahnt in dieser angeblich prekären Lage Preußens nicht nur zur Konferenz,
sondern zum Frieden. Er ermahnt den König, an den sein Bericht gerichtet
ist, auf der Konferenz, auf die man unbedingt eingehen müsse, nicht etwa die
Interessen Preußens, deren der Bericht gar nicht erwähnt, sondern den Frieden
anzustreben." Bernhardt bemerkt zu dieser Weisheit nur trocken: „Es ist ein
unerträgliches Gewäsch, das mich aufs tiefste empört!"
Über Menabrea und Barral, die italienischen Gesandten in Paris und in
Berlin, äußert Bismarck zu Bernhardi am 21. August 1866, er habe Menabrea
durch Goltz nach Prag entbieten lassen, Menabrea habe aber von Paris aus
ausweichend geantwortet, er könne nicht kommen. Mit Barral sei nicht vor¬
wärts zu kommen: er sei beschränkt und empfindlich: „Er versteht sehr oft
nicht, was man ihm sagt, und ist zuweilen beleidigt, man weiß nicht wodurch.
Er steht dann mitten im Gespräch auf, verbeugt sich schweigend und geht."
Als Bernhardi am 22. Februar 1867 im auswärtigen Amte die Schwierig¬
keiten schilderte, mit denen damals Österreich zu kämpfen hatte, erwiderte ihm
Philippsborn, er möge wohl Recht haben, aber die Berichte Werthers, des
preußischen Gesandten in Wien, lauteten ganz anders. Werther sehe alles
im günstigsten Lichte, wiederhole beständig, Osterreich habe unerschöpfliche
Ressourcen und eine solche Macht der Kohäsion, daß es dennoch zusammen-
halten und siegreich aus allen Schwierigkeiten hervorgehen werde. Dem allem
sei jedoch nicht zu glauben, wenn Bernhardi auf sechs Monate nach Wien
gehen wolle, würde man wohl bald klar sehen in den Zuständen Österreichs.
Am 8. November notirt Bernhardi Beusts Berufung nach Österreich und
nennt ihn einen nichtigen Salonschwätzer.
Der herrlichste aller der Diplomaten, die hier vor dem Auge des Lesers
vorbeiziehen, ist aber doch unstreitig Lord Augustus Loftus. Dieser erleuchtete
Stratege vergönnt Bernhardi am 28. August 1866 folgende Belehrung:
„Eure Leute haben in Böhmen schön gefochten, aber die höhere Führung war
durchaus verwerflich; sie wird von allen englischen Offizieren einstimmig ge¬
tadelt, und die Teilung der beiden Armeen ganz besonders. Der Erfolg ent¬
schuldigt freilich alles, aber Napoleon I. gegenüber wäret ihr doch schlecht
gefahren, und der Herzog von Wellington hätte euch geschlagen!" — „Hilf
Himmel, notirt Bernhardi dazu, das ist ein armer Wicht!"
Aber seine strategischen Kenntnisse werden noch weit überboten von seiner
tiefen Einsicht in die Politik seines Vaterlandes. In der Luxemburger An¬
gelegenheit ist er preußenfeindlich gesinnt und verlangt laut und geräuschvoll,
Preußen müsse aus Luxemburg heraus. Als der Fürst von Hohenzollern
dagegen einwandte, dann würde Frankreich vielleicht später gar die Räumung
von Mainz verlangen, erwidert er großartig: dann wird euch England ver¬
teidigen !
Schließlich teilen wir noch einiges wenige von dem mit, was über be¬
merkenswerte Personen und Dinge erzählt oder geurteilt wird.
Friedrich von Raumer versteht nach Bernhardi nicht einmal englisch und
französisch genug, um die in diesen Sprachen abgefaßten Aktenstücke verstehen
Zu können.
Rüstow war in der Garibaldischen Armee als bekannter Poltron ver¬
achtet; auch beging er vor dem Feinde arge Thorheiten, hauptsächlich weil er
sich mit der Branntweinflasche Mut zu machen suchte und dann in einen
Zustand von Unzurechnungsfähigkeit verfiel.
Kossuths Sohn kann seinen Vater ebenso wenig verlassen, um sich am
Aufstande in Ungarn zu beteiligen, wie sein jüngerer Bruder, weil sein Vater
^chzig Jahre alt sei und der Stütze bedürfe, was ihm von Bernhardi die
Antwort zuzieht: „Ich bin auch sechzig Jahre alt und darüber; ich habe aber
'»einen Sohn nicht als Stütze bei mir gehalten; ich habe ihn zur Armee
gesendet und ins Feld, obgleich er erst siebzehn Jahre alt ist."
Plonplvn ist entzückt darüber, daß ihn der Kaiser von Österreich höflich
behandelt und Nonsvignsur angeredet, also für einen wirtlichen Prinzen ge¬
halten hat.
Visconti Venosta findet alle diplomatischen Verhandlungen mit Frankreich
äußerst schwierig, weil die Franzosen nie die Wahrheit sagen.
Gegen das allgemeine Stimmrecht mit gleichzeitiger Gewährung von
Diäten wird geltend gemacht, es könne dann vorkommen, was 1848 wirklich
geschehen sei, daß sich Abgeordnete aus ländlichen Bezirken in den Zwischen¬
stunden, sür die Zeit, wo sie durch ihre parlamentarische Thätigkeit nicht in
Anspruch genommen waren, als Hausburschen vermieteten.
Ein italienischer General fragt Bernhardt, ob die preußische Sprache
einige Ähnlichkeit mit dem Deutschen habe. Bernhard! erwidert ernsthaft:
II n'z^ g, ein'uns äiWr<zu«s clcz ÄiglöLtö.
aß der Postpakettarif reformbedürftig sei — nach unsrer Ansicht
sogar reformbedürftiger als alle andern Posttarife —, darin ist
man in weiten Kreisen ziemlich einig, wenn auch die Ansichten
über die Richtung einer künftigen Reform einander zum Teil
völlig entgegengesetzt sind. Bei dem großen Interesse, das diese
Frage für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unleugbar hat, dürfte
eine Prüfung und Beleuchtung der Mängel und Vorzüge des deutschen Paket¬
portos wohl zeitgemäß sein, zumal jetzt, wo die Leitung des Neichspostamts
in neue Hände übergegangen ist, denen man nachrühmt, daß sie zur Organi¬
sation und zu praktischen Reformen besonders geeignet seien.
Das jetzige Paketporto wurde durch die Posttaxnovelle vom 17. Mai 1873
geschaffen und trat mit dem 1. Januar 1874 in Kraft. Der § 1 des Gesetzes
lautet:
Dieser mustergiltig unklare Wortlaut des Gesetzes wird in Bezug auf die
Preise im einzelnen in den Portotabellen der Post folgendermaßen ausgelegt:
Wir nannten den Wortlaut des Gesetzes oben unklar, weil un Absatz II
der Passus unter d ganz allein schon genügt hätte, um die eben mitgeteilte
Tariftabelle herzustellen, die ja gemeint ist. Den Passus Ha. so wie er ist.
kann ein unbefangner Leser des Paragraphen eigentlich nur dahin uiterpretiren.
daß darin ..die ersten 5 Kilogramme" „beim Gewichte über 5 Kilogramm
also das 6. bis 10. Kilogramm, gemeint seien, und diese bloß das doppelte
Porto von In und d in den 2 Zonen dieser ersten Gewichtsstnfe bezahlen
Müssen, während der 6-Zonentarif erst beim 11. Kilogramm anfinge. Doch
das nur beiläufig! Wer nur von Zeit zu Zeit einmal ein Paket abschickt.
wird sich gewiß nicht mit den Mysterien des Pakettarifs so bekannt gemacht
haben, wie etwa ein Buchhändler, Kaufmann oder Industrieller, der alle Tage
eine größere Anzahl von Paketen auf die Post giebt. Mit dem 5-Kilotarif
von 25 und 50 Pfennigen ist man im allgemeinen wohl überall vollkommen
zufrieden und wünscht kaum eine wesentliche Änderung daran. Er ist wirklich
sehr billig. Wir vermeiden aber das Wort: „beispiellos" billig, denn das wäre
nicht ganz richtig, sofern der Portobetrag allein in Betracht kommt. Doch
dürfte dieses Prädikat, dann allerdings zutreffen, wenn man die großen Ent¬
fernungen in Betracht zieht, für die jener Einheitstarif von 50 Pfennigen gilt.
Die beiden fernsten Punkte Deutschlands haben in direkter Linie, die ja für
abgestufte Portoberechnungen sonst maßgebend ist. einen Abstand von etwa
1365 Kilometern, und wenn man Österreich-Ungarn noch hinzunimmt, so
kommen etwa 1580 Kilometer als Längenmaximum heraus, sofern der Maßstab
einer uns vorliegenden amtlichen Karte genau genug ist. Die längste uns
bekannte Eisenbahnstrecke durch Deutschland aber mißt etwa 1730 Kilometer,
und die längste diametrale Bahnroute durch Österreich-Ungarn und Deutschland
zusammen beläuft sich auf etwa 2340 Kilometer. In diesem großen Gebiete
des deutsch-österreichischen PostVereins gilt nun eine einheitliche Taxe von
50 Pfennigen für 5 Kilo oder 10 Pfund. Es stellt sich also das Porto in
Deutschland für je einen Kilometer Eisenbahn im theoretischen Minimum auf
je 0,028 Pfennige für 5 Kilogramm. Da aber — nach der Statistik von
1895 — 98,3 Prozent aller Pakete in die 1. bis 4. Zone (100 Meilen
742 Kilometer) fallen, so würden 0,067 Pfennige ein zutreffenderes Minimum
darstellen.
Im deutsch-österreichischen PostVerein beträgt dieses theoretische Minimum
gar bloß 0,022 Pfennige pro Kilometer. 5 Kilogramm — relativ berechnet —
kosten aber sür jeden Kilometer nach dem preußischen Gepäck- und Expreßtarif
0,25 Pfennige, als deutsches Frachtstück dagegen 0,055 Pfennige und als Eilgnt
0,11 Pfennige. Man kann also mit dem 5-Kilotarif wirklich ganz zu¬
frieden sein.
Bei Paketen über 5 Kilogramm Gewicht (bis zu dem Maximum vou
50 Kilogramm) ist, wie Kenner des Tarifs wissen, in der ersten und zweiten
Zone das Porto nur genau entsprechend dem 25- und 50-Pfennigportv erhöht,
ohne jeden relativen Aufschlag. Also bei Sendungen höchstens bis zu 148,4 Kilo¬
metern Entfernung hat es gar keinen Zweck, statt eines großen Pakets mehrere
5-Kilostücke aufzugeben. Sie wären in diesem Falle gar nicht billiger, sondern
wohl noch teurer, da sie, vom Bestellgeld ganz abgesehen, immer sür 5 Kilo¬
gramm voll bezahlt werden müßten, während bei größern Paketen nur die
augefangnen einzelnen Kilogramme berechnet werden. 25 Kilo in der ersten
Zone kosten also 5x25 Pfennige ^ 1 Mark 25 Pfennige und in der zweiten
Zone 5x50 Pfennige-^2 Mark 50 Pfennige.
Nach dem preußischen Neisegepäcktarif relativ berechnet (ohne die Ab-
rundung auf volle 10 Kilogramm), würden 25 Kilogramm auf 149 Kilometer
1 Mark 86,25 Pfennige, als Frachtgut (ohne Minimum und Abfertigungs¬
gebühr) 40,97 Pfennige und als Eilgut 81,95 Pfennige kosten. Die drei
letztgenannten Tarifgattungen wachsen aber entsprechend mit jedem weitern
Kilometer. Der Postpakettarif dagegen, der aus sechs Entfernnngszonen besteht,
wird zum Teil relativ billiger. Die Entfernnngsgrenzcn (Endpunkte) dieser
Zonen verhalten sich zu einander wie 1:2:5:10:15:18,4 (bez. 21,3 im
deutsch-österreichischen PostVerein), und die Länge der einzelnen Zonen wie
1 : 1 : 3 : 5 : 5 : 3,4 (bez. 6,3). Die Geldsätze für diese sechs Zonen betragen
für jedes weitere Kilogramm (nach 5 Kilogramm) in der Reihenfolge der
Zonen: 5-10 — 20 — 30 — 40 — 50 Pfennige, das ist also ein Wertverhültnis
wie 1:2:4:6:8:10. Wie man sieht, schreitet die Progression also nicht
regelmüßig fort, immer um dieselbe Einheit wachsend, wie 1:2:3:4, sondern
springt bei der 2. Zone plötzlich von 2 gleich ans das 4fache der anfänglichen
Einheit. Dadurch wird die 3. Zone, die zwar größer ist, aber in der Praxis doch
keineswegs immer voll durchfahren, sondern oft nur gerade in ihren Anfangs¬
punkten betreten wird, häufig unverhältnismäßig verteuert. Gute Zonen- oder
Staffeltarife lassen denselben einheitlichen Satz auch für immer größer werdende
Entfernnngszonen bestehen, sodaß also 5 —10 — 15 — 20 — 30 — 40 Pfennige
hier eine mit den kaufmännischen Prinzipien des Rabatts beim Massenverkehr
mehr harmonirende Progression gewesen wären. Übrigens Hütte auch die
2. Zone bereits größer als die erste sein sollen. Wenn man die Erhöhung des
anfänglichen Zonensntzcs (von der 3. Zone ab das doppelte) in Betracht zieht, so
kann man das oben gekennzeichnete Längenverhältnis der Zonen im Hinblick ans
den bezahlten Preis eigentlich nur so vermerken wie 1:1:1'/^ : 2^ : 2^ : 1?/^.
Das ist aber eigentlich doch ein recht fehlerhafter Tarif! Ganz abgesehen
von den 272 verschiednen Portosätzen, fordert er infolge jenes Progressions¬
fehlers beim Übergang in die 3. Zone geradezu zur Umgehung — „Mi߬
brauch" wäre schon ein ungerechtes Wort — heraus. Wir geben ein Beispiel.
Berlin und Halle liegen in der Luftlinie mehr als 20 Meilen von einander
und fallen im Paketverkehr gegenseitig in die 3. Zone. Berlin und Leipzig
fallen für einander noch in die zweite Zone. Leipzig und Halle (33 Kilo-
Meter Eiseubahnentfernuug) liegen für einander noch in der ersten Zone. Wenn
nun jemand vo» Berlin nach Halle (3. Zone) ein Paket von 25 Kilogramm
versenden will, so kostet das nach dem Tarif 4 Mark 50 Pfennige. Er kann
es aber auch billiger machen. Er schickt dieses Paket zuerst nach Leipzig
l2. Zone), postlagernd. Portogebühr 2 Mark 50 Pfennige. In Leipzig wird
ihm das Paket, vielleicht von einem guten Geschäftsfreunde, auf der Post nach
Halle umadressirt und weiterbefördert gegen die Gebühr für die 1. Zone,
"änlich 1 Mark 25 Pfennige. Das macht zusammen also 3 Mark 75 Pfennige
statt 4 Mark 50 Pfennige. Portoersparnis 75 Pfennige. Und wer von Halle
Sendungen nach Berlin aufgiebt, kann sie zuerst ebenfalls nach Leipzig schicken,
mit dem gleichen Erfolge. Bei 50 Kilogrammen beträgt die Portoersparnis
bereits 2 Mark. Bei 15 Kilogramm allerdings nur 25 Pfennige. Natürlich
ist es ein Kuriosum, wenn die Post alle die Umständlichkeiten der Buchung,
Numcrirung, Sortirung usw. nun doppelt macht, während das Publikum
dabei noch Geld spart. Ein nur gelegentlicher Paketsender wird dieses Manöver
schwerlich begehen. Wenn aber Buchhändler und Kaufleute, die aus irgend
welchen Gründen mehr als 5 Kilogramm schwere Pakete aufgeben müssen,
vielleicht bei mehreren Sendungen täglich diese Prozedur vornehmen, so werden
sie ein artiges Sümmchen dadurch sparen. Sie brauchen bloß irgend einem
Geschäftsfreund eine Karte über das Eintreffen der Pakete zu schreiben und
um Umadressirung zu bitten (das kann gegenseitig verabredet werden). Noch
einfacher aber ist es, mit der Sendung gleich eine Postkarte an das Zwischen¬
postamt selbst (Leipzig also hier) zu richten mit der Bitte um Weitersendung
nach Berlin oder Halle. Der Empfänger zahlt dann bloß das neue Porto
ohne jeden Zuschlag nach. Wenn man die Paketpostkurse kennt, wird man
es leicht so einrichten können, daß erhebliche Verspätungen vermieden werden.
Übrigens braucht mau im Paketverkehr zwischen Berlin und Halle gar nicht
erst den Umweg über Leipzig zu machen, sondern kann Jüterbogk oder Bitter¬
feld als Zwischenstation benutzen.
Auch bei den übrigen 3 Zonen ist diese Art der Portoersparnis möglich.
Zum Beispiel: 15 Kilogramm von Berlin nach Kassel (4. Zone) mit der
Zwischenstation Eichenberg oder Göttingen (3. Zone): Pvrtoersparnis 25 Pfen¬
nige. Bei 50 Kilogramm 2 Mark. Es ist anzunehmen, daß manche findige
Köpfe dieses Umschalteverfahren längst kennen, und es ließe sich ein ganzes
Büchlein mit Zouentafclu herstellen, um zu zeigen, bei welchen Orten es be¬
sonders vorteilhaft und bequem anzuwenden ist. 'Da man das nachsenden nicht
wohl verbieten oder mit Geldstrafe belegen kann, so dürfte dieser wunde Punkt
des Pakcttarifs vielleicht mit Anlaß zu einer Reform geben.
Ans die Dauer unhaltbar ist aber auch an sich schon das arge Mißver¬
hältnis in der Preisbemessung der ersten 5 Kilogramm mit der der übrigen,
schwerern Gewichtsstufen, von der 3. Zone an. 5 Kilo kosten über 10 Meilen
beliebig weit, also auch in der 6. Zone (über 1113 Kilometer), 50 Pfennige;
10 Kilo, in 2 Paketen zu 5 Kilo aufgegeben, kosten 1 Mark, also genau ent¬
sprechend das doppelte. Aber als 1 Paket aufgegeben, kosten 10 Kilo im gleichen
Falle das Sechsfache eines 5-Kilvpakets oder das Dreifache des Portos zweier
5-Kilostücke. Das ist ein Aufschlag von 200 Prozent!
Zehn 5-Kilopakete kosten auf beliebige Entfernung 5 Mark. 50 Kilo in
einem Stück kosten dagegen in der 6. Zone 23 Mark, also das 4 "/z fache, d. i.
ein Aufschlag von 360 Prozent! Die Post setzt hier also die ungeheuer
hohe Prämie von 18 Mark aus, damit das Publikum nur ja veranlaßt werde,
ihr die Arbeit, die sie dabei hat, zu verzehnfachen. Denn nicht die Eisenbahn-
fahrt, sondern die übrige „Bearbeitung" des Pakets macht ihr die meiste
Mühe. Wenn das Publikum genötigt wird, um 18 Mark zu sparen, statt
eines Pakets von 50 Kilo immer 10 Pakete zu 5 Kilo aufzugeben, so muß
die Post, dem entsprechend, nicht einmal sondern zehnmal die Arbeit des Ab-
wägens, des Nnmerirens mittels aufzuklebender Nummerzettel auf Paket und
Adreßformular, des Beschreibens der Paketadresse (Gewicht der Sendung
und Postleitvermerk) und des Frankirens durch Marken, des Bunsens, des
SvrtireuS, des Expedirens und Umladens, sowie des Abreißens des Abschnitts
für schriftliche Mitteilungen bei der Bestellung machen, die durch mehrere ge¬
trennte Stücke oft erschwert wird und mindestens die zehnfache Notirung über
das einzuziehende Bestellgeld auf der Paketadresse veranlaßt.
Gerade diese vielen kleinen Verrichtungen machen an verkehrsreichen Orten
leicht eine erhebliche Vergrößerung des Personals und der Schalterstellen not¬
wendig, und zwar in weit höherm Grade, als die bloße Eisenbahubefvrderuug.
Wenn das Paket im Eisenbahnwagen führt, so ist ein gut Teil der Arbeit der
Post schon gethan, wenn auch das Umladen und Auftragen noch mitunter zu
schaffen macht. Aber 500 kleinere Pakete — oft eine sehr verschiedenartige, un¬
übersichtliche Masse — Hinzuzählen und umznladen, das dürfte doch mehr Zeit
und Arbeit kosten, als etwa 10 Pakete zu 50 Kilo oder 20 zu 25 Kilo zu
zählen und zu sichten, wenn diese auch augenblicklich einen größern Kraft¬
aufwand bei der Umladung verursachen. Außerdem ist ja bis zu 148 Kilo-
Metern, innerhalb deren dieses Umladen und Umzählen oft ebenso häufig wie
auf längern Hauptrouten vorkommen kann, der Portosatz mir der doppelte
des 5-Kilotarifs, und die Austragung und Bestellung muß hier ohnehin ohne
besondern Pvrtoaufschlag ausgeführt werdeu. Wenn das hier möglich ist, warum
denn nicht auch auf größere Entfernungen? Denn die Bahnfahrt ist das
wenigste, und durch diese werden bei vermehrter Versendung größerer Pakete
keine unverhältnismäßigen Mehrausgabeu verursacht werden, wenn mit Umsicht
reformirt wird.
Die in den Bahnpostwagen beförderten Pakete über 5 und bis zu 10 Kilo
verpflichten die Post nicht zu besondrer Vergütung an die Eisenbahn. Erst
für die Sendungen von mehr als 10 Kilogramm Gewicht wird, nach vorher¬
gehender statistischer Ermittlung ihres Gesamtgewichts, der Eisenbahn eine
Machtentschädigung bezahlt, da sie nach dem Eiseubahupvstgesctz die Eisenbahn-
pvstwagen nur dann frei befördert, wenn sie Poststücke höchstens von 10 Kilo¬
gramm Gewicht enthalten. Diese Frachtentschädigung beträgt aber 20 Pfennige
für das Achskilometer, wobei je 1000 Kilvgrammkilometer auf 1 Achskilvmcter
gerechnet werden. Das macht also 20 Mark auf 100 und 200 Mark auf
1000 Kilometer, bei einer mitgeführten Last von 1000 Kilogramm. Wenn
auch die Post dieses Gewicht in Form von zwanzig 50-Kilopaketen jetzt mit
370 Mark berechnen und noch mit Gewinn befördern würde, so wäre ihr diese
Beförderungsweise doch zu teuer, wenn die Pakete über 10 Kilo allgemein
erheblich verbilligt würden.
Aber die Neichspost benutzt ja (1895) neben ihren 1610 eignen Eisenbahn¬
postwagen noch 1011 gemietete, für ihre Zwecke besonders hergerichtete Eisenbahn-
wagenabteilungen. Diese kosten ihr bei Güter- oder Gepäckwagen nur 1 Pfennig
pro Kilometer, außerdem 1 Mark Miete pro Tag; bei Personenwagen jedoch
2 Pfennige pro Kilometer und 2 Mark Tagesmiete. Hier können 1000 Kilometer
— allerdings wohl bei geringerm Ladegewicht — für 11 Mark oder für
22 Mark geleistet werden. Während also die billigere Beförderung von Paketen
bis zu 10 Kilogramm der Post ohnehin keine Mehrausgaben an die Eisenbahn
auferlegen würde, könnte wohl auch der Tarif für noch schwerere Pakete
ohne Opfer ermäßigt werden, wenn man sie nur etwas langsamer, vielleicht
innerhalb bestimmter Maximalfristen, in solchen Güter- oder Gepäckwagen¬
abteilungen mit gemischten Zügen oder geeigneten Bummelzügen befördern
wollte und auch die Vestellpflicht bei schweren Packen auf Orte einschränkte,
wo sie ohne große Schwierigkeiten und Mehrausgaben ausführbar ist. Dies
ist ja in vielen andern Ländern der Fall. Wenn die Post sür 1000 Kilometer
eine gemietete Abteilung nur mit 11 oder 22 Mark bezahlt, so würden
20 darin beförderte Pakete von je 25 Kilogramm nur je 55 oder 110 Pfennige
zu zahlen brauchen, um wenigstens die Eisenbahnkvsten zu decken. Nach dem
jetzigen Pakettarif zahlt ein 25 Kilogramm schweres Postpaket aber 8 Mark
50 Pfennige auf 1000 Kilometer Entfernung. Da könnte also noch viel herab¬
gelassen werden, und es wird doch immer noch ein hübscher Reingewinn be¬
halten, auch wenn man die übrigen Bctriebsunkosten in Betracht zieht, die sich
doch auf viele Einzelstücke sehr verteilen, zumal bei gesteigertem Verkehr. Die
Befürchtung, daß eine Verbilligung der schwerern Pakete notwendig eine Ver¬
mehrung der relativen Mehrausgaben und eine dauernde Verminderung der
Einnahmen zur Folge haben würde, scheint also nicht begründet zu sein, wenn
diese Reform nur mit Umsicht durchgeführt wird.
Wenn aber eine Tarifverbilliguug ohne Einnahmeansfälle möglich ist
und der Verkehr dadurch vergrößert und verbessert wird, so liegt sicherlich
kein Grund zum Widerspruch dagegen vor. Da übrigens nur 1,7 Prozent
aller Pakete in die 5. und 6. Zone fallen, also über 50 Meilen (742 Kilo-,
meter) hinausgehen, und die Einnahme für diese Sendungen, sofern sie 5 Kilo¬
gramme übersteigen, finanziell ganz ohne Belang ist (etwa 700000 Mark,
nach unsrer Berechnung, während die Gesamteinnahme des Paketverkehrs
über 50 Millionen Mark beträgt), so könnte man die beiden letzten Zonen
ganz unbedenklich einfach wegfallen lassen. Sie sind nur eine unnütze weitere
Komplizirung des Tarifs. Falls aber einmal gründlicher reformirt wird,
so könnte endlich auch das Kilometersystem mit runden Zahlen in die Zonen¬
berechnung eingeführt werden. Die geographische Meile wurde schon bei der
letzten Reform eigentlich nur aus Bequemlichkeit beibehalten, weil man die
Mühe einer Anrechnung der Taxquadrate scheute. Aber einmal muß diese
Arbeit doch gemacht werden. Und die jetzige Übung, größere Sendungen in
lauter S-Kilopakete zu zerlegen, die der Post entsprechend mehr Arbeit machen,
darf auf die Dauer keinesfalls fortbestehe». Der gegenwärtige Tarif für
schwerere Pakete wird so ja einfach umgangen, und das Gegenteil seines
Zwecks wird erzielt. Das ist aber ganz sinnlos.
Man hat bisweilen die Versendung vieler einzelner 5-Kilopakete von einem
Absender an einen Empfänger als „Mißbrauch" bezeichnet. Das ist aber sicher¬
lich ein ungerechter Tadel, den man bei loyaler und unparteiischer Denkungs-
weise wohl nicht aussprechen würde. Wer gesetzlich bestehende Einrichtungen in
gesetzlicher Weise benutzt und sich bei Beförderung seiner Produkte oder Waren
der schnellsten, billigsten und bequemsten Beförderungsweise bedient, statt einer
unbequemern, teurem und langsamern Versendungscirt, dem kann man doch
unmöglich „Mißbrauch" vorwerfen. Es kann also nur gemeint sein, daß die
jetzige Pakettaxe unvollkommen ist, und daß durch die Konkurrenz der Großen
viele Kleine geschädigt werden. Aber so geht es ja mit allen Dingen. Der
Große hat in jedem Falle den Vorteil, wenn er die Sachlage ausnutzt. Daß
er das unterlasse, dürfen wir in dieser realen Welt nicht verlangen. Hier
gilt noch immer das pessimistische Wort, das vor bald 1900 Jahren gesprochen
wurde: „Wer da hat, dem wird gegeben; wer da nicht hat, dem wird auch
noch genommen, das er hat." Ja, wenn sich dieses harte Gesetz kapitalistischer
Weltentwicklung durchgreifend ändern ließe! Aber darum mühen sich ja die
besten Köpfe schon seit Jahrtausenden vergeblich!
(Schluß folgt)
le materialistische Geschichtskvnstruktion ist nur eine geschmacklose
Verstümmlung der von Herder, Karl Ritter und Alexander von
Humboldt dargelegten Wahrheit, daß es die Erde selbst ist, die
alle Eigentümlichkeiten und alle Mannigfaltigkeit ihrer lebenden
Bewohner erzeugt. Aber diese drei Großen haben das Wesen
nicht geleugnet, dem die irdischen Kräfte unter verschiednen Himmelsstrichen
verschiedne Gestalten verleihen: den Geist. Gewiß ist es der Fels, der dem
Wasserfall seine Gestalt verleiht, aber nur unter der Bedingung, daß ein
Wasser vorhanden ist, das diese Gestalt annimmt; gewiß ist es das Licht, das
im Krystall ein siebenfältiges Farbenspiel erzeugt, aber der Krystall muß eben
da sein; und gewiß ist es die Erde, die an verschiednen Stellen ihrer Ober¬
fläche verschiedne Kulturen erzeugt, aber doch eben nur, wenn Kulturträger,
wenn geistbegabte Menschen vorhanden sind. Diese Einflüsse und ihre Wirkungs¬
weise auf der Grundlage der heutigen, über die Ritter-Humboldtsche weit
hinausgehenden Erd- und Völkerkenntnis in zwei klassische» systematischen
Werken dargestellt zu haben, denen die geographische Litteratur der andern
Kulturvölker kaum etwas Ebenbürtiges an die Seite zu setzen haben wird, ist
das Verdienst Friedrich Ratzels. In seiner längst weltbekannten Völkerkunde
stellt er den Menschen selbst und seine Kultur dar, wie beide außerhalb unsers
europäischen Kulturkreises unter verschiedne» Einflüssen vnriiren, in der erst
gegen Ende des vorige» Jahres (bei N. Oldenbourg in München und Leipzig)
erschienenen Politischen Geographie stellt er die Abhängigkeit der Staaten¬
bildung von Boden, Wasser und Lage dar.
Was uns bestimmt, einen Blick auf die beiden große» Werke z» werfe»,
ist der Umstand, daß ihre Ergebnisse im großen und ganzen mit der Welt¬
ansicht übereinstimmen, die in den Grenzboten von ander» Mitarbeitern, die
von andern Wissensgebiete» ausgingen, entwickelt worden ist. Ratzel sindet
zwischen den höher und den niedriger kultivirten Völkern — unkultivirte giebt
es überhaupt nicht; die sogenannten Naturvölker sind nur Völker ans niedern
oder auf andern Kulturstufe» —, er findet zwischen ihnen keinen wesentlichen
Unterschied der Begabung, und findet die unwesentlichen Unterschiede nicht so
stark, als sie auf den ersten Blick scheinen. Gleich auf der ersten Seite giebt
er zu bedenken, „daß die Kluft des Kulturuuterschieds zweier Gruppen der
Menschheit nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig sein kann vom Unter¬
schiede der Begabung"; an diesen Unterschied sei daher immer zuletzt, an Unter¬
schiede der Entwicklung und der Umstünde zuerst zu denken, und diese Mahnung
wiederholt er bei verschiednen Anlässen. Der Kulturfortschritt ist davon ab¬
hängig, daß Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in großer Zahl ange¬
sammelt und von Geschlecht zu Geschlecht stetig überliefert werden. Dazu
gehört unter andern«, daß das kultnrerzeugeude Volk dicht gedrängt und
längere Zeit ungestört in seinem Lande wohne und doch auch in Wechselwirkung
mit andern Völkern bleibe. Die erste Bedingung kann erst erfüllt werden,
nachdem Ackerbau und Gewerbe die wirtschaftliche Grundlage des Lebens ge¬
worden sind, und diese Stufe können Völker in weiten Steppen, in Urwäldern
und in fruchtbaren Tropenländern nicht ohne fremde Hilfe, in den Polar¬
regionen überhaupt nicht erklimmen; die zweite Bedingung war vor der Aus¬
bildung des heutigen Weltverkehrs den an insellvsen Meeren lebenden Völkern
wie denen Südafrikas versagt. Nimmt man nun noch dazu, daß das ganze
Dasein mancher versprengten Stämme in dem mühsamen Erwerb einer kümmer¬
lichen Nahrung aufgehen muß, so kann die tiefe Stufe, auf der wir sie finden,
nicht in Verwunderung setzen, und es wäre ganz unberechtigt, ihnen ein wesent¬
liches Stück menschlicher Begabung abzusprechen. Von den Anlagen, die die
Australier in ihrer Wildnis zu entfalten Gelegenheit gehabt haben, schreibt
Ratzel (I, 315): „Das die Seele niederdrückende Elend hängt als Gegengewicht
daran." Wenn wir trotzdem, heißt es dann weiter von demselben Volke,
„anch hier mehr Geistiges finden, als wir erwarten, haben wir den Eindruck
von Trümmern eines bessern Zustandes." Dieser Eindruck kehrt auch bei vielen
andern Völkern wieder, und wenn wir hierzu die überraschenden Übereinstim¬
mungen der amerikanischen und der ozeanischen Flut- und Schöpfungssagen
mit den Erzählungen der Bibel nehmen, außerdem den Hinweis auf einen ge¬
meinsamen Ursprung der Kultur beachten, der in der Übereinstimmung von Ge¬
bräuchen und Kunstübungen liegt, so gelangen wir in die Nahe des Gedanken¬
kreises, den die christliche Kirche ausgebildet hat. „Als man die Parallelen
zwischen den Kulturvölkern Amerikas und der Alten Welt zu ziehen begann,
übersah man diese zahlreichen Beziehungen zwischen dem Kulturbesitz der ein¬
zelnen Völker der ganzen Erde, von den höchsten Neligionsvvrstellungen bis
hinab zu Einzelheiten im Stile der Waffen und der Tättowirung und suchte
ein beschränktes Auswanderungs- und Ausstrahlungsgebiet mit Vorliebe in
Süd- und Ostasien. Der Ursprung der altamerikanischen Kulturen wird aber
nicht aus einem bestimmten Winkel der Erde und von keinem der noch fort¬
lebenden Kulturvölker herzuleiten sein. Die darauf zielenden Versuche sind
alle unfruchtbar geblieben. Die Wurzeln dieser merkwürdigen Entwicklungen
reichen vielmehr in einen uralten Gemeinbesitz der Menschheit hinab, der im
Laufe vieler vorgeschichtlicher Jahrtausende Zeit fand, sich über die Erde zu
verbreiten" (I, 597). Von diesem Bekenntnis hat man nicht mehr weit bis
zum Glauben an eine Uroffenbarung und an die Wahrheit der biblischen Er¬
zählung von der Völkerscheidung. Ratzel selbst weist zwar die kirchliche Ansicht in
ihrer streng dogmatischen Fassung ab, erkennt aber, wie beides kürzlich auch
von andrer Seite in den Grenzboten geschehen ist, der entgegengesetzten Ansicht
gegenüber ihre relative Berechtigung an. Er sagt von den Entwicklungstheo¬
retikern (I, 14): „Wir wissen diesen vorbereitenden Leistungen Dank, können uns
aber nicht mit ihren Schlußgedanken befreunden. Sie suchen überall »Ur¬
zustande« und »Entwicklung.« Hat man nicht das Recht, mit einigem Arg¬
wohn ans wissenschaftlichem Gebiet solchem Suchen zu begegnen, das im vor¬
aus schon so gut weiß, was es finden will? Die Erfahrung lehrt, wie nahe
dabei die Gefahr der Voreingenommenheit liegt. Von einer Möglichkeit er¬
füllt, schlüge man die andern zu gering an. Findet ein von der Idee der Ent¬
wicklung getränkter Forscher ein Volk, das in mehreren oder selbst vielen Be-
Ziehungen hinter seinen Nachbarn zurücksteht, so verwandelt sich dieses »hinter«
unwillkürlich in ein »unter,« d. h. in eine tiefere Sprosse der Leiter, auf der
die Menschheit vom Urzustand zur höchsten Höhe der Kultur aufgestiegen ist.
Das ist das Gegenstück der einseitigen, ja ausschweifenden Idee, daß der Mensch
als ein zivilisirtes Wesen auf die Welt gekommen sei, daß aber eine rückwärts
schreitende Entartung ihn zu dem gemacht habe, was man heute unter den
Naturvölkern findet. So wie jener Entwicklungsgedanke bei den Naturforschern,
hat diese Rückschrittsidee bei den Erforschern der Religion und der Sprache
der Völker aus leicht erkennbaren Gründen den größten Beifall gefunden. In¬
dessen ist sie heute sehr weit in den Hintergrund gedrängt, unsrer Meinung
nach wohl viel zu weit. Von ihr ist für die Forschung weniger Gefahr zu
befürchten als von jener ihr am entschiedensten entgegengesetzten Meinung,
deren Auffassung, in abstrakter Nacktheit ausgesprochen, etwa lauten würde:
es giebt in der Menschheit nur Aufstreben, nur Fortschritt, nur Entwicklung,
keinen Rückgang, keinen Verfall, kein Absterben."
Wie sich also bei keinem der sogenannten Naturvölker ein wirklicher Natur¬
zustand findet, wenn man unter diesem einen völlig kulturlosen versteht, so
giebt es unter ihnen auch keine Individuen, die als unter der Menschennatur
stehend und als Übergänge eines anthropoiden Tiergeschlechts zum Menschen¬
geschlecht angesehen werden könnten. An dem Lichte, das die tausend Ab¬
bildungen dieses Werkes verbreiten, muß auch das härteste Vorurteil schmelzen.
Der „affenartige" Neger existirt nicht; auch die Westafrikaner sind „noch lange
keine Karikaturen, wie man sie sich in der Zeit schlechter ethnographischer
Bilder vorstellte" (II. 326). Was den Körperban anlangt, so ist jedes Wort
des Beweises dafür überflüssig, daß er auch beim verkümmertsten Wilden alle
Merkmale des Menschenleibes trägt, und daß kein taubstummer Wilder in die
Gefahr geraten könnte, für einen Affen gehalten zu werden. Nur das eine
ist zuzugeben, daß die Schwärmer für Natur, die das Apollomodell unter den
Schwarzen suchen, im Irrtum befangen sind: das höchste Schönheitsideal wird
nur im Bereiche der Kultur verwirklicht; aber hübsch gebaute und gut ge¬
wachsene Leute giebt es genug unter den Farbigen, und nur einzelne Stämme
zeichnen sich unvorteilhaft durch Mißgestalt aus; affenartig aber sind weder
die Buschmänner, noch die verkümmerten Zwergmenschen des innerafrikanischen
Urwalds si. 716). Unter den Gesichtern kommen, geradeso wie bei uns, hä߬
liche, gewöhnliche und leidlich hübsche vor. Der Unterschied beschränkt sich
darauf, daß bei den Farbigen wirklich schöne ganz fehlen (bei dem Neger¬
jüngling II. 487, den man beinahe schön nennen könnte, klammert der Ver¬
sasser „Mischling?" ein), während andrerseits die Prognathie namentlich bei
den Australnegern einen Grad von Häßlichkeit erzeugt, der in Europa kaum
vorkommen dürfte. Bei den afrikanischen Negern jedoch ist die Prognathie
bei weitem nicht so' stark, wie man sich gewöhlich vorstellt, ja sie fehlt oft
gänzlich; viele Abbildungen (man vergleiche u. a. II, 104, 200, 259, 288,
352, 358, 363) zeigen europäische und sogar edle Profile. Die geistigen
Anlagen aber bekunden sich schon hinlänglich in der Gestaltung und Ver¬
zierung der Waffen und Gefäße der „Wilden," in der Musterung ihrer
Geflechte und Gewebe, und ein Blick auf die zahlreichen Proben — man
schlage nur z. B. im ersten Bande S. 224, 481 und 505 auf — reicht hin, die
Verallgemeinerung des S. 233 angeführten Ausspruchs Hugo Zöllers zu recht¬
fertigen; er lautet: „Wer von einem wahren und wirklichen Kunstgewerbe der
Papuas spricht, macht sich keiner Übertreibung schuldig." Gleich dem Schön¬
heitssinn und der Fähigkeit und Lust, Schönes zu schaffen, ist auch jede andre
höhere Geistesanlage bei den Wilden zu finden, selbstverständlich in Begleitung
aller Ausartungen, deren die Menschennatur fähig ist. Man findet alle Grade
von Keuschheit und Unkeuschheit, zärtliche Gatten-, Kinder- und Elternliebe
neben Grausamkeiten, die jedoch meistens nur gegen Feinde oder von Despoten
verübt werden, Gemeindeverfassung und Rechtspflege, Ackerbau, Handwerke, Handel
und Marktordnungen, Staaten, die diesen Namen verdienen, obwohl sie der Natur
der Dinge nach ein lockres Gefüge und kurzen Bestand haben (die Darstellungen
der Staatenbildung und Umbildung in Jnnerafrika wie die der damit zu¬
sammenhängenden Völkerwanderungen und Mischungen gehören zu den Ab¬
schnitten in Ratzels Werke, aus denen man ganz neues lernt), und nirgends
fehlen religiöse Vorstellungen, die, so unvollkommen und teilweise abgeschmackt
sie sein mögen, doch über den Kreis des Sichtbaren hinausführen. Jeder
unbefangne Beobachter wird Livingstone beistimmen, dessen Urteil über die
Neger Ratzel II, 13 anführt: „Manchmal üben sie ganz bemerkenswert gute
Thaten aus, lind manchmal das Gegenteil. Nach langer Beobachtung kam ich
zu dem Schlusse, daß sie eine ebenso merkwürdige Mischung vou gut und böse
sind wie alle Menschen." Nur eine einzige Scheußlichkeit, die im Bereiche der
europäischen Kultur uicht vorkommt, läßt sich einzelnen Stämmen der Farbigen
nachsagen, die Menschenfresserei. Die ist aber nicht etwa ein Nest von Tier-
heit — denn höhere Tiere fressen nicht ihresgleichen —, sondern teils ans
religiösem Aberglauben, teils (bei Menschenüberfluß) aus politischen und wirt¬
schaftlichen Erwägungen hervorgegangen, beruht also auf einem Mißbrauch der
Menscheuvernunft. Was die übrigen Grausamkeiten anlangt, so beweist es ein
sehr kurzes Gedächtnis, wenn man ihretwegen den „Wilden" eine tiefere Stufe
unweisen will als den Semiten und den Ariern, und selbst die engere christ¬
liche Welt ist nicht berechtigt, sich höher einzuschätzen. Deren Freiheit von
öffentlich und amtlich verübten Greueln ist eine ganz moderne Erscheinung,
die nicht weiter als bis auf die Hninanitätsbewegung des vorigen Jahrhunderts
zurückreicht; was vordem verübt worden ist, von den byzantinischen Blendungen,
dem Blutgericht Heinrichs VI. in Palermo und den Unthaten Ezzelins an¬
zufangen bis zu den Plünderungsmetzeleien, Folterkammern und Richtplätzen des
siebzehnten Jahrhunderts, daran reichen die Greuel von Dahomey nicht hinan.
Was jene höhere Kultur, die zwar niemals von der Masse aller Europäer,
aber doch nur innerhalb des europäischen Kulturkreises erreicht wird, von allen
Barbaren trennt, gleichviel ob diese im Rufe von Wilden stehen oder wie die
alten Babylonier und die modernen Japaner zu den Kulturvölkern gerechnet
werden, läßt sich ziemlich genau angeben. Auf dem ästhetischen Gebiete, das
als unmittelbar auf die Sinne wirkend den Unterschied am leichtesten erkennen
läßt, ist die Grenze in dem Augenblick überschritten worden, wo die Schönheit
des Menschenleibes und des Menschenantlitzes erkannt und nachgebildet wurde.
Diesen Schritt haben zuerst und aus eigner Kraft ganz allein die alten Griechen
gethan und haben dadurch zuerst die Idee der Humanität verwirklicht, denn
nur wenn einem der höhere geistige Inhalt des Menschemvesens — der also
vorhanden sein muß — erschlossen ist, kann ihm seine Schönheit aufgehen.
Die Naturvölker stehen in dieser Beziehung noch auf der Stufe des kindlichen
Versuchs, der es nur bis zur Fratze bringt; ausnahmsweise (man sehe den
etagenartig verzierten der beiden geschnitzten Elefantenzähne II, 338, eine sehr
hohe Leistung) bringen sie es zu annähernder Naturähnlichkeit ohne eine Spur
von Jdealisirung zwar, aber wenigstens auch ohne hervortretendes Wohlgefallen
am Häßlichen. Eine zweite Grenzlinie wird mit dem Glauben an den einen
persönlichen Gott überschritten, wenn dieser als einzige Weltursache, höchste
Vernunft und Quell des Guten und Schönen aufgefaßt wird. Diese Grenze
haben die Griechen in ihren edelsten Geistern, die Juden als Volk überschritten,
und das Christentum hat sich die Aufgabe gestellt, alle Menschen hinüber¬
zuführen. Die dritte Grenzlinie ist erst in neuerer Zeit überschritten worden
durch die methodische Naturwissenschaft und deren Anwendung im methodischen
Erfinden. Wie vor einiger Zeit in den Grenzboten erwähnt wurde, hat der
dänische Pfarrer Martensen Larsen klar gemacht, daß die Überschreitung der
zweiten Stufe die Grundbedingung für die der dritten ist, weil, so lange die
allgemeine Anerkennung der einen vernünftigen Weltursache fehlt, das Volk in
der Vorstellung einer mit Gespenstern erfüllten verhexten Welt befangen bleibt,
die nicht einmal den Gedanken der strengen Kausalität aufkommen, geschweige
denn in eine feste Methode hineinfinden läßt. Schon aus diesem Grunde
wird, wenn die Naturvölker nicht vernichtet, sondern in den europäischen
Kulturkreis hereingezogen werden sollen, die Mitwirkung der christlichen
Missionen nicht zu entbehren sein, die allerdings, wie auch Ratzel andeutet,
ihre Aufgabe nur dann lösen können, wenn sie sie nicht im Sinne einer eng¬
herzigen Orthodoxie auffassen.
Nach alledem ist an der Einheit des Menschengeschlechts als eines von
der Tierheit grundverschiednen Reiches der Schöpfung nicht zu zweifeln, und
Ratzel fordert, daß das, was von Natur ist, auch seiner Idee nach anerkannt
werde. „Wenn nur die Menschheit als ein Jmmerbewegliches ansehen, können
wir in ihr nicht, wie es bisher üblich war, eine Vereinigung von starr von¬
einander gesonderten Arten, Abarten, Volksgruppen, Völkern, Stammen er¬
blicken. Sobald irgend ein Teil der Menschheit gelernt hatte, die länder¬
trennenden Meere zu durchfurchen, war ihr auch schon das Ziel immer weiter¬
gehender Verschmelzung gesteckt. Nehmen wir mit der großen Mehrzahl heutiger
Anthropologen einen einheitlichen Ursprung des Menschen an, so ist die Wieder¬
vereinigung der durch Spielartenbildung anseinandergegangneu Teile der
Menschheit zu einer wahren Einheit das unbewußte letzte Ziel dieser Be¬
wegungen der Menschen.....Die Rasse hat mit dem Kulturbesitz an sich nichts
zu thun. Es wäre zwar thöricht, zu leugnen, daß in unsrer Zeit die höchste
Kultur von der sogenannten kaukasischen oder weißen Rasse getragen wird;
aber andrerseits ist es eine ebenso wichtige Thatsache, daß seit Jahrtausenden
in aller Kulturbewegung die Tendenz vorherrscht, alle Rassen heranzuziehen
zu ihren Lasten und Pflichten und dadurch Ernst zu machen mit dem großen
Begriff »Menschheit,« dessen Besitz zwar als eine auszeichnende Eigenschaft
der modernen Welt von allen gerühmt, an dessen Verwirklichung aber von
vielen noch nicht geglaubt wird" (I, 9 und 18).
Die wichtigste und mächtigste der gesellschaftlichen Bildungen, die die
Grundlage jeder Kulturthütigkeit sind, ist der Staat. Dessen Zusammenhang
mit dem Boden stellt Ratzel in seiner Politischen Geographie dar. Sollte
man nicht meinen, schreibt er in der Vorrede, es sei Sache der Staatswissen¬
schaft, die Beziehungen zwischen dem Staat und dem Boden zu erforschen?
„Diese Wissenschaft hat sich aber bisher streng ferngehalten von aller räum¬
lichen Betrachtung, Messung, Zählung und Vergleichung der Staaten und
Staatenteile; und das ist es ja gerade, was der politischen Geographie erst
ihr Leben giebt. Für manche Staatswissenschaftler und Soziologen steht der
Staat geradeso in der Luft, wie für viele Historiker, und der Boden des
Staates ist ihnen nur eine größere Art von Grundbesitz." Durch die Auf-
deckung der Beziehungen der Staaten zu den verschieden großen und verschieden
gelegnen Räumen, in denen sie sich entwickelt haben, zu den Gebirgen, Flüssen
und Meeren, die sie begrenzen oder durchziehen, wirft Ratzel auf die wichtigsten
geschichtlichen Ereignisse alter und neuer Zeit ein neues Licht, das viele über¬
raschen wird. Was uns in Deutschland am allermeisten fehlt, die Über¬
einstimmung von Negierung und Volk i» der Überzeugung von der Notwendig¬
keit des Strebens nach gewissen klar erkannten Zielen, das wäre nnr ans dem
Wege solcher Betrachtungen erreichbar, wie sie dieses Buch enthält. Den
Politikern, die sich um Quisquilien zanken und abmühen, empfehlen wir vor¬
läufig nur folgende Gedanken, denen sich Dutzende von gleicher Bedeutung
anreihen ließen, zur Erwägung. „Je einfacher und unmittelbarer der Zu¬
sammenhang des Staates mit seinem Boden, desto gesunder ist jederzeit sein
Leben und Wachstum. Vorzüglich gehört dazu auch, daß mindestens die
200
Mehrzahl der Bevölkerung des Staates eine Verbindung mit seinem Boden so
bewahrt, daß es auch ihr Boden ist" (S. 9). Durch alle Wandlungen hin¬
durch führt sicher „die Regel: daß jede Beziehung eines Volkes oder Völkchens
zum Boden politische Formen anzunehmen strebt, und daß jedes politische
Gebilde die Verbindung mit dem Boden sucht. . . . Gerade die Verkennung des
politischen Wertes des Bodens (oder des politischen Raumes) legte den Keim
des Todes in die Staaten der Griechen" (21 und 22). „In der großen Be¬
wegung auf immer festere territoriale Begründung der Politik ist die Nationa¬
litätenpolitik unsrer Zeit ohne Zweifel ein Rückschritt. Sie erklärt als das
Prinzip des Staates das Volk einer Sprachgemeinschaft ohne Rücksicht auf den
Boden. Sie wird sich dauernd der geographischen Politik gegenüber nicht be¬
haupten können, die den Boden ins Auge faßt, ohne den Namen und die Art
der Bewohner zu berücksichtigen" (31 bis 32). „Mehr als alles bringt die
Vermehrung des Volkes bei gleichbleibendem Boden Verwirrung in die ein¬
fachen Einrichtungen der Vorzeit" (S. 52 nach Dahlmann). »Ein Land, das
dünn bevölkert oder unbewohnt ist. liegt seinen dichter bevölkerten Nachbar¬
gebieten als ein reines Naturlaut gegenüber," das zum Eintritt lockt (S. 93).
„Die rasche Aufeinanderfolge großer Reiche ^im Altertums giebt die Lehre, daß
nicht in der Größe des Raumes an sich, sondern in der Art der Erfüllung des
Raumes der Zusammenhalt und die Gewähr der Dauer liegt" (176). Ans
dem durch alle Zeiten und Erdteile hindurch gehenden Bestreben der Staaten,
den Nachbarstaaten an Flächeninhalt mindestens gleich zu sein und für jede
Naumeinbuße Kompensationen zu suchen, ersehe man deutlich, heißt es S. 222,
„wie wenig das europäische Gleichgewicht eine diplomatische Erfindung ist."
Ein Blick auf die Karte Europas genügt, zu erkennen, was heute für uns
Deutsche daraus folgt. Wir schließen mit folgenden ^Sätzen für kleindentsche
Philister: „Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen als klein-
räumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen
politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen
Geographie merkwürdig kontrastirt. Die großräumige Politik hat den Vorteil
der weitschichtigen Pläne, die ihrer Zeit vorauseilen; sie steckt ihre Gebiete
lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß dort politische Werte zu finden
seien, und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar
dünnen, aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt" (342 bis 343).
us der Feder des Münchner Nationalökonomen und Nniversitäts-
professvrs Dr. Lujo Brentano erschien in Ur. 5 der Nation vom
30. Oktober vorigen Jahres ein Artikel, über den bis heute die
Gemüter uoch nicht zur Ruhe gekommen sind. In Presse und
Zeitschriften wurde in mehr oder minder leidenschaftlicher Weise
Stellung dazu genommen, ohne daß eine erkennbare Klärung der Sachlage ein¬
getreten wäre. Brentano hatte nämlich statistisch die Frage untersucht, ob
dnrch das von der letzten Berufszählung (18W) festgestellte starke Wachstum
unsrer Industrie, das einen Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat
bedeute, unsre Kriegstüchtigkeit gefährdet werde.
Da er aus seinen Zahlen mehr herausliest, als darin ist, und das, was
darin ist, nur eiuen Teil des Themas erledigt, so ist eine nochmalige und ein¬
gehendere Würdigung der Arbeit um so mehr geboten, als der vor der Thür
stehende Wahlkampf sicherlich die Folgerungen Brentanos in der üblichen Un¬
verfrorenheit ausnutzen wird.
Sein Gedanke war der, daß industrielle Thätigkeit mehr Menschen auf
einer gegebnen Flüche ernähren könne als landwirtschaftliche, und daß deshalb
unser Staat aus seiner jetzt zahlreichern industriellen Bevölkerung auch die
größere Zahl von Rekruten erhalten werde. Brentano stellte in der That auch
fest, daß die überwiegend industriellen Gebiete schon jetzt doppelt soviel aus
ihnen gebürtige Rekruten aufgebracht haben als die landwirtschaftlichen. Es
sei deshalb verkehrt, zu glauben, der Übergang vom Agrarstaat zum Industrie¬
staat schwache die deutsche Wehrkraft, er hebe sie sogar. Wenn in der Industrie
verhältnismäßig vielleicht auch weniger Taugliche zu finden seien, die größere
Zahl der Bevölkerung brächte es mit sich, daß die absolute Zahl der Taug¬
lichen größer wäre, als die der Landwirtschaft.
Was hat er damit aber geleistet? Er hat das Thema von der Gefährdung
der Kriegstüchtigkeit in seiner engsten Fassung betrachtet, nämlich ob die körper¬
liche Tauglichkeit mit dem Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat zurück¬
gehe. Streng genommen beweisen seine Zahlen nicht einmal das Gegenteil, denn
es liegt dabei die wunderliche Annahme zu Grunde, daß die industrielle Thätigkeit
ihren schädlichen Einfluß grob und greifbar gewissermaßen in dem Augenblicke
schon in der Zahl der Rekruten ausspreche, wo sie durch ihr Wachstum
— das ja bei uns sehr rasch war — eben die Grundlage der Volks¬
wirtschaft verschoben hat. Erst sei» Hinweis auf England schließt diese Lücke
in der Beweisführung, macht aber seine Zahlen überhaupt entbehrlich. Er
hätte auch uoch die Juden anführen können, die in der körperlichen Tauglichkeit
— wenigstens wenn man die wohlgenährten Berliner Juden ins Ange faßt —
wohl wenig hinter dem Durchschnitt zurückbleiben, trotzdem daß sie seit beinahe
zwei Jahrtausenden dem Betriebe der Landwirtschaft nach Kräften aus dem
Wege gegangen sind.
Wenn aber in Deutschland von der Gefährdung der Wehrkraft durch die
Industrie gesprochen wird, so kommt die Frage meist in einer andern Richtung
zur Erörterung, die für uns und deu auch Brentano bekannten Arbeiterverhält¬
nissen gegenüber ungleich wichtiger ist. Die Sorge dreht sich nicht darum/
ob wir genng Soldaten haben werden, sondern ob mit dem in die Armee ein¬
dringenden Geiste der industriellen und sich international fühlende» Arbeiter¬
schaft nicht einmal das Wörtlein: Drauf! seine gewaltige Wirkung verlieren
könne. Wenn Brentano sich genan informiren will, wo wirklich der Angel¬
punkt seines Themas liegt, dann überdenke er die Worte, die der Bestnnter-
richtete alljährlich an die Rekruten bei ihrer Vereidigung zu richten pflegt!
Statt beruhigend zu wirken, hat also diese Veröffentlichung die Sorge
um die Wehrkraft unsers Vaterlands vertieft, und dies umso mehr, als
Brentano den mehr akademischen Wert seiner Zahlen nicht genügend hervor¬
gehoben hat; im Gegenteil, er verstärkt ihre Bedeutung durch Ausführungen,
die irre führen können. So schreibt er:
Als der moderne Industriebetrieb aufkam, war er rücksichtslos in der Aus¬
dehnung der Arbeitszeit und in der Ausnutzung der Arbeitskraft von Kindern und
Fromm. Damals (1828) berichtete der Generalleutnant von Horn in seinem Land¬
wehrgeschäftsberichte,") daß die Fabrikgegenden ihr Kontingent zum Ersatze der Armee
nicht vollständig stellen könnten und daher vou deu Kreise», welche Ackerbau treiben,
übertragen werden. Er erwähnt dabei des Übelstands, daß vou den Fabrilunter-
nchmern sogar Kinder in Masse des Nachts zu den Arbeiten benutzt werden. Das
wurde der Ursprung der preußisch-deutschen Arbeitsschutzgesetzgebung. Ihre Wir¬
kungen liegen nnn offenbar. Jener Regierungsbezirk, welcher dem rheinischen Pro-
viuziallaudtac, den ersten Anlaß zur Beschwerde über allzu rücksichtslose Ausnutzung
der Kinderarbeit an den König gab, der Regierungsbezirk Düsseldorf, liefert heute
1696,7 Rekruten ans tausend Quadratkilometer gegen 341,7 Rekruten, welche die
Kreise, welche überwiegend Ackerbau treibe», im Durchschnitt liefern. Herr v. Horn
würde heute zu berichten haben, daß die Ackerbaudistrikte ihr Kontingent zum Ersatz
der Armee nicht vollständig stellen und daher von den Fabrikgegenden übertragen
werden; dies aber nicht etwa, weil das Kontingent der überwiegend agrarischen
Distrikte zurückgegangen wäre, sondern weil das der überwiegend industriellen
Distrikte sich so sehr gesteigert hat.
Daß also die Fabrikgegenden heute ^ der Rekruten zu stellen vermögen, soll
die Wirkung der preußisch-deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung sein! Ob aber
der selige Generalleutnant wirklich heute so an seinen König berichtet haben
würde? Die höchste Achtung vor der preußischen und der vom Reiche aus-
gegangnen Arbeiterschutzgesetzgebung, aber das kann man von ihr doch nicht
erwarten, daß sie bei ihrer zum Teil noch großen Jugendlichkeit die industriellen
Bezirke auf der Höhe der Tauglichkeit erhalten habe. Sie hat zwar nicht zu
verkennende Beweise ihrer Wirksamkeit geliefert und wird in späterer Zeit
wohl noch deutlichere bringen, aber mit den Wirkungen der Freizügigkeit, die
in die verdumpften Fabrikreviere die Frische des platten Landes führte, kann
sie nicht in Vergleich gestellt werden. Die Freizügigkeit brachte es im wesentlichen
mit sich, daß die militärische Mindertauglichkeit dieser alten Bezirke gehoben
wurde. Und vollends der Generalleutnant Horn würde für seinen Bericht
schwerlich die wunderliche Methode Brentanos benutzt haben, die aus den
einzelnen Gebieten gebürtigen Rekruten auf die Flächeneinheit zu berechnen und
dann zu schließen, das Land stelle sein Kontingent nicht vollständig. Er hätte
sich nicht ausreden lassen, daß aus dem Gesetze vom 26. Mai 1893, betreffend
die Ersatzverteilung mit Notwendigkeit hervorgehe, daß die Landbevölkerung in
größerer Zahl zum Heeresdienst herangezogen und ihren letzten Manu eher
gestellt haben werde als die gesamte übrige Bevölkerung. Es werde nämlich
der Rekrntenbedarf nach der Zahl der in den einzelnen Armeekorpsbezirkeu
vorhandnen Tauglichen auf diese verteilt; vermöge ein Armeekorpsbezirk seinen
Anteil nicht zu decken, so werde auf die Überzähligen der übrigen Armeekorps¬
bezirke hinübergegriffen. Da aber die größere Tauglichkeit auf dem Lande zu
finden sei, was ja Brentano nicht leugne, so sei es unverständlich, warum
die Landwirtschaft ihr Kontingent nicht vollständig stellen solle.
Hier Hütten wir also zwei Proben davon gehabt, wie Brentano seine
Zahlen nützt. Das meiste aber mutete er ihnen zu, als er in Ur. 8 der
Nation vom 20. November sich also äußerte:
Wenn man entgegen meinen Darlegungen die Behauptung, die landwirtschaft¬
liche Bevölkerung sei der Jungbrunnen unsrer Armee und Marine, aufrecht er¬
halten will, käme es doch vor allem darauf an, sich mit den absoluten Zahlen der
aus den beiden Wirtschaftsgebieten stammenden Rekruten zu beschäftigen. Welches
Gebiet liefert absolut die meisten Soldat»-»? Soweit die Zahl in Frage steht, ist
diese Frage die wichtigste. Allein so viele gegen meine Ausführungen gerichtete
Artikel mir zu Gesicht kamen, keiner, der sie auch nur erwähnt. Man scheint also
zuzugeben, daß an der Thatsache, daß in deu drei Rekrutirnngsjahren 1893/94
bis 1895/96 aus deu überwiegend agrarischen Gebieten nur 247 945, ans den
überwiegend Industrie und Handel treibenden dagegen 512 041 Mannschaften
stammen, gar nicht zu rütteln ist.
Im Kriege kommt es aber darauf an, wie groß absolut die Armeen sind,
nicht darauf, wie sie sich gleichviel zu welchem Maßstabe verhalten.
Wenn also die Frage nach dem Jungbrunnen der Armee zu Ungunsten
der Landwirtschaft damit abgethan sein soll, daß man die absolute Zahl der
aus den überwiegend Industrie und Handel treibenden Gebieten stammenden
Rekruten (512041) als entscheidend betrachtet, einfach, weil sie zwei Drittel
der gesamten Rekrutenzahl ausmacht, so ist es wahrlich gut, dem Rate Bren¬
tanos zu folgen und sich mit den absolute» Zahlen der ans den beiden Wirt¬
schaftsgebieten stammenden Rekruten zu beschäftigen. Wie also gewinnt er sie?
Er stellt die überwiegend agrarischen und die überwiegend industriellen Gebiete")
nebst den aus jedem von ihnen gebürtigen Rekruten in zwei Gruppen auf
und findet, daß die ersten zusammen nicht ganz ein Drittel, die letzten etwas
mehr als zwei Drittel der ganzen Nekrutenzahl aufgebracht haben. Stellt die
erste Gruppe nun den Agrnrstaat, die zweite den Industriestaat vor, so ist
dieser doch kein rein industrieller. Weil Brentano nur eine Gruppe von Ge¬
bieten, die überwiegend industriell sind, als solchen bezeichnen kann, sind die
industriellen Bewohner mit agrarischen beträchtlich durchsetzt (im „Industrie¬
staat" sind 10838852, im „Agrarstaat" mir 7 662455 Landleute vertreten!),
und dies ergiebt wieder eine gewisse Zahl agrarischer Rekruten. Er kann also
von den in seinem Industriestaat gebornen Rekruten nicht sagen, daß sie
sämtlich industriellen Ursprungs seien und ihre Zahl ein Maß abgebe für die
kriegerische Selbständigkeit dieses Industriestaats. Dazu kommt noch, daß ihm
jeder Anhalt für die Tauglichkeit der industriellen und der agrarischen Militär¬
pflichtiger fehlt. Wenn die der agrarischen größer ist — und er weiß, daß
sie größer ist —, wird die Verlegenheit nicht kleiner.
Daß man aber, um den Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Re¬
krutenstellung zu erforschen, auf die Herkunft der Rekruten zurückgreifen müsse,
sagt Brentano selbst. Es erscheint ihm nämlich die amtliche bairische Statistik^)
des Militärersatzgeschäfts im Jahre 1896/97 für seinen Zweck deshalb nicht
geeignet, weil sie die eingestellten Rekruten nach dem Beruf nachweist. Man
wäre bei ihrer Benutzung dem Einwände ausgesetzt, daß der Beruf der Eltern,
also die Herkunft der Rekruten zu erforschen sei, es könnten Bauernsöhne sein,
die zur Industrie übergegangen wären. Ist diesem Einwände aber damit be¬
gegnet, daß Brentano die Gebürtigkeit der Rekruten der Reichsstatistik ent-
nimmt, die Frage aber offen läßt, welcher Berufsklasse der Bevölkerung sie
entsprungen sind?
Muß die Beweiskraft seiner Zahlen für die in Rede stehende Frage schon
hiernach Bedenken erregen, so werden sie durch einen zweiten Mangel geradezu
unhaltbar. Hat er es schon innerhalb seiner beiden Wirtschaftsgruppen unter¬
lassen, die Abstammung der darin gebornen Rekruten festzustellen, so geht die
Beurteilung der Herkunft vollends verloren bei der Zusammenleguug dieser
Gruppen aus den einzelnen Neichsgebietsteilen. Ohne Rücksicht nämlich ans
die Vergangenheit der Einzelgebiete und deu schnellen Berufswechsel, den sie
in den dreizehn Jahren von 1882 bis 1895 erlebt haben, sind sie gerade nach
Maßgabe der Berufsgliederung, die ihre Bevölkerung im Jahre 1895 zeigt,
in agrarische und industrielle gesondert worden. Dadurch aber ist es gekommen,
daß eine große Zahl von Rekruten salscherweise zu solchen gestempelt worden
ist, die in industriellen Gebieten geboren sind. Wären 1895 gar bloß noch
Gebiete mit vorwiegend industrieller Bevölkerung vorhanden gewesen, so hätte
Brentano dieser Methode zufolge sagen müssen: Seht, die industriellen
Gebiete haben sämtliche Rekruten aufgebracht, es ist also bewiesen, daß die
Landwirtschaft nicht der Jungbrunnen der Armee ist! Aber selbst wenn man
das Unmögliche zugeben wollte, daß die in den vorherrschend industriellen
Gebieten gebornen Rekruten sämtlich von Eltern abstammten, die einen nicht¬
agrarischen Beruf ausgeübt hatten, so ist es doch undenkbar, daß die Be¬
völkerung der einzelnen Reichsgebietsteile seit zwanzig Jahren immer dieselbe
Berufsgliederung gehabt hätte.
Nun verlangt allerdings die Wahrheit festzustellen, daß Brentano beim
Aufbau seiner Zahlen gar nicht die Absicht hatte, die Frage nach dem Jung¬
brunnen der Armee zu erörtern, er hat die Forschung nach der Vergangenheit
der Rekruten, was ihren Beruf angeht, mit Recht außer Betracht lassen können,
weil er ja nur untersuchen wollte, ob die Industrie, weil sie mehr Menschen
unterhalte, darum auch mehr Rekruten ernähre und dem Staate liefere. Umso
sorgfältiger hätte er aber seine Zahlen nachprüfen müssen, wenn er hinterher
noch durch sie beweisen will, die landwirtschaftliche Bevölkerung verjünge nicht
mehr wie früher das Heer.
Wenn man sich sonach mit Hilfe der Zahlen Brentanos kein Bild davon
macheu kann, wieviel Rekruten die Landwirtschaft Wohl heute noch stellt, und
selbst die Ermittlung des Berufs der Rekrtlleu kein zutreffendes Ergebnis
liefern kann, weil sie das Dunkel nicht aufhellt, das über dem Ursprung der
Rekruten liegt, die von der Industrie gestellt werden, so ist doch die Möglich¬
keit nicht abgeschnitten, die Mindestzahl der Rekruten ländlichen Ursprungs
festzustellen, die heute noch im Heere dienen. Dazu aber ist es nötig, zu einer
Auslassung Brentanos Stellung zu nehmen, die er an der Hand der Neichs-
statiftik zu bekräftigen sucht. Sie betrifft die verschiedene Größe des Gebnrten-
Überschusses bei der ländlichen und der industriellen Bevölkerung und berührt
damit ein Gebiet, das für die folgende Betrachtung ohnehin von Wichtigkeit
ist. Er schreibt nämlich:
Allein noch auf ein andres Argument bin ich bei einigen meiner Gegner ge¬
stoßen. Trotz der größern Rekrntenzcchl, welche die überwiegend industriellen Reichs-
teile liefern, bleibt ihnen die Landwirtschaft der Jungbrunnen der deutschen Armee.
Denn die dichtere Bevölkerung der Jndustriegegenden soll mir auf Znwandernng
aus den Agrargegenden und dem Geburtenüberschuß dieser beruhen. Von der
städtischen Bevölkerung hat man sogar behauptet, daß sie ohne diese Zuwendung
aussterben würde.
Allein alle hierfür versuchten Beweise entbehren, wie Dr. Kuezynski in seinen
schon neulich erwähnten sehr fleißigen Untersuchungen „der Zug uach der Stadt"
dargethan, der Stichhaltigkeit. Noch weniger wie für den Vergleich zwischen Land
und Stadt treffen jene Behauptungen aber für den zwischen überwiegend agra¬
rischen und überwiegend industriellen Gebieten zu. Wären sie richtig, so müßte
der Geburtenüberschuß der letztem ein weit geringerer als der der erster» sein. Be¬
fragen wir die jüngsten Veröffentlichungen über die Vevvlkeruugsvermehruug.^)
Darnach betrug der Geburtenüberschuß im Königreich Preußen in der Periode
1890/95 14,19 auf 1000 der mittlern Bevölkerung. Vergleicht man damit die
Geburteuüberschnsse der einzelnen Regierungsbezirke, so bleiben hinter dieser Durch-
schuittsziffer für das ganze Königreich zurück
vou agrarischen Bezirken: Königsberg, Gumbinnen, Potsdam, Frankfurt,
Stralsund, Lüneburg, Stade, Osnabrück, Koblenz, Sigmaringe»,
vou industriellen Bezirken: Berlin, Stettin, Breslau, Liegnitz, Magdeburg,
Erfurt, Schleswig, Hannover, Hildesheim, Münster, Kassel, Wiesbaden, Köln,
Aachen.
Es übertreffen die Dnrchschnittsziffer
von agrarischen Bezirken: Danzig, Marienwerder, Kostin, Posen, Bromberg,
Aurich,
von industriellen Bezirken: Oppeln, Merseburg, Minden, Arnsberg, Düssel¬
dorf, Trier.
Es erhellt, daß Bezirke mit überwiegend agrarischer ebenso wie solche mit
überwiegend industrieller Bevölkerung die Durchschnittsziffer sowohl übertreffen, als
hinter derselben zurückbleiben.
Kann diese Gruppirung um die Durchschnittsziffer aber irgend etwas
für die Höhe des Geburtenüberschusses von ländlicher und industrieller Be¬
völkerung beweisen? Wenn nun die agrarischen Bezirke den Durchschnitt sehr
stark, die industriellen sehr wenig überragen, wenn agrarische andrerseits sehr
wenig, die industriellen sehr weit dahinter zurückbleiben? Brentano, der so¬
viel Wert auf die Betrachtung absoluter Zahlen legt, wird es verständlich
finden, wenn auch wir einmal die absoluten Zahlen der Reichsstatistik**) be¬
nutzen, um zu berechnen, wieviel in den oben überhaupt angezeigten agrarischen
und industriellen Gebieten der Geburtenüberschnß ausmacht. Dabei ergiebt
sich nun, trotzdem daß wir den Regierungsbezirk Potsdam, den Brentano zu
seinem Schaden bei nur 277 °/gg agrarischer Bevölkerung unter die überwiegend
agrarischen gezahlt hat, dahin schieben, wohin er gehört, nämlich unter die
industriellen, daß die überwiegend agrarischen Bezirke einen Geburtenüberschuß
von 14,81, die überwiegend industriellen einen solchen von nur 13,93 auf
1000 der mittlern Bevölkerung erreicht haben. War diese Art der Benutzung
der Reichsstatistik also schou hiernach ein Fehlgriff Brentanos, so muß auch uoch
festgestellt werden, daß er ihre Worte unglücklicherweise nur soweit gelesen
hat, als sie gerade seinen Zwecken tauglich waren. Er schreibt nämlich:
Ferner, während Deutschland einen sehr starken Schritt vom Agrarstacit zum
Industriestaat von 1885/90 bis 1890/95 gemacht hat. hat sich der Geburten¬
überschuß während dieser Zeit im allgemeinen vergrößert. Eine Abnahme fand
nur in wenigen, darunter überwiegend agrarischen, wie überwiegend industriellen
Reichsteilen statt. All dies spricht nicht zu Gunsten der pessimistischen Theorie.
Die Reichsstatistik aber charakterisirt gerade die von ihr beobachtete Ver¬
größerung des Geburtenüberschusses durch folgende Bemerkung: „Das An¬
wachsen des Geburtenüberschusses ist indessen zumeist dadurch hervorgerufen,
daß einem deutlich wahrnehmbaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit ein noch
größerer Rückgang der Sterblichkeit gegenübersteht."
Sodann sucht sie übereilten Folgerungen aus diesen Feststellungen dadurch
zu steuern, daß sie den betreffenden Absatz mit den bedächtigen Worten schließt:
„Worin die Ursachen der verminderten Geburtcnfrequeuz und Sterblichkeit zu
suchen sind, läßt sich von hier aus nicht mit Sicherheit feststellen, da hierzu
ausreichendes Thatsachenmatcrial fehlt. Jedenfalls hat man es hier mit einer
jeuer Schwankungen zu thun, welche der Gang der natürlichen Bevölkcrungs-
vermehrung, solange sie statistisch koutrollirt wird, schon öfter erkennen ließ."
Brentano hat also übersehen, daß die Vergrößerung des Geburtenüber¬
schusses auf einem fast allgemeinen Rückgang der Geburtenhäufigkeit mildernde.
Eine Abnahme der Geburten ist aber uicht bloß in Deutschland, sondern in
den letzten Jahren in beinahe ganz Europa beobachtet worden. Diese und
die übrigen Erscheinungen im Gange der Bevölkerungsbewegung für oder
gegen eine Theorie zu verwenden, muß aber nach dem Hinweis des Kaiser¬
lichen Statistischen Amts, daß ihre Ursachen nicht hinreichend bekannt sind,
sehr bedenklich erscheinen. Die Dauer der Beobachtung ist eben noch zu kurz.
Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil die ländliche Bevölkerung
zur übrigen in einen fchcirfern Gegensatz gebracht werden kann, wollen wir
einmal die „Preußische Statistik," also das amtliche Quellenwerk des Königlich
Preußischen Statistischen Vüreaus (Hest 143, S. XIII) heranziehen, das die Be¬
völkerungsbewegung in Stadt und Land zur Anschauung bringt. Diesem
zufolge kamen in den neunundzwanzig Jahren von 1867 bis 1895 im preußi¬
schen Staat
Diese Zahlen sprechen es deutlich aus, daß die ländliche Bevölkerung
mehr Geburten und weniger Sterbefälle hat als die städtische und diesen
günstigen Umständen einen höhern Geburtenüberschuß verdankt.
Der Gegenbeweis Vrentnuvs ist also nicht bloß dnrch die ungeeignete
Benutzung der Reichsstatistik, sondern auch, wie wir an der Hand eben dieser
Statistik schon wahrscheinlich machen und aus der Preußische,: Statistik be¬
weisen konnten, in Ansehung der Thatsachen mißglückt.
Wie aber der höhere Geburtenüberschuß und die höhere Tauglichkeit der
Landbevölkerung sich auch in der relativ größern Zahl der aus den ländlichen
Distrikten ausgehöhlten Rekruten aussprechen, ergiebt sich aus folgender Übersicht.
Sie bringt die einzelnen Neichsgebietsteile in Gruppen zur Darstellung, die
sich nach der Zahl der in ihnen vorhandnen ländlichen Bevölkerung*) nach
unten abstufen. Den Neichsgebietsteilen nämlich,
in denen die landwirtschaftliche Bevölkerung
auf 1000 der Gesnmtbeuölkerung betrug
entstammen Mannschaften......) (1893/94 bis
1890/97 durchschnittlich jährlich eingestellt)
Wie stellt sich aber nun der Nekrutencmteil der landwirtschaftlichen Be¬
völkerung? Nach der Berufszählung vom 14. Juni 1895 zählte sie ein reich-
liebes Drittel unsrer Bevölkerung, nümlich 18501307 Köpfe (35,74 Prozent
der Gesamtbevölkerung). Bei einer Geburtenzahl und einer Sterblichkeit, die
der der übrigen Bevölkerung gleichkommt, würde sie also noch im Jahre 1915
35,74 Prozent der Rekruten stellen. Dies ist eine Mindestzahl, die durch die
bessern Geburth- und Sterblichkcitsverhältnisse der Landbevölkerung, sowie
durch die höhere Tauglichkeit ihrer Dienstpflichtigen beträchtlich erhöht wird.
Machen also uoch im Jahre 1915 die landwirtschaftlichen Rekruten weit mehr
als ein Drittel des Heeres aus, so heute sicherlich über die Hälfte. Um dies
zu zeigen, müßte man eigentlich auf den Prozentsatz zurückgreifen, den die land¬
wirtschaftliche Bevölkerung unter der Gesamtbevölkerung zur Zeit der Geburt
der jetzt dienenden Mannschafen für sich in Anspruch nahm, also auf ihren Ve-
völkerungsanteil in den Jahren 1876 bis 1877. Man befände sich damit in
Übereinstimmung mit Brentano, der ja auf den Beruf der Eltern der Rekruten
zurückgehen wollte, um das Heereskontingent der ländlichen Bevölkerung genauer,
als es durch die Erforschung des Berufs der Rekruten geschehen könnte, fest¬
zustellen. Um aber eine Konzession an die Wirkung des Milieu social zu
machen, das die nnter der Fabrikbevölkerung usw. aufwachsenden Bauernsöhne
in ihrer Tauglichkeit für den Heeresdienst ungünstig beeinflussen könnte, kann
man annehmen, daß sie der jedenfalls weniger zahlreichen Landbevölkerung ent¬
sprungen seien, die im Jahre 1882 vorhanden war und 19225455 Köpfe
zählte. Diese Bevölkerung, die sich zur gesamten übrigen, nicht bloß zur
industriellen, verhält wie 42,51 : 57,49, wird aber in Ansehung ihrer günstigen
Geburth- und Sterblichkeitsverhältnisfe, sowie ihrer höhern Militärtauglichkeit
mit ihrem Rekrutenanteil sicherlich nur wenig hinter der Hälfte der Nekruten-
zahl zurückbleiben, die die Gesamtbevölkerung stellt, wenn nicht gar, was
das wahrscheinlichere ist, sie überschreiten. —
Eine Bevöllerungsschicht, wie die landwirtschaftliche, die einen Geburten¬
überschuß hat, der deu der gesamten übrigen übertrifft, zeigt seit 1882 keinerlei
Vermehrung, wo man doch die größte erwarten sollte; ja sie ist nicht einmal
stationär geblieben, sondern von 19225455 auf 18501307 Köpfe zurückgegangen.
Ihr starker Geburtenüberschuß reichte also nicht einmal hin, um die Lücken
zu füllen, die der Abzug in die Judustriebezirke herbeiführte. Wenn auch die
Auswanderung in das Ausland in den fünfzehn Jahren von 1880 bis 1895 dem
Reiche im Durchschnitt jährlich 117000 Menschen gekostet hat. so ist es sicher,
daß nicht allein Landleute auswanderten; und selbst wenn es bloß solche ge¬
wesen wären, so würde die Industrie doch noch jährlich einen Zuzug vom
Lande in Stärke von 75000 Personen erhalten haben, wenn man annimmt,
daß die ländliche Bevölkerung vom Jahre 1882 sich jährlich auch nur um
1 Prozent, also in dem Maße wie die Neichsbevölkerung vermehrt habe. Daß
dieser Jahresverlust von mindestens 75000 Köpfen thatsächlich weit höher ist
und wahrscheinlich die Zahl von 100000 übersteigt, ist nach den vorstehend
gegebnen Begrenzungen der Rechnung klar.
Auch hieraus geht hervor, aus welchem Born die Industrie ihren Zufluß
erhält, dem einzigen übrigens, der ihr neben ihrer eignen Vermehrung offen
steht, und den sie auch völlig ausschöpft.
Brentano hat also, wenn wir das Gesagte nochmals kurz zusammenfassen,
lediglich bewiesen, daß bei gleicher Fläche ein Industriestaat mehr Soldaten
stellen kann als ein Agrarstaat, und dies einfach deshalb, weil er mehr Menschen
zu ernähren vermag. Es ist ihm aber mißglückt, durch seine Zahlen zu zeigen,
daß schon jetzt die deutsche Landwirtschaft nicht mehr sei, was sie war: nach
Kraft und Gesinnung der Kern unsrer Kriegsmacht. Wir konnten im Gegen¬
teil zeigen, daß aus ihren Angehörigen der Staat heute noch mindestens die
Hälfte seiner Rekruten erhält, und daß sie wegen der höhern Tauglichkeit
ihrer Heerespslichtigen stärker zum Kriegsdienst herangezogen wird als irgend
eine andre Vevölkerungsschicht.
Das festzustellen, war Aufgabe dieser Zeilen; Prognosen, namentlich wirt¬
schaftliche zu stellen, ist sehr bedenklich — was uns der deutsche Bauer war
und ist, wissen wir; was uus der große Umschwung zur Industrie bringt:
-S«-^ ^ovi/ttsst xetr«t. Das aber ist gewiß, das Wachstum der Industrie
drängt uns mehr als der Agrarstaat zur Weltpolitik. Schon heute beschäftigen
wir in Bergbau und Hüttenwesen, in Industrie und Bauwesen ebensoviel
Menschen wie das maschinengewaltige England/") das seine zahlreichen Kriegs¬
schiffe in alle Weltteile sendet, um der Handelsflotte den nötigen Rückhalt zu
geben. Unsre Flottenvorlage will dem deutschen Kaufmann das Schwert mit¬
geben, das die alten Kaufleute der Hansa deutsch und klug allezeit an ihrer
Seite trugen. Auf die freie See weist uns unsre Volkswirtschaft, und die
Kraft unsers Volkes wird sich darauf zu halten wissen. Möchten wir aber
immer daran denken, welches Ursprungs diese Kraft ist, und wo ihre starken
Wurzeln liegen. Möchten wir uns im Besitze einer noch starken Landwirt¬
schaft glücklicher fühle» als England, das keine mehr sein eigen nennt, und
möchte ihr allezeit die Rücksicht und Pflege gezollt werden, die ihr als einem
großen Vorrat von unverbrauchter Muskel- und Nervenkraft, als dem Grund¬
quell des deutschen Individualismus zu teil werden muß.
is Heft 3 der „Sozialen und politischen Zeitfragen" (zwanglose
Hefte, herausgegeben von Mitgliedern der Zentrumsfrciktion des
Reichstags) ist von Richard Müller (Fuldci) ein „Beitrag zur
Kritik des Flotteugesetzentwurfs" unter dem Titel „Kann die
Marinevorlage vom Reichstage angenommen werden?" ver¬
öffentlicht worden. In der hinreichend bekannten Manier der
Zentrumsführer verfehlt auch Herr Müller nicht, in seinem Vorwort ausdrücklich
zu versichern, daß er weder ja noch nein sagen wolle, und daß kein Reichstag
einer Verstärkung der deutscheu Marine in seiner großen Mehrheit so geneigt
gewesen sei wie der gegenwärtige. Er hat sogar seine platonische Flotten¬
freundlichkeit durch einige ganz niedliche Marinebildchen als Kopfleisten ins
rechte Licht zu stellen gesucht; er weiß wohl, daß sein in der Sache schroff
ablehnendes Votum umso größern Eindruck machen muß. Zum Schluß stellt
er die Frage: Wird die Mariuevorlage vom Reichstag angenommen werden?
und giebt die Antwort (juien sg-de, nachdem er vorher noch in unparteiischer
Biederkeit dem Leser die „zwei" Gesichtspunkte, vou denen aus die Vorlage zu
beurteilen sei, klar dargelegt hat: „einerseits als das Programm einer erhöhten
Geldfordernng sür die Zwecke der Marine — andrerseits als die Beschränkung
des Ausgabebewilligungsrechts des Reichstags." Man könne, meint er, sehr
wohl beides trennen, „die etatsmäßigen Forderungen" genehmigen und doch
das „wichtige verfassungsmäßige Recht der alljährlichen Ausgabebewilligung
intakt erhalten." „Für denjenigen, der die Wahrung und Erhaltung der kürg¬
lichen Rechte der Volksvertretung ernsthaft nimmt, sollte die Entscheidung nicht
zweifelhaft sein." Das klingt sehr einfach und annehmbar und wird von der
gläubigen Masse der Zentrumsleute ebenso als Quintessenz unabhängiger, ge¬
rechter und vorurteilsfreier Politik bewundert werdeu, wie die in ziemlich ähn¬
licher Richtung laufende Begründung der ablehnenden Stellung der freisinnigen
Volkspartei, die Eugen Richter in seinem neuesten Abcbuch veröffentlicht hat.
„Es wird," sagt Müller im Vollgefühl seiner unbefangnen Vaterlandsliebe, die
keine Parteiinteressen beirren könnten, „auch künftig ohne gesetzliche Festlegung
gelingen, eine den Bedürfnissen entsprechende starke Marine zu schaffen und zu
erhalten; eine gerechte, zielbewußte und vertrauenswürdige Regierung wird von
der Volksvertretung, auch ohne dieselbe zur Preisgabe verfassungsmäßiger
Rechte zu nötigen, stets dasjenige erlangen können, was zur Erhaltung der
Wehrkraft des Vaterlands notwendig ist, zu Wasser und zu Lande."
Das klingt, wie gesagt, sehr einfach und annehmbar, fast patriotisch. So
kliugts, aber gemeint ist's wieder einmal ganz anders. Es wäre eine ganz
ungeheure Dummheit, wollte der deutsche Michel auch auf diese Musterleistung
ultramontcmcr Geriebenheit hineinfallen, denu diese Borschützung der „konstitu¬
tionellen Bedenken" ist doch in der That schon zum puren Schwindel geworden.
Gerade das wird durch die Broschüre Müllers klipp und klar bewiesen: man
will die „alljährliche Ausgabebewilligung" behalten, nur um die „etatsmäßigen
Forderungen" nicht zu bewilligen. Und damit muß die dringende Notwendig¬
keit, daß unsre Seemacht durch Gesetz vor der Gefahr, die in den alljährlichen
etatsmäßigen Bewilligungen liegt, ein für allemal sichergestellt werde, für jeden,
der es ehrlich mit dem Reiche meint, völlig außer Zweifel gestellt sein. Wird
der deutsche Michel endlich die ultramontane Viedermeierei begreifen lernen?
Wird er endlich merken, was hinter den Bergen gebaut wird? Der freisinnigen
Partei mit ihrer verhältnismäßig geringen Vertrcterzahl im Reichstage und
ihrer, wie es scheint, in die Brüche gehenden Disziplin braucht man für die
Flottenfrage keine große Bedeutung mehr beizulegen, aber den Ultramontanen
muß die Maske vom Gesicht gerissen werden, mit der sie Volk und Regie¬
rungen so oft darüber hinweg getäuscht haben, welche Gefahr sie für die
Losung aller wirklich großen nationalen Fragen sind. Wir haben es vor der
so viel gepriesenen Rede des Abgeordneten Lieber bei der ersten Lesung der
Marinevorlage ausgesprochen, daß sich ultramontane Politik und Reichspolitik
scheiden wie Wasser und Feuer, daß der Ultramontanismus den großen Zielen
der Reichspolitik jederzeit ein Bein zu stellen suchen wird, solange er das ist,
was er ist, und daß der deutsche Kaiser, der ihm traut, auf Schlimmeres baut
als auf Sand. Wir fürchten, wir werden Recht behalten.
Natürlich setzt Müller wie Eugen Richter seinen Angriff an dem schwächsten
Punkt an, den die Stellung der Regierungen bietet. Mit einnehmenden
Scharfsinn und behaglicher Breite werden vor allem die Widersprüche aus¬
gebeutet, die unzweifelhaft zwischen der heutigen Marinevorlage nebst ihrer
Begründung und frühern Denkschriften und sonstigen Äußerungen der Ne¬
gierung und ihrer Vertreter vorhanden sind. Durch nichts könnte man den
Herren Müller und Richter einen größern Gefallen thun, als wenn man diese
Widersprüche leugnen wollte. Wir wollen sie nicht einmal entschuldigen. Graf
Limburg-Stirnen hatte Recht, wenn er den Vertretern der Negierung den Rat
gab, sich in Zukunft vor unnötigen Versteckenspielen z» hüten. Sachlich aber
ist mit diesen Widersprüchen natürlich gegen die Vorlage auch nicht das geringste
zu beweisen. Selbst wenn wir nicht vor einer wirklich völlig neuen Lage und
Aufgabe in der See- und Handelspolitik stünden, wäre das Aufgeben früherer
Irrtümer kein Fehler, sondern ein Verdienst. Die ungesunden Parteiverhältnisse
in der Volksvertretung tragen einen guten Teil der Schuld an dem Lavireu
der Negierung in den letzten Jahren, bis es nun endlich unvermeidlich geworden
ist, offen festen Kurs zu nehmen. Von Rücksichten der äußern Politik gar nicht
zu reden. Es ist traurig, sehr traurig, wenn die Regierung gegen die Volks¬
vertretung nicht offen sein zu dürfen glaubt, aber das Zentrum hat ganz gewiß
am wenigsten ein Recht, sich darüber entrüstet zu stellen, denn es giebt als die
stärkste Partei dem heutigen Reichstag vor allen andern Parteien das Gepräge,
das ihn des Vertrauens jeder pflichttreuen Negierung berauben muß. Was ist
es aber andres als Schwindel, wenn mau aus den Abweichungen von der
„Denkschrift von 1873" die Argumente gegen die Flottenverstärkung von 1898
hernehmen will? Hat man damals unter dem überwältigenden Eindruck der
deutscheu Siege von 1870/71 den großen Fehler gemacht, die zukünftige Be-
deutung einer starken Flotte zu unterschätzen, hat man es damals unterlassen,
einen gehörigen Bruchteil der „Milliarden" für Marinezwecke festzulegen, so
kann doch daraus heute kein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat,
folgern, daß die Neichsregierung in dem damaligen Fehler zu verharren habe,
wenn sie nicht das Vertrauen zum Reich im großen Haufen der Neichsangehörigen
erschüttern wolle. Mit Recht hat der Reichskanzler in seiner ersten Rede zur
Marinevorlage auf diese nur durch die zu Lande erfochtenen großen Siege
erklärbare Unterlassungssünde hingewiesen. Und doch widmet Müller dem
Pergleich der Denkschrift von 1873 und der jetzigen Vorlage einen langen Ab¬
schnitt seiner Schrift mit vielen Zahlen und andern schlagenden Argumenten für
Dinge, die niemand leugnet. Und was soll auch die hier wieder breitgetretene
Aufzählung von Wandlungen in den marinetcchnischen Anschauungen während
der letzte» Jahrzehnte für den ernsthaften Politiker sagen? Diese Wand¬
lungen haben sich in der ganzen Welt abgespielt, und wie anderwärts ist auch
in Deutschland die Marine jetzt endlich zu einem gewissen Abschluß gekommen,
zu einem feststehenden Urteil, soweit man in technischen Fragen überhaupt davon
sprechen kann. Auch hier werden die Beweise aufgebauscht für etwas, was
weder bewiesen zu werden braucht noch sachlich ins Gewicht füllt. Nur eins
galt es damit zu erreichen: der Masse die Parole beizubringen „Taschen zu!
Für die Flvttenpläne des Kaisers keinen Groschen!" Oder wagt es Müller
wirklich, einem urteilsfähigen Manne weismachen zu wollen, daß dnrch seine
Arbeit jemand, der den Schwindel nicht ahnt, zu einer andern Schlußfolgerung
gelange» könnte? Hat er wirklich die Stirn, zu behaupten, mit dieser Schrift
der „etatsmäßige» Bewilligung" der Flvttenvcrmehrung auch nur in einer Zeile
ehrlich das Wort geredet zu haben? Es lohnt sich, daraufhin auch die weitern
Abschnitte el» we»ig näher anzusehen. Da finden wir zunächst eine Über¬
schrift: „Schutz des Seehandels auf allen Meeren," aber kein Wort darunter,
das der Marine auch nur irgend welche Bedeutung für diesen Zweck zuerkenute.
Gerade das Gegenteil wird nicht etwa behauptet — und das ist so recht be¬
zeichnend —, aber zu beweisen versucht. Da wird ausgeführt, daß „die Pflege
guter Handelsbeziehungen mit unsern nächsten Nachbarn für die deutsche In¬
dustrie und den deutschen Ausfuhrhandel vo» viel größerer Bedeutung sei,
als alle überseeische» Erwerbungen und Unternehmungen in absehbarer Zeit
haben könnten"; „daß das Aufblühen des deutscheu Ein- und Ausfuhrhandels
von der Stärke der deutschen Marine unabhängig ist." daß „der auswärtige
Handel durch einen Krieg mit einer oder mehreren Großmächten auch keines¬
wegs lahmgelegt sein würde." Mit besondrer Zuversicht wird weiter der
Trumpf ausgespielt, daß die Marinevorlage für den „Auslandsdienst" nur
sechs Schiffe'für 32000000 Mark fordre. während für die „Schlachtflotte"
dreizehn Schiffe im Werte von 178000000 verlangt würden. Das soll heißen:
Mit dem Schutz des Handels ist es der Regierung überhaupt gar nicht Ernst!
Als ganz hinfällig wird dann der Grund der „Verteidigung der vaterländischen
Küsten" für die Flottenverstärkung hingestellt, nicht minder der „Schutz der
Kolonien." Da wird Fürst Bismarck als Eideshelfer ausgerufen, der einem
Mitarbeiter des Herrn Harden gesagt habe, „daß wir sogar die für unsern
Kolonialbesitz entscheidenden Schlachten auf dem europäischen Festlande aus-
zufechten haben werden." Und vollends der „Schutz der Deutschen im Aus¬
lande" durch die Marine wird ganz und gar lächerlich gemacht. Auch die
Beurteilung der „finanziellen Tragweite der Marinevorlage" läuft schließlich
nur darauf hinaus, eine durchschlagende Begründung für die Ablehnung der
Regierungsforderungen zu finden. Ganze fünfundsiebzig Seiten der Schrift
find dem Nachweis der Unzulässigkeit auch der „etatsmäßigen Bewilligung"
der Flottenverstärkung gewidmet, ans zwei Seiten wird die „Forderung
dauernder gesetzlicher Festlegung der Flottenstärke" abgethan, und doch sehen
wir dann zum Schluß die schon mitgeteilten Sätze angehängt, mit denen jedem
Anschein, als ob der Verfasser und seine Parteigenossen sachlich der kaiserlichen
Flottenpolitik ein Bein stellen wollten, vorgebeugt werde» soll. Das kann doch
der Michel, wenn er aufgewacht sein wird, nur als Schwindel und Bauern¬
fang ansehen. Wir können nur dringend raten, die Müllersche Schrift und
den der Marinevvrlage gewidmeten Anhang zum Nichterschen Abcbuch zu lesen.
Es ist ein Hochgenuß, zu sehen, was das ?^r nodilö krg.dro.ur dem faulen
Michel uoch zu bieten wagt, und sich vorzustellen, wie der biedre Bärenhäuter,
wenn er aufwacht, mit diesen Herrschaften abfahren wird. Und aufwachen
wird der deutsche Michel im Zentrum wie im Freisinn, das hoffen wir,
bald genug.
Gerade dieser plumpe Versuch von Bauernfang wird seine guten Wir¬
kungen haben. Das Unwürdige, zur Gefolgschaft einer Politik zu gehören,
mit deren Aufrichtigkeit in den wichtigsten Fragen der patriotischen Pflicht¬
erfüllung es so elend bestellt ist, muß den ehrlichen deutschen Männern
im Zentrum endlich zum Bewußtsein kommen. Hier spielt das religiöse Ge¬
fühl gar keine Rolle, dessen Verletzung im Kulturkampf der ultramontnnen
Politik eine so verhängnisvolle Macht über die Gemüter der katholischen
Deutschen verschafft und das Zentrum so fest zusammengeschweißt hat. Klar und
nackt tritt die ultramontane Politik in Gegensatz zur deutschen Reichspolitik.
Mit Freisinn und Sozialdemokratie im Bunde will die Partei die deutsche
Politik lahmen. Und wem zuliebe? Nun, den gebildeten deutscheu Katholiken
kann es nicht verborgen bleiben, wohin diese Wege zuletzt führen, und vor
die Frage gestellt, ob sie wissentlich die Zukunft des neuen deutschen Reichs
an die Pfaffheit in Rom, die die Herrschaft führt über Papst und Kirche, ver¬
raten sollen oder ehrliche Leute bleiben, wird ihnen, das ist ganz sicher, die
Wahl nicht schwer fallen.
Es kommt jetzt alles darauf an, daß die Regierungen fest bleiben. Das
Durchdrücken einer Flottenverstürknng ans der in der Müllcrschen Schrift
wenigstens erwähnten, wenn auch nicht befürworteten Grundlage „etatsmüßigcr
Bewilligung" wäre ein Pyrrhussieg der kaiserlichen Flottcnpolitik, weit schlimmer
als die Verzögerung der gesetzlichen Sicherstellung der mäßigen Flottenfvrde-
rungen der Vorlage um Jahr'und Tag. Das Volk muß an den Ernst der
Regierung glauben lernen. Es gehört zu den frivolsten, aber leider auch zu
den wirksamsten Agitationsmitteln der heutigen Opposition, die Ernsthaftigkeit
der Ncgierungspolitik anzuzweifeln und die ersten Räte des Reichs als urteils-
und überzeugungslose Diener hinzustellen, die deu Launen des Herrn wohl
oder übel zu genügen suchte:,. Es ist traurig, daß solche Mittel im deutschen
Volke noch anschlagen, aber es ist wahr. Wer in dieses Horn bläst, der darf auf
lauschende Hörer rechnen vom Sachsenwalde bis an die Jsnr und vom Nieder¬
rhein bis zum Pregel, der ist gern gesehen in der kleinsten Werkstatt und im
größten Bankhanse, im Botenzimmer und uuter Geheimen Räten. Und des¬
halb immer wieder: Nur jetzt keine Schwäche, nur kein Schacher, nur keine
halbe Arbeit!
Wie die Zeitungen sagen, hat es die Zentrumspartei für zweckmäßig ge¬
halten, den Eindruck der Müllerschen Schrift etwas abzuschwächen. Die Partei
soll dadurch in keiner Weise als gebunden erscheinen. Als ob man solche
Schwächen dem Ultramontanismus noch zutrauen könnte! Aber man rechnet
auf die Schwäche der Negierung. Sie muß gezwungen werden, die rettende
Hand des Zentrums auch in der Flottenfrage hilfesuchend zu erfasse», damit
der deutsche Michel auch das noch glaubt, wenn er es hört und liest: „Dem
Papst in Rom verdankt der Kaiser seine Schiffe." Diesen Dank gilts der
welschen Pfaffheit zu sichern, und deutsche Freiherren geben sich zu solchem
Handel her!
aß naht Jahre vergehen können, ohne daß die Liebe zweier Menschen
zu einander an den Tag kommt — zweier Menschen, die in einem
kleinen Dörflein beisammen wohnen —, das ist freilich unglaublich.
Aber das Unglaubliche ist nicht das Unerhörte oder Unmögliche, ja
nicht einmal das Ungewöhnliche.
Der Rlldersfrieder hatte sich auf der Höhe seines Stolzes eine
Einsiedelei erbaut und war da nicht herauszubringen. Als einmal ein Vierteljahr
verstrichen war, war auch die Geduld und Festigkeit auf ein Jahr hinaus gesichert;
und nach einem Jahre begannen schon Schlinggewächse die Einsiedelei auf der Höhe
zu umziehen, sodaß es sich immer ernster und dunkler darin ausnahm. Die fol¬
genden Jahre schienen viel kürzer als das erste Jahr. Und es wurde immer düsterer
von den Schlinggewächsen, sodnß der Frieder gar nicht sah, wie die acht Jahre
vorüberhuschten. Er wäre nicht um die Welt ans seiner Einsiedelei herauszubringen
gewesen. Eigentlich war es eine Zweisiedclei; denn er hatte die Madlene mit
drinnen, wenn auch ohne Fleisch nud Blut. Wenn er einmal die leibhaftige
Madlene sah durch die Schlinggewächse hindurch, so drückte er die Augen zu, um
seine geistige Madlene nicht zu verlieren. Das vermochte der Frieder. Hundert
andre wären zu lumpig dazu gewesen.
Madlene war in ihrem Wahn, der Rödersfrieder habe die Triltscheuchristel
vom Pfingsttanz nach Hause begleitet, durch eine Begegnung am Johannistag be¬
stärkt worden. Sie hatte für den Vater einen Gang in die Brattendörfer Schmiede
zu thun und war sehr früh aufgebrochen, um dann dem Vater, der ins Mähen
gegangen war, die Mvrgensuppe rechtzeitig bringen zu können. Heimwärts ging sie
auf einem schmalen Fußsteig durch den hohen Roggen, und die Ähren rauschten,
wie sie so durchschritt, geheimnisvolle Geschichten von vergangner Blüte und
schwellendem Kern und von der giftstreuenden Roggenmuhme — von Lerchen- und
Hühnerglück und blutgierigen Habicht und schleichenden Mordfnchs. Und Mndlene
war wie verloren in Gedanken. Da schallte von der Wiese drunten an der
Brattendörfer Flurgrenze herauf ein Lachen und Girren und scheuchte Madleue
vou den Kreuzwegen ihrer Gedanken zurück in die Üppigkeit der Johnnnistagsflnr,
Sie sah hinunter zur Wiese. Dort stand die Brattendörfer Turteltaube vor dem
nahenden Frieder, der eben seine Sense mit dem Wetzstein strich. Ein einziger
kurzer Blick hatte Nvggenmuhmcugift gefangen. Wie im Fieber schwebte Madleue
zwischen den rauschenden Ähren hin. Der Pfad wurde elastisch uuter ihr und
schnellte den Fuß bei jedem Tritt empor. Aus ists! ganz ans!
Aus wars. Kurz wars. Wars Glück? Das Glück ist wohl sehr flüchtig.
Aber es war noch nicht einmal Glück. Es war das Morgenrot des Glücks, was
erloschen war. In diesem Morgenrot war das jungfräuliche Herz erwacht und
wollte aufjubeln zum Himmel wie die steigende Lerche über der märzgrünen Saat.
Und der Schneesturm war dahergefegt, und ans wars.
Aber wie die Saat unter dem Schnee heimlich fortgrünt, und ihr Wurzel-
wachstum sich dabei vertieft, und wie die Lerche von den letzten Wintertücken hinter
die schützende Scholle getrieben, aber nicht Vertrieben wird aus der Flur ihres zu
hoffenden NestglückS, zu der sie im Glauben an den Lenz zurückgekehrt ist, so blieb
ein Schimmer vom Morgenrot des Glücks im Herzen der Madleue haften. Dieser
Schimmer war acht Jahre lang das heilige Geheimnis des Mädchens. Ob er den
Glauben umschloß? Sehnen und Leid, jn! Hoffnung? Lieb und Treue, jn!
Sehnen und Leid, Liebe und Treue bleiben im heiligen Geheimnis eingeschlossen.
Und wenn die blasse Blüte Von Sehnen und Leid aus den Wangen schlug und
der Thräuentau darüber zitterte, so war es keinem Menschenkind vergönnt, es zu
schauen; oder wenn die Liebe und Treue in purpurnen Schein zu Tage trat, so
war des kein Verständnis ringsherum.
So war das schweigende Elend des Frieder und der Madlene gewissermaßen
kein Elend. Es war und blieb ein unbeschreibliches Schweigen, ein Verborgnes
ihres Seelenlebens, eine Kraft, der das Hineinwachsen ins Leben versagt war.
Wie Keime der Natur jahrhundertelang dem Erwachen entgegenschlummern, so war
eben acht Jahre lang jene Kraft in den Seelen der beiden zurückgehalten und ge¬
borgen geblieben bis zur Erweckung zum Leben dnrch das glückliche Zusammen¬
treffen im Unglück.
Der Frieder und die Madlene waren aber so ins Schweigen hineingewachsen,
daß selbst das Unglück nicht imstande war, ihre Zungen zu lösen. Desto gewaltiger
reckte sich in ihnen die erweckte Kraft, so gewaltig, daß ihrer Übermacht eben die
Sprache als ein zu seichtes Gefäß erschien.
Das Hervorbrechen der so lange im Verborgnen genährten Kraft war so er¬
schütternd erfolgt, daß Madlene aus sich selbst heraus zum Weib geboren, und
Frieder mit einem herrlichen Mannesmut erfüllt ward. Und doch behauptete sich
das Schweigen zwischen ihnen noch eine lange Zeit. Denn nun ist ein halbes
Jahr für sie länger als die geheimnisvollen acht Jahre.
Der Türkendres war einst als Ameisenhaufen bald eingegangen, und sein
tückischer Bund mit den. Grundel hatte keine wettern Folgen gehabt. Der Gründe!
fing noch Vögel; der Türkeudres war seit mehreren Jahren verschollen. Die
Triltscheuchristel hatte alle Versuche, dem Rödersfrieder beizukommen, und zuletzt
auch die Hoffnung aufgegeben. Sie war noch ledig.
Im Musershaus hatte sich seit dem Bruch mit der Vergangenheit, der sich
in Madlene beim Beinbruch Frieders vollzogen hatte, das innere Leben geändert.
Im äußern ging es nach den Schlägen der Schwarzwälderin fort wie sonst. Der
Kater Fritz schnurrte auf dem warmen Südgeltendeckel seine Lieder, wenn Madlene
neben ihm spann. Der Kleine wirtschaftete anf dem Feld oder bosselte, und der
Gros;e webte an seinem Sackdrillich. Aber das schlesische Schlehenlied ward nicht
mehr gehört; der Große saug nicht mehr. Und Madlene warf ihm keine Holzäpfel
mehr zu. Der Kleine wußte sein Siegel „Woh is denn mei sogen!" nicht mehr
anzubringen. Die Gleichgewichtsfrage spielte uicht mehr. Das Gleichgewicht war
verloren gegangen. Madlene wog seit dem verhängnisvollen Mühlgang so schwer,
daß der .Meine sich anf die Seite des Großen stellen mußte, und sie brachte« die
gute Schwester doch uicht in die Höhe, wie sehr sie auch zusammenhielten in Scho¬
nung, stillen Liebesdiensten und allen bruderherzlichen Künsten. Sie wußten, was
der Madlene passirt war. Das ganze Dorf wußte, daß die Müsersmadleue den
Rödersfrieder mit dem gebrochnen Bein nach Haus geschafft hatte. Und es hätte
not gethan, Madlene hätte jeder Dorfseele extra die Geschichte ausführlich erzählt.
Es war aber nichts aus ihr herauszubringen. Der Frieder hatte es „seinen
Leute«" erzählt, und so war das Vorkommnis bekannt geworden. Sonst aber war
der Frieder darüber auch sehr zurückhaltend. We«« aber die Neugierde mit Aus¬
dauer zurückgewiesen wird, so fängt sie an, sich in erfinderischer Geschäftigkeit mit
Futter zu versorgen. Sie können einander uit erriechen! Das war endlich der
Rachespruch der unbefriedigten Neugierde. Wenns der Türkeudres gewesen wär! —
Wenns die Tritscheuchristel gewesen wär! — Mit dem Türkeudres wollteus ihre
Leut nit habn. — Mit der Christel wolltens seine Lent uit hab». Die Verschollner,
die Hoffnungslosen, wie sie eben Passen, müssen herhalten zur Ausfüllung der leeren
Blätter im Buch der Fama.
Madleuens Zustand nach jenem Abend, da sie das Herz des Frieders an
ihrem Busen schlagen gefühlt hatte, war für ihre Umgebung rätselhaft. Der Kleine
starrte sie von seiner Bößlerecke um der Ofenbank zuweilen minutenlang verstohlen
von der Seite an und konnte nicht entdecken, was in der guten Madlene anders
geworden wäre. Aber sie war doch ganz anders als vor dem Mühlgnng. Die
Augen kamen ihm vor, als wollten sie jeden Augenblick von Thränen überfließen;
aber ob Schmerzens- oder Freudenthränen zu gewärtigen seien, das brachte er nicht
heraus. Um den Mund herum spielte es auch so rätselhaft. Will sich das Spiel
ius Lächeln oder ius schmerzliche Zucken schlagen? Er konnte nicht ins Reine
kommen. Der Große wagte es nicht, sich darüber auf die Lauer zu legen. Er
fühlte es zu deutlich, daß der Schwester eine Art Reichtum in die Seele gefallen
war; an die Stelle der Holzapfelsäure war Apfelblütenduft getreten, aller Wider¬
spruch war einer wehmütigen Milde gewichen, launische Erregtheit, die sonst zu¬
weilen im Hnnsmescn durchbrach, wurde durch weihevollen Ernst ausgeschlossen.
Diesem Wesen gegenüber versank das Schlagwort „Ich kenn die Welt!" zehn Klafter
tief unter die Erde.
Die Madlenenseele hatte es allerdings zu einem großen Gewinn gebracht,
indem sie sich gestanden hatte: Ich liebe den Frieder ewig sehr! Mein Leben
gehört nnr ihm. Die ganze Welt ist nichts für mich! Der Frieder ist meine Welt,
mein Odem, wein Sein, mein Leben in Ewigkeit! Dieses Selbstgestäuduis trug
sie in ihrem Bewußtsein als einen heimlichen, heiligen Reichtum. Das Mvrgenrot
des Glucks war wieder in seiner ganzen Pracht aufgegangen in der Madlenenseele,
daß sie zitterte zwischen seinem weckenden Glanz und der zu erwartenden Sonne.
Und nun rührt mich nicht an, nieder mit Gedanken nach Warten, laßt mich zitternd
schweben in meiner langersehnten Heimat, bis der Tag lammt, an dem es euch ver¬
kündigt wird: Der Frieder ist mein!
Es dauerte Wache», bis sich die Madlenenseele in der lang ersehnten Heimat
ein wenig sicher fühlte. Und das Zeichen dieser jungen Sicherheit, ein wohl¬
gefälliges Lächeln, wurde der Madlene abgerungen durch ein wichtiges Ereignis im
Müsershaus.
Der Schreiner brachte mit einem Gesellen eines Tags das „Birro." Als
der Große das Lächeln seiner Schwester bemerkte, wäre er ihr vor Rührung bei¬
nahe um den Hals gefallen. Aber er unterließ es und widmete dem neuen Hans¬
ratsstück einen laugen prüfenden Blick. Und da wurde zum erstenmal wieder von
ihm gehört: Das muß ich kenn! Und der Kleine, der das Lächeln der Schwester
auch bemerkt hatte, hielt mit seinem Siegel nun auch nicht mehr zurück: Woh is
denn mei sogen!
Das Birro wurde in der Stubenecke zwischen dein Haustreppenfenster und
der Stubenthür aufgestellt. Da stand nun das Geschwisterkleeblatt vor dem glän¬
zenden, lackdnftigcn Stück in freudevoller Verwunderung, und der Schreiner mußte
die Vexirschloßprobe machen, und der Kater Fritz drückte sich schnurrend nicht bloß
an seiner Herrin herum, auch den Brüdern wurde zur Anerkennung ihrer bruder¬
herzlichen Haltung diese Ehre zuteil. Kaum hatte sich der Schreiner mit seinein
Gesellen entfernt, so fand die Überführung der Kasse und aller sonstigen Wertsachen
aus dem Tischkasten nach dem Birro statt. Damit aber dies Geschäft ordnungs¬
gemäß und in gehöriger Richtigkeit vollzogen werde, zählte der Große die 259 Thaler
breit ans den Tisch. Dabei führ er, einmal übers andre mit dem Daumen nach
der Unterlippe zur Aufcuchtuug, und seine Augenbrauen wölbten sich hoch wie Ehren¬
pforten für staunende Blicke. Denn mindestens die Hälfte dieser Thaler hatte der
Große aus dem Abwurf seines Webstuhls beigetragen. Aber bei jedem Thaler,
den er klappend mit dem breiten Dummen auf den Tisch drückte, gedachte er much
des Butter- und Eiergeldes der Madlene und qnittirte dankbarst die unzähligen
Leistungen des Ackermannes und Bößlers. Madlene und der Kleine standen wie
versteinert und zählten im Geiste gewissenhaft mit. Alle drei waren von einem
feierlichen Ernst erfüllt; denn jedes Ehre war dabei im Spiel, ebenso wie wenn
der Rcgiernngskassenrat Revision hält. Der Kleine hatte die Schlüsselwoche und
rollte nach Anweisung des Großen die blanken Thaler in dickes Papier, und der
Große versiegelte die fünf Rollen zu je fünfzig Thalern mit des Vaters Petschaft,
wobei Madlene den brennenden Span hielt. Nachdem die Rollen in einem ge¬
heimen Fach des Birro geborgen waren, machte der Große die Vexirschloßprobe
vor, und Madlene und der Kleine machten sie nach. Dann nahm der Kleine den
blitzblanken Schlüssel zu sich. Dabei bekam er einen roten Kopf, als wäre er somit
zum königlichen Kämmerer ernannt worden mit zentnerschwerer Verantwortung.
Das Wurzelschänzchen mit der Haushaltuugskasse behielt sein Plätzchen im Tisch¬
kasten, zu dem heute Madleue feierlich zur bleibenden Schließerin ernannt wurde.
Der wöchentliche Schlüsselwcchsel aber wurde aufs Birro übertragen.
Der April war herangekommen und schien recht gut gelaunt; mit sonnigen
Tagen und milden Nächten begann er auf Wiese und Feld dem Gras- und Saat¬
wuchs zu schmeicheln, Veilchen und „Sommerthnrle" hervorzulocken. Die Wiesen
und Kleeäcker ninßien schleunigst gefegt, d, h. von ausgewitterte« Dünger und von
Steinen gereinigt werden. Der Kleine ankerte und säte Hafer, Mndlene begab sich
nach dem „Rangen," den Klee zu fegen. Jedes Steinchen war abzulesen, damit
beim Mähen die Sense nicht Schaden leide. Sie hatte noch nicht lange ihr Ge¬
schäft auf dem grünenden Acker begonnen, da erschien die alte Matthesensbärbel
auf ihrem anliegenden Kleeacker und begann ebenfalls eifrig zu rechen. Und sie
wußte es einzurichten in ihrer Geschäftigkeit, daß sie bald in die Nähe der Mad¬
lene kam, um mit ihr anbinden zu können. Denn die alte Bärbel arbeitete noch
einmal so gern, wenn sie sich dabei unterhalten konnte; da floß es von ihren
Lippen aus alter und neuer Zeit wie das Dorfbächleiu, worin sich die jungen
wolligen Giiusleiu tummeln. ES fehlte auch nicht um Kieselsteinen darin; und je
nach Umständen machten die böse» Gänslein das Wässerlein auch einmal trüb.
Hab alleweil einen recht bösen Finger; ist der Wurm dran. Aber dn giebts
nichts bessers, als einen lebendigen Regenwurm drauf binden: gleich ist der Schmerz
weg. He, da war einmal — 's ist schon lange her — ne Fran, die Nikelsknnnel,
die hatte eine böse Zehe, war ordentlich schwarz. Und der Schäfer thats nit
anders, hat die Zeh aufgeschnitten; und ist ihr die Zeh aufs Herz gezogn, und in drei
Tagen war die Nikelsknnnel tot. Merk dirs, Mndlene! Ein lebendiger Regenwurm.
Bald darauf stand der Rechen der Bärbel still, und sie näherte sich der
Madlene bis ans zwei Schritte nud begann halblaut und etwas erregt: He, Medla!
Sif drüberuaus, das Unglück des Rödersfrieder! Sind nun sechs Wochen. Der
liegt dir fest, darf sich nit rührn — wie angenagelt. Sif drüberuaus! Und
noch sechs Wochen müßt er so lieg, hat der Doktor gsagt. Die Lent sagn — dn
hast ihn doch selninl heimgeschafft —, die Leut sagn, ihr könnt't einander nit er¬
rechn; wenns der Türkeudres gewesen wär, thatst du freilich anders um ihn.
Ha, wer mag denn sowas nacherzähln! Aber der Türkeudres wär alleweil a Vor¬
nehmer draußen in der Fremd. Und wenn er kam, könnts unent doch uoch was
werdn. He, Medla, dein Frieder gönn ichs in einer Art; der ist doch immer um
einem vorbeigelaufen wie ein Schatzheber, oder als hätt ers mit der schwarzen
Kunst. Ich wiißt was für sein Bein; da folles bald anders nnssehn. Aber dem
sng ichs nit. Dn kannst dirs aber merk, Madlene. Mau nimmt ein Schock Krebs,
schält sie aus, dieweil sie uoch rot hin, nimmt das Fleisch davon und ein gut Teil
Wernint, einen guten Teil Schmer, auch Butter, diese vier Stück zusammn ge¬
macht und fein klein gehackt, hernach ordentlich beim Feuer gekocht, so wird das
ne Salm, wies keine weiter gilt; und die helt dir in drei Wochen 'n Beinbruch.
Aber dem sag ichs nit, partout uit. In dieser Weise redete die Bärbel in Mat-
te"e hinein und stemmte bald die Rechte, bald die Linke in die Seite, je nachdem
der Rechen hinüber oder herüber flog, und verbeugte sich und nickte dabei so
herzhaft, stampfte auch dazwischen mit dem einen oder andern umfangreiche» Fuß
den jungen Klee, daß ihr ganzes Inwendiges zum Vorschein kam. Manchmal
stand der Rechen des gequälten Mädchens ein wenig still; denn fegte er wieder
umso heftiger.
Die Kleefcgerinnen waren noch nicht weit von Ackeraufstvß, in dessen Quer-
furche eine Fußgängerlinie vom Trettersberg herüber durch den Rangen nach dem
Dörfchen lief. Vom Trettersberger Grümbke her kam eben der Gründe! vom Rot¬
kehlchenfang; und er kam just 'dazu, wie sich die Bärbel von der Madlene ab¬
wandte zur Fortsetzung ihres Feggeschäfts mit der lauten Wiederholung des Rufes:
^es gonns ihm in einer Art! Der Gründe! war bereits nahe genug, das zu
verstehen.
Da war vom Frieder die Red, fuhrs dem Grundel durch den Kopf, und er
blieb stehen und rief grüßend: Fegt Klee? Er steht recht hübsch. Ihr habt ge¬
sagt, daß Jhrs ihm gönnt, Bärbel. Ihr meint doch den Türlendres? Görms
ihm auch in einer Art.
Dem Türlendres? Was gönnst dn denn dem Türlendres?
'
Daß 's ihm gut geht, und er einen feinen Herrn spielt.
Habs alleweil gsagt, er wär a Fürnahmcr, hätt ich ghört.
Das ist er freilich, ganz gewiß. Wies doch in der Welt gehn kann!
'
Woh is denn der Türlendres alleweil, daß er n Fürnahmen spielt?
Kauns nit sagn. Er muß doch einer sei», der audern Geld ausmacht, wenn
sie welches brciuchu.
Geld? Der Türlendres? Woar fühl immer das Mengst bei ihm.
Das versteht Ihr nit, Bärbel! Ihn schicken die Leut, die sich schämen ins
Borgen zu gehn.
Das wär mir — na, wie soll ich denn sprechen — 'n recht hübsch Zeit¬
vertreib, armern ihre Schand hausirn zu trag»; wie 'n Bnlsustrnger^) rnm-
znlaufn, he? Und zu fragen: Wer borgt den Lumpen Geld? Lieber 'n Exe-
quira!
Barbla, das verstell Ihr nit. In Wien is er. Es hat mirs einer in der
Stadt gsagt, der den Türlendres in Wien getroffen hat; er hat gesehn, daß er in
einer Kutsche gefahrn is, die war mit Sammet ausgeschlagu.
'
Ach dn Herrjemine! Thust s Maul gleich recht groß auf, Grundel. Sif
drüberuaus, wies alleweil zugeht in der Welt! So was gönnt ich dem Türkeudres
doch uit. Ich hab deu Nödersfrieder gemeint.
Den Nödersfrieder? Nu, dem gönn ichs auch in einer Art.
Nit wahr? Die Madlene hat ihn heimgeschafft selmal: und er könnt sie nit
erriech, sagen die Lent. Ich wüßt 'ne Salm für sein Bein. Aber der kann lang
wart! Er hat sein Teil und wird schon noch Jesum Christum erkennen tern'n.
'
Ist meine Meinung auch, Bärbel. Sag »mal, Madlene, was du von der
Sach denkst?
Madlene hatte wahrend dieses Gesprächs fleißig gefegt, und dabei hatte sie
auf einem Fleckchen, wo längst kein Steinchen mehr lag, darauflosgerecht, als wäre
es nicht reinzubringeu. Bei der an sie gerichteten Frage fuhr sie herum uach dem
Grundel zu und gab mit ihrem Rechen einem nebendraußen liegen gebliebner Stein
einen Schwung über fünf Beete weg. Aber sie sah deu Grundel nicht an bei der
Antwort.
Was ich denk? Das meng ich nit unter Euers, uuter den Dase!'^) Dann
drehte sie sich um und nahm ein andres Ackerfleckchen unter ihren Rechen.
Hast recht, Madlene! Da machts die Triltscheuchristel anners. Die hat
machten den Frieder besticht.
Was? Was sagst dn, Grundel? He? rief die Bärbel; die Triltschenchristel
deu Frieder besucht? Wirth noch was? Die kanns; die verstehts. So was!
Habs sei immer gesagt.
Die Christel hat in der Nachbarschaft junge Gans geholt, und da hat sie nit
an dem Frieder seinem gebrochnen Bein vorbeigehn können. Ich sags anch: die
Christel ist besser, als die Leut denken! Seid nit so fleißig! Damit ging der
Gründe! von bannen.
Von Westen her war eine finstere Wand aufgestiegen. Und aus der
Wand heraus wälzte sichs in weißgrauen Streifen, die wie ein zerrißner Götter-
mautel zur Erde hingen, grausig heran. Ein dichtes Regen- und Graupelgemengscl
überschüttete das Dörflein und die Flur. Madleue' und die Matthesensbärbel
flüchteten sich zwar heim, wurden aber doch durchnäßt. Das Wetter war zu hastig
hereingefallen.
«Fortsetzung folgt)
Die preußische Staatseisenbahnverwaltnng. Das Jahr 1897 hat der
preußischen Staatseisenbahnverwaltnng ganz besonders viele und heftige Vorwürfe
eingetragen. Eine Reihe verhältnismäßig schnell aufeinanderfolgender schwerer Un¬
fälle im Sommerhalbjahr bot die Veranlassung dazu. Schon in Ur. 33 der
Grenzboten vom 23. September v. I. ist diesen Vorwürfen gegenüber darauf hin¬
gewiesen worden, daß sich für die einzelnen Unfälle und namentlich für ihre
Häufigkeit in einem bestimmten kurze» Zeitraum ein ursächlicher Zusammenhang mit
Fehlern der Verwaltung und ihrer Organisation sehr schwer nachweisen lasse, und
daß man vor allem, um nicht ungerecht zu verurteilen, den Nachweis abwarten
solle, daß die Zahl der Unfälle gegen früher und im Vergleich zu andern Ver¬
waltungen auffallend und dauernd zunehme. Dieser Nachweis ist von den An¬
greifern bis heute nirgends geführt worden, wohl aber hat der Minister der öffent¬
lichen Arbeiten in einer am 10. Jnnnar d. I. dem preußischen Landtage übersandten
„Denkschrift über den Stand der Betriebssicherheit, die Betriebseinrichtungen und
den Betriebsdienst auf den Staatsbahnen" in der Hauptsache in unanfechtbarer
Weise den Gegenbeweis erbracht. Je größer die Beunruhigung über die Unfälle
des letzten Jahres im Volte gewesen ist, umso wichtiger und erfreulicher ist die
Beruhigung, die die Denkschrift bringt, da der Ruf der preußischen Stcmtseisen-
bahnen, was ihre Betriebssicherheit anlangt, bei der gewaltigen Ausdehnung
ihres Schienennetzes und dessen Lage im Herzen von Europa nicht nur von
preußischen und deutschem, souderu auch von internationalem Interesse ist. Nach
den vom Reichseisenbahnamt und vom Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen
Yerausgegebueu Statistiker sind in dem Zeiträume von 1381 bis 1896/97 im
Jahresdurchschnitt auf 1000 000 Zugkilometer aller Züge (Personen- und Güterzttge)
auf den preußischen Staatseisenbahnen 10,7 Unfälle, auf allen deutschen Bahnen
^2,4 Unfälle, auf den österreichisch-ungarischen Bahnen 13,3 Unfälle vorgekommen.
Auf den preußischen Staatseisenbahncn haben in den Sommerhnlbjahren der
Periode 1892/93 bis 1896/97 durchschnittlich stattgefunden: ans 100 Kilometer
Letriebslängc 3,21 Unfälle, ans 1000 000 Zngkilometer aller Züge 7,53, dagegen
"n Sommerhalbjahr 1897 auf 100 Kilometer Betriebslttuge 2,80 Unfälle, auf
1000000 Zugkilometer aller Züge 6,22. Die „Zahl der Unfälle" in dem
Unglückshalbjahr 1897 ist also verhältnismäßig überhaupt nicht hoch gewesen.
Dagegen war die „Zahl der verunglückten Personen" in der That verhältnis¬
mäßig sehr hoch, denn es verunglückten in den Sommerhnlbjahren
Die Zahl der verunglückten Reisenden bestimmt ganz natürlich den Eindruck, den
die Unfälle auf das Publikum machen, und da der Sommer 1897 weit über das
Doppelte des Durchschnitts der vorhergehenden fünf Sommer an verunglückten
Reisenden gebracht hat, war die besondre Erregung der öffentlichen Meinung sehr
erklärlich. Aber es liegt auf der Hemd, daß nicht nach der Zahl der Verunglückten
um sich die Leistung der Verwaltung zu beurteilen ist, fondern nach der Zahl der
Unfälle. Ein einziger Unfall kann, ohne daß ein Verschulden vorliegt, die Zahl
der Verunglückten eines Halbjahrs um das Vielfache der Jahresdurchschnitte unfall¬
reicher Jahrzehnte erhöhen.
In der Denkschrift sind ferner in tabellarischen Nachweisen die Zahlen der
beförderten und der verunglückten Reisenden mit den Zahlen der Zugkilomcter
der Personenzüge in Preußen, Deutschland, Frankreich und England für die Periode
1830/97 verglichen. Setzt man die Zahl der preußischen Staatseisenbahn als 1, so
erhält man folgendes Ergebnis. Es verhalten sich zu einander
Es ist anzuerkennen, daß durch diese Zahlen der Vorwurf grober Vernach¬
lässigung der Betriebssicherheit, den die Presse gegen die preußische Staatseisen-
bahnverwaltuug erhoben hat, als ungerecht erwiesen ist, und es ist dringend zu
wünschen, daß man den mancherlei, auch wohlberechtigten, Wünschen, die seit langer
Zeit dieser Verwaltung gegenüber geltend gemacht werden, fortan nicht mehr durch
diesen ungerechten Vorwurf Nachdruck zu verleihen sucht. Ganz besonders schlecht
hat man den bekannten Beschwerden der höhern technischen Beamten der preußischen
Stcmtseiseubahneu damit gedient, daß man die Schuld an der angeblich in ärgsten
Verfall geratnen Betriebssicherheit den Juristen in der Verwaltung in die Schuhe
zu schieben suchte. Durch derartige gehässige Übertreibungen wird man nichts
bessern, wohl aber das Schlimmste, was dem Eisenbahnbetriebe überhaupt
geschehen kann, erreichen: die Untergrabung der Disziplin in der Masse der
Beamten und Arbeiter. Hierin liegt eine der größten Gefahren für die Betriebs¬
sicherheit der Eisenbahnen aller Länder. Wenn Herr von Elm und seine Helfer
die „Eisenbahner" international organisirt haben werden, dann wird es zu spät
sein, den Wert der Disziplin zu erörtern.
Jeder von uns ist ein Gemisch von Zügen der Naturvölker und der Kultur¬
völker, darauf beruht das große persönliche Interesse, das dieses gründliche und
klar geschriebne Buch bei jedem denkenden Leser erregen muß; sür Ethnologen und
Historiker ist es ein Handbuch, dessen Verständnis die Boraussetzung für jede reife
Arbeit aus der Geistesgeschichte ihrer Gebiete ist. Die Psyche der Naturvölker
und der Kulturvölker wird durch keine scharfe Grenze geschieden, aber bei jenen
überwiegen unwillkürliche Handlungen, bei diesen willkürliche, dort herrscht spielende,
hier orgnnisirte Energie, dort Leidenschaft, hier Besonnenheit, dort ein Sich-
beflimmenlassen durch die Außenwelt, hier das umgekehrte Verhältnis — ein ab¬
seits liegendes, aber doch schlagendes Beispiel hat Egli in der geographischen
Namengebung nachgewiesen: man vergleiche das umgekehrte des Verhältnisses in
den beiden Namenpaaren Grünewald und Bismarckarchipel und Frankfurter Straße
und Goethestraße. Alle jene Unterschiede zwischen Natur- und Kulturvölkern sind
keine Gegensätze, sondern bedeuten eine Zunahme des Geistigen auf feiten des
Kulturvolks. Sie ist zugleich ein Fortschreiten vom objektivem zu einem mehr
subjektiven Dasein: z. B. tritt auf ethischem Gebiete an die Stelle der Sitte die
Sittlichkeit, an die Stelle der Furcht vor der Strafe das Gewissen, Hier
dürfen wir vom Fortschritt sprechen. Vierkandt enthüllt freilich auch schonungslos
die Einbußen, die gewöhnlich mit „höherer" Kultur Verbünde» sind: Schwächung
des Willens (die Männer in Goethes und dagegen in Shakespeares Dichtungen —
mit Ausnahme Hamlets, den Bierknndts „Vollkultur" für sich in Anspruch nehmen
durs), Verblassuug der Religion zur Moral und Mechanisiruug, die bei unbe¬
deutenden Dingen eine allgemeinem Fortschritt günstige Erleichterung ist, bei be¬
deutenden ein Fluch.
Wir wollen das gedankenreiche Buch nicht weiter auspflücken, der Leser nehme
es selbst zur Hand. Wenn nicht alles ausgemacht ist, was es bringt, so ist doch
alles anregend. In einer so schwierigen Frage wie der der Rnssenbegabnng schiebt
der Verfasser einmal der Rasse zu, was Sache der Entwicklung ist, wenn er die
Poetische Form des Parallelismus für semitisch erklärt: alles, was er da über die
»eiftige Art des Pnrallelismus sagt, paßt Wort für Wort auf die Variationstechnik
der altgermanischen Epen. Über die Aussichten sür das Weiterleben von Kunst
und Religion in unserm deutschen Kulturvolk denken wir anders als Vierkandt, der
beide von der Vollkultur auf den Aussterbeetat gesetzt erklärt — wir können einen
solchen Zustand ebeu nur als moderne Halbkultur bezeichnen. Freilich die Zahl
der Weitergehenden wird wohl immer kleiner wie die Pyramide nach oben immer
schmäler, und das Los des Werdenden immer euttnuschuugsvollcr.
Auf deu wenig über hundert Seiten dieses Buches ist so viel aus allen mög-
lichen Gebieten des sozialen Lebens, der Geschichte usw. des alten und des neuen
Griechenland zusammengefaßt, daß vieles nur angedeutet sein kann, was unbedingt
näherer Begründung bedurft hätte. Aber der Verfasser nennt das Werkchen ja
nur „zur" Rassen- und Sozialhygiene und verzichtet damit von vornherein darauf,
etwas Vollständiges zu geben. Dennoch will es uns scheinen, daß etwas mehr
Planmäßigkeit dem Buche nicht geschadet hätte. Man würde deshalb den Verfasser
noch lange nicht für einen jener Professoren halten, gegen die er fort und fort
seine Streiche führt.
Wenn der Verfasser in der Vorrede sagt! Hoffentlich gelingt es mir, die
philologische Mär von der asiatischen Herkunft der Pelasger und Hellenen zu zer¬
stören — so wird wohl nicht bloß der „philologische Fanatiker" mit dem Kopfe
schütteln. Ein wirklicher Beweis mußte eingehender und zwingender geführt werden.
Was der Verfasser bringt, ist ja als Anregung ganz gut und wird vielleicht deu
oder jenen veranlassen, der Frage näher zu treten, besonders die so viel bekämpften
Werke von Carus Sterne einmal zu studiren. Die asiatische Herkunft der Grieche»
hatte fast dogmatische Bedeutung erhalten, eine Reaktion war notwendig. Man
mag nun jetzt mit der nordischen Herkunft des Griechenvolks wissenschaftlich operiren,
die Geschichtsforschung wird ihren Nutzen daraus ziehen; aber man darf sich nicht
gleich an das neue Dogma verkaufen. Wir stimmen dem Verfasser vollständig bei,
wenn er im Gegensatze zur ältern philologischen Behandlung die Wichtigkeit der
ethnographischen Seite hervorhebt und besonders auf die verwirrende Gleichsetzung
von Rasse und Sprnchstamm aufmerksam macht, und ohne deshalb für alles einzelne
einzutreten, können wir ihm auch darin Recht geben, wenn er ans dem Boden
Griechenlands ein Zusammenfließen zweier Nasscuströmungeu annimmt, die wir kurz
als die asiatische und die nordische bezeichnen wollen. Sehr zweifelhaft erscheint
es uns aber, ob man die beiden Typen in Figur 1 als Beweis für das Nebeneinander
der beiden Nassen zur Mykenischen Zeit beibringen kann. Mit Interesse folgt mau
dem Verfasser bei den hie und da eingestochenen Schilderungen des modernen
Griechenland und seiner Bewohner. Wo es ihm möglich war, hat er auf seinen
Reisen und Ritten durch Griechenland und die Troas Untersuchungen über die
Wasserversorgung des Landes in der klassischen Zeit angestellt. Er hat gefunden,
daß es in dieser Beziehung die Grieche« Wohl mit den gepriesenen Römern auf¬
nehmen konnten. Hierin liegt wohl die Hauptbedeutung des Werkchens. Besonders
anziehend ist, was über die örtlichen Vorbedingungen der berühmten Pest in Athen
am Beginn des peloponnesischen Krieges gesagt ist. Dergleichen kann uns natürlich
alle Thukydides- und Divdorerlläruug nicht bieten.
Eine Verkennung scheint uns in der Beurteilung des delphischen Orakels zu
liegen. Darüber, daß die größte Rolle dabei die Suggestion gespielt hat, ist wohl
kein Zweifel, die meisten Pythien mögen auch hysterische Weiber gewesen sein. Aber
die ganze Sache als Pfaffentrug anzusehen, scheint doch etwas zu rationalistisch.
Ans bloßen Trug hätte sich die hohe Stellung, die Delphi jnhrhuudertelang in der
hellenischen Welt einnahm, kaum aufbauen können. Menschlichkeiten kamen natürlich
auch hier vor, aber die Priester hatten ihre uralten Überlieferungen und Satzungen,
die von deu meisten sicher als göttlichen Ursprungs angesehen wurden, und ans
Grund deren sie, wenn Apollo um Rat gefragt wurde — denn darum handelte
es sich meist, uicht um höhere Knrteulegerei —, unbewußt die Phthia beeinflusse»
mochten."
Daß der Verfasser immer noch von „Kretensern spricht, ist recht überflüssig,
Wenige englische Schriftsteller unsers Jahrhunderts verdienen es so sehr, wie
Thomas Carlyle, in Deutschland bekannt zu werden, denn kaum ein andrer hervor¬
ragender Geist Englands war während seiner Entwicklung so eng mit der deutschen
Litteratur verbunden als er.
Wahrend seines Aufenthalts in Kirkccildy wurde der junge Carlyle durch eine
befreundete Familie, die Beziehungen zu Hamburg hatte, auf die deutsche Litteratur
aufmerksam! mit Kotzebue nud dem „siebenjährigen Krieg" von Archenholtz begann er
seine Studien, dann folgten Jean Paul und die Romantiker, Schiller und Goethe. Doch
Carlyle hätte nicht Carlyle sein müssen, wenn er nicht den Grund dieses Studiums
tiefer gelegt hätte. Bald schätzte er die deutsche Litteratur ihres moralischen Wertes
wegen: 1t' tluz miuä is eulriv-rtöä truck cannot tslco in religiös b^ eng M Vöbiole-,
a lo>v vno must, do «trivou meter. In tuis point ok view Karmin litoratnrs is
cznits prieoloss. I novsr ooass to thaute Hölcvsn lor Snell mon a,s Riebtsr (^o^u
I'aut), Seliilwr, vootbs. 'IIuz I^ttkr ospveiall^ v^s in^ so-ruAglist. His ^porus,
ik )'on Stück^ enfin vnd oarnvswess, ars s.s tho ä^-svrinA visitinx us in et^rin
niAbt.
In den schlimmen Tagen, die er von 1818 bis etwa 1322 durchlebte, als
er die Seelenkämpfe durchmachte, die er im Ltrrtor lies^rtus, in den Lorrovvs ok
'l'vnkklsäröelib, in '1'Ils IZvorl^stiuF Ro, Ins tüsntro ok Inäillcuoneö schildert und in
lüvorliisting- ?va. und l^uso zit versöhnlichent Schlusse führt, fand Carlyle bei
den deutschen Dichtern, besonders durch Betrachtung von Schillers Ringen und
Leiden, den hauptsächlichsten Trost, sodaß er siegreich als Mann aus diesen Kämpfen
hervorging. Aber auch glückliche Zeiten für ihn wurden durch die deutsche Litteratur
eingeleitet. Zu Anfang des Sommers 1821 wurde ihm durch Frviugs Vermittlung
die Aussicht über den Bildungsgang, besonders die Lektüre, der geistig hochbegabte»
Jane Welsh übertragen. Bald schickte der Lehrer seiner Schülerin Päckchen mit
deutschen Büchern Von Edinburg uach Haddington, besuchte sie öfters, um sich
Von dem Fortgang ihrer Studien zu überzeuge», und wurde immer befreundeter
mit ihr, bis er sie im Oktober 1326 als Gemahlin heimführte. Ein brieflicher
Verkehr zwischen Carlyle und Goethe wurde 1824 begonnen und wurde regelmäßig
seit 1826.
Bei diesen Verhältnissen ist es kein Wunder, daß man schon früh Carlyles
Schriften in Deutschland mit Aufmerksamkeit verfolgte, so wie er sich in seinem
Vaterlande bemühte, seine Landsleute mit den Geisteserzeuguissen unsers Vaterlands
vertraut zu machen durch Übersetzungen (wie „Wilhelm Meisters Lehrjahre," denen
sich später die „Wanderjahre" anschlössen, und seine Auswahl ans Goethe und den
Romantiker») und kritische Arbeiten (über Goethes Faust, Jean Paul, deu Stand
der deutschen Litteratur, Heine. Novalis u.a.). Sei» „Leben Schillers" wurde schon
1830 i»s Deutsche übersetzt und von Goethe mit einem Vorwort versehen; 1844 folgte
die „Französische Revolution"; 1359 bis 1869 die „Geschichte Friedrichs II. vou
Preußen." Seit 1882 haben wir auch eine Verdeutschung vom L^reor RvWrws.
Lernte man aber durch diese Übersetzungen auch die Hauptwerke Carlyles und
seine Denk- und Anschauungsweise kennen, so war doch, wenn wir von verhüllten
Andeutungen im Larwr lissartus absehen, lange Zeit in England selbst kein Wert
vorhanden, worin er autobiographische Erinnerungen oder Bekenntnisse gegeben hätte.
Erst in seinem Todesjahr, 1831, übergab er seinem Freunde Fronde ein Manuskript
zur beliebigen Verwendung für eine zukünftige Lebensbeschreibung. Fronde wollte
aber diese wertvollen Aufzeichnungen nicht stückweise, sondern nur als Ganzes
herausgeben. Cnrlyle erklärte sich damit einverstanden, doch wollte er selbst eine
Korrektur davon durchsehen. Es war das um so wünschenswerter, als er die
Rsminisoollses niedergeschrieben hatte, ohne dabei an eine Veröffentlichung zu
denken, und zwar die meisten beinahe fünfzehn Jahre früher, die Erinnerungen an
seinen Bater sogar im Anfang des Jahres 1832. Aber Carlyle starb, ohne den
Druck gesehen zu haben. So blieb denn Fronde nichts übrig, als das Manuskript
drucken zu lassen, wie es war. Es erschien in zwei Bänden noch im Todesjahre
des Verfassers. Der erste Band enthält die Erinnerungen an Jnmes Carlyle, seinen
Vater (-Samsö of-ri^lo cet lledeck<ZLÜg.n, Räson), und die an seinen Freund Eduard
Irving. Diese zweiten sind mehr als. viermal so umfangreich wie die erste».
In den schlichten Worten der Erinnerung an seineu Vater, die ein Paar Tage
nach seinem Hingang niedergeschrieben wurden, drückt sich die ganze Liebe ans, die
Carlyle zu seineu Eltern hegte, und die in deu Schlußworten gipfelt: 'I'ImnK 1Je».vizii,
I Icncnv ami davs Icnovn >vus.t it is to of a, sein; w lovo a lÄtluzr, sxirit van,
loof 8M'it>. Kock Z-ive mo to livL to in^ lÄt,Iuzi''F lumour ima to Ius.
Einen ganz andern Charakter trägt der dem Andenken Eduard Jrvings ge¬
widmete Aufsatz. Irving starb 1834, die Erinnerungen wurden 1866 abgefaßt.
Irving wandelte, nachdem er von 1813 bis etwa 1324 zu Carlyle in enger
Freundschaft gestanden hatte, ganz andre Wege. Er wurde Begründer der Sekte
der Jrviuginuer, kam zu ganz rudern religiösen Ansichten, und die Freunde sahen
sich nur noch selten. Doch niemals vergaß Carlyle, daß ihm Irving in Edinburg
in schlimmen Jahren beigestanden und ihn unterstützt, ihn dann auch in London
in die litterarische Welt eingeführt hatte. Darum spricht sich auch in diesen Er¬
innerungen tiefe Dankbarkeit ans. Doch fagt der Verfasser selbst in seinem Tage¬
buch (26. September 1366): „Ich schreibe ohne rechte Frische etwas, das ich
»Erinnerungen um Eduard Irving« nenne. Es stellt sich aber bis jetzt heraus,
daß es mehr von mir selbst als vou ihm handelt. Vielleicht läßt es sich nicht
gut anders machen, zumal bis hierher." Und an einer andern Stelle (3. Dezember):
„Ich habe (unter fortwährenden Unterbrechungen) eine Menge Seiten von »Er¬
innerungen um Irving« geschrieben (kommt aber darauf hinaus, daß sie von mir
und Eduard Irving handeln!); bin noch nicht damit zu Ende; ich komme in letzter
Zeit kaum einmal in drei Tagen dazu. Sollte wohl verbrannt werden. . . . Aber
das Niederschreiben giebt mir einen klaren Blick für jene vergangnen Zeiten; es
enthält Abschweifungen und Abschnitte, die mir noch lieber sind als Irving."
Niemand wird dies als Fehler empfinden, im Gegenteil, wer hörte nicht
lieber den Verfasser über sich selbst als über Irving reden! Wie viel Charakte¬
ristisches erfahren wir da über Carlyle und die, die ihm nahe standen oder später
nahe traten.
Diese beiden „Lebenserinnerungen" liegen nun hier in deutscher Übertragung
vor. Wir müssen dem Übersetzer und dem Verleger dankbar dafür sein, daß sie
diese Stücke einem größern Leserkreis zugänglich gemncht bilden. Die Übersetzung
liest sich gut und ist getreu; die geringen Auslnssungeu kann nur nur billigen,
der Verfnsser hätte wohl selbst die weggefnllueu Stellen beseitigt, wenn ihm noch
eine Durchsicht des Druckes vergönnt gewesen wäre. Gegen das beigegebne Bildnis
Carlyles läßt sich nichts weiter einwenden, als daß wir gern anch ein Bildnis aus
jüngern Jahren gesehen hätten, da die beiden Erinneruuge» sich auf Carlyles
frühere Jahre beziehen (etwa das aus Shepherds Nsmoiis bekannte).
Der zweite Baird des Originals bietet nicht weniger Interessantes: Carlyles
Leben in Edinburg (in I^ora ^ellroy, tus I-a>v>or auel Rovivvvor) und vor allem
^uns ^Volsb vari^Is. Hoffentlich können wir übers Jahr auch von diesen die
deutsche Übersetzung hier anzeigen.
In der Ausstattung ihrer bekannten „Kllnstler-
monvgraphien" beginnt die Verlagshandlung von Velhagen und Klasing nun anch
„Monographien zur Weltgeschichte" zu veröffentlichen. In dem „Plane der Samm¬
lung" finden wir die „Blüte des Pharaonenreiches" nicht gerade sehr passend;
auch zu einem neuen „Fürst Bismarck" liegt wohl kein dringendes Bedürfnis vor,
was wir nur mit Rücksicht auf die in dem Prospekt hervvrgehobnen Lücken der
vorhandnen historischen Litteratur bemerken möchten. Aus der neuen Sammlung
liegen vor: Die Medizecr von Archivrat Professor Dr. Ed. Heyck und Königin
Elisabeth von England und ihre Zeit von Professor Erich Marcks. Ab¬
geschlossene Darstellungen einzelner geschichtlicher Abschnitte werden, wenn sie mit
der nötigen Sorgfalt gearbeitet sind, dankbare Leser finden, aber ohne diese Grund¬
lage schwerlich, denn unser gebildetes Publikum ist durch vortrefflich geschriebn«!
Bücher unsrer besten Geschichtschreiber einigermaßen an Gutes gewöhnt worden.
Wir geben in dieser Hinsicht der um zweiter Stelle genannten Monographie vor
der ersten den Vorzug. Denn die erste ist nicht nur im allgemeinen nicht gut ge¬
schrieben, auch nicht gut disponirt, sondern sie enthält anch im einzelnen viel unrichtiges
und zu beanstandendes. Bei Marcks hingegen ist uns außer dem abscheulichen Worte
„kulturell" nur eine einzige Gedankenlosigkeit ausgefallen, indem Königin Elisabeths
sünfnndvierzigjährige Regierung „die längste der großen Regierungen der neuern
englischen Geschichte" genannt wird, was eine» nachdenkenden Leser doch in Bezug
auf Georgs III. sechzig und Viktorias einundsechzig Jahre stutzig machen muß.
Oder sind das keine „großen" Regierungen? Welche wären es aber dann über¬
haupt? Im übrigen ist das Buch lebendig und interessant geschrieben. Eine
Partie, wie die fesselnde Charakteristik Elisabeths S. 47 oder wie deu hübschen
Eingang zu dem Abschnitte über die Renaissaneelitteratnr, wird man in den
„Medizeern" vergeblich suchen. Auch daß der Stoff gut angeordnet und in einzelne
Abteilungen eingeteilt worden ist und nicht alles, wie in deu „Medizeeru," durch¬
einanderläuft, wie bei einer Völkerwanderung, ist ein für jede Art von Lesern
wichtiger Vorzug des Marcksscheu Buches.
Beide Monographien sind mit einer solchen Menge von Abbildungen versehen,
daß die Hälfte davon und sogar ein Drittel schon übergenug gewesen wäre. Diese
sogenannte reiche, in Wirklichkeit gedankenlose und verschwenderische Illustration
droht sich bei den immer billiger werdenden Vervielfältigungsweisen zu einer
wahren Landplage auszuwachsen. Man kann feit einigen Jahren die Beobachtung
machen, daß in der Buchillustration sehr vieler Verlagshaudluugen, darunter auch
sehr angesehener, das Bild in sehr auffälliger Weise seinen Weg selbständig neben
dem Worte des Textes nimmt. Es giebt sogar Fälle, wo sich die Verfasser eines
Textes öffentlich über die ihnen von ihrem Verleger angethane Buchillustration
beklagt haben. Unter solchen Umständen gehen die Abbildungen den Verfasser
eines Textes gar nichts an, sie sind nachträglich hineingestellt worden. Ans einen
großen Teil der Bilder nimmt der Text überhaupt keine Rücksicht, mit andern
hängt er lose zusammen, auf andre endlich paßt er schon gar nicht mehr. Dann
preist die Reklame die prachtvolle Ausstattung eines solchen wohlfeilen Buches, der
Käufer freut sich über die schönen Bilder, und der Leser merkt nicht, daß sie ihm
mehr schaden als nützen, denn anstatt ihn im Verständnis des Textes zu unter¬
stützen, ziehen sie seine Aufmerksamkeit davon ab und sollen wohl hernach sür die
Mängel entschädigen. Da der Quadratcentimeter Autotypie so und soviel Pfennige
kostet, so besteht das Verdienst dieser auf eine beliebige Zahl von Quadratmetern
zu erstreckenden Kunst schließlich nur in der Anzahl von Zwanzigmarkflücken, die
eine Verlagshandlung zu riskiren für gut hält. So führt das billige Verviel-
fältiguugsverfahren, wenn der Buchhandel diese große Wohlthat nicht zu gebrauchen
versteht, zum Verfall seines Gewerbes, soweit es mit Illustration zu thu» hat,
und was erfunden zu sein scheint, um den Sinn für gute Kunst zu fördern und
zu verbreiten, wird zunächst dazu angewandt, den Geschmack zu verderben.
Vou diesem Anziehungsmittel der Buchillustration, wie sie uicht sein soll,
macht also der Verlag der „Kttnstlermonographieu" nun auch in den „Mono¬
graphien zur Weltgeschichte" eiuen sehr ausgedehnten Gebrauch. In der „Elisabeth"
ist z. B. zu einer ganz allgemeinen Bemerkung des Verfassers über die Architektur
S. 89 ein Verweis auf nicht weniger als zwölf, unmittelbar vorher aber noch in
demselben Satze (zu dem Worte: Hausgeräte) ein solcher auf sechs Abbildungen
eingerückt worden, und diese achtzehn Abbildungen schwirren nun zwischen S. 77
und 95 Vor unsern Augen in einem Texte herum, mit dem sie sachlich gar nichts
zu thun haben. Noch störender ist das Übermaß der Abbildungen in den „Medizeern,"
weil die Illustration hier sogar zahlreiche Fehler begangen hat, woran natürlich
der Verfasser des Textes unschuldig ist. Wenn aber ein Verlag über den Kopf
des Verfassers ein Buch illustriren will, so sollte er damit Personen betrauen, die
genau wissen, was die Bilder bedeuten, mit denen sie umgehen solle». Statt
dessen finden wir z. B. in den „Medizeern" zwei weibliche Porträts der Berliner
Galerie als „Kunstbeilagen" abgebildet; das eine, „herkömmlich" als Lucrezia
Tornabuoni bezeichnet, stellt diese Dame sicherlich nicht dar, und das andre ebenso
wenig die Simonetta. Was sollen die also hier, noch dazu in Rotdruck und auf
gekörntem Papier, anspruchsvoll und irreführend, als ob die Originale Rvtel-
zeichuungen oder monochrome Ölskizzcn wären? Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Wir haben hier einen Übelstand zur Sprache gebracht, der einen größern
Umfang anzunehmen droht, und rechnen dabei auf die stille Zustimmung vieler
Verständiger. Vielleicht konnte eine Erinnerung an die Verfasser, sich die Illu¬
stration nicht ganz aus der Hand nehmen zu lassen, wenn sie die geeigneten Per¬
sönlichkeiten erreichte, schon etwas nützen.
n Berlin haben die Führerinnen der Frauenbewegung in Ent¬
rüstung über den „Fall Koppen" wieder einmal nach Kräften
die Lärmtrommel gerührt. Der „Fall" war längst in der Presse
und sonst von Männern nach Gebühr abgehandelt worden, aber
er war ja für die führenden Frauen hauptsächlich auch nur Mittel
zum Zweck; er durfte nicht unbenutzt bleiben in der Agitation für die große
Sache der modernen Frauenbewegung. Hier soll er uns nicht weiter beschäf¬
tigen, obwohl die unverantwortliche Ungeschicklichkeit, mit der sich in neuerer
Zeit die Berliner Polizei um ihren Ruf zu bringen bemüht ist, nicht scharf
genug gerügt werden kann. Auch die Frauenbewegung soll hier nicht be¬
sprochen werden. Sie ist eine Krankheitserscheinung wie viele andre, und noch
dazu eine an sich wenig gefährliche und ernsthafte. Sie gewinnt ihre ernste
Bedeutung erst dadurch, daß sie von der Sozialdemokratie „zielbewußt" als
ein Mittel zur Zerrüttung der Gesellschaftsordnung und der Gesellschafts¬
anschauungen erkannt ist und gemißbraucht wird, und dadurch, daß die nicht-
sozialdcmokratischcn Modenarren unter den Männern der „modernen Frau" einen
hervorragenden Platz unter den fixen Ideen ihrer verworrnen Phantasie ein¬
geräumt haben. Verwahrung möchte ich nur einlegen gegen die beleidigende An¬
maßung , mit der die Führerinnen der Bewegung schon viel zu lange die
gesunden, pflichttreuen, werkthätig schaffenden und in der That schon, wo sie
nur wollen, sehr einflußreichen, die höchste Verehrung und Liebe der ganzen
Nation verdienenden neun Zehntel der gebildeten deutschen Frauen behandeln.
Vor unsern Müttern, Frauen und Töchtern sollten wir deutsche Männer uns
eigentlich schämen, daß wir diese Dreistigkeit so arg haben ins Kraut schießen
lassen. Mit dem „berechtigten Kern," den man in dieser oder jener von den
Frauenschützlerinnen aufgebauschten Forderung entdecken kann, werden wir uns
doch selbst nichts weismachen wollen; wir wissen doch, daß es zum Geschäft
der Macher beiderlei Geschlechts gehört, sich solcher „Kerne" findig zu be¬
mächtigen, und wers nicht weiß, dem zeigts der „Fall Koppen." Weiter habe
ich mit der Frauenbewegung hier, Gott sei Dank, nichts zu thun. Ich wünsche
vielmehr sehr, daß die Dienstbotenfrage, für die ich das Interesse der Grenz¬
botenleser in Anspruch nehmen will, von der „modernen Frauenbewegung"
ganz und gar in Ruhe gelassen werden möchte, sonst wird das Kranke in ihr
nicht gesund, sondern nur noch kränker werden.
Vor kurzem hat der Berliner Statistiker Dr. E. Hirschberg unter dem Titel:
,,Die soziale Lage der arbeitenden Klassen in Berlin" ein recht wertvolles Buch
veröffentlicht. Nicht nur das mit aller Gewissenhaftigkeit geprüfte Material
von Thatsachen, das er beibringt, verleiht der Arbeit eine besondre Bedeutung,
auch die daran geknüpften Betrachtungen und Schlußfolgerungen fallen sehr
vorteilhaft auf gegenüber der Masse von Einseitigkeiten, Übertreibungen und
anmaßenden Urteilen, denen wir in der sonstigen modernen sozialpolitischen
Litteratur auf Schritt und Tritt begegnen; sie scheinen mir um so lehrreicher,
als man sast bei allen einzelnen Fragen den Widerstand des ehrlichen Ge¬
lehrtengewissens und des gesunden Menschenverstandes gegen die Dogmen der
Schule herausfühlt. Das Buch ist jedenfalls allen, die sich wirklich belehren
wollen und Kritik zu üben vermögen, auf das wärmste zu empfehlen. Mit
Recht widmet der Verfasser der Lage der weiblichen Dienstboten, als einer von
der der übrigen Arbeiterinnen sehr verschiednen, ein besondres Kapitel, dessen
Inhalt ich zunächst als den Ausdruck von sozusagen sehnt- und fachmännischer
Anschauungen kurz darlegen will.
Den Dienstboten wird, sagt der Verfasser, der größere Teil des Lohnes
in Naturalien und Wohnung bezahlt, indem sie im Haushalt verpflegt werden
und leben. Hieraus ergiebt sich eine, man kann sagen ,,ununterbrochne Arbeits¬
zeit," da sie zu jeder Stunde zur Verfügung der ,,Dienstherrschaften," wieder
technische Ausdruck lautet, stehen. Selbst die übliche Ausbedingung eines freien
Sonntagnachmittags aller vierzehn Tage wird nicht immer eingehalten, da auch
das von den besondern Umstünden im Haushalt abhängig gemacht werden muß.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hat die Lage der Dienstmädchen auf
den ersten Blick „ein fast erschreckendes Maß von Unfreiheit," und in der That
kann sie von unverständigen und böswilligen Arbeitgebern arg mißbraucht
werden. Sieht man aber hiervon ab, so ist sie keineswegs beklagenswert. Die
Arbeit ist nicht besonders hart und schwer, sie bringt keine besondern Gefahren
für Gesundheit und Sittlichkeit mit sich, ja sie unterscheidet sich nicht von den
Arbeiten, die so viele Hausfrauen in Berlin — denn nur der siebente Teil
aller Haushaltungen hat Dienstboten — selbst verrichten. Vor Kälte, Hunger,
Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit geschützt, leben die Dienstboten als Ge¬
nossinnen des Haushalts, nehmen an dessen Freuden teil, ohne von dessen
Sorgen bedrückt zu werden, und genießen bei guter Führung Vertrauen und
Erleichterungen im Dienst und auch mancherlei Vergnügungen und Zuwendungen,
worauf die Fabrikarbeiterinnen verzichten müssen. So ist es denn nicht ver¬
wunderlich, daß der Zustrom zu den Dienstbotenstellungen dauernd bedeutend
ist, obwohl „die Löhne nicht eben hoch" genannt werden können. Die Lohn¬
höhe, bei der noch durchweg die alte Thalerrechnung beibehalten wird, giebt
der Verfasser folgendermaßen an:
Wohnung und Kostgeld sind dabei auf eine Mark für den Tag, Weihnachts¬
geschenke auf 20 Prozent des Lohnes zu veranschlagen, sodaß im Durchschnitt
das jährliche Einkommen einschließlich sonstiger Geschenke und Trinkgelder auf
600 Mark geschätzt werden kann.
Wenig erfreulich lauten die Angaben, die der Berliner Statistiker über
den Stellenwechsel der Dienstboten macht, denn darnach wechseln die Dienst¬
boten im Durchschnitt aller sieben bis nenn Monate die Stelle. Daran wird
die Bemerkung geknüpft: „Dieser Punkt ist bezeichnend für die Dienstboten-
frage. Auf der einen Seite bei den Herrschaften der dringende Wunsch, eine
ihnen ergebne und in den hundert Kleinigkeiten des Lebens dienstbereite Ge¬
hilfin um sich zu haben, die sich mit den Gewohnheiten der einzelnen Haus¬
genossen allmählich vertraut macht, ihnen gern entgegenkommt, die Botengänge
besorgt, die Küche wahrnimmt, sich mit den Kindern abgiebt und nebenbei auch
eine gewisse Verschwiegenheit bewahrt über das, was im Haushalt zu sehen
und zu hören ist. Auf der andern Seite beim Dienstboten in der Regel eine
nur geringe Neigung, diesen Aufgaben nachzukommen, allenfalls das Bestreben,
die eigentlichen Arbeiten zu besorgen, aber zunächst keinerlei Neigung oder Er¬
gebenheit, vielmehr die mehr geschäftliche Auffassung, wie sie etwa eine Fabrik¬
arbeiterin ihrem Arbeitgeber gegenüber beherrscht. Nur durch jahrelanges Zu¬
sammenleben kann erst das Verhältnis entstehen, das wir oben als im Interesse
der Dienstherrschaften, aber auch des Dienstboten liegend bezeichneten. Dazu
kommt es aber verhältnismäßig selten, in der Regel wird der Dienst weit
früher aufgegeben." Die Regel ist, sagt der Verfasser weiter, ein Hasten von
einer Dienststelle zur andern, und zahlreich genug sind die Fülle, wo Dienst¬
mädchen ohne jeden andern Grund aus dem Dienst gehen, als aus bloßer
Neigung, zu wechseln, zahlreich freilich auch die, wo sich die Hausfrauen schlie߬
lich nicht mehr die Mühe geben, die Dienstmädchen anzulernen, ihr Interesse,
ihre Zuneigung für sich, ihre Kinder, ihre Wirtschaft zu fesseln. „Nicht zu reden
von den zum Glück selten vorkommenden Dienstherrschaften, die aus Charakter-
vder Temperamentsfehlern überhaupt nicht mit ihren Angestellten umzugehen
verstehen."
Weiter macht Dr. Hirschberg noch Angaben über einige andre That¬
sachen. So sind im Jahre 1895 als nach Berlin „zugezogen" berechnet worden:
43238 Dienstmädchen, als „fortgezogen" geschätzt: 38000, durch Heirat
ausgeschieden: 3415. Die Zahl der „eigentlichen Dienstmädchen in den Haus¬
haltungen Berlins" im Jahre 1895 kann seiner Annahme nach auf 65000
veranschlagt werden, was mit den amtlich veröffentlichten Ergebnissen der
Bernfszählung vom 14. Juni des genannten Jahres nicht übereinstimmt. Nach
diesen sind nur 61063 weibliche Dienstboten gezählt worden. Über das Stellen¬
vermittlungswesen teilt er mit, daß etwa 250 Institute bestehen, die diesen
Zweck gewerbsmäßig verfolgen. Das bedeutendste davon hat in dem einen
Jahre 1892 nicht weniger als 62000 Stellen vermittelt. Ob das nur eigent¬
liche Dienstboten für häusliche Dienste waren, ist nicht gesagt. Jedenfalls waren
darunter wohl die männlichen, wie Kutscher u. dergl., die nicht im Hause
der Herrschaft leben. Die Stellenvermittlung durch gemeinnützige Vereine
tritt gegen die gewerbsmäßige weit in den Hintergrund. Wichtiger ist ihre
sonstige Fürsorge. So hat das „Amalienhaus" in einem Jahre 689 Dienst¬
mädchen, die ihre Stellen wechselten, in 6440 Nächten beherbergt; „Mcirthas
Hof" sorgt ähnlich für Unterkunft der Mädchen, auch im Falle von Reisen
der Herrschaften; das „Charlottenheim" ist unter anderen auch auf angemessene
Unterhaltung der Dienstmädchen an Sonntagen bedacht. Ähnlich wirken das
„Heimatshaus für stellensuchende Mädchen," das „Se. Afrastift" und das
„Se. Marienstift." Sehr erkennt Hirschberg das Bestreben verschiedner Vereine
an, die aus der Provinz ankommenden Mädchen auf den Bahnhöfen „abzu¬
fangen" und ihnen Unterkunft und Unterstützung beim Stellensnchen zu ge¬
währen. Wenn er es für unzweckmäßig hält, daß diese Vereine vielfach „religiöse
Bestrebungen mit ihren sonstigen guten Zwecken vermengen," so ist das ein¬
seitig. Solche guten Zwecke zu verfolgen ist doch gerade auch Aufgabe kirchlich¬
religiöser Gemeinschaften, und diesen Charakter dabei zu bewahren haben sie
auch das Recht. Nur Unduldsamkeit und Aufdringlichkeit ist zu vermeiden.
Von einer „Abschaffung" der altpreußischen Gesindeordnung erwartet Hirsch¬
berg wenig Wirkung. Als veraltet erscheinen ihm die Bestimmung über das
„Züchtigungsrecht der Herrschaft" und die „Zeugnisbücher," die sogenannten
Dienstbücher. Die Zeugnisse selbst, wie sie jetzt vorgeschrieben sind, hält er für
besonders unzweckmäßig: die Wahrheit stehe ohnehin weder in den Zeugnissen
noch in dem nach Vorschrift anzuführenden Grunde des Dienstaustritts. „Wären
die Zeugnisbücher nicht Vorschrift, so würden die Dienstmädchen sich mir dann
solche ausstellen lassen, wenn sie gute Älteste erhalten können, und die Herr¬
schaft würde mehr, als es bis jetzt üblich ist, persönlich, mündlich oder schriftlich,
Nachfrage halten." Auch die sechswöchige Kündigungsfrist und die gesetzlichen
Umzugstermine zum Quartalswechsel will er abgeschafft sehen. Er will,
wenn nichts andres verabredet ist, eine vierzehntägige Kündigungsfrist, die von
jedem Tage an läuft. An diese Reformvorschläge knüpft er dann folgende
Betrachtung: ,,Zu viel kann man sich freilich davon nicht versprechen, denn
die eigentlichen Mißstände im Dienstbotenwesen dürften nicht in den gesetzlichen
und obrigkeitlichen Vorschriften, sondern in moralischen Verhältnissen liegen,
einerseits bei den Dienstherrschaften, die in dem Mädchen vielfach leider weniger
die Hausgenossin als eine mechanische Arbeitskraft sehen, andrerseits in dem
Dienstmädchen, das in geistiger und sittlicher Bildung noch zu sehr zurücksteht
und auch hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts zu große Ansprüche stellt,
als daß es imstande wäre, sich der Ordnung eines fremden Hauswesens leicht
zu fügen, sich in dessen Gewohnheiten hineinzudenken und eine wirklich teil¬
nehmende Hausgenossin zu sein." Und das ganze Kapitel schließt folgender¬
maßen ab: „Zur Zeit macht es den Eindruck, als ob sich die Dienstmädchen
in den großen Städten mehr zu einer Art von Tagearbeiterinnen entwickelten.
Häufiger Stellenwechsel, kurze Kündigungsfrist, kurze tägliche Arbeitszeit sind
die Ziele der jetzigen Bewegung. Auch die freie Kost wird zur Zeit schon
häusig von der Dienstherrschaft abgelöst. Geschieht dies auch mit der freien
Wohnung im Haushalt, so kommt man zu Verhältnissen ähnlich denen bei
Fabrikarbeiterinnen. Bestimmter Antritt zur Arbeit, bestimmte Pausen, be¬
stimmter Schluß. Damit hört die Hanshaltsgemeinschaft auf, und an ihre
Stelle tritt ein Aufwärterinnenwesen, wie es schon jetzt eine nicht geringe
Verbreitung hat."
Werfen wir nunmehr einen Blick auf die uns in der Statistik gebotne
Auskunft über den Stand und die Entwicklung des Dienstbotenwesens in ganz
Deutschland, so möchte ich vou vornherein darauf hinweisen, daß gerade in
Bezug auf die Berufsthätigkeit der Frauen die Ergebnisse der statistischen Er¬
hebungen vielfach dazu haben herhalten sollen, die Behauptung zu beweisen,
die naturwissenschaftlich-technische Vervollkommnung der Produktivns- und
Verkehrsmittel habe in neuerer Zeit die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Verhältnisse so vollständig verändert, daß nichts mehr von allem, was
bisher als moralisch und rechtlich geboten, als sozial nud wirtschaftlich
vernünftig gegolten hat, für die neue Welt passe. Ganz gewiß haben
die veränderten Produktionsmittel eine Reihe von Verschiebungen in der
wirtschaftlichen und sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung, in der Arbeits¬
teilung zwischen Mann und Weib und innerhalb der beiden Geschlechter
veranlaßt. Aber ich kann aus der Statistik die völlige Umwälzung der frühern
Verhältnisse beim besten Willen nicht herauslesen, weder wenn ich das Gesamt¬
bild der neuesten Zahlen über die Verufsverteilung mit dem vergleiche,
was man allgemein als das Alte bezeichnet, noch wenn ich die Ergebnisse
der verschiednen statistischen Erhebungen — in Deutschland hauptsächlich der
von 1895 und der von 1882 — gegen einander halte. Dagegen scheint mir
der Glaube, oder wie ich meine, der Aberglaube, daß in den Wirtschafts- und
Erwerbsverhältnissen alles ganz neu und anders geworden sei, durch die sast
allgemeine Herrschaft, zu der er unter den Gebildeten — weit mehr als unter
den Arbeitern — gelangt ist, dahin zu führen, daß die soziale Thätigkeit
und Pflichtenerfüllung der wirtschaftenden und erwerbenden Menschen und
natürlich auch ihre Verantwortlichkeit immer mehr in die Brüche gehen, und
daß sich so auf moralischem Gebiet eine Umwälzung, oder vielmehr, da
man nichts neues an die Stelle des Alten zu setzen weiß, ein Verfall
vollzieht, der mit der Zeit auch den Umsturz der „Verhältnisse" zu bringen
droht. Namentlich scheint mir der Glaube an die Neuheit der heutigen
Verhältnisse zu einer überhasteten Gesetzmacherei und Vielregiererei auf dem
wirtschaftlichen und sozialen Gebiete zu verleiten. Wenn zum Beispiel Hirsch¬
berg sehr richtig die eigentlichen Mißstände im Dienstbotenwesen nicht in
den gesetzlichen und obrigkeitlichen Vorschriften, sondern in moralischen Ver¬
hältnissen sieht, so werden die „Modernen" unter den Sozialpolitikern einfach
zu dem Schlüsse kommen, daß da überhaupt gar nicht mehr zu helfen sei, daß
das Dienstbotenwesen eine verfallende, zum Abbruch reife Ruine, ein patriar¬
chalisches Überbleibsel aus alter Zeit sei. Und die Masse der Gebildeten, fürchte
ich, wird ihnen insoweit wenigstens nur zu gern glauben, daß sie jede mora¬
lische Leistung und Anstrengung des Einzelnen zur Abstellung der Mißstände
als aussichtlose, mit der Neuzeit nun doch einmal unverträgliche Bemühungen
von sich weisen. Ich für mein Teil bin der Meinung, daß es ein großes und
dabei keineswegs durch die neuen Erwerbsverhültnisfe unabwendbar gemachtes
Unglück wäre, wenn auch nur unsre großstädtischen weiblichen Dienstboten zu
Tagearbeiterinnen für häusliche Dienste würden, und wenn der patriarchalische
Charakter des deutschen Dienstbotenwesens aufhörte. Ich bin weiter der alt¬
modischen, aber hoffentlich über kurz oder lang doch wieder in die Mode
kommenden Überzeugung, daß wir gebildeten Leute, und namentlich die ge¬
bildeten Frauen, sehr viel dazu thun könnten und müßten, dieses Unglück ab¬
zuwenden. Deshalb wünschte ich sehr, daß die Leser sich über die Statistik
des deutschen Dienstbotenwesens selbst ein Urteil bildeten. Da die moderne
Soziologenzunft etwas andres durch sie beweisen zu können glaubt, als mein
durch die praktische Erfahrung von vier Jahrzehnten natürlich getrübtes Auge
aus ihr herausliest, so weiß ich wohl, daß man mir ohne die Zahlen nicht glaubt.
Was die männlichen Dienstboten betrifft, oder wie die deutsche Statistik
den Begriff scharf begrenzt: die männlichen „Dienenden für häusliche Dienste,
im Hause der Herrschaft lebend," so mögen folgende Zahlen genügen. Ich setze
hier, und gelegentlich auch später, einige ausländische Zahlen zum Vergleich
daneben. Es sind gezählt worden:
Bemerkt sei, daß ich mit den „Dienstboten" nach der Definition der
deutschen Statistik die OoNiestiquös attavli^s g. ig, xsrsorms der französischen
und die voinöstie-InÄoor Lsrvg,oth der englischen in Vergleich stelle. Ob es
mit dem Merkmal des „Lebens im Hause der Herrschaft" in Frankreich und
England so genau genommen wird wie in Deutschland, wage ich nicht zu ent¬
scheiden. Im großen und ganzen-dürfte der Vergleich zulässig sein, jedenfalls
ist kein besserer möglich. Hier, in Bezug auf die männlichen Dienstboten,
kann man in Deutschland wohl von einem Verfall sprechen, aber man wird
dem Bediententroß der „guten alten" Zeit nicht viel Thränen nachzuweinen
haben, auch wenn man sich nicht gerade, wie Nöthe in seiner Ethik schon vor
fünfzig Jahren, über die Dienstbotenthätigkeit des Mannes als mit seinem
sittlichen Beruf unverträglich entrüstet.
Zu den weiblichen Dienstboten übergehend müssen wir uns zunächst etwas
über den Stand der weiblichen Berufs- oder Erwerbsthätigkeit überhaupt
unterrichten.
Es sind im deutschen Reiche gezählt worden
Es sei hierzu bemerkt, daß der sogenannte „Nebenberuf," d. h. die nur neben¬
sächliche Erwerbsthätigkeit in der Hauptsache nicht berufs- oder erwerbsthätiger
Personen, hier nicht berücksichtigt ist. Andrerseits sind zu den erwerbsthätigen
Personen auch die in dem Betriebe des Familienhaupts (mit ihrem Haupt¬
beruf) thätigen Ehefrauen, Töchter und andern weiblichen Verwandten gerechnet,
deren Zahl in Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr 1895 zusammen
1154918 betrug. Die aus vorstehenden Zahlen ersichtlichen Verschiebungen
Zwischen 1895 und 1882 sind sehr beachtenswert, und sie sind sicher über¬
wiegend die Folge der riesigen Fortschritte, die wir in der Technik des Güter-
und Personentransports in den letzten Jahrzehnten gemacht haben. Schon
wenn man die dadurch herbeigeführte Erleichterung der Haushaltungsthätigkeit
— der Hausfrauen-, Haustöchter- und Hausmägdearbcit — bedenkt, wird eine er¬
hebliche Abnahme der nur im Haushalt wirkenden weiblichen Personen und eine
ebensolche Zunahme der erwerbsthätigen als natürlich und notwendig anerkannt
werden müssen. Wie würde nicht schon mit einemmale die Zahl der Dienst¬
boten wieder steigen, wenn überall die Hauswasserleitungen beseitigt würden!
Von einer völlig neuen oder auch nur wesentlich veränderten Verteilung der
weiblichen Personen nach der Berufsthätigkeit können mich diese Zahlen aber
durchaus uicht überzeugen.
Stellen wir weiter die Erwerbsthätigen beider Geschlechter mit den weib¬
lichen Erwcrbsthätigen (ohne die Dienstboten) in Vergleich, worauf bekanntlich
ein besondres Gewicht gelegt wird und auch in der That zu legen ist, so er¬
halten wir folgendes Bild:
Sind etwa diese Zahlen als Beweis für die behauptete rapide Zunahme der
weiblichen Erwerbsthätigkeit und die erdrückende Konkurrenz anzuerkennen,
die sie der Männerarbeit macht? Freilich ist mit solchen Samuel- und
Durchschnittszahlen für das ganze Reich, Stadt und Land und alle Verufs-
arten zusammen, überhaupt uicht viel gesagt. Es können sich in den Gro߬
städten in hohem Grade verhängnisvolle soziale Veränderungen abspielen, die
in den Zahlen für das Reich gar nicht zum Ausdruck kommen, weil sich die
nichtgroßstädtischen Zahlen in der entgegengesetzten Richtung geltend machen;
es kann in der Industrie eine gewaltige Verschiebung zu Gunsten der Frauen¬
arbeit stattfinden, der in der Landwirtschaft das Gegenteil entspricht. Ich
stelle deshalb zunächst einmal die Zahlen für das ganze Reich mit den Zahlen
der fünfzehn schon 1882 als Großstädte, d. h. mit mehr als 100000 Ein¬
wohnern, gezählten Städte zusammen. Es kamen
Es hat sich also der Anteil der Frauen an der Erwerbsthätigkeit in den
fünfzehn Großädten um 1,7 Prozent gehoben, während er im Reich nur um
1,1 Prozent größer geworden ist, aber er ist auch nach dieser Vermehrung
in den fünfzehn Großstädten um 0,9 Prozent kleiner geblieben als im ganzen
Reiche.
Und sodann, was den Anteil der beiden Geschlechter in den verschiednen
Berufszweigen betrifft, so mögen folgende Zahlen davon ein Bild geben:
Es hat also der Anteil der Frauen an der berufsmäßigen Erwerbsthätigkeit,
abgesehen vom häuslichen Dienstbotenberuf, in der Landwirtschaft (einschließlich
Gärtnerei, Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei) um 2,4 Prozent zuge¬
nommen, in der Industrie (einschließlich Bergbau, Hütten- und Bauwesen) um
0,8 Prozent, im Handel und Verkehr (einschließlich der sogenannten Beherber-
gungs- und Erquickungsgewerbe) um 5,8 Prozent, im öffentlichen Dienst und den
freien Berufsarten um 1,2 Prozent. Die Verufsabteilung »Häusliche Dienste
und Lohnarbeit wechselnder Art" umfaßt, abgesehen von der bunten Sammel¬
gruppe der Lohnarbeit wechselnder Art, alle die für uns sehr interessanten
Aufwartefrauen und nicht bei ihrer Herrschaft wohnenden Dienenden für häus¬
liche Dienste und dergleichen. Zu dieser zuletzt genannten Gruppe gehörten
1895: 48 803 Männer und 182769 Frauen, während in ihr 1882: 45602
Männer und 116474 Frauen gezählt worden sind. Die Frauen haben hier
also sehr stark im Verhältnis zugenommen; ihre absolute Zunahme (56295)
übertrifft sogar die absolute Zunahme der weiblichen Dienstboten (31543)
bedeutend, was Hirschbergs Bemerkung in gewissem Grade bestätigt. Aber
aus all diesen Zahlen die völlige Neuheit der Stellung der beiden Geschlechter
in der berufsmüßigen Erwerbsthätigkeit als unabänderliche Thatsache heraus¬
lesen zu wollen, ist doch Heller Unsinn. Vollends wenn man bedenkt, daß bei
der Verufszählung von 1895 sicher viel schärfer als bei der von 1882 die
weibliche Erwerbsthätigkeit erfaßt worden ist. Ich wiederhole ausdrücklich,
es ist durchaus nicht zu bestreiten, daß in einzelnen Berufszweigen und Be¬
zirken die Frauenarbeit einen Umfang erreicht haben mag, der die männlichen
Arbeiter sehr unangenehm berührt, ja sie teilweis verdrängt, und daß die Frauen¬
arbeit diesen Zweigen und Bezirken in der That ein wesentlich verändertes Ge¬
präge verleihen und unter Umständen besondre staatliche Maßnahmen im sozialen
Interesse notwendig machen kann, die früher nicht nötig waren. Nur der
Übertreibung und Verallgemeinerung dieser thatsächlich doch vereinzelten und
im Verhältnis zum ganzen recht unbedeutenden Verschiebungen wollte ich
entgegentreten, weil diese Übertreibung es unmöglich machen kann, die Mi߬
stände im Dienstbotenwesen vollständig zu beseitigen.
Will man sich eine Vorstellung von dem Stande des Dienstbotenwesens
in Zahlen machen, so muß man die Zahl der Dienstboten — ich meine jetzt
immer nur die weiblichen — mit denen der Gesamtbevölkerung vergleichen.
Man kann sie aber auch, und das scheint mir hier das zweckmäßigere zu sein,
der Zahl der erwerbsthätigen Bevölkerung gegenüber stellen, zu der dann
allerdings, da es sich um die für das Halten der Dienstboten hauptsächlich in
Betracht kommenden Bevölkerungsschichten handelt, noch die von eignem Ver¬
mögen, Renten und Pensionen lebenden, an sich nicht erwerbsthätigen Per¬
sonen (Rentner) hinzugerechnet werden müßten. Es stellt sich dabei heraus,
daß auf je 100 Erwerbsthätige und Rentner beider Geschlechter an weiblichen
Dienstboten kamen in
Vergleicht man die Zahlen für das deutsche Reich einerseits und für die
fünfzehn deutscheu Großstädte von 1882 andrerseits, so ergiebt sich folgendes Bild:
Vergleicht man endlich die Zahlen für die verschiednen Berufsabteilungeu der
deutschen Statistik, so erhält man nachstehendes Ergebnis:
beim Handel und Verkehr . . 280»7!> 280737 >2,0 18,!! 21,4 22,4
Während sonach die Zahl der weiblichen Dienstboten, auf 100 Erwerbs¬
thätige und Rentner beider Geschlechter berechnet, in Deutschland von 1882
bis 1895 um 1,0 geringer geworden ist, beträgt der Rückgang in Frankreich
von 1886 bis 1891 sogar 1,4, dagegen in England von 1881 bis 1891
nur 0,8. In den fünfzehn deutschen Großstädten hat sich die Zahl von 1882
bis 1895 um 3,2 vermindert gegen 1,0 im ganzen Reiche; sie ist aber trotz
dieser Verminderung immer noch um 3,5 größer als im Reiche. In der
deutschen Landwirtschaft ist die Zahl der weiblichen Dienstboten, auf 100 Er¬
werbsthätige beider Geschlechter berechnet, um 0,6 kleiner geworden, in der
Industrie um 0,8, im Handel und Verkehr dagegen um 6,3. Auf 100 im
öffentlichen Dienst und in den freien Berufsarten stehende Erwerbsthätige
beider Geschlechter kamen 1895 2,3 weibliche Dienstboten weniger als 1882,
und auf 100 Rentner 3,2 weniger. Die Personen aus der Klasse der häuslichen
Dienstleistungen usw. und die sonstigen Berufslosen fallen nicht ins Gewicht.
Wir finden in diesen Zahlen zugleich die sehr wichtige Frage uach den
hauptsächlich an dem Halten von weiblichen Dienstboten beteiligten Berufen oder
Ständen beantwortet. Die Landwirtschaft beschäftigt trotz des verhältnismäßig
starken Rückgangs ihres Anteils immer noch mehr häusliche Dienstboten als
irgend eine andre Berufsabteilnng. Es ist dabei wohl zu beachten, daß das
hauptsächlich im landwirtschaftlichen Betriebe thätige Gesinde nicht zu den häus¬
lichen Dienstboten, sondern zu den Erwerbstätigen gerechnet ist, daß aber
bei der Unsicherheit der Grenzlinie die Zahlen mit Vorsicht aufzunehmen sind.
Auch für die Industrie ist das zweifellos anzunehmen, da hier gleichfalls die
im Gewerbebetrieb des Haushaltsvorstauds hauptsächlich beschäftigten Dienst¬
boten (im weiteren Sinne) von der Statistik als Erwerbsthätige und nicht als
häusliche Dienstboten behandelt werden, obgleich sie im Haushalt des Betriebs-
iuhabers leben. Auffallend ist der Rückgang der von den Erwerbsthätigen
im Handel und Verkehr gehaltenen häuslichen Dienstboten, da hier die Zahl
der Erwerbsthätigen besonders stark zugenommen hat. Zum Teil mag auch
hier die Zählweise die Verschiebung größer machen, als sie ist, hauptsächlich
ist die Erklärung aber wohl darin zu suchen, daß der starke Zuwachs der Er-
werbsthätigm vorwiegend aus abhängigen Personen der besonders stark ver¬
mehrten Großbetriebe besteht. Der Anteil der im öffentlichen Dienst und in den
freien Bernfscirten stehenden Erwerbsthätigcn und der Rentner an der Gesamtzahl
der Dienstboten ist etwas großer geworden. Die beiden andern Berufsklassen
(häuslicher Dienst usw. und Berufslose) haben kein Interesse; die veränderten
Zahlen haben hier nur ans dem Papier Bedeutung oder sind ganz zufällig.
Es bleibt nun noch übrig, einige Mitteilungen über den Familienstand
und das Alter der weiblichen Dienstboten zu machen. Von allen 1313957
weiblichen Dienstboten waren 1895 nur rund 11000 verheiratet, also Aus¬
nahmen, die nichts für das Ganze bedeuten. Unsre weiblichen Dienstboten sind
unverheiratet, der Dienstbotenberuf ist die Domäne der ledigen Frauenzimmer,
viel mehr, als die Erwerbsthätigkeit außer der Haushaltsführung, in der 1895
von 5264393 weiblichen Personen im ganzen immerhin 1046381 verheiratet
waren. Von allen 1895 vorhandnen rund 15368000 unverheirateten weib¬
lichen Personen lebten
Abgesehen von den Rentnerinnen und den sonstigen Berufslosen scheinen
durch ihr Berufsleben ganz dem Haushalt entfremdet eigentlich nur die Er¬
werbsthätigen für fremde Betriebe, aber auch unter diesen sind noch viele
Tausende namentlich zum landwirtschaftlichen und gewerblichen Dienstpersonal
gehörige Personen, die im Haushalt der Betriebsinhaber leben und dort auch
nebenher mit thätig sind.
Folgende Zahlen mögen endlich noch ein Bild von den Altersverhält-
nissen der weiblichen Dienstboten im Juni 1895 geben. Es standen in einem
Lebensalter
Bei weitem die Mehrzahl der weiblichen Dienstboten steht sonach im Alter
unter 30 Jahren, und davon wieder über die Hälfte im Alter unter 20 Jahren.
Daran hat sich gegen früher wenig oder nichts geändert, und gerade darin ist
die ungeheure Bedeutung der Fürsorge für das Dienstbotenwescn nach wie vor
begründet: der Dienstbotenberuf ist für weite Schichten der weiblichen Be¬
völkerung die Vorschule für den Hausfrauenberuf. Die Dienstbotenfrage ist eine
Frauenfrage im ganz besondern Sinne, von ganz besondrer sozialer Bedeutung.
Ihre Lösung gilt der Erziehung von Hausfrauen für Millionen von Familien,
namentlich der minderbemittelten Stände, und sie liegt in der Hand einer
Million von Hausfrauen namentlich der besitzenden Klassen. Unendlich reichen
sozialen Segen werden gesunde Dienstbotenverhältnisse dem deutschen Volke
bringen, unsägliches soziales Elend schaffen die ungesunden.
Als vor etwa zwölf Jahren die bekannte Frau Guilleaume-Schack ihre
Agitationsreise durch Deutschland machte, um unsre Frauen zur Einmischung
in das widerlichste Gebiet der Polizei, die Prostitutionsfrage, zu begeistern,
habe ich in den Grenzboten dem gegenüber die ungeheuer wichtige und arg
Vernachlässigte Pflicht der Hausfrauen hervorgehoben, in ihren Mägden Haus¬
frauen zu erziehen. Es erschien mir diese Pflicht so recht als eine Pflicht der
Einzelnen, eine moralische Pflicht, die dem Einzelnen durch keine Gesamtheit
abgenommen werden kann, und deren Vernachlässigung für den Einzelnen
immer ein moralischer Vorwurf ist und unter keinen Umständen durch den
billigen Hinweis auf die „veränderten Verhältnisse" entschuldigt werden darf.
Die „soziale Bewegung" des letzten Jahrzehnts, auf die man so stolz ist, und
die „soziale Gesinnung," deren sich die „ethischen" Volkswirte der Mode so
gern rühmen, hat für die bessere Erfüllung der Pflicht der Einzelnen auch auf
diesem Gebiet nichts gethan, nichts thun wollen. Die moralische Seite des
sozialen Lebens ist diesen „Ethikern" eine völlig unbekannte Größe, wenn
nicht ein Gegenstand des Hasses, des Hohns, der Bekämpfung. Die Stellung
der Sozialdemokratie zur Dienstbotenfrage ist das sprechendste Beispiel. Umso
mehr schien es mir am Platze, wieder einmal an die Dienstboten und an die
Erzieherpflicht ihnen gegenüber zu erinnern. Wem die lappische Koketterie mit
dem „Fräulein Dr." nicht mehr imponirt, der wird vielleicht an dieser ernsten
er am Schluß meiner letzten Erörterung erwähnte Landesaus-
schußabgeordnete Dr. Petri ist seitdem zum Unterstaatssekretär
ernannt und an die Spitze der Ministerialabteilung für Justiz
und Kultus gestellt worden. Von dieser Abteilung ressortirt
einesteils die ganze Justizverwaltung mit dem umfänglichsten
Vorschlag zur Stellenbesetzung, andernteils die Staatsaufsicht über die Religions¬
gesellschaften, die nach der bei uns geltenden Gesetzgebung sehr tief eingreift.
Da die Untcrstaatssekretäre thatsächlich, wenn auch nicht staatsrechtlich, so gut
wie Minister sind, so ist die Ernennung eine sehr wichtige Maßregel und
fordert zur Besprechung auf. Vorausschicken möchte ich, daß ich mich an und
für sich über die Ernennung eines Eingebornen freuen würde, aber ich ver¬
mag mich nicht zu überzeugen, daß diese bestimmte Ernennung im deutschen
Interesse liegt.
Herr Dr. Petri ist im Unterelsaß zu Hause, in dem Teile des Landes, der
immer am meisten Deutsches bewahrt hat; der Konfession nach gehört er zu
der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses, der verbreitetsten unter unsern evange¬
lischen Religionsgemeinschaften. Er ist 1852 geboren, stand also im bilduugs-
sühigen Alter, als' sein Geburtsland auch im politischen Sinne deutsch wurde.
Als Referendar hat er den auch im Reichsland deutsch zugeschnittnen Vor¬
bereitungsdienst durchgemacht. Nach bestcindnem Assessorexamen ließ er sich in
Straßburg als Rechtsanwalt nieder und gewann auch bald eine ansehnliche
Praxis. Da trat eine Gelegenheit ein, die er dazu benutzte, der französischen
Vergangenheit des Landes öffentlich abzusagen, ausdrücklich und bestimmt.
Daß er es that, erwarb ihm, wie die Dinge damals standen, um die deutsche
Sache ein wirkliches Verdienst. Für ihn selbst war es ein Wagnis, denn er
machte sich dadurch viele Feinde, und er hat darunter gewiß nicht nur gesell¬
schaftlich, sondern auch im Broterwerb, in seiner Praxis zu leiden gehabt. Aber
es verschaffte ihm auch einflußreiche Freunde, und diese waren für ihn thätig.
Um dieselbe Zeit etwa wurde außerdem ein naher Verwandter von ihm an die Spitze
der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses gestellt. Er selbst kam mit Hilfe der alt¬
deutschen Stimmen für die Stadt Straßburg in den Reichstag. Seine Praxis
erholte sich wieder und wurde sogar sehr groß und einträglich. Als später
die erste Kreditanstalt des Landes das durchmachte, was man ein kleines
Panama genannt hat, wurde zwar die Staatsdepositenverwaltung nicht ganz
davon abgetrennt, aber unter wirksamere Kautelen gestellt, und Herr Dr. Petri
wurde Bankdirektor für die betreffende Abteilung; wie niemand bezweifelt,
dnrch staatlichen Einfluß. Diese Stelle hat er bis jetzt inne gehabt, und er
ist außerdem Mitglied des Staatsrath, des Landesausschusses, des evangelischen
Oberkonsistoriums usw. Das alles verdankt er unmittelbar oder mittelbar der
Unterstützung der Negierung und der Altdeutschen, denn bei den „Kompatrioten"
ist er verhaßt, und bei denen, die uns günstiger gesinnt sind, fehlt es ihm an
persönlichem Einfluß. Nur in einem ziemlich engen Kreise in Straßburg gilt
er etwas. Dieser Kreis giebt sich ü, ig. Paris für das Herz des Landes aus,
ist es aber nicht und nicht einmal Straßburgs sicher. Bei der letzten Neichs-
tagswcchl 1893 wurde Herr Dr. Petri für Straßburg wieder aufgestellt, als
Versöhnnngskandidat und sogar als deutscher Kandidat, obgleich er bei der
Abstimmung über die Militärvorlage gefehlt hatte und über sein künftiges
Verhältnis dazu nur gewundne Erklärungen abgab; er wurde jedoch von dem
Sozialdemokraten geschlagen.
Man sieht: auf die schlechte Seite ist Herr Dr. Petri im ganzen nicht
gefallen; wenn er als Märtyrer gelitten hat, so hat es nicht lange gedauert,
und er ist reichlich entschädigt worden. Doch, diese Seite der Sache würde
ich nicht erwähnen, wenn ihm sein Leiden nicht noch immer als Folie diente,
bei andern und zu eignem Gebrauch. Hat er doch noch in der vorjährigen
Tagung des Landesciusschusses Herrn Preiß wegen seiner Reichstagssünden
hauptsächlich darum abgekanzelt — der wunderliche Vorgang gestattet kein
andres Wort —, weil dieser „junge Mann" nicht wie Ausgereifte die Not der
Zeiten habe kennen lernen. Wenn Herr Dr. Petri der Meinung war, es sei
nötig, aus dem Landesausschuß in die Reichstagsfenster hineinzureden, so war
vom deutschen Standpunkt jedes andre Argument mehr am Platze. Zum
Beispiel der Hinweis darauf, daß Herr Preiß als Referendar den Diensteid
geleistet habe; andre möchten vielleicht vorbringen dürfen, daß Elsaß-Lothringen
ungefragt annektirt worden sei, aber nicht Herr Preiß, denn könne es eine
feierlichere Zustimmung geben als diesen für den Dienst des deutschen Reichs¬
lands aufgestellten Eid? Dieser Pfeil würde getroffen haben, wäre aber freilich
auch auf das Martyrium zurückgeprallt, dem die Sache nicht gerade als Folie
gedient hätte, denn Herr Dr. Petri war bei seiner Absage an Frankreich mit
dem Eide in derselben Lage. Er handelte nur nach Ehre, Pflicht und Gewissen,
als er die Absage vollzog: bricht nicht jeder die Brücke zu Frankreich ab, der
dem deutschen Kaiser Treue und Gehorsam schwört? Und bleibt diese Folge
des Eides nicht bestehen, wenn seine positiven Versprechungen verblassen, weil
der Betreffende wieder aus dem Staatsdienste tritt, etwa Nechtsauwcilt wird?
Das alles ist klar und unwiderleglich, im Volke fühlt es jeder, Herr
Dr. Petri hat es als Jurist überdies gewußt. Für die politische Würdigung ist
es natürlich ein Mehr, wenn bei einer bedeutenden Gelegenheit ausdrücklich und
öffentlich wiederholt wird, was zwar schon feierlich bindet, weil vor Gott ver¬
sprochen, was aber doch nur vor wenigen Personen und — nach dem juristischen
Kunstausdruck — nur stillschweigend, iinvlioiw erklärt worden ist. Dieses Mehr
ist gewiß verdienstlich und reicht aus, für den Beginn einer politischen Lauf¬
bahn zu empfehlen, aber nicht weiter. Es ist weder ziemlich, sich mit seineu
Leiden zu brüsten, noch zeugt es auf unsrer Seite von nationaler Selbstachtung
und von Klugheit, daß wir aus einem Akt der Pflichterfüllung ein Riesen-
Verdienst schmieden: halb Heiligenschein, halb Wünschelrute. Diese Über¬
treibung reizt auch keineswegs zur Nachfolge, denn der Streber, der auf
äußern Lohn bedacht ist, wird sich fragen, woher die entsprechende Lohnmenge
für mehrere oder gar für viele genommen werden soll; wer dagegen den innern
Lohn voranstellt, wird durch den Überschwang wie durch jede andre Art vou
Mache abgeschreckt. Herr Dr, Petri seinerseits ist jedenfalls nicht zartfühlend.
Würde er auch sonst, ohne abzuwinken, das Quantum von Lob hinnehmen,
das ihm jahraus jahrein unser „führendes deutsches Organ," die Straßburger
Post, spendet? Ich bin deswegen lange Zeit geneigt gewesen, Herrn Dr. Petri,
den ich nicht persönlich kenne, für besonders geduldig und für eine etwas
Passive Natur zu halten, bis mich der Vorfall mit Herrn Preiß auf meinen
Irrtum aufmerksam machte.
Was hat nun Herr or. Petri seit seiner Absage an Frankreich noch für
die deutsche Sache gethan? Ich habe mich schon oft darnach gefragt, und
auch andre, weiß aber nichts zu finden und kann auch nichts erfahren. Da¬
gegen ist mir aus seinem spätern Verhalten manches aufgefallen, was die
deutsche Sache schädigte. Seine zweideutige Haltung in der Militärfrage ist schon
erwähnt worden; Bewegungsfreiheit darin durfte er als reichsländischer Abge¬
ordneter noch weniger in Anspruch nehmen, als wenn er im sonstigen Deutsch¬
land gewühlt gewesen wäre, denn bei uns hieß es in dieser Frage nur: Hie
Deutschland, hie Frankreich! Vorher hatte er sich einmal von einem franzö¬
sischen Journalisten „interviewen" lassen, der gern wissen wollte, wie es in
Elsaß-Lothringen stünde. Herr Dr. Petri antwortete, seines Erachtens sei die
Losreißung Elsaß-Lothringens von Deutschland weder möglich, noch zu wünschen.
Die Straßburger Post war entzückt; ich möchte glauben, für einen Deutschen
gäbe es nur die Autwort, dem Frager die Thür zu weisen. Wer das für
chauvinistisch und illiberal hält, wird als Deutscher wenigstens nicht wünschen,
daß der Ton der Antwort für uns gönnerhaft klinge. Das war aber der
Eindruck, den die Petrische Antwort machte, im Gegensatz zu Herrn Dr. Höffel,
der etwa um dieselbe Zeit auf eine ähnliche Frage ja ebenfalls Antwort gab,
sachlich gleichlautend, aber zugleich in einer Form, die das eigne Ich nicht
störend hervortreten ließ. Das darf auch nicht anders sein, denn das Gefühl
fürs Vaterland ist Ehrfurcht; es steht so hoch, daß sich Niedres nicht ein¬
mischen darf.
Im Jahre 1396, bei dem fünfundzwanzigjährigen „Jubiläum" der Ein¬
verleibung, hat Herr Dr. Petri im Landesausschuß eine Art von Perikleischer
Staatsrede gehalten. Ich war ästhetisch sehr enttäuscht, denn die Leistung,
die ich zu hören bekam, streifte das Mure turn^öux nicht bloß an. Auch das
„Haus" teilte diesen Eindruck und atmete offenbar erleichtert auf, als der
Staatssekretär von Puttkamer den Redner ablöste. Das muß zwar erwähnt
werden, weil Herr Dr. Petri auch geistig überschätzt wird, aber für die Be¬
deutung seiner Bundesgenossenschaft steht es doch nur in zweiter Reihe. Läßt
sich dasselbe davon sagen, daß er in seiner Rede unter anderm an uns Alt¬
deutsche eine feierliche Mahnung zur Geduld richtete? Die Elsaß-Lothringer
verlangten eine behutsame und milde Behandlung. Ist das ein Freund, der
so spricht? Wir haben die Bewohner des Reichslands als Schoßkinder be¬
handelt und ernten den Dank von Schoßkindern, den Dank, den unfromme
Eltern — der Ausdruck stammt von Lagarde — auch verdienen. Wenn uns
Herr Dr. Petri, der wie jeder andre Bescheid weiß, das vorgehalten hätte, so
wäre es als Quittung über die fünfundzwanzig Jahre nicht angenehm gewesen,
Hütte aber der Wahrheit entsprochen, und für die Wahrheit soll man danken.
Aber freilich, wir sind, wie ich von früher her wiederhole, lauter Vergeben und
Vergessen, und der Landesausschuß hört so etwas, wie es Herr Dr. Petri
gesagt hat, sehr gern.
Geradezu deutschfeindlich hat die Art gewirkt, wie Herr Dr. Petri als
Mitglied des Landesausschusses das Wort: Elsaß-Lothringen den Elsaß-
Lothringern auf die Besetzung der Beamtenstellen anwendete. Ich habe diese
Anwendung in den Grenzboten vor kurzem charakterisirt, der Leser wird meine
Erörterung in frischer Erinnerung haben. Man braucht ja die Folgen gar
nicht zuzuspitzen, etwa dahin, daß der Hauptmann Dreyfuß, wenn er in sein
Geburtsland zurückkehren sollte, für die Petrische Auffassung ein genehmer
Amtsanwärter sein würde, während ein junger Mann aus Baden, der sich aus
wirklicher Begeisterung meldet, zurückzuweisen wäre. Denn, auch bei der Be¬
schränkung auf die regelmäßigen Folgen der Petrischen Auffassung, im regel¬
mäßigen Lauf der Dinge sind die schwersten Befürchtungen gerechtfertigt; der
von mir früher gebrauchte Superlativ: sehr ernste Gefahr giebt nur eine
schwache Vorstellung von dem, was dem Deutschtum droht, und zwar als nur
gewaltsam wieder gut zu machende Folge. Jetzt kann Herr Dr. Petri das be¬
thätigen, was er als Abgeordneter empfohlen hat. Bei Neubesetzung von Stellen
hat er außer den Ministerialbeamten folgende vorzuschlagen: 11 Präsidenten und
gleichstehende Staatsanwälte, 35 Oberlandesgerichtsrüte, Landgerichtsdirektoren
und Erste Staatsanwälte, 162 Richter und Stantsanwälte, noch mehr fest¬
angestellte Sekretariatsbeamte, zahlreiche Handels- und Ergänzungsrichter,
11 Hypothekenbewahrer, mehr als 150 Notare, 119 Gerichtsvollzieher, zahl¬
reiche Gefängnisbeamte. 64 Assessoren hängen für ihre Anstellung und für ihre
vorläufige Verwendung von ihm ab. 167 Referendare und Notariatskandidaten,
mehr als 200 Anwärter des Gerichtsschreiber- und Gerichtsvollzieheramts
hängen nicht bloß ebenfalls von ihm ab, sondern er ist es auch, der über die
erste Zulassung zu diesen sämtlichen Vorbereitungsstellen zu verfügen hat. Diese
Zahlen sprechen, wenn man bedenkt, daß Elsaß-Lothringen kein großes Land
ist. Weder der Staatssekretär noch die andern Unterstaatssekretäre können sich
in Bezug auf diese Quelle von Einfluß und handgreiflicher Macht mit Herrn
Vr. Petri messen. Er hat ein großes Stück unsrer staatlichen Zukunft in die
Hand bekommen. Es kommt noch hinzu, daß kein Geistlicher des Landes ein
festes Amt im Kirchendienst antreten kann, ohne vom Staat bestätigt zu sein,
also ohne Mitwirkung der Ministerialabteilung, an deren Spitze Herr Dr. Petri
gestellt worden ist.
Herr Dr. Petri ist typisch dafür, wie die Dentschfreundlichkeit in unserm
Lande, näher betrachtet, sehr oft aussieht. In die Zeitungen kommen über
dergleichen höchstens abgerissene Andeutungen, es hat deswegen im Zusammen¬
hang besprochen werden müssen. Herr I)r. Petri gehört zu den ältern unter
dem seit 1870 zum Mannesalter gelangten Geschlecht, aber der jüngere Teil
ist für Deutschland im Durchschnitt keineswegs erfreulicher. Ich bin es nicht
allein, der im Reichsland so urteilt. Wenn dieser Aufsatz im Lande gelesen
werden sollte, so werden gerade an dieser Stelle sehr viele zustimmen und nur
den Ausdruck zu mild finden. Wenn ich es allein oder fast allein öffentlich
ausspreche, so giebt es dafür mancherlei Gründe, verwerfliche, aber auch zu
entschuldigende. Es ist z. B., wie ich in den letzten Jahren selbst erfahren
habe, sehr schwer, die Wahrheit über Elsaß-Lothringen in die altdeutsche Presse
zu bringen. Unsre Landespresse nimmt fast ausnahmslos Rücksichten, oder
ihre Richtung steht einem gar zu fern. Die Rücksichten, die genommen werden,
sind nicht bloß der Wahrheit, sondern auch dem Deutschtum schädlich, ganz
ähnlich wie die Kompromisse im reichsländischen Staatsleben wohl der Zu¬
friedenheitslegende und der Vertuschung zu gute kommen, aber thatsächlich, wenn
auch von uns nicht gewollt, auf Kosten der deutschen Sache geschlossen werden.
Die geistige Luft, in der unsre Jugend heranwächst, ist nicht gesund. Die
Jugend steht, daß wir uns in allem Wesentlichen — Feste und Hurraschreien
sind nur Zuthaten — mit dem Deutschtum zur Seite drücken. Und da sollen
Achtung und Zuneigung für uns in die jungen Seelen einziehen. Die Jngend
richtet nach dem großen Eindruck: Kann unser Verhalten imponiren? Da, wo
sie achtet, liebt sie meistens, aber immer haßt sie, wo sie nicht achten kann.
Und sie haßt um so stärker, je mehr sie, in uusern Schulen z. V., bearbeitet
wird, zu lieben. Ganz ähnlich gestimmt ist die Seele des sogenannten gemeinen
Mannes. Auch er empfindet unmittelbar Achtung, Liebe und Haß. Auch
er liebt uns nicht und kann es nicht, ohne seinem natürlichen Wesen untreu
zu werden, gleichsam aus der Haut zu fahren; nicht eher wird er es können,
als bis wir fest und deutsch auftreten. Der jetzige Stand der Gemüter
ist betrübend, und unser Schulbänken daran ist groß, aber sollen wir darum
die Träger solcher Gesinnungen zu Beamten, zu Trügern unsers Staats¬
gebäudes machen, das doch deutsch ist? Ist Herr Dr. Petri der Mann, der zur
richtigen Auslese berufen erscheint? Er ist ja selber ein Kunstprodukt unsrer
falschen Politik, die unter den Mitteln, die Gemüter zu lenken und zu be¬
herrschen, gerade die natürlichen und nächstliegenden auf den Kopf gestellt hat,
gerade die, die überall und zu allen Zeiten wirken und dieselben bleiben. Seine
Ernennung ist eine große Konzession, aber keine Maßregel, die zu richtiger
Politik umlenkte.
Weit geringer als die Verstärkung der Zukunftsgefahren schlage ich bei
der Ernennung Herrn Dr. Petris den Umstand an, daß sie von der üblichen
Besetzungsweise abweicht. Zur Zeit der altpreußischen Kollegien wäre sie nicht
möglich gewesen, ging doch deren Macht so weit, daß sie sich in der Regel
durch eine Art von Kooptation selbst ergänzten, aber dergleichen ist ja überall
abgekommen, seit der Konstitutionalismus aufgekommen ist, und unsre modernen
Obergerichte haben zwar an Schwerfälligkeit, aber auch an berechtigtem Selbst¬
gefühl und Zusammenhalt verloren. In mancher Beziehung ist es auch kein
Schaden, wenn andres Blut in die obern Stellen kommt, und was die Be¬
fähigung anlangt, so steht ein tüchtiger und angesehener Rechtsanwalt, was
Herr Dr. Petri gewesen ist, einem Ministeria trat oder einem höhern Richter
nicht nach. Selbst der französische Beigeschmack, den diese Wertschätzung der
Advokatur hat, ist ein nebensächliches Bedenken. Diese ganze Seite der Sache
ist aber überhaupt anders anzusehen als das bisher Erörterte, denn es ist
sicher, daß sie bei der Entscheidung erwogen worden ist; die Kritik hat sich
also zu bescheiden, bis der Erfolg sichtbar wird. Dagegen ist nicht anzunehmen,
daß die politische Vergangenheit Herrn Dr. Petris an entscheidender Stelle in
demselben Maße gewürdigt worden ist. Ich kann mir z. B. nicht denken, daß
der Kaiser von dem Verhalten seines neuen Ministers in der Militärfrage
unterrichtet gewesen ist, und ebenso wenig glaube ich, daß unser Statthalter
bei seinem Vortrag darum wußte. Das allerdings scheint festzustehen, daß
Fürst Hohenlohe-Lmigenbnrg die Ernennung selber angeregt und betrieben hat,
während er bisher die Initiative mehr dem Staatssekretär von Puttkamer über¬
ließ. Ich gehöre nicht zu den Anhängern Herrn von Puttkamers, kann mich
aber nicht darüber freuen, daß bei dieser Gelegenheit sein Abraten oder seine
Lauheit unberücksichtigt geblieben ist. Ist er doch ein genauer Kenner der Volks¬
schichten, bei denen wir eine Stütze suchen, und hat er doch in Einräumungen
an die einheimische Adresse eher zu große Freigebigkeit als vorsichtige Sparsam¬
keit bewiesen. Wenn er sich gegen eine weitere Einräumung ausspricht oder
auch nur zurückhaltend verhält, so ist sie nicht angebracht. Natürlich macht
der Klatsch aus der Zurückhaltung sofort einen tiefen Gegensatz, und mancher
Politische Pflastertreter in Straßburg sieht schon Herrn Dr. Petri zum Staats¬
sekretär aufrücken.
Einen besonders schweren Stand wird Herr Dr. Petri als Kultusminister
haben. Auf dessen Aufgaben wird er jedenfalls durch Kenntnis der Gesetzgebung
vorbereitet sein, aber es fehlt ihm an genügender praktischer Erfahrung. Als
Rechtsanwalt und als Bankdirektor hat er keine erworben, und die Erfahrungen,
die er als Mitglied des evangelischen Oberkonsistoriums gesammelt hat, helfen
ihm nichts für das Verhältnis zur katholischen Kirche und werden ihm schon
jetzt als Befangenheit vorgeworfen. Hoffentlich weist er jede Anwandlung von
Politischen Protestantismus zurück und verweist er den dazu geneigten Teil
seiner Straßburger Bundesgenossenschaft in die Schranken, die von der Parität
gefordert werden! Er ist ja ein Verehrer Fürst Bismarcks, wenigstens hat er
ihn in seiner großen Rede von 1896 zitirt, wenn auch nicht ganz getreu, er
wird daher geneigt sein, das zu beherzigen, was Fürst Bismarck zu einem
evangelischen Geistlichen unsers Landes bemerkt hat, als ihm dieser seinen Dank
für die Wiedervereinigung des Reichslaudes aussprach unter besondrer Be¬
tonung des evangelischen Standpunkts. Fürst Bismarck hat den sehr tüchtigen,
aber etwas übereifriger Mann mit Wohlwollen angehört, ihm aber doch zum
Schluß gesagt: Herr Prediger, das deutsche Reich ist nicht konfessionell.
Die richtige Auffassung der Staatsaufsicht über die katholische Kirche geht
nicht auf den Polizeibefehl oder auf romantisch frömmelnde Mache aus, sondern
sucht ihr Ziel darin, zwischen der Kirche und den übrigen Mächten des mersch-
liehen Zusammenlebens im Staate Frieden und Gleichgewicht zu erhalten und
die Seelsorge fördern zu helfen. Dieses Ziel ist erreichbar, giebt für Thun
und Lassen einen festen Maßstab und kann ebenso wenig zu Kirchenverfolguug
wie zu eiteln Liebeswerben führen. Für diese Auffassung ist die hierarchische
Gliederung und Einwirkung etwas gegebnes, auch als Vermittlerin aller Zu¬
wendungen, aber nicht so, daß der Staat hinter der Kirche verschwindet. Streit
wird diese Auffassung aufs äußerste vermeiden, aber den aufgenommnen durch¬
fechten, ohne Furcht vor Gespenstern.
Nach diesen Grundsätzen ist die umfassende Kirchenhoheit des Reichslandes
bisher nicht gehandhabt worden, sondern das Hauptbestreben ist darauf ge¬
richtet gewesen, die katholische Kirche durch äußere Wohlthaten zu gewinnen.
Ihre Austeilung ist fast ganz den bischöflichen Behörden überlassen worden.
So erscheint denn dem Seelsorgeklerus und den kirchlichen Anstalten Mon-
seigneur — die fast ständige Bezeichnung des Bischofs — als der eigentlich
gebende Teil. Einige Zugeständnisse sind ja erreicht worden, aber es waren,
genau besehen, nur selbstverständliche, und sie werden in der Ausführung
wieder abgeschwächt. Im ganzen ist das Gegenteil von Erfolg bewirkt worden.
Wie soll auch auf weltliche Saat geistliche Ernte folgen? Die Kirche hat fran¬
zösischen Geist und französischen Habitus nur noch mehr gehegt, auch im Elsaß,
und trotz des altdeutschen Bischofs Fritzen. Die jüngere Generation der Geist¬
lichkeit ist uns noch feindlicher als die ältere und zeigt es über das ihren
Obern genehme Maß. Darin darf sie es wagen, ihnen Ungehorsam oder Nicht¬
achtung zu beweisen: IkuciMliter Mio vsoeÄut,, Nicht um wenigsten leidet
unter dieser Richtung der Gemüter die Seelsorge. Ob der neue Kultusminister
diesem Unwesen steuern wird? Wird er wenigstens nach französischer Art die
Zügel straffer anziehen und die freigebigen Zuwendungen nach dem alö ut, ass
behandeln? Wird er, und wird in höherer Instanz der Statthalter das Liebes¬
werben meiden, wie es besonders der Statthalter von Manteuffel halb senti¬
mental, halb planmäßig geübt hat? Wir stehen in alledem vor bedeutsamen
Fragezeichen. Im Reichslande wird man als Deutscher hvffnungsarm. Ich
fürchte, daß Herr or. Petri keine Ausnahme von der Regel machen wird,
wonach sich liberale Protestanten am wenigsten zu Kultusministern eignen.
In der eigentlichen Jnstizabteilung wird es Herr Dr. Petri in vieler Be¬
ziehung besser haben. Die Geheimnisse der höhern Dekretirknnst werden nicht
lange Geheimnisse für ihn bleiben, denn als Jurist kennt er schon rss yMo in
nunrero, Mulere, mensura vcmsiswnt,. Er hat jedenfalls die Absicht, dem
Vürecmkratismus entgegenzutreten, wie er beispielsweise den nicht streberischer,
aber strebsamen Einzelrichter fast auf Schritt und Tritt begleitet und hemmt,
wie er mich das für Elsaß-Lothringen so wichtige Notariat in lästige Scha¬
blonen zwängt, ohne seine Auswüchse beseitigen zu können. Aber auch aus
diesem Gebiete wird Herr Dr. Petri die Erfahrung machen, daß die Umgebung
oft stärker ist als der zur Leitung berufne Wille. Nicht daß die Räte, die
er übersprungen hat, daran dächten, ihm Schwierigkeiten zu machen, und
auch sonst etwas andres als das Beste wollten, aber der Amtsapparat der
Zentralstelle als solcher ist zu groß; seit Einführung der Miuisterialverfassuug
hat er sich mehr als verdoppelt. Das ist eine starke Hemmung für die Initiative
jedes Ministers, er hätte denn ein außerordentliches Maß von Energie und
Zähigkeit. Schließlich wird es darin wohl im wesentlichen beim alten bleiben,
und Herr Dr. Petri wird noch mehr Veranlassung haben, seine Hauptthätigkeit
den Personalfragen zuzuwenden. Darüber ist noch etwas nachzutragen, was
meines Erachtens sehr wichtig ist. Im Reichslande wird viel antichambrirt,
und die Altdeutschen nehmen daran nicht weniger teil als die Eingebornen.
Aber bisher ist im Sprechzimmer des Ministers doch kaum von deutschen
Justizbeamten etwas andres als deutsch gesprochen worden. Das wird jetzt
aller Wahrscheinlichkeit nach anders werden, denn als korrekter „Einheimischer"
spricht Herr Dr. Petri mit andern Einheimischen nicht ungern französisch, lehnt
jedenfalls den Gebrauch dieser Sprache nicht ab. Dergleichen ist ja, wie be¬
hauptet wird, nur harmlose Sprachübung, aber ich bin nun einmal Chauvinist
und kann deshalb von dem Irrtum nicht loskommen, daß zu deutschem Wesen
auch deutsche Sprache gehört, und daß das Beispiel von oben zu kommen hat.
Im Landesausschuß ist die Ernennung des Herrn Dr. Petri mit allge¬
meinem Beifall aufgenommen worden. Der Beifall ist sicher aufrichtig ge¬
wesen und wird von der Bevölkerung geteilt. Es soll auch kein Abzug daran
versucht werden, in der Richtung etwa, daß der Beifall weniger der Person
als der Landsmannschaft gölte, wie man sie im Landesausschuß und im Lande
selbst gegen uus auffaßt. Aber in derselben Sitzung haben bei der Debatte
sofort Ausnahme- und Gleichstellung und Feindseligkeit gegen deutsche Ein¬
richtungen die alte Rolle gespielt. Das ist ja uur Geplänkel und will nicht
viel sagen, immerhin zeugt es uicht von einer mächtigen Wirkung der Er¬
nennung. Für den weitern Verlauf der Dinge wird ja Herr Dr. Petri damit
rechnen, daß der Sitz am Ministertische zwar ehrenreicher ist als der Sperrsitz
des Abgeordneten, aber auch weniger behaglich, und daß es etwas ganz andres
ist, sich von jedem Abgeordneten „anzapfen" lassen zu müssen, als selber an¬
zuzapfen oder großmütig zu verteidigen. Seine Ministerialabteilung bietet
überdies mehr Angriffspunkte dar als die seinem Doppelkollegen, Herrn Zorn
von Bulach, zugefallne landwirtschaftliche, und dieser ist ein Notabler erster
Klasse, was Herr Dr. Petri nicht ist. Allerdings kann sich dafür Herr
Dr. Petri manchen Mitgliedern des Landesausschnsses oder ihrer Klientel recht
unangenehm machen, innerhalb der durch die Pflichtübung gesteckten Grenze.
Das sind, wird man vielleicht einwenden, persönliche Umstünde, aber in einem
kleinen Lande sind sie recht wichtig. Doch, was bedeutet die Ernennung für
die nächste Zukunft, für die „politische Konstellation"?
Die Negierung legt großen Wert daraus, daß eine von ihr beantragte
Kapitalrentensteuer zum Gesetz werde. Dieses Gesetz wäre in der That mehr
als irgend einer der bisherigen „Erfolge" der Gesetzgebung; es hat sogar
sozialpolitischen Wert, denn bis jetzt haben wir im Lande keine Form von
Einkommensteuer auf bewegliches Vermögen. Es scheint, daß sich die Regie¬
rung von der Annahme sehr viel verspricht, wahrscheinlich auch für die bevor¬
stehenden Reichstagswahlen. Der Laudesausschuß seinesteils ist für den Ent¬
wurf ungünstig gestimmt, wird aber wohl nachgeben müssen. Der Weg dazu
wird ihm dadurch zu ebnen gesucht, daß der Einführungstermin der Steuer
erst später festgestellt werden, und daß der Landesausschuß in die General¬
kommission zur Einführung des Gesetzes die meisten Mitglieder wählen soll.
Aber das ist wohl ein Pflaster auf die Wunde, jedoch kein Grund, sich die
Wunde schlagen zu helfen. Für die Zustimmung wird entscheiden, daß sich
der Landesausschuß in seiner bisherigen Zusammensetzung bedroht fühlt. Er
fürchtet eine Wahlreform und ist gegen sie auf den guten Willen der Regierung
angewiesen. Er weiß sehr wohl, daß der Regierung der in den Reichstag ge¬
brachte Antrag unsrer Separatisten zu radikal ist, aber dadurch ist die Frage
der Wahlreform in Fluß gekommen, sie ist volkstümlich, und die Regierung
könnte darauf kommen, es liegt ja nahe genug, die Hochburg der jetzigen Zu¬
sammensetzung, das Wahlrecht der Bezirkstage, zum Gegenstand der Reform
zu machen. Was soll der Landesausschuß dagegen thun? Seine Popu¬
larität ausspielen? Die ist, wie er sehr wohl weiß, nicht vorhanden, er ist
bestenfalls weniger unpopulär als die Regierung, aber nur, weil er „ein¬
heimisch" ist. Der Anlaß wäre auch schlecht gewählt, heißt doch der Landes¬
ausschuß in dem am meisten gelesenen Teil unsrer Presse kaum noch anders
als Rentnerparlament. Mit Recht oder Unrecht, er heißt jetzt so, und das
will sür diese Frage sehr viel sagen.
Das ist die Sachlage, die der Regierung im Landesausschuß Oberwasser
verschafft. Die Plänkeleien werden fortgesetzt, gegen Ausnahmegesetze, Deutschtum
zweiter Klasse usw.; das gehört mit zur Staffage, darf aber über den wirk¬
lichen Hintergrund nicht täuschen. Der Landesausschuß ist in einer Zwangs¬
lage. Davon kann so leicht kein politischer „Faktor" etwas abthun, aber es
kann auch kaum etwas hinzugethan werden. Die Ernennung Herrn Dr. Petris
insbesondre ist dafür nur Episode, und kaum eine günstige, denn sie wird
nicht als ein Zugeständnis der Stärke aufgefaßt. Für die Reichstagswahlen
vollends spielt die Ernennung keine Rolle. Was weiß der oberelsässische
Fabrikarbeiter, der Bauer aus dem Sundgau von Herrn or. Petri? Was
der Lothringer? Das sind fast ganz katholische Landesteile, und der Herr
Pfarrer will von ihm nichts wissen; der Notable, z. B. der protestantische
Fabrikherr, sieht ihn als abtrünnig an. Im Unterelsaß stehen ja die Wahl¬
aussichten besser, aber da hätten die Gesinnungsgenossen Herrn Dr. Petris
auch ohne seine Ernennung für sich oder ihre Schützlinge gewirkt, und bei den
Massen zählt Herr Dr. Petri auch im Unterelsaß nicht mit, in Straßburg ist
er dem kleinen Mann zwar bekannt, aber keineswegs volkstümlich.
So ist denn die politische Geschichte des Reichslands um ein wohlgemeintes,
aber nutzloses und gefährliches Experiment bereichert worden. Es ist nicht
das erste. Wann werden wir endlich die allein frommeude Verwaltungspolitik
erhalten? Eine Politik ist damit gemeint, die den Landesausschuß und die
obern Tausend höflich, aber als das behandelt, was sie sind, als an-menos
uössliMadlss. Eine Politik weiterhin, die mit eignen Augen sieht, nicht nach
Stimmungen, sondern nach dauernden Werten fragt, in stetiger ernster Arbeit,
durch festes Auftreten unserm neuen Staat eine Stätte im Volksgemüt bereitet.
Wo darnach verfahren wird, reiht sich ein Tag an den andern zur Zukunfts¬
ernte an, nicht so, daß sie schnell und in die Augen springend reift, aber sicher
und tief Wurzel fassend. Saure Wochen, frohe Feste!
Größere Lebenskraft als politische Experimente bewähren die politischen
Aussprüche Fürst Vismarcks. Davon lautet einer dahin, daß Elsaß-Lothringen
als Festungsglacis canellirt worden sei, ein andrer so, daß sich nur fertige
Staaten den Luxus parlamentarischer Regierungsweise erlauben könnten. In
Osterreich hat die Blüte der „Herbstzeitlose" in der That nicht lange gedauert;
mit dem reichslündischen Gegenstück wird es kaum anders gehen. Wohl aber
wird es, so lange als Menschen und menschliche Leidenschaften mit einander
kämpfen, immer so bleiben, daß sich der Sieger gegen neue Augriffe des Be¬
siegten zu sichern sucht, sei es auch durch Eroberung. Die Menschen im
Festungsglacis trifft es hart, aber jede Notwendigkeit ist erträglich, und keine,
richtig ertragen, tastet die Menschenwürde an. Dagegen widerstreitet dem
echten Freiheitsgefühl nichts mehr, als wenn steter Wechsel der äußern und
innern Lebensbedingungen von Menschen über Menschen verhängt wird, sei es
anch in der besten Absicht. Hiergegen bäumt sich das Beste im Menschen auf.
So ist es dem Reichsland seit der Einverleibung ergangen: Wechsel ans Wechsel,
Versuch auf Versuch. Darüber hätten unsre neuen Landsleute das Recht zu
klagen. Aber darüber klagt keiner, und das ist das Schlimmste. Werden
doch die Gemüter im Lande fast nur durch Mode und Neuerungssucht be¬
herrscht, durch die ärgsten Feinde von Freiheit und Würde.
el einem Portogesetz sowie bei jeder sonstigen gesetzlichen Ma߬
regel kommt es aber doch darauf an, wie sie im großen und
ganzen wirkt. Deshalb werden einige ungünstige Nebenwirkungen
schwerlich die Wiederaufhebung eines sonst guten Gesetzes recht¬
fertigen. Oft sind sie aber gar nicht zu ändern und daher ebenso
mit in den Kauf zu nehmen wie der Schatten, den jedes Licht wirft. Wenn
das 50-Pfennigporto nicht ganz in dem Sinne benutzt wird, wie die Gesetz¬
geber seinerzeit voraussetzten, so haben sich diese eben getäuscht. Aber ein
ehrlicher Paketabsender oder ein ehrlicher Konkurrent darf deshalb doch
nicht des „Mißbrauchs" geziehen werden, weil er sich eine bestehende Ein¬
richtung ebenso wie jeder andre zu nutze macht. Wir wissen nicht, wie groß
die Zahl der wirklich großen Versandhäuser in Deutschland ist. Aber sagen
wir, es seien 500, und diese schickten täglich je 100 5-Kilopakete ab. Das
würden im ganzen Jahre erst 18^ Millionen Pakete sein. Aber die Zahl der
Paketsendungen beläuft sich zur Zeit in Deutschland auf etwa 140 Millionen
jährlich, darunter etwa 112 Millionen Pakete nach dem 5-Kiloporto. Soll
man dieser 500 Versandgeschäftsbesitzer wegen nun das Porto allgemein ver¬
teuern und somit zugleich die übrigen 52 Millionen Neichsbewohner mit ihren
128 Millionen Paketen bestrafen? Werden nicht gerade die reichen Großkrümer
oder Großhändler auch ein teureres Porto viel leichter tragen als die übrige
Bevölkerung? Denn die überwältigende Mehrzahl ist immer arm, nur etwa
1 Prozent der Bevölkerung hat ein Einkommen von mehr als 3000 Mark.
Wollte man aber bei gleichzeitiger Auslieferung von mehr als 5 Paketen noch
eine besondre Gebühr erheben, wie die Kreuzzeitung seinerzeit vorschlug, was würde
die Folge sein? Ein großes Versandhaus in Berlin würde seinen Kom¬
missionär im Geschüftswagen mit den 100 Paketen ruhig immer von einem Post¬
amt in das andre fahren und überall je 5 Pakete aufgeben lassen, oder es würde
wiederholt und kurz nacheinander mehrere Boten mit je 5 Paketen schicken und
den Absender nicht namhaft machen oder vielleicht sogar hie und da ein
Pseudonym wählen. Und eine Gebühr von je 10 Pfennigen würde oft kaum
abschrecken, ganz abgesehen davon, daß sie ungerecht wäre. Denn einem guten
Kunden und so Zros macht man es doch sonst eher billiger als teurer. Eine
höhere Gebühr aber wäre sinnlos.
Wenn nun aber ein notleidender Landwirt, der sich ja gern die Zwischen¬
händler vom Leibe halten und deren Gewinn selber verdienen möchte, durch
die 5-Kilopakete einen unmittelbaren Verkehr zwischen Produzenten und Kon¬
sumenten geschaffen hat und nun allwöchentlich oder täglich mit einem Dutzend
5-Kilopakete einen Boten zur Post fahren läßt, so würde er von dieser Gebühr
nicht minder getroffen werden. Thatsächlich werden aber Butter, Eier, Honig,
Milch, Sahne, Käse, Geflügel, Wildbret. Obst, Pilze, Spargel und andre feinere
Gemüse oft genug von den Landwirten per Post nach fernern Großstädten
gesandt, wo sie von Restaurateuren, Speisewirten oder Privatkunden wegen
ihrer sichern Reinheit und unmittelbaren Frische gern mit höhern Preisen be¬
zahlt werden als am Orte selbst. 10 5-Kilopakete kosten aber auf 1000 Kilo¬
meter nur 5 Mark; als preußisches Expreßgut würden sie 25 Mark, als Eil¬
gut 11 Mark 20 Pfennige und selbst als Frachtgut noch 5 Mark 60 Pfennige
kosten.
Da müßt ich ja ein Esel sein,
Ein Kerl als wie ein Rinde!
Wird wohl in diesem Falle auch der Landwirt, mit dem Fürsten Bismarck,
für sich denken: „wenn ich nicht die Versendung per Post den teuern andern
Versendungsweisen vorzöge, die außerdem zum Teil viel langsamer sind und
keine Bestellung ins Haus einschließen."
Auf kürzere Strecken, wo sie bequemer und billiger sind, da wird man
sie allerdings wählen; sonst aber nicht. Also der Pakettarif ist durchaus nicht
zu billig, sondern die Eisenbahntarife sind auf weite Entfernungen unverständig
und sinnlos teuer. Nur deshalb wendet sich alles der Post zu. Wir aber
werden uns hüten, dem Landwirt im obigem Falle „Mißbrauch" vorzuwerfen.
Das wäre zum mindesten nicht lÄr, denn er handelt doch vollständig gesetzlich.
Ein Kaufmann thut im gleichen Falle aber nur dasselbe. Sinnlos ist es nur,
der Post durch die Zerlegung in viele Einzelpakete, die als solche im Tarif
bevorzugt werden, mehr Mühe zu machen. Eine fähige, kluge Verkehrsanstalt
muß aber jedem Verkehr gewachsen sein und darf ihn sich nicht dnrch so terre
Verscheuchungstarife vom Leibe halten, wie es bei den schwerern Postpaketen in
ganz unverhältnismäßigen Grade geschieht. Gäbe es in Deutschland einen
billigen Expreß- und Eilguttarif, so würden der Post die schwerern Packereien
oder die vielen 5-Kilogrammpakete seltner zugewiesen werden. Da es diesen
Tarif aber nicht giebt, so ist man eben auf die Post angewiesen, besonders im
Fernverkehr. Andre Länder sind darin glücklicher. In Dänemark z. B. können
auch andre Dinge als Reisegepäck zum Gepäckttarif aufgegeben werden, der
sür 50 Kilogramm auf 500 Kilometer Entfernung nur 3 Kronen (3 Mark
27 l/z Pfennige) berechnet (Preußen dagegen 12 Mark 50 Pfennige).
Bei Licht betrachtet ist es doch der Gipfel aller Widersinnigkeit, wenn
die Eisenbahnen für Expreß- und Eilgut viel teurere Frachtgebühreu erhebeu
als die Post, die ihre Wagen von den Lokomotiven derselben Eisenbahnzüge
mitziehen läßt und außerdem, trotz größerer Billigkeit, noch die Bestellung ins
Haus übernimmt. Das erscheint umso bedenklicher, als gerade die Personen¬
züge im Durchschnitt ohnehin schon zu 75 Prozent leer fahren und ihre Gepäck¬
wagen sogar zu 97,5 Prozent unausgenutzt bleiben. Wie unendlich viel Platz
für Pakete und Eilgutsendungen in tragbaren Stücken ist also in jedem Zuge
noch vorhanden! Wie leicht lassen sich noch zahlreiche Abteilungen für Pakete
und Gepäck in ihm einrichten! Wie verschwenderisch und unwirtschaftlich ist es
doch, einen Zug, bei dem die bewegte tote Wagenlast immer etwa das fünfund-
dreißigfache Gewicht der mitgeführten Menschen und Gepäckstücke betrügt, auch
in dieser Hinsicht so unausgenutzt zu lassen! Volke Ausnutzung ist ja nie zu
erzielen; aber die Güterwagen werden doch durchschnittlich mit 43 Prozent netto
ausgenutzt. Natürlich spielt der billigere Tarif hier eine große Rolle.
Das 5-Kilvportv der Post ist gegenüber den Eisenbahntarifen für Expreß-
und Eilgut auf weitere Entfernungen eine wahre Wohlthat, nicht nur für den
Produzenten, sondern auch für den Konsumenten, ganz besonders aber auch
für die Landbewohner. In kleinen Städten und in Dörfern kann der Kauf¬
mann nicht alles auf Lager halten, was zu den Bedürfnissen des Menschen
gehört. Er muß sich auf das beschränken, was häufiger verlangt wird; und
die durchschnittlich von den Kunden gewünschte Qualität ist für ihn maßgebend.
Der Konsument, der Zeitungen liest, weiß aber, daß es anderweit noch viele
andre Dinge giebt, die er brauchen könnte; und deren schnelle Beschaffung
wird ihm durch das billige Paketporto ermöglicht, sei es nun direkt vom Gro߬
händler, vom Fabrikanten oder durch Zwischenhändler. Ein Gutsbesitzer wird
seinen Gesellschaftsanzug, seinen Hut, seine Stiefel und Kravatten, die Toilette
und den Schmuck seiner Frau und Tochter, Tanzschuhe und Galoschen, Hand¬
schuhe und feine Seifen, feines Schreibpapier und guten Tabak sicherlich nicht
gern beim Dorfschneider oder Dorfkaufmann bestellen oder einkaufen, da er bei
diesen schwerlich Waren von einer auch nur leidlichen Qualität, erhalten würde.
Eine jedesmalige Reise nach der nächsten größern Stadt oder nach der Haupt¬
stadt wäre bei den jetzigen Fahrpreisen aber eine unverhältnismäßige Ver¬
teuerung dieser Gebrauchsgegenstände. Was ist da natürlicher, als daß er
sie sich brieflich — mit Angabe der Maße und Qualitäten — bei den ihm
wohlbekannten Handwerkern oder Kaufleuten in der Stadt bestellt, wo er
sie am besten zu finden glaubt? Das bald darauf eintreffende Postpaket ist
ihm also eine wirkliche Wohlthat. Dasselbe wird aber auch beim einfachen
Bauern oder Dorfhandwerker der Fall sein, denn die außerordentlichen Be¬
dürfnisse, die sich nur aus der Ferne gut befriedigen lassen, sind zahlreich:
mögen es nun kleine Geschenke aller Art, Galanteriewaren, Genußmittel, Werk¬
zeuge oder sonst was sein.
Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung werden immer an einem mög¬
lichst billigen Porto interessirt sein. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß
ein reicher Konkurrent in der Ferne durch Verteuerung des Portos wesentlich
beeinträchtigt würde. Wohl aber litte unter ihr auch der kleine Kaufmann
mit. Nur wenige reiche Leute und Großindustrielle, deren Fabrikate sich
nicht zur Versendung in Form von Postpaketen eignen, dürften dem Paketporto
gleichgiltig gegenüber stehen oder gar seine Erhöhung wünschen, für die heute
jedoch schwerlich eine parlamentarische Mehrheit zu finden wäre.
Erfreulicherweise sieht man das neuerdings eines in den leitenden konser¬
vativen Kreisen ein und giebt dort die Volkstümlichkeit des Paketportos zu.
Mit Unrecht aber wendet man sich gegen eine Beseitigung seiner Mängel und
Widersprüche. Es ist doch eine ganz unbegründete Furcht, wenn man glaubt,
weitere Paketportoverbilligungen müßten notwendig immer große und dauernde
Einnahmeausfälle schaffen.
Mit dem 5-Kiloporto, wiederholen wir, ist man gewiß zufrieden. Aber
für erheblich leichtere Sendungen von ^/z oder 1 Kilogramm, deren Wert das
Porto oft nur wenig übersteigt, erweist es sich als zu teuer. Andre Staaten
haben billigere Sätze für kleinere Gewichtsstufen eingeführt. Aber auch die
Thatsache giebt zu denken, daß in Deutschland Drucksachen oder Warenproben
bis zu 250 Gramm Gewicht 10 Pfennige, Drucksachen bis zu 500 Gramm nur
20 Pfennige und bis 1000 Gramm nur 30 Pfennige kosten, während Pakete
von 250, 500 oder 1000 Gramm Schwere bei Entfernungen über 74,2 Kilometer
hinaus 50 Pfennige und 5 bis 15 Pfennige an Bestellgebühr kosten. Darin
liegt sicherlich ein Widerspruch und eine Härte. Ein Kilogramm ist sür die
Eisenbahn und den Briefträger nicht leichter und nicht schwerer zu befördern
und zu bestellen, wenn es das einemal in Büchern nnter Streifband und das
andremal in Büchern unter festgeklebter und umschnürter Papierhülle oder in
einer Pappschachtel voll Taschentüchern besteht. Warum soll man denn ver¬
anlaßt werden, dieses Kilo Taschentücher erst in vier Stücke „Warenproben"
zu zerlegen und so sich und der Post mehr Arbeit zu machen, um vielleicht
uur 10 Pfennige am Paketporto und 5 bis 10 Pfennige am Bestellgeld zu
sparen? Außerdem leidet man dabei immer Gewissensskrupel, ob Dinge, die
keineswegs bloß als „Proben" geschickt werden, als solche aufgegeben werden
dürfen, wie aber ziemlich allgemein üblich ist. Wirkliche „Warenproben," „die
keinen Handelswert haben" sollen, wie die Postordnung vorschreibt, dürften
vielleicht sogar die Minderheit bilden.
Das Bedürfnis, kleine Pakete von etwa 1 Kilogramm Gewicht zu versenden,
ist aber sehr groß. Man denke nur daran, daß es in Deutschland über 52 Mil¬
lionen Geburtstage und über 17 Millionen katholischer Namenstage giebt
(vom Weihnachtsfest ganz abgesehen), und daß „die schenkende Tugend" von
fernen Freunden und Verwandten sich an diesen Festtagen gar gern bethätigen
möchte. Fünfzig Pfennige sind hier aber oft schon ein prohibitiver Tarif, denn
die kleinen Geschenke und Überraschungen, die die Familien- und Freundschafts¬
beziehungen aufrecht erhalten sollen, haben häusig kaum einen größern Wert
als der Portobetrag.
Die Städter sind hierbei übrigens wieder ein wenig begünstigt, denn sie
können z. B. Bücher zu Geschenken kaufen und diese billiger versenden als die
Landbewohner ihre Geschenke, da ihnen ja meist kein Buchladen zur Verfügung
steht. Die Leute auf dem Lande müssen für kleine zu verschenkende Gegen¬
stände daher stets das Paketporto entrichten, also 25 oder 50 Pfennige, während
Bücher von Vt' Vs oder 1 Kilogramm Gewicht nur 10, 20 oder 30 Pfennige
Porto kosten. Aber, ob Landbewohner oder Städter, fast jeder kommt einmal
in den Fall, sich kleine leichte Pakete zuschicken zu lassen oder solche selbst
abzuschicken: ein Parlamentsmitglied, das sich von seinem Landgute oder aus
seiner fernen Heimatstadt seine vergessene Cigarrentasche oder Spitze, seine
Morgenschuhe oder seine Taschenuhr oder sein Federmesser nachsenden lassen
möchte, um sie nicht in der Hauptstadt von neuem kaufen zu müssen; oberem
gewöhnlicher Gutsbesitzer, der sich ein Pfund Pulver oder Patronenhülsen für
die Jagd oder gute Cigarren und neue Karten zu den nächsten Gesellschaften
an den langen Winterabenden oder ein wenig Siegellack und Syndetikon oder
gar ein Fläschchen Stonsdorfer oder Benediktiner schicken lassen will, um das
einförmige Dasein ein wenig zu verschönen; oder eine brave deutsche Hausfrau,
die ein wenig wirklich guten Kaffee, Thee, Schokolade oder eine Torte für ein
bevorstehendes Familienfest braucht; oder ein Arbeiter, dem ein Teil seines
Handwerkzeugs zerbrochen ist, oder eine Arbeiterfrau, die ein halbes Dutzend
selbstgestrickter Strümpfe versenden und nicht verteuern möchte. Die Fälle, in
denen man kleine Pakete versende» würde, sind also zahlreich, und wenn das
Porto billiger wäre, würden sie sicherlich noch sehr zunehmen.
Deutschland rühmt sich schon eines großen Verkehrs. Aber im deutschen
Reichspvstgebiet kommen doch nnr 2,7 Jnlaudpakete auf den Kopf der Bevölke¬
rung, während in der Schweiz schon 4,7 Jnlaudpakete auf jeden Einwohner
entfallen, also fast das doppelte. Pakete und Wertsendungen zusammen aber
entfallen auf den Kopf: 4,8 im Neichspostgebiet und 7,7 in der Schweiz.
Dafür haben die Schweizer aber auch einen viel billigern Pakettarif,
namentlich auch für kleine Pakete (^ Kilogramm kostet nur 12 Pfennige, be¬
liebig weit).
Aber auch Österreich-Ungarn, Dänemark und Holland und andre Länder
haben billigere Tarife für leichtere Pakete. Der Miniaturgüterverkehr — wie
man den kleinen Paketverkehr nennen könnte — hat in diesen Ländern daher
einen relativen Tarifvorsprung, den auch Deutschland bald wieder einholen sollte.
Da ja ohnehin gewogen werden muß, so würde eine einzige neue Gewichts¬
vorstufe den Tarif auch keineswegs umständlicher machen, zumal wenn man
dafür in den höhern Gewichtsstufen zusammenfassende Vereinfachungen vornähme.
Tariferhöhungen siud meist ein Rückschritt. Sie würden auch in den seit
fünfzig Jahren einheitlich geregelten deutsch-österreichischen Postvereiusverkehr
störend eingreifen, da unsre Nachbarn sie doch schwerlich mitmachen würden,
und der Jnlcmdstarif ohne Widersinnigkeit nicht höher sein dürfte als der fürs
Ausland, das sonst ja bevorzugt werden würde. Portoverbillignngen dagegen
sind fast immer ein Fortschritt und sind stets ''''/i»o der Bevölkerung erwünscht.
Unter den deutschen Postpaketen haben jetzt (1895/96) schon 13,8 Prozent
nur ein Gewicht bis zu 1 Kilogramm. Diese Zahl spricht eine beredte Sprache
für das vorhandne Bedürfnis nach der Versendung so kleiner Pakete, die bis
jetzt durch das zu hohe Porto sicherlich eingeschränkt und gehemmt wird.
Es ist nur eine alte Legende, daß das deutsche Paketporto das billigste
in der Welt sei. Ein Blick auf die Tarife einiger andrer Länder wird den
Irrtum dieser Ansicht zerstreuen. Österreich-Ungarn hat ja (bis auf die Vor¬
stufe vou Kilogramm: Porto 40,8 Pfennige; I.Zone nur 20,4 Pfennige)
denselben Pakettarif wie Deutschland; nur entstehen, infolge der Kreuzer-
wührung, statt 5, 10, 20, 30, 40, 50 Pfennigen etwas höhere Werte, nämlich
5.1 Pfg. (3 kr.). 10,2 Pfg. (6 kr.), 20.4 Pfg, (12 kr.), 30.6 Pfg. (18 kr.).
40,8 Pfg. (24 kr.), 51 Pfg. (30 kr.), sodaß namentlich bei den höhern Ge¬
wichtsstufen in den Fernzonen das Porto ein wenig teurer ist als das deutsche.
Aber andre, allerdings meist kleine Länder haben eine sehr viel billigere Paket¬
portotaxe.
Man würde vielleicht einwenden, daß wegen des Größenunterschieds der
Pvstgebiete eine Vergleichung nicht zulässig sei. Aber ganz abgesehen davon, daß
die Entfernung, also die Eiscnbcihnsahrt, im heutigen PostVerkehr fast gar keine
Rolle mehr spielt, wäre dieser Einwand auch deshalb schon hinfällig, weil
von den deutschen Paketen 82 Prozent, d. h. über ^/g, in die 1. bis 3. Zone
fallen, also die Entfernung von 371 Kilometern, die auch in mehreren der
kleinen Länder vorkommt, nicht überschreiten.
Wir werden unten in der vergleichenden Portozusammenstellnng zum Über¬
fluß, um nur ja nicht illoyal zu erscheinen, noch die Preise der einzelnen,
einander einigermaßen entsprechenden Zonen neben einander halten (z. B. die
der Schweiz und die in Deutschland).
Übrigens sei auch darauf hingewiesen, daß in einem kleinen Lande mit
lebhaftem Verkehr die Eisenbahnpostwagen oft leichter überfüllt werden können
als in einem großen, wo die Sendungen sich mehr verteilen. In der Schweiz
besteht außerdem noch das System der Privatbahnen, die ja doch Entschädigung
fordern. Trotz alledem hat sie uns in Bezug auf Billigkeit der Posttaxe» weit
überflügelt, woran allerdings vielleicht der Artikel 36 der Schweizer Verfassung
mit schuld ist, der „möglichst billige" gleiche Grundsätze der Tarife vorschreibt.
Ein ähnlicher Artikel (45) ist auch in der deutschen Reichsverfassung vorhanden,
aber nicht für das Postwesen, sondern nur sür das Eisenbahnwesen; darin wird
„möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife" versprochen. An die
Ausführung dieses Artikels scheint in Deutschland aber niemand zu denken, ob¬
wohl sich in vielen Nachbarländern drei- bis viermal billigere Pcrsonentarife
als vollkommen „möglich" und sogar als finanziell vorteilhaft erwiesen haben.
Aus der nachstehenden Prcistabelle, die der Vergleichung halber einheitlich
in deutsche Reichspfennige übersetzt ist und neben dem eigentlichen Porto auch
das noch zu entrichtende Bestellgeld angiebt, kann man nun ersehen, wie das
Paketporto in einigen Ländern noch viel billiger ist als in Deutschland. Dem
Nvrmalwerte entsprechend wurde hierbei der österreichische Gulden mit 1 Mark
70 Pfennigen, der holländische Gulden mit 1 Mark 68,7 Pfennigen, der Franken
mit 81 Pfennigen und die dänische Krone mit 1 Mark 12,5 Pfennigen an¬
genommen und berechnet. In Dänemark, Holland und meistenteils auch in
der Schweiz wird trotz des billigen Portos ein Bestellgeld gar nicht erhoben.
In Deutschland ist das Paketbestellgeld bekanntlich folgendes:
Anmerkungen zu vorstehender Tabelle
Unter den Ländern, deren Pakettaxe sonst teurer als die deutsche ist, die
aber für kleine Gewichtsstufen ein Bedürfnis für billigere Portosätze anerkannt
haben, sind zu nennen, im Gegensatz zu der deutschen 50-Pfemiigtaxe auch bei
ganz kleinen Päckchen:
Diese sechs Länder haben also sämtlich für kleine Pakete unter oder bis zu
2/2 Kilogramm oder gar 1 Kilogramm billige Taxen; und es sind keineswegs
nur kleine Staaten, sondern anch solche von großer oder sehr großer Ausdehnung.
- In Schweden zahlt man 33^ Pfennige für Vz Kilogramm; in England
für das entsprechende englische Pfund M/z Pfennige (auf jede beliebige Ent¬
fernung aber), in Salvador gar nur 20 Pfennige; die andern sind relativ
etwas teurer, weil sie kleinere Gewichtsvorstufen haben.
Ein Blick auf die erste große Tabelle aber zeigt uns, daß das Paketporto
der Schweiz beim Gewicht bis zu ^/-z Kilogramm wirklich beispiellos billig ist:
12,15 Pfennige ohne Zuschlag in Form von Bestellgeld, auf beliebige Entfernung,
gegenüber 50 Pfennigen (mit Bestellgeld sogar 55 bis 65, und selbst in der
1. Zone noch 30 bis 40 Pfennige) in Deutschland, wo es also drei- bis 5^ mal
teurer ist. Auch Dänemark (18 Pfge.) und Niederlande (25,3 Pfge.) sind sehr billig;
Luxemburg, das man meistenteils allerdings nur mit der ersten deutschen Zone
vergleichen darf, ist durchweg billiger, als das deutsche Paketporto, auf Ent¬
fernungen bis zu 74,2 Kilometer. In Österreich ist die Ermäßigung für die
ganz kleinen Pakete (um 5 bis 10 Pfge.) doch wohl etwas gar zu gering und
steht zu sehr außer Verhältnis zu dem Tarif für 5 Kilogramm. Auch ist hier
das Bestellgeld etwas höher, wie man sieht. Bei ganz kleinen Sendungen und
Portotaxen ist das aber schon mehr oder weniger wesentlich.
Ein Kilogramm kostet in Dänemark netto nur 18 Pfennige, in Deutsch¬
land (mit Bestellgeld) 30 bis 40 oder 55 bis 65 Pfennige: also zwei- bis
31/2mal mehr! Für 2^ Kilogramm ist die Schweiz das billigste Land: nur
20^4 Pfennige! Und 5 Kilogramm kosten in der Schweiz beliebig weit auch
nur 32,4 Pfennige; ein gleich schweres Paket von Leipzig nach Berlin stellt
sich dagegen auf 65 Pfennige netto, also gerade das Doppelte! Nur die
1. Zone in Deutschland ist bei 3 bis 5 Kilogramm unter Umständen um
2,4 Pfennige billiger, als das Porto der Schweiz auf alle Entfernungen; doch
bei größern Städten ist sie infolge des höhern Bestellgelds um 2,6 bis 7,6
Pfennige teurer. Auch Dänemark (36 Pfge. netto) und die Niederlande (42 Pfge.
netto) sind sehr billig.
In der Schweiz und in Luxemburg entspricht das Porto für 10 und
20 Kilogramm — auf beliebige Entfernung — fast oder ganz genau dem doppelten
und vierfachen Satze des 5-Kiloportos; in Dänemark sind 10 Kilo uicht zwei-
fondern dreimal teurer als 5 Kilo. In Deutschland sind 10 Kilo aber schon in
der 3. Zone nicht doppelt, sondern dreimal teurer als 5 Kilo, und in der 6. Zone
sogar sechsmal so teuer — also ganz unverhältnismäßig im Hinblick auf die
beliebig weite Entfernung der 50-Pfennigpakete.
Wenn man aber die geringere Landesausdehnung Dänemarks und der
Schweiz (wo übrigens einerseits die getrennten Inseln und andrerseits das
wilde Hochgebirge die Beförderung oft sehr erschweren) in Betracht ziehen will
und sie nur mit der 3. Zone in Deutschland vergleichen möchte, so stellt sich
das deutsche Paketportv auch hier schon bei 10 und 20 Kilogramm um etwa
45 und 75 Prozent höher als das dünische und um 180 und 190 Prozent
teurer als das schweizerische: nämlich 150 und 350 Pfennige gegenüber 108
und 198 oder 56,7 und 121,5 Pfennigen. In der 6. deutschen Zone wird das
50-Pfcnnigporto bei 20 Kilogramm aber nicht dem vierfachen Gewicht ent¬
sprechend viermal, sondern sechzchnmal berechnet! Das ist enorm!
In der Schweiz hört der Einheitstarif der Entfernung bei 20 Kilogramm
ans, und es werden für schwerere Pakete 4 Zonen berechnet von 100 zu
100 Kilometern. Die 1. und 2. Zone sind hier also um je 25 Kilometer
größer als die in Deutschland und daher relativ ein gut Stück billiger, wenn
auch der absolute Preisunterschied nur gering ist.
Die 3. deutsche und die 4. schweizerische Zone entsprechen sich ungefähr
im Entfernungsmaximum. Hier sind die schweizerischen Sätze bei 30 und bei
50 Kilogramm sogar um 33 und 22 Pfennige teurer als die deutscheu; doch
auch die Entfernungen der 2. und 3. Schweizer Zone fallen in die 3. deutsche
Zone; und hier ist wiederum die Schweiz ein ganzes Stück billiger als Deutsch¬
land, sogar bis zum Unterschiede von mehreren Mark.
In Dänemark dagegen kosten 30 Kilogramm beliebig weit nur 288 Pfen¬
nige, in Deutschland (3. Zone) 550 Pfennige; und 50 Kilogramm 468 Pfen¬
nige in Dänemark gegenüber 950 Pfennigen in Deutschland. Demnach ist das
deutsche Porto also um rund 100 Prozent teurer! Und Luxemburg hat hier
sogar Portosätze, die noch um 20 Prozent billiger sind, als die der 1. Zone
in Deutschland.
Von allgemeinem Interesse dürfte es auch sein, zu erfahren, daß in der
Schweiz Begleitadressen für Pakete nicht notwendig sind, doch kann man solche
oder anch verschlossene Begleitbriefe, die ebenfalls portofrei sind, beigeben.
Für die Post ist dieser Zustand aus betriebstechnischen Gründen unbequem,
doch dem Publikum ist die Ausfüllung der Paketadressen ja recht lästig, und
trotz wiederholter Anregung zur Einführung der deutschen Einrichtung ist es
bisher dabei geblieben, daß Pakete in der Schweiz nur adressirt und frankirt
zu werden brauchen. Da die Post dadurch mehr Arbeit erhält, so erscheint
das schweizerische Paketporto noch ganz besonders billig. Übrigens sind auch
in Norwegen, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Argentinien, Kanada,
Viktoria (Australien) u. a. Ländern Paketadressen nicht vorgeschrieben.
Wenn aber die Schweiz und andre Länder ein billigeres Paketporto er¬
folgreich durchführen konnten, so dürfte das doch wohl auch im deutschen Reiche
möglich sein. Wir wollen am 5-Kiloporto von 50 Pfennigen weiter nicht
rütteln, obwohl es in der Schweiz nur 32,4 Pfennige beträgt, und dort das Be¬
stellgeld uoch dazu wegfällt. Aber das deutsche Porto für Pakete über 5 Kilo ist
viel zu komplizirt und viel zu teuer. Wenn 50 Kilo auf 1114 Kilometer
23 Mark kosten, während ein Mensch von 75 Kilo Gewicht mit 50 Kilo
Gepäck in der 4. Wagenklasse desselben Zugs auf dieselbe Entfernung nur
22 Mark 30 Pfennige zahlt, so ist das doch ein grelles Mißverhältnis.
An einer Verbilligung des Portos für schwerere Pakete haben aber keines¬
wegs bloß Handel und Industrie ein Interesse, sondern vor allen Dingen
auch die Landwirtschaft, die mit gewissen, möglichst frisch abzusetzenden Pro¬
dukten oft sieben Posttage zu spät auf den bestbezahlten Markt kommt,
wenn sie statt der Post immer erst die saumseligen Güterzüge benutzen will.
Die Expreßgut- und Eilgutbeförderung aber ist ihr bei weitern Entfernungen
wegen der unbegreiflich teuern Tarife meist unerschwinglich.
xour 1'in-t, was in den letzten Zeiten die deutschen Ästhetiker
vielfach den Franzosen nachgeschwätzt haben, war doch ein recht
einfältiger Grundsatz. Denn den Künstlern und den wenigen, die
sich in deren Absichten hineinfinden mögen, überlassen, würde
die Kunst bald am Ende ihres Lebens angelangt sein. Das
Gegenteil davon will unsre Überschrift: die Kunst für das Volk. Es könnte
zunächst bedeuten, daß die Kunst in der Vergangenheit ein Teil des Lebens
eines Volkes gewesen ist, von dem sie der Gegenwart Zeugnis geben kann,
so gut wie eine Urkunde oder ein Litteraturwerk. Weiterhin aber würde daraus
folgen, daß, was in einer Kunst echt und wesentlich und dauernd ist, sich un¬
mittelbar dem einfachen Sinne offenbaren und ohne viel Umwege auch dem
schlichten Manne muß verstündlich machen lassen. Das ist nun aber in der
Praxis nicht so einfach und leicht. Der Gang unsers ganzen Lebens hat es
so gefügt, daß die bildende Kunst, so unmittelbar sie einen Menschen ergreifen
kann, unter allen Künsten doch den meisten Menschen am fernsten steht. Sie
scheint nur für einzelne bevorzugte Klassen, die Geld aufwenden können oder
in der Nähe der Anschauung leben, vorhanden zu sein; auch wohl an eine
bestimmte Bildung und Kenntnisse, an Neigung und Liebhaberei gebunden zu
sein, die auf Naturanlage beruht, und damit hätten wir uns dann allerdings
wieder jenem 1'arr xour 1'g.re etwas genähert. Unser Kunstgenießen und
Kunstverstehen hat sich also mit der Zeit auf zu enge Kreise zurückgezogen,
gerade so wie auch die Kunst selbst, die schaffende, zeitweilig den kräftigen
Boden des Volkslebens verlassen und höfisch, ständisch, modisch, eng und ein¬
seitig werden konnte. Auch dann kann sie noch große Reize zeigen, aber sie
wird doch auch bei den Nachlebenden nicht mehr gleich tief und weit wirken,
wie eine Kunst, die, mehr ans der Tiefe geboren, zu ihrer Zeit auf einer
breitern Volksschicht ruhte. Mag sich Watteau zum tändelnden Spiel mit der
Kunst leichter einschmeicheln, so tief hinunter könnte er doch nicht dringen wie
Dürer oder Giotto, wovon man sich jeden Augenblick durch eine Probe mit
Kindern oder Einfältigen am Geist überzeugen könnte.
Also das wäre etwa „die Kunst für das Volk." Allerdings läuft dabei
viel wunderliches mit unter. Daß mau die Völker in die Sammlungen treibt,
hat an und für sich keinen Wert. In Dresden konnte man schon seit Jahren
ganze Scharen von kleinen Barfüßlern mit schmutzigen Beinen sich unter An¬
führung eines Lehrers durch die Galerie drängen sehen, wo natürlich die
großen Nacktheiten von Rubens hauptsächlich das Interesse der angehenden
Kunstkenner fesselten. Auch Weiber mit Markttaschen und langen Paketen,
Männer mit Kindern und Düten voll Eßwaren stellten sich haufenweise ein,
aus den Sammetbänkcn vor den Bildern ruhten behagliche Gestalten und ließen
sich lange Weintrauben von oben her in den zurückgekehrten Schlund glucksen,
wie Murillos bekannte Straßenjungen, und in die Spucknnpfe flogen Zwetschen-
kerne und Apfelgehäuse. Das war widerlich! Sogar trällern und pfeifen
konnte man hören. Meinte man aber nun, den Aufsehern nahe legen zu müssen,
daß sie doch ein wenig ihres Amtes walten möchten, so bekam man wohl zur
Antwort: das sei jetzt die Volkskunst, da dürften sie nicht weiter einschreiten,
als wenns einmal gar zu toll würde; die feinen Besucher könnten ja an den
Fünfzigpfennigtagen kommen, dann fehle das Volk. Massenbesuche in Kunst¬
sammlungen sollte man überhaupt nicht befördern. Wer hierin einige Be¬
obachtung aufzuweisen hat, wird vielmehr fragen, ob es nicht richtiger wäre,
in jeder Sammlung ein ganz kleines Eintrittsgeld zu nehmen. Zehn Pfennige
kann jeder bezahlen, der wirklich etwas sehen möchte, und der ohne Besinnen
an demselben Tage fünfzig und mehr ins nächste Bierhaus bringt, und diese
zehn Pfennige bewirken schon eine Auswahl, die für die Sache nur günstig
sein kann. Wer die zehn Pfennige nicht geben will oder kann, ist doch
schwerlich ein passender Museumsbesucher; wer sie aber gegeben hat, schätzt
darum bekanntlich die Sache selbst noch etwas höher.
Das bloße Besuchen von Sammlungen ohne Anleitung zu ihrem Ver¬
ständnis hat, wie man sich bei einigem Nachdenken sagen wird, für die
große Menge keinen innern Wert. Für eine Unterweisung, wie sie hier zweck¬
mäßig wäre, brauchte man nur einen geringen Teil des Materials, und die
mannigfaltige Ausstattung eines heutigen Kunstmuseums setzt schon einen ziemlich
gut unterrichteten Besucher voraus. So kommen wir zu einer Verbindung von
Museum und Schule in irgend einer Form, sei es, daß mau die Kunst in die
Schule bringt, womit ja schon bei der Vortrefflichkeit des heutige« Abbildungs¬
materials einiges zu erreichen wäre, oder daß man die Schule ins Museum
sührt, was, abgesehen von dem Nutzen, noch dem geführten Teile einen ganz
besondern Spaß zu machen pflegt.
In Hamburg hat sich vor einigen Jahren ein Lehrerverein zur Pflege
der künstlerischen Bildung in der Schule zusammengethan, dem der Direktor
der dortigen Kunsthalle, Alfred Lichtwark, mit seinen Ratschlägen an die Hand
gegangen ist. Man hat einen Winter hindurch die oberste Klasse einer höhern
Töchterschule vor passende Bilder geführt und diese im Frage- und Antwort¬
verfahren den Kindern nach allen Seiten hin klar zu machen gesucht. Zunächst
waren es Bilder, die nicht über das Verständnis der Kinder hinausgingen,
Genrebilder, einige Porträts, Landschaften von ausgesprochner Stimmung und
stark lokalem Charakter, sodann waren es meistens Bilder von Hamburger
Malern (Runge, Kauffmann, Ruths) oder solche, deren Gegenstände einem
Hamburger Kinde leicht nahe zu bringen waren. Diese Kunstkatechese des ersten
Winterseniesters ist dann aufgezeichnet, etwas redigirt und veröffentlicht worden,
zum erstenmal als Manuskript für die Kreise der Hamburger Kunsthalle und
jetzt als zweite Auflage unter dem Titel: Alfred Lichtwark, Übungen in der
Betrachtung von Kunstwerken, nach Versuchen mit einer Schulklasse heraus¬
gegeben usw. mit sechzehn Abbildungen (Dresden, Gerhard Kühtmann). Dieser
kleine, fein ausgestattete Band verdient nun in der That eine weite Ver¬
breitung. Lichtwark. denn auf ihn geht doch die Anregung zurück, zeigt hier,
wie man auf natürliche Weise vor Kunstwerken Anschauungen wecken kann. Ohne
alle Voraussetzung wird aus einem Gegenstand erst der Sinn gewonnen: was
ist, stellt vor oder thut das Dargestellte? Dann werden die Darstellungsmittel
— Zeichnung, Licht und Schatten, Farbe — geprüft, und zuletzt wird die
geschichtliche Stellung des Bildes und der Charakter des Künstlers entwickelt,
wobei die ältern Hamburger, namentlich Runge und Kauffmann, Anlaß geben,
auf ganz moderne technische Probleme, blaue Schatten, Farbenreflexe usw.
einzugehen. Wer dieses kleine Buch mit seinen sechzehn Abbildungen auf¬
merksam durchliest, der hat etwas davon, das können wir ihm versichern. Der
hier gemachte Versuch eines volkstümlichen Unterrichts im Kunstverstehen ist
viel ernsthafter, durchdachter und interessanter als alles, was uns sonst in
dieser Richtung entgegengetreten ist, und darum wird seine Methode auch mehr
erreichen als alle früheren Lichtwark spricht sich mit Recht gegen das Heran¬
schleppen von Photographien oder Gipsabgüssen aus, mit denen der Schul¬
unterricht jetzt manchmal, was ihm an Gedanken fehlt, ersetzen zu wollen scheint.
An Stelle massenhafter Anschauung, die nur verwirrt, soll man wenig, aber
Charakteristisches geben. „Von Gipsabgüssen und Photographien erwarte ich
für die künstlerische Erziehung nicht viel gutes und sehr große Nachteile. Ihre
Massenhaftigkeit und Unzulänglichkeit verführt zur oberflächlichen Betrachtung.
Es ist ein trauriges Schauspiel, eine Mädchenklasse oder eine Gymnasialklasse
vor einer Aufstellung von Photographien der Hauptwerke Raffaels oder Michel¬
angelos zu sehen. Die Flut von Reproduktionen droht die Keime einer künst¬
lerischen Bildung zu ertränken, wo sie sich zeigen." Die Hamburger Kunst¬
freunde wollen Faksimilereproduktionen deutscher Holzschnitte und Kupferstiche
für Schulzwccke, zunächst Holbeins Totentanz, herstellen lassen, die den Wert
von Originalen haben und doch so billig sein sollen, daß jedes Kind beim
Unterricht ein Exemplar in der Hand haben kann. Das ist sehr löblich. Ob
es aber viel helfen wird, solange man in den Gymnasien den Knaben durch
cmtikisirende Bilder von klein auf die Köpfe verdreht? Ich habe schon oft
gedacht: Sind denn Dürer und Rembrandt erst verständlich, wenn man das
Abiturientenexamen hinter sich hat?
Lichtwark giebt aber seinem Unterricht in der Kunstanschauung, der kaum
noch etwas mit den heute in Mode stehenden kunstgeschichtlichen Kursen gemein
hat, einen viel größern Hintergrund. Er zeigt, daß wir Deutschen im Sehen,
im Beobachten und Auffassen zurück sind, z. B. hinter den Engländern. Es
fehlt dein modernen Deutschen an „äußerer Kultur und Festigkeit der Form."
Am Engländer fallen die starken Seiten seiner Erziehung zuerst in die Augen;
einen so festen Typus, wie den des weltbeherrschenden englischen Gentleman,
hat Deutschland nur in seinem Offizierstande hervorgebracht. „Im Zivil sind
die Herrscher aller Kulturstaaten englische Gentlemen, in Uniform deutsche
Offiziere. Der englische Gentleman und der deutsche Offizier wirken als Vor¬
bild durch dieselben ästhetischen Qualitäten der Korrektheit und der strengen
äußern Zucht." Weil aber der typische Deutsche in seiner unzulänglichen
formalen Bildung schwach gegen fremden, namentlich englischen Einfluß ist, so
muß er die künstlerische Erziehung des Auges und der Empfindung bei sich
erhöhen. Er wird daraus einen höhern Ausdruck seiner Persönlichkeit ge¬
winnen. Vielleicht erscheint das manchem unsrer Leser weit hergeholt. Aber
liegt nicht in der großen und sehr weit verbreiteten Schätzung der Kunstwerke
bei den Engländern, die selbst gar kein Kunstvolk sind, liegt nicht in ihrem
vielfach eigentümlichen, aber immer bestimmten Geschmack, in ihren sichern
Urteilen über Kunstdinge und in dem ziemlich tief hinunterreichenden Interesse
dafür, liegt nicht darin ein noch wertvollerer Besitz beschlossen, nämlich
die Erfahrungen einer ruhmvollen Geschichte und das Bewußtsein einer alten,
reichen Kultur?' Ohne weiteres wird einleuchten, was Lichtwark über den
wirtschaftlichen Kampf der Zukunft im Hinblick auf die künstlerische Erziehung
sagt: Wir würden unsre Rolle auf dem Weltmarkte nur behaupten können,
wenn wir uns einen „heimischen Konsumenten, der die höchsten Anforderungen
stellt," erzogen. Dafür ist nun ja Hamburg gewiß der richtige Platz: eine
reiche Bevölkerung und ausgedehnter Welthandel, dazu eigne Tradition in
schöner Litteratur und sogar in Malerei, das sind die Grundlagen, und ein
strebsamer, für seiue Sache begeisterter Lehrerstand wird unter so kundiger
Leitung schon etwas daraus zu gewinnen wissen, wovon wir unsern Lesern
hoffentlich wieder einmal berichten können.
Von demselben Verlage sind in ähnlichen hübschen Einbänden fünf andre
kleine Eiuzelschriften Lichtwarks herausgegeben worden, die alle dem Interesse,
das man in Hamburg an bildender Kunst nimmt, ihre Entstehung verdanken.
Aus Vortrügen über Reiseziele und Neisevorbereitung ging hervor: Deutsche
Königs se atte (Berlin, Potsdam, Dresden, München, Stuttgart), ans der
geschichtlichen Betrachtung der Heimat ein andres Büchlein: Hamburg
(Niedersachsen). Wir haben uns schon früher bei der Besprechung des „Pan,"
worin der größere Teil des Inhalts dieser zwei Bücher zuerst erschienen ist, über
diese belehrende und zugleich unterhaltende Art ausgesprochen, Reisende und
Spaziergänger zum eignen Beobachten zu veranlassen, und wir hoffen, daß das
Gebotne in der neuen Form die gebührende Aufnahme finde. Wir sollen
unsre Umgebung verstehen, indem wir die Umstünde, aus denen sie hervor¬
gegangen ist, in ihrer äußern Erscheinung wiederfinden — das ist, kurz aus¬
gedrückt, das Ziel dieser Methode.
Ein drittes Heft: Die Wiedererweckung der Medaille, giebt außer
einigen zuerst im Pan erschienenen Aufsätzen über moderne französische Medaillen
und Plaketten Bemerkungen über diese Art von kleinen Gelegenheitskunstwerken
in Wien und in Deutschland. Die Gattung steckt bei uns noch in den An¬
sängen, sie ist geeignet, den Sinn für kräftigen Ausdruck und schöne Form
mit kleinen Mitteln zu wecken, und aus Lichtwarks Buch mit seinen vielen
Abbildungen können sich über das Wie? in ausgiebiger Weise auch solche
unterrichten, die bisher noch nie von einer Medaille außer im Zusammenhang
mit einer Rettung aus der Gefahr des Ertrinkens gehört haben.
Wieder ein andres Gebiet wird in einem vierten behandelt: Vom
Arbeitsfeld des Dilettantismus, immer zunächst im Anschluß an die
Bestrebungen Hamburgischer Dilettantenvereine. Der Dilettantismus in den
bildenden Künsten und in der Musik ist nun einmal da, er läßt sich nicht aus¬
rotten; wenn er ernst ist und nicht bloß oberflächlich, so kann er das Kunst¬
verständnis fordern, oder, wie Lichtwark lieber gesagt haben möchte, die Fähig¬
keit, Kunst zu genießen. Auch das Sammeln bringt ja schon der Kunst näher,
namentlich wenn es sich dem Leben der Gegenwart zuwendet. Der Dilettant
tritt vielfach da ein, wo alte Volkskunst abgestorben ist, er will nicht davon
leben, kann also noch weiter arbeiten, wo die durch die neue Zeit verdrängte
Volkskunst uicht mehr auf ihre Kosten kommen würde. Beleben, galvanisiren
läßt sich das Abgestorbne nicht, wir können mit den Forschern der Volkskunst
deren Untergang beklagen und die Spuren sammeln, um uus daran zu freuen,
aber praktisch führt das nicht weit, weil die Anwendung nicht mehr möglich
ist. Lichtwark meint sogar: „Und wären Muße und Wille da, so wäre es
verkehrt, das Alte erneuern zu wollen. Es ist ohne Kraft, sonst würde es
aus sich selbst neues Leben entwickeln. Und es ist Verlorne Liebesmüh, neue
Bildung von unter auf bauen zu wollen. Aller Fortschritt besteht darin, daß
Einzelne einen höhern Typus vorleben und die Massen ihnen nachstreben."
Dieser Satz ist durchaus richtig, man kann ihn ja nachprüfen an hundert
Wendungen der Geschichte unsrer Kultur, Litteratur oder Kunst, aber es ist
gegenüber den vielen Veranstaltungen von heute, die alle höhere Bildung direkt
ins Volk bringen wollen, gut, daß ihn ein sachkundiger Mann aufs neue aus-
spricht, für den übrigens das Volkstümliche einen wesentlichen Platz einnimmt
in dem ganzen Shstem seiner historisch-ästhetischen Betrachtung. „In den
Kreisen der Wohlhabenden allein finden sich heute die Bedingungen des Ge¬
deihens, Muße, Mittel und Bedürfnis. Wenn der Dilettantismus gesundet,
so kann und muß von ihm aus mit der Zeit die neue Volkskunst entstehen."
Von diesem „Muß" hängt alles ab, die „Volkskunst" würde sich dann aller¬
dings um eine Schicht höher lagern, und die Sache ist jedenfalls des Nach¬
denkens wert. Gegenstand des Dilettantismus ist in Hamburg zunächst die
Amateurphotographie geworden, dann aber infolge einer neuen Vereinsgründung
fast alles, was die menschliche Hand zu künstlerischer Thätigkeit veranlassen
kann, Zeichnen, Malen, Liebhaberholzschnitt für Buchzeichen und Lesezeichen,
Bucheinband und andres, und oft verbindet sich die Arbeit des dilettirenden
Auftraggebers mit der des ausführenden Handwerkers in der verschiedensten
Weise. Es ist klar, daß dadurch das Handwerk gefördert werden kann, denn
ihm wachsen nicht nur Aufträge, sondern auch geistige und künstlerische Kräfte
zu, und andrerseits tritt der gebildete Privatmann dem Technischen und Künst¬
lerischen näher, als es durch bloßes Anschauen geschehen könnte, und aus
vielen solchen gebildeten Männern wird schließlich das Publikum, das nach
den Absichten des Hamburger Dilettantenvereins gehoben werden soll. Licht¬
wark giebt uns einige Andeutungen über den Nutzen, den die Berufsphotv-
graphie aus dem Mitwirken der Liebhaber gezogen habe, und weist auf die
Aufgabe hin, die ihre Teilnahme an der Bildnisphotographie noch zu erfüllen
habe, nämlich an die Stelle des heutigen Verschönerungsverfahrens etwas von
der verschwundnen Wahrheit und schonungsloser Charakteristik der großen alten
Porträtmaler zu' setzen. Als was für ein verwaschnes, haltnngsloses Geschlecht
müssen wir dereinst dem Kunsthistoriker erscheinen, der die Überbleibsel der
photographischen Porträtirknnst auf ihren Inhalt, die Dargestellten, zu prüfen
unternimmt! Ganz besonders lesenswert ist der Aufsatz über Bucheinbände.
Was sür Erinnerungen steigen da in uns auf, wenn wir von den Tugenden
unsrer Vorfahren lesen, von der Buchbindcrkunst im achtzehnten Jahrhundert
und ihren köstlichen Früchten, den geschmackvollen, goldgepreßten Lederbänden
mit farbigen Schildern sür Titel und Bandzahl auf dem hellen Grunde des
Rückens, sodaß nnn eine solche Wand von uniformirten Bücherrücken auf Re¬
galen oder hinter Glas eine dekorative Einheit bildete und vornehmer und be¬
haglicher wirkte, als jedes Prünkmöbel. Liebenswürdigeres, sagt Lichtwark,
als gelbes Kalbleder mit reicher Vergoldung und Schildern in Türkisblau, in
zartem Rot oder Grün läßt sich nicht denken, die Wahl der Farben fordert
ein eignes Studium, hier kann der Liebhaber ans die Leistungsfähigkeit der
Lederfabrikation von großem Einfluß werden.
Ja, ich selbst habe diese schönen Dinge noch mit eignen Augen gesehen,
in den Überbleibseln der Bibliothek meines Urgroßvaters, der kaum wohl¬
habender war als ich. Trotzdem lasse ich mit Vorliebe meine Bücher so binden,
wie man es nach Lichtwarks oberstem Grundsatz vermeiden müßte, nämlich mit
dunkeln Rücken, weil diese nicht so Schmutzer und man die Goldschrift besser
darauf sieht, vor allem aber, weil es billiger ist; und meine Frau, die sich
nicht lange zu besinnen pflegt, wenn sie die Anschaffung eines keinem Gebrauche
dienenden Ziermöbels für nötig hält oder einer kostbaren Portiere oder eines
kleinen Kunstgegenstandes aus Bronze oder Marmor, würde sich wahrscheinlich
gelinde verfärben, wollte ich ihr plötzlich mit einer solchen goldig wirkenden,
kalbledernen Wand hinter den Fenstern meines großen Bücherschranks auf¬
warten. Und sie hätte doch auch Recht damit, denn die Richtung unsers Luxus
hat sich nun einmal geändert. Aber Lichtwark hat ebenfalls Recht, denn er
kann nicht nur mit Hamburger Leder, sondern auch mit Hamburger Gelde
rechnen, und der Gesetzgeber in künstlerischen Dingen soll immer das Höchste
verlangen. Wie sehr nun leider unsre arme Wirklichkeit hinter dem Geforderten
zurückbleibt, das kann der Leser zufällig an diesen allerliebsten Bändchen unsers
ästhetischen Gesetzgebers selbst sehen. Giebt es wohl etwas ordinäreres und
zugleich etwas vergänglicheres, dem Papier schädlicheres, als die Drahtheftung?
Und doch wollen nur unsre kleinen Buchbinder noch mit Faden heften, und
der plebejische Draht, ein Erzeugnis der umfangreichsten Organisation des
Jahrhunderts, der Metallindustrie, also eines der Wahrzeichen unsrer Zeit,
verunstaltet und zerfrißt allmählich unsre Bücher, ob wir sie in Pappe oder
in Kalbleder binden, mit Sicherheit, und keine Macht scheint diesen Unfug
aushalten zu können.''')
Das letzte der uns vorliegenden Bändchen heißt Blumenkultus (Wilde
Blumen) und handelt von der Pflege der jetzt vernachlässigten alten Hausblumen,
wenn man diese Bezeichnung gebrauchen darf, die durch die kostbaren Zimmerein¬
richtungen mit den schweren dunkeln Vorhängen verdrängt worden sind. Man
hat ja nicht einmal mehr Blumentöpfe, die Anspruch auf Schönheit machen,
wie sie einst in den Fenstern unsrer Eltern und Großeltern standen, früher
aus Fayence mit Löwenmasken, die einen Ring im Maul hatten, später aus
bemaltem Porzellan; man braucht ja für Gärten und Veranden nur noch die
rohen irdnen Scherben. Man hat auch keine einfachen und dabei stilgerechten
Vasen und Gläser zur Aufnahme abgeschnittener Blumen, denn wer fragt oder
sieht bei den anspruchsvollen Chrysanthemumbüscheln darnach, in was für ge¬
schmacklose Behälter sie gesteckt sind? Hier wird nun wieder das alte Blumen¬
fenster empfohlen, wozu der weißgestrichne Fensterrahmen in seiner Wirkung für
die schlichte Backsteinfassade gehört; wenn nicht in der Stadt, so ließe sich dieser
Schmuck doch draußen wiederherstellen. Dazu wird von Blumentöpfen, neuen
Glasformen, Körben, Gittern, Brettern gehandelt und zuletzt auf deu kleinen
Hausgarten hingewiesen, aus dem die Blume vertrieben ist zu Gunsten einer
„kläglichen Nachahmung der englischen Landschaft." Frischer Nasen und Büsche,
vielleicht sogar ein paar wirkliche Bäume am Hause — das galt bisher sür
einen Fortschritt gegenüber dem früher säuberlich eingekeilten Küchengarten mit
seinen Blumenrabatten, denn es nimmt sich wie ein Stück Park aus und thut
auch dem Auge wohl. Es ist der englische Garten, den wir vor nun hundert-
fünfzig Jahren zuerst über Hannover und Braunschweig bekamen, und der
dann das Entzücken eines ganzen Zeitalters, des Rousseauschen, war, ge¬
wissermaßen in äußerster Parzellirung. Der Vlumenkultns, meint Lichtwark,
werde den englischen Garten kleinerer Dimension zerstören; dessen Tage seien
gezählt, und dann könne „der kleine Garten am Hause wieder uach künst¬
lerischen Grundsätzen mit geraden Wegen und Blumenbeeten angelegt werden."
Da wären wir also ungefähr wieder am Ausgangspunkte, wenn die Entwicklung
den ihr hier vorgeschriebnen oder vorausgesagten Gang nähme. Ja Lichtwark
meint sogar, der künstlerische Garten müsse wieder einen künstlerischen Ge¬
schmack auch in der Architektur hervorrufen. Auch gegen die kostspieligen
naturalistischen Wintergarten bringt er allerlei vor und möchte sie nach dem
Muster der alten Kreuzgänge als vor Wandfassaden hinlaufende Galerien mit
Grün und Blumenbeeten geordnet wissen. Alle diese Gedanken, die zunächst
für Hamburg gelten sollen, werden den historisch gestimmten Leser zu weiteren
Nachdenken anregen. Praktisch genommen, wird wohl jeder Einzelne an einigen
Punkten mit der stilvollern Einrichtung seines Daseins, insofern es etwas mit
Blumen und Gewächsen zu thun hat, einverstanden sein, andres aber wird er
nicht opfern wollen. Es erschien ihm immer als eine Verbesserung oder Ver¬
schönerung seines Lebens, und es hat doch auch seinen geschichtlichen Grund
gehabt. Der Stadtbewohner hat vielleicht keine Zeit mehr, den kleinen Garten
mit Blumen zu bestellen, oder er genießt ihn nicht, weil er selten hinunter¬
gehe. Eine Veranda aber mit grünen Gewächsen kann er jeden Augenblick
betreten. Darin stehen auch vielleicht echte alte Vasen, französische oder sächsische,
in denen nie Blumen gesteckt haben, denn sie sind viel zu kostbar zum Gebrauch,
auch hat er ja keine Blumen, die er abschneiden könnte. Das ist stillos und
unharmonisch; aber möchte sich wohl jeder derartige Besitzer nach dem Licht-
warkschen Buche reformiren lassen? Schwerlich, und selbst wer ans dem Stil
ein berufsmäßiges Studium zu machen Pflegt, wird doch als Bewohner seiner
Räume meistens wohl vorziehen, Eklektiker zu bleiben.
Nach den Mitteilungen der Verlagshandlung wird die Reihe dieser kleinen
Handbücher des Kunstunterrichts fortgesetzt werden. Wir sehen dem mit Interesse
entgegen.
in böser Sturm wars. So ist der April. Er ist wie die Leute,
die uns täglich dutzendweise begegnen. Sie ziehen den Mund bald
bis an die Ohren vor Freundlichkeit, während sie vor kurzem erst
für uns tückisch ein Graupelwetter besorgt haben. Aber der Sturm
war vorüber, und in wohlwollender Majestät goß die Abendsonne
ihren Glanz über das Dörflein und die Flur. Das Wasser ist ver¬
laufen; aber in Winkeln, Gräben und Löchern liegen noch schmutzige Graupelmassen.
Sie werden noch schmelzen. Im Müsershaus hat sich aber ein Graupelschwall
angesetzt, der so leicht nicht schmelzen wird.
Madlene hat sich umgekleidet. Ans dem Feld ist nunmehr nichts zu machen;
dazu ist es schon zu spät am Tag und auch zu uciß. Zum Hantiren im Stall ists
noch zu bald. Der Kleine schneidet in der Scheune Futter; der Große webt.
Madleue setzt sich am Lieblingsplätzchen ans Spinnrad, und der Fritz ans dem Süd-
geltendeckel schnurrt ein Lied dazu.
Es ist recht behaglich. Deal während Madlene sich umgekleidet hatte, hatte
der Große im grünen Kachelofen eingeheizt. Madlene sollte nach der Durchnässung
ihr Plätzchen neben der Ofenblase warm finden. Für diese Liebe hätte der Große
gestern noch ein freundliches Antlitz hinter dem Spinnrocken zu schauen be¬
kommen. Heute wars anders. Das Graupelwetter! Ja, so ein Graupelwetter,
das erkältet.
Sie hatte es dem Frieder sagen wolle«, wie es mit ihr bestellt war. Aber
bis heute hatte sie es ihm nicht gesagt. Wie hätte sie das gekonnt? Er liegt
fest mit seinem Beinbruch. Soll sie ihm ins Hans laufen? Nun und nimmer¬
mehr! Eine reputirliche Jungfrau kann doch nicht ins Werben gehen. Da »nichts
die Triltschenchristel anders. Die kanns; die verstehts! — Diese Graupeln saßen
unschmelzbar in der Madlenenseele.
Es ist eine verfluchte Welt! Wer kanns? Die Dreisten und Unverschämter,
die Fuchsschwänzer und Speichellecker könnens. — Nichts können sie, sonst brauchten
sie nicht dreist und niederträchtig zu sein! —- Wer kanns? Die Stillen, Wahr¬
haftigen und Stolzen könnens. — Nichts können sie in der vermaledeiten Welt;
denn die will betrogen sein! — Wer Glück hat, kanns. — Wer hat Glück? —
nichtsnutzige Redensarten! — Der Frieder hatte einst auf dem Berg gesessen und
hatte aus der Tiefe herausgepredigt: Ich kaun nichts! Und doch haben wir ge¬
sehen, daß der Frieder Großes vermochte.
Ich kanns nit! schrie die Madlenenseele auf, wenn die Graupeln wehthaten.
Das Gemeine konnte sie nicht; aber das Große konnte sie, das einer deutschen
Jungfrau ziemt und sie schmückt. Sie konnte lieben in keuscher Zurückhaltung,
harren in himmlischer Geduld des Tages, an dem es euch verkündigt wird: Der
Frieder ist mein!
In Zurückhaltung, Schweigen und Harren wird sie untergehn; es wird sie
umbringen! Es wird der Madleue angst und bange. Tag und Nacht schreit es
ni ihr auf aus der Tiefe: Ich kanns nit, und wenn es mich gleich umbringt! —
Wenn sich über ihn gewinnt, die Christel? Die Christel ist besser, als die Leut
denken, Huh, der Eissturm! —
Der April hatte seine übelsten Launen ausgespielt. Er rüstete sich zur Ab¬
reise und gedachte, sich ein gutes Andenken zu stiften. Die Welt war nun gar
nicht mehr so abstoßend zum Verfluchen und Vermaledeicn. Sie begann zu blühen
und zu dufte», zu Summe» und zu schwirren und in Licderwoime zu schwimme».
Aber das alles wollte in der Madlene nicht zur Lust gedeihen wie in den andern
Geschöpfe». Im Gegenteil: die Graupelschmerzen hatten sie ordentlich krank gemacht,
d"s zum Weib geborne Wehe» war so tiefgründig geworden, daß drinnen recht
dunkle Schatten lagerten.
Die letzten Tage des April sind schon so laug, daß im Müsershaus bereits
das Füttern und Melken besorgt, die Abendmahlzeit beendigt und es doch noch
nrcht dunkel genng war zum Lichtanbrennen. Madlene hatte den Tisch, woran der
^roße und der Kleine noch im Gespräch sitzen geblieben waren, abgeräumt, das
Geschirr gespült und nahm nun ihr Plätzchen zwischen der Ofenblase und dem
schnurrenden Fritz ein. Der Kleine erzählte eben den. Großen von der Kunst des
Einsiedler Schmiedes. Die Abenddämmerung nahm sich recht gut dazu aus. Denn
die Erzählung spielte stark ins Düster des Aberglaubens. Wie die Natur ihre
unergründlichen Geheimnisse hat, so ergehen sich auch die natürlichen Seelen gern
in Geheimnisvollem.
Der Götzemichel, erzählte der Kleine, hat doch wegen einer EIler"°) einen
Streit gehabt mit dem Fax. Der Michel hat mirs selbst erzählt. Und der Streit
hatte schon über ein Jahr gedauert im Amt. Da ists dem Michel doch bang ge¬
worden. Und in seiner Sorg und Angst ist er zum Einsiedler Schmied gegangen;
der sollte ihm sagen, wer gewinnt. Denn der Einsiedler Schmied hat einen Erd-
spicgel. Brüderle, hat der Einsiedler Schmied zu ihm gesagt, da mußt du mir
einen Erbschlüssel bringen. Den hab ich mit, sagte der Michel. Denn er kannte
die Sache schon ein wenig. Nun hat der Schmied seine Sache zurecht gemacht
und gesagt zum Michel: Du wirst deu Mann sehn, der gewinnt. Hernach hat er
den Michel zum Erdspiegel geführt, und wie der hineinsieht, hat er sich selbst
gesehn. Und der Götzeinichel hat auch den Streit gewonnen.
Kenn das! sagte der Große und erzählte eine merkwürdige Geschichte, die in
Schlesien passirt war.
Mittlerweile war es dunkel genug geworden zum Lichtanbrcnnen, und bald
war das Geschwisterkleeblatt bei der gewohnten Abendthätigkeit. Das Spinnen
wollte der Madlene an diesem Abend aber gar nicht gut geraten. So oft wie
einer Anfängerin „fnhrs ihr nein," und eine Wurst um die andre entstand im
Faden, sodaß sie sich ordentlich schämte, den Rocken untersteckte und zu Bett
ging. Der Kater Fritz schlich ihr auf deu Boden nach und begann seine Mäusejngd.
Mit der Madlene ists nit richtig. S wird wieder schlimmer, sagte der Kleine,
der sich Schmitzen für seine Peitsche drehte. Der Große stellte den Schützen in
Ruhe, stützte beide Ellenbogen auf den Brustbaum und drückte die Spitzen der
kleinen Finger in die Mundwinkel. So brütete er seine schwersten Gedanken.
Es kommt mir zu schwer an, sonst thät ich einmal mit ihr drüber reden.
Du könntest es vielleicht eher besorgen, Kleiner!
Ich? Der Kleine dehnte das i gewaltig. — Ich kann sie nit fragen, was
ihr fehlt.
Kupp, klappklapp! arbeitete der Große »veiter. Aber nicht lange. Der Schützen
stand wieder, und die kleinen Finger berührten mit ihren Nägeln wieder die
Zähne. Schwere Gedanken saßen dem Großen im Kopf. Er frischte sie an mit
einer starken Prise aus der Rindendvse und sagte: Hör, Kleiner, so thuts nit
mehr gut!
Woh is denn mei sogen?
Ich hab mich noch nicht darüber ausgesprochen; und du mußt mir nit querig
kommen!
Ich? Das lange i wich von dem vorigen ab und schlug mehr in Ver¬
wunderung. Mußt mich recht verstehn. Das Viertel Weizen hat sie selmal wieder
mitgebracht auf seinem Schlitten. Verstehst du?
Woh is denn mei sogen!
Du hast mir noch nichts gesagt.
Werd mich hüten!
Warum das?
Sie könnten einander nit erriech, sagen die Leut.
Habs auch so gehört; Habs auch geglaubt. Aber, Kleiner! Das muß ich
kenn! — Kupp, klappklapp! Nach einem Viertelstündchen richte wieder der Schützen,
und sein Bändiger nahm gleich zwei Prisen hintereinander und rief: Aber! —
Irren ist menschlich!
Woh is denn mei sogen!
So hatten die Brüder mit ihren Vermutungen, beide zugleich, den Fuß ins
Gehege des Madlenenleids gesetzt. Aber sie waren beide von so sorgenvoller
Schonung gegen die Schwester erfüllt, daß sie es vor der Hand nicht wagten, ans
dem betretnen Gebiet einen Schritt vorwärts zu thun.
Das war am Freitag, Der Sonnabend belastete Madlene mit so viel Arbeit,
daß sich keine Gelegenheit bot, die Aufmerksamkeit der Brüder auf das Herzens¬
gehege der Schwester zu lenken. Ein herrlicher Frühlingssonntag brach an. Vor¬
mittags, während die Brüder in der Kirche waren, kochte Madlene. Still und
traulich war es in dem Müsershans. Im alten grünen Kachelofen knisterte und
platzte das Feuer, und auf der Wäschestange der Pvrlam sang die eben aus fernen
Landen heimgekchrte Hausschwalbe wie vor acht Jahren am Pfiugstmvrgen von
Liebe und Treue, von Herd und Hof, von der Herrlichkeit des deutschen Hauses,
von der Heiligkeit der Heimat. Ju einer Ecke unter dem Dach der Porlam stand
auf dem Rand eines alten Korbes, der dort festgemacht war, eine Henne und ver¬
kündigte laut, daß sie eben ein El gelegt habe. Drinnen im Müsershaus war
neben dem Feuergeknister nur der leichte Tritt der geschäftigen Madlene zu hören,
der einförmige Pendelschlag der Schwarzwälderiu und das Schnurren des Fritz,
der bald die rechte, bald die linke Hälfte seines Schnurrbarts an seiner Herrin
wetzte. Es war, als spüre es die Madleuenseele, daß eben die Brüder im Gottes¬
haus bei dein Gebet um „gut Wetter, Friede und Gesundheit" dem Herrgott ihre
Schwester vorhielten. Und die Madleuenseele ward so feierlich und weich gestimmt,
als schwebe sie abermals zitternd zwischen dem Morgenrot und der Sonne des
Glücks, Und um rührt mich nicht an, weder mit Worten noch Gedanken! Denn
us war verzagt und schwankend geworden. Stoßt mich nicht wieder dahinab!
Was fragt die vermaledeite Welt nach solchen Heiligtümern? Herein tritt
der Grundel. Madlene, hätte beinahe das Bratentiegelchen, das sie wieder in die
Röhre zu schieben im Begriff stand, fallen lassen.
Guten Morgen, Madlene! Nit war, ein seltner Gast? Ihr Leut werde
vornehm; der tausend, ist das ein propper Birro! Na, 's schickt sich alls zu-
sammn. Mein Briefle, das ich da bring, wird schon eines feinen Schubfächle
wert sein.
Madlene hatte den Grundel uoch nicht ordentlich angesehen. Sie war an
ihrem Ofen geschäftig, röstete Weckbröckle, machte den Kloßteig — kurz, hatte sehr
notwendig. Das mochte der Grundel merken und faßte sich darum kurz. Bei dein
Wort „Briefle" fuhr Madlene herum, als wär hinter ihr der Donnerkeil in den
Fttßboden geschlagen. Da lag schon das Briefle ans dem Tisch, und der Grundel
sagte Adjes! und ging laut lachend davon. Madlene trat um den Tisch und starrte
den Brief um. Sie hatte in ihrem Leben uoch keinen erhalten. Da stand schwarz
""f weiß: An die Jumfer Mnchtlehne Helckin. Durch Güte!
Ohne das Ding angerührt zu haben, begab sie sich wieder an den Ofen und
legte die Kloß ein. Darauf wusch sie sich die Hä'nde, trocknete sie fein ab und
griff denn nach dem Brief. Durch Güte! Wo außer diesem Haus giebts für
mich Güte? Güte? Du meine Güte! Sie öffnete zitternd den Brief und las.
Den Brief wird Dir der Grundel bringn. Darzu ist der Vogeljock meiut-
wegn noch zu brauchn, Heringegen er übrigens ein Lump ist. Darin stimmen wir
überein. Es ist bublik unter den Leuten, daß Du in mir verschainerirt bist und Ich
in dir. Und unser verhälduiß miteinander wie Dir bekant sein wird. Es sind
nun schon 8 jar her. Und ich bin davor das der Dröttel gar wird. Ein man
wie Ich; in Wien der ich bin und habe Mir mangelt Dach 50 Gulden verdient.
Aber herein in Wien kau ich kein banernweibsen nicht inführen, wie Dn wißen
du» wirst. Heringegen wollt ich in Unsern Nest dort den eseln aufspilln. Werden
verpflugt glotzen und Du auch mitzamt Dein Schleßinger. Und unser juugcus
müssen holf der deufel alle nennt nach Wien. Werd balt komm. Da wirdz fest
gemacht mit Dein dänischen Brüdern, das Dus hauß Betonen dust. Vor mein
Schöns Gelt will ich was ich heringechen Dir einztweiln verraten tun will, daß
in die Dausente get, was sühlt; denn Ich wil nicht umsonst in Wien geweßt sein.
Den ein man als Ich komt nicht ale lach. Gehdoch aber Indem unzer verhnlldniß
bublik ist vor die weilt und auch schon Alt fut indem dn daß so gud wißen dust
wie Ich verbleibe Ich dein
Madlene war blaß geworden und zitterte vor Erregung. Das Blatt entfiel
ihren Händen. Die Brust wogte. Das eggcrtse Auge starrte ius Leere. Und
aus dem Leeren heraus trat der Türkendres, oder wie er sich jetzt schreibt: Andres
Höpflein, von Wien her auf das unglückliche Mädchen zu und kam immer näher,
eine schwere gelbe Uhrkette an der Weste, breitspurig weltmännisch in allen Be¬
wegungen, mit verschmitztem, scheußlichem Gesichtsausdruck. Madleue hob schnell
den Brief auf und riß ihn mitten durch und schrie laut: Elender! Da war die
Erscheinung von Wien her weg, und der haarsträubende Buckel des Fritz wurde
wieder glatt, und sein eifriges Schnurren brachte Madleue zu sich. Sie ging in
die Küche und warf die Brieffetzen in die Flamme des alten Kachelofens, nud sie
horte die Henne wieder „gatzen," und dazwischen das trauliche Schwalbenlied, daß
es ihr wieder besser zu Mut ward.
seitab tauchte nun aber das Bild der Triltschenchristel auf, das ihr der Eis-
sturm in die Phantasie gestellt, und mit dem sie Tag und Nacht schon gekämpft
hatte. Sie hatte es schon ins Nichts verwiesen, hatte sich aufgerafft und war eben
dahin gekommen, wieder zu sagen: Und nun rührt mich nicht um! Da war die
vermaledeite Welt hereingetreten und hätte beinahe eine heilige Welt zertrümmert.
Das Unglück war noch nicht ganz geraten, aber der Untrost war wieder mächtig
geworden, und das Triltschenchristelsbild begann wieder den Plan zu erklimmen.
Die Brüder kamen von der Kirche und fanden die Schwester still und ernst,
wie sie war, als sie gegangen waren, nur blässer. Nach dem Mittagessen rüstete
sie sich zum Kirchgang, klemmte einen Marumverumstengel und drei Rautenblättlein
mit den Stielen ins Gesangbuch und machte sich beim zweiten Läuten ans
den Weg.
In den Kirchenstand durfte ihr die vermaledeite Welt nicht nachziehen. Das
War geweihtes Gebiet, Gestärkt verließ Mndlene das Gotteshaus. Auf dem Heim¬
weg kam ein Entschluß in ihr zur Reife. Sie bekam dabei ein wenig eine Gems-
bart. Aber der Kampf mit dem Christelbild sollte und mußte in ihr abgethan
werden. Den lieben Herrgott konnte sie mit der Turteltaube nicht belästigen; wozu
ist denn der Einsiedler Schmied da? Sein Erdspiegel soll mir sagen, wer gewinnt!
Das war der gänshäutige Entschluß.
Gesangbuch und Kirchenmantel kamen an ihren Ort. Im Äußern angethan
wie zum Tanz verließ Madlene das Haus. Die Brüder meinten, sie unternähme
ihren gewohnten Sonntngsslurgang. Aber diesmal ging sie den Bart hinan, über
den Brand, die finstere Leite hinein, schräg durchs Neulehn, um den Schneidmühlen
vorüber, über einen muntern Wicsenbach, der aus der Hel kommt, und: hinter der
Waldecke liegt Einsiedel. Sie ging einige Schritte vom Weg ab und setzte sich
unter eine mächtige Weißtanne. Hoch in ihrem Gezweig ruckste ein Tauber. Von
der Biber heraus tönte das Lied des Zaunkönigs, mit dem sich die Rufe der gelben
Bachstelze mischten. Mönch und Rotkehlchen flöteten und trüllerten. Ein Paar
Eichhörnchen sanfte knurrend an Madlene vorüber, daß sie erschrocken die Füße
zurückzog, und jagte am nächsten Fichtenstnmm in die Höh.
In die Höh! In die Höh, Madlene! Dein Grübeln nutzt nichts. Auf,
zum Schmied mit dem Erdspiegel! Wer gewinnt? Ach, da beim Herrgott im
Wald ists so feierlich, so erquickend! Wie Balsam dringt dirs in die Seele, ge¬
quältes Mädchen! So bleibe sitzen! Trinke weiter das Labsal, das dir der frische
Wald kredenzt! Habe keine Sorge; da ists wie in deinem Kircheustaud vorhin:
Hieher dringt sie nicht, die vermaledeite Welt!
Sie trank. Der Oberkörper sank zurück ius Moos, die Hände falteten sich
unter der vollen Brust, und das eggertse Auge drang durch den zart durchbrochnen
grünen Tannendom hinauf zur treuen Himmelsbläue. So trank die wunde Mad-
lenenseele in vollen Zügen heilenden, stärkenden Balsam.
Bist du stark genug, Madlene? Steh ans! Wer gewinnt? Da knickten
dürre Zweige in der Nähe hinter ihr. Ein Reh? Madlene springt auf: der
Einsiedler Schmied steht vor ihr mit einem Bündel Kräuter.
El, die Müsersmadlene da?
Madlene schlug die Augen verschämt nieder, und heiße Glut trat ihr ins Gesicht.
Was ists denn, mei Tichterle? Wo willst dn hin?
Ich wollt zu Euch und hatt 's Herz nit.
Hihihihi! Mach mir keine Maus! El, du Lieberle! Der Schmied setzte
sich ins weiche Moos nieder. Setz dich doch, mei Tichterle! Thu, als wärst
drheim! Die schönsten Bank wachsen im Wald.
Aber Madlene setzte sich nicht; sie lehnte um dem weißen Stamm der
großen Tanne, und die langen, dunkeln Wimpern hielten von dem halbgeöffneten
Auge die Blicke des Schmiedes ab.
Wir siud da allein, mei Tichterle! Sag mirs, was du von mir willst. Ich
den kein Freimaurer; sie habn mich nit angenommn. Was ich treib, da ist der
Teufel ausgelassen. Mei Sach steht im siebnten Buch Mosis und in andern
Suchern. Und was da nit steht, hat mir mit Gottes Hilf für Geld und gute
^ort der alt schwarz Hans von Heboch beigebracht. Ruhe schon lang unter der
^rdn. Sogs, Tichterle, wo dirs fahle!
. Wer gewinnt, will ich von Euch wissen. Ihr habes dem Götzemichel auch
gejagt. ^ ^ ^- ^ ^
Wer gewinnt? Hofe doch kein Streit, mei Tichterle?
Streit nit. S ist ein Spiel.
Aha! Lotto! Du die Nummer, die andre eine andre Nummer!
Wie Ihr wollt, S ist so was; aber kein Lotto. Ob ichs bin, oder eine
andre, oder ein Mannsleut, das verrät ich nit.
Gut, gut! Nacht sehr hübsch, mei Tichterle! Weiß schon genug. Da mußt
dn mir 'neu Erbschlüssel mitbring und mußt zu mir ins Haus kumm.
'
Den Erbschlüssel hab ich mit; aber ich hab nit s Herz in Euer Haus. Wenn
mich eins sieht, erfahrens die Leut, und das wär mir gar nit recht.
Hin, hin! Der Erdspiegel, zu dem ich den Erbschlüssel brauch, hat seine
Kraft von der unterirdischen Gottesgewalt. Die Stern in der Nacht drohn am
Firmament wissen auch viel; aber das is nit mei Sach. Die geht ins Erdherz.
Mädle, wer das kennt, was von da unten raufwärts bricht nach dem Firmament
zu, der weiß ehr so viel. Denn ans der Erden nach dem Firmament zu, und
vom Firmament nach der Erden zu, das is ein Geheimnis. Der Erdspicgel, mei
Tichterle, der red't halt ganz deutlich. Weil du ober uit in mei Haus willst, so
muß ichs anders traktir. Das Erdgehcimnis wachst auch in die Pflanzen; wers
versteht, kann sich auch ohne den Erdspiegel behelf. Das Pflanzla, das ich in
deiner Sach brauch, giebts ober im Avril noch uit in der freien Natur. Aber
ich ziehs drheim in 'uem Asch, daß ichs auch im Winter zur Hand hab. Mein'n
Erdspiegel kaun ich dir nit hol, mei Tichterle. Aber von meinen Krnntla will ich
a Zelgla hol. Wart da, bis ich wieder komm. Der Schmied ging.
Madlene setzte sich, aber nicht wieder aufs Moos, souderu wählte zum Sitz
ein Plätzlein, das mit dürren Nadeln bedeckt war.
Das Moos wachst auch aus der Erde heraus, dachte sie. Es trägt auch das
Geheimnis in sich von der unterirdische» Gottesmacht. Darauf darfst dn dich nit
wieder setzen. Und mit dem Gras wirds mich so sein. Ist der Einsiedler Schmied
nit ein gescheiter Mann! Er hat recht. Wir andern Lent sind doch aber anch
recht dumm, daß wir nit selbst daran denken. Was da ranswächst aus der Erde»
in den Weizenhalm und Kornhalm hinein, das erhält uns und giebt uns Blut,
und in dem Blut steckt halt gar viel! Und da denken wir me dran, wos her¬
kommt, und daß es die unterirdisch Gottesgewalt ist. So was lernt man halt
nit in der Christenlehr — und es ist halt doch auch wahr und weist einen recht,
was für ein Heiligtum einen seine Äcker und Wiesen sein sollten, Wenns drauf
wächst und blüht und zeitigt.
Durch den Einsiedler Schmied war in den, schlichten Mädchen eine neue,
vergeistigte Weltanschauung geweckt worden. Wer gewinnt? Madlene hatte schon
gewonnen.
Der Schmied kam wieder. Da bin ich schon, mei Tichterle. Er hielt der
Madlene ein Pflanzcnzweiglein vor. Das Zeigte wird dir antworten. Da, minus!
Guck einmal durch die Blättle gegen den Himmel! Siehst die lichten Pünktle, wie
Nadelstich? Da sind die Sternle vom Firmament abgebildt. Es geht «aufwärts
und runterwärts.
Schmied, das wächst im Sommer an unserm Ackerrain.
Freilich, mei Tichterle! Kennsts? Kennst auch sei Sprach?
Das nit.
Nun geh in die Vüsch dorthinten, daß ich dich nit seh. Zupfst die Blättle
vom Zeigte, drückst und klopfst sie zwischen zwei Kieselsteinen weich, und nachher
drückst du durch weißleimets Tuch, das du auf dem Leib trägst, den Saft aus.
Und wenn dn an zu drücken fängst, denkst du an die Person, von der du wissen
willst, ob sie. gewinnt. Wird die Leimet vom Saft grün, gewinnt die Person nit,
wird sie rot wie Blut, gewinnt die Person. Bet über erst ein Vaterunser, eh
dus machst!
Madlene huschte von dannen. Der Schmied feste sich wieder ins Moos, stützte
den linken Ellenbogen cinfs Knie und den Kopf auf die Hand und drehte zwischen
Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ein dürres Reislcin einmal so hernni,
dann wieder anders herum und führte ein murmelndes Selbstgespräch.
Es mochte Wohl ein Viertelstündchen verstrichen sein, als Madlene wieder kam.
Bist dn zufrieden, mei Tichterle?
Madlene war erregt. Die sonst so scheue Glut wich nicht aus ihrem Antlitz
vor dem Schmied. Ja! Habt Dank! Was loses?
Hihihihi! Kost nichts, mei Tichterle. Aber wenn du mir einmal ein Viertel
Weizen zukommen lassen kannst, nehm ichs mit Dank an. Dahinten bei uns
»nächst keiner.
Das sollt ihr Halm! Habt Dank, und verrät mich nit.
Freilich uit! rief der Schmied der Davoneilenden nach.
(Fortsetzung folgt)
Die Verurteilung Trojans hat viel Stand auf¬
gewirbelt. Der Fall ist dazu ausgebeutet worden, eine ganze Gntachtenlitterainr
ins Leben zu rufen. Juristen, Theologen und andre Gelehrte, Dichter, Maler,
Musiker und andre Künstler haben den Zeitungen ans ihre „Nmsragen" mehr oder
minder geistreich ihre Meinung gesagt, und wenn man das Fazit zieht, so kommt
heraus, das; die Majcstätsbeleidiger in der sogenannten öffentlichen Meinung einen
nnsgesprvchncn Sieg davon getragen haben. Das ist schlimm, und deshalb wiirS
besser gewesen, man hätte die Anklage nicht erhoben. Da sie aber einmal erhoben
worden war, so Wichte freilich die Verurteilung auch erfolgen, denn die Frei¬
sprechung hätte der Gerechtigkeit ins Gesicht geschlagen. Der Fall Trojan kann
damit abgethan sein; man kann es ein bedauernswertes Schicksal nennen, wenn
jemand vom Witzerciszen leben muß und. um seinem Publikum nicht abgedroschen
S" erscheinen, immer verwegnere Griffe zu thun gezwungen ist, bei denen er sich
endlich die Finger verbrennt. Über die Majestälsbeleidignngen selbst haben wir
'was ein Wort zu sagen.
Man hat den Satz ausgesprochen: die Häufigkeit der Majestätsbeleidignngs-
pwzesse nähme den Charakter einer endemischen Krankheit an und laste wie ein
Alp ans dem Volte. Das ist geschmacklos und unlogisch. Die Erhebung von
Anklagen kann niemals einen endemischen Charakter annehmen, nnr das zu ver¬
folgende Vergehen kann endemisch werden, und denn kann freilich nnter Umständen
die Erhebung der Anklage zu einem Fehler werden. Wir glauben, so liegt die
Snche jetzt bei uns; wir sind in einem ernsten und gefährlichen Krankheits¬
zustande.
Will man über solche Krankheitserscheinungen urteilen, so kam: das immer
nur c>uf Grund persönlicher Wahrnehmungen geschehen; mit statistischen Thatsachen
läßt sich da kein Staat machen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß seit acht
Jahren die Neigung zu Majestätsbeleidigungen im weitesten Sinne des Worts
— d. h. die Neigung, die Person des Monarchen in Bezug auf seinen Beruf in
gehässiger Weise herabzusetzen — unter den Gebildeten in Preußen, von allen
übrigen Leute» vorläufig abgesehen, in unerhörter Weise Angenommen hat. Auf¬
fallend war diese Zunahme namentlich in den Kreisen, die sich sonst als konservativ
und besonders königstreu zu bezeichnen pflegen und das auch früher wirklich waren;
und noch auffallender war sie in den Bernfsständcn, die in einem nähern Ver¬
hältnis zu dem Staatsoberhaupt selbst stehen. Gerade in diesen Kreisen haben sich
seit 1890 die raffinirten Schmähungen Qniddes und die ausgesucht verletzenden,
wenn auch dem Strafgesetzbuch geschickt angepaßten Pamphlete Harders, auch die
sich oft in derselben Richtung bewegenden Leistungen der Gelehrten des Kladdera¬
datsch einer Beliebtheit erfreut, die in Erstaunen versetzen, ja geradezu erschrecken
mußten. Wenn man eine der Wahrheit möglichst nahe kommende und gerechte
Erklärung dieser Erscheinung finden wollte, müßte man natürlich vor allem das
Verhalten des Monarchen selbst betrachten, umso mehr, als selbstverständlich die
von der Krankheit erfaßten Kreise gerade darin den Grund für ihr eignes Ver¬
halten sahen. Unzweifelhaft fordert Kaiser Wilhelm II. persönlich die Kritik mehr
heraus als irgend ein andrer herrschender europäischer Monarch und die Mehrzahl
der Monarchen der neuern Zeit überhaupt. Er ist eine scharf ausgeprägte Persön¬
lichkeit und ist geneigt, diese Persönlichkeit jederzeit ganz zum Ausdruck zu bringen,
bei jeder Gelegenheit voll in die Wagschnle zu werfen. Er spricht oft öffentlich
über die Zeitfragen, die die Öffentlichkeit beschäftigen, und er ist natürlich nicht
unfehlbar. Schon das führt dazu, daß viel über ihn gesprochen, viel kritisirt wird,
und schon das würde esksiis xaribus in einem gewissen Grade die Zunahme der
Mnjestätsbeleidignngen erklären. Ein Monarch, von dem man nicht spricht, wird
selten beleidigt werden. Aber das konnte doch nicht zur Erklärung der zunehmenden
Liebhaberei für Majestätsbeleidigungcn in den Kreisen, wo sie besonders auf-
fallend waren, genügen. Mochte man anch öfters den Wunsch aussprechen hören:
„Wenn doch der Kaiser weniger spräche; er giebt dem gehässigen Klatsch nur will-
kommne Nahrung!" so war das doch wahrhaftig etwas andres, als die auffällige
Neigung der sich ihrer königstrenen und konservativen Gesinnung rühmenden Masse
gebildeter Männer, die Reden des Kaisers und alle sonstigen Äußerungen seiner
Persönlichkeit aufzubauschen und dazu auszubeuten, den Monarchen herabzusetzen,
zu verkleinern und zu verhöhnen; etwas andres als das offenbare Vergnügen
daran, wenn sich jemand angelegen sein ließ, durch öffentliche Bethätigung dieser
Neigung das Vertrauen zum Monarchen im Volke zu untergraben. Man mag es
bedauern und tadeln, wenn jemand in hochwichtiger Stellung unvorsichtig Gelegenheit
giebt, ihn durch pfiffige Entstellung der Wahrheit zu verleumden und zu karikiren,
aber dem Maun, der diese Gelegenheit gehässig benutzt, drückt man deshalb doch
nicht die Hand, sondern weist ihn zur Thür hinaus, wenn man ein konservativer
und königstreuer Mann, überhaupt ein ehrlicher Kerl ist. Dafür scheint seit 1890
in der „bessern" Gesellschaft in Preußen das Gefühl stark abgenommen zu haben.
Und wodurch giebt denn die Politik des Kaisers Grund zu der leichtfertigen
Spielerei der bessern Gesellschaft mit Majestätsbeleidigungen? Es ist klar, daß
diese Liebhaberei besonders bei den Leuten guten Boden fand, die sich über Bis-
marcks Entlassung besonders entrüstet hatten. Es sind vielen damals bittre Thränen
in die Augen getreten, als sie diese traurige Katastrophe erleben mußten. Aber
wenn man sich auch kein Urteil über Schuld und Nichtschuld anmaßen konnte,
darüber durfte doch schon damals kein unbefangner Mann im Zweifel sein, daß
die Geschichte es spater als ungerecht erweisen werde, wenn man dem jungen Kaiser
allein die Schuld an diesen Vorgängen zuschriebe. Und vollends mußte sich jedem
unbefangnen Manne mit jedem Jahr seit 1890 die Überzeugung mehr und mehr
aufdrängen, daß die an die Entlassung Bismarcks anknüpfende und sie bis heute agi¬
tatorisch ausbeutende Fronde weit über die fiir einen königstrenen Preußen entschuldbare
Grenze hinausgegangen ist nud sich schwer an dem gesunden politischen Sinn unsrer
bessern Stände versündigt hat. Mit unverzeihlicher Frivolität, sich feig hinter der
thatsächlich sakrosankten Person des größten Mannes deckend, den Deutschland seit
Jahrhunderte» gehabt hat, hat diese Fronde unendlich viel zum Umsichgreifen der
Krankheit, von der wir hier sprechen, beigetragen. Man soll sich hüten, diese
schmutzige Wäsche jemals vor der „Öffentlichkeit," vor Gericht waschen zu wollen.
Aber vor allem darf der ehrliche königstreue Monarchist heute nicht mehr im Un¬
klaren darüber bleiben, daß gerade in der „besten" Gesellschaft unter der mi߬
bräuchlichen Schutzmarke „Bismarck" die Neigung, die Majestät des Monarchen zu
beleidigen, bedenklich zur Mode geworden ist.
Die Politischen Fehler, die seit 1890 gemacht sein mögen, können dafür nicht
als Entschuldigung dienen. Es ist müßig zu phantasiren, wie es geworden wäre,
wenn Bismarck im Amt geblieben wäre. Es mußte auch ohne ihn gehen, gut oder
schlecht, und „nur" schlecht ist es doch nicht gegangen. Es ist freilich ein eignes
Geschick, in dieser Zeit des sensationslüsternen Pessimismus deutscher Kaiser zu
sein, der Nachfolger der ruhen- und erfolgreichsten Männer der deutschen Geschichte.
Dieser sensationslüsterne Pessimismus — zu deutsch: die weibische Heulmeierei, die
mit klatschsüchtiger Freude über alles gepaart, was elend und häßlich ist, und
blind gegen alles Edle und Schöne, niemals daran denkt, selbst handelnd das
Schlechte wieder gut zu machen — wo soll dieser Pessimismus die Fähigkeit
und den guten Willen hernehmen, diesem Monarchen gerecht zu werden? Man sehe
sich doch nnr einmal um in den Kreisen, in die man Einblick hat, und wenn man
die Augen der Herrn Räte aller Klassen und der Grafen, Freiherrn und Herrn
,^on" glänzen sieht über Trojans Teufel mit dem Knoten im Schwanz oder über
Harders Giftzahn und Pferdefuß oder gar über die Unflatereien des „Vorwärts,"
denn frage man doch einmal, was die Liebhaber dieser pikanten Dinge in der
praktischen Politik des Kaisers eigentlich geändert haben wollen, um das Gute an
Stelle des Schlechten zu setzen. Da ist, 1000 gegen 1 zu wetten, sobald das
Gesnmtwvhl in Betracht kommt, das Latein vollständig zu Ende! Wahrhaftig man
möchte fast glauben, daß diese Kreise erst durch furchtbar schweres nationales Un¬
glück zur Vernunft gebracht und von ihren pessimistischen Liebhabereien, auch von
der für Majestätsbeleidigungen, geheilt werden können, daß sie erst durch schwere
Not und Niederlagen das Große, Edle, Gute an der hoheuzollerschen Monarchie
u»d von diesem Hohenzollern wieder werden begreifen lernen.
Und wie nehmen sich in dieser Beleuchtung die Gutachten aus, die unsre so
Redlich um ruhige, ernste, weitblickende Förderung der Wahrheit bemühte Presse
dem lieben Publikum geboten hat? Was sagen die befragten Herren Juristen und
^hevlogen, Dichter und Klavierspieler schönes über die Majestätsbeleidigungen?
Findet sich irgendwo auch mir ein Anklang an die Frage, ob das liebe Publikum,
diese gute bis beste Gesellschaft, vielleicht auch ein klein wenig daran schuld sein
konnte, daß es so ist, wie es ist, und ob diese Gesellschaft nicht auch ein klein
wenig dazu thun könnte, daß es besser werde? Nichts der Art ist zu bemerken.
Nur eine Melodie in allen Tonarten: Es soll niemand mehr wegen Majestäts¬
beleidigung bestraft werden! Alle Achtung vor dieser „öffentlichen Meinung,"
aber solange sie laut wird ohne die Parole: Ein Schuft von jetzt ab, wer sich
Patriot nennt in Deutschland und doch an den Schmähungen auf den Kaiser seine
Freude hat! — so lauge ist sie nichts als Heller Unverstand oder infame Heuchelei!
Die Frage nach der Zunahme der Majestätsbeleidiguugen in den weiten von
der Sozialdemokratie oder in den viel kleinern vom reichsfeindlicheu Partikularismus
und dergleichen beherrschten Kreisen und ihrer gerichtlichen Verfolgung steht an
Bedeutung weit hinter der leichtfertigen Spielerei der bessern Stände Preußens
mit Majestätsbeleidignngen zurück. Auch der sozialdemokratischen und sonstigen reichs-
fcindlichcn Sippschaft ohne weiteres Straflosigkeit für die Beleidigung des deutschen
Kaisers zuzusprechen, wie das jetzt Mode ist, ist krasse Oberflächlichkeit. Das Gesetz
darf vorläufig keine solchen Experimente bei uns machen. Freilich erweckt jeder
Majestätsbeleidigungsprozeß die Besorgnis, ob nicht mehr mit ihm geschadet
wird als genützt. Die Entscheidung ist Sache politischen Taktes. Es kommt
alles darauf an, das Gefühl der Strafwürdigkeit der Majestätsbeleidignngen im Volke
rege zu erhalten oder wieder wach zu rufen. Zahlreiche Verurteilungen können
leicht das Gegenteil bewirken, aber erst recht thut das natürlich die neumodische
Agitation für Straflosigkeit in der Presse.
Wie die Sachen jetzt liegen, brauchte man sich nicht zu wundern, wenn die
Verurteilung Trojans für den Majestätsbeleidigungsteufel eine geschäftlich wert¬
volle Reklame machte. Den Kaiser kann das Persönlich nicht anfechten, aber die
„bessern" Stände werden dabei zu beweisen haben, ob der Teufel sie richtig
taxirt oder falsch.
Bor kurzem ist das erste Heft der
von or. Julius Wolf, ordentlichem Professor der Staatswissenschaften zu Breslau,
herausgegebnen „Zeitschrift für Sozialwissenschaft" erschienen. Professor Wolf ist
Hauptvertreter der neuen Spezies von Volkswirtschaftslehreru an deu preußische»
Universitäten, die Schmoller in der Eröffnungsrede der letzten Generalversammlung
des Vereins für Sozialpolitik in Köln als „Strafprvfessoren" bezeichnet hat. Zur
„Strafe," wie Schmoller, und als Gegengewicht, wie Bosse meint, für den allzu-
eiuseitig bisher vertretuen Kathedersvzialismus sollen diese Herren in ihre Ämter
berufen worden sein. Wir haben keinen Grund, den heutigen Kathedersozialisten
die Strafe zu mißgönnen und den Strafprvfessoren schlechten Erfolg zu wünschen.
Als praktische Sozialpolitiker sind wir der Überzeugung, daß in der Wissenschaft
mit der in den letzten zwanzig Jahren vorherrschend gewordnen sozialistischen Ein¬
seitigkeit gebrochen werden muß, ehe in der Praxis aus sozialem Gebiete an ge¬
sündere Verhältnisse und wirklichen Fortschritt gedacht werden kann. Der not¬
wendigen Ruhe und Nüchternheit, sür die in der Sozialpolitik, wie wir neulich
hervorhebe» konnten, die Verbündeten Regierungen nach deu Erklärungen des Grafen
Posadowsky energisch einzutreten scheinen, steht hente der Modesozialismus der ge¬
bildete» Nichtsozialdemokraten als das ärgste Hindernis im Wege. Erst wen»
dieses beseitigt worde» ist, ka»» der in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, wie
der im agrarischen großen Hansen allmächtig gewordne sozialistische Egoismus und
Fanatismus, nachhaltig eingedämmt werden. Diese auf wissenschaftlichem Gebiet
zu lösende Aufgabe ist ungeheuer schwer. Professor Wolf kämpft mit anzuerken¬
nender Freudigkeit gegen den weitverzweigten und, trotz manchem Hader im Innern,
much außen fest geschlossenen Ring der heutigen Kathedersozialisten — die 1872 dem
„Verein für Sozialpolitik" beigetretne Masse ist damit keineswegs identisch. Er
wird zu zeigen haben, ob er der Maun ist, ein großes Ziel kräftig und aufopfernd
zu verfolgen und die Mitstreiter zu werben, die er in diesem Kampfe braucht. Die
„Strafprofessoren" werden Schule machen müssen, und sie werden sich zugleich das
Vertrauen der freilich nicht sehr zahlreichen aber zum Teil hoch verdienten Pro¬
fessoren der Nationalökonomie in Dentschland zu erwerben haben, die von der
sozialistischen Modescuche frei geblieben sind, es aber infolge allzufriedfcrtiger Ge¬
mütsart leider verabsäumt haben, dem tnthedersozialistischcn Strebertum mit der
allein dagegen wirksamen Schroffheit entgegenzutreten. Bei dieser Sachlage nimmt
die neue Zeitschrift unser volles Interesse in Anspruch, wenn wir auch nach Durch¬
sicht des ersten Heftes irgend welche Vornnssage über ihre Zukunft nicht zu wagen
vermögen.
In einem kurzen Borwort „zur Einführung" wird ein sehr weites Gebiet
zur „Beackerung" in Aussicht genommen. Fast scheint es darnach, als ob man
anch „jedem Gebildeten," ja jedem, „der sein Brot verdient, eine Wirtschaft führt,
eine Familie ernährt, Kinder erzieht und einen Abgeordneten in die Hauptstadt des
Landes entsendet," Gelegenheit geben will, sich die „Einsichten der Sozialwissen-
schaft" zu eigen zu uneben. Hier klaffe, meint der Herausgeber, besonders bei
den Nichtsozialdemokrateu, eine „Bildungslücke," die ausfüllen zu helfen „eine" der
Aufgaben der Zeitschrift sei. Als „zweite" Aufgabe nimmt er in Aussicht, „einen
Vereinigungspunkt abzugeben für die Vertreter der Naturwissenschaft und die der
Nationalökonomie wie der andern politischen Wissenschaften in ihrer Beschäftigung
mit den sozialen Dingen." Die Nationalökonomie, die Gesellschaftsphilosophie und
die soziale Ethik, auch die Sozialgeschichte und die soziale Jurisprudenz sollen
sich mit der Entwicklungslehre, der Anthropologie, Massen- anch Jndividual-
Pshcholvgie, Medizin und Hygiene zusammenfinden. Als „dritte" Aufgabe wird
die Absicht bezeichnet, „die Männer der Praxis und gelegentlich die Männer der
Politik mehr als bisher zur Äußerung in wissenschaftlichem Rahmen über Gegen¬
stände der sozialen Theorie und Politik heranzuziehen," um aus der Erfahrung
»ud den Gesichtspunkten des Empirikers Anregung zu empfangen und ans der
Kenntnis des Wissenschafters solche zu biete» „zu beiderseitiger Korrektur vor-
hnnduer Einseitigkeiten und zur Anbahnung einer Verständigung, die heute vielfach
fehlt." Mehr wird im Vorwort nicht verraten, und mit um so berechtigterer
Spannung wendet man sich zu den „Aufsätzen," vou denen sechs vorhanden sind,
or. Alexander Peetz in Wien ist mit einem kurzen Artikel über „Welt- und
Handelspolitik" vertreten, Professor Friedrich Ratzel mit einer ebenso kurzen Besprechung
über das Buch Dr. Paul Barths „Die Philosophie der Geschichte als Soziologie,"
Numci Droz schreibt über ^loxis av l'oeauizvills se is. Asmooiatis liborlüv, Dr. H. Schurtz
über „Wertveruichtuug durch deu Totenkult." Professor August Oncken in Bern
über sein Thema „Das Adam Smith-Problem" und endlich, und zwar an erster
Stelle, der Herausgeber selbst über „Illusionisten und Realisten in der National¬
ökonomie." So hübsch die andern Aufsätze auch sind, so hat der des Herausgebers
natürlich für uns ein besondres Interesse. Einige Bemerkungen darüber mögen
"och Platz finden.
Zunächst über etwas äußerliches, hoffentlich rein zufälliges, nicht gesuchtes.
Herr Professor Wolf hat sich die Arbeit doch etwas zu bequem gemacht. Natür¬
lich siud die Aufsätze geistreicher Leute nicht mit der Elle zu messen; in der
„äugend," im „Pan" usw. kauu mau das lernen. Aber in dem ersten Hefte
dieser, noch dazu nur einmal im Monat erscheinenden Zeitschrift und unter diesen
doch immerhin ernsthaft interessanten Umständen, unter denen der Herausgeber jetzt
öffentlich laut wird, durfte man erwarten, daß er sich nicht mit dem kurzen, auch
noch mit langen Zitaten belasteten Aufangsbrnchstück einer Arbeit abfinden würde,
die doch augenscheinlich die Kern- und Hauptfrage, um die er kämpfen will, pro¬
grammatisch treffen soll. Ist diese Art, mit dem Leser umzuspringen, nicht
Zufall, denn ist gegen sie als schlechte Manier nachdrücklich Verwahrung einzulegen,
Sie paßt für Pscudogeuics wie Arno Holz, aber nicht in diese Zeitschrift. Dem
Inhalt nach behandelt der Herausgeber auf seinen sieben Seiten den Widerspruch,
in den gewisse kathedersozialistischc Erklärungen auf dem letzten Evangelisch-sozialen
Kongreß in Leipzig (1897) gerate» sind mit der früher von denselben Leuten
in bekannter Unfehlbarkeit verkündeten Theorie von der „Vernichtung des Mittel¬
standes." Von dem Widerspruch, in den sich neuerdings die Sozialdemokraten
mit der „Verelendungstheorie" gesetzt haben, will er erst später reden. Wörtlich
beginnt das Artikelbruchstück wie folgt: „Binnen fünf Jahren hat die in Deutsch¬
land herrschende Nationalökonomie einen merkwürdigen Wandel ihrer Anschauungen
durchgemacht. In zwanzigjähriger Arbeit war sie dazu gelangt, sür gewisse
»Theorien« den Beifall der Presse und eines großen Teils der ungeschriebnen
öffentlichen Meinung zu gewinnen. Binnen kurzer Frist verließ sie dieselbe und rief
neue Götter an." Noch als der Herausgeber — heißt es an einer andern Stelle —
vor fünf Jahren mit seinem Versuch hervorgetreten sei, „der als System des
sozialen Optimismus den Kampf gegen die Lehren des Pessimismus aufnahm," sei
es nur natürlich gewesen, „daß er mit Hohn als ein Einbruch in die Burg ge¬
schlossener Erbwahrheiten betrachtet und mit allen Mitteln, über welche beschränkter
Fanatismus von den ältesten Zeiten an verfügt, zurückgewiesen und verurteilt
Wurde." „Nichts in der Aufnahme, die er fand, verriet, daß, ehe fünf Jahre um
sein würden, der »Sozialismus« die dort bekämpfte Theorie der Verelendung, der
»Kathedcrsozialismus« die Theorie vom Schwinden des Mittelstands fallen gelassen
und beide Richtungen, jede für sich, eine von den zwei Festungen im Reiche des
sozialen Pessimismus preisgegeben haben würde, denn in so kurzer Zeit vollziehen
sich selten Bekehrungen des öffentlichen Geistes." Wir begreifen, daß es Wolf
eine gewisse Genugthuung gewährt, die alten Aussprüche Schmollers mit seiner
Rettung des Mittelstands vor den Evangelisch-sozialen zu vergleiche!,, und er hat ganz
gewiß Recht, wenn er den Vorwurf an die Kathedersozialisten zurückverweist, den
Ad. Wagner auf dem Kongreß den Sozialdemokraten machte: „Ihr habt völlig falsch
generalisirt, indem ihr das, was bei gewissen Erwerbsbernfen, Gewerben teilweise
gilt, ohne weiteres für die ganze Entwicklung der Volkswirtschaft als allgemeines
Prinzip aufgestellt habt." Aber ob er deshalb schon von einer „Bekehrung des
öffentlichen Geistes" nach dem Erscheinen seines Systems der Sozialpolitik vor
fünf Jahren sprechen kann, ob die Kathedersozialisten wirklich eine „Schwenkung"
von nennenswerter praktischer Bedeutung bewußt vollzogen haben, das ist uns doch
vorläufig noch keineswegs bewiesen. Jedenfalls werden diese unfehlbaren Herren
selbst versichern, an eine Schwenkung gar nicht zu denken, und wenigstens Schmoller
hat doch im Verein für Sozialpolitik in Köln und in seiner bekannten Berliner
Rektoratsrede schon ganz unzweideutig kund gethan, daß er und die seinen — zu
denen ja Wagner ganz und gar nicht gehört — „unentwegt" und unbelehrbar
den Faden falscher Geueralisiruugen und vermessener Prophezeiungen fortzuspinnen
entschlossen sind. Diese Leute zur Kapitulation zu zwingen, sollte sich Herr Professor
Wolf lieber nicht gar so leicht vorstellen. Die Rolle, der Ruf, die Macht der
Knthedcrsozialisten von heute steht und fällt mit der in mühsamer zwanzig¬
jähriger Arbeit endemisch gemachten Wahuvorstellung vou der Unhaltbarkeit der
bestehende» Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung^ sie stellt und steht mit dem leicht¬
fertigen Verallgemeinern und Prvphczeicu, mit dieser, vielleicht unwissentlich, dem
Bedürfniß der „Modernen" so bereitwillig und überreichlich entsprechende» Scusatious-
macherei. Ehe sie das preisgeben, kapituliren sie lieber bedingungslos vor der
Sozialdemokratie, nachdem sie sie für „gemausert" erklärt haben.
Die neue Zeitschrift sollte die „Bekehrung des öffentlichen Geistes" nicht zum
Ausgangspunkt nehmen; sie ist ihr fernes, schwer zu erringendes Ziel. Dabei ist
der Sieg über Personen und ihre alte» »ut neue» Theorie» ganz unwesentlich.
Wir brauchen in der Hauptsache weder ein System des Pessimismus noch eins
des Optimismus. Wir brauchen endlich wieder: Ernst und Nüchternheit, gefunden
Menschenverstand und reife Lebenserfahrung, Bescheidenheit und Vorsicht in unsern
staatswisseuschaftlicheu Hörsälen und Zeitschriften. Nur dadurch werden wir zur
Bekehrung des öffentlichen Geistes, zum Sieg über das sozialistische Strebertum
aller Schattirungen gelangen. Möge die Zeitschrift der Strafprofessoren das ihrige
dazu beitragen.
Erinnerungen eines Krieqsgefangnen in Schon (März 18»» bis Januar 1897). Von
Giovanni Gamerra, Major der Bersnglicri usw. Aus dem Italienischen übersehe von
Hedwia Jahr. Berlin, Franz Grunert
Wer mit einem Nundreiscbillct vou vierzig oder sechzig Tagen Giltigkeit ganz
Italien durchreist, der bringt gewöhnlich keine gute Meinung von den Italienern
mit nach Hause. Wer den tüchtigsten Bestandteil von ihnen kennen lernen will,
der muß auf die fast nur mit dem internationalen Publikum, den Schnclllänferu uach
Rom und Neapel vollgestopften Schnellzuge verzichten. Den echten Italiener lernt
man während der Reise auf der Eisenbahn nur in den Personen- oder Bummel¬
zügen kennen, die übrigens nicht langsamer fahren als die deutschen. Dort hat
der Deutsche, der nicht mit Empfehlungen ausgerüstet ist, die ihm die römische» und
neapolitanische» Salons öffnen, vielleicht auch die einzige Gelegenheit, die Bekannt¬
schaft italienischer Offiziere zu machen, die, zu ihrem Lobe sei es gesagt, bei weitem
nicht so exklusiv sind wie die preußischen und sich doch durch die Gemessenheit und
Vornehmheit ihres sonst liebenswürdige» »ut mitteilsamen Wesens von der geräusch¬
vollen Beredsamkeit der Mehrzahl ihrer Landsleute vorteilhaft unterscheide». Das
Musterbeispiel eines solchen italienischen Offiziers lernen wir in dem Major
Gamerra kennen, der bei der schweren Niederlage der Italiener in der Schlacht
bei Ätna trotz tapfersten Widerstandes der Niedermetzelung durch die Schoaucr
nUgiug »ud dann fast ein ganzes Jahr in der Gefangenschaft leben mußte, bis
ihm die Stunde der Befreiung schlug. Ein französischer Offizier, der in eine
gleiche Lage geraten wäre, würde sich wie eine Art Leonidas gefeiert und die
obersten Führer als Feiglinge und Verräter gebrandmarkt habe». Major Gamerra
spricht aber kein Wort der Anklage gegen einen Vorgesetzten ans, weil er die
sittliche Kraft hat, auch im Unglück die Mannszucht zu l.wahren, und wenn er
über die Gefangenschaft klagt, so geschieht es meist nur, wenn es sich um die Leiden
seiner mit ihm gefangnen Soldaten oder um schwere Verletzungen des Völkerrechts
handelt. In der Art, wie er selbst Leiden und Entbehrungen ertragen hat, gegen
Demütigungen aber auf Gefahr seines Lebens seinen persönlichen Stolz mit
Zähigkeit einsetzt, fühlen wir einen Nachklang altrömischen Heldentums. Daß es
wirklich noch nicht erstorben ist, weder bei den Offizieren noch bei den Soldaten,
sehen Wir aus vielen Einzelheiten der anregenden Schilderung, die ohne Pathos,
als etwas selbstverständliches erzählt werden. Der Major hatte im Frieden die
Zuversicht gewonnen, daß er sich auf seine Leute, selbst ans das aus Ein-
gebornen gebildete achte Bataillon verlassen konnte. Er hat sich auch nicht
getäuscht, da es am Tage der entscheidenden Schlacht bis zur völligen Vernichtung
stand hielt. Man sollte nnn meinen, daß mit so vortrefflichen Offizieren und Sol¬
daten das Unglück hätte vermieden werden können. Aber der Oberbefehlshaber,
General Baratieri, hatte nicht die Selbstzucht seiner Untergebnen. Dem durch
leichte Erfolge berauschten Manne war es um einen Hauptschlag zu thun, um
sich bei dem Ministerium Crispi, das auf schnellen Abschluß des afrikanischen
Zwischenfalls drang, eine feste Stellung zu sichern. Es war wieder einer der
„politischen" Generale, der gefallen ist, weil er, wenn auch nur für wenige Tage,
die militärische Klugheit dem politischen Eiser unterordnete. Aber anch ihm muß
es zur Ehre angerechnet werden, daß er in seiner Schrift über den abessinischen
Krieg, die nach den Erinnerungen des Majors Gamerra erschienen ist, seinen
Hauptfehler bekannt hat. Die Italiener haben bei der Erwerbung und Verwaltung
ihrer erythräischen Kolonie viele Mißgriffe gethan. Aber sie haben sie auch durch
Unglücksfälle und schwere Verluste gebüßt. Ihre Schuld wird geringer, wenn man
sich ihren Geguer, den sogenannten Kaiser Menelil, näher ansieht, einen orienta¬
lischen Despoten schlimmster Art, der uur so lange obenauf ist, als seiue Unter-
häuptliuge ihm zu Willen sind. Und dieser Schattenkönig, in dessen eingebildete
Herrlichkeit Major Gamerra mit seiner scharfen Beobachtungsgabe tief eingedrungen
ist, findet wohlwollende Unterstützung, jedenfalls die einem europäischen Souverän
gebührende Hochachtung bei Rußland, England und selbst bei dem kapsle, trotzdem
daß er deu Kriegsgefangnen Hände und Füße abhalten ließ, um sie für jeden
weitern Kriegszug untauglich zu machen. Dieser Barbar, der sein. Schandthaten
uuter dem Mantel des Christentums deckt, erfrecht sich sogar uoch, Orden an ehren¬
werte Männer in Europa zu senden. Statt in Abessinien einen neuen Herd der
Zwietracht zu entzünden, sollten die Großmächte schnell dem Unfug ein Ende
machen, deu ein Dutzend uuzufrieduer Häuptlinge, von denen Menelik übrigens noch
nicht der schlimmste ist, angestiftet haben.
A^^M
t^MMM
Hi-^ /? ?>».W
R^KM
E/<-WWus einem fast hoffnungslosen Durcheinander sind die Dinge in
Osterreich zu einem Punkte durchgedrungen, der endlich einige
Aussicht auf eiuen gewissen Abschluß des Nativnalitütenhaders
eröffnet. Und das haben sich die Deutschen durch die Zähigkeit
ihres Wollens und die Stärke ihres nationalen Bewußtseins
errungen. Der Zusammenschluß aller deutsche» Parteien zum Kampfe gegen
die ohne Zweifel ungesetzlichen Sprachenvervrdnungeu ist in den letzten Wochen
eine Thatsache geworden. Haben sich früher die Deutschen der übrigen Kron-
länder wenig oder gar nicht um die Vorgänge auf dem böhmisch-mährischen
Kriegsschauplatze gekümmert, so wetteifern jetzt ihre Landtage in Kundgebungen
gegen die unseligen Verordnungen, und selbst die deutschen Klerikalen haben
soeben durch ihren Führer Ebenhoch im oberösterreichischen Landtage erklären
lassen, daß auch sie in diesem Kampf auf der Seite ihrer deutschen Landsleute
stünden. Das deutsche Gewissen der klerikalen Wählerschaften ist eben endlich
erwacht. Unter dem ermutigenden Eindruck dieser Vorgänge steht ersichtlich
die deutsche Minderheit des böhmischen Landtags. Sie ist bis jetzt nicht einen
Zoll breit gewichen, und sie findet eine nicht zu unterschützende Stütze in der
entschlossenen Haltung der deutschen Professoren- und Studentenschaft der
deutschen Hochschulen Prags, die wieder die deutsche Studentenschaft in Wien,
Graz, Brünn und Innsbruck ebenso hinter sich haben, wie die deutschböhmischen
Abgeordneten die Landtage der deutscheu Kronländer. Der jetzt ausgcbrochne
Streik an sämtlichen Hochschulen Deutsch-Österreichs, ein im Mittelalter nicht
ganz seltnes, in der Neuzeit unerhörtes Ereignis der deutschen Universitäts¬
geschichte, mag nicht schön sein, aber er ist ein Beweis für die Stärke der
nationalen Leidenschaft bei der akademischen Jugend Deutsch-Österreichs, und er
ist unzweifelhaft provozirt worden. Denn wieweit das Verbot, die Verbindungs-
färben offen zu tragen, durch die Haltung des vornehmen und geringen
tschechischen Pöbels in Prag erzwungen, und wie weit es sachlich begründet
ist, das läßt sich schwer beurteilen; aber wie die Dinge dort nun einmal
liegen, mußte es den Deutschen als eine schwächliche Nachgiebigkeit des Statt¬
halters gegenüber der brutalen Unduldsamkeit der Tschechen erscheinen, deren
blinder Nationalhaß so weit gediehen ist, daß sie in der Hauptstadt ihres
nun doch einmal zweisprachigen „Königreichs" den deutschen Mitbürgern
nicht einmal das Recht des nationalen Daseins zugestehen wollen. Gerade
deshalb wäre es aufs tiefste zu beklagen, wenn die deutschen Hochschulen
schließlich den Kampf um ihre Stellung in der Landeshauptstadt aufgeben
und einen uralten Vorposten deutscher Wissenschaft vor den Nachkommen der
Hussiten ebenso räumen wollten, wie es 1409 vor diesen selbst geschehen ist.
Wir wollen und können das bis jetzt nicht glauben, denn das wäre zugleich
eine schwere Niederlage der Regierung, die damit zugestehen würde, daß sie
nicht imstande sei, auch nur die Ordnung in den Straßen einer aufgeregten
Stadt gegen Pöbelrotten zu behaupten, geschweige denn nationale Minderheiten
gegen rohe Vergewaltigung zu schützen.
Gegenüber dem Deutschen Reiche hat die Mehrzahl der Deutsch-Österreicher
in dieser Zeit der größten nationalen Aufregung eine durchaus korrekte Haltung
beobachtet und damit das Vertrauen auf ihre Besonnenheit, die allein ihnen
den Sieg geben kann, wesentlich verstärkt. Sie haben mehrfach nachdrücklich
erklärt, daß sie vom Deutschen Reiche weder eine Intervention erwarten und
wünschen, noch daß sie vollends auf einen Zerfall Österreichs rechnen. Sie
wollen lediglich Sympathiekundgebungen aus dem Reiche, und diese sind ihnen in
der verschiedensten Weise und von den verschiedensten Seiten, auch im deutschen
Reichstage, zu teil geworden. Nur die Schönerergruppe hat in ihrem Organ
den Vorschlag gemacht, Österreich möge sich gegenüber Ungarn auf die Per¬
sonalunion zurückziehen und mit seinen alten Bundesländern in das deutsche
Reich eintreten. Da es auch in Deutschland noch unklare Köpfe giebt, die die
Notwendigkeit der Ereignisse von 1866, also die Grundlagen unsers Reichs,
nicht begreifen können und von der Geschichte nichts lernen wollen, so wollen
wir hier nochmals die sattsam bekannten und ganz unbestreitbaren Grundthat¬
sachen kurz zusammenfassen. Erstens: Die Trennung von 1866 war keine
„Amputation," denn amputiren kann man nur, was organisch mit einem
Körper verwachsen ist; Österreich aber stand vor 1866 nur in einem völker¬
rechtlichen Vertragsverhältnis, nicht in einem staatsrechtlichen Verbände mit dem
übrigen Deutschland, und dies völkerrechtliche Verhältnis ist seit 1871, noch
mehr seit 1879 nicht nur mit den ehemaligen Bundesländern, sondern mit
der Gesamtmonarchie in sehr wirksamer Weise wiederhergestellt worden. Eine
engere wirtschaftliche Vereinigung bestand auch vor 1866 nicht, konnte also
auch nicht gelöst werden, und die geistige Verbindung, die allein die Deutschen
Österreichs zu vollberechtigter Gliedern unsrer Nation macht, ist heute enger als
je, das Bewußtsein der nationalen Gemeinschaft stärker als jemals vor 1866.
Was 1866 zerbrochen worden ist, das ist die unnatürliche Vorherrschaft eines
Staats, der die innere Kraft, also das Recht, sie festzuhalten, gar nicht hatte,
und die notwendige Erneuerung der deutschen Gesamtverfassung schlechterdings
immer nur hinderte, niemals förderte. Zweitens: Die schwersten und bittersten
Erfahrungen, vor allem der Jahre 1848/49, haben unwiderleglich bewiesen:
mit Österreich war nur ein lockerer Staatenbund möglich, der weder die Sicherheit
noch vollends die Wohlfahrt der Nation irgendwie verbürgte; eine bundes¬
staatliche Einheit, die allein diese Bedingung erfüllen konnte, war und ist nur
ohne Österreich denkbar. Drittens: Die Reaktion der österreichischen Slawen
gegen die deutsche Kulturherrschaft war schon längst vor 1866 eingeleitet und
würde sich auch ohne die damalige Trennung weiter entwickelt haben, wie
denn schon 1848 die tschechischen Wahlkreise die Wahlen zum Frankfurter
Parlament verweigert haben. Viertens: Den Eintritt Deutsch-Österreichs in
das deutsche Reich fordern, heißt auf der einen Seite den Habsburger» zu¬
muten, ihre Monarchie in zwei selbständige Mittelstaaten zu zerlegen und auf
ihre Großmachtstellung zu verzichten, aus der andern Seite Deutschland zu¬
muten, seine schwer errungne Einheit zu lockern und sich zu seinen Polen
auch noch acht Millionen Tschechen und Slowenen auf den Hals zu laden,
also Unmögliches verlangen. Dazu kann ein reichsdeutscher Patriot niemals
die Hand bieten. Doch genug hiervon.
Was in Österreich geschehen muß, um den Bestand des Reiches zu sichern,
das kann und muß von Österreich allein gethan werden. Alles kommt jetzt
darauf an, daß die Regierung dort mit unbeirrbarer Festigkeit ein klares Ziel
verfolgt; nur dann werden die Nationalitäten endlich lernen, sich in die geo¬
graphischen und historischen Bedingungen ihrer Lage zu finden. Das erste und
wichtigste ist, daß endlich wieder, seitdem man sich ein Menschenalter lang an
der Sisyphusarbeit abgemüht hat, die kleinen Nationalitäten zu befriedigen,
das Interesse des Staats als maßgebend energisch betont wird, denn die erste
Aufgabe des Staats ist, sich selbst zu behaupten, und das größte Verbrechen
einer Regierung ist die Schwäche, die aus irgend welchen untergeordneten
Gründen diese nächste Pflicht versäumt, wie es in Österreich jahrzehntelang
geschehen ist. Sodann muß man an der Gleichberechtigung der österreichischen
Völker in dem Sinne, daß der Angehörige jedes Volksstammes überall die¬
selben Rechte genießt, ebenso entschieden festhalten, wie man die Gleichberech¬
tigung der Sprachen, die so oft damit verwechselt wird, verneinen muß. Denn
einmal sind Mundarten, die von wenigen Millionen Menschen gesprochen
werden, nun und nimmer mit den großen Kultursprachen gleichwertig; kommt
man doch nicht einmal in Böhmen und Mähren mit der Kenntnis des
Tschechischen allein durch, und kein gebildeter Mensch außerhalb Böhmens
wird den geringsten Mangel an seiner Bildung verspüren, wenn er von
tschechischer Litteratur gar nichts weiß. Sodann bedarf jeder Staat einer Staats¬
sprache, die in möglichst weiten Kreisen verstanden wird. Wie weit er von der
Strenge dieser unabweislichen Forderung abgehen kann, das hängt von den
Umständen ab; thut er es, so macht er Zugeständnisse, erfüllt aber keine recht¬
lich begründete Forderung. Diese Staatssprache kann natürlich in den öster¬
reichischen Ländern diesseits der Leitha schlechterdings mir das Deutsche sein,
ohne daß damit die Deutschen zum Herrenvolkc und alle andern Stämme zu
Unterthanen dieses Herrenvolkes würden. Einer solchen Notwendigkeit müssen
sich ja auch die Deutschen in Ungarn und Nußland fügen. Drittens muß die
längst vorgeschlagne Teilung Böhmens und Mährens in nationale Verwaltungs¬
bezirke endlich durchgeführt und damit die schlimmste Veranlassung zu den
endlosen und zwecklosen nationalen Händeln beseitigt werden. Das bedeutet
freilich für die Tschechen den Verzicht auf die Tschechisirnng ganz Böhmens,
aber diese wäre nicht ohne die gröbste Vergewaltigung der Deutschen und
wahrscheinlich nicht einmal mit dieser durchführbar, und über den Rechten der
Nationalität steht das Recht der Kultur. Die staatsrechtliche Einheit des
„Königreichs" Böhmen wird dadurch so wenig verletzt wie die des Kantons
Bern dadurch, daß dort Deutsch und Französisch in den verschiednen Teilen
der Landschaft amtlich gebraucht werden, und selbst wenn dies der Fall
wäre: Böhmen ist eben thatsächlich nichts weiter als eine österreichische
Provinz, und man hätte das ewige müßige Gerede vom böhmischen Staats¬
recht eher zum Schweigen gebracht, wenn man, wie Joseph II. es wollte,
die alten, politisch längst bedeutungslos gemordnen Titulaturen der „König¬
reiche und Länder" einfach beseitigt und sie auch dem Namen nach in Pro¬
vinzen verwandelt hätte, statt die stolzen Titel aus einer gewissen Eitelkeit
beizubehalten. Im Interesse einer sichern Mehrheit im Neichsrate endlich wäre
natürlich die Sonderstellung mindestens von Galizien, das die deutsche Ver-
fassnngspartei sowieso den Polen schon ausgeliefert hat, aber sie ist jetzt, min¬
destens ans verfassungsmäßigen Wege, schmerlich mehr zu erreichen.
Jedenfalls stehen also die österreichischen Slawen seit dem Zusammen¬
schlüsse der Deutschen einer ganz neuen Lage gegenüber, und die alte Mehr¬
heit des Reichsrath ist zersprengt. Wenn tschechische Blätter jetzt damit drohen,
daß nunmehr 16 Millionen Slawen den 8 Millionen Deutschen gegenüber
treten würden, so will das wenig sagen, denn diese 16 Millionen bilden nicht
ein Volk, sondern mindestens vier Völker von ganz verschiednen Interessen, die
sich sogar unter einander nur verständigen können, wenn sie Deutsch reden, und
die Polen werden sich hüten, den Tschechen die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Das Deutsche Reich aber würde den Gesundnngsprvzeß, der sich i» Österreich
einzuleiten scheint, wenn die Regierung wirklich weiß, was sie will und thut,
was sie muß, nur stören, wenn es irgendwelche Gelüste verraten wollte, sich
einzumischen. Wie man an der maßgebenden Stelle in Berlin über vergangne
und zukünftige föderalistische Experimente in Österreich urteilt, das hat neulich
Fürst Hohenlohe sehr deutlich durchblicke« lassen, als er im preußischen Ab¬
geordnetenhause den Polen erklärte, in Preußen sei kein Raum für födera¬
listische Bestrebungen, und dem tschechischen Übermut hat die Neichsregierung
einen energischen Wink mit dem Beschlusse gegeben, ein deutsches Konsulat in
Prag einzurichten. Die Spießgesellen der Tschechen und die Todfeinde unsers
Reichs, die österreichischen Feudalen, haben ihn auch sehr wohl verstanden,
denn ihr Organ, das „Vaterland," sieht darin einen Versuch, der „Berliner
Politik" eine Stätte in Böhmen zu gründen. Gewiß, unsre Reichsangehörigen
müssen dort besser geschützt werden, als es die österreichische Regierung
während der Dezembermeutereien leider vermocht hat, und wenn das den
Deutschböhmen den Nacken steift, so wird das nur im eigensten Interesse
die verbündeten Regierungen, wie es scheint, entschlossen
sind, in der Sozialpolitik im engern Sinne durch Festigkeit
gegenüber dem neuerungssüchtigen Doktrinarismus dem gesunden
Fortschritt die unerläßliche Ruhe zu verschaffen, mehren sich
die Anzeichen, daß in der Agrarpolitik gerade das Ent¬
gegengesetzte in Aussicht steht. Täuschen die Anzeichen nicht, so ist man auf
dem besten Wege, dnrch gesteigerte Unruhe im agrarischen Lager die Be¬
ruhigung der sozialistischen Schwarmgeister ganz unmöglich zu machen.
Neuerdings hat sich das preußische Herrenhansmitglicd, Graf Klinckow-
ström-Korklack, das Verdienst erworben, in einer bei Paul Parey in Berlin
erschienenen kleinen Schrift: „Dr. Buchenbergers Agrarpolitik und die Forde¬
rungen der Landwirtschaft nnter besondrer Berücksichtigung der östlichen Landes¬
teile Preußens" die Forderungen und wohl auch die Aussichten der ostelbischen
Agrarier ziemlich ausführlich zu behandeln. Er bekämpft die von Bnchen-
berger in seinen kürzlich in den Grenzboten ausführlich besprochnen „Grund¬
zügen der Agrarpolitik" dargelegten, ganz gewiß nicht gerade antiagrarischen
Anschauungen und giebt damit ein anschauliches Bild von der Unruhe, die
auf ngrarpolitischem Gebiete herrscht. Buchenberger ist badischer Finanzminister
und nebenbei ein in Deutschland hochgeschätzter Agrarpolitiker. Er ist der
Verfasser der Agrarpolitik in der von Adolf Wagner herausgegebnen „Poli-
dischen Ökonomie." Der praktische Ostelbier Graf Klinckowström bezeichnet
Buchenbergers Ansichten als durchaus modern, das soll heißen: „sammelnd,
beruhigend, nach rechts und links, um schließlich zu Vorschlägen zu kommen, die
allgemein bekannt und anerkannt, doch niemals genügen können, um eine so schwere
Krankheit zu heilen, wie die, unter der die deutsche Landwirtschaft jetzt seit Jahren
leidet." Zu bekämpfen unternimmt der ostpreußische Agrarier in erster Linie die
Behauptung Buchenbergers, „daß im Norden und Nordosten der Großgrundbesitz
stärker vertreten sei als erwünscht." Es sei unrichtig, von einer falschen Ver¬
teilung des Bodens östlich der Elbe zu sprechen und eine auf die Abstellung
des angeblichen Fehlers gerichtete „sogenannte Landpolitik" zu empfehlen. Der
Domänenbesitz des Staats müsse auch im Osten „unbedingt erhalten" werden.
Eine „unbefriedigte Nachfrage nach Land" sei auch für den Osten zu bestreiten.
Land sei mehr zu haben, als gefordert werde. Buchenberger mache sich einer
übertriebnen Schwärmerei für die preußische Anstedlungspolitik schuldig. Er,
Graf Klinckowström, sei immer dafür eingetreten, „mit Staatshilfe den »be¬
stehenden,« arg gefährdeten Bauernbesitz in Rentengüter umzuwandeln, nicht
aber durch Schaffung von kleinen neuen Stellen landwirtschaftliches Proletariat
zu erzeugen." Der „alte, gute, einfache und zuverlässige Stamm" sei da¬
gewesen, warum wolle man da, statt ihn zu erhalten, „Neuerungen" anfangen.
Die Nentengutsgesetzgebung sei doch immer nur „der Anfang der großen
Agrargesetzgebung, deren Träger ein genialer preußischer Minister ist." Diese
Gesetzgebung solle dem „ganzen Grundbesitz" zu gute kommen, „wenigstens
soweit es den Gewohnheiten entspricht," es müsse „voller Bruch mit der
Kapitalschuld" verlangt werden. Verfehlt sei der Vorschlag Buchenbergers,
„von der Genehmigung zur Errichtung von Fideikommißgüteru nur einen
sparsamen Gebrauch zu machen." Im Gegenteil müsse man „von der neuen
Fideikommißgesetzgebung erhebliche Erleichterungen" erhoffen. Jedes neue
Fideikommiß, jeder so oder so befestigte kleine Grundbesitz sei die „zuverlässigste
Stütze für Königtum, Staat und Kirche."
Das sind agrarpolitische Anschauungen, die in ihren praktischen Konse¬
quenzen auf nichts mehr und nichts weniger hinauslaufen, als auf den völligen
Umsturz der preußischen Agrarverfassung, die man als die Stein-Hardenbergsche
zu bezeichnen Pflegt; und nach gelegentlichen öffentlichen Äußerungen Herrn
von Miquels kann Graf Klinckowström schon recht haben, wenn er diesen
Umsturz als das Endziel der großen Agrargesetzgebung hinstellt, „deren Trüger
ein genialer preußischer Minister ist." Es soll hier nicht näher auf diesen
Kampf von Genie gegen Genie eingegangen werden. Einige Gesetzesvorlagen
sollen ja in Preußen schon bereit liegen, und man muß abwarten, was sie
bringen. Wir haben in den Grenzboten wiederholt die Ansicht gefunden, daß
eine auf möglichst schnelle und allgemeine Zerschlagung der Rittergüter im
Osten gerichtete Landpolitik durchaus nicht am Platze wäre und nicht nur die
Landwirtschaft, sondern das ganze Land einer sehr wertvollen Kulturquelle
berauben würde. Wir glauben, daß die ostelbischen Großgrundbesitzer noch
eine sehr wichtige soziale, wirtschaftliche und politische Aufgabe zu losen haben,
die im Westen nicht leicht verstanden wird, und daß sie diese Aufgabe zu
lösen auch ganz und gar die rechten Leute sein werden, wenn nur erst die
agrarische Unruhe und Neuerungssucht wieder aus ihnen herausgebracht sein
wird. Auch Professor Conrad in Halle, dieser vortreffliche Kenner und un¬
befangne Beurteiler der Agrarzustünde des Ostens, hat immer vor der Nitter-
gutszerschlagungsmcmie gewarnt. Aber damit ist keineswegs die sogenannte
„innere Kolonisation" überhaupt verworfen. Sie fängt, wie alles in der
Agrarpolitik, außer dem Schuldenmachen und dem Güterpreistreiben, langsam
an, sich auf der Grundlage der Stein-Hardenbergschen Agrarverfasfung ganz
von selbst zu entwickeln, bisher nach der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik
in einem durchaus gesunden, mäßigen Tempo. Man braucht augenblicklich
den Prozeß künstlich gar nicht zu beschleunigen, soweit nicht andre, z. B.
nationalpolitische Rücksichten, das empfehlen. Aber ihr für ewige Zeiten,
obwohl das Tempo der innern Kolonisation ein so mäßiges ist, durch Bindung
des kleinen wie des großen Grundbesitzes im Osten den Riegel vorschieben zu
wollen, das mag vielleicht genial sein; aber vermessen im höchsten Grade wäre
es jedenfalls. Es wäre das Zeichen einer revolutionären Neuerungssucht, die
dadurch nicht konservativer wird, daß sie die Reformen der großen Männer am
Anfang des Jahrhunderts beseitigen und den damals beseitigten Zuständen ent¬
sprechende wieder herstellen möchte. Am Ende unsers Jahrhunderts würde das
ein blinder waghalsiger Sprung ins völlig Ungewisse sein. Graf Klinckowström
und seine Gesinnungsgenossen sollten sich übrigens darüber nicht mehr allzu¬
lange täuschen, daß sie in der Befürwortung des genialen Umsturzes der
Stein-Hardenbergschen Agrarverfasfung im Ernst doch nur die Geschobnen sind,
die zu schieben meinen. Es wird ein recht interessantes Schauspiel werden,
wenn sich die kathedersozialistischen Agrarprofessoren mit den ostpreußischen
Majvratsherren einmal auseinandersetzen werden-
Natürlich kann Graf Klinckowström auch über die agrarische Verschuldungs¬
frage nicht mit Bnchenberger einig werden. Zunächst ist ihm in den „Grund-
zügen" der Satz sehr unangenehm aufgefallen, daß „die durchgängige hohe
und übermäßige Verschuldung der ganzen deutschen Landbevölkerung bis jetzt in
keinem einzigen deutschen Staat statistisch nachweisbar" gewesen, daß vielmehr
nachgewiesen sei, daß zwar in bestimmten Gegenden und Gemeindell der
Berschnldungsprozentsatz hoch ist, daß aber diese verschuldeten Gemeinden
überall mit solchen durchsetzt sind, die eine vergleichsweise geringe oder jeden¬
falls unbedenkliche Höhe der Verschuldung ausweisen. Graf Klinckowström
beruft sich auf die ^Statistik Preußens," in der auf Grund der Mehrver¬
schuldung von 1886/87 bis 1892/93 vorausgesagt sei: „Wenn es in dieser
Weise fortgeht (es geht aber viel schneller vorwärts), ist in fünfundzwanzig
Jahren der ganze Grundbesitz enteignet." Es soll hier auf die Frage der
„Enteignung" des landwirtschaftlichen Grund und Bodens durch das „Kapital,"
wie man sagt, nicht näher eingegangen werden. Auch deu amtlichen Statistikern
Preußens dürfte es wohl nicht verborgen sein, wie ungeheuer schwer dabei
das Abwägen der Verschuldung gegen den Wert ist, und wie völlig wir in
dieser Beziehung noch im Dunkeln tappen. Vor Aufklärung dieses Dunkels
sollte sich die amtliche Statistik überhaupt möglichst solcher Voraussagungen
enthalten. Ihre Zahlen werden ohnedies schon hinreichend durch Ver¬
allgemeinerungen und Übertreibungen von nichtamtlichen Statistikern gern
„interessanter" gemacht, d. h. im pessimistischen Sinne. Davon kann natürlich
gar nicht die Rede sein, daß Bnchenberger die Thatsachen der amtlichen
Statistik Preußens über die Grundvcrschuldung nicht gekannt oder nicht berück¬
sichtigt hätte. Wie Conrad neuerdings in seinem „Grundriß zum Studium der
politischen Ökonomie" wiederholt, ist der Wert des ländlichen Grund und Bodens
in Preußen auf zweiunddreißig Milliarden, der der ländlichen Gebäude und
des Inventars auf dreißig Milliarden, die Hypothekeuschuld auf etwa zehn
Milliarden veranschlagt worden. Das Anwachsen der ländlichen Hypotheken-
schulden in Preußen in letzter Zeit ist eine die genaueste Erforschung zweifel¬
los herausfordernde Erscheinung. Da an ihr die Schulden industrieller Unter¬
nehmungen in Industriebezirken und in der Nachbarschaft der Großstädte mit
riesigen Posten beteiligt sind, so ist es begreiflich, daß der Westen eine noch
stärkere Verschulduugszunahme aufweist als der Osten, vor allem aber, daß
bis zur Aussonderung der industriellen Hypotheken der Landbezirke in der
ganzen Frage ein mein ticket gilt. Zehn Milliarden Schulden gegenüber
zweiundsechzig Milliarden Wert wären jedenfalls nicht als vernichtende, der
Enteignung nahe kommende Überschuldung zu bezeichnen. Auch in dieser Frage
ist den kathedersozialistischen Übertreibungen und Verallgemeinerungen auf das
schärfste entgegenzutreten; sie sind hier dem gesunden Fortschritt nicht weniger
hinderlich als die sozialdemokratischen in der Arbeiterfrage.
Weiter tritt dann Graf Klinckowström ein für die gesetzliche Vcrschuldungs-
grenze, als das „einzig durchgreifende Mittel, den Grundbesitz in Zukunft vor
Kalamitäten zu bewahren, ja ihn von seiner jetzigen Stellung als »Ware« zu
befreien." Daß die Sache gehe, könne man an den Fideikommissen sehen.
Selbstverständlich gehöre zur Durchführung Zwangsamortisation und billiger
Kredit. Er beruft sich darauf, daß sich der preußische Landwirtschaftsminister
mit einem dahin ausgesprochen Wunsche des preußischen Herrenhauses im
Jahre 1896 „einverstanden" erklärt habe.
Falsch nennt Graf Klinckowström ferner die Ansicht Buchenbergers, daß
dem Staat bezüglich des Mangels an landwirtschaftlichen Arbeitern (Wechsel
der Arbeiter, Verziehen nach den Industriebezirken) für eine „intcrvenircnde
Thätigkeit" wenig Raum bleibe. „Ist Herrn Buchenberger, so fragt er, be¬
kannt, daß die königlich preußischen Eisenbahnen Arbeitertransporten nach dem
Westen Fahrpreisermäßigungen bis zu 1,5 Pfennigen bewilligen? Unsre Pro¬
dukte (Getreide) dürfen wir beileibe nicht an den Westen abgeben, lebende
Fracht in Menschen dagegen ist hochwillkomner!" Eine Einschränkung der
Freizügigkeit hält er z. B. in der Form des „Anzugsgeldes" sür geboten.
Auch gegen den Koutraktbruch der Arbeiter und das Agentenwesen, das die
Arbeiter für die westlichen Jndustriebezirke werbe, könne der Staat Hilfe
schaffen. Wir gehen auf die Fragen ebenso wenig näher ein, wie auf das,
was Graf Klinckowström an der Eisenbahntarifpolitik Preußens und der An¬
sicht Buchenbergers darüber, und zwar teilweis nicht ohne Grund, bemängelt.
Auch seiue Klagen über die Arbeiterversicherung seien nur erwähnt. Wichtiger
ist das entschiedne Verlangen, die Goldwährung zu beseitigen, das hier wieder
einmal als die allgemeine Ansicht der ostdeutschen Landwirte hingestellt wird.
Diese Forderung spielt unter den agrarischen Aufregungsmitteln in der That
nach wie vor eine bevorzugte Rolle, der gegenüber Buchenbergers Beruhigungs¬
versuche völlig gescheitert sind. Es hat den Grafen Klinckowström besonders
interessirt, daß Vuchenberger „zugiebt," eine „schlechtere Währung" bedeute für
den Schuldner eine Entlastung und für den Gläubiger eine Schädigung.
„Dieser Satz umgekehrt — sagt der Graf — zeigt, welchen Schaden die
Einführung der Goldwährung in Deutschland den verschuldeten Grundbesitzern
gebracht hat. Damit ist also auch die Stellung der Landwirtschaft zu dieser
Frage erklärt." Soll das heißen, daß die Landwirte durch die Goldwährung
insofern geschädigt worden wären, als sie die früher in Silber erhaltnen Dar¬
lehen später hätten in Gold bezahlen müssen, so ist diese Frage für die heutige
Lage völlig wesenlos geworden. Schon die Bewegung der Landgüterpreise
nach Einführung der Goldwährung bis in die neunziger Jahre und nicht
minder die des Zinsfußes widersprechen der Ansicht vollständig, daß die
Hhpothekenschuldner durch Einführung der Goldwährung geschädigt seien.
Den heutigen Grundbesitzern kommt es in der Währungsfrage darauf an,
und das ist es auch, was sie an Buchenbergers Ausführungen besonders
interessiren muß, daß sie bei Verschlechterung der jetzigen Währung hoffen, die
in Gold eingegangnen Schulden in Silber zurückzahlen zu können. Buchen-
berger warnt davor, dieser Hoffnung zu viel Wert beizulegen, und das mit
Recht. Das „Kapital," das angeblich so dumm und so schlecht zugleich ist,
den ertragloscn Grundbesitz durch übermäßige Bcleihungen zu „enteignen,"
könnte doch am Ende einmal klug werden und die Tasche zuhalten. Das un¬
ausgesetzte Drohen mit dem allgemeinen Bankerott und der Verschlechterung
der Währung muß auch dem sorglosesten Kapitalisten mit der Zeit den Erwerb
von landwirtschaftlichen Hypotheken und Pfandbriefen verleiden. Und was ist
dann die Folge? Freilich wird ja im agrarischen Lager in einem Atem be-
hcmptet, die Erträge deckten nirgends mehr die Produktionskosten, aber man
könne trotzdem auch das letzte Sechstel des Gutswerts ohne Risiko zu 3 Prozent
beleihen. Bei einem so krausen Durcheinander von Widersprüchen und Un¬
verstand — dem übrigens Graf Klinckowström selbst sich recht geschickt zu ent¬
ziehen weiß — kann man sich eigentlich über nichts mehr wundern, und hoffent¬
lich wird sich auch Dr. Buchenberger das Scheitern seines Versuchs, die agra¬
rischen Wirrköpfe zur Vernunft zu bringen, nicht allzusehr zu Herzen nehmen.
Das Hauptziel der ostelbischen Wünsche ist und bleibt die Quintessenz
des Antrags Kanitz: die sofortige Hebung der Getreidepreise auf die bekannte
mittlere Höhe. Daß Buchenberger die Wiederherstellung der Zollsätze des
Gesetzes von 1887, fünf Mark für Weizen und Roggen, als die äußerste
Grenze einer etwaigen Zollerhöhung bezeichnet, ist deshalb auch für Graf
Klinckowström besonders störend, vollends bei der „Stellung," die Buchen¬
berger einnimmt, und bei der Bedeutung, „die seine Haltung als Mitglied des
Bundesrath hat." Alles spitzt sich auf das Verlangen zu, erheblich höhere
Getreidezölle zu erreichen — wenn nicht sofort, so doch bei der bevorstehenden
Neuordnung unsrer Zoll- und Handelsvertragsverhältnisse. Der Stand dieser
Frage wird deshalb bei der folgenden Betrachtung unsrer agrarpolitischen
Aussichten — nachdem die Klinckowströmsche Schrift uns im allgemeinen
über die agrarischen Wünsche orientirt hat — besonders zu berücksich¬
tigen sein.
Nur beiläufig seien vorher noch einem Geschichtsirrtum, dem in der ost¬
preußischen Agrarbewegung eine besondre Rolle angewiesen zu werden Pflegt,
einige Worte gewidmet. Graf Klinkowström glaubt die agrarischen Forde¬
rungen durch folgenden Hinweis auf die Leistungen der ostpreußischen Land¬
wirtschaft zur Zeit der Freiheitskriege besonders unterstützen zu können: „Wäre
damals die Provinz nicht in so blühender Lage, der Grundbesitz so wenig ver¬
schuldet gewesen, nie hätte Ostpreußen so wesentlich zur Wiedergeburt des
Staats beitragen können." Es ist erstaunlich, wie diese Fabel zur allgemein
anerkannten Wahrheit geworden ist! Es ist in den Grenzboten (Ur. 28, Jahr¬
gang 1896) in einem Aufsatz „Agrarische Sünden vor hundert Jahren" auf
Grund der Schilderungen des Generals von Boyen, Ch. E. Langethals, von
Knoblochs usw. bereits zur Genüge nachgewiesen worden, daß die Not der
napoleonischen Schreckenszeit gerade Ostpreußens Grundbesitzer in einem Zu¬
stande tiefster Verschuldung und völligen Verfalls überraschte, in den sie durch
eine zehnjährige Periode wilder Güterspeknlation hineingeraten waren. Daran
ist nichts zu beschönigen, nichts zu bemänteln. Den agrarischen Anmaßungen
wird durch nichts mehr der Boden unter den Füßen weggezogen als durch
die Geschichte der ostpreußischen Landwirtschaft in jener Zeit. Graf Klinckow¬
ström wird seinen Irrtum sicher selbst einsehen, wenn er sich die Mühe nimmt,
sich genauer zu unterrichten.
Aber darf man wohl erwarten, daß einer der Herren ostdeutschen — ge¬
schweige der ostpreußischen — Agrarier das Bedürfnis fühlen könnte, sich
besser über irgend etwas zu unterrichten, nachdem das Agrariertum so glänzend
in der Haupt- und Kernfrage gesiegt hat? Der preußische Landwirtschafts¬
minister hat am 28. Januar im Abgeordnetenhause „sich für ermächtigt" ge¬
halten, namens der Staatsregierung folgendes zu erklären: „Die Königliche
Staatsregierung ist gewillt, bei der Entscheidung der Frage, wie dem Auslande
gegenüber künftig unsre Handels- und wirtschaftlichen Beziehungen zu ordnen
sein werden, sorgsam zu prüfen, wie bei diesen Verhandlungen die Interessen
der Landwirtschaft besser gewahrt werden können und müssen, als das bisher
der Fall gewesen ist." Diese Erklärung wird von den Agrariern auf der
ganzen Linie als ein voller Sieg gefeiert, obwohl ihr Wortlaut hundert Hinter¬
thüren offen läßt. Aber die Agrarier haben nach Lage der Umstände entschieden
Recht mit ihrer Auffassung. Die Lage wird durch folgende Vorgänge hin¬
reichend charakteristrt. Buchenberger hatte in seinen „Grundzügen der deutschen
Agrarpolitik" von ausgesprochen landwirtschaftfreundlichem Standpunkte nach¬
zuweisen gesucht und — wie Freiherr von Hammerstein selbst gewiß anerkennen
wird — auch nachgewiesen: „daß angesichts der unzweifelhaft gegebnen sehr
schwierigen Lage des landwirtschaftlichen Gewerbes die landwirtschaftliche
Staatsfürsorge zu keiner Zeit kräftiger und planmäßiger ihres Amts gewaltet
hat als in der Gegenwart." Er hatte, davon ausgehend, nachdrücklich davor
gewarnt, daß man der Negiernngspolitik, die nicht gleich alle laut gewordnen
Wünsche voll berücksichtige, sofort den Vorwurf einer „Preisgabe landwirt¬
schaftlicher Interessen" mache. Dem gegenüber ruft Graf Klinckowström aus:
„Wer in aller Welt hat derartiges behauptet? Uns, die wir doch alle Ver¬
treter agrarischer Interessen in den Parlamenten kennen und jede Rede sorg¬
fältig verfolgen, ist ähnliches nie zu Ohren gekommen." Dabei hatte im
Reichstage bei der ersten Lesung der Flottenvorlage am 6. Dezember v. I.
Graf zu Limburg-Stirnen wörtlich erklärt: „Meine Herren, welchen Schaden
diese Politik der Unterdrückung der Landwirtschaft (d. h. die Agrarpolitik seit
1890) gehabt hat, können Sie daraus ersehen, daß jetzt in vielen Kreisen
abweichend von früher das Interesse für die Flotte gesunken ist. Wir wissen,
daß man in vielen landwirtschaftlichen Kreisen diese Vorlage und überhaupt
Vewilligungeu für die Flotte nicht wünscht. Die Männer sind doch zu einem
solchen Grade vou Entrüstung gekommen, daß sie sagen, wenn man uns so
schlecht behandelt, dann soll für die Industrie und den Handel nichts geschehen
und nichts bewilligt werden." Und am 13. Dezember hatte sich der Abgeordnete
von Kardorff im Reichstage zum Etat 1898 folgendermaßen über die der
Flottenverstärkung feindliche Stimmung unter den Landwirten geäußert: „Meine
Herren, das ist eine Stimmung, die sehr verbreitet ist, und die, wie ich aller¬
dings anerkennen muß, aus derjenigen mangelhaften Berücksichtigung lcmdwirt-
schaftlicher Interessen hervorgeht, die wir seit dem Weggange des Fürsten
Bismarck leider zu beklagen haben. Ich bin nicht der Meinung, daß der
Weg, den die Herren gehen wollen, der richtige ist. Sie wollen gern einen
Druck auf die Regierung ausüben, um sie landwirtschaftlichen Desiderien zu¬
gänglich zu machen."
Auch an die in den Grenzboten seinerzeit besprochnen „lokalen" Äuße¬
rungen der Landwirtschaftskammer in Stettin in dem Bericht für 1896 sei
beiläufig erinnert, der in der Beschimpfung gipfelt: „Der völlige Ruin ist un¬
ausbleiblich, wenn wir bei einer Wirtschaftspolitik verharren, die dem Aus¬
lande und dem internationalen Großkapital zuliebe die heimische Landwirtschaft
um die Früchte ihrer Arbeit bringt." Von den sonstigen, den sozialdemokra¬
tischen an agitatorischem Gift um nichts nachstehenden öffentlichen Angriffen
der Agrarier gegen die bisherige Agrar- und Handelsvertragspolitik der Ne¬
gierung sei vor der Hand gar nicht gesprochen.
Schon das völlige Schweigen des Grafen von Posadowsky ans die Vor¬
würfe des Grafen zu Limburg und des Herrn von Kardorff im Reichstage
war eine überaus beredte Antwort, zumal da gerade der Bebelsche Vorwurf, die
Interessen der Arbeiter fänden im Reich und in den Einzelstaaten keine Berück¬
sichtigung, schlagend zurückgewiesen worden war. Nach diesen Vorgängen ist
die Erklärung des Freiherrn von Hammerstein im preußischen Abgeordneten¬
hause ein unanfechtbares ?»ter xeov^ol, dessen Bedeutung wesentlich erhöht
wird durch den lauten Beifall, die es aus nationalliberalen Kreisen gefunden
hat. Herr von Hammerstein hat in seiner Rede vom 28. Januar noch fol¬
gende Bemerkung zu machen für nötig gehalten: „Meine Herren, ich kann nnr
oft wiederholt aussprechen, daß die Staatsregierung die schwierige Lage — ich
will den Ausdruck Notstand gebrauchen — der Landwirtschaft in vollem Maße
anerkennt, daß dieselbe gewillt ist, mit allen ihr zulässig erscheinenden und zur
Verfügung stehenden Mitteln dem Notstand abzuhelfen. Ich trete vollständig
dem bei, was in der Generaldiskussivn über den Etat Herr von Eynern aus¬
führte, der darlegte: weil seit einer Reihe von Jahren mit reichen Mitteln
das industrielle Gewerbe gefördert sei, so habe jetzt das landwirtschaftliche Ge¬
werbe, selbst wenn es aus den Mitteln geschähe, die wesentlich von der In¬
dustrie dem Staate zuflössen, einen vollberechtigter Anspruch auf gleiche Förde¬
rung dnrch staatliche Unterstützung."
Diese Anführungen werden genügen, dem ernsthaften Politiker jeden
Zweifel zu nehmen über den Stand der agrarpolitischen Aussichten und
namentlich der Aussichten auf wesentlich höhere Getreidezölle. Es ist müßig,
jetzt zu erörtern, wie weit die Flottenfrage dabei mitwirkt; aber es ist klar,
daß sie bei der unverantwortlichen Haltung des „Freisinns," bei der Vater-
landslosigkeit der Sozialdemokratie, bei der zwiespältigen Stellung des Zentrums
und bei den agrarischen Einflüssen in dieser Partei die Negierung zu einer
Politik des vo ut ach mit den Agrariern zu drängen geeignet ist. Die Flotte
mußten wir haben, selbst um den Kaufpreis eines Sieges der agrarischen
Übergriffe. Der Welthandelspolitik des Kaisers gehört die lange, unabsehbare
Zukunft, dem agrarischen Siege vielleicht ein Jahrzehnt. Aber dieses Jahr¬
zehnt kann in der That sehr traurig werden, und alle einsichtigen Vaterlands¬
freunde, alle königstreuen deutschen Männer, die für die weitsichtige Politik
des Kaisers einzutreten bereit sind, haben Grund, sich zum Kampfe zu rüsten
gegen rechts und links, um unbeirrt um die augenblickliche Gunst des von
materieller Begehrlichkeit beherrschten großen Haufens das Banner der Wahr¬
heit, Gerechtigkeit, Menschen- und Vaterlandsliebe hoch zu halten, bis Ruhe
und Friede wieder hergestellt sein werden in der Agrarpolitik wie in der
Sozialpolitik.
Lügen haben kurze Beine auch in der Politik. Wie die Arbeiter einsehen
werden, was das Reich für sie geleistet hat und zu leisten entschlossen ist, wenn
nur den sozialpolitischen Unruhestiftern das Handwerk gelegt wird, so werden die
deutschen Landwirte auch anerkennen, daß ihnen Milliarden aus den Taschen
der Nichtlandwirte seit dem Beginn der heutigen Agrarkrisis im Reich und in
den Einzelstaaten zugeflossen sind, wenn nur erst den agrarischen Hetzereien
ein Halt geboten sein wird durch eine wirklich starke Staatsgewalt, den „Fels
von Erz" der Hohenzollernpolitik, an dem das ostelbische Junkertum früherer
Zeiten sich, trotz aller Wechselfälle im Kampfe, noch immer die Köpfe blutig
gestoßen hat.
Daß eine geringere Verteuerung des Brotgetreides durch Erhöhung der
Zölle die Notlage der Landwirte beseitigen werde, ist kaum anzunehmen; die
Zollerhöhung müßte jedenfalls bedeutend sein. Aber auch dann müßte
die davon erwartete Steigerung der Grundrente sofort wieder zur Über¬
schätzung des Grundwerth und zur weitern Überlastung durch Grundschulden
führen. Die Agrarier haben darin gegen Buchenberger recht, daß nur eine
staatlich garantirte Rente, nach dem alten Buchwert des Grund und Bodens
bemessen, sie vor den Abschreibungen bewahren könnte, die sie als ordentliche
Wirtschafter vornehmen müßten. Graf Posadowsky, Freiherr von Hammer¬
stein und anch Herr von Miquel werden sich dieser Folgerung auf die
Dauer nicht entziehen können, ohne die schätzbare Liebe der treuen Bundes¬
genossen von heute wieder einzubüßen. Und glaubt man wirklich noch
weiter bestreiten zu können, daß die vielen Millionen Mark jährlich, die die
Getreidezölle bisher, oder sagen wir auch, bis zu ihrer letzten Ermäßigung
den Landwirten gebracht haben, nicht von der nichtlandwirtschaftlichen Be¬
völkerung gezahlt worden seien? Daß der Weltmarktpreis so tief herabging,
daß trotzdem gegen früher, wenigstens bis 1897, der Konsument weniger zu
zahlen hatte, als vor dem Zoll, ändert an der Rechnung gar nichts. Und
wenn in Zukunft höhere Zölle den Landwirten helfen sollen, so muß eben
durch ihre Höhe jedes weitere Fallen des Weltmarktpreises wett gemacht
werden. Will man dann auch noch sagen, der Zoll verteuere das Brot nicht?
Auch wenn man das Müller- und Bäckergewerbe verstaatlicht haben wird,
wird das wahr bleiben. Und glaubt man denn weiter, sich damit trösten zu
können, daß Industrie und Handel die Millionen leicht aufbringen können, die
der Zoll der Landwirtschaft einbringt? Ja wer ist denn das in diesem Falle,
der zahlt? Unternehmer oder Arbeiter? Glaubt man wirklich, mit gutem Ge¬
wissen so ohne weiteres behaupten zu können, daß der Unternehmer zahlt, was
der Arbeiter mehr für Brot braucht? Und wie lange soll denn die Garantie
des Inlandspreises dauern? Doch unzweifelhaft für immer, entsprechend der
Höhe der Produktionskosten, in die natürlich die Verzinsung des Anlagekapitals,
mag die Anlage unvernünftig oder vernünftig sein, mit einzurechnen ist.
Es lohnt wahrlich nicht, sich länger bei diesen Fragen aufzuhalten, deren
Beantwortung den verbündeten Regierungen so klar wie das Einmaleins sein
müßten, auch wenn sie nicht von so warmen Vertretern der wahren Interessen
der deutschen Landwirtschaft, wie Buchenberger und Conrad, erst kürzlich un¬
zweideutig gegeben und begründet worden wäre. Wir wollen heute nicht auf
Einzelheiten eingehen, die nächste Zukunft wird dazu leider mehr als reichlich
zwingen. Nur darüber möchten wir keinen Zweifel lassen: Wer Ruhe ver¬
langt in der Sozialpolitik, der soll auch Ruhe verlangen in der Agrarpolitik.
Wer sich den Agrariern gegenüber schwach zeigt, der darf den Sozialdemokraten
er Bergwandrer, der bei sinkender Nacht noch das Joch über¬
schritt, steigt auf kaum kenntlichen Pfad, über den sich gelegent¬
lich eine morsche Wettertanne gelegt hat, ins Thal hinab. Durch
das Gebüsch der Legföhren, aus dem nur einzelne schlanke Eber-
eschenbäumchen und schwanke Gerten der Zwergweide herausragen,
glänzt ihm ein rötlicher Schimmer herauf, der, erst klein wie ein Stern ist, dann
breiter, voller leuchtet, endlich die züngelnde Flamme zeigt, vor der sich un¬
kenntliche Gestalten hin und her bewegen. Es ist das Herdfeuer einer für
einige Wochen als Sommerwirtshaus dienenden Alphütte. Welch tröstlicher
Anblick empfängt nun den Müden, wenn er vor der breiten Thür des ein¬
fachen Blockhauses seinen Rucksack abhängt, um ihn neben dem Bergstock auf
der Bank neben der Thür abzulegen, wo Reihen hölzerner Weidlinge (Milch¬
schalen) zum Trocknen stehen. Über dem Herdfeuer hat die Stelle des ge¬
waltigen Kessels, worin die Milch für den Käse zum Gerinnen gebracht wird,
eine flache eiserne Pfanne eingenommen, in der ein Schnarren „brotzelt," dem,
indem er sich zu bräunen beginnt, ein herrlicher Geruch entqualmt. Eine
kundige Hand bewegt dieses Mittelding von steifem Brei und Backwerk mit
einem eisernen Schüufelcheu, hebt es immer wieder vom Boden der Pfanne
ab und zerschneidet es in kleinere Stücke. Dem Duft merkt man an, wie süß
die Milch war, die hier mit dem Mehl gemischt wurde, und wie rein die Butter,
in der der Teig brät. Die Pfanne wird jetzt vom Herd gehoben, einer
von den Hirten, der den Wirt spielt, teilt die Blechlöffel aus, und die Ge¬
sellschaft greift mit Wohlgefallen zu, ohne indessen die Mäßigung zu vergessen,
die beim Essen aus gemeinsamer Schüssel geboten ist. So alt wie das ge¬
meinsame Mahl der im Kreise um die Speise gelagerten, so alt ist auch die
Quelle des Anstandes in der Zurückhaltung der Hungrigen, von denen jeder
gleich deu halben Schnarren auffressen möchte, aber geduldig wartet, bis sein
Nachbar „hineingelange" hat. Der moderne Table d'hüte-Mensch, der seinem
Nachbar den letzten Bissen wegißt, kann von diesen einfachen Leuten lernen.
Das Mahl ist beendet, man löscht nun den Durst aus einer Bütte frischen
Wassers, das eben von einer nahen Quelle geholt worden ist, gießt sich Wasser
über die Hände, die man mit wergnem Handtuch abtrocknet. Vielleicht wandert
noch eine Flasche Enzian aus dem Dunkel des Wandschränkchens dort in der,
Ecke unter dem Heiligenbild hervor und würzt zusammen mit dem unvermeid¬
lichen Tabak die Unterhaltung der Hirten und ihres Gastes, die sich wieder
um das Herdfeuer versammelt haben. Es plaudert sich auch ohne das vor¬
trefflich angesichts der Flammen, die wie lebend auf und nieder steigen, sich
ausbreiten und zurücksinken. Es liegt soviel beruhigendes, in Träume
wiegendes im Anschauen eines Herdfeuers; ich würde es nervösen, schlaf¬
suchenden Menschen empfehlen. Eine harzgefüllte Lücke zersprengt mitunter ein
dürres Fichtenscheit mit lautem Knall und schleudert wohl gar einen Feuerbrand
vom Herd. Der Gast, der vermutlich das luftarme Schlafkämmerchen neben
dem gleichzeitig als Käserei, Küche und Gastzimmer dienenden Raum ver¬
schmäht, steigt eine Stunde nach Sonnenuntergang mit wohlversicherter Laterne
einen schmalen Hühnersteig empor zum Heulager über dem Ziegenstall, wo er
sich zwischen zwei Wolldecken unbeschreiblich behaglich bettet. Schön ists dann,
wenn bei der ersten Dämmerung die Sterne ohne Funkeln vom Himmel ver¬
schwinden, und nicht eine Wolke im regenverkündenden Morgenrot heraufzieht;
es ist aber auch nicht so ganz unschön, wenn nach einem warmen Abend ein
Landregen „einsaugt," der mit stiller Notwendigkeit herniederrieselt. Kennst
du vielleicht, lieber Leser, auch eine Stimmung, in der du dem grauen Regen¬
schleier dankst, daß er sich zwischen deiner Einsamkeit und der Welt zuzieht?
Jedenfalls thut es beim einförmigen Ton der fallenden Tropfen gut, sich noch
etwas tiefer ins Heu zurückzuziehen und das Gefühl der Geborgenheit im
Trocknen und Warmen zu genießen.
So ungefähr denke ich mir auch das ursprüngliche Wirtshaus, das
ähnlich bei Holzfällern im Walde und bei Fischern am Seestrand sein
mochte. In erweiterter Form, aber im Kern dasselbe war das niedersächsische
Bauernhaus mit dem Herd im Hintergrund der Tenne, über dem Ganzen
der offne Dachstuhl wie in einer byzantinischen Kirche. Wenn in Westfalen
oder im Lüneburgischen ein Bauernhaus Gäste aufnahm, so saßen sie gerade
so um das Herdfeuer wie heute dort in der Alphütte; und ihre Schlafstelle
war dann meistens auch über dem Schafstall neben dem uralten Langhaus.
Im heutigen Wirtshaus ist der Herd streng vom Gastzimmer gesondert.
Der Herd ist eine Werkstätte geworden, die mit zahlreichen kunstreichen Geräten
ausgestattet ist, womit eine entsprechend mannigfaltige Menge von Speisen zu¬
bereitet wird. Eine sehr tiefgehende Arbeitsteilung spricht sich darin aus.
Der halbstädtische Charakter des in ganz Mittel- und Süddeutschland vor¬
herrschenden fränkischen Vauernhauses mit seiner Absonderung mehrerer numme
zum Wohnen, Schlafen und Kochen, außerdem nicht selten noch eines Prunk-
und Vorratzimmers kam dieser Arbeitsteilung entgegen. Daher finden wir
merkwürdigerweise das Wirtshaus auch in solchen Dörfern Niederdeutschlands
nach fränkischem Stil angelegt, wo die Bauernhüuser noch niedersächsisch sind.
In der Abtrennung besondrer Räume kommt auch das alemannische und
bairisch-tirolerische Bauernhaus der Ausscheidung von Küchen- und Wirtschafts¬
räumen entgegen. Daher leuchtet uns hier überall nicht mehr der Herd vom
Mittelpunkt des Hauses her mit seiner die Kultur und die Gastlichkeit sym-
bolistrenden Flamme. Beim Eintritt in das Haus haben wir in der Regel
gleich links von der Hausflur das Wirtszimmer, dessen in der rechten Ecke sich
mächtig erhebender Kachelofen mit seinen behaglichen Bänken die Stelle des
Herdes als Sammelplatz der Hausgenossen und Güste eingenommen hat,
während die gegenüberliegende Kammer als „Herrenstübchen" eingerichtet ist,
wo dazu ein Bedürfnis ist. Ans dem Hintergrund her macht sich durch den
Duft und das Geklapper der Töpfe die Küche bemerklich, und man muß froh
sein, wenn man von der Flur aus einen Einblick in ihr Inneres gewinnt.
Mit dem Herde, dem dunkeln Rauchfang, den leuchtenden kupfernen und zin¬
nernen Geschirren, und durch den bläulichen Dampf, in dem alles erscheint,
ist das oft der einzige noch malerisch gebliebne Raum im ganzen Hause.
Daß nun die Entwicklung doch nicht notwendig gerade diesen Weg nehmen
mußte, lehrt die Erhaltung des großen Vorraumes mit dem Herde in den
französischen und italienischen Wirtshäusern nicht bloß der Dörfer, sondern auch
ländlicher Städte. So wie das französische und norditalienische Bauernhaus
diesen Raum als Eintrittsraum, Küche und Wohnraum bewahrt, so ist er auch
im Wirtshaus erhalten geblieben, wo sich daneben ein kleines Gastzimmer be¬
findet, das mehr Speise- als Triukzimmer ist. Es giebt aber auch größere,
vortreffliche Gasthäuser, wo die Küche mit Bratspieß, Rost usw. im Hinter¬
grund, alles glänzend und rein, von der Straße aus zugänglich ist; man
findet darin sogar den Schreibtisch, an den Wänden die Eisenbahnfahrpläne, kurz
es ist eine Verbindung von Küche und Kondor und shmbolisirt klar die be¬
herrschende Stellung der hier waltenden Wirtin. Daneben erst führt eine kleinere
Thür zu den Gast- und Wohnzimmern.
Ist nun bei uns auch räumlich der Herd aus der Mitte des Hauses
gerückt, so bildet für das Wirtshaus doch die Küche uocy immer deu Schwer¬
punkt, um den alles andre sich reiht und ordnet; und das auch dort, wo nicht
eine energische Wirtsfran am Herde den Kochlöffel als Feldherrnstab schwingt.
In der Nähe der Küche pflegt der Eingang zum Keller zu liegen, und um
Speis und Trank drehen sich ja die Wünsche und Hoffnungen der Gäste des
Hauses. Für solche, die länger unter dem gastlichen Dach des Wirtshauses
verweilen, ist selbstverständlich die Leistungsfähigkeit der Wirtsküche ebenso
wichtig, wie die Einrichtung des ganzen übrigen Hauses; aber auch dem
Wandrer, der nur im Vorübergehen vorspricht, wird es erst recht wohl, wenn
er sich in einen fruchtbringenden Rapport mit der Küche setzen kann. Am
Aufprasfeln des Feuers und am Klang der Küchengeräte merkt er, daß man
sich dort für ihn in Thätigkeit setzt, und sein Behagen wird nun erst voll.
Gewiegte Speisekcuner verfüge» sich wohl gleich selbst in die Küche, um
Wünsche oder Ratschläge vorzubringen, z. B. die, die sich den Schnittlauch
auf der Suppe oder die Cichorie im Kaffee zu verbitten wagen. Sie setzen
sich aber dabei der Gefahr einer abweisender Behandlung nach dem Grundsatz
der Nichteinmischung und der territorialen Unverletzlichkeit eines Gebietes ans,
wohin sich die Gynäkokrntie als auf ihr eifersüchtig gehütetes Altenteil zurück¬
gezogen hat.
Was und wie auch das Wirtshaus sein mag, von der in der Küche
waltenden Kunst und Wissenschaft häugt ein großer Teil des Rufes des
Hauses ab. Und darum seien am Schluß dieser Wanderstudie einige Er¬
fahrungen ans dem Gebiet der deutschen Kochkunst bescheidentlich mitgeteilt.
Sie bestreben sich, den schuldigen Respekt vor der in Deutschland, wie nirgends
sonst, in der Küche alleinherrschenden Weiblichkeit mit dem Freimut zu ver¬
binden, dem der deutsche Mann auch dort uicht entsagen darf, wo er von deu
Werken der holden Frauen spricht. Sie scheuen sich auch uicht, Dinge mit
Wichtigkeit zu behandeln, die man hergcbrachterweise als unwichtig hinstellt,
während das Wohl und Wehe der Nationen auch vou ihnen abhängt. Ist es
nicht eine Thorheit, der Küche wie einer unantastbaren Institution gegenüber-
zustehen, sich zu ärgern und zu schweigen? Ich bin überzeugt, daß ein guter
Teil deutscher Grämlichkeit und Empfindlichkeit vom schlechten Essen kommt.
Es ist ein Grundzug des deutschen Dorfwirtshauses von deu Alpen bis
zum Belt, daß die Frau die Küche und der Mann den Keller verwaltet,
während die Ordnung der Schlafzimmer den weiblichen Dienstboten obliegt.
Der Mann unterhält außerdem die Gäste. Daß es anderswo ganz anders
ist, haben wir schon bei der Erwähnung lothringischer Wirtshäuser erwähnt.
In Frankreich und Italien besorgt der Mann die Küche, die Frau die Gast-
und Speisezimmer. Der Keller tritt dort mehr zurück. Dort taucht in stark
besuchten Wirtshäusern überhaupt der Mann den ganzen Tag kaum aus seinem
dunkeln Hcrdraume hervor, der Gast hat es nur mit weiblichen Wesen zu
thun. Bekennen wir es mit dem oben gewahrten Freimut: die Küche fährt
besser dabei. Der Mann erweist sich auch hier als der Träger des Fortschritts.
Die beherrschende Stellung der französischen Kochkunst hat der Koch geschaffen,
und nicht die Köchin. Die Unselbständigkeit der deutschen Küche entspricht der
Unselbständigkeit der deutscheu Frau neben ihrem Mann. Alle Achtung vor
dem ehrbaren Stand der Köchinnen. Aber man giebt allgemein zu, daß zu den
höchsten Höhen der Kochkunst mir Köche emporgestiegen sind. Man muß
auch zugeben, daß kochende Männer nicht Rückschritte zugelassen hätten, wie wir
sie gerade in der Küche des Dorfwirtshauses beobachten müssen, wo sie aller¬
dings nur ein deutlicher hervortretendes Symptom eines cillgcmeinern Ver¬
falls sind. Der liebenswürdigen Flatterhaftigkeit der weiblichen Natur entspringeu
unzählige kleine Verstöße gegen die so einfachen Grundregeln der vernünftigen
Speisebereitung. So wie mau dem englischen Kunstgewerbe vielfach den über¬
wiegenden Einfluß der Frau in Charakterzüge» der Feinheit und Zartheit an¬
merkt, die aber oft ins süßliche, ich möchte sagen ins Theehafte, ab¬
schweifen, so muß mau in der deutschen Küche einen Mangel an Kraft,
Würze, Gesalzenheit der Herrschaft des von Natur schwachen, empfindlichen
weiblichen Geschmacks zuschreiben. Nur ein Mann konnte die Grundlagen
der Paprikaküche Ungarns schaffen und die kräftige OU-i xotriäa. des Kastilianers
auf wohlgcwürzter Höhe erhalten. Unbillig wäre es allerdings, zu ver¬
schweigen, daß die deutsche .Küche unter dem Druck der Volksverarmung in
frühern Jahrhunderten so manches Gute verloren hat, was ihr einst eigen
war, und daß die weibliche Sparsamkeit Bewnuderuswertes in der Anpassung
an dürftige Lebensverhältnisse gerade in der Küche geleistet hat.
Bei allen landschaftlichen Unterschieden ist von einem Ende zum andern
Deutschland das Land der großen Suppen. Die französische Küche spendet
kunstreiche, gewürzte Suppen in so kleinen Mengen, daß sie kaum den Boden
des Tellers bedecken. England brät sein Fleisch und läßt Lvel'-?eg. nur tassen-
weis für schwache Mögen zu. Italien hat seine kräftigen Minestras, Reis-
und Gemüsesuppen, in deren dickflüssiger Masse soviel Flcischbröckchen, Frag¬
mente von Leber. Herz und Stücke von unbestimmbaren Vögeln stecken, zum
Glück unbestimmbar! denn sie könnten auch von Mäusen oder Maulwürfev
stammen, daß sie eine ganze Mahlzeit in sich vereinigen. Deutschland allein
ißt aus großen Suppenschüsseln dünne Suppen, in die die Kraft des gekochten
Fleisches übergegangen ist, oder denen man in andrer Weise etwas Gehalt zu
verleihen bemüht ist. Mit einer solchen Suppe muß das deutsche Essen an¬
fangen. Undankbar wäre es, zu verkennen, daß in deutsche Suppen schon
manche schöne „Ideen," gebackne und andre, hineingelegt wurden, wodurch
man sie befähigte, ein Mittagsmahl nicht bloß in stofflich genußreicher, sondern
auch in gemütlich ergötzlicher Weise einzuleiten. Denken wir uns einmal unter
Vernachlässigung aller Unterschiede des Raumes Alldeutschland beim Essen.
Welche mannigfaltige Suppen erscheinen da! Immerhin sind landschaftliche
Unterschiede wohl zu erkennen. Im Süden herrschen die Teigsuppen, schwimmende
Mehlspeisen konnte man sie nennen, vom Wcisgau bis zur Salzach, vom
Bodensee bis zur Lahn; die hervorragendsten unter diesen Suppenbestandteilen
sind die Nudeln (als Nonille sind diese kunstvoll dünn geschnittenen Bänder
und Fäden ans Teig auch ins Französische übergegangen) und der geriebne
Teig, auch Eiergersll genannt, die Spätzle in Schwaben und am Oberrhein,
deren Vertreter in Baiern die verschiednen Arten von Knödeln sind, die Flädle,
die aus dünnen, in Schmalz gebacknen „Fladen" bandförmig geschnitten werden,
die gebacknen Erbsen aus Tropfen eines dünnen Teiges, die man in heißes
Fett fallen läßt. Es ist ein endloses Variiren über das Thema Mehl, Milch
und El, ein Variiren mit Geschmack und Phantasie. In Schwabe» erreicht
diese Entwicklung ihren Höhepunkt. In Baiern, dem Lande des größten
Fleischkonsums in Deutschland, kommt die kräftige Milzsuppe und jene her¬
kömmlich am Samstag gegessene Suppe mit einer großen, mit flüssiger Fleisch¬
masse gefüllten Wurst, deren Inhalt der Essende geschickt, wenn auch nicht
immer appetitlich, in die Suppe streift. Diese mannigfaltigen Suppen nehmen
nach Norden immer mehr ab, nördlich von Köln, Kassel, in Thüringen, Obcr-
achsen treten Graupen, Reis, Hülsenfrüchte, Kartoffel» immer mehr an ihre Stelle,
und es erscheine» dazu ganz neue Schöpfungen und Suppenzuthateu: Rosinen
im Nordwesten in der Pumpernickelsuppe, Kirschen, gedörrte Zwetschgen, Bier.
Hier ist auch das Land der Kalteschale und der Fischsuppen, die in der Ham¬
burger Aalsuppe eine wahrhaft phantastische Ausbildung erfahren haben. Der
Kenner slawischen Volkstums wird hier manchen Spuren begegnen, die nach
Osten weisen. Eine Fischsuppe und daneben ein mohnbestreutes „Striezel" sind
mir immer als ganz fremde Erschei»ungen auf deutschen Wirtstischeu erschienen,
und man begegnet jener auch uur im Osten, hier aber von Lithauen bis Kroatien.
Die im ganzen Südeuropa und in Frankreich und Belgien so wichtigen Gemüse¬
suppen, in die auch Rüben, Sellerie und Kartoffeln geschnitten werden, die Grund-
läge des französischen I.>ot-^u-t'cui, und der spanischen 01I-r potriäa, sind in Süd-
dentschland nicht heimisch; in unsre Wirtsküchen sind sie nur in der sehr ver¬
dünnten Form der sogenannten Juliennesnppe eingedrungen. Die deutsche Küche hat
überhaupt viel von der Kenntnis des Wertes der Suppenkräuter eingebüßt, die
einst viel weiter verbreitet war. Das Sprichwort „Er ist wie Petersilie ans
allen Suppen," d. h. überall zu finden, versteht man in vielen Teile» Deutsch¬
lands schon heute nicht mehr. Der vortreffliche Lauch ist durch den besonders
in Baiern grassirenden Schnittlauch übel ersetzt worden. Daß Sauerampfer
und Körbel treffliche Suppen geben, weiß man im östlichen Deutschland über¬
haupt nicht, und der in Frankreich beliebte Löwenzahn, den man für nichts auf
jeder Wiese pflücken kann, wird bei uns verschmäht. In manchen Teilen
Deutschlands ist die Gartenkunst nicht weit genug fortgeschritten, um dem
Gastwirtstisch die Gemüse, Salate und Würzpflanzen zu liefern, die not¬
wendig sind, wenn die Speisen mannigfaltig und schmackhaft werden sollen.
In manchem Wirtsgarten Frankreichs findet man ein Dutzend Salatarten,
in ganz Oberbaiern und Schmähen, im größten Teile von Mittel- und
Norddeutschland nur eine, und zwar die schlechteste, grasgrüne, weichblättcrige
Kopfsalatart. Salate, die zu den Freuden des genußfühigen Menschen ge¬
hören, wie der römische, kommen überhaupt in dieser Zone auf keine Wirts¬
tafel. So ist es mit den Gemüsen und dem Obst. Daher der Unsinn der Näpfe
voll eingemachter Preiselbeeren im Hochsommer und der dürren Zwetschgen
vom vorigen Jahr in der Zeit der Kirschen- und Aprikosenernte. In einem
Lande, wo es Boden und Souue genug giebt, frische Gemüse, frisches Obst, frische
Milch, frische Butter und frisches Fleisch in Masse zu erzeugen, unter mich
die Pyramiden von Konservenbüchsen, Margarinetöpfen und geräucherten
Schinken und Würsten, mit denen die Ladenfenster prahlen, als eine kolossale
Verirrung an. Es ist ja ganz schön, daß Deutschland eine große Konserven¬
industrie für den Export hat, und auch für die Versorgung der Armee und der
Marine sind Konserven nötig. Sie werden aber zum Unsinn und zur Land¬
plage, wo sie dazu verführen, die frischen Erzeugnisse im Übermaß zu kon-
serviren, um sie dann teurer, schlechter und ungesunder als die frischen auf
den Markt zu bringen. Soviel, wie den Gästen a» Genuß »ut Behagen, ent¬
geht dabei den Wirten und Bauern dnrch die Vernachlässigung der Garten-
zucht an Gewinn. Nicht vom Klima, wie man entschuldigend sagt, hängt die
Armut der Gemüse- und Obstgärten in Baiern und im größten Teil von Mittel-
und Norddeutschland ab; ich kenne vortrefflich gepflegte und ertragreiche Gärten
in hoher Lage in Nordtirol und in den südwestdentschen Gebirgen. Die Ursache
dieses Verfalls ist allerdings zusammengesetzt, doch aus nahverwandten Eigen¬
schaften des Volkes: der Trägheit der Arbeitenden und der Genügsamkeit der
Genießenden. Das sind aber die Grundursachen aller Barbarei, die ja mit einer
in andern Dingen sehr hohen Kultur zusammengehen kann. Ist es nicht
barbarisch, die Gaben zu vernachlässigen, die dem Menschen verliehen sind, damit
er sich sein Dasein immer reicher ausgestalte? Die Kulturfortschritte liegen in
der Steigerung der Leistungen und Forderungen. Darum sind auch die kleinsten
Merkmale der Ausstattung des täglichen Lebens so lehrreich.
Da ich hier gerade von Pflanzen gesprochen habe, die uns die köstliche
Erfrischung der Salate liefern — der von Eichrvdt besungne Schueckensalat
ist spezifisch südwestdeutsch, der Ochsenmaulsalat ist wahrscheinlich auch ur¬
sprünglich nur in beschränkten fränkischen Gebieten bekannt gewesen—, so
mögen auch einige Worte über Öl und Essig erlaubt sein, ohne die es keinen
Salat giebt. Öl aus Nüssen und Bucheckern spielt heutzutage selbst in der
Dorfküche keine Rolle mehr. Das Olivenöl herrscht unbedingt vor. Die
deutsche Nase ist nun diesem welschen Produkt gar wenig gewachsen. Mit
rauhem und ranzigem Öl kann man aber aus den zartesten Pflanzen keinen
guten Salat bereiten. Und der Essig gehört heute der chemischen Industrie, die
ihn aus Holz wasserklar und scharf wie Minernlsänre herstellt; früher galt er
als ein Nebenerzeugnis der Bierbrauerei und Weinküferei. Ihn durch Zusatz
vou Würzkräutern zu verbessern, versteht mau fast nirgends in Deutschland
mehr. Französischer Essig und französische Essigkvnserven von Manie und
andern werden dagegen massenhaft nach Deutschland eingeführt. Von Pfeffer
verbraucht Deutschland nur die mildesten Sorten, und wenn auch seit vierzig
Jahren Gulasche und andre Paprikagerichte in Deutschland in die Wirtskttche
und im Süden auch in die bürgerliche Küche eingedrungen sind, so ist ihre
Würznug doch nur ein blasser Schatten von der brennenden Schärfe des
spanischen Pfeffers in Ungarn und Spanien. Auch die englische Küche würzt
schärfer und mannigfaltiger als die deutsche. Wenn diese ihre guten alten
„Türken" und „Brühen" bewahrt hätte, so könnte sie freilich mit Verachtung
auf die Batterien von Saucen in Gläsern herabsehen, die den englischen Wirts¬
tisch zieren. Aber irgend ein ärmlich verneinender Geist hat die Erfindung gemacht,
daß man jeder Bratenbrühe mehr „Konsistenz" verleihen kaun, indem mau sie
mit billiger Kartoffelstärke zu einem ekelhaften braunen Kleister verrührt. Und
damit verderben nun unsre Wirte ihre besten Braten, indem sie eine einzige
Generalsauee über jegliche Art von Fleisch gießen.
Die Zeiten sind vorbei, wo sich die Dienstboten am Rhein ausbedangen,
nicht jeden Tag Lachs essen zu müssen, und wo Wildbret in deu waldreichen
Gegenden Mitteldeutschlands billiger war als Rindfleisch. Deutschland ist
indessen noch immer ein wildreiches Land. Seinen Fischreichtum hat die
Industrie schwer geschädigt, aber die Fischzucht hat auch wieder manches Ge¬
wässer fruchtbarer gemacht, und die Hochseefischerei liefert ihre Erzeugnisse tief
ins Binnenland, wo sonst Seefisch eine unbekannte Größe war. Auf deu Tischen
der höchstgelegneu Alpengasthünser wechseln Nordseefische mit l^rutti all murs des
Mittelmeers ab. Aber die zunehmende Bevölkerung hat die Fleischpreise überall
in die Höhe getrieben. Seit etwa zehn Jahren sind selbst im Osten und Süd-
osten Dcntschlmids, wo Breslau und München die billigsten deutschen Gro߬
städte waren, die Klagen über die hohen Fleischpreise immer lauter geworden.
Auf dem Dorfe ist Fleisch immer eine Feiertagsspeise geblieben, aber der Bedarf
der Städte nimmt das gute Fleisch dem Lande und läßt ihm das schlechte.
Fleisch ist daher die schwächste Seite der Küche des Dorfwirtshauses, und im
Sommer tritt in den überfüllten Sommerfrischen und Seebädern gelegentlich
einmal ein Fleischmangel ein, dem durch schleunigen Bezug aus der nächsten
Großstadt vorgebeugt werden muß.
Wo man am Fleisch sparen muß, sucht man es doppelt auszunutzen; man
kocht es, um seine Brühe zu haben, und ißt dann das gekochte Fleisch oder
brät es noch einmal. „Suppe und Fleisch" ist das Losungswort der bürger¬
lichen Küche in ganz Deutschland. Für den Tisch bedeutet das soviel wie
Suppe und Suppenfleisch. Früher war der Unterschied des Wertes der Fleisch-
stücke vom Nind so gering, daß auch die besten Stücke gekocht wurden, und
da stand das gesottn« „Tellerfleisch," das der Valer vom Holzteller ißt, keinem
Braten nach, und das „Rindfleisch mit Beilage" war am Gasthaustisch der Kern
des Mittagmahls. Das hat sich in den meisten Gegenden stark geändert, und auf
dem Lande essen selbst die wohlhabenden Bauern ein zähes Kuh- oder Stierfleisch,
das dem Städter ungenießbar vorkommt. Deswegen nimmt auch die Zubereitung
des Fleisches in solchen Formen überHand, wo die schlechte Beschaffenheit des
Stückes verdeckt wird: das Kochen des in Stücke geschulteren Fleisches mit
Kartoffeln, das gehackte Fleisch, als Kuchen, Klops usw., vor allem aber die
zu Zusätzen aller Art einladende Wurst. „Gebacknes" war einst nur der
österreichischen Küche eigen, und die Vackhühndl bleiben charakteristisch für
Wien und alles Land östlich von Wien, während die Schnitzel als die be¬
quemste Zubereitung des schlechtesten, zu sandartiger Dünne aufgezognen Kalb¬
fleisches sich weit verbreitet haben.
Wo ist die alte Kunst des Bratens hinverschwunden, die wir auch darum
als eine edle bezeichnen müssen, weil sie dem einfachsten, natürlichen Vorgang
noch so nahe stand? Der Jager, der ein Stück Wild erlegte, schnitt ein Stück
Fleisch ub und briet es an einem Stab, den er schräg in, die Erde steckte,
sodaß das Fleisch gerade vom Feuer bestrichen ward. Er drehte ihn einigemale
herum, und der Breiten war fertig mit dem naturmäßigsten, besten Geschmack,
dem des frisch gerösteten Fleisches, um das cmsgetretnes Blut und Fett eine
schöne, wohlduftende Rinde bilden. Das Braten am Spieß ist eine leichte Ab¬
änderung dieses Verfahrens. In England und Frankreich hört man das Ge¬
räusch des durch ein Uhrwerk gedrehten Bratspießes aus der Wirtsküche, Deutsch¬
land ist fast überall vom Spieß abgegangen. Für die meisten sind die großen
Bratspieße in den alten Schlössern fossile Merkwürdigkeiten, und erst das Zeit¬
alter der Butzenscheiben und Truhen hat auch den Spieß da und dort wieder
in die Küche zurückgeführt. Das Braten zwischen zwei beweglichen eisernen
Rösten, in England vor den Augen des Gastes im Krill-kloven, geübt, in
Frankreich und Italien noch weit verbreitet, ist bei uns ebenfalls außer Ge¬
brauch gekommen. Es ist wahr, daß beide Methoden nicht so einfach sind,
wie das deutsche Braten in der Bratröhre des Herdes; aber ein Huhn vom
Spieß oder ein Beefsteak vom Rost ist auch etwas andres als ein Braten in
der Pfanne, der immer in der trocknen heißen Ofenluft von seinem natürlichen
Saft und Duft verliert. Gar nicht zu reden von jener zur Verhüllung der
schlechten Qualität des Fleisches erfundnen Verballhornung des Lendenstücks, des
„deutscheu" Beefsteak, des zerhackten, mit Zwiebeln dicht bestreuten und infi-
zirten, das mit dem echten Beefsteak nichts als den Namen gemein hat, oder
des Rostbratens, der ungleich dem italienischen arrosto nie einen Rost gesehen
hat, oder des bairischen Kalbsbratens, der zuerst gekocht und dann leicht an¬
gebraten wird! Diese und viele andre würde der Biolog „Kümmerformen"
des echten Bratens nennen, mit dem sie nur den Schein einer Berührung und
dem Feuer gemein haben. Das einzige Beefsteak hat die natürliche Eigenschaft
des Bratens bewahrt, die Kraft und den Wohlgeschmack der Fleischfaser und
des Blutes gleichsam in verdichteter Form zu bieten. Zinn Teil sind diese
Entartungen aus Sparsamkeit geboren, zum größern Teil aber aus Dummheit
und Bequemlichkeit, die sich in der deutschen Küche mit einer merkwürdigen Un¬
beständigkeit verbündet haben. Gerade die Geschichte des Bratens zeigt, wie fest
die Engländer an einmal bewährten Gebräuchen halten, und auch die Franzosen
sind in der Küche viel konservativer als die Deutschen. So wie bei uns
das Gewerbe und besonders das vielgelobte Kunstgewerbe auf die Mnsfen-
erzeuguug billiger Scheinwaren, die im Kern nur Schund sind, mit einem
gewissen Radikalismus ausgeht, so ist in der deutschen Wirtsküche die rasche
und billige Masfcndarstellnng der Speisen im Fortschreiten, wobei sich eine
kurzsichtige Weisheit in Surrogat und schön sein sollenden Spielereien gefällt.
Was nützt mir die Muschelschale, in die man ein gemeines Hackfleisch füllt?
Oder die alten Krebsschalen, in die man gekochte Semmelkrumen hineinstopft?
Ich kann mich dabei nie enthalten, an die Petroleumlampe mit schlechtem
Brenner und verschnörkelten „Renaissance"-Füßen zu deuten. Die liebevolle
Vertiefung in die Geheimnisse der Kochkunst schwindet immer mehr. Ich sehe
die Zeit kommen, wo man im deutschen Wirtshaus dem nach einem Mittag¬
essen verlangenden Gast eine Erbswurstsuppe nud eine Fleischkonservenbüchse in
heißem Wasser hinstellt, die er sich öffnet und aus dem Blech heraus leer ißt.
Der Wirt als Händler, vielleicht anch als Spekulant in Konserven und
sonstigen „Dauerwaren": das ist das Ziel, dem unsre Küche zustrebt, oder viel¬
mehr der Strudel, in den sie hineingerissen wird. Zum Glück scheint man die
Gefahr zu erkennen und sucht durch Kochschulen der kulinarischen Verrohung
und Verflachung entgegenzuwirken, die in der kleinbürgerlichen und Arbeiterküche
noch viel bedenklichere, unmittelbar das Familienleben bedrohende Wirkungen
hat als in der Wirtsküche.
Genug nun von der Küche! Es giebt Dinge, von denen man einmal
muß abbrechen können. Mit Recht gilt es als ein Zeichen schlechter Erziehung,
viel vom Essen zu reden. Wir konnten aber an der Küche bei unsrer Wande¬
rung durch das ländliche Wirtshaus nicht vorübergehen, und wollten es nicht,
denn sie ist der Beachtung wohl wert. Vielleicht hat unsre Plauderei, die
nur einzelnes berühren konnte, schon gezeigt, daß sich auch in der Küche der
Charakter und die Geschichte eines Volkes spiegelt. Die Wissenschaft sollte
das wohl in Betracht ziehen- Ich hoffe auch dafür viel von der aufblühenden
Volkskunde. Zwar ist noch in dem neuen Werke „Deutsche Volkskunde" von Elard
Hugo Meder (Straßburg, 1897), das in vielen Beziehungen vortrefflich ist,
die Küche und die Volksernährung so kärglich behandelt, daß man von einer
auffallenden Lücke sprechen kann. Die Bedeutung der Speisen und Getränke,
ihrer Bereitung und ihres Genusses hat der Verfasser dieses Buches offenbar
zu gering geschützt. Sind sie aber nicht mindestens ebenso wichtig wie Dorf¬
anlage, Hausbau, Arbeiten, Feste, Sprüche und Sagen? Ist es vielleicht
weniger der Forschung würdig, der Verwandtschaft des schlesischen Hefenkloßes,
dieser von Dichtern gepriesenen Nationalspeise, mit der schwäbisch-fränkischen
Dampfnudel nachzugehen, als den Beziehungen des schlesischen und fränkischen
Bauernhauses? Auch die Verbreitung der Kochkunst und ihrer Werke zeigt
große Züge, die den Zusammenhang des Alltäglichen mit mächtigen Be¬
wegungen der Geschichte zeigen.
Es giebt zu denken, daß im allgemeinen in Deutschland von Westen nach
Osten die Kochkunst abnimmt. In Süddeutschland ist Baiern, trotz manchem
Guten, tief unter Schwaben, in Mitteldeutschland ist Sachsen ein ausgesprvchnes
Minimalgebiet, in Norddeutschland bietet Westfalen viel mehr eigentümliche gute
Dinge als alles Laud östlich davon. spiegelt sich nicht auch darin der Gang
der deutschen Kultur aus ihren alten rheinischen Sitzen nach Osten wieder, und
die Veränderung und Verarmung als die Folge der Anpflanzung ans neuem
kolonialen Boden, dessen eignes Wachstum niedergetreten war? Rätselhaft bleibt
allerdings der Tiefstand der Kochkunst in ganz Mitteldeutschland von der
belgischen bis zur polnischen Grenze, und ebenso schwer ist die Dürftigkeit der
deutsch-schweizerischen Küche außerhalb des Bannkreises der Fremdengasthänser
zu erklären. Osterreich ist ein Gebiet für sich, dessen Küche unter dem Ein¬
flüsse Italiens und Ungarns in manchen Beziehungen noch die Südwest¬
deutschlands übertrifft, und zwar sind in Osterreich Böhmen und Schlesien
noch trefflich ausgestattet, wo wir auf der deutschen Seite schon einer traurigen
Verarmung gegenüberstehen.
«cum man, was ja üblich ist, Vergleiche anstellt zwischen unsrer
heutigen schönen Litteratur und der vor hundert Jahren, so zeigt
sich jedenfalls ein großer Unterschied in den Verhältnissen. Es
giebt heute eine wissenschaftliche Geschichtschreibung, die der
Litteratur aufmerksam folgt, und die fehlte damals. Über Mangel
an Beachtung von feiten der Wissenschaft können sich also die heutigen Dichter
wahrlich nicht beklagen; sie werden wissenschaftlich bearbeitet, lange ehe sie
fertig sind. Sonst hört man wohl oft sagen, daß man Erscheinungen der
Gegenwart gegenüber noch keinen freien Blick habe, daß erst später aus größerer
Ferne sich Klein und Groß unterscheiden lasse, das Nichtige verschwinde, das
Bleibende sich zu Gruppen ordne. Aber hier lehrt man uns schon heute, daß in
unsrer deutschen schönen Litteratur 1885 eine neue Sturm- und Drangzeit ein¬
getreten, daß diese 1889 von einem entschiednen Naturalismus abgelöst worden,
und daß dann darauf weiter zuerst 1892 der Symbolismus gefolgt sei. Also
noch so nahe und schon so deutlich! Sollten aber etwa dafür die scharf ge¬
zognen Umrisse mit der Zeit verschwimmen, sodciß man dann — umgekehrt! —
immer weniger, und bald gar nichts mehr von dieser ganzen Herrlichkeit sähe,
woran eine künftige Litteraturgeschichtschreibung anzuknüpfen der Mühe für
wert hielte?
Einer unsrer neuesten Dichter, der fünfunddreißigjührige Gerhart Haupt¬
mann, ist schon in mehreren, eigens über ihn geschriebnen Büchern behandelt
worden, am gründlichsten von Adolf Bartels, dessen litteraturgeschichtliche
Essays den Lesern der Grenzboten bekannt sind. Er hält (Weimar, Felder)
Hauptmann für den bedeutendsten deutschen Dichter seiner Zeit. Aber des
Dichters Freunde sind mit diesem Ergebnis der Untersuchung noch nicht ganz
zufrieden, sie finden das Urteil von Bartels im einzelnen zu scharf und zu
wenig anerkennend (die Namen können wir weglassen), während andre wieder
gerade die eingehenden und treffenden Analysen für das Wertvollste an seinem
Vnche halten werden und dafür lieber in der Konsequenz, der allgemeinen
Schätzung Hauptmanns, nicht ganz so weit mit ihm gehen möchten. Unter
allen, die die neueste Litteratur streng wissenschaftlich zu behandeln suchen,
scheint Bartels den glücklichsten Weg eingeschlagen zu haben; seine Kenntnis
der ältern Litteratur ist umfassend und genau, seine Beobachtung in Bezug
auf das, worin die neueste abhängt von der Art ihres Landes und den Zeit¬
ereignissen, scharfsinnig und mannigfaltig. Man hat bei ihm immer den Ein¬
druck, daß es sich um etwas lebendiges handelt, und dies Leben versetzt unsre
Gedanken in Mitthätigkeit, während uns seine Fachgenossen oft nur durch her¬
kömmlich eingeschachtelte Kategorien belehren und langweilen. So enthält denn
auch dieses Buch unter allen, die über Hauptmann geschrieben worden sind,
am meisten durchdachtes und unterrichtendes. Anerkennender aber, milder und
weniger scharf in seinem Urteil konnte ein Mann von seinen Ansprüchen un¬
möglich sein.
Ehe wir etwas näher darauf eingehen, möchten wir noch ein gleichfalls
eben erschienenes Buch von I. E. Frhr. von Grotthuß erwähnen, das unter
einem etwas gesuchten Titel: Probleme und Charakterköpfe. Studien
zur Litteratur unsrer Zeit (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer), dreizehn einzelne
Essays, leicht und elegant geschrieben, aber ernst und vornehm in der Auf¬
fassung, enthält, darunter auch einen über Gerhart Hauptmann. Grotthuß
giebt uns entsprechend der Form seines Vortrags an Stelle einer geschlossenen
Beweisführung mehr Apercus, aber darum doch nicht weniger sachlichen
Gehalt; wer sich über unsre neueste Litteratur ernstlich und doch angenehm
unterrichten möchte, der sollte sich diesen Vertrauen erweckenden Führer nicht
entgehen lassen. Bis auf den Artikel über Ibsen habe ich das Buch von
Anfang bis zu Ende mit Interesse gelesen (über Hendrik Ibsen lese ich über¬
haupt nichts mehr, seit ich mindestens ein halbes Dutzend Bücher über ihn
kennen gelernt und gefunden habe, daß schon alles möglicherweise Sagbare über
den von ihm gestifteten Nutzen oder Schaden gesagt worden ist); um aber eine
bestimmtere Vorstellung zu geben, hebe ich außer einer zutreffenden, kühlen
Beleuchtung von Ebers und Felix Dahn neben der etwas wärmern Nichts
einen aus dem vollen Herzen kommenden Lobgesang auf Liliencrons kleine
Lieder hervor, worin es heißt: „Es gehört die ganze goldne, treuherzige
Naivität eines Liliencron dazu — ich habe nicht die Ehre, ihn persönlich zu
kennen —, mit einem Richard Dehmel Freundschaft zu schließen. Und es
gehört der ganze Skeptizismus und Ästhetizismus eines Dehmel dazu — auch
ihn kenne ich persönlich nicht —, um sich für einen Detlev von Liliencron zu
begeistern," und dann erhalten wir eine Beurteilung der Dehmelschen Lyrik,
mit der wir uus ebenfalls einverstanden erklären. Von geradezu entscheidender
Bedeutung aber ist, was Grotthuß über Nietzsche schreibt, wovon ein paar
Proben in freier Wiedergabe hier stehen mögen. Nietzsche ist gar kein Philo¬
soph. Das Beste, was er geschrieben hat, namentlich der Zarathustra, ist
Gedankenlyrik. Sein ganzes sogenanntes System beruht nicht auf notwendigen
Voraussetzungen und Schlüssen, sondern auf subjektiven Stimmungen, und wie
Stimmungen wechseln und sich widersprechen, so ist auch er in beständigen
Wandlungen und Widersprüchen begriffen. Das wußte niemand so gut wie
er selbst: „Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt; er genügt sich
dazu selber," und „am Philosophen giebt es ganz und gar nichts unpersön¬
liches." Wie gering, wie unbedeutend muß eine Individualität sein, die es
über sich gewinnt, den Launen und Stimmungen einer andern und überdies
so willkürlichen dnrch alle ihre Widersprüche gehorsam zu folgen! Zu dem
Traum Nietzsches von seinem eignen Ich, dem Übermenschentum, meint Grotthuß
nicht unrichtig, es sei sein positives Verdienst, die große, aber leider immer
mehr in Vergessenheit geratende aristokratische Wahrheit von der Ungleichheit
der Menschen wieder auf ein hohes Postament gestellt zu haben. Zu Nietzsches
Formvollendung und Bildersprache aber, die „stellenweise zum Schönsten gehört,
was je aus einer deutschen Feder geflossen ist," Hütte Grotthuß eigentlich in
Anschlag bringen sollen, daß Nietzsches ganze innere Anschauung, als er schrieb,
von der griechischen Poesie förmlich gesättigt war. NichtPhilologen können
kaum ahnen, was darin für eine Schule zur Schönheit liegt für den, der über¬
haupt Formensinn hat. Wer aber eine Vorstellung davon hat, dem wird das
Verdienst oder die Originalität Nietzsches nicht mehr ganz so groß scheinen.
Und wer so aufrichtig anerkennen kaun, wie Grotthuß, dessen Ablehnung wird
umso mehr Eindruck machen, und deswegen wäre dieser Aussatz besonders der
Gefolgschaft Nietzsches zu empfehlen, zu der ja auch diese neuesten Dichter
gehören.
Daß gerade in der letzten Zeit über Gerhart Hauptmann soviel geschrieben
worden ist, hat sein neuestes Werk veranlaßt, die Versunkne Glocke (1896), die
auf dem Theater und in der Buchauflage einen ganz ungeheuern Erfolg gehabt
hat. Während aber die große Menge sie für sein Höchstes erklärt hat, be¬
kennt sich die ernstere, mit wissenschaftlichen Mitteln arbeitende Kritik durchaus
nicht zu dieser Ansicht. Bestechend wirkt die Einkleidung mit ihren Ent¬
lehnungen aus Volkstum und Sage, die Scheinrvmcmtik, die wohllautenden
lyrischen Verse, und im Hinblick auf diese formalpoetischen Vorzüge meint sogar
Bartels, es sei keiner außer Hauptmann, der „als Ganzes" so etwas hätte
machen können. Andrerseits aber ist er ein viel zu guter Kenner aller frühern
Poesie, als daß er nicht in einer langen Reihe von Namen und Titeln von
Shakespeare bis auf Ibsen die Muster zur Hand hätte, nach denen hier ge¬
arbeitet worden ist. Und da er ferner ohne weiteres ein ganzes Verzeichnis
unleugbarer Geschmacklosigkeiten im poetischen Ausdruck zusammenstellen kann,
so schränkt sich doch sein allgemeines dem Dichter gespendetes Lob erheblich ein.
Einen größern Eindruck haben Hauptmanns Lyrismen auf Grotthuß gemacht;
ein öfter wiederholtes „Ningelreigenflüsterkranz," das Bartels als unangenehmen
Schwulst auf den Index seiner Tadel setzt, atmet z. B. für ihn einen undefinir-
baren, aus Mondesdüster, träumerischem Vlätterrauschen und geheimnis¬
vollem nebelgrauen gewöhnen Zauber, und einzelnen seiner Versreihen, an
denen Bartels noch mit kritischem Bemühen Fehler sammelt, erteilt er die
denkbar höchsten Lobsprüche. Die Versunlne Glocke als Ganzes befriedigt ihn
aber womöglich noch weniger als Bartels.
Viele Leser und Hörer hat darin rührend angesprochen ein oft anklingender
Ton, der aus dem alten Kirchenglauben kommt. Gerade so war es auch schon
in „Hammelef Himmelfahrt," und nun meinten die Leute, daß der Dichter sich
nach seinem frühern schärfen, herzlosen Naturalisiren auf etwas besseres be¬
sonnen habe und umgekehrt sei zu einer idealen Auffassung der Lebensverhält¬
nisse, die ihn nun auch für anständige Christenmenschen genießbar macht. Wer
so empfindet, der denkt natürlich kaum darüber nach, welche Rolle denu eigentlich
dem Christentum in diesen Stücken zugewiesen ist. Es siegt nicht, es entscheidet
nichts, es wirkt nnr auf die Sinne als bewegliche Nebendekoration. Wem
die Nietzschesche Herrenmoral nicht zusagt, der mag sich anch einmal an einem
Zipfel vom Sternenmantel des lieben Gottes freuen, das verpflichtet zu nichts
weiter. Grvtthuß nennt den Dichter einen Halben, der ans beiden Seiten ficht,
Bartels erinnert an den Pantheismus, den einst Heine dem Christentum ent¬
gegenstellte. Aber die Sache liegt noch einfacher, meint ein Pseudonymus
(W. Freimuth) in einer kurzen, klar geschriebnen Broschüre, die Nickelmanns:
„Bim dann, Heise dir Gott aus deinem Traum" als Titel trügt (Berlin,
Fußinger) — dies ganze „idealistische Experiment" sei kluge Berechnung.
Warum sollten auch bei Hauptmann die Leute mit frommer und ernster Ge¬
sinnung allein leer ausgehen?
Daß jede größere dramatische Dichtung, auch wenn sie sich als Märchen¬
dichtung der Rechenschaft zu entziehen und unter eigne Gesetze zu stellen sucht,
irgeud ein ernsthaft zu nehmendes allgemeines oder größeres Ziel haben muß,
ist wohl zugestanden unter allen Menschen, die Dramen lesen oder aufführen
sehen. Daß aber der Glockengießer dieses Dramas ein alberner, weinerlicher
Tropf, und die ganze Handlung ein großes Nichts ist, legen unsre Kritiker
einstimmig dar. Wir wollen uns dabei nicht länger aufhalten, denn für uns
hat es dazu überhaupt niemals eines Wortes bedurft. Wir für unsre Person
können der Glocke sowohl wie dem Hannele höchstens den Rang eines guten
Opernlibrettos zuerkennen, für dessen Schwächen die Musik zu entschädigen
hat. Einen höhern Maßstab vertragen sie nicht. Mögen sie sich Jahrzehnte
auf der Bühne halten, das hängt von andern Umstünden ab, als von dem
innern Werte einer Dichtung — als wirkliche Dichtung, als Bücher, die man
liest, werden sie kein langes Leben haben.
Wir können es darum auch ganz Bartels nachfühlen, wenn er in dem
visiouüren Hauuele und dem neuen Zaubermürchen aus dem Lande Rübezahls
nicht das Letzte und Beste seines Dichters sehen will. Auf keinen Fall, meint
er, ist die Glocke ein Produkt freier und ursprünglich schaffender Phantasie,
sondern eher ein Gewebe aus lauter fremden Motiven. Überall in unsrer
Litteratur stößt man auf Anregungen, denen der Dichter, bewußt oder unbewußt,
folgen konnte. Eine Weltdichtung, die man lücherlichcrweise mit dem Faust
vergleiche» wollte (und die auch einige Flittern daher entlehnt hat), muß mehr
sein, als ein Niederschlag der verbreiteten poetische» Kultur! Mit der Ver-
sunknen Glocke sei der Dichter auf der schiefen Ebene, ans die er sich mit dem
Hannele begeben habe, noch weiter hinabgerollt zu der Konvention und Un¬
natur. „Meiner Empfindung nach will Hauptmann anch hier etwas, was er
im Grunde nicht kann, handelt es sich hier um eine subjektiv recht wohl er¬
klärliche, auch mit großer Kunst in Szene gesetzte, darum aber nicht minder
verderbliche künstlerische Täuschung, Selbsttäuschung und Täuschung des
Publikums zugleich, die als solche zu kennzeichnen die Aufgabe aller derer ist,
die es mit Hauptmann selbst und der deutschen Litteratur ernst und gut
meinen."
Also was „kann" Hauptmann? Die Frage muß uns zu seiner „Höhe"
führen, wenn diese nicht durch die zwei Märchendramen bezeichnet wird.
Bartels nennt ihn schon auf seiner ersten Stufe einen „Meister, der sein
Talent so in der Gemalt hat, daß er sich kaum noch vergreifen kann," nämlich
in Bezug auf seine ersten drei Dramen (Vor Sonnenaufgang, Das Friedens¬
fest, Einsame Menschen), die er trotzdem ohne Nachsicht sür ihre Schwächen
abschützt. Er findet auch namentlich mit Rücksicht auf die Gattungsbezeichnung
„Sturm und Drang" beim Vergleichen Vorteile auf feiten der Alten vor
hundert Jahren (Lenz), und was den Hauptunterschied der beiden Perioden
betrifft, daß bis jetzt uoch kein zweiter Goethe gekommen ist — ja, das Pflegt
man in unsrer neuesten Litteraturhistorie nicht ganz so zudringlich und konkret
auszudrücken.
Bartels findet, daß Hauptmanns Meisterschaft in der naturalistischen
Schilderung liege, und sieht seine höchste Leistung in einer Reihe solcher
„naturalistischen" Dramen, der zweiten im ganzen, die wieder aus drei Stücken
besteht: Die Weber, Kollege Crampton, Der Biberpelz. Diese Werke fallen in
des Dichters neunundzwanzigstes bis zweiunddreißigstes Jahr. „Nicht alle
Dichter, aber die meisten pflegen in diesen Jahren ihr Bestes zu geben, und
ich bin nach dem, was später eingetreten ist, der Überzeugung, daß auch
Hauptmann dies gethan hat, ohne damit freilich die Unmöglichkeit einer zweiten
Höhe behaupten zu wollen." Aber eigentlich doch wohl, denn dies ist doch
schon die Litotes der Resignation! Wir müssen also von der Voraussetzung
aus urteilen, daß dieser Dichter mit zweiunddreißig Jahren „fertig" ist, wenn
er auch mehr als doppelt so lange leben sollte. Bartels würdigt die Vorzüge
der drei Dramen eingehend, am höchsten stellt er die „Weber," das Drama
des Milieu, des Nebeneinander ohne Hauptindividuen, und dadurch sei Haupt¬
mann unter die Weltdichter emporgewachsen. „Weder Ibsen noch Zola, weder
Tolstoh noch Dostojewski), soweit sie nach meiner Überzeugung Hauptmann
alle geistig überragen, haben ein ähnliches Werk zu schaffen vermocht," und
die „Weber" würden ebenso lange gemeinen werden, wie Moliöres Tartüffe und
Beaumarchais Figaros Hochzeit oder Schillers Kabale und Liebe — freilich
nicht als Kunstwerk, sondern als Zeugnis der Gesellschaft ihrer Zeit! Das
wären zunächst mindestens hundert Jahre, und wenn wir das für undenkbar
erklären, was will man dagegen anführen? Aber abgesehen davon, das eigne
Verdienst des Dichters an den „Webern" wird bekanntlich durch gleichzeitige
Aufzeichnungen, denen er manchmal fast wörtlich folgen konnte, eingeschränkt,
die Erfindung ist gleich Null, die geistige That besteht eigentlich nur in dem
Entschluß, diesen Rohstoff für die Bühne herzurichten, und wenn man dazu
erwägt, daß der Aufwand an Kunstmitteln im Sinne der ältern Anschauung
zugestandnermaßen gering ist, so bleibt schwerlich von dem Ganzen genug übrig,
um daraus ein Postament für einen Dichter von dieser Bedeutung zu bauen.
Wir kennen zwar Menschen, die die Weber für Hauptmanns interessantestes
Stück erklärt haben, aber uns sind noch weit mehr bekannt, die es für ein
absolut widerwärtiges halten, und wir selbst sind nicht sehr weit von dieser
Auffassung entfernt. — Nun noch ein Wort über die Diebskomödie „Biberpelz,"
die ziemlich lau aufgenommen worden ist, wie Bartels hervorhebt. Er selbst
aber findet darin einen neuen wertvollen Ansatz zu einem Lustspiel echt
deutschen Stils, der in der Litteraturgeschichte wahrscheinlich stets mit seinem
großen Vorbild, Kleists Zerbrochnem Krug, zusammen genannt werden werde.
Andre denken anders, z. B. Grotthuß: „ich überlasse ihn den Motten der
Zeit, die von dem abgelegten Bühnenbekleidungsstücke kaum viel übrig lassen
werden."
Nach den Ausstellungen in? einzelnen überraschen uns bei Bartels oft die
allgemeinen Werturteile, und am wenigsten können wir uns in das Haupt¬
ergebnis finden, daß der fünfunddreißigjährige Hauptmann seine Höhe über¬
schritten habe und zugleich unser bedeutendster lebender Dichter sein soll.
Sollen wir das erste glauben, so verstehen wir das letzte nicht, anch wenn
wir uns auf das Sprichwort zurückziehen, daß unter Blinden der Einäugige
König ist- Halten wir aber vielmehr den Dichter für einen Anfänger und
seine Dramen für sehr verschiedenartige Proben eines Talents, das beobachten
kann und auch zu der Sprache ein Verhältnis zu finden weiß: so kommt uns
auf die Frage, um wie viel dieser Dichterjttngling schon seine Genossen etwa
überragen möge, nicht viel an, und zum Vergleichen mit den der Geschichte
ungehörigen Größen langt es bei ihm noch nicht. So viel interessantes dem¬
nach das Bartelssche Buch enthält, so wenig paßt doch vielfach der Inhalt
zu dem wirklichen Hauptmann. Vielleicht wird dieser aber nun zu der hohen
wissenschaftlichen Einschätzung die Leistungen nachliefern.
Wie kommt es doch, daß unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts
uns immer noch zuerst als Lehrer ihres Volks erscheinen, der eine für diesen
der andre für jenen Teil? Sie hatten eine zusammenhängende Weltanschauung,
und diese beruhte zuletzt auf einer großen Summe erworbner Kenntnisse, die
sie zugleich befähigte, in den Fächern des Lebens auch etwas ganz bestimmtes
zu leisten. Was sie lehrten, das kannten sie auch. Wie leicht und windig,
alltäglich und zufällig erscheint dagegen alles, was man als nach 1870 ent-
standne schöne Litteratur bezeichnet! Könnte man sich diese unsicher hin- und
herfahrenden Dichter, die meistens noch mit der Grammatik im Streit liegen,
auch wohl als Lehrer ihrer Zeitgenossen denken? Höchstens doch als ihre
Unterhalter oder Spaßmacher. Greifen wir noch aus den kürzlich Verstorbnen
zwei ganz verschiedne Erscheinungen zufällig heraus, einen Dichter und einen
Prosaiker, Rückert und Freytag: welch eine Weite des Gesichtskreises, was
für ein Umfang von Kenntnissen tritt uns bei ihnen entgegen! Einem sorg¬
fältigen Beobachter muß an Freytags Journalisten in höherm Maße die Be¬
obachtung und das fein Studirte auffallen, als die etwaige Genialität, die
Erfindung; das Stück ist dem Dichter wahrlich nicht in den Schoß gefallen.
Wir sehen und lesen es nun bald seit fünfzig Jahren, und es wirkt mit der¬
selben Frische wie am ersten Tage. Von welchem der seit 1870 entstandnen
Dramen ließe sich das erwarten?
Oder denken wir an einen der letzten, die uns noch von den ältern
Dichtern geblieben sind. Paul Heyse, den seine jüngsten Fachgenossen nur
noch als Formkünstler anzusehen Pflegen, hat allerdings vieles geschrieben, was
uus kalt läßt, und was nicht weiter leben wird, weil uns sein Inhalt nichts
angeht. Das gilt namentlich von manchen italienischen Stoffen; wissen¬
schaftlich genommen, könnten sie uns zum Teil vielleicht noch beschäftigen,
poetisch nicht. Nun nehme man aber den kürzlich erschienenen Band: Neue
Gedichte und Jugendlieder (Berlin, W. Hertz) in die Hand. Darin sagt
der bald siebzigjährige:
Darin haben wir wieder die Weite des Blicks, die Menge der Kenntnisse,
die Mannigfaltigkeit der Töne, kurz die Fülle der Anregungen, die jene
Alten, die „Lehrer" auszeichnet, und der Dichter gehört in der That zu
denen, die etwas gelernt haben. Da sind Sprüche, die beinahe an Goethe
und Rückert, unsre Meister in dem Fache, heranreichen, ferner Gelegenheits¬
gedichte an bedeutende Männer im scherzenden Lehrton. Beide Gattungen
lieben ja auch die Modernen, aber wie fallen sie ab mit ihren Leistungen gegen
die Menge, die Paul Heyse hier verschwenderisch in allen Tonarten vor uns
hinschüttet! Den Gegnern des Klassizismus sei sodann „Die Mutter des
Siegers" empfohlen, scheinbar ein altes, fernes Lied, aber ergreifend und neu,
ebenso „Fürst Bismcirck in München," die Schilderung einer Abendgesellschaft
bei Lenbach, wo dem Dichter plötzlich einfällt
bis dann wieder ebenso plötzlich die Erzählung über Herkules zu Bismarck
zurückkehrt. Zum Beweis, wie bei Hesse das selbsterlebte in immer neuen
Wendungen zu Dichtung wird, mögen noch die Gedichte hervorgehoben werden,
die von seinem einzig schönen Verhältnis zu seiner Frau ausgehen. Schließlich
möchten wir unsern Lesern empfehlen, unmittelbar nach diesen Gedichten einen
Band Dehmel, Hartleben oder Bierbaum zu Probiren, denn — doch dazu
müssen wir noch etwas weiter ausholen.
Wir haben seit 1870 in Deutschland offenbar sehr viel erreicht, und bis¬
weilen werden wir ja darauf erst durch fremde Beobachter aufmerksam gemacht,
die sich über unsre Fortschritte in der Industrie, im Handel, im Städtebau
oder im Schiffbau verwundern. Dazu hat es doch aber Arbeit gebraucht und
Gedanken, nicht wahr? Ist es denn unverständlich, wenn in diesem „Milieu,"
von dem man ja soviel spricht, die Dichter wirklich einmal ausgeblieben sein
sollten? Das heißt wahre Dichter — denn Verse machen können wir ja fast
alle, bei der hohen Zucht, sagt einmal Nordau, die unsre Lhrik seit anderthalb
Jahrhunderten erfahren hat, liegt ein ganz annehmbarer Neimklingklcmg jedem
Deutschen im Blute. Es ist eine Erbfähigkeit, die man durch die Abstammung
von deutschen Eltern erlangt, und deren sich jeder Gymnasiast bewußt wird, ja
jeder etwas gebildetere Handwerksbursche. Hieraus folgt nun jedenfalls, erstens
daß Dichter, die als solche gerechnet werden wollen, sich merklich über dieses
Niveau erheben müssen, und zweitens, daß die Litteraturgeschichte, ehe sie
Lückenbüßer einreiht, lieber einmal ein weißes Blatt einlegen soll. Wir stimmen
aber völlig überein mit Grotthuß, der sich in dieser Frage so ausdrückt: Unsre
Kultur hat ihre größten Kunstwerke bereits gezeitigt; das Kunstwerk der Zu¬
kunft kann nur von einer Kultur der Zukunft geschaffen werden. Bis dahin,
fügen wir hinzu, wollen wir uns tüchtige Nachahmer gern gefallen lassen.
Sie sollen sich nur nicht weit über Verdienst geberden.
(M^^
Mieviel Geist, Fleiß und Arbeit, schlecht gelohnte und unbezahlte,
steckt doch in unserm deutschen amtlosen Litteratentum! Wir
haben schon gelegentlich auf das Undankbare des von unerfahrnen
jungen Leuten so oft ersehnten Berufs hingewiesen, und ganz zu¬
letzt hat Karl Jentsch aus eigenster Erfahrung rechnungsmäßig
dargelegt, daß ein Schriftsteller vermögenslos und ohne den Anhalt der festen
Stellung es eigentlich zu keiner äußern Existenz bringen kann, die der Lebens¬
haltung unsrer sogenannten höhern Stände entspricht (Hest 52 v. I.). Grund
genug für unsre allerjüngsten Dichter und Schriftgelehrten, erst etwas ordent¬
liches zu lernen, um nötigenfalls das Allgemeinverlangte leisten zu können,
ehe sie sich darauf verlegen, unsichre Einzelwerte in die Welt zu setzen.
Einer unsrer fleißigsten Schriftsteller, Verfasser von sechsunddreißig wirklich
aufgeführten dramatischen Erzeugnissen und von verschiednen tüchtigen populär¬
wissenschaftlichen Büchern, der außerdem mehreremale vorübergehend Zeitungs-
rednkteur war, dazu lyrischer Dichter und beliebter Vorleser, namentlich shake-
spearischer Dramen, bemerkt bei seiner Abrechnung am Abend seines Lebens
mit klaren Worten, daß es im Grunde genommen zur Errichtung eines eignen
und voraussichtlich sorgenlosen Hausstandes bei ihm nicht gereicht habe. Wie
ist das möglich bei günstiger Vorbildung, regsamem Geiste, einer gewissen
Lcbensgeschicklichkeit und dem vielseitigen Verkehr mit anregenden, tüchtigen
und auch wohlwollenden Menschen? Unsre Leser finden darauf die Antwort
in: Zeiten und Menschen, Erlebnisse und Meinungen von Rudolf Geuee
(Berlin, Mittler und Sohn), einer Selbstbiographie, die in ihrer schlichten und
sachlichen Haltung einen außerordentlich günstigen Eindruck macht. Im Gegensatz
zu so vielen andern Büchern ähnlicher Entstehungsart, die eine gewisse, dem
Autor erwünschte „Auffassung" schaffen sollen, kann man hier lernen, wies in
Wirklichkeit in der Welt zugeht. Zunächst in der Presse. Seit 1862 war
Genee einige Jahre lang Redakteur der offiziösen „Koburger Zeitung." Der
Herzog war damals stark österreichisch, er wurde bald ein heftiger Gegner der
Bismarckischen Politik und sah 1864 in einer Teilung der Herzogtümer, des
„auf ewig ungeteilten" Schleswig-Holsteins zwischen Preußen und Österreich
das einzige Mittel zur Vermeidung des Krieges. Manches hier Mitgeteilte
war bisher nicht bekannt, das Treiben am Koburger Hof erscheint etwas weniger
ideal, und der Herzog persönlich nicht ganz so vorteilhaft wie sonst.
Den Märzaufstand in Berlin hatte Gen6e schon als Vierundzwcmzig-
jühriger erlebt und aus allernächster Nähe. Man wird seine Berichte gern
lesen, aber sie enthalten nichts neues und sind in Bezug auf einzelnes, z. B.
den ermordeten Posten vor der Bank in der Jägerstraße, Seite 66, schon
durch andre bekannt gewordne Zeugnisse überholt. Aber ganz außerordentlich
unterrichtend sind Genves Erzählungen aus den Theaterzuständen Berlins vor
1848 und aus dem Leben der Schriftsteller. Hier ziehen sie höchst leibhaftig
und noch jung an uns vorüber, denen man noch bis in die sechziger Jahre
als Reliquien begegnen konnte mit allerlei kleinen Geschichten aus älterer Zeit,
die ihnen anhingen: Kossak, der unvergleichliche Musikrezensent und Plauderer,
Klein, der Verfasser des ungeheuerlichen Buches, das er Geschichte des Dramas
nannte, der zierliche, pathetische Titus Ullrich, dessen philosophisch-episches
„Hohes Lied" mit dem durch zweiundzwanzig Druckbogen sich hindurchziehenden
Grundgedanken „Und immer übrig bleibt allein — der Mensch" die Zensur
im Winter 1844/45, wahrscheinlich nicht zum Glück des Autors, Passiren ließ,
der schlaue kleine Kalisch, der den Geist der Zeit zu erfassen und in klingenden
Erfolg umzuwandeln verstand, und viele andre. Der „Eckensteher Rente"
gehört übrigens schon Holtei an (das „Trauerspiel in Berlin," Ende der
dreißiger Jahre). Von bekannten Litteraten, mit denen der Verfasser später
verkehrt hat, ist hauptsächlich Gutzkow zu nennen; daß dieser einem durch diese
Schilderungen lieber würde, kann man nicht sagen.
Genve ist dem größern Publikum hauptsächlich als Vorleser bekannt ge¬
worden, und in diesem Fach, das ja nicht allzu häufig gut besetzt ist, wird er
noch lange in Erinnerung bleiben. Er erzählt uus, wie er zu dieser Beschäf¬
tigung gekommen sei, die er dann, seit er die Redaktion in Koburg niedergelegt
hatte, als Hauptberuf ausbildete und lange ausübte. In einem besondern
kleinen Abschnitte spricht er auch über die Technik des Vortrags, die er sich
bei Dramen zuerst an Sheridcms Lasterschule zugelegt habe, sodaß er „fünf
bis sechs Personen in schnellem Tempo, und jede an der Sprechart erkennbar,
durch einander sprechen und sogar lachen ließ," und sein Hausarzt ihm sagte,
er trete seinen Kehlkopf mit Füßen. Er sieht in diesen Stimmkünsten keinen
„eigentlichen Kunstzwcck" — was doch aber selbstverständlich ist —, sondern
ein Mittel, die Personen des Dramas nach einmaliger Nennung nun allein
weiterlaufen zu lassen. Dies mußte vor allem im Lustspiel zu einem sehr
starken Naturalisiren führen, dem der Verfasser das Wort redet, und das ja
sür das zuhörende Publikum sehr bequem ist. Wer aber Goethes Bemerkungen
über Rezitiren und Deklamiren im Sinne hat und sich an Erzählungen über
die berühmten Vorleser früherer Zeit — Tieck und Holtei — erinnert, wird
fragen, ob nicht doch eine, wenn ich so sagen soll, zurückhaltendere Behandlung
angemessener wäre, weil sie der Kunst des Vorlesens eine gewisse Höhe sichert.
Das vollkommenste Bild eines Vorlesers war für mich Palleske in seiner
frühern Zeit (Ende der fünfziger Jahre). Später soll er, vielleicht veranlaßt
durch vieles Vorlesen Fritz Neuterscher Sachen, mehr „chargirt" haben, und
da er dem Publikum bis zuletzt gefiel, so wird der stärkere Auftrag, der den
Rezitator etwas mehr zum Komödianten macht, einem Wechsel des Zeitgeschmacks
Rechnung getragen und den gröbern Ansprüchen einer weniger empfindlichen
Zuhörerschaft nachgegeben haben. Einen noch weitern Fortschritt auf diesem
Wege bezeichnet dann, was Gen6e über die Mimik als Begleitung des Wortes
sagt: er ist der Überzeugung, daß die Unterstützung durch Gesichtsveränderung
und Gesten im weitesten Umfang zu gestatten sei. Wer die Worte des Dichters
zum vollen, vom Dichter beabsichtigten Ausdruck bringen wolle, der dürfe sich
nicht allein auf das gesprochn? Wort beschränken, sondern er müsse es im
Sinne des Dichters, also auch mit den Ausdrucksmitteln des Gesichts, des
Körpers, der Hände darstellen. „Denn wir sollen doch auch hierin der Natur
nachahmen, und wo käme es im Leben vor, daß jemand bei Worten, die etwas
besondres nachdrücklich sagen wollen, seine Rede nicht auch mit gewissen Hand¬
bewegungen ganz unwillkürlich unterstützte. Und wie sehr kann eine noch so
geringe Handbewegung den Sinn des Wortes zum kräftigen Ausdruck bringen!"
Gewiß, z. B. beim Solokupletsänger im Tingeltangel. Weil aber der Vor¬
leser von Dramen nach unsern Vorstellungen eine höhere Kunst auszuüben hat,
und ein Rezitator mehr sein soll als ein mißratener Schauspieler (dergleichen
man ja auch bisweilen austreten sieht), so halten wir diese auf die gröbern
Instinkte des Publikums gebaute „Mimik" des Vorlesers für falsch und ge¬
schmacklos.
Genve war auch Gelegcnheitsdichter, einzelne seiner Vaterlandslieder werden
nicht verloren gehen. Ein vortreffliches, das er für sein bestes hält, hat er
in dem Buche wiedergegeben: „Germanias Gruß" in vier achtzeiligen Strophen.
Es ist zu lang zum Abschreiben. Dafür mag ein wenig bekannter kleiner, tief-
empfundner Spruch aus dem Nachlaß Friedrich Rückerts, den Gemse mitteilt (er
hat einst von Koburg aus mit dem Dichter verkehrt), hier noch eine Stelle finden:
Gute Memoiren von Frauen sind bei uns selten. Männer können ja
von vielen Sachen sprechen, mit denen ihre Lebensstellung sie in die nächste
Berührung gebracht hat. Bei der Frau muß die Auffassung das meiste thun;
auf die Person, die schreibt, kommt es viel mehr an als dort. Wenn aber
dann einmal die Nichtige kommt, so giebt es dafür auch eine kapitale Leistung.
Zu den besten Männern Schleswig-Holsteins gehörte der 1872 in Schleswig
gestorbne Advokat Karl Heiberg. Sein Leben war mit den Geschicken der
Herzogtümer eng verflochten. Er hatte in dänischen Zeiten Verbannung, Amts¬
entsetzung, Verfolgung und Plackerei aller Art zu erdulden gehabt, und als die
neuen, befreienden Ereignisse sich ankündigten, war er nicht mehr der Alte an
Körperkraft und Energie, die Liebe seiner Landsleute aber folgte ihm bis an
seinen letzten Tag, und sein Andenken wird als das eines Märtyrers in hohen
Ehren gehalten. Am Neujahrstage 1835 Verlobte sich der junge Doktor
Heiberg auf eine sehr originelle Weise mit einer Komtesse Baudissin, indem er
bei einer Abendgesellschaft in ihrer Eltern Hcinse ihre Schulter küßte. „Ganz
verstört sah ich ihn an, schreibt seine nachmalige Lebensgefährtin viele Jahre
später, und er stammelte einige Worte, die ich nicht verstand. Der peinliche
Auftritt wurde unterbrochen, weil mein Vater rin einem Herrn ins Zimmer
trat. Später habe ich meinen Mann gefragt: Wie kamst du, der Schüchterne,
dazu, mich zu küssen? Ich weiß es nicht, sagte er, und kann es nicht erklären,
es war eine fremde Macht, die mich dazu trieb." So lautet eine Stelle in
den Erinnerungen aus meinem Leben von Asta Heiberg, die schon in
zweiter Auflage vorliegen (Berlin, Karl Hehmann). Die nun Achtzigjährige
hat ihren Gatten lange überlebt, und der Erinnerung an ihn widmet sie das
Buch, in dem ja hauptsächlich von ihm die Rede ist. Die kluge, thatkräftige
Frau war seine Helferin, seine Gefährtin im besten Sinne, und so werden uns
hier mit klarem Urteil und festen Strichen die politischen und gesellschaftlichen
Zustände der Herzogtümer und des Volkes geschildert, dem anzugehören ihr
Stolz war. Durch ihren Zusammenhang mit den ersten Familien des Landes
reichten ihre Beziehungen bis zum Königshause hinauf, und den Augnsten-
bnrgern stand sie fast freundschaftlich nahe. Aber sie wollte nichts weiter sein
als Frau Doktor Heiberg; um ihres Mannes willen hatte sie viel zu leiden,
an ihn gab sie aber auch die Ehre, wenn sie ihr zu teil wurde, weiter. Wie
erhaben und zugleich bescheiden diese innerlich vornehme Frau unter den
Männern dasteht und an der Geschichte ihres Landes mitarbeitet, und wie
schlicht sie darüber berichtet, davon läßt sich durch knappe Auszüge keine hin¬
längliche Vorstellung geben. Wie sie feindliche und freundliche Einquartierungen
empfängt zur Zeit der Schlachte» von Fridcrieici, Jdstedt und Friedrichstadt,
Wie sie Flüchtlinge ins Ausland schafft, wie sie bei einem Volksfeste dem dä¬
nischen Kommandeur einen Tanz verweigert und dafür von den Bürgern ein
jubelndes Hoch und von einem sogar einen Kuß auf den Hals erhält, wie
beim Einzug des Königs Friedrich VII. nach der Schlacht bei Bau in Schleswig
sogar der wvhlerzogne kleine Familienspitz sich durch plötzliches, energisches
Umkehren von der Begrüßnngspflicht lossagt, „mit diesen wollte er keine Ge¬
meinschaft": das werden unsre Leser mit dauernder Teilnahme, nicht selten auch
mit Bewegung und zwischendurch mit allerlei kleinen Erheiterungen hoffentlich
selbst nachlesen. Wir möchten lieber ein wenig in den Teilen des Buches
blättern, aus denen die Natur der Frau mit ihren besondern Erfahrungen,
Beobachtungen und Ansichten zu uns spricht, und daraus eiues und das andre
hervorheben.
Da wären zuerst die Schilderungen ihrer Kindheitszeit. Der alte Graf,
ihr Vater, zog von einem Orte zum andern, hauptsächlich aus Rücksicht auf
die Erziehung seiner Kinder, deren Zukunft ihn immer besorgter und ernster
machte, während doch die Reihe sich nach unter immer mehr verlängerte. Asta
muß einen Teil der Geschwister bemuttern und wächst, abgesehen von diesen
Pflichten, frei und wild heran, häßlich und ungraziös, so beschreibt sie sich,
aber durch die Beschreibung hindurch wird dieses Stück Natur auf den Leser
anziehender wirken, als manche gepflegte Schönheit. „Ich habe dich häufig
im stillen beobachtet, du warst so gut mit deinen Eltern und Geschwistern,
das zeigte mir dein goldnes Herz und dem Pflichtgefühl," sagt ihr Bräutigam
kurz vor der Hochzeit zu ihr, als sie ihm vorwirft, daß er, ohne sie zu kennen,
wie ein Thor um ihre Hand angehalten habe, und als sie uach der Hochzeit
abreist, weint der jüngste Bruder: „Wer wird mir nun mein Butterbrot
macheu?" Viel Unterricht hat sie nicht gehabt, aber welche Klugheit, welche
Weite des Gesichtskreises zeichnet sie ans und spricht aus allen ihren Bevbcich-
tuugeu! Als junges Mädchen war sie einige Zeit in Dresden gewesen, bei
dem Bruder ihres Vaters, dem bekannten Freunde von Tieck, sonst hatte sie
immer in ihrem Heimatslande gelebt, die längste Zeit in der Stadt Schleswig.
Als sie sich bereits im höhern Alter zum erstenmale zu einer größern Reise
aufmacht durch Deutschland bis nach Florenz, um überall nahe Verwandte zu
besuchen, da führt sie sich bei dem Leser ein als eine Unerfahrne und Un¬
geübte in der Kunst des Reifens: „Mir fehlen für solchen Zweck die Begabung
und das Wissen, ja selbst das erforderliche eingehende Interesse für die Werke
der Menschenhand. Ich interessire mich eigentlich nur für die Natur und die
Menschen. Die Künste erfreuen mich hauptsächlich, weil sie einen Beweis für
das Kulturstreben liefern, doch sehe ich lieber den lebendigen schönen Menschen
als den von Marmor." — Und mir lesen lieber ein solches einfaches, kluges
Kapitel: „Reise nach Italien," als wenn es eine ihrer Meinung nach kunst¬
verständige Verfasserin geschrieben hätte.
So wie wir andern, die wir nicht vornehm sind, die Vornehmheit am liebsten
haben, die nicht ledig ünßerer Sorge und darum fleißig und tüchtig ist, aber
auch stolz, wo es am Platze ist, und eingedenk des Zusammenhangs mit edeln
Stammesgenossen, so war der jungen Komtesse das Leben zugemessen worden,
bis sie achtzehnjährig dem bürgerlichen Manne die Hand reichte. Darnach
hatte sie mit ziemlich beschränkten Mitteln deu Anforderungen einer wachsenden
Familie und einer gastfreien Häuslichkeit zu genügen, und nur ein starker
Charakter konnte die Heiterkeit des Gemüts und dieses beinahe kindliche Lcbens-
vertraueu durch die Mühen und Sorgen hindurch retten bis ins Alter. „Wenn
das Alter so harmlos befriedigt vertiefe, wie wir in reizenden kleinen Er¬
zählungen lesen, dann wäre es ein Vergnügen, alt und grau zu werden. Es
möchte wohl jeder eine Hauptperson in dieser Idylle sein. Die Wirklichkeit
entspricht leider nicht der Dichtung. Mir fehlt nicht die Liebe und Teilnahme
für meine Kinder und Enkel; ich möchte sie, wie alle Menschen, glücklich
machen. Dieser Wunsch vernichtet die Idylle, die scheinbare Ruhe und Be¬
haglichkeit erleiden immer wieder neue Störung." Dann kommt sie auf die
Sorgen, die der stets wachsende Kreis der Nachkommen ihrem Alter bereite,
und auf den Abschluß ihres Tagewerks zu sprechen. „Und doch lebe ich nicht
umsonst, auch ich habe nach meinen bescheidnen Kräften in der großen Kette
mitgewirkt, und das überlebt mich, das ist mein Gewinn, ein Besitz für diese
und jene Welt, auf die wir alle hoffen, von der wir wissen, daß sie schöner
ist als das Erdenleben. Ich habe brave Nachkommen, Kinder und Enkel; zu
dem Glück, daß ich sie besitze, gesellen sich naturgemäß auch Sorgen. Aber
mit heißem Danke erkenne ich die Bevorzugung vor andern, denn meiner Kinder
Entwicklung ist nicht mein Verdienst."
Diese kurzen Stellen mögen zeigen, daß wir uns in einem höhern Be¬
reiche befinden, als in dem uns viele Bücher mit ähnlichem Titel festhalten.
Wenige können ihr Leben mit einer so klaren und für andre anziehenden Ab¬
rechnung abschließen. Als charakteristisch heben wir noch ein schönes Kapitel
hervor, das so anfängt: „Zwei Frauen leben in meiner Erinnerung wie zwei
Lichtpunkte. Sie waren in jeder Beziehung verschieden. Die eine gehörte dem
Adel an und befand sich in angesehener Stellung, die andre war eine Bürger¬
liche, in bescheidnen Verhältnissen. Die erste war eine Dame mit reichem
Geist und reichem Gemüt. Die andre besaß eine tiefe Seele und ein goldnes
Herz." Und nun erhalten wir die Bilder der Frau eines Grobschmieds Niese,
die am Kummer über den plötzlichen Tod ihres in die Fremde gegangnen
Sohnes allmählich zu Grunde geht, und des Fräuleins Ulrike von Pogwisch,
der Schwester von Goethes Schwiegertochter Ottilie. Sie hatte einst mit
einem roten Zitzkleid in Weimar alle Bälle eines Winters, auch die am Hofe
Karl Augusts, wo ihre Mutter damals Oberzeremonienmeisterin war, mit¬
gemacht und hatte nun als Priorin des adlichen Damenstifts in Schleswig
Gelegenheit, die Genußfähigkeit ihrer neuen Landsleute mit der Einfachheit
ihrer Weimarer Jugendtage zu vergleichen. „Sie erzählte von der Geselligkeit
in Weimar. Der Verkehr war lebhaft, die Jugend tanzte in einem Saale,
der nur durch zwei Lichter erhellt war. Die Bewirtung bestand in Thee,
etwas Kuchen und Butterbrot. Eine Familie belegte einst zur Feier eines
Geburtstags das Brot mit Fleisch und Käse und gab außerdem noch Punsch
zum Schluß des Tages. Diese Extravaganz versetzte Weimar in vollständige
Aufregung." Und so dachte Fraulein von Pogwisch in Schleswig bei jeder
Gelegenheit an Weimar zurück und pflegte ihren Geschichten die Wendung
hinzuzufügen: „Aber alle Welt war entzückt, denn jeder brachte den Geist mit,
und der fehlt meist jetzt," worin sie wohl Recht gehabt haben wird.
Erinnerungen an Johann Georg Fischer von seinem Sohne
Hermann Fischer ist ein kleines Heft (Tübingen, Laupp) betitelt, über das
wir einige Bemerkungen hier anschließen möchten. Der ältere Fischer starb
kürzlich achtzig Jahre alt und gehört zu den nicht wenigen schwäbischen Dichtern,
die nach guter Landesart und Sitte erst etwas tüchtiges gelernt und sich einen
Lebensberuf erarbeitet haben, ehe sie Gedichte veröffentlichen, die dann, ohne
etwas bedeutendes zu sein, als freundliche Zugabe im Kreise der Freunde und
Landsleute gern aufgenommen werden und auch weiterleben. Sein Ruhm
beruht, wie uns der Sohn mitteilt, hauptsächlich auf zuerst 1854 gesammelt
bei Cotta erschienenen Gedichten, die dann noch zweimal wieder aufgelegt
worden sind (1858, 1883). „Wenn Goethe der eigentliche Vertreter dieser
dichterischen Weltanschauung (eines naturalistischen Pantheismus) und nach
ihm Mörike ihr bedeutendster Vertreter ist, so ist diese Grundstimmung am
ausschließlichsten, vielleicht am reinsten bei meinem Vater vorhanden," lesen
wir S. 30. Aber die Gedichte waren, heißt es Weiter, schwerverständlich, und
für größere Dichtungen war die ganze Art wenig geeignet. Wir kennen sie
nicht, und vielleicht geht es den meisten so außerhalb Schwabens. Aber
überall wird man dieses kurze sehr gut geschriebne Lebensbild eines tüchtigen
und angesehenen Schulmanns mit Nutzen lesen. Die geistige Atmosphäre, in
der wir uns befinden, ist durch und durch gesund, und das Büchlein rühmlich
für die Umgebung, für Volk und Land, aus dem es hervorgegangen ist.
as our ein Sprung über den Helbnch. Der murmelte verwundert
über des Mädchens Frische und Kraft. Hinwärts wäre sie beinahe
zu kurz gesprungen, daß der Bach schon gierig much den weißen
Strümpfen leckte; und nun heimwärts war der Sprung so weit,
daß der Bach beinahe noch einmal so breit hätte sein können. Der
ist die Hochzeit in die Beine gefahren! lachten die Sprudelwellen
und eilten ihrer Vermählung mit der Biber entgegen.
Mndlene hätte doch beinahe laut zu singen begonnen am Neulehn hinaus nach
der Leiten zu. Aber sie ließ das Lied nur leis zwischen deu halbgeöffneten Lippen
hindurch:
Den zweiten Reim der ersten Strophe wiederholte Madlene, wie es die
Melodie erheischte; bei der zweiten Strophe blieb sie ohne Wiederholung auf dem
Halbschluß stehen: Nur ich alleine übrig blieb. Vor dieser Klage erschrak sie. Ja,
wem fiele gleich ein deutsches Lied ein, das neben der Freude nicht die Klage
hätte!
Vor der Klage war Madlene erschrocken. Welch ein Umschwung! Sie ge¬
winnt: wozu die Klage? Wäre die Madlenenseele nicht durch ihr Schicksal, durch
die Lebensschule zu einem gewissen Gleichmut erzogen worden, sie hatte laut auf¬
gejubelt im Bewußtsein ihres Gewinns. Da>s konnte sie wohl nicht; aber die
plötzliche Klage im Frühliugsliedcheu hatte sie doch erschreckt wie eine Schlange
vor den Füßen. Wirklich war ihr der Fuß einen Augenblick wie angewurzelt.
Nur ich alleine übrig blieb! Es war über die Lippe geschlüpft. Hinaus ist es;
draußen bleibs! Drinnen sitzt das Gewinnen auf dein Thron. Den soll ein Lied
nicht umstoßen.
Rüstig schreitet Madlene wieder fürbaß. Sie hat den Brand hinter sich und
kommt am Bart herab. Drüben steht die Sonne auf dem Rollbrett. Das ist die
Berglinie am Horizont, mit der die Ncigungslinie der untergehenden Sonne zu¬
sammenfällt, sodaß diese wirklich eine Zeit lang als rollender Feuerball auf schiefer
Ebene erscheint. Es ist für das Dörflein eine immer wiederkehrende Erscheinung,
verliert aber nie das Interesse der einfachen Landleute, weil sie an Erhabenheit
und Pracht unvergleichlich ist und auch in ewiger Wiederholung stets überwältigend
bleibt. Madleuens Auge ist unverwandt hinübergerichtet, und in Andacht versunken
steht die Jungfrau auf der Höhe still, bis das majestätische Gestirn hinabgerollt
ist. Und dann schweift ihr Blick hinab zum Dörflein und bleibt hangen an des
Frieders Hans. Ihr Antlitz glüht. Nach einem tiefen Atemzug eilt sie weiter den
Berg hinab. Das Herz war ihr so weit geworden, die Welt so klein: sie hatte
wieder den Herzschlag des Frieder um ihrer Brust vernommen.
Das Leben im Müsershnus gestaltete sich wieder freundlicher. Von der
Sonne ans dem Rollbrett mußte ein Strahl in der Madlenenseele geborgen worden
sein. Eines Tags, als sie allein waren, sagte der Große zum Kleinen: Bin ich
dir froh, Klemmer, daß ich nit mit der Madlene zu reden brauch von wegen dem
Viertel Weizen selmal! Mußt mich recht versteh«!
Woh is denn mei sogen! Woh ich weß, dos weß ich. Jen'n Sonntag in
der Kirch hab ichs gespürt, böß es anners wird.
Hast recht. Und Irren ist menschlich. Ich kenn die Welt!
Und nun rührt sie nicht an, weder in Worten noch Gedanken, bis euch ver¬
kündigt wird: Madlene hat gewonnen!
Der schöne Mai mit seinen Wonnen war vergangen. Alles vergeht! Der
Sonnenstrahl in der Madlenenseele war auch wieder erloschen. Ja, die vermaledeite
Welt! Auf dem Kirchweg hatte die Matthesensbärbel zur Madlene gesagt: Weißes
schon? Der Frieder geht wieder aus, aber freilich erst noch an einer Krücken.
Verwichen wär er beim Schreiner mit der Triltscheuchristel zustimmn kommen.
Wirth wohl doch noch was. Die Christel verstehts. Die kams!
Und etliche Tage darnach war Madlene im Schuppen, einen Arm voll Holz
zu holen; da reckte der Gründe! seinen Kopf zur Thüre hinein und lachte: Na,
Madlene, noch kein Briefle wieder? Der Andres wird bald kommn. Derweil
springt der Frieder wieder über Stock und Stein, und es wird vollends richtig
mit der Triltschenchristel. Er hat sie verwiesen zum Schreiner bestellt derwegen.
S könnt nachher gleich zwei Paar gebn zum Kopulirn,
Wer gewinnt? Der Thron, ans dem die Gewißheit des Gewinnens sich auf¬
gepflanzt hatte, war zusammengebrochen, und in der Madlenenseele schwankte und
bebte es, als käme der jüngste Tag.
Es muß was Passirt sein, sagte der Große zum Kleinen. Die Madlene
schleicht wieder im Haus rum, als hätten ihr die Hühner 's Brot genommen.
Woh is denn mei sogen!
So war ini Müsershaus alles wieder auf dem alten Fleck; nur die zwei-
hundertfunfzig Thaler behaupteten ihren neuen Kasten hinter dem Vexirschloß.
Und es hat doch rot wie Blut gefärbt. Und ich hab erst ein Vaterunser
gebet't. Vielleicht ist mir die Christel in die Gedanken getreten, als ich gerade
gepreßt hab? So ists; so ists! Die Christel gewinnt! Aber es kann halt doch
nit sein! Ich hab nit an die Christel gedacht. So ist die Madlenenseele ans der
Folter. Diese vermaledeite Welt!
O, wär ich doch ins Schmiedshans gegangen! Der Erdspiegel hätt mirs
deutlich gezeigt, das Bild. Soll ich noch einmal gehen?
Zwei Monate lang war so die Madlenenseele in Qual und Pein geschmiedet.
Und die blasse Blüte des Leids schlug wieder aus den Wangen, und heimlich
zitterte der Thrnneutau darüber.
An einem Sonntag, am 3. Angust — noch war Madlene nicht wieder zum
Einsiedler Schmied gegangen —, kehrte sie gegen Abend von ihrem Flurgang beim,
kleidete sich um und setzte sich auf die Ofenbank, das Zeichen zum Melken der Kühe
abzuwarten. In den Hundstngen ist für viele Leute der Ofen abgethan. Aber
da neben der Ofenblase unter der Bratröhre ist auch im Sommer für Madlene
der Mittelpunkt ihrer häuslichen Geschäftigkeit; da kocht sie, spinnt sie und feiert
sie auch, besonders, wenn eine freie Zeitspanne von Wirtschnftsgedanken in Anspruch
genommen wird.
Der Große saß am Tisch und blätterte in seinem Schreibkalender. Es war
einmal recht still im Müsershaus.
Madlene, begann der Große, morgen müssen die Sackdrilliche abgeliefert
werden. Es ist der Sichelmarkt, und du wirst auch mancherlei in der Stadt zu
thun hab»; um wieviel Uhr wolln wir denn gehn?
Das Korn auf dem Kilzmannsacker ist zeitig, wie ich vorhin gesehn hab; da
müssen wirs halt übermorgen schneiden. Der Kleine kann morgen 's Kraut
säuseln. Ich will ihm zum Mittagsessen gestockten Kartoffelkuchen zurecht machen,
eh wir in die Stadt gehn. Da wirds wohl neun Uhr werden, eh wir fort¬
kommen.
Der Kleine trat ein. Hab fürgelegt, kannst gezuckt, Madlene!
Madlene ging.
Am folgenden Vormittag Punkt nenn Uhr rückte der Müsersgroße mit seiner
Madlene aus uach der Stadt auf den Sichelmarkt.
Steht auch Milch dort zu deinem Flockkucheu, Klemmer! rief Madlene im
Vorbeigehen zur Scheune hinein. Sie trug die Sackdrilliche im Korb auf dem
Rücken. Der Große lies; ihr etliche Schritte Vorsprung und drehte bei jedem Tritt
des linken Fußes mit der Zwinge seines Stockes ein Loch in den Weg, so statiös
führte er ihn. Es war auch keine Kleinigkeit, was ihm im Kopf herumging. Was
da die Madlene im Korb trug, war sein Werk. Das Garn dazu war bezahlt.
Denn was die Madleue spann, war zu gut zum Sackdrillich; das war feines Garn
zu Leinwand ins Haus. Das Drillichgaru war bezahlt: vou dem heutigen Drillich¬
erlös — so rechnete der Große — müssen doch nach Abzug des Marktgeldes zu
Einkäufe» fürs Haus mindestens noch zehn Thaler übrig bleiben. Von hente
abend an werden also 260 Thaler im Birro hinter dem Vexirschloß in Sicherheit
liegen.
Mit seinem rechnenden Kopf wäre der Große beinahe an die Schwester ge¬
rannt, die plötzlich stehen geblieben war. Sie waren noch nicht weit über das letzte
Haus des Dörfleins hinaus.
Da guck her, Großer! Es ist Zeit, daß das Kraut gehänselt wird.
Schon Kraut das! Aber in Schlesien hab ich Kraut gesehn, das hatte Köpfe
wie eine Ofenblase.
In Schlesien ist halt alles größer wie bei uns, spottete Madlene und schritt
wieder rüstig vorwärts.
Wilts mein'n, Madlene, erwiderte der Große und nahm eine Prise aus der
Sandauer. — Denn der Jahrmarkt zählte beim Großen zu den Festtagen. Mithin
war zum Sichelmarkt die Rindendose mit dem Lederzipfel in den Tischkasten gestellt
und die Sandauer hervorgeholt worden.
Du scheinst mir heut aufgeräumt, Madlene? Das laß ich mir gefalln.
Weil er hinterdrein ging, also die Hintere Seite der Madlene, eigentlich nur
der Tragkorb mit den Sackdrillichen, für ihn in Sicht war, stieg ihm der Mut,
daß er beim Herzgehege der Schwester in solcher Weise leise anklopfte.
Aufgeräumt? Wie dus nehmen willst.
Es war aber wirklich so, sonst wäre schon die Freude am Kraut nicht zum
Vorschein gekommen. Es War auch an dem Schritt zu merken, den sie führte, am
Klang der Stimme, am ganzen Wesen. Es war, als beginne der Strahl vom
Rollbrett her in der Madlenensecle aufzugehen, als schwinge sie sich wieder auf
zum himmlischen Heim im Morgenrot des Glücks. Und es war doch nichts ge¬
schehen, gar nichts, was ihr einen Anstoß zur Erhebung hätte geben können. So
giebt es Tage im Leben. Man spürt das schlechte Wetter in deu Gliedern, ehe
es kommt. Das Tier wird uns zum Wetterpropheten. Warum sollte so eine
natürliche Madlenensecle nicht vorher spüren, was ihr der Sichelmarkt entgegen¬
trägt? Und wenn es zutrifft, Madlene, so muß dir der Sichelmarkt Freude
bringen, so mußt du emporgehoben werden aus Zweifel und Qual, hinauf über
das Morgenrot.
Den Aslersberg hinan wollte der Große den Korb tragen. Denn er wußte,
was seine Sackdrilliche wogen, und gedachte bei der Madlene noch ein wenig mehr
aufzuräumen. Aber Madlene gab ihm ans seinen Antrag zurück: In Schlesiugc
trügst du den Korb gewiß nit; daheim sollst du 'u auch nit tragn. Hab schon
schwerer zu trage» gehabt.
Da blieb der Große stehen, holte seine Sandauer hervor und klopfte mit zwei
Fingern drauf, als hätte alles seine Richtigkeit, und nahm eine derbe Prise. Mit
„klipp, klappklapp" konnte er da draußen uuter Gottes freiem Himmel uicht ant¬
worten; da mußte die Sandauer, vielmehr die Nase herhalten. Er hatte zu thun,
um die Madlene einzuholen.
Hör, Madlene, heute trinkst du bei der Deibsern ein Gläsle Wein. Du sollst
spürn, daß ich nit so bin. In Schlesien habn wir das auch gemacht, wenn ein
Feiertag war.
Wei? Wir Leut? Steig nit so hoch, Großer! Aufs Seil geh ich nit!
Das fuchste nnn doch den Schlesinger. Er that drei Schläge auf die San-
dauer und nahm zwei Prisen gleich hinter einander.
Wenn du nit willst, läßt dus bleibn! Aber vom Seil ist keine Red nit!
"
Die Höhe des Aslersbergs war erstiegen. Die „Banate — eine junge
Allee von Ahornen und Ebereschen — bekamen nichts von den: Geschwisterpaar zu
hören. Der Schlesinger sah öfter zum Himmel auf, als ob er nach jemand ans
dem Seil schaue; Madlene sah vor sich nieder ans den Weg und hatte ihre Be¬
trachtung darüber, daß unter den Füßen der landläufigen Menschheit nichts vom
Erdgeheimnis hervorbreche. Wie kanns? Sie zertreten alles. Und sie war vorhin
in leichtem Mutwillen gar auf das Herzensgeheimnis des Großen getreten, der
doch so viel Schonung und Güte für sie hatte. Das war just ein Streich wie der,
als sie vor acht Jahren dein glücklich träumenden Frieder mit dem Grashiilmleiu
unter der Nase hingefahren war, bis er erwachte. Ja, es war wieder so ein
Streich, den ihr die gute Laune gespielt hatte, sich selbst umzubringen. Sie war
dahin, die angeheiterte Stimmung. Es kam eine Wehmut über die Madlene, daß
ihr das Auge feucht wurde und drunter sich die blasse Blüte entfaltete. Aber zum
Großen sagen: Verzeih mir meine Red! — das konnte sie nicht!
Der spürte das alles, was in der Madlene vorging, und kurz vor der Stadt
war er wie zufällig an ihre Seite geraten und kam ein wenig in Verwirrung bei
den Worten: Wir werden nunmehr wohl alle beide nit frein! Er wollte damit
seine Ahnungslvsigkeit gegenüber ihrem heißesten Sehnen an den Tag legen und
ihr zu verstehen geben, daß er nie versucht habe, ihr ius Herzensgehege zu bringen.
Sie sollte das respektiren. Zugleich sollte dieses Zeichen seiner versöhnenden Milde
den Schatten des Seiles beseitige!?. Und das fühlte Madlene so tief, daß es ihr
einige hörbare Stöße von innen heraus gab. Das war nun dem Schlesinger doch
zu arg. Er blieb stehen und faßte die Schwester am Ärmel und stieß mit seinem
Stock auf den Weg ans und sagte, etwas nach dem Gesicht der Madlene hinge¬
beugt: So frei du! Dann marschirte er vorauf, und Madlene folgte lächelnd und
trocknete sich die Thränen. Nach einem kleinen Weilchen drehte er den Kopf etwas
um und sagte: Ich kenn die Welt!
Bald verlor sich das Geschwisterpaar in den Wogen der Marktleute.
Die Sackdrilliche waren an den Mann gebracht, die Einkäufe fürs Haus auch
besorgt: statt zehn hatten sich elf Thaler ergeben zur Bergung hinter dem Vexir-
schloß. Der Große hatte eine Laune wie sonst in Schlesien, wenn er am ersten
Feiertag bei einem Schöpplein Wein saß. Aber diesmal saß er im Schwan seines
Heimatstädtchens bei einem Glas Bier neben seiner Madlene. Zwischen ihnen lag
auf dem Tisch ein ansehnlicher Brotaufschnitt und eine geräucherte Wurst. Das
Brot hatte Madlene gebacken, und das Wurstschweiu hatte sie auch gefüttert. Es
schmeckte beideu vortrefflich. Alle Tische des Zimmers waren von schmausenden
Marktleuten besetzt. Die meisten hatten sich ihr Mahl ebenfalls ans ihrem Korbe
geholt; nur hie und da tauchte eine Portion Sauerbraten ans vor dem roten Gesicht
eines Händlers oder reichen Bauern.
Der große Fleischerhund des Wirtes schnappte die ihm zugewvrfnen Wurst¬
schalen mit erstaunlicher Sicherheit ans, und die dicke Schwanenwirtiu hatte für alle
Gehenden oder Kommenden freundliche Worte auf der Zunge und ein wohl¬
wollendes Lächeln im umfangreichen Gesicht. Der Sohn des Hauses schenkte fleißig
ein, und der Alte steckte dieser oder jener Hausfrau ein Pfündchen Fleisch zur
Schnittersuppe ins Säcklein. Dazwischen herum bewegten sich der Znndschwamm-
beetz von Neustadt und der Kochlöffel-Tambnuer*) von der schnell und boten
ihre Waren aus. Und es ging hinaus und herein wie in einem Taubenschlag.
Madlene wickelte eben das übrig gebliebne Brot wieder ein, um es in den
Korb zu thun. Da trat die Triltschenchristel ein und steuerte gerade auf den Tisch
der Müsersgeschwister los, weil da noch ein Stuhl leer war. Mit lautem Lachen
trat sie heran, sodaß der Madlene das Brot vor die Füße fiel. Die Triltschen¬
christel setzte sich zwischen die Geschwister und ihren Korb neben den der Madlene.
Hols geschmeckt? Ich will auch a weng aß.
Der Große schob sein Bierglas der Christel zu: Da, trink! Es ist heut warm;
da dünkt ein kühles Trüulle gut.
Auf dein Wohl, Schlesinger! sagte die Christel lachend und that einen guten
Zug; dann packte sie aus zum einfachen Mahl und ließ sichs schmecken.
Madlene hatte ihr Brot aufgehoben, schon eingewickelt und in den Korb
gelegt. Sie strich die kleinen Brotkrümchen, die vor ihr auf dem Tisch lagen,
weg, brachte ihre Schürzenbandschleife in Ordnung, drückte am Zopfnest herum,
machte sich wieder in ihrem Korb zu schaffen, als ob sie sich überzeugen wollte,
daß nichts vergessen sei: sie war nicht imstande, es über ihre innere Unruhe zu
gewinnen, und mußte ihr in körperlichen Bewegungen Ableitung verschaffen. Am
liebsten wäre sie davongelaufen. Nicht auf Kohlen saß sie: viel tausendmal schlimmer
war für sie das Schicksal, neben der Triltschenchristel sitzen zu müssen, neben dem
Wesen, das mit ihr rang um das Höchste, was die Welt ihr bieten konnte, nur
das bis zur Verzehrung ersehnte Heim an der braven Mannesbrust — acht lange,
leidvolle Jahre! Und lachend, garstig lachend that es jene bis heute. Und nun
pflanzt sie sich neben ihr ans, neben der leidenden Seele, um lachend über sie zu
triumphiren?
Ich hab was vergessen! stößt Madlene hervor und eilt davon. Straße auf,
Straße ab eilt sie durch die Stadt. Sie hört nicht, wenn sie angeredet wird.
Flieht sie, oder sucht sie? Man kann es ihr nicht ansehen; sie weiß es selbst nicht.
„Leer" ist sie; ihr Korb steht noch neben dem der Triltschenchristel im Schwan.
Plötzlich bleibt sie vor einer Bude stehen, deren Inhaber außer Badeschwämmen
auch Muscheln verkauft.
Für sechs Kreuzer Otterköpfle!
Der Krämer nimmt von einer Schnur drei kleine weiße Muscheln ab, wickelt
sie in ein Papier und überreicht sie dein Mädchen mit deu Worten: Ist Sie nicht
die Müsersmadleue? Ich soll Ihr viel Grüße ausrichten vom Andres Höpflein.
Vor vier Wochen hab ich ihn in Nürnberg gesprochen. Er käm bald.
Wie vor einem aus der Erde steigenden Drachen flieht Madlene die Markt¬
straße hinab. Und es zischt ihr nach mit giftigem Rauch. Da sieht sie von einer
Seitenstraße her den Gründe! kommen. Diese Steigerung der Hetze bringt sie fast
ums Bewußtsein, sodaß sie der Instinkt wieder dem Schwan zutreibt an die Seite
des Bruders, zurück zum Anfangspunkt der Hetze — in deu Rachen des garstigen
Gelächters. Aber ehe sie die Gaststube betritt, schlüpft sie in den Schwanenhof und
setzt sich ans eine Stufe der nach dem Futterboden führenden Treppe. Da birgt
sie das Antlitz im Schoß und sitzt so ein Weilchen still, und ihr Atem wird
ruhiger.
Möcht nur wissen, was sie vergessen hat! sagte der Große, als sich ihm die
Rückkehr der Schwester zu lange verzögerte. Die Zeit wurde ihm besonders lang,
weil ihm die Unterhaltung mit der Triltscheuchristel nicht gefiel.
Die Mndlene ist ne alberne Tosel! sagte die Christel. Hab ich ihr denn was
gethan?
Der Große nahm eine Prise und erwiderte: Das am End nit. Aber die
Madlene ist brav und nit albern!
Da trat sie ein und legte das Papier mit den „Otterköpfchen" dem Großen
hin: S ist für den Kleinen an seinen Geldbeutel.
Das wird ihn freun; er hat die Dinger gern. Hat er sichs bestellt?
Nit. Aber er hat an einem Nestel drei; da geborn doch an den andern
auch drei.
Der Große klopfte mit zwei Fingern auf seine Sandauer und nahm zwei
Prisen; und es stand ihm davon ein wenig Wasser in den Augen.
Euer Klemmer, sagte die Triltscheuchristel, hätt sein Aug aufs Döhlerskätterle
geworfen, hab ich gehört. Laßt euch nur im Freir net vom Jüngsten noch
nusstech!
Das war eine große Überraschung für die Geschwister. Aber sie ließen sichs
nicht merken, und der Große meinte: Gehört? Ja, man hört dies und das. Hab
auch gehört, du hä'tests verwiesen beim Schreiner mit dein Rödersfrieder fertig
gemacht.
Ich mit dem Frieder? rief die Christel und lachte sehr garstig. Der Hasen¬
fuß! Der kann sich mit seiner Krücken laß kopulir! Was du nur denkst, Schle-
singer! Dein Frieder gönnt ichs, wenn ers ander Bein auch noch brechen thät.
Ich magh gar net sag, was er mir hat sagen lassen, der Esel! Aber daß ihr seht,
wie er ist, muß ichs euch doch sag. Ich wär ihm zu ordinär, hat er gesagt! Ich
dein zu ordinär? Und wenn er den Hals brach, ich ließ ihn liegn. Du warst
so dumm, Madlene! Hältst ihn doch liegn lassn, den Holofernes! Kannst ihn
doch auch net erriechen. Na, du hast dein Teil; dich branches net zu kümmern.
Madlene erhob sich. Trink aus, Großer! Ich komme gleich wieder; dann
müssen wir gehn.
Sie hatte die Thüre kaum hinter sich zugedrückt; da schlug sie sich mit beiden
Händen vor die Stirn; dann fuhr sie nach der Brust, und es war, als käme ein
Schwindel über sie. Sie eilte nach der Futterbodentreppe und sank auf eine Stufe
nieder mit dem Ausruf: Ach, du lieber Gott!
Wer gewinnt, Madlenenseele? Ach, diese Seele ist in wildem Aufruhr. Sie
droht die schöne Hülle zu sprengen. Sie will sich loslösen und sich versenken in
die Mannesseele und vereint mit ihr sich aufschwingen, empor über diese ver¬
maledeite Welt zu den Gefilden der Seligen. Aber Kopf und Brust sind zu stark
und zu schön, als daß sie schon zerfallen könnten. Sie müssen sich erst in Eben¬
bildern abprägen, ehe sie dem Vergehen anheimfallen — nach dem Willen
der ewig zeugenden Schöpfung. Und Kopf und Brust werden zum wehrenden
Damm, und es zieht Frieden und Glück ein. Und nnn rührt sie nicht um, die
Madlenenseele, weder in Worten noch Gedanken, bis es euch verkündigt wird:
Sie sind eins!
Madlene? Ich hab ausgetrunken!
Der Große hat sie gefunden. Und nun ziehen sie mit einander heim vom
Sichelmarkt.
(Fortsetzung folgt)
In der Nacht vom 1V. zum 11. Januar ist unerwartet
Erwin Rohde, Professor der klassischen Philologie an der Universität Heidelberg,
einem Herzschlag erlegen. Er gehörte zu den Gelehrten, die nicht nur für Fach¬
genossen schreiben, sondern alle Gebildeten zu fesseln verstehen. Es liegt dies an
den Stoffen, denen er sich zuwandte, wie an der Leichtigkeit, mit der er das
Rüstzeug schwerer Gelehrsamkeit und methodischer Forschung handhabte. Seine
Hauptwerke siud: „Der griechische Roman und seine Vorläufer" (Leipzig, 137V),
„Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen" (Freiburg, 1394),
„Friedr. Creuzer und Karoline von Günderode" (Heidelberg, 1396). Aber auch
viele seiner kleinern Arbeiten, in Zeitschriften zerstreut, habe» eine Bedeutung, wie
sie derartige Aufsätze uicht häufig in Anspruch nehmen dürfen. Die „Psyche" ist
ein klassisches Werk, das seinem Namen Unsterblichkeit sichert, es sei denn, daß
unsre Wissenschaft unterginge und unsre Kultur, die auch heute ihre Wurzeln noch
tiefer ius Helleuentum geschlagen hat, als viele ahnen oder zugeben wollen. Ein
weites Gebiet ist hier zum erstenmal aufgehellt worden, Zusammenhange der spätern
Zeit mit der einsam aus der Vergangenheit ragenden homerischen Welt werden erkannt,
und rückwärts wird Licht geworfen in die wallenden Nebel der vorhomerischen Zeit,
die trügerisch den Blick verwirrten und sichere Erkenntnis für immer auszuschließen
schienen. Und in künstlerisch vollendeter Darstellung und Sprache hat der Entdecker
die Resultate besonnenster Forschung verkündet. Rohde ist nur zweiundfünfzig Jahre
alt geworden. Er hatte noch viel zu sagen und zu geben, was keiner so wie er
geben konnte. Einen engern Kreis hat ebenso tiefes Weh ergriffen, wie es vor
kurzem viele faßte, als Heinrich von Treitschke die Augen schloß. Vornehm und
selbstbewußt ging er seinen Weg, seit Nietzsche sich von seiner Seite riß, auch
einsam. Er konnte, er wollte vielleicht auch keinen Ersatz finden für den Verlust,
der ihn nicht plötzlich traf; er sah den Freund zum Abgrund taumeln, er versuchte
ihn zu halten, ward zurückgestoßen, in ungeahnter Schrecklichkeit traf jenen die
Vernichtung, und dem andern blieb die nie geheilte Wunde. Früh hat auch ihn
das Schicksal hingerafft, doch nicht umsonst hat er gelebt; was er geschaffen hat,
Es war aus dem Berliner Kongreß. Gras
Schuwalow hielt eben einen Vortrag, in dem er die Forderungen des russischen
Kabinetts entwickelte: als sich plötzlich Lord Beaeonsfield erhob, dem russischen
Bevollmttchtigteu mit eiuer kurzen und gebieterischen Geberde das Wort abschnitt
und mit erhabner Stimme rief: yuesoi KÄisös Lollei! — wozu die beiden andern
Vertreter Englands, der Marquis von Salisbury und Lord Ampthill, mit. dem
Kopfe nickten. Aber nußer ihnen wußte niemand, was Lord Beaeonsfield eigentlich
gesagt hatte. Wie einmal ein ostpreußischer Gutsbesitzer in einem Berliner Gasthofe
den Kellner rief und sagte: Schicken Sie mal die Margell rauf, daß sie mit dem
Kodder kommt, ich habe den Schuaut verschwaddert! — und der Kellner zum
Besitzer lief und meinte, es sei ein Herr oben, der spreche wohl Deutsch, aber es
könne ihn keiner verstehn: so schien Lord Beaeonsfield Wohl englisch zu sprechen,
aber der Kongreß konnte ihn nicht verstehn. Graf Schuwalow war außer Stande,
seine Rede fortzusetzen, Fürst Gortschakow blieb sprachlos, und Fürst Vismarck mußte
die Sitzung aufheben. Erst am Abend beim Diner ergab es sich,^ daß Lord
Beaconsficld lateinisch gesprochen hatte. Seine Worte waren gewesen: <Zug.si (nasus
Lotti, fast ein Kriegsfall. Ein ähnliches Befremden erregt es in Neapel, wenn
ein Engländer nach ?»uncl fahren will, will sagen nach Pompeji, wenn er
im Museum nach der vA.ig.una., das heißt nach der Diana fragt, oder wenn er in
der Geschichte von dem ^.Isibaiäclis Mcibiadcs) oder von dem Linsär (Cäsar) oder
von dem Kairos (Cyrus) oder Von den Oibsiai An.xi8t.rai ivoeii Nagistn) spricht.
Der Engländer spricht die klassischen Namen und die lateinischen Worte eng¬
lisch aus.
Dasselbe thun bekanntlich die Franzosen und die Italiener, deren Sprache
eben ans dieser eigenmächtigen Behandlung des Lateins hervorgegangen ist. Zum
Beispiel hat im Französischen N am Ende einer Silbe den nasalen Ton des N;
^om, Name, und non, nein, wird beidemal wie nonx ausgesprochen. So kommt
es, daß Hommo, das lateinische Homo, nachdem es zu Hom und 0in verkürzt
worden ist, wie 0n ausgesprochen und geschrieben wird und das unbestimmte Für¬
wort der dritten Person bildet, das unserm mau entspricht. Ähnlich wird aber
anch die lateinische Endung —um, wenn sie sich in Frankreich, wie bei den Worten
Opium und I'Salvum, erhalten hat, wie —«RA ausgesprochen, während die Italiener,
die keinen Konsonanten im Anstande dulden, das ur ganz abwerfen, das u in o
verwandeln und: 0ni>in>, loäso sagen. Das lateinische Liumuws wird von den
Franzosen etwa wie Kümmel ausgesprochen, das von vuminum kommt, mit drei¬
fachem ü und hörbarem s; einen Trottel bezeichnet man in Frankreich gelegentlich
als einen Ninus-Imocms, das wird ausgesprochen: NinüsabünZ-s. Genau so verfahre»
die Franzosen und die Italiener mit den alten Eigennamen, anch diese werden
nach Landesart behandelt und ausgesprochen; ja die romanischen Nationen gehen
sogar noch weiter als die Engländer, indem sie diese Namen, wenigstens die be¬
kanntern unter ihnen, auch so schreiben wie sie sprechen. Napoleon III. schrieb
nicht eine Histoiro av Julius «üaesar, sondern eine llistoiro alö -Inlos Liosar; und
die Italiener kennen keinen Alexander Magnus, sondern: ^1o8sanSro it KiAuäe,
keinen Anaxagoras, sondern einen ^.riaWag'ora., für Cieero sagen sie: Vice-rons
und für Julius Cäsar: Viulio oss-rrv. Freie und selbstbewußte Nationen pflegen
so mit dem ererbten Sprachgut zu schalten und zu walten; auch die Deutschen
haben sich dieser Freiheit einmal bedient.
Der Kaisertitel allein würde zu dem Beweis genügen, daß das Volk seine
eigne Manier hat, die Namen nuszusprechen. Kaiser ist soviel wie Cäsar, das
Wort knüpft wie Zar an den Julius Cäsar an; aber die Aussprache stimmt
nicht mit der des Namens Cäsar überein. Kaiser klingt altertümlicher als Cäsar;
Kaiser stammt.noch aus einer Zeit, wo das 0 vor av seine alte gutturale Aus¬
sprache noch nicht verloren hatte, wo daher auch die Griechen den lateinischen
Namen /v«t<7«^ schrieben. Plutarch zum Beispiel, im ersten Jahrhundert uach
Christus, schreibt noch /t.«^«^». Es läßt sich nicht genan bestimmen, wie
lange diese Aussprache nach dem Untergange des weströmischen Reiches noch be¬
standen hat; jedenfalls haben sie die Germanen beibehalten und nicht auf¬
gegeben, als die Gelehrten: Cäsar zu sprechen und zu schreiben anfingen. Der
Umstand, daß der Diphthong ac wie im Griechischen mit -ü wiedergegeben wird,
macht es nicht unwahrscheinlich, daß die Goten, die zuerst und ursprünglich Kaisar
sagten, nicht den Römern, sondern den Griechen nachgesprochen haben, das heißt:
daß das Wort Kaiser der deutschen Sprache dnrch die Griechen vermittelt worden
ist. Wir haben also hier den Fall, daß ein lateinischer Name in Deutschland eine
Form empfangen und beibehalten hat, die ihn, die Griechen gegeben haben. Noch
häufiger ist das Umgekehrte der Fall: daß ein griechischer Name in Deutschland so
ausgesprochen wird, wie ihn die Römer ausgesprochen haben.
Man spricht die Namen immer so aus, wie sie das Volk ausspricht, von dem
man sie gehört hat: das liegt in der Natur der Sache. Zum Beispiel alle im
Homer vorkommenden Eigennamen brauchen wir in der Form, die sie im Lateinischen
haben, weil Homer im Mittelalter dem Abendlande nur durch den metrischen Aus¬
zug der Ilias, den aus dem ersten Jahrhundert und der Zeit der Julischen Dynastie
stammenden Homerns I-Mnus, ein Schulbuch, daneben durch Virgil bekannt geworden
ist. Im Mittelnlter hat man nur die Erzeugnisse der klassischen lateinischen Litteratur
gelesen, die wenigen Kenner des Griechischen wurden als ein Wunder angestaunt.
Erst im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert wurde die Kenntnis der griechischen
Sprache und Litteratur allgemeiner. Reuchlin war der erste Lehrer des Griechische«
in Deutschland. Im Jahre 1488 besorgte Demetrius Chalkondylas in Florenz die
erste Ausgabe des Homer, das erste größere griechisch gedruckte Werk überhaupt.
Bis dahin schöpften die Gelehrten also nicht aus der Quelle, sondern empfingen
die griechischen Namen aus zweiter und dritter Hand.
So kam es, daß man z. B. den Namen Äueas, der im Griechischen: ^/^et«?
lautet, nicht nach Analogie von Kaiser behandelte, sondern wie im Lateinischen:
^Siloah oder wie im Französischen: ^noas schrieb, wobei man auch darin noch vom
Original abwich, daß man nach deutscher Manier den Hochton auf die erste Silbe
legte. Heinrich von Veldeke schrieb im Jahre 1183 eine Luoiäs, die nicht einmal
auf der Äueide Virgils, sondern ans einem französischen Gedicht, dem Roman ä'lZusas
des Benoit de Sainte-More bericht. Der Name des göttlichen Dulders Odysseus
erscheint bei Virgil in der volkstümlichen Form öl^ssos oder Hlixss, indem das ä,
wie so häufig, in I übergegangen ist (wie bei lin^rin, l^el-inen, litwrg. usw.). Dieses
Ulysses hat folglich auch in Deutschland bis in die neuere Zeit gegolten. Im Jahre
1537 übersehte der Münchner Stadtschreiber Simon Schaidenraißer, genannt
Ninervium, die Oä^ssoa.: „Das seind die allerzierlichsten und lustigsten vierund-
zwauzig Bücher des eltcsten, kunstreichsten Vaters aller Poeten Homeri von der
zehnjährigen Irrfahrt des weltweisen Kriechischen Fürstens vhssis." Ja,
noch Schiller schrieb im Jahre 1803, als der Name Odüsseus bereits durch
Johann Heinrich Voß eingebürgert worden war, im „Siegesfest" die Zeile:
sprachs Atys; mit Warnungsblicke,
von Atheneus Geist beseelt.
Der Name Hi^ssos zeigt zugleich die Gewohnheit der Römer, bekannte griechische
Namen auf —vus abzukürzen und ans ^obilleus: Achilles zu machen, was jedoch
nicht immer geschah, z. B. bei ^trous, ?rowus und NorMus nicht. Wir haben
dann die Endung vollends abgestoßen. Noch zwei Namen, bei denen die lateinische
Vermittlung recht hervortritt, sind: (Airs) und I>oIIux (Polydeukes).
Im Zusammenhang damit steht die durchgängige Verwandlung des griechischen
—ac,' in das lateinische —us, des griechischen —in das lateinische —um; ein
Name wie vorbsrus hat nicht nur durch die Assibilativn des Amianth, sondern auch
durch die Latinisirung des ganzen Wortes gelitten. Das Wort I^oZos ist ein seltenes
Beispiel der Erhaltung; sonst scheint es selbstverständlich, daß man jeden griechischen
0s in einen lateinischen Ü8 umsetzt und vomoäoous, ^tiumÄsius, ^uxelus, l?a.r-
rdasius, 1>otras und Paulus sagt. Es heißt ja auch: Evangelium, obgleich jeder
Quartaner den griechischen Ursprung merkt. Dem allen soll nun ein Ende gemacht
werdem in gelehrten und sogar in populärwissenschaftlichen Werken wird neuerdings
immer häufiger pedantisch: ^eiüllous und Lsrdsros, KirKs, Xenwur geschrieben
und damit die Wissenschaft dem Volke abermals entfremdet, die Sprache künstlich
zurückgeschraubt und zunächst für jeden gebildeten Mann ein Stein des Anstoßes
geschaffen.
Von der Inkonsequenz will ich gar nicht reden. Selbst wenn es gelänge,
alle altgriechischen Namen wiederherzustellen: es bleiben immer noch tausend Eigen¬
namen übrig, die auch dem Originale nicht entsprechen, die willkürlich überliefert
worden sind und in der Sprache leben. Warum seht man denn nicht anch Khsayü,rss>
für Xerxes, Darajavusch für Darius oder Dareios, wie deun Nietzsche:
Zarathustra statt Zoroaster schreibt? Wie kann mau es aushalten, Rom zu
sagen und nicht Raum, Theben und nicht I'uebas, Venedig und nicht Vcmstm,
Mailand und nicht UsÄiolÄiium oder wenigstens Nita>no? Warum korrigirt man
nicht schnell in der Geschichte der Mark Brandenburg, wo fahrlässig Albrecht
Achilles steht: Albrecht Achilleus? Von dem Accent, der ebenfalls wieder
griechisch gemacht werden müßte, sodaß es nicht Diogenes, sondern: Diogenes, nicht
Achilleus, sondern: Achilleus lautete, will ich ganz schweigen.
Ich will nur fragen: wird der Gelehrte, der jetzt krampfhaft, um recht gelehrt
zu erscheinen, Kentaur, Kerberos und Kirke drucken läßt, anch in Gesellschaft
und in der Hoffnung, verstanden zu werden, von der Achilleusferse reden und
zu einer Dame sagen: sie sei eine wahre Kirke? — Thut er es nicht, so giebt er
stillschweigend damit zu, daß diese Formen nicht im Volke leben, daß sie nicht
deutsch sind. Der Deutsche sagt eben Achilles, Cerberus und Circe. Der
Deutsche hat diese Begriffe in seiner Sprache, der Gelehrte wagt sie nur nicht zu
gebrauchen, weil er glaubt, daß sie seinem Volke nicht gehörten. Seiner Meinung
nach gehören sie den alten Griechen, und er darf daran nichts ändern. Der be¬
scheidne Mann! Er vergißt den Rat, den Cäsar selbst gab, als er co Nationo
Istinv lo^uencli schrieb: H^dö ssmxsr in inomorig, ataus in xoetors, ut ta.nMa,in
8eopulllw, sie tuAias iiumäituin a,t<zus Insolenz vorbum.
Wenn eine praktische Frage durch die Erfahrung
ausgemacht werden kann, so ist nach dem Buche von John Rae: Der Acht¬
stunden-Arbeitstag (autorifirte Übersetzung von Julian Borchcirdt, Weimar,
Emil Felder, 1898) die Frage nach den Wirkungen der Abkürzung der Arbeits¬
zeit in der Industrie ausgemacht. Der Verfasser benutzt nur ausnahmsweise Werke
von frühern Bearbeitern und stützt sich größtenteils auf die Aussagen von Fabri¬
kanten, Fabrikdirektoren und Beamten, die, soweit es sich um englische handelt,
mit deutlicher Nennung der Firmen wörtlich angeführt werden. Im Laufe der
Untersuchung, sagt er im Vorwort, „habe ich es persönlich unmöglich gefunden,
nicht von Tag zu Tag ein entschiednerer Anhänger des Achtstundentages zu werden.
Die kürzere Arbeitszeit hat jedes Volk, das sie einführte, gesünder, reicher und
weiser gemacht, und die Verkürzung auf acht Stunden scheint noch mehr Segen zu
bringen als die frühern Verkürzungen." Rae beginnt mit einem historischen Rück¬
blick. Bekanntlich ist es der gute und weise König Alfred gewesen, der den Tag
in drei gleiche Teile, die er an brennenden Kerzen maß, einteilte. Sein Volk ist
dieser Einteilung treu geblieben,*) die Engländer haben sich mit Ausnahme der
kurzen Zeit, wo harter Zwang sie nötigte, nie überarbeitet — ein Spötter hat sie
die fleißigsten Faulenzer aus Gottes Erdboden genannt —, und der Achtstunden¬
arbeitstag ist thatsächlich das allgemein gebräuchliche gewesen bis in das vorige
Jahrhundert hinein. Erst die Maschinenindustrie hat jene lange Arbeitszeit ge¬
bracht, die, wie Rae sagt, dem englischen Volke beinahe das Herz ans dem Leibe
gefressen hätte; aber dieses Volk hat sie sich nicht gefallen lassen, sondern ist zu
seinen alten Arbeilsgewohnheiten zurückgekehrt — zum Glück nicht allein für die
Arbeiterschaft, sondern namentlich auch für die Fabrikanten. Denn mag immerhin
eine Zeit lang die Überlegenheit der englischen Industrie auf der spottbilligen Frauen-
uud Kinderarbeit beruht haben, hente beruht sie, und zwar gerade in der mecha¬
nischen Spinnerei und Weberei, die mit dem großen Kindermord begonnen hat,
auf der hochbezahlten und darum wohlfeilen Männerarbeit bei zehnstündigem
Arbeitstage. Auf 1000 Spindeln kommen, wie wir in Deutschland schon von
Schutze-Gäveruitz erfahren haben, in Oldham 2,4, in Mülhausen 6,3, im Durch¬
schnitt der elsässischen Fabriken 8,9, in der Schweiz, in Baden und Württemberg 6,2,
in Sachsen 7,2 und in Bombay 25 Arbeiter. Das bedeutet aber nicht allein trotz
der schlechter» Bezahlung der Arbeiter außerhalb Englands mehr Arbeitslohn,
sondern auch doppelt und dreifach so viel Gebäude, Maschinerie, Beleuchtung,
Heizung, Verwaltungs- und Aufsichtspersonal. In England giebt es einen Meister
auf 60 000 bis 80 000 Spindeln, im Elsaß einen auf 15 000, in Sachsen einen
auf 3000 bis 4000. Aber die Kostenersparnis ist nicht der einzige Vorteil, den
die Abkürzung der Arbeitszeit bringt, diese vermehrt und verbessert auch das
Produkt. Daß im Handwerk, wo ohne Maschine» gearbeitet wird, ein tüchtiger
und energischer Arbeiter in kürzerer Zeit mehr leisten kann als ein schwächlicher
oder träger in längerer Zeit, leuchtet ohne weiteres ein; daß aber eine Maschine
in acht Stunden ebenso viel oder gar mehr Produkt liefern könne als in 11, 12
oder 14 Stunden, wenn sie von andern oder von anders gestimmten Arbeiter»
bedient wird, das wollten anfangs auch die Arbeiter nicht glauben; schließlich sah
sich jedermann zum Glauben gezwungen, da es eben Thatsache war. Erst nach-
iräglich hat man die Erklärung gefunden. Die Leistung jeder Maschine hängt in
hohem Grade von der Sorgfalt, gespannten Aufmerksamkeit und Intelligenz der
Leute ab, die sie bedienen. Die verdrossenen, übermüdeten, nachlässigen und un¬
wissenden Arbeiter der frühern Zeit verursachten soviel Störungen, daß ein großer
Teil der Arbeitszeit darauf verwendet werden mußte, bald einen Schaden an
einer Maschine auszubessern, bald die in Verwirrung geratne Produktion wieder
in Ordnung zu bringen. Jetzt geht alles glatt von statten, weil die Arbeiter
kräftig und gesund, frisch und gut gelaunt, aufmerksam und sorgfältig siud und
sich durch einiges Studium der Mechanik Einsicht in den Bau und die Arbeits¬
weise der Maschinen verschafft haben. Dazu kommt dann noch, daß die steigende
Energie der Arbeiter gestattet, die Maschinen schneller laufen zu lassen. Ehemals
waren die Fabrikanten überzeugt, daß ihnen erst die letzte Arbeitsstunde den Prosit
bringe; heute sehen die verständigen unter ihnen ein, daß es bei der frühern langen
Arbeitszeit gerade die letzte Stunde war, die nicht selten den Prosit vernichtete,
und einer von ihnen bekennt, bei langer Arbeitszeit gehe regelmäßig die erste
Stunde des Tages mit der Ausbesserung der Schäden verloren, die in der letzten
des vorhergehenden angerichtet worden seien. Je länger die Arbeit dauert, desto ver¬
drossener, unaufmerksamer, nachlässiger und bummeliger wird gearbeitet, desto öfter
werdeu in der Arbeitszeit kleine Ruhepausen gemacht, und, was sür das Ein¬
kommen der Arbeiter ausschlaggebend ist, desto mehr Arbeitstage werden versäumt;
der eine macht regelmäßig den Montag und allenfalls noch den Dienstag blau, der
andre erlaubt sich von Zeit zu Zeit vierzehn Tage Ferien, ein dritter erkrankt
häufig. Und da kurze Arbeitszeit und hoher Lohn eine der Gesundheit zuträgliche
Lebensweise und namentlich kräftige Ernährung möglich machen, so kommt immer
ein Vorteil dem andern zu Hilfe. Ju einem Schreiben eines deutschen Eisen-
industriellen an einen Sir I. L. Bell heißt es: „Wir haben oft dieselben tech¬
nischen Hilfsmittel wie Sie in England, denn alles, was ein Maschinenbauer sieht,
kann er nachmachen und konstruiren, aber was wir nicht nachmache» können, das
ist, mit unsern schlecht genährten Leuten ebenso kräftig zu arbeiten, wie Ihre
Engländer arbeiten." Und bei Ankündigung der Einführung des Achtstundentages
in den Werkstätten des Kriegsministeriums erklärte der Kriegsminister Campbell-
Banncrmann, es sei nicht zu befürchten, daß man nnn mehr Leute brauchen werde;
die sorgfältige Vergleichung der anderwärts erzielten Ergebnisse berechtige zu dem
Schlüsse (der durch die eigne Erfahrung des Kriegsmiuisteriums bei vorgenommenen
Proben bestätigt worden sei), daß jede Lohnerhöhung und Zeitverkürzung durch
Ersparnisse aller Art, durch die vermehrte Energie der Arbeiter und den Wegfall
der Pausen ausgeglichen werde. Zu deu Vorteilen der Industrie kommt die Er¬
höhung der Volkskraft durch die physische und moralische Umwandlung der Arbeiter,
die aus Schwindsuchtkaudidatcn, Trunkenbolden und rohen, unwissenden Liederjahns
häusliche und gebildete Männer werden und eifrig an ihrer Fortbildung arbeiten;
mit Abkürzung der Arbeitszeit tritt überall sofort das Bedürfnis nach Bibliotheken
hervor. Diese Wirkung ist nach Rae in England so bekannt und so allgemein
anerkannt, daß die Achtstnndenbewegung keine grimmigem Feinde hat als die In¬
haber von Schnapskneipen. In Australien, wo der Achtstundentag in einzelnen
Gewerben schon vor dreißig Jahren eingeführt war und heute beinahe allgemein
ist, sind nach der übereinstimmenden Schilderung der Beobachter die Arbeiter
gebildete Leute, die in schönen von Gärten umgebnen Häusern wohnen und ihre
Mußezeit in ihrer Häuslichkeit, mit der Pflege ihrer Gärten, in den Bibliotheken,
mit allerlei Sport und in den für anständige Unterhaltung eingerichteten öffent¬
lichen Erholungsstätten zubringen; die Männer zeichnen sich durch athletische Stärke
aus und besiegen die Männer aller andern Völker, auch der Engländer, bei der
Konkurrenz auf dem Spielplatz wie in der Werkstatt. Und, was Herrn Tille
gegenüber hervorzuheben ist, es sind, wie aus Raes Darstellung hervorgeht, und
wie gelegentlich ausdrücklich hervorgehoben wird, dieselben Arbeiter, die bei der
langen Arbeitszeit untauglich, faul, leiblich und moralisch verkommen gewesen sind,
und die jetzt gesund, stark, energisch und intelligent sind, teils dieselben Arbeiter,
teils deren Kinder, nicht, wie Tille glauben machen will, Leute andrer Ab¬
stammung.
Einer der Gründe, aus denen die Arbeiter, namentlich die sozialistischen, den
Achtstundentag empfehlen und erstreben, ist allerdings hinfällig: die Abkürzung der
Arbeitszeit hat, wie Rae zeigt, noch nie und nirgends zur Verminderung der
Arbeitslosigkeit beigetragen. Zum Teil ist das aus dem Umstände zu erklären,
daß bei langen Arbeitszeiten, wo von den fest eingestellten Arbeitern wegen Krank¬
heit oder aus Trägheit täglich einige fehlen, Reservearbeiter notwendig sind, die bei
kurzer Arbeitszeit wegfallen. Auf das Problem der Arbeitslosigkeit kaun hier nicht
eingegangen werden. Was endlich die Frage anlangt, ob der Staat den Acht¬
stundentag erzwingen soll, so gesteht Rae zu, daß es sich bei diesem anders ver¬
hält als bei den frühern Abkürzungen der Arbeitszeit. Diese seien ein Gebot der
Menschlichkeit gewesen, dessen Befolgung durchzusetzen der Staat verpflichtet gewesen
sei. Ferner seien in einzelnen Fällen schon von selbst, ohne Staatszwang, Ab¬
kürzungen eingetreten, aber nicht aus Menschlichkeit, sondern weil es die Leute
schlechterdings nicht aushielten. So zum Beispiel giebt es in manchen chemischen
Fabriken eine Abteilung, wo die Arbeiter vor akuter Vergiftung durch einen
Maulkorb von dreißigfach gefaltetem Flanell geschützt werden müssen, und bei dieser
Art Atmung die Leute länger als sechs Stunden auf den Beinen zu halten ist
einfach unmöglich, sie haben daher niemals längere als sechsstündige Schichten
gehabt; dagegen würde mau in den übrigen Abteilungen, wo das Gift langsam
wirkt, die Leute zwölf und mehr Stunde» arbeiten lassen, wenn es der Staat
nicht verhinderte. Also die Beseitigung mörderischer Arbeitszeiten ist Pflicht für
den Staat; dagegen handelt es sich bei der weitern Verkürzung der Arbeitszeit
auf acht Stunden auch in den gesunden Gewerben nur um Zweckmäßigkeit und um
Vorteile, die zu erstreben nicht unbedingt Pflicht ist. Zudem giebt es Gewerbe,
wie die Landwirtschaft, wo die Arbeit schlechterdings uicht auf acht Stunden
zusammengepreßt werden kann. Rae meint daher, der Staat solle die ver-
schiedne» Industrien abstimmen lassen und den Achtstundentag nur in solchen
zwangsweise durchführen, in denen die Mehrheit der Unternehmer und Arbeiter
dafür ist. Das Buch von Rae ist vor ein paar Jahren geschrieben. Der Verlauf
des Maschineubauerausstands macht den Eindruck, als ob die öffentliche Meinung
in Beziehung auf die Frage in England rückläufig würde, und es wäre immerhin
denkbar, daß die Besorgnis vor der internationalen Konkurrenz den Unternehmern
den Mut nähme, auf der eingeschlngueu Bahn zum an sich vernünftigen zu be¬
harren. In der Latni-as.^ Ksvisv vom 8. Januar finden wir einen merkwürdigen
Nebenerfolg der Besserung der Lage des englischen Arbeiterstandes hervorgehoben,
den Rae nicht erwähnt. In einer Besprechung des neuste» Buches von Sidney
und Beatrice Webb slnänstris,! Dsmoorao)') wird bemerkt, die englischen Arbeiter
hätten den Malthusianismus — je nachdem man es nimmt — auf den Kopf
gestellt oder befolgt. Nach Malthus habe jede Lohusteigerung eine Vermehrung
der Arbeiterbevölkerung zur Folge, die die Steigerung durch das vermehrte Angebot
von Händen wieder rückgängig mache; im heutigen England aber sei nichts gewisser,
als daß jede Besserung der Lage einer Schicht von Arbeitern in dieser Schicht
die Geburten vermindere; die Leute würden eben durch Bildung klug.
Das meiste dieser lose aneinandergereihte» Mitteiluuge» stammt aus dem Nach¬
laß K. A. Böttigers, der in zahlreichen Bänden auf der königlichen öffentlichen
Bibliothek in Dresden bewahrt wird. Wurde dieser große Sack ausgeschüttet, so
war zu erwarten, daß allerlei mehr oder weniger Interessantes, mehr oder weniger
Wichtiges an den Tag kommen würde. So erfährt man denn über Ereignisse und
über Persönlichkeiten manches, was zur Kenntnis des Weimarer Lebens in den
drei ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts dient. Zustände und Stimmungen,
Litterarisches und Politisches kommen in buntem Wechsel an die Reihe. Die Korre¬
spondenz, die Böttiger nach seinem Abgang von Weimar (1804) mit dortigen
Freunden führte, bietet nach allen diesen Seiten ergänzende Notizen, und willig
wird man anerkennen, daß Böttiger selbst, dessen Schwäche» bekannter sind, bei
näherer Kenntnis vielfach in einem günstigern Lichte erscheint. Zu den will¬
kommensten Stücken gehört ein (aus der Sammlung von R. Brockhaus ungelenker)
kummervoller Brief Wielands vom Jahre 1802 an seinen damals in der Schweiz
lebenden Sohn Ludwig. Das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn hatte per¬
sönliche, aber auch politische und litterarische Gründe. Bekannt ist Ludwig Wielands
Parteinahme für die Romantiker. „Auch in Briefen von Frau Reinhard wird,
wie Erich Schmidt mich belehrt, diese fast komisch zur Schau getragne Hinneigung
L. Wielands zu deu Romantikern berichtet" (S. 37). Das Geheimnis, das sich
der Herausgeber von Erich Schmidt zuraunen ließ — „wie Erich Schmidt mich
belehrt" —, steht in einem Brief von Frau Christine Reinhard an ihre Jugend¬
freundin Johanna Frommann, geb. Wesselhöst, abgedruckt in einem nicht ganz unbe¬
kannten Buch: Das Frommannsche Haus und seine Freunde (S. 22).
Seite 4 erwähnt Geiger die Neujahrsnacht des anbrechenden Jahrhunderts,
die Goethe, Schiller und Schelling während einer vom Weimarer Hof veranstalteten
Redoute in einem Nebenzimmer vereinigt bei fließendem Champagner gefeiert haben
sollen. Er hat die Erzählung, für die er kein weiteres Zeugnis weiß, bei Düntzcr
gesunde». Doch hatte er den vierten Band von Steffens „Was ich erlebte" zur
Hand; hätte er hier bis Seite 407 n. ff. geblättert, so hätte er die Erzählung
gefunden, die Düutzer fast wörtlich wiederholt. Leider ist Steffens der einzige
Zeuge für diese denkwürdige Szene, bei der die Einbildungskraft gern verweilt:
unsre größten Geister bei Gläserklang das alte Jahrhundert schließend, das neue
eröffnend. Je ansprechender die Szene ist, um so mehr liegt uns daran, sie sicher
beglaubigt zu wissen. Steffens erzählt zwar als Augenzeuge, er selbst hat als
vierter dabei sein dürfen. Gleichwohl müßte uns ein weiterer Zeuge erwünscht
sein. Wir erinnern uns, daß der norwegische Dichter und Naturphilosoph kein sehr
zuverlässiger Gewährsmann ist. Er hat seine Denkwürdigkeiten im Alter „aus der
Erinnerung" niedergeschrieben; es finden sich bei ihm Ungenauigkeiten, namentlich
in Zeitangaben, die nicht bloß ans ein unsicheres Gedächtnis, sondern auch auf eine
starke Phantasie zurückzuführen sind, und stets zeigt er sich durchdrungen von seiner
eignen Wichtigkeit. Goethes Tagebuch schweigt über diese von Steffens berichtete
Feier der Neujahrsnacht. Zum 31. Dezember 1800 ist bloß bemerkt: „Abends
Herr Hofrat Schiller und Professor Schelling zum Abendessen." Also eine ganz
intime Shlvesterfeier im eignen Hause, aber kein Wort davon, daß sich daran noch
der Besuch eines Maskenballes angeschlossen hätte, der nach der Erzählung von
Steffens mit einem von Goethe entworfnen Auszug eröffnet wurde. Mindestens
wird man so viel aus dem Schweigen Goethes schließen dürfen, daß die Szene,
wenn sie wirklich die Episode einer Redoute war, doch im Sinne der Teilnehmer
nicht die Bedeutung hatte, die ihr Steffens giebt, der zufällig ein Zeuge des
Shlvestersymposious wurde. Er hatte nämlich, damals nchtundzwauzig Jahre alt,
von Freiberg, wo er bei Werner studirte, mitten im Winter eine Fußreise uach
Jena gemacht. Hier lernte er Friedrich Schlegel und Novalis kennen;") Schelling
aber war in Weimar, wohin er von Goethe über die Weihnachtsfeiertage mit¬
genommen worden war. Um auch Schelling zu sehen, mußte Steffens ihm nach
Weimar nachreisen. So kam es, daß er den von ihm bewunderten Naturphilo-
sophen „bei Goethe" traf und in Weimar Teilnehmer der Neujahrsredoute wurde.
Noch in derselben Nacht fuhr er unmittelbar vom Ballsaal nach Auerstädt und von
da nach Freiberg zurück. So der Bericht von Steffens, der anscheinend an die
Redoute selbst noch eine lebhafte Erinnerung hat. Zwar was er von Goethes
übermütig lustigen Einfällen und Schillers doktrinären Ausführungen schreibt, sieht
gemacht ans; aber Einzelheiten der Maskerade, dann das Hinzutreten Hufelands,
der im Begriff war, einem Ruf nach Berlin zu folgen, was Anlaß zu spöttischen
Äußerungen über Preußen gab, das scheint ans einem treuen Gedächtnis geschöpft
zu sein, wie sich Steffens ja auch richtig erinnert, daß Goethe gleich darnach schwer
erkrankte, zwar uicht nach dem Maskenball, aber nach einer Theateraufführung am
Neujahrstage.
Das sind scheinbar deutliche Erinnerungen. Dennoch bleibt es bei dem durch
Goethes Stillschweige» geweckten Zweifel, und der Zweifel wird verstärkt, wenn wir
durch ein unanfechtbares Zeugnis erfahren, daß am 26. Dezember 1800, also fünf
Tage vor Sylvester, in Weimar eine Redoute stattgefunden hat. Goethe selbst ver¬
zeichnet im Tagebuch am 26. Dezember: „Freytag nach Weimar mit Herrn Prof.
Schelling. Abends Redoute." Ist es nun wahrscheinlich, daß am 26. Dezember
und fünf Tage darauf, am 31. Dezember, abermals Redoute war? Die Ver¬
mutung liegt nahe, daß Steffens auf der Redoute vom 26. Dezember war, und
daß das, was er erzählt, sich so oder etwas anders bei diesem Anlaß ereignete,
nicht aber in der Neujahrsnacht. Beide Daten lagen ja nahe bei einander, und in
dem Gespräch, dessen Zeuge Steffens war, mag auch des bevorstehenden Jahr¬
hundertwechsels gedacht worden sein. So schmolzen in der Erinnerung oder in
der Phantasie des Erzählers beide Daten zusammen; umso mehr, als das Ereignis
dadurch pikanter wurde. Da die Redoute an demselben Tage stattfand, an dem
Goethe mit Schelling von Jena angekommen war, so würde sich daraus die weitere
Folgerung ergeben, daß Steffens, der Schelling in Jena nicht mehr traf, ihm am
gleichen Tage nach Weimar nachreiste und noch in derselben Nacht wieder zunickreiste.
Ob auch am 31. Dezember in Weimar eine Redoute stattgefunden hat, wird
sich ja noch leicht ermitteln lassen. Die Sache ist an sich nicht von Wichtigkeit.
Immerhin erscheint es der Mühe wert, ihr auf den Grund zu gehen, denn an¬
gesichts des bevorstehenden Jahrhundertwechsels wird das Gedächtnis auch jener
denkwürdigen Neujahrsnacht wieder belebt, die Goethe, Schiller und Schelling zu¬
sammen feierten, und die mit den Umständen, die Steffens erzählt, in die Ge¬
schichtsbücher übergegangen ist. Auf alle Fälle bleibt bestehe», daß der letzte Abend
des Jahrhunderts die beiden Dichter und den Philosophen vereinigt hat, und zwar
in Goethes Hause. Aber die Redoute in der Neujahrsnacht? Für diese müßte»
wir el» zuverlässigeres Zeugnis habe», als den nicht einwandfreien Bericht von
Der Verfasser dieser Denkwürdigkeiten, die General von Teichmann und Logischen
nach der Verfügung des verstorbnen Prinzen fünf Jahre nach dessen Tode der
Öffentlichkeit übergiebt, war einer von den tüchtigen, gründlich gebildeten Offizieren,
die Zeit ihres Lebens immer in Verborgenheit gedacht, gearbeitet und geschaffen,
aber sei es aus Persönlicher Bescheidenheit, sei es unter dem Druck der Disziplin,
vermieden haben, ihr Licht vor der Öffentlichkeit leuchten zu lassen. Er hat so¬
wohl durch eine unablässig über zwanzig Jahre durchgeführte praktische und theo¬
retische Ausbildung seiner SpezialWaffe als durch persönliche Tapferkeit wesentlich
zu den großen Erfolgen der Jahre 1866 und 1370/71 beigetragen. Aber sein
Name trat hinter denen, die sich, bisweilen mit Unrecht, in der Gunst des
Volks festsetzten, zurück. Trotzdem hat thu nicht etwa gekränkter Ehrgeiz zur
Niederschrift seiner Erinnerungen veranlaßt. Aus ihnen spricht im Gegenteil eine
heitere Gelassenheit, eine glückliche Zufriedenheit mit dem, was er errungen hat.
Und er hätte doch stolz auf seiue Erfolge sein können, da er sie nicht seinem
Stande, seinem alten Namen oder gar seinem Vermögen verdankt hat, sondern fast
allein seiner eignen Tüchtigkeit. Sein Vater, der 1862 auch einige Monate vor
Bismarck Ministerpräsident war, galt bei Friedrich Wilhelm IV. viel. Auf mili¬
tärische Beförderungen hatten aber solche persönlichem Beziehungen nur wenig Ein¬
fluß. Friedrich Wilhelm scheute sich, in militärische Angelegenheiten einzugreifen,
weil er niemals seiner Sache ganz sicher war. Ein Entschluß jagte immer den
andern, und immer hatte der Recht, der zuletzt bei ihm Vortrag gehalten hatte.
Mit irdischen Gütern konnte Prinz Hohenlohe ganz und gar nicht prunken, da
eine traurige Erbschaft des Großvaters die ganze Familie zu äußerster Einschränkung
gezwungen hatte. Unsre jungen Offiziere sollten dieses Buch fleißig lesen, um
aus seinen ersten Abschnitten die Kunst des Sparens und die noch größere Kunst
des Entsagens zu lernen.
Es spricht für den Verfasser, daß der Leser seiner Denkwürdigkeiten sofort
durch die Person des Erzählers angezogen wird. Man gewinnt dadurch Vertrauen
zu seinen thatsächlichen Mitteilungen, und umso mehr, als er sie so lange für sich
allein behalten hat. Wenn man das Persönliche ausscheidet und sie uur auf ihren
geschichtlichen Gehalt prüft, hat man sich namentlich mit zwei Gruppen abzufinden.
Die eine betrifft die Ereignisse der Berliner Märztage von 1843, die jetzt gerade
wieder politische Leidenschaften erregt haben, weil man in Berlin den Begrttbnis-
vlatz der „Märzgefallnen," wie Magistrat und Stadtverordneten in rührender Un¬
kenntnis der deutschen Wortzusammensetzung sagen, durchaus mit einem Denkmal
schmücken will, wenn anch nicht gerade und einem Kriegerdenkmal im Stile von 1870.
Prinz Hohenlohe ist Augen- und Ohrenzeuge dieser Märztnge gewesen. Er schreibt
schlicht nieder, was er gesehen und gehört hat. Er hat gehört, daß die Aufwiegler
französisch und Polnisch gesprochen haben, er hat sie an den Straßenecken gesehen,
wie sie ihre Maßregeln trafen, und er behauptet sogar, daß die geheime Polizei
sie gewähren ließ, weil die maßgebenden Instanzen selbst mit einander im Kriege
lagen. Um die Wirkung dieser schlichte» Darstellung abzuschwächen, hat man be¬
hauptet, der Prinz, der seine Erinnerungen doch erst viele Jahre später nieder¬
geschrieben, habe Erlebtes mit Gehörten und Gelesenen vermischt und nur eilte
alte, längst widerlegte Legende wieder aufgefrischt. Fast um dieselbe Zeit hat
nämlich ein Berliner Schriftsteller, der ebenfalls die Bewegung der Märztage
erlebt, mitgemacht und als denkender Mensch beobachtet hat, seine Lebenserinnerungen
herausgegeben, und er behauptet das Gegenteil. Nach seiner Meinung wäre es
wirklich ein aus der Mitte der Bürgerschaft entsprungner Verzweiflungskampf um
die Freiheit, eine durch und durch volkstümliche Sache gewesen. Man konnte aus
diesem Dilemma sehr leicht mit der banalen Redensart, daß die Wahrheit in der
Mitte liegt, einen Ausweg finden. Aber die schlaffe Haltung der Bürgerwehr nach
dem leicht errungnen Siege läßt sich doch kaum anders erklären, als durch die That¬
sache, daß die Masse des arbeitenden Volks, der auf Erwerb angewiesenen Bürger
wie der Handarbeiter, keineswegs mit ganzem Herzen bei der Bewegung war. Ein
wenig Festigkeit mehr bei der Regierung — und die Revolution von 1843, die
immer noch als wichtiges Agitationsmittel ausgebeutet wird, wäre bloß ein jämmer¬
licher Pulses gewesen. Die Ratlosigkeit und die Verlegenheit, die in jenen Tagen
im Berliner Schlosse geherrscht haben, müssen allerdings groß gewesen sein. Auch
darüber verbreiten die Erinnerungen des Prinzen Hohenlohe neues Licht. Friedrich
Wilhelm war darnach weniger schuld an der unbegreiflichen Schwäche der Regierung
als seine Umgebung, die, wenn man von dem stets besonnenen, aber in begreif¬
licher Zurückhaltung verharrenden Prinzen von Preußen absieht, aus lauter unfähigen
Leuten bestand, die den unglücklichen König von der Außenwelt vollständig ab¬
geschnitten hatten.
Sind auch die Mitteilungen des Prinzen Hohenlohe über die Jahre 1848
und 1849 noch dem Streit der Meinungen unterworfen, so ist die Zuverlässigkeit
seiner militärischen Berichte, die er während eines Kommandos nach Wien von
dort aus an mehrere Stellen in Berlin sandte, durch die Ereignisse von 1866
glänzend bestätigt worden. Militärattachees wie heute gab es damals bei den Ge¬
sandtschaften noch nicht. Als Prinz Hohenlohe 1354 nach Wien geschickt wurde,
um über die militärischen Verhältnisse Österreichs zu berichten, fand er zuerst keinen
Boden vor. Selbst der eignen preußischen Gesandtschaft war er unbequem, weil
die Diplomaten der Metternichschen Schule von vornherein jedem Soldaten mit
Mißtrauen begegneten. Hohenlohe sah sich also auf sich selbst augewiesen, und
seiner Energie, seiner Arbeitskraft, seiner Ausdauer, die sich durch keine Mißerfolge
zurückschrecken ließ, gelang es auch, völlige Klarheit über deu Zustand der öster¬
reichischen Armee von 1854—1856 zu verschaffen. Daß die preußische Heeres¬
leitung rechtzeitig davon unterrichtet wurde, freilich ohne eine Ahnung von der
Wichtigkeit der Mitteilungen Hoheulohes zu bekommen, ist das Verdienst des ersten
preußischen Militärattachees, der durch seine Persönlichkeit, durch sein freimütiges
Wesen und — seine Nüchternheit die Notwendigkeit eines solchen Amts bewiesen
hat. Er hat mit seinem scharfen Blick der Schwäche des österreichischen Heer¬
wesens bis auf den Grund gesehen. Er hat aber auch seine einzige Tugend, die
Überlegenheit der österreichischen Artillerie über die preußische erkannt, und wenn
dieser Erkenntnis auch nicht der Sieg von Königgrätz zu verdanken war, wo Prinz
Hohenlohe selbst eine Batterie gegen die Österreicher geführt hat, so doch der
größere Sieg von Sedan.
Der erste Band schließt mit dem Jahre 1356, wo Prinz Hohenlohe Adjutant
Friedrich Wilhelms IV. wurde. Aus deu folgenden Bänden haben wir wohl
noch wichtigere Mitteilungen zur Geschichte der fünfziger und sechziger Fahre zu
erwarten.
meer dem Titel „Marineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiter¬
interessen," von „Parvus," ist im Verlage der Sächsischen Arbeiter¬
zeitung in Dresden nun auch von sozialdemokratischer Seite die
Marinevorlage und die ihr zu Grunde liegende zukünftige See¬
handelspolitik des deutschen Reichs eingehend besprochen worden.
Die Schrift ist ein nicht ungeschickt eingerührtes Bauernvergiftungsmittel, nicht
schlechter und nicht besser als hundert andre, die in den letzten Jahren aus
der sozialdemokratischen Rezeptur hervorgegangen sind. Aber mehr als hundert
andre ist sie ein lehrreiches Beispiel erstens dafür, was die Sozialdemokratie
der deutschen Jndustriearbeiterschaft weis zu machen wagen darf und ohne
Zweifel auch weismachen kann, und zweitens, was wir von der in den be¬
kannten kathedersvzialistischen Kreisen immer noch für unantastbar erklärten
Vaterlandsliebe und Einsicht der sozialdemokratischen Führer und namentlich
der achtundvierzig Sozialdemokraten im Reichstage in solchen Fragen zu er¬
warten haben. Wenn auch in Einzelheiten der Flottenfrage diese Leute nicht
unter sich und mit Herrn „Parvus" durchweg übereinstimmen mögen, so ist doch
die Grundlage, ans der Herr Parvus sein Urteil über die deutsche Seehandels¬
politik aufbaut, dieselbe, mit der die Sozialdemokratie überhaupt steht und fällt:
daß sie grundsätzlich die politische Macht und das politische Gedeihen des
deutschen Reichs sür die soziale Revolution preisgiebt. Und damit wird
thatsächlich die grundsätzliche vaterlandslose Gesinnung bei ihrer Gefolgschaft,
bei der deutschen Arbeiterschaft, gefordert. Allerdings ist zur Zeit und auch für
die nächsten Reichstagswahlcn noch nicht zu hoffen, daß die Stellung der
Sozialdemokraten zur Flottenfrage den deutscheu Arbeitern die Augen öffnet
über den Verrat, den diese „Gesellen" an ihnen und dem Vaterlande üben.
Aber versuchen muß man doch, unter den Gebildeten schon jetzt das Verständnis
dafür wenigstens wieder reger zu machen, was unsre Herren Kathedersozialisten
eigentlich thun, wenn sie bemüht sind, durch ihre immer neuen, immer über¬
triebneren, immer aufregenderen Verurteilungen der bestehenden Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, sei es auch unwissentlich, die Sozialdemokratie vor dem
ganzen Volke ins Recht zu setzen.
Zuerst trumpft Herr „Parvus" vor dem staunenden Leser die von niemand
bestrittene Thatsache als Neuheit aus, daß neben den „Erscitzbauteu" unter
Umständen auch die dadurch zu ersetzenden „Originale" werden fortbestehen
können, wenn auch in einer niedrigern Verwendungsklasse. Das ist natürlich
„nichts als eine Irreführung des Reichstags und der Öffentlichkeit." Mit
jedem Schiffe, das der Reichstag jetzt bauen läßt, soll er auch schon einen
nach fünfundzwanzig, zwanzig oder fünfzehn Jahren zu bauenden „Doppel¬
gänger" bewilligen, sodaß z. B. „König Wilhelm" Ende des kommenden Jahr¬
hunderts schon sechs Ersatzschiffe haben würde. So werde, meint Herr Parvus,
auf dem Papier der geforderte Sollbestand der Kriegsflotte kaum erreicht,
während er in Wirklichkeit weit überschritten werde. „Ein Kaufmann, der
eine derartige Buchführung gewagt hätte, käme im Falle seiner Insolvenz als
böswilliger Bankerotten ins Loch." Für ganz so dumm, wie der sozialdemo-
kratische Pfiffikus hier annimmt, hat das Neichsmarineamt denn doch den
Reichstag wohl nicht gehalten. Die Frage der Ersatzbauten ist unter Angabe
der Fristen, in denen sie nach dem Urteil der Sachverständigen nötig werden,
offen zur Diskussion gestellt worden, und es wird auf die Einsicht und den
politischen Takt der Neichstagsmehrheit ankommen, ob sie diesen Sachverstän¬
digen mehr vertraut als Herrn Parvus, wenn er meint, die Vorlage stelle
den Grundsatz ans, „daß die Panzerschiffe sich abnutzen, wie ein Wischlappen,
bis zur völligen Unbrauchbarkeit." Natürlich hat auch Parvus seine konstitu¬
tionellen Bedenken. Er ist entrüstet darüber, daß „der Reichstag der Negierung
sieben Blankowechsel ausstellen soll, in welche diese die Kosten in beliebigem
Betrage hineinschreibt." Sein Schlußurteil über die Kosten lautet: „Diese
Ausgaben für die immer weitere Vervollkommnung der Kriegsmarine sind dem
gleich, als wenn man Gold in vollen Säcken ins Meer würfe." Die ganze
Seepolitik ist Unsinn. „Deutschlands Küsten sind gegen feindliche Landungs¬
versuche vollkommen sicher." Und weiter: „Eine Kriegsmarine, wie sie die
Negierung wünscht, würde dem deutschen Volke teurer zu stehen kommen, als
wenn die gesamte Handelsflotte vom Feinde in den Grund gebohrt wäre."
Die Reeber, die großen Export- und Importgeschäfte sollten diese „Versicherungs¬
prämie" selbst zahlen. Aber sie würden sich hüten, denn sie könnten im Falle
des Kriegs ihre Waren dadurch „in Sicherheit bringen, daß sie die deutschell
Schiffe nur zur Ausfuhr gebrauchen und die Einfuhr nach Deutschland auf
fremden Schiffen besorgen lassen." Sie würden „neutrale Schiffe mieten,"
denen sie einen um ein paar Pfennige höhern Frachtsatz per Tonne bezahlen,
«und ihre Fracht ist gesichert." Und um den Großhändlern die um ein paar
Pfennige teurere Fracht zu ersparen, „zu diesem Zweck soll das deutsche Volk
Hunderte und abermals Hunderte von Millionen für eine Kriegsflotte aus¬
geben!" „Wie die Landarmee mit ihren Kanonen und Flinten, so
hat auch die Kriegsmarine mit ihren Granaten und Torpedos nur
den einen Zweck: Tod und Verderben zu bereiten. Man führt die
Soldaten zu Land wie zu Wasser zur Schlachtbank — das ist
alles. Das eine mal Kanonenfutter, das andre — Futter für die
Haifische." Deutschland solle ruhig „England die Kosten des Seekriegs"
überlassen, um selbst auf dem Festlande die Hände frei zu halten, statt
Nußland „als Hausknecht" zu dienen. Und was haben die Arbeiter
von der Flotte? Der Schutz der Deutschen im Ausland ist nur ein Vor¬
wand; „die Kriegsschiffe gehen nach Afrika und Asien, um die Eingebornen
anzugreifen, ihnen ihr Land zu rauben und sie selbst zu unterjochen."
Ganz scharf geht Parvus gegen die Behauptung vor, die Arbeiter fänden
durch den Schiffsbau erwünschte Arbeitsgelegenheit. Das könne man von
jeder Geldausgabe sagen. „Darin liegt ja die Macht und der Fluch des
Geldes, daß, wer es hat, damit nach seiner Laune Arbeiter beschäftigt, indem
er diese oder jene Warenbestellungen macht. Der reiche Protz vermag nicht
nur seine eigne Zeit totzuschlagen, sondern auch die Arbeitszeit vieler recht¬
schaffner Leute zu vergeuden. Wer Champagner säuft, bezahlt den Gastwirt,
den Kellner, den Weinhändler, den Flaschenfabrikanten usw. Stets behaupten
deshalb die Reichen, es sei zum Wohle des Volks, wenn sie sich den Bauch
mit Leckereien vollstopfen. Ähnlich der Staat bei jeder Verschwendung von
Geld und Arbeit des Volkes. Was mau dabei nicht sehen will, ist, daß das
Geld auch in den Händen des armen Mannes, des Steuerzahlers nicht ver¬
rostet. Der Arbeiter, der Bauer wüßten schon, was sie mit ihrem Geld an¬
fangen sollten, wenn der Staat es ihnen nicht als Verbrauchssteuern und
sonstige Abgaben abgenommen hätte. Den Massen des deutschen Volks fehlt
schon mancherlei, es ist mancherlei, was die deutsche Arbeiter-, Handwerker-
uud Bauernfamilie braucht und nicht hat." Und nun rechnet Parvus den
nrmeu Leuten in bekannter Manier vor, daß die Flottenvorlage in den sieben
Jahren ganze 10 Mark „per Kopf der Bevölkerung" verlange, das mache „per
Familie durchschnittlich" 40 Mark. „Hütte man nur diese 40 Mark nicht an
den Staat abzuliefern gehabt, so würde man sich dafür vielleicht ein Kleidungs¬
stück angeschafft haben, für das sich während dieser sieben Jahre wohl in jeder
Familie ein Bedarf herausstelle» würde." Erhalte aber die Regierung die
vielen Millionen für Marinezwccke, so wanderten diese Geldsummen in die
Kruppschen Hütten, in die großen Schiffswerften. Sie würden für dicke Stahl¬
platten, Kanonen usw., „zur Bezahlung der Rechnungen der deutschen Marine¬
offiziere in den chinesischen Theehäusern und der deutschen Marinesoldaten in
den chinesischen Bordellen verwendet." Blieben aber die 530 Millionen in
den Händen des deutschen Volkes, so bekämen die Konfektionsarbeiter, die
Textilarbeiter was zu thun, der Schneider, der Schuhmacher, der Bäcker, der
Krämer, der Metzger! „Ist es wichtiger, daß jeder im Volke einen Rock aus
dem Leibe hat — oder daß die Schiffe dicke Panzerplatten erhalten? So
steht es mit der »Beschäftigung,« welche die Marinebauteu gewähren und mit
ihrem Nutzen für die Arbeiter."
Das ist nun freilich schon ganz unverdauliches Gefasel, aber weil es seiner
Wirkung sicher ist, mußte es hier eine Stelle finden. Was noch kommt, ist
eher noch konfuser, aber wir bitten auch dafür um etwas geduldige Aufmerk¬
samkeit. Das handelspolitische Problem der Zeit wird zunächst mit folgenden
Variationen bekannter Melodien abgethan: „Die ganze Not besteht also darin,
daß die reichen deutschen Kapitalisten nicht mehr wissen, wo sie ihren Neich-
tumsüberfluß hinthun sollen — statt dessen stellt man die Sache so dar, als
ob die Schuld das deutsche Volk treffe, weil es uicht Geld genug hat, um die
Ware» für sich zu kaufen. Beutel das Volk nicht so jämmerlich aus, so wird
es auch mehr kaufen können! .... Die ganze Kolonialpolitik — gemeint ist
immer die neue Seehandelspolitik überhaupt — besteht darin, daß man dem
Volke von seinem kargen Einkommen Millionen abpreßt, um den Reichtums¬
überfluß der Kapitalisten in fremden Ländern profitabel unterbringen zu können.
Die Kapitalistenklasse ist interessirt an dieser Politik, nicht nur weil es ihr
daran liegt, ihr Kapital unterzubringen, sondern weil sie interessirt ist an der
Aufrechterhaltung der Ausbeutung." „Anders das arbeitende und ausgebeutete
Volk. Statt die Marinepläne und Kolonialabenteuer zu unterstützen, hat es
vielmehr dafür zu sorgen, daß seine eigne Lage verbessert wird. Will man
schon vom nationalen Interesse reden, so liegt gerade darin das
größte nationale Interesse."
Auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaft glaubt Parvus vorläufig
folgendes empfehlen zu sollen: „Keine kostspieligen Panzerbauten! Keine Volks-
belastnng! Weg mit dem Seemachtskitzel! Keine kolonialen Abenteuer! Keine
Kriegsprovokationen! Aufrechterhaltung des Friedens. Bündnis mit England.
Handelsvertrag mit Nordamerika. Abschaffung der Getreidezölle. Abschaffung
der Verbrauchssteuern. Einführung der Reichseinkommensteuer. Besserung der
Lage der Staatsarbeiter und Beamten. Achtstündiger Normalarbeitstag. Siche¬
rung der Koalitionsfreiheit." Aber über diesen Vorschlägen soll man das Ziel
doch ja nicht aus dem Auge verlieren, in dem das Wesen der Sozialdemokratie
besteht. Parvus fügt deshalb wohlweislich am Schluß seiner ganzen Schrift
das gehörige Memento hinzu: „Wir sind nun freilich weit davon entfernt,
anzunehmen, daß durch diese Maßregeln die Profitmacherei der Kapitalisten
erheblich gekürzt oder gar die kapitalistische Produktion geregelt werde. Das
Grundübel der Ausbeutung der Massen durch wenige bleibt bestehen und muß
zu einer grundlegenden Umwälzung der Verhältnisse, zur sozialen Revolution
sühren. Aber das ist jedenfalls der Weg einer geregelten Entwicklung unter
möglichster Linderung des letzten Zusammenbruchs, währenddem der Weg der
Kolonialpolitik gerade zu einer maßlosen Steigerung der Wucht des endlichen
Zusammenbruchs dieser wahnwitzigen Wirtschaftsweise, zu einer ungeheuern
Katastrophe, zu einem Eude mit Schrecke» führt. Entweder soziale Reform
und soziale Revolution, oder Weltkrisis und soziale Revolution!
So steht die Entscheidung. Die Regierung und das Kapital wählen den letzten
Weg. Wir stehen vor ereignisschweren Tagen!"
Da haben wir die „gemauserten" Sozialdemokraten, die verdienten Arbeiter¬
freunde, die kein Mensch das Recht haben soll, vaterlandslose Gesellen zu nennen!
Ihr Ziel bleibt die Revolution, und nationale Interessen sind ihnen Unsinn!
In einer kleinen Schrift: „Der nationale Kampf gegen die Sozialdemokratie"
(Leipzig, Grunow) hat im vorigen Sommer Max Lorenz — ein sich, wie es
scheint, wirklich zu nüchternem Urteil mausernder jugendlicher Schildträger des
Träumers Naumann — in ganz vortrefflicher Weise die Stellung der Sozial¬
demokratie zur Flottenfrage gekennzeichnet. Die sozialdemokratische Taktik geht
nach ihm dahin: „Man sammelt allen Oppositionsstoff, der sich in einem
halben Jahrhundert aufgehäuft hat. Die sozialistische und die bürgerliche
Demokratie schließen ihr Bündnis. Das vereinigte Heer richtet einen Stoß
gegen die Stelle, die den Lebenspuukt, die Seele des Reichs bedeutet. Nun
wäre es aber zwecklos, unmöglich, gegen die Monarchie, gegen den Monarchen
offiziell den Stoß zu richten. Das machen in der Form die Gefolgsleute
doch nicht mit. Der Schein der Gesetzmäßigkeit, die Form des Parlamentarismus
muß gewahrt werden. Darum kämpft man formell nicht gegen den Monarchen,
sondern gegen die Pläne des Monarchen, gegen die Marinepläne. Das drückt
Schönlcmk bekanntlich so aus: »Die Marinepolitik und der Kampf gegen das
persönliche Regiment sind innig Verbünde», sie Hunger ursachlich zusammen,
und sie werden die Wahlparole sein.«" Was der Kaiser als die Politik des
„Größeren Deutschlands" bezeichnet habe, sagt Lorenz an einer andern Stelle,
das gebe am letzten Ende die Möglichkeit, die unsre Zeit bewegende „soziale
Frage" zu „lösen." Die soziale Frage laufe in eine nationale aus, und es
sei die auswärtige Politik, wodurch die Frage der innern Reformarbeit bestimmt
und bedingt werde. Und weiter klagt er: „Das aber ist das große und wahre
Unglück der armen Volksklassen, daß sie nicht nur in materieller Not sind,
sondern daß diese Not auch politische Einsichtslosigkeit und geistige Ver¬
blendung im Gefolge hat. Infolge solcher Einsichtslosigkeit verkeimen sie nicht
nur die Existenznvtwendigkeiten des Staats und werden so staatsgefährlich;
ihre Verblendung verschließt ihnen auch den einzigen Rettungsweg aus ihrer
sozialen Not, läßt sie nicht erkennen, daß soziale Reformen im Innern ohne
die Weiterentwicklung nationaler Macht nach außen hin ein Unding ist. So
verblendet, wirken sie thatsächlich ihren eignen Zwecken, der Hebung ihrer
Lebenslage entgegen."
So sagt der sich mausernde Lorenz, und wer sich über die Mauserung
der Sozialdemokraten, diese bewußte, wohl berechnete Unwahrheit des modernsten
Kathedersozialismus — und „Freisinns," genauer unterrichten will, der lese das
Schriftchen. Was wir hier mitgeteilt haben, wird genügen zur Veranschaulichung
der Vaterlands- und Arbeiterliebe der Herren um Singer und Bebel. Aber
freilich kann das wenig ins Gewicht fallen, wenn sich die verehrliche Zunft
der bestellten und verordneten Vertreter der Staatsweisheit mit ihrer ganzen
Unfehlbarkeit in die andre Wagschale wirft. Wir haben besondre Veranlassung,
hierüber noch ein Wort zu reden.
Herr Professor Dr. von Schulze-Gaeveruitz hat kürzlich in einem
fünften und letzten handelspolitischen „akademischen" Vortrage in Freiburg in
Baden „über die Zukunft der deutschen Handelspolitik" gesprochen. Wie wir
in der Neuen Badischen Landeszeituug vom 25. Januar dieses Jahres lesen,
hat sich Herr von Schulze über die zukünftige Handelspolitik und auch die
Flottenpolitik des Reichs sehr verständig ausgelassen. Umso bezeichnender und
bedauerlicher ist es aber, daß auch dieser zuuftgerechte moderne Kathedersozialist,
sobald er auf den — man verzeihe den häßlichen Ausdruck — Tollpunkt der
Schule kommt, und auf den kommen sie leider alle immer und überall, sich
sür verpflichtet hält, seiner lernbegierigen Zuhörerschaft ganz unverantwortliche
Dinge vorzutragen. In der Hauptsache folgendes: Was die Notwendigkeit der
Flottenvermehrung anbeträfe, so wird berichtet, als deren Anhänger sich der
Redner im Laufe seiner Ausführungen bekannt habe, so seien die in letzter Zeit
gethanen „nutzlosen Äußerungen der Offiziösen wie »vaterlandslose Gesellen«
nicht geeignet, bei den Gegnern die Liebe zum Vaterlande zu erwecken," vielmehr
sei zu „konstatiren, daß ein großer Teil des deutschen Volkes seine Interessen
noch nicht als identisch mit den Interessen des deutschen Staats empfindet."
Am stärksten sei diese Strömung vertreten in der Arbeiterwelt. Das sei umso
schlimmer, als man zugeben müsse, daß dieses Gefühl in Deutschland fortwährend
durch kleinliche Polizeichikanen und veraltete Vereinsgesetze aufrecht gehalten werde.
Professor Schäfer in Heidelberg habe einmal gesagt: Der deutsche Werkmann
möchte nicht mit dem englischen tauschen. Er, der Vortragende, müsse leider
die Thatsache konstatiren, der Westfale würde gern mit dem Northumberlünder
tauschen, weil sich dieser seiner politischen Freiheit, vor allem eines freiheit¬
lichen Vereinsgesetzes erfreue. Sollte das Flottengesetz Schiffbruch erleiden,
so mache er, Herr von Schulze, in erster Linie verantwortlich dieselbe deutsche
Negierung, die noch vor kurzem durch eine Nückwärtsrevidirung des Vereins¬
gesetzes einen großen Teil ihrer Unterthanen habe „entrechten" wollen, deren
Zustimmung zu der Vorlage doch heute erforderlich sei. Schlimmer als die
Lohnerhöhung, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Verluste bei Streiks, denen
man durch eine Beschneidung des Vereinsgesetzes zu begegnen suche, sei es,
wenn sich die der Zahl nach am stärksten wachsende, zukunftsreichste Klasse
der Nation, die sich heute noch als nationale Outsiäers empfinde, von der
Flottenfrage gar nicht berührt fühle. Auf die Dauer sei dieses Verhältnis
ganz unmöglich, und ein Umschwung nur denkbar, wenn auch diese Kreise all¬
mählich zu einer nationalen Gesinnung emporgezogen würden.
Welch ungeheurer Kontrast zwischen dem gereiften, abgeklärten, milden,
bescheidnen, wahrhaft vornehmen Urteil des Geschlechts politischer Professoren,
die vor einem Menschenalter — als Herr von Schutze-Gaevernitz in Breslau
geboren wurde — ihre vielleicht weniger zahlreichen Schüler für die Höhe
und Freiheit der Wissenschaft zu begeistern wußten, und dieser modernen
Staatsweisheit ihrer Sohne! Wenn — und es ist wohl kaum daran zu
zweifeln — Herr Professor von Schulze das wirklich gesagt hat, was wir
gelesen haben, so müssen wir offen bekennen, daß wenige Auslassungen deutscher
Universitätsprofessoren seit dreißig Jahren uns zu solchem Bedauern Ver¬
anlassung gegeben haben wie diese. Was in aller Welt soll das ostensible
Eintreten für die Flottengegnerschaft der Sozialdemokraten in diesem Augenblick
im „akademischen" Vortrage eines Professors? Von einer Flottengegnerschaft
oder Vaterlandslosigkeit der „Arbeiter" ist überhaupt nicht geredet worden, ist
gar nicht zu reden. Sie zu „konstatiren" und sie sogar zu rechtfertigen ist
das traurige „wissenschaftliche" Verdienst des Herrn von Schulze. Daß er
nicht weiß, was er thut, daß er von deutschen Arbeitern spricht, von denen
er nur Ausnahmen auf seinem kurzen Lebenswege gesehen hat, dient ihm zur
Entschuldigung, aber der Schade, den er als Anwalt der vaterlandslosen Ge¬
sellen anrichtet, wird dadurch nicht gemildet. Klar und greifbar springt in
diesem Falle der pseudowissenschaftliche Charakter des modernen Kathedcr-
sozialismus in die Augen: die politische Agitation, die parteiische, einseitige
Arbeiterfreundlichkeit als Tendenz. Dieser agitatorische, tendenziöse Charakter
wird durch die zünftigen Kathedersozialisten viel mehr als durch die Angehörigen
andrer Fakultäten oder Wissenschaften auch den neumodischen „akademischen"
Vorträgen und „volkstümlichen Hochschulkursen" aufgeprägt. Er ist es auch, der
die Privatdozentenfrage überhaupt politisch wichtig macht. Für diese agitatorische
und tendenziöse Wirksamkeit die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen,
ist eine Herabsetzung der Wissenschaft selbst. Mit staatlichen Repressalien
dagegen vorzugehen, würde das Übel nur schlimmer machen, auch würden sich
die meisten dieser jungen Herren in der Märtyrerrolle ganz wohl fühlen. Nur
langsam wird diese in langer Zeit erzeugte und gepflegte krankhafte Strömung
in den Staatswissenschaften einer gesunden Auffassung weichen, umso langsamer,
je jünger die privilegirten Inhaber der akademischen Lehrstühle heute find.
Helfen kann nur ein regeres und gründlicheres Interesse und Verständnis der
gebildeten Kreise der Nation für diese Verirrungen in unsrer staatswissen^
schaftlichen Bildung. Dazu wird die überaus traurige Erscheinung: Herr
von Schulze-Gaevernitz als Anwalt der Vaterlandslosigkeit der Sozialdemo¬
kraten und ihrer bethörten Gefolgschaft unter den Arbeitern — das ihrige sicher
beitragen. Auf die Sache selbst, die Herr von Schulze zu vertreten versucht,
werden die Grenzboten wohl noch Veranlassung haben zurückzukommen. Sie
steht im Vordergrunde des Interesses unsrer nationalen Selbsterhaltung.
or einigen Tagen saß ich in die Betrachtung einer Völker-
uud Sprachenkarte des russischen Reichs vertieft. Es war nicht
schwer, sie zu verstehen: Dieses Grün, sagte ich mir, das
so entschieden vorherrscht, bezeichnet natürlich das slawische
Sprachgebiet. Und jenes Hellblau oder Gelb — nun, eine von
diesen beiden Farben muß doch die Verbreitung der deutschen Sprache an¬
deuten, da ein so großer Teil der Ostseclünder damit angestrichen ist. Doch
was sagte die Farbenerklärung am Rande meiner Karte? Hellblau ist litauisch,
Gelb ist esthnisch. Ja, aber warum, fragte ich mich, spricht man denn
immer von den deutschen Ostseeprovinzen Rußlands? Und wieder vertiefte ich
mich in meine Karte. Da entdeckte denn mein Auge endlich inmitten des
Meeres von Blau und Gelb einige rote Jnselchen, und dieses Rot bezeichnete,
nach der Farbenerklärung, deutsches Sprachgebiet. Und alle diese roten
Pünktchen hatten einen Namen: Reval, Dorpat, Mitau, Riga usw. Aha,
sagte ich zu mir selbst, jetzt verstehe ich, warum man in Rußland von
deutscheu Ostseeprovinzen spricht; einfach deshalb, weil die Bevölkerung ihrer
Städte vorwiegend deutsch ist.
Und nun erinnerte ich mich einer vor langer Zeit gemachten Beobachtung.
Im Jahre 1870 war ich durch das Elsaß gekommen. Da alle Eisenbahn¬
verbindungen unterbrochen waren, mußte ich im Wagen reisen. Das ging
zwar etwas langsam, aber es bot mir den Vorteil, auch das platte Land und
seine Bewohner ein wenig kennen zu lernen. Und was sah ich da? Eine
Bevölkerung in Sprache und Tracht ebenso deutsch wie die von Baden oder
Hessen. Aber aus ihrer französischen Gesinnung machten diese Leute mir
gegenüber, der ich ja nicht als Eroberer, sondern nur als harmloser Tourist
zu ihnen kam, durchaus kein Hehl. Wie war es gekommen, daß diese kern¬
deutschen Menschen ihren Ursprung und ihre frühere Zugehörigkeit zu Deutsch¬
land so gänzlich vergessen hatten? Auf diese Frage hatte ich damals keine
recht befriedigende Antwort gefunden. Jetzt, beim Anblick der Karte von Ru߬
land, war sie mir eingefallen: weil Straßburg, Mülhausen und Kolmar
französirt waren, deshalb fühlte und dachte das ganze Land französisch.
Und wenn ich (um noch ein näher liegendes Beispiel anzuführen) auf
den in Österreich tobenden Nationalitätenkampf hinweise, so finde ich auch hier
die stärkste Bestätigung meiner Auffassung. Warum wehren sich z. B. die
Deutschen in Mähren gegen die Verordnung der österreichischen Regierung,
wonach alle Städte mit eigner Gemeindeordnung und alle Landgemeinden mit
mehr als zehn Prozent von Einwohnern der andern Nationalität als zwei¬
sprachig erklärt werden sollen? Besonders deshalb, weil dadurch Städte wie
Zuaim und Iglau ihren deutschen Charakter verlieren würden. Diese mährischen
Deutschen sind sich eben vollkommen darüber klar, daß ihre Nationalität in
Mähren keinen Halt mehr hat, wenn erst einmal die Städte tschechisch ge¬
worden sind.
Gewiß — in den Städten und nicht auf dem Lande wird in allen
idealen Fragen die öffentliche Meinung gemacht. Man nenne mir in der
Geschichte der Menschheit eine einzige geistige Bewegung, die nicht in den
Städten ihren Ursprung gehabt hätte? Als das Christentum in Gallien
eindrang, war sein Sieg entschieden von dem Augenblick an, wo die Bevölke¬
rung der größern Städte für die neue Lehre gewonnen war. Die Agrarier
beteten freilich noch lange zu den alten Göttern — daher wurde der Name
xg-Mnus (Dorfbewohner) gleichbedeutend mit „der Heide" (französisch 1e Mön,
spanisch el x^g,no).
Kurz: die Städte sind es, die besonders auch in der Frage der Nationalität
die Gesinnung eines ganzen Landes bestimmen. Ich bin sicherlich nicht der
erste, der diese Wahrheit verkündigt. Auch würde es für meinen Ehrgeiz
schon genügen, wenn ich dazu beitragen könnte, daß jene Wahrheit mehr und
mehr zur praktischen Anerkennung gelangte.
Wie steht es denn heutzutage mit dieser praktischen Anerkennung? Im
Westen, Norden und Osten des Vaterlands hat sich das Deutschtum gegen
fremde Nationalitäten zu behaupten, und überall sind die Organe der Regierung
bemüht, ihm zu der vorherrschenden Stellung zu verhelfen, ohne die diese
Gebiete doch nur ein unsichrer Besitz sein würden. Was nun die von der
Regierung bei ihrem Vorgehen angewandte Methode anbetrifft, so kann der
Verfasser dieses Aufsatzes aus eigner Anschauung nur über das urteilen, was
im Osten des Landes zu dem Zweck unternommen wird, das um sich greifende
Polentum zurückzudrängen. Da sieht man denn auf den ersten Blick, daß die
von der preußischen Regierung befolgte Methode zu dem von mir oben ent-
wickelten Gedanken in direktem Widerspruch steht: nicht auf die Städte in
erster Linie ist es abgesehen, sondern man verfolgt seit einer Reihe von
Jahren den Plan, das platte Land durch deutsche Ansiedler zu germcmisiren.*)
Gegen die Art und Weise, wie dabei zu Werke gegangen wird, nämlich
durch Ankauf und Parzelliruug größerer Güter, läßt sich selbst vom staats¬
rechtlichen Standpunkte kaum etwas einwenden. Es ist wahr, die Maßregel
ist gegen das politische Polentum gerichtet; aber solange dieses Polentum seiue
Zugehörigkeit zu Preußen nur mit dem Vorbehalt anerkennt, durch irgend welche
Fügungen der Weltgeschichte früher oder später ans diesem Verband auszu¬
scheiden, kann man es der preußischen Regierung nicht verdenken, daß sie sich
für ihre Machtstellung hier im Osten eine andre, zuverlässigere Stütze sucht.
Noch weniger aber läßt sich vom privatrechtlichen Standpunkt aus gegen
dies Verfahren der preußischen Negierung etwas vorbringen. Die Klagen der
Polen in dieser Beziehung sind einfach lächerlich. Es wird doch keiner von
ihnen gezwungen, sein Gut an die Ansiedlungskommission zu verkaufen!
Aber eine andre Frage ist es nun freilich, ob der beabsichtigte Zweck, die
Germanisirung des Landes, durch das Mittel erreicht werden wird. Es giebt
bei uns im Osten teutschgesinnte Männer genug, die dies bezweifeln, und der
Verfasser bekennt, daß anch er sich mehr und mehr von diesem Zweifel er¬
griffen fühlt, so wenig er im übrigen geneigt ist, die Bedeutung des Ansied-
lungswerks nach der sozialpolitischen Seite hin irgendwie zu unterschätzen.
Aber was will es für die nationalen Verhältnisse bedeuten, wenn z. B. im
Kreise Gnesen, wo eine größere Anzahl Güter zu Ansiedlnngszwecken erworben
worden sind, infolgedessen zur Zeit (wenn es hochtönend) vielleicht 1500 deutsche
Einwandrer neue Heimstätten gefunden haben mögen? Da der Kreis bisher
von ungefähr 14000 Deutschen und 28000 Polen bewohnt war, so kamen
früher auf je 1000 Einwohner 330 Deutsche. In Zukunft werden es 350
sein. Das wird gerade ausreichen, um auf ein paar Jahre das Minus der
Geburten auf deutscher Seite auszugleichen.
Mehr aber als dieses Bedenken spricht gegen das jetzt übliche Ansiedlnngs-
system noch etwas andres, worauf schon wiederholt in den öffentlichen Blättern
hingewiesen worden ist, nämlich der Umstand, daß diese Thätigkeit der An¬
siedlungskommission eine Stärkung des Polentums gerade in den Städten,
und vor allem in der Hauptstadt der Provinz, zur Folge gehabt zu haben
scheint.
Dies ist nun freilich ein so gewichtiger Einwand gegen das Ansiedlungs-
werk, daß er nur nach sorgfältiger Prüfung der Verhältnisse erhoben werden
sollte. Wie dem nun auch sei — jedenfalls liegen äußere Anzeichen genug
vor, die darauf schließen lassen, daß das polnische Element besonders in der
Stadt Posen selbst in starker Zunahme begriffen ist. So oft ich in den letzten
Jahren Gelegenheit hatte, mit einem Bekannten, der nach längerer Abwesenheit
einmal hierher zurückgekehrt war, über unsre Verhältnisse zu sprechen, mußte
ich stets die Bemerkung hören: „Zu meiner Zeit machte Posen viel mehr als
jetzt den Eindruck einer deutschen Stadt. Es muß jetzt hier weit mehr Polen
geben als Deutsche — man hört ja viel mehr polnisch als deutsch sprechen."
Stimmt diese Beobachtung mit den Thatsachen überein? Die folgenden Zahlen
werden uns darüber belehren.
Nach der Volkszählung vom 2. Dezember 1895 waren unter den (rund)
73200 Einwohnern unsrer Stadt 43593 Katholiken, 23 745 Evangelische und
5810 Juden.
Von diesen waren ihrer Muttersprache nach Polen 38 296, Deutsche 34049,
und etwa 500 Zweisprachige. Zieht man nun von den 43593 Katholiken die
Polen mit 38296 ab, so verbleiben rund 5300 deutsche Katholiken, sodaß
also auf je 1000 katholische Einwohner etwa 878 Polen und 122 Deutsche
entfallen.
Seit 1871 hat sich nun das Zahlenverhältnis der Konfessionen in der
Stadt Posen folgendermaßen entwickelt:
Ergebnis: In fünfundzwanzig Jahren hat die Zahl der Katholiken um
14860, die der Evangelischen (mit Einschluß der etwa 100 christlichen Dissi¬
denten) nur um 3377 zugenommen. Die der Juden ist sogar um 1445 zurück¬
gegangen. Nimmt man an, daß auch 1871 unter den Katholiken etwa 12 Pro¬
zent Deutsche waren, und rechnet man die Evangelischen sämtlich, die Juden
zum weitaus größten Teil der deutsch redenden Bevölkerung zu, so ergiebt
sich in runden Zahlen folgendes Verhältnis der Nationalitäten zu einander:
Mit andern Worten: Auf je tausend Einwohner aller drei Konfessionen
kamen:
Diese Verschiebung zu Gunsten der Polen wird aber von noch viel größerer
Tragweite, wenn man sich folgende Thatsachen vergegenwärtigt.
Die Polen bilden eine kompakte, in religiösen und nationalen Fragen
stets einige Masse. Die Deutschen sind politisch und konfessionell gespalten.
Wie die Dinge im Osten, besonders in der Provinz Posen, nun einmal liegen,
hängt hier die Zukunft des Deutschtums hauptsächlich von dem evangelischen
Teile der deutschen Bevölkerung ab. Wie hat sich nun gerade diese in ihrem
Zahlenverhältnis zur katholischen Bevölkerung entwickelt? Die folgende Tabelle
giebt von dieser Entwicklung ein deutliches, für uns Deutsche leider nicht sehr
erfreuliches Bild.
Ergebnis: Bei den Evangelischen (und in noch stcirkerm Maße bei den Juden)
ein beständiges Sinken der Anzahl und des Prozentsatzes der Geburten, während
bei den Katholiken die an sich schon (um 10 xro mitis) höhere Anfcmgsziffcr
durch den ganzen Zeitraum festgehalten, hünfig sogar überschritten wird. Und
dabei kommt leider der Überschuß ihrer Geburten über die Sterbefülle der
evangelischen Bevölkerung nicht einmal vollständig zu gute, sondern wird durch
die Auswanorung (teilweise allerdings nur nach den, von Posen jedoch kom¬
munal getrennten, Vororten) größtenteils wieder aufgewogen. Dadurch, wie
auch durch die Verlegung eines großen Teils der Garnison nach eben jenen
Vororten erklärt es sich, daß die Zahl der evangelischen deutschen Einwohner
Posens sich vou 1885 bis 1895 nur um 247 Personen gehoben hat, obwohl
der Überschuß der Geburten über die Sterbefälle die Ziffer von 812 Köpfen
erreicht. Bei den Katholiken findet, umgekehrt, noch eine sehr bedeutende Ein¬
wanderung statt, wodurch es sich erklärt, daß ihre Zahl in jenen elf Jahren
(1885 bis 1896) um 5635 zugenommen hat, obwohl der Überschuß der Ge-
bürden nur 3313 Köpfe beträgt. Fassen wir aber das Gesamtergebnis zu¬
sammen, so können wir zu keinem andern Urteil gelangen als zu diesem: Wenn
es mit der Volksvermehrung in der bisherigen Weise weitergeht, so wird die
Stadt Posen in wenigen Jahrzehnten doppelt so viele polnische Einwohner
haben als deutsche.
Aber vielleicht wird man mir einwenden: „Die Zahl der Köpfe allein
machts doch nicht! Der Besitz, die Bildung — das sind die Hauptträger
der Macht, und so lange das deutsche Element in dieser Beziehung seine Über¬
legenheit bewahrt, braucht mau sich wegen des bloßen Zahlenverhältnisses der
Köpfe keine Sorgen zu machen."
Darauf ist zu entgegnen: Erstens: In der Zeit des allgemeinen Stimmrechts
hat die Zahl der Köpfe eine sehr ernste Bedeutung. Und ferner: Wie lange
wird denn dem Deutschtum seine Überlegenheit der Bildung und besonders
des Besitzes noch erhalten bleibe»? Das ist eben die zweite ernste Frage, die
sich dem Beobachter hier aufdrängt.
Die Überlegenheit der Bildung wird dem Deutschtum jedenfalls noch auf
lange Zeit gewahrt bleiben. Wir haben durch die große Anzahl der studirten
Beamten in dieser Beziehung einen gewaltigen Vorsprung. Aber andrerseits
ist auch nicht zu leugnen, daß das Polentum von dem, was es an gebildeten
Elementen hat, weit mehr Nutzen hat als das Deutschtum, dessen akademisch
gebildete Stunde — zum großen Nachteil für die deutsche Sache — mit dem
Bürgertum viel zu wenig Fühlung unterhalten.
Auch bezüglich des Einkommens und des Besitzes behauptet die deutsche
Bevölkerung zur Zeit noch entschieden das Übergewicht: von den 1966 Per¬
sonen, die für 1897/98 mit einem Jahreseinkommen von mehr als 3000 Mark
zur Staatseinkommensteuer herangezogen worden sind, gehören nur 315, d. h.
16 Prozent, der polnischen Nationalität an. Aber das sieht für uns tröstlicher
ans, als es wirklich ist; denn anch hier wieder beruht die Überlegenheit der
Deutschen viel mehr auf der große» Menge von hochbesoldeten Beamten und
Offizieren, als auf ihrer größern Betriebsamkeit und wirtschaftlichen Tüchtig¬
keit. Zudem fangen die Polen schon seit einiger Zeit an, uns auf dem wirt¬
schaftlichen Gebiet eine erfolgreiche Konkurrenz zu bereiten.
Dies zeigt sich zunächst in der Zunahme ihrer gewerblichen Unterneh¬
mungen, wie sie sich aus der beifolgenden Zusammenstellung der in Posen be¬
stehenden Handelsfirmen, Gesellschaften und Genossenschaften ergiebt:
Bei den Polen sinden wir also eine regelmäßige Zunahme, bei den Deutschen
Stillstand und sogar entschiednen Rückgang. Hätte ich diese Untersuchung auf
einen größern Zeitraum ausdehnen können, so würde sich unzweifelhaft heraus¬
gestellt haben, daß es sich hier nicht um eine vorübergehende Erscheinung,
sondern um eine beständige Entwicklung handelt. Andrerseits aber ist nicht
zu verkennen, daß es den einzelnen Polen doch nur sehr allmählich gelingt,
sich auf dem wirtschaftlichen Gebiet empor zu arbeiten. Dies wird deutlich,
wenn man ihren Anteil an dem Ertrage gewisser Steuern, z. B. der Gewerbe¬
steuer und der Staatseinkommensteuer, in Betracht zieht.
Von dem Gesamtertrag der beiden obersten Stufen der Gewerbesteuer
Masse ^ I mit durchschnittlich 216 und Klasse ^. II mit durchschnittlich
48 Mark Steuersatz) brachten nämlich auf
Seit der Einführung des neuen Gewerbesteuergesetzes hat sich das Ver¬
hältnis für die polnischen Gewerbetreibenden noch weiter verschlechtert. Von
dem Gesamtertrag der drei obersten Stufen der Gewerbesteuer (Klasse I mit mehr
als 50000. Klasse II von 20—50000, Klasse III von 4—20000 Mark
Ertrag) haben aufgebracht
Günstiger hat sich dagegen die Entwicklung der Einkommensteuerverhält¬
nisse für die Polen gestaltet. Von der Gesamtzahl der Censiten, die zur
Staatseinkommensteuer mit einem Einkommen von mehr als 3000 Mark ver¬
anlagt waren, bildeten
Von der Gesamtsumme des betreffenden Steuerertrages lieferten
Seit Einführung der Selbstdeklaration haben sich diese Verhältnisse für
die Polen wieder etwas ungünstiger gestaltet, sodaß z. B. ihr Anteil an dem
Gesamtertrag der Staatseinkommensteuer für 1897/98 nur noch 13,56 Prozent
beträgt, während der der Deutschen wieder auf 87,44 Prozent gestiegen ist,
wozu natürlich die im vorigen Jahr eingetretne Erhöhung der Beamtengehälter
stark mitgewirkt hat. Aber wie hoch man diese Mitwirkung auch anschlagen
mag, jedenfalls läßt sich nicht verkennen, daß die Polen nur langsam dazu
gelangen, sich zu einer höhern Stufe des Wohlstands emporzuschwingen. Umso
merkwürdiger erscheint aber dem gegenüber die Entwicklung, die in Posen die
Verhältnisse des Grundbesitzes während des in Rede stehenden Zeitabschnitts
genommen haben.
Seit 1885 haben nämlich gekauft:
mithin haben Polen 20 Wohnhäuser mehr gekauft als Deutsche.
An Neubauten sind in der Zeit von 1888 bis 1898 aufgeführt worden
im ganzen 320 Wohnhäuser. Davon entfallen
Die von den Deutschen erbauten Häuser repräsentiren indessen einen
größer» Wert, da von den Konsensgebühren (im ganzen 310025 Mark) von
den Dentschen 71,77 Prozent, von den Polen nur 28,23 Prozent erlegt worden
sind. Jedenfalls aber sind — sei es dnrch Kauf oder Neubau — von Deutschen
293 und von Polen 195 Häuser erworben worden.
Wer aber in einer Stadt wie Posen ein Haus erwerben will, muß un¬
bedingt zu den „obern Zehntausend," bei uns also mindestens zu den Steuer¬
zahlern mit einem Jahreseinkommen von mehr als 3000 Mark gehören. Nun
hat von 1885 bis 1898 die Gesamtzahl aller Censiten dieser Art im Durch¬
schnitt 1768 (und zwar 1506 Deutsche und 262 Polen) betragen. Darnach
müßte man — vorausgesetzt, daß keiner mehr als ein Haus erworben hat —
annehmen, daß innerhalb dieser zwölf Jahre von je 100 deutschen Censiten
etwa 19, von je 100 polnischen Censiten etwa 74(!) ein Haus erworben haben.
Die Unmöglichkeit dieser Annahme leuchtet ein. Die polnischen Häuser können
größtenteils nur mit fremdem Gelde gekauft oder erbaut worden sein. Was
liegt nun da wohl näher als die Vermutung, daß viele der aufgekauften pol¬
nischen Gutsbesitzer die Neste ihres Vermögens unter Vermittlung einer Posener
Polnischen Bank zur Erwerbung städtischer Hypotheken benützt haben? Inwie¬
weit hieran die preußische Ansiedlungskommisston beteiligt ist, läßt sich natür¬
lich nicht feststellen, aber ohne allen Zweifel hat ihre Thätigkeit zu dieser
ganzen, für die Lage des Deutschtums in den Städten so nachteiligen Güter-
bewegung den Anstoß gegeben.
Die von mir angeführten Daten werden wohl genügen, um zu beweisen,
daß das deutsche Element in der wichtigsten Stadt des Landes sich im Ver¬
hältnis zu den Polen an Zahl in bedenklichem Rückgang befindet und zugleich
in großer Gefahr ist, in absehbarer Zeit auch seine wirtschaftliche Überlegenheit
zu verlieren.
Mit dem bloßen Nachweis dieser Thatsachen ist indessen noch nicht viel
gewonnen, wenn es nicht zugleich möglich ist, ihre Ursachen anzugeben, denn
nur die richtige Erkenntnis dieser Ursachen könnte zur Auffindung der geeigneten
Gegenmittel hinführen.
(Schluß folgt)
er Verfasser des „Rückblicks aus dem Jahre Zweitausend" (^oolcw^
dalZl!>v!Z.ra) hat kürzlich unter dem Titel „Gleichheit" einen neuen
Band veröffentlicht,*) der eine Fortsetzung und ein Ausbau des
in dem „Rückblick" Vorgetragnen und zum Teil nur Angedeuteten
ist; Bellamy benutzt denn auch die dem „Rückblick" zu Grunde
gelegte Geschichte als Ausgangspunkt und als Rahmen für sein neues Buch.
Unsre Leser werden sich des „Rückblicks" erinnern. Julian West, ein
junger Bostoner Millionär, ist im Jahre 1837 eines Abends in einem unter¬
irdischen Zimmer, das er sich seiner Schlaflosigkeit wegen hat bauen lassen,
wie schon oft von einem Spezialisten in hypnotischen Schlaf versenkt worden.
In der Nacht war das Haus abgebrannt, Wests Diener ist beim Feuer um¬
gekommen, und man hat angenommen, daß auch West umgekommen sei. Der
magnetische Schlaf lei-xmes) hat aber den jungen Mann ein Jahrhundert lang
erhalten, und der neue Siebenschläfer wird im Jahre Zweitausend von einem
Dr. Leete in Boston, der in seinem Garten Ausgrabungen veranstaltet, auf¬
gefunden. Wie die alten Siebenschläfer bei ihrem Wiedereintritt in die Welt
das zu ihren Lebzeiten verfolgte Kreuz überall auf den Türmen der Dome
siegreich im Sonnenlichte funkeln sahen, so findet West bei seinem Wieder¬
erwachen den einst verlachten Zukunftsstaat, die Vergesellschaftung der
Produktion schon fast seit einem Jahrhundert eingeführt. Er verlobt sich mit
der Tochter seines Finders und Wirts, Miß Edles Leete, wird ein begeisterter
Bürger des neuen Amerikas und erzählt im „Rückblick" seinen neuen Zeit¬
genossen, welche Eindrücke ihre Einrichtungen auf ihn gemacht haben, und was
seine alten Zeitgenossen über das, was man damals allgemein für Utopien
gehalten habe, gedacht Hütten.
Jetzt schreibt er nun das zweite, ausführlichere Buch. Die Erzählung
spielt an der Scheide des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts,
setzt aber voraus, daß die wirtschaftliche Gleichheit schou seit Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts bestehe. Die frühern Unitsä 8we,<zö ok ^.uröricN
führen den amtlichen Titel KöxudUo ok elf Llolclsn unis. Die Übersetzungen
Freistaat der goldnen Regel, des goldnen Satzes, des goldnen Regiments usw.
geben leider alle den Titel mit seinen vielen Anklängen nicht wieder. Man
denkt dabei zunächst an das „goldne Zeitalter"; A'viator, Urals ist aber auch
der Hauptsatz der Jesuslehre „Liebet euch unter einander" und auf der andern
Seite der englisch-amerikanische Ausdruck für die Regeldetri.
Bellamys „Gleichheit" meint: Vergesellschaftung aller Gewerbe, alles
Handels, allgemeine Arbeitspflicht aller männlichen und weiblichen Staats¬
bürger während einer mäßigen Reihe von Dienstjahren, gleiches Recht aller
an den so erzeugten Gütern nach freier Auswahl, gleiche Erziehung und
gleicher Unterricht für alle bis zum zwanzigsten Jahre; alles bei vollster Er¬
haltung der Familie, des Familienlebens, des Privateigentums (mit Ausschluß
der Produktionsmittel) und des Erbrechts. Die Grundlage der Verfassung ist der
aristokratische Grundsatz, daß nur die Leute von Bildung und Besitz, die Leute,
die Verständnis für den Staat und besondres Interesse am Staate haben,
gute Staatsbürger sein können; nur geht die Republik nicht den alten Tory-
weg, den andern das Stimmrecht zu nehmen, sondern weil sie allen dasselbe
Stimmrecht giebt, verbürgt sie auch allen dieselbe Erziehung und ein völlig
gleiches Einkommen aus den Ergebnissen der organisirten, allgemeinen Arbeit.
Gerechnet wird noch immer nach Dollars und Cents, nur daß der Dollar ein
Begriff geworden ist, wie die alte Bcmkomark der Hamburgischen Girobank,
die bekanntlich diese ihre Münze auch nie in irgend welchem Metall jemals
ausgeprägt hat. Im Jahre von Wests Ausgrabung ist das Konto jedes er¬
wachsenen Bürgers und jeder erwachsenen Bürgerin der Republik mit einem
„Haben" von viertausend Dollars eröffnet worden, einer Summe, die nach
Dr. Leetes Berechnung dieselbe Kanfkraft hat wie siebentausend Dollars in
unsern Tagen. Jedermann ist also in der glücklichen Lage wie jemand, der
hente eine Million in dreiprozentigen Konsols besitzt, er hat ein Einkommen
von dreißigtausend Mark, das ihm vom Staate gewährleistet ist, nur mit dem
Unterschiede, daß er sich von diesen dreißigtausend Mark nichts sparen kann,
denn die Bürgertugend des Sparens gilt derart sür ein Vergehen an der
Nation, daß sie von Grund aus unmöglich gemacht worden ist: wenn jemand
von seinen viertausend Dollars am 3 l. Dezember irgend einen Teil nicht ver¬
braucht hat, so gilt dieser Nest als zu Gunsten der Gesamtheit verfallen, und
am 1. Januar werden alle Konter wieder mit dem für alle gleichen Jahres¬
guthaben eröffnet, das nach der letzten Jahresproduktion mit der nötigen reich¬
lichen Vorsorge für unvorhergesehene Fälle neu festgesetzt ist.
Schon in den ersten Tagen — es ist Ende September — stellt sich West
in Begleitung von Dr. Leete bei der zuständigen Bankfiliale in Boston vor
und läßt sich dort sein Konto mit den auf deu Rest des Jahres noch fallenden
1075,41 Dollars eröffnen. Er nimmt gleich Bankzettel (vouviiers) im Betrage
von dreihundert Dollars mit und läßt den Rest im Depot, genau so. wie er
es hundert Jahre früher bei seiner damaligen Bank gemacht haben würde.
Geld ist, wie gesagt, völlig abgeschafft, aber die ganze Wissenschaft des Bank¬
wesens überhaupt ist ja von Anbeginn gewesen, das wirkliche, das geprägte
Geld überflüssig zu machen und abzuschaffen.
Herr West prüft alsbald seine Vcmkzettel ans ihren innern Wert, indem
er Miß Leete und eine Freundin von ihr, die Generaldirektorin einer Papier¬
fabrik, zum Frühstück einlädt, und findet zu seiner Beruhigung, daß er in dem
staatlichen Palastrestaurant für sich und seine Damen die auserlesensten Gerichte
dafür bekommt, unbekannte Gerichte von einer Feinheit und Mannigfaltigkeit
des Geschmacks, wie er sie sich seinerzeit in Boston für irgend welchen Betrag
der damaligen Greeubacks nicht hätte verschaffen können. Dabei ist die Mahl¬
zeit unverhältnismäßig billig, denn das Haushalten ist auch vergesellschaftet
und wird nur noch von der Nation im Dienste aller Einzelnen streng ohne
jeden Nutzen betrieben. Man ist aber nicht gezwungen, immer erst sein Haus
zu verlassen, um sein Frühstück oder sein Diner einzunehmen, sondern man kann
von Hause aus telephonisch alles bestellen; die Küche des Viertels liefert dann
binnen einer Minute alles Gewünschte durch ein weitverbreitetes pneumatisches
Nöhrennetz ins Haus. Die Gefäße, in denen die Speisen befördert werden,
sind ans einer Art von Papierstoff hergestellt. In solchen Gefäßen werden
sie auch wieder erwärmt, aber nicht durch Feuer von außen, sondern durch
Einführung elektrischer Drähte von innen. Gekocht wird infolge dessen anch
auf sehr hübschen, aus Holz geschnitzten Herden. Wie die Indianer einst das
Wasser in Töpfe» von Birkenrinde kochten, indem sie erhitzte Steine hinein
warfen, so kochen wieder die Kinder der neuen Zeit: die Geschichte von der
ewig aufsteigenden Spirallinie. Servirt wird auf Geschirr, das aus einer
andern Papiermasse besteht und so hübsch ist, daß sich unser Porzellan nicht
entfernt damit würde vergleichen lassen. Kein Geschirr wird zweimal benutzt,
ebenso wenig die Leibwäsche, die Kleider, die wieder aus einem andern papier¬
artigen Stoff angefertigt sind. Um sich wirkliche Reinlichkeit zu sichern, hat
man das Waschfaß ganz abgeschafft. Ist irgend ein Stoff so schmutzig ge¬
worden, daß man wünschen möchte, ihn zu waschen, so wirft man ihn weg,
oder vielmehr alles wandert in die verschiednen Fabriken zurück, um wieder
in neue Sachen umgeschaffen zu werden.
Ungeheuer ist natürlich der Unterschied zwischen Fabriken, wie sie West
nun sieht, und denen, die er gekannt hat. Damals niedrige Räume, die Decke
aus rohen Balken, die Wände aus nackten oder weißgekalkten Ziegelsteinen,
alles der Raumersparnis wegen so mit Maschinerie vollgestopft, daß für die
Arbeiter kaum Platz bleibt, sich unter den sausenden Armen und Klauen von
Stahl zu bewegen, jede falsche Bewegung mit Tod oder Verstümmlung bedroht,
die Luft ein Ausdünstnngsgemisch von Öl und Kehricht, von ungewaschnen
Körpern und schmutzigen Kleidern und bestündig erfüllt von dem ununter-
brochnem Donnern und Drohnen der Maschinen, wie von dem Getöse eines
Wirbelwinds, endlose Reihen von bleichen, hohlwangigen Frauen, die Gesichter
ausdruckslos bis auf den Zug des Elends, ihre Kleidung zerrissen, verschlissen
und schmutzig, unzählige Mengen von zerlumpten kleinen Kindern mit welken
Gesichtern, von Kindern, noch mit der Muttermilch im Blute und mit Knochen,
die noch nicht hart geworden sind. Dagegen nun diese schönen prächtigen
Menschen, denen die müßige Arbeit in den herrlichen Räumen eine Lust und
eine Freude ist! Die Arbeiter bestimmen eben selbst, wie das Werk gethan
werden soll, und es ist nicht zu verwundern, daß die Arbeitsbedingungen so
angenehm wie möglich sind.
Wohlverstanden, nicht die Arbeiter in einem Gewerbe setzen die Arbeits¬
bedingungen ihres besondern Berufs fest: der Lebensnerv unsrer Verwaltung
ist ihre Einheitlichkeit, ohne die sie sofort unmöglich werden würde. Wenn
die Mitglieder jedes einzelnen Berufs ihre Arbeitsbedingungen selbst anordneten,
so würde sofort die Versuchung da sein, diesen Beruf selbstsüchtig und den
allgemeinen Interessen der Gesamtheit entgegengesetzt einzurichten: sie würden,
wie früher die Kapitalisten, so viel als möglich zu bekommen und so wenig als
möglich zu geben suchen, und nicht nur jede Berufsgenossenschaft, sondern sogar
jede Unterabteilung in ein und demselben Berufe würde diese Politik verfolgen,
bis die ganze neue Ordnung zersetzt wäre und man die Kapitalisten wieder aus
ihren Gräbern zu Hilfe rufen müßte. Nicht gewisse Arbeiter, sondern die Arbeiter
als ein Ganzes, mit andern Worten das gesamte Volk, denn alle sind ja Arbeiter,
ordnet durch die Negierung die gegenseitige Anpassung aller Arbeitsbedingungen.
Aber gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen in jedem Berufe sehr wirksam,
wenn auch mittelbar, durch die darin beschäftigten Arbeiter beeinflußt: alle
Bürger und Bürgerinnen haben nämlich das Recht, ihre Beschäftigung selbst
zu wählen und zu ändern. Da aber niemand eine Beschäftigung wählen
würde, deren Bedingungen nicht zufriedenstellend sind, so müssen in allen Be¬
rufen die Arbeitsbedingungen befriedigend gemacht und erhalten werden.
Die Kleider sind, obgleich gar keine lange Dauer beabsichtigt wird, doch
ungemein haltbar und wetterbeständig bei außerordentlicher Leichtheit und
Zartheit des Gewebes, künstlerischem Reiz der Farben und erstaunlicher Schön¬
heit und Mannigfaltigkeit im Schnitt. Das, was wir Mode nennen, giebt es
nicht mehr. Die Diktatur gewisser Schneider und Fabrikanten hat aufgehört.
Man richtet sich weder nach dem Prinzen von Wales noch nach einem andern
Gentleman oder Gesellschaftsleiter, weder nach Modejournalen noch nach
Pariser Vorschriften. Die Regierung ist das Werkzeug des Volkswillens:
während sie sehr gebräuchliche und häufig geforderte Stoffe, Farben und
Schnitte in großer Auswahl vorrätig hält, liefert sie auch die Stoffe und die
Kostüme aller Zeiten und jeder Laune sofort auf Bestellung, sie ordnet die
Kleiderfrage nicht nach den Beschlüssen der Mehrheit, soudern nach den Wünschen
jedes Einzelnen, sie ist anch sonst überall wirklich das, was sie angeblich in
Amerika schon immer gewesen ist: das Werkzeug, wodurch das Volk seinen
Willen in Wirkung umsetzt, das aber selbst völlig ohne Willen ist.
Der öffentliche Wille wird auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig ver¬
schieden sind, wie sie sich auf völlig verschiedne Gebiete beziehen. Erstens
gemeinschaftlich durch Mehrheit in Bezug auf die allen gemeinsamen Interessen,
also die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, zweitens persönlich
durch jeden Einzelnen selbst, wenn es sich um private Dinge, um Dinge
handelt, die nur jeden Einzelnen selbst angehen. Die Negierung ist ebenso
vollkommen die Dienerin des gemeinschaftlichen Willens in Bezug auf die
gemeinschaftlichen Interessen, wie sie in persönlichen Dingen die Dienerin der
Bequemlichkeit jedes Einzelnen ist. Sie ist gleichzeitig der erhabne Repräsentant
aller in allgemeinen Dingen und jedermanns Agent, Lausbursche und Faktotum
für alle privaten Zwecke; nichts ist so hoch oder so niedrig, so groß oder so
klein, daß sie es nicht für jeden thäte.
Schmuck, Edelsteine, Juwelen werden nicht mehr getragen. Der alte Jere-
mias würde sich verwundern, wenn er seine Frage: Kann eine Jungfrau ihres
Schmucks vergessen? mit ja beantwortet fände. Schmuck zu tragen, mit Kost¬
barkeiten zu prunken hat keinen Sinn unter Leuten, von denen jeder weiß, daß
das Bankkonto des andern ebenso groß ist wie das eigne; daher ist es all¬
mählich abgekommen. Gold, Silber, Edelsteine werden nur noch zu technischen
Zwecken verwendet.
Der Wunsch, dem andern Geschlecht zu gefallen, ist natürlich bei beiden
Geschlechtern noch genügend stark und zwar gleich stark vorhanden; man kann
aber nur noch dadurch gefallen, daß man durch natürliche Gaben glänzt, die
man möglichst hoch entwickelt hat. Die Männer legen viel mehr Wert auf
ihre Erscheinung, da ihnen nicht mehr ihr Geldbeutel, sondern nur noch ihre
Persönlichkeit Glück bei Frauen verschafft. Die Frauen leben nicht mehr so
ausschließlich wie früher der Toilette, da sie etwas Gescheiteres zu thun haben
und in Bezug auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen von den Männern völlig
unabhängig geworden sind: sie haben es nicht mehr nötig, die Augen der
Männer durch alle Mittel auf sich zu ziehen, um versorgt zu werden.
Es lebt sich überhaupt sehr gut in Boston am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts. Die Sonntage und die öffentlichen gesetzlichen Feiertage sind
abgeschafft. Man bedarf dieser jämmerlichen Pausen nicht mehr, die das
arbeitende Volk früher nötig hatte, damit es wenigstens von Zeit zu Zeit
einmal Atem holen konnte. Jetzt, wo der Arbeitstag so kurz geworden ist und
das Arbeitsjahr so mit reichlichen Ferien durchsetzt ist, hat der altmodische
Feiertag aufgehört, irgend welchem Zwecke zu dienen und würde nur als
Unsinn empfunden werden. Man zieht vor, seine Mußestunden zu wählen und
zu verwenden, wie man will, und man kann sie sehr gut verwenden, diese reich¬
lichen Mußestunden. Der Raum ist fast gänzlich überwunden. Neben Bahnen
aller Art, die mit unglaublicher Schnelligkeit jedermann unentgeltlich befördern,
wohin er will, hat der Gebrauch des Fahrrads und andrer Arten selbstthätiger
Fortbewegung eine riesige Ausdehnung gewonnen. Die Pferde sind vollständig
abgeschafft, kein Zugtier irgend welcher Art ist mehr nötig. Schmale Straßen,
glatt wie ein Teppich und sauber wie ein Tisch, überziehen wie ein dichtes
Netz das ganze Land. Die Luftschiffahrt ist hoch entwickelt, und wem die
Fortbewegung auf festem Boden nicht genügt, kann sich auf jedem öffentlichen
Platz eine Luftdroschke mieten. So in der reinen Luft über das Land dahin¬
zugleiten, gewährt einen besondern Genuß. Die Sünden der Väter sind wieder
gut gemacht, das ganze Land sieht aus wie ein großartiger Park, unsre Gro߬
städte mit ihrer gedrängten Bauart sind verschwunden, eine mächtige Wieder¬
aufforstung schützt für immer die Fruchtbarkeit des Landes.
Auch das Problem der Unterseeschiffahrt ist gelöst, in und auf dem Meere
wimmeln Flotten von Fahrzeugen, die aber nicht mehr der Verteidigung und
dem Angriff, sondern ausschließlich der Fischerei, dem Verkehr und dem Ver¬
gnügen dienen.
Von seinem Hause aus ist man imstande, mit Hilfe des Elektroskops, das
mit einem sehr vervollkommneten Telephon verbunden ist, Musikaufführungen,
Konzerte, Opern, Dramen, gymnastische Aufführungen, Schaustellungen aller
Art, fremde Gegenden und Länder, Versammlungen von irgend welcher Be¬
deutung sich mit ein, zwei Handgriffen vor Auge und Ohr zu rücken. Diese
technischen Hilfsmittel sind so vollkommen, daß die verwickeltsten und viel¬
fältigsten Arten der Abstimmung über alle möglichen Gegenstände auffallend
leicht geworden sind, so leicht, daß die ganze Nation bei jeder wichtigen Ma߬
regel, die über die Grenzen der laufenden Geschäftserledigung hinausgeht, wie
ein großes Parlament verhandeln kann: man entscheidet also in jedem solchen
Falle binnen unglaublich kurzer Zeit durch Volksabstimmung. Nicht aus
Furcht: tus rsxublio ok Als goläsn rulo könnte sich ganz ruhig von irgend einer
ausgewählte» Körperschaft diktatorisch regieren lassen, denn die wirtschaftliche
Gleichheit schützt ja alle Lebensinteressen des neue» Systems aufs vollkommenste,
und niemand kann aus irgend einem andern Grunde ein Amt annehmen, als
um sich allgemeine Achtung, weitverbreitete Dankbarkeit und die Möglichkeit zu
erwerben, sich immer aufs neue den Genuß zu verschaffen, den die Ausübung
höherer, leitender Thätigkeit gewährt, und der nun ihr einziger, aber auch der
Lohn ist, der ihr unzertrennlich anhaftet und innewohnt. „Wir thun es eigentlich
nur des Vergnügens wegen, wie zu Ihrer Zeit reiche Herren, auch wenn sie
einen Kutscher hatten, doch gern selbst die Zügel führten," sagt Dr. Leete.
(Schluß folgt)
UDMi kann den 24, April 1884 als den Geburtstag der deutschen
Kolonialpolitik ansehen. An diesem Tage wies Fürst Vismarck
den deutschen Konsul in Kapstadt telegraphisch an, er solle amtlich
erklären, daß der Bremer Kaufmann Lüderitz und seine rechtlich
erwortmen Niederlassungen an der Bucht von Angra Pequena
unter dem Schutze des deutschen Reichs stehen. Die seitdem verstrichne Zeit
rechtfertigt anscheinend noch nicht den Versuch, schon jetzt das Gewonnene in
kühler Abwägung auf seinen Wert zu prüfen und daraus Ergebnisse zu ziehen,
die als sicher ausgegeben werden können, trotzdem ist dieser Versuch kürzlich
in einem Sammelwerke gemacht worden, das seine Entstehung eigentlich einem
Zufall, einer Veranstaltung verdankt, deren Dauer nur auf wenige Monate be¬
rechnet worden war. Aber der Erfolg dieser Veranstaltung, der ersten deutscheu
Kolvnialausstellung, die in Berlin im Zusammenhang mit der Gemerbe-
ausstellnng von 1896 stattgefunden hat, war für die Unternehmer so über¬
raschend, daß sie beschlossen, die Erinnerung an das vorübergegcmgne Ereignis
wenigstens durch litterarische und künstlerische Hilfsmittel festzuhalten. Obwohl
die Vorarbeiten anfangs nur eine geringe Aussicht auf Erfolg verheißen hatten,
obwohl selbst die Berliner Abteilung der deutschen Kolonialgesellschaft dem
Unternehmen Mißtrauen entgegengebracht hatte, aus Furcht, es könnte ihr
großes Werk durch einen ungünstigen Ausgang der Sache kompromittirt werden,
gewann allmählich doch das Vertrauen zu den Männern, die an die Spitze
getreten waren, am meisten aber das Vertrauen zur Sache selbst die Oberhand.
Insbesondre traten die großen deutschen Exportfirmen, die mit Recht in einer
solchen Ausstellung ein mächtiges Agitationsmittel sahen, kräftig dafür ein,
und der Erfolg hat gelehrt, daß sie sich nicht in ihrer Hoffnung betrogen
haben. Trotzdem daß ein besondres Eintrittsgeld erhoben wurde, ist die Aus¬
stellung von mehr als zwei Millionen Menschen besucht worden und hat bei
der Gesamtsumme der Ausgaben etwa von 645000 Mark einen Überschuß etwa
von 70000 Mark in barem Gelde ergeben, wozu noch die sehr umfangreichen
Bestände kommen, die bei Ablegung der Rechnung noch nicht verkauft waren.
Man braucht kein Anbeter des Erfolges zu sein, um doch in diesem Er¬
gebnis ein Zeichen dafür zu sehen, daß die schnell wie ein Strohfeuer entflammte
Kolonialschwärmerei, die anfangs sogar höchst burleske Formen annahm, in
einem nur kurzen Zeitraum besonnener Betrachtung und einsichtiger Förderung
gewichen ist, und daß die Kolouialbewegung schneller, als zu hoffen war, eine
solide Grundlage gewonnen hat, die auch durch einige häßliche, tief beklagens¬
werte Ereignisse, die in jüngster Zeit in der innern Verwaltung unsrer Kolonien
vorgekommen sind, nicht mehr erschüttert werden kaun.
Diese Besonnenheit, diese ihres Zieles bewußte, im stillen fortschreitende
Arbeit, die jetzt überwiegend die Kennzeichen der von Privatleuten getragnen
deutscheu Kolonialbewegung wie der amtlichen Kolonialpolitik sind, spiegeln
sich auch in dem erwähnten Werke wieder, das die wissenschaftlichen und
praktischen Ergebnisse der Berliner Kolonialausstellung zusammenfaßt/") Wenn
die Herausgeber auch mit berechtigtem Stolz auf ihren Erfolg der Beschreibung
der Ausstellung einen beträchtlichen Teil des Werkes eingeräumt haben, so
liegt doch sein Schwerpunkt nicht darin, sondern in dem wissenschaftlichen Teil,
der wieder in mehrere Unterabteilungen zerfällt, in denen mit echt deutscher
Gründlichkeit die Geschichte der deutschen Kolonien, ihre handelspolitische Be¬
deutung, ihre geographische Lage, ihr Klima behandelt werden, wozu sich dann
noch erschöpfende Bearbeitungen der Völkerkunde, der Zoologie, der Botanik
und der Geologie in den deutschen Schutzgebieten gesellen.
Es ist den Herausgebern und dem mit der Redaktion des Werkes beauf¬
tragten Fachmanne gelungen, zur Bearbeitung dieser verschiednen Gebiete Kräfte
heranzuziehen, die, mit dem erforderlichen wissenschaftlichen Rüstzeug ausgestattet,
ihre Aufgaben mit Eifer und tief eindringender Sachkenntnis gelöst haben.
Obwohl Journalist von Beruf ist Gustav Meinecke, seit zehn Jahren Leiter
der Deutschen Kolonialzeituug. nicht einer der Kolonialpolitiker vom „grünen
Tisch." Vor drei Jahren hat er selbst eine Reise nach Deutsch-Ostafrika ge¬
macht, hat die deutschen Schutzgebiete aus eigner Anschauung kennen gelernt
und sich um die Anlage und Förderung von Kaffeepflanzungen bemüht, deren
Gedeihen allerdings leider durch das Auftreten eines schwer zu bekämpfenden
Parasiten beeinträchtigt worden ist. Der Versuch, günstigen Boden für Kaffee¬
bau zu gewinnen, ist aber geglückt, und an andern Orten Deutsch-Ostafrikas
sind auch schon mit dem Kaffeebau verheißungsvolle Erfolge erzielt worden.
Auf der Berliner Ausstellung ist schon viel Kaffee der Usambaragesellschaft
getrunken worden, und er hat auch Beifall gefunden. Seine Güte wird mit
den Jahren zunehmen, weil sie von dein Alter der Pflanzungen abhängt. Einen
ebenso günstigen Boden glaubt man in Ostafrika für die Anpflanzung von
Zuckerrohr gefunden zu habe», und auf Anregung Meincckes hat sich schon
eine Gesellschaft gebildet, die auch für diesen Versuch Geldmittel hergeben will.
Durch diese Verbindung von praktischen Zwecken mit litterarischer Thätigkeit
hat Meinecke eine feste Organisation geschaffen, die ihren Mittelpunkt in der
Deutschen Kolonialzeitung, in einem Kolonialen Jahrbuch und einem Kolonial¬
kalender erhalten hat und sich jetzt auch bei der Zusammenstellung und Gliede¬
rung des reichen Stoffes, der ihm von seinen Mitarbeitern zugeflossen ist,
bewährt hat.
Daß die eigentlichen Kolonialmänner, die aus geschäftlichem Interesse
oder aus persönlichem Ehrgeiz, weil sie in dieser Pionierarbeit das ideale
Ziel eines sonst unbefriedigten Strebens sehen, kräftig mitgewirkt haben,
ist selbstverständlich. Es -muß aber, wie wir aus der Haltung des
ganzen Werkes sehen, für alle Mitarbeiter die Parole ausgegeben worden
sein: „Haltet euch fern von allen leeren Phrasen und allem Überschwang!"
Als bezeichnend für diese Zurückhaltung darf ein Aufsatz von Konsul Zimmer¬
mann herangezogen werden, der sich über die Notwendigkeit der Kolonialpolitik
von handelspolitischen Gesichtspunkten aus verbreitet. Auch der Skeptiker, der
noch mit Mißtrauen auf unsre kolonialen Bestrebungen sieht, wird kein Wort
finden, das er als „kolonial-fanatisch" brandmarken könnte. Nach einem ge¬
schichtlichen Überblick über die Entwicklung der Kolonisation, beiläufig gesagt,
einem Muster knapper und doch alles Wesentliche umfassender Darstellung,
wägt er die Vorteile und die Nachteile der Kolonialpolitik gegen einander ab.
Neue Gesichtspunkte kommen dabei nicht zu Tage, und das wird niemand
überraschen, der die Koloniallitteratur der letzten Jahrzehnte, die Polemik in
den Zeitungen, die Debatten im Reichstage usw. verfolgt hat. Das Für und
Wider ist so erschöpfend behandelt, daß der Augenblick gekommen ist, wo nichts
Belangreiches mehr gesagt werden kann, und man die praktischen Erfolge der
Kolonialpolitik abwarten muß. Luftschlösser zu bauen und glänzende Aus¬
sichten zu eröffnen lag aber auch nicht in der Absicht der Herausgeber dieses
Werkes, das einen im wesentlichen historischen Charakter haben sollte, und an
ihm hat Zimmermann in seinem Aufsätze auch bis zum Schluß festgehalten,
wo er von den Nachteilen spricht, die Deutschland aus kolonialen Besitz er¬
wachsen könnten. Er denkt hierbei an zwei Möglichkeiten. Einerseits könnten
durch unsern Kolonialbesitz „in irgend einer Weise Staaten, mit denen der
deutsche Handel wichtige Beziehungen unterhält, zu feindseligen Maßnahmen
gegen das Reich gereizt werden," und andrerseits könnten „etwa durch aben¬
teuerliche Maßnahmen die Finanzen des Reichs zu stark in Anspruch genommen
und Mittel, welche zur Befriedigung dringender Bedürfnisse dienen, dem deutschen
Volke entzogen werden." Es ist bisher weder zu dem einen noch zu dem andern
gekommen, und es wird nach der Meinung des Verfassers auch nicht dazu kommen,
„so lange eine maßvolle Regierung am Nuder ist, und die Volksvertretung ihre
Pflicht thut. Bisher haben alle deutschen Schutzgebiete mit den an sie grenzenden
fremden Kolonien die besten Beziehungen unterhalten. Die Reichsregierung hat
ängstlich jeden Schritt vermieden, der zu irgend welchen Verwicklungen führen
könnte, und ebenso hat sie uferlosen Plänen, die von Zeit zu Zeit von privater
Seite auftauchen, niemals ihr Ohr geliehen. Solange diese Grundsätze befolgt
werden — und es ist nicht zu befürchten, daß das in absehbarer Zeit nicht
der Fall sein würde —, wird die koloniale Politik Deutschlands Volks¬
wirtschaft im allgemeinen und seinem Handel im besondern nur Vorteile
bieten."
Dem wissenschaftlichen Teile des Werkes ist besonders die Mitarbeiterschaft
der Beamten der königlichen Museen Berlins zu gute gekommen, die von
Anfang an dem Unternehmen ihr Wissen und ihre persönliche Mitwirkung in
regem Schaffenseifer zur Verfügung gestellt haben. Es ist bekannt, daß die
Pioniere der deutschen Wissenschaft, Forschungsreisende und Naturkundige,
schon um mehrere Jahrzehnte den deutschen Kolonisten voraufgezogen sind und
dafür gesorgt haben, daß diese nicht völlig unbekannten Boden betraten. Nicht
wenigen ist es auch gelungen, ihre reichen zoologischen, botanischen, ethno¬
logischen und sonstigen Sammlungen glücklich heimzubringen, und schon seit
den sechziger Jahren ist vieles davon nach Berlin gekommen, wo die Samm¬
lungen später in den prächtigen Museen für Völker- und Naturkunde aufgestellt
und systematisch bearbeitet worden sind. Bei dieser Arbeit hat sich mit der
Zeit eine stattliche Zahl von Gelehrten herangebildet, die mit dem erforder¬
lichen Rüstzeug ausgestattet waren, als ihnen die Kolonialausstellung eine kaum
übersehbare Fülle neuer Schätze eröffnete. Von besondrer Wichtigkeit war dabei
die mit großen Kosten verknüpfte Überführung von Bewohnern aller deutschen
Schntzgebiete nach Berlin, die freilich zunächst zur Befriedigung der Schaulust
des großen Publikums dienen sollten, mit der gerechnet werden mußte, wenn
man eines finanziellen Erfolgs sicher sein wollte. Diese Vorführung von
Suahelis, Duallcmegern, Masfais, Togo- und Neu-Guinealeuten, Hereros und
Hottentotten, die die getreu nach der heimischen Gewohnheit erbauten und ein¬
gerichteten „Eingebornendörfer" belebten, hat denn auch in der That das Glück
der Ausstellung gemacht, zugleich aber auch der anthropologischen und ethnogra¬
phischen Wissenschaft ein überaus wertvolles Material zugeführt, das von Pro¬
fessor von Luschnn, dem vielgewanderten Reisenden, Arzt und Naturforscher zu¬
gleich, im Verein mit mehreren Fachgenossen mit größter Sorgfalt bearbeitet
worden ist. Was an Ort und Stelle nur unter den größten Schwierigkeiten oder
gar nicht erreicht werden kann: anthropologische Messungen und photographische
Aufnahmen, die wissenschaftlich brauchbar sind, das konnte in den Ein-
gebornendörfern der Ausstellung unter den günstigsten Bedingungen, wenn man
von den klimatischen Widerwärtigkeiten des naßkalten Sommers von 1896
absteht, und mit den vollkommensten Hilfsmitteln vorgenommen werden. Diese
Ausbeute allein, die in einer ausführlichen Beschreibung, in Meßtabellen und
auf zwanzig in Lichtdruck nach photographischen Aufnahmen ausgeführten Tafeln
mitgeteilt wird, rechtfertigt schon den großen Aufwand, den die Herausgabe
des Werks verursacht hat, der aber keineswegs durch den Preis wieder eingebracht
werden soll. Der Preis ist im Gegenteil sehr niedrig angesetzt worden, weil man
eine große Verbreitung des Werks zur Bekämpfung falscher Anschauungen und zur
Aufklärung über die Bewohner, die Fauna, die Flora und die geologische Be¬
schaffenheit unsrer Schutzgebiete wünscht. Diesen letzten Zwecken dienen die
ebenfalls mit gründlicher Sachkenntnis verfaßten, reich illustrirten Abschnitte
über Zoologie von Paul Matschie, über Botanik von M. Gurke und über
Geologie von Strömer von Reichenbach. Die Verfasser behaupten zwar mit
Bescheidenheit, uur Stückwerk, im besten Falle nur Vorarbeiten geliefert zu
haben; der Laie bekommt aber — und für Laien ist das Werk zunächst be¬
stimmt — den Eindruck, daß ihm hier schon reife Früchte wissenschaftlicher
Forschung in anziehender, gemeinverständlicher Form geboten werden.
n seiner jüngst erschienenen Broschüre „Flotte und Flottengesetz"
hat Herr Eugen Richter auf Seite 11 unter Zurückweisung einer
ans die Haltung der Fortschrittspartei gegenüber dem Flottcn-
gründungsplcm von 1867 bezüglichen Bemerkung des Abgeordneten
Nickert behauptet: „über den Plan von 1867 hat der Reichstag
keinen Beschluß gefaßt."
Mit derselben Behauptung hat seinerzeit die „Freisinnige Zeitung" eine
Äußerung zurückweisen zu können geglaubt, die ich bei meinem Vortrag über
die Flottenfrage im Architektenhanse in Berlin am 13. September v. I. gethan
hatte, und die lautete:*)
Jener Plcin ist der einzige feste Boden, auf den wir uns stellen können, um
uns nicht in dem Labyrinth der spätern Pläne und der hierüber gepflognen Reichs¬
tagsdebatten zu verlieren und uns mit abgethanen Parlamentarischen Situationen
zu beschäftigen, was zu einer unfruchtbaren retrospektiven Kritik führen müßte. Wir
haben die Zukunft im Auge. Und für diese bleibt, wie für die Vergangenheit, der
Plan von 1867 die leider nicht immer festgehaltne gesetzliche Norm für die not-
Wendige Entwicklung und Unterhaltung unsrer Marine. Alle spätern Pläne und
Denkschriften waren lediglich thatsächliche Kompromisse, einerseits zwischen wechselnden
Ansichten der jeweiligen Marineverwaltung über die augenblicklich dringendsten Be¬
dürfnisse, und andrerseits der Rücksicht auf die Bewilligungschancen im Reichstag,
je nach seiner derzeitigen Zusammensetzung. Von diesen spätern Plänen und Denk¬
schriften hat noch in der letzten Reichstagssitzung unwiderlegt gesagt werden können,
daß dieselben niemals zu bindenden, gesetzlichen Beschlüssen erhoben worden seien.
Die geschlossenen Kompromisse hatten aber die Vernachlässigung bald der einen,
bald der andern Aufgabe und schließlich die verminderte Leistungsfähigkeit der
Flotte für alle ihre Aufgaben zur Folge. Der Flottengründungsplan von 1867
ist aber durch keinen spätern gesetzgeberischen Akt aufgehoben worden und muß
wieder die feste Richtschnur werdeu.
Dem gegenüber sagte die „Freisinnige Zeitung": „Jener Plan ist weder
durch Gesetz, noch durch eine Zustimmung des Reichstags festgelegt morden,
vielmehr ist derselbe nur eine Motivirung der damaligen Anleiheforderungen
von dreißig Millionen Mark gewesen." Ich schiene wohl, so schloß jener
Angriff, vor meiner Marinerede das Neichstagsgesetzblatt von 1867 und die
Anlagen zu den Reichstagssitzuugen jener Zeit nicht in die Hand genommen
zu haben.
Bei der entscheidenden grundsätzlichen Bedeutung, die der Frage einer
Bindung des Reichstags hinsichtlich seines verfassungsmäßigen Budgetrechts
für die Annahme des Flottcngesetzentwurfs von seinen Gegnern beigelegt wird,
erscheint es gerade jetzt von Wert, die Behauptung des Leiters der „Freisinnigen
Zeitung" an der Hand der Verhandlungen des Norddeutschen Reichstags und
des Deutschen Reichstags auf ihre geschichtliche Richtigkeit zu prüfen.
Der Bundeskanzler Graf von Bismarck legte mit Schreiben vom 15. Ok¬
tober 1867 dem Reichstag des Norddeutschen Bundes den Entwurf eines
,,Gesetzes, betreffend den außerordentlichen Geldbedarf des Norddeutschen Bundes
zum Zwecke der Erweiterung der Bundeskriegsmarine und der Herstellung der
Küstenverteidigung nebst Motiven, wie solcher von dem Bundesrate beschlossen
worden, zur verfassungsmäßigen Beschlußnnhme" vor. Diese Motive enthielten
den sogenannten Flottengründnngsplan. der unbestrittenermaßen den Aufbau
der Bundeskriegsmarine innerhalb einer ersten Periode von zehn Jahren be¬
zweckte. § 1 des Gesetzes lautete:
Zur Bestreitung der außerordentlichen Ausgaben sür die Bundesmarine, soweit
dieselben während der nächsten Jahre nach Maßgabe der Bestimmungen des Artikels 70
der Verfassung des Norddeutschen Bundes ihre Deckung nicht finden, sowie zu den
Kosten der Küstcnverteidigung sind die erforderlichen Geldmittel bis auf Höhe von
Aedil Millionen Thaler durch eine verzinsliche Anleihe zu beschaffen, die nach
Maßgabe des Bedarfs allmählich zu realisiren und der Marine-, resp. Militärver¬
waltung zu überweisen ist.
Der Gesetzentwurf kam in der Sitzung vom 22. Oktober 1867 zur Ver¬
handlung. Zunächst begründete der Vundeskommissar Kontreadmiral Jachmann
die Vorlage, indem er ausführte, daß die Regierung hoffe, mit der Flotte
die derselben in der Denkschrift gestellten Aufgaben erfüllen zu können, wenn
es ihr gelungen sein werde, innerhalb einer zehnjährigen Frist mit den bean¬
tragten Mitteln die Bundesflotte auf die in der Denkschrift angegebne Stärke
von sechzehn Panzerschiffen, zwanzig Korvetten und einer Anzahl kleinerer
Schiffe zu bringen. Die in der Anlage III der Denkschrift enthaltne Auf¬
stellung über Zweck und Verwendung der beantragten Mittel solle nicht eine
stritte Norm für die fortlaufenden zehn Jahre sein, vielmehr würde der alljähr¬
lich dem Reichstag vorzulegende Staatshaushaltsetat über die spezielle Ver¬
wendung der Mittel jedes kommenden Jahres Aufschluß geben. Es käme
jedoch darauf an, daß der Reichstag anerkenne, daß die von der Regierung
beantragten außerordentlichen Mittel für die Förderung der Flotte nötig seien,
und daß die Flotte in der beantragten Stärke sich nicht durch die im Etat
bewilligten Mittel erlangen ließe.
Der erste Redner war der zur Fortschrittspartei gehörige Abgeordnete
von Kirchmann. Er erkannte an, daß es sich bei dem Gesetzentwurf um die
Zustimmung für Ausgaben von 80 Millionen Thalern im Interesse der
Marine in den nächsten zehn Jahren handle. Auch erklärte er, daß er hin¬
sichtlich des Planes der Regierung, wie er sür die erste Periode (zehn Jahre)
angedeutet sei, keine wesentlichen Bedenken namens seiner politischen Freunde
erhebe, doch glaube er, statt des vorgeschlagnen Weges der Anleihe den einer
eventuellen Erhöhung der Matrikularbeiträge empfehlen zu sollen. Nach
Artikel 73 der Verfassung sei die Beschließung von solchen Anleihen allerdings
zulässig, doch bestehe keine Verbindlichkeit hierzu. Er befürwortete eine Jahres¬
bewilligung in der Höhe des für das kommende Jahr notwendigen Bedarfs
und schloß mit dem Satz: „Wenn das für das eine Jahr geschehen ist, so ist
meines Erachtens auch die Regierung vollkommen gedeckt für die spätern Jahre,
denn, wie ich schon ausgeführt habe, der Beschluß des Hauses wird gewiß in
den spätern Jahren, soweit er sich eben auf die Fortführung eines in seinem
Anfang genehmigten Planes bezieht, festgehalten werden."
Hierauf nahm Abgeordneter Tochter das Wort zu der Vorlage und zu
einem von ihm eingebrachten Amendement folgenden Wortlauts: „Nach § 8
des Gesetzentwurfs als K 9 einzuschalten: Die auf Grund dieses Gesetzes zu
erhebenden Anleihequoten und die aus der Anleihe zu verwendenden Summen
sind alljährlich durch den Bundeshaushaltsetat oder durch ein besondres
Gesetz festzustellen." Herr Tochter begründete sein Amendement folgender¬
maßen:
Wir sehen aus den Motiven und ans dem Vergleich derselben mit dem von
uns für das Jahr 1868 bewilligten Marineetat, daß durchschnittlich in den nächsten
zehn Jahren jährlich acht Millionen (Thaler) auf die Marine verwendet werden
sollen; die Summe bleibt ungefähr dieselbe nach dem Plan der Regierung. Ein
Unterschied liegt nur darin, daß im Anfang das Extraordinarium größer und das
Ordinarium geringer ist, während allmählich beim Wachsen der Marine das Ordi-
narium größer, das Extraordinarium geringer wird. . . .
Der Zweck, die Marine schneller zu erweitern und schneller auf einen achtung¬
gebietenden Fuß zu bringen, als es dnrch Matrikularbeiträge geschehen kann, wird
im ganzen Hause keinem Widerspruch begegnen. Damit ist für mich die Frage der
Anleihe entschieden. Die Regierung glaubt für die nächsten zehn Jahre zehn Mil¬
lionen (Thaler) durch eine Anleihe aufbringen zu müssen. Ich finde nicht daS
mindeste Bedenken, das zu genehmigen.
Später sagte Herr Tochter:
Ich halte uns hier durch das jetzige Gesetz, wenn die Anleihe auf Grund der
uns mitgeteilten Motive genehmigt wird, für gebunden und verpflichtet, in jedem
Jahre, sei es im Etat oder durch ein besondres Gesetz, dasjenige zu genehmigen,
was die Regierung auf Grund dieses Planes verwenden will, und noch mehr ist
es selbstverständlich, daß, wenn die Regierung auf Grund der Verwendung sagt:
Um diese Verwendung zu bestreiten, wollen wir aus der Anleihe die betreffende
Summe von so und so viel Millionen entnehmen, daß es dann nur eine Form¬
sache ist, diese Quoten der Anleihe in das Etatsgesetz aufzunehmen. Wenn uns
die Regierung gesagt hätte oder noch jetzt sagen wollte, was sie im nächsten Jahre
aus dieser Anleihe verwenden will, so würde ich vollkommen bereit sein, diese
Summe schon jetzt in einen Z 9 des Gesetzes aufzunehmen und mein Amendement
etwa dahin abzuändern, daß durch den Staatshaushaltsetat festgestellt werden soll die
Summe der Ausgaben und die entsprechende Quote der Anleihen für jedes Jahr,
daß aber für das Jahr 1868 bereits eine Summe von so und so viel der Regierung
zur Disposition gestellt wird. Durch den Etat kann nie eine Anleihe bewilligt werden.
Dagegen können die Ausgaben ster bestimmte Zwecke nicht durch dieses Gesetz
bewilligt werden, weil sie nicht darin stehen; die Ausgaben, die die Regierung
machen will, stehen nur in den Motiven, die Motive sind aber kein Gesetz. Ich
will es aber aus den Motiven in das Gesetz bringen, weil eben Motive kein
Gesetz sind, und eine gesetzliche Feststellung notwendig ist.
Abgeordneter Tochter zog im Lauf der Debatte sein Amendement zu
Gunsten des folgendermaßen lautenden Amendements des Abgeordneten v. Unruh
zurück:
Die auf Grund dieses Gesetzes jährlich zu verwendenden Beträge sind in den
Bundeshaushaltsetat des betreffenden Jahres aufzunehmen. Für das Jahr 1868
werden der Marineverwaltung 3100000 Thaler und der Militärverwaltung zur
Küstenverteidigung 500 000 Thaler zur Verfügung gestellt.
Nachdem der Abgeordnete Dr. Waldeck sich gegen eine Bindung für viele
Jahre ausgesprochen hatte, teils aus verfassungsmäßigen Bedenken, teils weil
er von der Notwendigkeit einer stärkern Entwicklung der deutschen Flotte, wie
sie in den Motiven nach Ablauf der zehnjährigen ersten Periode vielleicht be¬
absichtigt werde, nicht überzeugt war, nahm Abgeordneter Laster zur Spezial-
debatte das Wort; er äußerte sich folgendermaßen:
Ich will mich zunächst gegen prinzipielle Bedenken wenden, welche der Ab¬
geordnete Waldeck gegen die Anleihe vorgebracht hat. Nach seiner Meinung ver-
stößt jede Vorbcwilliguug auf eine bestimmte Zeit gegen unser Budgetrecht und
gegen die ausdrückliche Bestimmung der Verfassung. Dagegen verweise ich ans den
Artikel 71 der Verfassung, wonach die gemeinschaftlichen Ausgaben zwar in der
Regel für ein Jahr bewilligt werden, jedoch in besondern Fällen auch sür eine
längere Dauer bewilligt werden können. In der Diskussion der Verfassung sind,
wenn ich uicht irre, gerade für die Marine Anleihen und die Vorbewillignng für
mehrere Jahre ins Auge gefaßt worden. Ich glaube also, daß wir heute nur das
ausführen, woran wir bei der Beratung über die Verfassung bereits gedacht
haben. — Später sagte er: Wenn dem aber so ist, und wenn wir alle überein¬
stimmen, daß unsre Marine notwendigerweise einer gesicherten Grundlage und einer
erheblichen Förderung bedarf, einer solchen Förderung, wie sie möglicherweise über
die Kräfte der einzelnen Staaten hinausgeht, dann handeln wir nicht nur nach
unsrer verfassungsmäßigen Befugnis, sondern auch nach unsrer verfassungsmäßigen
Verpflichtung, daß wir den Norddeutschen Bund mit den notwendigen Bedürfnissen
im Wege der Anleihe versehen.
Es wurde hierauf die Diskussion über K 1 geschlossen, und der Paragraph
wurde mit großer Majorität angenommen. Nachdem der Bundeskommissar
erklärt hatte, die Negierung würde dem Amendement von Unruh zustimmen,
wurde der den Antrügen entsprechende Zusatzparagraph mit fast einstimmiger
Majorität des Hauses angenommen. Hierauf erfolgte die Ablehnung eines
auf Abkürzung der zehnjährigen Bauperiode gerichteten Antrags des Abgeord¬
neten Meier (Bremen). Diese Ablehnung motivirte der Abgeordnete Graf
Schwerin-Putzar dahin, daß der Reichstag hinsichtlich des Tempos wohl der
Negierung vertrauen könne.
In der dritten Lesung erneuerte der Abgeordnete von Kirchmann den
Versuch, die Anleihe zu Fall zu bringen. Er wollte allerdings uicht, wie jetzt
die Gegner des Flottengesetzes, die Zukunft der Marine ausschließlich von
der jährlichen Etatsbewilligung abhängig machen, er erklärte vielmehr am
Schluß seiner Rede: „Wir wollen ebenso eine Flotte wie Sie (auf die rechte
Seite deutend), wir wollen die Regierung auch in der ersten Periode unter¬
stützen, wie es in dem Berichte angedeutet worden ist. Wir wollen aber für
diesen Zweck nicht Mittel anwenden, die jede gesunde Staats- und Haus¬
wirtschaft verurteilt."
Er war also uur gegen das Mittel der Anleihe. Gleichwohl wurde das
Anleihegesetz mit großer Majorität angenommen.
Da nach den stenographischen Berichten die Abstimmungen nicht namentlich
waren, so ist es nicht möglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Fortschritts¬
partei geschlossen oder nur teilweise gegen das Gesetz gestimmt hat. Hierauf
kommt es aber auch gar nicht an, vielmehr darauf, wie die Frage des Budget¬
rechts damals von der überwiegenden Majorität des Norddeutschen Reichs¬
tags beantwortet worden ist. Aus dem Vorstehenden kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß er durch seine am 24. Oktober 1867 erfolgte verfassungsmüßige
Zustimmung zu dem am 9. November 1867 publizirten Auleihegesetz sich selbst
und seine Rechtsnachfolger für eine längere Reihe von Jahren positiv zur
Bewilligung der nötigen Mittel für die Ausführung des in den Motiven zu
dem Gesetze niedergelegten und vom Bundesrat und Reichstag angenommenen
Flottengründungsplans verpflichtet hatte. Desgleichen lassen die Ausführungen
der als besonders treue Hüter des verfassungsmäßigen Budgetrechts bekannten
Abgeordneten Tochter und Laster keinen Zweifel zu weder über die gewollte
Bindung des Budgetrechts durch das Anleihegesetz, noch über die gewollte
Tragweite dieser Bindung. In den folgenden Jahren ist auch ein solcher
Zweifel thatsächlich von keiner Seite erhoben worden. Die verbündeten
Regierungen und der Reichstag behandelten vielmehr ihrerseits den Flotten -
gründungsplan von 1867 als die beschlossene Grundlage sür die Fortentwicklung
der Marine und für die darnach erforderliche Bewilligung sowohl der in die
nachfolgenden Etats einzustellenden Geldmittel, wie für die formale Veschließung
der entsprechenden Anleihequoten durch Spezialgesetze, um die Ausführung des
Planes zu sichern.
In der Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes vom 17. Juni
1868 wurde der Marineetat für das Jahr 1869 in Verbindung mit dem
Gesetz betreffend die Verwaltung der nach Maßgabe des Gesetzes vom 9. No¬
vember 1867 aufzunehmenden Vundesanleihe erledigt. Der Bevollmächtigte
zum Bundesrat, Vizeadmiral Jachmann, führte an, daß der Marineetat für
das kommende Jahr auf Grund des Flottengründungsplans von 1867 auf¬
gestellt sei. Er enthalte in einem Ordinarium die Vermehrung im Personal,
die in der Denkschrift angedeutet worden sei, als der bis zum Jahre 1877
beabsichtigte Fortgang der Personalentwicklung der Marine. Die Budgetfrage
fand ihre Erledigung durch die Anfrage des Präsidenten, ob zu einer der
fünf Einnahmepositionen (die letzte lautete: „Zuschuß zum Marineetat nach
Maßgabe des Anleihegesetzes von 1867") eine Erinnerung erhoben werde. Er
stellte darauf fest, daß dies uicht der Fall sei, und daß die Summe der Einnahmen
also dem Voranschlage gemäß von dem Hause als richtig anerkannt werde/")
Erwähnt sei noch eine Äußerung des Abgeordneten Tochter zu den Aus¬
gaben, die zwar uicht direkt das Budgetrecht betraf, aber doch bezeichnend für
die in dieser Hinsicht damals herrschende grundsätzliche Auffassung erscheint.
Er sagte:
Für Schiffsbau sind im Jcihre 1869 1700 000 Thaler ausgeworfen. Ich
meinerseits freue mich, daß die Mcirineverwaltung eine fo beträchtliche Summe auf
den Schiffsbauetal gebracht hat, und daß ich daraus entnehmen kann, daß die Marine¬
verwaltung mit dem Bau von Schiffen rüstig vorgehen will, ohne sich dadurch
abhalten zu lassen, daß man wohl voraussehen kann, daß in einigen Jahren die
jetzt gebauten Schiffe wieder durch neue Vervollkommnungen, durch neue stärkere
Schiffe übertroffen werden. Diesem, meine ich, können wir uns nicht entziehe».
Um mit den andern Mariner einigermaßen Schritt zu halten, werden wir nicht
warten können, bis die besten Schiffe festgestellt sind; wir werden auch banen müssen
und müssen damit zufrieden sein, wenn unsre Schiffe den besten des Augenblicks
gleichkommen. (Zustimmung.)
Ich möchte mir nur die Bitte noch erlauben, daß uns der Herr Vertreter
der Marineverwaltung sagen möchte, welche Schiffsbauten für das nächste Jahr in
Aussicht genommen sind. Eine spezielle Übersicht für den Schiffsbau ist diesmal
nicht wie im vorigen Jahre dem Etat beigefügt, und ich möchte fragen, ob darüber
uns jetzt eine Auskunft gegeben werden könnte.
Diese Anfrage spricht am deutlichsten für die Tragweite der Vollmacht,
die die Marineverwaltung durch das Gesetz vom 9. November 1867 zur Aus¬
führung des Flottengründungsplans erhalten hatte.
In der Sitzung des Norddeutschen Reichstags vom 24. April 1869') stand
der Marineetat für 1870 auf der Tagesordnung. Vizeadmiral Jachmann
leitete die Besprechung mit der Bemerkung ein: „Der Marineetat für 1870
ist aufgestellt nach Maßgabe der Denkschrift von 1867." Zugleich kam ein
Gesetzentwurf wegen Abänderung des Anleihegesetzes vom 9. November 1867
in zweiter Lesung zur Beratung. Dieser lautete in seinem einzigen Para¬
graphen:
Der Betrag der zur Bestreitung der außerordentlichen Ausgaben für die
Bundeskriegsmarine, sowie zu den Kosten der Küstenverteidigung erforderlichen
Geldmittel, welche nach Maßgabe des Gesetzes vom 9. November 1367 durch eine
verzinsliche, nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 19. Juni 1868 zu ver¬
waltende Anleihe zu beschaffen sind, wird auf siebzehn Millionen Thaler erhöht.
Der Abgeordnete Freiherr von Hoverbeck bemerkte zwar, daß seines Er-
achtens der Reichstag weder den Beruf, noch die Berechtigung habe, für lange
Jahre hinaus schon Gelder zur Disposition zu stellen, und also in diesem
Falle seinem etwaigen Nachfolger ein Recht zu vergeben. Der Reichstag ver¬
harrte jedoch auf dem im Jahre 1867 eingenommnen Standpunkt, und es
wurde das Anleihegesetz in dem vorangehenden Wortlaute abermals mit großer
Majorität angenommen und am 20. Mai 1869 publizirt.
Bemerkenswert sind noch einige Äußerungen des damaligen Vertreters
von Bremen, des Abgeordneten Meier, worin er gegenüber dem Abgeordneten
von Hoverbeck die Notwendigkeit eines für eine Reihe von Jahren bemessenen
Bauplanes betonte und die Entwicklung der Marine nicht dadurch gefährdet
wissen wollte, daß man in dem einen Jahre etwas bewillige und dessen Fort¬
setzung etwa im folgenden Jahre verweigere; er schloß mit folgendem Satze:
Die Verwaltung wird wohl nicht gerade nötig haben, sich genau an den da¬
maligen Plan zu halten, denn so wie die Schiffsbaukunst weiterschreitet, werden
sich da natürlich Modifikationen ergeben. Ich glaube aber, daß wir unsrerseits
uns das vergegenwärtigen und mindestens eine Summe, wie die hier in Aussicht
genommne, sei es im Wege einer Anleihe, sei es im Wege der Steuern — das
ist mir ganz gleichgiltig— bewilligen müssen, sonst, meine Herren, geben Sie die
Marine auf!. - "--x^!","^' / ..... '^.^<"->.>^^'i-^^
Der Abgeordnete Harkort erklärte sich seinerseits auch nicht etwa gegen
einen Plan für längere Zeit, sondern nur gegen die Art der Anleihe und ver¬
langte statt dessen, daß die Flotte bei der Verteilung (also der Einnahmen des
Bundes) besser bedacht werden möchte.
Der Marineetat für das Jahr 1871 kam in der Sitzung vom 28. März
1870 wiederum in Verbindung mit einem Gesetzentwurf wegen Abänderung
des Anleihegesetzes vom 9. November 1867 zur Verhandlung, und es wurde
auch in diesem Falle an der Grundlage des Flottengründungsplans von 1867
unverändert festgehalten. Durch die hierbei geführte finanzpolitische Debatte
wurden lediglich einige die Tilgung des Schuldkapitals betreffende Gesetzes¬
paragraphen abgeändert.
Auch bei den Verhandlungen im November 1871 wurde bei der Vor-
bereitung des Haushaltsetats des Deutschen Reichs für 1872 an dem Flotten¬
gründungsplan von 1867 allerseits als an dem Fundament festgehalten. Die
Mehrheit der mit dieser Vorberatung betrauten Kommissarien des Reichstags,
als deren Wortführer Herr von Forckenbeck auftrat, erklärte sich für eine Be¬
schleunigung des Flotteugründungsplcms unter gleichmäßiger Festhaltung an
dessen drei Aufgaben, namentlich auch an der vollen Entwicklung der Offensiv¬
kraft der Flotte. Der auf Abkürzung der zehnjährigen Periode gerichtete
Antrag der Kommissarien, den ich*) durch den Eventualantrag ergänzt hatte,
zu dem Ende einen entsprechenden Anteil aus der französischen Kriegskontri¬
bution zu entnehmen, blieb allerdings in der Minderheit, weil von dem Marine¬
minister Grafen Roon eingewandt wurde, daß sich schneller als in der bezeich¬
neten zehnjährigen Frist das Personal nicht ausbilden lassen würde. Im
übrigen aber erklärte sich auch Graf Roon für die volle Durchführung des
Plans, namentlich was die Offensive anlange, die er als die beste Defensive
bezeichnete, und Anträge, die den Plan von 1867 in dieser Richtung abzu¬
schwächen versuchten, blieben in der Minderheit. Mit großer Majorität wurde
alsdann eine Resolution angenommen, die dahin ging:
Den Reichskanzler aufzufordern: Mit dem nächsten Etat dem Reichstage eine
ausführliche Denkschrift vorzulegen, in welcher mit Bezug auf den im Jahre 1867
vorgelegten Gründungsplan namentlich erörtert wird: Wie weit derselbe bereits
ausgeführt ist, und welche Mittel zur Ausführung desselben noch erforderlich sind.
Mit Bezug auf diesen Beschluß legte Fürst Vismarck dem deutschen Reichs¬
tage am 6. Mai 1872 eine von der Kaiserlichen Admiralität aufgestellte Denk¬
schrift vor, die die Überschrift hatte: Denkschrift, betreffend eine Darlegung,
Wie weit der in den Motiven zum Anleihegesetz vom 9. November 1867 ent-
haltne Plan für die Entwicklung der Kaiserlichen Marine — der sogenannte
Flottengründungsplan — bereits zur Ausführung gelangt, und welche Mittel
noch erforderlich sind zu feiner Durchführung. Die Denkschrift begann mit
folgenden Worten:
Der Flottengründungsplan von 1367 hatte den Zweck, die allgemeinen Grund¬
züge zu veranschaulichen, nach welchen die Marineverwaltung bei dem allmählichen
Aufbau der Marine zu verfahren beabsichtige, falls ihr die erforderlichen Geld¬
mittel zu teil würden. Bei der bisherigen Ausführung haben diese Grundzüge
sich auch überall als entsprechend erwiesen und werden auch ferner festzuhalten sein,
wenngleich sie in einzelnen Richtungen der Erweiterung bedürfen, was in der Folge
erläutert werden wird.
Hier ist zu bemerken, daß das Gesetz vom 8. Juli 1872 über die fran¬
zösische Kriegskostenentschädigung im Artikel VI bestimmte, daß die von der
Kriegskostenentschädigung einstweilen reservirten anderthalb Milliarden, über
deren Verwendung im Wege der Reichsgesetzgebung Bestimmungen getroffen
werden sollten, insbesondre die auf Grund der Gesetze vom 9. November 1867
und vom 20. Mai 1869 zur Erweiterung der Bundeskriegsmarine und zur
Herstellung der Küstenverteidigung kontrahirten und noch zu, kontrahirenden
Anleihen getilgt werden sollten.
Die über die Denkschrift vom 6. Mai 1872 im Reichstag gepflognen
Verhandlungen hatten wiederum zur Folge, daß der Reichskanzler Fürst Bismarck
unterm 21. April 1873 eine Denkschrift vorlegte, die man sich den Flotten¬
gründungsplan von 1873 zu nennen gewöhnt hat, mit dem aber eigentlich
nicht beabsichtigt war, den Flottengründungsplan von 1867 aufzuheben, obwohl
dies thatsächlich später eintrat. In dem Schreiben des Reichskanzlers heißt es:
Der Reichstag hat in seiner vorjährigen Session zu Kapitel 6, Titel 7 der
einmaligen und außerordentlichen Ausgaben im Reichshaushaltsetat für 1873 be¬
schlösse»: Die Erwartung auszusprechen, daß mit dem Marineetat für 1874 ein
Plan über die als notwendig erkannten Abcmderuugeu des ursprüngliche» Flotten-
grüudungsplcms über die in den folgenden fünf Jahren zur weitern Entwicklung
der deutschen Marine vorzunehmenden Bauten und auszuführenden Anlagen und
über die hierzu erforderlichen Geldmittel nebst den Vorschlägen zu deren Beschaffung
vorgelegt werde. Diesem Beschlusse ist der Bundesrat beigetreten.
Es folgt dann der Passus, der die Aufbringung der Mittel für die
außerordentlichen Ausgaben der Jahre 1873 bis 1882 im Gesamtbetrage von
72812500 Thalern betraf, von denen für die Jahre 1873 und 1874 über
18 Millionen aus der französischen Kriegskostenentschädigung übernommen werden
sollten.
Die Denkschrift selbst begann mit folgenden Worten:
Die dem Entwurf des Gesetzes, betreffend den außerordentlichen Geldbedarf des
Norddeutschen Bundes zum Zwecke der Erweiterung der Bundeskriegsmarine 1867
beigegebnen Motive stellen folgende Forderungen an die deutsche Kriegsmarine:
1. Schutz und Vertretung des Seehandels auf allen Meeren; 2. Verteidigung der
vaterländischen Küsten; 3. Entwicklung des eignen Offensivvermvgens.
Im Gegensatz zur Behauptung des Herrn Richter und der „Freisinnigen
Zeitung" heißt es dann:
Der darauf gegründete sogenannte Flottengründungsplan fand damals die Zu¬
stimmung des Bundesrath und des Reichstags, die daraus entspringenden Be¬
dürfnisse wurden bewilligt, und die deutsche Marineverwaltung schritt zu dessen
Ausführung. Die unter dem 6. Mai v. I. (1872) dem Reichstage vorgelegte
Denkschrift führte aber aus, daß die damals bewilligten Mittel nicht mehr hin¬
reichten, das 1867 gesteckte Ziel zu gewinnen, sondern daß sich zu diesem Zweck
ein Mehrbedarf von rund 35 Millionen ergebe. >
Die 1867 mitbeschlossenen Motive waren also das Fundament für die
Flottenerweiterung, ohne das jenes Gesetz überhaupt in der Luft geschwebt hätte.
Denn das Gesetz selbst bezweckte eben nur die Sicherstellung außerordentlicher
Geldmittel zu der in den Motiven vorgezeichneten Entwicklung der Marine
im Wege der Anleihe, insoweit sie nicht während der nächsten Jahre nach den
Bestimmungen des Artikels 70 der Verfassung, also aus Überschüssen gemein¬
schaftlicher Einnahmen und aus Matrikularbeitrcigen, aufgebracht werden würden.
Aus diesen aktenmäßig feststehenden Thatsachen geht klar hervor, daß alle
gesetzgebenden Mächte des Norddeutschen Bundes und des Reichs von 1867
bis 1873 nie darüber im Zweifel gewesen sind, daß der Flottengründungsplan
von 1867 die verfassungsmüßige Zustimmung des Bundesrath und des Reichs¬
tags des Norddeutschen Bundes gefunden hatte, und daß hieraus von allen
Seiten die weitern gesetzlichen und administrativen Folgen gezogen worden
sind. Bezeichnend ist auch, daß bei den Beratungen über die Reichsverfassung
kein Versuch gemacht worden ist, die heute umstrittenen Bestimmungen der Nord¬
deutschen Bundesverfassung vor ihrer Übernahme auf das Reich abzuändern.
Es ist nicht anzunehmen, daß bei einer tiefgehenden Meinungsverschiedenheit
über die Auslegung und bisherige praktische Anwendung des verfassungs¬
müßigen Budgetrechts die gebotene Gelegenheit zu einem Nevisionsversuchc
verabsäumt worden wäre. Jedenfalls stimmen die betreffenden Artikel in
beiden Verfassungen wörtlich miteinander überein.
Somit steht fest, daß im Jahre 1867 der Reichstag des Norddeutschen
Bundes sich und seine Rechtsnachfolger mit vollem Bewußtsein gebunden hatte,
sür eine Zeit von zehn Jahren der Marineverwaltung die Mittel zur Ausführung
des in den Motiven zu dem Gesetz vom 9. November 1867 niedergelegten
Flottengründungsplanes zu bewilligen, und zwar in der darin annähernd ge¬
schätzten Höhe zunächst im Rahmen der jährlichen Etats und zuschußweise im
Wege entsprechender Anleihequoten. Als die sich seit 1867 allmählich steigernden
Kosten für den Schiffsbau eine Erhöhung der ursprünglich geschätzten Bau-
Summe notwendig machten, wurde das ursprüngliche Anleihekapital schon im
Frühjahr 1869 bereitwilligst von zehn auf siebzehn Millionen Thaler erhöht.
Der Flottengründungsplan von 1867 würde bis zum Jahre 1877 unter fort¬
dauernder partieller Bindung des Vudgetrechts des Reichstags ausgeführt
worden sein, wenn nicht abermals durch das Fortschreiten der Marinetechnik
eine starke Erhöhung der ursprünglichen Bausumme erforderlich geworden
wäre, und dies im Jahre 1373 dazu geführt hätte, vorläufig von einer
systematischen Ausführung des Planes von 1867 bei einzelnen Schiffsgattungen
abzusehn und den Plan abzuändern. Im Verfolg dieser Abänderungen wurde
thatsächlich, ohne daß es damals zu grundsätzlichen, die frühern Auslegungen
der Verfassung umstoßenden Erörterungen gekommen wäre, von der Negierung
auf den Vorteil verzichtet, den ihr die teilweis anerkannte Bindung des Budgetrechts
des Reichstags zu Gunsten eines planmäßigen Aufbaus der Flotte gewährt
hatte. Gleichviel, ob dies unbewußt oder bewußt geschah, der Verzicht beruhte
jedenfalls auf dem festen Vertrauen, daß sich nie eine Majorität im Reichs¬
tage gegen eine kräftige Entwicklung unsrer Marine zur Lösung der ihr von
Anfang an gestellten Aufgaben in Kriegs- wie in Friedenszeiten finden werde.
Dieses Vertrauen erwies sich leider später als trügerisch. Wollte nun die
Reichsregierung nicht für unabsehbare Zeit auf den durch die allgemeine
Weltlage, durch die Machtstellung des Reichs und das Schutzbedürfnis seines
Handels und seiner Kolonien immer dringender gebotenen planmäßigen Aufbau
der Flotte verzichten, so mußte sie sich nach den in den letzten Reichstags¬
sessionen gemachten Erfahrungen des Vorgangs von 1867 wieder erinnern
und denselben Weg oder einen ähnlichen einschlagen, wie ihn seinerzeit die
gesetzgebenden Mächte des Norddeutschen Bundes als politisch ratsam und
als verfassungsmäßig zulässig angesehn hatten.
Wird nun etwa dem Deutschen Reichstage in dem bellte seiner ver¬
fassungsmäßigen Zustimmung unterliegenden Flottengesetzentwurf eine weiter
gehende Bindung seines Vudgetrechts zugemutet, als die war, die die große
Majorität des Norddeutschen Bundes nicht nur für zulässig ansah, sondern
in die im nationalen Interesse zu willigen — um mit den Worten Lasters
zu reden — sie für eine verfassungsmäßige Verpflichtung der Volksvertretung
hielt? Das Gegenteil ist der Fall. Denn hatte der Abgeordnete Tochter
im Jahre 1867 an dem ursprünglichen Anleihegesetzentwurf bemängelt, daß
dieser die erste der in der zehnjährigen Periode jedenfalls zu bewilligenden
Anleihequoten nicht von vornherein enthielt, und daß die Höhe dieser Quote
nur aus den Motiven zu ersehen war, und wurde deswegen ein ent¬
sprechender Zusatzparagraph beschlossen, dessen verpflichtende Folgen für alle kom¬
menden Etatsjahre während der zehnjährigen Periode vom Reichstag anerkannt
wurde, und ließen das Anleihegesetz und der Plan von 1867 der Marine¬
verwaltung für die Ausführung des in den Motiven niedergelegten Planes
die größtmögliche Freiheit: so sieht die heutige Regierungsvorlage im Gesetze
selbst nicht nur die Frage der Bewilligung der sür die Ausführung des neuen
Flottengründungsplans erforderlichen Mittel vor, sondern kleidet auch alle
wesentlichen Einzelheiten dieses Planes selbst in Gesetzesparagraphen. Außerdem
aber steht im Flottengesetzentwurf der gesetzlichen Bindung des Budgetrechts
des Reichstags die im Flottengründungsplan von 1867 nicht gegebne und
auch später nie beantragte gesetzliche Organisation der Marine und die gesetz¬
liche Bindung der Marineverwaltung gegenüber. Es darf daher mit aller
Bestimmtheit angenommen werden, daß die Majorität des Norddeutschen
Reichstags von 1867 — wenn sie heute im Deutschen Reichstage süße — den
Flottengesetzentwurf vom Standpunkte des Budgetrechts für noch unbedenklicher
ansehn würde als den damaligen Flottengründungsplan und daher die jetzige
Vorlage lediglich von dem Gesichtspunkte der materiellen Notwendigkeit der
vorgeschlagnen Flottenverstärkung aus prüfen würde. Daß bei der nationalen
Gesinnung der damaligen durch keine parteipolitischer zum Nachteil nationaler
Interessen beeinflußten Reichstagsmajoritüt heute diese Notwendigkeit von ihr
anerkannt werden würde, kann unmöglich bezweifelt werden.
In der „Deutschen Juristenzeitung" Ur. 23 vom Jahrgang 1897 und
Ur. 4 vom Jahrgang 1898 haben zwei bedeutende Staatsrechtslehrer, Pro¬
fessor Dr. Labend und Professor Dr. Arndt, des nähern dargelegt, wie wenig
stichhaltig der jetzt von den Gegnern der Flottenvorlage noch festgehaltne
Einwand sei, daß die darin beantragte Bindung des Budgetrechts des Reichs¬
tags wider die Verfassung verstoße; sie haben insbesondre ans die analoge
Bindung der gesetzgebenden Mächte des Reichs, u. a. durch die Organisations¬
gesetze für das deutsche Heer hingewiesen.
Zu der Parteitaktik der Gegenwart gehört es aber, den lebenden Auto¬
ritäten auf dem Gebiete des Staatsrechts die subjektive Unabhängigkeit und
daher die unbedingte Objektivität bei Beurteilung der in Betracht kommenden
Verfassungs- und Rechtsfragen abzustreiten, und so werden diese Aufsätze leider
nur wenig Gegner überreden. Es schien mir deshalb nützlich, einmal an die
Rechtsauffassung verstorbner rechtsgelehrter Reichstagsmitglieder zu erinnern,
die bei ihren Lebzeiten und darüber hinaus bei allen Parteien als Autoritäten
auf diesem Gebiet gegolten haben, vor allem aber die Auslegung und An¬
wendung des Vudgetrechts durch die gesetzgebenden Gewalten des Norddeutschen
Bundes und des Deutschen Reichs in den Jahren 1867 bis 1873.
Möchte es mir hierdurch gelingen, eine Lebensfrage des Vaterlandes
fördern zu helfen!
as nicht alles ein Mann bedeutet, der ist, was er sein soll!
Seit Jahren vermißten wir am Vundesratstische nur allzusehr,
selbst in großen Fragen, den festen Nationalstolz und die frische
Mannhaftigkeit, die einst in den guten Bismarckischen Tagen dort
so oft begeisternd und fortreißend das Wort führte. Jetzt ist das
mit einem Schlage wieder alles da. Nach langem, geduldigen Prüfen und
Suchen hat der Kaiser endlich den rechten Mann gefunden. Herr von Bülow,
der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amts, hat bisher nur wenig ge¬
sprochen, beidemal in derselben Angelegenheit, im Dezember vorigen Jahres
und soeben wieder am 8. Februar, aber sein Name ist schon in aller Munde.
Wie erfrischend wirkt zunächst seine männliche Offenheit! Er weigert sich rund
heraus über die chinesischen Dinge etwas genaueres zu sagen, solange die
Verhandlungen noch schweben, aber er schenkt den Neichsboten sofort reinen
Wein ein, sobald nichts mehr zu verbergen und nichts mehr zu verderben ist.
Die Besitzergreifung von Kiaotschau war keineswegs eine Improvisation,
sondern schon lange sorgfältig und umsichtig vorbereitet, was freilich keinem
Kundigen verborgen sein konnte, und was daher die Grenzboten, obwohl sie
sich keineswegs rühmen dürfen, zu den Eingeweihten zu gehören, schon im
Dezember vorigen Jahres gesagt haben. Wir wissen jetzt auch, daß der Kaiser
ganz persönlich den zunächst alle Welt überraschenden Schachzug vorbereitet
und geführt hat. Die Besetzung wird ohne irgendwelche Phrasen einfach be¬
gründet mit der unabweislichen Notwendigkeit, für uns einen festen Stützpunkt
in Ostasien zu haben, wie ihn England in Hongkong, Frankreich in Tonking,
Rußland in Wladiwostok und jetzt auch in Port Arthur besitzen; denn wir brauchen
einen Hafen für unsern Handel wie für unsre Kriegsflotte, damit diese nicht
länger in fremden Meeren heimatlos und genötigt sei, um Gastrecht bei
fremden Völkern zu bitten, einen Eingangspunkt für industrielle und kauf¬
männische Unternehmungen zur Erschließung des unermeßlichen chinesischen
Marktes, wo wir die Herren sind, einen Platz zur Überwachung und zum
Schutze unsrer Missionen. Ebenso teilt der Staatssekretär die Bedingungen
des Vertrages rückhaltlos mit, und er verschweigt nicht, daß schon Eisenbahn-
und Bergbaukonzessionen erteilt sind. Und zugleich, bei aller Energie des
Vorgehens, welch umsichtiges Maßhalten! Wir haben lediglich in unserm
Interesse gehandelt, keinem zuliebe, aber auch keinem zuleide. Unsre
Interessen laufen parallel mit denen Rußlands, dessen Interessen in Europa
nirgends die unsrigen durchkreuzen, und dessen natürliche Machtentwicklung
wir als aufrichtige Freunde mit neidloser Sympathie begleiten; wir finden es
begreiflich, „wenn Frankreich von Tonking aus neue Verkehrswege sucht,"
und wir denken nicht daran, „berechtigten englischen Interessen entgegen¬
treten zu wollen." Überhaupt sind unsre Beziehungen zu keinem Staate
getrübt worden, auch nicht zu England, mit dem wir für die Erhaltung des
Weltfriedens und für den Kulturfortschritt gern zusammengehen wollen. Wir
denken auch keineswegs an eine Teilung Chinas, die phantasievolle Leute
schon in naher Zukunft erwarten, denn Herr von Bülow vermag nicht
einzusehen, warum ein Reich, das schon seit 4377 Jahren besteht, nicht auch
noch wenigstens 3000 Jahre weiterbestehen soll. Im Gegenteil, wir wollen
China nicht erobern, wir wollen nur friedlich kolonisiren- Ebenso ruhig und
besonnen urteilt er über die orientalische und namentlich über die kretische
Frage. An diesen Dingen hat Deutschland kein unmittelbares Interesse; es
will nur den Frieden und die Gerechtigkeit wahren, es hat deshalb das große
Schwergewicht der deutschen Politik nicht zu Gunsten der Griechen in die
Schale geworfen, da diese den Krieg vom Zaune brachen, und es ist nur
soweit energisch aufgetreten, als es die Rechte der deutschen Gläubiger zu
wahren hatte. Wer Gouverneur von Kreta wird, ist uns gleichgültig; Deutschland
wird jeden anerkennen, über den sich die übrigen Großmächte einigen werden,
aber einen Druck auf den Sultan wird es nicht ausüben, und was aus Kreta
schließlich wird, das ruht im Schoße der unsterblichen Götter.
Nun kann man dasselbe in verschiedner Weise sagen. Herr von Bülow
hat die glückliche Gabe, manches mit guter Laune in eine gewisse humoristische
Beleuchtung zu rücken, wie die naive Frage, ob das chinesische Reich wohl noch
lange bestehen werde; er schlüge gern mit leichtem Anklange Dichterstellen ein,
wie am Schlüsse der zweiten Rede das Citat ans Goethes Faust, und er weiß
oft mit einem glücklichen bildlichen Ausdruck die Dinge zu sinnlicher Anschau¬
lichkeit zu bringen, fast wie Bismarck. „Wir wollen niemandem im Wege stehen,
aber wir verlangen auch einen Platz in der Sonne," sagte er schon im Dezember.
»Ich kann nicht einmal beim Whist meinem Partner Aufschlüsse geben über
jeden Trick," bemerkt er, um seine anfängliche Zurückhaltung in seinen
Äußerungen über die chinesische Frage zu rechtfertigen. Ohne einen festen
Punkt an der chinesischen Küste „würde deutsche Arbeit und Intelligenz für
andrer Leute Äcker den Dünger liefern, statt unsern eignen Garten zu be¬
fruchten." „Wir sind glücklich vorbeigekommen an der Scylla und der Charybdis
menschlicher Entschließungen, Übereilung und Versäumnis." „Wir werden
vorgehen Schritt für Schritt, nicht als Konquistadoren, aber auch nicht als
Kalkulatoren, sondern als tüchtige und kluge Kaufleute, die, wie weiland die
Makkabäer, die Waffe in der einen Hand haben, in der andern aber die Kelle und
den Spaten," und sehr ergötzlich ist der Vergleich des europäischen Konzerts
in der orientalischen Frage mit einem Orchester im Konzertsaal, „in dem wir
(in Konstantinopel) die Flöte diplomatischer Einwirkung bliesen"; „doch, wenn
Dissonanzen laut werden, legen wir die Flöte still auf den Tisch und ver¬
lassen den Konzertsaal." Dergleichen erweckt in dem Zuhörer sofort eine
behagliche Stimmung, er fühlt sich dem Redner nicht nur als Geschäfts¬
mann gegenüber, sondern menschlich nahe, und damit hat dieser seine Sache
schon halb gewonnen.
Und der Erfolg? Der 8. Februar war für den Reichstag zwar kein
großer Tag wie der 6. Februar 1888, aber ein guter Tag. „Sehr richtig!"
„sehr gut"; „lebhafter Beifall," „wiederholter Beifall," „große Heiterkeit,"
diese Bemerkungen folgen im Bericht einander in dichter Reihe. Sie machen
den Eindruck, daß das hohe Haus in einer recht befriedigten, ja vergnügten
Stimmung war, und das ist eine weit bessere Grundlage für vernünftige Be¬
schlüsse als grämliche Verdrossenheit und altkluge Nörgelei. Dem entsprachen
die Reden der Reichsboten. Vom rechten bis zum linken Flügel, von den
Konservativen bis zu den Freisinnigen wurden Anerkennung und Zustimmung
laut. Selbst Eugen Richter stimmte ein, ohne hinterdrein nein zu sagen.
Wenn der Mann, der so manche tüchtige Seiten hat, nur noch zu der Er¬
kenntnis durchdringen wollte, daß er mit seinem ewigen Neinsagen nur die
Geschäfte der Todfeinde des „freisinnigen" Bürgertums besorgt, und daß der
öde Doktrinarismus des „Freisinns" im tiefsten Grunde reaktionär ist, reaktionär
gegen jeden wirklichen Fortschritt Deutschlands zu fester nationaler Geschlossen¬
heit und zur Stellung einer Weltmacht. Ob er selbst nur Freude hat an
dieser verneinenden Thätigkeit? Man kann sichs nicht denken, aber man könnte
sich denken, daß er sie empfände, wenn er dazu hülfe, die unnatürliche Macht¬
stellung des Zentrums zu brechen, die doch nur durch dies unnatürliche Bündnis
des „freisinnigen" Bürgertums mit den blinden deutschen Schildknappen des
staatsfeindlichen Ultramontanismus aufrecht erhalten wird. Daß die Sozial¬
demokratie durch Bebels Mund auch hier nein sagte, in stolzer Jsolirung und
in dem erhebenden Bewußtsein vollendeter Vaterlandslostgkeit, das entsprach
zwar ihrem immer noch gläubig nachgebeteten Dogma, war aber durchaus
unvernünftig, denn es war keine Vertretung des vierten Standes, dessen Ge¬
schäfte die Herren zu führen behaupten, sondern ein Verrat am vierten Stande,
dessen eigenstes Interesse die Ausbreitung unsrer Absatzmärkte ist. Was die
Öffnung Chinas für Europa wirtschaftlich bedeutet, das kann heute noch kein
Mensch sagen; das aber kann man heute schon sagen,^ daß sie unvermeidlich
geworden ist, und daß Deutschland nur die Wahl hat, entweder müßig zuzu-
schn und alles wieder einmal andern zu überlassen, oder Mitzuthun. Wie so
oft zeigt es sich auch hier, daß die nächstinteressirten ihr eigenstes Interesse zu¬
weilen am allerwenigsten verstehen.
Jedenfalls waren die ganze Verhandlung und im besondern die Reden des
Staatssekretärs eine vortreffliche Einleitung zur Beratung der Flottenvorlage,
denn wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen.
Zum Schlüsse seien noch zwei Fragen erlaubt, von denen freilich Herr
von Vülow nur die zweite wirklich beantworten könnte, denn die erste richtet
sich vor allem an die deutschen Kapitalisten: Wie kommt es doch, daß sich
deutsches Kapital für jede noch so fragwürdige fremde Anleihe, für Griechen
und Argentinier so leicht findet, und daß es auch jetzt offenbar ohne jede
Schwierigkeit gelingen wird, das nötige Kapital für deutsche Eisenbahnen,
Hafenanlagen und Kohlenbergwerke im fernen China zu beschaffen, daß es da¬
gegen in unsre afrikanischen Kolonien, die es vor allem bedürfen, so spärlich
und schwerfällig fließt? Die unentbehrliche Eisenbahn von Swakopmund nach
Windhuk muß aus Neichsmitteln erbaut werden, und die nicht minder nötige ost-
afrikanische Linie ist in der Küstenzone stecken geblieben, während die Engländer
von Mombas aus ihre Eisenbahn schon mehrere hundert Kilometer weit ins
Innere nach dem Viktoriasee zu geführt haben und sich gelegentlich das Vergnügen
machen, deutsche Marineoffiziere auf ihr eine Strecke spazieren zu fahren, damit
diese recht deutlich sehen, was englische Thatkraft vermag und deutsche Lässigkeit
versäumt. Es scheint doch, als ob unsre kapitalkräftigen Kreise noch immer am
liebsten nur dort etwas wagen wollen, wo eine gute Verzinsung in kurzer Zeit sicher
ist, also nichts zu wagen ist, dort aber nicht, wo eine solche erst nach längerer
Zeit zu erwarten steht. Herr von Bülow würde das vielleicht als Kalknlatoren-
standpunkt bezeichnen, man könnte auch von Krämerart reden, und jedenfalls
ist es ein Rest alter Ängstlichkeit aus der alten schlechten Zeit, es ist nicht
kaufmännisch in dem guten Sinne wie die Engländer jetzt Verfahren, wie unsre
Hanseaten vor alters verfahren sind, und wie Herr von Bülow in China ver¬
fahren will. Hoffentlich ändert sich jetzt auch das, nachdem die Caprivische
Mattherzigkeit in der Kolonialpolitik überwunden ist und einem frischen Zuge
Platz gemacht hat, der Vertrauen einflößt.
Die zweite Frage ist diplomatischer Art. Herr von Vülow hat wieder von
»unsrer Uninteressirtheit in orientalischen Dingen und in der Mittelmeerfrage" ge¬
redet. Entspricht das mehr der Tradition oder den Thatsachen? Vor zwanzig
Jahren mag es noch richtig gewesen sein, ist es das noch heute? Unsre großen
Dampferlinien durchkreuzen das ganze Mittelmeer, unsre Flagge ist in Neapel und
Genua zu Hause, seit 1868 bestehen blühende deutsche Ackerbaukolonien der württem¬
bergischen Templer im südlichen Palästina, die zukunftsreichen anatolischen Bahnen
sind mit deutschem Gelde gebaut und stehen unter deutscher Verwaltung, unsre
Offiziere haben die türkische Armee so trefflich organistrt und geschult, daß sie
die griechische Zuchtlosigkeit mit leichter Mühe niederwarf, und was mehr
bedeuten will, ohne jede Schwierigkeit mobilisirt werden konnte. Und da sollen
wir keine Interessen im Mittelmeer haben? Vielleicht keine territorialen, aber
sind sie denn in China wesentlich territorialer Art? An einen nahen Zerfall
der Türkei glauben wir freilich nicht recht. Die Auflösung des Reichs
in Europa wird allerdings wahrscheinlich weitere Fortschritte machen, weil es
eben unmöglich geworden ist, daß christliche Völker unter mohammedanischer
Herrschaft stehen, so wenig erbaulich die Zustände der befreiten Völker sein
mögen, und weil die Mohammedaner, Türken und Araber zusammen, zu schwach
an Volkszahl sind, um das ganze ungeheure Reich gegen rebellische Unter¬
thanen und auswärtige Angriffe mit den Waffen zu behaupten. Aber warum
sich ein türkisches Reich nicht in Asien erhalten sollte, wo die Mohammedaner
nicht das Herrenvolk, sondern den Stamm der Bevölkerung, die Christen kleine
verstreute Minderheiten bilden, warum Kleinasien notwendig russischer, Syrien
etwa französischer Herrschaft verfallen soll, das ist bei der unzweifelhaften
Tüchtigkeit, namentlich des Türkenvolks, nicht einzusehen. Es ist recht wohl
möglich, daß das osmanische Reich, wenn es im wesentlichen auf Asien und
in Europa etwa auf die Umgebung von Konstantinopel (das ja nicht Haupt¬
stadt zu bleiben brauchte und auch vor 1453 nicht gewesen ist) beschränkt
wäre, ein sehr haltbares Gebilde würde, zumal wenn es europäische Kultur¬
elemente in sich aufnähme, etwa wie Ägypten. Und warum sollte dabei Deutsch¬
land nach so glücklichen Anfängen nicht eine Hauptrolle spielen können? Denn
eine Vergrößerung unsrer beiden Nachbarmächte auf türkische Kosten liegt doch
wahrhaftig nicht in unserm Interesse. Der Gedanke, das teilweise so herrliche
und fruchtbare Kleinasien mit deutschem Kapital und deutscher Arbeit aus seiner
Verwahrlosung wieder emporzubringen, ist, nachdem ihn Ludwig Roß und
Heiland von Moltke schon vor mehr als sechzig Jahren zuerst ausgesprochen
haben, neuerdings wieder mit besondrer Lebhaftigkeit vertreten worden und hat
jetzt in zwei landkundigen jungen deutschen Offizieren in einem besondern
Werke beredte Verfechter gefunden.'") Sie geben keine zusammenhängende
Schilderung von Land und Leuten, vielmehr werden Tierleben, Kulturpflanzen,
Mineralschätze, Bodengestaltung und Gewässer des Landes im einzelnen mehr
vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus dargestellt unter Hinzufügung ihrer
türkischen und griechischen Namen und nach ihrer praktischen Kulturbedeutung
besprochen, was natürlich auch zu manchen allgemeinern kulturgeschichtlich
interessanten Erörterungen und Schilderungen Veranlassung giebt, wie z. B.
über Viehzucht, Landbau, Seidenindustrie oder über den „Absentismus" der
türkischen Großgrundbesitzer Kleinasiens, der einen großen Teil der Schuld an
seiner Verödung trügt. Das Ganze ist also mehr eine Stoffsammlung als
eine Darstellung, aber eine sehr sorgfältige und vermutlich praktisch besonders
brauchbare Sammlung.
Das Interesse für Kleinasien als Zukunftsland deutscher Arbeit ist also
erwacht, und uns scheint, als ob es an der Zeit sei, daß auch die große Masse
der politisch interessirten Deutschen sich daran gewöhne, an unsre Mittelmeer¬
interessen zu glauben. Wie sie von oben her zu fördern sind, das zu sagen
maßen wir uns nicht an, aber Herr von Vülow ist sicherlich nicht umsonst
Botschafter in Rom gewesen, und wenn der Kaiser in diesem Jahre nach
Jerusalem geht, der zweite Träger der deutschen Kaiserkrone, der die heilige
Stadt betritt, dann wird der ganze mohammedanische Orient wiederhallen von
dem mächtigen Sultan des Abendlandes, der als Freund des Khalifen kommt,
nicht als Feind des Islam. Soll dieser Eindruck, diese ganze Gunst
der Lage unbenutzt bleiben? Vielleicht mischt Herr von Vülow schon die
Karten zu einer interessanten und glückliche» Whistpartie. Jedenfalls dürfen
wir auch hier volles Vertrauen haben. Bei dem deutschen Erfolg in China
haben sich weltumspannende Weite des politischen und wirtschaftlichen Gesichts¬
kreises, umsichtige Benutzung der Weltlage und Energie der Durchführung so
glücklich vereinigt, daß keine Macht Widerspruch erhoben hat, und daß jeder
die Überzeugung gewinnen muß: die auswärtige Politik des Deutschen Reichs
elf zur Ernte. Ein altes Lied und ein langes Lied von kühn schwei¬
fender Modulation, das nicht ausgesungen werden kann. Reif zur
Ernte! So klingt dein Landmann nach dem Sichelmarkt das
Rauschen des goldigen Ährenfeldes im Ohr als beglückender Gesang.
Bald wie Sirenengesang, bald wie Richterruf trifft es den Menschen,
ob Jüngling, Greis oder Säugling: Reif zur Ernte! Denn der
Mensch ist begehrlich und doch auch wie Gras, ein nufgegcmgnes Körnlein im
Völkerncker. Aber jedes Menschenherz ist wieder ein besonders bestellter Acker, ein
Mutterboden mit wunderbarer Sant von tausenderlei Samen. Und je nach der
Beschaffenheit des Mutterbodens und der Witterung kommt da zur Reife eine
Distelerute, oder besser und besser bis hinauf zur tausendfältigen Weizenernte. Der
Same der Liebe und des Hasses fällt da hinein in den Mutterboden des Herzens,
der Same der Hoffnung, Geduld, Bescheidenheit, Selbstverleugnung — der Selbst¬
sucht, des Hochmuts, der Ungeduld, Verzaguug und Verzweiflung; o wer könnte
alle die Gräser und Kräutlein, Hecke» und Schlinggewächse aufzählen, deren Samen
da keimen und wachsen! Die vermaledeite Welt hat viel schlimmen Samen, und
der Wind steht ihr nur gar zu gern zu Diensten.
In das Madlenenherz hatte er viel des bösen Samens getragen. Aber trotz
Granpelwetter und Unkraut hat die Saat der Liebe zwischen den stützenden Stengeln
der Bescheidenheit, Selbstverleugnung, Geduld und Hoffnung die Übermacht ge¬
wonnen, und es klang nun in diesem Herzen berauschend das alte, ewige Lied:
Reif zur Ernte!
Aber der Herr der Ernte, der Frieder, kommt nicht; und Madlene trägt ihm
die Ernte nicht zu. —
Das Korn auf dem Kilzmcmnsacker war von der Madlene um Sonntag
vor dem Sichelmnrkt als reif zur Ernte erkannt und am Tag nach dem Sichel¬
markt auch geschnitten worden. Da hatte beim Schneiden die Madlene, die sehr
„aufgeräumt" gewesen war, dem Kleinen vom Döhlerskätterle her ein paar Holz¬
äpfelchen zugeworfen. Und der Kleine hatte, ohne sich aufzurichten, in ganz neuer
Melodie mit ungewöhnlich langgedehnten i gefragt: Ich? Er hatte sich nicht auf¬
gerichtet, weil sonst Himmel und Erde um ihn herum hätte bemerken können, wie
er feuerrot geworden war. Die Sicheln hatten aber darnach beim Halmdurch¬
schneiden viel lauter gesungen, und das hatte deu Kleinen mehr geärgert als die
Holzäpfelchen, sodaß er immer eifriger drauflos schnitt. Und je lauter seine Sichel
sang, desto rackriger wurde er, sodaß er herausplatzte: Ich könnt zum Türkendres
bald Schwager sagen, sagen die Leut.
Gegen dies Geschoß war jedoch Madlene nunmehr gehörnt. Und ich Mann!
hatte sie schnell erwidert.
Woh is denn mei sogen!
So war der Türkendres in dem Müsershaus schon zum Spielball des Mut¬
willens geworden. Wenn man aber den Teufel an die Wand malt, läßt er nicht
lange auf sich warten. Es war noch uicht alles bewältigt, was reif zur Ernte war,
da erschien plötzlich der Türkendres. Als er in selbstgefälliger Nachlässigkeit zum
erstenmal durchs Dorf ging, strichen die Schwalben vor ihm durch die Luft mit
dem Schreckruf: Ziwitt! Zilvitt! als hätte» sie die Gegenwart eines Falken oder
einer Katze anzuzeigen; die prahlerische gelbe Uhrkette mochte sie gereizt haben.
Die alte Dorflinde schüttelte ihr ehrwürdiges Haupt und rauschte es über die Dächer
hinweg den Holunderbänmen hinter den Scheunen und Backöfen zu: Der Türken¬
dres ist da! daß sie zusammenschauerten. Und unter den Dächern und auf der
Gasse, in Gärten, Flur und Wald ging es von Mund zu Mund: Der Türkendres
ist da!
Seit vierzehn Tagen hatte der Rödersfrieder seine Krücke zwar hinter den
Kleiderschrank gelehnt; aber zu eiuer Flucht vor dem Ruf: Der Türkendres ist da!
war sein Bein doch noch nicht tüchtig genug. Er mußte das Unabänderliche über
sich ergehen lassen, wie sehr er auch dabei litt.
Am Sonntagnachmittag brannte er sein Pfeifchen an, ging zur hintern Thür
hinaus durch den Obstgarten und freute sich der reichen Apfeltracht, mit der ihn
die treuen Bäume anlachten. Es war recht heiß; seine Hemdärmel leuchteten,
und seine pelzverbrämte Mütze mit der Goldtroddel war just noch so schön wie
vor acht Jahren, und es zog ihn hinten auf der Wiese nieder in den Schatten der
Hecke, wo ihn einst die Madlene mit dem Grashälmlein unter der Nase gekitzelt
hatte. Auf demselben Wiesenpfad, wo damals die Madlene herangekommen war,
näherte sich jetzt die Matthesensbärbel. An einem lieben Sonntag plaudert sichs
doch noch besser als bei der Arbeit. War das Plaudern für die Bärbel an den
Wochentagen nur Arbeitswürze, so konnte sie sich ihm am Sonntag als Selbstzweck
mit völliger Hingabe widmen, und darum verfiel an diesem Tag ihrem Mundwerk
ein Kreis von viel beträchtlicheren Radius — räumlich und persönlich. Räumlich
lag der kommenden Bärbel der Rödersfrieder ja wohl nahe; aber seine Person lag
ihr doch eigentlich fern. An einem Werkeltag wäre er vielleicht verschont geblieben;
aber heute fiel er in den Kreis des Bärbelbedürfnisses.
Ruht sichs gut, Frieder? Wollt einmal nach meimn Hafer guck drob» am
Bart, ob wir ihn enorm schneiden könne«. Ist heut wieder recht warm. Hases
schon gehört? Der Türkeudres ist da! Man folles doch nit mein'n, wie der
Mensch sein Glück machen kann, wenn er in die Welt geht. Du lieber Gott! Wie
er noch in die Schul ging — du liebe Zeit! Da kam er manchmal zu mir ge¬
schlichen, weil ihm vor Hunger der Magen krumm hing. Nun guckt ihn alleweil
an! In Nürnberg hätt er Pferde und Kutschen verkauft, weils bei uus kein'n
ordentlichen Pferdestall gäb. Sollt mans den» mein'n? Er spielt mit den Gold¬
stücken, wie wir nit mit den Pfennigen.
Sie stemmte beide Hände auf die Hüften und machte bei jedem Kraftausdruck
eine Verbeugung.
Er will gewiß um die Müsersmadlene anhält. Die Madlene hätt ihn vor
acht Jahrn schon gern genommn, Wenns ihre Lent hätten gelitten. Derwegen wär
er in die Fremd. Alleweil ist sie ihr eigner Herr; und der ewig Reichtum! Herr
Jeses! Da braucht er nit erst groß um sie anzuhalten. Hat das Weiberleut Glück!
S ist drübernaus!
Ja! sagte der Frieder und wandte sich seinem Hans zu. Die Bärbel rief ihm
noch nach: Na, die Triltschenchristel ist auch nit ganz ohne!
Es litt den Frieder nicht im Hans. Er schritt bald wieder durch den Obst¬
garten, über die Wiese, an der Feldlehne empor; unter dem Pelzgebräm setzten sich
Schweißperlen an auf der Stiru. Immer höher stieg er, über die Kartoffelfelder
hinaus zwischen Wacholderbüschen und rotblühendem Heidekraut aufwärts, daß ihm
dicke salzige Tropfen über die Wangen rannen.
Da saß er »nieder auf der Höhe wie vor acht Jahren und schaute in die
Welt hinaus. Und der Flug seiner Gedanken riß ihn bis nach Wien. Da sah
er Menschen rennen in den Straßen und Kutschen fahren. Aus einer mit rotem
Plüsch ausgeschlagnen machte ihm der Türkendres eine lange Nase. Die Höhe
des Stolzes, auf der sich Frieder bis zur Stunde tapfer behauptet hatte, begann
Zu schwanken, daß der Unglückliche trunken hinabstürzte in die Tiefe. Es dauerte
geraume Zeit, ehe ihm das Bewußtsein wiederkehrte. Er fühlte sich aufgerichtet,
von zwei starken Armen fest umschlungen, gepreßt an einen mächtig wogenden
Busen. Madlene! schrie Frieder ans, laut, daß es den Berg hinabschallte wie ein
Hilferuf.
Frieder erschrak vor seiner eignen Stimme, und es war ihm, als erwache er
aus einem Traum. Seine Seele loderte glühend ans und hing um einer leuchtenden
Mädchengestalt und las ans der Blüte des Leides uuter zitterndem Tau himm-
lischer Offenbarung der Keuschheit und Reine, der sich das Genieine und Niedre,
Verwüstung und Schmutz nicht nahen dürfen. Und Frieder erhob sich; seine
Wangen brannten, sein Auge flammte Begeisterung, und er streckte die Arme empor
und rief: Es kann nicht sein, Madlene!
Wie ein Prophet, der auf dem Berg die Weihe empfangen hat, schritt Frieder
gestärkt in Vertrauen und Hoffnung abwärts — gewappnet und gefeit gegen das
Geschrei! Der Türkendres ist da!
Just zu derselben Zeit, da Frieder von der Höhe seines Stolzes hinabgestürzt
war in die Tiefe des Unbewußtseins und dann erwachend sich an einen gewaltigen
Busen gepreßt fühlte, daß er laut Madlene! rief, saß Madlene auf der Tischecke
vor dem Fenster und nahte mit rotem Zwirn die Anfangsbuchstaben ihres Namens
uuter dem Brustschlitz in neue Hemden."
Der Kleine machte heute den Svnntagsflnrgang, der Große saß am „Birro
vor seinem Schreibkalender. Der Kater schnurrte auf dem warmen Südgeltendeckel,
und die Schwarzwnlderin schlug den Takt dazu. Sonst war es still im Müsers-
haus, ja feierlich wie in einem Tempel.
Aber die vermaledeite Welt! Es pochte an der Stubenthüre. Madlene hatte
nicht gesehen, wer zur Hausthür eingegangen war, denn sie saß am Fenster auf
der andern Seite.
Herein! rief der Große.
Der Türkendres trat ein. Guten Tag! Was macht ihr denn, ihr Leutle?
Da warm wir. Hat länger gedauert, als ich dacht.
Der Große war aufgefahren von seinem Pult und begrüßte den Eintretenden;
aber Madlene neigte sich tiefer, als wären ihr die Augen auf einmal blöd ge¬
worden zum Nähen. Da schlug ihr der Türkendres mit seiner breiten Hand auf
die Schulter und fuhr ihr mit der andern Hand ans Kinn, als wollte er das
abgewandte Antlitz zum Anschauen seiner wichtigen Persönlichkeit zwingen.
Die lieb Unschuld! sagte er lachend, verstell dich doch nit!
Das letzte Wort war kaum gesprochen, da war auch Madlene schon zur Thür
hinnus.
Nun pflanzte sich der Türkendres auf einem Stuhl am Tisch auf, schlug die
ausgestreckten Beine über einander und ließ die Finger der einen Hand auf der
Mitte des Tisches spielen wie die Hämmer einer Ölmühle, während der andre
Arm nachlässig über die Stuhllehne hinabhing.
In Wien ist das anders. Davon habt ihr Lentle freilich keinen Begriff. Da
regnets Geld, wenn mans versteht.
Ist auch in Schlesien anders wie Hierzuland. Die Zeiten kommen nit
wieder.
Hahaha! Bessere Zeiten jetzt! Zum Exempel ich. Heringegen muß mans
verstehn. Als ich mit dem Jtzig-Meyer Kompanie hatt, da hats geflutscht. Schle-
fiuger, du hältst Sprung gemacht wie ein jung Böckle, hättst du das Geld gesehn,
Straf mich Gott!
Jtzig-Meyer? Das war doch gar kein Christ nit!
Christ hin, Christ her! Haken sie ihn nit geklemmt, wir hättn heut noch 's
Geschäft zusammn.
Geklemmt? War wohl ein Spitzbub?
Spitzbub hin, Spitzbub her! Aber 's Geschäft hat der Mann verstandn. Dem
war kein Weibsbild zu schon und zu schlau, kein Mannsleut zu vornehm. Der
angelte Leut, die kein andrer machte, Gott Straf mich! Aber ohne mich hätt ers
auch nit gekonnt, das muß ich sagn. Heringegen hat er falsch mit mir geteilt.
Da hab ich ihn halt klemmn lassen, den dänischen Kerl. Ihr habt ja da ein
ganz neu Birro?
Wir Halm unsern Spaß dran. Und gut ists auch; ich kenn die Welt!
Kann schon sein. Ja, du bist auch draußen gewesen. Aber Schlesien ist
halt doch ka Wien. Heringegen thäten wir beide schon eher zusammen passen. Du
bist auch ein intelganter Kerl. Wenn wir Kompanie machten, sollt das Birro bald
schwerer werden. Aber da könnt man sich schon helfen. Wir ließen ein Vexirschloß
anbringen. Später würden wir freilich einen eisernen Geldschrank haben müssen.
In Wien hab ich dergleichen gesehn. Die wirds in Schlesien noch nit ge¬
gebn huhu.
Eiserner Geldschrank? Ganz gut; denn ich kenn die Welt! Aber ein Vexir¬
schloß habn wir schon.
Der Türkendres schlug mit der Faust auf den Tisch. Nit möglich! Er sprang
auf und schlug den Großen auf die Schulter. Du bist mein Mann! Ein intel¬
ganter Kerl, wie ich ihn brauchen kann!
Geschmeichelt drehte sich der Schlesinger um nach seinem offnen Birro und
zog von einem Fach ein Schlüsselchen ab. Da, Dreh! Dn warst ja in Wien;
schließ einmal ans!
Faxen! Mir ein Leichtes!
Der Türkendres probirte es so und so, und wieder anders: er war aber
nicht imstande, das Schloß zu öffnen.
Hätt nit gedacht, daß mir der Schlesinger über wär, sagte er und reichte mit
respektvoller Miene das Schlüsselchcn dem Großen.
Ich kenn die Welt! Und nun gieb acht! Dreimal rechts, zweimal links, einmal
rechts, dreimal links!
Da sprang das Kästchen heraus, daß die Geieraugeu des Türkendresen die
Thalerrvllen liegen sahen. Es war nur ein Augenblick, aber der scharfe Beobachter
wußte gerade genug. Als hatte er kaum Notiz davon genommen, wie mit dick
wichtigern Gedanken beschäftigt, erfaßte er den Schlesinger am Arm, drehte ihn
von seinem Birro ub und redete mit schwacher Stimme, aber eifrig in ihn hinein.
Possen das! Es liegt mir sehr an, ein Wort mit der Mndlene zu reden.
Wir sind nun einmal in einander verschnmerirt; alle Leut reden davon. Dem
Trödel muß ein End gemacht werden. Ein Mann wie ich! Nun, du kennst das.
Und wir müssen es zum eisernen Geldschrank mit einander bring. Da steh ich
davor! Ein intelganter Kerl wie du hat mir gefehlt bis als.to. Wo ist denn das
Mädel?
Wird ohn sein, im obern Stühle.
Hol sie herunter, wollns fertig nachu!
Dabei hatte der Türkendres den Schlesinger bis an die Thür bugsirt. Der
Große ging. Der Türkendres war allein, das Birro stand noch auf, und das
Vexirschlnsselchen steckte noch am Kasten.
Elastisch wie eine Katze, die funkelnden Auge» auf das Schlüsselchen gerichtet,
schoß der Türkendres nach dem Birro, zog das Vexirschlnsselchen ab und aus der
Tasche ein etuinrtiges Ding, das sich alsbald in seinen Hälften aus einander that.
Es umfaßte zuklappend das Schlüsselchen, und nach einem Druck ging es wieder
"us einander. Dann wurde das Schlüsselchen wieder an sein Vexirschloß gesteckt,
und das Wachsfntteral mit einem Abdruck verschwand in der Brusttasche des Türken¬
dresen. Das war alles sehr rasch gegangen. Der saubere Freicrsmann holte aus
einer andern Tasche eine Brieftafel und trug gewissenhaft ein: dreimal rechts,
zweimal links, einmal rechts, dreimal links. Nun saß er wieder ölmühlspielend am
Tisch mit gestreckten Beinen und baumelnden Arm. Die Rollen hinter dem Vexir¬
schloß hielt er einstweilen für reif zur Ernte. Gerät die große Ernte, gehen sie
ohnedies mit. Und die muß geraten. Das dumme Mädchen muß nur erst erkannt
haben, daß sie den reichen Andreas Höpflein aus Wien zum Freiersmcinu hat, der
in Nürnberg Kutsche und Pferde verkauft hat, weils in dem lumpigen Nest keinen
Pferdestall giebt. Ist sie kopulirt, tritt der Schlesinger in Kompanie, das An¬
wesen wird verknust, dem Kleinen ein X für ein U gemacht, und heidi! gehts nach
Wien mit einem schönen Sümmchen und einem feinen, frischen Stück Ware, das
man für ein zweites schönes Sümmchen an den Mann bringt, wenn der Bruder
in einem Gasthof vergeblich auf die Rückkunft des jungen Ehepaares wartet. Wir
sind in Wien gewesen und haben den Jtzig-Meder klemmen lassen. Wir werden
doch die dumme» Leutle da auch zu klemmen wissen! Sie bleiben lang aus. Die
Madlene ist zu dumm! Aber beim Schlesinger haben Kompanie und eiserner Geld¬
schrank verfangen. Er ist ein intelganter Kerl; wird ihr schon den Kopf zurecht
setzen. So spielten die Gedanken des Türkendreseu wie eine Fuchsfamilie in der
Dämmerung auf einsamer Waldwiese.
Endlich tritt Madlene ein. Sie schreitet mutig heran, daß der Saum ihres
Kleides fast die in die Luft sterzenden Fußspitzen des nachlässig sitzenbleibenden
Türkendresen berührt, und fragt mit fester Stimme: Da bin ich; was soll ich?
Der Große lehnt an dein Klinkpfosten der Stubenthür, als hätte er einer
Flucht vorzubeugen.
Dn sollst nichts, erwiderte der Türkendres. Ist es dir nicht genug, daß ich
da bin, der reiche Andreas Höpflein ans Wien? Ein Mann wie ich fragt nur:
Willst du, oder willst du nicht? Fünfzigtausend Gulden stehen hinter mir. Wien
steht vor uns. Du kannst eine Dame spielen, wenn du willst, Gott Straf mich!
Heringcgeu setzt sich in dies Lnmpennest la Wiener, wie ich nunmehr einer ge¬
worden bin. Habs mir anders überlegt, wie ich dir geschrieben hab, daß wirs
nachu wollten. Ich kommt die glänzendsten Partien macheu. Aber nein! Herin¬
gegen lehr ich zu meiner Jugendliebe zurück. Du brauchst bloß ja zu sagen. Ich
hab schon mit Grafen zu thun gehabt, Gott Straf mich! Das mußt du wissen.
Heringegen aber geht mir über alles meine Jugendliebe. Wenn dir das a reicher
Wiener sagt, schlägst du Wohl ein.
Dabei sprang der Türkendres ans, und sein Gesicht glänzte wie Wagenschmiere,
und er hielt der Madlene die Rechte hin.
In das Antlitz der Madlene trat die Nöte der Empörung. Dreh, dn bist
mir zu schlecht! Geh du nach deinem Wien; ich bleib in meinem Lumpennest!
Und du, Großer, schließ das Birro zu und, wenn der da fort ist, die Hausthür
auch noch!
Weg war sie.
Ungebildetes Weibslent! schrie der Türkendres. Keine Ahnung gehabt von
solcher Roheit! Hätt mich gedul't. Hahahn! Fünfzigtausend Gulden, Bettelpack!
Hahaha!
Die Thür flog hinter dem Türkendresen zu, daß der Kater, der sein Schnurren
längst eingestellt hatte, vom warmen Südgeltendeckel herunter sprang und an der
Stubenthür hin- und herstrich, als gäbs da was zu heilen.
Aber der Große schloß verblüfft sein Birro und steckte den Schlüssel ein.
Dann ging er, eifrig schuupfeud, in der Stube auf und ub und fühlte öfter nach,
ob er den Birroschlnssel wirtlich eingesteckt habe. Denn er hatte heute die Schlüssel-
Woche angetreten.
(Fortsetzung folgt)
Vom Parlamentarismus. Nichts erscheint natürlicher, als daß ein Öster¬
reicher im Jahre der Obstruktion, des ewigen Ausgleichs und der weltgeschichtlichen
Studentenkappen über das Wesen und die Lebensbedingungen des Parlamentaris¬
mus nachdenkt. Möglicherweise wird aber nirgends weniger darüber nachgedacht
als gerade in Österreich, und wir glauben dem Freiherrn von Offermann, der
soeben (bei Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig) eine Broschüre über den
Gegenstand herausgegeben hat (Parlamentarismus voudra. Staat in unsrer
Zeit), wenn er in einer Vorbemerkung schreibt: „Die nachfolgende Arbeit versucht,
das Krankheitsbild des modernen Parlamentarismus festzustellen, und die Ereignisse,
die wir eben in Österreich durchleben, sind keine üble Verifikation der gewonnenen
Resultate. Dieses Zusammentreffen ist aber ein rein zufälliges. . . . Auch dürfte
dies zufällige Zusammentreffen der Aufnahme unsrer Arbeit hier eher ungünstig als
günstig werden." Selbstverständlich beginnt er mit England. Sich meistens an
Gneist anlehnend, sagt er nichts bisher unbekanntes, aber es gelingt ihm, in seiner
Darstellung das Wesen des englischen Parlamentarismus sehr klar hervortreten zu
lassen. Das englische Unterhaus war in seiner Blütezeit bekanntlich die Vertretung
der herrschenden Aristokratie, einer in Nationalität, Religion, Berufsstand und
Interesse vollkommen gleichartigen Aristokratie, deren einander in der Regierung
periodisch ablösende Parteien nicht die Vertretungen von Klassen oder Berufsständen,
fondern nur Familiengruppen waren. Offermann legt ein besondres Gewicht darauf,
daß diese Aristokratie ihre Stellung im Staate nicht ihrem Grundbesitz, sondern
den ihr vom König übertragnen Ämtern verdankte, daß sie sich das Recht auf diese
Stellung durch unentgeltliche Verwaltung von Gemeindeehrenämtern immer neu ver¬
diente, und daß sie auf Privilegien keinen Anspruch machte; daß ferner das Par¬
lament im Grunde genommen nnr die Vereinigung der Kommunen war, und daß
der Parteiwechsel keinen Einfluß auf die Verwaltung hatte, da die Vergebung der
meisten Ämter der Regierungswillknr entrückt war; durch die wohlorganisirte Selbst¬
verwaltung und die Jury war die persönliche Freiheit jedes Bürgers gesichert und
der politischen Verfolgung der Weg versperrt. Jedermann weiß, daß die fest¬
ländischen Parlamente ganz anders entstanden, anders beschaffen und in einen ganz
andern Staatsorganismus hineingepflanzt worden sind, und daß daher außerhalb
Englands die Lebensbedingungen einer parlamentarischen Regierung fehlen.
Offermann findet nun den Grundfehler der festländischen Verfassungen darin,
daß sie auf einer Verwechslung und Vermischung der beiden Begriffe Staat und
Gesellschaft beruhten. Unsre Parlamente seien Interessenvertretungen. Das System
widerstreitender Interessen aber, „das die Gesellschaft darstellt, kann nur dnrch etwas
Höheres, Mächtigeres, durch den Staat überwunden werden. Seine Natur ist
es gerade, zum Unterschiede der Gesellschaft, die gleichsam ein Gemenge aller Inter¬
essen ist, selbst kein Interesse zu haben und dadurch befähigt zu sein, das Interesse
der einen gegen die andern zu schützen; er setzt in der Mannigfaltigkeit der Jnter-
essenkämpfe sowohl der Einzelnen als der Körperschaften, Stände und Klassen unter
einander dasjenige als seine Aufgabe und einziges Ziel, was allen zugleich förder¬
lich ist." Wir wollen nicht untersuchen, ob die hier gegebne Definition der Gesell¬
schaft ans allgemeine Anerkennung zu rechnen hat, sondern beschränken uus auf deu
interessantesten Punkt. Es wird hier wieder einmal die Ausgabe gestellt, einen
Staat zu konstruiren, der über den Interessen schwebt. Daran haben sich nun die
Geschlechter seit Jahrtausenden abgearbeitet, aber mehr als zwei Wege zum Ziel
bis heute noch nicht gefunden. Der eine der beiden Wege führt zum orientalischen
Despotentum. Die Gottheit schenkt einem Monarchen Land und Leute und gießt
ihm die zum Regieren nötige Weisheit ein, entweder mit Hilfe einer Priesterzunft
oder unmittelbar. Dieser Monarch ist dann der Staat und steht über den Inter¬
essen aller seiner Unterthanen, die, wie ungleich sie auch sonst sein mögen, doch
als seine rechtlosen Knechte einander gleich sind. Stört nun ein Interessenkonflikt
die Ruhe des Staats, d. h. des Monarchen, so läßt er die beiden Streitenden
oder einen von ihnen einen Kopf kürzer machen, und die Ruhe ist wieder herge¬
stellt. Der andre Weg führt zum Kommunismus. Wenn die Interessen einander
entgegengesetzt sind, so kann es Maßregeln, die „allen zugleich förderlich" wären,
nicht geben. Soll also ein Staat möglich sein, der das Wohl aller gleichmäßig
fördert, so müssen die Interessengegensätze aufgehoben werden, und das ist eben
der Traum des Kommunismus. Offermann neigt mehr dem zweiten als dem ersten
Wege zu. wie man aus den Forderungen sieht, die er an die Staatsgewalt stellt.
Sie Werde das Recht des Privateigentums stark modifiziren müssen; es bedürfe
einer unablässig thätigen Gesetzgebung, nicht nur, um den Gegensatz der Bildung
zwischen Besitzern und Nichtbesitzeuden zu mildern, sondern auch, um den Arbeitern
die Ansammlung eignen Kapitals zu erleichtern und ein menschenwürdiges Dasein
zu sichern (S. 67). Als höchste Aufgabe des Staats bezeichnet er „die Herstellung
gleicher Bedingungen für alle persönliche Entwicklung." Erst nach „gänzlicher Los¬
lösung der Staatsidee von der Gesellschaft" könne der Staat den Grundsatz „der
freien Klassenbewegung verwirklichen, d. h. den Übergang der einzelnen aus der
einen Klasse in die andre in die Kraft und Selbstbestimmung des eignen Willens
und der eignen That der Person verlegen. Geburt oder zünftige Organisation der
Arbeit dürfen keine Hindernisse mehr bilden" (S. 71). Man sieht da wieder
einmal, wie es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe sagen. Offermann fordert
als Anfang der Besserung vor allem ein starkes Königtum; andre Leute fordern
das auch, aber sie denken dabei etwas ganz andres.
In der That ist im Großstaat eine starke Regierungsgewalt, mag sie nun von
einem Erblönig oder von einem gewählten Diktator geübt werden, unentbehrlich.
Ob aber selbst der sähigste Regent die idealen Aufgaben zu lösen vermag, die ihm
Offermann zuweist, ist eine andre Frage. Man wird zufrieden sein können, wenn
es ihm gelingt, den Interessenkampf so weit in Schranken zu halten, daß er nicht
zur Auflösung des Staats führt. Sich streng über den Parteien zu halten, ganz
außerhalb des Parteikampfes zu stehen, wird ihm schwerlich gelingen, denn
um aufs Ganze einwirken zu können, muß er sich eines Teiles als Mittels
und Werkzeugs bedienen; eine Bureaukratie und ein Heer aber, die jede Fühlung
mit den Berufsständen verloren hätten, würden bald in einen feindlichen Gegensatz
zu diesen geraten, und wenn es zum Kriege zwischen Staat und Gesellschaft kommt,
so muß der Staat deu kürzern ziehen, denn er lebt von der Gesellschaft, während
diese nur ihre Ordnung von ihm empfängt; ohne Ordnung leben kann man allen¬
falls, aber nicht Ordnung halten ohne zu leben. Die heutigen Schwierigkeiten
rühren nicht von falschen Theorien her, sondern von der Größe und Volkszahl der
Staate» und von ihren verwickelten Verhältnissen, oder — wie man das heute
nennt — von der starken Differenzirung der Bildung, der Religionen, der Mei¬
nungen und vor allem der Vermögen und der Gewerbe. Offermann bemerkt ganz
richtig, daß im Mittelalter in England der Staat mit der Gesellschaft zusammen¬
gefallen sei, ohne daß das üble Folgen gehabt habe, und daß heute, wo im Pnrla-
nimt außer den Engländern auch die Schotten und Iren, außer der Staatskirche
die Katholiken und die Dissenters vertreten seien, wo das Wahlrecht fast von allen
Engländern ausgeübt werde, Industrie und Handel neben und vor dem Grundbesitz
ihre Interessen geltend machten, daß da die alte englische Verfassung in die Brüche
gehe. In einem durch natürliche Grenzen abgeschlossenen Lande, dessen Einwohner¬
schaft sich ans nicht mehr als zwei Millionen beläuft und fast ganz aus großen
und kleinen Bauern besteht, in einem solchen Lande macht sich alles ganz leicht,
mit jeder Theorie, wie ohne alle Theorie. In einem Staate dagegen, wie unser
heutiges Deutsches Reich einer ist, können uns alle Theorien nichts helfen, auch
nicht die von dem Gegensatz zwischen der schlechten selbstsüchtigen Gesellschaft und
dem guten selbstlosen Staate.
Übrigens sind wir im Deutschen Reiche von dem reformirten Parlamentarismus,
den Offermann für die nächste Zukunft vorschlägt, gar nicht so sehr weit entfernt.
Er spricht unsern zweiten Kammern, eben weil sie Interessenvertretungen seien, die
Befähigung zur Gesetzgebung ab (ob die Herren von Ploetz und von Kardorff der¬
selben Meinung sein mögen?) und will besondre Gesetzgebungskammern eingerichtet
wissen. Eine solche Kammer soll „die im höchsten Verwaltungs-, Gerichts- und
Militärdienst und dazu noch die sonst in Theorie oder Praxis hervorragendsten
Männer" vereinigen. Das ist doch wohl eigentlich bei uns in Preußen-Deutsch¬
land der Fall. Alle wichtiger» Gesetze werden von der Regierung, im Reiche von
den Verbündeten Regierungen vorgeschlagen, die sie von Sachverständigen haben
ausarbeiten lassen. Manchmal wird die Ausarbeitung von deu Ministerien besorgt,
manchmal, wie beim bürgerlichen Gesetzbuch, von einer besondern Kommission,
manchmal wird zu den Vorberatuugeu der ganz nach den Wünschen Offermanns
zusammengesetzte Staatsrat, manchmal eine Anzahl von Sachverständigen und
Interessenten zu Rate gezogen. Die zweiten Kammern und der Reichstag ändern
die Regierungsvorlagen nur ab, und schneiden diese Abändern»gen der Vorlage zu
tief ins Fleisch, so verleugnet die Regierung ihr verstümmeltes Kind. Die Regie¬
rung im Verein mit den von ihr ausgewählten Sachverständigen bleibt also die
eigentliche Gesetzgeberin. Die Durchberatung der Vorlagen in den Parlamenten
hat, abgesehen von wirklichen Verbesserungen, die eine größere Anzahl von Kritikern
unter Umständen herbeiführen kann, hauptsächlich den Sinn und Zweck, die Regie¬
rung von einem Teil ihrer Verantwortung zu entlasten und die Gefahr von ihr
abzuwenden, die darin liegen würde, wenn man ihr nachsagen könnte, daß sie dem
Volte Gesetze aufgezwungen habe, deuen die Mehrheit des Volkes widerstrebt.
Die Unterhäuser sollen nach Offermcmn ein beschränktes Budgetrecht ausüben, bei
der Budgetberatung die Verwaltung kritisiren und dadurch die Regierung kontrolliren.
Nun, das thun ja unsre zweiten Kammern und der Reichstag. Es handelt sich
daher nur noch um eine formelle Differenz. Offermann tadelt es, daß man dem
vereinbarten Voranschläge, der doch nur ein Akt der Finnnzverwaltung sei, die
feierliche Form und den Namen eines Gesetzes gebe. Uns ist das auch immer
wunderlich vorgekommen, aber viel Unheil richtet wohl diese ungenaue Ausdrucks¬
weise, in der eine scheinbare Vermehrung der Rechte und Erhöhung der Würde
der Volksvertretung liegt, nicht an. Endlich verlangt der Kritiker des Parlamen¬
tarismus, daß die Staatsbürger dem Staate an der Stelle eingegliedert werden,
wo ihre lebendige Teilnahme am Gemeinwohl und ersprießliche Thätigkeit dafür
möglich ist: in der Gemeindeverwaltung. Auch das geschieht bei uns; unsre Selbst¬
verwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz ist nicht genau das, was früher
einmal die englische gewesen ist, sie leidet auch noch, wie alles Irdische, an viele»
Mängeln, aber sie kann sich in dieser unvollkommnen Welt schon sehen lassen.
Nehmen wir nun noch hinzu, daß wir das, was man gewöhnlich unter Parlamen¬
tarismus versteht, die Parteiregierung, in Deutschland überhaupt nicht haben, so
können wir sagen, daß der deutsche Parlamentarismus von der Offcrmcmnschen
Kritik eigentlich wenig getroffen wird. Der der romanischen Staaten freilich desto
mehr, vom österreichischen nicht zu reden, von dem mau vorläufig nicht weiß, ob
er in Zisleithcmien überhaupt noch vorhanden ist.
Wie sehr wir auch in politischen Dingen auf eine geschlossene, kräftige Reichs¬
einheit dringen, so möchten wir doch nicht den Partikularismus, die Sonder¬
interessen der Stämme und Landschaften in der Dichtung und in den musischen
und bildenden Künsten missen. Wir haben schon genug über das Eindringen der
vielgepriesenen „modernen" Kultur in die entlegensten Gebirgsgegenden und Heide-
landschaften unsers Vaterlands zu klagen, über diese öde Gleichmacherei, die alles
urwüchsige Volkstum so gründlich vernichtet, daß sich die Museen schon als rettende
Häfen aufthun müssen, um wenigstens etwas von altdeutschem Hausrat, altdeutscher
Hausknnst und Tracht zu retten. Darum sind uus Sammelstellen, wie sie das
schwäbische Jahrbuch für Dichtung, Litteratur und Kunst begründen will, sehr will¬
kommen, auch wenn, was hier der Fall ist, der gute Wille stärker war als die
vollbrachte That. Es ist aber ein erster Versuch, den der Verleger unter dem
Eindruck der über eiuen großen Teil Württembergs hereingebrochnen Unwetter und
Überschwemmungen schnell unternommen und durchgeführt hat. Nur kurze Zeit
stand ihm zur Verfügung, wenn er wirklich, wie er sichs vorgenommen hatte, den
durch Hagelschlag geschädigten Landleuten etwas helfen wollte. Trotzdem ist ihm
mehr gelungen, als er vielleicht selbst erwartet hat. Viel berühmte Namen wird
mau freilich nicht finden. Die Dichter Württembergs, deren Namen in ganz
Deutschland geschätzt werden, haben sich noch zurückgehalten. Nur Isolde Kurz
hat sich mit einer wunderlichen Plauderei mystisch-psychologischen Inhalts beteiligt,
und Eduard Paulus hat zwei Gedichte gebracht, die in wenigen schlichten Strophen
einen wahren Reichtum von inniger Empfindung und sinniger Betrachtung des
Vergangnen und Gegenwärtigen enthüllen. Desto mehr haben sich die nur in
kleinern Kreisen bekannten Volksdichter und die Schriftsteller Stuttgarts angestrengt,
ihrem engern Vaterlande Ehre zu machen. Unter den Dialektdichtuugen von
Eduard Hiller, Gustav Seuffer und Eugen Keller findet man einige ganz prächtige
Sachen, die der an Volkslyrik bettelarm gewordne norddeutsche mit besondrer
Andacht lesen sollte, und in den Aufsätze» von Th. Ziegler über Hölderlin und
Nietzsche, von Eugen Schneider über die Adelsakademie in Tübingen und von
Adolf Palm über das Hoftheater in Stuttgart uuter dem jetzigen Könige ist maucher
wertvolle Beitrag zur Geschichte des geistigen Lebeus in Deutschland enthalten.
Wenn der Gedanke, der dieses Jahrbuch hervorgerufen hat, in vielen württem¬
bergischen Herzen nachklingt, werden sich vielleicht auch die Herren Künstler dazu
bequemen, besseres aus ihren Mappen hervorzusuchen, als es das erstemal ge¬
schehen ist.
Da heute bei uns im Reiche*) der
Zug auss positiv Kirchliche geht, so mag Richard Rothe wohl nur in den geist¬
lichen Kreisen noch stille Verehrer haben. Für den vereinzelten Denker bleibt der
berühmte Ethiker, der ein ganz selbständiger Geist war, eine höchst anziehende Er¬
scheinung. Mit großem Interesse haben wir die Übersicht der Theologischen
Ethik gelesen, die or. Rudolf Ahrendts (Bremen. M. Heinsius Nachfolger, 1896)
aus dem handschriftlichen Nachlaß Rothes herausgegeben hat. Seine Ethik ist ein
kühnes spekulatives Gebäude, das eigentlich mit der philosophischen Glaubenslehre
zusammenfällt. Vom Gottesgefuhl im Menschen ausgehend, konstruirt er den
Gottesbegriff und untersucht dann, wie sich Gott „sein kosmisches Sein" schafft.
Selbstverständlich ist ihm nur der Geist „schlechthin volles Sein" und eine für sich
selbst bestehende Natur gar nicht denkbar. Ähnlich wie in der alten Gnostik schafft
sich Gott sein kosmisches Sein in einer Stufenfolge von Schöpfnngskreisen, Welt¬
sphären oder Himmeln, und dabei wird nun ein mehr kühner als klarer Begriff
der Materie entwickelt. „Der weitere Verlauf der Skala der Kreaturstufen stellt
sich folgendcrgestcilt heraus! Gott differenzirt die reine Materie oder die Äonenwelt
in die in reine Indifferenz in ihr zusammengeschlossenen Elemente, Raum und Zeit,
und bezieht diese letztern gegenseitig auf einander und bestimmt sie hierdurch gegen¬
seitig durch einander. Der durch die Zeit bestimmte Raum ist die Ausdehnung,
die durch den Raum bestimmte Zeit die Bewegung, die unmittelbare Zusammen¬
fassung, mithin die Indifferenz beider aber der Äther (das Chaos). Indem dieser
wieder auf dieselbige Weise in sich indifferenzirt wird, ist die durch die Bewegung
bestimmte Ausdehnung die Attraktion und Repulsion (die Welt der Atome), die
durch die Ausdehnung bestimmte Bewegung die Schwere, die unmittelbare Zu¬
sammenfassung und mithin die Indifferenz dieser beiden aber das Weltgebäude, die
mechanische, d. i. astronomische Natur" (S. 69). Durch die Fähigkeit, sich selbst
zu bestimmen, wird das Menschentier eine Person, ein sittliches Wesen; seine sitt¬
liche Aufgabe besteht darin, sich die Natur zuzueignen, und der normale Lebens¬
prozeß verläuft als ein Prozeß der Erzeugung von Geist. Das sittliche Gute ist
die Übereinstimmung des wirkliche» Menschen mit dem Begriff des Menschen. Daß
das bloße Menschentier noch keine Begriffe hat, also anch nicht den der Mensch¬
heit, daß ihm die Begriffe erst durch die Erziehung beigebracht werden, daß der
erste Mensch keiner Erziehung teilhaft werden konnte, „auch nicht durch Gott," daß
er also ganz unter der Herrschaft der Sinnlichkeit stehen, und daß die Entwicklung
des Menschengeschlechts zunächst im Widerspruch mit der Idee der Menschheit ver¬
lausen mußte (S. 219), das verstehen wir, dagegen verstehen wir nicht, wie diese
unvermeidliche Abweichung dem Menschen von Gott als Schuld angerechnet werden
konnte (S. 211), und die „Berührung" der sündigen Menschheit „mit dem bösen
Geisterreich" kann überhaupt nicht „spekulativ" abgeleitet werden, sondern ist ganz
mechanisch durch den Kirchenglauben in das System hineingekommen. Wie denn
Rothe überhaupt in naher Beziehung zu Kant, Fichte und Hegel steht, so ist ihm
mich der Staat „die volkstümliche moralische Gemeinschaft." Die Organisation
dieser Gemeinschaft ist die Verfassung, und deren Charakter ist notwendig der
demokratische. „Die Demokratie ist nicht mit der Republik zu verwechseln. Eine
demokratische Staatsform giebt es gar nicht, sondern nur ein demokratisches Prinzip,
und einen demokratischen Charakter der Staatsverfassung. ... In der Erbmonarchie
ist noch ein Rest von noch nicht versittlichter bloßer Naturkausalität übrig, daher
sie auch immer zu ihrer Stütze etwas von dem theokratisch gefaßten etroit, äiviu in
Anspruch nehmen muß" (203 bis 205).
Wunderlich wird einem zu Mute, wenn man aus dem stolzen Gebäude, das
der Denker in seiner Studirstube errichtet hat, ius Leben hinabsteigt und die Be¬
dingungen betrachtet, unter denen das wirkliche Ethos der Massen zu Stande kommt.
Was für eine Art Geist erzeugt denn — nun, wir wollen nicht zu tief hinab¬
steigen und nicht in Regionen, die dem gebildeten Publikum verschlossen sind, also
sagen wir — ein Pferdebahnschaffner? Geist erzeugt er ohne Zweifel, und zwar
weit mehr als Fleisch. Oder hat jemand schon einmal einen dickbäuchigen Pferde¬
bahnschaffner gesehen? Hat er doch weit weniger Zeit zum Essen und Schlafen
als der durchschnittliche „Geistliche." Aber was für eine Art Geist? Sein Geist
ist ein Guckkasten, worin ein Gewirr von Menschen, Droschken, Rollwägen, Pferden,
Schaufenstern wirbelt, gemischt mit der Vorstellung von Zetteln, die er verteilt,
und von Rinteln, die er einsteckt; und auf dieses Verteilen von Zetteln und Ein¬
stecken von Rinteln, verbunden mit dem dazu erforderlichen Ans- und Abgehen im
Wagen und dem Ausrufen der Stationen, beschränkt sich seine „Selbstbestimmung"
und seine „Zueignung der Natur." Was ist da Ethisches dran? Wie viel Äonen
werden noch vergehen, und welche gewaltigen Umwälzungen werden sich vollziehen
müssen, ehe aus dem Ameisenhaufen, den wir die Gesellschaft nennen, der Vernunft¬
staat der Philosophen oder das Reich Gottes der Theologen wird! Das gegen¬
wärtige Ethos des deutschen Volks beleuchten einige der christlich-sozialen Partei
angehörige Männer, deren Beiträge der bekannte Pfarrer in München-Gladbach,
lie. L, Weber, zusammengestellt und unter dem Titel: Geschichte der sittlich-
religiösen und sozialen Entwicklung Deutschlands in den letzten 35 Jahren
(Gütersloh, C. Bertelsmann, 1895) herausgegeben hat. Nicht weniger als sechzehn
Verfasser haben Beiträge geliefert, einige davon mehrere. Es werden geschildert:
der Einfluß der Kirche, der Einfluß der politischen Entwicklung auf die sittlich¬
religiösen Zustände, der Einfluß der Naturwissenschaften, Kunst und Künstler, Schul-
wesen, Handel und Industrie, die sozialen Lehren, die Sozialdemokratie, die Presse,
die Parteien, die Notstände, Alkoholismus und Prostitution, das häusliche Leben,
die Sonntagsfeier, die Vornehmen, die Bauern, die Handwerker, die Lnndarbeiter,
die Industriearbeiter, das Proletariat, die Bethätigung der Humanität und der
christlichen Liebe. Wir erfahren nichts neues aus diesen Darstellungen. Wie
könnte überhaupt jemand über die Zustände der Gegenwart etwas neues lehren in
einer Zeit, wo in der Reichshauptstadt über 1200 Zeitungen erscheine»! Aber
durch die eigentümlichen Auffassungen der in Temperament und geistiger Richtung
sehr verschiednen Verfasser und durch die Vereinigung der Einzelschilderungen zu
einem Gesambilde wirkt das Buch doch in hohem Grade belehrend. Am meisten
allgemeines Interesse dürften die Aufsätze vou Karl Friedrich Jordan über die
Kunst und Künstlerwelt und der von Dr. H. von Petersdorsf über die Presse be¬
anspruchen. Wer aber das Buch nur durchblättern will, dem empfehlen wir
dringend, wenigstens einen der Aufsätze vollständig zu lesen (oder wenigstens an¬
zufangen; wer ihn angefangen hat, der liest schon ohne unsre Empfehlung in
einem Zuge bis zu Ende): das Proletariat, von Lieber „S. v. S." ^so!^. Das
ist keine gewöhnliche Schriftstellerleistung; hier spricht ein außerordentlicher Mensch,
und er spricht das aus, was in unsrer Zeit vor allem not thut; das sollte kein
gebildeter deutscher Mann und keine gebildete deutsche Frau »»gelesen lassen!
Die Anhänger der Deseendenztheorie
sind so uneinig uuter sich und bekämpfen einander so heftig, die Physiologen und
Philosophen lehnen die darwinischen Lehren so entschieden ab, und die Leistungs-
unfähigkeit des Darwinismus wird in so vielen Büchern u»d Broschüre» »achge¬
wiesen, daß man wohl sagen darf: die Herrschaftsperiode dieser Modephilosophie
ist abgelaufen. Von de» Schriften der erwähnten Art wollen wir den Lesern
heute drei Proben vorlege». Robert Hugo Hertzsch ist Anhänger der Ent¬
wicklungslehre, aber nicht der darwiuischen Selektionstheorie, und er benutzt jene
i» seinem originellen kleinen Schriftchen*) dazu, die Frucht zu vernichten, um deren
willen der Darwinismus in Deutschland mit solcher Begeisterung aufgenommen
worden war. Er folgert: nach dem biogenetischen Grundgesetz ist die Ontogenese
eine kurze Rekapitulation der Phylogenese. Die Ontogenese beginnt mit der
Mischung zweier Wesen, also muß auch die Phylogenese mit einer solche» begönne»
habe». Da aber der Mensch Geist hat, und am Anfange der Phylogenese auf der
eine» Seite die geistlose anorganische Materie gestände» hat, so muß der zweite
Beitragspeuder el» Geist gewesen sein, und zwar ein allen Menschengeistern über¬
legner, also der göttliche Geist. Denn jedes organische Wesen entwickelt sich von
dem unvollkommnen Zustande seines Keimdaseins an so lange, bis es den Eltern
ähnlich ist. Die Phylogenese ist noch nicht abgeschlossen, und ihre Zukunft besteht
augenscheinlich in der Vervollkommnung des Menschengeistes. Also muß der eine
der beiden Eltern des Weltalls ein persönlicher Geist sein, der ebenso hoch über
den: vollkommensten Menschengeiste steht, als der andre, die anorganische Materie,
unter ihm steht. Das ist nur eine eigentümliche Fassung der Wahrheit, die wir
schon oft hervorgehoben haben, daß aus nichts — nichts wird, und daß die Ursache
größer als die Wirkung, daher die Ursache des bewußten Menschengeistes der voll¬
kommenste bewußte Geist sein muß. — In einem stattlichen Bande entwickelt der
Zoologe Dr. Wilhelm Haacke seine antidarwinische Weltansicht.**) Sehr gut be¬
zeichnet er die Grenzen unsrer Naturerkeuntnis: wir können nichts, als ein kleines
Stück Welt annähernd richtig beschreiben; von erklären kann keine Rede sein.
Der Entwicklungsprozeß ist nur denkbar als eine fortwährende Neuschöpfung, indem
der Weltwille, Gott, in jedem Augenblick die seinem Zweck entsprechende Gruppi-
rung der Atome herbeiführt. Die alle Wesen bewegende Kraft ist das Streben
nach Gleichgewicht, da jede Gleichgewichtsstörung als Unlust empfunde» wird.
Materie und Geist werden gleicherweise von dem Gesetze des zunehmenden Gleich¬
gewichts beherrscht, „das für die Pflanzen, Tiere und Menschen ein Gesetz der zu¬
nehmenden Höhe der Organisation und damit der Vervollkommnung ist. Und
unsre Lehre vou der Vervollkommnung aus innerer Notwendigkeit ist etwas ganz
andres als die trübselige Doktrin des Darwinismus vom Überleben des zufällig
passendsten, des vom wüsten Wirrwarr der Ereignisse begünstigten." Der Dar¬
winismus wird ausführlich widerlegt, und jeder der umlaufende» Entwicklungslehre»
eine besondre Kritik gewidmet. Wels die Abstammung des Menschen anlangt, so
glaubt der Verfasser, daß die menschliche Ahnenreihe mit keiner Ahnenreihe von
Tieren zusammenfalle, sondern daß schon das erste organische Wesen dieser Reihe
die Bestimmung, sich zum Menschen zu entwickeln, in sich getragen habe, daß aber
die Meuschenahnen der einzelnen Stufen den Tieren der entsprechenden Stufen des
Häckelschen Stammbaums, also z. B. Beuteltieren und Affen, ähnlich gewesen sein
mögen. Sein Gottesbegriff ist pantheistisch. „Sterben heißt nichts andres, als
Gott kommt aus dieser einen bestimmten Vorstellung, die er sich von einem un-
vollkommnen Wesen gemacht und in die er sich hineingelebt hat, gerade wie der
Künstler in seine Gestalten, wieder zu sich selbst. Sterben ist also das Erwachen
Gottes aus einem Traum" (S. 432). Die Weismcmnsche Theorie erklärt Haacke,
sowie Wundt, für die alte Einschachteluugstheorie; er hat sie in einer Reihe von
Aufsätzen in Fachzeitschriften bekämpft, Weismann hat ihn jedoch bis jetzt noch
keiner Antwort gewürdigt. — Viel weiter noch geht Dr. Adolf Wagner in seinem
fein ausgestatteten kleinen Buche: Grundprobleme der Naturwissenschaft.
Briefe eines unmodernen Naturforschers. (Berlin, Gebrüder Bornträger, 1897.)
Der Verfasser steht auf dem Kant-Schvpenhauerschen Standpunkt (von Schopen¬
hauer nimmt er nicht den Pessimismus, sondern nur die Erkenntnistheorie an),
weist von da aus, da ja die Materie nur eine unsrer Vorstellungen sei, die völlige
Grund- und Haltlosigkeit des Materialismus nach und gelangt bei der Prüfung
der verschiednen biologischen Theorien zu Schlußergebnissen wie: die darwinische
Theorie „erklärt die Zweckmäßigkeit durch die Zweckmäßigkeit, d. h. sie erklärt gar
nichts" (S. 225). „Was wissen wir über die natürliche Selektion? Nichts"
(S. 231). Wenn er die Atomistik gänzlich verwirft und sie höchstens noch in der
Chemie als ein Bild von Berechnungen will gelten lassen, so schießt er wohl über
das Ziel hinaus; wir betrachten es als einen Fortschritt, daß der Idealismus in
der Philosophie dem transcendenter Realismus, wie Hartmnnn das nennt, Platz
gemacht hat, d. h. wir nehmen an, daß unsern Vorstellungen, auch der von Atomen,
in der Wirklichkeit etwas entspricht, wenn wir auch das Wesen dieses Wirklichen
nicht zu ergründen vermögen. Wagners Betrachtungen sind schön geschrieben und
voll origineller Ansichten und Auffassungen, ohne an irgend einer Stelle barock
oder schrullenhaft zu werden. Der Schluß lautet: „Und weil nun das Erkennen
ein Spezifikum der Tierheit ist, weil mit dem Auftreten eines Intellekts, und sei
er noch so armselig, eine ganz neue Erscheinnngsstnfe betreten ist, so füge ich, ent¬
gegen der mechanistischen Ansicht, zu der misgesprochnen Unterscheidung noch den
Satz hinzu: Ein Organismus ist entweder ausgesprochen Tier, oder ausgesprochen
Pflanze; ein drittes giebt es nicht. Und wo etwa Zweifel herrschen können, da
liegt der Grund in unsrer mangelhaften Einsicht und Kenntnis des betreffenden
Organismus, nicht aber darin, daß etwa ein Übergang von Tier zu Pflanze vor¬
liege. Ein solcher Übergang ist undenkbar. Daher muß sich auch das Bestreben
als ein verfehltes herausstellen, Tiere und Pflanzen von gemeinsamen indifferenten
Urwesen allmählich entstanden zu denken. Und dasselbe gilt überall dort, wo neue,
charakteristische Typen auftreten. In Konsequenz dieser Erkenntnisse erweist sich
dann aus diesen wie manchen andern Gründen die moderne darwinistische Fassung
des Descendenzgedankens mit dem »Nützlichkeitsprinzip« und der na,durat selsoticm
als völlig unzureichend und irrig."
le im Sezessionskriege auf der See und an der Küste verwendeten
Kampfmittel entsprechen insofern den modernen Verhältnissen, als
schon damals meistens Dampfschiffe, zum Teil gezogne Kanonen,
Seculum, Fahrwassersperrcn, Panzerungen von Schiffen und
gepanzerte Geschützaufstellungen in Türmen an Bord von Mo¬
nitors, sowie die Vorgänger der Torpedoboote und Unterwasserboote im Laufe
des Krieges verwandt wurden. Da diese Waffen von beiden Seiten sachgemäß
zur Erreichung der Ziele des Kampfes benutzt wurden, so sind die Vorkommnisse
in diesem Kriege und die Erfahrungen aus diesem zähen Ringen zwischen so
energischen Gegnern lehrreich und wertvoll, obwohl die Kriegswaffen in den
letzten dreißig Jahren technisch weiter vervollkommnet und vermehrt worden sind.
Als durch die Wegnahme von Port Sünder in der Hafeneinfahrt von
Eharleston am 13. April 1861 durch die Südstaaten die eigentlichen Feind¬
seligkeiten begannen, hatten nur die Nordstaaten eine Marine. Diese war aber
recht verwahrlost, wenig zahlreich und stand durchaus nicht auf der Höhe der
Zeit; ein großer Teil ihrer Schiffe war veraltet, die Mehrzahl der brauch¬
baren war auf Stationen in der ganzen Welt verteilt; viele Seeoffiziere, ge-
borne Südstaatler, im ganzen 259, waren schon vor dem Kriege und beim
Beginn aus dem Dienst ausgetreten oder entfernt worden. Vor dem Kriege
war der Handel der Vereinigten Staaten der bedeutendste nächst dem englischen,
jedoch hatten nur die Nordstaaten eignen Seehandel, während der Seehandel
der Südstaaten in den Händen fremder Nationen war. Die Südstaaten hatten
keine eigne Flotte, aber durch Übertritt aus der Unionsmarine eine Menge
recht tüchtiger, patriotisch gesinnter Seeoffiziere, wie Buchanan, Mafsitt, Brooke
und Semmes. Im Süden gab es keine Maschinenfabriken, keine bedeutenden
Schiffsbauwerften, nur wenige Pulverfabriken und nur eine kleine Geschütz¬
fabrik. Der Süden war in Bezug auf alle Erzeugnisse des Gewerbfleißes ab¬
hängig vom Norden und von Europa gewesen und wurde beim Kriege fast
völlig abhängig von der Seezufuhr. Die Verwertung seiner landwirtschaft¬
lichen Produkte, besonders der Baumwolle und des Tabaks, und die Erlangung
von Geldmitteln machten die Ausfuhr über See durchaus notwendig; war diese
gehemmt, so mußten die Landbesitzer und das Land verarmen. Es war Lebens¬
frage für deu Süden, den Seeverkehr offen zu erhalten; der Süden baute
deshalb im Kriege eigne Kriegsfahrzeuge für die Küsten und Flußmündungen,
gab ihnen Maschinen aus andern Dampfern, baute Forts an den Küsten¬
einschnitten und Flüssen und kaufte im Auslande schnelle Schiffe. Die Ar-
mirung dieser Schiffe wurde möglich, weil infolge grober Nachlässigkeit der
Nordstaaten am 21. April 1861 die große Werft von Norfolk mit ihren reichen
Kriegsvorräten den Südstaaten in die Hände fiel, und mit ihr mehr als zwölf-
hundert Schiffs- und Küstengeschütze, unter denen auch dreihundert gute Dahl-
greenkcinonen waren. Diese Geschütze haben während des ganzen Krieges zur
Armirung der Südstaatenschiffe und der Forts gedient. Bei der unblutig ver-
laufenden Eroberung der Werft wurden die dort außer Dienst befindlichen Segel¬
schiffe der Nordstaatenflotte verbrannt und der Rumpf der durch den Brand
wenig beschädigten Schraubenfregatte Merrimac weggenommen. Außerdem
lieferte die Übergabe der Werft von Pensacola an die Südstaaten diesen auch
noch Kriegsmaterial, Geschütze und Pulver. Der Vesitzwechsel des Materials
dieser beiden Werften ist verhängnisvoll sür beide Parteien geworden, weil er
den Südstciaten die Mittel gewährte, im Widerstande gegen die Nordstaaten
unverhältnismäßig lange zu verharren, und den Nordstaaten den sicher voraus¬
zusehenden endlichen Sieg sehr erschwerte.
Da den Nordstaaten die Unfähigkeit des Südens, Schiffsmaterial, Ma¬
schinen und Kriegsmaterial selbst herzustellen, und die Notwendigkeit der Aus¬
fuhr von Baumwolle, Tabak usw. bekannt waren, so wurde sofort nach Beginn
der Feindseligkeiten der Seeverkehr der Südstaaten abgeschnitten. Am 19. April
1861 befahl der Präsident Lincoln die Blockade der Südstaaten, vorläufig noch
mit Ausnahme von Texas und Virginia, und am 27. April auch für diese
Staaten. Von diesem Zeitpunkte ab beginnt die Thätigkeit der Flotte der
Nordstaaten. Die Aufgabe, die gegen 3000 Seemeilen lange feindliche Küste
mit ungefähr 185 Häfen und schiffbaren Einschnitten zu blockiren, war zunächst
nicht durchführbar für eine Flotte von kaum 35 brauchbaren Dampfschiffen.
Wenn auch Nordamerika der Pariser Konvention von 1856 nicht beigetreten
war, so zwang besonders die feindliche Haltung des neutralen England, dessen
Industrie allerdings bedeutend unter der Verminderung der Baumwollenausfuhr
aus dem damaligen Hauptbaumwollenlande der Erde leiden mußte, doch die
Nordstaaten zur Beachtung der herrschenden Ansicht, daß Blockaden, um für
Neutrale bindend zu sein, von einer militärischen Macht aufrecht erhalten
werden müßten, die genügend stark sei, um den Zuzug zur feindlichen Küste
auch wirklich verhindern zu können. Die Nordstaaten stellten deshalb zunächst
alte Segelkriegsschiffe beim Blockadedienst ein, kauften eine Menge Kauffahrtei¬
schiffe, die sie in Kriegsfahrzeuge umwandelten, und bauten zur Verstärkung
der eigentlichen Kriegsflotte in Eile Schiffe. Bis zum Dezember 1861 hatten
die Nordstaaten 58 Segelschiffe und 79 Dampfer, und bis zu Ende des Krieges
418 Fahrzeuge, von denen 313 Dampfer waren, angekauft. Viele der später
angekauften Schiffe waren nur für den Krieg auf den große» Strömen bestimmt.
Zwanzig Jahre früher war die Flotte stärker gewesen als 1860, weil damals
die Segelfregatten und Sloops noch vollen Gefechtswert hatten. Nach dem
Kriege hatten die Nordstaaten zwar über 650 Schiffe, doch waren nicht nur die
angekauften Schiffe, sondern auch der größte Teil der zu eilig gebauten Schiffe
für fernere Verwendung wertlos. Der Schaden, den die Nordstaaten dadurch
erlitten, daß ihre Marine hinter den Fortschritten des Schiffs- und Maschinen¬
baues zurückgeblieben war, und daß sie nun ziemlich wertloses Material schnell
und teuer beschafften, wurde noch erhöht durch die Unfähigkeit, in der ersten
Zeit die Blockaden genügend scharf auszuüben; hierdurch hatte der Süden viel
Gelegenheit, seine Kriegsvorräte aus Europa zu ergänzen. Daß schließlich
das vollständige Abschneiden der Südstaaten von der Außenwelt, das Beherrschen
der großen Flußläufe durch die Union und die Wegnahme der dort erbauten
Befestigungen die Kraft des Südens lähmten und ihn trotz der Erfolge im
Kampfe von Armee gegen Armee zum längern Widerstande gegen die Über¬
macht unfähig machten, ist bekannt.
Infolge der Blockadeerklürung erkannten England und Frankreich die Süd¬
staaten sogleich als kriegführende Partei an. Hampton Noads waren der erste
wirklich blvckirte Meeresteil, die Vlockirung der andern Haupthafen wie Wil-
mington, Charleston, Pensaeola, Mohne und New Orleans folgte später. Die
Zunächst völlig ungenügende Durchführung der Blockade ließ bald das Gewerbe
des Vlockadebrechens entstehen. Blockadebruch durch anerkannte Kriegsfahr¬
zeuge einer kriegführenden Partei ist etwas andres als Blockadebrechen durch
Handelsschiffe. Der die Blockade brechende Kreuzer kann, wenn er bedroht
wird, seine Waffen gebrauchen, um dadurch seinen Zweck oder seine Rettung
Zu erreichen; seiner Mannschaft steht bei Gefangennahme nur das Los der
Kriegsgefangenschaft bevor. Feuert dagegen der die Blockade brechende Handels¬
dampfer beim Gejagtwerden, und während er selbst beschossen wird, nur einen
Schuß zur eignen Verteidigung, so wird er dadurch zum Seeräuberschiff; seiner
Besatzung steht dann eine schlechtere Behandlung bevor, als die ohne Gegen¬
wehr schon drohende Kriegsgefangenschaft. In ältern Zeiten war Hunger die
übliche Strafe für alle Seeräuber.
Die Baumwolle der Südstaaten beschäftigte Hunderttausende von Arbeitern
in Frankreich und besonders in England. Der Baumwollpreis ging durch die
Blockade in Europa ebenso in die Höhe, wie der Preis des Kriegsmaterials,
der Maschinen, der Fabrikate der Technik und vieler Genußmittel in den Süd¬
staaten. Der Baumwollpreis ist in Liverpool gegen Ende des Krieges zwölfmal
höher als in Charleston gewesen. Kriegsmaterial und Fabrikate in die Süd¬
staaten einführen und Baumwolle und Tabak ausführen, das warf Gewinne
ab, denen zuliebe Abenteurer gern Schiff und Freiheit aufs Spiel setzten.
Die britischen Bahamainseln, vor allem Nassau, und auch die Bermudas¬
inseln eigneten sich als neutrale Häfen besonders zum Schmuggelgeschäft. An
dort bestehende Firmen und nach Havanna wurden alle für die Südstaaten
bestimmten Güter von Europa aus adressirt, wodurch sie der Wegnahme auf
offner See entzogen wurden. Charleston und Wilmington wurden die Haupt¬
hafen der Blockadebrecher auf südstaatlichcm Gebiet, und erst mit Wilmingtons
Wegnahme im Januar 1865 hörte das Blockadebrechen ganz auf.
Zunächst wurden nnr ältere, wertlose Schiffe beim Blockadebrechen gewagt,
bald aber entstanden auf Englands Werften auf Veranlassung der besonders
am Verkehr mit den Südstaaten interessirten Kaufleute Liverpools schnelle,
flachgehende, besonders für das Blockadebrechen gebaute, stählerne Raddampfer,
z. B. Bcmshee Ur. 1 und Ur. 2, Will-o'-the Wisp, Kate, Wild Dcchrell und
Wild Rover, von denen einzelne bis zu siebzehn Knoten liefen. Zwischen
Nassau und den südstaatlichen Häfen sind vom November 1861 bis zum
März 1864 in fast 400 Fahrten im ganzen 84 verschiedne Dampfer gelaufen,
von denen 37 im Laufe der Zeit weggefangen wurden, während 24 durch andre
Ursachen verloren gingen. Die Höhe der Frachten deckte bei einigen glücklichen
Fahrten den Verlust des Schiffes; sie betrug zeitweise beim Einbringen von
Kriegsmaterial für die Tonne 250 Dollar Gold, bei der Ausfuhr für eine
Tonne Tabak 350 Dollars und für den Ballen Baumwolle 250 Dollars.
(1 Tonne 1000 Kilogramm.)
Der zu einer englischen Firma in Liverpool gehörige Agent Thomas
E. Taylor hat in seinem Buch liunninK elle oloellg-as in anregender Weise
seine Erlebnisse und die Ersahrungen niedergeschrieben, die er ans 27 erfolg¬
reichen Fahrten und einer unglücklichen Fahrt durch die blockirten Gewässer
gesammelt hat.
Nachdem die Südstaaten Fort Sünder genommen hatten, war am 15. April
1861 von Präsident Lincoln die Mobilmachung von Truppen gegen die Kon-
föderirten veranlaßt worden, am 17. April hatte Jefferson Davis zur Aus¬
rüstung von Kapern gegen die Nordstaaten aufgefordert, und Lincoln hatte am
19. April darauf mit der Blockadeerklärung geantwortet. Am 2. Juni 1861
segelte als erster Kaper ein früherer Lotsenschoner Savannah aus Charleston
aus. Nachdem der Savannah eine Handelsbrigg der Nordstaaten genommen
hatte, folgte er irrtümlich einer Kriegsbrigg der Nordstaaten und wurde von
dieser gefangen. Die Besatzung dieses ersten Kapers wurde in New Jork in
Eisen gelegt. Man war im Norden um so empörter über die Kaperei, als
man sich an keinem Seehandel der Südstaaten schadlos halten konnte, und war
nicht abgeneigt, die Mannschaft der Savanncch einfach als Seeräuber zu hängen.
Die gleichzeitige Gefangennahme nordstaatlicher Offiziere bei Manassas durch
die Konföderirten und der Protest des südstaatlichen Oberhauptes Jefferson
Davis sicherten jedoch diesen und auch den später gefangnen Kapermannschaften
die Behandlung als Kriegsgefangne. Andre Südstaatenkaper waren erfolg¬
reicher und machten zahlreiche Prisen, z. B. der frühere Baltimoreklipper
Jefferson Davis, sowie die Kaper Dixie, Freely und York. Ein früherer Zoll¬
kutter, der in den Kaper Petrel umgewandelt worden war und scheinbar gänzlich
ohne seemännisches Verständnis geführt wurde, hatte dagegen die kürzeste Lauf¬
bahn. Nachdem der Petrel eben frei aus Charleston herausgeschlüpft war,
soll er in dummdreister Weise eine blockirende nordstaatliche Segelfregatte
Se. Lawrence verfolgt haben, die er für ein großes Kauffahrteischiff hielt.
Den damaligen Berichten zufolge hat dann der Führer der Petrel selbst in
größter Nähe seinen Irrtum nicht erkannt, sondern versucht, durch Kanonen¬
schüsse die Fregatte zum Beidrehen zu bringen. Diese verstand den Scherz
aber falsch, öffnete ihre Kanonenpforten, schoß mit drei Schüssen den frechen
kleinen Petrel in den Grund und fischte dann die Überlebenden auf. Die
Unternehmungen der Kaper und die einer Zahl von kleinen schnellen schönern,
der sogenannten Hntteraspirnten, waren zwar von wenig Bedeutung für den
Lauf des Krieges, doch trieben sie im Verein mit der Thätigkeit der Blockade¬
brecher die Nordstaaten dazu, sich der Häfen selbst zu bemächtigen.
Viel schädlicher als die kleinen Kaperschiffe wurden dem Handel der
Nordstaaten die größern, seegehenden Kaperschiffe der Südstaaten, die aber
als Eigentum der südstaatlichen Regierung und wegen ihrer Bewaffnung und
Führung als Kreuzer und Kriegsschiffe angesehn und demgemäß behandelt
wurden. Am 3. Juni 1861 stellte der später so bekannt gewordne Raphael
Semmes den aus einem mittelmäßigen Küstendampfer zu New Orleans her¬
gestellten, mit Geschützen der Norfolk-Werft aber schwer armirten Kreuzer
Sünder in Dienst. Am 30. Juni gelang es ihm trotz der blockirenden
Fregatte Brooklyn die offne See zu gewinnen und seine kühnen Fahrten in
sechs Monaten über den Golf von Mexiko, an die brasilianischen Küsten und
bis Gibraltar auszudehnen. Hier wurde der Kreuzer jedoch von Kriegsschiffen
der Nordstaaten festblockirt und mußte schließlich als Kauffahrteischiff in
englische Hände verkauft werden. Der Sünder hatte unter Semmes Führung
achtzehn Schiffe gekapert; er war später als Blockadebrecher unter englischer
Flagge noch einmal in Charleston und ist dann schließlich in der Nordsee
untergegangen.
Da in den Häfen der Südstaaten nur wenige Schiffe waren, die
sich zu Handelszerstörern eigneten, so ließen die Leiter der Konföderation
durch ihre Agenten und Zwischenhändler in England passende Schiffe bauen
und kaufen. Diese verließen ohne Kriegsausrüstung den englischen Hafen,
trafen dann stets in See oder an gewissen, abseits von den Hauptverkehrs¬
straßen gelegnen Plätzen ein andres Schiff mit Kanonen, Munition und Vor¬
räten und überzähliger Mannschaft und wurden dort Kreuzer der Südstaaten.
Der Hauptagent für derartige Geschäfte der Südstaaten war in England
Kapitän I. D. Bullock, während der Commodore S. Barron die Interessen
der Südstaaten in Frankreich vertrat.
Der erste dieser im Auslande gebauten Kreuzer war die Florida, die in
Liverpool im Winter 1861—62 völlig nach dem Muster der besten damaligen
englischen Kanonenboote unter dem Namen Oreto gebaut wurde. Am
3. März 1862 wurde sie als Kauffahrteischiff auf den Namen einer sizilianischen
Firma eingetragen und am 22. März trotz des Protestes des Gesandten der
Union, Mr. Adams, in England für die Reise nach Palermo, dem Mittel¬
meer und Jamaika von den Hafenbehörden in Liverpool abgefertigt. Sie lief
jedoch direkt nach Nassau ans den Bahamainseln, wo man zum Schein über
ihre Echtheit als Kauffahrteischiff ein Gericht abhielt. Am 7. Angust 1862
erhielt die Florida ihre richtige Besatzung und bei einer kleinen Insel Green
Key von dem englischen Dampfer Bahama aus Hartepool ihre volle aus
England stammende Armirung. Ihr neuer Kommandant wurde John Newland
Maffitt, ein früherer Seeoffizier der Union. Um die Mannschaft vollzählig zu
machen, dampfte Maffitt, der auf die Ähnlichkeit seines Schiffes mit einem
englischen Kanonenboot vertraute, mit gehißter englischer Flagge bei Tage durch
die Blockadeschiffe vor Mohne, die zu spät die Täuschung merkten, und deren
Schüsse dann nicht trafen. Mit großer Kühnheit wurde die Florida von
Maffitt geführt; sie nahm während der Zeit von fünf Monaten siebzehn
Prisen, worauf das Schiff in Brest einer gründlichen Reparatur unterzogen
wurde. Während dieser Zeit kreuzte einer der Offiziere der Florida, Leutnant
Charles W. Read, mit einer Prise, der Clarence. und später mit dem gleich¬
falls gekaperten Segelschiff Archer im nordatlantischen Ozean. Er nahm im
ganzen fünfzehn Schiffe und verbrannte an der Küste von Maine einen Zoll¬
kutter, den er in kühnster Weise mit seinen Schiffsbooten nachts aus dem
Hafen von Portland herausgeholt hatte, worauf er aber von Dampfern der
Nordstaaten eingeholt und mitsamt dem Archer gefangen wurde. Die Florida
lief nach beendeter Reparatur unter einem neuen Kommandanten, dem Kapitän
Charles M. Morris, nach weitern Fahrten vom Februar bis Oktober 1863
in den brasilianischen Hafen von Bahia ein und wurde dort am 7. Oktober
unter Verletzung der Neutralität Brasiliens im Hafen von dem Kriegsschiff
der Union Wachusett weggenommen, wobei allerdings bedacht werden muß,
daß die südstaatlichen Kreuzer brasilianische Hufen zeitweise als Basis ihrer
Unternehmungen benutzt harten. Als die Florida auf Verlangen Brasiliens
später 1864. als widerrechtlich genommen, von Hampton Nvads nach Bahia
zurückgebracht werden sollte, sank sie ohne äußere Veranlassung im Hafen.
Man hatte heimlich Ventile geöffnet, um sie nicht ausliefern zu müssen.
Am 10. November 1863 kauften die Südstaaten durch Agenten ein
Depeschenfahrzeng, Victor, von der englischen Regierung, das dann unter dem
Namen Rappahannock nach Calais ging, um sich dort auszurüsten, aber
von der französischen Regierung während des Krieges am Auslaufen ver¬
hindert wurde.
Ein andrer Dampfer, die Georgia, war am Clyde zum Schein für eine
Firma in Liverpool, in Wirklichkeit aber für die Konföderirten gebaut worden.
Die Georgia verließ unter Führung des Leutnants W. L. Maury am
1. April 1863 den Hafen, sand auf der Höhe von Morlaix einen mit der
Kriegsausrüstung beladnen Dampfer vor und kreuzte dann, mit Unterbrechungen
wegen längerer Reparaturen in französischen Hufen, ein Jahr im Atlantischen
Ozean, ohne jedoch viel auszurichten. Sie wurde dann von Kapitän Bullock
an einen englischen Kaufmann verkauft, auf der Höhe von Lissabon aber von
dem Nordstaatenschiff Niagara gekapert und, ohne daß dem englischen Kauf¬
mann jemals eine Entschädigung für seine 15000 Pfund Sterling betragende
Kaufsumme gezahlt worden wäre, in Boston für die Nordstaaten eingerichtet.
Ein viertes von den Südstaaten gekauftes Schiff war der mit einer
Hilfsmaschine verfehlte Schnellsegler Sea King, der bis dahin Fahrten nach
Ostindien gemacht hatte. Am 8. Oktober 1864 lief dieses englische Schiff von
London mit der Bestimmung aus, daß sein Führer es innerhalb der nächsten
sechs Monate verkaufen dürfe. An demselben Tage verließ auch der englische
Dampfer Laurel Liverpool; beide Schiffe trafen bei den Desertas, einer Insel¬
gruppe bei Madeira, zusammen, wo die Offiziere und Mannschaften der
Konföderirten, die an Bord des Laurel waren, und eine volle Kriegsausrüstung
auf den Sea King übergingen, der von nun an unter dem Namen Shenandocch
ein südstaatlicher Kreuzer wurde. Der Shenandocch sollte besonders die
amerikanischen Walfischfünger in den japanischen und arktischen Gewässern im
Westen Amerikas vernichten, was ihm zum Vorteil Englands nur zu gut ge¬
lungen ist. Nach Wegnahme einiger nordstaatlicher Schiffe im Atlantischen
Ozean lief Shenandoah unter Führung des Kapitäns Waddel Melbourne
an und segelte dann am 18. Februar 1865 nach der Beringsstraße und
dem Eismeer, wo er 36 Fahrzeuge von Walfischfahrern zerstörte. Nachdem
Waddel am 28. Juni 1865 erfahren hatte, daß der Krieg beendet sei, segelte
er nach Liverpool, wo er das Schiff an die englische Regierung auslieferte.
Das erfolgreichste dieser den nordstaatlichen Handel zerstörenden Schiffe
war der Kreuzer Alabama, der auf Lairds Werft 1862 gebaut und im Juli 1862
in Liverpool ausgerüstet wurde. Der Gesandte der Nordstaaten, Mr. Adams,
machte schon im Juni die englische Regierung auf die Verletzung der Neu¬
tralität aufmerksam, was aber nicht hinderte, daß das Schiff am 29. Juli zu
einer angemeldeten Probefahrt Liverpool verlassen durfte. Die Alabama kehrte
von dieser Probefahrt natürlich nicht nach Liverpool zurück, vollendete viel¬
mehr ihre Ausrüstung bei Point Lynas an der Küste von Anglesea, fünfzig
Seemeilen von Liverpool, und lief dann am 31. Juli um den Norden von
Irland herum nach den Azoren. Am 18. August brachte ihr die englische Bark
Agrippina Kanonen, Munition, Kohlen und Vorräte nach Port Praya auf den
Azoren, während am 20. mit dem englischen Dampfer Bcchama der Führer
der Alabama, der auf dem Kreuzer Sünder erprobte Raphael Semmes, sowie
der Nest der Offiziere und Mannschaften ankamen. Nach kurzem Aufenthalt
vor Angra auf Terceira stellte Semmes die Alabama außerhalb der Neutralitäts¬
grenze der Azoren als Südstaatenkreuzer in Dienst. Semmes hatte gründlich
die Verkehrswege des Seehandels der Nordstaaten studirt; er wußte, daß nach
dem Bekanntwerden seiner Thätigkeit in einer Gegend des Ozeans gegen zwei
Monate vergehen würden, ehe nordstaatliche Kriegsschiffe ihn auf seinem
Thätigkeitsfelde aufsuchen konnten, und wechselte deshalb alle zwei Monate
sein Jagdgebiet. Im nordatlantischen Ozean machte die Alabama in den
ersten zwei Monaten zwanzig Prisen, dann verlegte Semmes seine Operationen
nach Westindien, nahm in Blanquilla Kohlen, wiederum aus der dorthin be¬
stellten Bark Agrippina, und lief nach Galveston an der Küste von Texas.
Hier schoß die Alabama am 11. Januar 1863 in einem Gefecht von dreizehn
Minuten Dauer den großen Naddampfer Hatteras in Grund, der von den
Nordstaaten armirt und dem dortigen Blockadcgeschwcider beigegeben war, und
den Semmes durch langsames Fliehen von den andern Schiffen weit weg¬
gelockt hatte. Der Hatteras wehrte sich wohl mit seinen Geschützen, aber er
war bei der hohen Lage seiner Maschine ein sehr minderwertiger Gegner der
Alabama, die, in ihrer Bauart der frühern deutschen Glattdcckskorvette Augusta
sehr ähnlich, die Maschine unterhalb der Wasserlinie und außerdem noch durch
die Kohlenvorräte geschützt liegen hatte.
Dann wurde der südatlantische Ozean, die brasilianische Küste und darauf
die Gegend beim Kap der guten Hoffnung abgesucht. In der Nachbarschaft
von Kapstadt blieb die Alabama bis Ende September 1863, nachdem sie eine
genommne, gut segelnde Bark unter dem Namen Tuscaloosa als Hilfskreuzer
armirt hatte. In Kapstadt und Simonsbai fand Semmes gute Aufnahme
und eine stark gegen die Gesetze der Neutralität verstoßende Unterstützung. Die
Tuscaloosa kreuzte dann an der brasilianischen Küste, während die Alabama
in den ostindischen und chinesischen Gewässern amerikanische Schiffe verbrannte.
Am 20. März 1864 traf Semmes wieder in Kapstadt ein, segelte am 24. Mürz
nach Europa und traf am 10. Juni abends spät mit der Alabama in Cherbourg
ein, nachdem er mit ihr im ganzen 69 Prisen gemacht hatte. Am 12. Juni
erhielt die Korvette Kearsarge der Nordstaaten, die vor Flushing in Holland
lag, die Depesche von der Ankunft der Alabama. Kapitän I. A. Winslow
von der Kearsarge blieb nun mit seinem Schiff außerhalb Cherbourgs und
bewachte die Alabama, die aber nicht fliehen wollte. Kapitän Semmes zeigte im
Gegenteil dem Konsul der Vereinigten Staaten in Cherbourg seine Absicht, mit
der Kearsarge zu kämpfen, an. Dieses Schiff hatte durch Anbringung von Ketten
außenbords eine Art Panzerung zum Schutze der Maschine erhalten, was
Semmes nicht wußte, und war auch sonst der Alabama in Armirung, Munition,
Zahl und Güte der Mannschaft bedeutend überlegen. Am Sonntag den 19. Juni
1864 wurde das bekannte Duell der beiden Schiffe in ungefähr sieben See¬
meilen Abstand von der französischen Küste ausgefochten, das nach einem
Kampfe von etwas mehr als einstündiger Dauer mit der völligen Vernichtung
und dem Untergange der Alabama endete. Semmes und 41 seiner Leute wurden
von der englischen Dampsjacht Dearhound gerettet und nach England gebracht,
wo sie sehr gefeiert wurden. Siebzig Mann retteten die Boote der Kearsarge.
Die für die Konföderirten bestimmten Neubauten von zwei Panzerschiffen
in Laird in Birkenhead liefen zwar vom Stapel, wurden aber dann der britischen
Marine als Skorpion und Widern einverleibt, weil Mr. Adams gedroht hatte,
daß die Ausrüstung und der Abgang dieser beiden Nammschiffe nach den Süd-
staaten von den Nordstaaten einer Kriegserklärung Englands gleich geachtet
werden würde. In Frankreich hatte die Konföderation bei Privatwerften zwar
vier Korvetten und zwei gepanzerte Rammschiffe bestellt, doch konnte wegen
der Wachsamkeit der französischen Negierung nur ein Nammschiff, der Stonewall
Jackson, gegen Schluß des Krieges in die Hände der südstaatlichen Agenten
gelangen, aber nicht mehr zur kriegerischen Verwendung kommen.
Die Blockade und die Kaperei im Sezessionskriege haben den Gang der
Ereignisse im Kriege und das Gedeihen der Vereinigten Staaten nach dem
Frieden mehr beeinflußt, als blutige Siege oder Zerstörungen von Eigentum
an Land vermocht hätten. Bei der Blockade war außer den Südstaaten auch
Europa und besonders England anleitend. Durch die Kaperei wurden zu¬
nächst die Nordstaaten allein geschädigt, nach dem Frieden dnrch die Folgen
der Kaperei aber die ganze Union.
Die Blockade war seit 1862 selbst nach dem Urteil der Südstaaten vor
allen Hauptplützen der Küste thatsächlich durchgeführt, im Laufe des Jahres
1864 wurde sie sogar an der ganzen Küste so fest, daß das Blockadebrechen
selbst für die schnellsten Dampfer wenig erfolgreich wurde. Die Südstaaten
litten unter der Blockade, wie nur ein Staat leiden kann, dessen Seemacht im
stärksten Mißverhältnis zu der des Gegners steht, und der trotzdem auf den
Seeverkehr notwendig angewiesen ist. Das Vlockadebrechen hatte nur in der
ersten Zeit der großen Masse des Volkes etwas nützen können, aber durch
die Zufuhr von Waffen den Widerstand des Südens bedeutend verlängert.
Den Wohlstand großer Hafenstädte wie New Orleans und Charleston hatte die
Blockade für Jahre vernichtet. Durch die Verarmung der Landbesitzer, die
ihre Bodenerzeugnisse nicht absetzen konnten, verarmte der Süden schnell, sein
Papiergeld sank zuletzt bis auf ein Zwanzigstel des Nennwertes. Der Ver¬
armung des Volkes und der Minderwertigkeit des Papiergeldes folgte der
Niedergang der Produktion der gewöhnlichen Nahrungsmittel, wie Kartoffeln,
Fleisch, Speck, Butter, Eier usw., deren Preise um das Dreifache und Vier¬
fache stiegen. Bei dem Mangel an eigner Industrie, bei der geringen Einfuhr
durch die Blockadebrecher, und bei deren riesigen Frachtsätzen wurden Kaffee,
Thee, Zucker, Wein, Kleider, Schuhwerk usw. bald unbezahlbar für das Volk
und das Heer der Südstaaten. 1862 kostete in der Hafenstadt Savannah das
Pfund Kaffee 6,30 bis 7,35 Mark, 1863 in Richmond schon 17 Mark, während
ein Pfund Thee mit 71 Mark und Zucker mit 11,50 Mark bezahlt wurde.
Da eigne Maschinenfabriken fehlten, so wurde das Eisenbahnmaterial
immer schadhafter, sodaß die Zufuhr aus andern Staaten der Konföderation
nach den Staaten, in denen beständig gekämpft wurde, also besonders nach
Virginia, immer geringer wurde. Die Soldaten der Armee des General Lee
erhielten deshalb schon im Winter 1862/63 nur noch halbe Rationen, Ende
1864 nur noch Fleisch, wenn sie Vorräte der Nordstacitentrnppen erbeutet
hatten. Die Kleidung der Soldaten wurde immer unzureichender, im Jahre
1864 hatten oft je drei Mann nur eine Decke. Wie groß auch immer der
Patriotismus der südstaatlichen Truppen war, wie todesmutig sie stets gegen
den Feind gekämpft haben, dem jahrelangen Mangel an den nötigsten Lebens¬
mitteln und Kleidungsstücken konnten sie zuletzt nicht mehr widerstehen. Der
Süden ging schließlich an den Folgen der durchgeführten Blockade zu Grunde.
Mit Recht kann man die Leiden der Bevölkerung von Frankreich 1370/71
als gering im Vergleich zu den jahrelangen Leiden der Bürger und Soldaten
der Südstaaten bezeichnen. Hätte aber Deutschland 1870/71 den freien See¬
verkehr Englands und der Vereinigten Staaten mit Frankreich, der dem Feinde
andauernd Waffen, Vorräte und Nahrungsmittel zuführte, hemmen können,
so wäre uns viel Blut erspart worden, und Frankreichs Niederwerfung wäre
schneller und gründlicher erreicht worden.
Große Seemächte werden durch die Pariser Konvention wenig in der
Handhabung der Blockade behindert, sie können außerdem im Kriege selbst
ohne Blockade jede von schwächern Neutralen nach Feindesland verschiffte Fracht
von Getreide und andern Lebensmitteln als Kriegskontrebande erklären, was
die Franzosen im letzten Kriege gegen China für die Reiszufuhr auch durchgesetzt
hätten, wenn das interessirte England nicht dagegen protestirt hätte. Die
Berufungen auf Völkerrecht, Konventionen, Humanität und ähnliches sind
heute für den Schwachen ebenso wertlos, wie sie es vor Jahrhunderten waren.
Hatte die Blockade die Südstaaten während des Krieges äußerst geschädigt
und schließlich zur Unterwerfung gezwungen, so hat die Thätigkeit der kapernden
südstaatlichen Kreuzer den Handel der Nordstaaten und später den der Union
auf Jahrzehnte niedergeworfen. Die Nordstaaten konnten aus Mangel an
geeigneten Kreuzern und infolge der seltsamen Auffassung der Neutralität durch
England den feindlichen Kreuzern das Handwerk nicht schnell genug legen. Die
südstaatlichen Kreuzer haben damals die Handelsflagge der Nordstaaten vom
Ozean weggefegt, der Kaufmann wagte nicht mehr seine Waren mit amerikanischen
Schiffen zu versenden, der Gütertransport ging auf die Schiffe andrer Nationen
über. Durch den versöhnenden Friedensschluß und die Wiederaufnahme der
Südstaaten in die Union wurden die siegreichen Nordstaaten um die Ent¬
schädigung für die großen Handelsverluste gebracht, die ihnen dnrch die Kaperei
schon zugefügt worden waren, und die noch nachwirkten. Sie waren trotz
ihrer Siege in derselben Lage, in die ein Staat kommt, dessen Seehandel
durch eine größere Seemacht vernichtet ist, und der nach dem Frieden, ent¬
weder weil er selbst besiegt worden ist, oder weil er dem Gegner nicht genügend
beikommen konnte, keine volle Entschädigung für alle Verluste erzwingen kann.
Nach dem Kriege erinnerten sich die Nordstaaten indes der eigentümlichen
Handlungsweise Englands, sowohl bei der Herstellung der Vlockadebrecher, als
auch beim Bau und bei der Unterstützung der südstaatlichen Kreuzer. England
hätte gern die Trennung der Union in zwei selbständige Teile gesehen, hatte
so aber durch den Krieg wenigstens großen Vorteil von der Vernichtung des
Handels seines darin gefährlichsten Rivalen und zieht noch heute Gewinn von
den damals auf seine Reeber und Kaufleute übergegangnen Handelsbeziehungen
Amerikas. Die Vereinigten Staaten beriefen sich in ihrer Entschädigungsklage
gegen England auf die unbeachteten Proteste ihres Gesandten gegen den Bau
und die Ausrüstung der südstaatlichen Kreuzer in England und auf die Proteste
ihrer Konsul» gegen die Unterstützung der feindlichen Schiffe in den englischen
Kolonien.
England hat in neuerer Zeit wenig Lust, in einen Krieg mit Nordamerika
verwickelt zu werden, da es außer den bösen Erfahrungen, die es im Anfange
dieses Jahrhunderts beim Kampfe amerikanischer Fregatten gegen englische ge¬
macht hat, stets die Lebensmittelfrage bedenken muß. denn Nordamerika ist
der Hauptlieferant für das Brodgetreide Englands. Trotz mehrfacher starker
Meinungsverschiedenheiten mit den Vertretern der Vereinigten Staaten bei
der Behandlung der Alabamafrage ließ sich die englische Regierung herbei,
den Streit einem Schiedsgericht zu unterbreiten. Dieses Schiedsgericht trat
in Genf zusammen und urteilte am 15. September 1872, daß England für
die direkten Schädigungen der Union durch die Florida, Alabama und den
Shencmdoah fünfzehn Millionen Dollars zu zahlen habe.
Einige amerikanische Geschichtschreiber geben ihrem Unmut über Eng-
lands parteiisches und selbstsüchtiges Handeln kräftigen Ausdruck und betonen,
daß England 1862—65 sich mit so wenig Kosten einen gefährlichen Mit¬
bewerber am Welthandel vom Halse geschafft habe. Naiv klingt dazu in
diesen Tagen die Klage der englischen ^rin^ xmä Mvzs vom 5. Fe¬
bruar dieses Jahres über das Ende 1897 bei Skribners Sons in New Jork
in vier Banden erschienene Geschichtswerk von I. R. Spears über die
amerikanische Marine. Das englische Fachblatt schreibt nach kurzer Wieder¬
gabe eines das Buch als sehr zeitgemäß anerkennenden amerikanischen Urteils:
„Dieses neue Geschichtswerk ist so rasend antienglisch geschrieben, daß ein
britischer Kritiker es nicht als ein »besonders zeitgemäßes« Buch betrachten
kann. Im Gegenteil; trotz der schönen Ausstattung und trotz der zahlreichen
Abbildungen kann es nur als ein sehr verderbliches Geschichtswerk bezeichnet
werden. Man braucht es nur zu lesen, um sofort zu verstehn, daß eine in
solcher Geschichtsauffassung erzogne amerikanische Jugend alles andre als eine
freundliche Gesinnung gegen unser Land haben kann, wenn kleine Differenzen
zwischen beiden Nationen entstehn."
(Schluß folgt)
uf der neudarwinischen Grundlage, die wir unter der Überschrift:
Anthropologische Fragen (47., 48, und 49. Heft des vorigen
Jahrgangs) geprüft haben, errichtet Otto Ammon in seinem letzten
Werke den Bau der Gesellschaftswissenschaft. Das Buch hat
den Titel: Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen
Grundlagen. Entwurf einer Sozial-Anthropologie zum Gebrauch für alle
Gebildeten, die sich mit soziale» Fragen befassen. (Jena, Gustav Fischer, 1895.)
Die Grundgedanken des Buches sind: Eine Gesellschaftsordnung ist umso voll-
kommner, je mehr darin die Forderung erfüllt wird, daß jede Person an die
richtige Stelle gebracht werde. Diese Forderung wird in unsrer gegemvärtig
bestehenden, aus dem Prozeß der natürlichen Auslese hervorgegangnen Gesell¬
schaftsordnung so ziemlich erfüllt. Ganz vollkommen ist diese Ordnung freilich
nicht; sie bedarf in manchen Beziehungen der Verbesserung; das ist auch ganz
gut, da ja die Weltgeschichte zu Ende sein würde, wenn es nichts mehr zu
verbessern gäbe, und die gegenwärtige Ordnung in alle Ewigkeit unverändert
bleiben müßte. Wird mir der Ausleseprozeß, aus dem die Gesellschafts-
ordnung hervorgegangen sein soll, mit dem nötigen Scheffel Salz verstanden,
so ist in dieser Gedankenreihe nichts, was abgelehnt werden müßte, und man
könnte sich mit der vorstehenden kurzen Anzeige begnügen und allenfalls noch
hinzufügen, daß, wie das bei allen solchen Büchern zu sein pflegt, unter den
Verbesserungsvorschlägen des Verfassers einige sind, denen man beistimme, und
einige andre, die einem weniger gut gefallen. Aber das Buch dient einer
Tendenz, die uicht schon in diesem Grundriß, sondern erst in der Ausführung
hervortritt, und die ich nicht für ungefährlich halte. Sie trifft mit der des
in den Grenzboten schon wiederholt erwähnten Alexander Tille zusammen, un¬
geachtet der starken Meinungsuuterschiede in einzelnen wichtigen Punkten, die
zwischen diesen beiden Vertretern des Neudarwinismus bestehen, und ich möchte
daher den Gegenstand einmal etwas gründlicher erledigen, als es in den
Fragen an die Selektionisteu (im 40. Heft des Jahrgangs 1896) geschehen ist.
Bei Ammon fällt nun zunächst der seltsame Widerspruch auf, der schon
wiederholt hervorgehoben worden ist. Während er als das Ziel der Entwick¬
lung die Hervorbringung höherer Arten durch Zuchtwahl hinstellt und jeden
Eingriff in den Prozeß der natürlichen Auslese als eine Sünde gegen die
Natur verurteilt, findet er nach dem Vorgange der meisten Gelehrten seiner
Schule, daß der Ausleseprozeß unter den Menschen zur Vernichtung der edelsten
Nasse, der langköpfigen Arier, führe. Im vorliegenden Buche erscheint dieser
Widerspruch in der Fassung: die gesellschaftliche Auslese befördert die Besten
und Fähigsten (die nach Ammon natürlich Arier oder wenigstens Halbarier
sind) an die höchsten Stellen, um sie dort aufzureiben. Dieser Widerspruch
wäre unbegreiflich (denn Ammon müßte doch auf Grund seines allerdings sehr
anfechtbaren historischen und statistischen Materials zu der Folgerung kommen,
daß der Naturprozeß schlecht wirke und ins Verderben führe), wenn man nicht
merkte, daß ihm seine Tendenz diesen schlimmen Streich spielt. Er ist nämlich
entrüstet über die Vorwürfe, die gegen die höher» Stunde erhoben werden,
und will beweisen, daß deren Mitglieder im allgemeinen die Stellen, die sie
einnehmen, ebenso verdienen, wie das Einkommen, das sie beziehen. Im Eifer
gegen die Umstürzler nun, die ja in der That dadurch sündigen, daß sie auf
die Unfähigkeit und UnWürdigkeit einzelner Vornehmen ein Verdammungsurteil
über alles Hochstehende gründen, im Kampfeseifer gegen diese Verallgemeinerer
schießt er seinerseits über das Ziel hinaus und macht aus allen Adlichen,
Rentnern, Unternehmern und akademisch Gebildeten Tugendhelden, die sich im
Dienste des Vaterlands aufreiben. Er stützt sich dabei auf Hansen, der in
seinem Buche über die drei Bevölkerungsstufen u. a. darstellt, wie die Stadt
ihre Bewohner frißt und auf Ergänzung durch ländlichen Zuzug angewiesen
ist. Es mag ununtersucht bleiben, ob Ammon Hansens Meinung genau wieder¬
giebt, und ob das, was von der mittelalterlichen Stadt gilt, ohne weiteres
auf die moderne übertragen werden kann. Von den mittelalterlichen Städten,
Deutschlands wenigstens, scheint es festzustehen, daß sie ohne den beständigen
Zuzug vom Lande allesamt ausgestorben sein würden, denn die Zusammen¬
drängung der Menschen auf einen engen ummauerten Raum, der niemals eine
gründliche Reinigung von dem durch Menschen und Vieh erzeugten Unrat
erfuhr, und die ewigen Parteikämpfe, bei denen man sich gegenseitig die Köpfe
einschlug, hatten natürlich eine sehr hohe Sterblichkeit zur Folge, und außer¬
dem beförderte eine väterlich gesinnte Obrigkeit alljährlich eine ansehnliche Zahl
von Schelmen, Ketzern und politischen oder geschäftlichen Gegnern durch Strick,
Eisen und Feuer in ein besseres Jenseits. Das alles ist doch heute ein wenig
anders geworden. Aber wir bedürfen keiner weitschichtigen statistischen Unter¬
suchung, um zu erkennen, daß sich Ammon in der Hauptsache irrt. Er schreibt
S. 146: „Die Macht, welche in den höhern Ständen Raum schafft für die
Nachschübe von unten, ist der Tod. Wir haben bereits gesehen, daß der hohe
Adel fortwährend durch Aussterben ganzer Familien heimgesucht wird, und
das gleiche kaun von allen sozial bevorzugten Familien gesagt werden. Teils
sind es die Schädlichkeiten der sitzenden Lebensweise, teils die Folge der Über¬
anstrengung des Nervensystems, teils aber auch soziale Rücksichten, späte Heirat
und Beschränkung der Kinderzahl, welche das Erlöschen der Familien herbei¬
führen." Ferner S. 149: „Die höhern Stunde verfallen ganz zweifellos dem
Aussterben infolge der auf sie einwirkenden gesundheitswidrigen und sozialen
Faktoren. Eine Überfüllung der höhern Stände durch die Nachschübe von
unten entsteht daher nicht; im Gegenteil, die Nachschübe sind unumgänglich
notwendig, um jene fortwährend zu erneuern und aufzufrischen." Endlich
S. 182: „Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, daß innerhalb zweier
Generationen durchschnittlich auch die Gesundheit der in höhere Stellungen
beförderten Familien aufgebraucht ist, also das Schwinden des Talents mit
dem physischen Erlöschen der Familien selbst zusammenfällt." Das Aussterben
von Familien kann zweierlei Ursachen haben: eine hohe Mortalität, d. h. vor¬
zeitigen Tod der Familienglieder, und geringe Kinderzahl. Wenn die erste
Ursache in der Stadt in einem stärkern Maße wirkt als auf dem Lande, so
werden davon ganz gewiß nicht die Angehörigen der höhern Stände betroffen.
Die Unterschiede in der Sterblichkeit decken sich aber überhaupt nicht mit demi
Unterschiede von Stadt und Land, sondern sie find an die verschiednen Berufe
gebunden. Auch hier bedarf es keines großartigen statistischen Apparats.
Jedermann weiß, daß der Kohlenhüuer, der meist auf dem Lande lebt, ein
kurzlebiger Mensch ist, während der Ministerberuf zu den allergesündesten ge¬
hört, denn die Minister werden durchschnittlich sehr alt, nicht gerade darum,
weil sie Minister sind, sondern weil ihnen ihr Einkommen eine gesunde Lebens¬
weise ermöglicht und ihr Beruf sie nicht daran hindert. Oder man durch-
wandre den böhmischen Jndustriebezirk und sehe sich einerseits eine Gesellschaft
wohlgenährter Honoratioren mit ihren blühenden Gesichtern an, und andrer¬
seits die elenden Gestalten der Glasarbeiter, Spinner und Weber mit ihren
eingefallnen erdfahlen Gesichtern, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob
sie auf dem Lande wohnen oder in der Stadt. Übermäßig lange Sitzarbeit
mit andern Gesundheitsschädlichkeiten verbunden ist das Los der Schneider
und der kleinen Büreaubeamten, aber nicht der hochstehenden Beamten, die alle¬
samt in der Lage sind, ein zeitweiliges Übermaß von Sitzstunden dnrch Spazier¬
gänge und Spazierritte, Bergtouren, Badereisen, Jagd und andern Sport
auszugleichen. Und geistige Anstrengung an sich ist, wenn nur nicht ungünstige
Nebenumstände wie schlechte Ernährung und ungesunde Wohnung hinzutreten,
so wenig schädlich wie stramme körperliche Arbeit; im Gegenteil konserviren
beide gleich gut. Die berühmten Gelehrten und großen Künstler werden ebenso
wie die englischen Lords und die großen Staatsmänner steinalt; nur die länd¬
lichen Tagelöhnerinnen und die Bettelweiber können mit ihnen konkurriren.
Wer hat mehr gearbeitet als Mommsen? Und der ist mit achtzig Jahren
noch ganz frisch, der Kohlenhäuer dagegen mit fünfundvierzig Jahren durch¬
schnittlich ein Arbeitsinvalide. Und ist denn wirklich die Thätigkeit der höhern
Beamten gar so nervcnnufreibcnd? Ein paar Jahre lang hatte ich Verkehr
mit einigen Regierungsräten und erfuhr dadurch ganz genau, wie die Herren
lebten. Am meisten hatten die Schulrüte zu thu«. Der eine arbeitete täglich
vier Stunden: von morgens acht bis zwölf. Nachmittags, hat er mir wieder¬
holt gesagt, muß man nicht arbeiten. Nach dem Mittagsschlaf ging er spazieren
und machte Besuche, und abends las er. Sein Nachfolger hatte allerdings,
bis er eingearbeitet war, noch ein paar Nachmittagsstunden zu thun. Der
eine Abteilungsdirigent bekannte offen, daß er nur eine Stunde täglich arbeite.
Zwischen jenem Höchst- und diesem Mindestmaß bewegte sich die Arbeitszeit
der übrigen Herren. Dazu kamen dann noch wöchentlich eine Sitzung und
bei den Schulräten die Visitationsreisen, die jedoch als angenehme Abwechslung
empfunden wurden. Mit Richtern habe ich an drei Orten nähern Verkehr
gehabt; über andre als gesellige Strapazen hatte keiner von ihnen zu klagen.
Nun liegen diese Erfahrungen allerdings um einige Jahrzehnte zurück, und ich
weiß wohl, daß nach 1870 für die meisten Beamtenklasfen eine Zeit der Über¬
bürdung und der ungemütlichen Hetze angegangen ist; infolge des ganz über¬
flüssigen Kulturkampfes sollen einige von Falls Mitarbeitern den Verstand
verloren haben. Aber das liegt doch eben nur an der Zeit und ist nicht der
normale Zustand; die Regierten werden herzlich froh sein, wenn die Gesetz-
macherei und die Vielregiererei einmal ein Ende haben, und wenn es sich die
Negierungsräte, namentlich aber die Staatsanwälte und die Richter wieder
bequem machen werden. Ammon hätte sich die Mühe ersparen können, weit¬
läufig zu beweisen, daß die höhern Beamten und die Leiter großer Unter¬
nehmungen gute Nahrung und eine gesunde Wohnung brauchen und der Sorge
um das tägliche Brot überhoben sein müssen (obwohl in Dachkammern von
hungernden Dichtern unsterbliche Werke geschaffen worden sind, die denn doch
noch etwas höhere Leistungen darstellen als die Erledigung von Steuerrekla¬
mationen und die Anfertigung statistischer Tabellen); kein Vernünftiger bestreitet
das — bewilligen doch auch die Sozialdemokraten ihrem Liebknecht 7000 Mark
Gehalt —, und Unvernünftige verdienen keine Antwort. Aber die Sache so
darstellen, als ob die Angehörigen der höhern Stände trotz dieser Vorteile,
die man ihnen willig einräumt, einem vorzeitigen Tode durch Überanstrengung
geweiht wären, das geht denn doch über den Spaß. Nicht einmal die geschäft¬
lichen Sorgen der Großindustriellen, das Spielsieber des Börsenjobbers und
die Aufregungen des politischen Parteiführers schädigen an sich die Gesundheit.
Wenn freilich der zweite zum Revolver greift, und der dritte bei einem Wahl¬
kampfe in New Jork oder in einer Wiener Reichsratsitzung mit Fünften bearbeitet
wird, so kann das nachteilige Folgen haben. Den Vater der Bodenbesitzreform
soll die Wahlaufregnng sogar ohne Anwendung gefährlicher Werkzeuge um¬
gebracht haben, aber das kommt doch nur felten vor. Wenn ein Rentner,
oder ein hoher Beamter, oder ein Magnat vor der Zeit stirbt, so ist gewöhnlich
der Zustand, den man in Marienbad kurirt, die Ursache, und der rührt weder
von Überanstrengung des Denkapparats, noch von Entbehrungen her. Unter
den akademischen Berufen ist nur einer ungesund, der der Ärzte; Ärzte werden
selten sehr alt. Wenn es also wahr sein sollte, daß die Familien der Höher¬
gestellten kurzlebig sind — ich glaube es vor der Hand nicht —, sei es, weil
das Familienhaupt jung stirbt, oder weil die Kinder degeneriren, so könnten
Überarbeit und eine vom Beruf geforderte ungesunde Lebensweise nicht daran
schuld sein. Wäre aber die geringe Kinderzahl daran schuld, so würde mit
der Erörterung dieser Ursache ein Gebiet betreten, auf das ich mich nicht
wagen mag.
Die Gesellschaft ist ein in bestündiger Wandlung begriffenes Gebilde,
und zu diesem Wandel gehört, daß fortwährend aus den untern Schichten
Personen nach oben emporsteigen und aus den obern Schichten einzelne in
die Tiefe sinken, ja daß auch ganze Schichten ihre Lage vertauschen- In
diesem Vorgange wirken unzählige erforschbare und eine noch größere Zahl
unerforschlicher Kräfte zusammen. Wollen wir diesen Vorgang einmal mit
dem einen viel zu dürftigen Begriff ausdrückenden Modewort Auslese be¬
zeichnen, so müssen wir sagen, diese Auslese macht in dem eben besprochnen
Punkte ihre Sache gar nicht so schlecht, wie ihr sozusagen amtlicher Bewundrer
behauptet. Sie läßt die Begabten nicht in die Höhe steigen, um sie dort durch
allerlei qualvolle Prozeduren abzuschlachten, sondern die einmal oben sind,
lassen sichs wohl sein dort in der Höhe, werden alt, zeugen Kinder und be¬
gründen Geschlechter, deren manche ein halbes Jahrtausend im vollen Lichte
der Geschichte blühen, und wer sie unter- und hinnnterkricgen will, der
stellt sich eine harte Aufgabe. Aber das Bestreben, die Vornehmen als
Märtyrer des Gemeinwohls darzustellen, war nicht der einzige Grund für
Ammon, feine geliebte Auslese in Übeln Ruf zu bringen. Er wollte auch
den demokratischen EinWurf abweisen, daß der feste Zusammenschluß der
herrschenden Stände keinen Raum lasse für aufsteigende Talente, und daher
schilderte er die Höhen der Gesellschaft als das vom Todesengel bevorzugte
Erntefeld. Damit verband sich dann die Aussicht, wieder in ein Geleise
zu kommen, das sich für den Lobpreiser des Ausleseprozesses besser schickt.
Wenn man die Aufsteigenden ins Auge saßt und überlegt, daß sie aus keinem
andern Grunde aufsteigen, als weil sie die Besten sind, so liegt der Schluß
nahe, daß alle, die nicht aufsteigen, nichts taugen. Diesen Schluß zieht
Ammon wirklich: die unterste Gesellschaftsschicht, meint er, kann nur aus Un¬
tauglichen bestehen, denn wer etwas taugt, der bleibt eben nicht unten. Um
den Vorwurf, die bestehende Gesellschaftsordnung lasse sehr viele verkümmern,
die ihren Anlagen nach recht wohl eine höhere Stellung einnehmen könnten
und ein besseres Los verdienten, um diesen Vorwurf recht gründlich abzuthun,
beweist er biologisch und arithmetisch, daß die Zahl der Talente und Genies
nur klein sei, und daß es nicht mehr von ihnen geben könne, als wir wirklich
sich entfalten sehen, sodaß also anzunehmen sei, es bleibe von den vorhandnen
Talenten keins unentfaltet. Die Anlage des Individuums, setzt er ans einander,
geht aus der Mischung der elterlichen Anlagen hervor, wie jede von diesen
wieder aus Mischung der Anlagen der Voreltern hervorgegangen ist. Der
Anlagen giebt es sehr viele, eigentlich unzählige, die sich in vier Gruppen
sondern lassen: körperliche, intellektuelle, moralische, wirtschaftliche. Den vielen
Anlagen entsprechen ebenso viele Determinanten des Keimplasmas, und das
Ergebnis einer Zeugung hängt nun davon ab, welche Anlagen, welche
Gruppen von beiden Teilen in den Fötus übergegangen sind. Nun lehrt die
Kombinationslehre, daß bei Wurfen von vier Würfeln (unter den vier Würfeln
kann man sich die vier Anlagengruppen und unter je einem Auge eine Anlage
denken) sowohl der höchste wie der niedrigste Wurf nur auf eine Weise zu
stände kommt, während jede mittlere Zahl auf sehr verschiedne Weisen heraus¬
kommen kann. Nur die vier Sechsen ergeben 24, und nur die vier Emsen
ergeben 4; die 23 kann schon auf vier verschiedne Weisen zu stände kommen,
indem bei jedem der vier Würfel der Reihe nach die Fünf oben liegen kann,
während die andern drei die Sechs zeigen, und ebenso ist es mit der Zahl 5,
da bei jedem der Würfel die zwei oben liegen kann, während die andern drei
die Eins haben. So steigt die Zahl der möglichen Kombinationen nach der
Mitte hin, und der mittelste Wurf, die 14, kann auf hundertsechsundvier-
zigerlei Weise herauskommen. Auf die Zeugungslehre angewandt bedeutet
dies, daß die glücklichsten und die unglücklichsten Mischungen nur selten, die
mittelmäßig guten oder schlechten häufig vorkommen. Darnach hat Galton die
Zahl der Begabungen in einer Million Menschen berechnet. Er teilt die
Menschen ihrer Begabung nach in sechzehn Klassen el», stellt die Klassen mitt¬
lerer Begabung in die Mitte und ordnet von da die höhern und die schlechter»
Begabungen der Reihe nach so an, daß jene über und diese unter dem Mittel
liegen. Und da findet er nun, daß die beiden Mittelschichten, die bessere und
die schlechtere, jede 256 791 Mann, zusammen also über eine halbe Million
zählen, während die höchste wie die niedrigste Begabung nur durch je eine
Person vertreten ist. Stellt man die Schichten als Rechtecke dar, so liegen
die mittleren quer und werden nach der Spitze zu immer kürzer; an irgend
einer Stelle erscheint ein Quadrat, und von da ab stehen die Rechtecke auf der
kürzern Seite und werden immer schmäler, bis das letzte zu einer senkrechten
Linie zusammenschrumpft. Die Verbindungslinie der Ecken dieser Figur er¬
giebt zwei Kurven, die eine Zwiebel bilden, aber sozusagen eine Doppelzwiebel,
deren Wurzelhälfte genau so gestaltet ist wie die obere Hälfte, sodaß einander
eine obere und eine untere Spitze gegenüberstehen.
Diese Darstellung enthält zwei uralte Wahrheiten und eine Menge neuer
Irrtümer. Jahrtausende vor Darwin und Weismann hat man gewußt, daß
die Anlagen der Eltern*) auf das mannigfachste gemischt in den Kindern vor¬
kommen, und daß bei allen Arten Wesen das Mittelgut überwiegt, das Außer¬
ordentliche eben außerordentlich und ungewöhnlich, mit einem andern Worte
selten ist. Das sind die zwei alten Wahrheiten. Irrtum dagegen ist es, daß
das Genie aus einer bloßen Mischung elterlicher Elemente erklärt werden könne;
es muß noch etwas andres hinzukommen; was das ist, wissen wir nicht, wir
glauben nur, daß es unmittelbar göttlichen Ursprungs sei. Mag sich auch
Goethe in dem bekannten Scherzgedichtchen selbst verspotten als einen bloßen
Komplex elterlicher und großelterlicher Elemente, so erkennen wir doch klar
genug, daß die Gleichung ^/z Herr Rat ^ Frau Rat — 1 Johann Wolf¬
gang falsch ist und selbst dann falsch bleiben würde, wenn wir auf der linken
Seite noch ein paar Dutzend Ahnen, Muhmen und Urgroßmuhmen addirten.
Und nun gar einen Lionardo da Vinci aus den Idealen des unbedeutenden
Edelmanns und der Bauermagd erklären wollen, die ihm das Leben geschenkt
haben! Sodann: Es giebt keinen „Nummereinsmann," wie Ammon den an
der Spitze der Zwiebel nennt, weder einen positiven oben, noch einen negativen
unten. Ich habe bei einer andern Gelegenheit einmal bemerkt, daß es ein
Irrtum sei, wenn man Christus für den Idealmenschen in dem Sinne halte,
daß er alle menschlichen Vollkommenheiten in sich schließe, denn einen solchen
Idealmenschen könne es nicht geben, weil die verschiednen menschlichen Voll¬
kommenheiten einander widersprechen und unvereinbar mit einander sind:
Christus als weltlicher Fürst, oder als einsamer, mit mathematischen Formeln
beschäftigter Gelehrter, oder als siegreicher Feldherr und Eroberer, oder als
Geldfürst, oder als alles dieses zusammengenommen, das sind lauter unvoll-
ziehbare Begriffe, wie der Dogmatiker Lipsius sagen würde. Das Genie, die
höchste Spitze einer bestimmten Begabung, ist einseitig, oder es umfaßt,
wenn mehrseitig, nur mehrere verwandte, bei weitem nicht alle Begabungen.
Schon der Polyhistor ist meistens kein Genie, obwohl das bloße Viel¬
wisser selbst nur etwas einseitiges ist. Und an welcher Stelle der Zwiebel
bringen wir Tiberius, Cesare Borgia, Napoleon I. unter? Oben oder unten?
Zu unterst stehen die Blödsinnigen und die Trottel (deren Zahl übrigens
leider, wie Ammon selbst bemerkt, bedeutend größer ist als einer auf eine
Million), aber jene Herren waren doch wahrhaftig nichts weniger als geistes¬
schwach. Und wo stellen wir die Pizarro und die übrigen Konquistadoren hin,
die durch Verbrechen ohne Zahl den landhungrigcn Europäern eine neue Welt
erschlossen und unterworfen haben? Wohin die gottesfürchtigen Seeräuber
und Sklavenhändler, die Psalmen singend mit Gewürzen, Gold und Silber
beladne Schiffe gekapert. Menschen geraubt, Mordthaten verübt und so ihr
Vaterland England groß und reich gemacht haben? (Über solche berichtet neuer¬
dings wieder einmal die Lawrcl^ Rizviöv vom 27. November v. I. nach einem
Buche über den Liverpooler Sklavenhandel unter der Überschrift: Patriotische
britische Seeräuber.) Und sind denn auch nur die gewöhnlichen Verbrecher
schwach begabte Menschen? Gehört nicht viel Begabung dazu, eine Räuberbande
zu befehligen, oder jahrelang als Hochstapler die Polizei nicht allein, sondern
auch die vornehmen Kreise zu täuschen, in die er sich einzuschmuggeln versteht?
Alle diese Leute sind vom Blödsinn viel weiter entfernt als ein rechtschaffner
Büreauchef, den Ammon sicher noch einige Stufen über das Mittelgut stellt,
und da das Urteil über Revolutionsmänner bekanntlich ausschließlich vom Erfolg
abhängt, sodaß die unterliegenden als Verbrecher verurteilt, die siegreichen als
Helden gepriesen werden — ist doch ein von der Dichtung verklärter sagen¬
hafter Meuchelmörder Jahrzehnte hindurch der Abgott der gebildeten Jugend
Deutschlands gewesen — so würde es gar nicht sinnwidrig sein, die großen
Despoten, Gottesgeißeln, Henker, Verbrecher, Umstürzler in die obern Stock¬
werke der Gesellschaftszwiebel einzuquartieren. Oder sollen wir sie in die Mitte
stecken, weil sie aus einer Mischung guter und schlechter Eigenschaften bestehen
und Negatives zu Positivem addirt eine mittlere, der Null sich nähernde Zahl
ergiebt? Ammon dürfte dazu geneigt sein, denn er rechnet, an der Würfel¬
augenanalogie festhaltend, zum Mittelgut nicht allein die Leute, die von allen
guten Gaben ihr bescheidnes Teil abbekommen haben (3 3 - >- 3 -> 3 ^ 12),
sondern auch solche, die im ganzen nur mit untermittelmäßigen Gaben aus¬
gestattet sind, aber durch eine einzelne Gabe glänzen, von der sie ein reichliches
Maß empfangen haben (2 ->- 2 2 6 ^ 12). Es giebt also darunter Leute,
die geistig hoch begabt sind, aber wegen schwacher sittlicher und wirtschaftlicher
Begabung nichts erreichen, ferner solche, die zwar einen guten Charakter haben,
aber in allem andern schwach sind, dann solche, die sehr wirtschaftlich, aber
geistig und körperlich schwach und schlechten Charakters sind, endlich körperlich
starke Leute, denen es an allem andern fehlt. „Fällt die 6 mit dem vierten,
die Körperkraft darstellenden Würfel, so bedeutet dies einen Herkules, der
höchstens zu einer Jahrmarktsschaustellung zu gebrauchen ist." Aber ein solcher
gehört doch nicht zum Mittelgut der Gesellschaft, sondern schon zu den un¬
nützen Schmarotzern, wenigstens in einer Gesellschaft, die wegen ausgedehnter
Anwendung von Maschinen für Herkulesse nicht mehr viel nützliche Verwendungs¬
arten hat. Und denken wir uns hohen Verstand mit schlechtem Charakter,
UnWirtschaftlichkeit und schwachen Körper vereinigt, so bekommen wir einen
jener großen Halunken, die sich berühmt machen, und die also schlechterdings
nicht ins Mittelgut passen. Da die mittlern Wurfzahlen auf die verschiedenste
Weise — durch Addition gleicher wie auch großer und kleiner Zahlen — ent¬
stehen können, während nach oben wie nach unten die Würfe immer gleich¬
mäßiger ausfallen, der höchste wie der niedrigste aus je vier Zahlen besteht,
so schließt Ammon, daß beim Mittelgut die Unharmonischen vorherrschen; und
umgekehrt, schreibt er, nimmt man wahr, daß, je hoher man hinaufgeht, die
Begabung um so harmonischer wird." Ja, bei den Würfelaugen freilich nimmt
man die zunehmende Harmonie wahr, bei den menschlichen Begabungen aber
gerade das Gegenteil. In einem gesunden Volke auf der Kulturstufe des Acker¬
baues ist die Masse harmonisch begabt. Es sind Leute von mäßiger Einsicht, mitt¬
lerer Tüchtigkeit, gutem Charakter und gesundem, wohlgebildeten Körper, bei
denen weder die eine Anlage mit der andern noch der Einzelne mit seiner Um¬
gebung in unheilbare Konflikte gerät; Leute von beschränktem Gesichtskreis, die ihre
bescheidne Stellung ausfüllen und sich in ihrer bescheidnen Lage wohl fühlen.
Bei reinen Bauernvölkern wie bei dem der Schweizer Urkantone sind so ziemlich
alle von dieser Art; einer unterscheidet sich nur wenig vom andern, und auf¬
fällige Abweichungen im guten oder im schlechten Sinne, nach oben oder nach
unten, kommen nicht vor. Die großen Unterschiede in der Begabung treten
erst bei starker sozialer Differenzirung ein, woraus also folgt, daß die Genies
wie die Verbrecher und die Blödsinnigen nicht Produkte einer Mischung von
Idealen sind, die durch alle Geschlechter unverändert blieben, sondern Produkte
äußerer Verhältnisse und — was das Genie anbetrifft — hinzutretender meta¬
physischer Ursachen, die nicht früher wirksam werden können, als bis die ge¬
eignete äußere Lage hergestellt ist, denn auch ein Christus ist nur in jener
griechisch-römisch-hebräischen Welt denkbar, in die hinein er geboren wurde.
Ist also die Mittelschicht ursprünglich harmonisch angelegt, so zeichnet sich da¬
gegen das Genie keineswegs durch harmonische Begabung aus. Der Durch¬
schnittsmensch kann ein tüchtiger gemeiner Soldat und dabei nach einander ein
musterhafter Schüler, braver Handwerker oder Büreaubcamter, vortrefflicher
Gatte und Hausvater sein und nebenbei Sinn für Kunst und wissenschaftliche
Lektüre haben. Das Genie wird entweder ein militärisches Genie sein und
dann für sehr viele Berufe, in die sich der Mittelmäßige gleich gut schickt,
nicht taugen, oder es wird ein künstlerisches oder religiöses Genie sein und
dann weder zum Offizier noch zum gemeinen Soldaten viel taugen. Die
großen Dichter und Komponisten haben sich aufs Geldmacher und Geldsparen
meistens sehr schlecht verstanden (viele ausübende Musiker und namentlich die
Sängerinnen desto besser), und Finanzgenies Pflegen sich nicht dnrch künstlerische
Begabung auszuzeichnen. Verhältnismäßig harmonische Genies wie Goethe
unter den Dichtern und Moltke unter den Feldherrn sind selten.
Wenn man ein Bild der Gesellschaft dergestalt in zwei Hälften teilen will,
daß eine wagerechte Linie die nützlichen, schaffenden Mitglieder von den un¬
nützen Schmarotzern und den Schädlingen scheidet, so bekommt man keines¬
wegs die Figur einer Doppclzwiebel. Vielmehr würde die Figur einer mit
Pflanzen bestandnen Humusschicht gleichen, aus deren Gräsern und Kräutern
Bäume der verschiedenste,: Art: die hochbegabten Menschen, hervorragten. Von
einer einheitlichen Spitze ist dabei weder auf der positiven noch auf der negativen
Seite die Rede: der Despot, der Intrigant, der Verbrecher und der Schwach¬
sinnige stehen ebenso weit von einander ab wie etwa Goethe und Bismarck
oder Beethoven und der Freiherr von Stein. Aber die Giftpflanzen wachsen
ja überhaupt nicht abwärts in die Erde hinein, daher ist es ganz unmöglich,
das Zahlenverhältnis der positiven und der negativen Bestandteile der Gesell¬
schaft geometrisch darzustellen; sie wachsen eben wie Fruchtbäume und Gift¬
pflanzen, wie Weizen und Unkraut durch einander, und bei vielen weiß man
gar nicht einmal, ob man sie zu der einen oder zu der andern Klasse rechnen
soll, weil sie thatsächlich beiden Klassen angehören, sowohl aufbauend wie zer¬
störend thätig sind. Ammon übersieht alle diese Schwierigkeiten, weil er gar
nicht an das Leben, sondern immer nur an die Amtsstube denkt. „Die Gesell¬
schaftsordnung, meint er, verdient keinen Vorwurf, wenn sie verbummelten
Talenten oder verkannten Genies oder ungeschickten Biedermännern den Weg
verlegt, denn an wichtigen Posten kann man nur Persönlichkeiten brauchen,
die in jeder der hauptsächlichen Anlagegruppen hervorragend begabt sind."
Als ob alle Forscher und Künstler, die es nicht im Staatsdienst zur Exzellenz
bringen, verbummelte Talente und verkannte Genies wären! Wie weit hat es
denn Kepler gebracht, und was hat denn Spinoza für ein Staatsamt be¬
kleidet?
Die Darstellung Ammons läuft auf die Behauptung hinaus, daß die hohe
Stellung eiues Mannes seine hohe Befähigung, die niedrige Stellung seinen
Mangel an Befähigung beweise, daß alle, die oben zu sein verdienen, auch
wirklich nach oben gelangten, daß alles, was unten bleibt, Schund und Bodensatz
sei, und daß es in den Massen Talente, denen die Möglichkeit, sich zu ent¬
falten, gefehlt hätte, nicht gebe. Er führt zur Bekräftigung seiner Ansicht noch
die Thatsache an, daß zwar Unterbeamte auf ihre Vorgesetzten schimpften und
überzeugt seien, sie würden an deren Stelle alles weit besser machen, daß da¬
gegen ein Kollegialmitglied selten einen Minister für einen ganz unbegabten
Mann halten werde. Dagegen ist nun zunächst zu sagen, daß sicherlich kein
Lokomotivführer den Eisenbahnminister für einen ganz unfähigen Mann hält
und sich die Ministerqualifikation zutraut (der Manu denkt nur: wenn der
Minister einmal ein paar Tage hinter einander zwölf bis sechzehn Stunden
Lokomotivfnhrerdienst hätte, so würde er manches anders einrichten), daß da¬
gegen in neuerer Zeit von sehr hoher Stelle aus über preußische Minister ver¬
nichtende Urteile gefüllt worden sind. Und war Badenis Befähigung dadurch
bewiesen, daß ihn sein Kaiser zur Leitung Cisleithaniens berief? Wie hat
doch der Kanzler Oxenstierna gesagt? Wie urteilen die drei Premierminister
Crispi, Giolitti und Nudini über einander? Wie urteilt Ammon selbst über
die Günstlingswirtschaft der großen Katharina und über die Panamiten unter
den französischen Ministern? Was nieint er zu der in deu parlamentarischen
Ländern üblichen Ministerstürzerei, die doch weder von Unterbeamten noch von
Proletariern betrieben wird? Und wie wird Friedrich Wilhelm IV. samt
seinen Ministern von berühmten Geschichtschreibern beurteilt, die der politischen
Richtung Ammons angehören? Er kann also wohl sagen: ich bin überzeugt,
daß im heutigen Baden, oder im heutigen Preußen, oder im heutigen deutschen
Reiche jeder Mann ans dem richtigen Platze steht, und daß für keinen hervor¬
ragenden Posten ein Bewerber gefunden werden kann, der dafür geeigneter
wäre, als sein jetziger Inhaber, aber er kann diesen Vorzug nicht der bestehenden
Gesellschaftsordnung gutschreiben, denn die ist dieselbe bei uns wie in Italien
und in Frankreich, im alten Preußen und im Rußland des vorigen Jahr¬
hunderts, und Crispi, Giolitti und Rndini sind wenigstens darin einig, daß
sie die Feinde dieser Ordnung mit Mitteln bekämpfen, die — dem Scheine
nach — weit kräftiger wirken als Bücher.
Ist es also falsch, daß die „Auslese" überall und immer unfehlbar deu
richtigen Mann an die richtige Stelle bringe, so ist es noch weit falscher, daß
alles, was unten zurückbleibt, nur Bodensatz und Abraum wäre, der nichts
brauchbares mehr enthielte, geschweige denn Talent oder gar Genie. Niemand
widerlegt diese Ansicht vollkommner, als Ammon selbst. Nach ihm sterben die
obern Klassen beständig ab und müssen aus dem Bauernstande ersetzt werden.
Nun war der Bauernstand im vorigen Jahrhundert, wo es noch kein Pro¬
letariat von Lohnarbeitern gab, der unterste Stand. Er war gedrückt und ver¬
achtet, er war unwissend, abergläubisch, stumpfsinnig und indolent. Wie aus
solchen Heloten unsre heutigen wohlhabenden, gebildeten, gemeinnützig und
politisch thätigen Bauern geworden sein können, vermag zwar Ammon nicht
zu erklären — wir andern, die wir nicht an unveränderliche Ite und Idanten
glauben, wissen, daß sie es durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und den
Schulzwang samt den übrigen heutigen Bildungsmitteln geworden sind —,
aber gleichviel, er glaubt doch, daß in den Zuzüglern vom Lande die Gro߬
industriellen-, Professoren- und Ministerdeterminanten schlummern, die in der
dritten oder vierten Generation zum Vorschein kommen werden; denn daß die
Befähigung für solche Stellungen durch Vererbung angesammelt werden könne
aus dem, was jede einzelne Generation mit Hilfe städtischer Bildungsmittel
und begünstigt von einer bessern Lage erwirbt, das glaubt er ja eben nicht.
Es müssen also doch da unten trotz allen Abflusses immer noch Anlagen zurück¬
bleiben, die später in die Stadt wandern werden, um die neu entstandnen
Lücken auszufüllen. Und es ist nicht abzusehen, warum unter den Fabrik¬
arbeitern solche Anlagen seltner sein sollten als unter den Bauern, da sie doch
Sprößlinge der Bauern des vorigen Jahrhunderts sind, und zwar nach Ammon
die begabten Sprößlinge, denn gerade diese läßt er ja in die Stadt ziehn.
Ich bin weit entfernt davon, unsrer Gesellschaftsordnung einen Vorwurf
daraus zu machen, daß oben nicht immer die rechten Männer auf dem rechten
Platze stehen, und daß unten nicht wenige Talente unentfaltet bleiben. Was
das erste anlangt, so giebt es eben in dieser Beziehung nichts vollkommnes,
und was das zweite betrifft, so unterliegt die Gesellschaft demselben Gesetze wie
die Natur, daß unzählige Samen zu Grunde gehen müssen, damit einige auf¬
gehen können. Übrigens ist das nicht einmal durchweg für die unentfalteten
Talente selbst ein Unglück, da ihnen das, was sie unter andern Umstünden
leisten könnten, meistens gar nicht zum Bewußtsein kommt, und da der Mensch
in niedriger Stellung leichter glücklich wird als in hoher. Aber Ammon hat
sich durch unverständige Angriffe auf die höhern Stände zu einer noch unver¬
ständigern Abwehr verleiten lassen, die nicht unkritisirt bleiben darf, weil sie
ein falsches Bild von gesellschaftlichen Vorgängen entwirft, das dazu gemi߬
braucht werden kann, eine verkehrte Politik zu empfehlen.
(Fortsetzung folgt)
as zunächst den Rückgang in der Zahl der deutschen Bevölkerung
Posens betrifft, so beruht er auf zwei Umstünden, auf der ver¬
hältnismüßig geringern Zahl der Geburten, und auf dem Übel¬
stand, daß neben der Auswanderung keine entsprechende Ein¬
wanderung hergeht.«
Die geringere Zahl der Geburten erklärt sich schon genügend daraus, daß
bei den Deutschen ein unverhältnismäßig großer Bruchteil den sogenannten
„bessern Ständen" angehört, während umgekehrt bei den Polen ein sehr
großer Prozentsatz dem niedern Volke zuzurechnen ist.
An der Auswanderung der Deutschen tragen zum Teil die hohen Preise
der Posener Mietwohnungen die Schuld. Sie treiben den deutschen Arbeiter
und besonders den kleinen Beamten, der nicht, wie der polnische Proletarier,
daran gewohnt ist, in einem dumpfen Keller zu Hausen, hinaus in die Vororte.
Welchen Umfang diese ssosssio xlöbl8 — an der sich übrigens auch manche „Pa¬
trizier" beteiligt haben — angenommen hat, ist ersichtlich aus folgender dem
städtischen Verwaltungsbericht für 1891 entnommnen Zusammenstellung.
„Die Bororte — heißt es da — haben in den rückliegenden fünf Jahren
wie folgt an Einwohnern zugenommen:
welche Zunahme hauptsächlich auf Zuzug aus der Stadt Posen zurückzu¬
führen ist."
Der Nachteil, der hieraus für das kommunale Leben der Provinzialhaupt-
stadt selbst entsteht, liegt auf der Hand. Die Sache hat aber auch eine poli¬
tische Bedeutung. Die Vororte gehören zu den beiden Landkreisen Posen-Ost
und Posen-West. Da nun in diesen die Polen — trotz der deutschen Ein¬
wanderung — noch immer eine gewaltige Mehrheit haben, so gehen (wenigstens
bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus) alle diese deutschen Stimmen
einfach verloren.
Aber es giebt noch einen tiefer liegenden Grund für die Auswanderung
der Deutschen, der zugleich auch ihren Ersatz durch Einwanderung erschwert:
dem Deutschen wird es heutzutage schwerer als dem Polen, in dem gewerb¬
lichen Leben unsrer Stadt und Provinz Beschäftigung zu finden. Wie kommt
das? Ist er weniger fleißig und geschickt? Durchaus nicht, aber der Pole
spricht in der Regel auch deutsch, der Deutsche dagegen fast niemals polnisch.
Und doch werden in unsern deutscheu Zeitungen Tag für Tag Stellen an¬
geboten, für deren Erlangung die Kenntnis der polnischen Sprache zur Be-
dingung gemacht wird. Hier wird ein Kommis gesucht, da eine Verkäuferin,
dort ein Gutsinspektor usw., und immer heißt es „Polnisch sprechende Be¬
werber erhalten den Vorzug."
Daraufhin wird nun vielfach den betreffenden Arbeitgebern der Vorwurf
mangelnden Nationalitätsgefühls gemacht. Ganz mit Unrecht! Wer hierzu¬
lande mit dem großen Publikum arbeiten muß, also besonders der Gewerb-
treibende, der kann ohne doppelsprachige Leute nicht auskommen, der Pole
ebensowenig wie der Deutsche. Ich behaupte, es giebt in Posen keinen
polnischen Laden, wo ein deutscher Käufer nicht aufs höflichste in deutscher
Sprache bedient wird. Dieselbe Rücksicht verlangt dann natürlich auch der
Pole, wenn er in ein deutsches Geschäft kommt. Selbst die Behörden sind ja
gezwungen, diesen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Deshalb sollte man
denn auch z.B. der PostVerwaltung keinen Vorwurf daraus machen, daß sie
eine gewisse Anzahl polnischer Briefträger angenommen hat. Es geht ihr eben
wie einem mir bekannten Gutsbesitzer, einem durch und durch deutschen Mann.
Als mau ihn tadelte, weil er einen Polen als Inspektor angestellt hatte, sagte
er: „Was soll ich machen? Es muß doch jemand auf dem Gut sein, der sich
mit den Arbeitern verständigen kann."
Ja — warum lernen die Deutschen nicht Polnisch?*) Wäre es nicht
besser, wenn z. B. auf der hiesigen Mittelschule, die doch den lokalen Be¬
dürfnissen dienen soll, statt des völlig zwecklosen Englisch das Polnische gelehrt
würde?
Die Hauptschwäche des hiesigen Deutschtums liegt jedoch, meines Er-
nchtens, in der wirtschaftlich ungesunden Zusammensetzung seiner Elemente.
Posen ist bekanntlich eine Festung ersten Ranges mit einer gewaltigen
Besatzung. Es ist zugleich Sitz der Provinzinlregierung, des Oberlandesgerichts
und vieler audern Behörden. Die Offiziere und die Beamten bilden daher
einen überaus großen Bruchteil der deutschen Einwohnerschaft. Aber wie viele
von diesen Offizieren und Beamten kommen denn dazu, in unsrer Stadt und
Provinz heimisch zu werden, sich für ihr Wohl und Weh zu interessiren?
Vor Jahren war ein Oberlehrer aus der Provinz Sachsen an eins der
hiesigen Ghmnasien versetzt worden, das besonders von den Söhnen der Offi¬
ziere und Beamten besticht wird. Nachdem dieser Herr eine Zeit lang hier
unterrichtet hatte, sagte er eines Tages zu mir: „Unter meinen Schüler» sind
die Polen die einzigen, die Posen als ihre Heimat betrachten."
Die Bemerkung ist nur allzuwahr. Der Beamte, der Offizier, besonders
in den höhern Stellen, ist ein Nomade, der heute sein Zelt am Ufer der
Wcirthe aufschlüge, um es wieder abzubrechen, sobald er (wie der Ausdruck
lautet) „seine fünf Jahre Posen abgesessen hat."
In den mittlern und untern Stellen sind ja die Versetzungen nicht so
häufig, und da kommt es denn anch oft genug vor, daß ein Beamter zwanzig,
dreißig Jahre hier bleibt. Aber sobald er in den Ruhestand getreten ist,
schüttelt auch er den Posener Staub (und daran haben wir ja Gott sei Dank
keinen Mangel) von den Füßen und zieht anderswohin, an einen Ort, wo es
angenehmer und vor allem billiger zu leben ist, z. B. Hirschberg oder Görlitz.
Und ähnlich macht es auch der jüdische Kaufmann, Arzt oder Rechtsanwalt.
Sobald er ein ausreichendes Vermögen erworben hat, giebt er sein Geschäft
auf und zieht nach Berlin. Dort darf er sich wenigstens als Mensch fühlen,
während er hier außerhalb des Ghetto nur ausnahmsweise eine gesellschaftliche
Stellung erlangen kann.
Was wir hier brauchen, das ist vor allem ein seßhafter Mittelstand, ein
kräftiges deutsches Bürgertum. Denn es sind — wie gesagt — nicht die
Beamten, auf denen in erster Linie die wirtschaftliche Zukunft des Posener
Deutschtums beruht, sondern die gewerblich schaffenden, produktiven Bürger.
Die Bildung und Erhaltung eines aufstrebenden Mittelstandes hängt aber
natürlich in der Hauptsache von der Entwicklung der Erwerbsverhältnisse ub.
Leider hat sich — nicht ohne Mitschuld des Staates — das Posener
Bürgertum von der gewerblichen Thätigkeit mehr und mehr abgewandt. Diese
Art von Thätigkeit wird eben hierzulande nicht so hoch geschätzt, wie sie es
in Anbetracht ihrer Wichtigkeit für das Gemeinwesen eigentlich verdient. Die
Folge davon ist, daß der deutsche Posener Bürger, sobald er selbst etwas er¬
worben hat, nichts besseres zu thun weiß, als seine Söhne in die zwar weniger
einträgliche, aber so viel höher geachtete Beamtenlaufbahn zu bringen —
ganz im Gegensatz zum Polen, für den die preußische Beamtenkarriere be¬
greiflicherweise weniger Anziehungskraft hat, und der es deshalb lieber sieht,
wenn sich seine Söhne im Erwerbsleben als Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute
oder Industrielle eine Stellung erringen. Statt einzelne Fülle dieses unglück¬
seligen Hanges der Deutschen (die mir übrigens zahlreich genug zu Gebote
stehen) anzuführen, beschränke ich mich auf die Mitteilung folgender Zahlen,
die dem „Statistischen Jahrbuch deutscher Städte" (Breslau, 1396) entnommen
sind. In diesem Bande wird u. a. untersucht, welche Unterschiede zwischen
einzelnen größern deutscheu Städten bestehen hinsichtlich der Bevorzugung
humanistischer oder realistischer Schulbildung. Das Ergebnis ist folgendes:
„Unter den (in dem betreffenden Aufsatz) behandelten dreiundvierzig größern
deutscheu Städten ist humanistische Vorbildung am meisten in — Posen gesucht.
Hier entfallen von allen Schülern höherer Lehranstalten 75,9 Prozent auf die
(humanistischen) Gymnasien. Dann folgt Königsberg mit 67,2 Prozent usw.,
endlich Hamburg mit 19 Prozent! Die Verschiedenheiten sind also vou ganz
außerordentlicher Bedeutung — beträgt doch der auf Posen entfallende Prozent¬
satz humanistisch vorgebildeter Schüler fast das Vierfache des für Hamburg sich
ergebenden Betrags."
Glückliches Posen! Mit welchem Stolz kannst du mit deinen 76 Prozent
Humanisten auf das armselige Hamburg hinabsehen. Zwar diese Hamburger,
man muß es ihnen lassen, entfalten auf dem wirtschaftlichen Gebiet eine staunen-
erregende Thatkraft, sie leisten jahraus jahrein eine Kulturarbeit, vor der unsre
ganze Provinz Posen sich beschämt verkriechen muß — aber, aber, nur 19 Prozent
Humanisten auf den höhern Schulen!
Doch ich bitte, mich nicht mißzuverstehen! Es fällt mir gar nicht ein
zu behaupten, dieses Überwiegen des Humanismus sei die Ursache unsers wirt¬
schaftlichen Niedergangs — aber ein Symptom davon ist es ganz gewiß. Und
auch das steht fest, daß wir da auf einer falschen Bahn sind, und daß es hohe
Zeit wäre, die Verkehrtheit dieser Entwicklung einzusehen und ihr nach Möglich¬
keit entgegen zu wirken. Der Hauptanstoß zur Besserung muß freilich aus dem
deutschen Bürgertum selbst kommen; es muß sich aufraffen aus der dumpfen
Apathie, in die es verfallen ist. Aber zum Aufraffen gehört Vertrauen und
Hoffnung, denn wo diese nicht vorhanden sind, da fehlt auch der Mut zur
That. Es ist nötig, daß das deutsche Bürgertum das Vertrauen gewinnt, es
werde endlich auch für unsern Osten in wirtschaftlicher Beziehung eine bessere
Zeit anbrechen. Ihm dies Vertrauen oder wenigstens diese Hoffnung einzu¬
flößen, dazu ist vor allem die Stantsregierung selbst berufen. Aber nicht
durch Worte würde sie dies zu leisten vermögen, sondern allein durch die That.
Was hat nun die Regierung bisher für die Hebung des städtischen Bttrger-
standes in unsrer Provinz geleistet?
Selbst der Verfasser des kürzlich in diesen Blättern erschienenen Aufsatzes
„Aus unsrer Ostmark" — obwohl er sonst mit seiner Anerkennung staatlicher
Leistungen nicht karge — weiß darüber nur wenig zu vermelden: ,,Manches
ist übrigens schon durch den Staat für den deutschen Nührstand der Städte
geschehen, in Posen durch die Gründung der Baugewerkschule*) und die Er¬
öffnung einer Königlichen Gewerbe- und Haushaltungsschule für Mädchen, in
Bromberg durch die Schaffung einer gewerblichen Fortbildungsschule." Aber
das ist auch alles, was er anführen kann. Daß aber dies auch nicht im ent¬
ferntesten genügt, um den oben erwähnten Zweck (die Hebung des Bürgertums)
zu erreichen, das braucht doch nicht erst bewiesen zu werden.
Welches sind nun die Thaten und Leistungen der Regierung, die geeignet
wären, dem deutschen Bürger zu neuem wirtschaftlichen Aufschwung die Bahn
frei zu machen?
Zum Teil vermögen dazu gewisse Verwaltungsmaßregeln beizutragen,
die alle von dem gemeinsamen Grundsatz diktirt sein müßten, auf dem wirt¬
schaftlichen Gebiet zunächst die lokalen Interessen der wichtigern Städte dieser
Provinz zu fördern. Für die Stadt Posen besonders wären etwa folgende
Maßregeln ins Auge zu fassen:
1. Die Einverleibung der Vororte. Der Haupteinwcmd gegen diese Ände¬
rung — die für die Stadt Posen dadurch eintretende Notwendigkeit, dann
die für ihre Finanzen wichtige Schlachtsteuer aufzugeben — wird hinfällig
von dem Augenblick um, wo der schon in der Anlage begriffne Schlacht- und
Viehhof vollendet sein wird. Alles sür den städtischen Verbrauch bestimmte
Vieh wird in Zukunft nur dort geschlachtet werden dürfen, wodurch dann
anch die Steuererhebung außerordentlich erleichtert wird.
2. Die Niederlegung der innern UmWallung — für unsre Stadt eine
der ersten Vorbedingungen des Emporblühens. Während ich dieses schreibe,
trifft die Nachricht ein, daß die Abtragung der Westseite (diese kommt für die
künftige Ausdehnung der Stadt allein in Betracht) im Prinzip zugestanden sei.
Aber nun quält mich eine andre Sorge: Wird das dadurch zur Be¬
bauung freiwerdende Gelände nicht der Gegenstand einer wilden Grundstücks¬
spekulation werden? Dies müßte um jeden Preis verhütet werden. Vielleicht
könnte dieses (und natürlich auch andres, geeignetes) Terrain auch dazu
verwandt werden, deutsche Bürger und Beamte durch Erleichterung des Ankaufs
hier seßhaft zu machen. Auch ließe sich für diese und ähnliche städtische An-
siedlungen möglicherweise sogar der so vielfach angefeindete Ansiedlungsfvnds
nutzbar machen, etwa in folgender Weise.
In Verbindung mit der Ansiedlungsbehörde wird eine Hypothekenbank
errichtet, die städtische Grundstücke beleibt. Die von ihr so erworbnen Wert¬
objekte dienen als Fundirnng der von ihr auszugebenden verzinslichen
Hypothekencertisikate, deren Verzinsung sich eben aus den Zahlungen der
Hypothekenschuldner ergiebt. Nur mit solchen Certifikatcn werden in Zukunft
die angekauften Landgüter bezahlt. Da diese Certifitate — wie gesagt —
verzinslich sind, so brauchen sie nicht sofort einlösbar zu sein, sondern dies erst
in dem Maße zu werden, wie die Gelder für die draußen auf dem Lande ver¬
kauften Ansiedluugsstelleu eingehen. Sollten nach Einführung dieses Systems
nicht mehr genug Verkaufsaugebote von polnischen Grundbesitzern vorliegen,
so könnte man sich (noch mehr als bisher) auf den Ankauf deutscher Land¬
güter verlegen. Der Effekt wäre für die Schaffung von deutschen Bauern¬
wirtschaften derselbe, aber der Ansiedtungsfonds würde sich nach zwei Seiten
hin nützlich erweisen.
Als Maßregeln von allgemeinerer Bedeutung wären etwa folgende in
Aussicht zu nehmen.
1. Die Hebung des Handwerkerstandes, z. B. durch Errichtung besondrer
Handwerker- oder Volksbcmkeu, namentlich aber auch durch Fachschulen. (Siehe
unten!)
2. Die Verbesserung der Wasserstraßen, insbesondre die Vertiefung und
bessere Instandhaltung des Flußkanals der Warthe.
3. Die Begünstigung des ganzen Ostens durch Differentialtarife, aber
nicht nur für Güter, sondern auch für Personen.
Bekanntlich wurden die Differentialtarife für Getreide im Jahre 1892
abgeschafft, um die Zustimmung der Süd- und Westdeutschen zum russischen
Handelsvertrag zu erlangen.
Solche Tarifes sind aber wirtschaftlich wie eisenbahntechnisch eine durchaus
berechtigte Maßnahme. Ihre Aufhebung hat natürlich vorzugsweise die Landwirt¬
schaft des Ostens geschädigt. Daß aber diese ein solches Opfer bringen mußte, das
wäre doch nur dann billig und gerecht gewesen, wenn gerade sie von dem
russischen Handelsvertrag besondre Vorteile zu erwarten gehabt hätte.
Es sind aber auch Differentialtarife für die Personenbeförderung zu er¬
streben, vielleicht in der Form, daß über eine gewisse Kilometerzahl hinaus
der Fahrpreis keine weitere Steigerung erfährt. Dadurch würde für die Be¬
wohner der östlichen Provinzen der große materielle Nachteil, der sich für sie
aus der geographischen Lage ihrer Wohnsitze ergiebt, bedeutend gemildert
werden. Das bisherige System der Tarifirung legt gerade den Bewohnern
des Ostens eine unverhältnismäßig hohe Eisenbahnstcuer auf; durch ihre
Ermäßigung würde dem Deutschen, der hierher verschlagen wird, sein Los
erträglicher gemacht werden, denn jetzt ist die Versetzung nach Posen namentlich
für viele der weniger bemittelten Beamten gleichbedeutend mit einer Ver¬
bannung.
Aber mich unsre Eisenbahnverbindungen müssen besser werden. Hamburg,
Hannover, Kassel, Breslau — sie alle haben weit schnellere Verbindungen
mit andern Mittelpunkten des Verkehrs, insbesondre mit Berlin.
4. Zweckmäßigere Einrichtungen aus dem Gebiet der Schule. Ich
habe schou oben auf das Mißverhältnis hingewiesen, das in der Stadt Posen
zwischen der Zahl der humanistisch und der realistisch vorgebildeten Schüler
höherer Lehranstalten besteht. Noch greller tritt dieses Mißverhältnis hervor,
wenn man sämtliche höhere Schulen der Provinz, soweit sie eine allgemeine
und uicht bloß eine fachmüßige Bildung zu vermitteln bestimmt sind, zum
Vergleich heranzieht. Da ergiebt sich nämlich, daß auf je 100 Schüler dieser
höhern Lehranstalten nicht weniger als 86,6 Humanisten kommen!
Nun mag man eine noch so hohe Meinung von dem Wert der klassischen
Bildung haben — man wird doch zugeben müssen, daß es eine Verkehrtheit
ist, sie allen aufzuzwingen, die überhaupt nach höherer Bildung streben. Und
bei uns wird sie thatsächlich fast allen aufgezwungen, denn nur in zwei
Städten (Bromberg und Posen) bestehen neben den humanistischen auch noch
realistische Bildungsanstalten. Das sind doch keine gesunden Zustünde I Die
Überfüllung der studirten Berufe ist noch uicht einmal die schlimmste ihrer
Folgen. Als solche betrachte ich vielmehr diese: wer das Gymnasium durch¬
gemacht hat, besitzt — wie doch wohl allgemein zugestanden werden wird —
die Grundlagen einer gelehrten Bildung. Aber eben deshalb hüte er sich selbst
«o ixso zu etwas „Höheren" berufen, und dieses Höhere ist natürlich eine
Stellung innerhalb der sogenannten „leitenden Kreise." Die Folge ist, daß
im allgemeinen nur uoch die Gymnasialschüler sich einem, gewerblichen Beruf
zuwenden, die auf dem Gymnasium, nicht weiter kommen konnten — mit einem
Wort, der Schund. Dadurch wird aber das Ansehen der produktiven. Stunde
und Berufsarten noch mehr herabgedrückt. Dazu kommt dann noch der weitere
Nachteil, daß oft genug blühende gewerbliche Unternehmungen wieder eingehen
oder in fremde (z. B. in polnische) Hände geraten, weil die studirten Herren
Söhne des ursprünglichen Inhabers nicht in der Lage sind, das Geschäft
weiter zu führen, und weil sich doch nicht immer in den Familien ein „Dummer"
vorfindet, der dazu noch zu brauchen ist.
Die Forderung müßte also dahin gehn, daß auch für die Bildungs¬
bedürfnisse des höhern und mittlern Bürgerstandes ausreichender als bisher
gesorgt würde, sowohl für sein Bedürfnis nach einer allgemeinen modernen
Bildung (durch Errichtung von Realschulen), wie anch für sein Bedürfnis nach
Fachbildung (durch Gründung von technischen und Fachschulen.)
Als Krönung dieses ganzen Gebäudes denke ich mir und wünsche ich für
die Provinz Posen eine Hochschule.
Als die Rheinlands mit Preußen vereinigt wurden, als Elsaß-Lothringen
für Deutschland wieder errungen war — da erkannte man sofort die Not¬
wendigkeit, die Bevölkerung der neuen Gebietsteile vor allem auch für die Be¬
teiligung an der geistigen Entwicklung des großen Ganzen zu gewinnen. Auch
in unsrer Provinz muß es ein deutsches Kulturzentrum geben, eine Hochburg
deutscher Kunst und Wissenschaft, durch die es auch dem gebildeten Slawentum
fortwährend zum Bewußtsein gebracht wird, daß unsre Macht nicht bloß aus
den Kanonen und Bajonetten beruht, sondern daß sie die Frucht einer mehr
als tausendjährigen Geistesarbeit ist.
In welcher Stadt soll diese Hochschule errichtet werden?
Nirgends anders als in Posen selbst.*) Ich weiß, daß man gegen die
Wahl dieses Ortes diese und jene Gründe ins Feld führen kann. Für mich
ist jedoch folgende Erwägung ausschlaggebend.
Die Stadt Posen ist in Bezug auf die Nationalitätenfrage weitaus der
wichtigste Punkt im ganzen Osten. Dieser Punkt muß unter allen Umständen
wiedergewonnen werden — ich sage „wiedergewonnen," denn er ist schon halb
verloren. Nun wohl! Wir haben viele Millionen für strategische Eisenbahnen
ausgegeben — so opfere man denn auch einmal einige Millionen für eine
aus nationalstrategischen Rücksichten gegründete Hochschule. An dem Tage,
wo wir sagen können: Posen ist eine deutsche Stadt, an dem Tage haben wir
einen Sieg gewonnen, der an Bedeutung kaum hinter dem von Königgrütz
zurücksteht.
5. Eine hochwichtige Frage für unsre Provinz sind endlich die Handels¬
und Verkehrsbeziehungen zu unserm östlichen Nachbar. Zwar besteht zur Zeit
ein Handelsvertrag mit Nußland; daß wir ihn aber in sechs Jahren noch
haben werden, wer möchte darauf schwören? Tritt aber zwischen beiden Reichen
das frühere Verhältnis gegenseitiger Absperrung durch übermäßige Zölle wieder
in Kraft, dann wird, wie ich fürchte, die Entwertung des Großgrundbesitzes
«uf die Dauer zwar auch nicht verhindert, der industrielle Aufschwung der
Provinz aber sicherlich im Keime erstickt werden. Schafft man dagegen eine
blühende Industrie, so wird das Land, das noch viele Tausende von Be¬
wohnern ernähren könnte, dichter bevölkert werden, und dann kann auch der
Landwirt für seine Erzeugnisse auf bessere Absatzbedingungen rechnen.
Daß manche der hier empfohlenen Maßnahmen auch den Polen zu gute
kommen würden, kann um so weniger davon abschrecken, da es ja doch auf
deren wirtschaftlichen Ruin gar nicht abgesehen ist, sondern nur darauf, deutsches
Kapital, deutsche Intelligenz und Thatkraft in größerm Maße als bisher für
unsre Provinz zu erhalten und von auswärts herbeizuziehen.
Zum Schluß noch einige allgemeine Bemerkungen. Es bedarf keines Be¬
weises, daß es für Deutschland wünschenswert wäre, hier an der gefährdeten
Ostgrenze eine geschlossene national-deutsche Bevölkerung zu haben. Aber sie
ist nun einmal nicht vorhanden und wird sich auf künstliche Weise weder durch
Güte noch mit Gewalt schaffen lassen. Der Gedanke, die Polen in Masse zu
germauisiren, ist uuter den heutigen Verhältnissen — wir leben in einem Ver¬
fassungsstaat und stehen einem scharf ausgeprägten Nationalbewußtsein gegen¬
über — nichts weiter als eine Utopie. Die Politik aber hat mit Utopien
nichts zu thun, sie erstrebt überhaupt uicht das Wünschenswerte, sondern vor
allem das Notwendige. Das Notwendige ist aber nicht, das Polentum aus¬
zurotten, sondern dafür zu sorgen, daß das deutsche Element ihm an Zahl
einigermaßen gewachsen, an Besitz und Bildung überlegen bleibt.
Auch das ist schon ein sehr hohes Ziel, bei dessen Verfolgung man gar
leicht auf Abwege geraten kann. Die Gefahr liegt — wie mir scheint —
besonders darin, daß man zu viel auf einmal erreichen will: Hui trox eindra886,
nisi sei'Art.. Vielleicht würden die Erfolge besser sein, wenn man sich das
Ziel etwas niedriger steckte und seine Kräfte zunächst ans einige wichtige Punkte
richtete. Als solche besonders wichtigen Punkte möchte ich wieder und wieder
die Städte hervorheben. In ihnen dem deutschen Elemente zum entschiednen
Übergewicht zu verhelfen, das liegt wenigstens im Bereich der Möglichkeit.
Sind aber erst einmal die fünf oder sechs wichtigsten Städte der Provinz
überwiegend deutsch, dann ist dem politischen Polentum und seinen Sonder-
bestrebungen das Rückgrat gebrochen, und was alle materielle Fürsorge der
Regierung bisher nicht erreicht hat, nämlich die Polen wenigstens zu guten
Preußen zu machen, das bewirkt dann vielleicht die Hoffnungslosigkeit.
und die blödsinnige Zeitungswirtschaft unsrer Tage hat aufgehört,
denn zu cmnvneireu ist nichts mehr, und die Fälschung der öffent¬
lichen Meinung im Dienste bestimmter Interessengruppen ist un¬
möglich geworden, aber auch sonst ist der Druck sehr aus der
Mode gekommen: die Röllchen der Phonographen halten die
ausgesprochnen Gedanken fest. Schrift kennt man gar nicht mehr: es ist eine
hervorragende Leistung Ediths, daß sie aus alten Briefen ihrer Urgroßmutter
mit großer Mühe einige Zeilen entziffern kann. Selbst Schreibmaschinen
sind veraltet.
Die Häuser sind, abgesehen von den großen, die öffentlichen Zwecken
dienen, Familienhäuser im Villenstil. Sie sind von märchenhafter Reinlichkeit
und Gesundheit; das ist, abgesehen von dem häufigen Wechsel der Wüsche und
der Kleidung, der Teppiche, Gardinen und Portieren, namentlich die Folge
des Umstandes, daß jede Thätigkeit, die irgend etwas unangenehmes an sich
hatte, längst verschwunden ist. Als alle in gewissen Lehrjahren alle Arbeiten
verrichten mußten, und als man zum Beispiel zum Kloakenreinigeu höchstens
unter der Bedingung noch einen Erwachsenen gefunden hätte, daß er für seine
viertausend Dollars nur eine Stunde im Jahre solche Arbeit zu verrichten
brauche, hatten Chemie und Technik sehr rasch dafür gesorgt, die Abfallwässer
absolut geruchlos zu machen, die Fäkalien durch selbstthätige mechanische Ein¬
richtungen im Hause selbst in eine Form und Verpackung zu bringen, daß die
weitere Handhabung von jeder Unannehmlichkeit befreit war.
Auch sonst ist natürlich alles mögliche für die öffentliche Gesundheitspflege
gethan. Kraft, Licht, Wärme, Elektrizität, kurz die verschiednen Formen der
Energie stehen in jedem Umfange zur Verfügung, seit man nicht nur die enormen
Petroleum- und Kohlenlager an Ort und Stelle in Energie verwandelt, nicht
nur die ungeheure Kraft der Flußläufe und Wasserfälle, sondern sogar die von
Ebbe und Flut in den Dienst der Menschen gezwungen hat. Das Leander-
Natatorium, wo Julian West mit seiner Gesellschaft ein mitternächtliches Bad
nimmt, ist mit seinen ungeheuern Wasserbecken, die von unten elektrisch dnrch-
leuchtet werden, mit seinen gold- und marmorstrahlenden Räumen feenhaft,
obgleich es sich um eines der ältern Bäder handelt, das die Bostoner den
modernen Gebäuden dieser Art gegenüber für ziemlich untergeordnet halten.
Die Aufgabe des Arztes ist sehr erleichtert worden dadurch, daß fast alle ge-
sundheitsfeiudlicheu Arbeits- und Lebensbedingungen verschwunden und die
Einsicht in medizinische und gesundheitliche Fragen bei der Bildung aller
allgemein verbreitet ist. Kurz: alles hat sich gewaltig umgestaltet.
Nur eins findet West bei seinen Streifereien unverändert: inmitten eines
wundervollen Parkes erhebt sich eine der schmutzigen stinkiger Mietkasernen,
wie sie am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts im Norden Bostons von
den Großkapitalisten fiir Arbeiter gebaut wurden. Über dem Portale steht in
goldnen Buchstaben die Inschrift: „Diese Wohnung der Grausamkeit wird er¬
halten allen kommenden Geschlechtern zu warnender Erinnerung an die Herr¬
schaft der Reichen." In der Nähe steht Hnntingtons weltberühmte Gruppe
zu Ehren der wirtschaftlichen Gleichheit: die Streiker. Rücken gegen Rücken
stehen drei Männer in der Arbeiterkleidung des neunzehnten Jahrhnnders, vor
ihnen liegen weggeworfne Werkzeuge am Boden, in ihren Gesichtern drückt
jeder Muskel todentschlossene, verstockte Weigerung aus; über die Weiber zu
ihren Füßen mit hungernden Kindern im Arm sehen sie hinweg, das Auge
bohrend auf den Feind in der Ferne gerichtet. West wird mächtig ergriffen
von dem genialen, in unvergleichlicher Lebenswahrheit dastehenden Werke des
großen Bildhauers, wundert sich aber doch, daß man gerade Streiker, die un¬
gebildetsten und beschränktesten seiner frühern Zeitgenossen als Vertreter der
großen Idee darstellt, die dem neuen Gemeinwesen zu Grunde liegt, und die
die Wurzel des allgemeinen Überflusses, des üppigen Volkswohlstands ist. Er
meint, diese Leute hätten doch gar keine Ahnung gehabt von dem nun er¬
reichten Ziele, sie hätten gekämpft um ein paar Cents höhern Lohn, um einige
Minuten kürzere Arbeitszeit, oft sogar nur um die Wiederciustellung eines be¬
freundeten oder um die Entlassung eines mißliebigen Werkführers. Das ist
ganz richtig, meint Dr. Lende, aber die Milizen von Concord und Lexington
wußten im Jahre 1775 auch noch nicht, daß sie ihre Gewehre gegen die
monarchische Idee richtete», auch der dritte Stand in Frankreich wußte uicht,
als er 1789 in den Konvent einzog, daß sein Weg über die Trümmer eines
Thrones führen würde, und als die Bahnbrecher der englischen Freiheit be¬
gannen, sich dem Willen Karls des Ersten zu widersetzen, sahen sie ebenso
wenig voraus, daß sie gezwungen sein würden, ihm den Kopf abzuschlagen,
um deu ihrigen durchzusetzen. Wir ehren in ihnen die Vorläufer, die ersten
Märtyrer der Gesellschaftsarbeit und der wirtschaftlichen Gleichheit, sie waren
größere Helden als irgend ein Soldat, der in die Schlacht zog unter schmet¬
ternden Fanfaren und getragen von der Begeisterung seines Landes, denn diese
fochten mit Ruhmlosigkeit und Verachtung bedeckt, sie wußten, daß ihr Miß-
gefehlet und ihre Niederlage allgemein bejauchzt werden würde; sie fochten zu¬
nächst für sich und ihre Nächsten, und doch kämpften sie den Kampf der Mensch¬
lichkeit und der Nachwelt. Sie richteten ihre Streiche, so gut sie konnten, und
während noch niemand anders einen Streich wagte gegen das wirtschaftliche
System, das die Welt bei der Gurgel hatte. Dafür ehren wir sie und bringen
unsre Kinder hierher, damit sie in Dankbarkeit die rauhbeschnhten Füße derer
küssen können, die für uns den Weg bahnten, die wie Winkelried der Freiheit
eine Gasse machten und starben.
Die neue Gesellschaftsordnung wägt Bellamh gegen die alte mit ihrem
»»begrenzten Privateige»t»msrecht an der Oberfläche der Erde »ut allen ihren
Hilfsquellen, bei der Kauf fast die ausschließliche Beziehung der Einzelnen
unter einander und die Grundlage aller Erzeugung und Verteilung der Güter
war, in der Weise gegen einander ab, daß er Dr. Leete und Julian West an
einem Examen, das reifere Schüler und Schülerinnen über ökonomische Fragen
in der Arlingtonschule ablegen, elektrvskopisch teilnehmen, und daß er sie ferner
über ein Buch sprechen läßt, das ein gewisser Kenloe kurz nach dem Siege
der Revolution, also zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat.
Die Prediger nämlich, die Lehrer, die Schriftsteller, die gegen die Umwälzung
gepredigt, gelehrt und geschrieben hatten, waren nun am lautesten in ihrem
Lobe und wünschten nichts so sehr, als daß ihre frühere Weisheit in Vergessen¬
heit geraten möchte. Kenloe aber wollte in seinem harten Gerechtigkeitssinn
nicht zulassen, daß sie vergessen würde, und so hat er sich denn die Mühe
gemacht, aus Predigtsammlnngen, wissenschaftlichen Werken, Parlamentsberichten
alles zu sammeln, was man gegen den Grundsatz der wirtschaftlichen Gleich¬
heit eingewandt hatte, und zwar boshafterweise mit genauen Quellenangaben,
mit Daten, Belegen und Namen der Gegner. Als das Buch fertig war, nannte
er es das Buch der Blinden.
In der Arlingtonschule wird die alte Wirtschaftsordnung der Kürze wegen
immer das „Profitsystem" oder der „Privatkapitalismus" genannt. Daß man
das Eigentumsrecht abgeschafft habe, wird bestritten, es wird vielmehr be¬
hauptet, daß die große Umwälzung das Eigentum gerade vor den Privat¬
monopolen der großen Aufhänger geschützt habe. Die an West gerichtete Frage:
Sind ein unbegrenzter Besitz an Kunstwerken, Einrichtnngsgegenständen, Büchern,
Schriften usw. und ein jährliches, unbedingt sichres Einkommen von dreißig-
tausend Mark kein Eigentum? kann ja der junge Herr auch nicht gut mit
„Nein" beantworten. Die Schüler und Schülerinnen überzeugen nun West,
von dessen Zuhörerschaft sie keine Ahnung haben, auch theoretisch von der
unendlichen Überlegenheit der neuen Ordnung. Er erkennt, wie der Geschäfts¬
nutzen den Konsum verkrüppeln und allmählich eine todbringende Kluft zwischen
Produktion und Konsum erzeugen mußte, begreift, was eigentlich schon der
Ausdruck „Überproduktion" für ein Unsinn gewesen ist, wie der Wettbewerb
UM die Gunst der Käufer nichts befördert hat als Niedertracht, Falschheit
und Lüge, die das einzige, aber in ungeheuern Massen verbrauchte Schmieröl
gewesen sind, womit man die Wirtschastsmaschine in Gang hielt, daß das
„Profitsystem" allein Schuld darau gewesen ist, daß die wirtschaftliche Lage
der Menschheit durch die Erfindungen, die doch infolge der unendlichen Ver¬
vielfältigung der Produktionskraft nach allen Regeln des gesunden Menschen¬
verstandes jeden Mangel völlig von der Erde hätte verbannen müssen, nur
eine kleine, kaum bemerkbare, wenn überhaupt eine Verbesserung erfahren hat.
Die Frage, ob Schutzzoll oder Freihandel, ist nur ein Kapitalistenstreit
gewesen, denn mindestens neun Zehnteln jedes Kulturvolks konnte es ganz gleich-
giltig sein, ob sie nur für einheimische oder auch für auswärtige Kapitalisten
frohnten mußten, und für den Wert, den der Ausfuhrhandel für die Völker hatte,
findet ein weiblicher Zögling der Arlingtvnschule, namens Helene, folgende»
drastischen Vergleich: Der Kampf um die fremden Märkte war im Grunde nur
ein Wettrudern sklavenbemannter Galeeren um einen Preis, den die Besitzer
behielten; die gewinnende Galeere, die siegreiche Mannschaft hatte es wohl am
schlechtesten dabei, denn vermutlich war sie am blutigsten gepeitscht worden.
Die gesamte Kritik des „Prositsystems" wird in das Gleichnis vom
Wasserbecken zusammengefaßt. Die Kapitalisten werden mit Leuten verglichen,
die alle Wasserquellen des Landes an sich gebracht haben, das Wasser steht
dabei für die Gesamtheit aller Güter. Durch den Durst haben sie die ganze
Bevölkerung gezwungen, das Brunnengraben, Quellensuchen, Wasserträger nur
noch in ihrem Dienste zu thun und alles Wasser in ein großes Sammelbecken
abzuliefern, den „Markt." Für jeden Eimer Wasser, den sie abliefern, be¬
kommen sie einen Pfennig, und für jeden Eimer Wasser, den sie holen, um
ihren Durst zu löschen, müssen sie zwei Pfennige bezahlen. Die Folgen sind
unvermeidlich: das Volk, das doch alles Wasser selbst liefert, muß verdursten,
weil zu viel Wasser da ist. Das wirkliche, innere Wesen von „Überproduktion,"
„Übervölkerung," „Arbeitsnot," „Krisis" wird sehr hübsch und deutlich ge¬
zeigt, ebenso aber die völlige Haltlosigkeit dessen nachgewiesen, was die von
den „Herren des Wasserbeckens," den Kapitalisten abhängigen „falschen Pro¬
pheten" (die ganze Parabel ist im Bibelton gehalten) in deren Auftrag über
diese „Probleme" lehren. — Schließlich droht Mord und Totschlag, bis die
Umstürzler l>AÜt,g,t.c>r8) kommen und dein Volke den Rat geben: Wählt zuver¬
lässige Männer unter euch, die eure Arbeit ordnen, die aber nicht eure Herren
sind wie die Kapitalisten, sondern eure Brüder und Beamten, die euer»
Willen thun, sie sollen auch keinen Profit haben, sondern jeder gleichen An¬
teil am Wasser wie ihr andern. Das thun die Durstigen, „und der Segen
Gottes ruht auf dem Lande für immer."
In Kenloes Buch werden auch der Malthusianische Einwand und
der Einwand des mangelnde» Ansporns abgefertigt. Die Blinde» hatten
eingewandt, daß sowohl die Peitsche, die die Massen an ihre Arbeit trieb: der
stets gegenwärtige Druck, die drohende Furcht vor Mangel, als auch der
Anreiz zu immer weiterer Produktion, der in dem Wunsche der Reichen lag,
immer reicher zu werden, unentbehrlich wären. Kein volkswirtschaftliches
System kann aber schlechter sein als eins, das nur durch den ewigen
Hunger des Volks in Gang gehalten wird. Daß die Reichen weiter arbeiten,
um noch reicher zu werden, ist kein Vorteil, sondern ein weiterer Nachteil,
denn reich wurde man nicht durch starke Gütererzeugung, sondern durch An¬
eignung der durch andre erzeugten Güter; daß mau andrer Leute Produkte
um sich raffte, daß mau ihren Unternehmungen ein Bein stellte, das allein
waren die leichten, schnell zum Ziel führenden, königlichen Wege zum Reichtum,
und dadurch konnte der Gesamtwohlstand natürlich nicht um das mindeste
erhöht werden. Bei der wirtschaftlichen Gleichheit stellte sich bald heraus, daß
Selbstachtung, Anspruch auf die Achtung andrer, Stolz auf Leistungen, Ehrgeiz
nach Rang und Führerschaft, kurz, die innern Antriebe viel wirksamer waren. Dazu
kam die Kontrolle der Mitarbeiter, die Einzelne, denen die Faulheit angeboren war,
viel wirksamer als die Kontrolle bezahlter Aufseher zu dem nötigen Maß von Arbeit
zwang. „Früher war der Unternehmer der Feind aller, jetzt betrügt der Faule
nicht ihn, sondern jeden Mitarbeiter, und es wäre immer noch besser, sich
gleich aufzuhängen, als in den Ruf eiues Drückebergers zu kommen." Von
Malthus, der den Armen als den einzigen Weg, das Verhungern zu ver¬
meiden, empfohlen habe, nicht geboren zu werden, wird gesagt, daß der alte
Bursche der einzige nnter der ganzen Blase gewesen sei, der das „Profitshstem"
bis in die Wurzel erkannt und deshalb auch eingesehen habe, daß für diese
Wirtschaftsordnung und für die Menschheit nicht gleichzeitig Platz auf dieser
Erde sei. Nun habe er aber das „Profitshstem" als eine gottverorduete
Einrichtung verehrt, und so habe in seinem Geist auch kein Zweifel darüber
sein können, daß sich die Menschheit von der Erde wegzuscheren habe. Er habe
ans der Erde aus Gutherzigkeit eine Pestflagge gehißt als Warnung für alle
Seelen im Weltall, etwa auf diesem Planeten zu landen. Ohne das „Profit¬
system" ist aber keine Gefahr vorhanden, daß Mangel entstehen könnte: schon
Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Produktion praktisch nur dnrch
den Konsum beschränkt. Schon die Produktion jener Tage, verkrüppelt und
gelähmt, wie sie durch den Privatkapitalismus war, hätte das vielfache von
dem leisten können, was sie leistete. Den damaligen Volkswirtschaftern schon
war es eine Binsenwahrheit (trui8in), daß einer der Kulturstaaten allein den
Bedarf der ganzen Welt hätte decken können. Und daß nunmehr die Frage
des Kinderkriegens (vliilä do^ring) nicht mehr ausschließlich von dem Geschlecht
geregelt wird, das die Kiuder nicht kriegt Mo non etülcl bökU'inA fox), daß
alle nunmehr so leben, wie früher die sogenannten bessern Klassen lebte», hat
die Erscheinungen allgemein gemacht, die man innerhalb dieser Klassen schon
immer und überall beobachtet hatte: die Auswahl unter einer Fülle mannig¬
faltigster Erholungen und Genüsse, Sport und Gymnastik, die vielen geistigen
Interessen und Bethätigungen aller im Verein mit der materiellen Unab¬
hängigkeit der Frau und der daraus folgenden Rücksicht ans sie und ihr Ver¬
langen, sich auch selbst ausleben zu können, erhöhen die Qualität der Ge-
bornen, vermindern aber die Anzahl der Geburten, während die natürlichen
Triebe der Geschlechtsliebe, des unbewußten Wunsches der Mutterschaft selbst¬
verständlich immer stark genng bleiben, um die Erhaltung des Menschengeschlechts
unbedingt sicher zu stellen.
Über den Gang der Ereignisse, darüber, wie sich der große Umschwung
vollzogen hat, belehrt Dr, Leete seinen jungen Freund an der Hand von
Storivts Geschichte der großen Umwälzung. Den Beginn der Revolution
setzt dieser Historiker auf den 4. Juli 1776 fest, denn schon die Einleitung
zur Unabhängigkeitserklärung habe das gleiche Recht aller auf Leben, Freiheit
und Glück, damit also, wie immer klarer geworden sei, in rues auch die
wirtschaftliche Gleichheit aller verlangt. Hundert Jahre lang sei das Volk
allerdings wie hypnotisirt gewesen, ja es habe sich wirklich eingebildet, daß
sich Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit aufrecht erhalten lasse, und die
Worte Gleichheit und Freiheit nur auf politische Formen bezogen. Bald aber
führten die ungeheuerlichen Wucherungen des Privatkapitals dazu, daß die
Arbeiter Amerikas den Vorsprung einbüßten, den sie bis dahin vor den
Arbeitern der alten Länder gehabt hatten. Amerika, das über die ganze Welt
berühmt gewesen war als ein Land der guten Gelegenheiten, war das Land
der Monopole geworden, die Lage der Arbeiter war Anfang der siebziger
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts schon so gedrückt, daß Amerika export¬
fähig wurde, daß die amerikanischen Kapitalisten mit ihren Lohnsklaven (si-los
MUM) gegen die englischen, belgischen und deutschen in Wettbewerb treten
konnten. Die Farmer sahen sich um dieselbe Zeit in fürchterlicher Weise von
dem Kapital ausgesogen und schon den Tag herannahen, wo ihre Lage ärger
sein würde, als die der Kolonen des kaiserlichen Rom. Da besinnt sich das
Volk, daß es im allgemeinen Stimmrecht die unfehlbare Waffe hat, sich zu
befreien. Zuerst geht es sehr langsam, Wahlniederlage folgt ans Wahlnieder¬
lage: immer aufs neue siegt die Macht des Geldes. Das aber ist gerade der
Segen. Die Besten der Nation befürchteten damals gerade, daß die Kapitalisten
Zugeständnisse machen und dadurch den wirtschaftlichen Fortschritt jahrhunderte¬
lang verzögern würden. Nun aber dringt immer tiefer ins Volk die Über¬
zeugung ein, daß keine Teilrefvrm helfe, daß mit nichts andern, auszukommen
sei, als mit der dauernden, wirtschaftlichen Gleichheit aller. Das Tempo der
Entwicklung wird immer mehr beschleunigt, und als zu Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts zuerst die Partei des Umschwungs (rovolutionisw) in den Wahlen
die Mehrheit und damit den Auftrag des Volks erringt, die wirtschaftliche
Gleichheit einzuführen, ist die Übergangsperiode eingeleitet. Der Übergang
vollzieht sich in der Weise, daß die ganzen Vereinigten Staaten langsam und
von oben herab zu einem produzirenden Konsumverein gemacht werden. Alles
vollzieht sich sowohl ohne Gewalt, als auch ohne sonderliche Störung. Weder
das Fallbeil noch der Galgen, noch das Feuer von Exekutionspelotons hat
irgend welchen Anteil an dem Siege der guten Sache.
„Gleichheit" ist der Form nach ein Roman, darf aber, wenn man gerecht
sein will, nicht als Roman beurteilt werden. Als epische Dichtung ist das
Buch ganz wertlos: die eingeführten Menschen interessiren keinen Augenblick,
sie sind nur Mannequins, behängt mit den Ideen Bellamys. Wie er aber die
Möglichkeit der ungeheuern Veränderung glaubhaft macht, seine anschauliche
Schilderung der neuen Zeit und der neuen Menschheit, das steht auf einer
hohen Stufe der Darstellungskuust, und hierin möchte ich den Hauptvorzug des
Buches sehen. Was die sozialistischen Theorien angeht, so ist daran, wie die
eben gegebne Darstellung zeigt, nichts neues. Auch in der Hauptsache, was
nämlich den Weg betrifft, der ins Wunderland führen soll, wiederholt er
eigentlich nur Vorhandues. Auch daß der Verfasser nicht von der Geistlichkeit,
wohl aber von der großen religiösen „Erweckung" (Krsat rsvival) mächtige
Hilfe erwartet, kann ihm weder als besondre Geistesthat noch als eine neue
Entdeckung angerechnet werden. Die Zeichen, daß man sich auf deu sozia¬
listischen Untergrund der Lehre Jesu besinnt und gerade deshalb in diesem
Sinne wieder fromm wird, mehren sich in allen Ländern der Christenheit.
Trotz alledem ist „Gleichheit" ein sehr anregendes und ein sehr lehrreiches
Buch: die Utopisten fangen an, unheimlich gescheit und praktisch zu werden.
Gerade diese unendlich vielen, wohl ausgearbeiteten Einzelheiten, das überlegne
Lächeln, die launige Anmut, womit ein Kolumbusei »ach dem andern auf die
Spitze gestellt wird, siud sehr eindringlich. Die plastische Fülle der Gesichte
wirkt ganz anders als der Vortrag abstrakter Theorien. Hat man sich erst
hineingelesen, so fesselt das Buch trotz seiner nnküustlerischen Komposition oder
vielmehr seiner Kompositionslvsigkeit, trotz mancher Längen und zahlreicher nu-
uötiger Wiederholungen, und man lebt dieses Leben am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts wirklich mit.
Allerdings, wenn mau dann das Buch zuklappt und die letzten Zeitungen
liest, oder wenn das Auge durch das Fenster zufällig auf den Schutzmann an
der nächsten Straßenecke fällt, der vielleicht selber maust oder unbescholtnen
Töchtern des Volks schamlos die Kleider vom Leibe reißt und sie brutaler
Untersuchung preisgiebt, aber trotzdem die Ordnung aufrecht erhält, Thron
und Altar schützt, dann kommt der Rückschlag: es scheint durchaus un¬
möglich, aus den heutigen Zuständen heraus jemals in irgend ein Land
der Liebe und der vernünftigen Regeldetri, zu einem aus dem Wett¬
bewerb unter völlig ehrlichen Bedingungen sich immer neu erzeugenden
adlichen Menschentum, zu einem Zusammenwachsen so feindlicher Begriffe wie
„Staat" und „sreie Persönlichkeit," zu einer wirklichen Herrschaft der Besten,
zu einer wahrhaft demv-aristokratischen Verfassung zu gelangen! Bellamh hat
auch diesen Einwand vorausgesetzt; er beantwortet ihn aber gleich, indem er
seinen Julian West gelegentlich folgendes zum Doktor Leete sagen läßt: „Wenn
Sie je eine Wüsten-- oder Meeres-Fatamorgana gesehen haben, so werden Sie
sich erinnern, daß das Bild am Himmel zwar durchaus klar und deutlich ist,
seine UnWirklichkeit aber doch durch einen Mangel an Einzelheiten, dnrch eine
gewisse Verschwommenheit verrät, da wo es in den Vordergrund übergeht,
auf dem man steht. Wissen Sie, daß zuerst diese neue Gesellschaftsordnung,
deren Zeuge ich auf so seltsame Weise geworden bin, einigermaßen wie eine
Luftspiegelung auf mich wirkte? An sich war es eine genaue, wohlgeordnete
und sehr vernünftige Sache, ich vermochte aber nicht einzusehen, wie das alles
aus den völlig verschiednen Verhältnissen des neunzehnten Jahrhunderts natürlich
hervorgewachsen sein sollte. Heute sehe ich jedoch klar, daß an dem Ausbau
der Gütererzeugung und Verteilung zu einem öffentlichen Geschäft nnr eines
wirklich wunderbar ist: nicht, daß alles so gekommen ist, sondern nur, daß es
so lange gedauert hat, ehe es gekommen ist, daß ein ganzes Volk vernunft-
begabter Wesen sich herbeigelassen hat, noch ein Jahrhundert lang die wirt¬
schaftlichen Sklaven niemand verantwortlicher Herren zu bleiben, nachdem es
in den Besitz der vollkommenen Macht gelangt war, nach Belieben jede ge¬
sellschaftliche Einrichtung abzuändern, die ihm lustig wurde."
an sagt, daß keine Kunst so schwer sei, wie die des Reifens.
Thatsächlich lernt niemand sie aus. Größere Abwechslungen
und Überraschungen aber bietet selbst dem erfahrnen Reisenden
kein Land wie Italien, und vollends dem Unkundigen drängen
sich dort alltäglich ungewohnte Erscheinungen in so mannig¬
faltiger Fülle auf, daß er leicht die Auffassungsfähigkeit verliert,
in Mißmut sich selbst um jeden Genuß betrügt und voller Enttäuschung vor¬
schnell die Heimreise antritt. Da die Zahl der unbefriedigten Jtalienfahrer größer
ist, als man vielleicht glauben mag, und da trotzdem jahraus jahrein der Strom
der Deutschen, die das gelobte Land aufsuchen, immer mehr zunimmt und
anschwillt, so werden einige praktische Winke nicht niiwillkommeu sein, die ich
auis Grund langer und häufiger Reisen in Italien glaube geben zu können.
Die schier unendliche Zahl italienischer Reisebeschreibungen soll durch die
folgende Darstellung nicht um eine neue Nummer vermehrt werden, es soll
nicht die wundervolle Landschaft und die unvergleichliche Kunst des sonnigen
Südens gepriesen werden, sondern diese Zeilen wollen das zu behandeln suchen,
was dem Mensche» nun einmal in seiner irdischen Unvollkommenheit am
nächsten steht: die Leib- und Magenfrage! Fühlt sich der Körper nicht wohl,
so kann auch der Geist nicht mit voller Frische all die zauberhaften Bilder in
sich aufnehmen, die unablässig vor Italien in ihm auftauchen. sorgsame,
wenngleich nicht übertriebne Körperpflege ist die erste Vorbedingung sür einen
guten Verlauf der Reise. Merkwürdig genug, daß so wenig von dieser Körper¬
pflege die Rede ist! Wäre es anders, so könnten nicht so häufig Klagen über
das schlechte Gasthofs- und Wirtshnuslcben Italiens ertönen. Freilich ist es
schwierig, über sie zu sprechen. Die Bedürfnisse und Gewohnheiten sind kaum
auf einem Gebiete verschiedner, als auf dem der .Küche und der häuslichen
Einrichtung. Eine Beschränkung muß deshalb anch ich mir auferlegen. Ich
will nicht die Lebensweise der obersten Tausend oder Zehntausend ins Auge
fassen, für die der vornehmste Luxus gerade gut genug ist, und nicht das
Dasein der Arme« schildern, das in Italien viel eutbehruugsreicher ist als
bei uns, sondern ich wende mich an die große Schar derer, die in ihren Aus¬
gaben eine mittlere Linie einzuhalten genötigt sind, ihre Bildung erweitern
und sich mit offnem Auge und frischem Herzen ganz den herrlichen Genüssen
hingeben wollen, die Kunst und Natur in Italien darbieten.
Daß eine gewisse Kenntnis der Sprache eines Landes eine unerläßliche
Voraussetzung für seine verständnisvolle Bereisung ist, sollte als selbstverständ¬
lich gelten, wird aber immer noch hänfig in dem Irrwahne vernachlässigt, daß
man mit Französisch durchkomme. Gewiß kommt man mit Hilfe des Fran¬
zösischen durch, mir sind sogar Fülle bekannt, wo Reisende von der Lombardei
bis Sizilien lediglich mit Deutsch durchgekommen sind; aber wie viel sie dabei
an feineren Genuß verloren haben, und wie viel unangenehmer und teurer sie
gefahren sind als andre, das weiß jeder, der mit der Landessprache ausgerüstet
Italien bereist hat. In den letzten Jahren ist es auch schon besser geworden;
so weit ich urteilen kann, hat das Erlernen der italienischen Sprache in
Deutschland neuerdings ganz bedeutende Fortschritte gemacht, die man vor einem
Jahrzehnt nicht einmal hätte zu ahnen wagen. Es ist auch nicht schwer, sich
die nötigsten Grundlagen anzueignen, da nur das vornehme Italienisch Schwierig¬
keiten bietet.
Neben diesem ersten Erfordernis möchte ich aber noch ein zweites voran¬
stellen, das mindestens ebenso wichtig ist, nämlich das, die Scheuklappen ge¬
fälligst abzulegen, die wir Deutschen so gern tragen! Nicht vergleichen oder
kleinhcrzig abwägen, ob dies oder jenes daheim besser sei, sondern in dem
Bewußtsein, vor etwas Neuem zu stehen, in den Geist dieses Neuen einzu¬
dringen und es in seiner Eigenart ganz zu erfassen suchen — das ist ein
unerläßliches Gebot der Gerechtigkeit gegen die Fremden und eine unbedingte
Voraussetzung eines vollen Neiseerfolges. streift die deutschen Vorurteile ab
und fühlt mit denen, deren Gäste ihr seid! Und min zur Sache selbst.
Man kann in Italien ziemlich scharf die Grenze zwischen den Fremden¬
hotels und den Gasthöfen der Einheimischen ziehen. In die erster» geht kein
Italiener, vor den letztern hat der unkundige Fremde eine gewisse Scheu, denkt
an die romantischen Schauer- und Räubergeschichte,,, die ihm einst von der
Amme erzählt worden sind, oder fürchtet sich doch vor weniger gefährlichen, aber
gleichwohl die Nachtruhe störenden kleinen Feinden und vor der sprichwört¬
lichen Unsauberkeit südländischer Wirtschaft. Die Bedenken sind in der Regel
unbegründet. Zwar wird der italienische alver^o kaum jemals einen Fahr¬
stuhl besitzen, und gewiß ist die Tapete an den Wänden nicht immer zweifels¬
ohne, und manche abgelegne Räumlichkeit uicht so, wie man sie zu haben
wünscht. Aber was will das besagen gegenüber den großen Vorzügen! Im
Fremdenhotel trifft man liebe und unliebe Landsleute, genau so, wie man die
zu Hause auch hat, einige anständige und einige freche Engländer, wie man
sie gleichfalls bei uns überall findet; und das Ganze (trotz einzelner rühm¬
licher Ausnahmen) umrahmt von einem Haufen mehr oder weniger unver¬
schämter und unaufmerksamer Kellner aller Nationen, wie man sie ebenfalls
zur Genüge aus Deutschland kennt; im übrigen ist man. wenn man kein
Krösus ist, Nummer und bekommt von Landesbrauch und Landessitte nichts zu
sehen. Der Fremde dagegen, der den albsrZo aufsucht, wird mit ausgezeichneter
Höflichkeit und Rücksicht behandelt, die Verpflegung ist vorzüglich, das Bett
sauber und groß, der ganze Aufenthalt behaglich und gemütlich, und vor allem,
man ist mitten in das Leben und Treiben dieses zartsinnigen schönen Volkes
hineinversetzt.
Die Ausstattung ist nie prunkend, wird aber bei den bessern Gasthäusern
meist als ausreichend zu betrachten sein und ist teilweise sogar sehr gut. Ge¬
fällt einem etwas nicht, z. B. das Tischtuch, so braucht man nur um ein
andres zu bitten, um sofort befriedigt zu werden; doch wird die Tafel oft
genug mit aller denkbaren Liebe und Sorgfalt hergerichtet. Wirkliche Un¬
sauberkeit herrscht bloß in den kleinen Osterien (Weinschänken), bei denen man
nie vergessen darf, daß sie in der Rangstufe unsern gewöhnlichen Branntwein¬
kneipen entsprechen und von den wohlhabender» Ständen der Italiener nicht
besucht werden, und daß wir lediglich des köstlichen unverfälschten Weines
wegen hingehen, der dort meist zu haben ist.
Notwendig muß man, der Landessitte entsprechend, sich bei allem vorher
nach dem Preise erkundigen; sonst wird man für einen Dummen gehalten, der
mit aller Gewalt übermäßig viel Geld los werden will, und man wird sich
nicht zu wundern brauchen, wenn der Wirt mit liebenswürdiger sachkundiger
Miene diesen augenscheinlichen Wunsch des Fremden zu erfüllen sucht. Im
Gegensatz zu unserm Brauch wird die Frage nach dem Preis als etwas selbst¬
verständliches aufgenommen und demgemäß beantwortet. Mit der ersten Forde¬
rung giebt man sich, namentlich in kleinern Orten, nicht zufrieden, sondern
bietet etwas ab; das ooindiuM, das ruhige vergnügte Feilschen bereitet dem
echten Italiener eine so unendlich große Freude, daß man sie ihm Wohl er¬
füllen kann. Sieht man, daß der Zimmerpreis fest ist, so schneidet man jede
Möglichkeit einer Übervorteilung durch die Erklärung ab, daß in dem ge¬
forderten unerhörten Preise aber alles einbegriffen, wtto «zoinxröso, sei, und
demgemäß Licht und 8srvi?lo nicht besonders auf die Rechnung gesetzt werden
dürften. Der Preis für Zimmer, Licht und Bedienung ist in derartigen bessern
italienischen Gasthäusern recht verschieden. In Oberitalien und in Rom zahlt
man meist zwei bis drei Lire (Franken), in Neapel und in zahlreichen kleinern
Städten Mittelitalieus, z. B. in Perugia, anderthalb Lire. In Terrncina hatten
wir, ohne zu handeln, im albsrZo re-no, dem ersten Gasthof des Ortes, nur
eineinviertcl Lire, in Bracciano bei Rom nur eine Lira zu entrichten, und in
beiden Fällen war die Unterkunft ganz vortrefflich.
Bleibt man für längere Zeit in einer Stadt, so thut man auch gut,
wenn man sich ein oder mehrere möblirte Zimmer mietet. Hierbei ist natürlich
Vorsicht geboten, man wird sich die Vermieter anzusehen und während der
Wintermonate namentlich auf das Vorhandensein von Sonnenschein und
Teppichen zu achten haben. Die Preisschwankungen sind hier noch größer,
als in den g.1bsrg'tu; man wird auf ein Zimmer monatlich dreißig bis achtzig
Lire zu rechnen haben.
In Süditalien ist es Sitte, daß man sich, selbst wenn man nur einen
oder zwei Tage zu verweilen gedenkt, sofort Pensionspreis ausbedinge. Im
altberühmten, jetzt sehr vernachlässigten Künstlerheim, albsi-M act fois zu Pom¬
peji beträgt die Pension viereinhalb Lire,*) ein besonders niedriger Satz, in der
Lunci zu Amalfi sieben bis acht Lire, in Salerno gleichfalls acht Lire, und
in dem durch Scheffels Dichtung und zahlreiche deutsche Künstler geheiligten
Pagano zu Capri sechs Lire, für Künstler nur fünf Lire oder auch — gar
nichts! Man erzählt, daß der alte Pagano auf dem Sterbebette seinen Söhnen
das Versprechen abgenommen habe, das Haus auch zukünftig stets in der
gleichen einfachen, streng zuverlässigem Weise zu führen, durch die er zu Ruhm
und Ansehen gelangt sei; und die Söhne haben trotz der Verführung, die bei
dem unausgesetzt wachsenden Verkehr häufig genug an sie herantrat, ihr Ver¬
sprechen treu gehalten. In der belebtesten Reisezeit ist es allerdings im Pagano
oft dermaßen überfüllt, daß die Behaglichkeit schwindet, und der Besuch abzu¬
raten ist. Aber im übrigen bleibt dieser ehrwürdige Gasthof noch immer ein
Aufenthaltsort, zu dem man stets mit Wonne zurückkehrt. Die meisten Schlaf¬
zimmer befinden sich in kleinen Häuschen mit flachen Dächern und Balkonen,
die sich um einen durch prächtige Palmen ausgezeichneten Garten gruppiren
und zum Teil durch Brücken mit einander verbunden sind; ihre Einrichtung
ist so, wie ich sie oben skizzirt habe, einfach und sauber. Gespeist wird in
einem großen Saale des Hauptgebäudes, der von deutschen Künstlern unter
Leitung von Heinz Hoffmeister im Jahre 1885 mit Fresken ausgeschmückt ist.
Für den Pensionspreis von sechs Lire erhielten wir hier in der Neujahrszeit
außer Zimmer, Licht und Bedienung des Morgens Kaffee, Semmeln, Butter
und zwei Eier; des Mittags zwölf Uhr eine Loki^lors, bestehend in einem
Fleischgericht, einer Eierspeise, südländischen Früchten, einer Tasse Kaffee und
einem Liter vorzüglichen Rotweins; und des Abends sechs Uhr die Hauptmahl¬
zeit: Suppe, Fisch oder dergleichen, Gemüse mit Beilage, Braten, süße Speise,
Käse, Früchte (Apfelsinen, Feigen, Nüsse, Maronen), eine Tasse Kaffee und
wieder einen Liter Rotwein. Die Zubereitung der Speisen war nicht ersten
Ranges, aber doch recht gut. Da allein eine Flasche des Weines in Deutsch¬
land etwa drei Mark kosten würde, so erhält man nach unsern Begriffen
lediglich an Wein mehr geliefert, als der Preis für die gesamte Unterkunft
und Beköstigung ausmacht. Damit aber nicht genug! Kann man, wie es
wohl meistens der Fall sein wird, an der 0c>1l32ion6 wegen eines Ausflugs
nicht teil nehmen, so giebt der Wirt auf vorherige Verabredung eine reichliche
Zehrung auf den Weg, ohne hierfür etwas besondres zu berechnen. So er-
hielten wir in Capri, aber auch in Salerno, Amalfi usw. stets ein sauberes
Päckchen mit gutem Fleisch, Käse, Brot, Orangen und eine Flasche Wein als
Frühstück. Ja der Gedanke, daß der Wirt für den bedungnen Preis voll¬
kommen für das äußere Wohl seines Gastes zu sorgen habe, wird so weit
durchgeführt, daß einem mir bekannten namhaften Berliner Künstler, als er
zwischen voll^ioiuz und xrguM in der am Hafen liegenden suevursiils des
Pagano mit Freunden einen Nachmittagsschoppen getrunken hatte, die Annahme
einer Bezahlung hierfür rundweg abgelehnt wurde, mit dem Bemerken, daß er
ja in Pension sei.
In Nord- und Mittelitalien und auch in Neapel wird es vom Wirt in
der Regel nicht vorausgesetzt, daß man, wenn man bei ihm nächtigt, Kaffee
oder sonst eine Mahlzeit bei ihm einnimmt. Die hierdurch ermöglichte Un-
gebundenheit ist bei der Größe der Hauptstädte und bei der Fülle ihrer Sehens¬
würdigkeiten sehr angenehm; man ist durch keinerlei Rücksichten gezwungen,
sich Unbequemlichkeiten in der Ausführung seines Tagesplans oder im Genuß
plötzlich auftauchender Vorteile aufzuerlegen. Man verkehrt vielmehr in den
zahlreichen Cafvs und Wirtshäusern, den sogenannten Trattorien, wo man nach
der Karte je nach Bedürfnis, Laune und Geldbeutel speisen und trinken kann.
Alles wird in ihnen einzeln berechnet; bietet sich hierdurch für die Kellner
eine herrliche Gelegenheit, den Landesunkundigen zu betrügen, und stimmte
das Konto in den ersten Wochen meines italienischen Aufenthalts nur aus¬
nahmsweise, so habe ich später niemals mehr zu Klagen Anlaß gehabt. Die
in Deutschland sehr beliebte Einrichtung, für einen festen Preis eine bestimmte
Anzahl von Gängen zu liefern, ist in Italien (wenn man von den Hotels
absieht) nicht recht verbreitet; unter anderen ist sie in Genua, Siena und
Florenz zu treffen, wo man für eine verhältnismäßig geringe Summe (andert¬
halb bis vier Lire) eine gute Reihenfolge der ausgezeichnetsten Speisen erhält.
Das einzelne Fleisch- oder Fischgericht wird mit sechzig bis hundertzwanzig
Centesimi berechnet (meist siebzig bis achtzig Centesimi), das Gemüse mit
dreißig bis sechzig, meist vierzig Centesimi, der Nachtisch mit dreißig bis
vierzig Centesimi. Das Brötchen kostet fünf Centesimi. An Trinkgeld giebt
man fünf bis zehn Prozent der verbrauchten Summe. Eine große und über¬
raschende Annehmlichkeit dieser Wirtschaften besteht darin, daß man sich so¬
gleich bei der Bestellung von der Güte der Fische oder des Fleisches über¬
zeugen kann; der Kellner bringt auf Wunsch bereitwillig die rohen, unbereiteteu
Stücke heran und nimmt ebenso Speisen, die in der Küche verdorben oder
mißraten find, auf Verlangen des Gastes ohne weiteres zurück. Die äußere
Einrichtung und Ausstattung ist natürlich recht verschieden; in den Trattorien
von Labö in Genua, Boncicmi in Florenz, Le Venete in Rom und andern
werden selbst die in Bezug aus Geschmack und Sauberkeit verwöhntesten deutschen
Damen sich wohl und behaglich fühlen. Daneben trifft man Trattorien, die
hinsichtlich der Reinlichkeit gleichfalls zu Klagen keinen Anlaß bieten, aber sich
einen noch ursprünglichem nationalen Charakter bewahrt haben. Wie gemütlich
sitzt es sich z. B. bei Tito Costa in Genua, wo in der Mitte der gewölbten
Halle hinter einem erhöhten Katheder der Direttore der Wirtschaft sitzt, und
rings um ihn die köstlichsten, noch unbereiteten Gemüse. Geflügel und Deli¬
katessen aller Art in südlicher Farbenpracht höchst geschmackvoll und eigenartig
angeordnet zur Auswahl und Bestellung bereit liegen. An solchen Orten ist
es eine Kunst, kein Feinschmecker zu werden. Andre Trattorien sind einfacher
und poesieloser. Immer aber wird man zuvorkommender Aufnahme und
liebenswürdiger Behandlung gewiß sein. Eine Ausnahme machen lediglich
solche riswrkMi, die für den Fremdenfang bestimmt und demgemäß von un¬
kundigen Fremden überfüllt sind.
Früh geht man in das Caso; bei guter Jahreszeit nimmt man hier
seine Tasse zu sich (Preis 15 oder 20 Centestmi), dazu etwas Gebäck, vor der
Thür an einem Marmortischchen auf offnem Markte und beginnt so das süd¬
liche Bummelleben in höchst stimmungsvoller, behaglicher Weise gleich am
Morgen. Weilt man längere Zeit in einer Stadt, und hat man in ihr
irgendwelche Geschäfte, so wird man sich der Abkürzung halber von seineu
Wirtsleuten heißes Wasser und Semmeln geben lassen und sich selbst Kakao
bereiten. Auch des Abends kann man sehr wohl in seiner Stube speisen, die
dienstbeflissene Wirtin besorgt gern kalte Küche und einen schilfnmflochtenen
Fiasko Wem. Um etwas warmes zu sich zu nehmen, wird man aber mittags
und abends in eine Trattvrie gehen, wobei man je nach Tagesplan, Ver¬
hältnissen und Gesellschaft den Schwerpunkt mehr auf die Mittags- oder die
Abendmahlzeit legen wird. Auf diese Verschiedenheiten kann im folgenden
selbstverständlich keine Rücksicht genommen werden, es sei deshalb die italienische
Küche in deren einzelnen Teilen nach der üblichen Anordnung größerer Mahl¬
zeiten beschrieben.
Von den Suppen (öuxxg,, nimostra) habe ich keinen günstigen Eindruck
erhalten. Die Fleischbrühen sind fast- und kraftlos und werden vom Italiener
nur selten begehrt; eher läßt sich noch den Gemüsesuppen ein gewisser Ge¬
schmack abgewinnen, zumal wenn man nach Landessitte Parmesankäse darauf
streut. Für einzelne, nicht für jeden, bilden Fischsuppen (allg. mai'inÄjg,) eine
Delikatesse. Als Eingangsgericht wählt aber der Italiener vorzugsweise seinen
geliebte» Risotto (Reisbrei) oder Maccheroni. Die Mannigfaltigkeit, die er
bei der Herstellung dieser Gerichte entfaltet, ist erstaunlich. Man bereitet die
Nudeln in den verschiedensten Größen und Formen und bezeichnet sie darnach
spÄAUstti, vöriuivölli u. ä. Sie werden entweder einfach in Wasser gekocht
(dazu dann Parmesankäse) oder mit Tomaten (ick su^o, con poiriidoro) an¬
gerichtet. Eine große Feinheit sind dabei als Zuthat das Innere des Huhns
(Leber, Herz) und die Hahnenknmme. Reis oder Maecheroni, pastetenartig ge¬
backen, heißen Timballo ti Riso usw. Die niedlichen mit Parmesankäse ge¬
füllten Figurennudeln aus Bologna (torwllwi) sind neuerdings vom Handel in
Deutschland eingeführt und geben gleichfalls ein leckeres Vorgericht.
Eine bedeutende Rolle in der Ernährung spielt in dem meerumschlungnen
Lande selbstverständlich das Fischgericht, das der deutscheu Sitte entsprechend
an dieser Stelle erwähnt sei, obwohl es der Italiener gern uach dem Braten
ißt. Ein Besuch des Fischmarktes in Neapel gehört zu den größten Über¬
raschungen. Mit Bewunderung erkennt man hier die unendliche Vielheit der
Formen, die das südliche Wasser gebiert; und in den herrlichsten schönsten
Farben, sogar durchleuchtenden Schmelz gleich, schimmern und glitzern die
Tierchen. Ein besondres und lehrreiches Vergnügen bereitet es, auf antiken
Mosaikfußbödeu und Wandgemälden zu verfolgen, wie die Alten genau dieselben
Fischarten zu speisen pflegten, wie ihre heutigen Nachkommen. Wie denn
überhaupt den jetzigen Italienern und namentlich den Römern trotz allem
politischem Radikalismus ein erstaunlich konservativer Sinn innewohnt; Fuhr¬
wesen und Weiubetrieb stehen in der römischen Campagna noch genau auf
derselben Stufe, die wir z. B. auf Mosaiken in der Kirche Santa Costanza,
dem Grabmal der Tochter Kaiser Konstantins des Großen, vor den Mauern
Roms kennen lernen.
(Schlusz folgt)
er Türkendres! Der Türkendres! Auf allen Zungen saß er, ans
jedem Dachziegel. In Stall und Scheune, am Tisch und im Bett,
auf dem Holzweg und dem Kirchweg, in Flur und Wald, überall
der Türkendres, Wem: eine Großmutter in der Dämmerung die
Zunderschachtel auf den Tisch stellte und nach Herzenslust Feuer
zu schlagen begann, fuhr sie gewiß nach jedem dritten oder vierten
Schlag herum: Wie? der Türkendres? — oder: Ha freilich! der Türkendres!
Und wenn die Hausfrau, Tochter oder Magd auf dem Melkschemel saß und den
Kopf in die Weiche der Kuh drückte, wurde das Milchzischen oft unterbrochen von
einem: Mit dem Türkendres! kann sein! oder von einem: Der Türkendres hats
gesagt! Am Tng reinem die Spatzen ihr Lied auf „Türkendres!", und
nachts hatten die Trüume „Kotzen und Korbe" voll Türkendresen auszuschütten.
Wenn der Wind durch selbige Gegend strich, ward er mit Türkendresen geschwängert,
daß sie aus der Luft purzelten wie Heuschrecken in der Wüste. Aber der leibhaftige
Türkendres war über alle Berge. — Nächste Woche kommt er wieder. — Hundert¬
tausend hätt er. — Er wär wieder nach Wien. — Er hätt einen Juden er¬
schlagen. — Die Müsers-Mndlene hatt er mitnehmen wolln. — Das große Los
soll 'der Türkendres gewonnen Halm. — Das Müsersmädle dacht, sie hätt den
Türkendresen schon an allen vier Zipfeln, die dumme Tautel! — Er bleus mit
dem Teufel. — Ju Wien that er eine Vornehme frein. — Der Türkendres hatt
einen Höllenzwang. — Er käm wieder; in vier Wochen war Hiegabet") mit der
Müscrs-Madlene.'
Das Dörflein konnte nicht wieder zur Ruhe kommen, so war es durch den
Türkendres in Aufregung geraten.
Aber zwei gingen dnrch dieses Geschwirr, als wäre es nichts. Hohen Hauptes
und vollen Herzens hatten sie nicht Raum für Wind und Klatsch. Ein Kleinod
leuchtete ihnen aus der Zukunft entgegen, so funkelnd und prächtig aus dem
Lüuternngsfeuer hervorgegangen, daß die gärende Welt ringsherum in dumpfen
Schatten gestellt wurde. Und es blinkte und blitzte in diese beiden Seelen hinein,
daß sie schier in jubelnder Liebe ineinander gesunken wären. Aber der einen
Seele stand immer noch der Rödersfrieder im Weg, und der andern die
Müsers-Madlene. Und es waren doch eben die Seelen dieser beiden Menschen¬
kinder. Der Glaube an die Reinheit, der die Friederseele erfüllte, konnte sich
noch nicht über die Hohe des Stolzes hinwegsehen: und so ging der Frieder zwar
mit seinem guten Glauben vorläufig uoch in den Gründen spazieren; aber die
Einsiedelei ans der Hohe bestand noch. Und der Glaube an den „Gewinn," der
die Madlenenseele erleuchtete, war noch in jungfräulicher Schamhaftigkeit gefangen
also, daß die Madlene vorläufig die Geduld nicht verlor, sich beileibe aber nicht
dem Frieder ein den Hals warf.
Zeit bringt Rosen. Nun wird es Zeit!
Es war anfangs Oktober. Das ist nun freilich nicht die Zeit der Rose».
Im Mcidlenenherzen waren aber trotzdem die Knospen zum Aufbrechen. Denn
zwischen den stützenden Stengeln der Bescheidenheit, Selbstverleugnung, Geduld
und Hoffnung waren die Rvsentriebe der Liebe zeither kräftiger geworden, und
ihre Knospen harrten nur noch eines Sonnenblickes aus dem Friederauge. Und
in den Herzensgründen des Frieder begann es auch zu blühen, und Duft und
Lerchen- und Nachtigallengesang stieg daraus empor und drang hinauf zur Ein¬
siedelei, daß der Zurückgezogne begann, die verdunkelnden Schlinggewächse aus¬
zuroden.
Ich ho fürgelegt; kannst gezuckt, Madlene! rief der Kleine zur Stubenthür
hinein. Madlene setzte eine» Napf in die Ofenröhre und verfügte sich daun in
den Stall. Die Morgenfütternng fand statt. Der Kleine machte sich mit den
Kälbern zu schaffen, und während des Melkens rief ihm Madlene zu: Wir habn
Heuer zu Pfingsten keine Pfannkuchen gesotten; wie wärs denn zur Kirmes? Sie
ist in drei Wochen.
Freilich! Woh is deun mei sogen?
Es paßt heut grad. Du konnst nachher ein Viertel Weizen einfaß. Es ist
dem Müller lieber, wenn er ihn rechtzeitig bekommt. Denn er mag unsern hübschen
uit mit jedem zusammen mahln.
Woh is denn mei sogen?
Willst du 'n denn, oder soll ich ihn in die Musk Schafs?
'
Mir paßts nit rächt; wollt heut s lang Beet anter.
So will ich in die Musk. Bis zum Kochen bin ich wieder da.
Freilich!
Mit dem Viertel Weizen auf dem Rücken ging Madleue am Hans des
Rödersfrieder vorüber. Der stand ebeu am Fenster und wollte sich nach dem
Wetter umsehen, ob es halte. Denn er hatte heute sein Geld für ein ins Hütten-
Wirtshaus in der Schönau verkauftes Schwein zu holen. Als ihm Madlene ins
Ange fiel, fuhr er mit dem Kopf zurück. Die geht in die Hennsemnühl! Alle¬
weil wollt ich ja auch fort. Da läuft sie mir in meinem Weg rum. Herr Gott
im Himmel!
Frieder hatte sich schon ein Stück Brot eingesteckt; das war der letzte und
wichtigste Akt zur Rüstung über Lund. Sein Vater hatte es auch so gehalten
und dem Frieder einmal gesagt: Jung, das merk dir! Wer ein Stück hausbacken
Brot in der Taschen trägt, hat den Hanssegen bei sich, und dem passirt so leicht
nichts! Frieder war in großer Aufregung. Er fuhr nach dem Brot in der
Tasche — ließ es aber stecken. Er griff nach dem juugeichneu Stock hinter dem
Nhrkcisten — ließ ihn aber doch lehnen. Er nahm die Mütze ab und strich sich
Vor dem kleinen Spiegel das Haar hübsch aus der Stirn — behielt aber die
Mütze in der Hand. Er schob den Fensterschieber zurück und sah noch einmal
nach dem Wetter, aber so, als trug es die Madlene im Korb. Dann flog der
Schieber zu, die Mütze auf den Kopf und der Stock hinter dem Uhrkasten vor,
und der Frieder stand vor der Tischecke, als bete er ein Vaterunser.
Soll ich hinterdrein gehn wie ein stöckischer Esel? Soll ich durchs Feld
Hintenweg ihr voraus elln wie ein schämiger Munk? Ich könnt mein Geld auch
morgen sollt. Herr Gott im Himmel! Ich sags ihr, daß ich mein Geld heut
sollt müßt, und daß ich nichts, gar nichts von ihr gewußt hätt. Hernach mag
sie denkn, was sie will. — Ich geh, Mutter! rief er uoch in die Küche, und
denn flog er durch die Hintere Thür und den Garten. Und dabei raffte er etliche
prächtige, rotwangige Äpfel zu sich, die im fahlen, wirren Herbstgras lagen.
Was hast du gethan, Frieder? Das sind die Äpfel der Jduu! Aber erschreck
nur nicht! sie hat sie für dich fallen lassen. Horch, Frieder, was es für ein Be¬
wandtnis damit hat!
Im Norden, vom Meer umspült, wohnen auch Leute, und vor mehr als
tausend Jahren haben schon ihre Vorfahren da gewohnt. Nach dem Völkerstamm-
baum sind wir mit ihnen verwandt. In jener uralten Zeit kannten die Leute
das Kreuz uoch nicht und beteten zu Göttern und Göttinnen. Im Grund ge¬
nommen war das uicht so dumm, wie viele Leute heut glauben. Denn der ewige,
einige Gott wußte auch damals schon recht gut, daß die Menschheit ihn nun ein¬
mal nicht fassen und verstehen kann, und hat sich von den Deutschen und Nordischen
der alten Zeit die zersplitterte Verehrung gern gefallen lassen. Denn es war
doch eben nur eine Zersplitterung der als Eins unfaßbare» Allgewalt, die in den
Göttern und Göttinnen zum Vorschein kam. Und die Jdun ist eine von den
nordischen Göttinnen. Ihr ist die Hegung und Erhaltung alles Naturlebens an¬
vertraut. Das Wiesen-, Saat- und Waldgrün des Frühlings und Sommers ist
ihr Werk. Die keimbergenden Früchte stehen in ihrer Hut. Neues Naturleben
und Jugend spendet ihre Macht. Drum ging auch die Sage, daß die Himmlischen
ihre Jugend und unvergängliche Schönheit nnr dem Genuß der Äpfel zu verdanken
hätten, die in der Verwahrung der Jdun standen. Und als einmal die Jdun von
einem tückischen Riesen geraubt worden war, begannen die Götter alt und grau
zu werde«. Aber die Jduu wurde wieder zurückgewonnen, und dn war große
Freude im Himmelreich; denn nun waren auch die Äpfel wieder zum Genuß in
Bereitschaft, ° und Jugend und Schönheit begann sich wieder zu entfalten. Der
Raub der Jduu zielt auf den Winter, ihre beglückende Rückkehr auf den Frühling. —
Nun horch, Frieder! Die Herbststürme brechen herein: die Jdun wird schon vom
Riesen gefesselt. Und weil sie 's so gut mit dir meint, hat sie dir eine Hand
voll ihrer schönsten Äpfel aus der Luft herunter, durch die sie der sturmbeschwingte
Riese trägt, in den Garten geworfen, von denen dn freilich steif und fest glaubst, sie seien
an deinen Bäumen gewachsen. Wenn du aufgemerkt hast, Frieder, so weißt du
nun, was für einen Schatz du in der Tasche trägst: Lebensverjüngung, Keime zu
neuen Lebewesen! Bewahre sie ins gebührliche Gehege!
Frieder eilte auf einem Feldpfad den rotblitzenden Vvgelbecrbäumeu am Berg-
"eg zu. Zwischen diesen Bäumen war sie mit dem Verunglückten ausgangs Februar
dahingeflogen, und er hatte gerufen: Madlene! Das sind die Zeugen, die damals
als arme, kahle Leute im Frost gen Himmel starrten. Heute neigen sie ihre Zweige
mit schimmernder Beerenlast. Wie ein Schwall von Segensgrnßen schwebt es über
der rüstig schreitenden Madlene. Und es glühen wieder ihre Wangen, heute
vielleicht vom roten Beercnschimmer über ihr. Oder ist es die Rosenpracht der
Liebe?
Reif zur Ernte! Der Herr der Ernte naht. Halt ein, Madlene! Schon
um dich! Nur noch zehn Schritte hat er zu machen.
Sie hat ihn. erblickt; aber stille stehen kann sie nicht. Fliehen? Das kann
sie nicht, will sie nicht. Er kommt, er kommt! Er ist da! O diese Last auf
dem Rucken! Hinweg mit ihr! Empor, Haupt! Frei, wogende Brust! Umfaßt
ihn, ihr starken Arme, und laßt ihn nimmer wieder! So jubelt es in ihr, »ut
der Jubel null sie zertrümmern. Aber Madlene schreitet still dahin, ohne umzu¬
schauen, ohne sich aufzurichten.
Guten Morgen, Madlene!
Guten Morgen!
Sie gehen neben einander dahin unter dem roten Beerenschimmer — still.
So scigs ihr doch, Frieder, dn hättest nichts von ihr gewußt — gar nichts!
lind du müßtest heute dein Schweinsgeld holen ! Nichts sagt er, der Frieder. Er
muß nicht recht bei Trost sein; denu er lehnt in Gedanken an einer Straßenecke
in Wien und läßt sich ans eiuer plüschbeschlagnen Kutsche heraus vom Türkendresen
eine lange Nase machen. Und dabei schreitet er der Madlene zur Seite, als ge¬
schähe es von Rechts wegen.
Ist dein Bein wieder geheilt?
Ja, Madlene! Wenn ich daran denk! Ach, dn lieber Gott! Wieder die
unbeschreibliche Melodie.
Nun sags ihm, Madlene! An jenem Abend, da dn den Frieder mit ge-
brochnem Bein an der Brust getragen hattest, war es dir zum Bewußtsein ge¬
kommen, daß du ihm mit Leib und Seele angehörst und nimmermehr von ihm
lassen kannst. Und das hast dn ihm sagen wollen. Sags ihm doch, Madlene!
Er weiß es! Ach, er muß es wissen. Soll ichs ihm noch sagen, was er
wissen muß? Und sie schritt neben dem Frieder dahin, als neben dem aus ihrem,
Herzen heransgetrctnen Geheimnis.
Madlene, ich hab manchmal darau gedacht, was du an mir gethan hast.
S war Christenpflicht. Jedwedes andre hales auch gethan.
Die Rede verdroß deu Frieder ein wenig. Es war dem Frieder, als lag er
wieder im Schnee unter der Holzlast mit gebrochnem Bein. Er stellte sich vor,
der Grundel käm. Der Grundel half ihm auch. Er stellte sich vor, der Türkendres
käm, oder die Matthcsensbärbel. oder die Triltschenchristel: jedes von ihnen half
ihm. Er stellte sich vor, wie er dem oder den, gedankt, und wie jedes vou thuen
die That mit Selbstzufriedenheit erzählt und auch ausgeschmückt haben würde. Der
Madlene hatte er bis heute noch nicht gedankt, und sie hatte nie von der Ge¬
schichte erzählt — das wußte er. Es war eben ein Unterschied zwischen der That
der Madlene und der Erfüllung der Christenpflicht. Es wäre eine andre That
gewesen, wenn sie von einer andern Person vollbracht, worden wäre. Das wurde
dem Frieder nun erst klar. Nicht die That hatte den tiefe» Eindruck auf ihn ge¬
macht, sondern das Wesen, an das die That geknüpft war. Daß diese That sich
durch dieses Wesen vollzogen hatte, hatte sie dem Frieder zum Wendepunkt seines
Lebeus erhoben. Er hatte das noch nie so gefühlt. Und plötzlich ging es in ihm
auf wie neues Leben. Vorhin der Gruß von ihr hatte auch anders geklungen
wie aus einem andern Munde. Wie wonnig mußte es sein, wenn all ihr Thun
dir gälte! Herr Gott im Himmel!
In dem Frieder begann es zu finden und zu woge«.
Madleue, ich wollt dich schon lange fragen, ob was dran ist mit dein
Türkendresen?
Er wußte es, daß nichts drum war, und wollte so mir aufräumen, um den
Puukt frei zu bekommen, auf den er zielte. Da blieb Madlene stehen und sah
von der Seite zum Antlitz des Frieder empor und sagte: Wenn du mich das fragst,
so frag ich auch uach der Triltschenchristel, ob was dran wär. Und die Rosen-
pracht war hinweg, und über der blassen Blute des Leides zitterte der Tau, als
sie weiter schritt.
Schweigend gingen sie rede» einander dahin. In der Brust des Frieders
brannte es wie Jener. Er schämte sich, diese Gestalten heraufbeschworen zu
haben. Wie sind sie wieder zu bannen, die schon allzulang im bösen Spiel
Ware»?
Madlene, ich frag uit »nieder so, daß du mir mit deiner Frag vom Hals
bleibst.
Madlene schwieg.
Und nun ging es schweigend ein gut Stück über der Kerbe drüben weiter im
Erbethal abwärts.
Frieder, so ists uit gut. Wenn wir doch lieber heut nit zänen komm» warm!
Schwere Thränen rollten über die blassen Wangen.
Frieder sah es, und es kam über ihn wie auf dem Prvpheteuberg. Madlene!
Madlene! rief er. Ju dem Wald, der sie umgab, hallte es wieder: Madlene!
Madlene!
Plötzlich stand er vor dem Mädchen, daß es still stehen mußte, und erfaßte
ihre Hand. Am Weg hin zog sich ein Rand, mit Moos und grünem Gras ge¬
polstert wie eine Bank. Madlene sank nieder auf den Rand, daß ihr Korb an
eine Gruppe junger Fichten zu lehnen kam, und hielt ihre freie Hand vor die
Augen. Die andre hielt Frieder fest. Ja, Madlene, so ists nit gut! Raus muß
es! Und wenns nit raus will, reiß ich mirs Herz raus!
Madleue zog die Hand, die der Frieder in der seinen hielt, zurück, und dabei
kam es wie Krmupf in diese Hand, daß sie des Frieders Hand nmklnmmerte zu
einem schmerzlichen Empfinden, das ihm auf die Brust zog und machte, daß er
taumelnd der Madlene in den Schoß sank.
Es war am lichten Vormittag. Die Tnnperlen an den Spinnenrttdcrn glitzerten
im Sonnenschein.
Die freie Hand der Madlene war von den Augen gesunken und aus dem
Tragband des Korbes geschlüpft und ruhte dem Frieder im Nacken. Und seine un¬
bändigen Arme umschlangen die teure, bebende Gestalt.
Die dabei freigewordne andre Hand der Madlene war nun auch aus ihrem
Tragband geschlüpft, daß der Korb mit dem Viertel Weizen nur noch der jungen
Jichtengruppe anheimgegeben blieb, und kein Tragband mehr hemmend die Schul¬
tern belastete. Frei! Abgestreift die störende, beengende Last. Abgeschüttelt alle
zurückhaltender Mächte!
Ringsherum brach aus tausend Tautropfen der Abglanz der Sonne. Es
funkelte und blitzte ans Freudenthränen heraus, die die Natur hat für zwei inein¬
ander rinnende brave Menschenseelen.
Ja, im heiligen Wald ist es anders als in dem unheiligen Menschenleben, in
der vermaledeiten Welt. Das Brausen des Waldes ist der Odem der heiligen
Ewigkeit; das Brausen der Menschenzungen ist von Gift geschwängert. Alles Ar¬
senige, das der Mensch in den Wald trägt, muß da verkümmern. Haß, Ver-
lenmdnng, Neid, Mißgunst, Lug und Trug: all dies Gift verliert da seine fort-
zcugende Kraft. Trauer, Angst, Not, Verzweiflung — alles Elend findet dort
Linderung. Frende und Lust verlieren dort ihren gelten Wassertrieb. Ausgleichung
und Frieden wirkt der Odem des Waldes.
Ausgleichung und Frieden, beseligendes Behagen ist eingezogen in den Herzen
der nunmehr wieder neben einander durch den Wald wandernden, in den Herzen
des Frieder und der Madlene.
So wars doch gut, daß uns dieser Tag zusammengeführt hat, Frieder.
Ach, du lieber Gott! Madleue, es warn acht schwere Jahr für uns. Weißes,
als du damals am Freitag vor Pfingsten deinem Vater das Essen in die Maß
brachtest? Von der Stund an konnt ich nimmer von dir lassn.
Frieder, ich auch »it. Da hältst du mich angeguckt, Frieder! Und da wars
über mich kommen!
Und die Maien warn von mir, Madlene.
Ich wußts. Ach. ich Habs gewußt.
Aber von dem andern reden wir nit.
Von dem, das uns blind gemacht hat!
Blind nit! Ach, dn lieber Gott! Ich hab immer gut sehen können. Aber
von dem Gered ist mirs manchmal ganz dumm im Schädel worden.
Es war aus, Frieder! Ganz aus wars. Wenn nit dein Beinbruch kommn
wär, wärs nit wieder gewordn.
Ich weiß 's, Madleue. Ach der Beinbruch war gut. Ich spürs uoch immer.
Wies weh gethan hat, gelte?
Nit! Wies weh gethan hat, nit. Wies hübsch war! Wie dn mich aus¬
gehöhlt hast, Madlene, wars doch grad, als hob mich ein Engel in den Himmel.
'
Ach, Frieder! Es konnt n Stein erbarm. Ich bin selmal erst gscheit lvordn,
was 's wollt besagen.
Was denn, Madlene? Meinst den Beinbruch?
Nit! O, Frieder! Ich Scham mich noch immer.
Weiß nit recht, was du meinst, Madlene.
Ich muß dich doch gar ewig sehr an mein Herz gedrückt Halm.
Der Frieder blieb stehen und holte tief Atem. Er sah der Madlene ins
eggertse Auge und umschlang sie und küßte sie. Und sie wollten gar nicht wieder
von einander lassen. Aber hernach trollten sie doch wieder weiter und redeten noch
mancherlei Gutes und Schönes mit einander. Und eh sich vor der Hennsenmühle
der Frieder von der Madlene trennte, warf er ihr fünf prächtige Äpfel in den
Korb.
Nun sind es doch die Äpfel der Jdnn.
(Fortsetzung folgt)
Das Reichsmarineamt hat seiner
Denkschrift über die Seeinteressen des Deutschen Reichs eine zweite folgen lassen:
„Die Ausgaben für Flotte und Landheer und ihre Stellung im Haushalt der
wichtigsten Großstaaten." Zweck und Gegenstand der „Untersuchung" ist, die An¬
nahme zu widerlegen, daß der bisherige Aufwand des Deutschen Reichs für Heer
und Flotte schon unverhältnismäßig groß sei, die Ausgaben für Kulturzwecke in
nnzulässiger Weise beschränke und die Steuerkraft übermäßig in Anspruch nehme.
Ein zutreffendes Urteil hierüber, meint der Nationalökonom und Statistiker unsrer
Marine, sei nur durch eine zahlenmäßige Untersuchung zu gewinnen, die es möglich
mache, die Höhe der militärischen, insbesondre der Marineausgaben in Deutschland
an dem entsprechenden Aufwand der andern Großstaaten und an den von der
Kriegsflotte zu schützenden Werten zu messen, die finanziellen Leistungen für die
Machtstellung des Landes mit denen für die sonstigen Zwecke des Gemeinlebens
zu vergleichen und die Steuerkasten zu bestimmen, die in den verschiednen Ländern
aus den militärischen Anforderungen erwachsen.
Sehen wir zunächst ab von den zum Vergleich der Marineausgaben mit den
Von der Kriegsflotte zu schützenden Werten gegebnen Zahlen, so sind folgende drei
für die Beurteilung der Kostenfrage außerordentlich wichtige Thatsachen in der
Denkschrift erwiesen:
1. Unsre bisherigen Ausgaben sür die Kriegsflotte steheu hinter denen aller
andern europäischen Großstaaten, mit Ausnahme von Österreich, und hinter denen
der Vereinigten Staaten von Nordamerika zurück. Der Marineaufwand betrug
1890 bis 1397 in Deutschland (mit Pensionen) 703 433 000 Mark, also durch¬
schnittlich im Jahre 37 929 000; in Rußland (ohne Pensionen) 890 455 000 Mark,
also durchschnittlich 111307000 Mark; in Frankreich (mit Pensionen) 1814156000
Mark, also durchschnittlich 226 769 000; in Großbritannien (mit Pensionen)
2 376 420 000 Mark, also durchschnittlich 359427 000. Ferner in der Periode
1890 bis 1896, und zwar überall ohne Pensionen: in Deutschland 570487000
Mark (Durchschuitt: 81493000); in Italien 581375 000 Mark (Durchschnitt:
83054000); in deu Vereinigten Staaten von Nordamerika 866916000 Mark
(Durchschnitt: 123 345 000).
2. Die Aufwendungen für die Landesverteidigung überhaupt, einschließlich der
Ausgaben für die Schuld, sind in Deutschland sehr mäßig gegenüber den andern
Großstaaten, im Verhältnis zur Gesamtheit der „öffentlichen Ausgaben" niedriger,
als irgendwo sonst. Es betrugen 1897/98 in Deutschland alle öffentlichen Aus¬
gaben auf den Kopf der Bevölkerung berechnet: 38 Mark 98 Pfennige, dagegen
die Ausgaben für Landesverteidigung und Schuld: 18 Mark 51 Pfennige, also
47,5 Prozent der Gesamtausgabe. Die entsprechenden Zahlen waren 1897 in
Österreich: 33 Mark 27 Pfennige und 16 Mark 90 Pfennige, also 50.8 Prozent;
1897 in Frankreich: 65 Mark 6 Pfennige und 41 Mark 3 Pfennige, also
63,1 Prozent; 1896/97 in Italien: 36 Mark 73 Pfennige und 26 Mark
27 Pfennige, also 72.6 Prozent; 1896/97 in Großbritannien: 44 Mark 88 Pfennige
und 32 Mark 69 Pfennige, also 72.8 Prozent; 1896/97 in Rußland: 19 Mark
6 Pfennige und 9 Mark 57 Pfennige, also 51,2 Prozent; in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika: 25 Mark 93 Pfennige und 15 Mark 6 Pfennige, also
S3.1 Prozent.
3. Die Belastung der deutschen Bevölkerung durch „öffentliche Abgaben"
— abgesehen von der wesentlich ärmern russischen Bevölkerung— ist geringer,
als in irgend einem der andern europäischen Großstaaten oder in der nordameri-
kanischen Union. Es beliefen sich nämlich, auf den Kopf der Bevölkerung be¬
rechnet, in Deutschland die öffentlichen Ausgaben (wie oben schon gesagt) aus
38 Mark 93 Pfennige und die öffentlichen Abgaben ans 22 Mark 31 Pfennige;
dagegen in Österreich: 33 Mark 27 Pfennige Ausgaben gegen 31 Mark 88 Pfennige
Abgaben: in Frankreich: 65 Mark 66 Pfennige Ausgaben gegen 60 Mark 95 Pfennige
Abgaben; in Italien: 36 Mark 73 Pfennige Ausgaben gegen 32 Mark 36 Pfennige
Abgaben; in Großbritannien: 44 Mark 88 Pfennige Ausgaben gegen 41 Mark
64 Pfennige Abgaben; in Rußland: 19 Mark 6 Pfennige Ausgaben gegen 15 Mark
1 Pfennig Abgaben; in den Vereinigten Staaten von Nordamerika: 25 Mark
93 Pfennige Ausgaben gegen 23 Mark 72 Pfennige Abgaben.
Das sind in der That Zahlen, die nicht nur jedem Gebildeten in Deutschland
bekannt sein sollten, sondern dem ganzen Volk zum Verständnis gebracht werden
müßten. Adolf Wagner hatte nnr zu sehr recht, als er in seinem Flottengutachten
in der „Allgemeinen Zeitung" sagte, man müsse sich nicht einbilden, daß man ein
großes Volk sein, ein großes modernes Gemeinwesen darstellen könne, ohne daß
es etwas ordentliches koste. Das hätten alle andern großen Völker längst gelernt,
nur wir leider immer noch nicht. Und doch koste es uns weniger als jedes andre,
gerade weil wir „keine unproduktiven Schulden" hätten. Wollten wir im neun¬
zehnten und zwanzigsten Jahrhundert der Welt wieder das jämmerliche Schauspiel
geben, wie im fünfzehnten und sechzehnten? , Wieder keinen „gemeinen Pfennig"
aufbringen, wie zur Zeit der Hussiten- und Türkenkriege, „wo man höhnisch das
»Deutsche Reich grüßen ließ,« wenn es mit Stenerfvrdcrnngen kam?" „Sollten
wir wirklich gar nichts gelernt haben! Dann innre freilich an unsrer Nation zu
verzweifeln. Dann hätten wir ein 1870/71 anch nicht verdient. Es giebt kein
traurigeres Zeichen, als daß keine politische Partei offen wagt, ihren Wählern zu
sagen: im Opfer bringen für das Gemeinwesen liegt die erste Pflicht, aber auch
die beste Kapitalanlage, die ein Volk und jeder einzelne gute Volksgenosse machen
kann. Finanziell haben wir ohne jede wesentliche Schwierigkeit die Macht, eine
Flotte gleich der französischen zu erlangen, eine so bescheidne Verstärkung, wie die
jetzt verlangte, ist finanziell gar kein Objekt." Auch Schäffle, der die augenblick-
liche Finanzlage nicht einmal so rosig ansehen will, sagt in seinem Gutachten aus¬
drücklich: „Die Steuerkraft der Nation erträgt eine Steigerung der Ausgaben für
notwendige Ergänzungen und Verbesserungen der Seestreitkräfte. Jeder Kenner
der vergleichenden Steuergesetzgebung und Finanzstatistik müsse zugeben, daß eine
ganze Reihe vou Stenerqncllen, welche in andern Staaten, darunter auch England,
die reichsten Erträge geben, von der deutschen Finanzknust teils noch gar nicht an¬
gebohrt, teils nnr schwach ausgeschöpft sind." Aber auch berufne Beurteiler unsrer
nationalen Finanzkraft aus der Praxis haben sich schon mit allem Nachdruck in
gleichem Sinne ausgesprochen. So erklärt unter anderen der Herausgeber des
„Deutschen Ökonomisten," eines der angesehensten Bank- und Finanzblätter Deutsch¬
lands, W. Christians, in seinem Gutachten in der „Allgemeinen Zeitung" kurz und
bündig: „Gegenüber einer blühenden Industrie wiegen die Marinelasten leicht."
Und in seinem Blatte wird in einer Besprechung der zweiten Denkschrift des
Neichsmcirineamts ausgeführt, es würde zwar niemals gelingen, zahlenmäßig den
Gegnern der Flottenvcrstärt'ung zu beweisen, daß Deutschland nicht zu arm sei,
auch eine im Verhältnis zu andern Großstaaten klein erscheinende Mehrausgabe zu
ertragen, aber jeder ernsthafte erfahrne Finanzmann und Volkswirt in Deutschland
könne aus seiner allgemeinen Kenntnis der wirtschaftlichen Zustände heraus das
Urteil mit aller Bestimmtheit dahin abgeben, daß Deutschlands Steuerkraft und
Natioualreichtum heute, trotz des lächerlichen Geschreis Von dem völligen Bankrott
seiner Landwirtschaft, so stark und fest begründet seien, daß die in der Marine¬
vorlage geforderten Aufwendungen getragen werden könnten, ohne daß auch nur
der geringste hemmende und lähmende Einfluß auf den fernern wirtschaftlichen und
Kulturfortschritt der Nation davon zu besorgen wäre.
Mit Recht legt übrigens das genannte Finanzblatt weniger Wert ans den
in der Denkschrift versuchten Vergleich der Marinekosten mit den „drei Hanpt-
vbjekten des Marineschntzes," das heißt der Handelsflotte, der Seeschiffahrts-
bcwegung und dem Seehandel. Die Werte, deren Schutz die Verstärkung unsrer
Seemacht gilt, sind durchaus nicht auf die sogenannten Seeinteressen in diesem
Sinne beschränkt. Es handelt sich — und das kaun gar nicht scharf genng betont
werden — um die nationalen Werte überhaupt, um unsre ganze nationale Wirt¬
schaft und Existenz. Der „Deutsche Ökonomist" sagt darüber wörtlich: „Nur eine
Großmacht, die ein ganz gewaltiges, Furcht gebietendes politisches Gewicht in die
Wagschale zu werfen vermag, wird in dem bevorstehenden wirtschaftlichen Weltkriege,
selbst wenn er unblutig verlaufen könnte, ihre Interessen zu wcchreu vermögen.
Niemals in der Geschichte ist deshalb die auf der Waffengewalt beruhende Macht¬
stellung des Staats überhaupt von so eminent praktischer Bedeutung für materielle
Interessen jedes am Wirtschaftsleben beteiligten oder von ihm abhängenden Staats¬
bürgers gewesen wie gegenwärtig. Und unsre Machtstellung reicht dazu nicht aus.
solange wir nur auf dem Lande Großmacht sind, zur See ein jämmerlicher Klein¬
staat." Die Landmacht und die Seemacht Deutschlands gehören heute zusammen
als für einander unentbehrliche Teile eines Ganzen. Hätte man vor fünfundzwanzig
Jahren das nicht mehr als gut war außer acht gelassen, dann würde die deutsche
Flöte im europäischen Konzert ganz anders zur Geltung kommen, als das heute
der Fall ist. So ganz nur zum Spaß verlassen wir den Konzertsaal, wo unsre
Handelsinteressen im Orient auf dem Spiele stehen, doch wohl nicht immer,
sondern weil wir fühlen, wie kläglich schwach wir sind, trotz unsrer gewaltige»
Landarmee.
Aber je leichter es im allgemeinen der deutschen Nation fällt, die Kosten für
die gebotne Verstärkung der Flotte aufzubringen, umso unverantwortlicher wäre es,
bei dieser Neubelastuug nicht alle nur irgend denkbaren sozialpolitischen Rücksichten
zu nehmen. Es entspricht leider der Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit der
augenblicklich herrschenden genialen Wirtschaftspolitik, es als selbstverständlich zu
behandeln, daß die Mehrkosten durch höhere Erträge der landwirtschaftlichen Schutz¬
zölle gedeckt werden, wobei nach Adam Riese die Getreide verlaufenden Gutsbesitzer
baren Profit machen, und die Industriearbeiter die Hauptlast zu tragen haben
würden. Wohin diese Gedankenlosigkeit führen muß, liegt auf der Hand. Nichts
leisten, uur profitiren und doch herrschen, das geht nicht mehr lange. Hohen-
zollcrnpolitik verträgt das nicht, und hohenzollernsche Weltpolitik am wenigsten.
Die Herren hinter Ploetz und Miguel sollen sich hüten, den Bogen zu überspannen.
Die nachstehende Erklärung, die ursprünglich für den An¬
kündigungsteil mehrerer angesehner Tagesblätter bestimmt war, ist von diesen wie
auf Verabredung, aus mir unbekannten Gründen, vielleicht aus Geschäftsrücksichten,
beanstandet und zurückgewiesen worden. Daher ist es für mich eine Genugthuung,
daß ihr die Grenzboten, die sich schon mehrfach mit meinem eigenartigen Verhält¬
nisse zu meinem geistigen Vater beschäftigt haben (vgl. 1896 Heft 18, 1397 Heft 2),
einen Platz an dieser Stelle nicht haben versagen wollen. So möge denn diese
Erklärung unverkürzt folgen und jedem urteilsfähigen Leser die Entscheidung darüber
überlassen bleiben, auf wessen Seite Vernunft und Recht sind.
Nachdem ich dir wiederholt und, wie ich glaube, unzweideutig meine Meinung
gesagt habe, dir auch, wie du dich erinnern wirst, bei unsrer letzten Zusammen¬
kunft mit einer völligen Lösung unsrer Beziehungen habe drohen müssen, so sehe
ich mich nunmehr nach Erscheinen und nach Aufführung deines „Johannes," da
der Worte genug gewechselt sind, gezwungen, diesen Bruch öffentlich zu bekunden.
Ich wähle den Weg der Öffentlichkeit, nicht nur weil er unserm Ruhme entspricht,
sondern auch weil ich von einer nochmaligen persönlichen Aussprache nichts mehr
erwarten kann.
Sogleich, als ich durch die Vorankündigungen in den Blättern von deinem
neuen Stücke und der befremdlichen Stoffwahl hörte, ahnte mir schlimmes, und
ich will dir gestehen, daß ich es gewesen bin, der das Aufführungsverbot veranlaßt
hat. Ich bedaure diesen meinen Schritt, den ich jetzt als la-xsus bezeichnen muß; denn
er hat, anstatt das Stück zu unterdrücken, ihm eine äußerst unerwünschte Reklame
gemacht. Daß ich dich durch persönliche Einwirkung nicht würde bestimmen können,
das Stück zurückzuziehen, war mir von vornherein klar, und ich nehme dir dieses
in Würdigung des nun einmal angewandten Fleißes auch nicht übel, obwohl ich
es als einen Mangel an Vertrauen bezeichnen muß, daß du mich nicht, bevor du
dich an die Arbeit machtest, um Rat gefragt hast. Ich hätte dir noch im guten
persönlich sagen können, was ich dir jetzt in der Scheidestunde vor aller Welt
sagen muß, was ich dir übrigens im allgemeinen schon oft entwickelt habe: Ein
Stoff wie der Johannes liegt gänzlich außerhalb des Bereiches deiner Gaben,
deines Talents, meinetwegen sogar deines Genius.
Ich gestehe dir gern zu, daß du deine Sache mit ungewöhnlichem Geschick
angegriffen hast, und daß in deinem neuen Stücke einige ganz vorzügliche Treffer
siud. Ganz so würde anch ein Kaufmann von allgemeiner Geschäftsgewandtheit,
der eine neue Spekulationsbahn betritt, einige vorübergehende Gewinne einheimsen.
Aber er wie du muß schließlich an dem Mangel an näherer Branchekenntnis
scheitern.
Ich bekümmre mich nicht gern um andrer Leute religiöse Grundanschauung;
das ist mir einmal nicht gegeben, ich bin praktischer Philosoph, Weltkind und Welt¬
mann. Da du dich nun aber auf ein religiöses Gebiet hast locken lassen, muß ich
mir deine Person leider auch einmal von der religiösen Seite ansehen; und da finde
ich denn, du bist ganz dasselbe, was ich bin, also praktischer Philosoph etwa, Welt-
kind und Weltmann. Kein Wunder, da ich Fleisch von deinem Fleisch, oder besser
Geist von deinem Geiste bin. Mit solchen Zuthaten aber bringt man keine wesent¬
lich religiösen Helden zur Welt und versucht auch nicht, um euer» Kunstausdruck
zu gebrauchen, das wiliou eines wesentlich religiösen Volkes zu treffen. Die übrigen
Züge dieses langlebigen Volkes, die auch dem minder fein organisirten Schriftsteller
gelingen würden und bei einem Teile des Publikums auch auf entgegenkommendes
Verständnis rechnen könnten, drastisch vorzuführen, hast du dir, gottlob! versagt,
wie ich glaube und anerkennen will, wohl mit Rücksicht auf die heutigen Nach¬
kommen im Berliner Tiergartenviertel und sonstwo. Die hätten dir die Lust an
jüdischen Stoffen gründlicher ausgetrieben, als ich es vermag, hättest dn es gewagt.
den Volkscharnkter etwas derber zu zeichnen und über ganz leise Andeutungen
hinauszugehen. Daß du da vorsichtig gewesen bist, will ich also nicht tadeln,
denn trotz deiner Abwendung von mir liegt mir dein äußeres Fortkommen immer
noch am Herzen.
Was nun den religiösen Kern deines Stückes anbetrifft, so habe ich mich da
mit dem Pastor Heffterdingk, den ich lediglich zu diesem Zweck in seiner Heimat
aufgesucht habe, ausgesprochen, um ein Urteil zu hören, das auch du würdest an¬
erkennen müssen. Heffterdingk ist doch ein tüchtiger Theologe, mögen ihm im
Drange der Praxis auch akademische Einzelheiten abhanden gekommen sein. Der
Pastor ist nun, obgleich er sich in seiner milden Weise über die Stoffwahl im all¬
gemeinen und grundsätzlich nicht äußern wollte, doch der Ansicht, daß dir die
Persönlichkeit des Johannes nicht aufgegangen sei, und daß du wohl einige Züge
richtig aufgefaßt haben magst, aber in sein Wesen nicht eingedrungen seiest. Und
insofern gab er mir recht, daß dir der Stoff nicht liegt, wenn er sich auch, wie
gesagt, nicht so grundsätzlich wie ich zu äußern liebt. Ich will mich nun über die
Frage, wie weit ein Dichter geschichtlich gegebne und bekannte Personen für seine
Zwecke umgestalten darf, nicht auslassen. Das ist eine heikle Frage, und du magst
dich darüber mit den Ästhetikern von Fach auseinandersetzen. Heffterdingk nun
sagt, daß Johannes sich lediglich als Vorläufer Christi bekannt habe. In diesem
Punkte bleibst ja nun auch du bei der Stange. Aber dem Johannes wird von
einer ganz falschen Vorstellung über den erwarteten Messias geleitet, die dir ja zu
der ganz wirkungsvollen und hübschen Szene mit der alten Bettlerin Mesulemeth
verhilft, aber deinen Helden zu einem ganz unklaren Schwärmer macht, der eigent¬
lich gewissenlos handelt, da er das Volk ins Blaue hinein aufregt ohne jeden klaren
Gedanken über das Ziel seines Thuns. In den Berichten über das Auftreten und
das Geschick des Johannes findet sich auch nicht die leiseste Andeutung, daß er sich
den Messias in der volkstümlichen Weise als weltlichen Machthaber, der mit
Pranger kommen werde, gedacht habe. Vielmehr war seine Hauptthätigkeit das
Predigen der Buße, und er machte mit der Buße bei sich den Anfang, wie sein
enthaltsames Leben zur Genüge zeigt. sein Ausgang ist denn auch eine Folge
dieser unbequemen Bußpredigt, die selbst vor dem Herodes nicht Halt macht.
Sein Grübeln bei dir über die Liebe in ihrer vielfachen Gestalt ist durchaus
modern. Und durchaus unwahrscheinlich ist das schnelle Verständnis für die Sen¬
dung Jesu, die ihm auf einmal vor der Hofgesellschaft aus den paar Worten des
Herrn aufgeht, die ihm gemeldet werden. Was er oder du aus den Worten
„Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert" z» machen sucht, paßt für den Täufer
doch wohl nicht, dessen Gestalt, gerade weil er sich so willig und bescheiden nur als
vorbereitendes Werkzeug giebt und auffaßt, so anziehend ist. Dein Johannes ist
zum Teil Poseur geblieben. Was natürlich seinen Worten einen großen Reiz ver¬
leiht, das sind die uns allen von Kindheit an wohlvertrauten Worte der Bibel,
die du ihm in den Mund legst. Wo du vou ihnen abweichst, wird seine
Sprache matt, unklar oder schwunglos. Das kommt davon, wenn ein durch
und durch moderner Mensch dnrch den Mund eines Johannes Baptista zu uns
sprechen will.
War es dir durchaus um einen Stoff mit Reformideen oder um einen un-
klaren Kopf, wie du ihn aus dem Täufer gemacht hast, zu thun, so brauchtest du
nur einen Mann wie den Kandidaten von Wächter zu wählen, den du in die Mitte
des modernen Lebens stellen konntest, dessen Erscheinungen du recht hübsch zu deuten
verstehst. Das kannst du so gut, daß du auch in deinem Stücke alles, was mir
an moderne Zustände, oder sagen wir gerade heraus, an moderne Verderbnis
anklingt, brillant herauszuarbeiten verstehst. Und das ist es ja gerade, was mein
Urteil über dich bestimmt und mich jetzt zwingt, mich von dir loszusagen. Wenn
irgend etwas, so sollte deine Auffassung der Salome, der Tochter der Herodias,
dich zur Selbsteiukehr bringen, und vielleicht hat das von dir angeschuittne Johauues-
thema bei dir die Folge, daß du in dich gehst und dich auf dich selbst besinnst.
Alles, was mit dem Vierfürsten und seinem verlodderten Hause zusammenhängt, ist
richtig gesehen und ans einem Gusse, und diese Partien werden bei deinen Be¬
wundrern einschlagen, wenn sie sich auch aus der Behandlung des religiösen
Problems blutwenig machen werden. Die witzelnde, gesinnnngslose Umgebung des
Fürsten, der blasirte Römer Vitellius und der in allen Farben schillernde Herodes
selbst sind Beweise sür dem durchaus zeitgemäßes Talent und Zeuge» sür meine
These. Vor allen aber das Prachtstück des Dramas, Salome, dieses nach Jeru¬
salem zurückverpflanzte überreizte Berliner Judcumndchen, das für die feinen
Griechen zu Antiochia eingenommen ist, ihren Stiefvater zu kirren versteht und
zwischendurch und zur Abwechslung einmal eine» unbegreiflichen, aber deshalb
interessanten Propheten, der sich in Kamelshaare kleidet, von wildem Honig lebt
und so wunderbare Sachen sagt, verführen und sich selbst untreu macheu möchte,
um sich an dem Triumphe ihrer Reize zu berausche» —- sieh, diese kalte, siuulich-
grausame Rose von Saron beweist mir unwiderleglich, daß ich recht habe.
Es muß wohl einen eignen Reiz haben, mit einer gewissen Auffassung der
Dinge und einem bestimmten Können die Weltgeschichte zu durchmessen und an
aufgestöberten Stoffen die einmal gefundne Formel zu erproben. So muß ich es
vielleicht zu meinem Schmerz noch erfahren, daß du so rückwärts wandernd noch
bei Adam und Eva ankommst. Daß du sähig bist, auch im Paradiese noch
Berliner Motive aufzufinden und modernen Leser» und Zuschauern schmackhaft zu
machen, bezweifle ich keine» Augenblick, besonders »ach der Szene nicht, wo dn den
Johannes sich bei den Leuten aus Galiläa uach Jesus von Nazareth erkundigen
läßt. Die Antworten der Männer sind mit solcher Treffsicherheit ans ein realistisch
veranlagtes Publikum zugeschnitten, das sich über alles amüsiren will, daß es mir,
wie gesagt, leid thut, wenn ich dich auf Schauplätzen arbeiten sehe, die doch immer
nur gelegentlich solche Kunststückchen ermöglichen, während du, bliebest du in der
Gegenwart und in dem dir vertrauten Lebensrcmme, eine volle Ernte einheimsen
könntest.
Wenigstens will ich sür meine Person mich nicht in einer Unzahl von solchen
Leuten, wie Tcjci, diesem Johannes und nun womöglich uoch dem alten Adam
verlieren. Dies dir zum letztenmale zu sagen, ist der Zweck dieser öffentlichen
Erklärung.
Mag sein, daß die Zeit dem realistischen Zeitdrama nicht mehr so recht günstig
ist, worauf deine und deiner Herren Kollegen Experimente zu deuten scheinen.
Dann ist mein Rat, zieh dich vom Geschäft zurück, und setz uicht durch gewagte
Spekulationen das erworbne Kapital aufs Spiel, von dem du gemächlich leben
kannst. ^
"
Es sollte mich freuen, wenn dein Schweigen oder dein weiteres Schaffen
beweisen würde, daß du mir Recht geben willst. In diesem Falle würde ein
Wiederanknüpfen unsrer Beziehungen möglich sein. Bis dahin lebe wohl!
le hohen Anforderungen, die schon die Länge der feindlichen
Küsten an die blockirende Flotte stellte, wurden durch die große
Zahl der tiefen Buchten und durch die flachen Ufer noch ver¬
größert. Im Norden endete die Küste der Südstaaten mit der
tief ins Land einschneidenden Chesapeakebai, im Süden und
Westen mit der Grenze von Mexiko. In die Chesapeakebai münden mit meer¬
busenartig erweitertem unterm Lauf der Potomac, der Rappcihcmnoc und, kurz
vor dem Übergang der Bai in den Ozean, der Jamesfluß, an dem etwa sechzig
Seemeilen stromaufwärts die Hauptstadt der südstaatlichen Partei Richmond
liegt. Am Potomac, gegen neunzig Seemeilen oberhalb seiner Mündung,
liegt die Hauptstadt der Union Washington. Die Flüsse sind sehr wasserreich
und weit hinauf bis zu den genannten Städten schiffbar. In den letzten Teil
der Chesapeakebai mündet der von Süden kommende Elisabethsluß, an dem
ungefähr fünfzehn Seemeilen aufwärts Norfolk mit seiner Werft liegt. Der
Potomac bildete weiter landeinwärts die Grenze der Nord- und Südstaaten,
doch hatten die Nordstaaten auch die Landspitze zwischen der Mündung des
Jamesflusses und der Chesapeakebai samt der starken Festung Monroe und den
Befestigungen bei Newport News Point besetzt.
Die Südstaaten hatten dafür den Jamesfluß und die Südufer der Bai
mit Norfolk in ihrer Gewalt und gegenüber dem Fort Monroe an der Mündung
des Elisabethflusses bei Sewalls Point Befestigungen angelegt. Zwischen Fort
Monroe und Newport News Point erstreckt sich die flache Hamptvn Bar,
während das südlich daran grenzende Fahrwasser mit Hampton Rvads (Reeber
von Hampton) bezeichnet wird. Bei der Wichtigkeit der großen Flußläufe
und der daran liegenden Städte hatten die Nordstaaten, vom Beginn bis zum
Ende des Krieges, Kriegsschiffe auf deu Hamptvn Noads liegen, die hier jede
Verbindung der Südstaaten mit dem Ozean hinderten. Die nordstaatlichen
Schiffe lagen unter dem Schutz der Kanonen von Fort Monroe und Newport
News und blockirten von hier aus die Zugänge zum James- und Elisabeth¬
fluß wirksamer, als ein Blockadegeschwader durch Kreuze» im Atlantischen
Ozean vor der Chesapeakebai vermocht hätte.
Hampton Roads und Chesapeakebai waren beim Beginn des Krieges die
der zu blockirenden Küste am nächsten gelegnen Ausrüstungsplätze der nord¬
staatlichen Flotte. Die an der atlantischen Küste gelegnen Haupthafenstädte
der Südstaaten Wilmington, Charleston und Savannah lagen etwa dreihundert
bis fünfhundert Seemeilen davon entfernt. Die Küste ist meistens flach, ohne
natürliche Landmarken, hat vielfach große Haffbilduugen mit weit vorliegenden,
flachen Nehrungen, tief einschneidenden, vielverzweigten Flußmündungen, sowie
zahlreichen Inseln und bietet mit ihren Sandbänken und Watten mindestens
ebenso schwierige Fahrwasserverhältniffe wie unsre Nordseeküste. Die Ostküste
Floridas ist hafenlos und ohne Bedeutung. Die Südküste am Golf von
Mexiko ist ähnlich wie die atlantische Küste beschaffen und hat die für den
Seeverkehr der Südstaaten wichtigen Platze Pensacöla, Mohne, New Orleans
und Galvcston.
Die Wetterverhältnisse an der atlantischen Küste sind für Blockadeschisfe
nicht günstig, besonders ungünstig aber in der Nähe des wegen der häufigen
Stürme verrufnen Kaps Hatteras. Das Kohlenuberuehmen von Schiff zu
Schiff in offner See ist dort des Seegangs halber fast niemals möglich. Ein
Teil der Blockadeschisfe mußte deshalb zuerst immer in regelmäßiger Ablösung
zur Ergänzung der Vorräte mindestens bis nach Fort Monroe laufen und
blieb dann tagelang dem Blvckadegebiet fern. Der beständige Aufenthalt auf
offnem Meere in der Nähe einer kaum sichtbaren, gefährlichen Küste erforderte
besonders in deu stürmischen Wintermonaten sehr seetüchtige Schiffe und war
zugleich für das Personal und das Schiffs- und Maschinenmaterial sehr auf¬
reibend. Zugleich gewährte die Blockade von See aus nur geringe Sicherheit
gegen das Blockadebrechen, besonders bei Nacht und bei umsichtigen Wetter.
Trotz der Schiffsgeschütze der Blockadeschisfe konnte selbst bei Tage ein schneller,
mit südstaatlichen Lotsen Versöhner Blockadebrecher leicht in den Schutz der
von den Südstaaten an allen Einfahrten angelegten Befestigungen kommen.
Zwischen den Blvckadebrechern und diesen Forts herrschten die besten Be¬
ziehungen; es war Ehrensache, daß ein vom Feinde entdeckter Vlockadebrccher
sowohl mit den schweren Geschützen von den Forts als auch mit Feldgeschützen
am Strande verteidigt und nach Möglichkeit unterstützt wurde. Außerdem
liefen aus den Haffs und den Flußläufen kleine und große Kaperschiffe zur
Zerstörung der Handelsschiffe der Nordstaaten aus, sobald Witterungsverhält¬
nisse oder andre Gründe die Blockadeschisfe aus der Nähe der Einfahrten ent¬
fernt hatten. Die Nordstaaten mußten deshalb darnach streben, die Blockade
möglichst bald vom Ozean in die Einfahrten zu verlegen; sie mußten sich der
Befestigungen an den Hafeneingängen und an den Durchfahrten zu den Haffs
bemächtigen. Hatten sie die Befestigungen genommen, so wurden diese durch die
dort stationirten Blockadeschisfe gedeckt, und die Schiffe selbst hatten gesicherte
Ankerplätze. Es konnten an solchen Stellen an Land Depots für Kohlen,
Vorräte, Reserveteile und Werkstätten errichtet werden, anch wenn das dahinter-
liegende Land noch in Feindes Hand war.
Die Südstaaten wurden durch den Angriff der Flotte auf die Ein¬
fahrten und Häfen zur Verstärkung der Verteidignngsmittel gezwungen. Es
wurden Fahrwassersperren aus Balken, Ketten, Netzen und Seculum angebracht,
Flnßdampfer und andre Dampfschiffe zu Kriegsschiffen umgeändert und Panzer-
uud Nammschiffe gebant, die zwar für das offne Meer nicht geeignet, für den
Kampf in ruhigem Wasser aber recht wertvoll waren. Todesmutig wurde
mit mangelhaften Spierentorpedvbooten gegen die Schiffe der Nordstaaten vor¬
gegangen. In Charleston wurde ein Unterwasserboot, obgleich es schon vier¬
mal bei Versuchen und Angriffen mit seiner ganzen freiwilligen Mannschaft
gesunken war, uach seiner letzten Hebung zum fünften male von Leutnant
Dixon mit acht Freiwilligen besetzt. Am 17. Februar 1864 abends neun Uhr
griff Dixon die blockirende, vor Anker liegende Korvette der Nordstaaten
Honsatonic an und brachte einen Torpedo unterhalb ihrer Wasserlinie zur
Explosion. Die Honsatonic sank, das Unterwasserboot kam aber auch nie
wieder an die Oberfläche und soll erst nach dem Kriege hundert Meter von
der Korvette entfernt aufgefunden worden sein. In ähnlicher Weise vernichtete
Leutnant Cushiug von den Nordstaaten am 27. Oktober 1864 das neugebaute
Panzerschiff der Südstaaten Albemarle mit Spierentorpedvs. Diese Beispiele
mögen zur Schätzung des Wagemuth und der Entschlossenheit dienen, mit der
auf beiden Seiten um den Besitz der Häfen und Verkehrswege gerümpft wurde.
Die hartnäckig durchgeführten Kämpfe der Schiffe und Fahrzeuge der Nord-
staaten auf den großen Strömen gegen Forts und Fahrzeuge der Südstaaten
haben für die schließliche Niederwerfung des Südens die größte Wichtigkeit
gehabt, doch würde eine Schilderung zu weit führen, zumal da eine derartige
Kriegführung doch nur auf amerikanischen, wasserreichen Strömen und bei den
damaligen schlechten Eisenbahnverbindungen Erfolg haben konnte.
Die erste Unternehmung der Nordstaaten war bei Kap Hatteras gegen die
Einfahrten des riesigen Haffs gerichtet, das als Pnmlieo- und weiter nörd¬
lich als Albemarlesund tief ins Land einschneidet. An den Hauptdurchfahrten
durch die schmale, mehrfach unterbrochne Nehrung südwestlich von Kap Hatteras
waren die Forts Hcitteras, Fort Clark und Fort Ocracoke gebaut. Die Wasser¬
tiefe von nur vierzehn Fuß bei Hochwasser auf der vor der Haupteinfahrt bei
Fort Hatteras liegenden äußern, und von gewöhnlich acht Fuß auf der innern
Barre gestattet großen Schiffen nicht das Einlaufen; aber kleinere Fahrzeuge
finden innerhalb der Einfahrt sichern Ankerplatz. In den beiden Sunden und
den breiten darin mündenden Läufen des Noanoke-, Pamlieo- und Neuseflusses
waren bekannte Schlupfwinkel der kleinen Kaper und Blockadebrecher.
Am 26. August 1861 ankerte unter dem Kommando des Commodore String-
ham eine von Hampton Nvads kommende Flotte drei Seemeilen vor der Hatteras-
einfahrt. Diese Flotte bestand aus zwei Fregatten, zwei Korvetten, einem armirten
Zollkreuzer, einem Kanonenboot, einem Schleppdampfer, zwei Transportdampfern,
die 860 Mann Landtruppen und eine Haubitzenbatterie an Bord hatten, und einigen
schönern mit eisernen Brcmdnngsbooten an Bord zum Landen der Truppen.
Am 28. morgens wurden unter Deckung durch die Kanonen der kleinen Fahr¬
zeuge zweiundeinehalbe Seemeilen oberhalb vom Hatterasfort Truppen ge¬
landet, was aber trotz der Brandungsboote wegen der starken Brandung nur
für 420 Mann mit zwei Haubitzen gelang. Auch wurden die Brandnngsboote
dabei untauglich, sodciß die gekanteten Truppen, meist mit nasser Munition
und ohne Proviant, vom Verkehr mit den Schiffen abgeschnitten waren.
Glücklicherweise beschäftigten die andern Schiffe die Besatzung der Forts derart,
daß die Truppen nicht angegriffen wurden. Die Schiffe, zu denen noch eine
Segelfregatte hinzugekommen war, die dann während des Kampfes von einer
Dampffregatte geschleppt wurde, gingen Anker ans und beschaffen die Forts
im Vorbeidmnpfcn auf einem Kurse, der in der Form einer gestreckten Ellipse den
Schiffen Gelegenheit zur Verwendung ihrer Breitseiten gab. Mittags war
Fort Hatteras sast zum Schweigen gebracht, und nachmittags konnte das ge¬
räumte Fort Clark von den Landungstruppen besetzt werden. Am 29. August
morgens wurde nochmals das Feuer auf das noch vom Feind gehaltne und
in der Nacht ausgebesserte Fort Hatteras eröffnet, das dann um elf Uhr die
Flagge herunterholte. Die Landnngstrnppen waren ohne Nutzen gewesen und
wären in eine üble Lage gekommen, wenn die Schiffe den Feind nicht von
ihnen abgezogen hätten. Der Feind verlor 615 Mann an Gefangnen und
24 an Toten und Verwundeten. Fort Oeraeoke wurde als unhaltbar geräumt;
seine Geschütze und seine Munition wurden am 16. September von einem Fahr¬
zeuge der Nordstaaten zerstört. Fort Hatteras und die Nehrung wurde von den
Nordstaaten besetzt gehalten und Kanonenboote und kleinere Fahrzeuge dort
stationirt, sodciß die Seezugänge zum Pamlieo- und Albemarlcsund von nun
an geschlossen waren. Die Gewinnung der Einfahrt von Hatteras zum
Pamlicvsund durch die Flotte war der erste kriegerische Erfolg, den die Nord¬
staaten hatten, während ihre Armeen zuerst stets unglücklich kämpften.
Bei der Wichtigkeit des Besitzes des Albemarlesundes, der wegen seiner
Lage und seiner Verbindung mit Norfolk durch den Dismal Swampkcmal ge¬
stattete, Truppen von Süden aus gegen das wichtige Norfolk zu senden,
zögerten die Südstaaten nicht, die innerhalb der Nehrung zwischen dem
Pamlico- und Albemarlesnnd gelegne Insel Roanoke stark zu befestigen und
mit Schiffsbauten im innern Teil des Albemarlesundes zu beginnen. Im
Januar 1862 wurden deshalb 12000 Mann der uordstaatlichen Truppen auf
einer aus zwanzig flachgehenden, armirten Schlepp- und Fährdampfern und
sechsundvierzig kleinen Transportern bestehenden Flotte eingeschifft und am
11. Januar von Hampton Roads aus über See nach der Hatteraseinfahrt
gesandt. Obgleich wegen der flachen Fahrwasserkanäle im Pamlieo- und
Albemarlesnnd die meisten Fahrzeuge nicht über acht Fuß Tiefgang hatten,
verstrichen dennoch über zwanzig Tage, ehe das letzte Fahrzeug die Barren
der Hatteraseinfahrt hinter sich hatte. Am 7. Februar war die Flotte nach
Auslotung und Bedornung des Fahrwassers in dem Kanal zwischen Roanoke
und dem Festlande angekommen. Der Feind hatte hier eine Sperre aus
Pfählen und versenkten Fahrzeugen quer über das Fahrwasser gebaut und an
beiden Seiten Forts errichtet. Außer durch zwei andre Forts im nördlichen
Teil der Insel und zwei Vatterieaufstellungen wurde die Insel noch von acht
zu Kanonenbooten eingerichteten Dampfern der Südstaaten verteidigt. Die
gesamten Streitkräfte der Südstaaten auf der Insel Roanoke betrugen gegen
4000 Mann. Nach sehr erfolgreicher Beschießung der Forts, der Kanonen¬
boote und der südstaatlichen Truppen durch die armirten Fahrzeuge der Flotte
wurde am 7. Februar abends mit der Ausschiffung der Truppen begonnen,
und um 8. nachmittags die Sperre von den Fahrzeugen durchbrochen und
darauf die Insel genommen, wobei 2675 Gefangne gemacht wurden. Die
nordstaatlichen Kriegsfahrzeuge setzten dann noch monatelang ihre Streifzüge
auf den Flnßläufen des Albemarlesundes fort, zerstörten die verschiednen Neu¬
bauten von Kriegsfahrzeugen in den anliegenden Städten und verbrannten die
dort vorhandnen Vorräte, ohne daß der Staat Nordkarolina selbst in den
Händen der Nordstaaten war.
Ermutigt durch die Erfolge der Flotte gegen Fort Hatteras gingen die
Nordstaaten noch in demselben Jahre an die Aufgabe, noch weiter südlich
an der atlantischen Küste einen Stützpunkt für ihre Blockadeschiffe zu gewinnen.
Bei dem starken Kohlenverbrauch der damaligen Kriegsschiffe konnten die besten
höchstens zehn Tage unter Dampf fahren, ihre Maschinen wurden zudem oft
schadhaft; es war mithin dringend nötig, im Süden möglichst in der Nähe der
Hnupthäfen der Südstaaten einen Hafen mit genügender Wassertiefe als
Operationsbasis sür die großen seetüchtigen Blvckadeschiffe zu erobern. Ein
solcher Hafen war Port Royal in Südkarolina, der, zwischen Savanncih und
Charleston gelegen, der beste Hafen der atlantischen Küste südlich von Hampton
Roads ist. Er hat in den drei Zugängen zum innern Fahrwasser 23 bis
25 Fuß Wassertiefe bei Hochwasser. Da der Ausgang des Hafens aber von
mehreren Inseln begrenzt wird, so erforderte die Anlage einer festen Flotten¬
station die ständige Besetzung dieser Inseln durch eine starke Truppeumacht.
Je näher der Winter mit seinen Stürmen heranrückte, umso mehr wurde der
Mangel eines Schutzhafens empfunden; deshalb wurden Anfang Oktober 1861
Kriegsschiffe, eine Transportslotte für 12000 Mann und eine Transportflottc
für Vorräte und Kohlen zur Einrichtung der neuen Flottenstation ausgerüstet.
Am 29. Oktober verließ die Flotte mit geheim gehaltnen Befehlen Hampton
Roads. Die Kriegsflotte und die Transportflottc der Armee, zusammen gegen
fünfzig Schiffe, standen unter dein Kommando des Admirals S. F. Dupont;
die Transportflotte für die Vorräte, ans etwa fünfundzwanzig Segelschiffen,
war schon vorausgeschickt und wurde vou der Segelkorvette Vandalia begleitet.
Dupont hatte zur Verfügung zwei Dampffregatten, Wabash und die Sus-
quehaunci, die als Blockadeschiff vor Chcirlestou kreuzte und zum Kampf gegen
Port Royal herangezogen wurde, drei Dampfkorvcttcn, ein Vermessungsschiff,
zehn Kanonenboote und die Segelkorvette Vandalia, die, von einem Kanonen¬
boot geschleppt, das Gefecht mitmachte. Die Armeetransportflotte war aus
allen möglichen Hanoclsdampfern und großen Fährdampfern hergestellt. Das
Landungskorps stand uuter dem Befehl des Generals T. W. Shermcm. Bei
Kap Hatteras wurde die Flotte am 1. November durch einen der bekannten
Orkane vollständig zerstreut. Admiral Dupont setzte die Reise indes nach dem
bestimmten Versammlungsplatz vor der Barre von Port Royal fort und hatte
das Glück, daß sich die meisten Transporter und Kanonenboote nach und nach
bis zum 4. November dort einfanden. Es waren schließlich nur ein Armee-
und zwei Vorratstransporter verloren gegangen, deren Mannschaften aber fast
vollzählig gerettet waren.
Eine große Schwierigkeit, die Auffindung und Markirung des Fahrwassers
durch die mehr als zehn Seemeilen von der niedrigen, kaum sichtbaren Küste
abliegende Barre, und die weitere Auslotung nach dem eigentlichen Hafen
wurde, obgleich alle Landmarken entfernt und die Bojen absichtlich zur
Täuschung umgelegt worden waren, von der Vermessungsabteilung mit Hilfe
der Kanonenboote gut überwunden. Der Feind konnte diese Arbeit nicht
stören, weil seine unter dem Kommando des frühern Seeoffiziers I. Tatnall
stehenden, schwach armirten Handelsdampfer von den Kanonenbooten bald bis
nnter die Kanonen der beiden Forts am Eingang des Hafens zurückgetrieben
wurden. Wären stärkere Schiffe im Besitz der Südstaaten gewesen, so würde
die Vermessung und dadurch das ganze Unternehmen der Nordstaaten sehr
verzögert oder unmöglich gemacht worden sein. Der Vorstoß der Kanonen¬
boote orientirte zugleich die nordstaatliche Flotte über die Lage und Stärke
der Befestigungen am Hafeneingang, des Forts Beauregard an der Nordseite
und des Forts Walker an der Südseite.
Am 4. November nachmittags konnte Dupont die kleinern Schiffe über
die Barre schicken und in ruhigem Wasser ankern lassen, am 5. konnte er mit
den beiden Fregatten und den schweren Schiffen folgen und in etwa sechs¬
tausend Meter Abstand von Fort Walker ankern. Am 6. wehte es zu stark,
um etwas vorzunehmen; am 7. um 9 Uhr morgens griff die Kriegsflotte,
in Kiellinie rangirt, an, indem sie zwischen den gegen 4800 Meter von
einander entfernten Forts langsam hindurchdampfte, daun zwei Seemeilen
oberhalb der Forts umdrehte und auf beiden Fahrten die Forts beschoß.
Sechs Kanonenboote begleiteten die Flotte bis zum erstem Drehpunkt inner¬
halb der Forts, worauf sie dort bleiben, die Forts von der Flanke beschießen
und die Durchfahrt für die südstaatlichen armirten Dampfer sperren sollten,
damit diese nicht etwa durchschlüpfen könnten, um die außen auf der Reede
verankerten hilflosen Truppentransporter anzugreifen. Seculum hatten die
Südstaaten nicht in Port Royal, auch keine andern Sperren. Nachdem die
Schiffe dreimal den Hin- und Rückweg zwischen den Forts gemacht hatten,
waren diese kampfunfähig und geräumt, sodaß die Transporter mit dem Aus-
schiffen der Mannschaften beginnen konnten. Port Nohal war genommen, und
die Landtruppen besetzten und befestigten die Umgebung des Hafens, der
während des Krieges in den Händen der Nordstaaten blieb. Dieser wiederum
von der Flotte errungne Sieg hob die dnrch die Mißerfolge an Land gedrückte
Stimmung in deu Nordstaaten und bewies die früher bezweifelte Befähigung
der Flotte zum Küstenkriege. Zugleich wurde dadurch gründlich mit dem
damals überall verbreiteten Glauben aufgeräumt, daß ein Geschütz in fester
Stellung an Land im Küstcnkampf soviel Wirkung habe wie fünf Geschütze
an Bord eines Schiffes. Die Ergebnisse der Beschießung von Alexandrien
1882 haben später ebenfalls zur Verminderung der besonders durch das Gefecht
bei Eckernförde entstcmonen Überschätzung der Küstengeschütze beigetragen. Die
Nordstaaten hatten nnn eine Operationsbasis in Feindesland, die bald zur
bessern Durchführung der Blockade, zur Unterstützung der Wegnahme der
meisten Inseln an der Küste und als Stützpunkt für die Unternehmungen gegen
Charleston benutzt wurde.
Bei dem erfolgreichen Kampfe der von deu Südstaaten in Norfolk zu
einem Panzerkasemattschiff umgebauten, früher nordstaatlichen Fregatte Mer-
rimae mit der Unionflotte bei Hmnptou Roads, am 8. März 1862, haben die
Küstenbefestigungen der Nordstaaten bei Newport News Point sehr zum Nach¬
teil der Besatzung des Merrimac und der beiden südstaatlichen Kanonenboote
eingegriffen. Der Versuch der Südstaaten, mit dein Merrimac die Blockade
der Chesapecikebai und der Hampton Roads, von innen ausgehend, zu brechen
und das Schiff weiter gegen die Holzschisfe der Union zu verwenden, wurde
durch die Ankunft des Monitor am 8. März abends und den unentschieden
Kampf mit diesem am 9. März für immer vereitelt. Infolge dessen wurde
Merrimac nach der Räumung Norfvlks von den Südstaaten am 10. Mai 1362
verbrannt. Sein Gegner Monitor ging in einem Sturm am 1. Januar 1863
bei Kap Hatteras unter.
Der Einfluß dieses ersten Kampfes zweier Panzerschiffe auf den Schiff¬
bau der Nord- und Südstaaten sowie auf den Panzerschiffbau in Europa ist
bekannt.
Vor New Orleans war die Blockade des Mississippi seit dem Juli 1861
ausgeführt, indem die nordstnatlichen Kriegsschiffe im Fluß etwas oberhalb
der Ausgangsstelle der drei weit in den Golf hinausgeschobnen Mündungs¬
arme, beim Head of the Passes vor Aurer lagen, wodurch sie völlig den
Verkehr sperren konnten. Die von den Südstaaten besetzten, am Fluß gegen
achtzehn Seemeilen oberhalb sich schräg gegenüber liegenden Forts, Fort
Jackson und Fort Philip, waren von New Orleans immer noch etwa sechzig
Seemeilen entfernt. Die Sperrung des Seeverkehrs wurde in New Orleans
sehr hart empfunden, und man baute deshalb, um den Fluß von den Blockade¬
schiffen zu befreien, vielfach durch Umbau von Schleppdampfern, in Eile
teilweis gepanzerte Rammschiffe und bereitete Brander vor, die mit dem Strom
gegen die feindlichen Schiffe treiben sollten. Ein von dem Nammschiff Manassas
und drei Brandern am 13. Oktober 1861 um vier Uhr morgens gegen vier
starke nordstaatliche Kriegsschiffe unternommner, eigentlich mißglückter Angriff
vertrieb diese trotzdem von ihrem Ankerplatz nach den Mündungen des
Stromes. Die Kopflosigkeit und Panik eines Teils der Kommandanten und
Offiziere der Kriegsschiffe bei dieser Gelegenheit wird mit den ähnlichen Vor¬
kommnissen bei der Armee der Nordstaaten in der Verlornen Schlacht bei
Bull Rum verglichen.
Der Gedanke, die Stadt New Orleans zu nehmen, ging von dem da¬
maligen Kommander D. D. Porter aus, der zeitweise ein Blockadeschiff vor
dem Mississippi geführt hatte. Admiral D. G. Farcigut wurde mit der Aufgabe
betraut, die Durchfahrt nach New Orleans zu erzwingen; ihm wurden dazu
vier Dampfsloops, eine Raddampfkorvette, drei Schraubenkorvetten und neun
Kanonenboote zur Verfügung gestellt, die er am 7. April ans dem Mississippi
beisammen hatte. Größere Schiffe, z. B. die Dampffregatte Colorado, zu be¬
nutzen, mußte wegen der geringen Wassertiefe in den Mündungsarmen auf¬
gegeben werden. Zu diesen Schiffen kamen noch zwanzig Schoner unter
Führung des Kommander Porter, von denen jeder mit einem riesigen dreißig-
zölligen Mörser armirt war, und sechs schwer armirte Kanonenboote, darunter
fünf frühere Handelsdampfer, die die Mörserschoner schleppen und schützen
sollten. Die Schiffe wurden zweckmäßig für den Kampf auf dem Fluß mit
seinem schwierigen Fahrwasser und seinen dicht bewaldeten Ufern vorbereitet,
durch Tiefgangsänderungen, Anbringung von Schutz für die Maschinen, Ver¬
minderung der Takelage und Armiruug der Marsen, die Mörserschoner durch
Anbringung von belaubten Büschen an den Masten, um diese Fahrzeuge in
wenig auffälliger Weise im Schutz der User verwenden zu können. Wahrend
Faragut seine Schiffe vorbereitete, ließ er das Fahrwasser stromaufwärts ver¬
messen und die Punkte bezeichnen, wo die Mörserschoner liegen sollten.
Die Konfödcrirten hatten außer einigen Geschützen und Mörsern in Ufer¬
batterien in dem am Ostufer des Flusses liegenden Fort Philip 41, in Fort
Jackson 62 Kanonen und hatten eine allerdings primitive Sperre aus Ballen,
verankerten Fahrzeugen und Ketten zwischen den Forts über den Strom ge¬
zogen. Außerdem hatten sie elf armirte Dampfer, darunter das Rammschiff
Manassas, eine gepanzerte schwimmende Batterie und Fahrzeuge und Flöße,
die als Brander dienten.
Nach Beendigung der Vorbereitungen dampfte die Flotte unter der Leitung
der Vermessungsoffiziere stromaufwärts und ankerte am 16. April 1862 unter¬
halb der Forts außer Kanonenschnßweite. Am 18. wurden die Mörserschvner
dicht am Ufer auf ihre besonders für das Bombardement des Fort Jackson
bestimmten Stationen gelegt, worauf sie die Beschießung begannen und sechs
Tage und Nächte fortsetzten. Die Sperre wurde trotz des Feuers der Forts
in der Nacht des 20. teilweise zerstört und blieb offen. Am 24. morgens
drei Uhr dampfte die in zwei Divisionen geteilte Flotte stromaufwärts, um,
während die Mörserschoner die Forts von Süden im Schnellfeuer beschossen,
an den Forts vorbeizulaufen. Die erste Division führte Kapitän Bayley auf
der Cciyuga, die zweite Faragut selbst auf seinem Flaggschiff, der Sloop
Hartford. Obgleich die Konföderirten den Fluß durch brennende Holzstöße an
den Ufern beleuchteten, Brander abschickten, aus den Forts und aus ihren
Fahrzeugen ein heftiges Feuer unterhielten und verschiedne Rcimmstvße mit
ihren Rammschiffen ausführten, gelang der gewaltsame Durchbruch, und mit
Tagesanbruch ankerte die Flotte fünf Seemeilen oberhalb der Forts. Die
Flotte hatte die Korvette Varuna, die vom Feinde in den Grund gebohrt
worden war, und 163 Mann, Tote und Verwundete, verloren. Die Mehrzahl der
feindlichen Fahrzeuge war in der Nacht vernichtet worden, die übrig gebliebner
wurden in der nächsten Zeit vom Feinde verbrannt. Am 25. ankerte die
Flotte nach kurzem Gefechte mit einigen Uferbatterien vor der Stadt New
Orleans, wo die Flagge der Union gehißt wurde. Am 28. wurden Fort
Jackson und Fort Philip, als mit Wiedereröffnung des Feuers gedroht wurde,
an den Leiter der Mörserschonerflotte, Kommander Porter, übergebe«, während
Faragut am 1. Mai die Stadt der Fürsorge des mit Truppen eintreffenden
Generals Butler überließ und seine Thätigkeit weiter stromaufwärts verlegte.
In Mohne, einer Stadt im Innern des gleichnamigen Meerbusens nord-
nordöstlich von den Mississippimündungen, bauten die Konfödcrirten eifrig ein
Panzerschiff. Admiral Faragut. seit dem 18. Januar 1864 wieder Geschwader¬
chef im Golf von Mexiko, wünschte die Befestigungen an der Bucht vou Mohne
eher anzugreifen, als das Panzerschiff vollendet wäre. Es fehlte aber damals
an Truppen, um die Forts und Inseln vor Mobilebai zu besetzen, wenn sie
von der Flotte genommen wären. Endlich kamen die von Faragut gewünschten
Monitors Ende Juli, der letzte am 4. August, und mit ihm zugleich kamen
auch Truppen unter General Granger an, die am 4. August auf der großen
Danphininsel westlich vom Südausgange der Bucht gelandet wurden.
Die Konfvderirten hatten inzwischen ihr Panzerrammschiff Tennessee fertig¬
gestellt und in die Nähe der Forts gebracht. Abgesehen vom kleinen Fort
Powell an einer flachen, zum Mississippisund führenden Durchfahrt wurden die
Bucht und der südliche Hauptzngang zur Mobilebai von dem auf der Ostseite
der Einfahrt auf Mohne Point gelegnen sehr starken Fort Morgan und dem
auf der Dauphininsel in fast 6000 Meter Abstand westlich gegenüberliegenden
Fort Gaines geschützt. Das Fahrwasser führte unmittelbar unter den Kanonen
von Fort Morgan vorbei. Eine Minensperre aus mindestens drei Minen¬
reihen, die von Fort Morgan ans das tiefe Fahrwasser nach Fort Gaines
zu schlossen, ließ nur in kaum 100 Meter Abstand vom Fort dicht am Land
eine schmale Durchfahrtslücke offen. Die Konföderirten machten von diesem
Vertcidiguugsmittel in den letzten Jahren des Krieges ausgiebigen Gebrauch,
während ihre Gegner es für eine nicht anständige, hinterlistige Waffe er¬
klärten. Weiter nach Fort Gaines zu, in flachem Wasser, war die Minensperre
dnrch eine Balken- und Pfahlsperre fortgesetzt. An Kriegsfahrzeugen hatten
die Verteidiger unter dem Kommando des Admirals Franklin Buchanan, des
frühern Kommandanten der Merrimac, bei Hamptvn Nvads außer dem starken
aber langsamen und schlechtsteuernden Tennessee noch drei Naddampferkanonen¬
boote, die zwar wenig widerstandsfähig waren, sich aber dennoch, mutig geführt,
am Kampfe der Schiffe beteiligten. Faragut kannte genan die Stärke des
Feindes und auch die Lage der Durchfahrt in der Minensperre. Fort Powell
im Westen der Bucht kam gar nicht, und Fort Gaines mir wenig beim An¬
griff in Betracht, weil letzteres von der eigentlichen Durchfahrt zu weit ablag.
Die Streitkräfte Faraguts bestanden in vier Monitors, sieben Slvops und
Korvetten und sieben kleinen Fahrzeugen, von denen jedoch drei nur armirte
Naddampfer waren. Ebenso wie auf dem Mississippi bei Port Hudson wurden
auf seinen Befehl aus den hölzernen Schiffen Schiffspaare gebildet, indem die
sieben kleinen Fahrzeuge an der dem Hauptfeinde bei der Durchfahrt ab¬
gewandten Seite längsseit der Sloops oder der Korvetten befestigt wurden.
Würde dann die Maschine des großen Schiffes vom Feinde beschädigt, so
konnte das kleine Beischiff seinen Genossen immer noch vorwärts bringen oder
aus dem heftigsten Geschützfeuer herausziehen. Die sonstigen Vorbereitungen
für den Kampf waren ebenso wie vor New Orleans.
Am 5. August, sechs Uhr morgens, beginnt Faragut den Angriff. Voran
sollen die vier Monitors dicht am Lande dnrch die Sperrlücke dampfen,
Während die sieben Schiffspaare etwas schräg an Backbord dahinter folgen
sollen. Hinter der Sperre liegen das Rammschiff Tennessee und die drei
füdstaatlichen Kanonenboote bereit, mit dem Fort Morgan die Schiffe zuerst
wirksam in deren Längsrichtung zu beschießen. Der Monitor Tecumseh an der
Spitze verfehlt die Sperrlücke und sinkt infolge mehrerer Minenexplosionen
etwa in 30 Sekunden mit 110 Mann seiner Besatzung- Die andern Monitors
kommen glücklich durch die Durchfahrt. Da sie durch ihre Form gegen das
Gerammtwerden geschützt sind, so wartet Tennessee auf die Hvlzschiffe. Von
diesen verfehlt die führende Brooklyn mit ihrem Beischiff die Richtung auf
die Durchfahrt, sieht scheinbar Minen voraus und läßt deshalb vor der Sperre
die Maschine rückwärts schlagen, wodurch sie quer zum Fahrwasser zu liegen
kommt und dem nachfolgenden Flaggschiff, der Hartford, den richtigen Weg
versperrt. Faragut fragt beim Passiren den Kommandanten der Brooklyn,
warum er rückwärts gegangen sei, und erhält zur Antwort: ?in'vscIoL8 n.l«zg.ä!
(Minen voraus!) Ohne zu zögern, mit den Worten paar tds torpeäoos! und
zum Kommandanten der Hartford 6o alroa-ä, La-Min ora^ton! läßt Faragnt
die Hartford über die Sperre laufen, nachdem er der Flotte das Signal gemacht
hat: „Dicht aufgeschlossen folgen!" Das Glück beschirmt den Tapfern. Wohl
hören die im untern Schiff in den Pulvermagazinen beschäftigten Leute die
Minen an den Schiffsseiten und dem Schiffsböden unheimlich anschlagen, aber
die Zünder der Minen versagen; die Hartsord und der Rest der Holzflotte
kommen glücklich jenseits von Sperren und Fort um. Dem schlecht steuernden
Tennessee gelingen die Nammstöße nicht recht, er wird arg zerschossen und auf
Befehl Faraguts mehrfach von den Sloops und Korvetten gerammt, die sich
innerhalb der Sperre teilweise ihrer Beischiffe entledigt haben. Der tapfere
Bucharen wird schwer verletzt, der Tennessee ergiebt sich um zehn Uhr vor¬
mittags als halbes Wrack, die feindlichen Kanonenboote werden genommen,
die Schiffe bleiben oberhalb des Fort Morgan, der Sieg ist errungen.
Fort Gaues und Fort Powell wurden am 6. beschossen und darauf
geräumt, Fort Morgan aber ergab sich erst, nachdem die Truppen des Generals
Granger nach Mohne Point übergesetzt waren und dort im Rücken des Forts
Batterien gebaut hatten. Nachdem am 22. August das Fort von den drei
Monitors, den andern Schiffen und den Landbatterien beschossen worden war,
strich es am 23. die Flagge. Die Verluste Faraguts waren groß, 162 Tote
und 170 Verwundete, aber er hatte seine Aufgabe erfüllt, der letzte Hasen der
Südstaaten am Golf war genommen. Daß die Seculum in Mobilebai recht
gefährlich waren, geht daraus hervor, daß nach dem Aufräumen der Bucht uoch
sieben Fahrzeuge durch das Explodiren nicht gefundner Minen zum Sinken
gebracht sind.
Bei der Wichtigkeit der durch Eisenbahnen mit dem Hinterkante ver-
bundnen Stadt Charleston sür die Südstaaten hatte die Union schon früh darnach
gestrebt, den Hafen durch Blockade und andre Mittel zu schließen. Der Versuch
im Dezember 1861 und Januar 1862, die Einfahrt durch Versenken vieler
mit Steinen belasteter Schiffe zu sperren, hatte bei der starken Strömung nicht
den gewünschten Erfolg gehabt und war außerdem in Europa, besonders in
England, sehr mißfällig beurteilt worden. Bei der weiten Ausdehnung der
Befestigungsanlagen fanden die schnellen Blockadebrecher früh Schutz unter den
Kanonen der Forts. Die Verteidigungsmittel Charlestons waren im Laufe der
jahrelangen Blockiruug und infolge der häufigen Angriffe mehr verstärkt worden,
als an irgend einem andern Punkte der Küste. Die Hauptforts, Sünder,
Moultrie, Beciuregard und Wagner, vier kleinere Forts und gegen zwanzig
Batterien führten im ganzen 150 ant aufgestellte Geschütze, von denen 76 wegen
ihrer Durchschlagskraft sogar den Panzerschiffen der Nordstaaten gefährlich
waren. Die Sperren aus Ballen, Pfählen, besonders aber die aus Netzen
und Tauwerk hinderten das Vorbeilaufen an den Forts. Hunderte von Minen
mit elektrischer und Kvntaktzündung waren als Sperren oder vereinzelt im
Hafen und auch davor verteilt. Als neues Verteidigungsmittel traten die
Spierentorpcdo- und Unterwasferboote hinzu. Auch wurden mit unzulänglichen
Hilfsmitteln Panzerschiffe gebaut, von denen zwei am 31. Januar 1863 einen
erfolgreichen Ausfall machten und mehrere Blockadeschiffe außer Gefecht setzten.
Dieser Ausfall zwang den Leiter der Blockade, Admiral Dupont, Monitors
und das neue Panzerschiff New Jronsides heranzuziehen, und bewog die nord¬
staatliche Negierung zum Befehl, nunmehr mit ernsten Angriffen gegen Charleston
vorzugehen. Indes hier versagte die Flotte. Während man somit bei den
meisten Kämpfen der Flotte im Küstenkriege ein entschiednes und erfolgreiches
Handeln rühmen kann, hat vor dem starken und mutig verteidigten Charleston
die Marine ihr Ziel nicht erreicht. Am 6. Juli löste der Admiral Dahlgreen
den Admiral Dupont ab. Beide haben mehrfach angegriffen, konnten aber bei
aller Tapferkeit und Zähigkeit der Schiffsbesatzungen nicht in den Hafen ein¬
dringen, obgleich seit April 1863 Landtruppen unter den Generalen Hunter
und Gillmore ihre Angriffe gegen die äußern Seeforts unterstützten. Das
rücksichtslose Daransetzen von Material und Personal, das wir an Faragut"
bewundern, fehlte aber vor Charleston. Faragut erreichte sein Ziel öfters mit
großen Opfern; vor Charleston waren die Verluste im Verlaufe der Zeit be¬
deutend größer, aber nnr wenig wurde erreicht. Die Forts waren zu Ruinen
zusammengeschossen, die Verpflegung der Truppen war kaum noch ausreichend,
das Leben zu fristen, und dennoch hielt sich Charleston gegen den sich immer
mehr verstärkenden Feind, der es immer enger umspannte, aber nicht wagte,
sich durch Aufräumen der Sperren und der ihm so unheimlichen Minen den
Weg zum innern Hafen zu öffnen. Doch die Entscheidung des Bürgerkrieges
stand bevor; General Sherman nahte mit einem Heere Charleston von der
Landseite, und als die Schiffe am Morgen des 18. Februar 1865 in üblicher
Weise nach den Forts schössen, erhielten sie keine Antwort. Die Forts und
die Stadt waren am 17. abends wegen der Annäherng Shermcms geräumt
worden.
Die Verluste an nordstaatlichen Truppen vor Charleston sind nicht an¬
gegeben worden, sie sind aber sicher recht groß. Außer einigen Transportern,
die durch Minenexplosionen in den verschiednen Zugängen zu Charleston zerstört
wurden, gingen der Monitor Keokuk durch die Geschützwirkung, der Monitor
Patapsko durch die Explosion einer Seeinine, die Dampfkorvette Housatonic durch
den Angriff eines Unterwasserboots und der Monitor Weehawken infolge un¬
geschickter Stauung durch Volllaufen durch die Klüsen vor Anker unter.
Der letzte Erfolg der Flotte an der Küste war am 15. Januar 1865 die
Einnahme von Fort Fisher, das an der Nordseite des Einganges zum Hafen
von Wilmington liegt und sehr gut gebaut war. Es war ein großer Fehler
der Nordstciateu, daß von ihnen Wilmington nicht früher genommen wurde,
da dies der Haupthafen für die Blockadebrecher war, die unter dem Schutz
des sehr gut armirten Fort Fisher hier andauernd ihre Kriegsvorräte ein¬
führten. Im Dezember 1864 wurde endlich in Hampton Noads eine Ex¬
pedition unter Admiral D. D. Porter ausgerüstet, der ein starkes Landungs¬
korps unter General Butler beigegeben war. Am 24. und 25. Dezember wurde
Fort Fisher stark beschossen, und am 25. Dezember auch ein Versuch gemacht,
das Fort mit 3000 Mann von der Landseite aus anzugreifen. Das Einver¬
nehmen zwischen Porter und Butler war nicht das beste. Das Fort wurde
von.Butler als noch zu stark befunden, und weil schlechtes Wetter eintrat,
wurde der weitere Angriff aufgeschoben. Am 13. Januar 1865 lag abermals
eine Flotte von 6 Monitors, 36 Kriegsschiffen und vielen Transportern vor
Fort Fisher und landete 6000 Mann unter General Tierry vier Seemeilen
nördlich vom Fort. Am 13., 14. und 15. bis nachmittags drei Uhr beschoß
die Flotte das Fort; dann gingen die Landtruppen, verstärkt durch 2000
Matrosen und Seesoldaten, zum Angriff über, worauf die durch das Bom¬
bardement geschwächte Besatzung das Fort übergab. Bis zum 22. Januar
hatte Porter dann auch die innern Forts stromaufwärts bis Wilmington ge¬
nommen. Mit dem Fall von Wilmington hörte die letzte Sendung von Kriegs¬
material und Vorräten an die Armee des Generals Lee vor Richmond auf;
das hoffnungslose Ringen der Südstaaten mußte nun ein Ende nehmen.
Die Waffen für den See- und Küstenkrieg sind seitdem verbessert worden,
das Stärkeverhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger hat sich aber nicht
geändert. Mit jeder neuen Waffe erscheint sofort ein Schutzmittel. Nachdem
Torpedos mit eigner Vorwärtsbewegung gebaut sind, hat man die weitere
Zelleneinteilung bei den Schiffen eingeführt, die auch die Wirkung der Sec¬
ulum verkleinert. Dem schnellen Torpedoboot begegnen Scheinwerfer, Schnell¬
lade- und Maschinenkanonen, gegen Minensperren geht man mit Minensuch-
gerät und Breschirminen vor, und bester Nickelstahl als Panzerung kämpft
mit den stärksten Kanonen um den Sieg.
Ein Beispiel zühester Verteidigung wird Charleston stets bleiben; ob andre
Soldaten und Bürger dasselbe vollbracht hätten, ist fraglich; sicher aber ist, daß
ein Admiral vom Schlage Faraguts die Einfahrt doch erzwungen Hütte. Der
Mangel an einer Flotte bei den Südstaaten wurde entscheidend für den Aus¬
gang des Krieges. Die Siege der Landheere und die schwachen Schiffe konnten
trotz kühner Führung das Land nicht davor schützen, vom Seeverkehr ab¬
geschnitten zu werden. Die Küstenplätze des Südens fielen in Feindeshand,
das schwierige Fahrwasser der Küsten und Flüsse mit ihren Forts, Sperren
und Seculum konnte gegen den kräftigen Angriff der Flotte nicht gehalten
werden. Von einer Selbstverteidigung der Küsten konnte schon gar nicht die
Rede sein, da das mit Hilfsmitteln reich ausgestattete Vermesfungspersonal
des Feindes die Schwierigkeiten der Durchfahrt bald beseitigte; dagegen hätten
nur zum Ausfallgefecht geeignete Schiffe geschützt. Hätten die Südstaaten
eine nur einigermaßen brauchbare Flotte und nicht bloß Seeoffiziere gehabt,
so würde der Kampf bei der Tapferkeit und Opferfreudigkeit ihrer Bevölkerung
zu andern Ergebnissen und vielleicht zur Teilung der Union geführt haben.
s giebt in Berlin 33^) öffentliche Fernsprechstellen zur Benutzung
sür jedermann, natürlich gegen Entgelt. Im ganzen Deutschen
Reiche zählt man deren jedoch 564, darunter 115 Vörsenzellen,
die sich auf 265 Orte verteilen.^) Sie befinden sich in Post-
oder Telegraphenämtern, in großen, mehr oder weniger dunkeln,
mit Zeug ausgepolsterten Schränken, die das Geräusch der Umgebung abhalten
sollen; doch werden sie vom Publikum merkwürdig wenig benutzt. Meistenteils
sind es, wenigstens in Berlin, Journalisten, die sich ihrer bedienen, und auch
diese kommen nur selten und fast nur zu ganz bestimmten Tagesstunden. In der
übrigen Zeit stehen sie gewöhnlich unbenutzt da, oft stundenlang. In sämt¬
lichen 564 Kcibiuen des Reichs wurden im Betriebsjahre 1895/96 nur
527 850 Gespräche geführt, also durchschnittlich im Jahre 936 Gespräche oder
2,55 Gespräche an einem Tage auf je einer Sprechstelle, während auf die
Privattelephone der Abonnenten durchschnittlich im Jahre je 2966 Gespräche,
für die Sprechstelle also 8 Gespräche an einem Tage fielen. Wenn man aber
sämtliche ausgeführten Verbindungen — also auch die der Vermittlungsämter —
mitzählt, so kommen ans jeden Apparat durchschnittlich 11 auf jeden Tag.
Gerade im Lokalverkehr werden die öffentlichen Telephone Deutschlands sehr wenig
benutzt, obwohl sie hier eigentlich eine bedeutende Rolle spielen müßten. Sollten
sie dazu wohl zu gering an Zahl sein? Oder vielleicht schon zu zahlreich?
Es dürfte wohl interessant sein, zu verfolge», welche Rolle die öffentlichen
Fernsprechstellen in andern Ländern spielen, und wie sie dort eingerichtet sind.
Ein wenig verblüfft wird man dabei freilich sein, wenn man sieht, wie sie
anderwärts zum Teil sogar außerordentlich viel mehr verbreitet sind als hier¬
zulande.
Das Deutsche Reich mit seinen 52 340000 Einwohnern zählte 1895/96
mir 564 öffentliche Sprechstellen; Frankreich nur mit 38517975 Einwohnern
dagegen 762 öffentliche Telephonstellen; Schweden mit 4919260 Bewohnern
sogar 829 (darunter 33 in Staatsanstalten); die kleine Schweiz mit 3029925
Menschen 516; Norwegen, schon 1893, mit 2041600 Menschen — also kaum
soviel als Großberlin — 546, und das Ländchen Luxemburg mit nur
217583 Bewohnern 88 öffentliche Fernsprechstellen. Es kommt demnach eine
öffentliche Sprechstelle auf je 2472 Einwohner in Luxemburg; auf 3739 in
Norwegen; auf 5871 in der Schweiz; auf 5933 in Schweden; auf 50548 in
Frankreich und erst auf 92801 Einwohner in Deutschland. Natürlich giebt
es Staaten mit noch weniger öffentlichen Fernsprechern, doch lassen wir diese
beiseite, da sie uns hier nicht interessiren. In Schweden ist die Zahl der
öffentlichen Sprechstellen übrigens noch größer als oben angegeben, doch ist
die Statistik darin leider unvollständig, da die von vielen Privatleuten in
öffentliche Gesprächsstellen verwandelten Neichstelephvne in ihr fehlen. 1896
waren 427 staatliche Telephonapparate im Dienste öffentlicher Sprechstellen,
von den privaten ganz abgesehen. Wenn Deutschland relativ — nach dem
Verhältnis seiner Einwohnerzahl — ebenso viele öffentliche Fernsprecher besäße,
wie Luxemburg, so müßte es statt der jetzigen 564 deren im ganzen 20368
nnfweisen, also siebenunddreißigmal mehr. Und wenn es auch nur soviele
hätte, wie Schweden, die Schweiz oder Norwegen, so müßten es doch immer
etwa 9 bis 14000 sein.
In Kristiania, der Hauptstadt Norwegens, mit 148000 Einwohnern gab
es (schon zu Ende des Jahres 1892) 92 öffentliche Fernsprechstellen, also je
eine auf je 1608 Menschen. Berlin mit seinen 1708000 Einwohnern müßte,
Wenn hier dasselbe Verhältnis herrschte, statt der jetzigen 33 öffentlichen Tele¬
phone deren 1058 haben, also elfeinhalbmal so viel. In Bergen in Norwegen
gab es zu derselben Zeit 30 solcher öffentlichen Sprcchstellen, also je eine auf
1766 Einwohner (Bergen hat etwa 53000 Einwohner). Mit Recht wurde des¬
halb in den letzten deutschen Postkonferenzen auch eine Vermehrung der öffent¬
lichen Fernsprecher gefordert, namentlich auch in den kleinern Landstädte», wo
sie zur Zeit noch fast ganz sehlen.
In Schweden, Norwegen und Dänemark ist übrigens die Mehrzahl solcher
städtischen öffentlichen Fernsprechstellen nicht in den staatlichen Post-, Tele¬
graphen- oder Telephonanstalten untergebracht oder in den Bureaus der Privat¬
telephongesellschaften, sondern meist viel praktischer und zweckmäßiger, dicht am
Wege, für jedermann sichtbar und sofort benutzbar: nämlich in besondern Tclephon-
kiosken, in Seltersbuden, Zeitungspavillons, Blumenbuden usw. Natürlich
müssen die Inhaber solcher Sprechstellen den staatlichen oder privaten Telephon¬
verwaltungen eine besondre Vergütung zahlen, sei es nun eine jährliche Abgabe
oder eine Tantieme für jedes bezahlte Gespräch. Es ist oft ein Vergnügen,
zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit und Fertigkeit man sich in jenen Ländern,
namentlich in Schweden, des Telephons bedient. In Stockholm pflegen die
Sprechenden gar nicht erst in einen solchen Kiosk einzutreten, sondern sie lassen
sich den an der Schnur hängenden Hörapparat auf die Straße herausreichen,
und da der Schalltrichter zum Hineinsprechen mit ihm verbunden ist und so
beim Hören schon von selbst immer vor dem Munde ruht, so ist Sprechen
und Hören hier die leichteste Sache von der Welt. Auch sind die Apparate
so zierlich und geschmackvoll gearbeitet, wie man sie in Deutschland gar nicht
kennt. Die Leitungen sind stets doppelt, die Verständigung ist daher vortrefflich,
trotz des Straßenlärms nebenbei, und trotzdem daß man meist nur leise hiuein-
spricht. Alle Augenblicke kann man Herren und Damen oder selbst Männer und
Frauen der einfachern Stände, so in Stockholm, auf den Straßen am Telephon
sprechen, antworten und lachen hören. Es sind ja auch nur 10 Öre (11 Pfennige)
für ein Stadtgespräch zu bezahlen. In den Kiosks werden außerdem noch
Zeitungen, Kursbücher, Witzblätter verkauft und allerlei Dienstleistungen über¬
nommen. Ihre Glaswände sind mit Annoncen und Neklametransparenten
bedeckt.
Sehr praktisch und merkwürdig sind die großartigen Telephonkioske in
Kopenhagen, die seit dem 1. Juli 1896 von einer besondern Privatgesellschaft
in Betrieb gesetzt wurden und schon im ersten Halbjahr eine Dividende von
6 Prozent einbrachten. Es giebt zur Zeit zehn Kioske, und sie stehen an den
Hauptverkehrsadern der Stadt. Fast um die Hälfte höher, also etwa sieben Meter
hoch, und drei- bis viermal dicker als die Uraniasüulen in Berlin, sind sie stil¬
voll in sechseckiger Gestalt auf Granitquadern von etwa einem Meter Höhe
errichtet, oben mit rundem Dach, das sich später zu einer Spitze verjüngt und
mit Holzschnitzwerk sauber verziert ist. Die Wände ringsum sind aus Glas,
und der Schalter ist von einem Glasvordach beschützt. Das Innere zerfällt in
drei Räume: in den Schalterraum, worin eine junge Dame sitzt; in eine hohe,
luftige und helle Telephonsprechzelle und in einen Schreibraum mit Pult, wo
Telegramme, Briefe und dergleichen geschrieben werden können. Diese drei
Räume stehen mit einander in Verbindung, und die Dame kann sie durch
zwei Klappfensterchen bestündig überwachen-
In jeden Kiosk münden zwei doppeldrähtige Telephonleitungen. Ein
Telephon hat das Fräulein zu ihrem Gebrauch am Schalter, und eins befindet
sich in der öffentlichen Sprechzelle. Annonce» und erleuchtbare Reklame¬
transparente bedecken die Wände. Am Schalter hängt ein Thermometer, ein
Barometer, eine Wetterkarte u. tgi., und auf dem Dache ist eine große Normal¬
uhr. Die sechs Ecken des Daches tragen als Abzeichen je eine grüne Laterne.
Die Beleuchtung ist elektrisch im Innern und Äußern, und ein kleiner Metallöfen
erwärmt nötigenfalls den Schalterraum. Über dem Schalter sind Wochentag
und Datum angezeigt. Ein großgedrucktes Preisverzeichnis erläutert, was
man außer Zeitungen usw. in diesen Kiosks noch alles haben kann, nämlich:
per 100 Stück ... 2 Kronen (22ö Pf.)
Wie man sieht, sind diese Kopenhagner Telephonkioske, die im Sommer
von 7^/z Uhr morgens bis 10^/z Uhr abends, im Winter von 8 Uhr morgens
bis 10 Uhr abends geöffnet sind, eine ganz vortreffliche und vielseitige Ein¬
richtung, und sie verdienten in Deutschland nachgeahmt zu werden. In
größern Städten würde der Erfolg sicherlich nicht ausbleiben — aller¬
dings unter der Voraussetzung, daß der Tarif für Lokalgesprüche herab¬
gesetzt würde, und zwar von 25 auf 10 Pfennige. Die Kopenhagner Tele¬
phongesellschaft und die Kioskgesellschaft, die deren Telephone und Leitungen
benutzt, haben sich daher mit einander verabredet, daß sie den Gewinn für
Telephongespräche teilen, also jede 5 Ore für ein Gespräch erhält.
In Deutschland dürfen die Haus- oder Grundbesitzer uur ihren Mietern
die Benutzung ihres Fernsprechers gegen Entgelt gestatten. Es wäre aber
doch wünschenswert, wenn solche öffentlichen Tclephonkioske auch hier zu ähnlichen
Bedingungen errichtet würden, und wenn auch die Seltersbuden, die übrigens
in Stockholm auffallend elegant und geschmackvoll eingerichtet und meist mit
Reichs- und Privattelephon versehen sind, zu öffentlichen Fernsprcchstellen gemacht
werden könnten. Die Postverwaltung würde wahrscheinlich ein besseres Geschäft
dabei machen, als jetzt, wo man für Lokalgespräche 25 Pfennige zahlen muß.
Infolge dessen spricht natürlich niemand, sondern man zieht Postkarten und
Pferdebahnen (10 Pfennige) vor; und nötigenfalls lauft man sich, wenn man
Raucher ist, für 10 Pfennige eine Cigarre oder man trinkt einen Schnitt Bier
und telephonirt umsonst im Cigarrenladen oder im Bierlokal. 10 Pfennige für
ein Gespräch in der Stadt und den nähern Vororten wären aber ganz genug.
Ein höherer Tarif bedeutet eben, wie die Statistik lehrt, Verscheuchung des
Verkehrs: 2^ Gespräche täglich auf jede öffentliche Sprechstelle — welch
dürftiger Verkehr, welche klägliche Einnahme und Verzinsung der Anlage!
Eine Herabsetzung des Tarifs für öffentliche Lokalgesprüche empfiehlt sich
aber auch im Hinblick auf die Gebühren andrer Länder. Im deutschen Reichs¬
postgebiet zahlt man sür 3 Minuten 25 Pfennige; in Baiern für 5 Minuten
25 Pfennige; in Belgien für 5 Minuten 20 Pfennige (25 Centimes); in
Ungarn für 5 Minuten 17 Pfennige (10 Kreuzer); in Osterreich für 3 Minuten
17 Pfennige (10 Kreuzer); in Schweden, Norwegen und Dänemark 11^ Pfennige
(10 Öre); in der Schweiz sogar nur 8 Pfennige (10 Centimes) für ein Ge¬
spräch ohne begrenzte Dauer; in Spanien 16 Pfennige (20 Centimes); in
Japan für 5 Minuten 10 Pfennige (5 Sen); bei den öffentlichen Sprechstellen
der Privatgesellschaften Italiens: in Rom 8 Pfennige (10 Centimes), bei einer
andern römischen Gesellschaft 12 Pfennige (15 Centimes); in Ferrara, Padun,
Pisa, Verona 8 Pfennige (10 Centimes); in Mailand und Brescia für 5 Minuten
16 Pfennige (20 Centimes) usw. Also in den zehn angeführten Ländern sind
die Tarife für Lokalgesprüche in den öffentlichen Fernsprechstellen zum Teil
um ein bedeutendes billiger, und der deutsche Gebührensatz ist um 212 Prozent
teurer als der schweizerische! Daß mau für 25 Pfennige auch auf Ent¬
fernungen bis 50 Kilometer sprechen kann, ist ein geringer Trost, denn im
täglichen Leben des Durchschnittsstädters handelt es sich vor allen Dingen
um die nächsten Lokalbeziehungen; das Sprechen in die Ferne ist doch mehr
eine Ausnahme. Übrigens ist auch der Tarif für Ferngespräche in Deutschland
sehr teuer im Vergleich mit manchen andern Ländern. Von Interesse dürfte
es noch sein zu erfahren, daß Abonnirte, die sich durch ihre Karten legitimiren,
in Belgien an öffentlichen Sprechstellen gratis sprechen und in Baiern im
gleichen Falle nur 10 (statt 25) Pfennige bezahlen, und daß auch ihre An¬
gehörigen diese Vergünstigung genießen.
Ferner können Nichtabonnirte in Baiern für 5 Mark Billets zu 50 Lokal¬
gesprächen — mit einjähriger Billigkeit — erhalten (also auch 10 Pfennige
für das Gespräch), und in Belgien können die Angestellten, Associvs oder
Agenten von Telephonabonnenten für 16 Mark 20 Pfennige (20 Francs) eine
Jahreskarte zur beliebigen Benutzung öffentlicher Sprechzelleu bekommen, die
im zweiten Jahre sogar mir 8 Mark 10 Pfennige (10 Francs) kostet. Außer-
dem kann jedermann für 5 Francs (4 Mark) eine Monatskarte für beliebig
viele Lokalgespräche kaufen.
Für viele Geschäfts- und Privatleute sowie für die Presse ist diese Ein¬
richtung sicherlich von hohem Wert. Besonders angenehm ist es aber sür den
Benutzer, daß man in Belgien (für 25 Centimes 20 Pfennige), Schweden
(25 Are ^ 28 Pfennige), Dänemark (25 Öre) und Norwegen (25 Öre)
auch Nichtabounenten in einer andern Stadt zu einer bestimmten Stunde
durch Vermittlung der Fernsprechanstalt (durch einen besondern Voden) an das
Telephon einer öffentlichen Sprechstelle rufen lassen kann, um mit ihnen tele¬
phonisch zu verhandeln. Ju Deutschland kann man das unsers Wissens zu
diesem niedrigen Preise nicht haben. Wir schließen mit dem Wunsche, daß die
öffentlichen Fernsprechstellen bald angemessen vermehrt, bequemer eingerichtet
und besser gelüftet und ihre Lokaltarife auf 10 Pfennige herabgesetzt werden.
Zu verlieren ist dabei ganz sicher nichts, denn die Lokalgespräche sind in ihnen
selten und bringen herzlich wenig ein, und die Ferngesprächsgebühr bleibt ja
unberührt. Wenn die rund 509000 jährlichen Gespräche in den öffentlichen
Sprachstellen der Neichstelegraphenverwaltung sämtlich Lokalgespräche wären,
so würde das eine Einnahme von 125 000 Mark bedeuten, und bei einer
Herabsetzung der Lokalgesprächsgebühr vou 25 auf 10 Pfennige einen
theoretischen Verlust von 75000 Mark, d. h. also ein so kleines Risiko, daß
es in einer so großen Verwaltung überhaupt nicht in Betracht kommt. That¬
sächlich dürften aber wohl die Hälfte dieser Gespräche Ferngespräche sein, sodaß
das Risiko schon aus 37000 Mark sänke. Da sich der Verkehr bei einer
solchen Ermäßigung aber bald verdreifachen würde, so wird ein Ausfall Wohl
überhaupt nicht stattfinden und nun eine bessere Ausnutzung der Anlagen
eintreten.
le verkehrte Politik, zu der man von Ammons „naturwissen¬
schaftlicher" Grundlage aus gelangen kann, hat er gleich selbst
gelehrt. Vor allem bekämpft er das allgemeine Wahlrecht als
eine höchst verderbliche Einrichtung. Dabei legt er S. 196 eine
glänzende Probe ab von seiner wissenschaftlichen Genauigkeit und
Gewissenhaftigkeit auch außerhalb des uaturwisseiischaftlichen Gebiets, indem er
schreibt: „Durch das allgemeine Wahlrecht zum Reichstag ist Deutschland in
eine Lage versetzt, bei der die untern Klassen vermöge ihrer großen Kopfzahl
fast alle Macht besitzen, und es sich nur darum handeln kann, die infolge dessen
drohenden Gefahren womöglich abzuwenden." Das würde sich ja in einer
Wahlrede ganz gut ausnehmen, aber wenn es in einem Buche steht, so reicht
das Lesen dieses einen Satzes schon hin, den Kritiker zu überzeugen, daß dieses
Buch nicht in die wissenschaftliche Litteratur, sondern zu den Parteipamphleten
gehört. Denn in Wirklichkeit haben die Regierungen und die obern Zehn¬
tausend alle Macht, die untern Klassen gar keine. Nicht einmal der Reichstag,
wo doch die Vertreter der untern Klassen nur eine schwache Minderheit bilden,
hat irgendwelche Macht; er mag immerhin beschließen, daß seinen Mitgliedern
Diäten zu zahlen seien, wie die Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses
welche beziehen,^) er mag die Aufhebung des Jesuitengesetzes ein halbes Dutzend
mal beschließen, es nützt ihm nichts; der Bundesrat versagt die Bestätigung.
So steht es mit der Gesetzgebung, auf die er freilich im übrigen einen be¬
schränkten und bedingten Einfluß hat, von dem auch auf die Vertretung der
untern Klaffen in ihm ein Stückchen kommt, dagegen hat er auf Verwaltung
und Rechtspflege schlechthin gar keinen Einfluß. Die Verbindung dieser und
ähnlicher Behauptungen mit der „naturwissenschaftlichen" Grundlage wird auf
S. 87 vollzogen. (Zum Verständnis des Satzes schicke ich voraus, daß in
der Gesellschaftszwiebel die obere und die untere Mittelschicht mit und ^
bezeichnet werden, die höchste und die unterste Schicht mit und g): „Von
den elf Millionen Deutscher über fünfundzwanzig Jahren, welche das Reichs¬
tagswahlrecht besitzen, kommen etwa neun Millionen auf das Mittelgut der
Klassen L., a, L, d, aber mehr als 800000 Schwachbegabte der Klassen o und ä
stimmen ebenfalls mit und helfen mit ihrer Intelligenz das Schicksal des
Reiches lenken. Sie sind gerade ausreichend, um die höher Begabten lahm zu
legen, welche wegen der Symmetrie der Kurve die nämliche Zahl ausmachen."
Wir wollen nicht weiter dabei verweilen, daß „der Symmetrie der Kurve,"
d. h. einer durch willkürliche Anwendung der Kombinationslehre auf die Be¬
gabungen der Menschen gewonnenen Zahlenreihe, eine zwingende und gesetz¬
gebende Gewalt zugeschrieben wird; das haben wir abgemacht. Aber steht
denn die Sache so, daß unser Volk in zwei Parteien zerfiele, und die Schei¬
dungslinie irgendwo durch die Vegabungszwiebel quer durchginge, sodaß alle
Intelligenzen der einen, alle Dummköpfe der andern Partei zufielen, und die
Klugen von den Dummen überstimmt werden könnten? Sehn Sie uns doch
mal an, hat Windthorst einmal im Reichstage gerufen, sind wir denn gar so
dumm? Vielmehr verhält es sich so — es ist lächerlich, das am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts einer deutschen Intelligenz klar machen zu müssen —,
daß die Gründer und Führer aller Parteien gescheite Leute sind, und daß
ihnen allen sowohl mittelmäßige Ingenia wie Dummköpfe folgen. Was aber
die stillschweigende Voraussetzung anlangt, die gemacht werden muß, wenn
Ammons Theorie für die Zensuswahlen gegen die allgemeinen Wahlen etwas
beweisen soll, die Voraussetzung, daß die Jntelligenzklassen mit den Zensus¬
klassen zusammenfielen, so wollen wir sie mit einer Anekdote beleuchten. Zur
Zeit des Septenuatsstreits sitzen einige Herren in einer Weinstube beim Früh¬
schoppen und besprechen die brennende Frage des Tages. Endlich ruft der
Mittagstisch, und einer nach dem andern entfernt sich. Nur einer, der die
ganze Zeit über den Mund nicht aufgethan hat, und der offenbar etwas auf
dem Herzen hat — es ist einer der reichsten Leute des Ortes —, bleibt zurück
und mit dem Wirt allein. Diesen fragt er, nachdem sich die Hausthür hinter
dem letzten Mitgast geschlossen hat, mit vorgehaltner Hand: „Du, erklär mir
doch mal, was ist denn das eigentlich, der Septennar?" Wir sind über¬
zeugt, daß jeder unsrer Leser mit entsprechenden Proben von Intelligenz aus
der ersten Steuerklasse aufwarten könnte.
Eine andre falsche Voraussetzung, die Ammon gleich andern Gegnern des
allgemeinen gleichen Wahlrechts stillschweigend macht, ist die, daß die Wühler
alle Gesetzvorlagen zu beurteilen imstande sein müßten. Diese Bedingung er¬
füllt aber in unsern modernen Großstaaten mit ihren verwickelten Verhältnissen
kein Mensch, auch keiner der höchsten Jntelligenzklasse. Einen Sinn hätte die
Forderung nur, wenn die Wähler nicht Wähler, sondern Gesetzgeber sein sollten,
wie das die Schweizer Staatsbürger im Fall eines Referendums sind. Der
deutsche Reichstagswähler hat nicht Gesetze zu begutachten, sondern er hat nur
Vertrauensmänner zu wählen, von denen er glaubt, daß sie imstande sein
werden, wenn auch uicht alle, so doch einige Vorlagen richtig zu beurteilen.
Der Reichstag hat dann Kommissionen zu wühlen, in denen sich die für jede
Gruppe von Vorlagen Sachverständigen zusammenfinden. Der Wähler läßt
sich gewöhnlich von der Erwägung leiten, ob der Kandidat wohl sein, des
Wählers, Klassen- oder Standesintcresse gut vertreten werde. Das ist kein
sehr erhabner oder idealer Standpunkt, aber da so ziemlich alle Wähler diesen
Standpunkt einnehmen, fo gleichen sich die verschiednen Egoismen aus, und
das Wohl des Ganzen bleibt leidlich gewahrt, und damit muß man sich zu¬
frieden geben in dieser unvollkommnen Welt. Messen wir nun einmal die
Leistungen dieses auf dem nach Ammon schlechtesten Wahlsystem beruhenden
Reichstages an dem Parteimaßstabe Ammons, der als Vertreter der badischen
Intelligenz und als Feind der Ultramontanen und Demokraten doch unbedingt
der nationalliberalen Partei angehört, und der ein ausgesprochner Bismarck-
verehrer ist! Von allen großen Entwürfen Bismarcks ist nur einer gescheitert,
das Tabakmonopol. In dessen Verwerfung waren aber fast alle Parteien
einig, und seine heftigsten Gegner waren die badischen Nationalliberalen; ich
selbst habe oft mit solchen darüber gestritten. Bis zum Jahre 1878 waren
die Nationalliberalen, trotz des „schlechten" Wahlrechts, die stärkste Partei des
Reichstags; wer sie dann an die Wand drückte, das war uicht der blinde
Hödur der Intelligenz- und Steuerklasse ö — die sozialdemokratische Fraktion
schmolz nach den Attentaten auf neun Mann zusammen —, sondern Bismarck
durch seine neue Wirtschaftspolitik. Seit jenen Tagen der großen Umkehr ist
die Gesetzgebung vorzugsweise auf zwei Gebieten thätig gewesen, auf dem so¬
genannten sozialen und auf dem wirtschaftlichen. Auf jenem haben wir zunächst
die Arbeiterversicherung zu verzeichnen, die bekanntlich Bismcircks Werk ist.
Die Ära des Arbeiterschutzes aber hat unser jetziger Kaiser eingeleitet, und
obwohl ihm die Kartellparteien — nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern
aus andern Gründen — anfangs kühl gegenüberstanden, thun sich doch seit
einiger Zeit gerade die Nationcillibcralen unter der Führung des Freiherrn
von Hehl mit Vorschlägen zum Arbeiterschutz hervor. Die Sozialdemokraten
haben, wie ihnen unzähligemal vorgeworfen worden ist, gegen die meisten
Gesetze dieser beiden Gruppen gestimmt. Aus wirtschaftlichem Gebiet ist eine
Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die man als schutzzöllnerisch-agrarisch-
zttnftlerisch-reaktionär zu bezeichnen pflegt. Wenn man unter Intelligenz die
Gesamtheit der akademisch Gebildeten versteht, so hat ihre Mehrheit wahr¬
scheinlich wenig Freude an dieser Gesetzgebung gehabt. Aber der preußische
Adel, die Großindustrie, die Handwerker und die Bauern haben sich zu ihrer
Durchführung verbündet, und diese Klassen sind es ja, die nach Annäus
Ansicht herrschen sollen, und die sich des erblichen Besitzes der Intelligenz
erfreuen; der Reichstag hat also durchaus im Sinne Ammons gearbeitet.
Herr Ammon hat einen Bruder im Apostolat für die Sozialaristokratie:
Herrn Alexander Tille in Glasgow. Dieser steht auf derselben „natur¬
wissenschaftlichen" Grundlage. Wie Ammon leugnet er die Vererbbarkeit
erworbner Eigenschaften, bekämpft er den Neulamarckismus, lehrt er die Ent¬
stehung, Erhaltung und Verbesserung der edlern Menschenrassen durch die
Sozinlauslese im Kampfe ums Dasein; wie Ammon haßt er die Demokratie,
den Sozialismus, die Gewerkvereine. Und dieser Mann, der ihm in seinem
Denken und Fühlen und in der wissenschaftlichen Erkenntnis so nahe steht wie
kein andrer in der ganzen Kulturwelt, dieser Mann — erklärt Krieg und
Militarismus für unsinnige, verderbliche, antiselektionistische Dinge, würde also
als deutscher Reichsbürger, wenn ihn nicht vielleicht parteitaktische, also außer¬
halb der Sache liegende Gründe zu einer andern Haltung bewogen, wahr¬
scheinlich gegen alle Militärvorlageu stimmen. Würden die beiden Herren auf
eine wüste Insel versetzt und gründeten einen Staat zusammen, so würden sie
einander, als konservative Partei und Opposition, in die Haare geraten. Es
ist wirklich eine recht kindliche Auffassung, daß die Regierungspartei allemal
die Partei der Gescheiten und die Gegenpartei die der Dummen sei, und daß
das allgemeine gleiche Wahlrecht den Dummen zum Siege über die Gescheiten
verhelfe. Wo immer es zwei Parteien im Staate giebt, da stehen Geschelte
Gescheiten gegenüber, und welche von beiden die Gescheiter» oder die eigentlich
Gescheiten sind, das bringt immer erst etliche Jahrzehnte oder Jahrhunderte
später die Weltgeschichte an den Tag. Die Dummen aber stellen auf beiden
Seiten den Chor oder Heerbann und bilden die Resonanz, und je größer die
Wählerschaften, je unbeholfner daher die Bewegungen der beiden Massen sind,
desto schwerer wird freilich den gescheiten Führern die Leitung, desto geringer
ist aber auch die Gefahr, daß die eine der beiden Parteien von der andern
vollständig unterdrückt werde, und das Stück Gescheitheit, das in ihr verkörpert
ist, dem Vaterlande verloren gehe.
Aber, meint Ammon: „Die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer sind
die Bevorzugten des allgemeinen Stimmrechts; ja, wir haben Radaubrüder
mit dem Siegeslorbeer geschmückt aus der Urne hervorgehen sehen, deren Wahl
man für eine moralische Unmöglichkeit hielt." Dagegen fragen wir: kann uns
Ammon beweisen, daß bei den Neichstagswahlen Männer von hervorragender
Intelligenz regelmäßig unwissenden Schwätzern und Schreiern unterliegen?
Und verstehen etwa die agrarischen Mitglieder der konservativen Partei das
Schreien nicht? Verkündigen nicht gerade sie die Losung: nur schreien, schreien !
Artige Kinder kriegen nichts? Und wie viel Radaubrüder haben wir denn
im Reichstage? Zwei: Ahlwcirdt und Sigl. Jener vertritt das Urteutonen-
tum und ist von zwei Landräten in dem Kreise herumgeführt worden, der ihm
den Siegeslorbeer gereicht hat. Dieser ist ein Produkt eigentümlicher bairischer
Verhältnisse und hat sein Mandat nicht von Proletariern, sondern von Bauern
empfangen. Ammon lobt das Dreiklassenwahlsystem (natürlich, denn was hat
man sonst für eins, wenn man das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht will,
da die Künsteleien, die E. von Hartmann und andre vorgeschlagen haben, doch
nun einmal undurchführbar sind) und findet, daß es sich besonders in der
städtischen Verwaltung sehr schön bewähre. Daß unter Umständen ein Gro߬
industrieller allein die erste Klasse bildet, will freilich auch Ammon nicht ge¬
fallen. Wenn es nur wenigstens immer ein hochgebildeter Großindustrieller
wäre! Aber manchmal ists ein dicker Schlächtermeister. Und was sagt Ammon
zu folgender Vertretung der Intelligenz? In Neustadt in Oberschlesien bilden
die Herren Abraham Fränkel, Hermann Frünkel und Emanuel Fränkel die
erste, die Herren Josef Plutus, Albert Fränkel, Max Plutus und August
Schneider die zweite Abteilung; die vier Fränkel und die zwei Plutus sind
Inhaber einer und derselben Firma, einer großen Leinenwarenfabrik; diese eine
Firma wählt oder ernennt vielmehr vierundzwanzig Stadtverordnete, alle andern
Bürger zusammen, einschließlich der Justizbeamten und Gymnasiallehrer, haben
nur zwölf zu wählen. Ist das Arierherrschaft? In einer andern Stadt, die
wir nicht nennen wollen — es ist leine preußische —, wählt ein Bordellwirt
in der ersten und die gesamte Intelligenz in der dritten Klasse. Ob, wie
Ammon behauptet, das badische Dreiklassenwahlsystem so arge Übelstände nicht
erzeuge, vermögen wir nicht zu prüfen; ganz zu vermeiden sind sie bei keiner
Einrichtung dieses Systems, und jedenfalls bestehen sie in dem größten, dem
ausschlaggebenden deutschen Vundesstaate. Dessen Abgeordnetenhaus, meint
Ammon, bilde dank dem Dreiklassenwahlsystem „eine würdige Vertretung" und
sei dem Reichstag an Ansehen überlegen. Was soll das „würdig" bedeuten?
Daß es einer Volksvertretung unwürdig sei, einen Drechslermeister, einen
Sattlergesellen und einen Schlossergesellen unter seinen Mitgliedern zu zählen?
Darin ist der Geschmack verschieden. Es sind nicht durchweg die schlechtesten
Männer, die meinen, ein Handwerker, der manchem Grafen geistig überlegen
sei, verunziere den Reichstag durchaus nicht. Oder findet Ammon die lang¬
weilige Ruhe, die gewöhnlich im preußischen Abgeordnetenhause herrscht, so
würdig? Nun die kommt davon, daß die aufregenden Gegenstände auf den
Reichstag übergegangen sind. In der preußischen Konfliktszeit ist es auch in
jenem würdigen Hause recht lebhaft zugegangen, und dann noch einmal in der
Zeit des Kulturkampfes, und — als Bismarck gegen den Willen der national¬
liberalen Mehrheit die Maigesetze rückwärts revidirte. Auch im vorigen Sommer
hat man noch ein paar Aufwallungen erlebt, als das kleine Umsturzgesetz zu
Falle gebracht wurde — von den Nationalliberalen. Die Parteien pflegen
jedes Wahlsystem gut zu finden, bei dem sie gute Geschäfte machen, sobald
sie aber unterliegen, finden sie dasselbe Wahlsystem schlecht. Dieser ganz ge¬
wöhnliche Parteiärger ist es, der aus der natur- und Sozialwissenschaftlichen
Hülle von Ammons Buche hervorschaut. Und schließlich ist Ammon auch nicht
einmal mit den Einrichtungen zufrieden, die der Aristokratie eine Vertretung
sichern, und von denen man annehmen müßte, daß sie ihn mit hoher Be¬
friedigung erfüllen sollte. Er schreibt S. 374: „Die geschichtlichen Macht-
und Besitzverhältnisfe finden ihren Ausdruck in den Rechten des Kaisers und
des Bundesrath. Der Wille der Massen des geistigen Mittelgutes bis zum
Schwachsinn herab bestimmt die Zusammensetzung des Reichstags und der
Abgeordnetenhäuser Sta wird also das der Zensuswahl erteilte Lob zurück¬
genommen^. Hier, an den Stätten der Gesetzgebung und der Lastenverteilung
kann die Bildungsaristokratie ihre Einsicht und ihre sozialen Instinkte leider
nicht genügend zur Geltung bringen. In den Oberhäusern der Bundesstaaten
giebt es entweder keine oder nur einzelne Mitglieder, die Vildungsinteressen,
und dann nur solche einer umschriebnen Art (Kirchen, Hochschulen) amtlich
vertreten; die gebildeten Klassen als solche haben weder Sitz noch Stimme und
werden nur so weit berücksichtigt, als ihre Überzeugungen zwingende Gewalt
über die öffentliche Meinung zu gewinnen vermögen. Für die gesamte außer¬
halb des Beamtentums stehende höhere Begabung, Bildung und Lebens¬
erfahrung, die an Umfang und Gewicht sehr bedeutend ist, besitzt unsre Gesell¬
schaft kein Organ. . . . Gerade die jetzt mundtot gemachten Klassen gehören zu
den von Natur und Rechts wegen berufnen Leitern der Gesellschaft usw."
Diesem Erguß des Partciärgers halten wir nur die Fragen entgegen: Wer
macht denn die Gebildeten von Ammons Partei mundtot? Der Staatsanwalt
doch gewiß nicht! Und wie denkt er sich denn eine Vertretung der höhern
Begabung, Bildung und Lebenserfahrung? Will er eine Wahlkurie für sie
einrichten? Und wer soll die Leute nach der Begabung, Bildung und Lebens¬
erfahrung einteilen? Endlich, weiß er nicht, daß dem Manne, den er über
alles verehrt, schon zu viel reiner Geist in den Parlamenten sitzt, und daß er
ausschließlich die „produktiven Stände" darin vertreten haben will?
Das andre, wodurch Ammon, wenn er Einfluß gewönne, eine verkehrte
Richtung der Politik befördern würde, ist die entschiedn? Zurückweisung jeder
Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung. Ich meine nicht, daß er die
Standesunterschiede für notwendig, Gleichheit der Anlagen, der Vermögen, der
Bildung, der sozialen Lage für eine Utopie erklärt. Darin bin ich nicht allein
vollkommen einverstanden mit ihm, sondern gehe noch ein gutes Stück über
ihn hinaus, indem ich z. B. auch die Sklaverei nicht grundsätzlich ablehne.
Aber entschieden bekämpfen muß man eine Darstellung, worin unser gegen¬
wärtiger Zustand als ein unübertreffliches Meisterstück der Entwicklung erscheint,
an den die bessernde Hand anlegen zu wollen ein Frevel gegen die Natur sei
(was ihn, wie schon eingangs erwähnt wurde, nicht abhält, selbst Vcrbesserungs-
vorschlüge zu machen). Was die Natur thut, und worauf die Entwicklungs¬
theorie beruht, das ist eben, daß sie den Gesellschaftszustand keinen Augenblick
unverändert läßt, und eine der Bedingungen der Gesundheit jedes nicht ab¬
gestorbnen Gesellschaftskörpers besteht in der fortwährenden Umbildung seiner
Organe durch Anpassung an die sich stetig ändernden Verhältnisse wie seiner
feinern Gewebschichten, der höhern Stände, durch die Zufuhr frischen Blutes
von unten. Ammon behauptet nun, diese zweite Bedingung sei vollkommen
erfüllt. Niemals sei den Untern das Aufsteigen so leicht gemacht worden wie
heute, und in den obern Schichten könne sich keiner auf andre Weise halten
als durch eigne Tüchtigkeit. Ich verzichte darauf, durch Fälle aus dem Leben,
die mir in Menge zur Verfügung stehen, das Gegenteil zu beweisen; ich er¬
innere nur an einen einzigen, der ungeheures Aufsehen erregt hat. Ein tüch¬
tiger Beamter wird von der Kreisvertretung einstimmig zum Landrat gewühlt;
die Regierung versagt die Bestätigung. Eine Deputation des Kreises begiebt
sich nach Berlin und bittet den Minister des Innern, doch seine Entscheidung
zurücknehmen zu wollen, niemand erfreue sich in dem Grade wie der Erwählte
des Vertrauens des ganzen Kreises. Seine Exzellenz aber erklärt, das gehe
nicht, weil — der Erwählte nur einen kleinen Besitzer zum Vater habe.
Huxleh, dessen Essays Alexander Tille übersetzt und mit begeisterten Worten
eingeleitet hat, was ihm in Ammons Augen Autorität verleihen muß, Huxleh
schreibt S. 253 dieses Bändchens: „Gäbe es keine künstlichen Einrichtungen,
mittels deren Esel und Schurken auf dem Gipfel der Gesellschaft erhalten
werden, so würde der Kampf um die Mittel zum Genuß^) einen beharrlichen
Kreislauf der menschlichen Einheiten des sozialen Ganzen vom Gipfel nach dem
Boden und vom Boden nach dem Gipfel sichern."
Die Kritik an den Gesellschaftszuständen führt Ammon darauf zurück, daß
der Egoismus die von der Gesellschaft auferlegten Freiheitsbeschränkungen
schmerzlich empfinde. „Während der Gebildete sich mit Würde in das Un¬
abänderliche zu schicken sucht, meint der Ungebildete, seinen Ingrimm an irgend
etwas auslassen oder eine neue Weltordnung aus seiner Phantasie nach dein
Modell des Schlaraffenlandes erfinden zu müssen." Was für ungebildete
Menschen müssen doch Plato, Thomas Morus, Joh. Gottl. Fichte und William
Morris, der mit Ruskin zusammen dem englischen Kunsthandwerk zur Wieder¬
geburt verholfen hat, gewesen sein! Natürlich hält er an der Sozialdemokratie,
die ihm das Greulichste auf Erden ist, alles für utopisch und führt die Polemik
gegen sie ans den Standpunkt vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Er findet
sie komisch, diese Menschlein, die die Gesellschaftsmaschine nicht einmal durch¬
schaut haben, trotzdem aber „mit ihren täppischen Händen herantreten, um
dieselbe von Grund auf zu verbessern." Der Kenner der einschlagenden Lit¬
teratur dagegen weiß, daß die heutigen Sozialdemokratin „die Maschine" eben
nicht mit Händen verbessern wollen, sondern auf die Umbildungen hinweisen,
die der Gesellschaftsorganismus im Laufe seiner Entwicklung erführe. Seite 8
stellt Ammon folgende zwei Sätze auf. „Lehre Darwins: Alles ist durch
natürliche Entwicklung allmählich entstanden und dem Bedürfnis angepaßt.
Sozialdemokratischer Darwinismus: Alles ist dem Bedürfnis angepaßt,
mit Ausnahme der Gesellschaftsordnung, welche grundverkehrt ist und mit
Unterbrechung der allmählichen Entwicklung vollkommen nen nach Maßgabe
der sozialdemokratischen Theorie geschaffen werden muß." Dagegen halte man
die Stelle in der Vorrede zur „Kritik der Politischen Ökonomie." worin Marx
die Grundzüge seiner Ansicht darlegt. „Es ist nicht das Bewußtsein der
Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten
die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vor-
handnen Prvdnktivnsverhältinssen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür
ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt
hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse
in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.
Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze un¬
geheure Überbau ^der Staatsformen und Rechtsverhältnisse^ langsamer oder
rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unter¬
scheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu koustatirenden
Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurz, ideologischen Formen,
worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten.
So wenig man das, was ein Individuum ist, beurteilt nach dem, was es sich
selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem
Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider¬
sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandnen Konflikt zwischen gesell¬
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Ge¬
sellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind,
für die sie weit genug ist; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße
der alten Gesellschaft ausgebildet sind. Daher stellt sich die Menschheit immer
nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn, genauer betrachtet, wird sich stets
finden, daß die Aufgabe selbst uur entspringt, wo die materiellen Bedingungen
ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens be¬
griffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne
bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Ge¬
sellschaftsformation bezeichnet werden."
Die Kritik des Marxismus, die Ammon versucht, fällt so dürftig und
schief aus, daß man zweifeln muß, ob er das „Kapital" gelesen hat; er scheint
nur darin geblättert zu haben. Natürlich hat er vom Kapital keinen klaren
Begriff, weder von dem, was Marx meint, noch von irgend einem andern,
und klammert sich an die Lehre vom Mehrwert. Daran sind freilich die
Marxisten selbst schuld, die den schwächsten Teil des Marxischen Systems zu
seineni Kern- und Angelpunkt machen, während Marx selbst mit Beziehung
auf solche Fehlgriffe gesagt hat: Ich bin uicht Marxist. Der Kern des
Marxismus besteht uicht in der Hervorhebung der Thatsache, daß bei der
Teilung des Arbeitsproduktes der Knecht — seiner Meinung nach — vom Herrn
verkürzt wird, denn das ist allen Stufen der ökonomischen Entwicklung, von
der asiatischen Despotenwirtschaft anzufangen, gemeinsam und kein unter¬
scheidendes Merkmal der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsform. Deren
Hauptmerkmal, das sich vor dem sechzehnten Jahrhundert nie und nirgends
in der Welt gefunden hat, besteht darin, daß die Güter nicht für den Bedarf,
sondern für den Markt hergestellt werden, also zuerst Ware sind, ehe sie Ge-
branchsgüter werden, daß sie nur durch Kauf Gebrauchsgüter werden können,
und daß niemand kaufen kann, er habe denn vorher irgend etwas verkauft.
Diese Einrichtung hat die Konkurrenz erzeugt, hierdurch die Ära der Er¬
findungen herbeigeführt, die die Produktivität der Arbeit ins ungeheure ge¬
steigert und dnrch die Leichtigkeit des Verkehrs alle Menschen, Länder und
Güter in unmittelbare Berührung mit einander gebracht haben. Das sind
selbstverständlich durchaus wohlthätige und erfreuliche Wirkungen. Aber mit
der Wohlthat ist nach dem alles Irdische beherrschenden Gesetze der Keim
des Unheils großgewachsen, das sie zerstört. Weil jeder verkaufen muß, um
selbst kaufen zu können, will alles verkaufen, unterbietet einander und macht
schließlich das Verkaufen, dadurch aber auch das Kaufen unmöglich. So sind
wir auf den Punkt gelangt, wo unsre Produktionskräfte mit unsern Produktions-
Verhältnissen in Widerspruch geraten. Die heutige Menschheit verfügt über
Produktionskräfte, die jederzeit ohne Überanstrengung der Arbeiter das Doppelte
von dem zu erzeugen vermöchten, was die Menschheit zum Wohlbefinden aller
ihrer Glieder bedarf, aber der Umstand, daß jede Vermehrung der Produktion
die Waren verbilligt, die Wohlfeilheit der Waren aber die Unternehmer ruinirt,
gestattet nicht einmal die Herstellung des notwendigen. So kommt es, daß
sich alle Staaten gegen einander absperren, nicht um neidisch den Abfluß ihres
Vermögens nach außen, sondern um das Einströmen von Reichtum zu hindern.
Denn aller Reichtum besteht in Gebrauchsgütern; so viel oder so wenig Güter
ein Mensch oder ein Volk hat, so reich oder so arm ist der Mensch oder das
Volk. Und so geraten wir in die tragikomische Lüge, an Reichtümern ersticken
zu müssen, die wir haben, aber nicht genießen dürfen. Die Welt verwandelt
sich in eine einzige ungeheure Vorratskammer, deren Vorräte nicht angerührt
werden können, weil das Scham, öffne dich! fehlt; die Straßen der Städte
bilden ein einziges ungeheures Schaufenster, deren Pracht die Kauflustigen aber
Kaufunfähigen ärgert und die müßig dahinter stehenden Verkäufer zur Ver¬
zweiflung bringt. Während man in früheren Zeiten alle Hände voll zu thun
hatte, um nur das Notwendigste zu erzeugen und dabei noch oft genug wegen
mangelnder Vorräte Hungers starb, hat man heut alle Hände voll zu thun,
die zuströmenden Vorräte abzuwehren, und schreit nach nichts anderm als nach
Arbeitsgelegenheit, die allerorten fehlt. Und so kündigt sich uus denn nach
Goluchowski das zwanzigste Jahrhundert an „als ein Jahrhundert des Ringens
ums Dasein auf handelspolitischem Gebiete," und so klagt denn der Staats¬
sekretär des Innern, Graf Posadowsky (in der Sitzung des Reichstags vom
«. Dezember vorigen Jahres), daß infolge der Absperrung aller Staaten gegen
einander die Lage für unsern Export immer schwieriger werde. Nur ein —
nun, drücken wir uns naturwissenschaftlich und höflich aus! — nur ein Minder¬
wertiger kann alles in schönster Ordnung finden, wenn die Agrarier aller
Länder über den Überfluß an Korn, und die Fabrikanten über die Wohlfeilheit
der Baumwolle jammern, die Möglichkeit für den gemeinen Mann aber, Brot
und Hemden zu kaufen, davon abhängt, daß es unsern Exporteuren gelingt,
Chinesen und Negern Waren aufzuhängen, die diese weder wollen noch brauchen.
Nur ein Minderwertiger kann verkennen, daß schon längst unsre heutigen
Produktionsformen in Fesseln der Produktion umgeschlagen sind. Nur ein
Minderwertiger kann Karl Marx den Dank dafür verweigern, daß er dieses
Getriebe aufgedeckt und die Erkenntnis dessen, was daran in Unordnung ist,
ermöglicht hat. Die Staaten wachsen und vergehen mit den wirtschaftlichen
Zuständen, auf denen sie beruhen. Wenn demnach heute ein Staatsmann
Politik treiben will, ohne die von Marx aufgedeckten Produktionsverhältnisse
unsrer Ära zu kennen und anzuerkennen, so ist das, wie wenn ein Mensch
Astronomie treiben wollte, ohne Kopernikus zu kennen und anzuerkennen.
Es wäre lächerlich, Herrn Ammon mit einem großen Geiste vergleichen
zu wollen, aber eins hat er doch mit Karl Marx gemeinsam: beide haben sich
durch den Anblick ihrer nächsten Umgebung irre führen lassen. Marx hatte
sast ausschließlich englische Zustände vor Augen und ist dadurch zu falschen
Schlüssen über den vermutlichen zukünftigen Gang der Entwicklung verleitet
worden. Ammon hat den Blick ausschließlich auf das kleine Baden gerichtet,
wo es keine Großstadt, keinen Judustriebezirk und keinen Großgrundbesitz giebt;
wo kleine Fabrikanten, Handwerker und Bauern vorherrschen, und wo der
höhere Beamte, der Professor, der die Stadt beherrschende Rentner (zuweilen
ein ehemaliger kleiner Gastwirt oder Metzgermeister) und der Bauer oder Hand¬
werker — soweit sie nicht durch konfessionellen, politischen oder Kommunal-
kralehl mit einander entzweit sind — an einem Tische ihren Schoppen trinken.
Baden ist ein glückliches Lündchen, das noch gar nicht recht in das weltwirt¬
schaftliche Getriebe hineingezogen ist und trotz seiner fortschrittsfrohen hellen
Köpfe noch in den kleinbürgerlichen Zuständen der dreißiger Jahre unsers
Jahrhunderts lebt. Kein Wunder, daß Ammon das moderne Wirtschaftssystem
gar nicht kennt, und das dient ihm zu einiger Entschuldigung dafür, daß er,
anstatt die wichtigste Angelegenheit unsers Jahrhunderts zu studiren, sich die
Zeit mit den: harmlosen Spiel von Idanten, Determinanten und arithmetischen
Kombinationen vertreibt.
(Schluß folgt)
ir wollen den alten Streit über die Frage, ob München oder
Berlin das größere Recht hat, sich den Vorort deutscher Kunst
zu nennen, nicht erneuern, wir wollen sogar gern einräumen,
daß München dieses Recht hat — aber nnr während des
Sommers! Und auch dann nur wegen seiner günstigen geogra¬
phischen Lage als Durchgaugsstation für alle Nord- und Mitteldeutschen, die
nach den deutschen Alpen wollen und während der kurzen Rast in München
einen Besuch der Kunstausstellung nicht zu versäumen pflegen. Aber den
ganzen Winter genießt Berlin schon seit Jahren diesen Vorzug. Es ist der
Sammelplatz aller künstlerischen Schöpfungen oder vielmehr — da diese Be¬
zeichnung leider meistens zu hoch gegriffen ist und die Sache nicht deckt —
aller Maler- und Bildnerwerke, die während der schönen Jahreszeit in Sommer-
frischen und auf besondern Studienplätzen, die von Künstlern jeglicher Art
scharenweise heimgesucht werden, entstanden sind. Vor zwanzig Jahren hatten
wir in Berlin nur zwei oder drei Ausstellungslokale, die gegen Eintrittsgeld
zugänglich waren. Neben dem des Berliner Küustlervereins, der damals das
ganze künstlerische Leben Berlins beherrschte, konnte sich aber keine der privaten
Veranstaltungen lange in der Gunst des großen Publikums behaupten. Das
Beste, was in Berlin geschaffen wurde, war ohnehin nur bei dem Kunsthändler
Leyte zu finden, dessen Verkaufsräume meist nur den Käufern und Vertrauten
des Hauses, nicht aber dem großen Publikum, das uur scheu, nicht auch kaufen
wollte, bereitwillig geöffnet wurden.
Es hat lange gedauert, ehe es anders wurde, und der Verein Berliner
Künstler war seiner Herrschaft allgemach so sicher geworden, daß er keine großen
Anstrengungen machte, seine bisweilen sehr einförmigen Ausstellungen, deren
Bestand fast ausschließlich von der Fruchtbarkeit der Vereinsmitglieder unter-
halten wurde, durch Zuziehung auswärtiger Kunstwerke etwas mannigfaltiger
zu gestalten. Ein ernsthafter Nebenbuhler erwuchs ihm erst 1881 in der
Person des Kunsthändlers Fritz Gurlitt, der sehr bald die Rolle des Hechts im
Karpfenteich zu spielen begann. Im Gegensatz zu der einseitigen Beschränkung
der Ausstellung des Vereins Berliner Künstler auf das örtliche Kunstschaffen
entfaltete er eine regsame Thätigkeit, um fremde Künstler heranzuziehen, die
sich von dem Hergebrachten abgewandt hatten und gegen den Strom schwammen.
Es waren, wie bei allen Neuerungen, Schwärmer und Schwindler darunter,
und wenn der Unternehmer auch keinen Unterschied zwischen den Unverdächtigen
und Verdächtigen machte, so erreichte er jedenfalls seinen Zweck: Aufsehen um
jeden Preis! Er hat Böcklin und Fritz von Abbe in Berlin bei den Kunst¬
sammlern, die mehr durch Reichtum als durch selbständiges Urteil glänzen, in
Mode gebracht, und die Begeisterung sür Böcklin hat bei ihnen und ihrem
großen Anhang, der den Massenbesuch der Kunstausstellungen zuwege bringt,
bis jetzt angehalten. Man hat zu Ende des vorigen Jahres, um Böcklins
siebzigsten Geburtstag zu feiern, in der Berliner Kunstakademie eine Ausstellung
seiner Werke veranstaltet, die zumeist aus Berliner Privatbesitz stammten, und
sie hat einen größern Erfolg gehabt als die Ausstellung in Basel, der Geburts¬
stadt des Künstlers.
Der Kunsthändler Gurlitt, der mit seiner etwas kriegerisch gestimmten
Art dem Berliner Ausstellungswesen einen unverkennbaren Aufschwung gegeben
hat, hat die Früchte seiner That nicht geerntet. Er ist im besten Mannesalter
an einer Nervenkrankheit gestorben; aber sein Name hat sich in dem von ihm
begründeten Geschäft, das seine Rechtsnachfolger fortführen, erhalten, und sein
Geist auch. Gurlitts Kunstsalvn ist nach wie vor die Heimstätte aller Künstler,
die sozusagen ihre Schiffe hinter sich verbrannt haben und in das unsichere,
von Nebeln verschleierte Meer der Zukunft hinanssteucrn. Was das bedeutet,
weiß jeder, der die stürmische Entwicklung der deutschen und außerdeutschen
Kunst während des letzten Jahrzehnts verfolgt hat.
Als Gurlitt kaum seiner ersten Erfolge froh geworden war, nahm plötzlich
eine neue, aber schon auswärts bewährte Kraft, die sich auf reiche Mittel
stützte, den Wettbewerb mit ihm auf. Eduard Schulte, der Inhaber der be¬
kannten Kunsthandlungen in Düsseldorf und Köln, erwarb nach dem Tode
Lepkes dessen Geschäft und suchte den Grundsatz, den er in den beiden rhei¬
nischen Städten erprobt hatte, auch in Berlin zur Geltung zu bringen, nämlich
durch Einrichtung von Jahresabonnements zu geringem Preise ein Stamm¬
publikum von ständigen Besuchern heranzuziehen, dessen dauerndes Interesse
er durch einen möglichst häufigen Wechsel des Inhalts der Ausstellungen zu
fesseln suchte. Es gelang ihm aber erst, als er im Erdgeschoß des gräflich
Redernschen Palais am westlichen Ende der Linden, dicht vor dem Branden¬
burger Thor, würdige Ausstellungsräume gefunden hatte, die er noch durch
den Anbau eines Oberlichtsaales vergrößerte. Mit dem Publikum kamen auch
die Künstler, und bald wurde ihr Andrang ans Berlin und von auswärts so
stark, daß sich Schulte, um auch nur den dringendsten Anforderungen zu ge¬
nügen, genötigt sah, statt wie früher allmonatlich fortan aller drei Wochen mit
dem Inhalt seiner Ausstellung, meist von Grund aus, zu wechseln. Dem
Publikum, besonders den Abonnenten, war natürlich diese häufige Befriedigung
ihrer Schaulust sehr willkommen, und die Fruchtbarkeit der Künstler steigerte
sich so unheimlich, daß die Schaulust vollauf befriedigt wurde. Der Besuch
des Schultischen Salons, der noch dazu durch seine Lage in der besten Stadt¬
gegend begünstigt wurde, war zuletzt Modesache geworden, und es wurde für
die Künstler von Jahr zu Jahr schwieriger, einmal während der Wintermonate
dort mit einer oder gar mit ein paar neuen Arbeiten anzukommen. Inzwischen
verödeten die Ausstellungsräume des Vereins Berliner Künstler im Architekten¬
hause immer mehr, und es darf nicht verschwiegen werden, daß selbst viele
Vereinsmitglieder es vorzogen, ihre neuesten Arbeiten bei Schulte anstatt
im Architektenhause zu zeigen. Alle Bemühungen der Ausstellungskommission,
hier Wandel zu schaffen, blieben fruchtlos, und da ohnehin der Umzug des
Vereins vom Architektenhause nach dem im Bau begriffnen eignen Heim in
der Bellevuestraße bevorsteht, entschloß man sich, in diesem Winter bald nach
Weihnachten die Ausstellung ganz zu schließen. Im neuen Hause will man
dann in würdigen, gut ausgestatteten und vor allem auch gut beleuchteten
Ausstellungsräumen den Kampf mit den Kunsthändlern, hoffentlich mit besserm
Erfolge als bisher, wieder aufnehmen.
Der Künstlerverein hatte es aber seit einiger Zeit nicht mehr mit Schulte
und Gurlitt allein zu thun. Auch die Inhaber der alten Kunsthandlung von
Auster und Nuthardt, die Gebrüder Meder, haben vor mehreren Jahren einige
Räume im obern Stockwerk ihres Geschäfts für Allsstellungszwecke eingerichtet,
wobei sie sich aber auf einzelne Kunstzweige beschränkten: auf Aquarelle,
Gouachemalereien, Zeichnungen und die Erzeugnisse der graphischen Künste.
Die „Gesellschaft deutscher Aquarellmaler," die vor etwa fünf Jahren in die
Öffentlichkeit trat und die Hoffnung erweckte, es würde in ihr ein Seitenstück
zu der berühmten Londoner Looist/ c>k xg,we.6i'8 in v^ehr-oolour erwachsen,
veranstaltete bei Auster und Ruthardt ihre ersten Ausstellungen, und es schien
anfangs, als käme auch dieser neue Kunstsalon einem Bedürfnis entgegen.
Aber das Publikum fand in der Pflege von Spezialitäten keine volle Be¬
friedigung, die Käufer blieben aus, und damit zogen sich auch die Künstler
zurück. Die Unternehmer verloren schließlich die Lust, und nur noch selten
öffnen sich ihre Räume für Sonderausstellungen. So sah man dort in den
letzten Monaten eine vollständige Sammlung der Lithographien und Algra-
phien, d. h. der Abdrücke von Zeichnungen ans Aluminiumplatten, deren Aus¬
führung den seltsamen Frankfurter Maler Hans Thoma, der bald den Spuren
der alten deutschen Meister folgt, bald auf den Pfaden Böcklins wandelt,
während der letzten Jahre fast ausschließlich beschäftigt hat, ferner eine Reihe
von Aquarellen holländischer Maler, die den erfreulichen Beweis lieferten,
daß noch nicht alle holländischen Künstler dem von Frankreich eingeführten
Impressionismus und Naturalismus mit Haut und Haaren verfallen sind.
Im Herbst vorigen Jahres sind noch zwei neue Kunstausstellungslokale
eingerichtet worden, von denen eines zugleich der modernsten künstlerischen
Produktion eine neue Heim- und Marktstätte eröffnen will. Man muß schon
zu einem Superlativ greifen, um die Richtung der Kunst unsrer Zeit gebührend
zu kennzeichnen, die der neue Kunstsalon von Keller und Reiner an der
Potsdamerstraße vorzugsweise vertritt. Es ist nicht mehr die Malerei und
die Plastik allein, die nach neuen Idealen, neuem Inhalt und nach neuen
Ausdrucksmittelu dafür sucht, sondern auch die angewandte Kunst, die Kunst,
die ins Leben dringen und dieses mit ihren Blüten schmücken will. Es ist
ungefähr dasselbe, was man früher Kunstgewerbe oder Kunsthandwerk nannte.
Während aber diese Thätigkeit früher in ebenso viele Zweige zerfiel, als es
Rohstoffe gab, während man früher von Kunstschreinern, Kunstschlossern, Kunst-
tvpfern usw. sprach, die sich selbst die Entwürfe zu ihren Arbeiten zeichneten
oder von Architekten zeichnen ließen, tritt die neue „dekorative Kunst," wie
man jetzt statt Kunsthandwerk sagt, als etwas Ganzes und zugleich Universelles
auf. Der Maler, der Zeichner ist jetzt der führende Geist, und der Kunst¬
handwerker soll nach der Meinung dieser Neuerer wieder zum Handwerker
hinabgedrückt werden, der nur die Absichten, die Ideen jener in Gestalt zu
bringen hat, ohne sich dabei etwas eignes zu denken. Es kommt auch nicht selten
vor, daß der Erfinder selbst die Ausführung in die Hand nimmt, die Kunstglüser
selbst bläst, die Thongefäße selbst auf der Töpferscheibe dreht, sie bemalt und dann
im Ofen brennt, kleine Metallgegenstände selbst gießt und ziselirt oder doch
die Thon- oder Wachsmodelle dafür fertigt u. tgi. in. Daß die frische Ur¬
sprünglichkeit der Erfindung dabei zum ungeschmälerten Ausdruck komme, ist
eine Hauptsache, und die andre, daß das neue Kunstprodukt in keinem Zuge
an keine der historischen Stilarten erinnere, die als endgiltig abgeschlossen und
erschöpft gelten, „Neue Formen!" ist das Losungswort, neue Formen um
jeden Preis, selbst um den des guten Geschmacks.
Diese Bewegung ist nicht aus deutschem Boden entsprossen. Sie ist, wie
so viele andre Neuerungen auf dem Gebiete der modernen Kunst, fast zu
gleicher Zeit von Frankreich und England ausgegangen; und als drittes im
Bunde ist Belgien hinzugetreten, um Deutschland mit den Erzeugnissen dieser
neuen Kunst zu überfluten. Sie sind leider bei uns auf allzu fruchtbaren
Boden gefallen und haben ein Heer von Nachahmern auf die Beine gebracht,
die ihre Vorbilder noch durch Übertreibungen in den Schatten zu stellen suchen.
Alle diese wunderlichen Sachen bekommt man jetzt, frisch von Paris, London
und Brüssel bezogen, in Berlin zuerst bei Keller und Reiner zu sehen, und
im Verein damit Ölgemälde, Aquarelle, Bildwerke, graphische Blätter von
Künstlern aller Nationen, die sich den Vernichtungskampf gegen die Kunststile
der Vergangenheit zur Aufgabe gemacht und zunächst an die Stelle des Stils
die Stillosigleit gesetzt haben. Daß unter diesen Kunstwerken auch die Plakate
nicht fehlen, mit denen sich die neueste Kunst in liebevollem, pädagogischen
Eifer zum Volke Herabgclassen hat, ist selbstverständlich.
Noch eine andre Errungenschaft des modernen Kunsttreibens ist vom Aus¬
lande her in das deutsche Kunstleben, nicht zu seinem Heile, eingedrungen.
Man hat den Deutschen von jeher ihre Neigung, sich von der Allgemeinheit
loszulösen und in großen und kleinen Vereinigungen Sonderbestrebungen zu
Verfolger, zum Vorwurf gemacht. Man hat im In- und Auslande genug
über die deutsche „Vereinsmeierei" gespottet und schließlich in der Vereins¬
meierei eine spezifisch deutsche Volkskrankheit zu erkennen geglaubt. Diese
Meinung mag jahrzehntelang berechtigt gewesen sein; aber sie ist es längst
nicht mehr. Gewisse Abarten des Vereinswesens sind sogar in England ungleich
weiter verbreitet als bei uns. Man denke nur an die zahllosen Sportver¬
einigungen in England, die Nuder-, Segel-, Regatta-, Feast-, Fußball¬
klubs u. tgi. in., und Frankreich und Belgien haben den zweifelhaften Vorzug
gehabt, das Vereins-, Sekten- und Cliquenwesen auch unter den bildenden
Künstlern heimisch zu machen. Daß sich die in großen Städten lebenden
Künstler zu örtlichen Vereinigungen zusammenthun, daß dann diese einzelnen
Vereinigungen in einem Lande eine Genossenschaft bilden, um gemeinsame
Interessen im In- und Auslande zu wahren, ist begreiflich und notwendig.
Wenn große Ziele durch Zusammenwirken vieler Kräfte erreicht werden sollen,
ist es ebenso notwendig, daß persönliche Interessen hinter diese Ziele zurück¬
treten müssen. Wer aber glaubt, daß ein solches gewissermaßen ideales Ver¬
hältnis auf die Deiner aufrecht erhalten werden kann, der versteht sich schlecht
auf die menschliche Natur. Ein persönlicher Streit, ein Anflug schlechter Laune,
eine Regung gekränkter Eitelkeit können unter dem leicht erregbaren Künstler-
Volk eine Spaltung erzeugen, die eine im Laufe von Jahrzehnten mühsam
erkämpfte Organisation erschüttern oder ganz vernichten kann.
Paris, das „Herz der Welt," von dem die Deutschen erst gelernt haben,
Revolution zu machen, ist auch mit den Umwälzungen in der Künstlerrepublik
vorangegangen. Es ist bekannt, daß sich vor sieben Jahren ein beträchtlicher
Teil französischer Künstler von der alten Kunstgenossenschaft, die seit vierzig
Jahren ihre Anstellungen in dem jetzt abgetragnen Glaspalast in den Ely-
seischen Feldern veranstaltet hatte, losgesagt und eine neue Gesellschaft ge¬
gründet hat. Rein persönliche, ja geradezu egoistische Interessen sind mit
künstlerischen dabei so eng verquickt worden, daß sich heute nicht mehr ent¬
scheiden läßt, welche von beiden das Übergewicht gehabt haben. Es ist auch
allgemein bekannt, daß das in Paris gegebne Beispiel alsbald in München
und später in Dresden Nachahmer fand, daß sich nicht bloß in diesen Städten,
sondern auch in andern das Lager der Künstler in zwei Parteien schied, die
einander befehdeten, wo sie nur konnten. Aus der großen Spaltung, für die
man in Deutschland keinen andern Namen als „Sezession" finden konnte,
erwuchsen aber bald kleinere und kleinste Parteien. Zunächst in Paris, wo
die Zahl der Künstlervereinigungen und -klubs, die natürlich alle jährlich eine
oder mehrere Ausstellungen veranstalten, im Laufe von etwa acht Jahren auf
mehr als hundert gestiegen sein soll. Zu den Vereinigungen, die gemeinsame
materielle Interessen verfolgten, z. B. dem Verein der Künstlerinnen, oder die
ein technisches Sondergebiet pflegten, wie der Gesellschaft der Aquarellmaler,
der Radirer, der Miniaturcnmaler, gesellten sich bald solche, die sich zu ge¬
wissen koloristischen und ästhetischen Grundsätzen bekannten, die sie natürlich
für die einzig richtigen hielten und mit allen Mitteln der persönlichen und
sachlichen Reklame zur Geltung zu bringen suchten. So entsprossen allmählich
die seltsamsten Gewächse aus dem gut vorbereiteten Kunstboden von Paris,
von den abenteuerlichen „Roseukreuzern," die sich sogar unter der Führung
des famosen sar Peladan eine eigne, mystisch-symbolistische Ordenstracht zu¬
legten und sich dazu die Haare lang wachsen ließen, bis zu den neuesten
Vereinsgründuugen, die nach der Art der deutschen Dichtergesellschaften des
siebzehnten Jahrhunderts poetische Blumen- und Pflanzennamen wie „Cyklameu"
und „Liane" angenommen haben.
Brüssel und Antwerpen folgten mit gewohnter Schnelligkeit dem fran¬
zösischen Vorbild, und die guten Deutschen ließen bei ihrer bekannten Ab-
sonderungösncht anch nicht lange auf sich warten. Diese neue Abart der
„Vereinsmeierei" schoß aber uicht in dein vorgeschritten München, sondern
zuerst in Berlin ius Kraut, wo eine Sezession nach den Vorgängen in München
keinen Boden finden konnte. Die „Bereinigung der Elf," wohl die erste in
ihrer Art, schien sich wenigstens noch zu gemeinsamen künstlerischen Grund-
Sätzen zu bekennen. Es war wirklich eine erlesene Zahl revolutionärer Geister,
die schonungslos gegen das Bestehende ankämpften und ihren tyrannischen
Willen jedem anders denkenden und fühlenden aufzuzwingen suchten. Mit
der Zeit lockerte sich freilich das Band, das die Elf zusammenzuhalten schien.
Einige, die sich anfangs ganz besonders wild geberdet hatten, lenkten auch
wieder in ruhigere Bahnen ein. Aber der Hauptzweck: Aufsehen um jeden
Preis! war doch erreicht, und damit die Bahn für die Nachahmer gebrochen.
Was bei der Massenproduktion der einzelnen Künstler nicht mehr möglich zu
machen war, nämlich aus der Flut emporzutauchen und durchzudringen, suchten
die Künstler jetzt dadurch zu erzwingen, daß sie sich in Gruppen zusammen¬
thaten, Vereine bildeten, die dann andre Künstler zu den Gründern heran¬
zogen und alljährlich Ausstellungen veranstalteten, die unter der Aufsicht einer
eignen, aus ihrer Mitte gewählten Jury standen und allmählich durch aller¬
hand Absonderlichkeiten, Verwegenheiten und Ausschreitungen das Interesse des
Publikums so lebhaft erregten, daß die Inhaber der Ausstellungsräume zuletzt
froh waren, mit solchen Vereinsausstellungen neue Zugkräfte zu gewinnen, daß
sie sich jedes Einspruchsrechts begaben und nur dann ihre Hauspolizei übten,
wenn einmal ein Mitglied eines der Vereine mit einer allzu urwüchsige»
Nudität angezogen kam, die das Schamgefühl einer hohen Besucherin hätte
verletzen können. Obwohl diese Vereinigungen meist nur aus jungen Künstlern,
seltner aus solchen in den dreißiger und vierziger Jahren bestanden, vertraten
doch nicht alle einen extremen künstlerischen Standpunkt wie etwa die berühmten
„Elf." Einzelne Vereine, wie der der „Einundzwanzig" und der „Künstler-
West-Klub," zählten sogar Künstler zu den ihrigen, die ganz und gar nichts
Fortschrittliches oder gar Revolutionäres an sich hatten, sondern in dem alten
Fahrwasser, das man, je nach seinem Parteistandpunkt, das gute oder das
versumpfte nennen mag, munter fortsegelten. Selbst eine Anzahl Münchner
und Berliner Künstler, die sich unter dem stolzen, die Welt in die Schranken
fordernden Namen „Freie Kunst" zusammengethan hatten, lebten unter einander
in Zwiespalt, da die einen unter der „freien Kunst" wirklich die allerneueste,
die andern aber eine triviale, gleichgiltige Modekunst verstanden. Aber der
kühne Name thut viel zur Sache, und er hat auch ansteckend gewirkt, da man
vor einigen Wochen in Brüssel, das bisher mit Paris an der Spitze der
„Vereinsmeierei" in der Kunst gestanden hatte, nach Berlinischen Muster
einen Laton as Is, lidrs shell6ti<zus eröffnet hat. Beiläufig bemerkt: ein logischer
Widerspruch, da Ästhetik nach bisherigem Sprachgebrauch immer noch ein
philosophisches Lehrgebäude bedeutet, das nicht frei in der Luft schwebt,
sondern ans bestimmten philosophischen Grundbegriffen aufgebaut ist.
Ist ein deutscher Künstler einmal einem Verein beigetreten, so scheint mit
diesem Entschluß zugleich seine Opferfreudigkeit zu wachsen. Er tritt gern
mehreren bei, wenn sich ihm mir die Gelegenheit bietet, immer zu den Vereins¬
ansstellungen zugelassen zu werden. Man glaubt gar nicht, wie leicht es einem
modernen Künstler wird, sich alljährlich an zwei oder drei Vereinsausstellungen
zu beteiligen, drei oder vier große Kunstausstellungen des In- und Auslands
zu beschicken und in den Wanderausstellungen der Kunstvereine im alten Sinne
des Worts vertreten zu sein. Die meisten behalten sogar so viel von Ge¬
mälden, Studien und Skizzen übrig, daß sie, um den letzten und höchsten
Trumpf ausspielen zu können, Sammelausstellungen veranstalten, für die die
willfährigen Kunsthändler leider fast immer Platz haben. Alle diese Bilder,
Studien und Skizzen sind immer fertig und stets zu haben; aber vollendet ist
nichts, und zu einer Vollendung kommt es auch selten oder niemals. Man
sieht immer nur eine lange Reihe von mehr oder weniger hoffnungsvollen
Verheißungen; aber das Kunstwerk, das endlich aus diesen Vorarbeiten heraus¬
wachsen soll, bleibt aus. Wir warten ein Jahr, und dann sehen wir wieder
eine Sammelausstellung dieses und jenes Malers, der uns besonders gefesselt
hat. Aber der eine wie der andre hat inzwischen einen neuen Studienplatz auf¬
gesucht und beglückt uns wieder nur mit Skizzen, die er niemals ausführen wird.
Seine Vereinsgenossen haben ihm eben gesagt: Niemals ein Bild fertig malen,
immer nur nach neuen Motiven, nach neuen Farbenprvblemen und Erregungen
suchen, mit der Zeit werden sich die Leute schon daran gewöhnen, unsre
Skizzen zu kaufen und von der veralteten Gewohnheit, nett und sauber aus¬
geführte Bilder aufzuhängen, abgebracht werdeu.
Man wäre durchaus berechtigt, diese und andre Auswüchse der Vereins¬
meierei in der Kunst mit einigen sarkastischen und humoristischen Bemerkungen
abzuthun; aber die ganze Sache ist doch so ernsthaft, daß man mit Scherzen
nicht darüber hinwegkommen kann. Was anfangs nur Mittel zum Zweck ge¬
wesen war, ist jetzt Hauptzweck geworden, und man kann sich sogar der Be¬
fürchtung nicht erwehren, daß es bei vielen jungen Künstlern Endzweck ge¬
worden ist. Die Sucht, in ihren Vereinen mit einem starken Massenaufgebot
zu glänzen und daneben noch etwas Besondres für ihren Tagesruhm zu thun,
treibt sie zu rastloser Studien- und Skizzenmacherei und läßt sie zu keinem
fertigen, geschweige denn ausgereiften Werk mehr kommen. Sie glauben damit
etwas ganz erstaunliches geleistet zu haben, imponiren damit aber nur dem
unkundigen Laien, der sich um das Schaffen der Künstler, die vor fünfund¬
zwanzig und fünfzig Jahren ebenso jung gewesen Ware,? wie die heutigen
Himmelsstürmer, niemals gekümmert hat. Nur haben jene Künstler auch
darin an den alten Überlieferungen festgehalten, daß die Studien, die sie auf
ihren großen Reisen und kleinen Sommerausflügen gesammelt haben, für sie
lediglich die Bedeutung von Reisenvtizcn haben, die sie gelegentlich für ihre
Werke verwerten, die aber nicht in öffentliche Ausstellungen gehören. Wer
öfters solche Studiensammluugen von Künstlern unsrer Zeit, die auf eine
Thätigkeit von dreißig und vierzig Jahren zurückblicken, gesehen hat, der hat
auch über die Schätze gestaunt, die darin enthalten sind. Er wird aber auch
gesehen haben, daß diese Künstler, die hente von den Jungen mit Gering-
Schätzung betrachtet werden, schon vor dreißig Jahren die Hellmalerei, den
Impressionismus, den Naturalismus und andre moderne Künsteleien und
Kunstkniffe gekannt, daß sie sie aber nur als untergeordnete Hilfsmittel zu
höhern Zielen benutzt, also in ihrem wirklichen Werte bereits erkannt haben.
Wenn heut dagegen ein junger Mann vier Frühlings- oder Sommerwochen
an der Riviera, im Harz, in einem Nordseebade oder auf Bornholm Land¬
schaften, Strandpartien oder Figuren gemalt und zwei Dutzend davon in Öl-,
Gouache- oder — wie es die neueste Mode will — in Temperafarben fertig gebracht
hat, dann läuft er damit im Herbst zu Schulte oder Gurlitt, je nach der
Heftigkeit seines künstlerischen Temperaments, und veranstaltet eine Sonder¬
ausstellung, die seinen Namen drei Wochen lang wenigstens im Gedächtnis
der Berichterstatter für die Tageszeitungen und der Besucher der Ausstelluugs-
lokale erhält. Dann wird er wieder von einem andern abgelöst, und nur
selten gelingt es einem, abermals in die Höhe zu kommen und seinen Namen
wieder aufzufrischen.
Mit den Vereinen geht es ebenso. Je mehr entstehen, desto mehr ver¬
lieren sie an Wirkung und Reiz. Das Publikum hat sehr bald eingesehen,
daß unter der Flagge von Vereinen meist nur noch leichte und schlechte Ware
eingeschmuggelt wird, daß die Vereinsmitglieder dem Publikum sogar eine Gunst
zu erweisen meinen, wenn sie es offen in die auch sonst nur schlecht verhehlten
Geheimnisse ihrer armseligen Kunst hineinblicken lassen oder vor seinen Augen
gar den letzten Kehricht ihrer Ateliers ausbreiten. Noch zu keiner Zeit hat
die Ausstellungssucht der alten und neuen Künstlervereinigungen in Berlin
einen solchen Umfang angenommen, wie in dem Winter von 1896 auf 1897,
und noch niemals zuvor hat sich ein solches Mißverhältnis zwischen ihren
hochtrabenden Absichten und ihren ärmlichen Leistungen gezeigt wie gerade jetzt.
Wir haben etwa fünfzig bis sechzig solcher Vereins-, Sonder- und Atelier¬
ausstellungen zu sehen bekommen; aber wir würden in die ärgste Verlegenheit
geraten, wenn wir aus dieser Masse von zwei- bis dreitausend Kunsterzeug¬
nissen jeglicher Art auch nur eiues nennen sollten, dem wir mit einiger Zuversicht
eine Lebensfähigkeit von mehreren Jahren voraussagen könnten. Experimente
und wieder Experimente, die jahraus jahrein erneuert werden, ohne jemals eine
reife Frucht zu zeitigen, weil ihre Urheber nie für einige Zeit zum Stillstand,
zu ruhiger Prüfung des Errungnen kommen können. Dem Einfältigen wohl
können alle diese Ausstellungen durch ihr Massenaufgebot und durch ihre Ab¬
sonderlichkeiten imponiren. Der Erfahrne und Schärferblickende sieht dort
aber nur leere Routine und breitgetretene Trivialität, hier nichts als die
leidige Experimentirsucht, die auch das gemeinsame geistige Band zwischen den
Vereinen modernster Tendenz bildet, mögen sie nun „Hamburger Küustlerklub,"
„Dresdner Sezession," „Vereinigung 1897" oder sonstwie heißen, oder mögen
sie sich nach dem Vorbilde der berühmten Schule von Fontainebleau oder
Barbizon nach einem weltfremden Dorfe „Worpsweder" oder „Dachauer"
nennen. Die Vereinigung der „Dachauer," die uns in Berlin zu Anfang dieses
Jahres ihren ersten Besuch (bei Keller und Reiner) abgestattet haben, ist wohl
die neueste Erscheinung auf dem Gebiete der Kunstvereinsmeierei. Bei Lichte
betrachtet ist sie aber weiter nichts als ein Ableger der Münchner Sezession,
da an der Spitze dieser sehr abgeschlossenen, nur aus fünf Mitgliedern be¬
stehenden Gesellschaft Ludwig Dill, der Landschaftsmaler, und Fritz von Abbe
stehen. Sie verdankt ihre Existenz also nur einer Künstlerlaune; aber das
Publikum steht und wundert sich, welch ein neues Küustlerreich plötzlich er¬
standen ist!
Die Freunde dieser Sonderbestrebungen sehen sie freilich nur von ihrer
günstigsten Seite an. Sie freuen sich über den frischen, eigentümlichen, kühnen
Geist, der die meisten Mitglieder dieser Vereinigungen, bei ihrem ersten Auf^
treten wenigstens, durchdringt. Sie versprechen sich vieles und gutes von der
gegenseitigen Forderung, von dem edeln Wetteifer so vieler junger Kräfte.
Die Gefahren, die aus diesen Konventikeln erwachsen können und auch schon
erwachsen sind, sehen sie nicht oder wollen sie nicht sehen. Sie sehen nicht
die Gefahr, die wir noch als die geringste achten, die Förderung des Cliquen¬
wesens, sie scheu auch nicht die größere, daß diese Vereinigungen, statt daß
sie ihre Mitglieder jung und frisch erhalten, nur zur Pflege einer gewissen
technischen oder ästhetischen Einseitigkeit und schließlich zu einer unausstehlichen
Mauierirtheit und Unnatur führen, die wir besonders an den Arbeiten der
meisten Mitglieder des „Hamburger Künstlerklubs" und der „Dresdner Se¬
zession" beobachtet haben. Daß die ewige Experimentirsucht schließlich zur
Überhebung und zur völligen Verkennung des letzten Zwecks eines Kunstwerks
führt, sei beiläufig erwähnt, weil sich heute nur noch die wenigsten Künstler
um diesen Zweck Sorge machen.
Wir haben weder eine prophetische Gabe noch die Kraft eines Arztes,
der sich mit der Heilung von Volkskrankheiten befaßt. Wir wissen nicht, wohin
diese Absvnderungssucht unter den Künstlern führen oder wie lange sie dauern
wird, wir wissen auch nicht, wie die offenkundiger Schäden, die sie schon
jetzt angerichtet hat, zu verringern oder ganz zu beseitigen sind. Aber es
schien uns nützlich, zu einer Zeit, wo diese neue Schmarotzerpflanze die ruhige
Entwicklung unsrer deutschen Kunst fast zu ersticken droht, die Aufmerksamkeit
weiterer Kreise darauf zu lenken. Ist unsre Besorgnis vor dieser Erscheinung
übertrieben, so soll es uns freuen. Aber noch sehen wir keinen festen Punkt
aus dem Wirrsal ziellos hin- und herringeuder Kräfte auftauchen.
So saug der Große hinter seinem Webstuhl, und der Killer auf dem warme»
Südgeltendeckel antwortete also:
Der Große hatte einen zerrissenen Faden zu knüpfen gehabt; er sang weiter:
Kupp, klappklapp. Da riß wieder ein Faden, Und der Kater schnurrte:
In fröhlichem Mut schienen Madlenens Äuglein, Im Müsershaus wars in
allen Winkeln hell und freundlich geworden. Und der Hausgeist warf auf dem
oberste» Boden seine Zipfelmütze in die Höh Vor Freude und lachte zum Bodeuloch
hinaus, daß ihn die Spatzen auf dem Dach perwundert ansahen.
Der Große sang also wieder. Wenn er eins ernste Lieder verfiel, so mochte
seine Liebe, die unglücklich genannt werden kann, weil sie sich zu hoch verstiegen
hatte, die Ursache sein. Denn neben dem Bewußtsein, daß die Madlene jetzt doch
recht glücklich sei, war just ein wenig Sehnsucht nach dem Fräulein Hoßfeld in ihm
aufgestiegen.
Der Kleine hatte sich auch verändert. Er nahm an allem lebhafter Anteil als
sonst und lächelte gar oft vor sich hin: Ich weiß, was ich weiß!
Ein gründlicher Umschwung aber hatte im Rödcrsfrieder stattgefunden. Er
pfiff sich jetzt gern ein vergnügtes Liedlein. Die Höhe des Stolzes hatte er ab¬
getragen und die dunkeln Gründe damit ausgefüllt und hielt sich nicht mehr für
einen Nichtskönner, war zufrieden und glücklich und ging auch öfter abends in die
Gesellschaft junger Burschen. Aber am 18. Oktober — es war Sonnabend —
saß er nachts allein im Wirtshaus bei einem Glas Bier und rauchte stillvergnügt
sein Pfeifchen.
Das stille Vergnügen wurde jedoch bald gestört durch fünf eintretende
Burschen.
Die ganz Kunnelslichtstubn! rief Frieder und schlug mit der Faust auf den Tisch.
schmeckts, Frieder?
Was macht deine Madlene? Wir haben Vögel pfeifen hörn. — S wird
Zeit, Frieder! — Gscheit is er, daß er dazu thut, eh er ans dem Schneider
kommt. — Woh is denn mei sogen? — Der Müserskleine war mich dabei.
Dem Frieder war die Pfeife ausgegangen; er drückte den Tabak nieder und
zündete wieder an. Ich leugus gar nit, ihr närrische» Kerl! Freilich ists so.
Es hatte bereits jeder ein volles Glas vor sich stehen, und nun stießen sie
mit dem Frieder aufs Gutgcraten an.
Wie kommt ihr denn so spät noch daher? Ich wollt alleweil nach Haus.
'
Wir wolln Heuer neu Mai'n aufrichtn; kannst mitmachn, Frieder — warst noch
nit dabei!
Ich? — Der Frieder dehnte und sang das I beinahe wie der Müserskleine.
Mit wem denn?
Mit der Madlene! Na freilich! Ha, bist dn ein Kerl!
Der Frieder schmunzelte. Aber der Kleine erhob Widerspruch. Ich mach
Schoa mit. Jwea ans een Haus is zu viel. Und wer söll denn koch, wenn die
Madlene ne Blotzjumfer») söll mach? Dos thut nit gut!
Meius auch, sagte der Frieder.
Man drang nun nicht weiter in ihn und hielt Beratung hin und her. Denn
von fünf Eingetretenen hatten sich erst drei bestimmt erklärt. Aber eh eine Stunde
vergangen war, hatten sich die fünf geeinigt zur Aufrichtung eines Malers. Der
erste Schritt, der sich an diesen wichtigen Entschluß knüpfte, bestand darin, daß
sofort der alte „Mai'n" gefällt wurde. Die nächste Notwendigkeit war, daß den
erwählten Blvtzjnngfern noch in selbiger Nacht von den Musikanten Ständchen
gebracht wurden. Dazwischen hinein erschallte mancher mutwillige Juchzer. Es
wußte jedes Haus, das so angeblasen wurde, wieviel es geschlagen hatte. Und mit
dem Ständchen schon hielt die Feststimmung ihren Einzug, obwohl die Kirmes erst
">u 28. Oktober war.
Am folgenden Tag, am Sonntag frühnivrgens stieß Madlene am Brunnen
""f ihre Frau Nachbarin.
Hast ja kein Staudte kriegt, Madlene! Hab mich gewundert.
Mich mag keiner.
Ha, ihr Lent! Dich möcht keiner? Von Wien komm« sie und wolln dich!
Und die Nachbarin schlug eine Lache auf.
Dem Wiener hab ich heim geleucht.
Spaß, Madlene! Aber du hättsts mit dem Frieder, sagen die Leut.
Macht denn der Frieder Kirmes mit?
Da würdst dus Wohl wissen.
Alsdenn! Aber mein Kleiner macht mit.
So 'n Schwerenöter! Sollt mens denn mein'n?
Warum deun nit?
Was einer hinter den Ohrn hat, das weiß man halt nit.
S war meilatig so.
Na, das wird 'u Lehm wern übermorn über acht Tag!
Die Nachbarin ging. Madlene, die noch Wasser aus der Röhre auffing, ihre
Butte zu füllen, rief ihr nach: S war Zeit, daß der alt Mai'n umgehackt worden
ist; er hat um schon sechs Jahr gestanden.
Freilich! ist laug nichts gewest.
Auf dem Wege zur Kirche wurde heut von nichts andern: gesprochen als von
der Kirmes. Und auf dem Heimweg hatten sich die fünf Vlotzjuugfern, die in der
vergangnen Nacht durch Ständchen gekürt worden waren, zusammengefunden, und
der Himmel hing ihnen voller Geigen; das konnte man an den Schwanzenden
Röcken und dem Lachen merken. Die Schönste unter ihnen war aber das Dvhlers-
kätterle, die Erwählte des Müscrskleinen. Was der hinter den Ohren hatte, war
nun auch zum Vorschein gekommen, so gut wie der Madlene Heimlichkeit. Das
Dörflein schwamm in Neuigkeiten. Der Türkendrcs war abgethan. Auf Wochen
hinaus hatten die Zungen ausgesorgt. Aus den Vorbereitungen zur Kirmes und
deren Verlauf werden noch mächtig sprudelnde Brunnen kurzweiligen Geplauders
entspringen.
Es sprudelte, Schnatterte und plapperte ganz artig in dieser Woche. So viel
Arbeitswürze war der Mattheseusbärbel ihr ganzes Leben lang noch nicht in eine
Woche gefallen. Andre Frauenzimmer befanden sich aber anch ganz wohl dabei.
Sogar die Männerlent thaten mit im Kirmeszuugenspiel. Die Halbwüchsigen und
Kinder aber waren in außerordentlich freudiger Erregung. Denn der Abfall der
Kirmesfreuden ist ihnen in reichem Maß vergönnt.
"
Der „Kirmesheiligabend ist angebrochen. Mit dem Frühste«, sind die Blotz-
burschen als Begleiter eines Langholzwagens in den Wald gezogen, die mächtige,
schlanke Fichte, die von ihnen schon in der Woche vorher ausgesucht worden war,
zu fällen und heimzuschaffeu. Um nenn Uhr sind sie schon damit auf dem Plan.
Der alte Mai'n war durch „Verstrich" beseitigt worden, und der Erlös gehört
den Blotzburschen. Der neue wird durch viele emsige Hände mit Schnitzmessern
seiner Rinde entkleidet und dann aus einem roten und einem blauen Farbentopf
vom Fuß bis zur Spitze mit zwei Schlangen umwunden. Schon sind andre ge¬
schäftig, die Speichenlöcher zu drei mächtigen Kränzen zu bohren. Die Speichen
oder Kranzarme sind schon bereit, werden eingeschlagen und erhalten an ihren freien
Enden Reifen aufgenagelt. Die Blotzjungferu umwinden die Reifen mit Hölberles-
träutig, und die Burschen befestigen an der Spitze eine junge Weißtanne, die die
„Blotzmädel" dann mit bunten, seidnen Bändern putzen — so auch die Kränze.
Beim Putzen des Mai'us wird aus der Netze, einem mächtigen hölzernen Zipf-
humpen, fleißig eingeschänkt und herumgetrunken.
Der Maien liegt fertig stolz nuf den Böcken. Nun beginnt die eigentliche
Feierlichkeit des Kirmesheiligabends. Die ganze Einwohnerschaft des Dorfes, jung
und alt, krumm nud grad, ist auf dem Plan. Ernst ruht nuf allen Gesichtern.
Ein Leiterwagen steht bereit. Auf den hintern Enden der Leitern ist ein starkes
Querholz befestigt. Der Maien wird von starken Männern mit Heugabeln gehoben,
daß er mit dem Fuß in dem bereits gegrabnen tiefen Loch zum Anstemmen und
auf dem Querholz des Leiterwagens, der mit dem hintern Teil darunter geschoben
wird, aufzuliegen kommt. Lange Seile werden befestigt, an denen Männer den
Baum vom Wagen auf ziehen; anf dem Wagen stehen andre mit Heugabeln zum
Heben, und den Wagen schieben wieder andre nach. Zum Aufrichten bläst die
Musik lustige Stücklein, und hinter Zäunen, Backöfen und Scheunen hervor wird
dazu geschossen, obgleich das Schießen bei fünf Gulden Strafe verboten ist. Das
Aufrichten wird durch Triukpnusen unterbrochen, und in manchem Juchschrei zuckt
das Kirmesleben der kommenden Tage schon in den Heiligabend herein.
Unser geschichtsloses Dörflein ist also im feierlichen Akt des Maienanfrichtens
begriffen, und eben fallen zwei Schüsse. Da kommt der Herr Oberamtmann an¬
gesprengt mit seinem Bedienten, mitten in die Menge hinein, daß allen vor
Schrecken der Atem stille steht, und ruft mit furchtbarer Stimme: Wer hat ge¬
schossen? — Stumm, wie versteinert steht die Menge. — Wer hat geschossen? — Tiefes
Schweigen. — Wo ist der Schultheiß? — Der stand schon zur Seite des wütenden
Reiters, die Mühe in der zitternden Hand. — Hier, Herr Oberamtmann! —
Wer hat geschossen? — Weiß nit, Herr Oberamtmann! — Wo ist der Polizei¬
diener? — Hier, Herr Oberamtmann! — Wer hat geschossen? — Weiß nit, Herr
Oberamtmann! — Die Kirchweihfeier ist aufgehoben, wenn nicht heute noch die
Thäter zur Anzeige gebracht werden. Zur Nachachtung, Schulz! — Der Herr
Oberamtmann reißt sein Pferd herum und sprengt mit seinem Bedienten davon.
Da standen sie nun, der Schulz mit dem Wächter, die Blotzburschen und
Mädel, die ganze Menge und wußten nicht, wie ihnen geschehen war. Es war
alles verstummt. Da wandte sich der Schultheiß an den Blotzburscheu — so wird
der Älteste der Blotzburschen insbesondre genannt —: Wenn ihr nit binnen
einer Stunde einen zu mir schickt, ders Schießen ans sich nimmt, so dürft ihr nit
Kirmes mach! Sprachs und ging von dannen.
Die Blotzburschen besannen sich nicht lange, legten fünf Gulden zusammen
und fragten: Wer wills Schießen auf sich uehmu? Da sind die fünf Gulden
Strafe.
Sofort fand sich ein junger Kerl dazu bereit, ucihm die fünf Gülden in
Empfang und verfügte sich damit zum Schultheißen. Der schickte seinen Wächter
mit einem gehorsamsten Schreiben und den fünf Gulden sofort ins Verwaltungsamt
und ging dann zum Blotzburschen und gab die Erlaubnis zur Fortsetzung der
Feierlichkeit.
Der Maien stand bald kerzengrnde in seinem Loch. Nun blies die Musik
den Chural „Nun danket alle Gott." Und alle anf dem Plan falteten die Hände;
der älteste Mann wie der kleinste Bild stand entblößten Hauptes.
Der Choral war zu Ende. Da ward der Müserskleine von hinten mi der
Jacke gezupft. Klemmer, warst will rächt drschrocken vor 'n Nbermntmann? S is
a scharfer Harr! Die Madlene wars.
Woh is denn mei sogen?
Am Kirmeshciligabend hat die weibliche Einwohnerschaft — wenn eben
Kirmes gemacht, d. h. ein Maien aufgerichtet wird — die „Vierzehnnotwendigkeit."
Aus Mühle und Stadt giebt es herbeizuschaffen, das Haus und die Geräte sind
zu scheuern und zu putzen, es giebt zu sieben und zu backen. Und >vähreud Haus¬
frau, Tochter oder Magd sich so geschäftig tummeln, but Man und Bursch den Hof
zusainmenznrichten, vom dürrsten Holz einen Vorrat auf drei Tage klar zu machen
und geschichtet bereit zu stellen, und Bub und Mädel haben die Gasse hübsch zu
kehren. Es giebt kaum einen Tag, wo sich die vorbereitende Geschäftigkeit eines
Dörfleins zu solcher Höhe steigert wie an einem ordentlichen Kirmesheiligabend.
Nach dem Choral stand bald der neue stolze Maien vereinsamt auf dem Plan
und reckte sein grünes Nadelhaupt träumend in die stille Dunkelheit hinein. Der
Abendstern blinkte grüßend herüber; aber der Weißtannengipfel, den ein eiserner
Ring mit der toten entkleideten Fichte verband, weinte dicke Hnrzthrcinen. Und
die blane und die rote Schlange schössen an dem geschundnen Stamm auf und
nieder, als versuchten sie dem. Baum die Bloße zu decken. Das grüne Beer-
krant sträubte sich gegen den einförmigen Kreislauf der aufgenagelten Reifen.
Ja, es giebt anch einen Kreislauf der Unnatur. Wo fängt er an? Wo
hört er auf? Auf dem Gebiet des Geistes. Da beginnt er, wenn die Nntur-
nachbildung stümpert, und da hört er auf, wenn die Gesetze der reinen Kunst der
Idee der Nachbildung zu Hilfe kommeu. Die Idee des heidnische» Opferbaums
ist im Kirmesmaien nicht genug gestützt vom Kunstgesetz; der gotische Kirchturm ist
eine gelungnere Nachbildung, weil in ihm die der Natur abgelauschten Gesetze
reiner und vollkommner zur Ausprägung und Gestaltung gelange». Dieser macht
nicht den Eindruck der Unnatur wie der Kirmesmaien, weil sich in ihm die Natur
in Kunst umgesetzt hat, nach shmbolischen Gesichtspunkten eine Idee waltet und so
eine Predigt in schöner Harmonie heraustritt. Vom Turm und der Kirche hinweg
werden wir an der Kirmes, ihrem Weihtag, durch deu Maien, der so sonderbar
zwischen Kunst und Natur steht, in die graue Zeit der Väter zurückgewiesen; er
steht als mahnendes Zwischenglied da, zwischen Kirchturm und Opferbaum, zur
Warnung den deutsche» Christe», sich als Deutsche nicht ins Römische zu verliere».
Und so mag er uns lieb und wert bleiben als der Mittelpunkt eines anmutigen,
beziehungsreicher Stückchens Deutschtum, das sich in der Dorfkirmes entfaltet.
Nicht weit vom Planbaum ist die Tränke, ein mächtiger, ansgehauner Baum¬
stamm, wo sich im Sommer das freispazierende Weidevieh des Hirten schellenläutend
morgens und abends am klaren Quellwasser labt, das durch ein Holzrohr aus dem
hölzernen Brunnenstock in den wasserrecht liegenden hohlen Baumstamm nieder-
plätschert uach der uralten Plaudermelodie der schöpfenden Frauen und Mädchen.
Auch der Brunnen ist vereinsamt; denn alle Häuser berge» schon den Wasservorrat
sür den kommenden Festtag. Und er führt nun sein Selbstgespräch ungewöhnlich
laut. Es ist, als mache er dem Unmut Luft, der über ihn gekommen ist wegen
des neuen, geputzten, stolzen Nachbarn. Seit vielen, vielen Jahren war der ge¬
schwätzige Geselle alle Pfingsten in der Lage, seinen stillen Nachbar im verwitterten,
zerfetzten Gewand verhöhnen zu können; denn da nährte er eine stolze Braut mit
seinem klaren, kühlen Herzblut, eine üppiggrünende Birke in weißschimmernden
Hemdlein. Heute, den neuen, stolzen Gesellen im Rücken, kommt er sich vor wie
ein Vergessener. Und nun am Abend, da sich alle weibliche Gesellschaft in die
Häuser zurückgezogen hat, grollt und zankt er so laut vor sich hiu, daß es ius
stille Dorf hineiuschallt.
Am Müsershaus drüben steht ein Fenster auf, und das Selbstgespräch des
Brunnens dringt in die stille Stube und mischt sich in das Schnurre» des Fritz
wie zu einem Zwiegespräch, das die Schwarzwälderin durch ihr Ticktack vergeblich
ans einander zu halten sucht.
Der Kleine hat im Wirtshaus mit den Kameraden Rats zu pflegen, und der
Gruße hat sich auch dahin begeben, weil es ganz widernatürlich wäre, sich an einem
ordentlichen Kirmeshciligabend hinter dem Webstuhl aufzuhalten, und er ohnedem
der Madlene bei ihrer Bäckerei nicht im Weg sein möchte.
Im Müsershans steht der Backofen in der Küche. Ein Schuß Kuchen steht
schon butterglänzend gut geraten da und erfüllt das Haus mit seinem Duft, und
der zweite Schuß steht in schönster Gärung, daß der Madlene das Herz lacht.
In glücklichster Stimmung eilt sie zwischen Backofen und Stube hin lind her, just
als hüte sie Hochzeitskuchen. Beim Maienanfrichten hatte ihr heute der Frieder
einen Stoß mit dem Ellenbogen versetzt, der böse Frieder! Ihr Antlitz hatte
darnach geblüht und geglüht wie ein Rosenstock um Johnnui. Und ehe sie den
Plan verlassen hatte, waren ihre Augen noch einmal in die des glücklichen Frieder
gefallen, daß sie beinahe darin untergegangen wären.
Das Küchengeräte» kann ja wohl ein Frauenzimmer in glückliche Stimmung
versetzen, wenn sie sonst der Schuh nicht drückt. Aber das Glück der Madlene
stand doch nicht im rechten Verhältnis zum guten Gelingen dieser wichtigen Hans¬
angelegenheit. Eine reine, gute Bnckstimmnng äußert sich anders. Da fliegt einmal
„in der Rahsche" eine Thür unsanft zu, oder es wird ein Topf zerbrochen, oder
die Katze auf die Pfote getreten, daß sie verzweiflungsvoll aufschreit: so gings
heut bei der Madlene nicht. Die freute sich heute uicht von außen hineinwttrts,
sondern von innen heraus. Und hinein wars uicht erst daheim beim Backen
gekommen, sondern beim Maienanfrichten dnrch den Rippenstoß des Frieder und
seine gefährlichen, untergaugdrohenden Augen. Und es war wahrhaftig, als griffe
das vom Frieder da hineingetragne Glück immer weiter um sich in dieser Madlene.
Das Blühen und Glühen nahm zu wie in einem Blumengarten um Johanni am
sonnigen Vormittag. Das Mieder war aufgesprungen, das Busentüchlein auf die
Seite gedrängt, die Hcmdschlinge hatte sich gelöst: kurzum, die Madlene — —
ja! sie war allein. Und wenn ein Mädchen mit seinem inwendigen Glück allein
ist, dann läßt sie es eben schalten und walten, daß sich der Himmel erbarmen
möge! — Und er erbarmte sich.
Madlene stand eben in der Stube vor dem Tisch und stach mit einer Gabel
die dort zur Gärung stehenden Kuchen; sie kehrte der offenstehenden Thür den
Rücken zu.
Die Hausthür war zwar eingeklinkt; aber alle Schlösser im Haus wurden
vom Großen so gewissenhaft geschmiert, daß jede Feder und Achse mit Aalglätte
ihren Dienst verrichtete. So war der Madlene entgangen, daß jemand die Haus¬
thür geöffnet hatte, eingetreten war und sie wieder zugedrückt hatte. An der nach
der Hausflur znrückgeschlagnen Stubenthür wurde angeklopft.
Nur nicht die vermaledeite Welt! Die Madlene darf alleweil nicht angerührt
werden, weder in Worten, noch in Gedanken! Nicht dreintavpen in dieses blanke
Glück! Bleibt draußen! Hier ist heiliger Boden alleweil! — Wer ists? —
Matthesens Bärbel? Gri'endet? Triltschenchristel? Tnrkeudres? Spitzbube? Räuber?
Mörder?
Der Frieder ists.
Und der Frieder hatte die Madlene in solcher Glückswirtschaft noch nicht
gesehen; sie war auch noch nie so zur Entfaltung gekommen. Als sie nach dem
Anpochen erschrocken herumfuhr, da war dem Frieder, als ginge er zum ewigen
Leben ein. Diese Herrlichkeit! — Ach, du lieber Gott! — Es war eine andre
Melodie wie beim Beinbruch; aber sie ist ebenso unbeschreiblich und musikalisch
undarstellbar wie sie. — Zwei Herzen, die je schon in wahrhaftiger Liebe
aneinander geschlagen haben, können nicht von einander lassein unbehelligt von der
Welt fliegen sie zusammen, und die Lippen besiegeln die Richtigkeit.
Und wenn wirklich das ewige Leben anbräche: der zweite Kuchenschuß muß
in den Ofen. Der Frieder setzt sich geduldig auf die Ofenbank, und Madlene
eilt mit einem Kuchen hinaus. Wie sie hereinkommt, einen zweiten zu holen, sieht
der Frieder zwischen seinen Knieen hindurch nach dem Fußboden, und das eggertse
Ange streift ihn kaum.
Ist dir was in die Augen gefallen, Frieder, daß du nicht aufschaust? Alter
Knabe du! Wärst du in Wien gewesen, wärs anders. Du hättest aber immerhin
ausschauen und die Madlene ein wenig anlächelt können; Hemdschleife, Busentüchleiu,
Mieder: alles ist in Ordnung jetzt.
Der zweite Knchenschnß ist dem Ofen anvertraut, Madlene setzt sich zum
Frieder auf die Ofenbank.
Hast recht notwendig, Madlene.
Aber ich thus gern.
So eine Kirmes macht einen ordentlichen Aufruhr im Dorf.
Freilich. Aber unser Kleiner hat immer so brav zu mir gehalten, daß ich
ihm sei Freud göuu.
Euer Großer ist wohl recht obstinat?
Ach, er is beergut; er war halt in Schlcsinga.
Ich meint, Madlene, draußen wärs schlimmer als daheim?
Dents auch.
Ein Hausstand in der Fremd ist a Aufstand.
Sein'n Hausstand muß man zu Hans habn.
Was ich sagen wollt, Madlene: Mei Mutter will absolut habn, ich soll mir
einen Hausstand gründen. Weißt ja anch, was dazu gehört.
Courage, Frieder!
Die hätt ich alleweil. Aber die Hauptsach!
Da — — stille wars. Er und sie sprachen kein Wort mehr. Und die
Kuchen mußten heraus und mit lauterer Butter gepinselt werden.
Der Frieder saß wieder allein auf der Ofenbank und dachte über seine
Courage nach. Am End hätt er doch eigentlich keine! Da war er angekommen,
als sich Madlene, nun fix und fertig für heute, wieder zu ihm setzte. Und in
dem Frieder wallte es auf und nieder, und zuletzt schoß es ihm in den Kopf:
„Conrnge!"
Er drückt seinen Ellenbogen an das liebe Mädchen: Madlene! Ich bin des¬
wegen kommn. Meine Mutter hat gesagt, du wärst ihr schon recht.
So, deiner Mutter? Wozu denn? Dn bist nichts?
Ich bin was. Und wenn dus noch immer nit weißt, so will ich nnr
wieder gehn.
So geh.
Madlene? — Madleue? — Ich dacht, wir zwei beide warn fertig mit
einander, sonst hätt ich dir nit von meiner Mutter geredt. Aber weil ich sie
doch erst fragen mußt, so wollt ich dir nur sagn, wie sie meint.
Nun kam in der Madlene ein Sturm zum Ausbruch, der den Frieder er¬
schreckte. Wieder hatte ihr der alte Mutwille im Glück einen Streich gespielt. Und
angesichts dieses Streichs sank sie uuter dem Übermaß ihres Glückes um schluchzend>
zusammen wie eine reuige Sünderin.
Das verstand der Frieder nicht recht, und: da saß wieder der alte Ölgotz
und wußte nicht, ob er gehen oder sitzen bleiben sollte.
Aber bald genug erhob sich in der Madlene die urwüchsige Kraft, und sie
flüsterte dem Frieder zu: Verzeih mirs Gott! Dann lag sie ihm in deu Armen,
Vom ewige» Leben war aber hernach nicht die Rede. Vor Weihnachten noch
ist die Hochzig, Madlene! — Das war Frieders letztes Wort.
Und wie sie nach dem Sturm nur noch mit Küssen geantwortet hatte, so
auch jetzt.
(Fortsetzung folgt)
Im preußischen
Landtage sind kürzlich die bekannten Klagen über die Staatseisenbahu- und Polizei¬
verwaltung erörtert worden. In der Eisenbahnfrage verdienen vor allem die Er¬
klärungen des Ministers der öffentlichen Arbeiten im Herrenhause Beachtung. Der
Berichterstatter über die Denkschrift wegen der Betriebssicherheit usw. auf den Staats¬
eisenbahnen hatte namens der Eisenbahnkommission des Hauses — und zwar in
Übereinstimmung mit den Resolutionen der Budgetkommission des Abgeordneten¬
hauses — die Überzeugung ausgesprochen, daß die Staatseisenbahnverwaltung und
namentlich ihre Leiter keine Schuld an der Häufung der Unfälle im vorigen
Sommer treffe. Mit erfreulicher Offenheit bezeichnete darauf der Minister eine
Reihe von Verbesserungen und Neueinrichtungen im Interesse erhöhter Betriebs¬
sicherheit als notwendig, deren bisherige Unterlassung dnrch die unbestreitbare
Wahrheit, daß solche Arbeiten nicht „rasch" ausgeführt werden könnten, doch nur
zum Teil entschuldigt wird. Die Erklärungen des Ministers lassen darüber keinen
Zweifel, daß in der Eiseubahnverwaltung seit Jahren die Erkenntnis von der Not¬
wendigkeit eines ganz bedeutenden Aufwandes im Interesse der Betriebssicherheit
vorhanden gewesen sein muß, und daß auch der gute Wille, diesen Aufwand
zu machen, nicht gefehlt haben kann, daß vielniehr Einflüsse, die außerhalb der
Eisenbahnverwaltung lagen, für das Hinausschieben der notwendigen Verbesserungen
maßgebend gewesen sind.") Die Eisenbahnen haben im letzten Jahrzehnt so große
Überschüsse geliefert, daß ein kleiner Bruchteil davon genügt hätte, die Einrichtungen
in jeder Beziehung ans einen den höchsten Anforderungen genügenden Zustand zu
bringen, schon lange bevor der Unfallsommer 1897 die übertriebnen Vorwürfe auf
die Verwaltung herauf beschwor. Verantwortlich ist in Wirklichkeit die übermäßige
Plusmacherei zu Gunsten des allgemeinen Staatssäckels, veranlaßt durch das Über¬
gewicht des Finanzministers auch in der Eisenbahuverwaltuug. Statt daß diese
ihrerseits in erster Linie feststellte, wie viel aus den Bruttoeinnahmen für die ge-
botne Erhöhung der Betriebssicherheit aufzuwenden sei, und daß dann erst in
zweiter Linie berechnet würde, wie viel als Überschuß dem Finanzminister in Aus¬
sicht gestellt werden könnte, ist die Eisenbahnverwaltung gezwungen, mit dem
Finanzminister zu verhandeln, auf welchem Wege größere Summen dafür — d. h.
für längst als notwendig erkennte Vermehrungen der Betriebssicherheit — disponibel
gemacht oder in den Etat eingestellt werden könnten. Das ist verkehrt. Viel¬
leicht hätte ein solches Verfahren als Notbehelf Sinn, wenn der Finanzminister
mit dem Staatssäckel bis über die Ohren in der Klemme säße. Aber er hat
unsre Finanzlage doch bekanntlich auf eine noch nie dagewesene Höhe gebracht,
sodaß man meinen sollte, niemals wäre Preußen weniger genötigt gewesen, die
Eisenbahnen in einem Maße als melkende Kuh zu beHandel», das den berechtigten
Argumenten gegen den Privatbetrieb und für die Verstaatlichung des Hauptnctzes
der Eisenbahnen geradezu ius Gesicht schlägt. Der preußische Eiseubahnminister
ist thatsächlich nichts weiter als ein Abteiluugsdirektor des Finanzministers, und
es wäre fast besser, sein Ressort würde anch rechtlich zu einer Abteilung des
Finanzministeriums gemacht, wie es früher die Abteilung für Domänen und Forsten
war. Dann wäre wenigstens Klarheit über die Verantwvrtlichkeitsverhältnisse ge¬
schaffen. Es geht auf die Dauer nicht mehr so weiter, daß der Finanzminister
dnrch Nehmen auf der einen und Geben auf der andern Seite der gesamten
Staatsverwaltung seinen wenn much noch so genialen Wirtschaftsreformatorischen
Stempel aufdrückt, ohne auch auf den einzelnen Gebieten die volle Verantwortung
dafür zu übernehmen, was er anrichtet. Hier scheint es sich wirklich um ein
„System" zu handeln, mit dem gebrochen werden muß; in der Eisenbahnverwal-
tuug selbst von einem Systemwechsel zu reden, ist vorläufig ungerechtfertigt.
Dann hat der Eisenbahnminister noch einen andern dunkeln Punkt berührt,
wobei er sogar selbst einen kritischen Ton anschlug, das ist der Schachergeist, mit
dem groß- und kleinstädtische Gemeindeverwaltungen die ihnen vou Staatsbehörden
vorgeschlagncn wirtschaftlichen Projekte, namentlich auch die der Eiseubcchneu, be¬
handeln. Für den bekannten Pseudoliberalismus, der in den Städten fast durch¬
weg die Hnuplflöte bläst, ist ja das bischen Parlamentspiclen der Stadtverordneten¬
versammlungen über jede Kritik erhaben, aber trotzdem und trotz der Proteste der
Herren Oberbürgermeister im Herrenhause sei es gesagt, daß wir es nur mit
Freuden begrüßen können, wenn der Staat mit der Kirchturms- und Krämerpolitik
der Herren Stadtverordneten in Brieg wie in Dortmund, in Posemuckel wie in
Berlin möglichst wenig Federlesens macht. Wer die Ängstlichkeit kennt, mit der
die freien Bürger in diesen Empvrieu der Selbstverwaltung häufig auch den
albernsten Begehrlichkeiten ihrer wenigen Herren Wähler gerecht zu werden suchen,
der wird es begreifen, welcher unerträgliche Zeitverlust mit den meisten Verhand¬
lungen zwischen Staat und Städten verbunden ist. Da gilt es, den städtischen
Wählerschaften ooulos zu demonstriren, daß die Staatsfürsorge für das Gemein¬
wohl nicht durch solche Querelen aufgehalten werden darf, selbst wenn einmal neue
Bahnhofanlagen, um den Spekulationen der gemeinsinnigen Bürgerschaft nicht gar
zu große Opfer zu bringen, etwas weit von den erwerbsinnigen Städten abgerückt
werden müssen.
Im Abgeordnetenhause hat man die Mängel der Polizei, namentlich der
Berliner und der „politischen," scharf durchgehechelt. Herausgekommen ist dabei
herzlich wenig, und wenn, wie die Herren wollen, die Hechelei in Kommission und
Plenum auch nochmals vorgenommen werden sollte, fo wird auch dadurch kaum
etwas besser gemacht werden. Das Verbessern liegt auf einem ganz andern Felde.
Die arge Übertreibung, die sich in den Redensarten zeigt: „Schutz gegen den Schutz¬
mann" und: „Was ist riskanter, in Preußen ans der Eisenbahn zu fahren oder
in Berlin seine Frau über die Straße gehen zu lassen?" bedürfen für ernsthafte
Leute kaum einer Widerlegung, dem gebildeten Manne, der Berlin kennt, muß man
sie aber nachgerade zum moralischen Vorwürfe machen. Einzelne sehr unangenehme
Belästigungen sind gar nicht zu vermeiden. Vor etwa zwanzig Jahren wurde in
Breslnu ein sehr schneidiger Staatsanwalt ans der Straße vom Schutzmann fest¬
genommen, weil er einem steckbrieflich verfolgten Gauner bedauerlicherweise sehr
ähnlich sah. Der Herr drohte dem armen Schutzmann mit allen möglichen
schlimmen Folgen und wollte nicht mit. Da wurde er „Per Schub" nach dem
Polizeibureau gebracht, wo sich die Verwechslung aufklärte. Ob der Schutzmann
von seinen Vorgesetzten gelobt worden ist, haben wir nicht gehört, aber die frei¬
sinnige Bürgerschaft bis zum Eckensteher herunter war voll Lob für die That.
Also so etwas kann vorkommen, ohne daß der liberale Mann Zetermordio zu
schreien braucht. Auch Schlimmeres kann vorkommen, ohne daß man deshalb der
ganzen Verwaltung einen Vorwurf machen darf. Aber wenn es so oft vorkommt,
wie in jüngster Zeit in Berlin, dann muß, schon weil der Staat, das Beamtentum,
die Polizei dadurch in gemeingefährlicher Weise blamirt werden, unter allen Um¬
ständen Abhilfe geschaffen werden. Wir haben uns auch entrüstet über die Roheiten,
Dummheiten und Faulheiten, die vorgekommen sind, aber wir haben bis jetzt nicht
den geringsten Grund für die Annahme finden können, daß die Leiter der Berliner
Polizei nicht schon ganz energisch und vielleicht auch mit ganz zweckmäßigen Mitteln
an der Arbeit sind, diesem Unfug für die Zukunft den Riegel vorzuschieben. Auch
die Herren Abgeordneten, soviel sie sonst wissen, können darüber gar nichts wissen.
Woher denn? Etwa durch den Erlaß oder Nichterlaß neuer Instruktionen und
Verfügungen, die man ihnen vorlegt oder nicht vorlegt? Der „ältere" Herr von
Koller hat ganz recht: So dumm ist kein Mensch, daß er nicht eine Verfügung
abfassen könnte! Auch die Herren Träger. Brömel, Porsch, die sehr klug sind,
würden wunderschöne Verfügungen abfassen, wenn man sie an die Tinte ran ließe,
daran ist gar nicht zu zweifeln. Aber helfen würden sie damit gar nichts. Die
Besserung muß sich vollziehen in der Praxis, im laufenden, täglichen Dienst- und
Geschäftsbetrieb. Die einzelnen Besserungsmaßregeln, auf die es ankommt, die
persönliche Unterweisung, Aufsicht und, wenn nötig, Strafe, spielen sich gar nicht
vor der Öffentlichkeit, auch uicht vor den Herren Träger, Brömel und Porsch ab.
Wenn mans anders machte, wäre es ein Fehler. Die Öffentlichkeit wird ja sehen,
daß es besser wird, daß man es besser gemacht hat. Auch wenn in der ersten
^>eit noch manchmal ein Rückfall bekannt wird, wird man noch lange nicht be-
rechtigt sein, zu behaupten, daß uicht mit gutem Willen und gutem Erfolg an der
Besserung gearbeitet werde. Die Hetzereien und Schwatzereien in der Presse und
sonst dürfen die Polizei durchaus uicht aus der Ruhe bringen, sie müssen sie kalt
lassen, wenn sie ihr auch die Arbeit erschweren.
Es wäre sehr bedauerlich, wenn Herr von der Recke und seine jugendlichen
Räte etwa glaubten, nur auf dem Papier ein mustergiltiges „System" anfertigen
zu müssen, um es zu „erwägen" und „begutachte»" zu lassen, ehe man an die
praktische Besserung herangeht. Hoffentlich ist Herr von Windheim praktischer, als
es die Herren Schriftgelehrten zum Teil sind, die nach der heutigen Mode vom
Assessor bis zum „Wirklichen" ohne oder mit ganz kurzen Unterbrechungen durch
Gastrollen in der Praxis in den Ministerialbüreaus nur mit der Abfassung
von Verfügungen und Vorlagen beschäftigt werden. Auch in der „politischen"
Polizei kann nur die Praxis, nicht das System, nur der Geist, nicht der Buchstabe
helfen. Bor der Öffentlichkeit verhandelt man ihre Fragen am besten gar nicht.
Schufte foll man zum Teufel jagen, und auf die Beamtenehre unanständiger Kerls
verzichten. Dagegen ist die „Organisation" Nebensache. Und was die Berliner
Schutzmannschaft und ihre Herren Revierlentncmts und Hauptleute betrifft, so ist
hier am allerwenigsten so ohne weiteres ein Systemwechsel erwünscht. Dieses
Personal verdient in der Hauptsache fast ausnahmslos das höchste Lob, mögen sich
anch die Mannschaften äußerlich etwas nnteroffiziermiißig grob und die Leutnants
etwas offiziermäßig fein aufführen. Die Leute haben eine vorzügliche Disziplin
in Fleisch und Blut sitzen, und Herr von Windheim kann sie auf Moll und Dur
stimmen, ganz wie er will. Und auch das sei einmal ausdrücklich hervorgehoben:
Wer in Berlin den Willen und das Zeug hat, dem Elend, der Armut, der un¬
verschuldeten Arbeitslosigkeit und allen den traurigen Erscheinungen in der modernen
Weltstadt ohne Vereinsapparat und Vereinsehrgeiz praktisch abzuhelfen, der wird
an das gute Herz und die Sach- und Menschenkenntnis der bösen Leute in den
Pickelhauben niemals vergeblich appelliren, der wird unter ihnen immer die bereitesten
und brauchbarsten Helfer und Ratgeber finden. Es ist eine große Sünde, den
Armen und Elenden vorznlugen, daß das anders sei. Wie gesagt, wenn Herr von
Windheim will, wird es ihm trotz der gehässigen Presse ein Leichtes sein, die Ber¬
liner Schutzleute in der That zu deu besten der Welt zu macheu. Freilich wird
dann auch hier die Finanzfrage ernst genommen werden müssen, und dem Herrn
von der Recke, wenns sein muß, auch Herrn von Miqucl kein Pfennig mehr für
andre Wünsche bewilligt werden dürfen, bis die Schutzleute die ihrem schweren
Dienst entsprechenden Gehälter und Erholungspausen zugebilligt erhalten. Hoffent¬
lich wird der Kaiser Gelegenheit nehmen, sich bald auch einmal selbst um die Ber¬
liner Polizeifrage zu kümmern, nicht um das System, sondern um die Praxis.
Dann werden die Herren vom Tintenfaß auf einmal mit dem Abfassen, Erwägen
und Verhandeln fertig sein und fast so vernünftig arbeiten, wie Herr von Köller
senior es haben will.
Treitschke begreift den Staat als eine Persönlichkeit mit
eignem, unbeschränktem Willen, worin auch das wesentliche Merkmal des höchsten
politischen Gebildes liegt. Leider erfüllt sich bei uns das bekannte englische Sprich¬
wort nicht; denn trotz des besten Willens hat sich selten ein Weg zur Verwirklichung
einer politischen Absicht gefunden. Am schlimmsten hat die alte Pvlenfrage darunter
gelitte». Das eigne Volkstum und dessen Schutz ist stets die schwache Seite aller
deutschen Politik und aller Deutschen gewesen, die die Frcmdenliebe und den
Mangel nationalen Stolzes seit Jahrtausenden als Sport betrieben haben. Nach
dem Bismarckschen Ansiedlungsgesetz und der teilweise ähnlichen Zwecken dienenden
Rentengutsgesetzgebung folgte die Zeit des Herrn von Koscielski-Admiralsly, der
wohl mit nicht polnischem Gelde seines Schwiegervaters Block) in Berlin eine Rolle
spielen wollte und konnte. Die ungeschickte Bureaukratie der Bromberger General-
kommissiou segelte unbewußt im polnischen Fahrwasser. Das internationale Zentrum
kannte keinen Nationalstolz, und diese drei Verbündeten bedrohten ernstlich die Ver¬
deutschung der Ostmark, die thatsächlich nur eine bescheidne Abwehr frecher pol¬
nischer Übergriffe war.
Preußen hat die sogenannten polnischen Landesteile nach Kriegsrecht erworben
und kann souverän damit schalte», wie das Reich mit Elsaß-Lothringen. That¬
sächlich ist zum Teil der Fall ähnlich, da Westpreußen uralter deutscher Besitz seit
der Ordeuszeit ist, und Pose» starke Siedelungen vergewaltigter deutscher Bürger
nud Bauern enthielt. Wenn die napoleonischen Kriege auch den Staat von dem
Übermaß polnische» Besitzes mit Gewalt befreiten, so sind doch zahlreiche rein
deutsche Landstriche an Rußland gefallen, da Kongreßpolen noch heute mehr als
zwei Millionen Deutsche zählt. Die russischen Nachbarkreise von Thorn sind fast
ungemischter deutsch als das preußische Grenzgebiet. Der Wiener Kongreß, der
dank Talleyrands Ränken und Alexanders Polenschwärmerei Deutschland nicht nur
um Elsaß-Lothringen betrog, sondern auch das Deutschtum in dem ehemaligen
preußischen Kougrcßpolen dem Slawenhasse preisgab, scheute sich nicht, die preußische
Souveränität cmzutaste», obschon die Redensarten der Kongreßakte weder von dem
Zar ernst genommen worden sind, da ihm der billige Ruhm des Freiheitsbringers
und Völkerbeglückers allein gefiel, noch von Preußen anders als die stets üblich
gewesene Duldung des fremden Volkstums aufgefaßt wurden. Aber schon die Er¬
örterung heimischer Verhältnisse aus der mißgünstigen Diplomatenversammlung war
ungehörig und hätte von Preußen zurückgewiesen werden müssen. Indessen der be¬
scheidne König und der leichtherzige Staatskanzler, dem der Steiusche Patriotismus
und dessen eruste Sittlichkeit fehlte, erkannte weder die etwaigen Folgen solcher
äußerlich harmlosen Erklärungen, noch fanden sie bei der eignen Schwäche Ver¬
bündete zum Widerstande unter den neidischen deutschen Kleinstaaten.
Die polnische Verdrehungskuust benutzte die Akte in ihrer Weise und machte
eine feierliche königliche Zusage daraus, die ein deutscher König von Preußen auch
nie hätte gebe» können. Freilich erst unter dem romantischen Träumer auf dem
Throne trat das Polentum mit angeblichen staatsrechtlichen Ansprüchen auf Grund
der Kongreßakte ans. Was der alte Fritz mit seinem Schwerte und seiner Staats¬
kunst erworben hatte, sollte unter europäische Garantie gestellt werden. Leider
begann die bekannte Schaukelpolitik in den polnisch gemischten Provinzen mit einer
scheinbaren Anerkennung einer gewissen polnischen Autonomie. Freilich zerstob
jedesmal bei solche» politischen Rückfällen in eine gefühlsselige Schwäche der pol-
msche Traum sehr bald dank der Anmaßung der Begünstigten. Aber noch Bis-
marcks Rücktritt gab der polnischen Propaganda neue Nahrung, und der Erfolg
mußte sie zu weitern Ansprüchen ermutigen, der Rückschlag ist nicht ausgeblieben.
Die Regierungszügel si»d wieder straffer cmgezoge», und die Vorlage zur Ver¬
stärkung des Ausiedlungsfonds harrt der Verabschiedung. Aber in den unheilvollen
Zwischenzeiten wurde das Deutschtum stetig zurückgedrängt, und das Polentum ge¬
wann sogar auf deutschem Volksboden, da der deutsche Katholik die Kirche über
kein Volkstum stellte, und der evangelische Deutsche bei nationalem Hader nicht
selten das «»gastliche Land verließ.
Die nationalpolnischen Verhältnisse haben sich bei den halben Maßregeln und
der schwankenden Regierungspolitik fortdauernd zu Ungunsten des Deutschtums und
der preußischen Staatseinheit verschoben. Als Herr von Koscielski trotz seines
loyalen Unterthanenmäntelchens in Lemberg sein großpolnisches Herz entdeckte, da
war freilich auch die Zeit des gehätschelten Hospolentnms vorbei. Das galizische
Vorbild war doch sür die preußische Regierung zu abschreckend, und die Badenische
Herrschaft in Wien hat es nur noch abstoßender gestaltet. Der Deutscheuhaß des
geeinten Slawentums hat selbst klerikale Kreise Österreichs in ihrem doch herzlich
schwachen deutschen Nationalgefühl gekränkt und wird die Zentrumswähler im Reiche
der Pvlenfreuudschaft der Partei gegenüber auch stutzig machen. Die österreichischen
Polen haben nicht bloß die ihnen ausgelieferten Ruthenen Gnliziens, sondern auch
unsre eignen Volksgenossen in Böhmen geknebelt, wenn auch schließlich ohne dauernden
Erfolg. Diese That wollen wir dem Polentum nicht vergessen. Wir wissen nun,
was wir von der Herrschaft oder auch uur von der Gleichberechtigung dieses sla¬
wischen Stammes zu gewärtigen haben, der einst das deutsche Ordensland nicht
durch eigne Kraft, sondern durch Verrat unterjocht und unserm Volkstum und der
Gesittung jahrhundertelang entzogen hat.
Die Geschichte hat es unwiderruflich gelehrt, daß die Polen zu eigner Staats¬
bildung unfähig geworden sind. Ihre Selbstverwaltung in Galizien ist eine greu¬
liche Mißwirtschaft. Bezeichnend für das nativnalpolnische Beamtentum sind die
Bestechungsprozesse. Die Wahlen enden regelmäßig mit Mord und Totschlag.
Dabei verhütet die Zentralregierung in Wien noch ärgere Ausschreitungen und be¬
seitigt schließlich die schlimmsten Mißbrciuche. Der österreichische Spracheustreit ist
für uns äußerst lehrreich. Das parlamentarische Verhalten des polnischen Minister¬
präsidenten und des polnischen Präsidenten des Abgeordnetenhauses findet sein
Gegenstück nicht einmal in den halbasiatischen Balkanstaaten. Die preußische Re¬
gierung wird jetzt ein wesentlich leichteres Spiel haben, auch unpatriotischen Zentrnms-
leuten, freisinnigen Doktrinären und sonstigen politischen Querköpfen an diesen Bei¬
spiele» nachzuweisen, was die Polen unter Unterthanentreue und Negierungsfnhigkeit
verstehen. Erfreulichermeise ist der höhere Klerus und der aalglatte Adel mit seinen
verbindlichen Formen von der gröbern und daher auch aufrichtigem polnischen
Volkspartei in der Führung zurückgedrängt worden, sodaß jetzt die wahren Ziele der
thatsächlich hochverräterischen großpolnischen Propaganda ziemlich offen zu Tage treten.
Das Polentum wartet uur auf die Gelegenheit zur Aufrichtung seines alten
Staats, was ihm rein nationalpolitisch ebenso wenig zu verdenken ist, wie dem
preußischen Staate, zu seiner Selbsterhaltung rücksichtslos diese wachsende Bewegung
im Notfall mit Gewalt zu unterdrücken. Helfen die gesetzlichen Mittel der deutscheu
Besiedlung und des deutschen Unterrichts nicht, so darf die Regierung nicht säumen,
schärfere Maßnahmen zu erwägen. Glücklicherweise befinden wir uns noch im
ersten Stadium; der Mißerfolg liegt teilweise in der ungenügenden Durchführung,
zumal da die maßgebenden Kreise selbst schwankten oder sich gelegentlich in ihrer
Handlungsweise widersprachen. Es fehlte eben der einheitliche, feste Wille von
oben, wie er bis 1890 in der Wilhelmstraße regiert hatte. Die erwünschte Umkehr
darf ja jetzt erhofft werden.
Die Erhöhung des Ansiedlnngsfonds erheischt zugleich eine schnellere Gangart
der Besiedlung und eine größere Propaganda im Westen, wo besonders die Holz¬
hauern der Mittelgebirge ein geeignetes Material bilden werden. Die Teilung des
Parzellenbesitzes treibt sie an sich schon von Hans und Hof, allzu häufig übers
Meer. Freilich erscheint zugleich eine Steigerung der Erträgnisse der Landwirt¬
schaft dringend geboten, da sonst das Ergebnis sich noch unbefriedigender als jetzt
gestalten wird. Die Negierung kann hier zur Zeit nur durch den Viehschutz helfen,
der bei der ständigen Seucheugefahr im Osten besonders leicht gewährt werden
kann, da die Regierung in diesem Fall jederzeit die Grenze zuzuschließen in der
Lage ist. Es sei nur an die massenhafte Schweineeinfnhr ans Rußland und Öster¬
reich erinnert, die gerade die kleinsten bäuerlichen Wirtschaften hart trifft. Sodann
muß die unheilvolle Wirksamkeit der Rentengutsgesetzgebnng der Generalkommission
beseitigt werden, die, statt dem gleichen nationalen Zwecke zu dienen, wider Willen
des Gesetzgebers dank der Buchstabeuauslegung geradezu eine polnische Besiedlung
fördert, und zwar mit dem Gelde deutscher Steuerzahler. Wohlthuend berührt es,
daß eine deutschnatiouale Privatunternehmung gleichen Zieles, die Landbank in
Berlin, im Gegensatz zur Generalkommission bloß an deutsche Ansiedler ihre
Güter aufteilt, obwohl dadurch fraglos der Geschäftsbetrieb erschwert und das Er¬
trägnis gemindert wird.
Bei aller Wichtigkeit dieser materiellen Seite darf auch der ideale Kampf nicht
vernachlässigt und der Wert des deutschen Unterrichts nicht unterschätzt werden. An¬
gesichts des Mißbrauchs, deu das Polentum mit dem katholischen Glanben zu Gunsten
seiner Interessen treibt, hat die konfessionelle Volksschule der Simultanschule weichen
müssen, da sonst das deutschkatholische Kind rettungslos sein angebornes Volkstum
verlieren würde. Hieraus hat der polnische Klerus die nirgends gesetzlich gewähr¬
leistete Forderung aufgestellt, daß den Polenkindern in ihrer Muttersprache der
Religionsunterricht erteilt werden müßte. Der ganze Volksschuluuterricht soll auf
religiöser Grundlage beruhen, sowohl in der konfessionellen als der Simultanschule.
Der Unterricht darf in keinem Fache dem Kinde unverständlich bleiben. Hierfür
hat die Vorbildung des Lehrers zu sorgen, und in den polnischen Provinzen soll
nur eine Auswahl gut dotirter Kräfte wirken, wie dies anfangs auch durch die
Regierung geschehen ist. Die polnische Geistlichkeit hat auch gar nicht das Seelen¬
heil der Kinder, sondern die Nationalität im Ange, von der der katholische Priester
ini übrigen Deutschland häufig genug nur zu sehr losgelöst ist. Eine deutsche
Volksschule bleibt immer nur Stückwerk, wenn der Religionsunterricht polnisch und
von fanatischen Geistlichen erteilt wird. Wenn sonst der Pfarrer auch der geborne
Schulinspektor sein mag, ein polnischer Priester ist doch der Feind der deutschen
Schule und des deutschen Lehrers. Wie glimpflich verfährt aber die Negierung
mit solchen Hctzkaplänen. Sie werden von der Schulaufsicht entbunden und bleiben
im Lande. Während des Kulturkampfs faßte man deutsche Priester derber an; der
polnische Pfarrer ist und bleibt ein Feind des Preußischen Staats und muß als
solcher mit aller Strenge behandelt werden.
In den letzten Tagen des vergangnen Jahres ist ein sehr zeitgemäßes Büchlein
wiederum erschienen, der Almanach für die kaiserliche und königliche Kriegs¬
marine 1898 (18. Jahrgang; in Kommission bei Herold u. Comp., Wien;
Preis 4,20 Mark). Die deutsche Marinelittcratur entbehrt ja noch eines solchen
handlichen Taschenbuches, das alles Wissenswerte über das Material der Kriegs¬
flotte» enthält; aber der uns jetzt wieder in neuer Auflage vorliegende österreichische
Marinealmanach macht die Lücke weniger fühlbar. Ja in der gegenwärtigen be¬
wegten Zeit des Kampfes für und wider die größere Flotte ist dieser mit Ge¬
nehmigung des österreichischen Reichskriegsministeriums herausgcgebne Almanach
vielleicht ein wirksameres Agitationsmittel, als es ein ans Veranlassung unsers
Rcichsmnrineamts verfaßtes derartiges Taschenbuch wäre. Denn gegen ein solches
würde von marinefeindlicher Seite doch nur der Vorwurf erhoben werden, daß
die in ihm enthaltnen statistischen Angaben in tendenziöser Weise ausgesucht und
zusammengestellt wären; daß aber von amtlicher österreichischer Seite Stimmung für
die Vergrößerung unsrer Flotte gemacht werde, dürfte kaum der mißtrauischste
Demokrat argwöhnen. Icteri, dem es darum zu thun ist, sich in dem Wirrwarr
der Meinungen über die Flotteufrage ein sicheres Urteil zu bilden, bietet der
Almanach zuverlässige, sachliche, unparteiische und erschöpfende Belehrung. Die
Beantwortung der Frage, ob Deutschlands Marine ausreichend sei oder beträchtlich
verstärkt werden müsse, hängt doch zuletzt von der Prüfung des vorhandnen Schiffs¬
materials und von der Vergleichung mit dem Material der andern Seemächte ab.
Daß Deutschland als europäische Großmacht mit beträchtlicher Küstenansdehnung
und als zweiter Industrie- und Handelsstaat der Welt zur Landesverteidigung und
zum Handelsschutze einer Flotte bedarf, leugnet ja keine politische Partei, vielleicht
mit Ausnahme der aus parteitaktischen Gründen alles negirenden Sozialdemokratie.
Aber wie stark diese Flotte sein müsse, darum geht der Streit. Nun ist es klar,
daß die Stärke unsrer Seemacht immer in einem gewissen Verhältnis stehen muß
zur Stärke der Mariueu, gegen die wir möglicherweise einmal zu kämpfen ge¬
zwungen sind. Einigen überseeischen Staaten müssen wir zur See stets überlegen,
andern Mächten mindestens gewachsen sein; der Abstand, in dem wir hinter der
englischen und französischen Seemacht folgen, darf nicht zu groß werden. Eugen
Richter, die „Vossische Zeitung" und andre Rufer im Kampf gegen die Vergröße¬
rung der Flotte weisen mit Vorliebe auf die Millionen hin, die die Flotte schon
heute verschlinge; sie rechnen vor, wie gewaltig der Marineetat in einem Menschen¬
alter angeschwollen sei. Diese Zahlen mögen wohl denkfaule Fvrtschrittsphilister
gruselig macheu, sie beweisen aber gar nichts, wenn sie für sich allein betrachtet
werden, da dann jeder Maßstab der Beurteilung fehlt. Stellt man sie aber mit
den entsprechenden Zahlen der Etats andrer Seemächte zusammen, so ergiebt sich,
daß in den fremden Mariueu die Kosten für die Flotte noch in ganz andern:
Maße gewachsen sind. Nicht anders steht es mit dem Schiffsmaterial. Daß die
deutsche Flotte von heute dank der erstaunlichen Entwicklung der Schiffsbantechnik
einen absolut größern Kampfwert hat als die Flotte der siebziger und achtziger
Jahre, ist zweifellos. Daß aber der Knmpfwert der andern Mariner in weit
höherm Grade gesteigert worden ist, lehrt ein Vergleich des Materials dieser Flotten
mit dem unsrer Marine.
Davon kaun sich jeder, auch der Laie, überzeugen, wenn er sich die geringe
Mühe macht, die Tabellen des österreichischen Almanachs zu studiren. Sehen wir
ab von den Abschnitten, die im wesentlichen nur für deu kaiserliche» königlichen
Seeoffizier von Interesse sind, so kommen für unsern Zweck vor allem der V. und
VI. Teil in Betracht, überschrieben „Artillerie der verschiednen Flotten" und
„Flottenliste." Teil V (S. 135 bis 188) enthält nach einer erklärenden Ein¬
leitung und mehreren Anmerkungen zunächst übersichtliche und in ihrer Ausführ¬
lichkeit auch deu Fachmann befriedigende Angaben über die in den wichtigsten
europäischen Flotten und der Marine der Vereinigten Staaten eingeführte Schiffs¬
artillerie. Daran schließen sich Berichte über Kruppsche, Armstrougsche und Canctsche
Schiffsgeschütze neuerer Konstruktion, über Mitrailleusen, Schnellfeuer- und Schnell¬
ladegeschütze und Haudfenerwaffen, wodurch die Angaben über die Schiffsartillerie
der einzelnen Staaten vielfach ergänzt werden. Alles die Beschaffenheit und
Leistuugsfühigkeit der modernen Schiffsgeschütze betreffende Nachrichtenmaterial,
soweit es überhaupt den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat, sieht man hier
sorgfältig zusammengestellt.
Ungleich wichtiger noch ist Teil VI, die Flottenliste (S. 139 bis 440). In
alphabetischer Reihenfolge sind sämtliche Kriegsflotten der Welt mit ihrem gesamten
Schiffsbestande aufgeführt. Es fehlt keine, und seltsam genug nimmt sich neben
der englischen Flotte mit mehr als einem halben Tausend von Fahrzeugen jeder
Größe die aus einem Torpedoboot bestehende Marine der Republik Costa Rica aus.
Jedes einzelne Schiff ist aufs genaueste beschrieben. Wir erfahren Namen, Ab¬
messungen, Tonnengehalt, Pferdekräfte, Panzerung, Bewaffnung, Geschwindigkeit,
Aktionsradius, Baumaterial und Zeit des Stapellaufs. Nichts fehlt, was mau
wissen muß, um über Eigenart und Gefechtskraft irgend eines Kriegsschiffs unter¬
richtet zu sein. Bei den Angaben über Stärke und Verteilung des Panzers ist
aus der Art des Drucks sogar zu erkennen, ob es sich um einfachen Eisenpanzer,
um Stahl- oder Harveypcmzer handelt. Auf dieselbe Weise ist kenntlich gemacht,
ob die Schiffe einen veralteten Maschinentyp oder Kompoundmaschinen oder Wasser¬
rohrkessel führen. Besonders wertvoll für den Laien sind die der Flottenlifte an¬
gefügten 210 Skizzen von Panzerschiffen und Panzerdeckschiffeu. Von fast jedem
der skizzirten Schiffe ist eine Seitenansicht und eine Deckansicht vorhanden. Daß
in den eine Unmenge von Zahlen in sich bergenden Tabellen einzelne kleine Irr¬
tümer vorkommen, ist wohl verzeihlich. So ist Seite 206 die Zahl der Fünfzehn-
centimetergeschütze, die die neuesten deutschen Schlachtschiffe führen, auf acht statt
achtzehn angegeben. Die Geschwindigkeit der beiden Avisos „Hela" und „Greif"
(S. 209) beträgt weniger als 23 Knoten. Im ganzen ist der Schisfskatalog aber
von großer Zuverlässigkeit und vorzüglicher Genauigkeit. Wir ziehen diesen
Almanach den uns bekannten englischen Taschenbüchern dieser Art entschiede» vor.
Schon beim flüchtigen Durchblättern der Schiffskisten muß man sich darüber
Wundern, daß es Politiker giebt, die das neue Flotteugesetz ernstlich haben be¬
kämpfen können. Wir wollen nur auf das folgende aufmerksam machen. Es hat
auf allen Seiten, auch auf Seite der Flottengegner, einigermaßen Befremden er¬
regt, daß nach dem Gesetzentwürfe die Schlachtflotte verhältnismäßig stark, die Zahl
der Kreuzer verhältnismäßig gering sein soll.
Im Jahre 1901- soll die Schlachtflotte auf den normalen Stand von neun¬
zehn Linienschiffen, einschließlich der Materialreserve, gebracht sein. Darunter
werden sich aber fünf Schiffe von gttuzlich veralteter Bauart befinden, nämlich
„Oldenburg" und die vier Schiffe der „Sachsen"-Klasse. England verfügt aber heute
bereits, wenn mau acht noch im Bau begriffne, aber demnächst vollendete mit¬
rechnet, über achtunddreißig hochmoderne Schlachtschiffe erster Klasse, darunter
zwanzig mit einer Wasserverdrängung von 14000 bis Is000 Tonnen, während
unsre neuesten Panzer nicht viel mehr als 11000 Tonnen Wasserverdrängung haben.
Dazu kommen noch dreiundzwanzig Schlachtschiffe zweiter und dritter Klasse, die,
soweit sie von älterer Bauart sind, zum größte» Teil neue Maschinen und neue
Bewaffnung erhalten haben, sodaß sie unsrer Sachsenklasse mindestens gewachsen sind.
Die französische Flottenliste weist sechsundzwanzig Schlachtschiffe auf, von denen
die Hälfte in den neunziger Jahren erbaut ist. Zu ihnen muß mau aber auch
noch die neun größten der fünfzehn Küstenverteidiger rechnen, denn diese neun
Schiffe stehen bei einer Wasserverdrängung von 6019 bis 7822 Tonnen den
Panzern der „Snchsen"-Klasse an Größe nur wenig nach oder übertreffen sie sogar
noch. Dabei sind sie sämtlich neuer und stärker gepanzert und, mit Ausnahme
des „Furieux," auch schneller und besser bewaffnet als die „Sachsen" und ihre
Schwestcrschisfe. Wenn also unsre Schlachtflotte, auf deren Verstärkung es der Flvtten-
gesetzeutwurf ganz besonders absieht, im Jnhre 1904 ihren normalen Bestand erreicht
hat, wird sie etwa halb so stark sein, wie die französische Schlachtflotte jetzt schon
ist, während die gegenwärtige englische Schlachtflotte den Sollbestand der unsrigen
um tels drei- bis vierfache übertrifft. Und dabei ist kein Zweifel, daß England
und Frankreich bis zum Jahre 1904 die Zahl ihrer Schlachtschiffe noch beträchtlich
vermehrt haben werden.
Wahrlich! Der Tirpitzsche Flottenerweiterungsplan kann Bedenken erregen;
aber nicht weil seine Forderungen maßlos, sondern weil sie zu bescheiden sind!
Die kleine Schrift, aus Artikeln in der „Schlesischen Zeitung" hervorgegangen,
behandelt mit der Sachkenntnis und Klarheit, die wir an dem Verfasser gewöhnt
sind, in acht Abschnitten den Zweck der Kriegsflotten, Grundbegriffe und Schlag¬
worte in der Flotteufrage, Schlachtschiffe, Kreuzer, die Seemächte, alte und neue
Flottenpläne, Seepolitik, die Gefahren deutscher Ohnmacht zur See. Es geht vor
allem aus den Aufsätzen hervor, nicht nur, wie unumgänglich notwendig die Durch¬
führung des deutschen Flottenplans ist, und wie sich sachlich nichts, auch gar nichts
dagegen geltend machen läßt, sondern wie der Augenblick dafür auch insofern sehr
günstig ist, als die Kriegsflotten aller Mächte offenbar jetzt zu ganz ausgebildeten,
in allen wesentlichen Stücken feststehenden Schiffstypen gelangt sind, sodaß von
einem kostspieligen Experimentiren gar nicht mehr die Rede sein kann. Wie im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert und bis gegen die Mitte des neunzehnten
Linienschiffe als Schlachtschiffe mit mächtiger Artillerie und schnelle Fregatten für
den Anfklärungsdienst, den Handelsschntz und den Kaperkrieg neben einander standen,
so jetzt wieder schwere, stark bewaffnete Hvchseepanzerschiffe als Schlachtschiffe, für
die schon wieder ganz bezeichnend amtlich der alte Name „Linienschiffe" gebraucht
wird, und Kreuzer verschiedner Art und Größe. Denn die Natur des Seekrieges
bleibt sich im Grunde immer gleich, soviel auch Dampfkraft und Panzerung in
der Taktik für den Kampf geändert haben. Ebenso hat man jetzt gelernt, den
Wert der längere Zeit weit überschätzten Torpedoboote, von denen Enthusiasten
sogar annahmen, daß sie die kostspieligen Panzerschiffe ganz verdrängen könnten,
auf ein bescheidnes Maß zurückzuführen, denn sie sind nur für deu Küstendienst
brauchbar, weil sie in jedem schwerern Seegang versagen, und daher Panzerschiffen
bei einiger Vorsicht überhaupt nicht sehr gefährlich.
Das praktisch eingerichtete kleine Buch ist durch Flugschriften zweier Flotten-
gegner, Müller-Fulda und Eugen Richter, veranlaßt worden, um der Verwirrung,
die diese in den Köpfen mancher Leser anrichten können, entgegen zu treten. Der
Verfasser hat den Stoff sehr übersichtlich und bequem alphabetisch geordnet, also
eine Art Realwörterbuch sür die Marine hergestellt. So kann man unter be¬
stimmten, geläufigen Schlagwörtern sofort das Material zusammenfinden (z. B.
Äternat, Aufgaben der Kriegsflotte, Blockade, Ersatzbauten/ Flottengesetz, Hochsee¬
fischerei, Kreuzer, Linienschiffe, Missiousschutz, Schädigung Hamburgs infolge
fehlenden Flottenschntzes, Spektatvrartikel, Torpedofahrzenge, Welthandel u. s. f.).
Ein Namenverzeichnis der benutzte» Autoren ist beigegeben.
cum man der in den Zeitungen zu Tage tretenden öffentlichen
Meinung Glauben schenken wollte, so müßte man annehmen,
daß die Bestrebungen des Sozialismus und Kommunismus
durchaus neu seien und allein dem neunzehnten Jahrhundert
angehörten. Aber in den Zeitungen kommen meist nur die
Stimmen der Anhänger und Gegner zu Worte, die fast ausnahmslos durch
ihre Interessen geleitet werden. Auf beiden Seiten ist man nur zu sehr geneigt,
das eigne Interesse für das Interesse des Volkes zu halten, obwohl Fürst
Bismarck oft genug den Mißbrauch gegeißelt hat, den die Parteien mit dem
Worte Volk getrieben haben. Es sind nicht nur die Sozialdemokraten, sondern
ebenso die sogenannten staatserhaltenden Parteien, die in gleicher Weise schuldig
find. „Einer jeden am Staatsruder sitzenden Partei scheint der Angriff auf
ihre Macht nicht bloß ihr eignes Interesse, sondern zugleich das allgemeine
Interesse des Rechts, der Sitte, des Vaterlandes zu bedrohen — die Priester¬
aristokratie glaubt sogar den Herrgott selber verteidigen und rächen zu müssen."*)
So sehr die „Männer der Praxis" sich auch selber für sachverständig
halten mögen, so überlegen sie auf nicht Sachverständige herabzusehen und über
sie abzusprechen Pflegen, so sind sie doch selber sast ausnahmslos völlig ein¬
seitig in ihrem Urteil, weil sie von ihren Interessen und Gewohnheiten be¬
herrscht werden und von der historischen Entwicklung keine Kenntnisse haben.
So vermag sich ihr Blick nicht von dem Nächsten zu lösen, und darum darf der
Politiker, wie das die Grenzboten schon öfter hervorgehoben haben, niemals
die rein subjektive Bedeutuug der Tagesmeinungen überschätzen.
Demgegenüber ist von Geschichtskennern schon oft hervorgehoben worden,
daß Sozialismus und Kommunismus durchaus keine so unerhörten, der neuesten
Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, sondern vielmehr eine Krankheit, die
sich fast regelmäßig bei hochkultivirten Völkern in einer gewissen Lebensperiode
wiederholt. Nur wenn der Körper schon zu schwach ist, um eine Genesung
zu bewirken, pflegt das Übel zum Untergang der wahren Freiheit und Ordnung
— meist dnrch den Cäsarismus — zu führen.
Der durch seine geschichtliche Betrachtungsweise ausgezeichnete National¬
ökonom Noscher hat in dem bereits erwähnten Buche diesen Gegenstand ein¬
gehend behandelt; er nennt als die Perioden der Weltgeschichte, in denen die
Verbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen am mächtigsten gewesen ist:
bei den Alten das Zeitalter des sinkenden Griechentums und der ausartenden
römischen Republik, bei den Neuern das Zeitalter vor dem Siege der Re¬
formation und endlich unsre Zeit. Der gelehrte Verfasser hält es in seinem
Werke für nötig, genau zu bezeichnen, was er unter dem Wort Sozialismus
versteht, eine löbliche Gewohnheit, die leider von vielen „Männern der Praxis"
oder Nationalökonomen allerneusten Schlages nicht nachgeahmt wird. So
unzweideutig das Wort Kommunismus ist — es bezeichnet die Aufhebung des
Privateigentums —, so vieldeutig ist das Wort Sozialismus. Nun findet er den
Unterschied von Sozialismus und Nationalökonomie keineswegs darin, daß
jener sich mehr für die niedern Klassen interessirte oder der Gemeinwirtschaft
ein schlechthin größeres Feld einräumte. Er nennt Sozialismus vielmehr eine
Gemeinwirtschaft, die über den Gemeinsinn hinausgeht. „Eine solche ist immer
freiheitswidrig, bei ihrer ersten Einführung auch rechtswidrig; und sie kaun
den durch Zwang verletzten Personen keine volle Entschädigung gewähren, weil
sie für das Volksvermögen durch Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und
Sparsamkeit immer eine Art Raubbau sein wird. Dagegen empfiehlt die
Nationalökonomie nur dann die Expropriationen, wenn die Triebfedern zu
Fleiß und Sparsamkeit im Volke dadurch verstärkt werden; und der dadurch
gewonnene Vermögenszuwachs dient ihr zu voller Entschädigung der Exprv-
priirten." Man sieht, das Eigentum ist ihm nicht unbedingt heilig, es ist
aber natürlich anch nicht — wie die ins Blödsinnige getriebne Gegenströmung
will — Diebstahl.
Fünf Bedingungen werden genannt, deren Zusammentreffen der Idee einer
allgemeinen Gütergemeinschaft besonders Vorschub leistet. 1. Ein schroffes
Gegenüberstehen von Reich und Arm, wo auf der einen Seite der Stolz, auf
der andern Hoffnungslosigkeit und Neid zur schlimmsten Verbitterung führen
müssen. 2. Ein hoher Grad von Arbeitsteilung, sodaß der Zusammenhang
von Verdienst und Lohn nur noch schwer zu übersehen ist. 3. Hohe Ansprüche
der niedern Klassen infolge der übertriebnen demokratischen Prinzipien der
Gleichheit und Volkssouveränität. 4. Erschütterung des öffentlichen Rechts-
gefühls durch Revolutionen oder Staatsstreiche. 5. Allgemeine Abnahme der
Religiosität und Sittlichkeit im Volke, d. i. also die Abnahme des Pflicht¬
gefühls, zumal im Vergleich zu der Betonung der eignen Rechte.
Die plutokratisch-proletarische Spaltung ist nach Röscher das Grundübel
und die Hauptgefahr für alle Hochsiehenden Kulturen; diese Spaltung läßt die
Volker altern und sterben. Bei Abwehr dieser Gefahr kommt es nicht darauf
an, unnütz gewordne, träge und parasitische Existenzen auf den mittlern Stufen
der Gesellschaft zu erhalten, sondern das Aussteigen frischer Kräfte von unten
uach oben zu befördern, und darauf, daß die Obenstehenden sich durch stets
erneute Kraftanstrengungen festhalten. Das sxsiÄtö luissri, «z-ipso thun-hö
schafft die ewige Bewegung,
Das einzige wirkliche Vorbeugungs- und Heilmittel der sozialen Not wird
in der allgemein verbreiteten wahren Bildung bei Hohen wie Niedern erkannt:
der wahren Bildung, nicht nur der Einsicht, sondern zugleich, was noch viel
wichtiger und schwieriger ist, des Charakters. „Die reichen Mammonsknechte
sind ebenso schlimm wie die armen Kommunisten und vielleicht noch weniger
zu entschuldigen."
Als wirksamstes Mittel, die Kleinen im Konkurrenzkampf mit den Großen
zu stärken, gilt auch bei Röscher die Assoziation. Er empfiehlt Arbeiter- und
Unternehmerverbände, möchte aber die staatliche Anerkennung dieser Verbände
als juristische Personen auch an die von Schönberg vorgeschlagne Bedingung
geknüpft sehen, daß sie sür die Vertragstreue ihrer Mitglieder haften und sich
in Streitigkeiten dem unparteiischen Einigungsamte unterwerfen.
Prüft man die dargelegten Anschauungen an der Hand der deutschen
Geschichte, so scheinen sie doch den Gegenstand nicht umfassend genug zu be¬
trachten. Soziale Kämpfe hat es in Deutschland nicht nur in den großen
Zersetzungsperivden, in denen sich eine neue Zeit gebären wollte, gegeben,
sondern noch viel häufiger; ja es ist selten eine größere Periode frei von
sozialen Kämpfen gewesen. Wir denken hierbei nicht an das Aufkommen des
sogenannte» dritten Standes. Der Kampf zwischen Adel und Bürgertum ist
ein Kampf um politische Macht zwischen Landbesitz und Geldmacht, es ist ein
Kampf, bei dem sich Besitzende auf beiden Seiten gegenüberstehen. Nur in¬
sofern als sich Interessengruppen, sogenannte Klassen entgegentreten, kann man
hier von sozialen Kämpfen reden. Alle wirtschaftlichen Kämpfe, die als soziale
Kämpfe im eigentlichen Sinne zu bezeichnen sind, sind Kämpfe zwischen Besitzenden
und Besitzlosen, und da für gewöhnlich die Besitzlosen ebenso und noch mehr als
die Besitzenden zur Erwerbsarbeit bereit sind, diese Arbeit aber nicht lohnend
genug ist oder ihnen nicht lohnend genug erscheint, so sind es Kämpfe zwischen
der ausgebeuteten Masse und einer durch die Verhältnisse wirtschaftlich mächtigen
ausbeutenden Klasse. Der Sozialismus in diesem Sinne entsteht, wenn die
Gemeinwirtschaft und die Wahrnehmung der Gesamtinteressen hinter der Ent¬
wicklung des Gemeinsinnes zurückgeblieben ist, wenn die Verteilung des Ar-
beitsgewiuues allgemein als ungerecht empfunden wird. Von diesem Ge¬
sichtspunkt aus können wir die sozialen Bestrebungen der deutschen Geschichte
einigermaßen gruppiren je nach der Klasse, gegen die sie gerichtet sind, in
eine antijüdische Periode, eine antihierarchische, eine antifeudale und eine anti-
bourgeoise oder, da das Wort häßlich gebildet ist, eine antimauchesterliche. Die
Manchesterlehre ist ja die Theorie der Bourgeoisie.
Wir haben im nachstehenden die wesentlichen Züge der genannten Perioden
zu betrachten.
1. Die Grenzboten sind weder gewerbsmäßige, noch Amateurantisemiten,
müssen aber auch die philosemitisch-freisinnige Auffassung zurückweisen, als ob
der Charakter der deutschen Juden erst durch die Judenverfolgungen des Mittel¬
alters verdorben worden wäre. Man braucht nur das erste Buch Mosis auf¬
merksam zu lesen, um sich zu überzeugen, daß sich die Erzväter schon vor
Jahrtausenden durch dieselben Charaktereigenschaften ausgezeichnet habe», die
wir noch heute an ihren Nachkommen bemerken, und die so häufig mit unsrer
germanischen Lebensanschauung in Widerspruch geraten. Diese Eigenschaften
sind es gerade, die die mittelalterlichen Verfolgungen verursacht haben. In
unsrer Schilderung folgen wir Joh. Falles Geschichte des deutschen Handels,
einer in Bezug auf Antisemitismus gewiß unverdächtigen Quelle.
Der Anfang der Judenverfolgungen liegt im elften Jahrhundert und steht
in Verbindung mit den Kreuzzügen. „Wir ziehen übers Meer, um Christi
Feinde zu bekämpfen, und haben seine ärgsten Feinde in nächster Nähe," war
das Feldgeschrei der rasenden Volkshaufen; doch würde dieses Volk, dessen
Sinn auf Pilgerschaft und Vergessen alles Heimischen gerichtet war, schwerlich
seine volle, entzündende Willenskraft auf diese nächsten Verhältnisse gelenkt
haben, hätten nicht gerade diese ihren schweren Druck auf sie geübt, und wären
nicht jene Feinde Christi zugleich im Besitz eines großen Teils des Volks¬
vermögens gewesen. Deshalb waren die blutigen Verfolgungen von dem un-
unterbrochnem Jubel über die Befreiung vou unerträglicher Schuldenlast be¬
gleitet: es war wie ein tiefes Aufatmen nach der Erlösung von einem Alpdruck;
deshalb wiederholen alle Berichterstatter, dem Volke sei die Freiheit zurück¬
gegeben worden. Die Beschützer der Juden — zumal in den ersten Zeiten
der Verfolgungen — waren die größern Reichsfürsten und die städtischen Ge¬
meinden, die jene noch als nützliche, steuerfühige Bürger in ihren Rechten und
Besitztümern gesichert wissen wollten. Die Kirche und das arbeitende Volk
erhoben sich zuerst und auf das heftigste, jene als Macht des religiösen Be¬
wußtseins wie als Beschützerin sozialer Reformen; das Volk empörte sich gegen
den Druck einer rücksichtslosen Geldmacht.
So zeigt sich der Charakter der Judenverfolgungen viel weniger als eine
Glaubensverfolgung als als eine mit gewaltsamen Mitteln durchgeführte Geld¬
krisis, sie sind weniger eine Bewegung auf kirchlichem als auf volkswirtschaft¬
lichen Gebiet. Als der französische König Philipp 1181 die Juden verbannt
und ihre Schuldforderungen für erloschen erklärt, da triumphirt sein Geschicht¬
schreiber: „Das Jahr verdient ein Jubeljahr genannt zu werden, deun in ihm
erhielten die Christen durch die Maßregeln des Königs für immer ihre längst
durch die Schulden an die Juden verpfändete Freiheit zurück." Die Bewegung
dauert von nun an durch das ganze Mittelalter; sie zeigte sich in verschiednen
Ausbrüchen und gewann im vierzehnten Jahrhundert durch die Teilnahme der
Luxemburger Kaiser einen allgemeinen Charakter, indem die Regierungen und
Obrigkeiten sich auf die Seite des empörten Volks stellten. Ein Erlaß des
Königs Wenzel vom Jahre 1390 besagt: „Die Schuldforderunge» der Juden
müssen aufgehoben werden, weil die Fürsten und alle Stände des Reichs von
dem unmäßigen Gesuch der Zinsen so sehr gedrückt werden, daß sie zuletzt
von Land und Leuten weichen und diese mit dem Rücken ansehen müßten."
Von den großen Verfolgungen am Rhein, namentlich in Köln, wird be¬
stimmt gemeldet, daß es ein Aufruhr des gemeinen Volks gewesen sei inner¬
halb und außerhalb der Stadt, das nichts mehr zu verlieren gehabt habe, daß
der Überfall nachts geschehen sei mit Mord und Brand, Verwüstung und
Raub, und daß der Rat und die Bürgerschaft, d. h. also der besitzende Teil
des Volks, es nicht hätten verhindern können. Die Städte des Oberrheins
hielten 1348 Rat wegen der Juden; fast alle wollten sie „ihrer Bosheit
halber" vertilgen, uur Straßburg widersetzte sich und schirmte seine Juden
auch weiter. Die Folge davon war, wie die Chronik berichtet, daß die Stra߬
burger Juden „hochtrabenden Sinnes wurden und wollten niemand mehr nach¬
sehen, und wer mit ihnen zu thun hatte, konnte kaum mit ihnen übereinkommen.
Das Volk aber erhob sich abermals (1399), entsetzte die Bürgermeister, die
Geld hatten genommen, und tötete viele Juden, nur die sich wollten taufen
lassen, ließ man leben. Was man den Juden schuldig war, wurde alles quitt,
und alle Pfänder und Güter wurden zurückgegeben; das bare Geld, was sie
hatten, nahm der Rat und teilte es unter die Handwerker."
Der gleiche Charakter kennzeichnet auch die Verfolgungen in den übrigen
Städten und Gegenden. In Basel, Mülhausen, Eßlingen, Frankfurt, in der
Schweiz, in Baiern, Österreich, Böhmen und Schlesien, überall war es der
gemeine Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte und deswegen mit Feuer
und Schwert wütete; es folgten die Stadtmagistrate, die, der Strömung nach¬
gebend, Todesurteile und Verbannungen aussprachen, und schließlich alle Stände.
die mit gleichem Frohlocken die Früchte der gewaltsamen Erschütterung, die
Lösung von der Schuldenlast willkommen hießen.
Noch durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert ziehen sich diese Bewegungen
hin. Durch sie befreiten sich die Städte des Mittelalters von der Geldherr¬
schaft der Juden, und wenn die gewaltsam räuberische Art, wie das geschah,
auch unbedingt zu verurteilen ist, so war es doch immerhin ein Akt der Selbst¬
befreiung der unterdrückten Masse gegen eine hart herrschende Klasse. Das
Mittel einer allmählichen gesetzlichen Ablösung, die sozialpolitische Anschauung,
nach der der Staat, die organisirte Gesamtheit des Volks, für jede einzelne
Klasse einzutreten hat, die nicht aus sich selbst die Mittel zu dem zu bean¬
spruchenden Wohlsein zu schöpfen vermag, solche Auffassungen und Wege hat
das deutsche Volk erst in viel späterer Zeit kennen und üben gelernt.
Jene Bewegungen hatten jedoch, abgesehen von ihrem gewaltsamen und
revolutionären Charakter, noch den großen Nachteil, daß sie sich stets nur
gegen das Symptom des Übels wandten und die Wurzel, nämlich eine
andre und bessere Befriedigung der Kreditbedürftigkeit, unberührt ließen. So
lange dieser Zustand nicht geändert wurde, so lange die Grundübel bestehen
blieben, mußten sich die daraus hervorgehenden Notstände und die gewalt¬
samen Rückschläge in regelmäßiger Ablösung wiederholen. Endlich ging man
an den Kern der Sache heran; indem man städtische Leihhäuser errichtete, be¬
freite man die arbeitende Klasse von der Abhängigkeit von den Juden. Als
die Juden entbehrlich wurden, erloschen auch die Judenverfolgungen von selber,
deren man früher auf keine Weise hatte Herr werden können. Nürnberg trieb
noch 1498 die Juden mit Erlaubnis des Kaisers Max aus, errichtete aber im
unmittelbaren Anschluß daran ein städtisches Leihhaus als eins der ersten in
Deutschland. Reiche oder wohlhabende Bürger gaben die Mittel dazu her.
Wenn es nun auch die Schattenseite der Leihhäuser ist, daß sie nicht selten
dem Leichtsinn und der Verschwendung Vorschub leisten, so haben sie dies doch
mit andern Kreditanstalten gemein; dem Gedanken nach als Waren- und
Lombardbanken für das Volk gegründet, haben sie in Bezug auf Verhinderung
der wucherischer Ausbeutung überwiegenden Segen gestiftet und in ihrer Art
einen schweren sozialen Notstand wenn nicht beseitigt, so doch wesentlich
gemildert.
2. Je tiefer die Auffassung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts
in den Grund und das Wesen der Dinge eingedrungen ist, umso mehr hat
sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Reformation nur die eine Seite
einer ungeheuern sozialen Bewegung war. Ganz entschieden kommt eine andre
Seite in den Bauernkriegen zum Ausdruck, während die dritte in dem ruhm¬
und hoffnungslosen unaufhaltsamen Niedergang der deutschen Städte weniger
ausfällig ist.
Der materielle Kernpunkt der ganzen Entwicklung ist das seit den Kreuz-
zügelt auf allen Gebieten des Lebens mächtige Vordringen der Geldwirtschaft,
in unglücklicher Verbindung mit dem Verfall der Zentralgewalt in Deutsch¬
land. So gerät das Deutsche Reich, schwankend wie ein steuerloses Schiff,
in eine stürmisch bewegte, mächtige Strömung, in der es, nach allen Richtungen
hin und her gerissen, schließlich zu Grunde geht. Die deutschen Geschicke vom
vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert sind ein furchtbarer Beleg für
die von Lamprecht ausgedrückte Wahrheit, daß „große Strömungen auf wirt¬
schaftlichem und sozialem Gebiet der festen Leitung von oben her bedürfen.
Durch die ausgleichende Einwirkung der Staatsgewalt soll in ihnen nicht
Egoismus und Partikularismus die Oberhand gewinnen über eine dem Ge¬
deihen aller gerecht werdende Entwicklung." Aber — das alte Reich hatte
keine reale Macht mehr dazu, und so kommt es zum Kampfe aller gegen alle,
der den äußern und innern Ruin herbeiführt. Im Innern zeigt sich wie in
keiner andern Periode die schamlose und gewaltsame Ausbeutung der Schwachen
durch die durch Macht und Autorität Starken. Allgemein sind die Klagen im
fünfzehnten Jahrhundert über die furchtbare Ausbeutung der „armen Leut"
durch die Pfaffen, den Adel und die Handelsgesellschaften der Städte. Indem
aber die herrschenden Klassen, Adel, Geistlichkeit und die „Geschlechter" in
den Städten nur daran dachten, das Ihre zu erhalten und zu mehren, sich
vor Schaden zu wahren, ihre Rechte auszubeuten und ihre Untergebnen aus-
zusaugen, nährten sie die Gleichgiltigkeit, die Schadenfreude und den Grimm
in den preisgegebnen Massen. In derselben Zeit, in der in Frankreich die
„armen Leut" die Krone retteten, begann sich in Deutschland das Volk zu¬
sammenzurollen und zu empören. Die Hanseflotte erlag, und mit der deutschen
Kriegstüchtigkeit hatte es nicht mehr viel auf sich.
(Schluß folgt)
minor hat bei der Behauptung, daß die Rasfenverschlechterung
nicht Wirkung ungünstiger Lebensbedingungen, sondern umgekehrt
die schlechte Lebenslage eine Folge der Untüchtigkeit sei, die be¬
sondern Verhältnisse der verschiednen Klassen von Lohnarbeitern
gar nicht im Auge gehabt; mit dergleichen Kleinigkeiten befaßt
er sich nicht. Tille streift diese Dinge hie und da und führt unter anderen
die Entartung der Deutschen in Böhmen (Zukunft vom 25. April 1896, S. 11)
darauf zurück, daß die von der Konkurrenz der Tschechen bedrohten Deutschen
massenhaft auswanderten, und natürlich seien es immer die Tüchtigsten, die
anderwärts „Gelegenheit zu einer ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Thätig¬
keit" suchten, sodaß nur die schlechtern zurückblieben. Und er hat die Kühnheit
beizufügen: „Der herrschende Neo-Lamarckismus, der sich grundsätzlich nicht
von Darwin belehren läßt, schreibt diesen Niedergang hartnäckig den »unge¬
sunden Arbeitsbedingungen« zu und behauptet, trotz dem absoluten Mangel
an irgend welchem Beweismaterial, eine physische Entartung »durch die gesund¬
heitsschädlichen Einflüsse der Industrie, durch erschöpfende Arbeit, niedrigen Lohn,
ungenügende Ernährung und Fabrikarbeit der Frauen, früher auch der Kinder.«
Es ist kein Wunder, daß eine Sozialweisheit, die mit solchen wilden Phantasien
rechnet, nicht von der Stelle kommt usw." Wilde Phantasie ist es also, daß
die Phosphornekrose den Zündhölzchenarbeiter (vor fünfzig Jahren „blühte"
in Nordbvhmen die Zündhölzchenfabrikation) in wenig Jahren zur wandelnden
Leiche macht! Wilde Phantasie, daß der Glasbläser schwindsüchtig wird!
Wilde Phantasie, daß in den scheußlichen Wohnungslöchern der Trautenauer
Spinner und ihren von Staub erfüllte» Fabrikräumen die Gesundheit leidet!
Von hundert Beispielen, die aus andern Ländern zur Verfügung stehen, will
ich nur die ersten besten herausheben. In der „Neuen Zeit" (Ur. 9 des
Jahrgangs 1897 bis 1898) berichtet Helene Simon über die amtliche Unter¬
suchung, der in England sieben Industrien in Beziehung auf ihre Gesundheits-
schüdlichkeit unterworfen worden sind. Nach dem im Juli 1896 veröffentlichten
Bericht hat die Kommission unter anderm in den lithographischen Anstalten
bei den Bronzirern die Metallvergiftung so stark gefunden, daß sie vorschlägt,
es solle gesetzlich angeordnet werden, diesen Arbeitern täglich zweimal eine
halbe Pinke Milch als Gegengift zu reichen. In den Gummiwareufabriken
erzeugen die Einatmung von Naphtha- und Schwefeldämpfen Atembeschwerden,
Schwindel, Ohnmachten, Kopfschmerz, allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit und
zeitweilige Geistesstörung, sodaß man sich in einigen Fällen genötigt gesehen
hat, die Fenster vergittern zu lassen; ein Arbeiter, der Lähmung davon ge¬
tragen hatte, meinte, es sei ii prüft vusinWs, das überhaupt nicht oder
höchstens vier Stunden lang am Tage erlaubt sein sollte usw. In der von
Pfarrer Weber herausgegebnen Geschichte der Entwicklung Deutschlands in den
letzten fünfunddreißig Jahren erzählt Lieber S. 382: „Es ist in einer Eisen¬
industriestadt. Ein großer Teil der Arbeiterbevölkerung ist mit dem Poliren
der weltberühmten Stahlwaren beschäftigt. Ich trete in eine Arbeiterwohnung.
Zwei Stübchen — ärmlich aber freundlich — bilden sie. Ein junges, etwas
abgehärmtes Weib, drei kleine Kinder sind die Bewohner; dazu kommt der
Mann. Er ist keine dreißig Jahre alt, kräftig gebaut und trägt doch unver¬
kennbar die Spuren eines auszehrenden Übels an sich. Ich frage, wies ihm
gehe. »Nicht gut — ich spucke Blut.« Verwundert sehe ich zu meinem Be-
gleiter herum. »Ja, Herr, er ist ein Schleifer, oder gar Polirer — nicht
wahr?«" Und wilde Phantasie ist es, zu glauben, daß alle diese so zu¬
gerichteten Menschen nicht eben die gesündesten und kräftigsten Kinder zeugen
werden I Tille will glauben machen, daß alle Tüchtigen auswanderten, anstatt
sich ungünstigen Arbeitsbedingungen zu fügen. Als wenn das Auswandern
für einen mittellosen Menschen, besonders wenn er verheiratet ist, eine so ein¬
fache Sache wäre, wie für den Bemittelten eine Vergnügungsfahrt! Das ist
nicht einmal in England der Fall, geschweige denn in den Festlandsstaaten mit ihren
hundertfältiger polizeilichen und militärgesetzlichen Hindernissen. Ich würde
es gar nicht der Mühe sür wert halten, solchen offenbaren Unsinn zu kritisiren.
wenn nicht die Möglichkeit vorhanden wäre, daß sich einflußreiche Männer
durch den wissenschaftlichen Schein blenden ließen, den Tille mit seinen
darwinischen Redensarten erregt.
Trotz der den beiden Soziologen gemeinsamen „naturwissenschaftlichen"
Grundlage geht übrigens Tilles Abweichung von Ammon noch bedeutend
weiter, als gelegentlich der Militärfrage angedeutet worden ist. Ammon be¬
trachtet die Absonderung der höhern Stände von den untern als einen wohl¬
thätigen Schutz der in diesen Ständen vereinigten edlern Nasseneigenschaften
und muß daher auch das Erbrecht billigen; und seiner Parteistellung gemäß
ist er ein Verehrer des streng geschlossenen Nationalstaats. Tille dagegen
entwickelt in seinem anonym erschienenen Buche: Volksdienst, von einem Sozinl-
aristvkraten") und in Zeitschriften (besonders „Nord und Süd" und dem
„Zwanzigster Jahrhundert") folgende Ansicht. Der Unterschied der Begabungen
kann niemals aufgehoben werden, den verschiednen Begabungen entsprechen
verschiedne Leistungen, und der höchsten Leistung gebührt das höchste Ein¬
kommen. Demnach darf auch das Privateigentum nicht abgeschafft werden,
dessen Größe überall und immer den Leistungen entsprechen würde, sobald das
große Hindernis gehoben wäre, das heute so vielen Talentvollen im Wege
steht: das Erbrecht. Das Privateigentum soll nicht vererbt werden, sondern
beim Tode dessen, der es erworben hat, an die Gesamtheit zurückfallen und
dem Wettbewerb der Arbeitenden wieder frei gegeben werden, sodaß dann alle
Neugebornen gleiche Chancen haben, und ihr Erfolg im Leben — bei völlig
freier Konkurrenz — ganz allein von eines jeden persönlicher Tüchtigkeit ab¬
hängt. Eine fünfzigprozentige Erbschaftssteuer soll diesen Zustand einleiten.
„Wo die Phrase vom freien Wettbewerb heute im Manchestermunde gebraucht
wird, da bedeutet sie: unbestraftes Aussaugen der Kräfte der Arbeiterbevölke¬
rung zum besten einiger wenigen Erbkapitalisten, denen ihr Erbe die Herrschaft
giebt, und die es nun ins Unendliche vermehren möchten, um auch ihren
Kindern wieder die Macht zu sichern, und mit der Macht das Recht zur Aus-
saugung ihrer arbeitenden Zeitgenossen. . . . Was all das soziale Elend schafft,
das ist nicht die freie Konkurrenz, sondern die sreie Konkurrenz unter so blöd¬
sinnigen Umstünden, daß der Sohn reicher Eltern nur drei Schritt vom Ziele
steht, der tüchtige Arme aber dreitausend. Ist es ein Wunder, daß jener trotz
seiner lahmen Beine das Ziel eher erreicht, und dieser erst ankommt, wenn
alle Preise vergeben sind?" Von den Individuen überträgt der „Sozial¬
aristokrat" seine Forderung einer Herrschaft der Besten auf die Völker. Die
Germanen, als die Besten, sollen den Erdkreis erfüllen und beherrschen und
sollen die übrigen Völker verdrängen und den Verkümmerungsprozeß, der die
Aussicht auf ihr Aussterben eröffnet, befördern. Aber nicht durch Kriege
sollen wir die andern Völker unterwerfen, durch Maffenmord der Besten, der
zur Folge habe, daß die Schlechtesten überleben und das siegende Volk sich
selbst verschlechtere, sondern wir sollen die andern Völker aus ihrem Besitz
„hinausarbeiten." „Diese Kräftemessung Zwischen »Mittelländern« und Mon-
golenl wird menschlicher Voraussicht nach nicht mit Kanonen und kleinkalibrigen
Gewehren ausgesuchten werden, sondern durch die Leistung schwieliger Hände
und die Kraft der Lenden auf beiden Seiten, durch die beiden Kräfte, die zu
allen Zeiten Geschichte gemacht haben, welchen andern Umständen menschlicher
Unverstand auch sonst noch die großen Ereignisse im Wechsel der Völkerschicksale
zugeschrieben hat." Das Land der minderwertigen Völker sollen wir durch
Arbeit in Besitz nehmen, nicht ihre Personen annektiren, die als Unterwvrfne
den Staat hassen, der sie sich einverleibt hat, und einen Krankheitsstoff im
Staatskörper bilden. Ja eben die Staaten, die Landesgrenzen, die Kriegsheere
sind das eigentliche Hindernis der Ausdehnung für die tüchtigen, gesunden,
der Expansion bedürfenden Völker; daher muß der Staatsdienst, für den die
Vaterlandsliebe gemißbraucht zu werden Pflegt, aufhören und dem Vvlksdicnst
Platz macheu.
Eine Kritik dieser in vieler Beziehung beachtenswerten Ansicht würde zu
weit führen; sür den vorliegenden Zweck genügt der Hinweis darauf, daß die
hier entwickelte Gedankenreihe mit seinen gegen die Arbeiterbewegung gerichteten
Artikeln, von denen einer schon früher in den Grenzboten kritistrt worden ist,
in Widerspruch stehen. Hier bewirkt der Druck auf die Arbeiterbevölkerung
die Auslese der Besten, die anderwärts ihr Fortkommen finden, wenn es daheim
nicht gehen will, dort wird die gesamte Arbeiterschaft vom erblichen Reichtum
ausgesaugt. Hier soll die richtige Auslese schon im Gange sein, sodaß nur
die Unfähigen und Faulen unten bleiben und zuletzt vernichtet werden; dort
sollen unvernünftige Staats- und Gesellschaftseiurichtungen im Wege stehen,
die erst durch grundstürzende Veränderungen, ja durch die Auflösung der
Staaten selbst hinweggeräumt werden müssen, wenn der Ausleseprozeß in Gang
kommen soll. Im „Vvlksdieust" erscheinen die Deutschen als das Herrenvolk,
das berufen sei, die andern Völker teils aus ihren Wohnsitzen zu verdrängen,
teils zu beherrschen und zu Schmutzarbeiten zu verwenden. In der Polemik
gegen die Arbeiterbewegung hingegen will er die Deutschen bereden, ein Volk
von Arbeitsameisen zu werden. Diese Polemik gipfelt in den Behauptungen:
das einzige Mittel, wodurch die Arbeiter ihre Lage verbessern konnten, sei die
Erhöhung ihrer Leistungen, ein tüchtiger Arbeiter könne niemals von Konkur¬
renten unterboten werden, und die weniger Leistungsfähigen müßten zu Grunde
gehen, weil ihnen von den Leistungsfähigern die Nahrung weggenommen werde;
daß sich diese langsamer vermehre als die Bevölkerung, sei von Malthus richtig
erkannt worden; diese Einrichtung habe die Natur eben zu dem Zwecke ge¬
troffen, um die Minderwertigen zu vernichten. Der letzte dieser drei Sätze
wird in unsrer Zeit offenbar zu schänden; vergebens mühen sich die Agrarier
aller Staaten ab, entweder ihren eignen Getreideüberfluß loszuwerden oder den
aus andern Ländern einströmenden abzuwehren. Der zweite Satz gilt nur für
Künstler — lassen Euer Majestät Ihre Generale singen, wenn Ihnen meine
Forderung zu hoch ist — durfte eine berühmte Sängerin dem Herrscher oder
der Beherrscherin aller Reußen sagen —, aber niemals sür Industriearbeiter.
Ist die Forderung der wenigen, die zu einer bestimmten Leistung befähigt sind,
nach den Weltmarktverhältnissen zu hoch, so wird eine neue Maschine erfunden,
die auch von weniger Leistungsfähigen bedient werden kann. Die Steigerung
der Leistungen aber nützt nur dem ersten, der sich dazu versteht, um dann zu
guterletzt den ganzen Stand desto empfindlicher zu schädigen. Das hat Ammon
mit Beziehung auf die höhern Stände erkannt und zugestanden. Wo er von
deren Schädigung durch sitzende Lebensweise und einseitige Gehirnanstrcngung
spricht, bemerkt er (S. 150), die schädlichen Wirkungen dieser Lebensweise
würden vielleicht in Zukunft durch hhgienische Maßregeln abgewendet werden
können. „Aber was wird die Folge sein? Wie man stets bei zunehmendem
Einkommen mehr ausgiebt, so wird man die Verbesserung in der Lebenslage
nur dazu benützen, die Anstrengung des Geistes noch höher zu treiben, und
dann halten die nämlichen Schädlichkeiten, die man soeben beseitigt hat, auf
Umwegen wiederum ihren Einzug. Ich möchte den Leser zu der Erkenntnis
führen, daß die geistige Ausbildung der höhern Klassen durch die Ansprüche
des Gesellschaftslebens jederzeit bis zu dem Grade gesteigert wird, wo ihre
Nachteile für das Individuum in die Augen springen. . . . Man stelle sich
vor, daß wir vermöge irgend welcher Vorkehrungen mit einemmale imstande
wären, die Schädlichkeiten des höhern Berufslebens viel bester zu ertragen;
würden wir uns dabei beruhigen? Mit Nichten; wir würden uns nur desto
größere Leistungen zumuten." Ich will nicht noch einmal auf die Frage
zurückkommen, ob in der That die höhern Stände durch Überanstrengung zu
Grunde gehen, aber das ist richtig, daß in unsrer Welt der Konkurrenz jede
Steigerung der Leistungsfähigkeit sofort auch die Ansprüche an die Leistung
entsprechend steigert. Das gilt nicht bloß von der Fähigkeit, eine sitzende
Lebensweise und anstrengende Geistesarbeit zu ertragen, es gilt von den Prü¬
fungen, deren Anforderungen gesteigert werden, wenn die bisherigen nicht hoch
genug waren, den Zudrang zu dem betreffenden Zweige des Staatsdienstes zu
vermindern, es gilt von den Künsten der Nadler, der Seiltänzer und der
Trapezturner, es gilt von den Künsten des Geschäftsschwindels und der Reklame
sowie von wirklich gediegnen gewerblichen und Kunstleistungen, sofern es sich
nur nicht um einzigartige handelt, die außerhalb des Wettbewerbs stehen.
Überall und immer hat nur der erste den Vorteil davon; die Konkurrenz be¬
wirkt sehr bald, daß die neue Leistung nicht höher gelohnt wird, als vorher
die alte gelohnt wurde. Beim Industriearbeiter handelt es sich nur selten um
Leistungen, zu denen eine außerordentliche Begabung erfordert würde; meistens
beruht die Überlegenheit entweder bloß auf Körperkraft oder anf einer ganz
einseitigen Virtuosität; diese zweite aber wird unter dem Drucke der Konkurrenz
ebenso leicht Gemeingut des größten Teiles der Arbeiterschaft eines Jndustrie¬
zweiges, wie z. B, ein neues Kunststückchen der Artisteuwelt. Die Körperkraft
aber, einschließlich der Gehirnkraft, die zu einseitiger angespannter Aufmerksam¬
keit bei der Maschinenbedienung notwendig ist, siegt meistens nur zu ihrem
eignen Verderben. Denn die größere Tüchtigkeit besteht gewöhnlich in der
Energie, mit der sich der Arbeiter bei Überanstrengung oder gesnndheitsschüd-
lichen Einflüssen auszuhalten zwingt. Wo keine Konkurrenz drängt, wird ein
Arbeiter, der von schlechten Dünsten Kopfschmerz bekommt, entweder davon¬
gehen und eine angenehmere Beschäftigung suchen oder höhern Lohn bei ab¬
gekürzter Arbeitszeit fordern. Sind dagegen alle gefunden Berufsarten über¬
füllt, und drängt auch in den ungesunden schon die Konkurrenz, da können
freilich die Tüchtigern, d. h. die es am längsten aushalten, einen höhern Lohn
erzielen, aber der wiegt doch die Zerstörung der Gesundheit nicht auf.
Damit stehen wir bei der Thatsache, die schon so oft hervorgehoben
worden ist, daß gerade in der Industrie die Auslese der Angepaßten keineswegs
eine Auslese der Besten und am allerwenigsten eine Verbesserung des Menschen¬
schlags bedeutet. Bei den Schneidern wird der am meisten verdienen, der am
anhaltendsten auf seinem Schemel sitzt und seine Verdauungsorgane am gründ¬
lichsten zerrüttet, seine Beine, seine Lungen und seine Augen am rücksichts¬
losesten schwächt. Bei den Kohlenbauern der, der sich die medizinisch inter¬
essanteste Kohlenlunge anschafft, bei den Kellnern der, der am wenigsten Rücksicht
nimmt auf die Forderungen der Natur seines leiblichen Organismus. Bei
cilledem können weder Apollogestalten noch erhabne Geister herauskommen, und
die Nasse wird dadurch zweifellos verschlechtert. Gewiß, die Industrie ist ein
Gebiet, ja sie ist das einzige Gebiet auf der Welt, wo das am besten ange¬
paßte, das der Konkurrenzkampf ausliest, das in seiner Art beste ist, aber
nur in Beziehung auf Waren, Maschinen, technische Einrichtungen. Neben
einer Beleuchtuugsvorrichtung, die mit Wohlfeilheit den höchsten Grad von
Lichtstärke und Reinlichkeit vereinigt, neben einer Maschine, die weniger kostet
und besser arbeitet als alle für denselben Zweck gebauten Maschinen, neben
einem Kleiderstoff, der ebenso schön und haltbar und dabei um die Hälfte
billiger ist als alle ältern Stoffe derselben Art, namentlich aber neben dem
besten Biere kann sich keine konkurrirende Ware halten. Das gilt aber nur,
soweit der Preis und die Brauchbarkeit entscheiden, schon weniger gilt es, wo
der Geschmack ins Spiel kommt, da sehr häufig mit Hilfe eines schlechten Ge¬
schmacks das minder Gute siegt, z. B. unter den illustrirten Zeitschriften. Noch
schlimmer steht es bei den höhern geistigen Leistungen. Von Scharfrichter¬
geschichten werden leicht 200000 Exemplare abgesetzt, ein wirklich gutes Buch¬
drama findet kaum einen Verleger, der das Risiko wagte, und Bücher, die
wertvolle Belehrung enthalten, müssen sich mühsam durchkämpfen. Am aller¬
wenigsten aber gilt der Satz von den Menschen. Es hängt ganz von Um¬
stünden ab, was da im Kampfe ums Dasein oben bleibt. Manchmal ist es
der Tüchtigste in einem Fache, manchmal sind es die kräftigsten Fäuste, manch-
mal ist es der rücksichtsloseste Ellenbogen, manchmal das große Maul, manch¬
mal die gewissenlose Schlauheit, manchmal die Ausdauer im Kriechen, manchmal
die Bedürfnislosigkeit und die Natur des geduldigen Arbeitstieres, aber nie¬
mals ist es der Edelste und Gerechteste, der siegt nur — unterliegend — im
Trauerspiel.
Tille schließt seiue Kritik der Smith-Malthusischeu Ansicht über den
Konflikt zwischen Volkszahl und Volkswohl mit den Worten: „Seiner senti¬
mentalen Fassung entkleidet heißt der Grundsatz: die Vvlksznhl ist dem Volks¬
beutel unbedingt zu opfern. Oder: der Volksbentel ist für jede Nation ein
höheres Gut als der Vvlksftand, als die Personensumme des Volks. Oder:
der Beutel geht über den Besitzer." Das gerade Gegenteil ist wahr, wenigstens
von Adam Smith. Ihm ging der Beutel so wenig über den Besitzer, daß er
vielmehr den Beutel für ein an sich ganz wertloses Ding erklärt, ausdrücklich
bestritten hat, daß Geld Einkommen sei, und dem Gelde nur insofern Wert
beigelegt but, als es dazu dient, die Güter umzutreiben und dadurch einem
jeden sein Einkommen zuzuführen. Nicht das Verhältnis der Kopfzahl eines
Landes zu seinem Geldkapital, sondern zum Boden zieht er in Betracht und
erklärt die Nordamerikaner für das glücklichste Volk, weil sie wohlfeilen Boden
haben. Wachsende Kopfzahl ist uur solange ein Glück für ein Volk, als sein
Boden hinreicht, allen angemessene Beschäftigung, hinreichenden Unterhalt und
die zum Gedeihen notwendige» Lebensbedingungen zu gewähren; überschreitet
sie diese Grenze, so schlägt das Glück in Elend um. Nun ist es allerdings
augenscheinlich der Wille der Vorsehung, daß diese Grenze in den Ländern
höherer Kultur überschritten werde, damit die Bevölkerungsspannung zur Aus-
Wanderung, zur Besiedelung und Kultivirung der ganzen Erde führe; aber
dieser Zweck kann vorläufig nur in sehr unvollkommner Weise erreicht werden,
weil die Geschlossenheit der heutigen Staaten das Abströmen der Überzähligen
in die dünnbevölkerten und zur Kolonisation am besten geeigneten Gebiete
hindert, und weil außerdem bei allen kolonialen Unternehmungen und bei den
Jntereffenkämpfen zwischen Staaten nicht das Bedürfnis von Ansiedlern, sondern
das kapitalistische Interesse von Bodenwucherern, Großhändlern, Goldaktionären
und dergleichen Leuten entscheidet."') So entsteht denn in den Staaten alter
Kultur eine relative Übervölkerung, in deren Gedränge nicht die Schlechtesten
ausgemerzt werden — denn sowohl der Schwächling wie der Lump pflanzt
sich fort, und der Verbrecher zeugt gewöhnlich Kinder, ehe er ins Zuchthaus
kommt —, sondern sehr viele von den Besten verkümmern. Nicht Smith hat
ein falsches Ideal, sondern Tille. Denn sein Drängen auf Steigerung der
Leistungen der Arbeiter, wodurch die edlern Völker die unedlem verdrängen
sollen, macht die Ware zum Götzen, dem die Menschen geopfert werden. Zu¬
nächst liegt die Gefahr nahe, daß nicht die niedern von den höhern, sondern
die höhern von den niedern aus ihren Ländern hinaufgearbeitet werden. Das
geschieht bekanntlich schon in ganz Osteuropa, und wie Hesse-Wartegg erzählt,
sind nicht allein die englisch-amerikanischen Dampfer des Stillen Ozeans mit
Chinesen bemannt, sondern fangen die Kapitäne auch schon an, ihre Schiffe
statt in Vancouver in dem weit wohlfeilern Hongkong ausbessern zu lassen.
Wird China von den europäischen Mächten aufgeteilt oder auch nur „er¬
schlossen," so werden die Kapitalisten aller Länder, die sich den Kuckuck um
Tilles Volksstandslehren kümmern, nichts eiligeres zu thun haben, als Fabriken
dort zu errichten und spottbillige Chinesen einzustellen, und wie der billige
Inder heute schon die Spinner und Weber von Lancashire bedrängt, so werden
die in Fabrikarbeiter verwandelten 300 Millionen Chinesen alle Fabrikarbeiter
Europas aushungern. Dafür, daß der bezopfte Mann von seiner seit
3000 Jahren bebauten Scholle getrennt und in die Fabrik hineingetrieben
werde, wird das europäische Kapital schon sorgen — durch Landankäufe. Ein
Paar Jahrzehnte hindurch haben die englischen Fabrikanten den Satz BrafseyS
geglaubt, daß ein Kilometer Eisenbahn in allen Ländern der Erde gleich viel
kostet, indem mit dem Lohn die Arbeitsleistung steigt und fällt, und sie haben
sich in dieser Voraussetzung den Forderungen der Gewerkvereine gefügt. Aber
jetzt, wo die Konkurrenz Deutschlands drängt, werden sie ängstlich und gehen
darauf aus, die Gewerkvereine zu sprengen und die Arbeit wohlfeiler zu be¬
kommen; und vielleicht kehren schon recht bald die Zeiten wieder, wo der
starke Mann in der Konkurrenz geschlagen wurde nicht von dem stärkern
Manne, sondern von seinem fünfjährigen Kinde, das er des Morgens in die
Fabrik trug, dem er dann den Mittagbrei kochte, des Nachmittags die Strümpfe
und Hemden flickte, und das er abends wieder heimholte.
Nehmen wir aber einmal an, das Unwahrscheinliche geschähe, die Germanen
siegten in dieser Art Kampf ums Dasein, und es würden nicht allein die
Mongolen, die Neger und die Slawen, fondern auch die Romanen ausgerottet.
Was wäre damit gewonnen? Zunächst wären wir die ethnographische Mannig¬
faltigkeit los und hätten öde Einförmigkeit dafür eingetauscht; mit den Romanen
und Kelten wäre die größere Hälfte alles Formensinns, Kunstverstandes und
heitern Scherzes aus der Welt geschwunden. Dann: was für eine Art Ger¬
manen wäre denn übrig geblieben? Größtenteils verkümmerte Werkstättenhocker,
Fabrikler, Bergarbeiter und Schreiber. Ist nicht ein Lazzarone ein voll-
kommnerer Mensch als einer jener englischen Arbeiter, von denen vor einer
Parlamentskommission ausgesagt worden ist, daß sie keinen Begriff davon
hätten, was ein Witz oder ein Scherz sei, ehe sie in den Gewerkvereinen wieder
zu geistigem Leben erzogen würden? Der Lazzarone singt Lieder, macht Witze,
weiß ein Kunstwerk und eine schöne Landschaft zu würdigen, und das alles
sind Funktionen einer Menschenseele, ein Hund oder Pferd kaun es nicht, eine
Maschine, ein Automat kann es noch weniger. Dagegen können Tiere und
Automaten, was jene englischen Arbeiter zu leisten hatten. Kohlen schleppen
kann auch ein Hund oder Pferd, und eine Maschine bedienen kann eine andre
Maschine, oder die Maschine kann so eingerichtet werden, daß sie keiner Be¬
dienung bedarf. Besteht doch der Fortschritt der Maschinentechnik seit der Er¬
findung der Steuerung an der Dampfmaschine, die ursprünglich von Knaben
besorgt wurde, darin, daß den Menschen immer eine Verrichtung nach der
andern von der Maschine abgenommen wird. Daß der englische Arbeiter höher
stehe als der Lazzarone, weil er pflichtmäßige Selbstüberwindung übt, könnte
nur dann eingewendet werden, wenn die Selbstüberwindung freiwillig wäre.
Man nehme nur die Hungerpeitsche weg und sehe zu, wie viele englische
Arbeiter der beschriebnen Art bei solcher Arbeit bleiben, und wie viele ein
Lazzaroneleben — ohne Poesie aber mit Branntweinflasche — vorziehen werden.
Ein Künstler, ein Kunsthandwerker, ein Gelehrter, der Leiter eines Unter¬
nehmens bleibt auch bei scchzehnstündiger Arbeitszeit noch Mensch, denn eben
seine Arbeitsleistungen sind höchst menschliche Verrichtungen. Der mechanische
Arbeiter dagegen ist aus dem angegebnen Grunde nur außerhalb der Arbeit
Mensch, muß also eine längere Ruhezeit haben, wenn er Mensch werden oder
sein soll. Gegen Kürzung der Arbeitszeit hat zwar auch Tille nichts ein¬
zuwenden, aber aus welchem Grunde billigt er sie! Ein Maximalarbeitstag,
führt er einmal aus, sei eine sehr gute, die Auslese befördernde Maßregel,
weil sie zu einer so intensiven Arbeit zwinge, daß alle „Minderwertigen" die
Arbeit verlören und als Lumpenproletarier zu Grunde gingen, vorausgesetzt,
daß uicht etwa eine Arbeitslosenversicherung, die er entschieden verwirft, diesem
Prozeß entgegenwirkt. Welcher Unsinn und welcher Frevel, jeden Menschen
für minderwertig zu erklären und zum Untergange zu verurteilen, der sich für
die Hatz des modernen Erwerbslebens nicht eignet und z. B. mit seinem Ge¬
hirn, seinen Augen und seinen Fingern das Tempo der mit Dampf getriebnen
Spindeln, die er bedienen soll, nicht innezuhalten vermag! Die dazu erforder¬
liche einseitige Virtuosität ist vom Standpunkte vernünftiger Menschenabschätzung
beinahe wertlos. Ein Bauer, der sich nur langsam zu bewegen und langsam
zu denken vermag, der aber eine vielseitige Thätigkeit übt, Gemüt und Charakter
hat, ist zehnmal mehr wert als so ein lebendiger Maschinenteil. Der kühne
Mann, der sich unwürdigen Lebensbedingungen nicht fügen mag und Wilddieb
wird, ist mehr wert als ein zweibeiniges Arbeitstier. Eine gesittete Familie
läßt ein mit chronischen Leiden behaftetes Kind, das gar nichts leisten und
nicht einen Pfennig verdienen kann, nicht zu Grunde gehen, sondern pflegt es
sorgsam, und wollte sie es ans die Straße werfen, so würde das als Ver¬
brechen bestraft werden, und diese angeblichen Verehrer des Germanentums
wollen jeden als einen Minderwertigen zum Untergänge verurteilen, der sich
nicht zu Lebensbedingungen und Leistungen versteht, denen der echte Germane
schon aus Stolz den Tod vorziehen würde!
Und was wäre denn das volkswirtschaftliche Ende einer solchen Ent¬
wicklung? Die auf der ganzen Erde verbreiteten, aber als Fabrikarbeiter auf
den Hund gekommnen Germanen würden Staaten oder Genossenschaften bilden,
und diese würden in rastloser Arbeit Waren häufen, mit denen sie einander
unterbieten und die sie einander zuschieben würden, bis sie ein unermeßliches
Gebirge von Kattun, Teppichen, Möbeln, Spielwaren, Handschuhen, Knöpfen,
Pianinos, Fahrrädern, Büchern, Damenhüten, Porzellanwaren, Nippsachen,
Albums mit Musik aufgehäuft hätten, neben dem sie verhungern würden, weil
sie wegen Absatzmangels kein Geld hätten, das Brodgetreide oder das Gebäck
zu kaufen, von dem sich ein nicht minder hohes Gebirge, mit Zucker bestreut,
daneben erheben würde.
Ich fordre kein Schlaraffenleben, weder für mich noch für andre; ich
weiß, daß stramme Arbeit für das Gedeihen des Menschen notwendig ist, und
daß ohne sie das Leben auf die Dauer unerträglich wird; ich halte einen
Zustand nicht für wünschenswert, wo von einer Obrigkeit jedem täglich sein
Arbeitspensum und sein Futteranteil zugemessen würde und sein Unterhalt bis
zum Tode gesichert wäre; ich erkenne den Nutzen, ja die Notwendigkeit des
Konkurrenzkampfes an. Aber ich bestreite, daß der Konkurrenzkampf, wie er
heute geführt wird, in der Regel die Besten siegen läßt und die Rasse ver¬
bessert; ich beklage es, daß alljährlich tausende von Knaben und Mädchen
unter dem Namen von Lehrlingen und jugendlichen Arbeitern in Verhältnisse
gezwängt werden, wo sie an Leib und Seele zu Grunde gerichtet und kampf¬
unfähig gemacht werden, ehe sie in den Kampf eintreten können; ich erkläre
eine Weltwirtschaft für unsinnig und verderblich, die, den natürlichen Boden
der Volkswirtschaft preisgebend, das Dasein aller Völker auf die Export¬
industrie und auf das Unterbieten jedes durch jeden im Warenaustausch gründen
will, und ich halte an dem Smith-Careyschen Ideal fest, wonach die Land¬
wirtschaft die Grundlage der Volkswirtschaft und die Industrie der Hauptsache
nach auf den innern Markt angewiesen bleiben soll. Endlich verwerfe ich die
roh naturalistische Gesellschaftslehre nicht bloß, weil sie, wie ich bewiesen zu
haben glaube, wissenschaftlich unhaltbar ist, sondern weil sie die Menschen zu
Tieren erniedrigt; und daß dieser sogenannte Ausleseprozeß die Löwen zu
Füchsen, die Füchse zu Arbeitsameisen und wimmelndem Ungeziefer fortent¬
wickelt, ist wahrhaftig nicht geeignet, uns mit den Versuchen seiner theoretischen
Rechtfertigung zu versöhnen. Tille will eine Soziologie, die „statt ans luftige
Theoreme wie »Gerechtigkeit,« »Glücksteigerung,« »sittliche Forderung,« auf
Erfahrung und Beobachtung sich gründet." Nun, das allererste, was uns
Erfahrung und Beobachtung lehren, ist. daß der Mensch nach Glück verlangt,
und daß er sittliche Forderungen erhebt, darunter die der Gerechtigkeit. Wissen
wir erst einmal, daß das Verlangen nach Glück ungestillt und jede sittliche
Forderung unbefriedigt bleiben muß, daß das alles nur luftige Theoreme und
Einbildungen sind, dann kann uns die Soziologie und alle sonstige Wissen¬
schaft gestohlen werden; die Menschen sind dann nichts als abscheuliche, furcht¬
bare Raubtiere und Ungeziefer, und die Welt ist kein Kosmos, kein „Schmuck"
mehr, souderu eine Fratze. Ob ein Haufen Silberstücke so oder so in Häuf¬
lein geteilt wird, ist das gleichgiltigste von der Welt; Bedeutung für uns
erhält es ganz allein durch die Frage, ob die Teilung den Anforderungen der
Gerechtigkeit entspricht. Wie viel Centimeter die Oberflüchenpunkte eines
Steinblvcks von einander entfernt sind, ist an sich vollständig gleichgiltig;
Interesse aber bekommen die Maße für uns, wenn ihre Gesamtheit dem Steine
die Gestalt eines Apollo verleiht, weil dessen Anblick unser Glllcksgefühl erhöht.
Das ganze Weltall wäre für uns nichts als ein großer Haufen Kot und
könnte uns nicht veranlassen, darüber nachzudenken, und es zu untersuchen,
wenn nicht aus ihm selbst wie aus dem Nachdenken darüber Menschenglück
erblühte. In der Einleitung zu Hnxleys Essays schreibt Tille, an Goethes
Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere seien die Zeitgenossen
verständnislos vorübergegangen, „während sie Schiller zujauchzten, wie er im
Verschleierten Bild zu Sais die mittelalterliche Vorstellung von der Gott¬
gefälligkeit des Nichtforschens, des Sichbescheidens mit seiner Unwissenheit ver¬
herrlicht." Woher weiß Tille, daß die genannten Werke Goethes unverstanden
geblieben sind? Ich selbst habe sie mit Entzücken gelesen, lange ehe ich Darwin
kennen gelernt habe, und ich vermute, daß sie taufenden vor mir ebenso gut
gefallen haben. Was aber das verschleierte Bild anlangt, so ist es zunächst
nicht wahr, daß man im Mittelalter das Nichtforschen für gottgefällig gehalten
habe; sind doch die Scholastiker die kühnsten Forscher gewesen. Dann aber
hat Schiller offenbar nicht das Forschen für Gott mißfällig erklären, sondern
bloß aussprechen wollen, daß die Losung des Welträtsels möglicherweise nicht
beglückt; und darin hat ihm der Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung
recht gegeben: sowohl die Wirklichkeit, die uns Darwin, wie die, die Schopen¬
hauer enthüllt hat, ist ein Scheusal, und es bleibt uns nur übrig, zu glauben
und zu hoffen, daß das von ihnen enthüllte Stück Wirklichkeit nicht die ganze
Wirklichkeit sei.
Mit hoher Freude hat es mich erfüllt, zu finden, daß Huxleh weit mehr
der vou mir geteilten idealistischen Auffassung zuneigt als der Tilles. Die
letzten vier der von diesem deutsch herausgegebnen Essahs sind ziemlich frei
von solchen volkswirtschaftlichen Schnitzern, wie sie an den ersten dreien gerügt
werden mußten (siehe Heft 1 der Grenzboten) und führe» u. a. folgende Sätze
aus: Entwicklung ist keine Erklärung des Natnrgescheheus, sondern nur „eine
verallgemeinerte Angabe über die Wege und Ergebnisse dieses Geschehens"
(S. 227). An dem Troste, daß der schreckliche Da'seiuskampf doch endlich auf
etwas gutes hiuauslanfe, und daß der Vorfahr mit seinem Leiden sür die
größere Vollkommenheit der Nachkommen zahle, an diesem Troste wäre etwas,
„wenn das heutige Geschlecht »ach chinesischer Weise seinen Vorfahren seine
Schuld abzutragen vermöchte. Sonst bleibt unklar, welchen Ersatz für seine
Leiden der Eohippus damit bekommt, daß ein paar Millionen Jahre später
eins seiner Nachkommen den Preis im Derbhrennen davonträgt." Dazu ist
es »och „ein Irrtum, die Entwicklung zeige eine beharrliche Tendenz zu ge¬
steigerter Vollkommenheit" (S. 18!) bis 190). Der Wilde „ficht den Daseins¬
kampf bis zum herben Ende aus wie jedes andre Tier, der sittliche Mensch
weiht seine beste Kraft dem Ziele, diesem Kampfe Grenzen zu setzen" (S. 193).
Der zivilisirte Mensch stellt dem Natnrzustciude einen Knnstzustaud entgegen,
der Wildnis einen Garten, in dem die natürliche Auslese nicht mehr walten
darf, sondern der Mensch uach den Forderungen seiner Vernunft ausliest und
ausrottet (S. 229 ff.). Trotzdem daß das sittliche Walten unter Umständen
mit dem Naturwalten in Einklang stehen kann, bleibt es doch im allgemeinen
wahr, daß es „dem Natinwalteu grundsätzlich zuwiderläuft und die Tendenz
hat, die am besten für den Sieg in diesem Kampfe eignenden Eigenschasten zu
unterdrücken" (S. 245). Der Tanglichste ist nicht der Beste. Wenn auf unsrer
Halbkugel noch einmal eine Eisperiode eintreten sollte, würden immer ver-
kvmmuere und niedrigere Organismen mis die tauglichste» überleben und zuletzt
nnr noch Flechten und Algen übrig bleiben (S, 285). In der menschlichen
Gesellschaft fehlt bis jetzt eine „Maschinerie," die das Aufsteigen der Begabten
in höhere Schichte» und das Hinabsinke» der Unbegabten in niedere besorgen
konnte (S. 157). Aus der Entwicklungslehre kann keine Ethik abgeleitet
werden; Sittlichkeit ist das Gegenteil von Natur (284 und 286). „Wir
müssen es als ein für allemal ausgemacht betrachten, daß der sittliche Fortschritt
der Gesellschaft nicht von dem Nachahmen des Naturwaltens und noch weniger
von der Flucht davor zu erwarten ist, sondern von dem Kampf gegen dieses
Walten" (S. 287). Der Zustand des auf Exportindustrie angewiesene» Volkes
ist unbefriedigend und unsicher; „wir sind nicht nur ein Volk von Krämern,
sonder» wir sind bei Strafe des Hungers gezwungen, es zu sein" (S. 198).
„Wer mit der Lage der Bevölkerung der großen Jndustriemittelpuukte in Eng¬
land oder anderwärts vertraut ist, der weiß auch, daß unter einer großen und
immer noch wachsenden Masse jener Bevölkerung das Elend unumschränkt
herrscht" (S. 202). Da Huxley, soviel man sehe» kann, an einen persönlichen
Gott und an die Unsterblichkeit der Seele nicht geglaubt hat, so mußte er
beim Anblick der Zustände seines Vaterlands jenem Pessimismus verfallen, den
die berühmte Stelle vom Kometenschweife ausdrückt (S. 147). Da sie sehr
gut das entschleierte Bild zu Sais zeigt, das jeder folgerichtige Jünger Darwins
im entscheidenden Augenblick zu sehen bekommt, so wollen wir sie zum Schluß
hersetzen. „Ich trage kein Bedenken, der Ansicht Ausdruck zu verleihe«, daß
ich, falls wirklich keine Hoffnung auf eine umfassende Verbesserung der Lage
der Mehrheit der menschlichen Familie besteht . . ., die Ankunft eines freund¬
lichen Kometen, der die ganze Weltgeschichte wegfegte, als erwünschtes Ende
willkommen heißen würde. Was für Vorteil bringt es dem menschlichen
Prometheus, daß er das Feuer vom Himmel gestohlen hat, damit es sein
Sklave sei, und daß ihm die Geister der Erde und der Luft gehorche», wenn
ihm denn doch der Geier der Bettelarmut die Eingeweide zerfleischen und ihn
an dem Rande des Verderbens festhalten soll?"
Heuschrecken und Honig pur,
Alter Herr, sind gänzlich wider meine Natur!
le vorstehenden Worte, die Offerus, nachmals Sankt Christo-
phorus, in der hübschen Legende von Friedrich Kind zu dem Ein¬
siedler spricht, der einen andern Johannes aus ihm machen will,
können mit gutem Grund auf den Dichter der neuesten Tragödie
„Johannes" angewandt werden. Ein Gefühl der Befremdung
darüber, daß sich der Verfasser der Romane „Frau Sorge," „Der Katzensteg"
und „Es war," der Dramen „Ehre," „Heimat" und „Das Glück im Winkel"
auf das Gebiet des biblischen Dramas begeben habe, erwachte bei der ersten
Kunde von diesem „Johannes" überall. Dann kam dem Verfasser das Verbot
der Aufführung des „Johannes" zu Hilfe, wobei unsre Behörden wieder einmal
ihr Ungeschick gezeigt haben, das sie immer haben, wenn sie in Angelegenheiten
der Kunst und Litteratur eingreifen. So entspann sich denn über das Werk,
das keiner kannte, dem nicht Sudermann unmittelbar einen Einblick gegönnt
hatte, eine Zeitungspolcmik voll leidenschaftlicher Erörterungen. Hatten diese
keine andre Frucht, so dienten sie doch als Reklame für die Dichtung, deren
Aufführung endlich Mitte Januar dieses Jahres am Deutschen Theater in
Berlin und am Hoftheater zu Dresden an demselben Abend erfolgte. Un¬
mittelbar zuvor war „Johannes" auch im Buchhandel veröffentlicht worden;*)
und daß schon die ersten Exemplare, die in irgend jemandes Hände gelangten,
die Bezeichnung zehnte und elfte Auflage trugen, gehört zu den Begleit¬
erscheinungen, mit denen die „Sensationen" auch bei uns aufzutreten allmählich
gelernt haben. Jedenfalls sind einige tausend Exemplare der Dichtung gleich
in den ersten Tagen nach ihrer Ausgabe verbreitet worden, und da inzwischen
andre Theater denen von Berlin und Dresden mit der Darstellung nachgefolgt
sind, so darf man heute wohl von „Johannes" wie von einer schon bekannten
und leicht zugänglichen Dichtung sprechen und gleich hinzufügen, daß die
Sudermannsche Tragödie immerhin ein Recht auf allgemeine Teilnahme und
auf ernste, eingehende kritische Würdigung hat, wennschon nur wenige Hörer,
Leser und Beurteiler in den Triumphgesang einstimmen werden, mit dem ein
paar enthusiastische Verehrer das Werk begrüßt haben.
Die Fragen liegen nahe, wie kommt Hermann Sudermann, der Modernste
der Modernen, zu Johannes dem Täufer, warum haben gerade ihn die ein¬
fachen Berichte des Matthäus- und Markusevangeliums über den Wüsten-
Prediger und den Vorläufer Christi so tief ergriffen, wo liegen die Fäden, die
von den früher den Dichter beherrschenden Empfindungen zu den gegenwärtigen
leiten, inwiefern hat der Schilderer jüngster Sitten und Unsitten in der Zeit
des irdischen Wandels des Erlösers einen Spiegel sür Menschenleben von
gestern und heute erkannt? Es ist zwar schon lange offenbar, daß sich gerade
die Schriftsteller des jüngsten Deutschland, denen es um größere Entwicklung
zu thun ist, und die sich von der Enge und Einseitigkeit der bloßen Augen-
blicksdcirstellnug bedrückt fühlten, nach verschiednen Seiten über diese Schranken
hinausstreben; und Hermann Sudermann selbst hat in einem Vortrage auf
dem Dresdner internationalen Litteraturkongreß die Losung verkündet, daß es
gelte, „sich durch den Wust der schwergeplagten Zeit durchzuringen, den Bann
der Trostlosigkeit zu brechen und aufatmend zu klarern Höhen der Menscheu-
beurteilung hinanzusteigen." Aber nicht jeder kann jedes, und der erste Versuch,
neben dem Wust der Zeit auch ein Stück Vergangenheit im großen Stile zu
verkörpern, den Sudermcmn in seinen ..Morituri" wagte, war keineswegs ver¬
heißend ausgefallen. Der totgeweihte Ostgotenkönig nahm sich neben dem
Dragonerleutnant Fritzchen und seinem Vater, dem Herrn Major, die beide
„dem Wust und der Trostlosigkeit" der Gegenwart entstammten, denn doch
wie „purer, purer Schneiderscherz" aus. Die Gewöhnung, niemals die Mensch¬
heit und das Menschenschicksal und immer nur die Gesellschaft von heute und
die Konflikte zu schauen, die aus dein Gegensatze von Proletariat und Protzen-
tnm erwachsen, läßt sich nicht so leicht überwinden, und das Goethische Wort:
„Er ist nicht dabei hergekommen" kann eben auch auf den Dichter angewandt
werden. Auf der einen Seite ist gewiß, daß manches gewagt werden muß,
daß es ohne einige Gewaltsamkeit schon nicht mehr abgeht, wenn man auf
den natürlichen Boden der großen Dichtung, als einer Weltwiedergabe und
Weltdarstellung, zurückgelangen will. Auf der andern ist es klar, daß Suder-
mmms „Johannes" keineswegs bloß ein Werk des Vorsatzes und willkürlicher
Stvffwcchl ist, sondern daß nur allzuviel Einflüsse der den Dichter zunächst
umgebenden Atmosphäre einen unbewußten und viel stärkern Anteil daran
haben, als jener sich träumen ließ. Leute, die gern das Zeichen für die Sache
nehmen, erkennen im „Johannes" ein Zeugnis für die wachsende Gewalt der
religiösen Sehnsucht und Bewegung, die allmählich wieder alle Schichten unsers
Volkes und namentlich auch die Kreise der Gebildeten zu durchdringen anfängt.
Ernst- und Wohlmeinende wollen in der Tragödie wenigstens eine Abrechnung
mit der subjektiven Überhebung der „Herrennatur" erkennen, die seit einem
Jahrzehnt das große Wort in der Poesie gen'eher ist. Und wieder andre
versichern lachend, daß der Verfasser mich in dem neuen Werke vollkommen
der Alte sei und das alte Spiel mit Glück fortsetze, den bunten gleißenden
Stein der Decadence so zu drehen und zu wenden, daß er neue Strahlen in
müde Augen und matte Seelen wirft. Ehe wir uns fragen, wie Sudermauu
zu dieser Tragödie gekommen ist, und untersuchen, welche Kräfte und Stim¬
mungen in ihr überwiegen und wirken, vergegenwärtigen wir uns die Anlage,
die Entwicklung und den Ausgang des „Johannes."
Die Tragödie beginnt mit einem Vorspiel, das uns in eine wilde Fels¬
gegend in der Nähe Jerusalems führt. Zu Johannes, der in dieser Wüste
verweilt, drängen sich die Armen, die Gichtbrüchigen, die Verzweifelten aus
ganz Israel, in ihm ist das alttestamentarische Prvphetentnm neu verkörpert.
Wohl sagt er, daß das Wasser seiner Taufe nur „armes Wasser der Buße"
sei. „Der aber nach mir kommt, der wird euch mit dem Geist und mit Feuer
taufen"; wohl wehrt er seinen Anhängern, ihn selbst für den Verheißenen zu
halten, wohl fordert er, daß sie schweigend des Messias harren und bis dahin
das Unkraut jäten, das wuchert und frißt an ihrem Leibe, aber er verkündet
ihnen auch mit gewaltigen Worten, „wenn der Tag seiner Ernte wird gekommen
sein, dann wird er nach eignem Willen vor euch erscheinen, leuchtend als König
der Heerscharen! Und die vier Cherubim vor ihm her, auf gepanzerten Rossen
— mit flammenden Sicheln — zu mähen und zu zerstampfen." Und wie ihm
berichtet wird, daß neue Schmach über Israel kommen soll, daß Herodes, der
Vierfürst von Galiläa, sich mit Herodias, dem entlaufnen Weibe seines Bruders
Philippus, nächsten Tags vermählen, daß er sie in den Tempel in den Vorhof
der Weiber einführe» will, daß Unterhändler zwischen der Ehebrecherin und
zwischen Hohepriester«! und Priestern hin- und hergehen, um Herodias einen
feierlichen Empfang zu sichern, da flammt der Propheteuzorn in Johannes
empor, er erklärt, daß er ein priesterliches Wort „im Namen dessen, der da
kommen soll, und dem ich den Weg bereite mit meinem Leibe!" reden und nach
Jerusalem kommen wird. In Jerusalem beginnt dann auf einem Platze vor
dem Palast des Herodes der erste Akt der Tragödie. Der Prediger aus der
Wüste, den die Pharisäer und alle Buchstabenglänbigeu des alten Gesetzes
grimmig hassen, hat mit seinen Reden die Volksmassen in der Stadt gewaltig
erregt, er erweist sich als unantastbar für die Tücken und Listen seiner Feinde.
In ihm selbst aber ist unruhige Sehnsucht, in seine Felsenwüste zurückzukehre»,
und das dumpfe Verlangen nach dem, der kommen und stärker sein wird als
er. Im Zusammenprall mit den Werkheiligen, die er haßt, spricht Simon
der Galiläer das Wort: „Höher denn Gesetz und Opfer ist die Liebe." Und
wie er dies Wort vernommen hat, weiß Johannes auch, daß „dies Wisse»
deines Herzens, einfältig und fürchterlich, vor dem mir grauet," nicht ans der
Seele des einfachen GalilüerS stammt; unbekümmert um den Pr»ulei»z»g des
Herodes und alles andre hat er nur den einen Gedanken, den Gnlilüer
wieder zu sehen und mehr über die ihm neue Lehre von der Liebe zu ver¬
nehmen.
Der zweite Akt versetzt uns ins Innere des Palastes des Herodes.
Salome, die Tochter der Herodias, eine frühreife Schönheit, die „die Männer
liebt, wie sie sind," die von ihrer Mutter Herodias das Blut des großen
Herodes geerbt hat, die schon jetzt weiß, daß sie ihrem Oheim und künftigen
Stiefvater nicht übel gefüllt („Ich Habs wohl gemerkt, daß er verstvhlne Blicke
nach mir sandte. Wenn meine Mutter mich schilt, dann weiß ich, womit ich
sie ärgere!"), wird durchs Fenster auf die Erscheinung Johannes des Täufers
aufmerksam, der kraftvolle, unbeugsam stolze Prophet behagt ihr beim ersten
Blick, und nachdem sie die Begrüßung ihrer Mutter mit Herodes belauscht
hat, in der sich die dämonische Frau die feige und doch brennend ehrgeizige
Natur des Vierfürsten unterwirft, wird Johannes in den Palast eingeführt.
Eigentlich hat ihn Herodias rufen lassen, um ihn zu gewinnen oder gefangen
zu nehmen, aber ehe sie vor den zornigen Propheten tritt, beginnt Snlome
ihr Spiel mit Johannes, den sie an sich reißen, an sich ketten möchte mit
allen Mitteln. Im Rausch der Phantasie und der erregten Sinnlichkeit ruft
sie Johannes zu: „Und kämest du mir entgegen in Feuerflammen, so will ich
meine Jugend nicht beweinen zwei Monden lang, ich will die Arme nach dir
recken und rufe»: vertilge mich, Flamme, nimm mich auf, Flamme!" Und wie
sie Johannes mit dem schlichten Zuruf „Gehe!" von sich hiuwegweist, da stürzt
sie an die Brust ihrer eintretenden Mutter, die dem Propheten erklärt, dies
Kind sei ihres Schicksals Genossin. Auch sie versucht Johannes für sich zu
gewinnen und fragt ihn. ob sein Herz nicht vor Scilvmes süßer schleierloser
Jngend gezittert habe. Und als ihr der Täufer die Worte: „Buhlerin ist dein
Name, und Ehebrecherin steht ans deiner Stirn geschrieben!" ins Gesicht
schleudert und ihr den Grimm des Volks androht: „Wenn dn die Hohen
und Mächtigen beugest zum Schemel deiner Lüste, so reiße ich die Armen und
Niedrigen in deinen Weg, daß sie dich zermalmen nnter ihren Sohlen!" da
ruft Herodias wohl ihre Wachen, aber sie läßt, vom Blick des Propheten über¬
wältigt, Johannes nicht in den Kerker, sondern auf die Gasse, von der er her¬
gekommen ist, zurückführen. Jung Salome aber, die ihrer Mutter rasch über
den Kopf wächst, jauchzt Johannes nach: „Du kamst in Feuerflammen!"
Der dritte Akt beginnt im Hause Josaphats, eines Jüngers des Johannes.
In Johannes Seele wird das Verlangen nach Kunde ans Galiläa über den,
der da kommen soll, stündlich mächtiger. Noch bekämpft er die verworrnen,
seinen Prophetentrvtz bedrohenden dunkeln Regungen des Innern mit dem
wilden Ausruf: „Wißt ihr, in welches Gewand sich die Sünde vornehmlich
kleidet, wenn sie nnter die Leute geht? Saget Hoffart, saget Haß, sagt, was
ihr wollt, und ich werde eurer lachen. Hört nud behaltet es: Liebe nennt sie
sich am liebsten. Alles, was klein ist und sich duckt, weil es klein ist — was
die Vrvsamlein von seinem Tische wirft, um nicht mit den Broden zu werfen —
was die Gräber zudeckt, damit sie heimlich stinken — was sich den Daumen
der linken Hand abhackt, damit er zum Daumen der Rechten nicht sage: hüte
dich, das alles heißen sie Liebe. Und Liebe heißen sie, wenn im Frühling die
Esel brünstig werden und die Hirtinnen schreien!" Noch vermißt er sich, mit
seinem Zorn den Herodes samt seiner Herodias zu zerschmettern; er ruft das
Volk zur Steinigung des ehebrecherischen Paares auf, aber alles schon wie im
Traum, mehr von seinen Anhängern, als vom eignen Verlangen gestachelt.
Und dabei verlangt er fortwährend nach Galiläern und vernimmt, als im Vorhof
des Tempels endlich ein paar Fischer vom See Genezareth vor ihm stehen,
staunend und erschüttert, daß dort Jesus von Nazareth „Thorheiten" lehrt
wie: „wir sollen unsre Feinde lieben, segnen, die uns fluchen, und bitten sür
die, die uns verfolgen." Da versinkt Johannes in einen Zustand, in dem ihm
die Ankunft des Vierfürsten und seines Weibes kaum zum Bewußtsein kommt,
in dem ihm seine Anhänger den Stein, den er nach dein Paare werfen soll,
in die Hand drücken müssen. Während Herodias entschlossen dem Gemahl
zuruft: „Laß den dort ergreifen, sonst ist es dein Tod und der meine!" ver¬
sucht Johannes sich zu erheben: „Im Namen dessen — der mich — dich —
lieben heißt!" läßt den Stein seiner Hand entfallen, wird von den Dienern
des Herodes die Tempelstufen herabgerissen und gefesselt. Unter Weserufer
stiebt das Volk aus einander. Im Gefüngnishof, der an die Palaftgärten
in Herodes galiläischer Residenz anstoßt, begegnet beim Beginn des vierten
Aktes Salome ihrem Stiefvater und stimmt ihn mit verlockenden Künsten zur
Milde gegen den gefangnen Propheten, den sie und den er, der kleine Tyrann,
noch immer für sich zu gewinnen hofft. Nachdem Johannes die Ketten ab¬
genommen sind, setzt er den Überredungen des Vierfürsten die ruhige Ver¬
achtung entgegen: „Für dich giebt es kein Empor. Du trägst die Zeit, die
vor dir war und mit dir ist, als ein eiterndes Mal ans deinem Leibe. Brennest
du nicht von all ihren giftigen Gelüsten? Wardst du uicht lahm von all
ihrem unmutigen Wollen? Und möchtest gar auf Höhen steigen. Bleib auf
deinem Markte und lächle!" Er hat für die erneuten Lockungen Salomcs,
die sich ihm rückhaltlos anbietet und von sich selbst sagt, daß sie süß wie die
Sünde sei, nur sein stolzes „geh!" sodaß die üppige Fürstentochter in Wut
und Scham aufschreit: „Wirfst du mich fort? Wirfst du mich fort?" Johannes,
dem die Freiheit gelassen ist, mit seinen Jüngern zu verkehren, von denen aber
nur wenige bei ihm ausgehalten haben, der ein Flügelrauschen über sich zu
hören glaubt, der bereit ist, den Segen von der Höhe zu empfangen, sendet
die letzten beiden Getreuen mit der Frage an Jesus von Nazareth: „Bist du,
der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?"
Beim Beginn des fünften Aktes sieht man den Täufer noch in derselben Lage;
gefangen, ohne gefesselt und eingekerkert zu sein, harrt er mit leidenschaftlicher
Sehnsucht der Rückkehr seiner Boten, indes das vernichtende Wetter über ihn
heraufzieht. Herodes der Bierfürst hat hohe» Besuch, Vitellius, den römischen
Legaten von Syrien, zu gewärtigen; er muß alles thun, um den verwöhnten
und blasirten Römer zu unterhalten, er wünscht, wünscht, wie ihm Herodias
auf den Kopf sagt, auch für sich, daß seine Stieftochter Salome im Tanz alle ihre
Reize entfalte. Herodias läßt den elenden Gemahl nicht im Zweifel, daß die
Erfüllung seines Verlangens einen Preis habe, und stachelt dann ihre Tochter an,
das Haupt Johannes des Täufers auf einer goldnen Schüssel zu fordern; es
bedarf der Anstachlung kaum, denn in Salome tobt die Wild, daß der Prophet
sie verschmäht hat, und sie lechzt gieriger nach seiner Demütigung als ihre Mutter
nach seinem Blute. Sie tanzt vor der Tischgesellschaft des Herodes und berauscht
den Vierfürsten so, daß er ihr schwört, zu gewähren, was sie begehrt, sie ruft
nach dem Hanpte des Johannes, Herodes zuckt zusammen, aber Weib, Tochter
und römischer Gast mahnen ihn, daß er geschworen habe, die Wünsche der schönen
Tänzerin zu erfüllen. So wird denn Johannes gerufen, um die Ankündigung zu
vernehmen, daß seiner Tage Abend gekommen sei, und daß er, so leid es Herodes
auch ist, auf der Stelle des Todes sterben müsse. Der Täufer begehrt eine
Frist, nur bis die Boten, die er entsandt hat, heimkehren, Herodes sagt ihm:
„Das Mägdlein mußt du bitten! Wisse, in seiner Hand ruhet das Häuflein
Zufall, das du Leben heißest." Doch ehe es zu dieser Demütigung kommt,
stürzt der Kerkermeister herein, kündigt an, daß die Freunde des Gefangnen
zurückgekehrt seien und zu ihm wollten, Vitellius der Legat ruft lachend:
„Teurer, dies ist die ergötzlichste Aufführung, die mir bei Tische je geboten
wurde. Laß kommen, laß kommen!" Manasse und Amarja, die Sendboten
des Johannes, treten ein, verkünden ihm, daß sie Jesus von Nazareth gesehen
hätten, und daß er ihnen gesagt habe: „Gehet hin und saget Johanni wieder,
was ihr sehet und höret. Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aus¬
sätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, und deu Armen
wird das Evangelium gepredigt." Und sie fügen hinzu, daß er noch gesagt
habe: „selig ist, der sich nicht an mir ärgert." Da bekennt der Täufer über¬
wältigt: „Ich habe mich an ihm geärgert, denn ich erkannte ihn nicht! Die
Schlüssel des Todes — ich hielt sie nicht; die Wagschalen der Schuld — mir
waren sie nicht vertrauet. Denn aus niemandes Munde darf der Name
Schuld ertönen, nur ans dem Munde des Liebenden. Ich aber wollte euch
weiden mit eisernen Ruten. Darum ist mein Reich zu Schanden worden, und
meine Stimme ist versieget!" Er sieht mit gen Himmel gerichteten Blicken in
erhabner Vision den Fürsten des Friedens, blickt lächelnd über Salome, die
noch immer auf seine Bitte um Gnade wartet, hinweg und läßt sich zum
Richtblock führen. Salome lauscht hinaus, schreit auf, und mit Grauen sehen
die im Saal zurückbleibenden, daß sie draußen im Vorhof mit dem ssaupt des
Johannes auf goldner Schüssel, das man ihr gebracht hat, zu tanzen beginnt-
Sie stürzt, und das Haupt rollt in den Sand, Herodias geht ihr ruhig nach
und kommt mit der halb ohnmächtigen Tochter im Arm zurück, Salome
stammelt im Abgehen einige Worte, die darauf hindeuten, daß sie hinfort der
Wahnsinn umfangen wird; die im Saale noch bleibenden aber hören ein
jauchzendes Brausen und Getümmel, das sie schon lange vernommen haben,
immer stärker anschwellen, die Vorhänge des Saals nach der Straße werden
geöffnet, und mit „Hosianna dem König der Juden!" rauscht drunten die
palmenschwingende Masse, die den Einzug Christi feiert, vor den Augen des
verstummenden Herodes, der von einem Blick des Erlösers getroffen scheint,
vorüber.
So der Verlauf. Schon aus dem einfachsten Bericht läßt sich erkennen,
daß die Tragödie an einem schlechthin unüberwindlichen Gebrechen leidet, daß
die Haupthandlung, der große innere Hauptkonflikt, nur in einzelnen, gleichsam
blitzartig aufzuckenden Augenblicken sichtbar hervortritt, sonst aber nur in der
Seele des Johannes vorgeht, daß darüber die untergeordnete Nebenhandlung,
der Kampf des Täufers und Bußpredigers mit der Familie des Herodes in
den Vordergrund tritt, die theatralische Wirkung vollständig usurpirt und
Dreivierteln namentlich der Zuschauer zur Hauptsache wird. Daß Spieler
und Gegenspieler in diesem Falle Johannes und Jesus von Nazareth sind,
rechtfertigt einigermaßen (den höchsten dichterischen Maßstab angelegt, keines¬
wegs zureichend) die Kompositionsweise der Tragödie, bei der der Gegner und
Überwinder des Täufers nicht verkörpert erscheint. Ein Dichter, der den Stoff
in seiner Tiefe erfassen und zu höchster Wirkung erheben wollte, könnte freilich
kaum anders als Johannes und Christus einander gegenüberstellen. Der er¬
fahrne Dramatiker, der gesehen und gehört werden will, muß aus naheliegenden
Gründen darauf verzichten, ja der kann sich selbst vorstellen, daß das Ringen
seines Helden mit einer neuen Macht, einem neuen Geist, deren Haupt¬
träger nicht sichtbar wird, etwas eigentümlich Ergreifendes habe. Auf
alle Fälle aber durften diese Macht und dieser Geist nicht bloß in einzelnen
rasch verhallenden Lauten, in flüchtig auftauchenden und rasch wieder ver¬
schwindenden Erscheinungen, wie der Galiläer des ersten Aktes, wie Mesulemeth
und die Fischer vom See Genezareth des dritten Aktes, vertreten sein, sondern
in ein paar großen und entscheidenden Szenen mußte, in irgend einer von der
neuen Lehre erfüllten Gestalt, die Gegenüberstellung erfolgen. Johannes, dessen
herrisches, siegesstarkes Prophetentum durch die Lehre von der Liebe über¬
wunden werden soll, ist von vornherein viel zu leicht beweglich, viel zu rasch
ergriffen und erschüttert. Die Überzeugung, daß ein Größerer nach ihm kommen
wird, paart sich doch mit der andern Überzeugung, daß der Messias, der Herr
kommen wird „als König der Heerscharen, mit goldnem Panzer angethan, das
Schwert gereckt über seinem Haupt"; um sie zu besiegen, bedarf es stärkerer
Mittel und Zeugnisse als die, die in Sudermanns „Johannes" angewandt
werden. Der Herrenmensch, der sich das Recht zuspricht, zu vernichten, was
er faßt, der der Herodias noch mit der Steinigung droht, als sie ihm schon
gesagt: „wer sich vermessen will, über Menschen ein Richter zu sein, der muß
Teil haben an ihrem Thun und menschlich sein unter Menschen!", der wird
nicht von eines fernen Windes Rauschen, sondern nur vom Sturm, der in die
eigne Seele braust, ergriffen und umgestimmt; nicht in Träumen und Gesichten,
sondern Auge in Auge mit einer höhern Gewalt, die ihn beugt und nieder¬
wirft, mag er umgewandelt werden. Da nach der Absicht des Dichters diese
Wandlung der Angelpunkt der ganzen Tragödie ist, so sehr, daß ihr gegen¬
über der Tod durch die Laster und Lüste des kleinen galiläischen Tyrannen¬
hauses seinen Stachel verliert und sür Johannes selbst eine Erlösung ist, so
empfindet man das Schwankende, Schillernde, Unsichre, Unreife der Motive
und der entscheidenden Vorgänge doppelt.
Viel klarer und deutlicher ausgearbeitet als das Verhältnis des Täufers
zu Christo, in dessen Namen er wirken will, zu seinen Jüngern und dem er¬
regten jüdischen Volke sind die Vorgänge und die Gestalten am Hofe des
Vierfürsten. Die Stellung des jüngern Herodes, der nach der Krone und
Macht seines großen Vaters mehr schielt, als sie im Auge hat, zwischen den
Römern und den Juden, das Verhältnis zu Herodias, das kranke Gelüst nach
der aufblühenden Stieftochter Salome, der geheime Kampf zwischen Mutter
und Tochter, in dem Herodias schließlich die Tochter wie den Gemahl zwingt,
die Werkzeuge ihrer Rache zu werden, die üppige Lebenshaltung, die in dem
dem römischen Legaten gegebnen Feste ihre höchste Steigerung erreicht, der
Pfuhl schlimmer Gedanken, begehrlicher Trcinme und häßlicher Lügen, der sich
unter der gleißenden Hülle fürstlichen Wohllebens birgt, das ganze Wesen von
lauernder Feigheit, von Eitelkeit, Grausamkeit und Wollust sind mit sichern
Zügen und kräftigen Farben gemalt. Selbst die Episodenfiguren dieser der
großen Sehnsucht des Johannes entgegengesetzten kleinen Wirklichkeit, Herodes
Rhetor Mervkles und sein Narr Gabalos, der Kerkermeister, die Gespielinnen
der Salome, treten deutlicher vor unsern Blick als die Jünger des Johannes, die
Bürger von Jerusalem und die Priester des Tempels. Bis zum großen Hcmpt-
und Glanzeffekt dieser Welt, dem berauschenden Tanze der Salome, wird das
Interesse an diesem Teil der Handlung mit hundert kleinen Künsten erhöht,
es überwächst rasch die Teilnahme, die der Wüstenprediger erweckt, es birgt
den prickelnden Reiz sinnlicher Spannung und hinterläßt schließlich eine Em¬
pfindung, als ob dies der eigentlichste und wesentlichste Zweck des Ganzen ge¬
wesen sei. Das Publikum, das den Johannes und sein kamelhärnes Gewand
ziemlich langweilig findet, ergötzt sich an den Schleiern und goldnen Schuhen
der Salome und wird erst durch den im Hintergrund vorüberrauschenden
Einzug Christi wieder daran gemahnt, daß doch eigentlich von etwas anderen
die Rede sei, als von der Rache einer kleinen lüsternen jüdischen Prinzessin
für freigebig dargebotne und schnob verschmähte Liebe.
Versucht man sich zu vergegenwärtigen, wie auch in dieser biblischen
Tragödie die Lust an der Decadence und Decadeneeschilderung den ursprüng¬
lichen Vorsatz überwältigt hat, so braucht man nur zu vergleichen, in welchem
Verhältnis das Premierenpublikum zu ernsten Problemen und Zielen steht
und andrerseits zum Wohlgefallen am Schimmer der Lebewelt und dem Haut¬
gout überreifer Luxuskultur; man braucht sich nur zu erinnern, wie abhängig
sich Sudermann von den Neigungen, Vorurteilen und Bedürfnissen der Zehn¬
tausend gemacht hat, die ganz Berlin vorstellen und ganz Deutschland vor¬
stellen mochten. Nun ja, der große Zarathustra-Nietzsche und Professor
Harnack mit seinen Forschungen über die altchristliche Litteratur und der Oberst¬
leutnant von Egidh mit seiner Reform des Christentums und Tolstoi mit
seiner interessanten Askese und zwanzig ähnliche Erscheinungen fallen eben auch
in den Gesichtskreis dieser Tonangebenden, sie haben Stunden, in denen es
ihnen vorkommt, als wäre es ihnen um die Erneuerung von innen heraus zu
thun, als würden sie einem neuen Johannes, der im Grunewalde oder der
Kölnischen Heide hauste, zujauchzen. Aber am letzten Ende kann man doch
feine Tage und Abende nicht mit diesen Fragen zubringen, kann seine Augen
nicht vor allem verschließen, was lebendig in Reiz und Glanz dahin wandelt,
muß an dem flutenden Leben Anteil nehmen, das nicht immer ideal und er¬
hebend sein mag, aber immer mannigfaltig, pikant und wechselvoll ist. Ob
ein Johannes je erscheinen wird, ist mindestens noch zweifelhaft, einstweilen
aber findet sich eine Herodias samt ihrem Töchterlein in jedem zehnten, ein
Herodes mit seinen Mervkles und Gabalos in jedem dritten Hause im Westend.
Bewußt und unbewußt haben es diese Stimmungen und Betrachtungen über
den Dichter davon getragen, unvermerkt sind die spannenden, schillernden
Szenen aus der Fäulnis des Herodianischen Hofes immer wichtiger geworden,
instinktiv hat er empfunden, daß die theatralischen Wirkungen am Farbenglanz
der Szenen des zweiten, vierten und fünften Aktes hängen, daß der Natura¬
lismus unsrer neuesten Darstellungskunst lieber in Pracht und Prunk gehüllt
ist, als in schlichter Tracht einherwandelt. Wie anch die Johannestragödie
ursprünglich angelegt sein mochte, was sie eigentlich wirken sollte — unwill¬
kürlich lenkt sie wieder in die Bahnen der sinnlichen Schilderung ein und läßt
einem Eros, der keine Psyche sucht, wenn nicht das entscheidende, so doch das
vernehmlichste, verständlichste, das schmeichelndste Wort.
Es ist vollständig hoffnungslos, auf diesen Wegen die Erneuerung, die
Wiedergeburt der Tragödie, ja irgend einen bleibenden Gewinn für unsre
poetische Litteratur zu suchen. Bevor die Dichter nicht den Mut gewinnen,
sich über die versumpfte Modernität zu erheben, die von aller Wahrheit der
Welt und Wirklichkeit nur die Wahrheit des Verfalls sieht und begreift, kann
das Erfassen großer Stoffe ihnen und uns nicht frommen. Der „Johannes"
wäre wahrlich dazu angethan und auch darauf angelegt, einen andern Eindruck
zu hinterlassen, als den unheimlichen zügelloser Weiblichkeit in Herodias und
Salome. Nichts destoweniger ergiebt sich dieser als der stärkste, der bleibende
und nachwirkende der biblischen Tragödie. Auf dem Theater natürlich noch
mehr als beim Lesen. Doch wird auch dem Leser nicht entgehe», daß Suder¬
mann seine eigentümlichste Kunst, sein individuelles Ausdrucksvermögen gerade
in den schwülen Szenen entfaltet, in denen der Täufer den Frauen wohl starr
und stolz genug gegenübersteht, aber die poetische Lichtführung des Dichters
ihren Strahl auf die Häupter vou Herodias und Salome ergießt. Selbst
beim Todesgang des Johannes erfaßt uns der Schauer des Unnennbaren
nicht, der diesen Abgang begleiten müßte; die naturwahre Schilderung üppiger
und üppig aufgeputzter Wirklichkeit trägt über das beabsichtigte, doch nicht
aus der innersten Natur des Dichters strömende religiöse Pathos den Sieg
davon.
Auch in die Sprache hinein erstreckt sich, wie namentlich der Kritiker des
„Dresdner Journals" hervorgehoben hat, die Zwiespältigkeit dieser Dichtung.
„Es ist das Recht des Dichters, die aus den biblischen Büchern stammenden
edeln Bestandteile seiner Sprache mit alltäglicher« wertlvsern zu einem Erz
zu verschmelzen. Aber schmelzen müssen sie im Feuer des eignen Ergriffen¬
seins. Da Benvenuto Cellini beim stockenden Guß des Perseus seine Zinn¬
schüsseln und Teller in die Masse warf, that er, was ihm ziemte und frommte.
Aber wie würde sichs ausgenommen haben, wenn er sie nicht geschmolzen,
sondern auf die Brüche und Lücken der unvollkommnen Statue als Rüstung
aufgenagelt hätte? Etwas solchem Aufnageln verwandtes ist an zahlreichen
Stellen der Sudermcmnschen Tragödie zu verspüren, die verschiednen Bestand¬
teile der Sprache sind nicht in Glut noch in Fluß gekommen. Mitten zwischen
den prophetischen Bildern und Sentenzen — die übrigens, an unrechter Stelle
verwandt, keineswegs ihre rechte Wirkung thun — schlagen Trivialitäten ans
Ohr des Hörers oder auch Geistreichigkeiten, die im Vergleich mit der Situation
zu Trivialitäten werden."
Alles in allem hat uns der „Johannes" nicht besser als der „Teja" von
Sudermanns Beruf zur echten Tragik überzeugt, und die Vergleiche mit Grill-
Parzer und Hebbel, die sich da und dort hervorgewagt haben, können nur ein
bitteres oder auch ein trauriges Lächeln bei denen erwecken, die wirklich zu
vergleichen verstehen.
an schreibt und redet seit Jahren soviel von dem zu Ende
gehenden Jahrhundert, daß in sehr vielen Menschen sicherlich
dadurch die Vorstellung erweckt wird, als stünden für diesen
Zeitpunkt besondre Dinge in Aussicht. Vor dem Ende des
ersten Jahrtausends unsrer Zeitrechnung wurden allerdings, wie
uns berichtet wird, zahlreiche Menschen krank oder verrückt aus Angst und
Erwartung. Allmählich könnten wir aber wissen, daß die bedeutungsvollsten
Wendungen eigentlich gerade nicht am Schluß der Jahrhunderte eingetreten
sind. Sie bestehen z. B. für unser neunzehntes in den Ereignissen von 1805
bis 1813 und in denen von 1864 bis 1871, und dieses alles — das poli¬
tische Leben muß als Grundlage der übrigen Entwicklung vorangestellt werden —
ist doch ein so bedeutender Inhalt an Veränderungen für ein einziges Jahr¬
hundert, daß das unsre wahrscheinlich, wenn uns unsre Dichter oder Maler
nicht noch besondre Überraschungen zugedacht haben, ganz einfach, alltäglich
und bürgerlich abschließen wird. Bis dahin sind noch einige Jahre, und es
werden noch viele Bücher geschrieben werden, die sich mit dem Schluß des
Jahrhunderts beschäftigen, sodasz wir unsre Überschrift für die Abteilung bei¬
behalten können. Wir finden die Formulirung nicht zutreffend, aber das
Publikum hat sie nun einmal gemacht oder angenommen. Geradezu häßlich
klingt aber „Am Sterbelager eines Jahrhunderts" für unsre Ohren, und wir
wundern uns. es als Titel gebraucht zu finden von einem Schriftsteller, der
sich auf Seite 355 seines Buches mit Recht über die „Fülle von Geschmack¬
losigkeit" entsetzt, die sich in den absonderlichen Titeln unsrer modernen Dichter
und Litteraten kundgiebt. Der völlig bedeutungslose Worthumbug wird da¬
durch ja noch zu einer besonders rührseligen Feierlichkeit in die Höhe staffirt,
„Blicke eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit" heißt der Untertitel
dieses Buches, worin Professor or. Ludwig Büchner, Verfasser von „Kraft
und Stoff" usw. (Gießen, E. Roth) eine nach zwölf Abteilungen geordnete
Übersicht über den Inhalt unsers Jahrhunderts giebt. Das achtzehnte war
ja das litterarische, das unsre ist das naturwissenschaftliche; welcher Art wird
das zwanzigste sein? fragen die Menschen. Der Verfasser drückt sich etwas
anders aus. Ihm ist das achtzehnte Jahrhundert das der Aufklärung und
Befreiung, das neunzehnte das der Wissenschaft und der großen dadurch
hervorgerufnen materiellen Förderungen. Aber auf intellektuellem, moralischem
und sozialem Gebiete sei die Menschheit nicht so fortgeschritten, wie man es
nach den Erfolgen des achtzehnten Jahrhunderts Hütte erwarten dürfen. Die
Wissenschaft sei mit ihren Ergebnissen nicht tief genug hinabgedrungen ins
Volk, und diese Vermählung von Wissenschaft und Leben (S. 371) werde
hoffentlich das Zeichen sein, unter dem das kommende Jahrhundert leben und
siegen werde. Um uns das Ziel dieses Sieges, das er an einer andern Stelle
„den bisher vermißten und doch so notwendigen Einklang zwischen Sein und
Denken" nennt (S. 57), klar zu machen, müssen wir wissen, erstens, daß dem
Verfasser alles, was wir andern Religion nennen, selbst in dem weitesten und
freiesten Sinne genommen, für Wahn und Phrase gilt (siehe das Kapitel
Religion), zweitens, daß „die klare Sprache der Wissenschaft und des gesunden
Menschenverstandes," die dafür eingetauscht werden soll (S. 12), auf der
materialistischen Weltanschauung beruht, über deren Umfang sich der Leser in
dem Kapitel Materialismus unterrichten kann. Sollte er auch das Bedürfnis
haben, sich über die Sicherheit dieser Grundlage seines künftigen Denkens und
Redens zu vergewissern, so würden wir ihm dafür namentlich eine Stelle aus
dem Kapitel Wissenschaft vorschlagen. Mit der 1839 von Schwann und
Schleiden entdeckten Zelle als Urelement, heißt es daselbst, sei noch nicht viel
gewonnen gewesen, weil sie zu komplizirt würe, als daß sie als Anfangsbildung
der Materie gelten könnte. Erst Max Schulze hätte 1863 die ursprünglichere,
noch ungeformte Materie entdeckt, das Protoplasma, die „organische Ursub-
stanz." Diese sei gleich den „berühmten" Häckelschen Moneren. „Übrigens"
treten wir leider noch nicht auf festen Grund, denn „aller Wahrscheinlichkeit
nach" geht den Moneren noch ein Zustand „wirklicher primordialer Plasma¬
masse" voran, dessen Abstand größer ist, als der zwischen den Moneren und
dem Säugetier! „Trotzdem," das heißt also, obgleich der Unterschied zwischen
dem wahren Urzustand der Materie und den Häckelschen Moneren jedenfalls
größer ist, als irgend ein innerhalb der ganzen organischen Natur für uns
wahrnehmbarer Unterschied, genügt diese „Entdeckung," die sicher in undurch¬
dringliches Dunkel gehüllte Frage von der Urzeugung wissenschaftlich zu er¬
klären. Doch vielleicht hat der Leser schon einen ähnlichen Eindruck bekommen,
wie ihn einer von des Verfassers großen Aufklürungsmünnern, Rousseau in
seinem Emil, einmal in Bezug auf den Begriff einer lebendigen Molvcule sehr
hübsch so ausdrückt: „Um diesen Begriff anzunehmen oder zu verwerfen, müßte
man ihn erst verstehen, und ich bekenne, daß ich nicht so glücklich bin." Und
wir brauchen des Verfassers „Materie" wohl kaum uoch für das kommende
Jahrhundert in Rechnung zu stellen, seit sie das Schicksal gehabt hat, auf der
Lübecker Naturforscherversammlung 1895 für ein Gedankending erklärt zu
werden, ein Gleichnis, aber ein unvollkommues, über das man nichts mit
Sicherheit sagen könne, als daß es über kurz oder lang in nichts zerfließen
Werde. Scheinbar leichten Herzens geht er an einer Stelle seines Buches über
das Ereignis hinweg.
Müssen wir also den Standpunkt des Verfassers im ganzen ablehnen, so
finden wir doch von dem vielen Einzelnen, das er als erfahrner, kluger und
vielseitig gebildeter Mann beobachtet hat und uns mitteilt, mancherlei beachtens¬
wert. Dahin rechnen wir vor allem, daß der alte Achtundvierziger an der
Wohlthat des heutigen Parlamentarismus und des ihm zu Grunde liegenden
allgemeinen Stimmrechts zu verzweifeln beginnt und Abhilfen empfiehlt, die
man sonst von konservativer Seite vorschlagen hört: Hinaussetzen der Alters¬
grenze, vielleicht auch geänderten Wahlmodus, ferner Diäten oder obligatorische
Wahlpflicht. Es soll dem intelligenten Teil der Bevölkerung ein größerer
Einfluß auf die Wahlen verschafft werden. Denn „an eine Diktatur des auf¬
geklärten Despotismus, wie sie vielleicht vom Standpunkte des freien Denkers
als idealste Regierungsform erscheinen möchte," sei jetzt nicht mehr zu denken.
Auch das geringe Interesse weiter Kreise, namentlich auch der Jugend für
Politik im höhern Sinne, im Vergleiche mit der Zeit, als wir noch kein
politisch geeintes Volk waren, erwähnt er und bedauert den dafür an die
Stelle getretner Kampf um die Interessen bestimmter Gruppen. Aber den
Fortschritt der Politik als Kunst dnrch Bismarck halten wir wieder für größer
als er (das geeinte deutsche Reich ist doch eine Folge dieser Politik), und was
er dann noch über rückschreitende Bewegungen der innern Politik ausführt,
zeigt in der Hauptsache persönliche Stimmung und Verstimmung. Verständig
scheint uns, was er über den heutigen Sozialismus sagt, vor allem mit Rück¬
sicht auf solche „unter den Gebildeten, die jetzt an dem Seile des sozialdemo-
kratischen Zukuuftsstaats ziehen helfen." Er meint nämlich, daß eine Herrschaft
des Proletariats mit Hilfe der sogenannten Arbeiterbataillone doch mir kurze
Dauer haben könne und sich selbst vernichten würde; die Urheber der Bewegung
würden ihre ersten Opfer sein. Er selbst macht gewisse Zugeständnisse (Ab¬
schaffung der Bodenrenke, Einschränkung des Erbrechts, staatliche Versicherung
für alle Art von Schäden), aber sie sind lange nicht so radikal, wie sich unsre
Leser vielleicht den Verfasser von „Kraft und Stoff" vorstellen mögen, und
es mag das alles nur mit einem Worte berührt sein, um zu zeigen, wie
anders die Erfahrung und das besonnene Alter zu urteilen pflegt, als die
jüngern, verantwortungslosen Jahrgänge, die noch heiter mit dem Feuer spielen
können.
Ans dem Gebiete der höhern Bildung wird Büchner darin recht haben,
daß zunächst die Philosophie mit einem langen Gedankenstrich abschließt. Denn
der Neukantianismus hat allmählich wohl seine Dienste gethan, und Schopen¬
hauer und Hartmann sind zwar zwei sehr geistvolle und kenntnisreiche Männer,
aber der Weltwille und das Unbewußte sind zur Erklärung dessen, was wir
nicht wissen, schwerlich brauchbarer als Hegels längst abgethaner und jetzt ver-
spotteter, aber einst allmächtiger „Geist." Daß übrigens Büchner Nietzsche
nicht unter die Philosophen rechnet, sondern nur als einen begabten, aber ganz
anomalen subjektiven Schriftsteller ansieht — er drückt sich darüber noch etwas
deutlicher aus, wie wir gleich sehen werden —, bestätigt eine alte Beobachtung.
Nietzsches Exzentrizitäten scheinen nur unter den Vertretern der sogenannten
Geisteswissenschaften verheerend wirken zu können; eine gründliche naturwissen¬
schaftliche Bildung macht dagegen immun. Der Naturforscher erkennt das
Gift in der verführerischen Einwicklnng und sieht den höchsten Grad von philo¬
sophischer Haltlosigkeit und Zerfahrenheit darin, daß „so ganz irreguläre und
die Philosophie auf den Kopf stellende Erscheinungen, wie der längst vergessene
und aus seinem Grabe wieder hervorgeklaubte halbverrückte Hegelianer Max
Stirner und sein moderner Nachträtscher, der Irrenhaus- oder Wahnsinns¬
philosoph Nietzsche, die Welt in so hochgradige Aufregung versetzen."
Über Litteratur und Kunst sagt Büchner nicht viel, weil — nicht viel
darüber zu sagen ist. Es macht doch einen eigentümlichen Eindruck, wenn
ein Mann, der in Büchern, die große Auflagen erlebt haben, sür die
Freiheit in jeder Form gekümpft hat, sich nun unwillig von der Zügellosigkeit
der neuesten Dichter und Maler abwendet und mit deutlichen Zeichen der
Wehmut nach den alten Göttern znrückschaut! Und die, die mit ihren Leistungen
heute und im letzten Drittel unsers Jahrhunderts für ihn noch in Betracht
kommen, wurzeln in der ältern Zeit; in dem geräuschvollen Treiben der
Jüngsten kann er keine Ansätze zu einer künftigen Blüte entdecken, nur Verfall
und Ermüdung. Ganz besonders aber zeigt sich ihm die Ermnttnng der Zeit
in der alles Maß überschreitenden und das Interesse eines großen Teils unsrer
gebildeten Gesellschaft fast ausschließlich beherrschenden Musikmanie, die durch
einseitige Anregung der Gefühlssphäre notwendig einen gewissen Grad geistiger
Entnervung mit sich führen müsse. Wagner, Maseagni und Sarasate seien
die Helden der Gegenwart und die Götzen der Mode. Die Wichtigkeit, die
man heutzutage dem Musikwesen beilege, stehe ganz anßer Verhältnis zu der
Achtung, deren sich in dieser Verfallzeit die übrigen schönen Künste, die Schrift¬
steller und Dichter, die Denker und Philosophen zu erfreuen Hütten.
So bleibt denn für Büchner als Fortschritt und Gewinn des ablaufenden
Jahrhunderts wohl nnr der Ertrag der Naturwissenschaften an Erkenntnis
und an praktischen, materiellen Erfolgen übrig. Wir brauchen hier seine Dar¬
legungen nicht zu verfolgen. Wohl aber möchten wir sie durch einige Be¬
merkungen ergänzen und zwar im Anschluß an das, was ihm selbst zum Ge¬
fühl der völligen Befriedigung gerade uns dem Gebiete noch fehlt. Die wissen¬
schaftlichen Schriftsteller, meint er, beschäftigen sich zu viel mit einander, das
Volk habe zu wenig von ihren Arbeiten, und der Erfolg der populären Schrift-
stellerei sei gering. Diese Urteile beruhen doch auf einer großen Unterschätzung
des Thatbestandes, wobei vielleicht auch die Graumalerei des Alters ein wenig
mitgewirkt hat. Schon des Verfassers eigne zahlreiche Schriften sind doch
sicherlich nicht hauptsächlich von Menschen seinesgleichen gelesen worden, sondern
von denen, die wir zum Volke rechnen können. Und so wie er haben doch in
unsrer Zeit Hunderte von Schriftstellern der verschiedensten Wissensgebiete ge¬
arbeitet und gewirkt. Was aber den von ihm bis jetzt vermißten und der
Zukunft anheimgestellten Erfolg anlangt: auch bei dem allerweitesten Ent¬
gegenkommen wird die Wissenschaft an irgend einer Grenze Halt machen müssen,
denn ihre Gaben werden zu alleu Zeiten nur denen zu gute kommen, die
gelernt haben, sie zu genießen, was nie ohne Mühe und Zeitaufwand, ohne
ein gewisses Maß von Bildung und Wohlstand wird geschehen können. Es
wird auch immer solche geben, die Kaviar oder Lotus essen, und solche, die
es nicht thun, weil es ihnen nicht bekommen würde, oder weil sie kein Gelüsten
darnach in sich tragen. Nach dergleichen Unterschieden aber die Menschen ein¬
zuteilen in Volk und NichtVolk, ist zwar in der politischen Agitation üblich,
und es giebt auch wirksame Antithesen her für die Rhetorik, aber sachlich ist
es nicht richtig, und für die Geschichte hat es keinen Wert. Nun also —
gegenüber den großen Fortschritten der Naturwissenschaften und der darauf
gebauten Erfindungen und Einrichtungen zur Erhöhung unsrer materiellen
Wohlfahrt (und, fügen wir hinzu, gegenüber den-Fortschritten einiger andern
Wissenschaften) spielen doch Kunst und schöne Litteratur im letzten Drittel
unsers Jahrhunderts eine gar kümmerliche Rolle. Das ist nicht etwa
die Auffassung einer bestimmten Partei unter den Litteraten oder überhaupt
einer Tendenz, sondern es wird durch jenen Vergleich so offenkundig, daß es
merkwürdig wäre, wenn nicht auch eine spätere, von jeder persönlichen Be¬
fangenheit freie Geschichtsbetrachtung zurückblickend hier eine große Lücke an¬
setzen sollte. Man wird dann wohl sagen: Für Dichtung hatte man in Deutsch¬
land seit 1870 nicht mehr das allgemeine Interesse wie früher, und das war
der Anlaß, daß keine bedeutenden Talente mehr zur Entfaltung kamen,
vielleicht wird man auch den Satz umkehren, jedenfalls aber wird man, da
man ja einmal immer für alles Fehlende nach Ersatzerscheinungen sucht, dann
eine ungewöhnlich große Menge guter populär geschriebner Bücher aus alleu
Wissensgebieten vorfinden, einen Reichtum, wie ihn in der That kein früheres
Menschenalter gekannt hat. Die diese Bücher wenn auch nicht gerade für das
Volk im Büchnerschen Sinn, so doch für Leser von sehr verschiednen Kennt¬
nissen und Ansprüchen geschrieben haben, sind zum Teil selbständig schaffende
Schriftsteller, wie bis vor kurzem etwa Freytag, Riehl, Treitschke; sie sind auch
älter als die jüngsten Dichter und meist lange vor 1870 geboren, schon
weil sie zu ihrer Aufgabe auch etwas älterer Kenntnisse bedurften. Aber
trotzdem machen sie nicht den Eindruck der Dekadenz, den die Dichter geflissent¬
lich kundgeben, und in ihren Gliedern fühlen sie keine Ermüdung, womit diese
so gern kokettiren. Sie sind also die eigentlichen Positiven, die Optimisten,
deren eine jede Zeit bedarf. Für sie hat auch die müde Frage nach dem
Ende des Jahrhunderts keinen Sinn, am allerwenigsten aber kommen sie sich
vor wie Statisten am Sterbelager eines Jahrhundert; das überlassen sie gern
den kranken Dichtern. Unser politisches und wirtschaftliches Leben, das seit
dreißig Jahren so manchen Beweis seiner Kraft gegeben hat, ist also nicht
mehr von den Dichtern begleitet, weil diese nicht mehr Schritt halten konnten,
dafür aber von einer sich kräftig entwickelnden, innerlich gesunden populären
Schriftstellerei, deren Arbeit weiter geht, unbekümmert um die Jahreseinschnitte
des Kalenders. Sie kann darum auch im neuen Jahrhundert sich gleich
bleiben und dieselbe Bedeutung für die Zeit haben wie im alten.
meer den zahllosen Fischarten ist die Seezunge (floh'im) besonders
hervorzuheben. Weniger befriedigen die sehr beliebten triZlis,
die unsern, an der Ostsee durchaus mißachteten Rotaugen ent¬
sprechen. Die eigentlich nationale Zubereitungsweise des Fisches
ist das Sieden in Öl. In den öffentlichen Garküchen an den
Straßen oder auf Volksfesten, wie in der Johannisnacht vor
der Lateranskirche in Rom, oder beim Schweinefest in Grottaferrata, kann
man sich reichlich davon überzeugen. Ist das Öl rein und die Herstellung
sauber, so schmeckt das Erzeugnis ausgezeichnet; leider treffen diese beiden
Voraussetzungen gerade bei jenen für die niedrigen Volkskreise berechneten Gar¬
küchen häufig nicht zu, und die dabei sich entwickelnden Düfte haben es wohl
bewirkt, daß sich in weiten Kreisen unsrer deutschen Hausfrauen ein starker
Widerwille gegen das Kochen in Öl festgesetzt hat. Bekanntlich haben aber
die besten Pariser Köche nur ein mitleidiges Lächeln, wenn man ihnen von
diesem Widerwillen erzählt; und es dürfte sicherlich keine deutsche Dame von
seinem Geschmack geben, die nicht in, einer guten Trattorie von der Grund¬
losigkeit ihrer Abneigung „gegen das Öl überzeugt worden wäre. Hat man
erst erfahren, was gutes Öl beim Kochen bedeutet, dann kehrt man nach der
Heimfahrt nur betrübten Herzens zur Butter zurück. Läßt mau,, sich den Fisch
in Wasser kochen, so nimmt man auf der Tafel selbst frisches Öl und frische
Citronen hinzu, eine Zusammenstellung, die man in Deutschland recht wohl
nachahmen könnte; Zander z. B. schmeckt in dieser Form ausgezeichnet.
Den Hummer vertritt sein größerer Vetter, die inAULtg.. Kundige wollen
behaupten, daß das Fleisch beim Hummer feiner sei. Ich habe mich diesem
Urteil niemals recht anschließen können, da ich ragnsta stets mit besonderm
Wohlbehagen verspeist habe, zumal wenn sie mit einer so vortrefflichen, schweren
Eier- und Ölmayonnaise gereicht wird, wie meist in Italien. Daß man auch
beim Einkauf dieses Gerichts handeln muß, sei nur beiläufig erwähnt. Man
wählt sich am Büffet den Fisch oder die raguLtg. aus und vereinbart den Preis.
Im größten und berühmtesten Fischristorante Roms wurde uns einst für eine
i'ÄMstg. sechs Lire abverlangt, ich schlug diese Forderung rundweg ab und
erhielt das mächtige Schalenticr in aller Freundschaft für dreiein viertel Lire.
Für zwei Personen bildet das prächtige Geschöpf eine völlig ausreichende
Nahrung, im Norden wird man bei einem größern Eßgelage eine raZusts. auf
vier Personen zu rechnen haben. Ein gewaltiges Vieh derselben Gattung ist
der leonö all miirs (Seelöwe), der indes seltner ist und von mir nicht erprobt
werden konnte; ich habe ihn nur ein einzigesmal, auf dem Fischmarkt von
Anziv (Antium) gesehen.
Austern sind billig, das Dutzend kostet ein bis zwei Lire. Mau soll sie
indessen nur mit Vorsicht genießen und in Neapel während des Sommers un¬
bedingt vermeiden, da dort die Hauptausternbmik unmittelbar vor der berühmten
oder — berüchtigten Straße Santa Lucia liegt und durch deren Ausflüsse ver¬
unreinigt wird. Größere Ristoranti haben ihren eignen ostrie^so, einen Mann,
der in den Wirtschaften mit Austern, gleichsam hausirend, umhergeht, für frische
Ware zu sorgen hat und sie beim Verkaufe zurecht macht. Sehr beliebt sind
die truttg. al wars (Meeresfrüchte), Muscheln u. ä., die mit großer Schnellig¬
keit vom Meeresgrunde abgelesen werden. Auf einer Gondelfahrt nach dem
schönen armenischen Kloster San Lazzaro wurde ich Augenzeuge eines solchen
Fanges; es war Ebbe, ein Fischer stand in der Lagune und brachte mit den
Händen derartige Mengen zu Tage, daß ich für wenige Soloi einen großen
Haufen erhielt. Nach Venedig zurückgekehrt, wußte ich natürlich nicht, was ich
mit meinem Fange beginnen sollte; in der Trattorie machte man aber, als man
meine Verlegenheit bemerkte, sofort ohne Entgelt alles zurecht und beschämte
dadurch die norddeutsche» Gastwirte einmal wieder recht sehr, die es meist als
Beleidigung betrachten, wenn Speisewaren vom Gast mitgebracht werden;
nur in München oder in Baiern überhaupt begegnete ich in dieser Beziehung
einer ähnlich weitherzigen Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit wie in Italien.
Unter Ij'ruttii all eng.rs erfreuen sich die Pidoechi (lülg. «üapxruziua) eines be¬
sonders guten Rufes; es sind längliche schwarze Muschel», deren Inhalt mit
reichlich Öl und etwas Pfeffer ähnlich der Auster geschlürft wird.") Zu den
streng nationalen Genüssen, denen sich der Fremde nicht ohne weiteres hin¬
geben wird, gehört das massenhafte Vertilgen gekochter Schnecken in der Jo-
hannisnacht; da werden vom Abend bis zum frühen Morgen auf dem großen
Platze vor der Lateranskirche in Rom unzählige Mengen der kleinen Tiere ans
offnen hell lodernden Feuern zurechtgemacht und mit Hilfe von Stecknadeln,
mit denen man die Schnecken aus ihren Gehäusen herausholt, verspeist. Auch
zum Tintenfisch (eins,ni^o). der im lebenden Zustande bekanntermaßen that¬
sächlich eine tintenartige Flüssigkeit erzeugt, wird man erst nach längerm
Aufenthalt in Italien ein freundschaftliches Verhältnis gewinnen. Er wird
in der Pfanne gebacken, seine zahlreichen Rüssel werden dabei zu harten Ge¬
bilden, die abgeschlagnen Henkeln von Porzellangefäßen gleichen; wie ungeheuer
beliebt er aber in den untern Schichten ist, kann man bei Volksfesten hin¬
länglich beobachten. Die Neapolitaner Straßenjungen bieten sich sogar gegen
Gewährung eines Soldos an, ein derartiges Vieh lebend zu verzehren; es ist
freilich nicht gerade ein sehr ästhetisches Vergnügen, zu beobachten, wie das
große polypenartige, schlammwciche Tier mit seinen vielen, fortwährend in
Bewegung befindlichen Fangrüsfeln langsam in den Schlund der braunen
Buben hinuutergleitet.
Von sonstigen Zwischengerichten nenne ich in erster Linie die gefüllten
Gemüse. Wir kennen diese Art nur bei Weißkohl, in Süddeutschland auch bei
Tomaten. In Italien ist sie mehr verbreitet; außer bei den Tomaten, den
herrlichen xomi et'oro, die bei allen möglichen Speisen als Zuthat verwandt
werden, ist sie bei den ^nvolrini gebräuchlich. Das sind kleine längliche un¬
reife Kürbisse von feinem Geschmack; ihr Inneres wird ausgehöhlt und mit
gehacktem Fleisch gestopft, eine Delikatesse, die sich sofort das Herz des Aus¬
länders erobert. Als echt nationale Zwischengerichte erwähne ich ferner die
Eierkuchen (krittat») mit allerhand Zuthaten, wie Artischocken (oarLioü), ^uoeuini,
grünen Erbsen (xisolli), verschiednen Grünzeug iverclurs) - El Ge¬
müse werden vor dem Kochen gemengt und darnach zusammen in der Pfanne
gebacken, ein ganz vortreffliches Gericht. Bei dieser Gelegenheit sei das tritto
(in der Pfanne mit Öl gebacken) erwähnt, meist als liMo inisto, d. h. Leber,
Hahnenkamm, Artischocken, Kalbsgehirn und ähnliches, in lauter einzelnen kleinen
Stücken zusammen vereint.
Unter den Gemüsen ist selbstverständlich die Artischocke Königin; sie gedeiht
in großen Mengen und reift in der Campagna felice bei Neapel auf den Feldern
schon zur Weihnachtszeit. Sie wird in allen Formen auf den Tisch gebracht,
von denen ich schon zwei nannte. ^11' sdrva, in Öl, ist eine besonders be¬
liebte Art, doch für unsern Geschmack nicht recht geeignet. Im übrigen ge¬
wöhnt man sich sehr an die prächtige Frucht und vermißt sie schmerzlich auf
deutschem Boden. Lrooeoli, ein feiner, dein Blumenkohl verwandter Kohl,
ist gleichfalls eine sehr angenehme Besonderheit der italienischen Küche- Der
wirkliche Blumenkohl, meist mit brauner Butter genossen, steht hinter seinen
deutscheu Brüdern an Güte weit zurück; bei eifriger gärtnerischer Pflege würden
sich gewiß bessere Ergebnisse erzielen lassen. Schlimmer noch verhält es sich
mit der Spargelkultur; die Italiener lassen gleich den Franzosen die Stengel
ruhig aus der Erde herausschieße», wodurch allein die Köpfe genießbar bleiben.
Mau unterscheidet asparagi all A'in'äirw, Gartenspargel, und g.sxg,raZi al o^m-
MMn, Feldspargel; die letztern sind billiger als jene, aber immer noch viel
teurer als in Deutschland/ Spinat aus italienische Art, d. h. ungewiegt, ist
für unsre Zunge nicht geeignet; man erhält ihn aber auch Attu. K'g,ne,68v, d. h.
so wie bei uns. Zu einer ganz reizenden Pastete verarbeitet, im Verein mit
Hühnerlcbern, Eidottern und ähnlichen Zuthaten, erschien er einmal in Siena.
Oefters kommen es,?s, unsre Saubohnen, auf die Tafel, sowie tasioliiii, grüne
Bohnen, letztere in unvergleichlicher Güte. Grüne Erbsen, xisslli, werden meist
in Wasser gekocht, die weiße Butter wird uuzerlassen aufgelegt, wie dies ja
auch bei uus mehr und mehr Sitte wird; zur Kräftigung des Geschmacks
werden beim Kochen mitunter kleine Schiukenstückcheu hinzugefügt. Unsre Ge¬
müsetunken, die wir beim Blumenkohl usw. kennen, fehlen oder sind selten.
Sauerkraut wird von Deutschland eingeführt; der Name wird beibehalten und
klingt natürlich ganz köstlich in italienischem Munde, durch den er die wunder¬
lichsten Umgestaltungen erführe. Von größter Zartheit find die Zwiebelchen
(dpollwe, eixollLtte), die im ganzen in brauner Butter bereitet werden und
den stärksten Gegensatz zu der Gemeinheit unsrer Zwiebeln bilden. Kartoffeln
lxawts) sind selten und werden so teuer bezahlt wie gutes Gemüse; sie werden
wohl meist in gebratener Form gereicht, Peli- oder auch Salzkartoffeln dürfte
der Italiener nicht kennen. ?olcmtÄ, Maisbrei von gelber Farbe, das bekannte
Nahrungsmittel der armen Leute, schmeckt nach nichts und bedarf für unsre
Zunge einer fetten Zuthat.
Am wenigsten entspricht die Bereitung des Fleisches unsern Voraussetzungen.
Die Italiener meinen, und gewiß mit Recht, daß ihr warmes Klima den Genuß
fetter Speisen nicht zulasse, weil sie das Blut noch unnütz erhitzten. Das
Schlachten von Schweinen während des Sommers kennt man nicht, der große
Schweinemarkt von Grottaferrata am 25. März, ein Volksfest von unverfälschter
Eigenart, hat neben der kirchlichen Bedeutung (Maria Verkündigung) den wich¬
tigern wirtschaftlichen Sinn, daß jeder sich hier bei Einbruch der warmen
Jahreszeit hinlänglich mit gepökeltem Schweinefleisch u. tgi. in. versieht; man
findet hier also gleichsam eine vermittelnde Vorstufe zu dem ägyptisch-jüdischen
Verbot jeglichen Schweinefleischverbrauchs. Unter derartigen Umständen hat
man bei einer Jtalienfahrt jeden Wunsch nach einem einfachen Stück saftiger
Rinderbrust von vornherein zu unterdrücken. Das nmnM dvllito (gekochtes
Fleisch) ist fast durchweg trocken, man bestelle sich deshalb nmniio nrniäo
(feuchtes Fleisch), d. h. mit einer kräftigen Tunke. Das lnuz w'Wlcko (dosuf
or!U8v) ist bald gut, bald schlecht. Auch stullMrm (Ragout) wird nicht immer
Erfolge erringen. Recht annehmbar sind die Nieren, ebenso häufig erscheint
Kalbskopf auf der Speisekarte.
Bei den Braten (arrosto) fehlt durchweg die Tunke, die man gern durch
frische Citronen ersetzt. Wirklichen Rinderbraten erinnere ich mich nicht er¬
halten zu haben, wohl aber öfters guten Kalbsbraten. Der Schweinebraten
wird nur in Sizilien gerühmt. Roastbeef our ganz verschieden, das einemal
Leder, das andremal des vornehmsten englischen Koches würdig. Beefsteak
(bistövog,) herzustellen wird der Italiener wohl niemals lernen; es ist wahrhaft
bemitleidenswert, was sich unsre südlichen Freunde unter diesem Gericht vor¬
stellen. Noch bemitleidenswerter aber sind die von unsern Landsleuten, die
sich auch in Italien nicht von ihrer holden Gewohnheit losreißen können, in
einem Speisehaus ausschließlich entweder Beefsteak oder Schnitzel zu bestellen.
Ich entsinne mich noch einer sehr drolligen Szene im altbewährten Neptun zu
Visa; ein deutsches Ehepaar, das in keiner Beziehung für eine italienische Reise
reif erschien und uns gegenüber Platz nahm, bestellte sich Fleischbrühe und Beef¬
steak mit Kartoffeln. Die Suppe erregte schon gewaltige Verstimmung; als aber
gar das zähe Beefsteak kam, gerieten die beiden in helle, unbeschreiblich komische
Wut und schauten zwischendurch mit einem aus Neid, Ärger und Staunen
gemischten Blick zu uns herüber, vor denen sich nach einander die verschiedensten
delikatesten Sachen aufbauten. Kotelette wird ähnlich wie bei uns zubereitet,
verliert aber wegen seiner Magerkeit allen Reiz; -Als, M1g.noLv, nach Mailänder
Art, ist es in Italien für uns am angenehmsten. Kalbsleber giebt es ge¬
braten und gekocht, meist gut. Den wirklichen Nativnalbraten geben die armen
Lämmer (g-griolli) und Zicklein (e^prstti) her, die in Massen geschlachtet werden
und, in ganzer Länge aufgehängt, eine ständige Erscheinung in den Fleisch¬
lüden sind. Das Wild ist spärlich vertreten, da es kein Jagdschutzgesetz giebt.
Auf Hase und Reh kann man deshalb ziemlich Verzicht leisten. Beliebt ist
Wildschwein (vüigllmlö), namentlich als agro-clolos, süß-sauer, mit Rosinen,
Mandeln usw. Unter dem Geflügel ist die Gans sehr selten, häufiger die
Ende und Taube. Hühner werden von den Fremden viel verlangt und ver-
zehrt; doch waren die von mir bestellten so dürftig, daß ich vor weitern Er¬
fahrungen auf diesem Gebiete nur warnen kann. Eine breite Stelle im Genu߬
leben der Italiener nehmen bekanntlich die Singvögel ein, die in ungeheuern
Mengen abgefangen und hingemordet werden, besonders wenn sie im Herbst
von unserm Norden nach dein Süden fliegen, oder wenn sie im Frühjahr
zurückkehren. Der stolz geformte hohe Monte Pellegrino bei Palermo z. B. ist
während der angegebnen Zeit nachts über von jagdlustigen Bürgern dicht
übersät, die mit ihren Büchsen ein wildes Geknalle veranstalten. Diese Grau¬
samkeit gegen die Tierwelt gehört zu den unerfreulichsten Eigenschaften des
Jtalieners, liegt aber in seiner ganzen Stellung zur Natur und in seiner ge¬
schichtlichen Entwicklung tief begründet, wie dies Viktor Hehn in seinem klassischen
Werke über Italien meisterhaft dargelegt hat. Im übrigen muß man bedauer¬
licherweise zugestehen, daß die Tierchen — ich nenne die Lerchen (loäolo, Moclolö),
Wachteln (augg'Ils) und Krammetsvögel (torcii) — ausgezeichnet schmecken und
in der That eine unvergleichliche Delikatesse sind.
Kompot hat man wenig, anch ist es verhältnismäßig teuer und nicht
allzu verlockend. Nur Pfirsiche erscheinen häufig auf der Speisekarte. Salat
(insalki-eg.) ist dagegen allgemein gebräuchlich, und zwar in sehr großer Ab¬
wechslung; die langblüttrige Latuga, die krause Endivie, der treffliche Brveeoli-
kohl, Spargel usw. werden bevorzugt. In der Regel bereitet man sich die
Mischung von Salz, Pfeffer, Essig und Öl selbst. Daß hierbei mit Olivenöl
in diesem Lande nicht gerade sparsam umgegangen wird, pflegt häufig das
Entsetzen frisch cmgekommner deutscher Hausfrauen zu erregen, bis auch sie
bald gewahr werden, daß viel Öl die wichtigste Voraussetzung eines guten
Salats bildet.
Dem Braten folgt ein süßer Nachtisch. Hier offenbart sich die volle
Meisterschaft des italienischen Kochs: denn Mischgerichte, die ohne Hast in
liebevoller Behaglichkeit hergestellt werden können und keinen Verzicht auf
würdevolle Ruhe erheischen, sind sein eigentliches Feld, ebenso Pasteten und
Füllungen aller Art. Das cloles spielt daher bei allen Mahlzeiten eine große
Rolle. Neben den zahlreichen Torten hebe ich die üuxpa inZl68s, eine sehr
süße, schwere Speise hervor.
An frischen Früchten erscheinen je nach der Jahreszeit in buntem Wechsel
Weintrauben, rotfleischige Granaten, Birnen, Äpfel (diese schlechter als bei uns),
die reizenden süßen gelben japanischen Mispeln, grüne und getrocknete Mandeln,
frische und trockne Feigen, Maronen, Orangen, Nüsse, Erdbeeren (besonders
schön am Nemisee, der Perle des Albanerge'birges) und Kirschen. Man thut
indessen gut, die Früchte beim Straßenverkäufer oder im Laden zu erwerben;
sie sind hier um die Hälfte oder ein Drittel billiger und meist besser als in
der Trattorie, und man hat dabei die Annehmlichkeit des Aufsuchens. Die
Orange bezahlt man mit 1 Soldo (^ 4 Pfennige), in der Hauptzeit giebt es
stets zwei für 1 Soldo oder drei für zwei; in Oberitalien erhält man häufig
ebenso saure Stücke wie bei uns; je weiter man nach dem Süden vordringt,
um so süßer und aromatischer werden sie. Fußwandrer seien auf die An¬
nehmlichkeiten aufmerksam gemacht, die die reifen Limonen (Citronen) bei
kräftigem Marschieren als Durststiller bieten; man lernt erst im Süden kennen
und schätzen, was für eine herrliche Frucht die Limone ist. Das übrige Obst
wird meist pfundweise verkauft, wobei nicht verschwiegen werden darf, daß trotz
des Reichtums an Früchten das Obst oft erbärmlich schlecht ist; einer für¬
sorglichen Landeskultur bleiben hier noch wichtige Aufgaben zu erfüllen.
Käse ist bekanntlich stets ein guter Magenschluß. Er wird in Italien
meist ohne Butter genossen, da diese nur in geringer Menge und Güte her¬
gestellt und verbraucht wird. Der Fremde wühlt natürlich zunächst Schweizer¬
oder Holländerkäse (den-mag-Zio 8viMöro, olNiäs8k); doch wird er schon nach
kurzem die einheimischen Erzeugnisse vorziehen, vor allem den vorzüglichen
Gorgonzola (oüm<zö noch unentwickelt, klebrig weiß; vvräo grün, ganz ähnlich
dem Roquefort) und deu Stracchiuo, einen feinen Weichkäse ans Oberitalien,
ähnlich dem Gervais, dagegen die Vorliebe des kleinen Mannes für den oaevio
al c,g,VÄlIo wohl nur ausnahmsweise teilen. Parmesanküse (I^Migmiic») ist in
ungeriebnem Zustande (Farbe wasfergrün) für uns zu hart. Will man gründ¬
liche Studien über den italienischen Käse treiben, so muß mau in Rom in das
1'iLtorg.mes -ü Leine« gehen; hier werden, wenn man nach der übrigen Mahlzeit
noch Käse bestellt, für ein sehr geringes Geld sechs riesige Schüsseln, jede mit
einer andern Art, ans den Tisch gebracht, von denen man ganz nach Belieben
zulangen kann. Wie bei uns werden Radieschen, die übrigens in Italien vor¬
züglich gedeihen, gern beim Käse verzehrt, dazu als sehr begehrte Besonderheit
die Fenchelwnrzel (ünvooliio), ein langes, feines zwiebelartiges Gewächs, das
neuerdings in Deutschland bei Festmahlen eine gewisse Verbreitung gefunden hat.
Nun zu den Getränken! Nach der italienischen Generalstatistik ergiebt
sich, daß auf Wein rund 98^/z Prozent, auf Bier Prozent und auf Schnaps
gleichfalls Prozent aller in Italien genossenen geistigen Flüssigkeiten fallen.
Das gewaltige Überwiegen des Weines wird den Fremden nicht überraschen,
der offnen Auges dnrch das Land fährt. Ohne daß sich der Bauer sehr sorgen
und quälen muß, reifen die Beeren in üppiger Fülle an den unzähligen Reb¬
stöcken. Einem wilden Labhrinth gleichen mitunter die Weinberge, die sich
überall und überall finden. Häufiger aber offenbart sich in ihnen der fein-
geschulte gärtnerische Sinn des Volkes. Wie weiß man in Toskanci die Rebe
von einem Maulbeerbaum zum andern über die Gemüsefelder hinwegzuziehen!
Es ist ein wahres Paradies, das der Bauer auf diesem dreifach gesegneten
Boden hervorzaubert. Und wie herrlich sind die unendlichen Weinlauben, die
mittelst großer Granitpfeiler und darauf gelegter Holzlatten an den Südab¬
hängen der Alpen hergestellt werden! Hier ist es wahrlich eine Lust, zu leben,
zu wandern und zu trinken! Allerdings gleichen diese Weinfelder noch einem
ungehobnen Schatz, da sich die eigentliche Bereitung und Pflege des Edelsaftes
durchaus nicht mit der in Deutschland (dessen Wcinerzengung von Italien um
das achtfache übertroffen wird) und in Frankreich messen kann. Noch wird
sehr wenig mit der Kelter gepreßt. Die Leute meinen, und vielleicht haben
sie nicht ganz unrecht, daß das Getränk, wenn man es auf die alte Weise mit
den Füßen herstelle, eine viel ursprünglichere Feinheit im Geschmack erhalte;
sie vergessen aber, daß die größte Sorgsamkeit nötig ist, wenn man es dauer¬
haft und versandfähig machen will. Daher kommt es, daß der italienische
Wein an Ort und Stelle meist ausgezeichnet schmeckt, sich aber nur wenig
Jahre hält und eine Verschickung auf größere Entfernung nicht verträgt.
Die Anfänge zu einer Besserung dieser Verhältnisse sind gemacht; sie sind,
von einigen verunglückten Versuchen abgesehen, so verheißungsvoll, daß sie in
jedem andern europäischen Kulturlande schon längst eine thatkräftigere Fort¬
setzung erfahren Hütten; aber der italienische Landmann ist konservativ bis über
die Ohren und entschließt sich schwer zu Neuerungen in der Wirtschaft. Andre
Ursachen, deren Erörterung zu weit führen würde, kommen hinzu, und so hat
es geschehen können, daß der größte Nationalbesitz unsrer südlichen Bundes¬
genossen noch sast zinslos brach liegt. Man muß diesen Sachverhalt im
Auge behalten, wenn man in Italien Wein trinken will. Voll horazischer
Begeisterung pflegt sich der Deutsche, wenn er nach Rom kommt, als erste
Bekundung seiner klassischen Bildung eine Flasche Falerner zu bestellen; er
erhält sie auch, die Gefühle aber, die ihn bei ihrer Vertilgung und gar am
nächsten Morgen beschleichen, sind nicht sehr geeignet, seine Verehrung für den
bisher als Autorität betrachteten trinklustigen Sänger des Altertums zu er¬
höhen. Nein, niemals gepfropfte und etikettirte Flaschenweine verlangen,
sondern stets den vino äst Mösv (Landwein) frisch vom Faß in Karaffen oder
im ftrohumflvchtnen Fiasko wühlen, das sei die goldne Grundregel für alle
durstigen Seelen! Wie auf andern Gebieten, so gilt es vornehmlich auf diesem,
sich den Gebrüucheu des Landes anzupassen. Der Durchschnittsitaliener kennt
unsre Sitte des Flaschenversandes durchaus nicht, er hält es darum für kein
Vergehen (von einzelnen Ausnahmen natürlich abgesehen), den Fremden, der
so merkwürdige und seltsame Forderungen stellt, dementsprechend zu bedienen.
Leider hat die Weiupantscherei um einigen Orten Italiens infolge hoher
städtischer Eingangszölle (<jg.Äo o(M8unio) schon einen recht bedenklichen Umfang
angenommen, und dadurch hat sich sogar schon die Zunge der einheimischen
Römer und Neapolitaner verschlechtert und vergröbert. Im allgemeinen wird
man aber für ganz Italien als Grundsatz hinstellen können, daß man in einer
von den Eingebornen stark besuchten Wirtschaft guten, in den Hotels und
Restaurants der Fremden dagegen schlechten Wein zu erwarten hat. Je ein¬
facher die Schenke, je „echter" ihre Einfassen, um so herrlicher das Getränk!
Man sei deshalb nicht zu prüde und scheue sich nicht vor den rotweingefärbten
Tischtüchern der Wirtsstube oder vor der Armseligkeit der Kleidung ihrer
Stammgäste, man überwindet derartige an sich berechtigte Bedenken bei näherer
Kenntnis schneller, als man glauben sollte. Der Wein ist, wie gesagt, vor¬
züglich, und für die Vernachlässigung des Äußern entschädigt reichlich die Wahr¬
nehmung, die man gerade bei diesen Gelegenheiten machen kann, wie selbst dem
gewöhnlichsten Römer artiges Benehmen und guter Takt eigen sind, und wie
die Jahrtausende alte Kultur dieses Landes ihre veredelnde Wirkung bis in
die niedrigsten Schichten des Volkes nnsgeübt hat. Mir ist diese Beobachtung
von so viel Damen aus unsern ersten und vornehmsten Familien bestätigt
worden, daß ich sie mit voller Sicherheit als unumstößliche Gewißheit hin¬
stellen darf; so oft sie einen Becher Wein als Erfrischung in derartigen Wirt¬
schaften getrunken haben, haben sie sich stets der größten, fast weltmännischen
Zuvorkommenheit zu erfreuen gehabt. Freilich wird man gut thun, gewisse Vor¬
sichtsmaßregeln nicht außer acht zu lassen. Man wird das Glas nochmals
ausspülen und ausschwenken und sich gelegentlich die Gunst erbitten, beim Ein¬
schenker des Weines aus dem Fasse in die Karaffe zugegen zu sein, damit
nicht der Teufel der Versuchung an die Wirtin herantritt und sie Wasser
hinzugießt. Aber um Gottes willen kein Mißtrauen zeigen! Das würde ver¬
letzen und nichts nützen. Und man darf nicht vergessen, daß man selbst das
größte Vertrauen bei diesen Leuten genießt. Wenn wir von irgend einem
unbewohnten Hügel, z. B. vom berühmten Atems L-z-ohr oder vom Scherbcn-
berg bei Rom deu Sonnenuntergang bei einem Glase Wein genießen wollten,
so nahmen wir uns aus einer Osterie eine Karaffe Wein und Gläser mit
und erhielten sie, obwohl wir ganz unbekannt waren, ohne Bezahlung und
ohne Pfand; die Leute zweifelten nicht einen Augenblick, daß wir das Gerät
richtig zurückbringen und dabei den Wein bezahlen würden. In Deutschland
wäre derartiges, wie jeder zugeben wird, unmöglich!
In Rom und Umgegend trinkt man in erster Linie die Weine der Castelli
Romani, der traumhaft schön gelegnen Bergstädtchen in den benachbarten
Gebirgen. Persönlich möchte ich den göttergleichen Frascatiwein bevorzugen.
Marino ist pastos, dick und schwer, Genzano wieder süffiger, Velletri
feurig. Die Weine, die einige Meilen nördlich von Rom wachsen, haben viel¬
fach einen Muskatellergeschmack; unter ihnen könnten die von Orvieto und
Montefiascone als Nachtischweine bei den Fürstentafeln ganz Europas Eingang
finden. Beiläufig bemerkt ist Montefiaseone der Ort, wo sich nach dem
bekannten Gedichte ein deutscher Ritter zu Tode getrunken hat, nachdem ihm
sein vorausrcisender treuer Knappe den dortigen Wein durch ein doppeltes
Usk als alles bisher dagewesene übertreffend angekündigt hatte. Das Gedicht
hat eine gewisse geschichtliche Grundlage. Vor zweihundert Jahren schrieb
schon ein Schulrektor in Havelberg eine sehr gelehrte Abhandlung über die
Frage, ob es wahr sei, daß sich einst ein deutscher Bischof in Italien zu
Tode gesoffen habe. Zu seiner Zeit war also ein Bischof der Held der Über¬
lieferung. Thatsächlich aber, und davon kann sich ein jeder in der Kirche« des
Stüdtleins selbst überzeugen, ist es ein Augsburger Domherr namens Johannes
Fugger gewesen, der die große Ruhmesthat vollbracht hat; seine Grabinschrift
verkündet es frank und frei: Lst, est, <zst, proptsi' uiiuium gst, die ^o-Muss
6s I'ne, 6^viuiuu8^ lusus, mortuus est. — Außerdem erscheinen in Rom während
des Winters Schiffe, die mit sizilianischen Weinen vollgeladen sind; sie landen
an der Engel- oder Nipettabrücke und liegen solange vor Anker, bis der Inhalt
ihrer Fässer leergezecht ist. Es kneipt sich recht behaglich an Bord dieser
Meercsdurchsegler, und die Preise sind sehr müßig, das teuerste war Wohl
Marsala mit 75 Centestmi für das halbe Liter.
Und endlich gelaugt in Rom vielfach der in ganz Italien sehr beliebte
Chianti zum Ausschank. Es ist dies ein Sammelname für die bei Florenz
wachsenden feinern Rotweine (weißer Chianti ist sehr selten), abgeleitet von
dem Namen des Ortes, der die besten Lagen hat. Er kommt, im Gegensatz
zu den Weinen der Castelli Romani, durchgängig in den Fiaschi, den großen
Schilf- und strohumflochteuen malerischen rundbanchigen Flaschen, auf den Tisch,
die genau zwei, und einen halben Liter fassen und in ihren langen Hülsen
durch flüssiges Öl anstatt eines Pfropfens gegen die Luft abgeschlossen werden.
Der Preis dieser Weine ist selbstverständlich vom Ausfall der Ernten ab¬
hängig, der Fiasco Chianti kostet in Rom meist 3^ bis 4 Lire, während von
den übrigen Weinen das halbe Liter in den städtischen Wirtschaften mit 40 bis
60 Centestmi berechnet wird. Über die Straße kostet ein Fiasco einheimischer
Wein bester Qualität in der Regel nur IV- Lire! Vor den Thoren, wo kein
Zoll erhoben wird, ist der Wein natürlich bedeutend billiger als in der Stadt;
hier zahlt man auch in den Wirtschaften meist nur eine halbe Lira für den
ganzen Liter. Die kleinen Osterien haben vor der Thür zur Ankündigung des
Preises lediglich Zahlen hängen; findet man z. B. die Ziffern: 4, 5, 6, so
bedeutet das, hier giebt es Wein, das halbe Liter für 4, 5 und ö Soldi (ein
Soldo 5 Centestmi, die unausrottbare Rechnungseinheit der kleinen Leute).
Noch ursprünglicher fand ich diese Art der Kundgebung in San Felice, einem
kümmerlichen Neste auf dem Vorgebirge der Circe; dort wurde vor den Wein-
schänken durch Anbringung von Zweigen oder weißen Papierdüten angedeutet,
ob es in ihnen Rot- oder Weißwein gäbe; die Zahl der Tuten und Zweige
sagte den Preis an. An unsrer kleinen Osterie z. B. hingen zwei Tuten, das
hieß: hier giebt es Weißwein, das halbe Liter für vier Soldi, — Sehr über¬
raschend sür uns ist der Brauch, daß man einen Fiasco oder eine Karaffe
nicht zu leeren braucht. Man genießt nach Belieben und berechnet dann
schätzungsweise den Betrag des getrunkuen Weines.
Von Terracina ab beginnt nach Süden zu ein, wenn ich so sagen soll,
südlicherer Wein, der für uns bei weitem nicht so sympathisch ist wie der
Römische und der Florentiner. In Neapel und Umgegend trinkt man vor¬
zugsweise Weine vom Posilipp, von Capri, Ischia und Calabrien. Mit den
weltberühmten Laerimae Christi, die am Abhang des Vesuvs wachsen, wird
selbstverständlich viel Schwindel getrieben; doch habe ich das Glück gehabt,
sie durch besondre Umstände rein und in erster Güte (das ganze Liter für
eine halbe Lira) in Hereulanum zu erhalten; das war in' der That ein
Göttertrank!
Auf Sizilien genießt die Shrakusaner Gegend einen besonders guten Ruf
wegen ihrer Weine. Eine Weltbedeutung aber haben die großen Weiufabrilen
in Marsala. Die wichtigsten von ihnen sind die von Jnghcim, Florio (die
größte) und Woodhouse (gegründet 1773), die neben einander in der Nähe des
Hafens liegen, und von denen eine immer langweiliger aussieht als die andre —
langgestreckte, weißgetünchte, fensterlose Häuser. Ungeheure Mengen von Wein
werden hier verarbeitet. Damit er versandfähig wird, erhält er einen Zusatz
von Sprit. Früher wurde hierzu ostdeutscher Kartoffelsprit genommen; da
dieser aber nenerdings durch Zollerhvhungen zu teuer geworden ist, so stellt
man sich seit mehreren Jahren selbst einen Weinsprit her, der selbstverständlich
noch bessere Dienste thut. Das Verhältnis der Mischung ist etwa so, daß
mau auf das Hauptverkaufsmaß, die Pippa, die ungefähr 400 Liter enthält,
6 Liter Sprit rechnet. Aller drei Monate muß der Wem kräftig geschüttelt
werdeu. Aufbewahrt wird er nicht in Kellern, sondern in mächtigen, großen
hallenartigen Schuppen oberhalb der Erde. Neben dem erfreulichen Anblick,
den die dort lagernden Massen gewähren, fesseln beim Besuche der Fabriken
vornehmlich die trefflichen, maschinenmäßig betriebuen und sehr wesentlichen
Reiuigungs- und Spülvorrichtungen für die Gefäße. Der zum Verkauf ge¬
langende Wein ist nicht unter drei Jahren alt, in der Regel zählt er fünf bis
acht Jahre. Älterer Wein wird sehr hoch bezahlt; da wir dort gute Beziehungen
hatten, wurde uns zwanzigjähriger vorgesetzt, der geradezu herrlich schmeckte.
Die Preise für die gangbarsten Sorten stellen sich auf 395 bis 720 Lire für
die Pippa; dazu kommen das Faß mit 18 Lire, die Fracht nach Deutschland
mit 20 Mark und der deutsche Zoll. Es werden auch ^, '/., , ^ und
Vis Pippeu an Private verkauft; die ^ Pippa (also etwa 50 Liter)' kostet
55^/z bis 96^ Lire, dazu 4 Lire das Faß. Ich teile diese Zahlen mit, weil
der Marsalawein in Deutschland recht beliebt ist und der Bezug unmittelbar
von der Quelle manchem angenehm sein wird. Persönlich mache ich mir aus
diesen gespritetcu schweren Weinen nicht viel, sondern schwöre auf die mittel-
italienischen Gewächse, die Feuer mit Wohlgeschmack, Duft und Süssigkeit ver¬
einigen. Gelingt es dereinst, sie in derselben Güte versaudfähig zu machen,
wie sie in Genzano, Frascati usw. getrunken werden, dann werden sie eine
unerschöpfliche Quelle des Reichtums für unsre welschen Freunde werden.
Zu den oberitalienischen Weinen habe ich kein rechtes Verhältnis ge¬
winnen können. Gut sind die Weine von Conegliano, Barolo (schwer) und
Valpolicella. Unter aller Beschreibung schlecht sind sie in Venedig und Um¬
gegend, sauer, trübe, teuer, unangenehm. In Oberitalien liegt auch Asti, der
Hauptfabrikationsort für den italienischen Schaumwein, ^.sti sMiuÄiits ist ein
Schlagwort, das wohl jeder Jtalienfcchrer keimt. Da es mehrere Dutzend
Fabriken in dem Nestchen giebt, so sind die Erzeugnisse von recht verschiedner
Güte. Einige Sorten bilden auch für unsern Gaumen einen wirklichen Genuß
und werden schon zu 2 Lire die Flasche in anspruchslosen Weinwirtschaften
abgegeben. Man wird diesem Fabrikationszweig noch weitere Erfahrungen
und Verbesserungen zu wünschen haben, damit er in Nordeuropa wettbewerb¬
fähig werde.
Eine Besonderheit unter den Weinen sind in Italien noch der ^.is^divo
und der vino sg-illo, aus halbgetrvckneten, ausgereiften Beeren kurz vor Weih¬
nachten hergestellt. Es sind etwas schwere und süße Nachtischweine, aber meist
von ausgezeichneter Beschaffenheit. Mir wurde das Glück zu teil, durch freund-
schaftliche Vermittlung wiederholt vino 8Mto aus den Privatkellereien Sr. Heilig¬
keit des Papstes zu erhalten; ich habe dadurch einen Maßstab gewinnen können,
welcher wunderbaren Ausbildung die Herstellungsart fähig ist, und möchte
wohl glauben, daß sie für den Versand nach auswärts noch eine größere Be¬
deutung gewinnen wird. Außer dem Wein giebt es selbstverständlich eine größere
Zahl andrer Erfrischungsgetränke. Münchner und Wiener Bier erhält mau
jetzt in allen bedeutenden Städten Italiens. In Oberitalien stellt man auch
selbst Bier her, das sich bis jetzt aber noch nicht allzuviel Boden hat erringen
können; es erfreut sich nicht gerade großer Beliebtheit.-
Im Sommer wird viel Eiswasser (sordotto und AlMta,) vertilgt, sowohl
von Apfelsinen (!Wnomt>ip, wie von Citronen (1im.on.its.). Eis in unserm Sinne
(Zgia-to) giebt es in unzähligen Arten und wird vorzüglich zubereitet; in vor¬
nehmen Cafös in Süd- und Mittelitalien erhält man lange Listen zur Aus¬
wahl vorgelegt. Weiter findet man bei Händlern auf der Straße ooooo trssoo,
frische Kokusmilch, die mir eine der angenehmsten Erinnerungen ist, die mau
aber schon in Florenz nicht mehr findet; sodann Mischungen mit Pfefferminz
(ineiiiA) u. a.
Man leidet also, nimmt man alles in allem, wahrlich keine Not in
Italien, wenn man sich nnr, wie wir zum Schluß nochmals betonen wollen,
den südlichen Sitten anzupassen bemüht, umsichtig und aufmerksam ist und
echt nationale Häuser aufsucht, in denen vorzugsweise Italiener Verkehren.")
le Welt. — Sie ist weit und groß und erscheint dem oberflächlichen
Beobachter als die Fläche eines bunten, reichen Lebens, aus dem
man bei einigem Geschick, mit Klugheit und List ausgerüstet, nach
Herzenslust sein Teil herausnimmt. Aber dabei gestaltet sich die
Welt zu einem Netz, geflochten aus Geschick, Klugheit und List, worin
mancher unrettbar hangen bleibt. Und nun gehen ihm Abgründe
auf, tief und grausig, vom Giftqualm der Leidenschaft, Eigensucht, Bosheit und
stinkender Fäulnis durchwogt, daß ihn die Verzweiflung schüttelt. Das ist die ver¬
maledeite Welt.
Unser geschichtsloscs Dörflein hat keine Mauern und verschließbaren Thore
und Schutzgräben; es liegt so blank und bloß da wie ein Lerchennest. Aber gegen
wuchernde Ausläufer der vermaledeiten Welt hat es einen Wall, über den nur der
Wind kümmerliche Keime schmuggelt. Dieser Schutzwall besteht in dem von den
Uralten vererbten Glauben und Brauch. Am deutlichsten erkennbar wird er in
Leid und Freud, bei Tod und Tanz. Da sehen und fühlen sich alle im Urerbe,
in Glauben und Brauch, als Zusammengehörige, als Zweige eines Stammes,
um denen Mitgefühl, Liebe und Treue, Humor und Witz als immergrüne Blatter
spielen.
Der 28. Oktober ist angebrochen. Im Osten verkündet ein roter Saum am
Horizont einen sonnigen Tag. Hinter einem offenstehenden Fenster des Müsers-
hnuses steht Madlene. Vom Ma'ienvlan herüber schallt das grollende Geplätscher
des Brunnens und mischt sich mit dem Schnurren des Katers ans dem warmen
Südgeltendeckel, und die Schwnrzwdlderiu streut mit ihrem Ticktack Zeitschnitzel da¬
zwischen. Aber diese einförmigen, scheinbaren Unendlichkeiten werden plötzlich über¬
tönt vom „Morgensegen," der vom Malen aus dem anbrechenden großen Tag die
Weihe verleiht. Es ist für diesen Tag die erste That der Musikanten, die' sich
geräuschlos aufgestellt haben und einen Chornl blasen. Und wer ihn hört — ob
am offnen Fenster oder noch im Bett —, faltet mit Inbrunst die Hände. So wird
durch deu Glauben der Brauch gestärkt.
Auch Madlene hat die Hände gefaltet. Ihr wird dieser Morgensegen zum
Brautsegen. Zum erstenmal als Braut sieht sie den Tag anbrechen. Über Nacht
hul der Frieder das „Jawort" geholt, und vor Weihnachten noch soll die Hochzig
sein. „Der Tag" ist gekommen, und auf dem Antlitz der Madlene steht die Ver¬
kündigung geschrieben und leuchtet durch das offne Fenster hinein in die Welt: Der
Frieder ist mein! O, ist das ein feierlicher Morgen!
Eine bedeutungsvolle Bilderreihe zieht durch die bräutliche Seele: das Mittags¬
mahl auf der verrasten Meilerstätte, die Pfingstmnien, das kitzelnde Grnshälmlein
unter der Nase des Frieder, der Pfiugsttauz, der Heimgang aus der Brattendörfcr
Schmiede, lange Leidjahre, die Hilfeleistung beim Beinbruch, die Aufstellung des
Birro und die Kassenübcrführnng, das Orakel des Einsiedler Schmiedes, die Er¬
fahrung auf dem Sichelmarkt, die Abweisung des Türkendresen, das glückliche Zu¬
sammentreffen auf dem Mühlweg — das eggertse Auge richtet sich empor zum
Himmel, und die gefalteten Hände heben sich. Aus der Tiefe der Madlenenseele
ringt sich ein Seufzer hervor und mischt sich in den letzten Akkord des Mvrgeu-
segens. Der Brunnen und die Schwarzwälderin werden nicht mehr übertönt; aber
der Fritz wetzt seine Schnurren schmeichelnd an den Fußknöcheln seiner Freundin,
deren Seufzer ihn angezogen hat. Leise, mit einer von Glückseligkeit gesättigten
Melodie dringt es über Madlcneus Lippen hervor: Ach, du lieber Gott!
Es ist Zeit, den Kleinen zu wecken zum Viehfüttern, das Wirtschaftsfeuer im
alten grünen .Kachelofen nnznschüreu, die Milch abzurahmen, dem längst muntern
Hühnervolk sei» Futter zu bringen und die Melkgeräte bereit zu halten. Madlene
beginnt ihr Morgenwerk. — Das Guten Morgen! des Kleinen, die Miene des
alten Ofens und der Milchtöpfe, das Gackern der Hühner, das Klappern des
Melkgerätes: alles anders als sonst, freundlicher, feierlich! Eine Braut im Haus,
eine Braut im Haus! Auf dem obersten Boden wirft der Hausgeist seine Zipfel¬
mütze in die Höh und lacht zum Bodenloch hinaus: Eine Braut im Haus! O, ist
das ein feierlicher Morgen!
Was der Kleine hinter den Ohren hatte, hat sich ihm vollständig aufs Herz
gelegt. Wies aber so manchen giebt, der nicht am Herzdrücken stirbt, so war in
dieser Hinsicht auch für den Kleinen jede Gefahr ausgeschlossen, obwohl bei ihm in.
den letzten Tagen, vielmehr Nächten, das Herzdrücken stark repetirte. Dem DöhlerS-
kätterle hat sichs auch aufs Herz gelegt. Aber auch ihr scheint das Herzdrücken
ungefährlich zubleiben; im Gegenteil: das Kätterle schwärzt und strahlt, als befinde
es sich äußerst wohl. Eben wird ihr der Blotzjnngfernkranz im vollen, gelben
Haar festgestellt. Halskragen, rotes Halstuch, grünseidne Schürze nud blüten-
weiße Strümpfe erzählen von Jngeudruuduug und Lebensfrische. Und im Müsers-
hans steht wahrhaftig der Kleine uni Spiegel und schlingt unter dein Kinn die
Zipfel eines nagelneuen seidnen Tuches zu eine», kunstvollen Knoten, während
Madlene einen Strauß ans Rosmarin nud Muskatblättlein am linken Brustflügel
seines „Motzens" festnäht.
Der Große steht am Fenster auf der Lauer. Er fährt plötzlich herum. Sie
kommen! sagt er.
Es kommen nämlich die Musikanten, einen lustigen Marsch blasend, anmarschiert.
Sie blase» die Blotzpaare zusammen zum Kirchgang. Die Reihenfolge bestimmt
sich nach dem Alter der Burschen. Der Älteste mit seiner Jungfer sind das eigent¬
liche Blvtzpaar, das also an der Spitze geht und in allen Stücken den Vortritt,
gewisse Ehrenbezeugungen entgegenzunehmen, aber sich anch eine gewisse Verant¬
wortlichkeit gefallen zu lassen hat.
Die Musik kommt mit den beiden ersten Paaren am Müsershaus nu: der
Kleine wird mit dem Döhlerskätterle das dritte Paar werden. Der Marsch bricht
ab, und ein Tanz beginnt und wird so lange gespielt, bis der Tänzer sich dem
Zuge angeschlossen hat. Nun wird der Marsch wieder aufgeuounuen und bis zum
Haus des Döhlerskätterle fortgesetzt, wo wieder eine mutivillige Tanzweise so lauge
lockt, bis die Tänzerin an der Seite des Kleinen erscheint. Sind die Blotzpaare
zusnmmengeblasen, wird noch der Schultheiß und der Dorfsmeister abgeholt, die
dem Blotzpnar voranschreiten. Jeder von ihnen trägt ein junges Tännchen, ge¬
schmückt mit Bändern und einem neuen bunten Tuch am Gipfel. Das Tuch wird
auch zuweilen mit einer Spitze am Hut festgenäht, sodaß es wie eine Flagge in
der Luft weht. Ebenso trägt jeder Bursche außer dem Strauße an der Brust ein
neues, seidnes Tuch am Hute, das Geschenk seiner Jungfer. Ist der Zug voll¬
ständig, so bewegt er sich feierlich mit Musik nach der Kirche; den ordnungs¬
mäßigen Schluß bildet der geputzte Wächter. Alle Kirchgnnger des Dörfleins
haben sich da, wo der Zug den Kirchweg betreten wird, aufgestellt, um ihn zu
geleiten. Nun beginnen schon die Kirinesfreudenabfälle für die Schuljugend,
wenigstens für den ärmern und auch deu dreisteru Teil. Ein paar Buben stellen
sich plötzlich vor deu Zug, der eine hüben, der andre drüben, und halten ihn auf
durch ein quer vvrgehaltues Band, umdrängt von einem Knäuel Genossen. Der
Schultheiß und der Dorfsmeister haben die Taschen mit kleinen Münzen gefüllt,
ebenso der Blotzbursch, und seine Jungfer trägt eiuen Sack Krapfen: alles zum
Auswerfen. Während der Kiuderhaufeu nach dem Ausgewvrfneu sucht, bewegt sich
der Zug ungehindert weiter. Aber bald eilt die begehrliche Masse wieder nach,
und dieselbe Szene, aber von einem andern aufhaltenden Paar veranlaßt, wieder¬
holt sich, und so geht es fort, auch auf dem Heimwege, bis die Taschen und der
Krapfensack leer find..
In jedem der drei zur Kirche gehörige« Dörfer ist Heuer ein Maien geputzt
worden, und die Kirmcsleut eines jeden Dorfes ziehen mit Musik ins Gotteshaus
und dann auch wieder mit Musik heraus. Der Pfarrer schließt seine Predigt mit
einer kräftigen Ermahnung zur Mäßigkeit in Freud und Lust, vornehmlich
aber zur Friedfertigkeit, weil Kirmesprügel keine seltne Würze für das Fest sind.
Nach dem Gottesdienst wird der Plan bezogen. Alle, die zum ordnungs¬
mäßigen Zug gehören, bilden einen Kreis um deu Maien, und vom Schultheißen
an bis hinunter zum Wächter hat jeder einen Trinkspruch auszubringen mit drei
Trunken, von denen jeder mit einem Vivnt! begleitet ist. Der geputzte Schenk
mit weißem Fürtuch hat mit seiner „Netze" einschenkend und kredenzend die
Runde zu machen. Den ersten Spruch hat der Schultheiß auszubringen und
darin des Landesfürsten, der Obrigkeit, der Kirchen- und Schulbeamten, der Gemeinde
und der Blotzpaare zu gedenken. Nach dem darauf folgenden Spruch des Dorfs-
meifters hat der Blotzbursch in seinem Spruch hauptsächlich den Gemeindevorstand
leben zu lassen. Man möge mit den Sprüchen des Blotzbnrschen und des Mnsers-
kleinen, die beide authentisch sind, fürliebnehmen:
Der Müserstleiue liest seinen Sprach in großer Aufregung ans seinem etwas
hoch gehaltnen Hut ab, der das Konzept birgt:
Der Kleine wurde am Rockschoß gezupft. Madlene lacht ihm zu: Wie n
Gstudirter! Aber diesmal gab er sein Siegel nicht her: er hatte seine Stirne ab¬
zuwischen.
Vom Plan bewegt sich nach Beendigung des Aktes der Zug nach dem Wirts¬
haus und ans den Tanzboden, wo das Blotzpaar erst drei Reihen allein zu tanzen
hat, worauf noch drei Reihen unter der Beteiligung aller fünf Paare folgen. Von
da aus verfügt sich dann jeder Kirmesbnrsch mit ins Huus seiner Tänzerin, wo
er als Gast zur Mahlzeit freundliche Aufnahme findet, sich mitunter aber recht
linkisch benimmt, beim Essen kerzengrad dasitzt, die linke Hand meistens unter dem
Tisch bergend. Damit schließen die besondern Zeremonien des ersten Kirmes¬
tags, dessen übrige Zeit bis in die späte Nacht hinein dem Tanzvergnügen ge¬
widmet ist.
So ist der erste Kirmestag durch Glauben und Brauch gewiß gefeit gegen¬
über der vermaledeiten Welt. Wie konnte dieser Ring denn von List, Leidenschaft,
Eigensucht und stinkender Fäulnis durchbrochen werden?
Im Müsershaus war heute das Mittagsmahl bar der geistigen Sättigung,
die es sonst gewöhnlich in sich schloß. Diese geistige Sättigung bestand am Müsers-
tisch nicht etwa in einem heitern Redeverkehr: sie lag im befriedigten Gefühl der
trauten Zusammengehörigkeit, das sich ohne viel Redens selbst genug ist. Es fehlt
aber an diesem Tisch heute der Gast des Döhlerskätterle, der Kleine. Mau denkt
ja mit Freuden seines Glücks; aber am Müserstisch ist und bleibt heute eine
gewaltige Lücke.
Der Kleine fehlt heut.
Man folles nit mein'n; aber ich kenn basi
Drei helle Glockenschläge der Schwarzwälderin erschallten. Von den beiden
nach dem Wirtshaus gerichteten Fenstern ward das eine vom Großen eingenommen,
das andre von der Madlene. Nunmehr müssen sich die Kirmespaare zum Tanz
einstellen. Die Musik ist schon auf dein Platz; die Klarinette giebt das an, und
die Geigen werden gestimmt.
Madlene ist längst über die Tischlücke hinüber und lauert heitern Antlitzes
des dritten Paares. Der Große aber ist aus der Tischlücke in eine viel größere
Lücke gefallen. Vor einem Jahr, ja! Das war halt doch eine andre Kirmes,
wenn auch ohne geputzten Maien! Wenn er ein Maler wäre: er könnte heute noch
die Kirmcsvenus malen. Die fehlt Heuer: das ist eine weitklaffende Lücke in dieser
Kirmes.
Für den Kleinen und den Frieder — dabei schielt er verstohlen nach der
Madlene — ist ja das Zeug recht. Aber ich kenn die Welt! Und sie ist mich
in Schlesien gewest.
Siehe da! Welch ein Zauberbild? Hat der Teufel sein Spiel?
Ach, du lieber Gott! Madlene wendet sich ab vom Fenster nud eilt hinauf
ins obere Stübchen zu ihren Mnskatblättlein-, Marumverum- und Rosmarinstöcken
und lockert mit einer abgebrochnen Stricknadel die Erde und zupft dürre Blätter
ab. Nun wird er wieder rebellisch. Nun gehts wieder von vorn an. Was fängt
mau an? Ach, du lieber Gott!
Der Große aber, der sich mit beiden Httuden ans die Fensterbrüstung stemmt,
fährt zurück wie vor einem niederfallenden, ihn blendenden Meteor. Blaß wie der
Tod starrt er hinaus auf die Straße. Hoch auf dein Bock eines Spielerwagens
sitzt neben einem gewaltigen Bullenbeißer die Kirmesvenus, Fräulein Hoßfeld, und
lenkt ein weiß und schwarz geflecktes Pferd nach dem Wirtshaus. Sie ist da!
Die Kirmeslücke des Großen ist ausgefüllt. Nun glüht ihm das Gesicht, und er
schlägt auf die Sandauer, daß es schallt, und nimmt drei Prisen hinter einander,
und seiue Augenbrauen wölben sich gewaltig: Das muß ich kenn!
Der Wagen hält. Die Venus wirft Zügel und Peitsche von sich und macht
vom Bock herunter einen künstlerischen Luftsprung, daß der umgeschlagne Pelz ans
einander fliegt und unter dem kurzen, roten, goldbvrdirten Röcklein die völligen
Beine in fleischfarbnem Trikot hervorleuchten, während sie vom Bullenbeißer in
einem großen Bogen übersprungen wird: ein aufdringliches Bild im Hunderahmen
zur Geschäftsempfehlung.
Guter Anfang, bravo! Das muß ich kenn!
Die in den Wurf gekommnen Kirmesleute des Dörfleins waren stehen ge¬
blieben und staunten ob des Kunststücks. Und bald summte es durch das Dörflein:
Die Spieler sind dn!
Dvmi ist aus dem Wagen gestiegen, hat einige Kästen mit klappernden Vor¬
legeschlössern herausgenommen, den Wagen wieder verschlossen und den Schlüssel
abgezogen, mit seinem weiblichen Personal die Kästen in einer Kammer des Wirts¬
hauses untergebracht, das Pferd eingestellt und kleidet sich nun in seiner Kammer
um zum hanswurstigen Ausrufer.
Schon durchstreift er, deu Bullenbeißer zur Seite, ausrufend das Dörf¬
lein. Jeder Ausrufschwall wird von einer widerwärtig schmetternden Trompeten-
fnnfare eingeleitet und geschlossen: Die weltberühmte Künstlergesellschaft Doini
und Kompagnie ist soeben eingetroffen und wird heute und morgen mit dem
Wunderbarsten und Überraschendsten aus dem Gebiet der ägyptischen Wahr¬
sagerkunst, aus der Gymnastik und Hundedressur, sowie ferner mit den neuesten
effektvvllsteu Zugstücken aus dem Französischen auf der Bühne aufwarten, wozu ein
hochgeehrtes Publikum eingeladen wird. Alles noch nie dagewesen! Von vier Uhr
an ist das ägyptische Wahrsagerkabiuett unsers Negers Rnddamaktifidibum geöffnet;
das größte Wunder der Welt! Denn jedermann kann aus der Vergangenheit und
Zukunft erfahren, was er zu wissen wünscht. Von neun Uhr ab wird die schauder¬
hafte Komödie „Chiea, oder die betrunkne Indianerin" im Saale des Gasthofs
gespielt, ein Prachtstück ersten Ranges, das begonnen hat, seinen Weg über alle
Bühnen der Welt zu macheu. Eintritt für Erwachsene vier Kreuzer, für Kinder
einen Kreuzer. Marldurchzischeude Trompeteuschlnuge.
Bald hatte sich eine große Meuge des hochgeehrten Publikums um den
Spielerwagen gesammelt, dessen Fenstervorhänge sich zuweilen ans einander thaten,
um einen grinsenden Negerkopf z» zeigen, schwarz wie Kienruß. Um vier Uhr
schmetterte die Trompete nach allen Himmelsgegenden und zeigte den Anbruch der
großem Stunde an.
Immer herrrrrcm! Raddamaktifidibnm, der große Meister ans Äthiopier, hat
vom großen Geist das Zeichen der Gnade empfangen: das Buch des Schicksals hat
sich ihm geöffnet. Immer herrrrrcm! Das größte Wunder der Welt! Noch nie
dagewesen!
Die erste Person, die sich zum Eintritt ins ägyptische Wahrsagerkabinett
meldete, war die Matthesensbärbel. Dvmi führte sie nach dem hintern Teil des
Wagens, wo eine heruntergeschlagne Treppe zu einer offen stehenden Thür führte.
Die Bärbel stieg hinauf und trat ein. Doini folgte ihr bis zur Thür, die er daun
schloß, und stellte sich auf der obern Treppenstufe gleichsam als Wache auf. Das
Murmeln der Meuge legte sich; das hochgeehrte Publikum verfiel in krampfhafte
Spannung.
Leise ward von innen nu der Thür gepocht; Domi öffnete und ließ die
Matthesensbärbel heruntersteigen. Immer herrrrran!
Die Triltschenchristel von Brattcndorf, die sich mit ihrer Lichtstube eingestellt
hat zum Kirmestcmz, verfügt sich ius Kabinett. Die Matthesensbärbel aber wird
bald erdrückt von der neugierigen Menge.
Wie wars? — Bcirbla, wie wars drin? — Weß er wos, Bärbel?
Er weß euch alles! Ha, su wos, su wos! Daß mir im Frühjvhr a Kolb
verreckt is, Hot er a gewiße; es wör verhext gewast. Ich hos sei ümmer gsogt!
Ha, su wos! Habu! Habu!
Versenkt mer na denn?
Ha, er redt grad wie mer a!
Das Kabinett war mit zwei Lampen zu beiden Seiten versehen, sodaß die
eingetretne Person auffallend beleuchtet ward. An dem kleinen Schiebfeusterchen in
der Wand zwischen dem Kabinett und dem Hauptwageurcmm fungirte Raddamakti¬
fidibnm.
Die ägyptische Wahrsagcrkunst wurde stark in Anspruch genommen. Allgemeine
Verwunderung ob der Allwissenheit des Schwarzen ergriff das Dörflein.
Der Schlesinger begehrte aber nicht, den Schwarzen für sich in die Tiefen
der ägyptischen Weisheit steigen zu lassen. sein Schönheitsgefühl bewahrte ihn vor
der stinkenden Fäulnis. Denn was in dem Kabinett vorging, war eitel Betrug,
der aber dem hochgeehrten Publikum unentdeckt geblieben ist bis auf den heutigen
Tag — mit Ausnahme des Gründe!, der das nnfgeschlagne Buch des Schicksals
entzifferte. Der Schlesinger begehrte uach Höherem; und das wollte sich uicht zeigen.
Vom Seiltänzer war ja Heuer uicht die Rede, für heute wenigstens nicht. Und so
sitzt er in der Wirtsstube unten, während draußen und droben alles in Erregung
und Lust schwärmt, in Unfrende bei seinem Glas, und das Schleheulied und das
Lied von dem in Sehnsucht vergangnen Burgfräulein zogen ihm durch den düstern
Sinn. Die Sandauer stand vor ihm, ohne daß er sie anrührte. Da that sich die
Thür ein Spältchen auf. Madlene lugte in die Stube und sah den Großen so
traurig drin sitzen allein an einem Tisch.
Der arm Kerl! Was man nur anfängt?
Husch, war sie drin und flüsterte ihm über die Achsel: Großer, geh mit auf
den Tanzboden! Tanz einmal mit mir! Du hasts meilntig noch nit mit mir
probirt.
Tanzen? Nit um die Welt! Ich keim die Welt!
So solltest du doch einmal sehn, wies der Kleine mit dem Kättcrle kann.
Ist mir alles egal! Ich kenn das.
So geh mit heim, wolln uns niederleg!
Heut nit! Und er schnupfte in Desperntion.
Nun wußte Madlene, daß sie vorläufig nichts über ihn vermöge, und ging
hinauf auf den Tanzboden. Dort wartete ihrer schon der Frieder.
Der Schlesinger war nun einmal ins Schimpfen gekommen; und dadurch
wurden aus allen Winkeln seiner Persönlichkeit die Geister der Jngend und Wander¬
schaft zusammengezogen zu einem unwiderstehlichen Aufruhr. Er steckte die Snndaner
in den binnen Frack, den er heute zu Ehren der anfgestiegnen Beruf hervorgesucht
hatte, und stürzte hinaus in den. Hausflur. Da war des Aushaltens nicht lang,
denn des Volks strömte viel ein und aus, und er wollte nicht auffallen. Rasch
wandte er sich nach dem Hintergrund, wo er sich trotz der dort herrschenden Dunkel¬
heit gut zurecht fand und bald an der Thür der Spielerkammer lauschend ver¬
harrte. Drin memorirt lant Fräulein Hoßfeld die Rolle der betrnnknen Indianerin.
Sie war ganz allein. Selbst der Bullenbeißer war abwesend; er lag Wache unter
dem Wagen drnnßeu.
Die Rolle scheint zu Ende. Nun oder nimmer! Der Schlesinger klopft leise
an. Herein! Die Thüre schließt sich leise hinter ihm, und drinnen entwickelt sich
folgendes Gespräch.
Was machst du denn, Schlesinger? Siehst dn, daß ich dich noch kenn!
O. und ich! Ich kenn die Welt!
Setz dich doch! Du könntst mir ein Glas Grog machen lassen, alter Schatz!
Ich hab die betrunkne Indianerin zu spielen, mußt du wissen.
Gleich, recht gern. Aber sag einmal, du bist doch auch in Schlesien gewest?
Kann sein, freilich! Hases wieder vergessen?
Den Grog will ich schon bestelln, aber erst — — ach! Ich brenn, ich ver¬
brenn inwendig, und ich kanns nit sagen, was es ist!
So sags doch! Nicht wahr, du liebst mich, Schlesinger?
O, und wie! Ich konnt gleich für dich sterben! Die letzten Worte sprach
der Schlesinger in großer Aufregung und sehr inne, beinahe, als befände er sich
mit der betrnukueu Jndianerin auf der Bühne.
Da wird die Thür aufgerissen. Der Neger stürzt herein. Meine Herrin
verführn? Dn Halunke, du! Und dabei faßt er den Schlesinger um Kragen und
beginnt ihm den Rücken zu blauen, d. h. die Frackfarbe auf die Haut durchzuschlagen.
Die Venus aber entfernt sich kichernd.
Laß mich gehn, Teufel du! Höllenbraten! — Erst lauf dich los, Halunk! —
Was loses? fragt der Schlesinger kleinlaut. — Fünf Thaler! Sonst sag ichs dem
Domi. Heringcgcn kannst du laufen! — Hab ich nit! — Zwei Thaler! — Hab
ich wahrhaftig auch nit. — Einen Thaler! Heringegeu schweig! — Da ist der
Thaler, laß mich los!
Der Frieder tanzte mit seiner Braut in den sanftesten Bogen, weich und
manierlich schleifend. Es war ein andres Tanzen wie vor acht Jahren. Wie glücklich
Waren sie! Ungestümer und feuriger tanzte ihnen ein andres Partein vor, und das
war auch glücklich: der Kleine mit seinem Kcitterle.
Aber daheim im Müsershaus lag der Große im Bett und stöhnte. Nicht so¬
wohl der Rücken that ihm weh, als sein Inneres. Hat sie nit gelacht, als mich
der Kerl erwischte? Kein Machtwort gesprochn — dazu gelacht und sich aus dem
Staub gemacht! Auch ein Teufel — — eine schwarze Seel! Und seine Stimm?
Und: Heringeqen! Kommt mir alles bekannt vor. Ich kenn die Welt — die ver¬
maledeite Welt!
Und fortan erhielt das Schlagwort des Großen den Zusatz: Die vermale¬
deite Welt!
(Schluß folgt)
Die kürzlich
veröffentlichten Ergebnisse der landwirtschaftlichen Betriebszählung vom 14. Juni
1395 für das Königreich Sachsen und das Großherzogtum Mecklenburg-
Schwerin (Zeitschrift des Königlich Sächsischen Statistischen Bureaus, Jahrgang
1897, Heft 3 und 4, und Beiträge zur Statistik Mecklenburgs vom Großherzog¬
lichen Statistischen Amt zu Schwerin. Dreizehnter Band, zweites Heft) haben auch
für deu größern gebildeten Leserkreis besondres Interesse, weil sie sehr wesentliche
Seiten der landwirtschaftlichen Entwicklung auf der einen Seite in einem sogenannten
Industriestaat und auf der andern in einem sogenannten Agrarstaat zeigen. Die
in neuerer Zeit lebhaft besprochne Frage der Verträglichkeit einer kräftigen Ent¬
wicklung der landwirtschaftlichen Bevölkerung und des landwirtschaftlichen Gewerbes
neben einer sehr stark zunehmenden Industrie erhält durch diese Zahlen eine eigen¬
tümliche Beleuchtung. Es scheint darnach, als ob der Gegensatz zwischen Jndustrie-
und Agrarstaat nicht unter allen Umständen so hochtragisch für die Landwirtschaft
zu nehmen ist, wie es vielfach geschieht.
Um von der Zusammensetzung der Bevölkerung und damit von dem Charakter
des Staats — des Industrie- und Agrarstaats — ein Bild zu geben, seien zunächst
folgende Zahlen nach der Bcrnfszählung vom 14. Juni 1895 nebeneinandergestellt.
Rechnet man die Familienangehörigen ohne Hauptberuf und die Dienstboten
der landwirtschaftlichen Berufsthätigen diesen zu, so stellt sich die landwirtschaftliche
Bevölkerung in Sachsen auf 565299, in Mecklenburg auf 157 968.
Es ist dabei von der Aussonderung der nicht sehr zahlreichen rein forstwirt¬
schaftlich beschäftigten Personen Abstand genommen, und auch die der Fischerei und
Jagd obliegende Bevölkerung ist in den obigen Zahlen mit enthalten, wie dies der
Abteilung in der Berufsstatistik des Deutschen Reiches entspricht. Die Nichtigkeit
des Bildes wird dadurch sür die Vergleichung der beiden Staaten nicht beein¬
trächtigt, auch nicht bei nachstehender Betrachtung des Verhältnisses der Menschen
zur Fläche für das Jahr 1895.
Zur „Gesamtfläche" der landwirtschaftlichen Betriebe gehören außer ihrer „land¬
wirtschaftlichen Fläche" noch das Forstland (in Sachsen: 170 942 Hektar, in Mecklen¬
burg: 180815 Hektar), das Ob- und Urlaub (3479 Hektar und 29600 Hektar)
und die Haus- und Hofräume, Wege usw. (33 084 Hektar und 43 503 Hektar).
Die „landwirtschaftliche" Fläche wird gebildet durch Äcker, Wiesen, Gartenland,
Weinberge u. dergl.
Diese Zahlen lehren, daß in Sachsen nicht nur überhaupt sehr viel mehr Ein¬
wohner auf der gleichen Bodenfläche ihr Fortkommen finden als in Mecklenburg,
sondern auch sehr viel mehr Personen, die von der Landwirtschaft leben, mit ihren
Familienangehörigen und Dienstboten; ja sogar viel mehr in der Landwirtschaft
mit ihrem Hauptberuf Erwerbsthätige. Auch auf das gleiche Maß der Gesamt¬
fläche und der landwirtschaftlichen Fläche der Betriebe kommen in Sachsen weit
mehr von der Landwirtschaft haupsttchlich erhaltene und in ihr ihren Hauptberuf
findende Personen. Nun können wir zwar nicht „ziffermäßig" beweisen, daß die
Ausübung des landwirtschaftlichen Berufs im Königreich Sachsen ebenso gesundheits¬
zuträglich ist wie in Mecklenburg-Schwerin, aber im allgemeinen darf man es doch
annehmen. Man wird dann also auch ohne Gewissensbisse sagen dürfen, daß
Sachsen „pro Hektar" mehr diensttaugliche Rekruten aus der Landwirtschaft stellen
mag als Mecklenburg.
Freilich könnte die Landwirtschaft in Sachsen in so jämmerliche Zwergbetriebe
zerfallen sein, daß die Masse der in ihnen erwerbsthätigen Personen und ihre An¬
gehörigen für die Wehrkraft des Landes keinen Schuß Pulver mehr wert wären.
So etwas könnte ja vorkommen, und in der Phantasie unsrer Autiindustrielleu
scheint es oft vorzukommen. Es ist deshalb sehr interessant, die Zahlen der eigent¬
lichen Betriebsstatistik, d. h. die Angaben über die Zahl und Größe der Wirt¬
schaften in den beiden Staaten zu vergleichen. Wir stellen dabei die Zahlen von
1882 daneben.
93097
esamtzahl:193 62719292197 069 Als Betrieb ist hier die Bewirtschaftung jeder Fläche, auch der kleinsten, von
einer Haushaltung aus verstanden — ganz gleich, ob das Land im Eigentum oder
im Pachtbesitz des Inhabers ist oder als Dienstlnnd usw. von ihm bewirtschaftet
wird —, und alleiniger Ausnahme der sogenannten Ziergärten. Daraus geht hervor,
daß die Inhaber dieser Betriebe nur zum kleinen Teile Landwirte in ihrem Haupt¬
berufe sind. Die Masse der Handwerker, Arbeiter, Tagelöhner, die nebenher ein
Stückchen Acker- oder Gartenland (nur nicht bloß als Ziergarten) bestellen, siud
die Inhaber der Parzellen unter 1 Hektar, und auch von den Inhabern der Be¬
triebe von 1 bis 2 Hektar werden nnr Ausnahmen, z. B. Kunst- und Handels-
gärtuer, ganz oder anch nur hauptsächlich für sich und ihre Familien den Unterhalt
aus dieser Wirtschaft finden. Betrachtet man nun diese kleinen Parzellenbetriebe,
wie das nötig ist, für sich besonders, so fällt auf den ersten Blick ihre verhältnis¬
mäßig sehr große Zahl in Mecklenburg auf. Kein Mensch wird glauben, daß dort
die Parzellenwirtschaft größer und noch dazu so viel größer ist als in Sachsen.
Wir werdeu später sehen, wie die Sache in Wirklichkeit steht, und daß die Statistik
immerhin recht hat. Die Zahl der Betriebe unter 1 Hektar hat in beiden Staaten
seit 1882 etwas zugenommen, in Sachsen ein klein wenig mehr als in Mecklen¬
burg, die Wirtschaften von 1 bis 2 Hektar dagegen haben der Zahl nach etwas
abgenommen. Im ganzen machten die Betriebe bis 2 Hektar im Juni 1895
in Sachsen 60,10 Prozent und in Mecklenburg 68,2 Prozent aller Betriebe aus.
Die Betriebe von 2 bis 100 Hektar bezeichnet man gewöhnlich als die „bäuer¬
lichen," und sie machen 1895, wie wir sehen, in dem Industriestaat 39,51 Prozent
und im Slgrarstaat 20,4 Prozent aller Betriebe ans, und zwar die Mittelbauer-
wirtschafteu vou 5 bis 50, Hektar dort 23,93 Prozent, hier nur 8,9 Pro¬
zent. Sehr zurück tritt Sachsen, aber nicht weil es Industriestaat ist, hinter
Mecklenburg in den Großbetrieben mit mehr als 100 Hektar. Um davon ein
richtiges Bild zu bekommen, ist es vor allem nötig, den Anteil der Größenklassen
an der Fläche zu betrachten. Wir können uns dabei mit der Gesamtfläche begnügen.
Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Betriebe
Man sieht, daß die weniger zahlreichen Parzellenwirtschaften bis 2 Hektar
in Sachsen ein Fläche denen in Mecklenburg bedeutend überlegen sind, aber
ganz besonders springt die Überlegenheit der sächsischen Bauernwirtschaften gegen¬
über den mecklenburgischen, und umgekehrt das Vorherrschen der Großbetriebe in
Mecklenburg im Vergleich mit Sachsen in die Augen. Die eigentlichen Bauern-
wirtschaften von 2 bis 50 Hektar nehmen 1895 in Sachsen 74,18 Prozent der
Gesamtfläche der Betriebe in Anspruch, in Mecklenburg nur 27,2 Prozent; die
Fläche der Großbauern von 50 bis 100 Hektar ist in Sachsen schon weniger aus¬
gedehnt als in Mecklenburg, und die sächsische» Großbetriebe umfasse» gar nur
14,51 Prozent der Gesamtfläche, gegen 61,0 Prozent in Mecklenburg. Es kann wohl
kaum bestritten werden, daß diese Zahlen, so wie sie vorliegen, sür Sachsen sehr viel
günstiger sind mis für Mecklenburg, sofern ma» das Vorwiegen der bäuerlichen Wirt¬
schaften gegenüber den Zwerg- wie den Großbetrieben überhaupt als Vorzug anerkennt.
Sehr viel kommt nun aber bei der Abwägung der sozialen und wirtschaftlichen
Bedeutung des Anteils der verschiednen Größenklassen der Betriebe an der Zahl
und Fläche überhaupt auf das Besitzverhiiltuis an, worin die Betriebsinhaber zum
Grund und Boden stehen. Daß bei den kleinen Parzellenwirtschaften das Pacht¬
land überall eine große Rolle spielt, ist ganz natürlich und an sich nicht ohne
weiteres als ungesund zu bezeichnen, aber gerade was die soziale Bedeutung des
landivirtschaftlichen Grundbesitzes der Arbeiter und kleine» Handwerker anbetrifft,
wird man zugeben müssen, daß der Eigenbesitz unendlich viel wertvoller ist als der
Pachtbesitz, und noch weit mehr mis z. B. der Besitz — wenn man so sagen darf —
der Gutstagelöhner an Deputatland. Bei den mittlern Bauernwirtschaften tritt
das Pachtverhältnis und ebenso andre derartige Nutznießungsrechte in Deutschland
überall weit zurück hinter dem Eigenbesitz, und man wird dies als einen ent-
schiednen Vorzug anzusehen haben, z. B. den Verhältnissen in England gegenüber,
wo gerade die mittelgroßen Betriebe mit geringen Ausnahmen Pachtbetriebe sind.
Bei den Großbetrieben ist in Deutschland im allgemeinen der Pcichtbcsitz etwas
stärker vertreten als bei den Bauernwirtschaften. Wo er überHand nimmt, deutet
dies auf Zunahme des sozial und wirtschaftlich nicht erfreulichen sogenannten „Ab-
sentismns," d. h. daß sich die Eigentümer der Landwirtschaft und dem Landleben
entfremden, oder daß die Güter in den Besitz in der Stadt wohnender Nichtlandwirte
übergehen. Was die Zahl der Betriebe, nach dem Besitzverhältnis an Grund und
Boden unterschieden, betrifft, so werden folgende Zahlen für 1395 ein ungefähres
Bild geben. Die Größenklassen sind aber nicht getrennt.
Unter Halbscheidland ist das gegen einen Ertragsanteil überlassene Land ver¬
standen; es ist, wie man sieht, von ganz untergeordneter Bedeutung. Bemerkens¬
wert ist vor allem das Überwiegen der Betriebe mit ausschließlich eignem Lande
in Sachsen gegen Mecklenburg, und umgekehrt die große Zahl der reinen Pacht-
und vollends der reinen Depntatbetriebe in Mecklenburg. Beide Unterschiede mache»
sich hauptsächlich bei den kleinen Parzellenbetrieben bis 2 Hektar geltend. Von
100 Betrieben bis 2 Hektar bewirtschaften nämlich im
Schon diese Zahlen geben Aufschluß über die große Verschiedenheit der sozialen
und wirtschaftlichen Bedeutung der Parzellenbetriebe in Sachsen lind Mecklenburg,
und zwar entschieden zu Gunsten der sächsischen Verhältnisse. Das Deputatland als
Bestandteil des Arbeitslohns der Gutsarbeiter — es besteht vielleicht in einigen
Furchen Kartoffeln, die von der Gutsherrschaft mit bestellt werden — hat an sich
einen hohen Wert für die ländlichen Arbeiterverhältnisse, aber es ist, wie schon an¬
gedeutet, ganz und gar nicht in Parallele zu stellen mit dem kleinen Eigenbesitz
des Arbeiters, auch des landwirtschaftlichen, nicht einmal mit dem Pachtland.
Über die Fläche nach dem Besitzverhältnis giebt nachstehende Übersicht Aufschluß.
Es ist dabei das Halbscheid-, Deputat-, Dienst-und Gemeindeland zusammengefaßt.
Im ganzen hat das Eigenland in Sachsen einen geringern Anteil an der Ge¬
samtfläche als in Mecklenburg; umgekehrt steht es mit dem Pachtlande. In den ein¬
zelnen Größenklassen ergiebt sich aber ein wesentlich andres Bild. In allen Größen¬
klassen, mit Ausnahme der Großbauern und der Großbetriebe, ist der Anteil des Eigen¬
lands an der Gesamtfläche der Größenklasse in Sachsen größer, und zwar meist sehr
beträchtlich größer als in Mecklenburg, und wieder umgekehrt bei der Pachtfläche.
Auf die wichtige Frage einzugehen, welchen Einfluß die Freiheit oder Ge¬
bundenheit des landwirtschaftlichen Grundeigentums auf die betriebsstatistische Ent¬
wicklung hat und gehabt hat, muß außerhalb des Rahmens dieser Skizze bleiben.
Auch auf die damit zusammenhängenden sehr verschiednen Verhältnisse in den drei
sogenannten politischen Landesteilen des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin,
dem Domcmium, der Ritterschaft und Klöster und dem städtischen Gebiet, kann
hier nicht eingegangen werden. Sehr erwünscht wäre es sicher, wenn die Landes¬
statistiker auch die rechtliche Qualität, Freiheit oder Gebundenheit der Betriebe und
der Flächen bei der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik eingehend berücksichtigten,
in Sachsen vor allein den Bestand an geschlossenem Gutsareal und der Fläche
der wälzenden Grundstücke nach dem Gesetz von 1843. Hoffentlich werden die
Ergebnisse der großen Berufs- und Betriebszählung von 1895 zu gründlichen
Forschungen in dieser Richtung Anregung geben.
n diesen Tagen erneuert sich das Andenken an das „Sturmjahr"
1848/49 besonders lebhaft, an die Zeit, wo der von Frankreich
kommende Anstoß auch in Deutschland morsche Verhältnisse ohne
ernsten Widerstand umwarf, überall die Führer der parlamen¬
tarische» Opposition aus Staatsruder brachte, mit einem Schlage
eine ganze Anzahl populärer Freiheitswünsche erfüllte, die Neugestaltung , der
einzelstaatlicheu Verfassungen auf „breitester demokratischer Grundlage" ver¬
anlaßte und zugleich zu dem Versuche trieb, die Gesamtverfassung der Nation
auf parlamentarischem Wege zu erneuern, den lockern Staatenbund in einen
Bundesstaat umzuwandeln. Gleichwohl kann das Jahr 1898 kein Jubiläums¬
jahr sein, und keine nationale Feier wird den 18. März oder den 18. Mai 1843
oder den 28. März 1849 verherrlichen. Denn von jenen „Märzerrungenschaften"
blieben wenige erhalten, andre wurden erst später wieder erkämpft, und die
volkstümliche Einheitsbewegung scheiterte vollständig.
Es ist heute völlig klar, warum es so gekommen ist. Zunächst war es
eine kaum lösbare Aufgabe, zugleich die Verfassungen der Einzelstaaten und die
der Nation umzugestalten, oder wie man damals sagte, zugleich die „Freiheits¬
frage" und die „Einheitsfrage" zu lösen. Denn da die große Mehrzahl der
Meuscheu für schwere staatsrechtliche Fragen gar kein Verständnis hat, so
standen von Anfang an für die popnlüre Empfindung die „Frciheitsfrageu"
weitaus im Vordergrunde, und von einer nationalen Leidenschaft, wie sie vor
und nach. 1859 die Italiener beseelte, war in Deutschland 1848/49 keine Spur
vorhanden. An eine Vernichtung der bestehenden Einzelstaaten dachte kein
Mensch, auch die republikanische Minderheit nicht, und die populäre Weisheit
kam doch schließlich auf das berühmte Wort des biedern oldenburgischen
Bauern heraus: „Wir wollen die Republik, aber mit unserm Großherzog an
der Spitze." Daher gab es neben der konstitnirenden Frankfurter National¬
versammlung eine ganze Reihe andrer konstituirender Versammlungen in den
Einzelstaaten, die völlig unbekümmert um einander und schließlich auch um
das Frankfurter Parlament die „Freiheitsfrage" jede auf ihre Weise zu lösen
versuchten. Begann man doch auch in Frankfurt, ungewarnt durch das Bei¬
spiel der französischen Nationalversammlung von 1789, das Verfassungswerk
mit der Beratung der „Grundrechte" des deutschen Volkes.
In der damaligen Lage war es freilich kaum möglich, anders zu ver¬
fahren — und das ist auch, damals wie später, immer zur Begründung an¬
geführt worden —, denn man wußte noch nicht einmal, auf welchen Gebiets¬
umfang diese Bestimmungen und die zu beratende Reichsverfassung Anwendung
finden sollten; man wollte also Gesetze schaffen, ehe man wußte, wo die
Grenzen des Staates, für den sie gelten sollten, sein würden. Eben darin
liegt der zwingende Beweis, daß das erste deutsche Parlament zu früh kam,
daß das deutsche Volk für die Einheitsbewegung innerlich noch nicht reif war.
Erst seit dem Oktober 1848 begann es klar zu werden, daß Österreich einem
deutschen Bundesstaate, den man doch schaffen wollte und schaffen mußte,
nicht angehören könne. Damit aber war im Grunde die Unmöglichkeit, die
„deutsche Frage" auf dem eingeschlagnen parlamentarischen Wege, also ohne
Gewalt, zu lösen, unwiderleglich erwiesen, denn daß die österreichische Gro߬
macht ohne Zwang ihre Stellung in Deutschland aufgeben werde, konnte nnr
der Doktrinarismus erwarten, und es ist geradezu das wesentlichste Verdienst
des Frankfurter Parlaments, in einem großartigen dialektischen Prozesse das
Verhältnis Österreichs zu einem deutschen Bundesstaate gründlich aufgeklärt
zu haben.
Aber noch mehr: die volkstümliche Einheitsbewegung und mit ihr die
große Mehrheit der Paulskirche stand theoretisch nach den noch fortwirkenden
und vor allem in Frankreich herrschenden Theorien des Naturrechts auf dem
Boden der Volkssouveränität, sie wollte demnach den Fürsten die von ihr ge¬
schaffne Verfassung einfach aufnötigen. Sie verkannte also die monarchischen
Traditionen Deutschlands, die starken konservativen Kräfte vornehmlich des
Ostens und die Bedeutung der thatsächlichen Macht. Das war begreiflich,
denn die Regierungen hatten im Mürz 1848 nirgends nachhaltige Kraft ge¬
zeigt und auch die Nationalversammlung widerstandslos anerkannt; selbst in
Preußen hatte das Königtum zwar den Berliner Aufstand am 18. März mit
seinen treuen Truppen niedergeschlagen, war aber dann doch schwächlich zurück¬
gewichen. So entwarf man eine Verfassung ohne nur zu wissen, ob der
Monarch, von dem das Gelingen doch schließlich abhing, der König von
Preußen, sich auf ihren Boden stellen und ihre Durchführung übernehmen
würde. Nur eine Partei war sich völlig klar und daher entschlossen, von der
Nationalsouveränität praktisch rücksichtslosen Gebrauch zu machen, das war die
republikanische Linke, und sie ging ganz folgerichtig zur offnen Revolution
über, als die Regierungen im April 1849 die Reichsverfassung verwarfen.
Ihr völliger Sieg würde das Prinzip der Bolkssouveränität auch in Deutsch¬
land durchgesetzt und die parlamentarische Republik auch hier begründet haben,
ein auf alle Fälle möglicher Teilsieg im Süden und Westen aber hätte die
Nation auseinandergerissen, denn niemals hätten sich der Norden und der Osten
einer solchen Verfassung gefügt.
An der Souveränität der größern Einzelstaaten, an ihren monarchischen
und militärischen Kräften zerschellte nicht nur die republikanische Bewegung,
sondern auch die Reichsverfassung und das Frankfurter Parlament. Aber
wenn dies daran eine schwere Schuld trug, so trifft die andre Hälfte der
Schuld die deutscheu Fürsten und in erster Linie den mächtigsten von ihnen,
den König von Preußen. Daß Österreich sich der Paulskirche widersetzte, war
nur in der Ordnung, denn sein Staatsinteresse forderte das; daß Friedrich
Wilhelm IV. nicht rechtzeitig, d. h. im Frühjahr 1848, die Leitung der natio¬
nalen Bewegung ergriff, war ein schwerer Fehler, denn es lief gegen das
Interesse seines Staats; daß er am 3. April 1849 die Kaiserkrone ablehnte, war
in dieser Lage nicht mehr zu vermeiden, denn er konnte niemals die Souverä¬
nität der Paulskirche anerkennen, ohne die Grundlage der deutschen Monarchie
aufzugeben. Es ist das Entscheidendste, was der König überhaupt gethan hat.
Freilich ging diese Entscheidung wie die ganze Haltung des Königs weniger aus
der klaren stantsmünnischen Erwägung hervor, mit der damals Bismarck ein
„Einschmelzen der preußischen Krone" verwarf, als aus seinem mittelalterlich-
romantischen Doktrinarismus, der ebenso wenig wie die Mehrheit des Frank¬
furter Parlaments die Notwendigkeit der Trennung von Osterreich und die
Unmöglichkeit begriff, Österreich anch nur in der Weise zum friedliche» Verzicht
auf seine historische Stellung zu bewegen, daß es ihm als „deutschen König"
die Heergewalt im ganzen außerösterreichischen Deutschland überließ, die er doch
wollte. Aus diesem Doktrinarismus geschah es auch, daß der König die
lebendigen Kräfte und Bedürfnisse der Nation verkannte und in der neuen Kaiser¬
krone, die ihm die edelsten Männer Deutschlands antrugen, nichts anders sehen
wollte als ein Werk der gottlosen Revolution, als „einen Reif ans Dreck und
Letten gebacken." Daß endlich die europäische Lage, die Mißgunst Frankreichs
und Englands, die unverhüllte Feindschaft Rußlands, die Gegnerschaft Öster¬
reichs die Neugestaltung Deutschlands aufs äußerste erschwerten, das sah der
König deutlicher als die Abgeordneten in Frankfurt, und er wußte, daß er
nicht der Mann sei, auf dem Schlachtfelde eine Kaiserkrone zu erringen.
Also fanden sich die politischen Kräfte, deren Zusammenwirken allein die
deutsche Gesamtverfassung schaffen konnte, 1848/49 nicht zusammen, sondern
sie arbeiteten gegen einander und verdarben den Erfolg. Erst als das deutsche
Bürgertum auf den Traum der Volkssouveräuitüt verzichtet hatte, als ein ent-
schlosseuer und klarer Wille die Leitung übernahm und die Schwierigkeiten der
europäische» Lage zu überwinden verstand, gelang die Bereinigung dieser Kräfte,
und auf dem festen Grunde des preußischen Staats und der deutschen Mon¬
archie erwuchs als eine folgerichtige Weiterbildung der eigentümlichen Ent¬
wicklung Deutschlands, nicht als eine Verwirklichung unhistorischer und im
aum hatte uns Herr Professor Dr. Julius Wolf in Vreslau mit
dem ersten Teil eines Aufsatzes über „Illusionisten und Realisten
in der Nationalökonomie" aufgewartet, da erschien auch schon der
zweite der Strafprofesforen, Herr Reinhold in Berlin, mit einem
Vortrag über Illusionen in der Sozialpolitik auf der Bühne.
Das Thema seines am 9. Februar im Berliner „Sozialwissenschaftlichen
Studentenverein" gehaltenen Vortrags lautete: „Assoziation, Gewinnbeteiligung,
Gewerkverein — drei Illusionen der modernen Sozialpolitik." Wir haben ihn
nicht selbst gehört, und ein vom Redner autorisirter Bericht ist uns bisher
nicht zu Gesicht gekommen. Was wir davon wissen, stammt aus dem aus¬
führlichen Bericht des „Reichsboten" vom 15. Februar, den das Blatt mit
einem längern kritischen Leitartikel begleitet. Hoffentlich wird Professor Rein¬
hold recht bald mit einer urkundlichen Darlegung seiner Theorien vor die
Öffentlichkeit treten. Er wird als ein aus der juristischen Praxis zum sozial¬
politischen Lehramt berufner Strafprofessor unser dringendes Verlangen darnach
sicher am besten begreifen. Jetzt ist Herr Wolf nun auch mit dem zweiten
Teile zum Vorschein gekommen, worin er seinen Optimismus gegenüber dem
Pessimismus des Herrn Reinhold noch ein wenig mehr ins Licht rückt. Es
ist ja zunächst ein ganz unterhaltendes Bild, was sich uns bietet: der Straf¬
professor in Vreslau als geistreicher Prophet des sozialen Optimismus, der
Strafprofcssvr in Berlin als womöglich noch geistreicherer Sänger des Pessi¬
mismus. Aber man muß doch auch alles Ernstes darnach fragen, was da
sür die soziale Praxis, an der uns Geistesarmen alles liegt, schließlich heraus¬
kommen kann. Vorläufig sind die Aussichten auf eine befriedigende Beant¬
wortung dieser Frage noch immer recht trübe. Doktrinarismus gegen Doktri¬
narismus auf der Mensur, vielleicht in inöniwin. Aber das deutsche Volk
hat ein Recht zu fordern, daß Ernst gemacht wird. Die sozialistische Verrannt¬
heit muß heraus aus der Praxis und aus den Hörsälen, ehe die Sozial-
demokmtie und der Kathedersozialismus unsre Arbeiter ganz zu Narren und
zu vaterlandslosen Gesellen gemacht hat. Wir haben erfahren, was in der
Sozialpolitik das Katheder anrichten kann. Statt dem Frieden zu dienen, hat
man in der Theorie die Unzufriedenheit gelehrt und in der Praxis jede Zu¬
friedenheit vernichtet.
Was Herr Professor Reinhold über die Assoziation gesagt hat, war
— wenn der Bericht uns recht belehrt — nicht gerade neu und wichtig. Daß
nur Illusionisten von ihr die Lösung der sozialen Frage erwarten konnten,
und daß thatsächlich die Prodnktivassoziationen von Arbeitern mit verschwin¬
denden Ausnahmen mißglückt sind, ist sicher der Zuhörerschaft am 9. Februar
gerade so bekannt gewesen, wie auf der andern Seite die Thatsache, daß Bürger
und Bauern, Gewerbetreibende und Landwirte die ihnen einzeln fehlende
Kapitalkraft durch genossenschaftliche Selbsthilfe auch schon vor der Befruchtung
durch die Miquelsche Zentralgeuossenschaftskasfe in Preußen vielfach mit großem
und dauerndem Erfolge zu ersetzen versucht haben. Aber Reinhold hat recht:
für die Arbeiter ist die Assoziation als Mittel, ihnen neben dem Lohn auch
den Unternehmergewinn zuzuwenden, bisher eine Illusion gewesen und wird
eine Illusion bleiben, solange die Arbeiter Arbeiter sind. Auch dem, was der
Herr über die Gewinnbeteiligung gesagt haben soll, ist nicht zu widersprechen.
Es ist eine Illusion, zu glauben, daß die Gewinnbeteiligung jemals in den
gewerblichen, kaufmännischen oder landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisfen die
Regel werden könne. Sie wird immer die seltene, die Regel bestätigende Aus¬
nahme bleiben, die von den persönlichen Eigenschaften der Beteiligten und von
der besondern Art des Geschäfts abhängt. Was aber drittens der Herr Professor
von den Gewerkvereinen hält, ist weniger klar ausgedrückt und muß etwas näher
besehen werden. Vielleicht liegt das auch an unsrer Quelle, vorläufig müssen
wir uns an sie halten. Wiederholt hat darnach der Vortragende seinen Zu¬
hörern die beruhigende Bersichernng gegeben, daß er eigentlich ein warmer
Freund der Arbeiterkoalitionen sei, die den Kampf uns Dasein regeln wollten.
Er scheint ja auch der Schulgerechtem Ansicht zu sein, daß sich durch sie in
England immer mehr „ein System der Übereinstimmung zwischen Arbeitgebern
und Arbeitnehmern herausgebildet" habe. Er scheint sogar durch eine Anzahl
„durchaus berechtigter" Streiks die Überzeugung gewonnen zu haben, „daß die
Arbeiter unter Aufraffung aller sittlichen Kräfte, die die allerhöchste Hoch¬
achtung verdient," gegen ihr trauriges Geschick angekämpft hätten, so im Kon-
fektionsarbeiterstrcik, im Hamburger Hasenarbeiterstreik, im Aufstand der eng¬
lischen Maschinenbauer. Die Gewerkschaften, meint er, seien Institute, von
denen man hoffen könne, daß sie den Arbeitern in ihren Lohnkämpfen gute
Dienste leisten würden. Es sei ihnen zu wünschen, daß das Vorurteil der
Unternehmer falle, und daß sie sowohl wie die Regierungen ihre „gegensätzliche
Stellung" aufgaben. Sie böten ein Mittel, das freie Spiel der Kräfte wirklich
walten zu lassen und dahin zu wirken, daß so weit wie möglich ein gegen¬
seitiges Auskommen erzielt werde. Wir hätten bei dem großen Aufstand in
England gesehen, in welchen ruhigen, gesetzlichen Formen er trotz der größten
Gegensätze verlaufen sei. Zum Schluß hätten die Unternehmer sogar freiwillig
als Gentlemen größere Konzessionen gemacht, als sie, die Sieger, zu machen
nötig gehabt hätten. Aber das helfe doch alles nichts: auch die Gewerkvereine
seien eine Illusion! Ihnen gegenüber hätte sich die eisengepanzerte Phalanx
der Unternehmervereinigungen gebildet, und diese seien doch schließlich mächtiger
als die Arbeiter und ihre „Addition von Nullen." Die Gewerkvereine könnten
nicht an gegen das dauernde Fallen der Löhne, gegen revolutionäre Verände¬
rungen der Technik und der Mode, gegen das Unterbieten des Auslands, die
Erscheinungen der Kapitalassoziation usw. „Redner betont schließlich, heißt es
in dem Bericht, daß es nicht seine Absicht sei, zum Pessimismus aufzufordern,
sondern er wolle zum sozialen Kritizismus anregen. Wenn wir auf sozialem
Gebiete Erfolge erzielen wollen, müssen wir die ganze Tragik kennen lernen."
Aber fragt mich nur nicht wie! — das hat Herr Professor Reinhold seinen
Beifall spendenden Zuhörern zwar nicht gesagt, aber er Hütte es ihnen eigent¬
lich sagen müssen. Der Kritizismus, zu dem er anregen wollte, als das ein¬
zige Positive, ist doch nicht gerade das aufklärende, alle Zweifel lösende
Wort, nach dem man sich sehnt. Und was er sonst noch gesagt hat, erst recht
nicht, obwohl das eigentlich, wie es scheint, die Quintessenz des Vortrcigs sein
sollte, nämlich folgendes: Bei der wissenschaftlichen Erforschung habe man zu
erwägen, wie weit die einzelnen Formen der sozialen Bestrebungen von dem
egoistischen Prinzip beherrscht würden. Mit einer Predigt über Brüderlichkeit
erziele man keine Erfolge. Wer glaube, mit Brüderlichkeit oder Liebe wesent¬
liche Erfolge auf sozialem Gebiete zu erringen, stehe im Gegensatz zu den Er¬
fahrungen der Jahrtausende. Von der Behandlung der Arbeiter als nicht
Gleichberechtigter müsse auch bei uns abgegangen werden, dann könne auch der
rücksichtslose, kalte, wirtschaftliche Egoismus bestehen bleiben. Auf dem Wirt¬
schaftsgebiet seien die Engländer uns immer noch überlegen. Ein englischer
Schiedsmann habe die Unternehmer davor gewarnt, die Menschlichkeit bei ihren
Verhandlungen mit sprechen zu lassen und von den rein wirtschaftlichen Rück¬
sichten abzugehen. Der das gesprochen habe, sei ein humaner christlicher Mann
gewesen, der in der wahren Erkenntnis der Ziele gesprochen habe, die der
menschlichen Gesellschaft im wirtschaftlichen Leben gesteckt seien. Auch nach
Rechtssätzen sei das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die Ver¬
teilung des Prvduktionsertrags nicht bestimmt, sondern es sei ein Arbeitsver¬
hältnis gemäß der gegenwärtigen Machtlage. Hinter dem Recht auf Arbeit
stehe die Proklamirung des sozialistischen Staats.
Man könnte zunächst Herrn Professor Reinhold fragen, wie er dazu komme,
den Unternehmern den Gewerkvereinen gegenüber ein Aufgeben ihrer gegen-
sützlichen Stellung, das heißt doch ein Aufgeben des rücksichtslosen, kalten,
wirtschaftlichen Egoismus, zu empfehlen, wenn er diesen Egoismus als das im
wirtschaftlichen Leben allein zur Herrschaft berufne Prinzip hinstellt. Aber
es kommt auf diese kleine Inkonsequenz im Vergleich mit dem ungeheuer große»
Irrtum, zu dessen Apostel sich der Vortragende — immer die Zuverlässigkeit
unsrer Quelle vorausgesetzt — gemacht hat, so wenig an, daß man sie beiseite
lassen kann. Die Hauptsache ist, daß wir hier die Quintessenz des orthodoxen
deutscheu Manchestertums der Herren Schulze-Delitzsch und Genossen, in einer
Art von wissenschaftlicher Brühe neu aufgekocht, vorgesetzt bekommen, in ihrer
ganzen bestrickenden Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit, aber auch in ihrer
ganzen Unfruchtbarkeit und Gefährlichkeit. Der „Reichsbote" hat recht, wenn
er gegen diese neue, sehr verschlechterte Auflage der sogenannten klassischen
Nationalökonomie nachdrücklichst Verwahrung einlegt als „die Anschauung des
Materialismus, wie sie bei dem Manchcstertum auf der eine« und der sozial-
revolutionären Sozialdemokratie auf der andern Seite herrscht"; nur vergißt
er dabei in christlich-sozialer Befangenheit hinzuzufügen: leider auch bei dem
Staats- und Kathedersozialismus der zur Zeit herrschenden Schule auf der
dritten Seite.
Nach der Ansicht des Manchestertums, wie sie Reinhold hier scheinbar
vertritt, kann in wirtschaftlichen Dingen und damit in dem Hauptteil der sozialen
Fragen weder die Liebe, die Brüderlichkeit, die Menschlichkeit noch das Recht
etwas helfen, also weder die sittliche Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den
Einzelnen, noch die unter Umständen mit Gewalt zu erzwingende Erfüllung
der durch Gesetz und Verordnung vom Staat vorgeschriebnen Rechtsscitzc.
Was die Rechtssütze anlangt, d. h. die sozialpolitische Aufgabe und Fähigkeit
des Staats überhaupt, so stehen die Anschauungen des Manchestertums zu
denen der Staats- und Kathedersozialisten im schroffsten Widerspruch, von der
Stellung der Sozialdemokratie hier vorläufig ganz abgesehen. Das Manchcster¬
tum bestreitet dem Staat die Aufgabe und die Fähigkeit, in seiner Rechtsord¬
nung die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu beeinflussen, insbesondre
nach sittlichen Grundsätzen. Der Staats- und Kathedersozialismus ist stolz
darauf, dem Staat diese Aufgabe und diese Fähigkeit wieder zugesprochen zu
haben, und er bedeutet in dieser Beziehung an sich entschieden einen großen
Fortschritt. Aber leider ist man aus einem Extrem ins andre geraten. Beide
Extreme sind falsch, unvernünftig und gefährlich. So falsch es ist, den Kultur-
staat zum Nachtwächterstaat zu degradiren, ebenso falsch ist es, die Sittlichkeit,
die Nächstenliebe, das praktische Christentum verstaatlichen zu wollen. Stehen
sich wegen der Aufgabe und Fähigkeit des Staats Mauchestertum, Staats¬
und Kathedersozialismus schroff gegenüber, so sind sie wegen der sozialen
Bedeutung der sittlichen Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen
und diese Pflichterfüllung, die persönliche und individuelle, ist im eigene-
lichen Sinne allein als eine sittliche zu bezeichnen — vollständig ein Herz und
eine Seele. Hier stehen die begeisterten Vertreter der verstaatlichter Sittlichkeit,
die Modesozialisten, ganz und gar auf dem Standpunkt der Herren Schulze-
Delitzsch und Genossen, und sie haben kein Recht, Herrn Professor Reinhold
einen Vorwurf zu machen.
Man mag die Jünger Schmollers oder Brentanos oder sonst eines dieser
Leuchten der modernen Staatswissenschaft ausforschen, wie man will, das
A und O ihrer Weisheit bleibt, daß von den Einzelnen nichts andres zu er¬
warten sei, als der kalte, wirtschaftliche Egoismus, und daß eben deshalb der
Staat durch Gesetzesparagraphen und Schutzleute die Sittlichkeit als seine Sache
in Regiebetrieb zu nehmen habe. Ja uns will scheinen, als ob selbst vor dreißig
Jahren, als das Manchestertum auch unter den Geheimräten noch die Herrschaft
hatte, d. h. eigentlich die Sozialpolitik überhaupt als wesenlos galt, unter den
Gebildeten wie in der Masse des Volks die Mißachtung der persönlichen Pflicht¬
erfüllung lange nicht so allgemein war und so fest saß wie heute, nachdem der
Staats- und Kathedersozialismus den Nachwuchs fünfundzwanzig Jahre lang zu
der neumodischen sozialen Gesinnung erzogen hat. Daß die einzelnen Menschen
daran schuld sein könnten, daß die Verhältnisse schlecht sind, oder daß sie selber
persönlich durch ihr Verhalten die Verhältnisse besser machen könnten, dafür fehlt
den Jüngern des Katheder- und Staatssozialismus das Verständnis fast noch
mehr als den Mauchesterleuten. Es war deshalb bei all der trostlosen Einseitig¬
keit und Oberflächlichkeit der Modestaatswissenschaft ebenso erquickend wie über¬
raschend zu hören, als auf dem letzten Evangelisch-sozialen Kongreß Adolf
Wagner endlich wieder einmal den Leuten „die Besserung von uns einzelnen
Menschen" als das wichtigste bezeichnete und die Anschauung, „die alle Schuld
wohlfeil auf die Verhältnisse schiebt," verwarf.
Scharf traf er damit den Grund- und Hauptfehler des modernen Staats¬
und Kathedersozialismus, auch wenn er vielleicht wieder nur die Sozial¬
demokraten treffen wollte. Es darf uns fortan nicht mehr täuschen, daß
Schmoller am Schluß seines Mittelstandsvortrags den üblichen Hymnus auf
die „sittlichen Kräfte der Nation" anstimmte. In Wirklichkeit kennt die herr¬
schende Schule eben nur eine Sittlichkeit der Nation, nicht die wahre Sittlich¬
keit des Einzelnen, abgesehen vielleicht von gelegentlichen Ansprüchen an die
Moral der Arbeitgeber. Bei der Masse der wirtschaftenden Personen hat diese
Schule das Gefühl der sittlichen Pflicht und Selbstverantwortlichkeit gerade
deshalb so gründlich verdorben, weil sie unter der Flagge ethischer Rücksichten
segelte.
Ohne eine Wiederbelebung des sittlichen Pflichtbewußtseins auch im
wirtschaftlichen Leben führt das Manchestertum mit dem Nachtwächtcrstaat
geradeso zum jämmerlichen Verfall unsrer Gesellschaftsordnung und Volks¬
kultur wie der Mvdesozialismus mit seinen sozialpolitisch-sittlichen Para-
graphen und Polizisten. Ohne Nächstenliebe, rücksichtsvolle Brüderlichkeit
und ohne Bekämpfung der Eigensucht im Herzen hilft die Freiheit nichts und
der Zwang nichts. Ohne eine religiös-sittliche Wiedergeburt des Volks ist die
bestehende Gesellschaftsordnung verloren, und die Proklamirung des „sozia¬
listischen Staats" erst recht der helle Unsinn. Und von diesem Gesichtspunkt
aus muß auch die sozialdemokratische Bewegung beurteilt werden. Sie hat
den Untergrund mit Manchestertum und Staats- und Kathedersozialismus
gemein in der materialistischen Verkennung der Pflichten der Einzelnen. Sie
fühlt heraus, wie furchtbar die Massen unter dieser grundsätzlichen Lieblosigkeit
leiden, und nutzt das aus. Natürlich hat sie leichtes Spiel, die Massen für
den Umsturz zu begeistern, wenn Manchestertum und Modesvzialismus ihnen
diese Lieblosigkeit als unabänderliches Verhängnis predigen. Was ohne Sitt¬
lichkeit und Liebe nach dem Umsturz wird, das kümmert den berufsmäßigen
Brunnenvergifter natürlich wenig, und die Masse fragt ihn darnach am aller¬
wenigsten.
Man kann hoffen, daß durch das schärfere Aufeinanderplatzen von Irrtum
auf Irrtum, von Extrem auf Extrem schließlich doch die Institution der
Strafprvfessoren etwas dazu beitragen wird, gesunde Anschauungen unter den
Gebildeten zu erwecken, und damit dann sicher auch im ganzen Volke. Die
Lücke, die in dem Reinholdschen Vortrage klafft, muß doch jeden, der sozialen
Fortschritt, Frieden und Gedeihen wünscht, mit dem Gefühl lebhafter Unzu¬
friedenheit erfüllen. Diese Bankrotterklärung der modernen Gesellschaft gegen¬
über dem sozialen Elend und Zwiespalt muß doch den gebildeten Praktikern
endlich die Augen öffnen, gerade so wie der Bankrott des Staatssozialismus
vom Staat selbst durch die Berufung der Strafprvfessoren anerkannt worden ist.
Wir sind weit davon entfernt, vou eiuer sittlich-religiösen Wiedergeburt
allein Besserung und Rettung zu erwarte«, aber sie muß hinzutreten als Er¬
gänzung und als befruchtender Sauerteig zu allein, was an äußern Maßnahmen
zweckmäßig erscheinen kann. Ist sie vorhanden, so wird der Mittelweg leicht
gefunden werden zwischen den Extremen, und es werden mancherlei Mittel zum
Zweck, die heute ganz oder in ihrer Verallgemeinerung bedenklich erscheinen,
ohne Bedenken angewandt werden können oder sich als unnötig erweisen.
Nun ist, wie gesagt, Professor Wolf inzwischen mit dem zweiten Stückchen
seines Aufsatzes über Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie
hervorgetreten.*) Hatte er in dem ersten Teil mit Genugthuung darauf hin¬
gewiesen, daß der Kathcdersozialismus seinem frühern Dogma, dem Ruin des
Mittelstandes, untreu geworden sei, so betont er am Anfang des zweiten Teils
ausdrücklich, daß der Kathedersozialismus und die Sozialdemokratie sich immer
noch nicht zu der Erkenntnis aufgeschwungen hätten, gerade das Gegenteil sei
das Gesetz der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, nämlich daß der Reiche ärmer
und der Arme reicher werde. Dann folgt ein Vorstoß gegen die „Illusion
von der providentiellen Rolle und der Leistungsfähigkeit der Sozialreform."
Schmoller habe kurz nach der Gründung des Vereins für Sozialpolitik gemeint,
die Sozialreform solle die Brücke schlagen über die gähnende Kluft, und es
sei auch weiter die Meinung der Kathedersozialisten geblieben, daß die sogenannte
gerechte Verteilung nicht erreicht werden könne durch die Wirkung der Freiheit
oder sogenannter natürlicher Gesetze, sondern durch die Thätigkeit des ge-
schriebnen, politischen Gesetzes, das heißt des Staats. Wolf spricht dieser
Sozialreform keineswegs jede Bedeutung ab, er meint nur: was die auf sich
gestellte Sozialreform vermöge im Vergleich zu dem, was die in der bürger¬
lichen Wirtschaftsordnung wirksamen Kräfte des technischen Fortschritts durch
das Mittel des freien Markes auf dem sozialen Gebiete leisteten, sei gering
und unbedeutend. Zur Voraussetzung habe jede Sozialresorm die vermehrte
Gütererzeugung, d. h. die durch das Erfindergenie, das Unternehmertaleut
und die steigende technische Leistungsfähigkeit der Arbeiter erhöhte Produktivität
der Arbeit. Diese Gütererzeugung sei die schöpferische Kraft, nicht der Appell
an Sittlichkeit und Bravheit, und das auch dann nicht, wenn er durch die
Thore der Parlamente dringe und sich hier zu Gesetzen verdichte. Unberechtigt
sei dieser Appell deshalb freilich nicht, nur unwesentlich.
Das ist in der Hauptsache Wolfs neuester Vorstoß gegen die herrschende
Schule., Es wird abzuwarten sein, was der Gegner antwortet. Zur Abfuhr
wird es bei dem ganzen Kampf schwerlich kommen. Wenn man darüber
disputirt, was mehr „hebt" — denn die „Hebung" der arbeitenden Klassen
und Schichten ist ja das, worum es sich handelt —, die Sozialreform oder
die vermehrte Gütererzeugung, so fehlt der geeichte Maßstab zum Messen, und
keiner der Kämpfer braucht sich für besiegt zu erklären. Die Statistik hilft
dabei gar nichts. Was soll also überhaupt bei diesen Auseinandersetzungen
herauskommen? Solange der Begriff der „Hebung" nicht klar gemacht ist, gar
nichts. Und damit sind wir bei dem Punkte angelangt, wo die Katheder¬
sozialisten die unverantwortlichste, ärgste und nachhaltigste Verwirrung und
Unklarheit in den Köpfen der Gebildeten, namentlich auch der Beamten, und
der halbgebildeter Arbeiter angerichtet haben, zugleich bei der Frage, auf der
uns in der sozialen Praxis alles ankommt: Was thut not im Interesse des
wahren Wohls der Arbeiter und damit zugleich im Interesse der Gesamtheit?
Wir wollen die Frage hier nicht beantworten, sondern wir wollen nur fordern,
daß sie bestimmt, klar und praktisch gestellt werde. Möchten die Straf-
prvfessoren dazu wenigstens etwas beitragen. Es ist hohe Zeit, denn der
Doktrinarismus der herrschenden Schule droht allmählich jede praktische Arbeit
zur Heilung der Schäden, zur Schlichtung des Streits, zur Wiederherstellung
des Friedens zu lähmen. Wir glauben den Ernst der Lage nicht besser klar
machen zu können als durch einige Mitteilungen aus dem amtlichen Jahres¬
bericht der badischen Fabrikinspektion für 1897.
Der Vorstand dieser Behörde, or. Woerishoffer, gehört bekanntlich zu
den ausgesprochnen Freunden der Arbeiterkoalitionen und der Arbeiterbewegung
überhaupt, und er gilt als eine Autorität unter den sozialpolitischen Beamten.
Der Bericht widmet der „Organisation der Arbeiter" einen besondern Abschnitt,
worin unter andern folgende Ausführungen stehen: Da im Lande den Organi¬
sationen, die sich mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter
befaßten, keine Hindernisse von den Behörden bereitet würden, so zeige es sich
deutlich, daß die der fortschreitenden Organisation entgegen stehenden Schwierig¬
keiten lediglich innere seien, die in der Sache selbst lägen. Sie seien in der
Verschiedenheit der Lage der Arbeiter und in der Art, wie diese Lage empfunden
würde, begründet. Die Verschiedenheit der Lage der Arbeiter zeige sich mehr und
mehr als die größte, nicht aber als die einzige Schwierigkeit der Organisation.
Es komme dabei viel weniger aus die Verschiedenheit in der materiellen Lage
selbst, als auf die innere Beschaffenheit dieser Lage an. Die Lohnhöhe insbesondre
spiele hier sogar eine untergeordnete Rolle. Nur die Arbeiter seien geneigt und
vielleicht auch „vereigenschaftet," Arbeiterorganisationen „in nachhaltiger Weise"
anzugehören, die, losgerissen aus festen Lebensverhültnissen, in Industriezentren
in ungenügenden engen Wohnungen zusammengedrängt seien, die aus diesen
und andern Gründen kein sie befriedigendes häusliches Leben führen könnten,
und denen die Unsicherheit ihrer ganzen Existenz, vielleicht trotz augenblicklicher
günstiger Einnahmen, zum Bewußsein gekommen sei — mit einem Worte die
prvlctarisirten Arbeiter, die „den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kultur-
entwicklung" empfinden. Auch wenn sie sich in den höhern Lohnklassen manche
Genüsse verschaffen könnten, die sich andre versagen müßten, so täusche sie dies
über die innere Natur ihrer Lage nicht hinweg. Ganz anders lügen die Ver¬
hältnisse der Arbeiter, besonders auf dem Lande, die im Zusammenhange mit
den Vevölkerungskreisen blieben, ans denen sie hervorgegangen seien. Sie seien
im allgemeinen nicht proletarisirt, auch wenn sie niedrigere Löhne bezögen als
die andern. Ans dieser Verschiedenheit der Lage gehe aber mit Notwendigkeit
eine verschiedne Denk- und Empfindungsweise hervor, die einem dauernden
Zusammengehen in gewerkschaftlichen Vereinigungen mit ihren großen An¬
sprüchen an die Hingebung des Einzelnen hindernd im Wege stünden. Nur bei
Abstimmungen, die ja keine besondern Ansprüche an die Einzelnen machten,
gäben sie vielleicht ihrem Gemeinschaftsgefühl einen bequemen und für sie wohl¬
feilen Ausdruck. Auch in den Städten seien die denselben Beschäftigungen an¬
gehörenden Arbeiter durchaus nicht alle in der gleichen Lage. In einigen
Industriezweigen komme es sogar vor, daß die Arbeiter in kleinen Betrieben
besser daran seien als die in großen Fabriken. Sie Hütten dann keine Lust,
sich einer allgemeinen Lohnbewegung oder gar einer Arbeitseinstellung anzu¬
schließen, weil ihre Lage ihren Ansprüchen genüge. Soweit sich nicht der
Mangel an Solidaritätsgefühl bei einem großen Teile der Arbeiter aus solchen
Verhältnissen erkläre, liege die Möglichkeit des Fortschreitens im ganzen in
einer Änderung der innern Beschaffenheit ausgedehnter Arbeiterschichten. Es
werde mancher Änderung in der innern Beschaffenheit der Arbeiterschaft be¬
dürfen, bis die unter den verschiedensten Verhältnissen lebenden Arbeiter geneigt
seien, sür die Gesamtinteressen ihres Standes auch dann Opfer aller Art zu
bringen, wenn sie selbst, was ja vielfach der Fall sei, kein Bedürfnis nach
irgend welcher Änderung empfänden.
Wir haben uns vergeblich bemüht, aus diesen amtlichen Raisonnements
eine praktisch befriedigende Antwort auf die uns am Herzen liegende Frage zu
gewinnen. Nichts als Abstraktion, Theorie, Doktrinarismus. Was soll der
redliche Arbeiterfreund in der Praxis, was soll vor allem der junge Beamte
damit anfangen? Wir können es keinem verdenken, wenn er, der Autorität
vertrauend, sich schließlich sagt: Die Zufriedenheit der Arbeiter ist ein Fehler;
macht sie unzufrieden, damit sie sich organisiren! Ob der Lohn hoch oder
niedrig ist, darauf kommt bei dieser allein selig machenden Unzufriedenheit gar
nichts an; auch darauf nicht, ob der Mangel eines befriedigenden häuslichen
Lebens aus ungenügender Wohnung oder andern Gründen, z. V. Leichtsinn,
Genußsucht, Roheit gegen die Angehörigen usw., herrührt. Nach dem wirt¬
schaftlichen und moralischen Verhalten der einzelnen Arbeiter, dieser Haupt-
quelle der Verschiedenheit in der Lage und im Wohlbefinden, hat der moderne
Sozialpolitiker überhaupt nicht zu fragen. Ihm muß es genügen, „wenn die
Arbeiter den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kulturentwicklung empfinden."
Die innere Natur ihrer Lage muß den Arbeitern verleidet sein, trotz mancher
Genüsse, die ihnen der höhere Lohn verschafft, wenn sie nicht an einen Spar-
pfennig denken. Wie könnte man vollends die Anerkennung der menschen¬
freundlichen Fürsorge von Unternehmern für ihre Arbeiter wünschen, Anhäng¬
lichkeit an den Arbeitgeber, ein patriarchalisch gesundes Arbeitsverhältnis
überhaupt! Wenn so etwas noch im Kleingewerbe vorkommt, so ist es eine
staunenswerte und im Grunde sehr unerfreuliche Anomalie! Wir dürfen es
den unbefangnen, im Leben erfahrnen und arbeiterfreundlichen Lesern überlassen,
selbst über diese Vorstellungen vom Arbeitcrelend und Arbeiterglück zu urteilen.
Die Herren Staatssozialisten scheinen jeden Blick für die Verschiedenheit der
moralischen Qualitäten unter den einzelnen Arbeitern verloren zu haben, nur von
der „Differenzirung" in den Verhältnissen und Schichten wissen sie zu reden.
Mögen sie das Lehrgeld vou ihren Meistern und Propheten zurück verlangen,
praktische Arbeiterfreunde werden sie erst werden, wenn sie gelernt haben, die
sittliche Persönlichkeit der Arbeiter nicht mit dem Pariamaßstab der Unzurech¬
nungsfähigkeit im Thun und Lassen zu messen, sondern in ihrer vollen Selbst-
n der Niederlage von Thciuß 1431 gegen die Hussiten zeigt
sich offenkundig die Ohnmacht des Reichs, und von da beginnt
das unaufhaltsame Sinken. In demselben Jahre erheben sich
zum erstenmale die armen Leut, und von nun an zeigt sich
die pessimistische Stimmung häusig genug in dem Wunsche,
„husfitisch" oder „schweizerisch" zu werden. Der Päpstliche Legat berichtet
über diese Bewegung nach Rom, „es sei zu besorgen, daß die Laien nach
Art der Hussiten gegen den ganzen Klerus losbrechen." Es war klar,
daß sich eine tiefe Revolution vorbereitete. I. G. Droysen charakterisirt die
öffentlichen Zustände folgendermaßen: „Aus Treue und Pflichtgefühl rechnete
niemand mehr, sie wurden von oben und von unten nicht mehr gefordert.
Zu helfen war nur durch tiefe Umwandlungen; in den Herzen der Menschen
mußte es anders werden, der Einzelne mußte aus dem niedrigen Kreis seiner
Selbstsucht und Gier emporgerissen werden, es mußte in ihm selbst das Gefühl
der Verantwortlichkeit und der Pflicht, das Bedürfnis der Erhebung und Ver¬
söhnung entzündet werden. ... Die öffentliche Macht mußte durchgreifen, den
Schwachen zu schirmen, und jedem das Seine zuweisend allen gerecht zu
werden. . . . Was sollten aber die Rechte der geistlichen und weltlichen
Herren, wenn der wesentliche Teil der entsprechenden Verpflichtungen be¬
deutungslos geworden war?"
Nur auf dem religiösen Gebiete gelangte die große Bewegung zum Siege,
auf dem feudalen und gewerblichen unterlag sie zunächst und konnte erst Jahr¬
hunderte später unter dem Schutze der erstarkten Territorialherren durchgesetzt
werden. Es ist das Verdienst der größten Hohenzollern, sich unter den Landes¬
herren zuerst und am entschiedensten an die Spitze dieser Bewegung gestellt
zu haben. Ihrem Einwirken ist es nächst der Reformation zuzuschreiben, daß
sich in Deutschland der Umschwung auf dem Wege der Reform, nicht wie in
Frankreich in einer furchtbaren Revolution vollzogen hat. Auch auf dem
kirchlichen Gebiet war es weniger die dogmatische, als die hierarchische und
wirtschaftliche Seite, in der sich alle Wünsche und Bestrebungen vereinten;
man erkennt dies ans den Pfaffenzänkereien der neuen Kirche und der innern
Reform der alten im Tridentiner Konzil.
In der kirchlichen Verfassung Deutschlands hat die eindringende Geld¬
wirtschaft die Durchschneidung und Aufteilung des kirchlichen Genossenschafts¬
vermögens bewirkt. Mehr und mehr bildet sich das Pfründnerwesen mit allen
seinen Mißbräuchen aus: die reichen Obern ziehen die Einnahmen, elende
Vikare besorgen deren Amtspflichten. Infolge davon zeigt sich die Neigung
zu Sekten, die als Ketzerei von der kirchlichen Aristokratie in brutalster Weise
unterdrückt werden. Hat es sich im Investiturstreit wesentlich darum gehandelt,
die finanzielle Grundlage der Kirche den Eingriffen der Laien zu entziehen, so
beansprucht in späterer Zeit der Papst die Verfügung über die Pfründen und
das ganze Kirchenvermögen. In den großen Konzilen protestirt die Kirche
gegen den Machtanspruch der Kurie, daß der Papst die Kirche sei; durch den
Verrat des Kaisers am eignen Reich geht der Papst in Deutschland siegreich
aus diesem Streit hervor. Nun wird von Rom aus nicht nur die deutsche
Kirche, sondern das Volk direkt ausgebeutet; diese Ausbeutung in der Form
des Ablasses giebt dann auch den Anlaß zur Empörung gegen das ganze
Kirchenregiment.
Die Anhänger der kirchlichen Reformen waren keineswegs gesonnen, außer¬
halb der alten Kirche zu stehen, aber die römische Kirchenherrschaft ließ diese
Reformen nicht zu. Vor allem war es der ungeheure Güterbesitz der Kirche
und der frevelhafte Mißbrauch dieses Besitzes, der die Gegenströmung immer
mehr wachsen ließ. Selbst Jenssen giebt zu, das Streben der geistlichen
Herren, ihren unermeßlichen Besitz immer noch zu vergrößern und ihren Reich¬
tum und Überfluß durch Pracht und Luxus zu offenbaren, habe die Unzu¬
friedenheit über die sozial-kirchlichen Zustände auch bei denen fortwährend ge¬
steigert, die keineswegs gewillt gewesen seien, sich von der Kirche und ihren
Lehren zu trennen. Wie arg die Zustände waren, mag man der einen That¬
sache entnehmen, daß die Äbtissin von Gandersheim nach Rom reisen und
dabei stets ihr Nachtlager auf eignem, ihrem Stift gehörigen Grund und Boden
nehmen konnte. Die Notwendigkeit der Kirche ward nirgends bestritten, die
Geistlichen sollten ihre „ziemliche Notdurft" erhalten, aber nicht auf Kosten
des Volkes schwelgen. Auch bei Janssen ist das Gesamtresultat rund und nett
in den Worten enthalten: „die obern Klassen, die über ihren Rechten ihre
Pflichten vernachlässigten, bewirkten die Auflehnung der untern Klassen."
3. Hand in Hand mit der antiklerikalen Strömung geht die antifeudale.
Trotzdem daß die zwölf Artikel der Bauern nach Rankes bekanntem Ausspruch
uicht über die gesunde Vernunft hinausgingen und nur forderten, was man
ihnen nach Recht und Billigkeit niemals hätte verweigern sollen, wurde die Be¬
wegung mit blutigster Strenge niedergeschlagen und unterdrückt.")
War das Schicksal des Bauern im fünfzehnten Jahrhundert schlimm ge¬
wesen, so wurde es im sechzehnten und siebzehnten noch viel schlimmer.
Auch die Hohenzollern, die mit Friedrich I. und II, in rechter Weise in der
Mark einsetzen und eine gerechte und über allen Parteien stehende Staats¬
gewalt begründen, erscheinen der Richtung ihres Hauses zeitweise entfremdet.
Hatte sich unter Friedrich I. ein Oberbeamter geweigert, eine neue landes¬
herrliche Verfügung zu veröffentlichen, weil sie „wider die Unterthanen und
ganz zu Gunsten der Prälaten und Edelleute sei" — worauf der Landesherr
die Verfügung zurücknahm —, so wandten sich die Dinge unter Joachim II.
und Johann Georg zum schlimmsten. Der unwirtschaftliche Joachim II. geriet
eben durch seine UnWirtschaftlichkeit in volle Abhängigkeit von seineu Ständen,
gegen die Übernahme seiner Schulden gewährt er 1540 dem Adel das Recht,
die Bauern gegen Entschädigung zu „legen." Nach seinem Tode werden auf
dem Landtage von 1572 gegen abermalige Übernahme der vorhandnen Schulden
die gutsherrlichen Rechte noch weiter ausgebildet. Der Adel darf das Guts¬
feld auf Kosten der Wald- und Bruchhütungen, die für den Viehstand der
Bauern unentbehrlich waren, vergrößern, sodann sollen die Bauern zur Frohn-
arbeit angehalten werden, ohne daß eine Grenze der bäuerlichen Dienste fest¬
gesetzt zu werden braucht. Auf diesem Landtage hat der Adel die bis dahin
angemaßten Befugnisse und thatsächlich geleisteten Dienste der Bauern durch
deu Kurfürsten Johann Georg als Recht zugesprochen erhalten, während er
die dafür übernvmmne finanzielle Leistung abzuwälzen wußte. Die Bauern
sind mediatisirt und tragen die ganze Last. Im siebzehnten Jahrhundert
wird die bäuerliche Sklaverei gar theoretisch gepriesen aus Gründen der „Wohl¬
feilheit, der Arbeitswirksamkeit und der Staatsfinanzen." Infolge dessen wird
aus den Bauern ein „wild, hinterlistig und nngezühmt Volk." Ist es zu ver¬
wundern, daß die ländliche Bevölkerung, als das äußere Unglück im dreißig¬
jährigen Kriege hereinbricht, in stumpfer Teilnahmlosigkeit verharrt oder dem
unmenschlichen Druck der heimischen Sklaverei das ungebundne Soldatenleben
vorzieht und der Werbetrommel nachläuft? In dem Jahrhundert von 1540
bis 1640 hat der nordostdeutsche Adel den Grund zu seiner bevorrechteten
Stellung im preußischen Staate gelegt. Unlösbar erschien die Aufgabe, die
der Große Kurfürst übernahm, auf allen Gebieten lagen die schwierigsten Ver¬
hältnisse vor, eine Übereilung konnte alles zum scheitern bringen. Schritt für
Schritt mit unendlicher Geduld und Ausdauer mußten Erfolge der äußern
Politik die innern Verhältnisse festigen, während wieder nur die Lösung der
innern Aufgaben die Mittel für die Aktion nach außen gewähren konnte. So
ist es nur natürlich, daß entscheidende Schritte zu Gunsten der Bauern erst
von seinen Nachfolgern unternommen werden konnten. Als die äußern Ver¬
hältnisse das Zusammenhalten aller Kräfte des Staats und ihr freudiges Mit¬
thun immer energischer fordern, da drängt die Bauernfrage immer zwingender
zu ihrer Lösung. Die französische Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts
wurde die Lehrmeisterin der preußischen Könige des achtzehnten.*) Der Haupt¬
grund des von Richelieu gewonnenen Übergewichts im europäischen Staaten¬
system war, daß er die innern (konfessionellen) Gegensätze im Interesse der
Staatseinheit und Staatsmacht zurücktreten ließ, während sie von den Habs-
burgern noch als Hauptsache festgehalten wurden. Der schwerste Fehler
Ludwigs XIV., der alle seine äußern Projekte scheitern ließ, war es dann ge¬
wesen, daß er diese innere Einheit nicht aufrecht erhalten hatte. Mit der Auf¬
hebung des Edikts von Nantes 1685 hatte er sich selbst seiner besten Kräfte
beraubt und die seiner Gegner verstärkt; von diesem Zeitpunkt an datirt der
Umschwung in den Geschicken Frankreichs und Europas.
Die Grenzboten haben die Bauernbefreiung in Preußen schon in ihren
Hauptzügen dargestellt; Knapp, einer der besten Kenner, nennt in seinem grund¬
legenden Werk die Bauernbefreiung geradezu die soziale Frage des achtzehnten
Jahrhunderts. Trotz aller Bemühungen haben Friedrich Wilhelm I. und
Friedrich der Große nur dem Weitergreifen der vorhandnen Übelstände zu
steuern vermocht. Gegen Ende des Jahrhunderts war alles wieder im alten
Schlendrian, und erst der völlige Niederbruch von 1806 führte der Negierung
die unerbittliche Notwendigkeit vor Augen, durch Fürsorge für die untern
Klaffen das ganze Volk gegen die äußern Feinde zu vereinigen. Die alte
Staatsverfassung war nur zu Gunsten der herrschenden Klasse gewesen, für die
untere Klasse gab es keine andre Hoffnung als die Macht und den Willen des
Landesherrn, sie zu vertreten. Der Staat fordert seine Bedürfnisse kraft seiner
Pflicht, das Erforderliche muß geleistet werden, dafür ist die altrömische
Tribuuengewalt auch ein wesentlicher Teil dieser Staatsmacht, wie sich das in
dem Spruche des Großen Kurfürsten: pro oso et xoxulo ausdrückt. Nachdem
die Pflichten der feudalen Machthaber auf das königliche Offizierkorps und
Beamtentum übergegangen waren, waren auch ihre politischen Sondervorrechte
— ihre Privilegien — nicht mehr gerechtfertigt. Freilich waren die Bevor¬
rechteten geneigter, auf jene, als auf diese zu verzichten. Für den Herrscher
handelte es sich darum, nicht nnr das Rechte zu wollen, sondern es anch auf
die rechte Weise zu wollen. Er durfte nicht nur siegen und Widerstrebende
niederwerfen wollen, sondern er hatte die weit schwierigere Aufgabe, die Gegen¬
sätze auszugleichen, die Besiegte» zu versöhnen und emporzuheben. Nur ein
nationaler Monarch vermochte sein hohes Amt von dieser Hohe der Pflicht-
auffassnng aus zu begreifen. Von dem Großen Kurfürsten ist es bekannt, daß
oberflächliche Beurteiler ihn für abhängig von seinen Räten hielten, weil er
ihre Ansicht jederzeit anhörte; nur „passionirte Ratschläge" durfte niemand
vorbringen. Ein feinerer Beobachter weiß von ihm zu berichten, „dem Mi߬
trauen in sein eignes Urteil und der Festigkeit bei Ausführung des Beschlossenen
schreibt man sein großes Glück zu." Sehr bezeichnend ist das Verhalten des
Großen Kurfürsten bei entgegentretenden Widerspruch. Es wird berichtet, daß
er 1680 in die Sitzung seines Geheimrath getreten sei, seine Meinung über
eine Frage in bestimmter Weise sofort ausgesprochen und hinzugefügt habe, er
halte jeden für einen Verräter, der einen andern Rat zu erteilen wage. Der
Oberpräsident — ein Schwerin rühmlichen Andenkens — habe darauf sofort
erklärt, Seine Kurfürstliche Gnaden habe dnrch das eben gesagte seinen ge¬
treuen Räten keineswegs die Freiheit nehmen wollen, ihre Überzeugung aus¬
zusprechen. Darauf begründet er die entgegengesetzte Ansicht, und nach weiterer
Debatte schließt sich der Kurfürst ihm an. Demgegenüber ist das Urteil eines
Gewalthabers vom Schlage Napoleons in Bezug auf seine obersten Beamten und
Minister: ig, tiANismi g. üejg, eoiumLuvö, cjug,na ils 8s pkrinsttsut. dö cloutsr,
se <zllö est eoiuMts, Jor8<zu<z an äouts ils vont M8qu'lin al88SiMn6ut.
4. Mit dem Durchdringen der Geldwirtschaft hat in den westeuropäischen
Staaten das Bürgertum so an Bedeutung gewonnen, daß es überall in die
Reihe der politisch führenden Stunde getreten ist. Seine politische Macht
beruht auf seiner wirtschaftlichen Tüchtigkeit, und diese auf Handel und Industrie.
Es ist häufig genug darauf hingewiesen worden, daß die Sozialdemokratie
unsrer Zeit in engster Beziehung zur Industrie und zur Manchesterlehre steht,
sie ist in der That die Reaktion gegen die schrankenlose Ausbeutungsfreiheit
des wirtschaftlich Mächtigen. Man darf sich durch diese Thatsache nicht zu
leeren Deklamationen über die Schlechtigkeit der neuen Machthaber hinreißen
lassen; die bürgerliche Großindustrie folgt hierin der natürlichen Entwicklung
der Dinge, wie sie von Schmoller ans einem ganz andern Gebiete bezeichnet
worden ist. „In der Regel vollziehen sich — sagt er in Bezug auf das Heer¬
wesen — die großen Fortschritte in der staatlichen Arbeitsteilung nicht anders
als durch lastende Versuche und Mißbrüuche hindurch; und der regelmäßigste
Mißbrauch ist der, daß jeder neu sich loslösende, sich selbständig organisirende
Zweig politischer oder staatlicher — auch wirtschaftlicher, wie wir hinzusetzen
Thätigkeit sich zunächst ganz selbständig zu machen, ohne Rücksicht auf das
Ganze, nur nach seinen nächstliegenden technischen und praktischen Gesichts¬
punkten, nach dem Klasseninteresse seiner Träger sich auszubilden sucht. Dieser
Gefahr unterlagen die Kommunalbehörden, unterlagen die Finanz-, die Polizei-
nnd auch die Jnstizbehörden zeitweise. Dieser Mißbrauch ist es, der das Heer¬
wesen des dreißigjährigen Kriegs charakterisirt; mit diesem Mißbrauch hängt
aber andrerseits ein gewisser technisch-militärischer Fortschritt, hängt die Aus¬
bildung von militärischen Formen zusammen, die später in andrer Verbindung
mit dem politischen und sozialen Leben sich als brauchbar bewährt haben."
Der hier bezeichneten Gescchr ist auch die Industrie zweifellos unterlegen, das
Manchestertum ist nur zu geneigt, in dem Menschen ein zweibeiniges Wesen
zu sehen, dessen Bestimmung es ist, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen.
Nachdem die bedrückte Arbeiterschaft die allgemeine Aufmerksamkeit auf die ent-
standnen Mißstnude gelenkt hat, ist es selbstverständlich Sache der Staats¬
gewalt, dafür zu sorgen, daß die Bedeutung dessen, was die Klassen unsers
Volkes von einander trennt, nicht etwa größer werde, als was alle Bolksklasseu
von fremden Völkern trennt. Die internationalen und kosmopolitischen Phan¬
tastereien der Arbeiterklassen wollen wir ihnen nicht gar so hoch anrechnen;
das ist eine deutsche Untugend, die ihnen lange genug von den andern Klassen
vorgemacht worden ist, erst von der Ritterschaft, dann vom Bürgertum. Wenn
das Bürgertum das Eigentum lange als unverletzliches Heiligtum erklärt hat,
so ist ein ebenso schroff ausgedrückter Gegensatz ja verständlich; in der Praxis
hat der Staat als organisirte Gesamtheit längst den richtigen Mittelweg ein¬
geschlagen und sich das Recht der Expropriation gegen Entschädigung gewahrt.
Es ist denen, die kein Eigentum besitzen als ihrer Hände Arbeit, gewiß nicht
zu verdenken, wenn sie diese Arbeit für ebenso wertvoll, ebenso heilig halten,
wie den zufällig mit dem Menschen verknüpften Besitz, ja es ist unbedingt an¬
zuerkennen, daß die redliche Arbeit jeder Art überhaupt das Grundprinzip eines
jeden geselligem Volkstums ist.
Daß eingefleischte Plutokraten vom Schlage des Herrn von Stumm uns
sozialistische Gesinnung, Beförderung der Sozialdemokratie vorwerfen werden,
soll uns nicht anfechten. Wir wissen, daß alle volkstümlichen Bewegungen
stets mit form- und haltlosen Ungestüm vermischt waren und fast niemals von
vornherein klare politische Ziele verfolgten: deshalb darf ihnen aber noch
nicht ohne weiteres ein berechtigter Kern abgesprochen werden. Wir wissen
aus der Geschichte, daß es nichts unpolitischeres giebt, als bei solchen Dingen
die gemäßigten Reformer kurzerhand mit den Fanatikern zusammenzuwerfen, so
„schneidig" das anch dem oberflächlichen Blick erscheinen mag. Nach den Aus¬
führungen des vorigen Abschnitts wird es niemand verwundern, wenn wir
unsre Ansicht dahin zusammenfassen, daß wir glauben, in keinem Lande der
Welt seien so günstige Aussichten vorhanden, um aus den gegenwärtigen
sozialen Nöten herauszukommen wie in Deutschland, weil kein andres eine so
starke und nationale Monarchie besitzt. Gerade die nationale und konstitu¬
tionelle Monarchie, die monarchische Initiative mit populären Eifer vereint,
kann am ehesten die mittlere, dem Ganzen zuträgliche Linie halten und das
Volk einer bessern Zukunft entgegenführen, wenn sie sich das allgemeine Ver¬
trauen bewahrt.
Dazu gehört nun freilich, daß die Ruhepause in der innern Entwicklung
nicht zu lauge ausgedehnt wird. Der sozialdemokratischen Verhetzung entgegen¬
zuwirken ist nichts besser geeignet, als bei den Ruhigen und Leidenschaftslosen
das Gefühl hervorzurufen und zu stärken, daß der Staat sich um ihre Nöte
bekümmert und ihnen Gerechtigkeit widerfahren läßt. Vollständige und zeit¬
gemäße Reformen werden sicher wie in den frühern sozialen Zeitabschnitten
auch diesmal die Massen den vermaledeiten politischen Rattenfängern und ge¬
wissenlosen Demagogen entreißen, denn an der Vaterlandsliebe, Königstrene und
Tüchtigkeit der Masse des deutscheu Volkes wollen wir ebenso wenig zweifeln
wie an der Einsicht der Regierenden. Die nächsten Reformmaßregeln sind schon
klar erkennbar und haben sich in den Grenzboten und andern Blättern natio¬
naler Farbe und mittlerer Richtung oft genug zu bestimmten Vorschlügen ver¬
dichtet. Für die Vertretung der Interessen der nationalen Arbeit in dem
innersten Rate der Staatsregierung erachten wir die Errichtung eines Reichs¬
arbeitsamts mit einem Staatssekretär an der Spitze durchaus für notwendig.
Außer dem Versicherungswesen würde zu dem Bereiche dieses Arbeitsamts die
Fabrikinspektion, der Arbeitsnachweis, die Vorbeugung von Streiks und bei
ausgebrochneu Streiks die unparteiische Feststellung des Thatbestands und die
rasche Beilegung gehören. Weitere Aufgaben werden sich finden und von der
künftigen Entwicklung der Verhältnisse abhängen. Das wichtigste ist, daß der
Regierung auch nicht mit dem Schein der Berechtigung der Vorwurf gemacht
werden kaun, sie übe ihre Macht zum Vorteil gewisser Klassen. Die Not¬
wendigkeit einer starken Negierungsmacht überhaupt kann vernünftigerweise von
niemand bestritten werden. Die deutsche Arbeiterschaft ist noch heute ein treuer,
fleißiger und braver Teil unsers Volkes und wird sich bei Befriedigung ihrer
gerechten Forderungen auch wieder von den sozialdemokratischen Verführern und
deren offenbaren Uusiuuigkeiten abwende».
Einig im Innern ist das deutsche Volk stark genug, allen Gefahren, die
von außen her drohen können, zu begegnen. Ist es das, so hat es nur Gott
und sonst nichts ans der Welt zu fürchten!
er Mann, der unter dem Reinen Leo Taxil in den letzten Jahren
so viel hat von sich reden machen, heißt eigentlich Gabriel Jvgand
und ist 1854 in Marseille geboren. Seine Erziehung erhielt er
in einem Jesuitenkolleg bei Lyon und einer Schule in Marseille,
und mit siebzehn Jahren begann er seine schriftstellerische Lauf¬
bahn in Paris an einem radikalen Blatte. Damals nahm er den Namen Leo
Taxil an und warf sich in einen hitzigen Kampf für den Radikalismus in
Zeitungen und Schriften, wobei er sich Kirche und Klerus zum hauptsächlichen
Gegner erkor. Zwischen 1880 und 1885 gründete er 281 Freidenkervereine
mit 17000 Mitgliedern, gab ein eignes, diesen Zwecken gewidmetes Blatt
heraus, schrieb zahlreiche giftige Kampfschriften, die ihn fortwährend in Prozesse
und Strafen verwickelten, wurde 1881 Freimaurer, verließ aber den Orden in
demselben Jahre wieder wegen Streitigkeiten und begann nun als gereifter
Freibeuter und Schwindler seine unermüdlichen Raubzüge, indem er bald mit
einer angeblich gegen ihn erlassenen Exkommunikativnsbulle Leos XIII., bald
als falscher Privatsekretär des Erzbischofs von Paris für sich Reklame machte,
bald betrog und beschimpfte er den Klerus oder deu Papst, bald die Sozicilisten.
So entwickelte er sein selbst für einen Südfranzosen außerordentliches Talent
für Schwindel und Intrigue.
Als er die im Jahre 1884 erschienene Bulle des Papstes gegen die Frei¬
maurer las, beschloß er, diese als Unterlage für eine Mystifikation in großem
Stil zu benutzen. Er zog sich von den bisherigen kirchenfeindlichen Verbindungen
zurück, vollzog eine förmliche Bekehrung, sagte sich mit Abscheu von seinem
frühern Thun los und erklärte sich in dem ultramontanen „Univers" für einen
reuigen Sünder. Die Liga, die er gegründet hatte, mit ihren 17000 Gliedern,
schloß ihn nun freilich als „Schuft" und Verräter aus, und der Vorsitzende
nannte ihn mit Recht einen Komödianten; er irrte sich aber doch, denn Taxils
Meinung war keineswegs, die kirchenfeindliche Sache zu verraten; er schlug nur
andre Wege ein, die ihn zu den alten Zielen führen sollten: er war nach beiden
Seiten hin Komödiant geworden. Der päpstliche Nuntius in Paris empfing
den zerknirschten Bekenner und umarmte und segnete ihn unter Lossprechung
von allen kirchlichen Zensuren, dann folgten Beichte und Kommunion Ende 1885,
Taxil war ein Paulus geworden.
Er begann nun sofort seine neue schriftstellerische Arbeit. Zunächst ver¬
öffentlichte er „Bekenntnisse eines ehemaligen Freidenkers/' und zugleich begann
er die Herausgabe eiues vielbändigen Werkes unter dem Titel: „Vollständige
Enthüllungen über die Freimaurerei." Beide Werke erschienen in Paris und
bildeten die Grundlage zu dem nun zwölf Jahre lang andauernden Kampf
gegen die Freimaurer, in dem Taxil allmählich zum anerkannten Feldherrn
der römischen Kirche und fast wie ein Prophet und Heiliger verehrt ward.
Der Kampf war von Leo XIII. in jenem Rundschreiben vom 20. April 1884
begonnen worden. Der katholischen Welt war darin eröffnet worden, daß das
Menschengeschlecht in zwei feindliche Lager geteilt sei, das Reich Gottes auf
Erden, verkörpert in der römischen Kirche, und das Reich des Satans. In
dem Reiche des Satans sei im Laufe von anderthalb Jahrhunderten die Sekte
der Freimaurer zu großer Macht gelangt und gehe jetzt darauf aus, die katho¬
lische Kirche zu vertilgen. Gegen diese im Finstern schleichende Sekte wurde
die Menge der Gläubigen aufgerufen, die Bischöfe wurden aufgefordert, mit
Exkommunikation aller Freimaurer, mit Einberufung von Kongressen und
sonstigen Mitteln der Kirche den Kampf gegen die Freimaurer zu führen; und
in diesem Kampfe beschloß der bisherige litterarische Freibeuter und das Hnnpt
des Bundes der gottlosen französischen Freidenker eine Rolle zu spielen. Er
stellte sich in den Dienst der Kirche, aber mit dem Ziele, sie zu Thorheiten
zu treiben, die sie zuletzt vor aller Welt bloßstellen mußten. Er kämpfte auf
der Seite Roms in verräterischer Weise gegen Rom. Er benutzte dazu Waffen,
die er in dein uralten Arsenal des Papsttums in vollkommenster Form vorfand,
nämlich Heuchelei und Aberglauben, und es zeigte sich, daß diese Waffen gleich
gut gegen Rom gebraucht werden konnten, wie sie von jeher für und von Rom
gebraucht wordeu waren.
Gleich in seinen „Bekenntnissen" versuchte er die wunderbarsten Ent¬
hüllungen zu macheu. Nach seiner Darstellung lehren die Freimaurer, der
Gott der Katholiken sei nur ein böses Prinzip, ein heimtückischer, eifersüchtiger,
grausamer Genius, ein überirdischer Tyrann, der Todfeind der menschlichen
Wohlfahrt. Sein Widerpart dagegen, Lucifer, sei den Freimaurern der gute
Genius, das weise und tugendhafte Prinzip, der Geist der Freiheit, der wahre
Gott. Daher werde Lucifer auch in den Hochlogen als der große Welteu-
baumeister und als höchstes Wesen verehrt. Die Freimaurerei sei also wesentlich
Tenfelskult.
Nun hat zwar schon Pius IX. in einem Rundschreiben vom Jahre 187Z
von den Freimaurern gesagt, aus ihnen gehe die Synagoge des Satans hervor;
aber die Enthüllungen Taxils gingen doch über solche allgemeine Reden hinaus,
indem sie einen klaren Teufelskult bei den Freimaurern behaupteten und von
nun an diese Behauptung aus immer neuen nud immer wunderbareren Beispielen
zu beweisen suchten. In einem vierbändigen Werke, die „Drei-Pnnkte-Brüder,"
das französisch in 100000 Exemplaren, dann in die deutsche und in andre
Sprachen übersetzt erschien, wurden die Organisationen, Riten und Geheimnisse
des Ordens, wie sie in der Phantasie Taxils entstanden waren, in aller Breite
dargelegt. Gottlosigkeiten, Gemeinheiten, Niederträchtigkeiten aller Art, Ver¬
brechen und Ränke erfüllten darnach das verborgne Dasein des Ordens, der
„das persönliche Werk Satans, seine Religion, sein Kult sei," und worin Satan
in direkter Verbindung mit den Häuptern des Ordens „bei der geheimnisvollen
Leitung der Freimaurerei wirklich seine Hand im Spiel habe." Das Wert
machte gewaltiges Aufsehen, und der deutsche Übersetzer, der Jesuitenpater Gruber,
wünschte ihm auch in Deutschland eine weite Verbreitung „zu Nutz und
Fromme» des deutschen Volkes." Er wurde auch in seiner Hoffnung nicht
getäuscht, wenn man von dem „Nutz und Frommen" absieht. Ein katholisches
Blatt jubelte: „Wenn von irgend einem Werke, so kann man von dem Werke
Taxils sagen, daß es von der gesamten katholischen Presse Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz aufs wärmste in jeder Hinsicht empföhle» ist."
Es folgten dann andre Werke: „Die Geheimnisse der Freimaurerei," „Die frei-
maurerischen Schwestern," „Giebt es Weiber in der Freimaurerei?" — Bücher,
in denen die Enthüllungen weiter ausgeführt wurden. Unflätige Gebräuche,
alle Arten von Unzucht, rituelle Schändung der Hostie, Königsmord und Verrat
an Volk und Fürst — kurz was an Verbrechen und Scheußlichkeit zur Hand
war, das alles hatte Taxil bei den Kindern Lucifers erlebt oder von ihnen
erfahren, und je mehr er Glauben fand mit seinen Erzählungen, um so freier
arbeitete seine süvfranzösische Phantasie. Dabei scheute er sich schon nicht mehr,
seine freimnurerischeu scheußlichen Gebräuche und Zeremonien so zu schildern, daß
sie als Nachäffungen und Verhöhnungen katholischer Gebräuche und Zeremonien
erkennbar waren. Bei den katholischen Fanatikern fand er nicht nur begeisterte
Gläubige, sondern auch eine thatkräftige Gefolgschaft, die blindwütig mit den
von ihm dargebotnen Waffen gegen Freimaurerei und Protestantismus los¬
schlug. Man glaubte oder gab vor zu glauben, und Taxil wurde der
Führer in dem durch die päpstliche Bulle von 1884 begonnenen Feldzuge
gegen die Freimaurer. Man konnte freilich leicht wissen und wußte wohl
auch, daß es keine Freimaurerinnen giebt; dennoch wurde ein Buch gern ver¬
breitet, worin Taxil auf 386 Seiten die Zeremonien bei Aufnahme der Frei-
maureriunen und deren Schandthaten schilderte. Man lobte und ehrte es,
wenn Taxil versicherte, die Maurer wendete» sich in ihren Gebeten „un¬
bestreitbar an Lucifer," wenn er solche Gebete anführte, wenn er von dein
l»ciferischen Palladismus, vou dem Mvpsorden mit freier Liebe, dem Ba¬
hamer, dem Bock mit weiblicher Brust, eine», Emblem Satans, und einer
Masse schlüpfrigster, schmutzigster Gebräuche und Vorgänge fabelte, die er den
Freimaurern zuschob. Und die deutsche katholische Presse folgte, von der Ger¬
mania an, dem Organ des eifrigsten Taxilknappen Pater Gruber, bis auf gewisse
historisch-politische Blätter mit Herrn Majnnke und das Heer der Kleinen herab,
der Führung Taxils gegen den Protestantismus, Wenn sich auch nicht alle
hinreißen ließen zu solchem Hexentanz, wie Gruber und seinesgleichen, so
scheint doch der Verfasser des Buches, dem wir hier folgen,^) nicht weit von
dem richtigen Urteil zu sein, wenn er behauptet: „alle katholischen Blätter
wußten sich in treuer Gefolgschaft der päpstlichen Eueyklika von 1884 und be¬
trachteten Leo Taxil als ihren Fahnenträger beim Kreuzzuge gegen das in den
Logen verkörperte Satansreich."
Die Geschäfte mit dem vierbändigen Enthülluugswerk über die Freimaurer
gingen so gut, daß Taxil das Unternehmen ausdehnte, indem er sich mit
einem Manne von ähnlicher Gesinnung und Phantasie verband, dem Rhein¬
länder und Schwager des Verlegers der Kölnischen Volkszeitung, Dr. Karl Hacks,
der unter dem Namen Dr. Bataille dem Unternehmen neuen Ruhm brachte. Von
1892 bis 1894 erschien in Lieferungen der „Teufel im neunzehnten Jahrhundert,"
zwei Bände von 1924 Seiten. Hacks hielt sich darin um den vom Papst in
der Encyklika von 1884 festgestellten Dualismus, das päpstliche Gottesreich
und das Satansreich, und machte zu Trägerinnen der beiden feindlichen
Prinzipien zwei Weibergestalten, Miß Vaughan und Sophie Wälder. „Ohne
festen Zusammenhang ziehen Tenfelsbeschwörungen und Verzauberungen,
Komplotte und Meuchelmorde. Hostieudurchbohrungeu und Ausschweifungen,
Politische Intriguen und katholische Religionsübungen an unsern Augen vorüber.
Der Kriegsruf des Papstes zum Kampf gegen den Höllenfürsten wird nach
allen Richtungen und in den wunderlichsten Variationen persistirt, und unter
den tiefsten Bücklingen vor der päpstlichen Unfehlbarkeit verfallen die Lehre»
und Gebräuche der katholischen Kirche dnrch massive Anpreisung der Lächer¬
lichkeit."
„Alles das — sagte Hacks selber spater im Jahre 1896 — war der
reine Schwindel. Als die gegen die Freimaurer als Verbündete Satans ge¬
richtete Eneyklika HuuiWuin Zorns erschien, kam ich auf den Gedanken, daß
dies ein richtiger Stoff sei, um aus der bekannten Leichtgläubigkeit und uner¬
gründlichen Dummheit der Katholiken Geld zu schlagen. Die Katholiken ver¬
schlangen das Ganze ohne jede Schwierigkeit. Die Einfalt dieser Leute ist so
groß, daß, wenn ich ihnen heute sagte, ich Hütte sie nnr zum besten gehalten,
sie sich weigern würden, mir das zu glauben. Manchmal, wenn ich eine
»»glaubhafte Geschichte aufs Tapet brachte, sagten mir meine Mitarbeiter,
denen vor Lachen die Thränen in den Augen standen: Teuerster, Sie gehen zu
weit! Sie verderben uns den ganzen Spaß! Ich antwortete ihnen: Pah! Lassen
Sie mich nur gewähren! Das wird schon gehe». Und es ging in der That.
Mir fiel im allgemeinen die Aufgabe zu, die Geschichte zuzurichten. Leo Taxil
oder ein andrer gab mir irgend eine» Stoff, der im Grunde auf Wahrheit
beruhen mochte. Ich übernahm es, die Sache nach dem Muster Jules
Verres aufzuputzen."
Hacks war Arzt und hatte weite Reisen gemacht. Das kam ihm bei den
Fabeleien zu statten, die er aus allen Weltteilen auftischte. Er hatte in
Charleston den Hohenpriester des Palladismus oder Satansknlts, Albert Pike,
kennen gelernt; er hatte alle berühmten Freimaurer der Welt kennen gelernt
und war in die höchsten Ämter des Palladismus eingeweiht worden; er hatte
in den englischen Kolonien die Engländer als verkappte Lueiferianer kennen
gelernt: ihre Weiber und Mädchen sind „Ausbünde der Gottlosigkeit und des
Lasters, absolut infernal und Teufelinneu." In einer Kirche in Singapore
hat er Embleme und Zubehör des Satankults gesehn. Zu Gibraltar hat
er Höhlen gefunden, wo die Teufel Stoffe für Epidemien bereiten unter
Leitung des Direktors Tubaltmn. Der Satanspapst Pike steht durch ein
teuflisches Telephon von Washington aus mit den großen Direktoren des
Kultus in Europa und in Amerika in Verbindung- Pike kann mit Hilfe eines
magischen Armbandes den Lucifer jederzeit zitiren. Er macht mit Lucifer
große Reisen durch die Luft. Sophie Wälder legt sich eine Schlange um den
Hals und küßt sie, worauf der Schwanz der Schlange auf ihren Rücken die
Antwort auf Fragen schreibt, die vorher mit einem Zauberring auf die Brust
der Wälder gezeichnet worden. Auch in London wird durch Teufelei ein
Tisch zur Zimmerdecke gehoben und in ein Krokodil verwandelt, das sich ans
Klavier setzt, fremdartige Melodien spielt und die Hausfrau durch ausdrucks¬
volle Blicke in Verlegenheit setzt. So geht es weiter. Das alles sind ja nur
harmlose Schnurren; aber sie wurden geglaubt und dadurch ernsthaft. Chor¬
herr Muskel von Avranches trat in der Revue vecklioliaus als eoutMoe im
Jahre 1893 für ihre Wahrheit in die Schranken: „Was durch sichere Doku¬
mente, durch authentische Urkunden, durch unwiderlegliche Geständnisse bereits
bewiesen war, läßt Dr. Bataille im I)indi6 an unsern Augen in einer Reihe
lebendiger Bilder vorüberziehn. Die Zahl der Überzeugten nimmt mit jedem
Tage zu." „Sicher ist — heißt es in einem andern französischen Blatte —,
daß der Davis von hervorragenden Geistlichen gutgeheißen und empfohlen
wird." Viele andre katholische Organe waren derselben Meinung, und der
Chorherr Muskel konnte schreiben: „Seine (des Dr. Bataille) Enthüllungen
über den Satanskult und die Werke Satans unsrer Zeit in den verschiednen
Teilen der Welt sind zwar furchtbar, aber durchaus wahr."
Da das Tcixil-Hackssche Geschüft blühte, warb Taxil eine» neuen Mit¬
arbeiter in der Person des Jtalieners Margiotta an. Als dessen Hauptwerk
erschien t894 unter Taxils Leitung: „Atrio.no Lemmi, Oberhaupt der Frei¬
maurer," das auch ius Deutsche übersetzt wurde. Darnach war Pike, der Papst
der Freimaurer, im Jahre 1891 gestorben, und sein Nachfolger Mantey erhielt
in Lemmi durch Wahl im Palast Borghese zu Rom einen Gegenpapst, dem
sich dann Mantey unterwarf. Dieser gefälschte Freimaurerpapst wurde nun
auf Grund gefälschter Dokumente dem Publikum als gerichtlich bestrafter Dieb
denunzirt. Er habe dann in dem neuen Freimaurertempel, dem Palast
Borghese, einen förmlichen Satansdienst eingerichtet mit Sataushymuen und
allen möglichen Entweihungen der christlichen, d. h. der katholischen Heilig¬
tümer und Gebräuche, mit satanischem ^.vo und Zulpe, mit obseöneu Orgien usw.
Alles dies wurde im Namen des vom Papst erlassenen Ausrufs gegen die
Freimaurer erzählt. Und wieder fanden diese Enthüllungen den größten
Anklang, wieder wurden sie nicht nur geglaubt, sondern von der Presse ge¬
priesen, vom Bischof Fava von Grenoble, von den Bischöfen von Anneey,
Paniers, Montauban, Oran, Tarentesia, dem Erzbischof von Aix und dem
Patriarchen von Jerusalem gelobt. Der in Feldkirch erscheinende „Pelikan"
erklärte, er halte den Tenfelsknlt der Loge für wahr, weil die gescheitesten
Leute daran glaubten, so der Papst, der Kardinal Parvadi, der Bischof Fava,
der „berühmte Kenner der Freimaurer," und das aus lauter Gelehrten unter
dem Präsidenten de Rive in Paris bestehende Komitee zur Enthüllung der
Freimaurerei.
Eine hervorragende Figur in den Mystifikationen Taxils ist die nord¬
amerikanische Miß Diana Vaughan. Sie stammt von Thomas, einem Buhlen
des Teufels, ab und hat daher Satansblut in ihren Adern. Von ihren Vor¬
fahren werden in den Schriften Taxils die phantastischsten Dinge erzählt,
wobei sowohl Lucifer als Venus-Astarte, Socinus und die Rosenkreuzer wunder¬
bare Thaten verrichtet haben sollen. Sie wurde ganz lneiferisch erzogen,
machte dann eine wunderreiche Befreiung von Malcakh, dem Engel Rafael der
Christen, durch, von dem sie besessen war, und erhielt 1884 die Würde eines
Meisters der Palladisten. In einer Sitzung dieser Loge erschien Asmodeus,
der vierzehn Millionen Geister kommandirt. Er legte vor das Bcivhvmet
(Satanscmblem) einen Löwenschwanz, den er dem Engel Markus abgeschnitten
hatte. Dieser Löwenschwanz spazierte durch die Luft, legte sich der Miß um
den Hals, gab ihr einen Kuß und verfügte sich dann wieder in seinen Koffer
zurück, wo er eingeschlossen war. Am Tage der unbefleckte» Empfängnis,
1884, erschien der Teufel Vitru bei dem Freimaurerpapst Pike, zu dem Miß
Vaughan auf ihren Reisen gekommen war, und offenbarte, daß Astarte die
Maria überwinden werde, was denn auch bald geschah, indem Maria von
Astarte mit einem Dreizack durchbohrt wurde. Im Palladismus findet Miß
Vaughan eine Gegnerin in der Sophie Wälder, die sie nicht überwinden kann,
weshalb sie sich bekehrt und nun die Geheimnisse des Freimaurerordens ent¬
hüllt. Vor allem enthüllt sie, daß Sophie Wälder die Urgroßmutter des Anti¬
christs sei. Sophie Wälder sei als Protestantin in Straßbnrg geboren und
von dem Teufel Bitru, der die Gestalt einer Amme angenommen habe, gesäugt
worden. Sie wird in satanischem Geist von ihrem Pflegevater, dem pro¬
testantischen Pfarrer Phileas Wälder (ihr wahrer Vater war ein Dämon) er¬
zogen und entwickelt sich zu einer großen und fanatischen Verbreiterin des
Satansreiches, von dem nun wieder die sonderbarsten Einzelheiten erzählt
werden. Weiter erscheint Bitru als der eigentliche Vater der Sophie und
dann auch als ihr Gatte, der in einer Logensitzung in Rom auftritt, worüber
Diana Vaughan durch einen Teilnehmer an der Sitzung das Protokoll über¬
reicht wird. Nach dem Protokoll hat Bitru in der Sitzung die Sophie Wälder
als Urgroßmutter des menschgewordnen Antichrists mit Angabe weiterer Einzel¬
heiten anerkannt. Die Richtigkeit des Protokolls und der Unterschrift des
Teufels Bitru wurde von katholischen Geistlichen mit größtem Eifer verteidigt.
Neben diesen Abenteuern betrieb Taxil in Prosa und Versen die Ver¬
herrlichung der Jungfrau von Orleans, die feine und der Miß Vaughan Be¬
kehrung herbeigeführt habe. Er hatte sich vorgenommen, ihre Heiligsprechung
durch den Papst durchzusetzen, obwohl Johanna bekanntlich von einem katho¬
lischen Bischof wegen Verkehrs mit dem Teufel zum Feuertode verurteilt worden
ist. Miß Vaughan beschenkt die katholische Welt mit einer Menge von Schriften,
darunter ihren 763 Seiten starken Memoiren, die alle jenen nicht bloß anti¬
katholischen, sondern antichristlichen Geist atmen und trotzdem in der katho¬
lischen Welt Glauben und Verehrung bis hinauf zum Stuhle Petri fanden. Die
fingirte Verfasserin stand in fortdauernder Korrespondenz mit zahlreichen katho¬
lischen Geistlichen und Bischöfen und erhielt von Leuten wie dem Kardinalvikar
Pcirochi in Rom unterm 16. Dezember 1895 ermutigende und ehrende Schreiben,
ja vom Papste Leo XIII. selbst den Dank für ihr Thun und den päpstlichen
besondern Segen. Parvadi erklärt, ihre Memoiren seien von brennendem
Interesse. Der Generalsekretär des Papstes, Verrochi, versichert ihr im Auf¬
trage des Papstes in einem Schreiben vom 27. Mai 1396, daß Se. Heiligkeit
mit großem Vergnügen die „Eucharistische" Novene gelesen habe — eine der
persistirenden Schriften der angeblichen Miß. Am 11. Juli 1896 fordert
Signore Sarti, Privatsekretür Leos, die Miß in warmen Worten schriftlich zu
weiter« Enthüllungen über die gottlose Sekte der Freimaurer auf. empfiehlt
sich ihren Gebeten und versichert sie seiner Hochachtung. Bald darauf ergoß
sich die LiviltÄ «üg-ttolio», das Hauptorgan der Jesuiten, in Lobpreisungen der
Enthüllungen Taxils und seiner Genossen: sie hätten „Ströme von Licht über
die luciferische Freimaurerei verbreitet, seien unerschöpflich in ihren kostbaren
Veröffentlichungen, die hinsichtlich der Genauigkeit und Nützlichkeit nicht ihres¬
gleichen haben."
Nachdem der Feldzug gegen die Freimaurer mit diesen Führern und
Waffen zwölf Jahre lang gedauert hatte, glaubte man in Rom offen gegen
den verhaßten Orden vorgehen und ihn mit einem Keulenschläge niederwerfen
zu können. Es wurde ein Kongreß gegen den Orden nach Trient berufen, wo
vor 350 Jahren der große Kampf gegen die Reformation gefeiert worden war,
und wo mau nun die ungenügend durchgeführte Gegenreformation durch einen
ergänzenden und überraschenden Ansturm zu vollenden hoffte. 22 Kardinäle,
23 Erzbischöfe und 116 Bischöfe feuerten durch Schreiben den Kongreß, der am
26. September 1896 zusammentrat, zu kräftigem Vorgehen gegen den Orden an.
Leo XIII. schickte seinen Segen und verlangte, es solle nun dem Orden die
Maske schonungslos vom Gesicht gerissen werden. Was der Papst in einem
Breve kundgethan hatte, das rief Fürst Karl zu Löwenstein, Generalkommissar
der dreiundvierzigsten Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, in
einem Schreiben vom 18. September 1896 allen Katholiken Deutschlands zu.
Sie sollten Beiträge schicken oder persönlich an dem Kongresse teilnehmen, der
über die lichtscheue Sekte Licht bringen würde. Die Vertreter des Antifrei-
maurerbundes, den Taxil gegründet hatte, wurden vom Papst schon vor dem
Kongreß empfangen. Ein Aufruf des Zentralkomitees dieses Bundes rief die
Katholiken nach Trient, um den „neuen Kreuzzug des unsterblichen Leo XIII."
zu beginnen; eine Fülle glänzender Namen stand unter dem Aufruf. Bischof
Lazzaruchi, päpstlicher Vertreter in diesem Komitee, schrieb für das französisch
und italienisch herausgegebne Blatt „Der neue Kreuzzug" einen Artikel, worin
er die Werke Taxils, Margiottas und der Miß Vaughan empfahl.
Vom 26. bis 29. September tagte der Kongreß. In den Memoiren ist
von 800 Mitgliedern die Rede, in den katholischen Organen Deutschlands von
1500. 36 Bischöfe, die Vertreter von andern 50 Bischöfen waren erschienen,
unter ihnen der römische Patriarch von Konstantinopel mit goldner Krone auf
dem Haupte; 61 Zeitungen hatten ihre Berichterstatter hingesandt, Tausende
von Laien waren herbeigeströmt — eine glänzende Versammlung. Und der
Held dieser Versammlung war — Leo Taxil!
Der Mann hatte sein Ziel erreicht. Zwölf Jahre lang hatte er den durch
die Eneyklika des Papstes vom Jahre 1884 neu entfachten Verfolgungseifer
mit immer kühnem Erfindungen geschürt, den Aberglauben der katholischen
Eiferer mit den unsinnigsten Lügen genährt; aber der Glaube an ihn und die
nur in seiner Phantasie existirende Miß Vaughan verbreitete sich zugleich mit
dem Aberglauben, der Leichtgläubigkeit, auf die er baute. Der Papst selbst
hatte ihn im Jahre 1887 empfangen und ihn für einen sehr nützlichen Streiter
des Glaubens erklärt. Ein Domherr aus Freiburg in der Schweiz hatte ihn,
wie Taxil später erzählte, einen Heiligen genannt. Jetzt hing in Trient sein
Bildnis in der That zwischen Heiligenbildern, alles jauchzte ihm zu, und als
er auf dem Kongreß das Rednerpult bestieg, wurde er von Franzosen und
Italienern mit stürmischen Ehrungen empfangen. Er selbst wies den Beifall
zurück mit der Bemerkung, man dürfe dem bekehrten Freimaurer bis zum letzten
Augenblick des Lebens nicht trauen, und das gelte auch für ihn. Das war
eine Kühnheit, die an den bei großen Verbrechern oft bemerkten unwiderstehlichen
Drang erinnert, freiwillig die Gefahr der Entlarvung bis ein die äußerste
Grenze herauszufordern. Aber er kannte seine Leute, setzte seine Antrage durch
und konnte die Verteidigung der von einem Deutschen angezweifelten Miß
Vaughan ruhig ihren italienischen und französischen Verehrern überlassen. In
der Sitzung vom 28. September verlas der Kardinal Haller von Salzburg vor
1500 Getreuen einen von Rom eingegangnen Segen des Papstes, und als im
weitern Verlaufe der Name Taxil genannt wurde, erschollen laute Beifallsrufe,
die Taxil mit dankender Verneigung entgegennahm.
Am 29. September fand eine große Sitzung statt, die der Miß Vaughan
gewidmet war. Zur Ehre des deutscheu Namens scheint in Deutschland der
Zweifel an der Echtheit der Dame und an Taxil nie ganz geschlummert zu
habe». Jetzt waren es vor allen Deutsche, wie der Pater Gruber und Dr. Vcuuu-
gartcn, die offen gegen Taxil und seine Lügen auftraten; aber Taxil wies das
Verlangen nach Aufklärung mit neuen Lügcngeschvssen und der Warnung zurück,
der Aufenthalt der Miß Vaughan dürfe nicht kundgegeben werden, weil der
Dolch der Freimaurer auf sie lauere. Auf Tcixils Antrag wurde die Vanghcm-
frcige einer Kommission übergeben. Der Kongreß erklärte es für zweifellos,
daß die Freimaurerei in moralischen und intellektuellen Beziehungen zum
Satanismus stehe, daß sie die Gottheit Lucifers anerkenne, und daß sie sich
mit der schwarzen Kunst befasse — wie Taxil es stets gelehrt hatte. Der
Kongreß sprach sich in der vierten Sitzung mit Enthusiasmus für die Miß
und für Taxil aus. Einstimmig nahmen die Teilnehmer folgenden Beschluß
an: „Der Kongreß verlangt, daß die katholischen Frauen den heiligen Stuhl
besonders und dringend ersuchen, die Seligsprechung der Johanna d'Arc, dieser
heiligen Heldin, zu beschleunigen, deren Einfluß bei den Bekehrungen der Frei¬
maurer so groß gewesen ist." Gerade das hatte sich Taxil zur Aufgabe ge¬
stellt, und er hatte auch ein Buch über Johanna in diesem Sinne veröffentlicht.
Die zur Untersuchung der Vaughanfrage ernannte Kommission.erklärte, vom
Papste selbst dazu veranlaßt, keine Beweise für oder gegen das Dasein der
Vaughan und gegen die Echtheit ihrer Schriften gefunden zu haben. Alle
von deutscher Seite (voran nun Pater Gruber) in unsrer katholischen Presse
laut werdenden Warnungen vor „einer heillosen Fülschcrgesellschaft" („West-
sälisches Volksblatt" vom 31. Oktober 1896) hatten wenig Wirkung auf den
blinden Eifer der Welschen. Noch am 7. Januar 1897 schrieb der Bischof
von Grenoble: „Miß Diana lebt, schreibt, hat ihre erste Kommunion gemacht,
und die Katholiken sind durch Nathan, Findet usw. mhstifizirt worden." Der
Bischof stand in eifriger Korrespondenz mit Diana und schrieb ihr noch im
November 1896 eingehend über das Unheil, das die Freimaurer jetzt eben
über die Welt brächten, wie sie Italien beherrschten, Frankreich unterjochten,
Spanien in den verderblichen Kampf auf Kuba und den Philippinen gestürzt
hätten. Von verschiednen Mitgliedern des Kongresses kamen bald darnach
Zeugnisse über die wirkliche Existenz Dianas zum Vorschein. Wo Zweifel an
ihr und den unter ihrem Namen erschienenen Büchern auftauchten, wird über
den Glaubensmangel der Katholiken geklagt, die sich durch die bösen Freimaurer
von der Wahrheit abwenden ließen. Mvnsignore Villard, Sekretär des Kar¬
dinals Parvadi, ermunterte noch am 15. Oktober 1896 in einem Schreiben
Diana zur Fortsetzung ihres Kampfes gegen den Satanskult. Großes Auf¬
sehen hatten die im Jahre 1896 im Verlage des „Pelikan" zu Feldkirch er¬
schienenen „Geheimnisse der Hölle" gemacht, worin die Fabeleien und Toll¬
heiten der Taxil-Margivttaschen Werkstube den deutschen Katholiken vorgesetzt
wurden, und worin von den Tcufelsanbetern in Berlin, Magdeburg usw. erzählt
wurde. Der weit verbreitete „Pelikan" schwang die Fahne Tnxils hoch — wir
gestehen es zu unsrer, der Deutschen, Schande — und verbreitete eifrig die
vermeintlichen Waffen gegen Freimaurerei und Protestantismus. Der Re¬
dakteur des „Pelikan" hatte in den „Geheimnissen der Hölle" sogar die photv-
graphirte, „ganz merkwürdige Unterschrift des Teufels" sowie des Teufels¬
papstes Leinmi und der höchsten Lvgeuhäupter bewundert und für sein Wirken
die Anerkennung und den Segen des Papstes erhalten.
Zu Anfang 1897 verkündigte Diana nach schriftlicher Beratung mit
Bischof Fava von Grenoble und dem Chorherrn Muskel ihr erstes Erscheinen
in der Öffentlichkeit auf Ostermontag den 19. April 1897 zu Paris im Saale
der Geographischen Gesellschaft, wobei sie zuerst Leo Tcixil das Wort geben
werde. An diesem Abend war der Saal natürlich ganz gefüllt. Taxil trat
ein, schwarz gekleidet, Akten unter dem Arm und setzte sich an einen für ihn
hergerichteten Tisch. Die Menge hatte vor dem Eintritt Stöcke und Schirme
ablegen müssen. Und nun erklärte Taxil kaltblütig, er habe seit zwölf Jahren
den Papst, die Freimaurer und die Katholiken genarrt. Weder existire Diana
Vaughan noch der Palladismus oder Teufelsknlt. Er rief der Versammlung
Zu: „Meine hochwürdigen Väter, ich danke aufrichtig meinen Kollegen von
der katholischen Presse und unsern Herren Bischöfen dafür, daß sie mir so
treulich geholfen haben, meine schönste Mystifikation zu organisiren, die meine
Laufbahn krönen wird." Es läßt sich denken, welche Erregung dieser Rede
folgte. Wir haben in deutschen Zeitungen jener Tage lesen können, wie Taxil
Mir mit Mühe aus der Versammlung heil fortgebracht worden ist.
Es war, wie die Kölnische Volkszeitung nun meinte, allerdings „eine
fürchterliche Lektion, die der große Pariser Gauner denjenigen erteilt hat, die
sich nicht wollten warnen lassen." Aber wer waren diese Glaubenseiferer? Es
waren nicht bloß die Massen derer, die man durch Jahrhunderte gewöhnt
hatte zu glauben was auch immer der Priester für göttlichen Willen ausgab,
sondern es waren die Priester selbst und die Herren der römischen Kirche bis
hinauf zum heiligen Stuhle. „Ich ging nach Rom, sagte Taxil, wo mich
die Kardinäle sehr herzlich empfingen. Der Kardinal Rampolla erklärte mir,
daß meine Enthüllungen nur das bestätigten, was er, der Kardinal, bereits
aus Dokumenten gewußt, die ihm zur Verfügung stünden. Leo XIII., welcher
alle meine Schriften in seiner Bibliothek hat, begehrte mich zu sehn. Ich
wußte, wie schwierig die Komödie sein würde, die ich vor dem Papste zu
spielen hätte. Ich studirte mir einen ganzen Tag laug meine Rolle ein.
Der Papst sandte der Vaughcm zweimal seinen Segen. Dennoch hätte Rom
den Schwindel durchschauen müssen." Und in der That muß mau annehmen,
daß Rom den Schwindel durchschaute, aber zugleich billigte. „Als der Bischof
von Charleston den Papst auf den Schwindel aufmerksam machte, befahl man
ihm zu schweigen. Dieselbe Folge hatte eine Vorstellung des apostolischen
Vikars von Gibraltar, der feierlich versicherte, der Felsen von Gibraltar sei
nicht (wie Taxil durch Diana Vaughcm hatte enthüllen lassen) unterhöhlt, und
es gebe dort keine geheimen Grotten sür den freimaurerischen Teufelsdienst."
So erzählte Taxil in jener Versammlung und las die Briefe der Kardinäle
und Hausprälaten des Papstes an Diana Vcmghan vor.
Nun wahrlich, wenn Taxil ein Erfinder, ein Schwindler ist, was waren
dann die römisch-jesuitischen Begünstiger und Verbreiter der Erfindungen, die
sie selbst für Schwindeleien hielten? Denn auch ohne den Bischof von
Charleston und den Vikar von Gibraltar wird jedermann annehmen, daß man
in Rom jene Lügen nicht für Wahrheit hat nehmen können. Taxil vertraute
fest auf den blinden Aberglauben in der Masse des katholischen Volkes —
und in Rom that man genan dasselbe. Wer von beiden war es, der die
größere Schuld auf sich lud? War es der journalistische Abenteurer ohne
Namen und Stellung, oder waren es die verantwortlichen Leiter der römischen
Kirche? Mit Lump und Strolch und allen erdenklichen Verwünschungen siel
man über Taxil her, als er gestand, mit dem Aberglauben der Katholiken seinen
Spott getrieben zu haben: welche Benennungen gebühren denn den Vielen in
ganz anders verantwortlicher Stellung, die mit Freuden ihm in seinem Werke
beistanden? Wenn Taxil nicht selbst das Geheimnis seiner ungeheuern Propa¬
ganda für den finsteren Aberglauben zerstört hätte — das jesuitisch-tyrannisch
geleitete Rom wäre nicht dazu bereit gewesen, sondern Hütte mit Befriedigung
das Gift weiter wirken lassen und zur Stärkung seiner Herrschaft ausgenutzt.
Ja, man hat trotz der in Paris von Taxil selbst in der Versammlung am
Ostermontage 1897 abgelegten Bekenntnisse seines Betruges, seiner zwölfjährigen
Irreführung der katholischen Welt, noch immer die Stirn, an seinen Schwin¬
deleien festzuhalten. Der „Pelikan" bleibt dabei, Geld zu sammeln für ein
Kloster in Schwyz zur Sühne des freimaurerischen Teufeldienstes. Ein vom
Papst gebilligtes Handbuch des Bundes der Antifreimaurer, das sich auf die
Werke Taxils stützt, wird weiter verbreitet. Herr Majunke hat — so lesen
wir — eine Schrift in demselben Geiste veröffentlicht. Herr Majunke hat sich
sogar in der fünfzehnten Auflage seiner „Geschichtslügen" neuerdings unter
Berufung auf die Werke Taxils zu dessen Enthüllungen bekannt, indem er an
dem Satanskult der Freimaurer festhält. Der Jesuit Bischof Meurin hat ein
Buch geschrieben mit dem Titel IiÄ ^ranerQÄyovQLriö, SMgM^us de L^tan.
Der Papst hat in einem Breve vom 30. Juni 1897, also nach der Selbst¬
entlarvung Taxils, die Antifreimaurer Spaniens zur Fortsetzung des Kampfes
ermuntert (vgl. Baseler Nachrichten vom 9. Januar 1898).
Ist nicht der Aberglaube stets die Waffe Roms in seinen schlimmen Tagen
gewesen? War es nicht die gangbarste päpstliche Münze, auf deren Avers stand
„Glaube" und auf deren Revers „Aberglaube"? Was hat denn Taxil andres
gethan, als diese Münze vollwichtig geprägt und verbreitet? Und es war nicht
Falschmünzerei, denn die Kirche billigte und leitete die Verbreitung. Konnte
der Priester und der einfache Laie zweifeln, wo der unfehlbare Papst segnete?
Konnte der Kaplan Aberglauben sagen, wo die Häupter der Kirche Glauben
sagten? Zwar es hat nicht an Zweiflern auch im Klerus gefehlt, und wir
freuen uus, daß vor allem in Deutschland der Widerspruch gegen die Propa¬
ganda des Aberglaubens zuerst hervortrat, und daß sich schon in Trient der
Gegensatz zum Romanismus kund that. Aber in einer Zeit, wo die römische
Kirche wieder so fest als nur irgend jemals in den Händen der Jesuiten
liegt, war es kaum wunderbar, daß fast alles innerhalb der Kirche der
„kolossalsten Mystifikation der neuen Zeit" erlag, wie Taxil sein Werk nannte.
Denn wonach haben die Jesuiten zu allen Zeiten eifriger gestrebt, als nach
Knechtung der menschlichen Vernunft? Wo herrschten sie besser, als wo Ver¬
dummung des Volks und Aberglauben die Grundlagen ihrer Macht waren?
Welcher Unsinn wäre zu groß, um etwa heute in Spanien nicht Glauben zu
finden, wenn die Väter der Gesellschaft Jesu es für nützlich erachteten, ihn zu
lehren, in diesem spanischen Volke, das sie in Jahrhunderten zu dem gemacht
haben, was es heute ist, den entnervten Nachkommen eines großen Geschlechts?
Wir sind keine Spanier — wird mancher Deutsche vielleicht sagen. „Die
deutschen Katholiken, hat der Führer des Zentrums, or. Lieber, gesagt, sind
nach der Ansicht der nichtdeutschen Katholiken im ganzen Laufe der Geschichte
niemals vollgiltige Katholiken gewesen und gar nicht imstande, es überhaupt
ihrer ganzen Natur- und Volksveranlagung nach zu sein." Und vielleicht
darauf vertrauend hat or. Lieber, hat der deutsche Katholizismus zweimal im
Reichstage den Beschluß durchgesetzt, die Jesuiten wieder ins Land zu rufen.
Man meint wohl, der Beschluß habe nichts zu sagen, weil jedermann wisse,
daß der Bundesrat ihn verwerfen werde. Aber wir müssen annehmen, daß
wenigstens das Zentrum den Beschluß ernst meint. Ist es wohl weise, ein
solches Selbstvertrauen zu nähren? Hat der „Pelikan" und seine „Geheimnisse
der Hölle," haben nicht noch andre Vorkommnisse gezeigt, was auch wir
Deutschen an unsinnigen Aberglauben hinunter zu schlingen vermögen, wenn
eine kundige Hand das Mittel bereitete, und rücksichtsloser Jesuitismus uns
den betäubenden Trank darreichte? Denn „was ist Wahrheit?" Dürfen wir
so fest darauf rechnen, daß sich bei uns die Vernunft nicht knechten lasse?
Wir haben es bei unsern Nachbarn erlebt und waren nicht gar fern davon,
es auch bei uns zu erleben, daß die Vernunft auf den Thron der Gottheit
gesetzt wurde. Aber war denn damit die Wahrheit auf deu Thron gesetzt?
Wurden hier nicht vielmehr derselbe Aberglaube, dieselbe zerstörende Thorheit
heilig gesprochen, die von kirchlich-religiösem Eifer zu allen Zeiten für Wahrheit
ausgegeben worden sind? Der blinde Eifer der Vernunft und der blinde Eifer
des Glaubens, sie zeugen denselben Aberglauben, sie haben gleich wenig die
Wahrheit zur Frucht, und eine Versammlung zu Ehren der „göttlichen Ver¬
nunft" hat nicht viel voraus vor einem Kongreß zu Ehren des göttlichen
Aberglaubens. Das Fest des höchsten Wesens aber fand vor mehr denn
hundert Jahren, der Kongreß von Trient vor einem Jahre statt.
Glaubt man denn, daß unser Volk seit hundert Jahren allem Fanatismus
nach der einen oder der andern Seite hin ganz entwachsen sei? Daß wir auf¬
geklärten Deutschen weder den nihilistischen noch den jesuitischen Aberglauben
zu fürchten Hütten? Oder meint man, die Jesuiten Hütten sich geändert? In
einer von einundzwanzig Prälaten des Vatikans herausgegebnen Zeitschrift
hieß es noch im Jahre 1895: „O seid gesegnet, ihr flammenden Scheiterhaufen,
durch die einige wenige und dazu ganz verschmitzte Subjekte beseitigt, jedesmal
aber hundert und aber hundert Seelen ans deu Schlünden der Irrlehre und
vielleicht auch der ewige» Verdammnis gerettet worden sind. . . . Fern sei eS,
daß wir jemals »ach schwächlichen Grundkeim zur Verteidigung der heiligen
Inquisition gegen ketzerische Schlechtigkeit suchten. . . . Der wohlthätigen Wach¬
samkeit der heiligen Inquisition ist der religiöse Friede sowie auch die Glanbens-
festigkeit zu danke», die den Adel der spanischen Nation ausmachen."
Das ist jesuitisches Glaubensbekenntnis, das ist die Nation jesuitischer
Schule und Erziehung; das ist die Kirche, der unfehlbare Papst, vor dem wir
uns noch vor zwei Jahrzehnten gebeugt haben, weil wir Deutschen nicht Kraft
und Selbstgefühl genug hatten, katholisch zu sein trotz Rom! Wir beugten
den Nacken, und alsbald erscholl von Rom her der Kriegsruf in jene»: Rund¬
schreiben vom Jahre 1884. Denn wenn scheinbar auch gegen die Frei¬
maurer der Kampf begonnen wurde, so war doch der eigentliche Gegner der
Protestantismus und der gesamte deutsche noch nicht völlig dem römischen
Stuhl unterworfne Volksgeist. Und so sollte auch der große Kongreß von
Trient der erste Sieg sein über die noch nicht gänzlich gebrochnen Kräfte des
Widerstandes gegen jesuitisch-päpstlichen Absolutismus.
Das jesuitische Rom hat diesmal einen würdigen Gegner gefunden: es
unterlag, vielleicht zum erstenmal, seit es einen Papst giebt, gegen die eignen
alten Waffen des Aberglaubens, unterlag gegen einen Mann, der diese Waffen
meisterlich zu führen wußte. Aber hat jemals eine Niederlage die Ziele der
Jesuiten verschoben? Solange das katholisch-jesuitische Rom mit solchen Waffen
kämpft, wie wir sie hier entblößt sahen, solange dort Aberglaube in der rohesten
Form und Inquisition und Scheiterhaufen so hoch in Ansehen stehen wie
gegenwärtig, solange können wir sicher sein, daß Rom jede Gelegenheit und
jedes Mittel benutzen wird, um auch bei uns die „Glaubcnsfestigkeit" herzu¬
richten, die „den Adel der spanischen Nation ausmacht." Wenn man uns
dort niemals im Laufe der Geschichte für vollgiltige Katholiken anerkannt hat,
so wäre es endlich Zeit, daß auch wir, diese Stellung anerkennend, versuchten,
katholisch zu sein ohne ultramontan zu sein, daß wir uns von einer Unfehlbarkeit
abwenden, die unserm Denken und unserm Charakter widerspricht.
aß die Bibel das verbreiterte Buch ist, spricht um sich noch nicht
für sie. Wenn es in den mohammedanischen Ländern so viel
Druckereien gäbe wie bei uns, so würde der Koran, der ganz
gewiß kein besonders gutes Buch ist, vielleicht noch verbreiteter
sein. Die schlechten Bücher erfreuen sich bekanntlich einer weit
größern Verbreitung als die guten. Wenn ein gutes Buch längere
Zeit viele starke Auflagen erlebt, so hat es das gewöhnlich dem Umstände zu
danken, daß sich eine einflußreiche Behörde, Körperschaft, Partei oder Klique
seiner annimmt. Zuweilen bringen die Beherrscher des litterarischen Geschmacks
ein Buch oder einen Schriftsteller oder gleich eine ganze Gruppe von Schrift¬
stellern in die Mode. So wurden bis vor einigen Jahrzehnten dem Knaben
gewisse Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts von allen Autoritäten als „die
deutschen Klassiker" angepriesen. Er fühlte sich dadurch verpflichtet, die Uni-
vcrsalbibliothek der deutscheu Klassiker in der DuodezauSgabe anzuschaffen, und
wenn ihm das Geld reichte, kaufte er sich außerdem eine billige Ausgabe der
fünf, die man ihm als die größten nannte, oder wenigstens der zwei aller¬
größten unter den größten. Heute werden nur noch diese zwei, und außer ihnen
allenfalls Lessing gekauft. Aber auch gelesen? Nicht einmal nachgeschlagen,
wie die Korrekturen beweisen, die sich der Kladderadatsch allsonntäglich an den
Gvethezitaten der Tante Voß vorzunehmen genötigt sieht; einige Sentenzen
gehen von Mund zu Mund und von Käseblatt zu Käseblatt, wobei sie natür¬
lich verhunzt werden, und außerdem werden einige Stücke der Klassiker in den
Schulen gelesen, hie und da auch noch in einem Theater aufgeführt; das ist
das Ende der einhundertjährigen Herrlichkeit. Also die Verbreitung an sich
beweist nichts, und die englische Bibelgesellschaft am allerwenigsten. Ein eng¬
lisches Blatt verrät, daß man bei der Aussicht auf die Erschließung Chinas
schon jetzt an eine großartige Fabrikation wohlfeiler kleiner Bronzegötzen gedacht
hat; das Bibelgeschäft muß also wohl schon einigermaßen in Mißkredit ge¬
raten sein.
Aber wenn man, wie ich, allen Autoritäten den Rücken gekehrt, mit den
Dogmen gebrochen, alle angelernten Meinungen und alles Anempfundne aus¬
gefegt und beschlossen hat, ein Narr auf eigne Faust zu sein und niemandem
zu folgen als der Stimme der eignen Natur und Vernunft, und wenn man
dann beim Bibellesen das Buch weder langweilig noch dumm findet, sondern
erst seinen wahren Wert und seine ganze Größe entdeckt, dann hat man den
Beweis dafür in den Händen, daß sie nicht ein Buch ist wie andre Bücher.
Und nun überlegt man die wunderbare Entstehung des Buches. Daß die
Werke eines einzelnen Genies auch nach Jahrtausenden noch genießbar bleiben,
findet man allenfalls erklärlich. Aber daß etwas für alle Völker aller Zeiten
genießbares herauskommt, wenn in verschiednen Jahrhunderten Leute, die in
Judäa, in Babylonien, in Ägypten, in Kleinasien, in Rom leben, Schriften
abfassen, und diese Schriften von Kirchenbehvrden gesammelt werden, denen
alle Ästhetik gleichgiltig ist, oder die wohl gar jedes Kunstwerk für ein Werk
des Teufels halten, das ist wunderbar. Die Echtheit des Amos und des
größern Teils des Jesaja wird von keinem der modernen Kritiker bestritten;
die Verfasser dieser Schriften haben im achten Jahrhundert vor Christus gelebt.
Das Evangelium Johannis ist im zweiten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung
entstanden, der Kanon im dritten Jahrhundert abgeschlossen worden. Die Bibel
ist also das gemeinsame Werk von Männern, die durch ein Jahrtausend und
über den alten orbis tsrrÄruin zerstreut gelebt, einander nicht gekannt, nicht
mit einander verhandelt, und die drei verschiedne Sprachen geredet haben. (Die
Männer, die den abendländischen Kanon festgesetzt haben, waren Lateiner.)
Und dabei ist nun ein Ganzes herausgekommen, und was für ein Ganzes!
Eine Weltgeschichte, die von Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende reicht,
und aus der der Geist, der die Welt erfüllt und die Weltgeschichte leitet, ganz
deutlich spricht. Denn welcher andre Geist als dieser allein könnte die Zukunft
voraussagen? Es hilft der historischen Kritik nichts, daß sie jede Schrift und
jede Stelle einer Schrift, die etwas voraussagt, was sich schon in der Ver¬
gangenheit erfüllt hat, um so viel Jahre oder Jahrhunderte herunterdatirt.
als notwendig ist, sie zu einer Weissagung ox post, zu stempeln; die Bibel
enthält genug Vorhersagungen, die heute noch in Erfüllung gehen. Eine davon
habe ich vor längerer Zeit erwähnt: Du wirst vielen Völkern auf Wucher
leihen, selbst aber bei keinem Volke borgen; und das ist nun vor dreitausend,
oder um den der Kritik gebührenden Respekt nicht zu verletzen, vor drittehalb-
tausend Jahren verkündigt worden! Auch ist die heutige Zerstreuung der
Juden unter den Völkern offenbar erst die eigentliche Erfüllung der nur vor¬
bildlichen ersten Zerstreuung, die von den Propheten vorausgesagt worden
war, und wenn Paulus den Römern schreibt, Israel werde sich nicht eher zu
Christus bekehren, als bis die Fülle der Heiden eingegangen sein werde, so ist
damit auch vorausgesagt, daß die über die Erde verstreuten Juden als ein
besondres Volk bestehen bleiben und sich unvermischt erhalten, nicht unter der
Mehrzahl spurlos verschwinden werden wie die nach Assyrien deportirten zehn
Stämme (von denen bekanntlich einige Gelehrte ganz ernsthaft behauptet haben,
sie seien nach England verschlagen worden und hätten im heutigen englischen
Volke ihre Auferstehung gefeiert). Wenn ferner im Zeitalter des Augustus
eine arme Judenfrau begeistert ausruft: Von nun an werden mich selig preisen
alle Geschlechter, so muß jeder „verstündige" Mann, der das vernommen hat,
sie für wahnsinnig gehalten haben, aber siehe da! ihr Wort erfüllt sich nun
schon ins neunzehnhundertste Jahr! Nicht anders steht es um das Wort, das
nach Matth. 26. 13 Christus von dem Weibe sagte, die ihn salbte: Wo
immer man in der ganzen Welt dieses Evangelium verkünden wird, da wird
man auch zu ihrem Andenken sagen, was sie gethan hat. Wie konnte jemand
wissen, daß gerade diese Erzählung die Jahrtausende überdauern werde? Sind
nicht ganze große Werke berühmter Männer, die von ihren Zeitgenossen für
unsterblich erklärt wurden, vernichtet worden? Und das allergrößte! „In
den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn erhöht sein über alle
Berge; und zu ihm strömen werden alle Nationen; und viele Völker werden
gehen und sagen: Kommt, laßt uns hinaufsteigen auf Jehovas Berg, zum Hause
des Gottes Jakob, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln auf seinen
Pfaden; denn von Sion geht aus das Gesetz, und das Wort des Herrn von
Jerusalem." Hat sich das etwa nicht zu erfüllen angefangen, achthundert
Jahre nachdem es Jesajas gesprochen, und geht es nicht in Erfüllung bis auf
den heutigen Tag? Alle andern Kennzeichen der Göttlichkeit der Bibel sind
subjektiv; dem einen scheinen sie sicher, auf den andern machen sie keinen Ein¬
druck; die Erfüllung der Weissagungen dagegen ist etwas so objektives wie eine
Inschrift im Stein.
Für subjektiv wird es auch schon erklärt werden, wenn ich gestehe, daß ich
den biblischen Personen glauben muß, die erzählen, wie sie mit Gott gesprochen
haben, und wie Gott zu ihnen gesprochen hat. Diese Theophanien machen niemals
den Eindruck des Kindischen oder Fabelhaften, wie die Visionen, die in andern
Büchern vorkommen. Ich bin einer der am wenigsten mystischen Menschen, die
es giebt, habe niemals Erscheinungen gehabt und halte den ganzen Spiritismus
für Humbug. Aber ich sage mir: unsre irdische Welt ist nicht denkbar ohne
eine metaphysische Welt, in der sie wurzelt, und in der auch das Ziel und die
Vollendung des Menschengeschlechts liegen muß, und wenn das der Fall ist,
dann muß es wenigstens einige Mystiker geben: außerordentliche Menschen,
die ein Organ haben zur Wahrnehmung des Jenseits. Wie diese Wahr¬
nehmung zu denken sei, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf; denn wem
dieser sechste Sinn fehlt, der kaun sich von den Wahrnehmungen, die er ver¬
mittelt, so wenig eine Vorstellung machen, wie der Blinde von der Farbe und
der Taube vom Ton. Solche Mystiker sind es nun, die uns übrige Menschen,
uns Weltlinge. mit dem Jenseits verknüpfen, sodaß die beiden Daseinshülften
nicht ganz aus einander fallen und die irdische Welt sich nicht ins leere Nichts
verliert. Und so glaube ich denn, daß Gott mit den Stammhäuptern des
auserwählten Volks gewandelt ist und mit Moses geredet hat. Wenn ein
Prophet des Herrn, so spricht er zu Aaron und Mirjam, die sich wider den
Bruder aufgelehnt hatten, „unter euch ersteht, so werde ich mich ihm in einer
Erscheinung offenbaren oder im Traume zu ihm reden. Nicht so mit meinem
Knechte Moses, der treu erfunden worden ist in meinem ganzen Hause; mit
dem rede ich von Mund zu Mund; nicht in Rätseln und Bildern sieht er den
Herrn, sondern unmittelbar" (4. Mose 12, 6). Allerdings nur „von hinten."
Denn als Moses den Herrn gebeten hatte: Zeige mir deine Herrlichkeit, da
sprach Gott: „Mein Antlitz kannst du nicht sehen; nicht kann mich ein Mensch
sehen und leben; aber stelle dich auf diesen Felsen; im Vorüberziehen werde
ich deine Auge» mit meiner Rechten bedecken, dann magst du mir nachschauen"
(2. Mose 3Z, 18). Wer den Propheten Jesajas liest, kann ihn nimmermehr
für einen Epileptiker halten: diese gewaltige Kraft kann nur in einem gesunden
Leibe wohnen; so kann es denn auch nicht ein Gebilde kranker Nerven gewesen
sein, was er laut dem sechsten Kapitel bei seiner Berufung zum Propheten¬
amte im Tempel sah. Und nach den Propheten erschien der, von dem der
Evangelist sagt: Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne Sohn, der im
Schoße des Vaters ist, hat uns von diesem erzählt. Und der Sohn durfte
sagen: Ich und der Vater sind eins, und: Philippus, wer mich sieht, der sieht
den Vater. Paulus hat mit dem verklärten Christus gesprochen und ist in
den dritten Himmel verzückt worden. Und Hütte sich das nicht ereignet, so
gäbe es kein Christentum, denn Saulus Hütte sich nicht in Paulus verwandelt.
Vielleicht, daß im Orient ein paar christliche Sekten, Nachkommen der von den
übrigen Aposteln gestifteten Gemeinden, ein kümmerliches und unbeachtetes
Leben fristeten. Den Schluß der Bibel endlich bildet ein Buch, das ganz aus
Visionen besteht.
Das Alte Testament, sagen die klugen und tugendhaften Männer von
hente, müsse als ein unmoralisches oder wenigstens anstößiges und gefährliches
Buch aus den Schulen verbannt werden. Ja, warum denn bloß das Alte?
Werden denn nicht auch im Neuen die natürlichen Dinge hie und da mit
ihrem richtigen Namen bezeichnet? Und ist die Moral des Neuen Testaments
— wenn wir einmal dieses Philisterwort zur Bezeichnung des Geistes des
heiligen Buches zulassen wollen —, ist die etwa die behördlich anerkannte
Vürgermoral? Eröffnet nicht die Bergpredigt, und zwar die Verkündigung
der acht Seligkeiten den Lehrkodex des ersten, größten und wichtigsten Evan¬
geliums, von dem die andern drei nur Ergänzungen sind, und bildet nicht
den Schluß das Wort: Weichet von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer,
denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist? Sogar an
den acht Seligkeiten hat sich der Philistersiun vergriffen und hat aus den
Armen im Geiste, d. h. aus deuen, die nicht allein wirklich arm, sondern anch
gern arm sind, die Demütigen und Gott weiß was sonst noch gemacht,
während doch der offenbare Zweck dieses gauzeu wunderbaren Programm¬
hymnus kein andrer ist, als den Leuten von vornherein zu sagen, daß bei
dem neuen Meister keiner seine Rechnung findet, der etwas von dem sucht,
was man in der Welt hochschätzt, daß hier eine Umwertung aller Werte vor¬
genommen, alles, was die Welt schützt, für wertlos, manches von dem, was
sie verabscheut und flicht, für ein hohes Gut erklärt wird: die Armut, die
sanftmütige und friedfertige Verzichtleistung auf den irdischen Besitz, der nur
durch Gewaltthat und Krieg errungen werden kann, die Traurigkeit, die Barm¬
herzigkeit, der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, der Verzicht auf Sinnen¬
genuß und die Verfolgung, die man um der Gerechtigkeit willen erleidet. Und
zum Überfluß hat Lukas die Seligpreisung durch das Wehe ergänzt, das Wehe
über die Reichen, die Satter, Landenden, die von den Menschen Gepriesenen.
Schon als Kunstwerk sind die acht Seligkeiten bewnndrungswürdig, der ganze
kunstvolle Aufbau aber würde zusammenstürzen, wenn man ihm durch solche
Um- und Mißdeutung des ersten Verses die Grundlage entzöge. Mau denke
sich nun eines unsrer modernen Völker vom Geiste der acht Seligkeiten
erfüllt — kein Stein bliebe von seiner bürgerlichen Ordnung auf dem andern!
Ähnlich hat ein Geistlicher, der sonst ein Prächtiger Mensch und mir wert,
aber bis in die Haarspitzen hinein ein Philister ist, in einer Predigt dozirt,
die Maria Magdalena, bei der Jesus Hausfreund war, und die „Sünderin
der Stadt" Lukns 7 könnten unmöglich, wie man gewöhnlich glaube, el» und
dieselbe Person gewesen sein, denn durch einen solchen Umgang würde ja der
Heiland seinen Ruf geschädigt und sein Ansehen als Lehrer untergraben haben.
Als ob Christus ein königlich preußischer Superintendent gewesen wäre, oder
als ob er des Herrn Annas Schwiegersohn hätte werden und sich als des Herrn
Kaiphas Rival ums Hvhepriestertum hätte bewerben wollen! Kann doch jedes
leidlich geweckte Katechismusschülerlein deu weisen Prediger daran erinnern,
daß eben der Umgang mit nichtsnutzigen Gesindel^j einen der Anklagepunkte
bildete, durch die sich die amtlichen Lehrer des Volkes verpflichtet erachteten,
den gefährlichen Menschen unschädlich zu machen!
Die Bibel ist etwas größeres als ein Mvralkodex, den man Schulkindern
einprägt, um gute Bürger aus ihnen zu machen. Einen solchen Kodex haben
die. Völker aller Zeiten von China bis Rom ganz gut ohne göttliche Offen¬
barung zu stände gebracht. Die Bibel ist das zweite große Weltgedicht, das
das erste, in Dingen und Geschehnissen bestehende Weltgedicht in Worten
wiederholt und seine Bedeutung erschließt. Darin kommt natürlich auch die
bürgerliche Moral und Ordnung vor, und unter den Lichtern dieses zweiten
Himmels giebt es genug, die sich als Lämpchen gebrauchen lassen, das einem
armen Kinde, einem Handwerker, einer Familienmutter durch das Gestrüpp ihrer
kleinlichen Kümmernisse hindurchleuchtet. Aber die Hauptsache bleibt, daß die
Bibel die ganze Schöpfung und den Weltlauf entrollt und sowohl ihn ver¬
stehen lehrt als den göttlichen Geist, der darin waltet. So viel oder so
wenig jeder Leser nach seiner Fassungskraft und nach seinen Verhältnissen
davon versteht, das genügt, um seine kleine armselige Person an den gött¬
lichen Born alles Lebens anzuschließen und ein Tröpflein ewigen Lebens
hineinzuleiten.
Jedes wahre Kunstwerk ist ein Abbild und eine Deutung der Schöpfung,
nur daß die gewöhnlichem Kunstwerke das Ganze nur in einem kleinen Aus¬
schnitt ahnen lassen, während die Bibel dieses Ganze wirklich zeigt. Daher
finden wir in ihr alles vereint, was die großen Werke der redenden .Künste
vereinzelt zeigen: wir haben in ihr den Homer, den Sophokles, den Dante,
den Luther/den Shakespeare, den Goethe und mehr als alle diese. ^>le ist
das größte und umfangreichste aller Epen und hat alle Vorzüge, die man
Homer nachrühmt; die'Lyrik der Psalmen wird von keinem Lhriker der ^Welt
^reicht, geschweige denn übertroffen. Ein Drama in knnsttechnischem ^sinne
findet sich' nicht i'n ihr, aber abgesehen davon, daß sie als Ganzes das Welten¬
drama ist (wovon Goethe im Faust und Dante in der Göttlichen Komödie
schwache Nachbildungen zu geben versucht haben), ist sie reich an echt drama¬
tischen Szenen. Keine menschliche Empfindung ist denkbar, die hier nicht
ihren stärksten, bis zur höchstem Leidenschaftlichkeit gesteigerten Ausdruck fände,
keine Situation, keine Charaktergestalt, der nicht das angemessenste stilistische
Gewand geliehen wäre. Was kann sich in der Weltlitteratur mit dem Lapidar-
stil vergleichen, in dem die großen Ereignisse des ersten Buches Mosis erzählt
und die erhabnen Gestalten der Patriarchen vorgeführt werden! Wie knapp
und vollkommen verstehen die Verfasser der biblischen Bücher Personen, Ver¬
hältnisse, Situationen zu charakterisiren! Man denke an die Stelle im Liede
der Deborah, wo die Heldin von dem gemeuchelte» Sisera singt: Durchs Fenster
blickend, heult seine Mutter und spricht, warum zögert sein Wagen zu kommen,
warum sind die Füße seines Viergespanns so langsam? Da antwortet eine
von seinen klugem Frauen: Vielleicht teilt er eben die Beute, und wird ihm
die schönste der Frauen auserlesen, dazu buntfarbige Gewänder und Schmuck
um den Hals — so mögen, o Herr, umkommen alle deine Feinde! Und
welche Fabel ließe sich in der Schönheit der Form und in der schlagenden
Übereinstimmung von Sinnbild und Gesinnbildetem mit der des Jotham ver¬
gleichen von den Bäumen, die einen von ihnen zum König wühlen wollten?
Alle Gestalten und Situationen sind in der Bibel so plastisch dargestellt, daß
der bildende Künstler nur zuzugreifen braucht. Den Stoff haben die Maler
noch lange nicht erschöpft. Oder sollte z. B. 2. Samuel 3, 14 schon einmal
gemalt sein? David schickte Boten zu Jsboseth, dem Sohne Sauls, und
ließ ihm sagen: Gieb mir mein Weib Michell wieder, das ich mir an¬
getraut habe. Jsboseth schickte hin und ließ sie ihrem Manne Paltiel
nehmen. Und dieser ihr Mann folgte ihr weinend bis Bahurim. Dort
sagte Abner: Geh und kehre zurück; da kehrte der Mann zurück. Im
20. Kapitel desselben Buches wird erzählt, wie David den Abisai, Joabs
Bruder, zur Dämpfung eines Aufruhrs ausschickte, gleichzeitig aber dem Amasci
einen gesonderten Oberbefehl zum selben Zwecke erteilte. Die drei Feldherren
stießen zusammen. Joab war mit einem eng anliegenden Gewände bekleidet
und hatte sein Dolchmesser so an der Hüfte hängen, daß es ganz leicht aus
der Scheide gezogen und gebraucht werden konnte. Er rief dem Amasci zu:
Sei gegrüßt, mein Bruder! und faßte ihn mit der Rechten am Kinn, als wollte
er ihn küssen, dabei aber stieß er ihm das Dolchmesser in den Leib, sodaß
er starb. Joab und Abisai setzten nun dem Empörer nach, die Vorüber¬
gehenden aber, die den Leichnam sahen, sagten: Das ist nun der, der an
Joabs Statt Davids Leibwächter sein wollte! Kann das Verhältnis dieser
Männer zu einander, das Leben an Davids Hofe, überhaupt das orientalische
Veziratwesen kürzer und deutlicher charakterisirt werden? Oder man nehme
folgende Erzählung aus dem 9. Kapitel des 2. Buches der Könige. König
Joram von Israel liegt krank in Jesreel, und sein Vetter Ahasja von Juda
weilt zum Besuch bei ihm. Der Turmwächter sieht die Schar Jesus heran¬
rücken und meldet: Ich sehe einen Haufen Kriegsvolk. Joram befiehlt: Schicke
einen Wagen entgegen und laß fragen: Kommst du in friedlicher Absicht? Der
auf dem Wagen sagte also, als er ankam: Der König fragt: Kommst du in
Frieden? Jesu antwortete: Was geht dich der Frieden an! Fahre vorüber
und folge mir! Der Turmwächter meldete: Der Bote ist angekommen, kehrt
aber nicht zurück. Da schickte der König einen zweiten zu Wagen, der da
sagte: Der König läßt fragen: Kommst du in Frieden? Jesu sprach: Was geht
dich der Frieden an! Fahre vorüber und folge mir! Der Turmwächter
meldete: Auch der zweite ist angekommen und kehrt nicht zurück; die Marsch¬
weise des Haufens aber ist die Jesus, denn er kommt im Sturmschritt an¬
gerückt. Da befahl der König: Spann meinen Wagen an! Und die beiden
Könige fuhren, jeder auf seinem Wagen, dem Jesu entgegen und trafen ihn
auf dem Grundstücke Naboths. Und Joram sprach: Friede? Jesu? Der er¬
widerte: Was für ein Friede? Werden doch deiner Mutter Isabel Hurereien
und Zaubereien immer ärger! Da kehrte sich Joram zur Flucht und rief:
Verrat, Ahasja! Jesu aber spannte seinen Bogen und schoß Joram zwischen
die Schultern, sodaß der Pfeil durchs Herz drang, und er fiel vom Wagen.
Jesu aber sprach zum Hauptmann Bidekar: Nimm den Leichnam und wirf ihn
auf den Acker Naboths des Jesreelite»! Oder betrachten wir zwei Schilde¬
rungen aus Jesaja. Der Herr hat den Untergang Assurs beschlossen und
zerbricht dieses Werkzeug seines Zorns, das sich gegen den Meister zu erheben
vermaß und sich einbildete, aus eigner Kraft und Weisheit große Dinge voll¬
bracht zu haben, zerbricht es in dem Augenblicke, wo der stolze König spricht:
Wie man ein Vogelnest findet, so hat meine Hand die Völkermacht gefunden;
wie man verlassene Eier aufliest, so habe ich die Länder der Erde gesammelt,
und nirgends ein widerstrebendes Vögelchen, das es gewagt hätte, auch nur
zu zirpen oder einen Flügel zu regen. Den (zukünftigen) Fall des Königs
von Babel aber läßt er „das Haus Jakob" also besingen: „Wie ist nun der
Peiniger zur Ruhe gebracht, der uns Tribut auspreßte! Die Hölle drunten
gerät in Aufruhr ob deiner Ankunft! Die Riesen der Vorzeit erheben sich,
die Könige stehen auf von ihren Thronen und begrüßen dich: so bist auch du
geschlagen und uns ähnlich geworden! In die Unterwelt wird deine Hoffart
gestürzt, und dein Leichnam liegt da, auf Motten gebettet, mit Würmern als
Decke. Wie bist du doch vom Himmel herabgestürzt, du glänzender Morgen¬
stern!"
Die wissenschaftliche Kritik unsrer Zeit belehrt uns, daß fast jedes der
alttestamentlichen Bücher ein paar hundert Jahre nach dem Manne geschrieben
ist, dessen Namen es trägt, und daß die Verfasser lügen, wenn sie den Moses
oder diesen und jenen Propheten sprechen lassen, mit andern Worten, daß sie,
einige Propheten ausgenommen, Fälscher sind. Nun, wenn das wahr ist,
dann haben wir in diesen Fälschern die auserlesenste litterarische Gesellschaft
der Welt beisammen, in die aufgenommen zu werden der „Falscher" Shake¬
speare und der „Plagiator" Lessing sich zur höchsten Ehre anrechnen dürfen.
Soviel über die Form der Bibel — erschöpfen mag ein Würdigerer das
Thema —, nun einiges über den JnhaltI
Der großen Worte, mit denen sich kein Wort der profanen Weltlitteratur
vergleichen läßt, giebt es Hunderte in der Bibel, aber vielleicht kein größeres,
als die ersten drei Verse der Genesis mit dem Schluß: Es werde Licht, und
es ward Licht! Läßt sich eine treffendere Bezeichnung für den Anfang der
materiellen Welt denken als diese, die noch dazu vom Standpunkt der modernen
Physik aus betrachtet vollkommen korrekt genannt werden muß, da das Licht
Aetherbeweguug ist, und die Weltmaterie im ersten Stadium ihres Daseins
nichts andres gewesen sein kann als ein Lichtnebel? Es sind ungeschickte
Apologeten, die in jedem Worte des Sechstagewerks Cuvier oder gar Darwin
nachweisen wollen, aber einfacher, schlichter, würdiger kann das, was sich auf
dem Standpunkte unsrer heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis von der Welt¬
schöpfung wissen oder ahnen läßt, nicht ausgedrückt werden: daß sich auf des
Schöpfers Geheiß aus chaotischen Duustnebel zuerst die Weltkörper*) ge¬
bildet haben und dann auf unsrer Erde die organischen Geschöpfe in einer
Stufenfolge entstanden sind, zuerst die niedern und dann die höhern, zuletzt
der Mensch. Wie stechen dagegen die phantastischen Mythologien der Heiden
ab, und wie fallen die sogenannten natürlichen Schöpfungsgeschichten der
modernen Wissenschaft in phantastische Mythologie zurück! Ist der gelehrte
Pädagog unsrer Zeit ein gewissenhafter Mann, und schwört er sich selbst, den
Kleinen nichts zu sagen, was er nicht mit seinem Tode zu besiegeln bereit
wäre, dann wird seine gelehrte Darstellung der natürlichen Schöpfungsge¬
schichte so zusammenschrumpfen, daß davon sachlich nicht viel mehr übrig bleibt
als das schlichte Bibelwort, dessen Form ändern oder verbessern zu wollen
keiner wagen wird, der Stilgefühl hat und dichterisch empfindet. Und ist nicht
auch die Erzählung von der Schöpfung des Menschen buchstäblich wahr? Be¬
steht dessen Leib nicht aus Erde, und ist der Geist, der den Erdcnkloß beseelt,
nicht göttlichen Ursprungs? Und können wir uns eine andre Kraft, die das
wunderbare Gebilde zu schaffen vermocht Hütte, wohl denken als den göttlichen
Schöpferwillen? Wie dieser das angefangen hat, das wissen wir freilich nicht,
und die Bibel sagt es auch nicht; sie berichtet nur die Thatsache, und was
andres sollten wir den Kindern berichten, als eben diese Thatsache, wenn wir
überhaupt vom Ursprünge des Menschengeschlechts zu ihnen reden wollen?
Die Schöpfung des Weibes ans dem Mann aber enthält einerseits eine natur-
geschichtliche Wahrheit, indem alles Geschlechtliche aus der Spaltung eines ur¬
sprünglich Ungeschlechtlichen oder vielmehr Doppelgeschlechtlichen entstanden ist,
»ut andrerseits ein Symbol, indem darin die physiologische und die ideelle
Einheit von Mann und Weib ausgesprochen wird, die in der Einsetzung der
Einehe ihr Siegel empfängt. Indem ferner Gott dem Menschen die Herrschaft
verleiht über alle organischen Geschöpfe, ihn in den Lustgarten setzt, °damit er
ihn bebaue und bewache, und die Tiere ihm vorführt, daß er sie benenne,
wird das intellektuelle, das wirtschaftliche und das Kulturverhältuis des
Menschen zur Natur in wenigen Worten erschöpfend dargestellt. Dabei ent¬
spricht es ohne Zweifel dem 'wirklichen Verlauf der Entwicklung der Mensch¬
heit, daß ihr für den Anfang Baumfrüchte zur Nahrung angewiesen werden.
Die Geschichte des Sündenfalls sodann erzählt weiter nichts, als was
sich täglich ereignet. So und nicht anders spricht bis auf den heutigen Tag
jeder Versucher, der das Kind verleiten will, der Eltern Gebot zu übertreten,
so und nicht anders verläuft der psychologische Prozeß im Versuchten. Und
die Wirkung ist immer dieselbe: Neue, Scham und Pein. Aber dieser Durch¬
gang zur Selbständigkeit ist unvermeidlich, deshalb wird die Sünde dargestellt
als ein Essen vom Baume der Erkenntnis. Im kindlichen Zustande, der kein
andrer ist als der tierische des reinen Naturlebens, konnte und dürfte der
Mensch nicht verharren, wenn es zur Vollendung seines Wesens und zur
Kulturentwicklung kommen sollte. Der Mensch mußte also vom Baume der
Erkenntnis essen, mußte sein wollen wie Gott, mußte uach einer über der
rohen Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse liegenden Glückseligkeit streben
und in dieser Entzweiung seines Wesens dazu gelangen, sich des bloßen, von
Gott geschaffnen Naturzustands zu schämen; da dieser Zwiespalt aber zunächst
unglücklich machte, so empfand er seine Ursachen, die erwachte Erkenntnis und
das Streben nach Besserung als Schuld. Zugleich aber ward ihm der Trost
der Hoffnung, daß der Kulturfortschritt die Kulturübel überwinden, daß der
Weibessame der Schlange den Kopf zertreten, und daß er den Baum des
Lebens in einem höhern Paradiese wiederfinden werde. Bei der Kürze dieser
symbolischen Entwicklungsgeschichte erscheinen die einzelnen Entwicklungsstufen
perspektivisch in einander geschoben, und so wird die harte Arbeit vor der
Vermehrung des Menschengeschlechts erwähnt, während sie die Folge davon
war, daß ein Teil der Bevölkerung in dem Paradiese tropischer Fruchtgärten
keinen Raum mehr fand und in rauhere und weniger fruchtbare Gegenden ab¬
wandern mußte. Auch diese harte Arbeit wurde als Wirkung einer Sünden¬
schuld empfunden, und wahrscheinlich früher, als der innere Konflikt; gehen ja
noch heute gerade einige von den edelsten Stämmen der Schwarzen vollkommen
nackt, ohne sich zu schämen.
Die Arbeitsteilung tritt ein, mit ihr das Streben nach Besitz, der Neid
auf den Erfolgreichern, der vielseitige Interessenkonflikt. Der unbequeme
Nebenbuhler wird mit Gewalt aus dem Wege geräumt, selbst vorm Bruder¬
mord — wie unübertrefflich schön und wahr ist das Keimen des Planes und
der Seelenzustand des Thäters dargestellt! — schreckt man nicht zurück. Die
Arbeitsteilung schreitet fort, die Eisenbearbeitung wird erfunden und liefert
dem Kulturfortschritt wie dem sich in Wechselwirkung mit ihm entwickelnden
Verbrechen ein Arsenal. Lamech, der Vater des ersten Eisenschmieds, frohlockt:
Einen Mann erschlage ich für eine empfcmgne Wunde, einen Jüngling für eine
Strieme; Kam wird siebenmal gerochen,,,Lamech siebenzig mal siebenmal! Die
Riesenkraft der Urbevölkerung und der Übermut, der ihr ans ihren Kultur¬
sortschritten entquillt, erzeugen ungeheure Verbrechen, die Kinder Gottes werden
in das allgemeine Verderben hineingezogen, und es reuet Gott, daß er den
Menschen erschaffen; er erkennt jenes Verhängnis, das innerhalb der Grenzen
der Endlichkeit, im Gebiete der Individuation, reine Vollkommenheit nicht
zuläßt und dem Guten das Böse als untrennbaren Schatten, ja noch inniger:
als Kehrseite, als Wurzel und Werkzeug verbindet, er empfindet diese Not¬
wendigkeit als heftigen Schmerz in seinem Innern und beschließt, das Menschen¬
geschlecht bis auf einen Nest zu vertilgen; aber er erkennt zugleich diese Not¬
wendigkeit als unabwendbar an, hält dafür, daß das Sein auch in dieser Form
besser sei als das Nichtsein, und schließt mit dem geretteten Nest einen Bund,
wonach er den regelmäßigen Verlauf der Jahreszeiten nicht mehr durch eine
alles vernichtende Katastrophe zu unterbrechen verspricht — bis zum Ende der
für die Entfaltung des Menschengeschlechts bestimmten Zeit. In der Völker¬
tafel, einer für die Zeit ihrer Entstehung wunderbaren Leistung, werden die
dem Verfasser bekannten Völker nach ihrer durch die Abstammung von Noah
gegebnen Verwandtschaft geordnet; die Herrschaft der Semiten über die Cha-
miten wird auf eine Impietät des Stammvaters dieser zurückgeführt, die den
Hang zu geschlechtlicher Zügellosigkeit durchblicken läßt; worin die Wahrheit
liegt, daß diese die Völker schwächt. Der Auszug aus Babel, enthält das
Programm der politischen Entwicklung aller Zeiten. Durch Übervölkerung,
durch die Vereinigung einer zu großen Menge auf zu kleinem Raume und
den Zwang zu gemeinsamer Thätigkeit, dem eine ungefüge Menge unterliegt,
wird die innere Politik zu einem Babelturmbau, bei dem keiner den andern
mehr versteht, und dieser Verwirrung kann nur durch teilweise Abwanderung
der Bevölkerung gesteuert werden; so sieht sich jedes lebenskräftige Volk nach
vollständiger Besiedlung seines Heimatlandes zur Kolonisation gezwungen, und
die Kolonien werden selbst zu Heimatländern, in denen sich der Prozeß wieder¬
holt, bis die Erde und die Bestimmung ihrer Bewohner erfüllt sein werden.
Nachdem die Sintflutsage unter den entzifferten Resten der babylonischen Litte¬
ratur gefunden worden ist, halten es unsre kritischen Historiker selbstverständ¬
lich für ausgemacht, daß die biblische Erzählung den Babyloniern entlehnt sei.
Die Sintflutsage ist aber bekanntlich über die ganze Erde verbreitet, was un¬
erklärlich wäre, wenn ihr nicht ein Ereignis zu Grunde läge, dessen Erinne¬
rung sich dem Gedächtnis aller Völker tief eingedrückt hat. Die Sintslutsage
ist also weder babylonischen, noch jüdischen, noch amerikanischen Ursprungs,
sondern sie entstammt der Zeit vor der Völkerscheidung; daß sie bei zwei be¬
nachbarten Völkern, die beide in der Nähe des wahrscheinlichen Schauplatzes
der Begebenheit wohnen, ähnlich klingt, ist das natürlichste von der Welt.
Welcher der beiden Fassungen man aber den Vorzug geben soll, daran kann
kein Zweifel bestehen: in der babylonischen ein mythologisches Göttergewimmel,
in der biblischen keine Spur von Mythologie — man müßte denn den einen
Gott für ein mythologisches Wesen erklären — und dieselbe schlichte Größe
der Darstellung, wie in allen andern Erzählungen der Genesis.
Die Menschheitsgeschichte konnte nach der Sündflut nicht wesentlich anders
verlaufen, als sie vorher verlaufen war, und je reicher sich die Kultur ent¬
faltete, desto wirrer und wüster wurde auch die Mythologie, denn soweit ist
die materialistische Geschichtsauffassung allerdings im Recht, daß der Götter¬
himmel ein Spiegelbild der Menschenwelt, die ihn erdichtet, und ihrer Zu¬
stände ist. Aus dieser Wirrnis wühlt sich nun Gott einen Mann schlichten
Sinns aus, der ihm, dem einen wahren Gott, treu geblieben ist, und den er
zum Stammvater eines Volks macht, das der weltlichen Kultur gegenüber die
Idee des einen, ewigen, unwandelbaren Urgrnnds aller Dinge fest- und der
Menschheit die Rückkehr zu diesem Urgründe offen halten soll. Der göttliche
Zweck ist nur dadurch zu erreichen, daß der auserwählte Stamm jahrhunderte¬
lang unter Fremden, unter Feinden lebt, mit denen er sich nicht vermischen,
in deren Verirrungen er nicht verstrickt werden kann. Darum beginnt die Ge¬
schichte des auserwählten Volks mit dem Befehl: Ziehe aus aus deinem Lande,
aus deiner Verwandtschaft und aus dem Hause deines Vaters, und komme in
das Land, das ich dir zeigen werde! So taucht vor unsern Blicken die er¬
habne Gestalt des Patriarchen Abraham auf; wir sehen ihn, wie er einher¬
zieht mit seinen Knechten und Mägden, mit seinen Kamelen, Eseln und Schafen,
bald hier bald dort seine Zelte aufschlagend und dem Herrn Altäre errichtend.
Von den dünn gesäten Einwohnern Palästinas als Fürst verehrt, lebt er in
Frieden mit ihnen, ohne in engere Beziehungen zu ihnen zu treten; nur ein¬
mal sehen wir ihn mit einheimischen Fürsten verbündet zu einem Kriegszuge,
den er unternimmt, um liebe Verwandte aus den Händen eingefallner räube¬
rischer Häuptlinge zu befreien. Fern von dem Kulturgetümmel seiner Heimat
am Euphrat bleibt er in inniger Verbindung mit der Natur, aus deren ruhiger
Pracht Gott zu ihm spricht. Schaue gen Himmel und zähle die Sterne,
wenn du kannst, so zahlreich wird deine Nachkommenschaft sein! So klingt
es dem Alternden, Kinderlosen im gläubigen, hoffenden Herzen, und die Ver-
heißung erfüllt sich in einer zahlreichen leiblichen Nachkommenschaft, bis deren
Beruf/Trägerin der Verheißungen zu sein, erfüllt ist, und die Zeit anbricht,
wo ans die leibliche Nachkommenschaft ein zahlloses Heer von geistigen wohnen
Abrahams folgt. So fest ist sein Glaube, daß er dem Gebot, sein Teuerstes,
seinen einzigen rechtmäßigen Sohn, das Kind der Verheißung, zu opfern, ge¬
horchen will; aber Gott hat diese Prüfung nur verhängt, um damit in seinem
engern Reiche ein für allemal dem Greuel der Menschenopfer vorzubeugen und
den Glauben der Heiden an die Gottgefälligkeit und Wirksamkeit der Kinder-
abschlcichtung, der ganz Vorderasien verwüstete, als Irrtum und Verbrechen
zu enthüllen. Zum Volke wächst Abrahams Nachkommenschaft in Ägypten
heran, wohin sie durch die wunderbaren Schicksale eines seiner Urenkel ver¬
schlagen wird. Die Geschichte des ägyptischen Joseph kann als eine an drama¬
tischen Wendungen reiche und kulturgeschichtlich interessante Novelle bezeichnet
werden.*) Für den kritischen Historiker unsrer Zeit ist Abraham selbst¬
verständlich ein Sonnengott, hat niemals ein Joseph existirt, und siud die
Stammväter des jüdischen Volks niemals in Ägypten gewesen. Ich lasse den
Herren das Vergnügen, überall Mythen nachzuweisen, und beschaue heute noch
die Gestalten der Patriarchen mit demselben Behagen, nur mit tieferen Ver¬
ständnis, als ich sie als Kind beschaut habe.
(Fortsetzung folgt)
er letzte, der heute die Augen schloß, war der Schlesinger. Es hatte
ihn lange inwendig gewürgt, ehe er einschlafen konnte. Und doch
war er am Morgen des 29. Oktober die erste muntere Seele im
Mnsershnus. Wer es in einer Nacht einmal mit dem Schlaf ver¬
schüttet hat, der bringt es auch in selber Nacht nicht wieder zum
^ richtigen Einvernehmen mit ihm.
Sie am Morgen des 23. Oktober die Braut am offnen Fenster stand beim
Morgensegen, so heut der Schlesinger. Denn auch am zweiten Kirmestag blasen
mit dem frühsten Morgen die Musikanten um Maien einen Chornl. Heut blasen
sie: Wie schön leuchtet der Morgenstern. Weder der ursprüngliche Text: Wie schön
leuchten die Äuglein dein, noch der vergeistlichte paßten für den Schlesinger. Und
darum war es gut, daß die Musikanten nur Melodie und Harmonie und nicht auch
den Text blasen konnten, sonst wäre es mit der Andacht des Schlesingers fraglich
bestellt gewesen. Aber so that es gut für ihn. Er faltete wahrlich die Hände
beim Morgenscgen.
Still wars wieder. Tick—tack— —tack—tick—tack. Das hats wie mein Schnell-
schützeuzeug in Schlesingen. Da war eher Zug drin als in dem Sackdrillichstuhl.
Werd mir einen Schnellschützen einrichten und Baumwollenzeug arbeiten. Da bring
ichs höher und hab auch mehr Freud, wenn ich wieder hantir wie in meiner
Schlesinger Zeit. Und mein Meisterstück mach ich. Und nachher nehm ich große
Warenlieferungen an und halt mir Stühl außerhalb wie mein seliger Meister
Zacharias in Schlesingeu. Denn die Madlene — — die wird den Frieder doch
frein und ins Rödershaus ziehn. Und sie wird halt gar sehr schilt. Und wenn
ich nach der Ofenblasen hiuguck, und das Döhlerskätterle sitzt seit: da wird mirs
halt ein'n Stich ins Herz gebn. S Kätterle! Ich leurs Wohl uit so genau wie
der Kleine — es soll halt brav sein. Muß mirs heut doch einmal ordentlich aufs
Korn »eben. Aber halt die Madlene — unser Madlene! Ja! — Und wenn sie
fort ist, muß ich was anders dafür krieg; denn 's Kätterle wird uit hin langen —
Gott bewahr mich! Gott bewahr! Im ganzen Lehm nit: es muß ein Schnell-
schützeu her, sonst thuts uit gut mit mir. Denn in den heiligen Stand der Ehe
hinein gehts nit mit mir! Ich kenn die Welt, die vermaledeite Welt!
Vom Plan herüber drang das grollende Selbstgespräch des. Brunnens: Wie
ein Vergessener steh ich da. Auch das Weibsvolk läßt mich im Stich in deu tollen
Tagen. Sonst um die Zeit des Morgens hatten sich schon mit mir. S läßt sich
keine Schindmäre sehn. Und der Hans-Hasenfuß dahinten, der geputzte Schlaraff
reckt seine Nase immer höher nach dem Himmel zu. Bei mir gehts immer hinunter-
wa'res; das ist ein Unterschied. Aber es wird auch einmal wieder anders. Es ist
alle Jahr noch Pfingsten kommen.
So predigen die Verlassenen von ihrem Schicksal in den stillen Morgen des
zweiten Kirmestages hinein.
Guten Morgen! Bist schon auf, Großer?
Kann sein. Guten Morgen, Madlene!
Der Große blieb am offnen Fenster stehen, während Madlene von ihren häus¬
lichen Morgenverrichtnngcn bald zur Küche, bald zur Porlam, bald wieder zur
Stube gezogen ward. Und wenn sie in die Stube trat, hatte sie jedesmal einige
Worte für deu Großen.
Heut abend gehst dn doch einmal mit uns ins Wirtshaus? Mußt doch einmal
sehn, wie 's Kätterle hübsch tanzt!
'
S Kätterle! Madlene. s Kätterle langt nit hin! Im ganzen Leb» nit! Nie
uit! Kein Gedanke nit!
S langt nit hin? Wohin denn?
Wo du bist. Das muß ich kenn!
Weiß nit, wie dus meinst. Wir sind ganz einig und gut mit einander.
Ich auch; warum das nit? Aber 's Kätterle langt halt nit hin. Ich muß
mir einen Schnellstuhl eiuricht.
Einen Schnellstuhl? Wegen dem Kätterle?
Wegen dir und wegen dem Kätterle. Weils nit hinlangt, wo du bist, 's
Kätterle. Nit!
Madlene begab sich in die Küche, nach der Porlam und wieder zurück in die
Stube. Es war in ihr eine Ahnung vom Zustand des Großen aufgestiegen.
Ich muß dir was gestehn, Großer! Gestern wollt ich schon, und dn gings
nit. Aber es muß halt einmal sein. Am Heiligabend war der Frieder da und
hat 's Jawort geholt. Du bist der Ältst, und weil der Vater und die Mutter
uit mehr lebn, muß ich dich halt um dein'u Segen bitt.
Siehst du, daß ich recht hatt von wegen dem Kätterle. Dn willst ins Röders-
haus zieyn: das ist ja die Gschicht. Und 's Kätterle langt halt nit hin! Nit! Im
Lehm nit!
Da kennst du halt 's Kätterle nit. Es ist ein bravs, tüchtigs Mttdle.
Kann sein, kann alles sein! Aber wo dn bist, langes nit hin, — nit — nit
um die Welt nit!
Das bildest du dir ein. Aber 's Kätterle versteht ein'n Hanshnlt zu führn;
sie hat eine brave, tüchtige Mutter und hat was gelernt bei ihr. Ich weiß 's
gewiß!
Frei nur, Madlene! Wenn du mich extern wollest, hießs: Ich frei! Nun
wirds ja fo! Ich muß mir halt ein Schnellzeug anschaff. Und Meister werd ich!
Es geht halt nnn alles aus einander! Aber es geht auch wieder zainin!
Zaum? Das muß ich kenn!
Guck, Großer! Der Frieder hat gesagt, vor Weihnachten noch sollt die Hvchzig
sein. Und gleich muß der Kleine nachher auch frein. Und du besuchst uns nach
Feierabend und am Sonntag, und wir dich, und wir sind hübsch einig, und so wirds
recht und gut. S wird halt ein wenig anders. Aber schlimm und bös branches
nit zu werden, wenn der liebe Gott hilft.
Da schlug der Große mit zwei Fingern auf die Snudauer, daß es schallte,
und nahm eine derbe Prise. Es mußte ihm ein Körnlein ins Aug gekommen sein;
denn er hatte ein wenig daran zu wischen.
Madlene hatte ans einige Minuten in der Küche zu schaffen, und als sie wieder
in die Stube kam, sagte der Große gelassen und ansgeglichncn Tones: Na, ich
werd schou verkommen mit dem Kätterle, wenn ich Meister bin und ein Schnell¬
zeug und außerhalb noch Stuhl gehn hab wie mein seliger Meister Zacharias in
Schlesingeu. Und am Sonntag, jeden Sonntag gehts ins Rödershaus! Hases
gehört, Madlene!
So ists recht, Großer!
'
Und meinn Segen sollt ihr habn, wenn er was vor unserm Herrgott gilt,
du mit deinni Frieder und der Kleine mit heirin Kätterle. Und das will ich heut
einmal auf dem Tanzboden aufs Korn result.
So ists recht, Großer!
Und wenns einmal was zu wiegen giebt: ich kenn auch hübsche Lieder, lustige
und traurige.
Da war aber die Madlene schon wieder in der Küche.
Da kommen sie wahrhaftig schon. Kleiner! steh auf, sie kommn! Und damit
führ der Große nach der Hansernskammer hin und rief zur Thür hinein: Steh
auf, Kleiner! Gschwind! Sie sind schon da!
Hastig fuhr er nun nach der Hausthür und rief hinaus: Unser Kleiner ist
fort. Braucht euch keine Müh zu gebn.
Oho, Schlesiuger! Narrnspossen! Platz gemacht!
Damit ward der Große auf die Seite geschoben von drei eindringenden
Burschen, von denen der eine schneeweiß gekleidet und von Kopf bis zu Fuß mit
bunten Troddel» und Bändern bestickt war, der „Laufer," versehen mit einer furcht¬
bar langen Peitsche um kurzem Stiel zum Knallen. Sie mußten genau wissen, wo
der Kleine schlief; denn sie drangen ohne weiteres in die Hansernskmnmer und
packten den Kleinen, der kaum in die Beinkleider gefahren war, und schleppten ihn
hinaus und banden ihn ans ihren Schieb karren. Es half alles Sträuben nichts: so
notdürftig bekleidet, mit wirrem Haar, barfuß, ward der Kleine ins Wirtshaus ge¬
fahren. Dort mußte er verharren, bis das „Zusammenfahren" der Blotzburschen
beendigt war. Es war bald geschehen. Denn nnr noch einen fingen sie; die andern
drei waren glücklich entkommen und warteten schon lachend im Wirtshaus. Die
beiden Gekarrnten hatten Buße zu zahlen.
So hatte dieser Tag des Büßens und Zählens deu Stempel empfangen.
Bald begann sich allerlei Gesinde! im Dorf zu zeigen. Da kam der Scheren¬
schleifer, der sich seinen Schlcifkarren ans einem Weberspulrad hergestellt hatte, ver¬
sehen mit einem Wassereimer mit mächtig großem Pinsel zum Anfeuchten des Schleif¬
steines, häufiger jedoch gebraucht zum Einspritzen Neugieriger, namentlich der lustigen
Jugend, die heut ihren großen Tag hatte. Die „Rike" des Scherenschleifers — eine
in Frauenkleidern steckende Mannsperson mit einem großen Korb auf dem Rücken —
hatte die scharf zu machenden Waren ans den Häusern zu holen und gegen guten
Schleiferlohn, der weniger in Geld als in allerlei Viktualien bestand nud sich im
Korbe sammelte, wieder abzuliefern. Die Szenen, die sich zwischen dem Scheren¬
schleifer und seiner „Nike, dreh, dreh, dreh! Rike, truii, truii, truii!" abspielten,
waren so drollig und derb, daß diese Einfälle und Auslassungen das Bühnenstück
des gestrigen Abends bei weitem übertrafen, namentlich an Gesundheit. Es flössen
auch Thränen dabei; das waren aber Lnchthränen, eine gute Gabe Gottes zur
Reinigung der Gemütskaunle. — — Judenvolk in gelungner Nachahmung, ein
riesiges Bettelweib mit großem hölzernem Wickelkind, kartenschlagende Zigeunerinnen,
Schlvtfeger, Exekutor, zahuausreißender Wunderdoktor, Barbier mit üppigem Höcker,
Nusseugifteiublaser — es ist nicht alles aufzuzählen, das zusammentragende Ge¬
sinde!; aber unmöglich ist die Schilderung des Witzes und der Spaße, womit die
spendenden entschädigt werden.
Ist das kirmesmachende Dörflein gehörig geplündert, so begiebt sich die wieder
schön herausgeputzte Blotzgesellschaft mit Musik in eins der Nachbardörfer, wo kein
Maien aufgerichtet worden ist. Voraus eilt der ansagende Läufer, mit seiner
großen Peitsche knallend, hinterdrein folgt das Hausirgefindel. So ein Zug über
Land ist das Ergötzlichste, was das Landleben zu bieten imstande ist. Das heim¬
gesuchte Nachbardvrf wird ebenso mit tollen Streichen überschüttet und hat dafür
seinen Tribut zu leisten. Abends erfolgt die Heimkehr ins Wirtshaus. Da sitzen
dann in einer besondern Stube die Blotzburschen bereit zum Empfang des Tages¬
ertrags, und der ist nicht unbedeutend. Aus den Viktualien wird eine Mahlzeit
hergerichtet, an der die Blotzpcmre, die Musik und alle, die Verkleidete gespielt haben,
teilnehmen. Das Hauptgericht besteht in Klößen und Braten aus dem zusammen¬
getragnen Mehl und Fleisch. Und der Haufen kleiner Münzen wird dem Wirt
für zu lieferndes Freibier vorgezählt.
Während der Zubereitung der Mahlzeit findet heute auf dem freien Platz vor
dem Wirtshaus große Vorstellung in der Seiltanzlimst und Hundedressnr statt.
Komödie kann heute nicht gespielt werden, da sich die Blotzburschen jede Einschränkung
ihres Tanzvergnügens, das nach der Mahlzeit stattfinden wird, verbeten haben.
Wie die Mahlzeit zu Stande kam, und wie es den Leuten geschmeckt hat —
die Künste des Fräulein Hoßfeld, des Domi und des Bullenbeißers, die dabei dein
Neger Naddmnaktifidibum zugefallne Rolle sind aber gleichgiltige Dinge für unsre
Geschichte.
Auf dem Tanzboden geht es lustig her. Auch der Frieder macht sich heute
wieder recht vergnügt und tanzt eben mit seiner Madlene so kunstgerecht und ge¬
diegen, als nur möglich, einen Walzer. Der Kleine steht eben Pause mit dein
Kätterle.
Möcht einmal mit deinem Großen tanzen! Der steht dort hinten, und es
scheint ihm gut zu gefalln.
Woh is denn mei sogen! Flink drcmflocis!
Husch! war 's Kätterle an des Großen Seite. Er sträubte sich wohl; aber
das Kätterle packte ihn frisch an und zog ihn — hast du nicht gesehn! — in den
Kreis. Und wahrhaftig! Der Schlesinger walzte scharmant mit dem Kätterle, daß
dem Kleinen das Herz im Leibe lachte. Und das Kätterle hat für diesen Reihen
ihren Tausch nicht wieder aufgegeben, und der Schlesinger schmunzelte und schmunzelte
und dachte beileibe heute nicht wieder an den Schnellschützen. Madlene aber sagte
zum Frieder, als sie mit ihm Pause stand: Siehst 's Kätterle mien Großn? Ein
sulzen») Mädle! So was! Du glaubst nit, wie ich mich freu über den Grvßn!
Es woar mir angst wagen der Seiltänzerin. Aber es scheint, er ist gscheit
Wort». Gott sei Dank! Und nun kam Madlene mit dem Frieder wieder ans
Walzen.
Drüben im Müsershaus schnurrt auf dem warmen Südgeltendeckel der Fritz
ganz rackerig.Es ist nnn schon der zweite Abend, daß es ihm zu Mut ist wie
dein verlassenen Brunnen in diesen Tagen. Und er macht seinem Unmut Luft in
einem richtigen Katerlied, wies die Dichter machen, wenn sie Katzenjammer haben.
Da ertönen elf helle Glockenschläge der Schwarzwälderiu. Und hinten um
der Pvrlmn hat ein Kerl eben zwei Stangen angelehnt und klettert daran hinauf
und über die Brüstung. Und die Porlamthür ist nicht verschlossen, und der Kerl
dringt ins Innere des Müsershnuses. Da zündet er sich eine Blendlaterne an
und geht aufs Birro zu.
261 Thaler! Sie sind gut verwahrt hinterm Vexirschloß.
Und merkt denn niemand was, daß Lärm gemacht würde? Großer, Spürst
dus nicht in deinem Inwendigen, daß es deinem Birro ans Inwendige geht?
Eben geht der Große aufs Haus zu; so zufrieden ist er lange nicht heim¬
gegangen. S Kätterle! S ist eine richtige Schlesingerin, wahrhaftig! wie ich
schon lange keine gesehn hab. Es wird sich wohl macheu. Aber müd war der
Große: er hatte ja in der verwichuen Nacht keine Ruhe und Stärkung gefunden,
und es zog ihm an den Augenlidern, wie reife Früchte an den Zweiglein ziehen.
Was war das? Ein Schein am Fenster? Jetzt wieder? Da sielen die
reifen Früchte, und die Zweiglein schnappte» in die Höh, und wie der Wind war
der Große droben ans dem Tanzboden. Und wie der Wind war der Große mit
dem Kleinen und dem Frieder davon.
Kleiner, du paßt hinten an der Porlain ans! Wir zwei beide gehn vorn
rein! flüsterte der Große.
Der Kleine war schnell ans seinem Posten und fand da die Stangen, die er
aber gleich beseitigte. Richtig! Nicht lange, gar nicht lange stand er: da kam der
Kerl und wollte an seinen Stangen hinuntergleiten. Aber da bekam er mit einer
seiner Stangen einen Schlag an den Kopf, daß er zurück taumelte. Und der
Große und der Frieder, die die Tritte des Fliehenden noch gehört hatten, waren
schnell bei der Hand und packten den Kerl. Da kam es wahrhaftig noch zu einer
garstigen Kirmesbalgerei. Aber wie dus Wetter war der Kleine vorn herum und
griff nun auch tapfer mit zu. An der Porlam hing eine Wäscheleine. Damit
waren bald dem Kerl Arme und Beine gebunden. Dann ward er in die Hausflur
geschleppt, wo der Frieder bei ihm Wache stand. Der Kleine hatte ein Licht ge¬
macht, und der Große kam mit seinem Jahrmarktsstock.
Wen hatten sie gefangen? Raddamaktifidibnm!
Das muß ich kenn! sagte der Große. Dreimal rechts, zweimal links, einmal
rechts, dreimal links! Nit ein eiserner Geldschrank, freilich nit! Leucht her,
Klemmer!
Das Birro wurde besichtigt. Da habt ihr die Bescherung! Auf steht es;
das Vexirschloß auf; die Thalerrollen fort!
Leucht her, Klemmer! Naddamnktifidibum wurde durchsucht. Nicht wahr?
Teufel du! Höllenbraten! schrie der Große. Trags hinein, Klemmer, das Geld!
Er aber legte den Neger auf den Bauch und bearbeitete ihm einstweilen die Hintere
Seite ein wenig mit seinem Jahrmarktsstock.
So, nun siud wir quitt! Raddamaktifidibnm stöhnte.
Aber das muß ich kenn! Leucht her, Klemmer! Und nun gebt acht! sagte
der Große und holte eine Gelee voll Wasser mit einem groben Scheuerlappen, und
dann suchte er auch noch ein großes Stück Seife dazu. Paßt auf! Er legte den
Neger »nieder auf den Rücken und begann nun eifrig das schwarze Gesicht zu
scheuern.
Da traten Mndlene und das Döhlerskütterle ein. Sie schlugen die Hände
zusammen und schrieen ans vor Schrecken. Frieder winkte ihnen, zu schweigen. Und
als sie sahen, wie eifrig der Große mit dem groben Scheuerlappen und einem
großen Stück Seife gegen die ägyptische Finsternis vorging, um deutsche Farbe an
den Tag zu legen, begannen sie zu kichern.
Endlich war das Werk vollendet. So! um leucht her, Klemmer! Nah her!
So! Erkennt ihr denn nun den Meister aus Äthiopier? Das muß ich kenn!
Der Türkendres! schrie das Kätterle. Der Türkendres! rief der Frieder. —
Woh is denn mei sogen!
Der Türkendres stöhnte fürchterlich. Laß ihn los, Großer! sagte Madlene,
blaß vor Schrecken.
Das muß ich kenn! Erst wolln wir unser Geld zahl! Leucht her, Klemmer!
Nun wurde am Birro gezählt. Ihr Geld stimmte, und es wurde wohl verwahrt.
Aber diesmal dauerte die Revision nicht so lange wie bei der Kassenüberführung
aus dem Tischkasten ins Birro.
Laß ihn los! rief das Kätterle zur Stubenthür hinein.
Alleweil kann er gehn, entgegnete der Große.
Leucht her, Klemmer! Er leuchtete hin, und Frieder entledigte den Tnrken-
dresen seiner Bande. Der Große aber — in dieser Stunde war er größer als
je! — stand mit seinem Jahrmarktsstock bereit mit hochgewölbten Augenbrauen,
und als der Türkendres aufsprang, das Weite zu suchen, versetzte er ihm noch
einige Ausgleichungshiebe zum Abschied.
Hinaus war der Halunke, der Weltfechser. Und er suchte wirklich das Weite
wieder und ward in seinem geschichtslosen Dörflein, das nun doch auch seine Ge¬
schichte hat, nie wieder gesehen. Nach Jahr und Tag aber soll „Andreas Höpflein"
in Bratteudvrf aufgetaucht und darauf mit der Triltschenchristel verschwunden sein.
Ich kenn die Welt, die vermaledeite Welt! rief der Große, als er nach der
aufregenden Gerichtsvollziehung die Hausthüre verschloß, und der Kleine schlug
nach: Woh is denn mei sogen!
Der Hausgeist warf in selbiger Mitternachtsstunde auf dem obern Boden sehr
vergnügt seine Zipfelmütze in die Hohe und rief zum Bodenlvch hinaus: Radda¬
maktifidibnm!
Noch vor Weihnachten war „Hochzig," erst im Müsershcms und bald darauf
im Dvhlershnus. Der Große verkam mit dem Kätterle recht gut — noch besser
der Kleine —, sodaß er vom Schnellschützeu absah. Das Birro barg nunmehr
hinter dem Vexirschlvß nur uoch 174 Thaler, zwei Drittel der vorhochzeitlichen
Summe, uuter zwiefachem Schlüsselrecht; und der Große saß am Sonntag nach¬
mittags uicht mehr so lauge wie sonst am Birro vor seinem Schreibkalender, denn
die Svnntagsbesuche im Rödershaus gingen ihm jetzt über alles. Er machte sie
"ber schon als Meister. Und ein Jahr nach ihrer Hochzeit hat er bei der Mndlene
an der Wiege gesungen, aber nnr lustige Lieder.
Di
e Reichstagskominission,
die den vou Preußen stammenden Entwurf einer neuen Militärgerichtsordnung
vorzuberaten hat, wird damit in nächster Zeit fertig sein. Die Kommission arbeitet
sehr gründlich, und die juristische Fassung des Entwurfs wird darunter nicht leiden;
dafür sind jn viele Reichstagsabgeordnete Fachmänner. Für die militärische Seite
der Sache dagegen sind sie es nicht, auch wenn sie gedient haben, und die an den
Beratungen teilnehmenden Offiziere, die das militärische Feld beherrschen, sind wieder
keine Juristen. Eine Brücke konnten die Auditeure bilden, aber sie werden von den
andern Juristen sehr oft nicht für voll gehalten und haben weder im Reichstag
noch in der Militärhierarchie selbständigen Einfluß. So kann es mit der Reform
leicht auf Experimentirerei und Flickwerk hinauskommen. Jedenfalls wird diese
Reform eine sehr kostspielige Sache sein: nach einer hoffentlich übertriebnen Be¬
rechnung würde die Mehrausgabe so etwas wie 800000 Mark jährlich betragen.
Jetzt kommt noch zu den frühern Meinungsverschiedenheiten politischer Art die
Gefahr eines Konflikts zwischen den beiden größten Bundesstaaten hinzu. Ist
denn die ganze Sache so viel wert? Liegt ferner ein Bedürfnis vor, ein ganz
neues Werk zu schaffen?
Für das jetzt geltende Verfahren kommen vornehmlich das preußische und
das bayrische System in Betracht. Nach dem preußischen wird das ganze zur
Entscheidung dienende Belastungs- und Eutlastungsmaterial Protokollarisch festgestellt
und dem Spruchgericht durch Verlesen unterbreitet. Die Zeugen bekommt es
gar nicht zu sehen, sodaß insoweit der unmittelbare Eindruck günz fehlt, und selbst
der günstige Eindruck, den etwa die Persönlichkeit des Angeklagten macht, ist gegen
das Gewicht der schriftlichen Belastung ohnmächtig. Daß zur Schlußverhandlung
keine Zuhörer zugelassen werden, ist mehr die natürliche Folge dieses schriftlich
vermittelten Verfahrens, als daß heimliches Wesen beabsichtigt wäre. Aus der
Schriftlichkeit ergeben sich jedoch noch andre, wirklich schlimme Folgen: große
Schwerfälligkeit des ganzen Verlaufs und unter Umständen lange Dauer der Unter¬
suchungshaft. Darunter hat much der zu leiden, der schließlich freigesprochen wird.
Das bayrische System dagegen bringt die Sache schneller zum Spruch und führt
den Angeklagten mit den Zeugen zu mündlichem Verhör unmittelbar vor das
Spruchgericht. Fälle offenbarer Unschuld scheide» sich schon im Vorverfahren aus,
für einfache Fälle ist dieses beweglicher, weniger schablonenhaft. Die Verteidigung
ist wirksam gesichert, und für ernste Kontrolle ist die Thür des Gerichtssaals ge¬
öffnet, wahrend sie leichtfertiger und skandalsüchtiger Neugierde verschlösse» werden
kann. Nach beiden Systemen sind es vornehmlich die Auditeure, die das Be-
lastungs- und Eutlastnugsinaterial sammeln, also das Vorverfahren beherrschen, der
Spruch dagegen fällt Offizieren und Unteroffizieren, in Preußen auch den Mann¬
schaften zu, wobei natürlich für die Besetzung des einzelnen Spruchgcrichts der
militärische Rang des Angeklagten maßgebend ist, aber sonst das Geschworncnwesen
den nächsten Vergleich bietet; in Bayern kommt für die Sache sogar der Name
selbst vor. Die Bestimmung und Zuständigkeit der Gerichtspersonen und der
Gerichtsbehörden, also die Gerichtsverfassung im engern Sinn, ist nach dem
bayrischen System mannigfaltiger und mehr modern gegliedert, nach dem preußischen
jedoch nicht weniger zweckmäßig und dabei einfacher und weniger teuer.
Daß auch die bayrische Militärgerichtsorduung mit militärischem Geist und
militärischer Zucht vereinbar ist, zeigt der allgemein anerkannte Aufschwung der
beiden bayrischen Armeekorps. In Bayern ist man mit der jetzigen Ordnung zu¬
frieden, im Bereich des preußischen Systems dagegen wird eine Reform fast all¬
gemein verlangt und ist in der That dringend zu wünschen. Die beiden Stich¬
worte, worin das Reformbedürfuis in der Regel zusammengefaßt wird, sind
Öffentlichkeit und Mündlichkeit, also gerade die beiden Merkmale, wodurch sich das
bayrische System vor dem preußischen auszeichnet. Außerdem wird allgemein er¬
wartet, daß das Verfahren für alle Teile des deutschen Heeres übereinstimme und
in ein gemeinschaftliches Militärobergericht als Spitze auslaufe.
Das Zivilstrafgesetzbuch ist ein Gesetz, das, gering gerechnet, hundertmal
häufiger angewandt wird als irgend eine Militärgerichtsordnung; seine Eiuzel-
bestimmungcn sind auch dem Streit um das bessere weit mehr unterworfen, es ist
aber mit vielen andern Gesetzen bei der Gründung des Reichs in ganz Süd¬
deutschland on dive eingeführt worden. Die Analogie dessen drängt sich geradezu
auf: Übertragung der bayrischen Militärgerichtsordnung auf das ganze deutsche
Heer durch Reichsgesetz, neue Redaktion durch Verordnung des Bundesrath. Dieser
Vorschlag, von Preußen ausgegangen, würde den vortrefflichsten Eindruck gemacht
und statt des Politischen Streits politische Befriedigung hervorgerufen haben. Es
ist auch anzunehmen, daß Bayern den betreffenden Teil seiner Reservatrechtc recht
gern dreingegeben hätte, weil ihm die Kostenersparnis mehr wert sein muß als
ein eignes Militärobergericht, und ihm nur daran liegen kann, das Prinzip zu
wahren. In diesem steht, wie kaum zu bestreiten ist, das Recht ans der Seite
Bayerns, denn seine rechtliche Sonderstellung erstreckt sich zwar nicht ans dauernde
Beibehaltung der Vorschriften, die den moclus xrveöäönäi und die Art oder Form
der Einrichtungen regeln, wohl aber darauf, daß seine beiden Armeekorps in jedem
Stück von der Milverwaltnng des Reichs und Preußens ausgenommen bleiben.
Bundesrechtlich kann keine Militärbehörde des Reichs oder Preußens auf Bayern
ohne seine Zustimmung ausgedehnt werden, und in allen Personenfragen ist es
völlig frei. Diese Auffassung ist, wie bestimmt verlautet, auch die des besten
Kenners, des Fürsten Bismarck.
Diese Lösung ist von dem Verfasser dieser Erörterungen in den Grenzboten schon
einmal angeregt worden, vor der jetzigen Tagung des Reichstags, als der preußische
Entwurf noch nicht bekannt war. Es giebt jedoch noch eine zweite Lösung, die
dem zweifellos und allgemein empfundnen Refvrmbedürfnis gerecht wird, ohne
Preußen bloßzustellen und Bayern vor den Kopf zu stoßen. Das ist eine für den
Geltungsbereich der preußischen Militärstrafprozeßordnung von 1345 berechnete
Novelle, die die Öffentlichkeit nach bayrischen Muster festsetzte, das schriftliche Vor-
Verfahren für nur informatorisch erklärte »ut die entscheidende Beweisaufnahme vor
die Sprnchgerichte verlegte. Mit dieser Unmittelbarkeit wäre das gegeben, was
man in der Regel mündliches Verfahren nennt: daß der zur Entscheidung berufne
Richter und Geschworne den Angeklagten und die Zeugen selbst sieht und hört.
Alles weitere könnte bleiben oder wäre Verordnungssache. So steht es ja nicht,
daß die preußischem Militärgerichte weniger gewissenhaft, und daß ungerechte Ur¬
teile bei ihnen häufiger wären; das preußische Verfahren in seiner jetzigen Gestalt
ist nur umständlich und schablonenhaft. Wie würden die Auditeure und die untcr-
suchuugsühreuden Offiziere aufatmen, wenn sie es beispielsweise nicht mehr nötig
hätten, die übereinstimmende Aussage vou fünf Augenzeugen jedesmal mit denselben
Worten neu zu protokolliren! Wie schnell und doch erschöpfend könnten sich in
den meisten Fällen Untersuchung und Entscheidung an einander anschließen, wenn
vor deu Spruchgerichteu der Bericht des Auditeurs mir als Einleitung diente, und
darauf sofort die Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen folgte! Gerade
beim Militär hat die Strafe sehr häufig exemplarische» Charakter: je schneller sie
ans die That folgt, umso mehr wirkt sie.
Auch diese zweite Lösung wäre ein großer Fortschritt gegen den jetzigen
Zustand und käme dem größten Teil des dentschen Heeres zu gute. Sie läßt sich
ohne irgend welche Mehrkosten erreichen. Die Übertragung des bayrischen Militär-
gerichtswescns auf ganz Deutschland wäre ja im Vergleich dazu ganze Arbeit, aber
wenn sie ähnlich viel kostet wie die von Preußen vorgeschlagne Reform, so wird
die, juristisch betrachtet, halbe Reform vou jedem vorgezogen werden, der die ganze
Frage nicht durch ein Vergrößerungsglas, sondern in ihren natürlichen Größenver¬
hältnissen betrachtet. Außer dem Gerichtswesen soll ja an dem, was sich Bayern
vorbehalten hat, nichts geändert werden. Wie groß ist das Ganze, wie gering der
Bruchteil! Und dafür solle» jährlich Hunderttausende geopfert werden, als fest¬
gelegte Ausgaben, während eine kleine Etatsüberschreitnng beim Flottenbau als eine
Erschütterung der ganzen Reichsordnung ausposaunt wird! yuMÄIii prnclsntia!
Zunächst freilich wird es sich um das Schicksal der Kvmmissionsvorlage handeln.
Nur für den Fall, daß die Reform in dieser Gestalt scheiterte, würde eine der beiden
hier besprochnen Lösungen in Frage kommen können. Möchte es doch dahin kommen!
Es ist ja ganz selbstverständlich, daß der militärische Strafprozeß nicht dauernd
auf Grundlagen aufgebaut bleiben kann, die sich als unzweckmäßig erwiese» haben
und im bürgerlichen Strafprozeß durch bessere ersetzt worden sind. Eine Reform
ist also unabweislich, aber uuter den möglichen Wege» dazu wäre der vorzuziehen
gewesen, der vou den bewährten Bestandteilen am meisten rettete, der bundes¬
freundlichste war und am wenigsten Mehrkosten verursachte. Statt dessen haben
sich Parteipolitik und Gesctzmacherei zusammengethan; das Ergebnis ist darnach
ausgefallen. Gewisse Parlamentsströmnngen tragen jn die Hauptschuld daran, aber
es wird, mag es auch diesmal noch gnädig ablaufen, immer wieder so oder ähnlich
kommen, so lange als das, was man Staatsratsarbeit nennen könnte, zu einer poli¬
tischen Frage anfgebanscht werden kann. Das wieder wird nicht eher aufhören,
c>is bis das Argument, in dergleichen Dingen stünde dem Parlament wohl An¬
nehmen oder Ablehnen zu, aber kein Amendiren. nicht mehr bloß eine theoretische
Wahrheit sein wird, sondern eine solche, die ihre gewiß zahlreichen Anhänger zu
Ein eigentümlicher Vorgang, der
ernste Bedenken errege» muß, hat sich bei der parlamentarischen Behandlung des
Gesetzentwurfs abgespielt, den die preußische Regierung am 3. Februar dem Land-
tage vorgelegt hat, um die Hochwasserschäden vom Sommer 1897 zu beseitigen. Die
Regierung hatte einen Betrag von fünf Millionen Mark verlangt, um Unterstützungen
bewilligen zu können, deren Zurückzahlung in der Regel nicht verlangt werden soll,
„».) an einzelne Beschädigte zur Erhaltung im Haus- und Nahrungsstande; d) an
Gemeinden zur Wiederherstellung ihrer beschädigten Anlagen; e) zur Wiederherstellung
und notwendigen Verbesserung beschädigter Deiche, Uferschutzwerke und damit in Ver¬
bindung stehender Anlagen; et) zur Ausführung besonders dringender Räumungs¬
und Frcilegnngsarbeiten; s) zu Vorarbeiten für den Ausbau hochwassergefährlicher
Flüsse." Diesen Inhalt des Z 1 und damit den Hauptinhalt des Regierungsentwurfs
überhaupt hatte dann die Kommission des Abgeordnetenhauses dahin abzuändern
beantragt, daß 1. der Geldaufwand auf zehn Millionen ausgedehnt werden könne;
daß 2. die Unterstützungen nicht nur an Geschädigte „zur Erhaltung im Haus¬
und Nahrnngsstande," sondern auch an solche gegeben werden sollen, „bei denen
eine Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz vorliegt"; und 3. die Hilfe auch den
Kreisen gewährt werden soll, und zwar nicht nur zur Wiederherstellung, sondern
auch zur notwendigen Verbesserung der beschädigten gemeinnützigen Anlagen. Die
weitern Abänderungsvorschläge sind nebensächlicher Natur. In der Sitzung des
Abgeordnetenhauses vom 2. März, wo der Entwurf zur zweiten Lesung stand, hat
der Minister von Miguel mit allem Nachdruck den Kommissionsantrag bekämpft,
ohne verhüten zu können, daß er mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Mehrheit
angenommen wurde. Zwar ist die dabei von einzelnen Abgeordneten ausgesprochne
Hoffnung, daß die dritte Lesung zu einer der Regierung annehmbaren Fassung führen
werde, am 1». März in Erfüllung gegangen, aber trotzdem muß das Verhalten
des Abgeordnetenhauses als ein bedauerlicher Mißgriff, ja geradezu als ein
Unglück bezeichnet werden, bei dem man freilich der Regierung deu Vorwurf nicht
wird ersparen können, daß sie nicht schon in der Kommission ihr volles Gewicht
gegen dieses Übermaß von Unterstützungslust in die Wagschale geworfen und rund
heraus erklärt hat, daß ein Abweichen von den Grundsätzen, die für die Fassung
ihres Entwurfs maßgebend gewesen waren, für sie unannehmbar sei. Durch den
Kommissionsbeschluß und noch mehr dnrch den Beschluß des Abgeordnetenhauses
in der zweiten Lesung find eben Grundsätze zur Anerkennung gebracht worden,
die mit dem Wesen des Staats nach der bestehenden Rechts- und Gesellschafts¬
ordnung unverträglich sind, die theoretisch wie praktisch zu ganz ungeheuerlichen
Konsequenzen führen müssen, und die ohne Zweifel auch schou die Wirkung gehabt
haben, in der Bevölkerung der Notstandbezirke Hoffnungen und Begehrlichkeiten zu
wecken, die der Staat unter keinen Umständen erfüllen darf. Dieser Fehler ist
durch die Beschlüsse der dritten Lesung keineswegs hinreichend gut gemacht worden.
Die dem Gesetz beigefügte Erklärung des Abgeordnetenhauses ist thatsächlich eine
grundsätzliche Ablehnung des vom Finanzminister am 2. März vertretnen Stand¬
punkts, und dagegen ist entschieden Verwahrung einzulegen.
Die Negierung ist in ihrem Entwurf mit vollem Recht von dem Grundsatz
ausgegangen, daß den Beschädigtem nicht „Ersatz" geleistet werden solle, sondern daß
ihnen nur die „notwendigen Lebensbedingungen" erhalten werden müßten. Nur das
„dringende Bedürfnis" sei dabei ins Auge zu fassen, und insbesondre sei zu ver¬
meiden, da Unterstützung zu gewähren, wo die Vermögensverhältnisse der Be¬
teiligten trotz der Uberschwemmungsschäden immer noch haltbar geblieben seien, und
eine Vermögenszerrüttung nicht durch das Hochwasser, sondern durch andre Umstände
herbeigeführt worden sei oder vor dem Eintritt der Hochwasser schon bestanden habe.
An diesem Grundsatz darf der Staat nicht rütteln lassen. Unterstützungen
müssen Unterstützungen bleiben. Nur der Not sollen sie vorbeugen, dem Ruin der
Existenz. Dem Reichen seinen Reichtum, dem Wohlhabenden seine Behäbigkeit zu
erhalten, darf nie ihre Aufgabe sein. Wo käme der Staat sonst hin? Wie könnte
er sonst solche Massenunterstützungen überhaupt verantworten gegenüber den Hun¬
derten und Tausenden seiner Angehörigen, die einzeln, im stillen, ohne weithin
sichtbare Katastrophe, aber ganz ebenso ohne jedes eigne Verschulden, ohne jede
eigne Fahrlässigkeit durch Schicksalsschläge um Hab und Gut kommen und. wenn
sie es können, von vorn anfangen, wenn sie es nicht können, darben müssen, ohne
auf Unterstützungen, wenn nicht durch die Armenpflege, rechnen zu können.
Es darf doch in den betroffnen Bevölkerungskreisen auf keinen Fall die
Auffassung genährt werden, als ob der Staat diese Entschädigungen etwa des¬
halb zu gewähren habe, weil ihn an dem Unglück eine Schuld träfe. Diese Auf¬
fassung liegt, so absurd sie ist, sehr vielen sehr nahe. Wir wollen gewiß nicht be-
streiten, daß der Staat die Pflicht habe, ernstlich auf Mittel und Wege zu sinnen,
und die als zweckmäßig erkannten anzuwenden, durch die der Hochwassergefahr vor¬
gebeugt werdeu kann. Aber es wäre eine Ungerechtigkeit, wenn man nicht zunächst
auch die zur Bezahlung gewisser Sicherungsarbeiten rechtlich Verpflichteten heran¬
ziehen wollte, möchten auch ihre Beiträge dem Gesamtaufwande gegenüber noch so
unbedeutend sein. Die Kosten für die unzweifelhaft nötigen größern Schutzanlageu
sind natürlich in den von der Negierung zum Zweck der „Unterstützung" geforderten
fünf Millionen nicht enthalte»; ihre Höhe ist heute noch gar nicht abzusehen, wie
überhaupt noch gar nicht klar ist, was in dieser Beziehung geschehen kann, auch
uicht in den erleuchtetsten Technikerkreisen. Und am Ende bleibt Gebirgsland ebeu
doch Gebirgsland und Flußufer Flußufer; ganz wird man auch im sozialistischen
Zukunftsstaate die Gefährlichkeit der Naturverhältnisse nicht auszugleichen vermögen.
Wer sein Haus an den Zacken oder in den Spreewnld baut und seinen Acker dort
kauft, wird immer auf Wassersnot gefaßt bleiben müssen.
Mit diesem grundsätzlichen Standpunkt der Regierung hat sich das Ab¬
geordnetenhaus in Widerspruch gesetzt. Warum? Jsts die lui>u, xopularis ge¬
wesen, die es der Mehrheit angethan hat? Es ist müßig, vielleicht unzweckmäßig,
das näher zu erörtern. Die Thatsache ist da, und sie muß weg. Von den
Gründen allgemeiner Art, die von konservativer Seite für den unhaltbaren Antrag
der Kommission vorgebracht worden sind — sie waren durchweg kaum der Rede
wert und sind von Miquel schlagend widerlegt worden —, wollen wir nur einen
nennen: Es liege hier noch mehr ein uobils oiNeiuin für den Staat vor, als im
vorigen Jahre bei der Erhöhung der Beamtengchülter. Wir wüßten nichts, was
verkehrter wäre! Darin kommt die ganze Unklarheit und Voreiligkeit, in der man
sich zu dem Beschluß hat verleiten lassen, zum Ausdruck. Wie kaun ein konser¬
vativer Politiker im Ernst einen solchen Vergleich machen? Man könnte geradezu
den Spieß umkehre»: es sei unbegreiflich, wie man dem Staat zumuten könne, den
durch das Hochwasser geschädigte» Leuten mit so übermäßig opulenten Geschenken
die Sorgen abzunehmen, wo er zusehen muß, daß große Gruppe» seiner eignen,
ihm treu dienenden Beamten noch mit der Not des Lebens zu kämpfen haben.
Mit vollem Recht hat der Finanzminister insbesondre abgelehnt, den durchaus
leistungsfähigen „Kreisen" (als Kommunalverbänden) die Pflicht der Herstellung an
Brücken, Wegen usw. ganz oder teilweise abzunehmen. Auch dabei muß die
Leistungsfähigkeit der einzelnen verpflichteten Gemeinschaft ausschlaggebend bleiben,
und nach den vom Minister genannten Zahlen sind die in Betracht kommenden
im Vergleich mit andern erfreulicherweise sehr leistungsfähig. Jedenfalls wäre das
Gegenteil erst nachzuweisen.
Die Verteilung solcher staatlichen Unterstützungsgelder ist, wie die konservativen
Herren im Abgeordnetenhause nicht bestreiten werden, eine schwere und undankbare
Aufgabe. Namentlich gilt dies für die nachträglich, auf Grund nun einmal nicht
zu entbehrender Taxen und dergleichen zu verteilenden größern Summen ini Unter¬
schiede von der ersten Nolstcmdshilfe, bei der es die Hauptsache ist, schnell und
reichlich, ohne kleinliche Prüfung, zu geben. Die konservativen Abgeordneten haben
wohl nicht bedacht, wie sehr sie durch ihr Verhalten dem Staat diese Aufgabe
erschweren. Unzufriedne bleiben bei solchen Hilfsaktionen immer übrig, auch mit
Recht Uuzufricdne, denn Fehler und Härten sind im einzelnen gar nicht zu ver¬
meiden. Die Herren haben aber dnrch ihre Beschlüsse der Unzufriedenheit reichlich
Nahrung geliefert, und die Sozinldcmokraten müßten ihnen eine Dankadresse Votiren;
ihr Acker ist es, den man gedüngt hat.
Die große Mehrzahl der Gebildeten
Deutschlands weiß eigentlich recht wenig von dem germanischen Nachbarlande und
Nachbarvolke, das auf seinem geheimnisvollen Inselreiche am Belt und am Kattegat
an die Nordmarken des Deutschen Reiches angrenzt. Man reist in die Schweiz,
nach Italien und Tirol, und dn neuerdings auch Norwegen Mode geworden ist,
so berührt man wohl auch Kopenhagen und seine schöne Umgegend für einige Tage.
Mit dem Bndeker in der Hand besieht man die dänischen Königspalaste und Museen
und das herrliche Schloß am Meere bei Helsingör, mit Andacht betrachtet man die
vom Dichter geweihte Terrasse, wo Hamlet der Geist erschien, oder den Steinhaufen,
der Hamlets Grab darstellt — aber damit ist dann die Reise durch Dänemark ge¬
wöhnlich auch abgemacht. Nur wenige können anch ein wenig Dänisch, obwohl es
— mit Ausnahme der Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien — dem Deutschen
so verwandt und ähnlich ist, nur wenige können dänische Zeitungen lesen und mit
den Leuten des Landes plaudern. Doch den meisten deutschen Reisenden dürste
die im Durchschnitt ungemein große Wohlerzogenheit, Höflichkeit, Zuvorkommenheit,
Geräuschlosigkeit, Liebenswürdigkeit und die freundliche Bereitwilligkeit und Geläufig¬
keit, mit der die Dänen meist das Deutsche spreche», wohlthuend auffallen. Man
fühlt sich als Fremder schnell heimisch in diesem stammverwandten Lande und unter
diesem Volke, auch als Deutscher, obwohl mau sich sagen muß, daß das dänische
Volk ja Grund hätte, nur mit gemischten, und die ältere Generation sicherlich nur
mit feindseligen Gefühlen den Deutschen, besonders den Preußen gegenüberzutreten,
die vor vierunddreißig Jahren — allerdings schon eine lange Zeit, in der viel
Gras gewachsen ist — der dänischen Monarchie ein Drittel ihres Ländergebietes
und fast die Hälfte der ihr unterthänigen Bevölkerung entrissen haben. Dieser
Verlust mußte deu Dänen umso schmerzlicher sein, als ihnen etwa fünfzig Jahre
vorher schou das seit Jahrhunderten zugehörige Norwegen verloren gegangen war,
und die Engländer ihnen die gesamte dänisch-norwegische Flotte weggenommen hatten.
Trotz all dieses nationalen Unglücks erscheint das heutige Dänemark dem Fremden
doch im wesentlichen als ein glückliches Land, wo es noch Behagen und Freude
am Leben giebt, und wo die ungeheure innere Zerrissenheit andrer Länder Europas,
die die dräuende Arbeiterfrage, der leidenschaftlich tobende Hader und Kampf der
politischen Parteien und der Streit zwischen Handel, Landwirtschaft und Industrie
geschaffen haben, noch nicht zu finden ist.
Die jüngere Generation in Dänemark steht Deutschland wohl meist ganz un¬
befangen gegenüber, in der ältern dagegen dürften alte traurige Erinnerungen bittere
Gefühle zurückgelassen haben, umso mehr, als ja im losgerissenen nördlichen
Schleswig uoch etwa 140 000 Dänen (das sind etwa sechs Prozent der heutigen
dänischen Nation) leben. Jedes Volk, das Ehrgefühl hat, pflegt die Erhaltung und
Verteidigung seiner Muttersprache und Nationalität und die Freiheit seiner Ent¬
wicklung und Art als das höchste Gut zu betrachte». Wie Deutschland ost mit
fast leidenschaftlicher Teilnahme die nationalen Kämpfe der Deutschen in Rußland,
Österreich und Ungarn verfolgt, so schauen auch die Dänen auf das Schicksal ihrer
Landsleute in Schleswig.
Es giebt Fälle, wo eine Nation im Interesse der Selbsterhaltung fremde
Nationalitäten, die sie sich einverleibt hat, möglichst kurz halten muß; die drei
Millionen deutsche Polen können im Verein mit den zwölf Millionen andern
Polen unter Umständen dem Reiche gefährlich werde». Ob das bei 140 000 Dänen,
deren Mutterland nur zwei Millionen zählt, auch der Fall ist, fragt sich doch wohl
sehr. In jedem Falle aber erzeugt eine stärkere Einengung des Volkstums oder
gar eine gewaltsam angestrebte Entuatioualisirung nur Verbitterung, Abschließung
und unversöhnliche Feindschaft, während ohne das ein friedliches Beieinanderwohuen
und Vermengen stammverwandter Völker fast vou selbst entsteht. Die Thatsache,
daß die Deutsche» in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo Kirche und
Unterrichtswesen Privatsache sind, und man sich der größten Freiheit erfreut, so
merkwürdig schnell, oft schon in der ersten Generation anglisirt werden, selbst da,
wo sie in der Mehrheit sind, muß einem doch immer wieder z» denken geben.
Erst der Druck erzeugt bewußten Gegensatz.
Björnson sagte unlängst, es sei bedenklich, einem Volke eine Liebe zu rauben,
aber es sei geradezu gefährlich, ihm einen alten Haß nehmen zu wollen. Und dabei
wies er auf Norwegen und Dänemark hin und darauf, wie es seinen Bestrebungen
zur Anbahnung etwas besserer Beziehungen mit Deutschland anfangs ergangen sei,
die später doch einen gewissen Erfolg gehabt hätten.
Und es scheint in der That, als ob die Stimmung in Dänemark anch in den
Kreisen der ältern Generntion allmählich eine gewisse Wandlung erfahren habe,
zumal jetzt, und als ob die Zukunft wohl freundlichere Beziehungen zu Deutschland
schaffen könnte. Man muß sich doch sagen, daß Dänemark, nach Sprache und
Religion, nach Sitte und Kultur ein protestantisch-germanisches und monarchisches
La»d, auch schon nach seiner Lage ein natürlicher Freund seines größern deutschen
Nachbar- und Hinterlandes sein müßte.
Wenn ab und zu von Reibungen in den Grenzgebieten, wo die Verhältnisse
meist weniger erquicklich siud, sowie von dänischen Widerstande gegen dentsch-
nationale Regungen berichtet wird, so mag das dem Deutschtum unerfreulich sein,
aber man braucht diese Dinge, die wir ja loben, wenn Deutsche unter fremder
Herrschaft sie in entsprechender Weise gegen andre Nationalitäten begehen, deshalb
nicht tragisch zu nehmen. Objektiv genommen behält doch das Goethische Wort
recht, das nicht nur von politischen Parteien, sondern auch von Völkern und ganzen
Nationen gilt, die als solche ja ebenfalls große Parteien bilden:
Jene machen Partei! Welch unerlaubtes Beginnen!
Aber unsre Partei freilich versteht sich von'selbst!
Ja, nicht bloß das Moralische — wie Wischers geflügeltes Wort sagt —, sondern
auch das Nationale versteht sich heute vou selbst, und deshalb muß mau, wenn
man sich nicht selber widerlegen will, anch nationale Regungen andrer Stämme
und Völker achte». Das bedeutet »och durchaus kein Preisgebe» eigner nationaler
Verpflichtungen. Aber die Fabel Äsops vom Wanderer, dem Wind und Sonne
sich bemühten den Mantel abzureißen — der Wind vergeblich mit Gewalt, die
Sonne erfolgreich mit milder Wärme —, diese Fabel lehrt, wie leicht moralische
Eroberungen manchmal auf artige Weise gemacht werden. Politische Pessimisten
halten freilich nicht viel von dieser Fabelpolitik. Immerhin wäre sie ein Problem.
Doch genug der Betrachtungen!
Wir sind in der Lage, einen kürzlich geschriebnen interessanten Brief zu ver¬
öffentlichen, der von einem alten dänischen Politiker herrührt, der zugleich journa¬
listisch, publizistisch und als Beamter thätig gewesen ist und in der Politik des
Landes vielfach lebhaft mitgewirkt hat. Dieser Brief lautet folgendermaßen:
„ . . . Das Verhältnis des großen Deutschland zum kleinen Dänemark ruht
seit längerer Zeit auf einem toten Punkte. Auf der einen Seite stehen die bsati
possiÄsntos, auf der andern Seite wohnt die Hoffnung auf die Zukunft, während
die alte Wunde durch die preußische Politik im dänischen Teile Schleswigs offen
gehalten wird. So liegt ja wohl die Situation? Oder — so lag sie. Denn
gerade in diesen Tagen ist hierin eine Wandlung eingetreten. Die Hoffnung stützte
sich bisher auf — Frankreich. Die alte Liebe zu diesem Lande mit seiner großen
Geschichte und mit berechtigten Ansprüchen auf die Dankbarkeit der Schwachen war
so stark, ruhte fo tief, daß sie alle Enttäuschungen, Niederlagen und Panama¬
skandale zu überleben vermochte, und die alte Hoffnung loderte wieder hell auf,
seitdem die Macht Frankreichs durch die russische Allianz vermeintlich verdoppelt
worden war.
„Aber diese Hoffnung, die unverwüstlich schien, liegt heute darnieder. Die
moralische Versumpfung — durch ihren teilweise jesuitischen Anstrich doppelt wider¬
wärtig und bösartig —, die ans Licht getreten ist, hat unserm moralisch gesunden
Volke die Augen geöffnet. Das Vertrauen in Frankreichs Macht ist erschüttert,
der Glaube an seine Zukunft mehr als wankend gemacht.
„Ein Gefühl der Jsolirung ist in uns geweckt worden, denn wir sind ein
nüchternes, verständiges Völkchen. Doch der Augenblick muß genutzt werden,
wenn Deutschland es überhaupt für der Mühe wert hält, und wenn die Bismcircksche
Maxime: die kleinen Dinge nicht zu verachten, noch in Deutschland Kurs hat.
„Wir sind aber auch ein ehrenfestes Volk, das eine Probe, einen Beweis
dieser Wertschätzung fordern würde. Und es giebt nur einen einzigen, der als
Grundlage einer Verständigung dienen könnte: die preußische Politik im dänischen
Teile Schleswigs müßte geändert werden.
„Dieser Bedingung gegenüber stünde der Lohn: für heute eine Annäherung Däne¬
marks an Deutschland, der morgen eine von Schweden und Norwegen folgen würde.
„Die Sympathien der schwedischen Regierung für Dentschland sind bekannt; sie
würden aber im kritischen Augenblick durch die noch immer lebendigen Sympathien
des norwegischen Volks für Dänemark in Schach gehalten werden. Geht aber
Dänemark selbst denselben Weg wie Schweden, so ist die Lage anders, und die
Lieblingsidee Bismarcks von einem protestantisch-germanisch-skandinavischen (auch
holländischen) Bündnisse wäre dann trotz allem der Wirklichkeit näher gerückt. . . ."
In einer Zeit, wo von einer Einigung Europas gegen Amerika und gegen
Asien so häufig die Rede ist, wo sich Bündnis und Gegenbündnis der Großmächte
im Schach halten, wo aber so viele Länder noch außerhalb beiseite stehen, doch
sicherlich mit Freuden einem starken großen Friedeusbnnde beitraten, der ihnen
Bestand und Sicherheit verbürgte, dürste diese Stimme aus unserm zwar kleinen,
aber schon durch seine Familienbeziehungen einflußreichen Nachbarlande wohl be¬
achtenswert erscheinen. Welche Wünsche man dort im besondern wegen Schleswigs
hegt, das wird in dem Briefe allerdings nicht verraten.
reitschles Deutsche Geschichte mit dem Hohenzvllernstaate im
Mittelpunkt ihrer Darstellung hat, politisch sowohl wie künst¬
lerisch betrachtet, den Vorteil, daß sie eine siegreiche Sache be¬
handelt, für die der Darsteller mit ganzem Herzen eingetreten ist.
Preußens Beruf in Deutschland und sein Ziel, das eine Deutsche
Reich — kein Geschichtschreiber in alter und neuer Zeit konnte ein schöneres,
dankbareres Thema haben. Das unvollendete Werk reicht zwar nur bis an
die Schwelle des Jahres 1848, aber es ist mit der Kenntnis des Endziels
und noch nach den Erfahrungen der siebziger Jahre geschrieben worden, und
das bestimmt die Beleuchtung der frühern Ereignisse. Der Geschichtschreiber
ist also nicht mehr ein Ernährer und Prophet in die Zukunft (was immer
viel undankbarer ist, weil es nie genau so eintrifft), sondern ein Verkünder des
Geschehenen. Er kann auf das Vergangne einfach hinweisen und sagen: Dazu
mußte es dienen — und man wird ihm glauben. Wer die Geschichte eines
der deutschen Mittelstaaten innerhalb desselben Zeitraums erzählen will, der
muß auf diesen Vorteil verzichten, denn er hat vorzugsweise Tendenzen zu be¬
handeln, die dem Einheitsgedanken zuwiderliefen, und wenn er dann noch dazu
mit seiner eignen Überzeugung für sie eintritt, so ergiebt sich für ihn die
Polemik gegen Treitschke von selbst. Eine solche Polemik betrifft nicht nur
Meinungen, den sogenannten Standpunkt, sondern sie dringt vor in das Gebiet
des Thatsächlichen, der geschichtlichen Wahrheit. Treitschke hat wegen seiner
Behandlung der Vorgänge im Lager der Mittelstaaten schon viele Widersprüche
von dorther erfahren und auch manche Berichtigung hinnehmen müssen; einer
kann eben nicht alles ergründen und alles wissen, und seine Aufmerksamkeit
war mehr durch den Mittelpunkt der Handlung, dem seine Teilnahme galt,
gefesselt, als durch deu Umkreis lind die Nebengcbiete des passiven Widerstands.
Das Buch, mit dem wir heute unsre Leser bekannt machen möchten, bekämpft
ihn von einem solchen einzelnen Gebiete aus beinahe auf der ganzen Linie seiner
Darstellung, es ist eine neue Geschichte Hannovers, von einem überzeugten
Anhänger der alten Negierung, einem treuen Diener seines Königshauses ver¬
faßt, von der uns zunächst ein stattlicher, vorzüglich gedruckter Band vorliegt.")
Herr von Hasselt auf Clüversborstel im Bremischen diente früher bei den han-
noverschen Gardehusaren und hat sich schon seit den siebziger Jahren durch
mehrere größere Werke über die Geschichte seines engern Vaterlandes vorteilhaft
bekannt gemacht. Dieser neue Band ist sehr gut disponirt und gut und klar
geschrieben. Der Stoff war zum Teil recht spröde: „Verfassungskämpfe, in
die die Fragen der Domänenausscheidung und der Naturalbequartierung der
Kavallerie seltsam verflochten sind"; der Verfasser hat ihn mit großem Geschick
gestaltet, und seine Darstellung ist nicht nur belehrend, sondern auch für
jemand, der einiges Sachinteresse mitbringt, fesselnd.
Die ausführliche Behandlung setzt mit dem Aufhören der französischen
Okkupation (1813) ein. Aus dem demnächst zum Königreiche erhabnen Kom¬
plexe von beinahe zwanzig einzelnen Landschaften sollte ein einheitlicher Staat
werden. Graf Münster, ein Staatsmann im großen Stil, leitete als hoch¬
gebietender Minister von London aus die auswärtige Politik, soweit sie für
Hannover in Betracht kam, die innere Organisation führte mit musterhafter
Sicherheit ein ausgezeichneter Beamter durch, der Geheime Kabinettsrat Reh-
berg, und bald schon machte sich hier der nachmals so berühmt gewordne Ein¬
fluß Stüves geltend, der lange, ehe er Minister wurde, zunächst als Schatzrat
der Landschaft in Osnabrück, dann als königlicher Assessor im Geheimen Rate
in Hannover (seit 1831) thätig war. Er war zu großen Dingen vorbehalten,
nachdem Münster, der sechsundzwanzig Jahre lang drei Königen gedient hatte,
von Wilhelm IV. gleich nach seiner Thronbesteigung mit den höchsten Ehren
verabschiedet worden war (1830). Der Herzog von Cambridge, des Königs
jüngerer Bruder und bis dahin Generalgouvemeur von Hannover, wurde nun
zum Vizekönig ernannt, ein freundlicher Herr, dem die Geschäfte des Landes
keine Sorgen machten. Dafür waren die Minister und die Kabinettsräte da.
Von besondrer Wichtigkeit war die Formirung des neuen stehenden Heeres
nach den Befreiungskriegen. Hervorragende, im englischen Dienst ergraute
Offiziere mit Erfahrungen, die in allen möglichen Ländern gesammelt waren,
standen zur Verfügung, aber die wohlbegründete Sparsamkeit der Stunde schuf
überall die größten Hindernisse. Die Einrichtungen gestalteten sich infolge
dessen sehr eigentümlich. Die Infanterie lag in Bürgerquartieren, für die
Kavallerie konnte Ernst Angust Kasernenbauten nur für je eine Schwadron
eines Regiments erreichen, die übrigen lagen auf den Dörfern bei den Bauern
in Quartier. Der Verfasser behandelt die militärischen Verhältnisse sehr ein¬
gehend und mit aller Sachkenntnis, die nur ihm zu Gebote stand. Sein
Vater war der Schöpfer des bekanntlich vortrefflichen hannoverschen Remonte-
wesens. „Bald galt nach dem Urteil aller Kenner die hannoversche Kavallerie
für die bestberittene in Europa. Ich glaube nicht, daß irgend ein Korps
existirt hat, dessen Pferdematerial das der vormaligen hannoverschen Kürassier¬
regimenter übertraf. Englische Offiziere haben zu der Zeit wiederholt ver¬
sichert, daß es dem der berühmten dass Fuh.ra8 völlig ebenbürtig sei. Zwei
Schwadronen der Garde du Corps waren nur mit Rappen, der Rest mit
dunkelbraunen, eine Schwadron der Gardekürassiere mit Füchsen beritten." Die
Kavallerie ergänzte sich aus Bauernsöhnen, die als Freiwillige vor dem
zwanzigsten Jahre eintraten, die Infanterie durch Konskription. So schmuck,
wie ein solches hannoversches Reiterregiment, sah ein preußisches zu jener Zeit,
wo man noch beides vergleichen konnte, allerdings nicht aus, und nicht einmal
die Ställe der Garde du Corps in Potsdam strahlten in dem Glänze einer
so demonstrativen Ordnung und Reinlichkeit, wie man sie bei den Verdener
Gardehusaren finden konnte. Einen viel weniger guten Eindruck machte da¬
gegen, auch auf den Nichtmilitär, die hannoversche Linieninfanterie. Hier sah
man die Folgen der Sparsamkeit, von der der Verfasser spricht, beinahe dem
einzelnen Mann an, und die Ausbildung muß viel zu wünschen gelassen
haben.
Über hundertzwanzig Jahre, seit Georg I., hatten englische Könige von
England aus über Hannover geherrscht, und nur einmal in unserm Jahr¬
hundert (1821) war einer, Georg IV., gleich nach seiner Thronbesteigung zu
kurzem Besuch herübergekommen. Von umso größerer Bedeutung war es, daß
mit Ernst August ein eigner Herrscher zu dauerndem Aufenthalt ins Land
kam (1837). Die Regierungszeit dieses Königs bis ans Ende des Jahres
1848 (die letzten drei Jahre Ernst Augusts sollen in einem zweiten und letzten
Bande mit behandelt werden) macht den interessantesten Teil des Buches aus
und füllt etwa die Hälfte seines Inhalts. Die Aushebung des Staatsgrund¬
gesetzes, das Jahr 1848 in Hannover und die ganze Persönlichkeit des Königs
im Lichte der historischen Beurteilung sind drei beinahe gleich interessirende
Gegenstände.
Der Verfasser hat hier außer den gedruckten Quellen sehr wertvolles
Material zur Verfügung gehabt, besonders die gesamten Papiere des 1844
verstorbnen Kabinettsministers von Sehele, der den König vor'und auch nach
der Aufhebung des Staatsgrundgesetzes beriet, ferner Berichte des hannoverschen
Gesandten am Bundestage, von Wangenheim, aus Frankfurt über das Jahr
1848, sowie Detmolds, des Parlamentsmitgliedes, Urteile an Stüve eben-
daher, endlich zahlreiche schriftliche und mündliche einzelne Mitteilungen und
eigne Eindrücke. Dagegen ist ihm die Benutzung des vormals königlich
hannoverschen Archivs für dieses Werk versagt worden, „ohne Angabe der
Gründe" — was ja bekanntlich erst recht seine Gründe zu haben pflegt.
Indessen, wie dem auch sei, ohne Liebe und Haß kann man nun einmal nicht
gut politische Geschichte schreiben, und wir wollen das Gute nehmen, woher
es auch kommt. Der Verfasser zeigt sich in den einzelnen Dingen sehr unter¬
richtet, und manche von Treitschkes scharfen Aphorismen werden von hier aus
ergänzt oder auch zu Gunsten Hannovers und seiner Negierung berichtigt
werden müssen. In andern Fällen geht die Polemik fehl, und da wirkt der
Eifer nicht vorteilhaft für den Eindruck des Buches. Z. B.: „Es ist kaum
zutreffend, von einer erblichen Mittelmäßigkeit der vier George zu sprechen
tTreitschke). Einen Vergleich mit dem zweiten, dritten und vierten Friedrich
Wilhelm von Preußen halten sie wenigstens aus." Mcieaulah, Thackerciy oder
Carlyle würden das wohl nicht unterschreiben. Aber auch abgesehen von der
Anknüpfung an Treitschke wird dnrch das ganze Buch hindurch gegen Preußen
Hannover ausgespielt in seltsamen Vergleichen von Ereignissen und Persönlich¬
keiten, so wenn der Sieg der hannoverschen Herzoge über die Franzosen an
der Conzer Brücke (1675) sich „den unter ganz ähnlichen Verhältnissen er-
fochtnen Schlachterfvlgen von Mars la Tour und Gravelotte dreist an die
Seite stellen kann," und an derselben Stelle zur weitern Ausgleichung der
Werte der „große" Kurfürst von Brandenburg mit Gänsefüßchen erscheint.
Viele kleine Anekdoten, in denen preußische Personen lächerlich gemacht oder
von hannoverschen Offizieren durch treffende Antworten mattgesetzt werden,
sind an und für sich manchmal so nett, daß man sie am liebsten wieder¬
erzählen möchte, aber dein Buche schaden solche Reibungen doch, denn sie er¬
scheinen da mehr als Ausdruck einer persönlichen Verstimmung, mit der man
sich nicht leicht das unbefangne Urteil eines historischen Schriftstellers ver¬
bunden denken wird. Und wirklich lesen wir Seite 399 in einem Vergleich
Ernst Augusts mit Friedrich dem Großen folgende merkwürdige Worte: „Und
in mancher Hinsicht erinnert sein ganzes Negierungsshstem, ja selbst seine
Persönlichkeit an das bewunderte Vorbild, das er in sittlicher Hinsicht weit
überträfe). In der Politik verfügte er über eine reiche, wenn nicht eine
reicheres!) Erfahrung als Friedrich, gepaart mit einem ungewöhnlich scharfen
Urteil über Menschen und Dinge, und wenn ihm vielleicht (!) auch dessen Feld¬
herrngenie abging, so besaß er doch ein ebenso reges Interesse und das gleiche
Verständniss!) für militärische Verhältnisse." Diese Worte klingen so seltsam,
daß man wohl sagen darf: Wer so urteilt, der hat, in dem einen Falle
wenigstens sicher, den Maßstab verloren. Und dieses ist nun weiter anch
wohl der allgemeine Eindruck, den ein selbständig urteilender Leser nach der
Lektüre des ganzen Buches haben wird. Er mußte ohne allen Naumsinn sein
oder jedes Gefühl für Groß und Klein beiseite lassen, wenn dieses, man möchte
sagen, prouozirende Vergleichen Hannovers mit Preußen nach seinem Sinne
wäre, das ihm überall in deu größten und in den kleinsten Dingen entgegen¬
tritt, von der ausgeführten politischen Parallele an bis herab zu der an¬
deutenden Anspielung auf Zufälligkeiten oder persönliche Züge. Das alte Erb¬
recht eines Herrscherhauses, das schon die Herzogskrone trug, als aller andern
deutschen Fürsten Vorfahren noch einfache Grafen und Markgrafen waren, der
zähe, harte Sinn der niedersächsischen Bevölkerung und die wenigstens über
die Spitzen der Gesellschaft leicht hingcstrichne englische selbstznsriedne Eleganz,
das alles ist ja gewiß wertvoll als Besitz und als Grundlage und Voraus¬
setzung zu weiteren Erwerb. Aber zu allerletzt fragt doch die wirkliche Ge¬
schichte weniger nach Stammbäumen und historischen Ansprüchen als nach
Thatsachen und nach geleisteter Arbeit, nach Erfolgen. Wollte man nnn hier
an der Hand des Verfassers das Spezifische des einen Teils zu ermitteln
suchen, um dann zu einem ernsthaften, strengen Vergleiche zu kommen, so
würde man etwa folgendes sagen: Das Hannover, das er uns schildert, hat
ausgezeichnete Beamte, namentlich hervorragende Juristen, ferner gute Offiziere
und vortreffliche Pferde gehabt. Schutzes bezauberte Rose aber (an die wir
in jedem Buche eines Hannoveraners mindestens einmal erinnert werden) ist
nicht nur eine an sich bescheidne, sondern vor allem auch eine ganz einsame,
alleinstehende Blume gewesen. Preußen andrerseits hat nicht nur die an¬
maßenden und annexionslustigen Staatsmänner hervorgebracht und die prahle¬
rischer und gesucht schneidigen Offiziere, die den durch ihre vornehmen Um¬
gangsformen vor andern ausgezeichneten hannoverschen so unsympathisch waren
(S. 187), sondern es hat auch mittlerweile so viel höhere geistige und künstle¬
rische Kultur in sich gesammelt, daß es dem übrigen Norddeutschland davon
mitteilen kann und muß. Die geistigen Kräfte des ehemaligen Hannovers endlich
sind auch in Preußen zur Geltung gekommen, wofür man nnr an einige der
bedeutendsten Namen zu erinnern braucht: Leonhardt. Windthorst, Planck,
Bennigsen, Miquel, Bödeker, Graf Münster — und wenn des Verfassers
Kameraden nicht 1866 scharenweise nach Sachsen gegangen wären, so würde
auch dieses von ihm so treffend gezeichnete Ofsizierselement, in dem sich
niedersächsische Tüchtigkeit mit englischem Schliff verband, innerhalb des
Preußischen Heerwesens zu größerm Einfluß gekommen sein. An einer Stelle
bemerkt der Versasser, der Hannoveraner wisse, daß alles veränderlich gewesen
sei außer der Dhuastie. „Deshalb hat auch keine Fremdherrschaft die Über¬
zeugung von einer demnächstigen Restauration des legitimen Herrscherhauses
je zu erschüttern vermocht, und bis auf den heutigen Tag hat sich der zähe,
harte Sinn der Niedersachsen wohl beugen, aber nicht brechen lassen." Ähn¬
liche Andeutungen finden sich öfter. In der Vorrede heißt es: „Jedenfalls
wird der Leser ersehen, daß ich mich bestrebt habe, unbeirrt durch Partei-
rücksichten, die Wahrheit zu erforschen." Ob sich aber die Wahrheit auch willig
finden läßt und nicht vielmehr oft den Suchenden äfft und täuscht? Mit
einer großen Täuschung, die für das ganze Buch folgenreich gewesen ist, haben
wir uns ja eben beschäftigt-
In Bezug auf die Regierung Ernst Augusts enthalten die Dokumente des
Verfassers sowohl wie seine Ausführungen viel wichtiges. Auch seinen Urteilen
können wir uns mit einigen Vorbehalten anschließen. Ernst August war ganz
gewiß ein kluger Mann. Das zeigen allein schon seine Randbemerkungen zu
den Berichten seiner Gesandten und Minister. Daß sie oft nicht in richtigem
Deutsch geschrieben waren, wie denn der König auch nur sehr unvollkommen
deutsch sprach, war nicht seine Schuld; es lag an seiner wunderlichen Erziehung
und gehört mit in das große Kapitel der „vier George." Er hatte seine
Jngend genossen in Kreisen, nach deren Auffassung ein Prinz nicht auf tiefere
geistige Bildung zu sehen brauchte. Er hatte gegen die Franzosen gekämpft,
persönlich mit dem Säbel in der Faust, unerschrocken und tapfer bis zur
Waghalsigkeit, er hatte schwere Verwundungen davon getragen, und ein auf¬
geschlagnes Auge erinnerte zeitlebens daran. Er war und blieb ein leiden¬
schaftlicher Soldat und würde sich in einem aktiven Kommando bei jeder
kriegerischen Expedition wohl gefühlt und vortrefflich bewährt haben. Nun
mußte er in England den unthätigen Prinzen und Hochtory spielen oder in
Berlin mit einer militärischen Scheinstellung vorlieb nehmen, die er der Freund¬
lichkeit seines Schwagers Friedrich Wilhelm III. verdankte, und es blieb bei
den Familienverhältnissen seiner Brüder, der Söhne Georgs III., lange un¬
gewiß, ob er noch jemals einen Thron besteigen würde. Als es endlich dazu
kam, war er sechsundsechzig Jahre alt, und es ist eher zu verwundern, daß er
sich noch so in die Verhältnisse feines Landes hineinfand, als daß man Grund
hätte, sich ihn als den vornehmsten Statisten seines Königreichs vorzustellen.
Das vielgenannte Staatsgrundgesetz, das unter Wilhelm IV. schon bald nach
Graf Münsters Rücktritt hauptsächlich von Dahlmann entworfen, aber erst
Ende 1833 publizirt worden war, bestimmte unter anderm die Vereinigung
der Landeskassen und die Ausscheidung einer bestimmten Domänenmasse, deren
Ertrag dem Könige zustehen sollte, also einer Zivilliste gleichkam. Dem Ent¬
würfe, ehe er den Ständen vorgelegt wurde, hatte nicht nur der König,
sondern auch der mutmaßliche Thronfolger Ernst August mit ausdrücklicher
Bezugnahme auf das Finanzthema dem Könige gegenüber zugestimmt. Später,
als die Minister dem Prinzen das fertige Gesetz nur zur Kenntnisnahme, uicht
damit er als Agnat zustimme, übersandten, erklärte er ihnen unzweideutig,
daß er sich an das Gesetz nicht gebunden halte (29. Oktober 1833). Kurz
darauf ließ er keinen Zweifel darüber, daß ihm die Kassenvereinigung und die
Abhängigkeit des königlichen Einkommens von der Bewilligung der Stände
uicht gefalle (März 1835). Im Dezember nahm er dann Scheich Rat in
Anspruch, weil er wußte, daß dieser in der Domänenfrage mit ihm überein¬
stimmte. Dessen Promemoria an den Prinzen vom 8. Januar 1836 teilt
Hasselt in der Beilage seines Buches mit. Am 18. Dezember 1836 erklärt
sich der Prinz so deutlich und ausführlich über die Unzweckmäßigkeit der
Kassenvereinigung gegenüber dem Kabinettsrat von Falcke, daß über die Mei¬
nung des künftigen Königs kein Zweifel mehr sein konnte, bis gleich nach der
Thronbesteigung noch deutlichere Anzeichen erfolgten, und am 1. November 1837
endlich das berüchtigte königliche Patent erschien, das das Staatsgrnndgesetz
aufhob. Am Gelde war dem König nicht gelegen, denn er lebte auch später
immer sehr einfach und übernahm oft Ausgaben für das Land auf seine
eigne Kasse. Ihm kam die Beschränkung auf die Zivilliste unwürdig vor,
und zu dieser Form des Souveränitätsgefühls gesellte sich ohne Frage eine
durch die Zeit und das Nachdenken, wie es zu gehen Pflegt, gesteigerte Empfind¬
lichkeit darüber, daß er als nächstbeteiligter Agnat nicht förmlich um seine
Zustimmung ersucht worden war. Hütte man den König gekannt als Regenten
und vor allem als Wirtschafter, wie wir ihn jetzt kennen, hätte man gewußt,
daß es sich für ihn nur um ein Prinzip handelte, so würde die Aufregung
gewiß weniger groß gewesen sein. Rechtlich war des Königs Position nicht
so desperat, wie die kurze Fassung der populären Geschichtsbücher es darzustellen
Pflegt, und die Männer, die seine Meinung teilten, waren wahrlich weder
Dummköpfe noch Schurken, wenn sie auch zum Teil später von der öffentlichen
Meinung so behandelt wurden, als wären sie eins von beiden. Aber die
Maßregel wirkte verhängnisvoll. Handelte es sich für den König um ein
Prinzip, so war man damals auf der andern Seite in Prinzipien erst recht
empfindlich. Weil in der Sache zu wenig ans dem Spiele stand, so hat der
heutige Leser für die Feierlichkeit, mit der dieser Kampf für die Verfassung
von 1833 jahrelang von der Opposition gegen die Regierung des Königs ge¬
führt wurde, keine ganz entsprechende Empfindung mehr. Vieles erscheint uns
heute kleinlich, manches kaum ernsthaft zu nehmen; die damalige Zeit vertrug
eben noch viel mehr Pathos. Zur Versöhnung that dann der alte König
sein möglichstes. So kam das Jahr 1848 heran. Es sollte zeigen, wie fest
und sicher er in seinem Lande stand, während andre deutsche Throne bedenklich
erschüttert wurden.
Abgesehen von einer kleinen Revolte in Hildesheim verlief die ganze
Freiheitsbewegung im hannoverschen Lande wie ein Kostümfest; das Feuer
zündete nicht. Der niedersüchsische Bauer war für dergleichen Dinge nicht zu
haben, eine Jndnstriebevölkerung, die man hätte aufregen können, gab es nicht,
und das Kleinbürgertum der Städte fühlte sich im ganzen Wohl und war zu¬
frieden. In der Residenz gab es zwar Protestversammlungen und Pöbel-
cmfläufe, aber wie harmlos war das alles im Verhältnis zu dem, was ander¬
wärts geschah! Der alte Ernst August kannte keine Furcht, er ließ sich nichts
abzwingen und empfing die Deputationen mit Ruhe und nicht ohne Humor;
allmählich jedoch gewährte er, was er für richtig hielt, nicht mehr, und noch
lange, nachdem das tolle Jahr vergangen war, konnten im Hannoverschen die
Kinder ihre Väter mit einem gewissen Stolz sagen hören: Unser König ist der
einzige Monarch, der nicht gewackelt hat. Herr von Hasselt giebt hier in diesem
schönsten Teile seines Buches ein Bild, dessen Gesamthaltung mit meinen
eignen Erinnerungen übereinstimmt. Er schildert dann des Königs Verhalten
zum Bundestage und zum Frankfurter Parlament mit ganz neuen Strichen
nach den Papieren Wangenheims, seine Vorschläge zu einer neuen Bundes¬
verfassung, seine Erklärung gegen die Zentralgewalt (den Reichsverweser) im
Juli und was darauf folgte. „Daraus, sagt mit Recht der Verfasser, mag
der Hannoveraner mit berechtigtem Stolze ersehen, daß die Politik seines alten
Königs nirgends das Licht zu scheuen braucht, und wie ernst es ihm darum
zu thun war, Deutschland einig und stark zu machen. An ihm hat es wahr¬
lich nicht gelegen, wenn genau dasselbe Ziel, das in unsern Tagen durch zwei
blutige Kriege erkämpft werden mußte, nicht bereits im Jahre 1849 auf fried¬
lichem Wege erreicht wurde." Jedenfalls wären zunächst die Märztage in
Berlin wesentlich anders verlaufen, wenn an der Stelle seines königlichen
Neffen der alte Ernst August gestanden Hütte.
Auf ihn pflegte man in Hannover gern das Wort: Jeder Zoll ein König
anzuwenden, weil er sich niemals etwas vergab und mit einer großen äußern
Würde, dabei aber einfach und ohne allen Schwulst aufzutreten pflegte. Der
Verfasser schildert ihn außerdem uoch von einer Seite, die wohl nur bevorzugte
Beobachter kennen zu lernen Gelegenheit hatten. Er mag ja Herzensgüte
gehabt und einzelnen auch gezeigt haben, aber gleich geliebt von hoch und
niedrig war er nicht. Der Adel war begreiflicherweise einem solchen König
mit Leib und Seele zugethan, die Stadt Hannover verdankte ihm eigentlich
alles und liebte ihn dementsprechend, die Landbevölkerung verehrte ihn in
größter Loyalität (wie man auch den Mikado verehrt, den man nie zu sehen
bekommt), aber in dem gebildeten Mittelstande, aus dem die Advokaten und
Professoren hervorgingen, von denen in diesem Buche oft die Rede ist, und
die der Verfasser nach den Vorstellungen seines Standes in eine unvorteil¬
haftere Beleuchtung setzt, als nötig war, in diesem Mittelstande, abgesehen von
einigen Familien höherer Beamten, war der König entschieden nicht beliebt.
Es fehlte ihm eben die Eigenschaft der Leutseligkeit (deren Mangel ja in der
bevorzugten nähern Umgebung eines Herrschers noch nicht als Defekt em¬
pfunden wird), man fürchtete feine Schärfe, seist stolzes, eigenwilliges Wesen,
man hatte großen Respekt vor ihm, aber zur Liebe gehört noch mehr.
Ehe wir von Hassells Buch Abschied nehmen, mag noch ein Bericht, weil
er von allgemeineren Interesse ist, über einen zweimaligen Aufenthalt des
Prinzen von Preußen in Hannover im Jahre 1848 hervorgehoben werden.
Zuerst sei der Prinz auf der Flucht von Berlin nach England nicht über
Mecklenburg, wie gleichzeitige Zeitungsnachrichten melden, deren Behauptung
der Verfasser auf eine Verwechslung zurückführt, sondern über Hannover ge¬
gangen; der Verfasser erzählt hier nach einem Bericht einer Staatsdame der
Königin Marie, den diese persönlich bestätigt und ergänzt habe:
Als der Kronprinz mit seiner Gemahlin am Nachmittage des 22. März wie
gewöhnlich im Palais erschien, erfuhr er zu seiner Überraschung, daß der Prinz
von Preußen abends eintreffen würde. Den alten König Ernst August versetzte
die telegraphische Ankündigung seines Besuchs in die allerübelste Laune. Er war
in frühern Jahren selbst oft genug der Gegenstand des erbittertsten Volkshasses ge¬
wesen, und dafür, daß man einer solchen Kundgebung ausweichen könnte, hatte er
absolut kein Verständnis. „Der Wilhelm kommt, sagte er, ich will ihn aber nicht
sehen, ich bin krank." Er beauftragte daher seinen Sohn, den hohen Gast am
Bahnhofe zu empfangen, wo er bereits alle erforderlichen Sicherheitsmaßregeln an¬
geordnet hatte. Gegen zehn Uhr abends lief der Zug, der den Prinzen brachte, in
die Halle ein. Da seine Anwesenheit nur einzelnen Personen bekannt geworden
war, so befanden sich in der späten Abendstunde nur wenige Menschen auf dem
Bahnhofe, der übrigens durch zahlreiche Polizisten abgesperrt war. Auch die An¬
wesenheit des Kronprinzen scheint, trotzdem er in Uniform gekommen war, wenig
beachtet worden zu sein, sodaß er ohne Zwischenfall mit seinem Gaste im Palais
an der Adolsstraße anlangte, wo die Kronprinzessin inzwischen den Thee bereitet
hatte. Prinz Wilhelm war nur von einem Adjutanten begleitet. Er war sehr
erregt und bewegt. Die Ereignisse in Berlin, von denen er erzählte, hatten offen¬
bar einen tief erschütternden Eindruck ans ihn gemacht. Nach kaum zweistündigem
Aufenthalte brachte ihn der Kronprinz wieder zur Bahn, und er bestieg nach einer
herzlichen Umarmung den bereitstehenden Hamburger Zug. Mit den Worten: „Nie
werde ich deine gastfreundliche Aufnahme vergessen" fuhr er davon. Am nächsten
Tage, Donnerstag den 23. März, trat das „Märzministerium" seine Thätigkeit
an, das bedeutendste und segensreichste, das Hannover je besessen hat.
Über den zweiten Aufenthalt des Prinzen nach der Rückkehr ans England
geben wir das Wichtigste im Auszuge. Der Prinz war am 5. Juni ein¬
getroffen und logirte als Gast des Königs im kleinen Palais im Georgen¬
garten. Der alte Ernst August war über den Besuch hoch erfreut; er hoffte,
daß er durch den Prinzen auf Friedrich Wilhelm IV. einwirken und diesen
weiter nach rechts treiben könne. Er warnte ihn am folgenden Tage dringend,
sich an den Sitzungen der Berliner Nationalversammlung zu beteiligen, weil
er sich dort nur Insulten aussetzen würde, und der Prinz versprach es. Be¬
kanntlich nahm der Prinz aber doch teil, und als er ein Jahr später, um das
Kommando gegen den badischen Aufstand zu übernehmen, eilig durch Hannover
reiste und den König nur flüchtig begrüßte, meinte dieser, dem Prinzen sei ein
Wiedersehen und Aussprechen peinlich gewesen, nachdem er sein Versprechen
nicht gehalten und die vorausgesagte unangenehme Erfahrung in der National¬
versammlung gemacht habe. So steht in einem Briefe Ernst Augusts an den
Herzog von Wellington vom 12. Juni 1849 zu lesen. Damals aber bei dem
Besuche des Prinzen am 6. Juni 1848 verständigten sich beide Fürsten aufs
beste. Der preußische und der hannoversche Bnndestagsgescindte erhielten
gleichlautende Instruktionen über eine „außerordentliche zentrale Exekutivgewalt,"
die drei deutschen Staatsmännern provisorisch übertragen werden sollte. Es
war genau vier Wochen, ehe Ernst August seinen Ständen durch die Minister
die Kundgebung gegen den Erzherzog Reichsverweser und die neue Frankfurter
Verfassung zugehen ließ. Beim Abschied sagte der Prinz zum Könige: „Lieber
Onkel, wie soll ich dir alle deine Liebe und Freundlichkeit vergelten, die du
mir stets und namentlich bei dieser Gelegenheit bewiesen hast?" Tief bewegt
erwiderte der König: „Wenn ich einmal nicht mehr bin, so nimm dich meines
blinden Sohnes an." Der Prinz reichte dem Könige beide Hände, und ein
kräftiger Händedruck sagte, daß er gern bereit war, diesen Wunsch zu erfüllen.
Mit dem Zuge elfeinviertel Uhr vormittags reiste er sodann über Magde¬
burg nach Berlin ab. (Hierauf werden die Zeugen der einzelnen Vorgänge
genannt.)
Herrn von Hassells Buch ist eine Parteischrift, aber eine sehr gute, aus
der jeder sein Teil lernen kann. Sie ist auch solchen Verfassern populärer
Darstellungen zu empfehlen, die den König Ernst August possenhaft karikiren
und gleichzeitig den Heldensinn seiner verfassungstreuen Opponenten im höchsten
Bombast feiern, mit einem Wortvvrrat, mit dem man etwa Schulkindern von
den Helden von Thermopylü oder von Arnold Winkelried erzählen könnte. Der
alte Ernst Angust war alles andre eher, als eine komische Figur! Das Jubi¬
läumsjahr der nchtundvierziger Revolution wird uns ja Wohl noch öfter Er¬
innerungen auch an ihn bringen. Heute haben wir ein reich illustrirtes und
außerordentlich wohlfeiles Buch von Hans Blum vor uns, das gewiß eine
weite Verbreitung finden wird/") Darin heißt es unter der Überschrift: Die
Märzbewegung von 1848 in Hannover: „Der Charakter des Königs Ernst
Angust ist früher geschildert worden (nämlich mit den Worten, daß er die
Lüge gewagt habe, er sei in Bezug auf das Gesetz von 1833 nicht gefragt
worden, und daß man in England mit Recht von ihm gesagt hätte, er habe
alle Verbrechen begangen außer dem Selbstmord). Er hatte die Verfassung
des Landes freventlich gebrochen und seit elf Jahren wie ein Sultan regiert
oder wie ein Stuart vor der Revolution von 1648. Er hielt nicht einmal
für nötig, ordentlich deutsch zu lernen und zu sprechen. Außerdem aber fing
in seinen Augen der Mensch erst beim Baron an; deshalb stellte Ernst Angust
in allen höhern Staatsämtern nur Adliche an. Wie auf diesen Selbstherrscher
eine seit elf Jahren in Hannover unbekannte liberale Bewegung („Bewegungen"
waren doch seit 1837 genug gemacht, eine wie die von 1848 aber auch im
übrigen Deutschland nicht bekannt geworden!) wirken würde, darauf durfte ganz
Deutschland gespannt sein. In der That vernahm er die Kunde von der
Pariser Februarrevolution mit der hochmütig-geringschätzigen Gleichgiltigkeit
eines britischen Großgrundbesitzers, dessen Pächter oder Hintersassen sich ein¬
bilden, Menschen zu sein und menschliche Rechte zu haben. Denn Hannover
war in seinen Augen sein von den Vätern ererbtes Rittergut, weiter nichts."
Nach dieser Einleitung, die sehr gut im Lcchrer Hinkenden Boten hätte stehen
können et. h. in einem ältern Jahrgang), kommt Hans Blum ans die „denk¬
würdige und drastische Weise," in der sich der König gegen eine städtische Depu¬
tation am 6. März (es war übrigens der siebente) ausläßt, zu sprechen und
giebt für Freunde des Komischen „das ernst-augustinische Deutsch in seiner
ganzen Schönheit wieder." Bei Hasselt aber lesen wir dieses Deutsch anders,
der aber hat es aus Bodemeyer, und da konnte Hans Blum schon seit langem
lesen, wie der kluge König trotz seinem gebrochnen Deutsch mit seinen Sar-
kasmen die Herren Buchdrucker und Maurermeister, die eine Volksvertretung
beim Bundestag wünschten, recht in die Enge trieb, indem er ihnen unter
andern die köstlichen Worte sagte: „Was den dritten Punkt betrifft, fo bekenne
ich, daß ich vielleicht zu dumm bin, um zu verstehe», was Sie eigentlich
meinen. Sie scheine» sich aber selbst nicht klar gemacht zu haben, ans welche
Weise sich der Wunsch einer Volksvertretung beim Bunde realisiren ließe. Die
Deutschen glauben, sie können die Einheit machen auf dem Papier. Wenn sie
wollen, so haben sie die Einheit; dann müssen sie aber gehen durch Blut bis
an die Brust usw." Hierbei wird wohl niemand etwas zu lachen finden.
Blum erzählt nun weiter vou den Märztagen im Stil eines Heldengedichts
mit der nötigen Abtönung für die Gegenseite (Welfeudünkel. frevles Spiel,
frivole Weise usw.) und schließt sein Drama so: „In der Nacht des so er-
eiguisvollen 18. März entließ er die alten Minister, bewilligte die Forderungen
des Volks, versprach einen verfassungsmäßigen Lebenswandel und berief vor
allem zum Jubel des Volkes denselben Mann, der 1837 für die vom König
mit Füßen getretne Verfassung gekämpft hatte, den Bürgermeister Stüve von
Osnabrück, an die Spitze des neuen liberalen Märzministeriums. Es war
überall dasselbe Schauspiel: die von der Reaktion am bittersten Verfolgten
mußten nun die im Märzsturin schwankenden Throne stützen."
Ganz so rührend war es nun freilich nicht, und so theatralisch und fix
guig es auch nicht zu. Zunächst war Stüve niemals von der Reaktion ver¬
folgt worden, sodann trat er keineswegs an die Spitze des Ministeriums.
Das that vielmehr ein Aristokrat im vollsten Sinne vom Kopf bis zur Zehe,
Graf Bennigsen, der Sohn des berühmten russischen Generals, der Vertrauens¬
mann des Königs, dem er durch den abgehenden Minister von Falcke, des
1844 verstorbnen Sehele Nachfolger, empfohlen worden war. Bennigsen führte
auch im Verein mit seinem Freunde Wangenheim in den nächsten Jahren die
auswärtige, d. h. allgemcindeutsche Politik des Königs. Stüve bekam das
Departement des Innern und wurde nicht in jener ereignisvollen Nacht,
sondern erst am 21. durch einen Kurier aus Osnabrück gerufen, und nach
vielen Schwierigkeiten konnte das Ministerium sich am 23. dem Könige vor¬
stellen. Stüve endlich war weder ein lärmender Demagoge, noch sah er sich
für einen gekrönten Märtyrer an, sondern er war ein in stiller Arbeit auf¬
gewachsener, konservativer und königstreuer Mann, der sich entsetzen würde,
wenn er wissen konnte, daß er und sein liebes Hannoverland zu einem solchen
Zerrbild für die Nachkommen hat herhalten müssen.
Das also nennt man Geschichte fürs Volk schreiben. Es ist weder
historisch, noch volkstümlich, sondern burlesk. Allerdings ist dieser Abschnitt
über Hannover wohl der unvorteilhafteste in dem Buche von Blum, das im
übrigen auch seine Vorzüge hat. Diese bestehen in einer übersichtlichen und
leicht faßlichen Erzählung der Ereignisse und in den vielen zeitgeschichtlichen
Dokumenten als Beilagen: Zeitungsblätter, Flugschriften, Karikaturen. Es
war ein dankbarer Stoff. Aber wir Deutschen zeigen leider oft einen un¬
entwickelten Geschmack, man Hütte wünschen mögen, dieses erste Buch über das
tolle Jahr wäre einfacher, edler, vornehmer, kurz weniger im Volkskalenderstil
geschrieben worden.
V. A MKA<
A^WA
M^MH-
.S.^in Reichslande ist es seit dem Statthalter von Manteuffel üblich
geworden, daß der Statthalter während der jährlich wieder¬
kehrenden Tagung des Landesausschusses dessen Mitglieder ein¬
mal in oorxors zur Tafel ladet. Während der Tafel oder gleich
nachher hält dann der Statthalter eine Rede, die vom Präsidenten
erwidert wird. Die Rede unsers stellvertretenden Staatsoberhauptes hat in
der Regel ein zugleich politisches und intimes Gepräge. Er steigt zwar darin
nicht unmittelbar auf den parlamentarischen Kampfplatz herab, nähert sich ihm
jedoch mehr als in dem feierlichen Staatsakt der Eröffnungsrede und benutzt
die Gelegenheit, sich in ungezwungner Weise über das auszusprechen, worauf
er besondern Wert legt. Das Ganze ist eine Nachahmung der parlamentarischen
Abende bei Fürst Bismarck, ist aber, örtlich betrachtet, insofern anders und
wichtiger, als der Statthalter herkömmlicherweise an den Parlamentsverhand-
lungen nicht teilnimmt und deshalb fast nur auf diesen Anlaß angewiesen ist,
sich in seiner Eigenschaft als Minister des Kaisers auszulassen. Daß dabei
diese Eigenschaft mehr hervortritt als die halb landesherrliche Stellung des
Statthalters, ist von unsrer Presse richtig erkannt worden, denn voriges Jahr,
wo der Statthalter einige sehr wohlgemeinte, aber eindringliche und scharfe
Bemerkungen gegen die maßlose Preßhetze einflocht, hat der stellvertretende
Präsident Jciunez heftige Vorwürfe zu lesen bekommen, weil er in seiner Ant¬
wort nicht die angegriffne „Freiheit" verteidigt habe. Auch im Landesaus¬
schuß ist die Sache, wenn auch mehr indirekt, zur Sprache gekommen, und
der Staatssekretär von Puttkamer hat „Chcnnade" geblasen. Übrigens ver¬
geblich, denn die Bewegung „zittert" noch jetzt manchmal nach.
Es handelt sich um eine Form, wie der Statthalter seine ministeriell
verantwortliche Meinung äußert, es gilt also davon wie von jeder Form das
Goethische Wort, daß alles, was besteht, wert ist, daß es zu Grunde geht.
Das Wort trifft auf diese Form sogar in besonderm Maße zu, denn als
regelmäßige Einwirkung kann sie nicht dienen, und bei ihrer Seltenheit kann
sie nicht wirken; sie zieht, sobald ihr, wie voriges Jahr, ein kräftiger Inhalt
gegeben wird, den Statthalter in den Tagesstreit und in dessen häßliche Folgen,
ohne daß der sachliche Gewinn entsprechen könnte. Dieser verflüchtigt sich
schnell, während jene fortdauern und sich mit der Zeit eher verschärfen. Es
ist nicht anders: wenn der Statthalter auch als Minister wirken will, und
das soll er nach dem Zweck seines Amts, so muß er an den Ministertisch
des Landesausschusses; kann er sich dazu nicht entschließen, so behält er vom
Minister nur die rechtliche und politische Verantwortlichkeit, aber nicht das
Wesen des ministeriellen Einflusses. Dieses muß er dann dem Staatssekretär
und den Unterstaatssekretären überlassen, und da kann es nur schaden, wenn
er selber gleichsam stoßweise als Minister auftritt, wie alles, was den Eindruck
der Laune oder Velleität macht, die notwendige Stetigkeit des öffentlichen
Lebens beeinträchtigt. Im Landesausschuß würde sich natürlich die Aktivität
des Statthalters auf wichtige Fragen beschränken, und auch da wäre es nicht
geboten, oft einzugreifen, das verbietet sich schon wegen der fast landesfürst¬
lichen Würde des Statthalters; wohl aber wäre ein ähnliches Verhalten an¬
gebracht, wie es der jetzige Reichskanzler im Reichstage beobachtet. Da er¬
scheint es vielen anfechtbar, als Vorbild für unsre Verhältnisse dagegen ist es
mustergiltig, und es ist zu bedauern, daß der Reichskanzler als Statthalter
von seinem eignen Rezept keinen Gebrauch gemacht hat. Dem Landesausschuß
und sich selbst würden der Staatssekretär und die Unterstaatssekretäre wieder
als das vorkommen, was sie staatsrechtlich sind und politisch gedacht waren:
als Ministergehilfen, nicht als Minister, als Adjutanten des Statthalters,
uicht als seine Vertreter. Auf den Lcmdesausschnß insbesondre würde eine
kurze, Wort für Wort überdachte, von jedem Überschwang sreie Rede des
kaiserlichen Stellvertreters als Herrenwort wirken. Auch nach der Rede
Würden die Mitglieder in der fortdauernden Anwesenheit des Statthalters das
Auge des Herrn auf sich ruhen fühle«; sie wissen als Anhänger französischer
Geistesschulung sehr genau, was 1'osck 6u irnMriz bedeutet. Es wäre die
Rückkehr zu dem, was durch die Statthalterverfassung beabsichtigt war, aber
in der Entwicklung verloren gegangen ist, die ich in meinem vorjährigen
Grenzbotenaufsatz über Kleinstaaterei und Sondergeist im Reichslnnde dargelegt
habe. Diese Entwicklung macht aus Elsaß-Lothringen etwas ganz andres, als
das deutsche Reichsland sein darf, nämlich einen nbsonderungssüchtigen Klein¬
staat mit französischen Allüren, wo sich überdies die verschiednen „Faktoren"
des Staatslebens immer planwidriger zur Gesamtheit und zu einander stellen.
Der Statthalter wird immer ausschließlicher stellvertretender Landesherr, die
Ministerialdirektoren steigen zu wirklichen Ministern auf, und der Landesaus¬
schuß, den sein Schöpfer, Fürst Bismarck, als Spitze der Selbstverwaltung
dachte, macht das Verwalter immer schwerer und erhebt Ansprüche, zu denen
weder unsre räumlichen und staatsrechtlichen Verhältnisse stimmen, noch sein
geistiges Kapital, noch seine zunehmende UnPopularität. Die Träger der
eigentlichen Staatsarbeit ferner, die Beamten, lassen sich, je länger je mehr,
zu «Mole^of herunterdrücken. Die nicht notable Bevölkerung endlich bleibt
unter solchen Umstünden, sollten ihr auch noch mehr „Freiheiten" gewährt
werden, in allem der leidende Teil. Es ist eine arg verkehrte Welt, aber,
nicht zu übersehen, verkehrt im Sinne der Volkswohlfahrt, der Staatsautorität
und deutscher Fortschritte. So sieht es aus, wenn man deu Dingen auf den
Grund geht, die Oberflüche hat natürlich ein erfreulicheres Gesicht und nimmt
sich sogar manchmal recht hübsch aus, z. B dann, wenn der Kaiser ins Land
kommt.
Auch in diesem Jahre hat der Statthalter den Landesausschuß zu sich
geladen und die dabei übliche Rede gehalten. Er hat jedoch das politische
Gebiet diesmal nur allgemein gestreift und in der herzlichen Art, die ihm
natürlich ist, die Gelegenheit darauf zugespitzt, deu Präsidenten des Landes¬
ausschusses zu feiern, der als solcher mit der von ihm geleiteten Versammlung
gerade jetzt fünfundzwanzig Jahre thätig ist. Herr Dr. von Schlumberger
verdient in vieler Hinsicht das gespendete Lob, denn er ist ein tüchtiger Prä¬
sident, und jedenfalls der beste für die eigentümlich zusammengesetzte Vertretung.
Ganz ähnlich wie Herr von Puttkamer sür unsern Landesausschuß der beste
Staatssekretär ist. Beide Herren bewegen sich auf diesem nicht leichten Boden
mit bewunderungswürdiger Sicherheit: Herr von Schlumberger mit ansprechenden
Humor, Herr von Puttkamer mit halb versteckter, halb verdrossen herausge¬
kehrter Überlegenheit im Debattiren. Aber wie in unsern Reihen kaum ein
ernst denkender Mann zu finden ist, der die Amtsführung Herrn von Putt-
kamers für einen Segen hielte, so ist unser Landesansschnßpräsident wohl der
für uns brauchbarste und bequemste der Notabeln, aber im entscheidenden
Wesen doch nicht anders als die übrigen Notabeln. Er ist nicht weniger
gegen unsre Staatsauffassung eingenommen, namentlich gegen den trotz aller
Irrungen immer wieder hervorbrechenden Ernst, womit wir die staatsbürger¬
liche Gleichheit wahrzumachen suchen, aus dem Nebel der Phrase in Wirklich¬
keit umsetzen. Er soll sich sehr scharf gegen die jetzt einzuführende Kapital¬
rentensteuer aussprechen; das ist glaubhaft und dem mehrfachen Millionär ja
nicht zu verdenken, aber etwas Wasser in den Wein des übersprudelnden
Lobes würde weder für diesen „Ernstfall," noch sonst schaden. Um noch
einiges andre anzuführen: Herr Dr. von Schlumberger, ein wirklich gebildeter
Mann, schriftstellert nicht bloß in französischer, sondern auch in deutscher
Sprache, aber in seinem Hause herrscht französisches Wesen wie nur in irgend
einem Fabrikantenheim, und er duldet es, daß seine Enkel vor dem Militär¬
dienst nach Frankreich flüchten, was sich offiziell Entlassung aus der Staats¬
angehörigkeit vor dem vollendeten siebzehnten Lebensjahre nennt.
Dergleichen hindert ja nicht, Herrn Dr. Schlumbergers und andrer Thätig¬
keit zu schützen und der Schätzung Ausdruck zu geben, es sollte uns jedoch
vor Überschätzung bewahren- Nirgends mehr als in Elsaß-Lothringen ist es
gefährlich, aus den Leuten zu viel zu machen. Es geht immer ans unsre
Kosten; je höher die Stelle, vou der es ausgeht, desto größer die Gefahr. Je
aufgeknöpfter wir sind, desto zugeknöpfter werden sie; davon macht keiner eine
Ausnahme. Auch dem Statthalter gegenüber wird darnach gehandelt, obgleich
natürlich ein so einflußreicher Maun, ein so vornehmer Herr noch dazu, immer
mir das freundliche Gesicht des Januskopfes zugewandt bekommt; auch der
optischen Täuschung wegen, auf die gehofft wird: es gäbe gar kein andres
Gesicht. Beim Statthalter von Manteuffel nahmen seinerzeit manche Notable
noch einen wehleidigem Gesichtszug zu Hilfe, sodaß sein Herz zerschmolz und
nur bei den Leiden seiner „Kerls" die Diamanthürte des Soldaten bewahrte.
Fürst Hohenlohe-Langenburg ist äußerlich und innerlich vornehmer, wie
es schon sein Stammvetter und unmittelbarer Vorgänger war. Für ihn war
es daher nur eine verbindliche Wendung, als er in dem weitern Verlauf seiner
Tischrede die Mitglieder des Landesausschnsses gleichsam um Entschuldigung
bat, daß sie in dieser Tagung soviel Vorlagen zu erledigen hätten. Nur wird
es auch dafür aus dem Wald kaum wieder so herausschallen, wie es hinein¬
geschallt hat; es ist sehr leicht möglich, daß die Quittung in dem Hinweis auf
ein schweres Opfer erteilt werden wird. Und die Herren tagen doch so gern,
wie ich von früher her zu wiederholen habe. Nicht so sehr wegen der Diäten
(20 Mark täglich), obgleich auch diese willkommen sind, als deswegen, weil
während der Tagung die Quelle, aus der unser Landtag gespeist wird, die
Notabilität, noch mehr gilt als sonst. Mich, und sicher nicht mich allein, er¬
innert dieser Zeitraum immer an das, was wir unter dem Statthalter von Man¬
teuffel das ganze Jahr hatten. Ein Beamter z. B., der seine Pflicht thut, '
aber dadurch, wie das so vorkommt, unbequem wird, wird vom Negierungs-
tisch aus bestenfalls nur matt verteidigt, und wenn, wie ganz vor kurzem, der
Angriff auf den einen, nicht einmal genannten Beamten offenbar auf die ganze
Beamtenkategorie gemünzt ist — es handelte sich wieder einmal um die Forst¬
partie —, so wird ja der Angriff zurückgewiesen, aber nicht so, daß dem An¬
greifer die Luft zur Wiederholung verginge. Als derselbe Abgeordnete voriges
Jahr eine Variation der luxemburgischen Nationalweise: „Wer weite kenne
Prusse sin" zum besten gab, wurde die Ungehörigkeit gar nicht gerügt. Ich
bin seit 1881 im Lande, habe aber während der ganzen Zeit nur an einem
unsrer Minister wahrgenommen, daß er im Landesausschuß immer nur echtes
Deutsch gesprochen hätte; das war der jetzige Oberpräsident Stube, der bloß
etwas zu bureaukratisch war. Also, unsre Abgeordneten haben es in ihrem
Sinne ganz gut, wenn sie recht lange tagen, es ist nicht nötig, es ihnen zum
Verdienste anzurechnen. Oder spricht für das Gegenteil der Umstand, daß in
dieser Session, außer der Eröffnungssitzung vom 10. Januar, bis heute — den
21. Februar — sechs Sitzungen abgehalten worden sind: am 18. und 19. Januar,
am 1., 2., 15. und 16. Februar? Wenn das Tagen der Kommissionen die
Thätigkeit des Plenums ausschließen sollte, so ist das ein Beweis mehr sür meine
früher ansgesprochne Behauptung, daß der Landesausschuß seinem Namen und
seiner Mitgliederzahl uach nichts als eine größere Kommission ist, die wohl
daran thäte, die Vorberatung der meisten Vorlagen, namentlich die des sehr
gleichmäßig bleibenden Staatshaushalts, in das ganze Haus zu verlegen. Die
diesjährigen Vorlagen zumal sind großenteils fertig vorgethane Arbeit, bei der
es Annehmen oder Ablehnen, aber kaum Amendiren heißt. Wenn darnach
verfahren würde, so hätten unsre Landboten in der That Gelegenheit, den
Eifer und die Hingebung zu bewähren, die der Statthalter in einer weitern
Wendung seiner verbindlichen Tischrede an ihnen gerühmt hat.
Unser jetziger Statthalter hat diese Gewohnheit, die Menschen und Dinge
in unserm Lande, soweit sie „einheimisch" sind, in vergrößernder Perspektive
zu sehen, als etwas fertiges überkommen, und es ist begreiflich, daß er sie
fortsetzt. Aber einmal wird damit gebrochen werden müssen, es ist doch zum
wenigste» eine Verwöhnung; je eher also, desto besser. Wenn es erlaubt
wäre, als Pessimist zu rechnen, so möchte man fast wünschen, daß der Landes¬
ausschuß so verblendet wäre, die Kapitalrentensteuer abzulehnen. Dann freilich
würde auf die wirklichen Verhältnisse starkes Licht fallen; auf kleinerm Raum
dem entsprechend, was der Reichstag wagt, wenn er die Flottenvorlage zurück¬
weist oder verstümmelt. Wahrscheinlich ist allerdings die Ablehnung nicht,
denn nach dem verhältnismäßig entschiednen Tone zu schließen, womit Herr
v. Puttkcimer bei der allgemeinen Budgetdebatte das Gerede von Diktatur
widerlegt hat, ist der Regierung ihre besondre Stärke in der diesjährigen
„Konstellation" bekannt, und sie muß davon Gebrauch machen, ebenso sehr
wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen wie wegen der Wichtigkeit und
Gerechtigkeit der diesmal in Frage stehenden Steuerreform. Unser „Rentner-
Parlament" wird in den sauern Apfel beißen müssen. Es ist nicht zufällig,
daß in den diesjährigen Verhandlungen gar keine Frische und Lebendigkeit
aufkommen will: die herannahende Entscheidung lastet schwer auf deu Gemütern.
Der Laudesausschuß hat ja nicht bloß mit der gefurchteren Wahlreform, sondern
auch mit der konkurrirenden Gesetzgebung des Reichstags zu rechnen; bei dieser
würden das Zentrum und die Demokratie die Hilfe versagen müssen, die sie
in der üblichen Sedezausgabe von Reichstag zu einem Entrüstungssturm auf
die „Ausuahmegesetzgebuug" gern hergebe». Das weiß die Opposition gegen
die Steuerreform sehr genau. Wenn diese trotzdem fallen sollte, so trügt die
stets gezeigte Überschätzung einen großen Teil der Schuld daran, weil sie als
Schwäche gedeutet wird. Als Schwäche werden auch solche Konzessionen wie
die Petrische Ernennung und die Mitwirkung von Abgeordneten bei der Gesetzes¬
ausführung angesehen. Sie hemmen, statt vorwärts zu helfen. Vorwärts
bringt uns nur gleichmäßige und sich immer gleichbleibende Festigkeit, ver¬
bunden mit der bestimmten Erklärung, daß wir in Deutschland nur deutsche
Interessen kennen. Das allein wirkt auf die „Einheimischen" und wird sie in
Deutschland einheimisch machen-
Wir haben überhaupt im Reichslande und mit dem Reichslande zu viel
Gefühlspolitik getrieben. Da unser Gefühl uicht das allein zulässige stark¬
herzigen Wohlwollens war, so haben wir zu Surrogaten gegriffen. Zweierlei
vornehmlich ist immer im Schwange gewesen und hat darum einen dauernden
Niederschlag abgesetzt: niisre Volksschmeichelei an die „einheimische" Adresse,
und für unser eigenes Teil eine Selbstbescheidung, die Wohl noch nie an einem
Eroberer erlebt worden ist. Es fällt einem schwer, es zu sagen, aber unsre
Selbstbescheidung hat sich oft zu nationaler Selbstverleugnung gesteigert, die
Vvlksschmeichelei dagegen traf auf einen dafür nur zu wohl vorbereiteten Boden,
denn in der Selbstüberschätzung waren die Elsaß-Lothringer echte Franzosen
geworden. So haben wir denn dnrch die Volksschmeichelei die Elsaß-Lothringer
in der Meinung bestärkt, sie wären etwas besseres als andre, und sie könnten
immer beanspruchen, ohne etwas dafür zu leisten, während wir dnrch den
andern Fehler uns selber der gepriesenen Vortrefflichkeit zum abschätzigen Ver¬
gleich angeboten haben- Wir sind es, und von uns untrennbar das deutsche
Wesen, wogegen man sich besser dünkt. Das ist in der langen Zeit zur zweiten
Natur geworden, und um so mehr, als das -innere Deutschland nur sehr
wenigen genauer bekannt wird. Es handelt sich auch um keine mehr oder
weniger häufige Erscheinung, sondern um eine Volkseigenschaft und um ein
Stück von Gemeingefühl. Darin stimmen Kompatrioten und wirkliche Lands¬
leute vollständig überein, mag anch die Äußerung der übereinstimmenden
Empfindung Abstufungen zeigen und je nach Umständen größere oder geringere
Rücksichten nehmen. Wer von uns irgend einen Notabilitätstitel aufzuweisen
hat, hat für seine Person als „Schwob," „Ditscher," „Prussien" nicht viel zu
leiden, der Statthalter, die Ministerialvorstände, die Vezirkspräsidenten und
sonst mächtige Leute spüren an sich selber gar nichts davon, aber der machtlose
Unterbeamte, der kleine Gewerbetreibende, der eingewandert ist, der Arbeiter
oder Dienstbote aus Altdeutschland um so mehr. Freilich kommen die Klagen
nicht leicht an die große Glocke oder an die Öffentlichkeit, denn sie sind un¬
bequem, und das fällt für die Dienstauffassung nur zu leicht mit Ungehörig-
keit zusammen, während es von der Presse einfach totgeschwiegen wird, auch
von der demokratischen und klerikalen, die von Volksfreundlichkeit überfließen.
Wer da glaubt, die Ausbildung des Journalisten gehe dahin, die Wahrheit
mit Ernst und Geschmack zu sagen, irrt sich, das ist Nebensache; etwas hoher
steht schon die Fähigkeit, das, was bequem und gelegen kommt, aufzuspüren
und aufzuputzen, am höchsten steht, virus ont, xunotum, wer darin Meister
ist, mit Verstand und Eleganz das Unbequeme totzuschweigen. Etwaige
Regungen des Gewissens werden an Monopolen und ähnlichen Fesseln der
„Freiheit" ausgelassen. So ist es oder wird es überall; im deutschen Reichs-
land zumal sind deutsche Leiden immer verpönte Artikel gewesen. Und doch
sind sie recht zahlreich, und zwar im ganzen Lande, denn die Kehrseite unsrer
Volksschmeichelei und der damit verwandten „Schonung der Gefühle" kommt
überall zum Vorschein, in Form von meistens recht unfreundlichen Quittungen.
Darin sind auch Elsässer und Lothringer ganz gleich, nur daß es beim
Elsässer leicht schroffer, beim Lothringer in der Regel vorsichtiger heraus¬
kommt. Ja man muß sagen, dieses unerfreuliche, gegen uns gerichtete Gemein¬
gefühl sei, außer der französischen Vergangenheit, das einzige, was die beiden
Volksstämme innerlich verbindet, die sonst so verschieden, einander sogar un¬
sympathisch sind. Und dann, nicht die gewiß vorhandnen, sogar mannig¬
faltigen Vorzüge beider Volksstämme sind es, die durch die Schmeichelei
gepflegt werden.
Politisch spricht vor allem das neue Band mit, das wir zwischen Elsässern
und Lothringern angeknüpft haben. Wahrlich, ein erfreuliches, uns zur Ehre
gereichendes Band ans deutscher Zeit! Dürfen wir hoffen, es wieder zu be¬
seitigen? Doch nur dadurch, daß wir aus uus mehr und aus den Leuten
weniger machen; daß wir uns darauf besinnen, jede Regierung müsse einen
mächtigen Eindruck machen, imponiren, welche Mittel sie auch sonst anwende.
Daß wir uns nicht an die niedrigen, sondern an die edeln Regungen der
Volksseele wenden, die Volksschmeichelei dagegen, die doch ebenso unwürdig ist
wie die Schmeichelei vor dem Thron, ein- für allemal abthun, mit echtem
nationalen Selbstgefühl vertauschen. Und wir alle müssen darnach trachten
und leben, die Regierenden sowohl wie die, deren Lebenskreis nicht so hoch,
aber der Bevölkerung näher steht. Es darf auch nicht mehr die jetzt so häufigen
Separatfrieden und Separatbündnisse geben, denn auch sie gehen immer auf
deutsche Kosten, so wohlgemeint sie sein mögen; wir brauchen Zusammenhalt
und Tradition. Das alles brauchen wir nicht allein als Sonntags- und Fest-
stimmung, sondern anch als Geleit des Alltags, wo es bei wirklicher Arbeit
und im regelmäßigen Verkehr beiderseits die Herzen befruchtet und eine langsam,
aber stetig wachsende Ernte verheißt. Bis dahin wird das Übel weiter wuchern
und keine aufrichtige Versöhnung aufkommen lassen. Unter anderm wird es
dabei bleiben, daß, wer von uns auf den Sitz des Übels hinweist und zeigt,
wie undeutsch und dem Deutschtum schädlich das ganze Treiben ist, als Chau¬
vinist verschrieen werden darf, ohne daß die zu gleicher Pflicht gehaltnen den
Vorwurf als Beschämung empfänden. Für die Eingebornen vollends, die sich
uns von Herzen und ohne Vorbehalt zuwenden möchten, wirkt der jetzige Zu¬
stand wie eine Verfehmung.
Das zuletzt Gesagte zeigt sich gerade jetzt einer Schrift gegenüber, die
Erwähnung und Beachtung verdient. Die Tägliche Rundschau in Berlin hat
unter der Überschrift „Briefe eines Elsässers" eine Reihe von Artikeln über
unsre Verhältnisse veröffentlicht und dann als Sonderabdruck hierher verschickt,
wie es scheint besonders an Beamte. Der Verfasser hat sich nicht genannt.
Er stammt aus einer altelsüssischen Familie, ist aber wirklich ein Deutscher
geworden und fühlt Schmerz darüber, daß so wenige diesen geistigen Gewinn
teilen. Da er die engere Heimat ebenfalls liebt, so drängt es ihn, die Ur¬
sachen der Vereinzelung zu untersuchen, und er thut es in würdiger Form,
aber mit voller Offenheit, ohne Schminke, wo nötig gegen alle Beteiligten,
gegen Altdeutsche und Neudeutsche. Was den Wert seiner Erörterungen be¬
trifft, so ist der volksbeschreibende Teil, wie man ihn nennen könnte: seine
soziale Landesaufnahme fast ausnahmslos vortrefflich; er bringt viel neues,
man lernt von ihm, er beobachtet gut und kennt Land und Leute genau, ist
auch in der Geschichte seines Geburtslandes zu Hause und weiß, was für
dessen Entwicklung und jetzigen Zustand das französische Wesen zu bedeuten
hat, wie unvereinbar die landesübliche Gallomanie mit der deutschen Gegen¬
wart ist. Er versteht es auch, seine Beobachtungen und Gedanken lebendig
und treffend auszudrücken; immerhin ist manchmal eine gewisse Unfertigkeit
störend, die sich selbst nicht ahnt. Das gilt auch von den praktischen An¬
regungen, von der eigentlich politischen Seite überhaupt. Darin schwimmt
der Verfasser mit der Mode und macht fast nur bei dem Stichwort: „Elsaß-
Lothringen den Elsaß-Lothringern" eine Ausnahme. Seine Opposition dagegen
ist originell: „Man stelle einmal als allgemeinen Grundsatz auf, daß jeder
deutsche Vundesstaat für jeden Beamten, den er ins Elsaß abgiebt, zur Über¬
nahme eines Elsässers verpflichtet ist." Die Opposition ist auch sehr scharf:
„An dem Tage, wo das Wort »Elsaß den Elsässern« als leitender Grundsatz
unsrer Verwaltung aufgestellt wird, ist dem Deutschtum im Elsaß das Todes-
urteil gesprochen, hat Deutschland ein für allemal verzichtet, das Elsaß zu
gewinnen." Die einschränkende Fassung des Stichworts hängt damit zu¬
sammen, daß der Verfasser Lothringen ganz außer Betracht läßt, der Grund,
den er dafür anführt, er kenne diesen Landesteil nicht, macht seiner Gewissen¬
haftigkeit Ehre, aber für die politische Betrachtung ist Lothringen doch ein
Drittel des Ganzen.
Die Exemplare des Manuskriptdrucks scheinen sehr zahlreich versandt
worden zu sein, ich habe schon mehrere Beamte gesprochen, die es erhalten
haben, und mir selbst ist es nach meinem letzte» dienstlichen Wohnsitz geschickt
worden. Nun sollte man meinen, unsre Presse müßte sich auf die kostbare
Ware mit Eifer gestürzt haben. Weit gefehlt. Die Straßburger Post z. B.
hat meines Wissens die Schrift nur in ihrem Briefkasten erwähnt, der Autor¬
schaft wegen, und dann in einer Korrespondenz, die gegen die in der That
zu schroffe Behandlung des Notariats eine Einsprache erhob, die ihresteils
nicht weniger übers Ziel schoß. Die Strnßbnrger Post ist allerdings ent¬
schuldigt, denn das Deutschtum des Elsässers ist nicht das ihrige, ihr ist der
Kompatriot Drehfuß wichtiger. Nur ein Kreuzer unsrer Preßflotte hat alle
Segel aufgehißt: die „Heimat," Kapitän Hoffet. In seinem Zivilverhältnis
ist Herr Hoffet evangelischer Geistlicher, seine Zeitung ist das Amtsblatt des
politischen Protestantismus in Elsaß-Lothringen und gilt für deutschfreundlich,
ein Auszug aus dem betreffenden Leitartikel ist auch sonst interessant. Ich
führe die bezeichnendsten Stellen an.
„Kenner der hiesigen Verhältnisse wissen, daß bereits seinerzeit in den
Grenzboten Artikel über das Elsaß erschienen sind, die ganz denselben Stempel
tragen, dort aber nicht als anonyme schriftstellerische Kunstprodukte, sondern
als mit voller Unterschrift versehene Abhandlungen auftraten. Daß der Ver¬
fasser der »Briefe eines Elsässers« kein Elsässer ist, braucht nicht lange be¬
wiesen zu werden, ein Mann, der seinem Freunde schreibt: »die für das öffent¬
liche Leben verhängnisvollste Eigenschaft des Elsässers ist seine Unzuverlässig-
keit, seine — es muß heraus — Falschheit dem Nichtelsäsfer gegenüber« ist
entweder der allerelendeste Tropf der Welt, oder aber er hat eben kein Elsässcr-
blut in seinen Adern; denn man kann doch füglich bei der allergrößten Ob¬
jektivität sich ein solches Zeugnis nicht selbst ins Stammbuch schreiben. Also
mit den »Briefen eines Elsässers« ist es wieder einmal faul. . . . Der Ver¬
fasser der Briefe ist nicht der erste beste. Er hat eine umfassende Kenntnis
der elsässischen Verhältnisse, hat es aber doch nicht verstanden, sich ganz in
die Eigenart und in die komplizirten Verhältnisse derselben völlig einzuleben.
Daher auch das obige Urteil, für das man ihm in einem weniger anständigen
oder thatsächlich falschen Volksstamme wohl bei Nacht eine gehörige Tracht
Prügel erteilt hätte, wo er doch bei den »unzuverlässigen und falschen El-
scissern« unbehelligt seine Beobachtungen machen und niederschreiben konnte. . . .
Schwerer ist es allerdings, wenn einmal solche Urteile in der Öffentlichkeit
Wurzel gefaßt haben, denselben z» widersprechen. Schöner wäre es gewesen,
wenn der Verfasser, der die elsässische Gastfreundschaft genießt, und der sie in
seiner Schrift auch lobend erwähnt, sich an diese Arbeit gemacht hätte. Es
giebt ja in Deutschland der Blätter genug, die ihre Spalten mit Schimpf-
reden zu füllen Pflegen, die irgend ein Gymnasiast oder ein schreibseliger
Beamter, der sich zurückgesetzt fühlt, verfaßte. Wir wollen die »Briefe eiues
Elsässcrs« nicht zu dieser Kategorie von Erzeugnissen zählen, aber wir können
sie anch nicht einreihen in die Zahl derjenigen, denen das Wohl unsrer kleinen
Heimat die allererste Sorge ist." Zum Schluß heißt es von der Täglichen
Rundschau: „Es handelt sich einfach um eine radaumäßige Reklame für das
Organ, das sich zwar »unparteiische« Zeitung nennt, im Grunde aber nach
Art der Revolverblätter für sich Stimmung machen will."
Welche christliche Milde, welche Kraft der Beweisführung, welch edle
Sprache! Das ist jedoch nebensächlich. Die Bedeutung des Artikels liegt in
der schroffen Abweisung der unbequemen Wahrheit, in der charakteristischen
Einkleidung des Einschüchteruugsversuchs und in der Behauptung, daß wir
Deutschen im Reichslande nur Gäste seien, denen als Dank für die Gastfreund¬
schaft das Wohl der neuen Heimat die „allererste Sorge" sein müsse. Unser
Herrenrecht am Lande ist Herrn Hoffet ganz unbekannt, und es will ihm
nicht in den Sinn, daß das Wohl des Ganzen höher steht als das des Teils.
Kann man naiver und zugleich anspruchsvoller verblendete Selbstüberschätzung
äußern und ausrufen? Das ist Verhärtung und Absonderung, nicht etwa ein
Ubergangspartikularismus, der sich mit der Zeit zu deutschem Patriotismus
erhebe» könnte. Wenn die Sprache unsrer „Freunde" so klingt, wie mögen
unsre Gegner denken?
chou vor Wochen brachten Zeitungen mehr oder weniger ein¬
gehende Berichte über eine Sprechstunde su gros, die Geheimrat
Professor Dr. Schweninger auf einem Vcreinsabend „Berliner
Presse" abgehalten haben soll. So viel wir wissen, ist dies
nicht die erste Plauderei, die dem Berliner Publikum von dem
genannten Herrn geboten worden ist, und wenn wir nicht sehr irren, so waren
"und die in frühern Jahren entwickelten Gedanken und — gebrauchten Kraft-
ausdrücke denen sehr ähnlich, die aus dem diesjährigen Vortrag in die Öffent¬
lichkeit gelangt sind. Goldne Worte soll nach einer Zeitung der Herr Professor
gesprochen haben! wir wissen nicht, ob diese Worte wirklich alle so golden
waren, aber das wissen wir bestimmt, daß sie teilweise niedriger gehängt
werden müssen, nicht wegen ihres hohen innern Wertes, sondern weil sie den
Widerspruch jedes denkenden Menschen herausfordern!
Der Name „Schweninger" ist in Deutschland allen patriotischen Herzen
lieb und wert, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser Arzt durch seine
Energie und eigentümliche Persönlichkeit den Fürsten Bismarck von einer
Lebensweise abgebracht hat, die schon Anfang der achtziger Jahre das Leben
des Kanzlers ernstlich gefährdete. Ohne Schweninger hätten wir wahrscheinlich
keinen Bismarck mehr, und darin liegt das große Verdienst, das ihm jeder
Deutsche hoch anrechnen wird. Wenn ein solcher Mann zu einem großen
Publikum spricht, dann wird es viele gläubige Herzen geben; um so not¬
wendiger ist es aber, daß wenigstens alle die Worte nicht unwidersprochen
bleiben, die Verwirrung anrichten könnten.
Ich hatte schon nach dem Bericht über den Berliner Vortragsabend zur
Feder gegriffen, aber ich ließ die halbvollendete Arbeit wieder liegen, weil ich
mir sagte, es wird schon soviel zusammengeschrieben, daß es wirklich kein Ver¬
dienst ist, eine Sache noch breit zu treten, die das Publikum doch bald wieder
vergessen wird. Jetzt aber berichten die Zeitungen schon wieder von Plau¬
dereien, die in Wien und München stattgefunden haben sollen. Was der Herr
Geheimrat in Wien alles gesagt hat, erfahren wir nicht; es wird nur ziemlich
lakonisch gemeldet, daß er nach der zu einem milden Zweck abgehaltnen Plau¬
derei in seinem Hotel ein sehr gewinnreiches Nachspiel in Form von Konsul¬
tationen eröffnet habe. Aus München dagegen kommen ganz ausführliche
Berichte, die so merkwürdige Dinge zur Sprache bringen, daß ich eine Auf¬
klärung des Publikums für geboten halte, selbst auf die Gefahr hin, von dem
Herrn Geheimrat nicht als ebenbürtiger Gegner anerkannt zu werden. Hören
wir zuerst, worüber er in Berlin gesprochen hat!
Billige Weisheit kann man seine damaligen Worte nennen, denn sie ent¬
halten im allgemeinen nur landläufige Wahrheiten und nebenbei einige Sen¬
tenzen, die bei einer nähern Beleuchtung schwerlich standhalten dürften. Daß die
Humanität eine Haupteigenschaft des Arztes sein soll, ist ein Ausspruch, dessen
Nichtigkeit bei Publikum und Ärzten schon seit Jahrhunderten anerkannt wird.
Gewagter scheint aber schon die Behauptung, daß sich jetzt die Wissenschaft
bei vielen Kollegen vor allem im Bangemachen zeige, und daß ein humaner
Arzt dem Kranken niemals die Natur seines Leidens verraten dürfe. Aller¬
dings werden vernünftige Ärzte ihren Patienten niemals ohne Grund die
Diagnose ins Gesicht sagen, und ich selbst kenne eine Reihe von Fällen, wo
sich Herzkranke erst von dem Augenblick an wirklich krank fühlten, als sie von
ihrem Arzt auf einen Fehler aufmerksam gemacht wurden. Oft steht aber der
Arzt Verhältnissen gegenüber, wo das Verschweigen der Diagnose eine Ver¬
sündigung wäre. Gesetzt, es handelte sich um eine schwere Erkrankung, die
aber noch durch peinlichste Einhaltung einer entsprechenden Lebensweise in
Heilung übergehn kann; würde der Herr Professor auch in einem solchen Fall
seine Humanität soweit treiben, daß er über die Natur des Leidens kein Wort
verlauten ließe? Der infolge üppiger Lebensweise gichtisch gewordne oder an
Kreislaufstörungen leidende Schlemmer, der Säufer, der sich durch Alkohol¬
mißbrauch eine kranke Leber geholt hat, der Wüstling, der seinen Aus¬
schweifungen zu erliegen droht, der Diabetiker, dem seine Krankheit eine peinlich
strenge Diät vorschreibt — sie alle können nur gerettet werden, wenn der
Arzt ihnen nichts verschweigt und mit ihnen alle Gefahren ihres Zustandes
bespricht!
Auch über Alkohol, Radfahren, Quecksilberkuren, Kneippsches Verfahren,
Massage, Theorie der Vererbung, Schweningcrkur soll der Herr Professor
gesprochen und sich dann besonders ausführlich über die Frage ausgelassen
haben: „Was denken Sie über die Befähigung und Zulassung der Frau zum
ärztlichen Studium?" Er hält die Frau nicht nur geistig, seelisch und körper¬
lich zu dem Beruf des Arztes befähigt, er meint sogar, daß die Frau durch
alle die Eigenschaften, die sie vor dem Manne voraus hat, durch Weiblichkeit,
Milde und Mitgefühl für die Leidenden dem ärztliche« Beruf neues Leben
einflößen und die männlichen Kollegen, denen im Laufe der Jahre die erwähnten
Eigenschaften verloren gingen, anspornen werde, es ihr gleich zu thun.
Das ist doch wirklich etwas starker Tabak! Wir glauben, daß uicht nur
Ärzte, sondern auch ernsthaft denkende Männer andrer Berufsklassen bei diesen
Worten des Herrn Professors bedenklich mit dem Kopf schütteln werden. Es
ist wahr, daß uns die Frauen an Milde und Mitgefühl überlegen sind; aber
ist es denn wirklich so kläglich mit der medizinischen Wissenschaft bestellt, daß
vor diesen mehr passiven Eigenschaften die Aktivität des Arztes ganz in den
Hintergrund treten soll, und giebt es nicht vielmehr Augenblicke, wo gerade
bei dem Arzt alles auf ein schnelles, energisches Eingreifen ankommt? Milde,
Mitgefühl, Humanität sind gewiß sehr schätzenswerte Eigenschaften, aber sie
bilden auch für den ärztlichen Stand nicht die Grundlage; der Arzt soll nicht
Krankenpfleger sein, sondern Hilfe bringen, soweit das nach menschlichem Wissen
möglich ist.
Ich habe keine Veranlassung, hier auf die Frauenfrage näher einzugehen,
deren Ziele ja bis zu einem gewissen Grade berechtigt sein mögen; aber eins
glaube ich, im Gegensatz zu Herrn Professor Schweninger, aussprechen zu
dürfen, nämlich daß sich von den vielen zur Verfügung stehenden Berufs¬
zweigen der ärztliche Beruf am wenigsten für die Frau eignen wird. Schon
das Studium und später noch mehr die Thätigkeit des Arztes stellen An-
forderungen, denen zartbesaitete Naturen nicht gewachsen sind; das Nerven¬
system der Frau hat aber keine besondre Widerstandsfähigkeit, denn jeder er¬
fahrne Arzt weiß, daß gerade die funktionellen Störungen des Nerven- und
Seelenlebens bei dem weiblichen Geschlecht unendlich viel häufiger auftreten
als beim Manne, obwohl dieser im Kampf um das Dasein gewöhnlich viel
größern Schädlichkeiten ausgesetzt ist. Ferner ist noch zu bedenken, daß das
Studium der Medizin bei der Überfüllung des ärztlichen Standes kaum noch
als ein Brotstudium anzusehn ist. Krankenkassen und ärztliche Bereine, diese
mit ihren nicht immer ganz einwandfreien Satzungen, sorgen dafür, daß
gerade in den großen Städten, die für Frauen hauptsächlich in Betracht
kommen würden, schon jetzt dem jungen Arzte der Anfang recht schwer gemacht
wird. Der „weibliche Doktor" wird aber noch mit besondern Schwierigkeiten
zu kämpfen haben, und es läßt sich daher die Annahme nicht von der Hand
weisen, daß das zum Studium erforderliche hohe Anlagekapital der Frau in
jedem andern Beruf eine sichrere Existenz schaffen dürfte, als gerade in der
Medizin.
Der Bericht nun, den die „Berliner Neuesten Nachrichten" über die
Plauderei des Herrn Schweninger in München bringen, ist so merkwürdig,
daß man den Inhalt für unglaublich halten würde, wenn nicht bei den Be¬
ziehungen jener Zeitung ein Irrtum völlig ausgeschlossen wäre. Man kann
nur annehmen, daß der Herr Professor in München, wo nach seiner eignen
Äußerung seine ärztliche Wiege gestanden hat, infolge der auf ihn einströmenden
Erinnerungen geistig nicht besonders disponirt gewesen ist. Wenn diese Herrn
Schweninger zweifellos sehr wohlgesinnte Zeitung am Kopf ihres ausführlichen
Berichts die Auseinandersetzung mit dem anwesenden Professor Soxhlet be¬
sonders hervorhebt, so verstehen wir das am allerwenigsten, denn was der
Geheimrat gegen Soxhlet über die Kinderernährung vorgebracht hat, das war
der Kampf der Finsternis gegen das Licht! schroffer als sonst müssen dem
Vortragenden in München die Worte über die Lippen gesprudelt sein.
Sehr scharf wurde wieder die Schulmedizin mitgenommen und dazu die
cirmeu Ärzte, die unter Umständen ärgere Pfuscher sein sollen als die Heil¬
kundigen, die sonst dafür ausgegeben werden. Wir wollen mit dem Herrn
Geheimrat nicht rechten wegen dieses Ausspruches, der jedenfalls bei allen
gewerbsmäßigen Kurpfuschern die vollste Billigung finden wird; denn ihr
Geschäft bringt es ja mit sich, die approbirten und unter Staatsaufsicht aus¬
gebildeten Ärzte in den Augen des Publikums möglichst herabzusetzen. Aber
schön ist es nicht, so von Kollegen zu sprechen, besonders wenn keinerlei Ver¬
anlassung zu einem solchen Ausfall vorliegt! Pfuscher kommen allerdings
auch unter den Ärzten vor, und Pfuscher siud alle die zu nennen, die den
Boden der exakten Wissenschaft verlassen haben, über die Grenzen des Wissens
hinausgehen und vorgeben, alles heilen zu können!
Wir hören ferner, daß der Herr Geheimrat schon durch den in München
genossenen medizinischen Unterricht skeptisch gesinnt wurde, denn was der eine
Professor als seine heiligste Überzeugung vorgetragen hatte, sei später von
einem andern oft genug als Unsinn erklärt worden. Die Lehre von den
Bazillen als Krankheitsursache habe sich in den letzten Jahren ungewöhnlich
entwickelt, ohne daß die Dinge schon genügend erforscht worden seien, und die
Furcht vor den Bazillen stehe in gar keinem Verhältnis zu dem stolzen Wort:
„Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt." Interessant
sind auch die Mitteilungen über Morphiumsucht, und wir erfahren mit an¬
erkennenswerter Offenheit, daß der berühmte Arzt des Fürsten Vismarck einer
Familie angehört, in der viele Mitglieder an Morphium zu Grunde gegangen
sind. Wenn er aber behauptet, daß die Morphiumsucht nur von Ärzten ver¬
anlaßt worden sei und noch heute befördert würde, so ist das eine Behauptung,
die als direkte Unwahrheit nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann.
Schreiber dieses hat in frühern Jahren als Leiter einer Nervenheilanstalt
viel mit Morphiumentziehung zu thun gehabt und der Entstehung der einzelnen
Fülle sorgfältig nachgeforscht, wobei er zu der Überzeugung kam, daß nur in
einem kleinen Prozentsatz der Fälle ärztliches Verschulden festzustellen war. Dem
Kollegen freilich, der seineu Patienten die Morphiumspritze in die Hand giebt
und ein beliebig zu erneuerndes Rezept verschreibt, darf der Vorwurf eines
Verbrechens gemacht werden, aber diese Voraussetzungen treffen glücklicherweise
nnr selten zu. Unter etwa hundert Morphiumkranken kenne ich nur drei
Fälle, wo den Arzt ein direktes Verschulden trifft, und einer dieser Fälle
hatte sich noch dazu im Auslande zugetragen. „Ohne Morphium möchte ich
kein Arzt sein" — so sagte einmal ein alter hochgeschätzter Praktiker! Der
gesunde Mensch weiß nicht, was körperliche Schmerzen sind; wer aber als Arzt
fast täglich beobachten kann, zu welchen unerträglichen Qualen wir armen
Sterblichen verdammt sein können, der wird auch den Segen des Morphiums
zu schützen wissen. Wenn unter mehreren tausend Chlorvformnarkosen ein
Todesfall eintritt, so wird man deswegen dieses Mittel ebenso wenig aus
dem Arzneischatz streichen wie das Morphium, weil ihm jährlich eine Anzahl
charakterloser und entnervter Menschen zum Opfer füllt. Für mich wenigstens
ist es auch nicht zweifelhaft, daß, abgesehen von den Unglücklichen, die wegen
immerwährender Schmerzen Trost und Linderung suchen, nur schwache und
verweichlichte Charaktere dem Morphium unterliegen können. Die Schuld für
diese Krankheit trifft also keinesfalls die Ärzte, die es wahrlich an Vorsicht
nicht fehlen lassen. Will man einen Sündenbock haben, dann soll man ihn
bei jenen Dunkelmännern suchen, die aus der krankhaften Leidenschaft ihrer
Mitmenschen ein Geschäft machen und ohne ärztliches Rezept das Morphium
zu teuern Preisen verkaufen. Leider sind diese Leute nur selten zu fassen,
denn ein Morphinist wird seinen Lieferanten niemals verraten, in der Voraus-
Setzung, das? er ihn möglicherweise später noch einmal nötig haben könnte.
Noch ans einen Punkt möchte ich aufmerksam machen, der für die Verbreitung
der Morphiumsucht nicht unwesentlich ist, nämlich auf den Proselytismus.
Ich kannte Kranke, die im seligen Morphiumdusel mit der Spritze in der Hand
zu allen Freunden und Bekannten umhergingen, um auch ihnen ein Nirwana
zu bereiten; und es kommt leider nicht so gar selten vor, daß der Mann seine
Fran und noch andre Familienmitglieder dem Gift in die Arme führt.
Mehr als eigentümlich klingen auch die Auslassungen des Herrn Geheim¬
rath über die „Diagnosen," die er anscheinend für ganz überflüssig hält. Wenn
er damit nur sagen will, daß auf das Diagnvstiziren vielfach ein größeres
Gewicht gelegt wird als auf das Heilen der Krankheiten, so muß man ihm
recht geben, denn in der That machte es schon vor achtzehn Jahren auf uns
junge Studenten einen wenig erhebenden Eindruck, wenn über die Diagnose
stundenlang gesprochen wurde, während der Therapie oft nur wenige Worte
gewidmet wurden. Daß es in der Praxis auf eine subtile, wissenschaftliche
Diagnose nicht immer ankommt, und daß durch eine zu pedantische Unter¬
suchung dem Patienten oft mehr geschadet wird, soll ebenfalls nicht in Abrede
gestellt werden; man darf aber nicht vergessen, daß im allgemeinen eine erfolg¬
reiche Therapie erst durch die richtige Diagnose möglich wird, und daß sich
der Arzt einer schweren Unterlassung schuldig macheu würde, der ohne richtige
Erkenntnis des Übels drauf los kuriren wollte. Wir können also mit Herrn
Schweninger nur einverstanden sein, wenn er sich über die cillzneifrige
Diagnostizirerei lustig macht, wie sie nicht selten von Assistenten und jungen
Dozenten geübt wird, die gern etwas werden wollen und min einen Paradefall
nach dem andern in der medizinischen Presse breit treten. Der Herr Geheim-
rat greift aber nicht nur die Berechtigung der Diagnosen an, er versteigt sich
auch zu der Behauptung, daß die wissenschaftlichen Männer um 20 Prozent
mehr falsche Diagnosen stellen als die unwissenschaftlichen! Wenn ich diese
Worte nicht schwarz ans weiß in einer wohlunterrichteten Zeitung gelesen hätte,
dann würde ich sie nicht für möglich halten. Das Diagnostiziren ist eine
Kunst, in der der moderne Arzt weit vorgeschritten ist; freilich kommen auf
dieser unvollkommnen Welt überall Irrtümer vor, und nicht selten werden auch
dem gewiegtesten Arzt manche Erscheinungen an seinen Kranken dunkel bleiben,
aber wir dürften glücklich sein, wenn wir nur alle richtig erkannten Krankheiten
anch wirklich Heilen könnten! Glaubt der Herr Professor über seine Wissen¬
schaft und den Stand, dem er selbst angehört, immer nnr absprechend urteilen
zu müssen, dann soll er sich wenigstens an das halten, was wirklich tadelns¬
wert ist!
Seine Äußerungen über „Diagnosen" decken sich übrigens ganz mit den
Ansichten, die Herr Schweninger vor einigen Jahren in einem längern Ge¬
spräch mir gegenüber entwickelt hat. Schon damals hörte ich, daß er auf eine
präzise Diagnose gar kein Gewicht lege, und ans meine Frage, ob er denn
zum Beispiel eine Patientin, deren Krankheitsshmptome möglicherweise auf eine
bösartige Uuterleibsgeschwulst hinwiesen, gar nicht speziell daraufhin unter- ,
suchen würde, antwortete er mir: „Nein, das würde ich nicht thun, denn ändern
ließe sich dadurch nichts, von einer Operation erhoffe ich in solchen Fällen
keinen Vorteil, und für die nötigen Verordnungen über Diät, Lebensweise,
Bäder — wie sie zu einer Verbesserung des Blutes und der Säfte nötig sind —
finde ich in den Allgemeinsymptomen der Patientin schon Anhaltspunkte genug."
Es war kurze Zeit nach der Hamburger Choleraepidemie, als diese Unter¬
redung stattfand, und natürlich kamen wir auch auf die soeben erloschne Seuche
zu sprechen. Schon damals machte sich in den Worten des Professors eine
starke Verachtung der ganzen Bazillentheorie bemerkbar, wie er das auch kürzlich
in München auf das schärfste betont hat. Die Bazillenfurcht, so sagte er mir,
ist ein Unsinn, denn gesunden Menschen thun sie nichts; die Epidemie in Ham¬
burg ist nicht eingeschleppt worden, sonder» durch örtliche und individuelle
Disposition entstanden, sie ist wegen Anhäufung dieser Disposition lawinen¬
artig angeschwollen und ebenso schnell erloschen, nachdem alle für das Gift
empfänglichen Menschen gestorben waren.
Herr Geheimrat Schweninger gehört auch — wenn wir nicht sehr
irren — dem Kaiserlichen Reichsgesnndheitsamt als außerordentliches Mitglied
an; vielleicht läßt er sich herbei, seine in München entwickelte Bazillentheorie
auch einmal in Form eines Plauderstündchens den wohl nur aus „Kochianern"
bestehenden ordentlichen Mitgliedern des Amtes vorzutragen, denn das würde
eine ebenso scharfe wie erheiternde Debatte geben, aus der wir gewöhnlichen^
Sterblichen viel lernen könnten. Eine mäßige Opposition gegenüber den Be¬
hauptungen der Herren Bakteriologen würde vielfachen Anklang finden; wenn
aber Herr Schweninger in München die Bazillen nicht Feinde, sondern
Freunde der Menschheit genannt hat, dann dürfte er mit dieser Anschauung
wohl glänzend isolirt dastehen. Treffend war denn auch der aus der Mitte
der Zuhörerschaft erfolgte Zuruf: „Nun, dann wollen wir Ihnen die Bazillen
schenken."
Wir glauben, daß die über alle Grenzen hinausgehende Bedeutung, die
die Vertreter der Bakteriologie für ihre noch junge Wissenschaft in Anspruch
nehmen, bei Klinikern und Ärzten nicht überall Beifall findet, und wenn man
an dem Grundsatz festhält, daß die Bescheidenheit ein sichres Attribut der
Weisheit zu sein Pflegt, dann ist zu dieser reservirten Haltung Grund genug
vorhanden, denn die Herren Bakteriologen pflegen ein Selbstbewußtsein zur
Schau zu tragen, das auf denkende Menschen nicht immer den besten Eindruck
macht. Der mit dem Kochschen Tuberkulin getriebne Humbug ist noch unver¬
gessen. Man darf wohl sagen, daß niemand dem ärztlichen Stand in den
Augen des Publikums eine so tiefe Wunde geschlagen hat, wie Herr Koch mit
seiner so vorschnell in die Welt geschickten Entdeckung, der jetzt wohl nur noch
ein gewisser historischer Wert beizumessen ist, obwohl das Mittel erst kürzlich
Wieder mit neuen Versprechungen und in neuer Form in den Handel gebracht
worden ist. „Wenn so etwas geschieht am grünen Holz, was wird erst am
dürren sein," so schrieb damals eine vielgelesene Zeitung!
Nun, die Serumtherapie der letzten Jahre scheint sich ja behaupten zu
wollen, und man neigt immer mehr der Ansicht zu, daß wenigstens Herr
Behring mit seinem Diphtherieheilserum eine große Entdeckung gemacht hat;
freilich muß erst noch durch jahrelange Statistik bewiesen werden, daß die
geringere Sterblichkeit bei der Diphtherie wirklich nur durch das Heilserum
veranlaßt worden ist, und ob wir jetzt nicht in einer Zeit leben, wo die
Epidemien an und für sich leichter auftreten. Alles in allem ist also zuzugeben,
daß der vorläufig noch in den Kinderschuhen steckenden Bazillenwissenschaft
die Bedeutung uoch nicht beigelegt werden kann, die die Herren Bakteriologen
mit großem Selbstbewußtsein für sich in Anspruch nehmen, und man kann es
verstehen, daß Schweninger gegen die Bazillenfurcht zu Felde zieht, die ja
recht merkwürdige Blüten treibt. Wenn die auf Reisen befindliche Familie
eines Professors der Hygiene einen Teil der Speisen in sterilisirter Form aus
dem Laboratorium des Hausherrn bezieht, wie mir erzählt wurde; oder wenn
im Interesse einer vornehmen Dame die ängstliche Sorgfalt des Arztes so
weit ging, daß in dem modernen, bisher von Infektionskrankheiten verschont
gebliebner Hause bei Einrichtung des Wochenzimmers, neben andern Mani¬
pulationen, die Tapeten abgerissen und sogar nur sterilisirte Vorhänge und
Gardinen aufgesteckt wurden, so ist das eine Bazillenfurcht, die krankhaft ge¬
nannt werden darf. Etwas Kampf gegen solche Auswüchse kann nicht schaden,
besonders da bei fortschreitender Angst die Gefahr vorhanden ist, daß der
„Schutzmann" schließlich seine Nase auch in unsre Krankenzimmer steckt, um
unsre Angehörigen im Fall einer infektiösen Erkrankung der Jsolirbaracke zu¬
zuführen; aber dieser Kampf darf nicht so weit gehen, wie ihn Herr
Schweninger getrieben hat. Wenn wir ihn recht verstehen, dann meinte er
in seiner letzten Plauderei, daß nur die Kinder wirklich leistungsfähige Menschen
werden, die im fortwährenden Kampf mit allen möglichen Bazillenarten er¬
starkt sind; an den dabei zu Grunde gegangnen sei nichts gelegen! Der Herr
Professor schreibt also den lieben Bazillen die Rolle des Hechtes im Karpfen¬
teiche zu, und wenn er will, daß man bei gefährdeten Kindern die Natur
durch Abhaltung von Schädlichkeiten nicht unterstützen solle, so ist das nicht
weit entfernt von der Handlungsweise der alten Spartaner, die ihre schwäch¬
lichen Kinder lieber gleich aussetzten, in der Voraussetzung, daß doch nichts
ordentliches daraus werden würde. Leider hat aber die Sache einen Haken,
der die Thätigkeit des menschenfreundlichen Bcizillus in einem noch schlimmern
Licht erscheinen läßt. Es ist nämlich eine unter Ärzten bekannte Thatsache,
daß gerade kräftig entwickelte, vollsaftige Menschen von zahlreichen Infektions¬
krankheiten mit Vorliebe ergriffen werden; ich erinnere dabei nur an Scharlach,
Diphtherie und andre, denen oft genug die blühendsten Kinder zum Opfer
fallen, während schwächliche verschont blieben. Auch der Brechdurchfall, jene
meist im Sommer blitzschnell auftretende und oft genug tödlich endigende
Krankheit, pflegt kräftige und schwächliche Kinder in gleicher Weise zu befallen,
und wenn auch die vorher gesunden widerstandsfähiger sind, so weiß doch jede
Mutter, wie schwer es hält, bis der früher blühende Liebling seine Kräfte wieder
gesunden hat. Ich verstehe es nicht, wie Herr Geheimrat Schweninger vor
solchen Thatsachen noch von einer heilsamen Wirkung der Bazillen reden kann !
Die natürlichste Ernährung der Kinder ist die Muttermilch, und wo
diese fehlt, wird man einen völlig gleichwertigen Ersatz nur in Ammenmilch
finden können. Eine solche Nährmutter zu halten, die natürlich auch sorgfältig
ausgewählt sein muß, ist aber mit Unzuträglichkeiten verbunden und ein Luxus,
den sich der weniger gut situirte Teil unsrer Mitmenschen nicht leisten kann;
dann erst kommt die Kuhmilch in Betracht, die aber immer noch allen ge¬
priesenen künstlichen Surrogaten weit überlegen ist. Leider ist nur die Milch
nicht immer keimfrei und um so leichter iufizirt, je weiter sie herbeigeschafft
werden muß; die Gefahr ist also in großen Städten besonders groß. Was
ich hier sage, steht so fest wie das Einmaleins, und wenn ich so bekannte
Wahrheiten anführe, dann geschieht das nur, um gegen Herrn Schweninger
zu betonen, daß gerade der Soxhlet als eine segensreiche Erfindung zu be¬
trachten ist, die in den Augen des Publikums nicht herabgesetzt werden darf.
Soll einmal getadelt werden, dann kann man vielleicht ihm und ähnlichen
Apparaten den Vorwurf machen, daß durch zu starkes Kochen die Milch etwas
an Nährwert verliert; an der Thatsache selbst darf aber nicht gerüttelt werden,
daß durch die Soxhletsche Erfindung die Gefährlichkeit der Kuhmilchernährung
für Säuglinge ganz bedeutend verringert worden ist.
Interessant gestaltete sich die Debatte über diesen Gegenstand. Auf die
Frage: „Mit was soll der Neugeborne ernährt werden?" antwortet Herr
Schweninger: „Mit Kuhmilch, aber nicht mit Soxhlet. Mit Ammenmilch?
Nein! Was ich gegen den Soxhlet habe? Nicht viel, aber gegen den Wahn¬
sinn alles." Herr, dunkel ist der Rede Sinn, kann man bei dieser letzten
Antwort nur sagen, die einer Pythia Ehre machen würde! Dem im Saale
anwesenden Professor Soxhlet, der auf die Notwendigkeit aufmerksam machte,
den Kindern keimfreie Milch vorzusetzen, wirft er vor, daß ja nicht jede ver¬
unreinigte Milch Bakterien erzeuge, und daß mit dem Soxhlet doch keine
bessere Generation erzielt würde! Auf die Entgegnung, daß man doch nicht
jeder Milch vorher ansehen könne, ob sie vergiftet sei oder nicht, versteigt sich
der Herr Geheimrat zu den Worten: „Lieber einmal vergiftete Milch geben,
als immer mit dem Soxhlet kochen."
Es verlohnt sich nicht, auf solche Äußerungen noch näher einzugehen, die
schon ein Fachblatt als völlig undiskutirbar bezeichnet hat.
le armen Gelehrten! Sie haben den schönen Riesenleib des
Pentateuch (oder Hexateuch, da sie das Buch Josua mit in diese
anatomische Übung hineinziehen) zerschnitten und die Stücke mit
^, L, <ü, v, lZ und ?<ü bezeichnet, und nun streiten sie — einzeln
und schulenweise — darüber, zu welcher Zeit jedes der Stücke
geschrieben, zu welcher dieses Stück mit jenem oder das ganze
zusammengeschneidert worden sei. Natürlich werden sie das niemals ins Reine
bringen, wenn uicht Urkunden in Masse ausgegraben werden, die über jeden
einzelnen Punkt Auskunft geben. Was bis jetzt an assyrischen und ägyptischen
Thon- und Steinurkunden entziffert worden ist, trägt — selbst die richtige
Deutung der Hieroglyphen und der Keilschriften vorausgesetzt — zur Losung
der Streitfragen nichts bei; nicht einmal das, arAuinsnwin 6 siloutio, auf das
hin man den Aufenthalt der Jsraeliten in Ägypten bestreite, kann als stich¬
haltig anerkannt werden; denn daraus, daß ein Ereignis in den bis jetzt ent¬
zifferten Inschriften nicht erwähnt wird, kann unmöglich gefolgert werden, daß
es nicht stattgefunden habe. In unsrer schreib- und druckwütigen und klatsch¬
süchtigen Zeit, wo jedes Schützen- und Kriegervereinsfest und jede neue Bahn¬
hofanlage in Dutzenden von Zeitungen begackert wird, sollte man doch meinen,
daß die Gründung einer großartigen Missionsanstalt unmöglich von der ganzen
Presse mit Stillschweigen übergangen werden könnte. Wäre aber Deutschland
durch ein Erdbeben untergegangen, ehe die Stehler Missionare durch die
Kiaotschaubuchtangelegenheit berühmt wurden, so würden zukünftige gelehrte
Buddler keine gedruckte Spur des großartigen Stehler Missionshauses bei
Reiße entdecken, denn es war von ihm bisher nur zweimal in den beiden
hiesigen Blättern die Rede gewesen, jedesmal nur mit wenigen Zeilen, und
es würde ein mehr als wunderbarer Zufall sein, wenn von so vielem Ver¬
nichteten gerade diese zwei kurzen Notizen erhalten geblieben wären.
Selbstverständlich glaube ich nicht, daß Moses die fünf Bücher, die seinen
Namen tragen, so wie wir sie jetzt haben, mit Einschluß des Berichts über seinen
Tod, eigenhändig geschrieben habe. Daß diese Bücher und ebenso die darauf
folgenden geschichtlichen Bücher aus vielerlei ältern Bestandteilen zusammen¬
gefaßt und vielfach überarbeitet worden sind, sieht auch der nicht gelehrte Leser
auf den ersten Blick. Die Redaktoren sind so wenig kunstreiche Fälscher ge¬
wesen, daß sie sich gar keine Mühe gegeben oder es gar nicht verstanden haben,
die Nähte zu verbergen; ja sie haben durch das häufige: „bis auf den heutigen
Tag" und ähnliche Bemerkungen den zukünftigen Leser mit der Nase darauf
gestoßen, daß er hier die Arbeit von je zwei Männern, eines ältern Verfassers
vnd eines jüngern Überarbeiters, vor sich hat, und der Bearbeiter erwähnt
von Zeit zu Zeit seine, Quellen. Daß man nun über diese mannigfachen Zu-
sammenfügnngen und Überarbeitungen Hypothesen aufstellt, dagegen habe ich,
obwohl es eine recht aussichtslose Arbeit ist, natürlich nichts einzuwenden;
hingegen weise ich solche Hypothesen entschieden ab wie die. daß die Priester,
die nach 2. Könige 22 und 2. Chronik 34 unter der Regierung des Königs
Josias das unter den Heidengreueln seiner Vorgänger verschvllne Gesetzbuch
in der Schatzkammer des Tempels entdeckt haben, daß diese Priester es verfaßt
haben sollen und die Wiederauffindung nnr eine Komödie gewesen sein soll.
Mit dieser geistreichen Hypothese wäre die Gestalt des Moses aus der Welt¬
geschichte gestrichen, dieses gewaltigsten und mildesten aller Männer, der die
Feinde Gottes wie Gewürm zertreten und sein Volk in seinen Armen und an
seinein Herzen getragen hat, wie eine Mutter ihr Kindlein trägt, und der der
Urheber oder Vermittler der merkwürdigsten Gesetzgebung aller Zeiten gewesen
ist. Langweilig und uninteressant ist die Bibel anch in ihrem trockensten Teile
nicht, dem Gesetze, das, wie es einem einheitlichen nngespaltnen Volksgeiste
geziemt, das Moralische, das Bürgerliche, Polizeiliche und strafrechtliche, das
Rituelle und Liturgische in eins verschmilzt. Der Knabe hat die Beschreibung
der Stiftshütte und die Aufzählung der reinen und unreinen Tiere mit neu¬
gieriger Verwunderung gelesen, der Mann erkennt ihre kulturgeschichtliche Be¬
deutung und bewundert die Weisheit des Gesetzgebers. Das großartige daran
aber ist die Humanität, die von keiner Gesetzgebung späterer Zeiten erreicht
worden ist. „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke verrichten.
Der siebente Tag aber ist die Ruhe des Herrn deines Gottes. An ihm sollst
du kein Werk verrichten, weder du, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch
dein Knecht und deine Magd, noch dein Ochs, Esel und sonstiges Zugvieh,
noch der Fremdling, der in deinen Mauern weilt, auf daß dein Knecht und>
deine Magd Ruhe haben, wie du selbst; gedenke, wie auch du ein Sklave ge¬
wesen bist im Lande Ägypten, und wie dich der Herr dein Gott mit starker
Hand und ausgestrecktem Arm herausgeführt hat; deswegen hat er dir befohlen,
daß du den Tag des Sabbaths beobachtest. Der Herr, euer Gott, ist der
Götter Gott und der Herr der Herrschenden, der große, mächtige und furcht¬
bare Gott, der nicht auf den Stand der Person sieht, noch Geschenke annimmt,
der Recht schafft der Waise und der Witwe, den wandernden Fremdling liebt,
ihm Speise und Kleidung giebt; so sollet auch ihr den Fremdling lieben, wie
ihr denn selbst Eingewanderte gewesen seid im Lande Ägypten. Du sollst
nicht das Recht des Fremdlings und des Waisenkinds verkehren, noch das
Kleid der Witwe pfänden; gedenke, daß du als Knecht gedient hast in Ägypten,
und der Herr dein Gott dich daraus errettet hat; deswegen befehle ich dir.
daß du so handelst. Wenn du die Frucht deines Ackers erntest, sollst du nicht
alle Ecken abmähen, noch die liegen gebliebner Ähren auflesen; und hast du
eine Garbe vergessen, so sollst du nicht zurückkehren, sie zu holen; sonder»
sollst das dem fremden Wandrer, der Witwe und der Waise lassen. Wenn
du Oliven geerntet hast, sollst dn nicht zurückkehren, die einzelnen auf den
Bäumen zurückgebliebnen Früchte zu holen; dem Wandrer, der Witwe, der
Waise sollst du sie lassen. Wenn du deinen Weinberg abgeerntet hast, sollst
du nicht zurückkehren, die hängen gebliebner Trauben zu lesen; dem Fremdling,
der Witwe, der Waise gehören sie. Gedenke, daß auch du als Knecht gedient
hast in Ägypten, deswegen gebiete ich dir, so zu handeln. — Wenn du den
Weinberg deines Freundes betrittst, magst du darin Trauben essen, so viel
dir beliebt, nur mitnehmen darfst du keine. Wenn du durch die Saaten deines
Freundes wandelst, magst du Ähren abreißen und mit der Hand zerreiben,
aber mit der Sichel darfst du nichts abmähen. Nach der Ernte sollst du den
Zehnten geben dem Leviten (dem geistigen Arbeiter), der Witwe und der Waise,
daß sie essen in deinen Thoren und satt werden. Hast du einen hebräischen
Knecht gekauft, so soll er im siebenten Jahre frei sein ohne Lösegeld; und
nicht leer darfst du ihn ziehen lassen, sondern wirst ihm Zehrung geben von
der Herde, von der Tenne und von der Kelter, womit dich der Herr gesegnet
hat. Hat jemand seinem Knecht oder seiner Magd ein Auge ausgeschlagen,
so soll er sie freigeben; ebenso, wenn er ihnen einen Zahn ausgeschlagen hat.
Einen Sklaven, der sich zu dir flüchtet, darfst du seinem Herrn nicht aus¬
liefern. — An Armen wird es niemals fehlen in dem Lande, da du wohnst,
deshalb gebiete ich dir, daß du deine Hand aufthust deinem bedürftigen Bruder,
der mit dir im Lande weilt, sodaß er nicht Not zu leiden und nicht zu betteln
braucht. — Wenn du Wider eine Stadt zu Felde ziehst, wirst du ihr zuerst
den Frieden anbieten. Öffnet sie dir ihre Thore, so soll das ganze Volk, das
darin wohnt, am Leben bleiben und dir tributpflichtig sein. Steht eine Schlacht
im Kriege bevor, so sollen die Anführer jeder Abteilung rufen: Wer ist unter
euch, der sich ein neues Haus gebaut und es noch nicht eingeweiht hat? Er
kehre zurück in sein Haus, daß er nicht etwa falle in der Schlacht und ein
andrer es einweihe! Wer ist unter euch, der einen Weinberg gepflanzt und
ihn noch nicht dem Gebrauch übergeben hat? Er kehre zurück, daß er nicht
etwa falle in der Schlacht und ein andrer seines Amtes walte! Wer ist unter
euch, der sich eine Gattin verlobt und noch nicht heimgeführt hat? Er kehre
zurück, daß er nicht etwa falle in der Schlacht, und ein andrer sie heimführe!
Wenn du eine Stadt längere Zeit belagerst, so sollst du die Fruchtbäume der
Umgegend nicht fällen und die Landschaft nicht verwüsten; ist doch der Baum
ein Holz und nicht ein Mensch, und kann die Zahl deiner Feinde nicht ver¬
mehren; Bäume, die keine eßbaren Früchte tragen, magst du fällen, um Be¬
lagerungsmaschinen daraus anzufertigen. (In den ewige» Fehden der italie¬
nischen Städte unter einander während des Mittelalters war die barbarische
Verheerung des Landes durch Anzünden und niederhauen der Frnchtbüume
und Weinstöcke stehender Brauch.) — Du sollst deinem Bruder uicht den
obern oder den untern Mühlstein pfänden, denn den hat er zum Leben nötig.
Willst du von deinem Bruder etwas zurückfordern, was er dir schuldet, oder
dir ein Pfand holen, so darfst du sein Haus nicht betreten, sondern mußt vor
der Thür stehen bleiben und warten, bis er dir das Verlangte herausbringt.
Ist er aber arm, und hast du ihm sein Obergewand gepfändet, so wirst du
es ihm vor Sonnenuntergang zurückbringen, denn er braucht es, um sich des
Nachts darein zu hüllen; damit er dich segne, und du vor dem Herrn, deinem
Gott, gerecht erscheinest. — Wenn die Richter einen Mann zu Schlägen ver¬
urteilen, so sollen sie die Zahl der schlüge nach der Schwere des Vergehens
abmessen, so jedoch, daß die Zahl vierzig nicht überschritten wird, damit dein
Bruder nicht schimpflich zerfleischt von dir gehe. — Wenn du ein Vogelnest
aufnimmst, so sollst du nicht mit den Kindern auch die Mutter nehmen, sondern
sollst dich mit den Eiern begnügen und die brütende Mutter frei lassen. Du
sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter." Sieht man von
einigen nach heutigen Begriffen barbarischen Kriegsbräuchen ab, die den
Jsraeliten schlechterdings gestattet werden mußten, wenn sie nicht gleich nach
ihrer Einwanderung in Palästina untergehen sollten, so darf man wohl
fragen: wo wäre seitdem ein von gleich humanen Geiste beseeltes Gesetzbuch
entstanden?
Über die Humanität der Griechen braucht man sich, das eine Wunder
ihrer edeln Gemütsanlage als gegeben vorausgesetzt, nicht weiter zu Wundern,
denn sie hatten ihr Ländchen siebenhundert Jahre lang ungestört und unver-
mischt bewohnt, als sie jenen Überfall der Asiaten erlitten, den sie siegreich
zurückschlugen, und worin sie sich ihrer Eigenart erst recht bewußt wurden.
Aber woher kam sie den Hebräern, die als winziger Stamm in jenem Vorder¬
asien wohnten, wo auf "allen Anhöhen grausamen Götzen blutige Opfer ge¬
schlachtet und Menschen verbrannt wurden, wo mau bei allen Heiligtümern
schändlich Verstümmelte traf,*) und wo die Peinigung der Kriegsgefangnen
üblich war, die wir aus assyrischen Bilderwerkcn kennen? Wo sollten herrsch¬
süchtige und engherzige Priester — eine Priesterkaste ist immer herrschsüchtig
und engherzig — den hochherzigen, weitherzigen, von jeder Habsucht und jedem
Schachergeist freien, milden und liebewarmen Geist hergehabt haben, der aus
den angeführten Vorschriften spricht? Wo sollten sie ihn hergehabt haben in
der Zeit des Josias, da die assyrischen Sichelwagen schon so oft zermalmend
weggegangen waren über das Land, wo die Bewohner des nördlichen Reichs
längst in die Gefangenschaft fortgeschleppt waren, und das Häuflein der Juden
es nur der Laune von Unterstatthaltern der Großkönige am Euphrat ver¬
dankten, daß sie vorläufig noch in ihrem Winkel hinter dem Toten Meere
weilen durften? Wie konnten Priester in solcher Lage ein Gesetz erlassen, das
den glücklichsten Zustand eines freien und mächtigen Volkes voraussetzt, eines
Volkes, das im Andenken an selbst ausgestandne Erniedrigung und Not in der
Fremde einwandernde Fremdlinge als großmütiger Beschützer aufnimmt?
Wenn dieses Gesetz nicht von Moses gegeben ist, so kann es höchstens in der
Glanzzeit Israels, uuter David oder Salomon. entstanden sein; aber auch der
Geist dieser Herrscher und ihrer Priester, die bloße Hvfbeamte waren, ist nicht
der Geist des mosaischen Gesetzes. Die Kritiker sagen, das Gesetz könne nicht
in der Wüste gegeben sein, weil es auf ein ansässiges Volk in geordneten bürger¬
lichen Verhältnissen zugeschnitten sei, Gesetze aber immer nur für den gegen¬
wärtigen, niemals für einen zukünftigen, noch gar nicht vorhandnen und darum
unbekannten Zustand berechnet würden. Nun, der Zustand, den das mosaische
Gesetz voraussetzen würde, wenn es gleich andern Gesetzbüchern nur eine Kodi¬
fikation der bestehenden Gesetze und Sitten wäre, dieser Zustand ist überhaupt
niemals dagewesen; niemals ist z. B. die merkwürdige Einrichtung, die jeder
Familie ihren Grundbesitz auf ewige Zeiten sichern sollte, das Jubeljahr, ins
Leben getreten, und auch in der Nealencyklopü'die von Herzog und Pult meint
der Verfasser des Artikels „Sabbath- und Jobeljahr," die Schwierigkeiten der
Ausführung lägen so auf der Hand, „daß sich eben darum dieses ganze System
unmöglich als Abstraktion aus spätern Verhältnissen, vielmehr nur aus der
Konsequenz des theokratischen Prinzips erklären laßt." Nein wahrhaftig nicht!
Das mosaische Gesetzbuch ist keine Abstraktion aus den Zuständen des kleinen
und kleinlichen Judenstaats, sondern ein Ideal, das bestimmt war, allen
Völkern aller Zeiten zu leuchten, und das doch zugleich in seinen untergeord¬
neter» Bestimmungen als bürgerliches und kirchliches Gesetzbuch den Bedürf¬
nissen des kleinen Volkes genügte, dem die Ehre zuteil ward, es den Kultur¬
völkern der Zukunft übermitteln zu dürfen.
Man wende gegen den Preis der Humanität des Mosaismus nicht ein,
daß auch inhumane Bestimmungen darin vorkommen, wie z. B. Deuteron.
25, 12 und das oft wiederholte Gebot der Ausrottung der götzendienerischen
Urbevölkerung Palästinas, das, nebenbei gesagt, in der Zeit des Josias, wo
vielmehr dem Reste der Jsraeliten die Gefahr der Ausrottung drohte, geradezu
lächerlich gewesen wäre. Solche Inhumanität war notwendig, wenn Huma¬
nität begründet werden sollte. Zunächst bedenke man nur, daß die ganze Welt¬
geschichte bis zum Ende der napoleonischen Kriege eine beinahe ununterbrochne
Menschenschlüchterei gewesen ist, daß kein Volk vor Ausrottung sicher war, das
sich nicht entschließen konnte, selbst andre auszurotten, daß sich demnach auch
ein zum Kultur- und Humanitätstrüger bestimmtes Volk auf keine andre Weise
behaupten konnte, und daß diesem Zustande in unserm Jahrhundert nicht die
moderne Humanität ein vorläufiges Ende gemacht hat, sondern die moderne
Technik in Verbindung mit dem Umstände, daß einzelne Völker zu einer Zahl
herangewachsen sind, die sie vor Ausrvttungsversuchen sicher stellt, die kleinen
und schwachen aber durch die Eifersucht der großen einigermaßen geschützt
werden. Dann aber waren die Urbewohner Palästinas gleich den meisten
Völkern Vorderasiens Kulten ergeben, die in Kinderverbrennung und Unzucht
bestanden, und es wäre ganz unmöglich gewesen, in einem mit diesen Völkern
durchsetzten Volke eine reinere und höhere Kultur zu pflanzen. Aus diesem
Grunde mußten auch Schamlosigkeiten und geschlechtliche Vergehungen, die
Hinneigung zu den Unsitten der umwohnenden Heiden verrieten, mit unerbitt¬
licher Strenge bestraft werden. In der That ist ja nun das Ausrvttungs-
gebot ebenso wenig erfüllt worden wie das der strengen Absonderung, und die
Heidengreuel haben in beiden Reichen bis zu Ende geherrscht, sodaß auch in
dieser Beziehung, wie schon bemerkt wurde, das mosaische Gesetz nichts weniger
ist als eine Kodifikation oder ein Spiegelbild herrschender Sitten und Zu¬
stände.
Auch die Könige mit Einschluß derer, die zu den Heiligen des Alten
Bundes gerechnet werden, sind keine Verkörperungen des mosaischen Sittlich¬
keitsideals gewesen. Aber eben darin besteht ihr litterarischer, historischer
und — sittlicher Wert. Die heutige pädagogische Weisheit bietet der Jugend
und dem Volke in den für diese Erziehungsobjekte bestimmten Unterhaltungs-
schriften frisirte Puppen und unmögliche Tugendhelden dar, die einem gesunden
Magen widerstreben und solchen Lesern, die daran glauben, die furchtbare, ver¬
wirrende und mitunter vernichtende Enttäuschung durch die ganz anders ge¬
artete Wirklichkeit bereiten. Die Königsbncher bieten Menschen dar, wie sie
zu allen Zeiten sind, in der besondern Färbung, die ihre Stellung als kleine
asiatische Despoten, Höflinge und Feldherrn verleiht; sie stellen sie dar — was
wiederum höchst wunderbar und ein schlagender Beweis für die Echtheit und
Treue der Zeichnung ist — ohne eine Spur von orientalischem Schwulst,
orientalischer Phantastik und orientalischer Übertreibung: nicht ein Strich ist
zu viel. Man lese doch z. V. 2. Sam. 3, wie der Sohn Sauls dem Abner
Vorwürfe macht, daß er ein Kebsweib des verstorbnen Königs besucht habe,
und Abner antwortet: Bin ich denn ein Hund, daß du mich wegen eines
Weibes beschuldigst? Mich, der ich deines Vaters Hause Barmherzigkeit er¬
wiese» und dich nicht in die Hände Davids ausgeliefert habe? Gott soll mir
dies und das thun, wenn ich nicht jetzt nach dem göttlichen Spruch das König¬
reich dem Hause Sauls nehme und auf David übertrage! Oder im neun¬
zehnten Kapitel die Klage Davids um den gefallnen Absalom und was Joab
dazu sagt: „Du hast heute mit Scham- und Zornröte Übergossen das Antlitz
aller deiner Knechte, die dir, deinen Kindern und deinen Weibern das
Leben gerettet haben; du liebst, die dich hassen, und du hassest, die dich
lieben, und zeigst, daß dir an deinen Feldherren und an deinen Knechten gar
nichts liegt, und daß es dir ganz recht wäre, wenn wir alle umgekommen
wären und nur dein Absalom lebte: stehe jetzt auf, gehe hinaus, rede zu
deinen Knechten und besänftige sie; denn ich schwöre dir, daß, wenn du dies
nicht thust, diese Nacht auch nicht einer bei dir bleibt, und das, was dir be¬
vorsteht, schlimmer sein wird als alles, was seit deiner Jugend über dich ge¬
kommen ist. Da stand der König auf und setzte sich ins Thor." Ich hätte
eine beliebige andre Charakterschilderung oder Episode herausgreifen können;
alles, was man da liest, macht den Eindruck von Photographien oder Kine¬
matographen.
Man hat David natürlich auch die Psalmen abgesprochen, nicht bloß
einige, sondern alle. Ans welchen äußern Gründen, weiß ich nicht, es ist
mir gleichgiltig; aber innere Gründe vermag ich nicht anzuerkennen. Warum
sollte der Mann, den die Köuigsgeschichten darstellen, nicht von der tiefen
Religiosität, dem unerschütterlichen Glauben und Gottvertrauen und dem heißen
Verlangen nach Verherrlichung Gottes erfüllt gewesen sein, die aus den
Psalmen sprechen? Was stünde dem im Wege? Seine Blutthaten und seine
Rachsucht? Aber sind etwa die Inquisitoren aus dem Dominikanerorden, die
Albigenserschlächtcr und die Puritaner Lämmer gewesen? Oder seine Schlau¬
heit und Treulosigkeit? Aber haben nicht so ziemlich alle berühmten Staats¬
männer, die frommen nicht ausgenommen, dem Ideal Machiavellis entsprochen?
Oder seine Weiber? Aber haben Karl der Große, Ludwig XIV. und andre fromme
Fürsten nicht auch viele Weiber geliebt? Übrigens war David nicht verhärtet,
und soweit seine eignen Interessen nicht ins Spiel kamen, vom lebhaftesten
Gerechtigkeitsgefühl beseelt, wie seine Antwort auf die Parabel des Propheten
Nathan und seine Zerknirschung nach dem „du bist der Mann" beweisen.
Daß er einen Gottesdienst einrichtete, dessen Hauptbestandteil sinnvolle Gesänge
bildeten, gereicht ihm zu unsterblichem Ruhme; Asien machte damit denselben
Fortschritt wie Europa durch die „Geburt der Tragödie" aus dem Dionysos-
kultus. Tendenzlos ist die Erzählung freilich nicht, denn die Könige, die
Jehovcch treu waren, werden gelobt, die götzendienerischen werden getadelt
^ er that Böses vor dem Herrn, heißt es von jedem solchen —, und die Un¬
fälle, die die bösen Könige, ihre Familien und ihre Staaten trafen, werden
als Strafen Gottes dargestellt. Aber die Tendenz beschränkt sich aus die Bei¬
fügung dieser Urteile zu der im übrigen wahrheitsgetreuer und unverfälschten
Geschichtserzählung. Diese ist offenbar nichts andres als eine wahrscheinlich
abgekürzte aber sonst wortgetreue Abschrift der amtlichen Annalen, und die
Zusätze hat der fromme Bearbeiter gemacht, ohne an seiner Vorlage sonst noch
etwas zu ändern.
Ein Erzeugnis der Priesterschaft kann das Gesetzbuch samt der Patriarchen¬
geschichte schon darum nicht sein, weil die Priester, wie schon bemerkt wurde,
Hofbeamte waren, und der Geist des Gesetzbuchs nicht in ihnen, sondern in
den Propheten lebte. Diese dem Judenvolke ausschließlich eignen wunderbaren
Männer lebten, je nachdem der Hofwind wehte, entweder als Einsiedler, in
Tierfclle gehüllt, in Einöden, gehaßt und gehetzt, bis sie in Kerkern endeten
oder eines gewaltsamen Todes starben, „deren die Welt nicht wert war," wie
der Hebräerbrief sagt, oder als hochgeehrte Ratgeber der Könige, die sie „mein
Vater" anredeten. Elias ward abwechselnd verfolgt und von der Hofgunst
bestrahlt. Ahab, ein schwachmütiger Mann, der zwischen der Furcht vor Gott
und der Furcht vor seinem phönizischen Weibe schwankte, ließ sich wohl auch
mitunter von Neue erschüttern und aus dem Munde des Propheten der gött¬
lichen Verzeihung versichern, aber im allgemeinen hörte er doch lieber die
Schmeichelstimmen der Lügenpropheten als die Strafreden der Propheten des
Herrn. Es ist noch ein Prophet übrig, durch den wir Jehovah befragen
könnten, antwortet er dem frommen König Josaphat von Juda aus einem
Kriegszuge, aber ich hasse den Mann, weil er mir niemals etwas Gutes, sondern
immer Übles verkündigt.
Am vollkommensten lernt man das Prophetentum in seinem größten Ver¬
treter kennen. Nachdem eine tiefere Gotteserkenntnis durch die kindlichen aber
würdigen Vorstellungen der Patriarchenzeit vorbereitet worden war, enthüllte
sich Gott dem Moses als der, der da ist, der keinen Eigennamen hat wie die
Heidengötter, die gar keine Götter sind, weil er der Seiende ist, das, was von
Ewigkeit allein wirklich und wahrhaft ist, und von dem alles ausgeht, was
sonst noch vorhanden ist; enthüllte sich als den allmächtigen und allwissenden
Schöpfer und Herrn aller Dinge und als den gerechten und heiligen Lenker
der menschlichen Schicksale. Salomo hat dann bei der Tempelweihe gebetet:
Wenn die Himmel, und die Himmel der Himmel dich nicht fassen, wie könnte
dieses Haus dich fassen, das ich gebant habe? Diesen Gottesbegriff hat Jesaja
nach allen Seiten hin entwickelt, und die Philosophen und Theologen, die nach
ihm gekommen sind, haben am Gott des Jesaja nichts wesentliches zu ändern
vermocht, sodaß auch der Gebildete unsrer Tage nur die Wahl hat zwischen
dem Gott des Jesaja und dem Atheismus. Natürlich verwarfen die Propheten
nicht grundsätzlich den Opferkult, denn ohne solchen wäre in jener Zeit ein
Kult überhaupt nicht möglich gewesen, und ohne Kultus Hütte das Prvpheten-
wort keinen Anknüpfungspunkt gefunden, aber sie verkündigten nachdrücklich,
daß der Kult nur eine symbolische Bedeutung habe, daß er ganz Sinn- und
wirkungslos sei, wenn die Gesinnung fehle, die er Sinnbilder solle. Hört das
Wort des Herrn, ihr Sodomsfürste», vernimm das Gesetz unsers Gottes,
Gomorrhavolk, ruft Jesaja. Wozu soll mir die Menge eurer Opfer? Ich
bin voll davon. Eure Brandopfer, und das Fett des Mastviehs, und das
Blut der Kälber, Lämmer und Böcke mag ich nicht. Euer Weihrauch ist mir
«in Greuel! Eure Neumonde, Sabbathe und Feste ertrage ich nicht länger,
meine Seele haßt sie, sie verursachen mir Pein. I^Jn allen diesen wunderbaren
Prophetenreden verschmelzen der Geist Gottes und die Seele des Propheten
zu einem Wesen.j Denn eure Versammlungen sind ungerecht. Mögt ihr eure
Hände zu mir emporstrecken, ich wende meine Augen ab, mögt ihr eure Gebete
vervielfältigen, ich erhöre euch nicht, denn eure Hände sind voll Blut! Wäsche
euch, reinigt euch, tilgt eure bösen Gedanken, hört auf schlecht zu handeln,
lernet wohlthun, suchet die Gerechtigkeit, kommt dem Unterdrückten zu Hilfe,
schaffet Recht der Waise, verteidigt die Witwe — und dann kommt, und rechtet
mit mir: mögen eure Sünden rot sein wie Scharlach, weiß wie der Schnee
sollt ihr werden. Wehe euch, die ihr Haus an Haus reiht, und Acker an
Acker bis an die Grenze, wollt ihr denn allein wohnen im Lande? Wehe
euch, die ihr des Morgens aufsteht um euch zu berauschen und bis in die
Nacht hinein zu trinken! Die ihr sagt: Laßet uns essen und trinken, morgen
werden wir tot sein! Die ihr mit lallender Zunge des Propheten spottet:
Immer nur bekehren, kehren, kehren, harren lauf die Erfüllung der Drohungen
und Verheißungen^, harren, harren! Wehe euch, die ihr ungerechte Gesetze er¬
lasset, um die Armen im Gericht zu unterdrücken, und der Sache der Niedrige»
meines Volkes Gewalt anzuthun, sodaß Witwen und Waisen ihre Beute
werden!
Weil sich das Volk zu diesem wahren und reinen Gottesdienst, den das
Wesen Gottes fordert, nicht aufzuraffen vermag, muß es im Elend umkommen.
»Wohin soll ich euch noch schlagen? Jedes Haupt ist krank, jedes Herz voll
Betrübnis. Von der Fußsohle bis zum Scheitel nichts als Blut und Wunden,
Striemen, die niemand mit Öl lindert, verbindet und heilt. Wegführen wird
der Herr von Jerusalem jeden Starken und Tapfern, eure Richter, Propheten
und Wahrsager; alle Vornehmen, die weisen Baumeister, und die kundig sind
des Zaubergeflüsters." Uuter dem zurückbleibenden arme» Haufen wird
Anarchie ausbrechen, der Knabe wird sich wider den Greis, der Gemeine wider
den Vornehmen erhebe». Man wird einen herausgreife» und ihm sagen: Du
hast »och einen ganzen Rock, sei unser Fürst! Nimm diese Trümmer in deinen
Schutz! Er aber wird antworten: Ich bin kein Arzt; in meinem Hause giebts
weder Brot »och Gewand; wollet mich nicht zum Fürsten mache»! Wüst
liege» wird zuletzt das Land, wo dann nach der Zerstörung der Städte die
spärlichen Bewohner, über das Land zerstreut gleich einzelnci/Oliven, die nach
der Ernte noch hängen geblieben sind oder den bei der Weinlese übersehenen
Trauben, von Milch und Honig und wildwachsenden Früchte» leben und ein
verhältnismäßig glückliches idyllisches Dasein führe». Aber nicht über den Juden¬
staat allein ist der Untergang verhängt; von den kleinen und größern Nachbar¬
staaten wird einer nach dem andern vom Schwerte der große» Eroberer nieder¬
gemäht, auch die Pracht von Thrus und Sidon sinkt dahin, bis zuletzt auch
die Werkzeuge des strafenden Gottes, Assur und Babhlvn zerbrochen werden,
damit, nachdem alles Hohe in den Staub gesunken ist und alle Nationalgötter
zu Schande» geworden sind, der eine wahre Gott allein groß dastehe auf Erden
und seine Macht anerkannt werde.
Aber diese furchtbaren Machterweise,, schließen Gottes Güte nicht aus,
souderu bahnen ihr mir den Weg. Die Überbleibsel, so versichert »»zähligc
mal der Prophet, die Überbleibsel werden gerettet werden, und diesen wird der
Tag des Heils anbrechen. Zwar lange währt die traurige Nacht, und von
Zeit zu Zeit fragt der Harrende: Wächter der Nacht, was ist die Stunde?
Sehnsüchtig seufzt er: Tauet, ihr Himmel, deu Gerechten, Wolke», regnet ihn
herab! Aber der Prophet selbst verzweifelt nicht und läßt die Getreuen nicht
verzweifeln: „Tröste dich, tröste dich, mein Volk! Israel, mei» Knecht, den
ich an den Enden der Erde ergreife und aus der Ferne herbeirufe, mein Knecht
bist du, ich habe dich erlesen, ich habe dich nicht verworfen! Ich fasse dich
der Hand und sage dir: Fürchte dich nicht! Ich helfe dir! Fürchte dich
nicht, Würmlein Jakob! Ich bin dein Helfer, wie ein Hirt, der seine Schafe
weidet und die zarten Lämmer auf seinen Schoß hebt."
Nicht die Rettung aus der Not des Augenblicks verheißen solche Trost¬
worte. Die irdische Herrlichkeit der vorexilischen kleinen Judenstaaten ist un¬
wiederbringlich dahin. Alle Pläne derer, die in dieser Beziehung noch etwas
hoffen, werde» unerbittlich als Illusionen bekämpft, namentlich der Plan, sich
vor der assyrisch-babylonischen Macht dadurch zu retten, daß man sich unter
den Schutz Ägyptens flüchtet; Ägypten sei ein Rohr, das, anstatt zu stützen,
zerbreche und dem sich darauf stützenden die Hand durchbohre. Nein, das
Heil liegt in einer fernen Zukunft und wird etwas von irdischer Staatsmacht
und Pracht ganz verschiednes sein. Cyrus, der Retter der Überbleibsel, der
diese zurückziehen läßt in die Heimat, ist noch nicht der eigentliche Erlöser,
von dem es heißt: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf
dessen Schultern Herrschaft ruht, dessen Name sein wird: Wunderbar, Ratgeber,
Gott, starker Held, Vater der Zukunft, Friedensfürst; auf dem der Geist des
Herrn ruhen wird: der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des
Rates und der Stärke, der Geist der Wissenschaft und der Frömmigkeit; der
nicht nach dem Ansehen der Person richten, sondern den Armen Recht schaffen
wird, der nicht schreien wird in den Gassen, das geknickte Rohr nicht zer¬
brechen, den glimmenden Docht nicht auslöschen wird. Am wenigsten paßt
auf den mächtigen Perserkönig, daß der Erlöser einen Zustand tiefster Er¬
niedrigung erleiden soll: „Es ist keine Zierde noch Schöne an ihm, und doch
begehren wir ihn, den verachteten, den letzten der Männer, der unsre Krank¬
heiten auf sich genommen, und unsre Schmerzen selbst getragen hat, den wir
als einen Aussätzigen und von Gott Geschlagnen erachtet haben, der aber
unsrer Ungerechtigkeiten wegen verwundet, der geopfert worden ist, weil er es
selbst gewollt hat." Diese Gestalt des Messias kann unmöglich durch Cyrus
gesinnbildet werden, eher durch den Propheten selbst in den Tagen, da er ver¬
folgt wurde. Und irdisch kann das messianische Reich, das der Prophet
schildert, nicht verstanden werden, es wäre sonst nur eine dieses großen Geistes
unwürdige Utopie. „Wenn der Herr die Völker richten wird, dann werden
sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Sicheln;
nicht mehr wird Volk gegen Volk das Schwert erheben, noch werden sie sich
zum Kriege einüben. Dann wird der Wolf beim Lamme wohnen, das Pardel
sich zum Böcklein lagern; Kalb, Löwe und Ochs weiden zusammen, ein kleiner
Knabe leitet sie. Der Säugling streckt seine Hand unverletzt in die Höhle der
Viper; nichts wird mehr schaden, nichts töten auf meinem heiligen Berge.
Die Wüste wird sich freuen und wie Lilien erblühen, das wasserlose Land mit
Quellen getränkt werden, die Drachenhöhle grünen. Dann werden die Augen
der Blinden sich öffnen und die Ohren der Tauben sich ailfthun. der Lahme
wird springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen sich lösen."
Ich weiß wohl, daß dem Jesaja die Abschnitte, in denen der Name Koresch
vorkommt, abgesprochen werden. Mag nun dieser Name von einem spätern
Bearbeiter eingefügt worden sein (daran, daß das Buch, so wie es vorliegt,
von dem Propheten selbst geschrieben sein könne, ist ohnehin nicht zu denken;
seine einzelnen Aufzeichnungen sind von einem Spätern zusammengefügt worden),
oder mögen ganze Kapitel nachexilischen Ursprungs sein, das Buch verliert
dadurch nichts an Wert und büßt seinen Charakter nicht ein. Denn der Geist,
der es beseelt, ist in allen Teilen derselbe; überall dieselbe reine und erhabne
Gottesidee, überall dieselbe Enthüllung des großartigen göttlichen Weltplans,
überall dieselbe Hoffnung auf den Erlöser und das messianische Reich, überall
dieselbe Kraft eines großen, edeln und leidenschaftlichen Herzens, dieselbe Kunst
der Schilderung und dieselbe Pracht der Sprache.
(Schluß folgt)
Wir erhalten aus Großnama-
land folgende Zuschrift: Nachtigal sagte vom Namalande: „Ich will lieber durch
die Wüste reisen, da finde ich doch wenigstens Oasen, als noch einmal durch dieses
Land." Mit diesem mehrfach mißverstandncn Ausspruch ist die überaus trage Ur¬
bevölkerung gemeint, nicht das Land selbst. Nachtigal hatte die nordafrikanischen
Wüsten im Auge, die nach einer Kultur von Jahrtausenden auch an Stellen mit
schwierigster Wassergcwinuuug blühende Gärten und Dattelhaine zeigen. Der große
Gelehrte würde doch wohl eine Wanderung durch unser Binnenland vorziehen,
selbst in einem so überaus trocknen Jahre, wie das war, als er das Laud kennen
lernte. Der einer Wüste gleichende Küstenstreifen weist freilich keine Oasen auf,
nicht weil diese eine Unmöglichkeit wären, sondern weil sich noch niemand bemüht hat,
dem Boden die den klimatischen Eigenheiten entsprechenden Früchte abzugewinnen.
Nachtigal mußte dagegen im Binnenlande sehr wohl erkennen, daß die baumreichen
Flußebnen in ihrer ganzen Ausdehnung zu Garten- und Feldbau geeignet sind, wenn
damals auch noch nicht durch zahlreiche Brunnen gezeigt worden war, wie jetzt, in
welcher Tiefe große Grundwasscrvorrttte liegen. Ich habe schon an andrer Stelle
darauf hingewiesen, daß Dr. K. Dove im Jahre 1888 die Regenmenge von
Nchoboth nur auf deu dritten Teil der thatsächlichen angegeben hat. 18S6 wurde
dieser Fehler allerdings ausgemerzt, aber diese Zeit von acht Jahren scheint genügt
zu bilden, der Regierung ein schwer zu überwindendes Vorurteil gegen das Land
einzuflößen. Dove sucht die Augabe vou nur 103 Millimeter Regenfall durch
andre gleich unzutreffende Angaben z» illustriren. So schreibt er: „Selbst in den
Flußthälern kommt im Süden von Bäumen nnr die Wüstenakazie vor." Wenn
Dove persönlich im südlichen Nmnalcmde die mächtigen Stämme der Giraffenakazie
gesehen hätte, die auch in kleinern Thäler» vielfach eine Dicke erreichen, daß sie
zwei, drei Männer kaum zu umspannen vermögen, so würde er nicht den tenden¬
ziösen Ruinen Wüsteuakazie gewählt bilden. Daß die ^oaei-i. Iwrriäa, hier in großen
Beständen auftritt, scheint Dove ganz unbekannt zu sein. Wie häufig diese vor¬
kommt, zeigt die Ausfuhr des vou ihr gelieferten Gummis. Dieser Export könnte
bedeutend vergrößert werden, wenn mau den Handel und besonders die Verkehrs¬
wege entwickelte. „Sogar an diesen feuchtesten Stellen des Landes treten andre
Bäume und Sträucher nur in untergeordneter Weise auf." Auch diesen Satz
würde Dove nicht geschrieben haben, wenn er unsre Flußläufe gesehen hätte, die
Vom Ursprung bis zur Mündung vou Baumreihen besäumt sind. Wo das Thal
nicht durch Berge eng eingeschnürt ist, sondern sich zu einer Ebene erweitert,
dehnen sich die Uferwäldcr in der Breite mehrere Kilometer aus, vom Flußlauf
entfernt, allerdings in lichtem Bestand. Unter den Bäumen ist reichliches Unter¬
holz. Von den Sträuchern erwähne ich besonders den Khaubusch, aus dessen
Früchten die Eingebornen Öl pressen.
Ebenso ist die Behauptung „aber auch diese wenigen Bäume gehen ihrem Unter¬
gang entgegen, da infolge der Dürre kein Nachwuchs gedeiht," irrtümlich. Wo es an
Nachwuchs mangelt, liegt es daran, daß die keimenden Pflanzen vom Vieh wcggeweidet
werden. Ans selten benutzten Plätzen fehlt es keineswegs an jungen Bäumen. „Der
erhitzte trockne Sandboden sangt bei Gewitter» die bisweilen fallenden Regenmengen
sofort auf." Hier hätte Dove folgendes hinzusetzen können: Dies erklärt die reichen
Grundwassermengen; die Feuchtigkeit hält sich im Sande wenige Zoll tief mehrere
Monate nach dem Regen in ausreichender Menge für die Vegetation, denn Sand
ist ein überaus schlechter Wärmeleiter, und der intensiven Sonnenbestrahlung bei
Tage steht eine starke Wärmeausstrahlung bei Nacht gegenüber. Die Folgen davon
sind: Taufall trotz geringer Luftfeuchtigkeit und die niedere Temperatur der Boden¬
schichten, die vornehmlich die Wurzeln von Gras, Kräutern und Sträuchern nähren.
An andrer Stelle behauptet Dove, daß hierzulande feine Futterkräuter nicht ge¬
deihen könnten. Er kennt eben nicht ein mit Luzerne besätes Stück im Bethanischen
Missionsgarteu, das überaus große Erträge liefert. Wir bedürfen übrigens nicht
der Einfuhr neuer Futtergewächse. Wir haben eine Reihe vorzüglicher einheimischer
Gräser und Kräuter, die durch Anpassung an Klima und Bodenverhältnisse kaum
übertroffen werden dürften. Auch sind diese Gräser sehr gut durch Staubewässerung
in ihrem Wachstum zu fördern, ebenso wie unsre tief wurzelnden Sträucher, das
Hauptfutter der Ziegen.
Auch die Missionsgesellschaft hat, wenn sie um milde Gaben für die Genieinde¬
mitglieder bat, das Land in ein zu düstres Licht gestellt. Bei der Schilderung des
furchtbaren Elends der Eingebornen war nicht hinzugefügt worden, daß dieses die
notwendige Folge von lasterhafter Trägheit und sündhaften Leichtsinn war, da man
in der fetten Zeit nicht für die Dürre gespart hatte. Die Hottentotten sammeln
allerdings, aber in viel zu geringer Menge ihre liebsten Leckerbissen, gedörrte und
zu Mehl gestampfte Heuschrecken, eine überaus nahrhafte Speise, Gummi und viele
Feldfrüchte; besonders letztere, vornehmlich Knollen, könnten zur Regenzeit in be¬
liebiger Menge für eine ungleich größere Bevölkerungszahl gewonnen werden. Sind
aber die Blätter verdorrt und verweht, so ist die Wurzel nicht mehr zu finden,
auch ist der Boden dann für die primitiven Werkzeuge zu hart. Daher schreitet
der „arme Wilde" zur Zeit der Dürre wohl hungernd über den Boden, der Schätze
birgt, fast wie ein Kartoffelacker in Deutschland.
Die offiziellen Berichte wußte» bis vor kurzem von nichts zu erzählen wie
von Krieg, Dürre, Wüste, Heuschrecke», Seuche». Was sollte die Regierung auch
andres berichten? War doch bis etwa August 1896 von ihr im Namaland nicht
die geringste wirtschaftliche Anlage in Augriff genommen worden. Die Quelle
selbst in Kcetmanshoop, dem Regierungssitz, war in schauerlicher Weise vcrjaucht.
Die Ansiedler mußten schon die Wngensteuer zahlen, lange bevor der erste Spaten¬
stich zur Wegeverbcsseruug gemacht worden war. Das ist nun glücklich anders ge¬
worden: der Hnuptort hat jetzt mustergiltige Tränken, die Transportwege sind die
besten des Schutzgebiets. Dies berechtigt zu der Hoffnung, daß die Entwicklung
des Schutzgebiets trotz des Pessimismus des Majors Curt vou Frmiyois nicht
stocken wird. In Ur. 41 der Grenzboten spricht er besonders dem südlichen
Namaland jeden Wert in landwirtschaftlicher Beziehung ub. Landwirtschaft schließt
Ackerbau und Viehzucht in sich. Das ungünstige Urteil in Bezug auf Viehzucht
mag wohl begründet sein ans deu außerordentlichen Mißerfolg, den die Schutztruppe
hatte, als sie selbst als Viehzüchter auftrat. Damit ist aber nur bewiesen, daß
die Viehzucht besser Männern von Fach überlassen bliebe. Daß die Landwirte hier
sonderlich gut stünden, läßt sich nicht behaupten, aber bei der traurigen Unsicherheit
des Besitzes giebt nur die Fruchtbarkeit des Viehs und die Gesundheit des Landes
die Erklärung dafür, daß die Verluste nicht weit folgenschwerer sind.
Francois befürwortet große Ersparnisse in der Verwaltung. Würden diese
thatsächlich durchgeführt, so würde die Steuerkraft des Landes bald völlig ge¬
brochen sein, da die Viehräubereien noch mehr um sich greifen würden. Es ist
weit leichter die Behauptung aufzustellen, daß ein Land nichts tauge, als den
Beweis zu führen, daß ein unentwickeltes Land produktiv gemacht werden kann.
Daß auch der Ackerbau keineswegs aussichtslos ist, das mögen die prächtigen
Weizenähren beweisen, die der „Kolonialzeitnng" ans dem Nugauibthale zugesandt
wurden, und die ohne künstliche Bewässerung in Niederdämmeu gezogen wurden.
Das ist eine Wirtschaftsform, die sich weit billiger stellt, als die in Deutschland
>v oft notwendige Drainage. Da nnn jeder größere Fluß in jedem normalen
Jahr mindestens einmal übertritt und durch kleine Staudamme gezwungen werden
tun», auf die weitgedehnten flachen Ufer überzutreten, so ergiebt sich daraus, wie
cnlsgcdehuter Feldbau hier getrieben werden kann. Auch Pastor Warnke wird gewiß
gern die großen vollen Ähren vorlegen, die er von ebendort erhalten hat. Daß
die hiesigen Ansiedler an die Entwicklung des Landes glauben, wird auch dadurch
bewiesen, daß die Firma Seidel und Mühle eine Dampfmaschine mit allen land¬
wirtschaftlichen Geräten für ihre Farm „Seskcnneelboom" hat herkommen lassen.
Daraus mag man entnehmen, daß sich der Namaländer auch durch die Rinderpest
nicht einschüchtern laßt. Sterben die Ochsen, so bleiben Pferde und Esel und der
Dampf; Holz haben wir genug. Auch ist bekannt, daß die Plantage Außcnlehr,
die an der zu langsamen Entwicklung des Schutzgebiets zu Grunde ging, Dampf¬
pumpwerke besaß. Die großartigen Stauanlagen im Lande wurden von privater
Seite Von alten Afrikanern ausgeführt, die sehr wohl wissen, was sie thun. Daß
sich auch die Regierung von der fundamentalen Wichtigkeit der Wasserfürsorge
überzeugt hält, zeigen die Dcimmbauten, die sie in Gideon teils vollendet, teils
geplant hat. Auch sind mehrere Bohrapparate von der Regierung eingeführt
worden, um das reiche Grundwasser zu erschließen, dessen Existenz in den letzten
Jahren durch zahlreiche Bruuueubauten bewiesen worden ist.
Durch die Zeitungen
geht jetzt die ziemlich unerwartete Kunde, daß wohl im Anschluß an die Auf¬
besserung der Beamtengehäiter, die das vergangne Jahr gebracht hat, nun auch eine
Veränderung der Rangklassen in Preußen stattfinden soll. Für einen philosophischen
Betrachter werden solche Staatswohlthatcn immer etwas Hebel- und schrnuben-
wäßiges behalten, aber idealere Auffassungen langen nicht fürs praktische Leben,
das mit Äußerlichkeiten rechnet und von dem zwar häßlichen, aber nun einmal
giltigen Satze: Kleider machen Leute stets mehr oder weniger abhängig bleiben
wird. Da ist es nnn von Wichtigkeit, wie die Regierung ihre einzelnen Beamten
bewertet, denn bei dein ziemlich stumpfsinnigen Herrn Publikum gilt mau im all¬
gemeinen nicht so hoch, wie man sich selber, sondern wie der Staat einen schätzt.
Es handelt sich diesmal eigentlich nur um drei Parteien, um die Richter, die
Bauinspektoren und die Oberlehrer. Daß unter diesen die Juristen wieder am
meisten begünstigt worden sind, dürfte sich eigentlich von selbst verstehen und schlie߬
lich auf der geschichtlichen Entwicklung des preußischen Staates beruhen, dessen
festeste Stützen stets sein tüchtiges Heer und seiue tüchtige Büreaukratie gewesen
sind. Allerdings haben sich die Zeiten geändert, und der Richter gehört streng¬
genommen auch uicht zu deu eigentlichen Verwaltungsbeamten, wie er zu seinem
tiefen Kummer bei allen Aufbesserungen immer wieder erfahren muß: deu» auch
er ist nicht schmerzlos und noch keiner von den Lepe ^se« A-Wi^es- Immerhin
sind jetzt die Landrichter, Amtsrichter und Staatsnnwalte (desgleichen die Divisions-,
Gouvernements- und Garuisousauditeure) zur Hälfte deu wirkliche» Räten der
vierten Rnngklasse der höhern Provinzialbeamten angereiht wordeu, während sie
bisher durch Verleihung des Ratstitels nur gewöhnliche Räte vierter Klasse
wurde». Diese Rangerhöhung ist schon aus äußern Gründen nicht bedeutungslos,
weil die wirklichen Räte vierter Klasse wesentlich höhere Umzngskosten beziehen als
die persönlichen und als die Räte fünfter Klasse. Sie erscheint aber noch großer,
wenn man die Berücksichtigung der Bau- und Maschineninspektoren und der Ober¬
lehrer ius Auge faßt. Von diesen haben die ersten zusammen mit deu Gewerbe-
iuspektoreu und Ökonomiekommissaren jetzt wenigstens zur Hälfte außer dem Titel
Baurat (oder entsprechend Gewerbe- und Ökonomierat) den persönlichen Rang der
Räte vierter Klasse bekommen, aber eben auch nur den. Was sollen jedoch die
armen Oberlehrer sage», denen nicht einmal dies zu teil geworden ist? Bei ihnen
kann fortan nur für die Professoren die Verleihung des persönlichen Ranges der
Räte vierter Klasse erbeten (!) werden. Nun ist es aber bekannt, daß nnr ein
Drittel sämtlicher Oberlehrer den Titel Professor erhalt; also kann jetzt anch nur
ein Drittel vou ihnen wirklich persönlicher Rat vierter Klasse werden, ganz ab¬
gesehen davon, daß das oben betonte „erbeten werden" in einem ziemlich schroffen
Gegensatze zu dem „vorgeschlagen werde»" bei Richtern und Bauiuspektoreu zu
stehen scheint. Allerdings haben die Oberlehrer damit wenigstens das erreicht, daß
alle ihre Professoren Räte vierter Klasse geworden sind, während bisher nur der
Hälfte von ihnen, also einem Sechstel sämtlicher Oberlehrer, dies persönliche Glück
zu teil wurde. Aber warum hat die Regierung wieder gefeilscht und gemarktet;
warum hat sie uicht wie bei deu Bauinspektoren (denn von den Juristen wollen
wir vorläufig gar uicht mehr reden) einfach für die Hälfte fortan den Professor¬
titel und den persönliche» Rang der Räte vierter Klasse bestimmt? Jetzt steht der
Oberlehrer also auch uoch hinter den Bauiuspektoreu zurück! Das wird und muß
böses Blut geben, und die wackern Staatshämorrhoidarii, deren es unter der em¬
pörten Menge der Oberlehrer trotz der ständigen Bevorzugung der Juristen immer¬
hin noch einige gab (auch Verfasser bekennt, zu ihne» gehört zu haben), werden bald
eine nat»rwisse»schaftlicye Seltenheit sein, die auch für Direttorcnstellen kaum noch
aufzutreiben sein wird. Jedenfalls berührt diese neue Behandlung — den Ausdruck
Mißhandlung möchte ich gern vermeiden — um so schmerzlicher, als im Winter
die Gerüchte von neuen großen Gnaden für die Oberlehrer durch die Zeitungen
liefen, und als versichert wurde, daß die Philologen bald ganz und dauernd zufrieden¬
gestellt werden würden. Und nun? Die Fuuktionszulage, eine ungerechte Spar¬
kasse und ein noch ungerechtfertigteres Gängelband des Staats, ist noch immer da,
und mau hat bisher nichts klares und sicheres von ihrer Abschaffung vernommen.
Den Oberlehrertitel selber aber hat die preußische Regierung, nachdem ihr diese
billige, in Sachsen längst schon bestehende Amtsbezeichnung vor einigen Jahren
mit vieler Mühe endlich abgerungen worden war, schleunigst wieder dadurch ent¬
wertet, daß sie mit dem Oberlehrer in Dutzenden von Fallen auch seminaristisch
vorgebildete Persönlichkeiten geschmückt hat: möge sie doch auch bewährten Nevier-
förstern einmal den Titel Oberförster und ältern Amtsgerichtssekretären den Amts¬
richter verleihen! Überdies hat jene ziemlich rücksichtslose Weitherzigkeit praktisch
die wenig angenehme Folge, daß viele, die aus der Volksschnlpädagogik in bessern
Stellen emporgewachsen sind, besonders die nicht mit Unrecht oft so beliebten
Gyinnasialelementarlehrcr, sich jetzt ohne lauten Widerspruch auch Oberlehrer nennen
lassen, ja diesen Titel namentlich in fremdem Verhältnissen einfach schon bean¬
spruchen. Dn ist denn der Oberlehrertitel nicht ohne Grund für manche Akade¬
miker schon „kaum gegrüßt, gemieden," und mau beginnt allmählich wieder den
alten, zweifellosen Doktor vorzuziehen. Diese Neigung dürfte sich in Zukunft
wohl noch verstärken, dn der Oberlehrertitel nun auch offiziell (dies ist der letzte
Punkt des neuen Erlasses) allen an den staatlichen Bcmgewerk-, Maschinenbau- und
sonstigen Fachschulen angestellten Lehrern verliehen worden ist, sofern sie eine volle
akademische Bildung besitzen, d. h. ein mindestens dreijähriges Studium an einer
Universität, technischen Hochschule, Kunstakademie oder Kunstgewerbeschnle nachweisen
können. Von einem Examen, einem Seminar- und Probejahr ist keine Rede, ob¬
gleich diese von dem eigentlichen Oberlehrer geforderten Nachweise gerade den
Staatsoberlehrer ausmachen sollen. Immerhin kann man sich diese Kollegenschast
"och viel eher gefallen lassen als die der seminaristisch gebildeten „Oberlehrer,"
die an einer nicht geringen Zahl besonders von Realschulen oft mehrere wirkliche
Oberlehrerstellen natürlich mit diesem Titel und der entsprechenden Überhebung
einnehmen.
Nach alledem dürste selbst eine feindseligere Kritik zugestehen, daß die Gründe
zur Unzufriedenheit bei den akademisch gebildeten Oberlehrern neuerdings wieder
ganz bedeutend vermehrt worden sind. Einem objektiven Zuschauer aber muß dieser
hartnäckige Streit zwischen der Regierung und den Philologen, der an Dauer und
Uncnischiedenheit jetzt schon den trojanischen Krieg in Schatten stellt, ein höchst
ergötzlicher Froschmnusckrieg dünken. Auch wir wollen uns dem Hnnior der
Thatsachen uicht ganz verschließen: vielleicht rührt auch die Regierung dieser neue
..Gesichtspunkt."
Jetzt, wo unser aller Gedanken soviel unsrer Flotte Um¬
gewandt sind, machen wir gern aufmerksam auf ein kleines Heft mit spaßhaft vor-
gctragnen Geschichten von dem Mariuepfarrer ni. D. Heims (Berlin, Fontane
». Komp.). „Was haben Sie mit meinem Mann gemacht, er ist ja ganz betrunken,"
schrie ihm die Frau Obersteuermann zornschnaubend entgegen. Aber da war
Krüger zu seiner vollen Größe herangewachsen und hatte würdig geantwortet:
„Frau Michels, er ist nicht betrunken von das, was ich getrunken hab; er ist
betrunken von das, was er selbst getrunken hat." Läßt sich vielleicht weiter ver¬
wenden und giebt zugleich eine Vorstellung von dem spezifischen (nordwestdeutschen)
Humor des Buches und seinen sprachlichen Mitteln. Eine andre hier auf See
verlegte Geschichte! „Pfeifen Sie doch Ihrem Hund!" „Pfeifen Sie Ihrem
Hummer!" (der Hund war nämlich mit einem Hummer, der sich an seinen
Schwanz geklemmt hatte, aus dem Laden heraus und heulend davon gelaufen) steht
übrigens schon in den „Fliegenden Blättern" von 1873 zu lesen, was wir nicht
hervorheben würde», wenn sie dort nicht noch besser erzählt wäre, denn an und
für sich sind uns solche Entlehnungen nicht nen.
In dem Artikel „Die Landwirte im Industriestaat und
im Agrarflaat in Ur. 10 der Grenzboten ist die letzte Zahl auf Seite 560, wie
der geehrte Leser, wenn er aufmerksam gewesen ist, wohl schon selbst gefunden
haben wird, falsch. Nicht auf 157 968 stellt sich nach der Zcihluug vom Juni
1395 in Mecklenburg-Schwerin die landwirtschaftliche Bevölkerung uuter Einrechnung
der häusliche» Dienstboten und berufslosen Familienangehörigen, sondern auf 295 599
Personen. Die Zahl 157 968 beruht auf einem Schreibfehler, sie ist die der
bernfsloseu Augehörigen allein. Übrigens ist diese falsche Zahl nicht etwa den
weitern Prvzentbcrechnuugen usw. zu Grnnde gelegt worden. Die gesamte land¬
wirtschaftliche Bevölkerung setzte sich nach der Zahlung von 1895 zusammen
zen die Sachen in Wirklichkeit.Die Leserund die Mecklenburger Land-
wirte werden das Versehen entschuldigen.
Dieser Band behandelt in der schon bei der Besprechung der erste» beide»
Bände hervorgehobnen Anordnung die vierte, fünfte, sechste und siebente Session des
deutscheu Bundesrath, also seine Thätigkeit in der interessanten Übergangsperiode zu
der neuen Steuer- und Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismcirck. In diese Zeit
fällt eine ganze Reihe wichtiger Personalvernndernngen im Reiche wie in Preuße»,
die meist mit jener tiefgreifenden Wandlung zusammenhängen. Vor allem schied
im Mai 1876 der langjährige Präsident des Ncichskanzleramts, Rudolf Delbrück,
aus, weil er der Wendung der Schutzzollpolitik widerstrebte und sich die alte, von
ihm geschaffne Bedeutung seines Amtes durch die Abzweigung andrer Reichsämter
allmählich verminderte. Sein Nachfolger vou Hofmann hatte infolgedessen nur uoch
etwa die Bedeutung eines Unterstcmtssekretürs für das Innere. An die Stelle
des Handelsministers Heinrich von Ueberhand, der weder die Verstaatlichung der
Preußischem Bahnen noch das Reichscisenbahnprojekt wollte, trat 1378 Albert
Maybach, der die Verstaatlichung mit dem glänzendsten Erfolge in überraschend
kurzer Zeit durchführte und 1673 zugleich die Leitung des Neichsamts für die
Reichseisenbahnen in Elsaß Lothringen übernahm. Ludolf von Camphausen machte
als Fiunnzminister im März 1878 dem bisherigen Oberbürgermeister von Berlin,
Arthur Hobrecht, Platz, da er der Schutzzollpolitik, der Steuerreform und dem
Reichseisenbahnprvjekt ebenso widerstrebte wie Delbrück und der Versuch Bismarcks,
Rudolf von Bennigsen zum Eintritt in das Ministerium! zu bestimmen, an dessen
ihm vou der nativualliberaleu Partei vorgeschriebnen Forderung gescheitert war,
auch Stauffenberg und Forckenbcck zu berufe» (Dezember 1877). Höchst ergötzlich
wird dabei erzählt, wie der Geheimrat Tiedemann, Chef der Reichskanzlei, den
neuen Finanzminister ausfindig machte und zur Annahme bestimmte, und ein an¬
ziehendes Bild von Bismarck und seinem Leben in Friedrichsruh giebt der Bericht
von Hobrechts Besuch dort im Dezember 1373. Fast gleichzeitig mit Hobrecht,
um 31. März, übernahm Graf Botho zu Eulenburg nach der kurzen Übergangs¬
zeit unter Friedenthal das Ministerium! des Innern, das seit dem Dezember 1862
sein Oheim Graf Fritz zu Eulenburg, der glückliche Unterhändler der Verträge mit
Japan, China und Siam, verwaltet hatte; seine Hanptmifgabe war die Aufstellung,
Verteidigung und Durchführung des Svzialisteugcsetzes. Unter den übrigen preußischen
Bevollmächtigten zum Bundesrate tritt besonders noch Graf Stolberg hervor,
der verdiente Oberpräsident der neuen Provinz Hannover (1867—73), dann Bot¬
schafter in Wie», 1878- 31 Stellvertreter Bismarcks im Reiche und in Preußen.
Der im September 1877 neuernannte bayrische Bevollmächtigte, Gideon von Rud-
hard, hatte bekanntlich das Mißgeschick, im Mui 1380 ganz persönlich mit Bismarck
wegen des Zvllanschlnsses von Hamburg hart zusammenzustoßen und nahm daher
seine Entlassung. Die königlich sächsischen Bevollmächtigte», die Minister Hermann
von Nostiz-Wallwitz, Alfred vo» Fabriee waren in Berlin längst heimisch, mich
die Badener Julius Jolly und Rudolf Frehdorf standen schon seit dem Winter
1870- -71 in amtlichen und persönlichen Beziehungen zu Bismarck, und von beiden
teilt Poschinger wieder eine Anzahl von Briefen mit. Die von Jolly geben
lebendige Bilder ans den Versailler Verhandlungen über den Eintritt der süd¬
deutschen Staaten in den Norddeutschen Bund und über den Frieden von Frank-
furt; Frcydorss Briefe gehören teils derselben Zeit, teils seinem Berliner Aufent¬
halt im Frühling 1871 und in deu Jahren l874—75 an. Über Jolly ist vor
kurzem aus der Feder des verstorbnen Historikers Hermann Banmgnrten in Stra߬
burg und des Professors Ludwig Jolly in Tübingen eine ausführliche Biographie
erschienen, auf die wir hier vorläufig aufmerksam machen.*) Als ein noch älterer
Bekannter tritt dem Leser der Sachsen-koburg-gvthaische Staatsminister von Seebach
entgegen, von dem wieder mehrere Reihen von Briefen an seine Tochter beigefügt
sind. Ein Personen- und Sachregister erleichtert auch in diesem Bande die Über¬
sicht über den der Natur der Sache nach sehr bunten und mannigfaltigen Stoff.
Der stattliche, 1076 Seiten starke Band schließt das große Werk würdig
ab. Auch solche Artikel, die nur Ergänzungen und Fortführungen der ursprüng¬
lichen gleichbenauuteu Artikel bilden, haben sich meistens zu umfangreichen Arbeiten
von selbständigem Werte ausgewachsen, wie die Artikel: Arbeiterschutzgesetzgebung
(45 Seiten), Berufs- und Gewerbestatistik, Binnenschiffahrt, Gewerkvereinsbeweguug.
Die Abhandlung über Sozialrefvrm von Professor Georg Adler zeichnet sich durch
eine sehr gründliche Darstellung der unter diesen Begriff fallenden Bestrebungen
des vorchristlichen Altertums aus. Viele Artikel behandeln Gegenstände, die in
den Hnuptbänden nicht vorkommen, so: Bauernkrieg, Bürgerliches Gesetzbuch,
Preußische Zeutralgenosseuschaftstasse, Kleinbahnen. Der Artikel über den Bauern¬
krieg (von Theo Sommerlad) schließt mit einer bemerkenswerten Betrachtung:
„Wie unerforschlich und wunderbar die Wege der gcschiclstlichen Entwicklung laufe»,
sieht man daraus, daß gerade das Territorialfürstentum es späterhin war, daZ
alle Forderungen, die im Mai 1525 Wendet Hippel und Friedrich Weigand in
nntifürstlichem Sinne proklamirt hatten, zur Durchführung brachte. Deal Preußen
hat durch seine Bauernbefreiung den Anstoß gegeben, daß die Leibeigenschaft und
soziale Rechtlosigkeit des Bauernstandes dahinschwand, und hat durch die Be¬
gründung des Zollvereins jene Sehnsucht von 1525 nach Einheit von Maß und
Gewicht zur Erfüllung gebracht. Freilich diese Territorialmacht des neunzehnten
Jahrhunderts hatte ein Ziel gemeinsam mit de» aufständischen Bauern aus der
Reforiuationszeit: die Einheit des ganzen Vaterlandes und eine starke kaiserliche
Macht." Unser neues Börsengesetz wird von Max Weber einer sehr gründlichen
Kritik unterworfen, bei der nicht viel von ihm heil davon kommt. In der Ge-
snmtbeurteilung, heißt es am Schluß, „muß nach allem Vorstehenden das Börsen-
gesetz als eines der formal schlechtesten, seinem Inhalt nach unglücklichsten Produkte
agrarischer Gesctzgebuugstechuik erscheinen." Die Abhandlung desselben Verfassers
über die Agrarverhältnisse des Altertums hat uns unter anderm auch deswegen
Freude gemacht, weil sie die in den weitesten Kreisen unbekannten Verdienste, die
sich Rodbertus um die Aufhellung dieser Verhältnisse erworben hat, einigermaßen
zu Ehren bringt. — So wären denn nun alle Besitzer des Handwörterbuchs über
alle Zweige des weiten Gebiets der Staatswissenschaften gut informire; möchte jetzt
die Entwicklung ein wenig still halten, daß nicht alle Jahre ein neuer Supplcmeut-
band notwendig wird!
Das Handbuch, dessen erste Bände wir im zweiten Heft des Jahrgangs 1896
angezeigt haben, ist bis zum Worte „Myopie" gediehen. Die Fortsetzung hält,
was der Anfang versprochen hat. Man vermißt kaum irgend einen Gegenstand,
der auch nur entfernt mit der Pädagogik zusammenhängt, es werden auch die ver-
schiednen Zweige des Fachunterrichts, z. B. in Artikel» über Handels- und Ge¬
werbeschulen, die häusliche, die militärische Erziehung, berücksichtigt, und den
wichtigern Gegenständen sind gründliche Abhandlungen gewidmet, die als selb¬
ständige Bücher oder Schriften erscheinen könnten. So dem griechischen Unterricht,
den O, Kohl in zwei Hauptabschnitte»: Geschichte und Methodik, behandelt. In
Beziehung auf die Aussprache (to das or not t.o das, ti^at is dirs qusstion, be¬
merkt er witzig) entscheidet er sich mit Einschränkung für einen von Bnrsicm
empfohlenen Mittelweg, von dem das wesentliche ist, daß wie ö und wie -uz
ausgesprochen werden soll. Die Methodik enthält Ratschläge, die uns sehr nützlich
zu sein scheinen, z. B. man möge die Schüler uicht mehr mit den: für die Aus¬
sprache ganz wertlosen gravis und der Enklisis plagen, man möge im voraus aufs
genaueste abwäge», was aus einem Schriftwerk in der Schule selbst gelesen werden
soll. „Nicht darf der alte Schlendrian herrschen, daß man von Anfang um bis
zwei oder drei Stunden vor Semester- oder Jahresschluß liest und dann den
Rest, der vielfach das Gelesene überwog, erzählt oder vorliest, sondern gerade das
Ende soll ungelesen und eher in der Mitte das eine oder sdas^I andre minder
wichtige Stück ausgelassen werden. Die Auslassungen müssen vom Lehrer mindestens
summarisch erzählt, sonst, soweit Zeit, vorübersetzt werden." Der Lehrer soll den
Schüler bei dessen Übersetzung nicht unterbrechen, erst wenn dieser fertig ist, die
Übersetzungsfehler verbessern, hierauf das Verständnis vertiefen und zuletzt eine
Musterübersetzung geben, die in der nächsten Stunde — nicht sklavisch wörtlich —
zu wiederhole» ist. Die Artikel: Gymnasiallehrer, Gymnasialpädagogik, Gymnasial¬
seminar und Gymnasium nehme» zusammen neunzig Seiten ein. Sehr reichlich ist
mich die Handarbeit bedacht. Auf den Artikel: „Handarbeiten für Mädchen" smüßte
es nicht heißen: Landarbeiter der Mädchen?j folgt die Geschichte des Handarbeit-
Unterrichts für Knaben von R. Rißmann, dann eine sehr interessante pttdagogisch-
philvsvphisch-kulturhistorische Abhandlung über die Handarbeit der Knaben. Der
Verfasser, O. W. Beyer in Leipzig-Gohlis, zeigt darin, wie sich der Unterrichts¬
gang an den Gang der Kulturentwicklung der Menschheit anschließe» kau» und
soll; die Stufe des Jägerlebens soll ans Schulwanderungen, die des Ackerbaues
durch Arbeiten im Schulgärten vergegenwärtigt und zurückgelegt werden usw.
Den Schluß bilden Vorschläge, wie von der Volksschule zur Werkstattlehre, die
jetzt so schroff von einander getrennt sind, ein natürlicher Übergang hergestellt
werden könnte. — Einigermaßen sonderbar mutet uns die Behandlung Herbarts
an. Auf einen Artikel: „Herbart als Philosoph" von Thilo folgt ein andrer von
W. Rein: „Herbart als Pädagog," der aber nicht etwa die Herbartische Pädagogik
darstellt, sondern nur sein Leben erzählt; das hier in Betracht kommende Haupt¬
werk Herbarts, seiue Pädagogik, wird auf drei Spalten abgefertigt, von°de»en
zwei auf die äußere Geschichte des Buches kommen. Dann folgt ein von Adolf
Rüde zusammengestelltes Verzeichnis der Litteratur der philosophische» u»d der
Pädagogische» Schule Herbarts, das uns z»in Lachen gebracht und zugleich mit
Entsetze» erfüllt hat, deun es umfaßt 114 kleiugedrnckte doppelspaltige Seiten! —
Das Thema: Humanismus und Realismus ist guten Handen anvertraut worden,
nämlich Fr. Pause», dagegen hätten wir „das klassische Altertum in seiner Be¬
deutung für die Gegenwart" lieber von eine,» ander» bearbeitet gesehe» als von
P. Nerrlich. Der Artikel „Kunstunterricht" — nämlich im Gymnasium — von
Rud. Menge wird einigermaßen als Gegengewicht wirken. — In dem Artikel
„Judenchristentum" legt der Verfasser, Katzer, die Gründe für und gegen die
Beibehaltung des Alten Testaments im christlichen Religionsunterricht dar und
entscheidet sich für die Gegengrinide. Goethe würde diese Entscheidung nicht billigen.
Katzer meint: „Das heilige Wesen Christi kann nur dann den vollen und bleibenden
Eindruck mache», de» die christliche Schule im Religionsunterrichte zu erstreben
hat, wenn nicht zu viel andre Gestalten diese eine umgeben. Das Allznverschiedne
wirkt zerstreuend, deshalb müssen die alttestamentlichen Gestalten der Christi und
denen des Christentums weichen. Der Ermüdung dnrch Darbietung immer desselben
wird aber dadurch von Anfang an vorgebeugt, daß in der eingehenden Darstellung
Christi und christlicher Geschichte ein unerschöpflicher Reichtum von Beziehungen
enthalten ist, wodurch das Interesse allezeit erhalten und gleichschwebende Viel¬
seitigkeit desselben hervorgebracht wird," Wir sind andrer Ansicht, Ohne das
Alte Testament kann das Neue gar nicht verstanden werden. Und die Vielseitigkeit
der Beziehungen, die der Ermüdung vorbeugen soll, mag für den erfahrnen Mann
vorhanden sein, für das Kind ist sie nicht vorhanden. Vielleicht ließe sich dnrch
Ausscheidung des Alten Testaments ein reineres und sozusagen konzentrirteres
Christentum gewinnen (das aber ein uuvollstiindiges und darum doch eigentlich
nicht das wahre sein würde), aber wie viel Erwachsene, geschweige denn Kinder,
würden eines solchen fähig sein! Die Masse bedarf der bunten Mannigfaltigkeit,
und Schmorrs Bilderbibel würde durch Weglassung des Alten Testaments nicht
bloß dünner, sondern wirklich ärmer werden; so auch das Gemüt, wenn man ihm
diesen Reichtum nimmt. — Sehr gut ist der Artikel „Katechismus," worin der
Verfasser, von Robben, den Grundsatz aufstellt, daß Luthers Katechismus nicht als
eine kleine populäre Dogmntik, sondern als ein Bekenntnis aufzufassen und zu be¬
handeln sei. -— Die Jesnitenschnlen werden von Fleischmann im protestantischen
Geiste, aber mit lobenswerter Objektivität und Gerechtigkeit kritisirt. Luther wird
ziemlich kurz, Melanchthon etwas ausführlicher behandelt. Ein starkes aktuelles
Interesse hat die gründliche Abhandlung von Heinrich Menges über die Mundart
in der Volksschule. Höchst beherzigenswerte Wahrheiten entwickelt C, Andrea in
seiner Arbeit über musikalische Erziehung und Musikunterricht, — Alles in allem
genommen wird die Retusche Encyklopädie in Zukunft den Lehrern als ein unent¬
behrliches Hilfsmittel zu gelten haben und auch von gebildeten Vätern und Müttern
nicht selten zu Rate gezogen werden.
Diese kleine, in hübschem Gewände erscheinende Auslese aus dem großen
Biedermannschen Werte will zu diesem hinführen in der Überzeugung, die Nietzsche
in die Worte gefaßt hat: „Mau kann im großen Ganzen behaupten, Goethe habe
noch gar nicht gewirkt, und seine Zeit werde erst kommen." Abgesehen von der
nnpcissendcn letzten Nummer des aus Goetheauekdoteu bestehenden Anhangs, fran¬
zösischen Übersetzungsproben aus dem Faust, ist die Sammlung geschickt gemacht,
sodaß wir ihr besten Erfolg wünschen können.
Die Gsell-Felsschen Führer durch Italien haben sich die Gunst des Publikums
dnrch ihre Verbindung der Vollständigkeit und Reichhaltigkeit mit einer lebens¬
warmen Darstellung errungen. Diese Bücher haben ihren Wert nicht verloren, wenn
sie als Führer gedient haben. Man liest gern in ihnen, an Gesehenes im Geist
iviedcrzngenicßen. Dazu tragen auch die zahlreichen Illustrationen bei. Das Buch
kann in fünf Abteilungen zerlegt werden, die als Spezialführer dienen können.
cum man bedenkt, daß Preußen schon vor mehr als neunzig
Jahren, also zu einer Zeit, wo Deutschland noch keinen Geviert¬
meter außereuropäischen Bodens besaß, einen gesetzgeberischen
Versuch mit Einführung der Deportationsstrafe gemacht hat, so
könnte es fast wunderbar erscheinen, daß heute von den beteiligten
deutschen Regierungen noch nicht der geringste Anlauf in dieser Richtung ge¬
macht worden ist, wo Deutschland seit einer Reihe von Jahren große, für
diesen Zweck vorzüglich geeignete Kolonial- oder Schutzgebiete besitzt. Jener
erste Versuch aus dem Jahre 1802 bestand allerdings nur darin, daß Preußen
mit Rußland einen Staatsvertrag abschloß, durch den sich Rußland verpflichtete,
Verbrecher, die ihm von Preußen zu diesem Zweck überliefert wurden, die
ihnen von preußischen Gerichten zuerkannten Strafen durch Verschickung nach
Sibirien abbüßen zu lassen. Der Grund, weshalb Preußen bald nach den
ersten Versuchen von diesem Strafmittel Abstand nahm, soll darin zu suchen
sein, daß einer der ersten auf Grund dieses Vertrags an Rußland ausgelieferten
Verbrecher bald nachher wieder in seinem frühern Wirkungskreise Schlesien
auftauchte, um sein früheres Räuberhandwerk dort mit frischen Kräften fort¬
zusetzen. Wenn man freilich in dem kürzlich erschienenen Buche des Russen
Nikolajew über russisches Gefängnisleben liest, wie russische Gefängnisbeamte
ihre Aufsicht üben, dann kann man sich nicht wundern, daß sie sich einem
fremden Staate gegenüber nur zu einem sehr geringen Grade von Wachsamkeit
verpflichtet fühlen mochten. Andrerseits ist es wohl erklärlich, daß wegen der
Erfolge, die England mit der damals in der ersten Blüte stehenden, 1788 be¬
gonnenen Deportation nach Botanybcn, der heutigen Kolonie Neusüdwales, zu
erreichen schien, die Deportation nicht nur im Prinzip — wie man auch heute
noch ziemlich allgemein zuzugestehen geneigt ist —, sondern auch in der Praxis
als das eigentlich ideale Strafvollzugsverfahren in den Augen verständiger
Staatsmänner und Juristen erschien. Die spätern Jahrzehnte haben in dieser
Hinsicht eine starke Ernüchterung hervorgerufen. Als nach kaum funfzigjährigen
Bestehen auf stürmisches Verlangen der ganzen freien Bevölkerung von Neusüd¬
wales (durch Akte vom 20. Mai 1840) die Strafe wieder abgeschafft war, und
als in der Kapkolonie, die nun dafür ins Auge gefaßt worden war, bei Ankunft
der ersten Schiffsladung von Sträflingen geradezu eine Empörung gegen die
Regierung ausbrach, sodaß das Schiff von London aus nach Vandiemensland
geschickt wurde (1843/49), hat sich selbst England genötigt gesehen, die eigentliche
Deportation aufzugeben. Das Wesen dieser alten Deportation können wir am
besten mit dem deutschen Worte Zwangsansiedlung bezeichnen. Die Geschichte
der Kolonisation in neuerer Zeit lehrt also, daß sich diese Zwangsansiedluug
nicht bewährt hat. Was dann nach 1850 in England an die Stelle jener
alten Deportation trat, die zuerst (unter Karl II. und Jakob II.) nach West¬
indien und Nordamerika geleitet wurde, das können wir nur bezeichnen teils
als Unterbringung von Sträflingen in Zuchthäusern, die außerhalb Eng¬
lands oder Europas liegen, teils als freie Ansiedlung, die nicht mehr als
Strafe, sondern als Belohnung für gutes Verhalten uach einer aus diesem
Grunde abgekürzten Strafzeit zu betrachten ist. Einen ganz andern Charakter
als jene alte englische trägt die neuere französische Deportation. Bei dieser
herrscht der Straf-, genauer ausgedrückt der Sicherungsgedanke vor, während in
der englischen der Besiedlungszweck der ursprüngliche und immer vorherrschende
gewesen ist. Beide Zwecke, der der Strafe und der der Besiedlung liegen in der
Geschichte der Deportation aber so nahe zusammen, daß ihre Vermischung sehr
natürlich erscheint; und doch bildet gerade diese den Hauptgrund, weshalb man
bei der mit Recht immer wieder aufgeworfnen Frage über die Zweckmäßigkeit
dieser Strafe zu falschen Ansichten und Vorschlägen gelangen muß.
Wir können es daher für die Klärung dieser Frage nur als vorteilhaft
betrachten, wenn einer ihrer eifrigsten und unermüdlichsten Verfechter, Professor
Friedrich Felix Brück in Breslau, in seiner neuesten Schrift hierüber: Die
gesetzliche Einführung der Deportation im Deutschen Reich (Breslau,
1897) namentlich die juristisch-technische Seite der Frage ins Auge faßt und
erörtert, während er mit seiner frühern Schrift: Neudeutschland und seine
Pioniere (Breslau, 1896) hauptsächlich die koloniale Seite berücksichtigt hatte.
Freilich sieht der Verfasser in seinem Eifer für die von ihm lebhaft vertretne
Sache wohl zu rosig, wenn er sich jetzt auf die juristisch-technische Erörterung
deshalb beschränken zu können meint, weil über die durchschlagende Kraft der
für die andre Seite aufgeführten Gründe kein Zweifel mehr sei. Im Gegen¬
teil, wir fürchten, daß gerade von den Kolonialfreunden gegen einen etwaigen
Versuch, seine Deportationsvorschlüge zu verwirklichen, der entschiedenste Wider-
stand geleistet werden würde. Es ist auch kaum anzunehmen, daß sich diese
Abneigung gegen die Aufnahme von Sträflingen in den Kolonien selbst — die,
wie wir schon gefehen haben, in Afrika wie in Australien schon einen geschicht¬
lichen Boden hat — durch die Ausführungen des neuesten Bruckschen Buches
verringern werde. Brück will, was das wichtigste an der wirtschaftlichen
Seite seiner Vorschlage ist, nach § 1 der von ihm entworfnen „Ausführungs¬
verordnung zum Deportatiousgesetze" die Arbeit der Sträflinge nach drei
Richtungen hin verwerten lassen: 1. zu einzelnen Unternehmungen, 2. in be¬
sondern Straffarmen und 3. zu Arbeiten im öffentlichen Interesse, zu denen
er namentlich den Bau von Eisenbahnen, Hafenbauten und Berieselungsanlagen
in Südwestafrika rechnet. Ausführlich spricht sich dann die „Verordnung"
nur noch über die „Straffarmen" aus. Was unter den „einzelnen Unter¬
nehmungen" zu verstehen sei, darüber ist nichts bestimmtes gesagt. Es läßt
sich aber wohl annehmen, daß damit die Vergebung von Sträflingsarbeits¬
kräften an private Unternehmer, namentlich zum Ackerbau, also an schon an¬
sässige freie Kolonisten gemeint ist. Gerade diese, von Brück gegen die beiden
andern Arten etwas nebensächlich behandelte Form der Verwertung der Sträf¬
lingsarbeitskräfte ist die gewesen, die in der Geschichte der Kolonisation
Australiens die erfolgreichste Rolle gespielt hat. Man findet sie dort unter
der Bezeichnung der Assignation, und sie bestand darin, daß die in Votanybai
ausgeschifften Sträflinge einzeln dortigen Ansiedlern zu beliebiger Verwendung,
also als gezwungne Knechte, überwiesen wurden. Man rühmte ihr nach, daß
sie eine individualisirende Behandlung der Sträflinge ermögliche, ja geradezu
verlange, und daß dieser die zahlreichen günstigen Erfolge zu danken gewesen
seien, die sich in der nachhaltigen Besserung der Sträflinge und ihrer Um¬
wandlung in fleißige Arbeiter herausgestellt hätten, denen nach verbüßter oder
auch abgekürzter Strafzeit die Ansiedlung als freie selbständige Kolonisten nicht
nur erlaubt, sondern auch erleichtert werden konnte. Wenn man nun aber
wieder bedenkt, welche großen Vorteile diese Zuweisung von wohlfeilen Arbeits¬
kräften in einem Erdteil, wo diese so teuer und selten waren, in sich schloß,
so ist es doppelt merkwürdig, daß trotzdem die freien Ansiedler so bald auf
diese materielle Unterstützung nicht nur verzichteten, sondern sich mit Händen
und Füßen dagegen wehrten, wie sie dies dann in der Kapkolonie von vorn¬
herein thaten, obgleich man dort 1348 gerade eine solche Verteilung der vom
„Neptune" dorthin gebrachten etwa dreihundert Sträflinge beabsichtigte und in
Aussicht stellte. Schon hieraus könnten wir also den Beweis entnehmen, der
auch heute uoch durch Befragung jedes uninteressirten Kolonialfreundes zu er¬
halten ist, daß sich eine freie Besiedlung mit dieser Form ihrer Unterstützung
niemals befreunden wird. Außerdem scheint aber diese Form anch dem Straf¬
zweck viel zu wenig Rechnung zu tragen, als daß man jemals versuchen
könnte, sie an die Stelle einer harten und entehrenden Strafe zu setzen. Die
bloße Deportation hat aber auch von den Schrecken, die sie vor hundert
Jahren für breite Volksschichten haben mochte oder konnte, sehr viel verloren.
Es giebt heutzutage außerhalb der arktischen Breitengrade kein Laud und ins¬
besondre keine Kolonie mehr, die in einer so weltfernen Abgeschiedenheit zu
denken wäre, wie die damals erst mit einer etwa achtmonatigen Segelschiffahrt
zu erreichende Botanybai; und die nähere Bekanntschaft mit den fremden Welt¬
teilen hat von ihren früher ins maßlose übertriebnen Schrecken und Gefahren
nur soviel übrig gelassen, als geeignet ist, einen gewissen Reiz nicht zum
wenigsten auch auf Verbrechernaturen auszuüben. Dem müßte dadurch ent¬
gegengetreten werden, daß Verbrecher zur harten Arbeit in der Form der
staatlichen Strafknechtschaft gezwungen werden.
Es blieben also nur die beiden andern Arten der von Professor Brück
empfohlnen Sträflingsbeschäftigung: Straffarmen und öffentliche Arbeiten.
Von der ersten gilt nun aber im allgemeinen dasselbe, was wir soeben über
die Einzelverwendung von Sträflingen in schon bestehenden Ansiedlungen ge¬
sagt haben. Professor Brück fügt seiner letzten Schrift als Anlage (III) hinzu
eine Auseinandersetzung mit dem Grafen Joachim Pfeil über dessen Aufsatz:
„Betrachtungen über die Anlegung einer Strafkolonie in Südwestafrika" (Kolo¬
niales Jahrbuch, Band IX, Seite 201). Es handelt sich dabei für Brück
hauptsächlich um die von ihm als zweifellos hingestellte Möglichkeit, selbst in
dem 835100 Geviertkilometer (also etwa doppelt so viel, als das Deutsche
Reich umfaßt) großen Gebiete von Deutschsüdwestafrika den erforderlichen
Raum für etwa 10000 Sträflinge, mit etwa 20 Morgen auf den Kopf, für
die Straffarmen zu finden und ferner von 20 bis 40 Hektar auf den Kopf
etwa für 5000 Sträflinge, die nach Verbüßung ihrer Strafzeit angesiedelt
werden sollen. Dabei haben übrigens beide Herren einen durch die Verwechs¬
lung von Morgen und Hektar verschuldeten Rechenfehler übersehen. Es handelt
sich im ganzen nicht um 400000 Morgen, sondern um mindestens 600000
bis eine Million Morgen! (200000 für 10000 Sträflinge mit je 20 Morgen,
und 5000 mal 20 oder 40 Hektar, von denen ja jeder 4 Morgen enthält,
400000 Morgen oder das Doppelte 800000 für die nach ihrer Entlassung
anzusiedelnden Sträflinge.) Wenn nun auch Brück meint, es handle sich zu¬
nächst gar nicht um diese großen Zahlen, sondern nur um einen kleinen, mit
ein Paar hundert Sträflingen zu machenden Versuch, so würde doch bei der
von ihm befürworteten gesetzlichen, also auf lange Dauer berechneten Einfüh¬
rung dieser Art von Deportation jedenfalls auch der Gesamtbedarf an Land
von vornherein ins Auge zu fassen sein. Und da ergiebt sich aus der Karte
zu Graf Pfeils „Orientirungsreise," daß überall an den erwähnten Gebieten
schon Nachbarn sein würden, die sich ganz entschieden gegen die Nachbarschaft
von Sträflingen zur Wehr setzen würden. Man kann ferner mit Brück darin
übereinstimmen, daß dieser Widerstand da, wo er aus dem englischen oder
portugiesischen Interessenkreise käme, für eine Maßregel des Deutschen Reichs
nicht von entscheidender Bedeutung wäre, und daß er selbst du, wo er aus
deutsch-kolonialen Kreisen stammte, schließlich überwunden werden müßte, wenn
es sich um eine große, dem Vaterlande wie dem Schutzgebiete zu gute
kommende Maßregel handelte. Aber er übersieht dabei, daß es sich unter allen
Umständen nur um eine vorübergehende gesetzliche Einrichtung handeln könnte,
mögen die ersten Versuche so günstig ausfallen, wie sie wollen, und mag das
System auch einige Jahre oder Jahrzehnte durchgeführt werden können. Denn
es kann nach dem heutigen Stande der Kolonialersahrungen keinem Zweifel unter¬
liegen, daß sich jedes Land, das sich zur freien Selbstansiedlung europäischer
Arbeiter eignet, wie z. B. Deutschsüdwestafrika, auf die Dauer die Einfuhr
von Sträflingen als Ansiedler nicht gefallen lassen wird, und daß es, wenn
dies dennoch fortgesetzt werden sollte, entweder zu Gewaltthätigkeiten führen
oder die freien Ansiedler verscheuchen müßte.
Da es sich nach Brucks eignem Zugeständnis zunächst nur um Versuche
in kleinerm Maßstabe handeln soll, so braucht man nicht gleich die Reichs-
strafgesetzgebnng in einem ihrer wichtigsten Teile, dem Strafvollzuge, zu ändern,
denn es würde sich wenigstens in Bezug auf das hier ins Auge gefaßte Schutz¬
gebiet doch nur um ein in absehbarer Zeit wieder aufzuhebendes System han¬
deln, und überdies ließe sich das wesentliche des von Brück angestrebten
Zweckes auch anders und weniger anspruchsvoll erreichen. Mau brauchte nur
die Insassen deutscher Zuchthäuser (allerdings nicht auch die der Gefängnisse, wie
Brück will) zu öffentlichen Arbeiten in den Kolvnialgebieten zu verwenden.
Es soll nicht geleugnet werden, daß auch hierfür der vorherige Erlaß
eines Reichsgesetzes wünschenswert wäre, vor allem um die Einführung einer
solchen Deportation nicht als bloße Verwaltuugswillkür erscheinen zu lassen.
Indes dürfte, wenn man vorher zu einer Einigung über die unzweifelhaft be¬
deutenden Kosten dieser Maßregel gelangt wäre, die Abfassung eines solchen
Gesetzes nicht allzuviel Schwierigkeiten machen. Das Gesetz brauchte gar nicht,
wie Brück will, als eine Änderung hinter Z 16 des Reichsstrafgesetzbnches
eingeschoben zu werden, es könnte sogleich selbständig erscheinen, und zwar als
erster Teil eines dringend notwendig gewordnen Neichsgesetzes über die ein¬
heitliche Regelung des Strafvollzugs. Da nach dem heutigen Zustande dem
zu Zuchthausstrafe Verurteilten kein Anspruch daraus zusteht, sich selbst ein
Zuchthaus zu wählen, so könnte das Reich oder ein Bundesstaat, natürlich
mit Genehmigung des Reichs, da das Kolvnialgebiet dein Reiche untersteht,
beschließen, Zuchthausgefangne allgemein in beliebiger Zahl oder nach be¬
stimmten Kategorien in einem auf Kolonialgebiet zu erbauenden Zuchthause
unterzubringen; und ferner, da die Möglichkeit, Zuchthnusgefcmgne zur soge¬
nannten Außenarbeit zu verwenden, schon jetzt durch das Neichsstrafgesetzbuch
vorhanden ist, so ließe sich diese Außenarbeit auch auf die deportirten Sträflinge
ohne weiteres übertragen.
Für einen Versuch in dieser Richtung bedürfte es also zunächst keiner
weitläufigen gesetzgeberischen Vorarbeiten. Es würde nur erforderlich sein, daß
sich eine unsrer Kolonisationsgesellschaften bereit fände, das nötige Kapital
daran zu wagen, um eine oder mehrere Schiffsladungen von Zuchthaussträf¬
lingen — die natürlich in Bezug auf Arbeitsleistung und klimatische Wider¬
standsfähigkeit ausgesucht sein müßten — zur Ausführung bestimmter größerer
Arbeiten, sei es zum Bau von Eisenbahnen oder andrer Verkehrswege, zu
Hafenanlagen oder Berieselungsanlagen in ihr Gebiet zu bringen und dort an¬
gemessen unterhalten und bewachen zu lassen. Dann würden ihre Arbeitskräfte
der Kvlonisationsgesellschaft ebenso oder in noch höherm Grade zur Verfügung
stehen, wie die gegenwärtige Zuchthausarbeit den einzelnen Betriebsunter¬
nehmern, und das obendrein, ohne der freien Arbeit Abbruch zu thun. Es ist
daher kaum anzunehmen, daß sich irgend ein Widerspruch gegen diese Art der
Verwendung von Sträflingen erheben würde. Daß man auch vom Standpunkte
des Rechts und der Billigkeit, den der Staat selbstverständlich auch Sträf¬
lingen gegenüber festzuhalten schuldig ist, dagegen nichts einwenden könnte,
glauben wir oben nachgewiesen zu haben.
Wenn erst einmal dieser praktische Weg in der Deportationsfrage ein¬
geschlagen werden würde, so würden wir höchst wahrscheinlich auch bald zu
Erfahrungen gelangen, die zunächst unsrer Strafrechtspflege zu gute kommen
müßten, vielleicht auch das wirtschaftliche Aufblühen eines unsrer Schutzgebiete
befördern könnten. Nur muß das maßgebende immer der strafrechtliche Stand¬
punkt sein und bleiben, weil es sich doch eben um ein Strafmittel handeln
soll; der Zweckgedanke des etwaigen kolonialen Vorteils darf nicht zur Grund¬
lage genommen werden. Wir würden dann denselben praktischen Weg gehen,
auf dem in England die Deportation, oder wie die Engländer bestimmter sagen,
die Transportation entstanden und groß geworden ist. Sir Edmund Du Cane,
der Chef des englischen Gefängniswesens, sagt in seinem Buche: ?lliÜ8eim,«Zitt
g-na ?rsv<zMvQ ot' Oriens (London, Macmillan Co., 1885) in Kapitel 5:
?rg.iiLxort,g.tioQ (S. 110): „Es (dieses System) wurde nicht eingeführt auf
Grund irgend welcher a priori-Erwägungen, nicht um abstrakten theoretischen
Grundsätzen zu folgen, sondern es ist erwachsen, wie die meisten andern eng¬
lischen Einrichtungen, durch allmählich auf einander folgende Änderungen und
Verbesserungen, die gemacht wurden in Übereinstimmung mit den wechselnden
Zuständen des Landes und den Anforderungen der öffentlichen Meinung, und
kann augesehen werden als Ergebnis des Gedankens und der Überlegung einiger
unsrer größten Staatsmänner, die geleitet und unterstützt werden durch die
Erfahrung derjenigen, deren praktisches Verhältnis zu dem Gegenstande sie in
den Stand gesetzt hatte, ihn auf die Art zu studiren, in der allein brauchbare
.Kenntnis gewonnen werden und gesunde Ansichten sich bilden können."
Was die oben erwähnte prinzipielle Frage betrifft, ob das Deutsche Reich
berechtigt sein würde, ohne eine Änderung des Strafgesetzes Sträflinge zur
Arbeit in die Kolonien oder Schutzgebiete zu schicken, so ist es von Interesse,
hier bei Du Came zu lesen, wie in England die erste Schwierigkeit umgangen
wurde, die darin lag, daß eine „gezwungne Verbannung" (LOMpuIsor^ bimisn-
niMt) sür jeden englischen Bürger durch die Naxna ob-irtg. geradezu aus¬
geschlossen war. Man half sich hier, schon unter Jakob I. dadurch, daß man
strafwürdiger Personen die Selbstverbannung empfahl, indem man ihnen nur
die Wahl zwischen dieser und dem Hängen ließ. Da unter solchen Umstünden
gewöhnlich das erste vorgezogen wurde, bürgerte sich diese Verbannung, die
zuerst nach der Insel Barbados und den jetzigen Staaten Maryland und New
Uork in Nordamerika gerichtet wurde, immer mehr ein. Dabei sollte es in
der ersten Zeit diesen Personen selbst überlassen bleiben, wie sie ihre „Selbst¬
verbannung" bewerkstellige!, würden, d. h. sie mußten auf ihre eignen Kosten
abfahren. Nur notgedrungen und widerwillig ging die damalige englische
Negierung dazu über, diesen Transport selber zu übernehmen, aber die Kosten
zog sie wie Armeukosteu von den betreffenden Heimatsgemeinden wieder eim
Sehr bald übergab sie den Transport in öffentlicher Auktion den Mindest-
svrderndcn, wobei bald der Preis von zwanzig Pfund Sterling auf den Kopf
der gewöhnliche wurde. Es wurde, wie Du Cane berichtet, ein förmlicher
Sklavenhandel mit diesen Verdingungeu getrieben, und die Sterblichkeit auf
den Transportschiffen erreichte eine erschreckende Hohe; nur dadurch wurde sie
verringert, daß die braven Unternehmer einen Teil der von ihnen in Bristol
an Bord genommnen Sträflinge in Lundy Island, also noch auf englischem
Boden, wieder ans Land setzten. Welchen Umfang aber diese Verschickung
annahm, als man erst Australien dafür als geeignet befunden hatte, ersieht man
daraus, daß in den fünfzig Jahren von 1788 bis 1838 134308 Sträflinge
dorthin transportirt wurden (also etwa 2700 auf jedes Jahr, wovon aber z. B.
auf 1831: 4920, auf 1838 schon nur noch 3805 kommen ^Du Cane a. a. O.
S. 111^). Wenn man diese Zahlen mit den so äußerst primitiven Anfängen
der „Transportation" vergleicht, so sieht man bald, welche Erfolge sich auf
diesem Wege des rein praktischen Vorgehens erreichen lassen.
Wenn aber dieses Deportationssystem selbst in dem an Kolonien so reichen
England keine dauernde Einrichtung hat werden können, sondern sich eine all¬
mähliche Um- und Zurückbilduug hat gefallen lassen müssen, so könnten diese
geschichtlichen Lehren und Erfahrungen doch Deutschland davon abhalten, ab¬
gestorbne Einrichtungen von neuem wieder ins Leben zu rufen. Professor
Brück meint in seiner letzten Schrift, außer Professor Voruhak (der sich auf
dem letzten Juristentag zu Gunsten der Deportationsstrafe ausgesprochen hat)
habe noch niemand daran gezweifelt, daß Zuchthaus- und Deportativnsstrafe
verschiedne Strafarten seien. Wir erlauben uns ebenso, daran zu zweifeln,
wenn man den Standpunkt berücksichtigt, daß die Deportationsstrafe erst ge-
schaffen werden soll. Sicherlich könnte man sie so gestalten, daß sie eine andre
Strafart darstellte, und Professor Brück scheint auch auf dem Wege zu dieser
Ansicht zu sein. Man braucht nur den kolonialpolitischen Zweck mit zu berück¬
sichtigen und der Frage näher zu treten, die Verbrecher nach verbüßter Straf¬
zeit, mag diese voll ausgehalten oder auf Grund guten Betragens usw. ab¬
gekürzt sein, als freie Menschen anzusiedeln. Das ist das englische System
der tiolcst-0k-l6g.vo'8-insrl, von dem Du Cane a. a. O. mit Recht bemerkt, daß
eine sofortige Urteilsvollstreckung auf Deportation mit diesem System im
Hintergrunde mehr einer Belohnung als einer Strafe ähnlich sehe. Da die
freigelassenen Verbrecher oft mit staatlicher Unterstützung von vornherein in
eine viel günstigere Lage kamen, als der freiwillig ins Land gekommne Farmer,
so ist in allen englischen Kolonien gegen die Verbrecheransiedlungen und vor
allem gegen die Ansiedlung vorläufig beurlaubter (mit ticckst c>k Isave- Ver¬
sehrter) eine tiefgehende Erbitterung entstanden. Diese Stimmung ist auch
schon in unsern Schutzgebieten zu bemerken, wenn von Deportationen gesprochen
wird. Die eben erwähnte Rückbildung im englischen Strafrecht hat aber gerade
dazu geführt, daß aus der praktischen Handhabung der Deportation ein Begriff
gewonnen und ausgeschieden ist, der als die allgemeine und einheitliche Grund¬
lage derjenigen Strafart dient, die in der englischen Strafvollziehung der
Zuchthausstrafe des Deutschen Rechts entspricht: das ist der Begriff der psnal
ssrvituäs (Strafknechtschaft), womit jede auf fünf Jahre und darüber lautende
Freiheitsstrafe bezeichnet wird (Akte von 1864). Die Bezeichnung erinnert an
die Art von Einzelknechtschaft, die wir oben bei der Transportation nach
Australien unter dem Namen des Asstgnationssystems erwähnt haben.
Wenn so die Engländer aus den praktischen Erfahrungen der Transpor¬
tation zur Strafe der Zwangsarbeit gekommen sind, so wird Professor Brück
sich nicht wundern dürfen, wenn außer Professor Bornhak auch noch andre
die Zuchthausstrafe unsers Strafrechts für nicht so verschieden von der De¬
portation halten, um darin verschiedne Strafarten zu erkennen. Die Zucht¬
hausstrafe ist eine mit Entehrung verbundne Entziehung der Freiheit; dabei
ist der Staat befugt, den Bestraften an einem beliebigen Platze festzuhalten und
ihn dort zu einer seine Kräfte völlig in Anspruch nehmenden harten Arbeit
anzuhalten, deren Auswahl und Bestimmung sich nicht nach den Neigungen
oder Fähigkeiten des Bestraften, sondern lediglich nach den Bedürfnissen und
Anordnungen der zuständigen Staatsbehörde zu richten hat. Vollständig unter
dieselbe Begriffsbestimmung fallen würde aber eine Deportation, wie wir sie
oben empfohlen haben, und die wir auch nach unserm jetzigen Rechtszustande für
zulässig halten würden, wenn die Geldmittel dazu von irgendwelchen, privaten
oder öffentlichen Unternehmern zur Verfügung gestellt würden. Daß das
Deutsche Reich oder der betreffende Bundesstaat hierbei die Kosten der Be¬
wachung der Sträflinge allein zu tragen und nur die Kosten ihrer Verpflegung
in Form einer Arbeitsvergütung von den betreffenden Unternehmern einzuziehen
Hütte, erscheint unbedenklich, da es diese Kosten ja auch in der Heimat zu tragen
Hütte. Es blieben also eigentlich uur die Kosten der Hiuschaffung, während
die der spätern Zurückschaffung aus dem heute schon bestehenden sogenannten
Arbeitsüberverdienst des Sträflings zurückzulegen wären. Nur darf vor allen
Dingen hier kein Anspruch des Sträflings anerkannt werden, nach verbüßter
Strafzeit in der Kolonie bleiben zu können, wohl gar mit staatlicher Lcmd-
cmweisuug usw. Im Gegenteil dürfte das Verbleiben als freier Mann in der
Kolonie nur auf den Nachweis eines festen längern Arbeitsvertrages mit einem
ansässigen Kolonisten als Ausnahme hingestellt werden, und zwar so, daß Ver¬
letzung dieses Arbeitsvertrags Zwangsrückführung zur Folge hat.
Man kann behaupten, daß von einer derartigen Bereitstellung europäischer
Arbeitskräfte die Schutzgebiete oder Kolonien auch Vorteil haben und diese
Arbeitskräfte auch gebrauchen würden, selbst wenn ihnen einheimische Arbeitskräfte
oder Kukis zu Gebote stünden; hat doch ein Sachverständiger wie Graf Pfeil in
dem genannten Aufsatz ausdrücklich erklärt, daß gerade für die hier in Frage
kommenden Arbeiten (Eisenbahnen, Hafenbauten, Berieselnngsanlagen) euro¬
päische Arbeitskräfte immer den besten außereurvpüischeu vorzuziehen seien.
Die gesetzliche Zulüssigkeit derartiger Versuche würde sich nach § 15 des
deutscheu Reichsstrafgesetzbuchs freilich nur auf die zu Zuchthaus verurteilten
Personen erstrecken. Brück will mit seinen gesetzgeberischen Vorschlägen die
Deportationsstrafe sowohl an Stelle der Zuchthaus- als auch der Gefängnis¬
strafe durch Gesetz und Urteil treten lassen, um die notwendige Auswahl der
Arbeitstüchtigeu möglichst zu erleichtern. Allein dem gegenüber ist doch zu
bemerke», daß es sich zunächst nur um Versuche handeln kann, wie selbst
dieser eifrige Verfechter der Deportation gelegentlich zugiebt, und dann, daß
die höchste Gefängnisstrafe (fünf Jahre) hinter der Zeit zurückbleibt, die Brück
als kürzeste Dauer der Deportation festsetzen will (sieben Jahre). Es wäre
also von vornherein nötig, ein gewisses Verviclfältigungsverhältuis festzusetzen,
wonach die auf Gefängnis bemessenen Strafen unsers Reichsstrafgesetzbuchs in
Deportationsdauer umzuwandeln wären. Ein solches Verhältnis giebt indes
Professor Brück nicht an; und es würde dadurch jedenfalls eine bedenkliche
Lücke im Gesetz entstehen, die gegen den Rechtsgrundsatz wäre: mutig, xoiziig.
Lins 1sg'«z. Doch ist das Brucksche System zu wohl überlegt, um hier eine
bloße Nachlässigkeitslücke zu vermute»; es steht vielmehr etwas andres dahinter,
freilich gerade das, was wir im kolonialpolitischen Interesse unbedingt ver¬
werfen müssen: das tielcst-ol-lökvs-System. Es wäre eine große Härte, wenn
das Gericht an Stelle einer Gefängnisstrafe von zwei bis drei Jahren sieben¬
jährige Deportation mit Zwangsarbeit setzen könnte, ohne den All der Aus¬
führungsverordnung (S. 16 der Schrift) anzuwenden: „Bei tadelloser Führung
können die Sträflinge auch bedingungsweise an selbständige Ackerbauer auf
deren Antrag in Dienst gegeben werden." Das wäre also das vollständige
Assignatioussystem, das doch in Australien so vollständig Bankrott gemacht
hat. Darnach würde das Schicksal des einmal deportirten Sträflings nicht
mehr davon abhängen, wie das Gericht nach dem Gesetz seine Strafthat be¬
wertet hat, sondern davon, inwieweit er durch Arbeitsgeschick, Fleiß und Folg¬
samkeit, vielleicht aber auch durch Liebedienerei und Heuchelei das Wohlwollen
seiner Aufseher zu gewinnen versteht. Dem bloßen Verwaltungsermessen würde
uach der Bruckschen Ausführungsverordnung ein unmöglicher Spielraum ge¬
lassen sein. Man kann es doch nicht vom „guten Betragen" abhängig machen,
ob z. B. ein ursprünglich nur wegen Körperverletzung zu einigen Monaten
Gefängnis Verurteilter der vollen Deportationsstrafe von sieben Jahren ver¬
fallen sein soll, und dagegen ein wegen Totschlags oder Mordes zu lebens¬
länglicher Zuchthausstrafe Verurteilter nur mit drei Jahren Zwangsarbeit soll
davon kommen können, um dann nur als Knecht bei einem Kolonisten noch
einige Zeit dienen zu müssen, dann aber ein freier Mann werden zu können!
Außerdem vernachlässigt Brück ganz die von der Erfahrung des englischen
Transportationsshstems in der letzten Zeit für unbedingt notwendig gefundnen
Übergangsstufen und -formen der Strafe. Jeder auch zur Transportation
Verurteilte mußte erst die harten er^ininA-Monate (Einzelhaft mit hartem
Lager) in Pentonville durchmachen und kam dann erst in eins der oonvivt-
Gefängnisse, die man zu diesem Zwecke in Gibraltar und auf den Bermudainseln
angelegt hatte. Erst von dort erfolgte, wenn der Sträfling sich sonst dazu
geeignet erwies, die Überführung nach Südaustralien, später Bandiemensland
und zuletzt Westaustralien.
Wenn Brück an die Stelle dieser ganzen Übergangs- und Probezeit nur
(in Art. IV seines Gesetzentwurfs) die körperliche Untersuchung durch den Ge-
richtsphysikus setzen will, so dürfte sich dies Verfahren auch bald als unzu¬
länglich erweisen.
Es läßt sich schon aus diesen einzelnen Ausstellungen entnehmen, welche
Schwierigkeiten eine allgemeine gesetzliche Regelung der Deportatiousfrage
haben würde, sobald man dabei Gebiete im Auge hat, die schon von der freien
Kolonisation besetzt sind. Ganz anders würde die Sache liegen, wenn man
die Deportation lediglich als eine neue Strafart einführen und die für ihre
Regelung maßgebenden Grundsätze allein aus dem Gebiet entnehmen würde,
wohin der Begriff der Strafe allein gehört: dem Strcifrccht. Hier könnte
allein das französische sogenannte Recidivistengesetz vom 27. Mai 1885 als
Vorbild dienen. Voraussetzung dasür würde dann die Anlegung einer eignen,
besondern und nur diesem Zwecke dienenden Strafkolonie sein, für die als ge¬
eigneten Ort Graf Pfeil in einem andern neuern Aufsatz (Kolon.-Jahrb, von
1897, S. 18 ff.) die im Bismarckarchipel liegende Insel Neupommern vor¬
schlügt. Wenn hier auch die tropische Lage harte Arbeit durch Europäer
ausschlicht, so ist doch das Klima derartig, daß die Lebensgeführlichkeit dort
nicht größer ist als in andern gesunden Kolonien. Ein dem Klima angemessener
Arbeitszwang würde sich auch dort schon sür die Sträflinge finden lassen, und
im übrigen weist Graf Pfeil darauf hin, daß sich in den hoher gelegnen Berg¬
gegenden dieser allerdings noch wenig erforschten Insel anch große Strecken
finden müßten, bei denen Bodenbebauung und ähnliche schwere Arbeiten durch
Europäer möglich sein würden. Leider muß aber auch ein Versuch in dieser
Richtung so lauge ausgesetzt bleiben, als es der Reichsregierung nicht gelingt,
sich durch ein Abkommen mit England von der Beschränkung frei zu machen,
die ihr der Staatsvertrag vom 6. April 1836 in der gegenseitigen Zusicherung
der Nichtanleguug von Strafkolonien in diesem Teile der australischen Insel¬
gruppen auferlegt. Der Umstand, daß England es schon vor zwölf Jahren für
wünschenswert hielt, das Deutsche Reich nach dieser Seite hin zu beschränken,
zeigt jedenfalls, daß es damals weiter hinausgedacht hat, als die deutsche
Gründlichkeit glauben mochte, je kommen zu können. Sei es nun aber diese
Insel oder ein andres von freien Ansiedlern nicht ausgesuchtes Gebiet, das
man zur Deportation bestimmen würde, so würde diese unter allen Umstünden
als eine wirkliche und geeignete Strafe für die „Unverbesserlichen" augesehen
werden können. Sache eines besondern Gesetzes würde es dann sein, die Be¬
dingungen und Umstände genau festzustellen, unter denen auf die Unverbesser¬
lichkeit zu schließen ist, und weshalb die lebenslängliche oder zeitweilige Fort¬
schaffung ans dem Gebiete des Deutschen Reiches zur Sicherung seiner Be¬
wohner vor Gewohnheitsverbrechern als gerechtfertigt erscheinen muß. Eine
solche Kolonie würde freilich unmittelbar mit den eigentlichen Kolonisations-
bestrebungcu Deutschlands in keinen: Zusammenhange stehen; aber sie würde
seiner Strafrechtspflege und damit seiner innern Sicherheit in hohem Maße zu
gute kommen und daher die bedeutenden Summen, die diese Einrichtung
unzweifelhaft erfordern würde, auch als nützlich angewendet erscheinen lassen.
Und der mittelbare Vorteil, den durch eine solche reine Strafkolonie die
Machtwirkung des Deutschen Reiches nach außereuropäischen Ländern hin er¬
fahren würde, dürfte sich schon für die Gegenwart bald genug herausstellen;
für die Zukunft aber und bei etwaigen Veränderungen, die spätere Zeiten im
Kolonialbesitz enrvpüischer Länder bringen könnten, würde sich auch eine solche
Kolonie, besonders wenn sie unter erträglichen klimatischen Verhältnissen an¬
gelegt wäre, als ein wichtiger Ausgangspunkt für eine weitere Entwicklung er¬
weisen können.
ünfzig Jahre sind vergangen, seit sich die Schleswig-Holsteiner
gegen die dänische Herrschaft erhuben haben. In diesem Zeit¬
raume hat sich eine geschichtliche Umwälzung von großer Be¬
deutung vollzogen, und mit ihr ist die Geschichte Schleswig-
Holsteius eng verflochten. Die Schleswig-holsteinische Bewegung
stand mit der deutschen Einheitsbewegung im innigsten Zusammenhang, hat
von ihr Anregung empfange» und sie wiederum bestärkt. Die um Schleswig-
Holsteins Befreiung geführten Kämpfe waren eine Probe auf die Stärke des
neuerwachten deutschen Nationalbewußtseins, denn die dänische Herrschaft in
Schleswig-Holstein war ein Überbleibsel aus der Zeit deutscher Uneinigkeit
und Schwäche. Die Rechte der deutschen Schleswig-Holsteiner gegen dänische
Übergriffe zu schützen, wurde bald eine Ehrenaufgabe der deutschen Nation.
War das nationale Selbstbewußscin der Deutschen nicht stark genug, diese
Aufgabe zu lösen, so war es um die viel schwereren Aufgaben, ein einiges,
starkes deutsches Reich aufzurichten und gegen fremde Angriffe zu schützen, noch
schlechter bestellt. Das empfand mau in Schleswig-Holstein und in Deutsch¬
land nach der Niederwerfung der Schleswig-holsteinischen Erhebung, und die
Beschämung hierüber lieferte damals neuen Gärstoff für die deutsche Einheits¬
bewegung.
Um die Rechte Schleswig-Holsteins ist ein erbitterter Streit geführt
worden. Die Dänen wollten von diesen Rechten überhaupt nichts wissen; sie
nannten die Schleswig-holsteinischen Freischärler Insurgenten, die früher dänischen
Beamten und Offiziere, die sich auf die deutsche Seite stellten, Meineider; und
verbissene Deutschfeinde brauchen diese Ausdrücke noch heute. Die Schleswig-
Holsteiner fühlten sich als Deutsche und wollten Deutsche sein. Den Dänen
aber galt der „Gesamtstaat" als eine heilige unverletzliche Einrichtung, darum
auch der Versuch als frivol, diesen Staat zu zertrümmern. Worin bestand
denn überhaupt das Recht der Schleswig-Holsteiner? Das Recht ist nicht
eine ein für allemal feststehende heilige Einrichtung, an der nicht gerüttelt
werden darf. Freilich bedürfen die Staaten zu ihrem Bestehen einer Rechts¬
ordnung, der sich die Wünsche und Leidenschaften der Einzelnen unterordnen
müssen, aber diese Rechtsordnung selbst ist eine Schöpfung der Menschen, die
ihren Bedürfnissen und Anschauungen angepaßt sein muß. Wenn das bestehende
Recht sich einer notwendigen geschichtlichen Entwicklung entgegenstemmt, wird
es zum Unrecht. Dann darf die Berufung auf die Heiligkeit des Rechts umso
weniger den Fortschritt hemmen, als sich in solchem Falle kleinliche Selbstsucht.
Unverstand und Denkträgheit hinter das Recht zu verschanzen pflegen. Die
Stärke eines Staats beruht auf der Zufriedenheit seiner Bürger mit den
staatlichen Einrichtungen, und wenn auch das Ideal einer allgemeinen Zu¬
friedenheit nie erreicht werden wird, so wird doch die Existenz eines Staats
umso mehr gesichert sein, je mehr seine Einrichtungen den Anschauungen des
Volks oder der führenden Kreise des Volks entsprechen, je enger diese durch
gemeinsame Interessen und Bestrebungen, durch die Liebe zum gemeinsamen
Vaterlande mit einander verbunden sind. Als gegen die Mitte des Jahr¬
hunderts in Europa die Nationalitütsbestrebnngen erwachten, mußte den
nationalgesinnten Kreisen Deutschlands und Italiens die Kleinstaaterei als
eine Ungeheuerlichkeit erscheinen. Man war sich in beiden Ländern darüber
einig, daß die Sonderstellung der Kleinstaaten und ihrer Fürsten die Einheits¬
bewegung nicht hemmen durften. Die Einigung vollzog sich nicht in beiden
Ländern genau gleichmäßig, aber sie konnte nur durch die Bekämpfung aller
derer durchgeführt werden, die an der Erhaltung der bestehenden Zustünde
ein Interesse hatten, oder deren Rechtsanschauungen sich mit diesen Zuständen
deckten.
Von diesem Standpunkte aus sollte auch die Schleswig-holsteinische Frage
beurteilt werden. Das Recht der Schleswig-Holsteiner, ihre Trennung von
Dänemark zu fordern, lag in der Unversöhnlichkeit der nationalen Gegensätze
und den daraus entstandnen Unzuträglichkeiten. Die Schleswig-Holsteincr
suchten die Erhebung aus staatsrechtlichen Gründen zu rechtfertigen. Ihre
Vorväter hatten sich vor mehreren Jahrhunderten freiwillig unter die Herr¬
schaft des dünischen Königs begeben, sich aber dabei verschiedne Versprechungen,
die ihre Selbständigkeit sichern sollten, geben lassen, besonders die Zusage, daß
beide Herzogtümer unzertrennbar zusammenbleiben sollten. Auch daß für
Schleswig-Holstein ein andres Erbrecht gelte als für Dünemark, wurde aus
diesen Abmachungen gefolgert. Aber aus der bloßen Personalunion war mit
der Zeit ein viel engeres Verhältnis geworden. Die Dänen betrachteten beide
Herzogtümer als zu Dünemark gehörige Provinzen, wollten nur Holstein etwas
mehr Selbständigkeit gestatten, während sie Schleswig umso fester mit Däne¬
mark zu verbinden suchten. Die Schleswig-Holsteiner glaubten, daß sie beim
Aussterben der männlichen Linie des dänischen Königshauses rechtlich ihre
Trennung von Dänemark würde» fordern können. Die Dänen suchten dieser
Zerstörung des Gesamtstaats durch eine Regelung der Erbfolgefrage in ihrem
Sinne vorzubeugen. Dies rief den heftigen Widerstand der Schleswig-Hol¬
steiner hervor. Aber die Rechtsauffassung der Schleswig-Holsteiner war neu;
sie war die Frucht des nationalen Streites. Die Schleswig-Holsteiner hatten
in frühern Jahren keinen Wert auf ihre staatliche Selbständigkeit gelegt. Sie
waren stolz darauf gewesen, zu Dänemark zu gehören, und kämpften während
der deutschen Befreiungskriege unter dänischen Fahnen auf Napoleons Seite.
Und noch in den dreißiger Jahren, als Uwe Lornsen seine Schrift über die
Rechte der Herzogtümer herausgab, hielt die große Mehrzahl der Schleswig-
Holsteiner treu zu Dänemark und wollte von den „revolutionären" Be¬
strebungen nichts wissen. Erst später trat ein vollständiger Umschwung der
Stimmung in Schleswig-Holstein ein.
Der Streit um das fürstliche Erbrecht in Schleswig-Holstein ist, obgleich
längst gegenstandslos, noch vor kurzem in eigentümlicher Weise wieder auf¬
gefrischt worden. In einer angesehenen englischen Zeitschrift, dem ^instsoutli
Oentur^, erschien im vorigen Jahre ein Artikel aus der Feder unsers Lands¬
mannes Max Müller, worin dieser, Bezug nehmend auf das Jansen-Samwersche
Buch über die Befreiung Schleswig-Holsteins, das Recht des verstorbnen
Herzogs Friedrich von Augustenburg auf die Schleswig-holsteinische Herzogskrone
nachzuweisen suchte. Diese Veröffentlichung soll Prinz Christian von Schleswig-
Holstein, der Schwiegersohn der englischen Königin, veranlaßt haben. Wie
weiter berichtet wird, fühlte die Gemahlin des englischen Thronfolgers, Prin¬
zessin Alexandra von Wales, die dänische Königstochter, sich durch diese Ver¬
öffentlichung verletzt. Sie ließ bei einem Besuch am Hofe ihres Vaters den
dänischen Reichsarchivar Jörgensen, einen gebornen Nordschleswiger und
eifrigen Deutschenhasser, zu sich kommen und bat ihn, eine Widerlegung der
Darstellung Max Müllers zu schreiben, für deren Aufnahme im MnötssiM
Lsnwr/ sie dann sorgen werde. Jörgensen übernahm diesen Auftrag mit
Freuden und hat ihn mit viel Geschick und Scharfsinn ausgeführt. Der vou
ihm verfaßte und bald darauf im ^mstösrM «üonwry erschienene Artikel legte
in korrekter Weise die dänischen Rechtsanschauungen dar.
Dieser Streit um die Erbrechte der Fürstenhäuser Glücksburg und
Augustenburg, der sonach zu einem häuslichen Streit in der englischen Königs¬
familie geworden ist, kann uns Deutsche kalt lassen. Man kann es begreifen,
daß die fürstlichen Personen, die durch ihr Verwandtschaftsverhältnis daran
beteiligt sind, lebhaftes Interesse an der Erörterung dieser Frage finden. Man
kann es auch begreifen, daß die Dänen, die noch immer sehr feindselig gegen
Deutschland gesinnt sind, eine Genugthuung darin finden, alles hervorzusuchen,
was ihnen zur Bestätigung ihrer Ansichten genügend erscheint, um sich immer
wieder schwarz auf weiß beweisen zu lassen, daß ihnen himmelschreiendes Un¬
recht angethan worden ist. Übrigens giebt es viele Dänen, die derartigen
Beweisen keinen großen Wert mehr beilegen und sich für die Forderung der Rück¬
gabe Nordschleswigs ganz auf das Recht des Nationalitätsprinzips berufen,
das Dänemark damals nicht anerkennen wollte. Für uns Deutsche aber hat
diese Erbrechtfrage herzlich wenig Bedeutung, weil der thatsächliche geschichtliche
Verlauf für unser Nationalbewußtsein befriedigender ist, als wenn eines jener
beiden Fürstenhäuser heute in Schleswig-Holstein regierte.
Der große verhängnisvolle Fehler der Dänen, der ihnen zum Verderben
geworden ist und ihre Niederlagen verschuldet hat, bestand darin, daß sie die
Zeichen der Zeit nicht richtig verstanden und eine kommende Geschichtsentwick¬
lung nicht voraushaben. In der Staatenbildung und auf volkswirtschaftlichen
Gebiet zeigt sich gegenwärtig ein mächtiger Zug zur „Großwirtschaft." Das
Zusammenballen mächtiger Staatengebilde, deren Kraft auf ihrer nationalen
Einheit beruht, das Erstarken andrer, die durch Anwachsen an Volkszahl und
wirtschaftlicher Kraft immer mehr an Bedeutung gewinnen, läßt für kleine
Nationen nur eine bescheidne Rolle übrig. Sie können im besten Fall ein
friedliches Stilleben führen, wie ja auch heute der Wunsch der Dänen ist.
Sie können bei den großen Welthändeln kein entscheidendes Gewicht in die
Wagschale werfen und dürfen daher am wenigsten den Anspruch erheben, über
einen Bruchteil einer andern größern Nation eine Herrschaft auszuüben, die sie mit
dieser Nation verfeindet. Wie Holland, hat auch Dünemark längst seine politische
Bedeutung verloren, und die Dünen werden es immer besser lernen sich in
das Unvermeidliche fügen. Von dem Zeitpunkt an, wo die dänischen Schleswig-
Hvlsteiner die Unterordnung unter eine fremde Nationalität als Demütigung
empfanden, stand es auch fest, daß die dänische Herrschaft in Schleswig-Hol¬
stein nicht von Dauer sein konnte. Erwägt man dies, so erscheint der Streit
um fürstliche Erbrechte und die ängstliche Berufung auf den Buchstaben des
Rechts ganz überflüssig.
Zur Zeit der Schleswig-holsteinischen Erhebung und schon in den vorher-
gegangnen Jahren, als die nationalen Gegensätze sich immer mehr verschärften,
wurde jedoch dieser Frage eine große Bedeutung beigelegt. Die Schleswig-
Hvlsteiner sahen in der Berufung auf ein besonders von dem dänischen ver-
schiednes Fürstenerbrecht das einzige Mittel, von Dänemark loszukommen, und
die Dänen bekämpften, weil sie die hierin liegende Gefahr erkannten, diese
Anschauungen aufs heftigste. Daher bemühten sie sich umso mehr, das staat¬
liche Band zwischen beiden Ländern unauflöslich zu machen und in diesem
Sinne die Erbrechtsrage zu entscheiden. Aber man darf nicht glauben, daß
scharssinnige juristische Argumentationen sür das Volksgemüt eine überzeugende
Kraft haben; auf beiden Seiten, bei Deutschen und Dänen, stand das Rechts¬
bewußtsein gänzlich im Dienst des Nationnlgefühls. Hätten sich innerhalb des
dänischen Gesamtstaats Deutsche und Dänen so gut mit einander vertragen,
wie in frühern Jahren, so würde die Erbrechtsfrage sie nicht mit einander
entzweit haben.
Monarchisches Gefühl wird oft als eine Eigentümlichkeit des deutschen
Volkes bezeichnet. Auch die Schleswig-Holsteiner und die ihnen nahe ver¬
wandten Dänen haben öfter ein lebhaftes monarchisches Gefühl bethätigt. Aber
die Treue zum Fürsten ist immer bestimmt durch das Zusammenleben und
Zusammenwirken von Fürst und Volk, durch gemeinsame Interessen, durch die
Persönlichkeit des Fürsten. Wenn ein Fürstenhaus ausstirbt und Streitigkeiten
um die Erbfolge entstehen, so pflegt das Volk sich nicht nnr durch formale
Rechtsansprüche, zu deren Prüfung juristischer Scharfsinn gehört, bestimmen
zu lassen, sondern es wird vor allem darnach fragen, welche Stellung der
Thronbewerber zu den großen politischen, das Volk tief bewegenden Fragen
einnimmt. Daß in dem nationalen Kampfe das Haus Augustenburg sich auf
die deutsche, das Haus Glücksburg auf die dänische Seite stellte, hat mehr als
alles andre dazu gethan, das Urteil von Deutschen und Dänen über die er-
hobnen Erbansprüche zu bestimmen.
Von dem Zeitpunkt an, wo der nationale Hader ausbrach, konnte eine
gemeinsame Monarchie nicht mehr dieselbe Anhänglichkeit von den Dänen und
Schleswig-Holsteinern beanspruchen. Es war von den Schleswig-Holsteinern
zuviel verlangt, daß sie einem König Treue und Anhänglichkeit bewahren
sollten, der, um sich in Dünemark die Volksgunst zu sichern, gezwungen war,
Schleswig-Holsteins Rechte zu verletzen und die Schleswig-holsteinische Be¬
wegung gewaltsam niederzukämpfen. In Dänemark herrschte eine stark demo¬
kratische Richtung, die dem König ihren Willen aufzwang, von den Schleswig-
Holsteinern aber im Namen des Königs Gehorsam verlangte. Daß somit die
Heiligkeit der Königswürde vorgeschoben wurde, um den Widerstand zum Treu-
bruch zu stempeln, durfte die Schleswig-Holsteiner nicht davon abhalten, ihre
nationalen Rechte zu fordern.
Der Monarchie als Vollstreckerin des dänischen Volkswillens, der die
energische Unterdrückung des deutschen Nationalgefühls in Schleswig-Holstein
für ein Gebot der nationalen Selbsterhaltung hielt, haben die Schleswig-
Holsteiner auch nach dem Kriege von 1848 bis 1850 einen zähen passiven
Widerstand geleistet. Zu meiner Kindheitszeit war in Schleswig-Holstein von
monarchischen Gefühl wenig zu merken. Freilich war auch der Trüger der
Königswürde persönlich wenig geeignet, Ehrfurcht einzuflößen; sein Wesen und
Auftreten war so unköniglich, wie das eines Fürsten nur sein kann. Dennoch
galt die Geringschätzung, die ihm bezeigt wurde, viel weniger seiner Person
als seiner Stellung. Es war der dänische König, dem man die sonst Fürsten
zu teil werdende Ehrerbietung versagte. In der Erinnerung der Dünen lebt
dieser König, Friedrich VII., freilich uoch heute als der „volkstümliche König,"
aber seine Volkstümlichkeit war nicht die Volkstümlichkeit im edeln Sinne des
Wortes, die mit Wohlwollen und echter Vornehmheit der Gesinnung vereinte
Schlichtheit des Wesens. Er stand seiner Denkweise und Gesinnung nach dem
„gemeinen Mann" näher, als billigerweise ein König sollte. In den bessern
Gesellschaftskreisen Dänemarks nahm man Anstoß an seinem Lebenswandel,
aber man rechnete ihm zum Verdienst an. daß er, jeder Thatkraft bar, den
Volkswünschen kein Hindernis entgegensetzte.
Welchen Gegensatz zu diesem Verhalten der Schleswig-Holsteiner unter
der Dänenherrschaft bildeten ihre schwärmerischen Huldigungen für den Herzog
Friedrich. Sie sind deshalb verspottet worden, aber damals herrschte eben in
Schleswig-Holstein eine Festtagsstimmung. Und obgleich der Herzog Friedrich
eine vertrauenerweckende Persönlichkeit war, so galten doch die Huldigungen
nicht seiner Person allein, sondern zugleich der Nationalitätsidee, deren Trüger
er war. Es machte den Schleswig-Holsteinern auch keine Sorge, daß die
Rechtsansprüche des Herzogs nach der Verzichtleistung seines Vaters anfechtbar
waren. Er war der Mann, dessen man bedürfte; sein Eintreten für das Recht
der Schleswig-Holsteiner gab ihren Bestrebungen einen starken moralischen
Rückhalt. Die Schleswig-Holsteiner haben dann später ihre Anhänglichkeit auf
das Haus der Hohenzollern übertragen, nicht weil sie den preußischen Kron¬
juristen glaubten, sondern weil sie zu der Einsicht kamen, daß die Zugehörig¬
keit zu einem Großstaat der staatlichen Selbständigkeit eines kleinen Ländchens
vorzuziehen sei, und weil die geschichtlichen Ereignisse, sowie auch besonders
der Anteil des preußischen Fürstenhauses daran auf die öffentliche Meinung
in Schleswig-Holstein und in Deutschland mächtig einwirkten.
Ich glaube an dem Beispiel der Schleswig-holsteinischen Bewegung gezeigt
zu haben, daß die Stärke des monarchischen Gefühls immer davon abhängt, wie
die Monarchie den wichtigsten Bestrebungen eines Volkes gegenübersteht. Ein
großer mächtiger Staat mag kleine Bruchteile einer fremden Nationalität ohne
schwere Gefahr für seine Existenz festhalten können. Sind aber zwei oder
mehrere Nationalitüten von annähernd gleicher Volkszahl mit einander in einem
Staatsverband vereinigt, so ist die Existenz des Staats nur so lange gesichert,
als sich die nationale Eifersucht zwischen ihnen nicht regt. Ist der Kampf um
die Rechte der Nationalitäten erst in solcher Schürfe entbrannt, wie zur Zeit in
Österreich, so kann auch die Klammer des monarchischen Gefühls dies Völker-
gemisch nicht auf die Dauer zusammenhalten. In Deutschland haben die Haus-
machtintereffen der kleinen Fürstenhäuser die Schwäche des alten deutschen
Reichs verschuldet. Das Emporwachsen und Erstarken Preußens schuf erst
die Bedingung für die Herstellung eines neuen starken Reichs, weil damit
das Zusammenfallen des Interesses eines einzigen Fürstenhauses mit dem
Interesse des deutschen Volks an der Einigung aller Stämme gegeben war.
Die deutsche Einheitsbewegung mußte die Sonderinteressen, die sich ihr in den
Weg stellten, bekämpfen, wenn auch zuzugeben ist, daß neben der Selbstsucht
viel ehrliche deutsche Treue bei den Anhängern des Alten zu finden war.
Für ein befriedigendes Verhältnis zwischen Monarchie und Volk ist Gemein¬
samkeit der Empfindungen, Anschauungen, Bestrebungen eine wesentliche Be¬
dingung. Sehr viel hängt natürlich auch von den persönlichen Fähigkeiten der
Herrscher und ihrer Ratgeber ab. Dies beweist der Verlauf der schleswig¬
holsteinischen Bewegung wie der deutschen Einheitsbewegung.
In Schleswig-Holstein werden nächstens die deutschen bürgerlichen Par¬
teien einmütig das Fest der Erhebung mit einander feiern, in dem Bewußtsein
der Bedeutung dieses Ereignisses für die Geschichte des Deutschen Reichs. In
uns Ältern erwachen bei dieser Gelegenheit die Erinnerungen an die Jugeud-
oder Kindheitszeit. Wie unbedeutend im Vergleich zu den später von Preußen-
Deutschland geführten Kriegen der Krieg von 1848 bis 1850 sein mochte, für
die Schleswig-holsteinische Bevölkerung hatte er mehr Bedeutung als jeder
andre. Eben weil dieser Krieg noch mehr nach der ältern Kriegsmethode ge¬
führt wurde, weil auf keiner Seite die Kräfte so überwältigend stark waren,
daß ein rasches vollständiges Niederwerfen des Feindes möglich gewesen wäre,
mußte der Krieg sich länger fortspinnen, dauerte die Aufregung in der Be¬
völkerung so viel länger an. Wir Schleswig-Holsteiner haben lebhafter als
die im Reich empfunden, daß die deutsche Einigung nicht bloß eine innere
deutsche Angelegenheit war, daß das Deutschtum um seine Selbständigkeit und
Unabhängigkeit mit fremden Völkern zu ringen hatte. In wie ganz andrer
Stimmung aber, als sie damals in Schleswig-Holstein herrschte, begehen wir
heute die Erinnerungsfeier. Damals hatte das deutsche Volksgemüt sich mit
dem nationalen Hasse gewappnet, der das Deutschtum Schleswig-Holsteins vor
dem Untergehen in einem fremden Volke schützen sollte. Heute haben wir den
Haß längst verlernt und wünschen mit den damaligen Feinden aufrichtig
dauernden Frieden und ein freundnachbarliches Verhältnis, das besonders jetzt
auch den Dänen willkommen sein dürfte.
ehern, die mit dem Preßwesen vertraut sind, braucht nicht gesagt
zu werden, eine wie große und schwierige Aufgabe es sein muß,
die Lebensgeschichte eines hundertjährigen Tagesblattes treu und
lesbar zu verfassen. Welch eine unübersehbare Fülle von Ge¬
druckten und von Briefschaften ist da wenigstens zu durchblättern
und zu sichten, wie vielerlei Gesichtspunkte wollen beachtet sein, damit ein
wahres Bild zustande kommen könne! Und dem Professor Ed. Heyck in
Straßburg, der eine solche Arbeit für die „Allgemeine Zeitung" (früher meistens
schlechtweg „die Augsburger" genannt, obgleich in Augsburg noch andre nam¬
hafte Blätter erschienen) auf sich genommen hat, erwuchsen noch besondre
Schwierigkeiten dadurch, daß man etwas spät den Plan einer Festschrift zum
1. Januar 1898, dem Jahrestage des ersten Erscheinens der Zeitung, gefaßt
zu haben scheint, da der Verfasser erst Mitte August die Archivarbeit beginnen
konnte und „in Dachmansardenräumen bei sommerlicher Bleikammerglut oder
winterlicher Höhenluft" das nicht einmal ganz vollständige Exemplar der
Zeitung zu rate ziehen mußte! Begreiflicherweise hat er auf die Ausbeutung
des Inhalts der wissenschaftlichen Beilage wenigstens vorläufig verzichtet, die
eignes jahrelanges Studium fordern würde. Aber mich bei dem politischen
Stoffe mußte er sich mit Regesten und einer Gruppeneinteilung nach den
Staaten begnügen, mit denen die Redaktion in nähere Beziehungen geraten ist.
Aus diesen Gründen leistet Heycks Buch nicht alles, was zu wünschen wäre.
Doch wird jeder Kundige ihm gern volle Anerkennung für die eifrige Be¬
mühung zollen und vor allem dankbar bestätigen, daß er das (abgesehen von
einiger Vorliebe für lange Perioden) in vorzüglicher Weise geliefert hat, was
das Werk in dem Untertitel verspricht.")
Die Allgemeine Zeitung, oder wie wir sie der Kürze halber von jetzt an
bezeichnen wollen, die A. Z. ist nicht das älteste politische Blatt auf deutschem
Boden; die Wiener Zeitung, das Frankfurter Journal, der Hamburger Korre¬
spondent und vielleicht noch eins oder das andre Organ gehen weiter zurück.
Aber an Bedeutung, an allgemeiner Bedeutung hat keine andre Tageszeitung
sie erreicht, so oft sie auch bald da, bald dort auf engern Gebieten überflügelt
wurde. Die Bezeichnung „allgemein" war für sie kein müßiges Beiwort. Ihr
Begründer, I. Fr. Cotta in Tübingen, legte von Anfang an großen Wert
darauf, daß sich das von ihm geplante Blatt wie durch Vollständigkeit so auch
durch „UnParteylichkeit" über alle in Deutschland erscheinende Zeitungen er¬
heben und jede Überzeugung zu Worte kommen lassen müsse; in diesem Sinne
hatte er Schillern, den er bekanntlich an die Spitze des Unternehmens zu
stellen wünschte, den Titel „Allgemeine Europäische Staatenzeitung" vorge¬
schlagen. Und als noch im Laufe des Jahres 1798 das Weitererscheinen der
von Posselt redigirten „Neuesten Weltkunde" durch ein kaiserliches Verbot
unmöglich gemacht wurde, wählte Cotta für die vou Tübingen nach Stuttgart
verlegte Fortsetzung den Titel „Allgemeine Zeitung."
Diese Titelfrage ist nicht ohne Wichtigkeit. Damals teilte noch die ganze
gebildete Welt die Ansicht, daß eine gute Zeitung den Leser von allen Welt¬
vorgängen unterrichten, „so weit Wahrheit bei einem Stoffe, den man schon
im ersten Moment seines Werdens aufgreifen muß, nur irgend gedenkbar(I)
ist," nur Wahrheit berichten und „jedes Ereignis unter den Gesichtspunkt zu
stellen suchen müsse, auf dem es am richtigsten und deutlichsten aufgefaßt
werden kann" — wie es in dem Prospekt der „Weltkunde" heißt. Erst um
die Zeit von 1840 wurde „Partei, Partei! Wer wollte sie nicht nehmen!"
zum Schlcigworte, und keineswegs nur für den Liberalismus, aus dessen
Reihen es erklungen war. Seitdem ist es so ziemlich zur Regel geworden,
daß der Leser in seiner Zeitung nur seine eignen Ansichten zu finden verlangt,
oder, was noch übler ist, sich von ihr vorschreiben läßt, was seine Ansicht sein
soll. Daß infolge dessen an die Stelle der Parteilichkeit Parteiischkeit getreten
ist, daß man zumeist die Standpunkte andrer nur durch gefärbte Brillen sieht
und sehen will, den politischen Gegner wie einen persönlichen Feind und mit
Haß und Verachtung ansieht, noch ohne ihn zu kennen — wie schädlich das
für das Gemeinwohl wird, und was überhaupt heutzutage für die Verwirrung der
öffentlichen Meinung geleistet werden kann, das hat jeder Unbefangne und
noch Denkfähige, wenn nicht längst schon, aus dem Dreyfuß-Zolaschen Prozesse
deutlich erkennen müssen.
Allerdings kann volle Unparteilichkeit schwerer erfüllt als gefordert werden,
das lehrt auch die Geschichte der A. Z. Sie ist wohl nur selten eigentlich
parteiisch gewesen, Wohl aber parteilich durch die Verhältnisse. Als sie begann,
wurde ganz Südwestdeutschland noch von der Begeisterung für die „neufrän¬
kische" Freiheit beherrscht: dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir durch
den von Holle! herausgegebnen Briefwechsel Ludwig Tiecks sogar den sanften,
„kunstliebenden Klosterbruder" und Berliner Referendar Wackenroder als kleinen
Revolutionär kennen lernen? Und ist nicht der Anblick der Ruinen von Heidel¬
berg, Speyer und Worms bis in neue Zeit außer Stande gewesen, die Franzosen¬
schwärmerei in der Pfalz auszurotten? Bei den Nheinbündlern kam der Par¬
tikularismus der Bewunderung für den ersten Napoleon zu Hilfe. Auch die
Hinneigung zu Österreich hatte und hat ja als letzten Grund die Abneigung
gegen preußisches Wesen und die Furcht vor preußischer Einverleibung. Außer¬
dem mußte Cottci als Württemberger mit seiner Landesregierung, als Besitzer
der A. Z., die 1812 nach Augsburg verlegt wurde, mit Bayern, dazu mit
den beiden Großmächten rechnen; und überall wollten Regierungen und Staats¬
männer nur das als unparteiisch anerkennen, was eben ihren augenblicklichen
Wünschen entsprach. Von allen Seiten kamen Vorwürfe, Verweise, ja Dro¬
hungen, selten Lobsprüche. Wenn sogar Stein, sonst ein Gönner des Blattes,
im Jahre 1828 an Gagern schreibt, „ein unabhängiger selbständiger Mann
wie Herr von Cotta sollte sein Blatt nicht einer Partei vermieten, sondern sie
(es?) nur für Wahrheit und Recht anwenden," so bedauert man doppelt, daß
sich der Anlaß zu diesem Zornausbrüche nicht hat ermitteln lassen. In den
vielen Episteln von Gentz, Zedlitz usw. ist der Zusammenhang nie unklar.
Der jüngere Cotta (Georg) soll einmal gleichzeitig als Anhänger des öster¬
reichischen Pfaffentums, als von Rußland bestochen, als Schweifwedler vor
Österreich bezeichnet und — von Schelling! — aufgefordert worden sein, den
„Jakobiner und Lotterbuben" Gustav Kolb, den braven alten Burschenschafter,
zu entlassen. Belobt wird die A. Z. von Berlin aus, weil sie den ihr an-
gebotnen Brief Herweghs an Friedrich Wilhelm IV. nicht abgedruckt hat, und
Alexander von Humboldt bewährt sich als Freund des Verlegers, wenn die
Zeitung in Berlin Mißfallen erregt hat. Von Interesse wäre es, zu erfahren,
ob die von Heyck gegebne Darstellung der in ihren Folgen bedeutsam gewordnen
Angelegenheit Herweghs zuverlässig ist. Früher wurde erzählt, der König
habe selbst den Wunsch geäußert, den in Berlin anwesenden jungen Dichter,
der ihn in so schwungvollen Versen angesungen hatte, persönlich kennen zu
lernen, und das war durchaus glaubwürdig im Jahre 1842. Bei der Audienz
sielen die schmeichelhaften Äußerungen „Wir wollen ehrliche Feinde sein" usw.;
doch unmittelbar hinterher erfolgte das Verbot einer noch gar nicht erschienenen
Zeitung, deren Redaktion Herwegh übernehmen sollte. Wenn dem gegenüber
der durch seinen Triumphzug von Zürich bis Königsberg Berauschte sich zu
einem unpassenden Brief hinreißen ließ, so war das kein Kapitalverbrechen;
auch sagte man, daß die Ärgernis erregende Veröffentlichung des Schreibens
in der Leipziger Allgemeinen Zeitung nicht von ihm ausgegangen sei, sondern
von einem jüdischen Rechtsanwalt in Königsberg, Crelinger. Ein wesentlich
andres Gesicht erhält jedoch dieser Handel, wenn wirklich die Audienz erbeten
und erst nach achttägiger Überlegung gewährt worden sein sollte. Wie dem
auch sei, der deutschen Presse im allgemeinen bekam es sehr schlecht, daß, wie
Heine es darstellte, Herwegh vor „König Philipp und seinen uckermärkischen
Granden" den Marquis Posa gespielt hatte, nur der A. Z. wurde der in
diesem Falle bewiesene Takt gut angeschrieben, während sonst der spezifisch¬
preußische Verkehrston nicht geeignet war, die in Augsburg bestehende Vor¬
liebe für Österreich abzulenken. Erst die großen Ereignisse der letzten drei
Jahrzehnte machten es der A. Z. möglich, sich entschieden auf die Seite des
Reiches zu stellen und an der endgiltigen Beseitigung der „Mainlinie" kräftig
mitzuwirken.
In der Beurteilung ihres Verhältnisses zu Österreich ist der Zeitung
wohl oft Unrecht geschehen. Sie war bis 1848 und noch darüber hinaus
eigentlich die österreichische Zeitung, da das, was im Lande gedruckt wurde,
den Namen nicht verdiente. Noch in einer Erzählung von Marie von Ebner-
Eschenbach: „Die Freiherren von Gemperlein" ist mit Humor geschildert, wie
die durch die Politik entzweiten beiden Brüder sich hinter ihre Zeitungen ver¬
schanzen, rechts die privilegirte Wiener Zeitung, links die Augsburger. Und
diese Stellung der A. Z. war umso wichtiger, da sie bei aller Rücksicht auf
die Wiener Staatskanzlei doch nach Überwindung der französelnden und kosmo¬
politischen Jugendverirrungen immer gut deutsch blieb. Aber in Deutschland
wurde man nach 1840 durch die — erste, nicht die rote — Rheinische Zeitung,
die Königsberger Hartungsche, die Mannheimer Abendzeitung und zahlreiche
kleine Wochenblätter und Flugschriften an eine schärfere Opposition gewöhnt,
und wer in denselben Ton nicht einstimmen konnte oder wollte, dem wurde
der Liberalismus rundweg abgesprochen, vollends wenn religiöse Fragen mit
ins Spiel kamen. Machte sich doch Robert Blum zum Verteidiger der studen¬
tischen Leibgarde der Lota Montez, weil diese sich mit den Jesuiten entzweit
hatte, und ein Mann wie der von Heine so schmählich verfolgte Venedeh mußte
nachdrücklich dafür eintreten, daß das deutsche Volk die ersehnte Freiheit nicht
von der Gnade der spanischen Tänzerin empfangen wolle! Nicht geringer war
die Konfusion während des Krieges von 1859. Wie wenige wollten damals
begreifen, daß der damalige mannhafte Kampf der A. Z. nicht für Österreichs
italienischen Besitz, sondern gegen den Sohn der Hortense Beauharnais geführt
würde, den im Harlemer Landhause eines Amsterdamer Bankiers zur Welt ge-
kommnen Anonymus, der nach dem Tode seines Halbbruders sich als napo-
leoniden aufspielte, es durch verbrecherische Mittel zum Beherrscher Frankreichs
brachte, auf Befehl der Carbonari den Krieg gegen Österreich begann und,
wie jedermann voraussah, später gern oder ungern seine Hand nach dem Rhein
ausstrecken mußte. In diesem verdienstlichen Kampfe gegen den „zweiten
Dezember" (welchen Namen Hermann Orges für den gewohnheitsmäßigen Ver¬
schwörer in Paris aufgebracht hatte) und gegen die von ihm Gewonnenen oder
Bethörten, voran Karl Vogt, traten viele Nationalgesinnte in die Reihen der
A. Z., die sonst nicht immer mit ihr überein gestimmt hatten, freilich auch
Internationale, wie der von Heyck namhaft gemachte Wilhelm Liebknecht,
damals in London, von wo auch Karl Marx seine furchtbare Anklageschrift
„Herr Karl Vogt" ausgehen ließ.
Überhaupt ist eine Übersicht der bekannter» erklärten oder geheimen Mit¬
arbeiter der Zeitung bezeichnend sür die Allgemeine. Das Verzeichnis könnte
noch viel länger und bunter sein, wenn nicht oft, namentlich für die neuere
und neueste Zeit eine wohlerklärliche Verschwiegenheit beobachtet worden wäre.
Wir greifen, absehend von bereits Genannten und von den bekannten Leitern
der Zeitung, bunt heraus: Goethe, der viel mehr politische Einsicht bewies
als Schiller, K. A. Böttiger, Archenholtz, E, M. Arndt, Niebuhr. Varnhagen,
Ölsner, Raumer, Graf Schlabrendorf, Schubart, Aug. von Binzer (Dichter
des „Wir hatten gebauet"), K. Follen, Fallmernyer, Graf Reinhard, Thiers,
Siehüs, Schlözer, Wolfg. Menzel, Frdr. Schlegel, Kanzler Fürst Hardenberg,
H. Chr. von Gagern, K. Fr. von Moser, Radowitz, Ritter Bunsen, Jarcke,
Adam Müller, Pilat, Ed. Gans, Ranke, Rotteck, Paul Pfizer. List, Prokesch-
Osteu. H. Leo, Julius und Rob. Mohl, Jos. und Guido Görres, Karl Hase,
der Kirchenhistoriker, Zschokke, Dönniges, Döllinger, Reinkens, Friedrich,
Paulus, Feuerbnch, Hansemann, Minister Patow, Major Helmuth vou Moltke
(1841—1844), Detmold, Laboulaye, Hock, Höslen, Ludw. Robert (Bruder der
Nadel), Wik. Alexis, Laube, Mundt, Dingelstedt. Rüge. Temme, Rellstab,
Steub, Moritz Wagner, Melch. Mehr, Bodenstedt, Hackländer, Rhyno Quedl
(nicht Guehl, unter Mnnteuffel Preßgewaltiger, Erfinder der Anzeigenbesteue-
rung nach dem Quadratmaß), L. Schneider (der ehemalige Schauspieler, dann
Vorleser Friedrich Wilhelms IV., versorgte zugängliche Zeitungen mit russischen
Nachrichten), Hehn, Corviu, Savoye (um die Zeit des Hambacher Festes
Zeitungsredakteur in der Pfalz, dann in Frankreich naturalisirt und zum Ab¬
geordneten gewählt, nach dem 2. Dezember nach England geflüchtet, Übersetzer von
V. Hugos «Äxolövn 1s?stip, Leop. Hafner (der 1848 in Wien die Republik aus¬
rief, später in Paris und Brüssel tapferer Kämpfer gegen den Bonapartismus).
Zwei Professoren der Staatswissenschaften bringen eine komische Anekdote in
Erinnerung. Lorenz Stein wurde nach der sogenannten Pazifikation der Elb-
herzogtümer seiner Professur in Kiel enthoben, weil er bei dem Ausbruche des
Krieges einen dänischen Orden zurückgeschickt hatte. Kollegen von ihm in
gleicher Lage fanden bald anderswo Stellung, er aber galt für gefährlich, weil
er das erste deutsche Werk über den französischen Sozialismus geschrieben hatte.
Der Minister Brück war vorurteilsfrei genug, Steins Anstellung in Wien zu
befürworten, wo er später recht unglückliche Versuche gemacht haben soll, seine
nationalökonomischen Theorien als Eisenbahndirektor u. dergl. zu erproben.
Auch die gegen Cotta, den er zur Verlegung der Augsburgerin nach Wien
zu bestimmen suchte, geäußerte Voraussage, daß künftig auch keine große Uni¬
versität werde an einem kleinen Orte bestehen können, ist nicht in Erfüllung
gegangen. Im Winter 1871 erhielt er, wie erzählt worden ist, von seinem
aus Württemberg berufnen Kollegen Alb. Schäffle einen Brief mit der Bitte,
dessen Vorlesungen fortzusetzen, weil der Schreiber durch seine Ernennung zum
Minister daran verhindert sei. Der höchlich überraschte Stein schickte den
Brief nebst einem rücksichtsvollen Begleitschreiben an Frau Schäffle, um sie
darauf aufmerksam zu machen, daß der an Überarbeitung leidende Mann offenbar
ärztlichen Rates bedürfe. Die Sache hatte indessen ihre Nichtigkeit, Schäffle
wurde Mitglied des sogenannten Faschingsministeriums; und so kurz und wenig
ruhmvoll seine staatsmünnische Thätigkeit war, gewährt sie ihm doch noch jetzt
die Befriedigung, sich auf den Titeln seiner Bücher als k. k. Minister a. D.
vorzustellen.
Noch dürfen einige sonderbare Gestalten nicht mit Schweigen übergangen
werden. Zu diesen gehört der Münchner Fr. W. Bruckbräu, sonst nur als
Verfasser schlüpfriger Romane bekannt, „später ernsthafterer Kummer am
Parnaß und 1859 ein tapferer Streiter gegen Frankreich."
Nach der Julirevolution lieferte Dr. Karl Weil in Stuttgart „sehr ab¬
schreckende Gemälde der französischen und der spanischen Zustände," für die er
gern „müßige und herumstreichende Individuen" verantwortlich machte. Dieser
Weil gab in den vierziger Jahren in Stuttgart „Konstitutionelle Jahrbücher"
heraus, und als die Altliberalen in Berlin als Gegengewicht gegen die dortige
demokratische Presse eine „Konstitutionelle Zeitung" ins Leben riefen, glaubten
sie in ihm die beste Kraft für die Leitung des Blattes zu gewinnen. Wie
bald der Irrtum erkannt, und wie schwer es wurde, sich des teuern Mannes
zu entledigen, das hat Ernst Kosscik einmal in seiner lustig boshaften Art be¬
schrieben. Nun aber glaubte wieder die Wiener Staatskanzlei, sich den in
Berlin nicht gewürdigten Schriftsteller nicht entgehen lassen zu dürfen. Januar
1852 schon empfiehlt ihn Zedlitz im Auftrage des Fürsten Schwarzenberg der
A. Z. als sehr gewandte Feder und weil er dem Budget der Zeitung nicht
zur Last falle! In Wien hat er sich unter den verschiedensten Systemen,
irren wir nicht bis zu seinem Tode, behauptet. Heine überschüttete ihn mit
Hohn, allerdings vorzugsweis, weil der verwendbare Weil von Guizot ein
Jahrgehalt von 18000 Franks bezogen hatte.
Auch Heines Mitarbeit an der A. Z. erlosch, als die provisorische Regie¬
rung 1848 alle Kostgänger Guizots nebst den Summen ihrer Bezüge ver¬
öffentlichte, was in seinen Augen eine große Unanständigkeit war.
Ein mehr als bedenklicher Mensch, der sich gern an Heines Rockschöße
hängte, M. G. Saphir, fehlt in dieser Galerie nicht. Er gab sich 1829 in
Augsburg für von Hormayr berufen aus, um die Oberleitung des gesamten
Preßwesens in Bayern zu übernehmen, doch erkannte der Redakteur Stegmann
in allem „Windbeutelei." Heyck bemerkt von diesem sogenannten Humoristen
ohne eine Ader von Humor, er habe in Berlin einen wie nirgends fruchtbaren,
sortzeugenden Nährboden sür seine spezifische Art von Witzeleien gefunden.
Das ist wohl ein wenig zu viel gesagt. In allen großen deutschen Städten
(zu denen Wien ja noch gezählt werden darf) hat er die schädlichste Saat aus¬
gestreut, allein Berlin, München, Wien haben einander in dem Punkte wenig
vorzuwerfen. Mit Staunen liest man in Holteis Erinnerungen, daß sogar
ein Hegel den frechen Witzling beachtenswert gefunden habe. In München
mußte er vor dem Bilde des Königs Abbitte leisten, wurde aber nachträglich
zum Theaterintendanzrat ernannt. Von beiden Orten fuhr er ohne Wohlgeruch
ab. Doch in Wien bedürfte es einer förmlichen Erhebung und Abstrafung
durch die jüngere Schriftstellerwelt, um endlich seinem sehr weit und hoch
reichenden Einfluß Schranken zu setzen. Gern möchte man sagen, daß in unsrer
Zeit eine solche Erscheinung unmöglich sein würde, allein es tauchen immer
wieder gelehrige Schüler von ihm auf, auch Erben seiner eisernen Stirn.
Viel wäre noch aus den Blättern des Heyckschen Buches an kultur¬
geschichtlichem Stoffe auszuhebern über den Einfluß der geographischen Lage,
der Postenläufe, der Versendungsarten, der Zensur usw. auf das Zeitungswesen
der Vergangenheit. Aber wir wollen das Lesen des Werkes nicht unnötig zu
machen versuchen.
em deutschen Historiker, der nach dem unverfälschten Herzen des
deutschen Volkes tastend die in Frage kommenden Äußerungen
deutschen Lebens prüft, steht das negative Erkenntnismittel der
Ausscheidung von fremdem und das positive des Wiedererkennens
des innersten eignen Lebens zu Gebote. Dort giebt das Objekt,
hier das Subjekt den Ausschlag. Auch ist jene Trennung rein eine Aufgabe
des Verstandes. Die Forschung lehrt uns, daß sich die heutige Volkssitte
nach ihren Hauptbestandteilen in vier Elemente zerlegen läßt: germanische und
christliche Züge stehen als ältere und wichtigere neben jüngern, die entweder
ausschließlich deutsch sind oder aus der Fremde stammen. Seit den Tagen der
germanischen Urzeit feiert das deutsche Volk mit unausrottbarer Freude seine
alten heidnischen Naturfeste, ursprünglich Dank-, sühlt- und Bittfeiern, die aus
dem Verkehr mit der Natur jedes Jahr neu geboren werden und namentlich an
den Wenden der Jahreszeiten und der Landarbeit von Bedeutung sind. Im
Nahmen der Kirche bildeten sich die Gedächtnisfeiern der über das Kirchenjahr
verteilten Ereignisse der heiligen Geschichte zu großen Festtagen religiösen und
historischen Charakters aus. Diese beiden Reihen von Festen haben sich ans das
engste verschmolzen und durchdrungen, meist so, daß ein großer Tag der einen
Reihe mit einem großen der andern zusammengewachsen ist. Das katholische
Fronleichnamsfest und die gemeindeutsche Kirchweih, rheinisch Kilbe, thüringisch
Kirmse, österreichisch Kirta, sind die Höhepunkte dieses doppelten Festringes, das
große Bitt- und das große Dankfest des deutschen Landvolks. Zu Weihnachten
beschert hier der christliche Nikolaus und dort der heidnische Ruprecht, beide für
unser Volksempfinden völlig in eins verschmolzen, und neben dem verhältnis¬
mäßig jungen Christbaum, „der mit Rosen, Äpfeln, Zischgold geschmückt zuerst
1604 in Straßburg nachweisbar ist," erscheint nun auch die vom Ausland
hereingebrachte Weihnachtskrippe immer häufiger.
Was trotz des teilweise fremden Stoffes all diesen Dingen immer wieder
ein durchaus heimisches Gepräge giebt, das ist die Art und Auffassung des
Feierns. Sie ist im wesentlichen dasselbe einigende und durchtränkende In¬
grediens, das Elard Hugo Meyer, der Verfasser einer vor kurzem er-
Schimmer vortrefflichen Deutschen Volkskunde,") unser Geleitsmann bei
diesen Bemerkungen, auch für das deutsche Märchen als eigentümlich deutsch
in Anspruch nimmt, das Gepräge humoristisch-inniger Gemütlichkeit, das es
auch internationalen Stoffen auf unserm Boden aufgedrückt hat. Ähnliches
unterscheidet die deutsche Ballade von der andrer Nationen. „Die epische
Ruhe des serbischen Balladenstils, die Würde des spanischen, die Leidenschaft
des italienischen und die Anmut des französischen erreicht der deutsche nicht.
Aber seine Sprunghaftigkeit steigert sein dramatisches Leben, und tiefes Natur¬
gefühl und innige, wenn auch derben Ausdruck nicht scheuerte Liebe durch¬
dringen das Ganze. Dazu bemerkt man oft den Hang zu süßer Spielerei mit
phantastischen Bildern, zu einem ähnlich grübelnden »Traumwerk,« mit dem
uns die gewaltigen Radirungen Dürers, wie seine Melancholie, so zauberhaft
umspinnen."
Was die beiden letzten dieser Sätze schön sagen, kann man in einem be¬
zeichnenden Worte für die innerste Lebensauffassung des deutschen Volkes zu¬
sammenfassen: es lebt und empfindet, glaubt und denkt — alles noch eins —
im Symbol. Fest mit der Wirklichkeit verwachsene Symbole sind die uns phan¬
tastisch erscheinenden Bilder, Liebe ist die Trägerin der ganzen symbolischen
Naturauffassung, und ans der symbolischen Art des Lebens und Denkens er¬
klärt sich auch die Sprunghaftigkeit oder bester Angenblickhaftigkeit und Zeit-
losigkeit der poetischen Handlung (wie in der Sage, während das Märchen
schon einem spätern, epischen Denken entspricht) und vollends jene andre Sprung¬
haftigkeit, die, nach der modernen Auffassung, in der gewaltsam raschen Über-
brückuug der Kluft zwischen dem Naturbild und dem menschlichen Ereignis liegt.
Diesem Symbol, dessen einheimischer Charakter nur mit dem Gefühl
wiederzuerkennen ist, wollen wir zunächst noch etwas nachgehen, doch uns vorher
über zwei dazu gehörende Punkte mit Meyer auseinandersetzen. Bei der
Besprechung von zwei uralten gemeingermanischen Rätseln, dem bekannten vom
Vogel federlos usw. und der in schwäbischer Mundart mitgeteilten Charakte¬
ristik der Kuh
sagt Meyer: „Wie schon diese paar alten Beispiele zeigen, hat das Rätsel den
innersten Trieb, das Unpersönliche zu persvuifiziren, das Gewöhnliche zu ver¬
schönen, das Sinnliche zu vergeistigen. Seltner kommt es umgekehrt zu einer
Versinnlichung des Geistigen und Abstrakten, wie etwa des »Gedankens« und
etwa noch »Gottes« und des »Jahres.«" Schon die von ihm gebrauchte Be-
zeichnung der angeblichen Gegensätze, Personifizirung des Unpersönlichen und
Versinnlichung des Geistigen, zeigt, wie wenig hier von einem umgekehrten
Verhältnis die Rede sein kann. Die symbolische, metaphorische oder, wie man
es auch genannt hat, anthropozentrische Auffassung der Außenwelt ist sinn¬
lichen und geistigen Dingen gegenüber eine und dieselbe Art, sich ihrer zu be¬
mächtigen. Eine Trennung zwischen Sinnlichen und Geistigen wird noch gar
nicht gemacht; für das Jahr, die Sonnenstrahlen, den Kuhschwanz giebt es
nur eine Art der Betrachtung, und daß auf der naiven Stufe des geistigen
Volkslebens mehr Konkreta als Abstrakta, von unserm modernen Gesichtspunkt
ans gesehen, von sich reden machen, ist von vornherein klar.
Auch der andre Punkt betrifft eine Unterscheidung Meyers, die wir nicht
für förderlich für das Verständnis der fraglichen Erscheinungen halten. In
der Einleitung zu seinem Hauptkapitel „Sitte und Brauch" sagt er: „Unser
Volk behauptet energisch nicht eine bloße Analogie von Naturvorgang und
Lebensgang des Menschen, sondern glaubt fest an einen wirklichen, wenn auch
noch so wunderbaren Zusammenhang beider, was wir gewöhnlich Aberglauben
nennen. Was in der Volkspoesie nur Gleichnis, wird in der Sitte Ereignis."
Dort nur Gleichnis, hier Ereignis: diese Worte lassen der Volkspoesie nur
ein formal-ästhetisches Recht auf das, was die Volkssitte in jedem Sinne,
namentlich auch im ethischen, ihr eigen nennt. Daß Meyer recht hat, jener
Analogie zwischen Natur- und Menschenleben für die Sitte den Wert eines
Ereignisses zuzusprechen, darüber kann kein Zweifel sein, die Beispiele werden
es zeigen; aber wir nehmen denselben Wert für das Denken des Volkes, wie
es sich im Gedicht ausspricht, in Anspruch. In dem Symbol ruht die Kunst
des Volkes, d. h. sein erhöhtes Leben webt im Symbol; ob sich dieses Leben,
Empfinden und Denken in der Sprache vollzieht oder in einer Handlung der
Sitte, macht für das Verhältnis des Symbols zur bloßen Wirklichkeit keinen
Unterschied aus. Oder will Meyer „Ereignis" in seinem Satze nur im äußer¬
lichen Sinne verstanden haben? Das machen aber die bei ihm vorhergehenden
Worte wie auch das Anklingen der Faustverse unwahrscheinlich.
Wenn die Hebamme in katholischen Gegenden geweihtes Salz und Weih¬
wasser in das erste Bad des Kindes thut, wohl auch einen Rosenkranz oder ein
Geldstück, um das Kind fromm und sparsam zu machen, so ist das natürlich
nicht bloß eine gleichnisartige Handlung, sondern als wirkend, wirklich gedacht.
Darauf beruht auch ein gutes Stück der Volksheilkunde. „Hat ein kleines
Mädchen heftige Gichter, so zieht in der Pfalz der Pate rasch sein Hemde
aus und wickelt es hinein, dann wird es gesund oder stirbt rasch, und so
machts die Patin mit dem Knaben." Stark riechende Kräuter und geweihtes
Salz legt die Braut in den Schuh, um die bösen Geister fernzuhalten, Körner,
Erbsen, einige Faden Flachs und einige Pfennige, um fruchtbar und reich
zu werden. Unmittelbar aus der Wirklichkeit hervorgegangen ist eine syn-
bolische Handlung wie die, wodurch die junge Siebenbürgerin noch heute vor
Gott und der Welt kundgiebt, daß sie einem Burschen angehören will:
sie verspricht, ihm Hafer führen zu helfen, und sitzt dann am Erntemorgen
hinten in seinem langen Erntewagen auf dem glatten Wiesenbaum. Eine
psychologische Quelle hat der symbolische Brauch, vor der Geburt eines Kindes
alle Schlösser im Hause an Thüren und Kisten zu öffnen, um das Aufschließen
des Leibes zu erleichtern. Ähnlich bedeutet die Sitte, auf das Brot drei
Kreuze zu ritzen, ehe man es anschneidet, die Auslösung einer wenn auch
kleinen Gemütsspannung. Das Symbol ist nicht nur ein schöner Schein,
sondern drückt etwas thatsächliches im Gefühlsleben aus.
Freilich ist der geschichtliche Verlauf der Dinge so gewesen, wie schon
einige der mitgeteilten Beispiele andeuten, daß die völlig wirklich gemeinte
Handlung oder Aussprache durch die symbolische Auffassung hindurch mit der
zunehmenden Nationalisirung des Volkslebens und -denkens zu einem von
dem Kulturmenschen oft bloß noch ästhetisch empfundnen Gleichnis herab-
gesunken ist. Also das „interesselos" ästhetische ist nur noch ein Rest des
bedeutungsvollen symbolisch-schönen; nur Gesamtteilnahme, Einfühlung gewährt
das erhöhte Lebensgefühl, dessen Äußerung die Kunst ist.
Die Herdenglocken werden heute an der württembergisch-badischen Grenze
und wohl auch noch anderwärts in Deutschland darnach ausgesucht, daß jede
Herde ein schön klingendes Geläut bekomme. „Aber die Glocken der Herden waren
einst nicht zur musikalischen Unterhaltung, auch nicht so sehr dazu bestimmt, daß
man ein verlaufnes Stück leichter auffinden könne, sondern sie dienten ur¬
sprünglich, wie ja auch die Kirchenglocken, zur Abwehr allerlei Unheils." Das
Freudenschießen auf dem Taus- und Hochzeitswege und zu Neujahr will
eigentlich böse Geister vertreiben wie die Oster-, Mai-, Johannis-, Michaelis¬
und Martinifeuer eigentlich Reinigungsfeuer sind; ist der neuere Sinn des
Freudeufeuers bei ihnen irgendwo im Volke vollständig durchgedrungen? Und
genau so ist es mit der Natursymbolik des Volkslieds gegangen. Noch heute
empfinden wir es mit, wie die Wehmut über den Verlust des Geliebten im
Herzen des Mädchens beim Niedersinken des Korns aufsteigt, wenn das schöne
Lied erklingt: Ich hört ein Sichlein rauschen. Und schon lange ist andrerseits
der natursymbolische Kehrreim so vieler Volkslieder zu einem mit dem Haupt¬
text nicht mehr zusammenhängenden Zierat herabgesunken.
Einen prächtigen Schutz gegen zu große Innerlichkeit hat die deutsche
Volksseele in der frischen Realistik ihrer Auffassungsgabe; hell und tief zugleich
ist das Auge unsers Volkes. Nichts aber zeigt den frischen Sinn für das
Charakteristische mehr als das deutsche Volksrätsel. Wer hier einmal Auge
und Herz hell baden will, dem sei die vortreffliche Sammlung Mecklenburgischer
Rätsel von Wossidlo wiederholt*) empfohlen; sie hat auch für Meyer das beste
auf diesem Gebiete geliefert. Mit Recht rühmt er dem niederdeutschen Rätsel
namentlich nach, wie scharf es das Stillleben der Tiere beobachte, z. B. der
sich plusternden und bei ihrer Toilette vom Schwein gestörten Ente, freilich
auch die unendlichen Züge menschlichen Thuns bis zu dem alles verzehrenden
Würfelspiel hin. Ein reizendes Beispiel für die Verquickung realistischer und
humoristischer Auffassung in den Formen symbolischer Personifizirung ist die
mecklenburgische Scherzrede zwischen dem sich schlängelnden Bach und der ab¬
gemähten Wiese: „Du Kringelkrummüm, wo wistu sennen?" „Du Kahlelopp-
schoren, wat fröchst du dorna?" Ähnlich paaren sich Allerweltsfrvhlichkeit
und muntere Derbheit mit zarter Poesie im Schlummerlied der südlichen
Schwarzwülderin; in ihrer Stube hängt ein geschnitzter Engel an der Wand,
an dem vorbei sieht sie über die Wiege ihres Kindes hinweg durch ihr Fenster
Rheinfelden und Basel in duftiger Ferne liegen:
Und wer wüßte nicht, welchen lebhaften Ausdruck die nüchtern-witzige Lebens¬
philosophie unsers Volks in seinen Sprichwörtern findet?
Der liebevoll-demütigen symbolischen Mitempfindung und dem die
Dinge frisch packenden und beherrschenden Witz darf man noch einen sozial¬
ethischen Charakterzug unsers Volksgemüth hinzufügen: das Bedürfnis freund¬
schaftlichen Zusammenlebens, aus der Wurzel gemeinsamer Arbeit erwachsen.
Die älteste Form davon ist wohl die der Sippe, des Verwandtenkreises des
Dorfes, das durch eine große Zahl von Dorfraum als ursprüngliche Ge¬
schlechtsniederlassung vielfach erwiesen ist. Die gemeinsame Feldarbeit, nament¬
lich Mahd und Ernte, der gemeinsame Betrieb der Weide und was alles damit
zusammenhängt, müssen die freundschaftliche Seite dieses Bandes immer neu
gestärkt haben. Ein drittes Bindeglied dieser Art ist die Nachbarschaft, in
Sitte und Brauch noch von Schleswig bis zu den Alpen eigentümlich wirksam
(das bayrische Haberfeldtreiben gehört hierher), in der engern Form des Gilden¬
oder des Vetterschaftwesens namentlich im Nordwesten gepflegt, oft heidnisches
mit christlichem mengend. Was im Sommer die Feldarbeit förderte, das hegte
und hegt im Winter die Spinnstube. „Spinnen und Weben besorgten die
Weiber seit uralter Zeit wegen der Unterhaltung, der billigern Erwärmung
und Beleuchtung gern in Gesellschaften, in ihren Dünger. in besondern Weiber¬
gemächern." Und so haben sie durch die Jahrhunderte erst mit der Spindel,
dann mit dem Rade weiter gesponnen. Die jüngste aber dieser Freundschafts-
formen, die namentlich im Südweste» stark entwickelt ist, haben wir in der christ¬
lichen Patenschaft zu erblicken. Gevatter bedeutet Mitvater, schon dieser Name
sagt genug über die Enge des Bandes, noch höher weist „das süd- und teilweise
mitteldeutsche Götte, Gottl eng.se. und Gotte, Göte, Gode, Getel dew., eine
kurze Koseform für Gottvater und Gottmutter, d. h. Vater und Mutter vor
Gott, wie das englische ^ockkatliei- und AoäMotlisi-, Die Kirche bestellte dem
Christenkinde in dem Taufzeugen einen xg-ehr sxiriwÄis. Aber mit ihrer Ein¬
richtung vereinigte sich nun aufs schönste uralte germanische Sippschaftsübung.
Die Paten wurden in der Regel aus der nächsten Verwandtschaft gewählt."
Die Darstellung der Geschichte des Patenwesens und die Schilderung seiner
jetzigen Ausdehnung im Bauernleben ist eins der schönsten Stücke in Meyers
Buch; der ernste Schluß kann das zeigen. „In Schwaben wird beim Sterben
eines Kindes der Pate oder die Patin gerufen, daß es leichter scheide. Zu
gleichem Zwecke drückt der nordfriesische Gevatter seinem Patenkinde die Vadarjiw,
die Gevattergabe in die Hand, einen kleinen Apfel, in den eine Silber¬
münze hineingesteckt ist. Den Göltelbrief, die vom Paten ausgestellte, mit
gereimten Mahnspruch und auch wohl mit Bildern versehene Taufurkunde,
legt man wohl in seinen Sarg. Den hebt die Patin aufs Haupt, betrübt,
wie wenn das eigne Kind drin läge, und trägt ihn oft stundenweit vom armen
Gebirgsdorf ins Thal zum Friedhof, wo schon der Pate wartet und ihn ver¬
gräbt. Die Patin verziert das Kreuz auf dem Grabe oder hängt die Blumen,
mit denen sie den Sarg bekränzt hat, in der Kapelle auf und schaut noch
Jahre hernach zu den welken Erinnerungen ihres Patenglücks hinüber."
Wer sich durch diese Zeilen Lust machen ließe, Mehers Buch selbst in
die Hand zu nehmen, würde es nicht bereuen. Es ist natürlich wissenschaftlich
zuverlässig gearbeitet, außerdem aber ungewöhnlich fließend geschrieben und,
was uns am meisten wiegt, von einer ganz prächtigen Auffassung der Dinge
belebt. Wie oft muß man sonst bei Arbeiten aus diesem Gebiete den schönen
Stoff bedauern, der in die unrechten Hände gekommen ist. Hier ist er in den
richtigen. Als ein deutliches Beispiel für die bewußt geschmackvolle, im besten
Sinne feine Behandlung des Stoffes ist uns die Verwendung und die Art
der Wiedergabe der Mundart erschienen. Allen Zitaten ist durch sie ihr
heimischer Duft, ihr Erdgeruch gewahrt; im zusammenhängenden Texte tritt
sie leise anklingend nur ganz vereinzelt auf, wo es besondre Reinheit und
Innigkeit und Kraft gilt, etwa mit einem „Herze" oder in dem Satze: „Noch
baden wohl am Bodensee Mädele am ersten Mai im nassen Klee um der
Kraft und Schönheit willen." Das Buch enthält auch eine Menge Fragen und
benutzt sie, den Leser zum Mitleben zu zwingen, der Verfasser nennt es selbst
im Vorwort einen in die erzählende Form gegossenen Fragebogen. Sein Inhalt
erfüllt zwar insofern nicht seinen Titel, als unter Volk fast ausschließlich das
Landvolk verstanden ist, dieses ist aber eben so getreu in seinem äußern wie in
seinem seelischen Leben dargestellt: Dorf und Flur, das Haus, Körperbeschaffen-
heit und Tracht, Sitte und Brauch (die Hälfte des ganzen Buches), die Volks-
sprache und die Mundarten, die Volksdichtung, Sage und Märchen heißen die
Kapitelüberschriften. Daß hier nur von der Innenseite unsers Volkslebens
ein wenig die Rede gewesen ist, damit muß sich der Verfasser um so eher ein¬
verstanden erklären, als auch er sein umfassendes Buch so schließt:
Nach dem letzten Griinmschen Märchen fand ein armer Junge im Schnee
einen kleinen goldnen Schlüssel und grub auch bald das dazu gehörige eiserne
Kästchen aus der Erde. Er fand auch endlich ein ganz kleines Schlüsselloch,
daß man es kaum sehen konnte. Er probirte, und der Schlüssel paßte glücklich.
Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends
aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werde» wir erfahren, was
für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.
Möge uns die Volkskunde mit der völligen Aufschließung des Herzens
le didaktischen Bücher enthalten dreierlei. Erstens zwei Spruch¬
sammlungen; die umfangreichsten, schönsten und praktisch wert¬
vollsten der Weltlitteratur. Die ältere von ihnen trägt nicht
mit Unrecht den Namen Salomos, da ihr Kern zweifellos auf
diesen gekrönten Lebeusphilosophen zurückgeht. Zweitens die
Blüte der hebräischen Lyrik. Die weltliche ist durch das Hohe
Lied vertreten, dessen Aufnahme in den Kanon der brüntlichen Liebe die Weihe
einer heiligen, in der göttlichen Ordnung begründeten Empfindung verleiht.
Die über jeden Preis erhabne liturgische Lyrik der Psalmen ist der Christen¬
heit nur zu einem kleinen Teile durch einige Kirchenlieder zugänglich gemacht
worden. Die deutschen Prosaübersetzungen lassen natürlich die poetische Kraft
des Originals nnr sehr unvollkommen zur Wirkung kommen,„und die Vulgata-
übersctzung ist vielfach sinnlos ausgefallen, weil die ältern Übersetzer des He¬
bräischen nicht hinreichend mächtig waren, aber auch nicht wagten, die unver-
standnen Stellen wegzulassen oder das mangelnde Verständnis durch Ver¬
mutungen zu ersetzen. Es soll gute poetische Bearbeitungen des ganzen
Psalmenbuches geben; jedenfalls ist keines davon Gemeingut der deutschen
Christenheit, auch nur des evangelischen Teils geworden; ich kenne nur gute
Bearbeitungen einzelner Psalmen aus einem alten Gebetbuche, von dem ich
nicht einmal mehr den Titel weiß. Nicht alle Psalmen, die Davids Namen
tragen, mögen ihn zum Verfasser haben; aber der Kern des Buches stammt
zweifellos von ihm; von den übrigen sind nach dem Urteil der besonnenen
Kritiker einige in der Zeit des Histia entstanden, und der Rest macht sich als
Erzeugnis der Zeit des Exils auch dem unkritischen Leser kenntlich.
Den dritten Bestandteil dieses Bücherschatzes bildet die Religionsphilosophie
der Hebräer. Solche steckt ja natürlich auch in den Prophetenschrifteu und den
Sprüchen, zum Teil auch in den geschichtlichen, aber drei unter den „Lehr¬
büchern" machen es sich zur besondern Aufgabe, die Frage nach dem Sinne
der Welt und des Lebens zu beantworten. Den Anstoß zur ethischen und
Religionsphilosophie giebt das physische und moralische Übel in der Welt,
während die Natur für sich allein eben höchstens eine in Metaphysik aus¬
laufende Naturphilosophie veranlassen würde. Schon in den Psalmen wird
unzühligemal die Klage lant über das Glück des Sünders und seinen aus
diesem Glück hervorgehenden Übermut, doch erstickt diese Klage in der Fülle
des Gottvertrauens, das die heiligen Dichter beseelt, und schlüge in den Preis
Gottes um, der seinen Gerechten nicht bis ans Ende verstoßen und den trium-
phirenden Gottlosen zuletzt zu nichte machen werde. Immerhin grenzt die Be¬
trübnis und Ratlosigkeit der heiligen Sänger oft an Verzweiflung, so im zwei¬
undzwanzigsten Psalm: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? und
im dreiundsiebzigsten, wo der Sänger klagt: So habe ich also umsonst gerecht
gelebt, umsonst meine Hände in Unschuld gewaschen! Das Buch Hiob, von
dem Franz Delitzsch vermutet, daß es einen der Psalmendichter der salomo¬
nischen Zeit zum Verfasser habe, greift das Problem sehr ernsthaft an und
kommt zu dem Ergebnis, daß die Leiden über die Gerechten zum Zweck ihrer
Prüfung verhängt würden. Doch ist das nur sozusagen die exoterische Lehre
des Buches. Die eigentliche Meinung des Verfassers geht offenbar dahin,
daß der Mensch die Werke und Ratschlüsse Gottes nicht zu begreifen vermöge
und daher auch kein Recht habe, über Gott und sein Werk zu urteilen und
sich über sein eignes Schicksal zu beklagen.^) Das liegt in der ironischen
Strafrede, mit der Gott den Streit zwischen Hiob und seinen ungeschickten
Tröstern unterbricht: „Gurte wie ein Mann deine Lenden; ich will dich fragen,
und dn magst mir antworten! Wo warst dn, als ich die Erde gründete? usw."
Aber das wichtigste ist, daß diese Straf- und Spottrede dem Angeredeten zur
höchsten Auszeichnung gereicht; denn nur ihn würdigt Gott der Belehrung;
den drei Freunden, die sich so viel Mühe gegeben hatten, die Ehre Gottes
gegen Hiobs gotteslästerliche Reden zu verteidigen, denen sagt er bloß: „Mein
Zorn ist ergrimmt über euch, weil ihr nicht vernünftig von mir geredet habt
wie mein Knecht Hiob. Opfert mir also sieben Stiere und sieben Widder,
und gehet zu meinem Knechte Hiob, daß er für euch bitte; um seinetwillen
will ich euch eure Dummheit nicht anrechnen." Gott ist also erzürnt über die
oberflächliche Erklärung der Leiden Hiobs, daß sie eine Sündenstrafe seien,
eine Oberflächlichkeit, die ja bis auf deu heutigen Tag vorkommt, und in der
immer ein wenig Heuchelei und Selbstgerechtigkeit steckt. Dagegen nimmt es
Gott dem Leidenden nicht übel, wenn er sein Leiden für ungerecht erklärt, sich
gegen diese Ungerechtigkeit aufbäumt und sein Los verflucht; nur daß aus
seinem Herzen der Glaube an eine vernünftige und gerechte Weltordnung und
Weltleitung nicht völlig schwinden und in ruhigern Augenblicken das Ver¬
trauen auf den Gott, dessen„Wesen und Wege wir nun einmal nicht begreifen
können, zurückkehren soll. Übrigens verdient es Beachtung, daß sowohl in
den Anklagen der Freunde wie in den Verteidigungsreden Hiobs als das
Wesen der von Gott geforderten Gerechtigkeit, ebenso wie im mosaischen Gesetz
und in den Prophetenbüchern, immer wieder die Mildthätigkeit und Barm¬
herzigkeit,*) der Schutz der Schwachen und Unterdrückten hervorgehoben wird:
„Ich errettete den Armen, der da schrie, und die Waise, die keinen Helfer
hatte. Der dem Untergang Nahe segnete mich, und das Herz der Witwe habe
ich getröstet. Auge war ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen. Mit Ge¬
rechtigkeit bin ich angethan wie mit einem Gewände, und das Gericht war
mein Diadem; ich war ein Vater der Armen und erforschte auf das genaueste
ihre Klagesachen; ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riß ihm
den Raub aus den Zähnen. Wann hätte ich jemals meinen Bissen allein ge¬
gessen?"
Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen, daß ein so leicht ver¬
ständliches, so packendes Buch wie die Bibel vorübergehend Fetisch und Zauber¬
buch werdeu kann, das mau liest, um es zu verehren und damit eine Gott
gefällige Handlung zu verrichten, aber ohne sich etwas dabei zu denken. So
müssen die Engländer, die bekanntlich bis auf deu heutigen Tag fleißige Bibel¬
leser sind, die Bibel behandelt haben in der Zeit der Ärmenhauskiudergreuel.
Zugleich aber hat es sich da gezeigt, daß die Bibel selbst bei einer solchen
Verfassung des Volksgeistes noch ein unermeßliches Gut bleibt, dessen ver¬
borgne Kraft bei Gelegenheit wieder hervorbricht; Fabrikbesitzer, die da be¬
kannten, daß sie in der Bibel ihre Verdammnis gelesen hätten, wurden Owens
Helfer und leiteten mit diesem die Besserung ein. Auch ohne den philoso¬
phischen Gehalt würde das Buch Hiob wegen seiner großartigen Naturschilde¬
rungen und erschütternden Klagen ein Werk von großem litterarischem Wert
sein. Das Ergebnis seiner Philosophie ist positiv nur insofern, als sie den
Glauben an Gott festhält und das Vertrauen auf ihn stärkt, in Beziehung auf
die Erkenntnis aber negativ. Dasselbe gilt vom Buche Koheleth. Man hat
dieses merkwürdige Erzeugnis eines vielerfahrnen, kritischen, kühl verständigen
Geistes epiknreisch gescholten. Diese Charakteristik trifft nicht ganz zu, und so
weit sie zutrifft, halte ich sie für keine Schande. Die Mystiker haben den
eigentlich selbstverständlichen, ja plevnastischen Satz aufgestellt — man braucht
kein Mystiker zu sein, um ihn zu finden —, daß jedes Geschöpf Gott so weit
faßt, als seine Fassungskraft reicht. Es ist das nur eine besondre Anwendung
des physiologischen Satzes, daß das Weltbild jedes organischen Wesens von
der Zahl und Schärfe seiner Sinne abhängt: das des vollsinnigen Menschen
ist vollständiger als das des Blinden oder Tauben, und das Weltbild des
Wurmes, der nichts hat als den Tastsinn, ist so armselig, daß wir es uns
kaum noch vorzustellen vermögen. Indem nun ganz dasselbe auch von den
geistigen Sinnen gilt, ist damit die Scheidung jeder Religion, die diesen Namen
verdient, in eine esoterische und exoterische gegeben, oder richtiger gesagt in
unzählige Stufen, von denen die obern als esoterische bezeichnet werden tonnen.
Die Masse der Menschen wird immer nur einer exoterischen Religion fähig
sein, und eine solche lehrt der „Prediger." Mit dem Wesen Gottes befaßt
es sich nicht; es lehrt nur: Alle irdischen Dinge sind eitel, sofern sie ver¬
gänglich sind. Alle Bestrebungen sind eitel, sofern man die Zwecke, zu denen
sie in Bewegung gesetzt werden, entweder verfehlt oder unbefriedigend findet,
sodaß das Streben von neuem beginnt, als hätte man gar nichts erreicht.
Insbesondre ist alle wissenschaftliche Forschung eitel, weil wir das Welträtsel
nicht zu lösen vermögen: „Bücherschreibens ist kein Ende, und viel Studiren
macht Leibespein," das ist das Endergebnis aller gelehrten Forschung, soweit
sie nicht praktischen Zwecken dient. Alle Guter, die leidenschaftlich begehrt
werden, erweisen sich, wenn sie erreicht sind, als Illusionen: das Auge wird
nicht satt von allem neuen, das es sieht, das Ohr nicht von allem neuen, das
es hört. Mit Reichtum und Macht ist es ebenso, und sogar wenn einer
leidenschaftlich nach Tugend strebte, würde ihn der Erfolg enttäuschen. Der
Weise wird sich daher bescheiden, er wird zwar gerecht und klug handeln, aber
weder gar zu gerecht noch gar zu klug sein wollen, was nichts taugt. Er
wird nicht nach vielem streben, aber das wenige verständig gebrauchen und,
ohne sich durch Grübeln stören zu lassen, froh genießen und namentlich die
Jugend, die Zeit der höchsten Genußfähigkeit, nicht ungenutzt lassen: „Iß in
Fröhlichkeit dein Brot und trinke mit Freuden, vertrauend, daß dein Lebens-
werk den Beifall Gottes habe; dein Gewand sei weiß, und dein Haupt mit Öl
gesalbt; genieße mit deiner Gattin, die du liebst, dieses eitle Leben, so lang
es dauert, bevor die Tage kommen, die dir nicht gefallen, wo kein Licht mehr
dringt durch die Fenster (die Augen), die Hüter deS Hauses (die Hände) zittern,
die Starken (die Beine) Wanken, die Mühle (das Zahnfleisch) geräuschlos
mahlt." Wir haben da also das Horazische oaixo cllom, das Ideal der latei-
nischen Oden- und Jdyllcndichter: im bescheidnen Hause mit einem geliebten
Wesen und ein paar guten Büchern ruhig leben, sich mit angenehmer Arbeit
die Zeit vertreiben, täglich am Naturgenuß, ab und zu an der Unterhaltung
mit guten Freunden sich erfreuen. Von Epikur unterscheidet den Prediger,
daß jener die Furcht vor den Göttern als eine Glückstörung verbannt, dieser
die Furcht vor Gott zur Hüterin des Glücks bestellt: Fürchte Gott und halte
seine Gebote, das ist die Hauptsache; und gedenke, daß Gott alle Menschen
vor sein Gericht fordert und über alle ihre Thaten richtet, so schließt der
Prediger. Auch der Epikureer hütet sich vor Frevel, weil solcher das Glück
gefährdet. Der Prediger aber wußte wohl, daß bloße Klugheit nicht genügt,
daß die Mehrzahl eines stärkern Zaunes bedarf; abgesehen davon, daß die
Leugnung Gottes oder auch nur seiner Weltregierung der Wahrheit nicht ent¬
spricht. Wenn in dem ganzen Buche keine Rücksicht genommen wird auf
Menschen, die unter schweren Leiden seufzen, die also von diesem biblischen
Epikureismus keinen Gebrauch machen können, so liegt das in der Natur der
Sache. Für Menschen, die das Leiden läutert, erhöht und beseligt, ist das
Buch nicht geschrieben, denn diese gehören zu den Esoterikern; gewöhnliche
Menschen aber werden durch das Leiden nicht besser, sondern schlechter; für
den übernatürlichen Trost haben sie kein Organ; woraus nebenbei bemerkt folgt,
daß es eine Illusion ist, wenn man der sittlichen Verderbnis eines Proletariats
mit innerer Mission und dergleichen beikommen will, wofern dem geistlichen
Zuspruch nicht jedesmal die leibliche Hilfe vorangeht. Nur außerordentliche
Menschen vermögen in Hunger, Frost und Krankheit Psalmen anzustimmen;
sür den gewöhnlichen Menschen ist in einem körperlich unbehaglichen Zustande
ein Evangelium, das keine leibliche Hilfe bringt, so wenig vorhanden wie etwa
eine Symphonie; oder geht wohl jemand, der an heftigen Zahnschmerzen leidet,
ins Konzert?
Solchen, die für einen höhern Trost empfänglich sind, predigt der Ver¬
fasser des Buches der Weisheit. Er polemisirt gegen den Koheleth, ohne ihn
zu nennen, wie der Jakobusbrief gegen den Nömerbrief polemisirt, nicht um
das Buch selbst als verderblich zu verwerfen, sondern nur um davor zu warnen,
daß man sich nicht durch einzelne Aussprüche des Buches in das Lager jener
schlimmen Epitureer verlocken lasse, die auch nicht einmal echte Jünger Epikurs
waren. Kurz ist unser Leben, lasset uns also genießen und fröhlich sein, das
hatten allerdings sowohl Epikur als der Prediger gesagt, aber lasset uns den
gerechten Armen unterdrücken, schonen wir nicht der Witwe, und achten wir
nicht der Weißen Haare des Greises, das hat Epikur nicht gesagt, und der
Prediger hat ausdrücklich vor Frevel gewarnt. Aus dem deutlichen Hinweis
auf den Prediger darf man schließen, daß er nicht lange vor dem Buche der
Weisheit geschrieben sein mag; dieses aber gehört dem zweiten vorchristlichen
Jahrhundert an. Wenn sich die Verfasser beider Bücher in die Person Salomos
verkleiden, so beabsichtigen sie damit keinen litterarischen Betrug. Die eigentlich
redende Person ist in beiden Büchern die göttliche Weisheit, als deren voll¬
kommenste Verkörperung den Juden ihr glorreichster König galt. Im Gegen¬
satz zu Hiob, der vor dem Welträtsel in Ehrfurcht verstummt, und zum Prediger,
der Lösungsversuche als eine unnütze Plage abweist, giebt der Verfasser des
jüngsten dieser philosophischen Werke eine positive Antwort, die darin besteht,
daß das irdische Leben nur eine Vorbereitung auf ein jenseitiges, vollkommnes,
ewiges Leben sei. Schon in einigen Psalmen und in einigen Stellen des
Buches Hiob wagt sich der Gedanke der Unsterblichkeit, als Erzeugnis einer
tiefen Sehnsucht, schüchtern hervor; der Prediger findet ihn keiner Beachtung
wert, ja er scheint ausdrücklich sagen zu wollen, daß die Seele mit dem Leibe
zu Grunde gehe; das Buch der Weisheit aber lehrt die persönliche Fortdauer
der Seele und das Gericht nach dem Tode klar und bestimmt. Der Mate¬
rialismus wird ausführlich widerlegt, der Triumph der auferstcindnen Gerechten
über ihre ehemaligen Verfolger und Unterdrücker in den lebhaftesten Farben
geschildert. Sowohl die Leugnung Gottes als auch der Polytheismus werden
als Wirkungen eines verdorbnen oder wenigstens von der Sinnlichkeit in den
Staub gezognen Gemüts dargestellt: der verwesliche Leib beschwert die Seele;
in eine böse Seele geht die Weisheit nicht ein und wohnt nicht in einem der
Sünde ergebner Leibe; so trennen verkehrte Gedanken von Gott; deshalb haben
auch die Kananiter mit ihren ruchlosen Götzendiensten, als ein Hindernis reiner
Gvtteserkenntnis, ausgerottet werden müssen. Die Naturanbetung findet der
Verfasser, als eine Verirrung kindlicher Gemüter, verzeihlich; sie seien eben von
der Schönheit und Größe der Naturerscheinungen: des Feuers, des vom
Sturmwind bewegten Luftkreises, des Meeres, des Sternenhimmels, der Sonne,
des Mondes überwältigt worden; freilich hätten sie bedenken sollen, daß alle
Pracht und Macht dieser Erscheinungen auf ein geistiges Wesen als ihren Ur¬
heber hinweise, und daß dieser mächtiger und herrlicher sein müsse als seine
Geschöpfe. Ganz unverzeihlich aber findet er es, wenn man ein von Menschen¬
händen geschnitztes Bild anbetet, wozu der Künstler den Nest eines Baum-
Stammes verwendet hat, nachdem er aus dessen wertvollern Teilen ein nütz¬
liches Gefäß geschaffen und das übrige, zu Brennholz bestimmt hat.")
Ließ sich nun auch das Physische Übel als ein Mittel, deu Menschen fürs
Jenseits zu erziehen, erklären, so war damit noch nicht die Erklärung der
Thatsache gegeben, daß dieses Erziehungsmittel bei vielen versagt, ja daß auch
ohne physische Übel gerade bei solchen, die mit göttlichen Wohlthaten über¬
schüttet werden, die Ungerechtigkeit überHand nimmt und einen großen Teil der
Menschheit in feindlichen Gegensatz zu Gott bringt. Dieser Schwierigkeit
gegenüber nimmt der Verfasser zu dem Auskunftsmittel seine Zuflucht, das der
Parsismus gefunden hatte, und von dein eigentlich schon die polytheistische Unter¬
scheidung in gute und böse Götter eine rohere Form gewesen war. Gott hatte
den Menschen, meint er, unsterblich und nach seinem Bilde geschaffen, aber
durch den Neid des Teufels (als dessen Verkleidung also von nnn an die
Schlange des Paradieses gedeutet wird) ist der Tod in die Welt gekommen,
und die zu ihm halten, ahmen ihm nach. Gott hat den Tod nicht gemacht,
noch hat er Freude am Untergange lebendiger Wesen; zum Dasein hat er be¬
stimmt, was er geschaffen, verderbliches und ein Höllenreich gehört nicht zu
seiner Schöpfung, denn unsterblich ist seine Gerechtigkeit; sondern die Gottlosen
haben den Tod mit ihren Worten und Thaten herbeigeführt und als ihren
Freund erachtet, wie sie denn auch seiner würdig sind. Gott aber, vor dem
der Erdkreis nur ein Stündchen auf der Wage, ein Tantröpflein ist, erbarmt
sich aller und übersieht die Sünden der Reuigen, denn er liebt alles, was da
ist, und haßt nichts von dem, was er geschaffen hat, denn nicht im Zorn hat
er irgend etwas geschaffen. Allen Wesen, ruft diese von Liebe und Freude
überquellende Seele, bist du gnädig, denn dein sind sie, o Herr, der dn die
Seelen liebst. Damit ist die Schwierigkeit nun freilich noch nicht endgiltig
gelöst; weitere Untersuchung vermag die Verantwortung für das Dasein des
Teufels, wenn dieser nicht in streng parsisch-manichäischer Weise als ein Gott
ebenbürtiges, mit ihm gleich ewiges Wesen gefaßt wird, nicht von Gott ab¬
zuwälzen. Aber die Antwort genügt einstweilen zur Beruhigung der Zweifler
an der Güte Gottes, wie denn Kinder — und wie viel Menschen hören vor
ihrem Tode auf, Kinder zu sein? — mit halben Antworten abgespeist werden
müssen. Der Reifere mag dann überlegen, ob nicht der Teufel vielleicht nur
das Sinnbild einer im Wesen der Welt begründeten Notwendigkeit sei.
Es konnte nicht fehlen, daß ein so tiefer Geist über das Wesen Gottes
selbst nachdachte und gleich alleu echten Philosophen auf das Problem stieß,
wie die Einheit Gottes mit der in der Schöpfung hervortretenden Mannig¬
faltigkeit zu vereinbaren sei. Auch dabei nun benntzt er eine vorgefundne
orientalische Idee, reinigt sie aber von allem phantastisch Mythologischen.
Zwischen den unnahbaren Gott und die wahrnehmbare Welt stellt er als
Mittelwesen die personifizirte göttliche Weisheit, durch die sich Gott schaffend
offenbart. Er hatte hierin schon einen Vorgänger an dem unbekannten Ver¬
fasser des achten Kapitels der Sprüche, der die Weisheit reden läßt: „Der
Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege, ehedem er irgend etwas ge¬
schaffen hatte. Von Ewigkeit her bin ich geordnet. Noch waren die Abgründe
Oum truncus vru.ni üoulmis, inutilo lig'nun
(Zum k»dor, mvortu8 svamnum kavsrotuv krispnm
RHomz, Satire» Z, ti. akun esso Dom».
des Meeres nicht da, noch waren die Quellen nicht hervorgebrochen, noch war
die schwere Masse der Berge nicht aufgetürmt, und schon war ich empfangen;
vor den Hügeln ward ich geboren. Als er die Himmel bereitete, war ich zu¬
gegen; als er nach bestimmtem Gesetze die Tiefe umwallte, als er oben den
Luftkreis befestigte, als er die Quellen abwog, den Wassern des Meeres ihre
Grenzen setzte, die sie nicht überschreiten dürfen, als er den Grund zur Erde
legte, da war ich als Werkmeisterin bei ihm, ergötzte mich täglich und spielte
auf dem Erdkreise, und meine Lust ist, bei deu Menschenkindern zu sein." Im
Buche der Weisheit rühmt nun ihr Liebhaber, den Gott mit ihr beguadet hat,
daß er mit ihr die Fülle aller Güter empfnugeu habe, daß sie ihm verliehen
habe, die Anordnung des Erdkreises und die Kräfte der Elemente zu erkennen,
Anfang, Mitte und Ende aller Dinge, den Wechsel der Zeiten, den Lauf des
Jahres, die Stellung der Gestirne, die Natur und Leidenschaften der Tiere
und die Gedanken der Menschen, die Unterschiede der Pflanzen; alles Verborgne
habe ihn die Künstlerin Weisheit gelehrt. Denn in ihr wohne der heilige
Geist Gottes, der einfache und vielfache, feine, bewegliche, unbefleckte, gewisse,
liebliche, scharfe, der überall durchdringt, ohne daß jemand ihn abwehren könnte,
der gütige, menschenfreundliche, alles voraussehende, alle Kräfte einschließende.
So sei denn die Weisheit das allerbehendestc, alles mit ihrer Lauterkeit durch¬
dringende, ein Hauch Gottes, ein Glanz des ewigen Lichts, ein Spiegel der
Majestät Gottes, ein Abbild seiner Güte; „während sie einfach ist, vermag sie
doch alles; in sich selbst bleibend, erneuert sie alles, und die Völker durch¬
flutend ergießt sie sich in heilige Seelen, die sie zu Gottesfreunden und
Propheten macht; und keinen liebt Gott, in dem sie nicht wohnt; schöner ist
sie als die Sonne und vorzüglicher als das Licht; denn diesem folgt die Nacht,
die Weisheit aber wird nimmermehr von der Bosheit überwältigt. Von
einem Ende der Welt bis zum andern wirkt sie gewaltig und ordnet alles
lieblich an."
Zuweilen scheint es so, als würde der Geist Gottes noch als eine be¬
sondre Kraft oder Person neben der Weisheit wirksam gedacht, und so anch
„dein allmächtiges Wort," das im Schweigen der Mitternacht vom königlichen
Thron herabsteigend den Gottlosen deu Tod, den Gerechten das Leben und
Erlösung bringt. Es ist bekannt, daß wir hier eine Frucht jener jüdisch-
alexandrinischen Spekulation vor uns haben, die von Aristobul bis zu Philo,
dem Zeitgenossen der Apostel, reichte, nur daß auch vor deren Erzeugnissen
das biblische Buch sich durch seine völlige Freiheit von Phantastik und
Mystizismus auszeichnet und durch eine Reinheit und Klarheit, die vor jeder
geläuterten philosophischen Anschauung unsrer Tage die Prüfung besteht. So
haben sich denn die drei Ströme des Denkgeistes, die sich ihre Wege durch
die Jahrhunderte gesondert gebahnt hatten, der persische, der jüdische, der
griechische in ein gemeinsames Bett ergossen. Das war die bleibende Frucht
des Werkes Alexanders des Großen, wie dann später die Einbeziehung des
mittlern und westlichen Europas in diese geistige Bewegung die bleibende
Frucht der römischen Eroberungen gewesen ist; die großen politischen Be¬
wegungen der alten Welt: die Aufeinanderfolge der Weltreiche, die das Buch
Daniel in Bildern darstellt, die Eroberungszüge Alexanders, die Gründung
des Römischen Weltreichs, sie haben keinen andern Zweck gehabt, als die
materiellen Bedingungen zu schaffen für die Vereinigung der Seelen im
geistigen Weltreich des Neuen Testaments. Weit entfernt davon, die Größe
des göttliche» Planes zu verkleinern, hat die Tübinger Schule diesen Plan
erst recht verherrlicht, indem sie die Elemente nachwies, aus denen die neu-
testamentliche Lehre zusammengeflossen ist. Ihr Irrtum bestand uur darin,
daß sie das neue Gewächs erklärt zu haben glaubte, indem sie seine Bestand¬
teile darlegte. Kein Genie fällt in dem Sinne vom Himmel, daß es nichts
von den Ergebnissen der Thätigkeit der übrigen Menschen brauchte und in sich
aufnähme; auch ein Augustin, ein Luther, ein Goethe hat im Grunde nur gesagt,
was er von andern gelernt hat, und was viele vor ihm gesagt hatten. Daß er
es noch einmal sagte, gerade zu der Zeit wo und in der Form, wie es wirksam
werden konnte, das war seine besondre Leistung und die Erfüllung eiuer uur
ihm zu teil gewordnen Sendung. Es gab viel Männer im Römischen Reich,
die — bis auf eines — ganz dasselbe hätten sagen können, was Christus
gesagt hat, und die es auch wirklich, der eine dieses, der andre jenes, gesagt
haben; aber ohne Christus und seine Kirche würde die heutige Welt nicht
einmal die Namen dieser Männer kennen, geschweige denn ihre Schriften.
In der That, nur als Leistung des forschenden Geistes betrachtet ist das
Neue Testament schon vor Christus dagewesen; es kommt nichts darin vor
über Gott, Welt und Menschheit, was nicht schon von andern gefunden worden
wäre. Der jüdischen Gedankenarbeit war die griechische parallel gegangen.
Von den großen Tragikern waren die Götter versittlicht worden, sodaß sie
mit Götzen nichts mehr gemein hatten, sondern teils als Sinnbilder, teils als
wirksame Hüter der sittlichen Ideen und Verhältnisse, der Pflichten und Tugenden
erschienen. Die Philosophen aber hatten die Welt auf eine einheitliche Ursache
zurückgeführt, die als ein vernünftiger Geist gedacht wurde. Der Gott des
Anaxagoras, des Vorrates, Plato und Aristoteles unterscheidet sich von dem
der Propheten nur durch das Fehlen jener Lebenswärme, die deren leiden¬
schaftliches Gemüt hineinlegte; in einer kühlen und klaren Atmosphäre entstanden,
war er selbst kühl und klar. Wenn das Voll im Polytheismus stecken blieb,
so lag das an dem ästhetisch-plastischen Bedürfnis der europäischen Südländer,
ihrer entschiednen Abneigung gegen Abstraktionen. Sie stecken darin bis auf
den heutigen Tag, und weder die englische Bibelgesellschaft noch Herr Trabe
und die übrigen eifrigen Evangelisatorcn werden daran etwas ändern; man
kann die einmal gegebne natürliche Konstruktion eines Einzelnen oder Volks¬
gemüth zerbrechen, aber ändern kann man sie nicht. Gleichzeitig wurde die
Idee der unsterblichen Seele ausgebildet. Ganz so wie das Neue Testament
und die spätern christlichen Mystiker lehrte Sokrates die angenehme Erscheinung
des leiblichen Menschen als Einladung auffassen, seine Seele zu lieben, und
mahnte er, vor allem die Vervollkommnung der eignen Seele anzustreben.
Ja es klingt gar nicht mehr griechisch, sondern christlich-afketisch und erinnert
an das Wort vom Auge ausreißen, wenn er einmal den Mann, der es wagt,
einen schönen Jüngling zu küssen, den verwegensten und tollkühnsten aller
Menschen und die Schönheit ein giftiges Tier nennt, das gefährlicher sei als
die Giftspinnen. Mer. Mein. 1, 3.) Ebenso bedeutet doch die Parabel von
Herakles am Scheidewege, die Sokrates benutzt, ganz dasselbe wie das Wort
Christi vom breiten Wege, der zum Verderben, und vom schmalen, der zum
Himmel führt.
Um die gewöhnliche bürgerliche Moral, die heute hie und da für den In¬
begriff des Christentums ausgegeben wird, zu finden, braucht man nicht bis
zu den Griechen hinaufzusteigen, die findet man schon bei den Naturvölkern,
bei den einen natürlich reiner und vollkommner als bei den andern. Die
Griechen und Römer aber haben anch schon jene feinern sittlichen Begriffe
und Empfindungen ausgebildet, die man gewöhnlich für eigentümlich christlich
hält. Aristoteles hat freilich die Sklaverei für notwendig erklärt — wäre er
doch nicht allein Revolutionär sondern Utopist gewesen, wenn er das Gegen¬
teil gethan hätte — und sie sittlich dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß er
einen Unterschied der natürlichen Begabung zwischen Sklaven und Freien an¬
nahm, also gerade so. wie heute einige Svzialethiker den Unterschied zwischen
den Besitzenden und Besitzlosen, den Unternehmern und den Arbeitern zu recht¬
fertigen suchen. Aber sowohl die Dichter wie die Philosophen haben gelehrt,
daß der Mensch auch im Sklaven geachtet werden müsse, und daß ein tugend¬
hafter Sklave achtuugswerter sei als ein lasterhafter Herr. Der Gedanke einer
Predigt des Chrhsvstomus, daß, wenn ein nüchterner Sklave einen trunkner
Herrn bediene, dieser der Sklave, jener der Freie sei, kehrt bei den Alten
öfter wieder, und denen, die meinen, der Sklave könne seinem Herrn keine
Wohlthat erweisen, erwidert Seneca (vo döirvüoiis 18>, sie seien des
Menschenrechts unkundig; nicht vom Stande, sondern von der Gesinnung des
Handelnden hänge die sittliche Bedeutung einer Handlung ab. Zum Urteil
über den sittlichen Charakter eines Menschen aber sind nicht einmal Hand-
lungen notwendig; denn die Gesinnung, die Absicht ist es, was den Menschen
gut oder böse macht, wie Seneca nach Kleanthes lehrt, der dreihundert Jahre
vor der Bergpredigt gelebt hat: der Mörder sei schon ein Mörder, ehe
er seine Hände mit Blut befleckt. (In derselben Schrift 5, 14.) Die Ver¬
achtung des Reichtums und des äußern Glanzes endlich, so ziemlich alles
dessen, was das Neue Testament mit dem Worte Welt bezeichnet, war etwas
ganz gewöhnliches bei den Alten. Es bleibt also der neutestamentlichen Moral
eigentlich nichts eigentümlich als die Feindesliebe; eine praktisch wertlose Eigen¬
tümlichkeit, wenigstens habe ich fie bis heute unter Christen nirgends gesunden,
Nieder im öffentlichen noch im Privatleben.
Noch eines allerdings hat das Christentum eigentümlich, woraus sich
die Feindesliebe als theoretische Folgerung ergiebt, die Zurllckführung aller
Äußerungen des sittlichen Lebens auf die Liebe als ihren Quell. Und damit
berühren wir nun den Punkt, an dein man inne wird, daß das Christentum
keine bloße Mischung jüdisch-orieiitalisch-griechischer Weisheitslehren ist. Christus
war die verkörperte Liebe, dogmatisch gesprochen, der Mensch gewordne Gott.
Seneca hat keine Wirkung ausgeübt, denn er war zwar ein großer Philosoph
und Tugeudbold, aber zugleich ein noch größerer Wucherer. Sokrates hat eine
mächtige Wirkung ausgeübt und übt sie bis auf den heutige» Tag, denn er
lebte, was er lehrte, und gab nicht schöne Worte, sondern sich selbst. Das
schönste Zeugnis stellte ihm einer seiner Feinde, der Sophist Antiphon ans,
der ihm sagte, ein Sklave würde fortlaufen, wenn ihm sein Herr eine so harte
und entbehrungsvvlle Lebensweise zumutete/') wie sie Sokrates freiwillig
führe, worauf dieser natürlich antwortete, eben die Freiwilligkeit mache den
Unterschied. Aber des Sokrates heutige Wirksamkeit wäre, wie schon bemerkt
worden ist, gar nicht vorhanden ohne Christus, der die allergrößte Wirksamkeit
ausgeübt und dadurch bewiesen hat, daß er ein unendlich viel Größerer ist als
Sokrcites. Er hat sie ausgeübt und übt sie noch aus, indem er jenen eigen¬
tümlichen Liebestrieb erzeugt, der deu Griechen fremd war: den Trieb, allen
Menschen wohlzuthun, zu Wildfremden zu eilen, die einen nicht rufen, und ihnen
Wohlthaten anzubieten, an denen ihnen so wenig gelegen ist, daß sie nicht
selten den Wohlthäter umbringen. Das war eine den Griechen völlig fremde
Empfindung. Sie waren, wie ich bei andrer Gelegenheit gezeigt habe, human
gegen jedermann und mitleidig sogar gegen den leidenden Feind, aber der
Gevanke, sich um Menschen zu kümmern, die außerhalb ihres engern Wirkungs¬
kreises wohnten, lag ihnen fern. Die nationalen Schranken hatte dann wohl
die Verschmelzung aller Kulturstaaten zu dem einen römischen orbis törrarum
durchbrochen, sodaß namentlich den Stoikern das Pauliuische „weder Grieche
noch Barbar" geläufig war, nur daß sie: „sondern Mensch" fortfuhren, nicht:
„sondern Christ"; aber daß man verpflichtet sei, diesen Mitmenschen das Heil
zu bringen, auch wenn man in keiner verwandtschaftlichen oder sonst ver¬
pflichtenden Beziehung zu ihnen stand, davon wußten sie nichts. Erst Christus
hat jene Liebe zu den Seelen gebracht, die die Kirche gegründet hat, der aber
freilich als häßlicher Schatten — keine irdische Erscheinung göttlicher Kräfte
bleibt ohne häßlichen Schatten — der Fanatismus anhaftet, gegen den es
wiederum kein besseres Gegengewicht giebt, als die Beschäftigung mit den
kühlen, klaren, heitern Griechen.
Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie weit die christlichen Dogmen
von der Trinitcit, von der Person Christi, vom Teufel, von Sündenfall und vou
der Erlösung, die, wie wir bei der Betrachtung des Buches der Weisheit gesehen
haben, die Philosophie der Alten vorbereitet hatte, inwieweit sie zum Wesen des
Christentums gehören oder nur Symbole sind, Lückenbüßer sür unsre Vernunft,
die das Wesen der Welt ergründen will und es nicht vermag. Es genügt
hier festzustellen, daß das Christentum die Ergebnisse der Geistesarbeit der
Alten zusammengefaßt und allen spätern Geschlechtern zugänglich gemacht hat,
und daß es durch Gründung der Kirche die Verbreitung, Erhaltung, Fort¬
pflanzung der höchsten Güter unabhängig gemacht hat von den vergänglichen
und wandelbaren Gebilden, denen diese Aufgabe bis dahin obgelegen hatte,
den Staaten. Durch diese Leistung ist Christus in einem Sinne der Mittel¬
punkt, in einem andern Sinne der Schlußstein der Weltgeschichte geworden;
das zweite in dem Sinne, daß seit ihm für das höhere Leben der Menschen
nichts mehr gewonnen werden konnte. Alle Philosophie der christlichen Zeiten
ist nur Variation der alten Philosophie und entweder beweisende Ausführung
der christlichen Glaubenssätze oder Kampf gegen diese. Die Philosophen sind
entweder Theisten oder Atheisten, heut wie vor dreitausend Jahren; etwas
wesentlich neues erfahren wir von keinem; nen sind nur die Vervollständigungen
lückenhafter Kausalreiheu, die Anwendungen alter Wahrheiten auf neue Ver¬
hältnisse und die sich nach dem Zeitgeschmack richtende Redeweise. In der
Ethik kann erst recht nichts neues gefunden werden. Auch die Künste tonnen
nur Variationen des Alten und neue Effekte durch neue und vervollkommnete
Darstellungsmittel bieten. Am ehesten noch wird man von der Musik sagen
können, daß sie seit dem siebzehnten Jahrhundert neues geleistet habe. Die
Gedankenbewegung hat also seit Christus nicht mehr den Zweck, neues zu finden,
sondern sie ist nur um ihrer selbst willen da, weil sie das Leben der Seele
ist, weil ohne sie der Geist entweder der Fäulnis oder der Erstarrung anheim¬
fällt. Das allein wirklich Neue in der Welt: der Fortschritt der angewandten
Naturwissenschaften, ändert an dem höhern Leben des Menschen gar nichts;
es macht ihn weder besser noch schlechter, weder weiser noch thörichter, weder
schöner noch häßlicher, weder glücklicher uoch unglücklicher; es hat nur den
doppelten Zweck, einerseits der notwendigen geistigen Bewegung einen uner¬
schöpflichen Stoff zu liefern, andrerseits für das durch wachsende Bevölkerungs¬
dichtigkeit erschwerte materielle Dasein die Bedingungen und Hilfsmittel zu
schaffen. Demnach haben die Verfasser der neutestamentlichen Schriften Recht,
wenn sie diese zukünftige materielle Entwicklung, von der sie übrigens natür¬
lich keine Ahnung hatten, ganz unbeachtet lassen, die Ankunft Christi als die
Erfüllung des göttlichen Weltplans und die Vollendung der Weltgeschichte an¬
sehen, die Wiederkunft des Herrn in naher Zukunft erwarten, und was bis
dahin uoch zu geschehen hat, der Hauptsache nach auf den Kampf zwischen
dem Christentum und seinen Gegnern zurückführen; so bildet denn der Aufblick
zum himmlischen Jerusalem, dem Endziel der irdischen Pilgerschaft, den Schluß
der Bibel.
Der österreichischen Presse sollte gegenwärtig wohl mehr als
genügender Grund zu Sorgen gegeben sein dnrch den harten Kampf, der den
Deutschöfterrcicheru von ihren slawischen „Brüdern" mit höherer Genehmigung
aufgezwungen worden ist. Mögen sie selbst einen nicht geringen Teil der Schuld
daran tragen, daß die Dinge so weit kommen konnten, indem sie zu willig gewissen
Führern folgten, die zuerst in liberaler Kurzsichtigkeit den Slawen alle Waffen in
die Hände gaben, ihnen die Schule auslieferten, ans der eine nicht mehr utrnqnistisch
fühlende Generation hervorgegangen ist, erst den erstarkten Gegner unterschätzten,
dann meinten, ihn mit den Mitteln der Bttrecmkrcitie wieder unterwürfig machen zu
können, und die wiederholten Gelegenheiten zu einem annehmbaren Frieden ver¬
säumten — mögen solche Verschuldungen den unerträglichen Zustand gezeitigt haben:
heute ringen sie thatsächlich um ihre nationale Existenz, und der übermütige Feind
nimmt schon die ganzen Alpenländer als Vasallengebicte der Krone von Böhmen
in Anspruch. Die Lage ist ernst und bedrohlich genug, umso mehr, als die gali-
zische Szlachta ihre Rechnung dabei findet, mit den Tschechen gemeinsame Sache
zu machen, während in dem sogenannten verfnssnngstreuen Großgrundbesitze, der
eine Zeit lang so tapfer zur Opposition — halten wollte, ein böhmisch-mährisches
Divlvmntisiren Boden gewinnt. Die Sache ist ernst, aber den „fortschrittlich¬
gesinnten" Zeitungen liegt offenbar eine andre Sache doch noch mehr am Herzen,
der Handel der Firma Drehfuß-Zola. Sie versichern unermüdlich, daß überall im
weiten Erdenrunde, wo sich Kultur und Rechtsgefühl noch haben behaupte» können,
glühende Begeisterung für Emile Zola herrsche, den großen Bekenner und Märtyrer,
dem es das neunzehnte Jahrhundert zu danken haben wird, wenn es noch mit
Anstand liquidiren darf.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Mein muß anerkennen, daß dieses entschiedne Eintreten „für Wahrheit und
Recht" jenen Blättern nicht leicht gemacht wurde, denn Paris mit seinen Boulevards,
seiner Börse, seinen Theatern, seinen Romanen usw. war doch stets Gegenstand
ihrer unbegrenzten Schwärmerei. Ihr Schmerz war schon groß, als der Ruf
5, Berlin so rasch verstummen mußte, und die brutalen Deutschen es wagten, dem
heiligen Frankreich zwei deutsche Provinzen zu entfremden. Und nun müssen sie
gar konstatiren, daß das einst so herrliche Kriegsheer eben dieses heiligen Frank¬
reichs durch teuflische Künste bis in den Kern vergiftet worden ist, daß man an
ihm verzweifeln müßte, bliebe nicht Oberstleutnant Piquart, der „schone junge
Mann" als leuchtendes Beispiel als ein letzter Rest der Vergangenheit übrig.
Das muß freilich wehe thun.
Bemerkt nun jemand, daß auch er dem Exkapitän Dreyfuß herzliches Mitleid
widmen würde, wenn dessen Schuldlosigkeit dargethan sei, so muß er gewärtig
sein, unterbrochen zu werdem Wenn? Er ist unschuldig. Beweise? Zahllose,
unanfechtbare! Erstens ist er ein Elsässer Jude, und ein solcher könnte sein Adoptiv-
vaterland niemals verraten, selbst wenn er wollte. Zweitens sagt er es, sagt es
seine Familie, sagen es alle glaubwürdigen Pariser Zeitungen, sagt es Zola, und
endlich legen für ihn Zeugnis ab fünfhundert Jungfrauen der Wiener Leopoldstadt,
die so unbefangen sind, daß sie nicht einmal „Nana" gelesen haben. Bedarf es
noch andrer Beweise?
Auch wenn der Fragende so hartnäckig sein sollte, zu behaupten, daß doch für
den französischen Generalstab irgend ein Grund vorgelegen haben müsse, den Un¬
schuldigen zu verurteilen und so grausam zu strafen, würden die Verteidiger nicht
in Verlegenheit geraten. Man wollte ihn vernichten, einzig und allein weil er
ein Jude ist. Die von Deutschland aus eingeschleppte „Schande des Jahrhunderts"
ist von dem talentvollern Volte der Franzosen zu solcher Virtuosität ausgebildet
worden, daß es in Paris und dem größten Teile des Landes fast nnr noch Anti¬
semiten giebt. Mit Dreyfuß wurde der Anfang gemacht, alle seine Stammes¬
genossen werden auf mehr oder weniger schändliche Weise aus der Welt geschafft
werden. Pfaffen, Militär und der einst so aufgeklärte, an der Spitze der Nationen
marschierende Pariser Pöbel wollen unter sich sein. Sie wissein daß ihnen die
Austreibung der Juden nach altorientalischer oder spanischer Mode nichts nützen
könnte, weil sie doch immer zurückkehren würden. Allein es giebt ja andre Vor¬
bilder, die in größerm Stil nachgeahmt werden sollen: Betlehemitische Abschlachtung,
Siziiianische Vesper, Bartholomäusnacht, Vernichtung der Waldenser, September-
morde, Noyaden und andre erprobte Mittel werden reinen Tisch machen, damit
das unglückliche Frankreich dem Schicksale von Sodom und Gomorrha verfallen
kann. Schon ist ja das Entsetzliche geschehen, daß das Volksgericht einen Zola
strafbar fand, anstatt ihn zum Präsidenten der Republik und Dreyfuß zum Ober¬
befehlshaber der Armee auszurufen! Wendet ja nicht ein, der Obmann der Ge¬
schwornen habe völlig korrekt erklärt, sie hätten nur die zwei Fragen zu beant¬
worten gehabt, ob der Generalstab beleidigt und verleumdet worden sei, und ob Zola
die gewisse Schrift verfaßt und veröffentlicht habe, alles andre gehe sie nichts an.
Natürlich! Entweder ist der Mann ein Antisemit, oder er hat sich erkaufen oder
einschüchtern lassen.'
Ist diese Beweisführung nochimmer nicht überzeugend? Nun, dann bleibt
noch der letzte Trumpf des Pfälzers von Miris (Bonn):
solids Een nit besage,
Den soll e heilig Dunnerwetter vcrzig Klnfter tief in de Erobode verschlage!!
Die bedrängten Deutschen in Österreich werden sich daher noch ein wenig
gedulden müssen, bis Frankreich wieder gerettet ist.
Seit einiger Zeit ist der
Streit um die Entschädigung unschuldig Verurteilter entbrannt. Dieser Streit
dreht sich hauptsächlich um drei Punkte: Wer soll Entschädigung erhalten? Wofür
soll Entschädigung gegeben werden? Wie soll der Entschädigungsanspruch durch¬
geführt werden? Bei der ersten Frage ist streitig, ob die Entschädigung nur dem
gewährt werden soll, dessen Unschuld wirklich bewiesen ist, oder auch dem, dessen
Schuld nur nicht bewiesen ist, und ferner, ob jemand nur wegen erlittner Strafhaft
oder auch wegen der erlittnen Untersuchungshaft entschädigt werden soll.
Man hat erklärt, der nicht Überführte müsse dem Unschuldigen in dieser Hin¬
ficht gleichgestellt werden; denn nur die Freiheitsentziehung sei begründet, die sich
auf das Gesetz stütze, und das Gesetz lasse die Freiheitsentziehung nur zu, wenn
erwiesen werde, daß der Angeklagte ein Strafgesetz übertreten habe. Rein logisch
mag das richtig sein; aber es ist ein heikles Beginnen, einen Anspruch, der an¬
geblich von der Billigkeit gefordert wird, auf die Logik zu stützen, deren Gesetze
nichts mit Billigkeit und Unbilligkeit zu thun haben. Es ist widersinnig, Billigkeits¬
ansprüche durch die Logik zu stützen, wie es unbillig ist, Billigkeitsgründe, die den
geforderten Ansprüchen entgegenstehen, mit den Gesetzen der Logik zu bekämpfen.
Und solcher Gegengründe giebt es drei.
Einmal ist es ein öffentliches Unglück, wenn ein Verbrecher, dessen Schuld
nicht erwiesen werden kann, noch obendrein eine Entschädigung erhalten soll. Das
hieße eine Prämie auf das geschickte Leugnen des Verbrechers setzen. Es würde
das geradezu eine Verhöhnung der Staatsautorität sein, wie sie nicht schneidender
gedacht werden konnte. Ein ferneres Bedenken geht dahin, daß die Grenze zwischen
strafbarem Unrecht und strafloser Unsittlichkeit außerordentlich fein ist. Solange wir
ein aus Paragraphen gebildetes Strafgesetzbuch haben — und nur im goldnen Zeit¬
alter konnte es anders sein —, ist es eine zwingende Forderung des Rechts, daß nur
der bestraft wird, dessen Handlung gegen diesen oder jenen Paragraphen verstößt.
Dabei werden täglich Leute freigesprochen werden müssen, die durch die Verhand¬
lung sittlich gerichtet werden, wenn sie auch im Sinne des Gesetzes nicht schuldig
siud. Solchen Leuten wird ein gesundes Billigkeitsgcfühl keine Entschädigung zu¬
gestehen. Endlich aber ist auch bei einem Verbrechen Rücksicht auf den schuldlos Ver¬
letzten oder Geschädigten zu nehmen. Diese Rücksichtnahme fehlt der neuen Strnf-
rechtspflege, der theoretischen wie der praktischen, fast vollständig; sie beschäftigt sich
fast ausschließlich mit dem Verbrecher; ihn zu bestrafen, ihn zu bessern ist ihr Ziel,
und ein Blick auf die neue italienische Schule lehrt, bis zu welcher Rücksichtslosigkeit
gegen den Verletzten eine falsche Humanität führen kann. Bezeichnend genug ist
schon die äußere Anordnung unsers Strafverfahrens, in dem der Verletzte besten¬
falls weiter nichts als ein Zeuge unter andern ist.
Man denke sich in die Seele eines Menschen hinein, der die feste Überzeugung
hat, von dem Angeklagte» verletzt zu sein, es aber gerichtlich nicht beweisen kann,
und der es nun mit ansehen muß, wie der Schurke, der ihm seine Ehre, seine
Arbeitsfähigkeit, sein Vermögen geraubt hat, vou dem Staate obendrein noch eine
Entschädigung erhält, nur weil die Schuld des Angeklagten dem Strnfrichter nicht
bewiesen werden kann, oder weil der Übelthäter vorsichtig genug war, seine Hand¬
lung so einzurichten, daß sie dem Strafgesetze nicht unterliegt. Stehen sich ein
Verdächtigter und ein Unschuldiger gegenüber, dann müssen die Sympathien des
Gesetzgebers dem Unschuldige» gehören, und die Rücksicht auf ihn erheischt ge¬
bieterisch, daß der Verdächtigte uicht entschädigt werde.
Somit kann, lassen wir einmal einen Rechtsanspruch auf Entschädigung zu,
dieser nur dem zustehen, dessen Unschuld klar erwiesen ist. Damit steht im engsten
Zusammenhange die Forderung, daß eine Entschädigung mir für erlittne Straf-, nicht
auch für erlittne Untersuchungshaft gewährt werde. Das Gegenteil würde unmittel¬
bar dazu führen, daß man wieder ans die mit Recht so verpönte „Entbindung von
der Instanz" käme, d. h. zur Freisprechung unter dem Verdachte der Thäterschaft.
Alte Irrenärzte siud geneigt, in jedem Meuschen, dessen Verhalten nicht ganz
dem Dnrchschnittsverhalten der Gesellschaft entspricht, einen Irren zu sehen; alte
Strafrichter sind geneigt, in jedem außergewöhnlichen Falle ein Indizium zu er¬
blicken. Im gesamten Rechtsleben giebt es kaum eine schwierigere Aufgabe, als
einen alten Strafrichter von der Unschuld eines Angeklagten zu überzeugen. Jeder
Praktiker wird mir recht geben, wenn ich die Annahme noch als optimistisch be¬
zeichne, daß von hundert Freigesprochncu höchstens fünf wirklich als „unschuldig" an¬
erkannt werden würden. Sind nun von diesen hundert Freigesprochueu zwanzig
wirklich unschuldig, so hat man das unerfreuliche Ergebnis, daß, um fünf Un¬
schuldige zu entschädigen, fünfzehn ebenso Unschuldige lebenslänglich unter dem
Verdacht eines Verbrechens leiden müßten.
Selbst von dem so gefundnen Satze, daß nur der im Wiederaufnahmeverfahren
freigesprochne Angeklagte, dessen Unschuld erwiesen ist, eine Entschädigung erhalten
darf, giebt es noch Ausnahmen; ihre Erörterung würde indessen hier zu weit
führen.
Bei der Frage, wofür Entschädigung gewährt werden solle, unterscheidet man
Ersatz des Vermögensschndens, Genugthuung für die Schande der Verurteilung
und Entschädigung für die sonst durch die Haft erlittnen Nachteile. Über die ersten
beiden Arten der Entschädigung herrscht kein Streit; sie sind ihrem innersten Wesen
nach gerechtfertigt; die Genugthuung erfolgt zweckmäßig durch geeignete Veröffent¬
lichung des freisprechenden Urteils. Umso mehr Schwierigkeiten bietet die dritte
Art der Entschädigung, die notwendig in Geld erfolgen muß. Man hat sie zu¬
nächst abgelehnt, weil der Richter uicht imstande sei, Strafhaft und Geld gegen
einander richtig abzumessen. Mit Unrecht. Dem Richter werden ganz andre und
viel schwierigere Aufgabe» zugemutet. Man braucht zum Beweise dafür nicht die
französische Rechtsprechung in Schadenersatzprozessen herbeizuziehen; gerade das
Strafrecht bietet ein treffliches Beispiel, denn es fordert vom Richter, die Schwere
des Verbrechens, die sich aus der Intensität des verbrecherischen Willens und der
Größe des verbrecherischen Erfolgs ergiebt, in el» richtiges Verhältnis zu setzen zu
einer Strafe, meist einer Freiheitsentziehung. Und in der Buße und im Schmerzen¬
gelde finden wir weitere Beispiele dafür, daß Geld und abstrakte Begriffe gegen
einander abgewogen werden könne».
Bedenklicher ist diese Lösung nach einer ander» Seite hin: sie würde un¬
mittelbar dazu führen, daß der Reiche eine höhere Entschädigung erhalten müßte
als der Arme. Der Millionär hat andre Bedürfnisse als der Arbeiter; jenem ge¬
währt dieselbe Summe viel geringere Entschädigung als diesem. Der Arbeiter, der
tausend Mark Entschädigung erhält, kann sich damit vielleicht zu einer höhern Stufe
emporarbeiten; dem Millionär bedenken dieselben tausend Mark nichts. Und doch
hat der Millionär — läßt man einmal die unabschätzbaren rein idealen Güter
beiseite — durch die Haft weit mehr entbehrt als der Arbeiter. Nun aber wäre
el» Gesetz, das die Entschädigung nach der Größe des Vermögens des zu Ent-
schädigenden abmessen wollte, im höchsten Grade antisozial. Es wäre auch darum
bedenklich, weil es den Anschein erwecken konnte, als ob der Arme und der
Reiche vor dem Gesetze nicht gleich wären. Ein solches Gesetz wäre heute
eine Unmöglichkeit. Diese Schwierigkeit umgeht der Vorschlag des Herrn Professor
Binding, ein „Sühnegeld" zu bewilligen, das je nach der Schwere der Haftart
und der Länge der Haft ein für allemal gesetzlich zu bestimmen sei. So annehmbar
dieser Vorschlag auch auf den ersten Blick erscheint, so wenig Widerhall würde
doch eine derartige Entschädigung im Rechtsbewußtsein des Volkes finden, und die
Einrichtung würde sich, wie mir scheint, kaum als lebens-, geschweige denn als
entwicklungsfähig erweisen.
Dafür, daß der Entschädigungsansprnch ein Rechtsanspruch werden solle, hat
sich der Reichstag nun fast in anderthalb Dezennien bei jeder Gelegenheit ausge¬
sprochen, meines Erachtens zu Unrecht.
Ein Rechtsanspruch ist ein erzwingbarer Anspruch, der von einer objektiven
Rechtsnorm abhängt. Der Entschädigungsanspruch hängt nach dem Entwurf davon
ab, daß die Unschuld des Verurteilten erwiesen wird. Was heißt das? Gesetze
stellen Rechts-, nicht Sittlichkeitsbegriffe auf; mit der Sittlichkeit an und für sich
hat das Recht nichts zu schaffen. Unschuld im Sinne des Entwurfs kann also nur
die rechtliche Unschuld bedeuten; es muß erwiesen sein, daß der Angeklagte das
Strafgesetz nicht verletzt hat. Dann aber haben alle die Angeklagten einen An¬
spruch auf Entschädigung, deren Handlungsweise dem Strafgesetze nicht unterliegt,
obgleich sie sittlich verwerflich ist. Es ist schon oben dargelegt worden, zu welchen
unerträglichen Folgen diese Auffassung führen könnte.
Noch ein andres Bedenken erhebt sich. Kann der Anspruch auf Entschädigung
bestenfalls nur in dem beschränkten Umfange, wie ihn der Entwurf verleiht, ge¬
währt werden, so ist er überhaupt so gut wie wertlos. Denn wie selten es einem
bereits verurteilten Angeklagten gelingen würde, ein Strafgericht von seiner Un¬
schuld zu überzeugen, das zeigt ein einziger Blick in die heutige Praxis. Freilich
gewährt es eine gewisse Befriedigung, wenn zum mindesten in diesen wenigen
Fällen ein Rechtsanspruch besteht. Es ist aber zu befürchten, daß der Staat, wenn
erst der Entwurf Gesetz geworden ist, geneigt sein wird, andre Fälle, die nicht in
den Rahmen des Gesetzes Passen, überhaupt nicht oder nnr in sehr geringem Maße
zu berücksichtigen.
Gegenwärtig bestehe» in den «leisten deutschen Staaten Fonds, aus denen nach
dem Gutbefinden der obersten Justizverwaltungsbehörden unschuldig Verurteilten
Entschädigungen gewährt werden können. Bleiben diese Fonds bestehen, so liegt
die Gefahr nahe, daß die Behörden, die über ihre Verwendung zu bestimmen
haben, nachdem einmal die öffentliche Meinung durch ein notwendigerweise völlig un¬
zureichendes Gesetz beruhigt ist, an die einzelnen Fälle einen viel strengern Maßstab
anlegen werde», als es jetzt der Fall ist.
Der Bundesrat hat lange Jahre hindurch die wiederholte» Resolutivuc» des
Reichstags abgelehnt, die einen Gesetzentwurf über die Entschädigung unschuldig
Verurteilter verlangte». Der Bundesrat stellte sich auf den Standpunkt, daß das
vorhandne Nichtrecht dem zu schaffende» Rechte vorzuziehen sei. Dieser Standpunkt
ist ganz richtig. Das neue Gesetz ist zwecklos, weil es nur auf einem kleinen Ge¬
biete angewandt werden kann, und gefahrvoll, weil die strengere Verwaltung des
Dispositionsfonds eine Schädigung des öffentlichen Rechtsbewußtseins bedeuten würde.
Im Jahre 1883 hat Otto Bähr das jetzt bestehende Verfahren als das allein
zweckmäßige empfohlen. Wenn er damals anführte, es erscheine verfrüht, mit einem
Gesetze vorzugehen, so gilt das heute nicht weniger als vor fünfzehn Jahren. Noch
heute erscheint es richtiger, die oft so sehr wünschenswerte Entschädigung unschuldig
Verurteilter als Verwciltungs- und nicht als Rechtssache zu behandeln. Will man
Härten im Strafrecht mildern, so kann das schon heute geschehen indem man den
Bruno Marwitz
Der
sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Bebel hat in einer der letzten Sitzungen
des Reichstags wieder einmal die Gelegenheit ergriffen, gegen die Regierung und
die Verwaltung des Neichslands die schärfsten Angriffe zu richten, und hat die
Ansicht ausgesprochen, die Schuld daran, daß Elsaß-Lothringen noch vom übrigen
Deutschland abgesondert sei, träfe einzig diese Regierung und Verwaltung. „Eine
Regierung, sagte er, die in fünfundzwanzig Jahren noch nicht völligen Frieden hat
schaffen können, ist unfähig. . . . Dem weitaus größten Teil der Bevölkerung liegt
alles, was an die französische Herrschaft gemahnt, vollständig fremd. Deutsche
Sitten sind ihnen eigen geworden usw. Der jetzige Zustand ist eine Schmach und
eine Schande für das gesamte deutsche Vaterland."
Diesen Äußerungen gegenüber, die geeignet wären, einem die Röte des Zorns
und der Scham in die Wangen zu treiben, erscheint es nicht uninteressant zu lesen,
wie ein Franzose über die jetzige Stimmung in Elsaß-Lothringen urteilt. Ein
alter französischer Offizier, Oberst Thomas, der alljährlich nach Metz reist, um
dort die Gräber feiner 1870 gefallnen Kameraden zu besuchen, hat in diesem
Jahre seine Reise auch uach dem Elsaß und schließlich bis nach Baden ausgedehnt;
er veröffentlicht seine Eindrücke in I^a Kranes Mut-uro vom 14. Februar d. I.
und schreibt unter cmdernn „Die Lothringer und Elsässer haben sür Frankreich
noch immer die gleichen Gefühle, die gleiche Hingebung, den glühenden Wunsch,
wieder Franzosen zu werden. . . . Trotz der deutschen Einwanderung und der
deutschen Erziehung haben sich die alten Lothringer, ihre Kinder und Enkel nicht
verändert. Im Elsaß hat zwar der größte Teil der Industriellen ans geschäft¬
lichen Gründen die deutsche Nationalität angenommen, aber die Kinder läßt man
in französischen Schulen erziehen. ... Es ist rührend, festzustellen, daß im Elsaß
die jungen Leute, die uach 1870 geboren und jetzt zwanzig- und füufundzwanzig-
jährig sind, ja daß auch die Kinder eine tiefe Abneigung gegen alles haben, was
deutsch ist." Wir halten diese Auslassungen des französischen Offiziers für sehr
übertrieben, aber immerhin ersieht man daraus, daß die Ansichten über die
Stimmung und Gesinnung der reichsläudischcn Bevölkerung recht Verschieden sein
können; wir sind weit davon entfernt, den französischen Offizier als eine un¬
parteiische Autorität anzuerkennen, aber genau ebenso wenig gestehen wir dies dem
Sozialistensührer Bebel zu. Wenn dessen Behauptungen, daß deutsche Sitten der
reichsländischen Bevölkerung eigen geworden seien, und daß dem weitaus größten
Teil der Bevölkerung alles, was an die französische Herrschaft gemahnt, vollständig
fremd sei, wahr sind oder wahr wären, so hätte jedenfalls die deutsche Regierung
ihren Zweck erfüllt und die richtigen Maßregeln zur Germanisirung Elsaß-Lothringens
ergriffen; die Vorwürfe Bebels wären also vollständig unbegründet. Andrerseits
scheint uns aus dem Bericht des Oberst Thomas unwiderleglich hervorzugehen, daß
die deutsche Regierung sehr wohl und recht daran thut, daß sie nicht die Mittel aus
der Hand giebt, nötigenfalls scharfe Ansnahinemaßregeln zur Geltung zu bringen
Herr Bebel empfiehlt schließlich auch die vermehrte Anstellung von süddeutschen
Beamten an Stelle der norddeutschen; wir glauben, daß er in diesem Punkte
nicht ganz unrecht hat; aber erstens ist schon eine große Zahl von süddeutschen
Beamten in Elsaß-Lothringen angestellt, und zweitens findet keinesfalls die Be¬
vorzugung einer bestimmten deutschen Nationalität statt. Daß man aber auch
hierin von verschiednen Gesichtspunkten aus urteilen kann, geht aus den Eindrücke»
hervor, die Oberst Thomas angeblich bei seinem Aufenthalt im Großherzogtum
Baden empfangen hat; er schreibt nämlich: „Die Bewohner von Baden betrachten
sich als Annektirte, sie bedauern ihre Angliederuug an das Deutsche Reich und
mochten zu Frankreich in den gleichen freundschaftlichen Beziehungen stehen wie
früher." Diese Behauptung ist in ihrem ersten Teil selbstverständlich Unsinn; die
Badenser sind ganz ausgezeichnete Deutsche, und die Franzosen sollten doch nach
achtundzwanzig Jahren endlich gelernt haben, daß der Kitt, der alle deutschen Stämme
eint, nicht mehr von ihnen gelockert werden kann; was aber den zweiten Teil der
Behauptung betrifft, so liegt das Hindernis freundschaftlicher Beziehungen zwischen
Deutschen und Franzosen ganz gewiß nicht bei den Deutschen, sondern einzig bei
den Franzosen.
Wenn heute der Angliedernng der jungen reichsländischen Generation an
Deutschland uoch Schwierigkeiten entgegen stehen, und diese Assimilation zu
wünschen übrig läßt, so machen wir dafür auch die internationale, vaterlandslose
Sozialdemokratie verantwortlich, die in den letzten Jahren leider auch in Elsaß-
Lothringen an Boden gewonnen hat. to.
Etwas gutes ist mau von der katholischen Hetzpresse nicht gewöhnt. Wenn sie es
aber so arg treibt, wie jüngst das sehr verbreitete Westpreußische Volksblatt, so
muß ihre grobe Aumaßlichkeit und außergewöhnliche Thorheit denn doch wieder
einmal tiefer gehängt werden.
In dem Leitartikel einer Januarnummer beschwert sich diese Zeitung über
„die Geister der Finsternis^!) in unsern Schnlbibliotheken" und sührt aus den
Bruchteilen der Kataloge von fünf westpreußischen Gymnasien (drei katholischen und
zwei paritätischen) eine Reihe von Werken an, die die katholischen Schüler „ihrem
Glauben und ihrer Sitte entfremden" müßten. Wir wollen über das einzelne mit
dem Verfasser nicht rechten, wollen ihm in verschiednen Fällen nicht seine Unkenntnis
und in den meisten nicht die Verschrobenheit seines Standpunkts vorhalten: mit
Leuten, die bedingungslos eine noch so mittelmäßige, wenn nur streng und starr
konfessionelle Litteratur durch ihr Zedern anstreben, ist eine Verständigung schlechter¬
dings unmöglich. Wir wollen auch nicht darauf hinweisen, daß die katholische
Jugendlitteratur trotz ihrer Mittelmäßigkeit und damit über ihr Verdienst hinaus in
den bemängelten Schülerbibliotheken doch vertreten ist (z. B. durch den Verlag von
Bachem in Köln), und daß die angegriffnen Gymnasien alle sast ebenso viele (öfters
sogar mehr) evangelische Schüler haben. Das aber übersteigt doch alles glaubliche,
daß in allem Ernst Ebers, Heyse und Gottschall für — Juden gehalten und dem¬
entsprechend auch behandelt werden. Eine solche Auffassung, besonders der Werke
von Paul Heyse dürfte durchaus neu sei». Überhaupt der arme Paul Heyse!
Dieser angeblich große, von jüdischer (!) Reklame zum Klassiker gestempelte „Stammes¬
genosse von Ebers," d. h. Jude, wird zunächst nach dem bekannten Verfahren durch
ein Urteil des Protestanten (!) Bleibtreu allgemein vernichtet; dann wird nur uoch
schlicht hinzugefügt, daß seine Dramen, insbesondre Hadrian und Kolberg, sich an
dem und jenem Gymnasium befänden. Der katholische Kritikaster kennt nun wenigstens
„Kolberg" sicherlich nicht. Wir müssen dies zu Ehren seines Vaterlandsgefühls
annehmen, das sich an diesem edeln und konfessionell gänzlich vorwurfsfreien
Schauspiel sicher erwärmt hätte. Darf aber ein Mann, der den Ansprüchen einer
allgemeinen Bildung so wenig genügt, litterarische Fragen überhaupt behandeln?
Übrigens ist es erheiternd, wie die Redaktion in einer besondern Anmerkung ihren
Mitarbeiter ergänzt; es wird nämlich zu dem Namen von Julius Wolff, der uach
Gottschall als vierter abgekanzelt wird, unter dem Text wörtlich bemerkt! Julius
Wolff ist trotz seines jüdisch klingenden Namens kein Jude, doch find seine Dich¬
tungen nicht minder ungefährlich (so!) für jugendliche Gemüter. D. Red. Man
ficht, daß Redaktion und Autor einander würdig sind, und nimmt nach all diesem
Unfug endlich fast mit Erstannen wahr, daß Gustav Freytag, „dem wirkliche Große
nicht abzusprechen ist, der aber bei der Vernnglimpfnng der katholischen Kirche be¬
kanntlich in den ersten Reihen der Streiter steht," nicht schließlich auch noch für
einen Juden erklärt wird. Wenn Verfasser und Redaktion einmal sein Bildnis
gesehen hätten, würden sie vielleicht hinzugesetzt haben: trotz seines Aussehens.
Aber das wird ihnen ebenso unbekannt geblieben sein wie seine Ehe mit einer
Jüdin, die sonst von dieser Seite sicherlich auch ausgenützt worden wäre.
Daß sich solche bodenlosen Albernheiten und Unwissenheiten selber richten, ist
nun nicht unbedingt der Fall. Hat doch bald nach dem Erscheinen des behandelten
Artikels die gelesenste westpreußische Zeitung, der Gesellige, einem an seinem Blatt
irregewordncn, wahrhcitsdnrstigcn Leser tiefen Ernstes und mit einigen Einzelheiten
versichern müssen, daß Paul Hesse trotz des Wcstpreußischen Volksblattes — kein
Jude sei. Und da soll es noch leicht sein, keine Satiren zu schreiben!
Man fürchte keine gelehrte Ab¬
handlung, denn diese Frage, die jeden Deutschen angeht, kann man glücklicherweise
beantworten ohne Fachgelehrsamkeit. Ja es ist, wie wir gleich sehen werden, gar
nicht angebracht, den Fachgelehrten in dieser Frage die alleinige Entscheidung zu
überlasse».
Manche Gegner der deutschen Schrift belehren uns, daß diese schon deshalb
kein Recht habe, länger beibehalten zu werde», weil sie gar nicht original, sondern
durch die verzierende, schnörkelnde Hand der Mönche seit dem zwölften oder drei¬
zehnten Jahrhundert aus der lateinischen Minuskel entstanden sei. Nun wäre zu¬
nächst zu erwidern, daß unsre jetzige sogenannte lateinische Schrift, die „Antigua,"
doch auch uur eine Nachbildung der altrömischen Schrift ist, oder genauer, daß sie
sich erst im Lauf vieler Jahrhunderte ans der römischen Kapitalschrift entwickelt
hat, also ein recht später Nachkomme der altrömischen Schrift ist. Und weiter:
war denn die römische Schrift selber „original"? Sie ist doch aus der griechischen
entstanden, die Griechen aber waren wieder nicht ganz original, sondern bildeten
sich ihre Buchstaben aus den semitischen. Da müßten wir also zum Phöuizischen
Alphabet zurückkehren? Schade nnr, daß wir dann vielleicht immer noch nicht
durchaus original wären; denn schließlich wird doch das phönizische Alphabet auf
die äghptischen Hieroglyphen zurückgehen. Also den kindischen Einwand von der
mangelnden Originalität sollte man beiseite lassen.
Aber, heißt es nnn, unsre Schrift sei auch nichts eigentümlich Deutsches,
nicht einmal etwas eigentümlich Germanisches, denn jene Mönchsschrift, die eckige
Minuskel, sei im Mittelalter auch bei deu romanischen Völkern gebraucht worden.
Richtig! Aber sie ist uach Erfindung der Bnchoruckerknnst in Deutschland zu ihrer
jetzigen Gestalt umgebildet (besonders durch Albrecht Dürer) und zunächst auch von
den meisten übrigen germanischen Völkern beibehalten worden. Freilich wird sie
jetzt ja leider in Dänemark und noch mehr in Norwegen verdrängt, und in
Schweden ist sie wohl schon im Verschwinden; aber sollte nicht der Umstand, daß
sie bei uns die Herrschaft in einem Umfange behauptet hat, wie sonst nirgends,
auf einen nationalen Instinkt zurückzuführen sein? Die scharfe, eckige, spröde, ge-
brochne („Fraktur"-)Schrift entsprach dem Geschmack unsrer Vorfahren, weil sie
dem ursprünglichen Charakter unsers Volks angemessener ist als die weiche, runde,
geschmeidige Antiqua, der sich die romanischen Völker mit ebenso sicherm Instinkte
bald wieder zuwandten.*) Die deutsche Schreibschrift, die aus der mittelalterlichen
Minuskelkursiv abgeleitet ist, trägt denselben Charakter wie die Druckschrift. Kann
man sich die Handschrift Bismarcks, dieses Urteutonen, mit ihren großartigen,
ehernen Zügen, wo jeder Buchstabe an eine Damascenerklinge erinnert, in latei¬
nischer Schrift vorstellen? Alle gelehrten Auseinandersetzungen können nichts an
der Thatsache ändern, daß die deutsche Schrift, die freilich mit allen Schriften
— die Hieroglyphen ausgenommen — das Unglück teilt, Umbildung einer
frühern Schrift zu sein, eine nationale Eigentümlichkeit geworden und bis jetzt ge¬
blieben ist. Sie ist uns allen übersichtlicher, bequemer, vertrauter, anheimelnder,
mögen auch einige gelehrte Doktrinäre das Gegenteil behaupten; sie ist ohne Frage
volkstümlicher. Bei rein wissenschaftlichen, nur sür einen kleinen Gelehrtenkreis
bestimmten Werken lassen wir uns das Lateinische noch gefallen, aber wenn wir
unsre Tageszeitung, unsern Goethe und Schiller in lateinischen Lettern genießen
sollten, so würden wir uus bedanken. Jedes andre Volk würde mit Eifersucht
darüber wachen, daß eine nun einmal vorhandne nationale Eigentümlichkeit erhalten
bliebe; dem guten Deutschen aber mutet man zu, daß er sich eiuer gelehrten Doktrin
zuliebe eine durch vier Jahrhunderte geheiligte Überlieferung nehmen lasse. Es
hat sich sogar, wenn ich nicht irre, ein Verein zur Bekämpfung der deutschen
Schrift gebildet. Merkwürdigerweise sind die eifrigsten Gegner unter den Germa¬
nisten zu finden; sie stützen sich auf Jakob Grimm. Aber in dieser Frage gilt
die Stimme eines Dürer und eines Bismarck, des Künstlers und des Staatsmannes,
eines Staatsmannes, den wir als die Verkörperung unsers Volkstunis zu bezeichnen
pflegen, mehr als die Stimme des Gelehrten, Sollte der große Volkerpsycholog
hier nicht ein feineres Verständnis haben für das, was der Eigenart unsers Volks
angemessen ist, als selbst der in seinem Fache hervorragendste Gelehrte, dem der
Blick leicht durch das rein wissenschaftliche Interesse getrübt wird? Bismarck ist
bekanntlich ein so abgesagter Feind der lateinischen Schrift, daß er die Zusendung
von Büchern dieser Art gar nicht annimmt. Er würde nicht mit solchem Nach¬
druck sür deutsche Schrift eintreten, wenn er sie nicht für ein wertvolles Stück
unsrer nationalen Besonderheit hielte.
Er kennt seine lieben Deutschen mit ihrer noch immer nicht überwundnen
Schwäche, der Begeisterung fürs Internationale und der Geringschätzung des eignen
Volkstums, der Gefälligkeit gegen das Ausland — er kennt sie zu genau, als daß
er die internationale Verfluchung, die Gleichmacherei nicht auch in dieser Frage be¬
kämpfen sollte, die nnr vom Unverstande für eine Äußerlichkeit, für eine Nebensache
gehalten werden kann. So sicher es nicht Nebensache ist, ob ein Volk fremde
Moden und fremde Sitten hat oder eigue — das eine bedeutet geistige Knecht-
schaft, das andre geistige Selbständigkeit —, so sicher ist es nicht gleichgiltig, ob
ein Volk eine zur nationalen Eigentümlichkeit gewordne Schrift festhält oder auf¬
giebt. Oder ist die Schrift, das sich dem Auge darstellende Wort, weniger wichtig
als das Kleid, das man auf dem Leibe trägt? Und das deutsche Volk, das sich
erst allmählich von den obengenannten Krankheiten, den Folgen des dreißigjährigen
Kriegs, erholte, hat viel mehr Ursache als jedes andre Volk, alles zu wahren,
was seiner nationalen Eigentümlichkeit zur Stütze dient. Das Ausland mag es
als „Rücksichtslosigkeit" empfinden, daß wir unsre eigne Schrift behalten wollen;
aber das sollte uns kalt lassen. Man kann zuweilen von Ausländern, die deutsche
Institute besuchen, über die „Rücksichtslosigkeit" klagen hören, daß man sich bei
Bekanntmachungen deutscher Schrift bediene. Eine Rücksichtslosigkeit, daß man in
Deutschland deutsch schreibt? Am Eude ist es noch rücksichtslos, daß wir in
Deutschland deutsch sprechen. Und wirklich hört man von Ausländern auch die
Ausmerzung der Fremdwörter tadeln, weil dadurch die ohnehin so schwierige deutsche
Sprache noch schwieriger werde. Welchem andern Volke würde man dergleichen
zu bieten wagen? Was würde ein Russe sagen, dem man die Zumutung stellte,
feine Schrift wegen mangelnder Originalität und aus Rücksichten gegen das Ans¬
tand aufzugeben? Er würde das für einen schlechten Witz, vielleicht aber auch sür
eine nationale Beleidigung ansehen, mindestens aber sagen: „Original oder nicht
original, sie ist einmal eine nationale Eigentümlichkeit, und damit basta! Und wer
von den Ausländern sie nicht lernen will, der lasse es bleiben." Der Deutsche
aber wird seine eingewurzelte Gewohnheit, dem Auslande gegenüber auf Socken zu
schleichen, so schwer los, daß er auch in solchen Fragen anmaßlichen Wünschen
Gehör giebt und fürchtet, ein Unrecht zu begehen, wenn er allein von allen west¬
europäischen Völkern ein eignes Alphabet behält und seine bekannte Opferfreudigkeit
uicht auch hier erweist.
Einen Schein von Berechtigung hat der lateinische Druck, wie bemerkt, bei
rein wissenschaftlichen Werken, wo der Verleger auf ausländische Leser rechnet.
Aber diese Vorsicht ist gewiß unbegründet; werden denn unsre Deutsch gedruckten
Tageszeitungen im Auslande weniger gelesen als Zeitungen andrer Länder? Wer
imstande ist, deutsche wissenschaftliche Werke zu studiren, studirt sie auch in deutschem
Druck, und glücklicherweise halten, wenigstens in der Theologie, eine Anzahl von
Autoren und Fachzeitschriften, die in der ganzen gelehrten Welt gelesen werden,
unbeirrt am Deutschen fest. Es ist auch meist wohl nicht der Verleger, dem es
um lateinischen Druck zu thun ist, sondern der Autor. Besonders jüngere Gelehrte
glauben zuweilen durch dieses wohlfeile Mittel ihrem Buche mehr Ansehen zu
geben-, es sieht eben fremder, d. h. nach deutschen Begriffen bedeutender, gro߬
artiger, „vornehmer" aus. Es muß sich schon durch sein Äußeres als für die
Gelehrtengilde bestimmt kenntlich machen. Will man dann noch etwas ganz Be¬
sondres vorstellen, so schreibt man auch die Substnntiva klein (obwohl die Sitte, die
Substantiv» durch große Anfangsbuchstaben auszuzeichnen, wohl ebenso alt ist als
unsre deutsche Schrift), dann läßts erst ganz vornehm und „wissenschaftlich"!
Der pädagogische Einwand endlich, es sei eine Überlastung der Schuljugend,
daß sie zwei Schriftarten lernen muß, verdient nicht ernst genommen zu werden.
Das Kind lernt doch nicht beide zugleich, sondern das andre erst dann, wenn das
eine völlig beherrscht wird. An der Nervosität der Schuljugend ist das deutsche
Alphabet wahrhaftig unschuldig; man sollte lieber die unsinnig frühe Marter mit
Diktaten und andre Verstöße gegen den gesunden Menschenverstand dafür verant¬
wortlich machen. Übrigens müßte schon die Elementarschule den Wahn bekämpfen,
daß die lateinische Schrift etwas besseres sei als die deutsche, und nicht schon den
Abcschützen zu dem Glauben verleiten, sein Name gewinne, wenn er mit lateinischen
Buchstaben gemalt wird.
Zum Schluß: gilt die Pietät den Leuten, die der deutschen Schrift den Krieg
erklären, gar nichts? Es ist die Schrift, in der die Führer unsers Volks, unsre
Denker und Dichter, Könige, Feldherrn und Staatsmänner, Luther und Kant,
Goethe und Schiller, Kaiser Wilhelm, Moltke und Bismarck geschrieben haben!
Was soll den Ausschlag geben: Nationalgefühl und Pietät, oder Liebedienerei gegen
das Ausland und gelehrter Doktrinarismus? Es handelt sich um eine Sache, die
enger mit dem Volksleben zusammenhängt, als mancher denkt; das konkrete Leben
eines Volkes wird von andern Mächten bestimmt als von gelehrten Theorien und
Doktrinen. Soll es wirklich dahin kommen, daß uns Goethe und Schiller in latei¬
nischer Schrift vorgesetzt werden, daß eine deutsche Bibel, ein deutsches Gesangbuch
ein interessantes Stück beim Antiquitätenhändler sind?
Mnx May, der schou vor sieben Jahren „zehn
Arbeiterbudgets" veröffentlicht hat, giebt zwanzig weitere, deren Aufbringung ihm
viel Mühe gemacht hat, heraus unter dem Titel: Wie der Arbeiter lebt.
Arbeiterhaushaltungsrechnungen aus Stadt und Land (Berlin, Karl Heymann,
1897). Das Wertvolle in den vorliegenden ist der überzeugende Nachweis, daß
der Arbeiter auf dem Lande nicht allein billiger, sondern auch besser lebt als in
der Stadt, namentlich dann, wenn er ein wenig Landwirtschaft treiben kann, was
in vielen Fallen möglich ist. Der Besitz eines Häuschens und ^einer Ziege, ein
Vorrat von Schweinefleisch und Kartoffeln wehren nicht allein die sxtrizmg,
noovWitus ab, sondern halten auch die Existenz aufrecht und schützen vor der
Verlumpung, der die Familie bei sehr geringem Einkommen fast unvermeidlich
anheimfallt, wenn der Ernährer längere Zeit krank liegt oder ans andern Ur¬
sachen die Arbeit verliert. Und so unsagbar kleine Einkommen, daß die Zurück¬
legung eines Notpfennigs schlechthin unmöglich ist, kommen allerdings vor. Eine
der beschriebnen Familien muß mit 740 Mark im Jahre anstaunen, obwohl
Mann und Frau stramm arbeite», und davon sollen nun sieben Personen leben!
In der Stadt wäre das einfach unmöglich; auf dem Lande können die Leute bei
aller Armseligkeit ihres Daseins immer noch bestehen, weil sie ihr eignes Hänschen
haben, und weil sie, ohne der Verachtung und der Polizei anheimzufallen, in einer
Kleidung oder Kleiduugslosigkeit umhergehe» dürfen, die in der Stadt entweder
nicht geduldet wird, oder die den Träger zum Vagabunden stempelt. Man wende
nicht ein, daß so niedriger Lohn in der Stadt nicht vorkommt. Dafür kommt
zeitweilige Arbeitslosigkeit vor, die schlimmer wirkt als ein zwar niedriger, aber
gleichmäßig übers ganze Jahr verteilter Lohn. Und was der städtische Arbeiter
mehr verdient, das fressen Wohnung, anständige Kleidung und „standesgemäße"
kleine Luxusbcdnrfnissc, nicht zu reden von der Verführung zu unnötigen Luxus
und zu mancherlei Erholungen, die gar keine Erholungen sind. Da die Nähe
industrieller Arbeiter, die doch eben Nahrungsmittel verzehren und wohnen müssen,
muh der Landwirtschaft aufhilft, so empfiehlt der Verfasser dieser wechselseitigen,
wohlthätigen Doppelwirknng wegen dringend und mit' Recht die Dezentralisiruug
der Industrie. Die Aristokraten unter den zehn sind zwei Maschinenbauer -mit
1957 und 2019 Mark Jahreseinnahmen; dann folgen ein Tapezierer, dein die
Frau verdienen hilft, mit 179V Mark, ein Klempnergeselle mit 1535 Mark, ein
Schlosser mit 1516 Mark, ein Schneider, dessen Frau mit schneidert, mit 1445 Mark,
ein Landwirtschaft treibender Maurergeselle mit 1344 Mark Jahreseinnahme; die
übrigen dreizehn bewegen sich zwischen 1100 und 741 Mark. Der mit 2019 Mark
verdient eigentlich nur 1700 Mark, die übrigen 300 bringen Frau und Kiuder
durch Kartonagearbeit auf. Die Leute haben früher in der Stadt gewohnt, wo
es ihnen sehr schlecht gegangen ist; jetzt, ans dem Lande, haben sie sich so erholt,
daß sie im Jahre über 100 Mark zurücklegen und einen talentvollen Sohn aufs
Gymnasium der benachbarten Stadt schicken können. Der andre Maschinenbauer,
der einschließlich seiner Sonntagsarbeit, die in Zeichnen besteht, 1957 Mark ver¬
dient, lebt in der Großstadt und muß für Wohnung allein 450 Mark geben; noch
dazu gilt diese als außerordentlich wohlfeil und wird, weil der bisher einsamen
Straße der Verkehr näher rückt, nächstens mehr kosten. Die Leute sind beide aus
guter Familie; er hat die Realschule besucht und als Einjährig-Freiwilliger gedient.
Es ist leicht einzusehen, daß diese Leute — sie haben vier Kinder von ein bis
neun Jahren — bei längerer Krankheit oder Arbeitslosigkeit des einzigen Ernährers
in große Not geraten und vielleicht den Boden unter den Füßen verlieren würden.
Was es bei einem Einkommen von durchschnittlich 1000 Mark für einen Unter¬
schied macht, ob zwei oder vier oder acht Personen davon zu nähren und zu
kleiden sind, braucht nicht ausgeführt zu werde»; hat sich eine zahlreiche Familie
durchgekämpft, bis die Kiuder mit verdienen helfen, so kann sie sich ja dann noch
erholen.
Das Motto des kleinen Buches ist Pestalozzi entnommen: „Das Sprachver¬
derbnis unsers Zeitalters und unser einseitiges, oberflächliches, gebauten- und an-
schnuuugsloses Maulbraucheu muß zuerst zu Tode gebracht werden." Der Verfasser
bringt die zu Denkdummheiten verteilenden Sprachdnmmheiten unter die Rubriken:
Superlativismus, Mittelpunktswahn, Winkelweisheit, Sprachfallen. Er verehrt
Nietzsche und Dühring, ist aber ein selbständiger Denker; sein Büchlein kann einige»
Nutzen stiften.
Zur Beachtung
Mit dem nnchsteir Kefte beginnt diese Zeitschrift dos 2. Vierteljahr ihres 57. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Onchhnndlungcn und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis fiir das Vierteljahr !> Ward. Wir bitten» die Kestellnng schleunig zu
erneuern.
Leipzig, im Mnrz l8!>»Dre Verlags Handlung